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achgut.com/artikel/klima_langjaehriges_mittel_jetzt_kuerzer
Journalisten wie – der ansonsten von mir oft geschätzte – Gerd Appenzeller vom Berliner
„Tagesspiegel“ sehen geradezu eine Verschwörung. Der frühere Herausgeber des
Tagesspiegel wittert in einem Kommentar „Manipulation“, da mache jemand „die
Wahrheit passend“, man könne die „Brisanz des Geschehens“ nicht mehr erkennen und
es werde ab sofort alles „schöngeredet“. Die Überschrift eines anderen Beitrags im Blatt,
auf den sich der Kommentar bezieht, verschärft den Vorwurf noch: „Schöngerechnet“
lautet da die Überschrift, in der Unterzeile ist von einer „fragwürdigen neuen Datenbasis“
die Rede.
Auch die „Wetterfrösche“ scheinen von Sorgen ergriffen, doch dazu später. Zunächst: Was
ist überhaupt passiert? In der Tat stehen wir seit Jahresbeginn in einer Zäsur bei der
offiziellen Klima- und Wetterstatistik. Sie war allerdings mehr als überfällig. Und sie
findet regelmäßig statt.
Angaben über die Temperaturen, egal ob global oder nur in Deutschland, sagen uns
wenig, wenn wir sie nicht vergleichen. Da gibt es einmal den langfristigen Bezug: Wir
vergleichen die heutigen Daten mit früheren, zum Beispiel denen zu Beginn zuverlässiger
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Messreihen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, oder sogar – mit einigen Abstrichen
an Zuverlässigkeit vor allem bei globalen Angaben – mit denen weiter zurückliegender
Zeiträume, etwa der Kleinen Eiszeit im 16. oder 17. Jahrhundert, dem Mittelalter, der
Römerzeit und so weiter. Insbesondere Vergleiche mit den Klimadaten im ausgehenden
19. Jahrhundert werden sehr häufig herangezogen, vor allem wenn es um – angeblich ja
praktikable – Klimazielgrößen etwa für das Ende dieses Jahrhunderts geht: Wie hätten
wir es denn gerne: zwei Grad mehr als in der vorindustriellen Zeit? Lieber nur 1,5 Grad,
oder noch weniger?
Das heißt, wir kommen jetzt dem Begriff „langjähriges Mittel“ überhaupt erst wieder
näher – und entfernen uns von Jahr zu Jahr wieder von ihm. Immerhin: Die
Meteorologen wollen sich nun, im Computer-Zeitalter, zumuten, nicht mehr alle 30,
sondern alle zehn Jahre den 30-Jahres-Zeitraum hinterherzuziehen, das nächste Mal also
zum 1. Januar 2031. Warum eigentlich nicht jedes Jahr? So oder so: Diese Zäsur zum
Jahresbeginn hat nun Folgen für die Berichterstattung über die meteorologischen
Bewandtnisse einzelner Jahre. Deren Einordnung ins zeitnahe Klimageschehen wird
korrekter, ja auch lebensnäher. Und genau das bereitet manchen Zeitgenossen in den
Medien und in den Wetterbehörden sowie den freien meteorologischen Dienstleistern
nun ernsthafte Sorgen.
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Die Konsequenz: Die positive Abweichung etwa der Temperatur eines Jahres vom
langjährigen Durchschnittswert wird ab sofort nicht mehr so hoch ausfallen wie dies noch
bis Dezember 2020 der Fall war, weil in dem alten Bezugszeitraum die Temperaturen
tiefer lagen als im neuen, die Diskrepanz größer. Verfälscht wird dadurch gar nichts, im
Gegenteil, der Datenvergleich erfüllt einfach seinen gegebenen Zweck.
Die 1990er Jahre markierten einen Sprung nach oben in der globalen
Temperaturentwicklung, und der ist nun in dem Durchschnitt des Bezugszeitraumes
„eingepreist“. Dadurch aber fallen die etwas höheren Temperaturen in den späteren
Jahren relativ nicht mehr so hoch aus. Übrigens: Das Jahr 1998 galt sogar viele Jahre
global als das mit Abstand wärmste Jahr und wäre dies womöglich immer noch, wenn es
die World Meteorological Organization (WMO) nicht rund zehn Jahre später nach
neuerlichen rückblickenden Schätzungen herabgestuft hätte, so dass der Aufwärtstrend
erhalten blieb.
Der alte Vergleich etwa mit den Werten vor der Industrialisierung ist ja nach wie vor
möglich und wird auch – darauf können wir uns wohl verlassen – zur Genüge zur Sprache
gebracht werden. Er dokumentiert die Erderwärmung. Aber das reicht denjenigen nicht
aus, die nicht nur in der Klima- sondern auch in der Wetterberichterstattung
durchgehend sich nur katastrophistische Zungenschläge vorstellen können, wenn möglich
ausnahmslos. Auch im kurzfristigen Vergleich darf es für sie nur kontinuierlich aufwärts
gehen, möglichst beschleunigen, von Rekordjahr zu Rekordjahr. Und das ist umso
wahrscheinlicher, je länger das Vergleichsjahr zurückliegt.
Und so beklagt der Wetterdienst „wetter.com“: „Die ‚neue Klima-Zeitrechnung‘ setzt ein
ganz falsches Zeichen im Kampf gegen den Klimawandel.“ Die Kollegen von
„daswetter.com“ mahnen mitfühlend: „Mit dem neuen Klimamittel haben es die Monate
schlagartig deutlich schwerer, als ‚zu warm‘ eingestuft zu werden.“ Man kann es auch so
formulieren: Klickraten wegen meteorologischer Weltuntergangsmeldungen sind für
solche Websites in nächster Zeit nicht mehr in dem Maße Selbstläufer, wie dies in der
jüngsten Vergangenheit der Fall war. Die knappen Aussagen wie „Der Monat XX war
deutlich zu warm“ bezog sich stets auf den langjährigen Durchschnitt. Jetzt könnte es
passieren, dass man – bei demselben Vergleich – öfters mal zumindest auf das „deutlich“
verzichten muss. Womöglich müsste es ab und zu auch heißen: „zu kalt“, oder „weniger
trocken“ – normal eben. Und genau das stört.
Ja, die Normalität heute ist eine andere Normalität als vor sechzig Jahren, und man kann
sie nach wie vor beide miteinander vergleichen, genauso, wie man mit der Kleinen Eiszeit
oder der mittelalterlichen Warmzeit vergleichen kann. Aber um die aktuelle Dynamik
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nach oben oder unten erfassen zu können, muss man nun mal bei seinen Vergleichen
innerhalb der neuen Normalität bleiben und diese auch als solche anerkennen. Besonders
der Nutzwert – vom Nutzen einer Weltuntergangsstimmung mal abgesehen – ist in
vielerlei Hinsicht größer bei einer genaueren, fokussierteren Betrachtung des Hier und
Jetzt, und nicht der Zeit vor einem halben Jahrhundert. Für Bauern zum Beispiel, für
Gärtner, für Winzer, die Bauwirtschaft, die Energieerzeuger und ähnlichen Gruppen, die
unmittelbar vom Wetter abhängig sind. Doch in deren Diensten, als Dienstleister,
scheinen sich viele Wetterfrösche weniger zu verorten als in denen der Klimaretter, als
Propagandisten. Die wie selbstverständlich erwarten, dass die heutigen Menschen etwas
als „normal“ empfinden, was zu Zeiten der Eltern oder Großeltern vorherrschte. Oder
waren gar die Zustände in der Kleinen Eiszeit „normal“?
„Man muss jetzt vorsichtig sein, wie man die Dinge formuliert“, zitiert der Tagesspiegel
eine Sprecherin des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Und in einem Report des
Deutschlandfunks über die Umstellung des langjährigen Mittels ging die Autorin davon
aus, dass der DWD künftig „voraussichtlich beide langjährigen Mittel angeben wird, also
das von 1961 bis 1990 und das von 1991 bis 2020“. Die österreichischen Kollegen der
Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZMAG) haben entsprechendes bereits
angekündigt. „Die dramatischen Veränderungen durch den Klimawandel“ würden durch
die Umstellung „verharmlost“, klagt ZMAG-Klimaforscher Hiebl. Und die
Wetterredaktion des Hessischen Rundfunks fordert: „Das alte Mittel darf nicht aus den
Augen verloren werden.“ Was man hat, hat man und gibt es nicht wieder her, auch wenn
der Sinn der Statistik so reichlich freimütig verdreht wird. Und: Was du, lieber
Zeitgenosse als normal empfindest, werden wir dir schon als unnormal einbläuen.
Wir dürften in den nächsten Monaten und Jahren noch vielerlei Verrenkungen zu hören
und sehen bekommen, wenn in den Medien die Rede vom „langjährigen Mittel“ sein wird,
mit vielen „eigentlich“, „aber“ oder „allerdings“. Dabei geht es – eigentlich – um nichts
anderes als den Vergleich mit der Nahdistanz, mit der Normalität im zeitlichen Nebenan.
Wie es vor 150 Jahren war, wissen wir, wir werden es nicht aus den Augen verlieren und
hören es sowieso immer wieder. Es wundert schon, wie freimütig heute ein statistisch
korrekter und vor allem notwendiger Schritt als „Schönrechnerei“, als „völlig falsches
Zeichen“, als „Manipulation“ bezeichnet wird und die Klage aufkommt, dass es die
Monate „schwerer haben“, als „zu warm“ eingestuft zu werden – nur weil die Umstellung
dem ganz großen Ziel nicht dienlich ist. Cui bono? Wem nützt es? Ein wichtiges Kriterium
aus dem Werkzeugkasten der Propaganda wird offen zur Anwendung gebracht.
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