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VON
SPRINGER-VERLAG
BERLIN . GOTTINGEN . HEIDELBERG
1961
ISBN-13: 978-3-642-48999-0 e-ISBN-13: 978-3-642-92814-7
001: 10.1007/978-3-642-92814-7
Zweites Kapitel
Dynamik und Bereich des Zufalls
Dynamik und Bereich des Zufalls . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Zweites Buch
Das Wirkungsfeld von Zeit und Raum
Erstes Kapitel
Zusammenhänge im Bereich der Zeit
A. Der Monatsrhythmus . 143
B. Der Tageslauf . . 161
C. Die Wochentage. . . 178
Inhaltsverzeichnis VII
Zweites Kapitel
Zusammenhänge im Gebiet des Raums Seite
A. Geographie der Kriminalität . . . . . 198
B. Absetzen von der Schadensquelle . . . 216
C. Der Massenauszug : Binnenwanderungen 235
1. Das Land und seine Problematik . 235
2. Soziologie der Stadtbewohner . . . 277
D. Fernwanderungen und soziale Krisen 294
E. Die Zwangswanderungen . . . . . . 327
Drittes Buch
Gefüge und Funktion des Tatorts
Erstes Kapitel
Grundzüge einer TatoriIehre
Grundzüge einer Tatortlehre . . . . . . . . . . 339
Zweites Kapitel
Topographie der kriminellen Handlung
A. Die Wohnung und umschlossene Räume . 349
B. Öffentliche und gemeinzugängliche Räume 374
C. Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 392
D. Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 409
werden stündlich Kriminelle in die Welt gesetzt und gehen, wenn die
Bilder wechseln, wieder unter.
Wie kommt ein Bild von Menschen eigentlich zustande, mit denen
unser Kopf von jetzt an operiert und nur noch mühsam eine Korrektur
gestattet? Die Masse rüstet sich mit solchen Bildern aus, nicht ohne
Sinn und wohlverstandenen Zweck. Von hierher, aus der Tiefe steigend,
durchdringt das Urteil alle Schichten und wird zur öffentlichen Meinung.
Ihr beugen sich die Wähler, und den Wählern fügen sich die Parlamente,
die in Gesetzen diesen Bildern Ausdruck geben. Im Strafgesetzbuch
ihre Vorstellungen wiederfindend, hängt ihnen dann die Masse mit
erneuter Inbrunst an. So kreist ein Strom durch alle Adern der Gesell-
schaft und freut sich eines Gleichklangs der Gefühle, der als Bestätigung
der Richtigkeit erscheint. Wer diese Harmonie zu stören wagt, ist Ketzer
am Komfort der Ruhelage.
Dabei sind diese Bilder des Verbrechers, wenn sie auch noch so roh
sind, doch von Durchschnittswert. Sie dienen unserer Selbsterhaltung
und haben sich in ihrer primitiven Art bewährt. Sonst wären ihre Träger
lange ausgestorben, die sie im großen ganzen wohl zu schützen wußten.
Ihr Fehler ist die unbewegte Starrheit. In langen Zeiten und in steter
Wiederholung wurde das Bewußtsein mehr und mehr verdrängt. Sie
gingen in die Automatik der Instinkte ein. Es war ein Fortschritt und
ein neues Risiko, weil auf der Gegenseite Kräfte standen, die sich an eine
wandelbare Umwelt anzupassen wußten.
Denn diese steingewordenen Bilder sind wie die Reflexe maximaler
Lebensschutz, solange das alte Gleichgewicht bestand, sich Reiz und
Reaktion die Waage hielten. Die Motte wird vom Licht der Sonne an-
gezogen, das sie mit Energien auffüllt. Doch muß die gleiche Motte,
vom Instinkt verraten, unwiderruflich in die Pseudosonne einer Kerzen-
flamme fliegen. Je vollendeter die alte Anpassung war und je sicherer
und schneller sie funktionierte, um so viel größer ist auch die Gefahr,
daß sie von unvermutet neuem Anspruch übertölpelt wird. Veraltet
können auch die geistigen Bilder sein, mit denen wir den ungezähmten
Menschen abzuwehren suchen.
Den Ausdruck "Krimineller" zu vermeiden, lägen viele gute Gründe
vor. Da sind Verbrechen, derentwegen die Größten der Geschichte ge-
kreuzigt, durch Gift und Brand getötet worden sind. Da sind die kleinen
Übeltaten, die als bewährungsfähig abgestempelt werden. Da sind die
"Sie sind also heute anderer Meinung?" Zeuge: "Jawohl." Vorsitzender: "Sind
Sie zu dieser Meinungsänderung vielleicht durch einen Artikel des Lokalanzeigers
gekommen, in dem es hieß: ,Die Chancen für Berger haben sich günstiger gestaltet' ?"
Zeuge: "Das ist möglich, jedenfalls traue ich Berger einen Mord nicht zu." FRIED-
LÄNDER, HUGo: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung,
Bd. IV, S. 31. Berlin 1911.
1*
4 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
1 Siehe die verzerrte Umwelt des Falles Loeb-Leopold in der Darstellung des
Verteidigers. (STONE, IRVING: Clarerwe Darrow for the defense, S.380ff. Garden
City 1941.) Über die Noxe der erstickenden Fülle und Verwöhnung siehe die Auto-
biographie: ROBINSON jr., EDWARD G.: My father-My son. New York 1958. -
Klarer als unsere Zeit, die an das Allheilmittel des Lebensstandards glaubt, hat
PLATO (Leg. XI, 919) den Doppelfluch von Not und Überreichlichkeit erkannt und
gefordert, daß ein guter Staat in beiden Feinde seines Wohls bekämpfen solle.
Der Privatfeind 5
wenn längst vom Gegner nichts mehr übrig ist. Achilles ist ein Held,
von einer göttlichen Mutter geboren, vom weisen Kentauren Cheiron
erzogen. Trotzdem ist mit der Tötung sein Haß noch nicht verraucht,
gesättigt. Er droht dem unterlegenen Feind, er wolle ihn zerstückeln,
die Tötung in effigie sozusagen wiederholen und ihn "aus Zorn und Wut
mit Haut und Haar (Homer sagt: ungekocht) verschlingen 1. " Auch die
Gefährten nahen sich dem toten Feinde, kühlen ihr Mütchen an der
Leiche, indem sie ihn erneut verletzen.
Es läßt sich denken, daß diesem Ausbruch ein Feindesbild voran·
geht, das in der Richtung ungezügelten Vernichtungswillens umgefärbt
ist. Wie Heere einst mit wildem Schlachtruf, so peitschen wir uns mit
visuellen Schreckensbildern auf.
Mit steigender Bedrohung nehmen die Gestalten unserer Feinde
immer schärfere Züge an, und die Motorik reißt sich von den Halte·
tauen los. Wir schlagen um uns, wo es gerade trifft. Bei der Ermordung
Cäsars stießen die Verschwörer blindlings zu, verwundeten sich selbst,
selbst Brutus stach und wurde in die Hand gestochen 2 • Auch der Ver·
brecher muß sich wildgewordene Gegenwehr gefallen lassen, wenn
Mütter um die Kinder bangen, ein böser Mord uns aus der Ruhe schreckt,
vor Räubern nichts mehr sicher ist.
Sowie Gefahr von allen Seiten droht, greift unsere Furcht zu Trug.
gestalten. Es ist das geistige Haschisch, das aus den Drüsen fließt,
und niemand würde wagen, auf kurze Zeit ihm rationelle Wirkung
abzusprechen. Man kann es nicht Verfolgungswahnsinn nennen, denn
Angriff und Verfolgung finden wirklich statt. Es ist die Form, in der der
Mensch, der fürchtet, innerlich mobil macht und seine letzten Kraft.
reserven in die Bresche wirft. Der Hemmung und der Schwäche seiner
Zähmung überdrüssig, denkt jetzt der Mensch in allergröbsten Mustern,
und wer vereinfacht denkt, muß auch in Serien handeln, ganz ohne
Rücksicht auf die heiklen Unterschiede.
Verständnis für die Gegnerqualitäten wäre tödlich. Es würde nur die
Energie zersplittern und zerteilen. Nur wer das Bild des Feindes über.
lichtet, in ihm den unverfälschten Teufel sieht, kann wirklich hassen,
hassend wirklich kämpfen. Selbst der Jurist3 erliegt dem Sturme dieser
Emotionen, der Arzt und mancher Wissenschaftler, am gründlichsten
die öffentliche Meinung, und erst im Rückblick kommt die Selbsterkennt·
nis, bis wir bei gleichem Anlaß wieder in die gleiche Falle der Gefühle
stolpern.
Kräftespiel, das man sich nicht erklären konnte, nahm die Gestalt des
Feindes an. Er war zu finden und zu packen. Ihn zu vernichten war
nicht allzu schwer. Wenn dann das Mißgeschick, wie es so oft geschah,
vorüberging, so glaubte man, es aus der WeIt geschafft zu haben mit
Scheiterhaufen und der Asche, die der Wind verwehte. Denn Massen
geben sich nicht langem Grübeln hin. Sie glauben an den Erb- und Ur-
feind als die Lösung, die in allen Fällen stimmt. Wenn Not und Schaden
kommen, wenn sie die Furcht packt, hängen sie den Haß an Trug-
gestalten, versehen sie mit böser Absicht, Schwanz und Pferdefuß. Sie
schaffen sich im Kopf ein Recht der Abwehr, das zwar der Nachwelt
unbegreiflich scheint und doch zu seiner Zeit nicht angezweifelt war 1,
ja wie ein Waldbrand jeden geistigen Widerstand erstickte 2 •
Die Ablehnung des Kontradiktorischen, der Ruf nach dem Summari-
schen, der raschen, sicheren, unwiderruflichen Strafe und der wütende
Angriff auf Einwand und Verteidigung als "Mitschuldige", die den Mit-
menschen gefährden, kennzeichnen jede Zeit der heißen und der kalten
Hexenbrände.
Wie die Hexe, ist auch der Ketzer nicht nur von Gott abgefallen und
in das Lager Satans desertiert, es bildet sich zudem ein Haßbild in den
Hirnen, das alle seine Lebensäußerungen umfaßt. Wer die Einheit der
Kirche bedroht, ist auch ein Abtrünniger von allen Gesetzen bürger-
licher Sittlichkeit. Er ist degeneriert, pervers, ein Feind der Menschheit
und der Menschlichkeit, den es auszurotten gilt, wenn nicht sein Beispiel
jede Ordnung des Zusammenlebens zum Einsturz bringen soll. "Der
Fanatismus der Ketzerverfolgung," schreibt JOSEPH HANsEN 3, "hat
sich niemals von der phantastischen Vorstellung trennen können, daß
die Ketzer - welche ehen durch die Verfolgung gezwungen wurden, sich
heimlich und beim Dunkel der Nacht zu ihren Gottesdiensten zu ver-
einigen - bei diesen heinilichen nächtlichen Zusammenkünften den
christlichen Gott und die Sakramente verhöhnten, dem in irgendeiner
Gestalt unter ihnen erscheinenden Teufel ihre Verehrung bezeugten,
tanzten, schmausten und rituelle Unzucht verübten. Auch die größte
Sittenstrenge einzelner von der orthodoxen Bahn abweichender religiöser
Mit diesen starken Hilfen ist es möglich, durch Haß und Furcht die
Bande der Natur zu trennen. Im Jahre 1562 fand in Stuttgart der
"Hexenabschied" statt. Mit ungebleichten Hemden und abgeschnittenen
Haaren wurden neun Frauen auf einem Wagen zum Tode geführt. Die
jüngste war 57, die älteste 82 Jahre alt. "Ihre Angehörigen", so meldet
die Chronik, "taten nach ihrem Schuldbekenntnis keine Schritte zu ihrer
Befreiung mehr, auch enthielten sie sich jeder Teilnahme aus Furcht vor
denen, die finstere und bigotte Eiferer gegen die vermeintlichen Hexen
waren!." Nur eine Tochter schrie und weinte. "Ihr Jammer drang jedem
Hörenden durch Mark und Bein und erfüllete die Luft auf eine erschreck-
liche Weise." Das Mädchen wollte sich unter die Räder des Wagens
werfen, auf dem die Mutter gefesselt saß, um zerquetscht zu werden.
Die einzige, die ihr gesundes Gefühl bewahrt hatte, wurde als wahn-
sinnig in Gewahrsam gebracht.
Die Unruhe, die viele Völker nach dem Kriege, er sei gewonnen oder
verloren, ergreift, die Revolutionen, die an seinem Ende stehen, geben
die geliebte Feind -Vorstellung ungern-zögernd her. Sie übertragen sie auf
den inneren Feind, den sie nunmehr mit allen Zügen der Verderbtheit
schmücken. Sie hassen lustvoll weiter, fangen an, den alten Feind zu
lieben, sich ihm gesättigt anzuschmiegen. Es ist die alte Regel, die
auch für das Seelenleben gilt, daß niemand "zween Herren dienen"
kann. Bei neuem Haß erhellen sich von selbst die alten Feindes-
bilder.
Wer einst im Krieg im Land des Gegners lebte, hat die Gestalt jenes
Zeus Xenios verstanden, des Gottes, der in einem Stadium wachsender
Gesittung den Fremdling schützte. Allotria, der Unsinn, das Getue eines
Narren, bedeutet wörtlich das Gehabe eines Fremden. Das Wort ist
nicht nach England vorgedrungen. Es schloß Verstellung ein, wenn bei
den Griechen einer wie ein Fremdling lachte. "Bizarr" erschienen bärtige
Spanier den Franzosen!. Die "fremde" Flur war Feindesland. Der
"alien" ist der Mensch, der uns nicht liebt und uns zuwider ist, weil
andersartig. Der deutsche Ausdruck "fremd" bedeutet das, was uns
nicht nahesteht 2 • Befremden heißt, an unseren Argwohn rühren.
Der Feind steht wie der Fremde einem Übeltäter nahe. In alter Zeit
fielen die Begriffe zusammen, wie CICERO 3 versichert und bezeugt. "Der
primitive Mensch gab den Namen des Feindes jedem, der nicht mit ihm
durch Bande des Blutes verbunden war 4. Jeden solchen Fremdling,
der nicht zur Familie oder zum Stamme gehörte, verfolgte er mit ruhe-
losem Haß; er sah in ihm die freie Beute, die es zu töten oder auszurauben
galt." Auch SOKRATES glaubte, daß sich Hellenen und Barbaren von
Natur in einem Kriegszustand befänden 5 • Selbst religiöse Abstoßungen
spielten hinein. Fremde waren wie Schiffbrüchige oder Kriegsgefangene
erwünschte Opfer auf den eigenen Altären 6 • Fremde Götter stellten dem
Ankömmling nach 7 • Fremde waren Feinde der Menschen, aber auch der
Götter, die man vernichten mußte. "Israel kämpft für ihn (Jehowah)
und mit ihm, wenn es für sich selbst kämpft 8." Die Bibelstellen lassen
keinen ZweifeJ9. Weil sich zwei Götterkulte in den Haaren lagen, traf
1 KLUGE-GÖTZE, S. 82.
2 PAUL, HERMANN: Deutsches Wörterbuch, S. 117. Halle 1908.
3 "Hostis enim apud maiores nostros is dicebatur, quem nunc peregrinum
dicimus." CICERO: De off. I, 12.
, SMITH, M. CAMPELL in Hastings Encyclopaedia, Bd. V, S.307. Edinburgh 1912.
5 PLATO: Rep. V, 470.
6 Siehe EURIPIDES: lphigenie auf Tauris 338 und andere Stellen.
7 Siehe die Ansprache der Tribunen bei PLUTARCH: Coriolan 13: " ... dort sollten
sie dann hausen unter dem Schutz eines fremden Gottes, der nur auf Opfer lauere."
8 NÖTSCHER, F.: Biblische Altertumskunde, S. 153. Bonn 1940.
9 RICHTER VII, 20: 1. SAM. XXV, 28.
14 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
den Besiegten die Vernichtung. Wer Milde übte, handelte gegen gött-
liches und menschliches Gebot 1.
Dem Fremden wohnte nach alter Anschauung zauberische Kraft des
Schadens inne. Darum war ihm in Griechenland versagt, den Tempel
zu betreten 2 • Wie bei dem Feinde 3 war sein Blick verdächtig, vor dem
der Priester sorgsam sich zu schützen hatte:
... Wenn du vor Anker gegangen,
Und am Strande Altäre gebaut, die Gelübde zu lösen;
Dann umhülle dir fromm mit dem Purpurtuche das Haupthaar,
Daß dir nicht in der Gottheit Dienst beim heiligen Feuer,
Noch ein Blick aus fremdem Gesicht 4 die Zeichen verwirre 5 ."
Der gleiche Zug hat sich im ländlichen Aberglauben Deutschlands er-
halten. "Der ganz Fremde ... begegnet oft einem starken Mißtrauen; er
darf bestimmte Teile des Hauses nicht betreten 6 und nicht einmal
hineinschauen (Stall), ihm darf auch nichts gereicht werden. Man
fürchtet Bezauberung und bösen Blick 7. "
Hier fangen die kriminalwissenschaftlichen Zusammenhänge an,
immer deutlicher herauszutreten. JACOB GRIMM hat zwar Init großer
Gelehrsamkeit und bedeutender Einsicht eine kurze Rechtsgeschichte
des Fremden geschrieben, konnte aber nicht auf seine Soziologie ein-
gehen. Aber er macht Andeutungen, die wertvoll sind. Er weist auf die
Fremden hin, deren Aufenthalt sich über Gebühr verlängerte. Sie
wurden besonders scheel angesehen, und GRIMM gibt auch den Grund
an: "Arme, umherstreifende Leute, die sich in ihrer Heimat nicht er-
halten (und fügen wir hinzu halten) konnten, ließen sich notgedrungen
in der Fremde nieder 8." Im übrigen genoß der Fremde anfangs keinen
Rechtsschutz 9. Auf der anderen Seite wurde er, wenn er eine Straftat
beging, bedeutend härter bestraft als der einheimische Verbrecher, so
im Inittelalterlichen Zürich 10. In Athen schuldete ihm der Staat keinerlei
Gerechtigkeit; er wurde wie der rechtlose Sklave behandelt 11. Richter
der Fremden war in Athen bezeichnenderweise der Polemarch, der
1 Siehe 6. MOB. VII, 2ff.; 6. MOB. XIII, 17; 6. MOB. XX, 16. - Was hier als
religiöse Regel erscheint, war Praxis bei den meisten Völkern jener fernen Zeit.
2 COULANGES, FUSTEL DE: Der antike Staat, S.232.
3 Hier finden wir wieder die Übereinstimmung von Feind und Fremdem: "Lictor
(schreibt FEsTus nach COULANGES, S. 233) in quibusdam sacris clamitabat: hostis
exesto."
4 "Ne qua hostilis facies occurrat et omina turbet."
5 VERGIL: Äen. III, 403ff.
6 SARTORI: Sitte und Brauch, Bd. I, S. 177.
7 Es ist die hostilis facies.
8 Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. I, S.551. Leipzig 1922.
9 Ebenda I, S. 548.
10 WETTSTEIN, a. a. 0., S.27.
11 COULANGES, FUSTEL DE, S.235.
Der Feind des Landes und der fremde Mann 15
Beamte, der mit dem Krieg und allen Dingen, die den Feind betrafen,
zu tun hatte!.
Die Gefühlslage, die im chinesischen Wort vom "fremden Teufel" den
kürzesten Ausdruck gefunden hat, reicht heute noch in unsere Gedanken-
welt - selbst in die Wissenschaft - hinein. In allen Ländern stoßen wir
auf ihre Spur. Ich habe vor Jahren 2 auf das Gedicht RUDYARD Kn>LINGS
hingewiesen, das die instinktive Furcht vor der Undurchsichtigkeit des
Fremden schildert, der, möge er noch so gut sein, eine andere Sprache
spricht, aber auch andere Gedanken denkt und eine andere Seele hat:
der Mann meines Volkes dagegen, erzählt "die Lügen, an die ich gewohnt
bin, und kennt die Lügen, die ich ihm erzähle". Dem alten Material will
ich einige Erfahrungen hinzufügen, die auf das Teufelsbild des Fremden
Licht werfen und Gelehrte verführt haben, sie als Ursächlichkeiten in
ihre Deutungsarbeit einzusetzen.
In einem wohldurchdachten Aufsatz legt der Dermatologe ZINSSER
folgende Erklärung für die hohe Zahl der Kölner Prostituierten in der
Vorkriegszeit vor: "Die Einwohnerzahl erlaubt auch nicht ohne weiteres
einen Rückschluß auf die Nachfrage nach Prostitution, und wenn man
bedenkt, daß unsere Stadt das Zentrum eines dichtbevölkerten Indu-
striebezirks bildet, daß sie einen enorm entwickelten, lebhaften Fremden-
verkehr hat, daß eine ganze Reihe großer Städte für ihren Luxus und
ihre Vergnügungen auf Köln zurückgreifen, so liegt darin auch eine Er-
klärung und, wenn ich so sagen darf, ein mildernder Umstand dafür,
daß wir hier eine sehr stattliche Anzahl kontrollierter Dirnen besitzen .. .
Wie dem auch sein mag, glaube ich aus den oben angeführten Gründen .. .
und aus der Tatsache, daß Köln bekannt ist als ein Knotenpunkt des
internationalen Verkehrs der Glücksritter, Spieler und reisenden Dirnen,
annehmen zu dürfen, daß bei uns die Zahl der heimlichen Prostituierten
eher größer sein wird als in anderen Städten 3 ."
1 In Rom war eine ähnliche Instanz der praetor peregrinus.
2 Siehe meine Studie: The sWJpect, a study in the psychopathology of social
standards. Am. Journal of criminal law and criminology, Bd.39, S. 19ff. Ich
gebe einen Teil des Gedichtes "The stranger" im Urtext wieder:
"The stranger within my gate,
He may be true or kind,
But he does not talk my talk-
I cannot feel his mind.
I see the face and the eyes and the mouth,
But not the soul behind."
"The men of my own stock
They may do ill or weIl,
But they tell the lies I am wonted to,
And are used to the lies I tell."
3 ZINSSER, FERD.: Die Prostitutionsverhältni8se in der Stadt Köln. Monatssehr.
für Krim.-Psychol., Bd. III, S. 21ff.
16 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Sie sitzen fest im Kopf der Menschheit und brauchen nur herausgeholt
zu werden, um als Erinnerung aufzutreten und als Wahrnehmung rück-
wärts projektiert zu werden.
Bei erregenden Verbrechen tauchen regelmäßig Zeugen auf. Sie haben
fremdartige Gestalten herumlungern gesehen. Sie waren blaß und dunkel-
häutig, erschöpft, verhungert, hohläugig, ungewaschen, unrasiert. Sie
verbergen die stechenden Augen unter ungewöhnlichen Schlapphüten 1.
Sie lehnten sich ganz ohne Grund an morsche Zäune und sind dann
plötzlich wieder weg. Man hat sie nie gesehen, sieht sie niemals wieder.
Sie sehen nicht so aus wie andere Leute hierzulande. Damit kein
Zweifel über ihre fremde Herkunft sei, hinterlassen sie sorgsam eine
italienische Zeitung 2 • Im Falle Steinheil, wo sie sprechen, ist der Akzent
ganz augenscheinlich, und offensichtlich sind es Deutsche 3 • Wenn eine
Frau die Räuberbande führt, so ist sie häßlich, riecht nicht gut, hat rote
Haare. Mit einer Zähigkeit, die unbegreiflich scheint, verwenden alle
diese falschen "Räuber" - Bilder rote Haare, wozu gorgonenartige Züge
treten. Die eine Mörderin, berichtet Marthe Steinheil, riecht stark nach
einer Roten 4 , ihre Haut ist fleckig und der Mund enorm groß. Er ist
"ganz schrecklich, grauenhaft zu sehen ... ". Sowie das Fabelwesen redet,
spricht es den Dialekt der Vorstadt, doch unverkennbar bleibt der
fremde Anklang. - Im Falle Molineux durchgeistert ein imaginärer
Käufer des Behälters, den man mit Gift gefüllt gefunden hat, die Unter-
suchung, ohne daß man eine Spur des Fremden finden kann. Er ist ein
Mann mit rotem Bart, geboren aus der Phantasie der Zeugin 5. - Im
Falle Dr. Wilkins' wollen Taxifahrer einen Mann gesehen haben, der selt-
sam aussah und der, wie sie wohl kaum aus eigenem Sprachschatz holten,
einen roten Van-Dyck-Bart aufwies. Ganz im Vertrauen hatte er ver-
kündet, daß bald ein Mord geschehen werde 6. - Ein anderer Zeuge hat
ihn ganz genau gesehen, den stark gebauten Mann mit "rotem, möhren-
farbenern" Haar 7 • Das gleiche Furchtklischee taucht in Psychosen auf,
und der Patient gesteht: "Ich sehe einen sehr großen Mann mit hängen-
den Schultern, die großen Füße nach innen gedreht, sich auf uns zu-
1HARLow, ALVIN F.: Murders not quite solved, S.299. New York 1938.
2QUINBY, IONE: Murder for love, S.29. New York 1931.
3 ÜHRESTIEN, MICHEL: L'affaire Steinheil, S. 84. Paris 1958 (~Une sorte d'accent
germanique»).
4 «Elle sentait la rousse o. Ebenda, S. 97.
5 SMITH, EDWARD H.: Famous poison mysteries, S. 74. New York 1927.
("A man described as having a reddish beard.")
6 COLLINS, RED: New York murders, S.156. New York 1944. ("A man who
was thin, with a thin face and a red Van Dyck beard, and wearing a slouch hat.")
7 Neuer Pitaval, Bd. 36, S. 49. Leipzig 1865. Es handelt sich um den berühm-
ten Eisenbahnmord von 1864. - Über den roten Wilden Jäger, rote Geistertiere
und den rothaarigen japanischen Teufel s. RocHHoLz: Schweizersagen aus dem Aar-
gau, Bd. I, S. 212, 213. Aarau 1856.
Der eigene Widersacher und der Depressive 19
2*
20 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Gegen 888 von 1000 Urteilen erster Instanz wurde kein Rechtsmittel
eingelegt. Darunter wird die große Mehrzahl sachlicher und rechtlicher
Nachprüfung standhalten. Es werden aber eine Reihe von Fällen übrig-
bleiben, die in der zweiten Instanz eine andere, oft günstigere Beurteilung
gefunden haben würden. Hier haben wir die hypo-depressiven Menschen-
typen zu suchen, die arbeitsfähigen Kranken, die kein Arzt zu sehen be-
kommt, die beruflich, ehelich, emotionell erlahmen und vor Gericht die
schuldbewußten oder gleichgültig-antriebsschwachen Angeklagten sind.
Sie werden zwar gesehen - zu ihrem Nachteil- und gehört, doch nicht
erkannt. Daß sie des Widerstands ermangeln, wird als ein Eingeständnis
ihrer Schuld gedeutet.
Das Bild des Feindes wird verkleinert, geschwärzt, mit Wesenszügen
ausgestattet, auf die wir heftig reagieren können und auch sollen. Im
Kleinheitswahnsinn kehrt der gleiche Mechanismus die Angriffsrichtung
gegen uns. Wenn wir den Depressiven dazu bringen könnten, ein Selbst-
porträt zu zeichnen, das sein schlechtes und verworfenes Innere zeigte,
es würde sich vom Teufels- oder Feindesbild nicht unterscheiden. Nur
daß an Stelle der Hungerblockade die Nahrungsverweigerung, an Stelle
der Greuelpropaganda die Selbstanklage, der FeindbeschInierung Selbst-
anschwärzung träte. Wahnhaft getrübt ist jedes dieser Bilder. Sie kreisen
um den übeltäter. Nicht nur die Außenwelt erhebt sich gegen Depressive.
Sie halten über ihre eigene Schlechtigkeit Gericht. Er kommt sich selber
höchst verdächtig vor und sieht der Selbstvernichtung wie ersehntem
Fest entgegen.
Nicht nur fegt Haß des Feindes, welcher Art er immer sei, das
menschliche Gehirn von jeder Hemmung frei und ist daher wie jeder
losgebundene Trieb genußvoll. Der wilde Haß betäubt auch jeden
Schmerz. Er ist dem Drang 2, mit aller Spannung Schluß zu machen,
nahe und verwandt. Er feilt von dem Bewußtsein alle scharfen Kanten
weg 3, die hindernd noch im Wege stehen könnten. Rapid nimmt das
Gewicht des Lebenwollens wie des Körpers ab. Die Neigung zu ver-
nichten, andere und sich selbst, ist einzig Ziel des Strebens, geht in
kurzen Wechselströmen ineinander über l • Es kommt zum Glücks-
gefühl der Demolierung 2 und Raptus des Vandalentums. Beim Haßbild
des Verbrechers durfte deshalb auch der Mensch nicht fehlen, der sich
aus übelwollen selbst verwundet und beschädigt und unserer Straf-
androhung unerreichbar ist.
5. Der Übeltäter
Es gibt fixierte Gegenstände unseres Hasses, daneben solche, die
flottieren. Wenn Griechen an Barbaren dachten, war der Gedanke eige-
nen Wertes und des fremden Unwerts fest verankert. Die besten Köpfe
hielten an der kollektiven Überhebung fest. Heute wechseln wir das Bild
des Landesfeinds in rascher Folge aus. Von Freunden oder bloßen
Konkurrenten wurden wir urplötzlich in die Feind-Idee hineingerissen,
als England 1914 unerwartet uns den Krieg erklärte. Sowie Italien
wie im zweiten Weltkrieg zu der Gegenseite übertritt, sind alle Italiener
für den Westen plötzlich gute Menschen, die sie bisher mit allen Attri.
buten ihres Zorns bedachten. Es zeigt sich mit der Klarheit eines
Experiments, daß wir erst fühlen, lieben, hassen, fürchten und dann
erst unserem Urteil dunkle oder helle Farben geben. Nicht anders steht
es mit dem Gegner im persönlichen Bereich. Er kommt und geht, und
so bewegt sich unsere Meinung: Wir deuten ihn - man könnte sagen -
mit dem Wellenschlag der Drüsen um. Selbst andere, neue Haßobjekte
können alte Bilder aus dem Kopf verdrängen, der offensichtlich nur ein
vorgesehenes Quantum Groll zu fassen vermag. Deshalb warnt auch
das Sprichwort vor den Folgen einer raschen Wachablösung unseres
1 Während des großen Börsenkraehs der 30er Jahre machte die Inhaberin eines
mondänen öffentlichen Hauses in New York mit reichen Opfern des Zusammen·
bruches eigenartige Erfahrungen. Sie berichtet (ADLER, POLLY: A house is not
a home, S. 127. New York 1956): "Ein Herr, den ich inlmer gemocht und für einen
Gentleman gehalten habe, erschien eines Abends und verlangte die Gesellschaft
eines bestimmten Mädchens. Er ließ sich zu abscheulichen, grausamen und un-
menschlichen Akten hinreißen, so daß das Mädchen physisch ein Wrack war.
Am nächsten Morgen ging er in sein Büro und erschoß sich."
2 Am Morgen vor dem Tode, in den er seine Freundin mitnahm, schrieb HEIN-
RICH v. KLEIST an Ulrike: "Und nun lebe wohl. Möge Dir der Himmel einen Tod
schenken, nur halb an Freude und unau88prechlicher Heiterkeit dem meinigen
gleich." WEICHBRODT, R.: Der Selbstmord, S.205. Basel 1937. - Vorher hatte
er in einem Briefe an Marie v. Kleist von dem "wollüstigsten aller Tode" gesprochen.
Ebenda, S. 203. - Es gibt auch Völker, die diesem gefährlichsten aller seelischen
Zustände anheinüallen. Erst hoben sie sich in den Himmel, dann stürzen sie sich
in den Orkus.
22 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Argwohns l , denn die Versöhnung mit dem Feinde kann die alte Wirk-
lichkeit nicht ändern 2 •
Der Fremde ist uns heute noch bedenklich, obschon das Neue kurze
Zeit reizvoll sein kann. Der Glaube unserer Tage, daß Völker sich um-
armen werden, wenn sie einander besser kennen, wird durch die Soziologie
der Ehe nur zum Teil bestätigt. Der Fremdenhaß, der in den genannten
Verurteilungszahlen seine ungebrochene Kraft zeigt, kann an Erschöp-
fung wie nach langen Kriegen siechen. Dann lebt er wieder auf, sucht sich
an neuen, noch nicht abgegrasten Zielen zu erfrischen. Den Landes-
feind ersetzt der Klassenfeind. Die Rassen messen sich mit haßerfüllten
Blicken. Das englische Wort "foe", unser Feind, geht auf die Wurzel
"bitter" (pikros) zurück. Das Bittre aber soll als Element des Schadens
ausgespien werden, wie schon die Bibel sagt. Um ihrer Herr zu werden,
umschließen wir den Klassenfeind, den Rassenfeind, den inneren Gegner
eng mit Strafgesetzen. Daneben geht die Selbsterhöhung : wir sind die
"Guten 3", Wohlgesinnten, und zwar wir alle ohne Unterschied. Wer
uns im Wege steht, ist schlecht, in toto wiederum, ganz ohne Rücksicht
auf die Eigenschaften, die sonst als wertvoll anerkannt sind 4.
Vom Teufel, Fremden 5 und vom Übeltäter hat sich also eine Mei-
nung gebildet, die hart geworden ist und wenig schwankt. Es sind, optisch
kaum verrückbar, Feindestypen, mit denen wir in allen Lebenslagen
operieren. Die defensiven Bilder haben für die bloße Selbsterhaltung
ihren Zweck. Wie Bilder der Verehrung uns zur "Neigung", zum Näher-
kommen und Vertrauen leiten, so führen uns Gestalten, die wirklich
Feinde sind und die wir noch dazu als Feinde grell aufgeputzt haben, zu
Argwohn, Fluchtbereitschaft oder Gegenschlag. Wie alles, was summa-
risch sein muß, sind sie oftmals falsch. Sie haben sich trotzdem als
Durchschnittsinstrument bewährt, denn von Instinkten kann man nicht
erwarten, daß sie biegsam wären.
1 "Take heed of reconciled enemies and of meat twice boiled; trust not a new
friend or an old enemy; take heed of wind that comes in at a hole and a reconciled
enemy." SMITH and HESELTINE: The Oxford dictionary of e1l{}lish proverbs, S.535,
673,712.
2 Versöhnlichkeit kann wie Dankbarkeit eine drückende Last sein und nur zu
einem Erscheinungswandel der Feindlichkeit führen.
3 Boni und optimi waren im alten Rom die Konservativen, die Aristokraten, die
ungelehrten "Schriftgelehrten".
, Einer der wichtigsten Betriebsfehler ist, daß sie über die notwendige Defensive
hinausgehen. Zu töten wird jetzt eine Lust, die wir genießen, weil wir uns nach der
Vernichtung wohlgeborgen fühlen. Silen meint im Kyklop des EURIPIDES (126)
bei einer kulinarischen Unterhaltung mit dem Menschenfresser, daß Fremde doch
am allerbesten schmeckten.
5 "Wiederholt tritt der Teufel als ,Fremder' auf, den niemand kennt." FEHE,
HANS: Das Recht in den Sagen der Schweiz, S. 72. Frauenfeld 1955.
Der Übeltäter 23
Die Wissenschaft teilt sich in Schulen auf, und diese kämpfen mit-
einander. Ihr Konterfei geht vom geborenen Verbrecher bis zur All-
macht des Milieus. Sie zieht Vergleiche zwischen Delinquenten und den
Nichtbestraften und weiß dabei nicht, wieviel Nichtbestrafte Delin-
quenten sind, wie viele nur von Zufallsgnaden sich bewahren konnten,
vor Schuld nicht, sondern vor Entdeckung oder Überführung. Bis heute
hat die Wissenschaft dem populären Bilde des Verbrechers nicht sehr
viele neue Striche zugefügt. Mit ihrer besten Leistung kann sie nur
vorsichtig korrigieren, was zu gedrängt in der Urteilsfällung nach
schlechter und nach guter Seite ist. Die Masse fordert klare, helle,
simple Muster. Die Wirklichkeit vermag sie nicht zu geben, wenn auch
in unserem Kopf die Vielfalt sich verdichten läßt. Das Eingedickte und
Verkürzte aber kann nur halbe Wahrheit sein - im besten Falle.
Das Bild des Delinquenten, das so festgegründet schien, schlägt
manchmal plötzlich nach der Gegenseite um. In dem bereits berührten
Hexenabschied hatte sich am 3. August 1562 ein furchtbares Unwetter
über Stuttgart entladen. Seltsame Töne waren in den Lüften zu ver-
nehmen, ein Wolkenbruch setzte die ganze Gegend unter Wasser, Hexen
flogen, wie die Chronik berichtet, nach der Feuerbacher Heide, "wo sie
sich gegen Gott gekehret und die liebe Menschlichkeit verlassen, mit
herescher Hilfe". Sie hatten vorher in verdammter Gesellschaft zucht-
lose Tänze abgehalten und waren "mit gaylem Gewu" umhergeflogen,
"umscharet von Teufeln ... bis das Frühlicht gekommen, von wo sie
in der Luft heimgezogen und durch die Rauchsteine in ihre Häuser sich
wieder genistet hätten". Kaum waren zu allgemeiner Befriedigung und
Erleichterung die schuldigen Frauen hingerichtet, da erstach sich ein
alter Mann; er hatte aus Eifersucht gegen seine verbrannte Frau falsches
Zeugnis abgelegt, um sie aus der Welt zu schaffen. Jetzt drehte sich mit
einem Male die gespannte Stimmung. Drei Prediger verlasen in den
Kirchen den Namen der unschuldigen Frau. "Dieser Fall eröffnete den
Richtern und dem Herzog die Augen, sie schämten sich des ganzen Vor-
gangs, und jedes Gespräch davon ward verboten und verpönet, die Akten
beiseite geschafft, und den Weg nach dem Richtplatz ließ man ein-
gehen l ."
Wenn Liebe bis zur Unkenntlichkeit verschönert, so muß der Haß ent-
stellen. Es kommt zu einer Urteilstrübung, die wir auch sonst in Alltags-
dingen beobachten können. Grausige Babys sind für ihre Eltern
wunderschön, und in der Liebe wird ins Herrliche verzeichnet, indessen
bei der Scheidung Schuppen von den Augen fallen und wir bestürzt die
Grenzen unserer Urteilskraft erkennen. Wir sehen alle, die uns nützlich
sind, mit milden Augen an, verzeihen ihre Fehler, gewinnen einen guten
Eindruck und trauen ihnen ungern Böses zu. Der Hauswirt beurteilt den
Menschen nach der pünktlich gezahlten Miete, der Lehrer traut dem
Primus keine schlechte Handlung zu 1, die alte Dame findet den Studenten
ganz prächtig, der früh nach Hause kommt und auf den Zehenspitzen
geht; sie legt für ihn die Hand ins Feuer, denn seine Eltern hätten Geld.
Es sei unmöglich, daß er einen Mann im Zug erschlagen habe 2 •
Die Widersacher - und es gibt von ihnen viele -, sie alle kommen in
die Schreckenskammer und zu den Wachsfiguren, die uns befriedigt
schaudern machen 3. Verbrecher stehen nur am linken Flügel einer
Schlachtfront, die sich weithin dehnt. Da sind die Konkurrenten, deren
Fehler ihre Leistung ist, die Nebenbuhler in der Liebe, die mehr vom
Leben haben, anders denken, vom Glück begünstigt waren und uns über-
holten. Wir färben sie ins Unvollkommene, Mangelhafte, Tadelnswerte um.
Dem, den wir lieben und bewundern 4, verleihen wir die edlen, unwahr-
scheinlich schönen Züge auf Heldenstatuen und auf Siegeszeichen und
auch in unserer Phantasie. Selbst die Tyrannenmörder nehmen an der
Zweck-Verklärung 5 teil, denn wir sind stets Partei, ob wir verehren oder
hassen. Wir werden zum beredten Anwalt und, wenn wir grollen,
wiederum zum Staatsanwalt, der uns ein Scheusal sehen läßt, zum
Sprung bereit, uns zu verschlingen, wenn wir ihm nicht zuvor das Hand-
werk legen 6. Das Schreckbild des Verbrechers ist rein optisch wie der
Ruf der Kämpfer, der anspornt und das träge Blut in Wallung bringt.
Das gleiche Bild ist wie Kriegsruf einer Masse, der uns versichert, daß
wir nicht alleine sind.
Die Fetischwaage alter Zeiten liegt weit hinter uns 7• Gerichte sind
an Regeln fest gebunden, die eine Fehlentscheidung schwierig machen
sollen. Doch dieses "freie" Richten und Ermessen ist eng in Massen-
1 "Der greise Herr stellt seinem Vorzugsschüler das beste Zeugnis aus." ...
"Eines Diebstahls sei er absolut unfähig." MosTAR, HERMANN: Nehmen Sie druJ
Urteil an?, S. 39. Stuttgart 1957.
2 FRIEDLÄNDER: Interessante Kriminalprozesse, Bd. I, S. 11. Berlin 1910. "Er
spielte so wundervoll Geige."
3 Siehe die Wachsfigur der Kate Webster im Kabinett der Madame Tussaud.
O'DONNELL, ELLIOTT: Trial of Kate Webster. Edinburgh 1925.
4 Auch wer uns liebt und dem, der uns bewundert.
5 Siehe das griechische Bronzedenkmal von Harmodios und Aristogeiton auf
dem Markt von Athen.
6 Die Animosität erstreckt sich auf den, der, wie bei Hexenprozessen, zur Ver-
nunft rät. Er schützt uns nicht, so meinen wir, er will den Widersacher vor uns
schützen.
7 Über die lebende und denkende Waage siehe meine Studie: Zur Soziologie des
Richtschwerts. Schweiz. Z. Strafrecht, S. 22,1959. - Über die Waage im deutschen
Recht - golden war die Waage in der Hand des Zeus - siehe GRIMM, Deutsche
Rechtsaltertümer, Bd.lI, S. 246 und 247. Hier wird auch eine Beziehung zum
Golde sichtbar, die dunkel bleibt.
26 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
hatte, wie man im Norden meinte, anders geartete Augen l ... Auch an
eine Diebsnase glaubte man und an Zähne des Diebes." Das Galgen-
gesicht war wie bei SHAKESPEARE 2 eine gangbare Vorstellung. AMmA
erinnert auch an die vielen Sprichwörter über das rote Haar und an die
Tatsache, daß der Missetäter der Volksmärchen regelmäßig eine Miß-
gestaltung aufweist. Auch unser Teufelsbild zeigt körperliche Eigen-
heiten und reicht mit Schwanz und Pferdefuß in der Entwicklungsreihe
weit zurück. Sie lassen seinen bösen Sinn erkennen (s. SHAKESPEARE :
Othello 5, 2, 284).
Auch in der Sprache lebt noch dieser alte Glaube. Häßlich war einst-
mals haßerregend 3. Ugly, auf englisch häßlich, ist "einer, der zu fürchten
ist 4". Ein "mieser" Kerl ist auf hebräisch einer, der uns abstößt 5.
Häßlich, auf griechisch ocl(1XQ6~, war äußerlich mißförmig und dann
weiter lasterhaft. Das "Garstige" schmeckt schlecht, weil es verdorben
ist und Widerwillen 6 mit sich bringt. Ganz deutlich schwingen beim
Begegnen mit der Häßlichkeit tiefeingewurzelte Untertöne einer Regel-
widrigkeit mit, die auch im Handeln Ausdruck finden könnte. Geruch
ist "häßlich", aber auch Charakter und Verhalten. Häßlich sind Sünde
und mit ihr die Sünder.
Dichter haben seit jeher den bösen Menschen äußerlich entstellt und
damit Glauben gefunden. Der Krakeeler und Miesmacher Thersites,
"dessen Herz mit vielen und törichten Worten gefüllt war 7," wird wie
ein Sammelsurium von Verunstaltung geschildert:
" ... Der häßlichste Mann vor Ilion war er gekommen:
Schielend war er und lahm am andern Fuß und die Schultern
Höckerig gegen die Brust ihm geengt; und oben erhub sich
Spitz sein Haupt, auf dem Scheitel mit dünnlicher Wolle besäet."
In Ausführung einer Bemerkung Cäsars bei Plutarch, mit der er
auf seine Feinde Brutus und Cassius anspielt 8, hat SHAKESPEARE eine
1 ÄMIRA weist (S. 66) auf den irischen Volksglauben hin, daß ein Gewohnheits-
verbrecher den Sonnenschein nicht zu sehen vermöge. - Was hätten wir nach
diesem Aberglauben von der schwarzen Brille unserer Zeit zu halten?
2 Verlorene Liebesmühe V, 2,12. - ÄMIRA weist auch auf den Sturm I, 1, hin,
wo Gonzalo vom Steuermann sagt, er sehe nicht so aus, als ob er zum Ersaufen
bestimmt sei: "His complexion is perfect gallows" = Er ist der perfekte Galgenvogel.
3 KLUGE-GÖTZE, S. 303.
4 SKEAT, W ALTER W.: A concise etymological dictionary 01 the English Zanguage,
S.582. Oxford 1956. (fearful, dreadful.)
5 KLUGE-GÖTZE, S. 492.
6 KLUGE-GÖTZE, S. 241, auch bitter im Geschmack. Auf die Beziehung von :n;t:K(?o<;
und foe haben wir bereits hingedeutet. Bitter wiederum hängt mit beißen zusammen.
Es dient sprachlich zur Verstärkung widriger Sensationen, bitterböse, bitterkalt,
immer aber bei unangenehmen Lagen, wie Not, Haß, Reue, Zwang, Kummer.
7 HOMER: !lias, II, 212ff.
8 "Die Fettwänste und wohlgepflegten Haare kümmerten ihn nicht, wohl aber
die Bleichgesichter und die Spindeldürren." PLUTARCH: Brutus 8.
28 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
1 Julius Oäsar I, 2, 190ff. - Die feineren Nuancen kommen bei den meisten
Obersetzungen nicht ganz heraus. - Besonders gut ist bei Cassius der depressive
Zug beobachtet, den er mit Brutus teilt. Cassius sucht den Tod in der Schlacht;
Brutus begeht Selbstmord. Von anderen Verschwörern meldet SUETON (Gaiu8
Julius Oä8ar 89): "Einige nahmen sich mit demselben Dolch, mit dem sie Cäsar
verletzt hatten, das Leben."
2 GOETHE: Faust, Erster Teil.
Der Galgenstrick 29
spöttisch als wohlgefällig und zufrieden. Man sieht - der Mann kann
auch sehr liebenswürdig sein ... Ein schwarzes Spitz bärtchen vollendet
das Antipathische der Erscheinung - das Gesicht ist blaß, gedunsen
und die Nase krumm wie ein Sägezahn." Hier ist es der Spitzbart;
zumeist ist es die Unrasiertheit, die den bösen Sinn verrät 1 •
Der immer wiederkehrende Vergleich mit einem Tier, zumeist mit
einem Affen, hat unter dem Eindruck Darwinseher Gedankengänge das
alte Bild des Teufels abgelöst, das lange noch nicht tot ist 2 • William
Bare, der schlimmere der beiden Partner Burke-Hare (Edinburgh 1928),
wird als «la bete humaine) beschrieben 3. De Graff, der Schiffskoch, dem
ein letzter Zweifel zum Freispruch verhalf, war angeklagt, den Kapitän
zerhackt zu haben. Als dann die Polizei im Morgengrauen an Bord kam,
fiel ihr besorgter Blick auf einen "riesigen Affen". Er hatte einen Buckel,
war bärenstark und hatte breite, starke Bände. "Wenn er, soweit er
konnte, aufrecht stand, reichten die Mittelfinger bis unter das Knie
hinab 4 ." - Joseph Blondin, wegen Mordes verurteilt, war eine
"physische Monstruosität". Seine Beine, "die beinahe ein Oval bildeten,
stützten Körper und Schultern eines Gorillas. Das pockennarbige Ge-
sicht ging in ein enorm verlängertes Kinn aus und erhob sich über der
Stelle, wo ein Hals hätte sein sollen, aber nichts davon zu finden war 5 ."
Charles Peace, für den zuerst ein Unschuldiger verurteilt wurde,
wird als "almost a monkey of a man" beschrieben 6. An anderer Stelle
nennt ihn der Verfasser einen "unbeherrschten Wilden". Er war un-
gewöhnlich stark, sah so verrunzeIt aus, daß die Polizei sein Alter in
ihren Bekanntmachungen völlig falsch a.ngab. Beim Gang fiel auf, daß
er mit weit abstehenden Beinen ging, sein Unterkiefer war nach vorne
vorgeschoben, die Sprache war verwaschen, "als ob die Zunge zu groß
für den Mund wäre". Der schlaue, scheue, völlig unerschrockene 7
Menschenaffe hatte die eigentümliche Fähigkeit, seine Gesichtszüge
so zu verändern, daß selbst die Freunde und Verwandten ihn nicht
wiederkannten. Sein Glaubensbekenntnis lautete: "Ich glaube an Gott,
und ich glaube an den Teufel, fürchte aber beide nicht." Er liebte es,
zu rezitieren. Die Totengräberszene aus Hamlet war sein Lieblings-
thema. Kaum einer übertraf ihn als Pistolenschütze.
Es ist begreiflich, wenn körperlicher Abscheu, der sich mit Furcht,
besonders vor der Stärke eines Riesen, mischt, Verdacht erregt, auch wenn
die Menschentypen keinen Mord begangen haben. Vom Potentiellen ist
zur ausgeführten Untat noch ein weiter Weg, obgleich es die Verlockung
eines hypertrophen Bizeps gibt. Sehr viel läßt sich aus einem Bericht
lernen, den ein erfahrener und tüchtiger Polizeikommissar vor vielen
Jahren niedergeschrieben hat!. Er war dem Verdächtigen unauffällig
zum Begräbnis der ermordeten alten Dame gefolgt. Er meldet: "Seine
Blicke waren scheu, sie streiften rechts und links. Sein Aussehen war
gleichfalls blasser und markierter als sonst. Auf dem Gottesacker an-
gekommen, wechselte er vor Ankunft der Leiche seinen Platz mehrmals,
wählte ihn jedoch so, daß er weder der Leiche, wenn sie gezeigt wurde,
noch dem Geistlichen ins Gesicht zu sehen brauchte. Als der Geistliche
auf den Mord zu sprechen kam, arbeiteten die Kinnladen des Carl sicht-
bar, seine Lippen zogen sich fester zusammen, während seine Augen
auf dem Rücken des zunächst vor ihm Stehenden hafteten, und als der
Geistliche die Worte sprach: "Wer Blut vergießt, dess' Blut soll wieder
vergossen werden", bog sich Carl so recht geflissentlich noch mehr vor,
sah auf den Kopf des vor ihm stehenden Kindes und warf gerade da den
erwähnten weißen Speichel wieder aus." Der wahre Täter wurde eine
Zeit danach gefaßt.
Aus Urzeit stammt das Bild des Kriminellen mit den breiten, roten
Fäusten, das auch nur halb auf eine Gruppe der Gewaltverbrecher zu-
trifft. Ein Beispiel ist der Widerspruch von empörtem Abscheu und
sonstigem Anstand bei anderen Kategorien von Übeltätern. "Über-
raschend günstig", lesen wir 2 über solche Gefangene, die wegen Blut-
schande eine schwere Strafe erhalten haben, "ist das Anstaltsverhalten.
Keine Deliktsgruppe des Waldheimer Bestandes fügt sich so einwandfrei
in den Strafanstaltsrahmen ein wie die Gruppe der Blutschänder ." Selbst
die getäuschten Ehefrauen singen noch ihr Lob 3 als respektable Menschen.
1 Neuer Pitaval, Bd. XXVI, S. 186, 187. Leipzig 1858. - Vorher hatte der
Kommissar die widrige Art notiert, mit der der Mann schaumartigen Speichel aus·
warf, der ihm ein Zeichen inneren Kampfes zu sein schien. Der Verdächtige saß
41 Wochen in Untersuchungshaft, ehe man den wahren Täter fand.
2 FINKE und ZEUGNER in Monatsschrift, Bd. XXV, S. 312.
3 Eine Ehefrau erklärte, sie habe sich schon immer von ihm trennen wollen,
denn er sei zwar "seelengut, strebsam, grundreell", aber der Alkohol verderbe ihn
immer wieder. Ebenda, S. 325. Solchen Widersprüchen begegnen wir auf Schritt
und Tritt. BJERRE hat (Psychologie des Mordes, S.85ff. Heidelberg 1925) über
die tiefe Verbundenheit verwilderter, tierischer, "gefühlloser" Verbrecher mit der
Mutter Bemerkenswertes gesagt.
32 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Es gibt kein erwachsenes Tier, das nicht mit Auge, Ohr und Nase
den Feind erkennt. Den altgewohnten Feind, denn mit dem Auto
kann man dicht an einem Löwen vorbeifahren, ohne daß seine Instinkte
Warnungssignale gäben. Nur viele schlechte Erfahrungen werden die
Tiere eines Besseren belehren, bisweilen erst, wenn es zu spät ist. Mit
Menschen ist es nicht viel anders. Das instinktive Bild des Übeltäters
stammt aus entlegenen Zeiten der Gewalt und trifft nur noch zu einem
Teile zu. Die Fälle, in denen ein Verbrecher mit bloßer Hand erwürgt,
wie jener Massenmörder Luedke 1 , sind nicht mehr häufig. Es müssen
schwache Opfer sein, wie Frauen, Alte, Kinder, Angetrunkene, Menschen,
die im Schlafe wehrlos sind. Sonst ist das Werkzeug Kraftverstärkung,
wie Messer, Beile, Schlingen, die kampfunfähig machen und Sparmethoden
im Bereich der Muskelleistung sind. Bei Gift und Gas bedarf der Täter
ähnlich wie beim Schießen nur einer leichten eigenen Handbewegung.
Mit dem Revolver wurden alle Menschen physisch gleich. Das Privileg
der Körperstärke wurde abgeschafft.
Alle Versuche, eine Kriminal-Physiognomie 2 zu entwickeln, müssen
scheitern. Die "facies nefaria", wie man es nennen könnte, kann, weit
entfernt, der Ausdruck seelischer Vorgänge zu sein, auf abgelegenen
Ursächlichkeiten beruhen, so etwa toxischen Prozessen wie beim Tetanus.
Der Risus sardonicus, dem wir eine psychologische Deutung gebenmöch-
ten, sollte nach dem Glauben der Antike durch eine Giftpflanze, die
Sardonia herba, Hahnenfuß, verursacht sein 3. Es gibt ein Lachen oder
Grinsen ohne Heiterkeit, drohende Mimik, die nur endokrin begründet
ist, auch Angstausdruck ganz ohne Angst. Stirn4, Augen, Nasenflügel,
Mund 6 werden ebenso von Gefühlen innerviert wie von autonomen
körperlichen Vorgängen. Dabei ist zwischen Gesichtszügen und Mienen-
spiel zu unterscheiden 6, das, lange wiederholt, zu harten Mustern sich
zusammenfügt. Die Seele alter Menschen ist verdickt in ihren Zügen
ausgebreitet. Die Kindermimik - und es gibt recht viele ältere Kinder-
täuscht durch die Glattheit 7 unberührte Unschuld vor. "Visagen", die uns
1 BERTHOLD, WILL: Nacht8 wenn der Teufel kam, S.20, 53, 129, 132. Wöris-
hofen 1959.
2 Zuletzt ELLIS, fuVELOK: The criminal, S.84ff. London 1890.
3 Daneben gibt es andere philologische Erklärungen.
4 Bei den Römern hieß das Gesicht "frons". Die Stirne war der Mittelpunkt der
Mimik.
5 Das Wort "Miene" geht auf eine Wurzel Schnauze, Mund zurück (KLUGE-
GÖTZE, S. 492). Im englischen Slang heißt snout-piece das Gesicht (PARTRIDGE,
S.795). Vulgär bedeutet auch die "Fresse" das Gesicht.
6 Die alte Unterscheidung waren vultus und gestus. Man hätte besser visus
sagen sollen.
7 Daß hier die elastischen Fasern der Haut ausgleichend wirken, ist eine gute
Beobachtung. KmCHHOFF, THEODOR: Der Gesicht8ausdruck und seine Bahnen,
S. 53. Berlin 1922. Nach WILBRANDT und SÄNGER.
Der falsche "feine Mann" 33
Es wäre lehrreich, für den Hausgebrauch ein Inventar der Züge auf-
zunehmen, die schweren Kriminellen als verdachtbeseitigend oder
-mindernd angerechnet worden sind. Tierquälerei ist immer ein bedenk-
liches Symptom l . Tierliebe aber schließt in keinem Falle Rohheit gegen
Menschen aus. Im Falle Pleil bemerkt das Urteil anerkennend: "Zu
Tieren hat der Angeklagte ein gutes Verhältnis. Er pflegte und besorgte
die Kaninchen seiner Eltern und spielte oft mit Hunden 2." Die Goenczis
(Berlin 1897, Raubmord) konnten sich von ihrem Hund nicht trennen.
Sie nahmen ihn auf ihrer Flucht nach Brasilien mit, trotz aller Un-
bequemlichkeiten und Gefahren. Bei der Verhaftung wurde er "vom
deutschen Generalkonsul Werner in Rio de Janeiro zurückbehalten und
für Rechnung des Preußischen Justizfiskus verkauft 3 ." Der Mörder
John George Haigh, der das Blut der Opfer saugte und 1949 in London
gehängt wurde, nahm völlig irrationellerweise den Hund der Gemordeten
mit, behielt ihn in seinem Hotel und schickte ihn zu guter Pflege in einen
Zwinger, obschon der rote Setter ihn sehr leicht verraten konnte 4 •
Dem Publikum scheinen die seltsamsten Umstände entlastend. Daß
die Kirchenfahne, die Denke regelmäßig trug, ihn vor Verdacht bewahrte,
kann noch vielleicht verstanden werden. Aber wie steht es mit der zu-
gunsten eines Jugendlichen angeführten Tatsache, daß er seine Mutter
regelmäßig beim Zubettgehen küßte ~ Ein anderer gilt für unverdächtig,
weil er der Tante, die Klavier spielt, aufmerksam das Blatt umdreht.
Andere genießen Sympathie, weil man die Bibel unter ihren Sachen findet
oder weil der Vater ein Buch über die Wiederauferstehung geschrieben
hat. Der streng "solide" Lebenswandel spricht besonders gegen jede
schlechte Neigung 5. So heißt es von einem Bürovorsteher: "Er lebte
sehr solide, verbrachte die Abende in seiner Wohnung und legte keine
Neigung zu Vergnügungen außerhalb des Hauses, zu Sport, Spiel und
Frauenzimmern an den Tag 6 ." Daß die solide, frauenlose Lebensweise
ihren Haken haben kann, wird nicht bedacht.
1 In einem Strafverfahren wegen Mordversuchs sagte der Chauffeur des jungen
Hamburger Bankiers aus, sein Herr habe eine besondere Freude daran gehabt,
Hunde mit seinem Auto totzufahren. Ein anderer gab an: "Ich war einige Zeit bei
ilim als Chauffeur tätig. Er verlangte stets die schnellste Fahrt, so daß für den
Chauffeur sowohl wie für die Insassen andauernd Lebensgefahr bestand. Er ver·
langte von mir, daß ich Hunde und andere kleine Tiere nicht schone. Er selbst hatte
auf der Straße zwischen Schwarzenbeck und Lauenburg einen großen Jagdhund
totgefahren, was er recht gut verhüten konnte. Aber er hatte sichtlich eine große
Freude an solcher Tat." Pit. der Gegenwart, Bd. VIII, S. 225.
2 Braunschweig 6 Ks 1/50, S.4.
3 FRIEDLÄNDER, Bd. II, S. 51.
4 HOSKINS, PERCY: No hiding place, S. 102. London o. D.
5 "Die beiden lebten vollständig zurückgezogen und machten deshalb einen guten
Eindruck." Polizeikommissär Ehrenfreund in Pit. d. Gegenwart, Bd. VII, S. 200.
6 Pit. der Gegenwart, Bd. III, S. 184.
Der falsche "feine Mann" 35
Die sanfte Stimme! und vor allem freies Lächeln sind entwaffnend.
Erfahrene Anwälte geben der Presse vor der Verhandlung Bilder von
Klienten, die harmlos lächelnd in die Weite blicken und damit unsere
defensiven Instinkte unsicher machen 2. Der, welcher lächelt, scheint er-
freut, uns zu begegnen. Er fürchtet nichts, wir brauchen nichts zu fürch-
ten. Wir scheinen ihm sympathisch und willkommen, wie ein Verkäufer,
der zum Kauf ermuntern will. Wir sind bereit, die Ware abzunehmen,
die günstige Meinung, die er uns empfiehlt. Schon bei den alten Indern
war das Lächeln mehr als Mimik. Man sah in ihm geheimnisvolle Energie-
entfaltung, und in zu vielem Lächeln Schwächung wie durch Blutverlust 3.
Der Kriminelle spielt mit den Legenden des sozialen Lebens, die sich
in Unzahl seinen Raubinstinkten bieten. Wir freuen uns, wenn Menschen,
wie wir glauben, ohne Tadel sind, nicht trinken, rauchen, fluchen, wider-
sprechen, auf das Wort gehorchen, sparsam, sauber, pünktlich sind. Von
Defraudanten ist bekannt, daß sie ganz einfach und bescheiden lebten
und kein Verdacht sie lange Jahre anzurühren wagte. Sie waren wahre
Mustermenschen. Man konnte sich durch dick und dünn auf sie ver-
lassen. Ein junger Mensch, der nur von Brot und Wasser lebt und nur
am Festtag einen Apfel kauft, kann, wie wir glauben, nicht gemordet
haben 4 • Und wenn er gar noch zugibt, Süßigkeiten sehr geliebt zu
haben, ist eine Untat ihm nicht zuzutrauen.
Ein Teil der Masken, die uns täuschen, läßt sich an der nächsten
Straßenecke kaufen. Es ist die gute Kleidung, jene Uniform der Wohl-
anständigkeit. Ein großer Schwindler, der in Bonn verurteilt wurde,
wird in der Presse so beschrie ben:
"Er trägt ein blütenweißes Hemd, einen gutgeschnittenen blauen Zweireiher
- Blau gilt als Farbe der gedämpften Vornehmheit und damit Unschuld - , eine
modische Kravatte mit Klubstreifen. Er ist während der zweijährigen Unter-
suchungshaft abgemagert, was dem schmalen Gesicht mit den dunklen Augen, der
gebogenen Nase und den schmalen Lippen einen intelligenten Zug verleiht."
Der Zahnarzt Dr. Gallentine hatte seinen Rivalen erschossen. Er
saß vor Gericht in einem eleganten Anzug, einen Zylinder in der Hand.
Er kam direkt durch einen Korridor aus der Untersuchungshaft, aber
der Zylinder, sagt der Bericht, war damals ein Symbol des Reichtums,
der Ehrbarkeit und der Respektabilität. Woran der Angeklagte dachte,
war, optisch sich mit diesen Mächten zu identifizieren 5. Ein britischer
Einbrecher gibt den Rat, immer im Frack an die Arbeit zu gehen, weil
1 Ein lombardisches Sprichwort lautet: "Sta lonta da quei tai ehe i parla a pia."
Siehe meinen Aufsatz Physiognomik im Sprichwort, Gross, Archiv, Bd. 80, S. 141.
2 Siehe das Material in meinem Aufsatz: The suspect. A study in the psycho-
pathology of social standards. Amer. J. of Crim. law and criminology, Bd. 39, S.23.
3 OLDENBERG, HERMANN: Religion des Veda, S.429. Stuttgart 1923.
4 FRIEDLÄNDER, Bd. I, S. 5.
5 BAYER, O. W.: Cleveland murders, S.29. New York 1947.
3*
36 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
"über ihm lag die Atmosphäre des Südwestens. Er ragte aus jeder Menge her-
vor mit seinem breitrandigen Hut, seinem braunen Gesicht, dem anheimelnden
"Sächsisch", der aufrechten Gestalt und dem hocherhobenen Haupt. Er sah wie
ein Mann aus, der lange Tage im Sattel zugebracht hatte."
General Alvarosa machte auf einen kritischen Beobachter folgenden
Eindruck:
"Er war ein Genie, wenn man ihn so vornehm auftreten sah. Es schien, als
brauche er nirgends Ausweise und Empfehlungsschreiben. Die exquisiten Manieren
und sein ehrliches Gesicht genügten 1."
John Bigelow, der amerika nische Staatsmann, fand einmal Muße,
sich im New Y orker Rathaus hinzusetzen. Ihm. gegenüber hing das Bild
von Fernando W ood, einst Bürgermeister dieser großen Stadt. Bigelow
sah lange auf die blauen Augen und die Patrizier-Züge, die ebenmäßig
waren, als hätte sie ein Praxiteles geformt. Dann sagte er: "Er war der
schönste Mann, den ich je gesehen habe, und der korrupteste, der je im
Sessel eines Bürgermeisters saß 2." Verbrecher sehen oft genau so gut wie
ihre Opfer aus 3 •
Die Beschreibungen, die erfahrene Berichterstatter geben, verraten
uns, daß unser Bild des Kriminellen 4 in Widerspruch zur Wirklichkeit
des Lebens steht, nicht immer, aber doch in vielen, allzu vielen Fällen.
Ein berühmter Chemiker, der Dr. Castaing, den Gütmörder (Paris 1822),
sah, versicherte, nie einen liebenswürdigeren jungen Mann gesehen zu
haben 5. FRIEDLÄNDER, optisch ganz gewiß ein Mann mit Sachverständ-
nis, schreibt über den "Rechtsanwalt" Hau, der seine Schwiegermutter
erschossen hatte: "Er machte den Eindruck eines jungen Theologen,
man könnte ihn auch für einen Schauspieler halten. Er stand zumeist
mit gekreuzten Armen auf (? v. H.) der Anklagebank und trug eine
geradezu erstaunliche Ruhe zur Schau 1." In jüngster Zeit kam ein
Bericht aus England 2 ; er schilderte das Aussehen jenes Dr. Adams,
der von der Anklage des Mordes freigesprochen, aber wegen einer Reihe
anderer Verfehlungen rechtskräftig verurteilt wurde, die bestürzenden
Mangel an ärztlicher Ethik verrieten:
"Da steht er - wie eine Personifizierung des zuverlässigen, soliden Bürgers, wie
John Bull selber; mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, mit breitem, freundlichem
Gesicht, einer etwas knolligen Nase, prüfenden Augen hinter der Brille und einer
Glatze. Solide ist auch der feingestreifte, dunkelblaue Anzug. Der ganze Mann sieht
genau so aus, wie man sich einen vertrauenswürdigen Hausarzt vorstellt. "
Es ist ganz sicher, daß in vielen Fällen unsere Bilder an den äußer-
lichsten Dingen hängenbleiben; bei einer Diebstahlsuntersuchung wurde
eine Angestellte vom Verdachte ausgeschlossen, weil sie schon zwanzig
Jahre Witwe war und schon aus diesem Grund für zuverlässig galt 3.
Weil unsere Furcht- und Warnungsbilder noch aus weit entlegenen
Zeiten stammen, in denen Muskelstärke und Gewalt zu fürchten waren,
ist es so schwer, uns auf Verstellung umzustimmen. Wir sind sehr zögernd
auf dem Wege, neue Gefahrinstinkte zu entwickeln und den Gefühlen
des Gefallens Zügel anzulegen, die uns vor der Bedrohlichkeit entwaffnen.
Verbrecher großen Stils schieben gern Charmeur-Gesichter vor; im Sturm
erobern diese schon von der Natur maskierten Wolfsnaturen, die neben
einem Schafspelz auch noch Lamm-Gesichter haben, unsere Sympathie.
Der Einbrecherkönig Wilson hielt in seiner wohlgefügten Bande sich
einen "Obersten" Cosgrove. Er war "ein auffallend gut aussehender
Mann in den 50er Jahren, hochintelligent, eine bezaubernde Persönlich-
keit und ein Mann von weltmännischer Erfahrung". Dieser Mann wurde
von dem Einbrecherkönig an die Spitze seiner privaten Polizei gestellt.
Hier wurde für das Alibi der Bandemnitglieder Sorge getragen, wurde
jedem Mann ein bürgerlicher Scheinberuf besorgt, in dem er ein legi-
times Einkommen und eine nachweisbare Beschäftigung hatte, so daß
die Polizei bei einer Untersuchung stets auf solide Hindernisse stieß.
Der Oberst hielt auch die Verbindung mit der Oberwelt, die seltsamste
Gelüste mit der Unterwelt verknüpften. Wilson behauptet, eine sagen-
hafte Summe aus fremder Hut in seine Hand gebracht zu haben 4 • Sein
Buch wird von einem früheren Leiter des Zuchthauses St. Quentin ein-
geleitet, der der Behauptung, mag sie noch so unwahrscheinlich klingen,
nicht widerspricht.
b) Dem Bilde eines Ungeheuers, das sich, wie in der Tierwelt, leicht
erkennen läßt, tritt die Erfahrung nur bedingt zur Seite. Das gute, un-
verdächtige Aussehen, dem sich Kleidung, Sprache, Umgangsformen zu-
gesellen, ist nicht die einzige Störungs quelle. Bei jedem Eindruck sind
neben der Sinnenwelt Kräfte am Werke, die - Obertöne gleichsam -
emotionelle Nebenreaktionen erregen. Wir finden alles schön, was
mächtig, imponierend, bewunderungswürdig oder nützlich ist. Es han-
delt sich um einen Mechanismus unserer Seele, der biologisch wertvoll
ist, weil er uns erst ästhetisch, dann moralisch mit der übermacht ver-
bündet.
Der Mensch erleichtert sich die Schwierigkeit des Denkens, indem er
"transfiguriert" . Dabei verklärt er nicht nur, er schwärzt die Bilder
derer, die ihm eine Drohung scheinen und rüstet sich mit Widerhaarig-
keit zum Kampfe. Er möchte Diktatoren herrisch und unfehlbar, die
Generale tapfer, Grafen vornehm, Künstler sinnverloren sehen. Wunsch-
träume sind fast alle unsere Monumente, mit denen wir die Helden
feiern, umstürzen und an ihre Stelle neue Helden setzen. Wenn man die
Königsstatuen ihrer Tracht entkleiden und ihre Haare scheren könnte,
sie gingen alle auf ein erstes, festgeformtes Herrscherbild zurück. Selbst
die Gelehrten können diesem Drange oft nicht widerstehen, und sie
verschönern jene, deren Leben sie beschreiben; sie gleiten unversehens in
Heroendichtung 1.
Wie weit - als Einzelsymptom eines größeren psychologischen
Problems - die Störungswirkung von Adorationselementen geht,
möchte ich an der Beschreibung einer Büste durch einen ernsten Histo-
riker zeigen 2 ; es handelt sich um eine Büste der Kaiserin Theodora,
jener Frau, die im Theater Leda und den Schwan gespielt hatte und
Tochter eines Zirkuswärters war. Er schreibt: "Um eine hohe Haar-
frisur ist ein reiches Perlendiadem gelegt, von dem über der Mitte der
Stirn drei große Perlen herabhängen. Aus dem schmalen, vornehmen
Kopf schauen unter hochgezogenen Brauen lebhafte große Augen, unter
schmaler Nase liegt ein kleiner Mund; die leichte Ungleichheit der
Gesichtshälften erhöht den persönlichen Eindruck. Die dargestellte
Frau war schön und voller Eigenart, mit Spuren beginnenden Alters,
voller Leben und noch anmutig, bei allem Stolz doch eher reizvoll als
furchterregend. "
Die Herkunft Friedrich 11. von Hohenstaufen war umstritten.
RUDoLPH WAHL 1 setzt diesem Zweifel an der königlichen Echtheit die
Bemerkung entgegen: "Friedrichs Lebensführung und Herrscherpersön-
lichkeit, sein leidenschaftlicher, unbestechlicher Adelsstolz, seine ge-
bieterische Unnahbarkeit, selbst sein Äußeres mit den rötlich-blonden
Stauferlocken sprechen dagegen, wenn er auch den Arabern nur wenig
gefiel, so daß sie schrieben, auf dem Sklavenmarkte hätte er kaum mehr
als zweihundert Drachmen erbracht." Doch hat der Sohn der Magd 2
nicht einmal schon den Weg der Menschheit umgestaltet ~
Von Kaiserhäusern steigen wir um eine Stufe tiefer. Graf Bocarme,
der zusammen mit seiner Frau den verkrüppelten Schwager getötet
hatte - es war ein reiner, schlimmer Raubmord -, machte noch in der
Verhandlung unverkennbar Eindruck. Wir lassen den Berichterstatter
sprechen 3: Der Angeklagte trat ein, "ein junger Mann von hohem Wuchs,
klugem Gesicht, das unter vielen sich sogleich bemerkbar gemacht
hätte. Er war etwas von Pocken getupft, die Haut gelblich und matt,
aber alle Züge, fein gezeichnet, verrieten die aristokratische Abstam-
mung 4 • Der Knebel- und Kinnbart, den seine vielfach ausgestellten
Bilder trugen und der ehemals das ganze Gesicht bedeckte, war ab-
rasiert. Seine Stirne war hoch und frei und der Ausdruck seiner Blicke
zugleich verschmitzt, boshaft und verwegen".
Zwei Bilderreihen ringen, wie man sieht, hier um den Vorrang: der
Mörder und der Mann aus altem Grafenhause. In seiner äußeren Haltung
ist der Kriminelle, ganz nach der Vorschrift der Erwartung, nichts als
Graf. "Mit mehr als Ruhe, fast verschwenderischer Zuversicht, be-
trachtete er das Publikum; nicht, daß er einmal gelegentlich seine
1 WAHL, RUDoLPH: Wandler der Welt. Friedrich II., der sizilianische Staufer,
S. 6. München 1949.
2 Über die Geburt berichtet RUDoLPH WAHL (ebenda, S. 6): "Diejenigen aber,
deren Wundergläubigkeit geschwunden war, erklärten die von den Eltern allzu
heiß ersehnte Geburt in Jesi bei Ancona für Schwindel und behaupteten, der so-
genannte Kaisersohn sei das Kind eines Fleischers und einer Magd. Selbst der Sene-
schall des Reiches, der Einblick in alle Geschehnisse besessen hat, erbot sich
wenige Jahre später, die Unrechtmäßigkeit dieses vermeintlichen Kaisersohnes
durch Zeugen und Eideshelfer beschwören zu lassen."
8 Neuer Pitaval, Bd. 26 der ersten Serie, S. 89 und 90.
4 Die aristokratische Abstammung fehlte der Gräfin, die mitangeklagt war und
freigesprochen wurde. Sie war aus reichem, aber bürgerlichem Hause. Sie kommt
daher weit weniger gut weg. Sie hat "eine unbedeutende Physiognomie, aus der
nichts zu lesen als der Ausdruck anscheinender tiefer Gleichgültigkeit. Die Stumpf-
nase gab dem Gesicht sogar einen gemeinen Anstrich." Ebenda, S. 89.
Der falsche "feine Mann" 41
Heft 2, S.23. Hamburg 1927. - In der llias tritt diese Wertskala bereits hervor.
Dem zürnenden Achilles werden acht Mädchen gegeben: die schöne Briseis und
sieben Weiber, "kundig der Arbeit" (XIX, 245).
42 Das FehlbiId von Gehirn und Drüsen
Kleinsten wohl. Wir danken ihm, indem wir seine Fehler nicht beachten.
Wenn schon Theater täuscht, wenn eine kurze Traumwelt, die der
Heiratsschwindler vorspielt, ein Konto wert ist, wie müssen uns Kulissen
solcher Eigenschaften prellen, die dunkle und verborgene Triebe dicht
bedecken. In unserem Denken sitzt die stille Despotie der Emotionen;
und unser Urteil beugt sich seinem herrischen Gebot.
Wie der Priester vor göttlichem Zorn, der Fliegeroffizier vor dem
Landesfeinde, so beschützt uns der Polizeibeamte vor dem Gegner, der
unserem Leben und unserem Eigentum nachstellt. Man zieht ihn in den
Kreis der Dankgefühle 1 ein. Es entsteht ein Idealbild des Mannes, der
Ruhe und Ordnung bewacht, besonders ausgeprägt in England, wo eine
lange Kontinuität der sozialen und politischen Entwicklung die Tradition
nicht gestört und den Aufbau nicht erschüttert hat. Die Folge ist der
Sonderschutz, den die Geschworenen und die Begnadigungsinstanzen
dem Polizisten zuteil werden lassen. Wer auf den Schutzmann schießt,
der schießt auf England.
Auch Deutschland sieht im Schutzmann potenzierte Nützlichkeit
und möchte ihn vollkommen sehen, wobei es leicht den alten und bewähr-
tenPolizisten und manchen unerprobtenNeuankömmlingdurcheinander-
wirft. Auch Presseleute unterliegen diesem emotionellen Vorurteil:
Anfang April 1959 wurde der Berliner Wachtmeister der Bereitschafts-
polizei von der 13. Großen Strafkammer zu fünfeinhalb Jahren Zucht-
haus wegen zweier Sittlichkeitsverbrechen verurteilt.
Der Berichterstatter 2 entwarf ein glühendes Bild des Angeklagten,
wenn er an ihn zurückdachte. "Er sieht aus, als wäre in ihm der schöne
Jüngling Narzissus von den pompejanischen Wandgemälden herab-
gestiegen. Sein schmales, ebenmäßiges Gesicht zeigt leidensvolle Melan-
cholie und wird umkränzt von einer makellos gewellten, aschblonden
Damenfrisur." Das Gericht ließ sich weniger von dem Jüngling, der
vom Vesuv nach Moabit herabgestiegen war, hinreißen. Er war aber
kurz vorher dem Idealbild eines Ordnungshüters, eines 28jährigen
Polizeioberwachtmeisters, der seine Stieftochter getötet hatte, nach-
gejagt. Die Urteilsgründe führten aus 3 :
1 Es ist menschlich begreiflich und auch im großen ganzen nützlich, daß wir
allen Helfern erkenntlich sind. Im Mordfall Putlitz (Berlin 1855) sagte der bekannte
Berliner Polizeidirektor Stieber als Zeuge aus: '"Putlitz sei zuerst sehr verstockt
gewesen und habe frech geleugnet. Man griff daher zu einem mehrfach mit Erfolg
angewandten Verfahren. Man ließ dem Angeklagten einen Polizeiagenten in die
Zelle geben; es war zwar, wie das auch vorkommt, ein bereits mehrfach bestrafter
Mann, der aber, erklärte der Zeuge, volles Vertrauen verdiente, wie er dies vielfach
bewiesen. Einen solchen Polizeiagenten zu nennen, sei gegen die Staatsraison. Aber
der Angeklagte Putlitz habe ihm im Gefängnis ein volles Bekenntnis der Tat ab-
gelegt." Neuer Pitaval, Bd. XXVI, S. 290.
2 Tagesspiegel vom 3. April 1959. 3 Ebenda, Bericht vom 27. März 1959.
Der falsche "feine" Mann 43
"Bei der Strafbemessung ging das Gericht davon aus, daß der wahrheitsliebende
und sühnebereite Angeklagte eine Tat vollbracht habe, die ihm wesensfremd sei.
Strafverschärfend - er erhielt zwölf Jahre Zuchthaus - wurde bewertet, daß
G., obwohl er ein zur Ausdauer und Härte gegen sich selbst erzogener Polizist ge·
wesen sei, nicht das aus sich gemacht habe, was ihm möglich gewesen wäre."
Ebenso einleuchtend wie der Einbruch eines Musterpolizeibeamten
in die objektive Prüfung - interessanterweise diesmal als Straf.
verschärfungsgrund - ist der gleiche psychologische Verzerrungs.
vorgang, demselben Objekt gegenüber, beim Verbrecher. Denn auch
der Kriminelle kann sich der emotionell bedingten Umfärbung nicht
erwehren. Beweisend ist eine Beobachtung, die mit der Überzeugungs.
kraft eines Experiments zu uns spricht:
Ein Mann, wegen Mordes verurteilt, war nach 19 Jahren freigelassen
worden 1. Er hatte in der Haft Zeichentalent gezeigt. Freunde empfahlen
ihn an einen Verlag, der sich auch Proben für das Kinderbuch "Ein
Schneepflug wollte nach dem Süden wandern" geben ließ. Doch war
man mit der Leistung nicht zufrieden. Es war zuviel "Protest" in ihnen.
Schutzleute sahen nicht wie Menschen aus. Sie glichen Monstren, hatten
dicke Bäuche. Die Zähne waren übermäßig lang. Sie sahen alle grob
und grimmig, bösartig. aggressiv aus. - Es war Reflex des jahrelangen
Hasses; die beiden Bilder waren von Gefühlen schiefgebogen 2. Die
Wirklichkeit lag in der Mitte irgendwo versteckt.
e) Es gibt Verehrungsbilder, die das unbefangene Urteil völlig auf
die Seite drängen und an die Mängel Angebeteter nicht glauben wollen,
obgleich das Wort Idol ursprünglich Trugbild heißt, ein Götzenbild,
dem man zu seinem eigenen Schaden dient. Von jeher gab die Mensch·
heit sich begeistert allen Illusionen hin, die das Theater uns vermittelt
von schönen, großen und vollkommenen Menschen, selbst von voll.
kommen übermenschlich großen Bösewichtern. Schon das Format an
sich, das alle Maße übersteigt, erschüttert und erzeugt geheime Lust.
Der junge SCHILLER hat dieser Neigung unserer Psyche, sich Dimensionen
hinzugeben, einen beinahe naiven Ausdruck gegeben, obschon darin
intuitive Weisheit steckt. "Es ist schimpflich, eine volle Börse zu leeren, es
ist frech, eine Million zu veruntreuen - aber es ist namenlos groß, eine
Krone zu stehlen! Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde 3 ."
1 BOWEN, CROWELL: They went wrorl{], S. 176. New York 1955.
2 Die Verlegerin riet dem alten Zuchthäusler, er solle erst einmal einen Schutz·
mann nach dem Leben zeichnen, vielleicht sogar den einen oder den andern kennen·
lernen. Ich fürchte, daß der Sträfling mehr Erfahrung hatte. - Wir zeichnen alle
Bilder nach dem Leben, doch wird es immer unser Leben sein. Die Kräfte, die sie
prägen, können nie die gleichen sein.
3 SCHILLER: Verschwörurl{] des Fiesco, IH,2. In die gleiche Kerbe schlägt das
von CÄSAR (nach CICERO: De oft. H, 82) oft gebrauchte Wort aus den Phönizierinnen
des EURIPIDES (524 ff.): "Soll Recht gebrochen werden, sei's ein Königsthron,
um das man's bricht. Sonst sei es heilig Dir!"
44 Das Fehlbild von Gehirn und Drusen
Die Reverenz, die wir vor dem Fetisch der Größe l empfinden, stößt
mit der moralischen Wertung zusammen, um viel zu oft den Sieg
davonzutragen. Schon unsere Vorliebe für ellenlange Diener, einstmals
für überlange Flügelmänner oder Regimenter ist Ausdruck einer inneren
Qualität, die der physischen Quantität hat weichen müssen, das essentiell
Vortreffliche dem Kolossalen, von dem wir wissen, daß es in der Tier-
welt ausgestorben ist. Die Vorweltriesen, wenn es solchen Auswuchs je ge-
geben hat, sind schon aus Nahrungsgründen aus der Welt verschwunden.
Ein Rest der alten Auffassung hat sich in der Anbetung bloßer
körperlicher Equipierung fortgeerbt, die manchmal unser Urteil irre-
führt. Verdacht kann den bekannten Sportler schwer erreichen. Kein
Verteidiger wird versäumen, auf das gewichtige Gegenindiz der hohen
körperlichen Leistung hinzuweisen, wenn solche Größen vor Gericht
stehen. Der Chemiker Molineux konnte unmöglich Gift verabreicht
haben, weil er im Barrenturnen anerkannter Champion war 2 • Dabei
bewegen wir uns hier auf zwei verschiedenen Ebenen der Bewertung, die
miteinander nichts zu tun haben, wie parallele Linien sich in der Unend-
lichkeit verlieren. Sie haben beide ihren ganz bestimmten Standort.
Die Regeln der Gesellschaft gehen vor 3 , trotz stärkster Muskeln, schnell-
ster Beine. Die Masse aber leistet gern Verzicht, wenn wir die gleiche
Forderung wie an alle, auch an ihren Liebling stellen.
Es war ein unerhörtes Wagnis, als der große Gangster Rothstein es
unternahm, das Endspiel im Baseball 1919 zu "bestimmen". Dadurch,
daß er den Spielern 100000 Dollars zahlte, konnte er, in sicherer Kennt-
nis des Ausgangs, durch überall placierte Wetten ungeheure Summen an
sich reißen. Auf die Liebe zum Sport und seine Helden hat der Biograph
Rothsteins, hingewiesen: "Für Rothstein wie für Millionen anderer
stand Baseball auf gleicher Höhe wie Mutterliebe und Achtung für die
Fahne. Es war etwas, was niemand anzurühren wagen durfte. Es war
der große Sport Amerikas, und seine Spieler gehörten als Volkshelden
der Zeitgeschichte an 4 ." - Ein Mann, der an die Ehre dieses Sports zu
rühren sich erkühnte, war ein Judas 5 • Der Schwindler, der den großen
Sportsmann mimt, gelangt mit vollen Segeln an sein Ziel 6 •
Besonders Boxer haben eine gläubige Gemeinde. Der weltberühmte
Boxer Carter ("Kid Carter") hatte am Neujahrsmorgen einen Kellner
1 Über die psychologischen Hintergrunde des Respektes vor "hoher" Abkunft
habe ich in meinem Betrug, S. 125, Erwägungen angestellt.
2 ÜROUSE, RussEL: Murder won't out, S.123. New York 1932.
3 "Unter den weltbekannten Sportgrößen gab es mehrere Homosexuelle." KLIM-
liEB, RunOLF: Die Homosexualität, S.126. Hamburg 1958.
'KATSCHER, LEo: The big bankroll. Life and times of Arnold Rothstein, S. 146.
New York 1959.
5 Im englischen Text steht Benedikt Arnold, der Verräter aus dem Unabhängig-
keitskrieg. 6 Siehe den Fall in meinem Betrug, S. 97.
Der falsche "feine" Mann 45
im Streit erschossen. Zur gleichen Zeit kam Meldung an die Polizei, ein
ungewöhnlich schönes Mädchen mit wohlgepflegten manikürten Händen
sei hinter einem Kirchhof tot gefunden worden. Leichte Verletzungen
waren an Nase, Stirn und Hals zu erblicken. Man hatte sie noch nachts
zusammen mit dem Boxer gehen sehen. Der Arzt, die Polizei, die Eltern
selbst und alle Sportliebhaber waren davon überzeugt, daß Carter nicht
in Frage käme. Die Untersuchung wurde eingestellt. Wegen des Tot-
schlags erfolgte Verurteilung. Kaum war das Urteil verkündet, da bat
Carter um das Wort. Der Richter, voller Ungeduld, gab die Erlaubnis.
Mit einem Lächeln sprach der große Boxer: "Ich habe Mildred Donavan
getötet; sie war nur eine von den vielen, die ich ums Leben brachte.
Nun, was sagt Ihr jetzt! 1" Der Ruhm des alten Kämpfers hatte sein
Bild vergoldet und der Wirklichkeit entfremdet. Mit unserem Urteil
hatte das Gefühl gespielt.
Mit gleichem Glanze wie die Boxer, Fußball- oder Tennisspieler ist das
Kinovolk umgeben. Kaum eine Schwindlermaske ist beliebter als die
eines Filmdirektors, der nach Talenten sucht und eine Laufbahn zu
vergeben hat. In dem Zeitalter der Demokratie ist der Bewunderungs-
trieb, der sonst von Fürsten und Fürstinnen absorbiert wurde und leer-
laufen müßte, auf Substitute abgerutscht. Wie Potentaten einstmals,
können Kinogrößen "do no wrong," obschon sie unsere Duldung reich-
lich strapazieren. Nur ein Verteidiger wie Jerry Giesler, dem sich die
Dessous von Hollywood eröffnet haben, würde die Kriminalgeschichte
dieser Filmzentrale schreiben können. Ganz selten rafft sich das Publi-
kum zu deutlicher Verurteilung auf, wie bei jenem 300 Pfund schweren,
weithin belachten Komiker Roscoe "Fatty" Arbuckle, der 1921 in den
Tod eines Mädchens verwickelt war, und den die ob ihrer Anbetung be-
schämten Theaterbesucher mit Eiern und Tomaten vom Bildschirm ver-
trieben. Sonst senkt sich Schweigen über das Geschehen, wird immer
wieder mit dem Tatort unsorgfältig umgegangen 2, vermodern diese
Fälle in der Leichenkammer allzu vieler ungeklärter Fälle 3 • Erst wenn
die Schönheitskönigin, die wir bejubelt haben, Nerzmäntel oder Perlen-
ketten stiehlt', beschwert der kurze Zweifel unsere Seele, ob wir uns oft
nicht selber hintergehen.
1 MAxRIS, JOHN N.: Boston murders, S. 106. New York 1948.
2 RICE, ÜRAIG: Los Angeles murders, S.97. New York 1947. - Der bekannte
Filmdirektor William Desmond Taylor - in Filmkreisen wird fast immer nur der
Revolver benutzt - wurde erschossen aufgefunden. Kurz nach dem Tode war das
Haus von unbekannten Personen durchsucht worden, die alle Briefe mitgenommen
hatten.
3 Siehe den rätselllaften Tod des berühmten "Superman" George Reeves am
15. Juni 1959.
4. Ende des Jahres 1959 wurde Hanni Ehrenstrasser, Miß Europa 1958, von einem
Londoner Gericht zu zwei Jahren Gefängnis wegen Ladendiebstahls verurteilt.
46 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Zweifel übrig läßt 1 . Formal ist jetzt der Vorwurf abgewaschen, doch
wenn der Freigesprochene sich das Leben nimmt, sind die Bedenken leise
wieder da. Nur wenn die Gruppe allzu grob belastet wird, kehrt sie
sich wütend um und nimmt als erste an dem Täter Rache 2 • Ihn abzu-
stoßen, laut und ohne Gnade zu verdammen, dient jetzt dem Besten der
bedrängten Gruppe.
Hinter der einschläfernden Wirkung der guten Kleidung steht der
Glaube, daß reiche Leute saturiert, nicht aggressiv, ja gern bereit sind,
von ihrem Überflusse abzugeben. Die Alten kannten zwar die Macht des
Goldes, doch fehlte ihnen unsere unbedingte Achtung. Goldregen war
der Freier, der in die festen Mauern eindrang, wo Danae verschlossen war.
HORAz 3 sah in den Schätzen nur den Machtgewinn, nicht die Genüsse,
die wir heute hinter ihnen suchen:
"Gold schreitet mitten durch die Reihen der Trabanten,
Durchbricht die Felsenmauern noch gewaltiger
Als Blitzes Schleuderwurf ... "
Die großen Schwindler lehren uns die Anfangsgründe des Geldrespekts
und seiner Zauberwirkung. Sie haben eine vielverschlungene Technik
des Gefallens. Anziehend zu erscheinen ist nicht schwer, wenn man das
Opfer Macht und Reichtum wittern läßt, als Ölmagnat aus Oklahoma 4,
als Multimillionärin, deren Mittel unversiegbar sind 5, als Scheich
Abdullah von Kuweit, als Gold- und Diamantenmacher 6 • Der eine
kleidet sich wie ein Bankier, der andere schreitet nach dem Einbruch
langsam durch die aufgeregte Menge, weil keiner hinter seiner Würde
und dem Waschbärpelz den Mann vermutet, der eben einen Kriminal-
beamten erschossen hat 7. Die feine Kluft 8, der Pelz ist Alibi, an dem
sie nicht zu zweifeln wagen. In jeder Panik steigt das unbewußte Leben
an die Oberfläche.
Noch eine andere Lehre geben uns die Schwindler: die Schutzfunk-
tion der Frömmigkeit. "Yellow Kid Weil" zieht des Sonntags gestreifte
Hosen und Gehrock an und fährt mit seinen Opfern, reichen älteren
1 Fall des Dr. Loomis, der von der Anklage des Mordes freigesprochen wurde und
sich ein Jahr später vergiftete. HAMER, ALVIN C.: Detroit murders, S.61ff. New
York 1948.
2 Beispiele sind die abgelehnten Gnadenakte im Falle des Pfarrers Richeson
(SMITH, E. H.: Poison mysteries, S. 280ff. New York 1927) und des Polizei-
leutnants Becker (MINOT: Murder will out, S.88. New York 1928), obschon sich
Gründe hätten finden lassen.
3 HORAZ: Carm. In, 16.
4 MELVIN PURVIS von der FBI sagt, daß der Gangster Miller genau wie ein
Ölmagnat aussah (American agent, S.39. Garden City 1938).
5 V. CLERIC in Schweiz. Z. für Strafrecht, S. 20, 1926.
6 WIEGLER, PAUL: Schicksale und Verbrechen, S.373. Berlin 1935.
andre Beispiel an die Seite stellt!. Wir zögern, den Tyrannenmörder, wie
die Römer, gutzuheißen, je mehr der Umkreis der Vernichtungskräfte
sich erweitert.
Dem Strafgesetze sind die edlen Räuber unbekannt. Stets hat man
sie dem Henker überliefert oder mit Hilfe hoher Belohnung durch einen
Kumpan erschießen lassen, wie Jesse James. Was uns nachdenklich
macht, ist die Divergenz von Recht und Volksanschauung. Wie kann
das beinahe unzerstörbare Bild des edlen Räubers zustande kommen,
weiterleben, ja von Jahr zu Jahr an Glanz gewinnen? Sie haben meist
getötet, Häuser angezündet, in ihre Banden Elemente aufgenommen,
in denen keine Spur von Mitleid oder Edelmut zu finden war. Und doch
hat das, was man das Volk nennt, diese Kriminellen an sein Herz ge-
nommen, bewundert, hochgeachtet, ja geliebt, vielleicht mehr in Er-
innerung des Vergangenen als zuzeiten ihres Lebens.
Da ist zuerst eine soziologische Erwägung. Es sieht so aus, als ob
diese Rebellen gegen die gesellschaftliche Ordnung mit versteckten und
mühsam verhohlenen Gefühlen der Massen in Einklang standen 2, zumal
sie alle in Perioden großer Krisen und Gegensätze lebten. Ohne den Frei-
heitsdrang der Schweizer hätte es nicht sein können, daß Wilhelm Tell
vom politischen Mörder zum Nationalheld vorwärtsschritt. Sonst wäre
es nicht möglich gewesen, daß die revolutionären Stoßgruppen von Paris,
wie die Jakobiner, niemals rasenderen Beifall klatschten, als wenn vom
Dolch des Brutus Rede war. Es ist gewiß: Wenn Lieder von Robin
Hood, vom Schinderhannes und vom Hiesl neu gesungen werden, liegt
Spannung in der Luft.
Es gibt auch "Helden", die ein schweres Verbrechen begehen und
über deren Tat Gesetz und Volk, Gegenwart und Nachwelt eine ganz
verschiedene Meinung haben. Wir brauchen nur an Sand zu denken,
der Kotzebue erstach - das Kind Kotzebues, das zusah, glaubte, der
fremde Mann wolle mit seinem Vater "Krieg spielen" - und am 20. Mai
1820 bei Mannheim hingerich tet wurde 3. Sand, ein sozialer Schizophrener 4
paranoider Färbung, wie es scheint, verteidigte sich mit den Worten:
1 Noch im 19. Jahrhundert wird die Erschießung des Staatsanwalts Key durch
den Abgeordneten Sickles in Washington unter der Überschrift: "Ein Mord, der
zur Berühmtheit führte", dargestellt. BIERSTADT, E. H.: Enter murderers, S. 149ff.
Garden City 1934.
2 Bemerkenswert ist die Sympathie der Volkssage für die Bauern, die unerbitt-
liche Zwingherren ums Leben brachten. FERR, HANS: Das Recht in den Sagen der
Schweiz, S. 94ff., Frauenfeld 1955. Im Grunde ist auch Tell ein solcher Typ.
3 Neuer Pitaval, Bd. I, S.I-123.
4 Ebenda, S.96. Auf einer Flugschrift, die beim Wartburgfest verteilt wurde,
hatte Sand als Urfeinde des deutschen Volkstums erklärt: 1. die Römer, 2. Mönche·
rei, 3. Soldaten. Ebenda, S.28. "Jedwedem Unreinen, Unehrlichen, Schlechten
soll der Einzelne auf eigene Faust nach seiner hohen Freiheit zum offenen Kampf
entgegentreten. "
v. Hentig, Das Verbrechen I 4
50 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
"Er habe die Tat für das Höchste des Vaterlandes getan, dessen sich trotz der
vielen Anklagen niemand angenommen habe. Insofern glaube er sich gerechtfertigt
und straflos, weil er getan, was andere Gerichte nicht getan und in den Zeitverhält-
nissen nicht hätten tun können ... Es sei ein Zustand der äußersten Not gewesen.
Da die Regierungen nicht helfen konnten (aus politischen Rücksichten vor Rußland),
sei es die heilige Prucht jedes einzelnen geworden, der Willen und Kraft gehabt hat,
sich in den Kampf einzulassen."
Nach der Hinrichtung wurde das Blut von Umstehenden, die von
allen Seiten auf das Gerüst eindrangen, mit Taschentüchern aufgefangen,
der Richtstuhl zerschlagen und die Stücke als Andenken verteilt. "Der
Platz, mit Vergißmeinnicht besät, wurde zum Wallfahrtsort." Morgens
fand man oft Blumen und Trauerweiden darauf gestreut. Das Volk
habe - so schrieben die Freunde - die Wiese, worauf die Hinrichtung
erfolgte, Sands Himmelfahrtswiese genannt. Auch Gedichte und Balladen
fehlten nicht 1. Seine Haare und Bildnisse wurden überall verkauft. "Ein
damals berühmter Landschaftsmaler gefiel sich, Wiesenlandschaften
mit zerstörten gotischen Domen zu malen, vor deren letztem Altar ein
Jüngling mit langem Haar und deutschem Rocke seinen Dolch nieder-
legte." Es war nicht so, daß ihm das Volk vergeben hatte; es stellte sich
bewußt auf seine Seite. Es sah in ihm den "guten" Mörder, den Übeltäter
mit der allgemeinen Wohltat. Die Soziologen sollten diesen Umschlag der
Bewertung untersuchen, denn diese Spaltung des Bewußtseins zwischen
Recht und Volksempfindung 2 erschüttert auch die stärkste Staats-
macht, rächt sich an beiden Lagern, die nicht mehr zusammenfinden.
Hinter dem edlen Räuber steht geschichtliche Erinnerung. Schlecht
war der Mensch, der heimlich vorging und ein Tabu verletzte, wenn es
auf ürten, Zeiten und Personen lag. Er war "unehrlich 3," scheute, ehrte
das Gebot der Götter nicht. Raub war das leichtere Verbrechen 4, es
entehrte den Mann sowenig wie der Totschlag. "Wer in offener Fehde
Mann gegen Mann siegte, durfte Beute nehmen 5." In alten Zeiten war
1Neuer Pitaval, Bd. I, S. 119.
2BURCKHARDT (Die Kultur der Renaissance in Italien, S.321. Köln o. D.)
schreibt von der moralischen Verwirrung jener Zeit: "Schranken gibt es nur
wenige. Der Gegenwirkung des illegitimen, auf Gewalt gegründeten Staates lnit
seiner Polizei fühlt sich jedermann, auch das gemeine Volk innerlich entwachsen,
und an die Gerechtigkeit der Justiz glaubt man allgemein nicht mehr. Bei einer
Mordtat ist, bevor man irgend die näheren Umstände kennt, die Sympathie un-
willkürlich auf seiten des Mörders. Ein männliches, stolzes Auftreten vor und wäh-
rend der Hinrichtung erregt vollends "solche Bewunderung, daß die Erzähler
darob leicht vergessen, warum der Betreffende verurteilt war."
3 KLUGE-GÖTZE: Etymalag. Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 158. Bin. 1951.
, HIS, R.: Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Oaralina, S.158. Mchn.1928.
5 GRIMM, JACOB: Deutsche Rechtsaltertümer, Bd.lI, S.192. Leipzig 1922. -
In den Schweizer Landrechten aus dem 13. Jahrhundert "blickt noch an einigen
Stellen hervor, daß ein Raub in rechtmäßig angesagter Fehde nicht straffällig
war." OSENBRUEGGEN, E.: Studien zur deutschen und schweizerischen Rechts-
geschichte, S. 203. Basel 1881.
Der edle Räuber 51
der Freie stets bewaffnet. Heute sind die meisten Opfer wehrlos. Ein
Teil der alten Wertung hat sich noch im Volk erhalten, das arm war und
von Räubern nichts zu fürchten hatte.
Fast alle edlen Räuber sind von irgendeinem Trauma angekränkelt.
Ein Unrecht wird von ihnen seelisch nicht bewältigt, das sie erlitten
haben. Michael Kohlhaas ist nach KLEISTS Meinung mit "der gebrech-
lichen Einrichtung der Welt" vertraut. Er sieht die Welt in "ungeheurer
Unordnung". Er stellt seine Seele auf "große Dinge" ein. Auf ihn, den
Rechtsgefühlkranken, machen Luthers matte Worte keinen Eindruck 1. In
einer Umkehrung der Lehre von der Generalprävention glaubt Kohlhaas:
" ... mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen, sich die Genugtuung für
erlittene Kränkung und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen."
Er wird zum Räuber und zum Mörder, er - nach KLEIST "der recht-
schaffenste und zugleich entsetzlichste Mensch" seiner Zeit. Auf dem
Schafott noch lehnt er jedwede Gnade ab 2, weil er im Recht sei 3 • Die
Mitwelt ließ ihn durch den Henker töten. Die Nachwelt sieht in ihm den
edlen Räuber, je mehr sie sich von ihm und seiner Zeit entfernt.
Sieben Jahre, ehe der Sturm auf die Bastille erfolgte, am 13. Januar
1782, "sah man an den Straßenecken und Brunnenröhren zu Mannheim
die Theaterzettel, die die erste Aufführung der Räuber ankündigten 4 ."
Während dem damaligen bürgerlichen Publikum die Tendenz des
Stückes als "eine glückliche Wahrheit" erschien, die Adelskreise sich
dagegen "sehr absprechend verhielten", das viele Schießen die Damen
"ziemlich bange machte", trat das Stück, das der Pädagoge die "un-
geheuerliche Ausgeburt eines jugendlichen Feuerkopfes" nennt 5 , seinen
Siegeszug durch Deutschland an. SCHILLER selbst hatte auf Wunsch
Dalbergs ein "Avertissement" beigefügt, überschrieben "Der Verfasser
an das Publikum." Er wies auf die Moral des kühnen Stückes hin. Es
hat die Tragik des edlen Räubers zum Inhalt, und SCHILLER will den
Zweiflern klarmachen, daß auch die Jugend aus dem Drama lernen kann 6 :
1 "Was Ihr mit Recht ausfueren mueget, das thut Ihr wol, Koendt Ihr das
Recht nicht erlangen, so ist kein ander Radt da denn Vnrecht leiden ... Vnd
lasst euch eweren schaden von Gott zugefueget sein ... " - Der ganze Brief ist ab-
gedruckt in: Neuer Pitaval, Bd. IX, S. 36 und 37. Leipzig 1874.
2 Er sollte statt gerädert, zum Tode durch das Schwert begnadigt werden.
3 "Festen Schrittes und oft den Spruch wiederholend: ,Nie sah ich einen Ge-
rechten verlassen!' betrat er das Schafott und erlitt, jedenfalls in der Überzeugung,
daß ihm Unrecht geschehen sei, fest und standhaft den martervollen Tod durch das
Rad." Neuer Pitaval, Bd. IX, S.59.
4 WYCHGRAM, J.: Schiller, S.70. Bielefeld 1901. 5 Ebenda, S.73.
6 Wiedergabe des Originaldrucks aus dem Schillerhause zu Marbach bei WYCH-
GRAM, S.70. Die Ausführungen standen auf der Rückseite des Theaterzettels
(Sonntag, den 13. Jänner 1782). Das Stück war schon 1781 im Druck erschienen.
Die Vorrede zur zweiten Auflage vermerkt, daß der Druck verbessert und diejenigen
Zweideutigkeiten vermieden seien, "die dem feineren Theil des Publikums auffallend
4*
52 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
"Die Räuber", schreibt er, "das Gemählde einer verirrten grosen Sele - aus-
gerüstet mit allen Gaben zum Fürtrefflichen, und mit allen Gaben - verloren-
zügelloses Feuer und schlechte Kameradschaft verdarben sein Herz, rissen ihn von
Laster zu Laster, bis er zulezt an der Spize einer Mordbrennerbande stand,
Greul auf Greul häufte, von Abgrund zu Abgrund stürzte, in alle Tiefen der Ver-
zweiflung' doch erhaben und ehrwürdig, gros und majestätisch im Unglück und
durch Unglück gebessert, rückgeführt zum Fürtrefflichen. Einen solchen Mann
wird man im Räuber Moor beweinen und hassen, verabscheuen und lieben ... "
Karl Moor ist ein Graf, Kosinsky ist ein böhmischer Edelmann, beide
sind durch eine Liebeskrise in die Welt der Gewalt und der Zerstörung
geworfen. Karl Moor konnte nicht, wie er es geträumt hatte, "ein großer
stattlicher, gepriesener Mann werden, ein Abgott seines Volkes 1." Jetzt,
wo die Welt der braven Menschen ihn ausgestoßen hat, wird er zum
Führer der Entgleisten, zum Räuberhauptmann, der seine innere Ver-
zweiflung an jeder Form menschlicher Schlechtigkeit austoben will, und
wie ein Gott der Rache große Bösewichter züchtigt.
Von Robin Hood zu Schinderhannes läuft eine lange Kette solcher
edler Räuber. Wenn sie nicht wirklich Armen und Beladenen halfen,
wie jener Meisterdieb, so erleichterten sie ihnen die Last der inneren
Not, den Ingrimm des Schweigens und des Duldens, indem sie ihren
Feinden Schmerz und Schaden zufügten, in dieser Welt noch, wo es
jeder sah und hörte und seine Freude daran haben mochte. Beim Hies1 2
läßt sich dieser Vorgang gut verfolgen. Die Teile Bayerns, die er 10 Jahre
lang unsicher machte, die Gegend um den Iller und den Lech, "waren
damals äußerst reich an Wild, das den Saaten der Landleute unermeß-
lichen Schaden zufügte". Wenn er das Wild zusammenschoß, so war das
Volk dem Hiesl dankbar. Es schützte ihn, wo es auch immer konnte.
In einem Volkslied, das zu Lebzeiten des Hiesl entstand, wird dieses
Verhältnis von Räuber und ländlicher Bevölkerung deutlich ausgeführt 3 :
"Und kommt die letzte Stunde,
Und schließ ich d' Augen zu;
Soldaten, Scherg'n und Jäger,
Erst dann habt Ihr a Ruh.
Da wird sichs Wild vermehren
Und springen kreuzwohlauf,
Und d' Bauern werd'n oft rufen:
,Geh, Hiesl, steh noch auf!'"
In ganz der gleichen Weise stellten sich die Farmer von Missouri um
Jesse James und seine Bande. Er raubte meistens Eisenbahnen aus.
Beim Bau der Bahnen waren große Schwindeleien vorgekommen, die
gewesen waren." Dalberg hatte verlangt, daß das Treiben der Räuber aus dem
18. Jahrhundert um 300 Jahre zurückverlegt würde. Es spielt nunmehr zur Zeit
des Kaisers Maximilian. WYCHGRAM, S. 69.
1 SCHILLER: Die Räuber IV, 1.
2 Neuer Pitaval, Bd. VI, S. 337ff. 3 Ebenda, S. 374.
Der edle Räuber 53
viele Farmer um den letzten Pfennig brachten. Das Geld war weg, doch
Jesse James half, den bitteren Schmerz zu lindern. Tausend Geschichten
seines Mutes werden heute noch erzählt 1.
Auf der weiblichen Seite hat die Phantasie des Volkes, haben aus ihr
schöpfend unsere großen Dichter das Bild der herzensguten Hure sich
zurechtgedacht. Damit sie Macht zum Wohltun habe, muß sie in
höchsten Kreisen sich bewegen. Sie wurde nur durch Not und unver-
dientes Unglück zur Mätresse. Wenn sie auch sündigt, tut sie es in Samt
und Seide, mildert den harten Sinn des Fürsten, illegitim und trotzdem
jeder Zoll, in jeder Regung wahre Landesmutter. Sie liebt das Volk,
fühlt seine Schmerzen, erbettelt durch ihr Liebesopfer Gnade vom
Tyrannen. Warum ist sie so gut und hat doch ihre Frauenehre hin-
gegeben? Sie ist ja selbst aus fürstlichem Geblüte, trotz ihres Falles
hoch gesinnt, weil hochgeboren, und ihre Schuld dient allgemeiner
Wohlfahrt. Ein solcher Zwiespalt macht das Urteil duldsam, und der
Instinkt des Dichters griff nach der Erregung widersprechender Ge-
fühle.
Es ist kein Wunder, daß SCHILLER neben dem edlen Räuber auch die
unglückliche, herzensgute "Verlorene" am Hofe eines rücksichtslosen
kleinen Fürsten geschildert hat. Kabale 2 und Liebe wirft nicht so sehr
"den Hermelin über die Schande 3 " hin, Lady Milford, die Favoritin,
sagt es viel eindringlicher "mit Sanftmut und Hoheit": Der Vater,
ungerechterweise als Opfer der Maria Stuart hingerichtet, die Mutter
am gleichen Tage vom Kummer dahingerafft, die Waise "weint" sechs
Jahre in Hamburg "hin", sie will sich in die EIbe stürzen. Da stößt sie
auf den Fürsten: "Mein Herz brannte nach Herzen. - Ich sank an das
seinige."
Am Hofe erlebt sie die "Wollust der GroBen". Sie stellt sich "zwischen
das Lamm und den Tiger", entreißt ihm in einer Stunde der Leiden-
schaft den Eid, daß "diese abscheuliche Opferung" aufzuhören habe.
Und während "flatterhafte Pariserinnen mit dem furchtbaren Zepter
tändeln" und "das Volk unter ihren Launen blutet" nimmt die wohl-
tätige Sünderin "dem Tyrannen die Zügel ab, der wollüstig in ihrer
Umarmung erschlaffte'." Wie Moor, der Räuber, kehrt auch Lady Mil-
ford reuig in die Welt der Konventionen zurück, aus der sie herkam.
Das moralische Gleichgewicht ist wieder hergestellt; die Zeit der Schuld
war einzig eine Episode, in der die innerliche Herzensgüte mit der
Abscheu vor der Sünde rang!.
1 Lady Miliord rühmt sich, "die verlorene Sache der Unschuld oft noch mit einer
buhlerischen Träne gerettet zu haben." MAUl'ASSANT hat in einer Novelle, MAETER-
LINeR in dem Stück Manna Vanna sich mit der gleichen Problematik abgegeben.
2 Über betrogene Mädchen, die noch in der Verhandlung darauf bestanden,
sie glaubten an die Versprechungen und die guten Absichten des Betrügers,
s. PADOWETZ, MARIANNE: Der Heirat88chwindler, S. 61. Wien 1954. Diese Verrannt-
Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern 55
1 S.85ff.
2 HERSETZKI,A. v.:
Berühmte Kriminalprozes8e der Gegenwart, S. 415. Wien o. D.
3Der Kassationshof hatte die Feststellung getroffen, mit nahezu "apodiktischer
Sicherheit" sei die Steiner als Täterin anzusehen; er hatte aber statt Mordes nur
Totschlag angenommen. Ebenda, S. 426.
'Ich habe früher einmal (Probleme de8 Frei8pruchs beim Morde, S.4O) die
Behauptung eines britischen Anklagevertreters erwähnt, man könne den Uhren
eines Bordells nicht trauen: "Moralisohe Regelwidrigkeit hatte für ihn die mechani-
schen Verrichtungen in Mitleidenschaft gezogen." Hier findet sich weiteres Material
zur Glaubwürdigkeit der Prostituierten. Sie wird, je nach der Beweisrichtung,
einmal vom Anwalt, dann wieder vom Staatsanwalt behauptet oder bestritten.
Nur die genaue Untersuchung des Einzelfalles kann entscheiden.
Die Myopie der Spannung zwischen den Geschlechtern 57
ist der Fall des Arztes Adams, der von der Anklage des Mordes frei-
gesprochen wurde, während wegen einer Reihe kleinerer, für einen Arzt
unethischer Delikte in einem späteren Verfahren Verurteilung erfolgte.
Er war besonders bei der Weiblichkeit beliebt. Die alten Damen in
den Badeorten sind eine ganz besondere Opferklasse.
Auf einen männlichen Berichterstatter wirkte der Hochstapler und
Schwiegermuttermörder Karl Hau "wie ein junger Theologe". "Man
konnte ihn auch für einen Schauspieler halten 1." Der gleiche Autor wird
bei einem jungen Mörder dithyrambisch: "Der jugendliche Raubmörder,
der, die Hände auf den Rücken gebunden, auf die Anklagebank geführt
wurde, machte nicht nur durch seine prächtige Figur und sein hübsches
Gesicht, sondern auch durch seine feinen Manieren, die Vornehmheit
seines Auftretens und durch sein angenehmes Organ den denkbar
günstigsten Eindruck. Es war schwer, den Gedanken zu fassen, daß
dieser Mensch ein kaltblütiger Raubmörder war 2." Casper hat vor
langen Jahren einmal bemerkt: "Meine Mörder sahen alle aus wie
hübsche Mädchen 3."
Es würde eine Untersuchung wert sein, zu ergründen, welche Ver-
brechertypen Männer - und Männer von großer Gerichtserfahrung -
als schön und damit auch halbwegs als schuldlos anzusprechen ver·
mochten. Wir möchten gern wissen, ob es manchen andern Männern,
Kriminalbeamten, Staatsanwälten, Richtern ähnlich geht und ob sich
dadurch ein kollektives Fehlbild des Verbrechers bilden könnte. Der
Wiener Massenmörder Hugo Schenk, Sohn eines Richters, Heirats-
schwindler und Verfasser lyrischer Gedichte, saß, wie berichtet wird, so
vor den Richtern 4 :
"Sein schönes Gesicht, seine stattliche Figur, die intelligenten Gesichtszüge,
die weltmännischen Manieren, das sonore Organ und der schmachtende Aufschlag
seiner schwärmerischen Augen ließen es wohl begreiflich erscheinen, daß er auf
Frauenherzen einen geradezu überwältigenden Eindruck machte."
Die Henkershand zerstörte diese Täuschung der Vollkommenheit.
Auf Sorge und dem Beistand für die jüngere, dem Lebenskampf nicht
gewachsene Generation beruht der Fortbestand der Rasse. So mag es
zu erklären sein, daß Jugend und Unschuld in den Köpfen vieler Men-
schen eins sind. Auch dieser Glaube führt in manchen Fällen irre. Das
14jährige Mädchen Constance Kent hatte dem kleinen Stiefbruder die
Kehle abgeschnitten und die Leiche in einen Gartenabort gestopft. Sie
hatte, wie wir lesen, eine frische Gesichtsfarbe und eine Fülle goldbraunen
Haares. Sie nahmen alle, die sie sahen, für das Mädchen ein. Als ein
Auch eine Reaktion ermüdet physisch, die wir durch andere, unsere
Angestellten, führen lassen. Rein seelisch ist und bleibt genußreich,
daß wir die Kräfte eines Überlegenen spürten und die Sieger blieben.
Wir sprechen von dem Rechtsgefühl, einem Gut der Allgemeinheit, für
das wir kämpfend in die Schranken traten. Nur unsere Furcht ist
plötzlich aufgebraust. Wir haben den Beweis geliefert, daß man auch
uns zu fürchten hat und daß wir, die Gesellschaft, wenn wir wollen,
immer noch die Stärkeren sind. Dann schwingt das Rechtsgefühl zurück
in seine Ruhelage und sammelt blutdrucksenkend neue Kraft.
Es wäre leicht, voranzukommen, wenn Zahlen nichts als eine Größen-
frage wären. Die Ziffern aber, wenn sie auf- und niederschwanken, geben
nur gefärbte Fakten wieder, verbergen, daß sie das Ergebnis selektiver
Siebung sind. Das Bild ist ausgesucht in einem ganz bestimmten Sinne,
von dem wir jetzt des längeren zu handeln haben. Es ist nicht nur der
"Schlaf der Welt", an den man niemals rühren sollte, es ist die zage
Furcht, die schöne Sicherheit des Irrtums zu verlieren.
Einmal steht der multiple Mörder!, der hundertfache Betrüger 2 in
den Bänden der Kriminalstatistik. Breit zieht sich seine Spur, wie
immer neue Wunden, durch das Leben seiner Opfer. Wir finden bei der
Messung des Verbrechenumfangs nur einen einzigen Verbrecher. Wir
sind erstaunt, wenn wir von nie entdeckten Kriminellen 3 hören, die
nie bestraft, aus irgendeinem Grunde sich "häuteten" und zu sozialen
Menschen wurden.
Ein Überblick über die strafbaren Handlungen, die Stunde um Stunde
begangen werden, aber unbekannt bleiben, führt uns zuerst in die Ge-
biete des Versuchs. Weil die Ausführung nicht zustande kommt, der
Anfang häufig unsichtbar bleibt oder der bloße Anfang kein Rechtsgut
äußerlich verletzt und der im Gesetz festgelegte Erfolg ausbleibt, macht
1 Die Biographen haben die Zahl der kindlichen Opfer Gilles de Rais', der 1440
hingerichtet wurde, auf viele Hundert geschätzt. HowE, CLIFF: Scoundrels, fiends
and human monsters, S. 18. New York 1958. Er gestand "six-vingt" im Jahr.
2 Betrüger sind wegen 250 Einzeltaten in Fortsetzungszusammenhang ver-
urteilt worden. Siehe meinen Betrug, S. 36.
3 Eine solche rätselhafte Gestalt, in keiner Statistik je verzeichnet, war der
Kriminelle, von dem JOHN BARTLETT MARTINS Berufsverbrecher (M y life in crime,
S.77, New York 1953) verwundert und ungläubig spricht. Es war ein 35jähriger
Berufsdieb, aus unbekannten Gründen von den Kameraden "Dutch" genannt.
Er stahl, wo immer er auch hinkam. Dazu war er ein Killer. "Ihm machte es nicht
viel mehr aus, einen Menschen zu erschießen als er einen Hund streicheln würde."
" ... Ich weiß, daß dieser Kerl bereit war, für 50 Dollars zu töten." Dieser Mann
hatte, bevor er plötzlich aus unerklärten Gründen zu stehlen aufhörte, niemals einen
Tag gesessen. "Heute würde er nicht einmal mehr einen Zehner aufheben, der auf
dem Pflaster läge." Er hat geheiratet und leitet ein legitimes Geschäft. - Vielleicht
ist die Frage erlaubt, was aus diesem Menschen geworden wäre, wenn er eine längere
Strafe hätte verbüßen müssen. So seltsam sind die Wege der Vorsehung.
70 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
1 Siehe den Fall in Alvin. HARLow, A. F.: Murders not quite 8olved, S.91ff.
New York 1938. Die Schwester identifizierte die falsche Leiche nach den Ohr-
ringen, dem Gebiß und der Körperlänge. - Im August 1929 wurde in Paris eine
zerstückelte Frauenleiche aus der Seine gezogen. Nach amtlicher Mitteilung wurden
in den letzten zwei Monaten 5000 Frauen vermißt. Von diesen Anzeigen wurden
300 zur engeren Wahl gestellt, deren Alter und sonstige Kennzeichen ungefähr
auf die aufgefundenen Körperreste zutrafen. 14 dieser vermißten Frauen trugen
eine Narbe am rechten Oberschenkel wie die Tote. 5 Frauen wurden gefunden,
9 blieben vermißt. Wenn dieses Verhältnis auf die Gesamtzahl der Vermißten an-
gelegt wird, wurden im Verlauf des ganzen Jahres Hunderte der vermißten Frauen
niemals wieder eruiert. Siehe Monatsschrift, Bd. XXI, S. 244.
2 In dem von BORCHARD, EDWIN M.: Convicting the innocent, S. 144ff. (New
York 1933) dargestellten Fall identifizierte man den vermißten Negerpfarrer an
einem Ring der linken Hand der stark verwesten Negerleiche. Ein Amtsbruder,
mit dem er Streit gehabt hatte, erhielt 18 Jahre Zuchthaus. Der Tote kam nach
einiger Zeit zurück; er hatte eine kleine Summe unterschlagen und hatte sich ver·
steckt. Wer aber war der andere Neger? Er trug den gleichen billigen Ring wie die
Leiche. Man kann ihn heute noch, vom Finger abgeschnitten, in Virginia sehen,
wo das Gericht ihn mahnend aufbewahrt. Auch dieser Fall war einmal "auf-
geklärt" und abgeschlossen worden.
3 MEYER, S. 43. - Ich würde niemals eine zahlenmäßige Schätzung wagen
und habe es auch nicht getan, als ich Diebstahl, Einbruch und Raub und ihr
Dunkelfeld studierte (8. 18ft).
80 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
führte Riesenvorräte an Morphium mit sich, die für die ganze Flotte be-
stimmt waren. Daß er in kleinen Mengen jeden Tag Rauschgift ein-
steckte, wurde nicht bemerkt 1. Ein anderer Krimineller nahm aus Läden
immer nur geringe Quantitäten. Er paßte auf, daß optisch Lücken nicht
entstanden. Nach seiner Ansicht war es für den aufmerksamen Dieb
möglich, in einem Jahr den Laden zwei- bis dreimal durchzukämmen 2,
ohne daß der Besitzer den Verlust herausfand. In ganz der gleichen Weise
fing schon vor 200 Jahren der berühmte Mörder Desrues seine Laufbahn
an. Er war einer Witwe angelegentlich empfohlen worden, bei der er als
Gehilfe eintrat. Drei Jahre unermüdlichen und allseitig anerkannten
Dienstes benutzte er dazu, sich ein Vermögen zuzuschanzen, indes die
Witwe dem Ruin entgegenging. Er ging in so geschickter Weise vor,
daß nicht der kleinste Argwohn auf ihn fieP.
Sehr viele Opfer merken nicht, daß sie betrogen wurden, und wieder
andere, ganz besonders alte Leute, Zerstreute, Unordentliche und Be-
trunkene werden bestohlen, haben später keine Ahnung, wie Geld und
andere Wertgegenstände eigentlich abhanden kamen. Verlieren ist für
Eitle nicht so kränkend wie Übertölpelung durch den dreisten Dieb,
der Schwächen drastisch uns vor Augen führt, indem er uns für sie be-
zahlen läßt.
d) Zeiten der Rechtlosigkeit, des staatlichen Zusammenbruchs 4 und
der extremen Not heben zurückgedämmte Reaktionsbereitschaft an das
Licht, und wir erschrecken, wenn das neue Bild der alten Menschen-
kenntnis hohnspricht und staubige Winkel unserer Seele sich dem Blick
auftun. Der Alkohol 5 und andere Gifte enthüllen mit dem Hemmungs-
wegfall morsche Punkte unseres seelischen Gefüges; sie werden nicht ge-
schaffen, waren vorher da. Machtrausch und Siegestaumel über äußere
oder innere Feinde sind eine Schädlichkeit, die nichts hinzuträgt, nur
lockeren Firnis von der Oberfläche kratzt. Jetzt hat die Technik und
der Ersatz von Beinen, Pferden, Kutschen durch andere Formen der
Mechanik der Bewegung den Enthüllungsvorgang fortgesetzt. Wir lassen
plötzlich ungewohnte Wesenszüge sehen. Sie waren offensichtlich schon
bei einem großen Teil der Menschen angelegt und vorbereitet. Jetzt
1 MARTIN: My life in crime, S. 24.
2 CLARK, CHARLES L., and E. E. EUBANK: Lookstep and corridor, S.81. Cin-
cinnati 1927.
3 Geschichten aus dem Neuen Pitaval, Bd. V, S.238, 239. Meersburg 1929.
4 Siehe meine Kriminalität des Zusammenbruchs. Schweiz. Zeitschr. für
Strafrecht, Bd. LXII, 8. 337ff. 1947.
5 Ein Alkoholiker, der mit seiner tüchtigen Frau lange Jahre in glücklicher Ehe
gelebt hatte, schreibt: "Manchmal ging ich lange im Kontor nachdenkend auf und
ab ... dann war ich böse, wie ich es nannte, nicht etwa speziell, nicht einmal auf
Magda (seine Frau), sondern ich war einfach böse, wie eben ein Mensch schlecht und
böse sein kann, von Urgrund her." FALLADA,HANS: Der Trinker, 8.40. Hamb.1959.
v. Hentig, Das Verbrechen I 6
82 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
steigen sie, von einem Zauberstab erweckt, nach oben. Mit einem Male
sind sie da, die bisher unbekannten Kriminellen. Aus allen Schichten
strömen sie herbei und überraschen uns durch ihre Zahl und durch den
Mangel an Verhüllung.
In Westdeutschland wurden im Jahre 1956 auf 10000 Kraftfahrzeuge
gezählt im Vergleich zu den Vereinigten Staaten 1 :
West· I USA
deutschland I
Tote . . 25 6
Verletzte 714 215
2. Nicht Angezeigte
a) Wo die Grenze zwischen dem nicht entdeckten und dem nicht an-
gezeigten Verbrechen läuft, läßt sich nicht immer mit der Genauigkeit
feststellen, die wissenschaftlich zu wünschen wäre. Solche zwielichtigen
Zwischenzonen sind wohl am sichersten der Nichtanzeige zuzurechnen.
Zuweilen ist die Tat bekannt, der Täter aber toP, verschollen oder
völlig unbekannt. Anzeigen gegen "Unbekannt" sind zugelassen. Ent-
scheidend ist der "Verdacht einer strafbaren Handlung" (§ 160 StPO).
Es soll nur eine Klage vorbereitet werden, die je nach faktischen und
rechtlichen Gegebenheiten begründet oder nicht begründet ist. Statistisch
ist das Resultat dasselbe, ob ein Verbrechen nicht entdeckt oder ob der
Täter unbekannt bleibt. Die Auskunft, die wir von den Züfern haben
wollen, wird nicht erteilt. In mundo mag die schwerste Störung vor-
gefallen sein, in actis, denen unser Urteil folgt, ist nichts geschehen.
Die Nichtanzeige führt in Mängel, Tiefen, Widersprüche unseres
Gruppenlebens, die wir in diesem Umfang nicht erwarten würden. Wir
stoßen auf die Kriminalität der Geisteskranken. Sie ist kaum meßbar,
wird mit gutem Grunde nicht ans Licht gezogen 2. Umfragen werden
Forschern nur mit Bedenken oder gar nicht beantwortet 3. Was hier
geschieht, auch in der besten Anstalt schwerlich völlig zu verhindern ist,
bleibt aus der Kriminalstatistik weg; es wäre freilich bei dem Freispruch
in der Strafverhandlung auch nicht anders. Bedeutsam wird die Ein-
weisungspraxis. Ich habe in meinen Studien über die Kriminalität des
Negers nachgewiesen, daß zum mindesten ein Teil der hohen Kriminalität
der schwarzen Rasse auf Unterlassung im Bereich der Irrenpflege zurück-
zuführen ist.
Der Tatsache ist bisher kaum Beachtung geschenkt worden, daß
ganze Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet der Anzeige ein Sonder-
regime genießen, während andere soziale Schichten die volle Wucht
staatlicher Mißbilligung erfahren, womit sich auch das Größenbild hier
freundlicher, dort weniger freundlich darstellt 4• Hinter allen, auch den
ehrlichsten Versuchen, Rechtsgleichheit herzustellen, blickt der mächtige
Schutz hindurch, den eine Interessengemeinschaft gewährt, Nomaden-
dasein ebenso wie Einzelgängerei versagt.
FORsBAcH, der die Straffälligkeit in Großbetrieben untersuchte, hat
sich die sehr berechtigte Frage gestellt, "ob es innerhalb des sozialen
1 Man wäre geneigt, die Angabe von KITTY HANSON (Daily News vom 26. Mai
1960) zu bezweifeln, daß auf Hart's Island bei New York seit dem Jahre 1869
500000 unbekannte Tote begraben worden sind (Bild dieses Platzes bei MARTEN,
EDWARD: The doetor look8 at murder, S.273. New York 1940). Doch stammt die
Angabe von der Anstaltsleitnng.
2 STIERLIN, HELM: Der gewalttätige Patient. Basel 1956. Es handelte sich nur
um Gewalttätigkeiten gegen Pflegepersonen.
3 Ebenda, S. 20. Von 164 Anfragen wurden nur 92, das sind 56,1 %, beantwortet.
496 untersuchte Korrigenden hatten 3285 Verurteilungen zu Haftstrafen er-
litten, ein 64jähriger Imbeziller 176, ein 60jähriger Psychopath 141. 96 Leute
hatten den gerichtlichen Verfolgungsapparat in 4088 Fällen in Anspruch genommen.
BRAUN, H.: Zur Soziologie der Arbeit8ooUBinBaB8en. Referiert in Monatsschrift,
Bd. XXIV, S. 758. 1933.
6*
84 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Mit Schwankungen ist, wenn wir bei diesem Beispiel bleiben wollen,
der Prozentsatz der Fälle angestiegen, in denen die Behörde aus irgend-
welchen Gründen Anzeige an die Staatsanwaltschaft unterließ 3 :
Prozentsatz unterlassener Strafanzeigen
bei Delikten des Personals der Oberpostdirektion Köln 1947-1954
1947 31,3
rn~ . 1~5
1949 . 30,9
1950 . 21,8
1951 . 31,2
1952 . 23,6
1953 . 52,0
1954 . 38,8
Unter den Gründen dieser Haltung, die die Zahlen der Kriminal-
statistik um eine nicht geringe Anzahl von Fällen beraubt, stehen Gering-
fügigkeit der Tat und Jugend des Täters obenan 4 • Bei diesem Verzicht
auf Strafverfolgung handelt es sich um einen erheblichen, von dieser
Möglichkeit betroffenen Personenkreis. Im Jahre 1955 waren es 1311332
Personen 5, zum großen Teile wieder Männer.
Hotels sind private Erwerbsunternehmen. Die Sicherheitsorgane
großer amerikanischer Hotels haben über ihre Erfahrungen und Grund-
1 COLLANS, DEV: I was a house detective, S. 81, 83, 88, 144. - Präventiv werden
Bilder und Tischlampen angeschafft, die zu groß für den normalen Koffer sind.
Wenn trotzdem Wäsche, Salzfässer oder Badematten mitgenommen werden, so
erscheinen diese Gegenstände ohne weitere Erörterung auf der Hotelrechnung.
Nach den Erfahrungen der Hoteldetektive wird im Herbst und Winter sehr viel
mehr "gemaust". Weibliche Gäste stehlen sehr viel mehr als Männer; vielleicht
beeinflußt sie die Atmosphäre reduzierten Risikos.
2 Siehe die Straflosigkeit eines kriminellen Lehrlings aus wohlliabendem Hause
im Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S. 191ff.
3 Die Kriminalität der Lehrlinge im Berichtsraum Bochum, S. 125. Bonner
Diss.1954.
4 Ebenda, S. 126. - ANToN BLEI (Die Kriminalität der Jungbergleute der Ruhr-
metropole Essen nach dem Zusammenbruch, S. 30. Bonner Diss. 1953) macht auf
die Psychologie des Opfers aufmerksam: "Der Industriearbeiter erledigt Vergehen,
die von seinem Kumpel begangen werden, mit diesem selbst und untereinander."
5 MEIER, OTTO: Dunkelziffer oder Dunkelfeld, S. 81. Bonner Diss. 1956.
Nicht Angezeigte 87
Der Betrüger arbeitet mit den Schwächen der Menschen, mit ihrer
Gewinngier, Eitelkeit, der Heiratssehnsucht alter Mädchen, der ein-
gebildeten Überlegenheit und Menschenkenntnis. Der Superschwindler
geht den reichen Leuten nach. Es ist behauptet worden, daß der Groß-
teil derer, die von Meisterbetrügern hochgenommen wurden, Geschäfts-
leute waren, weil alle ihre Grundinstinkte auf die Verführungskünste
der Betrüger reagieren, den Köder des Gewinnes, den sie bieten, und ihre
Edelsinn und Vornehmheit aus allen Poren von sich gebenden Persön-
lichkeiten. Alle die Menschen, die gerne spekulieren, ja selbst erfahrene
Bankiers erliegen erstaunlich leicht der psychologisch glänzend auf-
gebauten Schwindeltechnik 1 . Aus Gründen des geschäftlichen Prestiges,
dann wieder mit Rücksicht auf die soziale Stellung kann diesen aus-
gesuchten Opfern nichts an einer öffentlichen Verhandlung liegen, die
durch die Zeitungsspalten und den Klatsch des Wohnorts gehen würde.
Die Heiratsschwindler 2, die wir kennen, sind nur die angezeigten
Typen, vielleicht noch solche, die ein dummes Ungefähr zur Strecke
brachte, mag sein ein Schritt der wütenden Verwandten, die selber nicht
vor Gericht erscheinen mußten. Der Schmerz des Geldverlustes steht
bei dem betrogenen Mädchen hinter ihrer tiefen Beschämung zurück und
hindert sie, mit dem Betruge ihre eigene Schwachheit anzuzeigen 3. Es
gibt auch Schwindler für die eine oder andere Liebesnacht. Es ist ein
Trick, sich im Hotelbuch als ein Ehepaar einzutragen oder nur ein
Zimmer zu nehmen. Sie zwingen die bestohlene oder angeborgte Frau,
den Schaden wortlos einzustecken 4.
Wir kennen nur die Meinung der Betrüger, die sich mit großen
Schwindeleien abgegeben haben. Erfahrene Schwindler schätzen, daß
nicht mehr als 5-10% der Opfer sich an die Polizei wenden 5. Die
amerikanische Polizei nimmt an, daß 90 von 100, die betrogen wurden,
von einer Anzeige absehen 6 ; diese Zahlen wollen nicht zu den Schät-
zungen stimmen, die KURT MEYER sich zu eigen macht 7; das Dunkel-
feid besteht nicht nur aus den Delikten, die zur Kenntnis der Polizei
kamen und dann nicht aufgeklärt werden konnten. Immer neue Be-
trugsarten wachsen aus dem Boden und passen sich der Technisierung
unseres Lebens, wechselnden Interessen, jeder Mode unseres Denkens an.
Sie bleiben trotz gespielter Hilfsbereitschaft Wolfsbegier im Schafspelz 8 •
Von selten angezeigten Schwindelmethoden führt WEHNER eine ganze
1 RECKEN, H. M. JOSEF, S. 18. Bonner Diss. 1957.
2 PADOWETZ, MARIANNE: Der Heiratsschwindler, S.72. Wien 1954.
3 MAURER, DAVID W.: The big con, S.106ff. New York 1949.
4 MAURER, S. 110. - Siehe das Kapitel: Das stumme Opfer in meinem Betrug
S.204ff.
5 MAURER, DAVID W.: The big con, S. 132.
6 eISE, P. S. VAN: Fighting the underworld, S.108. Boston 1936.
7 MEYER, S. 48ff. 8 WEHNER, S. 76.
90 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
1 WEHNER, S. 74ff.
2 BLACK, JACK: Youcan't win, S. 69. New York 1926.
a lRWIN, WILL: Oonfessions of a con man, S. 13. New York 1909. - Über die
Atmosphäre der höheren Falschspieler siehe FRIEDLÄNDER, Bd. VII, S. 244ff.
(Klub der Harmlosen) und Bd. X, S.102ff. (Stal1mannprozeß). "Weder der
Falschspieler noch der Betrogene wünschen Öffentlichkeit", sagt einer der er-
fahrensten Beamten von Scotland Yard (PERRIER, J. K.: Orook8 and crime, S. 28.
London 1928).
40 KATSCHER, LEo: The big banlcroll. The life and times of Arnold Rothstein.
S.138. NewYork 1959.
Nicht Angezeigte 91
der Staat nicht helfen kann und darf. Denn mehr noch als der Täter
steht der belastete Erpreßte vor Gericht. Erpresser ziehen, ohne daß
sie Strafe fürchten müssen, die Buße für verborgene Sünden ein 1.
Dagegen ist kein Kraut gewachsen, weil wichtige Prinzipien des Straf-
verfahrens auf dem Spiele stehen.
Bei den nichtangezeigten Eigentumsdelikten brauchen wir uns nicht
auf die Behauptungen der Täter zu stützen, bei denen stets die Möglich-
keit der Übertreibung besteht. Neben der bloßen Zahl der Straftaten
steht ihre wirtschaftliche Bedeutung, die Summe des Schadens und Un-
glücks, das angerichtet worden ist. Als ein großer Schwindler, "Yellow
Kid" Weil, 70 Jahre alt geworden war, machte er sich über den Spruch
lustig, daß Verbrechen sich nicht bezahlt mache. "Vielleicht", schreibt
cr 2 , "ist etwas dran. Mir aber hat es reichen Lohn gebracht ... Ich
hatte mit einigen der reichsten Männer des Landes zu tun. Sie hatten
eine Menge Geld, aber sie fielen auf meine Projekte herein, weil sie mehr
haben wollten... Die Opfer der Schwindler sind meistens wohlhabend.
Sie können es sich leisten, den Preis für die Lehre zu zahlen, die ihnen der
Schwindler erteilt."
Während viele ganz unentdeckt bleiben, läßt die späte Festnahme in
lange Serien von Delikten hineinblicken, die vorher jahrelang begangen
wurden. Im Juli 1958 wurde der 49jährige Schlachtermeister Roden
aus Düsseldorf verhaftet. Ihm konnten 252 Weidediebstähle nach-
gewiesen werden; er hatte, ein Luxusauto benutzend, 409 Rinder in
fast 5jähriger Diebstahlstätigkeit erbeutet 3. 12 Jahre lang zog der
Scheckfälscher, den SULLIVAN beschrieben hat4, kreuz und quer durch
die Vereinigten Staaten und machte eine Beute, die zwischen 500000
Dollars und einer Million lag. In der Kriminalstatistik ist nur ein Ver-
urteilter zu finden.
c) Die von der Kriminalstatistik gelieferten Zahlen der Körper-
verletzung sind durch die Wirkung des Antragsrechts verdunkelt und
sind von früheren Höhen abgesunken. Niemand wird behaupten wollen,
daß damit die Summe der körperlichen Mißhandlungen oder der Gesund-
heitsbeschädigungen wesentlich zurückgegangen ist. Hier war ein neuer
Paragraph der große Zaubermeister. Noch vor dem ersten Welt-
krieg stand die Körperverletzung an der Spitze aller strafbaren Hand-
lungen vor dem Diebstahl. Von 629374 Aburteilungen wegen Ver-
brechen und Vergehen gegen das Strafgesetzbuch entfielen 113683 auf
SMITH, EDWARD H.: FamoU8 poiSDn mysteries, S.I50 und 151. New York 1927.
1
WULFFEN: Psychologie des Verbrechens, Bd. II, S.94. Lichterfelde o.D.
2
3 BATAILLE, ALBERT: Oauses criminelles et mondaines de 1891, S. 1-61.
Paris 1892.
4 Ebenda, S. 13.
S Im Gegenteil zu FROSTS Schätzung von 680000 nennen BARNES und TEETERS
(New HorizDns in criminology, S. 48, NewYork 1947) eine Zahl, die zwischen 700000
und 2 Millionen liegt.
6 WENSLEY, F. P., S.278.
7 RYKERE,RAYMOND DE: Lafemme enprisonetdevant lamort, S.171. Lyon 1898.
Nicht Angezeigte 97
erhalten, die sie um ihre Rille baten. Ohne Angst zu verraten, erklärte
die Frau nach ihrer Verhaftung: "Wenn es Ihnen Spaß macht, alle die
Frauen hoppzunehmen, die bei mir durchgegangen sind, dann werden
eure Gefängnisse zu eng sein. Es sind ihrer 4000 und aus allen Ständen.
Das wird einen ordentlichen Skandal geben." Mit 1: 100 ist es also nicht
getan. Und das geschah vor beinahe 70 Jahren. Wir müssen auch die
beste alte Ansicht revidieren.
d) Das häufigste der ernsteren Sittlichkeitsdelikte ist die Kinder-
schändung. Sie war, solange die Reichsstatistik noch ungekürzt war, in
ununterbrochenem Anstieg begriffen. WESSEL 1 sieht in dieser Zunahme
"die Folge erhöhter Verfolgungsintensität der Polizei, die heute (1939),
durch die Bevölkerung stärker unterstützt, dem Sittlichkeitsverbrecher
energischer zu Leibe rückt." Gleich darauf erfahren wir, daß Taten
dadurch am häufigsten entdeckt wurden, daß Kinder sich den Eltern
oder Dritten offenbarten 2 • Es müssen andere tiefere Gründe im Spiel
sein, die verschärfte Auffassung der Rechtsprechung, die den Spielraum
des § 176 I, Abs. 3 StGB auf die Betrachtung des Geschlechtteils und
naturgetreue Abbildungen nackter Geschlechtsorgane ausdehnte, die
zunehmende Inveteration der Bevölkerung, vielleicht auch eine ver-
änderte Haltung der "viertelstarken" Kinder. Je schärfer die Anschau-
ung des Gesetzes geworden ist, um so größer ist die Gefahr, daß die
Eltern über leichtere Zudringlichkeiten hinwegsehen. Oft sind die
Täter Bekannte, Freunde, Mieter. Die Eltern wünschen, daß das Kind
nicht durch Vernehmungen leide, die unvermeidlicherweise den Eindruck
vertiefen müssen. Auch hat OTTO MEIER recht 3 , daß Angeklagte vor
Gericht sich durch Angriffe auf Kind und Eltern zu schützen suchen,
die manche Frage scheuen müssen. Die Hauptform der Befriedigung ist
Berührung und Betastung 4 • Zahllose dieser Vorgänge sind zweideutig,
könnten zur Not harmlos sein. Besonders Versuchshandlungen sind
schwer bestimmbar und kaum sicher abzugrenzen.
Beim Delikt der Kinderschändung 5 kennen, von einer zufälligen Beob-
achtung Dritter abgesehen, nur zwei Personen das Geschehnis: der
Täter und das Kind. Das Kind ist aber scheu und furchtbewegt, neu-
gierig, öfters lüstern, jeder Gelegenheit geneigt, die irgendwie Gewinn
und Vorteil bringt. Als das Verhalten von 1781 Kindern, die mißbraucht
worden waren, untersucht wurde, ergab sich dieses Bild kindlicher
Reaktionen:
Verhalten Zahl %
der Kinder
1BRANDENBURG, S. 74.
2"Die Tatsache, daß solche Täter monatelang, oft sogar jahrelang ihr Unwesen
treiben können, ohne daß von den Eltern der mißbrauchten Kinder oder von
sonstigen Personen eine Anzeige erstattet wird, zeigt, daß die Dunkelziffer hier
wieder riesiges Ausmaß haben muß." MEIER,OTTO, S. HO.
3 Ebenda, S. HO. MEIER führt folgenden Fall an; es handelt sich um Angaben
des Angeklagten, die im wesentlichen bestätigt wurden: "Seit dem 14. VI. 1953
habe ich mit keinem der Kinder Unzuchtshandlungen vorgenommen. Ich habe mich
nicht mehr mit ihnen eingelassen, obwohl sie fast täglich zu mir kamen und mich
dazu immer wieder aufforderten. Auch habe ich den beiden Mädchen nicht mehr
die Geldbeträge gegeben, weil sie zu oft zu mir kamen und Geld haben wollten.
Das konnte ich geschäftlich nicht mithalten." MEIER, S. 111: " ... Nach einer
weiteren glaubhaften Behauptung des Angeklagten war das eine der beiden Mäd-
chen nach seiner polizeilichen Vernehmung nochmals im Laden ... um sich Geld
abzuholen. Als der Angeklagte es hinauswarf, rief es ihm zu, es würde ihn ,richtig
einweichen'. "
4 Siehe die Zahlen bei WESSEL, S. 55.
5 An diese Fälle hat das Reichsgericht nicht gedacht, wenn es schon das Hin-
sehen nach dem entblößten Organ als Willensbeeinflussung und Duldung einer
unzüchtigen Handlung im Sinne des § 176 I, Ziff. 3, StGB, erklärte.
Nicht Angezeigte 99
an der Spitze, und gerade hier ist es der Vater, der so oft die Tat
verübt. An wohlgemeintem väterlichen Ratschlag fehlt es nicht!.
Was auch geschieht, es ist zu ihrem Besten.
Sowie Berührung und Betastung, ja Sehenlassen Tatbestandsmerk-
male eines Verbrechens werden, tritt das Problem der körperlichen Nähe
in den Vordergrund. Der Taschendieb oder der Zopfabschneider sucht
räumliche Enge auf; dem Kinde, selbst dem Täter, wird sie oftmals auf-
gedrängt. Am.ERT 2 hat auf die Wohnungsnot und das Flüchtlingselend
hingewiesen. In Mietskasernen ist der Keller, der Dachboden, der Abort
gemeinsam. Es ist typische Städtermeinung, wenn gesagt wird, daß die
sexuellen Reize in der Stadt stärker auf das Kind einstürmen als auf dem
Lande. Das Land mit der Fülle seiner offen ablaufenden Vorgänge,
seiner Armut an wechselnden Eindrücken, seinen massiven, stets im
Erotischen endenden Festen hält, glaube ich, stärkere Reize bereit als
Kinoplakate und die Verbrechenspalte der Zeitungen. Hier ist der Kuh-
stall, wo es warm und weich ist, und Nacht und auch der frühe Morgen
locken; die Scheune und der nahe Wald. Hier ist dem Manne, dem es
oft nicht möglich ist, sich einem anderen weiblichen Wesen zu nähern,
wenn die Frau infolge Krankheit, Alter oder überdruß versagen sollte,
freie Bahn gegeben. Treten Nähe, "Abwesenheit" der Frau und Alkohol-
genuß zusammen, vielleicht auch die ersten Anzeichen einer senilen
Veränderung, so kommt es leicht zu dem Verbrechen. Selbst die Be-
rührung durch die unverrückte Kleidung ist schon Kinderschändung,
obschon die Grenze zwischen bloßer Zärtlichkeit und wollüstiger Ab-
sicht verschwommen hin- und herläuft und Sinneslust des anderen aus der
bloßen Zärtlichkeit entstehen kann. Wir streicheln Hunde, Katzen auf
dem Rücken und am Halse, wir schlagen schönen Pferden klatschend auf
die Kruppe und sind von jeder "Wollust" fern. Wir sehen im familiären
Kreise das Ausbleiben jeder Liebkosung als bedenkliches Symptom an.
So ist die ganze Frage voller Schwierigkeiten, und auch die hohe Strafe
hat auch in ernsten Fällen berechtigte richterliche Zurückhaltung zur
Folge.
Wir haben es erlebt, wie sexuell ausgehungerte Soldaten und be-
freite Gefangene, Bewaffnete an Wehrlosen Massennotzucht begangen
haben 3 und wie es nur einer leichten Lockerung des Zwanges bedarf, die
1 Im Mordfall Malmström, der seine drei Töchter verführt hatte, machte ihnen
der Vater klar, sie müßten schon in jedem Fall "beizeiten lernen ... wie Frauen
schwanger werden, um nicht späterhin, wenn sie allein ins Leben losgelassen sein
würden, aus Unerfahrenheit übelgesinnten Menschen zum Opfer zu fallen." BJERRE,
ANDRES: Zur P8ychologie de8 Morde8, S. 131. Heidelberg 1925.
2 Erwähnt von WEHNER, S. 48.
3 BADER, KARL S.: Soziologie der deut8chen Nachkrieg8kriminalität, S. 63ff.
und 168ff.
7*
100 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
1 MARTIN, J. B.: Break down the walls, S. 86. New York 1954.
2 SCHULZ, GÜNTER: Die Notzucht. Täter, Opfer, Situationen, S. 106ff., Bonner
Diss.1956.
Nicht Angezeigte 101
der weiblichen Polizei zu tun haben, meldete sich kein einziges der zahl-
reichen Opfer 1.
Bei einer Notzucht müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Es
muß Gewalt angewendet oder eine schwere Drohung ausgesprochen und
der Beischlaf vollzogen sein. Der Druck auf den Willen muß zu Beginn
des sexuellen Aktes erfolgen oder wirksam sein; was hinterher geschieht,
zählt nicht, denn die Reflexe rollen automatisch ab und sagen ja, trotz
allen äußeren Widerstrebens, sowenig wie die spätere Verzeihung zählt.
Aber ob Anzeige erstattet wird, zählt. Hier kann das Opfer ein weit-
reichendes Begnadigungsrecht ausüben. Hier kann bezahlt, gedroht,
Mitleid erregt, einfach verziehen, in Fällen schwer gehemmter und ver-
klemmter Art sogar gedankt werden. Gar manche Frau hat sich ins
unverhoffte Glück hineingesträubt.
STUMPFL hält das Dunkelfeld bei der Notzucht im Vergleich zu
anderen Sittlichkeitsverbrechen für verhältnismäßig klein 2. Ein solcher
Irrtum drängt sich leicht dem Forscher auf, der mit Gefängnisakten und
Verurteilten arbeitet. Doch sie sind nur ein winziger Teil der kriminellen
Wirklichkeit.
MEYER 3 war geneigt, 1941 die Zahl der Homosexuellen im ganzen
Deutschen Reich auf 500000 anzusetzen, MAGNUS HIRSCHFELDs Be-
rechnung kam auf 1493298 Homosexuelle. Der Wolfenden-Report 4 be-
trachtet eine schwedische Untersuchung skeptisch, wonach ein Prozent
der männlichen Bevölkerung homosexuell sei, dagegen vier Prozent
mit homosexuellen wie heterosexuellen Impulsen ausgestattet wären.
MEYER will 20, vielleicht 50 homosexuelle Akte pro Homosexuellen in
Ansatz bringen 5. Auch diese Schätzung scheint mir in der Luft zu
hängen. In allen Ländern herrscht übereinstimmung, daß die Straf-
bestimmung praktisch illusorisch ist 6 • In Amerika werden Strichjungen
häufig wegen groben Unfugs in Strafe genommen 7 • Vergebens schlägt
man diese Fälle an dem richtigen Orte nach. Wer Zahlen sucht, wird sie
in einer früheren Studie finden 8 •
1 WEHNER, S.46. WEHNER fügt einsichtig hinzu: "Wenn schon Frauen, die
von einer ganzen Gruppe überwältigt und zum Geschlechtsverkehr gezwungen
werden, keine Anzeige erstatten, um wie viel weniger werden sie '" bereit sein, wenn
sie nur von einem Mann überwältigt worden sind."
2 Erwähnt von MEZGER, S. 53. 3 MEYER, S.27.
4Beport 0/ the Committee on homosexual o//enses and prostitution, S. 18.
London 1957.
5 MEYER, S. 27.
6 KARPMAN, BEN: The individual criminal, S.112 ohne Datum und Verlagsort;
EAST NORWOOD: Society and the criminal, S. 111. London 1949.
7 LICHTENSTEIN, PERRY M.: A doctor studies crime, S. 108 und 109. New
York 1934.
8 Die Kriminalität de8 homophilen Manne8, S. 15ff. Heidelberg 1960.
102 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
mitteln vom 10. Dezember 1929, in den Vereinigten Staaten gegen den
Harrison Anti-Narcotics-Act vom 1. März 1915. Hier wie beim Meineid
wird die Straftat innerhalb einer geschlossenen Gruppe begangen, deren
Umfang nicht bekannt ist, die aber in den Vereinigten Staaten auf
100000-4000000 Rauschgiftsüchtige geschätzt wird 1 • Nach dem
deutschen Opiumgesetz § IV (1) bedürfen Ärzte, Zahnärzte und Tier-
ärzte keines Bezugscheins zur Veräußerung oder Abgabe der narko-
tischen Stoffe und Zubereitungen. Schon hier beginnen Schwierigkeiten.
Erfahrene Psychiater haben aus ihnen kein Hehl gemacht: "Sehr
schwierig, ja fast unmöglich", schreibt lLBERG 2, "ist es heutzutage,
morphinistischen Ärzten das für sie besonders verhängnisvolle Medi-
kament unzugänglich zu machen, und leider besteht die Morphinisten-
gemeinde vielfach aus Ärzten, wie sie sich ja bekanntlich auch aus Apo-
thekern, Chemikern und unterem Sanitätspersonal zusammensetzt ...
Beklagenswerterweise haben ... morphinistische Ärzte die Gewohnheit,
ihren Patienten viel öfter Morphium zu verordnen als es nötig ist ...
Unter den Morphinistinnen befinden sich vielfach Frauen von Ärzten."
Die umfangreiche Kriminalität, die sich an Rauschgiftsucht anschließt
(Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Urkundenfälschung) wird von
den zahlreichen Vergehen gegen das Opiumgesetz in den Schatten ge-
stellt, die nur selten entdeckt werden 3. Der Süchtige ist gegen die
übliche Verdünnung des teuren Medikaments hilflos. Er kann nicht zur
Polizei gehen, wenn ihm statt des Morphiums oder Heroins heimlich eine
Kapsel mit Backpulver zugesteckt wurde.
Den zahllosen Fällen, in denen die Polizei nicht benachrichtigt wird,
ein Strafverfahren also nicht anlaufen kann, stehen falsche Anzeigen
gegenüber. An Stelle der Verdunkelung tritt die übermäßige Belichtung.
Notzuchtsanzeigen, ganz besonders bei versuchtem Eingriff, können
falsch sein, aus Haß und Rache, zur Verdeckung eigener Fehler unter-
nommen werden 4. Schwachsinnige Opfer finden öfters keinen Glauben 5,
in manchen Fällen nicht zu Unrecht. Hysterische erfinden oder über-
1 ELLIOTT, M.rnEL A.: Crime in modern 8OCiety, 8.173. New York 1952. -
Festnahmen wegen Verletzung des Harrison Acts betrugen 1950 8539 Fälle.
2ILBERG, GEORG: MO'l'pkiniBmUB und UrkundenfäLBckung, Monatsschrift,
Bd. IV, 8. 441.
3 Wie WEHNER (a. a. 0., S. 79) mitteilt, stahl ein morphiumsüchtiger Akademiker
einem Düsseldorfer Arzt Rezeptformulare. Ihm wurden 470 Rezeptfälschungen
nachgewiesen. - Amerikanische Beamte versahen die 38jährige Laura MilIer, eine
Prostituierte, mit Rauschgilten, damit sie ihre Tätigkeit als Polizeiagentin fort-
setzen konnte. - FRANK, JEROME, und BARBARA FRANK: Not guilty, 8.100.
New York: 1957.
, Fälle solcher wahrscheinlich unbegründeter Anzeigen finden sich bei SOHULZ,
8.112H.
5 Ebenda, S. 116.
104 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
anlaßt!, z.B. läßt er sich sein Auto stehlen, für das die Versicherungs-
gesellschaftZahlung leisten muß. Banküberfälle sind beschrieben worden,
die der Direktor arrangiert hatte, weil er Unterschlagungen verdecken
wollte 2. Privatdetektive, haben Diebstähle in Warenhäusern fingiert,
um ihre Stellung zu befestigen 3. Die Selbstanzeigen haben wir bereits
berührt. Sie schwellen manchmal zur Lawine an 4 •
Die "Klärung" hängt oft von medizinischen und anderen Vorfragen
ab, die für die Polizei maßgebend sind. Im Falle Beckert hielt man zu-
erst die Leiche des Ermordeten für die des Mörders. Der Irrtum hatte
anfangs nicht nur polizeiliche, sondern auch diplomatische Folgen 6:
"Es fand ein Staatsbegräbnis statt. Der Präsident der Republik - der Fall
spielte in Santiago, Chile - ließ sich durch einen Adjutanten vertreten. Der Mi-
nister des Äußeren kam persönlich, desgleichen das diplomatische Korps. Obschon
sich später herausstellte, daß der Geehrte ein Chilene war, war die deutsche Kolonie
durch zahlreiche Leidtragende vertreten. Als die Leiche zur letzten Ruhestätte
geleitet wurde, ergriffen der Minister und die chilenischen Beamten die Sargschnüre,
um den Toten zu ehren. Der deutsche Gesandte sprach einige Abschiedsworte.
Unter dem Klang eines deutschen Liedes senkte sich der Sarg in die Gruft'."
MEYER 6 und ROESNER 7 fassen die Phasen, die wir weiter aufteilen,
zur "Dunkelziffer" zusammen. Ich glaube, daß wir mit unserer Vier-
teilung tiefer in das Dunkel des Größenbildes eindringen können. Beim
unbekannten Kriminellen und bei den Tätern, die niemals angezeigt
wurden, sind wir auf Indizien 8, Einzeltatsachen und Schlußfolgerungen
angewiesen. Dagegen lichtet sich der Nebel, betreten wir den festen Boden
zahlenmäßiger Gegebenheiten, wenn einmal ein Delikt gemeldet worden
ist. Sein Schicksal läßt sich jetzt verfolgen, bis aus dem Angezeigten
der Angeklagte wird oder der Staat es ablehnt, ihn als Delinquenten an-
zusehen. Er scheidet aus. Er existiert nicht mehr, soweit es sich um
die Betrachtung des Verbrechens handelt. Wenn er in Wirklichkeit
auch hundertmal ein Krimineller war und ist, wir legen ihn mit allem
Drum und Dran zur Seite.
Noch ist das Wissen über Zahl und Typus der Delikte, die zwischen
Anzeige und Anklage auf der Strecke bleiben, lückenhaft. Noch wird
lIRWIN: American tramp and underground 8lang, S. 54. New York 1931.
2 COOPER, C. R.: Ten thouBand puhlic enemie8, S.43ff. Boston 1935.
3 The prOfe88ional thief, ed. Sutherland, S. 128. Chicago 1937.
4 "Dann kamen nach und nach 200 Personen, die sich bei der Polizei als der
gesuchte Mörder selbst stellten ... Vielen von ihnen mußte geradezu nachgewiesen
werden, daß sie als Mörder leider nicht in Frage kämen." STEINER-GAY, S. 31.
5 Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 111.
6 MEYER, S. 19.
7 Beitrag: Kriminal8tati8tik im Handwörterbuch der Kriminalwissenschaft,
Bd.lI, S.27ff. Berlin 1932. WEHNER kommt mit den drei Gruppen seiner Latenz
meiner Unterscheidung am nächsten (S. 14).
8 Die ernste wissenschaftliche Forschung sollte sich bemühen, Indizien mehr
und mehr in schlüssige Beweise zu verwandeln.
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 107
aus Gründen, die nicht überzeugen, von einer Durchsicht der Ermittlungs-
akten abgesehen. Doch gehen andere Studien an der Problematik nicht
vorbei. So nennt eine Untersuchung über § 183 StGB - Exhibitionismus
in 95 % der Fälle - diese Zahlen 1 :
EinBtellung der StaatsanwaUschaft im Vorverfahren 1946-1956
Verfahren insgesamt . . . . . 354 = 100%
Einstellung im Vorverfahren . . 253 = 71 %
In den 7 Jahren 1947-1953 schwankte die Zahl der eingestellten
Verlahren wegen Betrugs zwischen 60 und 69 % 2:
Betrugsverfahren, durch Staatsanwalt und Amtsanwalt eingestellt
1947 69,4%
1948 66,9%
1949 60,8%
1950 67,0%
1951 63,8%
Bedeutsam ist die Frage nach den Gründen der Einstellung:
Beendigungsgründe des Vorverfahrens 3
Auf 100 Einstellungen entfielen solche
gemäß § 170 H StPO . . . . . . 89,9%
gemäß § 153 I, H, 154 I, 30 JGG . 4,2%
wegen Tod, Geisteskrankheit. . . 0,6%
Beendigung anderer Art'. . . . . 6,0%
Aus den Registern der Staatsanwaltschaft konnte festgestellt werden 5,
daß auf 594 durchgeführte Strafverlahren gemäß § 176 I, Nr. 3 StGB
1258 Einstellungen kamen. Im Vorverlahren gingen also 67 % aller
angezeigten Fälle verloren. Sie blieben "ungeklärt"; hinzuzufügen wäre
noch die Zahl der freigesprochenen Personen.
In einer älteren Mitteilung 6 wurden von 263 gemeldeten unzüchtigen
Handlungen an Kindern unter 14 Jahren:
Keine Anklage erhoben . . . . . . . . . . . in 140 Fällen = 53,7%
Die Hauptverhandlung durchgeführt . . . . . in 33 Fällen = 12,5 %
Wurde das Verfahren noch nicht abgeschlossen? in 90 Fällen = 30,8%
1 BECK, WOLFGANG: Die Delikte des § 183 StGB im Landgerichtsbezirk ArnBberg,
S. 13. Bonner Diss. 1960; siehe auch die Bemerkung über 51 ausgeschiedene
Vorverfahren.
2 RECKEN, H. M. J OSEPH: Das Delikt des Betruges im Landgerichtsbezirk Krefeld
in den Jahren 1945-1951. Bonner Diss. 1957, S. 20.
3 Ebenda, S. 226.
'Zum Beispiel Abgabe an eine andere Behörde, Verbindung mit einer anderen
Sache, Zurücknahme des Strafantrags.
5 WESSEL, GERHARD: Das Delikt der Kinder8chiindung im Landgerichtsbezirk
Bonn, S. 78, Bonner Dias. 1939.
6 Monatsschrift, Bd. XXI, S. 691.
7 Diese Kategorie fehlt in der deutschen Polizeistatistik. Unmöglich kann die
Klärung aller in einem Jahr, besonders gegen Ende gemeldeten Fälle im gleichen
Jahr erfolgen, so daß eine Relation berechnet werden könnte.
108 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Die Verhaftung freilich klärt noch keinen Mord auf. WOLFGANG hat
den kleinen Rest der ungelösten Morde in Philadelphia untersucht 1.
Die ausbleibende Klärung umfaßt mehr Männer der weißen Rasse, mehr
Leute über 65 Jahren, mehr Fälle des Erschlagens, der Tötung auf der
Straße am Wochenende (Freitag bis Sonntag), zwischen 20 Uhr und
frühen Morgenstunden. Das Raubmotiv scheint bei den ungeklärten
Fällen vorzuherrschen, doch kennt man nur das Opfer, hat man nur
Indizien. Die Meinung, die man ausgesprochen hört, mit der Festnahme
habe die Polizei ihre Schuldigkeit getan, von nun an falle die Verant-
wortung dem Staatsanwalt und dem Gericht zu, ist schwerlich als sehr
glücklich anzusehen 2.
b) Die Besorgnis polizeilicher Organe, ihre Arbeit könne ohne hohe
Züfern der Aufklärung unterschätzt werden, ist kaum begründet; der
Kenner der Verfahrenspraxis weiß da-
von ein Lied zu singen. Statistisch Einstellungen im Bundesgebiet
1950-1953
müßten wir versuchen, eine Zwischen-
gruppe zu errichten. Sie sollte, zwischen Jahr Diebstahl Betrug
Anzeige und Anklage gelegen, die Ver-
1950 11,0 11,0
hältnisse umfassen, die auch bei aller- 1951 3,6 5,6
bester polizeilicher Arbeit einen Ausfall 1952 3,5 6,1
an "Ergebnissen" bedingen. Hierhin 1953 3,6 6,8
gehören Fälle, in denen das Verfahren
wegen GeisteskranklIeit eingestellt werden mußte 3 (§§ 204, 205 StPO)
oder durch ein Verfahrenshindernis (§ 206 StPO) zum Abbruch kam.
Zeitweise entwickeln sich Amnestien zu einem wichtigen Prozeßhindernis.
OTTO MEIER 4 hat die Einstellungen wegen Diebstahls und Betrugs auf
Grund des Straffreiheitsgesetzes vom 31. Dezember 1949 nebeneinander-
1 WOLFGANG, S.293.
2 Andererseits schob schon vor über 100 Jahren (Mordfall der Gräfin Görlitz
1850) die Anklagebehörde die Schuld fehlerhafter Einstellung der Polizei zu.
"Die noch in der Nacht an das Gericht gelangte Polizeianzeige", rief der Staats-
anwalt, "bemerkt, daß keine Spur eines Verbrechens vorliegt. Der Stadtgerichts-
inquirent konnte keine Ansicht gehört und gewonnen haben, sonst würde eine
genügendere Aufnahme des Tatbestandes stattgefunden haben ... Die Untersuchung
bot keinerlei Stütze und die oberflächliche subjektive Richtung mochte noch das
meiste dazu beigetragen haben, daß das Hofgericht selbst von einer Vervollständi-
gung der Untersuchung absah und jene bedauerliche Verfügung erließ, daß die
Untersuchung unter den obwaltenden Umständen auf sich zu beruhen habe und
der Beerdigung der Leiche stattzugeben sei. Hiermit war denn ein undurch-
dringlicher Schleier über die Sache geworfen." Neuer Pitaval, Bd. XVII, S. 175,
176. Leipzig 1860.
3 Schon vor 50 Jahren war ein Drittel aller in Frankfurt aufgenommenen Irren
und Epileptiker mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten. Monatsschrift, Bd. III,
S.176.
4 Ebenda, S. 69, 135.
HO Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
gestellt und dargetan, wie stark der Anteil der Einstellungen anstieg,
um dann im nächsten Jahre wieder auf normale Größe abzusinken
(s. Tabelle auf S. 109).
Die Amnestie bringt nicht nur Straferlaß, der zahlenmäßig zu ver-
folgen ist; in sehr viel größerem Umfang stellt sie auch Verfahren ein.
Durch Gesetz vom 7. August 1934 wurde im Deutschen Reich eine
Amnestie erlassen. Am 21. September 1934 gab die Justizpressestelle
in München bekannt: "Bis 16. September 1934 einschließlich wurden im
Bereich der Staatsanwaltschaft München I auf Grund des Straffreiheits-
gesetzes vom 7. August 1934
"in 9005 Fällen die rechtskräftig ergangenen Strafen erlassen, 10441 anhängige
Verfahren eingestellt."
In Preußen war das Verhältnis von Straferlaß und Einstellung ver-
schieden, erreichte aber eine eindrucksvolle Höhe 1 , denn es erfolgte
Straferlaß . . in 238832 Fällen
Einstellung . . in 175575 Fällen
Die Niederschlagung erfolgte ohne Rücksicht auf Erfolg oder Er-
gebnislosigkeit vorhergehender polizeilicher Tätigkeit. Trotzdem wird
es wissenschaftlich nicht erlaubt sein, diese im Stadium des Ermittlungs-
verfahrens abgebrochenen und eliminierten Fälle als "geklärt" im ge-
wöhnlichen Wortsinne zu bezeichnen. Ein Akt der Staatsgewalt hat
sie einfach aus dem Vorverfahren herausgenommen und für beendigt
erklärt, ganz ohne Rücksicht auf Befund und jene Grade des Verdachts,
die eine Verurteilung wahrscheinlicher als einen Freispruch erwarten
lassen 2. Erfolg ist nicht gegeben, auch kein Mißerfolg, nur ein formeller
Abschluß.
Die hier berührten Bedenken sind schon längst in anderen Ländern
amtlich vorgetragen worden. Die englische Kriminalstatistik von 1923
betonte: "Die Polizeistatistiken sind jetzt zuverlässiger als sie vordem
waren 3 ." Die Unklarheit und Dehnbarkeit eines Begriffes wie: "crimes
known to the police" wurde bemängelt. Diesem Standpunkt schloß
sich die amerikanische Kritik an 4, obschon die Befugnis der amerikani-
schen Polizei, strafbare Handlungen vor Gericht zu bringen oder nicht,
sehr viel weiter geht 5, auch der Staatsanwalt in noch weiterem Umfang
1 Amtlicher preußischer Pressedienst vom 28. September 1934. Man vergleiche
damit EXNERS Angaben in Monatsschrift, Bd. XXXIII, S. 103.
2 BELING, ERNST: Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S.356, Berlin 1928, in
Erläuterung des Wortes "zureichend in § 152 II StPO."
3 Erwähnt in Monatsschrift, Bd. XXI, S. 689.
'Siehe die Berechnungen von AROR MANDEL: Arrests and police court cases in
Detroit. Amer. J. of criminallaw and criminology 1920, S. 413---418 und ANDREW
A. BRUOE und TROMAS S. FrrZGERALD: A study of crime in the city of Memphis,
Tennessee, S. 27. Chicago 1928.
5 POUND, ROSOOE: Criminal Justice in Cleveland, S. 569. Cleveland 1922.
Die Angezeigten, aber niemals Angeklagten 111
1 TRESCKOW, v.: Von Fürsten und anderen Sterblichen, S. 73. Berlin 1922.
2 Diese Frage ist erörtert in meiner Studie: Probleme des Freispruchs beim Morde,
Tübingen 1957.
3 Stat. Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1957, S. 104.
8*
116 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
Docherty, Daft Jamie und Mary Paters on erhoben. Hare wurde Straf-
freiheit zugesagt, wenn er sich zum Kronzeugen hergeben wollte. Burke
wurde im Falle Docherty zum Tode verurteilt. Ein Bericht sagt: Der
Prozeß war beendet. Es war nicht notwendig, gegen Burke wegen der
beiden anderen Fälle zu verhandeln, da er im Falle Docherty verurteilt
war. "Jederman war überzeugt, daß er auch in den Fällen Daft Jamie und
Mary Paterson schuldig war l ." Der Kronzeuge brauchte nur zu diesem
einen Falle auszusagen und "es entfiel die Notwendigkeit, Dr. Knox
und andere Ärzte zu laden, die wahrscheinlich in die Transaktionen ver-
wickelt waren 2 ." Die Aburteilung war also zuerst auf drei Fälle be-
schränkt und wurde dann auf einen eingeengt. Das Geständnis gab
16 Morde zu. Von 16 Morden und 2 geständigen Mördern erreicht nur
eine Verurteilung die Kriminalstatistik.
Über den soziologischen Hintergrund hat BOLITHO 3 sich Gedanken
gemacht. Er hat daran erinnert, daß es um die Bewahrung von Tabus
ging, die Findigkeit der Polizei, die Integrität der Anatomen, die
wirkungsvolle Aufsicht der Gesellschaft 4 • Wenn es zur Vernehmung des
Dr. Knox gekommen wäre, dann hätte der Scharfrichter - das ist
BOLITHOS Formulierung - in den Hals der Gesellschaft schlagen müssen,
mit der er eins war. Gesetz und Ordnung, Autorität und Glaube waren
in Gefahr, und über allem hing im Jahre 1828 noch Furcht und Haß der
Greuel, die jenseits des Kanals begangen worden waren.
Die britische Gerichtspraxis hält heute noch an der Übung fest, bei
einer Mehrzahl von Morden eine einzige Straftat zu verhandeln. Am
19. Juni 1946 begeht der frühere Flieger Neville Heath einen Lustmord
an Frau Margery Gardner, am 3. Juli einen Sexualmord an Fräulein
Doreen Marshall. Allein der Gardner-Fall kam vor Gericht 5 . - John
Haigh wird wegen Mordes an Frau Durand-Deacon verhaftet. Er ge-
steht fünf weitere Morde mit der gleichen Tötungstechnik. Die Leichen
können nicht mehr aufgefunden werden; aber Haigh hat mit gefälschten
Vollmachten ihr Vermögen an sich gebracht. Verhandelt wird allein der
letzte Mord; hier findet sich in der Vernichtungssäure noch das Gebiß
1 HOWE, CLIFF, a. a. 0., S. 155.
2 HOWE, CLIFF, a. a. 0., S. 156.
3 BOLITHO, WILLIAM, a. a. 0., S. 59, 60.
4 Im Fall des 10fachen Lustmörders Dittrich waren es Fehler der Beurteilung
und der Entlassung aus der Irrenanstalt, die das Strafverlahren zum Stehen brach-
ten und seine Einweisung nach Waldbeim als geisteskrank verursachten. Pitaval der
Gegenwart, Bd. IV, S. 207. Er hatte aber von 1887 bis 1898 unablässig Gefängnis-
und Zuchthausstrafen, zumeist wegen Diebstahls erhalten. Als geisteskrank 1899
in Waldbeim eingewiesen, wurde er nach einem halben Jahr, "da er Krank1leits-
einsicht zeigte und sich gut führte", mit einer Geldunterstützung entlassen. Ebenda,
S.188.
5 CRITOHLEY, MAoDoNALD: Trial oi Neville Heath, S.12. Edinburgh 1951.
" Wegen des Mordes an Doreen Marshall wurde keine Anklage erhoben."
120 Das Fehlbild von Gehirn und Drüsen
der Toten und ein Gallenstein. Nach der Statistik wurde nur ein
Mord begangen 1.
Es ist wahr, der Täter kann nur einmal hingerichtet werden und dazu
reichen Verhandlung und Verurteilung 2 in einem Falle aus. Es ist aber
kriminalpolitisch und massenpsychologisch bedenklich, eine lange Serie
verdächtiger Tötungen gerichtlich ungeklärt zu lassen und damit pau-
schal auf die Seite zu legen, als Zubehör der einen gründlichen Behand-
lung, das uns von jetzt an nicht mehr interessiert. Es können andere
Täter hinter diesen Morden sich verbergen und sie erfordern gleiche
Sorgfalt, gleiche Gründlichkeit der Untersuchung. Neben dem Täter
können sich Mittäter, Anstifter und Teilnehmer, auch Begüustiger
strafbar gemacht haben. Sie dürfen nicht von der Massenhaftigkeit der
Verbrechen profitieren, die nur zum Teil ans Licht gezogen werden, weil
ja der Rest an der Bestrafung dieses einen Täters nichts mehr ändert.
Im Fall der Christa Lehmann (Worms 1952) wurden drei Vergiftungen
eingestanden, "einige weitere Todesfälle, die die Lehmann herbeigeführt
zu haben verdächtig war, blieben ungeklärt 3 ."
In der Urteils begründung gegen den multiplen Mörder Pleil, der in der
Haft Selbstmord beging, wurde zwar ein Teil der sonst begangenen
Morde erörtert, die Anklage war aber nur auf 11 Fälle gerichtet. Ver-
urteilung erfolgte wegen neunfachen Mordes. Das Urteil sagt:
"Die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage, die durch zwei Nachtrags-
anklagen ergänzt ist, enthält 11 verschiedene Tatkomplexe. Gemäß § 264 StPO
hatte das Schwurgericht nur diese Taten der Urteilsfindung zugrunde zu legen. In
dem nachfolgend wiedergegebenen Tatsachenverlauf ist jedoch zum Zweck einer
möglichst lückenlosen Darstellung der gesamten Tätigkeit des Angeklagten Pleil
während des von der Anklage umfaßten Zeitraums auch auf die Taten hingewiesen
worden, die nicht angeklagt sind, über die der Angeklagte Pleil aber in der Haupt-
verhandlung glaubhafte Angaben gemacht hat. Die Aufnahme dieser Hinweise im
Sachverhalt schien Itotwendig, um die innere Tatseite der dem Angeklagten Pleil
von der Anklage zur Last gelegten Verbrechen richtig beurteilen zu können. Es ist
bei den Hinweisen jeweils angemerkt, ob die von Pleil in der Hauptverhandlung
1 HOSKINS, PERCY: No hiding place, S. 97ff., London a. D. Die Leichen wurden
in einem Schwefelsäurebad zerstört. - Haigh trank das Blut der Opfer.
2 In der Giftmordserie der Krankenschwester Marie Jeanneret (Genf 1868), die
angeklagt war, von Ende Oktober 1867 bis Januar 1868 6 Personen "durch Gift
ermordet zu haben, 3 weitere ,angestiftet' zu haben", wurde nach der Verurteilung
Kritik laut: "Man sprach nachträglich in Genf, und zwar von seiten kompetenter
Personen, von nicht weniger als 16 durch die Jeanneret vollbrachten Vergiftungen,
wovon wenigstens 8 in Genf allein den Tod zur Folge hatten. Man fand es unverant·
wortlich, daß in kurzer Zeit in dem zur Mordgrube umgewandelten Hause Juvet
nacheinander fünf Personen (nicht bloß vier, wie vor Gericht verhandelt wurde,
denn es starb außer den vier noch eine Madame Hahn) sterben konnten, und
zwar an ganz auffallenden und unerklärten Krankheiten, ohne daß auch nur eine
einzige Leiche seziert und ärztlich untersucht wurde." Neuer Pitaval, Bd. V, S. 96.
Leipzig 1870.
3 WEHNER, a. a. 0., S. 27.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 121
über die Anklage zugegebenen Taten wegen noch nicht hinreichend gelungener Auf-
klärung, wegen Anwendbarkeit des § 51 I StGB. oder wegen bereits erfolgter Ab-
urteilung nicht angeklagt worden sind. "
Hier ist bereits sachlich eine Verbesserung gegenüber der Methode
zu erkennen, über den nicht in die Anklage aufgenommenen Rest der
Verbrechen einfach hinwegzugehen l .
In dieser Lage kehrt sich unsere Freude am Geständnis um 2. Haar-
mann, der wegen 24 Morde verurteilt wurde, erklärte, in der Haupt-
verhandlung, gefragt, wie viele Morde er begangen habe: Es können
30 oder 40 sein; ich weiß das nicht mehr s ." Dr. Petiot stand wegen
27 Morden vor Gericht und rief, allerdings mit einem Dreh nach der Seite
von RechtfertigungsgrÜllden aus: " ... Jawohl, ich habe getötet. Ich
habe im Auftrage der Organisation Hinrichtungen vollzogen. Und nicht
bloß 27. Nein, genau gezählt 63, mit meiner Geheimwaffe. Im Wald
von Marly. Ich werde Ihnen die Liste der 63 liefern, sobald ich frei-
gesprochen bin 4 ." Kürten gestand außer anderen Tötungen in seinen
Jugendjahren einen Mord, den er am 21. Juli 1929 begangen haben
wollte. Er gab eine genaue Schilderung und sein Gedächtnis war über-
normal gut: "Am selben Abend traf ich an der Oberkasseler Brücke
ein Mädchen, das sich Anni nannte. Wir gingen in ein Gartenlokal.
Das Mädchen erzählte, es sei aus Westfalen. Als es dunkel war, habe
ich das Mädchen am Rhein plötzlich erwürgt. Ich habe ihm so lange
den Hals zugehalten, bis ich es für tot hielt. Dann schleifte ich es auf
einer Grippe entlang bis zum Grippenkopf und warf es in den Rhein 5."
Dazu gibt BERG die folgende Erklärung: "Dieser Fall konnte nicht
aufgeklärt werden. Es ist auch kein Mädchen vermißt worden 6 • Bei der
Seltenheit des Nichtwiederauftauchens einer Rheinleiche bezweifelt die
Polizei die Richtigkeit der Kürtenschen Angaben."
Die Verurteilungsziffern der amerikanischen Kriminalstatistik 7 sind
durch die Praxis getrübt, die ein früherer Staatsanwalt drastisch so
beschrieben hat: "Am nächsten Tag schickte mich Oberst Gardiner nach
unten zur Abteilung I. Ich sollte dem verehrlichen Herrn Robert
Townsend, dem amtierenden Stellvertreter des Staatsanwalts, "den
Kalender bereinigen" helfen. Dieses Verfahren bestand hauptsächlich
darin, so viele Angeklagte als möglich zu einem Geständnis zu veran-
Zahl Prozentsatz
Delikt der des
Verurteilungen "plea of lesser offense"
Wer die Statistik der Verurteilungen liest, muß diese weitgehende Ver-
wässerung in Betracht ziehen. 28,8 % der Verurteilungen wurden durch
Aufschub der Strafverbüßung zur Bewährung weiterhin verdünnt. Die
Gefangenen, die nicht in einfachen Haftanstalten verschwinden, sondern
in Zuchthäusern untersucht werden können, sind eine winzige, durch
vielerlei Einflüsse deformierte Minderheit der kriminellen Tatsachenwelt.
Das Zahlenbild, auch wenn es von der sorgsamsten Statistik über-
mittelt wird, ist nur ein dünner Abglanz von der Häufigkeit des Rechts-
BERG, LOUIS: ReveZations 0/ a prison doctor, S. 34. New York 1934.
1
Twelve montkB 0/ crime in N ew Y ork. Report of the citizens committee on the
2
control of crime in New York. June 30,1937- June 30,1938, S.32ff.
Die Angeklagten, welche nicht verurteilt wurden 123
bruchs. Fiktionen weden auf die Zahl der strafbaren Handlungen und
auf die Zahl der Täter ein Dunkel, das Einzelfälle immer wieder drastisch
zeigen. Das Schiff "Veronica 1 " hatte eine Besatzung von 12 Mann.
Ermordet wurden 7 Leute. Anklage wurde nur wegen eines Opfers, des
Kapitäns, erhoben. Von 5 Tätern wurden nur 3 vor Gericht gestellt; die
beiden anderen gingen als Kronzeugen frei aus. Drei stehen als verurteilt
in der Kriminalstatistik wegen eines Mordes. Was uns die Zahlenreihen
sagen, ist nur ein geringer Teil der Wahrheit. Bisweilen bemängeln die
Statistiker selbst den eigenen Befund, wenn er nicht ganz in ihre Wünsche
paßt. So lesen wir in einem Aufsatz 2 : "Am 1. Juli 1925, dem Stichtag
der Erhebung, standen in Berlin 6191 Prostituierte unter Kontrolle. Da
erfahrungsgemäß die Prostitution stark fluktuiert, wodurch es vor allem
den Großstadtverwaltungen erschwert wird, die Gestellungspfllchtigen
im Auge zu behalten, wird die Zahl der in Berlin tatsächlich vorhandenen
und für die Polizei auffindbaren "Eingeschriebenen" geringer gewesen
sein, als der rein buchmäßige Prostituiertenbestand. Nach den bei
anderer Gelegenheit gemachten Erfahrungen glaubt das Berliner
Statistische Amt rund 22% von der buchmäßig ermittelten Zahl ab-
setzen zu müssen, so daß sich dann eine Zahl von 4800 tatsächlich kon-
trollierbaren Frauen und Mädchen ergibt."
1922-1951 wurden im Landgerichtsbezirk Duisburg 1180 Anzeigen
wegen Mordes erstattets. 65 Täter kamen vor Gericht; 32 wurden ver-
urteilt. Die spätere Polizeistatistik meldet eine Aufklärungsrate, die
damit unvereinbar ist 4 • Der Kriminelle ist uns außer einem Rückstand
ausgesuchter Exemplare nicht bekannt. Es bleibt noch ungeheuer viel
zu forschen und zu lernen. Die Polizeistatistik nennt beim Fahrrad-
diebstahl 15,62% als Rate aufgeklärter Fälle 5• Ein Kriminalbeamter
von Erfahrung meint, daß fast 90 % der Fahrraddiebstähle ungeklärt
bleiben 6. Mit dieser Art von Diebstahl sei kein Lorbeer zu erringen. Viele
Beamten hielten es unter ihrer Würde, Fahrraddiebstähle zu verfolgen.
Der aufgeklärte kleine Restbestand wird dann erst der Behandlung und
1 KEETON, G. W., und JOHN CAlII:ERON: The "Veronica trial," S.229. Edin-
burgh 1951.
2 ALBRECHT, HANS: Die Prostitution in Berlin. Monatsschrift 1930, S. 171.
3 BLUEHlII:, HERBERT: Die Kriminalität der vorsätzlichen Tötungen im Land-
gerichtsbezirk Duisburg, S. 17, Bonner Diss. 1955.
4 Die mitgeteilte Rate ist 87,12% (Pol. Kriminalstatistik 1957, S. 39). Hier sind
Mord und Totschlag zusammengefaßt. Nach den Duisburger Feststellungen kamen
auf 1634 wegen Mords und Totschlages angezeigte Fälle weniger als 10%, die zu
einer Verurteilung führten.
5 S. 39 (1957).
6 WALTER, H.: Fahrradmarder im Ruhrgebiet. Kriminalistik 1957, S.27. -
Die Zahlen der Polizeistatistik schließen auch den leicht zu entdeckenden Fahrrad-
Gebrauchsdiebstahl ein, erhöhen damit auch die Rate aufgeklärter Fälle, denn diese
Räder werden nicht versteckt.
124 Dynamik und Bereich des Zufalls
Zweites Kapitel
Dynamik und Bereich des Zufalls
a) "Bis auf den heutigen Tag", schreibt PLUTARCH2 , "findet man in
Rom keinen Tempel der Weisheit, der Mäßigung, der Ausdauer und der
Großmut; hingegen gibt es viele alte und in jeder Hinsicht sehr verehrte
Tempel des Glücks, die an den angesehensten Teilen und Stellen der
Stadt angelegt sind." Die meisten wurden von König Servius errichtet,
"der wohl wußte, daß das Glück in allen menschlichen Angelegenheiten
einen großen Einfluß hat, ja alles entscheidet." Der Ausdruck, den
PLUTARcH gebraucht, ist Tyche. Er kann glückliches Ungefähr wie Miß-
geschick bedeuten, die unbekannte Quelle <tessen, was uns gut ausgeht
oder zustößt, die Fügung des Himmels oder die Schickung einer un-
erforschlich über Göttern und Menschen thronenden Macht, mit der die
Stoiker den Gang der Welt erklärten. Die einen waren Sonntagskinder
und unter einem guten Stern geboren, der andere ist ein Pechvogel, nach
dem englischen Wort von einem linkshändigen Pfarrer getauft 3. Er
kommt niemals auf einen grünen Zweig 4 • Selbst die Art seines Unglücks
ist vorbestimmt: wer einstens hängen soll, wird auch bei schwerstem
Schiffbruch nicht ertrinken 5.
Das Wort Zufall ist vom Fall der Würfel abgeleitet, wie das lateinische
casus, ja wie das Wort alea in gleicher Weise Würfel und Zufall bedeutet.
Im Griechischen hat die Sprache noch eine bessere Psychologie ent-
wickelt. "Das für diesen Begriff - Zufall - gewählte griechische Wort
(aIrc6pa7:w) bedeutet eigentlich das von selbst Geschehende und enthält
vielmehr einen Gegensatz gegen das von Menschen absichtlich Herbei-
geführte als gegen die Veranstaltungen der Götter oder der Schicksals-
macht, wie denn z. B. bei XENOPHON (Mem. III, 12) derselbe Ausdruck
1 Der Mann war erst im April 1954 nach Essen gekommen; wieviel er vorher
stahl, ist nicht bekannt.
B Pr..UTARCH: MO'I'ali8che Schriften, über das Glück der Römer, 10.
3 SMITH, WILLIAM GEORGE: The OxfO'l'd dictionary of engli8h proverb8, S.57.
Oxford 1952.
, Ähnlich BuchHiob XV, 32: "der grüne PaImzweig verdorrt ihm vor der Zeit."
5 SHAKESPEARE: Tempest 1,1,32 ..• "he has no drowning mark upon him; his
complexion iB perfect gallows. Stand fast, good Fate, to hiB hanging."
Dynamik und Bereich des Zufalls 125
auf das Gewinnen von Schönheit ohne Körperpflege und das plötzliche
Aufsteigen eines Gedankens angewendet wird 1." In gleicher Weise sieht
Aeschines im Aufkeimen eines Gerüchts, das kein Mensch in Bewegung
setzte, und im Tod, den keine menschliche Hand herbeigeführt hat, die
Wirkung des Zufalls, wie SCHMIDT uns mitteilt. Auch meint Xenophon
in seinem Hieron, daß die Liebe, die einem Menschen zufliegt, aus
eigenem Antrieb und aus freien Stücken, nach Art des Zufalls ihm
zuteil wird.
Zufall - der Ausdruck war CfVf.1-ffJOea, das ungewollte, unvorher-
gesehene Zusammentreffen von Kausalreihen, die, plötzlich 2 aus dem
Dunkel auftauchend, zu einer "Mutation" der Lebenslagen führten
und der Voraussicht auch der klügsten Menschen hohnzusprechen
schienen - erhob sich plötzlich als der wahre Herr des Daseins, bei
Völkern und beim Einzelmenschen.
Es gibt keine ursachlosen Dinge, wohl aber kennen wir eine Menge von
Ursachen nicht, noch viel weniger ihre Kombinationen; sie halten ein-
ander in Schach, sie schwächen sich ab, sie sumieren sich, vermehren ihre
Stoßkraft und ihr Tempo. Eine sehr alte Anschauung reicht tief in das
Gebiet der Krinlinalität hinein, ist eine Maske des Verbrechers, die wir
mit eigener Hand gefertigt und ihm aufgesetzt haben. Es ist der Wunsch,
Glück und Unglück mit dem Verdienst und mit der Verfehlung des
Menschen zu verbinden, ein Gedanke, der zum geistigen Ausweg einer
"Prüfung" und der Belohnung in einer anderen Welt geführt hat, damit
wir Forderung und Wirklichkeit versöhnen können. Aus dem Wider-
spruch, den die Erfahrung täglich uns vor Augen führt, erwächst das
Vorurteil: Schönheit und Glück sind gottgefällig 3 , auch langes Leben,
Macht und Reichtum 4 , vor allem aber ist der Sieg 5 Beweis des Guten,
gottgewollt, gesegnet. Selbst auf den großen, lange unentdeckten Krimi-
nellen fällt aus dem Füllhorn dieser instinktiven Gunst ein Licht. Aus
dem Erfolg spricht ein Verdienst, das uns verborgen ist und unserem
Abscheu widerstreitet.
1 SCHMIDT, LEOPOLD: Die Ethik der alten Griechen. Bd. I, S.54. Berlin 1882.
2 Dieses Nicht-auf-der-Hut-sein verstärkt die Wirkung des Zufalls, weil Über-
raschung lähmt. Es ist ein Handstreich von Kausalitäten, die bestürzen und über-
rumpeln und gegen die wir am Anfang wehrlos sind.
a Das ist der Sinn der Worte, mit denen der junge David dem alten Saul
empfohlen wird: "Siehe ich habe einen Sohn ... der versteht sich aufs Saitenspiel,
er ist Grundbesitzer, kriegstüchtig, redegewandt, schön an Gestalt und Jahve ist
mit ihm." 1. Sam. 16, 18. Er hat Glück oder, wie man damals glaubte, der Segen
Jahves ruht auf ihm.
4 Die Alten stellten sich den Plutos als blind vor, weil er nicht nach dem Ver-
dienst sah. Siehe ARISTOPHANES: PlUt08 13; PLATO: Staat 554. Wenn der Gott des
Reichtums das Augenlicht wieder erlangt, ist, wie Aristophanes zeigt, die Ordnung
der Welt umgestürzt.
5 Darum wollte Napoleon nicht gute, sondern glückliche Generale haben.
126 Dynamik und Bereich des Zufalls
Zum Glück des Augustus rechnet PLUTARCH nicht nur seine eigenen
Eigenschaften, sondern auch die Fehler und ·Schwächen seiner Gegner:
"Für ihn", schreibt er l , "ließ sich Antonius in Schwelgereien gehen; ja
ich schreibe auch die Cleopatra dem Glück des Cäsars zu, an welcher, wie
an einer Klippe, ein solcher Gewaltmensch (wie Antonius) scheiterte und
unterging, damit Cäsar allein sei." Der Kampf um die Macht lehrt uns,
das Reich des Zufalls beim Kriminellen auf das Opfer auszudehnen, und
da die Kriminalwissenschaft die Lehre von den Ursachen des Verbrechens
und der "Kriegsführung" gegen den Rechtsbruch ist, muß die ganze
Breite der Zufallsmöglichkeiten herangezogen werden, die über der
Psychologie und Mechanik der Bekämpfung liegt. Und weil der Zufall
keinen Regeln folgt, die Kombinationsmöglichkeiten im Gegensatz zum
Kartenspiel, selbst zur Mortalität und der Häufigkeit der Autounfälle
ungezählte, unzählbare sind', ist eine Theorie des Zufalls niemals aufzu-
stellen. Wir können nur von einer Tektonik sprechen und sie mit Einzel-
fällen zu belegen suchen, die sich zu lockeren oder engeren Mustern an-
einanderreihen.
Der mechanisierten Welt ist der Instinkt für Zufallsübermacht ge-
schwunden. Er lebt dafür inmitten von Berufen, die primitiv und
noch gefahrvoll sind: bei Jägern, Fliegern, Matrosen, Bergleuten und
Berufsverbrechern. Voraussicht ist hier nur ein kleines Stück der
Selbsterhaltung. Weil sie zum großen Teil vom Glücke leben, sind sie
abergläubisch. Mit Gleichem heilen sie das Tückisch-Unbekannte, mit
Unbekanntem drohend lauernd Magie. Denn immer wieder lehrt sie
die Erfahrung, "wie vieles grundlos glückt und anderes ohne Grund
mißrät 2."
Die mittelalterliche Institution des Gottesurteils ging von der An-
schauung aus, daß die Gottheit den Schuldigen straft und den Un-
schuldigen rettet. Den Lebensvorgängen wurde ein moralischer Sinn
gegeben, den wir ihm heute nicht mehr zuzumessen wagen. Wir glauben
nicht mehr, daß die Elemente, Feuer, Wasser, Gift mit menschlicher
Gerechtigkeit im Bunde stehen. Wir glauben nicht, daß hohes Alter,
Schönheit und Gesundheit Belohnung sind für sündenlosen Lebenswandel,
daß Wahnsinn, Blindheit, Mißgeschick der Jäger, Fischer, Krieger,
Spieler und früher Tod verborgene Untat strafend ahnden. Kausales
Denken gab es nicht, nur Schadenstifter, die sich rächen wollten. Man
dachte sie sich als menschliche Häuptlinge oder Väter, die ihrem Willen
Nachdruck gaben, als mächtige Feinde, die Gehorsam verlangten und
erzwangen, wie man auch sonst auf Frauen, Kinder, Tiere, Sklaven
einschlug.
5 THUKYDIDES, I, 140.
6 WELLMAN, FRANCIS L.: The art of cross-examination, S. 128. New York 1936.
128 Dynamik und Bereich des Zufalls
Der Zufall kommt der Polizei zu Hilfe, wie er sich ihr auch in den
Weg stellt. Wenn die Justiz durch falsche Identifizierung getäuscht
worden ist, kann man immer wieder die Behauptung hören, daß der
wahre und der falsche Täter sich ungewöhnlich ähnlich sahen. Sogar von
Paaren, Mann und Frau, die einen Mord begingen und anfangs ver-
wechselt wurden, hat man eine auffallende übereinstimmung berichtet!.
Der Doppelmörder Arnold Walder (Paris 1879) wurde niemals entdeckt.
Erst führte er die Behörden durch Selbstmordzettel irre, die in Flaschen
aus der Seine gefischt wurden und seinen Freitod ankündigten, weil er
den Gedanken an die Guillotine nicht ertragen könne. Eine andere
Komplikation kam hinzu. Walder hatte einen Doppelgänger mit Namen
Tomess. Dieser Mann hatte nicht nur den gleichen Beruf - Apotheker-
lehrling -, er sah auch noch genau wie Walder aus. Die Augen hatten
den gleichen Ausdruck. Die Kleidung zeigte dieselbe Richtung des Ge-
schmacks, sogar die Handschrift war frappierend ähnlich 2. Als man
ihn festnahm, fand man bei ihm eine Reihe von schweren Giften, genau
wie die Substanzen, die Walder aus dem Geschäft des ermordeten
Prinzipals mitgenommen hatte. Tomess mußte sich die größte Mühe
geben, stärkste Alibis und Ausweise ins Feld führen, um dem Verhängnis
zu entgehen. Die hoffnungsvolle Polizei hatte das Gefühl, daß hier der
Zufall hämisch mit ihr spiele.
Auch im Gefängnis werden solche unerklärlichen Ähnlichkeiten beob-
achtet. In einer amerikanischen Anstalt wurde ein Neger, Will West,
eingeliefert. Als die Personalien aufgenommen wurden, bestritt er vor-
bestraft zu sein. Der Beamte hielt ihm vor, daß er lüge. Er wies auf
den Gefangenen William West hin, der unter Nummer 2626 geführt
wurde und eine lebenslängliche Strafe wegen Mordes verbüßte. Ob man
ihn wegen Fluchtversuchs gemessen habe, wurde er gefragt. (Es war zur
Zeit des Bertillonsystems.) Er sagte, nein. Der ärgerliche Beamte holte
eine Photographie aus der Kartothek und fragte den Neger: "Sind Sie
das nicht 1" "Das bin ich", war die Antwort. "Heißen Sie nicht William
West 1" "Jawohl das ist mein Name." Er wollte aber gleichwohl
niemals gesessen haben. Die Maße wurden verglichen. Sie stimmten. Der
Neger beharrte auf der Behauptung, daß er niemals hier gewesen sei.
Schließlich verlangte der Beamte, man solle Nummer 2626 zu ihm
schicken. Er war verblüfft, als die beiden Männer sich gegenüberstanden.
Sie ähnelten sich auf ein Haar. Sie waren keineswegs Zwillinge, die sich
zufällig wieder trafen, obschon der eine William West, der andere Will
West hieß. Ohne die Zuchthausnummern auf ihrer Tracht konnte man
beide nicht auseinanderhalten 3. Sogar die Verbrechen, die sie begangen
1 BORCHARD, EDWIN M.: Convicting the innocent, S. 108. Garden City 1932.
2 BIRMINGHAM, GEORGE A.: Murder m08tfoull S. 469. London 1929.
3 COOPER, R. C.: Ten thousand public enemies, S. 91ff. Boston 1935.
Dyna.mik und Bereich des ZufaJIs 131
hatten, glichen sich. Der eine hatte Mord, der andere Totschlag be-
gangen. Trotzdem waren sie, wie die Fingerabdrücke ergaben, ganz
verschiedene Menschen. Sowie sie Gummihandschuhe anzogen, oder
die Abdrücke sorgsam abwischten, verschwand auch dieser Unter-
schied.
Zufall rettet. Zufall verdirbt. Das weite Gebiet dessen, was ich die
"Tücke der Indizien" genannt habe, ist voll von treibenden Elementen,
Unheil und Glück von Gottes Gnaden. Warum bestand im Mittelalter
einer die Tortur, das Gottesurteil mit Wasser, Feuer, Gift und Zwei-
kampf 1 Warum steht heute noch auf einem Todesurteil versehentlich
der Name des Obmanns des Schwurgerichts an Stelle des Angeklagten 1
Er bleibt am Leben und nach 12 Jahren gesteht ein anderer auf dem
Totenbett den Mord 1 1 In Mississippi reißt der Strick. Man will den
jungen Menschen wieder hängen. Am Tage vor der zweiten Exekution
dringt eine erregte Masse in das Gefängnis ein und nimmt ihn mit sich
fort in Freiheit. Zwei Jahre später erklärt der Hauptbelastungszeuge, er
könne sich geirrt haben. Auch hier gesteht 9 Jahre später ein ernstlich
Kranker seinem Geistlichen die Tat 2. Bei einem Kindermord wird ein
Taschentuch gefunden, P. K. gezeichnet, voller Blut. Der Vater dieses
Kindes hieß Peter Klein, er war zudem noch Metzger und besaß einen
Pfeffer-und-Salz-Anzug. Mit einem solchen Anzug hatten Zeugen einen
Menschen aus dem Hause kommen sehen. Er hatte Glück, er wurde
freigesprochen. "Ohne daß seine völlige Unschuld erwiesen war, fiel
dieser Klein 1915 als Soldat in Rußland." Das Taschentuch gehörte
Peter Kürten 3.
Einer der wichtigsten Gründe des gerichtlichen Irrtums ist die falsche
Identifizierung. Sehr viele Fälle entgehen unserer Aufmerksamkeit.
Dort, wo es durch Zufall und andere Gründe zu einer Aufklärung kam,
wird immer wieder, wie wir sahen, die ungewöhnliche Ähnlichkeit
zwischen fälschlicherweise wiedererkanntem und wirklichem Täter
hervorgehoben'. Es ist nicht nur die Ähnlichkeit der Züge. Auch andere
physische Indizien stimmen überein. Im Falle des Polizeibeamten Cock
hatten Verurteilter und wahrer Täter die Gewohnheit, gebückt zu gehen;
die Schuhbenagelung des Unschuldigen paßte in die Spur 5. Was kann
die Polizei noch weiter tun, wenn die eigene Schwester die Leiche einer
im Wald vergrabenen Frau erkennt, die Ohrringe beschreibt, die Körper-
länge, Eigentümlichkeiten des Gebisses, und alle diese Spuren bei der
9*
132 Dynamik und Bereich des Zufalls
Toten stimmen1 1 Ein schwarzer Pfarrer wird vermißt, der sich mit einem
Amtsgenossen überworfen hatte. Eine Freundin des Verschwundenen
meldet, er habe am kleinen Finger der linken Hand einen Ring mit
rotem Stein getragen. Man findet eine schwarze Leiche, zieht sie aus dem
Flusse bei der Kirche und begräbt sie. Man gräbt sie wieder aus, als Ver-
dacht entsteht und die Kleidung von Freunden als ähnlich der des Ver-
mißten bezeichnet wird, findet den Ring mit einem roten Stein, verurteilt
den anderen Pfarrer wegen Mordes 2. Man glaubt erst an seine Unschuld,
als der "Tote" lebend aufgefunden wird. - Beim wahren und beim
falschen Täter findet sich in einem anderen Falle genau die gleiche Narbe
am linken Kiefer und am linken Auge 3.
Die Allmacht des Zufalls, vor Gericht 4 und im festesten Gefängnis,
wird durch zahlreiche Erfahrungen bestätigt. Ausbruch ist das, woran
aktive und zu langer Strafe Verurteilte Tag und Nacht denken. Ein Ge-
fangener arbeitete die ganze Nacht hindurch und feilte den Gitterstab
an einem Ende nahezu vollständig durch. In der nächsten Nacht ging
er an das andere Ende und kam so weit, daß er nur noch an einem
kleinen Metallspan hing. Die Schnittstellen wurden mit Brot und
Erde zugeschmiert. Mittags kamen die Wärter und inspizierten die
Zelle gründlich. "Einer von ihnen packte die Fensterstäbe und rüttelte
kräftig an ihnen. Das Herz Forsbreys (des Gefangenen) stand still. Aber
der Wärter hatte gerade die soliden Stäbe gefaßt und nichts geschah 5 ."
Wie können wir die erfolgreichen Ausbrecher restlos bewundern, und auf
die, denen ein kühnes Unternehmen mißglückt, herabsehen, wenn solches
blinde Ungefähr den Ausschlag gibt 1 Glück scheint uns letzten Endes
Wesenszug zu sein, das an dem einen haftet, andere flieht, und Glück
wie Unglück schließen wir in unser Urteil ein, wie die Behandlung des
Versuches zeigt. Sehr skeptisch sagt ein altes Sprichwort: "Der Dieb,
der nichts zu mausen findet, hält sich jetzt für ehrlich 6." Aber auch
1 HARLOW, ÄLVIN F.: Murders not quite 8olved, S. 97. New York 1938.
2 BORCHARD: S. 144ff. Daß Mörder, ehe sie die Leiche des Opfers in Brand
setzen, den eigenen Trauring an den Finger stecken (JACKSON, J. H.: San Francisco
murders, S.225, New York 1948) oder die eigene Uhr danebenlegen (Pitaval der
Gegenwart, Bd. VII, S. 98) ist schon vorgekommen.
3 Ebenda, S. 24.
4 Eine Suffragette, die an den Unruhen in Washington 1919 beteiligt war, erzählt,
was schließlich vor Gericht geschah: "Der Richter hatte 39 Frauen abzuurteilen.
Als er bei der 26. angekommen war, fragte er erschöpft: ,Wie viele sind noch draußen
da l' Als ihm gesagt wurde, er habe erst zwei Drittel abgeurteilt, ließ er die übrigen
13laufen. Sie waren genauso schuldig wie alle andern. Aber der Richter war müde."
STEVENS, DORIS: Jailedfor freedom, S. 317. NewYork 1920.
5 SMITH, EDWARD A.: Youcan escape, S. 219. NewYork 1929.
6 CHAMPION, SELWYN GURNEY: Racial proverb8, S. 392. New York 1938. (Jüdi-
sches Sprichwort.)
Dynamik und Bereich des Zufalls 133
verdient. Sie meinen, daß ich reich sei und das stimmt. Doch wissen Sie warum? ...
Da waren zwei Grundstücke, die ich nicht loswurde. Das eine war ein Loch in der
Gegend, das andere ein scheußlicher Hügel von Lehm. Keiner wollte mir etwas
dafür geben, niemand glaubte, daß sie irgendeinen Wert hätten, und so behielt ich
sie. Sie sind es, die mich reich gemacht haben 1. "
Das, was man als ein schlimmes Unglück anzusehen gewohnt ist,
kann gänzlich unerwartet Segen werden, wie großer Reichtum zum Ver-
derben werden mag, zum Unheil, das uns tiefer zieht als allerschlimmste
Not 2 • PAUL LIMAN führt aus BISMARCKS Gedanken und Erinnerungen
einen Vorgang an, in dem ein Mordversuch dem Gesundheitszustand eines
alternden Fürsten wesentlich zugute kam. "In seinen Gedanken und
Erinnerungen bemerkt Fürst BISMARCK: Um die Mitte der siebziger
Jahre begann die geistige Empfänglichkeit des Kaisers im Auffassen
anderer und Entwickeln eigener Vorträge schwerfälliger zu funktionieren.
Er verlor zuweilen den Faden im Zuhören und Sprechen. Merkwürdiger-
weise trat nach dem Nobilingschen Attentat (der alte Kaiser wurde von
mehr als 30 Schrotkörnern getroffen) eine günstige Veränderung ein ...
Der Kaiser war freier, lebendiger, auch weicher. Der Ausdruck meiner
Freude über sein Wohlbefinden veranlaßte ihn zum Scherze: "Nobiling
hat's besser als die Ärzte gewußt, was mir fehlte: ein tüchtiger Ader-
laß 3."
Solche Beobachtungen sind nicht allzu selten:
"Zwei Brüder, 46 Jahre alt, beide gelernte Maurer, haben eine völlig verschiedene
soziale Entwicklung genommen. Der eine ist ein erfolgreicher, völlig einwandfreier
Meister in seinem Fache. Der andere ist rastlos, haltlos und ist vielmal vorbestraft.
Der erfolgreiche Zwilling wurde im Alter von 16 Jahren durch einen Hufschlag
schwer verletzt, lag 9 Wochen zu Bett, wurde dick, sexuell inaktiv, hatte keine
Kinder, wurde aber durch die Verletzung sozial stabilisiert. Der andere setzte kein
Fett an, heiratete zweimal, hatte Kinder, beging ein Sittlichkeitsdelikt und führte
ein Leben voller Unruhe und Konflikte'. Es war sein Pech, daß ihn ein schwerer
Unfall nicht ,kurierte'."
WEHNER hat auf die Rolle hingewiesen, die der Zufall bei der Auf-
klärung spielt; dort wo der Zufall nicht zu Hilfe kommt, bleibt öfters
das Ergebnis aus. Er erinnert an die Fälle Haarmann, Großmann und
Denke 5. Denkes mindestens 30 Morde wurden in einer Kleinstadt und
in einem Haus begangen, in dem der Mörder mit 13 Personen, darunter
9 Kindern, die meist gut beobachten, wohnte.
"Denke hatte einfach einmal ,Pech', als er (1924) einen Handwerksburschen, der
an seinem Tisch saß, hinterrücks erschlagen wollte. Durch eine unvorhergesehene
Kopfwendung ging Denkes Schlag daneben, ein Kampf entbrannte und der Mord-
versuch wurde bekannt ... Dieser Mörder konnte keiner Polizei bekannt sein, weil
er, der regelmäßige Kirchengänger und Kreuzträger bei Beerdigungen, keinerlei
Vorstrafen hatte."
Man kann die falschen Diagnosen der Ärzte, die eine unrichtige Todes-
bescheinigung ausstellen, als Zufall behandeln, wenn man sie als ver-
hältnismäßig selten ansieht!. WEHNER berichtet folgendes Geschehnis 2 :
"Ein Arzt war in eine Wohnung gerufen worden, um den Tod eines
Mannes festzustellen. Der Blutaustritt aus dem Mund des Toten ließ
den Arzt fragen, ob der Tote krank gewesen sei. Auf die Auskunft, daß
es sich um einen Lungenkranken gehandelt habe, rief der Arzt bei dem
behandelnden Lungenarzt an und teilte diesem den Befund (Austritt
von hellrotem Blut aus dem Mund) mit. Beide Ärzte "einigten" sich
auf Blutsturz infolge offener Tuberkulose. So wurde auch die Todes-
ursache in der Todesbescheinigung attestiert. Als die Leichenträger
- Stunden später - den Toten abholten, entfiel der Kleidung ein Ge-
schoß." - In New York wurde ein Arzt in das GIen Island Hotel ge-
rufen. Hier hatten "John Wilson und Ehefrau aus Brooklyn" des Nachts
zuvor ein Zimmer genommen. Der Arzt fand einen jungen Mann auf
dem Bett liegen. Nachdem er ihn kurze Zeit behandelt hatte, erklärte
er ihn außer Gefahr; eine leichte Einbuchtung hinter dem rechten Ohr
des Mannes hatte er bemerkt, aber für bedeutungslos erachtet. Am
nächsten Morgen war der Mann tot. Die leichte Einbuchtung war ein
Einschuß gewesen 3.
Das Geständnis, das überraschend und vom Standpunkt eines Men-
schen, dessen Kopf auf dem Spiele steht, unerklärlich kommt, zählt zu
dem "Glück" des Untersuchungsführers. Der Boxer Carter war von
allen polizeilichen und ärztlichen Instanzen von dem Verdacht, seine
Geliebte getötet zu haben, gereinigt worden. In einer Totschlagssache
verurteilt, bat er das Gericht noch etwas sagen zu dürfen: "Ich habe
Mildred Donavan ermordet", sprudelte er heraus. "Sie war nur eine von
vielen, die ich getötet habe. Jetzt seid ihr baff, ihr lieben Leute 4 ."
Sogar der Vater seines Opfers glaubte bis zuletzt an ihn.
Wir vergessen leicht, daß das, was Recht ist, von Menschen ange-
ordnet und bestimmt wird. Auch wendet es sich nicht von selber an,
wie die Magnetnadel unabänderlich nach Norden zeigt. Das ganze Straf-
verfahren ist von Menschen angefüllt, die jeden Schritt nach ihrem
Sinne lenken, von dem Polizeibeamten, der die erste Anzeige bearbeitet
bis zu der obersten Instanz. Obschon die Regeln schwarz auf weiß die
gleichen sind, so ist der Spielraum des Ermessens ungeheuer groß. Es
finden sich die gründlichste Sachkenntnis, die ehrlichste Bemühung, die
Fülle allerverschiedenster Temperamente mit Unvollkommenheiten jeder
Art zusammen. Es hängt vom Zufall ab, in wessen Hand die eine oder
andere Phase des Verfahrens kommt, und öfters stoßen jene Elemente
hart zusammen, die ein gerechtes Urteil vorbereiten sollen. Der Staat,
den wir allwissend und allweise sehen möchten, ist mit sich selber uneins,
wechselt seine Meinung mit den Prozeßpersonen, ihren widersprechenden
Gefühlen und Gedanken und ihrer tiefen und weniger guten Menschen-
kenntnis.
Im Mordfall Timm (Hamburg 1954) erhob sich zwischen der obersten
Polizeibehörde und dem Actuarius in criminalibus ein Konflikt. Die
Polizei neigte zu der Ansicht, es läge kein Raubmord an Mutter und
Tochter vor, die Mutter sei im Streit von der Tochter getötet worden,
die daraufhin Selbstmord verübt hätte. Man war geneigt, der Meinung
sachverständiger Polizeibeamten beizutreten. Die Kriminalbehörde be-
stand mit aller Festigkeit auf ihrer Meinung!, und hatte, wie sich bald
ergab, in allen Stücken recht.
Doch auch der Richter kann, wenn es der Zufall will, sich irren. Bei
einer Notzucht mit Todesfolge, die durch Geständnis aufgeklärt wurde,
widersetzte sich das Amtsgericht der Exhumierung, die der Oberstaats-
anwalt beschlossen hatte. Der Widerspruch des Amtsgerichts war
folgendermaßen begründet 2 :
"Es wird gebeten, von der Exhumierung der Leiche absehen zu wollen. Die ein-
gehende Besichtigung der Leiche und des Tatortes haben auch nicht die geringsten
Anzeichen dafür ergeben, daß ein Mord vorliegen könnte ... Sowohl das Gericht als
auch der Ärzt und die drei Oberlandjäger, darunter ein Landjägeroberleutnant und
ein Landjägermeister, waren der Überzeugung, daß zweifellos Selbstmord vorlag ...
Die Exhumierung der Leiche würde ich für um so bedenklicher halten, weil dadurch
den Gerüchten neue Nahrung gegeben und der Eindruck erweckt würde, als mache
sich das Gericht deren Inhalt zu eigen. "
Die Staatsanwaltschaft setzte die Leichenöffnung durch. Das
Obduktionsprotokoll wagte keinen bestimmten Schluß auf eigene oder
fremde Tötung zu ziehen. Jetzt glaubte auch der Oberstaatsanwalt
Selbstmord für "zweüelsfrei" gegeben. Als ein Jahr später der Täter
ein Geständnis abgelegt hatte, hielt das Amtsgericht das Geständnis
für das eines Geisteskranken und setzte ihn auf freien Fuß. Jetzt griff
die Landeskriminalpolizei ein, sprach sich für Notzucht und gewaltsame
Erstickung aus, und es erfolgte Verurteilung zu 10 Jahren Zuchthaus
wegen Notzucht mit Todeserfolg (§ 177, 178 StGB). Durch Zufall war
die Wahrheit trotz des zähe festgehaltenen Irrtums vieler Fachorgane
noch ans Licht gekommen.
Wer sich die Mühe machen wollte, die Umstände zu erforschen, unter
denen Morde entdeckt wurden, würde auf lauter Zufälligkeiten stoßen.
Die meisten im Wald versteckten Leichen werden von Kindern gefunden,
die im Walde herumspielen, von Hunden, die plötzlich den Herrn ver-
lassen und abseits wütend zu graben beginnen, von pilzsammelnden
Frauen, die ins Dickicht eindringen, von Jägern auf der Treibjagd, von
Imkern, die durch dick und dünn nach ihren Bienenschwärmen suchen.
Dagegen werden Leichen, trotzdem die Stelle ungefähr bezeichnet ist,
trotz langen Suchens überhaupt nicht oder erst gefunden, nachdem die
Suche lange aufgegeben ist. Dem Zufall ist es öfters überlassen, ob über-
haupt ein Mord entdeckt wird. Vor 100 Jahren war im Staat Montana
ein Unbekannter ohne Spur verschwunden. Es war ein Mord. Der
Körper war gefroren, lag im Gestrüpp und wäre wohl bis heute ruhig
dort gelegen. Da zog ein Mann geruhsam seinen Weg. Eine Trappe
stieg auf, er schoß, das Tier fiel in den dichten Wald in einiger Ent-
fernung. Der Schütze suchte, fand den toten Vogel auf der Leiche liegen 1.
Ein Scotland Yard-Beamter hat sich Gedanken darüber gemacht,
warum Lustmörder so oft unentdeckt bleiben. Seine Antwort war, daß
diese Typen keine Vorbereitungen treffen, plötzlichem Antrieb folgen,
zuschlagen und dann gleichsam von der Erde verschluckt werden.
BEVERIDGE erklärt, daß diese Täter phänomenales Glück zu haben
scheinen 2, ganz selten Spuren hinterlassen, während der Tat und nach
ihr nicht gesehen werden. Das" Glück" scheint mir mit der animalischen
Einengung des Bewußtseins zusammenzuhängen, die diese Täter ihre
Opfer beschleichen, anspringen und zur Seite schleppen läßt. Auch
fehlen die Zusammenhänge der Motive, der Bekanntschaft mit dem
Opfer, der komplizierten und daher verräterischen Tötungstechnik.
Nicht selten ist das "Glück" des Täters nichts als unser falsches Bild
des mörderischen Lüstlings. Die Mischung gutmütig und sadistisch will
uns nicht in den Kopf. Zugänglich, freundlich plaudernd stand der
Massenmörder Kürten seinem Arzte gegenüber 3 •
Der Zufall reicht bis in den Strafvollzug hinein. Im Zuchthaus Jack-
son saß ein junger Epileptiker, einer der Führer der Revolte von 1952.
Seine Entlassung wurde verzögert, weil man ihm einen Fluchtversuch
ankreidete. Er wurde in einer selbstmordsicheren Zelle verwahrt. Man
hatte ihn mit seinem Bruder verwechselt. Die Strafe endete daher nicht
am 12. Dezember 1951, weil man seinen Beteuerungen nicht glaubte.
1 DIMSD.ALE: Vigilante8 oi Montana, S.94. Butte 1937.
2 BEVERIDGE, PETER: Inside the C.I.D., S. 122. London 1959.
3 BERG, K., a. a. 0., S.334.
Dynamik und Bereich des Zufalls 139
1 MARTIN, J. B.: Break down the walls, S. 68. New York 1954.
2 Der höchste Wunsch eines jungen Kriminellen war, sein Gebiß, das ihn ver-
unstaltete, geändert zu sehen. "Ich glaubte, das Leben gäbe mir nicht eine gerechte
Chance. Ich verstand das Leben nicht." SHAW, CLIFFORD R.: The natural history
01 a delinquent career, S. 116. Chicago 1931.
3 Siehe das Kapitel "Die Korruption des Erfolges" in meiner Mordmonograpkie,
S. 195ff.
4 Perikles sagte dem Volk von Athen diese Wahrheiten: "Ich kann also nach
meiner Einsicht euch jetzt keinen andern Rat geben als früher. Nur bitte ich die-
jenigen unter euch, die unsern gemeinsamen Entschließungen beipflichten, daß sie
bei einem etwaigen Mißgeschick uns möglichst beistehen oder daß sie sich auch von
dem glücklichen Erfolg unserer klugen Maßregeln keinen Anteil anmaßen. Denn der
Lauf der Dinge selbst kann zuweilen ebenso unberechenbar sein wie die Gedanken
und Einfälle eines Menschen. Daher pflegen wir auch seltsame und unerwartete
Begebenheiten dem Glück zuzuschreiben." THuKYDIDES, I, 140. - Die gleichen
Regeln finden auf das private Leben Anwendung. Was der griechische Staatsmann
hier entwickelte, war der Anfang einer "Tychologie".
140 Dynamik und Bereich des Zufalls
Wir finden Opfer, die zum Leiden vorbestimmt sind, und andere
wieder, die durch ihre Vorsicht den Taschendieb, den Räuber, den Be-
trüger vor dem Delikte retten, und oftmals wieder nur mit Zufalls Hilfe.
Wir sehen Lebenslagen, die den potentiellen Täter, etwa den sexuell
Gespannten mit aller Wucht befallen und ihn an eine kaum geahnte Mög-
lichkeit erinnern und verführen!. Und andere, etwa eine genaue, regel-
mäßige Bankkontrolle, verscheuchen streng einen jeden Gedanken an
Unterschlagung und kommen Hemmungen, wenn sie zerbröckeln wollen,
zu Hilfe. Vom Zufall auf der Seite der Verfolger haben wir gehandelt.
Er kann gar nicht zum Einsatz kommen und seine Macht entfalten, wenn
Opfer noch verschwiegener sind als Täter 2 , ja manchmal nicht verletzt
sein wollen 3. Dafür sind andere auf der Opferseite wieder unerwartet
findig, wie Eifersüchtige oder Schwiegermütter, all jene, die der Haß
beflügelt, der Argwohn aufpeitscht und scharfsichtig macht.
So haben wir uns erst mit derb-verzerrten Bildern böser Menschen
ausgerüstet, und dieser Blendung sind wir bei dem höchsten Menschheits-
typ verfallen, der uns die reinsten Regeln des Verhaltens gab. Wir glaub-
ten, daß er Gott gelästert habe, nur weil er neuen, feineren Gottesglauben
lehrte. Die falschen Bilder drängen sich in die Gesetze, den Gerichtssaal,
den Kopf der Zeugen und der Sachverständigen, pulsieren durch die
öffentliche Meinung, den Sinn der Wähler und das Massendenken. Wir
ziehen schlecht gewappnet in den Kampf, vergeuden unsere Kraft an
Schattenbilder und wechseln, je nach Blutdruck, die Gestalten der
Bedroher. Wie es den Musterhäftling im Gefängnis gibt, so lassen wir
im Leben draußen uns Zufriedenheit ablisten, Achtlosigkeit und falsches
Urteil. Wir wissen, daß Gefangene niemals stärker Wohlverhalten zeigen,
als wenn sie kurz vor einem Ausbruch stehen.
Dann ist es nur ein winzig kleiner Teil der Summe allen Rechtsbruchs,
der uns bei allem Suchen in die Hände fällt. Wohl ist die Massenunter-
suchung eine unserer Hilfen, die unbedingt vonnöten ist. Doch ist sie
mit Kritik zu lesen. Die Wissenschaft muß ihren vielen Unvollkommen-
heiten auf der Spur sein und, wenn es irgend geht, die Fehlerquellen ein-
zuschränken sich die größte Mühe geben.
1 Hier kommen seltsame Zufälle vor, wie sie diese Mitteilung enthält:
"Schnarchende Tochter hat den Mund offen und verführte (den Vater) zum
coitus in os." FINKE und ZEUGNER in Monatsschrift, Bd. XXV, S.316; oder
wenn schwer betrunkener Vater die Tochter mit der Ehefrau verwechselt haben
will. Ebenda, S. 320.
2 In dem berühmten Falle Beck meldeten sich nur 5 Opfer, aber 20-25 hatten
bei der Bank ungedeckte Schecks des Schwindlers zu kassieren versucht; die Mit-
teilung ist absichtlich dunkel gehalten. W ATSON, ERIC R.: Adolphe Beck, S. 29.
Edinburgh 1924.
3 Siehe meine Erpressung, S. 302f.
142 Dynamik und Bereich des Zufa.lls
Am Ende mischt sich störend eine dritte Kra~t ein. Es ist das Spiel
des Zufalls. Wir sind ihm alle untertan: Verbrecher, Opfer, Staatsgewalt,
hier hilfreich-rettend, dort ein Teufelsspuk, wobei was einem nützt dem
andern schadet. In buntem Durcheinander kreuzen sich die Energien
dieser blinden Macht. Sie stürzen einen Schwachen ins Verderben, er-
weisen einem Gauner ihre unverdiente Gunst und reihen ihn in die
Gemeinschaft braver Bürger ein, bisweilen bis zum Ende seines Lebens.
Der Zufall lehrt uns, Duldsamkeit mit festem Abwehrwillen zu verbinden.
Wenn dergestalt die schöne Sicherheit verlorengeht, daß wir den
Kriminellen ziemlich gründlich kennen, so bleibt der Ansporn unverdros-
sener Forschung l • Sie wird das Dunkel ganz allmählich lichten. Wer
Unrecht tut, wer Unrecht leidet, wer den Verbrecher aufzuspüren hat,
wem der Beweis des Rechtsbruchs aufgebürdet ist, muß Schritt für
Schritt ergründet werden. Der Mitmensch ist nur eine jener Kräfte der
Natur, die wir halbwegs entriegelt haben, und dem wir, wenn er die
Gesetze bricht, nicht nur als bloße Mehrzahl, sondern als die Über-
legenen - und dazu zählt die größere Einsicht - eine feste Schranke
ziehen müssen.
1 Sie ist und bleibt auf das erreichbare Zahlenmaterial angewiesen. Wenn wir
mit den verfügbaren statistischen Angaben arbeiten und aus ihnen Schlüsse ziehen,
BO bleiben alle angeführten Vorbehalte in voller Kraft und sachlich unberührt.
Zweites Buch
A. Der Monatsrhythmus
a) Genau gesehen kommt der Zeit nicht eigene Kraft zu. Sie ist nur
Denkform, die das Nacheinander des Geschehens ordnet. Wir sehen von
den meisten Dingen nur den Ablauf, nicht die inneren Gründe. Wir
können mit dem Zeitmaß dort Begriffe bilden, wo tiefere Einsicht in
kausalen Nexus fehlt.
Wir sehen Menschen aus dem Schoß der Mutter kommen, aufwachsen,
einen Höhepunkt erreichen, welk werden und von hinnen gehen. Weil
wir die Kräfte kennen, die wir Wachstum nennen, bedürfen wir bei dieser
Folge der Prozesse keines Zeitbegriffes. Dagegen ist uns unbekannt,
warum der Rechtsbruch sich in kurzen oder langen Rhythmen hebt und
senkt, bei Tag und Nacht, nach Luftdruck und nach Sonnenflecken.
Uns bleibt nichts übrig, als einstweilen dieses Nacheinander einfach
mit dem Maß der Zeit zu ordnen.
Hinter der Kategorie der Zeit stehen also Kausalitäten, die uns noch
nicht bekannt sind. Nicht selten hilft der Zeitraum Art und Wirkung
mancher Kräfte zu erkennen. So hat z. B. W OLFGANG 1 den Zeitraum
untersucht, der zwischen Verletzung und Tod bei der Tötung durch ver·
schiedene Vernichtungsmittellag. (Die Zahlen S. 144.)
Hier fällt vom bloßen Zeitmaß her Licht auf die Wirkung der Ver.
wundung. Die Untersuchung eines Mordes zieht aus diesem Wissen
größten Nutzen. Das Opfer wird vielleicht noch sprechen können. Beim
Angeschossenen wird man sich mit der Vernehmung eilen müssen, bei
Schlagverletzung etwas größeren Spielraum haben. Das Alibi ist eine
Frage von Zeit und Raum. Im amerikanischen Recht wird bei der
Tötung dem Zeitverlauf eine wichtige Rolle zugemessen. Der Verletzte
muß innerhalb eines Jahres und eines Tages sterben; sonst liegt
juristisch keine Tötung vor. Diese Rechtsvermutung des amerikanischen
Mord
Der zeitliche Zwischenraum von Verletzung und Exitus
nach Tötungsarten in Prozent
Monat
I Westeuropa losteuropa Monat Westeuropa losteuropa
1 ASCHAFFENBURG, S. 19.
Der Monatsrhythmus 147
10·
148 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
I
Gesamt- Massachusetts 7 Städte
Monat gebiet • des
Männer I Frauen Mississippitals
Januar. 91 91 66 95
Februar 96 92 88 94
März . 104 97 97 101
April . 109 105 88 106
Mai 113 109 114 114
Juni. 109 115 126 100
Juli 103 HO 90 98
August 98 93 110 98
September 99 101 112 98
Oktober. 95 103 103 102
November 95 94 107 103
Dezember 88 90 99 91
* Nicht sämtliche Staaten.
gelegene Mississippital vergleichen. Hier beginnt der Anstieg der Selbst-
mordneigung (die bei der schwarzen Bevölkerung verhältnismäßig gering
ist) schon im März und kulminiert im Mai, ist also deutlich verfrüht. Bei
Mann und Frau des Nordens macht sich erst im Monat Juni, im Mai
einsetzend, verstärkte Selbstvernichtungsneigung geltend. Die Monats-
zahlen teilen uns allein die Fakten mit!. Die Gründe zu erforschen, ist
jetzt unsere Sache.
Eine Gegenüberstellung von Temperaturkurven und Selbstmord-
zahlen in verschiedenen europäischen Ländern ergibt, daß der sog. "Frei"-
tod dem Maximum der Temperaturen vorangeht. Es müssen daher eine
Reihe anderer physikalischer Umweltkräfte im Spiele sein, die man
heranzuziehen hätte: Luftdruck, Feuchtigkeit, Lichtstrahlung (GAEDE-
REN), Luftelektrizität und manches andere mehr. Die Not des Winters
sucht sich einen andern Ausweg, den wir bald kennenlernen werden.
Die Untersuchung jahreszeitlicher Einflusse auf den menschlichen
Körper und das menschliche Nervensystem ist noch lange nicht beendet.
Ich habe vor vielen Jahren Selbstmordkurven aus London und Württem-
berg wiedergegeben 2, die trotz eines großen Jahresabstandes im Juni
kulminierten. Anderes Material betraf die erstmals Internierten in ge-
schlossenen Anstalten mit einem Höhepunkt im Juni 3 und einer zweiten
Spitze im Oktober. Der Tabakverkauf war im damals noch großen
Österreich im Mai am stärksten 4. Dagegen stellte BRUGMANS fest, daß
1 Es können schwerlich soziale Konflikte sein, auch nicht die Morbidität, die
um diese Zeit gering ist, sondern die Belastung durch generative Vorgänge.
2 In Strafrecht und Auslese, S. 33. Berlin 1914.
3 Ebenda, S. 134. 4 Ebenda, S. 135.
Der Monatsrhythmus 149
die Aufmerksamkeit der Kinder in einem hohen Bogen von einem Maxi.
mum im März zu einem Tief im Juli schwang l . Auch in den Vereinigten
Staaten gelten März und April im Gegensatz zu August und September
als Monate mit guten Prüfungsresultaten.
Den körperlichen Vorgängen sind die Sittlichkeitsdelikte von allen
strafbaren Handlungen am engsten verbunden. Untersuchungen, die in
Frankreich und Dänemark vorgenommen wurden 2, stellten den Juni
wiederum an die Spitze. Doch ist es gut, in einzelne Delikte aufzuteilen.
Drei Sittlichkeitsdelikte (nach Monaten)
Kinderschändung • Unzucht
§ 176 I, 3 Notzucht •• wider die Natur •••
Monat § 177 § 175, 175a
Anzahl Anzahl
I % % %
72,6%,spieltensichinabgeschlossenenRäumenab.WasimFreiengeschah,
wird meistens auf den Sommer fallen, wo die Entdeckung leichter ist!.
Es ist belehrend, andere Raumbeziehungen, in denen sich neue
physische wie soziale Einflüsse paaren, in den Monatsablauf hinein-
zuziehen. Von DRuKKER stammen die folgenden Zahlen 2:
Sittlichkeitsdelikte nach Jahreszeiten (Niederlande 1911-1930)
1 ASCHAFFENBURG, S. 40.
2 Abgedruckt bei VAN BEMMELEN, a. a. 0., S. 104 (Auflage von 1958).
3 WESSEL, S. 16.
4 Anderer Ansicht ist EXNER (Kriminologie, S. 62. Berlin 1949). - Pädagogen
schreiben jungen Menschen, die sie vor Versuchung bewahren wollen, vor, sie sollten
in einem kalten Zimmer schlafen, gewiß eine Kur durch Temperatureinflüsse.
Der Monatsrhythmus 151
Es sind dies Morde, und sie schließen keinen Totschlag ein. Im ganzen
sind es 45 % aller schweren Tötungen; sie unterstehen jenen Kräften,
die die Eigentumsdelikte regeln. So ist denn auch das Jahresende schwer
belastet 3. Die kleinen Zahlen freilich warnen.
Da die Mordstatistiken nicht nach den wichtigsten Mordtypen in
ihrem jahreszeitlichen Umlauf trennen, ist die Zusammenfassung von
Auch ist die Wiederkehr von gleichen Zahlen dem Statistiker nicht
ganz geheuer. Das Leben ist gewöhnlich nicht so eben, und auch die
Wettertypen haben nicht Bestand. Vor allem können wir nicht wissen,
wie das Dunkelfeld nach Jahreszeiten sich erweitert und zusammenzieht,
und wie die Opfer, in der Mehrzahl Frauen \ reagieren. Vielleicht enthält
der alte Spruch, daß Narren hochempfindlich für das Wetter sind, ein
wenig Wahrheit 2 • Man trifft sie auf der Täter- wie der Opferseite.
d) Nach amerikanischen Zahlen, die sich widersprechen, kulminieren
die wichtigsten Eigentumsdelikte am Jahresende 3.
Eine Soziologie des Winters ist noch nicht geschrieben worden, weil
Stadtbewohner glauben, die Wirkungen der kalten Jahreszeit hinter sich
gelassen zu haben. Frühere Zeiten stellten den Winter einem Todfeinde
gleich 4 und man mußte froh sein, wenn er vorüber war. Besonders hart
trifft der Winter die Menschen, wenn er mit einer großen Depression 5
zusammentrifft. Solche addierten Kalamitäten wiesen die Jahre nach
dem großen amerikanischen Börsenkrach vom Oktober 1929 auf.
I So die deutschen Mordzahlen (Krim.-Stat. 1932, S. 37). Nach dem Durch-
schnitt der Jahre 1928-1930 waren von den Mordopfern 56 % weiblich, 44 % männ-
lich. - Die amerikanischen Zahlen der "Tötungen" weichen erheblich davon ab.
Siehe WOLFGANG, S. 31 und 32.
2 "Fools are weatherwise." APPERSON: English proverbs and proverbial phrases,
S.226. Londonl929. - Wegen dieser Wetter"klugheit" heißt es wohl auch: "Fools
are wise men in the affairs of women." Ebenda.
3 Uniform Crime Reports 1940, S. 165. - Die letzten Uniform Crime Reports
von 1958 melden ein Maximum des Diebstahls im April, ein Minimum im Dezember.
Gegen diese Zahlen spricht alle Wahrscheinlichkeit. (Washington 1959, S. 71.)
4 Siehe das französische Sprichwort bei P ARTRIDGE, S. 488.
5 Siehe die Zahlen auf S. 155 unten.
Der Monatsrhythmus 155
Januar. 443000 55
Februar 537000 54
März. 507000 55
April . 443000 57
Mai 240000 60
Juni. 205000 64
Juli . 278000 62
August 256000 61
September 276000 65
Oktober . . 350000 63
November 288000 61
Dezember. 366000 62
* Annual Report of the Fire Marshal, State of Iowa 1941, S. 21. Des Moines 1942.
** Colorado Agricultural Statistics, S. 78. Denver 1943.
1 "Also von München bin ich nach Garmisch damals gefahren. An einem Hotel,
das viele abgeteilte Balkons hatte, sind dichte Ranken gewachsen. An denen bin
ich hinaufgeklettert ... Zu den offenen Balkontüren oder Fenstern bin ich in die
Zimmer hinein. Manchmal schliefen Pärchen drin, und die haben natürlich gar
nichts gemerkt. Ich habe mir den Monatsaufang ausgesucht, denn da waren die
Brieftaschen voll." BE~'lBE, HANS: Gefährliches Blut. Der Lebensbericht des 17jäh-
rigen Wilfried Helm, S. 134, 135. Stuttgart 1950.
158 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
1 Nach römischem Glauben waren die Menses in jedem dritten Monat verstärkt.
PLINIDS: hist. nato VII, 13,1.
2 Lunatics, französisch lunatiques, spätlateinisch lunatici. - In SHAKESPEARES
Othello entschuldigt der Mohr seine Untat: "It is the very error of the moon."
Weil er zu nahe kommt, nimmt er dem Menschen den Verstand (V, 2).
3 König Heinrich V., 2,4; 2. Teil: 11. Heinrich IV., 4,4.
4 SUETON: Augustus 81. 5 PLUTARCH: Pompeius 79.
6 JONES, WILLIAM: Oredulities, past and present, S. 505. London 1898.
7 Neuer Pitaval, Bd. 11, S. 171.
1 "Es ist heute mein Geburtstag", sagte sie, "alles, was in der letzten Zeit ge-
schehen ist, ist wieder lebendig vor meine Seele getreten, und ich kann es nicht
ertragen, daß Eduard Röhner, für welchen ich immer noch heiße Liebe empfinde,
mich beharrlich als eine Lügnerin darstellt. Ich muß darüber von ihm Aufschluß
haben. Lassen Sie, zu meiner Beruhigung, ihn nochmals in meiner Gegenwart
kommen." Neuer Pitaval, Bd. XXX, S. 268.
2 EGGERATH, WERNER: Nur ein Memch, S. 138. Weimar 1947.
3 SQUIRE, Amos 0.: Bing Bing doctor, S. 204. New York 1935.
4 WOSNIK, RICHARD: Beiträge zur Hamburgischen Kriminalgeschichte, Bd. I/I,
S. 162. Hamburg 1926.
5 MURRI, LINDA: Das Verhängnis meines Lebens, S. 409. Wien 1906.
6 STEINER und GAY: Der Fall Kürten, S. 22. Hamburg o. D.
160 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
1 Ein paar andere Fälle: Der Elternmörder Manfred Buchholz gesteht vier Tage
nach seinem Geburtstag (Tagesspiegel 7. April 1959). - Wolfgang Obermayer
erwürgt an seinem 18. Geburtstag seine Freundin Monilm (Münchner Merkur vom
3. Juni 1958). - Pariser Taxifahrer wird an seinem Geburtstag erschossen (Le Monde
8. April 1952). Genau am gleichen Tage war er vor drei Jahren schon einmal an-
gefallen worden.
2 Geboren am 23. April 1564, starb er am 23. April 1616.
3 PLUTARCH: Brutus 40,43. - Ebenso starb König Attalus an seinem Geburts-
tag. PLUTARCH: Gamillus 19.
4 BEVERIDGE,P.: Inside the G.I.D., 8.161. London 1959. - Ein sogenannter
"Weibsteufel" wird von lirern Manne an lirern Geburtstag mit einem festlichen
Likör vergiftet. MosTAR, HERMANN: Nehmen Sie das Urteil an? 8. 206. 8tutt-
gart 1957.
5 CRAWLEY, ERNEST: Oath, curse and ble8sing, S.147. London 1934. - Man
könnte denken, daß die vielen Wünsche und Gaben eine leichte Besorgnis andeuten.
6 BREDoN, J ULIET, und IGOR MrTROPHANOW: Das Mondjahr, chinesische Sitten,
Bräuche und Feste, 8. 271. Wien 1953.
Der Tageslauf 161
dem Glauben mancher primitiver Völker den Verlauf des Daseins!. Wie
diese Symbolik sich in die Reihe der Naturgesetze einordnen könnte, bleibt
forschender Bemühung vorbehalten. Sie könnte mit den einfachsten
biologischen Zusammenhängen, etwa dem Vergleich der Geburts- und
der Todesdaten beginnen.
Kriminelle Verhaltensweisen sind im Vergleich zum Tode höchst ver-
wickelte Komplexe. Beim Raubmord sind starke exogene Momente ein-
gemischt. Beim Lustmord sind die endogenen Kräfte stärker ausgeprägt,
obschon die Materialbeschaffung sehr viel schwerer ist, von der allein die
Untersuchung ihren Ausgang nehmen kann. War es der reine Zufall,
wenn der Lustmörder Witt das erste Dienstmädchen am 17. April 1892,
einem Ostersonntag, erwürgte, das zweite Opfer am 7. April 1895 (Sonn-
tag vor Ostern) ums Leben brachte 2 ? Wer wird hier nicht an einen Rhyth-
mus der Begehrlichkeiten denken, der manchen Menschen von Geburt
gegeben ist? Peter Kürten legte sein überraschendes Geständnis, das zu
seiner Festnahme führte, am 23. Mai 1930 ab 3 • Er war am 25. Mai 1883
geboren.
B. Der Tageslauf
a) Menschen, Tiere und Pflanzen unterliegen von Mitternacht bis
Mitternacht einem Kreislauf von Kräften, der die verschiedensten
Reaktionen hervorruft. Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit, Luft-
elektrizität, Bestrahlung mit Licht und andern Elementen wirken auf
die lebende Materie machtvoll ein, legen sie im Schlafe still oder spornen
sie zu erhöhter Leistung an. Diesem Auf und Ab folgen die psychischen
Funktionen. In den rhythmischen Ablauf, den die Jahreszeiten ansteigen
oder absinken lassen, sind plötzliche Krisen: Gewitter, Stürme, Regen-
güsse, Nebel eingelagert.
Jeder Tagesstunde gibt das Gemeinschaftsleben einen vorbestimmten
Inhalt. Turmuhren ordnen unsern Lebensgang vom frühen Morgen bis
wir uns zu Bette legen. Aus den Verstecken, die uns in der Dunkelheit
geborgen haben, den Häusern, Nestern, Lagern tief im Dickicht, kommen
Menschen und Tiere hervor und gehen an das Tageswerk. Nachttiere
haben einen andern Rhythmus und leben davon, daß die Beute sich zum
Schlaf zurückgezogen, die Schärfe seiner Sinne für die Zeit der Ruhe ab-
gerüstet hat.
1 FRAZER, Sir JAMES: The golden bough, Abr. ed. S. 37. London 1950. - An
die Stelle des Glücksterns bei der Geburt ist im christlichen Glauben das Sonntags-
kind getreten. Von Sternen, also Konstellationen, spricht SHAKESPEARE (Was ihr
wollt, lI, 5).
2 W OSNIK: Beiträge zur H amburgischen Kriminalgeschichte, Bd. lI/3. Ramb. 1927.
3 STEINER und GAY, a. a. 0., S. 92.
Die Eule wird ganz anders denken. Dem Menschen aber ist die Nacht
Periode der Gefahr, der Ohnmacht, der Blindheit und, wie aus vielen
Dichterworten hervorgeht, der Vergänglichkeit. Für die alten Völker
war die Nacht die Mutter des Tages, nach ihrem Götterglauben war sie
eine Tochter des Chaos \ in deren Schoß erst das Licht, dann der Tag auf-
wächst. Verwandt mit der Nacht ist der Erebus, das Dunkel der Meeres-
tiefe und des Totenreiches, alles Stätten eines herabgesetzten unvoll-
kommenen Lebens. Strahlend und erregend zieht dagegen das Gespann
des Tages über den Himmel. Der Tag war für die alten Griechen gut,
glücklich, "weißschimmernd" im Gegensatz zur grauenvollen Düsterkeit
der Nacht. Der helle Tag war Freude, Lebenslust. Schwarz war die Galle,
die Melancholie. Der Tag ist Leben und die Nacht ist Tod. "Es kommt
die Nacht, da niemand wirken kann 2."
Zauberische Mächte regen sich besonders, wenn die Dunkelheit am
tiefsten ist, um Mitternacht oder wenn Tag und Nacht miteinander rin-
gen, in der Dämmerung, ehe die Sonne aufgeht oder wenn sie am Unter-
gehen ist. Die zauberkräftige Mittagsstunde gehört dem heißen Klima
an, wenn der Waldgott Pan Menschen und Tieren, die in der brütenden
Hitze schlafen oder dösen, durch plötzliche Laute Schrecken einjagt.
Die nordischen Länder kennen diese dumpfe Schwülewirkung nicht.
Aber manche Zauberpflanzen müssen um die Mittagsstunde ausgegraben
werden 3, wo Mitternacht und Mittagsstunde noch die gleiche magische
Kraft besitzen; man wird an eine Urheimat denken müssen, in der die
Tagesmitte drückend heiß und eine zauberische Stunde war.
Der Gedanke, daß böse Geister nachts durch die Dörfer ziehen und
daß die Nacht dem Schadenzauber günstig ist 4 , führte in der römischen
Kaiserzeit zur erschwerten Bestrafung des nächtlichen Diebes 5. Das
1 HESIOD, Theogonie 123.
2 Joh. IX, 4.
3 Zum Beispiel die Wünschelrute. - Erschlafft von der Wirkung des Mittags
"silvaque sole", also der Waldeinsamkeit und der Hitze (OVID III, 412) legen sich
Jünglinge und Mädchen nieder und werden in ihrem Bann zur Liebe verführt oder
gezwungen (OVID VII, 811 ; III, 151: "wenn sich der Boden von der Hitze spaltet").
Mit dem Rückgang des Jäger- und Nomadenlebens zieht sich die Liebe aus Büschen
und Grotten und der entkleidenden, einschläfernden Hitze in den Schutz der
Dunkelheit zurück. In kultivierteren Zeiten spricht der Dichter von dem "süßen
Geflüster zur Nachtzeit "lenesque sub noctem susurri" (HoRAz, Oarm. I, 9, 19). -
Über Tag und Nacht im Orient siehe NÖTscHER, F.: Biblische Altertumskunde,
S. 260, Bann 1940; das soziale Leben war in einen andern Ablauf eingezwängt.
, OLDENBERG, HERMANN: Religion des Veda, S.339. Stuttgart 1923. - Die
Zauberin Medea kocht zur Nachtzeit ihre Gifte zusammen ("nox arcanis fidissima",
OVID, Met. VII, 192) und die Hexe Canidia singt ihre magischen Sprüche, wenn die
Sterne funkeln (HoRAz, Ep. XVII, 5). - "Nächtlicherweile", schreibt EDuARD
STEMPFLINGER (Antiker Volksglaube, S.92, Stuttgart 1948), "arbeiten die Zauberer
bei Tibull, Apuleius, Lukian und Theokrit."
5 MOMMSEN, THEoDoR: Römisches Strafrecht, S. 277. Leipzig 1899.
Der Tageslauf 163
Tabu, das über dem verdunkelten Teil des Tages liegt, gibt sich auch bei
der Strafvollstreckung kund; der Vollzug des Todesurteils an einem Fest-
tag oder zur Nachtzeit ist nicht statthaft!. Zu den festlichen Gelegen-
heiten zählte auch das Neue Jahr 2 , sein vielgefeierter "Geburtstag".
Nach altem deutschem Recht wurden bestimmte unheimliche Übel-
täter auf dem Kreuzweg begraben "und nicht über die Schwelle, deren
Heiligkeit nicht entweiht werden durfte, aus dem Hause getragen, son-
dern durch ein Loch unter der Schwelle hergeschleift3." Neben dem
Ketzer war es der beim Einbruch erschlagene nächtliche Dieb. Ihm
haftete die ganze Unehrlichkeit seiner Tat an. Auch nach den alten
deutschen Quellen sollte Gericht nur bei "scheinender Sonne" abgehalten
werden. Dazu bemerkt GRIMM 4 : "Gegenüber der Notwendigkeit des
Tages und Lichts zu allen menschlichen Verrichtungen steht das nächt-
liche Treiben der sonnenscheuen Geister, Elfen und Zwerge." Wie die
.Juden den Leichnam des Hingerichteten der Berührung mit dem Tabu
des Festtages zu entziehen suchten 5, so wurde auch bei den Deutschen
die Strafe vor Sonnenuntergang vollzogen. GRIMM 6 weist darauf hin, daß
solche nächtlichen Hinrichtungen, die jeder deutschen Sitte zuwider-
liefen, in Griechenland gang und gäbe waren und in Sparta wie Athen
vollzogen wurden.
Manche mittelalterliche Rechte erklärten Begehung zur Nachtzeit
bei allen Vergehen als Erschwerungsgrund 7 • Die Franken kannten den
nächtlichen AngriffS, andere Quellen den nächtlichen Raub 9. Der Dieb-
stahl zur Nachtzeit war ein wichtiges Problem und wurde schon in ein-
zelnen Stammesrechten mit schwerer Strafe bedrohPO. "Im Mittelalter
bewirkt nach manchen Quellen die Nachtzeit, daß auch ein sonst nicht
todeswürdiger Diebstahl mit dem Tode bestraft wird. In einzelnen Fällen
gilt die Wegnahme überhaupt nur dann als Diebstahl, wenn sie bei Nacht
erfolgt." Wie jetzt noch in allen Ländern, die viele Holzbauten haben,
war die Brandstiftung sehr gefürchtet. "Das ist Mordbrand" , heißt es
im Jütischen Gesetzbuch, "wenn man zur Nachtzeit ... Feuer legt l l ."
Zur gleichen Gruppe gehört die nächtliche Heimsuchen ("bei Nacht und
Nebel"), der nächtliche Kornschaden und der Holzfrevel zu nächtlicher
Stunde!. In all diesen Vorschriften kommt die Furcht vor den erhöhten
Chancen des nächtlichen Rechtsbruchs zum Ausdruck. Uralte Erfahrung
erteilte dem Gesetzgeber die gleiche Lehre, die heute noch aus den
Zahlenreihen der Kriminalstatistik spricht, obschon die äußere Gestalt
der Welt nicht mehr die gleiche ist.
Die alte Wendung "Nacht und Nebel" erinnert an eine andere Macht,
die die Sicht einschränkt, den Menschen isoliert, den Schutz der Gemein-
schaft aufhebt und die Flucht des Angreifers erleichtert. Nach der Sage
machen sich Zwerge mit der "Nebelkappe" unsichtbar, im Nebel wogen
unheimliche Gestalten hin und her wie Erlkönigs Töchter. Während aber
der Wanderer auch im dichten Nebel zur Not seinen Weg findet, ist er
für die Welt des Autos und des Flugzeugs zu einer Behinderung geworden,
die schwerer wiegt als jede Nacht und keinen Mondschein kennt. Welche
gewichtige Rolle der Nebel im Kriege spielt, habe ich selbst erfahren;
Schlachten sind um viele Stunden aufgehalten und beinahe verloren
worden, weil Nebel länger als gewöhnlich auf der Landschaft lag. Die
Schiffahrt kennt auch heute noch keinen tückischeren Feind.
Nordische Länder, besonders England, aber auch die Westküste
Amerikas, leiden besonders unter dem Nebel. Die bedenklichsten Monate
sind in England November und Dezember, die Zeit, in der die Eigentums-
delikte sich anzuheben beginnen. Entschlossene Raubüberfälle werden
in die Zeit gelegt, wenn eine schwere Nebeldecke über Südengland liegt 2
und der gesamte Bus- und Flugverkehr zum Erliegen kommt. Banken
treffen daher besondere Vorsichtsmaßregeln, schließen häufig ihre Schal-
ter. Im Betrieb der amerikanischen Zuchthäuser sind Nebeltage ge-
fürchtet. In Joliet werden die Häftlinge in den Zellen gehalten und be-
kommen dort ihr Essen 3 • In San Quentin gelten die Tage, an denen
besonders im Winter dichter Nebel von der See hereinkommt und die
Hügel verschleiert, als Ausbruchstage 4 • LAMsoN hat die Atmosphäre
der Spannung geschildert, die sich über die Riesenanstalt legt. Sie erfaßt
Gefangene wie Beamte in gleicher Weise. Die dumpfe Erwartung wird
plötzlich durch Schüsse aufgepeitscht, die von den Wachttürmen abge-
geben werden. Sie gelten irgendeinem Schatten an der Mauer oder Kisten,
die draußen in der Bai schwimmen. Wir denken nur daran, daß wir nicht
sehen können. Es ist wahrscheinlich, daß der Nebel auf die Psyche
1 HIS, RUDoLF: Deutsches Strafrecht bis zur CaroliM, S. 162. - Reste der alten
Verbote sind noch erhalten in § 243 I, Ziff. 7; § 292 II und § 293 II StGB.
2 Berühmt ist der Raubüberfall auf das Hatton Garden Postamt London vom
November 1881. Schwarzer Nebel lag über der Stadt; ein Komplice sperrte den
Gashahn ab, so daß das Licht erlosch. - MACCLUER STEVENS, C. L.: Famou8 crimes
and criminal8, S. 40ff. New York 1924.
3 MARTIN: Break down the wa1l8, S. 133. Garden City 1938.
4 LAI\1S0N, DAVID: We who are about to die, S. 74. New York 1935.
Der Tageslauf 165
Einfluß hat, obwohl wir uns damit noch nicht beschäftigt haben. Auchmuß
man an die Wirkung jener Kräfte denken, die den Nebel produzieren.
PETER BEVERIDGE, Leiter einer mobilen Polizeieinheit zu Beginn des
Krieges, hat die künstliche Nacht geschildert!, die der Bombenkrieg und
die Verdunkelung über London brachten. Hunderte von Deserteuren, die
auf ehrliche Weise wegen der Rationierung weder Nahrung noch Kleidung
erhalten konnten, fielen wie Wölfe über die Stadt her und gingen zum
Angriff auf jedes rar und teuer gewordene Objekt über, kosmetische Mittel,
Zahnpasta, Kleidungsstücke, Seidenstrümpfe. Die hohen Verdienst-
möglichkeiten stellten eine ganz Deue Klasse von Hehlern auf die Beine.
Die Arbeit der Polizei war durch zahlreiche neue Aufgaben, die der
Bombenkrieg mit sich führte, erschwert. Die Polizeiautos mußten mit
abgeblendetem Licht fahren, die Radioverbindung war aus militärischen
Gründen bisweilen Stunden stillgelegt. Besonders im Westend machte
sich eine Seuche von nächtlichen Handtaschenräubereien breit. In den
verdunkelten Straßen wurden die Fensterscheiben eingeschlagen und die
Auslagen ausgeräumt. Ein Laden nach dem andern wurde in den elegan-
ten Geschäftsstraßen ausgeraubt und hauptsächlich Schmuck erbeutet.
Daß die Nacht selbst zahlreiche Vorgänge des menschlichen Organis-
mus verändert, daß zwischen Licht, Auge und dem System der inneren
Drüsen Wechselbeziehungen bestehen, wir also verschiedene Menschen
bei Tage und bei Nacht sind, ist uns erst klar geworden, seitdem, ganz
besonders im Kriege, die Nachtarbeit großen Umfang angenommen hat.
Ein Mann, der Ingenieur in einer großen Olraffinerie wurde, hat diese
Umschaltung beobachtet und beschrieben:
"Es ist verwunderlich, daß so viele Menschen sich zur Nachtarbeit entschließen,
ohne daß sie wissenschaftlich oder sonstwie beraten werden. Man hat das Gefühl,
als ob alle unsere Instinkte gegen Millionen Jahre der Entwicklung kämpften, wenn
man versucht, nachts auf zu sein und über Tag zu schlafen. Der Körper rebelliert,
das Herz flattert, es rauscht in den Ohren wie nie zuvor, man träumt wilde Träume 2. "
Die Nachtschicht hieß im ersten Weltkrieg in Amerika die "Kirch-
hofschieht". Die Unfallrate war nachts um 50% höher als am Tage 3 :
Unfälle bei Tag- und Nachtschicht, 1915
auf 1000 Arbeiter, die 300 Tage arbeiteten
Als mit dem Kriege eine längere Arbeitswoche kam, sank die Leistung
bei Tage um 3,5%, bei Nacht um 6,5%, besonders an Freitagen und
Sonnabenden 1. Man könnte die letzten Wochentage arbeitsdynamisch
mit dem Abend und der Nacht vergleichen. Exzesse später Stunden und
des Wochenendes sind die Folgen von Erschöpfung, wie wir auch wissen,
daß der Sonnabendmensch ein besseres Opfer ist.
b) Es gibt eine Reihe von Delikten, die ihrer Natur nach hauptsächlich
nachts begangen werden. Der Nachtportier muß mit Überfällen rechnen.
Im Mordprozeß Plank (Lindau 1923) erklärte der Angeklagte, er habe
keine Furcht gekannt, "auch heute nicht, obschon die Nacht stockfinster
war, der Mond von schwarzen Wolken verdeckt, kalt und naß, ein Wetter
geschaffen für Schmuggler 2." Als Eisenbahnen noch das einzige Ver-
kehrsmittel waren, pflegten Falschspieler die Nachtzüge zu benutzen.
Es war ihr Trick, vielversprechend aussehende Opfer in unauffälliger
Weise nachts zwei Uhr zu wecken, lustige Geschichten zu erzählen, den
andern allmählich munter zu machen und dann den biederen Vieh-
händler aus Texas zu markieren, den man leicht beim Spiel hereinlegen
konnte 3 . Der wesentliche Teil des Sexuallebens spielt sich bei Nacht ab,
und an diese vor der Welt verborgene Praxis setzen sich Diebstahl, Raub
und Erpressung an. In Amerika bewahren viele Frauen ihren kostbaren
Schmuck in einem Bankfach auf. Sie möchten auf Gesellschaften und
bei festlichen Gelegenheiten mit ihren Juwelen glänzen und holen ihn
am Nachmittag heraus, um ihn am nächsten Morgen wieder zurück-
zubringen. Über Nacht liegt er bei ihnen in der Wohnung; das ist der
Augenblick, in dem der Einsteigdieb zupackt 4. Wenn ein kostbarer
Rubin die ganze Nacht im Schaufenster eines Juweliers erglänzt, kommt
der erfahrene Dieb zu dem Schluß, daß er nicht echt sein kann 5. So
günstig ist die Nacht für diese Art von Diebstahl.
Bei großen Seuchen wird versucht, alles was niederdrücken könnte,
nachts auszuführen, wenn niemand, wie man glaubt, die traurige Ver-
richtung sieht 6. Hotels lassen Selbstmörder und Ermordete in den frühen
Morgenstunden abtransportieren, benützen auch dabei den Neben-
ausgang. Der Mörder hat die gleiche Technik des Versteckens in
Scheunen, Kellern, Seen und Flüssen. Brandstifter machen sich bei
KOSSORIS, MAX D.: Ebenda, Bulletin 791, Washington 1944, S. 8.
1
MosTAR, HERMANN: Unschuldig verurteilt, S. 141. Stuttgart 1956.
2
3 IRWIN, WILL: Confe88ions of a con man, S. 124ff. New York 1909.
4 BLACE. J ACE: a. a. 0.. S. 136.
5 Ebenda. S. 168.
G Von der großen Londoner Pest berichtet DANIEL DEFOE (A journal of the
plague year. S. 201, London 1950): "Alle notwendige Arbeit, die erschrecken konnte
und gleichzeitig grausig und gefährlich war, wurde während der Nacht ausgeführt ...
Alle Leichen. die in die Massengräber geworfen wurden ...• wurden bei Nacht fort-
geschafft. "
Der Tageslauf 167
Dunkelheit ans Werk; der Brand wird erst sehr spät bemerkt, kann seine
Wirkung voll entfalten. Auch ist der Anblick nachts besonders stark
erregend, der Gegensatz der Menschenangst und des entsetzten Durch-
einanders zur Stille, die vorherging, ein besonderer Reiz der Sittlichkeits-
verbrecher und Sadisten, wie Kürten einer war. Als die Leute schreiend
umherliefen und der grelle Feuerschein die Nacht durchdrang 1, wurde ihm
erst wohl zumute. Er gestand, daß es bei großen Bränden immer zum
Samenerguß kam. "Es war ein schönes Schauspiel, wie bei dem scharfen
Ostwind eine Kiefer nach der andern in Flammen hochging - das war
wundervoll. "
Zu den Kräften, die das Verhalten bei Tag und Nacht bestimmen,
gehört die Isolierung, der Rückzug von dem Schutze der Gemeinschaft.
Der Geisterglaube ist zum Teil ein Kind der Einsamkeit 2 , die auch im
langen Winter an den Nerven rütteln mag 3 und sich in einer Art von
"Zuchthausknall" entlädt. Wenn Opfer isoliert sind, schlägt der Krimi-
nelle zu; die Nacht ist keines Menschen Freund, nur des Verbrechers
Spießgeselle, am längsten aber ist die Winternacht. Im Sommer wird
geplant und ausgeheckt 4. Sehr viele Berufsverbrecher schlafen bis tief in
den Tag hinein 5. Erst müssen sich die Kassen füllen, bevor es lohnt
hineinzugreifen. Eine Ausnahme sind nur die morgendlichen Geld-
transporte. Einzahlungen erfolgen zwischen 2.30 und 3.30 Uhr nach-
mittags. Erst wenn die Banken geschlossen haben, beginnt der Abtrans-
port der Gelder. Die meisten Raubüberfälle gehen nachmittags, abends
oder nachts vor sich. Der Kriminelle schmiegt sich dieser Flut und Ebbe
an. Er ist ein Nachtarbeiter, ruht bei Tage 6, wie es der Arbeitsrhythmus
Prostituierter ist.
Doch "das" Verbrechen kreist nicht nur um Geld und Geldbewegung.
Der kriminelle Angriff kann blitzschnell erfolgen wie beim Morde oder
bei der unzüchtigen Berührung eines Kindes. Er kann beim Bank-
1 BERG, KARL: Der Sadist, a. a. 0., S. 315. Dtsch. Zeitschr. ges. gericht!. Medizin,
Bd. XVII, S. 315.
2 Siehe SHAKESPEARES Richard 111. (V, 3). - Der König nennt die tiefe Mitter-
nacht" dead" midnight.
3 Dem Stadtmenschen sind die psychischen Spannungen langer und einsamer
Wintertage nicht mehr geläufig. Von einem in Dakota eingeschneiten Einwanderer
wird berichtet: "Ein Tag kam, da brauste Per Hansa in einem Wutanfall auf, der
ihn selbst erschreckte; er schlug wild um sich und zerschmetterte alles, was ihm in
die Finger kam." ROELVAAG, O. E.: Giants in the earth, S.215. New York 1929.
4 Die Bande Herbert Wilson ruhte sich im Sommer in der Sonne aus. "Ich hatte
ein mnfangreiches Programm für die kommenden Wintermonate ausgearbeitet,
eine lange Reihe von Objekten, die von San Diego bis Portland reichten." WILSON,
I stole ... , S. 69.
5 DINNEEN: Underworld, S. 81.
6 Opferstockdiebe arbeiten dagegen in den Mittagsstunden, wenn die Kirche
leer ist.
168 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
stimmen, noch nennen die Strafurteile immer die Tagesstunde, wenn sie
im gegebenen Falle die Zeit für nebensächlich halten, z.B. beim Betrug.
Eine entscheidende Einzelheit enthält uns die Statistik vor. Wir können
nur mit Aburteilungen operieren, höchstens auf die Ziffern der Anzeigen
zurückgreifen. Dadurch entgeht uns die große Mehrzahl der Delikte.
Es könnte aber sein, daß die Entdeckungschancen nach Tageszeiten
nicht die gleichen sind!. Die Täter- wie die Opferseite könnte bei Tage
und bei Nacht verschieden reagieren. Zwar tagen die Gerichte nur bei
Helligkeit2, doch ist die Polizei zu jeder Tagesstunde tätig. Sie kann sich
dieser Wirkung nicht entziehen. Wir kennen zahlreiche Morde, die erst
entdeckt werden, wenn morgens die Putzfrau kommt oder das Zimmer-
mädchen gegen Mittag die Hoteltür öffnet, weil sich der Gast nicht rührt.
Je früher nachts der Mord begangen wird, um so mehr Stunden bleiben
zur Flucht, zum Zusammenbrauen eines Alibis und zur Verwischung
jeder Spur. Der Mord bleibt ungeklärt. Die Statistik reiht ihn in keine
Tagesstunde ein. In andern Fällen läßt sich nicht bestimmen, wann
ein Mord begangen wurde, nicht einmal immer, wann das Opfer zuletzt
am Leben war. Der einzige Zeuge schweigt, der bei andern Verbrechen,
dem Raub zum Beispiel und der Notzucht, genaue Auskunft geben kann.
Wahrscheinlich sind die Übertretungen psychologisch ebenso be-
deutsam wie viele "ernstere" Delikte. Ich stelle Trunkenheit und Über-
1 Für diese Annahme spricht die von WOLFGANG (Patterns, S. 294) angeführte
Tatsache, daß Tötungen bei Nacht in erheblich größerem Umfang zu den ungeklär-
ten Fällen rechneten als den geklärten.
2 Schwurgerichtsverhandlungen können sich bis in die frühen Morgenstunden
hinziehen. Wir können es dann mit Übermüdungsproblemen zu tun haben, die bei
den echten Schwurgerichten manchmal eine Rolle spielen.
170 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
0- 6 2,5 22,7
6-12 19,2 7,7
12-18 38,5 30,0
18-24 39,8 39,6
Was den meisten Angaben, die sich mit der Beziehung der Tages-
stunde zum Verbrechen befassen, fehlt, ist die weitere Aufspaltung. Sie
ließe uns trotz aller anderen Unsicherheiten viel tiefer in den rohen
Zahlenhaufen blicken. Sie würde ganz verschiedene Tendenzen zeigen,
die uns sonst nur verwischt entgegentreten. Schon eine Trennung nach
Geschlechtern führt uns weiter:
Tageszeit und Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen *
(Bonn, Nachkriegszeit)
Tagesstunden Gesamtzahlen I Jungen I Mädchen
9-12 7 - 7
12-14 8 2 6
14-16 10 5 5
16-19 39 9 30
19-22 21 9 12
22- 9 16 12 4
* WEGNER, ALBERT: Die Sittlichkeitsdelikte an Kindern und Jugendlichen im
Landgerichtsbezirk Bonn, 8.33. Diss. Bonn 1952.
1 Die spartanischen Mädchen hießen, weil sie einen hochgeschlitzten Rock
trugen, ,,8chenkelzeigerinnen". LICHT, HANS: Sittengeschichte Griechenlands, 8.72.
8tuttgart 1959.
172 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
Obschon der Zahlen viel zu wenig sind, ist eine entscheidende Ab-
weichung zu erkennen. Gefährdet sind die kleinen Mädchen in den frühen
Abendstunden. Die Jungen, beinahe alle über 14 Jahre, erlagen einem
Angriff nachts im Bett, als sie gemeinsam mit dem Täter schliefen.
Die Fälle sind mit denen auf der Mädchenseite schwerlich zu vergleichen.
OYRIL BURT l hat den Zusammenhang von Jahreszeit und Jugend-
Delinquenz berechnet:
In den zwei Stunden 4-5 und 6-7 werden 42,8 % aller Jugend-
delikte begangen. Auf dieses Zahlendunkel fällt sofort ein helleres Licht,
wenn wir die Liste der strafbaren Handlungen ansehen. Es waren:
993 Fälle von Diebstahl und ähnlichen Delikten
462 Fälle von Weglaufen und ähnlichen Delikten
399 Fälle von Gewalttätigkeit
289 Fälle sexueller Verbotsverletzung
259 Fälle von Sachbeschädigung
40% der Vergehen waren kleine Diebstähle aus offenen Auslagen 2
und dergleichen unbewachten Orten. Zu diesen Mausereien sagt BURT:
"Wenn man die Einzelfälle näher ansieht, so ergibt sich, daß ein großer
Teil der Dezember- und Januardiebstähle direkt durch Auslage von
Weihnachtsgaben in den Schaufenstern zu dieser Zeit angeregt ist 3 ."
Wie weit würden wir kommen, wenn wir diese Deliktsarten, dazu das
Geschlecht der Kinder, den Wochentag und die Wirtschaftslage 4 mit der
Stunde der Begehung kombinieren könnten. Erst dann enthüllte sich
ihr wahrer Sinn.
Die wissenschaftliche Darstellung, die z.B. Tagesstunde und Wochen-
tag voneinander ablöst, gewinnt an äußerlicher Klarheit, während sie
Zusammenhänge wiederum verdunkelt. Die Unfallzahlen würden lauter
zu uns sprechen, wenn wir nicht nur die Tagesstunden, sondern auch die
Wochentage kennen würden, womöglich auch die Monatszahlen, die
reine Jahresziffern uns verhüllen:
Verkehrsunfälle
Kansas City 1948 und 1949,
zwei ausgewählte Tageszeiten; 6705 Fälle*
Tagesstunden Zahl Prozentsatz
Wann fuhren Männer, wann die Frauen 1 Was war Geschäft, Beruf,
ein Muß des Fahrens 1 Wann fuhr der Fahrer zum Vergnügen, zur Er-
holung, vom Trinken, Lieben, Spiel, nach Hause 1 Die Wochentage wür-
den einen halben Einblick geben. - Taschendiebe, die die New Yorker
Untergrundbahn abgrasten, hatten ihre bestimmten" Geschäftsstunden".
"Wir gingen jeden Nachmittag um etwa 4 Uhr los und arbeiteten bis
6 Uhr abends. Wir machten ungefähr 100 Dollars am TagI." Die
Wochentagserlöse müssen ganz verschieden sein, sie geben erst der
Tagesstunde die Bedeutung. - Ein Geldschrankknacker teilt uns mit 2 :
"Als alles fertig war, beschlossen wir, den Riesenkasten (eines Geldschranks)
Sonnabend nachmittag in Angriff zu nehmen, sowie das Haus um 4 Uhr zugemacht
hatte. Detroit wurde damals von einer kleinen Hitzewelle heimgesucht."
Weil keine Heizung zu besorgen war, trat der Nachtwachmann erst
um 8 Uhr an. Unfern der Bank stand ein Verkehrsschutzmann, seine
ganze Aufmerksamkeit war auf den starken Sonnabendnachmittag-
verkehr gerichtet. Vergnügt und arglos strömten die fußgänger ins
Freie; man war in bester Laune, ohne jeden Arg, als schwere Kisten
ausgeladen wurden; man freute sich, daß andere schwitzen mußten.
Zwei von den Gaunern hatten sich als Neger schwarz gemacht, die andern
steckten mit dem Arsenal von Schneidbrennern in den Kisten. Hier
hing die Stunde von dem Wochenende ab. An jedem andern Tage war
die Zeit unmöglich. Der Feiertagsverkehr, der abgelenkte Schutzmann,
die große Hitze gehörten mit zur Gunst der Tagesstunde.
Die frühen Morgenstunden eignen sich am besten für den erfahrenen
Kriminellen, der einsteigt, einbricht oder sich eines Nachschlüssels be-
dient. Eine jede solche Unternehmung bedarf aber, wenn sie sorgsam
vorbereitet ist, bestimmter Wochentage und Gelegenheiten. Der beste
1 CALLAHAN: Man's grim justice, S. 35.
2 Die Darstellung des Einbruchs findet sich bei H. E. WILSON: I stole 16,000,000
Dollars, S. 77ff. New York 1956.
174 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
einem Sonntag nach 2 Uhr ereilte ihn das Schicksal. Er mußte seiner
vielgeliebten Freiheit wegen einen Mord begehen, als ihn ein Kriminal-
beamter stellte. Als Schutzmannsmörder war sein Schicksal bald be-
siegelt. Wir würden ohne Sonntag diese Tagesstunde nicht verstehen.
d) Der Tod hat seinen Tagesrhythmus : Hinscheiden, wenn die Zeit
gekommen ist, Unfall durch eigene oder fremde Schuld, Selbstmord und
mörderische Tat. Da es sich um verwickelte Kausalitäten handelt und
der Mensch zunehmend in der Nacht lebt und seine Problematik mit sich
schleppt, sind keine Übereinstimmungen zu erwarten. Weil aber in nor-
malen Todesfällen und Selbstmorden eine Reihe unentdeckter Morde
stecken, ist eine Untersuchung aller Todesphänomene angezeigt. Der
Anfang ist mit großen Zahlenreihen fortzusetzen.
Aus Frankreich kommen Daten, die eine langsame Verschiebung der
Sterbestunde zu erweisen scheinen!:
Die Sterbestunde
(1907-1924, auf 1000 Todesfälle, 15 Jahre und älter)
1907-1913 1914-1919 1920-1924
(87 Dep.) (77 Dep.) (90 Dep.)
I
Frankreich
0- 6 276 283 254
6-12 234 257 273
12-18 262 258 242
18-24 209 203 232
Paris
0- 6 292 302 277
6-12 244 248 257
12-18 247 242 234
18-24 217 207 231
Die Sterbestunde hat sich vom alten Maximum der frühen Morgen-
stunden in letzter Zeit im ganzen Land auf die Zeit von 6 Uhr morgens
bis mittags verschoben; Paris ist dieser Bewegung noch nicht gefolgt.
Die großen Zeiträume (6 Stunden) erlauben nicht zu erkennen, ob dieser
Anstieg sich um die Mitternachtsstunden oder die Morgenstunden (etwa
4-6) gruppiert.
Ob Männer oder Frauen andere Sterbestunden haben, wäre noch zu
untersuchen. Beim Selbstmord stoßen wir auf Divergenzen.
Das große Dunkelfeld des Selbstmords rät zur Vorsicht, wenn wir
aus diesen Zahlen Schlüsse ziehen wollen; die andersartige Reaktion der
Frau ist offensichtlich, obschon die allzukleinen Daten warnen. Selbst-
Selb8tmord
(nach Tagesstunden, Alleghany County, Pennsylvania 1927-1933*)
Männer Frauen
Anzahl I % Anzahl I %
0- 6 59 14,1 8 12,1
6-12 138 33,0 18 27,3
12-18 127 30,4 26 39,4
18-24 94 22,5 14 21,2
* LUNDEN, WALTERA.: Stati8tic8 on crime8 and criminalB, S.50. Pittsburg 1942.
Tagesstunde
Deutschland Großbritannieu I Alleghauy
Pennsylvania
County
1928-1930 1901-1905
1905-1940
0- 2 7 23 223
2- 4 3 6 I 118
4- 6 2 4 69
6- 8 7 5 131
8-10 7 10 122
10-12 14 12 148
12-14 10 19 145
14-16 8 12 171
16-18 13 21 186
18-20 24 21 275
20-22 II 32 362
22-24 15 42 415
* Kriminalstatistik für das Jahr 1931, S. 36. Berlin 1934.
** Judicial Statistics England and Wales, Criminal Statistics 1905, S. 53.
London 1907.
*** LUNDEN, a. a. 0., S. 49.
1 Macbeth III, 2.
Der Tageslauf 177
Nur wenn wir wüßten, wie sich die zahlreichen unentdeckten Morde
nach Tagesstunden verteilen, wenn wir erfahren könnten, wann die
Morde geschehen, die aus prozessualen Gründen nicht abgeurteilt werden
(Selbstmörder, Geisteskranke usw.), würden wir das wahre Bild der zeit-
lichen Beziehungen gewinnen. Giftmorde lassen sich auf keine be-
stimmte Tagesstunde festlegen. Auf welche Stunde soll man die An-
stiftung, oft auch den Versuch ansetzen, die in der Kriminalstatistik als
Morde gezählt werden? In Pennsylvanien werden in den 6 Stunden
18-24 Uhr 45% aller Morde begangen. In jeder Stunde geschehen
rechnungsmäßig 95,5 Morde. Von 22-23 Uhr aber sind es 210, von
4-5 Uhr morgens nur 30. In England ereignen sich zwischen Mitter-
nacht und Mittag 30% aller Morde; zwischen Mittag und Mitternacht aber
sind es 70 %. Die deutsche Statistik weist für die Zeit von 4-6 Uhr
morgens 1,4% der Morde, für die Abendstunden 6-8 Uhr 18% auf und
verbreitet durch über 10% zeitlich unbestimmte Fälle lähmende Un-
sicherheit. Sie trennt auch nicht nach Mordtypen. Raubmorde müssen
aber anders liegen als Tötungsakte, in denen sich ein persönlicher Kon-
flikt oder sexuelle Begehrlichkeit entlädt.
Es ist eine wirkliche Bereicherung unseres Wissens, wenn W OLFGANG 1
seine Tagesstunden-Zahlen nach Rassen und Geschlechtern aufteilt. Wir
sehen, wie gemischt und wenig zuverlässig die addierten Zahlen sind.
Der anderen Rasse, nämlich Negern, gehört die doppelte Zahl der Opfer
an als der weißen Bevölkerung. Gesamtziffern geben also im wesentlichen
Negerdaten wieder:
Die vorbeugende Wirkung der Arbeitszeit, die Mann und Frau zumeist
getrennt hält, und die Umgebung, die eine gewisse Aufsicht ausübt,
machen sich von 8 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags geltend. Bei
beiden Rassen ist sie auf der Frauenseite weniger ausgesprochen. Die
späte Nacht (von 2 Uhr morgens bis 8 Uhr früh) zeigt etwas größere
Bewegung; Gefahr besteht vor allem für die weiße Frau. Der Nach-
1 WOLFGANG, a. a. 0., S. 108.
v. Hentig, Das Verbrechen I 12
178 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
mittag (von 2 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends) zeigt neuen, aber noch
nicht allzugroßen Anstieg.
Zwischen 8 Uhr abends und 2 Uhr früh schließlich wird die Hälfte
aller Tötungen begangen, wenn man die beiden Rassen zusammennimmt
(50,6 % der Männer und 46,7% der Frauen). Die Negerseite ist besonders
stark belastet. Andere Studien, die WOLFGANG anführt!, kommen zu
ähnlichen Ergebnissen. Es fielen in den Zeitraum 8 Uhr abends bis
2 Uhr früh:
53,4% (Birmingham 1937-1944 2 ),
47,1 % (Großbritannien 1886-1905 3) der Morde.
Der Mensch "erholt" sich nach der Arbeit vielfach durch Exzesse.
Die Disziplin der industriellen Werke, der Arbeitsstätten und Büros
macht abends dem Familienleben, seinen Unzulänglichkeiten, der Ani-
malität des Trinkens, Spielens, Streitens, Prügelns, Liebens Platz. Ein
jeder Abend ist ein kleiner Sonntag. Wir werden diesen arbeitslosen
Abschnitt bei den Wochentagen wiedertreffen, wo er genau wie bei den
Abendstunden eine Krisenatmosphäre vorbereitet. Wir ruhen nicht, wir
schütteln eine Last ab, ein Joch, das uns zum Bestandteil von Maschinen
machte.
C. Die Wochentage
a) Seitdem die Woche sich von dem 28-Tage-Monat abgelöst hat, nicht
mehr am ersten jeden Monats beginnt und viermal ihren Weg von Neu-
mond bis zu Neumond wandert, hat sie die physischen Zusammen-
hänge eingebüßt. Was übrig blieb, war nur soziale Rhythmik, von Men-
schenhand gebildet, stets einem neuen Eingriff ausgesetzt, wie wir ihn
mit der neuen langen Form des Wochenendes jetzt erleben. Was Men-
schen denken, herrscht tyrannisch über ihrem Handeln, und der Kalender
ist nur Ausdruck ihrer Glaubenssätze. Ein Blick nach Osten zeigt uns
einen völlig anderen Arbeits-Wochenzettel. "Das chinesische Volk", so
lesen wir 4 , "kennt keinen halbfreien Sonnabend, keinen müßigen Sonn-
tag. Es kann sich solchen Luxus nicht leisten. Der Kampf ums Leben
ist in einem so dicht übervölkerten Lande zu heftig, in einem Lande, wo
die Ahnenverehrung - diese Brücke zwischen menschlichen Heimstätten
und einer Welt der Geister, die Opfergaben und liebevollen Dienst brau-
chen - die Pflicht großer Familien darstellt und in dem der Mangel an
Söhnen die Tragödie der unterbrochenen Sippenlinie bedeutet."
1 WOLFGANG, a.a.O., S.llOff. 2 HARLAN, HOWARD.
3 MACDONALD. - Andere Arbeiten benutzen verschiedene Zeitmaße und eignen
sich deshalb nicht zu einem übersichtlichen Vergleich, so MEYERS (St. Louis) und
POTTERFIELD und TALBERT (in einem nicht genannten Orte, im Südwesten).
4 BREDON, JULIET, und IGORMITROPlIANOW: Das Mondjahr, Chinesische Sitten,
Bräuche und .Feste, S. 83. Wien 1953.
Die Wochentage 179
5 Ebenda, S. 61.
6 PARTRIDGE, a. a. 0., S.226.
7 Siehe meine Bemerkung: Aus der Geschichte des Zuchthauses Hüjingen, Monats-
schrift Bd. XXIV, S. 293.
8 PANZER, FR.: Bayerische Sagen und Bräuche, Bd. II, S. 185. München 1855.
9 WUTTKE, S. 410.
182 Zusammenhänge im Bereioh der Zeit
Muskelarbeit auf bestimmte Ziele richtet, das Sinnen von den Tagessorgen
abzieht. Dazu kommt noch die Trennung von der Familie, der Abstand
von den Quellen der Erregung, der Zwang, uns im Berufe zu behaupten.
Der Arbeitswoche kommt somit bedeutendes sozialisierendes Gewicht
zu. Sie legt den meisten Menschen eine Disziplin auf, die sie am Wochen-
ende, Freitags oder Samstags, von sich schütteln. Je eintöniger die
Arbeit am Fließband wird, je mehr sie angespannte Aufmerksamkeit
erfordert, um so heftiger ist das Bedürfnis, zum Ausgleich etwas anderes,
völlig anderes zu tun und dadurch die Verklemmung aufzulockern. So
wird begreiflich, daß das Pendel nach dem Gegenpole schwingt!. Die alte
Woche, die gemächlich bis zum Ende anstieg, schlägt hektisch jetzt in
einem Anfall aus. Was sich erhöht, sind die gewaltsam unterdrückten
Triebe, wie uns die Kriminalstatistik unzweideutig zu beweisen scheint.
b) Bei der Woche handelt es sich um ein einfaches, übersichtliches Zeit-
maß. Die Zahlenangaben für einzelne Delikte fließen daher reichlicher
als bei den Tagesstunden. Die einzige Schwierigkeit ergibt sich bei den
Feiertagen, die chronologisch Wochentage, soziologisch aber Sonntag sind.
Britische Jugendliche begehen ihre Delikte an den schulfreien
Tagen des Wochenendes; ein zweiter Auftrieb kleinerer Art zeigt sich
am Mittwoch:
Jugendkriminalität (London *, je Wochentag)
Montag. . 8,3
Dienstag . 10,0
Mittwoch . 14,3
Donnerstag 13,3
Freitag . 9,0
Samstag . 21,3
Sonntag 23,8
• BURT, a. a. 0., S. 152.
Montag . . 30 22
Dienstag . 26 14
Mittwoch. 27 19
Donnerstag 33 20
Freitag. 30 9
Samstag . 39 26
Sonntag . 25 24
* Jud. Statistics 1905, S. 53. ** Kriminalstatistik 1931, S. 36.
Es sind dies einzig abgeurteilte Morde, bei denen die Schuldfrage
bejaht wurde. Die Zahlen sind nicht groß genug, um sichere Schlüsse zu
erlauben. Wie sich im ausgedehnten Dunkelfeld die Wochentags-Bezie-
hungen abspielen, ist eine Frage, für die uns jede Antwort fehlt. Wenn
wir den Einzelfällen glauben dürfen, sind Samstag-Sonntag-Morde un-
gewöhnlich häufig, in denen die Familienspannung sich entlädt.
Die englische Kriminalstatistik enthält die Rubrik "murders known
to police". Die Zahl ist natürlich wesentlich höher als die der Verurtei-
lungen. Der Durchschnitt der 10 Jahre 1900-1909 war 1501, 1940-1949
lag er bei 166. Wir besitzen keine Aufstellung dieser Fälle nach Wochen-
tagen. Die amtliche Statistik zählte 1900-1909 975 solcher Morde.
Eine dritte Methode ist die Messung von Mordopfern nach Wochen-
tagen. Eine solche Untersuchung ergab 2 :
Mordopfer 1 Jahr alt und darüber; Prozentzahlen; (England und Wales, 1900-1909)
Montag . . 13,3
Dienstag . 17,1
Mittwoch . 14,1
Donnerstag 9,7
Freitag . 10,7
Samstag . 22,1
Sonntag . 13,0
1 Siehe meine Studie über den Mord, S. 12 und 13.
2 Die Zahlen verdanke ich dem freundlichen Interesse von Professor R. PETER
MOORE (Universität Sheffield), der in der Zeit von 1900-1909 nach der Times usw.
729 Fälle von Opfern des Mordes nach Wochentagen untersuchte.
Die Wochentage 187
Die Kurve weist das Samstags-Maximum auf, weicht aber sonst von
den Ergebnissen der Kriminalstatistik so deutlich ab, daß wir sie uns
zur Lehre dienen lassen müssen. Zwischen Auffindung des Mordopfers
und der Verurteilung sind aussondernde Prozesse wirksam, die wir in
ihrem ganzen Umfang noch nicht kennen_
Es ist wiederum WOLFGANGs l Verdienst, die amorphe Zahl der
Tötungsdelikte (Mord und Totschlag) aufgespalten zu haben; zudem
erfassen seine Zahlen 588 Fälle. Neben manchen Übereinstimmungen
ergeben sich, wenn man nach weißer und schwarzer Rasse unterscheidet,
am Montag und am Donnerstag ungeklärte Divergenzen. Es ist auch
schwer zu sagen, woher es kommt, daß weiße Frauen am Donnerstag so
oft getötet werden. Ganz wie in England steht der Samstag an der
Spitze, am ausgeprägtesten beim schwarzen Manne. Für Männer beider
Rassen bietet Donnerstag die größte Sicherheit.
Es ist lehrreich zu sehen, wie Gesamtzahlen die feineren Unterschiede
verdecken und nur die Summen ganz verschiedener Elemente sind:
Tötungsop!er nach Wochentagen, Rasse und Geschlecht
(Philadelphia 1948-1952; Prozentzahlen)
Weiße Neger
Wochentag
Männer Frauen I Zusammen Männer I Frauen I Zusammen
Für den großen Einbrecher oder Bankräuber ist die Aufstauung großer
Summen äußerst wichtig. Am Freitag werden möglichst gegen Mittag
Lohngelder für die meisten Angestellten abgeholt l • Wenn Waren-
häuser Donnerstag einen großen Ausverkauf haben, so sind die Geld-
schränke Freitag früh am vollsten 2. In dieser Nacht wird zugeschlagen.
Viele Einbrüche fallen in die Nacht vom Samstag zum Sonntag. Jugend-
liche lassen sich durch die Stille der frühen Sonntagsstunden zu Einsteig-
diebstählen verführen 3. Andere glauben der elterlichen Kontrolle am
leichtesten Sonntag abend entgehen zu können und begehen zu dieser
Stunde und an diesem Tag Einbrüche 4. Der Beischlafdiebstahl wird sich
nach dem Auf und Ab geschlechtlicher Betätigungen richten. Mordfälle
heben für Augenblicke den Vorhang. Als Helen Jewett, die "Königin des
Pflasters" und bewunderte Schönheit, 1836 ermordet wurde, berichtete
die Presse 5 : "Es war Sonnabend nachts und an einer Samstagnacht
waren alle jungen Don Juans der Stadt unterwegs. In Massen kamen
und gingen sie in das Etablissement von Frau Towsend", Inhaberin des
mondänsten Bordells von New York und Hüterin der verführerischsten
Mädchen. Das Opfer eines Mörders war die berühmteste unter ihnen
geworden. Um 11 Uhr hatte das Mädchen sich noch eine Flasche Oham-
pagner auf das Zimmer bringen lassen, um 3 Uhr wachte das Haus auf,
weil Rauch aus seinem Zimmer drang. Das Mädchen war erschlagen
worden. Es fehlte Schmuck. Wann war die Tat begangen worden? War
es statistisch Samstag oder Sonntag?
Wir möchten den Einblick nicht missen, den Wochentagszahlen in die
seelische und gesellschaftliche Struktur des Betrugs gewähren; freilich
ist auch hier das Dunkelfeld unermeßlich groß, auch lassen sich nur be-
stimmte Formen des Betrugs nach Wochentagen erfassen:
1 RECKEN, H. M. J.: Das Delikt des Betruges, S.60. Bonner Diss. 1957.
2 Ebenda, S. 16.
Die Wochentage 191
rhythmus der Polizei muß wie ihr gesamtes Tagespensum dem krimi-
nellen Pulsschlag angeglichen werden, ganz systematisch, ohne Rücksicht
auf Familienleben, Kosten und Gewohnheit. Das ist auf jeden Fall die
Lehre, die unvollkommene Zahlenbilder jetzt schon geben.
Um das spärliche Wochentagsmaterial der Kriminalstatistik lesen zu
können, ist es erforderlich, daß wir in das Gestrüpp der Feier- und Fest-
tage eindringen und mit den gesetzlichen Feiertagen den Anfang machen.
Im Jahre 1959 waren in Westdeutschland gesetzliche Feiertage mit allem
Drum und Dran des Sonntags, wenn man auf Arbeitsruhe und geschlos-
sene Schulen sieht:
1 Den Festen und Zeiten des Jahres hat SARTORI den ganzen dritten Band
seines Werkes über Sitte und Brauch gewidmet. An dieser Fülle von Tatsachen kann
die Kriminalwissenschaft nicht vorübergehen.
2 Nikolaus.
3 Martinstag, Stefanstag, die Markttage.
4 SARTORI, Bd. II, S. 127.
Die Wochentage 193
Sie machten sich die Zweifel des Verteidigers zu eigen, der behauptet
hatte, ein Feind müsse eine Flasche mit Strychnin in die Schublade des
Angeklagten geschmuggelt haben, wo sic aufgefunden worden war.
In einer Sylvesternacht mißbrauchte ein heruntergekommener Metz-
ger die 5jährige Tochter seines eigenen Bruders, eines Gastwirts. Er
hatte dessen Wirtschaft erst gegen 2,30 Uhr früh "offenbar nach reich-
lichem Alkoholgenuß" verlassen. Nach der Notzucht versuchte der An-
geklagte, das Kind durch 2 Schnitte quer in den Unterleib zu töten. Zu
einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt, erhängte sich der Mann
nach 6jähriger Haft 1. - In dem britischen Mordfall Chantrelle 2 hatte
sich die Ehefrau bis zum Neujahrstag vollkommen wohl gefühlt. Jetzt
erkrankte sie und legte sich zu Bett. Als sie am nächsten Tage tot war,
sprach der Ehemann von einer Kohlengasvergiftung. Er wurde ver-
urteilt, der Frau eine tödliche Dosis Opium am l. oder 2. Januar verab-
reicht zu haben. Am Grabe hatte dcr Gatte die ganze Trauerversamm-
lung durch seinen Schmerz ausbruch aufs tiefste gerührt. Er hatte, wie
sich herausstellte, die Frau mehrmals mit Erschießen und Vergiften be-
droht und sich gebrüstet, niemals würde man das Gift entdecken können.
Warum der berühmte Boxer Kid Carter in der Sylvesternacht die
schöne Mildred Donavan ermordete und in der Nähe eines Kirchhofs in
den Büschen liegen ließ, ist niemals geklärt worden 3. Ein anderer Mord
geschah in Boston 11 Jahre später. Ein kleiner Schneider war in der
Sylvesternacht erschossen und erschlagen worden 4 • Erschlagen war auch
der rätselhafte Russe Leon Beron 1911 in London inmitten des Sylvester-
trubels 5 ; seltsamer noch erscheinen jene Austern des Herrn Bartlett, die
ihn um Mitternacht niederstreckten. Es war der 31. Dezember 1885, viel-
leicht schon Anfang 1886. Frau Bartlett stand nicht lange später vor
Gericht. Man warf ihr vor, sie habe nachgeholfen und ihr Geliebter,
Pfarrer Dyson, hatte Chloroform gekauft. Daß Bartlett sich nicht selber
töten wollte, ließ sich daraus entnehmen, daß er sein Frühstück für
den Neujahrsmorgen besprochen und geordnet hatte. Im Glas des Toten
wurde Chloroform gefunden. Der Richter wies bei seiner Rechtsbelehrung
darauf hin, die Angeklagte hätte, wenn sie morden wollte, sicherlich das
Glas gespült, und die Geschworenen sprachen sie frei 6. Bei dieser Ge-
legenheit fiel die oft zitierte Äußerung eines bedeutenden Arztes, Sir
James Paget: "Jetzt, wo alles für die Frau vorbei war, hätte sie im Inter-
esse der Wissenschaft uns verraten sollen, wie sie es angestellt hat!."
Am 1. Januar 1937 - das neue Jahr war gerade angebrochen -
wurde in Marion Pennsylvania ein Brand entdeckt. Man fand zwei
Leichen und ein schwerverletztes Mädchen. Am 1. Januar sollte ihre
Hochzeit sein. Sie war gerettet, aber schwerverletzt, die Mutter und
die kleine Schwester waren tot. Der Täter war der Bräutigam, der sich
der Ehe zu entziehen suchte und offen nicht zu sprechen wagte. Er
hatte bis zum letzten Augenblick gewartet, bis zu der Nacht vor dem
verhängnisvollen Tage 2. Damit sind wir beim Hochzeitstag angelangt.
Der l. Juli 1944 sollte Mary Finns Hochzeitstag werden. Sie wurde
früh am Morgen halb, doch festlich angekleidet, tot gefunden 3. Das
Mädchen hatte für die Hochzeitsreise 600 Dollar abgehoben, die sie mit
sich herumtrug. Es war ein Raubmord. Der Monatserste war bei dem
Motiv im Spiele. - Ein Engländer mittleren Alters war seit vielen Jahren
mit einer älteren Frau verlobt; als die Mutter der Frau starb, konnte
der Mann die Ehe nicht länger verschieben. Am Abend vor der Hoch-
zeit griff er die Braut urplötzlich an, erwürgte sie und machte dann
einen ernsthaften Selbstmordversuch 4. Je mehr der fatale Tag sich
näherte, um so unruhiger war der Mann geworden. In Geldschwierig-
keiten, hatte er nicht den Mut, sich seiner Frau zu offenbaren, meint
East. Ich denke mehr daran, daß er jahrelang unschlüssig gewartet hatte
und daß die Frau älter war. Es war die Furcht, die ihm die Besinnung
nahm, ein Doppelselbstmord, um dem großen Unheil einer Ehe zu ent-
gehen.
Während seine Freunde John Sanders 9ldfield zu seiner Hochzeit
gratulierten und beiden Eheleuten langes Leben wünschten, dachte er
an Selbstmord, der ihm während der zehnmonatigen Verlobung nicht
aus dem Sinn gekommen war. Sechs Tage später stürzte er die junge
Frau über den Steilrand der Küste und machte ihr mit einem Stein den
Garaus. Sie waren in dem Badeorte auf der Hochzeitsreise und nach der
Tötung nahm er eine große Dosis Schlaftabletten. Er wurde für geistes-
krank erklärt und interniert 5. - Der Juwelier Hermann Behn von West
Frankfurt, Illinois, erschlug seine Mutter und seine drei Mädchen aus
erster Ehe wenige Stunden ehe er wieder eine neue Ehe schließen wollt,e
13*
196 Zusammenhänge im Bereich der Zeit
oder sollte. Darauf erschoß er sich 1 • Der Festtag, wie wir sehen, wird
zum Tribunal, an dem der Bräutigam sich selber richtet, und die er
liebt, mit in den Tod nimmt.
Nach der Kasuistik scheint der Mord am Sonntag sehr viel häufiger
zu sein, als die Statistik uns erkennen läßt 2. Auch vor den Feiertagen
macht der Mord nicht Halt, dem Weihnachtsabend 3, dem Himmel-
fahrtstage 4 , dem Ostersonntag 5 und dem Allerseelentag 6 , und schließ-
lich auch dem Karfreitag 7. Wenn diese Fälle 8 bei der Zählung der
Wochentagskriminalität an die unrechte Stelle geraten und die Rubrik
der Feiertage nicht dem Sonntag zugeschlagen wird, so muß ein völlig
falsches Bild entstehen 9 • Raubmorde wird man an den Feiertagen nicht
erwarten dürfen, Familien- und Geliebtenmorde herrschen vor, auch
die Konflikte unerträglichen Tyrannentums von Herren und Dienern,
Mann und Frau, die auch am Sonntag kulminieren und an dem Tag,
wo andere Leute frei sind, zur Entladung drängen.
Es ist notwendig, den Kreis der Festtage 10 über die Sphäre eines
religiösen Bekenntnisses hinaus zu erweitern, obwohl sie für Deutsch-
land und Westeuropa praktisch nicht stark ins Gewicht fallen. Die alte
Einrichtung des Sabbat greift neben Opfer und Gebet tief in das wirt-
schaftliche und familiäre Leben ein. Die Folge sind Erwerbsschwierig-
keiten durch das Gebot völliger Arbeitsruhe l l • Die jüdischen Einwan-
derer aus Rußland litten, wie WIRTH schreibt 12, an zusätzlichen Erwerbs-
schwierigkeiten, weil ihr Glaube sie verhinderte, an Samstagen zu arbeiten.
Zweites Kapitel
Zusammenhänge im Gebiet des Raums
A. Geographie der Kriminalität
a) Wenn Pflanzen und Tiere sich im Sumpf, Gebirge oder auf Wüsten-
boden verschiedenartig entwickeln, so sind beim Menschen viele andere
Kräfte wirksam. Zwar sind auch die phsyikalischen Einflüsse nicht ge-
brochen, doch sind sie von einer Fülle neugeschaffener Energien über-
deckt. Wenn wir von einer Landeskunde des Verbrechens sprechen, so
müssen wir uns an Gebilde halten, die willkürlich entstanden sind, durch
Erbschaften der Fürsten, Eroberungen, Volksaufstände und andere Vor-
gänge des Völkerlebens. Den meisten fehlt die homogene, geophysische
Grundlage, wie sie etwa eine große Ebene oder ein mächtiges Gebirgs-
land darstellen, die sich auf unserem Globus nur vom Osten nach dem
Westen ziehen müßten. Die Länder, die wir auf der Karte finden und
die uns ihre Zahlen melden, sind, wenn sie groß sind und sich weit vom
Süden nach Norden ausdehnen, klimatisch ganz verschieden ausgestattet.
Rein geophysisch sind nur kleine Staaten eine relative Einheit.
Es ist daher kaum haltbar, wenn wir Völker zum Vergleiche aneinander-
halten. Von Rassezügen abgesehen, verraten schon einfache biologische
Vorgänge wie Geburt und Tod die angeborene Vielfalt. Ein Beispiel sind
die Ziffern zweier europäischer Kulturstaaten, Frankreich und Schweden:
Nicht weniger dunkel und verschieden sind die Zahlen über Selbst-
mord. Er steckt in manchen Völkern wie ein angeborener Wesenszug,
doch seine Zahlen hängen von der Neigung ab, den Selbstmord möglichst
unbekannt zu lassen. Im Kriege gehen die Tendenzen der Selbstvernich-
tung außer Landes, verwandeln sich in Heldenmut und "tolle" Kühn-
heit. Als die Wirtschaftsblüte der Vereinigten Staaten nach einem hekti-
schen Überschwang zum Welken kam, stieg die gezählte Selbstmord-
häufigkeit bedeutend an. Im Kriege sank sie wieder mächtig ab.
Selbstmorde USA (Amerika) auf 100000 Einwohner *
1926 (Blüte). . . 12,8
1932 (Depression) 17,4
1938 (Erholung) . 15,3
1944 (Krieg). . . 10,0
* ELLIOTT and lHERRILL: Social disorganization, S. 314 und 317.
Die Verhüllungstendenz ist stärker auf der Frauen- als auf der
Männerseite:
Selbstmorde, Männer und Fmuen, auf je 100000 *
Dänemark Spanien
Jahr
Männer Frauen Männer Frauen
Neben der Disziplin und der Lehre der katholischen Kirche machen
sich Einflüsse von Klima, protektiver Solidarität und bei gewissen, katholi-
schen Ländern eigene lebensbejahende Kräfte geltend, die vererbten
Zügen zugeschrieben werden müssen, ist doch die Selbstmordhäufigkeit
der schwarzen Rasse überraschend niedrig, obwohl die äußeren Lebens-
verhältnisse oftmals äußerst drückend sind 3. Es scheint, daß auf dem
Wege der Auslese sich eine gewisse Immunität, nicht nur gegen körper-
liche Krankheiten, sondern auch die Keime des Selbstvernichtungstriebes
entwickeln kann.
Auf jeden Fall warnt auch die vergleichende Statistik dieses sozial
bedeutsamen Phänomens, an die Geographie der Verbrechensneigung
ohne zahlreiche Vorbehalte und Bedenken heranzugehen. Vergleichbar-
1 Rapport epidemiologique et demographique, Organisation mondiale de Ja
sante, Genf 1956, IX, S.251
BEbenda.
S Hier tut sich ein Widerspruch zur Lehre von der Allgewalt der wirtschaftlichen
Verhältnisse auf. Kennzeichnend sind die Euphorie der schwarzen Rasse und ein
Ausspruch des jungen HEINRICH HEINE, den R. WEICHBRODT (Der Selb8tmord,
S. 165. Basel 1937) mitteilt. "Ich kann nicht begreifen, wie sich jemand zuweilen
nicht das Leben nehmen kann."
Geographie der Kriminalität 203
keit setzt eine lange Reduktion voraus, die nackte Zahlen schließlich
auf die gleiche Ebene bringt.
b) In dem Augenblick, da wir uns auf ein bestimmtes Staatsgebiet
beschränken, nimmt die wissenschaftliche Verwendbarkeit "geogra-
phischer" Kriminalitätsdaten zu. Die Gesetzgebung ist im großen und
ganzen einheitlich, der Justizapparat arbeitet nach den gleichen Grund-
linien, die kulturelle Struktur weist eine gewisse Gleichartigkeit auf.
Sehr große Staatsgebilde, wie die Vereinigten Staaten, Rußland, China,
selbst Brasilien erstrecken sich durch verschiedene klimatische Gürtel,
werden von verschiedenen Völkern und Rassen bewohnt, sind wirtschaft-
lich ungleich entwickelt. Der geographische Gesamteindruck, als Durch-
schnitt von Extremen immer irreführend, löst sich in Einzelbilder auf,
sowie wir Landesteile streng für sich betrachten.
Wichtig ist hier nicht die Ausdehnung von Ost nach West, sondern
von Nord nach Süd, denn hier entfaltet sich die Wirksamkeit geophysi-
scher Faktoren, besonders wenn der Südteil an das Meer grenzt und die
klimatischen Schwankungen mildert. In der südlichen Hemisphäre liegen
die Verhältnisse umgekehrt"doch sind wir damit nicht befaßt. In den
Vereinigten Staaten z.B. unterscheidet sich der Norden in zahlreichen
Beziehungen vom Süden: klimatisch, wirtschaftlich, sozial und rassisch.
Hier läßt sich die Geographie der Kriminalität studieren, aber nur wenn
wir den Sinn des Ausdrucks weit über seine ursprüngliche Bedeutung
hinaus ausdehnen. Geophysik ist wirksam, doch macht sie sich durch
viele Filter geltend. Die Negerfrage ist nur eine dieser Zwischenkräfte,
allein des Klimas wegen wurden Neger importiert, der Negersklaven
wegen bildete sich eine Herrenschicht, die wiederum der Neger wegen
in den Bruderkrieg gerissen wurde. Hier unterlag sie und entwickelte
aus schlimmer Niederlage eine ganz besondere geistige Haltung. Es
war die des gebrannten Kindes.
Die "Geographie" der Kriminalität in den Vereinigten Staaten darf
wie in allen Ländern nicht nur den Kriminellen in den Kreis der
Untersuchung ziehen. Die wichtigsten Daten, die Ziffern der Verurtei-
lungen, sind dadurch entstanden, daß Polizei, Staatsanwalt, Gericht,
Sachverständige und Zeugen in enger Zusammenarbeit zu einem be-
stimmten Ergebnis gekommen sind. Es gibt auch eine Geographie dieser
menschlichen Tätigkeiten, die sich sogar statistisch erweisen läßt. Wie
wichtig der Zeuge, seine Bereitwilligkeit oder seine Zurückhaltung ist,
ergibt sich aus der gerichtlichen Behandlung von Gangsterfällen 1• So-
lange es nicht gelingt, durch mechanische Bcwcisformen (Abhören,
Photographieren usw.) das menschliche Elemrnt. :;mrückzudrängen,
1 Beispiele führe ich in meinem "Gangster", S. 164 an. - Auch andere fest·
geschlossene Gruppen können mit dem Wegfall der Belastungszeugen rechnen.
204 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Ein festes Muster läßt sich geographisch nicht erkennen. Man könnte
höchstens sagen, daß die Staaten mit sehr viel Farmland, die um das
Felsengebirge herumliegen und am spätesten besiedelt wurden (Neu
Mexico ausgenommen), am ausgesprochensten zu schwerer Strafe
neigen.
Die Verwendung der bedingten Verurteilung, also etwa dem, was wir
Bewährungsfrist nennen, ohne brauchbare Grundsätze herausgearbeitet
zu haben, zeigt gleichfalls einen hohen Grad von Schwankung:
1 Judicial Criminal Statistics 1944, S.2. Washington 1946.
2 Ebenda, S. 5.
Geographie der Kriminalität 205
Stadt Betrug
Hannover 6,6
Osnabrück . 2,7
* ASCHAFFENBURG, S. 45.
München _ . 1864013 10 14 12 19 16 13
Celle . . . . 2989008 81 99 94 106 125 127
* Deutsche Justizstatistik 1913, S. 146.
1903-1907 1908-1912
phisch abgesondert, sehen, ist nicht die Eigenart des Wohnorts, sondern
eine Menschenströmung, die, aus der Ferne kommend, über seine eigent-
liche Oberfläche fließt.
Die Mordkriminalität des Seemanns ist nicht gering, sie hat sich in
der letzten Zeit zum Koch, zum Stewart und zum Funker hin verlagert,
vom Kapitän als Opfer weg zur Frau, die mitfährt. In einem britischen
Mordprozeß kam zur Sprache, daß der zum Tode verurteilte, aber be-
gnadigte Stewart James Camb einen "unerfreulichen" Ruf hatte, soweit
weibliche Fahrgäste in Betracht kamen. Auf der Ausreise nach Süd-
afrika hatte er bei drei verschiedenen Gelegenheiten weibliche Passagiere
angefallen, "einmal hatte er die Kabine einer Dame betreten und ihr
,Avancen' gemacht, deren sie sich nur nach einem Kampf erwehren
konnte!". Im übrigen erfahren wir wenig über die Sittlichkeitskriminali-
tät an Bord, auch Eigentumsdelikte werden zumeist in diskreter Weise
abgemacht. Sie beschränken sich hauptsächlich auf Falschspiel und
Betrug und werden nicht von Matrosen, sondern reisenden Berufsgaunern
begangen 2. Für Notvergehen ist die Wirtschaftslage des Besatzungs-
mitgliedes zu sehr gesichert, die Kontrolle unverhältnismäßig scharf und
wirksam. Wie im Hotel, so ruht der ganze Betrieb auf Sicherheit des
ungeschützten Eigentums. An Bord wird also kaum gestohlen. Es ist
auch nicht Unehrlichkeit, die den Seemann kennzeichnet, sondern die
Neigung zur Gewalttat, zur Kraftausgabe, die er nicht mehr so gründ-
lich abreagieren kann wie auf den alten Segelschiffen, wo alle Muskel-
arbeit an dic Wanten ging.
Für Wanderungs effekte muß man einen Teil der Zahlen halten, die
uns die großen deutschen Häfen übermitteln, dazu natürlich auch die
Wirkung einer Großstadt, die, für die Zählung günstig, mit dem Staats-
gebiet zusammenfällt. Daneben halten wir den Binnenhafen Berlin und
die Ziffern für das gesamte Deutsche Reich:
Raub Einbruch
1 SEELIG, a.a.O., S. 173. - Siehe mein Vergleich von Wien und Tirol, wobei
1924 in Tirol auf 10000 Strafmündige 230 Verurteilungen wegen Betruges kamen,
auf Wien nur 131. (Die soziale Großstadt und da8 krim.inelle Land. Monatsschrift,
Bd. XVIII, S.441.) In Wien wurden 1924 1,9% aller Strafmündigen verurteilt,
in Tirol 3,1 %. In Tirol sind die zahlreichen Verurteilungen wegen Landstreicherei
in Betracht zu ziehen, die die Gesamtzahlen beeinflussen.
2 FLORENCE MONAHAN: lVonwn in crim.e, S. 178. New York 1941.
Geographie der Kriminalität 215
kam, über deren Herkunft sie keine Auskunft geben konnte." Von jeder
Dienststelle entlief das Mädchen, grundlos und urplötzlich. Erst "Simu-
lantin," wird sie schließlich nach schwerem Tobsuchtsanfall als schizo-
phren erkannt.
Nicht immer sind es Jugendliche, die entlaufen. Väter!, sogar Mütter
entlaufen den heranwachsenden Kindern und stellen sie auf eigene Füße,
auch wenn sie noch nicht "gehen" können. Der junge Mensch, der kein
Glück hat, gerät in einen Strudel von Zwangsgewalten, die ihn mit
steigendem Gewicht nach unten ziehen. J ACK BLAcK hatte seinem Vater
kaum Adieu gesagt, der einfach sich von seinem Sohne trennte und von
dannen ging, da geriet er, nach dem Westen wandernd, in ein Land-
streicherlager. Er fährt dann weiter, wird festgenommen, zu zwei Wochen
verurteiJt, bricht aus, läßt seinen einzigen Rock zurück, trifft einen aus-
gepichten Gauner und steht bei einem Einbruch Schmiere, der nichts
als einen neuen Rock beschaffen soll. Jetzt denkt er laut: "Das Aben-
teuer faszinierte mich. Der Einbruch kümmerte mich nicht. Ich meinte,
daß es recht sei, wenn ich einen Rock und Essen hätte. Mein Geld war
in der Strafanstalt zurückgeblieben. Weil ich nichts kaufen konnte,
hatte ich gestohlen. In einer dunklen Art war ich befriedigt, daß ich mit
irgendeinem quitt geworden war 2." Aus einem ersten kleinen Schritt
wird immer tieferer Absturz, verschließt sich immer mehr der Weg zu-
rück. Gefragt von dem Komplicen, wie der Einbruch ihm gefallen habe,
entgegnet dieser Neuling wohlgemut: "Es war großartig." Er möchte
möglichst rasch nach Salt Lake City kommen, die Kunst des Einbruchs
von der Pike auf zu erlernen.
Robert Stroud, der erst einen Nebenbuhler erschoß und dann im
Zuchthaus einen Wärter erstach, sieht in der Jugend die Ehe seiner Eltern
auseinanderbrechen. Er ist erst 13 Jahre, verschwindet einfach, kommt
nach 8 Monaten wieder, bleibt ein paar Tage, küßt seine Mutter, spielt
mit seinem kleinen Bruder und ist dann wieder weg. Die Mutter sieht
die Nachrichten von Unfällen und Schiffsbrüchen mit angstvollen Augen
durch, dann, nach zwei Jahren, ist er wieder da, hat Streit mit seinem
Vater, läßt sich als Eisenbahnarbeiter für Alaska anheuern, begeht hier,
18jährig, in eine 36jährige Prostituierte verliebt, aus Eifersucht und
Rache seinen ersten Mord 3.
"Weglaufen" kann sehr ehrbar aussehen und letzten Endes doch
bedenklich sein. MARTINS Verbrecher hatte keine Lust zur Arbeit. Ganz
plötzlich ging er eines Abends mit einem anderen zum "\Vcrbebüro und
meldete sich zur Marine an. "Drei oder vier gingen hinein, und wir gingen
mit und taten, was sie taten 4 ." Sie gaben ein falsches Alter an und
1 BLACK, JACK. R. 63. 2 Ebenda, S. 79.
3 GADDIS, TH. E.: Birdman of Alcatraz. S. lOff.
4 MARTIN: Life in Cr'imf, S. 17ff.
220 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Als ein 58jähriger Versicherter, der erwachsene Kinder versorgt und alle
Wünsche seiner Familie treulich erfüllt hatte, plötzlich verschwand,
konnte die Nachbarschaft für den unerwarteten Schritt keine Erklärung
finden. Die verheirateten Söhne wurden befragt. Einer, der Liebling
seines Vaters, kam mit der Bemerkung heraus, die Mutter sei immer ein
Weibsteufel gewesen, habe alles an sich gerissen und herabsetzend über
den verbrauchten Mann gesprochen. Nach langem Suchen fand der Agent
den alten Mann in einer kleinen Stadt des Westens. Er ließ sich leicht
zu einem Verzicht auf die Versicherung bestimmen, da er von einer
kleinen Kriegspension in seiner wackeligen Hütte leben konnte. Man
fand ihn friedlich vor der Türe sitzend, eine Pfeife rauchend, nur einen
Esel als Gesellschaft. Er meinte, daß sein Leben jetzt erst angefangen
habe. Er täte nichts, niemand mäkle an ihm herum. Er habe diescs
ewige Nörgeln nur so lange ertragen, bis seine Kinder aufgewachsen
waren l . Sobald das letzte verheiratet war, gab es im Hause nichts mehr,
was ihn halten konnte. Der Agent photographierte ihn und nahm eine
Erklärung auf, versprach, er werde niemals sein Versteck verraten,
und hielt sein Wort, da ja sein Zweck erfüllt war. - Ein anderer war
gerichtlich für tot erklärt worden. Die Versicherung wurde ausbezahlt.
Dann fand ihn eine andere Gesellschaft in Chicago auf. Warum, so
wurde er gefragt, habe er in all den langen Jahren der Tochter, auf die
die Police lautete, kein Lebenszeichen gegeben? Er habe, war die Ant-
wort, in sieben Jahren ihr nichts zu sagen gehabt. Vielleicht war ihm die
Hoffnung nicht so fremd, daß sie von seinem "Tode" profitieren könne.
Wenn Verschwinden, Todeserklärung und Anspruchserhebung geplant
waren, so läge Betrug in Mittäterschaft vor. Der nächste Absatz des
Berichterstatters, der diese Vermutung nicht äußert, beginnt mit den
Worten: "Keine Gewinnabsicht ist bei einigen von denen gegeben, die
ein Verschwinden zur Meldung bringen 2."
Es wird berichtet, daß in mehr als 60% der Fälle vermißte Inhaber
einer Lebensversicherung aufgefunden werden 3 • So viele Agenten auch
angesetzt werden, so mühsam und zeitraubend auch ihre Arbeit ist, so
schwierig es auch ist, für das Weglaufen ein Motiv zu finden, so wird die
Arbeit doch bei großen Summen lohnend. Bei kleineren Beträgen kommt
der Abschreckungszweck zur Geltung und macht geschäftlich sich auf
diesem Weg bezahlt. Betrug, der glückt, steckt an. Wenn er entdeckt
wird, war er für den Täter Mühe und Verlust.
e) Wir kennen die Zahl derer nicht, die aus Furcht vor Strafverfolgung
durch das Land irren. Sie sind zu einer Art Lebensführung verurteilt,
RICHARDSON, S. 119.
1 2 Ebenda, S. 121.
Ebenda, S. 123. - Wenn nicht geschäftliche Erwägungen im Wege stünden,
3
würden wir mehr von diesem Teil des kriminellen Dunkelfeldes hören. So bleibt
es beim nicht angezeigten Betrugsversuch und der zurückgegebenen Police.
Absetzen von der Schadensquelle 225
die wir aus unserem Kulturleben beseitigt zu haben glauben, ohne jenen
alten Schutz der Asyle l , den grausamere Zeiten kannten. Der Flüchtige
ist von vielen legitimen Beschäftigungen abgeschnitten, von seinen
Freunden meist verlassen, die sich nicht der Strafe der Begünstigung
aussetzen wollen. Nur auf die Hilfe der Unterwelt kann er rechnen, die
ihm den Rücken kehrt, wenn er allzu "heiß" ist. Familie und Geliebte
sind die einzige Zuflucht, und hier erwartet ihn der Kriminalbeamte, um
ihn in Empfang zu nehmen. GIGERS Daten 2 werfen auf den Fluchtweg
Licht:
Kontaktaufnahme von 250 entwichenen Anstaltsinsassen (Prozentzahlen)
Kontakt mit Eltern und Geschwistern . 21,2
Kontakte mit Ehefrau, Braut, Freundin 18,4
Kontakt mit der Verwandtschaft 5,2
Kontakt mit Bekannten . . . . 12,0
Kontakt mit dem Milieu . . . . 14,4
Kontakt mit der Fremdenlegion . 2,0
Kontakt mit dem Flüchtlingslager . 0,8
Ohne Kontaktaufnahme . . . . . 26,0
Wer ohne Geld ist, ohne Ersatzpapiere, ohne eine Gruppe, die sich
seiner annimmt, sieht sich zu einer Reduktion des Lebens gezwungen,
die gerade durch die ewige Vorsicht unerträglich wird. Flüchtig zu sein
ist eine unerhörte Existenzerschwerung. Ein "Notstand", der verschuldet
ist und den das Gesetz höchstens bei der Strafbemessung in Betracht
zieht, zwingt, immer neue Delikte zu begehen. Es häuft sich die Gefahr
mit jedem Schritt der Rettung; erschwerter Druck legt sich auf inneres
Gleichgewicht und Nerven. Es kommt mit steigender Belastung jener
Augenblick, an dem der Flüchtling, Waffe in der Hand, um seine Frei-
heit kämpft. Gespannt, erschöpft, gehetzt, verzweifelt setzt er jetzt alles
auf die eine Karte.
Entweichung 3 ist ein Sonderfall. Sie unterscheidet sich in vielen
Stücken vom bloßen Flüchtigwerden vor der Polizei. Der Ausbrecher
ist durch eine rechtskräftige Verurteilung abgestempelt. Der Ausbruch
selbst trägt Züge der Gewaltsamkeit. Die Bevölkerung reagiert auf die
vermeintliche Bedrohung mit erstaunlicher Aggressivität. Sie tritt bereit-
willig zu Treibjagden zusammen, verrät ihn, wenn er sich versteckt,
erblickt in ihm den hassenswerten Feind, den man zertreten muß wie
eine giftige Schlange, ehe sie von neuem beißt. Durch diese Haltung,
mitleidlos wie alles, was aus Furcht entspringt, verstärkt sie die Notlage
des Entwichenen, der Hunger hat, die Kleidung wechseln muß, auch
1 HIS, RUDOLF: Deutsches Strafrecht bis zur Oarolina, S.72ff. München 1928.
2 GIGER, HANS: Kriminologie der Entweichung, S.269. Winterthur 1959.
3 GIGER arbeitet mit einem weiten Entweichungsbegriff; er schließt zum Bei-
spiel die polizeiliche überführung in das Gefängnis oder die Arbeitskolonie ein
(S.291).
v. Hentig, Das Verbrechen I 15
226 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
15*
228 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
das Vieh in den Stall zu locken. Das eintönige Locklied holt die Tiere
herbei, die von frühester Jugend auf den Ton gewohnt sind. Man erzählt
selbst, daß die Appenzeller Kühe fern der Heimat wild vor Heimweh
werden, wenn der Kuhreigen an ihr Ohr schlägt. Es soll deshalb in
St. Gallen, wo viele Appenzeller Kühe weideten, streng verboten gewesen
sein, den Kuhreigen zu singen.
Gleichen Einflüssen war der schweizerische Mensch unterworfen, der
nach GABRIEL WALSERS Neuer Appenzeller Chronik aus dem Jahre 1740
einer besonders tapferen Nation angehörte: "Sonderlich", heißt es da,
"wenn sie das erste Feuer ausgehalten und Blut sehen, werden sie nur
hitzig und wissen nichts vom Fliehen. Nur ist das ,Heimwehe, Nostalgia,
Philopatridomanie' eine Plage und Krankheit, so vielen anhänget und
manchem den Tod bei gesundem Leibe zugezogen 2 • Welches entweder
ehemals genossener reiner und dünner Luft, oder angeborenen Freiheit
oder denen gewohnten Milchspeisen zuzumessen." Diese locker sitzende
Neigung zu Heimwehreaktionen wird durch Hören, Singen und Spielen
des Kuhreigens derart stürmisch ausgelöst, daß es in Schweizer Regi-
mentern, die in fremden Heeren dienten, zu massenhaften Desertierungen
kam. Bei den Schweizern, die in niederländischem oder französischem
Solde kämpften, war das Lied bei Todesstrafe verboten. EBEL schreibt
1798 in seiner "Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz", daß die
Alpensöhne beim Hören des Kuhreigens in Tränen ausbrachen, wie von
einer Seuche ergriffen, von Sehnsucht nach der Heimat übermannt
wurden, entweder desertierten oder starben, wenn sie nicht nach Hause
gehen durften. Alte Autoren sprechen von der besonderen Anfälligkeit
der Rekruten, die, wenn sie den Kuhreigen singen oder pfeifen hörten,
in ein hitziges Fieber, "febrem ardentem", verfielen, weil das "süße
Andencken" an das Vaterland ihnen derartig durch Mark und Bein
ging.
Die Grundlage des Heimwehanfalles und der Heimwehdelikte (Dieb-
stahll, Brandstiftung, Mord) ist eine tiefe Verstimmung_ In ihr ist die
Abstoßung wirksam, die an den Raum, die Fremde gebunden, Elemente
der Feindseligkeit, der Furcht, der Mitleidslosigkeit enthält. Hinzu tritt
das Gefühl der Schwäche und der Wehrlosigkeit, die sich des isolierten
Menschen bemächtigt. Die Zuflucht der Familie aber ist verschlossen,
weil ein Vertrag besteht oder weil die EItern kein Verständnis für den
Ernst der Lage haben. Schon in der Aszendenz ist häufig Depression und
Selbstmordneigung anzutreffen. Die Heimwehkranken leiden selbst an
Lebensüberdruß. Es fehlt der Antrieb, wegzulaufen oder mit dem
eigenen Leben Schluß zu machen. In ihre Schwermut scheinen schizo-
phrene Unbeweglichkeiten eingelagert und lähmen jede Reaktion, die
1 Siehe den Fall in meiner Studie über Diebstahl, S. 37.
232 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Auch die römische Legende sieht den Helden Aeneas aus fernen
Landen an den Tiber kommen. Ein Traumbild 1 verwirrt den König des
Landes, Turnus, gegen den Fremdling die Waffen zu erheben, in "wahn-
sinnigem Drang" nach Kampf und Blutvergießen, wie es der über-
winder ausdrücktz. Aeneas, der ein fremdes Land erobert, ist im Recht,
denn ihm ist dieses Land verheißen und bestimmt 3 • Er ist am Ziele, das
die Gottheit ihm gesetzt hat.
Es ist geboten, uns auf die modernen Wanderungsvorgänge zu be-
schränken und sie gedanklich einzuordnen. Wenn einzelne wandern,
so stoßen sie nicht ohne weiteres auf den Widerstand geschlossener
Gruppen. Durch Einschmiegung und Anpassung können sie sich inner-
lich und äußerlich in der Masse verlieren, nach einer Zeit der Schwierig-
keiten und des übergangs. Je nach der Härte ihrer Wesenszüge, werden
sie selbst zum Teil, die Kinder beinahe völlig absorbiert. Im Gegensatz
zu den kolonialen Eroberern kommen sie nicht als Herren. Sie beginnen
die Eingliederung in die Masse des Gastvolkes, wenn man so sagen darf,
in gebückter Haltung, als stille, geduldige, dienende Helfer, wobei die
moderne Demokratie ihnen schon nach wenigen Jahren den Wert-
stempel eines Wählers aufdrückt. Um anerkannt zu werden, um Teil
des Produktionsprozesses werden zu können, muß der einzelne Einwan-
derer einen Tribut leisten: Er muß zugestehen, daß seine Herkunft
nieder, unvollkommen, verbesserungswürdig ist und daß er, wenn er
zugelassen wird, in einen höheren Kulturkreis aufsteigt. Hier setzt schon
das Dilemma ein, von dem wenig oder gar nicht gesprochen wird. Als
Beispiel können die Chinesen dienen, die vom Osten her nach den Ver-
einigten Staaten kamen, ein uraltes Kulturvolk, das in Californien mit
einer anderen Wanderungsbewegung kollidierte. Konflikte brauten sich
zusammen, die mit Gewalt zur Lösung drängten 4.
Hier handelte es sich bereits um Gruppen, die ihre Sitten, ihre Haut-
farbe, ihre Eßgewohnheiten und ihre fremden Götter in eine andere
Gesellschaftsbildung hineintrugen und mit stiller Zähigkeit verteidigten.
Es kam zu einem Zusammenstoß von Religion, Rasse und unübertreff-
licher Konkurrenzfähigkeit an Fleiß und Frugalität. Nicht Einzel-
menschen kollidierten, sondern unbeugsame Institutionen, Moral-
systerne, das geistige Erbe unendlich langer Zeiten, das sich nicht ohne
weiteres abstreifen ließ wie Sprache und Kleidung. Die Arbeitsleistung
selbst, sonst eine hochgeschätzte Eigenschaft, wurde zum Feind des
1 VERGIL: Aeneis VII, S.445ff.
2 "Arma amens fremit", ebenda VII, 460.
3 ,,'Vo ist die feste Burg zu finden, die eine Gottheit ihm verheißen hat?"
(Ebenda III, 100.)
4 Siehe ASBURY, HERBERT: The barbary CoaBt, S. 154ff., und meinen Desperado,
S. 190ff.
Das Land und seine Problematik 237
braucht, sind in der Zeit des Mangels stets willkommen. Die Unter-
schiede beider Wanderungstypen sind psychologischer Natur; sie greifen
aber rücksichtslos in das Zusammenleben ein. Sie wandeln sich in sozio-
logische Kräfte um.
Auf der anderen Seite kann kulturelle und sprachliche Übereinstim-
mung die Z~hl der Konflikte wesentlich vermindern, mit denen der Ein-
wanderer fertig werden muß. Diese ursprüngliche Identität kann auf
dem Gebiet wichtiger menschlicher Beziehungen wie der Liebesverhält-
nisse und der Eheschließungen 1 bedeutsame Folgen haben, ist im Berufs-
leben in hohem Grade nützlich, eröffnet raschen Zugang zu all den
Machtpositionen, in denen viel gesprochen und geschrieben wird, der
Presse, der Literatur, dem Theater und dem Radio. In vieler Hinsicht
ist die Einwanderung der Engländer, Irländer und Schotten in die Ver-
einigten Staaten, nach Kanada, Australien oder Südafrika nicht sehr
viel mehr als eine Binnenwanderung; freilich bleiben die neue soziale
Atmosphäre und das andere Klima Hürden, die nur mit einiger Mühe
übersprungen werden können. Eine ähnliche Erleichterung suchen sich
die Einwanderergruppen zu verschaffen, die sich dort niederlassen, wo
Gruppen gleicher Herkunft sich schon eingegraben haben. Sie suchen
Rückhalt an derselben Herkunft, gleichem Glauben und der gleichen
Sprache; die Deutschen etwa in Wisconsin und die Polen in Chikago.
Je weiter eine Wanderung in die Ferne ausholt, um so klarer wird die
Vorstellung sein, die wir uns von ihr und ihren Folgen machen können.
Dagegen bedarf der Begriff der Binnenwanderung der näheren Bestim-
mung. Wir wandern, wenn wir näher hinsehen, unaufhörlich; wir fahren
in die Ferien, gehen auf Besuch. Wir gehen zum Militär und auf die
Universität. Wir wechseln unsere Stellung, und bei diesem alltäglichen
Geschehen sind bereits Einschränkungen am Platze. Wenn ein Beamter
von Orleans nach Paris versetzt wird, wenn ein Bergarbeiter von der
Saar nach dem Ruhrgebiet geht, ein Künstler von Berlin nach München,
so werden wir nicht leicht von einer "Wanderung" reden, die soziologisch
neue Forderungen an ihn stellt. Er zieht nur um, er "wandert" nicht"
bewegt sich nur an einem anderen Ort im gleichen Lebenskreise, ganz
wie der Offizier, der zwar die Garnison, doch nicht die wesentliche Da-
seinslage wechselt, selbst wenn es einmal Großstadt, dann ein kleiner
Grenzort ist.
Dagegen bleibt der Zug vom Land zur Stadt, der Ausbruch aus der
dörflichen Gemeinschaft, der Übergang von der landwirtschaftlichen
Tätigkeit zu einem städtischen Berufe, vor allem in der Industrie, der
Prototyp der Binnenwanderung. Wir werden sehen, daß die Strömung
1 Diese Tatsache habe ich in meiner Untersuchung The fir8t generation and
a half festgestellt. Am. Sociological Review 1945, S.792ff.
Das Land und seine Problematik 239
nicht immer in die Großstadt fließt, zu Zeiten umdreht und zum Land
zurückrollt, und wie die alten Menschen nicht so selten dorthin ihre
Schritte lenken, von wo sie ein~t die Welt erobern wollten, und diese
Hoffnung war die große Stadt.
b) Ehe wir die Wanderung vom Land zur Stadt als Massenerscheinung
untersuchen, ist eine gedrängte Psychologie des ländlichen Menschen
unumgänglich. Vom Grundtyp aus, auf den zahlreiche neue Bedingungen
einwirken, ist in die Umgestaltung Einblick zu gewinnen, die oftmals
krisenartig vor sich geht. Das neue bäuerliche Leben, bei dem der Um-
gang mit dem Haustier durch die Verwendung maschineller Arbeits-
instrumente ersetzt wird, muß auf die Dauer auch das Bild des Land-
menschen verändern. Es ist aber durch die Jahrtausende so fest geformt,
daß dieser Vorgang der Umprägung nur sehr langsam vor sich gehen
wird. Wahrscheinlich werden sich neue Muster bäuerlicher Mentalität
bilden, die auf dem abgesonderten Leben und dem engen Zusammen-
hang mit der Natur beruhten. Sie werden auch durch das Dazwischen-
treten technischer Probleme an Wirksamkeit nicht verlieren, so rasch
auch die ländliche Bevölkerung die Menschenkräfte an die Städte abgibt.
In 150 Jahren haben die Vereinigten Staaten die folgende Umstellung
erfahren:
Bevölkerung der USA * nach Stadt und Land
(Prozentzahlen in den Jahren 1790 und 1950)
Städtische Bevölkerung Ländliche Bevölkerung
Land" Stadt
Wanderung vom Land in die Stadt und von der Stadt auf das Land
(USA 1920-1935*)
Vom Land Von der Stadt Vom Land Von der Stadt
zur Stadt I zum Land I zur Stadt I zum Land
16*
244 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Es ist erst ein sekundäres Ideal der Stadtmenschen, wenn die Feld-
herren Roms vom Pfluge weg auf den Gipfel politischer Macht geführt
werden 3.
Die romantische Auffassung der griechischen und römischen Intellek-
tuellen lag den Germanen nach Tacitus' Bericht fern. "Eher könnte man
einen Germanen dazu überreden, einen Feind zum Zweikampf heraus-
zufordern und sich Wunden zu holen, als sein Feld zu bestellen und auf
die Ernte zu warten. Ja, geradezu als träg und lässig gilt, wer durch
mühsame Arbeit erwirbt, was er durch blutigen Kampf erringen kann 4 ."
Der deutsche Ausdruck Sklave und die entsprechenden skandinavischen
Worte bedeuteten ursprünglich "unfreier sla vischer Herkunft 5." Die
ersten Landarbeiter waren Kriegsgefangene und Frauen, vielleicht auch
unterworfene fremde Rassen, wie die Heloten des spartanischen Staats-
gebietes als Reste der vor-dorischen Urbevölkerung galten und als Erb-
feinde angesehen wurden, die stets bereit waren, das verhaßte Joch der
Herrenrasse abzuschütteln. Sie waren ganz im Sinne späterer Theorien
schlechteren Blutes; am spanischen Königshof bestanden strenge An-
sprüche an die Herkunft der Ammen von Infanten_ Maurisches, jüdisches
und Bauernblut durfte nicht übertragen werden.
Aus dem Dunkel des Mittelalters kamen die Vorschriften über die
Tracht des Bauern, das Verbot des Waffentragens, des Genusses von
Wildbret und :Fisch. Wollten Mönche Buße tun und sich erniedrigen,
so zogen sie Bauernkleidung an. Auch als im 13. Jahrhundert der wirt-
schaftliche Aufstieg des europäischen Bauern einsetzte, der ihn im 18.
und 19. Jahrhundert zum Ideal und Grundstein des Staates, zum treff-
lichen Soldaten und zum guten, jeder Neuerung abholden Bürger machte,
den Schützer und Verfechter jeder festen Ordnung, hatte die Sprache
noch nicht die alte Geringschätzung abgeworfen. Der Tölpel ist der
1 HESIOD:Werke und Tage, 233. - ÜVID: Met. 1,106.
2 ÜVID:Met. 1,101, 102.
3 Von den Historikern als Muster altrömischer Tugend gefeiert, kehrt ein-
cinnatus, die Diktatur wie eine Last ablegend, wieder zur Landarbeit zurück.
t TACITUS: Germania 11. 5 KLUGE-GoETZE, S. 728.
Das Land und seine Problematik 245
der Bauer nach jeder Art von Hilfe, die sich ihm bietet. Die Nach-
barschaft wird zu einer Einrichtung höchster Nützlichkeit ausgebaut,
der Zusammenhalt der Familie wird verstärkt und öfters in sein über-
maß verkehrt. Die Unsicherheit, in die ihn die Launenhaftigkeit der
Natur versetzt, wird durch starke Religiosität und viele abergläubische
Praktiken bekämpft und ausgeglichen. Wenn diese Kräfte ihm als
machtvolle Verbündete zur Seite treten, wenn sie ihn trösten, aufrichten
und stärken, so bringt er diesen Helfern gern Tribut an Gaben, Devotion
und Lobessprüchen. Sie helfen ihm dafü'r, wenn seine Kraft nicht aus-
reicht.
Da die Natur tyrannisch über ihm herrscht mit Trockenheit und
Hagelschlag, mit schlechten Ernten und mit Haustierseuchen, erholt
der echte Bauer sich vom Dulden und Ertragen dadurch, daß er selbst
tyrannisch ist. Er kann sich selbst nicht schonen, darum schont er andere
nicht, die Frau, die Kinder, seine Knechte, seine Tiere. Ich möchte
meinen, daß er auch den Traktor ohne Rücksicht einsetzt. Der ist der
Schwächere, darum hat er sich zu fügen, muß sich das Letzte abverlangen
lassen.
Der Bauer lebt von Fortpflanzungsprozessen, die ihn von allen Seiten
umgeben. Das, was der industriellen Produktion die Rohstoffe sind, sind
für ihn Tiere und Pflanzen. Er bedarf aber keiner Antriebsmittel. Sie
stecken tief in Pflanzen und in Tieren. Er braucht nur einen Anstoß
zu geben. Sowie der erste Wachstumsreiz in Bewegung gesetzt ist,
greifen autonome Kräfte die Fortentwicklung auf und arbeiten, wenn
sie nicht gestört werden, nach unabänderlichen Gesetzen weiter. Der
Bauer lebt in einer Atmosphäre von Zeugungsvorgängen und aller jener
Akte, die sie vorbereiten, erleichtern und weiterpflegen sollen, bis ein
gewisser Reifepunkt erreicht ist. So geschieht es, daß der Bauer, Mann
und Frau, jung und alt, diesem Kreislauf mit anderen Augen gegenüber-
steht. Wer Viehzucht treibt, kann auch in Liebesdingen kein Mysterium
sehen, weil er bei anderen Lebewesen ihnen kühl-bewußt die Wege ebnet.
Der Bauer muß sexuellen Fragen anders, unbefangener, natür-
licher, aber auch robuster begegnen als der Stadtmensch. Manche
unsittlichen Handlungen werden von ihm weniger hart beurteilt, die in
langen Winternächten, in Scheunen und in Ställen vor sich gehen. Es
gibt eine kleine Sexualkriminalität des Dorfes, die man nicht billigt,
aber auch nicht an die große Glocke hängt und nur in besonderen Fällen
zur Anzeige bringt. Landkinder sind in diesem Punkte früher reif, Land-
frauen werden früher alt, der Ehebruch des Alten wird nur dann bedenk-
lich, wenn er das Erbe seiner Söhne wegzugeben anfängt. Inzestgefahr
rückt näher, wenn die Frau in Krankheit fällt, die Mädchen halb-
erwachsen sind und die Familie einsam wohnt. Nur ausnahmsweise
kommen zoophile, homosexuelle, exhibitionistisehe Ungehörigkeiten ans
Das Land und seine Problematik 247
1 Neuer Pitaval, Bd.47, S.220. Leipzig 1883. - Dieser Liebhaber des Tötens
beschrieb die Wollust der Lebensauslöschung mit diesen Worten: " ... Das Süßeste
aber ist, wenn man fühlt, wie das Tier unter dem Messer zittert. Das fliehende
Leben schlängelt sich der Klinge entlang in die Hand hinein, die das tödliche
Werkzeug hält." Ebenda, S. 218.
2 HOLBROOK, STEWART H.: Belle oj Indiana in 11111rderbook, herausgegeben
von J. H. JACKSON, S. 136. New York 1945.
3 RICE, CRAIG: 461nurders, S.93ff. New Jersey 1952.
Das Land und seine Problematik 249
Nicht nur bei der Tötung und bei Sittlichkeitsdelikten gibt es ein
protektives dörfliches Mitwissertum. Daß Anzeigen häufig unterlassen
werden, liegt an dem Mitbesitz von kleinen und großen Geheimnissen,
der sich im Laufe der Jahre ansammelt und tolerant im Sinne eigener
Befürchtung macht. Man muß lange in Dörfern gewohnt haben, um zu
wissen, daß ernster Zwist mit Dorfmächtigen auf die Dauer kaum
erträglich ist und immer beiden Teilen Schaden bringt. Brandstiftung
zeigt uns diese Kohäsion der Mitschuld. Nach SIXTUS 1 gelangten 1932 bis
1935 nur 12% der Ermittlungen in das Stadium der Anklage. Verurteilt
wurden nach der deutschen Reichsstatistik zwischen 70 und 78 % :
Brand8tiftung *
(Verurteilung von 100 Angeklagten 1929-1939)
1929 77,7
1936 , 70,6
1938 78,5
1939 72,4
* SAUER, W.: Kriminologie, S. 428. Berlin 1950.
I Gesamtkriminalität I Brandstiftuug
"Ich muß ein Ende damit machen, oder es wird meiner Herr werden",
so denkt er und merkt plötzlich, daß er es ganz laut zu sich selbst gesagt
hat. Er lachte, was er einen Monat lang nicht getan hatte. Das Lachen
aber klang hohl und unnatürlich. Ein wenig später lachte er dann wieder,
doch diesmal ohne allen Grund. Als er sich nach Wochen zuerst wieder
in einem zerbrochenen Spiegel sieht, fährt er vor einem fremden Mann
zurück, den er niemals gekannt hat. Ihn packt ein namenloser Schrecken,
daß er verrückt werden könnte, und er ergreift die Flucht zu jenen Men-
schen, die er verließ, um ungehindert nachzudenken und mit der gütigen
Natur allein zu sein. Er weiß jetzt, daß er ganz für sich nicht leben kann.
Als er die Wildnis wie ein Teufelsmachwerk flieht, ist er gewiß, daß er
sonst geistig nicht gesund geblieben wäre und daß der "absolute Frieden"
unerträglich ist!.
Selbst eine anspruchsvolle Moral kann von der Umwelt isolieren, die
locker oder wenig prüde ist. Auch gibt es Zeiten, wo die Einsamkeit
besonders stark empfunden wird, sogar inmitten einer großen, menschen-
reichen Stadt 2 • Das Land, der Winter und die Isolierung eines fremden
Volkes ist oft als eine Schädlichkeit beschrieben worden. Es gibt den
Bericht eines norwegischen Einwanderers in den amerikanischen Staat
von North Dakota, der damals noch unwegsam war. "Viele nahmen sich
das Leben; Irrenanstalt auf Irrenanstalt füllte sich mit Geschöpfen, die
einstmals Menschen waren 3." Er beschreibt den Fall einer solchen
Einsamkeitspsychose : "Ein Tag kam, an dem Per Hansa in einem Wut-
anfall aufbrauste, der ihn selbst erschreckte. Blindlings holte er aus
und zerschlug alles, was in Reichweite war 4 ." Wir werden an den
Zuchthausknall erinnert, nur daß der tiefe Winter hier die Menschen
einschließt.
Mit der Isolierung, auch wenn sie einen sehr leichteren Grad hat,
sind manche typisch bäuerlichen Eigentümlichkeiten zu erklären. Der
echte Bauer fürchtet jede Masse und alle Formen des Zusammen-
1 Nach RALPH STOCK berichtet von BOWMAN, JAMES LLOYD: The promise of
country life, S. 44ff. New York 1916. - Man ist geneigt, diesen Einsamkeitsraptus
mit dem seelischen Zustand mancher älterer, unverheirateter Frauen zu vergleichen,
die, ebenso triebhaft in eine Art der Gemeinschaft zurückdrängend, Heirats-
schwindlern zum Opfer fallen.
2 "Ich war im Juni in die Stadt gekommen. Um Weihnachten hatte meine
Einsamkeit sich zu wahrer Verzweiflung gesteigert. Ich hatte keine Freundinnen.
Ein Mädchen, das nach den zehn Geboten erzogen ist, findet keine Freundinnen in
Pensionen so leicht, oder als Kelmerin. Ich sprach nicht die gleiche Sprache wie
die Mädchen, die mit mir zusammen arbeiteten. Im Theater oder im Restaurant
redeten mich oft Männer an und sagten mir Dinge, die mich zum Erröten brachten,
obwohl ich oft nicht wußte, was sie bedeuteten ... " ZORBAUGH, H. W.: The Gold
coast and the sZum, S. 78. Chicago 1927.
3 ROELVAAG, O. E.: Giant8 in the earth, S. 424. New York 1929.
4 Ebenda, S. 215.
Das Land und seine Problematik 253
Ist das tiefe Mißtrauen 1 des Bauern gegen Menschen, die er nicht
seit langem kennt, ein Fehler oder bessere Menschenkenntnis? Seit
alters her umgibt er seine Existenz mit einer Art von Mimikry. Er
spricht nicht gern von seinem Reichtum, nur zögernd, daß die Ernte
gut war. Durch viele tausend Jahre ist ihm die Erfahrung zugewachsen,
daß es besser ist, langsam als schnell zu sein, klüger, zu klagen als zu
protzen, weiser, schwer von Begriff zu scheinen als überlegen und ver-
schmitzt. Theater, eitle Selbstbespiegelung macht ihm keinen Eindruck,
das, was man heute gern dynamisch nennt, obschon es keine wahre
Kraft verrät; denn er spielt selbst Komödie, daß er schwer versteht und
keinen Braten riecht. Er spielt sogar das ahnungslose Opfer, wenn er
den andern längst schon in der Tasche hat. Im großen ganzen war es
eine Technik, die ihm auf ihre Art zum Überleben diente. Er muß sie
jetzt mit einer Welt in Einklang bringen, die nicht im Zugtiertempo
ganz gemächlich ihres Weges schreitet, statt dessen mit Motoren vor-
wärtsstürmt.
Der Bauer, der nicht mehr mit Haustieren zu tun hat, sondern mit
gefühllosen Maschinen, wird noch weniger mit freien Lebewesen um-
zugehen haben als bisher. Er litt schon immer an lockerem Kontakt mit
Menschen, die anders denken, widersprechen, tadeln, ja vielleicht es besser
machen. Auf Untergebenen, Frauen, Kindern, Knechten und gefügigen
Haustieren ruhte seine nicht so selten falsche Autorität. Da er sich
stündlich neuen Problemen gegenübersieht, mit neuen unbekannten
Menschen fertig werden muß, ist er trotz rauher Außenseite höchst
empfindlich. Die äußere Bedeckung ist von Wind und Wetter hart-
gegerbt. In menschlicher Beziehung hat er eine dünne Haut. Entgegen
seiner sicheren Ruhe, die uns so auffällt, ist er innerlich gespannt.
Der wahre Bauer ist sehr leicht gekränkt und hat mehr Zeit, wenn
er den Acker pflügt, an Unrecht zu denken, das man ihm angetan hat.
Hier in den langen Stunden des Alleinseins tauchen alte Beleidigungen,
Verluste und Widerwärtigkeiten auf. Sie setzen sich in einer dunklen
Stelle des Bewußtseins fest. Kommt Alkoholgenuß, Erschöpfung, Provo-
kation hinzu, so ist die Bahn frei für bedenkliche Körperverletzung oder
Totschlag. Viele dieser Affektausbrüche bleiben im Schoß der Familie
verborgen, ohne daß Anzeige erfolgt. Wer die ältere Mordliteratur
durchforscht, wundert sich, wie oft ernste Angriffe auf das Leben, z. B.
Giftmordversuche, die die Frau zugibt, unter ländlichen Ehegatten ver-
1 BOWMAN, a.a.O., S. 222, zitiert eine Stelle aus MAUPASSANT, wie französische
Bauern auf den Viehmarkt kommen: "Die Bauern fühlten die Kühe an, gingen
weg, kamen wieder, tief unschlüssig, immer in Furcht, betrogen zu werden; sie
wagten nicht, zu einem Entschluß zu kommen, beobachteten die Augen des Ver-
käufers, immer bemüht, die Tricks des Mannes und die Fehler des Tieres heraus-
zufinden."
Das Land und seine Problematik 255
1 Siehe den Fall des Ehemannes, der nicht vergiftet sein wollte, während die
Ehefrau gestand. MÜHLBERGER, R. TH.: Das Verbrechen des Mordes, S.77, 78.
Stuttgart 1834. - Nach einem Mordversuch mit zerstoßenem Glas versicherte die
Ehefrau, sie wisse nicht, wie das Glas in das Frühstück gekommen sei. "Ihr Mann
ließ es dabei bewenden und setzte die Ehe ferner mit ihr fort." Ebenda, S. 103.
2 FEuERBAcH, Bd. I, S. 234, 235.
3 Neuer Pitaval, Bd. XXVIII, S. 216. Leipzig 1871.
4 Zahlen bei AscHAFFENBURG, S. 43ff.
5 Es ließe sich an das schroffere Vorgehen gegen ausländische Seeleute denken.
Der ländliche Polizeibeamte wohnt inmitten einer bodenständigen Umgebung.
Seine Autorität muß sich auf ihre Zustimmung stützen, darf sich nicht allzu weit
von ihr entfernen.
256 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Großstadt . 4295
Mittelstadt 3531
Kleinstadt. 2265
Landgebiet 2269
* Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, S. 32.
Von den 1957 bekanntgewordenen 1685698 Straftaten wurden 66,91 %
aufgeklärt, und wie wenig diese Aufklärung mit der endgültigen gericht-
lichen Feststellung zusammenfällt, haben wir gesehen. Schwerer und
leichter Diebstahl werden nur in 38 % der Fälle aufgeklärt, und das sind
271230 von 714087 Diebstahlsfällen 3. Wie sich dieses riesige Dunkelfeld
auf Stadt und Land verteilt, ist unbekannt. Vom Antragsrecht des
§ 247 I StGB und der hierdurch verursachten Unübersichtlichkeit wurde
schon gesprochen.
Viel wichtiger als diese Dunkelheiten sind die abweichenden Be-
völkerungsstrukturen, die sich hinter der amorphen Zahlenmasse der
,,100000 Einwohner" verbergen, als ob es sich um gleiche Ziegelsteine
handelte. Schlußfolgerungen können daher nur mit größter Zurück-
haltung gezogen werden, solange eine Reduktion der gegenübergestellten
und verglichenen Elemente nicht stattgefunden hat.
1 RGSt 22, 245.
Siehe den Fall des Raubmörders Ernst Meissner (Hamburg 1914). WOSNIK:
2
Beiträge zur Hamburgischen Kriminalgeschichte, Bd. II, 3, S.23. Hamburg 1927.
3 Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, S.39.
Das Land und seine Problematik 261
65 und
0--4 5-19 20-29 30-44 45-64 älter
I I
Stadt. 6,7 23,4 18,1 23,8 21,2 6,8
Orte 500000 und mehr. 6,1 21,9 18,2 25,4 22,2 6,2
100000-500000 6,5 22,8 18,4 24,0 21,4 6,9
25000-100000 7,0 24,2 18,1 23,0 20,7 7,0
2500- 25000 7,7 25,5 17,7 21,8 19,7 7,6
Land 9,7 30,3 16,1 19,0 18,0 6,9
Farmgebiet 10,0 32,7 15,2 17,3 18,3 6,5
kleine Siedlungen * 9,3 27,5 17,1 21,0 17,8 7,3
* THOMPSON H, S. 108.
In der ganz großen Stadt stehen 41,9% aller Bewohner im Alter von
20-44 Jahren. Im Farmland sind es nur 32,5%. Notwendigerweise
muß die Kriminalität dem Auf und Ab der Lebenskräfte folgen.
Nur eine Kombination von Alter und Geschlecht!, wobei die ganz
Jungen und die ganz Alten außer acht zu lassen sind, macht uns mit
allem Nachdruck klar, daß 100000 auf dem Lande etwas ganz anderes
als die gleiche Zahl von Stadtbewohnern ist, die wir so achtlos gegen·
überstellen. Wir dürfen auch in keinem Fall beim bloßen Täter stehen-
bleiben. Auch Opfer greifen in die Lebenskräfte ein, an denen das Ver-
brechen sich entfaltet. Selbst wenn die Opfer fehlen, sagen wir der
Notzucht, so kann das Vakuum zu Surrogaten führen, die wiederum
verboten sind. Mit diesen Vorbehalten sind die Zahlen anzusehen, die
aus den Vereinigten Staaten berichtet werden.
Zwei Strömungen reißen die Geschlechter auseinander. Die land-
wirtschaftliche Arbeit ist hart und ruft nach dem Manne. Den jüngeren
Frauen aber bietet sich eine Reihe von Berufen in den großen Städten.
Die älteren Frauen, oft verwitwet, wohlgestellt und längerlebend,
Dafür sind die Scheidungen in der Stadt sehr viel häufiger als auf
dem Lande 2 :
Scheidungen in Stadt und Land, USA 1940
Anteil in der
Bevölkerung
II Ehescheidungen
An teil an der
Summe der
Zudem nehmen, wenn man Schweden als typisch ansehen will, die
ländlichen Scheidungen schneller zu als die in der Stadt:
Ehescheidungen nach Stadt und Land *
(Schweden 1921-1945)
Auf 1000 bestehende
Ehen entfielen
Zeitraum Ehescheidungen
Land Stadt
Etwas später hatte sich die Lebensdauer, die nunmehr zwischen Mann
und Frau unterscheidet, weiter angehoben 2 •
Lebenserwartung der weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten
(Stadt und Land, Mann und Frau 1930)
Stadt Land
Männer . . . 56,73 Männer . . . 62,09
Frauen . . . 61,05 Frauen . . . 65,09
MACKRENROTH gibt Sterbeziffern für Schweden wieder, trennt aber nicht
nach Geschlechtern; dafür geht er 100 Jahre zurück 3 :
Diese Zahlen erweisen - für
Sterbeziffer für Schweden
Schweden wenigstens - den sieg-
reichen Vormarsch der städtischen Stadt Land
Hygiene. Britische Sterbeziffern .t, die 1851-1860 31,2 20,6
nach Berufen geordnet sind, stellen 1941-1945 9,7 11,2
die Langlebigkeit von Lehrern, Geist-
lichen und Farmern fest, wobei die Farmbesitzer ein wenig günstiger ab-
schneiden als die Landarbeiter. Nach französischen Zahlen der Jahre 1907
1 THOMPSON, WARREN S., and P. K. WHELPTON: Population trends in the
United States, S. 242. New York 1933.
2 SMITH, T. LYNN: Population Analysis, S.274. 3 MACKRENROTH, S. 230.
4 THOMPSON I, S. 237 und 238.
266 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
THOMPSON I, S. 236.
1
2 Die Innenberufe der Juristen und Mediziner sind ungesÜllder als die Tätigkeit
des Bergmanns oder des Webereiarbeiters. - Bei den Geistlichen wurden nur
die Mitglieder der Anglikanischen Kirche gezählt.
3 Patients in mental institutions 1933, S. 46. Washington 1935.
4 Ein Fünftel bis zu einem Sechstel der gesamten Bevölkerung von 1920 war
im Jahre 1929 in die Stadt gewandert (18-20 Millionen Menschen). THOlllPSON I,
S.399.
5 Patients in mental institutions 1923, S.38. Washington 1925.
Das Land und seine Problematik 267
Wenn man das städtische Gebiet der Größe nach aufteilt, so zeigt sich,
daß die Zahlen vom Lande über die Kleinstadt und die Mittelstadt zur
Großstadt ansteigen 1.
Einlieferungen in Irrenanstalten der USA 1923
(nach Stadtgröße auf 100000 Einwohner)
Städte 100000 und darüber. 92,5
25000-100000 73,2
10000-25000 65,3
2500-10000 54,8
Land . . . 41,1
Eingelieferte Männer
Krankheitsbild
Stadt I Land
Eingelieferte Männer
Alle Einlieferungen . . 70,4 29,6
Allgemeine Paralyse 81,4 18,6
Alkoholismus 81,7 18,3
Dementia praecox . 72,4 27,6
Manisch-depressives Irresein 59,9 40,1
Eingelieferte Frauen
Alle Einlieferungen . . . . . 74,0 26,0
Dementia praecox . . . . 76,0 24,0
Manisch-depressives Irresein 68,9 31,1
* Patients 1933, S. 52.
Einlieferungen in Irrenanstalten in den USA 1923
(auf 100000 Einwohner jeder Gruppe über 15 Jahre alt)*
Stadt Land
Altersgruppe
Männlich I Weiblich Männlich I Weiblich
A. Manisch-depressives Irresein
20-24 10,1 1I,1 7,8 8,5
25-29 10,7 18,2 8,9 14,0
30-34 1I,5 24,1 12,8 21,7
35-39 13,7 25,5 13,7 22,4
B. Dementia praecox
20-24 46,3 20,4 24,8 12,9
25-29 48,7 29,9 29,1 16,4
30-34 45,3 32,8 24,7 21,7
35-39 30,9 31,3 20,2 16,7
* Patients 1923, 8. 54 und 55.
Selbstmord ist eine andere Form des biologischen Versagens, wenn
es auch Fälle geben mag, in denen sich der Druck zur normalen Moti-
vierung steigert. Mit seiner räumlichen Verknüpfung haben sich SORO-
KIN!, FRENAy 2, CAVAN 3, JACQUART 4 und SCHMID 5 befaßt. Man ist vom
Fundort der Leiche ausgegangen, der nicht mit dem Ort der Selbst-
tötung zusammenzufallen braucht, wenn man an Selbstmord in den
großen Strömen denkt. JACQUART fielen die hohen Selbstmordzahlen
des ländlichen Gebiets von Laeken auf. Viele Selbstmörder gehen aus
der Stadt in den großen Park des Schlosses, um ihre Absicht auszu-
führen. Die Großhesseloher Brücke südlich von München war früher
ein beliebter Platz für Absprung in die
Tiefe des Isartals. Wer an der Meeres- Selbstmord in Stadt und Land
küste ins Wasser geht, weiß nicht, wo in den USA 1938-1942
(auf 100000 Personen jeder Gruppe)
ihn die See wieder auswirft.
Trotz aller dieser Einwände ist wohl Jahr Stadt Land
als sicher anzunehmen, daß mehr Selbst-
morde in der Stadt als auf dem Lande 1938 16,6 12,9
1939 15,8 12,4
begangen werden, obwohl die strengeren
1940 16,3 12,0
Anschauungen des Landes, besonders 1941 14,5 11,0
wenn religiöse Bedenken hinzukommen, 1942 13,1 ll,1
die wahrheitsgemäße Feststellung stark
erschweren. Ich habe amerikanische Zahlen für Stadt und Land er-
rechnetl, die nicht allzuweit voneinander entfernt sind, aber ein
deutliches Überwiegen der Stadt erweisen.
Ältere Zahlen, die aber verschiedene Maßstäbe handhaben, hat
RUTH CAVAN überliefert.
Damals war der ländliche Selbstmord häufiger als der städtische in
Staaten wie Wisconsin, New Jersey, Ohio mit nördlicher Einwanderung.
Russen, Deutsche und Juden haben hohe Selbstmordziffern, Irländer
und Italiener eine sehr geringe.
Es kommt sehr darauf an, in Selbstmord in den USA 1920-1922
(auf 100000 Einwohner) *
welchem Staate diese Gruppen
stark vertreten sind und ob sie
I10 000
Städte über I Städte unter
E · ohner 10000 Einwohner
sich in Städten zusammenballen mw I und Land
oder auf dem Land verstreut sind.
Eine lange Reihe von Ursäch- 1920 12,0 8,5
lichkeiten liegt regionalen Selbst- 1921 15,0 10,1
1922 14,3 9,5
mordzahlen zugrunde. "Ein-
wohner" sind ein viel zu grobes * CAVAN, a. a. 0., S. 49.
und vieldeutiges Werkzeug des
Vergleiches. Auch läßt sich keinesfalls von Selbstmordneigung sprechen,
wenn wirtschaftliche Stürme das eine oder das andere Gebiet treffen 2.
1 Berechnet nach Vital Statistics 1938, Bd. I, S. 459; 1939, Bd. II, S. 171;
1940, Bd. II, S. 211; 1941, Bd. II, S. 241; 1942, Bd. II, S. 365.
2 Über die Zunahme der Selbstmorde in den Vereinigten Staaten während der
Depressionsjahre 1930-1933 s. ELLIOTT und MERRlLL, S. 317. - In Deutschland
wurde 1924 vom Verband deutscher Lebensversicherungsgesellschaften etwas über
270 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
BEMMELEN hat feinsinnig auf die Polarität von Tötung und Selbst-
tötung in der Provinz Limburg hingewiesen, wo höchste Tötungszahlen
und tiefste Selbstmordtaten zusammentreffen_ Auch diese Gegensätz-
lichkeit der Tötungsziele verbirgt nur schwach die gleichen Triebe der
Vernichtung, die beim Familienrnorde zeitlich-örtlich eng verbunden in
Erscheinung treten. Wir reißen offenbar verwandte Phänomene aus-
einander, wobei wir der Statistik keinen Vorwurf machen können. Wenn
wir dagegen nach kausalen Fäden im Gesamtgewebe der Motive einer
Tötung fragen, so müssen wir die technisch schwer vermeidbare Lücke
wieder schließen. Sie ist nicht da, wir haben sie geschaffen.
d) Die Kriminalität von Stadt und Land kann nur in einem einge-
schränkten Sinne Kriminalgeographie genannt werden, da hinter den
Raumeinheiten (Staaten, Provinzen, Oberlandesgerichtsbezirken) sich
eine bunte Vielfalt von Kräften bewegt. Neben Gesamtzahlen werden
nützlicherweise einzelne Delikte untersucht, auch wird die Stadt nach
Größentypen aufgeteilt. VON MAYR stellte schon vor vielen Jahren
folgende Berechnung an:
Stadt und Land, Deutsches Reich 1883-1897*
(auf 100000 strafmündige Zivilbewohner)
* Uniform Crime Reports 1936-1940, S. 145,202,186 und 190. Für die beiden
anderen Jahre finden sich die Zahlen ebenda, S. 80 und 191.
v. Hentig, Das Verbrechen I 18
274 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Landgerichtssprengel Wien 18 11 21
Tirol. . . . . . . . . _ 19 21 20
Bundesgebiet . . . . . . 18 15 19
* Monatsschrift, Bd. XIII, S. 442; s. auch HANSEN, H., Monatsschrift, Bd. XXIII,
S.358 für das Jahr 1929.
Der Höllenpfuhl der Stadt und jenes enge Band mit der Natur, die
nichts als läutert und zum Guten leitet 2, gehören zu der Masse der
Legenden, die selbst den Höhlenmenschen als das Muster biederen
Bürgersinns betrachten wollen. Die Dinge liegen sehr viel komplizierter.
Die Feststellungen, die wir nach den Angaben der österreichischen
und der holländischen Statistik getroffen haben, werden durch neuere
dänische Daten gestützt 3 :
Vier Deliktsgruppen nach Stadt und Land, Dänemark 1947 (Prozentzahlen)
Männer
1 ASCHAFFENBURG, S. 69.
2 "Das Land und die Kleinstadt zeigen die Bewohner noch in enger Verbindung
mit der Natur und sie selbst noch mehr als reine Naturkinder." SAUER, S.223
und 224.
3 HURWITZ, STEFAN: Criminology, S. 255. London 1952.
Soziologie der Stadtbewohner 277
Wer die Frage aufwirft, ob Gewohnheiten der Anzeige und der poli-
zeilichen Feststellung in Stadt und Land nicht grundverschieden sind,
muß sich polizeilichen Angaben zuwenden l .
eine Trennung schwer wäre, so sind sie öfters keine Menschen aus der
Stadt, man denke an Studenten und Soldaten, an Lehrlinge und Dienst-
mädchen. Sie geben unserem Bilde einer großen Stadt das Tempo und
die Lustigkeit, den überschwang und auch die Lockerheit, die Arbeits-
leistung und die kriminelle Energie. Das ist der Grund, warum die Stadt
sich anders anzieht, so eilig ist, so spät zu Bett geht, in Liebessachen
flatterhaft und unverhohlen ist. Wenn junge Menschengruppen auf-
einanderstoßen, so rollen alle Lebensvorgänge schneller ab, werden alle
Leidenschaften mobil gemacht, laufen Selbstsucht und Hingabe auf
schnelleren Touren. Für alte Bauern, die an die längst vergangene
Dienstzeit denken, ist es meist die Erinnerung ungewohnten Über-
schwangs und an die Abenteuer einer hellen, großen Stadt.
Die Stadt ist nur eine äußerliche Form der Massenbildung, die durch
die Nähe des Zusammenwohnens sich ergibt. In diesem Rahmen gehen
andere Zusammenballungen vor sich, in Fabriken, in Schulen, den Ge-
schäften, den Behörden. Aber diese Gemeinschaften sind in quirlender
Bewegung: Sie bilden sich periodisch, lösen sich wieder auf, formieren
sich von neuem. Neben dem menschenreichen Miethaus, der volkreichen
Straße, den Stadtvierteln mit ihrer Eigenart, den überfüllten Straßen-
bahnen, den vollbesetzten Kinos und den Tribünen der Sportplätze
kommt es zu tausend Kontakten mit kleinen und mit großen Massen,
entwickeln sich nicht nur städtische Züge des Gemeinschaftslebens,
sondern auch die duldsame Gewohnheit der "Koexistenz", ja das Be-
dürfnis nach dem Dunst und Lärm der neuerstandenen "Herde". Denn
aus den Anfängen sozialer Entfaltung haben wir die dunkle Vorstellung
mitgebracht, daß uns die Herde besser schützt als wir es einzeln können l .
Der Siegeszug der großen Städte erregt Besorgnis, plagt die Städte-
planer und scheint doch unaufhaltsam. Im Jahre 1801 gab es in Europa
21 Städte, die eine Bevölkerung von 100000 Menschen hatten, und ein
guter Teil davon waren angeheuerte Soldaten, die ihren König schützten,
alles Männer:
Städte in Europa mit mehr als 100000 Einwohnern, 1801 2
5 in Italien
3 in Frankreich
3 in Rußland
2 in Großbritannien
2 in Spanien und Deutschland
1 in Österreich, Dänemark, Portugal, Holland
1 Die moderne Waffentechnik hat wiederum den einsamen Straßengraben
sicherer gemacht als die Ansammlung der Großstadt.
2 GIBT and IlALBERT: Urban society, S. 35 und 36. New York 1933. - 1927
gab es 537 solche Großstädte: 224 in Asien, Rußland und die Türkei eingeschlossen,
182 in Europa, 90 in Nordamerika, 20 in Südamerika, 12 in Afrika und 9 in
Australien.
Soziologie der Stadtbewohner 279
Was die Jugend in die Stadt zieht, sind neben den Trieben erwachen-
der Sexualität die Reizquellen von Licht und bewegtem, brausendem
Leben. Ein Jugendlicher legte dieses Geständnis ab: "Eine andere
Sehnsucht meiner Jugendzeit war die Hoffnung, einmal in der großen
Stadt leben zu können. Aus der Ferne her strahlte diese Vision in all
dem Glanz des Reichtums und der Macht auf. Ich träumte von seinen
Alleen, seinen Parks, seinen Palästen und seinen blendenden Lichtern.
Die auflodernde Flamme seines fernen Lebens füllte den Horizont mit
der Glorie endlosen Sonnenaufgangs 1." Der Jugendliche strebt von der
Familie weg. Es ist die von der Natur eingesenkte Triebhaftigkeit der
Nestflucht, die den Inzest verhindern soll, dem unfertigen Menschen
aber gleichzeitig den Schutz der Familiengruppe nimmt. Er fühlt nur
die Anziehung des Lichts, nicht aber die innere Abstoßung. Er will in
die Ferne, möchte zur See fahren, mit einem Zirkus umherwandern, zur
Fremdenlegion gehen. Die alte Wanderburschensitte kam diesem Trieb
entgegen und lenkte ihn in wohlbegrenzte Bahnen. Dem Bauernjungen
ist die Stadt die nächste Art der Ferne.
Der Überschuß an jungen Frauen ist ein anderer Anreiz, nicht weniger
stark als all die Lichter, die in der Stadt die Nacht zum Tage machen,
sie in die Länge ziehen und alle alten Menschen in die Betten jagen,
mitsamt der Aufsicht, ihren Regeln und Geboten. Das weibliche "An-
gebot" kann uuter besonderen Umständen beängstigenden Umfang an-
nehmen. Im zweiten Weltkrieg füllte sich die Hauptstadt Washington
mit einer Armee von 80000-100000 jungen Sekretärinnen an, die Woh-
nungen und Männerchancen teilen mußten 2. Abgesehen von großen
Fabrikstädten der Schwerindustrie (Detroit) und Garnisonen (Norfolk,
San Diego, San Francisco), zeigten die meisten großen amerikanischen
Städte einen Frauenüberschuß :
Frauenüberschuß in amerikani8chen Städten, 1940 3
Es entfielen auf 100 Frauen ... Männer in
Kansas City . . 90,9
Los Angeles . . 95,3
New Orleans . . 90,0
Washington, D.C. 91,9 (vor dem Kriege)
Houston . 96,0
New York . . . 97,3
Natürlich kommt es nicht auf Babies und Großmütter, sondern auf die
Frauen in bestimmten Altersgruppen an:
1 Nach THOMAS DIXON erwähnt von BOWMAN, J. C.: The promise 01 country
lile, S.87.
2 Mein Aufsatz: The 8ex ratio in Social Forces 1952, S. 447.
3 Statistical Abstract 1947, S. 23ff.
280 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Für das offene Land (rural farm) war das Verhältnis der Männer zu
100 Frauen 1940 111,7. In der Stadt standen 100 Frauen 95,5 Männer
gegenüber2 • Je größer die Stadt aber war, um so höher stieg das Miß-
verhältnis an.
Es kommt nicht nur darauf an, daß die Stadt mehr Frauen jüngeren
Alters beherbergt. Sie müssen auch in dem Sinne verfügbar sein, daß
sie "frei", d.h. unverheiratet, sind. Der Vergleich von Staaten mit
starkem städtischem Einschlag und - damals, d.h. im Jahre 1930 -
noch im wesentlichen landwirtschaftlichem Charakter zeigt, daß Stadt
und Land dem Familienstande nach verschieden sind.
Familienstand, Staaten Massachusetts und Texas 1930*
(Bevölkerungsgruppe 15-44 Jahre, Prozentzahlen)
Männer Franen
1 . I heiratet
ver- I ver- I schieden
ge- ledig ver- I ver- ge-
edlg witwet heiratet witwet schieden
1 Über die Loop siehe das Kapitel: The Loop and the lupo8 in LAIT and
MORTIMER: Chicago confidential, S.22ff.
2 CAVAN, RUTH SHONLE: Suicide, S. 89. Chicago 1928.
3 ZORBAUGH: The gold cOMt, S.80, 81. Chicago 1957. Lebensgeschichte eines
"charity-girls. "
282 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
die große Stadt nur halbe Schuld trägt. Was wäre auf dem Lande aus
dem gleichen Menschenkind geworden 1
b) Die Anziehung der Stadt macht sich auf ganz bestimmte mensch-
liche Elemente geltend. Da ist erst die bedrückende Konformität und
die starre Unbeweglichkeit des Landes und der kleinen Stadt. Sie
erinnert an die strenge Kontrolle, der in primitiven Verhältnissen alle
Stammesmitglieder unterworfen werden. Dazu gehört das, was die
Männer im Wirtshausgespräch andeuten und die Frauen über den
Gartenzaun flüstern 1. Auf dem Land kennt man jeden, wird alles aufs
genaueste beobachtet, wird jede Abweichung sorgsam notiert, lange im
Gedächtnis aufbewahrt und immer wieder durchgesprochen. Nachts hat
bei jenem Haus der Hund gebellt. Wer ist so spät nach Hause gekom-
men 1 Dort flackerte um Mitternacht ein Licht 2. Was mag es wohl
gewesen sein 1 Im Garten ist ein frisch gegrabener Fleck. Was kann
man dort verborgen haben 1 Ich kenne den Fall eines Kriminellen, der
auf der Flucht in ein fremdes Dorf kam und ein Bauernmädchen nach
dem Weg fragte. Sie konnte später eine minutiöse Beschreibung geben,
weil eine neue Gestalt und ein neues Gesicht erfrischend-eindrucksvoll
waren und sich in ihr leeres Personengedächtnis tief und lebendig ein-
geprägt hatten. Wie Indianer Menschenspuren sehen, di.e uns völlig
entgehen, so lesen Bauern aus unbedeutenden Geschehnissen Dinge
heraus, die wir, von einem Eindruck nach dem andern überladen,
überhaupt nicht mehr beachten.
Daß die Aussichten auf Gewinn und rasches Fortkommen Menschen
vom Lande in die Stadt locken, ist nichts Besonderes. Es läßt sich ferner
sagen, daß einzelne psychologische Kategorien vom Dorf fortdrängen.
Da sind zuerst die Unzufriedenen und Streitsüchtigen, die sich von den
Quellen der Unruhe und Enttäuschung ablösen, wie abgewiesene Lieb-
haber, die im Wettkampf mit glücklicheren Bewerbern unterlegen sind.
Zu den Unzufriedenen mit den zähen Beharrungstendenzen des Landes
gehört eine ganze Skala "Malkontenter", vom Fortschrittlichen zum
Anarchisten, vom Reformator bis zum Menschenfeind, dem auch die
Stadt noch voller stumpfer Bauernschädel ist. Streithammel siedeln in
die Stadt über und genießen die Pause einer halben Popularität, bis
sie auch hier als Unruhestifter, Besserwisser und als unverbesserliche
Ekel erkannt und abgelehnt werden. Sie sind bisweilen im politischen
Kampfe nützlich, weil sie dem Gegner Abbruch tun und andern die
Kastanien aus dem Feuer holen. Als Privatmenschen sind sie unglück-
lich und durchaus geeignet, andere unglücklich zu machen, besonders
in der Ehe, als Pädagoge und als Vorgesetzter.
Siehe das Gespräch der Nachbarinnen am Brunnen in Faust, Erster Teil.
1
Siehe das Licht im Fenster in H. HENDERsoN: Trial of William Gardener,
2
S.121, und das Horchen der Bauernjungen an der Kapellentür, S. 71. Edinburgh 1934.
Soziologie der Stadtbewohner 283
Eine Gruppe folgt der Anziehung der Macht, die sich in Regierungs-
gebäuden, Parlamenten, Banken, Riesengeschäften und großen indu-
striellen Werken vor ihnen ausbreitet. Hier sind die Universitäten,
Theater, Bibliotheken und Zeitungspaläste, von denen aus die Welt
regiert wird. Die Kathedralen blicken weit ins Land, die Funkstationen
werfen ihre Wellen aus und die Millionen beugen ihren Worten Nacken
und Gemüt. Dieser Abfluß der Aktiven, Ehrgeizigen, Hungrigen nach
Geld, Macht und Anerkennung verleiht dem Lande jene Behäbigkeit
und jenes innere Sicherheitsgefühl, das wir genießen, wenn wir im Alter
diese wenig windbewegte Atmosphäre suchen und von der Qual der
Problematik uns erholen wollen. Es sind zumeist die zweiten, dritten
Kinder, indes die Erstgeborenen auf der Scholle haften, die Dissidenten
von der monotonen, oftmals, jedoch nicht immer, antiquierten Tradition.
Dann kommen Eremitentypen, Junggesellen, die es für immer bleiben
wollen, Flüchtlinge von der anerkannten Regel, die Menschen mit ge-
heimen Lastern, die Süchtigen verschiedener Art, die in verborgenen
kleinen Zirkeln ihre Ruhe suchen, Verständnis, Sicherheit, Verzeihen
und die gleichgesinnte Partnerschaft. Man braucht nur das Tagebuch
eines Rauschgiftsüchtigen zu lesen, der einmal ein bekannter Geschäfts-
mann in Chicago warl, und was ein Blumenmädchen über diese Kreise
schreibt 2: Sie alle schnupfen, rauchen, machen Injektionen, sind Taschen-
diebe und bestehlen Warenhäuser. Der eine, "Dad", sieht wie ein General
aus, die Frau fährt nachmittags das Baby an die Luft. Indes Passanten
es bewundern, geht diese junge, hübsche Frau durch ihre Taschen, denn
Kokain macht sicher und geschickt. Homosexuelle 3 finden Unterschlupf
und jene Gleichheit, die Gesetzen fremd ist, und alles was ihr Herz
begehrt.
Wie in einer riesigen Kläranlage reinigt sich die große Stadt von
Elementen der Lebensuntauglichkeit durch Krankheit, Tod, Abwande-
rung in andere Gegenden und Länder. Dabei hilft der soziale Auslese-
mechanismus des Strafrechts <1 mehr oder weniger wirksam mit, entfernt
die gröbsten kriminellen Typen, hält sie in Gefängnissen und Irren-
anstalten fest, treibt sie aus Furcht vor Strafverfolgung in die Weite,
macht ihnen als Vorbestraften das Leben noch schwerer, als es sonst
schon ist. Auf der anderen Seite bietet die unübersichtliche Gedrängt-
heit der Stadt und ihre Neigung zu Zusammenschlüssen und Abwehr-
zirkeln erhöhte Möglichkeiten des Versteckens und der Deckung vor
Gericht. Das Phänomen des Gangsters ist ein Stadterzeugnis, und alle
ihre ganzen dunklen Seiten dienen ihm als Schild. Die Polizei weiß,
1 ZORBAUGH; Gold coast, S. 136, 137. 2 Ebenda, S. 138.
3 Ebenda, S.96 und 100. - über die freie Liebe, die hier verfochten wird,
während sie auf dem Lande wortlos vor sich geht, s. ebenda, S. 100ff.
4 Diese Auffassung habe ich in Strafrecht und Auslesen, Berlin 1914, entwickelt.
284 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
daß es keine sichereren Orte des Verbergens gibt als London und New
York. Kein Mensch kann auf die Dauer sich verkriechen, wenn er nicht
Freunde hat und Geld und wenn er nicht die Tiefen einer Großstadt
kennt. Es hängt mit der Unvollkommenheit ländlicher Polizeiverhältnisse
zusammen, auch mit den Strömen der Touristen, daß man sich auch im
Sommer auf dem Land verstecken kann!, besonders leicht zur Erntezeit,
wenn jede Arbeitskraft gebraucht wird und niemand lange nach dem
Leben vorher fragt. Erfahrung lehrt, daß Sorge vor Entdeckung den
Fleiß des Helfers und die Fügsamkeit erhöht. Der Landbesitzer oder
Handwerksmeister genießt den Vorteil einer Haltung, die besser schützt
als jede Technik des Verbergens 2 •
c) Die Menschentypen, die aus den verschiedensten Gründen, der
Anziehung der Stadt erliegend, hereinströmen, werden hier von be-
stimmten, stadtgeborenen Kräften gepackt. Unter ihrem stillen, aber
unablässigen Druck erfährt der Organismus, mehr noch die Psyche, eine
Umgestaltung, die gleichfalls Gleichformung ist. So verschieden Städte
auch nach Lage und Entwicklung sind, Hafenstädte 3 , Fabrikstädte 4 ,
Luxusstädte 5, so verfälschen sie das "natürliche" Leben durch Staub und
Lichter und Geräusche. Dieser Lärm ist am stärksten in den Fabrik-
vierteln und im Stadtinnern, verdünnt sich immer mehr und sinkt in
den Villenvororten nahezu auf jene ländliche Stille ab, in der nur Hähne
krähen, Hunde bellen und Kirchenglocken läuten. Eine Pseudoländ-
lichkeit mit abgeschwächter Luftverschlechterung und gedämpftem
Lärm wird durch Parks und eingestreute Grünanlagen hergestellt. Aber
auch bis hierher dröhnt der anschwellende Donner der Düsenflugzeuge,
die Fenster und noch mehr die Nerven zittern lassen. Es gibt zwar
langsam und still dahingehende Zugtiere, aber keine lautlose oder
erschütterungsfreie Maschine. Ihr Atem sind Gase, Rauchschwaden
und lcise rieselnder Ruß. Die Menschen nehmen diese Gifte unaufhörlich
in die Lungen und den Blutstrom auf.
Wie Berge, Täler, Seen, Steppen ihr eigenes kleines Nebenklima
bilden, so ändert auch das Steingewirr der großen Stadt den Kreislauf
physischer Potenzen. Die asphaltierten Straßen schaffen eine Art von
trockener Wüste, aus deren Boden jedes Wasser rasch verschwindet.
Die Rauchpartikel halten ultraviolette Strahlen auf. Die Windbewegung
COOPER, C. R.: Ten thousand public enemies, S. 116, 305. Boston 1935.
1
Ein gewisser Frank Almy, der später einen Mord beging, war "einer der
2
schlimmsten Gauner, die je den Boden von Neuengland betreten hatten. Er war
ein Einbrecher, ein Dieb, ein Fälscher und auf der Flucht vor den Gerichten; die
Hälfte seiner 30 Jahre hatte er in Strafanstalten zugebracht". Er war aber der
beste Knecht, den der Bauer in Jahren besessen hatte. - Er arbeitete Tag und
Nacht und klagte niemals. MrNOT: Murder will out, S. 2 und 3.
3 Hamburg, Liverpool, Marseille. 4 Pittsburgh, Essen, Manchester.
S Miami, Cannes, Wiesbaden.
Soziologie der Stadtbewohner 285
ist gehemmt, die Sommerhitze und die Gase der Motoren werden nicht
hinweggetragen. Abkühlung kommt erst in den späten Abendstunden,
wenn der Verkehr erlischt und Sonnenstrahlung sich nicht mehr in
steilen Straßenschluchten fängt. Im Winter ist es grau und trübe, und
erst am Abend flammen alle Lichter auf und regen Drüsen, Nerven und
Begehrlichkeiten an. Nachtleben hat in Städten seine Gründe, die neben
Sinnlichkeit, Erwerbssinn und dem Schutz des Dunkels liegen. Die
Nacht läßt in die Städte Energien der Erneuerung ein, verstärkt sie
künstlich, um sie materiell zu nutzen, und jeder findet schließlich seine
Freude daran.
Die Kraftentfaltung der großen Stadt, die Wirkung, die sie aus
Dampf, Elektrizität und bald auch Kern-Gewalten zieht, betäubt und
spornt nicht nur die Jugend an. In dicht geballten Menschenmassen
wohnen Antriebe, die die ganze Bevölkerung ergreifen, ihre Suggestibili-
tät erhöhen, ihr Machtgefühl erregen, wie es ja jedem geht, der einen
großen Fabriksaal betritt, eine große Versammlung besucht oder mit
einem Regiment in Reih und Glied marschiert. Besonders stark erfaßt
der Masseneinfluß Menschen, die vom Lande kommen und innerlich
befriedigt altes Herdendasein wiederfinden. Sie können sich geborgen
in ihm niederducken. Die Furcht der Einsamkeit und des Bedrohtseins
fällt von ihnen ab. Aus diesem Grunde zieht es Minderheiten in die
Städte. Sie bilden Städte in der Stadt. Das ist der Ursprung mittel-
alterlicher Ghettos! und solcher dunkelhäutiger Viertel, wie sie NewYork,
mehr noch Chicago kennt 2 •
Die ihrer Kraft bewußten Massen der Stadt fühlen sich zwar dem
Lande überlegen, leiden aber an einem unbestimmten Unbehagen, das
leicht in offene Unzufriedenheit umschlägt. Sie stehen immer auf der
Grenze von Ja und Nein. Diese Spannung kommt daher, daß der Arbei-
ter mit Ausnahme von Spitzengruppen mehr und mehr zu einer Art
von Pferdekraft geworden ist. Sie wird von fremden kühlen Rechnern
hier und dort verwendet. Menschen werden wie Schrauben oder Gewinde
ausgewechselt, ohne daß sie eine Liebe zur Sache, eine leistungssteigernde
Gefühlsbeziehung entwickeln können. Die Maschine kennt weder An-
hänglichkeit noch Dankbarkeit, nicht einmal Ärger, wenn sie schlecht
1 Siehe die Geschichte des Frankfurter Ghettos bei LOUIS WIRTH: The Ghetto,
S.41ff. Chicago 1956. - "The Jew was excluded", schreibt WIRTH ganz richtig,
"therefore he became exclusive; ... the hand of the world was against him, therefore
he sought protection among his own" (nach PHILLIPSON).
2 Siehe das Kapitel: Black paradise in LAIT and MORTIMER: Chicago con-
fidential, S. 42ff. - Es handelt sich um den Stadtteil, den man "Bronzeville"
nennt. Von der kleineren Kriminalität sprechend, meinen die Verfasser (S.47):
"Es scheint, daß jedermann in Bronzeville diese Dinge sieht, nur die Polizei nicht."
Das Machtgefühl der Masse (750000 Neger) macht sich geltend; sie weicht allein
dem schwarzen Polizisten.
286 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
behandelt wird, wie es doch jedes Haustier tut. Den Menschen macht
sie unbemerkt zu ihrem Ebenbilde. Sie ist einstweilig, immer wieder
überholt, vollkommen nur, bis Neues kommt und sie zum alten Eisen
wirft. Maschinen müssen immer schneller laufen, die Vibration nimmt
zu, der vielgequälte Organismus wird vergiftet, Ermüdungsstoffe
sammeln sich in den Geweben an. Die Arbeit, die ihn freute, hat
sich unmerklich unter seinen Händen in einen harten Anspruch ver-
wandelt, dem Geist und Körper nur für kurze Zeit gewachsen sind 1.
In dumpfer Weise macht der hohe Lohn nicht völlig glücklich. Das
ist der Geist der Stadt, der hinter seiner Kriminalität hervorblickt.
Heftiger schlägt das Herz der Stadt im Krieg. Jung und alt, Mann
und Frau werden auseinandergerissen oder ersetzen einander im Berufe.
Da aber der moderne Krieg auf Massenproduktion beruht, füllen sich
die Industriestädte an. In Städten sind die Zentren der Regierung.
Hilfskräfte werden aus dem Reservoir der Frauen angefordert 2. Ver-
gnügungsindustrien blühen auf, um die Soldaten unbesorgt und glück-
lich 3 zu erhalten. Die Städte werden abgedunkelt; die Kriminalität
der Luftschutzbunker ist noch nicht beschrieben, obwohl wir wissen,
daß die Frauen oft den ganzen Schmuck zusammenraffen und mit sich
nehmen. Wieviel mag im Gedränge wohl "verloren" worden sein.
Nach MARx sind auch die großen Städte dazu da, den Aufruhr gegen
Unterdrücker durchzuführen. Er dachte nicht an Altersgruppen, Ver-
schiebung im Verhältnis der Geschlechter und alles, was Bevölkerungen
umformt, sie suggestibler, aggressiver, leichter zu verführen macht. Er
wußte aber, daß hier alle Stränge der Beherrschung ineinanderlaufen
(Regierungsgebäude, Bahnlinien, Zeitungsdruckereien, Flugplätze und
Radiostationen). In der Stadt ist die Massenbildung in den großen
Fabriken, der anschwellenden Bürokratie der Behörden, ja in den Kaser-
nen vorgebildet. Die Gegenkräfte bleiben zahlenmäßig weit zurück, auch
ist der Unterschied von arm und reich viel stärker fortgeschritten als
in ländlichen Gebieten. Begehrenswertes wird mit aller Kunst zur Schau
gestellt, verlockend angeleuchtet, Tag und Nacht empfohlen. Das
gleiche Denken ist zum guten Ton erhoben, und von der Kleidermode
bis zur gleichen Mode der Gefühle ist der Schritt nur kurz. Bei jedem
Aufstand greifen kriminelle Elemente ein. Indes die einen für die Frei-
heit sterben, füllen andere sich die Taschen; man lese nur, wie es beim
Sturm auf die Bastille zuging. Auf Furcht vor diesem Zug im Bilde
großer Städte beruht der Anti-Urbanismus der Legende, als ob im
Bauernkrieg nicht wilde Greuel geschehen wären. Je nach der Lage
sind wir Sünder allzumal, nur daß die Stadt im Augenblicke in der
Feuerlinie steht.
d) Das Strafgesetzbuch nennt die Verdichtung einer bedrohlichen
oder gewalttätigen "Gruppe" Zusammenrottung (§§ 115, 122 StGB).
Wenn bei dieser rechtswidrigen Zusammenwirkung von "vereinten
Kräften" gesprochen wird, so ist damit die erhöhte Dynamik angedeutet.
Auf dem Gebiet der Staatsgefährdung wird bereits die Gründung einer
"Vereinigung" mit Strafe bedroht (§ 90a StGB), während die Zersetzung
von Organisationen, die dem Schutze des Bestandes oder der Sicherheit
des Staates dienen (§ 91 StGB), verboten ist, weil sie die Schlagkraft
vereinigter gesellschaftlicher Kräfte schwächt.
Die Muskelleistung des einzelnen kann nur auf zweierlei Weise ge-
steigert werden: mechanisch, indem eine Kraftäußerung der anderen
hinzugefügt wird, bis wir zu der endlosen Kette der Fronarbeiter kom-
men, die die schweren Blöcke der Pyramiden herbeischleiften und auf-
einandertürmten. Um ein Höchstmaß von Wirkung zu erreichen, muß
die Arbeit des weiteren koordiniert werden. Ein Optimum wird erreicht,
wenn durch Gehorsam oder Disziplin jeder Kraftverlust vermieden ist.
Das sind die "vereinten Kräfte" des Strafgesetzbuches, die einmal als
bedrohlich abgebrochen werden müssen, wenn sie sich gegen unsere
Rechtsgüter richten, bei anderer Gelegenheit und auf andere Ziele
abgestellt als rettendes Prinzip heraufbeschworen werden, etwa zu
Anfang eines Krieges.
Neben dem auferlegten Gehorsam gibt es seelische Bereitschaften,
die gewollt und daher ebenso zwingend unseren Willen mit anderen
Menschen an einem Strange ziehen lassen, so daß es unmerklich zu
"vereinten Kräften" kommt. Wir ahmen nach. Wir lassen uns von
Suggestionen leiten, dem, was man populär das schlechte Beispiel nennt.
Doch sollten wir die Macht des guten Beispiels nicht vergessen, die Bilder
großer, milder, heldenhafter Menschen, mit denen wir die Köpfe junger
Menschen füllen. Wir wollen nicht allein, daß man von ihnen hört.
Nacheiferung wollen wir erwecken und damit dem Willen eine ganz
bestimmte Richtung geben, die die Gemeinschaft fest zusammenhält.
288 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
1 2.MOB. XVI, 12. 2 FINKE und ZEUGNER, Monatsschrift, Bd. XXV, S. 315.
3 FRIEDLÄNDER, Bd. IV, S. 48.
Soziologie der Stadtbewohner 291
19*
292 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Hier bietet sich das Bild größter Zusammendrängung, und die Unter-
suchungen THRAsHERs, SHAwS und anderer Amerikaner haben wert-
volles Material beigebracht, wenn auch nicht immer die amerikanischen
Verhältnisse mit ihren Einwanderern und fremden, wirtschaftlich unter-
entwickelten Rassen auf Europa passen l . Hier ist die ungeheure Dichte
der Ausdruck von Armut, Alter, Krankheit, Schwachsinn, Lebens-
niederlagen. Hier finden von der Polizei Gesuchte Zuflucht, hier leben
Spitzel vom Verrat 2. Hier empfängt die auf den Straßen lebende Jugend
eine Lehre, die sie oft allzu gut beherzigt. Diese Enge beschönigt keine
Schwäche, keine Blöße; so muß das schlechte Vorbild wuchtig in die
Seele ungereifter junger Menschen fallen. Pädagogisch noch verderblicher
ist es, den sozialen Niedergang von Eltern anzusehen, die aus alt-
modischen Anstandsgefühlen sich den Erfolg aus den Händen rinnen
lassen, während dicht daneben Gewissenlosigkeit zu Macht und Reich-
tum kommt. Wie im Gedränge eines Theaterbrandes entfesseln sich
hier Kampfinstinkte bei dem, der diesen Wettbewerb bestehen will.
In Mordprozessen werden Typen öfters angetroffen, die hier im Slum
für das normale Leben allzu bedenkenlos und aggressiv geworden
sind 3.
Das Verhältnis Boden-Lebewesen ist längst nicht mehr die Men-
schenzahl verglichen mit der Fruchtbarkeit, die sie ernährt. Große
Werke können neben Kohlenschächten aufgerichtet sein, in Hafenorten,
wo die Tanker landen, flutet das Wirtschaftsleben hin und her. Mit
massiertem grellem Licht und bunt bewegtem Treiben locken Ver-
gnügungsviertel Kunden an. Diese Vergnügungs- oder Lasterdichte
erlischt beim ersten Hahnenschrei und macht der Käuferdichte in den
Geschäftsstraßen und der Arbeitsdichte in Fabriken und Büros Platz.
Bahnhöfe füllen sich, Hotels geraten in Bewegung, der Lebensraum ver-
kürzt sich, Menschen rücken dichter aneinander. Das Herz der Stadt,
das sich zur Nacht zusammenzog, dehnt sich am Tage wieder aus. Nur
Sonntags nimmt der Tagesrhythmus eine andere Richtung an und löst
die Alltagsdichte in Familiengruppen auf.
Dazwischen kommt es zu zahllosen Verdichtungen kleinerer Art, in
Fahrstühlen!L, in Bars, die körperliche Nähe jedem nahelegen, der danach
begehrt. Die schmale Tanzdiele geht auf überfüllungswirkung aus, die
manche Menschen lüstern suchen. Sie lockt die Prostituierte und die
1 MARTIN: My life, S.28. New York 1952. "Sie konnte einen von der Bar
abholen, einmal um die Tanzfläche herumwirbeln und unterdessen jede seiner
Taschen ausräumen."
2 Bei BowEN, CROSSWELL: They went wrong, S.30, New York 1955, blicken
die beiden Straßenräuber erst in einige Restaurants. Sie sind zu voll. Um 4 Uhr
morgens sehen sie einen einsamen Kellner, der hinter einer Bar aufräumt. Sie
dringen ein und nehmen 80 Dollars weg.
3 Stat. Jahrbuch 1957, S. 35, 39. 4 Ebenda, S. 37, 38.
5 Statistical Abstract 1947, S. 8.
6 MOSTAR, HERMANN: Nehmen Sie das Urteil an? S. 34. - Durch Zufall wird
ein kleiner Raum frei, nur 4 Quadratmeter und mit Zementboden, "der kalt und
feucht war, aber Wärme kam durch die dünne Wand vom Stall her ... Sie konnten
sprechen miteinander, ohne daß andere sie hören mußten ... Und Erwin konnte
seine Schularbeiten machen und kam in der Klasse wieder mit und bekam eine
Lehrstelle, weil er nun ein leidliches Abgangszeugnis bekam". Um diesen "besseren
Raum" behalten zu können, hatte der Junge eine Mietquittung gefälscht. Siehe
auch die Schilderung S. 104 von dem 6-Familienhaus, in dem über 100 Flüchtlinge
untergebracht waren.
294 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
,,In einem ganz engen Verschlag mit nur mannshohen rissigen Bretterwänden
zu den andern, ebenso engen Verschlägen hin, 32 waren es im ganzen Raum, an
70 Menschen wohnten, nein vegetierten dort. In der Zelle der Webers (Mutter
und Sohn), nein, es war ja nicht einmal eine Zelle, eine Zelle wäre eine Gnade
gewesen - im Verschlag der Webers zwei Pritschen übereinander für Mutter und
Sohn, ein Nichts von wackligem Hocker, ein Nichts von winzigem Tisch. Und
dort, im ewigen Halbdunkel, im ewigen Menschenlärm sollte Erwin die Schul·
arbeiten machen. Es ging nicht, er lernte sowieso nicht so leicht, er wurde ein
schlechter Schüler."
Die Dichte produziert Lebensschwierigkeiten, Abstumpfung, Opfer,
denn zur Pflege feinerer Gefühle gehört die Freiheit und die Schonung
körperlichen Zwischenraums:
Geburtsort Ämsterdamer Prostituierter 1926-1935 1 (1589 Fälle = 100%)
Gemeinden 50000-100000. 5,6
100000 und mehr . . 13,6
Amsterdam . . . . . 35,5
Ein Volk, dem diese Mischung fehlt, wird leicht lethargisch und verfällt
in satte Selbstzufriedenheit. Es bleibt zurück im Wettbewerb der Völker,
weil jede lange Ruhelage Kampfinstinkte abspannt und entwaffnet.
Bei keiner Wanderung, die lange anhält, großen Umfang hat 1 und ein
Erfolgsgefälle - wenigstens im allgemeinen - darstellt, fehlt jener Troß
von chronisch Unzufriedenen, Ruhelosen, leicht Entwurzelbaren, die
jede menschliche Gemeinschaft gärend an die Oberfläche wirft. Es sind
darunter sehr verschiedene Typen. Sie sind kontaktscheu, und die Masse
zögert nicht, den Abstand und die Fremdheit doppelt an sie zurück-
zugeben 2. Sie kehren der Heimat den Rücken, wenn weitere, akute
Schadensquellen zu fließen beginnen: Zerwürfnis mit der Familie oder
dem Dorf, ein ehelicher Mißerfolg, abartige Neigung, die zu Spott und
groben Unzuträglichkeiten führt 3 , Ausschließung aus dem enggeschlos-
senen Kreis des Offizierskorps und der Kirche und schließlich die Gefahr
gerichtlicher Bestrafung. Die stillen Wanderer dieser Gruppe wird man
zu Tausenden im Dunkelfelde suchen müssen. In Strafverfahren großer
Zufluchtsländer werden überraschend viele Individuen angetroffen, als
Angeklagte teils und teils als Opfer, die wieder hochgestiegen sind.
Daran, daß wir die meisten dieser Typen gar nicht kennen, ist zu ersehen,
wie sie durch Tüchtigkeit und Gunst der Umwelt sich "emporgerappelt"
haben. Es kann zum bloßen äußerlichen Erfolge kommen 4, doch ist
auch bei labilen Menschen erstaunlich häufig eine Art von innerer
Wandlung anzutreffen. Wenn die Polizei bei einem Mord gezwungen
ist, in das Vorleben angesehener Persönlichkeiten einzudringen, erlebt
die Welt zuweilen eine große überraschung. All diese Menschen haben
wandernd alte Sünden abgeschüttelt und hinter sich gelassen 5. Die
gleiche Sprache ist bei diesem neuen Aufstieg eine große Hilfe.
1 In den hundert Jahren von 1830-1930 sind annähernd 38 Millionen Menschen
in die Vereinigten Staaten eingewandert. ELLIOTT und MERRILL: Social di8organiza-
tion, S. 586. - Im Grunde sind alle Amerikaner "Einwanderer", sogar die Indianer.
2 Untersuchte polnische Heimatgemeinden sahen die Auswanderung als uner-
wünschte Normverletzung an. "Das Verlassen der Gemeinschaft wird immer als
Anzeichen der Unzufriedenheit gedeutet ... und die Zurückbleibenden sind geneigt,
den Auswanderer zu verurteilen, ob sie seine Unzufriedenheit teilen oder nicht,
einmal weil er nicht bleibt und mit ihnen die gemeinsame Last trägt und an ihrer
Erleichterung arbeitet, dann aber auch, weil Unzufriedenheit, wenn alle anderen
zufrieden sind, mehr oder weniger als ein Akt der Revolte angesehen wird."
THoMAs, WILLIAM, and FLORIAN ZNANIECKI: The polish peasant in Europe and
America, S. 1484_
3 Siehe COLLINS, TED: New York murder8, S.61ff. New York 1944.
4 Siehe ROVERE, RICHARD H.: Howe and Hummel, S. 60,61. New York 1947.
5 Siehe den Fall des bekannten Film-Direktors William D. Taylor, der mit
wahrem Namen William C. D. Tanner hieß, wie man erst nach seinem Tode
erfuhr. RICE, CRAIG: L08 Angeles murders, S. 108. New York 1947. - über die
Auswanderung von Zeugen, die einen entlastenden Meineid geschworen haben, lese
man den Mordfall im Kapplertal nach. Neuer Pitaval, Bd.III, S.216. Leipzig 1868.
298 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Bei weitem größer ist die Anzahl jener, die, von Gefahr bedroht, in
andere Kontinente ausgewichen sind. Erpreßte, die nicht weiter fürch-
ten, schachern, zahlen wollen, wandern von der westlichen Hemisphäre
nach Europa, von Europa nach Amerika. Erpresser lassen sich mit gro-
ßem Geldaufwand verschicken. Sie bleiben drüben, kommen oftmals
wieder. Falschspieler aus den oberen Ständen wandern aus, nicht nur,
weil eine Strafverhandlung droht 1. Die jetzt schon alt gewordenen Leut-
nants a.D. in den Vereinigten Staaten, die zu Amt und Geld gekommen
sind, lassen sich kaum zählen; sie kamen wegen irgendeiner Jugendtorheit,
die unbedenklich oder weniger harmlos war. Sehr viele andere flohen,
ohne daß eine Anzeige erstattet wurde, von der Familie abgeschoben, ver-
drängt, vergessen, bis sie als reicher Onkel wieder aufgenommen wurden.
Eine vierte Kategorie sind die Leichtgläubigen, die Suggestiblen und
die Optimisten, die zur Legion der Opfer ihren Beitrag leisten. Die
deutschen Einwanderer, die 1683 nach Pennsylvania strömten und 1709
der Pfalz den Rücken kehrten, wichen der bitteren Not. Aber schon
1835 und später 1854 erschienen in Baltimore und Augsburg deutsch
geschriebene Wegweiser für Auswanderer. Mit grellen Bildern bewußter
Übertreibung suchten die Schiffahrtsgesellschaften und die neugebauten
Eisenbahnen Fahrgäste zu ergattern 2 • Man lockte mit dem unerhörten
Überfluß. Dreimal am Tage kaute man ein "Hochzeitsessen". Die
Zahl der Schweine ließ sich auf den Farmen nicht mehr zählen. Man
brauchte vor den Herren seinen Hut nicht abzunehmen. Auf jedes
Mädchen wartete ein Mann 3 • Es ist nicht völlig richtig, daß Amerika
die Reklame erfunden und zu höchster Vollendung gebracht hat. Die
neue Industrie, die neue Höllenkunst kam aus der Wechselwirkung
jener, die glauben möchten, und von geschäftlichen Sirenen, die Toren
alles glauben machen können.
sind der Zufluchtsort aller Verbrecher und Briganten aus Italien, Sizilien, Sar-
dinien und Calabrien geworden. Vor etwa einem Jahr entschlossen sich die Be-
hörden von Tunis, das italienische Quartier der Stadt, wo eine große Anzahl von
Verbrechen vorgekommen war, zu säubern. Die französische Regierung stellte
eine energische Untersuchung an, die die Ausweisung von 10000 Italienern aus
diesem Lande zur Folge hatte. Wo ging diese Blüte männlicher Vorzüglichkeit hin ?
Sie wurden von Onkel Sam mit offenen Armen begrüßt." Erklärung von Leutnant
Petrosino, Chef der italienischen Kriminalabteilung von New York-Stadt. Siehe
PARK, R. E., und A.H.MILLER: Old world traits transplanted, S. 249. NewYork 1921.
1 In einem großen Spielerprozeß konnte ein Zeuge, ein Leutnant, nicht ver-
nommen werden. "Angeklagter Niemela behauptete, daß Muntermann infolge
homosexueller Vorgänge von einem Herren nach Kanada abgeschoben sei." FRIED-
LÄNDER: Interessante Kriminalprozesse, Bd. X, S. 126. Berlin 1914.
2 Siehe die Beschreibung der Auswanderer, die an einem Strick, von dem
triumphierenden Agenten geleitet, durch Chicago geführt wurden. LEWIS, LLOYD,
and H.J. SMITH: History 01 Chicago, S.28. New York 1929.
3 "There is no goose so gray, but soon or late will find some honest gander
for a mate." Alter Vers von damals.
300 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Zieht man die Zahlen der Rückwanderer heran, so ergibt sich ein ab-
weichendes Bild.
viel Not und Hilfsbedürftigkeit, dazu Delikte derer, die verlassen, arm,
unfroh und unzufrieden waren. Das beste Beispiel für eine Entwicklung,
die unter allerlei krisenhaften Erscheinungen auf die oberen Sprossen
der sozialen Stufenleiter führte, Schritt für Schritt vom Manne, der
Gesetze verletzte, zu einer Respektsperson, die als Schutzmann oder
Richter über den Gesetzen wachte, ist der Irländer in Amerika. Ihm
kamen seine vielen guten Seiten und der Umstand zugute, daß seine
Sprache die des neuen Landes war.
Im Jahre 1846 brach mit der zerstörten Kartoffelernte in Irland die
Hungersnot aus. Die Volkszählungen vermitteln ein düsteres Bild.
Bevölkerungsentwicklung Irlands 1841-1950 *
1841 8,2 1901 4,5
1851 6,6 1911 4,4
1861 5,8 1921 4,4
1871 5,4 1931 4,2
1881 5,2 1950 4,4
1891 4,7
* MACKRENROTH, S. 169.
Die Iren, die nach Amerika wanderten, sind - abgesehen von den
Illegalen - von beinahe einer Million auf eine winzige Zahl abgesunken,
viel weiter als die Einwanderung überhaupt in der Dekade der großen
amerikanischen Depression abfiel.
Einwanderung aus Irland und Italien
Wir stellen zum Vergleich den Zu-
in die USA * (1851-1940)
strom aus Italien daneben.
Jahrzehnt Irland Italien
Die Hungersnot alten Stils -
es ist der Menschheit gelungen, in
1851-1860 914119 9231
1861-1870 435778 11725 Kriegen, Blockaden und revo-
1871-1880 436871 55759 lutionären Wirren neue Spielarten
1881-1890 655482 307309 zu erfinden - beginnt erst mit
1891-1900 388416 651893 erhöhter Sterblichkeit der ärm-
1901-1910 339065 2045877
1911-1920 146181 1109524
sten, schwächsten und der alten
1921-1930 220591 455315 Leute. "Wie viele Menschen dem
1931-1940 13167 68028 Hunger, den Krankheiten und
* Statistical Abstract 1947, S. 108. den Epidemien zum Opfer fielen,
die in ihrem Gefolge kamen, läßt
sich aus dem bekanntgegebenen Material nicht mehr erweisen. Aber es
müssen tausende, ja zehntausende gewesen sein. Umfriedete Plätze
nahe Skibbereen und anderen Orten weisen die Gräber von hunderten
auf, die zugrunde gingen; bezeichnender noch sind die einsamen Gegen-
den, in denen die Bevölkerung einfach dahinschmolzI." Eine andere
1 O'CONNOR MORRIS, W.: Ireland 1796-1898, S. 155. London 1898.
Fernwanderungen und soziale Krisen 303
Quelle 1 teilt mit: "Zwischen 1846 und 1851 starb beinahe eine Million,
und die Zahl derer, die zwischen 1841 und 1851 für immer weggingen,
war 1640000." Es ist bemerkenswert, daß wir von einer Panik hören 2,
als sich herausstellte, daß die Kartoffelernte des Herbstes 1845 völlig
mißraten war. So kam es, daß in die an sich rationelle Wanderungs-
bewegung Momente einer tödlichen Hast, etwa wie das Zertrampeln
einer wilden Masse, wenn es brennt, eingestreut waren. Die Flucht-
bewegung selbst nahm ihre Opfer: "Das irische Volk war einem Ver-
derben entgangen, um in ein anderes gestürzt zu werden ... In einem
Schiffsraum zusammengepreßt wie Sklaven, hatten sie in den Augen des
Schiffsbesitzers keinen Handelswert. Sie wurden auch wie Sklaven be-
handelt und mußten auf der Fahrt unsägliches Elend erdulden 3." Es
kann als sicher angenommen werden, daß diese Auswanderer die un-
bemitteltsten, entschlossensten, aktivsten und die jüngeren Schichten
der Bevölkerung waren. Durch ihren Wegzug machten sie dem Rest
der Ihren Luft. Die Krise schrumpfte, und die Löhne stiegen ganz
erheblich 4, indes die Neuankömmlinge in Amerika, sich selbst im Wege
stehend, sehr tief unten wieder anzufangen hatten, Landmenschen, die
das Land für immer haßten und nur in der sozialen Wärme großer
Städte wohnen wollten.
Wie in einem empfindlichen Barometer registrieren die Zahlen der
Einwanderung das wirtschaftliche und soziale Auf und Ab der "Geber"-
und der "Nehmer"länder. Wenn Deutschland durch die Not der Grün-
derzeiten geht, steigt eine mächtige Welle derer an, die anderswo ihr
Glück versuchen wollen, Goldgräbertypen, ohne daß sie hacken oder
schaufeln. Sowie die Heimat aufblüht, rastlos und allerorts nach neuen
Märkten ausgreüt, versiegt der Strom, dem freilich auch ein Kriegsjahr
Abbruch tut:
1 SieheCLAGHORN, KATE H.: The immigrant's day in court, S.19. New York 1923.
2 Siehe die Angaben in Monthly Labor Review, S. 1126, 1940, über die größere
Arbei~sdisziplin der einmal verletzten Arbeiter.
3 he exploited their piety by working them long hours and paying them
H •••
starvation wages." ASCH, SHOLEM: East River, S. 104. New York 1946.
4 "Native white of native parentage."
20*
308 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
der Begriff des Einwanderers ist. Jetzt tauchen Völkergruppen auf von
Finnland bis nach Griechenland und Syrien, mit ihrer Geschichte des
Glanzes und des Niedergangs, der Freiheit und der Unterdrückung, des
primitiven Daseins und der hochentwickelten Kultur. Und neben allen
Unterschieden der Rasse, Sitten, Traditionen, Technik und Erziehung
zeigt sich ein Faktor, der den Menschen ebenso verbindet wie er ihm
Schranken auferlegt: die Religion und ihr soziologisches Gewicht. Denn
es genügt nicht, daß nach der Verfassung die Kultausübung frei und
unbehindert ist. Zu einem Glauben ganz bestimmter Art bekennen sich
lebendige Menschen, Massen, organisierte Gruppen, und diese Menschen
müssen erst einmal zusammenleben, hilfreich zusammenwohnen, in Ge-
fühlen und Gedanken einig sein. Sind sie es nicht, so stoßen wir auf
eine neue Schädlichkeit des übergangs von einem Kontinent zum andern.
Sie steht auf gleicher Stufe mit dem furchtbar harten Winter und jener
Sommerhitze, die die Arbeitskraft des Weißen lähmt.
Beim Selbstmord fehlen alle Ziffern der Statistik, weil die Vereinigten
Staaten keine offizielle Zählung haben. Die Völkerliste gewährt uns aber
auf einem Umweg halben Ein-
Selb8tmord in Preußen und Bayern
nach religiö8em Bekenntni8 blick. Wir sind berechtigt an-
(auf 100000 jeder Gruppe) zunehmen, daß Einwanderer aus
Preußen Bayern
Irland (Eire), Italien und Polen
(1925-1926) (1926-1928) Katholiken sind, daß Schweden
Protestanten herüberschickt. Bei
Katholisch. 15,0 14,2 der Vorkriegseinwanderung aus
Evangelisch 29,0 27,1
Jüdisch . . 51,0 40,8
Rußland und aus Österreich lassen
sich jüdische Elemente vermuten,
doch ist der Umfang zahlenmäßig unbekannt. Ein Vergleich mit den
von MAYR gegebenen Ziffern läßt erkennen \ daß alle Selbstmordzahlen
der Einwanderer größer sind als die Heimatdaten, wobei ich freilich an
den städtischen Charakter von Chicago denke 2 •
1 ASCHAFFENBURG, S. 36 (1901-1906).
2 Europäische Städtezahlen für 1929 bei WEICHBRODT, S. 103.
Fernwanderungen und soziale Krisen 309
nur Leben und Bedeutung gewinnen, wenn zwei andere Fragen klar-
gestellt sind: die Altersstruktur und die zahlenmäßige Verteilung der
Geschlechter. Die eingewanderte Bevölkerung ist, wenn man auf beiden
Seiten die Altersklassen unter 20 Jahren wegläßt, wesentlich älter als
die einheimische. Beim Größenverhältnis der Geschlechter zueinander
ergeben sich weitere gewichtige Unterschiede. So entfielen auf 100
weibliche Wesen im Jahre 1940 1 :
gesuchte Mörder selbst stellten." STEINER-GAY: Der Fall Kürten, a. a. 0., S.31.
Fernwanderungen und soziale Krisen 313
als falsche Täter, sondern auch als Zeugen, die irgend etwas gesehen 1
oder gehört haben wollen, obschon die Beobachtung ganz unmöglich
war, die mit Erinnerungsfälschungen und mehr oder weniger wahnhaften
Identifikationen aufwarten, ganz abgesehen von den Geisteskranken,
die jede vehemente Volksbewegung an die Oberfläche spült, als hätten
sie darauf gewartet, ihre große Stunde zu erleben. Daneben muß, von
dringlichsten Fällen abgesehen, formell die Prozedur der Internierung
eingeleitet werden. Verwandte spielen eine Rolle und ihr Verhältnis zu
dem Kranken, die Furcht vor ihm 2, seine Nützlichkeit und die Belastung,
die er darstellt. Bei nicht erregten Kranken kann er auf dem Lande
lange noch gehalten werden, indes die Überfüllung einer kleinen Woh-
nung in der Stadt zur "Evakuierung" drängen mag. Der stille und
senile Reiche kann sich Pflege, Hilfe, Aufsicht kaufen 3 und wohlgehütet
lange Jahre in der Freiheit leben. Einwanderer, die sehr schwer zu
kämpfen haben, verlieren leicht den wirtschaftlichen Wert, zumal in
Ländern, die die Menschen früh zum alten Eisen werfen, weil höchste
Leistung nur von jungen Menschen abgeliefert wird.
Von den einzelnen Krankheitsbildern herrschen beim Einwanderer
die senilen Psychosen und die alkoholische Geistesstörung vor:
Weiße I Weiße
Eingeborene Einwanderer
1 Siehe Oleveland murders, S. 124. New York 1947. Der Zeuge hätte durch
ein fünfstöckiges Gebäude hindurchsehen müssen, um die beschworene Szene zu
erkennen.
2 Los Angeles murders, S.233. 3 New York murders, S.226.
4 Patients 1933, S.48, wie ja auch die Ledigen eine höhere Sterblichkeit haben.
REUTER, EDWARD B., and J. R. RUNNER: The tamily, S.201. New York 1931
(New Yorker Zahlen).
314 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
1 Einen alten Vers, in dem die Eingesessenen sich selbst ironisierten, hat
ASBURY, Barbary coa8t, S. 31, überliefert:
"The miners came in forty-nine,
The whores in fifty-one;
And when they got together
They produced the native son."
Ob das Lied von einem mißgünstigen Einwanderer gedichtet wurde? Noch heute
soll es nach ASBURY in San Francisco gesungen werden.
2 SCHRlERE, B.: AUen Americans, S. 76. New York 1936.
3 WHYTE, S. 273.
4 ABBOTT, EDITH, a. a. 0., S. 481. - Bei der hohen Bezahlung der ungelernten
Arbeiter hat dieser Übelstand im Augenblick an Schädlichkeit verloren.
Fernwanderungen und soziale Krisen 317
Einwanderer sind frugal und nur bescheidene Kunden. Wer spart und
knausert, steht bei denen nicht in Gunst, die etwas zu verkaufen haben.
Frugalität verschärft den Wettbewerb, sitzt fest auf dem erworbenen
Gelde, gibt es nicht an den lieben Nächsten weiter. Sie nützt dem
andern nicht wie die Verschwendung, ist eine ärgerliche Form der Tüch-
tigkeit und darum keine wahre Tugend.
Wie Hungernde stürzen sich die Neuankömmlinge auf die Arbeit,
die zu Wohlstand führt. Gleichsam von einem Taumel ergriffen, schuften
sie sich müde, krank und elend. Die menschliche Maschine wird zu
einem Tempo angetrieben, das niemand seinem Auto zumuten würde.
BERCOVICI 1 berichtet von russischen und galizischen Juden, die New
York erreichten: "In der ersten Aufwallung ihrer ehrgeizigen Bemühung
arbeiteten sie so schwer, daß Hunderte, ja Tausende an der weißen Pest
der Überarbeitung, der schlechten Wohnungsverhältnisse und der Unter-
ernährung dahinstarben, und alles das in dem Bemühen, genug Geld
zusammenzubringen, damit sie ein Geschäft eröffnen könnten." Diese
harte Selbstbeanspruchung geht durch alle Einwanderergruppen und
gibt ihnen das Gepräge der Eile und gewisser Rücksichtslosigkeit 2. In
guten Zeiten wird der Konkurrenzdruck nicht empfunden. In Depres-
sionen fängt er an zu schmerzen und damit dreht sich auch der Wind
der Massenstimmung.
Länder, die wie die Vereinigten Staaten von den verschiedensten
Volks- und Rassenelementen besiedelt worden sind, entwickeln natur-
gemäß, aber auch als Anerkennung für die überlegenheit ihrer Kultur,
die Forderung nach sichtbarer Anpassung der Einwanderer. Diesem
Verlangen kommen die Neuankömmlinge entgegen, stürzen sich dabei
aber in unerwartete Konflikte, die gerade die wertvollsten unter ihnen
schwer belasten. Die schärfste Trennungsgrenze ist die Sprache, die in
der ersten Generation öfters niemals ganz überwunden wird. Die Neu-
ankömmlinge, verwaltungsrechtlich "Einwanderer", "Fremdgeborene ",
zerfallen hier in zwei verschiedene Gruppen. Bevorzugt sind in Süd-
amerika, Argentinien z. B. und Mexiko, die spanisch Sprechenden, in
Amerika, Kanada, Südafrika und Australien die englisch Sprechenden.
Die anderen sind im neuen Land im NachteiL Mangelnde Beherrschung
der Landessprache schließt von allen sprechenden und schreibenden
Berufen aus in einer Zeit, die Meinung mit Wort und Bild formt und
wo die öffentliche Rede zu Amt und Würden führt. Es ist Belastung,
1 BEROOVIOI, KONRAD: Around the world in New York, S. 71. New York 1924.
2 Seitdem Kriege Prosperität und Produktion bedeuten, haben diese in rascher
Folge wiederkehrenden Krisen die Wirkung eines Menschenvakuums, von dem
Einwanderer und Neger profitieren. Plötzlich hat auch die soziologische Literatur
zur Frage der Einwanderung einen empfindlichen Rückgang erfahren. Kritik,
Interesse und Wissensdurst sind jetzt zu dünnen Rinnsalen ausgetrocknet.
318 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
1 Siehe meine Untersuchung: The first generation and a half. Notes on the
delinquency of the native white of mixed parentage. American Sociological Review
1945(X), S. 795.
2 Annual Report of the Commissioner general ofImmigration 1932. Washington
1932, S. 18.
Femwanderungen und soziale Krisen 319
eine Rolle spielen mag. Die Deutschen zählen überall zur Spitzengruppe,
wie die Kanadier, die verschiedener Herkunft sind. Die hohen Psychose-
und Selbstmordzahlen der Österreicher, die sich im Zuchthaus nicht
fanden, verdienten näher untersucht zu werden. Wiens hohe Selbst-
mordzahlen sind bekannt wie die von Budapest. Die Zahlenreihen
liefern den Beweis, daß "der" Einwanderer nicht existiert. Wir dampfen
hundert wesentliche Unterschiede ein.
f) Sind die bedeutenden Anpassungsnöte des Einwanderers offen-
sichtlich, und ist ebenso nicht zu bezweifeln, daß die seelische und die
soziale Krise nur zu einem erstaunlich geringen Teil den Weg des Rechts-
bruchs geht, so nehmen Natur und Gemeinschaft mit den Kindern der
Einwanderer ein überaus aufschlußreiches Experiment vor. Sohn und
Tochter weisen, obschon zumeist bereits vom wirtschaftlichen Aufstieg
des Vaters begünstigt, der Sprache und dessen mäehtig, was "des Landes
der Brauch" ist, eine deutlich gesteigerte Kriminalität auf. Angleichung
an das Klima ist erfolgt, motorisch macht sich jetzt ein kräftiger Anstoß
geltend, die alten Regeln ihrer Dörfer und Provinzen werden abgeworfen,
die Väter haben abgedankt, mit deren schlechtem Englisch man sich
vor den Freunden schämt, und von dem neuen Leben greift der Junge
unbesehen jedes, sogar das schlimmste Muster als ein Vorbild auf.
Selbst der Erfolg genialer Emigranten wirkt manchmal auf den Sohn
wie eine Schädlichkeit, und das Delikt ist nicht das einzige Symptom
der Krise l .
Für das Emigrantenkind schieben sich auf den leeren Platz des
Vaters neue "Autoritäten" ein, die Spielgenossen, die Straßengangs und
ihre Führer. Er will es ihnen gleichtun, von ihnen als ein richtiger Ein-
geborener angesehen und, wenn es geht, bewundert werden. Der Vater
fühlt sich von dem eigenen Kind verachtet, und die Entfremdung steigert
sich zum Haß. Der Kampf ums nackte Leben läßt der Mutter keine
Zeit, auch keine Kraft für zartes Fühlen, Sorge, Aufsicht. Eine Mutter
erklärte: "Ich habe 14 Kinder gehabt. Mein Leben hat sich nur in der
Küche abgespielt. Sie sehen, wie es ist. Wie kann ich wissen, was mein
Junge draußen anstellt?" Ein Einwanderer brach eine Woche vor der
Hinrichtung seiner Jungen los: "Es ist mir gleich, was Sie auch mit
den beiden tun. Sie sollen sie nur aufhängen oder erschießen, das macht
mir gar nichts aus." Als man ihn fragte, wie er denn so herzlos sprechen
könne, er, der Vater über seine eigenen Jungen, zuckte er die Schultern
und sagte: "Kein einziger hat jemals einen Pfennig beigesteuert 2." Die
stärksten Haltetaue sind von diesen jungen Menschen abgekappt, und
1 Siehe die Bekenntnisse, die der Sohn eines bekannten Schauspielers ablegte
ROBINSON jr., EDWARD G.: My father - my son. New York 1958.
2 SUTHERLAND-CRESSEY, a.a.O., S. 179 (nach LOUISE H. BOWEN).
21*
324 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
was als falsches Leitbild an die Stelle dieser Stützen tritt, führt oftmals,
statt zu helfen, ins Verderben.
Der 13jährige Sohn eines russischen Einwanderers trieb sich herum,
verkaufte Rauschgift, war ein berüchtigter Krimineller geworden. Ge-
fragt, ob sie das Heim für den Jungen nicht habe anziehend machen
können, erwiderte die Mutter: "Ja, ja doch. Ich habe alles versucht,
ihn zu Hause festzuhalten ... Aber er wollte seine Freunde nicht mit-
bringen, er schämte sich, daß wir greenhorns waren und nicht englisch
sprechen konnten... Sie können sich nicht denken, wie schrecklich es
ist, wenn Eltern und Kinder nicht die gleiche Sprache sprechen l ."
Die erhebliche Kriminalität der "zweiten Generation", also der
Kinder von Einwanderern, ist am besten dort zu studieren, wo diese
Bevölkerungsgruppen sich häufen, z.B. in der Stadt New York. Hier
machten Einwanderer und ihre Kinder vor dem zweiten Weltkrieg 60 %
der Gesamtbevölkerung aus:
Es kann sein, daß die Belastung des älteren Mannes mit Sittlichkeits-
delikten die Spanne zwischen Einwanderer und seinen im Lande ge-
borenen Kindern reduziert.
Einlieferungen in Strafanstalten und Einwanderer sind wenig brauch-
bare Allgemeinbegriffe. Wir wollen die Deliktarten kennenlernen, denen
sie zuneigen. Wir wollen auch wissen, wie sich die einzelnen Herkunfts-
länder, nach Einwanderern und zweiter Generation, verhalten. Angaben,
freilich nur Prozentzahlen, sind aus New Jersey überliefert:
Sehr hoch ist der Anteil der Tötungsdelikte bei den Einwanderern
aus Italien und auf der anderen Seite die Raubkriminalität der Ein.
wandererkinder.
Daß vor allem die Kinder irischer, italienischer und polnischer Ein.
wanderer in der Luft der neuen Heimat "dynamischer" werden, ist
zahlenmäßig zu erweisen.
Eine auffallend hohe Anzahl der großen Gangster (Al Capone, Pender·
gast, Moses Annenberg) waren Einwandererkinder ; die gleiche Gruppe
hat auch die Kultur der neuen
Einwanderer und Einwandererkinder '" Heimat reich befruchtet.
(Einweisungen in Strafanstalten
des Staates Michigan 1936-1938,
Mit einem letzten Gegner
per 100000 jeder Gruppe) haben sich die Einwanderer
und ihre Kinder abzufinden:
Einwanderer· den anderen Immigranten, die
Herkunftsland Einwanderer kinder
in Massen an das Ufer steigen,
Österreich 52,6 33,3 wennirgendwoinfremden Län-
Kanada 26,9 22,9
14,4 17,5
dern Wirtschaftskrisen sich
England .
Deutschland 12,8 20,6 entwickeln; sie kommen an,
Irland. 20,5 37,8 entschlossen, sich den Platz in
Italien. 27,1 34,7 einer besseren Welt zu sichern.
Polen 21,8 46,6 Sie wohnen enggedrängt in
Rußland 25,5 27,1
gleichen Vierteln und setzen
Zusammen 23,8 25,5 ganz den gleichen, wilden Ar.
'" StatisticaiReport, S.132, 133. Lansing 1939. beitseüer ein. Die schärfste
ihrer Waffen ist die Unter.
bietung, preist doch das neue Credo Wettbewerb als Segen und gibt
ihm alle Zügel frei. Die Neuen werden selbst vom eigenen Landsmann,
dem Experten, kritisch abgeschätzt mit einer Menschenkenntnis, die
noch aus der alten Heimat stammt. So schrieb der Leiter der ita.
lienischen Abteilung in der Kriminalpolizei von New York 1, ganz ohne
Schonung, so wie man in jenen Jahren sprach:
"Die Vereinigten Staaten sind der Zufluchtsort aller Verbrecher und Banditen
von Italien, Sizilien, Sardinien und Kalabrien geworden."
"Vor etwa einem Jahr entschlossen sich die Behörden von Tunis, im italieni.
sehen Viertel dieser Stadt aufzuräumen ... Die französische Regierung stellte eine
strenge Untersuchung an; 10000 Italiener wurden aus dem Lande ausgewiesen."
"Wohin hat sich diese Blüte der Menschheit gewandt? Sie wurde von Onkel
Sam mit offenen Armen empfangen."
Polnische Untersucher kamen - zusammen mit amerikanischen Ge·
lehrten - zu der Feststellung, daß sich in der polnischen Auswanderung
E. Die Zwangswanderungen
a) Vertreibungen unerwünschter Gruppen durch Mehrheiten, Sieger
oder Machthaber hat es immer gegeben; der babylonischen Gefangen-
schaft gehen Teilvernichtungen voraus. Erst werden die "kräftigsten
und schönsten Jünglinge" aus Jerusalem umgebracht 4. Dann werden
"alle jungen Leute und Handwerker 5 ," im ganzen 10832, als Kriegs-
gefangene nach Babylonien geführt, und der gleiche uralte Antrieb der
lebendigen Beute sitzt auch den Völkern höherer Kulturen noch im
Blute, entgegen den Gesetzen, die sie selbst beschworen haben. Der
Strafgedanke überschattet Menschlichkeit und Rücksichtnahme. Die
Babyionier sehen König Sedekias die Verträge lösen und sich mit den
Ägyptern verbinden, die seiner Ansicht nach die stärkeren sind und
sich zum Angriff auf die Babyionier rüsten. Der fromme Glaube sieht
1 THOMAS und ZNANIEOKI: The polish peasant, S. 1488 und 1494.
2 WARE, CAROLINE: Study 0/ Greenwich Village, S.129. Boston 1935.
3 Beispiele ebenda, S. 138, vor allem einer Ablehnung auf wirtschaftlichem
Gebiete.
4 JOSEPHUS: Ant. Jud. X, 6, 3.
5 Ebenda X, 7, 1 - wie heute noch die nützlichen Experten.
328 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
1 Von Sedekias schreibt J OSEPHUS (X, 7, 2): "Er war ein rechter Bruder von
Joakim und kümmerte sich um Gottesfurcht und Gerechtigkeit ebensowenig wie
dieser. Seine ganze Umgebung stand ihm in der Gottlosigkeit nicht nach, und auch
das gemeine Volk tat voll Übermut alles Schlechte, das ihm gefiel. Daher kam der
Prophet J eremias zu ihm und beschwor ihn, seiner Gottlosigkeit und seinem Frevel
ein Ende zu machen."
2 JOSEPHUS X, 7, 3. - Auch wurde der Prophet nach bekanntem Muster des
Einverständnisses mit den Babyloniern beschuldigt.
3 JOSEPHUS X, 9, 1; s. die Bemerkung in 2, Könige XXV, 12.
4 Über den ersten genialen Plan eines Völkerbundes s. EMILIA FOGELKou:
William Penn, S.239ff. Hamburg 1948. Selbst Arbeitslosigkeit als Folge der
Abrüstung wurde erörtert. - 5 JOSEPHUS X, 9, 7.
6 "Vertriebene sind Personen mit Wohnsitz am 1. September 1939 in den Ost-
gebieten des Deutschen Reiches ... z.Z. unter fremder Verwaltung, im Saarland
oder im Ausland." Stat. Jahrbuch 1957, S.46.
Die Zwangswanderungen 329
1 " ... während sich die verängstigten Schwarzgänger furchtsam in den Ecken
herumdrückten, um die Nacht zum Grenzgang abzuwarten, gingen die Grenz-
führer selbstsicher mit der ihnen eigenen Großspurigkeit durch den Wartesaal,
die Polizei vertraut durch lässiges Anlegen der Hand an die Feldmütze grüßend."
Ebenda, S. 55.
2 Braunschweig 6 Ks I/50, S. 39. - Siehe auch BADER, S. 166.
3 Von den Gepäckträgern schreibt EICHBERG (S. 53): "Schon vor dem Auf-
bruch zum gefährlichen Grenzübertritt verschwanden sie plötzlich. Oder sie ließen
ihre Auftraggeber in unübersichtlichem Gelände unerwartet stehen und rannten
mit dem Gepäck davon. Manche prellten die Grenzgänger noch am Ziel, wo sie
das Gedränge auf dem Bahnhof ausnützten, um im geeigneten Augenblick mit
den Gepäckstücken zu verschwinden."
4 BARRET, CLAUDE: L'affaire Petiot. Un drame sous l'occupation, Paris 1958,
s. den Fall Guschinow, S. 67ff.
5 Stat. Jahrbuch für 1957, S.46.
Die Zwangswanderungen 333
standen noch immer Hunderte. Auf der Straße zur oder von der Zonen-
grenze bewegte sich ein langer Zug: Mit Sack und Pack, alte Mütterchen
und halbwüchsige Kinder mit dem Schulranzen auf dem Rücken und
Säuglinge im arg mitgenommenen Kinderwagen, Kriegsversehrte,
Kranke, vor allem Mütter schleppten ermattet, verzweifelt das letzte
Bündel kleiner Habseligkeiten."
Aber erst, als der Vertriebene angekommen war, vermochte sein
Bewußtsein den ganzen Umfang des Unglücks aufzunehmen. Je stärker
in ihm das Heimatgefühl ausgeprägt war, das er und alle geistigen
Mächte in Festen, Liedern und in eigener Kleidung feierten, um so
schwerer mußte die Entwurzelung auf ihm lasten. Je mehr in großen
Kriegen die politischen Grenzen hin- und hergeschoben werden, um so
üppiger ist der Mythos der Heimat als etwas unverletzlich Sakrosanktes
aufgeblüht. Der tiefe religiöse Urgrund dieser Anhänglichkeiten wird zu-
meist verkannt. "Ihr wandert von den Gräbern eurer Vorfahren weg, wie
es scheint ohne Bedauern", rief ein Indianerhäuptling den vordringenden
Weißen zu, "Unsere Toten leben mitten unter uns. Sie vergessen niemals
die schöne Welt, die ihnen Leben gab. Jeder Fußbreit Boden ist meinem
Volk geheiligt. Jeder Berg, jedes Tal, jede Schlucht und jeder Hain ist
geweiht 1.". .• Allen Kulturvölkern, von den Chinesen 2 bis zu den alten
Griechen, war die Heimat heilig wie ein Gptteshaus, das nur der Frevler
zu zerstören wagte, indem er Mensch und Heimatboden 3 auseinanderriß.
Dort wo der Flüchtling ankam, stieß er in Europa auf die Über-
füllung, auf die Furcht des Bauern vor dem armen Menschen, und neben
Hilfsbereitschaft auf geheimen Widerstand, die Deklassierung, die aufs
tiefste schmerzte. Man lese die Geschichte von dem vertriebenen
Bauern aus Jugoslawien 4 : "Sein Hof war größer als der Hof, aUf dem
er jetzt diente." Er, einstmals angesehen und im Kirchenvorstand, war
erst im Lager hinter Stacheldraht und heute in der Freiheit Knecht.
Die Volksgemeinschaft aber, vielgepriesen, hielt dem Druck von Not
und Wirklichkeit nicht stand 5 •
1 Zitiert in meinem De8perado, S. 182.
2 Über das Verbot, die Sippe nicht einmal im Tode zu trennen, B. BREDoN,
JULIET und IGOR MITROPHANOW: Da8 Mondjahr. Chinesische Sitten, Bräuche und
Feste, S. 237, Wien 1937.
3 "Dieser Boden war wirklich geheiligt für den Menschen, denn er war von
seinen Göttern bewohnt." COULANGES, FusTEL DE: Der antike Staat, S.238,
Berlin 1907.
" MosTAR: Nehmen Sie das Urteil an? S.81.
5 "Warum dieser Haß (des Dorfes)? Sie sagen es nicht, aber sie wissen es;
keiner sagt es, aber jeder weiß es. Weil er ein Flüchtling ist." (Ebenda, S. 86.)
"Weil man", fährt MosTAR fort, "mit der gleichen Verachtung und dem gleichen Haß
auf ihn und seinesgleichen blickt, wie er und seinesgleichen einst in Novoselo auf
die Serben und ihresgleichen geblickt hatten." Ich halte die Parallele nur zu einem
Teil für richtig.
336 Zusammenhänge im Gebiet des Raums
Einheimische Vertriebene
Bevölkerung (NeubUrger)
"Im April 1947", teilt BADER 5 mit, "wurde eine aus etwa 50 Polen
und Russen bestehende Bande, der sich 5 Deutsche angeschlossen
1 Diese Wirkungen werden erst in 5-10 Jahren zu beobachten sein, wenn die
Anpassungsapathie, an der die Alten vielfach leiden, größerer Aktivität gewichen ist,
wie bei der zweiten Generation der Auswanderer.
2 v. WALLENBERG, S.40. 3 HULnlE, KATHRYN: The wild place. London 1959.
4 JACOBS, S. 149. 5 BADER, S. 87.
Die gleiche Waffe wird verwendet, der gleiche Zeitpunkt wird gewählt,
der Tod des Opfers ist in ganz bestimmter Weise nützlich, die Täter-
gruppe ist sehr ähnlich aufgebaut. Die Untersuchung findet nur In-
dizien, und Mangel an Beweisen führt sehr oft zum Freispruch. Die
Hintermänner fliehen aus dem Lande. Den Dienern oder Helfern geht
es an den Kragen.
In dem alten südfranzösischen Schlosse Chamblas wurde 1840 der
Herr von Marcellange, der abends schaukelnd am Kamin saß, durch
mehrere Schüsse tödlich getroffenl . Er war mit Frau und Schwieger-
mutter verfeindet. Ein treuer alter Diener dieser beiden Frauen wurde
verurteilt, den Gutsherrn durch das Fenster erschossen zu haben; die
Frauen flohen nach Savoyen. Drei andere solcher Morde sind bekannt 2.
Sie gleichen sich in allen Einzelheiten. Es sind die Stunden nach dem
Abendessen. Das Fenster ist erleuchtet, draußen ist es dunkel. Das Licht
im Raume bietet gutes Ziel. Ob es sich um den Wohnraum oder ein
Schlafzimmer handelt, entscheidet die Gestalt des Opfers und die Art
der Krise, daneben auch die Baulichkeit. Der gute Schuß spricht für
den wohlgeübten Schützen. Auch sind die Hunde auf dem Hofe still 3 ,
in einem Falle plötzlich vor der Tat verschwunden".
Wer eine scharfe Grenze zwischen Tatort und Tatraum ziehen wollte,
wird bald auf Schwierigkeiten stoßen. Der Tatraum bietet eine Serie
gleichartiger Möglichkeiten. Es bleiben individuelle Unterschiede, doch
sind sie technischer Art. "Park Lane", sagt ein britischer Krimineller,
"ist das Mekka aller Einbrecher, die etwas auf sich halten 5." Das Grenz-
gebiet stellt einen solchen ausgedehnten Tatort dar. Für die Verfol-
gung mag die Trennung der Hoheitsgebiete störend sein, rein topo-
graphisch ist der Unterschied nur unbedeutend. Isaac Sawtelle vergrub
die Leiche seines Bruders, nachdem er sie die kurze Strecke vom Staate
Maine nach New Hampshire gefahren hatte. Auf beiden Seiten der
Grenze war dichter Wald, fraglich war nur, wo Bruder Hiram den Tod
gefunden hatte, denn in New Hampshire gab es im Gesetz die Todes·
strafe, die in dem Staate Maine nicht mehr bestand. Der Oberste
1 BAUMSTEIGER, W ALTER: Die Kriminalität de8 Raube8, S. 31, Bonner Diss. 1952.
2 BADER, S. 105. 3 WILSON, S. 100ff.
Grundzüge einer Tatortlehre 347
1 WILSON, S. 53.
2 IlALDY: Zwei Anklagen wegen Mordes ohne objektiven Tatbestand, Pitaval
der Gegenwart, Bd. VI, S. 81-152.
3 Siehe mein Mord, S.245ff.
348 Grundzüge einer Tatortlehre
Zweites Kapitel
Topographie der kriminellen Handlung
A. Die Wohnung und umschlossene Räume
a) Bei dem Versuch, Tatortgruppen zu bilden, die die Übersicht er-
leichtern, ist die Erfahrung störend, daß gleiche Räume soziologisch
höchst verschiedene Bedeutung haben. Wenn wir von Wohnung und
Ein Teil des Schutzes, den das Haus uns bietet, besteht im Nicht-
gesehenwerden, in Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit für uner-
wünschte Dritte. Was abgeschieden ist und Feinde abwehrt, ist weiter
wirkungsvolle Deckung gegenüber all den Kräften, die auf das Verhalten
der Mitmenschen ein wachsames Auge haben, achtgebend eine starke
Hemmung bilden, ob es nun eine Straftat oder bloße Unmoral sei. Das
Haus, die eigene Wohnung stellt in mancher Hinsicht strafrechtlich eine
Oase dar, die sozusagen extraterritorial ist, weil man nicht gern anzeigen
möchte oder kann. In 67,8% der Fälle wurde in Gasthäusern strafbarer
Vollrausch festgestellt, nur in 9,8 % in Wohnungen (dazu 5,3 % teils in
Wohnungen, teils im Gasthaus)). Das abgeschlossene Heim und die
Familie bewahrten nicht vor Vollrausch, nur vor Meldung an die Polizei.
Selbst das Gesetz räumt der Entwendung in Haus und Familie einen
bevorzugten Platz ein, wenn es sich um Sachen von unbedeutendem
Werte handelt (§ 247 I StGB). Bei Delikten gegen Verwandte ab-
steigender Linie und unter Ehegatten tritt sogar Straflosigkeit ein, aus
der die Straflosigkeit der nachfolgenden Verwendungstat folgt (§ 247 II
StGB). Bei Angehörigen, Vormündern und Erziehern liegt in der Regel
erleichterte Möglichkeit des Zutritts vor, Lehrlinge gehen in Wmkstatt
und Wohnung ungehindert aus und ein, und beim Gesinde ist die häus-
liche Gemeinschaft ausdrücklich Vorbedingung.
Bei der Körperverletzung hat die häusliche Gemeinschaft schon nach
dem Strafgesetzbuch ganz verschiedene Folgen. Da ist die Zuchtgewalt
von Vater, Mutter, Vormund. Auf der anderen Seite ist die vorsätzliche
leichte Körperverletzung, begangen an Verwandten aufsteigender Linie,
mit erhöhter Strafe bedroht (§ 223 II StGB). Zahllose fahrlässige Körper-
verletzungen, dazu leichte körperliche Mißhandlungen oder Gesundheits-
beschädigungen, entgehen im Familienkreise der Verfolgung.
Im Hause leben und verkehren nicht nur Mitglieder einer Familie, es
gibt noch eine Reihe anderer Hausgenossen. Dienstboten spielten
früher eine nicht geringe Rolle 2 , wenn irgendwo ein Mord geschah.
Wenn öfters weibliches Gesinde sich an Verbrechen gegen das Leben
beteiligte, so ist zu bedenken, daß es immer mehr Dienstmädchen als
Diener, Lakeien, Hausverwalter gab. Sie leben in wohlorganisierter,
allerengster Nähe, von den Konflikten angekränkelt, die sich aus
dauerndem Zusammensein und Widerstreit ergeben. Andere Personen
treten hinzu, die in das Innere dieser "Burg" gelangen dürfen, Mieter,
Andere sexuelle Vergehen lassen den Tatort von der Wohnung zum
Freien hin abgleiten. Bei 522 strafbaren Handlungen, die homosexuelle
Betätigung betrafen, erfolgten 72,6% aller Vergehen im abgeschlossenen
Raum, 143 oder 27,4% im Freien l . Ein Zusammenhang mit der Ent-
deckungsgefahr ist deutlich erkennbar, denn wenn auch meistens die
Opfer die erste Mitteilung machten (52% aller Fälle), so wurden Eltern,
Arbeitskameraden, Nachbarn und andere Personen in 22,8% der Fälle
auf Täter, Opfer oder Tatspuren aufmerksam, während die Polizei in
20,7% der Fälle "durch eigene Beobachtung oder vertrauliche Mit-
teilung" von der Verfehlung erfuhr 2 • Die vertrauliche Mitteilung wird von
Opfern und eifersüchtigen anderen Liebhabern ihren Ausgang nehmen;
genaues wissen wir nicht. Vom Zimmer wird der Tatort immer mehr
in der Richtung anderer geschützter Stellen abgedrängt, der Arbeits-
stelle, den landwirtschaftlichen Nebenräumen (Stall, Scheune, Boden-
raum) und einigen anderen charakteristischen Punkten, von denen wir
gesondert sprechen werden. Der Wald tritt jetzt, doch nicht mit allzu
hohen Zahlen auf. Wahrscheinlich ist er ein verhältnismäßig sicherer
Tatort; Schonung und Dickicht bewahren vor Entdeckung, besonders
wenn die Dunkelheit hinzukommt.
Dort, wo Gewalt angewendet wird, wird mehr und mehr auf die
Deckung der Wohnung verzichtet. Notzucht wird auf der Straße, dem
Waldweg, in Feld und Wiese und im Park begangen, wozu in neuer Zeit
die Autos kommen 3. Straßen, einsame Pfade, Waldwege, Anlagen
werden durch Exhibitionisten unsicher gemacht. Ihr Sinn oder ihr Trieb
steht nach Zuschauern, die wieder möglichst isoliert sind, damit sie dem
Erschrecken hilflos ausgeliefert bleiben. Der Exhibitionist erstrebt einen
kleinen Ausschnitt der Beachtung anderer Menschen, er möchte zeigen
und verstecken, und beides zu der gleichen Zeit. Sein Jagdgebiet ist
herabgesetzte, auf ein Ziel abgesteckte Öffentlichkeit 4, den Waldweg
beispielsweise, der beide Elemente, Alleinsein und Begegnen, kombiniert.
Es gibt keine Zahlenangaben über das Delikt des Ehebruchs. Die
Verfolgung tritt im deutschen Strafrecht nur auf Antrag ein (§ 172 II
StGB), es muß ein Beischlaf sein, also keine anomale Form der intimen
hier ist ein Publikum, vor dem man als ein ganzer Mann und Held
bestehen muß und das man nicht enttäuschen darf. Vom Wirt und
Freunden des Verletzten wird die Polizei
Tatort der Körperverletzung * unschwer herbeigerufen. Für die Ver-
(Landgerichtsbezirk Heidelberg
handlung mangeln keine Zeugen.
1900, 1902, 1903, 1904)
Deutsche Tatortzahlen beim Morde sind
Örtlichkeit Zahlen I Prozent-
zahlen noch nicht durch die Änderung des Mord-
paragraphen in Mitleidenschaft gezogen,
Wirtshaus 742 66,5 die erst im Jahre 1941 erfolgte. Sie
Wohnhaus 86 7,7
weichen so erheblich von einander ab,
Straße . . 98 8,8
Arbeit . . 87 7,8 daß wir entweder in der Rechtsprechung
Unbekannt 102 9,2 oder der polizeilichen Praxis nach Gründen
Zusammen 1115 100,0 suchen müßten; am ehesten wird an eine
* Monatsschrüt, Bd. II (1906), schärfere Beurteilung der Totschlagsfälle
S. 24ff. und ihre Überleitung in die Kategorie des
Mordes zu denken sein.
H. W. LUDOCHOWSKI hat Tötungsdelikte im Landgerichtsbezirk
Koblenz untersucht!. Seine Zahlen, die auch den Totschlag umfassen,
stimmen mit den Ergebnissen der Reichsstatistik des Jahres 1934
überein. Auf den bedeckten oder umschlossenen Raum entfielen 63,5 %
der Tötungsakte.
Tatort des Mordes * (Deutsches Reich 1931 und 1934)
Tatort des Mordes I 1931 1934
70% der Tötungen geschahen hier zu Hause; die Frauen aber waren
auf der Straße vor der Tötung sicherer als zu Hause und in den "wohl-
geschützten" und umschlossenen Räumen. Die dunkle Rasse herrscht,
wenn es ans Töten geht, auf der Straße in Philadelphia vor. 43 Weißen
standen bei den Opfern 134 Neger gegenüber. Die Männer überwogen
bei dem Straßenmord als Täter, es waren 28 Frauen und 149 Männer.
Es liegt auch an der großen Negermehrheit, daß auf der Straße meist
erstochen wurde. Bei beiden Rassen folgte bald Erschießen nach 1.
Wir haben noch nicht gelernt, den Tatort nach Alter und Geschlecht
zu unterscheiden. GRASSBERGER hat neuerdings lehrreiche Zahlen bei der
gleichgeschlechtlichen Unzucht vorgelegt, die in Österreich, auch auf der
Frauenseite, unter Strafe steht. GRASSBERGER kennt eine Dreiteilung:
Geschlossene Räume, zugängliche Räume und das Freie, wobei er
Krankenhaus und Gefängniszelle zu den geschlossenen Räumen rechnet,
dagegen "Haushof, Stiegenhaus, Waschküche, Keller, Bad, Pissoir und
die Toilette (WO) den "zugänglichen Räumen" zuzählt. Ich glaube,
daß wir den Versuch machen sollten, zu einem einheitlichen Schema zu
gelangen, damit uns der Vergleich erleichtert wird. Es gibt natürlich
auch geschlossene- Räume VOn erhöhter oder allgemeiner Zugänglichkeit.
Sie sind gewiß vom Schlafraum soziologisch unterschieden. So variiert
aber auch das Hotelzimmer vom Schlafzimmer eines Hauses oder einer
Wohnung. Wir bleiben an dieser Stelle bei den Kategorien, die GRASS-
BERGER vorgeschlagen hat:
Die größere Scheu und Sprödigkeit der Frau in der Anbahnung und
Durchführung lesbischer Beziehungen ist offensichtlich. Wiese, Wald
und Park, bei männlicher Annäherung überaus häufig, fehlen fast ganz.
Dafür sind die begehrten Partner wesentlich älter als auf der Männer-
seite. Auch Altersrelationen drücken sich im Tatort aus.
4 PLUTARCH, Alexander 8.
5 SUETON, Domitian 17. Erst dachten die Verschworenen daran, den verhaßten
Kaiser im Bad oder bei Tisch zu ermorden.
6 THURNEYSEN, R.: Die irische Helden- und Königssage bis zum 17. Jahrhundert,
S.417. Halle 1921.
7 Mein Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 129, gibt den statistischen Beweis.
Die Wohnung und umschlossene Räume 359
Sie dringen ein, sind ohne Sorge, wenn Besitzer schlafen, mit Kopf und
Kissen ihre Schätze decken 1.
Daß eine lange Reihe von Sittlichkeitsdelikten im Schlafzimmer
begangen werden, bedarf keiner besonderen Betonung, freilich stellen
Tatorte wie Hotels, Wohnwagen, Zelte und Räume in öffentlichen
Häusern Spielarten dar, die vom Schlafzimmer einer privaten Wohnung
abweichen. Die Wohnküche ist häufig mit einem Sofa ausgestattet, auf
dem nachts eines der Familienmitglieder schläft. Möblierte Zimmer, die
vermietet werden, sind durchwegs Schlafzimmer. Dem Mieter ist die
Nähe zugespielt, die zusammen mit wirtschaftlicher Überlegenheit
öfter mißbraucht wird als man weiß. In Mordverfahren werden länd-
liche Verhältnisse erwähnt, die Knechten und anderem Gutspersonal·
Neigung zu weitgehenden Freiheiten zuschreiben. In dem erwähnten Fall
des Mörders Duwe (Braunschweig 1893) kam zur Sprache, daß man
anfangs einen Kreis von Verdächtigen durchgekämmt hatte. Neben dem
Täter, der das Kind im Bett erstochen hatte, wurde auch ein Schäfer
untersucht. "Gegen Frömlich" schreibt der Bericht 2 , "wurde geltend
gemacht, daß er häufig mit Helene allein im Schafstall gewesen war,
ihr auch wohl früher einmal Leckereien geschenkt hatte, daß er ferner
auch hin und wieder Mägden des Hofes und sonstigen weiblichen Personen
vor die Schürze gefaßt und in ähnlicher - bei ländlichen Verhältnissen
nicht auffallender - grob sinnlicher Weise mit ihnen Scherz getrieben
hatte 3 ." Besonders für Inzest, Kinderschändung und homosexuelle
Handlungen kommt das Schlafzimmer als Tatort in Frage, weniger für
Notzucht, gar nicht wegen des Tatbestandsmerkmals der Öffentlichkeit
bei Erregung geschlechtlichen Ärgernisses (§ 183 StGB), soweit das
Fenster nicht Verwendung findet. Wenn Vorschubleisten die Verbesse-
rung der objektiven Bedingungen für die Unzucht bedeutet, so ist der
Hauptfall der "Gewährung oder Vermittlung von Gelegenheit" die
Hergabe eines Raumes. Auch wenn man solche Räume in der Mehrzahl
der Fälle Absteigequartiere nennt, so sind es durchwegs technisch
"Schlafzimmer", auch wcnn nicht geschlafen wird. Bei der Begehung von
Kuppelei durch Unterlassung kommen regelmäßig Schlafzimmer in Frage.
1 In meinem Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 149 ist ein solcher nächtlicher An-
griff im Schlafzimmer eines gewerbsmäßigen Spielers ausführlich beschrieben.
2 Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S. 109.
3 "Irgend etwas anderes", wird uns an dieser Stelle gesagt, "lag aber gegen den
als bieder bekaunten 50jährigen Mann nicht vor, und direkt gegen seine Täterschaft
schien zu sprechen, daß er gerade den Tod seines Bruders erfahren hatte, am
Mordtage den Totenkranz für diesen nahen Verwandten bestellen und am folgenden
Tag ihm das Grabgeleite geben wollte. Daß der alte Frömlich eine solche Bestie sei,
die in der geschilderten Zeit, wo die Leiche des von ihm geliebten Bruders noch
über der Erde stand, den schrecklichen Mädchenmord hätte vollbringen können,
glaubte niemand." - Ist diese Seelenkunde völlig überzeugend?
360 Topographie der kriminellen Handlung
Beim Morde spielt das Schlafzimmer eine Rolle, die selbst dann auf-
fallend groß bleibt, wenn man die unbekannten Mörder mitzählen
könnte, die in keiner Statistik auftauchen. 17,7% aller im Jahre 1934
registrierten deutschen Morde wurden im Schlafraum begangen; in der
Gruppe der bedeckten oder umschlossenen Räume, machten sie 30%
aus!. Bei den in Philadelphia untersuchten Tötungen trat die große
Verschiedenheit der männlichen und dcr weiblichen Opfer hervor:
leicht gelingen würde, ganz nach dem Vorbild der Geliebten, die Mör-
dern ihres Freunds die Türe öffnet!. Wenn "Räuber" wirklich kommen,
können sie gedungen sein, den kranken Ehemann im Bett erledigen,
indes die Frau betont an anderem Ort ein sicheres Alibi beschafft 2 • In
vielen Fällen sind andere Mordpläne vorangegangen und gescheitert.
Johann Schneider, dessen Geschichte als Mörder seiner Ehefrau FEUER-
BACH geschildert hat 3, wollte sie schon 8 Tage vor dem Schlafzimmer-
mord ums Leben bringen. Er wollte ihr im Forst auflauern und sie
erschlagen. In Mordgedanken versunken, wartete er auf das Opfer. Da
sie ihn jcdoch sehr lange auf sich warten ließ, so bekam er Zeit sich zu
erinnern, "daß sein Weib noch nicht gebeichtet habe und daß ihre Seele,
wenn sie schnell in Sünden dahinstürbe, möchte verloren gehen (eigene
Worte des Inquisiten)." Erst als sie gebeichtet hatte, erschlug er die
Frau, die, einen Säugling neben sich, nichtsahnend im ehelichen Bette
schlief. Den Tag zuvor war er besonders nett zu ihr gewesen 4 •
Vielfache Erfahrung lehrt, daß Vater-, Mutter- oder Gattenmörder
sich scheuen, das Opfer im Bett liegenzulassen. Sie bringen die Leiche
in irgendein Versteck außerhalb des Hauses, sie vergraben sie im Keller,
oder sie schleppen sie in einen Nebenraum, um Kampf mit Eindring-
lingen oder Selbstmord vorzutäuschen. Bisweilen wird das Opfer auch
im Schlafraum herumgetrieben oder herumgeschleppt, liegt abseits auf
dem Boden 5. Ist es im Hemde wie die Herzogin von Praslin, so muß die
erste Phase des Angriffs sich im Bett abgespielt haben. Bißwunden an
den Händen des Ehemanns beweisen, daß er ihr sehr nahe war 6 • Mehr
als 30 "große und tiefe Wunden" verraten neben Würgemalen die exzes-
sive Stärke des Affekts, die "Räuber" Frauen gegenüber kaum beseelt.
Auch dringen Diebe nicht in Häuser ein, wenn es im Sommer kurz vor
5 Uhr gerade hell wird.
Das Schlafzimmer ist auch gewöhnlich Tatort, wenn ein Familien-
mord sich abspielt, ein Depressiver Frau und Kinder aus der Welt
schafft und dann sich selbst das Leben nimmt. Zum Angriff kommt es,
wenn die Nichtsahnenden zur Ruhe gegangen sind. Sie werden meist im
Bette überrascht; fremde Kinder, die mit den eigenen zusammen-
schlafen, bleiben unberührt7. Die Frau ist erstes Ziel des Überfalls.
7 Pitaval der Gegenwart, Bd. V, S.213; dazu der Fall Dr. Demme, Neuer
Pitaval, Bd. VIII, S. 225ff.
364 Topographie der kriminellen Handlung
Bei Männern, die nur einen Schlaf- und Kochraum haben und die alleine
wohnen, spielen sich Exzesse ab, die manchmal bis zum Morde führen l .
In den Vereinigten Staaten töten Neger ganz besonders häufig in
der Küche, so daß man fast
Die Küche als Tatort * vom Tatort kleiner Leute
(Philadelphia, verglichen mit Schlafraum) sprechen könnte.
In der Küche tötet die
I Ehemann von der Ehefrau vom
Ehefrau getötet Ehemann getötet
Frau, im Schlafzimmer
~~
Schlafzimmer 24 bringt der Mann um. Von
Küche . . . I I 10 einer andern Seite her läßt
* WOLFGANG: Husband-wife homicides, Journal sich das Problem noch
of Social Therapy, Bd. II, Nr. 4, ohne Seitenzahl. schärfer formulieren.
Bei der Tötung der Ehemänner spielte das Küchenmesser eine be-
sondere Rolle, begreiflicherweise, denn Küchen sind das Arsenal der Frau.
Beider Eheleute, der Küche angehörige Waffe ist der Gashahn 2_
Viele Fälle verschwinden unter dem Deckmantel von Fahrlässigkeit,
Unfall (Gasrohrbruch) oder Selbstmord. Die hohen Selbstmordzahlen
mit Leuchtgas und die zahlreichen "Unfälle" würden bei genauer
kritischer Nachprüfung zu überraschenden Ergebnissen führen 3. Neben-
bei ist der Steinfußboden der Küche kein schlechtes Versteck 4 ; sie ist zu-
dem der Raum, in dem es immer etwas riecht.
Schon bei Schlafzimmer und Küche fallen nicht selten Tatort und
Fundort auseinander 5. Viel seltener findet bei Keller und Boden eine
Trennung statt. Der Keller dämpft Geräusche, ist abgelegen, wirkt wie
eine Gruft. Wenn man das Opfer nicht aus Zufall im Keller antrifft,
Siehe die Tatortbilder von Mordküchen bei HEINDL, S. 181, 201 und 233.
1
Kriminalistische Monatshefte 1929, S.160. - SCHuLTZ,KARL: Versicherungs-
2
mord, S. 102. Hamburg 1956. - Über einen unrichtigen Totenschein nach Gasmord
s. CRANE, MILTON: Sins of New York, S. 207. New York 1947.
3 Kriminalistische Monatshefte 1929, S. 225.
4 Fall Manning (London 1849), Neuer Pitaval, Bd. XV, S.295. Leipzig 1860.
5 So werden Opfer an einem anderen Platz der Wohnung getötet und dann
unter dem Bett verborgen. Erwachsene müssen zu diesem Zwecke erst zerstückelt
werden. Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S. 52; Bd. VII, S. 2 (Fall der Francisca
Klein, Wien 1904).
Die Wohnung und umschlossene Räume 365
Im Falle Crippen hatte die Polizei das Haus vom Boden bis zum
Keller abgesucht und nichts gefunden. Verdacht kam wieder auf,
nachdem der Arzt den Kopf verloren hatte und heimlich abgereist war.
Der Kohlenkeller wurde neu durchstöbert. Am dritten Tage schien ein
Ziegel in dem Kellerboden etwas locker. Es wurde nachgegraben. Reste
eines Körpers kamen an die Oberfläche. Es fehlten Glieder, Kopf und die
Sexualorgane. Das Schwurgericht entschied, daß es die Überreste
Cora Crippens waren l . - In dem vielumstrittenen Morde eines 14jäh-
rigen Mädchens in Atlanta (1913) war das Kind in einem Büroraum
getötet und in den Keller gebracht worden. Der zum Tode verurteilte
Täter wurde begnadigt, im August 1916 von der erregten Menge, die in
das Strafanstaltsgebäude einbrach, gelyncht 2.
Der Speicher bietet nicht die gleichen Möglichkeiten des Versteckens
wie der Keller 3 • Auch ist es nicht so leicht, zum Aufstieg zu verlocken.
Doch ist der Boden oft in irgendeiner Form bewohnt. Man hängt hier
Wäsche auf und speichert Holz wie Kohlen. Hier können alte Frauen
überfallen werden 4. Mansardendiebe dringen in die unbewachten Zimmer
ein 5. Lüsterne Männer stellen kleinen Kindern 6 nach. In der Küche oder
der Wohnstube untertags Erwürgte werden bei Nacht zum Speicher hoch-
geschleppt. Dazu gehört ein menschenleeres Haus, ein kurzer Treppenweg,
ein kräftiger Täter und ein leichtes Opfer. Im Falle Rauschmaier war am
Karfreitag jeder Hausbewohner in der Kirche 7 • Frau Lotz (Offenbach
1905) erdrosselte ein kleines Mädchen, das sonntags Gelder einkassieren
kam. Die Leiche barg sie stümperhaft in einer dunklen Speicherecke 8 ;
noch war der Strick anklagend um den dünnen Kinderhals geschlungen.
Dachstuben isolieren, weil über ihnen niemand wohnt. Haarmann
bewohnte eine solche "Mansardenhöhle". Beim Einzug bedeutete er den
Mitbewohnern, daß er sehr sauber und "apart" sei 9 , daher das Klosett,
1 YOUNG, FILSON: The trial of H. H. Grippen, S. 31. Edinburgh 1920.
2 MINOT, S. 216ft
3 Siehe die Fälle: FRIEDLÄNDER, Bd. II, S. 48; WATTLER, S.31 (Einmauern)
und L08 Angele8 murder8, S.209 (Vergraben unter Kellertreppe).
4 WOSNIK, Bd. II, 1, S. 36.
5 Diese "Dachmarder" werden beschrieben von Luz: Da8 Verbrechen in der
Dar8tellung de8 Verbrecher8, S.67. Heidelberg 1927.
6 WESSEL, S. 16.
7 FEUERBACH, Bd. II, S. 266ft Die Frau wurde später zerstückelt, der Kopf in
den Lechkanal geworfen.
8 Pitaval der Gegenwart, Bd. III, S.38ff. - Infolge der Kamine war der
Winkel schwer zugänglich. Die Täterin leuchtete hin und sagte zu dem Polizei-
beamten: "Sie sehen ja, dort ist auch nichts, es ist ganz leer." Der erste Blick
der Polizei fiel auf zwei Kinderfüße.
9 LESSING, THEoDoR: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolf8, S.99. Berlin
1925. - Haarmann gab zu, den Opfern den Hals durchgebissen zu haben, "zugleich
(habe ich) wohl auch mit den Händen gewürgt und gedrosselt". Dann folgte die
Zerstückelung, deren Technik bei LESSING (S. 139f!.) beschrieben ist.
Die Wohnung und umschlossene Räume 367
gehalten wurden. Er fing zu graben an. Er stieß nach kurzer Zeit auf
einen Schädel. Es war sein Bruder, der verschwunden war, erkenntlich
an dem roten Schnurrbart!. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß der
Täter einen Toten im fremden Garten zu verstecken sucht. Das ist der
große Nachteil eines solchen Tatorts 2 • Er deutet auf den Mörder hin.
Wenn alle Gärten sorgsam umgegraben würden, es würde mehr als ein
Geheimnis an das Licht des Tages kommen.
c) Badezimmer und Toilette nehmen im Rahmen der Wohnung einen
gesonderten Platz ein. Das Badezimmer kann fehlen, der Abort kann
außerhalb des Hauses liegen oder mehreren Hausbewohnern gemeinsam
sein und damit zu einer zugänglichen, halböffentlichen Örtlichkeit
werden. Im Badezimmer wie auf der Toilette schließen wir uns während
der Benutzung ein, ohne daß diese Vorsicht auffällt. Geschlechter sind
getrennt. Wir ziehen unsere Kleidung aus, bevor wir baden. Wir
lockern sie auf der Toilette. Daß wir allein sind, macht uns wehrlos,
auch daß die Orte meistens etwas abgelegen sind, entsprechend ihrer
Zweckbestimmung und den Regeln der Hygiene. Zwar wäre sachlich
die Zerlegung angebracht in ganz private Räume und in Bäder und
Toiletten, die jedem der Besucher zur Verfügung stehen. Doch sollen
alle außen gleichgeformten, innerlich verschiedenen Tatortvarietäten
zu gleicher Zeit behandelt werden.
Klytämnestra ermordet den heimkehrenden Gatten im Bade, indem
sie ein Netz über ihn wirft und mit dem Beile zuschlägt 3. Von den
Plänen, Kaiser Domitian im Bade zu ermorden, sprachen wir bereits 4 •
Auch dem Kinder- und Hausmärchen ist die heimtückische Tötung im
Bade nicht fremd; hier ist es der Erstickungstod:
"Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein schönes Knäblein
zur Welt gebracht hatte und der König gerade auf der Jagd war, nahm die alte
Hexe die Gestalt der Kammerfrau an, trat an die Stelle, wo die Königin lag und
sprach zu der Kranken: ,Kommt, das Bad ist fertig, das wird euch wohltun und
frische Kräfte geben; geschwind, ehe es kalt wird.' Ihre Tochter war auch bei der
Hand, sie trugen die schwache Königin in die Badestube und legten sie in die Wanne.
Dann schlossen sie die Tür ab und liefen davon. In der Badestube aber hatten sie
ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß die schöne junge Königin bald ersticken
mußte 5."
QUlNBY, IONE: Murder for love, S.318ff. New York 1931.
1
Auch die körperliche Leistung ist bedeutend, dafür kann man auf eigenem
2
Grund die Grube lange vorbereiten. Siehe WmTEHEAD, DON: The F.B.I. story,
S. 244, 1956. Es war der Garten der Mittäterin.
3 EURIPIDES: Elektra 157; AESCHYLos: Agamemnon 1109, 1382. - Bisweilen
wurde auch im Bad geschlafen; PLUTARCH: Alexander 76. - Bei TACITus (Ann. XIV,
69) kommt eine Tötung vor, als einer sich zu Übungen entkleidet hatte ("nudus
exercitando corpori").
4 SUETON: Domitian 17.
5 Kinder und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder GRIMM, Vollständige
Ausgabe, S. 86. München 1949.
Die Wohnung und umschlossene Räume 369
Restaurants, warten bis ein geeignetes Opfer eintritt, stoßen die Pistole
in seinen Rücken und nehmen ihm Geld und Uhr. Ihm wird bedeutet,
fünf Minuten in der Toilette zu bleiben, sonst würde es ihm später
schlecht ergehen 1. Von einer raffinierten Diebstahlstechnik in Damen-
toiletten teilt der Hausdetektiv eines großen Hotels Einzelheiten mit 2 •
Die Täterin verteidigt sich mit lesbischen Vertraulichkeiten; das Opfer
war nicht willig, anzuzeigen.
Die strikte Trennung in Geschlechter verlegt einen Teil des homo-
philen Umgangs in Toiletten. "Viele Verführungen", schreibt CAPRl0 3 ,
finden auf der Damentoilette statt, besonders wenn eine Lesbierin dem
aktiven männlichen Typus angehört." Es kommt sogar vor, daß junge
Frauen überraschend in das Abteil eindringen, die Schenkel der be-
stürzten anderen Frau mit Küssen bedecken und den Cunnilingus ver-
suchen 4. Auch die Kinotoilette wird genannt 5. Im amerikanischen
Verbrecherslang gibt es den Ausdruck: crapperdick, den man mit
Lokus-Bullen übersetzen kann. Das sind die Beamten der Sittenpolizei,
die die öffentlichen Bedürfnisanstalten überwachen. Als Beamte dieser
Funktion überraschen Erpresser die Invertierten, die an keinen Wider-
stand denken können. Für Amerika haben SUTHERLAND 6 , für Frank-
reich MELLOR 7 und für Deutschland KUHN s diesen Tatort besprochen.
In diesem Zwielicht von relativer Unzugänglichkeit und zuge-
lassenem Ort der Zuflucht, der Laster 9 wie Vergehen zart verschleiert,
geschehen Morde, mehr noch Sittlichkeitsdelikte : darunter sind recht
häufig Kinderschändung 10, seltener Inzest ll und Exhibitionismus 12 • Man
wird zumeist an die Privattoilette denken müssen. Dagegen werden
Morde, aus Habgier oder Furcht vor Entdeckung, viel eher in öffent-
lichen Anstalten begangen werden. Ein mit Verrat des Diebstahls
bedrohter italienischer Chorknabe führte den Zeugen auf einen Abort
und tötete ihn mit 42 Messerstichen . Die vielen Wunden deuten auf
sexuelle Untertöne hin 1. In Schottland kannte ein arbeitsloser junger
Bergmann einen jugendlichen Bankboten, der jeden Freitag Geld zu
holen pflegte. Er ging mit ihm auf die Toilette und erwürgte ihn des
Geldes wegen. Obschon bewiesen werden konnte, daß er an epileptischen
Anfällen litt, kamen die Geschworenen nach einer Beratung von 10 Minu-
ten mit einem "Schuldig!" zurück 2. Er wurde hingerichtet.
Es ist berechtigt, aus diesem Anlaß zu fragen, ob sich vom Tatort auf
die geistige Gesundheit mancher Täter schließen lasse. Wir haben bis
aufs erste keine Antwort. Doch läßt sich sagen, daß in früheren Zeiten
das "heimliche Gemach" der Tatort vieler Kindesmörderinnen war.
Auch eine andere Erfahrung ist sicherlich det Überlegung wert. Die
Eingeweide - worunter zweifellos die Genitalorgane an erster Stelle zu
verstehen sind - werden in manchen Fällen in die Toilette geworfen und
weggespült. Es handelt sich um Frauenmorde, die von Zerstückelung
des Opfers gefolgt sind. Dellacollonge (Beaune 1835) schnitt den
Kopf der Konkubine ab, stieß das Messer in den Leib und riß ihn auf,
um die Eingeweide herauszunehmen. Hier scheint den Pfarrer ein
Anfall überkommen zu haben, denn ihm wurde schwarz vor den Augen,
und er hörte eine Stimme, die ihm drohte. Erst als er sich erholt hatte,
nahm er die Eingeweide heraus, sprang damit in den Garten und tat
sie in den Abtritt 3. Der Schauspieler Chester S. Jordan (Boston 1908)
zerstückelte die Frau, schnitt ebenfalls den Kopf ab, einen Teil der Ein-
geweide verbrannte er im Herd, der Rest wurde die Toilette hinab-
gespült. Er hatte die Nacht fest geschlafen, ganz nahe seiner toten Frau,
und wollte sie erst am nächsten Tag zerstückeln 4. Wie bei den Opfern,
die im Schutt begraben, im Mist oder in Versitzgruben verheimlicht
werden, scheint mir ein dunkler Haß-Instinkt die Hand zu leiten. Objekte
größten Ekels sollen sich berühren und vermischen. Im Orient drohte
man, das Haus des Schuldigen zu einem Dunghaufen zu machen 5. Das
Sexualsystem erfährt neben dem Körperganzen eine Sondertötung, die
Sonderschmähung 6 eines übergroßen Abscheus.
In Strafanstalten finden alle verbotenen Tätigkeiten auf dem Abort
statt. Potenzierter Tatort scheint die Toilette in den französischen
Strafkolonien gewesen zu sein. RENE BELBENOIT erzählt, wie kurz nach
5 Uhr morgens die Gefangenen-Baracken geöffnet werden. Die Messer
wandern ins Versteck, die Spielkarten verschwinden, der Rum wird
irgendwo verborgen. Die Wärter sehen alles flüchtig durch, zuletzt am
24*
372 Topographie der kriminellen Handlung
Ende der Baracke die Toilette; sie wollen sicher sein, daß keine Leiche
hier herumliegt :
"Der Abort des zweiten Zuges ist mit mehr Blut befleckt als irgendein Raum
dieser Größe auf der ganzen Erde .. , Hier werden alle Streitigkeiten ausgekämpft:
Eifersucht, Rache, persönlicher Haß ... Es gibt Zeiten, in denen zwei oder drei
Morde im Monat in der Toilette der "Roten Baracke" geschehen, bisweilen mehr
als fünf. Der Schuldige? Wenn er entdeckt wird, hat einer neuneinhalb Chancen
von zehn, freigesprochen zu werden. Denn seltsamerweise ist es unter Sträflingen
ungeschriebenes Gesetz, die Schuld dem Toten aufzubürden ... Niemals steht ein
Zeuge gegen den Mörder auf. Keiner will ein ~mouchard» sein, ein Angeber, denn
das würde den ganzen Haß der anderen Gefangenen über ihn bringen, weil er der
Gefängnisverwaltung nur diese kleine Art von Dienst erweistl."
Die Toilette zählt zum Kreis der Tatorte, die einen Zyklus haben,
wandern, je nach der Jahreszeit, anziehen und verlocken. Nach den
Beobachtungen des Hamburger Fahndungskommandos kehren alle
Strichjungen, die in den Sommermonaten in die Freiluft- und Bade-
anstalten abgewandert waren, bei kühlem Wetter in den gewohnten
Umkreis einer Bedürfnisanstalt zurück 2 ; hier haben 95% der unter-
suchten Probanden angeknüpft und angefangen. Am Wochenende und
zu Messezeiten ist die Zahl im Anstieg 3 • Der "Tatort" ist in diesem Fall
erweitert, wie er sich dehnt, wenn bei der Beraubung einer Bank die
eingeschüchterten Kassierer in der Toilette eingeschlossen werden 4.
d) Möblierte Zimmer werden zu verbrecherischen Zwecken oft für kurze
Zeit gemietet. An der Spitze aller Orte, in denen Männer mit unreifen
Mädchen verkehrten, stand in Amerika das möblierte Zimmer 5, von dem
es ganz verschiedene Typen gibt. Briefträger-Mörder mieten im Privat-
haus sich ein Zimmer, schicken sich selbst eine Postanweisung und töten
den nichtsahnenden Beamten 6. - Der mythische Henry Vaugham
stattete in Antwerpen ein leeres Zimmer aus und ließ nach dem Morde
des bestellten Anwalts Visitenkarten mit diesem falschen Namen liegen 7.
Die Wohnungstür ist schließlich Tatort von Konflikten eifersüchtiger
Personen 8 , bisweilen ist es auch die Tür des Liebesnestes. Die Tür zu
öffnen ist in solchen Fällen niemals ratsam. Selbst wehrlos, schließt
man einem Feind das Burgtor auf.
Ländliche Anwesen sind von Scheunen, Schuppen, Ställen und
anderen Nebengebäuden umgeben. Mit der Entfernung ist die Aufsicht
1 BELBENOIT: I escaped from devil'8 i8land, S. 122. New York 1949.
2 KUHN, S. 51ff. 3 REDHARDT, S. 26.
4 Oder wenn eine Toilettenfrau den Besucher eines «chalet de necessite »wieder-
erkennt, der geraubten Schmuck in den Abguß geworfen hat, volle 20 Minuten blieb
und ein auffallend hohes Trinkgeld gegeben hat. MAYEN, MAURICE: Don-Juan
a88a88in (Mordfall Pranzini), S. 45ff. Paris 1950.
5 GOLDBERG, JACOB and ROSAMUND: Girls on city streets, S. 55. NewYork 1940.
6 Neuer Pitaval, Bd.48, S.83; BJERRE, S.27.
7 HABRY, GERABD: The Peltur case, S.48. London 1928.
8 BATAILLE: Crimes de 1890, S. 151.
Die Wohnung und umschlossene Räume 373
stark gelockert. Im Kuhstall ist es warm, im Heu ist es weich und ver-
schwiegen. Abgesehen von Viehdiebstählen, die in wirtschaftlichen
Krisenzeiten großen Umfang annehmen 1, auch Brandstiftungen,
spielen sich hier alle möglichen verbotenen Beziehungen ab 2 • Beim
Mord treten alle diese Baulichkeiten viel öfters als Fundorte denn als
Tatorte auf. Besonders Scheunen locken zum Vergraben 3. Daneben
werden manche Versenkungen gern benutzt, die nahe am Hause liegen,
so die Kartoffelgrube in einem Falle BJERREs 4 und jene Müllgrube, in
der ein toter Schwiegersohn die letzte Ruhe fand 5. Feinsinnig ist hier die
Bemerkung WATTLERS, daß vielleicht die Müllgrube gewählt wurde, weil
es dem Schwiegervater Freude machte, "den Verhaßten unter Schutt,
Geröll und Asche zu vergraben." Auch Antonini wollte die ermordete
Blankenfeld in den Hof tragen und in einem Misthaufen verscharren,
doch war das Mädchen ihm zu schwer 6 •
Zum alten Haus gehörten früher Brunnen. Schon in der Bibel lockt
die tiefe Öffnung die Brüder Josefs, den Verhaßten loszuwerden 7. Auch
Frauen können starke Männer, die sich über den Rand neigen, in die
Tiefe stürzen. Im LebenAlexanders des Großen erzähltPLuTARcH vonder
Thebanerin Timokleia. Die Mazedonen brechen in das Haus der vor-
nehmen Frau ein. Es wird geplündert, der Offizier tut der Frau Gewalt
an. Auf die Frage, ob sie noch irgendwo Geld versteckt habe, führt sie
ihn in den Garten und weist auf den Brunnen hin. Als der Thraker sich
bückt, stößt sie ihn in den Brunnen und wirft Steine auf ihn, bis er tot
ist 8. In einem anderen Falle, im gleichen Lebenslauf berichtet, lockt
Königin Roxane ihre Nebenbuhlerin Stateira und ihre Schwester mit
heuchlerischer Freundlichkeit an ihren Hof, erschlägt die beiden, wirft
sie in den Brunnen und schüttet Erde über ihre Leiber 9.
In den Vereinigten Staaten wird Elma Sands in einem Brunnen auf-
gefunden 10, läßt die schöne Spooner ihren Mann von zwei gedungenen
Soldaten in einen Brunnen stürzen 11. In Deutschland werfen Pleil und
Hoffmann das tote Opfer in einen nicht benutzten Brunnen 12 • Sehr
eigenartig ist der Fall des Pfarrers Bruneau 13 • Er wirft den halb-
1 Die Lage nach dem Kriege wird beleuchtet von HULME, KATIIRYN: The wild
place, S. 73ff., London 1959, und BADER, S. 78ff.
2 v. HENTIG-VIERNSTEIN, S.203 (Inzest); homosexuelle Handlungen FRITZ
LANG, S. 40; IRNIG, S. 13 (Kinderschändung).
3 Siehe Neuer Pitaval, Bd. XXXI, S. 331, und FEUERBACH, Bd. I, S. 83, wo
ein Hund auf das Versteck hinlenkte.
4 BJERRE, S. 128. 5 WATTLER, S. 29. 6 FEUERBACH, Bd. I, S. 120.
7 1. Moses, 37, 24. 8 PLUTARCH: Alexander 12. 9 Ebenda 77.
10 MINOT, S. 14.
11 MINOT, S. 104. - Die Frau war beinahe 40 Jahre jünger als der Mann; der
Mann, der sie vernachlässigte, war ein Griesgram und Zechbruder, "an old soak."
12 LG Braunschweig 6 Ks 1/50. 13 BATAILLE, Crimes de 1894, S. 342.
374 Topographie der kriminellen Handlung
darüber - griffen die wirklichen Hände in die Taschen der Nachbarn oder lösten
Ketten, Geschmeide und zogen Uhren aus l ."
Die schöne Engländerin Jane Webb, hingerichtet 1740, hatte zwei
Methoden. Machtvolle Kirchenredner waren damals große Mode. Die
Menge drängte sich um schmale Kirchentüren. Die elegante junge
Dame bat im Gedränge einen Herrn mit vielen Ringen an den Fingern
um die Hilfe und den Schutz, den jeder Gutgesinnte gerne gibt. Im
Kircheninnern fand der Dandy, daß seine Diamanten ihn mit jener
jungen Frau verlassen hatten. Jane Webb hatte ebenfalls die falschen
Arme und sich als Schwangere zurechtgemacht, die ein Komplice ehr-
furchtsvoll als Diener zu ihrem Platze führte. Er leitete sie zu einem
Sitze neben älteren Damen, die in der Taille goldene Uhren stecken hatten.
Dahinter saßen andere Angehörige der Bande, an die die Beute rasch
und sicher weiterfloß2.
Der Räuber Masch kam, wahrscheinlich in Erinnerung an alte
Verbrechergeschichten, auf den Gedanken, "in eine Kirche einzubrechen
und zu sehen, ob ich in den geweihten Räumen des Gotteshauses einen
Schatz heben könnte 3 ." Doch alles drinnen ist höchst ärmlich. Ein
Kasten verspricht klingende Münze, aber als er den Deckel aufsprengt,
findet er nur einen Kelch und einiges Abendmahlgerät. Er lebte tief
im Walde, konnte mit Silberzeug nichts anfangen. Er nahm sich vor,
seine "kostbare Zeit niemals wieder mit dem Besuche einer Kirche zu
verschwenden. "
In Bayern ist die Beobachtung gemacht worden, daß in der Früh-
messe auf die Kirchenbänke gelegte Handtaschen den wohl noch etwas
müden Frauen unbemerkt gestohlen wurden; es ist auch anzunehmen,
daß in dieser frühen Stunde ein besonders abgelenkter Frauentyp in
Frage kommt. An guten Tagen ist die Beute nicht gering. In Krisen-
zeiten richtet sich der Diebstahl gegen Kirchengut, die Tabernakel und
die Schreine mit Reliquien'. Inmitten einer Periode des Wohlstands
wurden in München von Mitte Januar bis 11. März 1960 19 Einbrüche
in Kirchen ausgeführt. Es wurden durchwegs Opferstöcke ausgeplün-
dert. Raubüberfälle in der Kirche sind ein seltener Vorgang. Nach
einem Bericht MIDDENDORFs 5 überfiel 1956 ein 18jähriger Hilfsarbeiter
in einer Kirche eine betende Frau, würgte sie und nahm ihr die Hand-
tasche ab.
der Grabstelle des Mädchens Hahn, das er ermordet und verscharrt hatte,
angefertigt und verschickt, das erstemal an eine Zeitung, das zweitemal
an die Polizei 1. Die Handlung war eine Mischung nekrophiler Tendenzen
und einer Sucht, auf sich und sein Verbrechen hinzuweisen.
Bei dem Worte Nekrophilie denken wir an grobe Ausschreitungen,
wenn Leichen ausgegraben, mißbraucht, zerstückelt werden 2. Bisweilen
spielt der Aberglauben eine nicht geringe Rolle 3. Es gibt aber auch
Übergänge, die mit korrektem Lebenswandel gut zusammengehen, ja als
Beruf in ihrer Weise nützlich sind. Unter 23 Fällen echter Nekrophilie,
die EpAuLARD 1901 zusammenstellte, waren drei Totengräber, zwei
Medizinstudenten, ein Besucher eines Anatomiekurses und der Gehilfe
eines Leichenbestatters 4 • Bisweilen ist mir in Amerika, wo die Leichen-
pflege und -bestattung zu einer kostspieligen Kunst geworden ist, eine
tief innerliche Neigung aufgefallen, die man nekrophiloid 5 nennen könnte.
Dabei braucht das Gesetz in keinem Fall verletzt zu werden. Es kann
sogar die verschönernde Zurichtung und Vorweisung des Toten, an dem
die Trauergäste vorbeipassieren, besonders sachgemäß und kunstvoll
sein. Wie steht es mit den üppigen Leichenmahlen vieler Länder, bei
denen selbst getanzt wird? Ich habe die Erzählung GOTTFRIED KELLERS
wiedergegeben 6, wie der Grüne Heinrich zum Begräbnis seiner Groß-
mutter kommt, erst alles still und andächtig ist, ein Trauermarsch ge-
spielt wird, dann aber die Musik plötzlich in einen lustigen Hopser über-
geht und die Jugend "jauchzend und stampfend über den dröhnenden
Boden" dahinbraust. Es ist, als ob die Nähe der Vergänglichkeit die
Lebensgeister zu rebellischem Aufbruch lockte. Ein ähnlicher Vorgang
spielte sich vor 90 Jahren in Paris ab 7. Die Leichen der Frau Kinck und
ihrer 4 Kinder waren auf dem Felde von Pantin ausgegraben worden.
Es entwickelte sich ein Volksfest um den Fundort. Die Halbwelt kam
aus dem Inneren der Stadt herbeigeströmt und verlegte ihre Tätigkeit
auf das "Leichenfeld" .
Zu einer andern Klasse gehören die Typen, die in Grüfte der Fürsten
und reichen Leute eindringen. Es sind Einbrecher und Erpresser, denen
es um Schmuck oder Lösegeld geht 8. Sie irren, wenn sie glauben, die
Edelsteine und kostbaren Ringe im Katafalk zu finden, mit denen eine
1 Die Skizze ist abgebildet bei O. STEINER und W. GAY: Der Fall Kürten,
S. 60. Hamburg o. D.
2 Siehe die Fälle in Monatsschrift, Bd. X, S. 702, und bei HmsCHFELD: Ano·
malien, S.511ff.
3 Ebenda, S. 520.
4 Ebenda, S. 519, 520. - "Daher zählen viele Leute zu den Nekrophilen, die
beruflich etwas mit Leichen zu tun haben."
5 Geschäft und Neigung gehen eine Mischung ein.
6 Ursprung der Henkersmahlzeit, S.247.
alte Herzogin auf dem Paradebett gelegen hattel. Ein Millionär, der
wenig beliebt war, wird aus seiner Gruft geholt, die Leiche mitgenommen.
Aus Kanada kommen Briefe, die die Rückgabe der Leiche gegen die
Summe von 250000 Dollars anbieten. Nach langem Hin und Her er-
klärte sich die Witwe bereit, 25000 Dollars auszugeben, eine einsame
Straße wurde verabredet und hier an einer Stelle, die auf der Karte
angekreuzt war, eine schwere hölzerne Lade überliefert 2. Ob das Skelett
das des Millionärs war oder eines andern ist niemals mit völliger Sicher-
heit festgestellt worden. Es war Erpressung, weiter nichts. Der nekro-
phile Zusatz wird nur sehr gering gewesen sein.
b) Der Tatort des Hotels führt in das Hauptproblem des Dunkelfelds
zurück. Hotels sind wirtschaftliche Unternehmungen, große Kapitalien
sind investiert, sie sollen Dividenden liefern. Ihrem innersten Wesen
nach können sie es nicht gestatten, moralische Anstalten zu sein, doch
müssen sie, ebenfalls aus geschäftlichen Gründen, bedacht sein, das
Dekorum ganz betont zu wahren. Es ergibt sich ein Dilemma und das
Beieinanderwohnen zweier Welten. Zwischen Gäste und Polizei schiebt
sich eine Zwischeninstanz ein. Sie hat den Auftrag, strafbare Hand-
lungen, wenn es irgend möglich ist, ohne Skandal zu ordnen. Es ist eine
Art Werkschutz, die mit dieser Funktion betraut ist, der Hoteldetektiv.
Die Schwierigkeit besteht darin, aufsehenerregende, geschäftlich un-
erwünschte Dinge, die nicht völlig vertuscht werden können, durch wohl-
bekannte Mittel vor den Augen der Klienten zu verbergen, besonders
wenn es sich um Mord und Selbstmord handelt. Eine sehr beachtliche
Technik hat sich hier entwickelt, wozu der Warenlift, der Eingang für das
Personal, die Zeit von 3-5 Uhr morgens, der Hausarzt und ein wohl-
geölter Apparat des Abtransports gehören, auch Schweigepflicht der
Angestellten. In Strafverfahren kommt heraus, daß unter Angestellten
über diese Dinge viel geredet wird. Im Fall Wilde entschuldigte der
Generalstaatsanwalt das Gehenlassen der Hotelverwaltung gegenüber
den Gewohnheiten des berühmten und zahlungsfähigen Gastes damit,
daß sie bemüht gewesen war, einen Skandal zu vermeiden, der für das
Hotel nachteilig hätte werden können 3. In anderen Fällen hören wir, daß
die Leitung eines erstklassigen Berliner Hotels sich dem Ansinnen eines
bekannten Großindustriellen schließlich widersetzte, der junge ita-
lienische Freunde als Kellner eingestellt haben wollte 4 • Bei Mordunter-
Buchungen bleiben uns oft die beunruhigendsten Beobachtungen nicht
erspart. Als in der Nähe von San Francisco eine zerstückelte Frauen-
leiche gefunden worden war, stieß die Polizei in der Liste der vermißten
jungen Frauen auf eine 30jährige Witwe, hübsch, wohlgebildet, rot von
Haar und Krankenschwester von Beruf. Dann kam die unerwartete
Enthüllung. Sie hatte eine Woche vor dem Verschwinden in einem
großen Hotel in San Francisco gewohnt und dabei den Namen Frau
John Loren aus Seattle angegeben. Die Hotelangestellten hatten
männliche Besucher von "ungewöhnlichem Benehmen und verschieden-
artigem Aussehen" bemerkt. Einer wurde als breitschultriger, musku-
löser Mann beschrieben. Er sah, so sagte ein Angestellter, wie ein Doktor
aus. Der Mann war eine Stunde lang vor ihrem Zimmer auf- und ab-
gegangen, erwartend, daß er vorgelassen würde .. , Irgendeiner in dem
Hotel hatte einen bekannten Wirtschaftsprüfer als häufigen Besucher
der Frau Loren genannt. Sie war vor einigen Jahren seine Sekretärin
gewesen. Er wurde von der Polizei vernommen und erklärte, er habe sie
seit langem nicht gesehen 1. Die Krankenschwester hielt für zahlungs-
fähige Kunden unter falschem Namen Hof. Hier traf sie auch den
Mörder, den man niemals fand.
Große amerikanische Hotels führen eine Art Buch über Gäste, die
ihnen nicht genau bekannt sind. Darunter sind seine Ausgaben vermerkt,
seine Telefonanrufe, seine Fahrkartenbestellungen mit Dampfer und mit
Flugzeug 2. Es ist zwar theoretisch untersagt, die Koffer eines Gastes
zu öffnen 3, doch wird sich niemand allzu laut beklagen, der Dreck am
Stecken hat. Die Pagen haben Auftrag, jeden Gast sofort zu melden,
bei dem sie eine Schußwaffe, Explosivmittel oder große Summen in
neuen Scheinen sehen 4. Um Eintritt in ein verschlossenes Zimmer zu
erhalten, dient der Vorwand, etwas an der Wasserleitung, dem Licht
oder dem Radio sei nicht in Ordnung und müsse nachgesehen werden 5.
Wie aber wirkliche oder angebliche Verstöße behandelt werden, geht
aus der Erledigung der kleineren sittlichen Vergehen hervor. In den
Akten des Hoteldetektivs stehen Fälle wie diese 6:
H. T. Fabrikant aus Indiana, der sich zurückgezogen hat. Alter 62 Jahre.
Verheiratet. Würdiges Aussehen, könnte ein Professor oder ein Geistlicher sein.
Beschwerde: Zimmermädchen wurde gerufen, neue Badehandtücher zu bringen.
1 BLOCK, EUGENE B.: The wizard 0/ Berkeley, S. 134. New York 1958. - Man
fand einen Unterkiefer. Der Zahnarzt der Schwester meinte, er habe für sie ein
oberes Gebiß gemacht. Wenn ich das haben könnte, dann ...
2 COLLANS, D.: I was a house detective, S. 130. New York 1954.
3 Ebenda, S. 107. 4 Ebenda, S. 17. 5 Ebenda, S. 131.
6 Ebenda, S. 81ff. - Vorbeugend haben Hotels Regeln aller Art: Zimmer-
mädchen sollen nur zu zweit arbeiten. Wenn sie im Zimmer eines männlichen
Gastes tätig sind, soll die Türe offen bleiben. COLLANS kommt zu dem pessi-
mistischen Schluß, daß im allgemeinen die Moral der Angestellten höher ist als
die der Gäste. Ebenda, S. 85.
Öffentliche und gemeinzugängliche Baulichkeiten 383
Als sie die Tücher brachte, stolzierte er nackt vor ihr durch das Zimmer. Bot ihr
Geld usw. Gab Vorgang zu, als untersucht wurde.
M. A. Mädchen, 19 Jahre alt, Kassiererin in großem Lebensmittelgeschäft,
wohnt im Hotel, um Verwandte, die nach Europa fahren, zu verabschieden. Be·
stellte Frühstück auf ihr Zimmer, befahl dem Kellner den Tisch nahe an das Bett
zu stellen, warf die Bettdecke zurück, stand auf, mit nichts anderem bekleidet als
der oberen Hälfte ihres Pyjamas. Fragte den Kellner, ob sie nicht gutaussehende
Beine habe. Untersucht. Geleugnet.
F. D. 53 Jahre alte Witwe. Rief Zimmerkellner an und verlangte Zigaretten
10.15 morgens; als er kam, fand er sie unter der Dusche, wo sie die Zigaretten
abgeliefert haben wollte. Stieg aus der Badewanne und forderte den Zimmerkellner
auf, ihr den Rücken zu reiben usw. Er lehnte ab, sie wurde ausfallend, drohte der
Hotelleitung mitzuteilen, daß er versucht habe, sie zu vergewaltigen. Untersucht.
Leugnet, erhebt Gegenvorwürfe.
"Eine ruhig aussehende Klavierlehrerin aus der Provinz hat versucht, das
Maniküremädchen zu verführen, die sie zu sich hatte heraufkommen lassen.
Gestellt, drohte sie, das Hotel in Brand zu setzen und warf dem stellvertretenden
Direktor eine Sherryflasche an den Kopf."
Dazu bemerkt der weise Hausdetektiv: "Gewöhnlich gibt es keinen
anderen Beweis als das unbestätigte Wort des Angestellten. .. Meine
Methode war, eine respektvolle Anzeige aufzunehmen, die so sorgsam
formuliert war, daß sie keine direkte Anschuldigung enthielt ... Manch-
mal gab der Gast auf leichten Druck seine Verfehlung zu . .. Der Gast
konnte ja gar nicht wissen, wie sehr dem Hotel daran gelegen war, die
ganze Sache unaufgerührt zu lassen." Schwieriger waren die Fälle,
wenn dem Schuldigen die Nerven rissen. Dann war sofort der Hausarzt
mit Beruhigungsmitteln zur Stelle, die ganze Ärgerniserregung in Stille
abzuschließen.
Die Tatsache, daß in einem großen Hotel normale Lebensstatik sich
in eine Überlegenheit des Gastes und höfliche Gefälligkeit des Personals
umkehrt, wobei die sonst so oft vermißte Dienstbarkeit durch die
Geldleistung des Zimmerpreises und sonstiger Ausgaben erkauft wird,
muß die moralische Zensurbereitschaft schwächen. Kein Hotel würde
lange bestehen können, wenn es in jedem Falle die Personalien genau
nachprüfen wollte. Hotels stellen in erster Linie Schlafräume zur
Verfügung. Es kommt zu Inzest!, homosexuellen Beziehungen 2, in
weitem Umfang zu Ehebruch. Das ehebrecherische Verhalten ist selbst
geschäftlich gut geordnet in die Ehescheidungspraxis eingebaut. Hübsche
und junge "Ehebrecherinnen" können gemietet werden, um sich in
Hotelbetten von Privatdetektiven und Zeugen überraschen zu lassen.
"Fräulein W. hatte ein gelbes Neglige und Pantöffelchen an", sagt ein
1 Zum Beispiel LAMsoN, D., S. 206; MARTIN: Break doum, S. 82ff.; DOYLE,
WILLIAM, S. 23; MARTIN: ~W y lile, S. 141; GADDIS, TnoMAs A.: Birdman 01
Alcatraz, S.43. New York 1958.
2 Siehe die morgendliche Abholung entlassener Mädchen aus der Anstalt
St. Lazare. BERNARD DE GLAJEUX: Les passions criminelles, S. 109, Paris 1893.
3 Neuer Pitaval, Bd. XXXI, S.218ff. Leipzig 1862. 4 EGER, S. 255ff.
25*
388 Topographie der kriminellen Handlung
letzten Jahre, der angeklagt war, Einladungen und Geschenke von der
Freundin eines in Haft genommenen Angeklagten angenommen zu haben.
Kurz vor der Hauptverhandlung wurden die Akten aus der Geschäfts-
stelle der Strafkammer entwendet. - Polizeiwachen bieten Szenen des
Widerstands, der Volltrunkenheit, auch des Hausfriedensbruches, wenn
der zur Wache Geführte trotz der Mahnung den ihm vertraut gewordenen
Amtsraum nicht verläßt. Von 264 untersuchten Rauschtaten wurden im
Landgerichtsbezirk Bonn 15 oder 5,7% auf der Polizeiwache begangen!.
Das Sprechzimmer des Arztes sieht Eingriffe gegen das keimende Leben,
auch Sittlichkeitsdelikte, so jenen eigenartigen Fall der Kuppelei, den
CAPRIO beschrieben hat 2 • Paranoide haben Ärzte erschossen 3 • Eifer-
süchtige Arztfrauen haben Patientinnen im Sprechzimmer des Mannes
getötet. Ein solches Strafverfahren endete mit einem Freispruch, doch
wurde eine Tatsache festgestellt, die dem Ehemann bisher verborgen
war. Die Ehefrau hatte heimlich eine Abhörvorrichtung in das Sprech-
zimmer des Mannes zu ihrem Schlafraum legen lassen, wo sie auf alles
lauschen konnte, was ärztlich und nichtärztlich fern von ihr geschah.
Am Tage nach der Tötung war die Leitung schleunigst abgenommen
worden 4.
d) Zwischen öffentlichen Häusern und den Wohnungen frei lebender
Prostituierter gibt es Zwischenstufen lockerer Art, bei denen Wohnungs-
inhaberin, Mädchen und "Bedienerinnen" zusammenwohnen und sich
gegenseitig unterstützen 5. Vom mondänen Luxus-Etablissement bis zum
schäbigen Massagesalon laufen zudem die größten äußerlichen Unter-
schiede. In jüngster Zeit hat POLLY ADLER die Freuden und Leiden
eines solchen Betriebes beschrieben 6. Einen guten Einblick gab schon
vor über 100 Jahren das Haus der Frau Rosina Townsend in New York,
auf das die ganze Stadt stolz war. Der Mord an der schönen Helen
Jewett war Anlaß für die Presse, die Dezenz und Schönheit dieser
"Paläste der Leidenschaft" zu schildern, mit seinen Teppichen, Spiegeln,
Divans und dem verschwiegenen Garten, durch den der Mörder glücklich
auch entkam. Den Besuchern, die sich Nacht für Nacht hier drängten,
wurden die verführerischsten weiblichen Kontraste angeboten. "Acht
junge Mädchen waren von überraschender Schönheit, drei oder vier
häßlich wie die Nacht", für solche, die das Extraordinäre liebten. In
diese stille Pracht schlug jäh der Blitz des Mordes ein 7 •
beschrieben 1. Der Tatort lag im Walde, das nächste Haus war 8 Kilo-
meter weit entfernt. Der Zug fuhr über einen Fluß und machte halt,
um Wasser einzunehmen. Um 11.15 nachts fuhr seine Lichterreihe
zischend ein. Je zwei der Räuber lagen rechts und links am Bahndamm.
Nachts gilt im allgemeinen nicht als tunlich, weil die Bewachungs-
mannschaft verstärkt ist. Dafür sind die aus dem Schlaf geschreckten
Passagiere fassungslos, die Männer wie die Lämmer, und nur die Frauen
sind empört. Unter den Kopfkissen holen die Räuber rücksichtslos
falsche Zähne, falsche Haare, Strümpfe hervor, in die Schmuck und Geld
gestopft sind . .Als Kavaliere geben sie die "Skalps" zurück, obwohl die
Damen den Besitz verleugnen. Dann schwingen sie sich in den Sattel
und reiten 60 Kilometer in der gleichen Nacht.
Die mechanische Sicherung wird in der verschiedensten Weise über-
wunden. Beim überfall auf den Expreßzug Nr.13 der Southern-Pazific-
Eisenbahn am Südausgang des Siskiyou-Tunnels Nr. 13 am 11. Oktober
1923 wurde der Postwagen, noch im Tunnel stehend, in die Luft ge-
sprengt 2. In der Verwirrung ging die Unternehmung fehl; der Post-
beamte wurde in dem ausgebrannten Wagen verkohlt gefunden. Drei
Zugbeamte wurden totgeschossen. Mit leeren Händen flohen die Ban-
diten in die Berge. Einer der letzten überfälle geschah im Jahre 1940;
die Nacht war heiß. Entgegen der Vorschrift hatten die Postbeamten
einen Spalt offengelassen. - In einem Falle aus dem Jahre 1924 schossen
die Räuber Tränengas durch den Ventilationsschacht und zwangen
damit die Beamten, herauszukommen und den Wagen preiszugeben.
Eisenbahnmorde zeigen eigentümliche Übereinstimmung 3. Sie
werden an älteren Männern verübt, die allein in einer höheren Klasse
fahren. Nachtzüge werden nicht so oft gewählt, wie man erwarten sollte;
Kassierer fahren nicht bei Dunkelheit. Das Zuggeräusch verdeckt die
Hilferufe und den Knall des Schusses. Die Täter weisen häufig abartige
Züge auf. Der eine, Müller, hatte den Hut des Ermordeten bei sich, als
er in New York verhaftet wurde; ein anderer, Rücker, war homosexuell
und Pseudologe. Er hatte sich gerühmt, sein Vater sei ein Edelmann,
von Mutterseite habe er Zigeunerblut. Obwohl seine Eltern ganz wohl-
habend waren, lebte er von trockenem Brot und kaltem Wasser. Nur
wenn er stark bei Kasse war, gönnte er sich den Genuß eines Apfels. -
Chretien, der mit Chloroform und Revolver vorging und bei dem ersten
1 Siehe den Raubversuch vom 10. Januar 1947 in einem Tunnel bei Pforzheim
(JACOBS, S. 147). - Ein Raubmord im Zuge Köln-Norden war auf den Weihnachts-
abend 1947 gelegt worden. Nach JACOBS war die damalige überfüllung der Züge
ein Sicherheitsfaktor. Der physikalische Tatort verändert seinen soziologischen
Charakter je nach der Bewegung, die Menschen zu ihm hinzieht oder von ihm
fernhält.
2 Kriminalistik, S. 132, 1960.
3 Siehe meinen Aufsatz: Neue Typen de8 Tatort8, Schweizerische Zeitschrift
für Strafrecht, S. 181ff., 1951.
4 Ausführlicher Bericht von Charles Purvis in der Chicago Tribune vom 29. Ok·
tober 1950.
5 Der Richter tadelte die Polizei wegen dieser unzulässigen Methode.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 395
1 MELLOR, S. 114.
2 JACOBS, S.96; GRASSBERGER, S. 5; LANG, S.40.
3 WINZENRIED und RASCH: Monatsschrift, S.197, 1958. - Ein 15jähriger
Schüler hatte einen angesehenen Mann noch in! Nachtzuge beschuldigt, ihn in
sein Abteill. Klasse gerufen und mißbraucht zu haben. Der Angeklagte verteidigte
sich damit, daß er sagte, der Junge sei in das Abteil genommen worden, weil er die
Ankunftszeit erfahren wollte, und sei, als er belästigend zu werden anfing, von ilim
hinausgewiesen worden.
4 IRWIN, W.: The conlessions 01 a con man, S. 124-150, New York 1909, wo
die Prozedur genau beschrieben ist.
6 Siehe auch MAURER, DAVID W.: The big con, S.270ff. New York 1949.
6 JACOBS, S. 110. "Die Bauern konnten sich kaum der Angriffe auf Vieh und
Bodenprodukte, das Jagd- und Forstschutzpersonal auf den Waldbestand, die
Bahnpolizei auf Zugladungen mit Kohlen erwehren."
396 Topographie der kriminellen Handlung
Eisenbahndiebstähle (Nordrhein-Westfalen)
1946 13966
1947 1704
1948 2253
1949 887
1950 172
Präsident Garfield wurde auf dem Bahnhof in Washington er-
schossen 1 • Die Pläne der russischen Anarchisten von 1879 kreisten um
den Sonderzug des Zaren, der in die Luft gesprengt werden sollte: es
gelang sogar, ein Mitglied der Verschwörergruppe als Bahnwärter unter-
zubringen 2. Die Technik ist im Augenblick obsolet 3 •
b) Die Sage aller Völker kennt den Schiffsmord. Bei Arion war es
Raubmord. Dieser bedeutende Dichter und Zitherspieler hatte eine
Kunstreise von Korinth nach Italien und Sizilien unternommen. "Nach-
dem er dort viel Geld verdient hatte, wünschte er wiederum nach Korinth
zurückzukehren ... weil er aber keinem anderen mehr traute als den
Korinthern, so mietete er sich ein Schiff korinthischer Männer. Diese
faßten aber auf hoher See den bösen Plan, Arion aus dem Schiff zu
werfen und sich seiner Schätze zu bemächtigen 4 ." Der Dichter flehte
um sein Leben, die Seeleute waren unerbittlich: entweder sollte er sich
selbst das Leben nehmen, dann würde er auf festem Land begraben
werden können, oder er solle ins Meer springen. In festlicher Kleidung
sang Arion ein ergreifendes Lied, sprang ins Meer und wurde in wunder-
barer Weise durch einen Delphin ans Land getragen. - In Grimms
Märchen ist es nicht ein Raubmord 5: die wunderliche junge Königin
liebt, vom Tode auferweckt, ihren Mann nicht mehr. "Sie faßte eine
böse Neigung zu dem Schiffer. Und als der junge König einmal dalag
und schlief, rief sie den Schiffer herbei und faßte den Schlafenden am
Kopfe, und der Schiffer mußte ihn an den Füßen fassen, und so warfen
sie ihn hinab ins Meer."
Als Neros muttermörderische Gedanken es erst mit Gift versucht
hatten, dann mit dem Deckeneinsturz eines Zimmers, wo sie schlief,
gerieten sie auf einen anderen Plan. Er ließ ein Schiff erbauen, das leicht
auseinanderfiel. "Auf ihm sollte seine Mutter durch Schiffbruch oder
Einsturz der Kajüte ums Leben kommen 6." Er brachte sie dann auf das
Fahrzeug, wobei er liebevoller 7 war als je zuvor. Sie schwamm jedoch
1 LANGEMANN, S. 126. 2 Ebenda, S. 83ff.
Die Sonderzüge sind schwer gepanzert, außerdem wird meist geflogen oder das
3
Auto benutzt.
4 HERoDoT, I, 24. 5 Märchen, Die drei Schlangenblätter.
8 SUETON: N ero 34.
7 TAOITus, Ann. XIV, 3: "Nihil tam capax fortuitorum quam mare", sagte ein
Berater bei dem Mordplan. Niemand würde die Schuld von Wind und Wogen ihm
aufbürden. - Wie Nero jeden Verdacht zerstreute, sagen TAOITus, Ann. XIV, 4,
und CASSroS DION LXI, 13.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 397
beim Unfall an das Land und mußte mit dem Schwert getötet werden.
An das Gerücht des Selbstmords glaubte niemand. - Ein früherer
Freund des Dion, Hiketas mit Namen, wollte dessen Frau und Schwester
loswerden. "Er ließ ein Schiff für sie ausrüsten und gab vor, er wolle
sie nach dem Peloponnes bringen lassen. Stattdessen gab er Befehl,
sie auf der Fahrt umzubringen und die Leichen ins Meer zu senken!."
Wenn wir weiter hören, daß der Tyrann Dionysius versucht hatte,
Plato auf der Fahrt nach Griechenland auf See umzubringen 2, so
kann das Schiff im Altertum kein unbekannter Tatort eines Mordes
gewesen sein.
Es hat seine guten Gründe, wenn uns die Kriminalität der Seefahrt
in der angloamerikanischen Kriminalgeschichte öfter begegnet als in
Deutschland oder Frankreich. England und lange Zeit auch die Ver-
einigten Staaten waren Seemächte, die für ihre Schiffe - damals noch
Segelschiffe - fremde Matrosen anwarben, nicht selten dunkle Rassen.
Die Köche waren oftmals Neger. Es fehlte nicht an Vorbestraften aus
aller Herren Länder. Als Segelschiffe noch die Mehrzahl waren, geriet
man oft in eine Flaute. Die Nahrungsmittel wurden knapp, und um das
Essen kreist, wie im Gefängnis, an Bord ein jeglicher Gedanke. Das
Schiff geriet in warme Zonen und in Winde, die in einer Richtung liefen.
Es gab so gut wie nichts zu tun. Vor allem auf dem Schiff ist Müßiggang
der Laster Anfang. Abwechslung bläst die träge Stimmung nicht mehr
durcheinander. An einer Unbill leidend Rachepläne durchzusinnen 3, ist
Zeit und ungestörte Muße.
Fast immer ist der Kapitän das Opfer 4. Oft wird berichtet, daß er
zuschlug, daß er verletzend grob und herrisch finster war. Es ist nicht
klar, warum die "Skipper" so tyrannisch oder überheblich waren, weil
die Legende sie ganz anders vor uns hinstellt, vielleicht Schiffsjungen-
träume wiedergebend. Sie hausten in den Kapitänskajüten, oft wahren
Heiligtümern für die Schiffsbesatzung, und fühlten sich hier völlig sicher.
Doch gerade, daß sie abgelegen waren, am besten Platze, mittschiffs,
entfernt von Bug und Heck, wo die Matrosen wohnen, erleichterte den
jähen Überfall. Der Kapitän hat, wenn es sein muß, lang zu wachen.
Es ist natürlich, daß er dann am Tage schläft, allein in seinem Bau, wie
seine hohe, unnahbare Stellung es erheischt. Daß Leute der Besatzung
nachts an Deck sind, fällt nicht auf. Die Wachen wechseln wie der Mann
am Steuer. In warmen Nächten raucht und schwatzt und döst es sich
viel besser in der frischen Luft als in den überfüllten Mannschaftsräumen.
Fast immer neigt der Seemann zum Erschlagen, und dies ist eine leise Art
zu töten. Draußen dehnt sich endlos und verschwiegen die Meeresfläche.
In vielen Fällen wird der Tote über Bord geworfen. Mordwaffen folgen
nach. Auch Zeugen wird man in der gleichen Weise los. Multiple Morde
sind daher sehr häufig. Die Strafverfolgung steht vor einer einzigartigen
Schwierigkeit, die nur in Folterzeiten überwunden werden konnte. Der
Täter ist in einem kleinen, scharfbegrenzten Kreis zu suchen und ist doch
äußerst schwer zu überführen. 1912 wurde der bucklige Koch de Graff
von der Anklage freigesprochen, den Kopf des Kapitäns buchstäblich
in Stücke gehackt zu haben; außer dem Opfer waren auf dem Schiff
nur drei Mann!. Einer von ihnen war der Mörder, mußte es sein.
Die großen transatlantischen Schiffe sind schwimmende Hotels mit
Hunderten von Frauen und Männern als Bedienung und Besatzung und
vielen Hunderten von Passagieren. Wir wissen, daß viele Kriminelle sehr
beweglich sind, von einem Kontinent zum anderen reisen. Zuerst ist das
Verhältnis von Besatzung und Fahrgästen zu betrachten. Die schwere
Kriminalität ist sehr gering, wenn nicht noch in den Selbstmordfällen
einige Morde stecken sollten. Ein alter Giftmord auf dem "Toward
Castle" kommt aus Schottland 2. Im Jahre 1947 wurde eine Schau-
spielerin, die aus Kapstadt nach England zurückkehrte, von einem
Stewart getötet 3 , die Leiche durch das Kabinenfenster erster Klasse in
das Meer geworfen 4. Der Täter, James Camb mit Namen, hatte einen
unerfreulichen Ruf, was Frauen anging. Auf der Ausreise der "Durban
Castle" nach Südafrika hatte er weibliche Passagiere bei drei ver-
schiedenen Gelegenheiten angefallen 5. Aus Furcht vor einem Skandal
hatte keines dieser weiblichen Wesen gegen den Stewart Schritte unter-
nommen. Die Nacht zur Tatzeit war sehr heiß; das Schiff fuhr gerade
durch den Tropengürtel. - In einem Fall, entschieden im Oktober 1959,
wurde der Funker eines holländischen Schiffes von den Geschworenen
aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Der Dampfer war von Singapore
nach Boston unterwegs. Der Angeklagte hatte sich in eine 23jährige
junge Frau, die aus Malaya kam, verliebt. Ihr halbnackter, schwer
1 Time Magazine vom 12. Oktober 1959 und 14. März 1960.
2 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S.1-60. Leipzig 1878.
3 "Er lebte auf großem Fuße, reiste mit Dienerschaft, gab glänzende Diners,
hatte für wohltätige Zwecke stets eine offene Hand. In Dresden verkehrte er in
den besten Kreisen." Ebenda, S. 40.
4 BRANNON, W. T.: "Yellow kid" Weil, S.242. Chicago 1948.
400 Topographie der kriminellen Handlung
der Präsident gesehen sein und direkten "Kontakt" mit der Bevölkerung
zu haben wünschte. Auf diese Weise ging die unmittelbare Deckung
durch die Begleitung verloren. - Sicherheit muß häufig hinter per-
sönlichen Wünschen zurücktreten. Auf einer Ausfahrt durch den
Hydepark schoß am 10. Juni 1840 ein Geisteskranker auf Königin
Victoria und den Prinz Consort. Das Publikum stürzte sich auf den
Täter, der nach dem zweiten Schuß keine Anstalten zur Flucht machte.
Auf der Rückfahrt beschloß die Königin, die gleiche Stelle noch einmal
in ihrem Wagen zu passieren, um dem Publikum zu zeigen, daß "wir
trotz des Vorgangs nicht alles Vertrauen zu ihm verloren hatten!." Es
war eine unerschrockene, aber gefährliche Psychologie.
Die Frage, welche technische Neuerung dem Kriminellen, welche der
Strafverfolgung im großen und ganzen nützlich gewesen ist, läßt sich
dahin beantworten, daß Telefon, Telegraphie und drahtlose Verbindung
die polizeiliche Arbeit gefördert haben. Das Auto dagegen ist haupt-
sächlich dem Verbrecher zugute gekommen, hat nicht nur seine Angriffs-
und Fluchttechnik verbessert, sondern ihm neue seelische Impulse ge-
geben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß zwischen der maschinell
produzierten Geschwindigkeit und anderen psychischen Beschleuni·
gungen Verbindungen laufen, zumal wenn Pubertät, Alkohol oder Rausch-
gift die schwach gebauten Hemmungen gelockert haben. Neben anderen
Reaktionen ist die Lust am Schießen plötzlich aufgestöbert. Die Angriffs-
neigung lichtet ihre Anker. Die rasche Fortbewegung wirkt wie Kokain.
Sie füllt ein Vakuum in den Gehirnen junger Menschen, stillt ihre Ruhe-
losigkeit. Wenn sie am Steuer eines starken Wagens sitzen, sind sie dem
Erwachsenen nicht nur gleich, sie sind ihm überlegen, weil sie dem
Motor härtere Dienste abverlangen und auch abgewinnen, und weil sie
wagen, wovor er zurückschreckt. Die Lustgefühle, die die rasend schnelle
Fahrt begleiten 2, sind Nachbarn der sexuellen Sphäre, obschon die
Wissenschaft die physiologischen Fäden, die hier offensichtlich laufen,
nicht beachtet hat.
Wenn man die Autodiebstähle beiseite läßt, die manchmal klepto-
manischen Charakter tragen, so beobachtet man, daß mit dem Auto das
Leben junger Menschen einen neuen Mittelpunkt gefunden hat. Wenn
früher vor den Augen angeschwärmter Mädchen Kraftleistungen voll.
bracht wurden, ein Wettstreit, der biologisch irgendwie begründet war,
so hat sich dieses "Räderschlagen" ganz nach dem Auto hin verlagert.
Die Kurven werden möglichst scharf und schnell genommen, Wett-
1 Ein Mitglied der weiblichen Polizei, das sich mit den Sittlichkeitsproblemen
jugendlicher Autofahrer zu befassen hatte, befragte einen "Kenner" über das
Treiben eines Schulmädchens. "Er meinte, es sei schwer zu sagen. Wir fragten,
ob es näher bei zwei oder zweihundert Intimitäten läge. Er sagte, er würde es auf
lOOmal schätzen." MARTIN, J. B.: Why did they kill?, S.58. New York 1953.
2 Zum Beispiel übersteigen vom hinteren auf den Führersitz in voller Fahrt.
MARTIN: Why did they kill?, S. 51. New York 1953.
3 Der rohe Ausdruck "Schnalle" hängt mit schnell zusammen. KLUGE-GÖTZE,
S. 684. Über englische obszöne Wortbildungen mit "fast" s. PARTRIDGE, S.267
und 1044.
4 Siehe Diebstahl, Einbruch, Raub, S. 183ff.
5 O'DoNNELL: Mußten sie morden?, S. 226.
ft MATHIESEN, WILHELM: Die Wilderei und ihre Bekämpfung. Kriminalistik
1957, S.14. - Im Gebirge wird das Motorrad verwendet, das im Gebüsch ver-
borgen werden kann. Dafür muß der Transport der Beute abschnittsweise vor-
genommen werden.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 403
26*
404 Topographie der kriminellen Handlung
suche fehl, den Hochversicherten, den man zuvor mit Alkohol betäubt
hat, aus der Welt zu schaffen. Im Mordfall Mike Malloyl fand sich ein
Taxifahrer, der sich erbot, den Mann zu überfahren, wenn man ihm
800 Dollars gäbe. Ein anderer unterbot ihn, fuhr nach einem Anlauf
über ihn hinweg, doch war er nicht imstande, ihn zu töten. Malloy stand
wieder auf und rief um Hilfe. Die Ärzte staunten über so viel Lebens-
kraft, bald saß er wieder in der Kneipe. Selbst in der qualm erfüllten
Welt der Autos haben Betrunkene wie die Kinder ihren Engel.
Mit dem Mordfall Baff 1914 begann die Technik des Erschießens vom
Auto aus, das in Bewegung war 2 • Die Tötung Rathenaus kopierte dieses
neue Muster 3. Sie ist in Gangsterkreisen bis zur hohen Kunst des Tötens
ausgebildet: Terrain gewinnend schiebt sich langsam eine schwarze
Limousine vor, die prüfend einige Zeit gefolgt ist, darin vier Männer,
Hüte im Gesicht, in Schultern, Nacken Spannung und um den Mund
vorhergekostete Gewalttat. Die Schüsse knallen, wenn die Straße einsam
ist und während beide Wagen kurze Zeit auf gleicher Höhe bleiben.
Dann jagt der eine weg, der andere schwankt erst wie betrunken und
fährt dann krachend gegen Bäume, Masten, Zäune oder Häusermauern.
Zum Schutze gegen diese neuen Auto-Bravos sind Panzerwagen 4 und
auch Panzerwesten in Gebrauch.
Eine weitere Methode ist, Bomben durch den Anlasser oder die Er-
schütterung des Wagens zur Detonation zu bringen. Andere Spreng-
massen explodieren, wenn Fernlicht eingeschaltet wird, erst in gewissem
Abstand von dem Abfahrtsort. Die stärkste Wirkung kann erwartet
werden, wenn es gelingt, die Bombe an dem Sitz des Opfers anzubringen.
Die Prostituierte geht nicht mehr den Bürgersteig entlang. Sie
wartet, wo das Rotlicht kommt und geht und ihre Blicke Männer
unverdächtig locken können. Die anderen Typen fahren sich im offenen,
eleganten Wagen zur Schau und zur Beziehung, die sie zwanglos
lächelnd knüpfen 5. So wird der Wagen erste Tatortstufe, Antrieb und
der Enthüller unseres tiefsten Wesens 6 •
Garagen sind ein neuer Tatort, der oft die ganze Nacht geöffnet ist.
Der Tankwart ist zumeist allein, am Monatsersten ist die Kasse wohl-
gefüllt. Wenn Wagen in der Halle laufen, erstickt der Motor jeden Hilferuf.
Privatgaragen dienen oft zum Stelldichein. Wenn Mörder reglos warten,
ist der Fahrer schutzlos, der müde achtlos aus dem Wagen steigt und
sich auf eigenem Grunde sicher glaubt. In der Garage können schließlich
Gase töten 1, wenn der Betäubte hingesunken ist, der Motor läuft, das
Tor geschlossen ist. Der Mordbeweis ist meistens schwer zu führen 2.
d) Es entspricht der phantasiereichen, alle Möglichkeiten durch-
grübelnden Natur des Versicherungsschwindlers, in seine Pläne auch das
Flugzeug einzubauen. Eine wesentliche Hilfe leistet dabei die summa-
rische Versicherungsform : gegen Einwurf wechselnder Beträge kann die
Versicherung aus dem Automaten gezogen werden. Die Verführung zu
betrügerischen Manipulationen ist also groß. Da aber eine versicherte
Person an Bord des Flugzeugs sein und ein Todesfall eintreten muß,
sind die verschiedensten Methoden ersonnen worden. Mit dem Ver-
sicherten geht jeder zugrunde, der sich mit ihm in der Luft befindet.
Je größer die Flugzeuge werden, um so mehr nimmt die Zahl der Opfer
zu. Der Massenmord hat eine neue Form geboren.
Wenn eine Person getötet werden soll, deren man sich entledigen will,
so verbinden sich Versicherungs- und Konfliktmord zu zweifelhafter
Dualität. Der psychiatrisch untersuchte John Gilbert Graham 3,
23 Jahre alt, gestand, am 1. November 1955 in das Gepäck seiner Mutter
eine Zeitbombe eingeschmuggelt zu haben. Das Opfer wollte nach
Alaska fliegen. Das Flugzeug hatte 20 Minuten Verspätung, die 25
Dynamitstangen hätten erst über den Bergen losgehen sollen, und jeder
hätte an einen Anprall gegen einen Felsen und die darauf folgende
Explosion geglaubt. Das Gepäck hatte 37 Pfund Übergewicht. Die
Mutter wollte sparen und einige Sachen herausnehmen, der Täter
überredete sie, alles beim alten zu lassen. Aus "Versehen", wie es heißt,
weil er zu viele Münzen einwarf, nahm er statt einer Versicherung
von 6250 Dollars eine solche für 37500 Dollars. Nachdem das Flugzeug
aufgestiegen war, ging Graham in das Flugzeugrestaurant, mit Frau
und Kind zu essen. Noch ehe die Nachricht von dem Unglück eintraf,
wurde ihm schlecht, er mußte auf die Toilette gehen und sich erbrechen.
Als die Explosion bekannt wurde, weinte er bis zur Erschöpfung,
verriet sich aber eine Woche später durch auffallendes und unnötiges
Geschwätz. Er lebte mit der Mutter in einem Wechselstrom von Haß
und Liebe. Im Jahre 1955 hatte er sich sterilisieren lassen, wollte nach
der Verurteilung kein Rechtsmittel ergreifen und wurde hingerichtet.
Niemals in seinem ganzen Leben habe er sich glücklicher gefühlt, als in
dem Augenblick, in dem die Mutter mit dem Sprengstoff in die Höhe stieg.
1 Mit der Zunahme und Verfeinerung dieser Tötungstechnik muß gerechnet
werden. Ohne daß wir es wollen, tragen wir durch Verwendung von Blut- und
Atmungsgiften bei der Hinrichtung, der Cyanide, zur Popularisierung ähnlicher
Vernichtungsmittel bei. Ich kenne Todesfälle, bei denen beide Wagen liefen, die
in der fest verschlossenen Garage standen.
2 Die Opfer sind fast immer Frauen.
3 GALVIN, JAMES A. V., and JOHN MACDONALD; Psychiatrie study 0/ a mass
murderer. Am. Journal of Psychiatry 1959 (Bd. 115), S. 1057ff.
Tatorte, die sich frei im Raum bewegen 407
lag. Der Fußboden war durchgebrannt, die Leiche war nach unten in die
Feuchtigkeit gefallen. Sie war verkohlt, doch hatte sich der Kopf
erhalten mit seinen Schuß- und Schädelwunden und mit dem Stricke
um den Hals.
Beim Wasser gibt es zwei verschiedene Tötungsarten : den Sturz ins
Wasser und den Bootsunfall, schon vorgezeichnet durch die mittel-
alterliche Todesstrafe 1. Sehr häufig wird an anderem Ort getötet, die
Leiche dann dem Wasser anvertraut. In Flüssen mag sie fortgetragen
werden, je nach der Strömung oder auch dem Zufall 2 • In stillen Teichen
oder Seen muß man sie beschweren, in Säcke stecken, unter Wasser
halten oder mit Zement umkleiden, wie es die Praxis der modernen
Gangster ist.
In einer Arbeit, die manchen guten Einblick gibt, hat NEUGEBAUER
den Wassermord besprochen 3 • Er glaubt, daß gewaltsames Ertränken
eine seltene Todesart sei. Doch sagt er selbst mit Recht, daß oftmals
eine äußere Verletzung fehlt und daß ein Unfall 4 oder Selbstmord
vorgelegen haben kann, von mangelhafter Untersuchung 5 abgesehen.
Wir müssen zweüellos mit vielen unbekannten Fällen rechnen 6. Bei
schwangeren Frauen denkt man allzuleicht an Selbstmord, doch kann
der Zustand in ganz anderer Weise Mordmotiv sein.
Ertränken scheint als Tötungsart oft am Ende einer langen Reihe
von Erwägungen zu stehen: in einem Falle NEUGEBAUERS 7 will der Täter
1 Siehe FEHR, HANS: Das Recht im Bilde, S. 76 und 78, wo Ertränken von der
Brücke und vom Boot aus dargestellt ist.
2 Trotz reißender Strömung blieb im Falle Nolte (Neuer Pitaval, Bd. XXX,
S. 368ft) die Leiche am Ufer hängen.
3 NEUGEBAUER, WALTER: Mord durch Ertränken, Kriminalistik 1959, S.63ft
und 115ff.
4 Eine aus dem Wasser gezogene Frau hatte an einer Mesaortitis gelitten;
plötzlicher natürlicher Tod war demnach ganz plausibel.
5 Zu einem solchen anfänglichen Irrtum bemerkt der Neue Pitaval (Bd. XXX,
S.203) in verlegener Weise: "Der glückliche Gedankenwurf kommt aber nicht
immer ungerufen, und der vorliegende Fall ist ein recht eklatanter Beweis davon,
wie selbst ein scharfsehender Richter - denn mit einem solchen haben wir es hier
zu tun - durch den äußeren Schein eines in seinen Gesichtskreis kommenden
Gegenstandes von dessen wahrer Beschaffenheit abgeführt werden kann, besonders
wenn das getäuschte Auge noch von der dem menschlichen Charakter eigenen
Neigung, an das Dasein eines Verbrechens nur schwer zu glauben, unterstützt wird."
6 Über fälschlich von Interessierten "wiedererkannte" unbekannte Wasser-
leichen siehe HARTWIG in der Kriminalistischen Monatsschrift 1929, S. 156 und 157.
"Es ist nicht ausgeschlossen", sagt der Bericht, "daß Bornemann (der noch lebte)
die damals als Leiche gefundene Person umgebracht und mit seinen Papieren
versehen hatte, um dadurch seinen eigenen Tod vorzutäuschen." Die unbekannte
Wasserleiche war aber ohne weitere Untersuchung beerdigt worden, weil Mutter
und geschiedene Ehefrau sie mit aller Bestimmtheit rekognosziert hatten.
7 a. a. 0., S. 117.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 411
7 So verschwand der Polizeichef von San Francisco von einer Barkasse, die
ihn zu einer Besprechung gebracht hatte. Er fuhr in bester Laune ab. Als das
Boot in San Francisco ankam, war William J. Biggy nicht mehr an Bord. Eine
Woche später wurde seine Leiche aus der Bucht gefischt; sie wies keine Ver-
letzungen auf. ASBURY: Barbary Ooast, S.256. New York 1947.
8 RICHARDSON: Questionable life and accident claims, S.125. Atlanta 1937.
9 SOHULTZ: Versicherungsmord, S.57.
412 Topographie der kriminellen Handlung
Sie lernen, wie man Boote umkippt und dann wieder in die alte Lage
bringt!. Die anderen bleiben fest im Boote sitzen und wollen nur ent-
setzt herumgefahren sein, nachdem die Frau, die ihr Baby wärmer ein-
hüllen wollte, mitsamt dem Kinde über Bord gefallen war. Er steht
dann bitter schluchzend, aber trocken vor den Nachbarn, sein Körper
bebt vor Schmerz und Jammer. und alle, die ihn sehen, sind voll Mit-
gefüh12. In einem weiteren Falle 3 , der in einem Kunstwerk weiterlebt,
entführt - so sagt er - ein Windstoß ihren Hut, sie greift danach, das
Boot schlägt um. Da niemand die Geschichte glaubt, wird eine neue
Wendung aufgetischt, durch die er seiner Sache ganz besonders schadet.
Das Mädchen habe plötzlich ausgerufen, sie habe jetzt das Leben satt.
Dann sei sie über Bord gesprungen, wobei das Boot durch die Bewegung
umgeschlagen sei. Er sei zwar ein erfahrener Schwimmer, doch habe er
sie nicht gerettet, weil sie im Wasser um sich schlug und ihn die Furcht
befiel, daß sie ihn mit sich ziehen werde. Der Täter hatte schon beim
übernachten einen falschen Namen angegeben und hatte nach der Tat-
auch wieder nach dem Untergang der Sonne - die Flucht ergriffen. Er
war ein jämmerliches Exemplar der Menschheit.
Einen Menschen vom Lande her ins Wasser zu stoßen, ist mechanisch
verhältnismäßig einfach, die Schwierigkeit liegt in dem Widerstand des
Opfers. Er muß umgangen, eingeschläfert oder auch gebrochen werden.
Schlafmittel 4 spielen eine Rolle, auch Alkohol und Chloroform, dann
Würgen, das bewußtlos macht, und schließlich Fesselung, die durch einen
Frauentrick erreicht wird 6. Wehrlose kann man dann ins Wasser rollen.
Die Tötung wäre unbekannt und ungesühnt geblieben, wenn die Frau
1 NEUGEBAUER, S. 64. Während der Täter für sich ein Optimum an Sicherheit
zu erzielen sucht, soll das Opfer durch lange schwere Mäntel (Pitaval der Gegenwart,
Bd. VIII, S. 22) oder durch dicke Winterkleidung (NEUGEBAUER, S. 117) möglichst
"versenkbar" gemacht werden.
2 MINOT, S. 73.
3 MrNOT, S. 195. In einem anderen von MINOT (S. 181) berichteten Mordfall
drang die Untersuchung in die Vorgeschichte des Mannes ein. "Nicht lange zuvor
war seine Frau in 4 Fuß Wasser ertrunken, als sie mit ihm eine Kanufahrt machte.
Tucker wurde nicht unter Anklage gestellt, sie ertränkt zu haben, aber es gab
verdächtige Punkte in dem ganzen Vorgang, die niemals aufgeklärt wurden."
4 Siehe den Fall Max Gufler, St. Pölten 1958, der bisher noch nicht verhandelt ist.
5 MINOT, S. 259. - Es gibt manche andere Kunstgriffe. Im Herbst 1927 wurde
eine Dienstmagd Sonntag früh in einem Torfloch tot gefunden. "Nach eintägigen
Ermittlungen wurde das Verfahren mit der Feststellung abgeschlossen, daß der Tod
durch Ertrinken eingetreten sei. Als Motiv zum Selbstmord wurde Lebensüberdruß
der im vierten Monat schwangeren Magd angenommen" (MARQuARDT in Krimina-
listik 1957, S.103). Nach 10 Jahren kam durch eine Denunziation der Mord ans
Licht. Der Täter hatte, scheinbar um eine Abtreibung vorzunehmen, das Mädchen
neben dem Torfloch in Hockstellung gehen lassen, hatte sie mit einem Stock über
den Kopf geschlagen und in das 6 Meter tiefe Wasserloch hineingestoßen. Es war
die Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 413
nicht allzu schnell und hart auf die Versicherung gedrängt hätte. Sonst
hätte die von ihr geschriebene und auf den Hut des Opfers gesteckte
Abschiedsnote ihre Schuldigkeit getan. Die beiden hatten früher sich im
Streit getrennt: es sollte diesmal die Versöhnungsfeier werden.
Ob dem Ertränken ein Erdrosselungsakt vorangegangen ist, wird
sich gerichtsärztlich feststellen lassen. Der Gattenmörder gab in einem
Bonner Falle! an: Er habe sich mit seiner Frau wie öfters schon gezankt.
Er sei von Hause weggegangen, sie sei ihm gefolgt. Dicht an der Erft
habe sie sich ausgezogen ("die Leiche wurde nackt gefunden und die
Kleider schön zusammengelegt in ihrer Nähe"). Sie habe ihm erklärt,
sie wolle sich ertränken. Der Streit ging weiter hin und her, sie habe
auf ihn losgeschimpft. In der sich entwickelnden Schlägerei habe er
wütend seine Frau am Hals gepackt und gewürgt, bis sie bewußtlos
wurde. Jetzt habe er sie so lange mit dem Kopf unter Wasser gehalten,
bis sie tot war.
Man möchte an den gleichen Vorgang glauben, wenn man von einem
anderen Streit der Ehegatten aus dem Frühjahr 1949 liest 2. Bei einer
Flußböschung schlägt der Mann, der sich beleidigt glaubt, der schwangeren
Frau ins Gesicht, dann würgt er sie, die bereits am Boden liegt. Die
Bewußtlose wirft er in den Fluß. Sie kommt zu sich 3 und schreit um
Hilfe. Er springt ins Wasser, taucht sie unter, bis jeder Widerstand
erlahmt. Wie jener Biß bei ZOLA 4 sind die Würgespuren sein Verderben.
Trotz des Gebrauchs von Gasen, Gift und Waffen behält beim Morde
die Beziehung: stark und schwach den Vorrang. Der Mann wird eine
Frau ins Wasser werfen, nachdem er sie geschlagen oder auch erwürgt5
hat. Nur alte und vom Alkohol oder anderswie betäubte Männer können
in den Fluß geworfen werden. Ein rascher Stoß vom Steilrand führt
nicht ohne Risiko zum Ziel, weil manches Opfer sich noch retten kann,
durch Schwimmen oder flache Stellen im Gewässer. Es wird sich an die
Uferbüsche klammern, und alles mag verloren sein, wenn es nicht glückt,
den Griff zu lockern, durch Treten auf die Hände, wie es vorgekommen
ist. In einem alten Falle folgten die drei Mörderinnen ihrem Opfer, das
im Wasser kämpfte, einer andern Frau. Sie zerrten die Verzweifelte am
Zopf nach unten. Dabei fiel eine der Megären selbst ins Wasser und
schlug sich mit dem Opfer herum, das sich erbittert an ihr festhielt. Ja
das Opfer hatte noch die Kraft, an einem Punkt den steilen Uferhang
1 WATTLER, S. 87. Bonner Diss. 1951. 2 NEUGEBAUER, S. 65.
3 Wie manche Selbstmörder. 4 ZOLA, EMILE: Therese Raquin, Kap. XI.
5 In keinem Prozeß ist über Ertränkte und Ertrunkene mehr vorgetragen
worden als in dem Falle Spencer Cowper (BIRMINGHAM, GEORGE A., S.203ff.).
Neben berühmten Ärzten wurden alte Seeleute vernommen, die in zahlreichen
Schüfsunglücken und Seeschlachten Menschen hatten ertrinken sehen. Zur Zeit der
Segelschüfe wurde mehr als heute in der nassen Flut gestorben.
414 Topographie der kriminellen Handlung
stammen. Sie spielen bei der Zerstückelung mit, sie wirken beim Ins-
Wasser-Werfen weiter. Der Händler und Zuhälter Theodor Berger ver-
ging sich in Abwesenheit seiner Dirne in der leeren Wohnung an einem
8jährigen Kind, das Tür an Tür mit ihm wohnte. Die zerstückelte Leiche,
Rumpf, Kopf und Arme, wurde innerhalb von 6 Tagen aus der Spree
aufgefischtl. - Der vermißte 18 Jahre alte Obertertianer Ernst Winter
wurde in Konitz aus einem "Mönchsee" genannten Bach gezogen.
"Kopf, Hände und Beine fehlten 2." Hände und Füße wurden bald
danach, "zumeist auf Kirchhöfen" gefunden. Trotz vielfacher Ver-
haftungen und mehrerer Meineidsverfahren, die mit dem Fall zusammen-
hingen, kam es zu keiner Klärung. Sowie Morde begangen werden, die
die Bevölkerung stark erregen, melden sich Zeugen, die Männer mit
Paketen gesehen haben wollen, die Schreie gehört haben, alte verdächtige
Bemerkungen kommen ins Gedächtnis, Verdacht fällt auf gewisse
Berufe wie Metzger oder Ärzte, ungeklärte Morde tauchen auf und
werden in Verbindung mit der neuen Tat gebracht 3. Über die Unter-
suchung legen sich die Schatten einer leidenschaftlichen Anteilnahme
und aufgewühlter Urinstinkte. Es kommt hinzu, daß der Aufenthalt
im Wasser umstrittene gerichtsmedizinische Probleme aufwirft und die
Entscheidung: Ersticken oder Verbluten Schwierigkeiten bereitet.
Neben den Mediziner muß freilich auch der Kriminalpsychologe
treten. Im Fall des Gymnasiasten Winter fanden sich im Hemd des
Toten Spermaflecke. Der etwas reife Obertertianer hatte ein lockeres
Leben geführt. Erst dachte man an einen "beleidigten Vater, Gatten,
Bruder oder Bräutigam4 ," dann an die Bluttat eines Zuhälters, "da ... die
Zuhälter auf ihre Dirnen ungemein eifersüchtig sind". Doch nicht auf
Kunden ihrer Mädchen 5. Den Raubmord aber schließt Zerstückelung
als unnötige Verzögerung aus.
b) Wie der Tod im Wasser, so tritt die Lebensverkürzung durch Ab-
sturz als Mord, Selbstmord oder Krinlinalstrafe 6 auf. Tatort kann das
1 FRIEDLÄNDER,Bd. IV, S. 4ff. 2 Ebenda, Bd. III, S. 76ff.
So im Falle des Berger ein ungeklärter Breslauer und ein Charlottenburger
3
Mord, mit dem die Prostituierte ihrem Zuhälter drohte. Der Angeklagte sagte aus:
"Als wir in Breslau waren, da verkehrten wir mit einer gewissen Weiland •..
plötzlich wurde die Weiland ermordet. .. In der Hand der Ermordeten wurde ein
blonder Schnurrbart, den sie offenbar im Todeskampf dem Mörder abgerissen hat,
entdeckt. Die Liebetruth hat mir auch gedroht: Wenn du mich nicht heiratest,
dann lasse ich dich auch wegen des Breslauer Mordes ,alle' werden." Ebenda,
Bd. IV, S. 39.
4 Ebenda, Bd. III, S. 77. - Über Zerstückelung bei Tötungen in der homo-
sexuellen Sphäre siehe meine Psychologie des homophilen Mannes, S. 114, 146,
155, 160ff.
5 Gerade die "Spaltung" der Besitzgefühle ist für den Zuhälter kennzeichnend:
er leiht sein Kapital aus, daß es Zinsen bringt. Fremde Begierde ist ihm Mitgenuß.
6 Die Strafe, Bd. I, S. 330ff.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 417
gestürzte lebt noch einige Stunden weiter 1. In den drei Fällen Tour-
ville 2, Laurie 3 und Halsmann 4 scheint der Tötungsvorgang sich in
drei Stufen abgespielt zu haben: Erst wird das Opfer (Ehefrau, Wander-
kamerad, Vater) von hinten durch einen Hieb mit einem Steine an-
gegriffen. Dann folgt der Absturz. Schließlich wird tief unten der noch
Atmende erledigt. Mit Meinungsverschiedenheiten der Sachverständigen
muß gerechnet werden, verschiedene Deutungen sind nach der ver-
wickelten Sachlage verständlich. In allen Fällen, die wir kennen 5,
spielte direkt oder indirekt Gewinnsucht mit. Der Einwand, erst sei das
Opfer ausgeglitten, dann, während der Begleiter hilfesuchend forteilte,
sei ein Fremder gekommen und habe den Diebstahl ausgeführt oder
habe der bislang Untätige Uhr und Geld genommen, wird schon im
Laurie-Prozeß als "wildly improbable 6 " bezeichnet. Er steht in der Skala
der prüfenswerten und irgendwie glaubhaften Ausreden an letzter Stelle.
Im Mordverfahren gegen Laurie brachte die Verteidigung den Umstand
zur Sprache, die Schlagverletzungen seien alle auf der linken Seite
gewesen 7 • Kein rechtshändiger Mann könne diese Wunden herbeigeführt
haben, es sei aber nicht festgestellt, daß Laurie Linkshänder sei. Man
ließ die Frage unerörtert und auf sich beruhen. Bei Frau Tourville
lagen alle Hiebwunden auf der rechten Seite des Kopfes 8. Die ärztlichen
Gutachten in diesem Falle erscheinen um so schlüssiger, als sie durch
alpine Erfahrungen gestützt waren. Die Mörder, die aus ebenen Ländern
kommen, sind mit dem Lesen dieser Spuren nicht vertraut 9. Beim Sturz
in größte Tiefe kommt es auch zum Freispruch, weil Beweise mangeln 10.
Ein Nachteil für den Täter sind scharfäugige Alpinisten, die ihn ge-
troffen und beobachtet haben, und Hirten, die allein aus Langerweile
alles Neue aufmerksam beäugen. Die Einsamkeit der Berge wird zum
Tribunal, anstatt Versteck und Zeugenlosigkeit zu sein.
Steilküsten laden zum Mord an Kindern ein l l ; der Absturz mit dem
Auto ist die neueste Technik: "Sie fuhr, verlor die Herrschaft, stürzte in
1 SCHULTZ: Versicherungsmord, S.44.
2 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 61 (Bozen 1877).
3 ROUGREAD, W.: Trial 0/ J. W. Laurie. Edinburgh 1932.
4 STOOSS in Gross Archiv 1930, S. 62ft - STOOSS hielt Halsmann für unschuldig.
5 Sie müssen sich vermehren, seitdem die Bergbahnen große Menschenmengen
auf die Berge fahren.
6 ROUGREAD, S. 38. 7 Ebenda, S. 39. 8 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 123.
9 Es liegt der anatomische Beweis vor, "daß ein Sturz oder Fall absolut aus-
geschlossen ist, denn die Wunden sind alle Längswunden von querer Richtung.
Das ist bei einem Fall auf eine unebene, mit Steinen bedeckte Ebene ganz unmög-
lich". Ebenda, Bd. XIII, S. 123. Aus dem ärztlichen Gutachten.
10 Fall Treiber (1926). WIEGLER, S. 368.
11 BATAILLE: Grime8 de 1895, S.IIff. Tötung des kleinen Stiefsohns an der
Steilküste von Sorrent, zehn Jahre vor der Verhandlung. Freispruch aus Mangel
an Beweisen. Die Darstellung umfaßt 139 Seiten.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 419
die Schlucht. Ich konnte gerade noch durch einen Sprung mich retten",
erklärte James der Polizei in Colorado 1 .
Immer höher werden breite Autostraßen über unwegsames Berg-
gelände hinweggeführt, immer mehr nimmt der Wintersport zu, der von
Skilifts seinen Ausgang in die schneebedeckte Wildnis nimmt. Nicht
selten werden jetzt schon im Hochgebirge Skelette und Skelettreste
gefunden, die von Raubvögeln oder Nagetieren zerstreut und ver-
schleppt sind. Die Mahnung EDGAR WITZMANNs 2 ist daher wohl-
begründet, alle die Bergunfälle mit kritischen Augen anzusehen, "bei
denen von zwei Partnern nur der eine heil vom Berge kommt und be-
hauptet, sein Partner sei tödlich verunglückt", besonders bei Ehepaaren,
Verlobten, Verliebten, Eltern und Kindern, Geschwistern und Ge-
schäftspartnern, wobei, so kann man hinzufügen, den Versicherungs-
verhältnissen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Der Verdacht
WITZMANNS ist berechtigt, daß manche ungeklärte Vorgänge unter den
zunehmenden "Bergunfällen" auf einen Mord hinweisen.
In einer Serie ausgeklügelter, aber wieder aufgegebener Mordpläne
scheint Absturz wie der Stoß ins Wasser an letzter Stelle zu stehen. Im
Falle des Karl Payrleithner waren zuerst Vorbereitungen getroffen
worden, das versicherte Opfer durch Leuchtgas zu vergiften oder durch
einen Komplicen erschießen zu lassen. Ein Selbstmord sollte vorge-
täuscht werden. Am Ende entschloß man sich zu dem "kleinen Rucker13."
Daß die Tat meistens auf dem Rückweg stattfindet, wird dadurch
erklärlich, daß der Täter bis zum letzten Abschnitt der Alpenreise oder
der Bergwanderung zögert, weil seine Hemmung noch nicht völlig über-
wunden ist 4 • Erst wenn die beiden müde sind, die nahe Hütte winkt, die
letzte Möglichkeit sich drängend auf den Tötungsvorsatz legt, erfolgt die
Tat. Besondere Freundlichkeit nimmt Opfern jeden Argwohn. Ein
Zeuge sah Tourville und seine Frau die Stilfserjochstraße herabkommen.
Sie waren auf dem Rückweg. "Soviel ich mich erinnere, waren beide
eingehängt." Sehr bald darauf geschah die Untat.
c) Die Sprache bringt uns psychologisch der Natur des Waldes näher,
denn er bedeutet wüst und wild 5, pfadlos und einsam. Der Fremde, den
1 Los Angeles murders, S. 182. - Zwei andere "cliff-murders" (Steilufermorde)
sind in der Associated Press vom 24. Juli 1959 aus Kalifornien und von der Londo-
ner Daily Mai! vom 22. Oktober 1958 aus Cornwall, England, berichtet. In beiden
Fällen wurde der Versuch gemacht, die abgestürzten Frauen noch durch Hiebe mit
einem Stein zu erledigen.
2 Verbrechen in den Bergen, Kriminalistik, S.374, 1959.
3 SCHULTZ, S. 55.
4 Neuer Pitaval, Bd. XIII, S. 99. - Der Kutscher, der das Paar hinaufgefahren
hatte, sagte aus: " ... die Frau war fröhlich, hübsch und liebenswürdig, der Herr ...
gegen sie sehr aufmerksam." Ebenda, S. 98.
5 KLUGE-GÖTZE, S. 851.
27*
420 Topographie der kriminellen Handlung
wir fürchten müssen, kommt aus dem dichten dunklen Wald!, der, wie
der Schwarzwald und der Böhmerwald, durch die Erhebung doppelt
schauerlich und öde wird und wo auch Schillers Räuber hausen. Busch
und Gestrüpp verdunkeln jeden unberührten Forst. Die Römer litprachen
von dem animus silvestris, wenn sie an alte ungebrochene Wildheit bei
den Menschen dachten. Es ist nicht Zufall, daß so viele Geisteskranke
von dieser Vorwelt angezogen werden und ihre letzte Hemmung in dem
Schweigen dieses Wildnisrestes wankt 2. Bei einem Lustmord heißt es
von dem Täter: " ... dort fallen sein scheues Wesen, seine Schlaflosigkeit
und Unruhe bei Nacht sowie seine Vorliebe für den einsamen Aufenthalt
an Sonntagen und freien Abenden im Walde auf3." Wenn dieser Mensch
im Forst ein Opfer fand, umkreiste er es schleichend, bis er seine Züge
sehen konnte.
Nach dem Glauben des Veda ist der Wald beseelt, vor allem die
großen Bäume, die "Waldherren". Die Einsamkeit des Waldes hat ihre
Laute, deren Heimlichkeit und Grauen den verirrten Wanderer umgibt 4.
"Hier hausen die verkörperten Gefahren, Riesen, \Vildleute", wie sie
heute noch in alten schweizerischen Faschingsmasken weiterleben. "Es
sind die in den Wald hineinverlegten schadenstiftenden Dämonen." Hier
hat ein menschenfressender Waldgeist sich ein Menschenweib geraubt
"und lebt mit ihr in seiner Höhle 5 ." In die Gesellschaft böser Geister,
die ihm viel schlimmer als die Menschen nach dem Leben trachten,
führt auch der Bann, der den Leib "den Tieren in den Wäldern, den
Vögeln in den Lüften, den Fischen in den Wogen" zuwies 6 • Aus der
Einöde, Berg und Wald kommen die Krankheitsgeister oder die Pfeile
des Fiebers in die \Vohnungen der Menschen 7 • Auch in der deutschen
Mythologie ist der höchste der Götter noch ein ungeheurer Waldmensch.
"In Mitteldeutschland erscheint Wotan als ein gefürchtetes Wald-
gespenst (Hoimann, Waldmann) riesig, mit breitem Hut und statt des
Haares und Bartes mit Moos und Flechten bewachsen 8."
An keiner Stelle treten der Mythos und die Wirklichkeit des Waldes
eindringlicher entgegen als in den Haus- und Kindermärchen der
Brüder Grimm. Fast alle tragischen Verwicklungen, alle wunderbaren
und zauberischen Vorgänge spielen sich im Forst ab. Er ist dunkel, wild
und unermeßlich groß. Hänsel und Gretel gehen "die ganze Nacht und
noch einen Tag von Morgen bis Abend", aber sie kommen aus dem Wald
Aberglauben Mädchen raubt 1, vor dem sie bangen und auf den sie
hoffen. In der griechischen und römischen Sage nahen die Götter
irdischen Mädchen in Hainen um die Mittagsstunde, wenn die Sonne
vom Himmel niederbrennt und Mattigkeit die Menschen überkommen
hat. In dieser Stunde der Liebe locken Schatten, die Kühle des Mooses,
das Dunkel der Grotte. Jupiter redet der Königstochter 10 zu, sie
solle mit ihm "zum waldigen Versteck der Tiere" kommen. "Unter
göttlichem Schutz", sagt er, "wirst du das Geheimnis des Waldes
erfahren" ("nemorum secreta subibis 2 "). - Ein andermal sieht der
Vater der Götter die schöne Jungfrau Callisto, die sich in einem Hain zur
Mittagszeit zur Ruhe legt 3. Drei Dinge verheißen Erfolg: der dichte Wald,
ihre Erschöpfung und ihre Schutzlosigkeit. Zynisch spricht er es aus:
"Den Streich wird gewiß nicht die Gattin erfahren,
Und hört sie davon, so lohnt es, so lohnt es den Hader."
Er nimmt die Gestalt der Diana an und gibt ihr allzu feurige Küsse
("oscula nec moderata"). Dann überwältigt er die verzweifelt Wider-
strebende und steigt "als Sieger" zum Himmel. Sie bleibt zurück im
"verhaßten Gehölz unter wissenden Bäumen".
Der Wald ist heute noch die Stätte der Notzucht 4, der Kinder-
schändung 5, exhibitionistischer AkteS und homosexueller Exzesse 7•
Sehr bedeutend muß die Anzahl der Fälle sein, die nicht zur Anzeige
kommen. Der sommerliche Wald war der größte aller Liebesnester,
bevor das Auto ihm den Rang ablief, das immer noch die Waldesnähe
sucht. Urelemente regen tiefste Triebe an, vor allem wenn im Frühling
alle Säfte steigen und Menschenregeln 8 ferne sind.
Die Statistiken sprechen vom Wald oder Waldweg, ohne auf Einzel-
heiten einzugehen. Wenn der Hochwald, beim Morde z. B., nur selten
als Tatort auftritt, so mag diese Tatsache auf die seltenere Entdeckung
zurückzuführen sein. Troppmann wollte seinen Freund Jean Kinck in
den Vogesen mit Blausäure vergiftet haben, die er einem Schluck Wein
beimischte. Die Leiche sollte im Bergwald unter einer großen Buche
begraben sein. Die Stelle wurde von ihm sehr genau beschrieben. "Ob-
gleich sie ihm wenig Glauben schenkten, ordneten die Behörden die
WUTTKE, S. 47.
1 2 OVID: Met. 1,594. 3 OVID: Met. II, 453ft
SCHULZ, G., S. 54. Wald und Waldwege stehen an dritter Stelle der Tatorte.
4
5 IRNIG, S. 14; WESSEL, S. 16; VIERNSTEIN und ich trafen in unseren Unter-
suchungen über den Inzest auf 4 Fälle von Wald als Tatort (S. 203).
6 BENKERT, S. 129. - Eine kaum zu schätzende Anzahl von Fällen kommt nicht
zur polizeilichen Kenntnis. Selbst gröbliche Belästigungen werden zwar privatim
erörtert, aber nicht angezeigt.
7 LANG, FRITZ, S. 40. Von 143 Fällen, die sich im Freien abspielten, entfielen
35% auf den Wald.
S In Gestalt der "lover's lanes" hat sich in den Vereinigten Staaten sogar eine
Art halbgeduldeter Tradition der Liebeshandelplätze ausgebildet.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 423
wird l . Das Mädchen hat dann alles bei sich, was ihr Besitztum ist, dazu
noch häufig die Ersparnis ihrer Unberührtheit. Ins Waldesdickicht
kann ein homophiles Abenteuer einen Mann verleiten, den man ver-
anlaßt hat, für andere Zwecke (Kaution) Gelder mitzunehmen 2 • Gerade
die Unheimlichkeit der Umgebung läßt Mädchen oft im letzten Augen-
blick flüchten 3 • Wenn das Opfer ein Mann ist, kann es zum Widerstand
und zur erheblichen Verwundung des Täters kommen 4. Der lange
Marsch durch den Forst macht viele Opfer durstig; der Trank kann
dann mit Gift versetzt sein, erst kommt ein Schluck von reinem Schnaps,
ein wenig später in der Waldeinsamkeit das Gift 5. Vor ihrem Gelde wird
dem schwer betäubten Mädchen noch die Unschuld abgenommen.
Die kleinen Abkürzungswege 6 , von denen wieder halbverwachsene
Seitenpfade 7 ausgehen, sind in den meisten Fällen Tatort. Warum der
Täter oft den Waldrand wählt 8 , verdiente näher untersucht zu werden.
Vielleicht läßt sich das Opfer nicht ins Innere eines Waldes leiten, weil
1 "Er führte sie nun im Walde herum, sagte, es sei zu spät, sie müßten im Walde
übernachten" (Fall des Franz Schneider, Wien). Pitaval der Gegenwart, Bd. VII,
S.204. - "Es war bereits Nacht. Der Fremde nahm nun den Koffer auf seine
Schultern und sagte der Pichon, sie möchte ihm nur folgen, er werde sie, um sie
eher zu ihrem Bestimmungsort zu bringen, auf Fußwegen führen." Neuer Pitaval,
Bd. XXX, S. 78 (Fall Dumollard, Lyon).
2 So in dem unklaren Fall Senger (Berlin), der seinen "Freund" mitten im
Walde erschoß und beraubte. Um zu begründen, daß er eine größere Summe nach
der Tat in Besitz hatte, brachte er eine eigenartige Ausrede vor. Das Geld stelle
das Entgelt für homosexuellen Verkehr mit einem "Kar! Sommer" dar, der aber
nirgends aufzufinden war. Pitaval der Gegenwart, Bd. VIII, S. 54.
3 Ohne diese mißglückten Versuche würden wir die Technik gar nicht kennen.
4 FRIEDLÄNDER, Bd. IX, S. 160 (Fall Schenk, Wien). 5 Ebenda, S.166, 168.
6 Lenzbauer kam mit seinem Bruder die Landstraße entlang, "blieb jedoch
nicht auf der ordentlichen Straße, sondern schlug einen Fußweg ... ein". Dann
änderte er plötzlich seine Richtung. "Er führte seinen Bruder seitwärts auf einen
sehr schmalen Pfad." FEUERBACH, Bd. I, S. 50. - "Sie kamen zu einer Kapelle,
wo er (Franz Schneider) sie beten ließ, führte sie dann tiefer in den Wald und
zweigte vom Wege ab, indem er sagte, er kürze diesen nur gegen die Villa der
Baronin, die ganz in der Nähe sei, ab." Pitaval der Gegenwart, Bd. VII, S. 206.
7 "Geht man von Crawinkel auf der Chaussee entlang, so passiert man, bevor
man den Wald betritt, zwei Kienrußhütten; an der zweiten, dem Walde näher
gelegenen, biegt rechts durch den mit Gebüsch untermengten Kiefernbestand ein
Fußweg ab, der einen Bogen der Chaussee abschneidet... Dieser sogenannte
Marktweg wird wiederum von einem anderen Fußweg durchschnitten, der übrigens
seit längerer Zeit ungangbar geworden und vielfach durch Buschwerk verwachsen
ist." Neuer Pitaval, Bd. VI, S. 211.
8 "Dicht am Waldrand" geschah der Mord an der Maria Hahn durch Kürten.
STEINER-GAY, S. 57. - Von 6 Morden, die sich im Hartholz bei München in der
letzten Zeit ereigneten, lagen 5 mehr oder weniger dicht am Waldrand. - Ich lese
in Brehms Tierleben (Bd. I, 486, Leipzig 1892) vom Puma: "In baumreichen
Gegenden zieht er den Wald dem freien Felde entschieden vor; am meisten aber
liebt er den Saum der Wälder."
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 425
1 Neuer Pitaval, Bd. IV, S.356; WATTLER, S. 111; MEIXNER, FRANz: Der
Indizienbeweis, S. 34. Heidelberg 1952.
2 Siehe den Fall Dr. Müller. Eigene Aussage: "In der letzten Kurve vor dem
Brandort habe er im Scheinwerferlicht einen Igel über die Straße laufen sehen."
BACHMANN in Kriminalistik 1958, S. 14.
3 BJERRE, ANDREAS: Zur Psychologie des Mörders, S.69. Heidelberg 1925.
4 Braunschweig 6 Ks 1/40.
5 WEHNER, BERND: Die Latenz der Straftaten, S. 22, 23. Wiesbaden 1957.
6 WOSNIK, Bd. II, 3, S. 176. Spielende Kinder finden im dichten Kiefernholz
einen Schädel.
426 Topographie der kriminellen Handlung
blickt nach vorn, denkt an das Ziel, das man auf schnellstem Weg er-
reichen will. - Der Park ist auch in vieler Hinsicht an den Platz des
WaIds getreten. Zumal zur Nachtzeit regt es sich im Central Park in
New York, im Londoner Hydeparkl, im Bois de Boulogne. Wenn man
maskiert ist und der Abend dunkel ist, kann man die Schwiegermutter
selbst auf der Promenade eines Kurorts töten 2. Im Essener Stadtwald
wurde 1906 eine Engländerin erschlagen. Die Leiche, deren Schädel
zertrümmert war, wurde im hohen Farnkraut von einer alten Holz-
sammlerin 3 gefunden. Golfplätze, dicht mit Busch bestanden und nachts
verlassen, sind in Amerika Tatort von Lustmorden gewesen 4 • Die Ufer-
weiden an den großen Flüssen bilden eine Art von Wald. Hier ist zu
allen Zeiten Mord begangen worden 5. Zuweilen bleibt es beim Versuche 6,
wenn sich das Mädchen wehrt und Menschen rettend in der Nähe sind 7.
d) Der Tatort ist weit mehr als bloße physische Gegebenheit, in deren
Umkreis Täter handeln oder bei der Unterlassung handeln sollten. Er
ist Kontaktpunkt menschlicher Verflochtenheiten; das eine Element
greift an und nimmt, das andere wird angefallen, büßt Geld und Gut,
Gesundheit, Unberührtheit, Leben ein. Daß diese Kräfte aufeinander-
treffen, kann viele Gründe haben. Nur dadurch, daß das Opfer sich
erfolgreich wehrt, entfällt ein Tatort, vom Versuche abgesehen. Schon
dadurch, daß ein Opfer seine Absicht wechselt, verschwindet für den
Richter ein Begehungsort. In einem Mordprozeß behauptete der Zu-
hälter Berger: Die Prostituierte, mit der er in einem Zimmer wohnte,
habe ihn mindestens dreißigmal wegen Zuhälterei angezeigt. "Als ich
1898 angeklagt war, da hat die Liebetruth beschworen, daß alle ihre
Angaben unwahr seien. Ich wurde deshalb freigesprochen 8 ."
einem Feind verstecken könnten, damit die Not sie nicht mehr finden
könnte. Hier kann die Spannung, die aus anderen Quellen fließt, sich
bis zum Bruchpunkt steigern, durch unerwartete Begegnung einen
Zufalls-Tatort produzieren. Der Mörder Dittrich war 1900 aus der
Irrenanstalt entlassen worden. In Berlin zu bleiben, wo er vielleicht
hätte Arbeit und Frauen finden können, wurde polizeilich untersagt.
"Hungernd und obdachlos irrte ich in Berlin und Umgebung umher,
dabei steigerte sich meine Erregung immer mehr!." Ziellos, vielleicht
nur scheinbar ziellos, läuft er in den Wäldern bei Berlin umher. Dichtes
Gebüsch bedeckt den Fuß der Fichten. Von hier aus sah er plötzlich
einige Schritte entfernt von sich eine Frau, welche einen Handwagen
führte.
"Was sich auf diesem Wagen befand, weiß ich nicht mehr. Nur so viel weiß ich
mich zu erinnern, daß ich, meiner plötzlich erwachten Leidenschaft nachgebend,
mich ihr schnell näherte und sie zum Beischlafe aufforderte. Nach anfänglichem
Sträuben willigte sie ein und bog mit dem Wagen in einen Seitenweg. An einem
passenden Platze hielt sie selbst an und bot mir Kaffee und Brot zu essen, wobei
sie ein Messer aus der Tasche nahm und damit das Brot zu schneiden begann."
Mit diesem Messer, das ihn anzieht wie Willigkeit des Opfers, abgelegene Stelle,
Möglichkeit der Flucht, wird wie im Anfall jetzt der Mord verübt.
So tot und leblos auch die bloße Tatkulisse scheint, so ist sie doch
Kriterium vieler Elemente, die der Verfolgung und Entdeckung dienlich
sind, obschon die Welt der Technik sie vertilgen möchte 2. Die W ald-
bestände an der Autobahn geben neue Rätsel auf 3 , gewähren durch den
Wagen und den Fahrer neue Hilfe, nicht immer von der Dichte des
Verkehrs verwischt. Hier wandelt sich der Tatort zum Symptom des
Täters und zum Indiz des Tatkomplexes, in den die Opferhaltung als
kausaler Faden eingewoben ist. Der Tatort wird zur Mitbedingung vieler
krimineller Krisen. Wenn er sich nicht der angebotenen, bislang unter-
drückten Neigung dargeboten hätte, so wäre das Verbrechen nicht
geschehen. Der Tatort lockt als Handlung oft aus der Latenz heraus,
was zögernd vor dem Tor zurückgehaltener Bewegung stand.
Der Tatort wandert wie der Luftdruck und nimmt an jeder Wendung
des Gemeinschaftslebens teil, an Menschenleere und dem Schutz ge-
drängter Massen, an dem Ersatz der Menschenkraft durch Automaten,
am Lärm, mit dem wir unser Ohr betäuben und der den Hilferuf erstickt.
Auch die Zerbröckelung des Familienlebens sondert ab und wird zu
einer schwachen Seite. Maschinen machen all die kleinen Gruppen über-
flüssig, die Hausgenossen waren, durch ihr bloßes Dasein den Verbrecher
warnten. Die Kriminalgeschichte weist nur auf die negative Seite hin,
wenn Diener oder Dienerinnen einen Mord begingen. Viel öfter kommt
es vor, daß mit der Herrin auch die Magd ermordet wird \ Haushälte-
rinnen sterben mußten, weil sie einem angegriffenen Pfarrer helfen
wollten 2, der Zeuge aber nicht am Leben bleiben darf. Das sind die
lauten Fälle der Zusammenstöße. Zahllose Male schreckt das Beisein
eines anderen Menschen still und wirksam ab.
Mit der modernen Wohnung fällt die stumme Hilfeleistung weg, die
uns ein zweiter Mensch bislang gegeben hatte, auch wenn er nicht
Familienmitglied war. Das Einzelhaus, die vielgerühmte Technik,
machen uns verletzlich. Sie sind dabei, uns psychologisch abzustumpfen,
weil uns der Umgang mit Maschinen auch die Menschenkenntnis nimmt.
Wir passen uns das Leben an und brauchen uns nicht anzupassen. Wir
rufen irgendeine Störungsstelle an, die gegen Geld uns den Verdruß
beseitigt, verlangen, wenn Gefahr droht, nach der Polizei. Wir sind
versichert, kaufen uns die Vorsicht ab und dulden, daß die Schutz-
instinkte immer mehr erlahmen. Dabei kann uns die Technik nur be-
dingt bewahren und ist mit einem Handgriff außer Kraft gesetzt. Beim
Bankraub wird die Leitung durchgeschnitten, wenn sie nicht vorher
schon von außen unterbrochen isP. Bei vielen Morden junger Frauen
liegt das Telefon am Boden 4; der Täter ließ der toten Technik keine Zeit,
auf ihre sehr beschränkte Art zu funktionieren. Der Gangster hat es
lange schon herausgefunden, daß Menschen bessere Beschützer sind als
kugelsichere Westen oder Panzerautos. Leibwächter gibt es seit dem
Anfang der Geschichte.
Tatort und Technik gehen Hand in Hand. Man konnte in Amerika
die Klage hören, daß Schüsse von Beamten, die verhaften wollen, auch
Passanten treffen. Man fragte, was der Grund sei, nicht im Hause fest-
zunehmen. Im Hause liegt der Vorteil auf der Seite des Verbrechers;
er kann zuerst und aus der Deckung schießen 5 . Wenn er den Bau ver-
läßt, kann man ihn überraschen und in eine Falle stolpern lassen. Mit
Tränengas kann man ihn auf die Straße treiben.
Vom Tatort läßt das Zeitmoment sich oft nicht trennen. Chamä-
leonartig fließt dem Tatort ganz verschiedene Wertbestimmung zu, nach
Tag und Nacht, dem Lauf der Jahreszeiten, nach Festtag und nach
1 MAYEN, MAURICE: Don-Juan assassin (L'affaire Pranzini), S. 11. Paris 1950.
2 BATAILLE: Causes criminelles de 1891, S. 304 und 305.
3 WILSON, HERBERT E.: I stole 16000000 Dollars, S. 53 und 79, wo die Technik
des "VernageIns" (spiking) beschrieben ist.
4 MrNOT, S. 207. Fall der Luxus-Prostituierten Dot King.
5 PURVIS: American agent, S.160, 161. - Das Tränengas hat nach PURVIS,
einem FBI-Beamten, "Jäger und Wild" endlich auf die gleiche Sicherheitsstufe
gestellt.
430 Topographie der kriminellen Handlung
Wochentag. Noch laufen Polizei und auch Gerichte dem alten Rhythmus
nach, bei dem die Tätigkeit mit langer Ruhepause wechselt. Doch wie
das Raubtier, sieht der Kriminelle in der Dunkelheit den Freund, ver-
legt der Glaube aller Völker doch das Treiben aller bösen Mächte auf
die Nacht!. Gleichzeitig hat die Großstadt in der Finsternis hilfsweise
Lebensformen aufgebaut, in denen schlecht gebändigte Instinkte sich
vom Zwang befreien, Kontrolle nachläßt und die Dunkelheit ermutigt. -
Bei Tage strömen Gäste, Kellner, Pagen durch den Vorraum der Hotels.
Am Eingang steht ein stämmiger Pförtner, und Taxis parken vor der
Türe. Der Nachtportier hat wenig Hilfe. Um 2.30 morgens klingelt ihn
ein Gast heraus und möchte gern ein Zimmer haben. Sowie er drinnen
ist, verlangt er nach der Kasse 2, und sein Revolver gibt dem Wunsche
Nachdruck.
Im Tunneltreiben unterirdischer Bahnen verflechten sich aufs engste
Kräfte von Zeit und Raum zu einem dichten Knäuel des Geschehens.
Die Züge laufen Tag und Nacht, sind je nach Tagesstunden voll-
gestopft und völlig leer. Der Betrieb ist so weit automatisiert, daß sich
auf jeder Station nur noch eine einzige Person befindet, die größeres
Geld in kleine Münze wechselt. Es hat sich eine eigene, bedeutende
Kriminalität entwickelt 3, die auf der Aufsichtslosigkeit, der späten
Nachtzeit und der Isolierung tief unter dem Straßenleben beruht, das
Tag und Nacht in langem Strom darüber hinwegbraust, indessen in dem
Tunnel Züge nur in Intervallen kommen und in den Pausen alles leer
ist. An Stelle der Mechanik, die nichts hört und sieht, will man jetzt
wieder Wächter treten lassen. Der Tatort "Untergrundbahn" soll bei
Nacht verschwinden .. Mit den Delikten des Gedränges in den Tages-
stunden hat man schon genug zu tun. Je nach dem Lauf der Sonne
ist Nähe Schutz, ist sie Gefahr, und für den Abstand und die Menschen-
leere gilt das gleiche.
Ganz ohne Zweifel läßt sich vom beruflichen Tatort sprechen, beim
Arzt, beim Schutzmann, Förster, Kaminkehrer 4 oder Jugendführer 5 •
Dampfbäder, Campingplätze, Sonnenbäder sind wohlbekannte Orte der
Verleitung, wie Heizungskessel 6 , Bäcker- oder Ziegelöfen, ja große
Mischmaschinen 7 dazu laden, die Opfer eines Mordes spurlos zu ver-
FERR, HANS: Das Recht in den Sagen der Schweiz, S. 60. Frauemeld 1955.
1
BOWEN, C.: They went wrang, S. Hf., beschreibt einen solchen Überfall.
2
3 Genaue, auch statistische Angaben macht nach amtlichen Angaben GEORGE
CARPOZI in True detective, Juniheft 1960, S. 39--41 und 64-67.
4 Siehe den Brandstifter bei MERGEN: Kriminalität der Geisteskranken, S. lOO.
5 Angaben bei KUHN, S. 51. 6 RICE, CRAIG: 45 murders, S. 135ff.
7 BERGER, MEYER: The eight million, S. 261. New York 1942. Es ist Gangster-
technik. "Harry Weston", schreibt BERGER, "wurde damit - und ist noch heute-
Bestandteil der Kingston Autostraße im oberen N ew Y ork." Eine ähnliche
Methode beschreibt SCHILLER im Gang nach dem Eisenhammer.
Natur als Tatort: Wasser, Berge, Wald 431
nichten. In vielen Fällen ist eine Verschmelzung von Beruf und Tatort
zu beobachten. Leichenbestattern, einem in Amerika hoch entwickelten
Beruf, fällt es nicht schwer, mit den Problemen eines Menschenkörpers
fertig zu werden 1, vom Tötungsfall bis zum Begräbnis. In alter Zeit war
es der Totengräber 2 •
Der "gestreckte" Tatort 3, der dogmatisch dem Distanzdelikt ent-
spricht, wirft für die Kriminalwissenschaft erweiterte Probleme auf. So,
wie wir heute in die Ferne hören können, so werden wir bald in die
Ferne sehen. Vom Tatbestandsmerkmal der Öffentlichkeit abgesehen
(§ 183 StGB), wird dann der ärgerniserregende Eindruck einem be-
liebigen Objekte zugeleitet werden können, drohende Gesten werden ein
"empfindliches Übel" anzudeuten imstande sein (§253 StGB) und andere
Tatbestände verwirklichen, die bei rein sprachlicher oder schriftlicher
Übermittlung zweideutig bleiben könnten. Einzelne sonderbare, aber
sensible Autoren haben die extreme Wirkung bloßer Worte bei Fern-
sprechpartnern schon erfahren und geschildert. Es handelt sich um ein
Gespräch am Telefon. Ein Diplomat kann die Geliebte nicht erreichen,
weil Krieg ist und er seine Wohnung nicht verlassen kann. Die Worte,
die sie wechseln, während draußen die Alliierten in Paris einmarschieren,
waren "ebenso liebkosend wie Liebkosungen, wollüstig wie ein echter
Akt der Wollust 4 ." Optische Reize, später einmal übertragen, sind
größerer Erregungsantrieb für den Durchschnittsmenschen. Die Sphäre,
über der das Strafrecht waltet (Unzucht, unzüchtige Handlung §§ 174,2,
175a; 176 I, 3; 183 StGB), ist damit am Rand betreten.
Neben der äußeren Struktur des Tatorts und seinen Anziehungs-
kräften, die schon in der Benennung antriebfördernd sind 5, steht ganz
zum Schluß der Mensch, der leidet, marschiert das Opfer auf mit allen
seinen Schwächen. Normale Abwehr ist herabgesetzt. Entwaffnet steht
der Mensch dem Angriff gegenüber, beim Schlafen, Essen, Trinken, Baden
und in vielen anderen Stunden des Alleinseins 6. Entwaffnet ist der
Mensch im Rausch der Liebe. Wehrlos sind Trinker, Rauschgiftkranke
1 Zur Problematik zählt auch die Rückkehr zum Tatort. Den Versuch einer
Klärung habe ich in der Robert-Gault-Festschrift Essays in crirninalscience, S. 53 ff. ,
New York 1961, unternommen, doch läßt sich sehr viel mehr darüber sagen.
2 Neuer Pitaval, Bd. XI, S. 222. Leipzig 1883. "Es zog mich mit magnetischer
Gewalt hin zu dem Messer. Ich ergriff es, aber Gott weiß, ich wollte der Schläferin
nichts anhaben. Und dennoch erhob ich den Arm und stieß (zu)."
3 Rücker, ein jugendlicher Eisenbahnmörder, hatte in sein Tagebuch ge-
schrieben: "Um einen Betrug zu begehen, fehlt mir der Mut, dagegen könnte ich es
fertigbringen, zur Stillung meines Hungers einen Menschen zu ermorden und zu
berauben." FRIEDLÄ.NDER, Bd. I, S. 10 und 11.
4 Von einem Mann, der auf seinem Rade nach der Arbeit heimwärts fuhr, wird
mitgeteilt: "Durch das Fahren wurde er geschlechtlich erregt." BECK, WOLFGANG :
Die Delikte des § 183 StGB irn Landgerichtsbezirk Arnsberg in den Jahren 1946-1956,
S. 50, Bonner Diss. 1960.
Autorenverzeichnis
Abbott, E. 298, 316, 320 Benney, M. 41, 72, 172, Bredon, J., u. J. Mitro-
Adler, P. 21, 87, 389, 390 342,408,426 phanow 160, 178, 335
Aeschines 125 Bentley, W. G. 189 Brinks, T. van den 276
Aeschylos 368 Benz, C. A. 165 Bruce, A. A., u. T. S. Fitz-
Ahlert 99 Bercovici, }(. 317 gerald 16, 110
~a,}(.v.26.27 Berg, K 62, 121, 138, 167, Buckingham, J. S. 305
Apperson, G. L. 147, 154, 379 Bürger, E. 64
179 Berg, L. 122 Bumm 95
Aristophanes 125 Berger u. Meyer 430 Bunzel, B. s. Dublin, L. J.
Asbury, H. 215, 236, 315, Berthold, W. 32 147,206
316, 391, 411 Beveridge, P. 30, 138, 153, Burckhardt, J. 50, 376, 377
Asch, 8.307 160, 165, 228, 292 Burgdärfer 95
Aschaffenburg 146, 147,149, Bierstadt, E. H. 49 Burgess, E. W. 280
150, 185, 200, 201, 206, Billard, A. 10, 29 -, u. H. J. Locke 264
207, 209, 210, 213, 255, Bird, C. s. Ayers, J. R. 153 Burgmans 148
271, 276, 308 Birmingham, G. A. 130, 365, Burt,C.172,184,390
Ayers, J. R., u. C. Bird 153 413 Byloff, F. 58, 77, 211, 212
Bismarck, O. v. 135
Bachmann 425 Bjerre, A. 31, 99, 247, 372,
373,425 Callahan,J. 156,173
Bader, K S. 99, 251, 332, Cameron, J. s. }(eeton,
337, 348, 373, 375 Black, J. 87, 90, 140, 166,
G. W. 123, 397
182,219
Bancroft 215, 315 Camps, F. E. 33, 367
Barnes u. Teeters 96, 183 Blei, A. 86
Caprio,F.8.216,370,389
Barrere, A. 315 Block, E. B. 344, 382, 393,
Carpozi, G.430
Barret, C. 6, 332 400,404
Carswell, D. 385
Bartmann, F. 137 Bluehm, H. 123 Caruso, F., u. M. Mac}(aye
Bataille, A. 96, 114, 193, Blundell, R. H., u. G. H. 133
229, 242, 291, 341, 360, Wilson 415
Casper 414
372, 373, 374, 376, 378, Bocaccio 358 Cassellari, R. 344
385, 393, 400, 417, 418, Bodio 201 Cassius Dion 396
429 Bolitho, W. 62, 119, 216, Cavan, R. 8. 268, 269, 281,
Baumsteiger, W. 346 221,343,369,423 307, 308, 322
Bayer, O. W. 33, 35, 292, Borchard, E. M. 79, 130, Champion, S. G. 132
362 131,132 Chancy, L. W. 165
Beck, W. 107, 432 Botkin, B. A. 53, 158, 393 Chessman, C. 390, 401
Bedford, S. 38, 59 Bowen, C. 43, 220, 293, 370, Chrestien, M. 18,57,361
Belbenoit, R. 371, 372 430 Cicero 13, 43
Beling, E. 110,208 Bowen, L. H. 323 Cise, P. S. van 89
Bembe, H. 157 Bowman, J. C. 252, 254, Claghorn, }(.H. 307, 311
Bemmelen, J. M. van 149, 256, 279 Clark, C. L., u. E. E. Eu-
150, 262, 263, 270, 271, Brandenburg, G. 97, 98, bank 81
294 352,365,370,376,391 Clark, G. 213, 398
Benkert, H. H. 354, 370, Brannon, W. T. 48, 92, 399 Cleric, G. F. v. 47
376, 379, 422 Braun, H. 83 Cohen, A. 314
v. Hentig, Das Verbrechen I 28
434 Autorenverzeichnis
Hentig, H. v. 7, 15, 19,25, Jacobs 337, 380, 388, 394, Lamson, D. 164, 183, 369,
29,37,44,56,69,72,79, 395 387
81,89,92, 101, 108, 109, Jacquart, C. 268, 269 Lamson, G. L. 303
115, 116, 117,118, 136, Jagow, K. 401 Landau, M. 1
139, 141, 144, 148, 181, Jakobs, R. 329 Lang,F.170,171,190,354,
186, 196, 201,203, 225, James, H. 319 373, 376, 403, 422
227, 231, 238, 241, 259, Jenkms, E. 345, 375 Langemann 67, 396, 400,
274, 279, 283, 289, 296, Jesse, F. T. 61, 362, 385 405
318, 322, 358, 370, 371, Jesse, T. F. 367 Lawes, L. E. 71
380, 383, 402,416,417, Joesten, J. s. Feder, S. 390 Leppmann, F. 102, 376
423 Jones, VV. 158 Lessing, Th. 121, 366, 379
-, u. Viernstein 247, 353, Josephus 140, 327, 328 Lewis, L., u. H. J. Smith
373, 383, 422 Justi, C. 39 299
Herodot 396 Licht, H. 171
Hersetzki, A. v. 56 Kämpchen 116 Lichtenstein, P. 101
Heseltine s. Smith 22 Kahn, E. 306 Liman, P. 135
Holbrook, S. H. 248 Karpman, B. 101 Lipsius s. Goldin 315
Hesiod 162, 244 Karsner, D. 134 Liszt, F. v. 274
Hexter, M. B. s. Drucker, S. Katseher, L. 44, 90, 112, Lobe 95
324 217, 319, 385 Locke s. Burgess 264
Hirschfeld,M.101, 379, 380, Lods, A. 235, 243
Keeton, G. VV. u. John Ca.
His, R. 10,50,144,163,164, Löffler 185
meron 123, 397
225, 340, 358 Lombroso 26
Kefauver, E. 417 Longard 66
Hogan, F. S. 111 Keith, A. B. 1
Holthausen, F. 245 Ludochowski, H. VV. 356
Keller, G. 380 Ludwig, O. 427
Homer 2, 6, 27 Kipling, R. 15
Hoover, J. E. 12 Lunden, VV. A. 176
Kirchhoff, T. 32 Luz, VV. 93, 366, 369, 421
Hoppe, A. 72, 386 Kisch, E. E. 365, 415
Horaz 2, 47, 162 Lynch, D. T. 37
Kleinschmidt 95
Horsetzki, A. v. 389 Kleist, H. v. 21, 51
Hoskins, P. 34, 120, 136, Klimmer, R. 44 MacCluer Stevens, C. L. 164
367,415 Kloss, A. 102 MacDonald 178
Howe, C. 69, 119 Kluge-Götze 10, 13, 27, 32, Macdonald, J. B. Galvin,
Huber, M. 175 50, 182, 244, 245, 402, J.A. V.406
Hübner 62 409,419 Mackrenroth, G. 264, 265,
Huhner, M. 78 Knecht, A. 63 302
Hulme, K. 337, 338, 373 Köppen 65 MacKay, H. D. s. Shaw 183
Hurwitz, S. 276 Kolle, K. 220 MacKaye, M. s. Caruso, F.
Hyde, M. H. 381 Kossoris, M. O. 166 133
Hynd, A. 48, 213, 400 Kräpelin 306 Maeterlinck 54
Krafft-Ebing, V. 102, 117, Makris, J. N. 45, 75, 136,
llberg, G. 103, 194, 233 191,376 174,194,377
Infeld, L. 197 Krohne 95 Mandel, A. 110
Irnig, O. 353, 365, 370, 373, Külz, E. 168, 185, 355 Marquardt 412
391,422 Kuhn, G. 221, 291, 330, 343, Marshall, H. 88
370,372,430 Marten, K. 83
Irving, H. B. 393, 404
Martial379
Irwin, VV.90, 106,166,395
Martin, J. B. 69, 72, 80, 81,
Laan, van der 93 87, 88, 100, 113, 121,
Jackson, J. H. 61, 132,215, Lacassagne 94 128, 139, 164, 174, 197,
248,409 Lait, J., u. L. Mortimer 111, 219, 227, 293, 345, 387,
-, u. L. G. Offord 377 237,285 402,403
v. Hentig, Das Verbrechen I 28a
436 Autorenverzeichnis
Sartori, P. 7, 14, 147, 168, Spencer, J. 228, 229 Tresckow, v. 91, U5, 381
180, 181, 182, 192, 193, Spenser, J. 36, 189, 197 Tutt, E. 91, 121
358 Sperling 337
Sauer, W. 93, U6, 250, 251, Squire, A. O. 159 Valentin, V. 197
259, 271, 272, 274 Stachhouver 294 VergiI 2, 14, 236
Schäfer, K. 152, 351, 389 Stanley, L. L. 128 Viernstein s. Hentig, H. v.
Schäffer 95 Steiner, 0., u. W. Gay 62, U8, 247, 353,373, 383,
Schiller, F. v. 43,51,52,53, 104, 106, 131, 159, 161, 422
427,430 312,380,426 Vold, G. B. 272
Schmid, C. F. 268 Stelzner, H. 20
Schmidt, F. v. 60, 75 Stemmle, R. A. 62, 75, 76,
Schmidt, L. 125 Wachenfeld 102
121
Schmitz, J. 84, 85 Wahl, R. 40
Stempflinger, E. 7, 162 Waite, J. B.,s. Wood,A. E.
Schrieke, B. 316 Sterz, G. 349
Schubart, W. 39 257
Stevens, D. 132 Wallenberg, E. V. 333, 334,
SchuItz, K. 364, 4U, 418, Stevens, W. O. 129
419 336,337
Stierlin, H. 83, 309, 386 Walter, H. 123
Schulz, G. 70, 71, 100, 103, Stock, R. 252
149, 190, 354, 391, 422 Walter, M. V. 75
Stoffel, E. H. 325 Ware, C. F. 312, 327
Sears, K., u. H. Weihofen Stokvis, B. J. 102
144 Wassermann, R. 16, 208,
Stoos 418 210
Seelig, E. 211,214,274,275, Stumpfl 101
423 Watson, E. R. 141, 343
Sueton 12, 28, 36, 48, 158, Wattler, H. 104, 193, 366,
Seuffert 16, 209, 210 163, 358, 368, 396
Seybold,A., u.H. Woltereck 373, 378, 393, 404, 413,
SulIivan, E. S. 92 425
3U Sutherland, E. H. 106, 370 Wegner, A. 149, 171
Seifarth, H. 298 Sutherland u. Cressey 221, Wehner, B. 73, 74, 89, 90,
Shakespeare, W. I, 5, 27, 320, 323, 324 95, 99, 101, 102, 103,
46, 124, 127, 134, 158,
106, 120, 135, 136, 425
161, 167, 176, 245, 315,
Weichbrodt, R. 21, 202,270,
415 Tacitus 244, 368, 377, 396
308,309
Shaw, C. R. 139, 289, 292 Talbert 178
Weihofen, H. s. Sears, K.
- , u. H. D. MacKay 183 Teeters s. Barnes 96, 183 144
Shore, W. T. 30, 131 Thomas, D. L. 147, 179 Wellington, S. 113
Simrock, J. 147 Thomas, W. J., u. F. Zna· Wellman, F. L. 102, 127
Sims, N. L. 253 niecki 257, 297, 319, 327
Wensley, F. P. 78, 96, 197
Sioli 62 Thompson, Sir B. 129 Wentzky, O. 343
Sixtus 250 Thompson, C., u. A. Ray. WesseI, G. 97, 98, 107, 149,
Skeat, W. W. 27 mond 400 150, 190, 353, 365, 366,
Smith, A. D. 194 Thompson, W. 198,199,200, 376,422
Smith, E. H. 18,47,75,96, 239,240, 261, 262, 263, West, J. 256
132,341 264, 265, 266, 280, 289, Wettstein, E. 9, 14, 360,
Smith, H. J. s. auch Lewis, 306, 314 376
L.299 Thompson, W. S., u. P. K. WetzeI, A. 232
Smith, M. C. 13 Whelpton 265 Whelpton, P. K. s. Thomp.
Smith, T. L. 237, 257, 265, Thukydides 127, 139 son, W. S. 265
289 Thurneysen, R. 358 Whit.ehead, Don 344, 368
Smith, W. G. 7, 124 TiIghman, Z. A. 392 Whyte, W. F. 315, 316
-, u. J. E. Heseltine 22 Tod, T. M. 57, 104, 158, WiegIer, P. 47, 418
Sokrates 13 371 Wilbrandt 32
Sorokin, Pitirim, u. C. C. Tomellini 371 Wilmans, K. 232
Zimmermann 268 Trasher 202 WiIson, D. P. 227
438 Autorenverzeichnis
Warenhäuser und Nicht- Wildern vom Auto 402 Zopfabschneider und Dichte
anzeige 86 Wirtshaus als Tatort 356 291
Warnbilder 23 Wochentag 178ff. Zufall 129ff.
Wassermord 410 Wohnung als Tatort 349ff. ZufaUstatort 428
Weglaufen 218 "Wollust" der Todes 21 Zuhälter 93
Weidediebstahl 92 Wucher und Anzeige 91 Zwangswanderung 327ff.
Weltbeglückung 4 Zweck-"Verklärung" 25
Werkschutz 84 Zerstückelung 6, 416 Zweite Generation und
Wettschwindel 44 Zeuge 10 Rechtsbruch 324ff.
Wilddieb 52 Zeugenmeineid 102 Zwillinge 133, 135