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DAS VERBRECHEN

DER KRIMINELLE MENSCH


IM KRÄFTESPIEL VON ZEIT UND RAUM

VON

HANS VON HENTIG


UNIVERSITÄT BONN

SPRINGER-VERLAG
BERLIN . GOTTINGEN . HEIDELBERG
1961
ISBN-13: 978-3-642-48999-0 e-ISBN-13: 978-3-642-92814-7
001: 10.1007/978-3-642-92814-7

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© by Springer-Verlag OHG I Berlin . Göttiugen . Heidelberg 1961
Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1961
LUIS JIMENEZ DE ASUA

DEM FREUNDE UND GENOSSEN DES EXILS


Vorwort
Im Jahre 1947 erschien in New York mein Buch: Orime causes and
conditions, das eine Art Soziologie des kriminellen Menschen war. Ihm
folgte 1948 ein ganz anderer Band: The Oriminal and his Victim, den die
Yale University Press herausgab; ich habe hier die Lehre von dem Opfer
vorgeschlagen, das oft beherrschend in die Tatgenese eintritt. Die Saat ist
seitdem allerorten aufgegangen.
Der Anregung, ich möge von den Büchern eine Übersetzung ver-
anstalten, standen Bedenken im Wege. Neue Erfahrungen und neue
Überlegungen waren in der langen Zwischenzeit hinzugekommen. Auch
waren Teile jener Bücher, zumal das Lehrbuch von 1947, in erster
Linie für Amerika und seinen Universitätsbetrieb bestimmt.
Ich bin daher an eine Neuausgabe gegangen. Der erste Band wird
hiermit vorgelegt. Zwei weitere sollen folgen, wenn die Zeit bleibt und ich
sehe, daß Lesergunst die Mühe lohnt; ich sollte besser sagen, wenn sie mich
bei einem Werk ermutigt, das unbekümmert seine eigenen Wege geht.

Tölz (Oberbayern), Herbst 1960 HA.NS VON HENTIG


Inhaltsverzeichnis
Erstes Buch
Das Leitbild des verbrecherischen Menschen
Erstes Kapitel
Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen Seite
A. Leibhafte Haßobjekte . . . . . 1
1. Der Privatfeind . . . . . . . 1
2. Der "Böse" und sein Anhang. 7
3. Der Feind des Landes und der fremde Mann 11
4. Der eigene Widersacher und der Depressive . 19
5. Der übeltäter. . . . . . . . . 21
B. Das Fehlbild primitiver Reaktionen 26
1. Der Galgenstrick . . . . 26
2. Der falsche "feine Mann" 33
3. Der edle Räuber. . . . . 48
4. Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern . 54
5. Der unbekannte Geisteskranke 61

c. Der Fehlbetrag des Zahlenbildes . 67


1. Die Nichtentdeckten . . . . . 67
2. Nicht Angezeigte . . . . . . 82
3. Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten. 104
4. Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 115

Zweites Kapitel
Dynamik und Bereich des Zufalls
Dynamik und Bereich des Zufalls . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Zweites Buch
Das Wirkungsfeld von Zeit und Raum
Erstes Kapitel
Zusammenhänge im Bereich der Zeit
A. Der Monatsrhythmus . 143
B. Der Tageslauf . . 161
C. Die Wochentage. . . 178
Inhaltsverzeichnis VII
Zweites Kapitel
Zusammenhänge im Gebiet des Raums Seite
A. Geographie der Kriminalität . . . . . 198
B. Absetzen von der Schadensquelle . . . 216
C. Der Massenauszug : Binnenwanderungen 235
1. Das Land und seine Problematik . 235
2. Soziologie der Stadtbewohner . . . 277
D. Fernwanderungen und soziale Krisen 294
E. Die Zwangswanderungen . . . . . . 327

Drittes Buch
Gefüge und Funktion des Tatorts
Erstes Kapitel
Grundzüge einer TatoriIehre
Grundzüge einer Tatortlehre . . . . . . . . . . 339
Zweites Kapitel
Topographie der kriminellen Handlung
A. Die Wohnung und umschlossene Räume . 349
B. Öffentliche und gemeinzugängliche Räume 374
C. Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 392
D. Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 409

Autoren verzeichnis 433


Sachverzeichnis . . 439
Erstes Buch

Das Leitbild des verbrecherischen Menschen


Erstes Kapitel
Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
A. Leibhafte Haßobjekte
1. Der Privatfeind
Wenn der Verbrecher eine Erscheinungsform der Realität wäre, ganz
wie ein Sonnenstrahl, ein Regentropfen oder irgendein Bazillus, so würde
jede Frage nach dem bloßen Bilde müßig sein. Der Kriminelle würde
meßbar, im Reagensglas festzustellen, im Kontrollversuch zu erweisen
sein. Sogar der WesenswandeP würde wohlbekannten Regeln unter-
liegen, auf festgebahnten Spuren der Entwicklung laufen. Wir wären der
Erkenntnis nahe und täten recht, wenn wir im Namen des Gesetzes
sprächen.
Die Völker des Altertums, die die Tiefen der Menschenseele erkunden
und die reine Wahrheit finden wollten, verließen sich nicht auf die eigene
Erkenntniskraft, auch nicht die Klügsten unter ihnen. Sie grilfen nach
einer untrüglichen Mechanik der Urteilsfindung, wobei der Apparat der
Messung zauberisch beseelt war. Beim ägyptischen Totengericht steht
im Dunkel der Unterwelt, mitten in einer Halle, die große Waage. Vor
42 Richtern legt der Tote ein Bekenntnis ab 2 • Die lesen ab, was von der
Waage ausgesprochen wird; sie irrt nicht, weil sie von Gefühlen nicht be-
lastet ist und auch im Reich der Schuldbeweise einfach dem Gesetz der
Schwere folgt.
Im indischen Gottesgericht wie bei der mittelalterlichen Hexenprobe
durchschaut die Waage jeden Sachverhalt und spricht zugleich das Urteil
aus. In Indien wird der Angeklagte freigesprochen, der bei der zweiten
Wägung leichter als bei der ersten ist 3. Für gläubige Menschen gab
1 Sicinius fragt in SHAKESPEARES Coriolanus: "Ist es möglich, daß eine so
kurze Zeit die Gemütsart eines Menschen so verändert ?", worauf Menenius ent-
gegnet: "Es ist ein Unterschied zwischen einer Raupe und einem Schmetterling;
und doch war der Schmetterling eine Raupe." V, 4.
2 LANDAU, MARcus: Hölle und Fegfeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchen-
lehre, S. 111. Heidelberg 1909.
3 KEITH, A. B.: Hasti7UJs Encyclopaedia of religion and ethics, Bd. IX, S.523.
Edinburgh 1917.
v. Hentig, Das Verbrechen I 1
2 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

es keine unwägbaren Dinge. Geläufig war die Sündenwaage auch der


Gottesfurcht der alten Juden. Hiob 1 verlangt nach dieser Probe seiner
Unschuld. Bei Daniel 2 treffen wir auf den Gedanken, der Gute habe
vorgeschriebenes Gewicht, der Schlechte werde allzu leicht befunden,
indessen Hiob eine wohlgeprüfte Waage fordert.
Der philologischen Auffassung, Zeus mache bei großen Entscheidungen
seinen Willen als unabänderliche Schicksalsfügung durch die Waage
sichtbar, vermag ich nur mit Zögern beizutreten, denn das Geschick ist
stärker als die Götter, und Zeus brauchte nicht die Todeslose in die
goldene Waage zu legen und eines steigen, das andere sinken lassen, wenn
er nur den eigenen Willen erforschen wollte 3 • Auch bei VERGIL 4 befragt
Jupiter die sorgsam ausgerichtete Waage, wer von den Kämpfern siegen
werde, und Juno spricht ausdrücklich vom Fatum und seinem bindenden
Gesetz 5. Unsere Justitia, die bei den Römern selten genanL wird 6,
hält immer noch die alte Waage hoch und läßt, die Binde vor den Augen,
das Recht sich selber finden. Die Waage weiß es besser als die Menschen,
ist sehend und allwissend, blickt ins Herz der Menschen und der Dinge.
Das alles liegt zum großen Teile hinter uns. Wir sind auf uns gestellt
und unser eigenes, sehr beschränktes Wissen. Wenn wir Gesetze schaffen,
neue Tatbestände aufeinandertürmen, so produzieren wir Verbrecher, die
es ehedem nicht gab. Wenn neue Ideologien wie ein Waldbrand über
uns kommen, schwenkt die Rechtsprechung ein, legt Tatbestandsmerk-
male weiter aus, setzt neue Gruppen von Verbrechern in die Welt, wie
uns die Zeit der Diktatur gelehrt hat. Niemand ist "kriminell", der nicht
entdeckt und durch rechtskräftige Entscheidung verurteilt ist. Je nach
dem Bild, das wir uns vom Verbrecher machen, wird das Legalitäts-
prinzip angewendet oder durchbrochen, erscheint die Schuld des Täters
gering, halten wir die Folgen der Tat für unbedeutend (§ 153 StPO).
Es ist eine alte Erfahrung, daß Angeklagte, die unbeliebt, verhaßt,
abstoßend sind, sehr schwer Entlastungszeugen finden, obwohl der
allerunsympathischste Mensch schuldlos sein kann 7. Gar viele Zeugen
schwanken, je nach dem Zeitungsinhalt, hin und herB. In unserem Kopfe

1 Buch Hiob XXXI, 6. 2 Daniel V, 27. 3 HOMER: !lias VIII, 69ff.


4 VERGIL: Aeneis XX, 725ff. 5 Ebenda XII, 819.
6 HORAz: Oden I, 24 und II, 17.
7 Im Prozeß des Mörders Fukatsch hielt der Vorsitzende dem Angeklagten
Toufar vor: "Ihre rohen Worte - er wollte seiner Geliebten ein paar herunter-
hauen - ... verwischen den guten Eindruck völlig, den Sie bisher gemacht." Dieser
brutale Mensch war unschuldig. Das Mädchen, das ihn schwer belastet hatte, war
im Unrecht und stellte offen gleich darauf den Irrtum fest. Pitaval der Gegenwart,
Bd. VII, S. 162. Tübingen 1912.
8 Im Mordprozeß gegen den Zuhälter Berger entwickelte sich folgendes Zwie-
gespräch. Vorsitzender: "Halten Sie Berger heute noch für den Mörder 1" Zeuge:
"Ich habe schon gesagt, ich traue Berger einen Mord nicht zu." Vorsitzender:
Der Privatfeind 3

werden stündlich Kriminelle in die Welt gesetzt und gehen, wenn die
Bilder wechseln, wieder unter.
Wie kommt ein Bild von Menschen eigentlich zustande, mit denen
unser Kopf von jetzt an operiert und nur noch mühsam eine Korrektur
gestattet? Die Masse rüstet sich mit solchen Bildern aus, nicht ohne
Sinn und wohlverstandenen Zweck. Von hierher, aus der Tiefe steigend,
durchdringt das Urteil alle Schichten und wird zur öffentlichen Meinung.
Ihr beugen sich die Wähler, und den Wählern fügen sich die Parlamente,
die in Gesetzen diesen Bildern Ausdruck geben. Im Strafgesetzbuch
ihre Vorstellungen wiederfindend, hängt ihnen dann die Masse mit
erneuter Inbrunst an. So kreist ein Strom durch alle Adern der Gesell-
schaft und freut sich eines Gleichklangs der Gefühle, der als Bestätigung
der Richtigkeit erscheint. Wer diese Harmonie zu stören wagt, ist Ketzer
am Komfort der Ruhelage.
Dabei sind diese Bilder des Verbrechers, wenn sie auch noch so roh
sind, doch von Durchschnittswert. Sie dienen unserer Selbsterhaltung
und haben sich in ihrer primitiven Art bewährt. Sonst wären ihre Träger
lange ausgestorben, die sie im großen ganzen wohl zu schützen wußten.
Ihr Fehler ist die unbewegte Starrheit. In langen Zeiten und in steter
Wiederholung wurde das Bewußtsein mehr und mehr verdrängt. Sie
gingen in die Automatik der Instinkte ein. Es war ein Fortschritt und
ein neues Risiko, weil auf der Gegenseite Kräfte standen, die sich an eine
wandelbare Umwelt anzupassen wußten.
Denn diese steingewordenen Bilder sind wie die Reflexe maximaler
Lebensschutz, solange das alte Gleichgewicht bestand, sich Reiz und
Reaktion die Waage hielten. Die Motte wird vom Licht der Sonne an-
gezogen, das sie mit Energien auffüllt. Doch muß die gleiche Motte,
vom Instinkt verraten, unwiderruflich in die Pseudosonne einer Kerzen-
flamme fliegen. Je vollendeter die alte Anpassung war und je sicherer
und schneller sie funktionierte, um so viel größer ist auch die Gefahr,
daß sie von unvermutet neuem Anspruch übertölpelt wird. Veraltet
können auch die geistigen Bilder sein, mit denen wir den ungezähmten
Menschen abzuwehren suchen.
Den Ausdruck "Krimineller" zu vermeiden, lägen viele gute Gründe
vor. Da sind Verbrechen, derentwegen die Größten der Geschichte ge-
kreuzigt, durch Gift und Brand getötet worden sind. Da sind die kleinen
Übeltaten, die als bewährungsfähig abgestempelt werden. Da sind die

"Sie sind also heute anderer Meinung?" Zeuge: "Jawohl." Vorsitzender: "Sind
Sie zu dieser Meinungsänderung vielleicht durch einen Artikel des Lokalanzeigers
gekommen, in dem es hieß: ,Die Chancen für Berger haben sich günstiger gestaltet' ?"
Zeuge: "Das ist möglich, jedenfalls traue ich Berger einen Mord nicht zu." FRIED-
LÄNDER, HUGo: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung,
Bd. IV, S. 31. Berlin 1911.
1*
4 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

"Kriminellen", für die eine Geldstrafe ausreichend erscheint. Zahlreiche


Diebe, Hehler und Betrüger sind unter ihnen. Weil eine andere Grenze
als die formale Verurteilung wegen eines Verbrechens oder Vergehens
sich nicht ziehen läßt, müssen wir es bei der Ungenauigkeit bewenden
lassen. Es gibt kein Schema, das für diese Vielfalt weit genug ist, auch
keinen Terminus, der allen Unterschieden gerecht würde, wenn das Ge-
samtbild unserer Prüfung unterliegt. Rechtsbrecher sind sie alle, aber
wie die buntbewegte Menschenrnasse in hundert Zügen sich unähnlich:
alt oder jung, gesund und krank, schwachsinnig und gerissen, gutmütig
und gefühlskalt. Sie stiften an, sie führen aus, sie helfen nur ein wenig
mit. Sie handeln und sie unterlassen. Sie handeln aus Gewinnsucht,
Roheit, Leichtsinn, Lust am Abenteuer, Anarchie der Sinne. Aus Rache,
Eifersucht, der Furcht vor Strafe und vor Schande. Wie manche Atten-
täter in dem Wahn der Weltbeglückung.
Auch fällt das Handeln dessen, der das Recht bricht, nicht immer
mit Verstößen gegen das Gesetz der Menschlichkeit zusammen. Oft
führen Liebe, Treue, Freundschaft, Hilfsbereitschaft zu der unerlaubten
Tat. Was wir Verhängnis nennen, die Verstrickung unglückseliger Mo-
mente, nichts anderes ließ den Armen schuldig werden. Nicht selten
trägt das Opfer einen guten Teil der Schuld, verführt, ermuntert,
"stiftet an" zum eigenen Schaden, der ihm Vorteil schien. Nachahmung,
Folgsamkeit, Nachgeben und Gefälligkeit, Loyalität zu einer Gruppe
können schlimme Folgen haben, wenn einer sich nicht zu widersetzen
weiß. Und dann die "Not" in allen ihren Formen, die nicht in jedem
Falle Armut oder Mangel ist. Auch unter Millionären und im Wohlstand
gibt es "Not", das Elend des Zuviel, die blanke, leere Überflußmisere,
für die der Rechtsbruch noch als letzter Reiz der Sinne übrigbleibt.
Genau wie tiefste Armut kann der Überfluß verwüsten l .
Ist schon der Krinllnelle eine blasse Abstraktion, so ist es noch
schwerer, die Vergehensart in einem einzigen Bild zu fassen. Wenn es
den Dieb, Betrüger, Mörder, Sittlichkeitsverbrecher geben sollte, wie soll
der Typ aussehen, der heute stiehlt und anderntags betrügt? Der heute
exhibiert und morgen mordet? Und wenn es schon gelingt, ein paar
hundert oder tausend Fälle zusammenzubringen, die uns erlauben,
etwas wie einen "Typ" zu bilden, dann stoßen wir auf eine sehr viel
größere Anzahl braver oder nie bestrafter Bürger, die wie die neu ent-

1 Siehe die verzerrte Umwelt des Falles Loeb-Leopold in der Darstellung des
Verteidigers. (STONE, IRVING: Clarerwe Darrow for the defense, S.380ff. Garden
City 1941.) Über die Noxe der erstickenden Fülle und Verwöhnung siehe die Auto-
biographie: ROBINSON jr., EDWARD G.: My father-My son. New York 1958. -
Klarer als unsere Zeit, die an das Allheilmittel des Lebensstandards glaubt, hat
PLATO (Leg. XI, 919) den Doppelfluch von Not und Überreichlichkeit erkannt und
gefordert, daß ein guter Staat in beiden Feinde seines Wohls bekämpfen solle.
Der Privatfeind 5

deckte Spielart und oftmals sehr viel schlimmer aussehen. Im Menschen-


antlitz spiegeln sich auch Umweltkräfte ab, die bei Gleichgewichtslage
den letzten Anstoß zum Verbrechen geben mögen. Trotz aller dieser
Bedenken ist das menschliche Bedürfnis nach verkürztem Sehen und
Denken, nach einem handlichen Erkenntnismuster wohl berechtigt und
leitet uns in Zweifelsfällen besser als der völlige Mangel an Erfahrung.
Man kann dem Bilde des Rechtsbrechers, dem wahren und dem
falschen Bilde, nicht nachspüren, wenn man in ihm nicht einen Teilfall
sieht, den Angehörigen einer sehr viel größeren Gruppe. Es ist der
Feind, der uns in mancherlei Gestalt begegnet. Bevor wir uns gegen
seinen Angriff zu wehren haben, machen wir mit bestimmten Vorstel-
lungen gegen ihn mobil.
Schon beim Zwist! stoßen wir auf eigenartige Verwicklungen des
Gefühlslebens, des Muskelantriebs und der Erinnerungsbilder. Der Haß
ist als Gefühl mit starken motorischen Impulsen geladen. Er sucht das
Objekt nicht nur aus den Augen zu schaffen. Es wird am gründlichsten
aus dem Sinn beseitigt, indem man es vernichtet. Auf eine Frage ant-
wortet Bassiano dem Shylock 2:
"Wer haßt ein Ding und brächte es nicht gerne um 1"
DARWIN hat die physiologischen und mimischen Veränderungen ge-
schildert, denen der Hassende unterworfen ist. Daneben laufen seelische
Verzerrungen, die den Haßausbruch begleiten: eine Umfärbung des
Feindesbildes ins Furchterregende und Hassenswerte, eine partielle
Blindheit für Züge, die wir nun einmal nicht zu sehen wünschen 3 und
unseren Zorn nur dämpfen würden, die Selbstaufpeitschung durch Ent-
wertungs bilder.
Mit der Erledigung des Feindes entfällt auch die Gefahr, die von ihm
drohte, darum sind Völker, die sehr viel gelitten haben, die größten
Hasser. So kommt es auch, daß die Entlastung von Furcht zur Quelle
tiefer Lust wird 4 • Der Menschen allerstärkstes Rauschgift ist der Haß 5.
Er kann sich an die Mfektintoxikation so gewöhnen, daß ihr Fehlen
Abstinenzschmerzen hervorruft. Er kann auch den genußreichen, zu-
sätzlichen Vergleich eigener Vorzüglichkeit und fremder Nichtswürdig-
keit schlecht entbehren und immer weiter hassen und zerstören wollen,
1 Das ist die Unterscheidung PLATOS (Republik V, 470). "Feindschaft unter
Verwandten ist Zwist. Feindschaft unter Fremden ist Krieg."
2 SHAKESPEARE: Kaufmann von Venedig IV, 1,67.
3 Vorausahnend spricht Jesus von der Welt, die ihn haßt und verfolgt (Jak.
XV, 18). Er wußte, wie er enden würde, enden mußte, im Kreislauf gegenseitiger
Gefühle, denn fiend (auf deutsch Feind) ist einer, der uns haßt und den wir dann
mit Gegenhaß bedenken.
4 SHAKESPEARE: Kaufmann von Venedig IV, 1, 123-126.
S Die Wechselwirkung vom Schutz des Liebsten und dem allergrößten Haß
erklärt, daß die Verzeichnung ganz besonders weitgeht.
6 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

wenn längst vom Gegner nichts mehr übrig ist. Achilles ist ein Held,
von einer göttlichen Mutter geboren, vom weisen Kentauren Cheiron
erzogen. Trotzdem ist mit der Tötung sein Haß noch nicht verraucht,
gesättigt. Er droht dem unterlegenen Feind, er wolle ihn zerstückeln,
die Tötung in effigie sozusagen wiederholen und ihn "aus Zorn und Wut
mit Haut und Haar (Homer sagt: ungekocht) verschlingen 1. " Auch die
Gefährten nahen sich dem toten Feinde, kühlen ihr Mütchen an der
Leiche, indem sie ihn erneut verletzen.
Es läßt sich denken, daß diesem Ausbruch ein Feindesbild voran·
geht, das in der Richtung ungezügelten Vernichtungswillens umgefärbt
ist. Wie Heere einst mit wildem Schlachtruf, so peitschen wir uns mit
visuellen Schreckensbildern auf.
Mit steigender Bedrohung nehmen die Gestalten unserer Feinde
immer schärfere Züge an, und die Motorik reißt sich von den Halte·
tauen los. Wir schlagen um uns, wo es gerade trifft. Bei der Ermordung
Cäsars stießen die Verschwörer blindlings zu, verwundeten sich selbst,
selbst Brutus stach und wurde in die Hand gestochen 2 • Auch der Ver·
brecher muß sich wildgewordene Gegenwehr gefallen lassen, wenn
Mütter um die Kinder bangen, ein böser Mord uns aus der Ruhe schreckt,
vor Räubern nichts mehr sicher ist.
Sowie Gefahr von allen Seiten droht, greift unsere Furcht zu Trug.
gestalten. Es ist das geistige Haschisch, das aus den Drüsen fließt,
und niemand würde wagen, auf kurze Zeit ihm rationelle Wirkung
abzusprechen. Man kann es nicht Verfolgungswahnsinn nennen, denn
Angriff und Verfolgung finden wirklich statt. Es ist die Form, in der der
Mensch, der fürchtet, innerlich mobil macht und seine letzten Kraft.
reserven in die Bresche wirft. Der Hemmung und der Schwäche seiner
Zähmung überdrüssig, denkt jetzt der Mensch in allergröbsten Mustern,
und wer vereinfacht denkt, muß auch in Serien handeln, ganz ohne
Rücksicht auf die heiklen Unterschiede.
Verständnis für die Gegnerqualitäten wäre tödlich. Es würde nur die
Energie zersplittern und zerteilen. Nur wer das Bild des Feindes über.
lichtet, in ihm den unverfälschten Teufel sieht, kann wirklich hassen,
hassend wirklich kämpfen. Selbst der Jurist3 erliegt dem Sturme dieser
Emotionen, der Arzt und mancher Wissenschaftler, am gründlichsten
die öffentliche Meinung, und erst im Rückblick kommt die Selbsterkennt·
nis, bis wir bei gleichem Anlaß wieder in die gleiche Falle der Gefühle
stolpern.

1 HOMER: !lias XXII, 346, 347. 2 PLUTARCH: Brutus 17.


3Siehe die Versicherung des Generalstaatsanwalts im Petiot·Prozeß, wenn die
angeblichen Widerstandskämpfer wirklich nur Gestapo.Beamte ermordet hätten,
würden sie frei diesen Saal verlassen können. BARRET, CLAUDE: L'affaire Petiot,
S. 134. Paris 1958.
Der "Böse" und sein Anhang 7

2. Der "Böse" und sein Anhang


Leibhaftigen Feinden treten imaginäre Widersacher zur Seite. Auch
Tote können Feinde sein. Man darf sie nicht zum Unmut reizen 1. Man
soll nur schonend sie erwähnen 2, begütigend sich ihnen nahen 3 • Je
mächtiger der Tote im Leben war, um so mehr wird er in der neuen
unnahbaren Existenzform zu Wohlwollen und Stillehalten hochgepriesen.
Schon vor dem Tode zwingt ihn die Sitte auf Umwegen, seinen Anspruch
auf Haß und übelwollen aufzugeben 4. Vor der Hinrichtung werden bei
allen Völkern dem Delinquenten entlastende Erklärungen nahegelegt
oder abgelistet 5• Weil diese Toten insgeheim noch Macht besitzen, sich
für die Unbill eines haßerfüllten Wortes oder Bildes rächen könnten,
bleibt die Erinnerung an den Abgestorbenen seltsam abgeklärt, denn
niemand weiß, ob er nicht Gegenlist und Gegenzug gebrauchen würde.
Wir fürchten, aber können ihn nicht fassen. Die Schutzverzerrung geht
den umgekehrten Weg. Statt eines Monstrums greifen wir zum Einfall
des Idols und ducken uns in Bilder der Verehrung, auch wenn sie noch
sehr der Wahrheit widersprechen.
Wie jene Toten, die uralte Hoffnungen und Ängste der Menschheit
weiterleben und weiterwirken lassen, so gehört auch die Gestalt des
"bösen Feindes" der Gläubigkeit und nicht der Welt des Wissens an.
Hier bekleiden nicht die verlassene Geliebte, der geschiedene Mann, der
Konkurrent, der politische Gegner den "Schuldigen" mit Einzelzügen
der Entwertung. Mit Massenfurcht kommt auch ein Massenbild zu-
stande, das nach der hochstaplerischen Seite neigt, wenn statt des
Feindes der Verführer nahen soll. Im Satan geben wir den Schadens-
mächten menschliche Erscheinung; die Sprache und das Sprichwort
legen dafür Zeugnis ab 6 • Bei den Semiten kam der Teufel mit der
Mittagshitze und dem Sandsturm, in Rußland naht der Sohn der Hölle
im Wirbelwind der Steppe und im Frost. Aus einer Unzahl von schäd-

1 DIOGENES LAERTIUS: I, 3, 270.


2 "De mortuis nihil nisi bene." Siehe PLUTARCH: Solon 21. Die rationalisierende
Begründung war, das öffentliche Wohl gebiete, der Feindschaft die ewige Dauer zu
nehmen.
3 Die Römer nannten die Toten dii manes, die Guten. STEMPFLING ER, EDU ARD :
Antiker Volksglauhe, S.166. Stuttgart 1948.
4 Angeblich "zum leichteren Sterben" bittet in manchen Teilen Deutschlands
der Sterbende seine Feinde zu sich, um sich mit ihnen auszusöhnen. (SARTORI,
PAUL: Sitte und Brauch, Bd. I, S. 126. Leipzig 1910.) In Wirklichkeit zwingt der
Volksbrauch den Sterbenden, "abzurüsten" und den alten Feind in Ruhe zu lassen.
5 Siehe meinen Ursprung der Henkersmahlzeit, S. 96ff.
6 Die Unzahl der Sprichworte, die sich mit dem Teufel befassen, bezeugt die
Lebendigkeit der Teufelsvorstellungen. Siehe SMITH, W. G.: The Oxford dictionary
of English proverbs, S.138-143. Oxford 1952. Alle Verwünschungen wimmeln
vom Wort und der Idee des Teufels.
8 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

lichen Naturgewalten und übermächtigen Tieren sind erst bedrohliche


Dämonen geworden, die schließlich, in einer Art Monotheismus der
Verderbenselemente, zum Satan wurden, im Buche Hiob l noch ein
"konstruktiver" Widersacher Gottes, und dreimal nur im alten Testa-
ment erwähnt. Wenn er verfolgen will, so holt er vorher die Erlaubnis
Gottes ein 2.
Furcht und Abscheu haben in den Köpfen der Menschheit das
Teufelsbild zusammengebraut. Wie ein letzter Nachhall der Gefühle
aus entlegensten Entwicklungsstufen, ist in der Vorstellung noch das
überlegene Tier lebendig. Hörner, Hauer 3, der Huf 4, alle verraten den
gleichen Ursprung wie die theriomorphen Göttergestalten der Vorzeit.
Wenn in GRIMMS Kinder- und Hausmärchen der Teufel als Drache 5
durch die Lüfte kommt, so fürchtet der Mensch in ihm den fliegenden
Riesen vorsündflutlicher Tierwelt.
Der böse Feind hat seine Delegierten. Wir irren, wenn wir meinen,
daß nur Kriminelle die Gesetze brechen, nach allgemeinem Urteil
schuldig werden. An Hexen glaubten Fürsten, Kirche, Staat, das Volk
und alle Fakultäten. Die Hexen fuhren nächtlich nach dem Blocksberg,
schickten Ungewitter, Krankheit, Impotenz. Unfruchtbarkeit der Felder
und der Herden war ihr Werk. Wohin ihr böser Blick fiel, kam das Un-
heil. Sie waren mager, klein 6, sie hatten rote Augen, einen Kropf. Die
Augenbrauen fehlten oder liefen dicht in einer Linie. In ihren wirren
Haaren saß der Teufel. Sie mußten vor der Folter abgeschnitten werden.
Die Hexen konnten über keinen Besen schreiten, niemand gerade ins
Gesicht sehen, nahmen bei Besuchen niemals richtig Platz. Was auch
geschah, sie konnten niemals weinen. Im Wasser gingen sie nicht unter,
schwammen immer obenauf.
Wir wissen alle heute, daß die Gesetze jener Zeiten wahnhaft waren,
daß Mißgeschick verfolgungssüchtig machte und "Schuldige" erfinden
lehrte, die man an ihrem äußeren Bild von weitem schon erkannte. Das
1 Im Buche Hiob ist Satan noch nicht der Gegenspieler des Herrn, sondern
"geht hin und her auf der Erde". Hiob I, 7.
2 Hiob 1,12.
3 Das Steinbild des Teufels am Münsterportal des üchtländischen Freiburgs und
von Bern trägt einen Schweinskopf. ROCHHOLZ, E. L.: Schweizersagen aus dem
Aargau, Bd. I, S. 94. Aarau 1856.
4 Ein Mädchen aus der Nähe Nürnbergs verliebt sich in einen Jäger. Ein weiser
Pfarrer rät dem Mädchen, wie zum Spaß, dem Jäger den linken Stiefel auszuziehen.
Mit Schrecken sieht sie den Bocksfuß. Es war der Teufel. PANZER, F.: Bayerische
Sagen und Bräuche, Bd. 11, S. 61. München 1855.
5 "Der Drache aber war niemand als der Teufel. " Märchen vom Teufel und seiner
Großmutter. Kinder- und Hausmärchen der Brüder GRIMM. Vollständige Ausgabe,
S.521. München 1949.
6 Nach einem englischen Sprichwort sind kleine Leute leicht in Harnisch zu
bringen ("Short folk are soon angry ").
Der "Böse" und sein Anhang 9

Kräftespiel, das man sich nicht erklären konnte, nahm die Gestalt des
Feindes an. Er war zu finden und zu packen. Ihn zu vernichten war
nicht allzu schwer. Wenn dann das Mißgeschick, wie es so oft geschah,
vorüberging, so glaubte man, es aus der WeIt geschafft zu haben mit
Scheiterhaufen und der Asche, die der Wind verwehte. Denn Massen
geben sich nicht langem Grübeln hin. Sie glauben an den Erb- und Ur-
feind als die Lösung, die in allen Fällen stimmt. Wenn Not und Schaden
kommen, wenn sie die Furcht packt, hängen sie den Haß an Trug-
gestalten, versehen sie mit böser Absicht, Schwanz und Pferdefuß. Sie
schaffen sich im Kopf ein Recht der Abwehr, das zwar der Nachwelt
unbegreiflich scheint und doch zu seiner Zeit nicht angezweifelt war 1,
ja wie ein Waldbrand jeden geistigen Widerstand erstickte 2 •
Die Ablehnung des Kontradiktorischen, der Ruf nach dem Summari-
schen, der raschen, sicheren, unwiderruflichen Strafe und der wütende
Angriff auf Einwand und Verteidigung als "Mitschuldige", die den Mit-
menschen gefährden, kennzeichnen jede Zeit der heißen und der kalten
Hexenbrände.
Wie die Hexe, ist auch der Ketzer nicht nur von Gott abgefallen und
in das Lager Satans desertiert, es bildet sich zudem ein Haßbild in den
Hirnen, das alle seine Lebensäußerungen umfaßt. Wer die Einheit der
Kirche bedroht, ist auch ein Abtrünniger von allen Gesetzen bürger-
licher Sittlichkeit. Er ist degeneriert, pervers, ein Feind der Menschheit
und der Menschlichkeit, den es auszurotten gilt, wenn nicht sein Beispiel
jede Ordnung des Zusammenlebens zum Einsturz bringen soll. "Der
Fanatismus der Ketzerverfolgung," schreibt JOSEPH HANsEN 3, "hat
sich niemals von der phantastischen Vorstellung trennen können, daß
die Ketzer - welche ehen durch die Verfolgung gezwungen wurden, sich
heimlich und beim Dunkel der Nacht zu ihren Gottesdiensten zu ver-
einigen - bei diesen heinilichen nächtlichen Zusammenkünften den
christlichen Gott und die Sakramente verhöhnten, dem in irgendeiner
Gestalt unter ihnen erscheinenden Teufel ihre Verehrung bezeugten,
tanzten, schmausten und rituelle Unzucht verübten. Auch die größte
Sittenstrenge einzelner von der orthodoxen Bahn abweichender religiöser

1 "Ein Pfarrer, der Selbstmord verübt hatte und ausnahmsweise in geweihter


Erde bestattet worden war, mußte auf inständiges Bitten des Volkes hin, das
glaubte, das Begraben des Pfarrers in geweihter Erde habe die Heimsuchung der
Stadt durch furchtbare Unwetter hervorgerufen, ausgegraben, in ein Faß geschlagen
und in die Limmat geworfen werden." WETTSTEIN, ERICH: Die Geschichte der
Todesstrafe im Kanton Zürich, S. 28. Winterthur 1958.
2 Trotz des Objektwechsels scheint die Anfälligkeit für kollektive seelische
Störungen nicht geschwunden zu sein; wir haben sogar die künstlichen Druckmittel,
nicht aber die Gegenkräfte, wesentlich verstärkt.
3 HANSEN, JOSEPH: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter,
S.226, 227. München 1900.
10 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Richtungen hat sie vor diesen Vorwürfen nicht zu schützen vermocht.


Es ist das ein '" Vorwurf, den anfänglich die Römer den ersten, in den
Katakomben sich versammelnden Christen gemacht haben: sie sollten dort
Kinder schlachten und sich geschlechtIichenAusschweifungenhingeben1 ."
Es ist, wie es scheint, die schlimmste und erregendste aller Anschuldi-
gungen, das Leben eines Kindes nicht zu schonen und sexuell abartig
zu sein 2. Mit der wuchtigen Keule dieses Vorwurfs wurde der Orden
der Templer zertrümmert, ging die Justiz der Kirche gegen die Albigenser
vor, die der "buggerie" geziehen wurden. Das Wort 3 , ursprünglich ein
Bulgare, hat dann als bougre seine spezifische Bedeutung verloren,
jedoch im Englischen als buggery sich zäh behauptet 4 • Der Sinn des
Wortes Ketzer schloß den Sodomiten ein 5•
Der abstoßenden Idee der Hexe und des Ketzers kam die Justiz mit
optischen Mitteln zu Hilfe. Wie die weltliche Justiz die Kindesmörderin
mit dem Tierfell umkleidete 6 und dadurch der Bestie anglich, so wurden
auch die Ketzer für die Augen hassenswert gemacht. Jeanne d'Arc wird
mit der Schandmütze auf dem Kopf verbrannt. Ein Teufel ist darauf-
gemalt, daneben stehen diese Worte: "Heretique, relapse, apostate,
ydolastre 7." Auch auf dem Bild von Huß, das jetzt in Konstanz hängt8,
trägt er die Ketzermütze. Die Inschrift lautet: "Heresy archa", Erz-
ketzer. In GOYAS Capriches tragen die Opfer die spitze Kopfbedeckung 9,
die heute noch die Clowns im Zirkus zu grotesken Effekten verwenden,
wie die roten Haare, die unförmige Nase, die abschreckende Bemalung
und die unnatürliche Weiße des Gesichts. Ein Ketzer mußte auch ein
Unhold sein. Wer anders dachte, konnte nicht wie andere Menschen
aussehen.
1 HANSEN stützt sich auf THEODOR MOMMSENS Studie: Der Religions/revel im
Römischen Recht, Historische Zeitschrift, Bd. 64, S. 394.
2 "In Island zählt der Vorwurf der Päderastie zu den drei schwersten Be-
schimpfungen, die auf der Stelle durch Totschlag erwidert werden durften ... "
HIS, RUDOLF: Deutsches Strafrecht bis zur Carolina, S.148. München 1928.
3 P ARTRIDGE, ERIC: A dictionary of slang and unconventional English, S. 103.
New York 1950.
4 Sexualoffenses Act 1956, Section 12 und 16.
5 KLUGE-GÖTZE: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S.379.
Berlin 1951.
6,,1773. Am 6. Dezember ist Sophie Margaretha Dittmers, weil sie ilirem
eigenen Kinde, einem Knaben von drittehalb Jahren, die Gurgel abgeschnitten, in
einer haarnen Decke, mit fliegenden Haaren und dem Messer, womit der Mord
verübt worden, auf der Brust hangend, ausgebracht, enthauptet und in der Stille
begraben." WOSNIK, RICHARD: Beiträge zur Hamburgi8chen Kriminalgeschichte,
Bd. I, 1, S.47. Hamburg 1926.
7 Abbildung in BILLARD, A.: J ehanne d' Are et 8es juges, Tafel XI. Paris 1933.
8 Zeichnung aus dem Konstanzer Museum bei FEHR, HANS: Das Recht im
Bilde, Abbildung 113.
9 "Aquellos polbos" und "Nohubo remedio".
Der Feind des Landes und der fremde Mann 11

Mit diesen starken Hilfen ist es möglich, durch Haß und Furcht die
Bande der Natur zu trennen. Im Jahre 1562 fand in Stuttgart der
"Hexenabschied" statt. Mit ungebleichten Hemden und abgeschnittenen
Haaren wurden neun Frauen auf einem Wagen zum Tode geführt. Die
jüngste war 57, die älteste 82 Jahre alt. "Ihre Angehörigen", so meldet
die Chronik, "taten nach ihrem Schuldbekenntnis keine Schritte zu ihrer
Befreiung mehr, auch enthielten sie sich jeder Teilnahme aus Furcht vor
denen, die finstere und bigotte Eiferer gegen die vermeintlichen Hexen
waren!." Nur eine Tochter schrie und weinte. "Ihr Jammer drang jedem
Hörenden durch Mark und Bein und erfüllete die Luft auf eine erschreck-
liche Weise." Das Mädchen wollte sich unter die Räder des Wagens
werfen, auf dem die Mutter gefesselt saß, um zerquetscht zu werden.
Die einzige, die ihr gesundes Gefühl bewahrt hatte, wurde als wahn-
sinnig in Gewahrsam gebracht.

3. Der Feind des Landes und der fremde Mann


Wir stehen großen und endlosen Kriegen viel zu nahe, um lange bei
der Umzeichnung des Feindesbildes verharren zu müssen, die sich in
allen Köpfen vollzieht. Die Propaganda braucht nur nach den bereit-
liegenden Mustern des Abscheus zu greifen, sie zu vergröbern und durch
Wiederholung dem Bewußtsein einzuprägen. Ein Blick auf die Feindes-
karikaturen, die während eines Krieges höchsten Anklang finden, die
Erinnerung an verbale Greuelsuggestionen, wie "Hunnen", beweist
die tiefe Änderung, die mit unseren geistigen Inhalten vor sich geht. Wir,
alle Völker, fallen, wenn es sehr gefährlich wird, der Angst zum Opfer,
die das Bewußtsein zweckhaft einengt und an den Rand der Sinnes-
täuschung leitet. Dahin gehört die Teufelsfratze unseres Feindes.
Das Schreckensbild, das unsere Motorik enthemmt und zu äußerster
Anstrengung aufpeitscht, ist bereits in tiefen Schichten unserer Psyche
vorbereitet, denn jeder frühere Krieg ging um die Existenz und mußte
auch das Letzte aus dem Menschen holen. Der Feind war wirklich
Wüterich und Ungeheuer und stand in nichts dem mitleidslosen Raub-
tier nach. An seinem Schreckensbild erhitzte sich die Gegenwehr.
Die gleiche Zerrgestalt haben etwas mildere Zeiten in die Gefühlswelt
eingebracht, sobald sie den Verbrecher, also nur den inneren Feind, ver-
folgte. Hieß schon in Rom der Landesfeind perduellis oder "arger
Krieger 2", so wurde die perduellio, die "schlimme Feindschaft 3" bald
zum Staatsverbrechen, das haßgeladen jeden Mißbrauch zuließ. Die

1 NICK, FRIEDRICH: Btuttgarter Chronik und Bagenbuch, S. 165ff. Stuttgart 1875.


2 MOMMSEN, TnEODOR: Römisches Strafrecht, S.537. Leipzig 1899. - Jeder
von Rom geführte Krieg war - wie heute noch - ein gerechter Krieg.
3 Ebenda, S. 542.
12 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

alten Feindgefühle wurden aufgeboten, sowie es Kaiser und Regime zu


schützen galt!. Wenn die Rebellen auf Rom marschieren, so erklären sie,
um ihn in ihren Haßstrom einzuschließen, den flüchtigen Nero zum
"Feinde 2". Will Caligula einen Senator in Stücke gerissen sehen, so
läßt er seine Abgesandten den Ahnungslosen mit dem Rufe "Staats.
feind" angreilen 3 • Und heute noch degradiert die amerikanische Polizei
den großen Gangster zum "öffentlichen Feind 4," weil sie die unerschöpfte
Wirkung dieses Wortes für sich nutzbar machen will. Mit der Bedrohung
aller regt sich aller Menschen Furcht. Die feste Front der Gegenwehr
wird nur hergestellt, wenn man das Feindesbild aufreizend schwärzt und
dunkel malt. Feinde sind allesamt verderbt und niederträchtig. Die
individuellen Unterschiede, mit denen wir sonst im Leben arbeiten,
werden applaniert und weggedacht. Mit den abstoßendsten Zügen aus·
gestattet, in die gleiche Unilorm des Bösen und Verruchten gepreßt,
tritt der Feind wie eine graue Masse vor uns hin. Je schwerer die Kämpfe
auf uns lasten, je mehr Opfer sie erfordern, je mehr wir die letzten Kraft.
reserven aus Muskeln und Nerven herausholen müssen, um so starrer,
finsterer und ausnahmsloser wird das Bild des Feindes 5 •
Der Haß springt auf den über, der dem Feinde hilft, ihm Geld gibt,
mit ihm sympathisiert. Je höher seine Leistung, etwa seine Tapferkeit
ist, um so mehr erschreckt sie uns und um so mehr verzeichnet unsere
Leidenschaft seine Erscheinung, denn immer stärkere Reize müssen
wir der größeren Gefahr entgegenhalten. Wenn dann der Frieden kommt,
so reiben wir verstört die Augen. Wir würden es kaum glauben, wenn es
nicht schwarz auf weiß zu lesen, im Film zu sehen und zu hören wäre.
Rasch huschen wir über das hinweg, was vage noch in der Erinnerung
hängen blieb. Das, was wir sagten, dachten, glaubten, fühlten, scheint
völlig wesensfremd, war da, mag jetzt noch da sein, verborgen in den
tiefsten Schächten unseres Wesens, und jene Oberen, Klügeren, die sonst
unser Leben ordnend lenkten, die weisen Alten und die sanften Frauen,
sie gingen fürchtend, hassend, einem Abwehrwahn verfallen, uns voran.
1 "w, noMflto, e,u;{vov "al TOV 6~flov naVT6~."
DIO.: 44,33.
2"Mittlerweile kam ein Eilbote Phaons mit Briefen an. Nero riß sie lim aus
der Hand und las, er sei vom Senat zum Staatsfeind erklärt (,se hostem a senatu
iudicatum') und man suche nach lim, um an ihm nach der Vorfahren Brauch die
Strafe zu vollziehen." SUETON: N erD 49.
3 "Repente hostem publicum appellantes. " SUETON: Caligula 28.
4 Siehe COOPER, C. R.: Ten thousand public enemies, Vorwort von J. E. HoovER.
Boston 1935.
5 Auf einem ganz anderen Gebiet nennt es ein Nervenarzt das "Gesetz der
Stelle". "Der Mann", schreibt v. HATTINGBERG (Über die Liebe, eine ärztliche
Unter8uchung, S. 289. München 1940), "im anderen Schützengraben, von dem ich
nichts weiß, als daß er auf der anderen Seite steht, ist allein deshalb mein Feind,
mein Gegner, und das bedeutet für den einfachen Menschen zunächst, daß er auch
alle Eigenschaften eines ,Feindes' hat, Eigenschaften, die ilim der Haß verlelit."
Der Feind des Landes und der fremde Mann 13

Die Unruhe, die viele Völker nach dem Kriege, er sei gewonnen oder
verloren, ergreift, die Revolutionen, die an seinem Ende stehen, geben
die geliebte Feind -Vorstellung ungern-zögernd her. Sie übertragen sie auf
den inneren Feind, den sie nunmehr mit allen Zügen der Verderbtheit
schmücken. Sie hassen lustvoll weiter, fangen an, den alten Feind zu
lieben, sich ihm gesättigt anzuschmiegen. Es ist die alte Regel, die
auch für das Seelenleben gilt, daß niemand "zween Herren dienen"
kann. Bei neuem Haß erhellen sich von selbst die alten Feindes-
bilder.
Wer einst im Krieg im Land des Gegners lebte, hat die Gestalt jenes
Zeus Xenios verstanden, des Gottes, der in einem Stadium wachsender
Gesittung den Fremdling schützte. Allotria, der Unsinn, das Getue eines
Narren, bedeutet wörtlich das Gehabe eines Fremden. Das Wort ist
nicht nach England vorgedrungen. Es schloß Verstellung ein, wenn bei
den Griechen einer wie ein Fremdling lachte. "Bizarr" erschienen bärtige
Spanier den Franzosen!. Die "fremde" Flur war Feindesland. Der
"alien" ist der Mensch, der uns nicht liebt und uns zuwider ist, weil
andersartig. Der deutsche Ausdruck "fremd" bedeutet das, was uns
nicht nahesteht 2 • Befremden heißt, an unseren Argwohn rühren.
Der Feind steht wie der Fremde einem Übeltäter nahe. In alter Zeit
fielen die Begriffe zusammen, wie CICERO 3 versichert und bezeugt. "Der
primitive Mensch gab den Namen des Feindes jedem, der nicht mit ihm
durch Bande des Blutes verbunden war 4. Jeden solchen Fremdling,
der nicht zur Familie oder zum Stamme gehörte, verfolgte er mit ruhe-
losem Haß; er sah in ihm die freie Beute, die es zu töten oder auszurauben
galt." Auch SOKRATES glaubte, daß sich Hellenen und Barbaren von
Natur in einem Kriegszustand befänden 5 • Selbst religiöse Abstoßungen
spielten hinein. Fremde waren wie Schiffbrüchige oder Kriegsgefangene
erwünschte Opfer auf den eigenen Altären 6 • Fremde Götter stellten dem
Ankömmling nach 7 • Fremde waren Feinde der Menschen, aber auch der
Götter, die man vernichten mußte. "Israel kämpft für ihn (Jehowah)
und mit ihm, wenn es für sich selbst kämpft 8." Die Bibelstellen lassen
keinen ZweifeJ9. Weil sich zwei Götterkulte in den Haaren lagen, traf

1 KLUGE-GÖTZE, S. 82.
2 PAUL, HERMANN: Deutsches Wörterbuch, S. 117. Halle 1908.
3 "Hostis enim apud maiores nostros is dicebatur, quem nunc peregrinum
dicimus." CICERO: De off. I, 12.
, SMITH, M. CAMPELL in Hastings Encyclopaedia, Bd. V, S.307. Edinburgh 1912.
5 PLATO: Rep. V, 470.
6 Siehe EURIPIDES: lphigenie auf Tauris 338 und andere Stellen.

7 Siehe die Ansprache der Tribunen bei PLUTARCH: Coriolan 13: " ... dort sollten

sie dann hausen unter dem Schutz eines fremden Gottes, der nur auf Opfer lauere."
8 NÖTSCHER, F.: Biblische Altertumskunde, S. 153. Bonn 1940.
9 RICHTER VII, 20: 1. SAM. XXV, 28.
14 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

den Besiegten die Vernichtung. Wer Milde übte, handelte gegen gött-
liches und menschliches Gebot 1.
Dem Fremden wohnte nach alter Anschauung zauberische Kraft des
Schadens inne. Darum war ihm in Griechenland versagt, den Tempel
zu betreten 2 • Wie bei dem Feinde 3 war sein Blick verdächtig, vor dem
der Priester sorgsam sich zu schützen hatte:
... Wenn du vor Anker gegangen,
Und am Strande Altäre gebaut, die Gelübde zu lösen;
Dann umhülle dir fromm mit dem Purpurtuche das Haupthaar,
Daß dir nicht in der Gottheit Dienst beim heiligen Feuer,
Noch ein Blick aus fremdem Gesicht 4 die Zeichen verwirre 5 ."
Der gleiche Zug hat sich im ländlichen Aberglauben Deutschlands er-
halten. "Der ganz Fremde ... begegnet oft einem starken Mißtrauen; er
darf bestimmte Teile des Hauses nicht betreten 6 und nicht einmal
hineinschauen (Stall), ihm darf auch nichts gereicht werden. Man
fürchtet Bezauberung und bösen Blick 7. "
Hier fangen die kriminalwissenschaftlichen Zusammenhänge an,
immer deutlicher herauszutreten. JACOB GRIMM hat zwar Init großer
Gelehrsamkeit und bedeutender Einsicht eine kurze Rechtsgeschichte
des Fremden geschrieben, konnte aber nicht auf seine Soziologie ein-
gehen. Aber er macht Andeutungen, die wertvoll sind. Er weist auf die
Fremden hin, deren Aufenthalt sich über Gebühr verlängerte. Sie
wurden besonders scheel angesehen, und GRIMM gibt auch den Grund
an: "Arme, umherstreifende Leute, die sich in ihrer Heimat nicht er-
halten (und fügen wir hinzu halten) konnten, ließen sich notgedrungen
in der Fremde nieder 8." Im übrigen genoß der Fremde anfangs keinen
Rechtsschutz 9. Auf der anderen Seite wurde er, wenn er eine Straftat
beging, bedeutend härter bestraft als der einheimische Verbrecher, so
im Inittelalterlichen Zürich 10. In Athen schuldete ihm der Staat keinerlei
Gerechtigkeit; er wurde wie der rechtlose Sklave behandelt 11. Richter
der Fremden war in Athen bezeichnenderweise der Polemarch, der
1 Siehe 6. MOB. VII, 2ff.; 6. MOB. XIII, 17; 6. MOB. XX, 16. - Was hier als
religiöse Regel erscheint, war Praxis bei den meisten Völkern jener fernen Zeit.
2 COULANGES, FUSTEL DE: Der antike Staat, S.232.
3 Hier finden wir wieder die Übereinstimmung von Feind und Fremdem: "Lictor
(schreibt FEsTus nach COULANGES, S. 233) in quibusdam sacris clamitabat: hostis
exesto."
4 "Ne qua hostilis facies occurrat et omina turbet."
5 VERGIL: Äen. III, 403ff.
6 SARTORI: Sitte und Brauch, Bd. I, S. 177.
7 Es ist die hostilis facies.
8 Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. I, S.551. Leipzig 1922.
9 Ebenda I, S. 548.
10 WETTSTEIN, a. a. 0., S.27.
11 COULANGES, FUSTEL DE, S.235.
Der Feind des Landes und der fremde Mann 15

Beamte, der mit dem Krieg und allen Dingen, die den Feind betrafen,
zu tun hatte!.
Die Gefühlslage, die im chinesischen Wort vom "fremden Teufel" den
kürzesten Ausdruck gefunden hat, reicht heute noch in unsere Gedanken-
welt - selbst in die Wissenschaft - hinein. In allen Ländern stoßen wir
auf ihre Spur. Ich habe vor Jahren 2 auf das Gedicht RUDYARD Kn>LINGS
hingewiesen, das die instinktive Furcht vor der Undurchsichtigkeit des
Fremden schildert, der, möge er noch so gut sein, eine andere Sprache
spricht, aber auch andere Gedanken denkt und eine andere Seele hat:
der Mann meines Volkes dagegen, erzählt "die Lügen, an die ich gewohnt
bin, und kennt die Lügen, die ich ihm erzähle". Dem alten Material will
ich einige Erfahrungen hinzufügen, die auf das Teufelsbild des Fremden
Licht werfen und Gelehrte verführt haben, sie als Ursächlichkeiten in
ihre Deutungsarbeit einzusetzen.
In einem wohldurchdachten Aufsatz legt der Dermatologe ZINSSER
folgende Erklärung für die hohe Zahl der Kölner Prostituierten in der
Vorkriegszeit vor: "Die Einwohnerzahl erlaubt auch nicht ohne weiteres
einen Rückschluß auf die Nachfrage nach Prostitution, und wenn man
bedenkt, daß unsere Stadt das Zentrum eines dichtbevölkerten Indu-
striebezirks bildet, daß sie einen enorm entwickelten, lebhaften Fremden-
verkehr hat, daß eine ganze Reihe großer Städte für ihren Luxus und
ihre Vergnügungen auf Köln zurückgreifen, so liegt darin auch eine Er-
klärung und, wenn ich so sagen darf, ein mildernder Umstand dafür,
daß wir hier eine sehr stattliche Anzahl kontrollierter Dirnen besitzen .. .
Wie dem auch sein mag, glaube ich aus den oben angeführten Gründen .. .
und aus der Tatsache, daß Köln bekannt ist als ein Knotenpunkt des
internationalen Verkehrs der Glücksritter, Spieler und reisenden Dirnen,
annehmen zu dürfen, daß bei uns die Zahl der heimlichen Prostituierten
eher größer sein wird als in anderen Städten 3 ."
1 In Rom war eine ähnliche Instanz der praetor peregrinus.
2 Siehe meine Studie: The sWJpect, a study in the psychopathology of social
standards. Am. Journal of criminal law and criminology, Bd.39, S. 19ff. Ich
gebe einen Teil des Gedichtes "The stranger" im Urtext wieder:
"The stranger within my gate,
He may be true or kind,
But he does not talk my talk-
I cannot feel his mind.
I see the face and the eyes and the mouth,
But not the soul behind."
"The men of my own stock
They may do ill or weIl,
But they tell the lies I am wonted to,
And are used to the lies I tell."
3 ZINSSER, FERD.: Die Prostitutionsverhältni8se in der Stadt Köln. Monatssehr.
für Krim.-Psychol., Bd. III, S. 21ff.
16 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Das war Köln in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts. Zwanzig


Jahre später wurde in Amerika die hohe Tötungskriminalität der Groß-
stadt Memphis im südlichen Teil des Landes erörtert. Eine besondere
Untersuchung wurde angestellt 1 . Es wurde festgestellt, daß 3,5% der
Bevölkerung im Ausland geboren und 37,7% Schwarze waren. Genau
wie in Köln wurde die hohe Kriminalität auf Memphis als Mittelpunkt
der "Erholungs" - Suche zurückgeführt, die flottierende und von Arbeits-
krisen getroffene Negerbevölkerung und den Wochenendzustrom, der
Laster und Trunk anstrebt und findet. Betonung wird auf die hohe
Zahl der Durchreisenden und Vagabunden gelegt. Für das Jahr,
das am 1. März 1926 zu Ende ging, wird die Zahl der Wanderer, also
der Stadtfremden, die in Memphis verpflegt wurden, auf 2254 an-
gegeben 2."
Als SEUFFERT vor langen Jahren auf die hohe Betrugsziffer des Land-
gerichtsbezirks Traunstein hinwies, setzte eine lebhafte Diskussion ein.
Auf die Anfrage des Gelehrten wurde ihm mitgeteilt, daß durch Traun-
stein jährlich 7000-8000 Burschen, besonders Österreicher, durchzogen.
Seit 1883 sei die Naturalverpflegung eingeführt worden, die nur zweimal
im Jahr verabreicht werde. Um sie mehrfach zu erlangen, wäre öfters
das Datum gefälscht worden. Außerdem handle es sich häufig nur um
geringfügige Zechprellereien 3 • Eine Aufteilung der Betrugsstatistik in
diesem Südostwinkel Deutschlands, die größere Klarheit gebracht haben
würde, erfolgte nicht. Wie so oft, begnügte man sich mit tröstlichen
Hypothesen, die zutreffen können oder nicht, die aber im Zustand der
Schwebe zu belassen, unwissenschaftlich und nicht ganz ehrlich ist.
Es ist begreiflich, daß sich SEUFFERT durch unbewiesene Argumente
nicht bekehren ließ 4. So spukt der "starke Grenzverkehr" bis heute in
den Gründen weiter, die Fluktuation der "lebensfrohen" Menschen und
der fremden Wanderburschen.
Die kleine Stadt macht einen scharfen Unterschied zwischen Alt-
eingesessenen und "Zugereisten", die in den inneren Zirkel gegenseitiger
Deckung nicht zugelassen sind. Die europäischen Statistiken unter-
scheiden zwischen Einheimischen und Ausländern, der allergröbsten Form
des Fremdseins, das sich in sprachlicher Andersartigkeit äußert, die
Summe aller sonstigen Unterschiede aber ausläßt. Eine solche Zählung
1 BRuCE, ANDREW A., and THOMAS 8. FITZGERALD: A study of crime in the
city of Memphis, conducted by the American Institute of Criminal Law and
Criminology, 8.8ff. Chicago 1929.
2 Ebenda, S. 10.
3 WASSERMANN, R.: Kriminalitätsgeographie und Strafzume8sung in Monats·
schrift für Kriminalpsychologie, Bd. IV, S. 157.
'Er schrieb (ebenda, Bd. IV, 8.160): "Ein Blick auf die Karte lehrt, daß jeden-
falls die Berufung auf die durchwandernde Bevölkerung nicht ausreichen kann,
um die starke Beteiligung des ganzen Südens von Deutschland zu rechtfertigen."
Der Feind des Landes und der fremde Mann 17

wurde in Preußen in den Jahren 1910-1912 an Zuchthausgefangenen


unternommen 1. Von den EiIigelieferten entfielen auf
100000 Deutschsprechende . . . 10,05 Zuchthausgefangene
100000 Polnischsprechende . . . 24,07 Zuchthausgefangene
Es ist wahrscheinlich, daß neben einer Reihe unerforschter Ursachen,
vor allem der schlechteren wirtschaftlichen Lage, der Fremdheitsfaktor
eine Rolle spielte, dem das Gericht sich nicht entziehen konnte. Den
gleichen Eindruck vermitteln französische Zahlen aus der gleichen Zeit.
Es wurden von französischen Schwurgerichten abgeurteilt 2 :
100000 Franzosen. . . . 7,5
100000 Ausländer . . . . 28,8
Es ist unmöglich, in der Liste der Verurteilungen zu Zuchthaus nach
Nationalitäten nicht auch - neben anderen Gründen - eine Skala der
Abstoßung fremder Gruppen zu erblicken. In den Jahren 1928-1939
wurden nach meiner Berechnung 3 iIn Zuchthaus von Oanon Oity auf
je 100000 der betreffenden eingewanderten Volksbestandteile auf-
genommen:
Herkunftsland: Skandinavien 17,5
England 28,2
Rußland 30,0
Polen. . 32,1
Mexiko. 36,6
Kanada. 37,8
Deutschland. 38,0
Italien . . . 45,7
Irland . . . 47,1
Andere Rassen vermitteln ein besonders starkes Gefühl der Fremdheit.
Es ist unbestreitbar, daß die Todesstrafe gegen Neger in den Vereinigten
Staaten häufiger zur Anwendung kommt als gegen Weiße 4 •
Die Schreckgestalt des Fremden 5 mischt sich mit der Furcht-
vorstellung des Ruhelosen, Hungernden, außerhalb der Gesellschaft
Stehenden, wenn wir an Bettler, Landstreicher, Wandernde, "hoboes"
denken. Das Bild, über das wir uns vielleicht nicht ganz klar sind, wird
uns von Zeugen, ja den Kriminellen selbst ganz farbenfrisch geliefert,
die ihre Schuld abladen und gleichzeitig Glauben finden wollen. Die
"Räuber"-Typen vieler Morde sind nur verzerrte Bilder böser Fremder.
1 Die schwere Kriminalität in Preußen 1910-1912 inMonatsschrift,Bd.XI, S.135.
2 Ebenda, S. 136.
3 Aus meinem Colorado Crime Survey, geschrieben im Auftrage der Regierung
des Staates Colorado und der Universität von Colorado (unveröffentlicht), Bd. I,
S. 260. Boulder 1941.
4 ELLIOTT, MABEL A.: Orime in modern society, S. 428. New York 1952.
5 Siehe dazu die Bibelstellen A mos VII, 17; Daniel I, 8 ff.; Apostelgeschichte
XXI, 28; F. NÖTSCHER: Biblische Altertumslcunde, S.97, 140, 334. Bonn 1940.
v. Hentig, Das Verbrechen I 2
18 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Sie sitzen fest im Kopf der Menschheit und brauchen nur herausgeholt
zu werden, um als Erinnerung aufzutreten und als Wahrnehmung rück-
wärts projektiert zu werden.
Bei erregenden Verbrechen tauchen regelmäßig Zeugen auf. Sie haben
fremdartige Gestalten herumlungern gesehen. Sie waren blaß und dunkel-
häutig, erschöpft, verhungert, hohläugig, ungewaschen, unrasiert. Sie
verbergen die stechenden Augen unter ungewöhnlichen Schlapphüten 1.
Sie lehnten sich ganz ohne Grund an morsche Zäune und sind dann
plötzlich wieder weg. Man hat sie nie gesehen, sieht sie niemals wieder.
Sie sehen nicht so aus wie andere Leute hierzulande. Damit kein
Zweifel über ihre fremde Herkunft sei, hinterlassen sie sorgsam eine
italienische Zeitung 2 • Im Falle Steinheil, wo sie sprechen, ist der Akzent
ganz augenscheinlich, und offensichtlich sind es Deutsche 3 • Wenn eine
Frau die Räuberbande führt, so ist sie häßlich, riecht nicht gut, hat rote
Haare. Mit einer Zähigkeit, die unbegreiflich scheint, verwenden alle
diese falschen "Räuber" - Bilder rote Haare, wozu gorgonenartige Züge
treten. Die eine Mörderin, berichtet Marthe Steinheil, riecht stark nach
einer Roten 4 , ihre Haut ist fleckig und der Mund enorm groß. Er ist
"ganz schrecklich, grauenhaft zu sehen ... ". Sowie das Fabelwesen redet,
spricht es den Dialekt der Vorstadt, doch unverkennbar bleibt der
fremde Anklang. - Im Falle Molineux durchgeistert ein imaginärer
Käufer des Behälters, den man mit Gift gefüllt gefunden hat, die Unter-
suchung, ohne daß man eine Spur des Fremden finden kann. Er ist ein
Mann mit rotem Bart, geboren aus der Phantasie der Zeugin 5. - Im
Falle Dr. Wilkins' wollen Taxifahrer einen Mann gesehen haben, der selt-
sam aussah und der, wie sie wohl kaum aus eigenem Sprachschatz holten,
einen roten Van-Dyck-Bart aufwies. Ganz im Vertrauen hatte er ver-
kündet, daß bald ein Mord geschehen werde 6. - Ein anderer Zeuge hat
ihn ganz genau gesehen, den stark gebauten Mann mit "rotem, möhren-
farbenern" Haar 7 • Das gleiche Furchtklischee taucht in Psychosen auf,
und der Patient gesteht: "Ich sehe einen sehr großen Mann mit hängen-
den Schultern, die großen Füße nach innen gedreht, sich auf uns zu-
1HARLow, ALVIN F.: Murders not quite solved, S.299. New York 1938.
2QUINBY, IONE: Murder for love, S.29. New York 1931.
3 ÜHRESTIEN, MICHEL: L'affaire Steinheil, S. 84. Paris 1958 (~Une sorte d'accent
germanique»).
4 «Elle sentait la rousse o. Ebenda, S. 97.
5 SMITH, EDWARD H.: Famous poison mysteries, S. 74. New York 1927.
("A man described as having a reddish beard.")
6 COLLINS, RED: New York murders, S.156. New York 1944. ("A man who
was thin, with a thin face and a red Van Dyck beard, and wearing a slouch hat.")
7 Neuer Pitaval, Bd. 36, S. 49. Leipzig 1865. Es handelt sich um den berühm-
ten Eisenbahnmord von 1864. - Über den roten Wilden Jäger, rote Geistertiere
und den rothaarigen japanischen Teufel s. RocHHoLz: Schweizersagen aus dem Aar-
gau, Bd. I, S. 212, 213. Aarau 1856.
Der eigene Widersacher und der Depressive 19

bewegen." «11 a une grande barbe rouge - je ne le connais pas!.» Dem


Fremden laden wir noch heute gerne alles Böse auf. Er ist verdächtig.
Ihm ist alles zuzutrauen 2. Verteidiger finden immer wieder Zeugen, die
das Phantom des "Andern" sahen und sich ganz genau erinnern. Aus
Urzeit stammend, ist der Fremde oder Unbekannte untrennbar in das
Bild des Übeltäters eingewoben. Um die Verzerrung voll zu machen, wird
Armut oder Hunger als stetes Attribut dem Fremden mitgegeben. Es
fließen Ströme einer Furcht vor fremden Teufeln und vor armen Teufeln
ineinander.
4. Der eigene Widersacher und der Depressive
Zur Depression gehört der Wahn, ein Sünder, Übeltäter, ein Ver-
lorener zu sein, dem Strafe zukommt und der Strafe sich erwünscht.
Um plagen Stimmen, die Verdammnis und Verderben künden. Er wird
von drohenden Gestalten umringt. Um die Verfolgung zu erklären, sieht
er sich selbst als einen an, der büßen muß3. Er schwärzt das eigene
Bild, sieht sich als Feind, und dieser Bösewicht verdient, im tiefsten
Höllenpfuhle ausgelöscht zu werden. Die eigene leidbesessene Seele be-
ginnt mit dem Pogrom der Selbstentwertung 4 , damit wir selbst und
andere Anlaß zur Vernichtung finden. Der Kranke bietet sich mit
seinem tiefen Schuldbewußtsein jeder Strafe, jedem Irrtum an, der auf
die Unvollkommenheit des Menschen lauert.
Wir kennen die Rolle des falschen Geständnisses in der Geschichte
der Justizirrtümer. Solange man glaubte, die Vorsehung werde dem
Unschuldigen auch in der Folter genügend Kräfte leilien, um alle Qualen
auszuhalten, konnte an der Tortur und ilirer Art der Wahrheitsfindung
nicht gerüttelt werden. Aber nicht von dem falschen Geständnis, über
das ich oft geschrieben habe, soll hier gesprochen werden. Tausendmal
öfters sind es nur die leichteren und mittleren depressiven Phasen, die
auf das Urteil Einfluß haben, den Angeklagten vor Gericht wie einen,
der sich selbst verurteilt hat, erscheinen lassen, seine Verteidigung hem-
men und ilin bestimmen, kein Rechtsmittel einzulegen. Ehe die großen
Kriege und die gewaltsamen Umwälzungen den Justizapparat erschüt-
terten und beschädigten, also etwa 1911, kamen auf 1000 Urteile der
Vorinstanz 112 Berufungsentscheidungen 5 ; von 1000 Urteilungen in der
1 Monatsschrift, Bd. VI, S. 43.
2 Siehe meine Mitteilung über Gerüchttypen in Monatsschrift 1928, S.759.
3 Wenn der "Eindruck vor Gericht" zu den Indizien gehört, wie soll das aus-
gesprochene Schuldgefühl des Angeklagten anders als zu seinen Ungunsten wirken?
4 "Es ist schon vorgekommen", lesen wir bei JACOB WYRSCH (Gerichtliche
Psychiatrie, S. 155. Bern 1955), "daß ein melancholischer Bankkassier mit seinem
Köfferchen bei der Polizei erschien, um die Strafe für seine Unterschlagungen an-
zutreten."
5 Deutsche Justizstatistik 1913, S.227. Berlin 1913.

2*
20 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Berufungsinstanz wurden 400 aufgehoben. Gegenüber 1000 Urteilen


der Vorinstanz ergingen Revisionsurteile im Jahre 1911 1 :
Gegen Urteile erster Instanz . . . . . . . . . . 64
Gegen Urteile der Berufungsinstanz . . . . . . . 92

Von 1000 dieser Entscheidungen hob die Revisionsinstanz auf:


Bei Urteilen erster Instanz . . . . . . . . . . 141
Bei Urteilen der Berufungsinstanz . . . . . . . 191

Gegen 888 von 1000 Urteilen erster Instanz wurde kein Rechtsmittel
eingelegt. Darunter wird die große Mehrzahl sachlicher und rechtlicher
Nachprüfung standhalten. Es werden aber eine Reihe von Fällen übrig-
bleiben, die in der zweiten Instanz eine andere, oft günstigere Beurteilung
gefunden haben würden. Hier haben wir die hypo-depressiven Menschen-
typen zu suchen, die arbeitsfähigen Kranken, die kein Arzt zu sehen be-
kommt, die beruflich, ehelich, emotionell erlahmen und vor Gericht die
schuldbewußten oder gleichgültig-antriebsschwachen Angeklagten sind.
Sie werden zwar gesehen - zu ihrem Nachteil- und gehört, doch nicht
erkannt. Daß sie des Widerstands ermangeln, wird als ein Eingeständnis
ihrer Schuld gedeutet.
Das Bild des Feindes wird verkleinert, geschwärzt, mit Wesenszügen
ausgestattet, auf die wir heftig reagieren können und auch sollen. Im
Kleinheitswahnsinn kehrt der gleiche Mechanismus die Angriffsrichtung
gegen uns. Wenn wir den Depressiven dazu bringen könnten, ein Selbst-
porträt zu zeichnen, das sein schlechtes und verworfenes Innere zeigte,
es würde sich vom Teufels- oder Feindesbild nicht unterscheiden. Nur
daß an Stelle der Hungerblockade die Nahrungsverweigerung, an Stelle
der Greuelpropaganda die Selbstanklage, der FeindbeschInierung Selbst-
anschwärzung träte. Wahnhaft getrübt ist jedes dieser Bilder. Sie kreisen
um den übeltäter. Nicht nur die Außenwelt erhebt sich gegen Depressive.
Sie halten über ihre eigene Schlechtigkeit Gericht. Er kommt sich selber
höchst verdächtig vor und sieht der Selbstvernichtung wie ersehntem
Fest entgegen.
Nicht nur fegt Haß des Feindes, welcher Art er immer sei, das
menschliche Gehirn von jeder Hemmung frei und ist daher wie jeder
losgebundene Trieb genußvoll. Der wilde Haß betäubt auch jeden
Schmerz. Er ist dem Drang 2, mit aller Spannung Schluß zu machen,
nahe und verwandt. Er feilt von dem Bewußtsein alle scharfen Kanten
weg 3, die hindernd noch im Wege stehen könnten. Rapid nimmt das

Deutsche Justizstatistik 1913, S. 233. Berlin 1913.


1
"Der Todessüchtige drängt sich ... in einer Art Rausch dem Ende entgegen."
2
STELZNER, HELENEFREDERIKE: Analyse von 200 Selbstmordfällen, S. 94. Berlin 1906.
3 GOETHES Werther spricht in seinem Abschiedsbrief vom "Taumel des Todes".
Der übeltäter 21

Gewicht des Lebenwollens wie des Körpers ab. Die Neigung zu ver-
nichten, andere und sich selbst, ist einzig Ziel des Strebens, geht in
kurzen Wechselströmen ineinander über l • Es kommt zum Glücks-
gefühl der Demolierung 2 und Raptus des Vandalentums. Beim Haßbild
des Verbrechers durfte deshalb auch der Mensch nicht fehlen, der sich
aus übelwollen selbst verwundet und beschädigt und unserer Straf-
androhung unerreichbar ist.

5. Der Übeltäter
Es gibt fixierte Gegenstände unseres Hasses, daneben solche, die
flottieren. Wenn Griechen an Barbaren dachten, war der Gedanke eige-
nen Wertes und des fremden Unwerts fest verankert. Die besten Köpfe
hielten an der kollektiven Überhebung fest. Heute wechseln wir das Bild
des Landesfeinds in rascher Folge aus. Von Freunden oder bloßen
Konkurrenten wurden wir urplötzlich in die Feind-Idee hineingerissen,
als England 1914 unerwartet uns den Krieg erklärte. Sowie Italien
wie im zweiten Weltkrieg zu der Gegenseite übertritt, sind alle Italiener
für den Westen plötzlich gute Menschen, die sie bisher mit allen Attri.
buten ihres Zorns bedachten. Es zeigt sich mit der Klarheit eines
Experiments, daß wir erst fühlen, lieben, hassen, fürchten und dann
erst unserem Urteil dunkle oder helle Farben geben. Nicht anders steht
es mit dem Gegner im persönlichen Bereich. Er kommt und geht, und
so bewegt sich unsere Meinung: Wir deuten ihn - man könnte sagen -
mit dem Wellenschlag der Drüsen um. Selbst andere, neue Haßobjekte
können alte Bilder aus dem Kopf verdrängen, der offensichtlich nur ein
vorgesehenes Quantum Groll zu fassen vermag. Deshalb warnt auch
das Sprichwort vor den Folgen einer raschen Wachablösung unseres

1 Während des großen Börsenkraehs der 30er Jahre machte die Inhaberin eines
mondänen öffentlichen Hauses in New York mit reichen Opfern des Zusammen·
bruches eigenartige Erfahrungen. Sie berichtet (ADLER, POLLY: A house is not
a home, S. 127. New York 1956): "Ein Herr, den ich inlmer gemocht und für einen
Gentleman gehalten habe, erschien eines Abends und verlangte die Gesellschaft
eines bestimmten Mädchens. Er ließ sich zu abscheulichen, grausamen und un-
menschlichen Akten hinreißen, so daß das Mädchen physisch ein Wrack war.
Am nächsten Morgen ging er in sein Büro und erschoß sich."
2 Am Morgen vor dem Tode, in den er seine Freundin mitnahm, schrieb HEIN-
RICH v. KLEIST an Ulrike: "Und nun lebe wohl. Möge Dir der Himmel einen Tod
schenken, nur halb an Freude und unau88prechlicher Heiterkeit dem meinigen
gleich." WEICHBRODT, R.: Der Selbstmord, S.205. Basel 1937. - Vorher hatte
er in einem Briefe an Marie v. Kleist von dem "wollüstigsten aller Tode" gesprochen.
Ebenda, S. 203. - Es gibt auch Völker, die diesem gefährlichsten aller seelischen
Zustände anheinüallen. Erst hoben sie sich in den Himmel, dann stürzen sie sich
in den Orkus.
22 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Argwohns l , denn die Versöhnung mit dem Feinde kann die alte Wirk-
lichkeit nicht ändern 2 •
Der Fremde ist uns heute noch bedenklich, obschon das Neue kurze
Zeit reizvoll sein kann. Der Glaube unserer Tage, daß Völker sich um-
armen werden, wenn sie einander besser kennen, wird durch die Soziologie
der Ehe nur zum Teil bestätigt. Der Fremdenhaß, der in den genannten
Verurteilungszahlen seine ungebrochene Kraft zeigt, kann an Erschöp-
fung wie nach langen Kriegen siechen. Dann lebt er wieder auf, sucht sich
an neuen, noch nicht abgegrasten Zielen zu erfrischen. Den Landes-
feind ersetzt der Klassenfeind. Die Rassen messen sich mit haßerfüllten
Blicken. Das englische Wort "foe", unser Feind, geht auf die Wurzel
"bitter" (pikros) zurück. Das Bittre aber soll als Element des Schadens
ausgespien werden, wie schon die Bibel sagt. Um ihrer Herr zu werden,
umschließen wir den Klassenfeind, den Rassenfeind, den inneren Gegner
eng mit Strafgesetzen. Daneben geht die Selbsterhöhung : wir sind die
"Guten 3", Wohlgesinnten, und zwar wir alle ohne Unterschied. Wer
uns im Wege steht, ist schlecht, in toto wiederum, ganz ohne Rücksicht
auf die Eigenschaften, die sonst als wertvoll anerkannt sind 4.
Vom Teufel, Fremden 5 und vom Übeltäter hat sich also eine Mei-
nung gebildet, die hart geworden ist und wenig schwankt. Es sind, optisch
kaum verrückbar, Feindestypen, mit denen wir in allen Lebenslagen
operieren. Die defensiven Bilder haben für die bloße Selbsterhaltung
ihren Zweck. Wie Bilder der Verehrung uns zur "Neigung", zum Näher-
kommen und Vertrauen leiten, so führen uns Gestalten, die wirklich
Feinde sind und die wir noch dazu als Feinde grell aufgeputzt haben, zu
Argwohn, Fluchtbereitschaft oder Gegenschlag. Wie alles, was summa-
risch sein muß, sind sie oftmals falsch. Sie haben sich trotzdem als
Durchschnittsinstrument bewährt, denn von Instinkten kann man nicht
erwarten, daß sie biegsam wären.

1 "Take heed of reconciled enemies and of meat twice boiled; trust not a new
friend or an old enemy; take heed of wind that comes in at a hole and a reconciled
enemy." SMITH and HESELTINE: The Oxford dictionary of e1l{}lish proverbs, S.535,
673,712.
2 Versöhnlichkeit kann wie Dankbarkeit eine drückende Last sein und nur zu
einem Erscheinungswandel der Feindlichkeit führen.
3 Boni und optimi waren im alten Rom die Konservativen, die Aristokraten, die
ungelehrten "Schriftgelehrten".
, Einer der wichtigsten Betriebsfehler ist, daß sie über die notwendige Defensive
hinausgehen. Zu töten wird jetzt eine Lust, die wir genießen, weil wir uns nach der
Vernichtung wohlgeborgen fühlen. Silen meint im Kyklop des EURIPIDES (126)
bei einer kulinarischen Unterhaltung mit dem Menschenfresser, daß Fremde doch
am allerbesten schmeckten.
5 "Wiederholt tritt der Teufel als ,Fremder' auf, den niemand kennt." FEHE,
HANS: Das Recht in den Sagen der Schweiz, S. 72. Frauenfeld 1955.
Der Übeltäter 23

Der biologische Wert von automatisierten Warnbildern wird nicht


wesentlich dadurch geschmälert, daß sie in einem Fall danebenschlagen,
in anderen Fällen fälschlich übermäßig alarmieren. Sie sind und bleiben
trotzdem eine Lebenshilfe. Auch daß die Furcht bisweilen in Ver-
ehrung umschlägt, wie wir bald sehen werden, liegt im Wesen mancher
Apparate auf dem Gebiet des Seelenlebens, und daß der Weg vom
Scheiterhaufen und dem Angespienwerden zur Seligsprechung manch-
mal kurz ist. Nur sollten wir die Reaktionen auf den Bilderwechsel
nicht derart gestalten, daß sie nicht wieder gutzumachen sind. Noch
andere Kräfte haben an der Flut und Ebbe dieser Bilder teil. Der übel-
täter wechselt seltsam seine Züge, je nach der Nähe einer Tat und der
Entfernung, Frische oder Müdigkeit des Hasses. Wir wissen alle, daß
Verjährung in beiden Formen Anspruch auf Verfolgung und Voll-
streckung auslöscht, als wäre ein Verbrechen nie gewesen. Nach 20 oder
30 Jahren sind die Mörder, wenn wir wollen, rechtlich keine Mörder
mehr. Wie unser Sinn, so läßt das Strafgesetz den Zorn verblassen!.
Wir fühlen anders, denken anders, weil das Unheil lange her ist. Sehr
oft zehrt eine andere Mordtat das Interesse an der Tötung auf, die wir
mit Leidenschaft verfolgten.
Wo finden wir das Bild des Kriminellen, verdichtet als verdächtige
Gestalt, als Spielart, der die eine oder andere Untat zuzutrauen wäre?
Am Stammtisch, auf den Hintertreppen, an Straßenecken, auf den
Bänken stiller Parks? In Redaktionen, Parlamenten, in der Haupt-
verhandlung, auf den Korridoren der Gerichte? Wie häufig splittert
sich das Urteil auf, wenn Bürgermeister, Pfarrer, Lehrer, Nachbarn und
Landjäger ihren Eindruck schildern. Da sind die Frauen, die am Garten-
zaune plaudern, das Bild der Kneipentische, alkoholbeflügelt, summarisch
wie der tiefe Schluck, und von den Lauten angeführt. Das Bild der
Illustrierten, die nur interessante Fälle bringen, die winzige Minderheit
des kriminellen Alltags, der Tag und Nacht an uns vorüberflutet und
unsere eigentliche Sorge ist. Die Illustrierten leben von dem Wider-
spruch eindrucksvoller Raritäten mit übeltätern der gemeinen Wald-
und -Wiesen -Art. Wir blättern sie mit Schaudern durch, um dem Klischee
uns um so gläubiger an den Hals zu werfen, das unseren stillen Wünschen
mehr entspricht.

1 Praktische Gründe kommen hinzu. Im Hamburger Mordfall Leh-Engerer,


der 12 Jahre nach dem Tode des Opfers verhandelt wurde, wurden die Angeklagten
von der Anklage des Giftmordes freigesprochen. Dazu bemerkt der Herausgeber
des Berichts: "Sachverständige sollen die Ansicht vertreten haben, daß ein Krimi-
nalprozeß, der wesentlich von den Ergebnissen von Zeugenaussagen abhängt, zwölf
Jahre nach Begehung der Straftat unmöglich oder doch wenigstens nahezu un-
möglich erscheint." WOSNIK, RWHARD: Beiträge zur Hamburgi8chen Kriminal-
ge8chichte, Bd. H. 3, S. 87.
24 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Die Wissenschaft teilt sich in Schulen auf, und diese kämpfen mit-
einander. Ihr Konterfei geht vom geborenen Verbrecher bis zur All-
macht des Milieus. Sie zieht Vergleiche zwischen Delinquenten und den
Nichtbestraften und weiß dabei nicht, wieviel Nichtbestrafte Delin-
quenten sind, wie viele nur von Zufallsgnaden sich bewahren konnten,
vor Schuld nicht, sondern vor Entdeckung oder Überführung. Bis heute
hat die Wissenschaft dem populären Bilde des Verbrechers nicht sehr
viele neue Striche zugefügt. Mit ihrer besten Leistung kann sie nur
vorsichtig korrigieren, was zu gedrängt in der Urteilsfällung nach
schlechter und nach guter Seite ist. Die Masse fordert klare, helle,
simple Muster. Die Wirklichkeit vermag sie nicht zu geben, wenn auch
in unserem Kopf die Vielfalt sich verdichten läßt. Das Eingedickte und
Verkürzte aber kann nur halbe Wahrheit sein - im besten Falle.
Das Bild des Delinquenten, das so festgegründet schien, schlägt
manchmal plötzlich nach der Gegenseite um. In dem bereits berührten
Hexenabschied hatte sich am 3. August 1562 ein furchtbares Unwetter
über Stuttgart entladen. Seltsame Töne waren in den Lüften zu ver-
nehmen, ein Wolkenbruch setzte die ganze Gegend unter Wasser, Hexen
flogen, wie die Chronik berichtet, nach der Feuerbacher Heide, "wo sie
sich gegen Gott gekehret und die liebe Menschlichkeit verlassen, mit
herescher Hilfe". Sie hatten vorher in verdammter Gesellschaft zucht-
lose Tänze abgehalten und waren "mit gaylem Gewu" umhergeflogen,
"umscharet von Teufeln ... bis das Frühlicht gekommen, von wo sie
in der Luft heimgezogen und durch die Rauchsteine in ihre Häuser sich
wieder genistet hätten". Kaum waren zu allgemeiner Befriedigung und
Erleichterung die schuldigen Frauen hingerichtet, da erstach sich ein
alter Mann; er hatte aus Eifersucht gegen seine verbrannte Frau falsches
Zeugnis abgelegt, um sie aus der Welt zu schaffen. Jetzt drehte sich mit
einem Male die gespannte Stimmung. Drei Prediger verlasen in den
Kirchen den Namen der unschuldigen Frau. "Dieser Fall eröffnete den
Richtern und dem Herzog die Augen, sie schämten sich des ganzen Vor-
gangs, und jedes Gespräch davon ward verboten und verpönet, die Akten
beiseite geschafft, und den Weg nach dem Richtplatz ließ man ein-
gehen l ."
Wenn Liebe bis zur Unkenntlichkeit verschönert, so muß der Haß ent-
stellen. Es kommt zu einer Urteilstrübung, die wir auch sonst in Alltags-
dingen beobachten können. Grausige Babys sind für ihre Eltern
wunderschön, und in der Liebe wird ins Herrliche verzeichnet, indessen
bei der Scheidung Schuppen von den Augen fallen und wir bestürzt die
Grenzen unserer Urteilskraft erkennen. Wir sehen alle, die uns nützlich
sind, mit milden Augen an, verzeihen ihre Fehler, gewinnen einen guten

1 NICK, a. a. 0., S. 162ff.


Der Übeltäter 25

Eindruck und trauen ihnen ungern Böses zu. Der Hauswirt beurteilt den
Menschen nach der pünktlich gezahlten Miete, der Lehrer traut dem
Primus keine schlechte Handlung zu 1, die alte Dame findet den Studenten
ganz prächtig, der früh nach Hause kommt und auf den Zehenspitzen
geht; sie legt für ihn die Hand ins Feuer, denn seine Eltern hätten Geld.
Es sei unmöglich, daß er einen Mann im Zug erschlagen habe 2 •
Die Widersacher - und es gibt von ihnen viele -, sie alle kommen in
die Schreckenskammer und zu den Wachsfiguren, die uns befriedigt
schaudern machen 3. Verbrecher stehen nur am linken Flügel einer
Schlachtfront, die sich weithin dehnt. Da sind die Konkurrenten, deren
Fehler ihre Leistung ist, die Nebenbuhler in der Liebe, die mehr vom
Leben haben, anders denken, vom Glück begünstigt waren und uns über-
holten. Wir färben sie ins Unvollkommene, Mangelhafte, Tadelnswerte um.
Dem, den wir lieben und bewundern 4, verleihen wir die edlen, unwahr-
scheinlich schönen Züge auf Heldenstatuen und auf Siegeszeichen und
auch in unserer Phantasie. Selbst die Tyrannenmörder nehmen an der
Zweck-Verklärung 5 teil, denn wir sind stets Partei, ob wir verehren oder
hassen. Wir werden zum beredten Anwalt und, wenn wir grollen,
wiederum zum Staatsanwalt, der uns ein Scheusal sehen läßt, zum
Sprung bereit, uns zu verschlingen, wenn wir ihm nicht zuvor das Hand-
werk legen 6. Das Schreckbild des Verbrechers ist rein optisch wie der
Ruf der Kämpfer, der anspornt und das träge Blut in Wallung bringt.
Das gleiche Bild ist wie Kriegsruf einer Masse, der uns versichert, daß
wir nicht alleine sind.
Die Fetischwaage alter Zeiten liegt weit hinter uns 7• Gerichte sind
an Regeln fest gebunden, die eine Fehlentscheidung schwierig machen
sollen. Doch dieses "freie" Richten und Ermessen ist eng in Massen-

1 "Der greise Herr stellt seinem Vorzugsschüler das beste Zeugnis aus." ...
"Eines Diebstahls sei er absolut unfähig." MosTAR, HERMANN: Nehmen Sie druJ
Urteil an?, S. 39. Stuttgart 1957.
2 FRIEDLÄNDER: Interessante Kriminalprozesse, Bd. I, S. 11. Berlin 1910. "Er
spielte so wundervoll Geige."
3 Siehe die Wachsfigur der Kate Webster im Kabinett der Madame Tussaud.
O'DONNELL, ELLIOTT: Trial of Kate Webster. Edinburgh 1925.
4 Auch wer uns liebt und dem, der uns bewundert.
5 Siehe das griechische Bronzedenkmal von Harmodios und Aristogeiton auf
dem Markt von Athen.
6 Die Animosität erstreckt sich auf den, der, wie bei Hexenprozessen, zur Ver-
nunft rät. Er schützt uns nicht, so meinen wir, er will den Widersacher vor uns
schützen.
7 Über die lebende und denkende Waage siehe meine Studie: Zur Soziologie des
Richtschwerts. Schweiz. Z. Strafrecht, S. 22,1959. - Über die Waage im deutschen
Recht - golden war die Waage in der Hand des Zeus - siehe GRIMM, Deutsche
Rechtsaltertümer, Bd.lI, S. 246 und 247. Hier wird auch eine Beziehung zum
Golde sichtbar, die dunkel bleibt.
26 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

denken eingepackt. Hier teilt ein Richter die "gesunde" Volksempfin-


dung. Dort stemmt er sich dem Irrtumsschwall entgegen, ein Idealbild
und ein königlicher Richter. Die Masse drängt mit Bildern des Ver-
brechers an, die biologisch auf den Durchschnitt ausgerichtet, im Einzel-
falle aber grob vereinfacht sind. Denn immer bleibt der Delinquent ein
Stück der Feindeswelt : des Feindes, der an unseren Grenzen lauert; des
inneren Feindes, der berauben, uns der Macht entsetzen will; des bösen
Feindes, der der Seele nachstellt. Wir haben alle Widersacher lange
schon erkannt an ihrer Fremdheit, Henkelohren, hohen Backenknochen,
hartem Blick. Von diesen Bildern lassen wir nicht ab, denn sie entstam-
men ältesten Instinkten. Selbst unsere Hunde bellen diese Typen an,
und andere Völker halten uns die gleiche Schreckensmaske vor, wenn wir
als Feinde ihnen gegenüberstehen. Es ist im Kampf ums Dasein all-
gemeines geistiges Gesetz.

B. Das Fehlbild primitiver Reaktionen


1. Der Galgenstrick
Der Gedanke des Galgengesichts - andere Wortbildungen sind
Galgenvogel, Galgenschwengel, Galgenschelm ; englisch gallow-faced,
gallow-Iooking, gallows-bird - , der in der These LOMBROSOS wissen-
schaftliche Fundierung gesucht hat, konnte aufkommen, solange es nur
eine kleine Gruppe allerschwerster Tabus gab, wie sie in den zwölf
Tafeln oder den zehn Geboten niedergelegt waren. Vor der Regel des
Staates war das Gesetz, das Gott gegeben hatte. Sein Ursprung spiegelt
sich noch in den sakral gefärbten Ausdrücken der römischen Sprache:
scelus, nefas, probrum, flagitium, peccatum, maleficium und facinus
widerl. Wer fehlte, machte sich nicht nur strafbar. Er machte sich
der Sünde schuldig, an die der Richter heute noch beim Eid erinnert,
weil sie für viele folgenreicher als Verbrechen scheint.
Für die Germanen waren schwere Missetaten "Neidingswerke". Es
waren Taten, die den Haß erregten und schmachvoll waren 2, wie Dieb-
stahl, Mord, Verrat und Notzucht. AMIR.A. hat den "Unehrlichen" ge-
schildert 3 : "Das Neidingswerk ist Ausfluß einer schändlichen Ge-
sinnung (nid) , Werk eines Entarteten, der als solcher dem Haß seines
Volkes verfallen ist." Man geht ihm mindestens neun Fuß aus dem Weg
nach Friesenrecht. Entartung kam im Körperbau zutage: "Der Dieb
1 MOMMSEN: Röm. Strafrecht, a. a. 0., S. 9. - Der ältesten Anschauung entsprach
"die Übereignung des Verurteilten an eine Gottheit", die Sakration. Ebenda, S. 901.
2 Im Sinne der Selbstausschließung von der Gemeinschaft.
a AMrnA, KARL VON: Die germanischen Todesstrafen. Abh. der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, Philosoph.-Philologische und Historische Klasse,
Bd. XXXI, S. 64ff. München 1922.
Der Galgenstrick 27

hatte, wie man im Norden meinte, anders geartete Augen l ... Auch an
eine Diebsnase glaubte man und an Zähne des Diebes." Das Galgen-
gesicht war wie bei SHAKESPEARE 2 eine gangbare Vorstellung. AMmA
erinnert auch an die vielen Sprichwörter über das rote Haar und an die
Tatsache, daß der Missetäter der Volksmärchen regelmäßig eine Miß-
gestaltung aufweist. Auch unser Teufelsbild zeigt körperliche Eigen-
heiten und reicht mit Schwanz und Pferdefuß in der Entwicklungsreihe
weit zurück. Sie lassen seinen bösen Sinn erkennen (s. SHAKESPEARE :
Othello 5, 2, 284).
Auch in der Sprache lebt noch dieser alte Glaube. Häßlich war einst-
mals haßerregend 3. Ugly, auf englisch häßlich, ist "einer, der zu fürchten
ist 4". Ein "mieser" Kerl ist auf hebräisch einer, der uns abstößt 5.
Häßlich, auf griechisch ocl(1XQ6~, war äußerlich mißförmig und dann
weiter lasterhaft. Das "Garstige" schmeckt schlecht, weil es verdorben
ist und Widerwillen 6 mit sich bringt. Ganz deutlich schwingen beim
Begegnen mit der Häßlichkeit tiefeingewurzelte Untertöne einer Regel-
widrigkeit mit, die auch im Handeln Ausdruck finden könnte. Geruch
ist "häßlich", aber auch Charakter und Verhalten. Häßlich sind Sünde
und mit ihr die Sünder.
Dichter haben seit jeher den bösen Menschen äußerlich entstellt und
damit Glauben gefunden. Der Krakeeler und Miesmacher Thersites,
"dessen Herz mit vielen und törichten Worten gefüllt war 7," wird wie
ein Sammelsurium von Verunstaltung geschildert:
" ... Der häßlichste Mann vor Ilion war er gekommen:
Schielend war er und lahm am andern Fuß und die Schultern
Höckerig gegen die Brust ihm geengt; und oben erhub sich
Spitz sein Haupt, auf dem Scheitel mit dünnlicher Wolle besäet."
In Ausführung einer Bemerkung Cäsars bei Plutarch, mit der er
auf seine Feinde Brutus und Cassius anspielt 8, hat SHAKESPEARE eine
1 ÄMIRA weist (S. 66) auf den irischen Volksglauben hin, daß ein Gewohnheits-
verbrecher den Sonnenschein nicht zu sehen vermöge. - Was hätten wir nach
diesem Aberglauben von der schwarzen Brille unserer Zeit zu halten?
2 Verlorene Liebesmühe V, 2,12. - ÄMIRA weist auch auf den Sturm I, 1, hin,
wo Gonzalo vom Steuermann sagt, er sehe nicht so aus, als ob er zum Ersaufen
bestimmt sei: "His complexion is perfect gallows" = Er ist der perfekte Galgenvogel.
3 KLUGE-GÖTZE, S. 303.
4 SKEAT, W ALTER W.: A concise etymological dictionary 01 the English Zanguage,
S.582. Oxford 1956. (fearful, dreadful.)
5 KLUGE-GÖTZE, S. 492.
6 KLUGE-GÖTZE, S. 241, auch bitter im Geschmack. Auf die Beziehung von :n;t:K(?o<;

und foe haben wir bereits hingedeutet. Bitter wiederum hängt mit beißen zusammen.
Es dient sprachlich zur Verstärkung widriger Sensationen, bitterböse, bitterkalt,
immer aber bei unangenehmen Lagen, wie Not, Haß, Reue, Zwang, Kummer.
7 HOMER: !lias, II, 212ff.
8 "Die Fettwänste und wohlgepflegten Haare kümmerten ihn nicht, wohl aber
die Bleichgesichter und die Spindeldürren." PLUTARCH: Brutus 8.
28 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Physiognomie des politischen Verschwörers entwickelt, von der zumeist


ein kurzer Satz zitiert wird, während Cäsars Beobachtungen eine Reihe
anderer Wesenszüge umfassen; ich gebe sie daher an dieser Stelle wieder l :
CÄSAR "Laßt wohlbeleibte, runde Männer um mich sein,
Mit glattem Haar, und solche, die zur Nacht gut schlafen.
Der Cassius dort hat einen hohlen und verbissenen Blick.
Er denkt zu viel. Von solchen Leuten droht Gefahr."
ANTONIUS "Seid nicht besorgt, mein Cäsar, er ist keinesfalls gefährlich,
Dir als ein Edelmann und Römer zugetan."
CÄSAR "Wär' er nur fetter! Doch ich fürcht' ihn nicht.
Doch wenn ich, Cäsar, jemals einen fürchten sollte,
So kenn' ich keinen, dem ich lieber aus dem Wege ginge
Als diesem magern Cassius. Lesen tut er viel,
Beachtet alles sorgsam und vermag
Der Menschen Taten zu durchschauen; er mag die Spiele nicht
Wie Du, Antonius, mag Musik nicht hören.
Er lächelt selten. Wenn er's einmal tut,
So scheint er seinem eigenen Denken Hohn zu sprechen,
Weil es zum Lächeln sich verführen ließ.
Derartige Männer finden nimmer Ruhe,
Solang sie einen größeren sehen als sie sind.
Das ist es, was sie so gefährlich macht."
Schließlich sei an die instinktiven Furchtanwandlungen Gretchens beim
Anblick von Mephistopheles erinnert 2:
"Der Mensch, den Du da bei Dir hast,
Ist mir in tiefer innerer Seele verhaßt.
Es hat mir in meinem Leben
So nichts einen Stich ins Herz gegeben
Als des Menschen widrig Gesicht."
Wie in Cäsars Beobachtung, beunruhigt sie die Art des Lächelns.
"Kommt er einmal zur Tür hinein,
Sieht er immer so spöttisch drein
Und halb ergrimmt;
Man sieht, daß er an nichts keinen Anteil nimmt;
Es steht ihm an der Stirn geschrieben,
Daß er nicht mag eine Seele lieben."
Immer wieder spielt das Urbild des Bösen, des ewigen Menschenfeindes,
in den Eindruck hinein, den wir von manchen Verbrechern empfangen.
"Beide Angeklagte", schreibt ein Kriminalkommissar von dem Dienst.

1 Julius Oäsar I, 2, 190ff. - Die feineren Nuancen kommen bei den meisten
Obersetzungen nicht ganz heraus. - Besonders gut ist bei Cassius der depressive
Zug beobachtet, den er mit Brutus teilt. Cassius sucht den Tod in der Schlacht;
Brutus begeht Selbstmord. Von anderen Verschwörern meldet SUETON (Gaiu8
Julius Oä8ar 89): "Einige nahmen sich mit demselben Dolch, mit dem sie Cäsar
verletzt hatten, das Leben."
2 GOETHE: Faust, Erster Teil.
Der Galgenstrick 29

mädchenmörder Franz Schneider und seiner Frau 1 , "machen einen ab-


stoßenden Eindruck, sie, ein kleines, schwächliches, spindeldürres Frauen-
zimmer mit spitzer Nase und listigen kleinen Augen, er, ein ordinärer
Mensch, bei dem alles ins Rötliche spielt, so daß man unwillkürlich an
einen Darsteller des Teufels erinnert wird."
Ich habe vor langen Jahren auf die "Bosheitstoilette" hingewiesen,
die die alte Strafvollstreckung an gewissen Kategorien von Missetätern
vornahm, um sie möglichst abstoßend erscheinen zu lassen. Wenn einer
wegen Zauberei verurteilt war, so riß man ihm die Augenbrauen und die
Nägel aus 2. "Man stellte also künstliche körperliche Degenerationsmerk-
male her, um die Abneigung des Publikums zu wecken und jede Regung
des Mitleids zu ersticken 3 ." Wenn diese Prozedur nicht vorgenommen
wurde, so unterließ man nicht, dem Bedürfnis nach zorniger Erregung
durch andere optische Reize zu genügen. Der Jungfrau von Orleans
wurde vor der Verbrennung die ({mitre d'infamie» aufgesetzt, auf der die
schon genannten Schreckensworte : ({Heretique, relapse, apostate, ydo-
lastre» standen 4 • Es scheint gewiß, daß beim Teeren und Federn dem
Verurteilten das Aussehen eines jener Vögel verliehen wurde, die einst-
mals in Riesenschwärmen einzufallen und die ganze Ernte zu vernichten
drohten. Der Mensch war diesen Räubern gegenüber hilflos. Nichts
konnte armen Bauern hassenswerter sein.
In einer kleinen Untersuchung hat der Maler CARL RÖHRER die
Physiognomik untersucht, die die großen Meister der alten Malerei ge-
trieben haben 5, und ist dabei auf die zahllosen Gemälde eingegangen, die
das Leiden Christi und die Martyrien der Heiligen zum Vorwurf hatten.
Er sagt vom Sebastianaltar Holbeins des Älteren in der Münchener
Pinakothek:
"Von links zielt einer (der dargestellten Schützen) mit vornübergeneigtem Kopf
und gespanntem Gesichtsausdrucke, wobei das Auge wie über eine Brille hinweg-
sehielt, scharf beobachtend, auf den Heiligen, als gäbe es einen leckeren Bissen zu
erhaschen, während rechts ein dicker Mensch mit trägem gemein-sinnlichem Ge-
sichtsausdruck und wulstigen Lippen die Armbrust erhoben hat, dem es aber
weniger zu eilen scheint."
Der vollendete Typ des Sadisten reicht in der "Dornenkrönung"
Christus kniend das Zepter. "Diese Physiognomie ist unheimlich. Dünne
Lippen, welche sich jeden Augenblick spitzen können, lächeln weniger

1 Polizeikommissar Ehrenfreund im Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 213,


214: "Das dunkelblonde, an der Seite gescheitelte Haar hat einen rötlichen Stich,
der dichte, die Lippen verdeckende Schnurrbart ist grellrot... Er hat lange,
affenartige Hände, deren Fingerspitzen fast die Knie berühren."
2 DE FLEURY: Introduction a la medicine de l'esprit, S.62. Paris 1897.
3 Strafrecht und Auslese, S. 157.
4 BILLARD, A.: Jehanne d'Arc et 8es juges, S.359. Paris 1933.
5 Monatsschrift 1927, S. 378.
30 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

spöttisch als wohlgefällig und zufrieden. Man sieht - der Mann kann
auch sehr liebenswürdig sein ... Ein schwarzes Spitz bärtchen vollendet
das Antipathische der Erscheinung - das Gesicht ist blaß, gedunsen
und die Nase krumm wie ein Sägezahn." Hier ist es der Spitzbart;
zumeist ist es die Unrasiertheit, die den bösen Sinn verrät 1 •
Der immer wiederkehrende Vergleich mit einem Tier, zumeist mit
einem Affen, hat unter dem Eindruck Darwinseher Gedankengänge das
alte Bild des Teufels abgelöst, das lange noch nicht tot ist 2 • William
Bare, der schlimmere der beiden Partner Burke-Hare (Edinburgh 1928),
wird als «la bete humaine) beschrieben 3. De Graff, der Schiffskoch, dem
ein letzter Zweifel zum Freispruch verhalf, war angeklagt, den Kapitän
zerhackt zu haben. Als dann die Polizei im Morgengrauen an Bord kam,
fiel ihr besorgter Blick auf einen "riesigen Affen". Er hatte einen Buckel,
war bärenstark und hatte breite, starke Bände. "Wenn er, soweit er
konnte, aufrecht stand, reichten die Mittelfinger bis unter das Knie
hinab 4 ." - Joseph Blondin, wegen Mordes verurteilt, war eine
"physische Monstruosität". Seine Beine, "die beinahe ein Oval bildeten,
stützten Körper und Schultern eines Gorillas. Das pockennarbige Ge-
sicht ging in ein enorm verlängertes Kinn aus und erhob sich über der
Stelle, wo ein Hals hätte sein sollen, aber nichts davon zu finden war 5 ."
Charles Peace, für den zuerst ein Unschuldiger verurteilt wurde,
wird als "almost a monkey of a man" beschrieben 6. An anderer Stelle
nennt ihn der Verfasser einen "unbeherrschten Wilden". Er war un-
gewöhnlich stark, sah so verrunzeIt aus, daß die Polizei sein Alter in
ihren Bekanntmachungen völlig falsch a.ngab. Beim Gang fiel auf, daß
er mit weit abstehenden Beinen ging, sein Unterkiefer war nach vorne
vorgeschoben, die Sprache war verwaschen, "als ob die Zunge zu groß
für den Mund wäre". Der schlaue, scheue, völlig unerschrockene 7
Menschenaffe hatte die eigentümliche Fähigkeit, seine Gesichtszüge
so zu verändern, daß selbst die Freunde und Verwandten ihn nicht
wiederkannten. Sein Glaubensbekenntnis lautete: "Ich glaube an Gott,

1 Um wie ein richtiger Verbrecher auszusehen, rasierte sich der Kriminal-


beamte viele Tage nicht. BEVERIDGE, PETER: Inside the C.I.D., S. 24. London 1959_
2 Im Mordfall Hau (Kurhessen 1815) erschien ein Gefängniswärter dem leug-
nenden Verdächtigen bei Nacht als Teufel mit Hörnern, Schweif und Pferdefuß
und brachte ihn zusammen mit Hunger und Kälte zu einem falschen Geständnis.
Neuer Pitaval, Bd. XXI, S. 441. Leipzig 1861.
3 ROUGHHEAD, W.: Burke and Bare, S. 13. Edinburgh 1921.
4 MINOT, GEORGE E. : Murder will aut, S. 282. Boston 1928.
5 Ebenda, S. 226.
6 SHORE, W. T.: Trial of Charles Pen,ce, S. 7 und 8. Edinburgh 1926.
7 Kurz vor der Hinrichtung ging Peace auf die Toilette und blieb sehr lange.
Ein Wärter klopfte mahnend an die Tür. "Zum Teufel mit Euch", rief er, "Ihr
habt's wirklich eilig! Wer wird gehängt, Sie oder ich?" Ebenda, S. 170.
Der Galgenstrick 31

und ich glaube an den Teufel, fürchte aber beide nicht." Er liebte es,
zu rezitieren. Die Totengräberszene aus Hamlet war sein Lieblings-
thema. Kaum einer übertraf ihn als Pistolenschütze.
Es ist begreiflich, wenn körperlicher Abscheu, der sich mit Furcht,
besonders vor der Stärke eines Riesen, mischt, Verdacht erregt, auch wenn
die Menschentypen keinen Mord begangen haben. Vom Potentiellen ist
zur ausgeführten Untat noch ein weiter Weg, obgleich es die Verlockung
eines hypertrophen Bizeps gibt. Sehr viel läßt sich aus einem Bericht
lernen, den ein erfahrener und tüchtiger Polizeikommissar vor vielen
Jahren niedergeschrieben hat!. Er war dem Verdächtigen unauffällig
zum Begräbnis der ermordeten alten Dame gefolgt. Er meldet: "Seine
Blicke waren scheu, sie streiften rechts und links. Sein Aussehen war
gleichfalls blasser und markierter als sonst. Auf dem Gottesacker an-
gekommen, wechselte er vor Ankunft der Leiche seinen Platz mehrmals,
wählte ihn jedoch so, daß er weder der Leiche, wenn sie gezeigt wurde,
noch dem Geistlichen ins Gesicht zu sehen brauchte. Als der Geistliche
auf den Mord zu sprechen kam, arbeiteten die Kinnladen des Carl sicht-
bar, seine Lippen zogen sich fester zusammen, während seine Augen
auf dem Rücken des zunächst vor ihm Stehenden hafteten, und als der
Geistliche die Worte sprach: "Wer Blut vergießt, dess' Blut soll wieder
vergossen werden", bog sich Carl so recht geflissentlich noch mehr vor,
sah auf den Kopf des vor ihm stehenden Kindes und warf gerade da den
erwähnten weißen Speichel wieder aus." Der wahre Täter wurde eine
Zeit danach gefaßt.
Aus Urzeit stammt das Bild des Kriminellen mit den breiten, roten
Fäusten, das auch nur halb auf eine Gruppe der Gewaltverbrecher zu-
trifft. Ein Beispiel ist der Widerspruch von empörtem Abscheu und
sonstigem Anstand bei anderen Kategorien von Übeltätern. "Über-
raschend günstig", lesen wir 2 über solche Gefangene, die wegen Blut-
schande eine schwere Strafe erhalten haben, "ist das Anstaltsverhalten.
Keine Deliktsgruppe des Waldheimer Bestandes fügt sich so einwandfrei
in den Strafanstaltsrahmen ein wie die Gruppe der Blutschänder ." Selbst
die getäuschten Ehefrauen singen noch ihr Lob 3 als respektable Menschen.

1 Neuer Pitaval, Bd. XXVI, S. 186, 187. Leipzig 1858. - Vorher hatte der
Kommissar die widrige Art notiert, mit der der Mann schaumartigen Speichel aus·
warf, der ihm ein Zeichen inneren Kampfes zu sein schien. Der Verdächtige saß
41 Wochen in Untersuchungshaft, ehe man den wahren Täter fand.
2 FINKE und ZEUGNER in Monatsschrift, Bd. XXV, S. 312.
3 Eine Ehefrau erklärte, sie habe sich schon immer von ihm trennen wollen,
denn er sei zwar "seelengut, strebsam, grundreell", aber der Alkohol verderbe ihn
immer wieder. Ebenda, S. 325. Solchen Widersprüchen begegnen wir auf Schritt
und Tritt. BJERRE hat (Psychologie des Mordes, S.85ff. Heidelberg 1925) über
die tiefe Verbundenheit verwilderter, tierischer, "gefühlloser" Verbrecher mit der
Mutter Bemerkenswertes gesagt.
32 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Es gibt kein erwachsenes Tier, das nicht mit Auge, Ohr und Nase
den Feind erkennt. Den altgewohnten Feind, denn mit dem Auto
kann man dicht an einem Löwen vorbeifahren, ohne daß seine Instinkte
Warnungssignale gäben. Nur viele schlechte Erfahrungen werden die
Tiere eines Besseren belehren, bisweilen erst, wenn es zu spät ist. Mit
Menschen ist es nicht viel anders. Das instinktive Bild des Übeltäters
stammt aus entlegenen Zeiten der Gewalt und trifft nur noch zu einem
Teile zu. Die Fälle, in denen ein Verbrecher mit bloßer Hand erwürgt,
wie jener Massenmörder Luedke 1 , sind nicht mehr häufig. Es müssen
schwache Opfer sein, wie Frauen, Alte, Kinder, Angetrunkene, Menschen,
die im Schlafe wehrlos sind. Sonst ist das Werkzeug Kraftverstärkung,
wie Messer, Beile, Schlingen, die kampfunfähig machen und Sparmethoden
im Bereich der Muskelleistung sind. Bei Gift und Gas bedarf der Täter
ähnlich wie beim Schießen nur einer leichten eigenen Handbewegung.
Mit dem Revolver wurden alle Menschen physisch gleich. Das Privileg
der Körperstärke wurde abgeschafft.
Alle Versuche, eine Kriminal-Physiognomie 2 zu entwickeln, müssen
scheitern. Die "facies nefaria", wie man es nennen könnte, kann, weit
entfernt, der Ausdruck seelischer Vorgänge zu sein, auf abgelegenen
Ursächlichkeiten beruhen, so etwa toxischen Prozessen wie beim Tetanus.
Der Risus sardonicus, dem wir eine psychologische Deutung gebenmöch-
ten, sollte nach dem Glauben der Antike durch eine Giftpflanze, die
Sardonia herba, Hahnenfuß, verursacht sein 3. Es gibt ein Lachen oder
Grinsen ohne Heiterkeit, drohende Mimik, die nur endokrin begründet
ist, auch Angstausdruck ganz ohne Angst. Stirn4, Augen, Nasenflügel,
Mund 6 werden ebenso von Gefühlen innerviert wie von autonomen
körperlichen Vorgängen. Dabei ist zwischen Gesichtszügen und Mienen-
spiel zu unterscheiden 6, das, lange wiederholt, zu harten Mustern sich
zusammenfügt. Die Seele alter Menschen ist verdickt in ihren Zügen
ausgebreitet. Die Kindermimik - und es gibt recht viele ältere Kinder-
täuscht durch die Glattheit 7 unberührte Unschuld vor. "Visagen", die uns
1 BERTHOLD, WILL: Nacht8 wenn der Teufel kam, S.20, 53, 129, 132. Wöris-
hofen 1959.
2 Zuletzt ELLIS, fuVELOK: The criminal, S.84ff. London 1890.
3 Daneben gibt es andere philologische Erklärungen.
4 Bei den Römern hieß das Gesicht "frons". Die Stirne war der Mittelpunkt der
Mimik.
5 Das Wort "Miene" geht auf eine Wurzel Schnauze, Mund zurück (KLUGE-
GÖTZE, S. 492). Im englischen Slang heißt snout-piece das Gesicht (PARTRIDGE,
S.795). Vulgär bedeutet auch die "Fresse" das Gesicht.
6 Die alte Unterscheidung waren vultus und gestus. Man hätte besser visus
sagen sollen.
7 Daß hier die elastischen Fasern der Haut ausgleichend wirken, ist eine gute
Beobachtung. KmCHHOFF, THEODOR: Der Gesicht8ausdruck und seine Bahnen,
S. 53. Berlin 1922. Nach WILBRANDT und SÄNGER.
Der falsche "feine Mann" 33

schrecken, sind nur Warnungszeichen, prämonitorisch, weiter nichts.


"Galgengesichter" haben auf der andern Seite viele brave Leute.

2. Der falsche "feine Mann"


a) Wenn Übeltäter, wie es vorkommt, unserem vorgefaßten Bild ent-
sprechen, so ist die Irrtumszone eingeschränkt. Es sehen aber viele
unbescholtene oder unbestrafte Menschen wie Lombrosos Mustertypen
aus. Hier liegt die eine Fehlerquelle, formal-juristisch auch, wenn diese
Leute manches auf dem Kerbholz haben, in diesem einen Falle aber
unbeteiligt sind. Ich habe oft mit Kriminellen über diesen heiklen
Punkt gesprochen. Die alten Kunden sind gewöhnlich tolerant. Sie
rechnen diesen oder jenen Irrtum gegen vieles Unentdeckte auf, das Pech
von heute gegen manchen Glücksfall von gestern oder auch von morgen.
Sie leugnen nicht, daß Tücke der Indizien oft zu falschen Schlüssen
zwingt, doch wissen sie, daß bösem Zufall häufig auch das gnädige Un-
gefähr entspricht. Bisweilen hat sich alles gegen sie verschworen und
bildet einen Ring, aus dem es kaum Entrinnen gibt. Im Falle Traut-
mann 1 sprach so gut wie alles gegen ihn. Auf seinem Rocke klebten
Haare, die jenem toten Mädchen angehörten. Ihn konnte keiner leiden,
und so hatte er kein Alibi. Nur daß der Name seines Opfers in dem
kleinen schwarzen Buche Denkes stand, war seine spätere Rettung.
Auch böse Menschen können in dem einen Falle schuldlos sein.
Auf der andern Seite stellt der gut und ehrenhaft aussehende Krimi-
nelle ein unerschöpftes Problem dar. Es wird nicht nur die Laienwelt
getäuscht, auch Leute, die sich ihrer Menschenkenntnis rühmen dürfen,
gehen in die Irre. Niemand, auch nicht Polizei und Richter, ist hier aus-
genommen. Sonst wären Massenmörder wie Christie 2, Pleil 3 und sein
Komplice Hoffmann nicht zu Hilfspolizisten bestellt worden. Auch
wohlerfahrene Anstaltsleiter können irren. Ein Beispiel ist der Mörder
John F. Haggerty. Als sich die Zuchthausmauern hinter ihm "für im-
mer" schlossen, wurde aus ihm ein Mustergefangener. "Seine Fügsam-
keit und der Gehorsam gegenüber den Anstaltsvorschriften waren Beweis
aufrichtiger Reue 4 ." In langen Jahren wurde er Vertrauensmann und
Rechnungsführer in der Anstaltsziegelei. Nach 11 Jahren wurde er ent-
lassen. Eine Bücherrevision brachte die Tatsache an den Tag, daß dieser
Mustermensch 10000 Mark Anstaltsgelder unterschlagen hatte. Man
fand den gebesserten Sträfling in einem andern Zuchthaus, wo er eine
Strafe wegen Straßenraubs verbüßte.
1 SALOMON, V.: Der Fragebogen, S. 159. Hamburg 1951.
Z CAMPS, FRANCIS E.: M edical and scientific investigations
in the Christie case,
S.182. London 1953. - Christie hütete 4 Jahre lang die Ordnung und die Ruhe.
3 Braunschweig 6 Ks 1/50.
4 BAYER, O. W.: Cleveland murders, S. 77, 78. New York 1947.

v. Hentig, Das Verbrechen I 3


34 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Es wäre lehrreich, für den Hausgebrauch ein Inventar der Züge auf-
zunehmen, die schweren Kriminellen als verdachtbeseitigend oder
-mindernd angerechnet worden sind. Tierquälerei ist immer ein bedenk-
liches Symptom l . Tierliebe aber schließt in keinem Falle Rohheit gegen
Menschen aus. Im Falle Pleil bemerkt das Urteil anerkennend: "Zu
Tieren hat der Angeklagte ein gutes Verhältnis. Er pflegte und besorgte
die Kaninchen seiner Eltern und spielte oft mit Hunden 2." Die Goenczis
(Berlin 1897, Raubmord) konnten sich von ihrem Hund nicht trennen.
Sie nahmen ihn auf ihrer Flucht nach Brasilien mit, trotz aller Un-
bequemlichkeiten und Gefahren. Bei der Verhaftung wurde er "vom
deutschen Generalkonsul Werner in Rio de Janeiro zurückbehalten und
für Rechnung des Preußischen Justizfiskus verkauft 3 ." Der Mörder
John George Haigh, der das Blut der Opfer saugte und 1949 in London
gehängt wurde, nahm völlig irrationellerweise den Hund der Gemordeten
mit, behielt ihn in seinem Hotel und schickte ihn zu guter Pflege in einen
Zwinger, obschon der rote Setter ihn sehr leicht verraten konnte 4 •
Dem Publikum scheinen die seltsamsten Umstände entlastend. Daß
die Kirchenfahne, die Denke regelmäßig trug, ihn vor Verdacht bewahrte,
kann noch vielleicht verstanden werden. Aber wie steht es mit der zu-
gunsten eines Jugendlichen angeführten Tatsache, daß er seine Mutter
regelmäßig beim Zubettgehen küßte ~ Ein anderer gilt für unverdächtig,
weil er der Tante, die Klavier spielt, aufmerksam das Blatt umdreht.
Andere genießen Sympathie, weil man die Bibel unter ihren Sachen findet
oder weil der Vater ein Buch über die Wiederauferstehung geschrieben
hat. Der streng "solide" Lebenswandel spricht besonders gegen jede
schlechte Neigung 5. So heißt es von einem Bürovorsteher: "Er lebte
sehr solide, verbrachte die Abende in seiner Wohnung und legte keine
Neigung zu Vergnügungen außerhalb des Hauses, zu Sport, Spiel und
Frauenzimmern an den Tag 6 ." Daß die solide, frauenlose Lebensweise
ihren Haken haben kann, wird nicht bedacht.
1 In einem Strafverfahren wegen Mordversuchs sagte der Chauffeur des jungen
Hamburger Bankiers aus, sein Herr habe eine besondere Freude daran gehabt,
Hunde mit seinem Auto totzufahren. Ein anderer gab an: "Ich war einige Zeit bei
ilim als Chauffeur tätig. Er verlangte stets die schnellste Fahrt, so daß für den
Chauffeur sowohl wie für die Insassen andauernd Lebensgefahr bestand. Er ver·
langte von mir, daß ich Hunde und andere kleine Tiere nicht schone. Er selbst hatte
auf der Straße zwischen Schwarzenbeck und Lauenburg einen großen Jagdhund
totgefahren, was er recht gut verhüten konnte. Aber er hatte sichtlich eine große
Freude an solcher Tat." Pit. der Gegenwart, Bd. VIII, S. 225.
2 Braunschweig 6 Ks 1/50, S.4.
3 FRIEDLÄNDER, Bd. II, S. 51.
4 HOSKINS, PERCY: No hiding place, S. 102. London o. D.
5 "Die beiden lebten vollständig zurückgezogen und machten deshalb einen guten
Eindruck." Polizeikommissär Ehrenfreund in Pit. d. Gegenwart, Bd. VII, S. 200.
6 Pit. der Gegenwart, Bd. III, S. 184.
Der falsche "feine Mann" 35

Die sanfte Stimme! und vor allem freies Lächeln sind entwaffnend.
Erfahrene Anwälte geben der Presse vor der Verhandlung Bilder von
Klienten, die harmlos lächelnd in die Weite blicken und damit unsere
defensiven Instinkte unsicher machen 2. Der, welcher lächelt, scheint er-
freut, uns zu begegnen. Er fürchtet nichts, wir brauchen nichts zu fürch-
ten. Wir scheinen ihm sympathisch und willkommen, wie ein Verkäufer,
der zum Kauf ermuntern will. Wir sind bereit, die Ware abzunehmen,
die günstige Meinung, die er uns empfiehlt. Schon bei den alten Indern
war das Lächeln mehr als Mimik. Man sah in ihm geheimnisvolle Energie-
entfaltung, und in zu vielem Lächeln Schwächung wie durch Blutverlust 3.
Der Kriminelle spielt mit den Legenden des sozialen Lebens, die sich
in Unzahl seinen Raubinstinkten bieten. Wir freuen uns, wenn Menschen,
wie wir glauben, ohne Tadel sind, nicht trinken, rauchen, fluchen, wider-
sprechen, auf das Wort gehorchen, sparsam, sauber, pünktlich sind. Von
Defraudanten ist bekannt, daß sie ganz einfach und bescheiden lebten
und kein Verdacht sie lange Jahre anzurühren wagte. Sie waren wahre
Mustermenschen. Man konnte sich durch dick und dünn auf sie ver-
lassen. Ein junger Mensch, der nur von Brot und Wasser lebt und nur
am Festtag einen Apfel kauft, kann, wie wir glauben, nicht gemordet
haben 4 • Und wenn er gar noch zugibt, Süßigkeiten sehr geliebt zu
haben, ist eine Untat ihm nicht zuzutrauen.
Ein Teil der Masken, die uns täuschen, läßt sich an der nächsten
Straßenecke kaufen. Es ist die gute Kleidung, jene Uniform der Wohl-
anständigkeit. Ein großer Schwindler, der in Bonn verurteilt wurde,
wird in der Presse so beschrie ben:
"Er trägt ein blütenweißes Hemd, einen gutgeschnittenen blauen Zweireiher
- Blau gilt als Farbe der gedämpften Vornehmheit und damit Unschuld - , eine
modische Kravatte mit Klubstreifen. Er ist während der zweijährigen Unter-
suchungshaft abgemagert, was dem schmalen Gesicht mit den dunklen Augen, der
gebogenen Nase und den schmalen Lippen einen intelligenten Zug verleiht."
Der Zahnarzt Dr. Gallentine hatte seinen Rivalen erschossen. Er
saß vor Gericht in einem eleganten Anzug, einen Zylinder in der Hand.
Er kam direkt durch einen Korridor aus der Untersuchungshaft, aber
der Zylinder, sagt der Bericht, war damals ein Symbol des Reichtums,
der Ehrbarkeit und der Respektabilität. Woran der Angeklagte dachte,
war, optisch sich mit diesen Mächten zu identifizieren 5. Ein britischer
Einbrecher gibt den Rat, immer im Frack an die Arbeit zu gehen, weil
1 Ein lombardisches Sprichwort lautet: "Sta lonta da quei tai ehe i parla a pia."
Siehe meinen Aufsatz Physiognomik im Sprichwort, Gross, Archiv, Bd. 80, S. 141.
2 Siehe das Material in meinem Aufsatz: The suspect. A study in the psycho-
pathology of social standards. Amer. J. of Crim. law and criminology, Bd. 39, S.23.
3 OLDENBERG, HERMANN: Religion des Veda, S.429. Stuttgart 1923.
4 FRIEDLÄNDER, Bd. I, S. 5.
5 BAYER, O. W.: Cleveland murders, S.29. New York 1947.

3*
36 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

die meisten Schutzleute einen unüberwindlichen Respekt vor Abend-


kleidung empfänden!. In Schottland wollte man nicht glauben, daß
J. W. Laurie hinterlistig einen Wanderkameraden in den Abgrund
gestürzt und beraubt habe. Ein erfahrener Beobachter schreibt von
seinem Erscheinen im Gerichtssaal: "Das Auftreten des Mannes setzte
in Erstaunen. Er sah durchaus nicht aus, wie man sich einen solchen
Mörder vorstellt. Wohlgekleidet, wohlgekämmt, ganz unauffällig,
ruhig, respektabel, konnte dieses der brutale Bösewicht von Coire-na-
fuhren sein 2 ~" Für Hochstapler und Gangster gehört Eleganz zur Berufs-
kleidung. Im Gegensatz zu unserer stillen Ehrfurcht lassen diese Typen
sich sogar daran erkennen. Falschspieler suchen durch eine Mimikry
des Menschen aus den besten Kreisen erst einmal die Mitspieler, dann
das Gericht in ihren Einflußkreis zu ziehen. Zum Eindruck zählt auch,
die Suggestion der allerbesten und allerteuersten Kleidung ergänzend,
eine ganz bestimmte unbewegliche Mimik, die wir mit Vornehmheit ver-
binden. Ein Richter schreibt von einem solchen eindrucksvollen Exemplar :
"Seine Erscheinung war in hohem Grade distinguiert. Er war groß, sah
gut aus und war besonders gut gekleidet, aber sein hervorstechender
Zug war absolute, eiserne Unerschütterlichkeit 3 ." Diese nie wankende
Gemütsruhe, die auf Gefühlsarmut beruht, wird auch vom Dandy wie ein
Vorzug kultiviert und ausgebeutet 4 • Sie war schon bei den Alten Ideal 5 •
Seitdem die Strafaussetzung zur Bewährung in unser Strafrecht ein-
gezogen ist 6 , wird schwarz auf weiß von den Gerichten zugegeben, wie
wesentlich der gute Eindruck in der Hauptverhandlung ist 7. Hier liegt
bereits ein Schatten auf dem Übeltäter, den er nicht ohne weiteres zer-
streuen kann. Im freien Leben sehen wir nach jenem Shakespeare-Wort
vorerst die Raupe; noch ist der Schwerverbrecher nicht "ausgekrochen".
Der Massenmörder Pleil war anfangs Kellner; er wird als fleißig, sauber,
höflich, hilfsbereit geschildert. Anfälle treten freilich jetzt schon auf.
Er kann nicht heiraten, weil das Gesundheitsamt das Zeugnis seiner
Ehetauglichkeit verweigert 8. - Der zu Zuchthaus verurteilte Innen-
minister Albert G. Fall sah wie ein wahrer Prachtmensch aus 9 :
1 SPENSER, JAMES: Limey breaks in, S.282. London 1934.
2 ROUGHEAD, WILLIAM: Trial of John Watson Laurie, S.25. Edinburgh 1932.
3 HASTINGS, Sir PATRICK: Gases in court, S. 177. London 1953.
, GLEICHEN-RusSWURM, A. v.: Dandies and Don Juans, S. 178 (George Brum-
mel) und S. 255 (Herzog von Morny). New York 1928.
5 Es ist die Adiatrepsia der Stoiker, die der geisteskranke Cäsar bei seinen
Morden für sich in Ansprnch nimmt. SUETON, Galigula 29. - Zum Pseudologen,
Komödianten und legalen Formen des Exhibitionismus bestehen Übergänge:
sexuell sind häufig Regelwidrigkeiten anzutreffen.
6 § 23 StGB.
7 MATTHEISS, GREGOR: Die Strafaussetzung zur Bewährung im Amtsgerichts-
bezirk Gelsenkirchen-Buer, S. 51. Bonner Diss. 1960.
8 Brannschweig 6 Ks 1/50, S. 7. 9 The Suspect, S.25.
Der falsche "feine" Mann 37

"über ihm lag die Atmosphäre des Südwestens. Er ragte aus jeder Menge her-
vor mit seinem breitrandigen Hut, seinem braunen Gesicht, dem anheimelnden
"Sächsisch", der aufrechten Gestalt und dem hocherhobenen Haupt. Er sah wie
ein Mann aus, der lange Tage im Sattel zugebracht hatte."
General Alvarosa machte auf einen kritischen Beobachter folgenden
Eindruck:
"Er war ein Genie, wenn man ihn so vornehm auftreten sah. Es schien, als
brauche er nirgends Ausweise und Empfehlungsschreiben. Die exquisiten Manieren
und sein ehrliches Gesicht genügten 1."
John Bigelow, der amerika nische Staatsmann, fand einmal Muße,
sich im New Y orker Rathaus hinzusetzen. Ihm. gegenüber hing das Bild
von Fernando W ood, einst Bürgermeister dieser großen Stadt. Bigelow
sah lange auf die blauen Augen und die Patrizier-Züge, die ebenmäßig
waren, als hätte sie ein Praxiteles geformt. Dann sagte er: "Er war der
schönste Mann, den ich je gesehen habe, und der korrupteste, der je im
Sessel eines Bürgermeisters saß 2." Verbrecher sehen oft genau so gut wie
ihre Opfer aus 3 •
Die Beschreibungen, die erfahrene Berichterstatter geben, verraten
uns, daß unser Bild des Kriminellen 4 in Widerspruch zur Wirklichkeit
des Lebens steht, nicht immer, aber doch in vielen, allzu vielen Fällen.
Ein berühmter Chemiker, der Dr. Castaing, den Gütmörder (Paris 1822),
sah, versicherte, nie einen liebenswürdigeren jungen Mann gesehen zu
haben 5. FRIEDLÄNDER, optisch ganz gewiß ein Mann mit Sachverständ-
nis, schreibt über den "Rechtsanwalt" Hau, der seine Schwiegermutter
erschossen hatte: "Er machte den Eindruck eines jungen Theologen,
man könnte ihn auch für einen Schauspieler halten. Er stand zumeist

1 The S'U8pect, S. 24.


2 Ebenda, S. 24, mit andern Beispielen. Wood sah so aus: "Das Haar war
flachsgelb und stieg über einer breiten, klugen Stirn in Wellen an. Die tiefblauen
Augen lächelten ohne Unterlaß. Die Stimme war leise und sanft in der privaten
Unterhaltung, auf der Tribüne klang sie tief und trug weithin." LYNCH, D. T.:
"B088 Tweed." The story of a grim generation, S. 24. New York 1931.
3 Groß, elegant gekleidet und vom Friseur zurechtgemacht, sah Hansen, der
berühmte Einbrecher, mit seiner milden Miene und herablassenden Haltung
"genau wie der Direktor der Bank aus, die er beraubte". COLLlNS, F. L.: The F BI in
peace and war, S.71. New York 1943.
'Von jeder Seite und zu jedem Zwecke werden Rollen gespielt und werden
Ahnungslose und Sachverständige getäuscht. Die FBI war hinter einem Ver-
dächtigen her, der sich in ein Nervensanatorium geflüchtet hatte. Zwei Beamte
waren mit der Verfolgung betraut. Einer von ihnen konsultierte Dr. Allen, den
Leiter der Anstalt, wegen seiner Nerven und erklärte, ihm sei geraten worden, sich
"zur Beobachtung" aufnehmen zu lassen. Der Anstaltsleiter war bereit, seinen
Fall zu untersuchen und wies nach einer Prüfung, die der Beamte mit dem erforder-
lichen Grad geistiger Unausgeglichenheit bestand, ihn in die Anstalt ein. Ich habe
den Fall in meiner Arbeit: The S'U8pect, S. 21 berichtet.
5 Neuer Pitaval, Erste Serie, Bd. V, S.446.
38 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

mit gekreuzten Armen auf (? v. H.) der Anklagebank und trug eine
geradezu erstaunliche Ruhe zur Schau 1." In jüngster Zeit kam ein
Bericht aus England 2 ; er schilderte das Aussehen jenes Dr. Adams,
der von der Anklage des Mordes freigesprochen, aber wegen einer Reihe
anderer Verfehlungen rechtskräftig verurteilt wurde, die bestürzenden
Mangel an ärztlicher Ethik verrieten:
"Da steht er - wie eine Personifizierung des zuverlässigen, soliden Bürgers, wie
John Bull selber; mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, mit breitem, freundlichem
Gesicht, einer etwas knolligen Nase, prüfenden Augen hinter der Brille und einer
Glatze. Solide ist auch der feingestreifte, dunkelblaue Anzug. Der ganze Mann sieht
genau so aus, wie man sich einen vertrauenswürdigen Hausarzt vorstellt. "
Es ist ganz sicher, daß in vielen Fällen unsere Bilder an den äußer-
lichsten Dingen hängenbleiben; bei einer Diebstahlsuntersuchung wurde
eine Angestellte vom Verdachte ausgeschlossen, weil sie schon zwanzig
Jahre Witwe war und schon aus diesem Grund für zuverlässig galt 3.
Weil unsere Furcht- und Warnungsbilder noch aus weit entlegenen
Zeiten stammen, in denen Muskelstärke und Gewalt zu fürchten waren,
ist es so schwer, uns auf Verstellung umzustimmen. Wir sind sehr zögernd
auf dem Wege, neue Gefahrinstinkte zu entwickeln und den Gefühlen
des Gefallens Zügel anzulegen, die uns vor der Bedrohlichkeit entwaffnen.
Verbrecher großen Stils schieben gern Charmeur-Gesichter vor; im Sturm
erobern diese schon von der Natur maskierten Wolfsnaturen, die neben
einem Schafspelz auch noch Lamm-Gesichter haben, unsere Sympathie.
Der Einbrecherkönig Wilson hielt in seiner wohlgefügten Bande sich
einen "Obersten" Cosgrove. Er war "ein auffallend gut aussehender
Mann in den 50er Jahren, hochintelligent, eine bezaubernde Persönlich-
keit und ein Mann von weltmännischer Erfahrung". Dieser Mann wurde
von dem Einbrecherkönig an die Spitze seiner privaten Polizei gestellt.
Hier wurde für das Alibi der Bandemnitglieder Sorge getragen, wurde
jedem Mann ein bürgerlicher Scheinberuf besorgt, in dem er ein legi-
times Einkommen und eine nachweisbare Beschäftigung hatte, so daß
die Polizei bei einer Untersuchung stets auf solide Hindernisse stieß.
Der Oberst hielt auch die Verbindung mit der Oberwelt, die seltsamste
Gelüste mit der Unterwelt verknüpften. Wilson behauptet, eine sagen-
hafte Summe aus fremder Hut in seine Hand gebracht zu haben 4 • Sein

1FRIEDLÄNDER, Bd. II, S. 6.


2Münchner Merkur vom 21. XII. 1956. In einer späteren Darstellung sprach
eine Frau von einem Gesicht, das "man jovial nennen könnte", und wie er die
Geschworenen mit "runden, ernsten und traurigen Augen" angestarrt habe.
BEDFORD, SYBlLLE: Der Fall John Bodkin Adams, S. 17. Tübingen 1960.
3 The Buspect, S. 28.
4 WlLSON, HERBERT EMERsoN: I stole $16,000,000, S. 41. New York 1956. - Das
Erstaunliche an diesem Kriminellen ist, daß er direkt von der Kanzel seiner Kirche
in San Diego in die kriminelle Laufbahn überwechselte: er stammte aus Kanada.
Der falsche "feine Mann" 39

Buch wird von einem früheren Leiter des Zuchthauses St. Quentin ein-
geleitet, der der Behauptung, mag sie noch so unwahrscheinlich klingen,
nicht widerspricht.
b) Dem Bilde eines Ungeheuers, das sich, wie in der Tierwelt, leicht
erkennen läßt, tritt die Erfahrung nur bedingt zur Seite. Das gute, un-
verdächtige Aussehen, dem sich Kleidung, Sprache, Umgangsformen zu-
gesellen, ist nicht die einzige Störungs quelle. Bei jedem Eindruck sind
neben der Sinnenwelt Kräfte am Werke, die - Obertöne gleichsam -
emotionelle Nebenreaktionen erregen. Wir finden alles schön, was
mächtig, imponierend, bewunderungswürdig oder nützlich ist. Es han-
delt sich um einen Mechanismus unserer Seele, der biologisch wertvoll
ist, weil er uns erst ästhetisch, dann moralisch mit der übermacht ver-
bündet.
Der Mensch erleichtert sich die Schwierigkeit des Denkens, indem er
"transfiguriert" . Dabei verklärt er nicht nur, er schwärzt die Bilder
derer, die ihm eine Drohung scheinen und rüstet sich mit Widerhaarig-
keit zum Kampfe. Er möchte Diktatoren herrisch und unfehlbar, die
Generale tapfer, Grafen vornehm, Künstler sinnverloren sehen. Wunsch-
träume sind fast alle unsere Monumente, mit denen wir die Helden
feiern, umstürzen und an ihre Stelle neue Helden setzen. Wenn man die
Königsstatuen ihrer Tracht entkleiden und ihre Haare scheren könnte,
sie gingen alle auf ein erstes, festgeformtes Herrscherbild zurück. Selbst
die Gelehrten können diesem Drange oft nicht widerstehen, und sie
verschönern jene, deren Leben sie beschreiben; sie gleiten unversehens in
Heroendichtung 1.
Wie weit - als Einzelsymptom eines größeren psychologischen
Problems - die Störungswirkung von Adorationselementen geht,
möchte ich an der Beschreibung einer Büste durch einen ernsten Histo-
riker zeigen 2 ; es handelt sich um eine Büste der Kaiserin Theodora,
jener Frau, die im Theater Leda und den Schwan gespielt hatte und
Tochter eines Zirkuswärters war. Er schreibt: "Um eine hohe Haar-
frisur ist ein reiches Perlendiadem gelegt, von dem über der Mitte der
Stirn drei große Perlen herabhängen. Aus dem schmalen, vornehmen
Kopf schauen unter hochgezogenen Brauen lebhafte große Augen, unter
schmaler Nase liegt ein kleiner Mund; die leichte Ungleichheit der
Gesichtshälften erhöht den persönlichen Eindruck. Die dargestellte

1 In seinem großen Werk über Winckelmann vermag eARL JUSTI (Winckelmann


und Beine Zeitgen08sen, Bd. III, S. 481, Köln 1956) uns nicht die Wahrheit über den
tragischen Tod des großen Mannes zu sagen. - Im Gegensatz zur Verklärung steht
die zweckhafte Vergröberung bei der Darstellung von KrinIinellen als Wachsfiguren.
Wer eine Schreckenskammer aufsucht, erwartet Schreckensbilder.
2 SCHUBART, WILHELM: Juatinian und Theodora, S.59. München 1943. Der
Marmorkopf aus Mailand ist nicht ganz unumstritten.
40 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Frau war schön und voller Eigenart, mit Spuren beginnenden Alters,
voller Leben und noch anmutig, bei allem Stolz doch eher reizvoll als
furchterregend. "
Die Herkunft Friedrich 11. von Hohenstaufen war umstritten.
RUDoLPH WAHL 1 setzt diesem Zweifel an der königlichen Echtheit die
Bemerkung entgegen: "Friedrichs Lebensführung und Herrscherpersön-
lichkeit, sein leidenschaftlicher, unbestechlicher Adelsstolz, seine ge-
bieterische Unnahbarkeit, selbst sein Äußeres mit den rötlich-blonden
Stauferlocken sprechen dagegen, wenn er auch den Arabern nur wenig
gefiel, so daß sie schrieben, auf dem Sklavenmarkte hätte er kaum mehr
als zweihundert Drachmen erbracht." Doch hat der Sohn der Magd 2
nicht einmal schon den Weg der Menschheit umgestaltet ~
Von Kaiserhäusern steigen wir um eine Stufe tiefer. Graf Bocarme,
der zusammen mit seiner Frau den verkrüppelten Schwager getötet
hatte - es war ein reiner, schlimmer Raubmord -, machte noch in der
Verhandlung unverkennbar Eindruck. Wir lassen den Berichterstatter
sprechen 3: Der Angeklagte trat ein, "ein junger Mann von hohem Wuchs,
klugem Gesicht, das unter vielen sich sogleich bemerkbar gemacht
hätte. Er war etwas von Pocken getupft, die Haut gelblich und matt,
aber alle Züge, fein gezeichnet, verrieten die aristokratische Abstam-
mung 4 • Der Knebel- und Kinnbart, den seine vielfach ausgestellten
Bilder trugen und der ehemals das ganze Gesicht bedeckte, war ab-
rasiert. Seine Stirne war hoch und frei und der Ausdruck seiner Blicke
zugleich verschmitzt, boshaft und verwegen".
Zwei Bilderreihen ringen, wie man sieht, hier um den Vorrang: der
Mörder und der Mann aus altem Grafenhause. In seiner äußeren Haltung
ist der Kriminelle, ganz nach der Vorschrift der Erwartung, nichts als
Graf. "Mit mehr als Ruhe, fast verschwenderischer Zuversicht, be-
trachtete er das Publikum; nicht, daß er einmal gelegentlich seine

1 WAHL, RUDoLPH: Wandler der Welt. Friedrich II., der sizilianische Staufer,
S. 6. München 1949.
2 Über die Geburt berichtet RUDoLPH WAHL (ebenda, S. 6): "Diejenigen aber,
deren Wundergläubigkeit geschwunden war, erklärten die von den Eltern allzu
heiß ersehnte Geburt in Jesi bei Ancona für Schwindel und behaupteten, der so-
genannte Kaisersohn sei das Kind eines Fleischers und einer Magd. Selbst der Sene-
schall des Reiches, der Einblick in alle Geschehnisse besessen hat, erbot sich
wenige Jahre später, die Unrechtmäßigkeit dieses vermeintlichen Kaisersohnes
durch Zeugen und Eideshelfer beschwören zu lassen."
8 Neuer Pitaval, Bd. 26 der ersten Serie, S. 89 und 90.
4 Die aristokratische Abstammung fehlte der Gräfin, die mitangeklagt war und
freigesprochen wurde. Sie war aus reichem, aber bürgerlichem Hause. Sie kommt
daher weit weniger gut weg. Sie hat "eine unbedeutende Physiognomie, aus der
nichts zu lesen als der Ausdruck anscheinender tiefer Gleichgültigkeit. Die Stumpf-
nase gab dem Gesicht sogar einen gemeinen Anstrich." Ebenda, S. 89.
Der falsche "feine Mann" 41

Blicke umherschweifen ließ, sondern er schien es förmlich zu studieren,"


und die Beachtung schmeichelte dem Publikum.
Daß unser Urteil von Verehrungsbildern überrannt und fehlgeleitet
wird, beweist die Praxis der Betrüger, die sich in geistliche Gewänder
hüllen und dann respekterheischend jede Vorsicht übermannen l . Auf
anderer Ebene der Bewunderung nahen uns die falschen Fliegerhelden.
Ein Schweizer Imbeziller feierte Triumphe, sowie die Uniform ihn in den
Kreis des Sakrosankten einbezogen hatte 2 ; Anbeter liehen jeglichen
Betrag. In den Vereinigten Staaten trat ein falscher Fliegeroffizier,
besät mit unwahrscheinlich vielen Tapferkeitsmedaillen, auf und wurde
von patriotischen Organisationen im ganzen Land gefeiert und herum-
gereicht. Er sprach auf zahlreichen Versammlungen und forderte die
Zurückgebliebenen zum Durchhalten und zur Zeichnung von Kriegs-
anleihen auf. Mare Benney erzählt aus dem ersten Weltkrieg, wie er und
andere begeisterte Jungen jeden Mann in Uniform stramm ("smartly")
grüßten und als Bewunderungsdividende manchen Penny in die Tasche
steckten 3.
Während des Krieges überwiegen Schutzbedürfnis und Erkenntlichkeit
die kritische Betrachtung, eine Regung, die sich sehr wohl verstehen
läßt. Im Frieden verdunkeln andere Nützlichkeiten den unbefangenen
Blick. Die Arbeitskraft" die uns zugute kommt, steht hoch in unserer
Skala der Bewertung. Die gute Führung heißt, daß wir den andern
Menschen unschwer leiten können. Kein Nachbar ahnte, daß der Knecht
Wilhelm Nehring (der einen Richter in seinem Amtszimmer erschoß)
ermorden könnte, denn er war "fleißig, ordentlich, nüchtern und treu 5."
In einem Hamburger Falle wurde der Knecht Meissner von seinem Arbeit-
geber nach langer Zuchthausstrafe ohne weiteres wieder angenommen,
weil seine Arbeitskraft dem Bauern äußerst nützlich war 6 • Zur "Brauch-
barkeit" gehört nicht nur die mechanische Leistung, noch mehr die
Pflege unseres Selbstgefühls. Der Schmeichler tut dem Größten wie dem

1 Eine Reihe von Fällen ist in meinem Suspect aufgezählt, S. 30ff.


2 Ebenda, S. 32.
3 BENNEY, MARK: Low company, S. 13, London 1937.
4 Von dem Lustmörder Tessnow sagt der Bericht: "Er war bei einem Tischler
in Arbeit und hatte sich als fleißiger und geschickter Arbeiter sowie als stiller,
höflicher und bescheidener Hausgenosse betätigt." Damals tobte der Burenkrieg.
Tessnow gab seiner Entrüstung über das Verhalten der Engländer gegen Frauen
und Kinder Ausdruck; er selbst ermordete vier Kinder. Monatsschrift für Kriminal-
psychologie, Bd. IH, S. 713 und 714.
5 Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 369.
6 WOSNIK, RICHARD: Beiträge zur Hamburgischen Kriminalgeschichte, Bd. H,

Heft 2, S.23. Hamburg 1927. - In der llias tritt diese Wertskala bereits hervor.
Dem zürnenden Achilles werden acht Mädchen gegeben: die schöne Briseis und
sieben Weiber, "kundig der Arbeit" (XIX, 245).
42 Das FehlbiId von Gehirn und Drüsen

Kleinsten wohl. Wir danken ihm, indem wir seine Fehler nicht beachten.
Wenn schon Theater täuscht, wenn eine kurze Traumwelt, die der
Heiratsschwindler vorspielt, ein Konto wert ist, wie müssen uns Kulissen
solcher Eigenschaften prellen, die dunkle und verborgene Triebe dicht
bedecken. In unserem Denken sitzt die stille Despotie der Emotionen;
und unser Urteil beugt sich seinem herrischen Gebot.
Wie der Priester vor göttlichem Zorn, der Fliegeroffizier vor dem
Landesfeinde, so beschützt uns der Polizeibeamte vor dem Gegner, der
unserem Leben und unserem Eigentum nachstellt. Man zieht ihn in den
Kreis der Dankgefühle 1 ein. Es entsteht ein Idealbild des Mannes, der
Ruhe und Ordnung bewacht, besonders ausgeprägt in England, wo eine
lange Kontinuität der sozialen und politischen Entwicklung die Tradition
nicht gestört und den Aufbau nicht erschüttert hat. Die Folge ist der
Sonderschutz, den die Geschworenen und die Begnadigungsinstanzen
dem Polizisten zuteil werden lassen. Wer auf den Schutzmann schießt,
der schießt auf England.
Auch Deutschland sieht im Schutzmann potenzierte Nützlichkeit
und möchte ihn vollkommen sehen, wobei es leicht den alten und bewähr-
tenPolizisten und manchen unerprobtenNeuankömmlingdurcheinander-
wirft. Auch Presseleute unterliegen diesem emotionellen Vorurteil:
Anfang April 1959 wurde der Berliner Wachtmeister der Bereitschafts-
polizei von der 13. Großen Strafkammer zu fünfeinhalb Jahren Zucht-
haus wegen zweier Sittlichkeitsverbrechen verurteilt.
Der Berichterstatter 2 entwarf ein glühendes Bild des Angeklagten,
wenn er an ihn zurückdachte. "Er sieht aus, als wäre in ihm der schöne
Jüngling Narzissus von den pompejanischen Wandgemälden herab-
gestiegen. Sein schmales, ebenmäßiges Gesicht zeigt leidensvolle Melan-
cholie und wird umkränzt von einer makellos gewellten, aschblonden
Damenfrisur." Das Gericht ließ sich weniger von dem Jüngling, der
vom Vesuv nach Moabit herabgestiegen war, hinreißen. Er war aber
kurz vorher dem Idealbild eines Ordnungshüters, eines 28jährigen
Polizeioberwachtmeisters, der seine Stieftochter getötet hatte, nach-
gejagt. Die Urteilsgründe führten aus 3 :

1 Es ist menschlich begreiflich und auch im großen ganzen nützlich, daß wir
allen Helfern erkenntlich sind. Im Mordfall Putlitz (Berlin 1855) sagte der bekannte
Berliner Polizeidirektor Stieber als Zeuge aus: '"Putlitz sei zuerst sehr verstockt
gewesen und habe frech geleugnet. Man griff daher zu einem mehrfach mit Erfolg
angewandten Verfahren. Man ließ dem Angeklagten einen Polizeiagenten in die
Zelle geben; es war zwar, wie das auch vorkommt, ein bereits mehrfach bestrafter
Mann, der aber, erklärte der Zeuge, volles Vertrauen verdiente, wie er dies vielfach
bewiesen. Einen solchen Polizeiagenten zu nennen, sei gegen die Staatsraison. Aber
der Angeklagte Putlitz habe ihm im Gefängnis ein volles Bekenntnis der Tat ab-
gelegt." Neuer Pitaval, Bd. XXVI, S. 290.
2 Tagesspiegel vom 3. April 1959. 3 Ebenda, Bericht vom 27. März 1959.
Der falsche "feine" Mann 43

"Bei der Strafbemessung ging das Gericht davon aus, daß der wahrheitsliebende
und sühnebereite Angeklagte eine Tat vollbracht habe, die ihm wesensfremd sei.
Strafverschärfend - er erhielt zwölf Jahre Zuchthaus - wurde bewertet, daß
G., obwohl er ein zur Ausdauer und Härte gegen sich selbst erzogener Polizist ge·
wesen sei, nicht das aus sich gemacht habe, was ihm möglich gewesen wäre."
Ebenso einleuchtend wie der Einbruch eines Musterpolizeibeamten
in die objektive Prüfung - interessanterweise diesmal als Straf.
verschärfungsgrund - ist der gleiche psychologische Verzerrungs.
vorgang, demselben Objekt gegenüber, beim Verbrecher. Denn auch
der Kriminelle kann sich der emotionell bedingten Umfärbung nicht
erwehren. Beweisend ist eine Beobachtung, die mit der Überzeugungs.
kraft eines Experiments zu uns spricht:
Ein Mann, wegen Mordes verurteilt, war nach 19 Jahren freigelassen
worden 1. Er hatte in der Haft Zeichentalent gezeigt. Freunde empfahlen
ihn an einen Verlag, der sich auch Proben für das Kinderbuch "Ein
Schneepflug wollte nach dem Süden wandern" geben ließ. Doch war
man mit der Leistung nicht zufrieden. Es war zuviel "Protest" in ihnen.
Schutzleute sahen nicht wie Menschen aus. Sie glichen Monstren, hatten
dicke Bäuche. Die Zähne waren übermäßig lang. Sie sahen alle grob
und grimmig, bösartig. aggressiv aus. - Es war Reflex des jahrelangen
Hasses; die beiden Bilder waren von Gefühlen schiefgebogen 2. Die
Wirklichkeit lag in der Mitte irgendwo versteckt.
e) Es gibt Verehrungsbilder, die das unbefangene Urteil völlig auf
die Seite drängen und an die Mängel Angebeteter nicht glauben wollen,
obgleich das Wort Idol ursprünglich Trugbild heißt, ein Götzenbild,
dem man zu seinem eigenen Schaden dient. Von jeher gab die Mensch·
heit sich begeistert allen Illusionen hin, die das Theater uns vermittelt
von schönen, großen und vollkommenen Menschen, selbst von voll.
kommen übermenschlich großen Bösewichtern. Schon das Format an
sich, das alle Maße übersteigt, erschüttert und erzeugt geheime Lust.
Der junge SCHILLER hat dieser Neigung unserer Psyche, sich Dimensionen
hinzugeben, einen beinahe naiven Ausdruck gegeben, obschon darin
intuitive Weisheit steckt. "Es ist schimpflich, eine volle Börse zu leeren, es
ist frech, eine Million zu veruntreuen - aber es ist namenlos groß, eine
Krone zu stehlen! Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde 3 ."
1 BOWEN, CROWELL: They went wrorl{], S. 176. New York 1955.
2 Die Verlegerin riet dem alten Zuchthäusler, er solle erst einmal einen Schutz·
mann nach dem Leben zeichnen, vielleicht sogar den einen oder den andern kennen·
lernen. Ich fürchte, daß der Sträfling mehr Erfahrung hatte. - Wir zeichnen alle
Bilder nach dem Leben, doch wird es immer unser Leben sein. Die Kräfte, die sie
prägen, können nie die gleichen sein.
3 SCHILLER: Verschwörurl{] des Fiesco, IH,2. In die gleiche Kerbe schlägt das
von CÄSAR (nach CICERO: De oft. H, 82) oft gebrauchte Wort aus den Phönizierinnen
des EURIPIDES (524 ff.): "Soll Recht gebrochen werden, sei's ein Königsthron,
um das man's bricht. Sonst sei es heilig Dir!"
44 Das Fehlbild von Gehirn und Drusen

Die Reverenz, die wir vor dem Fetisch der Größe l empfinden, stößt
mit der moralischen Wertung zusammen, um viel zu oft den Sieg
davonzutragen. Schon unsere Vorliebe für ellenlange Diener, einstmals
für überlange Flügelmänner oder Regimenter ist Ausdruck einer inneren
Qualität, die der physischen Quantität hat weichen müssen, das essentiell
Vortreffliche dem Kolossalen, von dem wir wissen, daß es in der Tier-
welt ausgestorben ist. Die Vorweltriesen, wenn es solchen Auswuchs je ge-
geben hat, sind schon aus Nahrungsgründen aus der Welt verschwunden.
Ein Rest der alten Auffassung hat sich in der Anbetung bloßer
körperlicher Equipierung fortgeerbt, die manchmal unser Urteil irre-
führt. Verdacht kann den bekannten Sportler schwer erreichen. Kein
Verteidiger wird versäumen, auf das gewichtige Gegenindiz der hohen
körperlichen Leistung hinzuweisen, wenn solche Größen vor Gericht
stehen. Der Chemiker Molineux konnte unmöglich Gift verabreicht
haben, weil er im Barrenturnen anerkannter Champion war 2 • Dabei
bewegen wir uns hier auf zwei verschiedenen Ebenen der Bewertung, die
miteinander nichts zu tun haben, wie parallele Linien sich in der Unend-
lichkeit verlieren. Sie haben beide ihren ganz bestimmten Standort.
Die Regeln der Gesellschaft gehen vor 3 , trotz stärkster Muskeln, schnell-
ster Beine. Die Masse aber leistet gern Verzicht, wenn wir die gleiche
Forderung wie an alle, auch an ihren Liebling stellen.
Es war ein unerhörtes Wagnis, als der große Gangster Rothstein es
unternahm, das Endspiel im Baseball 1919 zu "bestimmen". Dadurch,
daß er den Spielern 100000 Dollars zahlte, konnte er, in sicherer Kennt-
nis des Ausgangs, durch überall placierte Wetten ungeheure Summen an
sich reißen. Auf die Liebe zum Sport und seine Helden hat der Biograph
Rothsteins, hingewiesen: "Für Rothstein wie für Millionen anderer
stand Baseball auf gleicher Höhe wie Mutterliebe und Achtung für die
Fahne. Es war etwas, was niemand anzurühren wagen durfte. Es war
der große Sport Amerikas, und seine Spieler gehörten als Volkshelden
der Zeitgeschichte an 4 ." - Ein Mann, der an die Ehre dieses Sports zu
rühren sich erkühnte, war ein Judas 5 • Der Schwindler, der den großen
Sportsmann mimt, gelangt mit vollen Segeln an sein Ziel 6 •
Besonders Boxer haben eine gläubige Gemeinde. Der weltberühmte
Boxer Carter ("Kid Carter") hatte am Neujahrsmorgen einen Kellner
1 Über die psychologischen Hintergrunde des Respektes vor "hoher" Abkunft
habe ich in meinem Betrug, S. 125, Erwägungen angestellt.
2 ÜROUSE, RussEL: Murder won't out, S.123. New York 1932.
3 "Unter den weltbekannten Sportgrößen gab es mehrere Homosexuelle." KLIM-
liEB, RunOLF: Die Homosexualität, S.126. Hamburg 1958.
'KATSCHER, LEo: The big bankroll. Life and times of Arnold Rothstein, S. 146.
New York 1959.
5 Im englischen Text steht Benedikt Arnold, der Verräter aus dem Unabhängig-
keitskrieg. 6 Siehe den Fall in meinem Betrug, S. 97.
Der falsche "feine" Mann 45

im Streit erschossen. Zur gleichen Zeit kam Meldung an die Polizei, ein
ungewöhnlich schönes Mädchen mit wohlgepflegten manikürten Händen
sei hinter einem Kirchhof tot gefunden worden. Leichte Verletzungen
waren an Nase, Stirn und Hals zu erblicken. Man hatte sie noch nachts
zusammen mit dem Boxer gehen sehen. Der Arzt, die Polizei, die Eltern
selbst und alle Sportliebhaber waren davon überzeugt, daß Carter nicht
in Frage käme. Die Untersuchung wurde eingestellt. Wegen des Tot-
schlags erfolgte Verurteilung. Kaum war das Urteil verkündet, da bat
Carter um das Wort. Der Richter, voller Ungeduld, gab die Erlaubnis.
Mit einem Lächeln sprach der große Boxer: "Ich habe Mildred Donavan
getötet; sie war nur eine von den vielen, die ich ums Leben brachte.
Nun, was sagt Ihr jetzt! 1" Der Ruhm des alten Kämpfers hatte sein
Bild vergoldet und der Wirklichkeit entfremdet. Mit unserem Urteil
hatte das Gefühl gespielt.
Mit gleichem Glanze wie die Boxer, Fußball- oder Tennisspieler ist das
Kinovolk umgeben. Kaum eine Schwindlermaske ist beliebter als die
eines Filmdirektors, der nach Talenten sucht und eine Laufbahn zu
vergeben hat. In dem Zeitalter der Demokratie ist der Bewunderungs-
trieb, der sonst von Fürsten und Fürstinnen absorbiert wurde und leer-
laufen müßte, auf Substitute abgerutscht. Wie Potentaten einstmals,
können Kinogrößen "do no wrong," obschon sie unsere Duldung reich-
lich strapazieren. Nur ein Verteidiger wie Jerry Giesler, dem sich die
Dessous von Hollywood eröffnet haben, würde die Kriminalgeschichte
dieser Filmzentrale schreiben können. Ganz selten rafft sich das Publi-
kum zu deutlicher Verurteilung auf, wie bei jenem 300 Pfund schweren,
weithin belachten Komiker Roscoe "Fatty" Arbuckle, der 1921 in den
Tod eines Mädchens verwickelt war, und den die ob ihrer Anbetung be-
schämten Theaterbesucher mit Eiern und Tomaten vom Bildschirm ver-
trieben. Sonst senkt sich Schweigen über das Geschehen, wird immer
wieder mit dem Tatort unsorgfältig umgegangen 2, vermodern diese
Fälle in der Leichenkammer allzu vieler ungeklärter Fälle 3 • Erst wenn
die Schönheitskönigin, die wir bejubelt haben, Nerzmäntel oder Perlen-
ketten stiehlt', beschwert der kurze Zweifel unsere Seele, ob wir uns oft
nicht selber hintergehen.
1 MAxRIS, JOHN N.: Boston murders, S. 106. New York 1948.
2 RICE, ÜRAIG: Los Angeles murders, S.97. New York 1947. - Der bekannte
Filmdirektor William Desmond Taylor - in Filmkreisen wird fast immer nur der
Revolver benutzt - wurde erschossen aufgefunden. Kurz nach dem Tode war das
Haus von unbekannten Personen durchsucht worden, die alle Briefe mitgenommen
hatten.
3 Siehe den rätselllaften Tod des berühmten "Superman" George Reeves am
15. Juni 1959.
4. Ende des Jahres 1959 wurde Hanni Ehrenstrasser, Miß Europa 1958, von einem
Londoner Gericht zu zwei Jahren Gefängnis wegen Ladendiebstahls verurteilt.
46 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

d) Die alte Klage über zweierlei Maß in der Rechtsprechung - und


der Vorwurf der Klassenjustiz ist nur eine Ecke weiterer Probleme -läßt
eine gerechtere, objektivere Erklärung zu als bewußte und unbekümmerte
Parteinahme. Von Eremiten und solchen abgesehen, die sich wissentlich
isoliert haben, lebt jeder Mensch in irgendeiner Art von Gruppe, die sich
aus nationalen, religiösen, sozialen, bei Blinden und Homosexuellen zum
Beispiel, auch aus physischen Zusammenhängen ergibt. Selbst die Natur
schafft Gruppen durch die Aufzucht Junger und die Sorge für die Alten.
Der Abwehrhaltung dient die innere Kohäsion. Zu ihr gehört der Aufbau
protektiver Triebe, denn jedes Mitglied einer Gruppe ist ein Bruchstück
der geschlossenen Front. Es ist unmöglich, diese mächtigen Gefühle,
die immer in primärer Weise nützlich sind, am Einbruch in die Sphäre
des Verstandes ganz zu hindern. Jede Art von Verbundenheit, nicht nur
die Liebe, macht blind, und SHAKESPEARES Bemerkung, daß Liebe wegen
ihrer Blindheit mit der Nacht zusammengehe!, paßt auch auf alle Dunkel-
heiten rationeller Einsicht. Ganz automatisch reihen wir uns in die
Abwehrphalanx eigener Gruppen ein, es sei Familie, Religionsgemein-
schaft, Klasse, Rasse oder Staat. Sie alle glauben fest an jene stärkenden
Legenden, zu denen auch ihr Bessersein gehört. Wir ziehen auch den
Umkreis der Gemeinschaft 2 in die Bereiche protektiven Irrtums, er-
weitern dadurch den Bezirk des Fehlurteils. Einmütigkeit ist in Gefahr
ein Vorteil, wenn es zu handeln und zu dulden gilt. Sie ist als niemals
korrigiertes Dauerbild von übel.
Als ein junger Deutscher mit Namen Müller 1864 in England einen
häßlichen Eisenbahnmord begangen hatte, war die Beweislage unzwei-
deutig, denn der flüchtige Schneidergeselle trug bei seiner Ankunft in
New York den Hut des Toten. Trotzdem nahm die deutsche öffentliche
Meinung mit großer Entschiedenheit für den Täter Partei 3; sie stellte
sich ganz instinktiv an die Seite des bedrohten Landsmanns und ließ
der objektiven Überlegung wenig Raum. - Der Grieche Pappas er-
mordete 1919 eine amerikanische Frau, begrub die Leiche unter Aschen-
haufen, die im Keller lagerten. Die Griechen Bostons sammelten
50000 Dollars, die Unschuld dieses andern Griechen zu beweisen, waren
aber nicht imstande, ihn vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren 4 • In
allen diesen Fällen kämpft die Gruppe für die eigene Geltung, oft viele
Jahre lang, auch manchmal mit Erfolg, wobei der knappe Freispruch

SHAKESPEARE: Romeo und Julia, H, 1, 33.


1
Nach dem englischen Sprichwort soll der, der mich gern hat, auch meinen
2
Hund lieben. PARTRIDGE, S. 391.
3 "So bleibt von den Inzichten, auf welche hin das Todesurteil gefällt ist, nichts
oder doch so gut wie nichts Greifbares übrig." Kreuzzeitung vom 9. November
1864 nach dem Neuen Pitaval, Bd. XXXVI, S.75.
, Boston murders, S. 218.
Der falsche "feine" Mann 47

Zweifel übrig läßt 1 . Formal ist jetzt der Vorwurf abgewaschen, doch
wenn der Freigesprochene sich das Leben nimmt, sind die Bedenken leise
wieder da. Nur wenn die Gruppe allzu grob belastet wird, kehrt sie
sich wütend um und nimmt als erste an dem Täter Rache 2 • Ihn abzu-
stoßen, laut und ohne Gnade zu verdammen, dient jetzt dem Besten der
bedrängten Gruppe.
Hinter der einschläfernden Wirkung der guten Kleidung steht der
Glaube, daß reiche Leute saturiert, nicht aggressiv, ja gern bereit sind,
von ihrem Überflusse abzugeben. Die Alten kannten zwar die Macht des
Goldes, doch fehlte ihnen unsere unbedingte Achtung. Goldregen war
der Freier, der in die festen Mauern eindrang, wo Danae verschlossen war.
HORAz 3 sah in den Schätzen nur den Machtgewinn, nicht die Genüsse,
die wir heute hinter ihnen suchen:
"Gold schreitet mitten durch die Reihen der Trabanten,
Durchbricht die Felsenmauern noch gewaltiger
Als Blitzes Schleuderwurf ... "
Die großen Schwindler lehren uns die Anfangsgründe des Geldrespekts
und seiner Zauberwirkung. Sie haben eine vielverschlungene Technik
des Gefallens. Anziehend zu erscheinen ist nicht schwer, wenn man das
Opfer Macht und Reichtum wittern läßt, als Ölmagnat aus Oklahoma 4,
als Multimillionärin, deren Mittel unversiegbar sind 5, als Scheich
Abdullah von Kuweit, als Gold- und Diamantenmacher 6 • Der eine
kleidet sich wie ein Bankier, der andere schreitet nach dem Einbruch
langsam durch die aufgeregte Menge, weil keiner hinter seiner Würde
und dem Waschbärpelz den Mann vermutet, der eben einen Kriminal-
beamten erschossen hat 7. Die feine Kluft 8, der Pelz ist Alibi, an dem
sie nicht zu zweifeln wagen. In jeder Panik steigt das unbewußte Leben
an die Oberfläche.
Noch eine andere Lehre geben uns die Schwindler: die Schutzfunk-
tion der Frömmigkeit. "Yellow Kid Weil" zieht des Sonntags gestreifte
Hosen und Gehrock an und fährt mit seinen Opfern, reichen älteren
1 Fall des Dr. Loomis, der von der Anklage des Mordes freigesprochen wurde und
sich ein Jahr später vergiftete. HAMER, ALVIN C.: Detroit murders, S.61ff. New
York 1948.
2 Beispiele sind die abgelehnten Gnadenakte im Falle des Pfarrers Richeson
(SMITH, E. H.: Poison mysteries, S. 280ff. New York 1927) und des Polizei-
leutnants Becker (MINOT: Murder will out, S.88. New York 1928), obschon sich
Gründe hätten finden lassen.
3 HORAZ: Carm. In, 16.
4 MELVIN PURVIS von der FBI sagt, daß der Gangster Miller genau wie ein
Ölmagnat aussah (American agent, S.39. Garden City 1938).
5 V. CLERIC in Schweiz. Z. für Strafrecht, S. 20, 1926.
6 WIEGLER, PAUL: Schicksale und Verbrechen, S.373. Berlin 1935.

7 Boston murders, S. 120ff.


8 "Kluft" ist wie "Schale" neuhebräisch. WOLF, S. 172.
48 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Mädchen, in die Kirche 1 • Zwar ist es nützlich, streng, erfolgreich, im-


posant wie J. P. Morgan auszusehen und dadurch unbegrenzt Vertrauen
einzuflößen 2, noch besser ist die Rolle eines Mannes, der auf dem Dampfer
"unauffällig" Bibel liest und es bescheiden ablehnt, als ein Pfarrer an-
gesehen zu werden. Er sei nur ein Geschäftsmann, der die 10 Gebote zur
Richtschnur seines Lebens gemacht habe 3 ; beim Falschspiel verbreitet
er den Geist der absoluten Ehrlichkeit. Noch stärker wirkt die Rolle
eines Missionars 4 , der oftmals Mexiko durchreist und hier vergrabenen
Schätzen nachgespürt hat.

3. Der edle Räuber


Es gibt im Kindermärchen noch den Meisterdieb. Er steht auf der
Grenze zweier Urteilsebenen, dort wo moralische Ablehnung und tech-
nische Bewunderung zusammenstoßen. Er rühmt sich selber seiner
hohen Kunst 5 :
"Glaubt nicht", so tröstet er den erschrockenen Vater, "daß ich stehle wie ein
gemeiner Dieb, ich nehme nur vom Überfluß der Reichen. .Arme Leute sind sicher:
ich gebe ihnen lieber, als daß ich ihnen etwas nehme. So auch, was ich ohne Mühe,
List und Gewandtheit haben kann, das rühre ich nicht an."
Von diesem Erzdieb, der Reichen nimmt und Armen gibt, führt eine
gerade Linie der Gedanken zum "edlen Räuber", der durch die Lieder
und die Träume aller Völker geht. Den "edlen" Mörder lassen wir zur
Seite, obschon antiken Freiheitshelden 6 auch die neue Zeit das eine oder
1 BRANNoN, W. T.: "Y ellow Kid Weil." The autobiography of Americas
master swindler, S. 171. Chicago 1948.
BEbenda, S. 155.
8 HYND, ALAN: The (liant killer8, S.296. New York 1945.
, Ebenda, S. 276. Der "Pfarrer" in voller Tracht weist eine gefälschte alte Karte
vor und betet über der Fundstelle der Goldbarren. Er bittet Gott, zu bewirken, daß
die Schätze dem Wohl der unglücklichen Menschenkinder in den Vereinigten
Staaten und Mexiko zugeführt werden könnten. (Ebenda S.276.) Er betete so
innig, daß jeder Zweifel bei dem Opfer, einer alten Dame, schwand.
5 Kinder. und Hausmärchen der Brüder GRIMM. Vollständige Ausgabe, S.694.
München 1949.
6 Die bekanntesten Beispiele sind Harmodius und Aristogeiton in Athen, die
mit Denkmal und Ruhnlesliedern geehrt wurden, und Brutus. Brutus handelte zur
unrechten Zeit nach einer rechtlichen These. "An die gesetzliche Bestimmung",
schreibt MOMMSEN (Röm. Strafrecht, S.551. Leipzig 1899), "daß der Versuch der
Wiederherstellung des Königtums dem Landesverrat gleich zu bestrafen sei,
knüpfte sich in der Parteidoktrin der republikanischen Legitimisten die Rechts.
theorie, daß ein jeder Bürger berechtigt und verpflichtet sei, denjenigen, welcher
nach solcher königlichen Gewalt strebe oder gar sie schon erlangt habe, ohne vor·
heriges Rechtsverfahren niederzumachen." Unter dem Kaiserreich wurde gegen die
Verherrlichung der Cäsarmörder eingeschritten. So galt es als Verbrechen, wenn
ein Geschichtsschreiber Brutus und Cassius die "letzten Römer" nannte. SUETON,
Tiberiu8 61.
Der edle Räuber 49

andre Beispiel an die Seite stellt!. Wir zögern, den Tyrannenmörder, wie
die Römer, gutzuheißen, je mehr der Umkreis der Vernichtungskräfte
sich erweitert.
Dem Strafgesetze sind die edlen Räuber unbekannt. Stets hat man
sie dem Henker überliefert oder mit Hilfe hoher Belohnung durch einen
Kumpan erschießen lassen, wie Jesse James. Was uns nachdenklich
macht, ist die Divergenz von Recht und Volksanschauung. Wie kann
das beinahe unzerstörbare Bild des edlen Räubers zustande kommen,
weiterleben, ja von Jahr zu Jahr an Glanz gewinnen? Sie haben meist
getötet, Häuser angezündet, in ihre Banden Elemente aufgenommen,
in denen keine Spur von Mitleid oder Edelmut zu finden war. Und doch
hat das, was man das Volk nennt, diese Kriminellen an sein Herz ge-
nommen, bewundert, hochgeachtet, ja geliebt, vielleicht mehr in Er-
innerung des Vergangenen als zuzeiten ihres Lebens.
Da ist zuerst eine soziologische Erwägung. Es sieht so aus, als ob
diese Rebellen gegen die gesellschaftliche Ordnung mit versteckten und
mühsam verhohlenen Gefühlen der Massen in Einklang standen 2, zumal
sie alle in Perioden großer Krisen und Gegensätze lebten. Ohne den Frei-
heitsdrang der Schweizer hätte es nicht sein können, daß Wilhelm Tell
vom politischen Mörder zum Nationalheld vorwärtsschritt. Sonst wäre
es nicht möglich gewesen, daß die revolutionären Stoßgruppen von Paris,
wie die Jakobiner, niemals rasenderen Beifall klatschten, als wenn vom
Dolch des Brutus Rede war. Es ist gewiß: Wenn Lieder von Robin
Hood, vom Schinderhannes und vom Hiesl neu gesungen werden, liegt
Spannung in der Luft.
Es gibt auch "Helden", die ein schweres Verbrechen begehen und
über deren Tat Gesetz und Volk, Gegenwart und Nachwelt eine ganz
verschiedene Meinung haben. Wir brauchen nur an Sand zu denken,
der Kotzebue erstach - das Kind Kotzebues, das zusah, glaubte, der
fremde Mann wolle mit seinem Vater "Krieg spielen" - und am 20. Mai
1820 bei Mannheim hingerich tet wurde 3. Sand, ein sozialer Schizophrener 4
paranoider Färbung, wie es scheint, verteidigte sich mit den Worten:
1 Noch im 19. Jahrhundert wird die Erschießung des Staatsanwalts Key durch
den Abgeordneten Sickles in Washington unter der Überschrift: "Ein Mord, der
zur Berühmtheit führte", dargestellt. BIERSTADT, E. H.: Enter murderers, S. 149ff.
Garden City 1934.
2 Bemerkenswert ist die Sympathie der Volkssage für die Bauern, die unerbitt-
liche Zwingherren ums Leben brachten. FERR, HANS: Das Recht in den Sagen der
Schweiz, S. 94ff., Frauenfeld 1955. Im Grunde ist auch Tell ein solcher Typ.
3 Neuer Pitaval, Bd. I, S.I-123.
4 Ebenda, S.96. Auf einer Flugschrift, die beim Wartburgfest verteilt wurde,
hatte Sand als Urfeinde des deutschen Volkstums erklärt: 1. die Römer, 2. Mönche·
rei, 3. Soldaten. Ebenda, S.28. "Jedwedem Unreinen, Unehrlichen, Schlechten
soll der Einzelne auf eigene Faust nach seiner hohen Freiheit zum offenen Kampf
entgegentreten. "
v. Hentig, Das Verbrechen I 4
50 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

"Er habe die Tat für das Höchste des Vaterlandes getan, dessen sich trotz der
vielen Anklagen niemand angenommen habe. Insofern glaube er sich gerechtfertigt
und straflos, weil er getan, was andere Gerichte nicht getan und in den Zeitverhält-
nissen nicht hätten tun können ... Es sei ein Zustand der äußersten Not gewesen.
Da die Regierungen nicht helfen konnten (aus politischen Rücksichten vor Rußland),
sei es die heilige Prucht jedes einzelnen geworden, der Willen und Kraft gehabt hat,
sich in den Kampf einzulassen."
Nach der Hinrichtung wurde das Blut von Umstehenden, die von
allen Seiten auf das Gerüst eindrangen, mit Taschentüchern aufgefangen,
der Richtstuhl zerschlagen und die Stücke als Andenken verteilt. "Der
Platz, mit Vergißmeinnicht besät, wurde zum Wallfahrtsort." Morgens
fand man oft Blumen und Trauerweiden darauf gestreut. Das Volk
habe - so schrieben die Freunde - die Wiese, worauf die Hinrichtung
erfolgte, Sands Himmelfahrtswiese genannt. Auch Gedichte und Balladen
fehlten nicht 1. Seine Haare und Bildnisse wurden überall verkauft. "Ein
damals berühmter Landschaftsmaler gefiel sich, Wiesenlandschaften
mit zerstörten gotischen Domen zu malen, vor deren letztem Altar ein
Jüngling mit langem Haar und deutschem Rocke seinen Dolch nieder-
legte." Es war nicht so, daß ihm das Volk vergeben hatte; es stellte sich
bewußt auf seine Seite. Es sah in ihm den "guten" Mörder, den Übeltäter
mit der allgemeinen Wohltat. Die Soziologen sollten diesen Umschlag der
Bewertung untersuchen, denn diese Spaltung des Bewußtseins zwischen
Recht und Volksempfindung 2 erschüttert auch die stärkste Staats-
macht, rächt sich an beiden Lagern, die nicht mehr zusammenfinden.
Hinter dem edlen Räuber steht geschichtliche Erinnerung. Schlecht
war der Mensch, der heimlich vorging und ein Tabu verletzte, wenn es
auf ürten, Zeiten und Personen lag. Er war "unehrlich 3," scheute, ehrte
das Gebot der Götter nicht. Raub war das leichtere Verbrechen 4, es
entehrte den Mann sowenig wie der Totschlag. "Wer in offener Fehde
Mann gegen Mann siegte, durfte Beute nehmen 5." In alten Zeiten war
1Neuer Pitaval, Bd. I, S. 119.
2BURCKHARDT (Die Kultur der Renaissance in Italien, S.321. Köln o. D.)
schreibt von der moralischen Verwirrung jener Zeit: "Schranken gibt es nur
wenige. Der Gegenwirkung des illegitimen, auf Gewalt gegründeten Staates lnit
seiner Polizei fühlt sich jedermann, auch das gemeine Volk innerlich entwachsen,
und an die Gerechtigkeit der Justiz glaubt man allgemein nicht mehr. Bei einer
Mordtat ist, bevor man irgend die näheren Umstände kennt, die Sympathie un-
willkürlich auf seiten des Mörders. Ein männliches, stolzes Auftreten vor und wäh-
rend der Hinrichtung erregt vollends "solche Bewunderung, daß die Erzähler
darob leicht vergessen, warum der Betreffende verurteilt war."
3 KLUGE-GÖTZE: Etymalag. Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 158. Bin. 1951.
, HIS, R.: Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Oaralina, S.158. Mchn.1928.
5 GRIMM, JACOB: Deutsche Rechtsaltertümer, Bd.lI, S.192. Leipzig 1922. -
In den Schweizer Landrechten aus dem 13. Jahrhundert "blickt noch an einigen
Stellen hervor, daß ein Raub in rechtmäßig angesagter Fehde nicht straffällig
war." OSENBRUEGGEN, E.: Studien zur deutschen und schweizerischen Rechts-
geschichte, S. 203. Basel 1881.
Der edle Räuber 51

der Freie stets bewaffnet. Heute sind die meisten Opfer wehrlos. Ein
Teil der alten Wertung hat sich noch im Volk erhalten, das arm war und
von Räubern nichts zu fürchten hatte.
Fast alle edlen Räuber sind von irgendeinem Trauma angekränkelt.
Ein Unrecht wird von ihnen seelisch nicht bewältigt, das sie erlitten
haben. Michael Kohlhaas ist nach KLEISTS Meinung mit "der gebrech-
lichen Einrichtung der Welt" vertraut. Er sieht die Welt in "ungeheurer
Unordnung". Er stellt seine Seele auf "große Dinge" ein. Auf ihn, den
Rechtsgefühlkranken, machen Luthers matte Worte keinen Eindruck 1. In
einer Umkehrung der Lehre von der Generalprävention glaubt Kohlhaas:
" ... mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen, sich die Genugtuung für
erlittene Kränkung und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen."
Er wird zum Räuber und zum Mörder, er - nach KLEIST "der recht-
schaffenste und zugleich entsetzlichste Mensch" seiner Zeit. Auf dem
Schafott noch lehnt er jedwede Gnade ab 2, weil er im Recht sei 3 • Die
Mitwelt ließ ihn durch den Henker töten. Die Nachwelt sieht in ihm den
edlen Räuber, je mehr sie sich von ihm und seiner Zeit entfernt.
Sieben Jahre, ehe der Sturm auf die Bastille erfolgte, am 13. Januar
1782, "sah man an den Straßenecken und Brunnenröhren zu Mannheim
die Theaterzettel, die die erste Aufführung der Räuber ankündigten 4 ."
Während dem damaligen bürgerlichen Publikum die Tendenz des
Stückes als "eine glückliche Wahrheit" erschien, die Adelskreise sich
dagegen "sehr absprechend verhielten", das viele Schießen die Damen
"ziemlich bange machte", trat das Stück, das der Pädagoge die "un-
geheuerliche Ausgeburt eines jugendlichen Feuerkopfes" nennt 5 , seinen
Siegeszug durch Deutschland an. SCHILLER selbst hatte auf Wunsch
Dalbergs ein "Avertissement" beigefügt, überschrieben "Der Verfasser
an das Publikum." Er wies auf die Moral des kühnen Stückes hin. Es
hat die Tragik des edlen Räubers zum Inhalt, und SCHILLER will den
Zweiflern klarmachen, daß auch die Jugend aus dem Drama lernen kann 6 :
1 "Was Ihr mit Recht ausfueren mueget, das thut Ihr wol, Koendt Ihr das
Recht nicht erlangen, so ist kein ander Radt da denn Vnrecht leiden ... Vnd
lasst euch eweren schaden von Gott zugefueget sein ... " - Der ganze Brief ist ab-
gedruckt in: Neuer Pitaval, Bd. IX, S. 36 und 37. Leipzig 1874.
2 Er sollte statt gerädert, zum Tode durch das Schwert begnadigt werden.
3 "Festen Schrittes und oft den Spruch wiederholend: ,Nie sah ich einen Ge-
rechten verlassen!' betrat er das Schafott und erlitt, jedenfalls in der Überzeugung,
daß ihm Unrecht geschehen sei, fest und standhaft den martervollen Tod durch das
Rad." Neuer Pitaval, Bd. IX, S.59.
4 WYCHGRAM, J.: Schiller, S.70. Bielefeld 1901. 5 Ebenda, S.73.
6 Wiedergabe des Originaldrucks aus dem Schillerhause zu Marbach bei WYCH-
GRAM, S.70. Die Ausführungen standen auf der Rückseite des Theaterzettels
(Sonntag, den 13. Jänner 1782). Das Stück war schon 1781 im Druck erschienen.
Die Vorrede zur zweiten Auflage vermerkt, daß der Druck verbessert und diejenigen
Zweideutigkeiten vermieden seien, "die dem feineren Theil des Publikums auffallend
4*
52 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

"Die Räuber", schreibt er, "das Gemählde einer verirrten grosen Sele - aus-
gerüstet mit allen Gaben zum Fürtrefflichen, und mit allen Gaben - verloren-
zügelloses Feuer und schlechte Kameradschaft verdarben sein Herz, rissen ihn von
Laster zu Laster, bis er zulezt an der Spize einer Mordbrennerbande stand,
Greul auf Greul häufte, von Abgrund zu Abgrund stürzte, in alle Tiefen der Ver-
zweiflung' doch erhaben und ehrwürdig, gros und majestätisch im Unglück und
durch Unglück gebessert, rückgeführt zum Fürtrefflichen. Einen solchen Mann
wird man im Räuber Moor beweinen und hassen, verabscheuen und lieben ... "
Karl Moor ist ein Graf, Kosinsky ist ein böhmischer Edelmann, beide
sind durch eine Liebeskrise in die Welt der Gewalt und der Zerstörung
geworfen. Karl Moor konnte nicht, wie er es geträumt hatte, "ein großer
stattlicher, gepriesener Mann werden, ein Abgott seines Volkes 1." Jetzt,
wo die Welt der braven Menschen ihn ausgestoßen hat, wird er zum
Führer der Entgleisten, zum Räuberhauptmann, der seine innere Ver-
zweiflung an jeder Form menschlicher Schlechtigkeit austoben will, und
wie ein Gott der Rache große Bösewichter züchtigt.
Von Robin Hood zu Schinderhannes läuft eine lange Kette solcher
edler Räuber. Wenn sie nicht wirklich Armen und Beladenen halfen,
wie jener Meisterdieb, so erleichterten sie ihnen die Last der inneren
Not, den Ingrimm des Schweigens und des Duldens, indem sie ihren
Feinden Schmerz und Schaden zufügten, in dieser Welt noch, wo es
jeder sah und hörte und seine Freude daran haben mochte. Beim Hies1 2
läßt sich dieser Vorgang gut verfolgen. Die Teile Bayerns, die er 10 Jahre
lang unsicher machte, die Gegend um den Iller und den Lech, "waren
damals äußerst reich an Wild, das den Saaten der Landleute unermeß-
lichen Schaden zufügte". Wenn er das Wild zusammenschoß, so war das
Volk dem Hiesl dankbar. Es schützte ihn, wo es auch immer konnte.
In einem Volkslied, das zu Lebzeiten des Hiesl entstand, wird dieses
Verhältnis von Räuber und ländlicher Bevölkerung deutlich ausgeführt 3 :
"Und kommt die letzte Stunde,
Und schließ ich d' Augen zu;
Soldaten, Scherg'n und Jäger,
Erst dann habt Ihr a Ruh.
Da wird sichs Wild vermehren
Und springen kreuzwohlauf,
Und d' Bauern werd'n oft rufen:
,Geh, Hiesl, steh noch auf!'"
In ganz der gleichen Weise stellten sich die Farmer von Missouri um
Jesse James und seine Bande. Er raubte meistens Eisenbahnen aus.
Beim Bau der Bahnen waren große Schwindeleien vorgekommen, die
gewesen waren." Dalberg hatte verlangt, daß das Treiben der Räuber aus dem
18. Jahrhundert um 300 Jahre zurückverlegt würde. Es spielt nunmehr zur Zeit
des Kaisers Maximilian. WYCHGRAM, S. 69.
1 SCHILLER: Die Räuber IV, 1.
2 Neuer Pitaval, Bd. VI, S. 337ff. 3 Ebenda, S. 374.
Der edle Räuber 53

viele Farmer um den letzten Pfennig brachten. Das Geld war weg, doch
Jesse James half, den bitteren Schmerz zu lindern. Tausend Geschichten
seines Mutes werden heute noch erzählt 1.
Auf der weiblichen Seite hat die Phantasie des Volkes, haben aus ihr
schöpfend unsere großen Dichter das Bild der herzensguten Hure sich
zurechtgedacht. Damit sie Macht zum Wohltun habe, muß sie in
höchsten Kreisen sich bewegen. Sie wurde nur durch Not und unver-
dientes Unglück zur Mätresse. Wenn sie auch sündigt, tut sie es in Samt
und Seide, mildert den harten Sinn des Fürsten, illegitim und trotzdem
jeder Zoll, in jeder Regung wahre Landesmutter. Sie liebt das Volk,
fühlt seine Schmerzen, erbettelt durch ihr Liebesopfer Gnade vom
Tyrannen. Warum ist sie so gut und hat doch ihre Frauenehre hin-
gegeben? Sie ist ja selbst aus fürstlichem Geblüte, trotz ihres Falles
hoch gesinnt, weil hochgeboren, und ihre Schuld dient allgemeiner
Wohlfahrt. Ein solcher Zwiespalt macht das Urteil duldsam, und der
Instinkt des Dichters griff nach der Erregung widersprechender Ge-
fühle.
Es ist kein Wunder, daß SCHILLER neben dem edlen Räuber auch die
unglückliche, herzensgute "Verlorene" am Hofe eines rücksichtslosen
kleinen Fürsten geschildert hat. Kabale 2 und Liebe wirft nicht so sehr
"den Hermelin über die Schande 3 " hin, Lady Milford, die Favoritin,
sagt es viel eindringlicher "mit Sanftmut und Hoheit": Der Vater,
ungerechterweise als Opfer der Maria Stuart hingerichtet, die Mutter
am gleichen Tage vom Kummer dahingerafft, die Waise "weint" sechs
Jahre in Hamburg "hin", sie will sich in die EIbe stürzen. Da stößt sie
auf den Fürsten: "Mein Herz brannte nach Herzen. - Ich sank an das
seinige."
Am Hofe erlebt sie die "Wollust der GroBen". Sie stellt sich "zwischen
das Lamm und den Tiger", entreißt ihm in einer Stunde der Leiden-
schaft den Eid, daß "diese abscheuliche Opferung" aufzuhören habe.
Und während "flatterhafte Pariserinnen mit dem furchtbaren Zepter
tändeln" und "das Volk unter ihren Launen blutet" nimmt die wohl-
tätige Sünderin "dem Tyrannen die Zügel ab, der wollüstig in ihrer
Umarmung erschlaffte'." Wie Moor, der Räuber, kehrt auch Lady Mil-
ford reuig in die Welt der Konventionen zurück, aus der sie herkam.

1 BOTKIN, B. A.: A tren,sury of Western Folklore, S.306. New York 1951. -


Noch in meiner amerikanischen Zeit tauchten uralte falsche Jesse James auf und
fanden Glauben; 80 war der kleine Mann in ihn verliebt.
2 Das Wort aus dem Hebräischen ("Geheimlehre") hat die Bedeutung von
Ränken angenommen, wie sie an den Fürstenhöfen blühten.
3 SOHILLER: Kabale und Liebe, II, 3.
, "Ich sah sie neben mir in den Staub sinken, denn ich war mehr Kokette als
sie alle."
54 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Das moralische Gleichgewicht ist wieder hergestellt; die Zeit der Schuld
war einzig eine Episode, in der die innerliche Herzensgüte mit der
Abscheu vor der Sünde rang!.

4. Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern


a) Jeder Jäger kennt die Einengung des Bewußtseins, die mit dem
Tier in der Brunstzeit vor sich geht. Scheu, Vorsicht, Argwohn werden in
den Wind geschlagen. Die Sinne sind von einem Trieb besessen, und die
Gedanken - was es auch beim Tier sei - kennen nur ein einziges Ziel.
Diese Verkürzung findet sich in abgeschwächter Form im Umgang
menschlicher Geschlechter wieder. Der freie Gebrauch der intellektuellen
Funktion ist zwischen den Geschlechtern eingeengt, bei den Homo-
sexuellen von der positiven Seite auf die negative hin verschoben. Wahr-
scheinlich ist es biologisch wertvoll, daß die Geschlechter ihre Mängel
nicht mit voller Klarheit sehen und erst im Alter jede Farbe wieder deut-
lich wird, wo wir dann gern von bösen Weibern und dem greisen Gries-
gram reden. Wir wachen wie aus einem Traum auf.
Die Spannung der Geschlechter kann die Urteilsbildung nicht un-
berührt lassen. Hier ist es wichtig, daß die Männer meistens die Entschei-
dung treffen, wenn es um Übeltäter oder kriminelle Frauen geht. Die
Polizei besteht zumeist aus Männern, in den Gerichten fällen Männer
Tag für Tag das Urteil. Die meisten Dichter und Gelehrten, sogar die
Stifter aller Religionen und Moralsysteme sind oder waren männlichen
Geschlechts. Der Fraueneinfluß formt die öffentliche Meinung, das All-
tagsleben und den lockeren Austausch der Gedanken. Hier in der Stille
des privaten Lebens entstehen Bilder mancher Übeltäter, die eigentüm-
lich falsch gezeichnet sind. Die gleiche oder stärkere Störung werden
wir beim Manne finden.
Der Heiratsschwindler wendet sich, wenn er Unterstützung sucht,
neben dem Opfer an die Mutter oder Schwester seiner Braut, nicht an
den künftigen Schwiegervater. Er weiß, daß sie den gleichen Kräften
unterliegen, die er bei der "Geliebten" in Bewegung setzte. Das Mäd·
ehen, das der Schwindler mit Raubtierinstinkt ausgesucht hat, ist zu-
meist benommen, gelähmt und entwaffnet. Den Werber, der sie oft
in einem Tag erobert, stellt sie sich wie ein Idealbild vor; Bedenken,
Korrekturen werden von der Faszinierten nicht mehr zugelassen 2.

1 Lady Miliord rühmt sich, "die verlorene Sache der Unschuld oft noch mit einer
buhlerischen Träne gerettet zu haben." MAUl'ASSANT hat in einer Novelle, MAETER-
LINeR in dem Stück Manna Vanna sich mit der gleichen Problematik abgegeben.
2 Über betrogene Mädchen, die noch in der Verhandlung darauf bestanden,
sie glaubten an die Versprechungen und die guten Absichten des Betrügers,
s. PADOWETZ, MARIANNE: Der Heirat88chwindler, S. 61. Wien 1954. Diese Verrannt-
Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern 55

Die Frage ist berechtigt, ob nicht mit wachsenden Frauenüber-


schüssen und steigenden Machtansprüchen der Frau das allgemeine Bild
des Kriminellen, meistens eines Mannes, umgewertet wird. Der Mörder
Ho:ffmann blieb so lange unentdeckt, weil er so gut aussah und sich
zumeist an Frauen hielt. Darüber sagt der Bericht!:
"Genau zwei Jahre später (nach dem Mord), im Januar 1906, tauchte in Dresden
ein sogenannter Einmietschwindler auf, der sich verschiedene Namen beilegte und in
den von ihm ermieteten Garyonwohnungen nichts bezahlte und Diebstähle verübte."
"Er hatte ein etwas blasiertes, dabei nicht unangenehmes Außere, gab sich bald
für einen Studenten, bald für einen Ingenieur oder Reisenden aus, trug entsprechende
elegante Kleidung und verstand es, die Vermieter, die meist dem weiblichen
Geschlecht angehörten, für sich einzunehmen."
Was man "vertrauenerweckend oder -einflößend" nennt, sind bei
der Frau ganz andere Gefühle. Im Prozeß gegen den Räuber Kneissl, der
zwei Gendarmen erschossen hatte, wurde vom Staatsanwalt zuungunsten
des verwundeten Kneissl angeführt, er habe selbst im Krankenhaus der
Pflegeschwester einen unzüchtigen Antrag gemacht, so daß sie versetzt
werden muBte 2 • Der Verteidiger holte zum Gegenschlage aus und er-
klärte, den Vorfall nicht näher erörtern zu wollen. Dann fuhr er drohend
fort: "Ich will auch auf die vielen schwärmerischen Liebesbriefe nicht
zurückkommen, die Kneissl von einer ganzen Anzahl selbst hochstehender
Damen erhalten hat."
Im Jahre 1947 wurde ein Mann namens Emory N. Brown wegen
Bankraubes zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Zur Anwaltsfirma, die
ihn vertrat, gehörte eine rechtskundige Dame, Majorie Sue King, die
mit ihm in der Haft konferierte. Im Jahre 1959 heiratete die 35jährige
Anwältin den 38jährigen Kriminellen, der nach 12 Jahren Zuchthaus
einstweilen entlassen worden war. Zur Hochzeit schenkte die Juristin
dem glücklichen Klienten und Bräutigam ein kostbares Auto 3. Man wird
wohl sagen dürfen, daß die Liebesneigung erheblich stärker war als die
soziale Wertbestimmung. Zwei Schätzungsebenen laufen durcheinander;
selbst die Juristin, die Vertreterin des Rechts, erlag dem Reiz der Gegen-
kräfte 4.

heit macht den alten Glauben an eingeflößte Zaubertränke verständlich; das


Hexenkraut ist aber in uns selbst gewachsen und hat Gehirnpartien außer Gang
gesetzt, die unserer Selbsterhaltung dienen sollen.
1 Pitaval der Gegenwart, Bd. IH, S. 188.
2 FRIEDLÄNDER, B. H, S. 213. - Staatsanwalt: "Der Kriminalwachtmeister
hat es von Kneissl selbst gehört. Kneissl erzählte ihm: Eines Tages, als gerade der
Pfarrer zu ihm ins Zimmer trat, hatte er seinen Arm um eine junge ,schwarze'
Schwester geschlungen. Der Pfarrer sagte, ,das sind ja schöne Geschichten'."
3 United Pres8, Int. Meldung vom 6. Juni 1959.
4 Die möglicherweise rein biologisch nicht unbedeutend gewesen sein mögen,
im allgemeinen aber nicht imstande sind, alle anderen Erwägungen aus dem Felde
zu schlagen.
56 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Dem Sympathiebilde, das irgendwie geschlechtsgebunden ist, stehen


Vorstellungen der Abneigung gegenüber, mit denen die Frau die kon-
kurrierenden Gestalten anderer Frauen abwehrt und abwertet. Diese
Komplexe spielen in der öffentlichen Meinungsbildung eine große Rolle,
da die schuldbewußten Männer sich offen zu widersetzen nicht den Mut
haben. Auch der weibliche Richter wie die weiblichen Geschworenen
können sich von ihnen nicht ganz frei machen, denn es handelt sich um
elementare Wettbewerbsinstinkte, wie sie sich in dem Kampf der Männ-
chen in der Tierwelt unverhohlen offenbaren. Dem Beißen, das den
Widersacher aus der Welt schafft, gehen das umgefärbte Bild des Feindes
und Bewußtseinseinengung voraus. Die Männergesellschaft der Grenze,
die ich in meinem Desperado beschrieben habe I, sah diese "Nymphen"
mit mehr als duldsamen Augen an und wagte, ihre Meinung laut zu
sagen. Der Umschwung blieb nicht aus, als die legitimen Frauen kamen.
Die Lösung war das Doppelleben, die öffentliche Meinung, die verwarf,
und die versteckte Praxis, die bejahte und im stillen rühmte.
Da viele Verbrechen im Umkreis der Prostitution geschehen, hat die
Frage der Glaubwürdigkeit erhebliches Gewicht. Gewiß, wir kennen die
Lüge der Prostituierten, die dem Geliebten oder guten Kunden ein Alibi
zu liefern sucht, um ihn aus der Gefahr zu retten. Wir sind geneigt, diese
Erfahrung zu weit zu strecken und selbst Schuldindizien damit zu ver-
binden. Im Wiener Mordfall Katharina Steiner führte der Staatsanwalt
aus, die Tat sei der Prostituierten zuzumuten, "welche, wie so viele
andere Frauenspersonen vor ihr, welche solche Taten verübten, nichts
von jener Weiblichkeit an sich habe, die vor einem solchen Verbrechen
zurückschrecken könne 2." Es war ein Irrtum 3. Nach vierjähriger Haft
beschloß das Landesgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens. Mitte
März 1882 wurde die unschuldige Sünderin freigesprochen. Der 19jährige,
geistesgestörte Sohn eines Staatsanwalts hatte die Tat gestanden.
Die Prostituierte wird nicht nur als Angeklagte oder Zeugin 4 herab-
gesetzt, sie muß es sich auch gefallen lassen, daß sie als Opfer leicht
genommen wird. Bei der Erörterung der Opfer des multiplen Mädchen-

1 S.85ff.
2 HERSETZKI,A. v.:
Berühmte Kriminalprozes8e der Gegenwart, S. 415. Wien o. D.
3Der Kassationshof hatte die Feststellung getroffen, mit nahezu "apodiktischer
Sicherheit" sei die Steiner als Täterin anzusehen; er hatte aber statt Mordes nur
Totschlag angenommen. Ebenda, S. 426.
'Ich habe früher einmal (Probleme de8 Frei8pruchs beim Morde, S.4O) die
Behauptung eines britischen Anklagevertreters erwähnt, man könne den Uhren
eines Bordells nicht trauen: "Moralisohe Regelwidrigkeit hatte für ihn die mechani-
schen Verrichtungen in Mitleidenschaft gezogen." Hier findet sich weiteres Material
zur Glaubwürdigkeit der Prostituierten. Sie wird, je nach der Beweisrichtung,
einmal vom Anwalt, dann wieder vom Staatsanwalt behauptet oder bestritten.
Nur die genaue Untersuchung des Einzelfalles kann entscheiden.
Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern 57

mörders Franz Schneider (Wien 1891) spricht der Wiener Polizei-


kommissär Ehrenfreund die Antezedenzien des Kriminellen durch und
schreibt: "So erstattete im Jahre 1880 das Dienstmädchen Dumsegger
folgende Anzeige":
"Sie sei am 11. September 1880 auf einer Bank vor dem Gasthaus ,Zum Krebsen'
in St. Pölten gesessen, da sei der ihr unbekannte Schneider zu ihr getreten, hätte
ihr goldenes Halskreuz bewundert und sie dann gefragt, ob sie einen Dienst suche.
Da sie die Frage bejaht hatte, hätte er ihr gesagt, er sei Wirtschafter in Wasserburg
und könne ihr einen guten Platz verschaffen. Sie solle nur gleich mitgehen. Er
hätte sie in die Auen des Traisenflusses geführt, sie dort vergewaltigt, ihr dann das
Halskreuz abgenommen und sei fortgegangen."
"Die Aussage der Dumsegger wurde," so fährt Ehrenfreund fort,
"damals nicht für glaubwürdig gehalten, weil sie keinen guten Ruf
hatte. Heute würde sie vielleicht weniger bedenklich erscheinen 1."
Glaubwürdigkeit zutreffend zu beurteilen, ist eine der schwersten
richterlichen Aufgaben, bei der wir jedes Vorurteil beiseite legen müssen.
b) Die "öffentliche Meinung" ist zu einem Teil das Werk der Frau.
Als Zeugen greifen Frauen in die Wahrheitsfindung ein. Das Alibi ist
ihre Hauptdomäne. Als Richter und Geschworene, weibliche Polizei
und weibliche Agenten tragen sie zur Untersuchung und Entscheidung
bei. Viel weiter reicht die Macht des Mannes, der in den Positionen des
Finales sitzt, wie er die ersten Schritte der Erforschung leitet. Viel
weiter reicht daher der Umkreis seiner Schnitzer, ein Wort das aus der
falschen Messerführung alter Holzbildhauer stammt. Die Hand kann
ungeübt, erregt und hastig sein, doch auch das Messer stumpf und un-
geschärft. In jedem Falle kommt es nicht zu höchster Leistung.
Die vielbeklagte Ungleichheit der Frau ist auf dem Gebiet der
Rechtsprechung Vorzugsbehandlung, ja, wenn man kräftig reden wollte,
Günstlingswirtschaft. Es muß so sein, solange Männer über Frauen zu
entscheiden haben, wovon man - das ist lehrreich - die alte Frau
ausnehmen kann. Die Mörderin Madeleine Smith wurde freigesprochen;
Hunderte von Männern trugen ihr das Herz und das Vermögen an 2.
Sarah Jane, die fünf Familienmitglieder mit Arsenik aus der Welt
geschafft hatte, erhielt Blumen von ihren Bewunderern 3; die Todes-
strafe wurde umgewandelt. Frau Steinheil' (Paris 1909), die "rote

1 Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 204, 205.


2 "Der Autor besitzt einen Brief, den Madeleine Smith an Miß Aitken, die
Gefängniswärterin, geschrieben hat und in dem sie mitteilt, sie habe mehrere hundert
Briefe von Herren erhalten, und von denen einige ihr "Trost, andere ihr Herz und
ihr Geld anboten." TOD, T. M.: The Scot's black ralender, S.68. Perth 1938.
3 Boston murders, a. a. 0., S. 215. Mit diesen Blumen dekorierte die Mörderin
die Bilder ihrer Opfer an der Zellenwand, "um diese wohnlicher zu machen."
4 CHRESTIEN, MICHAEL: L'affaire Steinheil, S. 163. Paris 1958. - In allen Fällen
waren Männer, einmal der Geliebte, zweimal Ehemänner ermordet worden.
58 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Witwe", wird unter frenetischem Jubel freigesprochen; die Männer


klopfen im Triumphe mit den Stöcken an die Wände des Gerichtssaals.
Der stille Zusammenbruch männlicher Objektivität - der nur beim
Frauenhasser ausbleibt - vor der Gefühlsbeziehung zu der anziehenden,
jungen Frau tut sich in jedem Augenblick kund, sogar mit Zahlen läßt
er sich beweisen 1. Im Mai 1959 wurde in Colorado ein zwanzigjähriges
Mädchen wegen schweren Raubes festgenommen. Sie war ein Jahr vor-
her zur Schönheitskönigin gekrönt worden - von Männern, als sie
lächelnd, leichtbekleidet und blumenüberschüttet vor sie hintrat. - Nan
Patterson liebte im Jahre 1904 einen Mann; der hatte sich mit seiner Frau
ausgesöhnt, wollte das Verhältnis abbrechen und eine Reise nach Europa
einlegen. Sie fuhren vor dem Abschied durch Manhattan. Ein Schuß,
der Mann sank um, in seiner Tasche steckte, warm noch, die Pistole.
Nan Patterson schrie neben ihm: "Caesar, Caesar" - er hieß Caesar
Young - "warum hast Du das getan 1" Der Bericht endet mit den
Worten: "Die Geschworenen warfen einen Blick auf das reizende Wesen
und konnten nicht zu einem einstimmigen Spruch kommen. Die Anklage
wurde zurückgezogen und Nan in Freiheit gesetzt 2." Der Mangel an
Beweisen ist in Mordprozessen auf der Frauenseite ungleich öfter anzu-
treffen, als wenn wir Männer über Männer zu Gericht sitzen haben.
Es ist nicht nur die Schönheit und die Jugend, die das Urteil in Ver-
wirrung bringt. Wir beugen uns dem Bild der Mutter, die Leben gibt
und, wie wir glauben, niemals Leben nimmt, weil Fruchtbarkeit Essenz
und Inhalt aller Dinge ist. Frau Creighton war im Jahre 1923 angeklagt,
den Bruder versichert und vergiftet zu haben. "Sie saß im Gerichtssaal,
den neugeborenen Sohn auf den Knien. Sie sah nicht aus, als ob sie
ihre eigene Brut vernichten könnte 3 ." Nur Männer lassen sich vom
bloßen Anschein mütterlicher Obhut täuschen.
Um Frauen, junge, alte, brutal austilgen zu können, bedurfte es im
Salzburger Monster-Prozeß der Einführung des Zaubereigedankens 4,
wobei sich Furcht auf jede andere Regung legte. Im allgemeinen lassen
wir uns vom Magnet der Kräfte leiten, die souverän mit unserem Urteil
spielen. Im Prozeß gegen die Freifrau von Baumbach wegen Giftmord-
versuches an dem Ehegatten, einem Hofmarschall, kam es zum Frei-
1 Vor dem ersten Weltkrieg (1886-1905) waren von 100 zum Tode verurteilten
Engländern 88 Männer, 12 Frauen. Auf 100 wegen Geisteskrankheit internierte
Mörder entfielen aber 60 Männer und 40 Frauen. Monatsschr. für Krim.-Psychol.
1928, S. 499.
2 COLLINS, TED: New York murders, S.229. New York 1944.
3 ELLIOTT, ROBERT G.: Agent of death, S.206. New York 1940. - Frau
Creighton wurde freigesprochen, bald darauf auch von der Anklage, ihre Schwieger-
mutter vergiftet zu haben. Zwölf Jahre später wurde sie wegen eines neuen Gift-
mordes verurteilt und hingerichtet.
4 BYLOFF, FruTZ: in Monatsschrift, Bd. XIX, S.404.
Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern 59

spruch. Der Bericht verrät nicht nur, allein stilistisch, Mangel an


Kritik l , er ging verflachend an Geschehnissen vorbei, die immerhin im
Kreise eines hohen Hofbeamten als Indizien gelten mußten 2. - Das
amtliche Signalement der Francisca Schneider (Wien 1904) hatte diesen
Wortlaut 3:
"Von angenehmem Äußeren, 151 Zentimeter groß, etwas korpulent. Kastanien-
braune Haare, Schnurrbartanflug, schwerhörig, spricht deutsch, ungarisch und
französisch. "
Auch auf den erfahrenen Kriminalkommissar verfehlte diese Frau
nicht ihre Wirkung. "Francisca Klein überrascht durch ihre Erscheinung;
sie sieht viel jünger aus, als es ihren 36 Jahren entspricht. Ihr feines,
pikantes, etwas kapriziöses Gesicht ist anfangs blaß, färbt sich aber
allmählich ein wenig. Sie hat ihr kastanienbraunes Haar sorgfältig
frisiert und ist ganz schwarz gekleidet. Um die Schultern trägt sie eine
Pelzboa. Niemand würde ihr einen mit brutaler Gewalt verübten Mord
zumuten 4 ." Sie hatte nebenbei mit Wissen ihres Mannes fremde Werber
zugelassen. In Gegenwart eines Geschäftsfreundes wurde von einem
Kaufmann gesprochen, dem die Summe von 24000 Kronen geschuldet
wurde und der auf Rückzahlung drängte .. Kaltblütig machte die Frau
mit dem "feinen pikanten" Gesicht den Vorschlag, die Schuld durch eine
Erpressung loszuwerden 5. Der Gatte hatte gegen diese Art der "Ab-
zahlung" nichts einzuwenden, doch der Geschäftsfreund lehnte ab.
Die Urteilstrübung, die wir Frauen gegenüber zeigen, ist leichter zu
verstehen als die stille Sympathie, mit der wir einen kriminellen Mann
bedenken. Wenn Frauen Männer abzuschätzen haben, so sind sie leicht
das Opfer gleicher triebgeborener Blindheit. Sie finden das Gesicht
"jovial", rund sind die Augen, "ernst und traurig 6 ." Wenn er den Kopf
bewegt und heftig schüttelt, so "wirkt es seltsam überzeugend 7." Es
1 Von den Ehegatten sagt der Bericht: "Je bitterer der Kelch war, den sie
getrunken, desto enger und inniger haben sie sich aneinandergeschlossen. Die
zarte Rücksichtnahme und die liebevolle Aufmerksamkeit des Gatten träufelte
täglich Balsam in die immer noch blutende Wunde... Oft verlassen sie Karlsruhe,
um •.. fern von dem Treiben der Residenz die wohltuende Ruhe und ein ungetrübtes
Familienglück zu genießen." Neuer Pitaval, Bd. XXXII, S.179.
2 "Was in aller Welt bewies es gegen sie, daß ihr Mann in einer hypochondri-
schen, krankhaften Stimmung bei Gelegenheit eines unbedeutenden Zwistes eine,
wie sich ergab, ungeladene Pistole ihr entgegengehalten hatte?" Ebenda, S. 145.
3 Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 8.
4 Ebenda, S. 68.
5 Die neuverheiratete Ehefrau hatte erklärt: "Den überlassen Sie nur mir.
Ich werde schon mit ihm fertig werden. Ich lade ihn einmal zum Tee ein, Ihr
bleibt draußen, bis ich Euch das Aviso gebe. Dann kommt Ihr plötzlich in das
Zimmer herein, und Ihr werdet mich in einer sehr unangenehmen Lage vorfinden."
Ihr Gatte lachte und sagte: "Was die aber für Ideen hat." Ebenda, S. 30.
I BEDFoRD, SYBILLE: Der Fall John Bodkin Adams, S. 17. Tübingen 1960.
7 Ebenda, S. 21.
60 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

ist der Fall des Arztes Adams, der von der Anklage des Mordes frei-
gesprochen wurde, während wegen einer Reihe kleinerer, für einen Arzt
unethischer Delikte in einem späteren Verfahren Verurteilung erfolgte.
Er war besonders bei der Weiblichkeit beliebt. Die alten Damen in
den Badeorten sind eine ganz besondere Opferklasse.
Auf einen männlichen Berichterstatter wirkte der Hochstapler und
Schwiegermuttermörder Karl Hau "wie ein junger Theologe". "Man
konnte ihn auch für einen Schauspieler halten 1." Der gleiche Autor wird
bei einem jungen Mörder dithyrambisch: "Der jugendliche Raubmörder,
der, die Hände auf den Rücken gebunden, auf die Anklagebank geführt
wurde, machte nicht nur durch seine prächtige Figur und sein hübsches
Gesicht, sondern auch durch seine feinen Manieren, die Vornehmheit
seines Auftretens und durch sein angenehmes Organ den denkbar
günstigsten Eindruck. Es war schwer, den Gedanken zu fassen, daß
dieser Mensch ein kaltblütiger Raubmörder war 2." Casper hat vor
langen Jahren einmal bemerkt: "Meine Mörder sahen alle aus wie
hübsche Mädchen 3."
Es würde eine Untersuchung wert sein, zu ergründen, welche Ver-
brechertypen Männer - und Männer von großer Gerichtserfahrung -
als schön und damit auch halbwegs als schuldlos anzusprechen ver·
mochten. Wir möchten gern wissen, ob es manchen andern Männern,
Kriminalbeamten, Staatsanwälten, Richtern ähnlich geht und ob sich
dadurch ein kollektives Fehlbild des Verbrechers bilden könnte. Der
Wiener Massenmörder Hugo Schenk, Sohn eines Richters, Heirats-
schwindler und Verfasser lyrischer Gedichte, saß, wie berichtet wird, so
vor den Richtern 4 :
"Sein schönes Gesicht, seine stattliche Figur, die intelligenten Gesichtszüge,
die weltmännischen Manieren, das sonore Organ und der schmachtende Aufschlag
seiner schwärmerischen Augen ließen es wohl begreiflich erscheinen, daß er auf
Frauenherzen einen geradezu überwältigenden Eindruck machte."
Die Henkershand zerstörte diese Täuschung der Vollkommenheit.
Auf Sorge und dem Beistand für die jüngere, dem Lebenskampf nicht
gewachsene Generation beruht der Fortbestand der Rasse. So mag es
zu erklären sein, daß Jugend und Unschuld in den Köpfen vieler Men-
schen eins sind. Auch dieser Glaube führt in manchen Fällen irre. Das
14jährige Mädchen Constance Kent hatte dem kleinen Stiefbruder die
Kehle abgeschnitten und die Leiche in einen Gartenabort gestopft. Sie
hatte, wie wir lesen, eine frische Gesichtsfarbe und eine Fülle goldbraunen
Haares. Sie nahmen alle, die sie sahen, für das Mädchen ein. Als ein

1 FRIEDLÄNDER, Bd. H, S. 6. 2 Ebenda, Bd. I, S. 10.


3 SCHMIDT, FRANZ v.: Vorgeführt er8cheint, S. 231, Stuttgart 1955.
4 FRIEDLÄNDER, Bd. IX, S. 156.
Der unbekannte Geisteskranke 61

gewissenhafter Kriminalbeamter gewagt hatte, die kleine Unschuld zu


verhaften, erhob sich ein Entrüstungssturm, weil er dem arglosen Kind
eine Untat habe andichten wollen. Sie wurde freigelassen, ihre Rückkehr
mit Applaus begrüßt. Fünf Jahre später legte das Mädchen ein Geständ-
nis! ab, weil sie nicht wollte, daß Verdacht auf andern, auch auf ihrem
Vater 2 ruhe. Der goldig-braune Schopf und der gesunde Teint hatten die
frühverdorbene schwarze Seele überdeckt. Sie hatte bei der ersten
Untersuchung nicht einen Augenblick das innere Gleichgewicht verloren.
So geht die lange Reihe unseres Mißverstehens fort. Fox ermordete
im Jahre 1930 seine Mutter. Aus seiner Jugend hören wir das aller-
beste 3 • Er war als Page ein Erfolg gewesen. Der Herrschaft offensicht-
lich treu ergeben, hatte er mit allem Eifer sie umsorgt. Er wurde Lieb-
ling der Familie. Er wurde allgemein "Cupido" genannt, weil er so nett
aussah und sein Gesicht so offen war. Zwar stahl er damals heimlich
Silber und schwindelte von einem älteren Dienstmädchen den letzten
Sparpfennig heraus, er wurde aber niemals angezeigt. Die "Unschuld",
die wir in den Zügen Jugendlicher lesen, ist oft die Glätte einer von dem
Griffel der Gefühle wenig eingekerbten Mimik. Selbst die Natur mit
ihren frischen Farben beteiligt sich an unserer Hintergehung. Dazu tritt
jene Eitelkeit erwachsener Leute, die glauben, niemand könne sie be-
trügen, und Falschheit sei das Monopol der älteren Menschen. Blitz-
schnell erraten junge Menschen 4 unsere Schwächen. Vorurteile, Eitel-
keiten betören wie gerissene Akteure Erzieher, Anstaltsleiter, Jugend-
richter. Von unserer Hilfsbereitschaft hinters Licht geführt, erscheint
die Jugend als "gefährdet", obwohl sie statt im weichen Werden
verfrüht verhärtet und gereift ist. Wir fühlen und wir denken in ver-
schiedenen Instanzen. Wir schwanken zwischen Schein und Wesenheit
und können mit uns selbst nicht einig werden.

5. Der unbekannte Geisteskranke


Dem Geisteskranken rechnen wir die Tat nicht zu, wenn die Störung
dazu führt, daß er das Unerlaubte seiner Tat nicht einsieht oder un-
fähig ist, nach dieser Einsicht zu handeln. Wenn auch die Zeit der Tat
entscheidet, so bleiben für die Beurteilung die Lebensabschnitte bedeut-
sam, die vor und nach der Tat liegen. Psychosen sind zumeist Prozesse,
die Geistesschwäche war schon vorher sichtbar, ja man kann sagen, daß
1 JACKSON, JOSEPH HENRY: Murderbook, S.368. New York 1945.
2 "Die Motive, die man ihm zuschrieb, waren zu skandalös, als daß sie wieder-
gegeben werden könnten", sagt der Bericht (S. 368).
3 JESSE: Trial of Sidney Harry Fox, S.3ff. Edinburgh 1934.
4 Wenn sie die eigenen Kräfte unverhohlen sehen lassen, nennen wir sie "Halb-
starke", die es zu allen Zeiten gab. Allein die Stärke der Erwachsenen wechselt
ihnen gegenüber.
62 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

die Prüfung und Entscheidung, die einem erregenden Verbrechen vor-


aufging, in vielen Fällen objektiver war. Um so mehr muß es wunder-
nehmen, daß es eine Reihe von Todesurteilen gegeben hat, die frühere
Gutachten verwarfen und bei einer Untat, die die öffentliche Meinung tief
bewegte, Zurechnungsfähigkeit nunmehr bejahten. Diese Wendung des
vorher schriftlich festgelegten Urteils ist eine Wirkung jener Massen-
panik, die uns bisweilen anfällt, an unsern Nerven rüttelt und die wir
aus Geschichte und der Chronik des Verbrechens kennen. Wir dulden
keinen Aufschub, hören nicht auf unsere eigenen Regeln, auf die Dogma-
tik, die uns sonst so heilig scheint. Der Schutz der Internierung wird als
zweifelhaft verworfen. Wir wollen volle, absolute Sicherheit und die
Entspannung unserer Haßgefühle, sofort, mit aller Wucht und mit dem
einzig zuverlässigen Mittel der Vernichtung. Die Wissenschaft gilt uns als
reine Theorie, die nur den Feind versteht und unsern eigenen Furor
wenig achtet. Man hat sich stets gescheut, das Kind mit rechtem Namen
zu benennen, wenn aufgereizte öffentliche Meinung hinter Zeugen,
Richtern und Psychiatern Platz nahm.
Haarmann war in einer Irrenanstalt gewesen und in Hildesheim für
unheilbar schwachsinnig erklärt worden l . Petiot, der Massenmörder des
zweiten Weltkriegs, hatte nach einem unsinnigen Bücherdiebstahl acht
Monate in einer psychiatrischen KIinik verbracht 2 • Bei Kürten wurden
1907 und 1911 von den Gefängnisärzten Erregungszustände und Selbst-
mordversuche beobachteP. Auf das Schuldurteil hatten diese früheren
sachverständigen Feststellungen keinen Einfluß. Mit jener Scheu vor
öffentlicher Meinung, die Staatsanwaltschaft und Geschworene teilen,
ist auch die Tatsache zu erklären, daß das Gutachten der Sachver-
ständigen übergangen wird und die Verurteilung erfolgt. Es handelt sich
um scheußliche Verbrechen, bei denen die Abwehrpanik die wissen-
schaftliche Betrachtung völlig mattsetzt. Im Falle Döpcke (Hamburg
1878) erklärt der Physikus Dr. W. aus Altona 4 ;
1BOLITHO, WILLIAM: Murder for profit, S.281. London 1926.
2STEMMLE, R. A.: Reise ohne Wiederkehr, S.56. Berlin 1951.
3 BERG, KARL: Der Sadist. Dtsch. Zeitschr. für die ges. gericht!. Medizin, 1931,
S. 305. - In der Verhandlung erklärte ein Sachverständiger, wenn der Angeklagte
früher einnlal geglaubt habe, sich in der Strafanstalt Münster in eine Seidenraupe
verwandelt zu haben, so sei dies kein Symptom einer Geisteserkrankung, sondern
lediglich der Ausdruck einer Haftpsychose... Professor SIOLI erklärte, daß ein
Mensch, der wie der Angeklagte, zum Teil bereits weit zurückliegende Taten in so
klarer Weise und mit solchen Einzelheiten zu schildern vermöge, zur Zeit der Be-
gehung dieser Taten unmöglich geisteskrank gewesen sein könne... Professor
HÜBNER fügt hinzu, daß der Angeklagte gelegentlich einer Untersuchung gesagt
habe: "Ich habe bewußt in mir dem Bösen den Vorzug gelassen, wenn auch nicht
immer ohne Kampf." STEINER, 0., und W. GAY: Der Fall Kürten, S.104ff.
Hamburg o. D.
4 WOSNIK, R., Bd. I/I, S. 150, 151. Hamburg 1926.
Der unbekannte Geisteskranke 63

"Ich habe Döpcke am 4. und 5. Februar 1875 im Gefängnis untersucht, da sein


Geisteszustand in Frage gestellt worden war. Ich konnte damals nicht die über-
zeugung gewinnen, daß Döpcke an einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit
leide. Nach dem, was ich heute im Gerichtssaal gehört und gesehen habe, ist es
mir durchaus nicht zweifelhaft, daß derselbe in Rendsburg geisteskrank gewesen
ist. . . Wahnideen, die wie bei Döpcke im Gefängnis entstanden sind, können nach
erlangter Freiheit schwinden; daß sie aber bei Döpcke geschwunden sind, glaube
ich nicht."
Physikus Dr. E., Hamburg, führte aus, nachdem er darauf hinge-
wiesen hatte, daß der Vater, ein früherer Polizeibeamter, Patient in der
Irrenanstalt Friedrichsberg sei:
"Ich zweifle nicht, daß Döpcke Wahnvorstellungen gehabt hat und daß er sie
noch hat, und man kann nur sagen, daß er geisteskrank war und es noch nicht ...
Ich erkläre Döpcke für so geisteskrank, daß seine freie Willensbestimmung aus-
geschlossen ist."
Im Plädoyer äußerte sich der Oberstaatsanwalt dahin, daß "die
ganze Handlungsweise des Döpcke seine Geistesgesundheit bekundet
habe, daß die Annahme vieler Arzte, derartige Individuen für geistes-
krank zu erklären, in keinem Staat und bei keinem Gericht Beachtung
finde und daß es schlimm um die Sicherheit der Menschen aussehen
würde, wenn die .Ärzte mit derartigen Theorien durchdringen würden l ."
Döpcke wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Im Falle Tessnow (Greifswald 1906) erklärten sämtliche Sachver-
ständigen, dazu die wissenschaftliche Deputation, auf Grund längerer
Beobachtung den angeklagten Kindermörder für "höchst wahrscheinlich
geisteskrank zur Zeit der Tat." Er wurde trotzdem erst 1902, dann in
erneuter Hauptverhandlung 1905 verurteilt 2 •
Der Abwehrwille und damit zusammenhängend die motorische Ent-
hemmung der Massen wird durch bestimmte bedrohliche Momente aus-
gelöst. Im Vordergrund stehen erschreckende Indizien der Gefährlich-
keit: dazu gehört die große Zahl der Opfer, die enge menschliche Be-
ziehung, Modalitäten der Begehung, die, wie Zerstückelung, uralte
magische Vorstellungen aufrühren und die der Staat einstmals im
Strafvollzug abschreckungshalber selbst verwendet hat. Daß gerade

1 WOSNIK, R., Bd. I/I, S. 158.


2KNECHT, A.: Monatsschr. für Krim.-Psychol., Bd.III, S.717ff. - In der
langen Mordserie des Pleil ist ein Fall eingestreut, für den das Schwurgericht
Unzurechnungsfähigkeit zubilligte. Das Urteil (LG. Braunschweig 6 Ks I/50)
schreibt: "In diesem Zustand erschlug er die Schneider mit dem Hufeisen. Kurz
darauf muß der Anfall erfolgt sein; denn Plell erwachte einige Stunden später eine
kurze Strecke vom Tatort entfernt aus tiefem Schlaf, ohne sich an die Tat erinnern
zu können. Er hatte das Hufeisen, das jetzt mit Blut beschmiert war, noch bei
sich und stellte außer einem starken Mattigkeitsgefühl fest, daß er eingenäßt und
sich auf die Zunge gebissen hatte. Im Hinblick auf § 51, I StGB, hat die Staats-
anwaltschaft diese Tat nicht angeklagt."
64 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Geisteskranke zu Extremen der Vernichtung neigeni, vergessen wir,


wenn wir bedroht sind. Wir geben, ohne lange zu besinnen, den uns und
anderen zugefügten Schlag zurück, erst in Gedanken und dann schließlich
mit der Faust. Bei einer Opfer-Mehrheit hört man immer wieder das
Bedauern, daß man nicht auch den Täter vielfach töten könne.
Kurz nach den Weihnachtstagen 1845 durchlief eine Schreckens-
kunde die Stadt Magdeburg. Ein angesehener Bürger hatte seine Frau
und seine fünf Kinder mit der Axt erschlagen und jedem seiner Opfer
noch die Gurgel durchgeschnitten 2. Er habe selbst sich schwer verletzt
und dann sein Haus in Brand gesteckt. Das Blut der Kinder habe die
Geschenke des Weihnachtsabends "übersprützt". Empörung, Angst und
Wut erreichten Fieberhitze. Die Stadt verlangte wie ein Mann das Blut
der Bestie, die jede Frau und jedes Kind bedrohte, zumal die Arbeit mit
dem Messer - sein Beruf war Metzger - ihm geläufig war.
Erst ganz allmählich wich die Panik ruhiger Betrachtung. Man hörte
von der tiefen Schwermut dieses Christian Holzwart. Er hatte fest ge-
glaubt, daß er, der vor dem Bankrott stand, die Seinen nicht im Elend
lassen dürfe, das dieser Puritaner nicht nur mit dem bloßen Hunger,
auch mit Verfall in Schlechtigkeit verband. Das größte seiner Mädchen
war gesund und kräftig, daneben ungewöhnlich hübsch. Der Unter-
smlhungsrichter hielt dem Angeklagten vor, die 16jährige hätte Geld ver-
dienen können. "Oh, sie würde ihren Käufer schon gefunden haben,"
entgegnete der Vater, "aber ich habe ihre Unschuld bewahrt und ge-
rettet 3 ." Im Gefängnis hatte er einen beglückenden Traum:
Mein liebstes Kind saß mir auf meinen Knien... Das Kind umschlang mich
süß und dicht, die andern schmiegten sich an mich, von ferne sah die Mutter zu
und sprach: "Ach, daß du diese Tat hast tuen können. Wie schwer muß sie dir
doch geworden sein. "
Das Bild des mitleidlosen Mörders entstammte nur dem äußeren An-
schein. Holzwart erklärte, mit tiefer innerer Erregung kämpfend: "Die
Liebe gab mir Kraft, sie alle, die nach meiner Meinung bald hilflos und
erniedrigt daständen, auf die schnellste und schmerzloseste Weise aus
der Welt zu schaffen 4 ." Der Tadel schien berechtigt, daß er sich nur
schwer verletzt hatte, obschon er sich doch "glücklich mit den Seinen
im Himmel hatte vereinigen wollen." Zum Rad verurteilt, wurde er

1 In dieses Kapitel gehören neben empörenden Gewalttaten gegen Mitmenschen


die brutalsten Selbstmorde Geisteskranker, z. B. der Sprung in den Löwenkäfig des
Nürnberger Zoologischen Gartens aus dem Jahre 1954. Siehe BÜRGER: Eine selt·
same Selbstmord-Begehungsart in Kriminalistik 1958, S. 330.
2 Neuer Pitaval, Bd. XXV, S. 70-155.
3 Neuer Pitaval IH, S. 122.
4 Neuer Pitaval, Bd. XXV, S.86. "Bis 1 Uhr", gab er dem Richter an, "bin
ich ruhig unter den Leichen umhergewandelt mit der stillen Freude im Herzen:
sie sind nnn glücklich." Ebenda, S. 104.
Der unbekannte Geisteskranke 65

begnadigt. Im Zuchthaus stürzte er sich eines Sonntags von der höchsten


Galerie und war sofort tot. Der innere Vorwurf stand ihm höher als des
Königs Gnade.
Gerade bei den Familienmorden, die selten zur Verhandlung kommen,
weil alle Mitglieder der Gruppe, der Täter voran, tot sind, wird eine Mehr·
heit von Menschen umgebracht, bietet die Ausführung in ihrer verzweifel·
ten Zielstrebigkeit einen Anblick, der empört und entsetzt. Der Gerichts.
vollzieher Rasch fiel vor 100 Jahren (Berlin 1856) über sich, seine Frau
und seine beiden Kinder her. Drei Mordwaffen waren verwendet worden,
ein Säbel, ein Beil und ein Rasiermesser. "Aber der Knäuel von Blut
und zerfetzten Körpern, unter. und übereinander liegend," sagt der Be·
richt 1, "blieb für die Beamten ein Schauspiel, dessen ähnliches keiner bis
da gesehen hatte." Die Bevölkerung aber stand vor einem Rätsel.
Verblüffend und unlösbar war der krasse Widerspruch, denn die Familie
hatte "im allgemeinen einen guten Ruf gehabt" :
"das heißt, der Mann, den man nach seiner Beschäftigung seltener im Hause
sah, war ein königlicher Beamter, der ein ausreichendes Einkommen besitzen mußte,
denn er zahlte regelmäßig seine Miete, hatte anständige, sogar elegante Möbel, die Frau
ging ordentlich und ihre Kinder zeigten sich sittsam und fleißig im Schulbesuch."
Unser Bedürfnis nach einer kausalen Erklärung, die die instinktive
Empörung rechtfertigt, vermeidet die geistige Störung, weil dieses
Neutrum uns im Innern nicht befriedigt und ohne Antrieb für den Gegen·
angriff läßt. Falschmünzer Lache hatte die Couponscheine von Staats·
papieren so vollendet gefälscht, daß ihm der Sachverständige der Reichs·
druckerei seine Anerkennung nicht versagen konnte. Trotzdem war er
ein Geisteskranker 2. Mit Recht klagt KÖPPEN über das so häufige Ver·
kennen der Psychose, das selbst Juristen nicht verschont 3 • Auch dem
Gerichtspsychiater würde es nicht schaden, wenn er der starren und
dabei so segensreichen Logik unseres Denkens näherkäme, die der
Ermessens· und der Irrtumsfreiheit wohlbedachte Grenzen zieht.
Die auffallende und verletzende Brutalität einer Tat, der Mangel an
Gefühl und menschlicher Beziehung haben von jeher zu einer besonders
1 Neuer Pitaval, Bd. XXV, S. 194.
2 KÖPPEN in Monatsschr. für Krim ..Psychol., Bd. I, S.592. - "Sein ganzes
Benehmen vor Gericht war nun für den Psychiater aus einem Guß das typische
Verhalten eines Paranoikers. Er stand da vor dem Gericht, nicht wie ein Angeklag.
ter, sondern wie ein Triumphator, der endlich die Stunde gekommen sah, wo ihm
eine gewisse Genugtuung zuteil wurde, indem er, der früher nach seiner Meinung
zu Unrecht als Verbrecher bezeichnet war, nun als großer und gewandter Ver·
brecher anerkannt werden mußte." Ebenda, S. 59l.
3 Das Gericht kann sich frei entscheiden, aber doch auf Grund des Gutachtens
der Sachverständigen. Das Recht des Juristen, aus dem Gutachten selbständig
Folgerungen zu ziehen (BGHSt 2, S. 16), ist sinngemäß auf die Fälle beschränkt,
in denen das Gutachten oder die Gutachten einer Mehrheit verschiedene Folge.
rungen zulassen.
v. Hentig, Das Verbrechen I 5
66 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

heftigen Gefühlsabstoßung geführt und die Vergeltung von Gleichem mit


Gleichem nahegelegt. Aber extreme Grade von Rohheit finden sich
gerade bei Geisteskranken. In einem von LONGARD berichteten Falle
hatte ein Mann seine Frau erschlagen. Die Ärzte hatten nach dem Er-
gebnis der Voruntersuchung und Hauptverhandlung keinen Zweifel an
der Zurechnungsfähigkeit der menschlichen "Bestie". Nichts sprach für
eine mildere Beurteilung. "Zum Tode verurteilt, kam der Mann in das
Gefängnis zurück, verschlang gierig wie immer sein Essen, war auf-
fallend stumpf und empfindungslos, glaubte, daß es gleich nach dem
Abendessen zur Hinrichtung ginge." Der Anstaltsarzt stellte fest, daß
der Verurteilte in seinem 15. Lebensjahr an Dementia praecox mit
Tobsuchtsanfällen gelitten hatte. Ein neues Gutachten wurde erstattet.
Das Todesurteil wurde nicht vollstreckt.
Auch bei der Entscheidung, was "niedere Beweggründe", "heim-
tückisch" oder "grausam" sei (§ 211 StGB), sieht die Masse in manchen
Fällen nur die Tatfassade und nicht das innere Tatgetriebe, wie es sich
bei der näheren Untersuchung von Vatermord 1 und Gattenmord ent-
faltet. Die rohe Menschenquälerei des Opfers übersteigt oft jedes Maß.
Die Tat geschieht in einem Anfall äußerster Verzweiflung, in einer Art
von Notstandshandlung der bedrohten Gruppe, wobei oft die Familie
mit vereinten Kräften den verhaßten Quälgeist aus der Welt schafft.
Selbst wenn -wir von der Breite richterlichen Ermessens absehen und
uns auf Verurteilung oder Freispruch beschränken, unterschätzen wir die
Urgewalt der Kräfte, die von unten kommend, als öffentliche Meinung
oder öffentlicher Irrtum Gesetzgeber, Gerichte, Begnadigungsinstanzen
und vor ihnen Polizei, Zeugen, ja Sachverständige in ihren Bannkreis
ziehen. Sie sind selbst stark genug durch Gewohnheitsrecht, durch die
stille, lange fortgeführte Desuetudo Gesetzesvorschrift außer Kraft zu
setzen 2. Das Bild des Kriminellen, seine Fehlerquellen, die unruhig
zurückweichenden und vorwärtsgreifenden Konturen bestimmen daher
die Objekte unserer Untersuchung. Was ist, wird nicht der Wirklichkeit
entnommen wie Regen, Krankheit oder Sonnenlicht. Wir setzen fest,
wie ein Verbrecher sein soll. Wir stempeln ab und binden jede Forschung
an den RechtsspI\1ch und an den Formalismus seiner Rechtskraft.
1 Siehe den Vatermord an Kaspar Beck (Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 215ff.)
und den von FEUERB~CH geschilderten Vatermord auf der Schwarzmühle im Sitten-
tal; hier hatte der Ermordete einstmals seinen eigenen greisen Vater "mißhandelt,
geschlagen, bei den Füßen umhergeschleift". (Merkwürdige Verbrechen, ed. von
SCHOLZ, Bd. I, S.240. München 1913.) FEUERBACH nennt das Opfer die "sträf.
liehe Ursache alles dessen, was an ihm begangen wurde." Ebenda, S. 239. - Der
Systematik widerstrebt es, diese Kausalität anzuerkennen.
2 Siehe das österreichische Verbrechen der Religionsstörung: "Wer Unglauben
zu verbreiten ... sucht." § 122d. RITTLER: Lehrbuch des österreichischen Straf-
rechts, Bd. I, S. 21. Wien 1933.
Die Nichtentdeckten 67

Beim Sachverständigen glauben wir die Isolierschicht einer exakten


Wissenschaft, der Medizin, zwischen Gefühlsausbruch und Wahrheits-
findung eingebaut zu haben. Bisweilen bleibt der Sachverständige fest,
bisweilen beugt er sich dem Sturme, wenn es sich um eine Mehrheit von
Opfern, Opfer aus den Führerschichten, oft auch um erregende Be-
gehungsarten handelt. Es bleiben tausend solcher Fälle strittig oder
unbemerkt beim Mord. Die Präsidentenmörder Guiteau und Czolgosz
waren klinisch Geisteskranke l , wurden aber nicht für unzurechnungs-
fähig erklärt. Schlörr erklärte, "drei seiner Morde seien durch die Fügung
Gottes geschehen, er sei ausersehen gewesen, den Willen des Allmächtigen
auszuführen. Er glaube recht wohl an eine Weltregierung und auch an
eine Erlösung, aber freilich der aus Nazareth sei der falsche Prophet,
wie schon die drei Weisen gesagt, das sei der Satan der Welt 2 ." Der
Geistliche berichtete aus seinen letzten Stunden: "Er habe nichts zu
bereuen", sagte er, "er habe in seinem Leben noch nie eine so große
Freude empfunden, als darüber, daß er jene drei Menschen ermordet
habe 3 ." Als der Kopf des Geisteskranken fiel, "ertönte von den nahe
gelegenen Dächern ein lautes Hurra 4 ."

C. Der Fehlbetrag des Zahlenbildes


1. Die Nichtentdeckten
a) Unter Verbrechen ist die Summe der Rechtsverletzungen zu ver-
stehen, die das Strafrecht in Tatbeständen formuliert und festgelegt hat.
Die Ordnung menschlichen Zusammenlebens wird durch den Verstoß
gestört. Unfriedenskeime werden ausgestreut, ein schlechtes Beispiel
wird gegeben. Glückt das Verbrechen, wird es unschwer wiederholt,
wird es von anderen nachgeahmt. Konformität als Leitbild des Verhaltens
wird erschüttert. Es lockern sich Zusammenhalt und wechselseitige Hilfe.
Der Verbrechensbegriff wird sonach von Vorgängen hergenommen,
die auf der Opferseite vor sich gehen. Das Gleichgewicht sozialer Kräfte
kann an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, an ganz ver-
schiedenen Opfern wiederholt gebrochen werden. Lawinenartig kann
Verwüstung durch das Leben der Gesellschaft gehen, mit hundert Einzel-

1 LANGEMANN: Das Attentat, S. 122ff. und 132ff. Hamburg 1956.


2 Neuer Pitaval, Bd. XVIII, S. 25.
3 Neuer Pitaval, Bd. XVIII, S.66; siehe Guiteaus Gedicht, das er vor der
Hinrichtung zitierte: "Ich gehe jetzt zum lieben Gott... ich bin so froh ... "
LANGEMANN, S. 128.
4 Der Pitaval nennt den Schlachtruf ein "ungehöriges, aber unverkennbares
Zeichen der Befriedigung." - Befriedigt sind wir, aller Furcht entledigt, wenn
unser Feind vernichtet ist. Wir trauen keiner anderen Form des Schutzes und
gerade nicht bei Geisteskranken.
5*
68 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

akten, hundert Opfern, fortschreitendem Zerfall der Sicherheit von Recht


und Staat. Die ganze weite Schadenswirkung kann von dem Täter
ihren Ausgang nehmen.
Verbrechen und Verbrecher sind daher im Reich der Zahlen ganz
verschiedene Dinge. Es gibt unendlich mehr Verbrechen als Verbrecher.
Rein soziologisch, an dem Grad der gesellschaftlichen Funktionsstörung
gemessen, kann es viel wichtiger sein, zehn chronische Verbrecher zu er-
greifen als hundert zufällige und einmalige Missetäter. Im Zahlenbilde
stehen sie auf gleicher Stufe. Es werden Täter registriert, das Schadens-
fazit wird nur unvollkommen sichtbar, denn fortgesetzte Akte ziehen
wir zusammen in die Fiktion einmaliger Begehung. Gleichartiges, an-
gegriffenes Rechtsgut und einheitlicher Vorsatz beachten nicht die
Opfer-Vielheit, auch nicht die oftmals wiederholte Störung der Gesell-
schaftsordnung. Das Kollektivdelikt - das gewerbsmäßige, das ge-
schäftsmäßige und das gewohnheitsmäßige Delikt - sind psycho-
logische und brauchbare Kategorien; der Täterzählung stehen sie im
Wege. Bei der Realkonkurrenz nennt das Gesetz selbst mehrere Ver-
brechen oder Vergehen (§ 74 StGB). Sie werden von der Gesamtstrafe
aufgesogen und rechnerisch nur einem Täter zugeschrieben. Wo bleibt
das wahre Bild verbrecherischer Tätigkeiten?
So stößt sich der Versuch, die Gesellschaft mit verbesserten Mitteln
vor ihren gefährlichsten Widersachern zu schützen, an zwei Hinder-
nissen; sie kommen beide aus dem Reiche der Gefühlswelt. Es ist
1. die Furcht, die unser Bild des Kriminellen fälscht;
2. der Glaube an die Allmacht unseres Machtgebots und die voll-
kommene Arbeit unserer protektiven Apparate.
Dem Kampf mit Hilfe qualitativ und quantitativ fiktiver Elemente
muß der Erfolg versagt sein. Vor jeder Heilbehandlung aber steht
geläuterte Erkenntnis. Der Medizinmann muß dem Wissenschaftler
weichen, der den Gefühlsausbruch der Atavismen erkennt, rationalisiert
und zähmt.
Zu jedem Phänomen, das wir betrachten, gehört ein Zahlenbild,
Geburten, Sterbefälle, auch Verbrechen. Kinder sind Kinder, niemand
wird an dem Begriff des Neugeborenen mäkeln, die Missetat dagegen
wandelt proteusartig die Gestalt. Wir sahen, wie verstärkte Drohung,
erhöhte Furcht das Bild des Kriminellen dehnt, ihm schärfere Züge gibt,
ja selbst das Größenmaß verändert. Verbrecher fürchten jedes sehr
erregende Geschehnis, die Untat anderer, die auf sie zurückschlägt, die
Abwehrtriebe aus dem Halbschlaf weckt, zu einer Welle der Verfolgung
führt. Der aufgerührte Schlamm gibt eine Fülle unbekannter Fälle und
Zusammenhänge her. Sie waren immer da, nur unser Wissen zeigte
Mängel, und die Statistik reflektierte unser unvollkommenes Bild.
Die Nichtentdeckten 69

Auch eine Reaktion ermüdet physisch, die wir durch andere, unsere
Angestellten, führen lassen. Rein seelisch ist und bleibt genußreich,
daß wir die Kräfte eines Überlegenen spürten und die Sieger blieben.
Wir sprechen von dem Rechtsgefühl, einem Gut der Allgemeinheit, für
das wir kämpfend in die Schranken traten. Nur unsere Furcht ist
plötzlich aufgebraust. Wir haben den Beweis geliefert, daß man auch
uns zu fürchten hat und daß wir, die Gesellschaft, wenn wir wollen,
immer noch die Stärkeren sind. Dann schwingt das Rechtsgefühl zurück
in seine Ruhelage und sammelt blutdrucksenkend neue Kraft.
Es wäre leicht, voranzukommen, wenn Zahlen nichts als eine Größen-
frage wären. Die Ziffern aber, wenn sie auf- und niederschwanken, geben
nur gefärbte Fakten wieder, verbergen, daß sie das Ergebnis selektiver
Siebung sind. Das Bild ist ausgesucht in einem ganz bestimmten Sinne,
von dem wir jetzt des längeren zu handeln haben. Es ist nicht nur der
"Schlaf der Welt", an den man niemals rühren sollte, es ist die zage
Furcht, die schöne Sicherheit des Irrtums zu verlieren.
Einmal steht der multiple Mörder!, der hundertfache Betrüger 2 in
den Bänden der Kriminalstatistik. Breit zieht sich seine Spur, wie
immer neue Wunden, durch das Leben seiner Opfer. Wir finden bei der
Messung des Verbrechenumfangs nur einen einzigen Verbrecher. Wir
sind erstaunt, wenn wir von nie entdeckten Kriminellen 3 hören, die
nie bestraft, aus irgendeinem Grunde sich "häuteten" und zu sozialen
Menschen wurden.
Ein Überblick über die strafbaren Handlungen, die Stunde um Stunde
begangen werden, aber unbekannt bleiben, führt uns zuerst in die Ge-
biete des Versuchs. Weil die Ausführung nicht zustande kommt, der
Anfang häufig unsichtbar bleibt oder der bloße Anfang kein Rechtsgut
äußerlich verletzt und der im Gesetz festgelegte Erfolg ausbleibt, macht

1 Die Biographen haben die Zahl der kindlichen Opfer Gilles de Rais', der 1440
hingerichtet wurde, auf viele Hundert geschätzt. HowE, CLIFF: Scoundrels, fiends
and human monsters, S. 18. New York 1958. Er gestand "six-vingt" im Jahr.
2 Betrüger sind wegen 250 Einzeltaten in Fortsetzungszusammenhang ver-
urteilt worden. Siehe meinen Betrug, S. 36.
3 Eine solche rätselhafte Gestalt, in keiner Statistik je verzeichnet, war der
Kriminelle, von dem JOHN BARTLETT MARTINS Berufsverbrecher (M y life in crime,
S.77, New York 1953) verwundert und ungläubig spricht. Es war ein 35jähriger
Berufsdieb, aus unbekannten Gründen von den Kameraden "Dutch" genannt.
Er stahl, wo immer er auch hinkam. Dazu war er ein Killer. "Ihm machte es nicht
viel mehr aus, einen Menschen zu erschießen als er einen Hund streicheln würde."
" ... Ich weiß, daß dieser Kerl bereit war, für 50 Dollars zu töten." Dieser Mann
hatte, bevor er plötzlich aus unerklärten Gründen zu stehlen aufhörte, niemals einen
Tag gesessen. "Heute würde er nicht einmal mehr einen Zehner aufheben, der auf
dem Pflaster läge." Er hat geheiratet und leitet ein legitimes Geschäft. - Vielleicht
ist die Frage erlaubt, was aus diesem Menschen geworden wäre, wenn er eine längere
Strafe hätte verbüßen müssen. So seltsam sind die Wege der Vorsehung.
70 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

sich kein Reaktionsbedürfnis geltend. Bisweilen bleibt ein anderes Delikt


übrig, wie beim Versuch der Notzucht die Beleidigung. Oder das voll-
endete Verbrechen liegt soziologisch auf einer anderen Ebene. Bei der
vollendeten Erpressung ist Zahlung erfolgt, hat der Erpreßte Grund
gehabt, sich schädigen zu lassen. Versuche ergeben sich daraus, daß das
Opfer der Drohung widersteht und anzeigt, weil er sich sicher fühlt oder
auf die Einschränkung des Verfolgungzwangs (§ 154c StPO) vertraut.
Bei den Vergehen, die die Spalten der Kriminalstatistik füllen, bei Dieb-
stahl, Unterschlagung und Betrug, ist jede Anfangshandlung strafbar,
wird aber nicht bemerkt (beim Taschendiebstahl etwa oder beim Be-
truge) oder wieder ausgeglichen, bevor das Opfer Zeit hatte, den einst-
weiligen Verlust rechnungsmäßig zu buchen. Beim Diebstahl ist die Ab-
sicht der Zueignung erfordert, wozu die Wegnahme aus fremdem Gewahr-
sam tritt. Die Unterschlagung verlangt vollendete Zueignung, wodurch
die Sphäre des Versuchs sich weitet. Bei dem Versuch des Betruges
kann Versuch schon dadurch gegeben sein, daß keine Vermögensbeschä-
digung erfolgte, hängt also meistenteils vom Opfer ab. Die Täuschungs-
handlung, die den Schwindler kennzeichnet, kann ohne sein Zutun zum
Versuch absinken, der wiederum sehr schwierig zu beweisen ist. Daß
Zahlen fehlen, liegt an der Statistik, die vollendete und versuchte Delikte
nicht gesondert aufzeigt.
Andere Versuchshandlungen bei häufigen Vergehen werden noch
seltener bekannt, weil sie sich im persönlichsten Bereich des Täters ab-
spielen, und nur der Zufall, Feindschaft, Rache die ans Licht bringt, die
im Erpressungsakte Wissen gegen Geldbeträge tauschen. Solche Delikte
bleiben meist im Dunkeln, obschon sie unendlich oft geschehen, wie der
Versuch der Abtreibung. Wir werden auf der anderen Seite sehen, daß
das vollendete Delikt nur selten eine Schuldige oder einen Schuldigen
vor den Richter bringt und zu einer Verurteilung führt. Versuche
werden ungleich häufiger ins Werk gesetzt.
In der Regel können wir in Versuchshandlungen nur hineinsehen,
wenn der Täter am Ende ergriffen wird und jetzt Versuch gesteht oder
überführt wird. Dabei wird Einblick in die verwickelte Psychologie des
nichtangezeigten Versuchs gewonnen; gleichzeitig treten Momente her-
vor, die das Versagen des Versuchs nicht auf den bloßen Zufall, sondern
den erfolgreichen Widerstand des Opfers zurückführen. Das Opfer, das
seine körperliche oder geistige Überlegenheit bewiesen hat, büßt damit
einen Teil des Rachebedürfnisses, seiner Verfolgungsenergie ein. Von
der Gunst dieser Entspannung, wozu noch der Mangel an tatsächlichem
Schaden tritt, macht der Heiratsschwindler Gebrauch, der rechtzeitig
erkannt und vor die Tür gesetzt wird. GÜNTER SCHULZ hat den Um-
stand betont, daß das Opfer, das den Täter vom gewaltsamen Beischlaf
abhalten konnte, sich vielfach als Siegerin, als die Stärkere und Über-
Die Nichtentdeckten 71

legene fühlen wird 1." Hinter diesem Triumphgefühl verschwinde die


Empfindung der gekränkten Ehre. Zu dieser seelischen Entspannung
gesellen sich praktische Überlegungen. Die vollendete Notzucht ist
ein physiologisches Definitivum, sozial wertmindernd , während der
abgeschlagene Angriff werterhöhend wirkt, denn das Opfer wollte seine
Unschuld nicht hergeben, und war dazu noch körperlich imstande, den
Angriff abzuschlagen. Auf die Scheu vor dem Eingeständnis schweren
Eingriffs ist zurückzuführen, daß bei den Koblenzer Zahlen 2 mehr Not-
zuchtsversuche als vollendete Handlungen auftreten. Wie die Verhält-
nisse in Wirklichkeit liegen, bleibt uns unbekannt.
Bei den Verbrechen gegen das Leben muß vorsätzlich, durch posi-
tive Handlung oder durch eine Unterlassung, der Tod eines Menschen
verursacht sein. Es kann an dem Täter, dem Opfer oder dem Zufall
liegen, wenn der gewollte Erfolg ausbleibt 3 • Das Opfer wird häufig von
dem Anschlag nichts gemerkt haben. Erst wenn nach langen erfolglosen
Versuchen der Mord glückt, die Täter festgenommen werden und sich in
der Verhandlung gegenseitig belasten, kommt die Vorgeschichte an den
Tag. Ohne die späte Aufdeckung wären alle versuchten Morde unbekannt
geblieben.
In einem New Yorker Falle hatten vier Komplicen einen der Trunk-
sucht ergebenen Zuchthäusler ziemlich hoch versichert. Sie luden ihn
zum Trinken ein und gaben ihm Holzgeist ins Glas. Das Gift bekam
ihm. Jetzt fuhr man den schwer Betrunkenen auf eine abgelegene Stelle
in der Bronx, zog ihn vollkommen aus, begoß ihn mit Eiswasser und ließ
ihn im. Schnee liegen. Er erholte sich. Dann ließ man ihn von einem ge-
mieteten Taxi überfahren. Mit gebrochenen Rippen lag er einige Wochen
im Krankenhaus und genas. Auch ein letzter Versuch mit Brötchen
- sie waren mit verdorbenen Sardinen und Rattengift belegt - hatte
nicht die geringste Wirkung. Endlich machte man ihn betrunken, und
steckte ihm einen Schlauch mit Leuchtgas in den Mund; nach langer
Mühe war die gesetzliche Tatbestandshandlung des Todes verwirklicht.
Die Tötung war vollendet.
Die Zahl der wirklichen Selbstmorde bleibt aus den verschiedensten
Gründen weit hinter der Wirklichkeit zurück. Viel größer ist die Ziffer
der unbekannten Selbstmordversuche. Sie werden nur herausgeholt,
wenn sie der Verteidigung eines oder einer Angeklagten dienen können,
oder um. eine zweifelhafte Todesursache in die Richtnng eines Selbst-
mords zn verschieben. Wenn man von dogmatischen Kontroversen ab-
sieht, so ist und bleibt die Anstiftung eines Geisteskranken zum ver-
suchten Selbstmord eine strafbare Handlung. Hier finden auch bei
1 SCHULZ, GÜNTER: Die Notzucht, S.I11. Bonner Diss. 1936.
2 Ebenda, S. 19.
3 LAWES, LEWIS E.: Meet the murderer, S.113-115. New York 1940.
72 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

leichten Depressionen die Grundsätze über den OInni modo factums


Anwendung. Auch scheinbare Abmahnung kann im gegebenen Fall
ein Mittel vorsätzlicher Bestimmung sein.
So lapidar auch die Sätze über die Teilnahme klingen, so sehr die
Judikatur die leeren Zwischenräume (z. B. bei der Mittäterschaft und
der Beihilfe) auszufüllen versucht hat, so dunkel, schwer beweisbar
bleibt der Willens anteil und die Vorsatzrichtung. Die Anstiftungs-
mittel können sehr verdünnter, selbst moralisch approbierter Art sein,
wie bei der Frau, die sich dem Geliebten so lange verweigert, als sie nicht
Witwe ist. Wir müssen uns an Einzelfälle halten, da die Statistik über
Täterschaftsnuancen schweigt.
Jugendliche sind kühne und geschickte Diebe. Die meisten Er-
wachsenen versehen sich dieser rücksichtslosen Keckheit nicht, die in der
"Blase" wohl gedeiht. Ein erfolgreicher Einbrecher gesteht: "Niemals
hat die Polizei mich erwischt, als ich noch ein Junge war 1 ." DINNEEN
beschreibt 2, wie der junge Fingers Tolland, laut, keck, blond und sommer-
sprossig herumtollt, bei Aufzügen, Fußballspielen und in den Vorräumen
der Kinos die Besucher anstößt, sie zufällig herumdreht, aufschreit und
dann in der Menge verschwindet. Viele merken erst zu spät, daß mit
dieser sympathischen Unschuldsfigur auch ihre Brieftasche das Weite
gesucht hat. Tolland macht seiner Mutter Geschenke. Gefragt, woher
das Geld käme, sagt er, er habe es gefunden. Die Mutter gibt sich darauf-
hin zufrieden. Was der Jugendliche an Taschengeld braucht - es sei
ein Junge oder Mädchen - stiehlt er zusammen. Von den Kohlen der
Eisenbahnwagen führt nur ein Schritt zum Inhalt aufgebrochener
Waggons. Was in Chikago gang und gäbe ist, wird auch in London
praktiziert 3. Nur selten wird der Junge mit der Unschuldsmiene ange-
halten, noch seltener wird er angezeigt.
Dieser "luftleere" Raum erstreckt sich bis in die Welt der Erwachse-
nen hinein. Ein Psychiater, der das Vorkommen homosexueller Hand-
lungen in der Heilanstalt besprach 4, führte es auf die Absonderungs-
neigung der Geisteskranken zurück, daß man nicht mehr von Beleidi-
gungen, Körperverletzungen und sexuellen Vergehen der Insassen hörte.
Daß in der Strafanstalt eine niemals oder selten angezeigte Kriminalität
seltsame Blüten treibt, ist keinem Sachverständigen verborgen 5.
1 MARTIN: My life in crime, S. 15.
DINNEEN: Underworld USA, S. 4. New York 1957.
2
3 Nach BENNEY: Low company, S.132. London 1937.
4 HOPPE, ADOLF: Die strafrechtliche Verantwortung von AnstaltBinsMsen.
Monatsschr. für Krim.-Psychol., Bd.III, S.602. HOPPE fügt hinzu: "Selbst zu-
gegeben, daß ein guter Teil dieser Vorfälle weder uns noch dem Wartepersonal
bekannt wird."
5 Siehe meine Strafe, Bd. II, S.339ff. Heidelberg 1955. "Die intramurale
Kriminalität. "
Die Nichtentdeckten 73

b) Es ist wissenschaftlich eine unvollkommene Methode, Zahlen zu


nennen, die das Verhältnis der nichtbestraften Fälle vorsätzlicher Tötung
zu den bestraften angeben. Bei unserer Einteilung in "Morde", die un-
bekannt blieben, nicht zur Anzeige kamen oder zu keiner Verurteilung
führten, also drei ganz verschiedene Gruppen, wird sich die Untersuchung
der Verlockung verschließen müssen, Zahlen zu nennen, die unbeweisbar
sind, und je nach der Funktionsfähigkeit des Staatsapparats, bedeutendem
Wechsel unterliegen. Zahlen, wie sie KURT MEYER geschätzt hat!,
hängen in der Luft. Mit dem gleichen Zweifel begegnen wir HEINDLS
Meinung, der sich die Mitteilung einer Londoner Lebensversicherung
zu eigen macht, daß von 146 Morden nur einer zur Verurteilung geführt
habe 2. KURT MEYER hält die geheime Kriminalität der Tötungsdelikte
für "verhältnismäßig niedrig 3 ." Vollendete Tötungsdelikte seien ver-
hältnismäßig schwer zu verheimlichen, die Anzeigeneigung sei groß. Die
Organe der Verfolgung arbeiteten mit größter Energie. Der durch die
Kriminalstatistik gewährte Einblick sei zuverlässiger als bei anderen Ver-
fehlungen. Das Reichskriminalpolizeiamt teilte MEYER mit, die Berliner
Kriminalpolizei habe von 1927 bis 1935 95% aller Tötungsfälle geklärt.
Im Augenblick haben wir es noch nicht mit der Strafverfolgung oder den
Aburteilungsziffern der Kriminalstatistik zu tun. Wir werden noch in
einem sehr viel früheren Stadium festgehalten, bei jenen Morden, die die
Polizei nicht kennt.
GENNAT, der Berliner Spezialist in Mordsachen, hat als die Summe
seiner langen Erfahrung den Satz ausgesprochen, daß "zahlreiche
Kapitalverbrechen nicht erkannt, geschweige denn aufgeklärt werden4 ."
"Allein im Jahre 1935 sind in Groß-Berlin nicht weniger als 591 Selbst-
morde und 62 tödliche Unglücksfälle durch Gasvergiftung zur Meldung
gelangt. Die eingehende Nachprüfung hat zwar in keinem Fall den Ver-
dacht einer Tötung durch fremde Hand begründet, eine entsprechende
Möglichkeit oder sogar Wahrscheinlichkeit liegt aber trotzdem vor ...
Es muß übrigens ganz allgemein damit gerechnet werden, daß auf dem
Gebiet ärztlicher Diagnosen hinsichtlich der Todesursachen Irrtümer
nicht nur möglich sind, vielmehr in größerer Anzahl vorkommen, als man
allgemein glaubt." EXNER war wiederum der Ansicht, daß Mordfälle
fast stets zur Anzeige kommen 5. Diesem Irrtum eines bedeutenden
Strafrechtlers müssen Punkt für Punkt die Tatsachen des Falles See-
feldt entgegengehalten werden, die WEHNER mitteilt 6; es ist die Vor-

1 MEYER, KURT: Die unbestraften Verbrechen, S.19. Leipzig 1941.


2 HEINDL, ROBERT: Der Beruf8verbrecher, S.222. Berlin 1927.
3 MEYER, S. 11.
4 Zit. bei WEHNER, BERND: Die Latenz der Straftaten, S. 17. Wiesbaden 1957.
5 EXNER, FRANZ: Kriminologie, S. 15. Heidelberg 1949.
6 WEHNER, S. 22 und 23.
74 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

geschichte eines Massenmörders. "Theoretisch", fügt WEHNER sehr mit


Recht hinzu, "ließ sich die überlegung anstellen, daß "auf das Konto"
dieses wandernden Unholds - verfolgt man seine Wanderungen ab
Beendigung seiner Lehre in Potsdam im Jahre 1887 - weit über ein-
hundert Kindermorde kommen konnten." Zwei Jahre griff die Unter-
suchung nur zurück, von 1933 bis zu Anfang 1935.
"Fall I. Am 16. April 1933 wird in Wittenberg ein 12jähriger Schüler vermißt.
Zwei Tage später Fund der Leiche in einer Kiefernschonung. Ärztliches Unter-
suchungsergebnis: keine äußere Gewalteinwirkung; Befund erweckt den Eindruck,
als sei der Knabe im Schlaf erfroren. Keine Obduktion. Keine kriminalpolizei-
lichen Nachforschungen.
Fall II. Am 8. Juni 1933 wird ein 8jähriger Knabe aus Potsdam vermißt. Sieben
Wochen später beim Roggenmähen Leichenfund auf einem Feld. Ärztliche Fest-
stellungen: Keine äußeren Verletzungen. Obduktion zwecklos. Keine ernsthaften
kriminalpolizeilichen Nachforschungen.
Fall III. Am 2. November 1933 verschwand in Ludwigslust bei Schwerin ein
lOjähriger Schüler. Zwei Wochen später im Zuge einer Treibjagd Leichenfund in
einer Kiefernschonung. Keine äußeren Verletzungen. Ärztliche Diagnose: Todes-
ursache nicht feststellbar, wahrscheinlich erfroren. Kriminalpolizeiliches Ermitt-
lungsergebnis: Schüler aus Furcht vor Strafe nicht nach Hause gegangen, in
Kiefernschonung zum Schlafen hingelegt und erfroren.
Fall IV. Am 22. November 1933 verschwindet lOjähriger Schüler aus Rostock.
Leiche wird erst am 4. Januar 1934 im Schilfdickicht oberhalb der Stadt gefunden.
Einige Umstände lassen Verbrechen nicht ausgeschlossen erscheinen. Obduktion in
Rostock. Ergebnis: Schädelverletzungen als Todesursache. Einige andere Umstände
sprechen für Erfrierungstod. Überprüfung des Obduktionsprotokolls und erneute
Untersuchung des Schädels. Ergebnis: Schädelverletzungen sind postmortaler
Natur. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen werden daraufhin eingestellt.
Fall V. Am 16. Januar 1934 ist 9jähriger Schüler aus Lübeck abgängig. Leichen-
fund einen Monat später in einer Tannenschonung. Keine Gewalteinwirkungen.
Zigarettenstummel und Streichhölzer bei der Leiche. Obduktionsergebnis : Herz-
tod infolge übermäßiger Nahrungsaufnahme. Kriminalpolizeiliche Ermittlungen
werden trotzdem geführt, weil ein Mitschüler von dem vermißten Knaben gehört
hatte, er sei "verabredet". Kein Ergebnis.
Fall VI. Am 2. Oktober 1934 wird ein 7jähriger Knabe aus Oranienburg (bei
BerIin) vermißt. Vier Wochen später wird Leiche in einer Schonung gefunden.
Todesursache durch Berliner Gerichtsarzt infolge Verwesung nicht feststellbar.
Kriminalpolizeiliehe Ermittlungen ohne Ergebnis.
Fall VII/VIII. Am 16. Oktober 1934 verschwinden ein 41/ 2, und ein 51/~ähriger
Knabe aus Neuruppin. Am nächsten Morgen werden beide Leichen eng umschlun-
gen, in einer Schonung gefunden. Das jüngere Kind hat Reste eines Fliegenpilzes
zwischen den Lippen. Keine Gewalteinwirkung. Obduktion: Keine Anhaltspunkte
für Vorliegen fremden Verschuldens. Todesursache : Pilzvergiftung wahrscheinlich.
Fall IX. Am 8. Oktober 1934 wird ein lljähriger Schüler in Brandenburg
vermißt. Fünf Wochen später Leichenfund in einer Schonung. Wegen Verwesung
keine Todesursache feststellbar. Keine kriminalpolizeilichen Nachforschungen.
Fall X. Am 16. Februar 1935 wird ein lOjähriger Schüler aus Wismar von Be-
kannten seiner Eltern nach Schwerin mitgenommen und verschwindet hier. Leiche
wird zunächst nicht gefunden.
Fall XI. Am 23. Februar 1935 verschwindet aus Schwerin ein weiterer 10jähriger
Schüler. Der Schweriner Oberstaatsanwalt Beusch bringt erstmals das Verschwinden
der beiden Jungen aus Schwerin mit einem Teil der Fälle in Beziehung.
Die Nichtentdeckten 75

Eine Berliner Mordkommission (Lobbes.Togotzes) findet 4 Monate später die


Leichen vergraben in einer dichten Schonung, und zwar nach der inzwischen er·
folgten Festnahme des Seefeldt, der nach Auswertung aller Indizien aus den
Fällen III-VIII und X und XI ... überführt werden konnte (die Fälle I, 11
und IX wurden erst später herangezogen). Ein gewaltsamer Tod der beiden zu·
letzt in Schwerin verschwundenen Knaben war gerichtsärztlich exakt nicht nach·
zuweisen, er wurde nur aus der Art der Leichenfunde gefolgert."
Soweit das Material. Soweit die Lehre, die unbarmherzig unsere
Illusionen Lügen straft: Sie lautet, daß wir doppelt uns bemühen müssen,
im Ringen um Erkenntnis und Methoden der Bekämpfung.
Man spricht nicht gern vom Massenmörder, weil sich in ihm der
massenhafte Fehlschlag spiegelt. Nur wenn die Gesetze verschärft werden
sollen, wenn ein Staatsanwalt vor unschlüssigen Geschworenen plädiert,
werden die Schreckgestalten der Kriminalgeschichte hervorgeholt, die
Frau van der Zuiden, die mehr als hundert Menschen vergiftet hatte,
Dumollard, Troppmann und "Pel, der Uhrmacher!. " Wenn wir von
Zeit zu Zeit eines solchen Monstrums habhaft werden, eröffnet sich die
Möglichkeit, die lange ungeschorene Laufbahn rückwärts aufzurollen,
beileibe nicht in allen Stücken, doch immerhin in jenem aufhellbaren
Abschnitt, der zeitlich uns am nächsten liegt. Keiner von den vielen
Morden, die vor der Verhaftung begangen wurden, war überhaupt
bekanntgeworden oder wurde auf den wahren Täter bezogen. Wenn
hier das Glück den Täter nicht verlassen hätte, wenn hier ein Fehler
nicht begangen worden wäre, wenn er vor diesem Punkte angehalten
hätte, die lange Reihe seiner Morde würde nicht ans Licht gekommen sein.
Hier fügt es sich, daß Forscher sich auf Zahlen stützen können. Oft
sind die Opferziffern nur ein Minimum. Ich führe zehn von diesen
Massenmördern an:
1. Lüdke . . . . 84 Opfer 2
2. Ferrage . . . 80 Opfer 3
3. H. H. Holmes. 32 Opfer 4
4. Denke . . 30 Opfer 5
5. Pommeroy 27 Opfer 6
6. Haarmann 27 Opfer'
7. Petiot . 27 OpferS
8. Kürten . . 130pfer 9
9. Hoch . . 120pfer10
10. Jack the Ripper . 11 Opfer11
10 Mörder . . . . . 343 Morde
1 McKEN1.IE, F. A.: Landru, S. 210. London 1928.
2 SCHMIDT, F. v.: Vorgeführt erscheint, S.194. 8tuttgart 1955.
3 Neuer Pitaval, Bd. XXIII, 8. 344. 4 Mein Mord, 8. 38. 5 HEINDL, S. 223.
6 MAKRIS, JOHN N.: Boston murders, 8.8. NewYork 1948. 'Mein Mord, 8.38.
S STEMMLE, R. A.: Reise ohne Wiederkehr. Der Fall Petiot, 8. 198. Berlin 1951.
9 Mein Mord, S. 38.
10 SMITH, EDwARD H.: Famous poison mysteries, S. 122. New York 1927.
11 Darstellung nach MAcDONALD VON WALTER in Monatsschrift, Bd. VI, S. 694.
76 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

9 Verbrechen dieser 10 multiplen Mörder wurden entdeckt, da Jack


the Ripper nicht gefunden wurde. 332 Morde wurden erst zu spät heraus-
gefunden 1. Bei wieviel Mördern kam es nicht zu jenem letzten Zufalls-
akt, der uns das Tor des Wissens aufstieß?
Die Frauenseite sieht nicht besser aus, zumal es sich zumeist um
Giftmord handelt. Fünf Mörderinnen seien angeführt:
1. Helene Jagado 40 Opfer 2
2. J ane Toppan . . 31 Opfer 3
3. Belle Gunness. . 20 Opfer'
4. Gesche Gottfried 15 Opfers
5. Marie Becker 12 Opfer 6
5 Mörderinnen 118 Morde

Fünf dieser Morde wurden aufgedeckt; dagegen konnten 113 Morde


begangen werden, ohne daß die Behörde davon erfuhr und der Ver-
brechensserie Einhalt tun konnte.
Wenn man die Liste beinahe ohne Pause wiederholter Morde durch-
sieht, so bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen andere
Morde diesem kompakten Handlungs-Haufen vorangegangen sein oder
nahezu alle Taten sind nunmehr aufgeklärt, die einer späten Krise im
Leben der Täterin entsprungen sind, vielleicht dem Klimakterium.
Die rechtzeitige Entdeckung wird vom falschen Bild der mörderischen
Frau aufgehalten. "Madame Becker", erklärte der Staatsanwalt im
Schwurgerichtssaal von Lüttich, "erschien bei allen Begräbnissen ihrer
Opfer in tiefer Trauer und vergoß bittere Tränen über ihrem offenen
Grabe. .. Sie wollte sich mit diesem zur Schau getragenen Gram gegen
jeden aufsteigenden Verdacht sichern. Doch ihre größte Sicherheit lag
darin, daß sie keineswegs wie eine Verbrecherin aussieht7."
Genau wie im Fall Seefeldt verteilen sich die Morde der Frau Becker
auf einen kurzen, der Verhandlung nahen Zeitraum. Vergiftet waren 8:
1. Charles Becker . im Oktober 1932
2. Marie Doupagne . im März 1934
3. Lambert Beyer . im November 1934
4. Julia Bossy . . . im März 1935
5. Witwe Perot. . . im Mai 1935
6. Aline Louis-Damont im Mai 1935
7. Mme Castadot. . . im Juli 1935
8. Witwe Lambert . . im September 1935
-----
1 Petiot erklärte vor Gericht, er habe nicht 27, sondern 63 Menschen getötet.
STEMMLE, S. 149. "Manche mit meiner Geheimwaffe. Im Wald von Marly. Ich
werde die Liste der 63 liefern, sobald ich freigesprochen bin." Von solchen Ge-
ständnissen, die keinen Glauben fanden, wird später noch zu sprechen sein.
2 Neuer Pitaval, Bd. XXI, S. 5. 3 Boston murders, S. 217.
, O'DONNELL, BERNARD: Mußten sie morden? S.115. Zürich 1956.
6 Neuer Pitaval, Bd. 11, S. 343. 6 O'DONNELL, S. 71. 7 Ebenda, S. 72.
8 Ebenda, S. 71.
Die Nichtentdeckten 77

9. Witwe Crulle . im November 1936


10. Anne Stevart . im Mai 1936
11. Witwe Bultay . im September 1936
12. Witwe Lange . im September 1936
Ich habe diese Daten angeführt, weil verdächtige Lücken der rasch
zunehmenden Tötungslust sichtbar sind und weil sie einen Beitrag zur
Psychologie der verwitweten Frau als Opfer liefern. Außer dem ver-
sicherten Ehemann und dem Geliebten wurden nur Frauen getötet.
Zwölfmal nannte der Totenschein eine natürliche Todesursache. Das
Verfahren wurde durch das anonyme Schreiben eines Lütticher Polizei-
beamten Castadot in Gang gebracht, dessen Frau Marie Becker vergütet
hatte, der dann mit ihr ein Verhältnis anfing und sich, als er abgeschüttelt
wurde, durch die anonyme Anzeige rächte.
Es ist behauptet worden, die Anzeigeneigung bei einem so schweren
Verbrechen sei besonders groß 1. Eine solche Annahme ist reine Theorie.
BYLOFF hat aus persönlicher Erfahrung das "Abfüttern" der Ortsarmen
in der Steiermark geschildert.
"Der ,Einleger' ist der Ortsarme, der in Ermangelung eines Armenhauses in die
,Einschicht' gehen muß. Er wandert von Hof zu Hof und muß überall durch eine
bestimmte Zeit verpflegt werden, wofür er, wenn er hierzu imstande ist, Haus-
und Feldarbeiten verrichtet."
Wenn er zu lange lebt und nur noch eine Last ist, wird er "abge-
füttert". BYLOFF gibt eine einleuchtende Erklärung, warum bei allen
Dorfbewohnern kein Interesse für eine Anzeige besteht. "Diese Men-
schen hinterlassen nichts, haben keine Verwandte und Erben, die sich
für die Todesursache interessieren, und die Mangelhaftigkeit der Toten-
schau auf dem Lande tut das übrige, um das Verbrechen, das nach unserer
auf langjähriger Beobachtung aufgebauten überzeugung viel zahlreicher
ist, als die amtliche Verbrechensstatistik ausweist, zu verschleiern 2 ."
Ich habe früher Zahlen der Vermißten und unbekannten Toten ge-
nannt 3; in Chikago gibt es eine Zentralstelle für den Verkauf von Leichen,
die für 500-1000 Dollars an medizinische Fakultäten abgegeben werden.
Preislisten werden an Interessenten versandt, die Alter, Gewicht, Größe,
Nationalität, Todesursache und Zustand der inneren Organe angeben 4.
Sie werden zu Hunderten in den Straßen der Slums aufgekehrt und
niemals identifiziert. Aus London berichtet ein bekannter Kriminal-
beamter Scotland Yards von der Jahrhundertwende, daß man am
frühen Morgen häufig Tote in den Straßen fand. Nur wenige Fälle
wurden als Morde registriert, wenn die Verletzungen nicht selbst zu-
1 MEYER:Die unbestraften Verbrechen, S. ll.
2 BYLOFF, FRITZ: Die Arsenmorde in Steiermark, Monatsschrift, Bd. XXI, S.ll.
3 Der Mord, S. 29ff.
4 Ein Fall ist bekannt, in dem ein Mann eine Leiche kaufen wollte, die ihm
ähnlich sah; es bestand der Verdacht eines geplanten Versicherungsbetruges.
78 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

gefügt sein konnten oder einem Betrunkenen kein Unfall zugestoßen


sein konnte. "Zwar konnte niemand sagen, daß es sich so zugetragen
habe, doch war es oft wahrscheinlich, daß ein Verbrechen stattgefunden
hatte!."
Von Anzeigeneigung ist nichts zu spüren, wenn es an starker privater
Initiative fehlt, Furcht vor dem Verdächtigen herrscht oder er, wie
Denke, seiner Frömmigkeit wegen geschätzt wird. Erst als Dumollard
verhaftet war, liefen von allen Seiten Anzeigen ein, wurden Leichen
gefunden, die jahrelang in der Erde gelegen hatten, schien es jedermann
"fast unerklärlich, daß so viele und so schwere Verbrechen unentdeckt
und unangezeigt geblieben sein sollten 2." Anklage wurde wegen 6 Fällen
von Mord und 9 Raubüberfällen erhoben. Dumollard ließ zynisch An-
deutungen fallen, aus denen man "auf die langjährige Praxis des fürch-
terlichen Geschäfts schließen kann."
Daß die Aufdeckung alter Morde durch einen gesetzgeberischen Akt
verhindert wird, ist in der Kriminalgeschichte äußerst selten. Trotzdem
sind in den ersten beiden Jahren der Hitler-Diktatur zwei solche Gesetze
ergangen. Das erste war eine Verordnung vom März 1933 3 ; sie betraf
alle Handlungen, die "im Kampfe für die nationalsozialistische Erhebung
begangen waren", also auch Morde, die unbekannt geblieben waren.
Es folgte das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli
1934. Sein kurzer Wortlaut war:
Die Reichsregierung hat folgendes Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird.
Einziger Artikel.
Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni,
1. Juli und 2. Juli vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.
Berlin, den 3. Juli 1934. Der Reichskanzler: Adolf Ritler
Der Reichsminister des Innern: Frick
Der Reichsminister der Justiz: Gürtner

Die Zahl der damals an eigenen Parteigenossen und politischen


Gegnern verübten Tötungen, wobei auch Personenverwechslungen vor-
kamen, wird auf 1200 Personen geschätzt'. Genaue Zahlen sind bis
heute nicht bekanntgeworden.
Wenn MAx HUHNER feststellt, daß in New York in einem einzigen
Jahr 1000 Morde "ungeklärt" bleiben, so müssen diese Zahlen zahlreiche
unbekannte Mordopfer umfassen, zumal in vielen Fällen eine Identifi-
zierung der Getöteten nicht gelang 5 •

1 WENSLEY, F. P.: Fortyyear8 0/ Scotland Yard, S.87. New York 1931.


2 Neuer Pitaval, Bd. XXXIII, S. 103.
S Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit vom 21. März 1933.
, Nach ANDRE FRANC;JOIS-PONCET: Als Botschafter in Berlin, S. 190, Mainz 1947.
5 "Crime dOM pay," Journal of Criminal Law and Criminology 1939, S. 492.
Die Nichtentdeckten 79

Die polizeiliche Praxis ist mit unrichtiger Identifikation aufge-


fundener Leichen wohl vertraut. Verhaftungen 1 und Verurteilungen 2
sind die Folge gewesen. Nachdem die "Toten" wieder aufgetreten waren,
blieb nicht nur die Frage übrig, wie die falsche Wiedererkennung zu-
stande kommen konnte, sondern woher der Tote kam, wer ihn im Wald
vergrub oder in den Fluß warf, und ob nicht viele andere Wesen un-
bekannt vermodern und vergehen.
c) KURT MEYER ging bei seiner Schätzung des Dunkelfeldes davon
aus, daß etwa die Hälfte "aller tatsächlich vorgekommenen Diebstähle
nicht zur Kenntnis der Behörden komme 3." Es lassen sich dieser Ver-
mutung keine Zahlen entgegenstellen, zu Ziffern werden wir erst bei den
angezeigten und abgeurteilten Delikten kommen. Doch lassen sich die
Angaben nicht übergehen, die einzelne Verbrecher machen, auch nicht
die objektiven Feststellungen, die die Polizei nach langen Jahren erfolg-
reicher Diebstätigkeit - es sei einfacher oder schwerer Diebstahl -
trifft und bekanntgibt. Wir halten uns selbst den Einwand entgegen,
daß es sich in diesen Fällen um besonders geschickte und erfahrene
Typen handelt, die weit über dem Durchschnitt stehen. Sie wurden
immerhin zu guter Letzt gefaßt. Es ist daher noch nicht die allerhöchste
Spielart, die Diebsgestalten, die wir überhaupt nicht kennenlernen, weil
Glück und kriminelle Kunst sie unserer Kenntnis vorenthalten.
In den 3 Jahren von September 1926-1929, lesen wir, entging der
jugendliche Taschendieb "Fingers" Tolland der Entdeckung von ungefähr

1 Siehe den Fall in Alvin. HARLow, A. F.: Murders not quite 8olved, S.91ff.
New York 1938. Die Schwester identifizierte die falsche Leiche nach den Ohr-
ringen, dem Gebiß und der Körperlänge. - Im August 1929 wurde in Paris eine
zerstückelte Frauenleiche aus der Seine gezogen. Nach amtlicher Mitteilung wurden
in den letzten zwei Monaten 5000 Frauen vermißt. Von diesen Anzeigen wurden
300 zur engeren Wahl gestellt, deren Alter und sonstige Kennzeichen ungefähr
auf die aufgefundenen Körperreste zutrafen. 14 dieser vermißten Frauen trugen
eine Narbe am rechten Oberschenkel wie die Tote. 5 Frauen wurden gefunden,
9 blieben vermißt. Wenn dieses Verhältnis auf die Gesamtzahl der Vermißten an-
gelegt wird, wurden im Verlauf des ganzen Jahres Hunderte der vermißten Frauen
niemals wieder eruiert. Siehe Monatsschrift, Bd. XXI, S. 244.
2 In dem von BORCHARD, EDWIN M.: Convicting the innocent, S. 144ff. (New
York 1933) dargestellten Fall identifizierte man den vermißten Negerpfarrer an
einem Ring der linken Hand der stark verwesten Negerleiche. Ein Amtsbruder,
mit dem er Streit gehabt hatte, erhielt 18 Jahre Zuchthaus. Der Tote kam nach
einiger Zeit zurück; er hatte eine kleine Summe unterschlagen und hatte sich ver·
steckt. Wer aber war der andere Neger? Er trug den gleichen billigen Ring wie die
Leiche. Man kann ihn heute noch, vom Finger abgeschnitten, in Virginia sehen,
wo das Gericht ihn mahnend aufbewahrt. Auch dieser Fall war einmal "auf-
geklärt" und abgeschlossen worden.
3 MEYER, S. 43. - Ich würde niemals eine zahlenmäßige Schätzung wagen
und habe es auch nicht getan, als ich Diebstahl, Einbruch und Raub und ihr
Dunkelfeld studierte (8. 18ft).
80 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

2700 vollendeten und 1800 versuchten Zugriffen 1. "Er wurde in weniger


als 1 % der Delikte gefaßt, die er beging 2 ." Der Geldschrankknacker
Herbert Emerson Wilson erwähnt nachlässig, daß er auf alle seine
60 Bank- und Safeeinbrüche nicht eingehen wolle 3. Man ist geneigt, dem
Bericht als krimineller Protzerei zu mißtrauen. Dagegen spricht die
genaue Angabe der Banken und Geschäftshäuser, die er heimsuchte, und
die Einleitung, die der frühere Leiter von St. Quentin dem Buch voran-
geschickt hat und der die Akten kennen mußte. Der Mann, der 16 Mil-
lionen Dollars erbeutet haben will und dessen Laufbahn mit 12 Jahren
Zuchthaus abschloß, war Pastor einer Baptistenkirche in San Diego
gewesen und als Sohn eines Erfinders und Chemikers in Kanada geboren.
Es war sein Stolz, den Sprengstoff "Thermoi" erfunden zu haben. Er
hatte Safe bau in dem Geldschrankwerk studiert.
Es gibt bei den Einbrechern, die lange glücklich operierten, einen
charakteristischen Zug. Durch einen unvorhergesehenen Zufall gestellt
und mit Festnahme bedroht, verteidigen sie diese lange Immunität mit
größter Entschlossenheit. Entgegen jeder inneren Neigung und Ein-
brechertechnik greifen sie zur Schußwaffe. Es kommt zum Morde, der
unbegreiflich scheint, weil niemand ahnt, was für ein Leben sie verhüllen
müssen. Ein solcher Krimineller war Harry Manster 4, den jeder mochte,
elegant, gefällig, jeder Zug ein Gentleman. - Noch lange, nachdem
er wegen Tötung des Verfolgers lebenslange Zuchthausstrafe er-
halten hatte, wußte man nichts Näheres über William Barret 5. Ein
Hehler erst verriet sein wahres Leben, den Ursprung seines Reichtums
und den Beruf, dem er in Boston nachgegangen war, von 1879 bis 1894,
volle 15 Jahre lang, niemals verhaftet, niemals von Verdacht berührt.
Er wohnte lange Jahre wenige Schritte von einer Polizeiwache entfernt.
Nach außen trieb er Pferdehandel, doch nur mit Exemplaren allererster
Klasse.
Mit der Bildung von Massenwarenlagern hat die Technik des vor-
sichtigen systematischen "Ausjätens 6 " an Bedeutung zugenommen. Das
Hospitalschiff, auf dem MARTINS Berufsverbrecher als Matrose diente,

1DINNEEN: Underworld, S.95.


2Ebenda, S. HO.
a WILSON, H. E.: I stole $16,000,000, S.54. New York 1956.
4 Boston murders, S. 113. - Die Polizei von Boston schätzte die Zahl der Ein-
brüche, die in 8 Monaten begangen worden waren, auf ungefähr 300.
5 Barrett brach immer in den frühen Morgenstunden bei reichen Leuten ein
und stahl Kunstwerke, Teppiche, Juwelen, Silberzeug und kostbares Porzellan.
Er lagerte das Gut in New York, verkaufte die Gegenstände immer nur an Private,
niemals an Pfandleiher oder Hehler. Während er sich in New York als Mitglied
der guten Gesellschaft unauffällig bewegte, war er in Boston 15 Jahre lang un-
angefochten Meister seines Faches.
6 Im amerikanischen Verbrecher-Slang "weeding."
Die Nichtentdeckten 81

führte Riesenvorräte an Morphium mit sich, die für die ganze Flotte be-
stimmt waren. Daß er in kleinen Mengen jeden Tag Rauschgift ein-
steckte, wurde nicht bemerkt 1. Ein anderer Krimineller nahm aus Läden
immer nur geringe Quantitäten. Er paßte auf, daß optisch Lücken nicht
entstanden. Nach seiner Ansicht war es für den aufmerksamen Dieb
möglich, in einem Jahr den Laden zwei- bis dreimal durchzukämmen 2,
ohne daß der Besitzer den Verlust herausfand. In ganz der gleichen Weise
fing schon vor 200 Jahren der berühmte Mörder Desrues seine Laufbahn
an. Er war einer Witwe angelegentlich empfohlen worden, bei der er als
Gehilfe eintrat. Drei Jahre unermüdlichen und allseitig anerkannten
Dienstes benutzte er dazu, sich ein Vermögen zuzuschanzen, indes die
Witwe dem Ruin entgegenging. Er ging in so geschickter Weise vor,
daß nicht der kleinste Argwohn auf ihn fieP.
Sehr viele Opfer merken nicht, daß sie betrogen wurden, und wieder
andere, ganz besonders alte Leute, Zerstreute, Unordentliche und Be-
trunkene werden bestohlen, haben später keine Ahnung, wie Geld und
andere Wertgegenstände eigentlich abhanden kamen. Verlieren ist für
Eitle nicht so kränkend wie Übertölpelung durch den dreisten Dieb,
der Schwächen drastisch uns vor Augen führt, indem er uns für sie be-
zahlen läßt.
d) Zeiten der Rechtlosigkeit, des staatlichen Zusammenbruchs 4 und
der extremen Not heben zurückgedämmte Reaktionsbereitschaft an das
Licht, und wir erschrecken, wenn das neue Bild der alten Menschen-
kenntnis hohnspricht und staubige Winkel unserer Seele sich dem Blick
auftun. Der Alkohol 5 und andere Gifte enthüllen mit dem Hemmungs-
wegfall morsche Punkte unseres seelischen Gefüges; sie werden nicht ge-
schaffen, waren vorher da. Machtrausch und Siegestaumel über äußere
oder innere Feinde sind eine Schädlichkeit, die nichts hinzuträgt, nur
lockeren Firnis von der Oberfläche kratzt. Jetzt hat die Technik und
der Ersatz von Beinen, Pferden, Kutschen durch andere Formen der
Mechanik der Bewegung den Enthüllungsvorgang fortgesetzt. Wir lassen
plötzlich ungewohnte Wesenszüge sehen. Sie waren offensichtlich schon
bei einem großen Teil der Menschen angelegt und vorbereitet. Jetzt
1 MARTIN: My life in crime, S. 24.
2 CLARK, CHARLES L., and E. E. EUBANK: Lookstep and corridor, S.81. Cin-
cinnati 1927.
3 Geschichten aus dem Neuen Pitaval, Bd. V, S.238, 239. Meersburg 1929.
4 Siehe meine Kriminalität des Zusammenbruchs. Schweiz. Zeitschr. für
Strafrecht, Bd. LXII, 8. 337ff. 1947.
5 Ein Alkoholiker, der mit seiner tüchtigen Frau lange Jahre in glücklicher Ehe
gelebt hatte, schreibt: "Manchmal ging ich lange im Kontor nachdenkend auf und
ab ... dann war ich böse, wie ich es nannte, nicht etwa speziell, nicht einmal auf
Magda (seine Frau), sondern ich war einfach böse, wie eben ein Mensch schlecht und
böse sein kann, von Urgrund her." FALLADA,HANS: Der Trinker, 8.40. Hamb.1959.
v. Hentig, Das Verbrechen I 6
82 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

steigen sie, von einem Zauberstab erweckt, nach oben. Mit einem Male
sind sie da, die bisher unbekannten Kriminellen. Aus allen Schichten
strömen sie herbei und überraschen uns durch ihre Zahl und durch den
Mangel an Verhüllung.
In Westdeutschland wurden im Jahre 1956 auf 10000 Kraftfahrzeuge
gezählt im Vergleich zu den Vereinigten Staaten 1 :

West· I USA
deutschland I
Tote . . 25 6
Verletzte 714 215

Juristen, die über Straßenverkehrsrecht schrieben, haben die "Ge-


sinnung" der Fahrenden verantwortlich gemacht und von Rücksichts-
losigkeit, Gefühlsarmut, Eigennutz und Großmannssucht gesprochen 2.
Doch woher kommt die schlimme Mischung? Beim Autofahren treten
keine völlig neuen Eigenschaften auf. Es wird nur das vergrößert, los-
gelassen, was wie ein ungebärdiges Tier an seiner Leine zerrte. Das Reich
des Unbekannten tut sich nicht nur bei den einzelnen Delikten, nein,
in der ganzen vielgestaltigen Breite auf. In guten Zeiten war die Seele
wie ein Kabel von Isolierungsschichten übersponnen. Jetzt ist sie blank
gescheuert, neigt zum Kurzschluß, sprüht beim kleinsten Anstoß
Funken, erscheint in vielen Fällen wie ein fremdes Ungeheuer. Begierig
greift die Jugend nach dem neuen Rauschgift der Geschwindigkeit, das
Sorgen nimmt und Allmachtsillusionen gibt. Im Jahre 1958 wurden im
kleinen Westdeutschland 84969 Kraftfahrzeuge gestohlen oder un-
befugt gebraucht 3 • Auch Mittellose wollen diesen Alkohol genießen, die
Herrschaft über einen starken Motor, den Anschein einer Gleichheit mit
vom Leben über uns Gestellten, und wenn sie rasend überholen, selbst
für kurze Augenblicke der Maschine abgeborgte Pseudoüberlegenheit.
Wenn rücksichtslos sich eine Anarchie der Wesenszüge aufdeckt, so
dehnt der Raum des unbekannten Übeltäters sich in unbestimmte Weite.

2. Nicht Angezeigte
a) Wo die Grenze zwischen dem nicht entdeckten und dem nicht an-
gezeigten Verbrechen läuft, läßt sich nicht immer mit der Genauigkeit
feststellen, die wissenschaftlich zu wünschen wäre. Solche zwielichtigen
Zwischenzonen sind wohl am sichersten der Nichtanzeige zuzurechnen.

1 MIDDENDORF, WOLF: Soziologie des Verbrechen8, S. 145. Düsseldorf 1959.


2 Ebenda, S. 146, nach MÜLLER.
S GEERDS, FRIEDRICH: Über Diebstahl und unbefugten Gebrauch von Kraftfahr-
zeugen. Kriminalistik, S. 107. 1960.
Nicht Angezeigte 83

Zuweilen ist die Tat bekannt, der Täter aber toP, verschollen oder
völlig unbekannt. Anzeigen gegen "Unbekannt" sind zugelassen. Ent-
scheidend ist der "Verdacht einer strafbaren Handlung" (§ 160 StPO).
Es soll nur eine Klage vorbereitet werden, die je nach faktischen und
rechtlichen Gegebenheiten begründet oder nicht begründet ist. Statistisch
ist das Resultat dasselbe, ob ein Verbrechen nicht entdeckt oder ob der
Täter unbekannt bleibt. Die Auskunft, die wir von den Züfern haben
wollen, wird nicht erteilt. In mundo mag die schwerste Störung vor-
gefallen sein, in actis, denen unser Urteil folgt, ist nichts geschehen.
Die Nichtanzeige führt in Mängel, Tiefen, Widersprüche unseres
Gruppenlebens, die wir in diesem Umfang nicht erwarten würden. Wir
stoßen auf die Kriminalität der Geisteskranken. Sie ist kaum meßbar,
wird mit gutem Grunde nicht ans Licht gezogen 2. Umfragen werden
Forschern nur mit Bedenken oder gar nicht beantwortet 3. Was hier
geschieht, auch in der besten Anstalt schwerlich völlig zu verhindern ist,
bleibt aus der Kriminalstatistik weg; es wäre freilich bei dem Freispruch
in der Strafverhandlung auch nicht anders. Bedeutsam wird die Ein-
weisungspraxis. Ich habe in meinen Studien über die Kriminalität des
Negers nachgewiesen, daß zum mindesten ein Teil der hohen Kriminalität
der schwarzen Rasse auf Unterlassung im Bereich der Irrenpflege zurück-
zuführen ist.
Der Tatsache ist bisher kaum Beachtung geschenkt worden, daß
ganze Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet der Anzeige ein Sonder-
regime genießen, während andere soziale Schichten die volle Wucht
staatlicher Mißbilligung erfahren, womit sich auch das Größenbild hier
freundlicher, dort weniger freundlich darstellt 4• Hinter allen, auch den
ehrlichsten Versuchen, Rechtsgleichheit herzustellen, blickt der mächtige
Schutz hindurch, den eine Interessengemeinschaft gewährt, Nomaden-
dasein ebenso wie Einzelgängerei versagt.
FORsBAcH, der die Straffälligkeit in Großbetrieben untersuchte, hat
sich die sehr berechtigte Frage gestellt, "ob es innerhalb des sozialen

1 Man wäre geneigt, die Angabe von KITTY HANSON (Daily News vom 26. Mai
1960) zu bezweifeln, daß auf Hart's Island bei New York seit dem Jahre 1869
500000 unbekannte Tote begraben worden sind (Bild dieses Platzes bei MARTEN,
EDWARD: The doetor look8 at murder, S.273. New York 1940). Doch stammt die
Angabe von der Anstaltsleitnng.
2 STIERLIN, HELM: Der gewalttätige Patient. Basel 1956. Es handelte sich nur
um Gewalttätigkeiten gegen Pflegepersonen.
3 Ebenda, S. 20. Von 164 Anfragen wurden nur 92, das sind 56,1 %, beantwortet.
496 untersuchte Korrigenden hatten 3285 Verurteilungen zu Haftstrafen er-
litten, ein 64jähriger Imbeziller 176, ein 60jähriger Psychopath 141. 96 Leute
hatten den gerichtlichen Verfolgungsapparat in 4088 Fällen in Anspruch genommen.
BRAUN, H.: Zur Soziologie der Arbeit8ooUBinBaB8en. Referiert in Monatsschrift,
Bd. XXIV, S. 758. 1933.
6*
84 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Gefüges nicht noch andere als staatliche Erkenntnisquellen gäbe, die


kriminelles Verhalten aufzeigen 1." Er wandte seinen Blick hinweg von
amtlicher Statistik und den Erhebungen von Behörden. Vor ihm lag
autonom und machtvoll der Kosmos einer eigenen Welt, der Großbetrieb
mit einer Rechtsabteilung und dem Werkdienst, in dem die Arbeits-
ordnung wirtschaftliche Zwecke sichert, es Leben, Eigentum des Unter-
nehmers wie der Werkgenossen und jede andere Art von Rechtsgut zu
beschützen gilt. Auf neuem örtlichem Bereich, privatem Boden und damit
von außen abgegrenzt, steht eine ganz verschiedene Größenordnung.
Wenn sie Verstöße findet, kann sie frei entscheiden, ob sie mit eigenen
Mitteln vorgeht oder es für richtig hält, den Staat und seine Hilfsorgane
einzuschalten. FORSBACH betont 2 , daß eine Lebenssphäre sich ihm hier
eröffnet hat, deren Straftaten zu etwa 80% der kriminalwissenschaft-
lichen Erkenntnis verschlossen waren. Die Polizei hat nichts davon
erfahren und keine Kriminalstatistik hat sie je gezählt. Ein großes
Werk hat neben jeder anderen Richtschnur Interessen, die in der Rich-
tung eines Höchstertrages liegen 3.
Wie viele Menschen unter diese Sonderregelung fallen, ist schwer zu
sagen. Im Jahre 1956 waren 2521825 Menschen in der Investitions-
güterindustrie Westdeutschlands beschäftigt 4. Die verarbeitenden Indu-
strien zählten im ganzen 6 338 114 Beschäftigte, zum großen Teile jüngere
oder mittelalte Männer. In Großbetrieben mögen 2-3 Millionen tätig
sein. Strafrechtlich sind sie in gewisser Hinsicht exterritorial. In einem
Filter wird ihr Rechtsbruch unserem Wissen vorenthalten, soweit er auf
dem Werkgelände vor sich geht und zur Entdeckung kommt.
Die von SCHMITZ 5 behauptete Einengung des allgemeinen Dunkel-
feides durch die Arbeit des Werkschutzes wird im allgemeinen richtig
sein, wenn auch in einer homogenen Gruppe, je nach der wirtschaftlichen
oder politischen Lage, die solidare Haltung Gegensätzlichkeiten in die
Höhe spülen kann. SCHMITZ sieht in räumlicher Begrenzung, der Kennt-
nis des Objekts der überwachung, der übersichtlichkeit des Eigentums
aufsichterleichternde Momente. § 18 der Arbeitsordnung sagt: Einzel-

1 FORSBACH, W ALTER: Die Kriminalität in Betrieben der GroßindUl3trie, S.4.


Bonner Diss. 1953.
2 Ebenda, S.13. - Beim Werk.A wurden von 456 Delikten 257 (56,2%) auf.
geklärt, 43 (9,45 %) wurden angezeigt. Die andern Werke zeigten höhere Ziffern.
Ebenda, S. 53.
3 Diesen Konflikt zwischen reinem, kategorischem Ethos und Wirtschaftlich·
keit finden wir in der Landwirtschaft wieder, vielleicht überall im Leben. Siehe
mein Diebstahl, S. 27. Er wird beim .Antragsrecht besonders wirksam.
4 Statistisches Jahrbuch 1957, S.207.
5 SCHMITZ, JÜRGEN: Die Kriminalität in Betrieben der eisenschaffenden Indu-
strie, S. 15. Bonner Diss. 1959.
Nicht Angezeigte 85

kontrollen können jederzeit vom Pförtner vorgenommen werden l . In


Läden und an Wohnungstüren, Theater- und Hotelausgängen ist die
Durchsuchung der Person unmöglich, sie wäre öfters wirkungsvoll.
Für "Behörden" ist die Anzeigepflicht des § 163 StPO nicht ge-
geben. Es ist dem pflichtgemäßen Ermessen überlassen, ob Behörden die
Delikte des Personals anzeigen wollen oder nicht. Dieser Personenkreis
wird immer ausgedehnter. In 7 Jahren hat sich beispielsweise der
Personalbestand der Oberpostdirektion Köln in folgender Weise ent-
wickelt 2 :
1947 14301
1950 17301
1954 22640

Mit Schwankungen ist, wenn wir bei diesem Beispiel bleiben wollen,
der Prozentsatz der Fälle angestiegen, in denen die Behörde aus irgend-
welchen Gründen Anzeige an die Staatsanwaltschaft unterließ 3 :
Prozentsatz unterlassener Strafanzeigen
bei Delikten des Personals der Oberpostdirektion Köln 1947-1954
1947 31,3
rn~ . 1~5
1949 . 30,9
1950 . 21,8
1951 . 31,2
1952 . 23,6
1953 . 52,0
1954 . 38,8
Unter den Gründen dieser Haltung, die die Zahlen der Kriminal-
statistik um eine nicht geringe Anzahl von Fällen beraubt, stehen Gering-
fügigkeit der Tat und Jugend des Täters obenan 4 • Bei diesem Verzicht
auf Strafverfolgung handelt es sich um einen erheblichen, von dieser
Möglichkeit betroffenen Personenkreis. Im Jahre 1955 waren es 1311332
Personen 5, zum großen Teile wieder Männer.
Hotels sind private Erwerbsunternehmen. Die Sicherheitsorgane
großer amerikanischer Hotels haben über ihre Erfahrungen und Grund-

1 SCHMITZ, JÜRGEN, S.20. - Diese Arbeitsordnung ist Gegenstand einer arbeits-


rechtlichen Vereinbarung zwischen Werk und Arbeitnehmer.
2 NEUHOFF, FRANz-JosEF: Die Kriminalität bei der Deutschen Bundespost im
Bezirk der Oberpostdirektion Köln in den Jahren 1947-1954, S. 8. Bonner Diss. 1957.
3 Ebenda, S. 127.
4 "In einigen Fällen wurde auch mit Rücksicht auf das Elternhaus des Täters
von einer Strafanzeige abgesehen, besonders dann, wenn sich kirchliche Stellen,
in einigen Fällen der Erzbischof von Köln persönlich, hierfür einsetzten." Ebenda,
S. 128. - Bei Beamten ist die "Strafe" der Entlassung nicht möglich. Hier steht
das Disziplinarverfahren offen.
5 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik, 1957, S.438 (vollbeschäftigte
Bedienstete bei Behörden).
86 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

sätze Bericht erstattet. Anzeigen gegen Gäste werden, wenn es irgend


geht, vermieden 1. Hauptsorge ist, daß ein Skandal vermieden wird und
daß der unwillkommene Gast so bald als möglich auszieht. Bei Klepto-
manen stillzuschweigen und einfach einen Posten auf der Rechnung
zu erhöhen, ist praktisch, aber rechtlich weniger gut begründet. Der
Kleptomanin, die sich weigern möchte, ist der Mund verschlossen.
Kühle, geschäftliche Überlegung führt dazu, daß zahlreiche Dieb-
stähle nicht zur Anzeige kommen und alle Zahlen weit hinter der Wirk-
lichkeit zurückbleiben. In amerikanischen Warenhäusern ist es Vor-
schrift und Praxis, den erstmaligen Dieb zu verhören, ein Geständnis
unterschreiben zu lassen und dann wegzuschicken. Kaufmännische
Lehrlinge werden, wenn zwischen den Firmen freundschaftliche Be-
ziehungen bestehen, ohne Weiterungen entlassen 2, sogar in ziemlich
ernsten Fällen. Untersuchungen haben festgestellt, daß "der Rechts-
bruch, meist Diebstahl, unentdeckt bleibt 3, " wenn Lehrlinge in Indu-
striebetrieben und Zechen in der Aktentasche geringwertige Gegen-
stände mitnehmen. "Wird bei einem Lehrling zum ersten Male solch
ein Diebstahl festgestellt, so drohen ihm selten die Entlassung und eine
Strafanzeige ... Da die Lehrlinge in die Familiengemeinschaft des Lehr-
herren aufgenommen wurden, wird auf den Leumund der Eltern, vor
allem des Vaters, Rücksicht genommen 4." Der Autor meint - wahr-
scheinlich nicht zu Unrecht -, daß die geringere "kriminelle Reizbarkeit"
der Industriebevölkerung seines Untersuchungsraums das Dunkelfeld im
Vergleich zu ländlichen Gebieten erweitere.
Bemerkenswert ist, was ein Richter, ÜTTO MEIER, aus den Usancen
vieler Handelsfirmen mitteilt 5. Hier übergeben häufig Kaufleute dem
Käufer eine Ware unter Eigentumsvorbehalt. Bedingung ist, daß jener
sie nicht veräußern oder verpfänden darf. Wird diese Abrede verletzt,
so erhält der Schuldige zunächst Gelegenheit, den unterschlagenen oder

1 COLLANS, DEV: I was a house detective, S. 81, 83, 88, 144. - Präventiv werden
Bilder und Tischlampen angeschafft, die zu groß für den normalen Koffer sind.
Wenn trotzdem Wäsche, Salzfässer oder Badematten mitgenommen werden, so
erscheinen diese Gegenstände ohne weitere Erörterung auf der Hotelrechnung.
Nach den Erfahrungen der Hoteldetektive wird im Herbst und Winter sehr viel
mehr "gemaust". Weibliche Gäste stehlen sehr viel mehr als Männer; vielleicht
beeinflußt sie die Atmosphäre reduzierten Risikos.
2 Siehe die Straflosigkeit eines kriminellen Lehrlings aus wohlliabendem Hause
im Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S. 191ff.
3 Die Kriminalität der Lehrlinge im Berichtsraum Bochum, S. 125. Bonner
Diss.1954.
4 Ebenda, S. 126. - ANToN BLEI (Die Kriminalität der Jungbergleute der Ruhr-
metropole Essen nach dem Zusammenbruch, S. 30. Bonner Diss. 1953) macht auf
die Psychologie des Opfers aufmerksam: "Der Industriearbeiter erledigt Vergehen,
die von seinem Kumpel begangen werden, mit diesem selbst und untereinander."
5 MEIER, OTTO: Dunkelziffer oder Dunkelfeld, S. 81. Bonner Diss. 1956.
Nicht Angezeigte 87

veruntreuten Betrag zurückzugeben oder den vereinbarten Kaufpreis


zu zahlen. Sobald der Täter finanziell zu dieser Leistung fähig ist, wird
"im allgemeinen von einer Anzeige abgesehen." Nahezu durchwegs
erwähnen die Strafakten anfängliche Verhandlungen, die an nichts
weiter interessiert sind als der Schadensdeckung. MEIER kannte eine
Firma elektrischer Geräte, die ihre Fabrikate durch Vertreter in allen
Teilen Deutschlands vertreiben ließ. Ihm war bekannt, daß "ein großer
Teil dieser Vertreter" wegen Unterschlagung hätte angezeigt und be-
straft werden müssen 1. Die Firma nimmt von diesem Schritt Abstand
und gewährt aus verständlichen geschäftlichen Gründen dem gestrauchel-
ten Vertreter Gelegenheit, den Schaden abzuarbeiten; die Schuldigen
müssen dabei zum Teil auf die ihnen zustehende Provision verzichten.
Ähnliche Behandlung wird wahrscheinlich dem Diebstahl zuteil werden,
wenn er im Laufe des Geschäftsgangs sich ereignen sollte 2 •
b) Drei Reihen von überlegungen wirken dämpfend auf das Reak-
tionsbedürfnis eines Opfers: Furcht, Mitleid und Gewinnsucht. Wo immer
in einer Situation genommen wird - es möge Diebstahl, Einbruch oder
Raub sein -, die für Verletzte beschämend oder bedrohlich ist, erscheint
Anzeige als Gefahr und unterbleibt. Darum erfolgen so viele Raub-
überfälle auf Schwarzhändler, Schmuggler, Hehler, Spieler und Bordelle,
werden homosexuelle "Freier" bedenkenlos von Strichjungen bestohlen,
wird der Geldforderung an ältere Ehemänner, die irgendwo im Dunkeln
in Gesellschaft parken, ganz ohne Widerstand entsprochen 3 • Es ist kein
großes Risiko, Spielhöllen und öffentliche Häuser, Pistolen in der Hand,
zu überfallen, und die Inhaberin eines Luxusbordells zeigt nur gesunden
Geschäftssinn, wenn sie selbst die dem Gast gestohlenen Beträge aus
eigener Tasche ersetzt 4. Der Beischlafsdiebstahl, heute häufig Tatort
Auto, wird selten angezeigt, besonders wenn er ohne Beischlaf durch-
zuführen ist. Wie diese Krisen, wenn ein Dummkopf Lärm schlägt, sich
lösen, haben alte Kriminelle selbst beschrieben 5. Die Technik hat sich
immer mehr verfeinert und hat sich ganz vom Raum des Mädchens

1 MEIER, OTTO, S. 82.


2 Pranzini, der mehrfache Mörder, war niemals von den großen Hotels in Neapel,
wo er angestellt war, wegen seiner Delikte angezeigt worden. Auch die Schlafwagen-
Gesellschaft, bei der er auf der Strecke Boulogne-Brindisi die Passagiere bestahl,
bedachte ihn nur mit Entlassung (MAYEN, MAURICE: Don-Juan-assa8sin, S. 86, 87.
Paris 1950). Die Kino-Industrie wünscht jede laute Strafverhandlung zu vermeiden.
Siehe den Fall des William Taylor, der gar nicht Taylor hieß. CRAIG RICE: Los
Angeles murders, S. 97. New York 1947.
3 MARTm: My lije in crime, S. 37; der Räuber meint: "Reiche Leute machen
niemals Schwierigkeiten."
4 ADLER, POLLY: A house is not a home, S.181. New York 1956.

5 BLACK, JACK: You can't win, S.30ff. New York 1926.


88 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

abgelöst, wo man sie ohne weiteres finden könnte. MARTINS Verbrecher


gibt den Vorgang aufs genaueste wieder; Ort, Zeit und Opfer spielen
eine wesentliche Rolle!:
Sie sitzt in einer Bar, kommt mit einem Reisenden ins Gespräch. Man trinkt.
Er lädt sie schließlich auf sein Zimmer ein. Hier trinkt man weiter. Er geht einen
Augenblick hinaus. Sie gießt ihm Chloralhydrat ins Glas. Sie trinken weiter, plötz-
lich ist er schrecklich müde. Wer sich jetzt hinlegt, ist mit einem Schlage weg.
Sie nimmt sein Geld und was sich sonst zu nehmen lohnt, verschwindet, während er
in tiefem Schlafe liegt.
Er findet sie nicht wieder, muß am nächsten Tage weiterfahren ... "Sehr
wenige," sagt der Kriminelle, "zeigen jemals diese Dinge an."
Anzeige wird in vielen anderen Fällen nicht erstattet, weil Furcht vor
größerem Schaden jeden Nachteil überwiegt:
Eine reiche Engiänderin besaß ein überaus kostbares Perlenhalsband. Der
Juwelier entdeckte eines Tages, daß vier der wertvollsten Perlen durch Nach-
ahmungen ersetzt waren. Ein Detektiv erhielt den Auftrag, die Perlen wieder zu
beschaffen.
Er fand heraus, daß der Ehemann in Monte Carlo ein Verhältnis hatte. Bald
hatte er sich mit dem Mädchen angefreundet; sie klagte eines Tages, ihre Mittel
wären knapp. Er bot sich an, den Schmuck beleihen zu lassen, ließ genaue Kopien
anfertigen und kam in kurzem mit dem falschen Schmuck zurück. Die Banken
wollten das Geschäft nicht übernehmen, so sagte er entschuldigend.
Die echten Perlen überreichte er in London, und wegen der zurückgegebenen
falschen wurde niemals eine Klage laut 2 • Was der Detektiv straflos tat und stolz
beschrieb, war ohne Zweifel Unterschlagung und Betrug.
Beim Betrug tritt eine unübersehbare Zahl von Opfern auf, die gar
nicht wissen, daß sie Opfer waren und die aus diesem Grunde außerstande
sind, Anzeige zu erstatten. Wenn, wie es im März 1960 vorgekommen
ist, eine Schwindlerin herumgeht und für den Eucharistischen Kongreß
sammelt und dabei 500 ahnungslose Leute schädigt3, so glaubte jedes
dieser Opfer eine gute Tat zu tun, die irgendwie ihm angeschrieben
werden würde. 499, die den Bogen mit dem Kreuz und dem Spruch sahen:
"Wer anklopft, dem wird aufgetan", erlitten Schaden, fühlten sich da-
gegen nicht geschädigt. In einem "Falle" wurde 499mal nicht angezeigt,
bis einer schließlich den Betrug erkannte. Dabei haben Untersuchungen
festgestellt, daß in 76,5 % aller Betrugsfälle die Anzeige des Geschädigten
den Anlaß zur Strafverfolgung bildete. "Viele Opfer geben sich mit
einem zivilrechtlichen Verfahren auf Ersatz des durch Täuschung ver-
ursachten Schadens zufrieden und zeigen an einer strafrechtlichen Ver-
folgung wenig Interesse 4."

1MARTIN: My life, S. 25.


2MARSHALL, HERBERT: Memoir8 0/ a private detective, S. 98ff. London 1924. -
Privatdetektive leben einesteils von Rechtsbruchtypen, die man nicht anzuzeigen
wagen kann und gegen die man sich ganz ohne Polizei zur Wehr zu setzen sucht.
3 Gerichtsbericht des Münchener Merkurs vom 11. März 1960.
4 RECKEN, H. M. JOSEF: Das Delikt des Betruges, S.16. Bonner Dias. 1957.
Nicht Angezeigte 89

Der Betrüger arbeitet mit den Schwächen der Menschen, mit ihrer
Gewinngier, Eitelkeit, der Heiratssehnsucht alter Mädchen, der ein-
gebildeten Überlegenheit und Menschenkenntnis. Der Superschwindler
geht den reichen Leuten nach. Es ist behauptet worden, daß der Groß-
teil derer, die von Meisterbetrügern hochgenommen wurden, Geschäfts-
leute waren, weil alle ihre Grundinstinkte auf die Verführungskünste
der Betrüger reagieren, den Köder des Gewinnes, den sie bieten, und ihre
Edelsinn und Vornehmheit aus allen Poren von sich gebenden Persön-
lichkeiten. Alle die Menschen, die gerne spekulieren, ja selbst erfahrene
Bankiers erliegen erstaunlich leicht der psychologisch glänzend auf-
gebauten Schwindeltechnik 1 . Aus Gründen des geschäftlichen Prestiges,
dann wieder mit Rücksicht auf die soziale Stellung kann diesen aus-
gesuchten Opfern nichts an einer öffentlichen Verhandlung liegen, die
durch die Zeitungsspalten und den Klatsch des Wohnorts gehen würde.
Die Heiratsschwindler 2, die wir kennen, sind nur die angezeigten
Typen, vielleicht noch solche, die ein dummes Ungefähr zur Strecke
brachte, mag sein ein Schritt der wütenden Verwandten, die selber nicht
vor Gericht erscheinen mußten. Der Schmerz des Geldverlustes steht
bei dem betrogenen Mädchen hinter ihrer tiefen Beschämung zurück und
hindert sie, mit dem Betruge ihre eigene Schwachheit anzuzeigen 3. Es
gibt auch Schwindler für die eine oder andere Liebesnacht. Es ist ein
Trick, sich im Hotelbuch als ein Ehepaar einzutragen oder nur ein
Zimmer zu nehmen. Sie zwingen die bestohlene oder angeborgte Frau,
den Schaden wortlos einzustecken 4.
Wir kennen nur die Meinung der Betrüger, die sich mit großen
Schwindeleien abgegeben haben. Erfahrene Schwindler schätzen, daß
nicht mehr als 5-10% der Opfer sich an die Polizei wenden 5. Die
amerikanische Polizei nimmt an, daß 90 von 100, die betrogen wurden,
von einer Anzeige absehen 6 ; diese Zahlen wollen nicht zu den Schät-
zungen stimmen, die KURT MEYER sich zu eigen macht 7; das Dunkel-
feid besteht nicht nur aus den Delikten, die zur Kenntnis der Polizei
kamen und dann nicht aufgeklärt werden konnten. Immer neue Be-
trugsarten wachsen aus dem Boden und passen sich der Technisierung
unseres Lebens, wechselnden Interessen, jeder Mode unseres Denkens an.
Sie bleiben trotz gespielter Hilfsbereitschaft Wolfsbegier im Schafspelz 8 •
Von selten angezeigten Schwindelmethoden führt WEHNER eine ganze
1 RECKEN, H. M. JOSEF, S. 18. Bonner Diss. 1957.
2 PADOWETZ, MARIANNE: Der Heiratsschwindler, S.72. Wien 1954.
3 MAURER, DAVID W.: The big con, S.106ff. New York 1949.
4 MAURER, S. 110. - Siehe das Kapitel: Das stumme Opfer in meinem Betrug
S.204ff.
5 MAURER, DAVID W.: The big con, S. 132.
6 eISE, P. S. VAN: Fighting the underworld, S.108. Boston 1936.
7 MEYER, S. 48ff. 8 WEHNER, S. 76.
90 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Anzahl an 1: den Ehevermittlungsbetrug, die Nahrungsfälschungen, die


Weinpantschereien, den Schwindel von Wohnbaugesellschaften, die
öffentliche Gelder ihrem Zweck entfremden. Der Wahrsagebetrug
und der Kunstbetrug finden Tausende und aber Tausende von Opfern,
die niemals oder selten sich geschädigt fühlen. An allen Ecken und
Enden geht der Bettelbetrug vor sich, bei dem das Opfer gern die milde
Gabe gibt. Methoden wie die folgende verfehlen ihre Wirkung nicht:
Ein Junge wird mit der Visitenkarte eines Anwalts ausgerüstet, dazu
mit einem Umschlag, der Lavendelblüten enthält. Er geht zum nächsten
Bauernhaus und klingelt. Ihm öffnet eine Frau. Der Junge überreicht
die Karte, und die gerührte Bäuerin liest:
"Ich bin taub und stumm. Ich bin bei einem Straßenbahnunglück unter die
Räder geraten und komme gerade aus dem Krankenhaus. Ich möchte sieben Dollars
zusammenbringen, damit ich nach Hause fahren kann. Bitte nehmen Sie etwas
von dem Lavendel und geben Sie, was Sie mögen."
Die Frauen geben immer, können keine Fragen stellen, weil ja der
Junge taubstumm ist. Anzeige wird kaum je erstattet 2 •
Falschspiel ist eine Spielart des Betruges. Wenn man den Worten
lRWINs 3 glauben darf, hat er sich 30 Jahre lang mit falschem Spiele
durch die Welt geschlagen und nur ganz selten eine Schwierigkeit
gehabt. Der Gangster-Geldmann Arnold Rothstein "fixte", lenkte also
durch Bestechung das größte Fußballwettspiel Amerikas, indem er die
bessere Mannschaft bestechen ließ und auf die wenig guten Spieler Wetten
einging 4. Er steckte ungeheure Summen in die Tasche. In diesem Falle
kam es zur Verhandlung und zum Freispruch, weil wichtige Akten und die
schriftlichen Geständnisse dreier Spieler verschwunden waren. In vielen
anderen Fällen dieses indirekten Falschspiels war er von keinem der Ver-
lierer zur Rechenschaft gezogen worden. Er war zu groß, zu mächtig,
keiner wagte sich an ihn heran. Den niemals von Gesetzen der Gesell-
schaft vor Gericht Gezogenen erreichte die Justiz der Unterwelt.
Wie man ihn niemals hatte packen können, so wurde auch der Mörder
nie gefunden.
Zu Eigentumsdelikten gehören die gefälschten Testamente. Es
kommt nicht selten vor, daß Familien Testamente unterdrücken, die

1 WEHNER, S. 74ff.
2 BLACK, JACK: Youcan't win, S. 69. New York 1926.
a lRWIN, WILL: Oonfessions of a con man, S. 13. New York 1909. - Über die
Atmosphäre der höheren Falschspieler siehe FRIEDLÄNDER, Bd. VII, S. 244ff.
(Klub der Harmlosen) und Bd. X, S.102ff. (Stal1mannprozeß). "Weder der
Falschspieler noch der Betrogene wünschen Öffentlichkeit", sagt einer der er-
fahrensten Beamten von Scotland Yard (PERRIER, J. K.: Orook8 and crime, S. 28.
London 1928).
40 KATSCHER, LEo: The big banlcroll. The life and times of Arnold Rothstein.
S.138. NewYork 1959.
Nicht Angezeigte 91

in ihrem Besitze sind, aber nachteilige Bestimmungen enthalten. Die


Hand des geschwächten Testators wird "geführt", obschon er lange tot
ist. Der amerikanische Staatsanwalt, der unter einem Pseudonym
schrieb, erklärt, mehrere solche Fälle gekannt und sehr viel mehr ver-
mutet zu haben l . Ein Kriminalkommissar berichtet, daß ein Testament
durch den Schreiber eines Anwalts beiseite geschafft wurde, der die
Urkunde errichtet und in einer Schublade aufbewahrt hatte 2. In einem
Mordfalle versuchte der angeklagte Arzt ein Testament zu beseitigen 3,
das zu seinen Gunsten lautete. Es wäre nur eine Urkunde übrig-
geblieben, die allerdings nachteilig war, dafür ihn vom Verdacht
befreite, er habe seine Frau getötet.
Die Unterschlagung haben wir bereits gestreift. Ein guter Kenner der
Verhältnisse schreibt: "Man darf nicht vergessen, daß wahrscheinlich
die Mehrzahl der Unterschlagungsfälle durch Entlassung abgeschlossen
wird, ohne daß es zur Anzeige kommt. Einige Gesellschaften haben
strikte Grundsätze, die keine Strafverfolgung unehrlicher Angestellter
zulassen. Wenn ausnahmsweise Fälle an die Öffentlichkeit kommen, so
wird der Betrag in den Zeitungsberichten herabgesetzt 4 ." Wucherer,
die mit den oberen Gesellschaftsschichten Geschäfte machen, sind gegen
die Verfolgung nahezu immun. Bei der Schilderung des größten Geld-
verleihers und Wucherers Berlins, mit Namen Pariser 5, erklärt VON
TREscKow 6 : "Der Polizei war es wohlbekannt, daß er Wucher-
geschäfte machte, er war aber lange nicht zu fassen, da von seinen
Kunden, die den ersten Gesellschaftskreisen angehörten, aus Scheu vor
einem Prozeß, in dem sie als Zeugen hätten auftreten müssen, keine
Anzeigen erstattet wurden." Dem Opfer ist der Mund geschlossen.
Nur wenn es sprechen kann und will, gerät die Staatsmacht in Be-
wegung.
Die kleinen Zahlen verurteilter Erpresser können nicht darüber hin-
wegtäuschen, daß nur ein winziger Teil der strafbaren Handlungen zur
Anzeige kommt. Verfolgung und gerichtliche Verhandlung, die einen
Schutz bedeuten sollten, sind für die ausgesuchten Opfer tödliche Ge-
fahr. Um eine Schwäche seines Lebens weiter unter Verschluß zu halten
und.größeren Nachteil abzuwenden, entschließt es sich, für Schweigen
zu bezahlen und in den Bund des Schweigens selber einzutreten, da ihm
1 TUTT, EPHRAIM: Yankee lawyer, S. 238. New York 1943.
2 MCWATTERS, G. S.: Knot8 untied, S.578. Hartford 1871.
3 COLLINS, TED: New York murder8, S.165. New York 1944.
4 PETERSON, VERGIL W.: Why honeat people 8teal. J.of crim. law and crimino-
logy, Bd.38, S. 101. - über falsche Verlustangaben siehe Pitaval der Gegen-
wart, Bd. VIII, S. 89 und 90.
S .Am Fenster des Wucherers stand ein Vogelbauer mit einem Dompfaffen,
der das Lied pfüf: "üb' immer Treu und Redlichkeit." v. TRESCKOW, S.71.
6 Ebenda, S. 72.
92 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

der Staat nicht helfen kann und darf. Denn mehr noch als der Täter
steht der belastete Erpreßte vor Gericht. Erpresser ziehen, ohne daß
sie Strafe fürchten müssen, die Buße für verborgene Sünden ein 1.
Dagegen ist kein Kraut gewachsen, weil wichtige Prinzipien des Straf-
verfahrens auf dem Spiele stehen.
Bei den nichtangezeigten Eigentumsdelikten brauchen wir uns nicht
auf die Behauptungen der Täter zu stützen, bei denen stets die Möglich-
keit der Übertreibung besteht. Neben der bloßen Zahl der Straftaten
steht ihre wirtschaftliche Bedeutung, die Summe des Schadens und Un-
glücks, das angerichtet worden ist. Als ein großer Schwindler, "Yellow
Kid" Weil, 70 Jahre alt geworden war, machte er sich über den Spruch
lustig, daß Verbrechen sich nicht bezahlt mache. "Vielleicht", schreibt
cr 2 , "ist etwas dran. Mir aber hat es reichen Lohn gebracht ... Ich
hatte mit einigen der reichsten Männer des Landes zu tun. Sie hatten
eine Menge Geld, aber sie fielen auf meine Projekte herein, weil sie mehr
haben wollten... Die Opfer der Schwindler sind meistens wohlhabend.
Sie können es sich leisten, den Preis für die Lehre zu zahlen, die ihnen der
Schwindler erteilt."
Während viele ganz unentdeckt bleiben, läßt die späte Festnahme in
lange Serien von Delikten hineinblicken, die vorher jahrelang begangen
wurden. Im Juli 1958 wurde der 49jährige Schlachtermeister Roden
aus Düsseldorf verhaftet. Ihm konnten 252 Weidediebstähle nach-
gewiesen werden; er hatte, ein Luxusauto benutzend, 409 Rinder in
fast 5jähriger Diebstahlstätigkeit erbeutet 3. 12 Jahre lang zog der
Scheckfälscher, den SULLIVAN beschrieben hat4, kreuz und quer durch
die Vereinigten Staaten und machte eine Beute, die zwischen 500000
Dollars und einer Million lag. In der Kriminalstatistik ist nur ein Ver-
urteilter zu finden.
c) Die von der Kriminalstatistik gelieferten Zahlen der Körper-
verletzung sind durch die Wirkung des Antragsrechts verdunkelt und
sind von früheren Höhen abgesunken. Niemand wird behaupten wollen,
daß damit die Summe der körperlichen Mißhandlungen oder der Gesund-
heitsbeschädigungen wesentlich zurückgegangen ist. Hier war ein neuer
Paragraph der große Zaubermeister. Noch vor dem ersten Welt-
krieg stand die Körperverletzung an der Spitze aller strafbaren Hand-
lungen vor dem Diebstahl. Von 629374 Aburteilungen wegen Ver-
brechen und Vergehen gegen das Strafgesetzbuch entfielen 113683 auf

Siehe meine Monographie über die Erpressung. 1959.


1
BRANNON, W. T.: "Yellow Kid" Weil, S.296. Chicago 1948.
2
3 EIGENBRODT, 0., in Kriminalistik, S. 273. 1959.
'SULLIVAN, EDwARD S.: True detective, S.31ff. 1957. - Der Mann hatte in
den 12 Jahren Zeit und Gelegenheit gehabt, 300 falsche Namen zu gebrauchen
Nicht Angezeigte 93

die gefährliche Körperverletzung im Jahre 1913 1 ; im Jahre 1936 standen


338312 anderen Fällen nur 19632 wegen der gleichen Straftat Abgeurteilte
gegenüber. Die entsprechenden westdeutschen Zahlen für 1957 waren
365896 und 10278, diesmal Verurteilte 2 ; bei den Aburteilungen sind
die §§ 223-233 StGB, also alle Spielarten der Körperverletzung in
einer einzigen Gruppe zusammengefaßt.
Bei der Untersuchung des Zuhältertums in Mannheim hat VAN DER
LAAN 3 sich mit den Rohheitsdelikten der Zuhälter befaßt. Die Ziffern
schienen einen Rückgang anzudeuten. Dem widerspricht VAN DER LAAN
mit guten Gründen. "Schlägereien mit Zuhältern", so führt er aus,
kommen hauptsächlich unter den ,Kollegen' selbst, gegenüber Wirts-
hausbesuchern und die Zahlung verweigernden Gästen der Prostituierten
vor."
"Sogenannte ,Freier', die einer Dirne erst ihr Entgelt vorzuenthalten versucht
haben und dann verprügelt worden sind, hüten sich aus begreiflichen Gründen,
Anzeige zu erstatten. Von Zuhältern angepöbelte Wirtshausbesucher haben meist
schon von vornherein mit einer derartigen Belästigung gerechnet und nehmen sie
deshalb meist nicht schwer. Außerdem fürchten sie im Fall eines Strafantrags die
Rache, der soweit bekannt, zwar nicht vereinsmäßig zusammengeschlossenen, aber
offensichtlich fest zusammenhaltenden Zuhälter."
"Einen ,Kollegen' kann kein Zuhälter anzeigen, weil diese Leute viel zuviel
voneinander wissen, um nicht selbst ebenso eine Anzeige befürchten zu müssen,
ganz abgesehen davon, daß bei dem Kameradschaftsgeist dieser Leute ein solches
Verhalten kaum denkbar erscheint."
Für den Zuhälter ist die Bereitschaft zu mißhandeln, aber auch Miß-
handlung zu riskieren, eine notwendige Berufshaltung. Wenn die Be-
merkung auch übertrieben ist, daß es seine Pflicht sei, "sein Leben jeder-
zeit für sein Gold in die Schanze zu schlagen" 4, so läßt das Mädchen einen
zaghaften "Zudrucker" , vor dem sie keinen Respekt hat, leicht fallen.
Es ist auch nicht Heldentum, wenn er sich zwischen sein Mädchen und
einen Polizeibeamten wirft und sich damit des Widerstandes gegen
Vollstreckungsbeamte schuldig macht: "In einigen Tagen gibt's Ver-
handlung: 4 Wochen. Aber die Alte ist doch gerettet und die Ein-
nahme sichergestellt 5 ." Die Schläge, die die Zuhälter den Mädchen ver-
abfolgen, reichen weit in das Gebiet der Psychopathologie. Zuhälter,
die nicht zuschlagen können, werden von den Mädchen oft "als dumm
und verrückt" bezeichnet 6.

1Zahlen bei SAUER, WILHELM: Kriminologie, S. 379, 395. Berlin 1950.


2Stat. Jahrbuch 1957, S.105. Wiesbaden 1957.
3 Monatsschrift, Bd. XXIV, S.499.
4 Luz, WALTER: Da8 Verbrechen in der Dar8tellung de8 Verbrecher8, S.147.
Heidelberg 1927.
5 Ebenda, S. 167.
6 Ebenda, S. 150.
94 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Die strafrechtliche Behandlung der Abtreibung, wie sie in den Zahlen


der Kriminalstatistik zum Ausdruck kommt, ist von den jähen Schwan-
kungen der öffentlichen Meinung, dem Herumdoktern des Gesetzgebers!,
großstädtischer und ländlicher Betrachtungsweise und vielen anderen
Faktoren abhängig. Ein fester Standpunkt ist weder von der Wissen-
schaft noch vom Rechtsgefühl der Allgemeinheit erarbeitet worden.
In Westdeutschland lag die Ziffer der Verurteilungen zwischen 2306
im Jahre 1955 2 und 5116 im Jahre 1951. In den Vereinigten Staaten
ist die Zahl der Verurteilungen auf symbolische Minima abgesunken.
Im Südstaat Alabama wurden im Zeitraum 1892-1935 nur 40 Ab-
treibungsfälle strafrechtlich verfolgt, die zu 5 Verurteilungen führten.
Zwischen 1925-1935 verzeichnete Cook County, die Riesenstadt
Chikago also, 39 Strafverfolgungen und 9 Verurteilungen 3 , also weniger
als eine Verurteilung pro Jahr.
Die Abtreibung ist ein medizinischer Eingriff und daher wie die
Leiche, die im Wald aufgefunden wird, Objekt der ärztlichen Beob-
achtung und der Medizinalstatistik, soweit die Quellen der Einsicht nicht
durch die Natur der Dinge getrübt sind. Da eine einigermaßen zuver-
lässige statistische Aufnahme nicht möglich ist, sind wir wieder auf
Schätzungen angewiesen. Sie weichen derart voneinander ab, daß sie die
Ungeklärtheit zu vermehren scheinen. Das einzig sichere Ergebnis ist
die kaum glaubliche Diskrepanz von aufgestellter gesetzlicher Regel
und Nichtdurchführung ihres Anspruchs.
Eine bescheidene Schätzung stellt Chikago seiner einen Verurteilung
im Jahr 8000-10000 Abtreibungen jährlich gegenüber; für die ge-
samten Vereinigten Staaten 680000 4 • KURT MEYER hat Schätzungen
deutscher Frauenärzte genannt, die zwischen 100000 und 1 000000 liegen /)
und mit Kriegen und politischen Katastrophen ansteigen (Tabelle S. 95).
Offensichtlich sind nur vollendete Abtreibungen in Betracht gezogen
worden. MEYERS Meinung 6 , daß die versuchten Abtreibungen weniger
zahlreich seien als die vollendeten, kann ich nicht teilen, auch nicht seine
Schätzung eines Dunkelfeldes von 1 : 100; ich zögere, die sehr viel höhere
Zahl, die mir vorschwebt, zu nennen, weil dafür die Beweise fehlen.

1Siehe MEZGER: Kriminologie, S.47.


2Stat. Jahrbuch 1957, S. 105. - Die Polizeiliche Kriminalstatistik 1957 meldet
für 1957, S. 4, 772 Anzeigen.
3 FROST, JACK, in Amer. J. of criminal law and criminology, S.596. 1938.
, Ebenda, S. 597 und unter diesen Eingriffen 8000 Todesfälle. P ANKOW schätzte
1928, daß in Deutschland jährlich 25000 Frauen an den Folgen einer Abtreibung
sterben. Monatsschrift 1928, S. 614.
5 MEYER, S. 22. - LACASSAGNES Schätzung war 50000 für Paris und 500000
für Frankreich. Monatsschrift, Bd. VIII, S. 645.
8 MEYER, S. 23.
Nicht Angezeigte 95

Ärztliche Schätzung der Abtreibungen


im DeutBchen Reich
Arzt Jahr Zahl der Abtreibungen

BUMM . . . 1912 100000


DÖDERLEIN. 1921 200000-400000 *
SCHÄFFER 1926 400000
MICHELS. 1927 600000-700000 *
KROHNE. 1928 800000
LOBE 1930( ?) 875000
KLEINSCHMIDT 1933 700000
BURGDÖRFER . 1932 300000-1000000
* Geschätzt ist hier die Zahl der "künstlichen Fehlgeburten".

Die versuchte oder vollendete Abtreibung tritt meistens nur als


Nebenprodukt anderer Lebenskrisen an das Licht. ÜTTO MEIER hat
auf die vielen Alimentenprozesse hingewiesen, in denen der Erzeuger des
Kindes Abtreibungsmittel verschafft hat, um materiellen Verpflich-
tungen zu entgehen!. Von WEHNER kommt ein eindrucksvoller Fall,
in dem sich Abtreibung und eine Reihe anderer Delikte mischen: zwei
Liebhaber eines Mädchens, ein Arzt, der die Patientin schwängert und
von dem anderen Liebhaber erpreßt wird; ein Strafverfahren, das mit
den Abtreibungen nichts zu tun hat, läuft wegen Betruges. Es werden
Briefe gefunden. Sie weisen auf einen Arzt hin 2:
"Die Besitzerin der Briefe war erstmals im Jahre 1948 geschwängert worden
und hatte zum Zweck der Schwangerschaftsunterbrechung einen 67jährigen Arzt
in ihrem Wohnort aufgesucht, der auch einen entsprechenden Eingrüf vornahm.
Bei der Nachbehandlung verging sich der Arzt an der Patientin, wurde aber nicht
zur Anzeige gebracht. Die Frau wurde vielmehr Dauerpatientin mit dem Erfolg,
daß sie 1949 und 1951 von dem Arzt geschwängert und die Schwangerschaft jeweils
nach 2-3 Monaten von diesem in der Praxis beseitigt wurde. Durch das Eingreifen
der Eltern des Mädchens ... kam es zum Abbruch der Beziehungen zu dem Arzt.
Der neue Verehrer erhielt jedoch Kenntnis von den früheren Geschehnissen und
erpreßte den Arzt nunmehr laufend zwecks Herausgabe von Bargeld (der Arzt
ist verheiratet und führte ein harmonisches Familienleben).
Ohne die Verhaftung wegen Betruges wären weder die Erpressung noch die
Abtreibungsserie entdeckt worden."
Anzeigen erfolgen aus Gehässigkeit, Indizien ergeben sich aus Anlaß
einer Ermittlungssache wegen Diebstahls 3. Bei einem Selbstmörder
werden Aufzeichnungen gefunden, aus denen sich der Verdacht gewerbs-
mäßiger Abtreibung gegen eine Ärztin ergibt 4 •
1 MEIER, OTTO, S. 101.
2 WEHNER, S. 33 und 34.
3 Ebenda, S. 35.
, Ebenda, S. 34. - Es wiederholt sich hier die Rolle des Selbstmords als Auf-
decker unbekannter Delikte; wir hätten sie schon bei der Unterschlagung nennen
können.
96 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Auch Mordsachen können plötzlich den Schleier entzweireißen, hinter


dem sich eine umfangreiche Praxis der Abtreibung sehr geschickt ver·
borgen hatte 1. Ein "Dr." Wilson war vergiftet worden. Da er ein
liebenswürdiger, lustiger und angenehmer Kerl war, auch wohlhabend,
hatten die Nachbarn sich nicht viel dabei gedacht, wenn elegante Wagen
bei ihm vorfuhren, Damen rasch ausstiegen und die Fenster stets ver·
hängt blieben. Bald nach dem Morde war die Wahrheit nicht zurück.
zuhalten. Dr. Wilson war gar kein Doktor, er hatte eine große Abtrei·
bungspraxis, reiche und berühmte Frauen waren seine Patientinnen.
Von allen Teilen des Landes hatten Ärzte Frauen zu ihm geschickt.
Der Kurpfuscher hatte eine Villa an der Küste, die als Klinik ausgestattet
war. Ein starkes Motorboot erleichterte Zugang und Abfahrt. Die
Kartothek des Mannes, sagt der Bericht, wurde sofort vom Staats·
anwalt beschlagnahmt und unter Verschluß genommen. Zu seinem
Schutze hatte "Dr." Wilson Tausende von Briefen sorgsam aufbewahrt.
Jetzt wo er tot war, klagten sie nur noch die andern an.
Hier, wo wir uns nur mit quantitativen Fragen befassen, können
wir nicht auf die verschiedensten Motive eingehen, unter denen ebenso
"Edelmotive 2 " wie nackte Selbstsucht zu finden sind. Der Fall Fouroux 3
läßt eine solche Verwicklung sehen. Fouroux war Bürgermeister von
Toulon. Seine politische Laufbahn war abgebrochen als die Stadt
erfuhr, daß er die Ehefrau eines Kameraden (der Bürgermeister war
ein alter Marineoffizier) geschwängert hatte und eine Geburt bevor·
stand. Der Prozeß führt in alle Einzelheiten einer Abtreibungspraxis
ein; die technischen Punkte werden errötend vom Berichterstatter
übergangen - aus Achtung, wie er sagt, vor dem Gefühl der Leser, und
weil die ganze Sache unerfreulich sei 4 • .

Da eine Massenbeobachtung nicht möglich ist, die Schätzungen wild


hin· und herschwanken 5, müssen wir uns an Fragmente halten, die sich
schließlich zu einem Mosaik zusammenfügen. Ein erfahrener Beamter
von Scotland Yard war der Abtreibung verdächtig. 116 Frauen be-
lasteten ihn und "neben ihnen gab es Hunderte von anderen 6 ." DE Ry-
KERE' teilt den Fall der Frau T., einer Pariser Hebamme, mit. In den
letzten Monaten hatte sie Briefe von mehr als 400 jungen Frauen

SMITH, EDWARD H.: FamoU8 poiSDn mysteries, S.I50 und 151. New York 1927.
1
WULFFEN: Psychologie des Verbrechens, Bd. II, S.94. Lichterfelde o.D.
2
3 BATAILLE, ALBERT: Oauses criminelles et mondaines de 1891, S. 1-61.
Paris 1892.
4 Ebenda, S. 13.
S Im Gegenteil zu FROSTS Schätzung von 680000 nennen BARNES und TEETERS
(New HorizDns in criminology, S. 48, NewYork 1947) eine Zahl, die zwischen 700000
und 2 Millionen liegt.
6 WENSLEY, F. P., S.278.
7 RYKERE,RAYMOND DE: Lafemme enprisonetdevant lamort, S.171. Lyon 1898.
Nicht Angezeigte 97

erhalten, die sie um ihre Rille baten. Ohne Angst zu verraten, erklärte
die Frau nach ihrer Verhaftung: "Wenn es Ihnen Spaß macht, alle die
Frauen hoppzunehmen, die bei mir durchgegangen sind, dann werden
eure Gefängnisse zu eng sein. Es sind ihrer 4000 und aus allen Ständen.
Das wird einen ordentlichen Skandal geben." Mit 1: 100 ist es also nicht
getan. Und das geschah vor beinahe 70 Jahren. Wir müssen auch die
beste alte Ansicht revidieren.
d) Das häufigste der ernsteren Sittlichkeitsdelikte ist die Kinder-
schändung. Sie war, solange die Reichsstatistik noch ungekürzt war, in
ununterbrochenem Anstieg begriffen. WESSEL 1 sieht in dieser Zunahme
"die Folge erhöhter Verfolgungsintensität der Polizei, die heute (1939),
durch die Bevölkerung stärker unterstützt, dem Sittlichkeitsverbrecher
energischer zu Leibe rückt." Gleich darauf erfahren wir, daß Taten
dadurch am häufigsten entdeckt wurden, daß Kinder sich den Eltern
oder Dritten offenbarten 2 • Es müssen andere tiefere Gründe im Spiel
sein, die verschärfte Auffassung der Rechtsprechung, die den Spielraum
des § 176 I, Abs. 3 StGB auf die Betrachtung des Geschlechtteils und
naturgetreue Abbildungen nackter Geschlechtsorgane ausdehnte, die
zunehmende Inveteration der Bevölkerung, vielleicht auch eine ver-
änderte Haltung der "viertelstarken" Kinder. Je schärfer die Anschau-
ung des Gesetzes geworden ist, um so größer ist die Gefahr, daß die
Eltern über leichtere Zudringlichkeiten hinwegsehen. Oft sind die
Täter Bekannte, Freunde, Mieter. Die Eltern wünschen, daß das Kind
nicht durch Vernehmungen leide, die unvermeidlicherweise den Eindruck
vertiefen müssen. Auch hat OTTO MEIER recht 3 , daß Angeklagte vor
Gericht sich durch Angriffe auf Kind und Eltern zu schützen suchen,
die manche Frage scheuen müssen. Die Hauptform der Befriedigung ist
Berührung und Betastung 4 • Zahllose dieser Vorgänge sind zweideutig,
könnten zur Not harmlos sein. Besonders Versuchshandlungen sind
schwer bestimmbar und kaum sicher abzugrenzen.
Beim Delikt der Kinderschändung 5 kennen, von einer zufälligen Beob-
achtung Dritter abgesehen, nur zwei Personen das Geschehnis: der
Täter und das Kind. Das Kind ist aber scheu und furchtbewegt, neu-
gierig, öfters lüstern, jeder Gelegenheit geneigt, die irgendwie Gewinn
und Vorteil bringt. Als das Verhalten von 1781 Kindern, die mißbraucht
worden waren, untersucht wurde, ergab sich dieses Bild kindlicher
Reaktionen:

1 WESSEL, GERHARD: Das Delikt der KinderschändurI{] im Landgerichtsbezirk


Bonn, S. 12. Düsseldorf 1939.
2 Ebenda, S. 61. 3 MEIER, OTTO, S. 112.
4 WESSEL, S. 17, fand in 80,2% seiner Fälle "Berührung und Betastung."
5 BRANDENBURG, GÜNTER: Die KinderschändurI{]skrimirw,lität im Landgericht8-
bezirk Bochum in den Jahren 1933-1950, S.72. Bonner Dissertation 1952.
v. Hentig, Das Verbrechen I 7
98 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Verhalten Zahl %
der Kinder

Abwehrend. 580 32,6


Passiv. 926 52,0
Entgegenkommend 191 10,7
Aktiv 84 4,7

"Zwei Schülerinnen boten dem 66jährigen Invaliden X in seiner Wohnung Ein-


laßkarten zu einem Elternabend an. Obschon der Alte das Geld gleich zahlte,
hielten sich die Kinder unaufgefordert weiter in der Wohnung auf und führten
unanständige Redensarten. Hierdurch erregt, verdunkelte der Invalide den Raum,
verschloß die Türe, veranlaßte das eine Kind, sich auf das Bett zu legen und ver-
suchte den Beischlaf. Unterdessen saß das andere Kind auf einem Bänkchen da-
neben und las eine illustrierte Zeitschrift. Nachdem der Invalide von der einen
abgelassen hatte, versuchte er die gleiche unzüchtige Handlung an dem andern
Mädchen, was dieses widerspruchslos geschehen ließ 1. "
In zahllosen Fällen 2 verschließen Furcht, Scham, aber auch Gewinn-
sucht dem Kinde den Mund. "Immer wieder kann man in Strafakten
lesen", schreibt ein Richter 3 , "und in der Hauptverhandlung hören, daß
ganze Gruppen von Kindern sich regelmäßig an einen bestimmten Täter
wandten und auf diese Weise ein ihren Bedürfnissen gerecht werdendes
Einkommen erzielten. Im Fall einer Mitteilung hiervon an Lehrer,
Eltern oder sonstige Personen würde diese Einnahmequelle versiegen."
Nicht selten handelt es sich um Verwandte4, Töchter oder Schwestern,
Stieftöchter und Nichten, die mit dem Täter in häuslicher Gemeinschaft
leben, vielleicht in einem Bett schlafen, in einem Zimmer sich ent-
kleidenD. Mitteilung an den Vater steht in der Skala der Anzeigen

1BRANDENBURG, S. 74.
2"Die Tatsache, daß solche Täter monatelang, oft sogar jahrelang ihr Unwesen
treiben können, ohne daß von den Eltern der mißbrauchten Kinder oder von
sonstigen Personen eine Anzeige erstattet wird, zeigt, daß die Dunkelziffer hier
wieder riesiges Ausmaß haben muß." MEIER,OTTO, S. HO.
3 Ebenda, S. HO. MEIER führt folgenden Fall an; es handelt sich um Angaben
des Angeklagten, die im wesentlichen bestätigt wurden: "Seit dem 14. VI. 1953
habe ich mit keinem der Kinder Unzuchtshandlungen vorgenommen. Ich habe mich
nicht mehr mit ihnen eingelassen, obwohl sie fast täglich zu mir kamen und mich
dazu immer wieder aufforderten. Auch habe ich den beiden Mädchen nicht mehr
die Geldbeträge gegeben, weil sie zu oft zu mir kamen und Geld haben wollten.
Das konnte ich geschäftlich nicht mithalten." MEIER, S. 111: " ... Nach einer
weiteren glaubhaften Behauptung des Angeklagten war das eine der beiden Mäd-
chen nach seiner polizeilichen Vernehmung nochmals im Laden ... um sich Geld
abzuholen. Als der Angeklagte es hinauswarf, rief es ihm zu, es würde ihn ,richtig
einweichen'. "
4 Siehe die Zahlen bei WESSEL, S. 55.
5 An diese Fälle hat das Reichsgericht nicht gedacht, wenn es schon das Hin-
sehen nach dem entblößten Organ als Willensbeeinflussung und Duldung einer
unzüchtigen Handlung im Sinne des § 176 I, Ziff. 3, StGB, erklärte.
Nicht Angezeigte 99

an der Spitze, und gerade hier ist es der Vater, der so oft die Tat
verübt. An wohlgemeintem väterlichen Ratschlag fehlt es nicht!.
Was auch geschieht, es ist zu ihrem Besten.
Sowie Berührung und Betastung, ja Sehenlassen Tatbestandsmerk-
male eines Verbrechens werden, tritt das Problem der körperlichen Nähe
in den Vordergrund. Der Taschendieb oder der Zopfabschneider sucht
räumliche Enge auf; dem Kinde, selbst dem Täter, wird sie oftmals auf-
gedrängt. Am.ERT 2 hat auf die Wohnungsnot und das Flüchtlingselend
hingewiesen. In Mietskasernen ist der Keller, der Dachboden, der Abort
gemeinsam. Es ist typische Städtermeinung, wenn gesagt wird, daß die
sexuellen Reize in der Stadt stärker auf das Kind einstürmen als auf dem
Lande. Das Land mit der Fülle seiner offen ablaufenden Vorgänge,
seiner Armut an wechselnden Eindrücken, seinen massiven, stets im
Erotischen endenden Festen hält, glaube ich, stärkere Reize bereit als
Kinoplakate und die Verbrechenspalte der Zeitungen. Hier ist der Kuh-
stall, wo es warm und weich ist, und Nacht und auch der frühe Morgen
locken; die Scheune und der nahe Wald. Hier ist dem Manne, dem es
oft nicht möglich ist, sich einem anderen weiblichen Wesen zu nähern,
wenn die Frau infolge Krankheit, Alter oder überdruß versagen sollte,
freie Bahn gegeben. Treten Nähe, "Abwesenheit" der Frau und Alkohol-
genuß zusammen, vielleicht auch die ersten Anzeichen einer senilen
Veränderung, so kommt es leicht zu dem Verbrechen. Selbst die Be-
rührung durch die unverrückte Kleidung ist schon Kinderschändung,
obschon die Grenze zwischen bloßer Zärtlichkeit und wollüstiger Ab-
sicht verschwommen hin- und herläuft und Sinneslust des anderen aus der
bloßen Zärtlichkeit entstehen kann. Wir streicheln Hunde, Katzen auf
dem Rücken und am Halse, wir schlagen schönen Pferden klatschend auf
die Kruppe und sind von jeder "Wollust" fern. Wir sehen im familiären
Kreise das Ausbleiben jeder Liebkosung als bedenkliches Symptom an.
So ist die ganze Frage voller Schwierigkeiten, und auch die hohe Strafe
hat auch in ernsten Fällen berechtigte richterliche Zurückhaltung zur
Folge.
Wir haben es erlebt, wie sexuell ausgehungerte Soldaten und be-
freite Gefangene, Bewaffnete an Wehrlosen Massennotzucht begangen
haben 3 und wie es nur einer leichten Lockerung des Zwanges bedarf, die

1 Im Mordfall Malmström, der seine drei Töchter verführt hatte, machte ihnen
der Vater klar, sie müßten schon in jedem Fall "beizeiten lernen ... wie Frauen
schwanger werden, um nicht späterhin, wenn sie allein ins Leben losgelassen sein
würden, aus Unerfahrenheit übelgesinnten Menschen zum Opfer zu fallen." BJERRE,
ANDRES: Zur P8ychologie de8 Morde8, S. 131. Heidelberg 1925.
2 Erwähnt von WEHNER, S. 48.
3 BADER, KARL S.: Soziologie der deut8chen Nachkrieg8kriminalität, S. 63ff.
und 168ff.
7*
100 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

alten "Raub"-Gelüste wieder zu erwecken. Als in einem amerikanischen


Zuchthaus eine Revolte ausbrach und die Zuchthäusler einen ganzen
Zellblock in ihre Macht bekommen hatten, bildeten sich Wolfpacks von
Homosexuellen, die über die jüngeren Gefangenen herfielen. "Eine
Orgie begann!." Die moderne Kriegsführung zerfällt in den Bomben-
krieg und den Straßenkampf, in dem wir unsere Jugend unterrichten.
Im Sturm muß jedes Haus genommen werden. Krieg ist Gewalt, und
Notzucht eine Form der Unterwerfung, wenn endlos lange Kriege auf die
späte Beute warten ließen.
Auch bei der Notzucht sehen wir der Anzeige ein kaum übersehbares
Dunkelfeld vorgelagert. Es ist schon bei den Zahlen der Kriminal-
statistik deutlich zu erkennen, wenn im Kriege, mit seiner Männer-
abwesenheit und seinem Männermangel, die Verurteilungsziffern tief
sinken und bei gebesserter Wirtschaftslage der Friedenszeit ansteigen,
weil die Erledigung mit Geld nicht mehr die alte Rolle spielt. Die
allerverschiedensten Situationen sind ein und derselben Bestimmung
subsumiert; beim Opfer kommt es weder auf Alter noch Ruf an,
auch nicht auf jene Zustände, bei denen eine größere Geneigtheit des
Opfers besteht, ob die "Frauensperson" des Gesetzes ein junges,
unberührtes Mädchen, eine Witwe oder eine geschiedene Frau ist. Die
Mindeststrafe ist und bleibt ein halbes Jahr Gefängnis. Die Obergrenze
ist allerdings hoch genug, um den schwersten und zweifellosesten Fall
der Gewalt, die Mitwirkung mehrerer zu ahnden. Diese Modalität
ist besonders bei jugendlichen Banden häufig. Der eine nötigt, der
andere wohnt bei, und so geht es die Reihe um. Der Massenbeischlaf
sucht an Rohheit seinesgleichen, ist physiologisch ein besonders
schweres Trauma, erniedrigt seelisch und verwischt die Vaterschaft
(§ 1717 I, BGB).
Die allerverschiedensten Erwägungen können das Opfer bewegen,
keine Anzeige zu erstatten: Mitleid 2 , Furcht, Täuschung, Gewinnsucht,
in schlechten Zeiten eine gute Stellung. Obschon das Opfer sich nichts
vorzuwerfen hat, so gleicht doch seine Lage halbwegs der des Erpreßten:
es muß die Verhandlung fürchten, sein Ungemach der Öffentlichkeit preis-
geben und seine Heiratschancen damit mindern. So schwere Strafe auch
den Täter treffen mag, es leidet mit, wird deshalb schweigen, wenn es
irgend geht. Als eine Bande junger Burschen, die an verschiedenen Orten
drei Jahre hindurch Notzuchtsakte begangen hatten, geständig waren
und die Polizei die geschädigten Mädchen bat, sich zu melden, die An-
gaben würden vertraulich behandelt, sie würden nur mit Beamtinnen

1 MARTIN, J. B.: Break down the walls, S. 86. New York 1954.
2 SCHULZ, GÜNTER: Die Notzucht. Täter, Opfer, Situationen, S. 106ff., Bonner
Diss.1956.
Nicht Angezeigte 101

der weiblichen Polizei zu tun haben, meldete sich kein einziges der zahl-
reichen Opfer 1.
Bei einer Notzucht müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Es
muß Gewalt angewendet oder eine schwere Drohung ausgesprochen und
der Beischlaf vollzogen sein. Der Druck auf den Willen muß zu Beginn
des sexuellen Aktes erfolgen oder wirksam sein; was hinterher geschieht,
zählt nicht, denn die Reflexe rollen automatisch ab und sagen ja, trotz
allen äußeren Widerstrebens, sowenig wie die spätere Verzeihung zählt.
Aber ob Anzeige erstattet wird, zählt. Hier kann das Opfer ein weit-
reichendes Begnadigungsrecht ausüben. Hier kann bezahlt, gedroht,
Mitleid erregt, einfach verziehen, in Fällen schwer gehemmter und ver-
klemmter Art sogar gedankt werden. Gar manche Frau hat sich ins
unverhoffte Glück hineingesträubt.
STUMPFL hält das Dunkelfeld bei der Notzucht im Vergleich zu
anderen Sittlichkeitsverbrechen für verhältnismäßig klein 2. Ein solcher
Irrtum drängt sich leicht dem Forscher auf, der mit Gefängnisakten und
Verurteilten arbeitet. Doch sie sind nur ein winziger Teil der kriminellen
Wirklichkeit.
MEYER 3 war geneigt, 1941 die Zahl der Homosexuellen im ganzen
Deutschen Reich auf 500000 anzusetzen, MAGNUS HIRSCHFELDs Be-
rechnung kam auf 1493298 Homosexuelle. Der Wolfenden-Report 4 be-
trachtet eine schwedische Untersuchung skeptisch, wonach ein Prozent
der männlichen Bevölkerung homosexuell sei, dagegen vier Prozent
mit homosexuellen wie heterosexuellen Impulsen ausgestattet wären.
MEYER will 20, vielleicht 50 homosexuelle Akte pro Homosexuellen in
Ansatz bringen 5. Auch diese Schätzung scheint mir in der Luft zu
hängen. In allen Ländern herrscht übereinstimmung, daß die Straf-
bestimmung praktisch illusorisch ist 6 • In Amerika werden Strichjungen
häufig wegen groben Unfugs in Strafe genommen 7 • Vergebens schlägt
man diese Fälle an dem richtigen Orte nach. Wer Zahlen sucht, wird sie
in einer früheren Studie finden 8 •

1 WEHNER, S.46. WEHNER fügt einsichtig hinzu: "Wenn schon Frauen, die
von einer ganzen Gruppe überwältigt und zum Geschlechtsverkehr gezwungen
werden, keine Anzeige erstatten, um wie viel weniger werden sie '" bereit sein, wenn
sie nur von einem Mann überwältigt worden sind."
2 Erwähnt von MEZGER, S. 53. 3 MEYER, S.27.
4Beport 0/ the Committee on homosexual o//enses and prostitution, S. 18.
London 1957.
5 MEYER, S. 27.
6 KARPMAN, BEN: The individual criminal, S.112 ohne Datum und Verlagsort;
EAST NORWOOD: Society and the criminal, S. 111. London 1949.
7 LICHTENSTEIN, PERRY M.: A doctor studies crime, S. 108 und 109. New
York 1934.
8 Die Kriminalität de8 homophilen Manne8, S. 15ff. Heidelberg 1960.
102 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

WEHNER1 weist auf den Fall eines 25jährigen Jugenderziehers hin,


der eines Verbrechens gegen § 175 a StGB angeklagt war und dem weitere
14 Fälle nachgewiesen wurden. Er stellt die Frage: Waren es nur
14 Fälle 1 Die Antwort, nicht für diesen Fall, ganz allgemein, kommt
aus der wissenschaftlichen Literatur. KRAFFT-EBING berichtet von einem
Arzt, der mit mehr als 600 Männern sexuell verkehrte, MOLL kannte
ärztlich einen anderen Herrn, der 965 männliche Liebhaber zählte 2.
Muß die Statistik nicht bestürzt erblassen 1
Wahrscheinlich machen Geistesarbeiter sich keinen Begriff von dem
Ausmaß sexueller Appetenz und sind zu Schätzungen auf diesem Gebiet
besonders ungeeignet. Wir hören von zuverlässiger Seite 3, daß ein
wegen Inzests Verurteilter 15 Jahre lang wöchentlich zweimal mit der
zweitältesten Tochter den Beischlaf vollzog. Ein anderer Mann war
geschlechtlich so unersättlich, daß er es nicht aushalten konnte, als seine
Frau einmal verreist war. Er rief sie telegraphisch zurück und gebrauchte
sie am Tag der Rückkehr 14mal'.
e) Wichtigste Grundlage des Beweises ist im Strafverfahren die Aus-
sage von Zeugen. Von den gesetzlich bestimmten Ausnahmen abge-
sehen, ist in Deutschland jeder Zeuge zu vereidigen (§ 59 StPO). Vor
50 Jahren sind für das Deutsche Reich mit einer Einwohnerzahl von
55345014 im ganzen 1604794 vernommene und vereidigte Zeugen be-
rechnet worden 5. Es wird von dem damaligen Mitglied der Staats-
anwaltschaft geschätzt, daß jährlich rund 41700 Meineide geleistet
werdens, während die Zahl der Verurteilungen im Jahre 1902 auf 631
kam. In einer späteren Mitteilung wurde darauf hingewiesen, daß
KLoss die Meineide im Zivilverfahren und die falschen Parteieide, dar-
unter die Offenbarungseide noch nicht in Ansatz gebracht hatte, die
besonders unzuverlässig sind 7. Von genau der gleichen Erfahrung hat ein
bekannter amerikanischer Staatsanwalt gesprochen: "Meineid", schreibt
ers, "ist entschieden im Anstieg. Es wird vor den Strafgerichten kaum
ein Fall verhandelt, in dem er nicht mehr oder weniger deutlich sich
breit macht."
Zu den häufigsten Verstößen gegen ein strafrechtliches Nebengesetz
gehören Vergehen gegen das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungs-
1 WEHNER, S.53.
2 Berichtet von BENNO J. STOKVIS nach WACHENFELD in Monatsschrift,
Bd. XXXV, S. 745.
3 FINKE und ZEUGNER: Monatsschrift, Bd. XXV, S.309.
'LEPPMANN, F.: Der Sittlickkeit8'IJerbrecher, Vierteljahresschr. für gerichtliche
Medizin, Bd. XXIX, 3. Folge, S. 34.
i KLOSS, ALFRED: Eine Zählung der Zeugenmeineide im Strafprouß. Monats-
schrift, Bd. H, S. 667.
8 Ebenda, S. 673. 7 Ebenda, Bd. XIX, S. 623.
8 WELLMAN, FRANCIs L.: The art 0/ cr088·examination, S.53. New York 1936.
Nicht Angezeigte 103

mitteln vom 10. Dezember 1929, in den Vereinigten Staaten gegen den
Harrison Anti-Narcotics-Act vom 1. März 1915. Hier wie beim Meineid
wird die Straftat innerhalb einer geschlossenen Gruppe begangen, deren
Umfang nicht bekannt ist, die aber in den Vereinigten Staaten auf
100000-4000000 Rauschgiftsüchtige geschätzt wird 1 • Nach dem
deutschen Opiumgesetz § IV (1) bedürfen Ärzte, Zahnärzte und Tier-
ärzte keines Bezugscheins zur Veräußerung oder Abgabe der narko-
tischen Stoffe und Zubereitungen. Schon hier beginnen Schwierigkeiten.
Erfahrene Psychiater haben aus ihnen kein Hehl gemacht: "Sehr
schwierig, ja fast unmöglich", schreibt lLBERG 2, "ist es heutzutage,
morphinistischen Ärzten das für sie besonders verhängnisvolle Medi-
kament unzugänglich zu machen, und leider besteht die Morphinisten-
gemeinde vielfach aus Ärzten, wie sie sich ja bekanntlich auch aus Apo-
thekern, Chemikern und unterem Sanitätspersonal zusammensetzt ...
Beklagenswerterweise haben ... morphinistische Ärzte die Gewohnheit,
ihren Patienten viel öfter Morphium zu verordnen als es nötig ist ...
Unter den Morphinistinnen befinden sich vielfach Frauen von Ärzten."
Die umfangreiche Kriminalität, die sich an Rauschgiftsucht anschließt
(Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Urkundenfälschung) wird von
den zahlreichen Vergehen gegen das Opiumgesetz in den Schatten ge-
stellt, die nur selten entdeckt werden 3. Der Süchtige ist gegen die
übliche Verdünnung des teuren Medikaments hilflos. Er kann nicht zur
Polizei gehen, wenn ihm statt des Morphiums oder Heroins heimlich eine
Kapsel mit Backpulver zugesteckt wurde.
Den zahllosen Fällen, in denen die Polizei nicht benachrichtigt wird,
ein Strafverfahren also nicht anlaufen kann, stehen falsche Anzeigen
gegenüber. An Stelle der Verdunkelung tritt die übermäßige Belichtung.
Notzuchtsanzeigen, ganz besonders bei versuchtem Eingriff, können
falsch sein, aus Haß und Rache, zur Verdeckung eigener Fehler unter-
nommen werden 4. Schwachsinnige Opfer finden öfters keinen Glauben 5,
in manchen Fällen nicht zu Unrecht. Hysterische erfinden oder über-

1 ELLIOTT, M.rnEL A.: Crime in modern 8OCiety, 8.173. New York 1952. -
Festnahmen wegen Verletzung des Harrison Acts betrugen 1950 8539 Fälle.
2ILBERG, GEORG: MO'l'pkiniBmUB und UrkundenfäLBckung, Monatsschrift,
Bd. IV, 8. 441.
3 Wie WEHNER (a. a. 0., S. 79) mitteilt, stahl ein morphiumsüchtiger Akademiker
einem Düsseldorfer Arzt Rezeptformulare. Ihm wurden 470 Rezeptfälschungen
nachgewiesen. - Amerikanische Beamte versahen die 38jährige Laura MilIer, eine
Prostituierte, mit Rauschgilten, damit sie ihre Tätigkeit als Polizeiagentin fort-
setzen konnte. - FRANK, JEROME, und BARBARA FRANK: Not guilty, 8.100.
New York: 1957.
, Fälle solcher wahrscheinlich unbegründeter Anzeigen finden sich bei SOHULZ,
8.112H.
5 Ebenda, S. 116.
104 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

treiben, obwohl auch an ihnen Notzucht begangen sein kann. Von


Prostituierten wird im Wechselstrom von Eifersucht und Liebe an-
gezeigt und ohne Rücksicht auf die eigene Bestrafung widerrufeni.
Nimmt sie zurück und leistet sie den Eid, so nimmt sie eine falsche
Selbstanzeige vor.
Bezichtigung seiner selbst kann auf der anderen Seite wahr sein, aber
keinen Glauben finden. Ein Mörder stellte sich drei Jahre nach der Tat.
Der Richter wies ihn als einen jener häufigen Besucher ab, die in der
schlechten Zeit von 1930 durch Selbstanzeige Wohnung und Ver-
pflegung sich erbetteln wollten. Der Täter ließ sich durch das schroffste
Abweisen nicht wegschicken, bis man ihm schließlich glaubte. - Ein
anderer gestand nach 23 Jahren einen Mord. Man riet ihm, unbesorgt zu
sein, der Mord sei längst geklärt, ein Massenmörder habe ihn gestanden.
Er wollte nichts von seiner Unschuld wissen. Man forschte weiter,
schließlich kam ans Licht, daß er der Täter war und jener, der schon
lange im Grabe lag, falsch gestanden hatte 2 •
Dieses abgedunkelte Gebiet verdient Erwähnung, weil ein Geständnis
mit der Rechtskraft kollidieren kann, mit unbezweifeiten alten Gut-
achten, die wir nur ungern anzurühren wagen. Kurz ehe er gehängt
wurde, gestand der Hausierer John Howison im Jahre 1832, daß er
sechs weitere Morde begangen habe. Man wollte, wie es heißt, dem Ein-
geständnis nicht recht glauben 3. In einem anderen Fall aus dem Jahre
1862 4 sah man "mit Skepsis" auf die Selbstbeschuldigung. Dagegen fand
ein Imbeziller, Stausberg, im Falle Kürten mit dem falschen Eingeständ-
nis eine Zeitlang Glauben bei Presse, Publikum und Polizei 5 •

3. Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten


a) Erst mit der Anzeige oder dem Antrag auf Strafverfolgung tritt das
Delikt in den Bereich der Zählbarkeiten ein. Es wird geprüft, ob dem
Staat ein Strafanspruch erwachsen ist und ob der Strafverfolgung kein
Hindernis im Wege steht. Kommt das Gericht zu der Entscheidung, daß
das Hauptverfahren nicht zu eröffnen sei (§ 204 StPO), so bricht die
Linie der Bemühung ab. Schon vorher - und das ist der Hauptfall -
kann bereits die Staatsanwaltschaft zu der Feststellung gelangen, daß
für die Erhebung der Anklage kein ausreichender Anlaß vorliegt und das
1 In der Verhandlung erklärte der Kindermörder Berger: "Die Liebetrauth hat
mich aber mindestens 30mal wegen Zuhälterei angezeigt ... .Als ich 1898 angeklagt
war, da hat die Liebetrauth beschworen, daß alle ihre Angaben unwahr seien. Ich
wurde deshalb freigesprochen." FRIEDLÄNDER, Bd. VI, S. 35.
2 WATTLER. a. a. 0., S.65-67.
3 TOD, T. M.: The Beat8 Black Calender, S.45. Perth 1938.
4 Ebenda, S. 77.
ö STEINER, 0., und W. GAY: Der Fall Kürten, S. 32. Hamburg a. D.
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 105

Verfahren damit einzustellen ist (§ 170 II StPO). Nur Einzelunter-


suchungen dringen in die initiale Prozeßphase ein, bei der die öffentliche
Klage vorbereitet wird, der Ausgang sei bejahend oder negativ.
Dagegen nimmt die Polizeistatistik mit der Anzeige ihren Anfang.
Sie zählt die angezeigten Fälle auf und schließt sie dann mit einem Modus
ab, der zwar ihren praktischen Interessen entspricht, dem Strafverfahren
aber unbekannt ist. Die Polizeistatistik führt die "aufgeklärten" Fälle
ein. Der Ausdruck wird nicht näher definiert. Nur hören wir ganz neben-
bei 1, daß nach den Regem polizeilicher Statistik auch die Delikte als
"aufgeklärt" gelten, "deren Täter zwar ermittelt, aber noch nicht fest-
genommen sind", auch soll der Selbstmord eines Individuums, dem man
mit guten oder weniger guten Gründen die Täterschaft zuschreibt, den
aufgeklärten Fällen zugerechnet werden.
So kommt die Polizeistatistik zu dem folgenden Ergebnis 2 :
Aufklärungsrate angezeigter Fälle 1957
Mord, Totschlag 3 87,12%
Abtreibung . . . . . . . . . . . 88,94%
Notzucht . . . . . . . . . . . . 68,84%
Unzüchtige Handlungen an Kindern 82,51 %
Raub, räuberische Erpressung 56,79%
Betrug . . . . . . . 93,42%
Rauschgiftdelikte . . 87,53%
Einfacher Diebstahl . 38,20%
Schwerer Diebstahl . 37,27%
Taschendiebstahl . . 30,54%
Begünstigung, Hehlerei 100,00%
Homosexuelle Unzucht 92,69%
Nachdem wir den Versuch unternommen haben, die unbekannten
und die nicht angezeigten Delikte in großen Zügen zu erfassen, treten
zum ersten Male, schriftlich aufgezeichnet, die "bekanntgewordenen 4"
Straftaten vor uns hin, jetzt schon verbunden mit der Schätzung des
Erfolges, bei dem nur der Jurist das Endurteil zu sprechen hat.
Anzeigen, die "polizeilich geklärt" sind, können sich als begründet
oder grundlos herausstellen, wie wir gesehen haben. Daneben gibt es
Kombinationen, bei denen Täter und Opfer einmütig zusammenarbeiten
und der Verletzte anderswo im Hintergrund zu suchen ist. Im ameri-
kanischen Rotwelsch gibt es den Ausdruck "consent job"; es handelt sich
um ein Delikt, in das das "Opfer" selbst verwickelt ist. Die Wendung wird
als Diebstahl oder Brandstiftung erläutert, die der "Geschädigte" ver-
1 MEYER, S. 15.
2 Polizeiliche Kriminalstatistik für die Bundesrepublik Deutschland 1957, S. 39.
3 Ein solches Amalgam ist statistisch anfechtbar und nimmt der Sammelzahl
den wissenschaftlichen Wert.
4 Die Termini wechseln. S. 38 der Statistik spricht von "polizeilich aufge-
klärten" Straftaten, S.40 von "von der Polizei als Täter festgestellten Personen."
106 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

anlaßt!, z.B. läßt er sich sein Auto stehlen, für das die Versicherungs-
gesellschaftZahlung leisten muß. Banküberfälle sind beschrieben worden,
die der Direktor arrangiert hatte, weil er Unterschlagungen verdecken
wollte 2. Privatdetektive, haben Diebstähle in Warenhäusern fingiert,
um ihre Stellung zu befestigen 3. Die Selbstanzeigen haben wir bereits
berührt. Sie schwellen manchmal zur Lawine an 4 •
Die "Klärung" hängt oft von medizinischen und anderen Vorfragen
ab, die für die Polizei maßgebend sind. Im Falle Beckert hielt man zu-
erst die Leiche des Ermordeten für die des Mörders. Der Irrtum hatte
anfangs nicht nur polizeiliche, sondern auch diplomatische Folgen 6:
"Es fand ein Staatsbegräbnis statt. Der Präsident der Republik - der Fall
spielte in Santiago, Chile - ließ sich durch einen Adjutanten vertreten. Der Mi-
nister des Äußeren kam persönlich, desgleichen das diplomatische Korps. Obschon
sich später herausstellte, daß der Geehrte ein Chilene war, war die deutsche Kolonie
durch zahlreiche Leidtragende vertreten. Als die Leiche zur letzten Ruhestätte
geleitet wurde, ergriffen der Minister und die chilenischen Beamten die Sargschnüre,
um den Toten zu ehren. Der deutsche Gesandte sprach einige Abschiedsworte.
Unter dem Klang eines deutschen Liedes senkte sich der Sarg in die Gruft'."
MEYER 6 und ROESNER 7 fassen die Phasen, die wir weiter aufteilen,
zur "Dunkelziffer" zusammen. Ich glaube, daß wir mit unserer Vier-
teilung tiefer in das Dunkel des Größenbildes eindringen können. Beim
unbekannten Kriminellen und bei den Tätern, die niemals angezeigt
wurden, sind wir auf Indizien 8, Einzeltatsachen und Schlußfolgerungen
angewiesen. Dagegen lichtet sich der Nebel, betreten wir den festen Boden
zahlenmäßiger Gegebenheiten, wenn einmal ein Delikt gemeldet worden
ist. Sein Schicksal läßt sich jetzt verfolgen, bis aus dem Angezeigten
der Angeklagte wird oder der Staat es ablehnt, ihn als Delinquenten an-
zusehen. Er scheidet aus. Er existiert nicht mehr, soweit es sich um
die Betrachtung des Verbrechens handelt. Wenn er in Wirklichkeit
auch hundertmal ein Krimineller war und ist, wir legen ihn mit allem
Drum und Dran zur Seite.
Noch ist das Wissen über Zahl und Typus der Delikte, die zwischen
Anzeige und Anklage auf der Strecke bleiben, lückenhaft. Noch wird
lIRWIN: American tramp and underground 8lang, S. 54. New York 1931.
2 COOPER, C. R.: Ten thouBand puhlic enemie8, S.43ff. Boston 1935.
3 The prOfe88ional thief, ed. Sutherland, S. 128. Chicago 1937.
4 "Dann kamen nach und nach 200 Personen, die sich bei der Polizei als der
gesuchte Mörder selbst stellten ... Vielen von ihnen mußte geradezu nachgewiesen
werden, daß sie als Mörder leider nicht in Frage kämen." STEINER-GAY, S. 31.
5 Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 111.
6 MEYER, S. 19.
7 Beitrag: Kriminal8tati8tik im Handwörterbuch der Kriminalwissenschaft,
Bd.lI, S.27ff. Berlin 1932. WEHNER kommt mit den drei Gruppen seiner Latenz
meiner Unterscheidung am nächsten (S. 14).
8 Die ernste wissenschaftliche Forschung sollte sich bemühen, Indizien mehr
und mehr in schlüssige Beweise zu verwandeln.
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 107

aus Gründen, die nicht überzeugen, von einer Durchsicht der Ermittlungs-
akten abgesehen. Doch gehen andere Studien an der Problematik nicht
vorbei. So nennt eine Untersuchung über § 183 StGB - Exhibitionismus
in 95 % der Fälle - diese Zahlen 1 :
EinBtellung der StaatsanwaUschaft im Vorverfahren 1946-1956
Verfahren insgesamt . . . . . 354 = 100%
Einstellung im Vorverfahren . . 253 = 71 %
In den 7 Jahren 1947-1953 schwankte die Zahl der eingestellten
Verlahren wegen Betrugs zwischen 60 und 69 % 2:
Betrugsverfahren, durch Staatsanwalt und Amtsanwalt eingestellt
1947 69,4%
1948 66,9%
1949 60,8%
1950 67,0%
1951 63,8%
Bedeutsam ist die Frage nach den Gründen der Einstellung:
Beendigungsgründe des Vorverfahrens 3
Auf 100 Einstellungen entfielen solche
gemäß § 170 H StPO . . . . . . 89,9%
gemäß § 153 I, H, 154 I, 30 JGG . 4,2%
wegen Tod, Geisteskrankheit. . . 0,6%
Beendigung anderer Art'. . . . . 6,0%
Aus den Registern der Staatsanwaltschaft konnte festgestellt werden 5,
daß auf 594 durchgeführte Strafverlahren gemäß § 176 I, Nr. 3 StGB
1258 Einstellungen kamen. Im Vorverlahren gingen also 67 % aller
angezeigten Fälle verloren. Sie blieben "ungeklärt"; hinzuzufügen wäre
noch die Zahl der freigesprochenen Personen.
In einer älteren Mitteilung 6 wurden von 263 gemeldeten unzüchtigen
Handlungen an Kindern unter 14 Jahren:
Keine Anklage erhoben . . . . . . . . . . . in 140 Fällen = 53,7%
Die Hauptverhandlung durchgeführt . . . . . in 33 Fällen = 12,5 %
Wurde das Verfahren noch nicht abgeschlossen? in 90 Fällen = 30,8%
1 BECK, WOLFGANG: Die Delikte des § 183 StGB im Landgerichtsbezirk ArnBberg,
S. 13. Bonner Diss. 1960; siehe auch die Bemerkung über 51 ausgeschiedene
Vorverfahren.
2 RECKEN, H. M. J OSEPH: Das Delikt des Betruges im Landgerichtsbezirk Krefeld
in den Jahren 1945-1951. Bonner Diss. 1957, S. 20.
3 Ebenda, S. 226.
'Zum Beispiel Abgabe an eine andere Behörde, Verbindung mit einer anderen
Sache, Zurücknahme des Strafantrags.
5 WESSEL, GERHARD: Das Delikt der Kinder8chiindung im Landgerichtsbezirk
Bonn, S. 78, Bonner Dias. 1939.
6 Monatsschrift, Bd. XXI, S. 691.
7 Diese Kategorie fehlt in der deutschen Polizeistatistik. Unmöglich kann die
Klärung aller in einem Jahr, besonders gegen Ende gemeldeten Fälle im gleichen
Jahr erfolgen, so daß eine Relation berechnet werden könnte.
108 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Warum wurde Anklage nicht erhoben?


Keine strafbare Handlung lag vor l • . . . . in 40 Fällen
Anzeige gegen Strafunmündige lag vor . . . in 14 Fällen
Einstellung durch den Staatsanwalt wurde verfügt . in 106 Fällen
In 106 Fällen verfügte die Staatsanwaltschaft die Einstellung; sie
wurde wie folgt begründet:
a) in 47 Fällen mangels Beweises
b) in 31 Fällen mangels Tatverdachts
c) in 10 Fällen gemäß § 51 StGB
d) in 4 Fällen wegen Unglaubwürdigkeit der Zeugin
e) in 4 Fällen mangels Einsicht gemäß § 3 JGG
f) in 3 Fällen, da der Beschuldigte im Ausland ist
g) in 3 Fällen, da nur Vorbereitungshandlungen
h) in 2 Fällen gemäß § 52 StPO (Gebrauch des Zeugnisverweigerungsrechts)
i) in 1 Fall, da Beschuldigter verstorben
k) in 1 Fall unter Verweisung auf Privatklage.

Das übergewicht der tatsächlichen Gründe ist unverkennbar. KURT


MEYER 2 führt die Mordstatistik der preußischen Polizei an, die vor der
Ritler-Zeit herausgegeben wurde:
Mordstatistik, Preußen, 1929-1931
Wegen Mordes angezeigt. 1386 = 100%
Aufgeklärte Morde . . . 1242 = 90%
Wegen Mordes abgeurteilt 177 = 13%
Wegen Mordes verurteilt 127 = 9%
Wenn man das Wort "aufgeklärt" in seinem natürlichen Sinne nimmt,
so stehen die 90% aufgeklärten und die 9% der Morde, die zu einer Ver-
urteilung führten, in krassem Widerspruch. Noch von den wenigen
Morden, die bis zum Stadium der Aburteilung gelangten, blieben 28,2 %
ungeklärt.
Die amerikanische Wissenschaft kämpft mit den gleichen Schwierig-
keiten, obgleich die Formulierung ("gelöst") drüben eine etwas bessere
ist und der Einschluß von Totschlagshandlungen das Bild verwirrt. In
den letzten 10 Jahren haben die Uniform Crime Reports aus Washington
eine "Rate" von etwa 90% durch Festnahme "geklärte" Fälle gemeldet,
wobei die Auskunft nur aus großen Städten kam 3. Einzeluntersuchungen
ergaben für Chikago 37 % "ungelöste" Fälle. In Wisconsin fand STERN
23%4.
1 Die Anzeige wurde aufgenommen, weil das Publikum die Aufnahme verlangte
und darauf bestand. Gemäß § 163 StPO muß die Anzeige entgegengenommen
werden. Jahresbericht der weiblichen Kriminalpolizei in Hamburg für das Jahr
1929, Monatsschrift, Bd. XXI, S. 691.
2 MEYER, S. 15. 3 WOLFGANG, S. 290.
, Ebenda, S. 289. - Die Festnahmezahlen waren: für Memphis 8 %, für Birming-
ham 4%, für St. Louis 3%.
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 109

Die Verhaftung freilich klärt noch keinen Mord auf. WOLFGANG hat
den kleinen Rest der ungelösten Morde in Philadelphia untersucht 1.
Die ausbleibende Klärung umfaßt mehr Männer der weißen Rasse, mehr
Leute über 65 Jahren, mehr Fälle des Erschlagens, der Tötung auf der
Straße am Wochenende (Freitag bis Sonntag), zwischen 20 Uhr und
frühen Morgenstunden. Das Raubmotiv scheint bei den ungeklärten
Fällen vorzuherrschen, doch kennt man nur das Opfer, hat man nur
Indizien. Die Meinung, die man ausgesprochen hört, mit der Festnahme
habe die Polizei ihre Schuldigkeit getan, von nun an falle die Verant-
wortung dem Staatsanwalt und dem Gericht zu, ist schwerlich als sehr
glücklich anzusehen 2.
b) Die Besorgnis polizeilicher Organe, ihre Arbeit könne ohne hohe
Züfern der Aufklärung unterschätzt werden, ist kaum begründet; der
Kenner der Verfahrenspraxis weiß da-
von ein Lied zu singen. Statistisch Einstellungen im Bundesgebiet
1950-1953
müßten wir versuchen, eine Zwischen-
gruppe zu errichten. Sie sollte, zwischen Jahr Diebstahl Betrug
Anzeige und Anklage gelegen, die Ver-
1950 11,0 11,0
hältnisse umfassen, die auch bei aller- 1951 3,6 5,6
bester polizeilicher Arbeit einen Ausfall 1952 3,5 6,1
an "Ergebnissen" bedingen. Hierhin 1953 3,6 6,8
gehören Fälle, in denen das Verfahren
wegen GeisteskranklIeit eingestellt werden mußte 3 (§§ 204, 205 StPO)
oder durch ein Verfahrenshindernis (§ 206 StPO) zum Abbruch kam.
Zeitweise entwickeln sich Amnestien zu einem wichtigen Prozeßhindernis.
OTTO MEIER 4 hat die Einstellungen wegen Diebstahls und Betrugs auf
Grund des Straffreiheitsgesetzes vom 31. Dezember 1949 nebeneinander-

1 WOLFGANG, S.293.
2 Andererseits schob schon vor über 100 Jahren (Mordfall der Gräfin Görlitz
1850) die Anklagebehörde die Schuld fehlerhafter Einstellung der Polizei zu.
"Die noch in der Nacht an das Gericht gelangte Polizeianzeige", rief der Staats-
anwalt, "bemerkt, daß keine Spur eines Verbrechens vorliegt. Der Stadtgerichts-
inquirent konnte keine Ansicht gehört und gewonnen haben, sonst würde eine
genügendere Aufnahme des Tatbestandes stattgefunden haben ... Die Untersuchung
bot keinerlei Stütze und die oberflächliche subjektive Richtung mochte noch das
meiste dazu beigetragen haben, daß das Hofgericht selbst von einer Vervollständi-
gung der Untersuchung absah und jene bedauerliche Verfügung erließ, daß die
Untersuchung unter den obwaltenden Umständen auf sich zu beruhen habe und
der Beerdigung der Leiche stattzugeben sei. Hiermit war denn ein undurch-
dringlicher Schleier über die Sache geworfen." Neuer Pitaval, Bd. XVII, S. 175,
176. Leipzig 1860.
3 Schon vor 50 Jahren war ein Drittel aller in Frankfurt aufgenommenen Irren
und Epileptiker mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten. Monatsschrift, Bd. III,
S.176.
4 Ebenda, S. 69, 135.
HO Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

gestellt und dargetan, wie stark der Anteil der Einstellungen anstieg,
um dann im nächsten Jahre wieder auf normale Größe abzusinken
(s. Tabelle auf S. 109).
Die Amnestie bringt nicht nur Straferlaß, der zahlenmäßig zu ver-
folgen ist; in sehr viel größerem Umfang stellt sie auch Verfahren ein.
Durch Gesetz vom 7. August 1934 wurde im Deutschen Reich eine
Amnestie erlassen. Am 21. September 1934 gab die Justizpressestelle
in München bekannt: "Bis 16. September 1934 einschließlich wurden im
Bereich der Staatsanwaltschaft München I auf Grund des Straffreiheits-
gesetzes vom 7. August 1934
"in 9005 Fällen die rechtskräftig ergangenen Strafen erlassen, 10441 anhängige
Verfahren eingestellt."
In Preußen war das Verhältnis von Straferlaß und Einstellung ver-
schieden, erreichte aber eine eindrucksvolle Höhe 1 , denn es erfolgte
Straferlaß . . in 238832 Fällen
Einstellung . . in 175575 Fällen
Die Niederschlagung erfolgte ohne Rücksicht auf Erfolg oder Er-
gebnislosigkeit vorhergehender polizeilicher Tätigkeit. Trotzdem wird
es wissenschaftlich nicht erlaubt sein, diese im Stadium des Ermittlungs-
verfahrens abgebrochenen und eliminierten Fälle als "geklärt" im ge-
wöhnlichen Wortsinne zu bezeichnen. Ein Akt der Staatsgewalt hat
sie einfach aus dem Vorverfahren herausgenommen und für beendigt
erklärt, ganz ohne Rücksicht auf Befund und jene Grade des Verdachts,
die eine Verurteilung wahrscheinlicher als einen Freispruch erwarten
lassen 2. Erfolg ist nicht gegeben, auch kein Mißerfolg, nur ein formeller
Abschluß.
Die hier berührten Bedenken sind schon längst in anderen Ländern
amtlich vorgetragen worden. Die englische Kriminalstatistik von 1923
betonte: "Die Polizeistatistiken sind jetzt zuverlässiger als sie vordem
waren 3 ." Die Unklarheit und Dehnbarkeit eines Begriffes wie: "crimes
known to the police" wurde bemängelt. Diesem Standpunkt schloß
sich die amerikanische Kritik an 4, obschon die Befugnis der amerikani-
schen Polizei, strafbare Handlungen vor Gericht zu bringen oder nicht,
sehr viel weiter geht 5, auch der Staatsanwalt in noch weiterem Umfang
1 Amtlicher preußischer Pressedienst vom 28. September 1934. Man vergleiche
damit EXNERS Angaben in Monatsschrift, Bd. XXXIII, S. 103.
2 BELING, ERNST: Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S.356, Berlin 1928, in
Erläuterung des Wortes "zureichend in § 152 II StPO."
3 Erwähnt in Monatsschrift, Bd. XXI, S. 689.
'Siehe die Berechnungen von AROR MANDEL: Arrests and police court cases in
Detroit. Amer. J. of criminallaw and criminology 1920, S. 413---418 und ANDREW
A. BRUOE und TROMAS S. FrrZGERALD: A study of crime in the city of Memphis,
Tennessee, S. 27. Chicago 1928.
5 POUND, ROSOOE: Criminal Justice in Cleveland, S. 569. Cleveland 1922.
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 111

als bei uns Einstellung des Verfahrens handhaben kann. In jüngster


Zeit hat Zahl und Gewicht der Einwendungen wieder zugenommen.
Nach VIRGIL W. PETERSON, dem Leiter der Chicago Crime Commission,
sind die statistischen Angaben der Polizei von Chikago, milde gesagt
("at best") unvollständig. Zahlreiche strafbare Handlungen werden
amtlich nicht registriert. Tausende von Verbrechen erscheinen nach
PETERSON niemals in den amtlichen Zählungen. Der Rückgang des Ver-
brechens wird, besonders vor Wahlen durch gepantschte ("doctored")
Statistiken bewiesen. Es ist aber kein verbesserter Schutz der Allgemein-
heit, so schließt PETERSON seine Kritik, wenn er ausschließlich sich durch
Methoden der Buchführung ergibt 1.
Auch der Staatsanwalt FRANK S. HOGAN hat die Polizeistatistiken
von New York als völlig unzuverlässig und unhaltbar erklärt 2. Es läge in
der Hand des einzelnen Kriminalbeamten, welche Anzeige die Zentral-
stelle im Polizeipräsidium erreiche. Die Verbrechenszahlen, die jährlich
herausgegeben würden, seien ungenau und irreführend. Im März 1949
habe die FBI in Washington sich geweigert, in ihren halbjährlichen Be-
richten die New Yorker Zahlen zu veröffentlichen, weil "exakte Angaben
nicht zu erhalten seien." Seit 20 Jahren bestände ein absurder Wider-
spruch zwischen den von New York angegebenen Zahlen und den Ziffern
anderer großer Städte in den Vereinigten Staaten. Wenn der vernehmende
Kriminalbeamte der Anzeige mit einigem Wohlwollen gegenüberstehe,
so würden keine Akten angelegt. Das sind die Erfahrungen des Staats-
anwalts, der stündlich mit der Polizei zusammenarbeitet 3 •
Bei der Besprechung dieses Berichtes teilt eine große New Yorker
Zeitung mit, daß Versicherungsgesellschaften jährlich mehr Diebstahls-
verluste vergüten, als Diebstähle von der Polizeiverwaltung gemeldet
werden 4. Bei der Abfassung der amtlichen "Uniform Crime Reports"
hatte also die Zentrale der FBI in Washington recht, wenn sie die New
Yorker Zahlen mit der Bemerkung nicht zum Abdruck brachte: "Voll-
ständige Angaben konnten nicht erhalten werden 5."
Noch andere Hindernisse stehen der Arbeit der Polizei im Wege.
Sie traten bei der Ermordung des Gangsters Arnold Rothstein un-

1 Abgedruckt in JACK LAlT und LEE MORTIMER: Ghicago confidential, S.237.


New York 1950.
2 New York Times vom 7. Oktober 1950.
3 Die New York Times vom 22. September 1950 schreibt: "Eine ganze Anzahl
von Verbrechen würden insoweit ,vertraulich behandelt', als sie von dem Polizei·
beamten nur mit Bleistift auf seine Manschetten hingekritzelt und bei der nächsten
Wäsche ausgelöscht würden."
4 New York Times vom 22. September 1950.
6 Die FBI lehnte ab, sich weiter über die Bemerkung zu äußern. Die Erklärung
des New Yorker Police Commissioner O'Brien, die Anzeigekategorien in New York
und in Washington fielen nicht zusammen, erschien dabei als äußerst schwach.
112 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

zweideutig zutage. Politische Einflüsse warfen sich dazwischen, voll


Furcht, daß ein Prozeß auch sie belasten würde 1 . Je weniger diese Kräfte
durch andere Machtfaktoren zurückgedrängt und kontrolliert werden,
um so stärker wagen sie sich hervor, im Einparteistaat, in der Diktatur,
unter der militärischen Besatzung, die mit dem Schutz, den sie den
eigenen Angehörigen gewährt, auch ihr Prestige verteidigt. Dann stößt
die heimische Polizei mit den fremden Ermittlungsbehörden zusammen.
Das Ergebnis sind zahlreiche ungeklärte Schwerverbrechen 2 • Ein Bei-
spiel ist der Tod des Hauptmanns John P. Maher, der im Oktober 1959
neben einem Eisenbahndamm bei Grafenwöhr gefunden wurde. Um
II Uhr abends hatte er sich von einem Freund getrennt. Man fand ihn in
der Morgenfrühe tot. Die deutschen Verwandten, Frau und Schwieger-
vater, wiesen darauf hin, er habe 50 Dollars und 30 Mark bei sich gehabt,
jetzt aber sei nur noch ein Nickel da. Die Militärbehörden meinten, es
sei gut möglich, daß er den Betrag vor seinem Tode einem andern ge-
liehen oder sonstwie ausgegeben habe. Die deutsche Polizei betonte,
dem Hauptmann sei von hinten in den Kopf geschossen worden, im
Munde stak ein Knebel und um die Füße war ein Draht geschlungen.
Die Vorgesetzten aber ließen nicht von ihrem Standpunkt ab, es müsse
sich um einen Unfall handeln 3.
Es liegen also zwischen Anzeige und Gerichtsverhandlung manche
Stufen, in denen Stillstand und Versanden weder die Pflichterfüllung
noch das Geschick der ermittelnden Behörden tadeln. Natürlich wird
kein Arzt gern die Zahl der Todesfälle zählen, die in seiner Praxis vor-
gekommen sind. Dabei hängt alles von dem Alter der Patienten, seinem
Spezialgebiet und vielen anderen Elementen ab. Genauso ist es mit der
Kriminalität. Dazu kommt der Patient zum Arzt gelaufen, der Krimi-
nelle aber meidet uns, so gut er kann. Ein mäßiger Erfolg ist eine
große Leistung, und hohe "Klärungs" - Raten, wie sie die Polizei ver-
kündet, sind Spiel mit einem ungeklärten Wort.
Es kann geschehen, daß die Staatsanwaltschaft aus staatspolitischen
Gründen, teils nach Gewohnheitsrecht, wie in England und Amerika,
teils auf Grund gesetzlicher Bestimmung von der Erhebung einer Klage
absieht. Im Jahre 1944 wurde in New York eine Strafanstalt geschlossen,

1 Diese Behinderung der polizeilichen Untersuchung ist geschildert in CROUSE,


RusSEL: Murder won't out, S.232ff., New York 1932 und KATCHER, LEO: The
big bankroll. The lüe and times of Arnold Rothstein, S. 336, New York 1959.
2 Eine Reihe dieser ungeklärten Besatzungsmorde in Deutschland, Frankreich
und England ist mit anerkennenswerter Offenheit beschrieben in Overseas Weekly
vom 27. Sept. 1959.
3 Bericht in Overseas Weekly vom 25. Oktober 1959. - Der Tod des Haupt-
manns ist amtlich abgeschlossen worden. Obwohl er nicht in die deutsche Statistik
übergeht, gilt er als "aufgeklärt".
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 113

die im Verbrecherjargon die "Singschule" hießl. Hier waren die Ge-


fangenen interniert, die sich bereit erklärt hatten, als Kronzeugen gegen
Mitschuldige aufzutreten und die aus diesem Grunde Straffreiheit,
Strafmilderung oder Übersehen der eigenen zwielichtigen Tätigkeit er-
warten durften. Nach Meinung der Verbrecher sieht die Polizei manchen
Hehlern, die gleichzeitig als Agenten arbeiten, bei ihrem finsteren Be-
triebe durch die Finger. Daher die Warnung vieler Krimineller, sich
niemals mit Leihhäusern und ähnlichen Geschäften einzulassen 2. Nur
bei privaten Käufern herrsche Sicherheit. Im Gangsterleben spielen die
Verräter eine große Rolle; der Staatsanwalt muß ihnen goldene Brücken
bauen 3. Wir sind nicht allzuweit von dieser Konzession entfernt, ver-
fahrensrechtlich nur im Kampfe um die Macht. § 153 c der Strafprozeß-
ordnung ermächtigt den Oberbundesanwalt, von der Erhebung der
öffentlichen Klage gegen einen Schuldigen abzusehen, "wenn er einen
Beitrag zur Entdeckung leistet." Zustimmung des Gerichts ist erforder-
lich, und diese Regel bleibt auf politische Delikte eingeengt. In Amerika
hat sich aus der Praxis des state witness - es ist nichts weiter als Ge-
wohnheitsrecht - eine schwere neue Kriminalität entwickelt, die Tötung
dessen, der dem Staat zur Seite steht und den der Staat dafür belohnt.
Wie eine rote Linie läuft das Dogma der Bedrohten durch das Leben
aller Gangster, gehört auch im Gefängnis zur Moral der Häftlingsgruppe,
die vom Geheimgehaltenen und Verborgenen lebt.
Um dom Verbrecher auf der Spur zu bleiben, sind wir geneigt, Ver-
brechen zu vergessen und den Verfolgungszwang zu lockern. Im Umkreis
der Erpressung haben sich eine Reihe von Versuchen entwickelt, der
Enthüllungsgefahr mit Straflosigkeitserklärung zu begegnen. Auf dem
Brüsseler Kongreß von 1900 wurde der Antrag gestellt, der Staats-
anwaltschaft solle im Gegensatz zum Verfolgungsprinzip ein gewisser
Spielraum gelassen werden, "einer Anzeige, die von einer Person aus-
geht, die der Chantage verdächtig ist, keine Folge zu geben, besonders
auch in Fällen der Majestätsbeleidigung." In § 154c unserer StPO hat
der Gedanke sich zum Teil durchgesetzt. Bei Nötigung und Erpressung
ist die Anzeige ebenso "Verfahrens"-Anstoß wie Mittel der Bedrohung.
Um den Bedrohten als Zeugen zu gewinnen, kann der Staatsanwalt die
Anzeige, auch wenn sie noch so sehr begründet wäre, zur Seite legen,
kann von der Verfolgung Abstand nehmen. Mit der Statistik der Er-
pressung hat es demnach seinen Haken.
Die Institution des Privatdetektivs lebt in erster Linie davon, daß
es nicht tunlich erscheint, gewisse strafbare Handlungen bei der Polizei
1 SCOTT, W ELLINGTON: Seventeen years in the underworld, S. 58, 59. N ew York 1916.
2 MARTIN: My life in crime, S. 73.
3 In vielen Fällen führt die "goldene Brücke" ins Verderben durch Hand der
eigenen Genossen, siehe mein Gangster, S. 157ff.
v. Hentig, Das Verbrechen I 8
114 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

anzuzeigen und zur gerichtlichen Behandlung zu bringen. Oft verletzt


ein Delikt Gruppeninteressen und legt eine außergerichtliche Erledigung
nahe, wobei strafartige Wirkung nicht zu fehlen braucht. Solche innere
Strafgerichtsbarkeit ist in Amerika beobachtet worden, sowohl bei
den chinesischen Einwanderern 1 wie bei der Bevölkerung jüdischen
Glaubens 2. Die soziale Aufsicht der Synagoge hat LOUIS WIRTH an
einem Fall geschildert:
"Sam, ein 16jähriger Junge hat sich an einem kleinen Mädchen vergangen.
Der Vater des Mädchens sucht den Vater Sams auf und fragt ihn, was er zu tun
gedenke. Sams Vater wiederum wendet sich an eine soziale Beratungsstelle und
bittet um Rat. Der Fürsorger begibt sich zum Haus des Mädchens und erfährt,
der Fall sei erledigt. Der Vater des Opfers hatte den Fall dem "rov" vorgelegt und
Sams Vater hatte eingewilligt, sich dessen Entscheidung zu unterwerfen. Sie
lautete: 1500 Dollar Schadenersatz an die Familie des Mädchens."
Sekten, die Geistlichkeit, die Ärzteschaft, die Anwaltschaft, die
Armee, die Polizei, der Adel haben die verständliche Neigung, die
Fehler eines Standesgenossen nicht an der großen Glocke aufzuhängen,
wenn es irgend geht. Komplikationen und Gewissenkonflikte sind die
Folge dieser Spaltung zweier Pflichtenkreise. Die Prostituierte und
Erpresserin Vivian Gordon wurde in New York tot aufgefunden.
Damals wurde gerade die Frage der Zusammenhänge von Prostitution,
Kuppelei und einzelnen Polizeiorganen untersucht. Die Frau hatte
gedroht, mit Enthüllungen über die Polizei herauszukommen. Der Fall
wird in den Akten als geklärt geführt. COLLINS 3 meint, daß kein Täter
gefunden wurde; man hätte ihn nur unter den Bedrohten finden können.
Der'schwerkranke AbM Paul Martin war nachts überfallen und ver-
letzt worden. Verdacht fiel auf den Hausgast, seinen Bruder AbM Louis
Martin, der von seinen Gläubigern hart verfolgt wurde und das Leben
des Paul Martin hatte versichern lassen. Es wurde gegen ihn Anklage
erhoben und verhandelt. Der Vorsitzende stellte an den Überfallenen
die Frage: ob er mit seinem Bruder gut gestanden habe. Das Opfer ver-
sicherte, daß Louis ihn immer treu gepflegt habe. "Haben Sie", fragte
der Vorsitzende weiter, "gewußt, daß er eine Lebensversicherung für Sie
genommen hatte." "Er hat mich ein Papier unterschreiben lassen",
war die Antwort des braven Mannes, "es ist zwei Jahre her. Ich habe
aber nicht gewußt, worum es ging." Und auf die letzte Frage, ob der
Bruder auf ihn eingeschlagen habe, erklärte er mit erhobener Stimme:
"Ich schwöre, daß es nicht mein Bruder war, der mich hat ermorden
wollen 4 ." Das Gericht schenkte aus guten Gründen der Erklärung keinen

J. of criminallaw and criminology, Bd. XX, S. 806ff.


1
WmTH, LOUIS: Ghetto, S.208. Chicago 1928.
2
3 Der Fall Gordon ist dargestellt in COLLINS, FREDERICK L.: Homicide squad
Adventures of a Headquarter Old Timer, S. 178, 179. New York 1944.
4 BATAILLE: Causes criminelles de 1890, S.91ff. Paris 1891.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 115

Glauben und verurteilte Bruder Louis Martin zu lebenslanger Zwangs-


arbeit wegen versuchten Mordes. Wenn der AbM nicht "Diebe! Mörder!"
geschrien und das Haus alarmiert hätte, es wäre niemals Anzeige
erfolgt. - Den großen Wucherer Heinrich Pariser konnte die Polizei
lange nicht fassen, weil die Kunden, die den "ersten Gesellschaftskreisen
angehörten, aus Scheu vor einem Prozeß, in dem sie als Zeugen hätten
auftreten müssen", keine Anzeige erstatteten l .

4. Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden


Der hellste Teil des Dunkelfeldes ist das Hauptverfahren, der Frei-
spruch und die Einstellung durch das erkennende Gericht. Der Straf-
anspruch des Staates wird nach einer mit allen Kautelen umgebenen
Prüfung für erloschen erklärt. Dem Angeklagten öffnet sich das Tor der
Freiheit, er möge letzten Endes schuldig oder anders schuldig sein 2 • Wer
Zahlen vorlegt, rechnend auf uns wirken möchte, muß die Vermutung
aus dem Spiele lassen. Er muß sich an die kalte, klare Form der Rechts-
kraft halten. Der Angeklagte ist verurteilt oder nicht verurteilt.
In Deutschland sind die Freispruchsziffern seit 70 Jahren stark zu-
rückgegangen 3 • Auf 100 rechtskräftig Abgeurteilte entfielen:
1885 17,8
1890 18,4
1895 20,5
1900 19,7
1905 20,1
1910 20,0

Das war im Reichsgebiet. Westdeutschlands Freispruchszahlen sind


im Abstieg:
1951 9,4
1952 9,9
1953 9,5
1954 8,5
1955 8,5

Die Diktatur war freispruchsfeindlich ; statt des Freispruchs seien


die Anteile der Verurteilung, statt des Negativs das Positiv genannt
(s. Tabelle auf S. 116).
Die richterliche Beurteilung kann sich dem ungeheuren geistigen
Druck vulkanisch über sie hereinbrechender neuer Imperative nicht

1 TRESCKOW, v.: Von Fürsten und anderen Sterblichen, S. 73. Berlin 1922.
2 Diese Frage ist erörtert in meiner Studie: Probleme des Freispruchs beim Morde,
Tübingen 1957.
3 Stat. Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1957, S. 104.

8*
116 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

Verurteilungen auf je 100 Abgeurteilte im Deutschen Reich *

Jahr Einfacher Betrug I Zuhälterei Notzucht I Abtreibung


I Diebstahl I

1929 86,2 74,1 76,8 68,8 87,7


1936 80,5 81,5 68,0 65,6 88,3
1938 91,1 81,7 87,6 79,0 91,0
1939 91,6 85,1 83,0 80,3 92,5
* Die Zahlen finden sich bei SAUER, WILHELM: Kriminologie,
S. 427 und 428. Berlin 1950.

entziehen. Die veränderte Anschauung, die den Freispruchsanteil ein-


schränkt, erweitert auch die Größenordnung der Delikte. Die Krimi-
nalität steigt an, weil unsere Köpfe anders funktionieren, der populäre
und der richterliche Maßstab sich verschärft.
Die PoIizeistatistik meldet für 1957 93,42 % aller gemeldeten Betrugs-
fälle als geklärt. In Essen dagegen führten von 859 Betrugsanzeigen nur
281 zur Eröffnung des Hauptverfahrens. Das Hauptverfahren gegen
281 Betrüger endete mit folgendem Ergebnis 1 :
In 189 Fällen mit Verurteilung
In 40 Fällen mit Freispruch
In 43 Fällen mit Einstellung

Noch in diesem letzten Stadium wurden 28 % der Fälle nicht geklärt.


Von 100 angezeigten Fällen führten nur 22 zu einer Verurteilung 2.
Als es die amerikanische Justizstatistik noch gab - sie ist bekannt-
lich auch bei uns in Wegfall gekommen - , gab es die breite und nicht
ungeschickt formulierte Kategorie der gerichtlichen Entscheidungen:
"Erledigt ohne Verurteilung."
Die Vereinigten Staaten erledigten ohne Verurteilung 1944 3 :
Bei Mord . . 35,8 % der Fälle
" Totschlag 38,0%
" Raub . . 25,3% "
Einbruch 15,7% "
" Diebstahl 18,3%
" Betrug, Unterschlagung 30,2%
Hehlerei. 28,0% "
Notzucht . . . . . . 33,4%

1 Zahlen in meinem Betrug, S. 34, nach KÄMPCHEN.


2 Die Akten von 115 Tätern wurden an andere Staatsanwaltschaften oder
Amtsanwaltschaften abgegeben. Damit wird es schwierig, ja unmöglich, die genaue
Relation Angezeigte/Verurteilte zu berechnen. Die von uns genannten Zahlen
stehen unter diesem Vorbehalt.
3 Judicial Criminal Statistics 1944, S. 5. Bureau of the Census, June 19. 1946.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 117

"Durch Festnahme geklärt", eine Formulierung, die sich zur Not


halten läßt, wurden in städtischen Gemeinden der USA im Jahre 1959 1 :
Bei Mord und Totschlag 92,7% der Fälle
Raub. 42,5%
" Einbruch 30,7% "
" Diebstahl 20,9% "
" Notzucht 73,6% "
" "
Dazu die deutschen Klärungszahlen (1957) 2:
Mord und Totschlag . . 87,12%
Raub, räub. Erpressung. 56,79%
Schwerer Diebstahl. 37,27%
Diebstahl. . . . . . . 38,20%
Notzucht. . . . . . . 68,84%
Die Verurteilung eines Täters klärt oftmals Hunderte von Fällen auf,
die früher einmal angezeigt und unentdeckt gewesen waren. Erschreckend
tritt aus all dem Wust der Zahlen, unbestimmten Worte, der Wider-
sprüche und der Unerklärlichkeiten die kriminelle Wirklichkeit hervor.
Jetzt, wenn der Täter hinter Schloß und Riegel sitzt, wird ein Erfolg
der Fahndung zugegeben 3.
Die Ziffern der Verurteilungen sind kein sicheres Kriterium der Zu-
nahme oder des Rückgangs der Kriminalität. Im Mordprozeß Rolfs-
meyer (Düsseldorf) wurde nach den Worten des Staatsanwalts festge-
stellt, daß von dem Getöteten "in wenigen Jahren Hunderte von Schülern
vermanscht" worden waren 4. Unter den von der Augsburger Polizei
im Jahre 1926 festgenommenen Betrügern waren 8 Täter, die zu-
sammen 700 Personen durch schwindelhafte Vorspielungen geschädigt
hatten. Der kleinste Fall umfaßte 22, der größte rund 400 Opfer 5 • -
Ein 32jähriger "bisher unbescholtener" Bäckergeselle wurde ertappt, als
er einer Dame das Taschentuch stahl. Erst gestand er mit aufrichtiger
Reue, er habe bereits 80-90 dieser Taschentücher entwendet. Bei einer
Haussuchung wurden 446 Stück vorgefunden. Er wollte schon vorher
zwei Bündel dieser Beweisstücke verbrannt haben 6. - In einer sächsi-
schen Stadt von 38000 Einwohnern wurden vom Jahre 1909 an Säure-
attentate auf Frauen verübt. Im März 1927, also nach 18 Jahren, gelang
die Festnahme des Täters auf frischer Tat. Unterdessen waren 500 Fälle
1 Uniform Crime Reports 1959, S.83; Zahlen beziehen sich nur auf 77 Millionen.
Verhaftungszahlen für Betrug und Hehlerei finden sich nicht unter diesen Angaben.
2 Pol. Krim. Statistik 1957, S. 39. - Besonders auffallend sind die Verschieden-
heiten, so Diebstahl und Raub, auch Einbruch. In der Statistik der deutschen
Polizei fallen 42,4 % sämtlicher Anzeigen auf einfachen und schweren Diebstahl.
3 Oft dient der spätere Wechsel des Untersuchungsführers dem scharfen Rück-
blick in die Zeit des Mißerfolgs.
4 Meine Erpressung, S. 62.
5 Monatsschrift, Bd. XVIII, S. 236.
6 KRAFFT-EBING, v.: Verirrungen des Geschlechtslebens, S. IH. Rüschlikon 1937.
118 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

dieser Sachbeschädigung bei der Polizei angezeigt worden. Die Stadt


war jahrelang in Aufregungl. Verurteilung erfolgte nur wegen 92 Fällen
von Sachbeschädigung und 4 Fällen vorsätzlicher Körperverletzung,
wie wir aus einem späteren Bericht 2 erfahren. - Im Jahre 1925 haben
VIERNSTEIN und ich einen Insassen des Zuchthauses Straubing ge-
schildert, der 13 Jahre hindurch mit seiner leiblichen Tochter erst Un-
sittlichkeiten beging, dann, als das Kind größer wurde, in regelmäßigen
zeitlichen Abständen den Beischlaf vollzog 3 • Bei diesen Vergehen und
Verbrechen kam es jeweils nur zu einer Verurteilung und zu einem
einzigen Eintrag in die Kriminalstatistik. Die kurze Mitteilung, daß von
113 in Troppau wegen Brandstiftung angezeigten Personen nur 4 ver-
urteilt wurden, rundet das Bild in einer anderen Richtung ab 4 •
Beim Morde, der zu einer Verurteilung führt, ist die verfahrensrecht-
lich zweifellos fundierte Praxis, einzelne Mordfälle ununtersucht zu lassen,
kriminalwissenschaftlich deshalb anfechtbar, weil die mögliche Täter-
schaft dritter Personen ungeklärt bleibt. Im Falle Hartung (Magdeburg
1850-1853) war die Staatsanwaltschaft vor die Frage gestellt, ob sie
die früheren "seltsam gleichmäßigen Todesfälle" (Mutter, Schwieger-
mutter, Großmutter und erste Frau) überprüfen wolle. Staatsanwalt
und Gericht entschieden aber, nur der Mord an Tante und zweiter Frau
sollten Gegenstand der Untersuchung sein. "Es schien zu entsetzlich",
sagt der BerichtS, "so viele Tote, welche nur das Gerücht als Ermordete
bezeichnete, aus ihrer Grabesruhe aufzurufen, um einen Menschen, der
so gut wie überführt dastand, als Mörder zu verurteilen."
Das beste Beispiel für die Tendenz, eine Reihe von Morden auf die
Untersuchung und Aburteilung weniger oder gar nur eines Falles zu
beschränken, liegt um genau 130 Jahre zurück. Im Mordprozeß Burke
und Rare legte Burke am 21. Januar 1829, nachdem eine andere Er-
klärung am 3. Januar vorangegangen war, ein ausführliches Geständnis
ab. Er und der Mittäter Hare hatten demnach zwischen Frühjahr und
Ende Oktober 1828 16 Personen ermordet und die Leichen an die Ana-
tomie von Dr. Knox verkauft 6 • Anklage wurde nur wegen der drei Fälle

1 P .ALITZSCH in Monatsschrüt, Bd. XX, S. 39.


2 GUMMERSBACH in Monatsschrilt, Bd. XX, S. 225.
3 Untersuchu'fUJen über den Inzest, S. 66, Heidelberg 1925.
4 Monatsschrift, Bd. XXV, S.474.
5 Neuer Pitaval, Bd. XXI, S. 161. - Selbst der Freispruch in einem Einzelfalle
kann zur Folge haben, daß andere Verdachtsmomente zur Seite gelegt werden. Im
Falle Wharton war ein Vetter unter eigenartigen Umständen gestorben, dann ver-
schied nach wenigen Tagen dessen Tochter, dann der Ehemann nach einem Austern-
frühstück, dann der zugunsten der Mutter versicherte Sohn. Neuer Pitaval, Bd.VIII,
S. 299. In einem fünften Falle erfolgte Freispruch, und alle alten Fälle waren jetzt
begraben.
6 ROUGHEAD, WILLIAM: Burke and Bare, S. 270.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 119

Docherty, Daft Jamie und Mary Paters on erhoben. Hare wurde Straf-
freiheit zugesagt, wenn er sich zum Kronzeugen hergeben wollte. Burke
wurde im Falle Docherty zum Tode verurteilt. Ein Bericht sagt: Der
Prozeß war beendet. Es war nicht notwendig, gegen Burke wegen der
beiden anderen Fälle zu verhandeln, da er im Falle Docherty verurteilt
war. "Jederman war überzeugt, daß er auch in den Fällen Daft Jamie und
Mary Paterson schuldig war l ." Der Kronzeuge brauchte nur zu diesem
einen Falle auszusagen und "es entfiel die Notwendigkeit, Dr. Knox
und andere Ärzte zu laden, die wahrscheinlich in die Transaktionen ver-
wickelt waren 2 ." Die Aburteilung war also zuerst auf drei Fälle be-
schränkt und wurde dann auf einen eingeengt. Das Geständnis gab
16 Morde zu. Von 16 Morden und 2 geständigen Mördern erreicht nur
eine Verurteilung die Kriminalstatistik.
Über den soziologischen Hintergrund hat BOLITHO 3 sich Gedanken
gemacht. Er hat daran erinnert, daß es um die Bewahrung von Tabus
ging, die Findigkeit der Polizei, die Integrität der Anatomen, die
wirkungsvolle Aufsicht der Gesellschaft 4 • Wenn es zur Vernehmung des
Dr. Knox gekommen wäre, dann hätte der Scharfrichter - das ist
BOLITHOS Formulierung - in den Hals der Gesellschaft schlagen müssen,
mit der er eins war. Gesetz und Ordnung, Autorität und Glaube waren
in Gefahr, und über allem hing im Jahre 1828 noch Furcht und Haß der
Greuel, die jenseits des Kanals begangen worden waren.
Die britische Gerichtspraxis hält heute noch an der Übung fest, bei
einer Mehrzahl von Morden eine einzige Straftat zu verhandeln. Am
19. Juni 1946 begeht der frühere Flieger Neville Heath einen Lustmord
an Frau Margery Gardner, am 3. Juli einen Sexualmord an Fräulein
Doreen Marshall. Allein der Gardner-Fall kam vor Gericht 5 . - John
Haigh wird wegen Mordes an Frau Durand-Deacon verhaftet. Er ge-
steht fünf weitere Morde mit der gleichen Tötungstechnik. Die Leichen
können nicht mehr aufgefunden werden; aber Haigh hat mit gefälschten
Vollmachten ihr Vermögen an sich gebracht. Verhandelt wird allein der
letzte Mord; hier findet sich in der Vernichtungssäure noch das Gebiß
1 HOWE, CLIFF, a. a. 0., S. 155.
2 HOWE, CLIFF, a. a. 0., S. 156.
3 BOLITHO, WILLIAM, a. a. 0., S. 59, 60.
4 Im Fall des 10fachen Lustmörders Dittrich waren es Fehler der Beurteilung
und der Entlassung aus der Irrenanstalt, die das Strafverlahren zum Stehen brach-
ten und seine Einweisung nach Waldbeim als geisteskrank verursachten. Pitaval der
Gegenwart, Bd. IV, S. 207. Er hatte aber von 1887 bis 1898 unablässig Gefängnis-
und Zuchthausstrafen, zumeist wegen Diebstahls erhalten. Als geisteskrank 1899
in Waldbeim eingewiesen, wurde er nach einem halben Jahr, "da er Krank1leits-
einsicht zeigte und sich gut führte", mit einer Geldunterstützung entlassen. Ebenda,
S.188.
5 CRITOHLEY, MAoDoNALD: Trial oi Neville Heath, S.12. Edinburgh 1951.
" Wegen des Mordes an Doreen Marshall wurde keine Anklage erhoben."
120 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

der Toten und ein Gallenstein. Nach der Statistik wurde nur ein
Mord begangen 1.
Es ist wahr, der Täter kann nur einmal hingerichtet werden und dazu
reichen Verhandlung und Verurteilung 2 in einem Falle aus. Es ist aber
kriminalpolitisch und massenpsychologisch bedenklich, eine lange Serie
verdächtiger Tötungen gerichtlich ungeklärt zu lassen und damit pau-
schal auf die Seite zu legen, als Zubehör der einen gründlichen Behand-
lung, das uns von jetzt an nicht mehr interessiert. Es können andere
Täter hinter diesen Morden sich verbergen und sie erfordern gleiche
Sorgfalt, gleiche Gründlichkeit der Untersuchung. Neben dem Täter
können sich Mittäter, Anstifter und Teilnehmer, auch Begüustiger
strafbar gemacht haben. Sie dürfen nicht von der Massenhaftigkeit der
Verbrechen profitieren, die nur zum Teil ans Licht gezogen werden, weil
ja der Rest an der Bestrafung dieses einen Täters nichts mehr ändert.
Im Fall der Christa Lehmann (Worms 1952) wurden drei Vergiftungen
eingestanden, "einige weitere Todesfälle, die die Lehmann herbeigeführt
zu haben verdächtig war, blieben ungeklärt 3 ."
In der Urteils begründung gegen den multiplen Mörder Pleil, der in der
Haft Selbstmord beging, wurde zwar ein Teil der sonst begangenen
Morde erörtert, die Anklage war aber nur auf 11 Fälle gerichtet. Ver-
urteilung erfolgte wegen neunfachen Mordes. Das Urteil sagt:
"Die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage, die durch zwei Nachtrags-
anklagen ergänzt ist, enthält 11 verschiedene Tatkomplexe. Gemäß § 264 StPO
hatte das Schwurgericht nur diese Taten der Urteilsfindung zugrunde zu legen. In
dem nachfolgend wiedergegebenen Tatsachenverlauf ist jedoch zum Zweck einer
möglichst lückenlosen Darstellung der gesamten Tätigkeit des Angeklagten Pleil
während des von der Anklage umfaßten Zeitraums auch auf die Taten hingewiesen
worden, die nicht angeklagt sind, über die der Angeklagte Pleil aber in der Haupt-
verhandlung glaubhafte Angaben gemacht hat. Die Aufnahme dieser Hinweise im
Sachverhalt schien Itotwendig, um die innere Tatseite der dem Angeklagten Pleil
von der Anklage zur Last gelegten Verbrechen richtig beurteilen zu können. Es ist
bei den Hinweisen jeweils angemerkt, ob die von Pleil in der Hauptverhandlung
1 HOSKINS, PERCY: No hiding place, S. 97ff., London a. D. Die Leichen wurden
in einem Schwefelsäurebad zerstört. - Haigh trank das Blut der Opfer.
2 In der Giftmordserie der Krankenschwester Marie Jeanneret (Genf 1868), die
angeklagt war, von Ende Oktober 1867 bis Januar 1868 6 Personen "durch Gift
ermordet zu haben, 3 weitere ,angestiftet' zu haben", wurde nach der Verurteilung
Kritik laut: "Man sprach nachträglich in Genf, und zwar von seiten kompetenter
Personen, von nicht weniger als 16 durch die Jeanneret vollbrachten Vergiftungen,
wovon wenigstens 8 in Genf allein den Tod zur Folge hatten. Man fand es unverant·
wortlich, daß in kurzer Zeit in dem zur Mordgrube umgewandelten Hause Juvet
nacheinander fünf Personen (nicht bloß vier, wie vor Gericht verhandelt wurde,
denn es starb außer den vier noch eine Madame Hahn) sterben konnten, und
zwar an ganz auffallenden und unerklärten Krankheiten, ohne daß auch nur eine
einzige Leiche seziert und ärztlich untersucht wurde." Neuer Pitaval, Bd. V, S. 96.
Leipzig 1870.
3 WEHNER, a. a. 0., S. 27.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 121

über die Anklage zugegebenen Taten wegen noch nicht hinreichend gelungener Auf-
klärung, wegen Anwendbarkeit des § 51 I StGB. oder wegen bereits erfolgter Ab-
urteilung nicht angeklagt worden sind. "
Hier ist bereits sachlich eine Verbesserung gegenüber der Methode
zu erkennen, über den nicht in die Anklage aufgenommenen Rest der
Verbrechen einfach hinwegzugehen l .
In dieser Lage kehrt sich unsere Freude am Geständnis um 2. Haar-
mann, der wegen 24 Morde verurteilt wurde, erklärte, in der Haupt-
verhandlung, gefragt, wie viele Morde er begangen habe: Es können
30 oder 40 sein; ich weiß das nicht mehr s ." Dr. Petiot stand wegen
27 Morden vor Gericht und rief, allerdings mit einem Dreh nach der Seite
von RechtfertigungsgrÜllden aus: " ... Jawohl, ich habe getötet. Ich
habe im Auftrage der Organisation Hinrichtungen vollzogen. Und nicht
bloß 27. Nein, genau gezählt 63, mit meiner Geheimwaffe. Im Wald
von Marly. Ich werde Ihnen die Liste der 63 liefern, sobald ich frei-
gesprochen bin 4 ." Kürten gestand außer anderen Tötungen in seinen
Jugendjahren einen Mord, den er am 21. Juli 1929 begangen haben
wollte. Er gab eine genaue Schilderung und sein Gedächtnis war über-
normal gut: "Am selben Abend traf ich an der Oberkasseler Brücke
ein Mädchen, das sich Anni nannte. Wir gingen in ein Gartenlokal.
Das Mädchen erzählte, es sei aus Westfalen. Als es dunkel war, habe
ich das Mädchen am Rhein plötzlich erwürgt. Ich habe ihm so lange
den Hals zugehalten, bis ich es für tot hielt. Dann schleifte ich es auf
einer Grippe entlang bis zum Grippenkopf und warf es in den Rhein 5."
Dazu gibt BERG die folgende Erklärung: "Dieser Fall konnte nicht
aufgeklärt werden. Es ist auch kein Mädchen vermißt worden 6 • Bei der
Seltenheit des Nichtwiederauftauchens einer Rheinleiche bezweifelt die
Polizei die Richtigkeit der Kürtenschen Angaben."
Die Verurteilungsziffern der amerikanischen Kriminalstatistik 7 sind
durch die Praxis getrübt, die ein früherer Staatsanwalt drastisch so
beschrieben hat: "Am nächsten Tag schickte mich Oberst Gardiner nach
unten zur Abteilung I. Ich sollte dem verehrlichen Herrn Robert
Townsend, dem amtierenden Stellvertreter des Staatsanwalts, "den
Kalender bereinigen" helfen. Dieses Verfahren bestand hauptsächlich
darin, so viele Angeklagte als möglich zu einem Geständnis zu veran-

1 Landgericht Braunschweig 6 KS I/50 Urteilsgründe, S. 12 und 13.


2 Als ein Geisteskranker zwei weitere Morde zugab, "war jedermann entzückt."
MARTIN: Break down the walls, S. 63. New York 1953.
3 LESSING, THEoDoR: Haarmann, S.50. Berlin 1925.
, STEMMLE, R. A.: Reise ohne Wiederkehr, S. 149. Berlin 1951.
5 BERG, K., a. a. 0., S. 289.
6 Es ist nicht gut möglich, daß im Juli 1929 in Westfalen überhaupt kein
Mädchen vermißt wurde.
7 TUTT, EpHRAIM: Yankee lawyer, S. 88. New York 1943.
122 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen

lassen, um dem Staat die Prozeßkosten zu ersparen. Die Vorschläge


wurden so anziehend gemacht, als es nur irgend ging. Einem Mörder, dem
der elektrische Stuhl drohte, wurde das Geständnis eines Totschlags an-
geboten, ein Einbrecher, dem 20 Jahre Zuchthaus bevorstanden, konnte
sich für verbotenes Betreten eines Gebäudes (illegal entry) entscheiden,
ganz nach der Schlüssigkeit unseres Beweismaterials. Da Herr Townsend
als gutmütig bekannt war, ließen sich die meisten Angeklagten auf
seine Mahnungen ein." Deutlicher spricht sich ein Gefängnisarzt aus:
"Die vorherrschende Sitte, daß gefährliche Gefangene sich mit dem Staats-
anwalt in Verhandlungen einlassen dürfen, führt dazu, daß mancher, der eine lange
Strafe erhalten sollte, im Gefängnis nicht zu finden ist.
Für das, was die Unterwelt den ".Antrag kappen" nennt, wird von den Justiz-
behörden ein Grund vorgebracht. Dieser saubere Handel spart dem Staat die Kosten
der Verhandlung. Der wahre Grund ist aber'der, daß der Staatsanwalt sicher ist,
eine Verurteilung zu erzielen, auch wenn der Fall unsicher ist. Man übersieht dabei
die Tatsache, daß auf weite Sicht dieser Kompromiß mit dem Rechtsbrecher den
Staat sehr viel teurer zu stehen kommt!. "
Eine New Yorker Untersuchungskommission 2 konnte feststellen, daß
von 5219 Verurteilungen 3528 oder 67,5% durch diese Methode des
.Anklagewechsels nach unten (plea of lesser offense) erreicht waren; bei
45% aller Verurteilungen wurde statt eines Verbrechens oder Ver-
gehens die .Anklage auf eine Übertretung herabgesetzt. Der Prozentsatz
war inNew York 1937/38 bei einigen schweren Verbrechen besonders hoch:

Zahl Prozentsatz
Delikt der des
Verurteilungen "plea of lesser offense"

Notzucht . . . . . 250 78%


Urkundenfälschung 252 77%
Einbruch . . . . 1417 77%
Betrug, Hehlerei 80 65%
Brandstiftung 22 55%
Raub 765 64%
Mord . . . . 87 48%

Wer die Statistik der Verurteilungen liest, muß diese weitgehende Ver-
wässerung in Betracht ziehen. 28,8 % der Verurteilungen wurden durch
Aufschub der Strafverbüßung zur Bewährung weiterhin verdünnt. Die
Gefangenen, die nicht in einfachen Haftanstalten verschwinden, sondern
in Zuchthäusern untersucht werden können, sind eine winzige, durch
vielerlei Einflüsse deformierte Minderheit der kriminellen Tatsachenwelt.
Das Zahlenbild, auch wenn es von der sorgsamsten Statistik über-
mittelt wird, ist nur ein dünner Abglanz von der Häufigkeit des Rechts-
BERG, LOUIS: ReveZations 0/ a prison doctor, S. 34. New York 1934.
1
Twelve montkB 0/ crime in N ew Y ork. Report of the citizens committee on the
2
control of crime in New York. June 30,1937- June 30,1938, S.32ff.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 123

bruchs. Fiktionen weden auf die Zahl der strafbaren Handlungen und
auf die Zahl der Täter ein Dunkel, das Einzelfälle immer wieder drastisch
zeigen. Das Schiff "Veronica 1 " hatte eine Besatzung von 12 Mann.
Ermordet wurden 7 Leute. Anklage wurde nur wegen eines Opfers, des
Kapitäns, erhoben. Von 5 Tätern wurden nur 3 vor Gericht gestellt; die
beiden anderen gingen als Kronzeugen frei aus. Drei stehen als verurteilt
in der Kriminalstatistik wegen eines Mordes. Was uns die Zahlenreihen
sagen, ist nur ein geringer Teil der Wahrheit. Bisweilen bemängeln die
Statistiker selbst den eigenen Befund, wenn er nicht ganz in ihre Wünsche
paßt. So lesen wir in einem Aufsatz 2 : "Am 1. Juli 1925, dem Stichtag
der Erhebung, standen in Berlin 6191 Prostituierte unter Kontrolle. Da
erfahrungsgemäß die Prostitution stark fluktuiert, wodurch es vor allem
den Großstadtverwaltungen erschwert wird, die Gestellungspfllchtigen
im Auge zu behalten, wird die Zahl der in Berlin tatsächlich vorhandenen
und für die Polizei auffindbaren "Eingeschriebenen" geringer gewesen
sein, als der rein buchmäßige Prostituiertenbestand. Nach den bei
anderer Gelegenheit gemachten Erfahrungen glaubt das Berliner
Statistische Amt rund 22% von der buchmäßig ermittelten Zahl ab-
setzen zu müssen, so daß sich dann eine Zahl von 4800 tatsächlich kon-
trollierbaren Frauen und Mädchen ergibt."
1922-1951 wurden im Landgerichtsbezirk Duisburg 1180 Anzeigen
wegen Mordes erstattets. 65 Täter kamen vor Gericht; 32 wurden ver-
urteilt. Die spätere Polizeistatistik meldet eine Aufklärungsrate, die
damit unvereinbar ist 4 • Der Kriminelle ist uns außer einem Rückstand
ausgesuchter Exemplare nicht bekannt. Es bleibt noch ungeheuer viel
zu forschen und zu lernen. Die Polizeistatistik nennt beim Fahrrad-
diebstahl 15,62% als Rate aufgeklärter Fälle 5• Ein Kriminalbeamter
von Erfahrung meint, daß fast 90 % der Fahrraddiebstähle ungeklärt
bleiben 6. Mit dieser Art von Diebstahl sei kein Lorbeer zu erringen. Viele
Beamten hielten es unter ihrer Würde, Fahrraddiebstähle zu verfolgen.
Der aufgeklärte kleine Restbestand wird dann erst der Behandlung und
1 KEETON, G. W., und JOHN CAlII:ERON: The "Veronica trial," S.229. Edin-
burgh 1951.
2 ALBRECHT, HANS: Die Prostitution in Berlin. Monatsschrift 1930, S. 171.
3 BLUEHlII:, HERBERT: Die Kriminalität der vorsätzlichen Tötungen im Land-
gerichtsbezirk Duisburg, S. 17, Bonner Diss. 1955.
4 Die mitgeteilte Rate ist 87,12% (Pol. Kriminalstatistik 1957, S. 39). Hier sind
Mord und Totschlag zusammengefaßt. Nach den Duisburger Feststellungen kamen
auf 1634 wegen Mords und Totschlages angezeigte Fälle weniger als 10%, die zu
einer Verurteilung führten.
5 S. 39 (1957).
6 WALTER, H.: Fahrradmarder im Ruhrgebiet. Kriminalistik 1957, S.27. -
Die Zahlen der Polizeistatistik schließen auch den leicht zu entdeckenden Fahrrad-
Gebrauchsdiebstahl ein, erhöhen damit auch die Rate aufgeklärter Fälle, denn diese
Räder werden nicht versteckt.
124 Dynamik und Bereich des Zufalls

Entscheidung des Staatsanwalts und der Gerichte unterworfen. Ein


einziger Fahrradmarder hatte in der Zeit vom November 1954 bis Juli
1955 annähernd 160 Fahrräder mitgenommen. Die Kriminalstatistik hebt
die Feder und verzeichnet einen DiebstahP. Sie kann nicht anders,
doch wir sollten sie zu lesen wissen.

Zweites Kapitel
Dynamik und Bereich des Zufalls
a) "Bis auf den heutigen Tag", schreibt PLUTARCH2 , "findet man in
Rom keinen Tempel der Weisheit, der Mäßigung, der Ausdauer und der
Großmut; hingegen gibt es viele alte und in jeder Hinsicht sehr verehrte
Tempel des Glücks, die an den angesehensten Teilen und Stellen der
Stadt angelegt sind." Die meisten wurden von König Servius errichtet,
"der wohl wußte, daß das Glück in allen menschlichen Angelegenheiten
einen großen Einfluß hat, ja alles entscheidet." Der Ausdruck, den
PLUTARcH gebraucht, ist Tyche. Er kann glückliches Ungefähr wie Miß-
geschick bedeuten, die unbekannte Quelle <tessen, was uns gut ausgeht
oder zustößt, die Fügung des Himmels oder die Schickung einer un-
erforschlich über Göttern und Menschen thronenden Macht, mit der die
Stoiker den Gang der Welt erklärten. Die einen waren Sonntagskinder
und unter einem guten Stern geboren, der andere ist ein Pechvogel, nach
dem englischen Wort von einem linkshändigen Pfarrer getauft 3. Er
kommt niemals auf einen grünen Zweig 4 • Selbst die Art seines Unglücks
ist vorbestimmt: wer einstens hängen soll, wird auch bei schwerstem
Schiffbruch nicht ertrinken 5.
Das Wort Zufall ist vom Fall der Würfel abgeleitet, wie das lateinische
casus, ja wie das Wort alea in gleicher Weise Würfel und Zufall bedeutet.
Im Griechischen hat die Sprache noch eine bessere Psychologie ent-
wickelt. "Das für diesen Begriff - Zufall - gewählte griechische Wort
(aIrc6pa7:w) bedeutet eigentlich das von selbst Geschehende und enthält
vielmehr einen Gegensatz gegen das von Menschen absichtlich Herbei-
geführte als gegen die Veranstaltungen der Götter oder der Schicksals-
macht, wie denn z. B. bei XENOPHON (Mem. III, 12) derselbe Ausdruck

1 Der Mann war erst im April 1954 nach Essen gekommen; wieviel er vorher
stahl, ist nicht bekannt.
B Pr..UTARCH: MO'I'ali8che Schriften, über das Glück der Römer, 10.
3 SMITH, WILLIAM GEORGE: The OxfO'l'd dictionary of engli8h proverb8, S.57.
Oxford 1952.
, Ähnlich BuchHiob XV, 32: "der grüne PaImzweig verdorrt ihm vor der Zeit."
5 SHAKESPEARE: Tempest 1,1,32 ..• "he has no drowning mark upon him; his
complexion iB perfect gallows. Stand fast, good Fate, to hiB hanging."
Dynamik und Bereich des Zufalls 125

auf das Gewinnen von Schönheit ohne Körperpflege und das plötzliche
Aufsteigen eines Gedankens angewendet wird 1." In gleicher Weise sieht
Aeschines im Aufkeimen eines Gerüchts, das kein Mensch in Bewegung
setzte, und im Tod, den keine menschliche Hand herbeigeführt hat, die
Wirkung des Zufalls, wie SCHMIDT uns mitteilt. Auch meint Xenophon
in seinem Hieron, daß die Liebe, die einem Menschen zufliegt, aus
eigenem Antrieb und aus freien Stücken, nach Art des Zufalls ihm
zuteil wird.
Zufall - der Ausdruck war CfVf.1-ffJOea, das ungewollte, unvorher-
gesehene Zusammentreffen von Kausalreihen, die, plötzlich 2 aus dem
Dunkel auftauchend, zu einer "Mutation" der Lebenslagen führten
und der Voraussicht auch der klügsten Menschen hohnzusprechen
schienen - erhob sich plötzlich als der wahre Herr des Daseins, bei
Völkern und beim Einzelmenschen.
Es gibt keine ursachlosen Dinge, wohl aber kennen wir eine Menge von
Ursachen nicht, noch viel weniger ihre Kombinationen; sie halten ein-
ander in Schach, sie schwächen sich ab, sie sumieren sich, vermehren ihre
Stoßkraft und ihr Tempo. Eine sehr alte Anschauung reicht tief in das
Gebiet der Krinlinalität hinein, ist eine Maske des Verbrechers, die wir
mit eigener Hand gefertigt und ihm aufgesetzt haben. Es ist der Wunsch,
Glück und Unglück mit dem Verdienst und mit der Verfehlung des
Menschen zu verbinden, ein Gedanke, der zum geistigen Ausweg einer
"Prüfung" und der Belohnung in einer anderen Welt geführt hat, damit
wir Forderung und Wirklichkeit versöhnen können. Aus dem Wider-
spruch, den die Erfahrung täglich uns vor Augen führt, erwächst das
Vorurteil: Schönheit und Glück sind gottgefällig 3 , auch langes Leben,
Macht und Reichtum 4 , vor allem aber ist der Sieg 5 Beweis des Guten,
gottgewollt, gesegnet. Selbst auf den großen, lange unentdeckten Krimi-
nellen fällt aus dem Füllhorn dieser instinktiven Gunst ein Licht. Aus
dem Erfolg spricht ein Verdienst, das uns verborgen ist und unserem
Abscheu widerstreitet.
1 SCHMIDT, LEOPOLD: Die Ethik der alten Griechen. Bd. I, S.54. Berlin 1882.
2 Dieses Nicht-auf-der-Hut-sein verstärkt die Wirkung des Zufalls, weil Über-
raschung lähmt. Es ist ein Handstreich von Kausalitäten, die bestürzen und über-
rumpeln und gegen die wir am Anfang wehrlos sind.
a Das ist der Sinn der Worte, mit denen der junge David dem alten Saul
empfohlen wird: "Siehe ich habe einen Sohn ... der versteht sich aufs Saitenspiel,
er ist Grundbesitzer, kriegstüchtig, redegewandt, schön an Gestalt und Jahve ist
mit ihm." 1. Sam. 16, 18. Er hat Glück oder, wie man damals glaubte, der Segen
Jahves ruht auf ihm.
4 Die Alten stellten sich den Plutos als blind vor, weil er nicht nach dem Ver-
dienst sah. Siehe ARISTOPHANES: PlUt08 13; PLATO: Staat 554. Wenn der Gott des
Reichtums das Augenlicht wieder erlangt, ist, wie Aristophanes zeigt, die Ordnung
der Welt umgestürzt.
5 Darum wollte Napoleon nicht gute, sondern glückliche Generale haben.
126 Dynamik und Bereich des Zufalls

Zum Glück des Augustus rechnet PLUTARCH nicht nur seine eigenen
Eigenschaften, sondern auch die Fehler und ·Schwächen seiner Gegner:
"Für ihn", schreibt er l , "ließ sich Antonius in Schwelgereien gehen; ja
ich schreibe auch die Cleopatra dem Glück des Cäsars zu, an welcher, wie
an einer Klippe, ein solcher Gewaltmensch (wie Antonius) scheiterte und
unterging, damit Cäsar allein sei." Der Kampf um die Macht lehrt uns,
das Reich des Zufalls beim Kriminellen auf das Opfer auszudehnen, und
da die Kriminalwissenschaft die Lehre von den Ursachen des Verbrechens
und der "Kriegsführung" gegen den Rechtsbruch ist, muß die ganze
Breite der Zufallsmöglichkeiten herangezogen werden, die über der
Psychologie und Mechanik der Bekämpfung liegt. Und weil der Zufall
keinen Regeln folgt, die Kombinationsmöglichkeiten im Gegensatz zum
Kartenspiel, selbst zur Mortalität und der Häufigkeit der Autounfälle
ungezählte, unzählbare sind', ist eine Theorie des Zufalls niemals aufzu-
stellen. Wir können nur von einer Tektonik sprechen und sie mit Einzel-
fällen zu belegen suchen, die sich zu lockeren oder engeren Mustern an-
einanderreihen.
Der mechanisierten Welt ist der Instinkt für Zufallsübermacht ge-
schwunden. Er lebt dafür inmitten von Berufen, die primitiv und
noch gefahrvoll sind: bei Jägern, Fliegern, Matrosen, Bergleuten und
Berufsverbrechern. Voraussicht ist hier nur ein kleines Stück der
Selbsterhaltung. Weil sie zum großen Teil vom Glücke leben, sind sie
abergläubisch. Mit Gleichem heilen sie das Tückisch-Unbekannte, mit
Unbekanntem drohend lauernd Magie. Denn immer wieder lehrt sie
die Erfahrung, "wie vieles grundlos glückt und anderes ohne Grund
mißrät 2."
Die mittelalterliche Institution des Gottesurteils ging von der An-
schauung aus, daß die Gottheit den Schuldigen straft und den Un-
schuldigen rettet. Den Lebensvorgängen wurde ein moralischer Sinn
gegeben, den wir ihm heute nicht mehr zuzumessen wagen. Wir glauben
nicht mehr, daß die Elemente, Feuer, Wasser, Gift mit menschlicher
Gerechtigkeit im Bunde stehen. Wir glauben nicht, daß hohes Alter,
Schönheit und Gesundheit Belohnung sind für sündenlosen Lebenswandel,
daß Wahnsinn, Blindheit, Mißgeschick der Jäger, Fischer, Krieger,
Spieler und früher Tod verborgene Untat strafend ahnden. Kausales
Denken gab es nicht, nur Schadenstifter, die sich rächen wollten. Man
dachte sie sich als menschliche Häuptlinge oder Väter, die ihrem Willen
Nachdruck gaben, als mächtige Feinde, die Gehorsam verlangten und
erzwangen, wie man auch sonst auf Frauen, Kinder, Tiere, Sklaven
einschlug.

1 PLUTARCH: Über das Glück der Römer 7.


2 Siehe mein Gangster, S.223ff.
Dynamik und Bereich des Zufalls 127

Das "blinde" Glück war eine spätere Entwicklung, wie es bei


SHAKESPEARE immer wieder auftritt!. Noch weiter geht das Sprichwort,
das den üblen Menschen des Glückes wahren Günstling nennt 2, das
Glück bisweilen auch der Neigung für den Narren zeiht 3. Und schließlich
sagt das Volk sehr realistisch, daß Dumme weise scheinen, wenn Erfolg
sie krönt 4. Was auffällt und die Menge ärgert und dadurch zu einem
übertriebenen Skeptizismus verleitet, ist wahrscheinlich der Wider-
spruch zwischen geistiger, oft auch moralischer Minderleistung und dem
Gelingen, zumeist auf dem Gebiet des Gelderwerbs. Der alte Glaube schlägt
in einen Vorwurf um. Das Glück begünstigt jetzt den Bösewicht. Viel
weiser hat sich einst PerikIes in einer großen Rede geäußert, als er Athen
vor den Extremen des Rückschlages wie des Triumphes warnte: "Denn
der Lauf der Dinge selbst", rief er 5, "kann zuweilen ebenso unberechenbar
sein wie die Gedanken und Einfälle eines Menschen. Daher pflegen wir
auch seltene und unerwartete Begebenheiten dem Glück zuzuschreiben."
Der Zufall kann dem, der handelt, zugute kommen, und er kann ihm
Schaden bringen. Wir haben beim Verbrechen mit drei großen Kräfte-
gruppen zu tun: dem Täter, dem Opfer und der Personeneinheit, die ihn
zur Strecke bringen will. Da diese Individuen gegeneinander im Kampf
aufgereiht sind, muß das Glück des Täters einem Opfer schädlich sein.
Blüht Polizei, Staatsanwalt und Gericht Erfolg, so hat der Kriminelle
Pech. Das Spiel des Zufalls schlägt nach allen Seiten aus. Der Ausgang
- jener Kriminelle, den wir später untersuchen können - hängt von
den Wechselfällen dieser Prozeduren ab. Für ihren Wirrwarr gibt es
keine Regel. Das ist des Zufalls innerste, anarchische Natur.
b) Wer immer mit dem Leben des Verbrechers in lange und enge Be-
rührung gekommen ist, als Richter oder Gefängnisarzt, Strafverteidiger
oder Kriminalbeamter kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß wir
den Zufall unterschätzen. "Eine englische Dame", schreibt ein bekannter
amerikanischer Staatsanwalt 6, "fragte einmal den britischen Oberst-
richter, was man dazu brauche, um vor Gericht einen Prozeß zu ge-
winnen. Die Antwort war: "Zuerst brauchen Sie eine gute Sache, dann
gutes Beweismaterial, dann gute Zeugen, dann einen guten Richter,
dann gute Geschworene, und endlich brauchen Sie Glück." Ein großer
1 Kaufmann von Venedig H, 1,36 und Das Leben König Heinrichs V., IH, 6, 33.
2 The properer man (je anständiger einer ist) the worse luck. Oxford Dict. prov.,
S. 520. - Einschränkend sagt ein anderes Sprichwort: "Thieves and rogues have
the best luck, wenn es ihnen gelingt, nicht gehängt zu werden" (ü they do but scape
hanging).
3 SHAKESPEARE: Was ihr wollt: "Nenn mich nicht Narr, denn ich hab' Glück
gehabt."
4 "Success makes a fool seem wise." Oxford Dict. of engl. proverbs, S. 628.

5 THUKYDIDES, I, 140.
6 WELLMAN, FRANCIS L.: The art of cross-examination, S. 128. New York 1936.
128 Dynamik und Bereich des Zufalls

Strafverteidiger hat unverhohlen gestanden 1 : "Die stärksten aller Kräfte,


die das Leben des Menschen in Wirklichkeit bestimmen, sind Glück und
Zufall. Die ganze Fahrt des Daseins ist im wesentlichen eine Frage des
Glückes. Es frage sich nur jeder von uns, wie oft er irgendeinem Miß·
geschick entronnen ist und wie oft der Tod knapp an ihm vorbeiging.
Wie oft hat er nicht eine Handlung begangen, die zu Entehrung geführt
hätte, wenn sie bekanntgeworden wäre? Wie oft ist er um eines Haares
Breite nicht davon gekommen ?"
Und dann spricht DARRow von den Erfahrungen seiner langen und
stürmischen Karriere. "Zufall ist das große Element des Lebens. Zwei
Männer legen Geld an; der eine gewinnt ein Vermögen, der andere ver·
liert das Letzte. Zwei Männer fahren in einem Auto: es stürzt über einen
Hang; der eine ist tot, der andere bleibt heil. Der tödliche Bazillus wird
von dem einen eingenommen, wenn er gesund und immun ist; der andere
ist geschwächt und stirbt daran. Wie oft ist die Versuchung, das Gesetz
zu verletzen, an uns herangetreten, und nur das Glück hat uns zurück·
gehalten? Wie oft hat uns Erfahrung, Erziehung oder ein Freund zur
rechten Zeit vor dem Ruin bewahrt ?"
DARRow spricht von der minimalen Dosis "Zufall", die genügt, das
Gleichgewicht von Antrieb und von Hemmung umzuwerfen.
"Es ist auch nicht erforderlich, daß unser Pech sehr groß sei bei dem ersten
Mißgeschick. Es kann sich um den Verlust von nur ein paar Dollars handeln, den
jeder andere unschwer überstehen könnte. Es mögen ein paar Tage Krankheit sein,
die einem anderen nichts ausmachen würden. Es kann der Tod eines Vaters oder
eines Onkels sein, wenn die gleiche Tragödie den Grundstein für den Wohlstand
eines andern bilden würde .
. .. Es kann sein Pech sein, daß er das Mädchen nicht heiraten kann, die zu ihm
paßte. Daß er sie nahm und nehmen konnte, ist auch zuweilen Mißgeschick. Viel·
leicht hatte er keine Kinder; es kann sein Unglück sein, daß er zu viele hatte.
Vielleicht hat ihn ein früher Tod an Lungenschwindsucht vor dem Zuchthaus
bewahrt, vielleicht rettete ihn die Gefängnisstrafe vor einem Eisenbahnunglück.
Unendlich groß und vieHach sind die Tricks des Zufalls. Endlos ist die Zahl der Kom·
binationen und Konsequenzen, die sich beim Mischen eines Kartenpacks ergeben."
Die Knickung einer geraden Lebenslinie durch Zufallswirkung hat
ein kluger Arzt beschrieben, der Tausende von Verbrechern im Zucht·
haus beobachten konnte 2 • Natürlich sah er nur das Mißgeschick, zum
mindesten ein letztes Mißgeschick. Kein Anstaltsarzt lernt glückliche
Verbrecher kennen; die kennen nur die Kriminellen selbst 3.
"Wenn ich den Lebensgeschichten der Gefangenen zuhöre, so ver·
suche ich den entscheidenden Augenblick herauszufinden. Das ist der
Augenblick, der in ein Leben einbricht und seine frühere Richtung völlig
1 DARROW, CLARENCE: Orime, itB =UBe and treatment, S. 257. New York 1922.
2 STANLEY, LEO L.: Men at their worst, S. 3. New York 1940.
3 Siehe jenen Kriminellen "Dutch", der in seinem bewegten Leben nicht einen
Tag gesessen hatte. MARTIN, J OHN BARTLow: My life in crime, S. 77. New York 1953.
Dynamik und Bereich des Zufalls 129

verändert. In manchen Fällen ist es der Bruchteil einer Sekunde, der


einem Schluck zuviel vorangeht. Oder wenn Ja gesagt wird statt Nein.
Oder wenn einer den falschen Menschen trifft. Oder den Glauben an sich
selbst verliert und seinen Stolz ... " Es ist klar, daß der Aufschlag eines
harten Zufalls um so weitere Kreise zieht, je lockerer seelische Kon-
stitution oder soziale Situation des Betroffenen gelagert sind. Selbst
großes und erwartetes "Glück" kann verderblich sein, wie riesige Beute
oder Entrinnen aus größter Gefahr, der unerwartete Freispruch, die
erfolgreiche Flucht aus einer ausbruchsicheren Anstalt. Mephistos Wort:
"Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals
ein", gilt besonders für das Triumphgefühl des Verbrechers. Glück
erhöht das Selbstgefühl und nicht die Vorsicht, weil er den bloßen
Zufall seiner überlegenen Leistung zuschreibt.
Kriminalbeamte von einiger Erfahrung leugnen nicht, daß sie, um
erfolgreich zu sein, eine erhebliche Portion Glück brauchen l . Im Mord-
fall des Schutzmanns Gutteridge wandte sich der Kriminaloberinspektor
Berret an die Strafregisterabteilung von Scotland Yard und forderte eine
Liste aller der Verbrecher an, die bei der Verhaftung Widerstand leisten.
Der erste Name auf dieser Liste, mit B anfangend, war ein gewisser
Frederic Gay Browne. Es war der Täter 2. Sein Unglück war, daß er
nicht Xerxes hieß. - Bei der Untersuchung eines Autodiebstahls hatte
der jugendlich-unerfahrene Purvis in Erfahrung gebracht, daß der Ver-
dächtige in einem kleinen Lokal verkehrte 3. Die Besitzerin war ein-
silbig und abweisend. Sie wies den Beamten darauf hin, am Telefon-
apparat seien viele Nummern hingekritzelt. Vertrauend auf die Un-
möglichkeit einer Entdeckung ermunterte sie ihn, die Namen einmal
durchzusehen. PURVIS berichtet: "Ich sah die Wand und bemerkte,
daß viele Leute Nummern hingeschrieben hatten. Einfach ins Blaue
hinein schrieb ich sechs oder acht Nummern auf und machte mich davon.
Ich rief die Nummern an; bei einer meldete sich die Frau des Mannes,
den wir in Verdacht hatten." Die Festnahme ließ nicht auf sich warten.
Zwei britische Kriminalbeamte fuhren den verhafteten Einbrecher
in einem Wagen zur Wache. Der Kriminelle gab zwei Schüsse ab, der
eine ging fehl, der andere prallte von dem metallenen Mantelknopf an der
Brust des Detektivs ab 4 • Wie durch ein Wunder blieb er völlig unver-
letzt. Es blieb bei einem Mordversuch. Versuche sind der weite Tummel-
platz des Zufalls, der unverdient die Schuld vermindert.
1 PURVIS, MALVIN; American agent, S. 27. New York 1938.
2 Sir THOMPSON, BAsIL; The 8tory of Scotland Yard, S. 6. New York 1936.
3 PURVIS, S. 27.
4 FERRIER, J. KENNETH; Crook8 and crime, S.49. London 1928. - Solche
Zufälle sind aus der Duellpraxis bekannt. In einem Falle blieb der eine Duellant auf
dem Platze, seine Kugel ging in den Lauf der Pistole des Gegners, der unverletzt
blieb. STEVENS, WILLIAM OLIVER; Pi8tol8 at ten paces, S. 139. Boston 1940.
v. Hentig, Das Verbrechen I 9
130 Dynamik und Bereich des Zufalls

Der Zufall kommt der Polizei zu Hilfe, wie er sich ihr auch in den
Weg stellt. Wenn die Justiz durch falsche Identifizierung getäuscht
worden ist, kann man immer wieder die Behauptung hören, daß der
wahre und der falsche Täter sich ungewöhnlich ähnlich sahen. Sogar von
Paaren, Mann und Frau, die einen Mord begingen und anfangs ver-
wechselt wurden, hat man eine auffallende übereinstimmung berichtet!.
Der Doppelmörder Arnold Walder (Paris 1879) wurde niemals entdeckt.
Erst führte er die Behörden durch Selbstmordzettel irre, die in Flaschen
aus der Seine gefischt wurden und seinen Freitod ankündigten, weil er
den Gedanken an die Guillotine nicht ertragen könne. Eine andere
Komplikation kam hinzu. Walder hatte einen Doppelgänger mit Namen
Tomess. Dieser Mann hatte nicht nur den gleichen Beruf - Apotheker-
lehrling -, er sah auch noch genau wie Walder aus. Die Augen hatten
den gleichen Ausdruck. Die Kleidung zeigte dieselbe Richtung des Ge-
schmacks, sogar die Handschrift war frappierend ähnlich 2. Als man
ihn festnahm, fand man bei ihm eine Reihe von schweren Giften, genau
wie die Substanzen, die Walder aus dem Geschäft des ermordeten
Prinzipals mitgenommen hatte. Tomess mußte sich die größte Mühe
geben, stärkste Alibis und Ausweise ins Feld führen, um dem Verhängnis
zu entgehen. Die hoffnungsvolle Polizei hatte das Gefühl, daß hier der
Zufall hämisch mit ihr spiele.
Auch im Gefängnis werden solche unerklärlichen Ähnlichkeiten beob-
achtet. In einer amerikanischen Anstalt wurde ein Neger, Will West,
eingeliefert. Als die Personalien aufgenommen wurden, bestritt er vor-
bestraft zu sein. Der Beamte hielt ihm vor, daß er lüge. Er wies auf
den Gefangenen William West hin, der unter Nummer 2626 geführt
wurde und eine lebenslängliche Strafe wegen Mordes verbüßte. Ob man
ihn wegen Fluchtversuchs gemessen habe, wurde er gefragt. (Es war zur
Zeit des Bertillonsystems.) Er sagte, nein. Der ärgerliche Beamte holte
eine Photographie aus der Kartothek und fragte den Neger: "Sind Sie
das nicht 1" "Das bin ich", war die Antwort. "Heißen Sie nicht William
West 1" "Jawohl das ist mein Name." Er wollte aber gleichwohl
niemals gesessen haben. Die Maße wurden verglichen. Sie stimmten. Der
Neger beharrte auf der Behauptung, daß er niemals hier gewesen sei.
Schließlich verlangte der Beamte, man solle Nummer 2626 zu ihm
schicken. Er war verblüfft, als die beiden Männer sich gegenüberstanden.
Sie ähnelten sich auf ein Haar. Sie waren keineswegs Zwillinge, die sich
zufällig wieder trafen, obschon der eine William West, der andere Will
West hieß. Ohne die Zuchthausnummern auf ihrer Tracht konnte man
beide nicht auseinanderhalten 3. Sogar die Verbrechen, die sie begangen
1 BORCHARD, EDWIN M.: Convicting the innocent, S. 108. Garden City 1932.
2 BIRMINGHAM, GEORGE A.: Murder m08tfoull S. 469. London 1929.
3 COOPER, R. C.: Ten thousand public enemies, S. 91ff. Boston 1935.
Dyna.mik und Bereich des ZufaJIs 131

hatten, glichen sich. Der eine hatte Mord, der andere Totschlag be-
gangen. Trotzdem waren sie, wie die Fingerabdrücke ergaben, ganz
verschiedene Menschen. Sowie sie Gummihandschuhe anzogen, oder
die Abdrücke sorgsam abwischten, verschwand auch dieser Unter-
schied.
Zufall rettet. Zufall verdirbt. Das weite Gebiet dessen, was ich die
"Tücke der Indizien" genannt habe, ist voll von treibenden Elementen,
Unheil und Glück von Gottes Gnaden. Warum bestand im Mittelalter
einer die Tortur, das Gottesurteil mit Wasser, Feuer, Gift und Zwei-
kampf 1 Warum steht heute noch auf einem Todesurteil versehentlich
der Name des Obmanns des Schwurgerichts an Stelle des Angeklagten 1
Er bleibt am Leben und nach 12 Jahren gesteht ein anderer auf dem
Totenbett den Mord 1 1 In Mississippi reißt der Strick. Man will den
jungen Menschen wieder hängen. Am Tage vor der zweiten Exekution
dringt eine erregte Masse in das Gefängnis ein und nimmt ihn mit sich
fort in Freiheit. Zwei Jahre später erklärt der Hauptbelastungszeuge, er
könne sich geirrt haben. Auch hier gesteht 9 Jahre später ein ernstlich
Kranker seinem Geistlichen die Tat 2. Bei einem Kindermord wird ein
Taschentuch gefunden, P. K. gezeichnet, voller Blut. Der Vater dieses
Kindes hieß Peter Klein, er war zudem noch Metzger und besaß einen
Pfeffer-und-Salz-Anzug. Mit einem solchen Anzug hatten Zeugen einen
Menschen aus dem Hause kommen sehen. Er hatte Glück, er wurde
freigesprochen. "Ohne daß seine völlige Unschuld erwiesen war, fiel
dieser Klein 1915 als Soldat in Rußland." Das Taschentuch gehörte
Peter Kürten 3.
Einer der wichtigsten Gründe des gerichtlichen Irrtums ist die falsche
Identifizierung. Sehr viele Fälle entgehen unserer Aufmerksamkeit.
Dort, wo es durch Zufall und andere Gründe zu einer Aufklärung kam,
wird immer wieder, wie wir sahen, die ungewöhnliche Ähnlichkeit
zwischen fälschlicherweise wiedererkanntem und wirklichem Täter
hervorgehoben'. Es ist nicht nur die Ähnlichkeit der Züge. Auch andere
physische Indizien stimmen überein. Im Falle des Polizeibeamten Cock
hatten Verurteilter und wahrer Täter die Gewohnheit, gebückt zu gehen;
die Schuhbenagelung des Unschuldigen paßte in die Spur 5. Was kann
die Polizei noch weiter tun, wenn die eigene Schwester die Leiche einer
im Wald vergrabenen Frau erkennt, die Ohrringe beschreibt, die Körper-
länge, Eigentümlichkeiten des Gebisses, und alle diese Spuren bei der

1 BORCHABD, a. a. 0., S. 36.


2 Ebenda, S. 208ff.
3 STEINER-GAY: S.24.
, FRANK, J., und BARBARA. FRANK: Not guilty. S.55, 73, 77, 99, 191. Garden
City 1957.
5 SHORE, W. T.: Trials 0/ Gharles F. Peace, S. 18. Edinburgh 1926.

9*
132 Dynamik und Bereich des Zufalls

Toten stimmen1 1 Ein schwarzer Pfarrer wird vermißt, der sich mit einem
Amtsgenossen überworfen hatte. Eine Freundin des Verschwundenen
meldet, er habe am kleinen Finger der linken Hand einen Ring mit
rotem Stein getragen. Man findet eine schwarze Leiche, zieht sie aus dem
Flusse bei der Kirche und begräbt sie. Man gräbt sie wieder aus, als Ver-
dacht entsteht und die Kleidung von Freunden als ähnlich der des Ver-
mißten bezeichnet wird, findet den Ring mit einem roten Stein, verurteilt
den anderen Pfarrer wegen Mordes 2. Man glaubt erst an seine Unschuld,
als der "Tote" lebend aufgefunden wird. - Beim wahren und beim
falschen Täter findet sich in einem anderen Falle genau die gleiche Narbe
am linken Kiefer und am linken Auge 3.
Die Allmacht des Zufalls, vor Gericht 4 und im festesten Gefängnis,
wird durch zahlreiche Erfahrungen bestätigt. Ausbruch ist das, woran
aktive und zu langer Strafe Verurteilte Tag und Nacht denken. Ein Ge-
fangener arbeitete die ganze Nacht hindurch und feilte den Gitterstab
an einem Ende nahezu vollständig durch. In der nächsten Nacht ging
er an das andere Ende und kam so weit, daß er nur noch an einem
kleinen Metallspan hing. Die Schnittstellen wurden mit Brot und
Erde zugeschmiert. Mittags kamen die Wärter und inspizierten die
Zelle gründlich. "Einer von ihnen packte die Fensterstäbe und rüttelte
kräftig an ihnen. Das Herz Forsbreys (des Gefangenen) stand still. Aber
der Wärter hatte gerade die soliden Stäbe gefaßt und nichts geschah 5 ."
Wie können wir die erfolgreichen Ausbrecher restlos bewundern, und auf
die, denen ein kühnes Unternehmen mißglückt, herabsehen, wenn solches
blinde Ungefähr den Ausschlag gibt 1 Glück scheint uns letzten Endes
Wesenszug zu sein, das an dem einen haftet, andere flieht, und Glück
wie Unglück schließen wir in unser Urteil ein, wie die Behandlung des
Versuches zeigt. Sehr skeptisch sagt ein altes Sprichwort: "Der Dieb,
der nichts zu mausen findet, hält sich jetzt für ehrlich 6." Aber auch

1 HARLOW, ÄLVIN F.: Murders not quite 8olved, S. 97. New York 1938.
2 BORCHARD: S. 144ff. Daß Mörder, ehe sie die Leiche des Opfers in Brand
setzen, den eigenen Trauring an den Finger stecken (JACKSON, J. H.: San Francisco
murders, S.225, New York 1948) oder die eigene Uhr danebenlegen (Pitaval der
Gegenwart, Bd. VII, S. 98) ist schon vorgekommen.
3 Ebenda, S. 24.
4 Eine Suffragette, die an den Unruhen in Washington 1919 beteiligt war, erzählt,
was schließlich vor Gericht geschah: "Der Richter hatte 39 Frauen abzuurteilen.
Als er bei der 26. angekommen war, fragte er erschöpft: ,Wie viele sind noch draußen
da l' Als ihm gesagt wurde, er habe erst zwei Drittel abgeurteilt, ließ er die übrigen
13laufen. Sie waren genauso schuldig wie alle andern. Aber der Richter war müde."
STEVENS, DORIS: Jailedfor freedom, S. 317. NewYork 1920.
5 SMITH, EDWARD A.: Youcan escape, S. 219. NewYork 1929.
6 CHAMPION, SELWYN GURNEY: Racial proverb8, S. 392. New York 1938. (Jüdi-
sches Sprichwort.)
Dynamik und Bereich des Zufalls 133

Kriminelle unterliegen der gleichen Vereinfachung des Denkens: "Diebe",


schreibt der Berufsdieb 1, "haben den größten Respekt für den, der in den
schwierigsten Lagen Erfolg hat, obschon sie genau wissen, daß Erfolg
und Versagen zu einem wesentlichen Teil Glücksache ist" .
Darum sind manche wissenschaftliche Ergebnisse, die den Zufalls-
faktor nicht in Betracht ziehen, mit Vorsicht zu betrachten. Eine Beob-
achtung HEALYs, der ein sehr bedeutender Forscher war, hat sich mir
tief eingeprägt 2 • Er verglich Zwillinge, von denen der eine kriminell, der
andere unbescholten war, und schien zuerst bereit, aus dieser abweichen-
den Entwicklung Folgerungen zu ziehen. Dann aber gestand die soziale
Kontrollperson, daß er einmal im Alter von 12 Jahren kurz davor stand,
zusammen mit zwei anderen in einen Laden einzubrechen. Nur weil ein
Mensch die Straße entlang kam, war der Versuch mißglückt. Durch
reinen Zufall war er von einem Delinquenten zur Kontrollperson ge-
worden. Es gibt unzählig viele solcher Unbescholtenen. Sie blieben nur
sozial durch Zufalls Gnaden, zuma] wenn man im letzten Fall an die
kausale Zwischenstufe der Haft und des Bestraftseins denkt, die ihm zu
gleicher Zeit erspart blieb. Denn von dem Zufall, es sei günstig oder
Pech, erhalten andere Ursächlichkeiten ihren Anstoß, in die sich wieder
neuer Zufall mischt.
Reichtum ist selten, hat deshalb eine geringere, auch eine stillere,
kriminogene Bedeutung als der Mangel. Auch bei der Armut spricht das
reine unverdünnte Unglück eine Rolle. Daß sie allein die Schuld trägt,
läßt sich nicht behaupten, doch wird man sagen dürfen, daß es immer
weiter wirkte, nachdem der erste Anstoß von ihm ausgegangen war. Der
Sohn eines italienischen Einwanderers wird krank. Ein Diphtheriefall
ist im Hause vorgekommen. Das Haus steht unter Quarantäne. Der
Vater muß daher zu Hause bleiben und verdient nichts mehr. Weil er
kein Geld hat, wartet er zu lange mit dem Arzt. Der Junge stirbt. Der
Vater nimmt ein Fleischermesser und schneidet seinem Arzt die Gurgel
ab, vor Kummer und Verzweiflung, weil seinem Groll sich sonst kein
Schuldiger bicteP. - Zwei Leute steigen im September 1929 in Amerika
an Land, im großen Reich des Überflusses und der Chancen. Im Oktober
erschüttert der große Börsenkrach die Wirtschaft. Millionen Arbeitsloser
leiden Not. Die letzten Ersparnisse werden aufgezehrt. Sie sind noch
nicht Bürger und erhalten keine Arbeitslosenunterstützung. Der Zufall
hat sie statt des Reichtums arm gemacht4, viel ärmer, als sie vorher in
der Heimat waren.

1 Professional thief, ed Sutherland, S. 14.


2 HEALY, WILLIAM: The individual delinquent, S. 113. Boston 1917.
3 CARUSO, FRANCESCO, and MILTON MACKAYE: Crimes 011927, S. 329, Garden
City 1928.
4 GINZBERG, ELI: The unemployed, S. 22. New York 1943.
134 Dynamik und Bereich des Zufalls

Die soziale Gesetzgebung sucht die Folgen von Zufallsschäden, Tod,


Krankheit, Unfall auszugleichen. Doch sind sie mächtig, wie sie immer
waren. In unserer Zeit der Abzahlungssitten kann schon die kleine
Lohnverminderung die lange Unheilskette in Bewegung setzen. Das
ist der Sinn jener alten Volksweisheit, wonach ein Unglück .niemals
allein kommt. Eins tritt dem andern auf den Hacken. "Sorgen kommen
nicht als einzelne Späher, sie kommen als Heerscharen anmarschiertI."
«Mallieur ne vient jamais seub Wenn Spannungslagen nur die kleinste
Druckverstärkung brauchen, um abzurollen, kann jeder Zufall diese
Rolle übernehmen. Es kommt zur Kettenreaktion des Mißgeschicks.
Als Abwehr greüt der schwache Mensch zur kriminellen Handlung, und
die Verstrickung gibt ihn nicht mehr frei.
Reichtum ist eine Spielart des Erfolges. Ursprung kann Erbschaft,
Leistung, aber auch der bloße Zufall sein. So wurde Tabor Colorados
Silberkönig 2 : Als er noch in Leadville einen kleinen Laden besaß, kamen
zwei deutsche Einwanderer zu ihm und wollten von ihm Lebensmittel
und Werkzeug im Werte von 64,75 Dollars haben. Dafür sollte er zu
einem Drittel an allem beteiligt sein, was sie in den Bergen finden
würden. Tabor hatte keine Lust und keine Hoffnung, aber er wollte
seinen Ruf als guter Kerl (good fellow) aufrechterhalten und schlug ein.
Nicht lange danach entdeckten die Deutschen ein Erzvorkommen. Es
war die später Klein-Pittsburgh genannte unermeßlich reiche Silbermine.
Auch in den Bergen sprach man viel davon, daß Dumme ganz besonders
glücklich sind. Hier schwingt noch der Gedanke der bewußten Leistung
mit. Die Zufallsonne aber scheint auf Toren wie auf Allerschlauste,
nimmt nicht Partei, geht iliren eigenen stillen Gang.
Sehr wohlliabende Leute, haben, wenn sie reich und alt genug ge-
worden waren und sich und anderen nichts mehr vorzumachen brauchten,
den Zufall in den Vordergrund ihres Erfolges gerückt. Ich denke dabei
an Tom Swope, den reichsten Mann von Kansas City, der, als Opfer
schließlich, im Mittelpunkt einer Gütmordserie stand. Viele haben ilin
noch gekannt, als er ehrlich und anständig, aber schon ein wenig sonder.
bar in höherem Alter durch die Straßen ging und murmelte. "Du bist ein
alter Narr Tom Swope, jawohl mein Herr, ein alter Narr." Ein Freund
trat einmal auf ihn zu und wliondte ein, er dürfe sich keinen alten Dumm-
kopf nennen, da er der reichste Mann der Stadt geworden sei. Er hielte
ihn sogar für ziemlich schlau. "Ich schlau ~" entgegnete der Alte und
fuhr dann fort, indem er auf das Häusermeer von Kansas City hinwies:
"Ich habe einstmals beinahe die ganze Stadt da unten besessen. Ich habe alles
das für ein paar hundert Dollar pro Acker abgegeben. Ich habe mein ganzes Leben
hindurch nicht einen Tag gearbeitet. Nicht einen Dollar habe ich mein Leben lang

1 SHAKESPEARE: Hamlet IV, 5, 78.


2 KARSNER, DAV1D : Silver Dollar. The story of the Tabors, S. 98ff. New York 1946.
Dynamik und Bereich des Zufalls 135

verdient. Sie meinen, daß ich reich sei und das stimmt. Doch wissen Sie warum? ...
Da waren zwei Grundstücke, die ich nicht loswurde. Das eine war ein Loch in der
Gegend, das andere ein scheußlicher Hügel von Lehm. Keiner wollte mir etwas
dafür geben, niemand glaubte, daß sie irgendeinen Wert hätten, und so behielt ich
sie. Sie sind es, die mich reich gemacht haben 1. "
Das, was man als ein schlimmes Unglück anzusehen gewohnt ist,
kann gänzlich unerwartet Segen werden, wie großer Reichtum zum Ver-
derben werden mag, zum Unheil, das uns tiefer zieht als allerschlimmste
Not 2 • PAUL LIMAN führt aus BISMARCKS Gedanken und Erinnerungen
einen Vorgang an, in dem ein Mordversuch dem Gesundheitszustand eines
alternden Fürsten wesentlich zugute kam. "In seinen Gedanken und
Erinnerungen bemerkt Fürst BISMARCK: Um die Mitte der siebziger
Jahre begann die geistige Empfänglichkeit des Kaisers im Auffassen
anderer und Entwickeln eigener Vorträge schwerfälliger zu funktionieren.
Er verlor zuweilen den Faden im Zuhören und Sprechen. Merkwürdiger-
weise trat nach dem Nobilingschen Attentat (der alte Kaiser wurde von
mehr als 30 Schrotkörnern getroffen) eine günstige Veränderung ein ...
Der Kaiser war freier, lebendiger, auch weicher. Der Ausdruck meiner
Freude über sein Wohlbefinden veranlaßte ihn zum Scherze: "Nobiling
hat's besser als die Ärzte gewußt, was mir fehlte: ein tüchtiger Ader-
laß 3."
Solche Beobachtungen sind nicht allzu selten:
"Zwei Brüder, 46 Jahre alt, beide gelernte Maurer, haben eine völlig verschiedene
soziale Entwicklung genommen. Der eine ist ein erfolgreicher, völlig einwandfreier
Meister in seinem Fache. Der andere ist rastlos, haltlos und ist vielmal vorbestraft.
Der erfolgreiche Zwilling wurde im Alter von 16 Jahren durch einen Hufschlag
schwer verletzt, lag 9 Wochen zu Bett, wurde dick, sexuell inaktiv, hatte keine
Kinder, wurde aber durch die Verletzung sozial stabilisiert. Der andere setzte kein
Fett an, heiratete zweimal, hatte Kinder, beging ein Sittlichkeitsdelikt und führte
ein Leben voller Unruhe und Konflikte'. Es war sein Pech, daß ihn ein schwerer
Unfall nicht ,kurierte'."
WEHNER hat auf die Rolle hingewiesen, die der Zufall bei der Auf-
klärung spielt; dort wo der Zufall nicht zu Hilfe kommt, bleibt öfters
das Ergebnis aus. Er erinnert an die Fälle Haarmann, Großmann und
Denke 5. Denkes mindestens 30 Morde wurden in einer Kleinstadt und
in einem Haus begangen, in dem der Mörder mit 13 Personen, darunter
9 Kindern, die meist gut beobachten, wohnte.
"Denke hatte einfach einmal ,Pech', als er (1924) einen Handwerksburschen, der
an seinem Tisch saß, hinterrücks erschlagen wollte. Durch eine unvorhergesehene

1 GARWOOD, DARRELL: Cr088roads oi America, the story of Kansas City, S. 201.


New York 1948.
2 Siehe den Fall Loeb-Leopold in meiner Erpressung, S. 143ff.
3 LIM.AN, P AUL: Der politische Mord im Wandel der Geschichte, S. 205. Berlin 1912.
4 Monatsschrift, S. 512. 1935.
5 WEHNER, S. 19ff.
136 Dynamik und Bereich des Zufalls

Kopfwendung ging Denkes Schlag daneben, ein Kampf entbrannte und der Mord-
versuch wurde bekannt ... Dieser Mörder konnte keiner Polizei bekannt sein, weil
er, der regelmäßige Kirchengänger und Kreuzträger bei Beerdigungen, keinerlei
Vorstrafen hatte."
Man kann die falschen Diagnosen der Ärzte, die eine unrichtige Todes-
bescheinigung ausstellen, als Zufall behandeln, wenn man sie als ver-
hältnismäßig selten ansieht!. WEHNER berichtet folgendes Geschehnis 2 :
"Ein Arzt war in eine Wohnung gerufen worden, um den Tod eines
Mannes festzustellen. Der Blutaustritt aus dem Mund des Toten ließ
den Arzt fragen, ob der Tote krank gewesen sei. Auf die Auskunft, daß
es sich um einen Lungenkranken gehandelt habe, rief der Arzt bei dem
behandelnden Lungenarzt an und teilte diesem den Befund (Austritt
von hellrotem Blut aus dem Mund) mit. Beide Ärzte "einigten" sich
auf Blutsturz infolge offener Tuberkulose. So wurde auch die Todes-
ursache in der Todesbescheinigung attestiert. Als die Leichenträger
- Stunden später - den Toten abholten, entfiel der Kleidung ein Ge-
schoß." - In New York wurde ein Arzt in das GIen Island Hotel ge-
rufen. Hier hatten "John Wilson und Ehefrau aus Brooklyn" des Nachts
zuvor ein Zimmer genommen. Der Arzt fand einen jungen Mann auf
dem Bett liegen. Nachdem er ihn kurze Zeit behandelt hatte, erklärte
er ihn außer Gefahr; eine leichte Einbuchtung hinter dem rechten Ohr
des Mannes hatte er bemerkt, aber für bedeutungslos erachtet. Am
nächsten Morgen war der Mann tot. Die leichte Einbuchtung war ein
Einschuß gewesen 3.
Das Geständnis, das überraschend und vom Standpunkt eines Men-
schen, dessen Kopf auf dem Spiele steht, unerklärlich kommt, zählt zu
dem "Glück" des Untersuchungsführers. Der Boxer Carter war von
allen polizeilichen und ärztlichen Instanzen von dem Verdacht, seine
Geliebte getötet zu haben, gereinigt worden. In einer Totschlagssache
verurteilt, bat er das Gericht noch etwas sagen zu dürfen: "Ich habe
Mildred Donavan ermordet", sprudelte er heraus. "Sie war nur eine von
vielen, die ich getötet habe. Jetzt seid ihr baff, ihr lieben Leute 4 ."
Sogar der Vater seines Opfers glaubte bis zuletzt an ihn.
Wir vergessen leicht, daß das, was Recht ist, von Menschen ange-
ordnet und bestimmt wird. Auch wendet es sich nicht von selber an,
wie die Magnetnadel unabänderlich nach Norden zeigt. Das ganze Straf-
verfahren ist von Menschen angefüllt, die jeden Schritt nach ihrem

1Siehe das Material in meinem Mord, S.21ff.


"Diese allein aus der Sicht des Verfassers mitgeteilten und bei weitem nicht
2
ausgeschöpften Beispiele ... mögen genügen." WEHNER, S. 29.
3 COLLINS, TED: New York murders, S. 227. NewYork 1944.
4 MAKrus, JOHN N.: Boston murders, S. 106. New York 1948. - Siehe das
völlig überraschende unverständliche Geständnis des multiplen Mörders John Haigh
bei HOSKINS: No hiding place, S. 100ff.
Dynamik und Bereich des Zufalls 137

Sinne lenken, von dem Polizeibeamten, der die erste Anzeige bearbeitet
bis zu der obersten Instanz. Obschon die Regeln schwarz auf weiß die
gleichen sind, so ist der Spielraum des Ermessens ungeheuer groß. Es
finden sich die gründlichste Sachkenntnis, die ehrlichste Bemühung, die
Fülle allerverschiedenster Temperamente mit Unvollkommenheiten jeder
Art zusammen. Es hängt vom Zufall ab, in wessen Hand die eine oder
andere Phase des Verfahrens kommt, und öfters stoßen jene Elemente
hart zusammen, die ein gerechtes Urteil vorbereiten sollen. Der Staat,
den wir allwissend und allweise sehen möchten, ist mit sich selber uneins,
wechselt seine Meinung mit den Prozeßpersonen, ihren widersprechenden
Gefühlen und Gedanken und ihrer tiefen und weniger guten Menschen-
kenntnis.
Im Mordfall Timm (Hamburg 1954) erhob sich zwischen der obersten
Polizeibehörde und dem Actuarius in criminalibus ein Konflikt. Die
Polizei neigte zu der Ansicht, es läge kein Raubmord an Mutter und
Tochter vor, die Mutter sei im Streit von der Tochter getötet worden,
die daraufhin Selbstmord verübt hätte. Man war geneigt, der Meinung
sachverständiger Polizeibeamten beizutreten. Die Kriminalbehörde be-
stand mit aller Festigkeit auf ihrer Meinung!, und hatte, wie sich bald
ergab, in allen Stücken recht.
Doch auch der Richter kann, wenn es der Zufall will, sich irren. Bei
einer Notzucht mit Todesfolge, die durch Geständnis aufgeklärt wurde,
widersetzte sich das Amtsgericht der Exhumierung, die der Oberstaats-
anwalt beschlossen hatte. Der Widerspruch des Amtsgerichts war
folgendermaßen begründet 2 :
"Es wird gebeten, von der Exhumierung der Leiche absehen zu wollen. Die ein-
gehende Besichtigung der Leiche und des Tatortes haben auch nicht die geringsten
Anzeichen dafür ergeben, daß ein Mord vorliegen könnte ... Sowohl das Gericht als
auch der Ärzt und die drei Oberlandjäger, darunter ein Landjägeroberleutnant und
ein Landjägermeister, waren der Überzeugung, daß zweifellos Selbstmord vorlag ...
Die Exhumierung der Leiche würde ich für um so bedenklicher halten, weil dadurch
den Gerüchten neue Nahrung gegeben und der Eindruck erweckt würde, als mache
sich das Gericht deren Inhalt zu eigen. "
Die Staatsanwaltschaft setzte die Leichenöffnung durch. Das
Obduktionsprotokoll wagte keinen bestimmten Schluß auf eigene oder
fremde Tötung zu ziehen. Jetzt glaubte auch der Oberstaatsanwalt
Selbstmord für "zweüelsfrei" gegeben. Als ein Jahr später der Täter
ein Geständnis abgelegt hatte, hielt das Amtsgericht das Geständnis
für das eines Geisteskranken und setzte ihn auf freien Fuß. Jetzt griff
die Landeskriminalpolizei ein, sprach sich für Notzucht und gewaltsame
Erstickung aus, und es erfolgte Verurteilung zu 10 Jahren Zuchthaus

1 WOSNIK,a.a.O., Bd.l, 2, S. 91ff. Hamburg 1926.


2 BARTMANN, ]RITZ: Dubiose Fälle, S. 45ff. Lübeck 1954.
138 Dynamik und Bereich des Zufalls

wegen Notzucht mit Todeserfolg (§ 177, 178 StGB). Durch Zufall war
die Wahrheit trotz des zähe festgehaltenen Irrtums vieler Fachorgane
noch ans Licht gekommen.
Wer sich die Mühe machen wollte, die Umstände zu erforschen, unter
denen Morde entdeckt wurden, würde auf lauter Zufälligkeiten stoßen.
Die meisten im Wald versteckten Leichen werden von Kindern gefunden,
die im Walde herumspielen, von Hunden, die plötzlich den Herrn ver-
lassen und abseits wütend zu graben beginnen, von pilzsammelnden
Frauen, die ins Dickicht eindringen, von Jägern auf der Treibjagd, von
Imkern, die durch dick und dünn nach ihren Bienenschwärmen suchen.
Dagegen werden Leichen, trotzdem die Stelle ungefähr bezeichnet ist,
trotz langen Suchens überhaupt nicht oder erst gefunden, nachdem die
Suche lange aufgegeben ist. Dem Zufall ist es öfters überlassen, ob über-
haupt ein Mord entdeckt wird. Vor 100 Jahren war im Staat Montana
ein Unbekannter ohne Spur verschwunden. Es war ein Mord. Der
Körper war gefroren, lag im Gestrüpp und wäre wohl bis heute ruhig
dort gelegen. Da zog ein Mann geruhsam seinen Weg. Eine Trappe
stieg auf, er schoß, das Tier fiel in den dichten Wald in einiger Ent-
fernung. Der Schütze suchte, fand den toten Vogel auf der Leiche liegen 1.
Ein Scotland Yard-Beamter hat sich Gedanken darüber gemacht,
warum Lustmörder so oft unentdeckt bleiben. Seine Antwort war, daß
diese Typen keine Vorbereitungen treffen, plötzlichem Antrieb folgen,
zuschlagen und dann gleichsam von der Erde verschluckt werden.
BEVERIDGE erklärt, daß diese Täter phänomenales Glück zu haben
scheinen 2, ganz selten Spuren hinterlassen, während der Tat und nach
ihr nicht gesehen werden. Das" Glück" scheint mir mit der animalischen
Einengung des Bewußtseins zusammenzuhängen, die diese Täter ihre
Opfer beschleichen, anspringen und zur Seite schleppen läßt. Auch
fehlen die Zusammenhänge der Motive, der Bekanntschaft mit dem
Opfer, der komplizierten und daher verräterischen Tötungstechnik.
Nicht selten ist das "Glück" des Täters nichts als unser falsches Bild
des mörderischen Lüstlings. Die Mischung gutmütig und sadistisch will
uns nicht in den Kopf. Zugänglich, freundlich plaudernd stand der
Massenmörder Kürten seinem Arzte gegenüber 3 •
Der Zufall reicht bis in den Strafvollzug hinein. Im Zuchthaus Jack-
son saß ein junger Epileptiker, einer der Führer der Revolte von 1952.
Seine Entlassung wurde verzögert, weil man ihm einen Fluchtversuch
ankreidete. Er wurde in einer selbstmordsicheren Zelle verwahrt. Man
hatte ihn mit seinem Bruder verwechselt. Die Strafe endete daher nicht
am 12. Dezember 1951, weil man seinen Beteuerungen nicht glaubte.
1 DIMSD.ALE: Vigilante8 oi Montana, S.94. Butte 1937.
2 BEVERIDGE, PETER: Inside the C.I.D., S. 122. London 1959.
3 BERG, K., a. a. 0., S.334.
Dynamik und Bereich des Zufalls 139

Jetzt fing er an zu querulieren und stellte sich erbittert an die Spitze


einer blutigen Meuterei. Gerade bei Paranoikern läßt sich das Abrollen
einer verhängnisvollen Entwicklung von einem einzigen Zufalls-Trauma.
beobachten, das ihm das Leben oder auch die Umwelt oder er sich selber
nicht erspart hat. Der Keim ist winzig, kann jedoch ins Riesengroße
wachsen l .
Das Element des Zufalls greift tief in unsere Art zu denken ein. Sehr
viele Kriminelle klagen, daß sie im Leben niemals eine Chance hatten
und daß sie als Besiegte keine Kraft mehr fanden, den Kampf ums Dasein
fortzusetzen. Es ist wahr, daß es eigenartige Ketten des unverdienten
Mißgeschicks gibt, Kranklleit, Enttäuschung im Berufe, Undankbarkeit
auf allen Seiten, den Zufall, körperlich entstellt 2 zu sein. Die seelischen
Abläufe, die hier ihren ersten Anstoß erfahren, können sich "verdicken",
lähmend und vergiftend auf das Leben eines Menschen legen. Gefühle
können sich entwickeln, die ihre Herkunft aus den Tiefen der Rache-
Reaktionen nicht verhehlen. Es kommt zu chronischer, ja ganz bewußter
Rebellion. Die Strafen werden als eine Bestätigung der Verfolgung in
Kauf genommen und stumpfen sich durch rasche Folge ab.
Doch auch das Glück stört unser Gleichgewicht 3 • Die Erklärung ist
zu verführerisch, daß das, was Zufall war, der Klugheit zuzuschreiben ist,
der überlegenen Technik unserer Camouflage, mit einem Worte sich in
Zukunft wiederholen wird, weil hinter dem Erfolg Leistung und Ver-
dienst standen. Während nicht nur Kriminelle, die schließlich ins Garn
gehen, sondern wir alle Erfolge als eigene Weisheit buchen, beim Miß-
geschick dagegen den Zufall verantwortlich machen, haben die großen
Staatsmänner des Altertums angesichts so vieler unberechenbarer Dinge
im Völkerleben ihre Bürger beschworen, immer den blinden Zufall vor
Augen zu haben 4 • Die römische Armee war sogar geneigt, in einem

1 MARTIN, J. B.: Break down the walls, S. 68. New York 1954.
2 Der höchste Wunsch eines jungen Kriminellen war, sein Gebiß, das ihn ver-
unstaltete, geändert zu sehen. "Ich glaubte, das Leben gäbe mir nicht eine gerechte
Chance. Ich verstand das Leben nicht." SHAW, CLIFFORD R.: The natural history
01 a delinquent career, S. 116. Chicago 1931.
3 Siehe das Kapitel "Die Korruption des Erfolges" in meiner Mordmonograpkie,
S. 195ff.
4 Perikles sagte dem Volk von Athen diese Wahrheiten: "Ich kann also nach
meiner Einsicht euch jetzt keinen andern Rat geben als früher. Nur bitte ich die-
jenigen unter euch, die unsern gemeinsamen Entschließungen beipflichten, daß sie
bei einem etwaigen Mißgeschick uns möglichst beistehen oder daß sie sich auch von
dem glücklichen Erfolg unserer klugen Maßregeln keinen Anteil anmaßen. Denn der
Lauf der Dinge selbst kann zuweilen ebenso unberechenbar sein wie die Gedanken
und Einfälle eines Menschen. Daher pflegen wir auch seltsame und unerwartete
Begebenheiten dem Glück zuzuschreiben." THuKYDIDES, I, 140. - Die gleichen
Regeln finden auf das private Leben Anwendung. Was der griechische Staatsmann
hier entwickelte, war der Anfang einer "Tychologie".
140 Dynamik und Bereich des Zufalls

unerwarteten militärischen Erfolge die gefährliche Verführung zur


Unbedachtsamkeit zu erblicken, während Mißgeschick eine nützliche
Lehre erteile 1.
Es gibt nun freilich reines Unglück, mit dem man schwerlich etwas
anzufangen weiß und das als unverdienter Schaden angesehen werden
muß. Jack Black kam als ganz junger Mensch an den Eingang eines
Bordells, um eine Milchrechnung einzukassieren. Nichtsahnend stand
er in der offenen Tür, als Lärm ausbrach. Ein Kunde wollte bestohlen
worden sein und hatte die Polizei gerufen. Gäste, Mädchen, die Inhaberin,
aber auch der bestürzte Milchmann wurden in einen Polizeiwagen ge-
laden und zur Wache gebracht. Hier löste sich der Konflikt dadurch auf,
daß dem Opfer sein Geld wieder heimlich zugesteckt wurde, der Wach-
habende ihn streng ermahnte, seine Taschen gründlich durchzusehen,
worauf er ernüchtert und beschämt die Summe fand. Bestohlener und
die Insassen des öffentlichen Hauses wurden nun entlassen. Die Wache
sank zurück in müde Ruhe. Nur der verblüffte Junge mit der Milch-
rechnung blieb übrig; er wurde bis auf weiteres eingesperrt. Hier setzte
seelisch seine kriminelle Laufbahn ein 2.
Da sich das Irrationelle der begrifflichen Erfassung entzieht, kann es
weder eine Psychologie noch eine Soziologie des Zufalls geben, nur die
Beschreibung vieler Fälle bleibt uns übrig. Wir stehen vor einem Bereich,
den man die "Stratosphäre" des Kausalen nennen könnte. Natürlich ist
der Zufall auch kausal bedingt, nur ist der Kräfteeinsatz der Einsicht
und dem Eingriff - augenblicklich noch - verschlossen. Wir können
ihn nicht kommen sehen und unsern Zwecken dienstbar machen, ihn
zähmen sozusagen, Prävention und Therapie entwickeln, weil er kausal
noch völlig "wild" ist.
Nur ein winziger Teil der Kriminellen wird verurteilt oder erreicht
die Strafanstalt, wo wir ihn untersuchen können. Wenn dieses Material
aus einem Gusse wäre und einzig durch übersehbare Prozesse verdünnt
würde, so wären wir dem Ziele unseres Forschens nahe. Aber blindes
Glück wie blindes Unglück trüben neben den vielen Fehlerquellen, die
wir genannt haben, das Bild. Die tägliche Erfahrung lehrt, daß nicht nur
Kluge, Reiche, Rasche, geschickt getarnte Heuchler uns entkommen, die,
welche mit dem Rechtsbruch Maß zu halten wissen und einen Fehltritt
sich zur Lehre dienen lassen. Auch die Gerissenen haben Pech, den Toren
steht das Glück zur Seite. In jedem Zuchthaus gibt esZufallsdelinquenten,
wohin wir auch im freien Leben blicken, fällt unser Blick auf "Lautere"
des Zufalls, die Niebestraften, die dabei nicht reinen Herzens sind.
1 Siehe die Bemerkungen bei JOSEPHUS: Bell. Jud. 111, 100 und 101; sie sind
von souveräner Klugheit und beziehen sich unmittelbar auf die Rolle des Zufalls
in beiden Sphären, Schuld und Unschuld.
2 BLACK, JACK: You can't win, S. 30-38.
Dynamik und Bereich des Zufalls 141

Wir finden Opfer, die zum Leiden vorbestimmt sind, und andere
wieder, die durch ihre Vorsicht den Taschendieb, den Räuber, den Be-
trüger vor dem Delikte retten, und oftmals wieder nur mit Zufalls Hilfe.
Wir sehen Lebenslagen, die den potentiellen Täter, etwa den sexuell
Gespannten mit aller Wucht befallen und ihn an eine kaum geahnte Mög-
lichkeit erinnern und verführen!. Und andere, etwa eine genaue, regel-
mäßige Bankkontrolle, verscheuchen streng einen jeden Gedanken an
Unterschlagung und kommen Hemmungen, wenn sie zerbröckeln wollen,
zu Hilfe. Vom Zufall auf der Seite der Verfolger haben wir gehandelt.
Er kann gar nicht zum Einsatz kommen und seine Macht entfalten, wenn
Opfer noch verschwiegener sind als Täter 2 , ja manchmal nicht verletzt
sein wollen 3. Dafür sind andere auf der Opferseite wieder unerwartet
findig, wie Eifersüchtige oder Schwiegermütter, all jene, die der Haß
beflügelt, der Argwohn aufpeitscht und scharfsichtig macht.
So haben wir uns erst mit derb-verzerrten Bildern böser Menschen
ausgerüstet, und dieser Blendung sind wir bei dem höchsten Menschheits-
typ verfallen, der uns die reinsten Regeln des Verhaltens gab. Wir glaub-
ten, daß er Gott gelästert habe, nur weil er neuen, feineren Gottesglauben
lehrte. Die falschen Bilder drängen sich in die Gesetze, den Gerichtssaal,
den Kopf der Zeugen und der Sachverständigen, pulsieren durch die
öffentliche Meinung, den Sinn der Wähler und das Massendenken. Wir
ziehen schlecht gewappnet in den Kampf, vergeuden unsere Kraft an
Schattenbilder und wechseln, je nach Blutdruck, die Gestalten der
Bedroher. Wie es den Musterhäftling im Gefängnis gibt, so lassen wir
im Leben draußen uns Zufriedenheit ablisten, Achtlosigkeit und falsches
Urteil. Wir wissen, daß Gefangene niemals stärker Wohlverhalten zeigen,
als wenn sie kurz vor einem Ausbruch stehen.
Dann ist es nur ein winzig kleiner Teil der Summe allen Rechtsbruchs,
der uns bei allem Suchen in die Hände fällt. Wohl ist die Massenunter-
suchung eine unserer Hilfen, die unbedingt vonnöten ist. Doch ist sie
mit Kritik zu lesen. Die Wissenschaft muß ihren vielen Unvollkommen-
heiten auf der Spur sein und, wenn es irgend geht, die Fehlerquellen ein-
zuschränken sich die größte Mühe geben.

1 Hier kommen seltsame Zufälle vor, wie sie diese Mitteilung enthält:
"Schnarchende Tochter hat den Mund offen und verführte (den Vater) zum
coitus in os." FINKE und ZEUGNER in Monatsschrift, Bd. XXV, S.316; oder
wenn schwer betrunkener Vater die Tochter mit der Ehefrau verwechselt haben
will. Ebenda, S. 320.
2 In dem berühmten Falle Beck meldeten sich nur 5 Opfer, aber 20-25 hatten
bei der Bank ungedeckte Schecks des Schwindlers zu kassieren versucht; die Mit-
teilung ist absichtlich dunkel gehalten. W ATSON, ERIC R.: Adolphe Beck, S. 29.
Edinburgh 1924.
3 Siehe meine Erpressung, S. 302f.
142 Dynamik und Bereich des Zufa.lls

Am Ende mischt sich störend eine dritte Kra~t ein. Es ist das Spiel
des Zufalls. Wir sind ihm alle untertan: Verbrecher, Opfer, Staatsgewalt,
hier hilfreich-rettend, dort ein Teufelsspuk, wobei was einem nützt dem
andern schadet. In buntem Durcheinander kreuzen sich die Energien
dieser blinden Macht. Sie stürzen einen Schwachen ins Verderben, er-
weisen einem Gauner ihre unverdiente Gunst und reihen ihn in die
Gemeinschaft braver Bürger ein, bisweilen bis zum Ende seines Lebens.
Der Zufall lehrt uns, Duldsamkeit mit festem Abwehrwillen zu verbinden.
Wenn dergestalt die schöne Sicherheit verlorengeht, daß wir den
Kriminellen ziemlich gründlich kennen, so bleibt der Ansporn unverdros-
sener Forschung l • Sie wird das Dunkel ganz allmählich lichten. Wer
Unrecht tut, wer Unrecht leidet, wer den Verbrecher aufzuspüren hat,
wem der Beweis des Rechtsbruchs aufgebürdet ist, muß Schritt für
Schritt ergründet werden. Der Mitmensch ist nur eine jener Kräfte der
Natur, die wir halbwegs entriegelt haben, und dem wir, wenn er die
Gesetze bricht, nicht nur als bloße Mehrzahl, sondern als die Über-
legenen - und dazu zählt die größere Einsicht - eine feste Schranke
ziehen müssen.

1 Sie ist und bleibt auf das erreichbare Zahlenmaterial angewiesen. Wenn wir
mit den verfügbaren statistischen Angaben arbeiten und aus ihnen Schlüsse ziehen,
BO bleiben alle angeführten Vorbehalte in voller Kraft und sachlich unberührt.
Zweites Buch

Das Wirkungsfeld von Zeit und Raum


Erstes Kapitel

Zusammenhänge im Bereich der Zeit

A. Der Monatsrhythmus
a) Genau gesehen kommt der Zeit nicht eigene Kraft zu. Sie ist nur
Denkform, die das Nacheinander des Geschehens ordnet. Wir sehen von
den meisten Dingen nur den Ablauf, nicht die inneren Gründe. Wir
können mit dem Zeitmaß dort Begriffe bilden, wo tiefere Einsicht in
kausalen Nexus fehlt.
Wir sehen Menschen aus dem Schoß der Mutter kommen, aufwachsen,
einen Höhepunkt erreichen, welk werden und von hinnen gehen. Weil
wir die Kräfte kennen, die wir Wachstum nennen, bedürfen wir bei dieser
Folge der Prozesse keines Zeitbegriffes. Dagegen ist uns unbekannt,
warum der Rechtsbruch sich in kurzen oder langen Rhythmen hebt und
senkt, bei Tag und Nacht, nach Luftdruck und nach Sonnenflecken.
Uns bleibt nichts übrig, als einstweilen dieses Nacheinander einfach
mit dem Maß der Zeit zu ordnen.
Hinter der Kategorie der Zeit stehen also Kausalitäten, die uns noch
nicht bekannt sind. Nicht selten hilft der Zeitraum Art und Wirkung
mancher Kräfte zu erkennen. So hat z. B. W OLFGANG 1 den Zeitraum
untersucht, der zwischen Verletzung und Tod bei der Tötung durch ver·
schiedene Vernichtungsmittellag. (Die Zahlen S. 144.)
Hier fällt vom bloßen Zeitmaß her Licht auf die Wirkung der Ver.
wundung. Die Untersuchung eines Mordes zieht aus diesem Wissen
größten Nutzen. Das Opfer wird vielleicht noch sprechen können. Beim
Angeschossenen wird man sich mit der Vernehmung eilen müssen, bei
Schlagverletzung etwas größeren Spielraum haben. Das Alibi ist eine
Frage von Zeit und Raum. Im amerikanischen Recht wird bei der
Tötung dem Zeitverlauf eine wichtige Rolle zugemessen. Der Verletzte
muß innerhalb eines Jahres und eines Tages sterben; sonst liegt
juristisch keine Tötung vor. Diese Rechtsvermutung des amerikanischen

1 WOLFGANG, a. a. 0., S.115.


144 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Mord
Der zeitliche Zwischenraum von Verletzung und Exitus
nach Tötungsarten in Prozent

Zeitraum I Erstechen Erschießen I Erschlagen Sonstige

Weniger als 10 Minuten I 28,5 47,9 6,3 39,5


10 Minuten bis 1 Stunde 39,5 22,7 I 7,8 18,4
Weniger als 1 Stunde 68,0 70,6 14,1 57,9
1 Stunde bis 1 Tag 18,0 17,5 32,8 23,7
Weniger als 1 Tag 86,0 88,1 46,9 81,6
Mehr als 1 Tag 8,0 11,3 42,2 13,2
Unbestimmt . 6,1 0,5 10,9 5,3

Strafrechts 1 bedeutet eine Begrenzung des Kausalverlaufes und ent-


spricht der These einer "proximate cause". Sie ist dem deutschen
Strafrecht unbekannt, war älteren Rechten aber ganz vertraut 2 •
Sowie wir selbst imstande sind, das Nacheinander der Lebensvorgänge
zu regulieren, beginnen wir mit Zeitabschnitten zu arbeiten. Wir setzen
Fristen 3 , die als "drängende Termine" bei dem Zustandekommen des
Verbrechens eine Rolle spielen 4. Wir dosieren die Strafe nach Zeit-
abschnitten 5. Wir lassen die Verfolgung und die Strafvollstreckung
durch Zeitablauf erlöschen 6. Der wiederholte Rückfall führt zur Straf-
verschärfung 7• Die Zeitbeziehung wird erschwerendes Moment; auch
sie ist zeitlichem Verbrauche unterworfen 8 •
Hier setzen wir die zeitliche Beziehung selbst, um ganz bestimmte
Zwecke zu erreichen. Es ist ganz anders mit dem kriminellen Menschen,
den wir in freier Wildbahn sozusagen untersuchen. Hier ist die Zeit-
verknüpfung nur ein Notbehelf, mit dem wir Phänomene äußerlich zu-
sammenfassen, solange uns kausale Einsicht fehlt. Der Tag wird kom-
men, wo wir sie an anderer besserer Stelle werden unterbringen können.
Einstweilen sprechen wir von Zeit und Kriminalität. Dahinter bergen
sich die mannigfachsten Elemente. Sie können biologisch, soziologisch,
geophysisch sein. Nur in dem Zeitverlauf verrät sich ihre Spur.

1 SEARS, KENNETH, and HENRY WEffiOFEN: May's law of crimes, S.279ff.


Boston 1938.
2 HIS, RUDoLF: Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Oarolina, S. 121.
München 1928. - "Die Quellen des älteren Rechts betrachten die Verletzung bis-
weilen dann als Ursache des Todes, wenn der Tod in bestimmter Frist, etwa inner-
halb eines Jahres eingetreten ist ... Die meisten Quellen ... lassen die Haftung für
den tödlichen Ausgang wegfallen, wenn der Verletzte eine bestimmte Frist, z. B.
30 oder 40 Tage überlebt hat oder wenn er in der Kirche oder auf der Straße
gesehen worden ist."
3 § 42 StPO. 4 Siehe mein Mord, S.77ff. 5 § 14ft'. StGB.
6 § 66ff. StGB. 7 §§ 244, 250 I, 5; 261,264 StGB. 8 §§ 245 StGB, 20aIII.
Der Monatsrhythmus 145

Es sind besonders periodische Schwankungen, die auf verborgene


Ursächlichkeiten aufmerksam machen. Denn zyklisch ist das Leben der
Natur, der Pflanzen, Tiere und des Homo sapiens. In Zyklen drehen
sich die Jahreszeiten und wiederholt sich Tag und Nacht. Sie senden
Reize aus und halten sie zurück, verkürzen sie bis auf ein Minimum,
wenn Pflanzen oder Tiere überwintern. Der Mensch versucht, sich
Schädlichkeiten zu entziehen mit Kleidung, Wohnung, Heizung, einem
Mehr an Nahrung. Zwar haben wir gelernt, den Einfall dieser Energien
abzuschwächen, der Temperatur, von Regen, Wind und Schnee. Doch ließ
sich diese Unabhängigkeit nur halb und auch nicht ohne neue Schwierig-
keit gewinnen. Wir können Luftdruck und Elektrizität der Luft aus
unsern Räumen nicht verdrängen und jeder, der ins Freie geht, ist allen
unverdünnten Kräften unterworfen. Das was uns schützt, wenn der
Winter kommt, das Plus an Essen, Kohlen, die bessere Kleidung schenkt
uns niemand. Die Gegenwirkung wird, sozial betrachtet, zur Belastung.
Sie nützt und wird zur gleichen Zeit zum Schaden.
b) Von allen Periodizitäten, die klar abzugrenzen und zeitlich zu ver-
folgen sind, steht der Wechsel der Jahreszeiten obenan. Aus der Ruhe-
lage der kalten Jahreszeit erhebt sich in unserem Klima das Leben zu
neuem Wachstum. Die Kräfte der Fortpflanzung nehmen einen Anlauf
bei Pflanze, Tier und Mensch. Körperliche und seelische Umwälzungen
sind dazu bestimmt, die der Erhaltung der Gattung dienenden Prozesse
bis zur Erfüllung fortzuleiten. Hinter diesen Entwicklungen stehen so ge-
waltige Triebkräfte, daß sie häufig die der Selbsterhaltung zugeordneten
psychischen Mechanismen überlaufen und matt setzen. Alle Systeme
des sozialen Schutzes und der sozialen Kontrolle sind aber auf einen der
machtvollsten, wachesten Züge der Selbsterhaltung, den Furchtinstinkt,
gegründet. Die der Fortpflanzung dienenden Vorgänge beruhen gerade
auf verminderter Furcht oder völligem Verlust des Furchtgefühls. Allein
aus diesem Reaktionswechsel der scheinbar unbeweglichen seelischen
Konstitution ergibt sich die kriminalwissenschaftliche Bedeutung des
jahreszeitlichen Rhythmus; ehe wir zu den mannigfachen Ursachen
herabsteigen können, wird uns durch das Auf und Nieder der Monats-
kurven das Bild gewaltiger Kräfte vermittelt. Weil wir mitten in ihnen
stehen, mit ihnen dahingleiten, weil unsere Beobachtung von ihnen selbst
ergriffen und getäuscht wird, müssen wir dem eingeschläferten Bewußt-
sein durch Zahlen und den Abstand zu uns selbst zu Hilfe kommen.
Im Frühling wacht das Leben auf. Er führt zu einem riesigen Aus-
bruch der Lebensenergien, zu Wachstum und zu dem Versuch, sich fort-
zupflanzen. Die Apparate, die der Erzeugung nutzbar sind, verändern
den gesamten Kärperhaushalt. Sie bemächtigen sich des Gehirns, ver-
dunkeln alle andern Regungen und lassen nur noch eine Strebung übrig,
die das Kommando übernimmt. Wenn wir von der Fortpflanzung durch
v. Hentig, Das Verbrechen I 10
146 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Teilung absehen, so sind für den Zeugungsvorgang zwei Partner erforder-


lich. Sie müssen sich begegnen oder, wie bei vielen Fischen, in bewegter
Umwelt nahekommen. Bei allen höheren Tieren muß der eine Teil ge-
neigt sein, sich der Berührung engster Art zu unterwerfen. Hier muß
gekämpft, der Nebenbuhler muß vertrieben oder auch vernichtet werden.
Den Widerstand des Weibchens zu brechen, muß es seelisch "entwaffnet",
schwach gemacht, muß Neigung mit einem Schauer erregender Sinnes-
eindrücke hervorgezaubert werden. Dazu gehört das Hochzeitskleid, die
"Uniform" des tierischen Liebhabers, gehört das Liebeslied, der Tanz,
Geruch der Brunst und ein Beweis der Stärke, der sich als erste Probe
schon im Kampf der Wettbewerber zeigt. Aus falscher Friedlichkeit
brechen überraschend Kampfinstinkte, die die Natur für diese Zwecke
reserviert hat. Da die Partner oft durch jede Art von Hindernis getrennt
sind, durch Berge, Flüsse, weite Strecken, verlangt die Zeit der Liebe
Wanderlust und Jagdbegierden, die das Männchen in die Weite treiben,
bis die ersehnte Beute vor ihm steht. Fortpflanzung ist der Rückfall auf
Entwicklungsstufen, die sich nicht völlig haben zähmen lassen. Sie selber
aber folgen Rhythmen der allmächtigen Natur, wie sie die Monats-
zahlen klar erweisen, nicht nur des Rechtbruchs, sondern auch von
vielen andern Tätigkeiten des Gemeinschaftlebens.
Es ist nicht zu erwarten, daß der erste Einsatz jener Faktoren, die
wir die warme Jahreszeit nennen, sich ohne Aufschub durch innere
Hemmungen und ohne Gegendruck sozialer Einrichtungen geltend macht
und so in Zahlen seinen Ausdruck findet. ASCHAFFENBURGI hat nach
PRINZING für West- und Osteuropa folgende Angaben über die zeitliche
Kurve der Schwängerungen gemacht:

Schwängerungen nach Jahreszeiten

Monat
I Westeuropa losteuropa Monat Westeuropa losteuropa

Januar. 99,0 102,4 Juli 102,0 95,0


Februar 99,0 111,0 August. 97,6 87,0
März . 95,6 100,0 September 93,0 86,4
April . 104,4 83,0 Oktober. 94,6 99,5
Mai 109,8 120,0 November 96,4 107,5
Juni 106,0 106,4 Dezember. 101,0 103,0

Zwei Tatsachen verdienen beachtet zu werden. Die nach Monaten


geordneten Schwängerungen scheinen sich in unserem Klima nach ehe-
lichen und unehelichen zu unterscheiden. In der Schweiz wenigstens
lassen sie sich bei den ehelichen auf Juni, bei den unehelichen auf den
Monat Mai zurückführen, jedenfalls geht nach älteren deutschen Zahlen

1 ASCHAFFENBURG, S. 19.
Der Monatsrhythmus 147

der Frühjahrsanstieg auf der unehelichen Seite rascher voran 1. Der


Klimaumkehr entsprechend erreicht er einen Höhepunkt im Dezember
in Australien ; der Tiefpunkt liegt im Mai 2 •
Die Schwängerung folgt normalerweise der Eheschließung nach. Nur
bei außerehelichen Beziehungen ist sie vorher erfolgt und stellt den
Zwang dar, der zur Ehe führt. Zahlreiche Sprichwörter, die durch ganz
Europa verbreitet sind, warnen davor, im Mai zu heiraten. Das aber ist
der Schwängerungsmonat, das Gefahrmoment. Nach SIMROCK sagt ein
altes deutsches Sprichwort: "Im Mai gehen Huren und Buben zur
Kirche 3." Maijunge - Tiere wie Kinder - haben nicht viel Glück nach
dem Volksglauben der Engländer, und wer im Mai heiratet, schließt
einen Bund mit der Armut 4 • Nach OVID heiraten nur die anrüchigen
Mädchen im Mai 5 • Genaue Regeln kennt der Volksmund von Kentucky 6:
Januar, man bleibt immer arm;
Februar, man heiratete nochmals;
März ist ein gutes Beginnen;
April bedeutet gute Ehe;
Mai endet in Haß;
Juni bringt Glück;
August, man hätte lieber warten sollen;
September, viel Geld;
Oktober, außerordentlich bekömmlich;
November, man geht bald wieder auseinander;
Dezember ist die Zeit der wahren Liebesehe.
In den Vereinigten Staaten ist die Vorliebe für den Juni als Heirats-
monat unvermindert. Um so auffallender ist die Neigung der weißen
Selbstmörder für den gleichen Monat, wie sich aus den angegebenen
Daten in der Tabelle auf S. 148 ergibt?
Diese Zahlen sind so bemerkenswert, weil sie den Einfluß verschie-
dener geographischer Räume und die unterschiedlichen Reaktionen von
Mann und Frau zeigen. Das Gesamtgebiet umschließt die Staaten in Ost
und West, Süd und Nord, verwischt demnach die Unterschiede, die
sofort hervortreten, wenn wir Massachusetts im Norden und das südlich

1 ASCHAFFENBURG, S. 19. 2 Ebenda, S. 20.


3 SIMROCK, J.: Deut8che Sprichwörter, S. 361. Frankfurt 1881.
4 AI'PERSON, G. L. : EngliBh proverb8 and proverbial phrase8, S. 408. N ew Y ork 1929.
5 FAST, V,498.
6 THOMAS, D. L.: Kentucky auperBtitionB, S. 63. Princeton 1920. - Die gleiche
Abneigung wird aus Deutschland heute noch gemeldet: "Im Zeichen des Krebses
soll man nicht heiraten, auch nicht im Mai" (SARTORI, PAUL: Sitte und Brauch, Bd. I,
S. 60. Leipzig 1910). "Hochzeit im Mai ruft den Tod" (WUTTKE, AnoLF: Der deut-
8che Volk8aberglaube der Gegenwart, S. 368. Berlin 1900). - Schon PLUTARCH hat in
seinen Fragen über römische Gebräuche (86) die Bedenken gegen eine Eheschließung
im Mai erörtert.
7 DUBLIN und BUNZEL: To be or not to be, S. 396. New York 1933.

10·
148 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Jahreszeitliche Schwankungen des Selbstmords


nach Geschlecht und Gebieten 1910-1923
je 100000 der Bevölkerung in USA

I
Gesamt- Massachusetts 7 Städte
Monat gebiet • des
Männer I Frauen Mississippitals

Januar. 91 91 66 95
Februar 96 92 88 94
März . 104 97 97 101
April . 109 105 88 106
Mai 113 109 114 114
Juni. 109 115 126 100
Juli 103 HO 90 98
August 98 93 110 98
September 99 101 112 98
Oktober. 95 103 103 102
November 95 94 107 103
Dezember 88 90 99 91
* Nicht sämtliche Staaten.
gelegene Mississippital vergleichen. Hier beginnt der Anstieg der Selbst-
mordneigung (die bei der schwarzen Bevölkerung verhältnismäßig gering
ist) schon im März und kulminiert im Mai, ist also deutlich verfrüht. Bei
Mann und Frau des Nordens macht sich erst im Monat Juni, im Mai
einsetzend, verstärkte Selbstvernichtungsneigung geltend. Die Monats-
zahlen teilen uns allein die Fakten mit!. Die Gründe zu erforschen, ist
jetzt unsere Sache.
Eine Gegenüberstellung von Temperaturkurven und Selbstmord-
zahlen in verschiedenen europäischen Ländern ergibt, daß der sog. "Frei"-
tod dem Maximum der Temperaturen vorangeht. Es müssen daher eine
Reihe anderer physikalischer Umweltkräfte im Spiele sein, die man
heranzuziehen hätte: Luftdruck, Feuchtigkeit, Lichtstrahlung (GAEDE-
REN), Luftelektrizität und manches andere mehr. Die Not des Winters
sucht sich einen andern Ausweg, den wir bald kennenlernen werden.
Die Untersuchung jahreszeitlicher Einflusse auf den menschlichen
Körper und das menschliche Nervensystem ist noch lange nicht beendet.
Ich habe vor vielen Jahren Selbstmordkurven aus London und Württem-
berg wiedergegeben 2, die trotz eines großen Jahresabstandes im Juni
kulminierten. Anderes Material betraf die erstmals Internierten in ge-
schlossenen Anstalten mit einem Höhepunkt im Juni 3 und einer zweiten
Spitze im Oktober. Der Tabakverkauf war im damals noch großen
Österreich im Mai am stärksten 4. Dagegen stellte BRUGMANS fest, daß
1 Es können schwerlich soziale Konflikte sein, auch nicht die Morbidität, die

um diese Zeit gering ist, sondern die Belastung durch generative Vorgänge.
2 In Strafrecht und Auslese, S. 33. Berlin 1914.
3 Ebenda, S. 134. 4 Ebenda, S. 135.
Der Monatsrhythmus 149

die Aufmerksamkeit der Kinder in einem hohen Bogen von einem Maxi.
mum im März zu einem Tief im Juli schwang l . Auch in den Vereinigten
Staaten gelten März und April im Gegensatz zu August und September
als Monate mit guten Prüfungsresultaten.
Den körperlichen Vorgängen sind die Sittlichkeitsdelikte von allen
strafbaren Handlungen am engsten verbunden. Untersuchungen, die in
Frankreich und Dänemark vorgenommen wurden 2, stellten den Juni
wiederum an die Spitze. Doch ist es gut, in einzelne Delikte aufzuteilen.
Drei Sittlichkeitsdelikte (nach Monaten)

Kinderschändung • Unzucht
§ 176 I, 3 Notzucht •• wider die Natur •••
Monat § 177 § 175, 175a

Anzahl Anzahl
I % % %

Januar 20 4,2 2,4 53 7,5


F ebruar 27 5,4 4,8 41 6,0
März 34 7,0 9,8 55 7,9
April 49 10,2 12,0 64 9,3
Mai. 66 13,6 7,2 61 8,6
Juni. 57 11,9 14,3 71 10,3
Juli . 47 9,7 7,2 86 12,3
August 70 14,3 12,0 69 10,0
September. 37 7,7 14,3 48 6,9
Oktober. 29 6,0 4,8 47 6,8
November 21 4,4 2,4 42 6,2
Dezember 24 5,0 9,8 56 8,2
* WESSEL, GERHARD: Das Delikt der Kinderschändung im Landgerichtsbezirk
Bonn, S. 23. Düsseldorf 1939. - Auch in einer Arbeit von WEGNER, ALBERT: Die
Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen im Landgerichlsbezirk Bonn, S. 30.
Bonner Diss. 1952, tritt der August als Begehungsmonat stark hervor.
** SCHULZ, GÜNTER: Die Notzucht, S. 64, Bonner Diss. 1956. Absolute Zahlen
sind nicht gegeben.
*** LANG, FRITZ: Die Kriminalität der homosexuellen Unzucht im Landgerichts.
bezirk Hagen in den Jahren 1914--1947, S. 41. Bonner Dias. 1949.

Die drei Delikte gehen zeitlich ganz verschiedene Wege, vielleicht


weil Täter, Opfer, Situationen recht verschieden sind, nach Altersstufen,
nach Geschlechtern und sozialem Standort. Im Juni kulminiert die Not·
zucht, obwohl die scharfe Senkung vor· und nachher unerklärbar scheint,
vielleicht rein technisch zu erklären ist. Die Kinderschändung - und
wir meinen die entdeckte Kinderschändung - erreicht im August, dem
Ferienmonat, seinen Höhepunkt nach einem scharfen ersten Maianstieg.
Die homosexuellen Handlungen häufen sich im Juli. 379 Handlungen, also
1 BEMMELEN, J. M. VAN: Kriminologie, S.76. ZWOLLE 1948, jüngste Auflage
von 1958.
2 ASCHAFFENBURG, S. 18.
150 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

72,6%,spieltensichinabgeschlossenenRäumenab.WasimFreiengeschah,
wird meistens auf den Sommer fallen, wo die Entdeckung leichter ist!.
Es ist belehrend, andere Raumbeziehungen, in denen sich neue
physische wie soziale Einflüsse paaren, in den Monatsablauf hinein-
zuziehen. Von DRuKKER stammen die folgenden Zahlen 2:
Sittlichkeitsdelikte nach Jahreszeiten (Niederlande 1911-1930)

Unzucht Fleischliche Unzucht


Monate Exhibitionismus mit Notzucht Gemeinschaft mit mit Gewalt
239,1 Minderjährigen 242 Minderjährigen 246
247 244-245

Januar. 265 137 14 14 78


Februar. 281 137 19 9 69
März. 312 151 8 12 61
April . 308 206 16 19 49
Mai 465 271 24 26 42
Juni. 506 280 19 32 58
Juli 579 296 19 33 54
August. 462 389 10 28 64
September 401 283 15 26 53
Oktober 333 188 23 19 60
November. 285 146 3 19 63
Dezember. 228 123 20 15 59

Am meisten muß uns die Kurve der exhibitionistischen Akte inter-


essieren, die ihren Höhepunkt im Juli erreicht; noch später kommt wie
im nahen Bonn die Kinderschändung. Hier taucht die alte Kontroverse
auf, ob das sommerliche Leben im Freien, das Zusammendrängen der
Menschen, der Durst nicht eine ebenso große, ja größere Rolle spielen
als die Kräfte der Natur. Beim Exhibitionismus wird die kurze freie Be-
gegnung vorherrschen, obschon das Fenster, der Balkon, der fahrende
Eisenbahnzug, auch Toiletten als Tatort nicht selten sind. Die Fälle von
Kinderschändung, die bekannt werden und zur Aburteilung gelangen,
spielen sich nach WESSEL zu 71 % in abgeschlossenen Räumen ab 3 • Sie
werden also von der sommerlichen Lockerung der Kleidungssitten und
des Zusammenlebens nicht entscheidend berührt 4 • Die Kräfte, die hier
wirken, machen nicht vor Tür und Wänden halt.
Alle Delikte, bei denen ein motorischer Ausbruch die Grenzen des
Erlaubten überschreitet, sei es verbal (Beleidigung), verbal und muskulär
(Gewalt und Drohung gegen Beamte), richte er sich gegen eine ge-

1 ASCHAFFENBURG, S. 40.
2 Abgedruckt bei VAN BEMMELEN, a. a. 0., S. 104 (Auflage von 1958).
3 WESSEL, S. 16.
4 Anderer Ansicht ist EXNER (Kriminologie, S. 62. Berlin 1949). - Pädagogen
schreiben jungen Menschen, die sie vor Versuchung bewahren wollen, vor, sie sollten
in einem kalten Zimmer schlafen, gewiß eine Kur durch Temperatureinflüsse.
Der Monatsrhythmus 151

schützte Sphäre (Hausfriedensbruch) oder die physische Unversehrtheit


(Körperverletzung), fallen in Deutschland in den August. Wenn eine
leichte Verschiebung nach dem Juli statthat, so könnte es sich um die
Wirkungen der Reisezeit handeln, die, wie der Krieg, Millionen von
Menschen über die territorialen Zuständigkeiten hinausführt. Aber noch
andere Störungsmomente machen sich bemerkbar. Schon das Gesetz
kennt Gegenseitigkeit der Körperverletzungen und Beleidigungen, wobei
die scharfen Unterschiede von Täter und von Opfer sich verlieren. Da
vorsätzliche leichte Körperverletzung, fahrlässige Körperverletzung mit
einer im Gesetz vorgesehenen Ausnahme, Hausfriedensbruch und Be-
leidigung Antragsdelikte sind, tritt mit aller Wucht die Problematik des
Verletzten und seiner Haltung auf den Plan. Es könnte sehr gut sein,
daß die Einflüsse des Sommers sich auch bei ihm geltend machen, nicht
nur beim Täter. Er wird je nach dem Zustand seiner Nerven statt einer
anderweitigen Erledigung Strafantrag stellen und sich nicht zu einer
Rücknahme bewegen lassen. Es kommt also zum Zusammenstoß zweier
veränderter Reaktivitäten, die im Februar weniger heftig und weniger
beharrlich sein mögen. Wenn wir Statistiken besäßen, die die Höhe des
Strafmaßes beim gleichen Delikt nach Jahreszeiten zeigten, so würde
sich vielleicht erweisen, daß auch der Richter, ohne sich dessen bewußt
zu sein, jahreszeitlichen Anstößen unterliegt. Besonders bei der fahr-
lässigen Körperverletzung sind erhebliche Verschiedenheiten der Be-
urteilung festgestellt worden, die teils auf der Sachlage, teils aber auch
auf Variationen der Einschätzung beruhen. Das Delikt schwillt mit der
Motorisierung gewaltig an; es hat bereits die Hälfte aller Anzeigen wegen
schweren Diebstahls erreicht (84478 Fälle) 1.
Alle diese kleineren Delikte werden oft in Trunkenheit begangen.
Gewiß besteht auch eine zweite Abhängigkeit von Alkoholkonsum und
jahreszeitlichem Zyklus. Täter wie Opfer sind diesem enthemmenden
Einfluß unterworfen. Unvorsichtigkeit kann ebenso leicht im eigenen
Wagen zum tödlichen Unfall wie zur fahrlässigen Verletzung des Mit-
fahrers führen. Strafbar ist nicht Fahrlässigkeit als solche, nur die Ver-
ursachung eines äußeren Erfolges. Er wird zahllose Male durch die
Geistesgegenwart und die Geschicklichkeit des Bedrohten abgewendet.
Wenn er nicht diesen Beitrag leistet, ist die strafbare Handlung da, zumal
wenn er betrunken ist. Betrunken aber sind zuzeiten allzu viele Menschen 2.
1Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, S. 100.
2ELLIOTT, MABEL A., and FRANCIS E. MERRrr.L (Social disorganisation, S. 181,
New York 1950) geben für die Vereinigten Staaten folgende Zahlen an:
a) Alkoholfähige Bevölkerung (15 Jahre und darüber) 100000000
b) Exzessive Trinker. . . . . . . . . . . . . . . 3000000
Männer 2600000
Frauen 400000
c) Chronische Alkoholiker . . . . . . . • . . . . 750000
152 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Für das Delikt der Volltrunkenheit (§ 330a StGB) hat SCHÄFER l


folgende Monatsschwankungen gefunden:
Januar 4,8% Juli 11,4%
Februar 7,6% August 12,9%
März. 5,7% September 7,2%
April 6,1% Oktober 7,9%
Mai 10,6% November 6,1%
Juni . 11,7% Dezember 7,9%

Der Februar zeigt den Faschingsanstieg, wie überhaupt die meteoro-


logischen Einflüsse von sozialen Anlässen durchsetzt sind: Richtfesten,
Wiedersehensfeiern, Taufen, Hochzeiten, Verlobungen. Hinter dem
Delikt der Trunkenheit stehen andere Ordnungswidrigkeiten: Be-
leidigung, grober Unfug, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sach-
beschädigung, Körperverletzung. Ein Trunkener trägt sich beispiels-
weise in die Kriminalstatistik dadurch ein, daß er sich weigert,
ernstlich aufgefordert, die Polizeiwache zu verlassen 2, die ihm in
seinem Zustand liebgeworden ist.
c) Es ist schwer, die psychologische Zugehörigkeit der Tötungszahlen
zu bestimmen, die uns von den Polizeistatistiken vermittelt werden.
Mord kann Gewaltverbrechen zur Lösung eines persönlichen Konflikts,
ein Eigentumsverbrechen, aber auch ein Sexualdelikt sein. Von 124
wegen Mordes zum Tode Verurteilten hatten die Tat begangen:
36 um das Opfer zu berauben,
11 um sich einer außerehelichen Verpflichtung zu entziehen,
5 um das Opfer zu beerben,
4 um eine Lebensversicherungssumme zu erhalten,
56 aus Gewinnsucht irgendwelcher Art.

Es sind dies Morde, und sie schließen keinen Totschlag ein. Im ganzen
sind es 45 % aller schweren Tötungen; sie unterstehen jenen Kräften,
die die Eigentumsdelikte regeln. So ist denn auch das Jahresende schwer
belastet 3. Die kleinen Zahlen freilich warnen.
Da die Mordstatistiken nicht nach den wichtigsten Mordtypen in
ihrem jahreszeitlichen Umlauf trennen, ist die Zusammenfassung von

1 SCHÄ.FER, KLAUS: Die VolUrunkenheit im Landgerichtsbezirk Bonn 1952-1954,


S. 60. Bonner Diss. 1958.
2 Ebenda, S. 72.
3 Kriminalstatistik für das Jahr 1931, S. 35. Berlin 1934.
Januar . 15 Mai . 12 September 8
Februar. 9 Juni. . 15 Oktober. 6
März . 13 Juli. . 8 November 10
April.. 11 August 6 Dezember 21
Der Monatsrhythmus 153

Mord und Totschlag! keine sehr erhebliche Verschlechterung der Unter-


suchungsbasis. Eine große Zahl der Mordfälle ist psychologisch Totschlag
und erst durch den Einbau in andere Tatbestände, wie Diebstahl, schwerer
Diebstahl, Raub, Kinderschändung, Notzucht und dergleichen zu der
höheren Qualifikation gekommen. Eine gedehnte Theorie der Mittäter-
schaft erhöht weiterhin die Zahl der Verurteilungen wegen Mordes.
Polizeistatistiken sind auf eine vorläufige Beurteilung der Straftat
gegründet, haben aber den Vorteil, daß sie größere Zahlenmassen bieten.
Die Bewertung von Monatsrhythmen hängt von vielen ungeklärten Vor-
fragen ab: die jahreszeitliche Bewegung der ungeklärten Fälle, die An-
nahme eines Selbstmords oder Unfalls, die Irrtumskurve der ärztlich
festgestellten normalen Todesursachen, die Häufigkeit zugebilligter Not-
wehr oder anderer Rechtfertigungsgründe, selbst klimatische Verhält-
nisse 2. Ob auch die polizeiliche Aktivität an jahreszeitliche Einflüsse
gebunden ist, könnte nur eine Sonderstudie zeigen 3.
WOLFGANGs 4 Zahlen aus Philadelphia (588 Fälle) sind deshalb wert-
voll, weil sie eine weitere Unterscheidung nach Rasse und Geschlecht
erlauben (s. Tabelle auf S. 154).
Bei der weißen Bevölkerung Philadelphias machen sich 3 Höhe-
punkte bemerkbar: März, Mai, Oktober beim Mann; Mai, August, Sep-
tember bei der weißen Frau. Beim männlichen Neger steigen die Zahlen
im Juni und wieder im September an. Die meisten schwarzen Frauen
werden sichtlich im August getötet. Auch die von WOLFGANG genannten
Temperaturmittel geben keine ausreichende Erklärung 5 • In buntem Wirbel
gehen offensichtlich soziale und physikalische Kräfte durcheinander.
1 Für die städtische Bevölkerung der Vereinigten Staaten (96539841 Ein-
wohner) wird der Juli-Höhepunkt der Tötungen ausgewiesen (Uniform Crime Reports
1958, S. 71); für Deutschland ist es bei Mord und Totschlag der Dezember, für ver-
suchten Mord und Totschlag der Juli. Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, S. 58, 59.
2 Winterwetter verzögert oder verhindert die Entdeckung von Leichen. "Es
war Winter", schreiben JOHN R. AYERS und CAROL BIRD (Mi88ing men. The story
of the missing persons bureau of the New York Police Department, S. 40. New York
1932). "Eine Leiche, über die auf dem Land verfügt worden war, konnte nicht so
leicht entdeckt werden als bei wärmerem Wetter. Wenn ein Körper ins Wasser ge-
worfen war, so mußte er so lange unter Wasser bleiben, bis sich das Wasser genügend
erwärmt hatte, Gas in den Geweben zu bilden und ihn an die Oberfläche zu heben."
3 Dazu gehören auch die Schwankungen in der Bereitschaft der Agenten.
HIt is amazing how many informants are used by the police." BEVERlDGE, PETER:
In8ide the G.I.D., S. 100. London 1959.
4 WOLFGANG, S.99.
5 WOLFGANG, S. 99, führt auch die mittleren Temperaturzahlen in Philadelphia
1910-1935 an:
Januar, Februar, November, Dezember 37,8 Fahrenheit = 28,4% der Tötungen,
März, April, September, Oktober . . .55,2 Fahrenheit = 35,4 % der Tötungen,
Mai, Juni Juli, August . . . . . . . . 71,7 Fahrenheit = 36,2% der Tötungen.
Der bloße Einfluß der Temperaturerhöhung macht sich nur schwach bemerklich.
154 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Tötungen. (Nach Monaten, Rasse und Geschlecht; Philadelphia 1948-1952)


Opfer in Prozent
Weiße Neger
Monat
Männer Frauen Männer Frauen
I
Januar 6,8 9,3 5,7 6,2
Februar 3,4 9,3 6,0 6,2
März 11,0 2,3 7,6 9,4
April 6,8 7,0 9,1 9,4
Mai. 14,4 11,6 9,4 9,4
Juni 6,8 4,6 10,0 7,3
Juli . 5,1 4,6 8,5 7,3
August 9,3 16,3 8,5 12,5
September. 5,9 11,6 12,1 9,4
Oktober 11,0 7,0 7,9 7,3
November 8,5 9,3 7,9 7,3
Dezember 11,0 7,0 7,6 8,3
Zusammen 100,0 (588 Fälle) 100,0 (118) I 100,0 (43) 100,0 (331) 100,0 (96)

Auch ist die Wiederkehr von gleichen Zahlen dem Statistiker nicht
ganz geheuer. Das Leben ist gewöhnlich nicht so eben, und auch die
Wettertypen haben nicht Bestand. Vor allem können wir nicht wissen,
wie das Dunkelfeld nach Jahreszeiten sich erweitert und zusammenzieht,
und wie die Opfer, in der Mehrzahl Frauen \ reagieren. Vielleicht enthält
der alte Spruch, daß Narren hochempfindlich für das Wetter sind, ein
wenig Wahrheit 2 • Man trifft sie auf der Täter- wie der Opferseite.
d) Nach amerikanischen Zahlen, die sich widersprechen, kulminieren
die wichtigsten Eigentumsdelikte am Jahresende 3.
Eine Soziologie des Winters ist noch nicht geschrieben worden, weil
Stadtbewohner glauben, die Wirkungen der kalten Jahreszeit hinter sich
gelassen zu haben. Frühere Zeiten stellten den Winter einem Todfeinde
gleich 4 und man mußte froh sein, wenn er vorüber war. Besonders hart
trifft der Winter die Menschen, wenn er mit einer großen Depression 5
zusammentrifft. Solche addierten Kalamitäten wiesen die Jahre nach
dem großen amerikanischen Börsenkrach vom Oktober 1929 auf.
I So die deutschen Mordzahlen (Krim.-Stat. 1932, S. 37). Nach dem Durch-
schnitt der Jahre 1928-1930 waren von den Mordopfern 56 % weiblich, 44 % männ-
lich. - Die amerikanischen Zahlen der "Tötungen" weichen erheblich davon ab.
Siehe WOLFGANG, S. 31 und 32.
2 "Fools are weatherwise." APPERSON: English proverbs and proverbial phrases,
S.226. Londonl929. - Wegen dieser Wetter"klugheit" heißt es wohl auch: "Fools
are wise men in the affairs of women." Ebenda.
3 Uniform Crime Reports 1940, S. 165. - Die letzten Uniform Crime Reports
von 1958 melden ein Maximum des Diebstahls im April, ein Minimum im Dezember.
Gegen diese Zahlen spricht alle Wahrscheinlichkeit. (Washington 1959, S. 71.)
4 Siehe das französische Sprichwort bei P ARTRIDGE, S. 488.
5 Siehe die Zahlen auf S. 155 unten.
Der Monatsrhythmus 155

Jeder Winter stellt erhöhten Anspruch an Nahrung, Kleidung, Be-


leuchtung und Heizung. Jeder Winter ist eine kleine Teuerung, die nicht
durch eine Kältezulage-ein Anfang ist die Weihnachtsgratifikation oder
das 13. Monatsgehalt-aus-
Diebstahl, Einbruch, Raub (Anzeigen)
geglichen wird. Die Last
(nach Jahreszeiten; USA 1935-1940)
der Abzahlungen wird
Berechnungsbasis = lOO
drückender. Mit einem
Schlage wächst die Dich- Monat Einfacher I Einbruch Raub
Diebstahl
tigkeit des familiären Zu-
sammenlebens und damit Januar. 95,6 107,6 118,9
der Anstieg von Konflik- Februar. 96,0 108,3 115,6
März. 99,4 109,6 106,1
ten. Dem Mehrbedarf wird April . 98,6 103,0 96,0
von Tieren und Menschen Mai 95,0 92,7 86,8
durch Vorratswirtschaft Juni. 94,8 90,7 83,3
Rechnung getragen, eine Juli . 93,4 90,9 81,9
vorbeugende Maßnahme, August. 98,1 94,3 85,0
September 99,5 94,8 89,2
die der landwirtschaftlichen Oktober . lO8,6 94,8 96,8
Bevölkerung nicht schwer- November. 110,9 102,8 111,0
fällt, dem Städter aber Dezember. 109,8 111,3 129,8
nicht mehr in den Sinn
kommt. Er läßt sich immer wieder von dem Wintereinbruch über-
raschen, und im November steigt die Diebstahlskurve. Der Wohl-
fahrtsstaat hat diese Schwierig-
keiten mildern können, er ist Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten
1929-1938*
noch weit entfernt, die Winter-
krise ausgelöscht zu haben. Dem, Prozentsatz
Jahr Arbeitslose der gesamten
der besitzt, wird weggenommen, Arbeiterschaft
und wieder bleiben ungezählte
1929 429000 0,9
Täter unentdeckt. 1930 3809000 7,8
Deutsche Einzeluntersuchun- 1931 8113000 16,3
gen deuten ebenfalls auf den 1932 12478000 24,9
Winteranstieg hin. 1933 12744000 25,1
1934 lO 400 000 20,2
Was der Einbrecher braucht 1935 9522000 18,4
ist eine lange Nacht, und lange 1936 7599000 14,5
Nächte bringt der Spätherbst 1937 6372000 12,0
und der Winter. "Sommer war 1938 lO099 000 18,8
da", schreibt ein Einbrecher 1, * ELLIOTT, MABEL A., a. a. 0., S.60l.
und "Erholung war geboten. Die
Nächte waren zu kurz, um als Geldschrankknacker sicher operieren
zu können." Wenn die Schweißbrenner, die um 10 Uhr abends zu
arbeiten begonnen haben, bis 4 Uhr morgens mit den Stahlplatten

1 WILSON,HERBERT EMERSON: I stole16,OOO,OOODollars, S. 86. NewYork1956.


156 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Einfacher und schwerer Diebstahl *


nach Jahreszeiten, Remscheid 1938-1948
Prozentzahlen **

Jahreszeit Einfacher Schwerer


Diebstahl Diebstahl

Frühjahr (März bis Mai) 21,5 22,5


Sommer (Juni bis August) 20,5 15,5
Herbst (September bis November) 20,8 20,2
Winter (Dezember bis Februar) 22,3 26,0
* MÜLLER, CONRAD; Die Diebstahlskriminalität im Bezirk des Amtsgerichts
Remscheid, S. 27. Bonner Diss. 1951.
** Die Prozentzahlen sind ungenau berechnet. - Unbekannt 15,2%, eine
überraschend hohe Zahl.

nicht fertig geworden sind, muß aufgehört werden. Im Sommer reicht


die kurze Nacht nicht aus.
Jack Callahan 1 gibt die Voraussetzungen an, die eine erfolgreiche
Arbeit am Geldschrank ermöglichen. Das Angriffsziel ist eine Bank in
Tennessee:
"Wir hatten einen Monat und länger damit verbracht, ein solches Objekt aus-
findig zu machen. Wir fanden es in der zweiten Septemberhälfte, konnten es aber
nicht gleich in Angriff nehmen, weil September ein schlechter Monat für Bankraub
ist. Schlecht deshalb, weil die Nächte warm und kurz sind. Der Bankräuber
braucht lange und kalte Nächte, wenn die Menschen unter ihren Decken schlafen
und die Fenster nicht weit offen sind. Je kälter und je stürmischer sie sind, um so
lieber ist es uns. Es gibt eine Menge tapferer Männer, die in einer warmen Nacht
ihr Bett verlassen, um einen Einbrecher zu jagen. Die gleichen Leute würden sich
aber nicht einmal umdrehen, wenn die Nacht kalt ist. Weiter kann man Explosionen
(es sollte Nitroglyzerin verwendet werden) in einer kalten und windigen Nacht nicht
so leicht hören, wenn die Elemente in Aufruhr sind. 90% der Banken, die ich be-
raubt habe, wurden ausgeplündert, ohne daß die Einwohner der Stadt etwas merk-
ten. Jedesmal aber, wenn ich versuchte, im Sommer ,einen Laden hochzunehmen',
habe ich Pech gehabt."
Um wievielleichter muß die Arbeit während eines schweren Schnee-
sturms sein oder in der Nähe einer Straße, auf der starker Lastwagen-
verkehr herrscht (besonders in der Nähe von Haltesignalen oder wenn
die Straße ansteigt und umgeschaltet werden muß). Auch der Start von
Raketenflugzeugen stumpft das Gehör und die Aufmerksamkeit ab.
Auf die strengsten Winter, die der europäische Kontinent kannte
(1788/89, 1829/30, 1847/48, 1870/71 und 1916/17), folgten revolutionäre
Erhebungen. Die seelischen und wirtschaftlichen Folgen harter und
langer Kälteperioden sollten selbst in einer Zeit noch untersucht werden,
die gegen solche Kräfte gewappnet zu sein glaubt.

1 Man's grim justice, S. 71-72. New York 1928.


Der Monatsrhythmus 157

Brandfälle haben einen verschiedenartigen Ursprung. Ein großer


Teil ist, wenn auch nicht beweisbar, auf menschliches Zutun zurück-
zuführen. Diese Nachhilfe, zumeist in landwirtschaftlichen Gebieten,
steigt mit dem Sinken der Getreidepreise an. Der Vorgang ist jetzt durch
die Stützung der Preise aus Steuermitteln abgeschwächt. Er war vor
kurzem unzweideutig noch bemerkbar.

Brandstifturl{/ und Getreidepreise

Staat Iowa, Geschätzter


Brandverluste Maispreis,
Monat 1939-1941, Colorado
Durchschnitts· 1939-1941,
zahlen • in Cents
je Bushel··

Januar. 443000 55
Februar 537000 54
März. 507000 55
April . 443000 57
Mai 240000 60
Juni. 205000 64
Juli . 278000 62
August 256000 61
September 276000 65
Oktober . . 350000 63
November 288000 61
Dezember. 366000 62
* Annual Report of the Fire Marshal, State of Iowa 1941, S. 21. Des Moines 1942.
** Colorado Agricultural Statistics, S. 78. Denver 1943.

Je niedriger der Maispreis ist, um so größer sind die Brandverluste ;


kleine Verspätungen sind mit verzögerter Entschlußbildung zu erklären.
Auf der Höhe der Preise für das landwirtschaftliche Hauptprodukt brennt
es am wenigsten im Staate Iowa und es sind wenigstens die Geldverluste
durch Brände am geringsten. Soziale Gründe treten in den Vordergrund.
Die Monatszahlen sind ein verhältnismäßig grober Maßstab, in den
wirtschaftliche und physische Bewegungen mehr oder weniger wieder-
kehrender Art eingebettet sind. Um den Anfang und das Ende des
Monats sind Zahlungen erwartet! und geleistet. Wir wissen noch nicht,
warum politische Attentate sich um die Monatsmitte, Morde im letzten
Monatsdrittel zu häufen scheinen. Die Mondphasen haben physio-

1 "Also von München bin ich nach Garmisch damals gefahren. An einem Hotel,
das viele abgeteilte Balkons hatte, sind dichte Ranken gewachsen. An denen bin
ich hinaufgeklettert ... Zu den offenen Balkontüren oder Fenstern bin ich in die
Zimmer hinein. Manchmal schliefen Pärchen drin, und die haben natürlich gar
nichts gemerkt. Ich habe mir den Monatsaufang ausgesucht, denn da waren die
Brieftaschen voll." BE~'lBE, HANS: Gefährliches Blut. Der Lebensbericht des 17jäh-
rigen Wilfried Helm, S. 134, 135. Stuttgart 1950.
158 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

logischen Rhythmen im Leben der Frau 1 und im Englischen der Geistes-


störung 2 ihren Namen gegeben. über den Zusammenhang von Ebbe,
Flut und Tod gibt es Stellen bei SHAKESPEARE 3.
e) Warum der Geburtstag - und dazu gehört der Geburtstag des
Jahres, der Neujahrstag - bei manchen Menschen ein jährlich wieder-
kehrender Tag der Krise zu sein scheint, wissen wir nicht. Es kann ein
Zufall sein. Zusammenhänge mögen existieren, die unerforscht sind.
Es wäre unwissenschaftlich, Tatsachen dieses Rhythmus, die zu denken
geben, aus reiner Vorsicht unerwähnt zu lassen.
Von Augustus wird berichtet: "Er litt an Störungen der Gesundheit,
die jedes Jahr zu bestimmten Zeiten wiederkehrten; gewöhnlich war er
kurz vor seinem Geburtstag leidend 4 ." Pompeius wurde von den Ägyp-
tern erschlagen, die dadurch die Gunst Cäsars zu gewinnen suchten. "So
fand er, 59 Jahre, einen Tag nach seinem Geburtstag den Tod 5 ." JONES 6
teilt mit: "Am 6. April wurde Alexander der Große geboren; am gleichen
Tag schlug er Darius, gewann einen großen Sieg zur See und starb am
gleichen Tage."
Die Giftmischerin Ursinus verlor plötzlich ihren Mann, den Geheimrat
Ursinus: "Nach Aussage der Ursinus hatte sie am Tage vorher, am
10. September, den Geburtstag ihres Gatten in einer kleinen Gesellschaft
gefeiert. Ursinus war sehr vergnügt gewesen, obgleich er oft den Ge-
danken geäußert, daß er bald sterben werde 7 . " - In Perth in Schott-
land wurde im Jahre 1821 eine gewisse Margaret Shuttleworth hinge-
richtet. Das Todesurteil war vom 20. September. An diesem Tage war
sie im Jahre 1785 geboren. Im Jahre 1796 hatte sie am gleichen Tage
einen Unfall erlitten. Sie hatte am 20. September 1806 geheiratet 8 • Am
6. März 1828 wurde die Giftmörderin Gesche Gottfried "mit Antritt ihres
vierundvierzigsten Jahres" verhaftet 9. - Auf dem Grabstein des be-
kannten Desperados Sam Bass stehen die Worte 10:
Samuel Bass
geboren am 21. Juli 1851
gestorben am 21. Juli 1878
Hier ruht ein tapferer Mann. Was trieb ihn zum Verbrechen?

1 Nach römischem Glauben waren die Menses in jedem dritten Monat verstärkt.
PLINIDS: hist. nato VII, 13,1.
2 Lunatics, französisch lunatiques, spätlateinisch lunatici. - In SHAKESPEARES
Othello entschuldigt der Mohr seine Untat: "It is the very error of the moon."
Weil er zu nahe kommt, nimmt er dem Menschen den Verstand (V, 2).
3 König Heinrich V., 2,4; 2. Teil: 11. Heinrich IV., 4,4.
4 SUETON: Augustus 81. 5 PLUTARCH: Pompeius 79.
6 JONES, WILLIAM: Oredulities, past and present, S. 505. London 1898.
7 Neuer Pitaval, Bd. 11, S. 171.

8 TOD, T. M.: The Scots Black Oalender, S. 28. Perth 1938.


9 Neuer Pitaval, Bd. 11, S. 342. Leipzig 1842.
10 BOTKIN, B. A.: A treasury oj Western Folklore, S. 374. New York 1951.
Der Monatsrhythmus 159

Des Giftmordes angeklagt, hatten Pauline Gottschalk und Eduard


Röhner bisher beharrlich geleugnet. Am 14. Juli ließ sich die Gottschalk
beim Untersuchungsrichter melden und erklärte, heute sei ihr zwanzigster
Geburtstag!; sie wolle mit dem Mitangeklagten konfrontiert werden.
"Pauline bestürmte das Herz ihres Geliebten so lange auf das leiden-
schaftlichste, bis er nach einem letzten Kampf erklärte, ihr zuliebe
wolle er nun die ganze reine Wahrheit sagen." Diese Geständnisbereit-
schaft, die zum Tode führen mußte, läßt sich vielleicht mit einer depres-
siven Anwandlung erklären. Eine andere Gefangene hat geschrieben:
"Schwere Stunden, das heißt Stunden der Depression findet man immer
bei den einzelnen Gefangenen und ganz besonders bei denen, für die die
Gefangenschaft in absehbarer Zeit nicht zu Ende geht. Mich packte es
zum erstenmal in den Abendstunden eines Märztags. Ich hatte Geburts-
tag und als es dunkel geworden war und ich auf meiner harten Pritsche
lag, den Blick gegen die Decke gerichtet 2. " Tiefe Verzweiflung lag auf
den Zügen des Rudolph Duringer. Ursprünglich hatte er am Geburtstag
seines IIjährigen Sohnes hingerichtet werden sollen, aber der Direktor
erfuhr von seinem Kummer und erlaubte, daß die Exekution kurz danach
stattfand. Es war sein 26. Geburtstag 3 •
Der Hamburger Raubmörder Winckler war am 8.9.1865 geboren;
er ermordete in der Nacht vom 8./9. August 1887 einen Kellner in der
Kantine des Hauptpostamts 4 • Im übrigen müßte eine Untersuchung im
Sande verlaufen, die sich auf den Geburtstag selbst beschränkte. Wenn
überhaupt, so gibt es eine kritische Lebensphase, die um den Tag der
Geburt herum liegt. Wer auf Selbstmorde achtet, wird sich wundern, wie
oft Daten erscheinen, die 8 oder 14 Tage vor dem Geburtstag oder hinter
dem Geburtstag liegen. Wenn wir hören, daß der Graf Francesco Bon-
martini von seinem Schwager Tullio Murri und seiner Frau, Linda Murri,
die wegen Anstiftung verurteilt wurde, an seinem Geburtstag (28. August
1902) erdrosselt und durch Messerstiche getötet wurde 5, so ist das eine
nicht gewöhnliche Begebenheit, ebenso wenn wir vernehmen, daß Kürten
seinen ersten Mord einen Tag vor seinem Geburtstag beging (25. Mai 1913)6.

1 "Es ist heute mein Geburtstag", sagte sie, "alles, was in der letzten Zeit ge-
schehen ist, ist wieder lebendig vor meine Seele getreten, und ich kann es nicht
ertragen, daß Eduard Röhner, für welchen ich immer noch heiße Liebe empfinde,
mich beharrlich als eine Lügnerin darstellt. Ich muß darüber von ihm Aufschluß
haben. Lassen Sie, zu meiner Beruhigung, ihn nochmals in meiner Gegenwart
kommen." Neuer Pitaval, Bd. XXX, S. 268.
2 EGGERATH, WERNER: Nur ein Memch, S. 138. Weimar 1947.
3 SQUIRE, Amos 0.: Bing Bing doctor, S. 204. New York 1935.
4 WOSNIK, RICHARD: Beiträge zur Hamburgischen Kriminalgeschichte, Bd. I/I,
S. 162. Hamburg 1926.
5 MURRI, LINDA: Das Verhängnis meines Lebens, S. 409. Wien 1906.
6 STEINER und GAY: Der Fall Kürten, S. 22. Hamburg o. D.
160 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Einige Zeitungsmeldungen erwähne ich nur nebenbei; sie verteilen


sich auf Täter und Opfer!. Daß Shakespeare an seinem Geburtstag
starb, ist die allgemeine Ansicht 2. Ebenso erlitt Cassius den Tod an seinem
Geburtstag 3. Es scheint allerdings noch schwerer, einen destruktiven
Rhythmus des Opfers zu finden als eine solche tief verborgene Periodizi-
tät beim Täter. Trotzdem können wir an der Bemerkung Scotland
Yards nicht vorbeigehen, das bei der Ermordung einer Prostituierten
knapp und sachlich bemerkt: "Es war gerade nach ihrem 22. Geburts-
tag 4."
Von seiten des ethnographischen Materials erwächst uns wenig Hilfe,
wenngleich durchzublicken scheint, daß das Geburtstagsfest ursprüng-
lich eine Opferhandlung war; Gaben wurden nicht dem Geburtstagskind,
sondern einer unsichtbaren Macht dargebracht 5, die hinter seinem
Lebensablauf, Anfang, Fortsetzung, Ende stand. Zu diesen Opfergaben,
die die Gunst dieses Schutzgeistes, dieses geheiligten Genius des Werdens
und Bestehens, erflehen sollten, gehörten Geschenke an die Gäste der
Geburtstagsfeier, und beim Herrscher - dessen Dämonion am sorg-
samsten gepflegt werden mußte - der heute noch geübte Opferbrauch
der Amnestie. Wenn große Menschen geboren werden, nimmt die Natur
an dem Ereignis teil. Buddha, der Lehrer der Welt, wird durch ein
Wunder empfangen, durch ein Wunder aus der Seite der Königin Maya
geboren, "nachdem sie die Vision eines weißen Elefanten mit vielen Stoß-
zähnen gesehen hatte 6 ." Gott Indra leistet Hilfe in Gestalt einer alten
Frau. "Die ganze Natur frohlockte. Kühle Lüftchen regten sanft das
Laub der Bäume, Wasserquellen brachen aus trockenem Boden und ein
großes Licht erhellte die ganze Welt." Dieser Anteil aller Mächte der
Schöpfung begleitet den Menschen, große und kleine, gute und böse,
das ganze Leben hindurch. Tag und Stunde der Geburt bestimmen nach

1 Ein paar andere Fälle: Der Elternmörder Manfred Buchholz gesteht vier Tage
nach seinem Geburtstag (Tagesspiegel 7. April 1959). - Wolfgang Obermayer
erwürgt an seinem 18. Geburtstag seine Freundin Monilm (Münchner Merkur vom
3. Juni 1958). - Pariser Taxifahrer wird an seinem Geburtstag erschossen (Le Monde
8. April 1952). Genau am gleichen Tage war er vor drei Jahren schon einmal an-
gefallen worden.
2 Geboren am 23. April 1564, starb er am 23. April 1616.
3 PLUTARCH: Brutus 40,43. - Ebenso starb König Attalus an seinem Geburts-
tag. PLUTARCH: Gamillus 19.
4 BEVERIDGE,P.: Inside the G.I.D., 8.161. London 1959. - Ein sogenannter
"Weibsteufel" wird von lirern Manne an lirern Geburtstag mit einem festlichen
Likör vergiftet. MosTAR, HERMANN: Nehmen Sie das Urteil an? 8. 206. 8tutt-
gart 1957.
5 CRAWLEY, ERNEST: Oath, curse and ble8sing, S.147. London 1934. - Man
könnte denken, daß die vielen Wünsche und Gaben eine leichte Besorgnis andeuten.
6 BREDoN, J ULIET, und IGOR MrTROPHANOW: Das Mondjahr, chinesische Sitten,
Bräuche und Feste, 8. 271. Wien 1953.
Der Tageslauf 161

dem Glauben mancher primitiver Völker den Verlauf des Daseins!. Wie
diese Symbolik sich in die Reihe der Naturgesetze einordnen könnte, bleibt
forschender Bemühung vorbehalten. Sie könnte mit den einfachsten
biologischen Zusammenhängen, etwa dem Vergleich der Geburts- und
der Todesdaten beginnen.
Kriminelle Verhaltensweisen sind im Vergleich zum Tode höchst ver-
wickelte Komplexe. Beim Raubmord sind starke exogene Momente ein-
gemischt. Beim Lustmord sind die endogenen Kräfte stärker ausgeprägt,
obschon die Materialbeschaffung sehr viel schwerer ist, von der allein die
Untersuchung ihren Ausgang nehmen kann. War es der reine Zufall,
wenn der Lustmörder Witt das erste Dienstmädchen am 17. April 1892,
einem Ostersonntag, erwürgte, das zweite Opfer am 7. April 1895 (Sonn-
tag vor Ostern) ums Leben brachte 2 ? Wer wird hier nicht an einen Rhyth-
mus der Begehrlichkeiten denken, der manchen Menschen von Geburt
gegeben ist? Peter Kürten legte sein überraschendes Geständnis, das zu
seiner Festnahme führte, am 23. Mai 1930 ab 3 • Er war am 25. Mai 1883
geboren.

B. Der Tageslauf
a) Menschen, Tiere und Pflanzen unterliegen von Mitternacht bis
Mitternacht einem Kreislauf von Kräften, der die verschiedensten
Reaktionen hervorruft. Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit, Luft-
elektrizität, Bestrahlung mit Licht und andern Elementen wirken auf
die lebende Materie machtvoll ein, legen sie im Schlafe still oder spornen
sie zu erhöhter Leistung an. Diesem Auf und Ab folgen die psychischen
Funktionen. In den rhythmischen Ablauf, den die Jahreszeiten ansteigen
oder absinken lassen, sind plötzliche Krisen: Gewitter, Stürme, Regen-
güsse, Nebel eingelagert.
Jeder Tagesstunde gibt das Gemeinschaftsleben einen vorbestimmten
Inhalt. Turmuhren ordnen unsern Lebensgang vom frühen Morgen bis
wir uns zu Bette legen. Aus den Verstecken, die uns in der Dunkelheit
geborgen haben, den Häusern, Nestern, Lagern tief im Dickicht, kommen
Menschen und Tiere hervor und gehen an das Tageswerk. Nachttiere
haben einen andern Rhythmus und leben davon, daß die Beute sich zum
Schlaf zurückgezogen, die Schärfe seiner Sinne für die Zeit der Ruhe ab-
gerüstet hat.

1 FRAZER, Sir JAMES: The golden bough, Abr. ed. S. 37. London 1950. - An
die Stelle des Glücksterns bei der Geburt ist im christlichen Glauben das Sonntags-
kind getreten. Von Sternen, also Konstellationen, spricht SHAKESPEARE (Was ihr
wollt, lI, 5).
2 W OSNIK: Beiträge zur H amburgischen Kriminalgeschichte, Bd. lI/3. Ramb. 1927.
3 STEINER und GAY, a. a. 0., S. 92.

v. Hentig, Das Verbrechen I 11


162 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Die Eule wird ganz anders denken. Dem Menschen aber ist die Nacht
Periode der Gefahr, der Ohnmacht, der Blindheit und, wie aus vielen
Dichterworten hervorgeht, der Vergänglichkeit. Für die alten Völker
war die Nacht die Mutter des Tages, nach ihrem Götterglauben war sie
eine Tochter des Chaos \ in deren Schoß erst das Licht, dann der Tag auf-
wächst. Verwandt mit der Nacht ist der Erebus, das Dunkel der Meeres-
tiefe und des Totenreiches, alles Stätten eines herabgesetzten unvoll-
kommenen Lebens. Strahlend und erregend zieht dagegen das Gespann
des Tages über den Himmel. Der Tag war für die alten Griechen gut,
glücklich, "weißschimmernd" im Gegensatz zur grauenvollen Düsterkeit
der Nacht. Der helle Tag war Freude, Lebenslust. Schwarz war die Galle,
die Melancholie. Der Tag ist Leben und die Nacht ist Tod. "Es kommt
die Nacht, da niemand wirken kann 2."
Zauberische Mächte regen sich besonders, wenn die Dunkelheit am
tiefsten ist, um Mitternacht oder wenn Tag und Nacht miteinander rin-
gen, in der Dämmerung, ehe die Sonne aufgeht oder wenn sie am Unter-
gehen ist. Die zauberkräftige Mittagsstunde gehört dem heißen Klima
an, wenn der Waldgott Pan Menschen und Tieren, die in der brütenden
Hitze schlafen oder dösen, durch plötzliche Laute Schrecken einjagt.
Die nordischen Länder kennen diese dumpfe Schwülewirkung nicht.
Aber manche Zauberpflanzen müssen um die Mittagsstunde ausgegraben
werden 3, wo Mitternacht und Mittagsstunde noch die gleiche magische
Kraft besitzen; man wird an eine Urheimat denken müssen, in der die
Tagesmitte drückend heiß und eine zauberische Stunde war.
Der Gedanke, daß böse Geister nachts durch die Dörfer ziehen und
daß die Nacht dem Schadenzauber günstig ist 4 , führte in der römischen
Kaiserzeit zur erschwerten Bestrafung des nächtlichen Diebes 5. Das
1 HESIOD, Theogonie 123.
2 Joh. IX, 4.
3 Zum Beispiel die Wünschelrute. - Erschlafft von der Wirkung des Mittags
"silvaque sole", also der Waldeinsamkeit und der Hitze (OVID III, 412) legen sich
Jünglinge und Mädchen nieder und werden in ihrem Bann zur Liebe verführt oder
gezwungen (OVID VII, 811 ; III, 151: "wenn sich der Boden von der Hitze spaltet").
Mit dem Rückgang des Jäger- und Nomadenlebens zieht sich die Liebe aus Büschen
und Grotten und der entkleidenden, einschläfernden Hitze in den Schutz der
Dunkelheit zurück. In kultivierteren Zeiten spricht der Dichter von dem "süßen
Geflüster zur Nachtzeit "lenesque sub noctem susurri" (HoRAz, Oarm. I, 9, 19). -
Über Tag und Nacht im Orient siehe NÖTscHER, F.: Biblische Altertumskunde,
S. 260, Bann 1940; das soziale Leben war in einen andern Ablauf eingezwängt.
, OLDENBERG, HERMANN: Religion des Veda, S.339. Stuttgart 1923. - Die
Zauberin Medea kocht zur Nachtzeit ihre Gifte zusammen ("nox arcanis fidissima",
OVID, Met. VII, 192) und die Hexe Canidia singt ihre magischen Sprüche, wenn die
Sterne funkeln (HoRAz, Ep. XVII, 5). - "Nächtlicherweile", schreibt EDuARD
STEMPFLINGER (Antiker Volksglaube, S.92, Stuttgart 1948), "arbeiten die Zauberer
bei Tibull, Apuleius, Lukian und Theokrit."
5 MOMMSEN, THEoDoR: Römisches Strafrecht, S. 277. Leipzig 1899.
Der Tageslauf 163

Tabu, das über dem verdunkelten Teil des Tages liegt, gibt sich auch bei
der Strafvollstreckung kund; der Vollzug des Todesurteils an einem Fest-
tag oder zur Nachtzeit ist nicht statthaft!. Zu den festlichen Gelegen-
heiten zählte auch das Neue Jahr 2 , sein vielgefeierter "Geburtstag".
Nach altem deutschem Recht wurden bestimmte unheimliche Übel-
täter auf dem Kreuzweg begraben "und nicht über die Schwelle, deren
Heiligkeit nicht entweiht werden durfte, aus dem Hause getragen, son-
dern durch ein Loch unter der Schwelle hergeschleift3." Neben dem
Ketzer war es der beim Einbruch erschlagene nächtliche Dieb. Ihm
haftete die ganze Unehrlichkeit seiner Tat an. Auch nach den alten
deutschen Quellen sollte Gericht nur bei "scheinender Sonne" abgehalten
werden. Dazu bemerkt GRIMM 4 : "Gegenüber der Notwendigkeit des
Tages und Lichts zu allen menschlichen Verrichtungen steht das nächt-
liche Treiben der sonnenscheuen Geister, Elfen und Zwerge." Wie die
.Juden den Leichnam des Hingerichteten der Berührung mit dem Tabu
des Festtages zu entziehen suchten 5, so wurde auch bei den Deutschen
die Strafe vor Sonnenuntergang vollzogen. GRIMM 6 weist darauf hin, daß
solche nächtlichen Hinrichtungen, die jeder deutschen Sitte zuwider-
liefen, in Griechenland gang und gäbe waren und in Sparta wie Athen
vollzogen wurden.
Manche mittelalterliche Rechte erklärten Begehung zur Nachtzeit
bei allen Vergehen als Erschwerungsgrund 7 • Die Franken kannten den
nächtlichen AngriffS, andere Quellen den nächtlichen Raub 9. Der Dieb-
stahl zur Nachtzeit war ein wichtiges Problem und wurde schon in ein-
zelnen Stammesrechten mit schwerer Strafe bedrohPO. "Im Mittelalter
bewirkt nach manchen Quellen die Nachtzeit, daß auch ein sonst nicht
todeswürdiger Diebstahl mit dem Tode bestraft wird. In einzelnen Fällen
gilt die Wegnahme überhaupt nur dann als Diebstahl, wenn sie bei Nacht
erfolgt." Wie jetzt noch in allen Ländern, die viele Holzbauten haben,
war die Brandstiftung sehr gefürchtet. "Das ist Mordbrand" , heißt es
im Jütischen Gesetzbuch, "wenn man zur Nachtzeit ... Feuer legt l l ."
Zur gleichen Gruppe gehört die nächtliche Heimsuchen ("bei Nacht und
Nebel"), der nächtliche Kornschaden und der Holzfrevel zu nächtlicher

1 MOMMSEN THEODOR: Römisches Strafrecht, S.913.


2 SUETON: Tiberius 61.
3 GRIMM, JACOB: Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. H, S. 325. Leipzig 1922.
4 Ebenda, Bd. H, 439.
5 Jah. V, 31.
6 GRIMM: Bd. H, S. 442.
7 HIS, RUDOLF: Deutsches Strafrecht bis zur Caralina, S. 41. München 1928.
8 Ebenda, S. 33. 9 Ebenda, S.159. 10 Ebenda, S. 157. 11 Ebenda, S.175.
12 Ebenda, S. 179.
11*
164 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Stunde!. In all diesen Vorschriften kommt die Furcht vor den erhöhten
Chancen des nächtlichen Rechtsbruchs zum Ausdruck. Uralte Erfahrung
erteilte dem Gesetzgeber die gleiche Lehre, die heute noch aus den
Zahlenreihen der Kriminalstatistik spricht, obschon die äußere Gestalt
der Welt nicht mehr die gleiche ist.
Die alte Wendung "Nacht und Nebel" erinnert an eine andere Macht,
die die Sicht einschränkt, den Menschen isoliert, den Schutz der Gemein-
schaft aufhebt und die Flucht des Angreifers erleichtert. Nach der Sage
machen sich Zwerge mit der "Nebelkappe" unsichtbar, im Nebel wogen
unheimliche Gestalten hin und her wie Erlkönigs Töchter. Während aber
der Wanderer auch im dichten Nebel zur Not seinen Weg findet, ist er
für die Welt des Autos und des Flugzeugs zu einer Behinderung geworden,
die schwerer wiegt als jede Nacht und keinen Mondschein kennt. Welche
gewichtige Rolle der Nebel im Kriege spielt, habe ich selbst erfahren;
Schlachten sind um viele Stunden aufgehalten und beinahe verloren
worden, weil Nebel länger als gewöhnlich auf der Landschaft lag. Die
Schiffahrt kennt auch heute noch keinen tückischeren Feind.
Nordische Länder, besonders England, aber auch die Westküste
Amerikas, leiden besonders unter dem Nebel. Die bedenklichsten Monate
sind in England November und Dezember, die Zeit, in der die Eigentums-
delikte sich anzuheben beginnen. Entschlossene Raubüberfälle werden
in die Zeit gelegt, wenn eine schwere Nebeldecke über Südengland liegt 2
und der gesamte Bus- und Flugverkehr zum Erliegen kommt. Banken
treffen daher besondere Vorsichtsmaßregeln, schließen häufig ihre Schal-
ter. Im Betrieb der amerikanischen Zuchthäuser sind Nebeltage ge-
fürchtet. In Joliet werden die Häftlinge in den Zellen gehalten und be-
kommen dort ihr Essen 3 • In San Quentin gelten die Tage, an denen
besonders im Winter dichter Nebel von der See hereinkommt und die
Hügel verschleiert, als Ausbruchstage 4 • LAMsoN hat die Atmosphäre
der Spannung geschildert, die sich über die Riesenanstalt legt. Sie erfaßt
Gefangene wie Beamte in gleicher Weise. Die dumpfe Erwartung wird
plötzlich durch Schüsse aufgepeitscht, die von den Wachttürmen abge-
geben werden. Sie gelten irgendeinem Schatten an der Mauer oder Kisten,
die draußen in der Bai schwimmen. Wir denken nur daran, daß wir nicht
sehen können. Es ist wahrscheinlich, daß der Nebel auf die Psyche

1 HIS, RUDoLF: Deutsches Strafrecht bis zur CaroliM, S. 162. - Reste der alten
Verbote sind noch erhalten in § 243 I, Ziff. 7; § 292 II und § 293 II StGB.
2 Berühmt ist der Raubüberfall auf das Hatton Garden Postamt London vom
November 1881. Schwarzer Nebel lag über der Stadt; ein Komplice sperrte den
Gashahn ab, so daß das Licht erlosch. - MACCLUER STEVENS, C. L.: Famou8 crimes
and criminal8, S. 40ff. New York 1924.
3 MARTIN: Break down the wa1l8, S. 133. Garden City 1938.
4 LAI\1S0N, DAVID: We who are about to die, S. 74. New York 1935.
Der Tageslauf 165

Einfluß hat, obwohl wir uns damit noch nicht beschäftigt haben. Auchmuß
man an die Wirkung jener Kräfte denken, die den Nebel produzieren.
PETER BEVERIDGE, Leiter einer mobilen Polizeieinheit zu Beginn des
Krieges, hat die künstliche Nacht geschildert!, die der Bombenkrieg und
die Verdunkelung über London brachten. Hunderte von Deserteuren, die
auf ehrliche Weise wegen der Rationierung weder Nahrung noch Kleidung
erhalten konnten, fielen wie Wölfe über die Stadt her und gingen zum
Angriff auf jedes rar und teuer gewordene Objekt über, kosmetische Mittel,
Zahnpasta, Kleidungsstücke, Seidenstrümpfe. Die hohen Verdienst-
möglichkeiten stellten eine ganz Deue Klasse von Hehlern auf die Beine.
Die Arbeit der Polizei war durch zahlreiche neue Aufgaben, die der
Bombenkrieg mit sich führte, erschwert. Die Polizeiautos mußten mit
abgeblendetem Licht fahren, die Radioverbindung war aus militärischen
Gründen bisweilen Stunden stillgelegt. Besonders im Westend machte
sich eine Seuche von nächtlichen Handtaschenräubereien breit. In den
verdunkelten Straßen wurden die Fensterscheiben eingeschlagen und die
Auslagen ausgeräumt. Ein Laden nach dem andern wurde in den elegan-
ten Geschäftsstraßen ausgeraubt und hauptsächlich Schmuck erbeutet.
Daß die Nacht selbst zahlreiche Vorgänge des menschlichen Organis-
mus verändert, daß zwischen Licht, Auge und dem System der inneren
Drüsen Wechselbeziehungen bestehen, wir also verschiedene Menschen
bei Tage und bei Nacht sind, ist uns erst klar geworden, seitdem, ganz
besonders im Kriege, die Nachtarbeit großen Umfang angenommen hat.
Ein Mann, der Ingenieur in einer großen Olraffinerie wurde, hat diese
Umschaltung beobachtet und beschrieben:
"Es ist verwunderlich, daß so viele Menschen sich zur Nachtarbeit entschließen,
ohne daß sie wissenschaftlich oder sonstwie beraten werden. Man hat das Gefühl,
als ob alle unsere Instinkte gegen Millionen Jahre der Entwicklung kämpften, wenn
man versucht, nachts auf zu sein und über Tag zu schlafen. Der Körper rebelliert,
das Herz flattert, es rauscht in den Ohren wie nie zuvor, man träumt wilde Träume 2. "
Die Nachtschicht hieß im ersten Weltkrieg in Amerika die "Kirch-
hofschieht". Die Unfallrate war nachts um 50% höher als am Tage 3 :
Unfälle bei Tag- und Nachtschicht, 1915
auf 1000 Arbeiter, die 300 Tage arbeiteten

Unfalltyp Tagschicht Nachtschicht

Leichter Unfall. 338,73 494,89


Schwerer Unfall 74,86 129,40
Zusammen . . 413,59 624,29
1 BEVERIDGE, S. 68ff.
2 BENz, CARL A.: Night shift, Atlantic monthly 1939, S.551.
3 CHANCY, LUCIAN W.: U.S. Bureau of Labor statistics, Bulletin 256, Washing-
ton 1919, S. 58.
166 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Als mit dem Kriege eine längere Arbeitswoche kam, sank die Leistung
bei Tage um 3,5%, bei Nacht um 6,5%, besonders an Freitagen und
Sonnabenden 1. Man könnte die letzten Wochentage arbeitsdynamisch
mit dem Abend und der Nacht vergleichen. Exzesse später Stunden und
des Wochenendes sind die Folgen von Erschöpfung, wie wir auch wissen,
daß der Sonnabendmensch ein besseres Opfer ist.
b) Es gibt eine Reihe von Delikten, die ihrer Natur nach hauptsächlich
nachts begangen werden. Der Nachtportier muß mit Überfällen rechnen.
Im Mordprozeß Plank (Lindau 1923) erklärte der Angeklagte, er habe
keine Furcht gekannt, "auch heute nicht, obschon die Nacht stockfinster
war, der Mond von schwarzen Wolken verdeckt, kalt und naß, ein Wetter
geschaffen für Schmuggler 2." Als Eisenbahnen noch das einzige Ver-
kehrsmittel waren, pflegten Falschspieler die Nachtzüge zu benutzen.
Es war ihr Trick, vielversprechend aussehende Opfer in unauffälliger
Weise nachts zwei Uhr zu wecken, lustige Geschichten zu erzählen, den
andern allmählich munter zu machen und dann den biederen Vieh-
händler aus Texas zu markieren, den man leicht beim Spiel hereinlegen
konnte 3 . Der wesentliche Teil des Sexuallebens spielt sich bei Nacht ab,
und an diese vor der Welt verborgene Praxis setzen sich Diebstahl, Raub
und Erpressung an. In Amerika bewahren viele Frauen ihren kostbaren
Schmuck in einem Bankfach auf. Sie möchten auf Gesellschaften und
bei festlichen Gelegenheiten mit ihren Juwelen glänzen und holen ihn
am Nachmittag heraus, um ihn am nächsten Morgen wieder zurück-
zubringen. Über Nacht liegt er bei ihnen in der Wohnung; das ist der
Augenblick, in dem der Einsteigdieb zupackt 4. Wenn ein kostbarer
Rubin die ganze Nacht im Schaufenster eines Juweliers erglänzt, kommt
der erfahrene Dieb zu dem Schluß, daß er nicht echt sein kann 5. So
günstig ist die Nacht für diese Art von Diebstahl.
Bei großen Seuchen wird versucht, alles was niederdrücken könnte,
nachts auszuführen, wenn niemand, wie man glaubt, die traurige Ver-
richtung sieht 6. Hotels lassen Selbstmörder und Ermordete in den frühen
Morgenstunden abtransportieren, benützen auch dabei den Neben-
ausgang. Der Mörder hat die gleiche Technik des Versteckens in
Scheunen, Kellern, Seen und Flüssen. Brandstifter machen sich bei
KOSSORIS, MAX D.: Ebenda, Bulletin 791, Washington 1944, S. 8.
1
MosTAR, HERMANN: Unschuldig verurteilt, S. 141. Stuttgart 1956.
2
3 IRWIN, WILL: Confe88ions of a con man, S. 124ff. New York 1909.
4 BLACE. J ACE: a. a. 0.. S. 136.
5 Ebenda. S. 168.
G Von der großen Londoner Pest berichtet DANIEL DEFOE (A journal of the

plague year. S. 201, London 1950): "Alle notwendige Arbeit, die erschrecken konnte
und gleichzeitig grausig und gefährlich war, wurde während der Nacht ausgeführt ...
Alle Leichen. die in die Massengräber geworfen wurden ...• wurden bei Nacht fort-
geschafft. "
Der Tageslauf 167

Dunkelheit ans Werk; der Brand wird erst sehr spät bemerkt, kann seine
Wirkung voll entfalten. Auch ist der Anblick nachts besonders stark
erregend, der Gegensatz der Menschenangst und des entsetzten Durch-
einanders zur Stille, die vorherging, ein besonderer Reiz der Sittlichkeits-
verbrecher und Sadisten, wie Kürten einer war. Als die Leute schreiend
umherliefen und der grelle Feuerschein die Nacht durchdrang 1, wurde ihm
erst wohl zumute. Er gestand, daß es bei großen Bränden immer zum
Samenerguß kam. "Es war ein schönes Schauspiel, wie bei dem scharfen
Ostwind eine Kiefer nach der andern in Flammen hochging - das war
wundervoll. "
Zu den Kräften, die das Verhalten bei Tag und Nacht bestimmen,
gehört die Isolierung, der Rückzug von dem Schutze der Gemeinschaft.
Der Geisterglaube ist zum Teil ein Kind der Einsamkeit 2 , die auch im
langen Winter an den Nerven rütteln mag 3 und sich in einer Art von
"Zuchthausknall" entlädt. Wenn Opfer isoliert sind, schlägt der Krimi-
nelle zu; die Nacht ist keines Menschen Freund, nur des Verbrechers
Spießgeselle, am längsten aber ist die Winternacht. Im Sommer wird
geplant und ausgeheckt 4. Sehr viele Berufsverbrecher schlafen bis tief in
den Tag hinein 5. Erst müssen sich die Kassen füllen, bevor es lohnt
hineinzugreifen. Eine Ausnahme sind nur die morgendlichen Geld-
transporte. Einzahlungen erfolgen zwischen 2.30 und 3.30 Uhr nach-
mittags. Erst wenn die Banken geschlossen haben, beginnt der Abtrans-
port der Gelder. Die meisten Raubüberfälle gehen nachmittags, abends
oder nachts vor sich. Der Kriminelle schmiegt sich dieser Flut und Ebbe
an. Er ist ein Nachtarbeiter, ruht bei Tage 6, wie es der Arbeitsrhythmus
Prostituierter ist.
Doch "das" Verbrechen kreist nicht nur um Geld und Geldbewegung.
Der kriminelle Angriff kann blitzschnell erfolgen wie beim Morde oder
bei der unzüchtigen Berührung eines Kindes. Er kann beim Bank-
1 BERG, KARL: Der Sadist, a. a. 0., S. 315. Dtsch. Zeitschr. ges. gericht!. Medizin,
Bd. XVII, S. 315.
2 Siehe SHAKESPEARES Richard 111. (V, 3). - Der König nennt die tiefe Mitter-
nacht" dead" midnight.
3 Dem Stadtmenschen sind die psychischen Spannungen langer und einsamer
Wintertage nicht mehr geläufig. Von einem in Dakota eingeschneiten Einwanderer
wird berichtet: "Ein Tag kam, da brauste Per Hansa in einem Wutanfall auf, der
ihn selbst erschreckte; er schlug wild um sich und zerschmetterte alles, was ihm in
die Finger kam." ROELVAAG, O. E.: Giants in the earth, S.215. New York 1929.
4 Die Bande Herbert Wilson ruhte sich im Sommer in der Sonne aus. "Ich hatte
ein mnfangreiches Programm für die kommenden Wintermonate ausgearbeitet,
eine lange Reihe von Objekten, die von San Diego bis Portland reichten." WILSON,
I stole ... , S. 69.
5 DINNEEN: Underworld, S. 81.
6 Opferstockdiebe arbeiten dagegen in den Mittagsstunden, wenn die Kirche
leer ist.
168 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

einbruch z. B. die allerlängsten Vorbereitungen erfordern. Der Einzug


eines Fürsten oder einer sonstigen Berühmtheit erfolgt nur bei Tage;
die angesammelten Menschenmengen, die Dichtigkeit, die abgelenkte
Aufmerksamkeit übernehmen die schützende Funktion der Nacht. Zeit,
Raum und Massenbildung gehen Hand in Hand. Der Bettler, der betrügt,
braucht Tageslicht und eine stille Treppe, weiter eine Frau, die er am
rechten Fleck zu packen weiß. Er will in seiner falschen Not gesehen
werden, aber nur von ihr.
Diese Fluktuation des sozialen Lebens wird besonders sichtbar, wenn
sie an bestimmte Räume gebunden ist, etwa an den Betrieb eines Bahn-
hofs. In großen Hotels wechselt die "Bevölkerung" vom frühen Morgen
bis zum späten Abend. Die Diebe und Betrüger passen sich dem Wellen-
schlage an. Sogar das Zahlenverhältnis der Männer zu den Frauen
schwankt in der Hotelhalle, die wie ein Markt anbietet, prüft und kamt.
"Nach 12.30 Uhr nachts", schreibt einHoteldetektiv, "kommt nur noch
eine Frau auf 4-5 Männer. Unter den unerwünschten Gästen gibt es
immer doppelt soviel Frauen als Männer. Und viele von diesen Frauen
denken nicht daran, sich an Männer heranzumachen 1." Exhibitionisten
haben wenig Aussicht, nach Mitternacht noch Kinder und junge
Mädchen auf der Straße zu erschrecken 2. Wenn 66,5 % aller ländlichen
Körperverletzungen im Wirtshaus geschehen 3, so fallen sie nicht in die
menschenleere Mittagsstunde, sondern in die späteren Abendstunden.
Ehe wir das Thema Tag und Nacht verlassen, müssen wir daran
denken, daß die meisten Menschen nachts erzeugt und auch geboren
werden und auch des Nachts sterben; die Stunden zwischen Mitternacht
und 4 Uhr morgens sind für den sterbenskranken Patienten kritisch.
Diese Zeit ist von Aberglauben umwittert. In Siebenbürgen meint das
Volk, daß es besser sei, nachts zu sterben als am Tage 4; im heißen Indien,
wo die Nacht erst Kühlung bringt, dachte man anders darüber. Auf
jeden Fall ist Dunkelheit die Zeit der Schwäche. Es ist wahrscheinlich
heilsam, daß wir uns bei Nacht verkriechen, von Hunden und Wächtern
beschützen lassen, die Krise schlafend überstehen. Dann gerade lebt
der Kriminelle auf, ist wach und unermüdlich an der Arbeit. Es sind
nicht nur die bösen Geister, die der erste Sonnenstrahl verjagt.
Mit dem Tageslauf der verbrecherischen Aktivitäten hat sich die
Statistik befaßt. Nicht immer ist es möglich, einen Zeitpunkt zu be-
1 COLLAND, DEv: I was a house detective, S. 136. New York 1954. - Der Puls-
schlag großer Hotels hängt von den Fahrplänen der Eisenbahnen und Flugzeuge ab.
Das Auto hat eine gewisse Unordnung in diese Regelmäßigkeiten gebracht.
2 Die meisten weiblichen Wesen, die man spät nachts auf der Straße ohne Be-
gleitung trifft, sind nicht das leicht bestürzte Publikum, das sich der Exhibitionist
wünscht.
3 KÜLZ, E.: Zur Prophylaxe der Roheitsdelikte. Monatsschrift, Bd. II, S. 27.
4 SARTORI: Sitte und Brauch, Bd. I, S. 128.
Der Tageslauf 169

stimmen, noch nennen die Strafurteile immer die Tagesstunde, wenn sie
im gegebenen Falle die Zeit für nebensächlich halten, z.B. beim Betrug.
Eine entscheidende Einzelheit enthält uns die Statistik vor. Wir können
nur mit Aburteilungen operieren, höchstens auf die Ziffern der Anzeigen
zurückgreifen. Dadurch entgeht uns die große Mehrzahl der Delikte.
Es könnte aber sein, daß die Entdeckungschancen nach Tageszeiten
nicht die gleichen sind!. Die Täter- wie die Opferseite könnte bei Tage
und bei Nacht verschieden reagieren. Zwar tagen die Gerichte nur bei
Helligkeit2, doch ist die Polizei zu jeder Tagesstunde tätig. Sie kann sich
dieser Wirkung nicht entziehen. Wir kennen zahlreiche Morde, die erst
entdeckt werden, wenn morgens die Putzfrau kommt oder das Zimmer-
mädchen gegen Mittag die Hoteltür öffnet, weil sich der Gast nicht rührt.
Je früher nachts der Mord begangen wird, um so mehr Stunden bleiben
zur Flucht, zum Zusammenbrauen eines Alibis und zur Verwischung
jeder Spur. Der Mord bleibt ungeklärt. Die Statistik reiht ihn in keine
Tagesstunde ein. In andern Fällen läßt sich nicht bestimmen, wann
ein Mord begangen wurde, nicht einmal immer, wann das Opfer zuletzt
am Leben war. Der einzige Zeuge schweigt, der bei andern Verbrechen,
dem Raub zum Beispiel und der Notzucht, genaue Auskunft geben kann.
Wahrscheinlich sind die Übertretungen psychologisch ebenso be-
deutsam wie viele "ernstere" Delikte. Ich stelle Trunkenheit und Über-

Tagesstunden bei 4 kleineren Delikten *


(Festnahmen; Denver 1937-40)

Tagesstunden I Schnellfahren I "Kleiner" Diebstahl I Trunkenheit I Körperverletzung

12- 2 111,0 27,5 891,5 2,2


2- 4 57,0 24,5 551,7 2,2
4- 6 35,3 8,2 149,5 0,5
6- 8 78,3 9,5 65,0 0,5
8-10 159,7 14,7 93,5 0,3
10-12 212,7 48,5 233,5 0,5
12-14 174,0 46,2 380,7 0,8
14-16 244,0 68,0 464,4 0,8
16-18 281,3 78,7 728,2 2,0
18-20 223,3 36,5 723,0 1,8
20-22 216,7 38,2 904,0 2,0
22-24 144,0 37,0 1139,2 3,7
* Entnommen meinem Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 118. Tübingen 1954.

1 Für diese Annahme spricht die von WOLFGANG (Patterns, S. 294) angeführte
Tatsache, daß Tötungen bei Nacht in erheblich größerem Umfang zu den ungeklär-
ten Fällen rechneten als den geklärten.
2 Schwurgerichtsverhandlungen können sich bis in die frühen Morgenstunden
hinziehen. Wir können es dann mit Übermüdungsproblemen zu tun haben, die bei
den echten Schwurgerichten manchmal eine Rolle spielen.
170 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

schreitung der Geschwindigkeitsgrenze mit leichten Diebstahlsformen 1


und Körperverletzung zusammen. Zeitlich ergeben sich Zusammen-
hänge, die näher nachzuprüfen sind.
Müde, wenn die Arbeitszeit vorbei ist, rasen die Menschen nach Haus,
und weil sie achtlos und erschöpft sind, werden sie bestohlen. Um diese
Zeit steigt plötzlich das Delikt der Trunkenheit an und kulminiert vor
Mitternacht, zusammen mit der Körperverletzung.
Einbruch und Raub zeigen eine andere instruktive Denver-Kurve.
Sie hebt sich zu einem Höhepunkt zwischen 2 und 4 Uhr nachts. Es
wird in Banken, Lagerhäusern und Geschäften eingebrochen. Ein
zweiter Anstieg zwischen 4 und 6 Uhr nachmittags richtet sich gegen
unbewachte und alleinstehende Wohnhäuser, die in Amerika sehr häufig
sind. Da Mann und Frau arbeiten, Dienstboten nicht vorhanden sind,
stehen diese Häuser bis zur Rückkehr leer, die meistens gegen 5 Uhr
statthat. Der Raub erhebt sich gegen Mitternacht zu größter Höhe,
wenn Opfer auf dem Heimweg sind, die viel getrunken haben. Das Auto
würde diese Zahlen niedrig halten, wenn es nicht ein- und auszusteigen
gälte und hier der Fahrer schutzlos wäre, besonders wenn er die Garage
öffnet und Motorlärm die Rufe übertönt. Der Mittagsanstieg ist auf
Banken und Geschäfte zu beziehen, die in der Essenspause schwach
besetzt sind. Der Straßentrubel kommt der Flucht zugute 2. Bei
manchen Gangstermorden spielt die gleiche Überlegung mit und hat
sich unerwartet gut bewährt.
e) Bei den entdeckten Sittlichkeitsdelikten lassen uns die meisten
Untersuchungen im Stich, wenn wir die Tagesstunde zu ermitteln suchen.
Mit Hilfe der Züricher Kriminalpolizei habe ich einmal die tägliche
Schwankungsbreite für exhibitionistische Akte festzustellen versucht.
Für Hagen hat FRITZ LANG Zahlen der homosexuellen Unzucht vorgelegt.
Da in dem ersten Fall Zweistunden-Zahlen, im zweiten Dreistunden-
Ziffern berechnet sind, habe ich erst die Einzelziffern gegeben und dann
6-Stunden-Perioden gegenübergestellt:

Exhibitionistische Akte nach Tagesstunden *


(Zürich 1922-1926, 1747 Fälle)
24- 2 35 12-14. 205
2- 4 o 14-16. 220
4- 6 8 16-18. 248
6- 8 117 18-20. 195
8-10 90 20-22. 283
10-12 129 22-24. 217
* Exhibitionistenstatistik, Monatsschrift, Bd. XX, S. 330.
1 Reports of the Police Department of the City of Denver for 1937, 1938, 1939
und 1940, S. 64,74 und 87.
2 Die überfüllte wie die völlig leere Straße hat gleiche Wirkung des Versteckens.
Der Tageslauf 171

Von Mitternacht bis 6 Uhr wurden nur 43 Fälle beobachtet, in den


zwei Abendstunden von 8-10 Uhr 283 Fälle; erstaunlich ist die hohe
Zahl der Akte am hellen Tage von 12-2 Uhr nachmittags (205 Fälle).
Die Menschenmassen, die die Straßen füllen, wirken mächtig auf die
Neigung des Gliedzeigers, wie man ihn in Bayern früher nannte l .
Homosexuelle ließen sich, soweit man sie ertappte, viel später zu
der strafbaren Handlung hinreißen; allerdings war nur in 22,7% der Fälle
die Tatstunde festzustellen:
Homosexuelle Unzucht nach Tagesstunden *
(Hagen 1914-1947, 194 Fälle)
0- 3 17,7% 12-15 13,0%
3- 6 5,1 % 15-18 17,0%
6- 9 2,6% 18-21 15,3%
9-12 5,1 % 21-24 24,3%
* LANG, FRITZ: Die Kriminalität der homosexuellen Unzucht, a.a. 0.,8.45.

Die Gegenüberstellung in 6-Stunden-Abschnitten ergibt folgendes Bild:


Tages- I EXhibi~onismus I Homosexualität
stunden %

0- 6 2,5 22,7
6-12 19,2 7,7
12-18 38,5 30,0
18-24 39,8 39,6

Was den meisten Angaben, die sich mit der Beziehung der Tages-
stunde zum Verbrechen befassen, fehlt, ist die weitere Aufspaltung. Sie
ließe uns trotz aller anderen Unsicherheiten viel tiefer in den rohen
Zahlenhaufen blicken. Sie würde ganz verschiedene Tendenzen zeigen,
die uns sonst nur verwischt entgegentreten. Schon eine Trennung nach
Geschlechtern führt uns weiter:
Tageszeit und Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen *
(Bonn, Nachkriegszeit)
Tagesstunden Gesamtzahlen I Jungen I Mädchen

9-12 7 - 7
12-14 8 2 6
14-16 10 5 5
16-19 39 9 30
19-22 21 9 12
22- 9 16 12 4
* WEGNER, ALBERT: Die Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen im
Landgerichtsbezirk Bonn, 8.33. Diss. Bonn 1952.
1 Die spartanischen Mädchen hießen, weil sie einen hochgeschlitzten Rock
trugen, ,,8chenkelzeigerinnen". LICHT, HANS: Sittengeschichte Griechenlands, 8.72.
8tuttgart 1959.
172 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Obschon der Zahlen viel zu wenig sind, ist eine entscheidende Ab-
weichung zu erkennen. Gefährdet sind die kleinen Mädchen in den frühen
Abendstunden. Die Jungen, beinahe alle über 14 Jahre, erlagen einem
Angriff nachts im Bett, als sie gemeinsam mit dem Täter schliefen.
Die Fälle sind mit denen auf der Mädchenseite schwerlich zu vergleichen.
OYRIL BURT l hat den Zusammenhang von Jahreszeit und Jugend-
Delinquenz berechnet:

Jugendliche Delinquenten nach Tageszeit, London


0- 9 1,3 5- 6 10,2
9-12 3,0 6- 7 19,7
12- 1 4,3 7- 8 6,8
1- 2 3,4 8- 9 8,5
2- 3 6,0 9-10 4,7
3- 4 7,7 10 Uhr und später 1,3
4- 5 23,1

In den zwei Stunden 4-5 und 6-7 werden 42,8 % aller Jugend-
delikte begangen. Auf dieses Zahlendunkel fällt sofort ein helleres Licht,
wenn wir die Liste der strafbaren Handlungen ansehen. Es waren:
993 Fälle von Diebstahl und ähnlichen Delikten
462 Fälle von Weglaufen und ähnlichen Delikten
399 Fälle von Gewalttätigkeit
289 Fälle sexueller Verbotsverletzung
259 Fälle von Sachbeschädigung
40% der Vergehen waren kleine Diebstähle aus offenen Auslagen 2
und dergleichen unbewachten Orten. Zu diesen Mausereien sagt BURT:
"Wenn man die Einzelfälle näher ansieht, so ergibt sich, daß ein großer
Teil der Dezember- und Januardiebstähle direkt durch Auslage von
Weihnachtsgaben in den Schaufenstern zu dieser Zeit angeregt ist 3 ."
Wie weit würden wir kommen, wenn wir diese Deliktsarten, dazu das
Geschlecht der Kinder, den Wochentag und die Wirtschaftslage 4 mit der
Stunde der Begehung kombinieren könnten. Erst dann enthüllte sich
ihr wahrer Sinn.
Die wissenschaftliche Darstellung, die z.B. Tagesstunde und Wochen-
tag voneinander ablöst, gewinnt an äußerlicher Klarheit, während sie
Zusammenhänge wiederum verdunkelt. Die Unfallzahlen würden lauter

1 BURT, CYRIL: The young delinquent, S. 152. New York 1933.


Die Technik dieses Mausens in Soho hat MARK BENNEY, Low company, S. 50ff.
2
beschrieben.
3 BURT, a. a. 0., S. 161.
4 BURT (S. 79) spricht von den kleinen Räubereien zweier Diebe, 10 und 8 Jahre
alt, die rein durch Hunger verursacht waren. Als sie nach dem Tode ihres Vaters aufs
Land kamen und gut zu essen bekamen, hörte jedes Klauen auf. "Mit überraschen-
der Schnelligkeit machten sie gesundheitlich und moralisch Fortschritte."
Der Tageslauf 173

zu uns sprechen, wenn wir nicht nur die Tagesstunden, sondern auch die
Wochentage kennen würden, womöglich auch die Monatszahlen, die
reine Jahresziffern uns verhüllen:
Verkehrsunfälle
Kansas City 1948 und 1949,
zwei ausgewählte Tageszeiten; 6705 Fälle*
Tagesstunden Zahl Prozentsatz

4--6 Uhr morgens 91 1,4


4--6 Uhr nachmittags . . 1342 20,0
* Zahlen berechnet nach dem Annual Report,
Police Department Kansas City/Mo., 1949, 8.13.

Wann fuhren Männer, wann die Frauen 1 Was war Geschäft, Beruf,
ein Muß des Fahrens 1 Wann fuhr der Fahrer zum Vergnügen, zur Er-
holung, vom Trinken, Lieben, Spiel, nach Hause 1 Die Wochentage wür-
den einen halben Einblick geben. - Taschendiebe, die die New Yorker
Untergrundbahn abgrasten, hatten ihre bestimmten" Geschäftsstunden".
"Wir gingen jeden Nachmittag um etwa 4 Uhr los und arbeiteten bis
6 Uhr abends. Wir machten ungefähr 100 Dollars am TagI." Die
Wochentagserlöse müssen ganz verschieden sein, sie geben erst der
Tagesstunde die Bedeutung. - Ein Geldschrankknacker teilt uns mit 2 :
"Als alles fertig war, beschlossen wir, den Riesenkasten (eines Geldschranks)
Sonnabend nachmittag in Angriff zu nehmen, sowie das Haus um 4 Uhr zugemacht
hatte. Detroit wurde damals von einer kleinen Hitzewelle heimgesucht."
Weil keine Heizung zu besorgen war, trat der Nachtwachmann erst
um 8 Uhr an. Unfern der Bank stand ein Verkehrsschutzmann, seine
ganze Aufmerksamkeit war auf den starken Sonnabendnachmittag-
verkehr gerichtet. Vergnügt und arglos strömten die fußgänger ins
Freie; man war in bester Laune, ohne jeden Arg, als schwere Kisten
ausgeladen wurden; man freute sich, daß andere schwitzen mußten.
Zwei von den Gaunern hatten sich als Neger schwarz gemacht, die andern
steckten mit dem Arsenal von Schneidbrennern in den Kisten. Hier
hing die Stunde von dem Wochenende ab. An jedem andern Tage war
die Zeit unmöglich. Der Feiertagsverkehr, der abgelenkte Schutzmann,
die große Hitze gehörten mit zur Gunst der Tagesstunde.
Die frühen Morgenstunden eignen sich am besten für den erfahrenen
Kriminellen, der einsteigt, einbricht oder sich eines Nachschlüssels be-
dient. Eine jede solche Unternehmung bedarf aber, wenn sie sorgsam
vorbereitet ist, bestimmter Wochentage und Gelegenheiten. Der beste
1 CALLAHAN: Man's grim justice, S. 35.
2 Die Darstellung des Einbruchs findet sich bei H. E. WILSON: I stole 16,000,000
Dollars, S. 77ff. New York 1956.
174 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Weg, zu einem Schlüssel zu kommen, geht in Amerika über das Dienst-


mädchen. Sie haben regelmäßig Donnerstags Ausgang. Man kann sich
mit ihnen anfreunden, sie zu einer Gesellschaft einladen, den Hausschlüs-
sel aus ihrem Mantel nehmen, während sie vergnügt am Tanzen ist und
in kürzester Zeit ein Duplikat herstellen lassen. Man ruft im Hause an.
Wenn niemand antwortet, ist der Komplice in 15 Minuten zur Stelle und
räumt die ganze Wohnung aus I . - In andern Fällen richtet sich die Zeit
nach irgendeinem Eigentümer und Polizei ablenkenden Geschehnis;
Tatzeit und Wochentag zählen nicht. - Im Jahre 1946 stattete der da-
malige Präsident Truman dem Ort Yonkers bei New York einen Besuch
ab. Die gesamte Polizeimacht von 270 Mann war von 10.30 Uhr an aus
den Polizeiwachen auf die Straßen beordert worden, um die Zugänge
freizuhalten und den Präsidenten zu bewachen. Um die gleiche Zeit
klingelten 3 Männer bei der Frau eines Juweliers und stellten sich als
Bundeskriminalbeamte vor. Als sie in die Wohnung eingelassen waren,
holten sie Pistolen hervor und raubten den gesamten Schmuck der
Frau 2. Es war ein Freitag und ein Vormittag, an dem Raubüberfälle
selten sind. Der Plan war auf die ausnahmsweise Situation gegründet.
Es war kurz vor der Wahl. Man war gespannt, was Truman wohl zu
sagen hätte, das Publikum und auch die Polizei.
Genau so ging ein Einbrecher vor, der am 16. September 1901 die
Wohnung des Oberbürgermeisters von Mainz ausräumte. An diesem Tag
fand eine Gartenbauausstellung statt, zu der die Menschen von weit und
breit gekommen waren. Gegen 5 Uhr nachmittags, als die Festlichkeiten
den Höhepunkt erreicht hatten, öffnete der Dieb mit wenigen geschickten
Griffen die Wohnungstür des Oberbürgermeisters 3. Nach 3 Minuten war
er mit dem Raub zurück. Es war ein Montag und um 5 Uhr nachmittags.
Das Gartenfest war hier die Deckung, die Zeitmomente waren Neben-
sache.
Die frühen Morgenstunden schützten den berühmten Einbrecher
William Barrett 15 Jahre lang vor Strafe und machten ihn zu einem reichen
Mann, bis ihm ein dummer Zufall in die Quere kam 4 ; als 2 Warnungs-
schüsse nichts geholfen hatten, wollte er in kalter Verzweiflung das
Geheimnis seines Doppellebens wahren und hatte auf einen Konstabler
geschossen, der auf der Stelle tot war. Sekunden später lag er halb er-
schlagen auf dem Boden. - Ein anderer Krimineller hatte 300 Einbrüche
auf dem Kerbholz: "Die Nachmittage von Freitag, Sonnabend, Sonntag
waren seine Arbeitszeit, und zwar 'Ton 2 bis 4 Uhr nachmittags 5 ." An
1 MARTIN: My life in crime, S. 64.
2 Bericht der New York Times vom 30. Oktober 1948.
3 Pitaval der Gegenwart, Bd. IH, S. 12ff.
4 MrNOT: Murder will out, S. 113ff. Boston 1928.
5 MAKRIS: Boston murders, S. 116 ff. New York 1948.
Der Tageslauf 175

einem Sonntag nach 2 Uhr ereilte ihn das Schicksal. Er mußte seiner
vielgeliebten Freiheit wegen einen Mord begehen, als ihn ein Kriminal-
beamter stellte. Als Schutzmannsmörder war sein Schicksal bald be-
siegelt. Wir würden ohne Sonntag diese Tagesstunde nicht verstehen.
d) Der Tod hat seinen Tagesrhythmus : Hinscheiden, wenn die Zeit
gekommen ist, Unfall durch eigene oder fremde Schuld, Selbstmord und
mörderische Tat. Da es sich um verwickelte Kausalitäten handelt und
der Mensch zunehmend in der Nacht lebt und seine Problematik mit sich
schleppt, sind keine Übereinstimmungen zu erwarten. Weil aber in nor-
malen Todesfällen und Selbstmorden eine Reihe unentdeckter Morde
stecken, ist eine Untersuchung aller Todesphänomene angezeigt. Der
Anfang ist mit großen Zahlenreihen fortzusetzen.
Aus Frankreich kommen Daten, die eine langsame Verschiebung der
Sterbestunde zu erweisen scheinen!:

Die Sterbestunde
(1907-1924, auf 1000 Todesfälle, 15 Jahre und älter)
1907-1913 1914-1919 1920-1924
(87 Dep.) (77 Dep.) (90 Dep.)
I
Frankreich
0- 6 276 283 254
6-12 234 257 273
12-18 262 258 242
18-24 209 203 232
Paris
0- 6 292 302 277
6-12 244 248 257
12-18 247 242 234
18-24 217 207 231

Die Sterbestunde hat sich vom alten Maximum der frühen Morgen-
stunden in letzter Zeit im ganzen Land auf die Zeit von 6 Uhr morgens
bis mittags verschoben; Paris ist dieser Bewegung noch nicht gefolgt.
Die großen Zeiträume (6 Stunden) erlauben nicht zu erkennen, ob dieser
Anstieg sich um die Mitternachtsstunden oder die Morgenstunden (etwa
4-6) gruppiert.
Ob Männer oder Frauen andere Sterbestunden haben, wäre noch zu
untersuchen. Beim Selbstmord stoßen wir auf Divergenzen.
Das große Dunkelfeld des Selbstmords rät zur Vorsicht, wenn wir
aus diesen Zahlen Schlüsse ziehen wollen; die andersartige Reaktion der
Frau ist offensichtlich, obschon die allzukleinen Daten warnen. Selbst-

1 HUBER, MICHEL: La population de la Frame pendant la guerre, S. 719.


Paris 1930.
176 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Selb8tmord
(nach Tagesstunden, Alleghany County, Pennsylvania 1927-1933*)

Männer Frauen
Anzahl I % Anzahl I %

0- 6 59 14,1 8 12,1
6-12 138 33,0 18 27,3
12-18 127 30,4 26 39,4
18-24 94 22,5 14 21,2
* LUNDEN, WALTERA.: Stati8tic8 on crime8 and criminalB, S.50. Pittsburg 1942.

mordversuche, auf der Frauenseite häufig, sind nicht inbegriffen, im


Gegensatz zur Kriminalstatistik.
In SHAKESPEARES Macbeth l legt der erste Mörder dar, daß jetzt die
Stunde gekommen ist, in der gehandelt werden muß: Im Westen ver-
gehen gerade die letzten Spuren des Tageslichts. Der Reisende beeilt sich,
den Schutz des Gasthauses zu gewinnen. Das war die Zeit der langen
Ritte über Land und der unsicheren Straßen, die mit dem Dunkel ganz
gefährlich wurden. Des Reiters Eile macht ihn unvorsichtig, so wie die
Frau im Klimakterium auf den Weg nicht immer achtet. Die moderne
Welt mit ihren Lichtern, Streifenwagen und den abendlichen Menschen-
massen hat dieses Bild von Grund auf umgeformt. Die Nacht steht
freilich immer noch im Vordergrund:

Mord und Tage88tunde (Deutschland *, England **, USA ***)

Tagesstunde
Deutschland Großbritannieu I Alleghauy
Pennsylvania
County
1928-1930 1901-1905
1905-1940

0- 2 7 23 223
2- 4 3 6 I 118
4- 6 2 4 69
6- 8 7 5 131
8-10 7 10 122
10-12 14 12 148
12-14 10 19 145
14-16 8 12 171
16-18 13 21 186
18-20 24 21 275
20-22 II 32 362
22-24 15 42 415
* Kriminalstatistik für das Jahr 1931, S. 36. Berlin 1934.
** Judicial Statistics England and Wales, Criminal Statistics 1905, S. 53.
London 1907.
*** LUNDEN, a. a. 0., S. 49.
1 Macbeth III, 2.
Der Tageslauf 177

Nur wenn wir wüßten, wie sich die zahlreichen unentdeckten Morde
nach Tagesstunden verteilen, wenn wir erfahren könnten, wann die
Morde geschehen, die aus prozessualen Gründen nicht abgeurteilt werden
(Selbstmörder, Geisteskranke usw.), würden wir das wahre Bild der zeit-
lichen Beziehungen gewinnen. Giftmorde lassen sich auf keine be-
stimmte Tagesstunde festlegen. Auf welche Stunde soll man die An-
stiftung, oft auch den Versuch ansetzen, die in der Kriminalstatistik als
Morde gezählt werden? In Pennsylvanien werden in den 6 Stunden
18-24 Uhr 45% aller Morde begangen. In jeder Stunde geschehen
rechnungsmäßig 95,5 Morde. Von 22-23 Uhr aber sind es 210, von
4-5 Uhr morgens nur 30. In England ereignen sich zwischen Mitter-
nacht und Mittag 30% aller Morde; zwischen Mittag und Mitternacht aber
sind es 70 %. Die deutsche Statistik weist für die Zeit von 4-6 Uhr
morgens 1,4% der Morde, für die Abendstunden 6-8 Uhr 18% auf und
verbreitet durch über 10% zeitlich unbestimmte Fälle lähmende Un-
sicherheit. Sie trennt auch nicht nach Mordtypen. Raubmorde müssen
aber anders liegen als Tötungsakte, in denen sich ein persönlicher Kon-
flikt oder sexuelle Begehrlichkeit entlädt.
Es ist eine wirkliche Bereicherung unseres Wissens, wenn W OLFGANG 1
seine Tagesstunden-Zahlen nach Rassen und Geschlechtern aufteilt. Wir
sehen, wie gemischt und wenig zuverlässig die addierten Zahlen sind.
Der anderen Rasse, nämlich Negern, gehört die doppelte Zahl der Opfer
an als der weißen Bevölkerung. Gesamtziffern geben also im wesentlichen
Negerdaten wieder:

Opfer von Tötungsdelikten nach Tageszeit, Rasse und Geschlecht


(Philadelphia 1948-1952, Prozentzahlen)
Weiße Neger
Tagesstunden
Männer Frauen Männer Frauen

20-- 1,58 42,4 30,2 53,5 54,2


2- 7,59 19,5 23,3 15,1 14,6
8-13,59 10,2 18,6 6,6 12,5
14--19,59 27,9 27,9 24,8 18,7
Zusammen 588 Fälle 118 Fälle 43 Fälle 1331 Fälle 96 Fälle

Die vorbeugende Wirkung der Arbeitszeit, die Mann und Frau zumeist
getrennt hält, und die Umgebung, die eine gewisse Aufsicht ausübt,
machen sich von 8 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags geltend. Bei
beiden Rassen ist sie auf der Frauenseite weniger ausgesprochen. Die
späte Nacht (von 2 Uhr morgens bis 8 Uhr früh) zeigt etwas größere
Bewegung; Gefahr besteht vor allem für die weiße Frau. Der Nach-
1 WOLFGANG, a. a. 0., S. 108.
v. Hentig, Das Verbrechen I 12
178 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

mittag (von 2 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends) zeigt neuen, aber noch
nicht allzugroßen Anstieg.
Zwischen 8 Uhr abends und 2 Uhr früh schließlich wird die Hälfte
aller Tötungen begangen, wenn man die beiden Rassen zusammennimmt
(50,6 % der Männer und 46,7% der Frauen). Die Negerseite ist besonders
stark belastet. Andere Studien, die WOLFGANG anführt!, kommen zu
ähnlichen Ergebnissen. Es fielen in den Zeitraum 8 Uhr abends bis
2 Uhr früh:
53,4% (Birmingham 1937-1944 2 ),
47,1 % (Großbritannien 1886-1905 3) der Morde.

Der Mensch "erholt" sich nach der Arbeit vielfach durch Exzesse.
Die Disziplin der industriellen Werke, der Arbeitsstätten und Büros
macht abends dem Familienleben, seinen Unzulänglichkeiten, der Ani-
malität des Trinkens, Spielens, Streitens, Prügelns, Liebens Platz. Ein
jeder Abend ist ein kleiner Sonntag. Wir werden diesen arbeitslosen
Abschnitt bei den Wochentagen wiedertreffen, wo er genau wie bei den
Abendstunden eine Krisenatmosphäre vorbereitet. Wir ruhen nicht, wir
schütteln eine Last ab, ein Joch, das uns zum Bestandteil von Maschinen
machte.

C. Die Wochentage
a) Seitdem die Woche sich von dem 28-Tage-Monat abgelöst hat, nicht
mehr am ersten jeden Monats beginnt und viermal ihren Weg von Neu-
mond bis zu Neumond wandert, hat sie die physischen Zusammen-
hänge eingebüßt. Was übrig blieb, war nur soziale Rhythmik, von Men-
schenhand gebildet, stets einem neuen Eingriff ausgesetzt, wie wir ihn
mit der neuen langen Form des Wochenendes jetzt erleben. Was Men-
schen denken, herrscht tyrannisch über ihrem Handeln, und der Kalender
ist nur Ausdruck ihrer Glaubenssätze. Ein Blick nach Osten zeigt uns
einen völlig anderen Arbeits-Wochenzettel. "Das chinesische Volk", so
lesen wir 4 , "kennt keinen halbfreien Sonnabend, keinen müßigen Sonn-
tag. Es kann sich solchen Luxus nicht leisten. Der Kampf ums Leben
ist in einem so dicht übervölkerten Lande zu heftig, in einem Lande, wo
die Ahnenverehrung - diese Brücke zwischen menschlichen Heimstätten
und einer Welt der Geister, die Opfergaben und liebevollen Dienst brau-
chen - die Pflicht großer Familien darstellt und in dem der Mangel an
Söhnen die Tragödie der unterbrochenen Sippenlinie bedeutet."
1 WOLFGANG, a.a.O., S.llOff. 2 HARLAN, HOWARD.
3 MACDONALD. - Andere Arbeiten benutzen verschiedene Zeitmaße und eignen
sich deshalb nicht zu einem übersichtlichen Vergleich, so MEYERS (St. Louis) und
POTTERFIELD und TALBERT (in einem nicht genannten Orte, im Südwesten).
4 BREDON, JULIET, und IGORMITROPlIANOW: Das Mondjahr, Chinesische Sitten,
Bräuche und .Feste, S. 83. Wien 1953.
Die Wochentage 179

Als der 28-Tage-Monat aus vier genau abgezirkelten 7-Tages-Perioden


bestand, konnten die sieben "Planeten", nämlich Sonne, Mond, Mars,
Merkur, Jupiter, Venus und Saturn mit diesen Wochentagen in Ver-
bindung gebracht werden. Sie hatten auf den Menschen Einfluß; Mars
und Saturn versandten Unheil.
In unseren Namen für die Wochentage sitzen noch die Mächte,
an die die Menschen einstmals glaubten. In ihnen leben alte Götter und
Gestirne:

Deutsch Englisch Französisch

Sonntag (dies solis) Sunday (sunnan-dag) Dimanche (dies dominica)


Montag (dies Lunae) Monday (monenday) Lundi (dies Lunae)
Dienstag (Zius Tag) Tuesday (Tiwes dag) Mardi (Martis dies)
Mittwoch (Wodensdag) Wednesday(Wodensday) Mercredi (Mercurii dies)
Donnerstag (Donares Tag) Thursday (Torsdag) Jeudi (Iovis dies)
Freitag (frijetag) Friday (Frige-dag) Vendredi (Veneris dies)
Samstag (Saterdag) Saturday (Saeterdag) Samedi (Saturni dies)

Ein Widerschein dieser Einflüsse ist noch im Volksaberglauben und


zahlreichen sprichwörtlichen Wendungen bemerkbar. Obschon keine
rationelle Beziehung aufzufinden ist, so können diese Anschauungen aus
einem Grunde nicht übergangen werden. Sobald sie fest im Volk ver-
wurzelt sind, werden sie zu Realitäten 1 und beginnen, lebende Kräfte des
Zusammenlebens zu werden. Der Freitag ist vielleicht das beste Beispiel,
weil seine Wirkung in Gestalt des Hinrichtungstermins in die Straf-
gerichts barkeit hineinreicht.
In den englischen Volksregeln 2 hängt das Aussehen des Menschen
vom Wochentage der Geburt ab_
Born on Monday, fair in the face (gutaussehend).
Born on Tuesday, full of God's grace ("gottlieb").
Born on Wednesday, sour and sad (trübselig).
Born on Thursday, merry and glad (lustig und froh).
Born on Friday, worthily given (vortrefflich geraten).
Born on Saturday, work hard for your living (muß hart arbeiten).
Born on Sunday, you never know want (lernt niemals Not kennen).
Auch der Hochzeitstag ist bedeutsam 3, wenn man den richtigen
Wochentag wählt:
Married on Monday, married for health (bleibt gesund).
Married on Tuesday, married for wealth (wird reich).
Married on Wednesday, the best of all (der beste von allen)
1 Gerade beim Berufsverbrecher, der häufig abergläubisch ist.
2 ApPERSON, a. a. 0., S. 421.
3 THOl\IAS, D. L.: Kentucky superstitions, S. 63. Princeton 1920.
12*
180 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Married on Thursday, married for losses (verliert im Leben).


Married on Friday, married for crosses (stirbt früh).
Married on Saturday, no luck at all (hat kein Glück).
Eine Übereinstimmung ist schwerlich zu finden. WUTTKE hat für
Deutschland festgestellt, daß Sonntag bei Geburten und kirchlichen
Handlungen allgemein als glücklicher Tag gilt, er wird daher besonders
auch zu Trauungen gewähltl. Im alten Venedig war Sonntag fast immer
der Hochzeitstag 2. Montag "übernimmt die Bedeutung des Mondes;
dieser ist verwandt mit der Nacht, der Veränderlichkeit, der Dunkelheit,
dem Stehlen. Montagskinder sterben einen schnellen Tod ... ". "Montags
Anfang hat keinen guten Fortgang 3 ." Daß am Montag nichts unternom-
men werden darf, was dauernd sein soll, liegt vielleicht letzten Endes der
Sitte des blauen Montags zugrunde.
Dienstag ist der Tag des Ziu, des Kriegsgottes, des Schwertes und
des Gerichtes. Er erweist seine Gunst als Hochzeitstag 4 • Über Dienstag
als Gerichtstag hat JACOB GRIMM umfangreiches Material beigebracht 5 •
Wenn das Todesurteil am Dienstag verkündet wurde, so ergab sich der
Freitag als Tag der Exekution.
Mittwoch ist Wotans Tag. Seine Beziehung mit Sturm und Unwetter
macht ihn zum Unglückstag. "Am Mittwoch soll Judas seinen Herrn
verraten haben 6 ." Als Hochzeitstag ist er im Gegensatz zu Amerika
nicht sonderlich beliebt. Er ist in der Mark Brandenburg Witwen und
Witwern vorbehalten, die zum zweiten Male heiraten 7. An diesem Tag
heiraten Gefallene, die ja auch im verbotenen Monat Mai zum Altar
schreiten. Nichts, was von Dauer sein soll, darf am Tage des Kriegs- und
Sturmgottes begonnen werden 8.
In der Beurteilung des Donnerstag kreuzen sich heidnische und christ-
liche Einflüsse. An einem Donnerstag wird das Fronleichnamsfest be-
gangen, auch hat die Kirche Christi Himmelfahrt auf einen Donnerstag
gelegt. Die Klöpflesnächte fallen hauptsächlich auf die 3 Donnerstage
vor Weihnachten 9. Andere lärmende Umzüge finden an diesen Donners-
tagen statt und verraten durch Unheil verjagendes "Feldgeschreilo" ur-
1 WUTTKE, a. a. 0., S. 58.
2 MOLMENTI, POMPEO: Venice, Bd. II, S.41. Chicago 1908.
3 WUTTKE, S. 59.
4 SARTORI: Sitte und Brauch, Bd. I, S. 60.
5 Recht8altertümer, Bd. II, 443ff.
6 WUTTKE, S. 60.
7 SARTORI, Bd. I, S. 61.
8 WUTTKE, S. 60. - "Mittwochs un Freidake soll mer net trable (travel, reisen)
ge." FOGEL, E. M.: Belief and super8tition8 of the Penn8ylvania Germans, S. 261.
Philadelphia 1915.
~ SARTORI, Bd. III, S. 12.
10 Ebenda, Bd. IH, S. 14.
Die Wochentage 181

altes Brauchtum. Um den heidnischen Festtag in der Erinnerung aus-


zulöschen, ist er zum Hexentag geworden 1. Weil böse Mächte umgehen
und nichts gelingt, was heute unternommen wurde, soll sich der Mensch
verstecken, soll er Arbeitsruhe halten.
Am Gründonnerstag drängen sich schon Spuren des glückhaften
Donartages durch. Kräuter, die am frühen Morgen gepflückt werden,
haben Heilkraft 2. Während an diesem Tage auf der einen Seite der letzte
Rest der alten Götter verfolgt, "der Judas ausgetrieben" wird 3, erscheint
der Donnerstag als Glückstag, an dem man heiraten soll, Fleisch gegessen
wird, als wäre es ein Feiertag, der erste Viehaustrieb geschieht, und die
ländlichen Dienstboten einen Ruhetag haben wie heute noch die Mädchen
in Amerika. In vielen Stücken stimmen im bäuerlichen Leben des Alltags
Sonntag und Donnerstag überein. Es ist ein leicht verhüllter Festtag
und daher der dies academicus 4 • Nach WUTTKE fallen in der Schweiz seit
alter Zeit die Märkte auf den Donnerstag; auch denkt er an die Wendung
"aufgedonnert" für die Festtagskleidung.
Der Freitag rückt durch die moderne Arbeitsordnung in die Gefahr-
zone des Wochenendes ein. Nach jüngerer Auffassung sind die am Freitag
geschlossenen Ehen ohne Glück und bleiben kinderlos 5 • Man soll nicht
waschen, nicht backen, nicht verreisen, nicht in See gehen, seinen Dienst
wechseln, überhaupt nichts Wichtiges unternehmen. An diesem Tag,
der die Kreuzigung Christi sah, finden die Hinrichtungen statt, erfolgt
der große Börsenkrach. Der englische Slang -Ausdruck Friday look, das
Freitagsgesicht, wird vom Fasten abgeleitet 6, wird aber einfach die
Leichenbittermiene bedeuten, die diesem Trauertage angemessen ist.
Alljährlich gab es in manchen Zuchthäusern, ehedem jeden Freitag, eine
"Kollation" von 10 Streichen mit dem Ochsenziemer? Kein Häftling
war davon befreit.
Für die ältesten aller Berufe, Jagd 8 und Zauberei 9 , ist heute noch
der Freitag ein Glückstag. Er ist auch gut zum Schätzegraben. In den
Vereinigten Staaten hat man bemerkt, daß Amerika an einem Freitag
entdeckt wurde und daß die Unabhängigkeitserklärung an einem Freitag
unterzeichnet wurde. Doch wird man an die zweite Seite aller Dinge
denken müssen, denn diese Tage waren Mißgeschick für Spanien und für
1 WUTTKE, S. 60.
2 WUTTKE, S. 73.
3 SARTORI, Bd. III, S. 149.
4 WUTTKE, S. 6l.

5 Ebenda, S. 61.
6 PARTRIDGE, a. a. 0., S.226.

7 Siehe meine Bemerkung: Aus der Geschichte des Zuchthauses Hüjingen, Monats-
schrift Bd. XXIV, S. 293.
8 PANZER, FR.: Bayerische Sagen und Bräuche, Bd. II, S. 185. München 1855.
9 WUTTKE, S. 410.
182 Zusammenhänge im Bereioh der Zeit

Großbritannien. Schon deshalb haben diese Regeln schwerlich allgemeine


Geltung.
Mit dem Samstag betreten wir bereits die soziologisch bedeutsame
Sphäre der Arbeitspause, die den Wochenrhythmus unterbricht; für den
Ablauf der Tagesstunden ergibt sich die Pause aus dem Abend. In die
Folge der Jahreszeiten sind die sommerlichen Ruhezeiten der Ferien ein-
gebettet. Es sind ursprünglich die geschäftsfreien Tage, ausgedehnt zu
einer Kette von Feiertagen l . Feste haben ihren Vorabend, an dem man
sich für die Strapazen des Feierns ausruht. Eine solche Vorphase stellt
der Sonnabend dar, mit dem die Geistlichkeit das ominöse Saterday ver-
drängen wollte 2, das an den dies Saturni und den Sabbat erinnerte.
Kinder, am Sonnabend geboren, neigen zur Heuchelei und Lüstern.
heit 3 • Im alten Venedig durften die Prostituierten nur am Samstag aus-
gehen 4. Es ist der Tag der Entspannung, vor allem auf sexuellem Gebiete.
"Zwei Samstage zuvor", sagte ein Motel-Inhaber, "habe ich eine Kabine
llmal vermieten können 5." In den Bordellen nimmt der Andrang zu,
und neues Personal wird eingestellt. Den kriminellen Anstieg werden
wir bald kennenlernen.
Am Samstag wie am Vorabend jeden Feiertags muß von 4 Uhr an
nach deutschem Glauben jede Arbeit ruhen 6. Ist das vielleicht der
Grund, daß manche Taschendiebe Samstags sich und ihren Opfern eine
Pause gönnen? Man soll auch keinen Dünger fahren, keinen Dienst an-
treten. An Samstagnächten gehen bei den Spielern große Summen um 7.
Sie sind Verführung wie die Freitagsgeldtransporte und wie die vollen
Ladenkassen spät am Abend. Die Hoteldetektive melden, daß die Sams-
tagnächte mit ihrer ausgelassenen Stimmung ganz besondere Schwierig-
keiten bieten 8. Im Slang heißt dieser Stimmungsüberschwang die "Panik"
und hat mit ihr wohl manche Ähnlichkeiten, denn Taschendiebe haben
eine reiche Ernte. Gelegenheitsprostituierte angeln in der Samstagnacht
einen Kunden nach dem andern. Sie nehmen nur ein Zimmer, holen
sich die Opfer Schicht um Schicht. "Sie hielten", sagt DEv COLLANS dra-
stisch, "die armen Kissen wirklich warm 9." Millionen wandern um das
Wochenende vom Land zum Städtchen, vom kleinen Ort zur großen
Stadt, Millionen fahren wiederum ins Grüne, ans Meer und ins Gebirge.
Die Aussicht auf das Wochenende ist ein Lichtblick, der den Lebens-
1 KLUGE-GOETZE, S. 199.
2 Ebenda, S. 639.
3 Ebenda, S. 62.
4 MOLMENTI, a. a. 0., S. 373.
5 Co OPER, C. R.: Designs in scarlet, S. 169. Boston 1939.
6 SARTORI, Bd. H, S. 70.
7 BLACK, JACK, a. a. 0., S. 190.
8 COLLANS, a. a. 0., S. 73.
9 Ebenda, S. 62.
Die Wochentage 183

mut erhöht. Kein Streik beginnt am Samstag, Selbstmordzahlen bleiben


niedrig. Die freudige Belebung ergreift nach der Erfahrung der Krimi·
nellen selbst die Polizei; sie soll aktiver und am Samstag mehr zu fürchten
sein l • Das Wetter spielt am Samstag eine sehr viel größere Rolle 2 als
an den anderen Wochentagen, ausgenommen Sonntag.
Die Soziologie der Wochenspanne sieht Tätigkeiten in regelmäßiger
Folge wiederkehren. Sie heften sich an Einzeltage und öfters scheinen
noch die alten Hintergründe durch, wie bei dem Fleischverbot am Freitag,
das ganze Industrien für den Fischverkauf geschaffen hat. Am stärksten
fühlen die Gefangenen diesen Rhythmus, wenn er für sie verloren ist.
Für sie ist Sonntagsruhe 'Wegfall eines Lebensreizes, qualvoll gesteigerte
Monotonie. Erst hier wird sich der Mensch bewußt, wie gut die mensch·
liche Gemeinschaft tut, wenn man sie wählen, pflegen, wechseln kann.
Wenn man mit Menschen reden kann, die man sich ausgesucht hat, und
wenn man schweigen darf, wenn es einem behagt. Im Wochentagerund.
lauf essen wir verschiedene Speisen. In den alten Gefängnissen gab es
am Montag das gleiche wie am Mittwoch, am Freitag dasselbe wie am
Dienstag und Sonntags eine Suppe, die am Sonnabend vorbereitet war 3 •
Abwechslung brachte nur die Henkersmahlzeit, sie konnte nur einmalig
sein. Im Todeshause von St. Quentin blieben die Gefangenen Sonn·
abends und Sonntags in ihrer Zelle eingeschlossen 4. Immer wieder ver·
sichern die Häftlinge, daß der Sonntag der schlimmste aller Wochentage
war. Daher die vielen Montagsstreitigkeiten, die eine Plage jeder Anstalt
sind.
Wir wissen nicht, an welchen Wochentagen Gefangene ihre sexuellen
Angelegenheiten regulieren. In Freiheit treten klare Linien auf, die sich
zum Wochenende hin verstärken. Nach Wochentagen regelt sich die
Tätigkeit der Hausfrau, am Montag wird gewaschen, jenem Festtag
aller Fetischisten, dann wird gebügelt und geputzt. Man kann den Nach·
barn immer sehen und sprechen, doch für Besuche gibt es ganz bestimmte
Tage, fürs Kino und das Kartenspiel, den Stammtisch und den Essens·
einkauf. Wie bei den Kindern, die zur Schule gehen, liegt auf den
Wochentagen eine Art von Stundenplan: für Essen, Arbeit, Liebe, Reli·
gion und langes Schlafen. Zwar mag auch Arbeit zu Konflikten führen,
doch ist sie meistens die soziale Kraft, die uns in Anspruch nimmt, die
1 SHAW and MAcKAY, a. a. 0.: Social factors in juvenile delinquency, S. 236.
Washington 1931.
2 In England heITscht Mißtrauen gegen Neumond an Sonnabenden und Voll·
mond an Sonntagen. Diet. English proverbs, a. a. 0., S. 561. - Daß nach einem
anderen Sprichwort die Sonne Samstags immer scheint, zielt mehr wohl auf die
subjektiv gehobene Stimmung.
3 Einen solchen Speisezettel der guten alten Zeit veröffentlichen BARNES and
TEETERS, S. 531.
4 LAMSON, DAVID: We who are about to die, S. 94. New York 1935.
184 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Muskelarbeit auf bestimmte Ziele richtet, das Sinnen von den Tagessorgen
abzieht. Dazu kommt noch die Trennung von der Familie, der Abstand
von den Quellen der Erregung, der Zwang, uns im Berufe zu behaupten.
Der Arbeitswoche kommt somit bedeutendes sozialisierendes Gewicht
zu. Sie legt den meisten Menschen eine Disziplin auf, die sie am Wochen-
ende, Freitags oder Samstags, von sich schütteln. Je eintöniger die
Arbeit am Fließband wird, je mehr sie angespannte Aufmerksamkeit
erfordert, um so heftiger ist das Bedürfnis, zum Ausgleich etwas anderes,
völlig anderes zu tun und dadurch die Verklemmung aufzulockern. So
wird begreiflich, daß das Pendel nach dem Gegenpole schwingt!. Die alte
Woche, die gemächlich bis zum Ende anstieg, schlägt hektisch jetzt in
einem Anfall aus. Was sich erhöht, sind die gewaltsam unterdrückten
Triebe, wie uns die Kriminalstatistik unzweideutig zu beweisen scheint.
b) Bei der Woche handelt es sich um ein einfaches, übersichtliches Zeit-
maß. Die Zahlenangaben für einzelne Delikte fließen daher reichlicher
als bei den Tagesstunden. Die einzige Schwierigkeit ergibt sich bei den
Feiertagen, die chronologisch Wochentage, soziologisch aber Sonntag sind.
Britische Jugendliche begehen ihre Delikte an den schulfreien
Tagen des Wochenendes; ein zweiter Auftrieb kleinerer Art zeigt sich
am Mittwoch:
Jugendkriminalität (London *, je Wochentag)
Montag. . 8,3
Dienstag . 10,0
Mittwoch . 14,3
Donnerstag 13,3
Freitag . 9,0
Samstag . 21,3
Sonntag 23,8
• BURT, a. a. 0., S. 152.

HECHT ist bemüht gewesen, die Wochentage festzustellen, an denen


die Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit erfolgte:
Wochentage der Infektion mit einer Geschlechtskrankheit· (Prozente)
Montag. 8,5
Dienstag . 10,8
Mittwoch . 8,5
Donnerstag 8,5
Freitag . . 11,2
Samstag . 19,8
Sonntag und Feiertag. 32,7
• Nach ROEsNER, Handwörterbuch der Kriminologie, Bd. H, S.435.
1 Untersuchungen, die vor 50 Jahren in Chicago angestellt wurden, ergaben
eine 5 Tage-Woche in Bordells, die Sonntags einen besonderen Zustrom erwarten.
Freitag und Samstag sind dann Ruhetage. The Vice Commission of Chicago: The
Social evil in Ohicago, S. 98. Chicago 1911.
Die Wochentage 185

Auch die älteren Jahrgänge erwerben sich eine Geschlechtsinfektion


am Samstag und am Sonntag; an diesen beiden Tagen erfolgten über die
Hälfte aller Ansteckungen, wenn man, wie richtig, die Sonntage mit den
Feiertagen zusammenfaßt.
Die früheren Zahlen von KÜLZ 1 über Roheitsdelikte werden mit An.
gaben von ASCHAFFENBURG 2 und OERTEL 3 zusammengestellt. Nur KÜLZ
trennt die Feiertage von den Wochentagen ab.

Alkoholdelikte in Heidelberg (Landbezirk), Worms und Dresden


nach Wochentagen, Prozentzahlen
Körperverletzung Körperverletzung Straftaten
Landbezirk Worms in Zusammenhang
Heidelberg (723 Fälle) mit Alkoholgenuß
(1175 Fälle) Dresden (768 Fälle)

Montag. 16,3 17,3 17,9


Dienstag 8,5 9,5 12,1
Mittwoch 6,0 8,6 9,7
Donnerstag 5,5 8,6 9,0
Freitag. 7,3 6,6 8,7
Samstag 8,4 14,3 15,2
Sonntag 45,0 35,1 27,7
Festtage 11,2
Unbekannt 2,9

Nach KÜLZ, der Amtsarzt in dem untersuchten Bezirk war, geschahen


56,2 % aller Körperverletzungen an Sonn· und Feiertagen. Die enge Be·
ziehung von Zeit und Raum ergibt sich aus der Tatsache, daß in den
Jahren 1900-190466,5% aller Roheitsdelikte auf den Tatort "Wirts.
haus" entfielen. Eine rechnerische Relation von Wirtshaus und Wochen.
tag herzustellen, ist leider nicht unternommen worden. Die stärkere Be.
lastung des Samstags und des Montags, die auch in LÖFFLERS Wiener
Zahlen 4 hervorscheint, verdient noch näher untersucht zu werden.
Hier scheint die Stadt und ihre spätere Polizeistunde, die in die Morgen.
stunden des Montags hineinreicht, das Zahlenbild gefärbt zu haben. Die
Bauern gehen nicht so spät nach Haus. Sie trinken zwischen 10 und
12 Uhr nachts am meisten.
Da wir nun einmal bei der Zwischenursache des Alkohols sind, sind
wir berechtigt, an dieser Stelle uns nach den Tötungsdelikten umzusehen.
Eine Mitteilung aus Sachsen 5 beschäftigt sich mit 207 Verbrechen, die
im Verlauf von 6 Jahren vor dem Schwurgericht verhandelt wurden und
1 Monatsschrift, Bd. II, S. 26.
2 ASCHAFFENBURG, S. 84.
3 Ebenda, S. 84, mit Rechenfehler (868 statt 768 Fälle).
4 Zahlen bei ASCHAFFENBURG, S. 84.
5 Monatsschrift, Bd. XVIII, S. 110.
186 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

denen Menschenleben zum Opfer fielen. Von diesen 207 Menschen


wurden getötet:
An Sonn- und Feiertagen . . . . . 131, d. h. 63 %
Am Sonntag und am Montag . . . 167, d. h. 80%
In Wirtshäusern, in deren nächster
Umgebung und auf dem Heimweg 175, d. h. 84%
Die englische und die deutsche Statistik hat vor einer Reihe von
,Jahren Morde nach Wochentagen gezählt:
Morde nach Wochentagen (England und Deutschland)

Wochentag England Deutschland


208 Fälle. 135 Fälle··

Montag . . 30 22
Dienstag . 26 14
Mittwoch. 27 19
Donnerstag 33 20
Freitag. 30 9
Samstag . 39 26
Sonntag . 25 24
* Jud. Statistics 1905, S. 53. ** Kriminalstatistik 1931, S. 36.
Es sind dies einzig abgeurteilte Morde, bei denen die Schuldfrage
bejaht wurde. Die Zahlen sind nicht groß genug, um sichere Schlüsse zu
erlauben. Wie sich im ausgedehnten Dunkelfeld die Wochentags-Bezie-
hungen abspielen, ist eine Frage, für die uns jede Antwort fehlt. Wenn
wir den Einzelfällen glauben dürfen, sind Samstag-Sonntag-Morde un-
gewöhnlich häufig, in denen die Familienspannung sich entlädt.
Die englische Kriminalstatistik enthält die Rubrik "murders known
to police". Die Zahl ist natürlich wesentlich höher als die der Verurtei-
lungen. Der Durchschnitt der 10 Jahre 1900-1909 war 1501, 1940-1949
lag er bei 166. Wir besitzen keine Aufstellung dieser Fälle nach Wochen-
tagen. Die amtliche Statistik zählte 1900-1909 975 solcher Morde.
Eine dritte Methode ist die Messung von Mordopfern nach Wochen-
tagen. Eine solche Untersuchung ergab 2 :
Mordopfer 1 Jahr alt und darüber; Prozentzahlen; (England und Wales, 1900-1909)
Montag . . 13,3
Dienstag . 17,1
Mittwoch . 14,1
Donnerstag 9,7
Freitag . 10,7
Samstag . 22,1
Sonntag . 13,0
1 Siehe meine Studie über den Mord, S. 12 und 13.
2 Die Zahlen verdanke ich dem freundlichen Interesse von Professor R. PETER
MOORE (Universität Sheffield), der in der Zeit von 1900-1909 nach der Times usw.
729 Fälle von Opfern des Mordes nach Wochentagen untersuchte.
Die Wochentage 187

Die Kurve weist das Samstags-Maximum auf, weicht aber sonst von
den Ergebnissen der Kriminalstatistik so deutlich ab, daß wir sie uns
zur Lehre dienen lassen müssen. Zwischen Auffindung des Mordopfers
und der Verurteilung sind aussondernde Prozesse wirksam, die wir in
ihrem ganzen Umfang noch nicht kennen_
Es ist wiederum WOLFGANGs l Verdienst, die amorphe Zahl der
Tötungsdelikte (Mord und Totschlag) aufgespalten zu haben; zudem
erfassen seine Zahlen 588 Fälle. Neben manchen Übereinstimmungen
ergeben sich, wenn man nach weißer und schwarzer Rasse unterscheidet,
am Montag und am Donnerstag ungeklärte Divergenzen. Es ist auch
schwer zu sagen, woher es kommt, daß weiße Frauen am Donnerstag so
oft getötet werden. Ganz wie in England steht der Samstag an der
Spitze, am ausgeprägtesten beim schwarzen Manne. Für Männer beider
Rassen bietet Donnerstag die größte Sicherheit.
Es ist lehrreich zu sehen, wie Gesamtzahlen die feineren Unterschiede
verdecken und nur die Summen ganz verschiedener Elemente sind:
Tötungsop!er nach Wochentagen, Rasse und Geschlecht
(Philadelphia 1948-1952; Prozentzahlen)
Weiße Neger
Wochentag
Männer Frauen I Zusammen Männer I Frauen I Zusammen

Montag. 10,2 18,6 12,4 7,6 13,5 8,9


Dienstag 10,2 7,0 9,3 5,7 7,3 6,1
Mittwoch. 10,2 9,3 9,9 7,9 13,5 9,1
Donnerstag 9,3 27,9 14,3 3,6 13,5 5,9
Freitag. 19,5 1l,6 17,4 16,8 16,7 16,9
Samstag 25,4 1l,6 21,7 38,7 25,0 35,6
Sonntag 15,3 13,9 14,9 19,6 10,3 17,6

Am Donnerstag wurden ebensoviel weiße Frauen getötet wie am


Dienstag, Mittwoch und Freitag zusammen_ Eine Deutung steht noch
aus. Die Kombination von Tötungsarten und Wochentag ergibt folgen-
des Bild 2 :
Anteil der Tötungsarten nach Wochentagen
An sämtlichen Am Samstag
Wochentagen

Erstechen. 39% 46%


Erschießen 33% 33%
Erschlagen 22% 18%
Auf der Frauenseite erscheint der Montagsanteil der Tötungsopfer
nicht unwesentlich erhöht. Nach einer sehr umfangreichen älteren Auf-
1 WOLFGANG, a.a.O., S. 107.
2 Ebenda, S. 107.
188 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

stellung verüben in den Vereinigten Staaten die Männer in einem jähen


Anstieg Selbstmord am gleichen Montag:
Selbstmord und Wochentage *
(USA, Grundzahlen 100, 10000 Selbstmörder, 1897-19(1)

Wochentag Männer Frauen

Montag. . 118,4 122,6


Dienstag . 98,7 94,8
Mittwoch . 97,0 93,5
Donnerstag 88,4 87,6
Freitag . 98,6 89,5
Samstag . 91,6 88,9
Sonntag . 107,3 123,1
* BAILEY, W. B.: Suicide in the United States 1897-1901.
Yale Review, S.83, 1903.

Donnerstag verüben die Frauen am seltensten Selbstmord; werden


die meisten weißen Frauen von fremder Hand getötet. Am gleichen Tage
legen am wenigsten Männer Hand an sich, ist auch die Tötungsziffer bei
den Männern auf den tiefsten Punkt gesunken. Der Dienstag gibt der
Frau die größte Sicherheit. Am ehesten überlebt der Mensch den Donners.
tag, an dem sich Mann wie Frau am stärksten an das Leben klammern.
c) über den Wochentagsrhythmus der wichtigsten Eigentumsdelikte
ist nicht viel bekannt. Der einfache Diebstahl mit seinem unübersehbaren
Dunkelfeld hängt von den wechselnden Bedürfnissen des Diebes, dem
Auftauchen einer guten Gelegenheit, den richtig oder falsch eingeschätz.
ten Chancen der Nichtentdeckung ab. Für Taschendiebe z.B. gibt es
regelmäßig wiederkehrende Situationen, das abendliche Gedränge in
einer Theatergarderobe, die überfüllten Verkehrsmittel nach Schluß der
Arbeitszeit, den Gottesdienst in dunklen Kirchen und seine ablenkende Wir·
kung. Diese Ansammlungen fügen sich in den gewohnten Wochenablauf.
Dagegen gibt es unregelmäßige Anlässe für eine Massenbildung, zu der die
Menschen um so mehr zusammenströmen, als sie ganz ungewöhnlich sind:
Empfänge fremder Fürstlichkeiten, Staatsbegräbnisse und dergleichen.
Als Lindbergh zum ersten Male den Ozean überflogen hatte und als
Triumphator von New York begrüßt wurde - 53000 Glückwunsch.
telegramme warteten auf ihn -, fuhr der jugendliche Taschendieb Tolland
zur Einzugsfeier und war in 48 Stunden um 700 Dollar reicher l • In
politisch erregten Jahren und erregbaren Ländern - in England und
Amerika wird auf den Sieger viel gewettet - sind Wahlversammlungen
für die Taschendiebe das gelobte Land. Sie sind an keinen Wochentag
gebunden.
1 DINNEEN: Underworld USA, S.96.
Die Wochentage 189

Für den großen Einbrecher oder Bankräuber ist die Aufstauung großer
Summen äußerst wichtig. Am Freitag werden möglichst gegen Mittag
Lohngelder für die meisten Angestellten abgeholt l • Wenn Waren-
häuser Donnerstag einen großen Ausverkauf haben, so sind die Geld-
schränke Freitag früh am vollsten 2. In dieser Nacht wird zugeschlagen.
Viele Einbrüche fallen in die Nacht vom Samstag zum Sonntag. Jugend-
liche lassen sich durch die Stille der frühen Sonntagsstunden zu Einsteig-
diebstählen verführen 3. Andere glauben der elterlichen Kontrolle am
leichtesten Sonntag abend entgehen zu können und begehen zu dieser
Stunde und an diesem Tag Einbrüche 4. Der Beischlafdiebstahl wird sich
nach dem Auf und Ab geschlechtlicher Betätigungen richten. Mordfälle
heben für Augenblicke den Vorhang. Als Helen Jewett, die "Königin des
Pflasters" und bewunderte Schönheit, 1836 ermordet wurde, berichtete
die Presse 5 : "Es war Sonnabend nachts und an einer Samstagnacht
waren alle jungen Don Juans der Stadt unterwegs. In Massen kamen
und gingen sie in das Etablissement von Frau Towsend", Inhaberin des
mondänsten Bordells von New York und Hüterin der verführerischsten
Mädchen. Das Opfer eines Mörders war die berühmteste unter ihnen
geworden. Um 11 Uhr hatte das Mädchen sich noch eine Flasche Oham-
pagner auf das Zimmer bringen lassen, um 3 Uhr wachte das Haus auf,
weil Rauch aus seinem Zimmer drang. Das Mädchen war erschlagen
worden. Es fehlte Schmuck. Wann war die Tat begangen worden? War
es statistisch Samstag oder Sonntag?
Wir möchten den Einblick nicht missen, den Wochentagszahlen in die
seelische und gesellschaftliche Struktur des Betrugs gewähren; freilich
ist auch hier das Dunkelfeld unermeßlich groß, auch lassen sich nur be-
stimmte Formen des Betrugs nach Wochentagen erfassen:

Betrug und Wochentag* (Krefeld 1945-1951, Prozentzahlen)


Montag . . 14,1
Dienstag . . 14,3
Mittwoch . . 11,9
Donnerstag . 15,7
Freitag. 17,7
Samstag . . 17,9
Sonntag . . 8,4
* REOKEN, H. M. J.: Das Delikt des Betruges, S. 51. Bonner Diss. 1957. - Eine
weitere Fehlerquelle liegt darin, daß bei 1401 strafbaren Betrugshandlungen nur
52,8 % den Zeitpunkt der Tat festzustellen erlaubten.

1 DINNEEN: Underworld USA, S.99.


2 WILSON: I stole 16 Million Dollars, S. 35.
3 SPENSER, JAMES: Limey breaks in, S. 227. London 1934.
4 BENTLEY, W. G.: My Son'8 execution, S. 74. London 1957.
5 CROUSE, RusSEL: Murder won't out, S. 41. New York 1932.
190 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

RECKEN möchte den Anstieg der Betrugszahlen bis zum Wochenende


mit einem Aufschwung des Geschäftsverkehrs erklären. Das ist zum Teil
richtig, scheint aber nicht die ganze Problematik zu erschöpfen. Wie steht
es mit der wechselnden Täuschungsbereitschaft des Opfers, das gegen
Wochenende müde wird? Man wird sich weiter fragen müssen, welches
die Betrugsmuster sind, die unentdeckt oder unangezeigt bleiben. Unter
1401 betrügerischen Handlungen fand RECKEN nur 14 Fälle des Heirats-
schwindels!. 76,5% aller Betrugsverfahren werden durch Anzeige des
Geschädigten in Gang gebracht 2. Wann ist das Opfer nicht dazu bereit,
aus guten und aus schlechten Gründen? Vielleicht sind es hauptsächlich
diese niemals angezeigten Schwindeleien, die unser Sonntagstief ver-
schulden und nicht allein die Ruhe der Geschäfte.
Die Sittlichkeitsdelikte würden uns die Dinge klarer sehen lassen,
wenn es stets möglich wäre, die Festtage der Wochenmitte und des
Wochenanfangs rechnerisch herauszuheben. Auch würden sich gewisse
Diskrepanzen ausgleichen, wenn die Untersuchungen an volkspsycholo-
gisch und klimatisch gleichen Orten stattfänden und nicht in Dresden,
Koblenz und in Zürich. Trotzdem sind die Ergebnisse lehrreich und laden
zu weiterem Studium an einem großen Material ein.

Sittlichkeitsdelikte (nach Wochentagen)


Kinder- Notzucht •• Koblenz Homosexuelle Exhibitionismus t
Wochentag schändung' Unzucbt ••• Zürich
Bonn Anklagen i Anzeigen Hagen

Montag. 16,4 18,4 12,7 6,9 15,7


Dienstag 9,0 14,5 11,9 10,9 18,4
Mittwoch. 12,1 2,6 11,3 7,5 16,3
Donnerstag 10,4 19,7 17,9 6,2 15,7
Freitag. 15,4 5,3 10,4 7,5 13,0
Samstag 16,1 10,6 16,4 22,6 14,3
Sonntag 20,6 28,9 12,7 38,4 7,6
* WESSEL, a.a.O., S. 22 (323 Fälle).
** SCHULZ, GÜNTER, S. 55 und 56. - Natürlich übersteigt die Zahl der Anzeigen
um ein Vielfaches die der Aburteilungen.
*** LANG, FRITZ, S.43. - Nur für 146 von 305 Fällen ließen sich die Wochentage
genau feststellen. Von den restlichen 159 Fällen fielen auf Feier- und Festtage 26,4 %,
auf Wochentage 68,6% und auf Ferien 5,0%.
t Mein Aufsatz Exhibitionistenstatistik (747 Züricher Fälle des Kriminalwacht-
meisters Neidhart). Monatsschrift, Bd. XX, S. 239. - Nach den Züricher Beobach-
tungen fällt das Maximum der exhibitionistischen .Akte auf einen Dienstag im März
oder Juli, 8-9 Uhr abends, das Minimum auf die Zeit von 5-6 Uhr morgens an
einem Augustsonntag.

1 RECKEN, H. M. J.: Das Delikt des Betruges, S.60. Bonner Diss. 1957.
2 Ebenda, S. 16.
Die Wochentage 191

Es sieht so aus, als ob Kinderschändung, Notzucht und homosexuelle


Vergehen am Sonntag kulminierten. Die Exhibitionisten scheinen Sonn-
tags eine Pause einzulegen, die allerdings schwer zu erklären ist, denn die
Psychiater kennen viele Fälle, die sich gerade in der Kirche abspielten l .
Vielleicht besteht die Neigung, einen Skandal im Gotteshause zu ver-
meiden, vielleicht wollen die jungen Mädchen sich den Sonntag nicht
verderben lassen, die irgendwo belästigt werden, vielleicht ist auch die
Polizei am Sonntag nicht so stark besetzt. Es spielen weniger Kinder
auf den Straßen. Der Dienstaganstieg bleibt genauso ungeklärt wie bei
der Notzucht die noch immer hohen Ziffern, umrahmt von auffälligen
Tiefpunkten am Mittwoch und am Freitag, die bei den Anzeigen fehlen.
Man möchte an einen technischen Fehler denken, ohne den Finger darauf
legen zu können.
Solange das Mißverhältnis zwischen dem wirklichen Verbrechen und
den geringen Resten, die wir statistisch zählen können, weiterbesteht,
kommt den gewonnenen Ergebnissen nur beschränkter Wert zu. Wir
werden dieser Schwierigkeiten nie ganz Herr werden können. Es ist
schon der erste Schritt auf dem Wege tieferer Einsicht getan, wenn wir
erkennen, daß die Zahlen uns nur wenig sagen. An diesem oder jenem
Punkte werden sich die Zweifel überwinden oder reduzieren lassen. Ich
denke hier an jenen Einbruch, der geschah, als die gesamte Polizeimacht
einer Stadt ausgerückt war, beim Besuch des amerikanischen Präsiden-
ten. In dem Bericht über einen der berühmtesten Kriminalfälle Amerikas,
der Lizzy Borden (Fall River 1892), steht die Bemerkung: "Zu Anfang
lag über der amtlichen Untersuchung große Verwirrung, da der Haupt-
teil der Polizei einschließlich mehrerer höherer Beamter, gerade an diesem
Tage nicht im Orte war. Es war der jährliche Betriebsausflug der
Polizei 2."
Bevölkerung wie Behörden sind in den gleichen Tages- und W ochen-
ablauf eingespannt. Wenn sich ergeben sollte, daß ein vermehrter Anteil
der Kriminalität auf Abendstunden und das Wochenende fällt, so wäre
es geboten, diesen Gleichschritt der Erholung aufzuheben. Der Wochen-
1 Siehe die 4 Fälle bei v. KRAFFT-EBING, Verirrungen des Geschlechtslebens, S.191
und 193; THOINOT: Attentats aux mmurs, Paris 1898, S. 382 und die beiden von mir
nach sächsischen Quellen berichteten Fälle (Monatsschrift, Bd. XX, S. 331 :
,,26jähriger Täter führt seine Taten ständig am Sonntag vormittag in der neunten
Stunde aus ... Er belästigt ständig die Leute, die zur Kirche gehen, hat sie nie
angesprochen." - ,,49jähriger verheirateter Schlosser führt seine Tat gewöhnlich
zwischen 12 und 2 Uhr mittags aus, wenn er vorher Musikumzüge, Platzmusik
gehört hat."
2 SAMUELS, CHARLES and LOUISE: The girl in the house 01 hate, S. 11. New York
1953. - Die Angeklagte wurde freigesprochen, die Stiefmutter und den Vater in
ungewöhnlich brutaler Weise erschlagen zu haben. - Ein Polizeibeamter sah zu,
wie der Hausarzt Briefe der Angeklagten an ihre Schwester, die möglicherweise das
Verhältnis zu den ermordeten Eltern beleuchteten, verbrannte. S. 65.
192 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

rhythmus der Polizei muß wie ihr gesamtes Tagespensum dem krimi-
nellen Pulsschlag angeglichen werden, ganz systematisch, ohne Rücksicht
auf Familienleben, Kosten und Gewohnheit. Das ist auf jeden Fall die
Lehre, die unvollkommene Zahlenbilder jetzt schon geben.
Um das spärliche Wochentagsmaterial der Kriminalstatistik lesen zu
können, ist es erforderlich, daß wir in das Gestrüpp der Feier- und Fest-
tage eindringen und mit den gesetzlichen Feiertagen den Anfang machen.
Im Jahre 1959 waren in Westdeutschland gesetzliche Feiertage mit allem
Drum und Dran des Sonntags, wenn man auf Arbeitsruhe und geschlos-
sene Schulen sieht:

Gesetzliche Feiertage 1959 (nach Wochentagen)


1. Januar Donnerstag
6. Januar Dienstag
27. März Freitag
30. März Montag
1. Mai. Freitag
7. Mai. Donnerstag
18. Mai. Montag
28. Mai. Donnerstag
17. Juni Mittwoch
18. November Mittwoch
25. Dezember . Freitag
26. Dezember . Samstag

Es kommen 3 Donnerstage, 3 Freitage, 2 Montage, 2 Mittwoche,


.1 Dienstag und 1 Samstag in Betracht; von Ende März bis Mitte Juni
häufen sich die Feiertage, auf Januar, November und Dezember fallen
fünf von ihnen. Der Mai allein zählt vier. Auch ihre Lage im Verlauf
der Jahreszeiten ist bedeutsam.
Zu diesen Festtagen treten Feiern in einer Anzahl, die kaum zu über-
sehen ist!, Feste für Kinder 2, Dienstboten 3 , selbst die Tiere 4 des Gehöftes.
Daneben gibt es die festlich begangenen Höhepunkte des einzelnen
menschlichen Daseins: Geburten, Hochzeiten, Begräbnisse, Namenstage,
Stiftungsfeste, Fahnenweihen und dergleichen mehr. Manche dieser
Feste dauern mehrere Tage, die Kirmes z.B. 1-3 Tage, ein Fest der
Ausgelassenheit, des guten Essens, vielen Trinkens und des Tanzens,
vielleicht ursprünglich auch der Fruchtbarkeit. Die Fastnacht er-
streckt sich über Wochen. Ihr Höhepunkt ist Sonntag, Montag und vor-

1 Den Festen und Zeiten des Jahres hat SARTORI den ganzen dritten Band
seines Werkes über Sitte und Brauch gewidmet. An dieser Fülle von Tatsachen kann
die Kriminalwissenschaft nicht vorübergehen.
2 Nikolaus.
3 Martinstag, Stefanstag, die Markttage.
4 SARTORI, Bd. II, S. 127.
Die Wochentage 193

nehmlich Dienstag. Ernährungsphysiologisch wichtig ist die Pflicht zu


vielem Zusichnehmen. Weihnachten gebietet die Sitte, "so viel zu essen
und zu trinken, wie man nur irgend kann, ja mehr als man kann 1."
Man will dem Überfluß, den man sich wünscht, ein gutes Beispiel geben.
An Ostern ißt man Eier, denkt man an die junge Saat und Liebe, kennt
alte deutsche Sitte wahre Liebesmärkte 2 • Zu Pfingsten wird getanzt,
geschmaust, gezecht. Der Frühling hat gesiegt uni reitet durch das Land.
Der Morgentau hat zauberische Kraft. Sehr viele Sitten sind genau auf
den ersten und zweiten Feiertag verteilt 3; um ihn webt eine ganz
bestimmte "Montags"-Atmosphäre, die eigene Untersuchung lohnen
würde 4. In der Statistik fällt sie auf verschiedene Wochentage.
d) Wenn die Statistik schweigt, muß die Kasuistik sprechen. Wir
wählen hier zwei Typen eines Feiertags. Der eine ist gesetzlich fest-
gelegt, Neujahr, ein Festtag aller Schichten, aller Völker, aller Zeiten.
Den andern suchen wir uns selber aus, begehen ihn nicht minder festlich,
als einen neuen Anfang in dem Ablauf unseres Lebens. Es ist der Tag, an
dem wir uns mit einer Frau verbinden, der Hochzeitstag. Wir wählen
für die Einzelfälle ein Verbrechen, von dem wir die ausführlichsten Dar-
stellungen besitzen und das die zeitlichen Zusammenhänge deutlich zeigt,
den Mord.
W ATTLER 5 hat den Fall berichtet, wonach ein Vater mit der ältesten
Tochter in Blutschande lebte. Dann heiratete die Tochter. Aus Furcht
vor Entdeckung, mehr wohl noch aus Eifersucht ermordet der Mann in
der Sylvesternacht 1946/47 den Schwiegersohn und verscharrt ihn in der
Müllgrube. Dann legt er sich wieder zur Tochter ins Bett. - Am 9. Mai
1893 stand der Hilfssekretär des Bürgermeisteramtes von Bar·sur-Aube
vor den Schranken des Schwurgerichts von Troyes unter der Anklage,
seinen Vorgesetzten am Neujahrstag mit vergifteten Schokoladenbonbons
umgebracht zu haben. Das Opfer starb nach 10 Minuten an Strychnin-
vergiftung. Es wurde festgestellt, daß der Angeklagte am gleichen
Tag die gleichen Bonbons einem Feldhüter angeboten und dieser keinen
Schaden erlitten hatte. Der Staatsanwalt erklärte den Vorgang für einen
schlauen Deckungstrick. Zeugen bekundeten, der Tote habe sich vor
dem Untergebenen gefürchtet und geäußert, er wolle ihm um nichts
in der Welt nachts im Walde begegnen. Trotz des belastenden Sach-
verständigengutachtcns kamen die Geschworenen zu einem Freispruch 6.

1 SARTORI, Bd. In, S. 27. 2 Ebenda, Bd. In, s. 166.


3 Ebenda, Bd. In, S. 210.
4 Dem Wochentag, der auf Doppelfeiertage folgt, sollte ebenfalls vom Soziologen
Aufmerksamkeit geschenkt werden; es ist ein "Doppelmontag".
5 WATTLER, HANS: Das Verhalten des Mörders nach der 11at, S.22. Bonner
Diss. 1957.
6 BATAILLE, Causes de 1893. Paris 1894, S. 407ff.

v. Hentig, Das Verbrechen I 13


194 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

Sie machten sich die Zweifel des Verteidigers zu eigen, der behauptet
hatte, ein Feind müsse eine Flasche mit Strychnin in die Schublade des
Angeklagten geschmuggelt haben, wo sic aufgefunden worden war.
In einer Sylvesternacht mißbrauchte ein heruntergekommener Metz-
ger die 5jährige Tochter seines eigenen Bruders, eines Gastwirts. Er
hatte dessen Wirtschaft erst gegen 2,30 Uhr früh "offenbar nach reich-
lichem Alkoholgenuß" verlassen. Nach der Notzucht versuchte der An-
geklagte, das Kind durch 2 Schnitte quer in den Unterleib zu töten. Zu
einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt, erhängte sich der Mann
nach 6jähriger Haft 1. - In dem britischen Mordfall Chantrelle 2 hatte
sich die Ehefrau bis zum Neujahrstag vollkommen wohl gefühlt. Jetzt
erkrankte sie und legte sich zu Bett. Als sie am nächsten Tage tot war,
sprach der Ehemann von einer Kohlengasvergiftung. Er wurde ver-
urteilt, der Frau eine tödliche Dosis Opium am l. oder 2. Januar verab-
reicht zu haben. Am Grabe hatte dcr Gatte die ganze Trauerversamm-
lung durch seinen Schmerz ausbruch aufs tiefste gerührt. Er hatte, wie
sich herausstellte, die Frau mehrmals mit Erschießen und Vergiften be-
droht und sich gebrüstet, niemals würde man das Gift entdecken können.
Warum der berühmte Boxer Kid Carter in der Sylvesternacht die
schöne Mildred Donavan ermordete und in der Nähe eines Kirchhofs in
den Büschen liegen ließ, ist niemals geklärt worden 3. Ein anderer Mord
geschah in Boston 11 Jahre später. Ein kleiner Schneider war in der
Sylvesternacht erschossen und erschlagen worden 4 • Erschlagen war auch
der rätselhafte Russe Leon Beron 1911 in London inmitten des Sylvester-
trubels 5 ; seltsamer noch erscheinen jene Austern des Herrn Bartlett, die
ihn um Mitternacht niederstreckten. Es war der 31. Dezember 1885, viel-
leicht schon Anfang 1886. Frau Bartlett stand nicht lange später vor
Gericht. Man warf ihr vor, sie habe nachgeholfen und ihr Geliebter,
Pfarrer Dyson, hatte Chloroform gekauft. Daß Bartlett sich nicht selber
töten wollte, ließ sich daraus entnehmen, daß er sein Frühstück für
den Neujahrsmorgen besprochen und geordnet hatte. Im Glas des Toten
wurde Chloroform gefunden. Der Richter wies bei seiner Rechtsbelehrung
darauf hin, die Angeklagte hätte, wenn sie morden wollte, sicherlich das
Glas gespült, und die Geschworenen sprachen sie frei 6. Bei dieser Ge-
legenheit fiel die oft zitierte Äußerung eines bedeutenden Arztes, Sir

ILBERG, Monatsschrift, Bd. II, S. 608.


1
SMITH, A. DUNCAN: Trial 01 Eugene Chantrelle, S.4ff. Edinburgh 1928. -
2
Siehe den Doppelmord durch die 21jährige Anna Baier am Neujahrstag 1888.
HORSETZKI, A. VON: Berühmte Kriminalprozesse der Gegenwart, S. 145ff. Wien o. D.
3 MAKRIS, JOHN N.: Boston murders, S. 81ff. New York 1948.
4 Ebenda, S. 133ff.
5 MOULTON, H. FLETCHER: Trial 01 Steinie Morrison, S. XI. Edinburgh 1922.
6 HALL, JOHN: Trial 01 Adelaide Bartlett, S. 13ff. Edinburgh 1927.
Die Wochentage 195

James Paget: "Jetzt, wo alles für die Frau vorbei war, hätte sie im Inter-
esse der Wissenschaft uns verraten sollen, wie sie es angestellt hat!."
Am 1. Januar 1937 - das neue Jahr war gerade angebrochen -
wurde in Marion Pennsylvania ein Brand entdeckt. Man fand zwei
Leichen und ein schwerverletztes Mädchen. Am 1. Januar sollte ihre
Hochzeit sein. Sie war gerettet, aber schwerverletzt, die Mutter und
die kleine Schwester waren tot. Der Täter war der Bräutigam, der sich
der Ehe zu entziehen suchte und offen nicht zu sprechen wagte. Er
hatte bis zum letzten Augenblick gewartet, bis zu der Nacht vor dem
verhängnisvollen Tage 2. Damit sind wir beim Hochzeitstag angelangt.
Der l. Juli 1944 sollte Mary Finns Hochzeitstag werden. Sie wurde
früh am Morgen halb, doch festlich angekleidet, tot gefunden 3. Das
Mädchen hatte für die Hochzeitsreise 600 Dollar abgehoben, die sie mit
sich herumtrug. Es war ein Raubmord. Der Monatserste war bei dem
Motiv im Spiele. - Ein Engländer mittleren Alters war seit vielen Jahren
mit einer älteren Frau verlobt; als die Mutter der Frau starb, konnte
der Mann die Ehe nicht länger verschieben. Am Abend vor der Hoch-
zeit griff er die Braut urplötzlich an, erwürgte sie und machte dann
einen ernsthaften Selbstmordversuch 4. Je mehr der fatale Tag sich
näherte, um so unruhiger war der Mann geworden. In Geldschwierig-
keiten, hatte er nicht den Mut, sich seiner Frau zu offenbaren, meint
East. Ich denke mehr daran, daß er jahrelang unschlüssig gewartet hatte
und daß die Frau älter war. Es war die Furcht, die ihm die Besinnung
nahm, ein Doppelselbstmord, um dem großen Unheil einer Ehe zu ent-
gehen.
Während seine Freunde John Sanders 9ldfield zu seiner Hochzeit
gratulierten und beiden Eheleuten langes Leben wünschten, dachte er
an Selbstmord, der ihm während der zehnmonatigen Verlobung nicht
aus dem Sinn gekommen war. Sechs Tage später stürzte er die junge
Frau über den Steilrand der Küste und machte ihr mit einem Stein den
Garaus. Sie waren in dem Badeorte auf der Hochzeitsreise und nach der
Tötung nahm er eine große Dosis Schlaftabletten. Er wurde für geistes-
krank erklärt und interniert 5. - Der Juwelier Hermann Behn von West
Frankfurt, Illinois, erschlug seine Mutter und seine drei Mädchen aus
erster Ehe wenige Stunden ehe er wieder eine neue Ehe schließen wollt,e

1 HALL, JOHN: Trial 0/ Adelaide Bartlett, S.75. Edinburgh 1927.


2 RICE,CRAIG: 45 murders, S. 158ff. New York 1954 (1. Januar 1937).
3 Ebenda, S. 39 (1. Juli 1944).
4 EAST, Sir NORWOOD: Society and the criminal, S.279. London 1949. - Der
Täter war nach East in Schwierigkeiten geraten, weil er wegen Frauengeschichten
erpreßt worden war; man ist angesichts der erwähnten Einzelheiten geneigt, an
eine andere Art der Erpressung zu denken.
5 Bericht der Daily Mai! vom 22. Oktober 1958

13*
196 Zusammenhänge im Bereich der Zeit

oder sollte. Darauf erschoß er sich 1 • Der Festtag, wie wir sehen, wird
zum Tribunal, an dem der Bräutigam sich selber richtet, und die er
liebt, mit in den Tod nimmt.
Nach der Kasuistik scheint der Mord am Sonntag sehr viel häufiger
zu sein, als die Statistik uns erkennen läßt 2. Auch vor den Feiertagen
macht der Mord nicht Halt, dem Weihnachtsabend 3, dem Himmel-
fahrtstage 4 , dem Ostersonntag 5 und dem Allerseelentag 6 , und schließ-
lich auch dem Karfreitag 7. Wenn diese Fälle 8 bei der Zählung der
Wochentagskriminalität an die unrechte Stelle geraten und die Rubrik
der Feiertage nicht dem Sonntag zugeschlagen wird, so muß ein völlig
falsches Bild entstehen 9 • Raubmorde wird man an den Feiertagen nicht
erwarten dürfen, Familien- und Geliebtenmorde herrschen vor, auch
die Konflikte unerträglichen Tyrannentums von Herren und Dienern,
Mann und Frau, die auch am Sonntag kulminieren und an dem Tag,
wo andere Leute frei sind, zur Entladung drängen.
Es ist notwendig, den Kreis der Festtage 10 über die Sphäre eines
religiösen Bekenntnisses hinaus zu erweitern, obwohl sie für Deutsch-
land und Westeuropa praktisch nicht stark ins Gewicht fallen. Die alte
Einrichtung des Sabbat greift neben Opfer und Gebet tief in das wirt-
schaftliche und familiäre Leben ein. Die Folge sind Erwerbsschwierig-
keiten durch das Gebot völliger Arbeitsruhe l l • Die jüdischen Einwan-
derer aus Rußland litten, wie WIRTH schreibt 12, an zusätzlichen Erwerbs-
schwierigkeiten, weil ihr Glaube sie verhinderte, an Samstagen zu arbeiten.

1 Bericht der Associated Press vom 17. März 1957.


2 Besonders über den Giftmord, s. mein Mord, S. 88ff.
3 RÜDIN: Über die klinischen Formen der Seelenstörungen bei zu lebenslänglicher
Zuchthausstrafe Verurteilten. Habil.-Schrift, S. 63. München 1909.
4 Neuer Pitaval, Bd. XXX, S. 258. S MINOT, a. a. 0., S. 138, 134.
6 Fall Riembauer. FEuERBAcH, a. a. 0., Bd. H, S. 37.
7 Ebenda, Bd. H, S. 266.
8 Sexualmord am Confederate Day. }\'[rNOT, a. a. 0., S. 217ff.
9 Bei der Untersuchung von 115 Fällen geisteskranker Mörder fand GIBBENS,
daß 9 Fälle an Feiertagen geschehen waren (Weihnachten, Boxing Day, Neujahrs.
tag usw.). Nur einer der Morde wurde beim Frühstück begangen, und dieser war ein
Depressiver. American Journal of criminallaw and criminology 1938, S. 115. -
Geisteskranke töten auch die Braut am Tage vor der Hochzeit. Erschlagen kommt
sehr häufig vor; bisweilen wird die künftige Frau in einem Wutanfall zertreten,
besonders wenn es eine ältere Braut ist (s. den Bericht der Houston Post vom
7. März 1958).
10 Ein Zopfabschneider arbeitet beim Einzug der Kronprinzessin und des Königs
von Spanien. FRIEDLÄNDER, Bd. IX, S. 287.
11 Die Siebenertage waren bei den alten Assyrern Unglückstage (NÖTSCHER:
Biblische Altertumskunde, S.352). Der letzte Ursprung jeder Arbeitsruhe ist also
Fu.rcht vor der Magie des Mißerfolgs ; der Weihetag mag eine spätere Entwicklung sein.
12 WIRTH, LOUIS: The Ghetto, S. 182. Chicago 1956.
Die Wochentage 197

Den Nachteilen stehen gewisse Gewinne gegenüber. Der New-Yorker


Fischhandel ist zum großen Teil in der Hand jüdischer Kaufleute, der
sich vorzeiten auf die Maxwell-Street konzentrierte. Am lebhaftesten
ist das Fischgeschäft am Sonntag. Von überall her kommen hier die
Käufer. Der Umsatz ist enorm. Es herrscht Feststimmung 1. Die strenge
Durchführung der Sabbatruhe führt aber auch zu Spannungen im
Familienkreise. Ein bekannter Physiker konnte von drückenden Stim-
mungen aus seiner Jugendzeit nicht loskommen: "Der Trott der Wochen-
tage wurde durch den Samstag unterbrochen ... Samstag macht ihn (er
spricht von seinem orthodoxen Vater) besonders streng, als ob es meine
Schuld wäre, daß an diesem Tag Rauchen nicht gestattet war. Beim
kleinsten Anstoß kam es zu einem Zornausbruch. Ich fürchtete den
Samstagkrach, aber alle meine Bemühungen, ihn zu vermeiden, waren
vergeblich 2." Bei Mordfällen im Londoner Eastend konnte durch den
Umstand, daß die Tat an einem Sabbat begangen und das Opfer ein
frommer Jude war, das Handelsmotiv ausgeschlossen werden 3 •
Die Beobachtung, daß in den bessergestellten Schichten Selbstmorde
am Sonntag häufig sind 4, bezieht sich auf die soziologisch gleichgestellten
Feiertage. Doppelfeiertage geben dem Einbrecher Gelegenheit, in Muße
zu arbeiten 5. Kinder erregbarer oder alkoholischer Väter haben die
doppelte "Erholung" oft zu fürchten, weil es gerade an solchen Tagen zu
Mißhandlungen kommt 6. Hier wie am Sonntag spielt der feierliche Kirch-
gang eine Rolle. "Der Sonntagmorgen", schreibt ein Berufsverbrecher,
"ist immer eine gute Zeit zum Einbrechen, denn die Leute gehen in
die Kirche 7." Es gibt ein Beispiel, daß die revolutionäre Masse auf den
Kirchgang Rücksicht nahm. Die Berliner Erhebung vom 18. März 1848
begann an einem Samstag. Die Kämpfe reichten in den Sonntag hinein.
"Das Volk respektierte die Kirchzeit - der 19. war ein Sonntag -
und rüstete sich, den Kampf später wieder aufzunehmen 8 ."

1 WIRTH, LOUIS: The Ghetto, S. 237, 238.


2 INFELD, LEoPOLD: Quest. The evolution of a scientist, S. 32. New York 1941.
3 WENSLEY, F. P.: Porty years 01 Scotland Yard, S. 27. NewYork 1931.
4 "Sonntags werden ebenso viele Selbstmorde in Hotels begangen wie an allen
andern Tagen der Woche." COLLANS, a. a. 0., S. 151.
5 SPENSER: Limey breaks in, S. 233.
6 NIX, WOLFGANG: Die Mißhandlung Abhängiger, S. 72. Bonner Diss. 1958.
7 MARTIN: My lite, S. 64.
8 VALENTIN, VEIT: Ohapters 01 German history, S. 199. London 1940. - Sonst
brechen Unruhen am Montag aus; in diesem Falle aber glaubten die Berliner,
Samstags von der Besatzung des Schlosses angegriffen zu sein.
198 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Zweites Kapitel
Zusammenhänge im Gebiet des Raums
A. Geographie der Kriminalität
a) Wenn Pflanzen und Tiere sich im Sumpf, Gebirge oder auf Wüsten-
boden verschiedenartig entwickeln, so sind beim Menschen viele andere
Kräfte wirksam. Zwar sind auch die phsyikalischen Einflüsse nicht ge-
brochen, doch sind sie von einer Fülle neugeschaffener Energien über-
deckt. Wenn wir von einer Landeskunde des Verbrechens sprechen, so
müssen wir uns an Gebilde halten, die willkürlich entstanden sind, durch
Erbschaften der Fürsten, Eroberungen, Volksaufstände und andere Vor-
gänge des Völkerlebens. Den meisten fehlt die homogene, geophysische
Grundlage, wie sie etwa eine große Ebene oder ein mächtiges Gebirgs-
land darstellen, die sich auf unserem Globus nur vom Osten nach dem
Westen ziehen müßten. Die Länder, die wir auf der Karte finden und
die uns ihre Zahlen melden, sind, wenn sie groß sind und sich weit vom
Süden nach Norden ausdehnen, klimatisch ganz verschieden ausgestattet.
Rein geophysisch sind nur kleine Staaten eine relative Einheit.
Es ist daher kaum haltbar, wenn wir Völker zum Vergleiche aneinander-
halten. Von Rassezügen abgesehen, verraten schon einfache biologische
Vorgänge wie Geburt und Tod die angeborene Vielfalt. Ein Beispiel sind
die Ziffern zweier europäischer Kulturstaaten, Frankreich und Schweden:

Geburtenziffern, Frankreich und Schweden (1901-1950)


Zeitabschnitt Frankreich * Schweden ••

1901-1910 20,6 25,8


1911-1920 15,3 22,1
1921-1930 18,8 17,5
1931-1938 15,8 14,3
1939-1942 14,4 15,7
1946-1950 20,9 18,2

* Nach den Napoleonischen Kriegen (1811-1820) hatte Frankreich eine Ge-


burtenrate von 33,3, Schweden von 31,8. THOMPSON I, S. 155.
** Zusammenstellung nach Zahlen in WARREN S. THOMPSON: Population pro-
blems, S.155. NewYork 1942 und S. 162, New York 1953. - In folgendem wird die
Auflage von 1942 mit THOMPSON I, die von 1953 mit 1'HOMPSON II bezeichnet.

Der Tiefstand Frankreichs in den Jahren 1911-1920 ist eine Folge


des Krieges, der Schweden unberührt ließ; der Sieg läßt 1945 die Ge-
burten wieder steigen, doch auch in Schweden ist ein neuer Anstoß sicht-
bar. Die Sterblichkeit geht gleichfalls ihre eigenen und verschlungenen
Wege; wir wären schlecht beraten, wenn wir Chile und die Schweiz ver-
Geographie der Kriminalität 199

gleichen wollten, denn hinter der politischen Zusammenfassung des


Territoriums verbergen sich zahlreiche Variationen biologischer und
soziologischer Herkunft. Alle Statistiken aber, ob sie nun moralische
Phänomene oder die Kriminalität betreffen, sind an die politische Grenz·
ziehung gebunden und wären nur vergleichbar, wenn wir die kompli.
ziertesten Reduktionen auf gleichartige Elemente vornehmen könnten.
Gerade für Deutschland sind die Sterblichkeitsziffern mit früheren
Jahren und mit anderen Staatsgebilden schlecht vergleichbar, weil es
sich nur um einen Teil des alten Reiches und das Nachkriegschaos
handelt:

Stel'blichkeitsraten 1935-1939 und 1946-1950 *

Ausgewählte Länder 1935-1939 1946-1950

England und Wales 12,0 11,7


Frankrcich . 15,6 13,1
"Deutschland" 11,9 11,0**
Italien. 13,8 10,8
Rußland. 20,8
Schweden 11,7 10,2
Schweiz 11,6 10,8
Vereinigte Staaten 11,0 9,9
Kanada 9,7 9,3
Indien. 23,2 17,6
Ägypten. 27,2 22,2
Chile 24,7 17,0
Japan. 17,2 13,4
Neusceland 9,0 9,3
* TH031:PSON I, S. 217 und H, S. 236.
** Westdeutschland, hochindustrialisiert und überfüllt mit Flüchtlingsmassen.

Beim Tode kommt es soziologisch darauf an, welche Altersgruppe


hinweggeräumt wird, z. B. durch den Krieg. Aber auch der friedliche
Industriestaat stellt ganz besonders Männern nach, und Männer sind die
Träger des Verbrechens. Nach anfänglicher annähernder Geburten.
gleichheit entfielen auf 100 FraUE'n:

in England und Wales . 94,2 (1950) Männer *


in Westdeutschland . 88,2 (1950) Männer
in Indien . . . . . . 105,8 (1950) Männer
* THOMPSON H, S. 92.

Die absoluten Zahlen amtlicher Statistiken büßen jeden Wert ein,


wenn feinere Strukturunterschiede bei Männer· und bei Frauenzahlen
unbeachtet bleiben:
200 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Jahrgänge 1-30 Jahre (Prozentsatz der Gesamtbevölkerung)


Frankreich Bnlgarien ••
(1946) (1934)

43,0 45,7 61,1


* THOMPSON H, S. 95 und nach den dort gegebenen Zahlen berechnet. Die
Zahlen der kleinen Kinder sind eingerechnet, weil sie die künftige Entwicklung
andeuten.
** THOMPSON I, S. 102. - Es fehlen die neueren Zahlen für Bulgarien, die im
großen und ganzen auch für die Sowjetunion zutreffen werden. Im Jahre 1900 war
die jugendliche Gruppe noch 64,8 % stark. Politisch, kulturell und militärisch ist
dieses Übergewicht der Wurzel- und der unteren Stammpartien von außerordent-
licher Bedeutung für die Zukunft eines Landes.

Länder mit einem kleineren Prozentsatz jugendlicher Altersgruppen


sollten aus reinen Gründen der Bevölkerungsmechanik weniger kriminell
sein, denn Rechtsbruch ist im allgemeinen eine Dysfunktion der Jugend.
Wie sollen äußere Vergleiche in den Kern der Frage dringen ~
Wenn man von der wirtschaftlichen Lage, einem höchst gewichtigen
Faktor, absieht, so ist die Berufsgliederung der einzelnen geographischen
Bezirke verschieden. So waren in der Landwirtschaft und Fischerei
beschäftigt:
In England (1931) 7,5% der werktätigen Männer 1
In Italien (1931) 49,6 % der werktätigen Männer

Auch der Familienstand darf nicht übersehen werden. Er zeigt die


größten Unterschiede. Es waren in der Altersgruppe 15-44 Jahre ledig 2 :

In England (1949) 40,8 % der Männer


In Irland (1946). . 73,0% der Männer
In Bulgarien (1934) 34,1 % der Männer 3

Wenn in Bulgarien 1934 (der letzten verfügbaren Angabe) 73% der


Frauen verheiratet waren, in Irland (1946) aber nur 39,2%, verlieren
die Zahlen der unehelichen Geburten, absolut gesehen, den Vergleichs-
wert 4. Es spielen auch die Zählungstechnik 5 , abweichende Gesetze (ver-
botene Vaterschaftsklage) und ungleichmäßige Volksanschauung sehr
erheblich mit. Trotzdem scheint es mir angebracht, die alten Zahlen
THOMPSON I, S. 105.
1 2 THOMPSON H, S. 104. 3 THOMPSON I, S. 108.
THOMPSON I, S. 108. Nur 24,3 % der heiratsfähigen Frauen hatten in Bulgarien
4
keinen Mann, in Irland waren es 59,4 %.
5 "In Italien galten z. B. bei der Sammlung der Zahlen alle Kinder als unehelich,
die aus nur kirchlich und nicht auch standesamtlich geschlossenen Ehen stammten
und ebenso in Galizien die Kinder der orthodoxen Juden, die nur nach altem Ritus
verheiratet waren." AscHAFFENBURG, S. 35. - Einige Staaten in Amerika registrie-
ren uneheliche Geburten als solche überhaupt nicht.
Geographie der Kriminalität 201

BODIOS 1 anzuführen. Sie machen uns die Schwierigkeiten geographischer


Erfassung klar.
Uneheliche Geburten (1887-1891)
Auf 100 Lebendgeborene entfielen
in Österreich. . 14,67
in Schweden. . 10,23
in Deutschland 9,23
in Frankreich 8,41
in Italien . . . 7,30
in England . . 4,52
in Niederlande . 3,20
in Irland . . . 2,78

Nicht weniger dunkel und verschieden sind die Zahlen über Selbst-
mord. Er steckt in manchen Völkern wie ein angeborener Wesenszug,
doch seine Zahlen hängen von der Neigung ab, den Selbstmord möglichst
unbekannt zu lassen. Im Kriege gehen die Tendenzen der Selbstvernich-
tung außer Landes, verwandeln sich in Heldenmut und "tolle" Kühn-
heit. Als die Wirtschaftsblüte der Vereinigten Staaten nach einem hekti-
schen Überschwang zum Welken kam, stieg die gezählte Selbstmord-
häufigkeit bedeutend an. Im Kriege sank sie wieder mächtig ab.
Selbstmorde USA (Amerika) auf 100000 Einwohner *
1926 (Blüte). . . 12,8
1932 (Depression) 17,4
1938 (Erholung) . 15,3
1944 (Krieg). . . 10,0
* ELLIOTT and lHERRILL: Social disorganization, S. 314 und 317.

Die Neigung zur Selbstvernichtung reicht tief in das Gebiet schwerer


Kriminalität hinein 2. In einer großen Anzahl von Fällen kann eine sichere
Entscheidung nicht getroffen werden, ob Selbstmord oder Tötung durch
fremde Hand gegeben ist 3 • Ein Dunkelfeld von großem Ausmaß muß
in Kauf genommen werden. Religiöse Bedenken spielen neben Klima
und Rasse und manchen anderen Gründen eine große Rolle. Ein jäher
Anstieg deutet eine schwere Störung im Gefüge der Gemeinschaft an. Mit
den verschobenen Landesgrenzen können die Verdunkelungsgründe
wachsen. 1931 war keine schlechtere Zeit als 1949 mit Niederlage,
Spaltung und Besatzung. Auf 100000 Einwohner gleichen Geschlechts
entfielen:
1 AscHAFFENBURG, S. 34.
2 Siehe meinen "Mord", S. 154ff.
3 Siehe den Fall der Luise Behold (Nürnberg 1842). Die Frau wurde mit durch-
schnittenem Halse gefunden. Die Untersuchung kam zu keinem Ergebnis in der
Frage, ob Mord oder Selbstmord vorlag. Es wurde kein Messer gefunden, mit dem
die Frau durch einen äußerst heftigen Schnitt sich hätte töten können. Neuer
Pitaval, Bd. XXI, S. 284ff. Leipzig 1861.
202 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Im Reich. •. 1931 . . 41,9 Selbstmorde auf der Männerseitel


In Westdeutschland 1949 . . 21,1 Selbstmorde auf der Männerseite
Auch in Österreich wird man an veränderte Zählungsmethoden
denken dürfen, wenn hier die Selbstmordzahlen bei den Männern
stürzten:
1931 57,1 2
1952 22,7

Die Verhüllungstendenz ist stärker auf der Frauen- als auf der
Männerseite:
Selbstmorde, Männer und Fmuen, auf je 100000 *
Dänemark Spanien
Jahr
Männer Frauen Männer Frauen

1946 28,5 23,3 8,3 2,9


1947 30,0 19,9 7,8 2,6
1948 32,4 18,0 9,6 3,2
1949 32,9 16,9 9,8 2,8
1950 31,7 15,0 8,5 2,6
1951
1952
32,1
31,4
15,1
14,5
- 9,0
8,7
2,9
3,3
1953 32,3 16,0 9,1 2,9
* Rapport epidemiologique et demographique, Organisation mondiale de Ja
sante. Genf 1956, IX, S. 251.

Neben der Disziplin und der Lehre der katholischen Kirche machen
sich Einflüsse von Klima, protektiver Solidarität und bei gewissen, katholi-
schen Ländern eigene lebensbejahende Kräfte geltend, die vererbten
Zügen zugeschrieben werden müssen, ist doch die Selbstmordhäufigkeit
der schwarzen Rasse überraschend niedrig, obwohl die äußeren Lebens-
verhältnisse oftmals äußerst drückend sind 3. Es scheint, daß auf dem
Wege der Auslese sich eine gewisse Immunität, nicht nur gegen körper-
liche Krankheiten, sondern auch die Keime des Selbstvernichtungstriebes
entwickeln kann.
Auf jeden Fall warnt auch die vergleichende Statistik dieses sozial
bedeutsamen Phänomens, an die Geographie der Verbrechensneigung
ohne zahlreiche Vorbehalte und Bedenken heranzugehen. Vergleichbar-
1 Rapport epidemiologique et demographique, Organisation mondiale de Ja
sante, Genf 1956, IX, S.251
BEbenda.
S Hier tut sich ein Widerspruch zur Lehre von der Allgewalt der wirtschaftlichen
Verhältnisse auf. Kennzeichnend sind die Euphorie der schwarzen Rasse und ein
Ausspruch des jungen HEINRICH HEINE, den R. WEICHBRODT (Der Selb8tmord,
S. 165. Basel 1937) mitteilt. "Ich kann nicht begreifen, wie sich jemand zuweilen
nicht das Leben nehmen kann."
Geographie der Kriminalität 203

keit setzt eine lange Reduktion voraus, die nackte Zahlen schließlich
auf die gleiche Ebene bringt.
b) In dem Augenblick, da wir uns auf ein bestimmtes Staatsgebiet
beschränken, nimmt die wissenschaftliche Verwendbarkeit "geogra-
phischer" Kriminalitätsdaten zu. Die Gesetzgebung ist im großen und
ganzen einheitlich, der Justizapparat arbeitet nach den gleichen Grund-
linien, die kulturelle Struktur weist eine gewisse Gleichartigkeit auf.
Sehr große Staatsgebilde, wie die Vereinigten Staaten, Rußland, China,
selbst Brasilien erstrecken sich durch verschiedene klimatische Gürtel,
werden von verschiedenen Völkern und Rassen bewohnt, sind wirtschaft-
lich ungleich entwickelt. Der geographische Gesamteindruck, als Durch-
schnitt von Extremen immer irreführend, löst sich in Einzelbilder auf,
sowie wir Landesteile streng für sich betrachten.
Wichtig ist hier nicht die Ausdehnung von Ost nach West, sondern
von Nord nach Süd, denn hier entfaltet sich die Wirksamkeit geophysi-
scher Faktoren, besonders wenn der Südteil an das Meer grenzt und die
klimatischen Schwankungen mildert. In der südlichen Hemisphäre liegen
die Verhältnisse umgekehrt"doch sind wir damit nicht befaßt. In den
Vereinigten Staaten z.B. unterscheidet sich der Norden in zahlreichen
Beziehungen vom Süden: klimatisch, wirtschaftlich, sozial und rassisch.
Hier läßt sich die Geographie der Kriminalität studieren, aber nur wenn
wir den Sinn des Ausdrucks weit über seine ursprüngliche Bedeutung
hinaus ausdehnen. Geophysik ist wirksam, doch macht sie sich durch
viele Filter geltend. Die Negerfrage ist nur eine dieser Zwischenkräfte,
allein des Klimas wegen wurden Neger importiert, der Negersklaven
wegen bildete sich eine Herrenschicht, die wiederum der Neger wegen
in den Bruderkrieg gerissen wurde. Hier unterlag sie und entwickelte
aus schlimmer Niederlage eine ganz besondere geistige Haltung. Es
war die des gebrannten Kindes.
Die "Geographie" der Kriminalität in den Vereinigten Staaten darf
wie in allen Ländern nicht nur den Kriminellen in den Kreis der
Untersuchung ziehen. Die wichtigsten Daten, die Ziffern der Verurtei-
lungen, sind dadurch entstanden, daß Polizei, Staatsanwalt, Gericht,
Sachverständige und Zeugen in enger Zusammenarbeit zu einem be-
stimmten Ergebnis gekommen sind. Es gibt auch eine Geographie dieser
menschlichen Tätigkeiten, die sich sogar statistisch erweisen läßt. Wie
wichtig der Zeuge, seine Bereitwilligkeit oder seine Zurückhaltung ist,
ergibt sich aus der gerichtlichen Behandlung von Gangsterfällen 1• So-
lange es nicht gelingt, durch mechanische Bcwcisformen (Abhören,
Photographieren usw.) das menschliche Elemrnt. :;mrückzudrängen,
1 Beispiele führe ich in meinem "Gangster", S. 164 an. - Auch andere fest·
geschlossene Gruppen können mit dem Wegfall der Belastungszeugen rechnen.
204 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

müssen die Beweisträger störenden Einflüssen unterliegen, die geo-


graphisch irgendwie bedingt sind. Auch die Urteilspersonen können
sich diesen Kräften der Umwelt nicht ganz entziehen. Solche geographi-
schen Abhängigkeiten erklären die Widersprüche der Strafzumessungs-
praxis.
Zu den richterlichen Entscheidungen, die sich dem äußeren Ergebnis
nach überprüfen lassen, gehören der Freispruch, die Anwendung der
schwersten Form der Freiheitsstrafe und das Urteil, das die Vollstrek-
kung einer Strafe aufschiebt.

Frei8pruch bei ernsteren Verbrechen l (major offense8)


(1944, Prozentzahlen, 24 Staaten)
Rhode Island 2,8
Minnesota. 8,5
North Dakota 9,6
NewYork. 28,2
Kansas . 29,2
Pennsylvania 30,2
Utah. 30,9
24 Staaten. 22,5

Die Abweichung in der Beurteilung ist um so erstaunlicher, als die


Südstaaten sich an der Lieferung des Materials, wo die größten Diffe-
renzen zu erwarten sind, nicht beteiligt haben. Die Unterschiede sind
bei der Verhängung der Zuchthausstrafe sehr viel größer:

Zuchthau88trafe 2 (1944,Prozentzahlen der Verurteilungen)


Pennsylvania . 17,4
New Hampshire 27,1
California . . 29,5
New Mexico . 61,1
Colorado 63,4
Kansas . . 68,5
Montana . 78,3
24 Staaten. 37,8

Ein festes Muster läßt sich geographisch nicht erkennen. Man könnte
höchstens sagen, daß die Staaten mit sehr viel Farmland, die um das
Felsengebirge herumliegen und am spätesten besiedelt wurden (Neu
Mexico ausgenommen), am ausgesprochensten zu schwerer Strafe
neigen.
Die Verwendung der bedingten Verurteilung, also etwa dem, was wir
Bewährungsfrist nennen, ohne brauchbare Grundsätze herausgearbeitet
zu haben, zeigt gleichfalls einen hohen Grad von Schwankung:
1 Judicial Criminal Statistics 1944, S.2. Washington 1946.
2 Ebenda, S. 5.
Geographie der Kriminalität 205

Bedingte Verurteilung 1 (1944, Prozentzahlen)


Kansas . . . 12,9
North Dakota 13,3
Iowa . . . 17,5
Minnesota . . 39,7
Ohio . . . . 43,9
New Hampshire 54,3
Rhode Island 64,8
24 Staaten . . . 31,3

Der Verbrechensindex der amerikanischen Bundespolizei umfaßt


sieben Delikte: Mord, Notzucht, Raub, gefährliche Körperverletzung,
Einbruch, Diebstahl (über 50 Dollars) und Autoentwendung. An diesem
Maßstab gemessen, der so bedeutsame Delikte wie Betrug und Unter-
schlagung nicht einschließt, ergibt die jüngste Liste der bekannt-
gewordenen Verbrechen, erhebliche geographische Unterschiede:

Sieben wichtige Delikte 2


(je 100000 der Bevölkerung, "der Polizei bekannt", 1958 und 1959)
Land 1958 1959

North Dakota. 325,1 336,9


Mississippi . 331,0 420,4
New Hampshire . 405,5 470,5
Florida. 1365,4 1386,0
Nevada 1599,8 1915,8
Kalifornien . 1775,9 1635,8
United States (Kontinent) 896,9 896,0

Wenn man die Zahlen Mississippis mit denen anderer Südstaaten


vergleicht (South Atlantic meldet 890,2, East South Central 706,7,
West South Central 892,7 [1959]), so kann man sich des Zweifels an der
Zählungstechnik nicht erwehren. Die Diebstahlzahlen Mississippis sind
besonders niedrig, vielleicht weil sie nicht über 50 Dollars liegen; Kraft-
wagen werden nicht entwendet, ein Umstand, der genauer noch zu unter-
suchen wäre. Vielleicht ist ihre Zahl verhältnismäßig klein. Auf jeden
Fall würde ohne die Aufteilung nach geographischen Gesichtspunkten
die Gesamtzahl von 896,0 (1959) dem einen Staate Unrecht tun, dem
anderen einen unverdienten Heiligenschein verleihen.
Um das Bild abzurunden, seien noch andere Verschiedenheiten kurz
genannt, die zeigen, wie die Lebensäußerungen des Riesenlandes variieren
1 Judicial Criminal Statistics 1944, S. 5. Washington 1946. - Die Prozentzahlen
der Bestrafung mit Haft (local jail or workhouse) schwanken zwischen 3,4 (Rhode
Island) und 41,0 (Pennsylvania). So differiert die richterliche Meinung "geo-
graphisch".
2 Uniform Crime Reports 1958, Washington 1959, S.64, 66 und Washington
1960, S. 34-36.
206 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

und natürlich auch die Kriminalität erfassen müssen. Im Jahre 1940


wies z.B. Oregon eine Heiratsrate von 5,4 auf 1000 Einwohner auf,
Virginia ganz im Osten kam auf 19,5 1. Die Selbstmordzahlen steigen vom
Atlantik zum Pazifik an:
Selbstmorde (je 100000, 1925-1929) 2
Buffalo . . . . . 12,8
Washington, D. C. 3 23,8
Denver . . . 25,9
San Francisco . . 38,8

Das Traumland Kalifornien bewegt dreimal so viele Menschen zur


Selbstvernichtung als die Industriestadt Buffalo an der kanadischen
Grenze. Ist es das Klima, ist es ein besonderer Menschenschlag, den einst
das Gold anlockte und der hente noch dem Westen zuströmt? Wir
sahen, daß die Kriminalität erheblich ist.
Deutschland mit seiner mittleren Ausdehnung von Nord bis Süd,
von Ost nach West weist jene deutlich abgezeichneten Rassenunter-
schiede nicht auf, wie sie in den Vereinigten Staaten, aber auch zwischen
Nordfrankreich und Korsika, der Lombardei und Sizilien bestehen. Die
vielfachen territorialen Änderungen, die mit Deutschland vorgefallen
sind, auch die Verkürzung der Statistik zwingen, weit zurückzugehen,
wenn wir ausführliche Angaben 4 haben wollen. Bei Landverlusten werden
immer die Randgebiete beschnitten; sie sind es gerade, wo die größten
Unterschiede sich bemerkbar machen.

Topogrnphie der Verbrechen und Vergehen im Deutschen Reich 1908-1912


(je 10000 Strafmündige der Zivilbevölkerung)
Preußen 121,4
Bayern . . . 132.6
Württemberg 120,5
Sachsen 92,8
Baden . . . 112,8
Hessen . . . 92,1
Elsaß-Lothringen 98,4
Deutsches Reich . 118,4

Wenn wir das langgestreckte Gebiet Preußens näher betrachten, so


löst sich der Durchschnitt in nicht geringe Unterschiede auf:
1 Preliminary Marriage Statistics for 28 States 1940, Washington 1942, S. 202.
DUBLIN, LOUIS 1., and BESSIE BUNZEL: To be or nottobe, S. 393. New York1933.
2
3 Weiße Bevölkerung.
4 Naoh Bd. 267 (1912) der Reichskriminalstatistik, abgedruckt bei ASCHAFFEN-
BURG S. 43--46. - Ähnliche bedeutende Differenzen ergaben sich in andern Bundes-
staaten. Baden z.B. meldet für Mannheim eine Diebstahlsziffer von 195,5, für
'Valdshut, einen südlichen Kreis, nur 70,4.
Geographie der Kriminalität 207

Provinz Ostpreußen . . . . 148,5


Provinz Rheinland . . . . 128,2
Provinz Dchlcswig-Hoisteill 102,8
Provinz Hessen-Nassau . . 95,3

Der Nordosten Preußens war wesentlich krimineller als der Süd-


westen, aber auch innerhalb der einzelnen Provinzen wechselt das Bild
der Straffälligkeit in einer Weise, die schwerlich noch mit Klima oder
Rasse in Zusammenhang zu bringen ist.

Topographie ausgewählter Delikte *


(Regierungsbezirke Hannover und Osnabrück, Provinz Hannover,
je 10000 der Zivilbevölkerung, 1908-1912)

Stadt Betrug

Hannover 6,6
Osnabrück . 2,7
* ASCHAFFENBURG, S. 45.

Es bleibt nichts übrig, als nach anderen Ursächlichkeiten zu suchen,


vor allem nach der Wirtschaftsordnung und der beruflichen Struktur.
Wiederum wäre es unrichtig, den Blick nur auf den Täter und die
Tat zu richten. Verurteilungen kommen dadurch zustande, daß eine
Reihe von Menschen zusammenwirken: Der Anzeigeerstatter, die Zeugen,
die Sachverständigen, die Strafverfolgungsbehörden und die Richter.
Ganz verfehlt wäre es, alle diese menschlichen Wesen von dem Spiel der
Kräfte ablösen zu wollen, die auch den Täter angetrieben haben. Die
gleichen Anschauungen beherrschen die Gesamtheit der Bevölkerung,
und cs gibt zweifellos auch eine "Geographie" des richterlichen Urteils,
das in der Gegenüberstellung von Raumgebilden sichtbar wird, wie
niemand Zeiteinflüsse leugnen wird. Selbst über so einfache menschliche
Mängel wie Trunksucht und die erforderlichen Gegenmittel gehen die
richterlichen Anschauungen weit auseinander:
Geographie der Entmündigungen* wegen Trunksucht
(Oberlandesgerichte Celle und München, 1906-1911)

I Za~l der Gerichts-


emgesessenen
1907 1908 1911

München _ . 1864013 10 14 12 19 16 13
Celle . . . . 2989008 81 99 94 106 125 127
* Deutsche Justizstatistik 1913, S. 146.

Auf 100000 Gerichtseingesessene des Oberlandesgerichtes München


kamen in 6 Jahren 4,5 Entmündigte wegen Trunksucht; in Celle war
208 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

die entsprechende Zahl 21,7. Getrunken wird in gleicher Weise; der


Unterschied sitzt in den Köpfen jener Menschen, die sich mit Trunk-
sucht zu befassen haben.
Die Raumgebundenheit von Gutachtern und Gerichtspersonen läßt
sich an einem anderen Beispiel erweisen. Ein Arzt 1 vermittelt Zahlen
von 402 gerichtlich angeordneten Entmannungen, die in der Zeit vom
Inkrafttreten des Gesetzes vom 31. 12. 1934 bis zum 30.4. 1942 vorge-
nommen und gemeldet wurden. Die Unterschiede nach Oberlandes-
gerichtsbezirken lassen sich nur von der Seite der urteilenden, medizini-
schen und gerichtlichen Instanzen her erklären.
Gerichtlich angeordnete Ka8trationen in 5 Oberlande8gericht8bezirken
(1935-1942)
Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg . . 173
Oberlandesgerichtsbezirk Kiel 109
Oberlandesgerichtsbezirk Braunschweig 27
Oberlandesgerichtsbezirk Rostock . . . 71
Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg . . 22
Natürlich ist die Zahl der erwachsenen männlichen Gerichtseinge-
sessenen in Betracht zu ziehen, die - etwa in Hamburg und in OIden-
burg - verschieden sein muß. Trotzdem spielt die geistige Bereitschaft,
die umstrittene Maßnahme zu verhängen, eine Rolle. Sie ist es, die die
Eingriffszahlen hebt und senkt. Sie sind nicht eigentliche Fehler 2 , liegen
in der Breite des Ermessens.
Außer einer Reihe anderer kausaler Faktoren reicht selbst die rechts-
geschichtliche Entwicklung tief in die richterliche Entscheidung hinein.
Die de8 Verwei8es*
Hä~tfigkeit Anwendung der Geldstrafe **
Bayern 1890-1903 Bayern 1890-1903
Prozentzahlen von je 100 verurteilten Prozentzahlen
Jugendlichen von je 100 Verurteilten
Oberlandesgerichtsbezirk Verweise Oberlandesgerichtsbezirk Geldstrafe

Augsburg 10,3 Augsburg 23,3


Bamberg 10,4 Bamberg 29,3
München 12,0 München 20,4
Nürnberg 12,4 Nürnberg 21,8
Zweibrücken 8,1 Zweibrücken 40,7
Deutsches Reich 21,1 Deutsches Reich 36,5
* Zitiert von RUDoLF WASSERMANN in Monatsschrift, Bd. IV, S. 579. -
WASSERMANN hat völlig recht, wenn er neben der kriminalgeographischen Moment-
aufnahme das "Entwicklungsbild" fordert. Dazu gehört aber die Kontinuität des
Territoriums, die für Deutschland fehlt.
** Ebenda, S. 581.
MEYWERK: Monatsschrift, Bd. XXXIII, S. 5.
1
Solche Ermessensfehler setzt der Gesetzgeber voraus, der den Instanzenzug
2
vorgesehen hat (BELING, ERNST: Deutsches Reichsstrajprozeßrecht, S. 394ff. BIn. 1928).
Geographie der Kriminalität 209

An bestimmte Räume gebunden und innerhalb dieser Räume statistisch


erkennbar, wirkt sie weiter, die Ahndung des Rechtsbruchs genau wie
die Kriminalität selber. ÜTTO WÖRNER hat den Nachweis geliefert, daß
alte Gesetzbücher die verschiedenen Landesteile eines Staates wie Bayern
immer noch beherrschen und ihren Anteil an der uneinheitlichen Straf-
bemessung tragen. Das bayerische Strafgesetzbuch von 1861 kannte den
Verweis bei Delikten Jugendlicher nicht. So ist zu erklären, daß dieses
Strafmittel im Gegensatz zum übrigen Reichsgebiet nur zögernd aufge-
nommen ist, am meisten noch in München und in Nürnberg, am wenig-
sten an der Peripherie des Landes, in der Pfalz.
Ähnliche Verschiedenheiten ergeben sich, wenn man die Anwendung
der Geldstrafe auf das Reich, Bayern und in Bayern wiederum auf die
einzelnen Landesteile betrachtet. Die Pfalz hatte bis zum Jahre 1862
eine andere rechtliche Entwicklung als das Bayern, das rechts des Rheins
gelegen war. Sie steht dem Reichsdurchschnitt näher als das ganze
andere Land (s. S. 208). Hinter der "Geographie" der richterlichen Straf-
bemessung stehen die alte Denkgewohnheit und die alte Tradition,
von denen uns der Weg zurück in lange, unbekannte Ursachenreihen
leitet.
Die Freiheit des richterlichen Ermessens nach Strafart und Schwere
der Strafe ist eine Verfeinerung der Strafrechtspflege. Die natürliche
Folge sind Fluktuationen, die bei der alten absoluten Strafe ausgeschlossen
waren. Nur in Beziehung auf die räumlichen Bezirke sind sie noch zu
erkennen; nur in beschränktem Maße aber sind sie wirklich raumge-
bunden.
c) Die Probleme hören nicht auf, wenn die Untersuchung von den
großen Raumgebilden zu kleineren geographischen Einheiten herabsteigt.
Ein solches Grenzgebiet, tief im Südosten Deutschlands, ist Gegenstand
einer Erörterung geworden, ohne daß letzte Klarheit geschaffen worden
wäre. Es fiel einem Forscher, SEUFFERT, vor beinahe 60 Jahren schon
auf, daß die Kriminalstatistik hohe Betrugsziffern für zwei bayerische
Regierungsbezirke aufweist, Schwaben und Oberbayern. Spätere Zahlen
bestätigten diese Beobachtung:

Betrug in Schwaben und Oberbayern *,


(auf je 10000 strafmündige Zivilpersonen)

1903-1907 1908-1912

Schwaben 12,8 13,0


Oberbayern 15,7 12,0
Bayern 1l,3 9,8
Preußen. 6,1 6,2
* Zahlen bei ASCHAFFENBURG, S. 44, 45.
v. Hentig, Das Verbrechen I 14
210 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Diese Zahlen für Räume, die im wesentlichen landwirtschaftlicher


Natur sind - die großen Städte München und Augsburg ausgenommen-
fielen auf, weil wir gewohnt sind, den Betrug als ein Delikt der eng-
gedrängten industrialisierten Welt anzusehen. SEUFFERT 1 war nun auf
eine noch kleinere Einheit, den Landgerichtsbezirk Traunstein, gestoßen
und hatte eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Verurteilungen wegen
Betruges gefunden. Auf 10000 Strafmündige berechnet, waren in dem
Zeitraum 1883-188742,1 Personen wegen Betruges verurteilt worden,
in den Jahren 1888-1892 wesentlich weniger, aber immer noch 21,2.
Auf eine Anfrage wurde SEUFFERT die Erklärung gegeben, jährlich zögen
7000-8000 junge Leute, meistens Österreicher, durch Traunstein. Ehe
sie weiterwanderten, erhielten sie Naturalverpflegung, aber nur zweimal
im Jahr. Um weiteres Essen verabreicht zu bekommen, würden oft die
Verpflegungsdaten gefälscht. Die Frage wurde früher schon gestreift.
In der sich entfachenden Diskussion wies ASCHAFFENBURG 2 darauf
hin, daß die Fälschung von Wanderbüchern und Legitimationspapieren
nur eine Übertretung sei, die in die Kriminalstatistik nicht aufgenommen
werde. WASSERMANN 3 sprach sich dagegen für die Annahme eines Be-
truges aus. Eine kleine umstrittene Rechtsfrage kann also, wie man
sieht, das tatsächliche Bild verändern. Neben der Zechprellerei, für deren
Häufigkeit Gründe gesucht und gefunden werden müßten, bleiben nur
zwei Möglichkeiten übrig: die Neigung der durchwandernden Fremden,
zu betrügen, oder die Bereitwilligkeit der Opfer, sich täuschen zu lassen,
dazu der nicht verschmerzte Ärger über den Betrug und die Anzeige des
Schuldigen, ohne Rücksicht auf das schadenfrohe Dorfgeschwätz, dem
viele Bauern zu entgehen suchen, weil wohlgezielte alkoholbeschwingte
Sticheleien den Stammtischfrieden ilim verleiden.
Auf der Suche nach einer Lösung kam mir der Gedanke, die politi-
schen Grenzen zu ignorieren, die topographisch und stammesgeschicht-
lich mit einer gewissen Willkür gezogen sind, und einen Blick in das
österreichische Grenzland zu werfen. Ich habe mich dabei auf Betrug
und Unterschlagung (Veruntreuung) beschränkt, weil sie sich psycho-
logisch nahestehen (s. Tabelle S. 211).
Salzburg weist nach Tirol und Kärnten die höchste Betrugskriminali-
tät in Österreich auf, steht bei der Unterschlagung an der Spitze, wenn
man von der wirtschaftlichen Zentrale des Landes, Wien, absieht. Man
wird also in jener Ecke von einer gewissen Neigung sprechen dürfen,
die sich diesseits und jenseits der Salzach bemerkbar macht. Von den
1 Erwähnt von in Monatsschrift, Bd. IV, S. 157.
WASSERlI1ANN
2 ASCHAFFENBURG, S. 55.
3 In Monatsschrift, Bd. IV, S. 159. - Nach WASSERMANNS Erkundigungen bei
zuständigen Richtern ist die hohe Betrugsziffer auf Zechprellereien zurückzuführen.
Darüber könnte eine Sonderstudie unschwer Klarheit schaffen.
Geographie der Kriminalität 211

Betrug und Unterschlagung in Österreich *


(nach Ländern; auf 100000 Strafmündige, 1932)

Bundesländer Betrug Verunt.reuung

Wien 128 157


Burgenland . III 42
Niederösterreich 153 72
Oberösterreich 216 88
Steiermark . 205 112
Kärnten. 250 121
Tirol 252 78
Vorarlberg . 224 57
Salzburg 245 133
Ganz Österreich 174 III
* SEELIG, ERNST: Lehrbuch der Kriminologie, S.172. Nürnberg 1951. Die
neuere Statistik läßt die Länderzahlen fort.

Kriegszügen, die weiter nördlich das Donautal in Mitleidenschaft zogen,


ist dieser stille, landschaftlich schöne Winkel verschont geblieben, da-
gegen könnte man an einen anderen Einfluß denken. BYLOFF 1 hat eine
lebendige Schilderung gegeben, wie es der klugen Politik des Erzbischofs
Paris Lodron gelang, Salz burg aus den Verwüstungen des 30jährigen
Krieges herauszuhalten und wie die Blüte dieser Gegend, ein horror
vacui besonderer Art, zu einem Masseneinmarsch von Bettlern und Ver-
armten führte. Sein Nachfolger suchte sich dieser Plage durch große
Zaubereiprozesse zu erwehren. Später griff die Vertreibung der Pro-
testanten wiederum in die Zusammensetzung der Bevölkerung ein, und
heute siedeln sich sehr viel reich gewordene Fremde an Salzburgs un-
berührten Seen an, die fernab von den Heeresstraßen und der Bomben-
drohung liegen.
Die Stärke jenes alten Einbruchs unerwünschter Elemente ist daraus
abzumessen, daß anläßlich einer mildtätigen Speisung im Jahre 1608
am Nonnenberg bei Salzburg 1600Menschen erschienen 2, die dem "lieben
Almosen" nachgingen. Es gab damals ein Bettlertum gewalttätiger Art,
das noch in den Beängstigungen mancher heutigen Bauern nachklingt;
auch war die Zunft der fahrenden Leute mit Kunstgriffen wohlvertraut,
die an das Mitleid und den Aberglauben appellierten 3.
1 BYLOFF, FRITZ: D'ie Blutgenossenschaft des Zauberjackl, Monatsschrift,
Bd. XVIII, S. 40lff.
2 Ebenda, S. 301. Damit stand Salzburg im Rufe des glücklichsten und reichsten
Staates in deutschen Landen. "Jetzt zogen von allen Seiten, insbesondere aus dem
gänzlich verwüsteten Bayern, Scharen zweifelhaften Volkes ins Land."
3 "Zahlreich sind unter den Fahrenden die Kinder, teils wirkliche Kinder der
Straße, unglückselige Sprossen vagierender Frauenzimmer, teils von den Zigeunern,
den berüchtigten ,Schwarzreitern', gestohlene, die man verkrüppelte und zum
14*
212 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Der Rückblick in vergangene Tage ist aus zwei Gründen angebracht.


Wir hören, daß der Führer der Blutgenossenschaft, "Schinderjackl" mit
Spitznamen!, eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sei, daneben ein
geschickter Taschenspieler, "der es verstand, Wahrnehmungstäuschun-
gen hervorzurufen 2". Mit seinen Betrügereien, die meistens das Ver-
schwindenlassen von Vieh betrafen 3, war er ein Schreck der abergläu-
bischen Bauern. Wir werden auch belehrt, daß seine "Zauberbuben"
nach dem großen Prozeß den ungastlichen Boden von Salzburg verließen
und in die Nachbarländer zogen. Eine ähnliche Verfolgung flammte in
Burghausen - heute Landgerichtsbezirk Traunstein - auf, "wo die
Fronfeste derartig mit Gefangenen überfüllt war, daß die Regierung
wegen ihrer Unterbringung in Verlegenheit geriet 4 ." Nach RIEZLER,
den BYLOFF anführt, lief in den Jahren 1715-1717 in Freising ein
Zaubereiprozeß gegen Bettelbuben, von denen drei dem Schwert ver-
fielen.
Geographie ist also für die Kriminalwissenschaft nicht nur Klima,
Boden, Landschaft, sie ist Geschichte, Wirtschaftskunde und schließt
die Lehre von den Wanderungen ein.
Zentren von Fluktuierung sind die Hafenstädte, wo Schüfe kommen,
Schüfe gehen und die Besatzung dieser Schiffe eine ganz besondere
Menschenklasse ist. Schiffsjunge zu sein, der Enge des Elternhauses zu
entrinnen, fremde Länder zu sehen, Abenteuer zu erleben, Kameradschaft
an die Stelle der väterlichen Autorität zu setzen, die man mit der selbst-
gewählten Herrschaft des Kapitäns vertauscht, ist heute noch das Ideal
des Pubeszenten. Aus Schiffsjungen aber werden Matrosen, sehr viele,
die es immer bleiben. Sie träumen auf der See von Hafenstädten, von
der Beliebtheit ihrer vollen Taschen, von einem richtigen Rausch und
der Bewunderung ihrer langgesponnenen Garne. Nach dem Gehorsam
und der Disziplin, der wirtschaftlichen Geborgenheit des Lebens an
Bord gelüstet es den wahren Matrosen, Heizer, Maschinisten oder
Stewart nach einem schroffen Gegensatz, es sei ein bißchen Widerstand,
Exzeß in allen Dingen, nach Mädchenlachen und Verschwendung.
Die Hafenstädte zeigen deshalb, wenn wir Territorien untersuchen,
die Färbung dieser Wandergruppen. Was wir in der Statistik, geogra-

Betteln abrichtete, teils davongelaufene, denen das Abenteuerleben der Wanderung


anziehender schien als das klägliche Hirten- oder Dienstbotenleben. " BYLOFF,
S. 402. - Der Ausrottungsprozeß durch die Anklage der Zauberei konnte nur etwa
180 Personen treffen, wirksamer wird der Schrecken gewesen sein, der viele dieser
Fahrenden wieder über die Grenze scheuchte.
1 BYLOFF, a. a. 0., S. 408. - Wie der Schinderhannes der rheinischen Gebiete,
war er der Sohn des Abdeckers von Mauterndorf im salzburgischen Lungau.
2 Ebenda, S. 412. 3 Ebenda, S. 414. 4 Ebenda, S. 406.
Geographie der Kriminalität 213

phisch abgesondert, sehen, ist nicht die Eigenart des Wohnorts, sondern
eine Menschenströmung, die, aus der Ferne kommend, über seine eigent-
liche Oberfläche fließt.
Die Mordkriminalität des Seemanns ist nicht gering, sie hat sich in
der letzten Zeit zum Koch, zum Stewart und zum Funker hin verlagert,
vom Kapitän als Opfer weg zur Frau, die mitfährt. In einem britischen
Mordprozeß kam zur Sprache, daß der zum Tode verurteilte, aber be-
gnadigte Stewart James Camb einen "unerfreulichen" Ruf hatte, soweit
weibliche Fahrgäste in Betracht kamen. Auf der Ausreise nach Süd-
afrika hatte er bei drei verschiedenen Gelegenheiten weibliche Passagiere
angefallen, "einmal hatte er die Kabine einer Dame betreten und ihr
,Avancen' gemacht, deren sie sich nur nach einem Kampf erwehren
konnte!". Im übrigen erfahren wir wenig über die Sittlichkeitskriminali-
tät an Bord, auch Eigentumsdelikte werden zumeist in diskreter Weise
abgemacht. Sie beschränken sich hauptsächlich auf Falschspiel und
Betrug und werden nicht von Matrosen, sondern reisenden Berufsgaunern
begangen 2. Für Notvergehen ist die Wirtschaftslage des Besatzungs-
mitgliedes zu sehr gesichert, die Kontrolle unverhältnismäßig scharf und
wirksam. Wie im Hotel, so ruht der ganze Betrieb auf Sicherheit des
ungeschützten Eigentums. An Bord wird also kaum gestohlen. Es ist
auch nicht Unehrlichkeit, die den Seemann kennzeichnet, sondern die
Neigung zur Gewalttat, zur Kraftausgabe, die er nicht mehr so gründ-
lich abreagieren kann wie auf den alten Segelschiffen, wo alle Muskel-
arbeit an dic Wanten ging.
Für Wanderungs effekte muß man einen Teil der Zahlen halten, die
uns die großen deutschen Häfen übermitteln, dazu natürlich auch die
Wirkung einer Großstadt, die, für die Zählung günstig, mit dem Staats-
gebiet zusammenfällt. Daneben halten wir den Binnenhafen Berlin und
die Ziffern für das gesamte Deutsche Reich:

Ausgewählte Delikte auf 10000 Strafmündige *


(Seehäfen, Berlin, Deutsches Reich; 1908-1912)

i Widerstand I Diebstahl Betrug

Bremen 10,0 46,5 14,3


Hamburg 10,1 34,0 7,1
Berlin . 3,0 42,1 9,4
Deutsches Reich 3,9 24,9 6,2
* Zahlen bei ASCHAFFENBURG, S. 43 und 46.
1 CLARK, GEOFFREY: Trial 01 Jame8 Gamb, s. 11 und 12. Edinburgh 1949.
2 Siehe die Typen in HYND, AUN: 'l'he giant killer8, S. 292ff. New YOJ'k 1945.
214 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

ERNST SEELIG 1 hat die geringe Körperverletzungs- und Diebstahls-


kriminalität Wiens mit der schwächeren Neigung erklärt, kleine Delikte
anzuzeigen, auch mit der größeren Belastung der Polizeiorgane, was
immerhin noch zu beweisen wäre. Für große Häfen würde diese Meinung
gleiche Geltung haben. Für Bremen und für Hamburg trifft sie nicht
beim Diebstahl zu. Im Widerstand mit seinen hohen Zahlen weht freilich
Seeluft und der Dunst des Alkohols. Für Bremens hohe Bctrugszahlen
fehlt mir einstweilen die Erklärung, wenn man sie neben Hamburgs
kleine Ziffern hält.
Der hohen Selbstmordrate Californiens entsprechen Raub- und Ein-
bruchszahlen, die weit über dem Landesdurchschnitt liegen:

Raub und Einbruch * auf 100000 Einwohner


(Californien, North Dakota, United Staates 1959;
der Polizei bekannte Delikte)

Raub Einbruch

N orth Dakota 4,8 174,6


Vereinigte Staaten 40,3 385,9
Californien . 73,8 728,4
* Uniform Crime Reports 1959, S.34ff. Washington 1960.

Florence Monahan war Leiterin einer Frauenstrafanstalt im Mittel-


westen, dann übernahm sie in Californien ein Frauenzuchthaus und
faßte ihren Eindruck in die Worte zusammen: "Californiens weibliche
Gefangene, so buntgescheckt wie die Landschaft Californiens, waren eine
viel rauhere Gesellschaft, als ich sie vorher gewohnt war, zudem auch
älter, 37 Jahre im Durchschnitt. Ich war nicht überrascht, als ich sie
abgebrüht und in Verbrechensdingen wohlbewandert fand. Vielleicht
lockt das allzusehr gerühmte Klima ebenso Kriminelle wie gute Bürger
an 2." Von vielen Gründen konnte das nur einer sein. Man braucht nicht
allzuviel von der Geschichte Californiens zu kennen, um anderen Ur-
sachen auf die Spur zu kommen, die längst nicht mehr bestehen und
doch irgendwie und irgendwo noch weiterwirken. Wer die Berichte des
französischen Konsuls in Monterey von 1849 an seine Regierung liest,
sieht eine Lawine hastiger Goldsucher Californien überrollen. Die ganzen

1 SEELIG, a.a.O., S. 173. - Siehe mein Vergleich von Wien und Tirol, wobei
1924 in Tirol auf 10000 Strafmündige 230 Verurteilungen wegen Betruges kamen,
auf Wien nur 131. (Die soziale Großstadt und da8 krim.inelle Land. Monatsschrift,
Bd. XVIII, S.441.) In Wien wurden 1924 1,9% aller Strafmündigen verurteilt,
in Tirol 3,1 %. In Tirol sind die zahlreichen Verurteilungen wegen Landstreicherei
in Betracht zu ziehen, die die Gesamtzahlen beeinflussen.
2 FLORENCE MONAHAN: lVonwn in crim.e, S. 178. New York 1941.
Geographie der Kriminalität 215

Nordprovinzen von Mexiko waren in Bewegung. Er schreibt!: "Im Hafen


(von Yerba Buena) liegen jetzt 20 Handelsschiffe, neue kommen jeden
Tag an und 20-30 werden von Chile, Peru, Mexiko, den Südseeinseln
und von China erwartet."
Nach ASBURY 2 waren die Ankömmlinge aus Australien im Frühherbst
1849 so zahlreich und beherrschten die Unterwelt so gründlich, daß ihr
Wohnviertel Sidney-Town hieß und noch zehn Jahre lang diesen Namen
trug. Nach dem gleichen Kulturhistoriker strömten in den ersten
6 Monaten um 1850 etwa 2000 Frauen in die männerarme Stadt. "Sie
waren zumeist Prostituierte und kamen aus Frankreich und anderen
Ländern Europas, auch aus New York und New Orleans 3 ." BANCROFT,
der Geschichtsschreiber des Westens, teilt mit, daß in der Zeit von 1849
bis Mitte der 50er Jahre in Californien 4200 Morde begangen wurden,
darunter 1200 Tötungen in San Francisco selbst 4 • In einer Zeit, in der
San Francisco nur 40000 Einwohner zählte, wurden im Durchschnitt
täglich zwei Morde verübt 5 •
Das wilde Blut der ersten goldberauschten Siedler kann nur ganz
langsam ausgewaschen und gebändigt worden sein. Das, was uns "geogra-
phiseh" gegenübertritt, ist größtenteils die selektive Wirkung aufgeregter
Wanderzüge, von denen noch ein Rest im Massenbilde hängenblieb.
Gar viele Phänomene, die die Wissenschaft zerlegt, sind in lebendigen
Zusammenhängen eng verknüpft. Die Kriminalität, die sich in Miami,
Florida oder Palm Springs, Californien, zusammendrängt, z.B. der Dieb-
stahl wertvollen Schmuckes, hängt von dem Aufenthalt der reichen
Frauen ab, die in bestimmten Jahreszeiten Californien oder Florida be-
suchen. Atlantic City in New Jersey an der Ostküste ist die Stadt der
Kongresse, der Pferderennen und des Wettbetriebes. Ein jahreszeitlicher
Rhythmus herrscht vor. Wiederum stehen Zeit und Raum in Wechsel-
wirkung. Wenn ihr Zusammentreffen Opfer anlockt, so kommen auch
die Kriminellen angeschwärmt. Sie gehen vollen Taschen nach und kehren
abgegrasten Feldern rasch den Rücken. Erst wenn es warm wird, wacht
der Central Park auf; in allen Büschen und auf allen Bänken regt sich Leben.
Der Zeiteinfluß hängt vielfach von der Dauer ab, in der wir auf be-
stimmten Raum beschränkt sind. Das beste Beispiel ist die Freiheits-
strafe. Hier sehen wir die Wirkung eines Raumes zeitlich abgezirkelt, und
mit der Länge der Einschließung nimmt auch der Raum als Element
des Schadens zu.
1 MOERENHOUT, JACQUES A.: The inside story of the gold rush, S. 46. San
Francisco 1935.
2 ASBURY, HERBERT: Barbary Ooasf" S. 46. Kew YOl'k 1947.
3 Ebenda, S. 30.
4 JACKSON, J. H.: San Francisco 1mtrders, S. 1. New York 1948.
5 ASBURY. S. :'51.
216 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Mit Jahreszeiten, Wochentagen, Tagesstunden und klimatischen Ver-


hältnissen kommt es normalerweise zu einem Wechsel der räumlichen
Umgebung. Wir suchen in den Ferien günstigere klimatische Bedin-
gungen auf. Damit sind zahlreiche soziologische und psychologische Ver-
änderungen verknüpft. Heiratsschwindler und Erpresser fischen die
sommerlichen Kurorte ab, wie Baden-Baden, Kissingen, Freudenstadt,
auch Garmisch und Davos. BOLITHO 1 hat die Atmosphäre der britischen
Südküste geschildert, ohne auf die rein klimatischen und jahreszeitlichen
Wirkungen einzugehen. "Smith", schreibt er, von dem Badewannen-
mörder G. J. Smith sprechend, "hatte sein Amerika gefunden. Um ihn
herum erstreckten sich sanft geneigte Prärien einzelner Frauen, so zahm,
daß das jagende Männchen sich gegen sie mit dem Winde anpirschen
konnte ... " Und er fährt später fort: "Mit dieser Änderung der Daseins-
formen, die das Leben an der Seeküste mit sich bringt, verschiebt sich
die gesellschaftliche Sitte." Mit der körperlichen Ausspannung lockern
sich Abstand und Zurückhaltung, besonders auf der Frauenseite. Hotels
und Rasthäuser sehen voll Milde auf die Schwächen derer, die für diese
Duldung zahlen. Aus Raum und Zeit und abgestreiftem Zwang des
Alltags wcht wie die Meeresbrise und der Sommertag die Luft der Un-
gebundenheit. Es gibt Verbrecher, die das Wild mit einem Blick er-
kennen und zum Angriff übergehen. Daher die vielen Frauenmorde
dieser Küstengegend, die die Geschichte des Verbrechens kennt.
Homosexuelle zieht es nicht nach GrÖnland. Sie lockt das Insel-
dasein 2 und das warme Klima. Geographie und Dauersommer bilden
eine Einheit. Man kann sie theoretisch auseinanderhalten - in Wahr-
heit sind sie eng verbunden 3.

B. Absetzen von der Schadens quelle


a) Alles organische Leben wird von Reizen, die es als nützlich aus-
wählt, angezogen. Von Schädlichkeiten zieht es sich zurück; Entfernung
schwächt die Wirkung der Gefahr, entkräftet Feinde, führt sie in die
Irre. Kein größeres Unheil konnte sich der Mensch ersinnen als Ge-
spenster. Sie sind allgegenwärtig, und sie kennen kein Entkommen. Auch
das Gefängnis setzt uns wehrlos allen Noxen aus, indem es uns die
Rettungsleiter des Entrinnens nimmt. Ortswechsel ist die mächtigste
der Lebenshilfen.
1BOLITHO, S. 142.
2PEYREFITTE, ROGER (L'exile de Capri, S.80. Paris 1959) fragt: (,Les lIes ...
etaient-elles des lieux de perdition ?» und weist auf Capri und Ceylon hin. CAPRIO
spricht ebenfalls von Inseln, Capri und Fire Island bei New York. (CAPRIO, FRANK S.:
Die llomosexualiUit der Fmtt, S. 73. Rüschlikon o. D.)
3 Man könnte von einem selbstverhängten "Elba" vieler dieser empfindsamen
Typen sprechen, wobei das Strafgesetzbuch eine wichtige "Klima"-Frage bildet;
es ist das Klima abgenommener Furcht.
Absetzen von der Schadensquelle 217

Periodisch wiederkehrenden Bedrohlichkeiten stellt die Tierwelt


außer anderen schützenden Mechanismen, wie dem Winterschlaf, das
Mittel der Wanderung entgegen. Es ist dem fliegenden Geschöpf beson-
ders leicht gemacht, das Klima und die Umwelt zu vertauschen. Auch
Völker haben es den Vogelzügen nachgetan. Sie haben sich in wärmere
Länder durchgekämpft. Um sich zu retten, kamen Ungezählte um, in
Völkerwanderungen und in jenem massenhaften Ausbruch aus Enge,
Hunger, Übervölkerung, in dem die Opfer nur Eroberungskriege sehen.
Wenn sie auf Stärkere stießen, war das Rettungsmittel tödlich. Der
Wanderzug, gewaltsam unternommen und gewaltsam angehalten, zer-
störte mehr als alles, was vordem verderblich war.
Der junge Mensch gehört zu den schwachen Lebewesen. Wie viele
Tiere, muß er erst zum Kampf ums Dasein angeleitet werden. Er lebt
daher für viele Jahre nur ein sekundäres Leben. Er wird erzogen und
belehrt. Der Vater und der Lehrer üben Zwang aus, der oftmals die ver-
nünftigen Maße übersteigt. Viele Jugendliche weisen frühzeitig eine
abnorme Empfindsamkeit gegen die Überlegenheit Erwachsener auf, be-
sonders wenn sie bei Vater, Mutter und Erzieher, manchmal auch bei
der ganzen älteren Generation, den Mythos der VorzügHchkeit in Stücke
gehen sehen. Es bleibt nur noch die hohle Hülle auferlegter Über-
ordnung übrig. Mit 16 Jahren schüttelte Arnold Rothstein, der eine Zeit-
lang die Unterwelt von New York beherrschte, väterliche Autorität,
Schuldisziplin und alle zehn Gebote seiner Väter ab!. Die Schule konnte
ihm nichts mehr beibringen, noch weniger der Vater und die Weisheit
der Gesetzeslehrer. Die Straße wurde sein Erzieher. Sein "Vater" und
sein Vorbild wurde jener politisch mächtige Timothy D. SuUivan 2, der
Beherrscher des Ostteils von New York, ein kluger, klarer, rücksichts-
loser Kopf, der sein einträgliches Regiment einmal mit diesen W orlen
verteidigte: "Eine jede Gemeinde muß einen Mann haben, der sich die
Mühe macht, an die Interessen des Volkes zu denken, während das Volk
sein tägliches Brot verdient 3 .•• Ein Führer hat nichts zu lachen. Ihm
blüht nur harte Arbeit." Dem großen "Boß" fiel mehr als Arbeit zu,
und diese Lebensweisheit sah ihm Arnold Rothstein ab.
Die Revolte des Jugendlichen gegen die Familie geht in zwei Wellen
vor sich. In der Trotzhaltung, die sehr früh einsetzen kann 4, äußert sich

1 KATSCHER, a. a. 0., S. 22.


2 Groß, breitschultrig lächelte er immer. Wenn von leidenden Kindern,
Irland und mißhandelten Müttern die Rede war, kamen Tränen in seine großen
Augen. Er war brutal und sentimental. Man liebte ihn so wie er war und wollte
ihn nicht anders haben.
3 KATSCHER, S. 27.
4 HELLER, THEODOR: ÜberKriminalpsychologie des Kindes und des.Jugendlichen,
Monatsschrift, Bd. XVIII, S. 195.
218 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

der Widerstand passiv, ohne Bewegungsantrieb, durch Abschließung von


den Erziehungsberechtigten, auch in der sogenannten "Flucht" in die
Krankheit, Affektkrämpfe und andere hysteroide Schreckmethoden,
die auf dem Umweg über Mitleid die Eltern zum Nachgeben zwingen.
Das Kind ist hier meist noch zu jung, um an Fortlaufen zu denken. Es
regt sich aber deutlich bereits ein Machttrieb, der im Gegensatz zur
familiären Unterordnung steht. Wird dauernd ein Erfolg erzielt, so kann
die Entwicklung des Charakters in der Richtung dieser Dauersiege vor
sich gehen. Das einzige Kind läßt häufig solche Züge sehen, die, in der
Familie wirksam und unschädlich, im freien Leben bald verderblich
werden.
Das zweite familiäre Aufruhrmuster ist die räumliche Ablösung, das
Weglaufen. Der Vorgang ist komplexer, als wir in der Regel denken.
Jetzt mischen sich bereits Anziehungen, von außen kommend, ein, die
"Straße", das freie Leben und die ungestörten Tastversuche auf dem
Gebiet des Sinneslebens, die oft die Mädchen in die Weite locken 1. Der
Jugendliche bricht aus dem Korral aus wie manche wilde Pferde, die
sich dabei schwer verletzen. Es war ein Pferch und zäunte ihn durch
seine Enge ein, doch schützte er vor wilden Tieren, die beutegierig
draußen lauern. "Der Jugendliche ... begibt sich in Not, Gefahr und
Bedrängnis. Die Rückkehr in die Familie wird schroff abgelehnt 2",
denn jener Vater aus der BibeJ3 kommt in Wirklichkeit nicht häufig
vor und feiert seines Sohnes Rückkehr aus dem Sündenleben nur, wenn
es der jüngste und sein Liebling ist.
Bei Mädchen, die nach amerikanischen Feststellungen 4 öfters weg·
laufen als Jungen - vielleicht schenkt man den Gefahren bei den
Mädchen mehr Beachtung - kann der Drang ins Unbekannte, "ins ferne
Land", wie der Evangelist sagt, stürmisch an die Oberfläche brechen. "In
den letzten Schuljahren", so hören wir von einem weiblichen Fürsorge·
zögling 5 , "äußerst heftiger Wandertrieb, besonders im Frühling, wo sie
Tage und Nächte im Freien verbrachte 6, dann mit allerlei Dingen heim-
1 Die "Weite" ist oft nur der nächste junge Mann.
2 HELLER, a. a. 0., S.203.
3 Lukas XV., 11-32. Dieser "Tote" und Verlorene hat sein Gut mit Dirnen
verpraßt, wie der Bruder bitter bemerkt.
4 Von 122851 jugendlichen Delinquenten kamen 13% der Mädchen und nur
7 % der Jungen wegen Weglaufens und liederlichen Lebens (truancy) vor Gericht.
ELLIOT and MERRILL: Social disorganization, S. 72.
5 REITER, HANS, und HILDEGARD MISCHKE: Anlage und Milie?t bei weiblichen
Fürsorgezöglingen Mecklenburgs, Monatsschrift, Bd. XVIII, S. 525.
6 Dieses Übernachten im Freien ist erstens einmal durch die Lage aufge-
zwungen, entspricht aber auch der Regression der Persönlichkeit im poriomanischen
Anfall mit Unsauberkeit, Unempfänglichkeit gegen Temperatureinflüsse, Gleich-
gültigkeit gegen Ansteckung und geschlechtlicher Wahllosigkeit, vielleicht auch,
wie in unserem Falle, Antrieben von Stehlsucht.
Absetzen VOll der Schadensquelle 219

kam, über deren Herkunft sie keine Auskunft geben konnte." Von jeder
Dienststelle entlief das Mädchen, grundlos und urplötzlich. Erst "Simu-
lantin," wird sie schließlich nach schwerem Tobsuchtsanfall als schizo-
phren erkannt.
Nicht immer sind es Jugendliche, die entlaufen. Väter!, sogar Mütter
entlaufen den heranwachsenden Kindern und stellen sie auf eigene Füße,
auch wenn sie noch nicht "gehen" können. Der junge Mensch, der kein
Glück hat, gerät in einen Strudel von Zwangsgewalten, die ihn mit
steigendem Gewicht nach unten ziehen. J ACK BLAcK hatte seinem Vater
kaum Adieu gesagt, der einfach sich von seinem Sohne trennte und von
dannen ging, da geriet er, nach dem Westen wandernd, in ein Land-
streicherlager. Er fährt dann weiter, wird festgenommen, zu zwei Wochen
verurteiJt, bricht aus, läßt seinen einzigen Rock zurück, trifft einen aus-
gepichten Gauner und steht bei einem Einbruch Schmiere, der nichts
als einen neuen Rock beschaffen soll. Jetzt denkt er laut: "Das Aben-
teuer faszinierte mich. Der Einbruch kümmerte mich nicht. Ich meinte,
daß es recht sei, wenn ich einen Rock und Essen hätte. Mein Geld war
in der Strafanstalt zurückgeblieben. Weil ich nichts kaufen konnte,
hatte ich gestohlen. In einer dunklen Art war ich befriedigt, daß ich mit
irgendeinem quitt geworden war 2." Aus einem ersten kleinen Schritt
wird immer tieferer Absturz, verschließt sich immer mehr der Weg zu-
rück. Gefragt von dem Komplicen, wie der Einbruch ihm gefallen habe,
entgegnet dieser Neuling wohlgemut: "Es war großartig." Er möchte
möglichst rasch nach Salt Lake City kommen, die Kunst des Einbruchs
von der Pike auf zu erlernen.
Robert Stroud, der erst einen Nebenbuhler erschoß und dann im
Zuchthaus einen Wärter erstach, sieht in der Jugend die Ehe seiner Eltern
auseinanderbrechen. Er ist erst 13 Jahre, verschwindet einfach, kommt
nach 8 Monaten wieder, bleibt ein paar Tage, küßt seine Mutter, spielt
mit seinem kleinen Bruder und ist dann wieder weg. Die Mutter sieht
die Nachrichten von Unfällen und Schiffsbrüchen mit angstvollen Augen
durch, dann, nach zwei Jahren, ist er wieder da, hat Streit mit seinem
Vater, läßt sich als Eisenbahnarbeiter für Alaska anheuern, begeht hier,
18jährig, in eine 36jährige Prostituierte verliebt, aus Eifersucht und
Rache seinen ersten Mord 3.
"Weglaufen" kann sehr ehrbar aussehen und letzten Endes doch
bedenklich sein. MARTINS Verbrecher hatte keine Lust zur Arbeit. Ganz
plötzlich ging er eines Abends mit einem anderen zum "\Vcrbebüro und
meldete sich zur Marine an. "Drei oder vier gingen hinein, und wir gingen
mit und taten, was sie taten 4 ." Sie gaben ein falsches Alter an und
1 BLACK, JACK. R. 63. 2 Ebenda, S. 79.
3 GADDIS, TH. E.: Birdman of Alcatraz. S. lOff.
4 MARTIN: Life in Cr'imf, S. 17ff.
220 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

wurden eingekleidet. Er gerät in den Strudel von San Francisco, wird


wegen Einbruchs verurteilt und rutscht von jetzt an unablässig weiter.
Ein anderer läuft ebenfalls, ein erlogenes Alter angebend, zur Marine.
"Es war Krieg, und er hörte immer sagen, daß die Soldaten Helden seien,
und all den anderen Unsinn I." Der Krieg ist aus, die anderen gehen in
die Heimat, er aber hat sich auf zwei oder drei Jahre verpflichtet. Er
desertiert, und damit fängt die kriminelle Laufbahn an, beginnt mit Raub
und mit Erpressung. Die Waffe 2 wird so lange drohend vorgehalten,
bis sie sich eines Tages entlädt.
Mit dem Ausreißen sind die verschiedensten sozialen Schwierigkeiten
verbunden; es kann Symptom einer psychischen Störung sein, wie in
jenem Fall, den KOLLE 3 berichtet hat. Der Kranke teilte mit: "Von
Kindheit an befalle ihn in größeren unregelmäßigen Zeitabständen ein
unbeherrschbarer Drang zum Davonlaufen ... Werde der Drang immer
heftiger, könne er sich selbst nicht mehr helfen. Tue er sich dennoch
Gewalt an, komme eine furchtbare Unruhe über ihn; er bekomme
Schmerzen in der Brust, wo· es ,ganz pelzig' werde und sich ,wie
Stein' anfühle. Beim Fortlaufen verliere er alle Gedanken und müsse
planlos in die Welt laufen, irgendwohin, wo es ruhig sei ... Finde er
eine ruhige Stelle, so lege er sich hin und schlafe bald ein ... Nach einem
Anfall fühle er sich wohler."
Diese Anlage kann verdünnt sein und sich durch Generationen in
ruheloser Lebenshaltung äußern, womit die Rückkehr zu einem primi-
tiven Nomadentum auf dem Gebiet des Berufslebens zusammenfällt.
In MÖNKEMÖLLERS Vagabundenfamilie 4 war die Urahne Marketenderin 5
gewesen, die Nachkommen waren Scherenschleifer, Kesselflicker, Hau-
sierer, Pferdehändler, "Gymnastiker" und Musikanten. Auf der Frauen-
seite finden sich "Künstlerinnen", die mit Musikbanden herumziehen.
Eine Frau will "Händlerin" sein, führt aber keine Waren. Eine andere
ist "Harfenspielerin" ohne Harfe, huldigt der lesbischen Liebe, ist eine
Frau und keine Frau. Man kann sich denken, wieviel kleine Kriminalität
sich hinter diesem Drang verbirgt. All diese Wesen kennen keine höhere
Lust als wandern.
1 BOWEN: They went wrong, S. 20ff.
2 Er hatte sie einem Kameraden gestohlen. Weil der eine Pistole hatte, ließ
er sich zum ersten Raubüberfall bestimmen. Als man ihn faßte, bei der Marine
kassierte und dabei die Knöpfe der entehrten Uniform abschnitt, weinte er wie
ein kleines Kind. Das war sein wahrer Reifezustand.
3 KOLLE, KURT: Psychiatrie, S.203. München 1955.
4 Monatsschrift, Bd. IV, S. 529ff.
5 Die Marketenderin war eine Zigeunerin, die die Napoleonischen Kriege mit·
machte und die Hannoversche Armee begleitete. "Sie gebar eines Schlachttages,
an dem die Hannoveraner siegten, ein uneheliches Kind, das zur Feier des Sieges
den Namen Victoria erhielt."
Absetzen von der Schadensquelle 221

Lanustreicherei 1 wird als Übertretung in Deutschland von der Kri-


minalstatistik nicht erfaßt. Eine amerikanische Studie hat aber fest-
gestellt, daß von 2021 Gefangenen 40% zum erstenmal Bekanntschaft
mit einer Anstalt dadurch gemacht hatten, daß sie wegen Landstrei-
eherei verurteilt wurden. Aueh kam eine andere Untersuchung zu dem
Ergebnis - sie betraf 42 Städte -, daß dort, wo die Schultage am
häufigsten waren, die Jugendkriminalität den niedrigsten Stand er-
reichte. Das Kind, das wegläuft, bleibt natürlich auch der Schule fern.
Es ist jedoch nicht richtig, daß der Haß der Schule wesentlicher Grund
ist, auch nicht der grobe Vater oder ewiger Zwist in der Familie. Es
laufen Jugendliche weg, weil sie Strafe fürchten, weil die Wohnung,
wenn sie aufwachsen und andere Kinder kommen, unerträglich eng wird,
weil der Vater oder Stiefvater dem jungen Mädchen nachgeht oder die
Tochter nicht zum Tanzen gehen darf. Es ist zumeist der letzte kleine
Anstoß, auf den die Fluchtbereitschaft2 wartet.
Weglaufen produziert nicht nur Delinquenten, sondern bereitet auch
das Opfer auf die Zukunftsrolle vor. Man braucht nur die Liste der
Jugendlichen durchzuprüfen, die mit Haarmann in den wenigen Jahren
1923 und 1924 in Berührung kamen 3 und danach verschwanden. Sie
waren alle von Hause weggelaufen oder in eine Gesellschaft geraten,
die ihr Verderben war. Der Vater war nach langen Jahren nicht zurück-
gekommen, gefallen und vermißt. Er war in manchen Fällen wieder aus
dem Kriege heimgekehrt und suchte in das Leben halberwachsener Söhne
Ordnung zu bringen. Andere hatten kleine Delikte begangen und waren
aus Furcht ausgerissen, wieder andere waren wegen Unstetigkeit und
Unbrauchbarkeit entlassen worden und trauten sich nicht mehr nach
Hause. Sie zogen planlos durch die Welt, Hunger im Magen, Pubertät
im Blute, im Kopf die Hoffnung auf ein fernes Glück. Dazu gehören
Eisenbahnen, Autos, Schiffe, die sie in unbekannte Länder tragen
würden.
KUHN 4 fand, daß 67,1 % seiner Strichjungen von außen zugewandert
waren und in dem großen Hafen Hamburg sich gesammelt hatten. EI'
hörte Redewendungen wie: "Ich habe Feuer im Blute. Ich muß in die
Welt." Oder: "Mich hielt es einfach nicht zu Hause." Auch bei RED-
1 "Eine Person, die aus Hang zum Umhertreiben von Ort zu Ort umherzieht
und sich von milden Gaben ernährt." RG in Deutsche Jur. Zeitung 1900, S.74.
2 SUTHERLAND-CRESSY: Principles of criminology, S. 205. Philadelphia 1955.-
Der motorische Ausbruch kommt meistens nachts zur Reife und erhält durch
die mit Furcht durchsetzte Stimmungslage ihre besondere Intensität, kann auch
mit Selbstmord alternieren. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes häufig ein "Ver-
zweiflungs"schritt und ähnelt damit einem Ausbruch aus der Haft.
3 BOLITHO, a. a. 0., S. 304ff.
4 KUHN, GERHARD: Da8 Problem der Strichjungen in Hamburg, S.61. Wies-
baden 1957.
222 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

HARDTs l jugendlichen Homosexuellen standen Verurteilungen wegen


Landstreicherei oder Nichtbesitz von Ausweispapieren an der Spitze aller
Vorstrafen. Der eine wollte von der Stiefmutter geschlagen und schika-
niert worden sein. Als Maschinenschlosserlehrling verlor er den rechten
Daumen, mußte Bäcker werden, vertrug die Hitze nicht, entzweite sich
mit seinem Meister und ging erbittert auf die Walze. Hier nahmen andere
ihn zu einem Einbruch mit, beging er Erpressungen, nahm einem Freier
Geld und Schmuck. Am liebsten wäre er Soldat geworden. "In der
Hitlerjugend hatte er eine Führerstelle inne, ging sehr gern auf Fahrt
und schätzte das Lagerleben außerordentlich 2." Vor unseren Augen
schlingen sich die kausalen Fäden zu einem deutlichen Gewebe zusammen:
Eine der stärksten Strähnen ist der tiefverwurzelte Bewegungsdrang.
In Zeiten wirtschaftlicher Auflösung schlagen sich viele dieser Aus-
reißer ohne Skrupel auf dem schwarzen Markt durch. Sowie die Währung
wieder stabil geworden ist, versagt der einzige Einsatz, den er leistet,
die Übernahme eines Risikos, erwischt zu werden und die Strafe zu er-
halten. Er sinkt zum Dieb und zum Betrüger ab. Strichjunge heute, ist
er morgen Zuhälter und Erpresser, ganz einfach, weil er Besseres nicht
gelernt hat. Auffällt, daß viele dieser Jungen von Großeltern erzogen
und behütet worden sind. Die Alten sterben früher als die Eltern. Der
Tod jagt dann die Jungen in die Welt hinaus, in Anstaltsmauern, die
sie hurtig überklettern, zu Pflegeeltern, denen sie entlaufen. Sie schließen
sich an ihresgleichen an und bilden in der Bande sich die neue Gruppe,
von der sie, die Rebellen, unterwürfig sich Befehle geben lassen.
b) Es wäre irrig, anzunehmen, daß nicht Erwachsene auch entlaufen
und sich des Schutzes der Familie begeben. Die Versicherungsgesell-
schaften, die kein Geld verlieren wollen, kennen diese andere Spielart
besser als die Polizei. Die Todeserklärung ist nach deutschem Recht mit
einer Reihe von verkürzenden Ausnahmen (hohes Alter, Kriegsver-
schollenheit, Seeverschollenheit, Luft- und Gefahrverschollenheit -
Verschollenheitsgesetz §§ 3,1,4-7) an eine Frist von 10 Jahren geknüpft.
In den Vereinigten Staaten begründet siebenjährige Abwesenheit die
Todesvermutung. Sie kann widerlegt werden, wenn für diese Abwesen-
heit ein vernünftiger, die Theorie sagt "logischer", Grund vorliegt. Als
solches Motiv gelten eheliches Elend, wirtschaftliche Schwierigkeiten,
Begehung einer strafbaren Handlung oder irgendein anderer Grund,
der den Wunsch zu verschwinden rechtfertigen könnte 3 • Auch muß
1 REDHARDT, REINHARD: Zur gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution,
S. 38. Stuttgart 1954.
2 Ebenda, S. 53. - Es erscheint fraglich, ob es dem Probanden nur um Mar-
schieren oder eher um das Lagerleben ging.
3 RICHERDSON, B. A.: Questionable life and accident claims, S.104ff. Atlanta
1937 (Vertraulich).
Absetzen von der Schadensquelle 223

jeder Versuch, den Verbleib einer vermißten Person festzustellen, er-


folglos geblieben sein. Wenn also eine Person spurlos verschwindet,
deren starke Selbstmordneigung sich in wiederholten ernsthaften Ver-
suchen erwiesen hat, so wird die Todeserklärung erfolgen können.
Die amerikanische Versicherungswissenschaft unterscheidet auf
Grund einer reichlichen Erfahrung Typen von Individuen, die spurlos
verschwinden und deren Angehörige später Ansprüche aus einer Lebens-
versicherung geltend machen. Wird Namensänderung festgestellt, so
darf angenommen werden, daß der Ausreißer sich den Folgen einer straf-
baren Handlung zu entziehen suchte, so etwa ein Bankbeamter, der kurz
vor dem Eintreffen der Revisionsbeamten sich dünne machte; darüber
werden wir gleich in einem anderen Zusammenhang sprechen. Die Ver-
sicherungsgesellschaften begnügen sich damit, den Flüchtling aufzu-
stöbern. Er unterzeichnet gern eine Verzichterklärung, wenn er dafür
unbekannt bleiben darf. Sowie die Versicherung die Feststellung ge-
troffen hat, daß der Versicherte am Leben und in guter Gesundheit ist,
ist rein geschäftlich auch ihr Ziel erreicht!.
Andere Spielarten, die den Versicherungsgesellschaften Sorge machen,
sind die "Wanderer". Je höher sie versichert sind, um so mehr inter-
essieren sie die Gesellschaften. In einem Falle handelte es sich um den
Sohn einer wohlhabenden Familie. Sieben Jahre nach seinem Verschwin-
den waren Ansprüche erhoben worden. Niemand hatte ihn finden können,
die Versicherungsagenten aber entdeckten ihn, ohne einen Pfennig, un-
gewaschen, unrasiert. Für einen Dollar ließ er sich zum Photographen
schleppen und zu der Feststellung bestimmen, daß er am Leben sei 2 •
Ein anderer Versicherter wird als Soldat in Honolulu aufgefunden
oder fern im Westen als Mitglied eines Wanderzirkus. Nicht wenige
Ehemänner gehen mit jungen blonden oder schwarzen Frauen durch,
sind selbst schon älter, trauen sich nicht mehr zu der erbosten Ehefrau
zurück. Ihr einziger Trost, die Hoffnung auf die Versicherungssumme,
wird durch die Forschungsarbeit emsiger Agenten obendrein vernichtet.
Nicht alle Fälle ehelichen Ausreißertums werden mit einer Verletzung
der Unterhaltspflicht (§ 170b StGB) einhergehen und damit in das
Gebiet der Kriminalität hineinreichen. Sie erweitern aber das weite
Feld des Fortlaufens über das landläufige Bild des jugendlichen Durch-
brenners hinaus. Eheliche Bedrückung, die bisweilen in Mordprozessen
ans Licht tritt und von niemand geahnt war, ist eine der Hauptursachen.

1 RICHERDsON, B. A.: Questionable life and accident claims, S. 114.


2 Ebenda, S. 116. Um die hohen Kosten fortgesetzter Nachforschungen zu
sparen, schlug die Gesellschaft einen liberalen Vergleich gegen Rückgabe der Ver-
tragsurkunde vor. Mitten während der Verhandlungen wurde der Versicherte
überfahren und getötet. Die Gesellschaft zahlte die volle Lebensversicherungs-
summe aus.
224 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Als ein 58jähriger Versicherter, der erwachsene Kinder versorgt und alle
Wünsche seiner Familie treulich erfüllt hatte, plötzlich verschwand,
konnte die Nachbarschaft für den unerwarteten Schritt keine Erklärung
finden. Die verheirateten Söhne wurden befragt. Einer, der Liebling
seines Vaters, kam mit der Bemerkung heraus, die Mutter sei immer ein
Weibsteufel gewesen, habe alles an sich gerissen und herabsetzend über
den verbrauchten Mann gesprochen. Nach langem Suchen fand der Agent
den alten Mann in einer kleinen Stadt des Westens. Er ließ sich leicht
zu einem Verzicht auf die Versicherung bestimmen, da er von einer
kleinen Kriegspension in seiner wackeligen Hütte leben konnte. Man
fand ihn friedlich vor der Türe sitzend, eine Pfeife rauchend, nur einen
Esel als Gesellschaft. Er meinte, daß sein Leben jetzt erst angefangen
habe. Er täte nichts, niemand mäkle an ihm herum. Er habe diescs
ewige Nörgeln nur so lange ertragen, bis seine Kinder aufgewachsen
waren l . Sobald das letzte verheiratet war, gab es im Hause nichts mehr,
was ihn halten konnte. Der Agent photographierte ihn und nahm eine
Erklärung auf, versprach, er werde niemals sein Versteck verraten,
und hielt sein Wort, da ja sein Zweck erfüllt war. - Ein anderer war
gerichtlich für tot erklärt worden. Die Versicherung wurde ausbezahlt.
Dann fand ihn eine andere Gesellschaft in Chicago auf. Warum, so
wurde er gefragt, habe er in all den langen Jahren der Tochter, auf die
die Police lautete, kein Lebenszeichen gegeben? Er habe, war die Ant-
wort, in sieben Jahren ihr nichts zu sagen gehabt. Vielleicht war ihm die
Hoffnung nicht so fremd, daß sie von seinem "Tode" profitieren könne.
Wenn Verschwinden, Todeserklärung und Anspruchserhebung geplant
waren, so läge Betrug in Mittäterschaft vor. Der nächste Absatz des
Berichterstatters, der diese Vermutung nicht äußert, beginnt mit den
Worten: "Keine Gewinnabsicht ist bei einigen von denen gegeben, die
ein Verschwinden zur Meldung bringen 2."
Es wird berichtet, daß in mehr als 60% der Fälle vermißte Inhaber
einer Lebensversicherung aufgefunden werden 3 • So viele Agenten auch
angesetzt werden, so mühsam und zeitraubend auch ihre Arbeit ist, so
schwierig es auch ist, für das Weglaufen ein Motiv zu finden, so wird die
Arbeit doch bei großen Summen lohnend. Bei kleineren Beträgen kommt
der Abschreckungszweck zur Geltung und macht geschäftlich sich auf
diesem Weg bezahlt. Betrug, der glückt, steckt an. Wenn er entdeckt
wird, war er für den Täter Mühe und Verlust.
e) Wir kennen die Zahl derer nicht, die aus Furcht vor Strafverfolgung
durch das Land irren. Sie sind zu einer Art Lebensführung verurteilt,
RICHARDSON, S. 119.
1 2 Ebenda, S. 121.
Ebenda, S. 123. - Wenn nicht geschäftliche Erwägungen im Wege stünden,
3
würden wir mehr von diesem Teil des kriminellen Dunkelfeldes hören. So bleibt
es beim nicht angezeigten Betrugsversuch und der zurückgegebenen Police.
Absetzen von der Schadensquelle 225

die wir aus unserem Kulturleben beseitigt zu haben glauben, ohne jenen
alten Schutz der Asyle l , den grausamere Zeiten kannten. Der Flüchtige
ist von vielen legitimen Beschäftigungen abgeschnitten, von seinen
Freunden meist verlassen, die sich nicht der Strafe der Begünstigung
aussetzen wollen. Nur auf die Hilfe der Unterwelt kann er rechnen, die
ihm den Rücken kehrt, wenn er allzu "heiß" ist. Familie und Geliebte
sind die einzige Zuflucht, und hier erwartet ihn der Kriminalbeamte, um
ihn in Empfang zu nehmen. GIGERS Daten 2 werfen auf den Fluchtweg
Licht:
Kontaktaufnahme von 250 entwichenen Anstaltsinsassen (Prozentzahlen)
Kontakt mit Eltern und Geschwistern . 21,2
Kontakte mit Ehefrau, Braut, Freundin 18,4
Kontakt mit der Verwandtschaft 5,2
Kontakt mit Bekannten . . . . 12,0
Kontakt mit dem Milieu . . . . 14,4
Kontakt mit der Fremdenlegion . 2,0
Kontakt mit dem Flüchtlingslager . 0,8
Ohne Kontaktaufnahme . . . . . 26,0

Wer ohne Geld ist, ohne Ersatzpapiere, ohne eine Gruppe, die sich
seiner annimmt, sieht sich zu einer Reduktion des Lebens gezwungen,
die gerade durch die ewige Vorsicht unerträglich wird. Flüchtig zu sein
ist eine unerhörte Existenzerschwerung. Ein "Notstand", der verschuldet
ist und den das Gesetz höchstens bei der Strafbemessung in Betracht
zieht, zwingt, immer neue Delikte zu begehen. Es häuft sich die Gefahr
mit jedem Schritt der Rettung; erschwerter Druck legt sich auf inneres
Gleichgewicht und Nerven. Es kommt mit steigender Belastung jener
Augenblick, an dem der Flüchtling, Waffe in der Hand, um seine Frei-
heit kämpft. Gespannt, erschöpft, gehetzt, verzweifelt setzt er jetzt alles
auf die eine Karte.
Entweichung 3 ist ein Sonderfall. Sie unterscheidet sich in vielen
Stücken vom bloßen Flüchtigwerden vor der Polizei. Der Ausbrecher
ist durch eine rechtskräftige Verurteilung abgestempelt. Der Ausbruch
selbst trägt Züge der Gewaltsamkeit. Die Bevölkerung reagiert auf die
vermeintliche Bedrohung mit erstaunlicher Aggressivität. Sie tritt bereit-
willig zu Treibjagden zusammen, verrät ihn, wenn er sich versteckt,
erblickt in ihm den hassenswerten Feind, den man zertreten muß wie
eine giftige Schlange, ehe sie von neuem beißt. Durch diese Haltung,
mitleidlos wie alles, was aus Furcht entspringt, verstärkt sie die Notlage
des Entwichenen, der Hunger hat, die Kleidung wechseln muß, auch
1 HIS, RUDOLF: Deutsches Strafrecht bis zur Oarolina, S.72ff. München 1928.
2 GIGER, HANS: Kriminologie der Entweichung, S.269. Winterthur 1959.
3 GIGER arbeitet mit einem weiten Entweichungsbegriff; er schließt zum Bei-
spiel die polizeiliche überführung in das Gefängnis oder die Arbeitskolonie ein
(S.291).
v. Hentig, Das Verbrechen I 15
226 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Geld braucht, um sich durchzuschlagen. An jeder Ecke fürchtet er


Verrat. Wenn eine Belohnung ausgesetzt wird, so ist die Sorge wohl-
begründet.
Dabei ist die Entweichung eine Reaktion, die wir aus guten Gründen
verhindern müssen, die wir aber nur dann als anomal ansehen dürfen,
wenn wir die vielbesungene Freiheit nicht auch bei Ordnungswidrig-
keiten als ein erstrebenswertes Gut ansehen wollten. Entwichene und
nichtentwichene Gefangene dürfen nur dann gegenübergestellt und ver-
glichen werden 1 , wenn wir gleichzeitig die Länge der Strafe, die familiären
Verhältnisse, die Neigung zu Haftreaktionen, Alter und andereMomente
heranziehen könnten. Seltsamerweise zählen wir die Affektstauung und
die gewalttätige Affektentladung nicht zu den Symptomen der Haft-
psychose, sobald der Zuchthausknall sich in einem Ausbruch oder einer
Massenrevolte entlädt. Wer ein Jahr auf Grund klarer, unanfechtbarer
Beweise erhalten hat, hat schwerlich Grund, nach 6 Monaten zu ent-
laufen. Dagegen ist bei den Gefangenen mit sehr langen Strafen, den
vom "Feuer gebrannten" Rückfälligen, Gefangenen, die sich ungerecht
behandelt fühlen oder klaustrophobisch zu ersticken glauben, die Gefahr
groß, daß sie ihr Weh und Ach mit der Entweichung heilen wollen.
Auch unterscheidet sich die Flucht nach der Art der Einschließung,
so der gewaltsame Gruppenausbruch von dem Fortgehen aus dem
Krankenhaus oder von der Außenarbeit 2 • "Entweichen" kann vielerlei
bedeuten: Vertrauensbruch und schlaue Tücke, Verzweiflung, die sich
vor dem Tod nicht fürchtet, Sehnsucht nach Frau und Kindern, die
erkrankt sind, die Abstinenzbeschwerden eines jungen und gesunden
Menschen, indes die Homophilen in der Welt der Männer und der
Pervertierten Erfüllung aller ihrer Wünsche finden und hier im Zucht-
haus jede Schranke der Verwerfung wegfällt, die draußen drohend über
jeder Regung steht. Es ist ein Tag des Unglücks, wenn ein Partner
in die Freiheit geht und seinen Freund "verwaist" im grauen Haus zu-
rückläßt. Bis dahin war kein Grund, davonzulaufen. Beim Ausbruch
halten solche Paare bis zuletzt zusammen. Vereint, wenn alles schief
geht, suchen sie den Tod 3.
Wir glauben, daß die Isolierung jeden Widerspenstigen "bricht". Wir
sollten diese ganze Frage sorgsam überdenken. Die Anführer der großen
Zuchthausrevolte von 1952 in Jackson saßen alle im Zellblock 15, wo
185 Gefangene sicher verwahrt waren. Es war nur eine Monstre-Diszi-
plinarabteilung, betonumwallt, ein einziges großes Pulverfaß. Als die
1 GWER (S. 72, 73) unternimmt eine solche Konfrontierung.
2Die von GWER (S. 37) durchgeführte Aufteilung ist nützlich und notwendig,
sollte aber im Laufe der weiteren Untersuchung beibehalten werden; der Schwierig-
keiten bin ich mir wohlbewußt.
3 Siehe meine Kriminalität des homophilen Mannes, S.50. Stuttgart 1960.
Absetzen von der Schadensquelle 227

Nationalgarde anrückte und zu schießen drohte, waren die Leute be-


stürzt, daß keiner der Gefangenen auch nur den geringsten Anflug von
Furcht zeigte l _ Aus Dunkelzellen und monatelanger Isolierung erwächst
nicht Lenkbarkeit, nur Bitterkeit und das Verlangen nach befreiender
Gewalt.
Es gibt Entweichungs-Surrogate. John C_ Colt, der Bruder des Er-
finders des Revolvers, hatte einen Mord begangen. Vier Stunden vor
der Hinrichtung wurde ihm gestattet, zu heiraten. Das neue Ehepaar
war eine Stunde - eine Art der Henkersmahlzeit - ungestört beisammen.
Dann trat die Witwe vom Gefängnis auf die Straße. Man wird exakter-
weise ihr diesen Familienstand zuerkennen müssen, denn Colt lag tot
in seiner Zelle, als man ihn zum Sterben abholen wollte. Ein Messer stak
ihm tief im Herzen 2. - Es ist "Entweichung "ganz besonderer Art, wenn
Gefangene sich irgendwo auf dem Territorium einer Riesenanstalt wie
Sing Sing verstecken, nur in der Hoffnung, daß man sie in einem harm-
losen Wäschesack oder einer Abfalltonne aus der Anstalt schaffen werde.
Lawes meldet 3, daß einer seiner Gefangenen verschwand, der die Anstalt
nicht verlassen haben konnte. Zehn Jahre später fand man das Skfllett
in einem Winkel, verhungert und erfroren, aber "frei". Wenn Mädchen,
selbst Ehefrauen, in die Anstalt eingeschmuggelt und glücklich wieder
herausgebracht werden 4, so kann Entweichung nicht unmöglich sein.
Die Not beginnt erst, wenn die Umwelt alarmiert ist und der Entwichene
einer Welt von Feinden trotzen muß.
Kriminalpolitisch wichtig ist die Erfolgsbilanz der Entweichung und
die Dauer der Freiheitsspanne, die dem früheren Häftling zugemessen
ist. Feststellungen verdanken wir GIGER 5 • Sie beziehen sich auf 414
Entwichene. Es wurden wieder festgenommen:
Innerhalb einer Stunde. . 4,6
Innerhalb eines Tages . . 31,2
Innerhalb von zwei Tagen 42,1
Innerhalb von drei Tagen . 50,0
Nicht mehr ergriffen . . . 2,2

Von der Länge des Lebens in Freiheit hängen kriminalpolitisch


wichtige Entwicklungen ab, denn wer nach einer Stunde, selbst nach
einem Tage wieder festgenommen wird, kann von dem mitgenommenen
Brote leben, in einer Scheune tief im Heu vergraben schlafen, kann leben,
ohne fremdes Rechtsgut anzutasten. Nach GIGERs 6 Zahlen (273 Fälle)
1 MARTIN, J. B.: Break down the walls, S.67. New York 1954.
2 COLLINS, TED: New York murders, S.218. New York 1944.
3 Meine Strafe, Bd. II, S. 353.
4 WILSON, D. P.: My six convicts, S.243ft New York 1951. - Dr. WILSON
war Gefängnisarzt in Fort Leavenworth.
5 GIGER, a.a.O., S. 261. 6 Ebenda, S. 273.

15*
228 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

bestritten von den entflohenen Anstaltsinsassen 2,6 % aus Prostitution,


24,2 aus Delikten ihren Lebensunterhalt. 19% wollen durch ehrliche
Arbeit sich über Wasser gehalten haben. Man möchte wissen, wie es die
Entwichenen fertig brachten und wegen welchen Deliktes sie in Haft
gekommen waren. GIGER denkt an die Aushilfe bei Bauern in der Heu-
ernte, doch sollte man die Fälle näher untersuchen. Da das Alter in über
der Hälfte aller Entwichenen zwischen 16 und 30 Jahren liegtl, möchte
man das Alter dieser "sozialen" Entwichenen kennen, dazu die Dauer
ihres Aufenthaltes in Freiheit.
Desertieren ist und war ein so schweres Verbrechen, daß selbst die
Vorbereitungshandlungen unter Strafe stehen 2. Das lateinische Wort gilt
für den "Fahnenflüchtigen" in der Ehe wie im Heere. Wenn in der
kriminalwissenschaftlichen Literatur Einzelfälle besprochen werden, so
finden sich nach Vätern und Müttern, die der Familiendisziplin ent-
liefen 3, Söhne, denen die Heereszucht und die Gefahr des Krieges an
die Nerven ging. Es ist im allgemeinen stets die gleiche Spielart, die in
der Schule, im Berufe, in der Ehe und im Heer versagt. Wie bei der Haft,
spielt Stärkegrad des äußeren Druckes eine Rolle. Es ist ein Unterschied,
ob ein Soldat in die heftigsten Kämpfe an der Westfront geworfen wird
oder im stillen Jamaika das britische Empire gefahrlos verteidigt.
Von einem sozialen Experiment, das Großbritannien mit seinen
Fahnenflüchtigen machte, ist viel zu lernen. Anfang des Jahres 1947
hatte die Regierung nach amtlichen Zahlen 4 mit 20000 Deserteuren
fertig zu werden, eine kleine Zahl, verglichen mit den 80000 aus dem
ersten Weltkrieg. Die Deserteure konnten sich nur außerhalb des Ge-
setzes und des geregelten Wirtschaftslebens am Leben halten. Ein
Kriminalinspektor von Scotland Yard hat diese Zwangslage kurz be-
schrieben: " ... Hunderte von Deserteuren hatten London überlaufen.
Keiner konnte Nahrung oder Kleidung erlangen oder überhaupt sich
legalerweise durchschlagen, denn alles wurde durch Personalausweise
und Rationierungsbücher kontrolliert. Eßwaren konnte man nicht kaufen,
und Gegenstände wie Schönheitsmittel, Zahnpasta, Kleidung, Seiden-
strümpfe waren ohne Verletzung einer Vorschrift nicht zu bekommen.
Diebesbanden, von Deserteuren geleitet, beschlossen, die Lage auszu-
nutzen. Sie stürzten sich wie Wölfe über London her ... Die Verdunke-
lung kam ihnen zu Hilfe, auch kam es ihnen zugute, daß die uniformierte
Polizei von vielen anderen Kriegsaufgaben überlastet war 5 ."
1 GIGER, a.a.O., S. 172.
2 Im römischen Militärstrafrecht war schon das Verlassen. des Lagers Desertion
(MOMMSEN, Röm. Strafrecht, S.561. Leipzig 1899). In England gilt als absence
without leave schon das unbefugte Verlassen eines Gebäudes.
3 SPENCER, JOHN: Crime and the services, S. 163 und 206. London 1954.
4 Ebenda, S. 51.
5 BEVERIDGE, PETER: Inside the C.I.D., S.68. London 1947.
Absetzen von der Schadensquelle 229

Kriminalpolitisch stand die Regierung vor der Entscheidung: Volle


Straffreiheit zu gewähren und damit der "Adhäsions"-Kriminalität das
Wasser abzugraben oder die Majestät des Gesetzes aufrechtzuerhalten,
aus der sich notwendigerweise das Verbrechen ergeben und verbreiten
mußte.
SPENCER 1 berichtet von dem englischen Deserteur, der sich in Frank-
reich und Belgien mit amerikanischen "Kollegen" zusammentut und
reich wird, indem er amerikanisches Militärbenzin an französische
Zivilisten verkauft. Ein anderer Deserteur macht Schwarzmarkt-
geschäfte, verkauft amerikanische Militärautos, betreibt einen rentablen
Nachtklub in Cannes, schließt in Bern große Devisenspekulationen ab
und schmuggelt Waffen nach Jugoslawien. Aus der prekären Lage eines
Deserteurs entwickelt sich der Kriminelle aus Gewohnheit und mästet
sich vom Abfall kriegerischen Durcheinanders 2.
d) Reibungsflächen können dadurch abgeschüttelt werden, daß Kon-
fliktquellen ziellos der Rücken gedreht wird. In manchen Fällen steht
ein Ziel vor Augen, mehr rettendes Asyl als neue, selbstgewählte Hölle.
Uns fehlt die wissenschaftliche Untersuchung jener Individuen, die z.B.
zur Fremdenlegion gehen. Viele von ihnen suchen Schutz vor Strafver-
folgung, andere wieder sind Ruhelose, niemals ganz Erwachsene, Söldner
des Abenteuers, Pseudologen, die von neuem desertieren, wenn sich
das Vagabundenblut in ihnen regt. In kühnen Schwindelzügen, zick-
zack durch die fernsten Länder, entwandern sie sich selber und der
Unzulänglichkeit, berauscht von Mythen eigener Größe und Vorzüg-
lichkeit 3 , die sie den anderen aufzudrängen suchen. Die Zweifel, die
sie manchmal überkommen müssen, ersticken sie in Alkoholismus und
in Rauschgift. Die Furcht vor unrasierten Wanderern ist im Volk
tief verwurzelt. Die eleganten Vagabunden übertölpeln die Instinkte
unseres Argwohns ohne Mühe.
Beim Rastlosen ist der Bewegungsantrieb, der Drang ins Weite, die
natürlich stets die Frcmde sein muß, so elementar, daß psychische Ent-
wurzelung das Bewußtsein kaum beschwert. Ich denke an den Kom-
plex der depressiven Gefühlslagen, die man Heimweh nennt. Ist es
erlaubt, von einer "Trennungskrankheit" zu sprechen, von "Raum-
1 SPENCER, JOHN, S. 125. 2 Ebenda, S. 133, 134.
3 Der von Oberstaatsanwalt Schmidt beschriebene falsche Zisterzienser (Pitaval
der Gegenwart, Bd. I, S. IOff. Tübingen 1903) wanderte von Holland nach Kanada,
den Vereinigten Staaten, zurück nach Frankreich, will in der Fremdenlegion ge-
wesen sein, ist in Deutschland, der Schweiz und Österreich und wird endlich in
Mainz zur Strecke gebracht. - Hadelt, ein Trappistennovize, zeigt sich in den
verschiedensten Masken in Deutschland, Bosnien, der Schweiz, im Elsaß, tritt in
die Fremdenlegion ein und wird endlich im Trappistenkloster d'Aiguebelle auf-
genommen, wo es zu einem Morde kommt. (BATAILLE, ALBERT: Causes criminelles
de 1892, S. 154ff. Paris 1893.)
230 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

schmerzen", dem Verlangen nach dem Vaterlande, wie es die Griechen


nannten, wobei "pothos" die Sehnsucht stärkster Art bedeutet undPothos
als Begehr nach der Geliebten im Gefolge der Aphrodite einherkommt ?
Beim Heimweh handelt es sich nicht allein um klimatische Abstinenz-
erscheinungen. Zum alten und gewohnten Nest gehören als Bestandteil
seiner Wärme Menschen, die Eltern, die Geschwister, Freunde und
Respektspersonen, selbst alte Feinde, die man seit langem kennt und
die deshalb ungefährlich wurden. Bei den Alten war es nicht die Familie,
die vermißt wurde, eher der heilige Herd des Hauses, die Götter, die
reich geehrt und reich beschenkt über den Fluren wachten, das Land der
Väter und der Ahnen. Wir haben einfach Heimweh. Doch sie verlangten
nach dem Vaterland und seinen schützenden Gewalten.
Es gibt ein Volkslied dieses Heimwehs, das wir in der Schule sangen
und das geschichtlich-psychologisch sehr bedeutsam ist!. Dahinter steht
die ganze Problematik der Entweiehung, ein Bergvolk und ein Lockruf,
dem sie folgen wie die Tiere ihrer Matten. Dies überstarke Heimweh
vieler Schweizer sah man dereinst als Krankheit an. Medikamente sollten
sie kurieren. Des Volkslieds Heilmethode ist der Tod.
Das Volkslied deutet den seelischen Konflikt mit wenigen Worten an:
"Zu Straßburg auf der Schanz,
Da ging mein Trauern an.
Das Alphorn hört' ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt' ich hinüberschwimmen.
Das ging nicht an."
Das zwanghafte Gefühl des Davonlaufens verlegt die Schuldfrage in
den akustischen Reiz, der die Assoziationen der Heimat geweckt hat:
"Ihr Brüder allzumal, heut seht Ihr mich zum letztenmal,
Der Hirtenbub ist doch nur schuld daran,
Das Alphorn hat mir solches angetan.
Das klag ich an."

Der "Chüreiha" der schweizerischen Hirten, so habe ich gelesen, ist


das Eintreiblied, das der Senner abends unter der Stalltür singt, um
1 Bei den Mitteilungen über die Kulturgeschichte des Alphorns stütze ich mich
auf Notizen, deren Quelle trotz allen Suchens nicht mehr aufzufinden war. Sie
müssen von einem Schweizer stammen.
2 Unter der Überschrift: Die "Heimwehkranken" spricht J. B. FRIEDREICH
noch vor hundert Jahren (Handbuch der gerichtsärztlichen Praxis, S. 450ff. Regens-
burg 1855) von der Tödlichkeit des Heimwehs: "Das Leiden dieser Kranken
schreitet sehr schnell vorwärts; es tritt ein heftiges, sich gegen Abend verschlim-
merndes Fieber hinzu, die Abmagerung des ganzen Körpers wird täglich auf-
fallender, bis der Unglückliche, beim letzten Atemzuge noch seiner Heimat ge-
denkend, die Szene mit dem Tode beschließt." JEAN JACQUES RoussEAu, der in
der Schweiz gelebt hat, erwähnt ebenfalls in seinem "Dictionnaire de musique"
den "Ranz des Vaches" und die angedrohte Todesstrafe.
Absetzen von der Schadensquelle 231

das Vieh in den Stall zu locken. Das eintönige Locklied holt die Tiere
herbei, die von frühester Jugend auf den Ton gewohnt sind. Man erzählt
selbst, daß die Appenzeller Kühe fern der Heimat wild vor Heimweh
werden, wenn der Kuhreigen an ihr Ohr schlägt. Es soll deshalb in
St. Gallen, wo viele Appenzeller Kühe weideten, streng verboten gewesen
sein, den Kuhreigen zu singen.
Gleichen Einflüssen war der schweizerische Mensch unterworfen, der
nach GABRIEL WALSERS Neuer Appenzeller Chronik aus dem Jahre 1740
einer besonders tapferen Nation angehörte: "Sonderlich", heißt es da,
"wenn sie das erste Feuer ausgehalten und Blut sehen, werden sie nur
hitzig und wissen nichts vom Fliehen. Nur ist das ,Heimwehe, Nostalgia,
Philopatridomanie' eine Plage und Krankheit, so vielen anhänget und
manchem den Tod bei gesundem Leibe zugezogen 2 • Welches entweder
ehemals genossener reiner und dünner Luft, oder angeborenen Freiheit
oder denen gewohnten Milchspeisen zuzumessen." Diese locker sitzende
Neigung zu Heimwehreaktionen wird durch Hören, Singen und Spielen
des Kuhreigens derart stürmisch ausgelöst, daß es in Schweizer Regi-
mentern, die in fremden Heeren dienten, zu massenhaften Desertierungen
kam. Bei den Schweizern, die in niederländischem oder französischem
Solde kämpften, war das Lied bei Todesstrafe verboten. EBEL schreibt
1798 in seiner "Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz", daß die
Alpensöhne beim Hören des Kuhreigens in Tränen ausbrachen, wie von
einer Seuche ergriffen, von Sehnsucht nach der Heimat übermannt
wurden, entweder desertierten oder starben, wenn sie nicht nach Hause
gehen durften. Alte Autoren sprechen von der besonderen Anfälligkeit
der Rekruten, die, wenn sie den Kuhreigen singen oder pfeifen hörten,
in ein hitziges Fieber, "febrem ardentem", verfielen, weil das "süße
Andencken" an das Vaterland ihnen derartig durch Mark und Bein
ging.
Die Grundlage des Heimwehanfalles und der Heimwehdelikte (Dieb-
stahll, Brandstiftung, Mord) ist eine tiefe Verstimmung_ In ihr ist die
Abstoßung wirksam, die an den Raum, die Fremde gebunden, Elemente
der Feindseligkeit, der Furcht, der Mitleidslosigkeit enthält. Hinzu tritt
das Gefühl der Schwäche und der Wehrlosigkeit, die sich des isolierten
Menschen bemächtigt. Die Zuflucht der Familie aber ist verschlossen,
weil ein Vertrag besteht oder weil die EItern kein Verständnis für den
Ernst der Lage haben. Schon in der Aszendenz ist häufig Depression und
Selbstmordneigung anzutreffen. Die Heimwehkranken leiden selbst an
Lebensüberdruß. Es fehlt der Antrieb, wegzulaufen oder mit dem
eigenen Leben Schluß zu machen. In ihre Schwermut scheinen schizo-
phrene Unbeweglichkeiten eingelagert und lähmen jede Reaktion, die
1 Siehe den Fall in meiner Studie über Diebstahl, S. 37.
232 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Rettung bringen könnte. - Ein Mann verließ günstige Stellungen aus


Heimweh, wie er sagte. Er war mit sich so wenig einverstanden wie die
anderen. Er dachte oft daran, sich in den Rhein zu stürzen, er galt als
ungeschickt, vergeßlich, ohne Achtsamkeit. Dann kam der Raptus einer
dunklen Stunde. Er erschlug die Frau und seine 5 Kinder, versuchte
ernstlich Selbstmord. Geheilt benahm er sich in der Anstalt fügsam,
freundlich, still und fleißig. Er hörte ruhig zu, wie die Glocken die Seinen
ins Grab läuteten. Er litt in einer unbewegten Sehnsucht nach dem
Tode, der ihn nach kurzer Zeit ereilte I.
Wie jene jungen Schweizer, sind die Heimwehkranken meist "Re-
kruten", zum erstenmal in Stellung und allein. Ihr Drängen hin zum
alten Stall wird nicht erfüllt. Dann kommt die plötzliche Gewalttat an
den anvertrauten Kindern. Sie haben keine Folgen überlegt. "Ich wollte
unter allen Umständen aus dem Dienst entlassen werden 2 ." Zwar sei
sie von der Frau recht schlecht behandelt worden. Herr Doktor sei da-
gegen immer gut gewesen, doch habe sie Angst gehabt, weil er in der
Sprechstunde immer so geschrien habe 3 • - Ein anderes Dienstmädchen
in den Pubertätsjahren litt schwer an Heimweh. Als alle Bemühungen,
wieder nach Hause zu kommen, vergeblich geblieben waren, mischte sie
dem anvertrauten Kinde Lysol ins Essen. Sie habe Tag und Nacht an
Eltern und Geschwister gedacht und gehofft, wenn das Kind tot sei,
werde sie nach Hause gehen können 4. Das sonst so brave Kind war zum
erstenmal in der Fremde. Die Trennung von dem Neste, der instinktive
Drang zurückzukehren, floß mit dem depressiven Schub zusammen,
brach sich in dem Versuche eines Giftmords Bahn. Warum der Ein-
samkeitseffekt sich gerade in diese inadäquate Richtung wendet,
warum nicht weggelaufen, Hilfe anderer Erwachsener in Anspruch ge-
nommen wird, ist schwer zu sagen. Der Antrieb muß so plötzlich dieses
Kind ergreifen, daß keine Zeit zum Einsatz einer Hemmung bleibt 5.
Sehr häufig kommt der Selbstmordtrieb in gleicher Stärke und mit
gleicher Plötzlichkeit.
Schon FRIEDREICH hat vor über 100 Jahren den Zusammenhang
von Brandstiftung und Heimweh angedeutet 6 : "Die natürlichste und
stärkste Leidenschaft bei Kindern in der Entfernung vom elterlichen
Haus ist das Heimweh, und so kann nur dieses Leiden, die Quelle so
vieler Nervenübel, auch einen krankhaften Brandstiftungstrieb erzeugen;
MURALT, L. VON: Über Familienmord, Monatsschrift, Bd. II, S.91ff.
1
WILMANS, K.: Heimweh oder impulsives lr'resein, Monatsschrift, Bd. III,
2
S. 136ff.
3 WILMANS, Bd. III, S. 143.
4 WETZEL, A., Monatsschrift, Bd. X, S. 700.
5 In vielen Fällen scheint das Bewußtsein getrübt oder aufgehoben zu sein.
6 Handbuch, a. a. 0., S. 452.
Absetzen von der Schadensquelle 233

wahrscheinlich fühlen sich die an Heimweh leidenden jugendlichen In-


dividuen unwiderstehlich gedrängt, durch einen starken sinnlichen Reiz,
wie ihn der Ausbruch einer großen Flamme hervorbringt, das drückende
Gefühl der Niedergeschlagenheit zu bekämpfen." Die originelle Erklä-
rung wird nicht ganz überzeugen. Überhaupt ist es notwendig, den Be-
griff des Heimwehs von seiner einfachsten Form räumlicher Trennung,
klimatischer Verschiedenheit und kindlicher Rückkehrtendenz zur
Schürze der Mutter loszulösen und zu erweitern. "Heimweh" empfinden
wir als Ausbruch aus einer drückenden und quälenden Lage weg zu einer
Quelle größerer Geborgenheit. An die Stelle der Flucht von einer Gruppe
zur anderen, von einer Gegend zur anderen müssen wir "heim"artige
Begriffe setzen. Völker empfinden "Heimweh" nach einem verlorenen
Besitz, wie es z.B. dem französischen Volke keine Ruhe gelassen hat,
bis es Elsaß-Lothringen wiedererobert hatte. Wir haben "Heimweh"
nach einer gestürzten Regierungsform, die uns lieb war, nach der Ver-
gangenheit, nach altem Ruhm, selbst ein "Heimweh" nach dem Tode
kennt der Depressive. In einem Münchener Fall I war von einem jungen
Mädchen zweimal Brand gelegt worden; dann hatte sie in zahlreichen
anonymen Briefen sich selbst beschuldigt. Sie habe gefürchtet, wenn sie
Selbstmord verübe, nicht in den Himmel zu kommen und verdammt zu
sein 2. Sie wollte durch das angelegte Feuer einen Menschen töten,
hingerichtet werden und damit das ersehnte Ziel erreichen.
In einem Falle ILBERGs 3 drängte das 15jährige Mädchen in einem
starken Bangigkeitsgefühl nach Hause; beim Abschied von der Mutter
sah sie "trostlos" aus. Sie legte Feuer, meldete den Brand und fühlte
sich erleichtert, als sie die Tat gestanden hatte. ILBERG gibt einen kurzen
überblick über das Problem des Heimwehs, das schon im Jahre 1678
in einer Dissertation erörtert wurde, vielleicht weil früher Heimweh sehr
viel häufiger war. Er erinnert an eine seltsame TheorieFRlEDREICHs 4 aus
dem Jahre 1835 und erwähnt, daß heute noch in der französischen Armee
"nostalgie permanente" dienstunbrauchbar mache. Warum einmal junge
1 HELD, OSCAR in Pitaval der Gegenwart, Bd. IV, S. 75ff.
2 Nachdem sie zuerst den Vorwurf der Brandstiftung und der unerklärlichen
anonymen Briefe, die sehr interessant zu lesen sind, leidenschaftlich bestritten
hatte, legte sie dem Psychiater ein Geständnis ab: sie habe nicht aus Rache ge-
handelt, sondern aus einem ganz anderen Motiv, das sie nicht nennen könne, sie
hätte in jedem anderen Haus angezündet, auch bei ihren Eltern ... sie habe gewollt,
daß die Sache schlimm für sie ausgehe." Ebenda, S. 103.
3 ILBERG, GEORG: Brandstiftung einer Heimwehkranken, Monatsschrift, Bd. XII,
S.117ff.
4 "Da die an die Sonne und das Licht gewöhnten Bewohner des Gebirges nach
ihrer Versetzung ins Tal oft an Heimweh erkrankten und in diesem Zustand Brand-
stiftungen verübten, sei anzunehmen, daß es sich hierbei um eine Feuer- oder
Lichtgier handele." Ebenda, S. 123.
234 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Männer, dann junge Mädchen Heimwehdelikte begehen, bleibt ungeklärt.


Die allgemeine Begründung sexueller Motive reicht nicht aus. Nur zwei
Faktoren liegen klar zutage: die Pubertät und was man "Schmerzen der
Entfernung" nennen könnte. Verbunden sind beide Störungsherde durch
Spannungen depressiver Färbung. Im Augenblick des impulsiven Aktes
scheint das Bewußtsein affiziert. Dem Angstantrieb ist die Motorik
ungehindert überlassen.
Als England teils aus praktischen, teils aus humanitären Gründen
zum System der Deportation überging, erst nach Nordamerika, dann
nach Australien, war die unerlaubte Rückkehr in das Mutterland mit
Todesstrafe bedroht. Der Newgate Calender beschreibt derartige Fälle
der Entweichung. Aufsehen erregte der Fall eines Offiziers aus ange-
sehenem Hause!, der ein Verschwender und ein Hochstapler war und
schließlich auf 7 Jahre deportiert wurde. Mit 170 anderen Kriminellen
fuhr er im September 1749 auf dem Segelschiff Thames nach Maryland.
50 Gefangene starben unterwegs. Er kam heimlich wieder nach England
zurück und setzte seine Schwindeleien fort. Als Straßenräuber fest-
genommen, wurde er wegen verbotener Rückkehr zum Tode verurteilt
und am 11. Februar 1751 in Tyburn gehängt. Der gemütvolle Abschied
von seiner Frau und die tiefe Frömmigkeit der letzten Stunde wird
vom Newgate Calender als Anfang der Bekehrung anerkannt.
Der Knecht Florenz Hirt hatte seinen Herrn durch einen Meineid
vor der Anklage des Mordes gerettet und war dann nach Amerika ge-
gangen 2. Dort hatte er den Arm, "den er damals in feierlichem Schwur
zum Himmel erhoben", gebrochen und kehrte nach 9 Jahren in die
Heimat zurück, wo er den Meineid gestand und seine Strafe auf sich
nahm. Etwas ungenau und unwissenschaftlich schreibt der Neue Pitaval:
"Er war, um den Vorwürfen seines Gewissens zu entfliehen (natürlich
hatte ihn der reiche Bauer Knapp aus Sicherheitsgründen dorthin ver-
frachtet) über das Meer geschifft, aber das Elend hatte ihn wider seinen
Willen in die Heimat zurückgeführt." Das Heimweh war stärker als die
Furcht vor Strafe. Daß er ein Krüppel war, vermehrte seine Schwäche. -
Aus dem Zuchthaus entlassen, ging ein anderer Mann mit über 70 Jahren
nach Westindien; die Entlassung war an die Bedingung gebunden, daß
er deutschen Boden nicht mehr betrete. Der Alte hielt es in der Fremde
nicht aus, kam zurück, wurde am 6. August 1902 im Zuchthaus ein-
geliefert und starb am 26. August in der Haft, die er der Freiheit vorzog.
Wie Insuffizienzgefühle im Komplex des Heimwehs eine Rolle spielen,
so gibt es auch den Rückkehrdrang der alten Menschen 3.
1 The Newgate Calender, S.94ff. Hartford 1926.
2 Neuer Pitaval, Bd. III, S. 216. Leipzig 1868.
3 Pitaval der Gegenwart, Bd. VI, S. 168ff. Tübingen 1911.
Das Land und seine Problematik 235

c. Der Massenauszug 1: Binnenwanderungen 2


1. Das Land und seine Problematik
a) Wohin wir auch in der Geschichte oder Vorgeschichte unsere Blicke
wenden, so haben Völker, wandernd oder kämpfend, sich über ältere
Menschenschichten hingebreitet. Beispiele der geläufigen Art sind die
Israeliten, die vedischen Inder, die Griechen, Römer und Japaner und
dann, vor unser aller Augen, die Amerikaner. Die Urbevölkerung ging
zugrunde bis auf dünne Reste. Sie wurde aufgesogen, zurückgedrängt
in Berge oder Wüsten, in ungesundes Klima oder lebenverkürzende
Dienstbarkeit, stahl sich dann wieder in die Blutbahn ihrer Sieger zu-
rück, um insgeheim hier fortzuleben, als Last oder Ansporn, wie es
gerade traf. Die Massenwanderung ist die größte Kraft der Welt-
geschichte. Es kommt ihr schwerlich eine andere Problematik gleich.
Die meisten Religionsforscher neigen zu der Annahme, daß die semi-
tische Rasse aus Arabien kam 3 • Nach einem Aufenthalt von 430 Jahren
in Ägypten, geriet sie in Bewegung, wanderte nach Norden, hielt sich
für etwa 40 Jahre in den Steppen Arabiens auf; dann brachen die No-
maden, eines mageren Wanderlebens müde, in das Land Kanaan ein,
das von verschiedenen anderen Rassen besiedelt war. Die waren ihrer-
seits vor langen Zeiten eingewandert. Kein Wunder, denn der schmale
Landstrich war immer eine Völkerbrücke. Vom Westen übers Meer kam
die ägäische Kultur und übte auf die Küstenstriche ihren Einfluß aus.
Daher weht auch der frische Wind, in dessen Kühle Gott durch seine
Gärten wandert (1. Mose IH, 8).
Es war der Nordwesten, aus dem die arischen Inder in das tropische
Land im Süden einbrachen. Sie fielen wandernd ihrem Sieg zum Opfer.
"In der üppigen Stille ihres neuen Heimatlandes", schreibt der Religions-
forscher, "haben jene Arier, die Brüder der vornehmsten Nationen
Europas, mit der dunklen Urbevölkerung Indiens sich vermischend,
immer mehr die Charakterzüge des Hindutums angenommen, erschlafft
durch das Klima, dem sich ihr Typ, in gemäßigten Zonen ausgeprägt,
nicht ohne schwere Schädigung anzupassen imstande war, erschlafft
auch durch das tatenlose Genießen, welches das reiche Land ihnen nach
leichtem Siege über unebenbürtige Gegner, widerstandsunfähige Wilde,
darbot 4 ."
1 "Auszug" entspricht dem alten Exodus. Wissenschaftlich brauchbarer für
das Gesamtphänomen wäre der Ausdruck "Apodemie".
2 Ich habe in meinen englischen Arbeiten von mikro- und makro-migrations
gesprochen.
3 LODS, ADoLPHE: Israel, S.165. London 1932. - Andere Gelehrte denken
an Armenien, den persischen GoU, Syrien oder Mesopotamien.
4 OLDENBERG, HERMANN: Die Religion des Veda, S.2. Stuttgart 1923.
236 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Auch die römische Legende sieht den Helden Aeneas aus fernen
Landen an den Tiber kommen. Ein Traumbild 1 verwirrt den König des
Landes, Turnus, gegen den Fremdling die Waffen zu erheben, in "wahn-
sinnigem Drang" nach Kampf und Blutvergießen, wie es der über-
winder ausdrücktz. Aeneas, der ein fremdes Land erobert, ist im Recht,
denn ihm ist dieses Land verheißen und bestimmt 3 • Er ist am Ziele, das
die Gottheit ihm gesetzt hat.
Es ist geboten, uns auf die modernen Wanderungsvorgänge zu be-
schränken und sie gedanklich einzuordnen. Wenn einzelne wandern,
so stoßen sie nicht ohne weiteres auf den Widerstand geschlossener
Gruppen. Durch Einschmiegung und Anpassung können sie sich inner-
lich und äußerlich in der Masse verlieren, nach einer Zeit der Schwierig-
keiten und des übergangs. Je nach der Härte ihrer Wesenszüge, werden
sie selbst zum Teil, die Kinder beinahe völlig absorbiert. Im Gegensatz
zu den kolonialen Eroberern kommen sie nicht als Herren. Sie beginnen
die Eingliederung in die Masse des Gastvolkes, wenn man so sagen darf,
in gebückter Haltung, als stille, geduldige, dienende Helfer, wobei die
moderne Demokratie ihnen schon nach wenigen Jahren den Wert-
stempel eines Wählers aufdrückt. Um anerkannt zu werden, um Teil
des Produktionsprozesses werden zu können, muß der einzelne Einwan-
derer einen Tribut leisten: Er muß zugestehen, daß seine Herkunft
nieder, unvollkommen, verbesserungswürdig ist und daß er, wenn er
zugelassen wird, in einen höheren Kulturkreis aufsteigt. Hier setzt schon
das Dilemma ein, von dem wenig oder gar nicht gesprochen wird. Als
Beispiel können die Chinesen dienen, die vom Osten her nach den Ver-
einigten Staaten kamen, ein uraltes Kulturvolk, das in Californien mit
einer anderen Wanderungsbewegung kollidierte. Konflikte brauten sich
zusammen, die mit Gewalt zur Lösung drängten 4.
Hier handelte es sich bereits um Gruppen, die ihre Sitten, ihre Haut-
farbe, ihre Eßgewohnheiten und ihre fremden Götter in eine andere
Gesellschaftsbildung hineintrugen und mit stiller Zähigkeit verteidigten.
Es kam zu einem Zusammenstoß von Religion, Rasse und unübertreff-
licher Konkurrenzfähigkeit an Fleiß und Frugalität. Nicht Einzel-
menschen kollidierten, sondern unbeugsame Institutionen, Moral-
systerne, das geistige Erbe unendlich langer Zeiten, das sich nicht ohne
weiteres abstreifen ließ wie Sprache und Kleidung. Die Arbeitsleistung
selbst, sonst eine hochgeschätzte Eigenschaft, wurde zum Feind des
1 VERGIL: Aeneis VII, S.445ff.
2 "Arma amens fremit", ebenda VII, 460.
3 ,,'Vo ist die feste Burg zu finden, die eine Gottheit ihm verheißen hat?"
(Ebenda III, 100.)
4 Siehe ASBURY, HERBERT: The barbary CoaBt, S. 154ff., und meinen Desperado,
S. 190ff.
Das Land und seine Problematik 237

Einwanderers, zwang ihn zum Rückzug, verschloß ihm schließlich mit


Gesetzen jeden Eintritt in das Staatsgebiet.
In nomadischen Gesellschaften, so ist sehr zutreffend bemerkt wor-
den 1, tragen die Gruppen ihre Götter, ihre Sitten, Gebräuche und Lebens-
formen mit sich, ohne im weiten Raum sogleich auf andere Stämme und
Völker und deren Bestand an Gottesvorstellungen und sozialen Ein-
richtungen zu stoßen. Ohne etwas an den Kräften des Zusammenhalts,
die jedem eigen sind, aufgeben zu müssen, können sie für kurze Zeit
friedlich nebeneinander lagern oder aneinander vorbeiziehen. Sie brau-
chen nichts von ihrem Eigenleben, nur weil es die größere Stärke dieser
Gruppe will, gezwungen und damit unorganisch an sie auszuliefern.
Ganz anders, wenn Millionen heute in breitem Strom von einem Kon-
tinent zum anderen wandern. Sie brechen nicht nur ihre Zelte ab. Sie
müssen seelisch auch von den ererbten Werten Abschied nehmen.
Von allen gangbaren Einteilungen ist die in Binnen- und Übersee-
wanderung noch die Handlichste. Die innere Bewegung der Bevölkerung
setzt Ortsveränderung innerhalb des gleichen Sprachgebietes, der gleichen
Rechtsordnung, geschichtlicher und klimatischer Ähnlichkeiten voraus.
Die Schwierigkeiten der Anpassung sind herabgesetzt, wennschon zahl-
reiche Verschiedenheiten übrigbleiben. Mit gleicher Sprache, gleichem
Aussehen und ungefähr den gleichen Sitten fällt aber jener Eindruck
des "Fremden" weg, der eine Reihe zurückhaltender oder ablehnender
Reaktionen mit sich bringt. Dabei gibt es Staatsgebiete, in denen eine
Mehrheit von Sprachen gesprochen wird, die durch verschiedene klima-
tische Zonen reichen und von stark abweichenden ethnischen Gruppen
bewohnt werden. Die Binnenwanderung kann sich in Rußland, China
und den Vereinigten Staaten der Überseewanderung nähern, je nachdem
die wandernden Elemente der herrschenden Mehrheit oder einer Minder-
heit angehören, die Hauptsprache sprechen oder nicht, Mitglieder der
"höheren" Rasse sind oder einer erkennbar andersartigen Rasse. Man
sollte diesem Sonderfalle mehr Beachtung schenken.
Wenn eine Binnenwanderung urplötzlich und unter Zwang vor sich
geht, zumeist unter großen materiellen Verlusten und schwerer Ver-
letzung tiefsitzender Gefühle 2, so muß sie sich von den Ortsverände-
rungen unterscheiden, die spontan durch die Aussicht auf bessere Lebens-
bedingungen entfesselt werden 3. Hier muß auch die Aufnahme in der
neuen "Heimat" freundlicher sein, denn Arbeitskräfte, die man dringend
1 SMITH, T. LYNN: Population Analysis, S.291. New York 1948.
2 Siehe die Räumung der Pacificküste von Japanern auf Befehl des Generals
de Witt zu Beginn des zweiten Weltkrieges und ihre Geschichte bei JAOK LAIT
und LEE MORTIMER: Chicago confidential, S. 92ff. (Little Tokyo), und die Zwangs-
wanderung der Deutschen nach 1945.
3 Siehe die Wanderung der Neger nach Chicago. Ebenda, .8. 42ff.
238 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

braucht, sind in der Zeit des Mangels stets willkommen. Die Unter-
schiede beider Wanderungstypen sind psychologischer Natur; sie greifen
aber rücksichtslos in das Zusammenleben ein. Sie wandeln sich in sozio-
logische Kräfte um.
Auf der anderen Seite kann kulturelle und sprachliche Übereinstim-
mung die Z~hl der Konflikte wesentlich vermindern, mit denen der Ein-
wanderer fertig werden muß. Diese ursprüngliche Identität kann auf
dem Gebiet wichtiger menschlicher Beziehungen wie der Liebesverhält-
nisse und der Eheschließungen 1 bedeutsame Folgen haben, ist im Berufs-
leben in hohem Grade nützlich, eröffnet raschen Zugang zu all den
Machtpositionen, in denen viel gesprochen und geschrieben wird, der
Presse, der Literatur, dem Theater und dem Radio. In vieler Hinsicht
ist die Einwanderung der Engländer, Irländer und Schotten in die Ver-
einigten Staaten, nach Kanada, Australien oder Südafrika nicht sehr
viel mehr als eine Binnenwanderung; freilich bleiben die neue soziale
Atmosphäre und das andere Klima Hürden, die nur mit einiger Mühe
übersprungen werden können. Eine ähnliche Erleichterung suchen sich
die Einwanderergruppen zu verschaffen, die sich dort niederlassen, wo
Gruppen gleicher Herkunft sich schon eingegraben haben. Sie suchen
Rückhalt an derselben Herkunft, gleichem Glauben und der gleichen
Sprache; die Deutschen etwa in Wisconsin und die Polen in Chikago.
Je weiter eine Wanderung in die Ferne ausholt, um so klarer wird die
Vorstellung sein, die wir uns von ihr und ihren Folgen machen können.
Dagegen bedarf der Begriff der Binnenwanderung der näheren Bestim-
mung. Wir wandern, wenn wir näher hinsehen, unaufhörlich; wir fahren
in die Ferien, gehen auf Besuch. Wir gehen zum Militär und auf die
Universität. Wir wechseln unsere Stellung, und bei diesem alltäglichen
Geschehen sind bereits Einschränkungen am Platze. Wenn ein Beamter
von Orleans nach Paris versetzt wird, wenn ein Bergarbeiter von der
Saar nach dem Ruhrgebiet geht, ein Künstler von Berlin nach München,
so werden wir nicht leicht von einer "Wanderung" reden, die soziologisch
neue Forderungen an ihn stellt. Er zieht nur um, er "wandert" nicht"
bewegt sich nur an einem anderen Ort im gleichen Lebenskreise, ganz
wie der Offizier, der zwar die Garnison, doch nicht die wesentliche Da-
seinslage wechselt, selbst wenn es einmal Großstadt, dann ein kleiner
Grenzort ist.
Dagegen bleibt der Zug vom Land zur Stadt, der Ausbruch aus der
dörflichen Gemeinschaft, der Übergang von der landwirtschaftlichen
Tätigkeit zu einem städtischen Berufe, vor allem in der Industrie, der
Prototyp der Binnenwanderung. Wir werden sehen, daß die Strömung
1 Diese Tatsache habe ich in meiner Untersuchung The fir8t generation and
a half festgestellt. Am. Sociological Review 1945, S.792ff.
Das Land und seine Problematik 239

nicht immer in die Großstadt fließt, zu Zeiten umdreht und zum Land
zurückrollt, und wie die alten Menschen nicht so selten dorthin ihre
Schritte lenken, von wo sie ein~t die Welt erobern wollten, und diese
Hoffnung war die große Stadt.
b) Ehe wir die Wanderung vom Land zur Stadt als Massenerscheinung
untersuchen, ist eine gedrängte Psychologie des ländlichen Menschen
unumgänglich. Vom Grundtyp aus, auf den zahlreiche neue Bedingungen
einwirken, ist in die Umgestaltung Einblick zu gewinnen, die oftmals
krisenartig vor sich geht. Das neue bäuerliche Leben, bei dem der Um-
gang mit dem Haustier durch die Verwendung maschineller Arbeits-
instrumente ersetzt wird, muß auf die Dauer auch das Bild des Land-
menschen verändern. Es ist aber durch die Jahrtausende so fest geformt,
daß dieser Vorgang der Umprägung nur sehr langsam vor sich gehen
wird. Wahrscheinlich werden sich neue Muster bäuerlicher Mentalität
bilden, die auf dem abgesonderten Leben und dem engen Zusammen-
hang mit der Natur beruhten. Sie werden auch durch das Dazwischen-
treten technischer Probleme an Wirksamkeit nicht verlieren, so rasch
auch die ländliche Bevölkerung die Menschenkräfte an die Städte abgibt.
In 150 Jahren haben die Vereinigten Staaten die folgende Umstellung
erfahren:
Bevölkerung der USA * nach Stadt und Land
(Prozentzahlen in den Jahren 1790 und 1950)
Städtische Bevölkerung Ländliche Bevölkerung

1790 I 5,1 94,9


1950 64,0 36,0
* Urban and rural population, Washington 1941, S. 2, und THOMPSON II, S. 106.
Es ist, als ob der alte Fluch der Nomaden, die den Ackerbau für eine
Strafe hielten!, jetzt in Erfüllung gehen sollte, weil mit der Arbeit
zuviel Schweiß verbunden war.
Die ländliche Bevölkerung kann auf zweierlei Weise, nach 'Vohnort-
größe und nach Berufstätigkeit, gemessen werden. Beide Werte sind nur
annähernd als Grundlage für die Bestimmung bäuerlicher Atmosphäre
brauchbar. Wenn wir Gemeindeklassengrößen hernehmen und 2000
Einwohner als Obergrenze festlegen, so trafen 1956 in Westdeutschland
25% der Bevölkerung auf solche mehr oder weniger ländlichen Orte 2 •
Richtet man den Blick auf Erwerbspersonen, so erscheint der Anteil
der Landwirtschaft noch kleiner. Er betrug 3 :
1939 23,4%
1950 . . . . . . . . . . . 18,4%
1 1. M08. III, 17, 19.
2 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1957, S.40.
3 Ebenda, S. 117.
240 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Die landwirtschaftliche Maschine, die Verbreitung elektrischer Kraft


und der Motoren spart Menschen, entvölkert den Bauernhof und drängt
Schritt für Schritt den soziologischen Sondertyp des Bauern zurück.
In den Vereinigten Staaten mit ihren riesigen landwirtschaftlichen
Flächen geht der Prozeß in wilden Sprüngen vor sich 1 :

Bevölkerung von Land und Stadt, Vereinigte Staaten (Prozentzahlen)

Land" Stadt

1880 70,5 29,5


1920 48,7 31,4
1940 43,5 56,5
1950 36,0 64,0
* Die Kategorien rural·farm und rural·nonfarm sind zusammengezogen.
Dieser Menschentyp, der in den großen Industriestaaten zurückgeht,
aber in Rußland noch 83,4% der Bevölkerung ausmachte (1926), in
Bulgarien 76,8 % (1934), in Kanada 58,3 % (1930) 2 muß in seinen funda-
mentalen Wesenszügen betrachtet werden, bevor er noch die Wanderung
in die großen Städte angetreten hat. Landbau ist im großen und ganzen
ein männlicher Beruf. Von lOO Berufstätigen waren 1950 in den Ver-
einigten Staaten in der Landwirtschaft beschäftigt 3 :
Männer. . . . . . 15,8 %
Frauen. . . . . . 3,8 %
So wird es erklärlich, daß von den vielen Untersuchungen über länd-
liche Soziologie, die von amerikanischen Wissenschaftlern angestellt
worden sind, im Grunde nur der Mann beachtet worden ist. Man er·
wartet von der Frau drüben nicht, daß sie bei schwerer Arbeit zugreift,
wenigstens nicht von der weißen Frau 4. Das heiße Klima mag einer der
Gründe sein. Der Traktor wird hier manches ändern, die elektrische
Pumpe, die Konserve und der elektrische Herd.
Der Landmensch, der sich schließlich von der Scholle löst, geht nicht
in festgeschlossenen Gruppen in die Stadt. Er unterliegt einem wirt·
schaftlichen und psychologischen Auslesevorgang, er verändert seine
Bevölkerungsstruktur, und erst in dieser stark verwandelten Gestalt
unterwirft er sich den günstigen oder schädlichen Einflüssen, die das
gedrängte Leben in der Stadt für ihn bereithält.
1 THOMPSON, WARREN S., I, S. 109; Ir, S. 106.
2 THOMPSON I, S. 112; wir vermissen die neuesten Zahlen.
3 THmiPSON H, S. 99.
4 1930 waren von 100 berufstätigen Negern 25,5 % in der Landwirtschaft
tätig, von den schwarzen Frauen 8,2. THOMPSON I, S. 143; 1910 war der Anteil
auf der Frauenseite noch 21,3 %. Die Baumwollpflückmaschine macht sich geltend.
Das Land und seine Problematik 241

Wanderung vom Land in die Stadt und von der Stadt auf das Land
(USA 1920-1935*)

Vom Land Von der Stadt Vom Land Von der Stadt
zur Stadt I zum Land I zur Stadt I zum Land

1920 336000 - 1928 422000 -


1921 564000 - 1929 477000 ----

1922 1137000 - 1930 212000 -


1923 807000 - 1931 20000 .-
1924 487000 - 1932 - 266000
1925 702000 - 1933 281000 -
1926 907000 - 1934 351000 -
1927 457000 - 1935 386000 -
* ELLIOT amI MERRILL: Sociul disorganization, S.838.

Wenn Volkszählungen in größeren Abständen vorgenommen werden


- in den Vereinigten Staaten alle 10 Jahre - so treten kurze Schwan-
kungen erst im Rückblick in Erscheinung. Sobald man die Wanderung
vom Land in die Stadt in den Jahren 1920 und 1930 vergleicht, ist zwar
ein Unterschied sichtbar, aber er ist nicht allzu groß. Dafür ergeben
die Zahlen eines längeren Abschnitts das hektische Auf und Ab einer
Zeit, in die der Nachkriegsboom (1922,1923) und die große wirtschaftliche
Krise von 1930-1933 fällt.
Bei der Berechnung relativer Zahlen kann die Kriminalstatistik den
kurzen heftigen Ausschlägen nicht leicht folgen. Andere störende Fak-
toren können den überblick weiter verdunkeln. So meldete das ameri-
kanische Landwirtschaftsministerium 1, daß in der Zeit von Januar 1940
bis Januar 19444748000 Menschen das offene Land verlassen hatten. Da-
von waren 1650000 zum Heere eingezogen worden, hatten 4660000 Per-
sonen der landwirtschaftlichen Arbeit den Rücken gekehrt, hatte sich ein
Geburtenüberschuß von 1562000 ergeben, zum Teil dadurch erklärlich,
daß ein Kind oder Kinder von der Wehrpflicht befreiten. Zum wesent-
lichen Teile waren diese Wanderer zu den Munitionsfabriken, den
Werften und den Zentren des Flugzeugbaues Erwachsene, während die
Kinder bei Ver'Wandten und Großeltern zurückblieben 2. Die amtlichen
Stellen schätzten, daß während der vier genannten Kriegsjahre ein
Fünftel der gesamten ländlichen Bevölkerung in die Stadt übersiedelte.
Durch die fieberhafte Produktionstechnik der Kriegsjahre, vor allem
die Nachtarbeit, die starke Verwendung der Frau und die hohe

1 Mitteilung der New York Times vom 7. November 1944.


2 Siehe meine Studie: The 80ciological Junction of the grandmother, Social Forces
1946, S. 389ff. - Von März 1940 bis Juli 1944 stieg die Zahl der in nichtland-
wirtschaftlichen Berufen beschäftigten Frauen in den Vereinigten Staaten von
10730000 auf 16440000. Ebenda, S. 390.
v. Hentig, Das Verbrechen I 16
242 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Bezahlung nahm das städtische Leben einen übersteigert städtischen


Charakter an.
Noch eine weitere Vorbemerkung muß dem Versuch einer Psycho.
logie des ländlichen Menschen vorangeschickt werden. Zum "Lande"
gehören vielfach jene Erinnerungen an eine abbröckelnde Gesellschafts-
ordnung, die man Schlösser oder Herrenhäuser nennt. Verbrechen, die
hier vorfallen, sind einem anderen als dem ländlichen Kulturkreis zu-
zuschreiben, werden naturgemäß aber als Delikte einer nichtstädtischen
Umgebung registriertl. Es gibt höhere oder mittlere Berufe, die auf dem
Lande ausgeübt werden; Pfarrer, Lehrer, Polizei und Zollbeamte 2 zählen
hierher. Schließlich gibt es sehr verschiedene Grade der Ländlichkeit;
Höfe, die weit entfernt selbst von der kleinen dörflichen Gemeinschaft
liegen, gehören hierher. Der Mädchenmord im Kapplertal 3 führt uns
zum Günzberg, einem reichen, auf einem sanft ansteigenden Hügel ge-
legenen Hof des Schwarzwalds. FEuERBAcH beginnt den Bericht über
den Mord an Friedrich Kleinschrot mit den Worten 4: "In einem engen,
von steilen Bergwänden eingeschlossenen Tal ... liegt ungefähr 340
Schritte vom letzten Hause des nächsten Dorfes entfernt die einsame
Schwarzmühle." In einem entlegenen Waldhause wohnte der Forsthüter
von Wattigny, Louis CoteHe; seine frigide Frau hatte die eigentümliche
Neigung, dem Ehemann junge Frauen zuzuführen 5. Sie wurde an einem
Julitage in ihrem Zimmer ermordet aufgefunden, Hammer und Messer
neben ihr, mit denen der Täter sie in wildem Haß erschlagen und zerfetzt
hatte. Es gibt noch viele andere Örtlichkeiten, die ländlich sind und
doch von der typischen dörflichen Sozialstruktur abweichen. Klöster,
sehr oft weit von der Welt geschieden, sind soziologisch in ihren wesent-
lichen Zügen unbäuerlich und zählen nur der Lage nach zum Lande 6 •
Die Motorisierung des Lebens erlaubt auf dem Lande zu wohnen,
aber zur Arbeit, zum Einkauf, zur Erholung in die Stadt zu fahren.
Nach der Nachtruhe und einem hastigen Frühstück wird der Weg in
die Stadt angetreten. Der Schlaf ist aber die menschliche Verhaltens-
weise, die soziale Konflikte, von familiären Differenzen und sexuellen
Zwisten abgesehen, einschränkt. Der Mensch führt eine amphibische
Existenz, hin- und hergeworfen zwischen ländlichen und städtischen
Umweltformen. Ebenso ist der großstädtische Einbrecher, der einen

1 Beispiele: Mordfall Fürstin Sulkowski (Neuer Pitaval, Bd. XXVII, S. 1ff.);


Mordfall de Jeufosse (Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S.1ff.); Mordfall Rosengart
(FRIEDLÄNDER, Bd. X, S. 1ft); Mordfall Graf Stolberg-Wernigerode (Kriminalisti-
sche Monatshefte 1929, S. 85ff.).
2 Neuer Pitaval, Bd. I, S. 274ff.; BATAILLE: Crimes de 1891, S. 217. MOSTAR,
HERMANN: Unschuldig verurteilt, S. 141ff. Stuttgart 1956.
3 Neuer Pitaval, Bd. III, S. 206ff. 4 FEUERBACH, Bd. I, S. 225.
5 BATAILLE: Crimes de 1892, S.365ff. 6 BATAILLE: Crimes de 1892, S.151ff.
Das Land und seine Problematik 243

Raubzug auf dem Lande unternimmt, damit kein bäuerlicher Mensch


geworden, obschon sein Verbrechen in diese Kategorie eingeordnet wird.
So türmen sich die Zweifelsfragen himmelhoch!.
Im Alten Testament und seinen ältesten Legenden ist körperliche
Arbeit noch ein Fluch, der als Strafe über den frei schweifenden Nomaden
verhängt wird. Noch erinnert das Laubhüttenfest an vergangene Da-
seinsformen, die keine festen Häuser kannten 2. Die Mißachtung der Feld-
arbeit ist in einem Klima begreiflich, in dem der Israelit, der vom Ruhme
seines Gottes spricht, ihn selten Sonne, öfter Schatten nennt 3. Die
brennende Sonne schaltet über den Menschen mit mitleidsloser Härte.
Zu dem gottgefälligen Leben der Vorfahren, zu dem man zurückgehen
sollte, gehörte die Rückkehr zur Natur und die Abkehr von einer Zivilisa-
tion, die an den Boden gebunden, die Nähe gottverhaßter Fremder
herbeigeführt und verruchte Eroberer herbeigelockt hatte. Der alte gute
Geist nomadischer Zeiten verschmolz sich mit dem Streben nach dem
reinen Glauben 4. Kein Feld zu bestellen, keinen Weinberg zu bauen,
nicht in Häusern zu wohnen, sondern wieder in den flüchtigen und glück-
lichen Zelten der Vorzeit 5, das war die Sehnsucht neuerwachter Fröm-
migkeit.
Für die Griechen war der Landmann eine Schicht, die ein Abgrund
von den oberen Klassen der Gesellschaft trennte. In der Elektra des
Euripides herrscht frühe Morgendämmerung. " .. Der Landmann tritt
aus der Tür seiner ä!rmlichen Hütte, um an die Arbeit auf dem Feld
zu gehen." Er blickt hinunter nach Mykene und erzählt die Geschichte
seiner Ehe mit Elektra; die vornehmsten Jünglinge Griechenlands haben
sich um sie bemüht 6 :
"Allein besorgt, sie könne für Agamemnons Tod
Gebären einen Rächer, wenn ein Sohn vielleicht
Aus edlem Stamm ihr würde, gab Aegisthos sie
Nicht fort von Haus und lehnte jeden Freier ab.
Mir aber gab er heimzuführen Elektra."
Die Heirat mit dem Bauern ist für die Königstochter eineDeklassie-
rung, und als Orestes und Pylades später auftreten und fragen, ob dieser
Mann der "Scheingemahl" sei, da erwidert Elektra:
"Er ist es, der als Gatte mir, der Ärmsten, gilt'."
1 Wohin gehören die Delikte, die auf Schiffen, in Flugzeugen, Eisenbahnen
oder auf Autostraßen verübt werden? Die Verbrechen, die entweder in Hotels
der Großstädte von Durchreisenden begangen werden oder in ländlichen Hotels
geschehen? Die zunehmende Beweglichkeit der Bevölkerung verwischt die sozio-
logischen Grenzen und macht die Abstellung auf den Ort der Begehung schwie-
riger denn je.
2 NÖTsCHER, a.a.O., S. 354. 3 LODS, a.a.O., S. 29.
4 Ebenda, S.399. 5 Jeremias XXXV, 6-10. 6 EURIPIDES: Elektra, 22.
7 Ebenda, 369.

16*
244 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Erst mit der Ausbreitung städtischen Lebens in Griechenland und


Rom, beginnen die Philosophen sich wieder der alten Schlichtheit und
Lauterkeit zu erinnern, die sie der steten Berührung mit dem Boden
verdankten. Er schenkte seine Gaben anfänglich, ohne daß sie ihm durch
schwere Arbeit entrissen wurden. Immer wieder wird von den Dichtern
der ernährende Eichbaum genannt!, werden die Früchte des Waldes
gepriesen:
"Unverletzt durch den Karst, von keiner Pflugschar verwundet.
Nicht im Frondienst gab von sich aus alles die Erde 2."

Es ist erst ein sekundäres Ideal der Stadtmenschen, wenn die Feld-
herren Roms vom Pfluge weg auf den Gipfel politischer Macht geführt
werden 3.
Die romantische Auffassung der griechischen und römischen Intellek-
tuellen lag den Germanen nach Tacitus' Bericht fern. "Eher könnte man
einen Germanen dazu überreden, einen Feind zum Zweikampf heraus-
zufordern und sich Wunden zu holen, als sein Feld zu bestellen und auf
die Ernte zu warten. Ja, geradezu als träg und lässig gilt, wer durch
mühsame Arbeit erwirbt, was er durch blutigen Kampf erringen kann 4 ."
Der deutsche Ausdruck Sklave und die entsprechenden skandinavischen
Worte bedeuteten ursprünglich "unfreier sla vischer Herkunft 5." Die
ersten Landarbeiter waren Kriegsgefangene und Frauen, vielleicht auch
unterworfene fremde Rassen, wie die Heloten des spartanischen Staats-
gebietes als Reste der vor-dorischen Urbevölkerung galten und als Erb-
feinde angesehen wurden, die stets bereit waren, das verhaßte Joch der
Herrenrasse abzuschütteln. Sie waren ganz im Sinne späterer Theorien
schlechteren Blutes; am spanischen Königshof bestanden strenge An-
sprüche an die Herkunft der Ammen von Infanten_ Maurisches, jüdisches
und Bauernblut durfte nicht übertragen werden.
Aus dem Dunkel des Mittelalters kamen die Vorschriften über die
Tracht des Bauern, das Verbot des Waffentragens, des Genusses von
Wildbret und :Fisch. Wollten Mönche Buße tun und sich erniedrigen,
so zogen sie Bauernkleidung an. Auch als im 13. Jahrhundert der wirt-
schaftliche Aufstieg des europäischen Bauern einsetzte, der ihn im 18.
und 19. Jahrhundert zum Ideal und Grundstein des Staates, zum treff-
lichen Soldaten und zum guten, jeder Neuerung abholden Bürger machte,
den Schützer und Verfechter jeder festen Ordnung, hatte die Sprache
noch nicht die alte Geringschätzung abgeworfen. Der Tölpel ist der
1 HESIOD:Werke und Tage, 233. - ÜVID: Met. 1,106.
2 ÜVID:Met. 1,101, 102.
3 Von den Historikern als Muster altrömischer Tugend gefeiert, kehrt ein-
cinnatus, die Diktatur wie eine Last ablegend, wieder zur Landarbeit zurück.
t TACITUS: Germania 11. 5 KLUGE-GoETZE, S. 728.
Das Land und seine Problematik 245

Bauer, der nichtadlige, "ungebildeteKerI 1", der Kerl wiederum, englisch


"churl," ist der Landmann, der kleine Knauser 2• In der Verbrecher-
sprache lebt die Mißachtung des Bauern weiter; "Bauer" ist einer, der
sich betrügen läßt, "Bauernjacke" (aus Jacob) ist Dummkopf, "Bauern-
degen" bedeutet die blähende Wirkung genossener weißer Bohnen als
bäuerliches Kampfmittel 3 • Die Scheltworte Bauernlümmel und Land-
pomeranze sind noch im Gebrauch, es ist das unbeholfene Mädchen mit
den roten Pausbacken, das man nur noch in abgelegenen Tälern findet,
womit das Rotwelschwort "Landluft genießen" für sich schminken 4
noch entfernt zusammenhängt.
Die Kennzeichnung des Bauern als eines "zeitgenössischen Vor-
fahren" läßt sich auch sprachlich stützen, das englische Wort "pagan",
paganus für eine ländliche Gestalt, bedeutete "Heide", ehe es zum
Hinterwäldler wurde 5• Vielleicht glaubte man in entlegenen Gegenden
länger an die Heidengötter. Auch das Schimpfwort "Kaffer" hat nichts
mit Afrika zu tun. Arabisch ist kafir der "Ungläubige 6," der Dörfler. Der
"villain," Schurke, kommt von villanus, Bauer'. Noch geht die Sprache
mit dem Landmann nicht so zart um wie die Politik.
Welche Kräfte wirken zusammen, die geistige Eigenart des Land-
menschen auszubilden? - In erster Linie ist es wohl die Nähe zu den
Energien der physikalischen Umwelt, Klima, Wetter, Wechsel der
Jahreszeiten, Wechsel von Tag und Nacht, die sein Fühlen, Denken und
Handeln bestimmt. Der Bauer arbeitet nicht im Zimmer, sondern im
Freien. Nachts muß die Arbeit ruhen, im Winter ist sie eingeschränkt,
in der guten Jahreszeit wiederum muß die Leistung ohne Rücksicht auf
Alter, Gesundheit und weniger wichtige Pflichten gesteigert werden.
Regen und Schnee, Hitze und Kälte, Wind und Wetter müssen ertragen,
können nicht wie viele städtische Berufe abgeschirmt und abgemildert
werden.
Diese Berührung mit den Kräften der Natur, die man nicht leicht
voraussehen und in keiner Weise ändern kann, lehrt jeden Bauern,
sich der stärkeren Macht zu fügen. Ein Fatalismus regt sich, Unter-
ordnung, wenn man sich nicht wehren kann, zähe Geduld und die Er-
fahrung, daß nicht alle Bäume in den Himmel wachsen, gehen mit dem
Gedanken -einer "Fügung" seltsam-zähe Mischung ein. Daneben greift
1 KLUGE-GOETZE, S. 798. 2 SHAKESPEARE: Romeo und Julia V, 3, 163.
3 WOLF: Wörterbuch, S. 46. 4 Ebenda, S. 192.
5 HOLTHAUSEN: Etymologisches Wörterbuch der englischen Sprache, S. 126.
Leipzig 1927.
6 KLUGE-GOETZE, S. 350.
7 HOLTHAUSEN, S. 200. - Das englische rustic deutet neben dem Bäuerlichen
das Ungeschliffene an, ganz wie das lateinische rusticus, s. auch "apple knocker"
und "agrestis" wildwachsend, Bauer, derb, roh, ungeschlacht. Auch das griechische
ayeo1uo, heißt ländlich, ungesittet, ungebildet.
246 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

der Bauer nach jeder Art von Hilfe, die sich ihm bietet. Die Nach-
barschaft wird zu einer Einrichtung höchster Nützlichkeit ausgebaut,
der Zusammenhalt der Familie wird verstärkt und öfters in sein über-
maß verkehrt. Die Unsicherheit, in die ihn die Launenhaftigkeit der
Natur versetzt, wird durch starke Religiosität und viele abergläubische
Praktiken bekämpft und ausgeglichen. Wenn diese Kräfte ihm als
machtvolle Verbündete zur Seite treten, wenn sie ihn trösten, aufrichten
und stärken, so bringt er diesen Helfern gern Tribut an Gaben, Devotion
und Lobessprüchen. Sie helfen ihm dafü'r, wenn seine Kraft nicht aus-
reicht.
Da die Natur tyrannisch über ihm herrscht mit Trockenheit und
Hagelschlag, mit schlechten Ernten und mit Haustierseuchen, erholt
der echte Bauer sich vom Dulden und Ertragen dadurch, daß er selbst
tyrannisch ist. Er kann sich selbst nicht schonen, darum schont er andere
nicht, die Frau, die Kinder, seine Knechte, seine Tiere. Ich möchte
meinen, daß er auch den Traktor ohne Rücksicht einsetzt. Der ist der
Schwächere, darum hat er sich zu fügen, muß sich das Letzte abverlangen
lassen.
Der Bauer lebt von Fortpflanzungsprozessen, die ihn von allen Seiten
umgeben. Das, was der industriellen Produktion die Rohstoffe sind, sind
für ihn Tiere und Pflanzen. Er bedarf aber keiner Antriebsmittel. Sie
stecken tief in Pflanzen und in Tieren. Er braucht nur einen Anstoß
zu geben. Sowie der erste Wachstumsreiz in Bewegung gesetzt ist,
greifen autonome Kräfte die Fortentwicklung auf und arbeiten, wenn
sie nicht gestört werden, nach unabänderlichen Gesetzen weiter. Der
Bauer lebt in einer Atmosphäre von Zeugungsvorgängen und aller jener
Akte, die sie vorbereiten, erleichtern und weiterpflegen sollen, bis ein
gewisser Reifepunkt erreicht ist. So geschieht es, daß der Bauer, Mann
und Frau, jung und alt, diesem Kreislauf mit anderen Augen gegenüber-
steht. Wer Viehzucht treibt, kann auch in Liebesdingen kein Mysterium
sehen, weil er bei anderen Lebewesen ihnen kühl-bewußt die Wege ebnet.
Der Bauer muß sexuellen Fragen anders, unbefangener, natür-
licher, aber auch robuster begegnen als der Stadtmensch. Manche
unsittlichen Handlungen werden von ihm weniger hart beurteilt, die in
langen Winternächten, in Scheunen und in Ställen vor sich gehen. Es
gibt eine kleine Sexualkriminalität des Dorfes, die man nicht billigt,
aber auch nicht an die große Glocke hängt und nur in besonderen Fällen
zur Anzeige bringt. Landkinder sind in diesem Punkte früher reif, Land-
frauen werden früher alt, der Ehebruch des Alten wird nur dann bedenk-
lich, wenn er das Erbe seiner Söhne wegzugeben anfängt. Inzestgefahr
rückt näher, wenn die Frau in Krankheit fällt, die Mädchen halb-
erwachsen sind und die Familie einsam wohnt. Nur ausnahmsweise
kommen zoophile, homosexuelle, exhibitionistisehe Ungehörigkeiten ans
Das Land und seine Problematik 247

Licht. In Mordprozessen fällt die unschuldsvolle Außenwelt aus allen


Himmeln, weil die Legende uns das Land nur von der besten Seite zeigt.
Der Bericht des Staatsanwaltes über das Verfahren gegen den Mädchen-
mörder Kuhknecht Wilhelm Duwe sagt: "Unter diesem Personenkreis
konnten ... nur noch der Schäfer Frömling und der Kuhknecht Duwe
ernstlich in Betracht kommen. Gegen Frömling wurde geltend gemacht,
daß er häufig mit Helene (dem ermordeten kleinen Mädchen) allein im
Schafstalle gewesen war, ihr auch wohl früher einmal Leckereien ge-
schenkt hatte, daß er ferner auch hin und wieder Mägde des Hofes und
sonstige weibliche Personen vor die Schürze gefaßt und in ähnlicher - bei
ländlichen Verhältnissen nicht auffallender - grobsinnlicher Weise mit
ihnen Scherz getrieben hatte!." Die Bemerkung des erfahrenen Staats-
anwalts über die größere Duldsamkeit ländlicher Verhältnisse verdient
Beachtung und muß auch auf die Zahlen der Kriminalstatistik ange-
wendet werden.
Inzestfälle werden nur bekannt, wenn ein Kind geboren wird oder
mit Tochter und Schwiegersohn Zwist entsteht. Die dörfliche Umgebung,
die die Verfehlungen ahnt oder kennt, denkt entschuldigend an das Ver-
sagen der Ehefrau 2 und schweigt. Auf einsamen Höfen werden Ge-
dankengänge nicht verworfen, die äußerst nüchterner Natur sind und
wie sie BJERRE 3 bei dem Mörder Malmström auffand: "Aber hierzu kam,
daß Malström bald herausgefunden hatte, daß diese Verbindungen ... in
jeder Hinsicht die vorteilhaftesten waren. Jetzt hatte er das Alter er-
reicht, wo es anfing, unbequem zu werden, den Mädchen im Ort nach-
zulaufen ... es kostete ihn auch eine Menge Geld und raubte ihm zu viel
Arbeitszeit. Die Töchter hatte er dagegen immer zur Stelle ... Wie hätte
er wohl unter diesen Umständen schwanken können in der Wahl zwischen
seinen Töchtern und allerlei zweifelhaften, fremden Frauenzimmern ~"
Außer dem dauernden Anblick von Zeugungsvorgängen wächst das
Bauernkind mit starken Eindrücken der Lebensvernichtung auf, die von
dem jungen Stadtmensch ferngehalten werden. In regelmäßigen Ab-
ständen werden Hühner, Schweine und andere Tiere geschlachtet oder
zum Schlachten weggegeben. Mit diesen Schlachtzeiten verbindet sich die
Erwartung festlicher Schmausereien und beruhigender Vorratsbildung.
Lustvolle Assoziationen sind unvermeidbar. Gewöhnung an die Schmer-
zenslaute sterbender Lebewesen führt zu einer Verhärtung der Gefühle,
1 PESSLER in Pitaval der Gegenwart, Bd. IH, S. 109.
2 Die Ehefrau war in einem Falle der Blutschande (v. HENTIG und VIERNSTEIN:
Untersuchungen über den Inzest, S. 97. Heidelberg 1925) 17 Jahre älter als Proband,
frigide, abweisend ... bezeichnete Sexualverkehr als eine "Schweinerei" ... war
hochgebildet ... Nichte eines theologischen Hochschullehrers.
3 BJERRE, ANDREAS: Zur Psychologie des Mordes, S. 163, 164. Heidelberg 1925.
Auch hier kam man dem langjährigen Inzest nur durch die Morduntersuchung auf
die Spur.
248 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

die hemmend einem Tötungsakt im Wege stehen. Ähnliche Gleichgültig-


keit entwickelt sich bei anderen Tötungsberufen und führt zur Krimi-
nalität der Scharfrichter, Metzger, Jäger und Köche. "Mein Zimmer lag
dem Tor des Schlachthauses gegenüber", gestand der Metzger Piey-
dagnelle, der später mehrere Morde verübte, "und ich stand jeden
Morgen am Fenster, um das Schlachten mitanzusehen. Der mächtige
Anprall des wuchtig mit dem Schlegel geführten Kopfschlages, unter
welchem der Ochse zusammenbrach, klang in meinen Ohren wie Sphären-
musik 1." - Die kräftige und 200 Pfund schwere Witwe Sorenson war
eine ausgezeichnete Landwirtin. Sie schlachtete mit eigener Hand
Schweine und Kälber und verkaufte das Fleisch in La Porte, Indiana.
Ihr Mann, der Norweger Peter Gunness, den sie im April 1902 geheiratet
hatte, starb nach 7 Monaten. Von einem Küchenbrett war ihm ein
Fleischwolf auf den Kopf gefallen. Der Coroner kam und stellte fest,
daß ein Unfall vorlag; später, als das Gericht das Mordhaus untersuchte,
gab er zu, die Sache sei ihm damals schon ein wenig seltsam vorge-
kommen. Im Keller hatte die Witwe ein kleines Schlachthaus, wohlver-
sehen mit allem Zubehör, eingerichtet. Nachdem im Jahre 1908 ein
Brand ausgebrochen war, fand man im Keller drei Kinderleichen und den
kopflosen Rumpf einer Frau. Im Garten wurden 10 weitere Tote aus-
gegraben; sie waren Opfer einer Frau, die ihre Kunst des Schlachtens
auch an angelockten Männern übte. "Zwecks Ehe" hatten sie die Reise
in das Mordhaus angetreten 2.
Daß diese Männer viele Jahre lang kommen und verschwinden
konnten, zeigt eine andere Seite ländlicher Mordkriminalität. Lottie
Freeman, eine andere stattliche, alleinwohnende Frau, meldete nachein-
ander drei vermißte Männer an, ohne daß näher nachgeforscht wurde.
Als sie im November 1924 zum Sheriff kam und mitteilte, daß auch der
vierte Mann bei Nacht und Nebel davongelaufen sei, war sie nicht mehr
ganz so jung und hübsch. Jetzt regte sich Verdacht. Der "Vermißte" war
vom Liebhaber der Frau erschossen worden. Man hatte ihn auf dem Acker
vergraben, am nächsten Tag die Stelle sorgsam überpflügt. Die anderen
drei Vermißten tauchten niemals wieder auf3. - Das Land hat seine
stille Art, die Dinge gehen zu lassen, und erst das übermaß schreckt
aus der langen Duldung hoch.

1 Neuer Pitaval, Bd.47, S.220. Leipzig 1883. - Dieser Liebhaber des Tötens
beschrieb die Wollust der Lebensauslöschung mit diesen Worten: " ... Das Süßeste
aber ist, wenn man fühlt, wie das Tier unter dem Messer zittert. Das fliehende
Leben schlängelt sich der Klinge entlang in die Hand hinein, die das tödliche
Werkzeug hält." Ebenda, S. 218.
2 HOLBROOK, STEWART H.: Belle oj Indiana in 11111rderbook, herausgegeben
von J. H. JACKSON, S. 136. New York 1945.
3 RICE, CRAIG: 461nurders, S.93ff. New Jersey 1952.
Das Land und seine Problematik 249

Auf einsam gelegenen Gehöften halten alle Bewohner als Mitschuldige


oder Mitwisser zusammen. Als am 9. August 1817 der Müller Kleinschrot
von der Schwarzmühle im Sittental verschwand 1, zeigte am 11. Oktober
die Ehefrau beim Gericht an: "Ihr Mann habe sich vor neun Wochen
mit aller Barschaft heimlich entfernt und seitdem nichts mehr von sich
hören lassen." Sie bat um Beschlagnahme ausstehender Forderungen
und um öffentliche Ladung des Entwichenen. Das Gericht entsprach
dem Antrag. Nach einem Jahr erregte die Äußerung eines bei der Mühle
beschäftigten Tagelöhners Verdacht, und eine Untersuchung fand statt.
Der Gemeindeälteste verbürgte sich für den guten Leumund der Müllers-
familie, ein Hirte hatte den Vermißten mit einem Sack Geld weggehen
sehen und ihm beim Transport geholfen. "In der Sägemühle, wo nach
dem Gerücht der Müller verscharrt sein sollte, unterblieb jede Nach-
forschung. Die Akten wurden pflichtwidrig der oberen Instanz nicht
vorgelegt." So blieb die Sache drei Jahre lang, bis gegen Ende des
Jahres 1821, auf sich beruhen. Erst der zufällige Umstand, daß ein neuer
Richter nach einem Brande in der Registratur des Landgerichts die
Akten durchsah, führte zur Auffindung der Leiche und zur Aufklärung
des Falles. Mit dem Feuer, das viele Akten vernichtete und damit einer
Reihe von Leuten großen Schaden brachte, waren auf einmal die Ge-
rüchte über den alten Mord wieder da, zugleich fand dic weitverbreitete
Meinung lauten Ausdruck, "der Landrichter Y müsse ein bedeutendes
Geldgeschenk von den wohlhabenden Müllersleuten erhalten haben, weil
die bereits begonnene Untersuchung unbegreiflicherweise, ganz im
Stillen, wieder eingestellt worden sei 2."
Das enge Zusammenwohnen von Herr und Knecht führt auf dem
Lande zu einem entlastenden Alibi. Im Falle der stranguliert im Walde
aufgefundenen schwangeren Monika Schweigle (Kapplertal 1848) be-
zeugte ein Knecht unter Eid, mit seinem Herrn Bernhard Knapp die
Schlafkammer geteilt zu haben 3: Knapp habe nicht eine Minute lang
das Zimmer verlassen. Auch der gerichtsärztliche Befund lautete zu-
gunsten des wohlhabenden und angesehenen Hofbesitzers. Auf dem Lande
spielt die hartnäckige Fortdauer eines Gerüchts 4 oftmals eine aus-
gleichende Rolle. "Der Gerichtsakt war geschlossen und das Volk unter-
warf sich schweigend; aber die Überzeugung, daß die arme Monika das
Opfer eines Verbrechens geworden sei, lebte fort und fort", bis nach
9 Jahren die Wahrheit ans Licht kam.
1 FEUERBACH, a.a.O., Bd. I, S.225ff.
2 Bd. I, S. 229.
3 Neuer Pitaval, Bel. III, S. 213.
4 Abergläubische Vorstellungen kommen der Rechtsordnung zu Hilfe: " ... bald
verbreitete sich die Sage, um Mitternacht schwebe dort der gespenstige Schatten
cines Weibes, das im Grabe keine Ruhe finden könne, mit einem Kind auf dem
Arme auf und nieder." Ebenda, S. 213.
250 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Nicht nur bei der Tötung und bei Sittlichkeitsdelikten gibt es ein
protektives dörfliches Mitwissertum. Daß Anzeigen häufig unterlassen
werden, liegt an dem Mitbesitz von kleinen und großen Geheimnissen,
der sich im Laufe der Jahre ansammelt und tolerant im Sinne eigener
Befürchtung macht. Man muß lange in Dörfern gewohnt haben, um zu
wissen, daß ernster Zwist mit Dorfmächtigen auf die Dauer kaum
erträglich ist und immer beiden Teilen Schaden bringt. Brandstiftung
zeigt uns diese Kohäsion der Mitschuld. Nach SIXTUS 1 gelangten 1932 bis
1935 nur 12% der Ermittlungen in das Stadium der Anklage. Verurteilt
wurden nach der deutschen Reichsstatistik zwischen 70 und 78 % :

Brand8tiftung *
(Verurteilung von 100 Angeklagten 1929-1939)
1929 77,7
1936 , 70,6
1938 78,5
1939 72,4
* SAUER, W.: Kriminologie, S. 428. Berlin 1950.

Brandstiftung ist ein typisch ländliches Delikt:


Berufsgruppen, Gesamtkriminalität und Brandstiftung *
Deutsches Reich 1929-1933 (Prozentzahlen)

I Gesamtkriminalität I Brandstiftuug

Landwirtschaft. . . 13,7 42,4


Industrie, Handwerk 43,7 35,2
Handel und Verkehr 28,3 10,3
Öffentliche Verwaltung, freie Berufe. 3,5 1,4
Hausangestellte. . . . 1,6 1,9
Wechselnde Lohnarbeit . . . . . . 6,7 5,6
Ohne Angabe. . . . . . . . . . . 2,5 3,1
* SAUER, W.: Kriminologie, S. 181. Berlin 1950.

Über das Schwergewicht der Motive herrscht Streit. Heimweh und


die psycho-pathologischen Zustände, die dahinterstehen, sind schon
erörtert worden. Eigentümlich ist der Zusammenhang von Mord und
Brandlegung, die die Spur verwischen soll oder die, wie bei Kürten, dem
mörderischen Vernichtungstrieb wie eine zweite Spur nebengeordnet
ist und einen sexuellen Erregungszustand hervorruft ähnlich der Tötung
selbst. Wenn wir auch die Motive der Brandstiftungen kennen würden, die
zu keiner Anklage führen, so würden die Fälle des Versicherungsbetrugs
beherrschend in den Vordergrund treten. Mit der Geldentwertung nehmen

1 SAUER, W.: Kriminologie, S. 430. Berlin 1950.


Das Land und seine Problematik 251

die Brände allverschiedensten Ursprungs ab. Damit tritt aber Gewinn-


sucht als Motiv klar hervor. Zur Zeit der alten Reichsstatistik stand
Württemberg an der Spitze der Verurteilungen. Es folgte Mecklenburg.
Am niedrigsten waren die Zahlen von Hessen und Thüringen (1925
bis 1928)1. Vielleicht hält hier das Dorf am festesten zusammen. Auch
mag die Technik der gelegten Brände eine ganz besonders überlegte sein.
Wir haben keinen Einblick in das wahre Phänomen, doch sind die Krisen-
zeiten äußerst lehrreich 3•
Isolierung und Monotonie prägen die Psyche de~ bäuerlichen Men-
schen in vielfacher Beziehung. Der schlechte Charakter wird sich ohne
den regulierenden Druck der Umwelt verschlechtern, obwohl Auto,
Radio und Fernsehen eine mehr oder weniger passive Verbindung mit
anderen Menschen und Vorstellungen hergestellt haben. Die Isolierung
ländlicher Gebiete kann aufs stärkste variieren. Sie wechselt, je nachdem
das Wetter schön oder schlecht ist, sie ist größer im Winter als im
Sommer, hängt von der Nähe von Straßen und Eisenbahnen ab. Psycho-
logische Momente mildern oder verschärfen die Vereinzelung. Um den
zänkischen oder selbstsüchtigen Menschen entsteht eine Zone der Ein-
samkeit. Der religiöse Dissident kapselt sich im Machtbereich einer
anderen Konfession ab. Der Arme ist verlassen unter lauter reichen
Bauern, ebenso die ledige, sexuell abartige oder die verwitwete Person.
Beim Einwanderer werden wir kulturelle und sprachliche Isolierung
wiedertreffen ; sie wird auf dem Lande mehr empfunden werden als in
der Stadt. Die einsamste von allen ist wahrscheinlich die kinderlose und
verwitwete bäuerliche Frau, die häßlich ist und wenig Geld hat.
Das Extrem läßt uns die leichteren Fälle dieser Isolierung verstehen.
Ein Mann, der den Entschluß gefaßt hatte, Schafhirte nördlich der
großen transkontinentalen Eisenbahn zu werden, hat drastisch die Um-
wandlung beschrieben, die in der Einsamkeit mit ihm vorging: "Zuerst",
schreibt er, "machte die bloße Neuheit mein einsames Leben erträglich.
Ich hieß es ,absoluten Frieden'. Das Blöken der Schafe und gelegentlich
das Heulen einer Coyote waren der Unruhe und dem Lärm der Stadt
vorzuziehen, so sagte ich mir. Ich hatte Zeit für mich zu denken ... " Dann
sieht er bestürzt, wie eine Veränderung über ihn kommt. Es scheint ihm
unnötig, immer wieder Feuer zu machen; man kann ja ohne Hammel-
fleisch und Tee auskommen. Dann hört er auf, sich die Zähne zu putzen
und die Haare zu kämmen, da ihn doch keiner sieht. Schließlich macht er
die Beobachtung, daß er ganz laut zu sich selbst zu sprechen anfängt.

1 SAUER, W.: KI'iminologie, S. 509. Berlin 1950.


2 BADER (Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität, S. 108) meldet aus
dem Landgerichtsbezirk Waldshut (ärmliche Landbevölkerung, altertümliche Bau-
weise, hohe Versicherungsprämien, starke Brandtätigkeit) für 1936 17 nach·
weisbare Brandstiftungen, für 1946 mit seiner Geldentwertung nur noch 4.
252 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

"Ich muß ein Ende damit machen, oder es wird meiner Herr werden",
so denkt er und merkt plötzlich, daß er es ganz laut zu sich selbst gesagt
hat. Er lachte, was er einen Monat lang nicht getan hatte. Das Lachen
aber klang hohl und unnatürlich. Ein wenig später lachte er dann wieder,
doch diesmal ohne allen Grund. Als er sich nach Wochen zuerst wieder
in einem zerbrochenen Spiegel sieht, fährt er vor einem fremden Mann
zurück, den er niemals gekannt hat. Ihn packt ein namenloser Schrecken,
daß er verrückt werden könnte, und er ergreift die Flucht zu jenen Men-
schen, die er verließ, um ungehindert nachzudenken und mit der gütigen
Natur allein zu sein. Er weiß jetzt, daß er ganz für sich nicht leben kann.
Als er die Wildnis wie ein Teufelsmachwerk flieht, ist er gewiß, daß er
sonst geistig nicht gesund geblieben wäre und daß der "absolute Frieden"
unerträglich ist!.
Selbst eine anspruchsvolle Moral kann von der Umwelt isolieren, die
locker oder wenig prüde ist. Auch gibt es Zeiten, wo die Einsamkeit
besonders stark empfunden wird, sogar inmitten einer großen, menschen-
reichen Stadt 2 • Das Land, der Winter und die Isolierung eines fremden
Volkes ist oft als eine Schädlichkeit beschrieben worden. Es gibt den
Bericht eines norwegischen Einwanderers in den amerikanischen Staat
von North Dakota, der damals noch unwegsam war. "Viele nahmen sich
das Leben; Irrenanstalt auf Irrenanstalt füllte sich mit Geschöpfen, die
einstmals Menschen waren 3." Er beschreibt den Fall einer solchen
Einsamkeitspsychose : "Ein Tag kam, an dem Per Hansa in einem Wut-
anfall aufbrauste, der ihn selbst erschreckte. Blindlings holte er aus
und zerschlug alles, was in Reichweite war 4 ." Wir werden an den
Zuchthausknall erinnert, nur daß der tiefe Winter hier die Menschen
einschließt.
Mit der Isolierung, auch wenn sie einen sehr leichteren Grad hat,
sind manche typisch bäuerlichen Eigentümlichkeiten zu erklären. Der
echte Bauer fürchtet jede Masse und alle Formen des Zusammen-
1 Nach RALPH STOCK berichtet von BOWMAN, JAMES LLOYD: The promise of
country life, S. 44ff. New York 1916. - Man ist geneigt, diesen Einsamkeitsraptus
mit dem seelischen Zustand mancher älterer, unverheirateter Frauen zu vergleichen,
die, ebenso triebhaft in eine Art der Gemeinschaft zurückdrängend, Heirats-
schwindlern zum Opfer fallen.
2 "Ich war im Juni in die Stadt gekommen. Um Weihnachten hatte meine
Einsamkeit sich zu wahrer Verzweiflung gesteigert. Ich hatte keine Freundinnen.
Ein Mädchen, das nach den zehn Geboten erzogen ist, findet keine Freundinnen in
Pensionen so leicht, oder als Kelmerin. Ich sprach nicht die gleiche Sprache wie
die Mädchen, die mit mir zusammen arbeiteten. Im Theater oder im Restaurant
redeten mich oft Männer an und sagten mir Dinge, die mich zum Erröten brachten,
obwohl ich oft nicht wußte, was sie bedeuteten ... " ZORBAUGH, H. W.: The Gold
coast and the sZum, S. 78. Chicago 1927.
3 ROELVAAG, O. E.: Giant8 in the earth, S. 424. New York 1929.
4 Ebenda, S. 215.
Das Land und seine Problematik 253

schlusses, die ihm, dem Individuum, überlegen sind. Die Religiosität


des Bauern ist von einzelnen Forschern als äußerlich bezeichnet worden 1.
Formal werden ihre Vorschriften, Feste und Zeremonien genau beob-
achtet, in seinem Innern fühlt er sich nicht allzu sehr gebunden. Viel-
leicht trifft diese Beobachtung mehr auf Amerika als auf Europa zu.
Ich glaube, daß gerade der Einsame dazu neigt, sich an schützende
Gewalten anzulehnen, die er sich unschwer und nach den Regeln bäuer-
licher Lebensweisheit geneigt zu machen sucht.
Isolierung greift gierig nach Kontakten. Das Familienleben kann
intimer und enger werden. Dort aber, wo bereits ein Zerfall eingetreten
ist, zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, wird die Abge-
schiedenheit von anderen Menschen den Konflikten einen besonderen
Grad von Schärfe und Unversöhnlichkeit geben. Dazu sind Bauern
zur Winterszeit mehr zu Hause, die Nächte sind unendlich lang wie im
Gefängnis, die aufgezwungene Untätigkeit sperrt viele und verschiedene
Sinne, Altersstufen und Geschlechter in der gleichen dumpfen Stube ein.
Aus Isolierung und Monotonie kommt die explosive Neigung des
Landmenschen, sich unter emotionell bewegte lustige oder traurige
Menschen zu mischen auf Märkten, Wahlversammlungen, Gerichts-
sitzungen, Umzügen und aufregenden Begräbnissen 2. Er liebt im Grunde
wilde, laute Formen des Vergnügens, erliegt sogar, wenn er von Hause
weg ist, einem kleinen Anfall von Verschwendung, der ihn für lange
Sparsamkeit entschädigt. Das Wirtshaus ist ein Mittelding von Bier-
genuß und ernster Männerarbeit auf dem Gebiete dörflicher Diplomatie.
Die Technik ist erst spät von Cocktailparties übernommen worden.
Wer behauptet, daß der Bauer ein Realist sei, muß erst erklären,
was er unter Realität versteht. Der Landmann hält Macht und Geld,
auch Grund und Boden, der alle Inflationsstürme überdauert, für uner-
schütterliche Wirklichkeiten. Der notwendige Rückgriff auf seine Lei-
stung hat in zwei Weltkriegen nicht nur sein Selbstgefühl gesteigert,
sondern bei der militärischen Aushebung und in den Verwüstungen des
Bombenkrieges seinen biologischen Bestand besser erhalten als den der
Stadtbewohner. Die Zerstreuung, in der der Landbewohner lebt, Gefahr,
wenn räuberische Banden durch die Lande zogen wie im Dreißigjährigen
Krieg, ist idealer Schutz gegen die massive Wirkung von Fernraketen.
Die großen Städte, nicht das Land, sind rationelle Ziele, wenn man den
Willen eines Gegners brechen will.
1 SIMS, N. L.: The rural cornrnunity, S. 288. New York 1920.
2 Aus einem alten Massachusetts-Tagebuch führt JOHN PHLELAN (Readings in
mral sociology, S.2. New York 1922) eine Notiz vom 4. April 1806 an: "Ich und
Ruthy gingen zur Beerdigung von Herrn Edgarton. Er wurde nach Freimaurer-
ritus begraben. Sehr schöner (eigentlich ,vergnüglicher', pleasant) Tag. Eine
Menge Volk."
254 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Ist das tiefe Mißtrauen 1 des Bauern gegen Menschen, die er nicht
seit langem kennt, ein Fehler oder bessere Menschenkenntnis? Seit
alters her umgibt er seine Existenz mit einer Art von Mimikry. Er
spricht nicht gern von seinem Reichtum, nur zögernd, daß die Ernte
gut war. Durch viele tausend Jahre ist ihm die Erfahrung zugewachsen,
daß es besser ist, langsam als schnell zu sein, klüger, zu klagen als zu
protzen, weiser, schwer von Begriff zu scheinen als überlegen und ver-
schmitzt. Theater, eitle Selbstbespiegelung macht ihm keinen Eindruck,
das, was man heute gern dynamisch nennt, obschon es keine wahre
Kraft verrät; denn er spielt selbst Komödie, daß er schwer versteht und
keinen Braten riecht. Er spielt sogar das ahnungslose Opfer, wenn er
den andern längst schon in der Tasche hat. Im großen ganzen war es
eine Technik, die ihm auf ihre Art zum Überleben diente. Er muß sie
jetzt mit einer Welt in Einklang bringen, die nicht im Zugtiertempo
ganz gemächlich ihres Weges schreitet, statt dessen mit Motoren vor-
wärtsstürmt.
Der Bauer, der nicht mehr mit Haustieren zu tun hat, sondern mit
gefühllosen Maschinen, wird noch weniger mit freien Lebewesen um-
zugehen haben als bisher. Er litt schon immer an lockerem Kontakt mit
Menschen, die anders denken, widersprechen, tadeln, ja vielleicht es besser
machen. Auf Untergebenen, Frauen, Kindern, Knechten und gefügigen
Haustieren ruhte seine nicht so selten falsche Autorität. Da er sich
stündlich neuen Problemen gegenübersieht, mit neuen unbekannten
Menschen fertig werden muß, ist er trotz rauher Außenseite höchst
empfindlich. Die äußere Bedeckung ist von Wind und Wetter hart-
gegerbt. In menschlicher Beziehung hat er eine dünne Haut. Entgegen
seiner sicheren Ruhe, die uns so auffällt, ist er innerlich gespannt.
Der wahre Bauer ist sehr leicht gekränkt und hat mehr Zeit, wenn
er den Acker pflügt, an Unrecht zu denken, das man ihm angetan hat.
Hier in den langen Stunden des Alleinseins tauchen alte Beleidigungen,
Verluste und Widerwärtigkeiten auf. Sie setzen sich in einer dunklen
Stelle des Bewußtseins fest. Kommt Alkoholgenuß, Erschöpfung, Provo-
kation hinzu, so ist die Bahn frei für bedenkliche Körperverletzung oder
Totschlag. Viele dieser Affektausbrüche bleiben im Schoß der Familie
verborgen, ohne daß Anzeige erfolgt. Wer die ältere Mordliteratur
durchforscht, wundert sich, wie oft ernste Angriffe auf das Leben, z. B.
Giftmordversuche, die die Frau zugibt, unter ländlichen Ehegatten ver-

1 BOWMAN, a.a.O., S. 222, zitiert eine Stelle aus MAUPASSANT, wie französische
Bauern auf den Viehmarkt kommen: "Die Bauern fühlten die Kühe an, gingen
weg, kamen wieder, tief unschlüssig, immer in Furcht, betrogen zu werden; sie
wagten nicht, zu einem Entschluß zu kommen, beobachteten die Augen des Ver-
käufers, immer bemüht, die Tricks des Mannes und die Fehler des Tieres heraus-
zufinden."
Das Land und seine Problematik 255

ziehen werden 1. Es scheint, daß vielfach gerade diese eigenartige Duldung


die große Katastrophe vorbereitet. Der ermordete Müller im Sittental
hatte Frau und Söhne lange Zeit aufs schwerste mißhandelt. Sein Zorn
brach sich in Tätlichkeiten Bahn, die "nicht selten, alle Grenzen haus-
väterlicher Rechte überschreitend, sich in wahren Verbrechen aus-
tobten ... Einst habe er seine Frau mit der Axt so getroffen, daß sie
den Arm 14 Tage lang in der Schlinge habe tragen müssen 2." Die Toch-
ter Margaretha sagte aus, daß ihre Mutter vor 15 Jahren, am Kopf
verletzt, "ihren halben Verstand verloren habe." Eine Anzeige wurde
nicht erstattet, eine strafgerichtliche Ahndung fand nicht statt.
Im Mordfall Eckenbeck (Kurhessen 1849) war das Verhältnis zwischen
dem Vater und den Söhnen aufs äußerste zerrüttet 3 . Der Vater wird als
"herzlos und gewalttätig geschildert, war dem Geschlechtsgenuß in aus-
schweifender Weise ergeben und ein häufiger Besucher von Wirts-
häusern, endlich ein Tyrann seiner 1847 verstorbenen Frau ... und
seiner ganzen Familie ... ". "Der alte Beck forderte von beiden Söhnen
knechtischen Gehorsam und hat sie oft schwer mißhandelt." Durch
die rohen Körperverletzungen des Vaters aus dem Hause vertriflben,
hielt sich der eine erwachsene Sohn in Pferdeställen und bei Nachbarn
auf. An eine Anzeige wurde nicht gedacht. Die hohen Zahlen der
gflfährlichen Körperverletzung in ländlichen Gebieten (Niederbayern
53,8 auf 10000 strafmündige Personen, Hamburg 6,2, Reichsgebiet 20,4
im Zeitraum 1908-1912 4 ) bleiben also weit hinter der Wirklichkeit
zurück. Die günstigen Zahlen Niederbayerns bei Gewalt und Drohung
gegen Beamte ist offensichtlich auf die gute Technik der Beamten
zurückzuführen, von deren Praxis das Zustandekommen des Delikts
abhängt. In Hamburg und in Bremen sind die Zahlen hoch 5.
Das Land gewährt die alte Verbindung von Heim und Arbeitsplatz,
die auch dem Handwerk eigen war. Wenn alles gut geht, stellt die
Familie eine Gruppe dar, die zur gleichen Zeit und aus der gleichen
Hand Erziehung und Fertigkeit vermittelt. Lebenserfahrungen und
Kenntnisse werden vom Vater, nicht von fremden Dritten, Lflhrern und

1 Siehe den Fall des Ehemannes, der nicht vergiftet sein wollte, während die
Ehefrau gestand. MÜHLBERGER, R. TH.: Das Verbrechen des Mordes, S.77, 78.
Stuttgart 1834. - Nach einem Mordversuch mit zerstoßenem Glas versicherte die
Ehefrau, sie wisse nicht, wie das Glas in das Frühstück gekommen sei. "Ihr Mann
ließ es dabei bewenden und setzte die Ehe ferner mit ihr fort." Ebenda, S. 103.
2 FEuERBAcH, Bd. I, S. 234, 235.
3 Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 216. Leipzig 1871.
4 Zahlen bei AscHAFFENBURG, S. 43ff.
5 Es ließe sich an das schroffere Vorgehen gegen ausländische Seeleute denken.
Der ländliche Polizeibeamte wohnt inmitten einer bodenständigen Umgebung.
Seine Autorität muß sich auf ihre Zustimmung stützen, darf sich nicht allzu weit
von ihr entfernen.
256 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Vorgesetzten, weitergegeben, darunter 'Wissen, das uns keine Schule


lehren kann. Der lange Weg zur Arbeit, eine der Plagen unserer Zeit,
wird erspart. Die Arbeitslust erfährt einen kräftigen und gesunden
Anstoß, sobald man für sich selbst und nicht für andere schafft. Das End-
erzeugnis erfüllt mit Befriedigung und facht zu neuer, besserer Leistung
an. Wenn die Interessen der Familie als Gemeingut empfunden werden,
so liegt ein Optimum an Arbeitsantrieb vor. Wer die machtvollen Im-
pulse des Eigentumgefühls beiseite läßt, kämpft gegen menschliche
Natur und schleppt die Last der Neuerung bergauf.
Ganz ohne Umschweif schildert ein Bauer, welch einen Genuß ihm
der Eigentumsinstinkt bereitet: "Ich komme niemals nach Hause
zurück, ohne daß mich ein freudiges Gefühl bewegt, so sehr ich auch
bemüht bin, es als töricht oder sinnlos zu unterdrücken. Sobald ich
den Fuß auf eigenen Grund und Boden setze, überwältigt mich der frohe
Gedanke an mein Eigentum, mein ausschließliches Recht und meine
Unabhängigkeitl." Wenn Tiere diese Eigentumsgefühle haben. erbittert
ihren Jagdbereich umkämpfen, festhalten, was sie sich errungen haben,
wird man den Homo sapiens wegen diesel' Schwäche schwerlich tadeln
dürfen. Denn wären diese Triebe irgendwie nicht nützlich, so würden
alle Eigentümer lange ausgestorben sein.
Die Eintönigkeit des Landes erzeugt einen hohen Grad von Reiz-
hunger. Ihm kommen Hochzeiten und ein Übermaß von Essen und
Geselligkeit, Taufen und Beerdigungen 2 entgegen, die selbst noch in der
Kleinstadt zu den "Festen", d.h. ersehntem Wechsel, zählen, nur daß
der Tod in diesem Fall den lustbetonten Wert des Neuen hat. Auch
Wilderei und Schmuggel sind eine wohltuende Unterbrechung im Trott
der Konformität. Eigentumskriminalität ist nur im Unterbau der länd-
lichen Sozialstruktur zu finden. Sehr auffallend sind deutliche Spuren
der alten Stammesmoral, die häufig Dorf und Nicht-Dorf trennt. Im
Clan selbst werden die Regeln der Ehrlichkeit mit aller Strenge durchge-
setzt. Sobald an die Stelle von Privatpersonen anonyme Kollektivitäten
treten und Eigentumsansprüche erheben, wird die Verpflichtung nur
verdünnt empfunden, wie die Häufigkeit des Brandstiftungsbetruges
beweist. Bauern, die ihren Nachbarn niemals betrügen würden, sind
überzeugt, daß die Brandlegungstäuschung keinen Menschen "schädigt".
Für primitive Seelen sind die großen Gesellschaften ferner Riesenstädte
der "Feind", der außerhalb des Lagers lebt. Diesen unpersönlichen
Ungeheuern, die Prämien schlucken, fühlt sich der Bauer gar nicht oder
nur sehr schwach verpflichtet. Er kennt nur Bande zwischen Mensch
und Mensch, und echter Partner ist ihIU nur die eigene Gruppe.
1Zitiert bei BowMAN: The promise 0/ country li/e, S. 18.
2Über den Genuß solcher Begräbnisse s. WEST, JAMES: Plainville, U BA, S. 39.
New York 1946.
Das Land und seine Problematik 257

Amerikanische Soziologen haben festgestellt, daß Bauernkinder


weniger gesund und mehr mit Körperdefekten behaftet sind als Stadt-
kinder l , auch ist die Meinung vertreten worden, daß mancher "ländliche
Mensch im großen und ganzen den Viehbestand sorgsamer und erfolg-
reicher aufzieht als die eigenen Kinder 2 ". Einzelne Arzte haben sogar
das Vorwiegen typhöser Erkrankungen unter Stadtkindern den sommer-
lichen Ferien auf dem Lande und verdorbener Milch zugeschrieben 3. Es
ist zweifelhaft, ob diese Erfahrungen auf die Länder anderer Kontinente
anzuwenden sind. Als die Intelligenz der amerikanischen Rekruten im
ersten Weltkrieg durch amtliche Kommissionen geprüft wurde, fielen
die Ergebnisse zuungunsten der ländlichen Bevölkerung aus 4 • Dagegen
wurde mit Recht geltend gemacht, daß diese Tests auf städtische Ver-
hältnisse und Vorstellungen eingestellt waren, nicht aber auf die per-
sönlichen Beobachtungen des Bauern, die die Überlegenheit seiner Art
von Intelligenz ausmachen. Zudem ist auch die ländliche Bevölkerung
sozial gestaffelt und gestuft; in den Vereinigten Staaten machen sich
auch Rassenfragen, der arme Neger vieler südlicher Staaten, geltend
und fallen bei Gesamtzahlen ins Gewicht.
Daß die Fürsorgeneigung des Bauern zu einem großen Teil von
seinem Vieh absorbiert wird und dadurch leicht Frau und Kindern ver-
lorengeht, kann kaum bezweifelt werden. Aber auch in der Stadt gibt
es den Typ des reinen Arbeitsmenschen, der vor lauter geschäftlichen
Interessen für die Familie keine Zeit mehr hat und seiner Erwerbs-
leidenschaft frönt, "um Frau und Kinder später gut versorgt zu sehen".
Der Ersatz der Zugtiere durch den Traktor, der Liebe, Zuruf, Streicheln
nicht erwidert, wird das Zärtlichkeitsbedürfnis des Landmenschen viel-
leicht wieder menschlichen Objekten zuwenden.
Der einsame Mensch des Landes häuft in sich Spannungen auf. Er
hat im Grunde Sehnsucht nach dem Herdendasein, doch nur, wenn er
im Strome schwimmen kann. Die Lynchaktionen, wie sie von polnischen
Untersuchungen beschrieben worden sind 5 und wie sie früher in den
Vereinigten Staaten häufig waren 6 und jetzt zur Seltenheit geworden
sind oder in Tötungsversuchen versanden 7 , laden alles bäuerliche Un-

1 PHELAN, JOHN: Readings in rural psychology, S. 193. New York 1922.


2 Ebenda, S. 194.
3 Ebenda, S. 187.
4 SMITH, T. LYNN: Sociology of rurallife, S. 123. New York 1947.

6 THOMAS, W. 1., and FLORIAN ZNANIECKI: The Polish peasant in America,


S. 340. New York 1927.
6 Zahlen bei WOOD, A. E., and J. B. WAlTE: Crime and its treatment, S. 145.

New York 1941. Von 187,5 Lynchungen im Jahresdurchschnitt (1889-1899) ist


die Zahl auf 10,7 (1935-1938) abgesunken.
7 über das erfolgreiche Eingreifen der Staatsorgane s. RAPER, A. F.: The
tragedy of lynching, S. 484. Chapel Hili 1933.
v. Hentig, Das Verbrechen I 17
258 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

glück - die Qual der Einsamkeit, schlechtes Wetter, Preissturz des


Korns, Krankheit des Viehs und eigenen Rheumatismus - auf einen
Schuldigen ab, dem Strafe zukommt, schnelle, sichere, harte Strafe.
Die Masse, deren ansteckender Wirkung er ungewohnt ist und zu leicht
erliegt, reißt den Bauern mit sich fort. Das Volk steht auf, von dem
die Staatsgewalt ausgeht, wie die demokratischen Verfassungen sagen.
Das ganze Volk, so fühlt die Masse, kann nicht Unrecht tun. Es spricht
sich jetzt und später vor Gericht von aller Schuld und Fehle frei.
e) Die reinen Größenordnungen des ländlichen Raums - 2000 Ein-
wohner in Deutschland, 2500 in den Vereinigten Staaten - sind ein
äußerliches Kriterium, wie es auch gewisse, im wesentlichen agrarische
Landesteile oder Oberlandesgerichtsbezirke sein müssen. Keine wissen-
schaftliche Untersuchung darf bei der Beziehung auf 100000 Personen,
Stadt oder Land, stehen bleiben, weil hinter der bloßen Einwohnerzahl
die verschiedensten Formelemente stecken. Schon der Blick auf die
Berufsstatistik läßt in die wirtschaftliche Divergenz einer statistischen
Sammelgruppe wie "Landwirtschaft" hineinsehen, wozu gewohnheits-
mäßig Forstwirtschaft, Gartenbau und Fischerei zählen. Im Jahre 1933,
als noch die weiten landwirtschaftlichen Gebiete des deutschen Ostens
mitgezählt wurden, waren in diesem Berufe 9340000 Personen be-
schäftigt. Davon waren
Besitzer . . . . . . . . . 23,3%
Familienmitglieder. . . . . 50,0%
Knechte, Mägde, Tagelöhner 26,7%
Von dieser inneren Struktur wich das Bild der amerikanischen Land-
wirtschaft im Jahre 1940 ab. Gezählt wurden als
Besitzer . . . . . . . . . . . 62,7%
Familienmitglieder. . . . . . . 13,6 %
Landarbeiter. . . . . . . . . 23,7%
Für 1946 besitzen wir nur Zusammenfassungen. Danach waren auf
Farmen beschäftigt!
Besitzer und Familie. . . . . . 78,6 %
Lohnarbeiter . . . . . . . . . 21,4 %
Die neuesten deutschen Zahlen spiegeln schon die territorialen Verände-
rungen, aber auch die geistige Verfassung wider, die die Worte Bauer,
Besitzer, Knecht und Magd durch hochtrabende Bezeichnungen ersetzt.
Die Arbeitskräfte der landwirtschaftlichen Betriebe Westdeutschlands
zerfielen im Juli 1956 2 in
Betriebsinhaber . . . . . . 27,5%
Familienangehörige . . . . 53,5%
Familienfremde Arbeitskräfte 19,0%
1 Statistical Abstract 1947, S. 198.
2 Statistisches Jahrbuch 1957, S. 143.
Das Land und seine Problematik 259

Die Motorisierung hat die Zahl der landwirtschaftlichen Hilfskräfte


zurückgedrängt. Da nach den Zahlen von 1930 der Diebstahl auf dem
Lande sich sehr ungleich, wie folgt, verteilte 1 :
Auf Selbständige 10,6%
Auf Angehörige . . . . . . . . 5,1 %
Auf Angestellte . . . . . . . . 84,3 %
muß mit dem Rückgang der Landarbeiter eine Verminderung des wich-
tigsten Delikts eingetreten sein, ohne daß daraus Rückschlüsse auf eine
echte moralische Besserung gezogen werden dürften 2.
Gerade beim ländlichen Diebstahl gehen strafrechtliche Dogmatik
und soziologische Verhältnisse eine enge Verbindung ein, die allein
statistische Widersprüche zu erklären oder wenigstens der Erklärung
näherzubringen vermag. Im Durchschnitt der Jahre 1925-1929 wurden
auf 100000 Strafmündige wegen Diebstahls verurteilt 3
Im Deutschen Reich 202
In Oldenburg • . • • . . 165
In Mecklenburg . . . . . 296
Man kann an klimatische Verschiedenheiten, auch an die Verwendung
von Saisonarbeitern östlicher Herkunft in Mecklenburg denken, sicher
muß zur Deutung auch die Divergenz von Rittergut und Bauernhof
herangezogen werden. Wenn Personen, die als "Gesinde" gelten und
mit dem Opfer in häuslicher Gemeinschaft leben, Sachen von unbe-
deutendem Wert stehlen oder unterschlagen, sind sie nach § 247 I des
deutschen Strafgesetzbuches nur auf Antrag zu verfolgen. Zum Gesinde
gehören diejenigen, die zu persönlichen oder häuslichen Diensten ver-
pflichtet sind und mit der Dienstherrschaft durch eine engere Lebens-
gemeinschaft verbunden sind. Das Reichsgericht hat diesen Kreis noch
wesentlich erweitert, wenn es erklärte, daß landwirtschaftliche Arbeiter,
besonders auch die zur Viehzucht angenommenen Knechte, wenn sie in
häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber leben, zum "Gesinde"
zählen'.
Die häusliche Gemeinschaft wird in allen kleineren Betrieben gegeben
sein, auf großen Gütern öfters fehlen und sich auch baulich durch ge-
trennte Wohnstätten und Eßräume ausdrücken. Je nach den abweichen-
den Mustern des Zusammenlebens wird ein Antragsrecht bestehen oder
nicht gegeben sein, wird sich auch die Zahl der Verurteilungen wegen
Diebstahls, sogar schweren Diebstahls, verändern. Aber auch der große
wirtschaftliche Abstand zwischen Rittergutsbesitzer und Knecht muß

1 Zahlen genannt bei SAUER: Krimirwlogie, S. 177.


2 Über die Gründe der Nichtanzeige s. mein Dieb8tahJ, S. 27. Selbst die
private Strafe der Entlassung ist für den Bauern in der Erntezeit wirtschaftlich
eine Selbstschädigung.
a Zahlen bei SAUER, S. 509. ' RGSt 74,374.
17*
260 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

eine Rolle spielen. Wenn nach einer älteren Reichsgerichtsentscheidung 1


bei der Frage des unbedeutenden Wertes die Vermögensverhältnisse des
Diebes und des Bestohlenen entscheiden sollen, so ist der Ansicht der
Theoretiker zuzuneigen, daß es allein auf die Vermögensverhältnisse
dessen ankommt, der sich über die Stellung des Strafantrags schlüssig
werden muß. Beim kleinen Bauern werden die Verhältnisse anders
liegen als beim wohlhabenden Gutsbesitzer. In Zeiten des Gesinde- und
Arbeitermangels wird die Antragsbereitschaft herabgesetzt sein, ebenso
bei besonders tüchtigen, wertvollen und fleißigen Knechten oder
Köchinnen. Es ist eine eigentümliche Beobachtung, daß nicht wenige
kriminelle Individuen sich durch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus-
zeichnen und trotz vorhergehender und wohlbekannter Freiheitsstrafe
ohne weiteres wieder eingestellt werden 2.
Die polizeiliche Kriminalstatistik hat für Großstadt, Mittelstadt,
Kleinstadt und Landgebiet die folgenden Zahlen bekanntgewordener
Straftaten errechnet und auf je 100000 Einwohner bezogen:
Topographie der bekanntgewordenen Straftaten
(Westdeutschland 1957)
1957*

Großstadt . 4295
Mittelstadt 3531
Kleinstadt. 2265
Landgebiet 2269
* Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, S. 32.
Von den 1957 bekanntgewordenen 1685698 Straftaten wurden 66,91 %
aufgeklärt, und wie wenig diese Aufklärung mit der endgültigen gericht-
lichen Feststellung zusammenfällt, haben wir gesehen. Schwerer und
leichter Diebstahl werden nur in 38 % der Fälle aufgeklärt, und das sind
271230 von 714087 Diebstahlsfällen 3. Wie sich dieses riesige Dunkelfeld
auf Stadt und Land verteilt, ist unbekannt. Vom Antragsrecht des
§ 247 I StGB und der hierdurch verursachten Unübersichtlichkeit wurde
schon gesprochen.
Viel wichtiger als diese Dunkelheiten sind die abweichenden Be-
völkerungsstrukturen, die sich hinter der amorphen Zahlenmasse der
,,100000 Einwohner" verbergen, als ob es sich um gleiche Ziegelsteine
handelte. Schlußfolgerungen können daher nur mit größter Zurück-
haltung gezogen werden, solange eine Reduktion der gegenübergestellten
und verglichenen Elemente nicht stattgefunden hat.
1 RGSt 22, 245.
Siehe den Fall des Raubmörders Ernst Meissner (Hamburg 1914). WOSNIK:
2
Beiträge zur Hamburgischen Kriminalgeschichte, Bd. II, 3, S.23. Hamburg 1927.
3 Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, S.39.
Das Land und seine Problematik 261

Vor allem ist die Altersgliederung in Stadt und Land verschieden;


dabei ist Rechtsbruch in vieler Beziehung eine Funktion der Reifevor-
gänge. Die Zahlen THOMPSONS teilen Stadt und Land in interessanter
Weise auf:
Alter8gruppierung nach Stadt und Land
(USA 1940, Prozentzahlen)
Altersgruppen
~-

65 und
0--4 5-19 20-29 30-44 45-64 älter
I I
Stadt. 6,7 23,4 18,1 23,8 21,2 6,8
Orte 500000 und mehr. 6,1 21,9 18,2 25,4 22,2 6,2
100000-500000 6,5 22,8 18,4 24,0 21,4 6,9
25000-100000 7,0 24,2 18,1 23,0 20,7 7,0
2500- 25000 7,7 25,5 17,7 21,8 19,7 7,6
Land 9,7 30,3 16,1 19,0 18,0 6,9
Farmgebiet 10,0 32,7 15,2 17,3 18,3 6,5
kleine Siedlungen * 9,3 27,5 17,1 21,0 17,8 7,3
* THOMPSON H, S. 108.

In der ganz großen Stadt stehen 41,9% aller Bewohner im Alter von
20-44 Jahren. Im Farmland sind es nur 32,5%. Notwendigerweise
muß die Kriminalität dem Auf und Ab der Lebenskräfte folgen.
Nur eine Kombination von Alter und Geschlecht!, wobei die ganz
Jungen und die ganz Alten außer acht zu lassen sind, macht uns mit
allem Nachdruck klar, daß 100000 auf dem Lande etwas ganz anderes
als die gleiche Zahl von Stadtbewohnern ist, die wir so achtlos gegen·
überstellen. Wir dürfen auch in keinem Fall beim bloßen Täter stehen-
bleiben. Auch Opfer greifen in die Lebenskräfte ein, an denen das Ver-
brechen sich entfaltet. Selbst wenn die Opfer fehlen, sagen wir der
Notzucht, so kann das Vakuum zu Surrogaten führen, die wiederum
verboten sind. Mit diesen Vorbehalten sind die Zahlen anzusehen, die
aus den Vereinigten Staaten berichtet werden.
Zwei Strömungen reißen die Geschlechter auseinander. Die land-
wirtschaftliche Arbeit ist hart und ruft nach dem Manne. Den jüngeren
Frauen aber bietet sich eine Reihe von Berufen in den großen Städten.
Die älteren Frauen, oft verwitwet, wohlgestellt und längerlebend,

1 Die Wanderungsbewegung der Frau verdient nicht weniger Beachtung. Es


entfielen von 100 jeder Gruppe im Jahre 1950* auf Stadt und Land:
I Stadt Land

Männer . . . I 67,0 I 56,3


Frauen . . . 68,3 55,9
* 1950 Census of population, Preliminary Reports, S.6 und 7, Washington 1951.
262 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Auf 100 weibliche Personen entfielen 1940 in den UBA


in drei Altersgruppen, männliche Personen *

5-10 Jahre 120-29 Jahre 130-44 Jahre

In Städten (500000 Einwohner und darüber) I 100,1 I 90,0 I 97,4


In Farmgebieten . . . . . . . . . . . . 105,3 107,6 106,1
* THOMPSON H, S. 108.
sammeln sich in den großen städtischen Gemeinden zuhauf und sind
Objekte für den Angriff von Einbrechern, Räubern und besonders
Schwindlern. Die Kriminalität der großen Stadt wächst an, ganz wie
die fetten Herden Wölfe an sich locken:

Auf 100 weibliche Personen entfielen 1940 in den UBA


in der Altersgruppe 65 und darüber!
In Städten (500000) und darüber) 80,8 Männer
Im Farmgebiet . . . . . . . . . . . 134,2 Männer

Die Großstadt Amsterdam wies 1940 in drei Altersgruppen folgenden


Frauenüberschuß auf 2:

In der Altersgruppe 20-29 5313 Frauen


In der Altersgruppe 30-39 6958 Frauen
In der Altersgruppe 40---49 3373 Frauen

Im Jahre 1955 standen in der Bevölkerung Westdeutschlands 26 616 000


weiblichen Personen 23702000 Menschen auf der Männerseite geg~nüber 3.
Das Frauenmehr beginnt mit dem 28. Lebensjahre und bleibt von jetzt
an ungestört bestehen. Wie sich der Überschuß auf Stadt und Land
verteilt, wird nicht gesagt, doch darf er niemals übersehen werden.
Auch die Vertriebenen hatten einen hohen Überschuß an Frauen 4.
Dagegen wandern weniger Frauen aus dem Osten ein. Auswanderung
ändert wenig an dem Mißverhältnis der Geschlechter. Sie ist zudem
verhältnismäßig unbedeutend und war im Jahre 1954 etwa so groß
wie 1871-1880 aus dem Deutschen Reiche 5.
Infolge des Frauenüberschusses in vielen - nicht in allen - großen
Städten vermindern sich die Heiratschancen, nimmt auch die Struktur
des Familienstandes eine andere Gestalt an. Amsterdamer Zahlen 6
lassen erkennen, daß ein nicht unerheblicher Teil der Frauen in der
Stadt keinen Mann finden kann:

! THOMPSON H, S.108. 2 Zahlen bei VAN BEMMELEN, S. 122.


3 StatistiBches Jahrbuch 1957, S.42. 4 Ebenda, S. 46. 5 Ebenda, S.6'.
6 VAN BEMMELEN, S. 122.
Das Land und seine Problematik 263

Auf 1000 heirat8fähige Männer und Frauen entfielen 1930/31


Eheschließungen in der betreffenden Altersklasse
Altersgruppe Männer Frauen

bis 21 Jahre 10,8 24,3


21-24 Jahre 76,8 111,6
25-29 Jahre 169,8 121,6
30-39 Jahre 121,8 56,8
40-49 Jahre 69,5 26,0
50 Jahre und darüber 23,1 5,5

Verwitwete und geschiedene Frauen haben dagegen in der großen Stadt


ein leichteres "Fortkommen" als in kleineren Orten und auf dem Lande 1:

E8 heirateten im Jahre 1930/31 Verwitwete und Ge8chiedene in Stadt und Land


(berechnet auf 1000 Heiratsfähige jeder Gruppe)
Gemeinden
Amsterdam unter 5000 Einwohnern
Männer Frauen Männer I Frauen
I

Verwitwet 47,1 9,6 22,0 6,9


Geschieden . 148,5 I 97,0 93,6 I 69,1

Natürlich ist der Familienstand vom Bevölkerungsaufbau und der


Neigung zur Wiederverheiratung abhängig. Amerikanische Zahlen, die
leider Verwitwete und Geschiedene zusammenwerfen, weisen einen
größeren Anteil an ledigen Männern für ländliche Gebiete auf, während
es auf dem Lande mehr verheiratet gebliebene, weniger verwitwete
und geschiedene Frauen gibt.

Bevölkerung der U BA 1950 *


(Familienstand in Stadt und Land, Prozentzahlen)
Männer Frauen
Stadt Land Stadt Land

Ledig . . . . . . . . 25,0 31,3 21,1 21,0


Verheiratet. . . . . . 68,7 64,0 63,3 70,7
Verwitwet, Geschieden . 6,3 4,7 15,6 8,3
* 1950 Census of Population, Preliminary reports, S. 8.
Sobald mehr Frauen auf dem Land trotz zerrütteter Ehe verheiratet
bleiben, ist die Möglichkeit von Konflikten nähergerückt. Witwen und
geschiedene Frauen wandern nach der Stadt; daher die hohen Ziffern
Kaliforniens an geschiedenen und verheirateten, wahrscheinlich wieder-
verheirateten Frauen 2.
1 VAN BEMMELEN, S. 123. 2 THOMPSON I, S. 107.
264 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Auf dem Land wird früher geheiratet als in der Stadt 1 :

Mittleres Alter der er8ten Ehe8chließung 1930 in den USA


(Stadt und Land)
I Männlich Weiblich

Stadt 25,1 22,3


Land I 24,3 21,0

Dafür sind die Scheidungen in der Stadt sehr viel häufiger als auf
dem Lande 2 :
Scheidungen in Stadt und Land, USA 1940

Anteil in der
Bevölkerung
II Ehescheidungen
An teil an der
Summe der

Landgebiet . . . . . 20,9 10,2


Ländliche Gemeinden 19,8 17,8
Stadt . . . 59,3 72,0

Zudem nehmen, wenn man Schweden als typisch ansehen will, die
ländlichen Scheidungen schneller zu als die in der Stadt:
Ehescheidungen nach Stadt und Land *
(Schweden 1921-1945)
Auf 1000 bestehende
Ehen entfielen
Zeitraum Ehescheidungen
Land Stadt

1921-1925 22,7 74,2


1926-1930 27,8 87,1
1931-1935 30,0 92,8
1936-1940 30,8 88,7
1940-1945 41,2 113,5
* MACKRENROTH, GERHARD: Bevölkerung8lehre, S. 89. Heidelberg 1953.

Die Kinderzahl ist in ländlichen Gegenden erheblich größer als in der


Stadt. Sie nimmt bei der weißen städtischen Bevölkerung der Ver-
einigten Staaten schneller ab als bei den Nichtweißen (s. Tabelle S. 265).
In der Stadt hat die Zahl der Kinder um 34,2% abgenommen, im
Farmgebiet um 27,9%. Kinder sind auf dem Lande in mancher Be-
ziehung immer noch eine Hilfe. Beim Städter, zumal beim Einwanderer,
der von unten anfangen muß, sind sie eine Belastung.
1 THOMPSON I, S. 108.
2 ELLIOTT and MERRILL, S. 446, nach BURGESS and LOCKE. - Landgebiet ist
das, was die amerikanische Statistik rural farm nennt, ländliche Gemeinden bis
2500 Einwohner heißen rural nonfarm.
Das Land und seine Problematik 265

Verschiebungen in der Reproduktionshäufigkeit der weißen Bevölkerung


in Stadt und Land (USA 1910 und 1940) *
Anzahl der Kinder
uuter 5 Jahren
auf je 1000 Frauen,
Wohnort 15-49 Jahre alt
1910 1940

Stadt . . . . . . . 336 221


Ländliche Gemeinden 499 347
Landgebiet . . . . . 551 397
* SMITH, T. LYNN, a. a. 0., S. 231. - Die Geburtenhäufigkeit von Negern und
Einwanderern aus Puerto Rico hat in der Stadt nur wenig nachgelassen, ist auch
in ländlichen Gebieten lange nicht so stark zurückgegangen wie die der Weißen.

Neben den Unterschieden des Verhaltens, die durch das verschiedene


Verhältnis der Geschlechter und den abweichenden Altersaufbau be-
stimmt sind, machen sich in der Massenbeobachtung biologische Nuancen
geltend. Die ältere Formel ist in wenigen Zahlen zusammengefaßt 1 :
Lebenserwartung der weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten
(Stadt und Land 1900-1920)
14 große Städte . . . . . . . 53,3 Jahre
14 ländliche Staaten . . . . . 58,6 Jahre

Etwas später hatte sich die Lebensdauer, die nunmehr zwischen Mann
und Frau unterscheidet, weiter angehoben 2 •
Lebenserwartung der weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten
(Stadt und Land, Mann und Frau 1930)
Stadt Land
Männer . . . 56,73 Männer . . . 62,09
Frauen . . . 61,05 Frauen . . . 65,09
MACKRENROTH gibt Sterbeziffern für Schweden wieder, trennt aber nicht
nach Geschlechtern; dafür geht er 100 Jahre zurück 3 :
Diese Zahlen erweisen - für
Sterbeziffer für Schweden
Schweden wenigstens - den sieg-
reichen Vormarsch der städtischen Stadt Land
Hygiene. Britische Sterbeziffern .t, die 1851-1860 31,2 20,6
nach Berufen geordnet sind, stellen 1941-1945 9,7 11,2
die Langlebigkeit von Lehrern, Geist-
lichen und Farmern fest, wobei die Farmbesitzer ein wenig günstiger ab-
schneiden als die Landarbeiter. Nach französischen Zahlen der Jahre 1907
1 THOMPSON, WARREN S., and P. K. WHELPTON: Population trends in the
United States, S. 242. New York 1933.
2 SMITH, T. LYNN: Population Analysis, S.274. 3 MACKRENROTH, S. 230.
4 THOMPSON I, S. 237 und 238.
266 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

und 1908 1 ist diese Diskrepanz Arbeiter: Unternehmer in der Land-


wirtschaft viel weniger betont als in anderen Berufen, bei Bäckern,
Druckern, Metzgern, in der Textilindustrie und im Baugewerbe. Daß
Bankbeamte länger leben als Restaurateure hat seine begreiflichen
Gründe. Dagegen ist die Frage nicht leicht zu beantworten, warum der
Beruf des Lehrers ebenso gesund ist wie der des Landwirts. Vielleicht
stammen viele Lehrer vom Lande und lehren auf dem Lande. Für die
Gesundheit der Geistlichen könnten die gleichen Erwägungen zutreffen 2.
Der Tod ist ohne weiteres festzustellen, Todesfälle sind schwer zu
verheimlichen oder abzuleugnen. Bei der geistigen Störung sind der
Einlieferung in eine Anstalt eine Reihe von siebenden Prozessen vorge-
lagert: Das Urteil der Familie, der Widerstand des Patienten, finanzielle
Erwägungen der Gemeinde, die Diagnose des Arztes. Vor allem spielt
die Arbeitsfähigkeit des Kranken eine Rolle, die mit zunehmendem
Alter zurückgeht und den Schwachen oder Unverträglichen oder Pflege-
bedürftigen in eine Last verwandelt. Im allgemeinen kann man anneh-
men, daß leichtere Störungen auf dem Lande mit einfachen Hantie-
rungen eher einhergehen als mit Verhältnissen der Stadt. Mit diesen
Vorbehalten sind die Zahlen der Statistik zu lesen, die einen über-
wiegenden Zustrom von städtischen Geisteskranken in die Irrenanstalten
zeigen 3.
Einlieferung in Irrenanstalten in den Vereinigten Staaten 1933
(nach Stadt und Land auf jeweils lOOOOO Einwohner)
Stadt . . . . . . 68,3
Land . . . . . . . 34,6

Das Gesamtbild muß durch Einzelzüge verfeinert werden; in einzelnen


Staaten wie New Jersey, Colorado, Idaho und Wyoming war die Ein-
lieferungsrate aus ländlichen Bezirken größer als aus der Stadt. Auf
der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß Einwanderer mehr
und mehr in den großen Städten hängenbleiben. Bei ihnen besteht eine
größere Neigung zu geistiger Erkrankung als bei den Eingeborenen. Aus
Gründen, die nicht recht zu erkennen sind, hat die Zahl der Einlieferungen
nicht so schnell zugenommen wie die Bevölkerung 4, und diese Beobach-
tung gilt besonders für die Kranken, die vom Lande eingewiesen werden 5:

THOMPSON I, S. 236.
1
2 Die Innenberufe der Juristen und Mediziner sind ungesÜllder als die Tätigkeit
des Bergmanns oder des Webereiarbeiters. - Bei den Geistlichen wurden nur
die Mitglieder der Anglikanischen Kirche gezählt.
3 Patients in mental institutions 1933, S. 46. Washington 1935.
4 Ein Fünftel bis zu einem Sechstel der gesamten Bevölkerung von 1920 war
im Jahre 1929 in die Stadt gewandert (18-20 Millionen Menschen). THOlllPSON I,
S.399.
5 Patients in mental institutions 1923, S.38. Washington 1925.
Das Land und seine Problematik 267

Einlieferungen in Irrenanstalten in den Vereinigten Staaten 1923


(nach Stadt und Land, Mann und Frau auf 100000 Einwohner)
Stadt Land

Männer . I 89,6 46,4


Frauen.. 67,8 35,5

Wenn man das städtische Gebiet der Größe nach aufteilt, so zeigt sich,
daß die Zahlen vom Lande über die Kleinstadt und die Mittelstadt zur
Großstadt ansteigen 1.
Einlieferungen in Irrenanstalten der USA 1923
(nach Stadtgröße auf 100000 Einwohner)
Städte 100000 und darüber. 92,5
25000-100000 73,2
10000-25000 65,3
2500-10000 54,8
Land . . . 41,1

Paranoiker, Paralytiker, Schizophrene, Psychopathen aller Art


drängen in die Anonymität der großen Städte; sexuell Abwegige und
Rauschgiftsüchtige haben es schwer, auf engem Raum und bei dauernder
menschlicher Berührung unerkannt zu bleiben. Sie suchen in den Städten
gleichgesinnte Gruppen auf, die sie nicht von vornherein verwerfen und
die schützende Gemeinschaft bieten. Die eingewiesenen Alkoholiker kom-
men vorwiegend aus der Stadt, doch trägt an den kleinen Zahlen länd-
licher Gebiete eine größere Toleranz und der noch ungeklärte Umstand
schuld, wieviel von denen, die in der Stadt ergriffen und eingeliefert
werden, vom Land hereingekommen sind, um "auszuspannen", ohne
daß das strenge Dorf es sieht. Die hohen Zahlen der Manisch-Depres-
siven sind verschiedener Deutung zugänglich. Bei den älteren Land-
frauen wird es sich zumeist um Involutionsvorgänge handeln; die Frau
ist als Arbeitskraft entwertet und wird in manchen Fällen in die Anstalt
abgeschoben. In der Stadt wird man bei den zahlreichen Internierungen
Erregungszustände annehmen dürfen, die zu Skandalen führen und,
um den Ruf der Familie zu wahren, zu einer Internierung Anlaß geben
(Tabelle s. nächste Seite).
In bestimmten Altersgruppen überwiegen die Einlieferungen der
Frauen, eine Tatsache, die in den Gesamtzahlen verborgen bleibt,
kriminal-politisch aber wichtig ist.
Schizophrene Frauen werden in der Stadt eher lästig oder gefährlich
als auf dem Lande. Der manische Mann in jüngeren Jahren ist "dyna-
misch" unternehmungslustig, oft erfolgreich. Die Frau geht auf sexuelle
Abenteuer aus. Erfolg in dieser Sphäre kann sozial bedenklich werden.

1 Patients in mental institutions 1923, S. 38. Washington 1925.


268 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Einzelne Psychosen, USA 1933 *


(Stadt und Land, Mann und Frau, Prozentzahlen)

Eingelieferte Männer
Krankheitsbild
Stadt I Land

Eingelieferte Männer
Alle Einlieferungen . . 70,4 29,6
Allgemeine Paralyse 81,4 18,6
Alkoholismus 81,7 18,3
Dementia praecox . 72,4 27,6
Manisch-depressives Irresein 59,9 40,1

Eingelieferte Frauen
Alle Einlieferungen . . . . . 74,0 26,0
Dementia praecox . . . . 76,0 24,0
Manisch-depressives Irresein 68,9 31,1
* Patients 1933, S. 52.
Einlieferungen in Irrenanstalten in den USA 1923
(auf 100000 Einwohner jeder Gruppe über 15 Jahre alt)*
Stadt Land
Altersgruppe
Männlich I Weiblich Männlich I Weiblich

A. Manisch-depressives Irresein
20-24 10,1 1I,1 7,8 8,5
25-29 10,7 18,2 8,9 14,0
30-34 1I,5 24,1 12,8 21,7
35-39 13,7 25,5 13,7 22,4

B. Dementia praecox
20-24 46,3 20,4 24,8 12,9
25-29 48,7 29,9 29,1 16,4
30-34 45,3 32,8 24,7 21,7
35-39 30,9 31,3 20,2 16,7
* Patients 1923, 8. 54 und 55.
Selbstmord ist eine andere Form des biologischen Versagens, wenn
es auch Fälle geben mag, in denen sich der Druck zur normalen Moti-
vierung steigert. Mit seiner räumlichen Verknüpfung haben sich SORO-
KIN!, FRENAy 2, CAVAN 3, JACQUART 4 und SCHMID 5 befaßt. Man ist vom

1 80ROKIN, PITIRL'I'I, and CARLE C. ZIMMERMANN: Principles of rural-urban


sociology, 8.171. New York 1929.
2 FRENAY, A. D.: The 8uicide problem in the United States, S. 45ff. Boston 1927.
3 CAVAN, RUTH S.: Suicide, S.49. Chicago 1928.
4 JACQUART, CAMILLE: Le suicide, S.31. Bruxelles 1908.
5 SCHMID, CALVIN F.: Suicides in Seattle, 1914-1925, 8. 56ff. 8eattle 1928.
Das Land und seine Problematik 269

Fundort der Leiche ausgegangen, der nicht mit dem Ort der Selbst-
tötung zusammenzufallen braucht, wenn man an Selbstmord in den
großen Strömen denkt. JACQUART fielen die hohen Selbstmordzahlen
des ländlichen Gebiets von Laeken auf. Viele Selbstmörder gehen aus
der Stadt in den großen Park des Schlosses, um ihre Absicht auszu-
führen. Die Großhesseloher Brücke südlich von München war früher
ein beliebter Platz für Absprung in die
Tiefe des Isartals. Wer an der Meeres- Selbstmord in Stadt und Land
küste ins Wasser geht, weiß nicht, wo in den USA 1938-1942
(auf 100000 Personen jeder Gruppe)
ihn die See wieder auswirft.
Trotz aller dieser Einwände ist wohl Jahr Stadt Land
als sicher anzunehmen, daß mehr Selbst-
morde in der Stadt als auf dem Lande 1938 16,6 12,9
1939 15,8 12,4
begangen werden, obwohl die strengeren
1940 16,3 12,0
Anschauungen des Landes, besonders 1941 14,5 11,0
wenn religiöse Bedenken hinzukommen, 1942 13,1 ll,1
die wahrheitsgemäße Feststellung stark
erschweren. Ich habe amerikanische Zahlen für Stadt und Land er-
rechnetl, die nicht allzuweit voneinander entfernt sind, aber ein
deutliches Überwiegen der Stadt erweisen.
Ältere Zahlen, die aber verschiedene Maßstäbe handhaben, hat
RUTH CAVAN überliefert.
Damals war der ländliche Selbstmord häufiger als der städtische in
Staaten wie Wisconsin, New Jersey, Ohio mit nördlicher Einwanderung.
Russen, Deutsche und Juden haben hohe Selbstmordziffern, Irländer
und Italiener eine sehr geringe.
Es kommt sehr darauf an, in Selbstmord in den USA 1920-1922
(auf 100000 Einwohner) *
welchem Staate diese Gruppen
stark vertreten sind und ob sie
I10 000
Städte über I Städte unter
E · ohner 10000 Einwohner
sich in Städten zusammenballen mw I und Land
oder auf dem Land verstreut sind.
Eine lange Reihe von Ursäch- 1920 12,0 8,5
lichkeiten liegt regionalen Selbst- 1921 15,0 10,1
1922 14,3 9,5
mordzahlen zugrunde. "Ein-
wohner" sind ein viel zu grobes * CAVAN, a. a. 0., S. 49.
und vieldeutiges Werkzeug des
Vergleiches. Auch läßt sich keinesfalls von Selbstmordneigung sprechen,
wenn wirtschaftliche Stürme das eine oder das andere Gebiet treffen 2.

1 Berechnet nach Vital Statistics 1938, Bd. I, S. 459; 1939, Bd. II, S. 171;
1940, Bd. II, S. 211; 1941, Bd. II, S. 241; 1942, Bd. II, S. 365.
2 Über die Zunahme der Selbstmorde in den Vereinigten Staaten während der
Depressionsjahre 1930-1933 s. ELLIOTT und MERRlLL, S. 317. - In Deutschland
wurde 1924 vom Verband deutscher Lebensversicherungsgesellschaften etwas über
270 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Sicher sind Wesenszüge der Rassen 1 und klimatische Einflüsse wirksam.


Daneben sind aber viele andere Kräfte dabei, die Selbstmordtriebe zu
verstärken, abzuschwächen oder wie im Kriege abzulenken. Schließlich
ist die Registrierung nicht verläßlich; oft ist die Frage: Unfall oder
Selbstmord überhaupt nicht zu entscheiden. Darauf basieren wohl-
geplante Arten des Betruges. Versicherer wissen manches Lied zu
singen, das niemals vor Gerichten ausgetragen wird.
Trotzdem verraten ziemlich gleiche Zahlenreihen, daß sich konstante
Kräfte regen, die man aus der nichtssagenden Summe herausnehmen,
gesondert untersuchen und auf ihr kausales Schwergewicht prüfen
könnte. Plötzlicher Anstieg, jäher Abfall müssen ihre Gründe haben 2,
die man mit einiger Mühe isolieren könnte. Warum weichen die Zahlen
von holländischen Provinzen so völlig voneinander ab, die BEMMELEN 3
uns übermittelt hat 1
Selbstmord in vier holländischen Provinzen 1950-1954
(Maxima und Minima auf je 100000 Einwohner)
Jahr Drenthe N.-Holland I N.-Brabant I Limburg

1950 8,2 9,0 3,3 3,7


1951 7,4 9,0 4,7 2,4
1952 8,0 8,3 4,1 4,0
1953 8,3 9,3 3,4 3,0
1954 1l,2 8,3 4,0 3,7
eine ViertelmillionMark für Selbstmordfälle ausgezahlt; 1930 waren es 91/ 2 Millionen,
1931 stieg diese Summe um das Doppelte an. WEICHBRODT, R.: Der Selbstmord,
S. 163. Basel 1937. - Hier wurde in erster Linie die Stadt getroffen, wie schwer
aber selbst der amerikanische Cowboy litt, zeigen die Klagen in FRED GIPSON:
Oowhand, the story of a working cowboy, S. 162. New York 1958.
1 Siehe die Selbstmordzahlen von Wien und vor allem San Francisco, die
selbst beim Absinken von 39,9 (1932) auf 31,9 (1934) noch sehr hoch bleiben
(WEICHBRODT, S. 103). Der gleiche Autor macht darauf aufmerksam, daß Schles-
wig-Holstein trotz überwiegend ländlichen Charakters beinahe die Selbstmord-
zahlen von Berlin erreicht und daß Ungarn, ein ausgesprochenes Agrarland, an
zweiter Stelle der Selbstmordhäufigkeit in Europa steht (Ebenda, S. 102). -
Natürlich müssen auch die Selbstmordversuche zur Selbstzerstörungsneigung ge-
rechnet werden.
2 Sowie die Statistik äußere Kriterien verläßt und sich in psychologische Mut-
maßungen verirrt, wie den Selbstmordmotiven, entzieht sie sich der weiteren
Kontrolle. Ein Sprung ins Wasser aber bleibt ein Sprung ins Wasser, ein Schuß ins
Herz ist niemals etwas anderes als ein Schuß. Warum aber nahmen die Selbst-
morde in Frankreich während der deutschen Besatzung ab? (Monde vom 3. No-
vember 1951.) «Chagrins intimes.) und Geisteskrankheit können doch nicht weniger
geworden sein, und dieses sind die Hauptmotive der Statistik, und die «misere»,
der dritte Posten, wird im Vergleich zu Friedenszeiten sich kaum im Krieg
gebessert haben. Wahrscheinlich war die Aggression vom eigenen Leben weg dem
Feinde zugekehrt.
3 VAN BEMMELEN, S. 147.
Das Land und seine Problematik 271

BEMMELEN hat feinsinnig auf die Polarität von Tötung und Selbst-
tötung in der Provinz Limburg hingewiesen, wo höchste Tötungszahlen
und tiefste Selbstmordtaten zusammentreffen_ Auch diese Gegensätz-
lichkeit der Tötungsziele verbirgt nur schwach die gleichen Triebe der
Vernichtung, die beim Familienrnorde zeitlich-örtlich eng verbunden in
Erscheinung treten. Wir reißen offenbar verwandte Phänomene aus-
einander, wobei wir der Statistik keinen Vorwurf machen können. Wenn
wir dagegen nach kausalen Fäden im Gesamtgewebe der Motive einer
Tötung fragen, so müssen wir die technisch schwer vermeidbare Lücke
wieder schließen. Sie ist nicht da, wir haben sie geschaffen.
d) Die Kriminalität von Stadt und Land kann nur in einem einge-
schränkten Sinne Kriminalgeographie genannt werden, da hinter den
Raumeinheiten (Staaten, Provinzen, Oberlandesgerichtsbezirken) sich
eine bunte Vielfalt von Kräften bewegt. Neben Gesamtzahlen werden
nützlicherweise einzelne Delikte untersucht, auch wird die Stadt nach
Größentypen aufgeteilt. VON MAYR stellte schon vor vielen Jahren
folgende Berechnung an:
Stadt und Land, Deutsches Reich 1883-1897*
(auf 100000 strafmündige Zivilbewohner)

ganzen I ImAbzug unter I In Städten über


Reich,von
Deliktarten I ImReich 55 Städten 500000 Einwohnern

Verbrechen und Vergehen überhaupt 1075 1016 1332


Gewalt und Drohung gegen Beamte 40 33 72
Gefährliche Körperverletzung 188 198 145
Diebstahl . . . . . . . . . 269 253 341
Betrug . . . . . . . . . . 51 44 88
* ASCHAFFENBURG, S. 69.
SAUER legte die nach Ländern geordneten Zahlen der Jahre 1925
bis 1928 vor I ; wir wählen die Ziffern für das Reich, für Mecklenburg
(Agrargebiet) und Sachsen (Industriestaat) aus:
I ndustrie- und Agrargebiete
(Mecklenburg und Sachsen 1925-1928 auf 100000 Strafmündige)
Deliktarten Reich Mecklenburg Sachsen

Verbrechen und Vergehen überhaupt 861 954 930


Gewalt und Drohung gegen Beamte . 37 23 48
Körperverletzung 93 98 38
Diebstahl 202 296 200
Betrug 107 115 140
Unterschlagung. 71 81 93
Brandstiftung 1 1,7 1,2
Beleidigung 97 71 136
1 SAUER, S. 509.
272 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Berechnungen, die SEUFFERT um die Jahrhundertwende anstellte,


ergaben verwirrende Resultate:
Dieb8tahl und Betrug
(Größere Städte und Landbezirke* 1883-1897, auf 10000 Strafmündige)
Diebstahl Betrug
Stadtbezirk Land (Provinz) Stadtbezirk Land (Provinz)

Königsberg . 45,5 49,2 8,6 3,9


Berlin 34,1 28,1 7,2 4,1
Köln. 27,9 15,7 6,1 3,1
Leipzig. 36,5 27,8 10,0 6,1
Stuttgart . 33,7 20,5 8,8 6,7
München. 38,8 28,0 12,4 8,1
* Angeführt bei SAUER, S. 524.

Mit Ausnahme von Königsberg liegen die ländlichen Diebstahls-


zahlen unter denen der großen Städte; wir erinnern uns aber an § 247, I
StGB und an das dort gewährte Antragsrecht.
In den Vereinigten Staaten ist die frühere Gegenüberstellung von
städtischen und ländlichen angezeigten Delikten aufgegeben worden 1,
seitdem Verbrechen auf dem Lande erheblich zugenommen haben 2.
Dagegen hat Professor GEORGE B. VOLD für den Staat Minnesota wert-
volle Daten beigebracht 3 :
Stadt und Land M innesota
(Dreijahresdurchschnitt 1936-1938, angezeigte Verbrechen auf 100000 Einwohner)
Stadt Land

Verbrechen überhaupt 1185,9 215,8


Mord, Totschlag . . . 1,4 1,4
Fahrlässige Tötung . . 0,6 1,1
Notzucht, Schändung. 4,0 3,8
Raub . . . . . . . . 45,1 10,0
Gefährliche Körperverletzung 11,0 5,5
Einbruch . . . . . . 276,8 64,8
Diebstahl . . . . . . 609,8 102,6
50 Dollars und mehr 84,9 37,3
unter 50 Dollars 524,8 65,4
Autodiebstahl . . . . 237,2 26,4

Siehe die Uniform Crinle Reports 1959, S.78ff. Washington 1960.


1
Von 1952 auf 1953 stiegen an: Notzucht um 10,8%, Raub um 10,3%, Körper-
2
verletzung um 13,8%, Einbruch um 14,1 %. Uniform Crime Reports 1953, S.4.
Washington 1953.
3 VOLD: Crime in City and Country Area8, Annals of the American Academy
of Political and Social Science, S. 41, 1941.
Das Land und seine Problematik 273

Dieses überaus günstige Verhältnis ländlichen Rechtsbruches, das


nur bei Tötung und Sittlichkeitsverbrechen sich den städtischen Anteilen
nähert, ist zu einem großen Teil der skandinavischen Besetzung des
flachen Landes und den patriarchalischen Verhältnissen zuzuschreiben.
Wo keine Straßen waren, konnte man auch keine Autos stehlen. Gewalt-
tat aber war ein altes Erbe, das in den langen Wintern und der Ein-
samkeit der Wälder neu erwachte.
Neben der räumlichen Beziehung läßt uns der Zeitablauf in kausale
Einwirkungen hineinblicken. Der moderne Krieg zieht nicht nur die
jungen Männer aus der Zivilbevölkerung heraus. Er schont auch die
ländlichen Arbeitskräfte, die zurückgestellt werden. Die Frauen strömen
für einige Zeit in die Zentren der industriellen Produktion. Bisher
zurückgedämmte Minderheiten werden durch hohe Löhne und gute
Behandlung vom Lande in die Stadt gelockt, wie es die Neger in den
letzten Kriegen erlebten. Alle Unterscheidungen der Herkunft werden
durcheinandergeschüttelt. Entscheidend ist der augenblickliche Tatort.
Weit entfernt, unsere Vorstellungen zu klären, tragen die Feststellungen
der industriell bereits angeregten Vorkriegszeit und der Kriegszeit zur
Undurchsichtigkeit des Problems bei. Daß im Kriege die polizeiliche
Aufmerksamkeit abgeschwächt, die Aggressivität vom Nachbarn, Volks-
genossen, selbst wenn einer der unsrigen das Recht bricht, auf den
Feind abgelenkt ist, bleibt zu allen Zeiten und bei allen Völkern eine
gesicherte Erfahrung. Sie findet in Amnestien und in der Anerkennung
jeden Kriegsverdienstes ihren Ausdruck. Die gewaltigen Verschiebungen
der Bevölkerungsstruktur durch militärische und wirtschaftliche Mobil-
machung tragen entscheidend dazu bei, die Zahlenreihen, die so blank
und deutlich vor uns stehen, im tiefsten Sinn des Worts unleserlich
zu machen.
Stadt und Land, USA, acht Delikte
(Jahresdurchschnitt 1936 und 1941/42, Prozentzahlen)*

Friedensjahre Vorkriegs- und Kriegsjahre


Delikte
Stadt Land Stadt I Land

Diebstahl. 56,0 47,6 60,3 48,1


Einbruch. 22,6 29,0 20,6 25,8
Autodiebstahl . 13,1 9,2 11,5 11,7
Raub 3,8 3,7 3,1 3,3
Gefährliche Körperverletzung . 3,1 5,6 3,2 6,3
N otzucht. 0,6 2,4 0,6 2,3
Mord 0,4 1,3 0,4 1,3
Totschlag 0,4 1,2 0,3 I
1,2

* Uniform Crime Reports 1936-1940, S. 145,202,186 und 190. Für die beiden
anderen Jahre finden sich die Zahlen ebenda, S. 80 und 191.
v. Hentig, Das Verbrechen I 18
274 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Im Kriege nähert sich die ländliche Kriminalität der städtischen,


die bei Körperverletzung, Notzucht, Mord und Totschlag den Rechts-
bruch in der Stadt überragt. An der Oberfläche bleibt daher die Auf-
fassung SAUERSi: "Auf einen ethisch-normalen Menschen wirkt die
Naturverbundenheit reinigend und läuternd 2, auf einen Kulturträger
befreiend, konzentrierend, schöpferisch anregend. . . Auch das religiöse
Empfinden und Verlangen ist in der Einsamkeit mehr ausgebildet und
verfeinert." Mit vorgefaßten Idealgestalten kommt die Wissenschaft
nicht weiter. Fraglich scheint mir auch SAUERS Meinung über intimes
ländliches Familienleben und die enge Freundschaft auf dem Lande,
und alles das im Gegensatz zur bösen Stadt.
Im Jahre 1927 fiel mir, als ich die Österreichische Kriminalstatistik
für das Jahr 1924 durchmusterte, eine alte Bemerkung FRANZ VON
LISZTs 3 ein. Er hatte auf die Tatsache hingewiesen, daß Berlin, das
Sündenbabel, im Durchschnitt der Jahre 1883-1897 eine Verurteilten-
ziffer von 134,6 meldete, daß dagegen aufwiesen
der Landkreis Gumbinnen . 180,7 Verurteilte
der Landkreis Oppeln. . . . . . . 183,1 Verurteilte
der Landkreis Johannisburg . . . . 317,2 Verurteilte
Auf einen ähnlichen Widerspruch stieß ich in Österreich. Ich stellte
dabei die Großstadt Wien einem agrarischen Bundesland, Tirol, gegen-
über. Sie, die große Handelsstadt Wien, "die immer noch an einer
schweren wirtschaftlichen Krise leidet, sie, die die jugendlichen Jahrgänge
anzieht 4 , die einen Durchgangspunkt des reisenden internationalen Ver-
brechertums bildet, wo eine ausgezeichnete Polizei mit allen technischen
Mitteln der Neuzeit dem Verbrecher auf der Spur b1eibt 5 ." Tirol aber
wird von frischester Bergluft durchweht, ist vom verderblichen Dunst
Stadt und Land, Osterreich * 1924
(per 100000 Strafmündigen, Verbrechen und Vergehen)
Verbrechen Vergehen
Gebiet -
mä;:;nli~hl weiblich männlich weiblich

Landgerichtssprengel Wien 676 124 34 3


Tirol. 997 220 54 16
Bundesgebiet . 687 134 34 5
* Monatsschrift, Bd. XIII, S. 442.
1 SAUER, S. 223.
2 Damit vergleiche man die Diebstahlsziffern Mecklenburgs (S.273).
3 Monatsschrift, Bd. II, S. 259.
4 Die soziale Stadt und das kriminelle Land, Monatsschrift, Bd. XVIII, S. 440
bis 442.
5 SEELIG (Kriminologie, S. 173) spricht inI Gegensatz dazu von einem geringeren
Anteil jüngerer Menschen am Altersaufbau der Wiener Bevölkerung.
Das Land und seine Problematik 275

großer Städte verschont geblieben und ist durch Selbstversorgung dem


Druck von Währungskrisen entzogen. Die Zahlen, die ich damals an-
führte, sollen durch neuere Angaben (1932) ergänzt werden 1. Auch
möchte ich die Länder Steiermark und Kärnten hinzufügen, die vor-
wiegend landwirtschaftlichen Charakter tragen.
Stadt und Land, Österreich 1932
(auf 100000 Strafmündige)
Tötungen
Länder und
Rörper- IDiebstahl Betrug I insgesamt
Delikte
verletzung

Wien 248 239 128 1717


Tirol 407 I 601 252 2553
Steiermark . 622 528 205 2729
Kärnten. 118 676 250 2909
Ganz Österreich. 459 439 174 2334

SEELIG möchte die geringe Wiener Kriminalität, zumal Körperverlet-


zung und Diebstahl, mit der geringeren Verlolgungsintensität der Groß-
stadt erklären, die wenig Neigung habe, kleine Delikte anzuzeigen; zudem
sei die Polizei in der Großstadt mehr belastet als auf dem Lande, doch
sicher nicht, weil die Städter keine Lust zur Anzeige haben. Wenn man
den Rechtsbruch nicht zur Größe der Bevölkerung, sondern zur Dichte
des Raumes in Beziehung setzte, so wäre Wien führend 2. Die Dichte
ist ein Problem für sich. Unmöglich ist es, diese Frage von der Zahl
der recht brechenden Menschen abzulösen, die einsam auf hohen Bergen
oder gedrängt in Elendsquartieren wohnen. Ich möchte umgekehrt
sagen, daß niedrige Kriminalität bei extremer Dichte für den stärkeren
sozialen Grundton der großen Stadt spricht. Denn allzu große Dichte
selbst ist eine Kraft, die das Zusammenleben stört.
Stadt und Land, Österreich * 1924
(Von 100 Verurteilten waren weiblich)
Gebiet IVerbrechen Vergehen übertretungen

Landgerichtssprengel Wien 18 11 21
Tirol. . . . . . . . . _ 19 21 20
Bundesgebiet . . . . . . 18 15 19
* Monatsschrift, Bd. XIII, S. 442; s. auch HANSEN, H., Monatsschrift, Bd. XXIII,
S.358 für das Jahr 1929.

Der Einwurf, der städtische Kriminelle entgehe leichter der Verurtei-


lung 3 oder die "große Zahl der Unbotmäßigen" verschwinde in dem

1 Abgedruckt bei SEELIG, S. 172. 2 Ebenda, S. 164, 173. 3 EXNER, S. 236.


18*
276 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

nesIgen Menschenmeer, wie ASCHAFFENBURG 1 bei Besprechung der


günstigen Berliner Widerstandszahlen meint, könnte nur überzeugen,
wenn er sich begründen ließe. Auch läßt sich, soweit die österreichischen
Zahlen gehen, nicht behaupten, daß quantitativ die Großstadt besser
dastehe, qualitativ dagegen der schwere Rechtsbruch vorherrsche. Auch
gibt das leichte Überwiegen der weiblichen Kriminalität (Tabelle S. 275)
zu denken.
T. VAN DEN BRINKS hat für Holland Zahlen regionaler Kriminalität
berechnet.
Stadt und Land, Holland 1923-1927 *
(auf 100000 Zivilbevölkerung verurteilt)
In I In den Im
Delikt
I Amsterdam 4 Großstädten Königreich

Leichte Körperverletzung . 20,9 20,5 48,0


Einfacher Diebstahl 35,8 34,0 39,6
Schwerer Diebstahl 15,9 16,2 13,8
Unterschlagung 22,2 22,2 13,9 **
Betrug 6,8 5,5 4,6
Sachbeschädigung 7,1 6,5 11,0
Sämtliche Verurteilte. 183,4 176,3 211,1
* Monatsschrift, Bd. XXIII, S. 435.
** Bei der Unterschlagung könnte man von einer "Dichte" geschäftlicher
Unternehmungen und Zahlungsstellen sprechen, die auf dem Lande fehlte.

Der Höllenpfuhl der Stadt und jenes enge Band mit der Natur, die
nichts als läutert und zum Guten leitet 2, gehören zu der Masse der
Legenden, die selbst den Höhlenmenschen als das Muster biederen
Bürgersinns betrachten wollen. Die Dinge liegen sehr viel komplizierter.
Die Feststellungen, die wir nach den Angaben der österreichischen
und der holländischen Statistik getroffen haben, werden durch neuere
dänische Daten gestützt 3 :
Vier Deliktsgruppen nach Stadt und Land, Dänemark 1947 (Prozentzahlen)
Männer

Örtlichkeiten Sexualdelikte Gewaltdelikte I Eigentums·


delikte
Andere
Delikte

Hauptstadt. 4,8 7,6 85,1 2,5


Provinzstädte . 5,3 10,1 80,8 3,7
Landgebiete 8,2 11,4 74,1 6,3

1 ASCHAFFENBURG, S. 69.
2 "Das Land und die Kleinstadt zeigen die Bewohner noch in enger Verbindung
mit der Natur und sie selbst noch mehr als reine Naturkinder." SAUER, S.223
und 224.
3 HURWITZ, STEFAN: Criminology, S. 255. London 1952.
Soziologie der Stadtbewohner 277

Wer die Frage aufwirft, ob Gewohnheiten der Anzeige und der poli-
zeilichen Feststellung in Stadt und Land nicht grundverschieden sind,
muß sich polizeilichen Angaben zuwenden l .

Delikte, die polizeilichen Stellen gemeldet wurden


(USA, Stadt und Land 1937, Prozentzahlen aller Anzeigen)

Delikte Stadt Land

Diebstahl. 53,9 46,8


Einbruch. 22,5 28,2
Autodiebstahl . 14,9 9,7
Raub 4,1 4,1
Gefährliche Körperverletzung . 3,2 5,6
Notzucht. 0,6 2,6
Mord 0,4 1,5
Totschlag. 0,4 1,5

Zu Fragen der erheblichen Kriminalität gegen die Person, einschließ-


lich der Notzucht, in ländlichen Gebieten, bemerkt die amerikanische Sta-
tistik begütigend: "Dies bedeutet nicht, daß auf dem Lande mehr Ver-
brechen gegen die Person begangen werden als in städtischen Gemeinden.
Die Ziffern besagen nur, daß in einer durchschnittlichen Gruppe von
100 ländlichen Delikten eine größere Zahl von Delikten gegen die Person
enthalten ist als in einer Durchschnittsgruppe von 100 städtischen
Delikten. Dies kann auf der Tatsache beruhen, daß einige der Berichte
über strafbare Handlungen auf dem Lande die Möglichkeit 2 andeuten,
daß sie sich auf Fälle beschränken, in denen Festnahmen vorgenommen
wurden." Auf diese Weise, meint der Bericht, würde die Zahl der
ländlichen Delikte größer erscheinen, weil bei Vergehen gegen die Person
mehr Verhaftungen erfolgen als bei den weniger ernsthaften Eigentums-
delikten.
Beständen wirklich solche Zählungsdifferenzen, so könnten sie un-
schwer durch gleichmäßige statistische Methoden ausgeglichen werden.

2. Soziologie der Stadtbewohner


a) Die Stadt ist letzten Endes ein Extrakt des Landes und formt
mit all den Kräften, die sie selber bildet, das neu empfangene, regellose
Material. Wenn der dauernde Zustrom von kleinen Bewegungen Zu-
wandernder und Abwandernder gefärbt wird, so mögen die Delikte, die
sie begehen, als städtisch aufgezeichnet und gezählt werden. Obschon

1 Uniform Crime Reports 1937, S.202. Washington 1938.


2 In der Statistik haben, wenn sie überzeugen soll, unklare Möglichkeiten
keinen Platz.
278 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

eine Trennung schwer wäre, so sind sie öfters keine Menschen aus der
Stadt, man denke an Studenten und Soldaten, an Lehrlinge und Dienst-
mädchen. Sie geben unserem Bilde einer großen Stadt das Tempo und
die Lustigkeit, den überschwang und auch die Lockerheit, die Arbeits-
leistung und die kriminelle Energie. Das ist der Grund, warum die Stadt
sich anders anzieht, so eilig ist, so spät zu Bett geht, in Liebessachen
flatterhaft und unverhohlen ist. Wenn junge Menschengruppen auf-
einanderstoßen, so rollen alle Lebensvorgänge schneller ab, werden alle
Leidenschaften mobil gemacht, laufen Selbstsucht und Hingabe auf
schnelleren Touren. Für alte Bauern, die an die längst vergangene
Dienstzeit denken, ist es meist die Erinnerung ungewohnten Über-
schwangs und an die Abenteuer einer hellen, großen Stadt.
Die Stadt ist nur eine äußerliche Form der Massenbildung, die durch
die Nähe des Zusammenwohnens sich ergibt. In diesem Rahmen gehen
andere Zusammenballungen vor sich, in Fabriken, in Schulen, den Ge-
schäften, den Behörden. Aber diese Gemeinschaften sind in quirlender
Bewegung: Sie bilden sich periodisch, lösen sich wieder auf, formieren
sich von neuem. Neben dem menschenreichen Miethaus, der volkreichen
Straße, den Stadtvierteln mit ihrer Eigenart, den überfüllten Straßen-
bahnen, den vollbesetzten Kinos und den Tribünen der Sportplätze
kommt es zu tausend Kontakten mit kleinen und mit großen Massen,
entwickeln sich nicht nur städtische Züge des Gemeinschaftslebens,
sondern auch die duldsame Gewohnheit der "Koexistenz", ja das Be-
dürfnis nach dem Dunst und Lärm der neuerstandenen "Herde". Denn
aus den Anfängen sozialer Entfaltung haben wir die dunkle Vorstellung
mitgebracht, daß uns die Herde besser schützt als wir es einzeln können l .
Der Siegeszug der großen Städte erregt Besorgnis, plagt die Städte-
planer und scheint doch unaufhaltsam. Im Jahre 1801 gab es in Europa
21 Städte, die eine Bevölkerung von 100000 Menschen hatten, und ein
guter Teil davon waren angeheuerte Soldaten, die ihren König schützten,
alles Männer:
Städte in Europa mit mehr als 100000 Einwohnern, 1801 2
5 in Italien
3 in Frankreich
3 in Rußland
2 in Großbritannien
2 in Spanien und Deutschland
1 in Österreich, Dänemark, Portugal, Holland
1 Die moderne Waffentechnik hat wiederum den einsamen Straßengraben
sicherer gemacht als die Ansammlung der Großstadt.
2 GIBT and IlALBERT: Urban society, S. 35 und 36. New York 1933. - 1927
gab es 537 solche Großstädte: 224 in Asien, Rußland und die Türkei eingeschlossen,
182 in Europa, 90 in Nordamerika, 20 in Südamerika, 12 in Afrika und 9 in
Australien.
Soziologie der Stadtbewohner 279

Was die Jugend in die Stadt zieht, sind neben den Trieben erwachen-
der Sexualität die Reizquellen von Licht und bewegtem, brausendem
Leben. Ein Jugendlicher legte dieses Geständnis ab: "Eine andere
Sehnsucht meiner Jugendzeit war die Hoffnung, einmal in der großen
Stadt leben zu können. Aus der Ferne her strahlte diese Vision in all
dem Glanz des Reichtums und der Macht auf. Ich träumte von seinen
Alleen, seinen Parks, seinen Palästen und seinen blendenden Lichtern.
Die auflodernde Flamme seines fernen Lebens füllte den Horizont mit
der Glorie endlosen Sonnenaufgangs 1." Der Jugendliche strebt von der
Familie weg. Es ist die von der Natur eingesenkte Triebhaftigkeit der
Nestflucht, die den Inzest verhindern soll, dem unfertigen Menschen
aber gleichzeitig den Schutz der Familiengruppe nimmt. Er fühlt nur
die Anziehung des Lichts, nicht aber die innere Abstoßung. Er will in
die Ferne, möchte zur See fahren, mit einem Zirkus umherwandern, zur
Fremdenlegion gehen. Die alte Wanderburschensitte kam diesem Trieb
entgegen und lenkte ihn in wohlbegrenzte Bahnen. Dem Bauernjungen
ist die Stadt die nächste Art der Ferne.
Der Überschuß an jungen Frauen ist ein anderer Anreiz, nicht weniger
stark als all die Lichter, die in der Stadt die Nacht zum Tage machen,
sie in die Länge ziehen und alle alten Menschen in die Betten jagen,
mitsamt der Aufsicht, ihren Regeln und Geboten. Das weibliche "An-
gebot" kann uuter besonderen Umständen beängstigenden Umfang an-
nehmen. Im zweiten Weltkrieg füllte sich die Hauptstadt Washington
mit einer Armee von 80000-100000 jungen Sekretärinnen an, die Woh-
nungen und Männerchancen teilen mußten 2. Abgesehen von großen
Fabrikstädten der Schwerindustrie (Detroit) und Garnisonen (Norfolk,
San Diego, San Francisco), zeigten die meisten großen amerikanischen
Städte einen Frauenüberschuß :
Frauenüberschuß in amerikani8chen Städten, 1940 3
Es entfielen auf 100 Frauen ... Männer in
Kansas City . . 90,9
Los Angeles . . 95,3
New Orleans . . 90,0
Washington, D.C. 91,9 (vor dem Kriege)
Houston . 96,0
New York . . . 97,3

Natürlich kommt es nicht auf Babies und Großmütter, sondern auf die
Frauen in bestimmten Altersgruppen an:

1 Nach THOMAS DIXON erwähnt von BOWMAN, J. C.: The promise 01 country
lile, S.87.
2 Mein Aufsatz: The 8ex ratio in Social Forces 1952, S. 447.
3 Statistical Abstract 1947, S. 23ff.
280 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Frauenüberschuß jüngerer Altersgruppen überhaupt, USA 1946 1


Auf 100 Frauen entfielen ... Männer
In der Altersgruppe 20-24 96,6
25-29 96,5
30-40 98,0
35-39 98,9

Für das offene Land (rural farm) war das Verhältnis der Männer zu
100 Frauen 1940 111,7. In der Stadt standen 100 Frauen 95,5 Männer
gegenüber2 • Je größer die Stadt aber war, um so höher stieg das Miß-
verhältnis an.
Es kommt nicht nur darauf an, daß die Stadt mehr Frauen jüngeren
Alters beherbergt. Sie müssen auch in dem Sinne verfügbar sein, daß
sie "frei", d.h. unverheiratet, sind. Der Vergleich von Staaten mit
starkem städtischem Einschlag und - damals, d.h. im Jahre 1930 -
noch im wesentlichen landwirtschaftlichem Charakter zeigt, daß Stadt
und Land dem Familienstande nach verschieden sind.
Familienstand, Staaten Massachusetts und Texas 1930*
(Bevölkerungsgruppe 15-44 Jahre, Prozentzahlen)
Männer Franen

1 . I heiratet
ver- I ver- I schieden
ge- ledig ver- I ver- ge-
edlg witwet heiratet witwet schieden

Massachusetts I 48,5 0,9 0,5 44,3 52,7 2,1 0,9


I 4,0
50,0
Texas. 43,0 54,1 I 1,6 I 1,3 29,8 64,1 2,1
* THOMPSON I, S.107. Die Auflage von 1953 (THOMPSON II) führt für 1950
nur noch die unbrauchbare Sammelgruppe (Geschiedene und Verwitwete) an.

Der normale Aufbau der Familienstands-Gruppen ist in der Stadt


zugunsten der ledigen Männer und Frauen mittlerer Altersstufen ver-
schoben; die niederen Zahlen geschiedener Frauen in Massachusetts sind
für die Vereinigten Staaten und ihre städtischen Gebiete nicht typisch,
sondern mit der katholischen, italienischen und kanadischen Einwande-
rung zu erklären.
Wir kommen einer Erklärung für die größere Lockerheit der ge-
schlechtlichen Beziehungen in der Stadt von der Mechanik der Bevöl-
kerung her näher. Bei einer Untersuchung über die Soziologie der
möblierten Zimmer in Chicago ergab sich 3, daß ein bestimmtes Gebiet
auf der unteren Nordseite von Chicago 1139 Pensionen und Unterkunfts-
häuser aufwies, und daß in diesen Häusern 23007 Menschen in möblierten

1 Statistical Abstract 1947, S.28. 2 Ebenda, S. 18.


a ZORBAUGH, IlARVEY W., in dem von ERNEST R. BURGESS herausgegebenen
Werk: The Urban Community, S. 100. Chicago 1925.
Soziologie der Stadtbewohner 281

Zimmern irgendwelcher Art wohnten. 71 % dieser Häuser vermieteten


Zimmer, und von denen, die hier lebten, waren
51 % ledige Männer,
10% ledige Frauen,
38 % angeblich verheiratete Paare,
die aber in Wirklichkeit zu 60% unverheiratet waren.
Die ganze Gegend war ein Stadtteil ohne Kinder, obwohl die meisten
Menschen, die hier lebten, zwischen dem 20. und dem 35. Lebensjahre
standen. Auch bei dem Studium des Selbstmords in Chicago kam RUTH
CAVAN zu dem Ergebnis eines schwer gestörten Zahlenverhältnisses
zwischen den Geschlechtern. "In der "Windung l " sind 78 % der
Bevölkerung Männer, in der nahen Südseite sind es 58 %, im West
Madison Distrikt 57 % und an der unteren Nordseite 55 %, und dieser
Anteil würde sehr viel höher sein, wenn man den amerikanischen Teil
allein in Betracht zöge 2 ." Von den Frauen sind nicht wenige ältliche
Vermieterinnen, fallen demnach bei dem Vergleiche "Heiratsfähiger" aus.
Mädchen, die den Zusammenhang mit der Familie verloren haben,
werden von vielen Sorgen und Kümmernissen gleichzeitig überfallen:
Sie haben kein Geld, kein Mensch schert sich um sie, sie selber kümmern
sich um niemand, sie werden mitten unter Millionen, die an ihnen vor-
übergehen, von der entsetzlichsten Einsamkeit geplagt, die sie im größten
Krach mit der Familie nicht empfinden mußten. ZORBAUGH hat den
Fall eines solchen verzweifelten Mädchens geschildert 3. Sie denkt daran,
in den See zu springen. Es scheint ihr nicht mehr unmöglich, eine
"Goldgräberin" (Prostituierte) zu werden, innerlich angeekelt, teils um
die Schulden loszuwerden, teils die bittre Not, allein auf dieser Welt zu
sein. Sie macht Versuche, diesen Weg zu gehen, und ist bestürzt, wie
leicht die Trennung von dem früheren braven Ich ist. Dann trifft sie
einen nett aussehenden Mann, der sie zum Essen einlädt. Sie ist unsagbar
einsam und ermüdet. Sie geht mit ihm. Er nimmt ihr eine hübsche
Wohnung, kauft elegante Kleider, schenkt einen blitzend neuen Wagen.
Dann erklärt er ihr eines Tages, daß er nach Hause nach Oklahoma
zurück muß und sie nicht mitnehmen kann. Er gibt ihr einen reich-
lichen Scheck ehe er von dannen geht. Sie sinkt in Armut, Depression
und das Dasein zurück, das sie von jetzt an nicht mehr losläßt. Das
Leben, sagt sie, hat mich angeführt, betrogen, um das Glück gebracht.
Es war Verführung, eigene Schwäche, Einsamkeit, ein "Selbstmord"
auf moralischem Gebiete, und doch noch vieles andere mehr, woran

1 Über die Loop siehe das Kapitel: The Loop and the lupo8 in LAIT and
MORTIMER: Chicago confidential, S.22ff.
2 CAVAN, RUTH SHONLE: Suicide, S. 89. Chicago 1928.
3 ZORBAUGH: The gold cOMt, S.80, 81. Chicago 1957. Lebensgeschichte eines
"charity-girls. "
282 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

die große Stadt nur halbe Schuld trägt. Was wäre auf dem Lande aus
dem gleichen Menschenkind geworden 1
b) Die Anziehung der Stadt macht sich auf ganz bestimmte mensch-
liche Elemente geltend. Da ist erst die bedrückende Konformität und
die starre Unbeweglichkeit des Landes und der kleinen Stadt. Sie
erinnert an die strenge Kontrolle, der in primitiven Verhältnissen alle
Stammesmitglieder unterworfen werden. Dazu gehört das, was die
Männer im Wirtshausgespräch andeuten und die Frauen über den
Gartenzaun flüstern 1. Auf dem Land kennt man jeden, wird alles aufs
genaueste beobachtet, wird jede Abweichung sorgsam notiert, lange im
Gedächtnis aufbewahrt und immer wieder durchgesprochen. Nachts hat
bei jenem Haus der Hund gebellt. Wer ist so spät nach Hause gekom-
men 1 Dort flackerte um Mitternacht ein Licht 2. Was mag es wohl
gewesen sein 1 Im Garten ist ein frisch gegrabener Fleck. Was kann
man dort verborgen haben 1 Ich kenne den Fall eines Kriminellen, der
auf der Flucht in ein fremdes Dorf kam und ein Bauernmädchen nach
dem Weg fragte. Sie konnte später eine minutiöse Beschreibung geben,
weil eine neue Gestalt und ein neues Gesicht erfrischend-eindrucksvoll
waren und sich in ihr leeres Personengedächtnis tief und lebendig ein-
geprägt hatten. Wie Indianer Menschenspuren sehen, di.e uns völlig
entgehen, so lesen Bauern aus unbedeutenden Geschehnissen Dinge
heraus, die wir, von einem Eindruck nach dem andern überladen,
überhaupt nicht mehr beachten.
Daß die Aussichten auf Gewinn und rasches Fortkommen Menschen
vom Lande in die Stadt locken, ist nichts Besonderes. Es läßt sich ferner
sagen, daß einzelne psychologische Kategorien vom Dorf fortdrängen.
Da sind zuerst die Unzufriedenen und Streitsüchtigen, die sich von den
Quellen der Unruhe und Enttäuschung ablösen, wie abgewiesene Lieb-
haber, die im Wettkampf mit glücklicheren Bewerbern unterlegen sind.
Zu den Unzufriedenen mit den zähen Beharrungstendenzen des Landes
gehört eine ganze Skala "Malkontenter", vom Fortschrittlichen zum
Anarchisten, vom Reformator bis zum Menschenfeind, dem auch die
Stadt noch voller stumpfer Bauernschädel ist. Streithammel siedeln in
die Stadt über und genießen die Pause einer halben Popularität, bis
sie auch hier als Unruhestifter, Besserwisser und als unverbesserliche
Ekel erkannt und abgelehnt werden. Sie sind bisweilen im politischen
Kampfe nützlich, weil sie dem Gegner Abbruch tun und andern die
Kastanien aus dem Feuer holen. Als Privatmenschen sind sie unglück-
lich und durchaus geeignet, andere unglücklich zu machen, besonders
in der Ehe, als Pädagoge und als Vorgesetzter.
Siehe das Gespräch der Nachbarinnen am Brunnen in Faust, Erster Teil.
1
Siehe das Licht im Fenster in H. HENDERsoN: Trial of William Gardener,
2
S.121, und das Horchen der Bauernjungen an der Kapellentür, S. 71. Edinburgh 1934.
Soziologie der Stadtbewohner 283

Eine Gruppe folgt der Anziehung der Macht, die sich in Regierungs-
gebäuden, Parlamenten, Banken, Riesengeschäften und großen indu-
striellen Werken vor ihnen ausbreitet. Hier sind die Universitäten,
Theater, Bibliotheken und Zeitungspaläste, von denen aus die Welt
regiert wird. Die Kathedralen blicken weit ins Land, die Funkstationen
werfen ihre Wellen aus und die Millionen beugen ihren Worten Nacken
und Gemüt. Dieser Abfluß der Aktiven, Ehrgeizigen, Hungrigen nach
Geld, Macht und Anerkennung verleiht dem Lande jene Behäbigkeit
und jenes innere Sicherheitsgefühl, das wir genießen, wenn wir im Alter
diese wenig windbewegte Atmosphäre suchen und von der Qual der
Problematik uns erholen wollen. Es sind zumeist die zweiten, dritten
Kinder, indes die Erstgeborenen auf der Scholle haften, die Dissidenten
von der monotonen, oftmals, jedoch nicht immer, antiquierten Tradition.
Dann kommen Eremitentypen, Junggesellen, die es für immer bleiben
wollen, Flüchtlinge von der anerkannten Regel, die Menschen mit ge-
heimen Lastern, die Süchtigen verschiedener Art, die in verborgenen
kleinen Zirkeln ihre Ruhe suchen, Verständnis, Sicherheit, Verzeihen
und die gleichgesinnte Partnerschaft. Man braucht nur das Tagebuch
eines Rauschgiftsüchtigen zu lesen, der einmal ein bekannter Geschäfts-
mann in Chicago warl, und was ein Blumenmädchen über diese Kreise
schreibt 2: Sie alle schnupfen, rauchen, machen Injektionen, sind Taschen-
diebe und bestehlen Warenhäuser. Der eine, "Dad", sieht wie ein General
aus, die Frau fährt nachmittags das Baby an die Luft. Indes Passanten
es bewundern, geht diese junge, hübsche Frau durch ihre Taschen, denn
Kokain macht sicher und geschickt. Homosexuelle 3 finden Unterschlupf
und jene Gleichheit, die Gesetzen fremd ist, und alles was ihr Herz
begehrt.
Wie in einer riesigen Kläranlage reinigt sich die große Stadt von
Elementen der Lebensuntauglichkeit durch Krankheit, Tod, Abwande-
rung in andere Gegenden und Länder. Dabei hilft der soziale Auslese-
mechanismus des Strafrechts <1 mehr oder weniger wirksam mit, entfernt
die gröbsten kriminellen Typen, hält sie in Gefängnissen und Irren-
anstalten fest, treibt sie aus Furcht vor Strafverfolgung in die Weite,
macht ihnen als Vorbestraften das Leben noch schwerer, als es sonst
schon ist. Auf der anderen Seite bietet die unübersichtliche Gedrängt-
heit der Stadt und ihre Neigung zu Zusammenschlüssen und Abwehr-
zirkeln erhöhte Möglichkeiten des Versteckens und der Deckung vor
Gericht. Das Phänomen des Gangsters ist ein Stadterzeugnis, und alle
ihre ganzen dunklen Seiten dienen ihm als Schild. Die Polizei weiß,
1 ZORBAUGH; Gold coast, S. 136, 137. 2 Ebenda, S. 138.
3 Ebenda, S.96 und 100. - über die freie Liebe, die hier verfochten wird,
während sie auf dem Lande wortlos vor sich geht, s. ebenda, S. 100ff.
4 Diese Auffassung habe ich in Strafrecht und Auslesen, Berlin 1914, entwickelt.
284 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

daß es keine sichereren Orte des Verbergens gibt als London und New
York. Kein Mensch kann auf die Dauer sich verkriechen, wenn er nicht
Freunde hat und Geld und wenn er nicht die Tiefen einer Großstadt
kennt. Es hängt mit der Unvollkommenheit ländlicher Polizeiverhältnisse
zusammen, auch mit den Strömen der Touristen, daß man sich auch im
Sommer auf dem Land verstecken kann!, besonders leicht zur Erntezeit,
wenn jede Arbeitskraft gebraucht wird und niemand lange nach dem
Leben vorher fragt. Erfahrung lehrt, daß Sorge vor Entdeckung den
Fleiß des Helfers und die Fügsamkeit erhöht. Der Landbesitzer oder
Handwerksmeister genießt den Vorteil einer Haltung, die besser schützt
als jede Technik des Verbergens 2 •
c) Die Menschentypen, die aus den verschiedensten Gründen, der
Anziehung der Stadt erliegend, hereinströmen, werden hier von be-
stimmten, stadtgeborenen Kräften gepackt. Unter ihrem stillen, aber
unablässigen Druck erfährt der Organismus, mehr noch die Psyche, eine
Umgestaltung, die gleichfalls Gleichformung ist. So verschieden Städte
auch nach Lage und Entwicklung sind, Hafenstädte 3 , Fabrikstädte 4 ,
Luxusstädte 5, so verfälschen sie das "natürliche" Leben durch Staub und
Lichter und Geräusche. Dieser Lärm ist am stärksten in den Fabrik-
vierteln und im Stadtinnern, verdünnt sich immer mehr und sinkt in
den Villenvororten nahezu auf jene ländliche Stille ab, in der nur Hähne
krähen, Hunde bellen und Kirchenglocken läuten. Eine Pseudoländ-
lichkeit mit abgeschwächter Luftverschlechterung und gedämpftem
Lärm wird durch Parks und eingestreute Grünanlagen hergestellt. Aber
auch bis hierher dröhnt der anschwellende Donner der Düsenflugzeuge,
die Fenster und noch mehr die Nerven zittern lassen. Es gibt zwar
langsam und still dahingehende Zugtiere, aber keine lautlose oder
erschütterungsfreie Maschine. Ihr Atem sind Gase, Rauchschwaden
und lcise rieselnder Ruß. Die Menschen nehmen diese Gifte unaufhörlich
in die Lungen und den Blutstrom auf.
Wie Berge, Täler, Seen, Steppen ihr eigenes kleines Nebenklima
bilden, so ändert auch das Steingewirr der großen Stadt den Kreislauf
physischer Potenzen. Die asphaltierten Straßen schaffen eine Art von
trockener Wüste, aus deren Boden jedes Wasser rasch verschwindet.
Die Rauchpartikel halten ultraviolette Strahlen auf. Die Windbewegung
COOPER, C. R.: Ten thousand public enemies, S. 116, 305. Boston 1935.
1
Ein gewisser Frank Almy, der später einen Mord beging, war "einer der
2
schlimmsten Gauner, die je den Boden von Neuengland betreten hatten. Er war
ein Einbrecher, ein Dieb, ein Fälscher und auf der Flucht vor den Gerichten; die
Hälfte seiner 30 Jahre hatte er in Strafanstalten zugebracht". Er war aber der
beste Knecht, den der Bauer in Jahren besessen hatte. - Er arbeitete Tag und
Nacht und klagte niemals. MrNOT: Murder will out, S. 2 und 3.
3 Hamburg, Liverpool, Marseille. 4 Pittsburgh, Essen, Manchester.
S Miami, Cannes, Wiesbaden.
Soziologie der Stadtbewohner 285

ist gehemmt, die Sommerhitze und die Gase der Motoren werden nicht
hinweggetragen. Abkühlung kommt erst in den späten Abendstunden,
wenn der Verkehr erlischt und Sonnenstrahlung sich nicht mehr in
steilen Straßenschluchten fängt. Im Winter ist es grau und trübe, und
erst am Abend flammen alle Lichter auf und regen Drüsen, Nerven und
Begehrlichkeiten an. Nachtleben hat in Städten seine Gründe, die neben
Sinnlichkeit, Erwerbssinn und dem Schutz des Dunkels liegen. Die
Nacht läßt in die Städte Energien der Erneuerung ein, verstärkt sie
künstlich, um sie materiell zu nutzen, und jeder findet schließlich seine
Freude daran.
Die Kraftentfaltung der großen Stadt, die Wirkung, die sie aus
Dampf, Elektrizität und bald auch Kern-Gewalten zieht, betäubt und
spornt nicht nur die Jugend an. In dicht geballten Menschenmassen
wohnen Antriebe, die die ganze Bevölkerung ergreifen, ihre Suggestibili-
tät erhöhen, ihr Machtgefühl erregen, wie es ja jedem geht, der einen
großen Fabriksaal betritt, eine große Versammlung besucht oder mit
einem Regiment in Reih und Glied marschiert. Besonders stark erfaßt
der Masseneinfluß Menschen, die vom Lande kommen und innerlich
befriedigt altes Herdendasein wiederfinden. Sie können sich geborgen
in ihm niederducken. Die Furcht der Einsamkeit und des Bedrohtseins
fällt von ihnen ab. Aus diesem Grunde zieht es Minderheiten in die
Städte. Sie bilden Städte in der Stadt. Das ist der Ursprung mittel-
alterlicher Ghettos! und solcher dunkelhäutiger Viertel, wie sie NewYork,
mehr noch Chicago kennt 2 •
Die ihrer Kraft bewußten Massen der Stadt fühlen sich zwar dem
Lande überlegen, leiden aber an einem unbestimmten Unbehagen, das
leicht in offene Unzufriedenheit umschlägt. Sie stehen immer auf der
Grenze von Ja und Nein. Diese Spannung kommt daher, daß der Arbei-
ter mit Ausnahme von Spitzengruppen mehr und mehr zu einer Art
von Pferdekraft geworden ist. Sie wird von fremden kühlen Rechnern
hier und dort verwendet. Menschen werden wie Schrauben oder Gewinde
ausgewechselt, ohne daß sie eine Liebe zur Sache, eine leistungssteigernde
Gefühlsbeziehung entwickeln können. Die Maschine kennt weder An-
hänglichkeit noch Dankbarkeit, nicht einmal Ärger, wenn sie schlecht

1 Siehe die Geschichte des Frankfurter Ghettos bei LOUIS WIRTH: The Ghetto,
S.41ff. Chicago 1956. - "The Jew was excluded", schreibt WIRTH ganz richtig,
"therefore he became exclusive; ... the hand of the world was against him, therefore
he sought protection among his own" (nach PHILLIPSON).
2 Siehe das Kapitel: Black paradise in LAIT and MORTIMER: Chicago con-
fidential, S. 42ff. - Es handelt sich um den Stadtteil, den man "Bronzeville"
nennt. Von der kleineren Kriminalität sprechend, meinen die Verfasser (S.47):
"Es scheint, daß jedermann in Bronzeville diese Dinge sieht, nur die Polizei nicht."
Das Machtgefühl der Masse (750000 Neger) macht sich geltend; sie weicht allein
dem schwarzen Polizisten.
286 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

behandelt wird, wie es doch jedes Haustier tut. Den Menschen macht
sie unbemerkt zu ihrem Ebenbilde. Sie ist einstweilig, immer wieder
überholt, vollkommen nur, bis Neues kommt und sie zum alten Eisen
wirft. Maschinen müssen immer schneller laufen, die Vibration nimmt
zu, der vielgequälte Organismus wird vergiftet, Ermüdungsstoffe
sammeln sich in den Geweben an. Die Arbeit, die ihn freute, hat
sich unmerklich unter seinen Händen in einen harten Anspruch ver-
wandelt, dem Geist und Körper nur für kurze Zeit gewachsen sind 1.
In dumpfer Weise macht der hohe Lohn nicht völlig glücklich. Das
ist der Geist der Stadt, der hinter seiner Kriminalität hervorblickt.
Heftiger schlägt das Herz der Stadt im Krieg. Jung und alt, Mann
und Frau werden auseinandergerissen oder ersetzen einander im Berufe.
Da aber der moderne Krieg auf Massenproduktion beruht, füllen sich
die Industriestädte an. In Städten sind die Zentren der Regierung.
Hilfskräfte werden aus dem Reservoir der Frauen angefordert 2. Ver-
gnügungsindustrien blühen auf, um die Soldaten unbesorgt und glück-
lich 3 zu erhalten. Die Städte werden abgedunkelt; die Kriminalität
der Luftschutzbunker ist noch nicht beschrieben, obwohl wir wissen,
daß die Frauen oft den ganzen Schmuck zusammenraffen und mit sich
nehmen. Wieviel mag im Gedränge wohl "verloren" worden sein.
Nach MARx sind auch die großen Städte dazu da, den Aufruhr gegen
Unterdrücker durchzuführen. Er dachte nicht an Altersgruppen, Ver-
schiebung im Verhältnis der Geschlechter und alles, was Bevölkerungen
umformt, sie suggestibler, aggressiver, leichter zu verführen macht. Er
wußte aber, daß hier alle Stränge der Beherrschung ineinanderlaufen
(Regierungsgebäude, Bahnlinien, Zeitungsdruckereien, Flugplätze und
Radiostationen). In der Stadt ist die Massenbildung in den großen
Fabriken, der anschwellenden Bürokratie der Behörden, ja in den Kaser-
nen vorgebildet. Die Gegenkräfte bleiben zahlenmäßig weit zurück, auch

1 Gute Bemerkungen über die physische Überbeanspruchung des modernen


Fabrikarbeiters bringen nach amtlichen Berichten ELLIOTT und MERRlLL, S. 294,
295. Im Jahre 1948 wurden 16500 Arbeiter in den USA durch Arbeitsunfälle
getötet, 85000 erlitten schwere Schäden, zeitweise arbeitsunfähig durch leichtere
Unfälle waren 1850000. Ebenda, S.206. - In ihrem Buch: Industrial poisons in
the United States, S.2ff., New York 1925, diskutiert Dr. ALlOE HAMlLTON die
Fragen von warmer und feuchter Luft, Arbeitsstunden, Ernährung, Alkoholismus,
Rasse, Alter und Geschlecht auf Vergiftungen durch Blei, Arsen, Quecksilber,
Kupfer, Phosphor und Schwefel.
2 Als Frankreich im Jahre 1940 sich ergab, forderte die amerikanische Regie-
rung für jedes Postamt Frauen an, um Männer zu ersetzen. In einem Jahre stieg
die Vorkriegszahl der weiblichen Beamten von 53000 auf 77000 an.
3 Einem Krinlinalbeamten, der im Kriege die Jugendkriminalität zu über-
wachen hatte, sagte ein Kind, das sich auf Times Square anbot: "Wir wollten
doch nur patriotisch sein." DANFORTH, HARoLD R.: Big Oity crimes, S. 108.
New York 1960.
Soziologie der Stadtbewohner 287

ist der Unterschied von arm und reich viel stärker fortgeschritten als
in ländlichen Gebieten. Begehrenswertes wird mit aller Kunst zur Schau
gestellt, verlockend angeleuchtet, Tag und Nacht empfohlen. Das
gleiche Denken ist zum guten Ton erhoben, und von der Kleidermode
bis zur gleichen Mode der Gefühle ist der Schritt nur kurz. Bei jedem
Aufstand greifen kriminelle Elemente ein. Indes die einen für die Frei-
heit sterben, füllen andere sich die Taschen; man lese nur, wie es beim
Sturm auf die Bastille zuging. Auf Furcht vor diesem Zug im Bilde
großer Städte beruht der Anti-Urbanismus der Legende, als ob im
Bauernkrieg nicht wilde Greuel geschehen wären. Je nach der Lage
sind wir Sünder allzumal, nur daß die Stadt im Augenblicke in der
Feuerlinie steht.
d) Das Strafgesetzbuch nennt die Verdichtung einer bedrohlichen
oder gewalttätigen "Gruppe" Zusammenrottung (§§ 115, 122 StGB).
Wenn bei dieser rechtswidrigen Zusammenwirkung von "vereinten
Kräften" gesprochen wird, so ist damit die erhöhte Dynamik angedeutet.
Auf dem Gebiet der Staatsgefährdung wird bereits die Gründung einer
"Vereinigung" mit Strafe bedroht (§ 90a StGB), während die Zersetzung
von Organisationen, die dem Schutze des Bestandes oder der Sicherheit
des Staates dienen (§ 91 StGB), verboten ist, weil sie die Schlagkraft
vereinigter gesellschaftlicher Kräfte schwächt.
Die Muskelleistung des einzelnen kann nur auf zweierlei Weise ge-
steigert werden: mechanisch, indem eine Kraftäußerung der anderen
hinzugefügt wird, bis wir zu der endlosen Kette der Fronarbeiter kom-
men, die die schweren Blöcke der Pyramiden herbeischleiften und auf-
einandertürmten. Um ein Höchstmaß von Wirkung zu erreichen, muß
die Arbeit des weiteren koordiniert werden. Ein Optimum wird erreicht,
wenn durch Gehorsam oder Disziplin jeder Kraftverlust vermieden ist.
Das sind die "vereinten Kräfte" des Strafgesetzbuches, die einmal als
bedrohlich abgebrochen werden müssen, wenn sie sich gegen unsere
Rechtsgüter richten, bei anderer Gelegenheit und auf andere Ziele
abgestellt als rettendes Prinzip heraufbeschworen werden, etwa zu
Anfang eines Krieges.
Neben dem auferlegten Gehorsam gibt es seelische Bereitschaften,
die gewollt und daher ebenso zwingend unseren Willen mit anderen
Menschen an einem Strange ziehen lassen, so daß es unmerklich zu
"vereinten Kräften" kommt. Wir ahmen nach. Wir lassen uns von
Suggestionen leiten, dem, was man populär das schlechte Beispiel nennt.
Doch sollten wir die Macht des guten Beispiels nicht vergessen, die Bilder
großer, milder, heldenhafter Menschen, mit denen wir die Köpfe junger
Menschen füllen. Wir wollen nicht allein, daß man von ihnen hört.
Nacheiferung wollen wir erwecken und damit dem Willen eine ganz
bestimmte Richtung geben, die die Gemeinschaft fest zusammenhält.
288 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Suggestionen springen aber auf hundert anderen Wegen über als


durch Worte. Die Tiere sprechen nicht und kennen doch Zusammen-
klang, wenn sie in Herden oder Vogelschwärmen sich bewegen. Wie auf
Kommando, sagen wir, die Koordination geht aber andere unhörbare
Wege. Die Menschenmassen sind solchen subtileren Einflüssen nicht
entwachsen, wie jede Panik - sie sei wütender Angriff oder besinnungs-
lose Flucht - erweist. Ganz offensichtlich verändert sich der Mensch,
je enger er zusammengedrängt wird. Er wird erregbar, primitiv, auf-
scheuchbar und dabei in vieler Hinsicht furchtlos. Ihn überkommt eine
neue erschreckende Art der Suggestibilität. Nachahmung wird zu
zwingender Gewalt; der Antrieb wird durch summarische Reize opti-
scher oder akustischer Art vermittelt und bemächtigt sich unter Um-
gehung höherer Gehirnzentren einer erleichterten Motorik. Von dieser
Raumbeziehung wollen wir kurz handeln, die auch beim Rechtsbruch
eine nicht geringe Rolle spielt. Die Menschendichte scheint nur ein
mechanisches Problem; doch ist sie soziologisch höchst bedeutsam, wird
morgen doppelt von Gewicht sein.
Es gibt konstante Formen der Dichte, wie die Armutsviertel von
London, Paris und New York. Daneben steht die fluktuierende Ge-
drängtheit, und diese Zusammendrängung von Menschen kann zeitlich
von sehr verschiedener Länge sein. Die Belegschaft eines Industrie-
werkes arbeitet und pausiert 7-8 Stunden gemeinsam. Diese künstliche
Dichte führt zu Beziehungen seelischer Art. Die Arbeiter teilen Freud
und Leid, und aus gleichen Interessen erwächst gleiche Geisteshaltung.
Die Nähe erzeugt nicht nur Beeinflußbarkeit, deren sich kaum einer er-
wehren kann, sie erweckt das Gefühl der Geborgenheit im Machtbereich
der Masse. Der Arbeitslose vermißt nicht nur den vollen Lohn und den
geregelten Rhythmus der Arbeit, ihn schmerzt das Heimweh nach Be-
rührung mit der Menge, die, ohne daß wir die exakten wissenschaftlichen
Grundlagen genau kennen, erleichternd auf die Kraftentfaltung wirkt.
Mit der Schule treten neue Fragen auf. Die kleine und die überfüllte
Klasse sind ganz verschiedene Resonanzböden für die Bemühung des
Lehrers; im überfüllten Schulraum macht sich entweder beste Disziplin
oder die Störrigkeit des Widerstandes geltend. Wir kommen bei Festen,
Märkten und Messen zusammen, um lustvoll Menschendichte zu ge-
nießen. Ein leeres Theater oder Kino setzt die Teilnahme der Zuschauer
herab, von überfüllten Sälen gehen Ströme der Erregung aus. Die
Demagogen wissen wohl, daß dicht gedrängte Massen anders reagieren
als nur ein halbes Dutzend Partner am Verhandlungstisch. Es gibt die
wohlbekannte revolutionäre Dichte. "Erscheint in Massen!" leuchtet
es von den Plakaten. Doch auch die fromme Andacht ist gesteigert,
wenn eine Kirche bis zum letzten Platz besetzt ist und mit des Nach-
barn Inbrunst eigene Inbrunst wächst.
Soziologie der Stadtbewohner 289

Die aufgedrängte Dichte weckt verschiedene Reaktionen. Wir sind


zumeist aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, sie zu übersehen. Die
Zuchthauszelle zerlegt die überfülltheit der Strafanstalt in kleine Sonder·
kojen, um eine Massenbildung zu verhindern, die in Eßsälen, Arbeits·
räumen und Kapellen immer wieder zustande kommt. Irrenanstalten
sind außerstande, für jeden Patienten einzeln zu sorgen, und ihre Praxis
ist nur dadurch möglich, daß viele Kranke so kontaktschwach sind. Viele
Waisenkinder leiden ihr Leben lang an jener notwendigen Zusammen·
drängung, die sie zu kleinen, verfrüht gerissenen Verschwörern macht,
während sich die ehrlichste Fürsorgeanstrengung an der Vielzahl der
Pflegeobjekte erschöpft und leicht zur reinen Pflichterfüllung wird. In
jeder Anstalt macht sich eine Dichte·Wirkung geltend. Die Masse spaltet
sich in Führer l und Geführte. Ein Leittier kämpft sich in den Vorder·
grund, bewährt sich, avanciert zum Vorbild erst und dann zum stillen
Vorgesetzten, dem diese neuen Untertanen den Tribut ihres Gehorsams,
der Bewunderung, ja einer unbeschränkten Art von Liebe bringen. Die
Enge wird zum Kuppler ihrer Unterwerfungstriebe. Soziologie der Herde
fehlt uns heute noch.
Die Demographen haben die Bevölkerungsdichte, ähnlich wie viele
Kriminologen, vom Standpunkt der Ernährung und der internationalen
Politik 2 betrachtet. Fraglos sind diese Probleme wichtig, und es hat
sich eine ganze, aufschlußreiche Literatur entwickelt, die sich mit Son·
dertypen der Übervölkerung befaßt 3 und Kriminalität, Familienzerfall
und Fundorte unbekannter Toter auf sauberen Karten 4 darstellt. Wenn
man die Wohnungsdichte der amerikanischen Einzelstaaten durchsieht,
so finden sich riesige Gegensätze:
Bevölkerung auf die Quadratmeile in den US.A, 1940 5
Rhode Island 674,2
Massachusetts 545,9
Wyoming . . 2,6
Nevada . . • 1,0
Vereinigte Staaten 44,2

In Rhode Island wohnen viele vermögende Menschen; die Wirkungen


der Dichte werden von der wirtschaftlichen Seite her aufgehoben.
Nevada ist das Land weiter Wüstengebiete. Menschen, die sich nicht
treffen, können sich nichts wegnehmen, sich nicht ermorden oder sonst
1 Siehe den Versuch einer Psychologie des Führers im Zuchthaus in meiner
Strafe, Bd. II, S. 322.
2 THOMPSON I, S. 260ff.; II, S.346ff.
3 Zum Beispiel SHAW, R. CLIFFORD und andere: Delinquency areaa. Chicago 1929.
, Siehe die Karten bei ZORBAUGH, S. 83, 129, 132, 157. Brennpunkte sind
"Little Hell" und "Death Corner."
5 SMITH, T. LYNN: Population .AnalY8i8, S. 20 und 21.

v. Hentlg, Das Verbrechen! 19


290 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

zusammenstoßen. Diese Dichtezahlen müssen also durch eine Anzahl


anderer Faktoren modüiziert werden. Manche Einflüsse sind auch nicht
mit dem Raume fest verbunden. Sie können zufällig sein, Nutzen oder
Schaden bringen. Die Israeliten, die in der Wüste hungern und murren,
werden durch einen Schwarm von Wandervögeln gerettet!. Müde von
dem langen Weg, fliegen sie tief und können, als sie das Lager überqueren,
gefangen werden. Die Entdeckung von Bodenschätzen, früher Silber
und Gold, heute Öl und Uranium, kann das Verhältnis von Menschenzahl
und Raum, selbst auf unfruchtbarstem Boden, in der Wüste oder unter
dem Eis der Arktis, verändern und zum Besseren wenden.
Dichte muß dort unsere Beachtung finden, wo es um sexuelle Be-
ziehungen geht. Hier sind physiologische Mechanismen im Spiele, die
bei sehr großer körperlicher Nähe Reflexe ablaufen lassen oder die
bremsende Wirkung von Hemmungen außer Kraft setzen. Wenn eine
enge Schlafkammer drei Betten für eine siebenköpfige Familie enthält
oder wenn die Winterkälte in der ungeheizten Bodenkammer zur Folge
hat, daß die Tochter in die Wärme des väterlichen Bettes kriecht 2 , so
drängt sich allzu große Dichte im Komplex kausaler Bedingungen in
den Vordergrund. Kriminalpolitisch ist diese schädliche Nähe in der
Familie schwer zu vermeiden, kommt Raumnot hinzu, haben möglicher-
weise Stieftöchter ein aufreizendes Element der Fremdheit eingebracht,
trinkt der Mann, ist die Frau abwesend oder krank, so ist der inzestuösen
Neigung Tür und Tor geöffnet. Daneben kann auch die stete Be-
lästigung der Frau durch den arbeitslos zu Hause herumlungernden
Mann, kann diese Art der allzu großen oder allzu langen "Dichte"
zu Konflikten führen.
Die Menschendichte kann unkenntlich machen und die Flucht erleich-
tern. Es will auch scheinen, als ob in einer Überzahl von Menschen, die
zusammen hausen, moralische Anschauungen eine Abschwächung erlit-
ten. In dem Mordprozeß gegen den Zuhälter Berger (Berlin 1891) teilte
der Hausverwalter mit, im Gebäude, in dem das ermordete Kind gewohnt
hatte, Ackerstr.130, wohnten 106 Mieter 3 • Der Angeklagte erklärte, das
Haus sei, wie stets, nachts offen gewesen. Es wohnten in diesem Hause
"sehr viele Prostituierte und junge Leute, die die ganze Nacht fast
unaufhörlich aus und ein gehen". Dieses nächtliche Gewühl ist nicht nur
schlechtes Vorbild, der Massenvorgang steigert wie bei einer Orgie die
Erregung. Es kommt zu einer Art von Wettbewerb, dem andern es
zuvorzutun und selbst den Ansporn zu genießen.
Der Taschendieb kann nur im tiefen Wasser des Gedränges schwim-
men. Wenn ihm die Masse fehlt, so hilft er, sie beschaffen. Doch findet

1 2.MOB. XVI, 12. 2 FINKE und ZEUGNER, Monatsschrift, Bd. XXV, S. 315.
3 FRIEDLÄNDER, Bd. IV, S. 48.
Soziologie der Stadtbewohner 291

er die Enge und die abgelenkte Aufmerksamkeit in Autobussen, Hotel-


hallen, Theatergarderoben, kurz wo die Menschen an andere Dinge
denken, es sehr eilig haben und eine kurze Berührung nicht allzu sehr
auffällt. Bewundernd sehen zwei Kriminalbeamte, wie der jugendliche
Carlton (Fingers) Tolland vorgeht. Die Amerikanische Legion feiert
eine Zusammenkunft. Vor dem Ballsaal eines Hotels stauen sich die
stark beschwipsten, höchst vergnügten Männerhaufen, weil hier die
Eintrittskarten vorgewiesen werden müssen. "Plötzlich reckt sich der
Dieb hoch, wie ein Vogel, der den Wurm erblickt hat. Er stößt das
Opfer an, er bittet lächelnd um Verzeihung, und aus dem Rock ist die
Brieftasche herausgeglitten. " "Prachtvolle Arbeit", sagt der Kriminal-
beamte l .
Ein junger Zopfabschneider hatte immer bei den Einzugsfeiern Glück,
wenn Fürstlichkeiten in Berlin begrüßt wurden, die neue Kronprinzessin
kam oder der König von Spanien zu Besuch erschien. Gebannt und
dichtgedrängt sah alles nach dem Gaste. "Da habe ich beim Opernplatz
einem Kinde den Zopf abgeschnitten; das Mädchen merkte nichts da von,
und ich blieb ruhig stehen 2."
Neben gedrängten Menschen kann räumliche Enge gesucht werden,
so daß auch bei zwei Personen "Dichte" entsteht. Der Homophile, der
einen Jugendlichen verleitet, mit ihm nachts in einem kleinen Zelte
oder der engen Kajüte eines Segelbootes zu schlafen, nützt räumliche
Beschränktheit aus. Die gleiche Beurteilung gilt für das Eisenbahn-
kupee in einem Nachtzug 3 und für die Enge eines Autos, in dem der
Fahrlehrer "Dichte" und Autorität gleichzeitig für die Erreichung seiner
Zwecke einsetzt 4. Ein jeder Ort, an dem man sich nicht rühren kann,
ist schon durch zwei Personen "übervölkert 5 ."
Die Innenstadt zeigt ganz verschiedene Dichtegrade 6 , z. B.:
in New York . 23178 Menschen auf die Quadratmeile
in Chicago . . 16723 Menschen auf die Quadratmeile
in New Orleans 3340 Menschen auf die Quadratmeile
in Los Angeles 2811 Menschen auf die Quadratmeile

1 DINNEEN, S.30. 2 FRIEDLÄNDER, Bd. IX, S. 287.


3 WINZENRIED und RASCH: Homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen,
Monatsschrift, Bd. XLI, S. 197. Es erfolgte Freispruch - s. auch die Eisenbahn-
toilette als Tatort bei GERHARD KUHN: Das Phänomen der Strichjungen in Ham-
burg, S. 83. Wiesbaden 1957.
4 WINZENRIED und RASCH, S. 200ff.
5 Ein Schrank kann es bei einem Menschen sein, der sich versteckt und keine
Luft mehr hat. Siehe den Fall de Caunes, BATAILLE: Causes criminelles de 1890,
S. 103ff. Hier fiel der im Wandschrank horchende Ehegatte angesichts dessen,
was er hören mußte, in Ohnmacht und erwachte erst wieder nach eineinhalb
Stunden.
6 Statistical Abstract 1930, Washington 1932, S.77.

19*
292 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Hier bietet sich das Bild größter Zusammendrängung, und die Unter-
suchungen THRAsHERs, SHAwS und anderer Amerikaner haben wert-
volles Material beigebracht, wenn auch nicht immer die amerikanischen
Verhältnisse mit ihren Einwanderern und fremden, wirtschaftlich unter-
entwickelten Rassen auf Europa passen l . Hier ist die ungeheure Dichte
der Ausdruck von Armut, Alter, Krankheit, Schwachsinn, Lebens-
niederlagen. Hier finden von der Polizei Gesuchte Zuflucht, hier leben
Spitzel vom Verrat 2. Hier empfängt die auf den Straßen lebende Jugend
eine Lehre, die sie oft allzu gut beherzigt. Diese Enge beschönigt keine
Schwäche, keine Blöße; so muß das schlechte Vorbild wuchtig in die
Seele ungereifter junger Menschen fallen. Pädagogisch noch verderblicher
ist es, den sozialen Niedergang von Eltern anzusehen, die aus alt-
modischen Anstandsgefühlen sich den Erfolg aus den Händen rinnen
lassen, während dicht daneben Gewissenlosigkeit zu Macht und Reich-
tum kommt. Wie im Gedränge eines Theaterbrandes entfesseln sich
hier Kampfinstinkte bei dem, der diesen Wettbewerb bestehen will.
In Mordprozessen werden Typen öfters angetroffen, die hier im Slum
für das normale Leben allzu bedenkenlos und aggressiv geworden
sind 3.
Das Verhältnis Boden-Lebewesen ist längst nicht mehr die Men-
schenzahl verglichen mit der Fruchtbarkeit, die sie ernährt. Große
Werke können neben Kohlenschächten aufgerichtet sein, in Hafenorten,
wo die Tanker landen, flutet das Wirtschaftsleben hin und her. Mit
massiertem grellem Licht und bunt bewegtem Treiben locken Ver-
gnügungsviertel Kunden an. Diese Vergnügungs- oder Lasterdichte
erlischt beim ersten Hahnenschrei und macht der Käuferdichte in den
Geschäftsstraßen und der Arbeitsdichte in Fabriken und Büros Platz.
Bahnhöfe füllen sich, Hotels geraten in Bewegung, der Lebensraum ver-
kürzt sich, Menschen rücken dichter aneinander. Das Herz der Stadt,
das sich zur Nacht zusammenzog, dehnt sich am Tage wieder aus. Nur
Sonntags nimmt der Tagesrhythmus eine andere Richtung an und löst
die Alltagsdichte in Familiengruppen auf.
Dazwischen kommt es zu zahllosen Verdichtungen kleinerer Art, in
Fahrstühlen!L, in Bars, die körperliche Nähe jedem nahelegen, der danach
begehrt. Die schmale Tanzdiele geht auf überfüllungswirkung aus, die
manche Menschen lüstern suchen. Sie lockt die Prostituierte und die

Auch die geschichtliche Entwicklung ging in vielen Fällen andere Wege.


1
2 BEVERIDGE, PETER. gibt ein Beispiel in Inside the C.I.D., S. 32. London 1947.
a Der ermordete "Politiker" Potter war ein solcher Typ. Er lebte in stetem
Kriegszustand, auch als er hochgestiegen war. BAYER, O. W.: Cleveland murders,
S. 177ff. New York 1947.
4 Siehe COLLANS, DEv: I was a Muse detective, S. 67, 68. New York 1954.
Soziologie der Stadtbewohner 293

Taschendiebin 1 an. Daneben schützt die Menge wieder gegen überfälle,


die in verlassenen Lokalen leichtes Spiel verheißt 2.
Erst die Einführung des Begriffs der Dichte gestattet, in das, was
die Statistik "Stadt" nennt, soziologisch tiefer einzudringen als durch
die bloßen Größezahlen der Bevölkerung. So haben Städte im Ruhr-
gebiet eine sehr viel größere Dichte als der Zahl der Einwohner, ver-
glichen mit anderen Städten, entsprechen würde; ich stelle Oberhausen
neben Augsburg:
Bevölkerungsdichte 1956 3 (je qkm)
Oberhausen . . . 3151 (242600 Einwohner)
Augsburg . . . . 2359 (202900 Einwohner)
Der städtische Charakter schwankt nicht nur nach Größe, unabhängig
davon auch nach der Dichte
Bevölkerungsdichte 1956 4 (je qkm)
Stuttgart 2954 (612000 Einwohner)
Sigmaringen . . . 61 (44300 Einwohner)
Unendlich viel schroffer sind die Gegensätze zwischen Stadt und Land
in Amerika
Bevölkerungsdichte 1940 5 (auf Quadratmeile)
Staat Nevada . . . 1,0
District of Columbia . . . 10870,0
Vereinigte Staaten . . . . 44,0
Innerhalb der Umweltdichte gibt es weitere Verengungen des Lebens-
raums, die bis zur Unerträglichkeit gehen und zu kriminellen Reaktionen
führen können. Angeklagt wegen versuchter Urkundenfälschung, gab
der jugendliche Angeklagte eine Schilderung des Barackenlebens 6:

1 MARTIN: My life, S.28. New York 1952. "Sie konnte einen von der Bar
abholen, einmal um die Tanzfläche herumwirbeln und unterdessen jede seiner
Taschen ausräumen."
2 Bei BowEN, CROSSWELL: They went wrong, S.30, New York 1955, blicken
die beiden Straßenräuber erst in einige Restaurants. Sie sind zu voll. Um 4 Uhr
morgens sehen sie einen einsamen Kellner, der hinter einer Bar aufräumt. Sie
dringen ein und nehmen 80 Dollars weg.
3 Stat. Jahrbuch 1957, S. 35, 39. 4 Ebenda, S. 37, 38.
5 Statistical Abstract 1947, S. 8.
6 MOSTAR, HERMANN: Nehmen Sie das Urteil an? S. 34. - Durch Zufall wird
ein kleiner Raum frei, nur 4 Quadratmeter und mit Zementboden, "der kalt und
feucht war, aber Wärme kam durch die dünne Wand vom Stall her ... Sie konnten
sprechen miteinander, ohne daß andere sie hören mußten ... Und Erwin konnte
seine Schularbeiten machen und kam in der Klasse wieder mit und bekam eine
Lehrstelle, weil er nun ein leidliches Abgangszeugnis bekam". Um diesen "besseren
Raum" behalten zu können, hatte der Junge eine Mietquittung gefälscht. Siehe
auch die Schilderung S. 104 von dem 6-Familienhaus, in dem über 100 Flüchtlinge
untergebracht waren.
294 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

,,In einem ganz engen Verschlag mit nur mannshohen rissigen Bretterwänden
zu den andern, ebenso engen Verschlägen hin, 32 waren es im ganzen Raum, an
70 Menschen wohnten, nein vegetierten dort. In der Zelle der Webers (Mutter
und Sohn), nein, es war ja nicht einmal eine Zelle, eine Zelle wäre eine Gnade
gewesen - im Verschlag der Webers zwei Pritschen übereinander für Mutter und
Sohn, ein Nichts von wackligem Hocker, ein Nichts von winzigem Tisch. Und
dort, im ewigen Halbdunkel, im ewigen Menschenlärm sollte Erwin die Schul·
arbeiten machen. Es ging nicht, er lernte sowieso nicht so leicht, er wurde ein
schlechter Schüler."
Die Dichte produziert Lebensschwierigkeiten, Abstumpfung, Opfer,
denn zur Pflege feinerer Gefühle gehört die Freiheit und die Schonung
körperlichen Zwischenraums:
Geburtsort Ämsterdamer Prostituierter 1926-1935 1 (1589 Fälle = 100%)
Gemeinden 50000-100000. 5,6
100000 und mehr . . 13,6
Amsterdam . . . . . 35,5

Das dichte, allzu dichte Beieinanderwohnen legt die Schranken des


Dekorum nieder. Der Abstand schützt auch vor uns selbst.

D. Fernwanderungen und soziale Krisen


a) Wenn Menschen wie Nomaden wandern, so gehen sie nicht einfach
in die weite Welt, ins Blaue, Unbekannte, Ungewisse. Sie gehen manch·
mal nur im Kreise. Zugvögel fliegen nach dem Süden und sind im Früh-
jahr wieder da, oft an der gleichen Stelle und im alten Neste. Beduinen
wandern von Oase zu Oase. Wenn sie nach neuen Wasserstellen streben,
so müssen es besondere Gründe sein. Sie sind wie Tiere in das gleiche
Habitat gebannt, das gleiche Klima und die gleiche Pflanzenwelt, wo
ihre Ahnen und die alten Götter wohnen und die Gefahren ihnen wohl-
vertraut sind. Aus diesem Zirkel kann nur letzte Not sie treiben, der
Hunger und die Todesangst.
Die kurze Wanderung ist Alltäglichkeit und ist trotz allem schmerz-
haft wie bei der Braut, die Abschied von den Eltern nimmt, bei der Ver.
setzung des Beamten, beim Eintritt in das Heer, sogar beim Kind, das
erstmals in die Schule geht. Aber alle diese Ortsveränderungen führen
nicht - oder meistens nicht - über die gewohnte Umgebung hinaus.
Die Anpassungsmechanismen von Körper und Seele werden nicht extrem
beansprucht. Die gleiche Sprache wird gesprochen. Die gleichen Sitten
herrschen. Wir sind nicht "Fremde" in dem bösen Sinne, der uns im
Blute steckt und der wie eine Waffe in jedem Augenblick gegen uns
gezückt werden kann. Die kleine Wanderung hat ihre Schwierigkeiten
und Probleme, doch fehlen ihr die großen Schrecken.

1 Nach STACHHOUVER erwähnt bei VAN BEMMELEN, S. 125.


Fernwanderungen und soziale Krisen 295

Wie sehr das Instrument der Wanderung der Lebenserhaltung dient,


läßt sich an den Situationen abmessen, in denen sie behindert ist, wie
im Gefängnis und beim Militär, im Eheleben und in vielen faktischen,
gesetzlichen oder vertraglichen Verhältnissen, beim Kind zum Beispiel
oder bei den Dienstboten, die wir als Heimwehkranke kennengelernt
haben. Wenn freie Fortbewegung nicht gestattet ist, um einer Noxe
zu entgehen, entstehen Spannung und Erregtheit, und ihre Lösung
reicht sehr häufig ins Gebiet des Rechtsbruchs. Selbst die Verzögerung
durch Formalitäten, wie bei der Scheidung, kann kriminelle Reaktionen
in Bewegung setzen, die bei sofortiger Trennung ausgeblieben wären l .
Daß Menschen weit und immer weiter wandern, bis Meere zwischen
alter Heimat und dem neuen Leben liegen, verrät, wie stark sie abge-
stoßen werden. Sie suchen einem übel zu entfliehen, das unerträglich
und unheilbar ist. Es gibt eine Reihe solcher zentrifugaler Antriebe und
Lebenslagen. Es kann der Hunger sein, und hundert Gründe können
ihn verursacht haben: Trockenheit, Wasserfluten - siehe die Arche
Noah - Heuschrecken- oder Mäuseplagen, Seuchen, Erdbebenkata-
strophen und Vulkanausbrüche, die Götterungunst zu verraten scheinen.
Es kann die übermacht von Feinden sein, die nicht nur töten, auch
zum falschen Glauben zwingen, der schlimmer ist als Tod und das ver-
lorene Leben, weil künftige Seligkeit bedroht ist.
Die staatliche Vielfalt Europas mit seinen Fürsten ganz verschie-
dener Denkungsart, seinen abweichenden Staatsformen und religiösen
Bekenntnissen erlaubte Rettung durch Ortsbewegung innerhalb des
Kontinentes. Verfolgte Juden wichen nach dem Osten aus, verfolgte
Protestanten aus Holland, Salzburg und Frankreich fanden im branden-
burgisch-preußischen Staatsgebiet Aufnahme, verfolgte Katholiken
konnten von England nach Frankreich fliehen. Sie fanden Zuflucht unter
Gleichgesinnten oder ausnahmsweise Toleranten. Die klimatischen und
soziologischen Verhältnisse, in denen sie sich zurechtzufinden hatten,
waren andersartig, doch nicht völlig neu. Sie fügten sich, von Sym-
pathie umgeben, in die Bedingungen der neuen Heimat ein. Sie blieben
eine anspruchslose Minderheit und dachten keinen Augenblick daran,
nach fremder Macht zu greifen oder mit den Gastgebern in ernsthaften
und empfindlichen Wettbewerb zu treten. Sie entgingen den eigentlichen
Schwierigkeiten einer Wanderung in überseeische Gebiete.

1 In nicht wenigen Fällen haben zur Unbeweglichkeit Verurteilte einen Mord


begangen. Da sie sich nicht entfernen konnten oder wollten, "entfernten" sie die
Quelle der Konflikte. Siehe FEUERBACH, Bd. I, S.237. Ein Sohn sagte aus:
"Wir Kinder hätten längst unser Brot auf eine andere Weise gesucht, wäre es
uns nicht um unsere Mutter zu tun gewesen, die dann ganz allein den Mißhand-
lungen unseres Vaters ausgesetzt geblieben wäre." Siehe auch Neuer Pitaval,
Bd. XXX, S. 269. Leipzig 1871.
296 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Obschon auch unter diesen Glaubensfesten und politisch überzeugten


viele arme Bauern und Handwerker waren, so war es doch ein anderer
Typ, der der Heimat den Rücken kehrte, als London und Madrid, auch
Paris, Holland und Portugal darangingen, die menschenarmen Gebiete
jenseits der Meere "aufzuschließen". Sie waren oftmals froh, Rebellen
loszuwerden 1,hartnäckige Dissidenten, kämpferische, unbeugsame Köpfe,
Rechthaberische bis zur Starrheit, und doch in Treue ihren eigenen
Glaubenssätzen zugetan. So trat zum Element der vielen Wandelbaren
der Härtezusatz einer zähen, unbewegten Schicht. Sich treuzubleiben,
gaben sie die Heimat auf und wurden selbstgerecht und gute Hasser,
die Feinde jeder Art von Unterdrückung, die sie von Haus und Hof
vertrieben hatte. In Söhnen 2 und in Enkeln setzte sich der Drang nach
Freiheit auf der ganzen Erde fort.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts trafen zwei Bewegungen
zusammen: Teils machten sich die dissidenten Gruppen auf, jenseits
der Meere ein gelobtes Land zu finden, in dem sie ihrem Glauben leben
konnten. Gleichzeitig wurden alle Unerwünschten abgeschoben. Als
WILLlAM PENN im Juli 1680 das Britische Kolonialamt um Belehnung
mit den Ländern zwischen New York und Maryland ersuchte, erhielt
er ohne Schwierigkeit die königliche Unterschrift 3. Das Waldgelände
sollte Sylvania 4 heißen, und was die Krone weggab, stand in keines weißen
Mannes Eigentum, denn Heiden als Besitzer, die Indianer, zählten nicht.
Wie groß ein weiterer Strom von Wanderern ist, die Herkunft und
sozialen Standort zu verhüllen geneigt sind, ist nicht zu sagen. Wir
sehen von den in längst vergangenen Tagen Verschickten ab, über die
genaue zahlenmäßige Angaben nicht vorliegen, <;>bwohl sie britische
Archive liefern könnten 5. Da neben Kriminellen Unerwünschte aller
Art, "Terroristen" und Sektierer übers Meer geschafft wurden, ist die
Vermutung nicht grundlos, daß fließende übergänge zu den religiösen
"Widerstandskämpfern" und ihren wertvollen Eigenschaften gegeben
waren, doch auch zugleich zu lästigen Reformern und sozialen Utopisten.
1 "Da kam aus Velitrae eine Gesandtschaft ... mit der Bitte, Rom möge An·
siedler in die Stadt schicken. Denn eine Seuche hatte unter den Einwohnern so
furchtbar gewütet, daß kaum der zehnte Mann am Leben geblieben war. Be·
sonnenen Männern, die in der inneren Not einen Ausweg suchten, kam diese Bitte
der Stadt Velitrae zur rechten Zeit. Sie hofften die Unruhe am leichtesten zu
dämpfen, wenn sie vor allem den unruhigen, von den Verführern aufgewiegelten
Teil der Bevölkerung aus der Stadt entfernen könnten wie ein krankhaftes,
beunruhigendes Geschwür ... " PLUTARCH, Ooriolan 12.
2 Benjamin Franklins Vater war ein Mann, der mit der Lehre der Heimat·
kirche nicht übereinstimmte und deshalb in die Kolonien ging. RussEL, PmLIPs:
Benjamin Franklin. The fir8t civilized American, S.2. New York 1929.
3 FOGELKLOU, EMILIA: William Penn, S. 159. Hamburg 1948.
4 Aus Scherz machte der König den Zusatz : Penn· Sylvania, der dann geblieben ist.
5 Zu diesem heiklen Punkt siehe meine Strafe, Bd. II, S.388ff.
Fernwanderungen und soziale Krisen 297

Ein Volk, dem diese Mischung fehlt, wird leicht lethargisch und verfällt
in satte Selbstzufriedenheit. Es bleibt zurück im Wettbewerb der Völker,
weil jede lange Ruhelage Kampfinstinkte abspannt und entwaffnet.
Bei keiner Wanderung, die lange anhält, großen Umfang hat 1 und ein
Erfolgsgefälle - wenigstens im allgemeinen - darstellt, fehlt jener Troß
von chronisch Unzufriedenen, Ruhelosen, leicht Entwurzelbaren, die
jede menschliche Gemeinschaft gärend an die Oberfläche wirft. Es sind
darunter sehr verschiedene Typen. Sie sind kontaktscheu, und die Masse
zögert nicht, den Abstand und die Fremdheit doppelt an sie zurück-
zugeben 2. Sie kehren der Heimat den Rücken, wenn weitere, akute
Schadensquellen zu fließen beginnen: Zerwürfnis mit der Familie oder
dem Dorf, ein ehelicher Mißerfolg, abartige Neigung, die zu Spott und
groben Unzuträglichkeiten führt 3 , Ausschließung aus dem enggeschlos-
senen Kreis des Offizierskorps und der Kirche und schließlich die Gefahr
gerichtlicher Bestrafung. Die stillen Wanderer dieser Gruppe wird man
zu Tausenden im Dunkelfelde suchen müssen. In Strafverfahren großer
Zufluchtsländer werden überraschend viele Individuen angetroffen, als
Angeklagte teils und teils als Opfer, die wieder hochgestiegen sind.
Daran, daß wir die meisten dieser Typen gar nicht kennen, ist zu ersehen,
wie sie durch Tüchtigkeit und Gunst der Umwelt sich "emporgerappelt"
haben. Es kann zum bloßen äußerlichen Erfolge kommen 4, doch ist
auch bei labilen Menschen erstaunlich häufig eine Art von innerer
Wandlung anzutreffen. Wenn die Polizei bei einem Mord gezwungen
ist, in das Vorleben angesehener Persönlichkeiten einzudringen, erlebt
die Welt zuweilen eine große überraschung. All diese Menschen haben
wandernd alte Sünden abgeschüttelt und hinter sich gelassen 5. Die
gleiche Sprache ist bei diesem neuen Aufstieg eine große Hilfe.
1 In den hundert Jahren von 1830-1930 sind annähernd 38 Millionen Menschen
in die Vereinigten Staaten eingewandert. ELLIOTT und MERRILL: Social di8organiza-
tion, S. 586. - Im Grunde sind alle Amerikaner "Einwanderer", sogar die Indianer.
2 Untersuchte polnische Heimatgemeinden sahen die Auswanderung als uner-
wünschte Normverletzung an. "Das Verlassen der Gemeinschaft wird immer als
Anzeichen der Unzufriedenheit gedeutet ... und die Zurückbleibenden sind geneigt,
den Auswanderer zu verurteilen, ob sie seine Unzufriedenheit teilen oder nicht,
einmal weil er nicht bleibt und mit ihnen die gemeinsame Last trägt und an ihrer
Erleichterung arbeitet, dann aber auch, weil Unzufriedenheit, wenn alle anderen
zufrieden sind, mehr oder weniger als ein Akt der Revolte angesehen wird."
THoMAs, WILLIAM, and FLORIAN ZNANIECKI: The polish peasant in Europe and
America, S. 1484_
3 Siehe COLLINS, TED: New York murder8, S.61ff. New York 1944.
4 Siehe ROVERE, RICHARD H.: Howe and Hummel, S. 60,61. New York 1947.
5 Siehe den Fall des bekannten Film-Direktors William D. Taylor, der mit
wahrem Namen William C. D. Tanner hieß, wie man erst nach seinem Tode
erfuhr. RICE, CRAIG: L08 Angeles murders, S. 108. New York 1947. - über die
Auswanderung von Zeugen, die einen entlastenden Meineid geschworen haben, lese
man den Mordfall im Kapplertal nach. Neuer Pitaval, Bd.III, S.216. Leipzig 1868.
298 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Nach Abschnitt 4 des amerikanischen Gesetzes zur Ordnung der Ein-


wanderung von 1882 "sollen alle fremden Verurteilten mit Ausnahme
derer, die wegen politischer Delikte verfolgt worden sind, zu den Völkern
zurückgesendet werden, zu denen sie gehören und von denen sie ge-
kommen sind l ." Bei einer parlamentarischen Untersuchung wurden
Mißstände ans Licht gebracht. Da die Kosten der Einwanderer, denen
die Einreise versagt wird, von den Schiffen getragen werden sollen,
mit denen sie kamen, läßt sich denken, daß von dieser Seite den Ein-
wanderungsbehörden keine große Hilfe geleistet wird. Ein vernommener
Einwanderungsbeamter erklärte vor der Untersuchungskommission, daß
Methode und System im Augenblick eine Farce seien 2 • Es wurde auch
berichtet, daß einzelne europäische Regierungen die Auswanderer, an
deren Entfernung ihnen liegt, in einer höheren Kabinenklasse, auf der
geringerer Verdacht liegt, einreisen lassen.
Die Klagen amerikanischer Konsularbehörden über diese Praxis sind
sehr alt. In einem Bericht vom 8. September 1836 wird aus Hessen-
Kassei gemeldet, die Freie und Hansestadt deportiere lebenslänglich
oder langjährig Verurteilte von Zeit zu Zeit; sie würden vor die Wahl
gestellt, ob sie die Strafe absitzen oder auswandern wollen. In diesem
Falle bezahlt die Regierung die Überfahrt. Eine Anzahl dieser Personen
sei nach New York, in diesem Jahr auch nach Brasilien geschickt worden 3 •
Aus Basel teilt ein Konsul am 10. Oktober 1846 mit: "Ich lege einen
Ausschnitt aus der Frankfurter Zeitung bei. Sie werden daraus ersehen,
daß gegen bestimmte deutsche Regierungen der Vorwurf erhoben wird,
sie schickten ihre Zuchthäusler nach den Vereinigten Staaten. Zwar
haben deutsche Vertreter in den Vereinigten Staaten diese Angaben
bestritten, sie scheinen trotzdem allzu wahr zu sein. Diese Methode
wurde einstmals in der Schweiz und in Baden praktiziert ... ich glaube
aber, daß diese Länder dank meiner Tätigkeit damit ein gründliches
Ende gemacht haben'." Noch aus dem Jahre 1902 meldete der be-
kannte Gefängnisgeistliche SEIFARTH: er habe einen zum Tode Ver-
urteilten und Begnadigten, der noch im hohen Alter über See gehen
wollte, in Hamburg auf das Schiff geleitet. Er fand auf einer para-
diesisch schönen Insel Westindiens einen guten Lebensunterhalt, wohin
man ihm den Arbeitsverdienst von 30 Zuchthausjahren vorausgeschickt
hatte. Der Mann war freilich völlig harmlos 5 und hatte jenen Mord
vom ersten bis zum letzten Tag bestritten 6.
1 ABBOTT, EDITH: Immigration. Selected documents and case records, S. 182.
Chicago 1924.
2 Ebenda, S. 183. 3 Ebenda, S. 115 und 129. 'Ebenda, S. 129.
6 SEIFARTH, H.: Eine unaufgeklärte Mordtat, in Pitaval der Gegenwart, Bd. VI,
S. 169. Tübingen 1911.
6 Ein hartes Urteil fällt ein amerikanischer PoIizeibeamter italienischer Her-
kunft über manche Einwanderer aus seinem Heimatland: "Die Vereinigten Staaten
Fernwanderungen und soziale Krisen 299

Bei weitem größer ist die Anzahl jener, die, von Gefahr bedroht, in
andere Kontinente ausgewichen sind. Erpreßte, die nicht weiter fürch-
ten, schachern, zahlen wollen, wandern von der westlichen Hemisphäre
nach Europa, von Europa nach Amerika. Erpresser lassen sich mit gro-
ßem Geldaufwand verschicken. Sie bleiben drüben, kommen oftmals
wieder. Falschspieler aus den oberen Ständen wandern aus, nicht nur,
weil eine Strafverhandlung droht 1. Die jetzt schon alt gewordenen Leut-
nants a.D. in den Vereinigten Staaten, die zu Amt und Geld gekommen
sind, lassen sich kaum zählen; sie kamen wegen irgendeiner Jugendtorheit,
die unbedenklich oder weniger harmlos war. Sehr viele andere flohen,
ohne daß eine Anzeige erstattet wurde, von der Familie abgeschoben, ver-
drängt, vergessen, bis sie als reicher Onkel wieder aufgenommen wurden.
Eine vierte Kategorie sind die Leichtgläubigen, die Suggestiblen und
die Optimisten, die zur Legion der Opfer ihren Beitrag leisten. Die
deutschen Einwanderer, die 1683 nach Pennsylvania strömten und 1709
der Pfalz den Rücken kehrten, wichen der bitteren Not. Aber schon
1835 und später 1854 erschienen in Baltimore und Augsburg deutsch
geschriebene Wegweiser für Auswanderer. Mit grellen Bildern bewußter
Übertreibung suchten die Schiffahrtsgesellschaften und die neugebauten
Eisenbahnen Fahrgäste zu ergattern 2 • Man lockte mit dem unerhörten
Überfluß. Dreimal am Tage kaute man ein "Hochzeitsessen". Die
Zahl der Schweine ließ sich auf den Farmen nicht mehr zählen. Man
brauchte vor den Herren seinen Hut nicht abzunehmen. Auf jedes
Mädchen wartete ein Mann 3 • Es ist nicht völlig richtig, daß Amerika
die Reklame erfunden und zu höchster Vollendung gebracht hat. Die
neue Industrie, die neue Höllenkunst kam aus der Wechselwirkung
jener, die glauben möchten, und von geschäftlichen Sirenen, die Toren
alles glauben machen können.
sind der Zufluchtsort aller Verbrecher und Briganten aus Italien, Sizilien, Sar-
dinien und Calabrien geworden. Vor etwa einem Jahr entschlossen sich die Be-
hörden von Tunis, das italienische Quartier der Stadt, wo eine große Anzahl von
Verbrechen vorgekommen war, zu säubern. Die französische Regierung stellte
eine energische Untersuchung an, die die Ausweisung von 10000 Italienern aus
diesem Lande zur Folge hatte. Wo ging diese Blüte männlicher Vorzüglichkeit hin ?
Sie wurden von Onkel Sam mit offenen Armen begrüßt." Erklärung von Leutnant
Petrosino, Chef der italienischen Kriminalabteilung von New York-Stadt. Siehe
PARK, R. E., und A.H.MILLER: Old world traits transplanted, S. 249. NewYork 1921.
1 In einem großen Spielerprozeß konnte ein Zeuge, ein Leutnant, nicht ver-
nommen werden. "Angeklagter Niemela behauptete, daß Muntermann infolge
homosexueller Vorgänge von einem Herren nach Kanada abgeschoben sei." FRIED-
LÄNDER: Interessante Kriminalprozesse, Bd. X, S. 126. Berlin 1914.
2 Siehe die Beschreibung der Auswanderer, die an einem Strick, von dem
triumphierenden Agenten geleitet, durch Chicago geführt wurden. LEWIS, LLOYD,
and H.J. SMITH: History 01 Chicago, S.28. New York 1929.
3 "There is no goose so gray, but soon or late will find some honest gander
for a mate." Alter Vers von damals.
300 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Es ist nicht immer möglich, Einwanderer aus Bedrängnis, aus Über-


zeugungstreue, aus Flucht vor alten Fehlern und überleichter Bestimm-
barkeit klar zu unterscheiden. Wir können höchstens sagen, daß die
Wandergruppe aus Not bei weitem überwiegt. Die suggestiblen Typen
stehen an der zweiten Stelle und rücken mit der lauten Dringlichkeit
der Propagandamechanismen vor. Zweimaliger Sieg in Riesenkämpfen
ist für ein Volk die beste der Reklamen. Einwanderer aus religiösen
Gründen greifen nach den Hebeln der Macht aus und suchen sich durch
Geburtenzahl und neue Wanderer gleichen Glaubens zahlen-stimmen-
mäßig zu verstärken. Die Krypto-Kriminellen sind um Ehrbarkeit be-
müht, schon ihrer Frauen und der Kinder wegen. Betonte Achtbarkeit
und Sittenstrenge dienen ihrer Sicherheit, sind als Ferment und Vorbild
eher nützlich und beweisen, daß mancher Mensch, rein aus Verstellung,
die ein ganzes Leben dauert, praktisch ehrlich werden kann.
Wie ich früher bei den inneramerikanischen Wanderungen der Pio-
nierzeit betont habe 1, ist jede Wanderung nur die eine, sichtbare Seite
einer doppelten Bewegungsdynamik. Es müssen die zahlreichen Per-
sonen beachtet werden, die nach einiger Zeit aus den allerverschiedensten
Gründen die Rückwanderung antreten. Ist aber schon jede Einwande-
rung psychologisch und soziologisch ein selektiver Vorgang, so läßt sich
dieser Entschluß bei denen, die kommen, das Unternehmen aufgeben
und zum Ausgangspunkt zurückkehren, in ganz besonders hohem Maße
selektiv nennen. Man könnte vermuten, daß eine starke Rückwanderung,
je nach den Umständen, die Masse der Einwanderer reinigt oder viel-
leicht auch zweckmäßiger, ja notwendiger Impulse beraubt. Auf jeden
Fall stellt sie eine qualitative Abwandlung seiner konstitutiven Elemente
dar. Erheblichen Einfluß müssen hier die Motive der Wanderung haben.
Die Abstoßung aus der Heimat kann auf behebbaren Schädlichkeiten
beruhen, einer unerträglichen Diktatur oder einer Periode religiöser
Unduldsamkeit, und mit einem Umsturz oder Umschwung verschwinden
oder tragbar werden. Die Notlage kann aber auch chronisch und
unheilbar sein. Ja nach der Sachlage gewinnt die Tatsache der Rück-
wanderung hier oder dort Gewicht.
In den lO-Jahresabschnitten der Statistik verschwinden die kleineren
Ausschläge; wir sind versucht, an dauernden Anstieg zu glauben:
Bevölkerung der USA nach Dekaden 2 (1850-1950)
1850 . 23191876 1910 . 91972266
1860. 31443321 1920. 105710620
1870. 38558371 1930. 122775046
1880. 50155783 1940. 131669275
1890. 62947714 1950. 150697000
1900 . 75994575
-----
1 Der Desperado, S.62. Heidelberg 1956.
2 Stat. Abstract 1947, S.9 (1950 ergänzt).
Fernwanderungen und soziale Krisen 301

Zieht man die Zahlen der Rückwanderer heran, so ergibt sich ein ab-
weichendes Bild.

Einwanderer in die U BA und Rückwanderer *


(während der Depression 1931-1940)

Jahr Zugelassene Plus oder


Einwanderer I Rückwanderer I Minus

1931 97139 61882 +35257


1932 35578 103295 -67719
1933 23068 80081 -57013
1934 29470 39771 -10301
1935 34956 38834 - 3878
1936 36329 35817 + 512
1937 50244 26736 +23508
1938 67895 25210 +42685
1939 82998 26651 +56347
1940 70756 21461 +49295
* ELLIOTT and MERRILL, S. 587. Von 1930-1940, als die Depression allmählich
ihre volle Wucht entfaltete, betrug die Einwanderung im Durchschnitt 50000 Köpfe
jährlich. Von .1900-1910, als das Land in voller Blüte stand, kamen jährlich
annähernd 900000 Menschen. Dabei begann nach 1933 der Strom der rassisch Ver-
folgten zu fließen. - Zur Frage der Auswanderer von 1929 s. den Mordfall Anne-
marie Hahn. O'DoNNELL, BERNARD: Mußten 8ie morden? S. 81. Rüschlikon 1956.

Die jähe Rückströmung, weg von den wirtschaftlich schwer leidenden


Vereinigten Staaten, läßt einen Blick in die Motive der Einwanderer
tun. Es ist vor allem Sorge um das Brot; die andern Gründe kommen
erst in zweiter Linie, und niemand wird sich über diesen Vorrang
wundern.
Die überseeischen Wanderungen bestehen also aus einem Anstoß,
der zumeist wirtschaftlicher Art ist und sich in der Heimat durch Ab-
nahme der Bevölkerung, im Ankunftsland durch hohe Einwanderer-
zahlen bemerkbar macht. Das Ergebnis dieser Bewegungen wird in ver-
hältnismäßig geringem Umfang durch erhöhte Mortalität, wie wir sehen
werden, und Rückwanderung modifiziert. Auch mehrfache Ein- wie
Ausreise kommt vor, wie manche Paare sich scheiden lassen und dann
wieder miteinander eine neue Ehe schließen. Bei diesem Schema bleibt
das qualitative Element noch unberücksichtigt. Feststeht, daß plötzliche
und massenhafte Einwanderung den Widerstand der von ihr befallenen
einheimischen Bevölkerung erhöht und damit zusätzliche Anpassungs-
schwierigkeiten schafft. Wenn der Staat in einem Jahre oder nicht
sehr viel später das Bürgerrecht verlieh, so gab der starke Zustrom
sehr bald rechtlich Macht und Schutz. Wer gewählt werden wollte, als
Gouverneur, Bürgermeister, Richter oder Staatsanwalt, mußte sich um
die Gunst der Neuankommenden bemühen. ImAnfang gab es freilich sehr
302 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

viel Not und Hilfsbedürftigkeit, dazu Delikte derer, die verlassen, arm,
unfroh und unzufrieden waren. Das beste Beispiel für eine Entwicklung,
die unter allerlei krisenhaften Erscheinungen auf die oberen Sprossen
der sozialen Stufenleiter führte, Schritt für Schritt vom Manne, der
Gesetze verletzte, zu einer Respektsperson, die als Schutzmann oder
Richter über den Gesetzen wachte, ist der Irländer in Amerika. Ihm
kamen seine vielen guten Seiten und der Umstand zugute, daß seine
Sprache die des neuen Landes war.
Im Jahre 1846 brach mit der zerstörten Kartoffelernte in Irland die
Hungersnot aus. Die Volkszählungen vermitteln ein düsteres Bild.
Bevölkerungsentwicklung Irlands 1841-1950 *
1841 8,2 1901 4,5
1851 6,6 1911 4,4
1861 5,8 1921 4,4
1871 5,4 1931 4,2
1881 5,2 1950 4,4
1891 4,7
* MACKRENROTH, S. 169.
Die Iren, die nach Amerika wanderten, sind - abgesehen von den
Illegalen - von beinahe einer Million auf eine winzige Zahl abgesunken,
viel weiter als die Einwanderung überhaupt in der Dekade der großen
amerikanischen Depression abfiel.
Einwanderung aus Irland und Italien
Wir stellen zum Vergleich den Zu-
in die USA * (1851-1940)
strom aus Italien daneben.
Jahrzehnt Irland Italien
Die Hungersnot alten Stils -
es ist der Menschheit gelungen, in
1851-1860 914119 9231
1861-1870 435778 11725 Kriegen, Blockaden und revo-
1871-1880 436871 55759 lutionären Wirren neue Spielarten
1881-1890 655482 307309 zu erfinden - beginnt erst mit
1891-1900 388416 651893 erhöhter Sterblichkeit der ärm-
1901-1910 339065 2045877
1911-1920 146181 1109524
sten, schwächsten und der alten
1921-1930 220591 455315 Leute. "Wie viele Menschen dem
1931-1940 13167 68028 Hunger, den Krankheiten und
* Statistical Abstract 1947, S. 108. den Epidemien zum Opfer fielen,
die in ihrem Gefolge kamen, läßt
sich aus dem bekanntgegebenen Material nicht mehr erweisen. Aber es
müssen tausende, ja zehntausende gewesen sein. Umfriedete Plätze
nahe Skibbereen und anderen Orten weisen die Gräber von hunderten
auf, die zugrunde gingen; bezeichnender noch sind die einsamen Gegen-
den, in denen die Bevölkerung einfach dahinschmolzI." Eine andere
1 O'CONNOR MORRIS, W.: Ireland 1796-1898, S. 155. London 1898.
Fernwanderungen und soziale Krisen 303

Quelle 1 teilt mit: "Zwischen 1846 und 1851 starb beinahe eine Million,
und die Zahl derer, die zwischen 1841 und 1851 für immer weggingen,
war 1640000." Es ist bemerkenswert, daß wir von einer Panik hören 2,
als sich herausstellte, daß die Kartoffelernte des Herbstes 1845 völlig
mißraten war. So kam es, daß in die an sich rationelle Wanderungs-
bewegung Momente einer tödlichen Hast, etwa wie das Zertrampeln
einer wilden Masse, wenn es brennt, eingestreut waren. Die Flucht-
bewegung selbst nahm ihre Opfer: "Das irische Volk war einem Ver-
derben entgangen, um in ein anderes gestürzt zu werden ... In einem
Schiffsraum zusammengepreßt wie Sklaven, hatten sie in den Augen des
Schiffsbesitzers keinen Handelswert. Sie wurden auch wie Sklaven be-
handelt und mußten auf der Fahrt unsägliches Elend erdulden 3." Es
kann als sicher angenommen werden, daß diese Auswanderer die un-
bemitteltsten, entschlossensten, aktivsten und die jüngeren Schichten
der Bevölkerung waren. Durch ihren Wegzug machten sie dem Rest
der Ihren Luft. Die Krise schrumpfte, und die Löhne stiegen ganz
erheblich 4, indes die Neuankömmlinge in Amerika, sich selbst im Wege
stehend, sehr tief unten wieder anzufangen hatten, Landmenschen, die
das Land für immer haßten und nur in der sozialen Wärme großer
Städte wohnen wollten.
Wie in einem empfindlichen Barometer registrieren die Zahlen der
Einwanderung das wirtschaftliche und soziale Auf und Ab der "Geber"-
und der "Nehmer"länder. Wenn Deutschland durch die Not der Grün-
derzeiten geht, steigt eine mächtige Welle derer an, die anderswo ihr
Glück versuchen wollen, Goldgräbertypen, ohne daß sie hacken oder
schaufeln. Sowie die Heimat aufblüht, rastlos und allerorts nach neuen
Märkten ausgreüt, versiegt der Strom, dem freilich auch ein Kriegsjahr
Abbruch tut:

Einwanderung aus Deutschland in die USA5 (1881-1890 und 1911-1920)


1881-1890 1452970
1911-1920 . . . . . . . . . 143945

1 LAMSO~, G. L.: A consideration 0/ the State 0/ Ireland in the nineteenth century,


S.275. London 1907.
2 MORRIS, a. a. 0., S. 149. 3 LAMSON, a. a. 0., S.277.
4 MORRIS, S. 184.
5 Stat. Abstract 1947, S. 108. Bei den Zehnjahresabschnitten gehen die feineren
Nuancen verloren. Der Höhepunkt der Einwanderung fällt auf das Jahr 1907, es
waren 1300000 Personen. Davon waren 280000 Italiener, 260000 Russen, 200000
Ungarn, 150000 Österreicher, 140000 Polen. Während von 600000 Einwanderern
des Jahres 1882 noch 250000 Deutsche waren, entfielen auf 800000 Ankömmlinge
des Jahres 1904 nur noch 45000 Deutsche. Für den Staatsmann hätten die
mannigfachen Aspekte dieses Rückgangs schon lange vor dem Jahre 1917 eine
Warnung sein sollen.
304 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Den Russen schlägt die Politik das Tor zu:


Einwanderung aus Rußland in die USA 1 (1901-1910 und 1921-1930)
1901-1910 . . . . 1597306
1921-1930 . . . . . . 71742

Ganz ähnlich sieht der Zustrom aus dem Donaustaate Österreich-


Ungarn aus:
Einwanderung aus Österreich-Ungarn in die USA 2 (1901-1910 und 1921-1930)
1901-1910 2145266
1921-1930 . . . . . . . . . 63548

Mit Ausnahme der Briten, Deutschen, Skandinavier fließen die Wande-


rungsströme, die sich 1901-1911 zur Höhe von 8795386 Ankömmlingen
erheben, zum allergrößten Teile in die städtischen Gebiete. Hier trifft
sie seit dem Jahre 1930 der wirtschaftliche Zusammenbruch viel härter
als in den Agrargebieten. Sie wandern wieder, aber diesmal innerhalb
Amerikas. Die Stadt verlangsamt ihren Aufstiegsanteil. Das Land
nimmt neue Wandertypen auf, die sich vom alten Farmermuster unter-
scheiden und bei der Arbeit mit dem Traktor mehr Mechaniker als
Bauern sind:
Zunahme der städtischen und ländlichen Bevölkerung in den USA *
(in Prozenten)

Zeitabschnitt Stadt Land

1890-1900 36,4 12,2


1900-1910 39,3 9,0
1910-1920 29,0 3,2 (Krieg)**
1920-1930 27,3 4,4
1930-1940 7,9 6,4 (Depression)
* Population, Nov. 15, 1941, S. 2.
** Die gleiche Stockung im Wachstum der bäuerlichen Bevölkerung weisen
die Zahlen des Zeitraums 1860-1870 (Bürgerkrieg) auf. Von einer Zunahme von
5578643 (1850-1860) sinkt der Gewinn auf 3429207 ab.

Die Kriminalität muß diese Wanderungsschwankung widerspiegeln.


Es ist unausbleiblich, daß der wirtschaftlich Schwache von klimati-
schen Einflüssen, schlechten Wohnungsverhältnissen und gesundheit.
lichen Schädigungen stärker erlaßt wird als der Wohlhabende. Mit dem
Entschluß, zu wandern, fallen aber bei der überseeischen Ortsverände-
rung erhebliche Mehrkosten zusammen. Die Fahrt kann nur unter
Einsatz der letzten Geldmittel ermöglicht werden. In vielen Fällen
macht sich ein Mitglied der Familie allein auf den Weg und sucht durch
1 Stat. Abstract 1947, S. 108. 2 Ebenda.
Fernwanderungen und soziale Krisen 305

Arbeit bis zur Erschöpfung und unter den ungünstigsten Bedingungen


so viel zu verdienen, daß der Rest nachkommen kann. Ich möchte
HANsEN nicht zustimmen 1, der häufig den ältesten Sohn vorangehen
läßt. Ich glaube eher, daß die Erstgeborenen auf dem zu eng gewordenen
Stück Boden zurückbleiben und die späteren Kinder, die ja auch haupt-
sächlich in die Städte übersiedeln, sich in Bewegung setzen. Am leich-
testen bringen sich junge Ehepaare mit ganz kleinen Kindern fort, wenn
beide an die Arbeit gehen. Sobald es ihnen gelungen ist, Fuß zu fassen,
so holen sie Eltern und Geschwister nach, vielleicht zuerst die erwachsene
Schwester, die, solange die Vereinigten Staaten einen Männerüberschuß
hatten, unschwer beides fand, Arbeit und einen Mann.
b) Der Übergang von Europa nach den Vereinigten Staaten, Argen-
tinien, Südafrika und Australien schließt einen Klimawechsel in sich ein.
Je schwerere körperliche Arbeit zu leisten ist, um so anstrengender ist
der Wechsel. Um dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, haben die
alten Einwanderer in den Vereinigten Staaten, Briten, Deutsche, Skan-
dinavier, zum Teil auch Holländer und Schweden, Gebiete aufgesucht,
in denen eine Neuanpassung nicht allzu hohen Anspruch stellte. Trotz-
dem fiel schon vor 100 Jahren die hohe Sterblichkeit der Einwanderer
auf. "Es galt damals als eine Tatsache, daß mehr als ein Drittel der
europäischen Einwanderer in den ersten 3 Jahren ihres Aufenthaltes ...
mit Tod abgingen, obschon sie doch im allgemeinen auf der Höhe ihrer
Lebenskraft herüberkommen 2." Auch heute noch erscheint die Sterb-
lichkeit der Einwanderer sehr viel höher, wobei das frühe Altern eine
Rolle spielt, die Folge körperlicher Überlastung.
Sterblichkeit der Weißen, im Lande Geborenen und der weißen Einwanderer *
(auf 100000 jeder Gruppe, USA 1940)
Im Lande geborene Weiße Weiße Einwanderer
Altersgruppe
Männer Frauen Männer I Franen
Sämtliche 9,92 7,62 25,0 21,1
Gruppen
10-14 1,1 0,7 1,8 1,2
15-19 1,6 1,2 1,9 1,6
20-24 2,0 1,6 2,8 2,1
25-29 2,5 1,9 2,9 2,0
30-34 3,1 2,4 3,0 2,5
35-39 4,2 3,1 3,8 3,1
40-44 5,9 4,2 6,3 4,6
45-49 11,1 7,2 16,2 10,5
* Berechnet nach Vital Statistics 1940, vol. I, S. 254.
-----
1HANSEN,M.L.: The immigrant in American history, S. 68. CambridgejMass.1940.
2BUCKINGHAM, J. S.: America. Historical, statistic, descriptive, vol. II, S.93.
London 1841.
v. Hentig, Das Verbrechen I 20
306 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Wir wissen, daß Beruf und Sterblichkeit Zusammenhänge zeigen und


daß der Hilfsarbeiter beispielsweise mit einem kürzeren Leben rechnen
muß als sein hochqualüizierter Berufsgenossei. Die Beziehung aber, die
zu diesem Ergebnis führt, ist nicht so einfach, daß man sagen könnte,
die Art der Tätigkeit verkürzt sein Leben. Wir erreichen oder verpassen
ein Berufsziel aus den allerverschiedensten Gründen; ein Teil da von ist
unseren Eigenschaften zuzuschreiben, unserer Gesundheit, Qualitäten
unserer Persönlichkeit, zu denen andere Menschen freundlich oder kri-
tisch Stellung nehmen, wobei die Umwelt sich bei dieser Wechselwirkung
geltend macht. Wer sich durch eine weite Wanderung "entwurzelt",
ist von Natur zu diesem Schritt geneigt. Zwar ist KRÄPELINS Bemer-
kung zutreffend, ja weise, daß die Entwurzelung nicht allzu grober Art
die Vorbedingung jeder Entwicklung sei 2 , aber der Weg dazu führt über
einen harten Ausleseprozeß, bei dem zahlreiche Opfer am Wege liegen-
bleiben und nur die "Fittesten" - ich finde kein besseres Wort - die
Krise überwinden, die mit Entwurzelung Pflanzen, Tieren, Menschen
naht. Wer Kinder hat, kann mit dem Enderfolge warten, auch wenn
er selbst zugrunde geht. Dabei tritt eine eigenartige Spaltung zwischen
zwei Schichten der Genugtuung ein. Gelehrte, die eine Reihe von
schwedischen Auswanderern untersuchten, fanden eine lebensmindernde
Diskrepanz erworbener äußerer, aber eingebüßter innerer Werte: "Ich
war erfolgreich. Ich habe Geld. Die Kinder haben bessere Chancen.
Ich aber habe mein Leben verloren 3 ."
Auch auf dem Wege zum Besitz lauert der Tod. Der Einwanderer weist
eine viel höhere Unfallziffer auf als der Einheimische, und zwar war kurz
vor dem ersten Weltkrieg, als die Einwanderung große Menschenrnassen
ins Land brachte, das Mißverhältnis in Amerika außerordentlich groß.
Unfälle 1910-1913, rw,ch Herkunft berechnet auf 1000 Dreihundert-Tage-Arbeiter 4
In Amerika Geborene. . . . . . 60,6
Im Ausland Geborene . . . . . . 101,8
Die Einwanderer sind in besonderem Maße schweren Unfällen ausgesetzt:
Unfälle 1910-1913, nach Herkunft berechnet auf 1000 Dreihundert-Tage-Arbeiter *

Herkunft Tod I Dauer·


schadeu
Arbeitsunfähigkeit.
die sich beheben ließ

In Amerika Geborene I 05 I 1,6 58,5


Im Ausland Geborene : : : : : 0:9 4,6 96,3
* U. S. Bureau of Labor Statistics, Bulletin 256, p. 57. Washington 1920.
1 TnOMPSoN: Population problems, H, S. 250ff.
2 An diese Bemerkung, die ich selbst von KRÄPELIN gehört habe, erinnert
EUGEN KAHN in seiner Emil Kraepelin Memorial Lecture, Epidemiology of mental
disorders, S. 19. Washington 1959.
3 PARK und MILLER: Old World traits transplanted, S. 93. New York 1921.
4 U. S. Bureau of Labor Statistics, Bulletin 256, p. 57. Washington 1920.
Fernwanderungen und soziale Krisen 307

Die Gründe sind nicht schwer zu finden l . Die meisten Einwanderer


ergreifen, um vorwärtszukommen, die gefährlichsten Berufe. Nacht-
schichten sind hoch bezahlt, dabei geschehen sehr viel mehr Unfälle als
am Tage. In einem eisernen Ringe umklammern die Schädlicbkeiten
das einmal betroffene Opfer. Arbeiter, die nach einem Unfall gemindert
leistungsfähig sind 2, erscheinen mehr um ihren Arbeitsplatz bemüht
und werden deshalb von den Werken gern gesehen. Sie sind "diszipli-
nierter", zeigen größere Achtsamkeit, sind im Ordnungssinne eher
"brauchbar" als die ganz Gesunden, weil sie, vom Unfall eingeschüchtert,
mit Besorgnis in die Zukunft blicken. Einwanderer- und Versehrtsein
ist zweifache Erschwerung. Nicht immer kann sich der Neuling im
Lande auf die Hilfe derer verlassen, die vor ihm eingewandert und von
der gleichen Gruppe sind. Das goldene Kalb umtanzend, beuten manche
ihre Angestellten und ihre wirtschaftliche Schwäche aus 3.
c) Auch Selbstmord und Verfall in Geisteskrankheit sind Folgen
übermäßiger Belastung und "Verschrottung". Konstitutionelle Momente
und Umweltdruck verbinden sich, den matten Geist und Körper auf-
zuzehren. Die Zahlen RUTH CAVANB sind in der Gegenüberstellung der
alten Einheimischen 4 und der Neuankömmlinge eindrucksvoll. Im all-
gemeinen wird der Mann, der im Erwerbsleben steht, sehr viel stärker
in Mitleidenschaft gezogen als die Frau:

Selbstmorde, nach Herkunft und Ge8chlecht *


(Chicago 1919-1921, auf 100000 Personen jeder Gruppe)
Herkunft Männer Frauen

Weiße, deren Eltern Eingeborene waren. 13,6 8,6


Weiße Einwanderer. . . . . . . . . . 41,4 14,2
* CAVAN, RUTH: Suicide, S.80. Chicago 1928.
Es würde einer besonderen Untersuchung bedürfen, um festzustellen,
welche Kategorie von Einwanderern sich selbst das Leben nahm und
damit den Fluchtversuch vor irgendeiner Noxe in der Heimat als ergeb-
nislos zum Abschluß brachte. Wir sehen aber gerade bei der Selbst-
mordfrage, wie grundverschieden diese Art der Reaktion bei den ver-
einzelten Nationalitäten ist (Tabelle S. 308).
Hier beim Selbstmord als Ende eines Unternehmens, das der
Rettung dienen sollte, erkennt man, welche form- und gestaltlose Einheit

1 SieheCLAGHORN, KATE H.: The immigrant's day in court, S.19. New York 1923.
2 Siehe die Angaben in Monthly Labor Review, S. 1126, 1940, über die größere
Arbei~sdisziplin der einmal verletzten Arbeiter.
3 he exploited their piety by working them long hours and paying them
H •••

starvation wages." ASCH, SHOLEM: East River, S. 104. New York 1946.
4 "Native white of native parentage."

20*
308 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Selb8tmorde, nach Ge8chlecht und Herkunft8Uindern*


(Chicago 1919-1921, auf 100000 einer jeden Gruppe)

HerkunftsJand MäIlIler Frauen Herkunftsland Männer I Frauen

England 21,4 13,3 Rußland. 24,1 12,7


Irland 11,1 5,3 Kanada 40,8 14,3
Italien. 22,9 5,4 Schweden 45,9 13,4
Polen 28,8 6,5 Deutschland 61,2 25,5
Griechenland 17,8 15,0 Österreich 81,3 30,7
* CAVAN, RUTH: Suicide, S.80.

der Begriff des Einwanderers ist. Jetzt tauchen Völkergruppen auf von
Finnland bis nach Griechenland und Syrien, mit ihrer Geschichte des
Glanzes und des Niedergangs, der Freiheit und der Unterdrückung, des
primitiven Daseins und der hochentwickelten Kultur. Und neben allen
Unterschieden der Rasse, Sitten, Traditionen, Technik und Erziehung
zeigt sich ein Faktor, der den Menschen ebenso verbindet wie er ihm
Schranken auferlegt: die Religion und ihr soziologisches Gewicht. Denn
es genügt nicht, daß nach der Verfassung die Kultausübung frei und
unbehindert ist. Zu einem Glauben ganz bestimmter Art bekennen sich
lebendige Menschen, Massen, organisierte Gruppen, und diese Menschen
müssen erst einmal zusammenleben, hilfreich zusammenwohnen, in Ge-
fühlen und Gedanken einig sein. Sind sie es nicht, so stoßen wir auf
eine neue Schädlichkeit des übergangs von einem Kontinent zum andern.
Sie steht auf gleicher Stufe mit dem furchtbar harten Winter und jener
Sommerhitze, die die Arbeitskraft des Weißen lähmt.
Beim Selbstmord fehlen alle Ziffern der Statistik, weil die Vereinigten
Staaten keine offizielle Zählung haben. Die Völkerliste gewährt uns aber
auf einem Umweg halben Ein-
Selb8tmord in Preußen und Bayern
nach religiö8em Bekenntni8 blick. Wir sind berechtigt an-
(auf 100000 jeder Gruppe) zunehmen, daß Einwanderer aus
Preußen Bayern
Irland (Eire), Italien und Polen
(1925-1926) (1926-1928) Katholiken sind, daß Schweden
Protestanten herüberschickt. Bei
Katholisch. 15,0 14,2 der Vorkriegseinwanderung aus
Evangelisch 29,0 27,1
Jüdisch . . 51,0 40,8
Rußland und aus Österreich lassen
sich jüdische Elemente vermuten,
doch ist der Umfang zahlenmäßig unbekannt. Ein Vergleich mit den
von MAYR gegebenen Ziffern läßt erkennen \ daß alle Selbstmordzahlen
der Einwanderer größer sind als die Heimatdaten, wobei ich freilich an
den städtischen Charakter von Chicago denke 2 •

1 ASCHAFFENBURG, S. 36 (1901-1906).
2 Europäische Städtezahlen für 1929 bei WEICHBRODT, S. 103.
Fernwanderungen und soziale Krisen 309

MABEL ELLIOTT rangiert die Selbstmordhäufigkeit der schon recht


fernen Vorkriegszeit abnehmend in Protestanten, Katholiken, Juden 1.
Dagegen sprechen deutsche Zahlen 2.
Da die Juden eine ältere Altersstruktur haben als die beiden andern
Gruppen, muß ihre Selbstmordhäufigkeit, ganz abgesehen von andern
Gründen, größer sein. Sie lassen sich nur in ganz unbestimmter Weise
unter den nach Nationalitäten abgestuften Einwanderern unterbringen.
Auf jeden Fall bewahren Katholiken mitten in den Gefährnissen der
Wanderung über See die alte, wohlbekannte Selbstmordfestigkeit.
KARL MENNINGERS Zerlegung des Selbstmords in drei Komponenten 3:
den Wunsch zu töten
den Wunsch getötet zu werden
den Wunsch zu sterben
eröffnet das Verständnis für den Richtungswechsel der Impulse von
Zerstörung und Gewalttat, die im Familienrnorde in Erscheinung treten.
ELLENBERGER 4 hat den psychogenen Tod der Polynesier in dieses Schema
geistvoll eingeordnet, die sterben können, wenn sie nicht mehr leben
wollen, sich in die Matte wickeln, auf die Erde legen und wenige Stunden
später wirklich tot sind. Auch sieht er treffend manche Heimweh-
Krankheitsformen als Bluterkrankheit unseres Lebenswillens an 5. Die
Internierung, die den Selbstmord erschwert, leitet den Aggressionstrieb
gegen Ärzte und Pflegepersonen 6, macht sich in Prügeleien der Patienten
Luft, die dann gewaltsam abgebrochen werden müssen. Sie sind orga-
nisch "motiviert" und immer auf der Suche nach dem Vorwand. Nach
der Entladung ist der Streit vergessen 7 , weil gar nichts psychologisch
Motiviertes zu vergessen war.
Wenn wir von allen Abschließungsmöglichkeiten nur an Heil- und
Pflege anstalten denken, so handelt es sich um ein riesiges Menschen-
material. Im Jahre 1947 wurden in den Büchern von Irrenanstalten
in den Vereinigten Staaten 871051 Kranke geführt. Weitere 111999 Pa-
tienten waren in allgemeinen Krankenhäusern in Behandlungs. Diese
1 ELLIOTT und MERRILL, S. 311.
2 WEIOHBRODT, S. Ill. Vor hundert Jahren war die Reihenfolge in Preußen:
katholisch 5,0, evangelisch 16,0, jüdisch 5,0 (1849-1855). Von 1870 an treten
die jüdischen Selbstmordraten an die Spitze, die in Bayern schon 1844-1856
obenan standen.
3 MENNINGER, KARL: Man against himself, S. 81. New York 1938.
! ELLENBERGER, H.: Der Selbstmord im Lichte der Ethno-Psychiatrie, Monats-
schrift für Psychiatrie und Neurologie (Festschrift Klaesi) 1953, S.348.
5 Ebenda, S. 349.
6 STIERLIN, HELM: Der gewalttätige Patient, S.20. Basel 1956.
7 "Solche Inkonsequenzen sind aber typisch für lange Gefangene, eben prügem
sie sich, schon sind sie die besten Freunde." FALLADA, HANS: Der Trinker, S.153.
Hamburg 1959.
8 ELLIOTT und MERRILL, S. 275.
310 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Zahl l , die an eine Million heranreicht, wird unterdessen noch gestiegen


sein. Mechanisch von Erregungsquellen abgeschaltet, "entwaffnet" und
mit starker Hand in Schach gehalten, müßten diese Individuen bei der
Berechnung der Kriminalitätsziffern ebenso in Abzug gebracht werden
wie Militärpersonen. Internierungen schöpfen aus jeder sozialen, reli-
giösen oder beruflichen Gruppe in verschiedener Stärke potentielle
Delinquenten ab. Wenn eine Epidemie die Krankenhäuser füllte, so
würden sie für kurze Zeit in gleicher Weise wirken.
Einwanderer, die geistig krank sind, sollten nach dem Gesetz Ameri-
kas am Eintritt in das Land gehindert werden. Auch sieht das Gesetz
den Rücktransport vor, wenn innerhalb Jahresfrist eine Psychose aus-
bricht 2. Ließe sich die Kontrolle wirksam durchführen, so müßten die
Einwanderer ein ausgewähltes Material, psychisch stabiler sein als die
Einheimischen. Da sie trotzdem in größerer Zahl seelisch erkranken, so
trägt der harte Umweltdruck die Schuld.
Es ist nicht so erstaunlich, als es auf den ersten Blick erscheinen
mag, aber der Versuch des Überlebens endet, wie bei den Vögeln,
die den rettenden Flug in wärmere Länder antreten, bei einer Reihe
Flüchtender im Fiasko der Vernichtung. Die Zahlen der amerikanischen
Irrenstatistik lassen an diesem Negativum, wie beim Unfall und beim
Selbstmord, keinen Zweifel.
Erstmalige Einlieferungen in Irrenanstalten der U BA 1933*
(auf 100000 Personen einer jeden Gruppe)
Männer Frauen""

Weiße Einheimische 60,0 42,2


Weiße Einwanderer 104,1 79,4
Alle Gruppen . . . 66,0 46,7
* Patients in mental institutions 1933, S. 26. Washington 1935.
** Die hohen Frauenziffern beruhen vielleicht auf ihrer längeren Lebensdauer,
vielleicht stecken in ihnen auch weibliche Einwanderer, die aus religiösen Gründen
vor dem Selbstmord zurückschreckten oder es beim Versuch bewenden ließen.

Die Kategorie der Einwanderer ist älter, ärmer, städtischer und


mehr mit Männern durchsetzt als der Rest der Bevölkerung. Die
amerikanische Statistik sagt nur mit anderen Worten, was ein Anthro-
pologe kurz so ausgedrückt hat: "Keine Hominidenform verläßt un-

1 Privatanstalten und kleinere Krankenhäuser berichten nicht.


Das Risiko dieses ersten Jahres ist offensichtlich. Erst nach Ablauf diesel'
2
Frist lassen Verwandte einen Kranken internieren, kann der Einwand der Un-
zurechnungsfähigkeit erhoben werden. Bei ehelichem Zwist kann ein Partner den
andern loswerden, indem er Deportierung wegen geistiger Störung, solange sie
noch möglich ist, veranlaßt.
Fernwanderungen und soziale Krisen 311

gestraft ihre angestammte Umwelt!," wenn sie meint: "Wahrscheinlich


hat der Druck, dem Auswanderer bei dem Versuch, sich neuen physi-
kalischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen anzupassen, aus-
gesetzt sind, die Wirkung, den Verfall in Geistesstörung zu erleichtern 2."
Bei slavischen Einwanderern ist die starke Beziehung zum Boden und
zum Landbesitz beobachtet worden. Das Abzahlungssystem scheint
das ersehnte Ziel in Sicht zu bringen. Wenn die Gefahr näherrückt,
nicht weiterzahlen zu können und das Land und die Vorzahlungen zu
verlieren, kommt Verzweiflung, manchmal eine geistige Erkrankung
über ihn. "In einem Falle wurde ein solcher Mann immer verwirrter,
wollte Papiere nicht mehr in Empfang nehmen oder Quittungen unter-
schreiben. Er ging dann hin und erhängte sich 3."
Die hochgespannten Erwartungen, die schweren Opfer, die der
Mensch gebracht hat, um die überseeische Einwanderung zu ermög-
lichen, Krankheit, die er in der neuen und besseren Welt nicht für
möglich hielt, Fehlschläge, die er nicht mehr wie zu Hause einer bösen
Mitwelt, sondern sich selber zu-
schreiben muß, die Einsamkeit, Ersteinliejerungen von Patienten
in Irrenanstalten der U BA 1933 '"
an der er leidet 4, sie alle unter-
(auf 100000 jeder Kategorie)
graben schwache Nerven. Die
eigene Tüchtigkeit, der nimmer- Herkunftsland Männer Frauen

müde Fleiß kann ihm im Wege Rußland 79,8 72,6


sein, und es hat Zeiten in den England 87,6 71,7
Vereinigten Staaten gegeben, in Polen 91,8 72,0
denen der Wettbewerb des Ein- Deutschland 93,4 72,3
Kanada 96,9 64,3
wanderers als ein ungehöriger und Italien. 98,1 67,5
unerlaubter Eingriff in die Er- Österreich 200,0 133,3
werbschancen des Arbeiters emp- Irland 227,7 160,7
funden wurde und dieser Wider- * Patients 1933, S. 44; Bevölkerungs-
spruch zu einer Volksbewegung zahlen von 1930, Abstract, 1930, S. 129.
hochwuchs.
Bedeutende Unterschiede treten hervor, wenn wir die geisteskranken
Einwanderer nach dem Lande der Herkunft und dem Geschlecht aufteilen.
Abgesehen von anderen kausalen Faktoren, wie angeborenen Wesens-
zügen und Variationen des wirtschaftlichen Drucks, können diese Zahlen
1 Erwähnt von B. DE RUDDER in SEYBOLD, A., und H. WOLTERECK: Klima,
Wetter, Mensch, S. 148. Heidelberg 1952.
2 Patients 1933, S. 27.
3 CLAGHORN, a. a. 0., S. 57. - Sie erwähnt Notizen aus den Akten einer HUfs-
agentur: "Der Mann ist sehr erregt; scheint geistig nicht normal zu sein." "Konnte
von ihm keine zusammenhängende Darstellung seiner Schwierigkeiten erhalten."
"Glaube nicht, daß der Mann normal ist."
4 "Ich habe niemand, mit dem ich sprechen kann!" MOWRER, HARRlET R.:
Personality adjustment and domestic discord, S.21O. New York 1935.
312 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

nur Leben und Bedeutung gewinnen, wenn zwei andere Fragen klar-
gestellt sind: die Altersstruktur und die zahlenmäßige Verteilung der
Geschlechter. Die eingewanderte Bevölkerung ist, wenn man auf beiden
Seiten die Altersklassen unter 20 Jahren wegläßt, wesentlich älter als
die einheimische. Beim Größenverhältnis der Geschlechter zueinander
ergeben sich weitere gewichtige Unterschiede. So entfielen auf 100
weibliche Wesen im Jahre 1940 1 :

In der Stadt Auf dem Lande

Bei den Einheimischen 94,5 Männer 112,3 Männer


1
Bei den Einwanderern 106,8 Männer 140,3 Männer

Dieses Mißverhältnis schwankt ganz erheblich nach dem Ursprungs-


land der Einwanderer:
Auf 100 weibliche Wesen kamen in den USA, im Jahre 1940,
Männer aus folgenden Ländern 2
Rußland. 111,3
England . . 100,2
Polen. . . 111,4
Deutschland 106,4
Kanada, französisch 95,6
sonst. 83,9
Italien 135,8
Österreich 107,2
Irland . . 74,4

Ein grobes Mißverhältnis zwischen den Geschlechtern könnte eines der


erklärenden Elemente für die Häufigkeit von Psychosen auf der Männer-
seite einzelner Einwanderergruppen sein. In dieser Richtung deuten die
irischen Zahlen. Bei allen Einwanderungswellen aus Irland überstiegen
nach einer Untersuchung 3 Mädchen die Männer. Trotzdem sie mit dem
neuen Lande die Sprache gemeinsam hatten, muß schwerer seelischer
Druck auf ihnen gelastet haben, der bei den Frauen anderer Nationali-
täten fehlte 4 •
Die Irrenstatistik hat ihr Dunkelfeld genau wie die Kriminalstatistik.
Es gibt den "unbekannten Geisteskranken", der bei erregenden Kriminal-
fällen mit Hunderten von Exemplaren in Erscheinung trittS. Nicht nur

1 Population 1940, S. 14 und 15.


2 Population, country of origin 1940, S. 4.
3 WARE, CAROLINE F.: Greenwich village, 1920-1930, S.216. New York 1935.
4 Viele der irländischen Mädchen waren unverheiratet und kamen als Dienst-
mädchen herüber.
Ö "Dann kamen nach und nach 200 Personen, die sich bei der Polizei als der

gesuchte Mörder selbst stellten." STEINER-GAY: Der Fall Kürten, a. a. 0., S.31.
Fernwanderungen und soziale Krisen 313

als falsche Täter, sondern auch als Zeugen, die irgend etwas gesehen 1
oder gehört haben wollen, obschon die Beobachtung ganz unmöglich
war, die mit Erinnerungsfälschungen und mehr oder weniger wahnhaften
Identifikationen aufwarten, ganz abgesehen von den Geisteskranken,
die jede vehemente Volksbewegung an die Oberfläche spült, als hätten
sie darauf gewartet, ihre große Stunde zu erleben. Daneben muß, von
dringlichsten Fällen abgesehen, formell die Prozedur der Internierung
eingeleitet werden. Verwandte spielen eine Rolle und ihr Verhältnis zu
dem Kranken, die Furcht vor ihm 2, seine Nützlichkeit und die Belastung,
die er darstellt. Bei nicht erregten Kranken kann er auf dem Lande
lange noch gehalten werden, indes die Überfüllung einer kleinen Woh-
nung in der Stadt zur "Evakuierung" drängen mag. Der stille und
senile Reiche kann sich Pflege, Hilfe, Aufsicht kaufen 3 und wohlgehütet
lange Jahre in der Freiheit leben. Einwanderer, die sehr schwer zu
kämpfen haben, verlieren leicht den wirtschaftlichen Wert, zumal in
Ländern, die die Menschen früh zum alten Eisen werfen, weil höchste
Leistung nur von jungen Menschen abgeliefert wird.
Von den einzelnen Krankheitsbildern herrschen beim Einwanderer
die senilen Psychosen und die alkoholische Geistesstörung vor:

Vier Krankheitsgruppen, Ersteinlieferungen 1933 *


(Prozente sämtlicher Psychosen)

Weiße I Weiße
Eingeborene Einwanderer

Senile Psychosen. . . . . 21,5% 30,1 %


Dementia praecox . . . . 21,7% 17,5%
Manisch-depressives Irresein 11,8% 8,7%
Alkoholische Geistesstörungen 7,8% 10,9%
* Patients 1933, S. 30.
Besonders ist der unverheiratete Einwanderer auf dem Land gefährdet.
Wahrscheinlich suchen die ländlichen Gemeinden den Kranken möglichst
schleunig loszuwerden. Bei den Verheirateten ist die Einlieferungsziffer
beinahe die gleiche wie bei den Eingeborenen 4. Das Ledigen-Problem
hat viele Seiten. Wahrscheinlich ist nicht nur die Regelmäßigkeit des
Ehelebens günstig, das häufig gar nicht übermäßig regelmäßig ist. Es

1 Siehe Oleveland murders, S. 124. New York 1947. Der Zeuge hätte durch
ein fünfstöckiges Gebäude hindurchsehen müssen, um die beschworene Szene zu
erkennen.
2 Los Angeles murders, S.233. 3 New York murders, S.226.
4 Patients 1933, S.48, wie ja auch die Ledigen eine höhere Sterblichkeit haben.
REUTER, EDWARD B., and J. R. RUNNER: The tamily, S.201. New York 1931
(New Yorker Zahlen).
314 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

neigen einfach grundverschiedene Typen zur Gemeinschaft und zur Ein-


samkeit!. Rein biologisch findet eine Auswahl statt.
d) Der Einwanderer tritt, ausgestattet mit den Wesenszügen, die wir
gezeichnet haben, in eine neue menschliche Gemeinschaft ein. Wie
nimmt sie, die ihm tausendfach überlegen ist, den Neuankömmling,
seine Hoffnungen und Erwartungen, seine verworrenen Gefühle und
seine oft recht unklaren und unrichtigen Vorstellungen auf 1 Sie ist die
Utopie, die jetzt die schwere Pflicht hat, sich zu erfüllen, dem Gläubigen
den Himmel vorzuspielen, die neue Welt, das neue Leben, den Traum
der Nächte ihm als Wirklichkeiten vorzustellen. Was er auch sei, ein
armer Bauer, ein Verfolgter, ein Flüchtling vor der Polizei, ein Un-
zufriedener, ein Mann, der sich durch Wort und Bild verführen ließ, auf
Suche nach der wahren Freiheit ist: jetzt trifft er mit dem Ideal zu-
sammen, den Menschen seiner Phantasien, seiner tiefsten Sehnsucht,
den Rettern aus der Not, die lastend auf ihm lag.
Der erste Eindruck, wenn er ans Land steigt und der Ozean zwischen
dem neuen Leben und dem alten Dasein liegt, ist Erleichterung und
Freude. Dann dringt von allen Seiten die Ernüchterung auf ihn ein,
weil seine Hoffnung viel zu hoch gespannt war und er sich alles viel
zu herrlich und vollkommen vorgestellt hat, wie der Gefangene, der zur
Nacht an Frauen dachte, entlassen wird und seine Wunschgestalten nie
und nimmer findet. Er stößt zuerst auf das Gefühl der überlegenheit,
das seine eigene Schwäche-Haltung miterzeugt. Der Einheimische sieht
den Fremden unsicher, unbeholfen im Labyrinth neuer, unbekannter
Lebensformen umhertappen, als ob er sich in einem dunklen Raum be-
wegte. Er wirkt zaghaft, unentschlossen, beinahe wie ein Schuldiger, nur
weil er sich vor Fehlern hüten möchte 2 • Der Neuling wird als Fremder
auf den ersten Blick erkannt, fällt schon durch seine Kleidung auf, die
Gestik, seine Körperhaltung, seine ganz bestimmte Art der Neugier.
Es sind gerade diese Scheu und Vorsicht, die Vorrangsinstinkte bei dem
andern in Bewegung bringen und räuberischen Drang erwecken. Dieses
Herabsehen auf den unerfahrenen Fremden kommt in der Sprache des
einfachen Volkes klar zum Ausdruck, weil es das sagt, was andere nur
denken oder nur im Kriege sagen. Dem Schwächeren gegenüber befällt
1 Vor allem in den jüngeren Altersstufen 20-29, 30-39 und bis zum 60.Le-
bensjahre ist die Sterblichkeit der Ledigen besonders hoch bei Männern. Die
ledige Frau steht sehr viel besser da; die junge, verheiratete Frau (20-29) hat
selbst eine leicht erhöhte Sterblichkeit. (TROMPSON I, S. 232.) Spätere europäische
Angaben stimmen mit diesen New Yorker Feststellungen nicht überein. TROMPSON
(II, S. 248) macht die zutreffende Bemerkung, daß Frauen in Ländern mit Männer-
überschuß eine bessere .Auswahl zu treffen scheinen als bei Männerarmut.
2 Nach einem alten jüdischen Sprichwort "bellt ein Hund, entfernt von der
gewohnten Stätte, sieben Jahre lang nicht mehr". COREN, .A.: Ancient iewish
proverbs, S. 124. London 1911.
Fernwanderungen und soziale Krisen 315

viele Menschen statt des Mitleids und der Hilfsbereitschaft Mißachtung


ebenso wie Unterschätzung, deren sie sich öfters kaum bewußt sind,
und Fremde sind zunächst in jedem Falle Schwache.
Der alte Ausdruck Greenhorn ist seiner Derbheit wegen aus dem
Sprachschatz weggeschwunden. Wahrscheinlich ist er obszönen Ur-
sprungs!. Das Horn war schon im Griechischen Sinnbild der Starrheit
und der Stärke. Man weiß nicht, wie es gekommen ist, daß das zu-
treffende Wort Gelbschnabel im Deutschen durch Grünschnabel ersetzt
worden ist. Grün ist, ganz wie bei Früchten, unreif, ungar, unerfahren 2,
noch nicht aufgeschlossen 3 , und dann dumm 4 • Von dem Subjekte, das
man leicht beschwindeln kann, ist die Bedeutung heute auf Objekte
fortgeschritten, die dem Betruge dienen, wie gefälschtes Geld 5.
Man spricht nicht gerade achtungsvoll von einem "greaser", "dago",
"bohunc" (oder hunky), vom "wop" und "chink" und einem "sheeny."
Greasers hießen zuerst die Mexikaner und Südamerikaner, mit denen
man in Berührung kam 6 • Nach BANcRoFT wurden anfangs die Ameri-
kaner so genannt 7, dann ging der Name auf die Geber über. Man leitet
dago von hidalgo ab und denkt dabei an alle Südeuropäers. Das gleiche
gilt für "wop", das WEBSTER von dem italienischen "guappo" her-
nimmt. Bohuncs sind die Leute, die aus dem Südwesten Europas
kommen, chinks sind Chinesen, sheenies Juden. Der Ausdruck wird in
gleicher Weise von Juden und Nicht-Juden gebraucht 9.
Das Verhältnis zum Einwanderer ist Schwankungen unterworfen, die
eigenartig und dabei vielleicht natürlich sind. Auch die Partei der
Know-nothing oder Native Americans, die zeitweise starken Zulauf
hatte, waren Abkömmlinge von Einwanderern. Sie waren auch für
Freiheit und Gerechtigkeit. Wenn aber "Chilenos" an den neuent-
1 Horn ist" the physical sign of sexual excitement in the male" und dann das
Membrum selbst. PARTRIDGE, a.a.O., S.405. Bei green s. die Zusammensetzungen
green goose, green-grocery, green grove und green meadow bei PARTRIDGE, S. 352
und 353.
2 Siehe den Vers:
"So awfully green, dreadfully green,
The greenest of green that ever was seen,
He blushes and simpers-you know how I mean
Frightfully shy, and awfully green."
BARRERE, ALBERT: Slang, jargon and cant, S. 404. London 1897.
3 "Green virginity," SHAKESPEARE: Timon 01 Athens IV, 1, 7.
4 "Greenly" dummerweise, SHAKESPEARE: Hamlet IV, 5, 83.
5 "Green goods" bedeutet Falschgeld. GOLDIN-O'LARy-LIPSIUS: Dictionary 01
the American underworld lingo, S. 86. London 1950.
6 WHYTE, W. F.: Street corner society, S. 149. Chicago 1943.
7 ASBURY, HERBERT: Barbary coast, S. 30. New York 1947.
8 FARMER, JOHN, and W. E. HENLEY: A dictionary 01 slang and colloquial
English, S. 403. London 1905.
9 BARRERE, ALBERT, a.a.O., S. 277.
316 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

deckten Goldschätzen Californiens mitzunaschen wagten, so pochten sie


auf die Vorrechte derer, die zuerst gekommen waren. Sie waren nicht
gesonnen, den Zufallsreichtum mit den Späteren zu teilen. Das war ihr
Land, sie waren hier geboren 1. Erst kamen sie. Die andern mußten
draußen bleiben. Sogleich erschienen scharenweise Hilfsgedanken. Ein-
wanderer waren abergläubisch, unsauber, brachten alle Laster mit. Die
Löhne sanken, weil die billige Arbeit alles unterbot. Wohin sie kamen,
stürzte jeder wohlerworbene Lebensstandard ein. Wenn eine Wirt-
schaftskrise ausbrach, galt es den Fremdenzustrom abzuschneiden, ob-
schon er ganz von selber ebbte, wenn der welke Wohlstand nicht mehr
anzog.
Aber dieser innere Abstand des Einheimischen gegenüber dem Ein-
wanderer ist nur eine der Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat.
Unähnlichkeit, hat ein amerikanischer Forscher gesagt, hat Unfreund-
lichkeit zur Folge 2. Die seelische Bedrängnis, unter der er zu Hause
neben der wirtschaftlichen Not litt, wiederholt sich gegen jede Erwar-
tung, wenn er im neuen Lande Zielscheibe von Witz und Grinsen wird.
Der Fremde übersieht das Element des Wettbewerbs in einer Welt des
dichten Beieinanderwohnens, er sucht die Freiheit der Gesetze auch in
der Sphäre der menschlichen Beziehungen, wo Kampfinstinkte, Selbst-
sucht, Aberglauben, Leidenschaften mehr Raum einnehmen als Hoch-
herzigkeit, Verständnis, Toleranz. Da kommen nicht nur wirtschaftliche
Konkurrenten in das Land geströmt. Viele Einwanderer sind unver ..
heiratet, jung, unternehmungslustig. Man hält sie wie den Neger für
potent und aggressiv, obschon der Klimawechsel sie wahrscheinlich auch
in diesem Punkte affiziert. "Es ist für einen Mann von Cornerville nicht
leicht", meinte eine Untersuchung 3 , "die Leiter emporzusteigen, selbst
auf die erste Sprosse. Die Gegend, wo er wohnt, gilt als ein Viertel ohne
Ordnung und Gesetz. Er ist Italiener, und die oberen Schichten halten
den Italiener für einen der am wenigsten erwünschten Typen." Mit
wenigen Ausnahmen muß der Einwanderer, er sei noch so geübt und
kundig, in den Reihen der Hilfsarbeiter seinen Aufstieg beginnen 4.

1 Einen alten Vers, in dem die Eingesessenen sich selbst ironisierten, hat
ASBURY, Barbary coa8t, S. 31, überliefert:
"The miners came in forty-nine,
The whores in fifty-one;
And when they got together
They produced the native son."
Ob das Lied von einem mißgünstigen Einwanderer gedichtet wurde? Noch heute
soll es nach ASBURY in San Francisco gesungen werden.
2 SCHRlERE, B.: AUen Americans, S. 76. New York 1936.
3 WHYTE, S. 273.
4 ABBOTT, EDITH, a. a. 0., S. 481. - Bei der hohen Bezahlung der ungelernten
Arbeiter hat dieser Übelstand im Augenblick an Schädlichkeit verloren.
Fernwanderungen und soziale Krisen 317

Einwanderer sind frugal und nur bescheidene Kunden. Wer spart und
knausert, steht bei denen nicht in Gunst, die etwas zu verkaufen haben.
Frugalität verschärft den Wettbewerb, sitzt fest auf dem erworbenen
Gelde, gibt es nicht an den lieben Nächsten weiter. Sie nützt dem
andern nicht wie die Verschwendung, ist eine ärgerliche Form der Tüch-
tigkeit und darum keine wahre Tugend.
Wie Hungernde stürzen sich die Neuankömmlinge auf die Arbeit,
die zu Wohlstand führt. Gleichsam von einem Taumel ergriffen, schuften
sie sich müde, krank und elend. Die menschliche Maschine wird zu
einem Tempo angetrieben, das niemand seinem Auto zumuten würde.
BERCOVICI 1 berichtet von russischen und galizischen Juden, die New
York erreichten: "In der ersten Aufwallung ihrer ehrgeizigen Bemühung
arbeiteten sie so schwer, daß Hunderte, ja Tausende an der weißen Pest
der Überarbeitung, der schlechten Wohnungsverhältnisse und der Unter-
ernährung dahinstarben, und alles das in dem Bemühen, genug Geld
zusammenzubringen, damit sie ein Geschäft eröffnen könnten." Diese
harte Selbstbeanspruchung geht durch alle Einwanderergruppen und
gibt ihnen das Gepräge der Eile und gewisser Rücksichtslosigkeit 2. In
guten Zeiten wird der Konkurrenzdruck nicht empfunden. In Depres-
sionen fängt er an zu schmerzen und damit dreht sich auch der Wind
der Massenstimmung.
Länder, die wie die Vereinigten Staaten von den verschiedensten
Volks- und Rassenelementen besiedelt worden sind, entwickeln natur-
gemäß, aber auch als Anerkennung für die überlegenheit ihrer Kultur,
die Forderung nach sichtbarer Anpassung der Einwanderer. Diesem
Verlangen kommen die Neuankömmlinge entgegen, stürzen sich dabei
aber in unerwartete Konflikte, die gerade die wertvollsten unter ihnen
schwer belasten. Die schärfste Trennungsgrenze ist die Sprache, die in
der ersten Generation öfters niemals ganz überwunden wird. Die Neu-
ankömmlinge, verwaltungsrechtlich "Einwanderer", "Fremdgeborene ",
zerfallen hier in zwei verschiedene Gruppen. Bevorzugt sind in Süd-
amerika, Argentinien z. B. und Mexiko, die spanisch Sprechenden, in
Amerika, Kanada, Südafrika und Australien die englisch Sprechenden.
Die anderen sind im neuen Land im NachteiL Mangelnde Beherrschung
der Landessprache schließt von allen sprechenden und schreibenden
Berufen aus in einer Zeit, die Meinung mit Wort und Bild formt und
wo die öffentliche Rede zu Amt und Würden führt. Es ist Belastung,

1 BEROOVIOI, KONRAD: Around the world in New York, S. 71. New York 1924.
2 Seitdem Kriege Prosperität und Produktion bedeuten, haben diese in rascher
Folge wiederkehrenden Krisen die Wirkung eines Menschenvakuums, von dem
Einwanderer und Neger profitieren. Plötzlich hat auch die soziologische Literatur
zur Frage der Einwanderung einen empfindlichen Rückgang erfahren. Kritik,
Interesse und Wissensdurst sind jetzt zu dünnen Rinnsalen ausgetrocknet.
318 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

deren Schwergewicht andauernd wächst. Daß auch die menschlichen Be-


ziehungen erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden, ist zahlenmäßig
ohne weiteres zu erweisen, denn wenn in Amerika Ehen zwischen Ein-
heimischen und Einwanderern geschlossen werden, so stehen die gleich-
sprachigen Gruppen (England und Wales, Schottland, Nordirland, Frei-
staat Irland, Kanada und Neufundland) an der Spitzel. Am gesuch-
testen sind Frauen aus dem englischen Sprachkreis, es folgen die
Deutschen, dann Polen und Russen, schließlich Italienerinnen.
Wie ich zu zeigen versucht habe, ist in den englisch sprechenden
"Misch"ehen das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern von der
Wirkung des Sprachschismas frei. Es muß freilich hinzugefügt werden,
daß alle Einwanderer, wenn es irgend geht, sich als Eingeborene regi-
strieren lassen und daß der englisch Sprechende geringere Schwierig-
keiten hat, illegal einzureisen und unbelästigt im Lande zu bleiben.
Besonders trifft diese Beobachtung auf Mexikaner und Kanadier zu, die
nur eine weitgestreckte Landgrenze zu überschreiten brauchen. Die
amtliche Statistik erwähnt selbst bei der Besprechung der Einwanderung
aus Kanada "Millionen von Fremden und Bürgern, die während des
Jahres 1932 die Nordgrenze überschritten haben 2 ," wie einstmals die
Alkoholmengen während der Prohibition. "Es handelt sich", sagt der
Bericht der Einwanderungsbehörde, "um eine Bewegung großen Um-
fangs, und es würde unmöglich sein, obschon recht wünschenswert, diese
Grenzüberschreitungen festzustellen." "Viele", wird beruhigend hinzu-
gefügt, "sind nur für kurze Zeit geplant und richten sich auf Punkte,
die nahe an der Grenze liegen." Diese Besuche werden sicher häufig
sein. Wonach wir fragen, sind aber die Einwanderer, die nicht nur aus
Kanada selbst, sondern aus anderen Ländern über die Grenze Kanadas
kommen. Nur diese Kenntnis würde uns erlauben, die Kriminalität
kanadischer Einwanderer zu bestimmen.
Neben der Dualität der Sprache - der Vater spricht gar nicht oder
unbeholfen englisch, der Sohn hat es von Jugend auf gelernt - laufen
noch andere Risse durch das Familienleben der Einwandererfamilien.
Erwachsene bringen ihre alten Traditionen mit, die kategorischen Im-
perative der Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen sind, die Normen
ihrer Religionen, den ganzen reichen Schatz von Regeln und Geboten
jenes Lebens, das rämnlich hinter ihnen liegt. Für ihre Kinder ist das
alles nicht mehr gültig. Es ist veraltet und zurückgeblieben, und im
Zusammenstoß der Kulturen erleiden die Erziehung und das antiquierte

1 Siehe meine Untersuchung: The first generation and a half. Notes on the
delinquency of the native white of mixed parentage. American Sociological Review
1945(X), S. 795.
2 Annual Report of the Commissioner general ofImmigration 1932. Washington
1932, S. 18.
Femwanderungen und soziale Krisen 319

Vater-Vorbild Schiffbruch. In seiner Jugend stellt der große Gangster


Arnold Rothstein der Familie seine Braut vor. Der Vater ist ein frommer
Jude, das Mädchen ist katholisch. Sie wird gefragt, ob sie katholisch
bleiben wolle. Sie bejaht. Der Alte sagt, er wünsche alles Glück, doch könne
er sich nicht in diese Regelung fügen. Als er dann von der Eheschließung
seines Sohnes hört, zerreißt er seine Kleider, läßt Tücher über alle Spiegel
hängen und betet für den "toten" Sohn!. So prallt die höchste innere
Gegensätzlichkeit zusammen, wobei ein jeder recht und jeder unrecht hat.
Nicht wenige Menschen wandern, weil sie "Dissidenten" sind. Sie
würden bleiben, wenn sie Konformisten wären. Sie mußten weichen,
wenn sie nicht vernichtet werden wollten, sobald sie vom bloßen passiven
schwarzen Schaf Angreifer wurden 2. In der Fremde kommt es zu zwei
verschiedenen Haltungsarten : Zum ersten wird der Widerstand fort-
gesetzt und führt zur Lebensniederlage, zum tiefen Mißmut, öfters auch
zur Katastrophe. Aber auch die entgegengesetzte Reaktion ist möglich.
Es ist der übereifer, gleichzutun, nicht aus der Reihe tanzen, konform
sein, dem lobend sich zu beugen, was nun einmal ist. Sie haben sich
zu der Erkenntnis durchgekämpft und durchgehungert: wie das Ver-
brechen, lohnt auch die Revolte nicht. Das übermächtige soll man
nicht bekämpfen, nur überlisten, wenn der stärkere Muskel schläft.
Auch der, der reich wird, kann entwurzelt sein. Erst seine Kinder
ziehen volle Kraft aus neuemBoden. Dazu gehört die abgelegte und frisch
erworbene Treuebindung, die man nicht wechseln kann wie das Gestade
zweier Länder. HENRY JAMES war in den Vereinigten Staaten 1843
geboren und siedelte 1875 nach Europa über. In der Einleitung zu
seinen Kurzgeschichten befindet sich eine Bemerkung zu der Entwurze-
lung geistiger Menschen: "Er und daher sein Werk sind wurzellos 3 ...
Seine Kunst ist durch die Unterernährung geschwächt, die davon kommt,
daß seine Treue nicht aus einem Stück besteht. Er schloß sich allem
an, was in der europäischen, britischen und amerikanischen Emigranten-
Gesellschaft dekadent erschien ... JAMES war ein Mensch, der nirgendwo
zu Hause war 4 ."
e) Die Anpassungskrise des Einwanderers schlägt nach innen; sie
nimmt die Gestalt einer höheren Sterblichkeit, verstärkter Elimination
1 KATSCHER, LEO: The big bankroll, The lue and times of Amold Rothstein,
S. 44 und 45. New York 1959.
2 Siehe die Entwicklung dieser Abneigung bis zum blindwütigen Lynchakt
bei THOMAS und ZNANIECKI, S. 1223.
3 FADIMAN, CLIFTON: The short stories 0/ Henry James, S. XI und XII. New
York 1945.
4 Was FADIMAN an HENRY JAMES aussetzt, ist die Dichterklage: "Weh dem,
der keine Heimat hat." "Zu Hause sein" ist ein seelisches Verhältnis des Gleich-
gewichts und der optimalen Einbettung in einen Kulturkreis, wobei nichts über
dessen Vorzüglichkeit oder gar Vorrang gesagt ist.
320 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

durch Unfall und Selbstmord und gesteigerten Verschleiß durch geistige


Störung an. Wir haben es mit einer Bevölkerungsgruppe zu tun, die
im Durchschnitt aller Jahrgänge älter als die einheimische Bevölkerung
ist. Die Pubertät liegt meistens hinter ihr. Aus allen diesen Gründen
muß die weitverbreitete Meinung!, daß Einwanderer krimineller sind
als Eingeborene, von vornherein auf Zweifel stoßen. Ob sie in den
Vereinigten Staaten anfälliger sind als in der alten Heimat, ist noch
nicht geklärt 2. Die Elemente des Vergleiches sind verschieden. Beim
flüchtigen Verbrecher sind die Typen, die nicht wieder mit dem Gesetz
zusammenstießen, unbekannt. Verfolgte werden eher mit einem "ge-
brochenen Herzen", Selbstmord oder seelischer Erkrankung auf über-
große Schwierigkeiten reagieren. Die meisten Einwanderer aus Armut
hält die Hoffnung aufrecht, durch Fleiß und Arbeit sich empor-
zurackern.
Die Unüorm Crime Reports teilen die Verhaftungszahlen nicht mehr
nach Eingeborenen und Fremdgeborenen auf. Doch sprechen ältere
Zahlen, die ich berechnet habe, eine unzweideutige Sprache:
Verhaftungen 1936-1940 auf 100000 Personen einer jeden Gruppe der Bevölkerung *
(15 Jahre und darüber)
Weiße Eingeborene . . . . . . . 534,7
Weiße Einwanderer . . . . . . . 203,4
* Berechnet nach den Zahlenangaben in Uniform Crime Reports 1936-1940,
S. 168, 236, 178, 222 und 225.
Verhaftungen bedeuten
Einlieferungen in Strafanstalten wegen Verbrechen, nur eine vorläufige Ent-
Männer 1937-1940* (auf 100000 Personen einer
jeden Gruppe, 15 Jahre alt und darüber) scheidung, die der Rich-
ter oder die Polizei selbst
Einzelne Verbrechen Einheimische IEinwanderer
später öfters berichtigt.
Mord . . . . . . . 19,4 15,6
Die Einlieferung in die
Totschlag . . . . . 17,1 11,4 Strafanstalt läßt ander-
Schwere Körperverletzung 32,2 23,1 seits alle Personen weg,
Raub . . 99,1 23,9 die Geldstrafe oder Be-
Einbruch. 209,5 42,5
währungsfrist erhalten
Diebstahl 186,1 43,2
Notzucht. 36,8 19,3 haben. Es könnte sein,
daß diese Maßnahmen
* Berechnet nach den Zahlen in Prisoners in
State and Federal prisons 1937-1940, S.30, 28, nicht ganz in gleicher
30 und 34. Weise auf Eingeborene
und Fremde Anwendung
finden. Mit diesem Vorbehalt ist nebenstehende Tabelle zu betrachten.
Der bedeutende Einfluß der Altersstruktur kommt zum Vorschein,
1 Siehe die von EDITH ABBOTT (a.a.O., S.747) angeführte "Declaration of
Principles of the Native Americans" vom 4. Juli 1845.
2 SUTHERLAND-CRESSEY halten diesen Anstieg für wahrscheinlich (S. 145).
Fernwanderungen und soziale Krisen 321

wenn die älteren Jahrgänge bei dem Vergleiche weggestrichen werden.


Es stellt sich sogar auf der Männerseite ein kleines Plus heraus:
Einlieferungen in Strafanstalten 1932-1936 * (Altersgruppe 15-50 Jahre,
auf 100000 jeder Gruppe, Bevölkerung von 1940, Männer und Frauen)
Herkunft I Männer I Frauen

Weiße Eingeborene . . 1142,2 1 6,3


Weiße Fremdgeborene . 133,2 6,7
* Berechnet nach Zahlen in Prisoners 1932-1936, S.25, 33, 35,42, 43.
Dieses Ergebnis, das die Unterschiede in so auffallender Weise redu-
ziert, verführt, die Altersgruppen weiter aufzuspalten.

Einlieferungen in Strafanstalten 1932-1936* (nach Altersgruppen und Geschlecht


und Herkunft auf 100000 Personen jeder Gruppe, Bevölkerung von 1940)
Weiße Eingeborene Weiße Fremdgeborene
Altersgrnppen
Männer I Frauen 1IIänner I Frauen

15-17 55,7 3,1 82,6 8,4


18-20 219,9 9,8 229,1 13,2
21-24 229,0 8,6 397,2 19,1
25-29 170,8 7,2 212,7 7,7
30-34 130,6 5,8 117,2 5,6
35-39 101,2 5,6 98,1 6,0
40---44 75,9 3,6 65,8 4,2
45---49 51,1 2,6 43,0 I 3,5
* Berechnet nach Zahlen in Prisoners 1932-1936, S. 25, 33, 35,42,43.

Aus diesen Zahlen gehen zwei Tatsachen hervor: Die geringere


Kriminalität der Einwanderer beruht auf dem Rückgang aller kriminellen
Aktivität nach dem 30. Lebensjahre; zweitens geht die einwandernde
Frau, soweit Gefängniszahlen gehen, der eingeborenen Frau voran 1,
wobei freilich die Frage offenbleibt, ob die Gerichte bei Freispruch,
Geldstrafe und Bewährungsfrist genau den gleichen Maßstab anlegen.
Der Einwanderer ist eine äußerst heterogene Masse. Ich stelle zwei
nationale Gruppen einander gegenüber:
Einlieferungen wegen eines Verbrechens 1937-1940
(Prozente aller Einlieferungen von Einwanderern)
Mexikaner . . . . . . . . . 22,4
Kanadier. . . . . . . . . . 12,8 2
1 Die stärkere kriminelle Belastung wird durch den Zustrom zahlreicher
"Kriegsbräute" nicht abgeschwächt sein, die zum Teil wenig sorgfältig ausgesucht
waren. Siehe ein Beispiel bei CRAIG RICE: 45 murders, S. 48ff.
2 Berechnet nach Zahlen in Prisoners 1937-1940, S. 31, 29, 31, 35.

v. Hentig, Das Verbrechen I 21


322 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Diese "kontinentale" Einwanderung beginnt den alten überseeischen


Strom der Neuankömmlinge zu ersetzen. Aber auch die Europäer weisen
die größten Unterschiede auf, die vor dem zweiten großen Krieg her-
überkamen.
Ich habe für einen zehnjährigen Zeitraum die Zahlen einer großen
amerikanischen Strafanstalt berechnet, als ich für die Regierung des
Staates Colorado und die Universität von Colorado den "Grime Survey"
schrieb und meine Untersuchungen in Canon City anstellte 1:

Aufnahmen im Staatsgefängnis von Colorado in Canon City 1929-1938


(auf 100000 jeder Gruppe im Staat Colorado)
Herkunftsland Männer Herkunftsland
I Männer Herkunftsland I Männer

Irland 47,1 Kanada. 37,8 Rußland 30,0


Italien 45,7 Mexiko. 36,6 England 28,2
D eutschland . I 38,0 Polen. 32,1 Skandinavien 17,5

Wir müßten zahlreiche Einzelelemente kennen, um diese Zahlen ohne


allzu große Denkfehler lesen zu können: die Altersstruktur der einzelnen
Nationalitäten, die wirt-
Einlieferungen in Irrenanstalten * und Selbstmorde **
schaftliche Lage, die
in den USA 1933 und Chicago
(nach Land der Herkunft und Geschlecht auf 100000 Sterblichkeit, die man-
einer jeden Gruppe) chen Menschen vor dem
Einweisungen Selbstmorde
Zuchthauswegschnappt,
und bei Tuberkulose z.B.
Mänuer I Frauen Männer I Frauen
kann das Verhalten stark
Irland 222,7 160,7 11,1 5,3 beeinflußt sein. Auch
Italien 98,1 67,5 22,9 5,4 Selbstmord wie die gei-
Deutschland. 93,4 72,3 61,2 25,5 stige Erkrankung sind
Kanada. 96,9 64,3 40,8 14,3
Polen. 91,8 72,0 28,8 6,5 zum Vergleich heranzu-
Rußland 79,8 72,0 24,1 12,7 ziehen.
E ngland 87,6 71,7 21,4 13,3 Den hohen Kriminali-
Österreich . 200,0 133,3 81,3 30,7 tätszahlen Irlands und
* Berechnet nach den Patientenzahlen in Italiens 2 entsprechen
Patients usw. 1933, S. 44, und Abstract oI the vermehrte Einweisungen
15th Census oI the United States 1930, S. 129.
Washington 1933. in Heil- und Pflege-
** Selbstmordzahlen bei CAVAN, a.a.O., S.80. anstalten und gesenkte
Selbstmordziffern. Eng-
land zeigt wenig Rechtsbruch, wenig Selbstmord und Psychose, wobei
die gleiche Sprache in vielfacher Beziehung (Anpassung, Sympathie usw.)
1 Siehe meinen Colorado Crime Survey, Bd. I, S. 260, Boulder 1940, der
nicht veröffentlicht worden ist.
2 Wir sehen deutlich, wie verdrängte Selbstmordneigung sich in Rechtsbruch
und Psychose flüchtet. Die Summe gleicher Spaunung sucht verschiedenen Ausweg.
Fernwanderungen und soziale Krisen 323

eine Rolle spielen mag. Die Deutschen zählen überall zur Spitzengruppe,
wie die Kanadier, die verschiedener Herkunft sind. Die hohen Psychose-
und Selbstmordzahlen der Österreicher, die sich im Zuchthaus nicht
fanden, verdienten näher untersucht zu werden. Wiens hohe Selbst-
mordzahlen sind bekannt wie die von Budapest. Die Zahlenreihen
liefern den Beweis, daß "der" Einwanderer nicht existiert. Wir dampfen
hundert wesentliche Unterschiede ein.
f) Sind die bedeutenden Anpassungsnöte des Einwanderers offen-
sichtlich, und ist ebenso nicht zu bezweifeln, daß die seelische und die
soziale Krise nur zu einem erstaunlich geringen Teil den Weg des Rechts-
bruchs geht, so nehmen Natur und Gemeinschaft mit den Kindern der
Einwanderer ein überaus aufschlußreiches Experiment vor. Sohn und
Tochter weisen, obschon zumeist bereits vom wirtschaftlichen Aufstieg
des Vaters begünstigt, der Sprache und dessen mäehtig, was "des Landes
der Brauch" ist, eine deutlich gesteigerte Kriminalität auf. Angleichung
an das Klima ist erfolgt, motorisch macht sich jetzt ein kräftiger Anstoß
geltend, die alten Regeln ihrer Dörfer und Provinzen werden abgeworfen,
die Väter haben abgedankt, mit deren schlechtem Englisch man sich
vor den Freunden schämt, und von dem neuen Leben greift der Junge
unbesehen jedes, sogar das schlimmste Muster als ein Vorbild auf.
Selbst der Erfolg genialer Emigranten wirkt manchmal auf den Sohn
wie eine Schädlichkeit, und das Delikt ist nicht das einzige Symptom
der Krise l .
Für das Emigrantenkind schieben sich auf den leeren Platz des
Vaters neue "Autoritäten" ein, die Spielgenossen, die Straßengangs und
ihre Führer. Er will es ihnen gleichtun, von ihnen als ein richtiger Ein-
geborener angesehen und, wenn es geht, bewundert werden. Der Vater
fühlt sich von dem eigenen Kind verachtet, und die Entfremdung steigert
sich zum Haß. Der Kampf ums nackte Leben läßt der Mutter keine
Zeit, auch keine Kraft für zartes Fühlen, Sorge, Aufsicht. Eine Mutter
erklärte: "Ich habe 14 Kinder gehabt. Mein Leben hat sich nur in der
Küche abgespielt. Sie sehen, wie es ist. Wie kann ich wissen, was mein
Junge draußen anstellt?" Ein Einwanderer brach eine Woche vor der
Hinrichtung seiner Jungen los: "Es ist mir gleich, was Sie auch mit
den beiden tun. Sie sollen sie nur aufhängen oder erschießen, das macht
mir gar nichts aus." Als man ihn fragte, wie er denn so herzlos sprechen
könne, er, der Vater über seine eigenen Jungen, zuckte er die Schultern
und sagte: "Kein einziger hat jemals einen Pfennig beigesteuert 2." Die
stärksten Haltetaue sind von diesen jungen Menschen abgekappt, und

1 Siehe die Bekenntnisse, die der Sohn eines bekannten Schauspielers ablegte
ROBINSON jr., EDWARD G.: My father - my son. New York 1958.
2 SUTHERLAND-CRESSEY, a.a.O., S. 179 (nach LOUISE H. BOWEN).

21*
324 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

was als falsches Leitbild an die Stelle dieser Stützen tritt, führt oftmals,
statt zu helfen, ins Verderben.
Der 13jährige Sohn eines russischen Einwanderers trieb sich herum,
verkaufte Rauschgift, war ein berüchtigter Krimineller geworden. Ge-
fragt, ob sie das Heim für den Jungen nicht habe anziehend machen
können, erwiderte die Mutter: "Ja, ja doch. Ich habe alles versucht,
ihn zu Hause festzuhalten ... Aber er wollte seine Freunde nicht mit-
bringen, er schämte sich, daß wir greenhorns waren und nicht englisch
sprechen konnten... Sie können sich nicht denken, wie schrecklich es
ist, wenn Eltern und Kinder nicht die gleiche Sprache sprechen l ."
Die erhebliche Kriminalität der "zweiten Generation", also der
Kinder von Einwanderern, ist am besten dort zu studieren, wo diese
Bevölkerungsgruppen sich häufen, z.B. in der Stadt New York. Hier
machten Einwanderer und ihre Kinder vor dem zweiten Weltkrieg 60 %
der Gesamtbevölkerung aus:

Weiße Bevölkerung New York81940 und Bevölkerung der USA*


(Prozentzahlen der Herkunft)

Herkunft Vereinigte Stadt


Staaten New York

Eingeborene, Eltern eingeboren 70,9 31,0


Eingeborene, Eltern eingewandert . 12,8 30,3
Eingeborene gemischter Herkunft** . 6,7 9,0
Einwanderer. . . . . . . . . . . 9,6 29,8
* Population: Nativity and parentage of the white population, General cha-
racteristics 1940, S. 1 und 37.
** Ein Elternteil eingeboren, der andere eingewandert.

Weiße, Herkunft der Eltern (in Stadt und Land)


558 eingeborene
Prostituierte' Gefangene"
New York City im Staate
(Prozentzahlen) IIfichigan

Eltern eingeboren . . 21,5 69,93


Eltern eingewandert . 58,6 19,99
Gemischte Herkunft . 11,1 9,14
Vater eingewandert 6,1 6,14
Mutter eingewandert. 5,0 3,00
Unbestimmt . . . . . 8,8 0,94
* DAVIs, KATHERINE B.: Commercialized prostitution in New York City, S. 203.
New York 1913.
** Berechnet nach den Zahlen in Statistical Report regarding arrests and state
prisoners committed and released during 1936, 1937, 1938, S. 15. Lansing 1939.

1 SUTHERLAND.CRESSEY, a.a.O., S.178 (nach S. DRUCKER und M.B.HExTER).


Fernwanderungen und soziale Krisen 325

Es darf daher nicht wundernehmen, daß die zweite Generation, wenn


die Gefährdung untersucht wird, in der Einwandererstadt New York mit
hohen Zahlen auftritt, während die gleichen Daten in der "Provinz"
ganz anders lauten, denn hier sind Einwanderer und ihre Kinder viel
spärlicher vertreten (s. Tabelle S. 324 unten).
Obschon so entscheidende Faktoren wie die Altersstruktur in all-
gemeinen Relativzahlen nicht enthalten sind, so bringen sie uns doch
ein Stück weiter. Eine 18 Monate umfassende Zählung der Verurtei-
lungen wegen Sittlichkeitsdelikten gibt dieses Bild:

Sittlichkeitsdelikte, New York Stadt*, 1. Juli 1937 bis 1. Dezember 1938


(auf 100000 einer jeden Gruppe)
Weiße Eingeborene . . 141,1
Eltern eingeborene . 97,9
Eltern eingewandert 164,8
Einwanderer . . . . . 129,3
Neger . . . . . . . . 684,7
* Berechnet nach Zahlen in Report of the Mayor's Committee for the study
of sexua10ffenses 1939, S. 81 und 82. - Eine Rolle spielt auch das irreguläre
Größenverhältnis der Geschlechter zueinander, hauptsächlich bei den Einwanderern,
danu aber auch noch in der zweiten Generation.

Es kann sein, daß die Belastung des älteren Mannes mit Sittlichkeits-
delikten die Spanne zwischen Einwanderer und seinen im Lande ge-
borenen Kindern reduziert.
Einlieferungen in Strafanstalten und Einwanderer sind wenig brauch-
bare Allgemeinbegriffe. Wir wollen die Deliktarten kennenlernen, denen
sie zuneigen. Wir wollen auch wissen, wie sich die einzelnen Herkunfts-
länder, nach Einwanderern und zweiter Generation, verhalten. Angaben,
freilich nur Prozentzahlen, sind aus New Jersey überliefert:

Sechs Deliktarten, Einlieferunyen in das Staatsyefänynis von N ew J ersey*


(nach Abstammung, 1925-1934, Prozentzahlen)
Weiße Eingeborene
von eingeborenen Italienische Italiener der
Delikt Einwanderer, zweiten Generation,
Eltern,
1006 Gefangene 295 Gefangene 415 Gefangene

Tötung. 5,1 21,0 6,6


Körperverletzung 8,3 21,9 16,0
Sittlichkeitsdelikte . 18,0 24,0 12,7
Raub 16,8 17,0 40,5
Einbruch. 32,5 16,1 16,5
Diebstahl. 19,3 16,1 7,6
* STOFFEL, E. H.: The European immiyrant and his children, Anuals of the
Academy of Political and Social Science, S.85-86, 1941.
326 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Sehr hoch ist der Anteil der Tötungsdelikte bei den Einwanderern
aus Italien und auf der anderen Seite die Raubkriminalität der Ein.
wandererkinder.
Daß vor allem die Kinder irischer, italienischer und polnischer Ein.
wanderer in der Luft der neuen Heimat "dynamischer" werden, ist
zahlenmäßig zu erweisen.
Eine auffallend hohe Anzahl der großen Gangster (Al Capone, Pender·
gast, Moses Annenberg) waren Einwandererkinder ; die gleiche Gruppe
hat auch die Kultur der neuen
Einwanderer und Einwandererkinder '" Heimat reich befruchtet.
(Einweisungen in Strafanstalten
des Staates Michigan 1936-1938,
Mit einem letzten Gegner
per 100000 jeder Gruppe) haben sich die Einwanderer
und ihre Kinder abzufinden:
Einwanderer· den anderen Immigranten, die
Herkunftsland Einwanderer kinder
in Massen an das Ufer steigen,
Österreich 52,6 33,3 wennirgendwoinfremden Län-
Kanada 26,9 22,9
14,4 17,5
dern Wirtschaftskrisen sich
England .
Deutschland 12,8 20,6 entwickeln; sie kommen an,
Irland. 20,5 37,8 entschlossen, sich den Platz in
Italien. 27,1 34,7 einer besseren Welt zu sichern.
Polen 21,8 46,6 Sie wohnen enggedrängt in
Rußland 25,5 27,1
gleichen Vierteln und setzen
Zusammen 23,8 25,5 ganz den gleichen, wilden Ar.
'" StatisticaiReport, S.132, 133. Lansing 1939. beitseüer ein. Die schärfste
ihrer Waffen ist die Unter.
bietung, preist doch das neue Credo Wettbewerb als Segen und gibt
ihm alle Zügel frei. Die Neuen werden selbst vom eigenen Landsmann,
dem Experten, kritisch abgeschätzt mit einer Menschenkenntnis, die
noch aus der alten Heimat stammt. So schrieb der Leiter der ita.
lienischen Abteilung in der Kriminalpolizei von New York 1, ganz ohne
Schonung, so wie man in jenen Jahren sprach:
"Die Vereinigten Staaten sind der Zufluchtsort aller Verbrecher und Banditen
von Italien, Sizilien, Sardinien und Kalabrien geworden."
"Vor etwa einem Jahr entschlossen sich die Behörden von Tunis, im italieni.
sehen Viertel dieser Stadt aufzuräumen ... Die französische Regierung stellte eine
strenge Untersuchung an; 10000 Italiener wurden aus dem Lande ausgewiesen."
"Wohin hat sich diese Blüte der Menschheit gewandt? Sie wurde von Onkel
Sam mit offenen Armen empfangen."
Polnische Untersucher kamen - zusammen mit amerikanischen Ge·
lehrten - zu der Feststellung, daß sich in der polnischen Auswanderung

1 Polizeileutnant Petrosino, zitiert nach PARKER, R. E., und H. A. MILLER:


Old world trait8 transplanted, S.249. New York 1921.
Die Zwangswanderungen 327

nur schwache Spuren der gebildeten polnischen Gesellschaft zeigten und


die besten Typen des Bauern- und des Bürgertums kaum vertreten
seien 1.
Neben dieser Selbstprüfung macht sehr viel lauter sich die Meinung
der Einwanderer über ihre Schicksalsbrüder geltend. Die größten ethni-
schen Gruppen, die herüberkamen: Die Iren, Deutschen, Juden, Italiener,
Spanier aus Westindien unterscheiden sich nach Sprache, Glauben,
Temperament, geschichtlicher Erfahrung und nach den tiefsten Wünschen
ihrer Seele. Am schwersten mußten sie in jeder großen Stadt zusammen-
stoßen. Zuerst sind in den letzten hundert Jahren die Iren in die Städte
eingezogen. Sie fühlten sich den Späteren gegenüber als Amerikaner,
vertraut mit Sprache, Brauch und Sitte. Die Wettbewerber, zumeist
Italiener, wurden mit solcher Heftigkeit bekämpft, daß selbst der gleiche
Glaube keinen Ausgleich bringen konnte. Die Iren, die selbst etwas
früher eingewandert waren, erblickten in den Italienern "Fremde 2" und
zeigten eine überlegenheit, die weit über die des echten Amerikaners
hinausging. Die Italiener hatten nur Verachtung für Whiskytrinken,
Rauflust und das Denken jener Bauern von der Grünen Insel. Was
Juden, die aus Rußland, Österreich und Polen kamen, und Italiener
näherbrachte , war alte Tradition der Enge, an die sie sich nicht
anzupassen brauchten. Auch führte sie das feindliche Gefühl der Um-
welt, das damals noch viel lauter 3 war, in einer Abwehrphalanx zuein-
ander, daneben auch die Toleranz der Völker um das Mittelmeer.

E. Die Zwangswanderungen
a) Vertreibungen unerwünschter Gruppen durch Mehrheiten, Sieger
oder Machthaber hat es immer gegeben; der babylonischen Gefangen-
schaft gehen Teilvernichtungen voraus. Erst werden die "kräftigsten
und schönsten Jünglinge" aus Jerusalem umgebracht 4. Dann werden
"alle jungen Leute und Handwerker 5 ," im ganzen 10832, als Kriegs-
gefangene nach Babylonien geführt, und der gleiche uralte Antrieb der
lebendigen Beute sitzt auch den Völkern höherer Kulturen noch im
Blute, entgegen den Gesetzen, die sie selbst beschworen haben. Der
Strafgedanke überschattet Menschlichkeit und Rücksichtnahme. Die
Babyionier sehen König Sedekias die Verträge lösen und sich mit den
Ägyptern verbinden, die seiner Ansicht nach die stärkeren sind und
sich zum Angriff auf die Babyionier rüsten. Der fromme Glaube sieht
1 THOMAS und ZNANIEOKI: The polish peasant, S. 1488 und 1494.
2 WARE, CAROLINE: Study 0/ Greenwich Village, S.129. Boston 1935.
3 Beispiele ebenda, S. 138, vor allem einer Ablehnung auf wirtschaftlichem
Gebiete.
4 JOSEPHUS: Ant. Jud. X, 6, 3.
5 Ebenda X, 7, 1 - wie heute noch die nützlichen Experten.
328 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

im Irrtum immer auch die Gottesstrafe 1; Propheten, die das Unheil


kommen sehen und verkünden, gelten als Verräter. So ging es Jeremias,
dem das Volk zwar glaubte, "die Vornehmen aber und die ganze Schar
der Gottlosen verhöhnten ihn, als sei er nicht bei Sinnen 2." Des
Retters Stimme zu ersticken, wirft man ihn in den tiefsten Kerker.
Dann kommt die Katastrophe und die erzwungene Wanderung in das
fremde Land, doch werden alle jene zurückgelassen, die arm sind oder
sich rechtzeitig unterworfen haben. "Wenn sie das Land bebauen woll-
ten, würden sie kein Leid erfahren 3 ."
Die religiösen Massenvertreibungen gehen durch die europäische Ge-
schichte. Meist wurden sozial wertvolle Eigenschaften den Völkern zu-
geschanzt, die sie aufnahmen: kriegerische Tüchtigkeit wie bei den
Hugenotten, der schöpferische Utopismus der Quäker 4, der das noch
junge Volk jenseits des Ozeans beschwingte, Beharrlichkeit bei allen, die
der Übertritt gerettet hätte. Es war bei denen, die vertrieben, Auswahl
zu dem eigenen Nachteil. Wenn Konformismus eine hohe Form der
Leistung wäre, dann scheint sie mir für eine Tugend allzu leicht zu sein,
und allzu reichlich sich bezahlt zu machen.
Es ist bedeutsam, jene ganz besondere Welt zu kennen, nach der
die Menschenmassen wandern, nicht weil sie wollen, sondern auf Befehl.
Es ist bedeutsam, ja entscheidend, an welcher Küste Schiffe scheitern,
auf nacktem Felsen oder reichem Boden, bei Helfern, die im Überflusse
leben oder selbst nichts haben, ob sie beim Schiffbruch alles verlieren
oder ihre Habe retten. Bei der Vertreibung büßen sie auf jeden Fall
den Hauptbesitz, das Eigentum an Grund und Boden, ein. Zwangs-
wanderung ist bei Landbewohnern immer Konfiszierung. Wenn keine
neuen Menschen angesiedelt werden, so wird das Land zur Einöde wie
nach der zweiten Niederlage in Judäa 5 •
Der Flüchtlingsstrom setzt sich aus zwei völlig verschiedenen Kate-
gorien zusammen, die die Statistik Vertriebene und Zugewanderte 6

1 Von Sedekias schreibt J OSEPHUS (X, 7, 2): "Er war ein rechter Bruder von
Joakim und kümmerte sich um Gottesfurcht und Gerechtigkeit ebensowenig wie
dieser. Seine ganze Umgebung stand ihm in der Gottlosigkeit nicht nach, und auch
das gemeine Volk tat voll Übermut alles Schlechte, das ihm gefiel. Daher kam der
Prophet J eremias zu ihm und beschwor ihn, seiner Gottlosigkeit und seinem Frevel
ein Ende zu machen."
2 JOSEPHUS X, 7, 3. - Auch wurde der Prophet nach bekanntem Muster des
Einverständnisses mit den Babyloniern beschuldigt.
3 JOSEPHUS X, 9, 1; s. die Bemerkung in 2, Könige XXV, 12.
4 Über den ersten genialen Plan eines Völkerbundes s. EMILIA FOGELKou:
William Penn, S.239ff. Hamburg 1948. Selbst Arbeitslosigkeit als Folge der
Abrüstung wurde erörtert. - 5 JOSEPHUS X, 9, 7.
6 "Vertriebene sind Personen mit Wohnsitz am 1. September 1939 in den Ost-
gebieten des Deutschen Reiches ... z.Z. unter fremder Verwaltung, im Saarland
oder im Ausland." Stat. Jahrbuch 1957, S.46.
Die Zwangswanderungen 329

nennt 1. An beiden Gruppen nagen Wanderungsprozesse, bei denen


wieder fortgezogen wird. Es sind dies ganz bestimmte Menschentypen,
die wir näher kennen sollten, denn schließlich waren es in 6 kurzen
Jahren 1200000 Menschen.

Fortzüge aus der Bundesrepublik 1950-1955 2


1950 172700
1951 248600
1952 247500
1953 151500
1954 189300
1955 190800

Zuwanderer kommen neben Berlin aus der sowjetischen Besatzungszone.


Als Gründe ihrer Flucht gaben die Neuankömmlinge des Jahres 1955 an:

Fluchtgründe der deutschen Binnenwanderer 3 (1955, Prozentzahlen)


Politische, bewußte Arbeit . . . . 2%
Politische Ablehnung des Systems. . 25%
Wirtschaftspolitische Gründe . . . . 10%
Erwartung materieller Besserstellung 40%
Familienzusammenführung. . . . . 5%
Verschiedene Gründe . . . . . . . 18%
Die in Berliner Lagern einfließenden Menschenwellen aus dem deutschen,
noch besetzten Osten war eine Wanderung der jüngeren Menschen.

Flüchtlinge im Alter von 16-45 Jahren'


(die vom 1. Januar bis 30. September in Berlin eintrafen, Prozentzahlen)
Männlich. . . . . . . 65,2 %
Weiblich . . . . . . . 65,4%
Selbst unter den angegebenen Fluchtgründen sind 50% auf wirtschaft-
liche Besserung gerichtet. Wahrscheinlich stecken Strafverfolgung,
Abenteuerlust, Wandertrieb, soziale oder familiäre Schwierigkeiten unter
den "verschiedenen Gründen" und auch in anderen Kategorien. Als
Märtyrer der überzeugung gern gesehen und aufgenommen 5 , umfassen
sie auch unstabile Elemente. Vor allem sind die jungen Menschen in
Versuchung, "Schiffsjungen" auf dem Lande, sich dem Pflichtenkreise

1 Als Zugewanderte gelten "Personen mit Wohnsitz am 1. September 1939 in


Berlin oder im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone". Ebenda, S. 46.
2 Stat. Jahrbuch 1957, S.64.
3 Denkschrift des Berliner Senats: Deutsche flüchten zu Deutschen, S.19.
Berlin 1957.
, Ebenda, S. 23.
5 Siehe die dreiste Irreführung des Deutschen Bundestags im August 1949,
beschrieben bei R. JACOBS: Die Kriminalität der Nachkriegszeit, S.177. Bad
Godesberg 1952.
330 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

ihres alten Wohnorts zu entziehen und die Vergangenheit durch eine


Grenze des Vergessens auszulöschen 1.
Die Zugewanderten sind soziologisch-psychologisch von den Ver-
triebenen zu unterscheiden, weil ihre Wanderungstriebe symptomatisch
sind, im guten und im schlechten Sinne. Sie haben sich entwurzelt,
sind nicht mit den Wurzeln ausgerissen worden. Sie wollten wandern,
wurden nicht auf lange Wanderung ins Ungewisse geschickt. Die Fäden
mit Familie, Freunden, Heimat waren schon verschlissen, bevor sie
selbst den raschen Schritt der Trennung unternahmen. Sie wurden nicht
von fremder Hand gekappt. Den jungen Menschen zog es in die Weite,
er wurde nicht trotz allen Sträubens, aller Gegenwehr von Eltern und
Geschwistern weggezerrt, vom Lande in die große unbekannte Stadt
verschleppt.
Unter 45 Strichjungen, die REDHARDT in Frankfurt untersuchte,
waren ein Pole und ein Volksdeutscher aus der Ukraine. "Die restlichen
43 Strichjungen", schreibt REDHARDT 2 , "stammten nicht, wie man etwa
annehmen könnte, zum überwiegenden Teil oder zu einem entscheiden-
den Prozentsatz aus der Ostzone oder vor allem aus den verloren-
gegangenen ehemaligen deutschen Gebieten. Es waren vielmehr nur
6 Probanden, die früher in Ostpreußen beheimatet waren, und lediglich
12 weitere kamen aus dem Gebiet jenseits der Zonengrenze." Es waren
also von den 45 Delinquenten
27 % Zugewanderte
40% Zugewanderte und Vertriebene (Ostpreußen)
Wenn man die Entfernung Frankfurts von der Zonengrenze und seinen
Charakter als Durchgangspunkt zum Westen und der Fremdenlegion in
Betracht zieht, so sind die Zahlen ziemlich hoch. KUHN 3 hat 352 Ham-
burger Strichjungen studiert. Er kam zu folgendem Bilde:
Herkunft der Srichjungen
Norddeutschland . 171 das sind 48,58 %
Westdeutschland . 33 das sind 9,39%
Süddeutschland . 9 das sind 2,57 %
Sowjetzone . . . 71 das sind 20,13%
Abgetrennte Ostgebiete . 37 das sind 10,53 %
Berlin . 25 das sind 7,10%
Ausland . . . . . . . . 6 das sind 1,70%

1 Die Ähnlichkeit mit manchen überseeischen Einwanderern, die ein neues


Leben anfangen wollen und, mit etwas Glück, tatsächlich auch das soziale Gleich-
gewicht wieder finden, ist unverkennbar.
2 REDHARDT, REINHARD: Zur gleichgeschlechtlichen männlichen Prostitution,
S.26ff. Stuttgart 1954.
3 KUHN, GERHARD: Das Phänomen der Strichjungen in Hamburg, S. 23. Wies-
baden 1957.
Die Zwangswanderungen 331

Hamburg ist zonennah, ein großer Hafen, Schiffsjungenideal ; die Sowjet-


zone, Ostgebiete und Berlin entsandten 38,76% des untersuchten Ma-
terials. Darunter waren zwei falsche Adlige und ein "Baron".
Bei anderen Delinquenten gehen Vertreibung und "Absetzen" nach
dem Westen Hand in Hand. Bei einem jugendlichen Mörder wogten
die Erlebnisse "der eigenen Bedrohung und des Sterbens und Tötens
fremder Menschen" chaotisch durcheinander und richten bei dem
Pubeszenten in Gestalt abstumpfender Vorbilder schreckliche Ver-
wüstung an 1 • Die Waffe, die den Schwachen jedem Starken und
Erwachsenen gleichstellt, wird Fetisch und bedenkenloser Spieß-
geselle.
Zwischen den Zonen Deutschlands, die sich mit einer Schärfe gegen-
einander abgrenzten, die sie keinem fremden Lande gegenüber vorge-
nommen hätten, entstanden unterirdische Verbindungen, die tiefe Nacht,
dichte Wälder, manchmal auch Bestechung in ihren Dienst stellten. Es
wurde lohnend, diese Grenze zu passieren, es stellten sich erfahrene
Führer ein, ortskundig, skrupellos, von der Gloriole einer Rache an dem
Landesfeind umwittert, im Grunde aber räuberische Abenteurer. Sie
sind von WILLI EICHBERG so beschrieben worden: "Die Zahl der Schwarz-
gänger, die am Südharz und im Eichsfeld bis zur Leineniederung am
Tage und mehr noch in der Nacht von Ortskundigen in beiden Rich-
tungen über die grüne Grenze geschleust wurden, mag insgesamt sicher
eine sechsstellige Zahl sein 2 • " Dabei waren es nur Teilstücke einer
langen Trennungslinie. EICHBERG hat mit gutem Blick für die psy-
chologischen Hintergründe dieser Nachkriegsmenschen die innere und
äußere Maskerade dieser Pseudo-Krieger durchschaut. Ihr Wunschbild
war noch aus dem Kriege hergenommen, und sie verbanden Raub und
Uniform, die ihrem Tun den Schein der Ehrlichkeit verlieh. "Offiziers-
stiefel und -hosen, Lederjacke oder umgearbeitete, mit Lederbesatz ver-
sehene alte Uniformjacke und die bekannte Gebirgsjägermütze war die
Ausrüstung, der besonders die jungen Burschen den Vorzug gaben. Ein
handgeschnitzter Knotenstock vervollständigte dieses äußere Bild s." Ihr
Selbstgefühl zog seine Nahrung aus der allgemeinen Furcht und einer

1 ESCHENBACH, E.: Rauhmörder Janowski, Kriminalstatistik 1960, S. 309ff. -


Der Jugendliche hatte Anfang 1945 mit Großmutter, Mutter und Brüdern vor
den Russen fliehen müssen, mußte dann vor den Polen fliehen, lebte in Sachsen
und floh schließlich 1949 aus der Ostzone nach Bayern. Hier begann eine lange
Kette von Einbrüchen, die in einem häßlichen Taximord und einem Raubmord-
versuch ähnlicher Art endeten.
2 EICHBERG, WILLI: Zonengrenze und Kriminalität. Die Auswirkung der Zonen-
grenze auf die Kriminalität im Landgerichtsbezirk Göttingen, S. 54. Bonner
Diss.1960.
3 Ebenda, S. 55.
332 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Welt geborstener Säulen, in der nur sie sich noch zurechtzufinden


wußten l .
Forstbeamte haben an der Grenze von Bayern und Thüringen die
Beobachtung gemacht, daß Schwarzwild in den nicht bejagten Zwischen-
zonen zunahm, die ihnen Sicherheit vor der Verfolgung boten. Es wird
niemals festzustellen sein, wie viele Morde und Raubüberfälle hier in
der Nachkriegszeit begangen wurden. Der Massenmörder Hoffmann,
ein Komplice des bekannten Pleil, schnitt einem Mädchen den Kopf ab
und warf ihn weg, als sie die Grenze überschritten hatten. Er war gewiß,
daß die Behörden der Westzone mit dem Kopf, die der Ostzone mit
dem Rumpf nicht weiterkommen würden 2.
Zu den "Grenzgewinnlern" gehörten, eine Stufe tiefer, die Gepäck-
fahrer und Gepäckträger, die mit der Not und Hast der Flüchtlinge
kaltherzig operierten 3 • Ein besonderer Typ des "Grenzgewinnlers" -
die Grenze lag im Kriege an der Loire - war jener Arzt Petiot, der
seine Opfer erst nach Vichy-Frankreich und über Spanien nach Süd-
amerika zu bringen versprach und sie, die sich mit allen Schätzen,
Devisen, Schmuck, beladen hatten, bei einer angeblich notwendigen
Impfung für die Reise in die Tropen tötete 4 • Hier fing die "Grenze"
schon in seinem Todeskeller an.
Am 30. Juni 1956 wurden in Westdeutschland gezählt·
8847000 Vertriebene
2727000 Zugewanderte
Die Zugewanderten wollten in den Westen gehen, von den Agrargebieten
in die großen Städte, in denen sie ihr Glück zu finden hofften. Daß
ihrer Wanderung manches Hindernis im Wege stand, erhöhte nur den
Reiz der Unternehmung. Zur Not war immer noch die Rückkehr mög-
lich. Die alte Heimat war in kurzer Zeit erreichbar. Man konnte stets
den Fehler reparieren.

1 " ... während sich die verängstigten Schwarzgänger furchtsam in den Ecken
herumdrückten, um die Nacht zum Grenzgang abzuwarten, gingen die Grenz-
führer selbstsicher mit der ihnen eigenen Großspurigkeit durch den Wartesaal,
die Polizei vertraut durch lässiges Anlegen der Hand an die Feldmütze grüßend."
Ebenda, S. 55.
2 Braunschweig 6 Ks I/50, S. 39. - Siehe auch BADER, S. 166.
3 Von den Gepäckträgern schreibt EICHBERG (S. 53): "Schon vor dem Auf-
bruch zum gefährlichen Grenzübertritt verschwanden sie plötzlich. Oder sie ließen
ihre Auftraggeber in unübersichtlichem Gelände unerwartet stehen und rannten
mit dem Gepäck davon. Manche prellten die Grenzgänger noch am Ziel, wo sie
das Gedränge auf dem Bahnhof ausnützten, um im geeigneten Augenblick mit
den Gepäckstücken zu verschwinden."
4 BARRET, CLAUDE: L'affaire Petiot. Un drame sous l'occupation, Paris 1958,
s. den Fall Guschinow, S. 67ff.
5 Stat. Jahrbuch für 1957, S.46.
Die Zwangswanderungen 333

Dagegen ist die Massenwanderung erzwungen, ein Kind des Krieges


und der Niederlage. Hier mildert keine Freiheit des Entschlusses den
Übergang in eine neue, ungewohnte Welt. Hier scheint sogar das
Massenhafte, Ausnahmslose mehr den Schmerz zu mehren als zu lindern
durch seine schicksalhafte Ausweglosigkeit. Die Masse wird vertrieben,
nicht von den Übeln, die sie meiden möchte, nein, weg von allem, was
ihr lieb und teuer war. Erdbeben und Vulkane verjagen Tausende von
Menschen, und niemand wird an einen Vorwurf denken. Hier aber stehen
als die Unglücksbringer Menschen von Fleisch und Blut, und Feinde
kann man hassen, kann an ihnen Rache nehmen, Vergeltung üben, ihnen
Gleiches antun. Wer wandern muß, der wandert, Groll im Herzen, ein
schlechterer Mensch, als er in guten Tagen war. Es ist die alte Strafe
des Exils. Das schlimmste Unheil, das die Menschheit plagte, kam stets
aus altem, massenhaftem Unrecht. Auch Völker, nicht nur Einzel.
menschen, querulieren. Gefahr liegt auf die Dauer darin, daß Komplexe
sich vererben, Ressentiments von einer Generation zur andern weiter·
schwelen und, wechselnden Konstellationen folgend, nach langen Jahren
zum erneuten Ausbruch führen.
Der Vorgang der Vertreibung geht in drei Phasen vor sich: Dem
Losreißen von der Scholle, der Landschaft und natürlichen Umgebung,
in die der Mensch verwurzelt ist. Der Schmerz des Abschieds ist bei
dem Bevölkerungsteil besonders heftig, der Haus und Hof und Land
besitzt, vielleicht seit vielen hundert Jahren. Für den Bauern ist der
Weltuntergang da:
"Uns gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze,
Gold und Silber schmilzt aus den alten heiligen Formen;
Alles regt sich, als wollte die Weh, die gestaltete, rückwärts
Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten."
sagt eine Vertriebene l •
Der jähe Aufbruch ließ zum Denken wenig Zeit, nur für das Funk·
tionieren zweier Triebe: für Selbsterhaltung und für Selbstvernichtung.
In diesen Taumel fallen all die Selbstmordfälle, die ungezählten, die ein
Autor auf "Hunderttausende" geschätzt hat 2 • Die kollektive Ver·
schickung ist nicht einfache Verjagung, wie etwa Vögel aufgescheucht
werden, die sich nach einem kurzen Fluge wieder in den Feldern nieder.
lassen. Mit dem erzwungenen Abmarsch ist nicht nur ein herber Geld·
verlust verbunden, der 1930 viele reiche Männer in den Vereinigten
Staaten aus den Fenstern springen ließ. Der Bauer erleidet aus heiterem
Himmel die totale Enteignung. Millionen werden plötzlich an den
Bettelstab gebracht. Es handelt sich dabei nicht um Kriegsbeute im
1 GOETHE: Herrrw,nn und Dorothea, Urania.
2 WALLENBERG, EOKART VON: Der Einfluß des Flüchtling8problem8 auf die
Kriminalität der Gegenwart, S. 8. Freiburger Diss. 1948.
334 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Sinne der Genfer Konvention und des Völkerrechts, sondern um Privat-


eigentum. Mit einem Federstrich werden ganze Länder und Provinzen
"unterentwickelt", nicht in der Hitze und dem Drang des Kampfes,
nein, wenn die Waffen endlich wieder ruhen.
"An Bekleidung haben die Ausgewiesenen", sagt ein Bericht, "in der
Regel nur das, was sie auf dem Leibe trugen und das, was sie tragen
konnten, mit sich bringen können. Ferner war ihnen von den ausweisen-
den Behörden erlaubt, einen Geldbetrag von 500 Reichsmark im Aus-
gewiesenengepäck zu behalten 1." Nach einer Aufstellung vom Februar
1947 entfielen in der Besatzungszone der größten Siegermacht auf
100 Vertriebene 33,6 Betten und 7,0 Matratzen. Herde und Öfen
besaßen von 100 Ausgewiesenen nach einer Auskunft des Länderrates
nur 5,6 2 • Die Vertreibung schloß also einen Verarmungs- und Ver-
elendungsprozeß größten Ausmaßes in sich. Wie grundverschieden ist
die seelische und materielle Situation von jenen Auswanderinnen aus dem
Schwarzwald, die nach FREILIGRATH im Hafen "Krüg' und Töpfe auf
der Schaluppe grüne Bank" stellen.
Dem plötzlichen Aufbruch folgte der lange Marsch. Idyllisch ist
dagegen noch Goethes Beschreibung 3 :
"Da entstand ein Geschrei der gequetschten Weiber und Kinder
Und ein Blöken des Viehes, dazwischen der Hunde Gebelfer
Und ein Wehlaut der Alten und Kranken, die hoch auf den schweren
Übergepackten Wagen auf Betten saßen und schwankten."
MÜLLER-BRINKMANN hat den Exodus der vertriebenen Deutschen und
den Ansturm auf den Abfahrtsbahnhof geschildert 4 : "Ein entsetzlich
wirrer Haufen von Menschen hatte sich vor dem Bahnhofsgebäude
gelagert, dazwischen vollbepackte Handwagen, große Koffer, Wäsche-
bündel, Rucksäcke und überquellende Handtaschen. Kam ein alliierter
Transportzug, wurde die Situation geradezu unmenschlich ... Der Kampf
um einen Platz begann. Sie schoben und drängten sich, hielten die Kin-
der über den Köpfen, damit sie nicht zerquetscht und zertreten würden,
schleppten das Gepäck herbei, stießen die vorderen in die Waggons
hinein, schrieen, bekamen Streit mit den Nachbarn, beschimpften sich
gegenseitig, ließen wieder voneinander ab, suchten anderswo einen Platz,
kamen wieder zurück, fanden bereits alles besetzt, dicht gedrängt voll,
auf dem Gepäck stehend, weinende Kinder beruhigend ... und draußen
1 WALLENBERG, ECKART VON: Der Einfluß des Flüchtlingsproblems auf die
Kriminalität der Gegenwart, S. 18. Freiburger Diss. 1948.
2 Ebenda, S. 19.
3 GOETHE: Hermann und Dorothea, Kalliope.
4 Nach EICHBERG, S. 37ff. - Bis zum Bahnhof in Westdeutschland führte
ein endlos langer Weg voll unbeschreiblicher Mühseligkeiten, Unfall, Krankheit,
Hunger und Tod. Die Mortalität dieses Todeszuges ist niemals untersucht oder
gar festgestellt worden.
Die Zwangswanderungen 335

standen noch immer Hunderte. Auf der Straße zur oder von der Zonen-
grenze bewegte sich ein langer Zug: Mit Sack und Pack, alte Mütterchen
und halbwüchsige Kinder mit dem Schulranzen auf dem Rücken und
Säuglinge im arg mitgenommenen Kinderwagen, Kriegsversehrte,
Kranke, vor allem Mütter schleppten ermattet, verzweifelt das letzte
Bündel kleiner Habseligkeiten."
Aber erst, als der Vertriebene angekommen war, vermochte sein
Bewußtsein den ganzen Umfang des Unglücks aufzunehmen. Je stärker
in ihm das Heimatgefühl ausgeprägt war, das er und alle geistigen
Mächte in Festen, Liedern und in eigener Kleidung feierten, um so
schwerer mußte die Entwurzelung auf ihm lasten. Je mehr in großen
Kriegen die politischen Grenzen hin- und hergeschoben werden, um so
üppiger ist der Mythos der Heimat als etwas unverletzlich Sakrosanktes
aufgeblüht. Der tiefe religiöse Urgrund dieser Anhänglichkeiten wird zu-
meist verkannt. "Ihr wandert von den Gräbern eurer Vorfahren weg, wie
es scheint ohne Bedauern", rief ein Indianerhäuptling den vordringenden
Weißen zu, "Unsere Toten leben mitten unter uns. Sie vergessen niemals
die schöne Welt, die ihnen Leben gab. Jeder Fußbreit Boden ist meinem
Volk geheiligt. Jeder Berg, jedes Tal, jede Schlucht und jeder Hain ist
geweiht 1.". .• Allen Kulturvölkern, von den Chinesen 2 bis zu den alten
Griechen, war die Heimat heilig wie ein Gptteshaus, das nur der Frevler
zu zerstören wagte, indem er Mensch und Heimatboden 3 auseinanderriß.
Dort wo der Flüchtling ankam, stieß er in Europa auf die Über-
füllung, auf die Furcht des Bauern vor dem armen Menschen, und neben
Hilfsbereitschaft auf geheimen Widerstand, die Deklassierung, die aufs
tiefste schmerzte. Man lese die Geschichte von dem vertriebenen
Bauern aus Jugoslawien 4 : "Sein Hof war größer als der Hof, aUf dem
er jetzt diente." Er, einstmals angesehen und im Kirchenvorstand, war
erst im Lager hinter Stacheldraht und heute in der Freiheit Knecht.
Die Volksgemeinschaft aber, vielgepriesen, hielt dem Druck von Not
und Wirklichkeit nicht stand 5 •
1 Zitiert in meinem De8perado, S. 182.
2 Über das Verbot, die Sippe nicht einmal im Tode zu trennen, B. BREDoN,
JULIET und IGOR MITROPHANOW: Da8 Mondjahr. Chinesische Sitten, Bräuche und
Feste, S. 237, Wien 1937.
3 "Dieser Boden war wirklich geheiligt für den Menschen, denn er war von
seinen Göttern bewohnt." COULANGES, FusTEL DE: Der antike Staat, S.238,
Berlin 1907.
" MosTAR: Nehmen Sie das Urteil an? S.81.
5 "Warum dieser Haß (des Dorfes)? Sie sagen es nicht, aber sie wissen es;
keiner sagt es, aber jeder weiß es. Weil er ein Flüchtling ist." (Ebenda, S. 86.)
"Weil man", fährt MosTAR fort, "mit der gleichen Verachtung und dem gleichen Haß
auf ihn und seinesgleichen blickt, wie er und seinesgleichen einst in Novoselo auf
die Serben und ihresgleichen geblickt hatten." Ich halte die Parallele nur zu einem
Teil für richtig.
336 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

Das Gefühl, weder vorwärts noch rückwärts zu können, rettungslos


eingeklemmt zu sein, würde eine schwere Krise gerechtfertigt haben,
auch kriminelles Aufbäumen
Anteil der Vertriebenen innerhalb der AUers- gegen seelische und materielle
klassen * (Westdeutschland 31. Dez. 1955,
nach drei Altersgruppen und Geschlecht; Bedrängnis. Es kam seltsamer-
Prozentzahlen der Gesamtbevölkerung) weise nicht dazu.
Jeder Versuch, die Kriminali-
Personen 65 Jahre
unter und tät der Vertriebenen festzustellen,
15 Jahren älter
muß von der Altersstruktur der
Männlich . . 18,6 17,7 Bevölkerungsgruppe ausgehen.
Weiblich . . 18,6 17,2 Die jugendlichen Jahrgänge
* Berechnet nach Zahlen des Stat. der Vertriebenen überstiegen im
Jahrbuch 1957, S.43. Jahre 1955, also 10 Jahre nach
dem Zusammenbruch die der Ge-
samtbevölkerung, es gab wesentlich weniger alte Leute, die produktive
und reproduktive Mittelgruppe war relativ stärker als die entsprechende
Schicht der Gesamtbevölkerung, denn zwischen 21 und 50 Jahren standen
bei der Gesamtbevölkerung . . . . . . 40,5 % 1
bei den Vertriebenen . . . . . . . . . 43,3 %
Die Kriminalität könnte daher aus reinen Altersgründen leicht ange-
hoben sein. Ältere Zahlen von Württemberg-Baden ergeben aber eine
überraschend geringe Belastung.

Kriminalitätszijjern * (Württemberg-Baden 1946)

Einheimische Vertriebene
Bevölkerung (NeubUrger)

Gesamtkriminalität 900 290


Tötungsdelikte . . . 1,5 0,4
Körperverletzungen 36 3,2
Raub, Erpressung . 2,9
Schwerer Diebstahl. 63 20
Einfacher Diebstahl 275 145
Unterschlagung 56 16
Betrug . . . . . . 38 17
Hehlerei . . . . . 13 4,6
Sittlichkeitsdelikte . 11,7 5,6
Notzucht . . . . . 1,2
Schwarz- und unerlaubter Tauschhandel 172 41
* v. WALLENBERG, S.40. - Ich denke besonders an das erschwerende Moment
der "Berufsvertriebenheit" , worunter ich die erzwungene Einpressung in fremde
Berufe verstehe. In Bayern waren im März 1947 von 417080 beschäftigten Flücht.
lingen 78223 berufsfremd eingesetzt. v. WALLENBERG, S.20.

1 Stat. Jahrbuch 1957, S. 43.


Die Zwangswanderungen 337

Wir kommen zu dem Ergebnis, daß - entgegen der Annahme, die


an die Ablehnung des Fremden erinnert - die Masse der verzweifelten,
verarmten und heimatlos gewordenen Vertriebenen in der Phase des
schwersten Schocks nicht allzu kriminell geworden ist. Die weitere
Entwicklung bleibt abzuwarten. Leider unterscheidet die deutsche
Statistik nicht zwischen erster und zweiter Generation, also den jetzt
heranwachsenden Vertriebenenkindern 1, wie in Amerika.
b) Zum Problem der Entwurzelung gehören auch die Erfahrungen, die
nach dem Abschluß der Feindseligkeiten 1945 und 1946 mit Fremd-
arbeitern gemacht wurden. Württembergisch-badische Statistiken nann-
ten hohe Zahlen. Sie wurden später durch das Landesfahndungsamt
eingeschränkt 2 , eine Haltung, die entweder auf einen gröblichen Rechen-
fehler oder die Intervention der Besatzungsmacht hindeutet. Die
Diskussion, die von beiden Seiten mit begreiflicher Hitze geführt wurde,
ist dadurch wiederaufgelebt, daß kürzlich die stellvertretende Leiterin
eines solchen Fremdarbeiterlagers in Wildstetten (Nordbayern) die
Sache der Beschuldigten vertreten hat 3. Da aber ihre Aufsichtspflicht in
Frage steht, müssen die Angaben mit Zurückhaltung aufgenommen
werden. Es handelt sich hier um Gefühlslagen, in die der Krieg hinein-
spielt und die die Schädigung des Feindes, auch gegen das formelle
Recht, als nichts Unmoralisches oder Tadelnswertes anzusehen ent-
schlossen sind. Wenn Deutsche Kohlenzüge plünderten, die für die
Allüerten bestimmt waren, während sie zu Hause frieren mußten, so
muß die seelische Situation eine ähnliche gewesen sein.
SPERLING hat Zahlen bekanntgegeben, die eine hohe Raubkriminali-
tät des Jahres 1946 nachweisen, während mit dem Heimtransport eine
rasche Besserung erfolgte 4.
Herkunft räuberischer Ausländer (1946-1948)

Jahr Insgesamt Polen


II Russen II Nationalitäten
Andere I
Nationalität
nicht
feststell bar
!
I
1946 200 110(55%) I 16(9%) 8 66
1947 126 45 (35,7%) 11 (8,7%) 5 65
1948 35 15 (42,8%) 2(5,7%) 6 12

"Im April 1947", teilt BADER 5 mit, "wurde eine aus etwa 50 Polen
und Russen bestehende Bande, der sich 5 Deutsche angeschlossen

1 Diese Wirkungen werden erst in 5-10 Jahren zu beobachten sein, wenn die
Anpassungsapathie, an der die Alten vielfach leiden, größerer Aktivität gewichen ist,
wie bei der zweiten Generation der Auswanderer.
2 v. WALLENBERG, S.40. 3 HULnlE, KATHRYN: The wild place. London 1959.
4 JACOBS, S. 149. 5 BADER, S. 87.

v. Hentig, Das Verbrechen I 22


338 Zusammenhänge im Gebiet des Raums

hatten, verhaftet, die seit Kriegsende in Oberbayern und in der Ober-


pfalz zahllose Einbrüche, Raubmorde und Raubtaten, Notzucht-
verbrechen und Taschendiebstähle begangen und große Warenmengen
erbeutet hatte."
Die stellvertretende Leiterin des Lagers Wildstetten berichtet, die
ihrer Aufsicht und Pflege anvertrauten Polen seien nicht an die konzen-
trierten Nahrungsmengen gewöhnt gewesen, die ihnen das Rote Kreuz
hätte zukommen lassen, wie Leberpastete und Büchsenfleisch. Sie hätten
etwas gebraucht, in das sie "hineinbeißen" konnten. Das waren die
Kühe und Schweine der Bauern, und sie erzählt eine Reihe von Aben-
teuern, die für die Esser, aber nicht für die beraubten Bauern sehr
ergötzlich waren 1. Kein Vieh lief damals frei herum. Es mußte mit
Gewalt genommen werden. Wenn in dem Lager Wände weiß zu
streichen waren, so war Milchpulver gerade gut genug. Es würde
lohnen, in die Seele dieser unterdrückten Menschen Einblick zu
gewinnen, die jetzt sich überlegen fühlten, triumphierten, Überfluß
genossen und durch das lange Lagerleben zu dem Punkt gekommen
waren, an dem sie auch die Retter allenthalben zu bestehlen suchten 2•
Entwurzelung war es, Taumel der Erlösung, aber keine Wanderung.

1 HULME, KATHRYN, S. 73ff.


Ebenda, S. 78. - Tausend Pakete Zigaretten verschwanden, auch eine Wagen-
2
ladung Seife. Die Lagerpolizei war mit im Spiel gewesen.
Drittes Buch

Gefiige und Funktion des Tatorts


Erstes Kapitel

Grundzüge einer Tatortlehre


Das Strafverfahren greift bei der Regelung der örtlichen Zuständig-
keit auf den Begehungsort zurück, verwendet aber nur die grobe Einheit
des Gerichtsbezirks, in dem die strafbare Handlung begangen wurde
(§ 7 StPO). Maßgebend ist auch hier die körperliche Tätigkeit, die den
verbotenen Erfolg herbeiführt, denn sie allein ist sichtbar und beweisbar.
Von ihr ausgehend lassen sich Versuch und Teilnahme, die Wirkung in
die Ferne reichender Agentien, der abseits eintretende Erfolg und
schließlich auch die Unterlassung räumlich unterbringen. Das Schema
kann nicht anders als sehr allgemein sein. Nach Einzelheiten braucht
in keinem Fall gefragt zu werden. Es mögen die Großstadt, Forsthaus,
Sportplatz oder Meeresufer sein. Daneben gibt es eine Reihe von
Fiktionen (§ 8ft StPO), bei denen die Verbindung mit dem Tatort auf-
gegeben ist.
Manche alten Wortbildungen weisen auf den Tatort hin: Busch-
klepper!, Heckenschütze (franc-tireur), Strauchdieb, Wegelagerer und
high-way man 2 • In großer Anzahl treten Örtlichkeiten als Tatbestands-
merkmale im Strafgesetzbuch auf3. Standortgebunden sind auch die
geschützten Objekte des § 304 StGB. Ihre diffuse Verteilung und ihre
verschiedenen Strukturen (Straßenbahnen, Wegweiser, Ehrenpforten,
Feuermelder, Briefkästen, Kruzifixe, Reliquien in Kapellen, Altar-
kerzen, Grabmäler, Museumsstücke usw.) sind im wesentlichen durch den
Begriff des "Öffentlichen" gedeckt, hinter dem sich eine Mischung von
Örtlichkeit und Allgemeininteresse verbirgt. Wenn die Dogmatik bei der
"Öffentlichkeit" den wahrnehmenden Menschen einführt, dazu das
Band, das die Wahrnehmenden vereinigt, dazu selbst die bloße Möglich-
keit der Wahrnehmung, so hat sie sich vom Tatort weit entfernt, der
Gegenstand empirischer Untersuchung ist. Wir haben es allein mit
1 Ältere Form: Buschreuter.
2 Der Newgate Calender ist voll von solchen Fällen; über die Technik s. Neuer
Pitaval, Bd. V, S. 240ff.
3 §§ 105; 106; 1l0; 116; 120; 123; 168; 211 II (Tatortbeziehungen im Merkmal
"heimtückisch"); 243 I/I, 2, 3, 4, 7; 361, 6a, 6b; 368, 6, 8, 12, 13, 14 StGB, um
nur einige Beispiele zu nennen.
22*
340 Grundzüge einer Tatortlehre

physischen Umweltformen zu tun und wollen an nichts anderes denken.


Nur so ist ihre ungeheure Vielfalt zu erfassen.
Bei der gemeinschädlichen Sachbeschädigung treten Orte und
Objekte auf, die einstmals Gegenstand von Sonderfriedensfällen waren.
Neben dem Frieden des Landes, der noch in englischen gerichtlichen
Formeln wiederkehrt, gab es höhere Friedensformen, über denen schär-
fere Strafandrohung wachte. Man hat hier neben dem örtlichen auch den
zeitlichen und den sachlichen Frieden unterscheiden wollen 1. Rein
örtlicher Natur waren Hausfrieden, Kirchenfrieden und Burgfrieden.
Örtlich-zeitlich waren Dingfrieden, Heerfrieden, Ackerfrieden. Heute
dient dem Schutze örtlicher Interessen 2 die Strafbemessung und ihr
weiter Rahmen 3.
Der Tatort ist eine begriffliche Vereinfachung, er kann von knappster
Gestalt, beweglich oder vielgegliedert werden. Umschließt der Tat-
bestand eine Mehrheit von Betätigungsformen, so begnügt sich die Recht-
sprechung mit der Verwirklichung des einen Ausführungsfragments, um
örtlichen Gerichtsstand zu begründen. Der Tatsachenforschung ist
diese summarische Lösung versagt. Die Drohung des Erpressers kann im
Hydepark, im Tiergarten oder im Bois de Boulogne ausgesprochen
werden, die Vermögensbeschädigung kann an einer Straßenecke, in
einem Cafe oder einer Privatwohnung erfolgen. Die Schutzgewährung
durch den Zuhälter mag auf der Straße erfolgen, in einem Lokal, einer
Anlage, auf dem Bahnhof und schließlich auch im Nebenzimmer seines
Mädchens, wo er sich ungeduldig-gähnend aufhält.
Im Gegensatz zu dieser Vielheit der Betätigungspunkte gibt es
tatortfreie oder -arme Delikte wie die politischen Verbrechen, zumal
wenn die körperliche Tätigkeit sich auf verbale Äußerung beschränkt 4 •
Der Giftmord ferner zeigt nur selten einen Tatort, so daß wir im Pro-
zesse nach dem Wohnsitz oder dem Gerichtsstand der Ergreifung
fassen müssen. Gift kann nur dort beigebracht werden, wo Menschen
1 HIS: Deut8che8 Strafrecht bi8 zur Carolina, S. 38ff.
2 HIS führt (S. 41) einige dieser mit Tabu-Akzenten versehenen Örtlichkeiten
an: den Dorffrieden (Schweden), den Frieden der Ställe, Scheunen, Vogelhütten
(Friesland), der Schiffe, Wagen in den nordgermanischen Rechten, des Rathauses,
Ratskellers, Kaufhauses, Spielhauses, Frauenhauses (Deutsche Strafrechte), der
Bleiche (Bayern). - Im römischen Recht war der Bäderdieb (fur balnearius) mit
erhöhter Strafe bedroht (MOMMSEN, Röm. Strafrecht, S. 777).
3 Die Gesetzgebung schwankt zwischen Weite des Tatorts (z. B. § UO StGB)
oder engerer Begrenzung (z. B. § 168 StGB) "an einem Grabe", also nicht auf dem
Friedhof überhaupt, der nicht nur die Stätte nächtlicher Zauberei (WUTTKE,
S. 89), sondern auch die Stätte mancher nächtlicher Untat ist. - Der Tatort kann
schließlich zahlenmäßig beschränkt sein ("in einer Gemeinde mit weniger als
20000 Einwohnern", § 361, 6c StGB).
4 Siehe den Tatort der Druckschrift, den das Gesetz in die Hand des Privat-
klägers gelegt hat ("Wohnsitz", § 7, lIStPO).
Grundzüge einer Tatortlehre 341

zusammenwohnen 1 , sich zum Essen treffen oder Medizinen eingenommen


werden 2. Kaum könnte einer, der nicht ißt noch trinkt, an Gift er-
kranken, auch keiner, der Geschenke nicht entgegennimmt 3 • Die größte
Nähe ist erfordert, und dadurch ist die Tatortbreite soziologisch ein-
geengt.
Es bleibt damit als Opfer nur der Hausgenosse übrig, daneben noch
der Gast und der Besucher, wobei der Eingeladene sich zum Tatort auf-
macht. Mme Joniaux lud ihre Schwester zum «diner de gala» ein. Als
Ehrengäste kamen der Onkel und der Bruder, um sich den Tod aus ihrer
Hand zu holen 4 • - Als lächelnde Besucherin trat die Stiftsdame Julie
Ebergenyi von Telekes in München auf, mit Zyankali in der Reise-
tasche 5. Sie wurde von der Nebenbuhlerin, Gräfin Chorinsky, freundlich
aufgenommen, trank plaudernd mit ihr Tee, in den sie Gift gegeben hatte 6.
Es gibt "notwendige" Tatorte. Die politischen Morde sind an die
Bewegungen des Opfers gebunden, das, es wolle oder nicht, sich bei
bestimmtem Anlaß von der engen Zone der Bewachung lösen muß. Für
kurze Zeit sind Fürsten und Staatsmänner gezwungen, Unsicherheit in
Kauf zu nehmen. Sie können sich nicht, wie einstens KaiserTiberius, auf
einer wohlbehüteten Insel verstecken. Sie müssen sich für kurze Zeit
dem Volke zeigen, Amtshandlungen vornehmen (Cäsar), Theater oder
Opern besuchen (Napoleon, Weihnachtsabend 1800, Lincoln), Paraden
abnehmen (Louis Philippe). Der Hubschrauber, der von einem sicheren
Punkt hoch durch die Luft zum anderen führt, soll die Gefahr der
angreifbaren Zwischenräume auf ein Mindestmaß verringern. Man kann
das Opfer nicht mehr auf dem Bahnhof niederschießen, wie es Guiteau
im Jahre 1882 tat. Im Wasser oder Walde werden Fürsten oder Führer
nicht getötet. Die "hohle Gasse" Geßlers ist nicht mehr modern.
Es gab auch noch vor kurzem den "feudalen" Tatort, und in der Welt
der Gangster ist er wieder auferstanden. Es muß ein Raum sein, in dem
man von außen hineinsehen kann, von einem Garten und von Busch-
werk wohl versteckt. Ausführungselemente wiederholen sich aufs Haar.
1 Siehe ROUGHEAD, W.: Trial 01 Dr. Pritshard, S. 26ff., Edinburgh 1906, und
die berühmten Fälle Janneret (Genf) und Toppan (Boston).
2 An einem vergifteten Klistier in der Strafanstalt starb der Graf Somerset,
Neuer Pitaval, Bd. XIX, S.9, Leipzig 1861; andere atypische Vergiftungen s.
meinen Mord, S. 139.
3 Fälle zugesandten Gifts als Geschenk s. SMITH, EDWARD H., Famous poison
mysteries, S. 15ff., 69ff. und 144ff., und den Wiener Fall Hofrichter.
4 BATAILLE: Crimes de 1895, S. 151ff.
5 Neuer Pitaval Bd. III, S. 225ff.
6 Solche Besuche fremder Personen, auf die ein plötzlicher Tod folgt, sind
Technik unerfahrener Amateure, besonders wenn die Frau ausgesucht elegant
gekleidet ist, Zigarren raucht und mit dem Trinkgeld um sich wirft: "Dem Kellner
gab sie zweimal und wollte ihm sogar zum drittenmal Geld in die Hand drücken."
(Ebenda, S. 232.)
342 Grundzüge einer Tatortlehre

Die gleiche Waffe wird verwendet, der gleiche Zeitpunkt wird gewählt,
der Tod des Opfers ist in ganz bestimmter Weise nützlich, die Täter-
gruppe ist sehr ähnlich aufgebaut. Die Untersuchung findet nur In-
dizien, und Mangel an Beweisen führt sehr oft zum Freispruch. Die
Hintermänner fliehen aus dem Lande. Den Dienern oder Helfern geht
es an den Kragen.
In dem alten südfranzösischen Schlosse Chamblas wurde 1840 der
Herr von Marcellange, der abends schaukelnd am Kamin saß, durch
mehrere Schüsse tödlich getroffenl . Er war mit Frau und Schwieger-
mutter verfeindet. Ein treuer alter Diener dieser beiden Frauen wurde
verurteilt, den Gutsherrn durch das Fenster erschossen zu haben; die
Frauen flohen nach Savoyen. Drei andere solcher Morde sind bekannt 2.
Sie gleichen sich in allen Einzelheiten. Es sind die Stunden nach dem
Abendessen. Das Fenster ist erleuchtet, draußen ist es dunkel. Das Licht
im Raume bietet gutes Ziel. Ob es sich um den Wohnraum oder ein
Schlafzimmer handelt, entscheidet die Gestalt des Opfers und die Art
der Krise, daneben auch die Baulichkeit. Der gute Schuß spricht für
den wohlgeübten Schützen. Auch sind die Hunde auf dem Hofe still 3 ,
in einem Falle plötzlich vor der Tat verschwunden".
Wer eine scharfe Grenze zwischen Tatort und Tatraum ziehen wollte,
wird bald auf Schwierigkeiten stoßen. Der Tatraum bietet eine Serie
gleichartiger Möglichkeiten. Es bleiben individuelle Unterschiede, doch
sind sie technischer Art. "Park Lane", sagt ein britischer Krimineller,
"ist das Mekka aller Einbrecher, die etwas auf sich halten 5." Das Grenz-
gebiet stellt einen solchen ausgedehnten Tatort dar. Für die Verfol-
gung mag die Trennung der Hoheitsgebiete störend sein, rein topo-
graphisch ist der Unterschied nur unbedeutend. Isaac Sawtelle vergrub
die Leiche seines Bruders, nachdem er sie die kurze Strecke vom Staate
Maine nach New Hampshire gefahren hatte. Auf beiden Seiten der
Grenze war dichter Wald, fraglich war nur, wo Bruder Hiram den Tod
gefunden hatte, denn in New Hampshire gab es im Gesetz die Todes·
strafe, die in dem Staate Maine nicht mehr bestand. Der Oberste

1 Neuer Pitaval, Bd. XII, S. 168ff. Leipzig 1859.


2 Die Erschießung der Fürstin Sulkowski auf ihrem Schloß in Oberschlesien
1848. Neuer Pitaval, Bd. XXVII, S. 19; der Mord des Gutsherrn auf Zögershof bei
Königsberg, 1897, FRIEDLÄNDER, Bd. X, S. 3ff.; die Erschießung des Grafen zu
Stollberg. Siehe die Tatortbilder in Kriminalistische Monatshefte 1929, S.85ff.
9 "Die Hunde im Hofe, immer wachsam, zumal aber bei Anbruch der Nacht,
hatten nicht gebellt." Neuer Pitaval, Bd. XII, S. 180.
4 Vorsitzender: "Kurz vor dem Morde sollen zwei große, sehr wachsame Hunde
auf dem Gute gewesen sein, die plötzlich verschwunden waren 1" Angeklagte: "Ja·
wohl." Vorsitzender:: "Wie erklären Sie sich das Verschwinden der Hunde?"
Angeklagte: "Das weiß ich nicht." FRIEDLÄNDER, Bd. X, S.7.
5 BENNEY: Low company, S.315.
Grundzüge einer Tatortlehre 343

Gerichtshof von New Hampshire bejahte seine Zuständigkeit, obgleich


es niemals sicher festzustellen war, wo eigentlich die Tötung statt-
gefunden hattel. Ein Schlaganfall des Täters schnitt den weiteren
Rechtszug ab 2.
Tatorte, die sich wenig eignen, können künstlich hergerichtet werden,
so daß dem Täter erhöhte Sicherheit zufließt. Ganz allgemein verändert
die Abwesenheit lästiger Zeugen die Lage; die Ehefrau ist weggefahren,
liegt im Krankenhaus. Die Prostituierte ist für kurze Zeit in Haft: beim
Zuhälter rühren sich Gelüste, und es verlockt die leere Wohnung 3 • Die
Pfarrersköchin wird mit einem Auftrag weggeschickt 4. Der Hilfeschrei des
Opfers wird im Walde ungehört verhallen. In einem Hause ist Geräusch
ein Element des Tatorts, das Gefahr bringt. Vom Morde an Fualdes
wird berichtet: "Um mögliches Geschrei und Lärmen (in dem Mordhaus)
zu ersticken, waren in der Straße zwei Leiermänner aufgestellt, welche
von 8 Uhr ab unaufhörlich auf ihrer Drehorgel spielen mußten 5."_
Zwei Morde an der Riviera wurden in der gemieteten Villa einer stillen,
vornehmen Umgebung ausgeführt, wo Schüsse nicht zu fallen pflegten.
Das Opfer war eingeladen worden, der Mörder hielt die Waffe bereit.
Um das auffallende Geräusch zu ersticken, putzte eine der Mittäterinnen
beim Erscheinen des Gastes ein Motorrad. Sie ließ dabei den Motor
probeweise knallend laufen 6. Akustisch-psychologisch wurde damit die
belebte Gegend in eine menschenarme Einöde verwandelt. Mit lautem
Radio läßt sich mancher Laut ersticken, der als verdächtig aufgefallen
ware. Die gleiche Wirkung hat die rasche Fahrt durch einen Tunnel,
obschon der Zug an sich als Tatort ungeeignet ist.
Taträume sind die gehäuften Invertierten-Viertel großer Städte 7,
auch jene Badeorte, wo man sich erholt und zur Entspannung auch dem
Glücksspiel huldigt 8. Erpresserbanden stellen reichen Frauen in be-
stimmten Jagdgebieten nach, die sich von Abenteurern verführen und
1 MINOT, S.204.
2 Siehe die Taträume des Schwindlers Lemon in E. R. WATSON, Trial 01
Thurtell and Hunt, S. 19ff., Edinburgh 1920, und des Heiratsschwindlers und
Mörders G. J. Smith (BOLITHO, S.141), der in einer Reihe von Badeorten immer die
gleiche Tötungstechnik anwandte. Insoweit fällt der Tatraum in das Feld des
modus operandi. Siehe WENTZKY, OSRAR: Zur Untersuchung der Verbrecher-
perseveranz, S.82. Wiesbaden 1959.
3 FRIEDLÄNDER, Bd. IV, S. 5 (Mordfall Berger, Berlin 1904).
4 Neuer Pitaval, Bd. XI, S. 320 (Fall Dellacollonge).
5 Neuer Pitaval, Bd. I, S. 130.
G O'DONNELL, BERNARD: Mußten sie morden?, S. 226. Rüschlikon 1956.

7 Dazu s. KUHN: Das Phänomen der Strichjungen in Hamburg, S. 54ff.


8 In einem großen Spielerprozeß der Vorkriegszeit kamen folgende Kurorte vor:
Monte Carlo, Spa, Davos, Chiavenna, Nizza, St. Moritz, Wiesbaden, Ostende,
Fiesoie, Bordighera, Ventimiglia, Lugano und Como. FRIEDLÄNDER, Bd. X,
S. 114ff.
344 Grundzüge einer Tatortlehre

bloßstellen lassen. Die Anknüpfung erfolgt auf der Promenade, im


Hotel. Die heiße Sonne und der Tanzsaal helfen kuppeln. Fast immer
auf die gleiche Weise, zur gleichen Stunde und am gleichen Orte erwächst
die Möglichkeit der Drohung, wie sie CASSELLARI 1 und MELLOR 2 be-
schrieben haben. Benötigt ist ein Platz mit jenem Grad der Öffentlich-
keit, die ein Delikt ins Leben setzt und die überraschung durch einen
Pseudo-Beamten mit allem Zubehör ermöglicht: Dienstmütze, Amts-
abzeichen und Notizbuch, vor allem aber überfluß an aufgebrachter
Würde, die jeden Sünder um so tiefer in die Knie sinken läßt.
Der Tatort kann in Beziehung zum Alter, Geschlecht, Familienstand
und zum Beruf des Täters stehen. Er gibt uns oftmals Auskunft über die
Motive und den Geisteszustand. Die Opferschwächen spielen eine Rolle,
die Wehrlosigkeit, die sich das Opfer selber zugezogen hat durch Laster,
Habgier, Eremitentum, durch Wandertrieb ins Unbekannte, von Gefahr
Bedrohte. Neben der Verführbarkeit sind gute Eigenschaften oder
Pflichterfüllung Momente, die in die Tatortfalle locken können. Priester
werden an das Bett eines angeblich Sterbenskranken gerufen und dann
in einem wilden Küstenstrich ermordet 3 • Ärzte werden aus dem Bett
geklopft, weithin in die Prärie verschleppt und kehren lebend niemals
wieder 4. Auch Krankenschwestern hat man aus dem Haus gerufen.
Die Kinder reicher Leute wurden aus der Schule abgeholt, zur Mutter, die
verunglückt sei und sie noch einmal sehen möchte 5. In allen diesen
Fällen kann man von "gelenktem" Tatort sprechen.
Ganz wie ein Zuruf oder Ratschlag, so fordert ein idealer Tatort den
Angriffstrieb zum Handeln auf. In günstiger Umgebung entfaltet sich
latente Neigung plötzlich zum Entschluß und zum motorischen Aus-
bruch, gleichgültig ob der Ort planmäßig aufgesucht war oder aus
reinem Zufall sich ergab. Der "rechte" Tatort wird zum Kraftpartikel,
im Zulauf kausaler Elemente eine Mitbedingung. In vielen Fällen wird
der Tatort zum Symptom des Handlungsganzen, ja spiegelt auch nicht
wenige Täterzüge wider, weil er, wenn ausgewählt, ja auch nur auf-
gegriffen, Abdruck der kriminellen Neigung ist. Man muß ihn freilich
lesen wollen oder können 6.
PLUTARCH hat von Themistokles gerühmt, er habe Ort und Zeit des
Treffens mit den Persern wohl gewählt 7. Tatsächlich steckt im Tatort
CASSELLARI, RENE: Dramas of French crime, S.231ff. London 1930.
1
MELLOR, Ar.EC: Le chantage, S.98ff. Paris 1937.
2
3 Fall des Priesters Heslin in BLOCK, EUGENE B.: The wizard of Berkeley,
S.76. New York 1958.
4 COOPER, C. R.: Ten thousand public enemies, S. H8. Boston 1935.
5 WmTEHEAD, DON: The F.B.I. story, S.243. New York 1956.
6 Die gleiche Beobachtung gilt für den Fundort. Auch die Verbergungs-
strategie der Leiche wirft auf Einzeltäter oder Gruppen Licht.
7 PLUTARCH: Themistokles 14.
Grundzüge einer Tatortlehre 345

oft ein zeitlicher Bestandteil!, der kriminal-mechanisch den Charakter


ändert. Zeitliche Schwankung läßt die gleiche Örtlichkeit zum Fehlschlag
oder zum Erfolge Beitrag leisten. So können Menschenmengen, die
vorüberfluten, vor einem Angrüf schützen, können wiederum am Sams-
tagabend, wenn sie gutgelaunt ins Freie strömen, dem Täter allerbeste
Deckung bieten z. Bei Attentaten kann die Neigung zu panischen
Reaktionen, wie sie der Menge eigen sind, in den Fluchtplan einberechnet
sein. Der jähe Sturz vom Jubel in den Schrecken, bei dem die Auf-
merksamkeit der Masse sozusagen über die eigenen Beine stolpert, führt
noch ein weiteres Element ein: die Menschen, die das Tatortbild erfüllen.
Anschlußbereite Passagiere sind auf großen Schüfen wichtigstes Tatort-
inventar, nicht nur der Speisesaal oder das nächtliche Promenadendeck,
wenn internationale Betrüger das Objekt beschleichen. Das gleiche gilt
für das Hotel 3 , und selbst der Taschendiebstahl in der Kirche verlangt
nach andachtsvollen Frauen und der Inbrunst der Gemeinde 4. Die
reichste Beute birgt in Amerika das obere Stockwerk eines Einzel-
hauses; hier werden Pelze, Schmuck und Geld verwahrt. Einbrecher
haben uns beschrieben 5, wie ganz das gleiche Zimmer durch den Zeit-
verlauf zum idealen Tatort wird: Die reichen Leute essen zwischen
18 und 19.30 Uhr. Erst gegen 20 Uhr tritt die Wach- und Schließ-
gesellschaft an. Die Streüenwagen machen zwischen 17 und 19 Uhr
eine Pause. Das Mädchen hat am Donnerstag Ausgang. Das ist
die Zeit, die Bambusleiter anzulegen. Ein Mensch, der Abendbrot ge-
nießt, ist achtlos, weil er Ruhe haben will. Wenn die Familie sich beim
Essen streitet, so ist sie doppelt abgelenkt. Gleichgültige Orte werden
öfters einfach durch die zeitliche Beziehung zum Rang des Tatorts
promoviert.
Tatorte wandern, meist in Richtung der Ergiebigkeit. Als in den
ersten Jahren der Besatzung in Deutschland Not war, wurde in Kantinen
und den Räumen der Alliierten eingebrochen 6. Die Kriminalität ver-
legte sich ins Trümmerfeld und seine Wüstenlandschaft, ins Grenz-
gebiet und zu den Stätten schwarzer Märkte. Solange unsere Währung
siechte, ging das Verbrechen zu den Lagern neuen Reichtums hin, nach
dem Lande. Hier lockten die von Städtern gegen Lebensmittel einge-
tauschten Gegenstände zu Raub und Einbruch, auch "war bekannt, daß
die Bauern ihre Ersparnisse nieht zur Sparkasse bringen, sondern lieber

1 Wie sich beim .Alibi ergibt.


2 WILSON, H. E.: I stole 16,000,000 dollars, S. 78. New York 1956.
3 Über die Schwierigkeiten der Hotels an Samstagnächten s. COLLANS, S.73;
der Zustand heißt" the panic."
4 Siehe die Technik der Jane Webb in JENKINS, ELIZABETH: Six criminal
women, S. 127. London 1958.
5 MARTIN: My life, S.63. 6 JACOBS, S. 119.
346 Grundzüge einer Tatortlehre

zu Hause im Strumpf aufbewahren l ." Sobald die Währung wieder fest-


stand, schlug auch die Welle in die Stadt zurück und traf wie ehedem
Geschäfte, Banken. Mangelnde Aufsicht und Fleischmangel wirkten
zusammen, die Jagdvergehen aus dem Walde - wo die verbotenen
Schußwaffen benötigt waren - aufs Schlingenstellen in den Feldern zu
verlegen 2.
Tatort im Sinne der Strafprozeßordnung ist der Punkt, an dem der
Täter körperliche Tätigkeit entfaltet, wegnimmt, nötigt, tötet oder
irgendeine zum Erfolg führende Kausalreihe in Bewegung setzt. Es gibt
rechtlich keinen Tatort der Vorbereitungshandlung, die sich nicht über
die Bedeutung des Indizes erhebt. Da aber der Erfolg, des Nehmens
beispielsweise, von der Art der Vorbereitung abhängt, rechnen sie für
die Kriminalwissenschaft zur Peripherie des Tatorts, den sie ja beim
Versuch juristisch auch verwirklichen. Wenn man den Begriff des
"gestreckten" Tatorts freundlich aufnehmen will, so würde er die
vorbereitende, ausführende und abschließende Aktion umfassen und
eine Serie lange vorher geplanter Tätigkeiten einschließen. Ein Einbruch
splittert sich nach der Darstellung eines erfindungsreichen Kriminellen 3
in folgende Ausführungsstadien auf:
1. Ein weibliches Mitglied der Bande erhält den Auftrag, sich mit
einem Bankangestellten anzufreunden.
2. Sie findet dergestalt Gelegenheit, bei einer harmlosen Führung den
Safe der Bank heimlich zu photographieren.
3. Aus leichtem Behelfsmaterial wird eine täuschende Replik des
Safes gebaut.
4. Es wird in die Bank eingestiegen, der Wärter wird überwältigt.
5. In dem erleuchteten, von außen sichtbaren Bankraum geht ein
Mitglied der Bande in Wächteruniform "kontrollierend" auf und ab.
6. Der echte Safe wird weggerollt ; die Kopie wird hingesetzt.
7. Hinter einer Holzwand wird der Safe aufgebrochen.
8. Ein Schutzmann, der auf der Straße auf und ab geht, sieht, daß der
Safe an Ort und Stelle steht und winkt dem falschen Wachmann zu,
der kameradschaftlich den Gruß erwidert.
9. Flucht mit der Beute durch die Kelleröffnung, die für den Einwurf
von Kohle bestimmt ist.
Dazwischen kann noch ein Sachverständiger die Alarmleitungen
untersucht haben, die außerhalb der Bank liegen und im Augenblick des
Unternehmens abgeschnitten werden. Um unbesorgt am hellen Tage die
Leitungen überprüfen zu können, muß er sich die Tracht eines Auge-

1 BAUMSTEIGER, W ALTER: Die Kriminalität de8 Raube8, S. 31, Bonner Diss. 1952.
2 BADER, S. 105. 3 WILSON, S. 100ff.
Grundzüge einer Tatortlehre 347

stellten beim Elektrizitätswerk besorgen. Die Absicht der Zueignung


und der Vorsatz des "Nehmens" können davon abhängig sein, daß vom
Besitz bestimmter W ertpa piere in der Bank Kenntnis erlangt wird und die
Effekten vorher für eine rasche Transaktion angemeldet und sogar ver-
kauft sind!. Sie werden in der gleichen Nacht durch Flugzeug am ent-
fernten Verkaufs ort abgeliefert und in Bargeld umgewandelt, ehe die
polizeilichen Angaben über die gestohlenen Papiere dort eintreffen.
Infolge der verkürzten Entfernungen und der immer schnelleren
Bewegungsmittel ist in vielen Fällen der Bezirk "in dem die strafbare
Handlung begangen ist" nur noch mit Schwierigkeiten festzustellen.
Einen Ersatz bilden in Mordfällen der Fundort und die Topographie der
Spuren, die von ihm zum Tatort führen. Doch selbst der Fundort kann
zuweilen fehlen, und der fiktive Tatort kann auch bei Geständnis das
Erzeugnis geistiger Störung sein 2.
Tatorte werden gern nach der Erklärung ausgesucht, die man der
Untersuchung nahelegen möchte. Dazu gehören Selbstmord, Unfall,
"Räuber", die von dem Mordverdacht ablenken sollen. Zur Not kann der
Sturz aus dem Fenster eines Hochhauses oder aus dem Flugzeug Selbst-
mord sein, der Fall ins Wasser Unfall wie die gaserfüllte Küche, und
Räuber töten manchmal, wenn man ihnen widersteht 3. Bei Paaren
lassen "Räuber" rätselhafterweise öfters eines der Opfer übrig, sehr oft
gefesselt und geknebelt und nur leicht verletzt. Die Räuber sind bequeme
Schuldige bei häuslichem Zerwürfnis. Sie dringen in die wohlbewachte
Wohnung ein. Raub ist in jedem Falle gültiges Motiv, und daß sie mor-
den, wenn es richtige Räuber sind, ist jedem Kind bekannt. Weil sie nur
stehlen wollen, kommen sie aus jener dunklen Masse, die wahllos sich an
fremdem Eigentum vergreift und durch kein anderes Band mit dem
Ermordeten zusammenhängt. Es ist ein Zufallstatort, der uns keine
Fährte bietet, und darum ist er so beliebt und gar nicht selten auch erfolg-
reich. Denn nur in wenigen Fällen bleiben Zeugen aus, die später irgend-
eine Phantasiegestalt gesehen haben wollen. Sie stammen aus dem
Vorrat angeborener Bilder des Verfolgers, Bösewichts und schwarzen
Mannes.
Wenn wir eine genaue und umfangreiche Statistik der Selbstmord-
Tatorte hätten, würden viele "unzweideutig" festgestellte Selbstmorde
zweifelhafte werden, denn Frauen erhängen oder erschießen sich recht
selten. Dagegen hat das Unwohlsein die größte diagnostische Bedeutung:
die alten Frauen fallen dabei aus (Tabelle siehe nächste Seite).

1 WILSON, S. 53.
2 IlALDY: Zwei Anklagen wegen Mordes ohne objektiven Tatbestand, Pitaval
der Gegenwart, Bd. VI, S. 81-152.
3 Siehe mein Mord, S.245ff.
348 Grundzüge einer Tatortlehre

Selbstmordarten bei Mann und Frau*


(Wien, 1671 Fälle, Prozentzahlen)
I Männer I Frauen
I
Vergiften. 21 55
Erhängen 33 7
Erschießen 26 2
Sich ertränken 9 18
Sturz 3,5 10
Stich und Schnitt 2 1,5
Überfahrenlassen 1 0,24
Mehrfache Todesarten 3,37 3,5
* Prozentzahlen nach PILCZ in Monatsschrift, Bd. 3, S. 162. - "Von 211 Fällen,
bei denen der Befund festgestellt wurde, boten 53 (25,11 %) prämenstruelle Ver-
änderungen der Genitalorgane dar, 23 (10,9 %) waren in statu menstruali, im ganzen
hatten also 76 (36 %) während des Unwohlseins ihrem Leben ein Ende gemacht.
Dieses Resultat stimmt genau mit den Erfahrungen HELLERS überein, der 35,9%
konstatiert hatte."

Nur Ertränken und Sturz sind an bestimmte Lokalitäten gebunden,


dazu noch Überfahrenlassen. Für die Fiktion eines natürlichen Todes
ist die ruhige Lage im eigenen Bett die geeignete Veranstaltung 1. Der
gut gewählte Tatort trägt demnach zum Irrtum bei, dem Ärzte wie
Gericht zuweilen unterliegen. Wenn die Umgebung weniger an Schutz
gewährte, bestünde eher die Gefahr des Argwohns.
Ich möchte meinen, daß bei näherer Untersuchung ein Tatort-
muster für Verbrechen gegen alte Leute 2 , gegen kleine Kinder 3 , auch für
Frauen sich ergeben würde, für junge und für alte Frauen, für Witwen
und für solche, die geschieden sind. Ganz sicher gibt es eine ziemlich
scharf begrenzte Anzahl von Orten, an denen Ehefrauen Leids geschieht.
Sie werden freilich nach der Technik unterschiedlich sein. Das Studium
ließe sich noch weiterführen zu den Vergehen Lesbischer und Homo-
philer, zum Vater-, Mutter- und zum Gattenmorde, die nicht den gleichen
Tatort wie die Tötung der Geliebten haben 4. Wenn es gelänge, die
benutzte Waffe, Motiv und Tätereigenart mit dem Tatort in Beziehung
zu setzen 5, so wäre der Verfolgungstaktik wesentlich geholfen.
Die Tageszeit bestimmt in vieler Hinsicht einen Tatort. Wenn es sehr
spät ist, strebt der Mensch nach Hause. Damit erwächst der eigenen
1 Siehe das ärztliche Gutachten im Mordfall der Witwe Dellbrück, Neuer Pitaval,
Bd.28, S. 10Hf., dem sich die Gerichtspersonen anschlossen. "Daß sie durchaus
nicht glauben, daß die Dellbrück eines unnatürlichen Todes gestorben sei."
2 Siehe den Tod des greisen Prinzen Conde, EGER, S. 129ff.
3 Badewannen, Flußläufe. 'VOSNIK, Beiträge, Bd. I, 1, S.117.
4 Gattenmorde werden meistens zu Hause verübt, Geliebtenmorde außerhalb
des Hauses.
5 Auch zwischen Beruf und Tatort würde nähere Prüfung Zusammenhänge
finden.
Die Wohnung und umschlossene Räume 349

Wohnung größere Bedeutung, besonders wenn viel Alkohol genossen ist.


Jetzt in vier Wänden werden auch sexuelle Triebe rege, daneben Haß
und Eifersucht, auch die Bewußtseinstrübung schlecht vernarbter
Traumen macht sich wieder geltend. Es kommt zum Tatort der Psy-
chose, die alle Hemmungsmechanismen schwer geschädigt hat. Kenn-
zeichnend ist der Fall einer enzephalitisehen Wesensänderung, die über
Müdigkeit, Verstimmung, Alkoholexzeß zum Mord und zum versuchten
Selbstmord führte, und zwar nach einem Maskenball, auf den Proband
mit seiner Ehefrau gegangen war. Er hatte viel getrunken, war ver-
ärgert, eifersüchtig, war von ihr, so meinte er, unzart behandelt worden.
Dies war der Tatbestand, so wie er uns von STERTZ geschildert wird 1:
"Am 4. März 1930 fand man morgens gegen 6 Uhr in der Wohnung der Ehe-
leute P. das 5jährige Pflegekind der Familie tot auf. Das Kind hatte eine tiefe
Halswunde, aus dem eröffneten Leib waren die Gedärme herausgerissen, beide
Oberschenkel waren bis auf die Gelenke eingeschnitten. Die Eheleute P. waren
in der Nacht bei einem Maskenfest gewesen, von welchem P. gegen 3 Uhr allein
nach Hause zurückgekehrt war, während die Ehefrau mit der Schwägerin früh
gegen 6 Uhr nachfolgte. P. öffnete erst nach mehrmaligem Klopfen, fiel von vorn-
herein durch seinen stieren Blick auf, die Wohnung war mit Gasgeruch gefüllt.
Während der Szene des Entsetzens, die sich abspielte, als die Frau das tote Kind
bemerkte, brachte P. selbst sich einen tiefen Halsschnitt in der Kehlgegend bei."
Wenn die Frau mit ihm nach Hause gekommen wäre, wenn der
Enzephalitiker nicht erregt und stark betrunken das einsame Kind
vorgefunden hätte, wenn nicht während des Ausziehens den wütenden
Mann eine wilde sexuelle Begierde gepackt hätte, wäre die Wohnung
nicht zum Tatort geworden. Er lag zwei Stunden ohne Bewußtsein
neben der kleinen Leiche. Dann drehte er den Gashahn auf.
Wir kennen nicht den Tatort unbekannter Morde, Diebstähle,
Sittlichkeitsverbrechen und zahlloser mißglückter verbrecherischer Ver-
suche 2; wir können also nur von dem bekannten Tatort sprechen.

Zweites Kapitel
Topographie der kriminellen Handlung
A. Die Wohnung und umschlossene Räume
a) Bei dem Versuch, Tatortgruppen zu bilden, die die Übersicht er-
leichtern, ist die Erfahrung störend, daß gleiche Räume soziologisch
höchst verschiedene Bedeutung haben. Wenn wir von Wohnung und

1 STERZ, G. : Enzephalitische Wesensveränderung und M ard, Monatsschrift, Bd.22,


S.320ff.
2 Siehe die "Anfänge" einer Tatortplanung bei dem Mädchenmörder Dumollard,
Neuer Pitaval, Bd. 33, S. 76ff. Leipzig 1863.
350 Topographie der kriminellen Handlung

umschlossenen Räumen sprechen!, so ist mechanisch eine Schutz-


funktion gegeben mit Mauern, Schlössern, Gittern, Hunden, angestellten
Wächtern. Hier bergen wir das Eigentum, das man mit Recht "beweg-
lich" nennt, indem wir der verschlossenen Tür und Aufmerksamkeit
verschiedenen Grades weitere Hindernisse hinzufügen: "Behältnisse",
wie sie das Gesetz nennt und deren ordnungsmäßige Eröffnung dem
Eigentümer vorbehalten ist, Signalanlagen, Verstecke wohlbekannter Art,
das obere Stockwerk, weit entfernt vom Eingang und wo wir neben unseren
Schätzen schlafen, bewaffnet öfters und bereit zum Widerstande wie zum
Hilferufen. Im Tatbestand des schweren Diebstahls werden alle Merkmale
aufgezählt, die einem Schutz des Eigentums im Wege stehen, einschließ-
lich psychologischer Momente wie Tätermehrheit, Waffen, Nachtzeit.
Beinahe mehr noch dient das Haus der körperlichen Sicherheit und
der gesicherten Selbstbestimmung. Im Laufe des Tages geht jeder
Mensch durch Zeiten und Gelegenheiten erhöhter Wehrlosigkeit. Durch
Wohnungen und umschlossene Räume wird uns ein Teil der Vorsicht
abgenommen, die sonst in vielen Fällen dem Mitmenschen gegenüber
geboten ist. Wir haben sozusagen unseren Rücken frei, wenn Wände
vierfach uns umgeben. Beim Essen, Schlafen und anderen körperlichen
Verrichtungen sind wir geschützt, nicht ohne weiteres von übermacht
bedroht. In unserer Nähe wohnen, meistens zusammen mit uns, andere
Menschen, die unser Hilferuf erreicht. An unserem Türgriff oder Fenster
wird der Fingerabdruck aufbewahrt, und Hausbewohner oder Nachbarn
dienen als Belastungszeugen. Die Furcht vor dieser Rolle der Ver-
geltung bringt sie öfters in Gefahr; den alten treuen Mägden, auch Ver-
wandten, ja selbst Kindern2 ist dieser Schutz zum Mißgeschick geworden.
Sie wollten helfen, anderen helfen, während niemand ihnen beistand.
1 Zusammengezogen aus den Tatbestandsmerkmalen der §§ 123 und 243 I, 2 StGB.
2 Der Mörder Karl Friedrich Masch schreibt in seinem Geständnis: "Mit zwei
schnell hintereinander geführten Schlägen schlug ich dem schlafenden Manne den
Schädel ein, dann brachte ich mit mehreren Streichen die aus dem Schlafe auf-
geschreckte, laut schreiende Müllerin zum Schweigen. In diesem Moment öffnete
sich die Tür nach dem Wohnzimmer, ein Kind schritt über die Schwelle. Ich war
nicht wenig betreten, denn ich hatte keine Ahnung davon, daß Kinder im Hause
waren; indes durfte ich mich nicht lange besinnen, jede Minute des Zauderns konnte
mich verderben. Mit einem Satze war ich bei der Kleinen, das hocherhobene Beil
fiel auf ihr Haupt, sie brach zusammen und tat keinen Atemzug mehr... Ich
verließ nun die Kammer und ging in die Stube, fest entschlossen, jedes lebendige
Wesen darin umzubringen, damit ich nicht verraten würde. Ich fand ein Bett und
in demselben einen Knaben von etwa 5 bis 6 Jahren, der sich unter die Decke
verkrochen hatte. Als ich das Deckbett aufhob, schlug das Kind die Augen auf
und sah mich recht freundlich lächelnd an. Rührung erfaßte mich, es tat mir weh,
daß diese hellen lieblichen Augen brechen sollten, eine Sekunde lang war ich zur
Milde und Barmherzigkeit geneigt. Gleich darauf rief ich mir ins Gedächtnis
zurück, daß ich keinen Zeugen verschonen dürfte, ich tötete das Kind mit mehreren
Beilhieben. " Neuer Pitaval, Bd. 11, S. 115. Leipzig 1866.
Die Wohnung und umschlossene Räume 351

Ein Teil des Schutzes, den das Haus uns bietet, besteht im Nicht-
gesehenwerden, in Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit für uner-
wünschte Dritte. Was abgeschieden ist und Feinde abwehrt, ist weiter
wirkungsvolle Deckung gegenüber all den Kräften, die auf das Verhalten
der Mitmenschen ein wachsames Auge haben, achtgebend eine starke
Hemmung bilden, ob es nun eine Straftat oder bloße Unmoral sei. Das
Haus, die eigene Wohnung stellt in mancher Hinsicht strafrechtlich eine
Oase dar, die sozusagen extraterritorial ist, weil man nicht gern anzeigen
möchte oder kann. In 67,8% der Fälle wurde in Gasthäusern strafbarer
Vollrausch festgestellt, nur in 9,8 % in Wohnungen (dazu 5,3 % teils in
Wohnungen, teils im Gasthaus)). Das abgeschlossene Heim und die
Familie bewahrten nicht vor Vollrausch, nur vor Meldung an die Polizei.
Selbst das Gesetz räumt der Entwendung in Haus und Familie einen
bevorzugten Platz ein, wenn es sich um Sachen von unbedeutendem
Werte handelt (§ 247 I StGB). Bei Delikten gegen Verwandte ab-
steigender Linie und unter Ehegatten tritt sogar Straflosigkeit ein, aus
der die Straflosigkeit der nachfolgenden Verwendungstat folgt (§ 247 II
StGB). Bei Angehörigen, Vormündern und Erziehern liegt in der Regel
erleichterte Möglichkeit des Zutritts vor, Lehrlinge gehen in Wmkstatt
und Wohnung ungehindert aus und ein, und beim Gesinde ist die häus-
liche Gemeinschaft ausdrücklich Vorbedingung.
Bei der Körperverletzung hat die häusliche Gemeinschaft schon nach
dem Strafgesetzbuch ganz verschiedene Folgen. Da ist die Zuchtgewalt
von Vater, Mutter, Vormund. Auf der anderen Seite ist die vorsätzliche
leichte Körperverletzung, begangen an Verwandten aufsteigender Linie,
mit erhöhter Strafe bedroht (§ 223 II StGB). Zahllose fahrlässige Körper-
verletzungen, dazu leichte körperliche Mißhandlungen oder Gesundheits-
beschädigungen, entgehen im Familienkreise der Verfolgung.
Im Hause leben und verkehren nicht nur Mitglieder einer Familie, es
gibt noch eine Reihe anderer Hausgenossen. Dienstboten spielten
früher eine nicht geringe Rolle 2 , wenn irgendwo ein Mord geschah.
Wenn öfters weibliches Gesinde sich an Verbrechen gegen das Leben
beteiligte, so ist zu bedenken, daß es immer mehr Dienstmädchen als
Diener, Lakeien, Hausverwalter gab. Sie leben in wohlorganisierter,
allerengster Nähe, von den Konflikten angekränkelt, die sich aus
dauerndem Zusammensein und Widerstreit ergeben. Andere Personen
treten hinzu, die in das Innere dieser "Burg" gelangen dürfen, Mieter,

1 SCHÄFER, KLAUS: Die Volltrunkenheit (§ 330 a StGB) im Landgerichtsbezirk


Bonn in den Jahren 1952-1954 und im Landgerichtsbezirk Köln im Jahre 1954,
S. 45. Bonner Diss. 1958.
2 Wie genau Dienstboten beobachten und wie sie, die Stummen, von Haß
und Liebe bewegt sind, kommt bei ihren Zeugenaussagen in großen Straf-
prozessen zum Ausdruck.
352 Topographie der kriminellen Handlung

Freunde, Besucher, Gäste, Handwerker, die im Haus zu tun haben, die


Fensterwascher in den Hochhäusern, Kaminkehrer, Gasableser. Wenn
der Hoteldetektiv in das Zimmer eines Gastes kommen will, der ihm
verdächtig ist, so spricht er von der Heizung oder Wasserleitung, die
nicht in Ordnung ist und nachgesehen werden müßte. Bei Krankheit
werden Arzt und Krankenschwester in die Wohnung eingelassen. Nur
bei Senilen ist der Abschluß nahezu hermetisch; mit vielen Schlössern
machen sie sich selber wehrlos, schutzlos!, weil sie den Schein der großen
Wohlhabenheit erwecken.
Der Schutz der eigenen Wände ist beim Riesenmietshaus einge-
schränkt. Flur, Treppe, Keller, Boden, oft auch die Toilette 2 sind ge-
meinsam. Alle Geräusche des privaten Lebens dringen durch die dünnen
Mauern. Wenn in einem Mietshause 106 Mieter wohnen, wie im Mord-
prozeß gegen den Zuhälter Berger festgestellt wurde, so ist der Bau
vieler, soziologisch wichtiger, die Menschen auseinanderhaltender,
zähmender Attribute verlustig gegangen. Die Menschen liefen unauf-
hörlich ein und aus, und es war seltsam, wenn der Hausverwalter sagte,
es sei schon möglich, daß die Haustür "hin und wieder" aufgestanden 3 sei.
Ein Kind genießt im Freien größere Sicherheit als in der Täter-
wohnung - oder Werkstatt und in den Häusern der Umgebung, wenn
man sie zusammennimmt.
Tatort der Kinderschändung * Tatort der Kinderschändung *
(Bochum 1933-1950, 935 Täter) (Duisburg 1935-1949, 771 Täter)
Tatort Anzahl Prozent- [ Prozent·
I der Fälle zahlen
Tatort
zahlen

Wohnung des Täters. 296 31,7% Wohnung des Täters. 27%


Arbeitsstätte des Täters 96 10,3% Haus und Umgebung 15%
Häuser und Umgebung. 149 16,0% Arbeitsstätte des Täters 10%
Wohnung des Kindes 38 4,1% Sonstige Räumlichkeiten 6%
Sonstige Räumlichkeiten 68 7,5% Im Freien . . . . . . 39,0%
ImFreien . . . . . . 288 30,4%
* HÄBEL, GÜNTER: Die Krimi-
* BRANDENBURG, GÜNTER: Die Kinder- nalität der Kinderschändung im
schändun(Jskriminalität im Landgerichtsbezirk Landgerichtsbezirk Duisburg wäh-
Bochum in den Jahren 1933-1950, S. 20. rend der Jahre 1935-1949, S.50.
Bouner Diss. 1953. Bonner Diss. 1952.

1 Sehr häufig verstärken Geiz, schlechtes Gehör, Einbrecherfurcht die Isolie-


rung. Alte Frauen sind in der Mehrzahl. Zuchthausgespräche kreisen unablässig
um die leichten Opfer; es herrscht die Meinung, daß ungenossenes Geld auch nicht
verdient ist.
2 FRIEDLÄNDER, Bd. IV, S.4: "Am 9. Juni 1904 gegen 1 Uhr saß die kleine
Lucie neben ihrer Mutter am Mittagstisch. Plötzlich bat sie um den Klosett-
schlüssel. ,Bleib aber nicht lange', sagte die besorgte Mutter. Lucie entfernte sich
mit dem Schlüssel, ist aber lebend nicht mehr zum Vorschein gekommen."
3 Ebenda, Bd. IV, S. 48.
Die Wohnung und umschlossene Räume 353

Im Rheinland lagen die Verhältnisse nicht sehr verschieden.


Der Landgerichtsbezirk Hagen meldet in 84,7% der Fälle als Tatort
"abgeschlossenen Raum". Der Rest von 15,3% fällt auf Wald und andere
Stellen, die im Freien lagen 1, auf Sportplatz, Steinbruch, Eingang eines
Hauses, auf Straßen, Plätze, Kinderspielplatz, Friedhof, Wohnwagen,
Gartenlaube, Kino, Wirtshaus und Strandbad, Postgebäude, Güter-
schuppen, Auto, Eisenbahn, Bahnwärterhaus und Zirkus. Der abge-
schlossene Raum diente in 71 % der Bonner Fälle dem Angriff auf das
Mädchen und den Jungen 2.
Die von Mauern umschlossene Nähe ist Wärme, Sicherheit, leben-
erhaltende Führung, ganz wie die enggedrängte Herde. Die Dichte ist
aber auch Vertraulichkeit, ja Schwüle der sexuellen Beziehungen und
Gefahr des Strafbarwerdens. Von 95 Inzestfällen, die VIERNSTEIN und
ich untersucht haben3 , spielten sich nur 8 oder 8,4% im Freien ab,
82,1 % aber in Wohnung, Schlafzimmer und Küche, wozu noch Delikte,
begangen im Keller, Stall, Boden, Heuboden und Gartenhaus traten.
Beim Hauptfall Vater-Tochter bildet allein die Aufsicht und der Wider-
stand der Mutter 4 die Hinderung, soweit sie nicht im Menscheninneren
sitzt. Fällt diese weg, erlahmt sie aus irgendeinem Grunde, so ist die
abgeschlossene Wohnung vom Schutze zur Bedrohlichkeit geworden.
Sächsische Fälle treten unserem Straubinger Befund zur Seite:

Tatort des Inzests * (60 Fälle, Sachsen)


Irmerhalb des Hauses . . . . 53 Fälle (89,3 %)
Wohnung, allgemein . . . 13
Gemeinsames Schlafzimmer 14
Wohnküche,lCüchensofa. 8
Bett der Tochter 9
Bett des Täters 2
Dachboden . . 3
Werkstatt . . . 2
Wohnstube, lCeller, Hausflur,
Ladengeschäft, Abort . . . je 1 Fall
Außerhalb des Hauses. . . . . 7 Fälle (10,7%)
* FINKE und ZEUGNER: Inzest in Monatsschrift, Bd. XXV (1934), S.313.

1 IRNIG, ÜTTO: Das Delikt der Kinderschändung im Landgerichtsbezirk Hagen


in der Zeit von 1937-1949, S. 13. Bonner Diss. 1953.
2 WESSEL, GERHARD: Das Delikt der Kinderschändung im Landgerichtsbezirk
Bonn, S. 16. Bonner Diss. 1939.
3 v. HENTIG und VIERNSTEIN: Untersuchungen über den Inzest, S. 203. Heidel-
berg 1925.
4 Ich habe damals geschrieben: "Die Wohnungsnot vermindert die körper-
liche Abwehrzone ... bis aufs äußerste ... die 16jährige Tochter schläft zwischen
Vater und Mutter in einem Bett ... oder die Frau schläft nebenan, während in einem
Zimmer Vater und Tochter allein schlafen."
v. Hentig, Das Verbrechen I 23
354 Topographie der kriminellen Handlung

Andere sexuelle Vergehen lassen den Tatort von der Wohnung zum
Freien hin abgleiten. Bei 522 strafbaren Handlungen, die homosexuelle
Betätigung betrafen, erfolgten 72,6% aller Vergehen im abgeschlossenen
Raum, 143 oder 27,4% im Freien l . Ein Zusammenhang mit der Ent-
deckungsgefahr ist deutlich erkennbar, denn wenn auch meistens die
Opfer die erste Mitteilung machten (52% aller Fälle), so wurden Eltern,
Arbeitskameraden, Nachbarn und andere Personen in 22,8% der Fälle
auf Täter, Opfer oder Tatspuren aufmerksam, während die Polizei in
20,7% der Fälle "durch eigene Beobachtung oder vertrauliche Mit-
teilung" von der Verfehlung erfuhr 2 • Die vertrauliche Mitteilung wird von
Opfern und eifersüchtigen anderen Liebhabern ihren Ausgang nehmen;
genaues wissen wir nicht. Vom Zimmer wird der Tatort immer mehr
in der Richtung anderer geschützter Stellen abgedrängt, der Arbeits-
stelle, den landwirtschaftlichen Nebenräumen (Stall, Scheune, Boden-
raum) und einigen anderen charakteristischen Punkten, von denen wir
gesondert sprechen werden. Der Wald tritt jetzt, doch nicht mit allzu
hohen Zahlen auf. Wahrscheinlich ist er ein verhältnismäßig sicherer
Tatort; Schonung und Dickicht bewahren vor Entdeckung, besonders
wenn die Dunkelheit hinzukommt.
Dort, wo Gewalt angewendet wird, wird mehr und mehr auf die
Deckung der Wohnung verzichtet. Notzucht wird auf der Straße, dem
Waldweg, in Feld und Wiese und im Park begangen, wozu in neuer Zeit
die Autos kommen 3. Straßen, einsame Pfade, Waldwege, Anlagen
werden durch Exhibitionisten unsicher gemacht. Ihr Sinn oder ihr Trieb
steht nach Zuschauern, die wieder möglichst isoliert sind, damit sie dem
Erschrecken hilflos ausgeliefert bleiben. Der Exhibitionist erstrebt einen
kleinen Ausschnitt der Beachtung anderer Menschen, er möchte zeigen
und verstecken, und beides zu der gleichen Zeit. Sein Jagdgebiet ist
herabgesetzte, auf ein Ziel abgesteckte Öffentlichkeit 4, den Waldweg
beispielsweise, der beide Elemente, Alleinsein und Begegnen, kombiniert.
Es gibt keine Zahlenangaben über das Delikt des Ehebruchs. Die
Verfolgung tritt im deutschen Strafrecht nur auf Antrag ein (§ 172 II
StGB), es muß ein Beischlaf sein, also keine anomale Form der intimen

1 LANG, FRITZ: Kriminalität der homo8exuellen Unzucht im Landgericht8bezirk


Hagen in den Jahren 1914-1947, S. 40. Banner Diss. 1950.
2 Ebenda, S. 152. Aus der Entdeckungsstatistik S. 40 ergibt sich nach LANG,
"daß Homosexuelle, solange sie sich unauffällig unter sich bewegen, ihr Handeln
unbehelligt fortsetzen können". "Unauffällig" bedeutet vor allem kein Konflikt
der Partner.
3 SCHULZ, GÜNTER: Die Notzucht-Täter, Opfer, Situationen, S. 54. Banner
Diss.1956.
4 BENKERT, HERBERT H.: Ur8achen und Er8cheinung8formen des Exhibitioni8-
mU8, S. 129. Banner Diss. 1958. - Nahezu 30% der Fälle geschahen auf einsamem
Weg, Wald und Waldweg, 35% auf Straße oder einsamer Straße.
Die Wohnung und umschlossene Räume 355

Beziehung. Voraussetzung der Bestrafung, besser der Strafverfolgung,


ist die Scheidung der Ehe, eben wegen dieses Ehebruchs. Die Antrags-
frist beginnt an dem Tage, an dem der Verletzte Kenntnis von der
Rechtskraft des Scheidungsurteils erlangt hat. Die Kriminalgeschichte
ist voll von kleinen Ehebrüchen, die unendlich oft in Mordprozessen
zugegeben werden. Im Falle Grauroth (Finnland 1859) kam eine solche
langjährige ehebrecherische Beziehung ans Licht, da Opfer und Täter
unter dem gleichen Dach gewohnt hatten: Zwei Brüder wohnten auf
das engste beieinander. Karl Grauroth stellte seiner Schwägerin nach,
und diese zeigte sich nicht unempfänglich.
"Die Nachbarn und das Hausgesinde überraschten beide öfter in zärtlichen
Situationen, es kam zu Szenen zwischen den Brüdern und Eheleuten. Dennoch
hörte der verbotene Umgang nicht auf, noch am Weihnachtsmorgen 1854 wurde
Brita in den Armen ihres Schwagers betroffen. Kaum war der Verstorbene in
den Sarg gelegt, so fand man Grauroth und die trauernde Witwe in einer ver·
dächtigen Stellung auf dem Bett, beide taten sich bei dem Schmause, der auf das
Leichenbegängnis folgte, gütlich und fielen durch ihre Heiterkeit und ihr verliebtes
Wesen aufl."
Einfache und schwere Diebstähle werden natürlich dort begangen,
wo Eigentumswerte geschützt aufbewahrt werden, in Häusern oder
Banken, in Röcken oder Hosen·
Tatort bei Hehlerei *
taschen, wenn der Besitzer sich
(Landgerichtsbezirk Tübingen,
ins Freie wagt. Auch die Ver. Prozentzahlen )
wertung findet meist im Hause
statt, vor allem auf der Frauen·
Örtlichkeit IMänner I Frauen
seite; mit dem Geschlechte ändert Wohnungen 54,5 87,3
sich der Tatort. Gewerbliche Räume 15,2 3,8
In Krisenzeiten tritt die Straße Öffentliche Räume 1l,7 4,1
Straße . . . . . . . 8,7 3,6
stärker in Erscheinung, doch wird Sonstige Örtlichkeiten 1,4 0,2
der Schwarzmarkthändler schwe· Nicht feststellbar . . 8,5 1,5
rer zu ergreifen sein. * ELLERKM:ANN, WERNER, S. 31. Diss.
Der Mord spielt sich vorwie· Bonn 1957.
gend in bedeckten und umschlos-
senen Räumen ab, im Gegensatz zu den verschiedenen Schweregraden der
Körperverletzung. KÜLz hatte in 4 Jahren 1115 Körperverletzungen zu
begutachten. 45% der Delikte entfielen auf Sonntage. Wenn er Fest·
tage (patriotische Feste, katholische Feiertage, Musterungen, Kontroll·
versammlungen, Hochzeiten und Kirchweih) hinzunahm, so kamen
weitere 11,2% hinzu, ganz ohne Rücksicht auf den Wochentag. Er
stellte die Örtlichkeiten fest, die in der Tabelle auf S. 356 angegeben sind.
Im Wohnhaus ist die Trunkenheit schon abgeflaut, vor allem werden
leichtere Delikte von der Familiengruppe "aufgeschluckt" , entschuldigt
oder gleich erwidert. Im Wirtshaus sind es nicht nur Streit und Alkohol;
1 Neuer Pitaval, Bd. 35, S. 323. Leipzig 1872.
23*
356 Topographie der kriminellen Handlung

hier ist ein Publikum, vor dem man als ein ganzer Mann und Held
bestehen muß und das man nicht enttäuschen darf. Vom Wirt und
Freunden des Verletzten wird die Polizei
Tatort der Körperverletzung * unschwer herbeigerufen. Für die Ver-
(Landgerichtsbezirk Heidelberg
handlung mangeln keine Zeugen.
1900, 1902, 1903, 1904)
Deutsche Tatortzahlen beim Morde sind
Örtlichkeit Zahlen I Prozent-
zahlen noch nicht durch die Änderung des Mord-
paragraphen in Mitleidenschaft gezogen,
Wirtshaus 742 66,5 die erst im Jahre 1941 erfolgte. Sie
Wohnhaus 86 7,7
weichen so erheblich von einander ab,
Straße . . 98 8,8
Arbeit . . 87 7,8 daß wir entweder in der Rechtsprechung
Unbekannt 102 9,2 oder der polizeilichen Praxis nach Gründen
Zusammen 1115 100,0 suchen müßten; am ehesten wird an eine
* Monatsschrüt, Bd. II (1906), schärfere Beurteilung der Totschlagsfälle
S. 24ff. und ihre Überleitung in die Kategorie des
Mordes zu denken sein.
H. W. LUDOCHOWSKI hat Tötungsdelikte im Landgerichtsbezirk
Koblenz untersucht!. Seine Zahlen, die auch den Totschlag umfassen,
stimmen mit den Ergebnissen der Reichsstatistik des Jahres 1934
überein. Auf den bedeckten oder umschlossenen Raum entfielen 63,5 %
der Tötungsakte.
Tatort des Mordes * (Deutsches Reich 1931 und 1934)
Tatort des Mordes I 1931 1934

Im bedeckten oder umschlossenen Raum . I 48,3% 60%


Im Freien . . . . . . . . . . . . . . 51,7% 40%
* Kriminalstatistik 1931, Bd. 433, S. 32 ff. und Kriminalstatistik 1934,
Bd.507, S.37.

W OLFG.A.NGs aufschlußreiche und gut durchgearbeitete Zahlen er-


geben für einen großstädtischen Raum und alle Tötungsdelikte an-
nähernd das gleiche Verhältnis. Es wechselt, doch nicht allzu heftig,
nach Geschlecht und Rasse.

Tatort der Tötung im Freien (Straße) *


(Philadelphia 1948-1952, Prozentzahlen)
Neger 31,4% Männer . 33,2%
Weiße . . 26,7% Frauen 20,1 %
Insgesamt 30,1 %
* WOLFGANG, MARVIN E.: Patterns in criminal homicide, S. 123. Philadelphia 1958.
1 LUDOCHOWSKI: Die Tötungsdelikte im Landgerichtsbezirk Koblenz in den
Jahren 1910-1939, S. 34. Koblenz 1941.
Die Wohnung und umschlossene Räume 357

70% der Tötungen geschahen hier zu Hause; die Frauen aber waren
auf der Straße vor der Tötung sicherer als zu Hause und in den "wohl-
geschützten" und umschlossenen Räumen. Die dunkle Rasse herrscht,
wenn es ans Töten geht, auf der Straße in Philadelphia vor. 43 Weißen
standen bei den Opfern 134 Neger gegenüber. Die Männer überwogen
bei dem Straßenmord als Täter, es waren 28 Frauen und 149 Männer.
Es liegt auch an der großen Negermehrheit, daß auf der Straße meist
erstochen wurde. Bei beiden Rassen folgte bald Erschießen nach 1.
Wir haben noch nicht gelernt, den Tatort nach Alter und Geschlecht
zu unterscheiden. GRASSBERGER hat neuerdings lehrreiche Zahlen bei der
gleichgeschlechtlichen Unzucht vorgelegt, die in Österreich, auch auf der
Frauenseite, unter Strafe steht. GRASSBERGER kennt eine Dreiteilung:
Geschlossene Räume, zugängliche Räume und das Freie, wobei er
Krankenhaus und Gefängniszelle zu den geschlossenen Räumen rechnet,
dagegen "Haushof, Stiegenhaus, Waschküche, Keller, Bad, Pissoir und
die Toilette (WO) den "zugänglichen Räumen" zuzählt. Ich glaube,
daß wir den Versuch machen sollten, zu einem einheitlichen Schema zu
gelangen, damit uns der Vergleich erleichtert wird. Es gibt natürlich
auch geschlossene- Räume VOn erhöhter oder allgemeiner Zugänglichkeit.
Sie sind gewiß vom Schlafraum soziologisch unterschieden. So variiert
aber auch das Hotelzimmer vom Schlafzimmer eines Hauses oder einer
Wohnung. Wir bleiben an dieser Stelle bei den Kategorien, die GRASS-
BERGER vorgeschlagen hat:

Tatort der homosexuellen Betätigung*


(Männer und Frauen, 445 Personen, Österreich 1936)
Absolute Zahlen Prozentzahlen
Männer I Frauen Männer I Frauen

Geschlossene Räume 158 49 40,6 89,5


Zugängliche Räume 94 4 24,1 7,2
Im Freien 138 2 35,3 3,6
* GRASSBERGER, ROLAND: Die gleichgeschlechtliche Unzucht, S.5. Arbeits-
tagung des Bundeskriminalamts über Bekämpfung der Sittlichkeitsdelikte. Wies-
baden 1959. - Die Frauenzahlen sind ein wenig kleiD.

Die größere Scheu und Sprödigkeit der Frau in der Anbahnung und
Durchführung lesbischer Beziehungen ist offensichtlich. Wiese, Wald
und Park, bei männlicher Annäherung überaus häufig, fehlen fast ganz.
Dafür sind die begehrten Partner wesentlich älter als auf der Männer-
seite. Auch Altersrelationen drücken sich im Tatort aus.

1 WOLFGANG, MARVIN E.: Patterns in criminal homocide, S. 367. Phila-


delphia 1958.
358 Topographie der kriminellen Handlung

b) Das Schlafzimmer ist der Ort großer Verletzlichkeit und höchst


verschwiegenen, unbehüteten Geschehens, in dem wir uns wehrlos
machen, entwaffnet sind, nicht nur im Schlaf. In meiner Jugend wurde
Gästen das ganze Haus, nicht aber das Schlafzimmer gezeigt, selbst
wenn es noch so schön war. Nach altem Bauernglauben führt man den
Besucher ungern in den StalP. Man fürchtet Zauber und den bösen
Blick. Die Stätte war tabu; man trifft im friesischen Recht einen
besonderen "Bettfrieden"2. Der König findet bei BocAcCI0 3 die schöne
Restituta mit ihrem Jugendfreund im Bett, wo sie in aller Blöße
schlafen: "Bestürzung und Zorn bemächtigten sich seiner, so daß er, ohne
ein Wort zu reden, beinahe den Degen gezogen und beide durchbohrt
hätte; aber der Gedanke, daß die Ermordung zweier Nackender im
Schlafe für jedermann, geschweige denn für einen König, schändlich sei,
hielt ihn zurück, und er beschloß, sie öffentlich verbrennen zu lassen."
Auch Herrscher erkannten den "Bettfrieden" an, dem sie nicht unbe-
sehen trauten. Wenn PLUTARCH die Verehrung Alexanders des Großen
für Aristoteles beschreibt, so bemerkt er, er habe seine Bücher immer
neben seinem Dolche unter dem Kopfkissen liegen gehabt 4. Von der
Ermordung des Kaisers Domitian berichtet ein Augenzeuge, er habe bei
der ersten Wunde einem dienstbaren Knaben befohlen, ihm den unter
dem Kopfkissen liegenden Dolch zu reichen. "Er habe aber am Kopf-
ende nichts als den Griff eines Dolches gefunden 5." Helden der irischen
Vorzeit hatten in gleicher Weise das treue Schwert bei sich im Bett. Ein
Dichter fragt die Waffe: Jetzt, wo dein Herr gestorben ist, wer soll dein
Bettgenosse sein 6 ? Die alten Kämpen hatten wohl zu dieser Vorsicht
allen Grund.
Geld und Schmuck wird heute noch, nicht nur von Bauern, im Schlaf-
zimmer aufbewahrt, Geldkasten stehen schwer und wuchtig unter allen
Betten auf dem Lande. Hausfrauen meinen, daß der Wäscheschrank ein
Idealversteck sei, an das der Dieb im Traum nicht denkt. Das obere
Stockwerk, wo die Menschen schlafen, scheint erhöhte Sicherheit. Doch
klettern ganz besonders gerne junge Menschen 7, sie steigen ein, mit oder
ohne Hilfe einer Leiter, an Blitzableitern, Obstspalieren, Regenrinnen.

1 SARTORI: Sitte und Brauch, Bd. Ir, S.I77. Leipzig 1911.


2 HIS, S.41. - ,,0 mordet nicht den heil'gen Schlaf!" mahnt Gordon in Wallen-
steins Tod, V, 5.
3 Das Dekameron, Fünfter Tag, VI.

4 PLUTARCH, Alexander 8.

5 SUETON, Domitian 17. Erst dachten die Verschworenen daran, den verhaßten
Kaiser im Bad oder bei Tisch zu ermorden.
6 THURNEYSEN, R.: Die irische Helden- und Königssage bis zum 17. Jahrhundert,
S.417. Halle 1921.
7 Mein Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 129, gibt den statistischen Beweis.
Die Wohnung und umschlossene Räume 359

Sie dringen ein, sind ohne Sorge, wenn Besitzer schlafen, mit Kopf und
Kissen ihre Schätze decken 1.
Daß eine lange Reihe von Sittlichkeitsdelikten im Schlafzimmer
begangen werden, bedarf keiner besonderen Betonung, freilich stellen
Tatorte wie Hotels, Wohnwagen, Zelte und Räume in öffentlichen
Häusern Spielarten dar, die vom Schlafzimmer einer privaten Wohnung
abweichen. Die Wohnküche ist häufig mit einem Sofa ausgestattet, auf
dem nachts eines der Familienmitglieder schläft. Möblierte Zimmer, die
vermietet werden, sind durchwegs Schlafzimmer. Dem Mieter ist die
Nähe zugespielt, die zusammen mit wirtschaftlicher Überlegenheit
öfter mißbraucht wird als man weiß. In Mordverfahren werden länd-
liche Verhältnisse erwähnt, die Knechten und anderem Gutspersonal·
Neigung zu weitgehenden Freiheiten zuschreiben. In dem erwähnten Fall
des Mörders Duwe (Braunschweig 1893) kam zur Sprache, daß man
anfangs einen Kreis von Verdächtigen durchgekämmt hatte. Neben dem
Täter, der das Kind im Bett erstochen hatte, wurde auch ein Schäfer
untersucht. "Gegen Frömlich" schreibt der Bericht 2 , "wurde geltend
gemacht, daß er häufig mit Helene allein im Schafstall gewesen war,
ihr auch wohl früher einmal Leckereien geschenkt hatte, daß er ferner
auch hin und wieder Mägden des Hofes und sonstigen weiblichen Personen
vor die Schürze gefaßt und in ähnlicher - bei ländlichen Verhältnissen
nicht auffallender - grob sinnlicher Weise mit ihnen Scherz getrieben
hatte 3 ." Besonders für Inzest, Kinderschändung und homosexuelle
Handlungen kommt das Schlafzimmer als Tatort in Frage, weniger für
Notzucht, gar nicht wegen des Tatbestandsmerkmals der Öffentlichkeit
bei Erregung geschlechtlichen Ärgernisses (§ 183 StGB), soweit das
Fenster nicht Verwendung findet. Wenn Vorschubleisten die Verbesse-
rung der objektiven Bedingungen für die Unzucht bedeutet, so ist der
Hauptfall der "Gewährung oder Vermittlung von Gelegenheit" die
Hergabe eines Raumes. Auch wenn man solche Räume in der Mehrzahl
der Fälle Absteigequartiere nennt, so sind es durchwegs technisch
"Schlafzimmer", auch wcnn nicht geschlafen wird. Bei der Begehung von
Kuppelei durch Unterlassung kommen regelmäßig Schlafzimmer in Frage.

1 In meinem Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 149 ist ein solcher nächtlicher An-
griff im Schlafzimmer eines gewerbsmäßigen Spielers ausführlich beschrieben.
2 Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S. 109.
3 "Irgend etwas anderes", wird uns an dieser Stelle gesagt, "lag aber gegen den
als bieder bekaunten 50jährigen Mann nicht vor, und direkt gegen seine Täterschaft
schien zu sprechen, daß er gerade den Tod seines Bruders erfahren hatte, am
Mordtage den Totenkranz für diesen nahen Verwandten bestellen und am folgenden
Tag ihm das Grabgeleite geben wollte. Daß der alte Frömlich eine solche Bestie sei,
die in der geschilderten Zeit, wo die Leiche des von ihm geliebten Bruders noch
über der Erde stand, den schrecklichen Mädchenmord hätte vollbringen können,
glaubte niemand." - Ist diese Seelenkunde völlig überzeugend?
360 Topographie der kriminellen Handlung

Beim Morde spielt das Schlafzimmer eine Rolle, die selbst dann auf-
fallend groß bleibt, wenn man die unbekannten Mörder mitzählen
könnte, die in keiner Statistik auftauchen. 17,7% aller im Jahre 1934
registrierten deutschen Morde wurden im Schlafraum begangen; in der
Gruppe der bedeckten oder umschlossenen Räume, machten sie 30%
aus!. Bei den in Philadelphia untersuchten Tötungen trat die große
Verschiedenheit der männlichen und dcr weiblichen Opfer hervor:

Tatort "Schlafzimmer" nach Ge8chlecht der Opfer*


(Philadelphia 1948-1952)
Sämtliche Tatorte . . . . 100 Männer, 100 Frauen
Schlafzimmer als Tatort.. 14,3" 34,5"
* WOLFGANG,a.a.O., S.123.
Der Schlafraum ist vor allem für die Frau gefährliches Gebiet.
Von Ehefrauen wurden 45 %, von Ehemännern nur 23 % im Schlaf-
zimmer getötet 2 • Erschlagen herrschte bei den Weißen vor. Für einen
Rückschluß sind die Zahlen noch zu klein.
Im Schlafzimmer halten sich Ehepaare, alleinstehende Frauen und
alleinstehende Männer auf, und diese etwas äußerliche Einteilung ließe
sich vielleicht für den ganzen Gang der Untersuchung durchführen.
Raubmorde an schlafenden Ehepaaren sind nicht häufig, dagegen
kommen sie an einsam lebenden Menschen verhältnismäßig häufig vor.
Ein Sondertyp sind Eremiten. Die Fälle reichen vom frühen Mittelalter 3
bis zur Neuzeit. Berühmt ist der Mord an dem Eremiten von Ohamb1es
(1891) durch den Anarchisten Ravachol. 4 Mittags stieg Ravachol durch
den Keller in die hoch auf dem Berg gelegene Klause ein und traf den
alten Mann im Bett. Er erwürgte den 90jährigen. Der Mörder nahm
35000 Francs in Gold- und Silbermünzen mit. Er schätzte die Last auf
25-30 Kilogramm, ging in das Dorf, aß gut zu Mittag, um gestärkt den
Rest der Beute wegzuschleppen. Der Fall erweist besonders deutlich
den Widerspruch von völliger Isolierung, Wehrlosigkeit und aufgehäuf-
ten Schätzen, die das Gespräch der Landbevölkerung waren.
Öfters noch als auf einsame alte Sonderlinge 5 , die auf einem Hort
von Wertobjekten sitzen, sind die angeblich reichen alten Frauen
Opfer eines Mordes. Es ließe sich eine Soziologie dieser Typen schreiben.
Sie legen dem Mörder einen ausgesuchten Tatort hin, zu dem psycho-

Reichskriminalstatistik, Bd. 507, S. 34ff.


1
WOLFGANG, MARVIN E.: Husband-wife homicides, Journal of Social Therapy
2
1956, Vol. II, No. 4 (Sonderabdruck ohne Seitenzahl).
3 Siehe den Mord an dem Einsiedler Meynrad (Zürich 1863). WETTSTEIN: Ge-
schichte der Todesstrafe im Kanton Zürich, S. 5. Winterthur 1958.
4 BATAILLE: Crime de 1892, S.46ff.
5 Siehe WOSNIK, Bd. II, 3, S. 148; BATAILLE: Crimes de 1894, S.30Uf.
Die Wohnung und umschlossene Räume 361

logische Momente, die Wohnung im Erdgeschoß, die Abkapselung von


der menschlichen Umgebung, der extreme Geiz, die Neigung zu wuche-
rischen Ausleihungen, das frühe Zubettgehen ohne Licht und Heizung
und - damit zusammenhängend - das kompakte Einwickeln in Decken
und andere Wärmespender, gehören. Es ist kein Zufall, daß es sich
zumeist um Witwen handelt!, die keine Freunde haben, haben wollen,
mit den Verwandten nicht verkehren. Die Geistesschwäche zeigt sich
in der Abkehr von der Welt der anderen Menschen. Die Nähe scheint
bedrohlich, weil der Umgang etwas kosten könnte, auch Einblick in den
Reichtum geben würde, auf dem sie voller Furcht und Argwohn sitzen.
Konfliktsmorde haben eine eigenartige Affinität zum Schlafzimmer 2 ,
wenngleich der Verdacht der Polizei und der Umgebung sich beinahe
automatisch auf Verwandte richtet. Es werden daher regelmäßig
Vorkehrungen der Verdachtsablenkung getroffen 3: Selbstmordkulissen
werden aufgebaut, ein Unfall oder natürlicher Tod wird vorgetäuscht,
das uralte Märchen von den "Räubern" wird aufgetischt und inszeniert,
die Beute suchten und getötet haben. Man braucht nur eine Anzahl
Vater-, Mutter- und Gattenmorde durchzuprüfen, um Ähnlichkeiten
anzutreffen, die sich eintönig wiederholen. Die Frau, die bei dem
Überfall davonkam, ist gefesselt, der Mann ist tot, erschlagen oder auch
erwürgt. Die Räuber werden immer in der gleichen Art beschrieben,
ausländisch, mit dem Stechblick und der Hakennase, entnommen einem
Vorrat alter Teufelsbilder.
Beim "Selbstmord" wird daran gedacht, daß er nicht oft im Schlaf-
raum statt hat. Das Opfer wird zur Tür im Nebenraum geschleppt. und
hier an einem Griffe festgeknotet. Manchmal wird Unfall oder Schlag-
fluß vorgetäuscht 4, in anderen Fällen wird die Leiche aus dem Bett
gehoben und mühevoll an einen fernen Punkt getragen 5 • Mit plumpen
Mitteln wird ein Einbruch vorgetäuscht 6 • Die Gattenmörder handeln
oftmals nicht allein 7 ; sie lassen den Geliebten in das eheliche Zimmer zu
später Nachtzeit ein, wo er die schwere Arbeit tut, die einer Frau nicht
1 Mord an der Witwe Jacobi (Coburg 1844), Neuer Pitaval, Bd. XXVI, S. 178.
Mord an der Witwe Spillner (Potsdam 1855), Neuer Pitaval, Bd. XXVII, S. 184ff.
Mord an der Witwe Dellbrück (Sachsen 1855), Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 97ff.
2 Auch der Kindesmord der Wöchnerinnen ist an den Schlafraum gebunden.
Siehe Neuer Pitaval, Bd. XXXV, S. 332. Leipzig 1872.
3 Darüber siehe meinen Mord, S. 244ff.
4 Nicht selten mit Erfolg. Deckbett, Kopfkissen und Bettuch waren in einem
Fall glattgestrichen und in der besten Ordnung. Zeugen sagten später: "So ruhig
stirbt niemand, auch am Schlagfluß nicht." Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 133.
5 Vatermord Eckenbeck, Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S.204ff.
6 Schwesternmord Fukatsch, Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S.143ff.
7 Fall SteinheiJ, MICHEL CHRESTIEN: L' affaire Steinheil, Paris 1958 (Freispruch) .
Fall Keller-Meder, Neuer Pitaval, Bd. XXXII, S.285. Mordfall Gray-Snyder:
QUINBY, IONE: Murder for love, S.9ff. New York 1931.
362 Topographie der kriminellen Handlung

leicht gelingen würde, ganz nach dem Vorbild der Geliebten, die Mör-
dern ihres Freunds die Türe öffnet!. Wenn "Räuber" wirklich kommen,
können sie gedungen sein, den kranken Ehemann im Bett erledigen,
indes die Frau betont an anderem Ort ein sicheres Alibi beschafft 2 • In
vielen Fällen sind andere Mordpläne vorangegangen und gescheitert.
Johann Schneider, dessen Geschichte als Mörder seiner Ehefrau FEUER-
BACH geschildert hat 3, wollte sie schon 8 Tage vor dem Schlafzimmer-
mord ums Leben bringen. Er wollte ihr im Forst auflauern und sie
erschlagen. In Mordgedanken versunken, wartete er auf das Opfer. Da
sie ihn jcdoch sehr lange auf sich warten ließ, so bekam er Zeit sich zu
erinnern, "daß sein Weib noch nicht gebeichtet habe und daß ihre Seele,
wenn sie schnell in Sünden dahinstürbe, möchte verloren gehen (eigene
Worte des Inquisiten)." Erst als sie gebeichtet hatte, erschlug er die
Frau, die, einen Säugling neben sich, nichtsahnend im ehelichen Bette
schlief. Den Tag zuvor war er besonders nett zu ihr gewesen 4 •
Vielfache Erfahrung lehrt, daß Vater-, Mutter- oder Gattenmörder
sich scheuen, das Opfer im Bett liegenzulassen. Sie bringen die Leiche
in irgendein Versteck außerhalb des Hauses, sie vergraben sie im Keller,
oder sie schleppen sie in einen Nebenraum, um Kampf mit Eindring-
lingen oder Selbstmord vorzutäuschen. Bisweilen wird das Opfer auch
im Schlafraum herumgetrieben oder herumgeschleppt, liegt abseits auf
dem Boden 5. Ist es im Hemde wie die Herzogin von Praslin, so muß die
erste Phase des Angriffs sich im Bett abgespielt haben. Bißwunden an
den Händen des Ehemanns beweisen, daß er ihr sehr nahe war 6 • Mehr
als 30 "große und tiefe Wunden" verraten neben Würgemalen die exzes-
sive Stärke des Affekts, die "Räuber" Frauen gegenüber kaum beseelt.
Auch dringen Diebe nicht in Häuser ein, wenn es im Sommer kurz vor
5 Uhr gerade hell wird.
Das Schlafzimmer ist auch gewöhnlich Tatort, wenn ein Familien-
mord sich abspielt, ein Depressiver Frau und Kinder aus der Welt
schafft und dann sich selbst das Leben nimmt. Zum Angriff kommt es,
wenn die Nichtsahnenden zur Ruhe gegangen sind. Sie werden meist im
Bette überrascht; fremde Kinder, die mit den eigenen zusammen-
schlafen, bleiben unberührt7. Die Frau ist erstes Ziel des Überfalls.

1 Fall Lackner (Reval 1865). Neuer Pitaval, Bd. IX, S. 62ff.


2 BAYER, O. W.: Cleveland murders, S.83ff. New York 1947.
3 FEUERBACH, Bd. I, S. 130.
4 Siehe meinen Aufsatz: PremurderoUs kindness and post-murder grieJ, Am.
Journal of Criminal Law, S. 369-377, 1957 und auch den Muttermord Fox
bei JESSE, F. TENNysoN: The trial oJ Sidney Harry Fox, S. 21ff. Edinburgh 1934.
6 Fall des Herzogs von Praslin (Paris 1847), Neuer Pitaval, Bd. XIV, S. 222ff.
6 Ebenda, S. 372.
7 Fall des Kandidaten Rüsau (Hamburg 1803), Neuer Pitaval, Bd. XIX, S 407.
Die Wohnung und umschlossene Räume 363

Das liebste Kind wird meist zuletzt getötet. Holzwart 1 erklärte:


"Wenn es nicht ein Werk der Liebe gewesen wäre ... so würde mir der
Mut gewiß gesunken sein, als ich endlich mein liebstes, mein jüngstes
Kind aus dem Bettchen emporhob, um es seinen Geschwistern in die
Ewigkeit nachzusenden. Das Kind schlief fest, aber vielleicht im Ge-
fühle, daß ich es sei, der es emporhob, schlang es seine Arme um meinen
Hals - ich küßte es wiederholt auf Stirn, Mund und Augen - nur der
Gedanke, ,wir gehen zusammen', konnte meinen Schmerz bei diesem
Abschied bewältigen."
Eigentümlicherweise will es scheinen, als ob mit der Gewalttat die
ungeheure Spannung des depressiven Drangzustandes locker würde.
Rüsau macht nach der Tat schwächliche Versuche, sich zu ertränken,
schneidet sich in Hals und Handwurzeln, versetzt sich einen leichten
Stich. Er fühlte nun "mit erschütternder Angst, daß die göttliche Vor-
sehung ihn seinen Richtern lebendig überliefern wolle 2." Auch Holz-
wart bringt sich tiefe Schnitte bei, dann scheint sein Arm "plötzlich wie
gelähmt und zurückgehalten 3 ." Manchmal dreht der Täter den Gas-
hahn an. Frau und Kinder ersticken. Er fällt aus dem Bett, atmet auf
dem Boden weniger Gas ein und wird gerettet 4. In allen Fällen ist es
Nacht, sind Schlafzimmer und andere nahe Räume der Tatort, in die die
Opfer aus dem Bett gerissen, gezwungen oder verlockt worden sind.
Im Falle Rasch war es die Küche 5.
Den Menschen, die durch Alter und Entfremdung von den Freunden
schwach geworden sind 6, stehen Kranke gleich. Sie sind auf die Nah-
rungszubereitung und Medizineingabe fürsorglicher Personen ange-
wiesen. Von Giftzuführung abgesehen, ist die Aufsicht über Wert-
objekte dem, der krank im Bett liegt, eingeschränkt. Diebstahl im
Schlafraum ist nicht selten vorgefallen. Die Bürgermeisterstochter Grete
Beier stahl ihrem Vater Geld und Sparbuch aus dem Krankenzimmer 7 •
In einfachen Verhältnissen ist die Küche ein Raum, in dem gekocht,
gegessen und geschlafen wird. Sie ist kein seltener Tatort beim Inzest.
1 Fall Holzwart (Magdeburg 1845) Neuer Pitaval, Bd. XXV, S.121.
2 Neuer Pitaval, Bd. XIX, S. 411. - In einem amerikanischen Falle werden
Frau und 4 Kinder in ihren Betten getötet, wird der Täter mit abgeschnittenem
Kopf in einem Vorraum vorgefunden. Der Fall blieb ungeklärt. HAMER, ALVIN
C.: Detroit murders, S.92. New York 1948.
3 Neuer Pitaval, Bd. XXV, S. 89. - Begnadigt verübte Holzwart im Zucht-
haus Selbstmord.
4 MURALT, L. VON: Über Familienmord, Monatsschrift, Bd. II (1906), S. 89 und 91.
5 Fall des Gerichtsvollziehers Rasch (Berlin 1856), Neuer Pitaval, Bd. XXV,
S.193. - Die Opfer waren im Hemd; die Betten waren ohne Blutflecke. Eine Er-
klärung war Sparsamkeit und Schonung der guten Betten.
6 Siehe den Mord an dem alten Millionär Rice. New York murders, S.226.

7 Pitaval der Gegenwart, Bd. V, S.213; dazu der Fall Dr. Demme, Neuer
Pitaval, Bd. VIII, S. 225ff.
364 Topographie der kriminellen Handlung

Bei Männern, die nur einen Schlaf- und Kochraum haben und die alleine
wohnen, spielen sich Exzesse ab, die manchmal bis zum Morde führen l .
In den Vereinigten Staaten töten Neger ganz besonders häufig in
der Küche, so daß man fast
Die Küche als Tatort * vom Tatort kleiner Leute
(Philadelphia, verglichen mit Schlafraum) sprechen könnte.
In der Küche tötet die
I Ehemann von der Ehefrau vom
Ehefrau getötet Ehemann getötet
Frau, im Schlafzimmer

~~
Schlafzimmer 24 bringt der Mann um. Von
Küche . . . I I 10 einer andern Seite her läßt
* WOLFGANG: Husband-wife homicides, Journal sich das Problem noch
of Social Therapy, Bd. II, Nr. 4, ohne Seitenzahl. schärfer formulieren.

Eheliche Konflikte nach Schlafzimmer und Küche *


(Philadelphia)
Von 53 Ehefrauen wurden im Schlafzimmer getötet . 45 %
Von 47 Ehemännern wurden im Schlafzimmer getötet 23%
Von 53 Ehefrauen wurden in der Küche getötet . . _ 19%
Von 47 Ehemännern wurden in der Küche getötet. . 41 %
* WOLFGANG: Husband-wife homicides, Journal of Social Therapy, Bd. II,
Nr. 4, ohne Seitenzahl.

Bei der Tötung der Ehemänner spielte das Küchenmesser eine be-
sondere Rolle, begreiflicherweise, denn Küchen sind das Arsenal der Frau.
Beider Eheleute, der Küche angehörige Waffe ist der Gashahn 2_
Viele Fälle verschwinden unter dem Deckmantel von Fahrlässigkeit,
Unfall (Gasrohrbruch) oder Selbstmord. Die hohen Selbstmordzahlen
mit Leuchtgas und die zahlreichen "Unfälle" würden bei genauer
kritischer Nachprüfung zu überraschenden Ergebnissen führen 3. Neben-
bei ist der Steinfußboden der Küche kein schlechtes Versteck 4 ; sie ist zu-
dem der Raum, in dem es immer etwas riecht.
Schon bei Schlafzimmer und Küche fallen nicht selten Tatort und
Fundort auseinander 5. Viel seltener findet bei Keller und Boden eine
Trennung statt. Der Keller dämpft Geräusche, ist abgelegen, wirkt wie
eine Gruft. Wenn man das Opfer nicht aus Zufall im Keller antrifft,
Siehe die Tatortbilder von Mordküchen bei HEINDL, S. 181, 201 und 233.
1
Kriminalistische Monatshefte 1929, S.160. - SCHuLTZ,KARL: Versicherungs-
2
mord, S. 102. Hamburg 1956. - Über einen unrichtigen Totenschein nach Gasmord
s. CRANE, MILTON: Sins of New York, S. 207. New York 1947.
3 Kriminalistische Monatshefte 1929, S. 225.
4 Fall Manning (London 1849), Neuer Pitaval, Bd. XV, S.295. Leipzig 1860.
5 So werden Opfer an einem anderen Platz der Wohnung getötet und dann
unter dem Bett verborgen. Erwachsene müssen zu diesem Zwecke erst zerstückelt
werden. Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S. 52; Bd. VII, S. 2 (Fall der Francisca
Klein, Wien 1904).
Die Wohnung und umschlossene Räume 365

wenn man es nicht durch Trick dazu verlocken kann, hinabzukommen


und sich dem Mörder auszuliefern, so wird der Keller meist auch zum
Verstecke dienen. Wir kennen eine große Anzahl solcher Fälle, die
Technik des Vermauerns und Vergrabens. Ich fürchte, daß noch viele
unbekannte Tote sich unter Zimmerböden und in Kellern bergen. Das
Kellerdunkel deckt daneben manche Sittlichkeitsverbrechen, vor allem
Kinderschändung 1 . Bei GRASSBERGER und seiner Statistik homo-
sexueller Tatorte findet sich der Keller in einer Sammelgruppe, zu-
sammen mit Haushof, Stiegenhaus und Waschküche 2 • Seltsamerweise
ist der lesbische Prozentsatz höher, doch warnt die kleine Zahl vor
raschem Rückschluß.
Kellermorde oder Tötungen, an deren Ende das Versteck im Keller
steht, werden fast immer durch Erschlagen vorgenommen. Drei Jahre
nach der Tat wurden im Keller einer Kretscher Villa in Böhmen die
Leichen zweier junger Leute aufgefunden 3. In diesem Hause hatte sich
ein ungarisches Liebespaar eingemietet. Die Gärtnersleute der Villa
hatten die jungen Menschen durch Beilhiebe getötet und ausgeraubt.
"Hernach hatten sie die Kleider der Toten mit Stroh ausgestopft und diese
Puppen in der Dämmerung mit einem Wagen weggefahren, damit die
Nachbarschaft die Abreise der beiden Fremden sehe." Warum wohl
Brüderpaare oft in Kellermorde verwickelt sind? Der jüngere der Brü-
der Streicher hatte einen Gläubiger gebeten, mit ihm in den Keller zu
gehen, um eine Zahlung in Empfang zu nehmen, die er ihm nicht vor
allen Leuten leisten wollte. Erst preßten hier die Brüder eine Quittung
unter Todesdrohung ab, dann kam der Hieb mit einem schweren Beile,
der Tod und die Verscharrung 4 • - Die Brüder Blömer lockten einen
nervenkranken pensionierten Offizier in den Keller, indem sie gegen
Fässer schlugen. Mit Beil und Hammer wurde er erledigt, zerstückelt
und auf einem Feld bcgraben 5 • - Wo Henry Wainright (London 1874)
die frühere, lästig gewordene Geliebte erschoß, blieb unklar. Es mußte
nach der Rechtsbelehrung des Richters der Lagerraum gewesen sein,
in dem sie lange Zeit begraben lag 6 • Bei dem Versuche, die Reste in ein
besseres Kellergrab zu überführen, wurde er ertappt; sein Bruder hatte
ihm von Anfang an geholfen. - Arnold Walder erschlug in Paris seinen
Chef, einen Apotheker, und die Gehilfin, die im Keller Strohhüllen von
Flaschen abstreiften. Es war ein Sonntag, alles war ins Freie ausge-
flogen. Der Täter wurde nie gefaßt 7.
1 Zahlenangaben bei WESSEL, S. 16, IRNIG, S. 13, BRANDENBURG, S. 20.
2 GRASSBERGER: Sittlichkeitsdelikte, a.a.O., S.5.
3 KISCH, E. E.: Marktplatz der Sensationen, S. ll7. Berlin 1953.
4 Neuer Pitaval, Bd. IX, S. llO. Leipzig 1874.
5 Pitaval der Gegenwart, Bd. H, S. 149ff.
6 IRVING, H. B.: The Waimights, S. 29. Edinburgh 1920.
7 BIRMINGHAM, GEORGE A.: Murder most jaul, S.457. London 1929.
366 Topographie der kriminellen Handlung

Im Falle Crippen hatte die Polizei das Haus vom Boden bis zum
Keller abgesucht und nichts gefunden. Verdacht kam wieder auf,
nachdem der Arzt den Kopf verloren hatte und heimlich abgereist war.
Der Kohlenkeller wurde neu durchstöbert. Am dritten Tage schien ein
Ziegel in dem Kellerboden etwas locker. Es wurde nachgegraben. Reste
eines Körpers kamen an die Oberfläche. Es fehlten Glieder, Kopf und die
Sexualorgane. Das Schwurgericht entschied, daß es die Überreste
Cora Crippens waren l . - In dem vielumstrittenen Morde eines 14jäh-
rigen Mädchens in Atlanta (1913) war das Kind in einem Büroraum
getötet und in den Keller gebracht worden. Der zum Tode verurteilte
Täter wurde begnadigt, im August 1916 von der erregten Menge, die in
das Strafanstaltsgebäude einbrach, gelyncht 2.
Der Speicher bietet nicht die gleichen Möglichkeiten des Versteckens
wie der Keller 3 • Auch ist es nicht so leicht, zum Aufstieg zu verlocken.
Doch ist der Boden oft in irgendeiner Form bewohnt. Man hängt hier
Wäsche auf und speichert Holz wie Kohlen. Hier können alte Frauen
überfallen werden 4. Mansardendiebe dringen in die unbewachten Zimmer
ein 5. Lüsterne Männer stellen kleinen Kindern 6 nach. In der Küche oder
der Wohnstube untertags Erwürgte werden bei Nacht zum Speicher hoch-
geschleppt. Dazu gehört ein menschenleeres Haus, ein kurzer Treppenweg,
ein kräftiger Täter und ein leichtes Opfer. Im Falle Rauschmaier war am
Karfreitag jeder Hausbewohner in der Kirche 7 • Frau Lotz (Offenbach
1905) erdrosselte ein kleines Mädchen, das sonntags Gelder einkassieren
kam. Die Leiche barg sie stümperhaft in einer dunklen Speicherecke 8 ;
noch war der Strick anklagend um den dünnen Kinderhals geschlungen.
Dachstuben isolieren, weil über ihnen niemand wohnt. Haarmann
bewohnte eine solche "Mansardenhöhle". Beim Einzug bedeutete er den
Mitbewohnern, daß er sehr sauber und "apart" sei 9 , daher das Klosett,
1 YOUNG, FILSON: The trial of H. H. Grippen, S. 31. Edinburgh 1920.
2 MINOT, S. 216ft
3 Siehe die Fälle: FRIEDLÄNDER, Bd. II, S. 48; WATTLER, S.31 (Einmauern)
und L08 Angele8 murder8, S.209 (Vergraben unter Kellertreppe).
4 WOSNIK, Bd. II, 1, S. 36.
5 Diese "Dachmarder" werden beschrieben von Luz: Da8 Verbrechen in der
Dar8tellung de8 Verbrecher8, S.67. Heidelberg 1927.
6 WESSEL, S. 16.
7 FEUERBACH, Bd. II, S. 266ft Die Frau wurde später zerstückelt, der Kopf in
den Lechkanal geworfen.
8 Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S.38ff. - Infolge der Kamine war der
Winkel schwer zugänglich. Die Täterin leuchtete hin und sagte zu dem Polizei-
beamten: "Sie sehen ja, dort ist auch nichts, es ist ganz leer." Der erste Blick
der Polizei fiel auf zwei Kinderfüße.
9 LESSING, THEoDoR: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolf8, S.99. Berlin
1925. - Haarmann gab zu, den Opfern den Hals durchgebissen zu haben, "zugleich
(habe ich) wohl auch mit den Händen gewürgt und gedrosselt". Dann folgte die
Zerstückelung, deren Technik bei LESSING (S. 139f!.) beschrieben ist.
Die Wohnung und umschlossene Räume 367

das man zu fünf Parteien gemeinsam benutzte, "nicht besuchen, sondern


seinen Eimer dorthin tragen werde ... man sah ihn nun alle Viertel-
stunde mit einem verdeckten Eimer zu dem ewig verstopften Klosett
und dann zu der im Flur liegenden Wasserleitung gehen, wie er denn
unaufhörlich in seinem Zimmer ... wischte und schrubbte." In diesem
Zimmer wurden, vorsichtig gerechnet, zwanzig Morde ausgeführt.
Dem Vergraben im Keller treten andere Arten des Verstecks zur
Seite. Dazu gehört der Schutt, wie er sich unter manchen Böden häuft.
Die Sicherheit vor Entdeckung ist von der Fortdauer der Herrschaft
über die Wohnung abhängig. Auch kann nicht gut an anderer Stelle als
im Erdgeschoß vergraben werden. Im Falle Christie (London 1953)
zeigen die Tatortbilder 1 die verschiedenartige Technik des Begrabens.
Christie war vom Jahre 1939-1943 Reserve-Polizeibeamter gewesen und
ähnlich Haarmann dadurch dem Verdacht entgangen. Er galt als
tüchtiger Beamter und wurde zweimal öffentlich belobt2. Zwei weitere
Frauen hatte Christie in einer Gartenecke begraben 3. In der Stadt wird
ein solches Versteck untunlich sein, wenn nicht, wie im Falle Haigh 4, die
Leiche in einem Säurebad vernichtet und die Chemikalien im Garten
weggegossen werden. Einfacher liegen die Verhältnisse auf dem Lande.
Der Heiratsschwindler Dugal konnte die Leiche der Camille Holland in
einem Entwässerungsgraben seines und ihres Hauses verscharren, ihn
zufüllen lassen und Bäume darauf pflanzen 5. Vier Jahre blieb die Untat
nicht entdeckt. - Zwei Frauen sind durch ihren Privatfriedhof im
Garten in die Kriminalgeschichte eingegangen. Louise Peete 6 ermordete
erst einen Mann, den sie im Keller unter einem Erdhaufen verbarg.
Wegen Mordes verurteilt, wurde sie nach 19 Jahren auf Wohlverhalten
entlassen. Ein Jahr darauf tötete sie eine Frau und vergrub sie im
Garten, ohne daß sieben Monate lang die Leiche gefunden wurde. Es
war ein Argument des Pflichtverteidigers, daß eine Täterin niemals die
gleiche Methode der Verbergung wählen würde. Doch war der Ein-
wand wenig überzeugend, zumal die Opfer beidesmal von hinten her
erschossen worden waren. - Belle Gunness von Indiana vergrub die
Opfer - mehr als 15 Männer und Kinder - in ihrem Garten, den sie mi1
einem hohen Zaun versehen hatte. Dem Bruder eines Vermißten war
aufgefallen, daß im Garten weder Gemüse gepflanzt noch Hühner
1 CAMPS, FRANCIS E.: M edical and scientific investigations in the Christie case,
S.3ff. London 1953.
2 Ebenda, S. 183. 3 Tatortbild ebenda, S. 13.
4 Das Geständnis (London 1949) findet sich bei HosKINs, PEROY: No hiding
place, S. 101. London o. D. - In der weggegossenen Säuremasse hatten sich noch
3 Gallensteine, einige Knochen, das Gebiß, der Griff einer Handtasche aus Kunst-
stoff und eine Lippenstifthülse erhalten (ebenda, S. 102).
5 JESSE, TENNYSON F.: Trial of Samuel Herbert Dugal, S. 38. Edinburgh 1928.
6 RIOE, CRAIG: Los Angeles murder8, S.201. New York 1947.
368 Topographie der kriminellen Handlung

gehalten wurden. Er fing zu graben an. Er stieß nach kurzer Zeit auf
einen Schädel. Es war sein Bruder, der verschwunden war, erkenntlich
an dem roten Schnurrbart!. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß der
Täter einen Toten im fremden Garten zu verstecken sucht. Das ist der
große Nachteil eines solchen Tatorts 2 • Er deutet auf den Mörder hin.
Wenn alle Gärten sorgsam umgegraben würden, es würde mehr als ein
Geheimnis an das Licht des Tages kommen.
c) Badezimmer und Toilette nehmen im Rahmen der Wohnung einen
gesonderten Platz ein. Das Badezimmer kann fehlen, der Abort kann
außerhalb des Hauses liegen oder mehreren Hausbewohnern gemeinsam
sein und damit zu einer zugänglichen, halböffentlichen Örtlichkeit
werden. Im Badezimmer wie auf der Toilette schließen wir uns während
der Benutzung ein, ohne daß diese Vorsicht auffällt. Geschlechter sind
getrennt. Wir ziehen unsere Kleidung aus, bevor wir baden. Wir
lockern sie auf der Toilette. Daß wir allein sind, macht uns wehrlos,
auch daß die Orte meistens etwas abgelegen sind, entsprechend ihrer
Zweckbestimmung und den Regeln der Hygiene. Zwar wäre sachlich
die Zerlegung angebracht in ganz private Räume und in Bäder und
Toiletten, die jedem der Besucher zur Verfügung stehen. Doch sollen
alle außen gleichgeformten, innerlich verschiedenen Tatortvarietäten
zu gleicher Zeit behandelt werden.
Klytämnestra ermordet den heimkehrenden Gatten im Bade, indem
sie ein Netz über ihn wirft und mit dem Beile zuschlägt 3. Von den
Plänen, Kaiser Domitian im Bade zu ermorden, sprachen wir bereits 4 •
Auch dem Kinder- und Hausmärchen ist die heimtückische Tötung im
Bade nicht fremd; hier ist es der Erstickungstod:
"Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein schönes Knäblein
zur Welt gebracht hatte und der König gerade auf der Jagd war, nahm die alte
Hexe die Gestalt der Kammerfrau an, trat an die Stelle, wo die Königin lag und
sprach zu der Kranken: ,Kommt, das Bad ist fertig, das wird euch wohltun und
frische Kräfte geben; geschwind, ehe es kalt wird.' Ihre Tochter war auch bei der
Hand, sie trugen die schwache Königin in die Badestube und legten sie in die Wanne.
Dann schlossen sie die Tür ab und liefen davon. In der Badestube aber hatten sie
ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß die schöne junge Königin bald ersticken
mußte 5."
QUlNBY, IONE: Murder for love, S.318ff. New York 1931.
1
Auch die körperliche Leistung ist bedeutend, dafür kann man auf eigenem
2
Grund die Grube lange vorbereiten. Siehe WmTEHEAD, DON: The F.B.I. story,
S. 244, 1956. Es war der Garten der Mittäterin.
3 EURIPIDES: Elektra 157; AESCHYLos: Agamemnon 1109, 1382. - Bisweilen
wurde auch im Bad geschlafen; PLUTARCH: Alexander 76. - Bei TACITus (Ann. XIV,
69) kommt eine Tötung vor, als einer sich zu Übungen entkleidet hatte ("nudus
exercitando corpori").
4 SUETON: Domitian 17.
5 Kinder und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder GRIMM, Vollständige
Ausgabe, S. 86. München 1949.
Die Wohnung und umschlossene Räume 369

Wie der Heiratsschwindler G. J. Smith es fertigbrachte, drei seiner


Frauen, eine nach der anderen, in einer Badewanne zu ertränken, ob er
mit einem plötzlichen Ruck die Füße hochzog oder den Kopf unter
Wasser hielt, ist niemals mit Sicherheit festgestellt worden!. - Eine
kalifornische Tötung im Bade endete erst mit einer Verurteilung zum
Tode, dann mit der Einstellung des Verfahrens 2 • - Weil die vergiftete
Frau - man hatte sie von einer Klapperschlange beißen lassen - nicht
schnell genug starb, wurde sie erst in einer Badewanne ertränkt, die
Leiche dann in einen nahen Teich geworfen 3. Bei Familienmorden
kommt es vor, daß die Frau erschlagen, die kleinen Kinder in der
Badewanne ertränkt werden wie junge Katzen. Am 11. Juli 1957
wurde ein 5ljähriger Milchhändler in Fürth verurteilt; er hatte seine
badende Frau durch eine 220-Volt-Platte getötet, die er unter dem Vor-
geben, er wolle ihr beim Waschen helfen, fest auf den Rücken preßte 4 •
Die Toilette, in Restaurants und Hotels zu einem Wasch- und
Verschönerungsraum erweitert, ist zum schwarzen Markt zahlreicher
ungesetzlicher Betätigungen geworden. Hier laden Taschendiebe die
Beute an Komplicen ab, wird Hehlerei betrieben, der gestohlene Anzug
umgewechselt 5, treffen sich Spione, geht Rauschgifthandel vor sich,
wandern Bestechungsgelder von Hand zu Hand, geht Schweigegeld an
die Erpresser. Weibliche Beamte von Scotland Yard dringen in die
sonst unzugänglichen unterirdischen Schlupfwinkel ein.
Ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen mit zartem Ebenholz·Teint wird
unter den Beamtinnen ausgewählt. Sie lebt wochenlang fast ausschließlich in den
Damentoiletten um Picadilly herum, um Leicester Square und Charing Cross.
Hier ziehen sich die Prostituierten aus und an. Sie waschen sich, nehmen ein Bad,
wechseln öfters die ganze Unterkleidung, frisieren sich und machen sich so schön
es geht. Sie schwatzen miteinander, erzählen ihre Abenteuer und Erfahrungen,
werden angepumpt und leihen aus.
Um hinter die Rauschgütgeschäfte zu kommen, die hier abgewickelt
werden, muß die Beamtin, zum Schein natürlich, auf den Strich gehen,
Freundschaften schließen, Zutrauen erwecken, bis ihr eines Tages Kokain
angeboten und von ihr gekauft wird. Jetzt kann die Polizei die ganze
Rauschgütgruppe fassen 6.
Jugendliche haben Raubüberfälle in Toiletten zugegeben, wobei
sie meist in Paaren handeln. Sie gehen in die Toilette eines großen
1 BOLITHO, S. 195.
2 LAMSON, DAVID: We who are about to die, S. 325. London 1935.
3 RreE, CRAIG: Los AngeZes murders, S. 194. New York 1947. - Schon eine
andere Frau war vorher in der Badewanne "ertrunken" (ebenda, S. 184).
4 MIELSCH, H.: Unglücksfall oder Verbrechen? Kriminalistik, S.315ff. 1958.
5 Luz, S. 68. Der Dieb geht in die Toilette des Kieler Bahnhofs und zieht sich
um. "Der Anzug paßte ihm wunderschön, und auch der Hut war wie für ihn
gemacht."
6 WYLES, LILIAN: A woman at Scotland Yard, S.76-79. London 1951.

v. Hentig, Das Verbrechen I 24


370 Topographie der kriminellen Handlung

Restaurants, warten bis ein geeignetes Opfer eintritt, stoßen die Pistole
in seinen Rücken und nehmen ihm Geld und Uhr. Ihm wird bedeutet,
fünf Minuten in der Toilette zu bleiben, sonst würde es ihm später
schlecht ergehen 1. Von einer raffinierten Diebstahlstechnik in Damen-
toiletten teilt der Hausdetektiv eines großen Hotels Einzelheiten mit 2 •
Die Täterin verteidigt sich mit lesbischen Vertraulichkeiten; das Opfer
war nicht willig, anzuzeigen.
Die strikte Trennung in Geschlechter verlegt einen Teil des homo-
philen Umgangs in Toiletten. "Viele Verführungen", schreibt CAPRl0 3 ,
finden auf der Damentoilette statt, besonders wenn eine Lesbierin dem
aktiven männlichen Typus angehört." Es kommt sogar vor, daß junge
Frauen überraschend in das Abteil eindringen, die Schenkel der be-
stürzten anderen Frau mit Küssen bedecken und den Cunnilingus ver-
suchen 4. Auch die Kinotoilette wird genannt 5. Im amerikanischen
Verbrecherslang gibt es den Ausdruck: crapperdick, den man mit
Lokus-Bullen übersetzen kann. Das sind die Beamten der Sittenpolizei,
die die öffentlichen Bedürfnisanstalten überwachen. Als Beamte dieser
Funktion überraschen Erpresser die Invertierten, die an keinen Wider-
stand denken können. Für Amerika haben SUTHERLAND 6 , für Frank-
reich MELLOR 7 und für Deutschland KUHN s diesen Tatort besprochen.
In diesem Zwielicht von relativer Unzugänglichkeit und zuge-
lassenem Ort der Zuflucht, der Laster 9 wie Vergehen zart verschleiert,
geschehen Morde, mehr noch Sittlichkeitsdelikte : darunter sind recht
häufig Kinderschändung 10, seltener Inzest ll und Exhibitionismus 12 • Man
wird zumeist an die Privattoilette denken müssen. Dagegen werden
Morde, aus Habgier oder Furcht vor Entdeckung, viel eher in öffent-
lichen Anstalten begangen werden. Ein mit Verrat des Diebstahls
bedrohter italienischer Chorknabe führte den Zeugen auf einen Abort

1 BOWEN, C.: They went wrong, S. 22.


2Siehe meine Kriminalität der lesbischen Frau, S. 65, 66.
3 CAPRIO, FRANK S.: Die Homosexualität der Frau, S. 250. Rüschlikon 1958.
4 Ebenda, S. 250. 5 Ebenda, S. 251. 6 SUTHERLAND, S. 78.
7 MELLOR: Le chantage, S. 106.
8 KUHN: Das Phänomen der Strichjungen in Hamburg, S. 51. - "Die Bauweise
der einzelnen Bedürfnisanstalten ... macht eine längere Beobachtung des Innern
völlig unmöglich." - Aber darin liegt gerade das Zusammenspiel von normaler
Funktion und kriminellem Mißbrauch.
9 Eine ehedem sehr bekannte Schauspielerin schildert die alkoholischen Drang-
zustände, die die Kranken plötzlich überfallen und zwingen, in Torbogen oder
auf Toiletten schnell einen 8chluck zu nehmen. ROTH, LILLIAN: I'll cry to-morrow,
8.86. New York 1956. - Über einen Trickdieb, der auf der Toilette das Päckchen
voller Geld mit einem genau gleich aussehenden voll Zeitungspapier auswechselt,
s. Pitaval der Gegenwart, Bd. II, 8. 5.
10 IRNIG, 8.13; WESSEL, 8.16; BRANDENBURG, S.20.
11 FINK und ZEUGNER, Monatsschrift, Bd. XXV, S.313. 12 BENKERT, S. 129.
Die Wohnung und umschlossene Räume 371

und tötete ihn mit 42 Messerstichen . Die vielen Wunden deuten auf
sexuelle Untertöne hin 1. In Schottland kannte ein arbeitsloser junger
Bergmann einen jugendlichen Bankboten, der jeden Freitag Geld zu
holen pflegte. Er ging mit ihm auf die Toilette und erwürgte ihn des
Geldes wegen. Obschon bewiesen werden konnte, daß er an epileptischen
Anfällen litt, kamen die Geschworenen nach einer Beratung von 10 Minu-
ten mit einem "Schuldig!" zurück 2. Er wurde hingerichtet.
Es ist berechtigt, aus diesem Anlaß zu fragen, ob sich vom Tatort auf
die geistige Gesundheit mancher Täter schließen lasse. Wir haben bis
aufs erste keine Antwort. Doch läßt sich sagen, daß in früheren Zeiten
das "heimliche Gemach" der Tatort vieler Kindesmörderinnen war.
Auch eine andere Erfahrung ist sicherlich det Überlegung wert. Die
Eingeweide - worunter zweifellos die Genitalorgane an erster Stelle zu
verstehen sind - werden in manchen Fällen in die Toilette geworfen und
weggespült. Es handelt sich um Frauenmorde, die von Zerstückelung
des Opfers gefolgt sind. Dellacollonge (Beaune 1835) schnitt den
Kopf der Konkubine ab, stieß das Messer in den Leib und riß ihn auf,
um die Eingeweide herauszunehmen. Hier scheint den Pfarrer ein
Anfall überkommen zu haben, denn ihm wurde schwarz vor den Augen,
und er hörte eine Stimme, die ihm drohte. Erst als er sich erholt hatte,
nahm er die Eingeweide heraus, sprang damit in den Garten und tat
sie in den Abtritt 3. Der Schauspieler Chester S. Jordan (Boston 1908)
zerstückelte die Frau, schnitt ebenfalls den Kopf ab, einen Teil der Ein-
geweide verbrannte er im Herd, der Rest wurde die Toilette hinab-
gespült. Er hatte die Nacht fest geschlafen, ganz nahe seiner toten Frau,
und wollte sie erst am nächsten Tag zerstückeln 4. Wie bei den Opfern,
die im Schutt begraben, im Mist oder in Versitzgruben verheimlicht
werden, scheint mir ein dunkler Haß-Instinkt die Hand zu leiten. Objekte
größten Ekels sollen sich berühren und vermischen. Im Orient drohte
man, das Haus des Schuldigen zu einem Dunghaufen zu machen 5. Das
Sexualsystem erfährt neben dem Körperganzen eine Sondertötung, die
Sonderschmähung 6 eines übergroßen Abscheus.
In Strafanstalten finden alle verbotenen Tätigkeiten auf dem Abort
statt. Potenzierter Tatort scheint die Toilette in den französischen
Strafkolonien gewesen zu sein. RENE BELBENOIT erzählt, wie kurz nach
5 Uhr morgens die Gefangenen-Baracken geöffnet werden. Die Messer
wandern ins Versteck, die Spielkarten verschwinden, der Rum wird
irgendwo verborgen. Die Wärter sehen alles flüchtig durch, zuletzt am

1 Monatsschrift, Bd. IX, S. 434 nach TOMELLINI.


2 TOD, T. M.: The SeOt8 black Calender, S. 139, 140. Perth 1938.
3 Neuer Pitaval, Bd. XI, S. 321. Leipzig 1859.
4 B08ton murder8, S. 56. 5 E8ra VI, 11. 6 Die Strafe, Bd. I, S. 340f.

24*
372 Topographie der kriminellen Handlung

Ende der Baracke die Toilette; sie wollen sicher sein, daß keine Leiche
hier herumliegt :
"Der Abort des zweiten Zuges ist mit mehr Blut befleckt als irgendein Raum
dieser Größe auf der ganzen Erde .. , Hier werden alle Streitigkeiten ausgekämpft:
Eifersucht, Rache, persönlicher Haß ... Es gibt Zeiten, in denen zwei oder drei
Morde im Monat in der Toilette der "Roten Baracke" geschehen, bisweilen mehr
als fünf. Der Schuldige? Wenn er entdeckt wird, hat einer neuneinhalb Chancen
von zehn, freigesprochen zu werden. Denn seltsamerweise ist es unter Sträflingen
ungeschriebenes Gesetz, die Schuld dem Toten aufzubürden ... Niemals steht ein
Zeuge gegen den Mörder auf. Keiner will ein ~mouchard» sein, ein Angeber, denn
das würde den ganzen Haß der anderen Gefangenen über ihn bringen, weil er der
Gefängnisverwaltung nur diese kleine Art von Dienst erweistl."
Die Toilette zählt zum Kreis der Tatorte, die einen Zyklus haben,
wandern, je nach der Jahreszeit, anziehen und verlocken. Nach den
Beobachtungen des Hamburger Fahndungskommandos kehren alle
Strichjungen, die in den Sommermonaten in die Freiluft- und Bade-
anstalten abgewandert waren, bei kühlem Wetter in den gewohnten
Umkreis einer Bedürfnisanstalt zurück 2 ; hier haben 95% der unter-
suchten Probanden angeknüpft und angefangen. Am Wochenende und
zu Messezeiten ist die Zahl im Anstieg 3 • Der "Tatort" ist in diesem Fall
erweitert, wie er sich dehnt, wenn bei der Beraubung einer Bank die
eingeschüchterten Kassierer in der Toilette eingeschlossen werden 4.
d) Möblierte Zimmer werden zu verbrecherischen Zwecken oft für kurze
Zeit gemietet. An der Spitze aller Orte, in denen Männer mit unreifen
Mädchen verkehrten, stand in Amerika das möblierte Zimmer 5, von dem
es ganz verschiedene Typen gibt. Briefträger-Mörder mieten im Privat-
haus sich ein Zimmer, schicken sich selbst eine Postanweisung und töten
den nichtsahnenden Beamten 6. - Der mythische Henry Vaugham
stattete in Antwerpen ein leeres Zimmer aus und ließ nach dem Morde
des bestellten Anwalts Visitenkarten mit diesem falschen Namen liegen 7.
Die Wohnungstür ist schließlich Tatort von Konflikten eifersüchtiger
Personen 8 , bisweilen ist es auch die Tür des Liebesnestes. Die Tür zu
öffnen ist in solchen Fällen niemals ratsam. Selbst wehrlos, schließt
man einem Feind das Burgtor auf.
Ländliche Anwesen sind von Scheunen, Schuppen, Ställen und
anderen Nebengebäuden umgeben. Mit der Entfernung ist die Aufsicht
1 BELBENOIT: I escaped from devil'8 i8land, S. 122. New York 1949.
2 KUHN, S. 51ff. 3 REDHARDT, S. 26.
4 Oder wenn eine Toilettenfrau den Besucher eines «chalet de necessite »wieder-
erkennt, der geraubten Schmuck in den Abguß geworfen hat, volle 20 Minuten blieb
und ein auffallend hohes Trinkgeld gegeben hat. MAYEN, MAURICE: Don-Juan
a88a88in (Mordfall Pranzini), S. 45ff. Paris 1950.
5 GOLDBERG, JACOB and ROSAMUND: Girls on city streets, S. 55. NewYork 1940.
6 Neuer Pitaval, Bd.48, S.83; BJERRE, S.27.
7 HABRY, GERABD: The Peltur case, S.48. London 1928.
8 BATAILLE: Crimes de 1890, S. 151.
Die Wohnung und umschlossene Räume 373

stark gelockert. Im Kuhstall ist es warm, im Heu ist es weich und ver-
schwiegen. Abgesehen von Viehdiebstählen, die in wirtschaftlichen
Krisenzeiten großen Umfang annehmen 1, auch Brandstiftungen,
spielen sich hier alle möglichen verbotenen Beziehungen ab 2 • Beim
Mord treten alle diese Baulichkeiten viel öfters als Fundorte denn als
Tatorte auf. Besonders Scheunen locken zum Vergraben 3. Daneben
werden manche Versenkungen gern benutzt, die nahe am Hause liegen,
so die Kartoffelgrube in einem Falle BJERREs 4 und jene Müllgrube, in
der ein toter Schwiegersohn die letzte Ruhe fand 5. Feinsinnig ist hier die
Bemerkung WATTLERS, daß vielleicht die Müllgrube gewählt wurde, weil
es dem Schwiegervater Freude machte, "den Verhaßten unter Schutt,
Geröll und Asche zu vergraben." Auch Antonini wollte die ermordete
Blankenfeld in den Hof tragen und in einem Misthaufen verscharren,
doch war das Mädchen ihm zu schwer 6 •
Zum alten Haus gehörten früher Brunnen. Schon in der Bibel lockt
die tiefe Öffnung die Brüder Josefs, den Verhaßten loszuwerden 7. Auch
Frauen können starke Männer, die sich über den Rand neigen, in die
Tiefe stürzen. Im LebenAlexanders des Großen erzähltPLuTARcH vonder
Thebanerin Timokleia. Die Mazedonen brechen in das Haus der vor-
nehmen Frau ein. Es wird geplündert, der Offizier tut der Frau Gewalt
an. Auf die Frage, ob sie noch irgendwo Geld versteckt habe, führt sie
ihn in den Garten und weist auf den Brunnen hin. Als der Thraker sich
bückt, stößt sie ihn in den Brunnen und wirft Steine auf ihn, bis er tot
ist 8. In einem anderen Falle, im gleichen Lebenslauf berichtet, lockt
Königin Roxane ihre Nebenbuhlerin Stateira und ihre Schwester mit
heuchlerischer Freundlichkeit an ihren Hof, erschlägt die beiden, wirft
sie in den Brunnen und schüttet Erde über ihre Leiber 9.
In den Vereinigten Staaten wird Elma Sands in einem Brunnen auf-
gefunden 10, läßt die schöne Spooner ihren Mann von zwei gedungenen
Soldaten in einen Brunnen stürzen 11. In Deutschland werfen Pleil und
Hoffmann das tote Opfer in einen nicht benutzten Brunnen 12 • Sehr
eigenartig ist der Fall des Pfarrers Bruneau 13 • Er wirft den halb-

1 Die Lage nach dem Kriege wird beleuchtet von HULME, KATIIRYN: The wild
place, S. 73ff., London 1959, und BADER, S. 78ff.
2 v. HENTIG-VIERNSTEIN, S.203 (Inzest); homosexuelle Handlungen FRITZ
LANG, S. 40; IRNIG, S. 13 (Kinderschändung).
3 Siehe Neuer Pitaval, Bd. XXXI, S. 331, und FEUERBACH, Bd. I, S. 83, wo
ein Hund auf das Versteck hinlenkte.
4 BJERRE, S. 128. 5 WATTLER, S. 29. 6 FEUERBACH, Bd. I, S. 120.
7 1. Moses, 37, 24. 8 PLUTARCH: Alexander 12. 9 Ebenda 77.
10 MINOT, S. 14.
11 MINOT, S. 104. - Die Frau war beinahe 40 Jahre jünger als der Mann; der
Mann, der sie vernachlässigte, war ein Griesgram und Zechbruder, "an old soak."
12 LG Braunschweig 6 Ks 1/50. 13 BATAILLE, Crimes de 1894, S. 342.
374 Topographie der kriminellen Handlung

erschlagenen Amtsbruder, den AbM Fricot, einen rings im Land ver-


ehrten Mann, in einen Brunnen. Während der Arme unten sich an die
Steinränder anklammert, erledigt er ihn, den man jammern hört, mit
Holzklötzen, die er in die Tiefe schleudert. Der Täter hatte, um Verdacht
abzulenken, nach der Tat Harmonium gespielt. Der Untersuchungs-
richter fand die Tasten blutbefleckt 1.

B. Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten


a) Kairos bedeutet im Griechischen die rechte Zeit und auch der rechte
Ort. Die Griechen meinten, daß die Gunst von Zeit und Ort entscheidend
sei, doch floß auch leise noch ein anderer Sinn ein: der günstige Augen-
blick für feindliche Gewalten, vor allem für den Hieb an rechter Stelle,
wo eine Wunde rasch zum Ende führt, den Todesstreich. Auch für den
Feind gibt es die Gunst des Augenblicks und Orte unserer ganz be-
sonderen Blöße. Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern Mörder,
Sittlichkeitsverbrecher und Betrüger. Bei einer Reihe öffentlicher Bauten
konvergieren örtliche und zeitliche Momente zu einer Konstellation, die
das Verbrechen in den Sattel hebt.
An der Spitze dieser Bauten steht das Gotteshaus. Der alte Kirchen-
frieden reichte weiter als das bloße Diebstahlsprivileg des § 243 I,
1 StGB, der freilich auch private religiöse Gruppen schützt. "Der
Tempelfrieden der Heidenzeit ist bei den Nordgermanen und den Sachsen,
wie es scheint, auf die christlichen Kirchen übertragen worden 2," sonst
leitet man ihn auch vom Königsfrieden ab. Mitunter war der höheren,
der bischöflichen Kirche verstärkter Schutz gewährt. Der Kirchenfrieden
schloß den Friedhof ein. Das alte Recht kannte die eigentümlichen
Verbrechen des Kirchenraubes 3 und des Kirchenbrandes 4 •
Die meisten Kirchen stehen übertags offen, sind dunkel und ver-
schwiegen. Die Andacht ist Versunkenheit, man kann den Blick nicht
senken und zugleich auf andere achten. Die heilige Stätte mindert den
Verdacht, daß Betende Böses im Schilde führen könnten. Trotzdem, ja
gerade deshalb hören wir aus allen Zeiten von Kirchendieben 5 . Die
Bande des Nickel List plünderte die Kirchen aus, wo in Gewölben, wie
in Braunschweig, Nachlässe frommer, reicher Damen aufgestapelt lagen 6.
Cartouche entsandte seine besten Leute in die Kirchen:
"Während die reichen Damen neben einem überbigotten Andächtigen zu knien
vermeinten, der seine vor sich gefalteten Hände viertelstundenlang nicht bewegte,
nicht zurückzog - weil sie von Holz oder von Wachs waren, mit Handschuhen

1 BATAILLE, Crimes de 1894, S. 323. 2 HIS, S. 41. 3 Ebenda, S. 157.


4 Ebenda, S. 177. 5 Fälle sind beschrieben in meinem Diebstahl, S. 32.
6 Neuer Pitaval, Bd. III, S. 239 und 241.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 375

darüber - griffen die wirklichen Hände in die Taschen der Nachbarn oder lösten
Ketten, Geschmeide und zogen Uhren aus l ."
Die schöne Engländerin Jane Webb, hingerichtet 1740, hatte zwei
Methoden. Machtvolle Kirchenredner waren damals große Mode. Die
Menge drängte sich um schmale Kirchentüren. Die elegante junge
Dame bat im Gedränge einen Herrn mit vielen Ringen an den Fingern
um die Hilfe und den Schutz, den jeder Gutgesinnte gerne gibt. Im
Kircheninnern fand der Dandy, daß seine Diamanten ihn mit jener
jungen Frau verlassen hatten. Jane Webb hatte ebenfalls die falschen
Arme und sich als Schwangere zurechtgemacht, die ein Komplice ehr-
furchtsvoll als Diener zu ihrem Platze führte. Er leitete sie zu einem
Sitze neben älteren Damen, die in der Taille goldene Uhren stecken hatten.
Dahinter saßen andere Angehörige der Bande, an die die Beute rasch
und sicher weiterfloß2.
Der Räuber Masch kam, wahrscheinlich in Erinnerung an alte
Verbrechergeschichten, auf den Gedanken, "in eine Kirche einzubrechen
und zu sehen, ob ich in den geweihten Räumen des Gotteshauses einen
Schatz heben könnte 3 ." Doch alles drinnen ist höchst ärmlich. Ein
Kasten verspricht klingende Münze, aber als er den Deckel aufsprengt,
findet er nur einen Kelch und einiges Abendmahlgerät. Er lebte tief
im Walde, konnte mit Silberzeug nichts anfangen. Er nahm sich vor,
seine "kostbare Zeit niemals wieder mit dem Besuche einer Kirche zu
verschwenden. "
In Bayern ist die Beobachtung gemacht worden, daß in der Früh-
messe auf die Kirchenbänke gelegte Handtaschen den wohl noch etwas
müden Frauen unbemerkt gestohlen wurden; es ist auch anzunehmen,
daß in dieser frühen Stunde ein besonders abgelenkter Frauentyp in
Frage kommt. An guten Tagen ist die Beute nicht gering. In Krisen-
zeiten richtet sich der Diebstahl gegen Kirchengut, die Tabernakel und
die Schreine mit Reliquien'. Inmitten einer Periode des Wohlstands
wurden in München von Mitte Januar bis 11. März 1960 19 Einbrüche
in Kirchen ausgeführt. Es wurden durchwegs Opferstöcke ausgeplün-
dert. Raubüberfälle in der Kirche sind ein seltener Vorgang. Nach
einem Bericht MIDDENDORFs 5 überfiel 1956 ein 18jähriger Hilfsarbeiter
in einer Kirche eine betende Frau, würgte sie und nahm ihr die Hand-
tasche ab.

1 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 426 und 427.


2 JENKINS, ELIZABETH: Six criminal women, S. 126 und 127. London 1949.
"Mit zwei Kissen unter ihrem Rock und den darüber gekreuzten Armen bot sie das
überzeugende Bild eines besorgten Wesens im Zustand fortgeschrittener Schwanger-
schaft dar."
3 Neuer Pitaval, Bd. II, S. 104. Leipzig 1866. 4 BADER, S. 79.
5 MmDENDORFF, WOLF: Soziologie des Verbrechens, S.136. Düsseldorf 1959.
376 Topographie der kriminellen Handlung

Spione treffen sich im Dunkel dieser oder jener Kirche. Auch


Heiratsschwindler wählen die ernste Stimmung eines Gotteshauses zur
Kulisse. So wurde eine falsche reiche Erbin dem Opfer in der Kirche
vorgestellt. Das junge Mädchen hatte sich bereit erklärt, ihr Vermögen
und ihre Hand einem jungen, aber mittellosen Manne zu geben, wenn
er nur einen guten Eindruck auf sie mache. Es wurde aus dem Handel
nichts. Die junge Dame meinte, sagten die Vermittler, daß es dem
Kandidaten an Distinktion gebräche. Der Durchgefallene hatte
500 Franken für das Unternehmen angezahlt. Die Schwindler hatten
ihr Geschäft gemacht 1.
Die Abgelegenheit der Kirche, die Menschenleere und die Stille
verlocken manche Sittlichkeitsverbrecher. Wir finden Kinderschändung :a
homosexuelle Übergriffe 3, selbst Handlungen, die uns unglaublich
dünken". KRAFFT-EBING 5 kennt Fälle von Exhibitionismus in der
Kirche, auch von Frottage. HERBERT BENKERT 6 hat die Frage nach den
Ursachen gestellt. Er meint mit Recht, daß der Schreck- und Über-
raschungseffekt im Gotteshause am größten sei und die Heiligkeit des
Ortes abhielte, Alarm zu schlagen oder hinauszudrängen. Es wird vor
den bestürzten Frauen onaniert, das Membrum vorgezeigt, daran
herumgespielt, kurz mitten in der Andacht Ärgernis gegeben, wo es am
wenigsten erwartet werden konnte und laute Abwehr schlimmer ist als
Gehenlassen.
Die Andacht des Gotteshauses und die Tötung, die gerade durch die
Abgelenktheit der Umgebung zu einer heimtückischen wird, geben
psychologische Rätsel auf. Zahlreiche Kirchenmorde werden aus der
italienischen Renaissance gemeldet. JACOB BURCKHARDT gibt die Er-
klärung, daß es fast unmöglich war, der "wohlbewachten Gewalt-
herrscher anderswo habhaft zu werden als bei feierlichen Kirchen-
gängen. " Er schildert eine Reihe dieser Morde 7. Zur Technik zählt

BATAILLE: Crimes de 1895, S. 304.


1
WESSEL, S. 16; BRANDENBURG, S.21.
2 3 LANG, S. 40.
4 "Selbst in der Kirche hat er einmal den Beischlaf vollzogen." LEPPMANN, D.:
Viertelj. Zeitschrift für gerichtliche Medizin, Dritte Folge Bd.29, S.55. - Siehe
den alten Züricher Fall von 1535; WETTSTEIN, S.63.
5 KRAFFT-EBING, S. 191.
6 BENKERT, H.: Ursachen und Erscheinungsformen des Exhibitionismu8, S. 128.
Bonner Diss. 1952.
7 So ermordeten die Fabrianesen (1435) ihr Tyrannenhaus, die Chiavelli,
während eines Hochamts, und zwar laut Abrede bei den Worten des Credo: Et
incamatus est. In Mailand wurde (1421) Herzog Giovanni Maria Visconti am Ein-
gang der Kirche San Gottardo, 1476 Herzog Galeazzo Maria Sforza in der Kirche
S. Stefano ermordet, und Ludovico entging einst (1484) den Dolchen der Anhänger
der verwitweten Herzogin Bona nur dadurch, daß er die Kirche S. Ambrosio
durch eine andere Tür betrat, als dieselben erwartet hatten. Eine besondere
Impietät war dabei nicht beabsichtigt; die Mörder Galeazzos beteten noch vor der
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 377

zumeist der Mord am Kircheneingang, am Sonntag und am Vor-


mittag. Als Waffen wählte man den sicheren Dolch. Im Altertum war
Mord beim Opfer ruchlos 1 • Doch auch dem Mahle kam Tabu zu, das
aus der Furcht der Götter hergeleitet wurde. Bei der Ermordung des
Britannicus durch Nero spricht TACITUS 2 von einer Tafelrunde als ge-
weihtem Kreis. Es ist ein alter Glaube: Wer mit dem andern ißt,
schließt für die Dauer dieses Mahles und noch länger Frieden 3.
Es fehlt auch nicht in neuer Zeit an Kirchenmorden. Eine Französin,
63 Jahre alt, erschießt ihren Notar, als er sich in der Kirche hinsetzen
will'. Der AbM Verger ersticht seinen Erzbischof in der Pariser Kirche
Saint-Etienne-du-Mont. Er war schon während des Segens drohend
stehen geblieben, dann stieß er dem alten ahnungslosen Mann das Messer
in die Brust 5. In beiden Fällen lagen paranoide Gedankengänge und
Fehlentwicklungen vor. - Berühmte Kirchenmorde kennt Amerika.
Eines Sonntags hörten Kirchgänger in Boston erstickte Schreie von
einem Kirchturm, unruhig flatterten die Kirchentauben. Der Küster
hatte ein 6jähriges kleines Mädchen getötet; schon früher hatte man
ihn eines anderen Mädchenmordes verdächtigt, war aber aus Mangel an
Beweisen der Sache nicht mehr nachgegangen. Er gab unter dem
Galgen beide Taten zu 6 • - Der Fall Durrant in San Francisco (1875)
betraf einen Musterknaben und Jugendführer seiner kirchlichen Ge-
meinde. Er hatte zwei Mädchen getötet; die eine Leiche auf den ver-
schlossenen Kirchturm geschleppt und dort verborgen. Er hatte oftmals
in der Kirche exhibiert; die Mädchen hatten es aus Scham verschwiegen 7 •
Ein anderer Musterknabe, Pfadfinder, Athlet und Kirchensänger er-
würgte im Mai 1949 ein 16jähriges Mädchen in der Kirchenküche 8 • Der
Tür zu dem Heiligen der betreffenden Kirche und hörten noch die erste Messe
daselbst. Doch war es bei der Verschwörung der Pazzi gegen Lorenzo und Giuliano
Medici (1478) eine Ursache des teilweisen Mißlingens, daß der Bandit Montesecco
sich zwar für die Ermordung bei einem Gastmahl verdungen hatte, den Vollzug im
Dom von Florenz dagegen verweigerte; an seiner Stelle verstanden sich dann
Geistliche dazu, "welche der heiligen Orte gewohnt waren und sich deshalb nicht
scheuten". BURcKHARDT, JACOB: Die KuUur der Renaissance in Italien, S.46.
Neudruck Köln o. D.
1 Orest erschlägt Aegisth beim Opfer mit dem Beil. EURIPIDES : Elektra 844.--846.
2 TACITUS: Ann. XIII, 17 "intra sacra mensae". - über andere Morde beim
Mahle s. PLUTARCH: Demetrius 36 und Kleomenes 8.
a über das Mahl des Bundes s. meine Abhandlung: Vom Ursprung der Henkers-
mahlzeit, S. 264.
4 BATAILLE: Crimes de 1894, S. 261ff.
5 Neuer Pitaval, Bd. XXVI, S.1ff.
8 MAKRIs: Boston murders, S. 214.
7 JACKSON, J. H., and LENORE GLEN OFFORD: The girl in the belfry, S.18ff.
Greenwich 1957.
8 Die größeren amerikanischen Kirchen haben Nebenräume für gesellige
Zusammenkünfte, Unterricht und Sport.
378 Topographie der kriminellen Handlung

16jährige wurde im Klassenraum verhaftet. Er hatte lange Kratzer im


Gesicht 1. Die Tatzeit war ein Sonntagabend.
Eine besonders abstoßende Tat beging ein Küster im Rheinland.
Der Mann hatte mittags seine Frau in der Sakristei der Hauptpfarr-
kirche erschlagen und die Leiche in einem unbenutzten Panzerschrank
verborgen 2. Er meldete sie am gleichen Tag als vermißt.
"Etwa drei Monate nach der Tat mußte er gemeinsam mit einem Priester der
Pfarre die Sakristei gründlich säubern und aufräumen. Die Arbeit wurde eingeteilt,
und in den nächsten Tagen sollte auch der Panzerschrank gereinigt werden, in dem
sich noch immer die Leiche befand. Am Morgen vorher begab sich H. gegen 5.30Uhr
in die Kirche und holte die schon in Verwesung übergegangene Leiche seiner Frau
aus dem Versteck hervor. Er schaffte sie hinter das Chorgestühl auf der linken Seite
der Kirche, das er zu diesem Zweck vorher von der Wand abgerückt hatte. Hier
wurde der Leichnam zwei Tage später von Putzfrauen entdeckt."
Das Pfarrhaus ist rechtlich kein "zum Gottesdienst bestimmtes
Gebäude" (§ 243 I, 1 StGB). Die soziologische Betrachtung braucht
sich diese Einengung nicht gefallen lassen. Damit werden auch Schwierig-
keiten vermieden, die sich bei der Einordnung einzelner klösterlicher
Baulichkeiten ergeben könnten. An der Spitze der Pfarrhausmorde steht
der Fall Riembauer, den FEuERBAcH ausführlich dargestellt hat 3 .
Motiv der Tötung war die Beseitigung einer lästigen und drohenden
Geliebten. - Der Pfarrer Mingrat ließ die junge Frau, an die er sein
Herz verloren hatte, aus der Kirche in das Pfarrhaus kommen, weil er ihr
wegen unpassender Kleidung nicht die Beichte abnehmen könne. Hier
fand sie ihren Tod 4. Dellacollonge erwürgte im Pfarrhaus seine "Cou-
sine", zerschnitt den Körper, warf ihn in den Teich von Sainte Maries.
Der Abbe Bruneau tötete den Pfarrer von Etrammes 6 im Pfarrhaus.
Der Pfarrer Paul Martin wurde von seinem Bruder Louis Martin, auch
einem AbM, überfallen und nahezu erdrosselt, der ihn sehr hoch ver-
sichert hatte 7 • Auch eifersüchtige Ehemänner fallen über Pfarrer her
und töten sie mit Messerstichen 8. Ein alter Klosterbruder, der die
Kasse führt, erliegt den Hammerschlägen des Trappisten Eugen 9.
Raubmörderbanden brechen in die Häuser armer Priester ein, bei denen
sie viel Geld vermuten 10 , sie zögern nicht, die alte, treue Haushälterin
mit in den Tod zu schicken. Es handelt sich zumeist um hochbetagte
Menschen 11.
Associated Press vom 11. Mai 1949.
1
WATTLER, HANS: Das Verhalten des Mörders nach der Tat, S.26ff. Bonner
2
Diss. 1957.
3 FEUERBACH, Bd. II, S. 47.
4 Neuer Pitaval, Bd. VIII, S. 447ff. 5 Ebenda, Bd. XI, S. 319ff.
6 BATAILLE: Orimes de 1894, S.320. 7 Ebenda, Orimes de 1890, S.91ff.
8 Ebenda, Orimes de 1890, S. 117ff. 9 Ebenda, Orimes de 1892, S. 15lff.
10 Ebenda, Orimes de 1891, S. 302ff.
11 Siehe den ermordeten alten Bischof in Neuer Pitaval, Bd. VI, S. 70.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 379

Nirgends erweist sich die Topographie des Verbrechens aufschluß-


reicher für die Erkenntnis von Zusammenhängen als bei der Örtlichkeit
des Friedhofs. Hier berühren sich die Welt der Toten und die Un-
erschöpflichkeit des Lebens, woher der Glaube kommt, daß nächtlich
hier gezaubert werden könne!. Mehrfache Epigramme MARTIALS be-
weisen, daß sich die niedersten Dirnen Roms zwischen den Grabmälern
herumtrieben, um sich hier preiszugeben 2. Liebende trafen sich zur
Nachtzeit an bestimmten Gräbern und waren glücklich im schützenden
Schatten der Bäume 3. Französische Berichte wollen wissen, daß zur
Zeit der großen Revolution die Kirchhöfe der meisten großen deutschen
Städte Szenen von Zügellosigkeiten boten; eine Mitteilung besagt:
"Der Aberglaube ist zugleich mit der heiligen Scheu aus diesen Orten
entflohen, und zwischen den Schatten der Gräber und dem Todes-
schweigen der Urnen irren Wesen umher, welche weit furchtbarer sind
als jene phantastischen Gespenster, die einst um Mitternacht die Leicht-
gläubigkeit unserer Vorfahren erschreckten 4 ." Die gerichtliche Er-
fahrung beweist, daß in der Abgeschiedenheit des Kirchhofs Kinder-
schändung vorkommt 5 • Bei Tage gehen manche Exhibitionisten um 6.
Heimliche Dirnen wurden auf Friedhöfen erwürgt, die Leiche hinter
einem Grabstein verscharrt 7.
Wenn eingepackte Leichenreste auf dem Kirchhof fortgeworfen
werden 8 , wenn man zu allen Zeiten Leichen neugeborener Kinder auf den
Gottesackern findet, so mag ein Rest von frommer Scheu im Spiele sein.
Bedeutsamer ist die Beobachtung, daß die Totennähe manche Menschen
sexuell erregt 9, so sehr, daß sie selbst masturbieren. Wir müssen also
nach Affinitäten suchen, wenn wir uns mit dem Tatort Gottesacker zu
befassen haben, wenn die Gefühle eines Täters um Töten, Totsein
und Begraben spielen. Kürten gestand dem Arzt: "Ich bin immer
wieder an die Gräber der Opfer gegangen, bin wiederholt nach Mülheim
gefahren an das Grab der Klein und auf den Stoffeier Friedhof. Wenn
ich so mit den Händen die Graberde betastete, ist es manchmal auch zu
einer sexuellen Erregung gekommen, wenn ich mir die Vorgänge so
vergegenwärtigte. Bei der Grabstätte der Hahn konnte ich mich
stundenlang aufhalten. Wenn es an den Gräbern zum Samenerguß kam,
dann war's ohne mein Zutun. Aber die Hauptsache war, daß ich der
Vollendung der Mission ganz nahe war 10." Kürten hat zweimal Skizzen
1 WUTTKE, S. 89. 2 MARTIAL: Ep. 1,34,8; III, 93, 15.
3 OVID: Met. IV, 88. 4 Neuer Pitaval, Bd. II, S. 404. 5 IRNIG, S. 15.
6 BENKERT, S. 129. 7 STA Düsseldorf 14 Ks 1/53.
8 Boston murders, S.219; LESSING: Haarmann, S.145.
9 HIRSCHFELD, MAGNUS: Geschlechtsanomalien, S. 552. - "Ich hatte einen
Patienten, der nach einem Begräbnis hochgradige sexuelle Erregung verspürte."
10 BERG, K.: Deutsche Zeitschrift f. d. ges. gerichtliche Medizin, S. 325, 1931
(Bd. XVII).
380 Topographie der kriminellen Handlung

der Grabstelle des Mädchens Hahn, das er ermordet und verscharrt hatte,
angefertigt und verschickt, das erstemal an eine Zeitung, das zweitemal
an die Polizei 1. Die Handlung war eine Mischung nekrophiler Tendenzen
und einer Sucht, auf sich und sein Verbrechen hinzuweisen.
Bei dem Worte Nekrophilie denken wir an grobe Ausschreitungen,
wenn Leichen ausgegraben, mißbraucht, zerstückelt werden 2. Bisweilen
spielt der Aberglauben eine nicht geringe Rolle 3. Es gibt aber auch
Übergänge, die mit korrektem Lebenswandel gut zusammengehen, ja als
Beruf in ihrer Weise nützlich sind. Unter 23 Fällen echter Nekrophilie,
die EpAuLARD 1901 zusammenstellte, waren drei Totengräber, zwei
Medizinstudenten, ein Besucher eines Anatomiekurses und der Gehilfe
eines Leichenbestatters 4 • Bisweilen ist mir in Amerika, wo die Leichen-
pflege und -bestattung zu einer kostspieligen Kunst geworden ist, eine
tief innerliche Neigung aufgefallen, die man nekrophiloid 5 nennen könnte.
Dabei braucht das Gesetz in keinem Fall verletzt zu werden. Es kann
sogar die verschönernde Zurichtung und Vorweisung des Toten, an dem
die Trauergäste vorbeipassieren, besonders sachgemäß und kunstvoll
sein. Wie steht es mit den üppigen Leichenmahlen vieler Länder, bei
denen selbst getanzt wird? Ich habe die Erzählung GOTTFRIED KELLERS
wiedergegeben 6, wie der Grüne Heinrich zum Begräbnis seiner Groß-
mutter kommt, erst alles still und andächtig ist, ein Trauermarsch ge-
spielt wird, dann aber die Musik plötzlich in einen lustigen Hopser über-
geht und die Jugend "jauchzend und stampfend über den dröhnenden
Boden" dahinbraust. Es ist, als ob die Nähe der Vergänglichkeit die
Lebensgeister zu rebellischem Aufbruch lockte. Ein ähnlicher Vorgang
spielte sich vor 90 Jahren in Paris ab 7. Die Leichen der Frau Kinck und
ihrer 4 Kinder waren auf dem Felde von Pantin ausgegraben worden.
Es entwickelte sich ein Volksfest um den Fundort. Die Halbwelt kam
aus dem Inneren der Stadt herbeigeströmt und verlegte ihre Tätigkeit
auf das "Leichenfeld" .
Zu einer andern Klasse gehören die Typen, die in Grüfte der Fürsten
und reichen Leute eindringen. Es sind Einbrecher und Erpresser, denen
es um Schmuck oder Lösegeld geht 8. Sie irren, wenn sie glauben, die
Edelsteine und kostbaren Ringe im Katafalk zu finden, mit denen eine

1 Die Skizze ist abgebildet bei O. STEINER und W. GAY: Der Fall Kürten,
S. 60. Hamburg o. D.
2 Siehe die Fälle in Monatsschrift, Bd. X, S. 702, und bei HmsCHFELD: Ano·
malien, S.511ff.
3 Ebenda, S. 520.
4 Ebenda, S. 519, 520. - "Daher zählen viele Leute zu den Nekrophilen, die
beruflich etwas mit Leichen zu tun haben."
5 Geschäft und Neigung gehen eine Mischung ein.
6 Ursprung der Henkersmahlzeit, S.247.

7 Neuer Pitaval, Bd. V, S. 129. 8 JACOBS, S. 120.


Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 381

alte Herzogin auf dem Paradebett gelegen hattel. Ein Millionär, der
wenig beliebt war, wird aus seiner Gruft geholt, die Leiche mitgenommen.
Aus Kanada kommen Briefe, die die Rückgabe der Leiche gegen die
Summe von 250000 Dollars anbieten. Nach langem Hin und Her er-
klärte sich die Witwe bereit, 25000 Dollars auszugeben, eine einsame
Straße wurde verabredet und hier an einer Stelle, die auf der Karte
angekreuzt war, eine schwere hölzerne Lade überliefert 2. Ob das Skelett
das des Millionärs war oder eines andern ist niemals mit völliger Sicher-
heit festgestellt worden. Es war Erpressung, weiter nichts. Der nekro-
phile Zusatz wird nur sehr gering gewesen sein.
b) Der Tatort des Hotels führt in das Hauptproblem des Dunkelfelds
zurück. Hotels sind wirtschaftliche Unternehmungen, große Kapitalien
sind investiert, sie sollen Dividenden liefern. Ihrem innersten Wesen
nach können sie es nicht gestatten, moralische Anstalten zu sein, doch
müssen sie, ebenfalls aus geschäftlichen Gründen, bedacht sein, das
Dekorum ganz betont zu wahren. Es ergibt sich ein Dilemma und das
Beieinanderwohnen zweier Welten. Zwischen Gäste und Polizei schiebt
sich eine Zwischeninstanz ein. Sie hat den Auftrag, strafbare Hand-
lungen, wenn es irgend möglich ist, ohne Skandal zu ordnen. Es ist eine
Art Werkschutz, die mit dieser Funktion betraut ist, der Hoteldetektiv.
Die Schwierigkeit besteht darin, aufsehenerregende, geschäftlich un-
erwünschte Dinge, die nicht völlig vertuscht werden können, durch wohl-
bekannte Mittel vor den Augen der Klienten zu verbergen, besonders
wenn es sich um Mord und Selbstmord handelt. Eine sehr beachtliche
Technik hat sich hier entwickelt, wozu der Warenlift, der Eingang für das
Personal, die Zeit von 3-5 Uhr morgens, der Hausarzt und ein wohl-
geölter Apparat des Abtransports gehören, auch Schweigepflicht der
Angestellten. In Strafverfahren kommt heraus, daß unter Angestellten
über diese Dinge viel geredet wird. Im Fall Wilde entschuldigte der
Generalstaatsanwalt das Gehenlassen der Hotelverwaltung gegenüber
den Gewohnheiten des berühmten und zahlungsfähigen Gastes damit,
daß sie bemüht gewesen war, einen Skandal zu vermeiden, der für das
Hotel nachteilig hätte werden können 3. In anderen Fällen hören wir, daß
die Leitung eines erstklassigen Berliner Hotels sich dem Ansinnen eines
bekannten Großindustriellen schließlich widersetzte, der junge ita-
lienische Freunde als Kellner eingestellt haben wollte 4 • Bei Mordunter-
Buchungen bleiben uns oft die beunruhigendsten Beobachtungen nicht

1 Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S.271ff.


2 "Whose body lies under the Cathedral?" HARLOW, ALVlN F.: Murder8 not
quite 80lved, S.303. New York 1938.
3 HYDE, MONTGOMERY H.: The trials 0/08car Wilde, S. 305. Edinburgh 1948.
4 TRESCKOW, v.: Von Fürsten, S. 126ff. - Vielleicht stand der Widerstand der
deutschen Kellner hinter den geäußerten Bedenken.
382 Topographie der kriminellen Handlung

erspart. Als in der Nähe von San Francisco eine zerstückelte Frauen-
leiche gefunden worden war, stieß die Polizei in der Liste der vermißten
jungen Frauen auf eine 30jährige Witwe, hübsch, wohlgebildet, rot von
Haar und Krankenschwester von Beruf. Dann kam die unerwartete
Enthüllung. Sie hatte eine Woche vor dem Verschwinden in einem
großen Hotel in San Francisco gewohnt und dabei den Namen Frau
John Loren aus Seattle angegeben. Die Hotelangestellten hatten
männliche Besucher von "ungewöhnlichem Benehmen und verschieden-
artigem Aussehen" bemerkt. Einer wurde als breitschultriger, musku-
löser Mann beschrieben. Er sah, so sagte ein Angestellter, wie ein Doktor
aus. Der Mann war eine Stunde lang vor ihrem Zimmer auf- und ab-
gegangen, erwartend, daß er vorgelassen würde .. , Irgendeiner in dem
Hotel hatte einen bekannten Wirtschaftsprüfer als häufigen Besucher
der Frau Loren genannt. Sie war vor einigen Jahren seine Sekretärin
gewesen. Er wurde von der Polizei vernommen und erklärte, er habe sie
seit langem nicht gesehen 1. Die Krankenschwester hielt für zahlungs-
fähige Kunden unter falschem Namen Hof. Hier traf sie auch den
Mörder, den man niemals fand.
Große amerikanische Hotels führen eine Art Buch über Gäste, die
ihnen nicht genau bekannt sind. Darunter sind seine Ausgaben vermerkt,
seine Telefonanrufe, seine Fahrkartenbestellungen mit Dampfer und mit
Flugzeug 2. Es ist zwar theoretisch untersagt, die Koffer eines Gastes
zu öffnen 3, doch wird sich niemand allzu laut beklagen, der Dreck am
Stecken hat. Die Pagen haben Auftrag, jeden Gast sofort zu melden,
bei dem sie eine Schußwaffe, Explosivmittel oder große Summen in
neuen Scheinen sehen 4. Um Eintritt in ein verschlossenes Zimmer zu
erhalten, dient der Vorwand, etwas an der Wasserleitung, dem Licht
oder dem Radio sei nicht in Ordnung und müsse nachgesehen werden 5.
Wie aber wirkliche oder angebliche Verstöße behandelt werden, geht
aus der Erledigung der kleineren sittlichen Vergehen hervor. In den
Akten des Hoteldetektivs stehen Fälle wie diese 6:
H. T. Fabrikant aus Indiana, der sich zurückgezogen hat. Alter 62 Jahre.
Verheiratet. Würdiges Aussehen, könnte ein Professor oder ein Geistlicher sein.
Beschwerde: Zimmermädchen wurde gerufen, neue Badehandtücher zu bringen.

1 BLOCK, EUGENE B.: The wizard 0/ Berkeley, S. 134. New York 1958. - Man
fand einen Unterkiefer. Der Zahnarzt der Schwester meinte, er habe für sie ein
oberes Gebiß gemacht. Wenn ich das haben könnte, dann ...
2 COLLANS, D.: I was a house detective, S. 130. New York 1954.
3 Ebenda, S. 107. 4 Ebenda, S. 17. 5 Ebenda, S. 131.
6 Ebenda, S. 81ff. - Vorbeugend haben Hotels Regeln aller Art: Zimmer-
mädchen sollen nur zu zweit arbeiten. Wenn sie im Zimmer eines männlichen
Gastes tätig sind, soll die Türe offen bleiben. COLLANS kommt zu dem pessi-
mistischen Schluß, daß im allgemeinen die Moral der Angestellten höher ist als
die der Gäste. Ebenda, S. 85.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 383

Als sie die Tücher brachte, stolzierte er nackt vor ihr durch das Zimmer. Bot ihr
Geld usw. Gab Vorgang zu, als untersucht wurde.
M. A. Mädchen, 19 Jahre alt, Kassiererin in großem Lebensmittelgeschäft,
wohnt im Hotel, um Verwandte, die nach Europa fahren, zu verabschieden. Be·
stellte Frühstück auf ihr Zimmer, befahl dem Kellner den Tisch nahe an das Bett
zu stellen, warf die Bettdecke zurück, stand auf, mit nichts anderem bekleidet als
der oberen Hälfte ihres Pyjamas. Fragte den Kellner, ob sie nicht gutaussehende
Beine habe. Untersucht. Geleugnet.
F. D. 53 Jahre alte Witwe. Rief Zimmerkellner an und verlangte Zigaretten
10.15 morgens; als er kam, fand er sie unter der Dusche, wo sie die Zigaretten
abgeliefert haben wollte. Stieg aus der Badewanne und forderte den Zimmerkellner
auf, ihr den Rücken zu reiben usw. Er lehnte ab, sie wurde ausfallend, drohte der
Hotelleitung mitzuteilen, daß er versucht habe, sie zu vergewaltigen. Untersucht.
Leugnet, erhebt Gegenvorwürfe.
"Eine ruhig aussehende Klavierlehrerin aus der Provinz hat versucht, das
Maniküremädchen zu verführen, die sie zu sich hatte heraufkommen lassen.
Gestellt, drohte sie, das Hotel in Brand zu setzen und warf dem stellvertretenden
Direktor eine Sherryflasche an den Kopf."
Dazu bemerkt der weise Hausdetektiv: "Gewöhnlich gibt es keinen
anderen Beweis als das unbestätigte Wort des Angestellten. .. Meine
Methode war, eine respektvolle Anzeige aufzunehmen, die so sorgsam
formuliert war, daß sie keine direkte Anschuldigung enthielt ... Manch-
mal gab der Gast auf leichten Druck seine Verfehlung zu . .. Der Gast
konnte ja gar nicht wissen, wie sehr dem Hotel daran gelegen war, die
ganze Sache unaufgerührt zu lassen." Schwieriger waren die Fälle,
wenn dem Schuldigen die Nerven rissen. Dann war sofort der Hausarzt
mit Beruhigungsmitteln zur Stelle, die ganze Ärgerniserregung in Stille
abzuschließen.
Die Tatsache, daß in einem großen Hotel normale Lebensstatik sich
in eine Überlegenheit des Gastes und höfliche Gefälligkeit des Personals
umkehrt, wobei die sonst so oft vermißte Dienstbarkeit durch die
Geldleistung des Zimmerpreises und sonstiger Ausgaben erkauft wird,
muß die moralische Zensurbereitschaft schwächen. Kein Hotel würde
lange bestehen können, wenn es in jedem Falle die Personalien genau
nachprüfen wollte. Hotels stellen in erster Linie Schlafräume zur
Verfügung. Es kommt zu Inzest!, homosexuellen Beziehungen 2, in
weitem Umfang zu Ehebruch. Das ehebrecherische Verhalten ist selbst
geschäftlich gut geordnet in die Ehescheidungspraxis eingebaut. Hübsche
und junge "Ehebrecherinnen" können gemietet werden, um sich in
Hotelbetten von Privatdetektiven und Zeugen überraschen zu lassen.
"Fräulein W. hatte ein gelbes Neglige und Pantöffelchen an", sagt ein

1 v. HENTIG-VIERNSTEIN, S.121. - Damals fanden in unruhigen Zeiten


Polizeikontrollen in Hotels und Pensionen statt. Bei Hotelkontrollen in Amsterdam
wurden 1959 147 minderjährige Mädchen in Begleitung eines Mannes angetroffen.
Nach H. HEMMINK, Referat in Kriminalistik, S.180, 1960.
2 Siehe meine Kriminalität des homophilen Mannes, S. 107ff. und 115f.
384 Topographie der kriminellen Handlung

Bericht, "Y. war in kurzen Unterhosen und Strümpfen. Im Zimmer


war nur ein einziges Bett, die Decken waren stark zerwühltl." Die
Ehescheidung war gesichert.
Die Eigentumskriminalität großer Hotels beruht in erster Linie auf
der Atmosphäre, die durch den Wechsel der Bilder und Menschen die
Aufmerksamkeit ablenkt, dann aber auf der Bildung enggedrängter
Massen, in der Halle, der Bar, dem Fahrstuhl. Je nach dem Wochentag
und der Tagesstunde schwillt die Bevölkerung eines großen Hotels an
oder verebbt. Dann schlägt die Stunde der Taschendiebe und der
Gauner, die Damenpelze 2 oder Handtaschen stehlen 3. Auf Reisen nehmen
wir akkumulierte Werte mit. Beim Aufsuchen einer Telefonnummer
werden beide Hände gebraucht; die Handtasche muß abgelegt werden.
Die drangvolle Enge eines Fahrstuhls bietet bei geeigneter Ablenkungs-
technik beste Gelegenheit zu einem Griff nach der Brieftasche 4. überall,
wo stille Unregelmäßigkeiten vor sich gehen, blüht die Erpressung,
bleibt sie straflos. "Wir erstatteten keine Anzeige", schreibt der Hotel-
detektiv, "um die Gefühle von Frau Ayars ... und ihres Gatten zu
schonen 5." Die Hotelratte ist noch nicht ausgestorben, wenn er auch
nicht mehr im schwarzen Trikot durch die Korridore huscht.
Ein Hotel liebt die Reklame vielgenannter Gäste. In Kansas City
nahm ein Mann in einem sehr guten Hotel Quartier, der sich den Namen
eines bekannten Boxers gab; er hatte ein Pflaster über dem rechten Auge
und ließ sich von den Reportern, die das Haus bestürmten, mit einem
Handtuch um den Hals aufnehmen, er schwitzte sichtlich von dem
harten Training. Nachdem er sich von den begeisterten Gästen hatte
feiern lassen, verschwand er um die graue Morgenstunde, ohne zu be-
zahlen, und das Hotel erstattete keine Strafanzeige. Die Sportgrößen
werden mit größerer Wirkung von den Kinohelden ersetzt, und wenn
es auch nur ein Verwandter ist 6 •
Gewerbsmäßiges Glücksspiel findet in Hotels Unterkunft, wobei
nicht nur Miete bezahlt, sondern in nicht geringem Maße Alkohol
genossen wird 7. Raubüberfälle auf Spielklubs sind, weil es sich um
illegalen Zeitvertreib handelt, ertragreich und kein großes Risiko. Es
werden deshalb kostspielige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die Spieler
vor überraschungen zu schützen. Als der bekannte Rothstein im Hotel
St. Francis eine Hotelsuite gemietet hatte, waren die Türen durch
1 COLLANS, S. 126. 2 Ebenda, S. 138. 3 Ebenda, S. 139.
4 Ebenda, S. 67ff. ("squeeze play"). 5 Ebenda, S. 88.
6 In Rheinfeiden, Baden, mietete sich im März 1958 ein 20jähriger in einem der
besten Hotels ein, gab sich als Bruder des Filmschauspielers Buchholz aus. "Sofort
erhielt er das beste Zimmer, Hotelgäste rissen sich darum, seine Bekanntschaft zu
machen, junge Mädchen stürmten das Haus" usw. MIDDENDORF: Soziologie deli
Verbrechens, S. 120.
7 FRIEDLÄNDER, Bd. VII, S. 336.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 385

besondere Verschlüsse und Riegel gesichert. Das Personal hatte er sich


durch Extrabezahlung verpflichtet; dazu gehörte der Portier, der Haus-
detektiv, der Fahrstuhliührer, der Angestellte, der das Telefon bediente.
Als eines Abends 30 Spieler beisammen waren, darunter Anwälte, Ärzte,
Schauspieler, auch Berufsspieler, kam zwei Uhr morgens der gut ge-
plante Überfall. Der Anfang wurde mit dem Nachtportier gemacht, der
plötzlich in Revolverläufe blickte. Das nächste Opfer war der Haus-
detektiv, drei Männer gingen auf den Fahrstuhlboy los, der auch die
Bestellungen der Spieler für Zigarren, Getränke und Essen in Empfang
nahm. Sie schleppten ihn nach oben mit und ließen ihn mit seinem
Tablett klopfen und "Hier ist das Bestellte" sagen. Dann drangen sie
in die geöffnete Türe ein!.
Morde werden in Hotels aus den verschiedensten Gründen begangen 2;
Freisprüche scheinen bei diesem Tatort häufiger als sonst zu sein. Zum
Teil ist dieses Ergebnis dem Umstand zuzuschreiben, daß das Hotel-
personal im Verlauf des Verfahrens seine Wahrnehmungen zu wechseln
liebt. Mörderische Heiratsschwindler sind geneigt, den Wunsch aller
Hotels, Todesfälle diskret und ohne Verzögerung zu behandeln, für ihre
Zwecke auszunutzen. Dr. Braunstein hatte sich am 15. November 1903
mit einem älteren wohlha benden Mädchen verheiratet, nachdem drei Tage
vorher ein dem Bräutigam günstiger Ehevertrag geschlossen worden
war. Am 26. November starb Frau Braunstein plötzlich in Lugano,
und Braunstein ließ die Leiche sofort verbrennen, weil es der Wunsch
der Ehefrau gewesen sei. Am 16. November hatte Braunstein in einer ge-
fälschten Zuschrift seiner Frau den Halleschen Bankverein angewiesen,
ihr Vermögen an die Deutsche Bank nach München zu schicken 3. Der Ver-
dacht reichte für die Erhebung der Anklage wegen Mordes nicht aus; das
Gericht verurteilte ihn wegen schwerer Urkundenfälschung zu 7 Jahren
Zuchthaus. Ein anderer Schwindler ging den reichen Witwen nach, die
er als Neffe, Freund, Geschäftsführer auf ihren Reisen begleitete. Vier
dieser Frauen waren plötzlich in Hotels gestorben und waren baldigst ein-
geäschert worden. Zur Mordanklage langte der Verdacht nicht ganz. Der
Mann erhielt für 9 Fälle der Urkundenfälschung 126 Jahre Zuchthaus 4.

1 KATSCHER: The big bankroll, S. 151ff.


2 HARLOW, S. 3ff.; New York murder8, S. 227; JESSE, F. TENNysoN: Trial 0/
SidneyFox, S.21ff.; OARSWELL, DONALD: Trial 0/ Ronald True; Cleveland murders,
S. 43ff.; Detroit murders, S. 119ff.; BATAILLE: Crimes de 1894, S.247ff.
3 FRIEDLÄNDER, Bd. V, S. 4ff.
4 RIeE, ORAIG: 45 murders, S.176ff. (Fall OHne, San Francisco 1946.) - "Leute,
die mit .A1fred Leonard OHne zusammen waren, entwickelten eine Neigung, an
Herzschwäche zu sterben, Oline Geld zu hinterlassen und kurz nach dem Tode
eingeäschert zu werden. Er fand immer einen Arzt, der den Totenschein unter-
schrieb." Ebenda, S. 177. - Zum hohen Alter des Opfers kam argwohnmindernd
der Hotelgast mit dem ganz besonders guten Zimmer.
v. Hentig, Das Verbrechen I 25
386 Topographie der kriminellen Handlung

c) Obschon man Gefängnisse und Irrenanstalten, genau genommen,


weder öffentliche Baulichkeiten noch allgemein zugänglich nennen kann,
gehören sie bei einer Tatortsystematik hierher, ganz einfach, weil sie
sonst nur als Sondergruppe unterzubringen wären. Bei Geisteskranken
werden Sittlichkeitsdelikte nur gelegentlich erwähnt 1. Dagegen ist der
sehr bemerkenswerte Versuch gemacht worden, bei einer Reihe von
Anstalten Angriffshandlungen gegen Pflegepersonen festzustellen 2 •
64,4 % der Aggressionen entfielen auf männliche Patienten, 35,6 % auf
Frauen. Der Frauenanteil ist ungewöhnlich hoch 3 und läßt deutlich die
psychotische Anlage bei der gewalttätigen Frau erkennen. Wenn die
Modalitäten des Angriffs und die Verletzungsfolgen nach Geschlechtern
aufgeteilt worden wären, würden wir in die Psychologie und die Mechanik
weiblicher Aggression besser hineinsehen. An der Spitze der Angriffs-
formen stehen:
Schläge, Faustschläge mit 34,4 %
Fußtritte . . . . . mit 15,3 %
Beißen . . . . . . mit 10,3%
Verletzungen mit Todesfolge traten bei 308 Fällen nur in 2%,
schwere Verletzungen nur in 4% der Fälle ein. Wie der Gefangene, so
ist der Patient im allgemeinen "entwaffnet". Mit Schlägen, Tritten,
Bissen können gefährliche Verletzungen nicht leicht beigebracht werden.
Ebensowenig wie in der Irrenanstalt kann im Gefängnis die Iso-
lierung und die muskuläre Lahmlegung bis zur letzten Konsequenz
getrieben werden. Die Gefangenen sind zwar von der Außenwelt ab-
geschlossen. Sie leben aber weiter mit ihresgleichen und mit denen
zusammen, die sie bewachen. Es bilden sich trotz allen Drucks und
Zwanges neue verkrüppelte gesellschaftliche Formen. Es kommt zu
einer eigenartigen Kriminalität 4. Das Zuchthaus wird zum Tatort,
obschon nur schwacher Widerhall nach außen dringt. Es gibt gute
Gründe anzunehmen, daß die relative Mordkriminalität in einem Zucht-
haus größer ist als die der freien Bevölkerung. Nach vielen Jahren
kommen unter dem Zementboden Skelette vermißter Gefangener zum
Vorschein, andere Gefangene gestehen später, Zellengenossen so ge-

1 HOPPE, AnoLF, in Monatsschrift, Bd. III, S. 605ff.


2 STIERLIN, H.: Der gewalttätige Patient. Basel 1956.
3 "Da unsere Heil- und Pflegeanstalten im Durchschnitt zu drei Fünf teIn mit
Frauen und zwei Fünfteln mit Männern belegt sind", schreibt STIERLIN (S.26),
"scheint sich daraus ein erhebliches Überwiegen der männlichen Gewalttäter vor
den weiblichen zu ergeben." STIERLIN übersieht, daß im Jahre 1957 von allen
wegen leichter und gefährlicher Körperverletzung Verurteilten nur 7,2% Frauen
waren (Stat. Jahrbuch 1957, S.105). Der Anteil weiblicher Gewalttätiger in der
Anstalt bleibt demnach ungewöhnlich hoch.
4 Siehe das Kapitel über intramurale Kriminalität in meiner Strafe, Bd. II,
S.339f.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 387

schickt erwürgt zu haben, daß Herzschlag angenommen wurde. Berichte


der Gefangenen lassen an dem Umfang des ungesetzlichen Treibens
keinen Zweifel, das sich unter der Oberfläche amtlicher Kenntnis oder
gar gerichtlichen Einschreitens entwickelt 1. Wir können zwar den Deckel
mehr oder weniger hermetisch schließen, die innere Gärung aber nicht
verhindern. Indem wir die Gesellschaft schützen, ist eine neue Proble-
matik mit in Kauf zu nehmen.
Viel mehr als Strafanstalten und ihre Zugänge 2 gehören Rathäuser,
Schlösser, Gerichte, Polizeipräsidien und Museen zu den öffentlichen
Örtlichkeiten. Bei Sammlungen von Bildern ergibt sich ein seltsames
Dilemma: je berühmter und theoretisch kostbarer Gemälde sind, um so
schwieriger ist es, einen gut zahlenden Käufer zu finden. Der Schuh-
macher Worhatz ließ sich mit anderen Fremden durch die Dresdener
Gemäldegalerie herumführen und merkte sich, welche Bilder als die
kostbarsten bezeichnet wurden 3 • Er drang in der Nacht vom 21. auf den
22. Oktober 1788 - es war die Nacht vom Sonntag auf den Montag-,
ohne von dem militärischen Posten gesehen zu werden, in die Galerie
ein, nahm die "Heilige Magdalena" von Correggio, hauptsächlich durch
den kostbaren Rahmen beeindruckt, an sich, dazu zwei andere Bilder
weniger hohen Ranges, ging unbemerkt nach Hause und verbarg den
Schatz in einem Bienenhaus. Er war im Grunde ein Geselle, der in
Schlössern und Kirchen einbrach und alles mitnahm, was irgendwie
nach Gold und hohem Werte aussah. Er merkte bald, daß der Correggio
unverkäuflich war, versprach daher, indem er die beiden anderen Bilder
in einer Kirche niederlegte, in einem Brief, die Kostbarkeit der Magda-
lena treulich abzuliefern, wenn man ihm 1000 Dukaten zahlte. Ein
Schreibfehler wurde dem Dieb verhängnisvoll. Er hatte in dem Er-
pressungsbrief "Kurvürst" geschrieben. Man ging die Unterschriften der
kurfürstlichen Kassen und die ausgestellten Quittungen durch und stieß
auf den gleichen Schreibfehler. Man fand das Bild nach langem Suchen
über dem Kamin versteckt.
Am 21. August 1911, einem Montag, verschwand Leonardo da Vincis
Porträt der Madonna Lisa aus dem Louvre, der, wie gewöhnlich an
diesem Tag, geschlossen war 4 • Zuerst wurde an einen Scherz gedacht,
denn Pariser Zeitungen hatten sich in früheren Jahren ähnliche Necke-
reien erlaubt, um die geringe Wachsamkeit der Diener zu beweisen. Der
Rahmen fand sich auf der Hintertreppe. Ein Italiener hatte Mona Lisa

1 Zum Beispiel LAMsoN, D., S. 206; MARTIN: Break doum, S. 82ff.; DOYLE,
WILLIAM, S. 23; MARTIN: ~W y lile, S. 141; GADDIS, TnoMAs A.: Birdman 01
Alcatraz, S.43. New York 1958.
2 Siehe die morgendliche Abholung entlassener Mädchen aus der Anstalt
St. Lazare. BERNARD DE GLAJEUX: Les passions criminelles, S. 109, Paris 1893.
3 Neuer Pitaval, Bd. XXXI, S.218ff. Leipzig 1862. 4 EGER, S. 255ff.

25*
388 Topographie der kriminellen Handlung

für sein Vaterland gerettet; er hatte es in seinem Arbeitskittel aus dem


Haus getragen. Einem Antiquar in Florenz zum Kauf vorgelegt, kehrte
das Bild nach allerlei Umwegen in den Louvre zurück, wo es seit 1914:
wieder hängt. Es kam zur Sprache, daß in Pariser Irrenanstalten
mehrere Patienten interniert waren, die wahnhaft glaubten, mit der
schönen Lisa höchst vertraut zu sein.
Der berühmte Einbrecher Worth nahm im Mai 1876 aus einer
privaten Kunstgalerie das weltberühmte Gemälde der Herzogin von
Devonshire, das Gainsboroughs Pinsel auf die Leinwand hingezaubert
hatte, mit!. Man wollte dem Dieb völlige Straffreiheit und eine Summe
geben, wenn nur das Meisterwerk der Welt erhalten bliebe. Nach
25 Jahren gelang es Pinkerton, das Bild in aller Schönheit wiederzu-
erlangen. Wie es ihm glückte, wurde niemals mitgeteilt. Wir hören nur
von freundschaftlicher Übereinkunft und einem sehr bekannten Spieler,
der Vermittler war.
Trotz gleichen Tatorts waren ganz verschiedene Tätertypen an der
Arbeit. In allen Fällen, die wir kennen, kam das berühmte Kunstwerk
wieder. Im Tumult der ersten Nachkriegszeit blieben in Deutschland
alle Galerien und Museen geschlossen. Man stahl daher aus Schlössern
und aus Kirchen alte schöne Bilder, am liebsten solche kleineren Formats,
besonders die von Lucas Cranach. Wir kennen nur die Meldungen der
kriminalpolizeilichen Blätter und wissen nicht, ob diese Bilder jemals
aufgefunden wurden 2 • Es ist vielleicht nicht völlig Zufall, daß Frauen-
bilder ganz besonders häufig Diebesbeute waren, auch ein Gemälde, das
die Schmerzzufügung sich zum Vorwurf machte 3 , war dabei. Beim Dieb
der Mona Lisa war die Raubidee im Spiele; der Täter hatte früher einmal
einer Prostituierten Geld entreißen wollen. Für ihn war dieser Diebstahl
eines schönen Mädchenbildes halber Frauenraub.
Theater (s. Lincolns Ermordung), Rathäuser, die während der In-
flation als Lager- und Abgabestellen von Lebensmittelkarten plötzlich
Bedeutung gewannen 4, Gerichte sind recht selten Tatort. Ein erregbarer,
wegen Betrugs vorbestrafter Mann verletzte in Tirol den Richter mit
einem Messer und erstach die Frau, die ihn angezeigt hatte 5. Es ist
bemerkenswert, daß trotz vieler Drohungen Staatsanwälte und Richter
von Querulanten kaum jemals angegriffen werden. Die weit zurück-
liegende Erschießung des Richters Meyhöfer in Heydekrug, Ostpreußen,
ist eine der wenigen Ausnahmen 6 • Andere Delikte gehören ebenso zu den
Seltenheiten. MIDDENDORF 7 berichtet von einem Münchener Richter der

1 ROWAN, R. W.: The Pinkertons, a detective dynasty, S.275/276. Boston 1931.


2 J ACOBS, S. 120.
3 Christus an der Geißelsäule wurde aus einem Kölner Museum gestohlen.
4 JACOBS, S. 119. 5 MERGEN, ARMAND, S.88.
6 Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 363ff. 7 MIDDENDORFF, S. 72.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 389

letzten Jahre, der angeklagt war, Einladungen und Geschenke von der
Freundin eines in Haft genommenen Angeklagten angenommen zu haben.
Kurz vor der Hauptverhandlung wurden die Akten aus der Geschäfts-
stelle der Strafkammer entwendet. - Polizeiwachen bieten Szenen des
Widerstands, der Volltrunkenheit, auch des Hausfriedensbruches, wenn
der zur Wache Geführte trotz der Mahnung den ihm vertraut gewordenen
Amtsraum nicht verläßt. Von 264 untersuchten Rauschtaten wurden im
Landgerichtsbezirk Bonn 15 oder 5,7% auf der Polizeiwache begangen!.
Das Sprechzimmer des Arztes sieht Eingriffe gegen das keimende Leben,
auch Sittlichkeitsdelikte, so jenen eigenartigen Fall der Kuppelei, den
CAPRIO beschrieben hat 2 • Paranoide haben Ärzte erschossen 3 • Eifer-
süchtige Arztfrauen haben Patientinnen im Sprechzimmer des Mannes
getötet. Ein solches Strafverfahren endete mit einem Freispruch, doch
wurde eine Tatsache festgestellt, die dem Ehemann bisher verborgen
war. Die Ehefrau hatte heimlich eine Abhörvorrichtung in das Sprech-
zimmer des Mannes zu ihrem Schlafraum legen lassen, wo sie auf alles
lauschen konnte, was ärztlich und nichtärztlich fern von ihr geschah.
Am Tage nach der Tötung war die Leitung schleunigst abgenommen
worden 4.
d) Zwischen öffentlichen Häusern und den Wohnungen frei lebender
Prostituierter gibt es Zwischenstufen lockerer Art, bei denen Wohnungs-
inhaberin, Mädchen und "Bedienerinnen" zusammenwohnen und sich
gegenseitig unterstützen 5. Vom mondänen Luxus-Etablissement bis zum
schäbigen Massagesalon laufen zudem die größten äußerlichen Unter-
schiede. In jüngster Zeit hat POLLY ADLER die Freuden und Leiden
eines solchen Betriebes beschrieben 6. Einen guten Einblick gab schon
vor über 100 Jahren das Haus der Frau Rosina Townsend in New York,
auf das die ganze Stadt stolz war. Der Mord an der schönen Helen
Jewett war Anlaß für die Presse, die Dezenz und Schönheit dieser
"Paläste der Leidenschaft" zu schildern, mit seinen Teppichen, Spiegeln,
Divans und dem verschwiegenen Garten, durch den der Mörder glücklich
auch entkam. Den Besuchern, die sich Nacht für Nacht hier drängten,
wurden die verführerischsten weiblichen Kontraste angeboten. "Acht
junge Mädchen waren von überraschender Schönheit, drei oder vier
häßlich wie die Nacht", für solche, die das Extraordinäre liebten. In
diese stille Pracht schlug jäh der Blitz des Mordes ein 7 •

1 SCHÄFER, KLAUS: Die Volltrunkenheit, S.48. Bonner Diss. 1958.


2 CAPRIO, S. 138. 3 WOSNIK, Bd. II, 3, S.29ff.
4 HARLOW, S. 277ff.
S Mordfall Steiner. v. HORSETZKI: Berühmte Kriminalprozesse der Gegenwart,
S. 337. Wien o. D.
6 ADLER, POLLY: A house is not a home, New York 1956.
7 CROUSE, S. 27ff.
390 Topographie der kriminellen Handlung

In öffentlichen Häusern wird nicht viel gestohlen, doch wird ge·


~runken und gerauft. Zu den wenigen Frauen, die in Schottland in
neuerer Zeit gehängt wurden, gehörte Mary O'Kinnon. Sie betrieb in
Edinburgh ein Bordell und erstach im Streit einen Besucher!. Sie war
die Tochter eines Offiziers und abgesunken. Wenn es sich irgendwie
vertuschen läßt, so werden Verletzungen geringer Art nicht angezeigt.
Zuweilen sind sie Folgen sadistischer und masochistischer Praktiken 2.
Raubüberfälle aber haben freie Bahn 3 und können nur durch späten
Racheakt vergolten werden. Chessman hatte in den Hügeln Holly.
woods ein alleinstehendes, von Hecken umgebenes, vornehmes Haus
ausgesucht. An einem Goldfischteich speien Kraniche Wasserstrahlen
aufeinander, es könnte gar nicht friedlicher und harmloser sein. Ein
schmuckes Mädchen öffnet, lächelt höchst entgegenkommend, führt in
einen imposanten Empfangsraum und zu einer äußerst schicken Dame.
Sie fragt nach dem Begehr. Die beiden jungen Leute richten Pistolen·
läufe auf sie und befehlen, die Mädchen sollten rasch herunterkommen.
Sie werden einzeln ausgeraubt. Beim Abschied kündigt Chessman an,
er habe beim geringsten Mucksen interessante Nachricht für die Presse.
Kaum zählbar ist die Zahl der Morde, die in der Wohnung höherer
"Lebedamen" begangen werden. Die Täter werden in der Regel nicht
entdeckt, wenn Kunden aus den oberen Schichten kommen und der
Betrieb Erpressungsanflug hat. Dot King war 1923 solch ein Fall 4.
Da war der reiche alte Herr, der heimlich kam, der junge Mann aus
Puerto Rico, in seiner Schwärzlichkeit erfrischend und geliebt, der
Mord im Bette, über allem nie geklärtes Dunkel wie in dem Falle
Nitribitt.
e) Gegenstände werden dort gestohlen, durch Einbruch, Einsteigen
oder Gebrauch von Nachschlüsseln erlangt oder geraubt, wo sie in
großen Mengen aufgestapelt sind, in Banken, Warenhäusern, Juwelier.
geschäften. Fahrräder werden von Schulhöfen weggeholt, Autos, die
auf der Straße parken, Rauschgifte aus den Apotheken, Rohstoffe von
den industriellen Arbeitsplätzen. Von den Delikten Jugendlicher ent.
fallen 11,2 % auf die Schule 5. In Kinos und in Zirkuszelten werden

1 The Boots Black Calender, S. 33.


ADLER, POLLY, S. 125; FEDER, Sm and JOAOHIM JOESTEN: The Luciano
2
story, S. 144. New York 1954.
3 CHESSMAN, CARYL: Cell2455 death row, S. 104. New York 1954.
4 CROUSE, S. 199; siehe meine Mordmonographie und die S.280 genannten
Fälle; mit der Modernisierung des Prostitutionsbetriebes verlagert sich der Tatort.
Hotels geben mit Portier und Personal einen höheren, aber nicht vollkommenen
Grad der Sicherheit. Die eigene Wohnung gut bezahlter Sondertypen - oft auf
der Basis von Perversitäten - ist für das Mädchen wieder größere Gefahr.
5 BURT, CYRIL: The young delinquent, S.151. New York 1933.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 391

Sittlichkeitsverbrechen begangen 1, sogar der Klassenraum ist keine


sichere Zuflucht 2. In Wartesälen wickelt sich der illegale Handel ab,
Strichjungen suchen hier nach Opfern und werden in der Nacht von
Freiern aufgespürt. Zahnarztlabors sind Arbeitsplatz von Falsch·
münzern 3 • Im Nachtdienstzimmer treffen sich die Ehebrecher, indes der
Apotheker unten ruhig schläft und höchstens den Provisor milde mahnt 4.
Aus dem Sanatorium, in dem die junge trunksüchtige Frau behandelt
wird, bricht sie nachts aus, durchwandert die umliegenden Bars, findet
Gesellschaft und wird an einer Lücke im Zaun erwürgt, halbnackt im
seidenen Unterzeug gefunden 5.
Tatorte gehen, viele neue kommen. Dazu gehört das sog. Hinter·
zimmer. Hierhin bittet der Hehler die Geschäftsfreunde, wenn er die
Ware prüfen und bezahlen will. Der Name "Office" schmückt das
Zimmer nur zum Scheine. Rauschgift und falsches Geld gehen hier von
Hand zu Hand. Es wird um den Gewinn gestritten, und mancher
Gangstermord geschieht. Das Hinterzimmer ist Versteck, ein dunkler,
abgelegener Winkel der Verhandlung und der Auseinandersetzung, das,
was in alten Zeiten meistens Waldesdickicht war.
Beim Morde hat sich das Friseurgeschäft als öffentlicher Tatort in den
Vordergrund gespielt, denn, eingewickelt in den weißen Mantel, ist jedes
Opfer schwer behindert, genau wie in der Enge einer Telefonzelle, in der
es überfallen wird. Die Technik ist nicht neu; die Eitelkeit der Gangster
kommt zu Hilfe. In San Francisco wurde ein bekannter chinesischer
Mobster 1897 erschossen, als er sich beim Friseur den Kopf wusch 6. Ein
anderer Gangster - dieser Fall spielte 1927 - ließ sich zweimal am Tag
rasieren und kam mit großer Pünktlichkeit 7 zur gleichen Zeit; die Tugend
wurde sein Verderben, auch seine Neigung, immer prächtig zu erscheinen.
Im Jahre 1957 wurde Albert Anastasia erschossen 8 • Er war berühmt,
gefürchtet und verhaßt. Nichtsahnend hatte er sich in einen Friseur·
stuhl niedergelassen. Zwei Männer traten ein, Pistolen knallten. Ein
Blick auf das getane Werk, dann wandten sie den Rücken und tauchten
seelenruhig im Gewühl der Straße unter. Bald wird es den gepanzerten
Friseurstuhl geben, denn jeder Trick erzeugt das Gegenmittel.

1 BRANDENBURG, S. 21; IRNlG, S. 13.; GRASSBERGER, S.5; LANG, S.40


(Homosexualität).
2 IRNlG, S. 13; SCHULZ, S. 54.
3 Kriminalistik 1959, S. 82.
4 FRANKENTHAL, 6 Ks 2/50, BI. 5; zu dem Provisor sagte der duldsame Ehe·
mann: "Es ist ja ganz schön, daß Du ein Freund des Hauses bist, aber daß Du
jede freie Minute bei meiner Frau zubringst, ist nicht schön; meine Frau braucht
Ruhe" (Mordfall Margarete Wallsiffer).
6 RICE, CRAlG: 45 murders, S. 126ff.
6 ASBURY, H.: The Barbary COWJt, S. 183, 184. New York 1947.
7 Boston murders, S. 178. 8 Der Gangster, S. 102.
392 Topographie der kriminellen Handlung

c. Tatorte, die sich frei im Raum bewegen


a) Wertsachen werden mit den Eisenbahnen transportiert, die
Passagiere haben Schmuck und Geld. Postreiter und Postkutschen
haben durch die Jahrhunderte den Straßenräubern reiche Beute dar-
geboten!. Von den Posträubern 2 führt ein gerader Weg zu jenen, die
Eisenbahnen anhielten und ausplünderten. Noch heute zeigt man Stellen,
an denen Jesse James den Zug zum Stehen brachte. Es war die Bank
auf Rädern, die zum Tatort hinfuhr, an dem man rauben und sich in die
tiefsten Büsche schlagen konnte. Der Fluchtweg war schon damals ein
Bestandteil jeder Unternehmung. Das Gelände mußte waldig sein, die
nächste Ortschaft weit entfernt. Am besten war die Nähe einer Brücke
oder eines Tunnels. Die alten Züge mußten öfters Wasser nehmen und
hier für einige Zeit zum Stillstand kommen. Das erste Angriffsziel waren
immer der Lokomotivführer und der Heizer, wie es in alter Zeit der
Kutscher war. Es konnte manchmal auch beim Langsamfahren auf-
gesprungen werden. Eine andere Methode war, sich zu zweit heimlich
in den Zug einzuschleichen und an der vorbestimmten Stelle über die
Dächer des Zuges zur Lokomotive vorzudringen.
Beim Raubüberfall auf den Eisenbahnzug galt es in der Regel, mit
zwei Formen des Schutzes fertig zu werden, einmal mit sichernder
Mechanik und dann mit menschlicher Bewachung. Wertsachen werden
in Amerika sowohl in Wagen der Postverwaltung wie in solchen einer
privaten Gesellschaft befördert, die heute Express Company heißt. Die
Postverwaltung verfügt über eine Truppe von 950 Kriminalbeamten,
die für sehr tüchtig gilt. Die Express Company hat die Geldmittel, sich
die besten Privatdetektivinstitute zu leisten. Hinter ihr steht die
erbitterte Bemühung der großen Versicherungsgesellschaften, erhebliche
Verluste wieder einzubringen und durch Verhaftung und strenge Be-
strafung abzuschrecken. Für einen Überfall erhielt Al Jennings 50 Jahre
Zuchthaus 3. Durch hohe Belohnungen werden alle Polizeiorgane ange-
spornt, geraten auch Verräter in Versuchung. Als Jeff Milton Polizeichef
von EI Paso wurde, bot ihm die Southern Pazüic Eisenbahn eine be-
sondere Vergütung von monatlich 100 Dollars an 4 • Das war im Jahre
1895 eine große Summe.
Ein Bahnräuber hat die Technik seiner Überfälle, das Verhalten der
Beamten und der Passagiere, auch die eigenen Erfahrungen und Gefühle

The Newgate Calender, S.77. Hartford 1926.


1
Ebenda, S. 130ff. - Ein amerikanischer Posträuber hatte so viele Kutschen
2
überfallen, daß es von ihm hieß, die Postpferde gehorchten seiner StinIme wie der
des Fahrers. Der Desperado, S. 109.
3 TlLGHMAN, ZOE A.: Marshal 01 the last Irontier, S.242. Glendale 1949.
4 HALEY, EVETTS J.: Jett Milton, a good man with a gun, S. 252. Norman 1949.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 393

beschrieben 1. Der Tatort lag im Walde, das nächste Haus war 8 Kilo-
meter weit entfernt. Der Zug fuhr über einen Fluß und machte halt,
um Wasser einzunehmen. Um 11.15 nachts fuhr seine Lichterreihe
zischend ein. Je zwei der Räuber lagen rechts und links am Bahndamm.
Nachts gilt im allgemeinen nicht als tunlich, weil die Bewachungs-
mannschaft verstärkt ist. Dafür sind die aus dem Schlaf geschreckten
Passagiere fassungslos, die Männer wie die Lämmer, und nur die Frauen
sind empört. Unter den Kopfkissen holen die Räuber rücksichtslos
falsche Zähne, falsche Haare, Strümpfe hervor, in die Schmuck und Geld
gestopft sind . .Als Kavaliere geben sie die "Skalps" zurück, obwohl die
Damen den Besitz verleugnen. Dann schwingen sie sich in den Sattel
und reiten 60 Kilometer in der gleichen Nacht.
Die mechanische Sicherung wird in der verschiedensten Weise über-
wunden. Beim überfall auf den Expreßzug Nr.13 der Southern-Pazific-
Eisenbahn am Südausgang des Siskiyou-Tunnels Nr. 13 am 11. Oktober
1923 wurde der Postwagen, noch im Tunnel stehend, in die Luft ge-
sprengt 2. In der Verwirrung ging die Unternehmung fehl; der Post-
beamte wurde in dem ausgebrannten Wagen verkohlt gefunden. Drei
Zugbeamte wurden totgeschossen. Mit leeren Händen flohen die Ban-
diten in die Berge. Einer der letzten überfälle geschah im Jahre 1940;
die Nacht war heiß. Entgegen der Vorschrift hatten die Postbeamten
einen Spalt offengelassen. - In einem Falle aus dem Jahre 1924 schossen
die Räuber Tränengas durch den Ventilationsschacht und zwangen
damit die Beamten, herauszukommen und den Wagen preiszugeben.
Eisenbahnmorde zeigen eigentümliche Übereinstimmung 3. Sie
werden an älteren Männern verübt, die allein in einer höheren Klasse
fahren. Nachtzüge werden nicht so oft gewählt, wie man erwarten sollte;
Kassierer fahren nicht bei Dunkelheit. Das Zuggeräusch verdeckt die
Hilferufe und den Knall des Schusses. Die Täter weisen häufig abartige
Züge auf. Der eine, Müller, hatte den Hut des Ermordeten bei sich, als
er in New York verhaftet wurde; ein anderer, Rücker, war homosexuell
und Pseudologe. Er hatte sich gerühmt, sein Vater sei ein Edelmann,
von Mutterseite habe er Zigeunerblut. Obwohl seine Eltern ganz wohl-
habend waren, lebte er von trockenem Brot und kaltem Wasser. Nur
wenn er stark bei Kasse war, gönnte er sich den Genuß eines Apfels. -
Chretien, der mit Chloroform und Revolver vorging und bei dem ersten

1 BOTKIN, B. A.: A treasury of Western folklore, S.327ff. New York 1951.


2 BLOCK: The wizard of Berkeley, S. 11ff. - Auffallend ist in diesem wie
in einem anderen Falle (ROWAN: The Pinkertons, S. 213) die Beteiligung von
Zwillingen, die die Entdeckung erleichterte.
S IRVlNG, H. B.: The trial of Franz Müller, Edinburgh 1911; ROWAN-HAMILTON,
S.O.: Trial of John Alexander Dickman, Edinburgh 1914; FRIEDLÄNDER, Bd. I,
S. 3ff.; BATAILLE: Orimes de 1892, S. 131ff.; WATTLER, S.8.
394 Topographie der kriminellen Handlung

Widerstande mutlos aufgab, war haltlos und ein vorbestrafter Dieb.


Er hatte sich einen langen Tunnel zwischen Le Havre und Paris als
Tatort ausgesucht. Der Tunnel ist auch sonst mit seinem verstärkten
Geräusch und seiner künstlichen Nacht Moment erheblicher Ver-
führung l .
Da sich der Zug vom ambulanten "Tatort" fortbewegt, liegt der
Gedanke nahe, sich der Leiche zu entledigen, indem sie aus dem Zug
geworfen, vielleicht zermalmt und unkenntlich gemacht wird. Das war
schon Müllers Plan vor über 100 Jahren, so verfahren Mörder in einem
indischen Falle 2. Nicht anders ging es einem jungen Mädchen, das
in der Nähe von Freiburg aus dem Zug geworfen und einem Raub-
und Sexualmord zum Opfer gefallen war. Neun Kilometer südlich von
Freiburg hatte der Täter die Notbremsen gezogen, war abgesprungen
und entkommen. Das war im Juni 1959. Erst sehr viel später faßte
man den Täter
Die Konstruktion der amerikanischen Schlafwagen kennt einen lang-
gestreckten Schlafraum. Durch starke Vorhänge verschlossen, sind
Betten übereinander angeordnet. Männer wie Frauen ziehen sich in ihrer
Abteilung aus, die einer Schiffskoje ähnelt. Dreimal wurden in den
letzten Jahren Frauen in ihren Betten angegriffen: zwei erlitten den Tod 3.
In dem einen Falle war eine 70jährige Lehrerin in ihrem Bett mit Bissen
überfallen und erdrosselt worden 4. Sie hatte, wie bemerkt wird, Koje
"unten" Nr. 10. Die Tat geschah um 4 Uhr morgens. Ebenfalls gegen
4 Uhr morgens wurde einer jungen Frau in ihrem Abteil - diesmal
Nr. 13 und wieder unten - die Gurgel abgeschnitten. Zeugen wollten
eine dunkle Gestalt durch den Schlafwagen huschen gesehen haben. Der
Negerkoch des Speisewagens gestand, herrische oder göttliche Stimmen
hätten ihm befohlen: "Auf, geh zur unteren Koje 13", doch hatte er vor
dem Geständnis sehr viel Alkohol erhalten 5. Als das Todesurteil ver-
kündet wurde, gähnte er und ließ sich unbewegt in seine Zelle bringen.
Wie Warnungsschilder ankündigen, treiben sich Taschendiebe an den
Kassenschaltern und in den Gängen abfahrender Züge herum. Kinder-

1 Siehe den Raubversuch vom 10. Januar 1947 in einem Tunnel bei Pforzheim
(JACOBS, S. 147). - Ein Raubmord im Zuge Köln-Norden war auf den Weihnachts-
abend 1947 gelegt worden. Nach JACOBS war die damalige überfüllung der Züge
ein Sicherheitsfaktor. Der physikalische Tatort verändert seinen soziologischen
Charakter je nach der Bewegung, die Menschen zu ihm hinzieht oder von ihm
fernhält.
2 Kriminalistik, S. 132, 1960.
3 Siehe meinen Aufsatz: Neue Typen de8 Tatort8, Schweizerische Zeitschrift
für Strafrecht, S. 181ff., 1951.
4 Ausführlicher Bericht von Charles Purvis in der Chicago Tribune vom 29. Ok·
tober 1950.
5 Der Richter tadelte die Polizei wegen dieser unzulässigen Methode.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 395

schändungen finden statt und sind durchaus nicht immer wohlgeplante


Erpressungsmanöver 1. Homosexuelle Handlungen werden in Eisen-
bahnen verübt 2. In manchen Fällen steht Aussage gegen Aussage, so daß
es nur zu einem Freispruch langt, doch war der Sachverhalt in einem
dargestellten Falle recht bedenklich 3.
Eine Deliktsform der langen Eisenbahnfahrten ist das Falschspiel,
einstmals besonders in Amerika eine vielgeübte Kunst, jetzt mehr und
mehr im Rückgang. Als Opfer wurden die ausgesucht, die eine weite
Reise vor sich hatten und deshalb einen größeren Betrag bei sich trugen.
Eine ganze Gruppe arbeitete wie ein Uhrwerk auf das Endziel hin. Es
mußte spät in der Nacht sein, am besten zwei Uhr früh. Die Hauptrolle
spielte ein ländlicher "Tölpel" aus Texas, der in Chicago Vieh verkauft
hatte, mit seinem Gelde protzte und den man nun gemeinsam auszu-
rauben hoffte, Komplicen, Gewinner-Opfer und bestochenes Personal
des Zuges. Zum Endergebnis wirkte dreierlei zusammen: der Tatort,
die Tatzeit und das Element der Menschen, die mit Gewinnsucht leicht
und sicher wie mit einem Balle spielten 4 • Es war in einem anderen Sinn
Kriminalpolitik. Dem Stolz des Schwindlers auf die Leistung danken
wir den Einblick in sein tiefstes Wesen und in das geistige Triebwerk
derer, die sich selbst zum Opfer machen 5.
Der Bahnhof selbst, die Wartesäle, Nebenräume locken die ver-
schiedenartigsten kriminellen Typen an. Die großen Stationen stehen Tag
und Nacht offen; hier breitet sich ein Dschungeldickicht der modernen
Welt aus, Einsame, die sich "Gesellschaft" kaufen wollen, Betrunkene,
Perverse, Ausreißer, Obdachlose, Rauschgifthändler, Bauernfänger.
Rings in der Bahnhofsnähe blüht der schwarze Markt und stillt auf
seine Art den Warenhunger. In schlechten Zeiten steigen die Eisen-
bahndiebstähle ins Riesenhafte an. Die ungeschützten Werte werden
zuerst von der hungernden Bevölkerung der Städte angegriffen. Die
Polizeistatistik von Nordrhein-Westfalen gab folgende Zahlen bekannt 6 :

1 MELLOR, S. 114.
2 JACOBS, S.96; GRASSBERGER, S. 5; LANG, S.40.
3 WINZENRIED und RASCH: Monatsschrift, S.197, 1958. - Ein 15jähriger
Schüler hatte einen angesehenen Mann noch in! Nachtzuge beschuldigt, ihn in
sein Abteill. Klasse gerufen und mißbraucht zu haben. Der Angeklagte verteidigte
sich damit, daß er sagte, der Junge sei in das Abteil genommen worden, weil er die
Ankunftszeit erfahren wollte, und sei, als er belästigend zu werden anfing, von ilim
hinausgewiesen worden.
4 IRWIN, W.: The conlessions 01 a con man, S. 124-150, New York 1909, wo
die Prozedur genau beschrieben ist.
6 Siehe auch MAURER, DAVID W.: The big con, S.270ff. New York 1949.
6 JACOBS, S. 110. "Die Bauern konnten sich kaum der Angriffe auf Vieh und
Bodenprodukte, das Jagd- und Forstschutzpersonal auf den Waldbestand, die
Bahnpolizei auf Zugladungen mit Kohlen erwehren."
396 Topographie der kriminellen Handlung

Eisenbahndiebstähle (Nordrhein-Westfalen)
1946 13966
1947 1704
1948 2253
1949 887
1950 172
Präsident Garfield wurde auf dem Bahnhof in Washington er-
schossen 1 • Die Pläne der russischen Anarchisten von 1879 kreisten um
den Sonderzug des Zaren, der in die Luft gesprengt werden sollte: es
gelang sogar, ein Mitglied der Verschwörergruppe als Bahnwärter unter-
zubringen 2. Die Technik ist im Augenblick obsolet 3 •
b) Die Sage aller Völker kennt den Schiffsmord. Bei Arion war es
Raubmord. Dieser bedeutende Dichter und Zitherspieler hatte eine
Kunstreise von Korinth nach Italien und Sizilien unternommen. "Nach-
dem er dort viel Geld verdient hatte, wünschte er wiederum nach Korinth
zurückzukehren ... weil er aber keinem anderen mehr traute als den
Korinthern, so mietete er sich ein Schiff korinthischer Männer. Diese
faßten aber auf hoher See den bösen Plan, Arion aus dem Schiff zu
werfen und sich seiner Schätze zu bemächtigen 4 ." Der Dichter flehte
um sein Leben, die Seeleute waren unerbittlich: entweder sollte er sich
selbst das Leben nehmen, dann würde er auf festem Land begraben
werden können, oder er solle ins Meer springen. In festlicher Kleidung
sang Arion ein ergreifendes Lied, sprang ins Meer und wurde in wunder-
barer Weise durch einen Delphin ans Land getragen. - In Grimms
Märchen ist es nicht ein Raubmord 5: die wunderliche junge Königin
liebt, vom Tode auferweckt, ihren Mann nicht mehr. "Sie faßte eine
böse Neigung zu dem Schiffer. Und als der junge König einmal dalag
und schlief, rief sie den Schiffer herbei und faßte den Schlafenden am
Kopfe, und der Schiffer mußte ihn an den Füßen fassen, und so warfen
sie ihn hinab ins Meer."
Als Neros muttermörderische Gedanken es erst mit Gift versucht
hatten, dann mit dem Deckeneinsturz eines Zimmers, wo sie schlief,
gerieten sie auf einen anderen Plan. Er ließ ein Schiff erbauen, das leicht
auseinanderfiel. "Auf ihm sollte seine Mutter durch Schiffbruch oder
Einsturz der Kajüte ums Leben kommen 6." Er brachte sie dann auf das
Fahrzeug, wobei er liebevoller 7 war als je zuvor. Sie schwamm jedoch
1 LANGEMANN, S. 126. 2 Ebenda, S. 83ff.
Die Sonderzüge sind schwer gepanzert, außerdem wird meist geflogen oder das
3
Auto benutzt.
4 HERoDoT, I, 24. 5 Märchen, Die drei Schlangenblätter.
8 SUETON: N ero 34.
7 TAOITus, Ann. XIV, 3: "Nihil tam capax fortuitorum quam mare", sagte ein
Berater bei dem Mordplan. Niemand würde die Schuld von Wind und Wogen ihm
aufbürden. - Wie Nero jeden Verdacht zerstreute, sagen TAOITus, Ann. XIV, 4,
und CASSroS DION LXI, 13.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 397

beim Unfall an das Land und mußte mit dem Schwert getötet werden.
An das Gerücht des Selbstmords glaubte niemand. - Ein früherer
Freund des Dion, Hiketas mit Namen, wollte dessen Frau und Schwester
loswerden. "Er ließ ein Schiff für sie ausrüsten und gab vor, er wolle
sie nach dem Peloponnes bringen lassen. Stattdessen gab er Befehl,
sie auf der Fahrt umzubringen und die Leichen ins Meer zu senken!."
Wenn wir weiter hören, daß der Tyrann Dionysius versucht hatte,
Plato auf der Fahrt nach Griechenland auf See umzubringen 2, so
kann das Schiff im Altertum kein unbekannter Tatort eines Mordes
gewesen sein.
Es hat seine guten Gründe, wenn uns die Kriminalität der Seefahrt
in der angloamerikanischen Kriminalgeschichte öfter begegnet als in
Deutschland oder Frankreich. England und lange Zeit auch die Ver-
einigten Staaten waren Seemächte, die für ihre Schiffe - damals noch
Segelschiffe - fremde Matrosen anwarben, nicht selten dunkle Rassen.
Die Köche waren oftmals Neger. Es fehlte nicht an Vorbestraften aus
aller Herren Länder. Als Segelschiffe noch die Mehrzahl waren, geriet
man oft in eine Flaute. Die Nahrungsmittel wurden knapp, und um das
Essen kreist, wie im Gefängnis, an Bord ein jeglicher Gedanke. Das
Schiff geriet in warme Zonen und in Winde, die in einer Richtung liefen.
Es gab so gut wie nichts zu tun. Vor allem auf dem Schiff ist Müßiggang
der Laster Anfang. Abwechslung bläst die träge Stimmung nicht mehr
durcheinander. An einer Unbill leidend Rachepläne durchzusinnen 3, ist
Zeit und ungestörte Muße.
Fast immer ist der Kapitän das Opfer 4. Oft wird berichtet, daß er
zuschlug, daß er verletzend grob und herrisch finster war. Es ist nicht
klar, warum die "Skipper" so tyrannisch oder überheblich waren, weil
die Legende sie ganz anders vor uns hinstellt, vielleicht Schiffsjungen-
träume wiedergebend. Sie hausten in den Kapitänskajüten, oft wahren
Heiligtümern für die Schiffsbesatzung, und fühlten sich hier völlig sicher.
Doch gerade, daß sie abgelegen waren, am besten Platze, mittschiffs,
entfernt von Bug und Heck, wo die Matrosen wohnen, erleichterte den
jähen Überfall. Der Kapitän hat, wenn es sein muß, lang zu wachen.
Es ist natürlich, daß er dann am Tage schläft, allein in seinem Bau, wie
seine hohe, unnahbare Stellung es erheischt. Daß Leute der Besatzung

1 PLUTARCH: Dion 58. 2 Ebenda, Dion 5.


3 Schiffsrnorde sind behandelt bei: MINOT, S. 13ff., 262ff., 281ff.; in New York
murders, S. 220; in Scots Black Calender, S. 29 und 86; im Neuen Pitaval,
Bd. XI, S.127ff.; bei KEEToN, G. W., und JOHN CAMERON: The "Veronica" trial.
Edinburgh 1951.
4 Über einen Kapitän als Brandstifter und Versicherungsbetrüger s. Öffentliche
Sicherheit, 1959, S. 20. Viermal waren seine Schiffe geheimnisvoll dem Feuer
zum Opfer gefallen. Es handelte sich um einen finnischen Seemann.
398 Topographie der kriminellen Handlung

nachts an Deck sind, fällt nicht auf. Die Wachen wechseln wie der Mann
am Steuer. In warmen Nächten raucht und schwatzt und döst es sich
viel besser in der frischen Luft als in den überfüllten Mannschaftsräumen.
Fast immer neigt der Seemann zum Erschlagen, und dies ist eine leise Art
zu töten. Draußen dehnt sich endlos und verschwiegen die Meeresfläche.
In vielen Fällen wird der Tote über Bord geworfen. Mordwaffen folgen
nach. Auch Zeugen wird man in der gleichen Weise los. Multiple Morde
sind daher sehr häufig. Die Strafverfolgung steht vor einer einzigartigen
Schwierigkeit, die nur in Folterzeiten überwunden werden konnte. Der
Täter ist in einem kleinen, scharfbegrenzten Kreis zu suchen und ist doch
äußerst schwer zu überführen. 1912 wurde der bucklige Koch de Graff
von der Anklage freigesprochen, den Kopf des Kapitäns buchstäblich
in Stücke gehackt zu haben; außer dem Opfer waren auf dem Schiff
nur drei Mann!. Einer von ihnen war der Mörder, mußte es sein.
Die großen transatlantischen Schiffe sind schwimmende Hotels mit
Hunderten von Frauen und Männern als Bedienung und Besatzung und
vielen Hunderten von Passagieren. Wir wissen, daß viele Kriminelle sehr
beweglich sind, von einem Kontinent zum anderen reisen. Zuerst ist das
Verhältnis von Besatzung und Fahrgästen zu betrachten. Die schwere
Kriminalität ist sehr gering, wenn nicht noch in den Selbstmordfällen
einige Morde stecken sollten. Ein alter Giftmord auf dem "Toward
Castle" kommt aus Schottland 2. Im Jahre 1947 wurde eine Schau-
spielerin, die aus Kapstadt nach England zurückkehrte, von einem
Stewart getötet 3 , die Leiche durch das Kabinenfenster erster Klasse in
das Meer geworfen 4. Der Täter, James Camb mit Namen, hatte einen
unerfreulichen Ruf, was Frauen anging. Auf der Ausreise der "Durban
Castle" nach Südafrika hatte er weibliche Passagiere bei drei ver-
schiedenen Gelegenheiten angefallen 5. Aus Furcht vor einem Skandal
hatte keines dieser weiblichen Wesen gegen den Stewart Schritte unter-
nommen. Die Nacht zur Tatzeit war sehr heiß; das Schiff fuhr gerade
durch den Tropengürtel. - In einem Fall, entschieden im Oktober 1959,
wurde der Funker eines holländischen Schiffes von den Geschworenen
aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Der Dampfer war von Singapore
nach Boston unterwegs. Der Angeklagte hatte sich in eine 23jährige
junge Frau, die aus Malaya kam, verliebt. Ihr halbnackter, schwer

1 MINOT, S.283. - Die Geschworenen wagten die Schuldfrage nicht zu be-


jahen, weil kein Motiv gefunden werden konnte. De GraU hatte nach dem Frei-
spruch ein Frühstück mit seinem Verteidiger, versicherte nochmals seine Unschuld,
ging in den Sturm hinaus, der gerade herrschte, und wurde niemals mehr gesehen.
MINOT, S. 291.
2 The Beots Black Calender, S. 41.
3 CLARK, GEOFFREY: Trial 0/ James Camb. Edinburgh 1949.
4 Die Verurteilung erfolgt bei fehlendem Corpus delicti. 5 CLARK, S. 11.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 399

zerschlagener Körper war in der Bucht von Boston angewaschen worden.


Ein vor der Polizei abgelegtes Geständnis wurde später widerrufen 1.
In eine ganz andere Kategorie gehört der Sprengstoffanschlag auf
den Lloyddampfer Mosel 2. 88 Menschen wurden getötet. Der Täter
nannte sich Williams King Thomas und wurde bei dem Vorgang tödlich
verletzt, gab freilich später einen anderen Namen an. Er war das, was
man heute einen Gangster nennen würde; soweit man weiß, war er in
Kanada geboren 3. Er hatte, um einen großen Versicherungsschwindel zu
begehen, eine Höllenmaschine auf den Dampfer laden lassen wollen,
die aber nicht, wie vorgesehen, auf offenem Meere, sondern allzu früh
am Kai von Bremerhaven losging. Die schwere Kiste mit all dem
Sprengstoff hatte sich durch Zufall von der Windekette abgelöst und
war vom Wagen auf das Straßenpflaster gefallen, worauf die Explosion
mit ungeheurer Wucht erfolgte.
In manchen Räumen großer Schiffe warnen Schilder: "Man spiele
nicht mit fremden Leuten Karten!" Trotzdem wird viel gespielt und viel
verloren. Das große Schiff hat eine eigene Atmosphäre. Der Mensch ist
isoliert, gleichzeitig enggedrängt, hundert Begegnungen ausgesetzt, un-
tätig, überfüttert, der Salzluft, dem Auf und Ab des Luftdrucks preis-
gegeben und schließlich sozial durch die Wahl der Kajütenklasse deutlich
abgezirkelt. Wie im Hotel, so kann sich auf dem Schiffe neben der
Zahlungsfähigkeit ein feineres Kriterium nicht durchsetzen. So kommt
es, daß wir von großen Schwindlern hören, die am Kapitänstisch sitzen 4,
allein auf Grund der teueren Unterkunft, die sie mit dem erbeuteten
Geld bezahlt haben, die sie gesellschaftlich erhöht und allen anderen, die
im gleichen Raume essen, empfehlend vorstellt.
Wer die Lebensläufe erfolgreicher Krimineller durchprüft - und
zum Erfolg gehört auch ab und zu ein Rückschlag - wird bald gewahr,
daß sie aus ganz bestimmten Gründen reisen. Nach einer Freiheitsstrafe
wacht die Sehnsucht nach dem Blick in weite Ferne auf, nach frischer
Luft, nach bunter, vielbewegter Umwelt, der Nähe vieler harmlos-junger
Frauen und nach der Achtung, die man rasch und ohne weiteres kaufen
kann. Sie reisen, um sich auszulüften, möglichst zu zweit, weil sie sich
sicherer fühlen und irgend jemand haben müssen, dem sie sich offen
geben können, und weil ein Mann, der einen Freund hat, weniger Arg-
wohn weckt. Dann wieder reisen Kriminelle, wenn ein großer Coup
geglückt ist, das Geld in ihrer Tasche klimpert und sie - mit einem

1 Time Magazine vom 12. Oktober 1959 und 14. März 1960.
2 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S.1-60. Leipzig 1878.
3 "Er lebte auf großem Fuße, reiste mit Dienerschaft, gab glänzende Diners,
hatte für wohltätige Zwecke stets eine offene Hand. In Dresden verkehrte er in
den besten Kreisen." Ebenda, S. 40.
4 BRANNON, W. T.: "Yellow kid" Weil, S.242. Chicago 1948.
400 Topographie der kriminellen Handlung

hübschen Mädchen beispielsweise - ausspannen 1 und die Nähe der


Komplicen meiden wollen, die ihre Beute laut und unbedacht ver-
schwenden. Die beiden Gruppen werden Musterpassagiere sein. Ganz
anders sind die Typen, deren Arbeitsfeld das Schiff ist. Sie wohnen in den
teuersten Kabinen, sind kostbar, doch nicht grell gekleidet. Sie sprechen
mit gedämpfter Stimme; daß sie den besten Kreisen angehören, lehrt ein
Blick. Sie suchen sich die Opfer aus, indem sie die Passagierliste stu-
dieren und sich so diskret an sie heranpirschen, daß die Bekanntschaft
jedem Opfer eine hohe Ehre ist. Sie lassen erst nach altem Brauch ge-
winnen. An dem Abend aber, ehe das Schiff landet, fällt der Haupt-
schlag 2. Meist ist die Auswahl so geschickt, daß der Beraubte sich den
Gang zum Staatsanwalt nicht leisten kann.
Während der Prohibition wurden in den Vereinigten Staaten ganze
Schmugglerflotten in Fahrt gesetzt. Der Rechtsbruch brachte Riesen-
summen ein 3, wie heute noch der Rauschgifthandel.
c) Die Motorisierung hat eine neue weitreichende örtliche Beziehung
hervorgebracht, die bislang auf die Staatskarossen der Staatsober-
häupter, die Privatwagen reicher Leute, bisweilen auch auf Droschken
beschränkt war. In langer Reihe treten die Attentate vor uns hin, die
einen Fürsten bei der Ausfahrt ums Leben zu bringen suchten. Sie
beginnen, wenn wir nur eine kurze Strecke zurückgehen, mit der Bombe,
die am Weihnachtsabend des Jahres 1800 eine Anzahl von Unschuldigen
tötete, Napoleon selbst aber verschonte, weil dessen Equipage "pfeil-
schnell" durch die enge Straße schoß 4. Sie reichen bis zum 9. Oktober
1934, dem Tage, an dem König Alexander von Jugoslawien und Außen-
minister Barthou, diesmal schon im Auto, erschossen wurden 5. Im
Prozeß gegen den Mörder des Präsidenten Carnot vom 24. Juni 1894
kam zur Sprache, daß der Präsident die zur Seite des Wagens reitenden
Offiziere ersucht hatte, ein wenig zurückzubleiben, um ihn nicht zu sehr
zu verdecken 6 • Ein anderer Zeuge, ein Kürassierrittmeister, teilte mit, daß

1 WILSON, HERBERT EMERSON: I 8tole 16,000,000 Dollar8, S.62. New York


1956. - Emersons Komplicin sprach in England auf einer Versammlung des
Roten Kreuzes. 80 Insassen eines Altersheims wurden von den reichen Ameri-
kanern eingeladen. "Wir lebten", schreibt EMERSON, "in einer Traumwelt."
2 Siehe den Bericht über die Technik und die von einem solchen Falschspieler
erlangten Summen bei HYND, ALAN: The giant killer8, S. 294ff. - Ein ostentativ
Bibel lesender Komplice spielte eine bedeutsame Rolle.
3 Zu diesen Entwicklungen s. TnoMPsoN and RAYMOND: Gang rule in N ew York,
S.86ff., New York 1940; BLOCK, EUGENE B.: Wizard 01 Berkeley, S.96ff., New
York 1958; DINNEEN, JOSEPH F.: Underworld USA, S. 48ff., New York 1957;
JOESTEN, JOACHIM: Dope, Inc, S. 70ff., New York 1953, wo die Schiffahrtswege
für den Rauschgütschmuggel beschrieben sind.
4 EGER, S. 97. 5 LANGEMANN, S. 269.
6 BATAILLE: Orime8 de 1894, S. 110ft
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 401

der Präsident gesehen sein und direkten "Kontakt" mit der Bevölkerung
zu haben wünschte. Auf diese Weise ging die unmittelbare Deckung
durch die Begleitung verloren. - Sicherheit muß häufig hinter per-
sönlichen Wünschen zurücktreten. Auf einer Ausfahrt durch den
Hydepark schoß am 10. Juni 1840 ein Geisteskranker auf Königin
Victoria und den Prinz Consort. Das Publikum stürzte sich auf den
Täter, der nach dem zweiten Schuß keine Anstalten zur Flucht machte.
Auf der Rückfahrt beschloß die Königin, die gleiche Stelle noch einmal
in ihrem Wagen zu passieren, um dem Publikum zu zeigen, daß "wir
trotz des Vorgangs nicht alles Vertrauen zu ihm verloren hatten!." Es
war eine unerschrockene, aber gefährliche Psychologie.
Die Frage, welche technische Neuerung dem Kriminellen, welche der
Strafverfolgung im großen und ganzen nützlich gewesen ist, läßt sich
dahin beantworten, daß Telefon, Telegraphie und drahtlose Verbindung
die polizeiliche Arbeit gefördert haben. Das Auto dagegen ist haupt-
sächlich dem Verbrecher zugute gekommen, hat nicht nur seine Angriffs-
und Fluchttechnik verbessert, sondern ihm neue seelische Impulse ge-
geben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß zwischen der maschinell
produzierten Geschwindigkeit und anderen psychischen Beschleuni·
gungen Verbindungen laufen, zumal wenn Pubertät, Alkohol oder Rausch-
gift die schwach gebauten Hemmungen gelockert haben. Neben anderen
Reaktionen ist die Lust am Schießen plötzlich aufgestöbert. Die Angriffs-
neigung lichtet ihre Anker. Die rasche Fortbewegung wirkt wie Kokain.
Sie füllt ein Vakuum in den Gehirnen junger Menschen, stillt ihre Ruhe-
losigkeit. Wenn sie am Steuer eines starken Wagens sitzen, sind sie dem
Erwachsenen nicht nur gleich, sie sind ihm überlegen, weil sie dem
Motor härtere Dienste abverlangen und auch abgewinnen, und weil sie
wagen, wovor er zurückschreckt. Die Lustgefühle, die die rasend schnelle
Fahrt begleiten 2, sind Nachbarn der sexuellen Sphäre, obschon die
Wissenschaft die physiologischen Fäden, die hier offensichtlich laufen,
nicht beachtet hat.
Wenn man die Autodiebstähle beiseite läßt, die manchmal klepto-
manischen Charakter tragen, so beobachtet man, daß mit dem Auto das
Leben junger Menschen einen neuen Mittelpunkt gefunden hat. Wenn
früher vor den Augen angeschwärmter Mädchen Kraftleistungen voll.
bracht wurden, ein Wettstreit, der biologisch irgendwie begründet war,
so hat sich dieses "Räderschlagen" ganz nach dem Auto hin verlagert.
Die Kurven werden möglichst scharf und schnell genommen, Wett-

1 JAGow,KURT: Letters 0/ thePrinceConsort, 1831-1861, S. 70ff. NewYork 1938.


2 "Virginia treibt den Fahrer an: "Fahr schnell", sagte sie, "fahr ganz verrückt
schnell!" Er legte Tempo zu. "Schneller, viel schneller!" Er war nahe daran,
beide mehrere Male zu töten. Keiner machte sich etwas daraus." - CHESSMANN:
Gell 2455, S. 72.
v. Hentig, Das Verbrechen I 26
402 Topographie der krimIDellen Handlung

rennen werden angestellt, das überholen ist Beweis des übertreffens,


und wer am meisten Kilometer fährt, das größte Wagnis unternimmt,
ist bester Mann. Es kann nicht nur die Enge und die Abgeschlossenheit
des Wagens sein, daß Mädchen in den Autos öfters alle Vorsicht in die
Winde schlagen 1. Die Schnelligkeit ergreift den ganzen Organismus, regt
jede Reaktion zu brüskem Ablauf an 2. In kurzer Zeit wird Energie mobil
gemacht und abgegeben. Das lockere Mädchen heißt auf englisch
"schnelles" Mädchen, denn wahre Lebenskraft ist leicht beweglich 3.
Mit dem Auto hat sich eine völlig neue Beraubungstechnik ent-
wickelt, wozu die Flucht, der Wagenwechsel und eine hochentwickelte
Fahrerkunst gehören, gestützt auf "aufgepäppelte" Maschinen 4. Benutzt
das Opfer selbst das Auto, Gelder abzuholen oder einzuzahlen, so ist
es in dem Wageninneren ziemlich sicher. Die gefährlichen Phasen des
Transports sind das Ein- und Aussteigen. Hier können gutgekleidete
Kriminelle in den Wagen eindringen und mit vorgehaltener Pistole den
Kassierer an eine entlegene Stelle außerhalb der Stadt fahren. Während
das Opfer aus dem Wagen herausgesetzt wird und einen langen Fuß-
marsch antritt, vertauschen rasch die Gauner das fremde Auto mit dem
eigenen Gefährt und schlagen sich auf Seitenwegen in die Büsche, indes die
großen Straßen ein bis zwei Stunden später erfolglos abgeriegelt werden.
Sogar die Wilderer ländlicher Gegenden fahren mit einem Auto oder
Motorrad ins Revier. Das Gewehr ist im Wagen nicht zu sehen. Bei
Nacht wird das Wild mit den Scheinwerfern angeblendet. Ein Schuß,
der früher das ganze stille Tal durchhallte, wird von dem Knallen der
Auspuffrohre zugedeckt, ein Trick, den wir von manchen Morden
kennen 5. Der Viehdiebstahl in großem Umfang und in weit entlegenen
Regionen wird durch Benutzung eines Luxuswagens möglich, der
imponierend, deshalb unverdächtig aussieht. Am Morgen steht er
wieder in der Garage 6 • Das Blut im Kofferraum gehört bei Jägern und

1 Ein Mitglied der weiblichen Polizei, das sich mit den Sittlichkeitsproblemen
jugendlicher Autofahrer zu befassen hatte, befragte einen "Kenner" über das
Treiben eines Schulmädchens. "Er meinte, es sei schwer zu sagen. Wir fragten,
ob es näher bei zwei oder zweihundert Intimitäten läge. Er sagte, er würde es auf
lOOmal schätzen." MARTIN, J. B.: Why did they kill?, S.58. New York 1953.
2 Zum Beispiel übersteigen vom hinteren auf den Führersitz in voller Fahrt.
MARTIN: Why did they kill?, S. 51. New York 1953.
3 Der rohe Ausdruck "Schnalle" hängt mit schnell zusammen. KLUGE-GÖTZE,
S. 684. Über englische obszöne Wortbildungen mit "fast" s. PARTRIDGE, S.267
und 1044.
4 Siehe Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 183ff.
5 O'DoNNELL: Mußten sie morden?, S. 226.
ft MATHIESEN, WILHELM: Die Wilderei und ihre Bekämpfung. Kriminalistik
1957, S.14. - Im Gebirge wird das Motorrad verwendet, das im Gebüsch ver-
borgen werden kann. Dafür muß der Transport der Beute abschnittsweise vor-
genommen werden.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 403

bei Metzgern zur legalen Tätigkeit. In wirtschaftlichen Krisen kommen


Stadtbewohner mit Frettchen und mit Hunden in den Wald gefahren.
Das Dorf macht sich zum Herrn des Waldes mit der Büchse, am liebsten
Sonntags, wenn die Kirchenglocken läuten. Dann geht der wohl-
erfahrene Förster durch den Tann.
Von kirchlicher Seite wurde im April 1960 die Feststellung gemacht,
daß in 1200 mit Paaren besetzten Autos an einem bayerischen Grenz-
übergang nur 91 verheiratete Paare waren. Wie diese Zählung vor-
genommen wurde, ist nicht gesagt. Richtig ist auf jeden Fall die Beob-
achtung, daß das Auto einen tiefen Einbruch in den Bestand der her-
kömmlichen Anschauungen hervorgerufen hat. Der Wagen, dunkel bei
Nacht, bei Tage auch nicht allzu übersichtlich, die stunden- oder tage-
lange Nähe, die sonst im Leben unter fremden Menschen nicht zustande
kommt, die Müdigkeit, die Wirkung aller Art von Gas, die Abgelöst-
heit von der Welt der Aufsicht und der Mahnung. . . das alles drängt
in eine Richtung: hin zum Verführen und Verführtseinwollen, und
niemand wird bezweifeln wollen, daß Autos erst den Menschen in die
Abgelegenheit "verführen" und, angekommen, wo es still und einsam ist,
der ganzen Bauart nach ihre Kupplerrolle weiterspielen.
An diese Augenblicke schöner, unbedachter Schwäche haben sich
alsbald Erpressung, Raub und Tötung angesetzt. Voyeurtum fließt in
schwachen Dosen ein. Die jungen Männer haben meistens nicht viel Geld,
sie können auch, vor ihren Mädchen Helden spielend, rabiat und un-
vorsichtig werden. In den Erpresserkreisen gelten 30- bis 35jährige Paare
mit schönen, teuren Wagen als die wünschenswerte Beute. Nach der
Behauptung solcher, die dabei gewesen sind, ist niemals von dem reichen
Manne Widerstand zu fürchten l . Er muß sogar die Frau, die schreien
oder kämpfen will, zur Ruhe mahnen. Der Hauptgrund ist, daß einer
oder beide oft nicht ledig sind. - Verletzlicher noch sind Homophile,
die sich im Auto überraschen lassen2 • In manchen Mordprozessen geht
ein solcher Vorgang, rasch erledigt, durch die Hauptverhandlung, nur als
Symptom der räuberischen Angriffsart. - In neuer Zeit, wo alle Men-
schen Autofahren lernen und jüngere mit dem älteren eng zusammen-
sitzen, hat die Verführung sich geregt, sie mag als Episode Fahranleitung
unterbrechen oder von der ersten strafbaren Berührung im Wagen zu
weiterer Betätigung im Hause des Lehrers überleiten 3 • Man braucht nur
das geschlossene Auto mit dem Reitunterricht zu vergleichen, um einzu-
sehen, wie die Tatortsituation gewechselt hat. Die durch die Technik neu
geschaffene Gelegenheit ist Fluch und Unheil für sexuelle Psychopathen.
Aus äußeren Gründen wird ihr Liebesleben mehr und mehr gefährlich.
1MARTIN: My lile in crime, S.37. 2 LANG, FRITZ, vermerkt 9 Fälle.
3Siehe die sorgfältige Darstellung eines solchen Falles bei WINZENRIED und
RASCH, S. 200ff.

26*
404 Topographie der kriminellen Handlung

Wenn es früher das abgeschlossene Besitztum gab, dazu den Schutz


der nahen Menschen, demgegenüber Wälder, Berge, stille Seitenwege, so
hat das Auto diesen Unterschied verwischt. Autos aus aller Herren
Länder sind unaufhörlich unterwegs. An manchen Tagen steht ein Auto
hinter jedem Busch, es fällt nicht auf, wenn Wagen einsam parken, bei
Tage und bei Dunkelheit, wenn sie verlassen einen halben Tag herum-
stehen. Es kann ein Motorschaden sein. Unweit mag ein Naturfreund
sich zurückgezogen haben. Ein Pärchen hat sich in den Busch ge-
schlagen, das man nicht gerne stören möchte. So kommt es, daß der
Mord in diese Lebenssphäre eingedrungen ist. Tragödien spielen sich im
Auto ab 1. "Anhalter" ziehen plötzlich die Pistole. Man hat behauptet,
daß es weniger gefährlich sei, sich einen Stromer in die gute Stube einzu-
laden als manche Typen junger Leute in den Wagen aufzunehmen. Der
Dieb vermag ein Haus nicht aus dem Grund zu lösen, doch ist es leicht,
das Wertobjekt des Wagens anzueignen, das noch dazu die rasche Flucht
erleichtert. Ein neuer Gegenstand des Diebstahls ist erfunden worden;
in Deutschland meldete man 1958 84949 Fälle, und ihre Zahl steigt
unaufhaltsam an 2.
Wie die Kriegselefanten durch ihr Gewicht die gegnerischen Reihen
zertraten, so überfuhren schwere Sichelwagen orientalischer Heere ihre
Feinde. Das Überfahren mit dem Auto setzt die alte Tötungstechnik
fort. Sie wurde erst von Bauern ausgedacht 3 • Im Falle Gallemard galt
es, die Laufzeit einer Lebensrente abzukürzen 4. Die Fälle mit dem Auto
häufen sich, teils werden unbequeme, einst Geliebte einem solchen
"Unfall" unterworfen, teils werden alte Damen von gedungenen Tätern
überfahren 5, und alles sieht so aus, als wäre es ein Unfall, Schuld trägt
ein wilder Fahrer, der danach geflüchtet ist. Bisweilen gehen die Ver-
1 Siehe den Fall Dr. Müller, Kriminalistik 1958, S. llff.
2 GEERDS, FRIEDRICH: Kriminalistik 1960, S. 106.
3 In dem von WATTLER (S. 42) beschriebenen Falle trieb ein Bauer ein scheues
und durch Mißhandlung erregtes Pferd über die vorher gewürgte Frau hinweg.
4 "Bald danach nahm Gallemard seinen Pensionisten mit aufs Feld, damit er
ihm beim Heuaufladen helfe. Der alte Mann stand halb betrunken im Wagen und
lud die letzten Bündel auf, als plötzlich die Pferde angepeitscht wurden. Mit einem
Ruck fuhr der Wagen an und schleuderte den alten Mann auf die Erde. Einige
Monate später starb er an den Verletzungen und war unfreundlich genug, Galle-
mard ... mit seinem letzten Atemzuge anzuklagen." IRVING, H. B.: Last studies
in criminology, S. 187. London 1921.
5 Frank Egan, ein Anwalt, früher Schutzmann, war auf Grund abgehörter Ge-
spräche in Verdacht geraten, eine reiche alte Witwe beseitigen zu wollen. Der
zerfetzte Körper wurde mitten auf der Straße gefunden. Es sah nach einem Ver-
kehrsunfall aus. Bald danach gestand ein alter Zuohthäusler, er habe zusammen
mit einem Kumpan den Auftrag Egans gehabt, die Frau bewußtlos zu schlagen
und dann so mit dem Auto zu überfahren, daß ein Verkehrsunfall angenommen
werden konnte. Egan bekam lebenslängliohes Zuchthaus. BLOCK: The wizard 0/
Berkeley, S. 232ff.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 405

suche fehl, den Hochversicherten, den man zuvor mit Alkohol betäubt
hat, aus der Welt zu schaffen. Im Mordfall Mike Malloyl fand sich ein
Taxifahrer, der sich erbot, den Mann zu überfahren, wenn man ihm
800 Dollars gäbe. Ein anderer unterbot ihn, fuhr nach einem Anlauf
über ihn hinweg, doch war er nicht imstande, ihn zu töten. Malloy stand
wieder auf und rief um Hilfe. Die Ärzte staunten über so viel Lebens-
kraft, bald saß er wieder in der Kneipe. Selbst in der qualm erfüllten
Welt der Autos haben Betrunkene wie die Kinder ihren Engel.
Mit dem Mordfall Baff 1914 begann die Technik des Erschießens vom
Auto aus, das in Bewegung war 2 • Die Tötung Rathenaus kopierte dieses
neue Muster 3. Sie ist in Gangsterkreisen bis zur hohen Kunst des Tötens
ausgebildet: Terrain gewinnend schiebt sich langsam eine schwarze
Limousine vor, die prüfend einige Zeit gefolgt ist, darin vier Männer,
Hüte im Gesicht, in Schultern, Nacken Spannung und um den Mund
vorhergekostete Gewalttat. Die Schüsse knallen, wenn die Straße einsam
ist und während beide Wagen kurze Zeit auf gleicher Höhe bleiben.
Dann jagt der eine weg, der andere schwankt erst wie betrunken und
fährt dann krachend gegen Bäume, Masten, Zäune oder Häusermauern.
Zum Schutze gegen diese neuen Auto-Bravos sind Panzerwagen 4 und
auch Panzerwesten in Gebrauch.
Eine weitere Methode ist, Bomben durch den Anlasser oder die Er-
schütterung des Wagens zur Detonation zu bringen. Andere Spreng-
massen explodieren, wenn Fernlicht eingeschaltet wird, erst in gewissem
Abstand von dem Abfahrtsort. Die stärkste Wirkung kann erwartet
werden, wenn es gelingt, die Bombe an dem Sitz des Opfers anzubringen.
Die Prostituierte geht nicht mehr den Bürgersteig entlang. Sie
wartet, wo das Rotlicht kommt und geht und ihre Blicke Männer
unverdächtig locken können. Die anderen Typen fahren sich im offenen,
eleganten Wagen zur Schau und zur Beziehung, die sie zwanglos
lächelnd knüpfen 5. So wird der Wagen erste Tatortstufe, Antrieb und
der Enthüller unseres tiefsten Wesens 6 •
Garagen sind ein neuer Tatort, der oft die ganze Nacht geöffnet ist.
Der Tankwart ist zumeist allein, am Monatsersten ist die Kasse wohl-
gefüllt. Wenn Wagen in der Halle laufen, erstickt der Motor jeden Hilferuf.
Privatgaragen dienen oft zum Stelldichein. Wenn Mörder reglos warten,
ist der Fahrer schutzlos, der müde achtlos aus dem Wagen steigt und
sich auf eigenem Grunde sicher glaubt. In der Garage können schließlich

1 CRANE, MILTON: Sins 0/ New York, S. 206. New York 1950.


2 Anfangs stieg man zum Schießen aus und fuhr davon. HARLOw, S. UO.
a LANGEMANN, S. 162ff.
-I Ein solches Panzerauto ist beschrieben bei COOPER, S. 35 und 36.
5 Siehe die Technik der ermordeten Nitribitt.
6 Auch Helfer bei der Flucht und Tötungswerkzeug.
406 Topographie der kriminellen Handlung

Gase töten 1, wenn der Betäubte hingesunken ist, der Motor läuft, das
Tor geschlossen ist. Der Mordbeweis ist meistens schwer zu führen 2.
d) Es entspricht der phantasiereichen, alle Möglichkeiten durch-
grübelnden Natur des Versicherungsschwindlers, in seine Pläne auch das
Flugzeug einzubauen. Eine wesentliche Hilfe leistet dabei die summa-
rische Versicherungsform : gegen Einwurf wechselnder Beträge kann die
Versicherung aus dem Automaten gezogen werden. Die Verführung zu
betrügerischen Manipulationen ist also groß. Da aber eine versicherte
Person an Bord des Flugzeugs sein und ein Todesfall eintreten muß,
sind die verschiedensten Methoden ersonnen worden. Mit dem Ver-
sicherten geht jeder zugrunde, der sich mit ihm in der Luft befindet.
Je größer die Flugzeuge werden, um so mehr nimmt die Zahl der Opfer
zu. Der Massenmord hat eine neue Form geboren.
Wenn eine Person getötet werden soll, deren man sich entledigen will,
so verbinden sich Versicherungs- und Konfliktmord zu zweifelhafter
Dualität. Der psychiatrisch untersuchte John Gilbert Graham 3,
23 Jahre alt, gestand, am 1. November 1955 in das Gepäck seiner Mutter
eine Zeitbombe eingeschmuggelt zu haben. Das Opfer wollte nach
Alaska fliegen. Das Flugzeug hatte 20 Minuten Verspätung, die 25
Dynamitstangen hätten erst über den Bergen losgehen sollen, und jeder
hätte an einen Anprall gegen einen Felsen und die darauf folgende
Explosion geglaubt. Das Gepäck hatte 37 Pfund Übergewicht. Die
Mutter wollte sparen und einige Sachen herausnehmen, der Täter
überredete sie, alles beim alten zu lassen. Aus "Versehen", wie es heißt,
weil er zu viele Münzen einwarf, nahm er statt einer Versicherung
von 6250 Dollars eine solche für 37500 Dollars. Nachdem das Flugzeug
aufgestiegen war, ging Graham in das Flugzeugrestaurant, mit Frau
und Kind zu essen. Noch ehe die Nachricht von dem Unglück eintraf,
wurde ihm schlecht, er mußte auf die Toilette gehen und sich erbrechen.
Als die Explosion bekannt wurde, weinte er bis zur Erschöpfung,
verriet sich aber eine Woche später durch auffallendes und unnötiges
Geschwätz. Er lebte mit der Mutter in einem Wechselstrom von Haß
und Liebe. Im Jahre 1955 hatte er sich sterilisieren lassen, wollte nach
der Verurteilung kein Rechtsmittel ergreifen und wurde hingerichtet.
Niemals in seinem ganzen Leben habe er sich glücklicher gefühlt, als in
dem Augenblick, in dem die Mutter mit dem Sprengstoff in die Höhe stieg.
1 Mit der Zunahme und Verfeinerung dieser Tötungstechnik muß gerechnet
werden. Ohne daß wir es wollen, tragen wir durch Verwendung von Blut- und
Atmungsgiften bei der Hinrichtung, der Cyanide, zur Popularisierung ähnlicher
Vernichtungsmittel bei. Ich kenne Todesfälle, bei denen beide Wagen liefen, die
in der fest verschlossenen Garage standen.
2 Die Opfer sind fast immer Frauen.
3 GALVIN, JAMES A. V., and JOHN MACDONALD; Psychiatrie study 0/ a mass
murderer. Am. Journal of Psychiatry 1959 (Bd. 115), S. 1057ff.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 407

Bei dieser Untat kamen 44 Personen ums Leben. 42 Menschen


wurden getötet, als ein Flugzeug im November 1959 über dem Golf von
Mexiko explodierte. Nach der Passagierliste war Dr. Robert Vernon
Spears mitverunglückt. 64 Jahre alt, eine dunkle Erscheinung, der sich
"Naturopath" nannte, hatte er eine lange Liste von Freiheitsstrafen
hinter sich, darunter Betrug, Urkundenfälschung und Raub. Es
schwebte gerade eine Untersuchung wegen Abtreibung. Er hatte vor
dem Abflug eine Lebensversicherung zugunsten seiner Frau in der
Höhe von 100000 Dollars genommen. Vergebens wurde nach der Leiche
gesucht. Dafür erhielt die Frau eines alten Gefängniskumpans, William
Allen Taylor, eine von ihrem Manne zu ihren Gunsten ausgestellte
Reiseversicherung in der Höhe von 37500 Dollars zugesandt; sie war
kurz vor dem Abflug des Unglücksflugzeugs aus dem Automaten gezogen
worden. Als es gelang, den "toten" Spears in Arizona zu verhaften,
wurde es wahrscheinlich, daß er seinen Freund Taylor auf irgendeine
Weise veranlaßt hatte, seine Flugkarte zu benutzen und damit, ohne es
zu wissen, den Versicherungsfall zu schaffen l . In Taylors Auto fuhr
dann Spears nach Arizona.
Der Sturz ins Meer trug Schuld daran, daß von den 42 Verunglückten
nur wenige Leichen gefunden wurden, darunter weder die von Spears
noch Taylor. - Im Januar 1960 flog ein anderes Flugzeug in die Luft,
mit ihm ein junger, 32 Jahre alter Anwalt aus NewYork, mit Namen
Julian Andrew Frank. In dem Jahr, das dem Unglück vorausging,
hatte er sein Leben um mehr als eine Million Dollars versichert. Nach
dem Gutachten der Pathologen hatte die Explosion an dem Körper
Franks die gleichen Verstümmelungen hervorgebracht, die im Kriege
durch Landminen verursacht werden 2. Auch wurden in dem Körper
Teile eines Weckers aufgefunden. Die Tat sah nach Versicherungs-
selbstmord aus.
Neben der Verwendung des Flugzeugs zum Abwurf von Leichenteilen
einer ermordeten Person 3, haben sich auch Diebstahl und Einbruch 4 , vor
allem von hochversicherten Juwelen, in den Luftverkehr geschlichen.
In einem Falle wurde ein blinder Passagier mit einer schweren Kiste in
den Gepäckraum eingeschmuggelt, der die Juwelenpakete erbrach und in
Gepäckstücken des Mittäters verstaute. Er stieg dann stolz im Ankunfts-
hafen aus dem Flugzeug und verschwand.
e) Zur motorisierten Welt des Alltags gehört der Fahrstuhl. Je höher
die Gebäude in den Himmel steigen, je älter die Menschheit wird, je
weniger sie sich einer körperlichen Anstrengung zu unterziehen geneigt
1 Bericht des Time Magazine vom 1. Februar 1960.
2 UPI vom 24. März 1960.
3 Time Magazine vom 12. Oktober 1959.
4 Bericht des Monde vom 10. Dezember 1959.
408 Topographie der kriminellen Handlung

ist, um so mehr wächst die Anwendung und die praktische Bedeutung


des Fahrstuhls. Morde im Fahrstuhl sind, soweit ich sehe, nicht bekannt-
geworden. Der Lift gewährt willkommene Abgeschlossenheit. BENNEYS
Erfahrung als ein junger Fahrstuhlführer war, daß das Hauspersonal der
vornehmen Familienpension sich stets im Gepäckfahrstuhl traf 1. Zu
bestimmten Zeiten sind die Fahrstühle überfüllt, dann haben Taschen-
diebe freie Bahn: die Enge, das ungewollte Aneinanderstoßen, die
Abgelenktheit der Insassen, wenn hübsche Frauen sich noch rasch
dazwischendrängen : das sind die Kräfte, die zusammenwirken. Ein
Hoteldetektiv hat das Theater der gekränkten Unschuld - den "Injured
Innocence Act" - beschrieben 2 , bei dem ein Paar im enggepackten Lift
zusammenarbeitet, und auch die Zeit, in dem das Leben hastig pulst und
vorwärtsdrängt, den sicheren Beitrag leistet. Ein einzelner gut gekleideter
Mann wird zwischen Täter und Komplicin - sie muß hübsch und
hoheitsvoll erscheinen - eingeklemmt. Mit einem Rucke fährt der Fahr-
stuhl an. Der Gauner arbeitet sich zum Ausgang hin, dabei erfährt das
Opfer einen Stoß und kann nicht anders, als unsere junge Dame hinten
zu berühren. Sie schreit empört auf: "Mein Herr, tun Sie die Hände
weg!" In dem Tumult, der jetzt entsteht 3 , läßt der Dieb die Brieftasche
des erschrocken protestierenden Opfers mitgehen, der froh ist, in dem
nächsten Stockwerk eiligst auszusteigen und sich in seinem Zimmer zu
verstecken, da sein Protest nur wenig oder keinen Glauben findet.
Der Raub im Fahrstuhl bildet sich zu einer neuen Form des Eigen-
tumsverbrechens aus. Kassiererinnen, die von der Bank Geld abgehoben
haben, werden in dem Augenblick niedergeschlagen, in dem der Fahrstuhl
in Bewegung kommt. Auch junge Mädchen haben alte Frauen gewaltsam
ausgeplündert, nachdem sie nachts zum 10. oder 11. Stock mitgefahren
waren, wo alles still und einsam ist. Die Kriminellen rauben meist im
Selbstbedienungsfahrstuhl. Wenn sie mit Waffen vorgehen, ist es
vorgekommen, daß andere, die mitfuhren, sich nicht rührten, weil die
Pistole ihnen Furcht einflößte. Am Ausgang übernimmt ein anderer
Gauner rasch die Beute, die beim ergriffenen Täter nicht zu finden ist.
Die Technik, die mit einfachen Mitteln in die Ferne sprechen, hören,
sehen läßt, hat den alten engen Zusammenhang von körperlicher Tätig-
keit und sichtlichem Erfolg verwischt; sie können zeitlich, mehr noch
örtlich völlig auseinanderfallen. Trotz aller Abhör-, bald auch "Abseh"-
Apparate erwachsen der Verfolgung neue Schwierigkeiten. Delikte
kommen in Betracht, bei denen nur gesehen und gehört wird und keine
physische Berührung statthat. Der praktisch wichtige Hauptfall ist die

1 BENNEY: Low company, S. 205.


2 COLLANS: I was a house detective, S. 67, 68.
3 Die Technik ist vom Taschendiebstahl übernommen.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 409

Drohung 1, wo sie auch immer sich in Tatbeständen findet. llinzu ist


jetzt das Ferngespräch gekommen, in dem der Täter sich verbal ent·
blößt und eine unbekannte Frau bei Nacht belästigt. Er trifft die Aus·
wahl aus den Bildern hübscher Mädchen, die uns in Überfülle durch die
Zeitung dargeboten werden. Die Frauen werden mitten in der Nacht
geweckt und telefonisch mit einem Schwall schmutzigster Anreden und
Vorschläge überschüttet. Mehr noch als bei den optischen Exhibitionisten
macht sich die sadistische Unterströmung geltend, dazu noch die Ge.
spanntheit, die dem sexuellen Lösungsakt vorausgeht. Die Polizei in
Chicago jagte eine Zeitlang zwei verschiedenen Typen nach 2, dem jungen
blonden Manne mit dem starren, glasigen Auge, den sie nach seinem
unbewegten Blick auf Frauen, aber auch auf Jugendliche den "starer"
nannte. Es ist der "Stierer" , der Mann mit dem "geronnenen 3 " Auge,
der oft vom Auto aus belästigt, manchmal auch eilig überholt, darauf
anhält und starrt und starrt. Dann geht er zur Entblößung über.
Der "breather" ist das Gegenstück am Telefon. Der "Puster" ruft die
Mütter an, die gerade, wie die Zeitung meldet, ein kleines Kind durch
Mord verloren haben. Er spricht kein Wort. Nur der Kontakt genügt,
ihn tief und immer tiefer atmen zu lassen. Der Kummer und der Schrek·
ken dieser Mütter tun ihm wohl. Auch der Gedanke spielt bisweilen mit,
daß Opfer eines indezenten Anrufs reich und angesehen sind und ihre
Namen in der Zeitung stehen. Juristisch muß der Anrufer damit rechnen,
daß seine Äußerungen unzüchtigen Inhalts von der unbestimmten
Vielheit der Telefonfräuleins wahrgenommen werden, zumal bei Nacht,
wenn es nicht viel zu tun gibt 4 • Die Tat ist "öffentlich" begangen.

D. Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald


a) Wasser kann gleichzeitig Instrument des Mordes, Tatort und Ver·
steck sein. Wir haben es beim Schiffsmord gestreift, und auch der
Badewannenmörder tötet durch Ertränken. Durch Zufall kann das
Wasser auch die Leiche aufbewahren, die anderen Kräften zur Ver·
nichtung ausgeliefert war. In einem Falle 5 war die Frau erschlagen,
erschossen und erwürgt worden. Zeitgezündet brach ein Brand aus, der
Haus und Körper in Abwesenheit des Mannes einäschern sollte. Im
Keller stand das Wasser ziemlich hoch, weil das Gebäude dicht am See

1 Über das Drohungsmedium des Ferngespräches s. Erpressung, S. 188.


2 Bericht der Chicago Tribune vom 23. September 1957.
3 "Stieren" hängt mit einer Wurzel "gerinnen" zusammen. KL UOE· GÖTZE, S. 766.
4 Sonst bleibt nur noch Beleidigung übrig, die ja hauptsächlich auf dem Wort
beruht; auch die durch schweres Atmen vermittelte Symbolik intimer Vorgänge
könnte als beleidigend angesehen werden.
5 JACKSON: Murderbook, S. 23. Der Fall ist dargestellt von EDMUND PEARSON.
410 Topographie der kriminellen Handlung

lag. Der Fußboden war durchgebrannt, die Leiche war nach unten in die
Feuchtigkeit gefallen. Sie war verkohlt, doch hatte sich der Kopf
erhalten mit seinen Schuß- und Schädelwunden und mit dem Stricke
um den Hals.
Beim Wasser gibt es zwei verschiedene Tötungsarten : den Sturz ins
Wasser und den Bootsunfall, schon vorgezeichnet durch die mittel-
alterliche Todesstrafe 1. Sehr häufig wird an anderem Ort getötet, die
Leiche dann dem Wasser anvertraut. In Flüssen mag sie fortgetragen
werden, je nach der Strömung oder auch dem Zufall 2 • In stillen Teichen
oder Seen muß man sie beschweren, in Säcke stecken, unter Wasser
halten oder mit Zement umkleiden, wie es die Praxis der modernen
Gangster ist.
In einer Arbeit, die manchen guten Einblick gibt, hat NEUGEBAUER
den Wassermord besprochen 3 • Er glaubt, daß gewaltsames Ertränken
eine seltene Todesart sei. Doch sagt er selbst mit Recht, daß oftmals
eine äußere Verletzung fehlt und daß ein Unfall 4 oder Selbstmord
vorgelegen haben kann, von mangelhafter Untersuchung 5 abgesehen.
Wir müssen zweüellos mit vielen unbekannten Fällen rechnen 6. Bei
schwangeren Frauen denkt man allzuleicht an Selbstmord, doch kann
der Zustand in ganz anderer Weise Mordmotiv sein.
Ertränken scheint als Tötungsart oft am Ende einer langen Reihe
von Erwägungen zu stehen: in einem Falle NEUGEBAUERS 7 will der Täter

1 Siehe FEHR, HANS: Das Recht im Bilde, S. 76 und 78, wo Ertränken von der
Brücke und vom Boot aus dargestellt ist.
2 Trotz reißender Strömung blieb im Falle Nolte (Neuer Pitaval, Bd. XXX,
S. 368ft) die Leiche am Ufer hängen.
3 NEUGEBAUER, WALTER: Mord durch Ertränken, Kriminalistik 1959, S.63ft
und 115ff.
4 Eine aus dem Wasser gezogene Frau hatte an einer Mesaortitis gelitten;
plötzlicher natürlicher Tod war demnach ganz plausibel.
5 Zu einem solchen anfänglichen Irrtum bemerkt der Neue Pitaval (Bd. XXX,
S.203) in verlegener Weise: "Der glückliche Gedankenwurf kommt aber nicht
immer ungerufen, und der vorliegende Fall ist ein recht eklatanter Beweis davon,
wie selbst ein scharfsehender Richter - denn mit einem solchen haben wir es hier
zu tun - durch den äußeren Schein eines in seinen Gesichtskreis kommenden
Gegenstandes von dessen wahrer Beschaffenheit abgeführt werden kann, besonders
wenn das getäuschte Auge noch von der dem menschlichen Charakter eigenen
Neigung, an das Dasein eines Verbrechens nur schwer zu glauben, unterstützt wird."
6 Über fälschlich von Interessierten "wiedererkannte" unbekannte Wasser-
leichen siehe HARTWIG in der Kriminalistischen Monatsschrift 1929, S. 156 und 157.
"Es ist nicht ausgeschlossen", sagt der Bericht, "daß Bornemann (der noch lebte)
die damals als Leiche gefundene Person umgebracht und mit seinen Papieren
versehen hatte, um dadurch seinen eigenen Tod vorzutäuschen." Die unbekannte
Wasserleiche war aber ohne weitere Untersuchung beerdigt worden, weil Mutter
und geschiedene Ehefrau sie mit aller Bestimmtheit rekognosziert hatten.
7 a. a. 0., S. 117.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 411

erst erschlagen, dann vergiften, dann erhängen, um schließlich auf den


Abendspaziergang in der Hafengegend zurückzukommen. Heimtücke
kann fast immer angenommen werden. Geplant wird lange und mit
ganz besonderer innerer Kälte. Gemordet wird auf der Verlobungs l -
oder Hochzeitsreise 2, inmitten einer Sonntagsfreude, die gegen alle
sonstige Gewohnheit Frau und Kind zuteil wird 3. Die Frau wird zu
einer gemütlichen Kaffeestunde eingeladen. Das neu gekaufte Boot soll
beide Gatten nach Blankenese führen. Hier wird das Motorboot in Brand
geraten, bis die erschrockene Frau von selbst ins Wasser springt 4 • Schon
vorher war der Ehemann besonders liebenswürdig. Er lud zum Sekt ein,
schickte Blumen, obgleich er sonst sich "ziemlich achtlos" zeigte. In der
Novelle ZOLAS, die mit Meisterschaft den Wassermord behandelt 5, sind
Wünsche und Gedanken der Beseitigung schon seit langem rege. Camille,
der Mann, Laurent, Geliebter, und Therese, die Geliebte, machen einen
Ausflug an die Seine. Der Gatte schläft, Laurent will erst dem kleinen,
blassen Nebenbuhler das Gesicht zertreten. Er reißt sich von dem
unsinnigen Einfall los, geht an den Fluß, der träge unter ihm dahinzieht.
Urplötzlich weiß er, was er tun wird: Der Plan ist fertig, eine leichte
Art des Tötens, die für ihn ungefährlich ist. Der andere wird im Wasser
enden, durch einen Unfall, wie er sich so oft im Ruderboot ereignet.
Wenn sich die mörderische Haltung gegen Männer richtet, so kann
es beim Versuche bleiben, denn Männer können meistens schwimmen 6 ,
freilich auch sie nur eine kurze Strecke 7. Versicherungsmorde können
nicht verborgen bleiben, wenn Zufallszeugen sahen, wie das Opfer über
Bord gestoßen wurde 8. Setzt eine Frau den Mord in Szene, wird ein Leck
gebohrt, verschlossen und der Stöpsel heimlich und im richtigen Augen-
blick herausgezogen 9. Zur Planung zählen äußere Momente: Es muß ein
Sonntag sein, wo viele Menschen auf dem Wasser paddeln und in ver-
gnügter Stimmung achtlos sind. Die Dunkellieit gehört dazu und eine
Stelle, die Kennern schon als Unglücksstelle wohlvertraut ist. Die
dummen Schlauen üben sich schon einige Zeit vorher im Schwimmen.

1 MINOT, S. 188ff. 2 NEUGEBAUER, S. 63.


3 MINOT, S.71. Der Täter bleibt ausnahmsweise zu Hause, scherzt mit seiner
Frau, ist ungewöhnlich heiter und schlägt dann plötzlich eine kleine Bootfahrt vor.
4 Pitaval der Gegenwart, Bd. VIII, S.214.
5 ZOLA, EMILE: TMrese Raquin, Kap. XI.
6 Beats Black Oalender, S. 116.

7 So verschwand der Polizeichef von San Francisco von einer Barkasse, die
ihn zu einer Besprechung gebracht hatte. Er fuhr in bester Laune ab. Als das
Boot in San Francisco ankam, war William J. Biggy nicht mehr an Bord. Eine
Woche später wurde seine Leiche aus der Bucht gefischt; sie wies keine Ver-
letzungen auf. ASBURY: Barbary Ooast, S.256. New York 1947.
8 RICHARDSON: Questionable life and accident claims, S.125. Atlanta 1937.
9 SOHULTZ: Versicherungsmord, S.57.
412 Topographie der kriminellen Handlung

Sie lernen, wie man Boote umkippt und dann wieder in die alte Lage
bringt!. Die anderen bleiben fest im Boote sitzen und wollen nur ent-
setzt herumgefahren sein, nachdem die Frau, die ihr Baby wärmer ein-
hüllen wollte, mitsamt dem Kinde über Bord gefallen war. Er steht
dann bitter schluchzend, aber trocken vor den Nachbarn, sein Körper
bebt vor Schmerz und Jammer. und alle, die ihn sehen, sind voll Mit-
gefüh12. In einem weiteren Falle 3 , der in einem Kunstwerk weiterlebt,
entführt - so sagt er - ein Windstoß ihren Hut, sie greift danach, das
Boot schlägt um. Da niemand die Geschichte glaubt, wird eine neue
Wendung aufgetischt, durch die er seiner Sache ganz besonders schadet.
Das Mädchen habe plötzlich ausgerufen, sie habe jetzt das Leben satt.
Dann sei sie über Bord gesprungen, wobei das Boot durch die Bewegung
umgeschlagen sei. Er sei zwar ein erfahrener Schwimmer, doch habe er
sie nicht gerettet, weil sie im Wasser um sich schlug und ihn die Furcht
befiel, daß sie ihn mit sich ziehen werde. Der Täter hatte schon beim
übernachten einen falschen Namen angegeben und hatte nach der Tat-
auch wieder nach dem Untergang der Sonne - die Flucht ergriffen. Er
war ein jämmerliches Exemplar der Menschheit.
Einen Menschen vom Lande her ins Wasser zu stoßen, ist mechanisch
verhältnismäßig einfach, die Schwierigkeit liegt in dem Widerstand des
Opfers. Er muß umgangen, eingeschläfert oder auch gebrochen werden.
Schlafmittel 4 spielen eine Rolle, auch Alkohol und Chloroform, dann
Würgen, das bewußtlos macht, und schließlich Fesselung, die durch einen
Frauentrick erreicht wird 6. Wehrlose kann man dann ins Wasser rollen.
Die Tötung wäre unbekannt und ungesühnt geblieben, wenn die Frau
1 NEUGEBAUER, S. 64. Während der Täter für sich ein Optimum an Sicherheit
zu erzielen sucht, soll das Opfer durch lange schwere Mäntel (Pitaval der Gegenwart,
Bd. VIII, S. 22) oder durch dicke Winterkleidung (NEUGEBAUER, S. 117) möglichst
"versenkbar" gemacht werden.
2 MINOT, S. 73.
3 MrNOT, S. 195. In einem anderen von MINOT (S. 181) berichteten Mordfall
drang die Untersuchung in die Vorgeschichte des Mannes ein. "Nicht lange zuvor
war seine Frau in 4 Fuß Wasser ertrunken, als sie mit ihm eine Kanufahrt machte.
Tucker wurde nicht unter Anklage gestellt, sie ertränkt zu haben, aber es gab
verdächtige Punkte in dem ganzen Vorgang, die niemals aufgeklärt wurden."
4 Siehe den Fall Max Gufler, St. Pölten 1958, der bisher noch nicht verhandelt ist.
5 MINOT, S. 259. - Es gibt manche andere Kunstgriffe. Im Herbst 1927 wurde
eine Dienstmagd Sonntag früh in einem Torfloch tot gefunden. "Nach eintägigen
Ermittlungen wurde das Verfahren mit der Feststellung abgeschlossen, daß der Tod
durch Ertrinken eingetreten sei. Als Motiv zum Selbstmord wurde Lebensüberdruß
der im vierten Monat schwangeren Magd angenommen" (MARQuARDT in Krimina-
listik 1957, S.103). Nach 10 Jahren kam durch eine Denunziation der Mord ans
Licht. Der Täter hatte, scheinbar um eine Abtreibung vorzunehmen, das Mädchen
neben dem Torfloch in Hockstellung gehen lassen, hatte sie mit einem Stock über
den Kopf geschlagen und in das 6 Meter tiefe Wasserloch hineingestoßen. Es war
die Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 413

nicht allzu schnell und hart auf die Versicherung gedrängt hätte. Sonst
hätte die von ihr geschriebene und auf den Hut des Opfers gesteckte
Abschiedsnote ihre Schuldigkeit getan. Die beiden hatten früher sich im
Streit getrennt: es sollte diesmal die Versöhnungsfeier werden.
Ob dem Ertränken ein Erdrosselungsakt vorangegangen ist, wird
sich gerichtsärztlich feststellen lassen. Der Gattenmörder gab in einem
Bonner Falle! an: Er habe sich mit seiner Frau wie öfters schon gezankt.
Er sei von Hause weggegangen, sie sei ihm gefolgt. Dicht an der Erft
habe sie sich ausgezogen ("die Leiche wurde nackt gefunden und die
Kleider schön zusammengelegt in ihrer Nähe"). Sie habe ihm erklärt,
sie wolle sich ertränken. Der Streit ging weiter hin und her, sie habe
auf ihn losgeschimpft. In der sich entwickelnden Schlägerei habe er
wütend seine Frau am Hals gepackt und gewürgt, bis sie bewußtlos
wurde. Jetzt habe er sie so lange mit dem Kopf unter Wasser gehalten,
bis sie tot war.
Man möchte an den gleichen Vorgang glauben, wenn man von einem
anderen Streit der Ehegatten aus dem Frühjahr 1949 liest 2. Bei einer
Flußböschung schlägt der Mann, der sich beleidigt glaubt, der schwangeren
Frau ins Gesicht, dann würgt er sie, die bereits am Boden liegt. Die
Bewußtlose wirft er in den Fluß. Sie kommt zu sich 3 und schreit um
Hilfe. Er springt ins Wasser, taucht sie unter, bis jeder Widerstand
erlahmt. Wie jener Biß bei ZOLA 4 sind die Würgespuren sein Verderben.
Trotz des Gebrauchs von Gasen, Gift und Waffen behält beim Morde
die Beziehung: stark und schwach den Vorrang. Der Mann wird eine
Frau ins Wasser werfen, nachdem er sie geschlagen oder auch erwürgt5
hat. Nur alte und vom Alkohol oder anderswie betäubte Männer können
in den Fluß geworfen werden. Ein rascher Stoß vom Steilrand führt
nicht ohne Risiko zum Ziel, weil manches Opfer sich noch retten kann,
durch Schwimmen oder flache Stellen im Gewässer. Es wird sich an die
Uferbüsche klammern, und alles mag verloren sein, wenn es nicht glückt,
den Griff zu lockern, durch Treten auf die Hände, wie es vorgekommen
ist. In einem alten Falle folgten die drei Mörderinnen ihrem Opfer, das
im Wasser kämpfte, einer andern Frau. Sie zerrten die Verzweifelte am
Zopf nach unten. Dabei fiel eine der Megären selbst ins Wasser und
schlug sich mit dem Opfer herum, das sich erbittert an ihr festhielt. Ja
das Opfer hatte noch die Kraft, an einem Punkt den steilen Uferhang
1 WATTLER, S. 87. Bonner Diss. 1951. 2 NEUGEBAUER, S. 65.
3 Wie manche Selbstmörder. 4 ZOLA, EMILE: Therese Raquin, Kap. XI.
5 In keinem Prozeß ist über Ertränkte und Ertrunkene mehr vorgetragen
worden als in dem Falle Spencer Cowper (BIRMINGHAM, GEORGE A., S.203ff.).
Neben berühmten Ärzten wurden alte Seeleute vernommen, die in zahlreichen
Schüfsunglücken und Seeschlachten Menschen hatten ertrinken sehen. Zur Zeit der
Segelschüfe wurde mehr als heute in der nassen Flut gestorben.
414 Topographie der kriminellen Handlung

emporzukrabbeln. Man stürzte sie gewaltsam wieder in die Strömung,


drückte sie mit einem Knüppel in das Wasser nieder, bis jeder Wider-
stand erstarbl.
Wenn Frauen durch Ertränken morden, so sind es andere Frauen
oder Kinder. Sie locken sie auf Stege oder Brücken und stoßen sie von
hier hinab. Es wird darauf geachtet, just die Brückenmitte auszusuchen,
weil hier der Fluß am tiefsten und die Strömung stärker ist 2 • Zweimal
geht Mutter EIssmann über eine Brücke; für ihre Untat ist es noch zu
hell. Urplötzlich stürzt sie ihren kleinen Jungen, 12 Jahre alt und
ahnungslos, ins Wasser 3 • Er kann noch "Mutter, Mutter!" rufen, ehe
er versinkt. In seiner Tasche steckt ein Buch mit seinem Namen, so
triebhaft-heftig war der Tötungsdrang gewesen, so jeder kleinsten
Vorsicht bar. - Der geisteskranke Lithograph Biermann 4 (Berlin 1854)
warf alle seine Kinder, vier im ganzen, von der Schleusenbrücke. Er
hatte sie auf einen Ausflug mitgenommen, dann hatte man auf einer
Bank geruht. Ganz ruhig packte er die ganze kleine Brut in einen Korb,
bedeckte ihn mit einem Tuche und stürzte sie dann in die Spree. Es
wurde gerade dunkel, niemand sah die Tat. Vier Opfer und vier kleine
Kinder - stets wird der Aufruhr der Gefühle aller Eltern überstark
sein. Sogar der große Casper sagte klipp und klar, daß auch die Wissen-
schaft die Volkesstimme nicht zur Seite schieben dürfe ("wenigstens
Act nehmen" müsse). Die eigenen Eltern traten gegen Biermann auf.
Der Täter forderte für sich "die schwerste Todesstrafe", und das Gericht
entsprach dem Antrag.
Noch sind die Beziehungen zwischen primärer Tötungsart und
späterem Ins-Wasser-werfen ungeklärt, doch scheint es, daß viel mehr
Frauen ins Wasser versenkt werden als Männer. Das fließende Wasser
wäscht jede Bedrohlichkeit ab, je stärker es strömt, um so gründlicher 5.
Darum verwandten der Gegenzauber und die Strafjustiz vergangener
Zeiten den Strom nicht nur zur Vernichtung des Lebens, sondern zur
Verschickung all der bösen Potenzen, die auch den Tod noch überlebten,

Neuer Pitaval, Bd. XXXIII, S. 219.


1
über die übereinstimmung mit der mittelalterlichen Strafe des Ertränkens,
2
einschließlich des Niederdrückens mit einem Stock, siehe Die Strafe, Bd. I, S. 299.
Erschlagen und ertränkt wird auch in Grimms Märchen vom singenden Knochen.
3 "Der Knabe hielt die Mutter an der Schürze ... als ihn die Mutter plötzlich
mit dem rechten Arm unter die Beine, mit dem linken unter den Rücken faßte,
ihn hochhob und über das Brückengeländer in das Wasser warf." WOSNIK, Bd. 1,1,
S.117.
4 Neuer Pitaval, Bd. XXV, S. 156ff. CASPER erklärte: "Schon das kalte
gefühllose Benehmen des Mörders gleich nach der Tat und bei der Rekognition der
Leichen lasse auch keinen Augenblick an seiner vollen Zurechnungsfähigkeit
zweifeln. "
5 "Qua plurimus exit", sagte schon OVID, Met. XI, 140.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 415

bei Mißgeburten, wie im römischen Brauch, bei Selbstmördern, Ketzern


und Frauen, im ganzen Mittelalter l . Die Frau fühlt sich zum Wasser
hingezogen, wenn sie sich selbst das Leben nehmen will. Ophelia ver-
sinkt im Wasser:
"Wie ein Geschöpf, geboren und geschaffen
Für dieses Element 2."
Wenn Opfer, die an anderer Stelle getötet worden sind, im Wasser
gefunden werden, so sind sie oft zerstückelt, nicht nur weil der Transport
erleichtert ist, sondern weil der Zerstörungsdrang sich über den Tötungs-
akt hinaus Bahn bricht, und er ist deshalb übermächtig, weil er aus
tiefster Leidenschaft emporsteigt. Da sind die Fälle einer untersagten
Liebe, von Mann und Frau 3 , von Mann und Mann 4 • Da ist der Vater-
mord, bei dem sich Urinstinkte regen, wie in der Mythe Kronos seinen
Vater Uranos kastrierte 5 . Da ist die Mordtat an der Herrin, die sich vor
ihrer Hausgehilfin fürchtet und doch aus ungenannten Gründen nicht
mit ihr zu brechen wagt 6 • Tötung aus Habgier fehlt in keiner Weise,
doch tritt sie deutlich in den Hintergrund 7. Vielleicht sind diese Fälle
technisch so gut angelegt, daß sie als Verbrechen nicht erkannt werden.
Die Toten einer Gangsterfehde nimmt zuweilen, mit Gewichten fest-
gehalten, der Boden eines Flusses auf.
Häufig werden in letzter Zeit Leichen auf Brücken gefahren und vom
Auto in das Wasser geworfen, am besten wenn die Fluten hoch und
reißend sind. Bei raschem Sinken des Gewässers setzt sich die Leiche
früh am Ufer ab 8 • Bei großer Hast fällt sie bisweilen aus dem Wagen
in den buschbesetzten Rand des Flusses, ein Zeichen, daß ein Amateur
am Werk war. Fachliche "Killer" kennen keine solche Pfuscherei.
Es reicht nicht aus, die Zerstückelung vieler Opfer, die ins Wasser
geworfen werden, mit Sorge für die Sicherheit zu erklären, denn diese
Furcht teilt dieser Tätertyp mit allen anderen Mördern. Es liegen
unverkennbar oftmals Untertöne vor, die aus der sexuellen Sphäre

1 Siehe Die Strafe, Bd. I, S. 296ff.


2 H • • • like a creature native and indued unto that element." SHAKESPEARE,
Hamlet, IV, 7, 180.
3 New York murders, S. 230; Neuer Pitaval, Bd. VIII, S.453; Ebenda,
Bd. XI, S. 312; CROUSE, S. 52, 242ff.
4 New York murders, S. 63ff.; Hoskins, S. 172ff.
5 Fall Eckenbeck, erdrosselt und ins Wasser geworfen. Aussage des Sohnes
Johannes: "Ich habe bei der Mordtat meinen Vater am Gemächte und an den
Beinen gehalten." Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S.257.
6 O'DONNELL, ELLIOT: Trial of Kate Webster, S. 2ff. Edinburgh 1925.
7 Zum Beispiel im Fall Schenk, Wien 1884; KISCH: Prager Pitaval, S.262,
265, 272. Berlin 1953.
8 BLUNDELL, R. H., and G. H. WlLSON: Trial of Buck Ruxton, S. 13.
Edinburgh 1937.
416 Topographie der kriminellen Handlung

stammen. Sie spielen bei der Zerstückelung mit, sie wirken beim Ins-
Wasser-Werfen weiter. Der Händler und Zuhälter Theodor Berger ver-
ging sich in Abwesenheit seiner Dirne in der leeren Wohnung an einem
8jährigen Kind, das Tür an Tür mit ihm wohnte. Die zerstückelte Leiche,
Rumpf, Kopf und Arme, wurde innerhalb von 6 Tagen aus der Spree
aufgefischtl. - Der vermißte 18 Jahre alte Obertertianer Ernst Winter
wurde in Konitz aus einem "Mönchsee" genannten Bach gezogen.
"Kopf, Hände und Beine fehlten 2." Hände und Füße wurden bald
danach, "zumeist auf Kirchhöfen" gefunden. Trotz vielfacher Ver-
haftungen und mehrerer Meineidsverfahren, die mit dem Fall zusammen-
hingen, kam es zu keiner Klärung. Sowie Morde begangen werden, die
die Bevölkerung stark erregen, melden sich Zeugen, die Männer mit
Paketen gesehen haben wollen, die Schreie gehört haben, alte verdächtige
Bemerkungen kommen ins Gedächtnis, Verdacht fällt auf gewisse
Berufe wie Metzger oder Ärzte, ungeklärte Morde tauchen auf und
werden in Verbindung mit der neuen Tat gebracht 3. Über die Unter-
suchung legen sich die Schatten einer leidenschaftlichen Anteilnahme
und aufgewühlter Urinstinkte. Es kommt hinzu, daß der Aufenthalt
im Wasser umstrittene gerichtsmedizinische Probleme aufwirft und die
Entscheidung: Ersticken oder Verbluten Schwierigkeiten bereitet.
Neben den Mediziner muß freilich auch der Kriminalpsychologe
treten. Im Fall des Gymnasiasten Winter fanden sich im Hemd des
Toten Spermaflecke. Der etwas reife Obertertianer hatte ein lockeres
Leben geführt. Erst dachte man an einen "beleidigten Vater, Gatten,
Bruder oder Bräutigam4 ," dann an die Bluttat eines Zuhälters, "da ... die
Zuhälter auf ihre Dirnen ungemein eifersüchtig sind". Doch nicht auf
Kunden ihrer Mädchen 5. Den Raubmord aber schließt Zerstückelung
als unnötige Verzögerung aus.
b) Wie der Tod im Wasser, so tritt die Lebensverkürzung durch Ab-
sturz als Mord, Selbstmord oder Krinlinalstrafe 6 auf. Tatort kann das
1 FRIEDLÄNDER,Bd. IV, S. 4ff. 2 Ebenda, Bd. III, S. 76ff.
So im Falle des Berger ein ungeklärter Breslauer und ein Charlottenburger
3
Mord, mit dem die Prostituierte ihrem Zuhälter drohte. Der Angeklagte sagte aus:
"Als wir in Breslau waren, da verkehrten wir mit einer gewissen Weiland •..
plötzlich wurde die Weiland ermordet. .. In der Hand der Ermordeten wurde ein
blonder Schnurrbart, den sie offenbar im Todeskampf dem Mörder abgerissen hat,
entdeckt. Die Liebetruth hat mir auch gedroht: Wenn du mich nicht heiratest,
dann lasse ich dich auch wegen des Breslauer Mordes ,alle' werden." Ebenda,
Bd. IV, S. 39.
4 Ebenda, Bd. III, S. 77. - Über Zerstückelung bei Tötungen in der homo-
sexuellen Sphäre siehe meine Psychologie des homophilen Mannes, S. 114, 146,
155, 160ff.
5 Gerade die "Spaltung" der Besitzgefühle ist für den Zuhälter kennzeichnend:
er leiht sein Kapital aus, daß es Zinsen bringt. Fremde Begierde ist ihm Mitgenuß.
6 Die Strafe, Bd. I, S. 330ff.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 417

Hochgebirge, eine Steilküste, ein Turm oder ein Hochhaus sein. Je


weiter die Wolkenkratzer in die Lüfte steigen, um so mehr nimmt diese
Todesart zu, die in Gangsterkreisen 1, aber auch bei politischer Tötung
verbreitet ist. Die Möglichkeiten von UnfalP, Selbstmord und Ver-
brechen gehen dicht verwoben durcheinander. Die Zerstörung ist beim
Aufprall sehr bedeutend, so daß Würgespuren oder Schlagverletzungen
kaum noch festgestellt werden können. Wenn Zeiten der Depression ins
Land kommen, besteht für viele Menschen Anlaß, depressiv zu sein.
Amerika hat eine Welle von Selbstmorden ruinierter reicher Leute er-
lebt, für die der Absturz die erwünschte völlige Vernichtung war, wie
es vielleicht auch Überfahren durch den Schnellzug ist. Ein Spanier auf
dem Montmartre in Paris hatte Anfälle eines mörderischen Sadismus, in
dem er öffentliche Mädchen erst quälte und dann aus dem Fenster warf.
Zum Tode verurteilt, wurde er in der Roquette zum Spaziergang ge-
führt. Dabei entkam er, lief die Treppen hoch und stürzte sich auf
den Steinboden des Gefängnisses, wo er zerschmettert liegenblieb 3 • In
seinem Kopf saß kranker Antrieb des Nach-unten-Stürzens, ob es ein
anderer oder auch der eigene Körper war.
Die Abgrenzung zum Selbstmord wäre leichter, wenn wir uns größere
Mühe gegeben hätten, Einzelheiten zu studieren. Kommt es je vor, daß
einer seinem Leben durch Sturz aus dem 23. Stockwerk ein Ende macht,
ohne seinen Mantel auszuziehen und ohne den Hut abzunehmen?
Werden solche Akte der Selbstzerstörung kurz nach dem Mittags-
imbiß begangen? Waren diese "Selbstmörder" Träger von bedrohlichen
Geheimnissen oder gefürchtete Belastungszeugen ? Warum denn stürzen
sich so viel mehr Männer aus Politik, Finanz und geschäftlichem Leben
aus dem Fenster, niemals Ärzte, Geistliche oder Rechtsanwälte? Schon
in den Legenden des klassischen Altertums hängen sich die Frauen auf,
die Männer aber springen heldenhaft von Burgen oder Klippen. Nur
Sappho, männlich auch in diesem Wesenszuge, wirft sich vom Fels ins
blaue Meer 4 •
Die meisten Absturzmorde kombinieren die Wirkung von Schlag und
Sturz, weil sie sehr selten unmittelbar den Tod herbeiführen. Der Ab-

1 KEFAUVER, ESTES: Crime in America, S. 223. London 1952. "Voll bekleidet


verschwand Reles (ein wichtiger Zeuge) aus dem Hotelfenster und wurde 5 Stock-
werke tiefer tot gefunden." Er wurde von 6 Polizeibeamten bewacht.
2 "Am folgenden Tage erfuhr man in der Nachbarschaft ein trauriges Ereignis.
Der alte Seekapitän war aus dem oberen Fenster seines Hauses gestürzt und hatte
sich den Hals gebrochen. Er hatte vermutlich einen außerhalb des Fensters hängen-
den Vogelbauer zurechtrücken oder hereinnehmen wollen, das Gleichgewicht dabei
verloren und war hinausgestürzt." Neuer Pitaval, Bd. XIV, S. 300. In Wirklichkeit
war er erschlagen und erwürgt und aus dem Fenster geworfen worden. Die Blutspur
zu verdecken, schlachtete die Ehefrau an der Stelle unten ein Huhn.
3 BATAILLE: Crimes de 1894, S.255ff. 4 Die Strafe, Bd. I, S. 331.

v. Hentig, Das Verbrechen I 27


418 Topographie der kriminellen Handlung

gestürzte lebt noch einige Stunden weiter 1. In den drei Fällen Tour-
ville 2, Laurie 3 und Halsmann 4 scheint der Tötungsvorgang sich in
drei Stufen abgespielt zu haben: Erst wird das Opfer (Ehefrau, Wander-
kamerad, Vater) von hinten durch einen Hieb mit einem Steine an-
gegriffen. Dann folgt der Absturz. Schließlich wird tief unten der noch
Atmende erledigt. Mit Meinungsverschiedenheiten der Sachverständigen
muß gerechnet werden, verschiedene Deutungen sind nach der ver-
wickelten Sachlage verständlich. In allen Fällen, die wir kennen 5,
spielte direkt oder indirekt Gewinnsucht mit. Der Einwand, erst sei das
Opfer ausgeglitten, dann, während der Begleiter hilfesuchend forteilte,
sei ein Fremder gekommen und habe den Diebstahl ausgeführt oder
habe der bislang Untätige Uhr und Geld genommen, wird schon im
Laurie-Prozeß als "wildly improbable 6 " bezeichnet. Er steht in der Skala
der prüfenswerten und irgendwie glaubhaften Ausreden an letzter Stelle.
Im Mordverfahren gegen Laurie brachte die Verteidigung den Umstand
zur Sprache, die Schlagverletzungen seien alle auf der linken Seite
gewesen 7 • Kein rechtshändiger Mann könne diese Wunden herbeigeführt
haben, es sei aber nicht festgestellt, daß Laurie Linkshänder sei. Man
ließ die Frage unerörtert und auf sich beruhen. Bei Frau Tourville
lagen alle Hiebwunden auf der rechten Seite des Kopfes 8. Die ärztlichen
Gutachten in diesem Falle erscheinen um so schlüssiger, als sie durch
alpine Erfahrungen gestützt waren. Die Mörder, die aus ebenen Ländern
kommen, sind mit dem Lesen dieser Spuren nicht vertraut 9. Beim Sturz
in größte Tiefe kommt es auch zum Freispruch, weil Beweise mangeln 10.
Ein Nachteil für den Täter sind scharfäugige Alpinisten, die ihn ge-
troffen und beobachtet haben, und Hirten, die allein aus Langerweile
alles Neue aufmerksam beäugen. Die Einsamkeit der Berge wird zum
Tribunal, anstatt Versteck und Zeugenlosigkeit zu sein.
Steilküsten laden zum Mord an Kindern ein l l ; der Absturz mit dem
Auto ist die neueste Technik: "Sie fuhr, verlor die Herrschaft, stürzte in
1 SCHULTZ: Versicherungsmord, S.44.
2 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 61 (Bozen 1877).
3 ROUGREAD, W.: Trial 0/ J. W. Laurie. Edinburgh 1932.
4 STOOSS in Gross Archiv 1930, S. 62ft - STOOSS hielt Halsmann für unschuldig.
5 Sie müssen sich vermehren, seitdem die Bergbahnen große Menschenmengen
auf die Berge fahren.
6 ROUGREAD, S. 38. 7 Ebenda, S. 39. 8 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 123.
9 Es liegt der anatomische Beweis vor, "daß ein Sturz oder Fall absolut aus-
geschlossen ist, denn die Wunden sind alle Längswunden von querer Richtung.
Das ist bei einem Fall auf eine unebene, mit Steinen bedeckte Ebene ganz unmög-
lich". Ebenda, Bd. XIII, S. 123. Aus dem ärztlichen Gutachten.
10 Fall Treiber (1926). WIEGLER, S. 368.
11 BATAILLE: Grime8 de 1895, S.IIff. Tötung des kleinen Stiefsohns an der
Steilküste von Sorrent, zehn Jahre vor der Verhandlung. Freispruch aus Mangel
an Beweisen. Die Darstellung umfaßt 139 Seiten.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 419

die Schlucht. Ich konnte gerade noch durch einen Sprung mich retten",
erklärte James der Polizei in Colorado 1 .
Immer höher werden breite Autostraßen über unwegsames Berg-
gelände hinweggeführt, immer mehr nimmt der Wintersport zu, der von
Skilifts seinen Ausgang in die schneebedeckte Wildnis nimmt. Nicht
selten werden jetzt schon im Hochgebirge Skelette und Skelettreste
gefunden, die von Raubvögeln oder Nagetieren zerstreut und ver-
schleppt sind. Die Mahnung EDGAR WITZMANNs 2 ist daher wohl-
begründet, alle die Bergunfälle mit kritischen Augen anzusehen, "bei
denen von zwei Partnern nur der eine heil vom Berge kommt und be-
hauptet, sein Partner sei tödlich verunglückt", besonders bei Ehepaaren,
Verlobten, Verliebten, Eltern und Kindern, Geschwistern und Ge-
schäftspartnern, wobei, so kann man hinzufügen, den Versicherungs-
verhältnissen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Der Verdacht
WITZMANNS ist berechtigt, daß manche ungeklärte Vorgänge unter den
zunehmenden "Bergunfällen" auf einen Mord hinweisen.
In einer Serie ausgeklügelter, aber wieder aufgegebener Mordpläne
scheint Absturz wie der Stoß ins Wasser an letzter Stelle zu stehen. Im
Falle des Karl Payrleithner waren zuerst Vorbereitungen getroffen
worden, das versicherte Opfer durch Leuchtgas zu vergiften oder durch
einen Komplicen erschießen zu lassen. Ein Selbstmord sollte vorge-
täuscht werden. Am Ende entschloß man sich zu dem "kleinen Rucker13."
Daß die Tat meistens auf dem Rückweg stattfindet, wird dadurch
erklärlich, daß der Täter bis zum letzten Abschnitt der Alpenreise oder
der Bergwanderung zögert, weil seine Hemmung noch nicht völlig über-
wunden ist 4 • Erst wenn die beiden müde sind, die nahe Hütte winkt, die
letzte Möglichkeit sich drängend auf den Tötungsvorsatz legt, erfolgt die
Tat. Besondere Freundlichkeit nimmt Opfern jeden Argwohn. Ein
Zeuge sah Tourville und seine Frau die Stilfserjochstraße herabkommen.
Sie waren auf dem Rückweg. "Soviel ich mich erinnere, waren beide
eingehängt." Sehr bald darauf geschah die Untat.
c) Die Sprache bringt uns psychologisch der Natur des Waldes näher,
denn er bedeutet wüst und wild 5, pfadlos und einsam. Der Fremde, den
1 Los Angeles murders, S. 182. - Zwei andere "cliff-murders" (Steilufermorde)
sind in der Associated Press vom 24. Juli 1959 aus Kalifornien und von der Londo-
ner Daily Mai! vom 22. Oktober 1958 aus Cornwall, England, berichtet. In beiden
Fällen wurde der Versuch gemacht, die abgestürzten Frauen noch durch Hiebe mit
einem Stein zu erledigen.
2 Verbrechen in den Bergen, Kriminalistik, S.374, 1959.
3 SCHULTZ, S. 55.
4 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 99. - Der Kutscher, der das Paar hinaufgefahren
hatte, sagte aus: " ... die Frau war fröhlich, hübsch und liebenswürdig, der Herr ...
gegen sie sehr aufmerksam." Ebenda, S. 98.
5 KLUGE-GÖTZE, S. 851.

27*
420 Topographie der kriminellen Handlung

wir fürchten müssen, kommt aus dem dichten dunklen Wald!, der, wie
der Schwarzwald und der Böhmerwald, durch die Erhebung doppelt
schauerlich und öde wird und wo auch Schillers Räuber hausen. Busch
und Gestrüpp verdunkeln jeden unberührten Forst. Die Römer litprachen
von dem animus silvestris, wenn sie an alte ungebrochene Wildheit bei
den Menschen dachten. Es ist nicht Zufall, daß so viele Geisteskranke
von dieser Vorwelt angezogen werden und ihre letzte Hemmung in dem
Schweigen dieses Wildnisrestes wankt 2. Bei einem Lustmord heißt es
von dem Täter: " ... dort fallen sein scheues Wesen, seine Schlaflosigkeit
und Unruhe bei Nacht sowie seine Vorliebe für den einsamen Aufenthalt
an Sonntagen und freien Abenden im Walde auf3." Wenn dieser Mensch
im Forst ein Opfer fand, umkreiste er es schleichend, bis er seine Züge
sehen konnte.
Nach dem Glauben des Veda ist der Wald beseelt, vor allem die
großen Bäume, die "Waldherren". Die Einsamkeit des Waldes hat ihre
Laute, deren Heimlichkeit und Grauen den verirrten Wanderer umgibt 4.
"Hier hausen die verkörperten Gefahren, Riesen, \Vildleute", wie sie
heute noch in alten schweizerischen Faschingsmasken weiterleben. "Es
sind die in den Wald hineinverlegten schadenstiftenden Dämonen." Hier
hat ein menschenfressender Waldgeist sich ein Menschenweib geraubt
"und lebt mit ihr in seiner Höhle 5 ." In die Gesellschaft böser Geister,
die ihm viel schlimmer als die Menschen nach dem Leben trachten,
führt auch der Bann, der den Leib "den Tieren in den Wäldern, den
Vögeln in den Lüften, den Fischen in den Wogen" zuwies 6 • Aus der
Einöde, Berg und Wald kommen die Krankheitsgeister oder die Pfeile
des Fiebers in die \Vohnungen der Menschen 7 • Auch in der deutschen
Mythologie ist der höchste der Götter noch ein ungeheurer Waldmensch.
"In Mitteldeutschland erscheint Wotan als ein gefürchtetes Wald-
gespenst (Hoimann, Waldmann) riesig, mit breitem Hut und statt des
Haares und Bartes mit Moos und Flechten bewachsen 8."
An keiner Stelle treten der Mythos und die Wirklichkeit des Waldes
eindringlicher entgegen als in den Haus- und Kindermärchen der
Brüder Grimm. Fast alle tragischen Verwicklungen, alle wunderbaren
und zauberischen Vorgänge spielen sich im Forst ab. Er ist dunkel, wild
und unermeßlich groß. Hänsel und Gretel gehen "die ganze Nacht und
noch einen Tag von Morgen bis Abend", aber sie kommen aus dem Wald

1 Italienisch forestiero, spanisch forastero.


2 "Es sei ihm vorgekommen", erklärt der Kranke (FEUERBACH, Bd.I, S.452),
"als ob derselbe (das Opfer) Hörner aufhabe."
3 MEYER VON SCHAUENSEE in Monatsschrift, Bd. XI, S. 493.
• OLDENBERG: Religion des Veda, S. 261ff.
5 Ebenda, S. 264. 6 GRIMM: Rechtsalterlümer, Bd. I, S. 58.
7 OLDENBERG, S. 223. 8 WUTTKE, S. 20.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 421

nicht heraus. In den "sechs Schwänen" wandert die Schwester "die


ganze Nacht hindurch und auch den anderen Tag in einem fort, bis sie vor
Müdigkeit nicht weiterkonnte". Im Walde stehen einsame Schlösser,
die selbst der Eigentümer nur mit Mühe findet, Wildhütten, seltsame
Türme, die weder Treppe noch Türe haben (Rapunzel), kleine magische
Häuschen, an denen steht: "Hier wohnt ein jeder frei" (Das Mädchen
ohne Hände). Durch den Tann schleichen böse Wölfe, Wildschweine,
die die Flur verwüsten, hier sagen Fuchs und Hase sich Gute Nacht
(Rumpelstilzchen). Vor allem hausen hier die Hexenmeister, die Zaube-
rinnen, Zwerge und die Räuber, die des Königs Schatz bestehlen wollen
(Däumelings Wanderschaft). Stiefmütter üben ihre Zauberkünste, sie
schicken ihre Kinder in den Tann, daß sie erfrieren und verhungern
müssen (Die drei Männlein im Walde).
Die mörderische Atmosphäre großer Waldgebiete kommt in den
Märchen oft zum unverhohlenen Ausdruck!. Der Graf ist über seinen
dummen Sohn erzürnt und gibt Befehl: "Dieser Mensch ist mein Sohn
nicht mehr, ich stoße ihn aus und gebiete euch, daß ihr ihn hinaus in den
Wald führt und ihm das Leben nehmt" (Die drei Sprachen). In Schnee-
wittchen ruft die neidische Stiefmutter einen Jäger und spricht zu ihm:
"Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will es nicht mehr vor meinen
Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahr-
zeichen mitbringen." Der aber hat Mitleid und läßt das Kind laufen,
weil er denkt: "Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben."
Wenn Hungersnot im Lande herrscht, werden die überflüssigen kleinen
Esser in den Wald gelockt, "wo er am dicksten ist", und dann allein
gelassen. Sie finden ihren Weg nicht mehr nach Hause. Die wilden Tiere
werden sie zerreißen. Drei Tage sind sie hungernd schon gewandert,
dann kommen sie zum Hexenhaus, zur Menschenfresserin mit roten
Augen, die wie ein Tier das Menschenfleisch von ferne wittert (Hänsel
und Gretel).
Im Wald begegnen sich die beiden großen Lebenspole Tod und
Schöpfung. Der "mulo" der Zigeuner ist ein Waldgeist und bedeutet
Tod 2. "Ich habe den Mulo ganz genau gesehen", sagt das Zigeuner-
mädchen. "Er war groß und stark und ganz schwarz, und in der linken
Hand trug er einen Strick 3 ." Es ist der Waldmann, der im deutschen
1 Im Märchen tauchen auch archaische Mechanismen wieder auf. Es wird in
einem hohlen Baum geschlafen (Brüderchen und Schwesterehen). Auf einem
hohen Baume wird die Nacht verbracht (Die sechs Schwäne). Der "Fundevogel"
wird von einem Raubvogel aus dem Schoß der Mutter geraubt und wunderbar auf
einen großen Baum gesetzt. - Auch spielt der Schutz der Dornhecke - uralt,
solang es Menschen gibt - in allen Märchen eine Rolle (Dornröschen, Der Liebste
Roland), die in der Straf justiz sich lange hielt (Die Strafe, Bd. I, S. 328).
2 Daherim Rotwelsch "mollen" sterben und "molieren "morden. A. \VOLF, S. 224.
3 Luz, WALTER: Das Verbrechen in der Darstellung des Verbrechers, S.95.
422 Topographie der kriminellen Handlung

Aberglauben Mädchen raubt 1, vor dem sie bangen und auf den sie
hoffen. In der griechischen und römischen Sage nahen die Götter
irdischen Mädchen in Hainen um die Mittagsstunde, wenn die Sonne
vom Himmel niederbrennt und Mattigkeit die Menschen überkommen
hat. In dieser Stunde der Liebe locken Schatten, die Kühle des Mooses,
das Dunkel der Grotte. Jupiter redet der Königstochter 10 zu, sie
solle mit ihm "zum waldigen Versteck der Tiere" kommen. "Unter
göttlichem Schutz", sagt er, "wirst du das Geheimnis des Waldes
erfahren" ("nemorum secreta subibis 2 "). - Ein andermal sieht der
Vater der Götter die schöne Jungfrau Callisto, die sich in einem Hain zur
Mittagszeit zur Ruhe legt 3. Drei Dinge verheißen Erfolg: der dichte Wald,
ihre Erschöpfung und ihre Schutzlosigkeit. Zynisch spricht er es aus:
"Den Streich wird gewiß nicht die Gattin erfahren,
Und hört sie davon, so lohnt es, so lohnt es den Hader."
Er nimmt die Gestalt der Diana an und gibt ihr allzu feurige Küsse
("oscula nec moderata"). Dann überwältigt er die verzweifelt Wider-
strebende und steigt "als Sieger" zum Himmel. Sie bleibt zurück im
"verhaßten Gehölz unter wissenden Bäumen".
Der Wald ist heute noch die Stätte der Notzucht 4, der Kinder-
schändung 5, exhibitionistischer AkteS und homosexueller Exzesse 7•
Sehr bedeutend muß die Anzahl der Fälle sein, die nicht zur Anzeige
kommen. Der sommerliche Wald war der größte aller Liebesnester,
bevor das Auto ihm den Rang ablief, das immer noch die Waldesnähe
sucht. Urelemente regen tiefste Triebe an, vor allem wenn im Frühling
alle Säfte steigen und Menschenregeln 8 ferne sind.
Die Statistiken sprechen vom Wald oder Waldweg, ohne auf Einzel-
heiten einzugehen. Wenn der Hochwald, beim Morde z. B., nur selten
als Tatort auftritt, so mag diese Tatsache auf die seltenere Entdeckung
zurückzuführen sein. Troppmann wollte seinen Freund Jean Kinck in
den Vogesen mit Blausäure vergiftet haben, die er einem Schluck Wein
beimischte. Die Leiche sollte im Bergwald unter einer großen Buche
begraben sein. Die Stelle wurde von ihm sehr genau beschrieben. "Ob-
gleich sie ihm wenig Glauben schenkten, ordneten die Behörden die
WUTTKE, S. 47.
1 2 OVID: Met. 1,594. 3 OVID: Met. II, 453ft
SCHULZ, G., S. 54. Wald und Waldwege stehen an dritter Stelle der Tatorte.
4
5 IRNIG, S. 14; WESSEL, S. 16; VIERNSTEIN und ich trafen in unseren Unter-
suchungen über den Inzest auf 4 Fälle von Wald als Tatort (S. 203).
6 BENKERT, S. 129. - Eine kaum zu schätzende Anzahl von Fällen kommt nicht
zur polizeilichen Kenntnis. Selbst gröbliche Belästigungen werden zwar privatim
erörtert, aber nicht angezeigt.
7 LANG, FRITZ, S. 40. Von 143 Fällen, die sich im Freien abspielten, entfielen
35% auf den Wald.
S In Gestalt der "lover's lanes" hat sich in den Vereinigten Staaten sogar eine
Art halbgeduldeter Tradition der Liebeshandelplätze ausgebildet.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 423

genauesten Nachforschungen an. Es wurde aber nichts gefunden."


Als Troppmann den Mangel an Findigkeit laut tadelte, ließ das Gericht,
"ungläubiger denn je", von neuem nachsuchen. Jetzt endlich gab der
Wald sein Opfer her 1 . Man fand die Leiche unter einem großen Stein.
Sie war mit Laub und Erde zugedeckt. Noch ehe Troppmann eip. Ge-
ständnis ablegte, hatte man in der Gegend, in der Kinck verschwunden
war, die Teiche und die Gräben abgelassen, Taucher verwendet und die
Wälder von Soldaten mit allem Fleiß durchsuchen lassen. Der seltene Fall
lag vor, daß das Opfer, getäuscht durch das Märchen einer Falschgeld-
werkstatt tief in dem Keller eines alten Schlosses, sich zu dem Tatort hatte
locken lassen, der als Versteck der Leiche ganz besonders gut geeignet war.
Wenn Selbstmord simuliert wird, fehlt die Technik des Verbergens.
Monika Schweigle fand man tot im Bergwald eine Viertelstunde oberhalb
der Wohnung. Ein Strick war um den Hals geschlungen und an einem
kleinen Baum befestigt. Obschon sie nur mit Rock und Hemd bekleidet
war, entschied der Arzt, sie habe sich höchst wahrscheinlich erhängt.
Sie war im fünften Monat schwanger. So wurde das Verfahren einge-
stellt. Erst viele Jahre später kam es zum Geständnis. Ein junger Bauer,
ihr Geliebter, war nachts mit ihr den Fußpfad in den Wald hinaufge-
stiegen und hatte sie beim Liebesakt mit einem Strick erdrosselt 2 • Dann
überkam ihn Grauen. Ohne die entblößte Leiche zu bedecken, war er
spornstreichs zu seinem Hof entflohen. Wenn er das Mädchen weiter
hätte in das Dickicht locken können, wenn er die Leiche tief im Wald
vergraben hätte, so war die Chance einer Nicht-Entdeckung groß, zumal
im Kapplertal noch viele Wälder in Privatbesitz sind und Jagd nur wenig
ausgeübt wird.
Bei näherer Betrachtung der im Wald begangenen Verbrechen er-
geben sich gewisse Regelmäßigkeiten. Der tiefe Wald, in dem sich eine
Leiche findet, deutet auf bestimmte Beziehungen von Täter und Opfer
hin. Schleichhande13 und Schmuggelgeschäfte können die Ursache sein,
die einen Partner, die Tasche mit Geld gefüllt, in das Waldesinnere führt.
In Grenzgebieten kann der Übergang mit aller transportablen Habe
durch das Dickicht gehen 4. Andere illegale Operationen, wie angebliche
Abtreibung, werden dichtes Buschwerk abseits von den Wegen suchen 5 •
Der Schwindel mit der guten Stellung, die einem armen Mädchen winkt,
kann als "Verirren" in die Waldestiefe führen, vor allem, wenn es dunkel
1 Neuer Pitaval, Bd. V, S. 113ff. - Nach BOLITHO (S. 121) wurde das Ge-
ständnis Troppmanns dadurch erzielt, daß man seine Mutter in die Zelle ein-
schleuste, der er den Tatort dann verriet.
2 Neuer Pitaval, Bd. III, S. 206ff. - Genau den gleichen Vorgang berichtet
SEELIG, S. 100.
3 Siehe meine Untersuchung: Das gezeichnete Geständnis in Monatsschrift,
Bd. XVIII, S. 514--526, und HEINDL, S.206-216.
4 Fall Pleil, Braunschweig 6 Ks. I/50. 5 Neuer Pitaval, Bd. VI, S. 211.
424 Topographie der kriminellen Handlung

wird l . Das Mädchen hat dann alles bei sich, was ihr Besitztum ist, dazu
noch häufig die Ersparnis ihrer Unberührtheit. Ins Waldesdickicht
kann ein homophiles Abenteuer einen Mann verleiten, den man ver-
anlaßt hat, für andere Zwecke (Kaution) Gelder mitzunehmen 2 • Gerade
die Unheimlichkeit der Umgebung läßt Mädchen oft im letzten Augen-
blick flüchten 3 • Wenn das Opfer ein Mann ist, kann es zum Widerstand
und zur erheblichen Verwundung des Täters kommen 4. Der lange
Marsch durch den Forst macht viele Opfer durstig; der Trank kann
dann mit Gift versetzt sein, erst kommt ein Schluck von reinem Schnaps,
ein wenig später in der Waldeinsamkeit das Gift 5. Vor ihrem Gelde wird
dem schwer betäubten Mädchen noch die Unschuld abgenommen.
Die kleinen Abkürzungswege 6 , von denen wieder halbverwachsene
Seitenpfade 7 ausgehen, sind in den meisten Fällen Tatort. Warum der
Täter oft den Waldrand wählt 8 , verdiente näher untersucht zu werden.
Vielleicht läßt sich das Opfer nicht ins Innere eines Waldes leiten, weil

1 "Er führte sie nun im Walde herum, sagte, es sei zu spät, sie müßten im Walde
übernachten" (Fall des Franz Schneider, Wien). Pitaval der Gegenwart, Bd. VII,
S.204. - "Es war bereits Nacht. Der Fremde nahm nun den Koffer auf seine
Schultern und sagte der Pichon, sie möchte ihm nur folgen, er werde sie, um sie
eher zu ihrem Bestimmungsort zu bringen, auf Fußwegen führen." Neuer Pitaval,
Bd. XXX, S. 78 (Fall Dumollard, Lyon).
2 So in dem unklaren Fall Senger (Berlin), der seinen "Freund" mitten im
Walde erschoß und beraubte. Um zu begründen, daß er eine größere Summe nach
der Tat in Besitz hatte, brachte er eine eigenartige Ausrede vor. Das Geld stelle
das Entgelt für homosexuellen Verkehr mit einem "Kar! Sommer" dar, der aber
nirgends aufzufinden war. Pitaval der Gegenwart, Bd. VIII, S. 54.
3 Ohne diese mißglückten Versuche würden wir die Technik gar nicht kennen.
4 FRIEDLÄNDER, Bd. IX, S. 160 (Fall Schenk, Wien). 5 Ebenda, S.166, 168.
6 Lenzbauer kam mit seinem Bruder die Landstraße entlang, "blieb jedoch
nicht auf der ordentlichen Straße, sondern schlug einen Fußweg ... ein". Dann
änderte er plötzlich seine Richtung. "Er führte seinen Bruder seitwärts auf einen
sehr schmalen Pfad." FEUERBACH, Bd. I, S. 50. - "Sie kamen zu einer Kapelle,
wo er (Franz Schneider) sie beten ließ, führte sie dann tiefer in den Wald und
zweigte vom Wege ab, indem er sagte, er kürze diesen nur gegen die Villa der
Baronin, die ganz in der Nähe sei, ab." Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 206.
7 "Geht man von Crawinkel auf der Chaussee entlang, so passiert man, bevor
man den Wald betritt, zwei Kienrußhütten; an der zweiten, dem Walde näher
gelegenen, biegt rechts durch den mit Gebüsch untermengten Kiefernbestand ein
Fußweg ab, der einen Bogen der Chaussee abschneidet... Dieser sogenannte
Marktweg wird wiederum von einem anderen Fußweg durchschnitten, der übrigens
seit längerer Zeit ungangbar geworden und vielfach durch Buschwerk verwachsen
ist." Neuer Pitaval, Bd. VI, S. 211.
8 "Dicht am Waldrand" geschah der Mord an der Maria Hahn durch Kürten.
STEINER-GAY, S. 57. - Von 6 Morden, die sich im Hartholz bei München in der
letzten Zeit ereigneten, lagen 5 mehr oder weniger dicht am Waldrand. - Ich lese
in Brehms Tierleben (Bd. I, 486, Leipzig 1892) vom Puma: "In baumreichen
Gegenden zieht er den Wald dem freien Felde entschieden vor; am meisten aber
liebt er den Saum der Wälder."
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 425

eine instinktive Furcht davor zurückhält. - Die Förstermorde sind ein


eigenes Kapitel; wie es der Zufall fügt, so stoßen Wilddieb und Beamter
aufeinander!. Hier ist die Tätigkeit der beiden Gegner waldgebunden.
Dem Waldrand sind Schneisen und Lichtungen gleichzustellen, weil
das Opfer sich an Stellen weniger bedroht glaubt, die übersichtlich sind.
Hier spielt die Biegung eine unheilvolle Rolle, die auch in vielen anderen
Fällen aufgesucht wird 2. "Er bat sie", meldet ein Bericht, "ihm nach
dem Schluß des Tanzes ... in einem gewissen Abstand zu folgen. Bei
einer Biegung des Weges, wo niemand sie sehen konnte, gelang es ihm,
sie zu überreden, mit ihm zu einer Lichtung im Walde zu gehen. Hier
verübte er mit ihr den Beischlaf, und noch während er sie in seinen Armen
hielt, schnitt er der noch Benommenen den Hals ab 3 ." - Pleillud das
Opfer an einer Schneise ein, sich auszuruhen und hinzusetzen. Er über-
fiel die Frau in dieser Stellung 4 •
Ganz ungewöhnlich häufig ist das "Waldstück" Tatort besonders an
der Autobahn. Auch lichter Kiefernwald schreckt junge Menschen
weniger ab als dichter, dunkler Forst. Vom Knabenmörder Seefeldt
(1933-1935) kennen wir elf Fälle und den festgestellten Tatort. Die
Tannenschonung 5 steht bei weitem an der Spitze; sie ist neunmal der Ort
des Fundes oder des Verschwindens. Sogar die Tatzeit ist nicht ohne
Rhythmen. Die Kinder kamen nicht wieder nach Hause: am 16. April
1933, am 16. Januar 1934, am 16. Oktober 1934, am 16. Februar 1935.
Seit 2. November 1933 und 2. Oktober 1934 waren sie verschwunden, so-
dann am 8. Juni 1933 und am 8. Oktober 1934. Dazwischen liegen der
22. November 1933 und der 23. Februar 1935. Wenn es ein bloßer Zufall
war, so war es ein zur Wiederholung aufgelegter Zufall.
Der Wald hat seine alte Rolle als ein günstiger Tatort noch nicht
ausgespielt. Straßen führen durch die dichtesten Wälder und durch das
höchste Berggeröll. Doch sind es nur noch schmale Randgebiete, die von
dem Menschenstrom betroffen werden. Niemand tritt mehr in "Poseidons
Fichtenhain" "mit frommem Schaudern" ein, und meistens ist die
Kriminalität an Dunkelheit gebunden. Hier an den Autostraßen spielen
keine Kinder 6, suchen keine Jäger nach der angeschossenen Schnepfe,
auch keine Imker im Gestrüpp nach ihren Bienen. Man rast vorbei und

1 Neuer Pitaval, Bd. IV, S.356; WATTLER, S. 111; MEIXNER, FRANz: Der
Indizienbeweis, S. 34. Heidelberg 1952.
2 Siehe den Fall Dr. Müller. Eigene Aussage: "In der letzten Kurve vor dem
Brandort habe er im Scheinwerferlicht einen Igel über die Straße laufen sehen."
BACHMANN in Kriminalistik 1958, S. 14.
3 BJERRE, ANDREAS: Zur Psychologie des Mörders, S.69. Heidelberg 1925.
4 Braunschweig 6 Ks 1/40.
5 WEHNER, BERND: Die Latenz der Straftaten, S. 22, 23. Wiesbaden 1957.
6 WOSNIK, Bd. II, 3, S. 176. Spielende Kinder finden im dichten Kiefernholz
einen Schädel.
426 Topographie der kriminellen Handlung

blickt nach vorn, denkt an das Ziel, das man auf schnellstem Weg er-
reichen will. - Der Park ist auch in vieler Hinsicht an den Platz des
WaIds getreten. Zumal zur Nachtzeit regt es sich im Central Park in
New York, im Londoner Hydeparkl, im Bois de Boulogne. Wenn man
maskiert ist und der Abend dunkel ist, kann man die Schwiegermutter
selbst auf der Promenade eines Kurorts töten 2. Im Essener Stadtwald
wurde 1906 eine Engländerin erschlagen. Die Leiche, deren Schädel
zertrümmert war, wurde im hohen Farnkraut von einer alten Holz-
sammlerin 3 gefunden. Golfplätze, dicht mit Busch bestanden und nachts
verlassen, sind in Amerika Tatort von Lustmorden gewesen 4 • Die Ufer-
weiden an den großen Flüssen bilden eine Art von Wald. Hier ist zu
allen Zeiten Mord begangen worden 5. Zuweilen bleibt es beim Versuche 6,
wenn sich das Mädchen wehrt und Menschen rettend in der Nähe sind 7.
d) Der Tatort ist weit mehr als bloße physische Gegebenheit, in deren
Umkreis Täter handeln oder bei der Unterlassung handeln sollten. Er
ist Kontaktpunkt menschlicher Verflochtenheiten; das eine Element
greift an und nimmt, das andere wird angefallen, büßt Geld und Gut,
Gesundheit, Unberührtheit, Leben ein. Daß diese Kräfte aufeinander-
treffen, kann viele Gründe haben. Nur dadurch, daß das Opfer sich
erfolgreich wehrt, entfällt ein Tatort, vom Versuche abgesehen. Schon
dadurch, daß ein Opfer seine Absicht wechselt, verschwindet für den
Richter ein Begehungsort. In einem Mordprozeß behauptete der Zu-
hälter Berger: Die Prostituierte, mit der er in einem Zimmer wohnte,
habe ihn mindestens dreißigmal wegen Zuhälterei angezeigt. "Als ich
1898 angeklagt war, da hat die Liebetruth beschworen, daß alle ihre
Angaben unwahr seien. Ich wurde deshalb freigesprochen 8 ."

BENNEY, MARK, S. 260ff.


1
FRIEDLÄNDER, Bd. H, S.5 (Fall Hau).
2
3 Ebenda, Bd. H, S.119. Die Ermordete soll eine Verwandte des englischen
Königshauses gewesen sein. Es lag weder Raub noch, wie die Ärzte sagten, Lust-
mord vor, während des ärztlichen Gutachtens wurde aber für einen Teil die Öffent-
lichkeit ausgeschlossen (S. 125).
4 True detective 1960, S. 18. Der Fall spielte in Baltimore.
5 Neuer Pitaval, Bd. XX, S. 123. "Südwärts dehnt sich ... weithin ein dichtes
Weidengebüsch oder ein Weidenwald, üppig düsterer Vegetation ... Ein Fußpfad
führt durch dieses Dickicht. .. Es ist unheimlich, da zu gehen."
6 STEINER-GAY, S. 70 (Fall Kürten).
7 Dieses entscheidende Element kann auf der besten Straße fehlen, z. B. in den
langen Wüstenstrecken Arizonas oder Nevadas. Dann muß erst der Täter die
Behörden zu dem unbekannten Grab im Wüstensande führen (Fall Watson.
RWE: 45 murders, S. 257). Es war ein "Blaubart", der ganz ohne jede Not gestand,
was keiner je erfahren hätte. Den Einsamkeitscharakter des Waldes kann auch die
Baumlosigkeit der Wüste tragen, ja sie verrät, ganz wie der Waldrand, sehr früh
das Nahen einer Störung.
S FRIEDLÄNDER, Bd. IV, S. 35 und 36.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 427

Vorsitzender: "Ist das richtig?"


Zeugin: "Das weiß ich nicht mehr ... ich leide bisweilen an schlechtem Ge-
dächtnis."
Der Täter kann bewußt das Opfer an den Tatort locken, weil dessen
äußere Gestaltung ihm psychische und mechanische Überlegenheit
sichert, so wie sie SCHILLERS Tell in allen Einzelheiten schildert!. Auch
kann die Eigenart des Tatorts Widerstand und Gegenwehr, auch wieder
psychisch wie mechanisch, hindern. Desgleichen kann der Täter durch
reinen Zufall in eine örtliche Situation hineingeraten, die seinen Zwecken
günstig scheint. Dabei spielt die Wehrlosigkeit des Opfers eine Rolle,
dazu die Einsamkeit, die Hilfe fernhält und gelungene Flucht verheißt.
Verlassenheit des Opfers wird zum Handlungsreiz, indem sie letzte
Hemmung lockert oder wegräumt. Die Menschennähe stützt die Scheu
vor allen Dingen, die intim und für ein fremdes Auge nicht bestimmt
sind. Allein weithin mit einem schwachen Opfer werden die sexuellen
Triebe rege. Die Einsamkeit macht gierig wie die Schwäche willig macht,
weil das Gehirn verstummt und nur der Körper spricht.

Zur Soziologie des Waldes ist einMenschentyp zu rechnen, den es zum


Baumdach und Alleinsein zieht wie einem Lebenselement, Werwolfs-
naturen, wie sie der Dichter einmal nennt 2. Sie wollen unter einem
grünen Baum begraben werden 3 in jenem alten Glauben, daß die Seele
in den Bäumen wohnt. Sie meinen selbst, daß sich die Wahrheit einzig
unter freiem Himmel finden lasse und daß in staubigen Räumen selbst
das Recht erkrankt 4. Daneben regen sich Instinkte, die der Vorzeit
angehören. l\Et seinem Gegner ringend, beißt der Förster Maul den Täter
in den Finger und faßt im Kampf "ihn ans Gemächte 5 ." Als Atavismus
ist die Neigung anzusehen, im Wald zu schlafen. Wenn diese Menschen
eine Zuflucht suchen, so retten sie sich in den Wald, als ob sie sich vor

SCHILLER: Wilhelm Tell, IV, 3:


"Durch diese hohle Gasse muß er kommen:
Es führt kein anderer Weg nach Küßnacht.
Hier vollend ich's - die Gelegenheit ist günstig.
Dort der Hollunderstrauch verbirgt mich ihm;
Von dort herab kann ihn mein Pfeil erlangen;
Des Weges Enge wehret den Verfolgern;
Mach Deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt.
Fort mußt Du, Deine Uhr ist abgelaufen!"
2 So heißt die Frau des Försters ihren Mann. LUDWIG, OTTO: Der Erbförster, I, 3.
3 Ebenda, II, 8.
4 Ebenda, IV, 5: "Wenn ich zu sagen hätte, müßten die Gerichte im Walde
sein; im Walde bleibt dem Menschen das Herz gesund; da weiß man, was recht ist
und was unrecht ist ohne Wenn und Aber."
5 Neuer Pitaval, Bd. XXIX, S.220.
428 Topographie der kriminellen Handlung

einem Feind verstecken könnten, damit die Not sie nicht mehr finden
könnte. Hier kann die Spannung, die aus anderen Quellen fließt, sich
bis zum Bruchpunkt steigern, durch unerwartete Begegnung einen
Zufalls-Tatort produzieren. Der Mörder Dittrich war 1900 aus der
Irrenanstalt entlassen worden. In Berlin zu bleiben, wo er vielleicht
hätte Arbeit und Frauen finden können, wurde polizeilich untersagt.
"Hungernd und obdachlos irrte ich in Berlin und Umgebung umher,
dabei steigerte sich meine Erregung immer mehr!." Ziellos, vielleicht
nur scheinbar ziellos, läuft er in den Wäldern bei Berlin umher. Dichtes
Gebüsch bedeckt den Fuß der Fichten. Von hier aus sah er plötzlich
einige Schritte entfernt von sich eine Frau, welche einen Handwagen
führte.
"Was sich auf diesem Wagen befand, weiß ich nicht mehr. Nur so viel weiß ich
mich zu erinnern, daß ich, meiner plötzlich erwachten Leidenschaft nachgebend,
mich ihr schnell näherte und sie zum Beischlafe aufforderte. Nach anfänglichem
Sträuben willigte sie ein und bog mit dem Wagen in einen Seitenweg. An einem
passenden Platze hielt sie selbst an und bot mir Kaffee und Brot zu essen, wobei
sie ein Messer aus der Tasche nahm und damit das Brot zu schneiden begann."
Mit diesem Messer, das ihn anzieht wie Willigkeit des Opfers, abgelegene Stelle,
Möglichkeit der Flucht, wird wie im Anfall jetzt der Mord verübt.
So tot und leblos auch die bloße Tatkulisse scheint, so ist sie doch
Kriterium vieler Elemente, die der Verfolgung und Entdeckung dienlich
sind, obschon die Welt der Technik sie vertilgen möchte 2. Die W ald-
bestände an der Autobahn geben neue Rätsel auf 3 , gewähren durch den
Wagen und den Fahrer neue Hilfe, nicht immer von der Dichte des
Verkehrs verwischt. Hier wandelt sich der Tatort zum Symptom des
Täters und zum Indiz des Tatkomplexes, in den die Opferhaltung als
kausaler Faden eingewoben ist. Der Tatort wird zur Mitbedingung vieler
krimineller Krisen. Wenn er sich nicht der angebotenen, bislang unter-
drückten Neigung dargeboten hätte, so wäre das Verbrechen nicht
geschehen. Der Tatort lockt als Handlung oft aus der Latenz heraus,
was zögernd vor dem Tor zurückgehaltener Bewegung stand.
Der Tatort wandert wie der Luftdruck und nimmt an jeder Wendung
des Gemeinschaftslebens teil, an Menschenleere und dem Schutz ge-
drängter Massen, an dem Ersatz der Menschenkraft durch Automaten,
am Lärm, mit dem wir unser Ohr betäuben und der den Hilferuf erstickt.
Auch die Zerbröckelung des Familienlebens sondert ab und wird zu
einer schwachen Seite. Maschinen machen all die kleinen Gruppen über-

Pitaval der Gegenwart, Bd. IV, S. 175.


1
Mit dem Trümmerfeld und dem Gewirr der Dächer ist der "Wald" in die
2
Großstadt gekommen.
3 Siehe die Aufzählung der Frauenmorde an der Autobahn im Bundeskriminal-
blatt, Sondernummer vom 19. Januar 1953; das "Waldstück" kehrt als Leichen-
fundort immer wieder.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 429

flüssig, die Hausgenossen waren, durch ihr bloßes Dasein den Verbrecher
warnten. Die Kriminalgeschichte weist nur auf die negative Seite hin,
wenn Diener oder Dienerinnen einen Mord begingen. Viel öfter kommt
es vor, daß mit der Herrin auch die Magd ermordet wird \ Haushälte-
rinnen sterben mußten, weil sie einem angegriffenen Pfarrer helfen
wollten 2, der Zeuge aber nicht am Leben bleiben darf. Das sind die
lauten Fälle der Zusammenstöße. Zahllose Male schreckt das Beisein
eines anderen Menschen still und wirksam ab.
Mit der modernen Wohnung fällt die stumme Hilfeleistung weg, die
uns ein zweiter Mensch bislang gegeben hatte, auch wenn er nicht
Familienmitglied war. Das Einzelhaus, die vielgerühmte Technik,
machen uns verletzlich. Sie sind dabei, uns psychologisch abzustumpfen,
weil uns der Umgang mit Maschinen auch die Menschenkenntnis nimmt.
Wir passen uns das Leben an und brauchen uns nicht anzupassen. Wir
rufen irgendeine Störungsstelle an, die gegen Geld uns den Verdruß
beseitigt, verlangen, wenn Gefahr droht, nach der Polizei. Wir sind
versichert, kaufen uns die Vorsicht ab und dulden, daß die Schutz-
instinkte immer mehr erlahmen. Dabei kann uns die Technik nur be-
dingt bewahren und ist mit einem Handgriff außer Kraft gesetzt. Beim
Bankraub wird die Leitung durchgeschnitten, wenn sie nicht vorher
schon von außen unterbrochen isP. Bei vielen Morden junger Frauen
liegt das Telefon am Boden 4; der Täter ließ der toten Technik keine Zeit,
auf ihre sehr beschränkte Art zu funktionieren. Der Gangster hat es
lange schon herausgefunden, daß Menschen bessere Beschützer sind als
kugelsichere Westen oder Panzerautos. Leibwächter gibt es seit dem
Anfang der Geschichte.
Tatort und Technik gehen Hand in Hand. Man konnte in Amerika
die Klage hören, daß Schüsse von Beamten, die verhaften wollen, auch
Passanten treffen. Man fragte, was der Grund sei, nicht im Hause fest-
zunehmen. Im Hause liegt der Vorteil auf der Seite des Verbrechers;
er kann zuerst und aus der Deckung schießen 5 . Wenn er den Bau ver-
läßt, kann man ihn überraschen und in eine Falle stolpern lassen. Mit
Tränengas kann man ihn auf die Straße treiben.
Vom Tatort läßt das Zeitmoment sich oft nicht trennen. Chamä-
leonartig fließt dem Tatort ganz verschiedene Wertbestimmung zu, nach
Tag und Nacht, dem Lauf der Jahreszeiten, nach Festtag und nach
1 MAYEN, MAURICE: Don-Juan assassin (L'affaire Pranzini), S. 11. Paris 1950.
2 BATAILLE: Causes criminelles de 1891, S. 304 und 305.
3 WILSON, HERBERT E.: I stole 16000000 Dollars, S. 53 und 79, wo die Technik
des "VernageIns" (spiking) beschrieben ist.
4 MrNOT, S. 207. Fall der Luxus-Prostituierten Dot King.
5 PURVIS: American agent, S.160, 161. - Das Tränengas hat nach PURVIS,
einem FBI-Beamten, "Jäger und Wild" endlich auf die gleiche Sicherheitsstufe
gestellt.
430 Topographie der kriminellen Handlung

Wochentag. Noch laufen Polizei und auch Gerichte dem alten Rhythmus
nach, bei dem die Tätigkeit mit langer Ruhepause wechselt. Doch wie
das Raubtier, sieht der Kriminelle in der Dunkelheit den Freund, ver-
legt der Glaube aller Völker doch das Treiben aller bösen Mächte auf
die Nacht!. Gleichzeitig hat die Großstadt in der Finsternis hilfsweise
Lebensformen aufgebaut, in denen schlecht gebändigte Instinkte sich
vom Zwang befreien, Kontrolle nachläßt und die Dunkelheit ermutigt. -
Bei Tage strömen Gäste, Kellner, Pagen durch den Vorraum der Hotels.
Am Eingang steht ein stämmiger Pförtner, und Taxis parken vor der
Türe. Der Nachtportier hat wenig Hilfe. Um 2.30 morgens klingelt ihn
ein Gast heraus und möchte gern ein Zimmer haben. Sowie er drinnen
ist, verlangt er nach der Kasse 2, und sein Revolver gibt dem Wunsche
Nachdruck.
Im Tunneltreiben unterirdischer Bahnen verflechten sich aufs engste
Kräfte von Zeit und Raum zu einem dichten Knäuel des Geschehens.
Die Züge laufen Tag und Nacht, sind je nach Tagesstunden voll-
gestopft und völlig leer. Der Betrieb ist so weit automatisiert, daß sich
auf jeder Station nur noch eine einzige Person befindet, die größeres
Geld in kleine Münze wechselt. Es hat sich eine eigene, bedeutende
Kriminalität entwickelt 3, die auf der Aufsichtslosigkeit, der späten
Nachtzeit und der Isolierung tief unter dem Straßenleben beruht, das
Tag und Nacht in langem Strom darüber hinwegbraust, indessen in dem
Tunnel Züge nur in Intervallen kommen und in den Pausen alles leer
ist. An Stelle der Mechanik, die nichts hört und sieht, will man jetzt
wieder Wächter treten lassen. Der Tatort "Untergrundbahn" soll bei
Nacht verschwinden .. Mit den Delikten des Gedränges in den Tages-
stunden hat man schon genug zu tun. Je nach dem Lauf der Sonne
ist Nähe Schutz, ist sie Gefahr, und für den Abstand und die Menschen-
leere gilt das gleiche.
Ganz ohne Zweifel läßt sich vom beruflichen Tatort sprechen, beim
Arzt, beim Schutzmann, Förster, Kaminkehrer 4 oder Jugendführer 5 •
Dampfbäder, Campingplätze, Sonnenbäder sind wohlbekannte Orte der
Verleitung, wie Heizungskessel 6 , Bäcker- oder Ziegelöfen, ja große
Mischmaschinen 7 dazu laden, die Opfer eines Mordes spurlos zu ver-

FERR, HANS: Das Recht in den Sagen der Schweiz, S. 60. Frauemeld 1955.
1
BOWEN, C.: They went wrang, S. Hf., beschreibt einen solchen Überfall.
2
3 Genaue, auch statistische Angaben macht nach amtlichen Angaben GEORGE
CARPOZI in True detective, Juniheft 1960, S. 39--41 und 64-67.
4 Siehe den Brandstifter bei MERGEN: Kriminalität der Geisteskranken, S. lOO.
5 Angaben bei KUHN, S. 51. 6 RICE, CRAIG: 45 murders, S. 135ff.
7 BERGER, MEYER: The eight million, S. 261. New York 1942. Es ist Gangster-

technik. "Harry Weston", schreibt BERGER, "wurde damit - und ist noch heute-
Bestandteil der Kingston Autostraße im oberen N ew Y ork." Eine ähnliche
Methode beschreibt SCHILLER im Gang nach dem Eisenhammer.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 431

nichten. In vielen Fällen ist eine Verschmelzung von Beruf und Tatort
zu beobachten. Leichenbestattern, einem in Amerika hoch entwickelten
Beruf, fällt es nicht schwer, mit den Problemen eines Menschenkörpers
fertig zu werden 1, vom Tötungsfall bis zum Begräbnis. In alter Zeit war
es der Totengräber 2 •
Der "gestreckte" Tatort 3, der dogmatisch dem Distanzdelikt ent-
spricht, wirft für die Kriminalwissenschaft erweiterte Probleme auf. So,
wie wir heute in die Ferne hören können, so werden wir bald in die
Ferne sehen. Vom Tatbestandsmerkmal der Öffentlichkeit abgesehen
(§ 183 StGB), wird dann der ärgerniserregende Eindruck einem be-
liebigen Objekte zugeleitet werden können, drohende Gesten werden ein
"empfindliches Übel" anzudeuten imstande sein (§253 StGB) und andere
Tatbestände verwirklichen, die bei rein sprachlicher oder schriftlicher
Übermittlung zweideutig bleiben könnten. Einzelne sonderbare, aber
sensible Autoren haben die extreme Wirkung bloßer Worte bei Fern-
sprechpartnern schon erfahren und geschildert. Es handelt sich um ein
Gespräch am Telefon. Ein Diplomat kann die Geliebte nicht erreichen,
weil Krieg ist und er seine Wohnung nicht verlassen kann. Die Worte,
die sie wechseln, während draußen die Alliierten in Paris einmarschieren,
waren "ebenso liebkosend wie Liebkosungen, wollüstig wie ein echter
Akt der Wollust 4 ." Optische Reize, später einmal übertragen, sind
größerer Erregungsantrieb für den Durchschnittsmenschen. Die Sphäre,
über der das Strafrecht waltet (Unzucht, unzüchtige Handlung §§ 174,2,
175a; 176 I, 3; 183 StGB), ist damit am Rand betreten.
Neben der äußeren Struktur des Tatorts und seinen Anziehungs-
kräften, die schon in der Benennung antriebfördernd sind 5, steht ganz
zum Schluß der Mensch, der leidet, marschiert das Opfer auf mit allen
seinen Schwächen. Normale Abwehr ist herabgesetzt. Entwaffnet steht
der Mensch dem Angriff gegenüber, beim Schlafen, Essen, Trinken, Baden
und in vielen anderen Stunden des Alleinseins 6. Entwaffnet ist der
Mensch im Rausch der Liebe. Wehrlos sind Trinker, Rauschgiftkranke

1 NEIL, A. F.: lIfan·hunters 0/ Scotland Yard, S. 171. New York 1933.


2 WOSNIK: Bd. I, 1, S. 51.
3 Über die kriminalwissenschaftliche Bedeutung der Brief- oder Reisetaube
siehe Kriminalistik 1960, S.216. Dort ist auch die Verhaftung einer Gruppe von
Reisetauben"züchtern" nachzulesen, die in anderthalb Jahren für mehr als 70 Mil-
lionen Dollar Rauschgifte über die Grenze brachten.
4 PEYREFITTE, ROBERT: La tin des embassades, S.349. Paris 1953. "Ihr Ver-
stummen war plötzlich das Eingeständnis der Wirkungen, die sie verspürten, und sie
berauschten sich damit, sie einander zu beschreiben."
5 Zum Beispiel "Selbstbedienungs"läden bei der Diebstahlskriminalität.
6 Heinrich IH. von Frankreich wurde 1589, auf dem Nachtstuhl sitzend, er-
mordet. (' Qui etait sur sa chaise d'affaires». Neuer Pitaval, Bd. XV, S. 102.
Leipzig 1860.
432 Topographie der kriminellen Handlung

und Perverse. Habgierbesessene lassen sich in jede Falle locken, und


alle jene, die in körperlichen Krisen mit dem eigenen Organismus
kämpfen, wenn sie periodisch das Bewußtsein trüben. Der heißen Leiden-
schaft ist jeder Treffpunkt recht, dem Haß, der Rachsucht und dem
Schadenwollen. Der Täter sucht den Tatort, nutzt die Gunst des Zufalls
aus. Das Opfer aber leiht ihm dabei seine Hilfe mit abgedunkelten
Instinkten der Gefahr. Die Opferseite wird zum wesentlichen Elemente
des gestörten Gleichgewichts, das andernfalls dem Angriff trotzen würde.
Dadurch wird die Erscheinung so verwickelt 1, ist ein System des Tatorts
nur mit großer Mühe aufzustellen, das nicht nur topographisch, sondern
psychologisch ist.
Gibt es auch "Tatort" oder eine Tatzeit der Entschlüsse? Wir wissen
nichts davon. Zwar sprechen wir vom Kampf, den sich Motive liefern,
als ob der Antrieb und die Hemmung deutlich ins Bewußtsein träten
und nicht in unserem Inneren vor sich gingen. Für solches Hin und Her
der Überlegung ist oft das Bett der rechte Ort, die lange Nacht, die
frühe Morgenstunde, in dem die bösen Triebe ihre Anker lichten. Gelegen-
heit macht Diebe, sagt das alte Wort. Nicht Diebe bloß, nein jede Art
von Übeltätern, und für den Zufall gibt es keine Regel. Dort, wo ein
Spannungszustand auf den kleinsten Anstoß wartet, kann es das Blinken
eines Messers sein 2, ein Lächeln, eine Drohung, der Krampf des leeren
Magens 3 , der Anblick einer großen Summe, das Fahrrad, das die Nerven
stimuliert 4, die Einsamkeit und ihre Lockung, die für den Tatort einer
Kurzschlußhandlung Sorge tragen. Die Tat hat ihren Schauplatz, nicht
die Tatgenese. Zollfrei sind die Gedanken, aber ihre Frucht, die Hand-
lung, zählt.

1 Zur Problematik zählt auch die Rückkehr zum Tatort. Den Versuch einer
Klärung habe ich in der Robert-Gault-Festschrift Essays in crirninalscience, S. 53 ff. ,
New York 1961, unternommen, doch läßt sich sehr viel mehr darüber sagen.
2 Neuer Pitaval, Bd. XI, S. 222. Leipzig 1883. "Es zog mich mit magnetischer
Gewalt hin zu dem Messer. Ich ergriff es, aber Gott weiß, ich wollte der Schläferin
nichts anhaben. Und dennoch erhob ich den Arm und stieß (zu)."
3 Rücker, ein jugendlicher Eisenbahnmörder, hatte in sein Tagebuch ge-
schrieben: "Um einen Betrug zu begehen, fehlt mir der Mut, dagegen könnte ich es
fertigbringen, zur Stillung meines Hungers einen Menschen zu ermorden und zu
berauben." FRIEDLÄ.NDER, Bd. I, S. 10 und 11.
4 Von einem Mann, der auf seinem Rade nach der Arbeit heimwärts fuhr, wird
mitgeteilt: "Durch das Fahren wurde er geschlechtlich erregt." BECK, WOLFGANG :
Die Delikte des § 183 StGB irn Landgerichtsbezirk Arnsberg in den Jahren 1946-1956,
S. 50, Bonner Diss. 1960.
Autorenverzeichnis
Abbott, E. 298, 316, 320 Benney, M. 41, 72, 172, Bredon, J., u. J. Mitro-
Adler, P. 21, 87, 389, 390 342,408,426 phanow 160, 178, 335
Aeschines 125 Bentley, W. G. 189 Brinks, T. van den 276
Aeschylos 368 Benz, C. A. 165 Bruce, A. A., u. T. S. Fitz-
Ahlert 99 Bercovici, }(. 317 gerald 16, 110
~a,}(.v.26.27 Berg, K 62, 121, 138, 167, Buckingham, J. S. 305
Apperson, G. L. 147, 154, 379 Bürger, E. 64
179 Berg, L. 122 Bumm 95
Aristophanes 125 Berger u. Meyer 430 Bunzel, B. s. Dublin, L. J.
Asbury, H. 215, 236, 315, Berthold, W. 32 147,206
316, 391, 411 Beveridge, P. 30, 138, 153, Burckhardt, J. 50, 376, 377
Asch, 8.307 160, 165, 228, 292 Burgdärfer 95
Aschaffenburg 146, 147,149, Bierstadt, E. H. 49 Burgess, E. W. 280
150, 185, 200, 201, 206, Billard, A. 10, 29 -, u. H. J. Locke 264
207, 209, 210, 213, 255, Bird, C. s. Ayers, J. R. 153 Burgmans 148
271, 276, 308 Birmingham, G. A. 130, 365, Burt,C.172,184,390
Ayers, J. R., u. C. Bird 153 413 Byloff, F. 58, 77, 211, 212
Bismarck, O. v. 135
Bachmann 425 Bjerre, A. 31, 99, 247, 372,
373,425 Callahan,J. 156,173
Bader, K S. 99, 251, 332, Cameron, J. s. }(eeton,
337, 348, 373, 375 Black, J. 87, 90, 140, 166,
G. W. 123, 397
182,219
Bancroft 215, 315 Camps, F. E. 33, 367
Barnes u. Teeters 96, 183 Blei, A. 86
Caprio,F.8.216,370,389
Barrere, A. 315 Block, E. B. 344, 382, 393,
Carpozi, G.430
Barret, C. 6, 332 400,404
Carswell, D. 385
Bartmann, F. 137 Bluehm, H. 123 Caruso, F., u. M. Mac}(aye
Bataille, A. 96, 114, 193, Blundell, R. H., u. G. H. 133
229, 242, 291, 341, 360, Wilson 415
Casper 414
372, 373, 374, 376, 378, Bocaccio 358 Cassellari, R. 344
385, 393, 400, 417, 418, Bodio 201 Cassius Dion 396
429 Bolitho, W. 62, 119, 216, Cavan, R. 8. 268, 269, 281,
Baumsteiger, W. 346 221,343,369,423 307, 308, 322
Bayer, O. W. 33, 35, 292, Borchard, E. M. 79, 130, Champion, S. G. 132
362 131,132 Chancy, L. W. 165
Beck, W. 107, 432 Botkin, B. A. 53, 158, 393 Chessman, C. 390, 401
Bedford, S. 38, 59 Bowen, C. 43, 220, 293, 370, Chrestien, M. 18,57,361
Belbenoit, R. 371, 372 430 Cicero 13, 43
Beling, E. 110,208 Bowen, L. H. 323 Cise, P. S. van 89
Bembe, H. 157 Bowman, J. C. 252, 254, Claghorn, }(.H. 307, 311
Bemmelen, J. M. van 149, 256, 279 Clark, C. L., u. E. E. Eu-
150, 262, 263, 270, 271, Brandenburg, G. 97, 98, bank 81
294 352,365,370,376,391 Clark, G. 213, 398
Benkert, H. H. 354, 370, Brannon, W. T. 48, 92, 399 Cleric, G. F. v. 47
376, 379, 422 Braun, H. 83 Cohen, A. 314
v. Hentig, Das Verbrechen I 28
434 Autorenverzeichnis

Collans, D. 86, 168, 182, Epaulard 380 Geerds, F. 82,404


197, 292, 345, 382, 384, Eschenbach, E. 331 Gennat73
408 Eubank, E. E. s. a. Clark, Gibbens 196
Collins, F. L. 37, 114 C. L. 81 Giger, H. 225, 226, 227, 228
Collins, R. 18 Euripides 13, 22, 43, 243, Ginzberg, E. 133
Collins, T. 58,91, 136,227, 368,387 Gipson, F. 270
297 Exner, F. 73, 110, 150, 275 Gist u. Halbert 278
Cooper, C. R. 12, 106, 130, Glajeux, B. de 387
182, 284, 344, 405 Fadiman, C. 319 Gleichen-Russwurm, A. v.
Coulanges, F. de 14, 335 Fallada, H. 81, 309 36
Crane,]d.364,405 Farmer, J., u. W. E. Henley Goethe,J. W.v.20,28,333
Craw1ey, E. 160 315 Goldberg, J., u. R. Gold-
Cressey s. Sutherland 221, Feder, S., u. J. Joesten 390 berg 372
320,323,324 Fehr,H.10,22,49,410,430 Goldberg, R. s. Goldberg, J.
Critschley, ]d. 119 Ferrier, J. K. 129 372
Crouse, R. 44, 112, 189, 389, Feuerbach, P. J. A. v. 66, Goldin, O'Lary u.]d. Lipsius
390,415 196, 242, 249, 255, 295, 315
362, 366, 373, 378, 420, Grassberger, R. 357, 365,
Damorth, H. R. 286 424 391,395
Finke u. Zeugner 31, 102, Grimm, J. 14, 25, 50, 163,
Darrow, C. 128
Darwin 5 141, 290, 353, 370 180,420
Fitzgerald, T. S. s. Bruce, Grimm, Brüder 8, 48, 368
Davis, K. B. 324
A. A. 16, llO Gummersbach, H. ll8
Defoe, D. 166
Dimsdale 138 Fleury, de 29
FogeI, E.]d. 180 Bäbel, G. 352
Dineen, J. F. 72, 80, 167, Halbert s. Gist 278
Fogelklou, E. 296, 328
188, 189, 291, 400 Haldy 347
Forsbach, W. 83, 84
Diogenes Laertius 7, 12 Haley, E. J. 392
Fran90is-Poncet, A. 78
Dixon, T. 279 Hall, J. 194, 195
Döderlein 95 Frank, B. s. Frank, J. 103,
131 Harner, A. C. 47, 363
Doyle, W. 387 Hamilton, A. 286
Drucker, S., u. ]d. B. Hex- Frank, J., u. B. Frank 103,
131 Hansen, H. 275
ter 324 Hansen, J. 9, 10
Drukker, L. 150 Frazer, Sir J. 161
Freiligrath, F. v. 334 Hansen, M. L. 305
Dublin, L. J., u. B. Bunzel Hanson, K. 83
147, 206 Frenay, A. D. 268
Friedländer, H. 3, 25, 34, Harlan, H. 178
35, 37, 38, 55, 60, 90, Harlow, A. F. 18, 79, 132,
East, Sir N. 195 104, 196, 242, 290, 291, 381, 385, 389, 405
Ebe1231 299, 342, 343, 352, 366,Harry, G. 372
Edward, G. s. Robinson jr. 384, 385, 393, 416, 424,Hartwig 410
4,323 426,432 Hastings, Sir P. 36
Eger, R. 348, 400 Friedreich, J. B. 230, 232, Hattingberg, H. v. 12
Eggerath, W. 159 233 Havelok, E. 32
Eichberg, W. 331, 332, 334 Frost, J. 94,96 Healy, W. 133
Eigenbrodt, O. 92 Hecht 184
Ellenberger, H. 309 Gaddis, Th. E. 219, 387 Heindl, R. 73, 75, 364, 423
Ellerkmann, W. 355 Gaedeken 148 Heine, H. 202
Elliott,]d. A. 17, 103, 155 Galvin, J. A. V., u. J. Held, O. 233
Elliott,]d. A., u. F. E. ]der- ]dacdonald 406 Heller, T. 217, 218, 348
rill 151, 201, 218, 241, Garwood, D. 135 Hemmink, H. 383
264, 269, 286, 297, 301, Gay, W. s. Steiner, O. 62, Henderson, H. 282
309 104, 106, 131, 159, 161, Henley, W. E. s. Farmer J.
Elliott, R. G. 58 312, 380, 426 315
Autorenverzeichnis 435

Hentig, H. v. 7, 15, 19,25, Jacobs 337, 380, 388, 394, Lamson, D. 164, 183, 369,
29,37,44,56,69,72,79, 395 387
81,89,92, 101, 108, 109, Jacquart, C. 268, 269 Lamson, G. L. 303
115, 116, 117,118, 136, Jagow, K. 401 Landau, M. 1
139, 141, 144, 148, 181, Jakobs, R. 329 Lang,F.170,171,190,354,
186, 196, 201,203, 225, James, H. 319 373, 376, 403, 422
227, 231, 238, 241, 259, Jenkms, E. 345, 375 Langemann 67, 396, 400,
274, 279, 283, 289, 296, Jesse, F. T. 61, 362, 385 405
318, 322, 358, 370, 371, Jesse, T. F. 367 Lawes, L. E. 71
380, 383, 402,416,417, Joesten, J. s. Feder, S. 390 Leppmann, F. 102, 376
423 Jones, VV. 158 Lessing, Th. 121, 366, 379
-, u. Viernstein 247, 353, Josephus 140, 327, 328 Lewis, L., u. H. J. Smith
373, 383, 422 Justi, C. 39 299
Herodot 396 Licht, H. 171
Hersetzki, A. v. 56 Kämpchen 116 Lichtenstein, P. 101
Heseltine s. Smith 22 Kahn, E. 306 Liman, P. 135
Holbrook, S. H. 248 Karpman, B. 101 Lipsius s. Goldin 315
Hesiod 162, 244 Karsner, D. 134 Liszt, F. v. 274
Hexter, M. B. s. Drucker, S. Katseher, L. 44, 90, 112, Lobe 95
324 217, 319, 385 Locke s. Burgess 264
Hirschfeld,M.101, 379, 380, Lods, A. 235, 243
Keeton, G. VV. u. John Ca.
His, R. 10,50,144,163,164, Löffler 185
meron 123, 397
225, 340, 358 Lombroso 26
Kefauver, E. 417 Longard 66
Hogan, F. S. 111 Keith, A. B. 1
Holthausen, F. 245 Ludochowski, H. VV. 356
Keller, G. 380 Ludwig, O. 427
Homer 2, 6, 27 Kipling, R. 15
Hoover, J. E. 12 Lunden, VV. A. 176
Kirchhoff, T. 32 Luz, VV. 93, 366, 369, 421
Hoppe, A. 72, 386 Kisch, E. E. 365, 415
Horaz 2, 47, 162 Lynch, D. T. 37
Kleinschmidt 95
Horsetzki, A. v. 389 Kleist, H. v. 21, 51
Hoskins, P. 34, 120, 136, Klimmer, R. 44 MacCluer Stevens, C. L. 164
367,415 Kloss, A. 102 MacDonald 178
Howe, C. 69, 119 Kluge-Götze 10, 13, 27, 32, Macdonald, J. B. Galvin,
Huber, M. 175 50, 182, 244, 245, 402, J.A. V.406
Hübner 62 409,419 Mackrenroth, G. 264, 265,
Huhner, M. 78 Knecht, A. 63 302
Hulme, K. 337, 338, 373 Köppen 65 MacKay, H. D. s. Shaw 183
Hurwitz, S. 276 Kolle, K. 220 MacKaye, M. s. Caruso, F.
Hyde, M. H. 381 Kossoris, M. O. 166 133
Hynd, A. 48, 213, 400 Kräpelin 306 Maeterlinck 54
Krafft-Ebing, V. 102, 117, Makris, J. N. 45, 75, 136,
llberg, G. 103, 194, 233 191,376 174,194,377
Infeld, L. 197 Krohne 95 Mandel, A. 110
Irnig, O. 353, 365, 370, 373, Külz, E. 168, 185, 355 Marquardt 412
391,422 Kuhn, G. 221, 291, 330, 343, Marshall, H. 88
370,372,430 Marten, K. 83
Irving, H. B. 393, 404
Martial379
Irwin, VV.90, 106,166,395
Martin, J. B. 69, 72, 80, 81,
Laan, van der 93 87, 88, 100, 113, 121,
Jackson, J. H. 61, 132,215, Lacassagne 94 128, 139, 164, 174, 197,
248,409 Lait, J., u. L. Mortimer 111, 219, 227, 293, 345, 387,
-, u. L. G. Offord 377 237,285 402,403
v. Hentig, Das Verbrechen I 28a
436 Autorenverzeichnis

Marx,K.286 Mowrer, H. R. 311 Plinius 158


Mattheiss, G. 36 Mühlberger, R. Th. 255 Plutarch 7, 13,27,124,126,
Mathiesen, W. 402 Müller, C. 156 147, 158, 160, 296, 344,
Maupassant, G. de 54, 254 Müller, F. 82 358, 368, 373, 377, 397
Maurer, D. W. 89, 395 MülJer·Brinkmann 334 Potterfield 178
Mayen, M. 87, 372, 429 Muralt, L. v. 232, 363 Pound, R. 110
Mayr, v. 271, 308 Murri, L. 159 Purvis, M. 129, 429
McKenzie, F. A. 75
McWatters, G. S. 91 NeiI, A. F. 431 Quinby, I. 18, 361, 368
Meier, O. 86, 87, 95, 97, 98, Neugebauer, W. 410, 411,
109 412,413 Raper, A. F. 257
Meixner, F. 425 Neuhoff, F.-J. 85 Rasch s. Winzenried 291,
Mellor, A. 344, 370, 395 Nick, F. 11, 24 395, 403
Menninger, K. 309 Nix, W. 197 Raymond s. Thompson 400
Mergen, A. 388, 430 Nötscher, F. 13, 17, 162, Recken, H. M. J. 88, 89,
Merrill, F. E. s. Elliott, M. 196,243 107, 189, 190
A. 151, 201, 218, 241, Norwood, E. 101 Redhardt, R. 222, 330, 372
264, 269, 286, 297, 301, Reiter, H. u. H. Mischke
309 218
Meyer s. Berger 430 O'Connor Morris, W. 302, Reuter, E. B. u. Runner 313
Meyer, K. 73, 77, 79, 89, 94, 303 Rice, C. 45, 87, 195, 248,
101, 105, 106, 108 O'Donnell, B. 70, 301, 343, 297, 321,367, 369, 385,
Meyer von Schauensee 420 402 391,426,430
Meyers 178 O'Donnell, E. 25, 415 Richardson, B. A. 222, 223,
Meywerk 208 Oertel 185 224,411
Mezger 94, 101 Offord, L. G. s. a. Jackson, Riezler 212
Michels 95 J. H. 377 Rittler, T. 66
Middendorf, W. 82, 375, O'Lary s. Goldin 315 Robinson jr., u. G. Edward
384,388 Oldenberg, H. 35, 162, 235, 4,323
420 Rochholz, E. L. 8, 18
Mielsch, H. 369
Osenbrueggen, E. 50 Röhrer, C. 29
Miller, H. A. s. a. Parker,
Ovid 147, 162,244,379,414, Roelvaag, O. E. 167, 252
R. E. 299, 306, 326
422 Roesner, E. 106, 184
Minot, G. E. 30, 47, 174,
196, 284, 343, 366, 373, Roth, L. 370
397, 398, 411, 412, 429 Padowetz, M. 54, 89 Roughead, W. 30, 36, 118,
Mischke, H. s. Reiter, H. Palitzsch 118 341,418
218 Pankow 94 Rousseau, J. J. 230
Mitrophanow, I. s. Bredon, Panzer, F. 8, 181 Rovere, R. H. 297
J. 160, 178, 335 Park, R. E., u. A. H. Miller Rowman, R. W. 388,393
Mönkemöller 220 299, 306, 326 Rowan-Hamilton, S. O. 393
Moerenhout, J. A. 215 Partridge, E. 10, 32, 46,154, Rudder, B. de 311
Molmenti, P. 180, 182 181, 315, 402 Rüdin, E. 196
Moll 102 Paul, H. 13 Runner s. Reuter, E. B. 313
Mommsen, T.lO, 11, 26, 48, Pearson, E. 409 Russel, P. 296
162, 163, 228, 340 Perrier, J. K. 90 Rykere, R. de 96
Monahan, F. 214 Pessler 247
Moore, R. P. 186 Peterson, V. W. 91 Sänger 32
Mortimer, L. s. Lait, J. 111, Peyrefitte, R. 216, 431 Salomon, E. v. 33
237,285 Philippson 285 Samuels, C., u. L. Samuels
Mostar,H.25,160, 166,242, Phlelan, J. 253, 257 191
293,335 PiIcz 348 Samuels, L. s. Samuels, C.
Moulton, H. F. 194 Plato 4, 5, 6, 125 191
Autorenverzeichnis 437

Sartori, P. 7, 14, 147, 168, Spencer, J. 228, 229 Tresckow, v. 91, U5, 381
180, 181, 182, 192, 193, Spenser, J. 36, 189, 197 Tutt, E. 91, 121
358 Sperling 337
Sauer, W. 93, U6, 250, 251, Squire, A. O. 159 Valentin, V. 197
259, 271, 272, 274 Stachhouver 294 VergiI 2, 14, 236
Schäfer, K. 152, 351, 389 Stanley, L. L. 128 Viernstein s. Hentig, H. v.
Schäffer 95 Steiner, 0., u. W. Gay 62, U8, 247, 353,373, 383,
Schiller, F. v. 43,51,52,53, 104, 106, 131, 159, 161, 422
427,430 312,380,426 Vold, G. B. 272
Schmid, C. F. 268 Stelzner, H. 20
Schmidt, F. v. 60, 75 Stemmle, R. A. 62, 75, 76,
Schmidt, L. 125 Wachenfeld 102
121
Schmitz, J. 84, 85 Wahl, R. 40
Stempflinger, E. 7, 162 Waite, J. B.,s. Wood,A. E.
Schrieke, B. 316 Sterz, G. 349
Schubart, W. 39 257
Stevens, D. 132 Wallenberg, E. V. 333, 334,
SchuItz, K. 364, 4U, 418, Stevens, W. O. 129
419 336,337
Stierlin, H. 83, 309, 386 Walter, H. 123
Schulz, G. 70, 71, 100, 103, Stock, R. 252
149, 190, 354, 391, 422 Walter, M. V. 75
Stoffel, E. H. 325 Ware, C. F. 312, 327
Sears, K., u. H. Weihofen Stokvis, B. J. 102
144 Wassermann, R. 16, 208,
Stoos 418 210
Seelig, E. 211,214,274,275, Stumpfl 101
423 Watson, E. R. 141, 343
Sueton 12, 28, 36, 48, 158, Wattler, H. 104, 193, 366,
Seuffert 16, 209, 210 163, 358, 368, 396
Seybold,A., u.H. Woltereck 373, 378, 393, 404, 413,
SulIivan, E. S. 92 425
3U Sutherland, E. H. 106, 370 Wegner, A. 149, 171
Seifarth, H. 298 Sutherland u. Cressey 221, Wehner, B. 73, 74, 89, 90,
Shakespeare, W. I, 5, 27, 320, 323, 324 95, 99, 101, 102, 103,
46, 124, 127, 134, 158,
106, 120, 135, 136, 425
161, 167, 176, 245, 315,
Weichbrodt, R. 21, 202,270,
415 Tacitus 244, 368, 377, 396
308,309
Shaw, C. R. 139, 289, 292 Talbert 178
Weihofen, H. s. Sears, K.
- , u. H. D. MacKay 183 Teeters s. Barnes 96, 183 144
Shore, W. T. 30, 131 Thomas, D. L. 147, 179 Wellington, S. 113
Simrock, J. 147 Thomas, W. J., u. F. Zna· Wellman, F. L. 102, 127
Sims, N. L. 253 niecki 257, 297, 319, 327
Wensley, F. P. 78, 96, 197
Sioli 62 Thompson, Sir B. 129 Wentzky, O. 343
Sixtus 250 Thompson, C., u. A. Ray. WesseI, G. 97, 98, 107, 149,
Skeat, W. W. 27 mond 400 150, 190, 353, 365, 366,
Smith, A. D. 194 Thompson, W. 198,199,200, 376,422
Smith, E. H. 18,47,75,96, 239,240, 261, 262, 263, West, J. 256
132,341 264, 265, 266, 280, 289, Wettstein, E. 9, 14, 360,
Smith, H. J. s. auch Lewis, 306, 314 376
L.299 Thompson, W. S., u. P. K. WetzeI, A. 232
Smith, M. C. 13 Whelpton 265 Whelpton, P. K. s. Thomp.
Smith, T. L. 237, 257, 265, Thukydides 127, 139 son, W. S. 265
289 Thurneysen, R. 358 Whit.ehead, Don 344, 368
Smith, W. G. 7, 124 TiIghman, Z. A. 392 Whyte, W. F. 315, 316
-, u. J. E. Heseltine 22 Tod, T. M. 57, 104, 158, WiegIer, P. 47, 418
Sokrates 13 371 Wilbrandt 32
Sorokin, Pitirim, u. C. C. Tomellini 371 Wilmans, K. 232
Zimmermann 268 Trasher 202 WiIson, D. P. 227
438 Autorenverzeichnis

Wilson, G. H. s. Blundell, Woltereck, H. s. Seybold,A. Xenophon 124, 125


R. H. 415 311
Young, F. 366
Wilson, H. E. 38, 80, 155, Wood, A. E., u. J. B. Waite
167, 173, 189, 345, 346, 257 Zeugner s. Finke 31, 102,
347, 400, 429 Wosnik, R. 10, 23, 41, 62, 141, 290, 353, 370
Winzenried u. Rasch 291, 63, 159, 161, 348, 360, Zimmermann, C. C. s. So-
395,403 389, 416, 425, 431 rokin 268
Wirth, L. 114, 196, 197, 285 Wulffen 96 Zinsser, F. 15
Wörner, O. 209 Wuttke, A. 147, 180, 181, Znaniecki, F. s. Thomas,
Wolf, A. 245, 421 340, 379, 420, 422 W. J. 257,297, 319, 327
Wollgang, M. E. 108, 109, Wychgram, J. 51, 52 Zola, E. 411, 413
143, 153, 154, 169, 177, Wyles, L. 369 Zorbaugh, H. W. 252, 280,
178, 187, 357, 360, 364 Wyrsch, J. 19 281, 283, 289
Sachverzeichnis
Abschiebung krimineller "Blaubart" 426 Eindruck vor Gericht 19
Elemente 298 Börsenkrach 21 Einmietschwindler 55
Abschiedsnote 413 Böser Blick 8, 14 Einstellungsgründe 109
Abtreibung und Anzeige "bohunc" 315 Eisenbahnraub 52
94ff. Bombenkrieg 165 Eisenbahn als Tatort 392ff.
Akustischer Exhibitionis- Bootfahrt 411 Emigrantenkinder 323
mus 409 Bordell 87 Entmündigung 207
Alkoholismus 151, 313 Bordell als Tatort 389 Entweichung 225ff.
Amnestie 78, HO Boxer 44 Erfolg durch Znfall 134
"Anhalter" 404 Brandstiftung und Getreide- Erpressung 59, 70, 403
Anpassungskrise 320 preis 157 Erpressung und Anzeige 91
Anstiftung 72 Brandstiftung und Heim- Erschießen 187
Anzeige 78 weh 233 Erschlagen 187
Arbeitslosigkeit 155 Brandstiftung auf dem Erstechen 187
Arbeitsstätte als Tatort 352 Lande 250 Ertränken 410ff.
Arbeitswut der Einwande- Brieftaube 431 Exhibitionismus 150, 170
rer 317 Brücke als Tatort 414
Arsenmord 77 Brunnen 373
"Aufklärung" beim Morde Brunsteffekt 54 Fahrlässige Körperver-
108 Brutalität 65 letzung 151
Aufklärungsrate 105 Buckel 30 Fahrraddiebstahl 123
Ausbruch 138 "buggery" 10 Fahrstuhl als Tatort 292,
Ausrottung 14 407ff.
Ausweisung 334ff. "chink" 315 Falschspiel 90
Autodiebstahl 82 Familienmord 64
Auto-Kriminalität 401ff. Fatalismus des Bauern 245
Automat 428 "dago" 315
Depression 19, 304 Feiertage 355
Deserteur 229 Feindschaft 5
Bad als Tatort 368ff. Fernwanderung 294
Dichte 289ff.
Bahnhof 395 "Feudaler" Tatort 341
Diebsnase 27
Bauer als "Realist" 253 Fliegerheld 41
Diebstahl 79, 272
Bedingte Verurteilung 205 Fluchtgründe 329
Diebstahl und Jahreszeit
Behörden und Anzeige 85 Flugzeug als Tatort 406ff.
155
Beihilfe 72 Förstermord 425
Beischlafdiebstahl 87, 189 Dissidenten 319
Doppelfeiertage 197 Fortgesetzte Handlung 68
"Bekehrung" 69 Frauenhasser 58
Bergunfälle 419 Dornenhecke 421
Frauenüberschuß 262, 279
Berufung 19 Dunkelheit und Verbrechen
162ff. Freispruch H5ff., 204
Betrug 16, 88, 209ff. Fremdarbeiter 337
Betrug in Stadt und Land Fremdling 13ff.
272 Ebbe und Flut 158 Fremder "Teufel" 15
Betrug nach Wochentagen Ehebruch 383 Friedhof 379
189 Einbruch 80 Friseurladen und Mord 391
Bettelbetrug 90 Einbruch und Jahreszeit Frömmigkeit 47
Binnenwanderung 237ff. 155,156 Furchtlosigkeit 145
440 Sachverzeichnis

Garage 405 Homosexuelle 216, 291, 299, Lebenserwartung in Stadt


Gasvergiftung 71 403 und Land 265
Geburtstag 158ff. Homosexuelle und Anzeige Lehrling 86
Gefängnis als Tatort 386 101 Leichenfund 74
Geisteskranke 61ff. Hotel als Tatort 168, 381ff. Lesbische Liebe 220
Geisteskranke in Stadt und Lichtung als Tatort 425
Land 266ff. Identifikation 79 Liebeshandelorte 422
Geistesstörung und Wan- Impotenz 8 Linkshänder 418
derung 309ff. Infektion nach Wochen- Lustmörder 119, 138
Geistliche Tracht 41 Lynchakte auf dem Lande
tagen 184
Geldstrafe 208 Invertiertenviertel 343 257
Geständnis 19, 121, 137 Inzest auf dem Lande 247
Gesundes Volksempfinden Isolierung 251ff. Mai als Heiratsmonat 147
26 Manisch-depressive Ein-
Ghetto 285 Jugendführer 430 wanderer 313
Giftmord 76, 77, 340 Jugend und Zug zur Stadt Maschine und Mensch 285
Gleichschritt des Denkens Maske der Kleidung 35ff.
279
287 Justizirrtum 132 Massenmörder 78ff.
Golfplatz 426 Massen-Notzucht 99
Gotteslästerung 141 Massenvertreibung 327 ff.
Gottesurteil 126 Kastration 208 Mausoleum 380
"Grausamkeit" 66 Keller als Tatort 365ff. Meisterdieb 48
"greaser" 315 Ketzer 9 Minderheiten 273
"greenhorn" 315 Kiefernschonung 74 "Mischehen" 318
Grenzgebiet 16, 423 Kindermimik 37 Mißtrauen des Bauern 254
Grenzgewinnler 332 Kinderschändung 97ff., Mittagsstunde 422
Großbetrieb und Anzeige 83 149, 150, 171 Möbliertes Zimmer 280, 372
Gutachten 62ff. Kinderzahl in Stadt und Monatsrhythmus 143, 145
Land 265 Mondphasen 157
Kinoheld 45 Monotonie des Landes 251
Häßlichkeit 27 Kirche 191 Mord und Jahreszeit 153
"Häutung" des Kriminellen Kirche als Tatort 374ff. Mord und Tagesstunde 176
69 "Klima" der Stadt 284 Mord und Wochentag 185
Hafenstadt 212ff. Knabenmord 74 Mordmotive 152
Handelsfirmen und Anzeige Konkurrenten 24 Mordziffern 73
86 Körperkraft 31 Morphium 81
Körperverletzung und An- Multiple Mörder 69
Handwerksburschen 16, 210
zeige 92 Museum und Diebstahl
Haß 5
Körperverletzung nach 387ff.
Hauptverfahren 115ff.
Wochentag 185 Musterhäftling 33
Hausarzt 38
Kraftfahrzeug 82 Mutter-Bild 48
Heimtücke 66
Krankenschwester 344 Muttermord 406
Heimweh 230ff.
Küche als Tatort 353
Heiratsschwindler 55
Küchenmesser in der Hand
Heldenstatue 25 Nachtschicht 165
der Frau 364
Hexe 8, 11 Nebel und Verbrechen 164
Kuhstall als Tatort 373
Hilfspolizist 33 Nebenbuhler 25
Kurort 216
Hinrichtung 67 Neger 16
Hinterzimmer 391 "Neidungswerk" 26
Hochhaus 417 Lächeln als Unschulds- Neujahr 193ff.
Hochzeitskleid 146 beweis 28 Niedere Beweggründe 66
Hochzeitstag 179 Lärm der Großstadt 284 Notwendiger Tatort 341
Homophilie 10, 72, 149, 171 Landmensch 240ff. Notzucht 71, 149, 150
Sachverzeichnis 441

ijffentliche Meinung 57 Schiffs-Kriminalität 396ft Teeren und Federn 29


Opfer 4, 151, 177 Schiffsmord 123 Termine 144
Schizophrene und Wande- Testamentsfälschung 90
Paranoia 65 rung 313 Teufelsbild 7, 22
Park als Tatort 426 Schlachtzeiten auf dem Tierliebe 34
Patriotismus 286 Lande 247 Todeserklärung 222ff_
Pelz als "Alibi" 47 Schlafraum als Tatort 358ff. Toilette als Tatort 369ff.
Pfarrhaus 378 Schlapphut, verdächtig 18 Tränengas 429
Phototaxis der Stadt 279 Schleichhandel 42 Trotzhaltung 217
Physiognomie 32 Schönheitskönigin 58 Trümmerfeld 345, 428
Politische Verbrechen 400 Schwarzmarkt 345 Tyrannenmörder 25
Polizei 42 Schwiegermutter 58, 60
Polizeistatistik 110ff. Seitenweg 424 Überfahren als Tötungsart
Präsidentenmörder 67 Selbstanzeige 104 71, 404
Priester 344 Selbstbedienungsläden 431 Überfluß-Misere 4
Privatdetektiv 113 Selbstmord 71, 73,148,176, Uferweiden 426
Prostituierte 15, 56, 405 188, 190, 201, 202, Unbekannte Tote 83
Prostituiertenmörder 123 269ff., 307, 348 Uneheliche Geburten 201
Pseudo-Selbstmörder 417 Senile Psychose und An- Unfall und Einwanderung
passungskrise 313 306
Räuber 17, 347 "sheeny" 315 Unglück 140ff.
Raptus 21 " Singschule" 113 Unrasiert 18
Raub 155 "solider Lebenswandel" 34 Unterlassene Anzeige 82ff.
Rathaus 387 Sonnenbäder 430
Unterschlagung 91, 211
"Rauschgift" der Geschwin- Sonntag 191, 411
Untergrundbahn als Tatort
digkeit 82 Sonores Organ 60
430
Rauschgiftdelikte und An- Speicher als Tatort 366
Sprachschwierigkeiten des Utopie-Verlust des Immi-
zeige 103 granten 314
Realkonkurrenz 68 Einwanderers 318
Rechtsmittel 19 Staatsfeind 12
Religion und Selbstmord Stadt als Versteck 284 Vatermord 66
309 Stadtbewohner, Soziologie Verdacht 31
Religionsstörung 66 277ff. Verdunkelung und Ver-
Reproduktionsvorgänge auf Stammesmoral des Bauern brechen 165
dem Lande 246 256 Verjährung 23
Revision 20 Stechende Augen 18 Verkehrsunfall 173
Revolution und Stadt 386 Steilküste 418 Vermißte Personen 79
risus sardonicus 32 Steinwaffe des Mörders 418, Versicherungsbetrug 71
Rote Augen 8 419 Versuchshandlungen 69 ff.
Rote Haare 10, 18, 27, 29 Sterbestunde 175 Vertriebenen-Kriminalität
Rückkehr zum Tatort 432 Sterblichkeit 199, 265, 305 336
Rückwanderung 301 Stiefmutter 191, 421 Verweis 208
Stoß ins Wasser 419 Verwitwete 263
Sabbatruhe 196 Strafaussetzung 36 Verwöhnung 4
Sachverständige 62ff. Strichjunge 87, 221, 330 Voyeur 403
Sadist 29 Sylvesternacht 194
Säureattentäter 117 Synagogen-Aufsicht 114 Waage der Schuld 2,25
Saisonarbeiter 259 Wald als Tatort 419ff.
Sanfte Stimme 35 Tageslauf 161ff. Waldrand 424
Scheidung in Stadt und Tanzdiele 292 Waldstück an Autobahn
Land 264 Taschendieb 72 428
Scheune als Tatort 373 Tatraum 342 Wandertrieb 219ff.
442 Sachverzeichnis

Warenhäuser und Nicht- Wildern vom Auto 402 Zopfabschneider und Dichte
anzeige 86 Wirtshaus als Tatort 356 291
Warnbilder 23 Wochentag 178ff. Zufall 129ff.
Wassermord 410 Wohnung als Tatort 349ff. ZufaUstatort 428
Weglaufen 218 "Wollust" der Todes 21 Zuhälter 93
Weidediebstahl 92 Wucher und Anzeige 91 Zwangswanderung 327ff.
Weltbeglückung 4 Zweck-"Verklärung" 25
Werkschutz 84 Zerstückelung 6, 416 Zweite Generation und
Wettschwindel 44 Zeuge 10 Rechtsbruch 324ff.
Wilddieb 52 Zeugenmeineid 102 Zwillinge 133, 135

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