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Klima: „Langjähriges Mittel” jetzt kürzer!

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Ulli Kulke / 10.02.2021 / 06:00 / Foto: Pixabay / 88 /


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Die Klima-Angst geht um. Nein, nicht in der Weise, dass die veröffentlichten
Temperaturdaten noch schneller in die Höhe schnellen. Im Gegenteil. Die Gefahr heute:
Gewisse, nicht unbedeutende Daten könnten an Dramatik verlieren. Und das wäre
schließlich unerhört. Jedenfalls nie dagewesen in diesem Jahrhundert, da wir uns doch so
schön ans genaue Gegenteil gewöhnt haben und die allseits ungebremste Eskalation beim
Klima und Wetter nicht mehr missen möchten. An der sich vor allem die Medien fast aller
Couleur so heißblütig beteiligen: Wärmer immer, kälter nimmer.

Journalisten wie – der ansonsten von mir oft geschätzte – Gerd Appenzeller vom Berliner
„Tagesspiegel“ sehen geradezu eine Verschwörung. Der frühere Herausgeber des
Tagesspiegel wittert in einem Kommentar „Manipulation“, da mache jemand „die
Wahrheit passend“, man könne die „Brisanz des Geschehens“ nicht mehr erkennen und
es werde ab sofort alles „schöngeredet“. Die Überschrift eines anderen Beitrags im Blatt,
auf den sich der Kommentar bezieht, verschärft den Vorwurf noch: „Schöngerechnet“
lautet da die Überschrift, in der Unterzeile ist von einer „fragwürdigen neuen Datenbasis“
die Rede.

Auch die „Wetterfrösche“ scheinen von Sorgen ergriffen, doch dazu später. Zunächst: Was
ist überhaupt passiert? In der Tat stehen wir seit Jahresbeginn in einer Zäsur bei der
offiziellen Klima- und Wetterstatistik. Sie war allerdings mehr als überfällig. Und sie
findet regelmäßig statt.

Angaben über die Temperaturen, egal ob global oder nur in Deutschland, sagen uns
wenig, wenn wir sie nicht vergleichen. Da gibt es einmal den langfristigen Bezug: Wir
vergleichen die heutigen Daten mit früheren, zum Beispiel denen zu Beginn zuverlässiger

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Messreihen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, oder sogar – mit einigen Abstrichen
an Zuverlässigkeit vor allem bei globalen Angaben – mit denen weiter zurückliegender
Zeiträume, etwa der Kleinen Eiszeit im 16. oder 17. Jahrhundert, dem Mittelalter, der
Römerzeit und so weiter. Insbesondere Vergleiche mit den Klimadaten im ausgehenden
19. Jahrhundert werden sehr häufig herangezogen, vor allem wenn es um – angeblich ja
praktikable – Klimazielgrößen etwa für das Ende dieses Jahrhunderts geht: Wie hätten
wir es denn gerne: zwei Grad mehr als in der vorindustriellen Zeit? Lieber nur 1,5 Grad,
oder noch weniger?

Jetzt 10- statt 30-Jahre-Durchschnitt zum Vergleich


Dann gibt es aber noch die kurzfristigen Vergleiche. Sie dienen zur Bewertung von
Schwankungen im Jahresvergleich, von Ausreißern nach oben und unten in den einzelnen
Jahren, Jahreszeiten oder Monaten. An ihnen erkennt man die kurzfristigere Dynamik,
zum Beispiel, ob die Erderwärmung sich zuletzt gerade beschleunigt hat oder doch
verlangsamt. Dafür gibt es den Wert „langjähriges Mittel“. Die Vergleiche beziehen sich
dann immer auf den Durchschnitt eines Zeitraums von 30 Jahren. Auch die
Regenmengen oder die Sonnenscheindauer werden gern mit dem langjährigen Mittelwert
verglichen. Dieser kurzfristige Vergleich kommt dem am nächsten, was wir aus der
Gewohnheit der letzten Jahre für normal empfinden oder für unnormal.

Um solche einzelnen Abweichungen vom Durchschnitt der benachbarten Jahre deutlich


zu machen, sollte es sich bei diesen Jahren um möglichst zeitnahe handeln. Ideal wären
also – sehr theoretisch gesehen – 15 Jahre zurück und 15 vor. Da man aber sogar beim
Klima (noch) nicht verlässlich in die Zukunft blicken kann, schaut man also 30 Jahre
zurück. Weil es den Meteorologen früher zu viel Arbeit war, zu jedem Silvester die
Durchschnittswerte der jeweils zurückliegenden 30 Jahre für alle meteorologischen
Größen neu auszurechnen, sprang dieses „langjährige Mittel“ nur alle 30 Jahre nach vorn.
Mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel bis einschließlich zum vergangenen Jahreswechsel
als Bezugszeitraum für das „langjährige Mittel“ die Jahre 1961 bis 1990 galten. Erst jetzt,
zum 1. Januar 2021, ist mal wieder eine neue Referenzzeit angesagt: die Spanne zwischen
1991 und 2020. Es wurde Zeit.

Das heißt, wir kommen jetzt dem Begriff „langjähriges Mittel“ überhaupt erst wieder
näher – und entfernen uns von Jahr zu Jahr wieder von ihm. Immerhin: Die
Meteorologen wollen sich nun, im Computer-Zeitalter, zumuten, nicht mehr alle 30,
sondern alle zehn Jahre den 30-Jahres-Zeitraum hinterherzuziehen, das nächste Mal also
zum 1. Januar 2031. Warum eigentlich nicht jedes Jahr? So oder so: Diese Zäsur zum
Jahresbeginn hat nun Folgen für die Berichterstattung über die meteorologischen
Bewandtnisse einzelner Jahre. Deren Einordnung ins zeitnahe Klimageschehen wird
korrekter, ja auch lebensnäher. Und genau das bereitet manchen Zeitgenossen in den
Medien und in den Wetterbehörden sowie den freien meteorologischen Dienstleistern
nun ernsthafte Sorgen.

Es darf nur aufwärts gehen, von Rekordjahr zu Rekordjahr

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Die Konsequenz: Die positive Abweichung etwa der Temperatur eines Jahres vom
langjährigen Durchschnittswert wird ab sofort nicht mehr so hoch ausfallen wie dies noch
bis Dezember 2020 der Fall war, weil in dem alten Bezugszeitraum die Temperaturen
tiefer lagen als im neuen, die Diskrepanz größer. Verfälscht wird dadurch gar nichts, im
Gegenteil, der Datenvergleich erfüllt einfach seinen gegebenen Zweck.

Die 1990er Jahre markierten einen Sprung nach oben in der globalen
Temperaturentwicklung, und der ist nun in dem Durchschnitt des Bezugszeitraumes
„eingepreist“. Dadurch aber fallen die etwas höheren Temperaturen in den späteren
Jahren relativ nicht mehr so hoch aus. Übrigens: Das Jahr 1998 galt sogar viele Jahre
global als das mit Abstand wärmste Jahr und wäre dies womöglich immer noch, wenn es
die World Meteorological Organization (WMO) nicht rund zehn Jahre später nach
neuerlichen rückblickenden Schätzungen herabgestuft hätte, so dass der Aufwärtstrend
erhalten blieb.

Der alte Vergleich etwa mit den Werten vor der Industrialisierung ist ja nach wie vor
möglich und wird auch – darauf können wir uns wohl verlassen – zur Genüge zur Sprache
gebracht werden. Er dokumentiert die Erderwärmung. Aber das reicht denjenigen nicht
aus, die nicht nur in der Klima- sondern auch in der Wetterberichterstattung
durchgehend sich nur katastrophistische Zungenschläge vorstellen können, wenn möglich
ausnahmslos. Auch im kurzfristigen Vergleich darf es für sie nur kontinuierlich aufwärts
gehen, möglichst beschleunigen, von Rekordjahr zu Rekordjahr. Und das ist umso
wahrscheinlicher, je länger das Vergleichsjahr zurückliegt.

Und so beklagt der Wetterdienst „wetter.com“: „Die ‚neue Klima-Zeitrechnung‘ setzt ein
ganz falsches Zeichen im Kampf gegen den Klimawandel.“ Die Kollegen von
„daswetter.com“ mahnen mitfühlend: „Mit dem neuen Klimamittel haben es die Monate
schlagartig deutlich schwerer, als ‚zu warm‘ eingestuft zu werden.“ Man kann es auch so
formulieren: Klickraten wegen meteorologischer Weltuntergangsmeldungen sind für
solche Websites in nächster Zeit nicht mehr in dem Maße Selbstläufer, wie dies in der
jüngsten Vergangenheit der Fall war. Die knappen Aussagen wie „Der Monat XX war
deutlich zu warm“ bezog sich stets auf den langjährigen Durchschnitt. Jetzt könnte es
passieren, dass man – bei demselben Vergleich – öfters mal zumindest auf das „deutlich“
verzichten muss. Womöglich müsste es ab und zu auch heißen: „zu kalt“, oder „weniger
trocken“ – normal eben. Und genau das stört.

Wetterfrösche als Dienstleister der Klimaretter


„Jahre oder Monate, die beim Vergleich mit dem Klimamittel 1961–1990 noch deutlich
„zu warm“ ausfallen“, so klagt man bei „wetter.com“, „wären im Verhältnis zum neuen
Klimamittel 1991–2020 dann plötzlich „völlig normale“ also „komplett durchschnittliche“
Jahre bzw. Monate. Die Temperaturabweichungen fallen dann trotz des Klimawandels
nicht mehr so krass aus.

Ja, die Normalität heute ist eine andere Normalität als vor sechzig Jahren, und man kann
sie nach wie vor beide miteinander vergleichen, genauso, wie man mit der Kleinen Eiszeit
oder der mittelalterlichen Warmzeit vergleichen kann. Aber um die aktuelle Dynamik

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nach oben oder unten erfassen zu können, muss man nun mal bei seinen Vergleichen
innerhalb der neuen Normalität bleiben und diese auch als solche anerkennen. Besonders
der Nutzwert – vom Nutzen einer Weltuntergangsstimmung mal abgesehen – ist in
vielerlei Hinsicht größer bei einer genaueren, fokussierteren Betrachtung des Hier und
Jetzt, und nicht der Zeit vor einem halben Jahrhundert. Für Bauern zum Beispiel, für
Gärtner, für Winzer, die Bauwirtschaft, die Energieerzeuger und ähnlichen Gruppen, die
unmittelbar vom Wetter abhängig sind. Doch in deren Diensten, als Dienstleister,
scheinen sich viele Wetterfrösche weniger zu verorten als in denen der Klimaretter, als
Propagandisten. Die wie selbstverständlich erwarten, dass die heutigen Menschen etwas
als „normal“ empfinden, was zu Zeiten der Eltern oder Großeltern vorherrschte. Oder
waren gar die Zustände in der Kleinen Eiszeit „normal“?

„Man muss jetzt vorsichtig sein, wie man die Dinge formuliert“, zitiert der Tagesspiegel
eine Sprecherin des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Und in einem Report des
Deutschlandfunks über die Umstellung des langjährigen Mittels ging die Autorin davon
aus, dass der DWD künftig „voraussichtlich beide langjährigen Mittel angeben wird, also
das von 1961 bis 1990 und das von 1991 bis 2020“. Die österreichischen Kollegen der
Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZMAG) haben entsprechendes bereits
angekündigt. „Die dramatischen Veränderungen durch den Klimawandel“ würden durch
die Umstellung „verharmlost“, klagt ZMAG-Klimaforscher Hiebl. Und die
Wetterredaktion des Hessischen Rundfunks fordert: „Das alte Mittel darf nicht aus den
Augen verloren werden.“ Was man hat, hat man und gibt es nicht wieder her, auch wenn
der Sinn der Statistik so reichlich freimütig verdreht wird. Und: Was du, lieber
Zeitgenosse als normal empfindest, werden wir dir schon als unnormal einbläuen.

Wir dürften in den nächsten Monaten und Jahren noch vielerlei Verrenkungen zu hören
und sehen bekommen, wenn in den Medien die Rede vom „langjährigen Mittel“ sein wird,
mit vielen „eigentlich“, „aber“ oder „allerdings“. Dabei geht es – eigentlich – um nichts
anderes als den Vergleich mit der Nahdistanz, mit der Normalität im zeitlichen Nebenan.
Wie es vor 150 Jahren war, wissen wir, wir werden es nicht aus den Augen verlieren und
hören es sowieso immer wieder. Es wundert schon, wie freimütig heute ein statistisch
korrekter und vor allem notwendiger Schritt als „Schönrechnerei“, als „völlig falsches
Zeichen“, als „Manipulation“ bezeichnet wird und die Klage aufkommt, dass es die
Monate „schwerer haben“, als „zu warm“ eingestuft zu werden – nur weil die Umstellung
dem ganz großen Ziel nicht dienlich ist. Cui bono? Wem nützt es? Ein wichtiges Kriterium
aus dem Werkzeugkasten der Propaganda wird offen zur Anwendung gebracht.

Foto: Creative Commons CC0 Pixabay

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