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Schreiben
spectrum
Literaturwissenschaft/
spectrum Literature
Herausgegeben von/Edited by
Moritz Baßler, Werner Frick,
Monika Schmitz-Emans
Band 45
Jens Loescher
Schreiben
DE GRUYTER
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für
Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-031741-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-031759-6
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038210-5
ISSN 1860-210X
www.degruyter.com
Gleich an die Grenzen der Wissenschaft zu gehen.
Es läßt sich bald lernen wo es noch fehlt
(Lichtenberg)
Vorwort
Was hier mit Schreibforschung vorgestellt wird, begann vor sechs Jahren mit einer
doppelten Entdeckung des jungen Post-Docs. Zum einen setzte damals an der
Freien Universität und anderswo eine euphorische Bewegung ins Labor ein, die
man mit: going science umschreiben könnte. Zum anderen initiierten bestimmte
Lehrkontexte mit Expertenschreibern, besonders Doktoranden, mein Interesse
an der Kulturtechnik Schreiben und ihren kognitiven Eigenschaften. Dieser am
Forschungsgegenstand orientierten Empirie wurde eine weitere, spezifisch phi-
lologische beigestellt: die Handschriftenanalyse.
Wenn man als ,klassischer‘ Literaturwissenschaftler noch einmal in die Start-
blöcke geht, sind effektive Lernschritte vonnöten. Vor allem habe ich Peter Inde-
frey in Düsseldorf zu danken, der mich in die Finessen naturwissenschaftlicher
Experimentierung einführte – und natürlich in SPSS. Den rephilologischen
Transfer, auf den es mir ankam, begleiteten – etappenweise – Wolfgang Adam,
Wilfried Barner, Sandra Richter, Jim Reed, Norbert Otto Eke, Heinz Drügh, Hans
Richard Brittnacher, Joseph Vogl, Hubert Steinke, Herbert Grieshop und Hans
Adler. Jörg Jungmayr beugte sich mit mir über manche Handschrift; das Max
Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte, die zuständigen Archive sowie Alois
Pichler und Matthias Tschirch versahen mich mit Material; schließlich sei dem
Saarbrücker Kollegium, besonders Manfred Engel, sowie verlagsseitig Susanne
Rade gedankt. Meiner Frau Kerstin Rumpeltes-Loescher und meinem ersten Lek-
tor, Gerhard Loescher, widme ich diese Arbeit.
Vorwort | VII
Einführung | 1
1 Grundlegung | 7
1.1 Einführung | 7
1.2 Kultur und Kognition | 7
1.3 State of the Art | 14
1.3.1. Literaturwissenschaft | 14
1.3.2. Schreibforschung | 26
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 32
1.4.1 Modell | 32
1.4.2 Kernfragen, Terminologie | 38
1.4.3 Experimente | 42
2 Lichtenberg | 44
2.1 Einführung | 44
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs
Sudelbücher | 46
2.2.1 Einführung: Sudelbuch. Labortagebuch | 46
2.2.2 Assoziationen | 50
2.2.2.1 Hartley, Priestley | 50
2.2.2.2 Lichtenberg | 55
2.2.3 Kognition und Schreiben | 80
2.2.3.1 Schreibraum | 80
2.2.3.2 Erinnerung | 83
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 90
2.3.1 Dreihundert Fragen an einen jungen Autor: Orbis Pictus | 90
2.3.2 Nicht nur Hogarth: die Charakterstudien | 96
2.3.3 Bilder des Erzählens | 99
2.3.4 Schreibbürokratie Lichtenbergs | 107
2.4 Ensembles: Lichtenbergs Antiphlogiston-Manuskripte | 113
2.4.1 Einführung: Das Schreiben des Naturwissenschaftlers | 113
2.4.2 Schreibtypen | 114
2.4.2.1 Lavoisier und Lichtenberg | 114
2.4.2.2 Galileo und Lichtenberg | 126
2.4.3 Die Antiphlogiston-Manuskripte (Faszikel VII b) | 130
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 155
2.5.1 Einführung | 155
X | Inhaltsverzeichnis
4 Goethe | 355
4.1 Einführung | 355
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 356
4.2.1 Einführung: Physiologisches Schreiben | 356
4.2.2 Schreibszenen bei Goethe | 362
4.2.3 Diktieren ist Schreiben! | 367
4.2.4 „Schoenschreiben“. Der Divan-Goethe | 373
4.2.4.1 Überlieferung | 373
4.2.4.2 Inneres Märchen | 377
4.2.4.3 Physiologisches Sehen | 379
4.2.4.4 „Etwas von Jean Paul“. Goethes Lob | 381
4.3. „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest:
Die Marienbader Elegie | 385
4.3.1 Einführung | 385
4.3.2 Schreibsituation | 386
4.3.3 Werkstatt | 394
4.3.4 Werk | 405
4.4. Verdichten, Verschieben, Bündeln. Der späte Goethe | 408
4.4.1. Biographie/zweite Gegenwart | 408
4.4.1.1 Innerer Realismus | 409
4.4.1.2 Innere Symbole | 410
4.4.1.3 Biographische Spiegelung | 414
4.4.2 Der schreibende Maler (Faust II) | 416
4.4.2.1 Maniera | 416
4.4.2.2 Skizzenblätter | 419
4.4.3 Goethes ’Aktenbündel’ | 422
4.4.4 Blindes Denken (Faust II) | 428
4.4.4.1 „Rechnen wir!“. Werk | 428
4.4.4.2 „Rechnen wir!“. Gesellschaft | 432
4.4.4.3 „Reihenbildende Phantasie“ | 436
4.5 Zusammenfassung | 438
XII | Inhaltsverzeichnis
5 Fazit | 440
6 Apparat | 443
6.1 Siglenverzeichnis | 443
6.2 Literaturverzeichnis | 444
6.2.1 Quellen | 444
6.2.2 Forschungsliteratur | 446
Einführung
In dieser Arbeit stehen drei Autoren im Mittelpunkt: Lichtenberg, Jean Paul und
Goethe. Der Ausgangspunkt der Studie war kulturwissenschaftlich geprägt, eine
Ausrichtung, die einerseits den Weg in die Wissenschaftsgeschichte ebnete, die
besonders in den Lichtenberg-Kapiteln zum Tragen kommt, und andererseits die
kognitive Ebene des Themas erschloss, in dem weiter unten beschriebenen Sinn
einer Verschränkung kognitions- und kulturwissenschaftlicher Aspekte. Dass
Schreiben als kulturell wertiges Phänomen wahrgenommen wird, ist ein Resultat
der Aufklärung. Durch die Aufwertung der Tätigkeit Schreiben vom Handwerk
des Schreibers zum geweihten Amt des Schriftstellers und Poeten, für die Klop-
stock exemplarisch einstehen kann, entsteht allererst die Basis, aufgrund derer
Lichtenberg die naturwissenschaftliche Experimentalmethode in Richtung sei-
ner eigenen Schreibsituation und –tätigkeit handhabbar machen konnte. Einmal
mehr erweist sich, dass auch die Beseitigung eines epistemischen Hindernisses –
nicht nur das Abarbeiten an ihm bis hin zum epistemischen ,Sprung‘ – zu (na-
turwissenschaftlichem) Erkenntnisfortschritt, also in diesem Fall zu der ,Schreib-
forschung der ersten Stunde‘ bei Lichtenberg, Jean Paul und Goethe, führen
kann.
Und dieses epistemische Hindernis, die Geringschätzung des Schreibers als
Kopist des autorisierten Werks im Mittelalter und der frühen Neuzeit, wird kul-
turell beseitigt. Die Wurzeln für die in der gesamten Arbeit dargestellten Phä-
nomene der Selbstbeobachtung und Protokollierung des Schreibens durch den
Schreibenden reichen zurück in die Anfänge des objektiven (und gleichzeitig
bereits problematisierten) Beobachtens bei Bacon und dann in der Royal Society
sowie zu den dort entwickelten kognitiven Praxen und Darstellungstechniken
(Sprat, Boyle, Hooke). Eine wichtige Rolle spielen hier Text-Bild-Paare, die ja
sowohl in den Beiträgen der Transactions der Royal Society als auch in popula-
risierten Orbis-Pictus-Konzepten sowie experimentellen ,Ratgebern‘ sicherstel-
len, dass der Leser als Zeuge und Mitgestalter des Forschungszusammenhangs
,agiert‘. Dergestalt sollen die komplexen Versuchsaufbauten, Instrumente und
Daten kognitiv entlastet werden: der Leser konstruiert die Versuche als Mitge-
staltender nach und vollzieht so die Erkenntnisschritte, die der wissenschaftli-
che oder popularisierte Text ihm vorgibt, selbst.
Derartige kognitive Praxen (des Beobachtens, der Verlagerung von Aufmerk-
samkeit, der Techniken von Erinnerung1) mäandern nun im Barock und in der
Frühaufklärung in die Diskurse der ,schönen‘ Literatur und der Philosophie:
Athanasius Kircher, Harsdörffer, Birken, Johann Christian Günther, Thomasius
1 Lorraine Daston: „Taking note(s)“, Isis, Bd. 95, 2004, S. 443–448. S. 443.
2 | Einführung
pitel 3.4). Ein Teil dieser memorativen und prospektiv Schreibziele einholenden
Leistung liegt darin begründet, dass dem Schreibenden eine Vielzahl vergange-
ner Schreibphasen präsent ist, bis hin zu einem plötzlichen Überblick über das
gesamte eigene Werk.
Goethe war, entgegen der gängigen Meinung, kein Schreibskeptiker. Bereits
die schiere Quantität (und Qualität) der Textzeugen von Goethes eigener Hand im
Goethe-und-Schiller-Archiv Weimar (und anderswo) ist hier beredt. Die Rein-
schriften des Faust-II-Konvoluts, des Divans, der Elegien sind als Immunisierun-
gen des Werks gegen den Entstehungsprozess zu lesen, aber auch als ,Verflüs-
sigung‘ des gedruckten Textes (Kapitel 4.1 und 4.2). Deswegen werden von den
Schreibern bereits gedruckte Passagen des Faust-II-Fragments wieder abge-
schrieben und in das handschriftliche Konvolut eingepasst. Es ist präzise die
Handschrift (die Immunisierung durch das Schreiben), die das organische Ver-
ständnis des Kunstwerks und des eigenen Werks befördert. Von besonderer Be-
deutung sind die wenigen Textzeugen, die ad-hoc-Schreibprozesse Goethes auf-
weisen: so die Urschrift der Marienbader Elegie, weil hier deutlich wird, dass der
Schreibende (natürlich) Revisionen, Umstellungen und Reformulierungen vor-
nimmt und wechselseitige kognitive Interrelationen zwischen Schreiben und
Denken nutzt (Kapitel 4.2) sowie – wichtiger – die ,kleinen Produkte‘ memorativ
als Schreibszenen ablagert.
Hinzu kommt die für Goethe eminent wichtige räumliche Anordnung und
Gestaltung des Schriftträgers sowie die ,bürokratische‘ Bearbeitung von Manu-
skripten. Dies hat eine memorative Funktion. Besonders die ,zweiten Werke‘
(Wanderjahre, Faust II), aber auch die Autobiographie sind Elemente, die in ein
Werkganzes eingepasst werden müssen. Sie sind die letzten Ausschnitte in dem
totalisierenden Abbild eines voll ausgeschöpften, zur Neige gehenden tätigen
Lebens. Als solche müssen sie die Progression dieses tätigen Lebens abbilden,
indem sie mit den anderen Werkbestandteilen korrelieren, aber auch diese fort-
führen und transformieren. Der späte Goethe kann als ein ,rechnender‘, grup-
pierender und einpassender Papierarbeiter gesehen werden, der im Wechselspiel
von totalisierender und memorativer Gesamtschau über das eigene Werk und die
damit verknüpfte Biographie (bis hin zu konkret erinnerbaren Schreibszenen)
auf der einen Seite und den zu füllenden Leerstellen und ,missing links‘ auf der
anderen zu ästhetischen Lösungen gelangt. Bestimmte ,Stationen‘ von Faust II
lassen sich in dieser Weise lesen. Für dieses ,ästhetische Rechnen‘ benutzte Goe-
the ,Gegenstandssymbole‘: also Sammellisten, Exzerpte, Munda, Konzepte, Kor-
rekturzettel und Reinschriften von Fragmenten. Derart ,lokale‘ Repräsentationen
und Positionierungen von Handlungsrollen, Aktanten und narrativen Kernen
sind der rhetorischen ars memoriae durchaus verwandt; wichtig ist aber, dass sie
durch das papierne Gegenstandssymbol, in der und durch die Schreibsituation
aktiviert werden. Diese Gegenstandssymbole nenne ich, in Anlehung an Ursula
4 | Einführung
Kleins Terminus, paper tools2. Paper tools sind ,Statthalter‘ komplexer naturwis-
senschaftlicher Theoreme oder instrumenteller Bestandteile (in der Regel Buch-
staben oder Kurzformeln) und werden als solche in Versuchs- oder Instrumen-
tenbeschreibungen der Zeit verwendet; sie sind verschieb- und kombinierbar.
Von hier aus ergibt sich eine überraschende Parallele von der Darstellungstech-
nik der paper tools in Instrumentenbeschreibungen bei Lichtenberg und vielen
anderen Naturwissenschaftlern der Zeit zu Goethes papiernen Gegenstandssym-
bolen. In der ,rechnenden Phantasie‘ des späten Goethe könnte sich durchaus
eine Praxis niedergeschlagen haben, die aus Instrumenten- und Experimentbe-
schreibungen der Zeit herrührt.
Ein wesentliches Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht darin, wie ein
komplexes Werk über einen langen Zeitraum entsteht und wie dies mit dem
kognitiven Mehrwert der Tätigkeit Schreiben zusammenhängt. Ein ,Prototyp‘
dieser Art sind die Discorsi Galileo Galileis, die in einem über dreißigjährigen
Zeitraum entstanden. Der Galileo-Forscher Stilman Drake hat zeigen können, wie
eine Vielzahl der Autographen aus dem zugehörigen Konvolut, dem Kodex 72, als
Memoranda fungieren, als Merkblätter für spätere Schreibphasen. Ich nenne die-
se Manuskript-Phänomene Ensembles und meine damit bildhafte Ordnungen
auf dem Schriftträger, die aus Textblöcken oder aus Textblöcken und Zeichnun-
gen sowie Datentabellen bestehen können. Bei Lichtenberg sind sie Legion, wie
man anhand der Antiphlogiston-Manuskripte aus dem naturwissenschaftlichen
Nachlass zeigen kann, die hier erstmalig vorgestellt werden. Bei Goethe lassen
sich viele Sammelblätter, aber auch Reinschriften als Ensembles bezeichnen.
Schließlich ist bei Goethe ein bildhaftes Denken prävalent; auch er war wie
Lichtenberg ein skizzierender Schreiber, der die medialen Interrelationen zwi-
schen Bild und Text nutzte. Wie bei Lichtenberg sind in der Kindheit empfangene
Eindrücke von Gemälden imaginative Quellen, die in der Schreibsituation akti-
viert werden. Ensembles fungieren nun in ihrer bildhaften Qualität ähnlich wie
diese biographisch abgelagerten Gemälde: nicht nur die thematischen Inhalte
werden aktiviert, sondern der Schreibende/Lesende ruft die Schreibszene als
ganze, samt unterdrückten Formulierungsvarianten und zugehörigen Konzepten
vermittels des Bildes auf dem Schriftträger auf: „a mental record of his own
previous moves”, wie es der experimentelle Psychologe und Wissenschaftshis-
toriker Howard Gruber nannte3. Schreibphasen, die vermittels Ensembles initiiert
werden, sind in der Tat eine ,nachgespielte Partie‘4 bereits gemachter Züge, die in
der Überlagerung vergangener, realisierter oder verworfener ,Lösungen‘ einen
plötzlichen Durchbruch zum „transsubjektiven Sinngehalt“5 erlangen, zum lite-
rarischen Werk.
Man bewegt sich, die großen Geistesgeschichtler des Fachs beweisen es, auf
brüchigem Eis, wenn man mentale Produktivität thematisiert. Besonders bei his-
torischen Figuren ist dergleichen ein hoffnungsloses Unterfangen, da wir uns mit
den Textzeugen zufrieden geben müssen, die eben das Ergebnis mentaler Pro-
duktivität sind. Im besten Fall dokumentieren diese, besonders durch Mehr-
schichtigkeit (Entwurf, Korrektur, Kommentar, Anordnung, Retrospektive), wie
mentale Konzepte produktiv wurden. Im Rückgriff auf Frederic Lawrence Hol-
mes’ quellenorientierte Untersuchungen der „investigative pathways“ von
schreibenden Wissenschaftlern6 und Howard Grubers ,psychologischen‘ Studien
wissenschaftlicher Produktivität führe ich den Terminus Innovation in die Dis-
kussion ein. Zum einen ist mir wichtig, dass damit ein ,Sprung‘, ein kognitiver
Durchbruch bezeichnet wird, der die transitorische und itinerare mentale Pro-
duktivität, eine „Sprache des Geistes“ (Fodor)7, zu einem ,transsubjektiven Sinn-
gehalt‘ wendet. Materielle und intermediale ,Rückkoppelungen‘ der Praxen
Schreiben und Lesen fördern diesen kognitiven Sprung, so die Hypothese dieser
Arbeit. Die zuvor erwähnten kognitiven Praxen der entstehenden Naturwissen-
schaften und die materiellen Praxen des Schreibens korrelieren also dahinge-
hend, dass Schreiben in besonderer Weise die (Eigen-)-Beobachtung, Techniken
des Erinnerns und die Verlagerung der Aufmerksamkeit (etwa vom Papier zum
Untersuchungsgegenstand) initiiert und aufrechterhält. Wenn im Folgenden von
4 Manfred Beetz, Gerd Antos: „Die nachgespielte Partie. Vorschläge zu einer Theorie der lite-
rarischen Produktion“. Analytische Literaturwissenschaft, hg. v. Peter Finke/Siegfried J.
Schmidt, Braunschweig: Vieweg, 1984. S. 90–141.
5 Klaus Hurlebusch: „Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu
einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens“. Textgenetische Edition, hg. v. Hans Zeller/Gun-
ter Martens, Tübingen 1998. S. 36.
6 Frederic Lawrence Holmes: Investigative Pathways. Patterns and Stages in the Careers of Ex-
perimental Scientists. New Haven Connecticut: Yale University Press, 2004.
Frederic Lawrence Holmes: Lavoisier and the Chemistry of Life. An Exploration of Scientific
Creativity. Madison: The University of Wisconsin Press, 1985.
Holmes: “The Fine Structure of Scientific Creativity”. History of Science, Bd. 19, 1981,
S. 60–70.
Holmes: “Scientific Writing and Scientific Discovery”. Isis, Bd. 78, 1987.
Holmes: “Argument and Narrative in Scientific Writing”. The Literary Structure of Scientific
Argument: Historical Studies, hg. v. Peter Dear, Philadelphia: University of Pennsylvania Press,
1991.
7 Jerry Fodor: Psychosemantics – The Problem Of Meaning in the Philosophy Of Mind.
Cambridge/London, 1987. Kapitel 4: Meaning and the World Order.
6 | Einführung
der Tätigkeit ,Schreiben‘ die Rede ist, so sind damit sowohl die materiellen As-
pekte als auch diejenigen ,mentalen‘ Praxen gemeint, die den kognitiven ,Fin-
gerabdruck‘ des Schreibens im Vergleich zu anderen Sprachproduktionsmodi
(Sprechen) und anderen höheren kognitiven Funktionen ausmachen.
Die Hypothese, dass sich literarische oder naturwissenschaftliche Innovati-
on der ,Zuspitzung‘ kognitiver Praxen durch die Tätigkeit Schreiben verdankt, ist
in einem literaturwissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Rahmen in-
direkt, aber vollständig nachweisbar: wenn die Innovation, die Wendung zum
Neuen, sich wiederum materialisiert, auf dem Schriftträger ablesbar ist. In einem
psycholinguistisch-experimentellen Rahmen ist die Hypothese direkt, aber un-
vollständig nachweisbar, wenn Effekte wie verbesserter Zugriff auf episodische
Gedächtnisinhalte beim Schreiben oder die Wirkung von Emotionen auf das Kor-
rekturverhalten von Schreibenden statistisch reliabel isoliert werden können.
Mein Forschungsansatz verfolgt beides.
1 Grundlegung
1.1 Einführung
Kapitel 1 enthält die Grundlegung dieser Arbeit: die Hypothese der Vereinbarkeit
von Kultur und Kognition in den Geisteswissenschaften, auch und besonders in
der Schreibforschung. Diesem Thema wende ich mich im ersten Abschnitt zu
(Kapitel 1.2). Der Forschungsbericht gliedert sich in einen literatur- und einen
schreibwissenschaftlichen Teil (Kapitel 1.3.1– 1.3.2). Im dritten Abschnitt der
Grundlegung stelle ich die Kernaxiome dieser Arbeit vor: entwickle die Leitlinien
der Argumentation anhand eines Schreibmodells (Kapitel 1.4.1), führe die Ter-
minologie ein (Kapitel 1.4.2) und gebe abschließend einen Abriss der von uns
durchgeführten Experimente (Kapitel 1.4.3).
2 Bruno Latour/Steven Woolgar: Laboratory Life. Princeton: Princeton University Press, 1986.
3 Robert Boyle: The Works. Hildesheim: Olms 1965. Bd. 1, Nachdruck der Ausgabe von 1772.
4 Jens Loescher: „Die ,Lokulamente des Gehirns‘. ,Schönschreiben‘ bei Goethe“. Zeitschrift für
deutsche Philologie, Bd. 128, H. 2, 2009, S. 179–206.
1.2 Kultur und Kognition | 9
schaftlern, wie die zwischen Samuel Thomas von Soemmerring und Goethe so-
wie Georg Christoph Lichtenberg spielen eine Rolle (also das, was Ludwik Fleck
,Schulen des Sehens‘ nannte). Oft sind es auch ,ungelöste‘ Probleme, die Gaston
Bachelard als epistemische Hindernisse bezeichnete5, in diesem Fall ein zuneh-
mend erkennbares Defizit der ,alten‘ Assoziationsforschung (David Hartley, John
Locke), die um 1840 von James Mill und dann von John Stuart Mill auf ihr mo-
dernes Fundament gestellt wird, nachdem Autoren wie Lichtenberg und Jean
Paul literarische Assoziationsforschung betrieben hatten. Besonders interessant
sind im Zusammenhang des Experimentalsystems Schreiben habitualisierte Em-
piriker, die Phänomene wie den Schreibprozess protokollierend begleiten müs-
sen, weil sie den Beobachterstatus inhäriert haben: Goethe und Lichtenberg.
Ich plädiere also – als Germanist und Wissenschaftshistoriker – für eine
,weiche‘ Spielart hirnphysiologischer Theorien von Kognition, wie sie nicht zu-
fällig von generativen Linguisten (Ray Jackendoff6), Philosophen (Philip John-
son-Laird) und Wissenschaftshistorikern (Olaf Breidbach)7 vertreten wird. Es gibt
eine zweite Ebene ,oberhalb‘ neuronaler Aktivierungen: mentale Repräsentati-
onen oder – in meiner Terminologie – mentale Konzepte. „Neuronen denken
nicht“8, wie Michael Hagner einmal treffend formulierte. Methodisch folge ich
demnach einem ,objektiven‘ Historismus Droysenscher Provenienz, der die his-
torische Terminologie und Semantik einsetzt, ihr aber nicht sklavisch folgt. Da
die ,weiche‘ neurokognitive Schule dualistische Konzepte nicht per se aus-
schließt, bin ich in meiner Terminologie weniger monistisch, also ,radikal‘, als
viele Hirnforscher der ersten Generation zu Zeiten Lichtenbergs, Jean Pauls und
Goethes. Zuweilen werden state-of-the-art Begriffe und Modellierungen aus der
aktuellen Schreibforschung interpoliert. Diese Passagen und die Narration des
Philologen und Wissenschaftshistorikers sind im Duktus der Argumentation ge-
trennt, dementsprechend wird prinzipiell zwischen der historischen Figur des
Autors und dem Typus des Schreibenden unterschieden.
Die Frage ,Cognition or culture‘ stellt sich im Rahmen dieser Arbeit ebenso
wenig wie etwa in Michael Tomasellos Projekten.9 Der Leitbegriff wäre stattdes-
sen ,Cognition and culture‘. Tomasellos Grundhypothese besagt ja, dass Kultur in
bestimmten Kontexten die (evolutionäre) Transformation und Anpassung ko-
gnitiver Funktionen beschleunigt. Dieser ,Wagenheber-Effekt‘ lässt sich direkt
auf die kognitive Funktion Schreiben übertragen. Stanislas Dehaenes Recycling-
Hypothese geht davon aus, dass die Kulturtechniken Schreiben und Lesen als
Trittbrettfahrer auf ältere neuronale Schaltkreise ,aufspringen‘10. Diese kogniti-
ven/neuronalen ,Wirte‘ sind besonders visuelle/räumliche Wahrnehmung und
Sprachverarbeitung. Das Argument ist in Anlehnung an Tomasello und Dehaene,
dass die kurze ,Karriere‘ des Schreibens im historischen Zeitalter nicht allein
durch Evolution zu erklären ist: hier muss ein kultureller Beschleuniger ange-
nommen werden.
Wenn im Folgenden mit kognitiver Terminologie gearbeitet wird, so folgen
daraus zwei Dinge nicht: erstens ein prinzipiell ahistorischer Blick; zweitens eine
Verkürzung der Ausnahmeleistung literarischen Schreibens. Stattdessen geht es
um folgende Fragen:
1. Welche ,Strategien‘ verfolgt ein Autor, der an den jeweils aktuellen theore-
tischen Modellen mentaler Produktivität geschult ist, um den kognitiven,
wissensgenerierenden und emotionalen ,Zustand‘ literarischen Schreibens
zu erreichen und zu halten?
2. In welcher Relation stehen auf bestimmten historischen Stufen (literarische)
Schreiblabors und Schreibexperimente mit naturwissenschaftlichen Er-
kenntnismodellen (die wiederum, zum Teil, kulturell ,konstruiert‘ sein kön-
nen)?
Frei nach Tomasello, dessen Methodik des Fragens für diese Arbeit Vorbild sein
kann: Ob dieses Forschungsfeld dem Paradigma Kognition oder Kultur oder bei-
den zuzuordnen ist, der Geistes- oder der Naturwissenschaft angehört, weiß ich
nicht.11
Was ist das Ziel einer solchen tour de force quer über die Disziplinen? Von
literaturwissenschaftlicher Seite geht es hier um die Hoffnung, eingefahrene Dis-
kussionen auf einem Kerngebiet, literarischer Innovation, mit neuen Einsichten
zu beleben. Die Übernahme empirisch generierter Erkenntniswerte ist nicht me-
taphorisch gemeint, sie zielt nicht auf einen weiteren (den wievielten?) turn in
den Geisteswissenschaften. Vielmehr geht es, sowohl auf empirischer als auch
9 Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 2000.
10 Stanislas Dehaene/Laurent Cohen/Mariano Sigman/Fabien Vinckier: “The Neural Code for
Written Words: A Proposal”. Trends in Cognitive Sciences, Bd. 9, 2005, S. 335–341.
11 Bei Tomasello heißt es: „Ob das eine naturwissenschaftliche oder eine geisteswissenschaft-
liche Untersuchung ist, weiß ich nicht“. Ders.: Die kulturelle Entwicklung, S. 9.
1.2 Kultur und Kognition | 11
12 John R. Hayes/Linda Flower: „Identifying the Organization of Writing Processes“. In: Lee W.
Gregg/Erwin R. Steinberg (Hg): Cognitive Processes in Writing. Hillsdale, NJ: Routledge, 1980.
S. 3–30; Carl Bereiter/Marlene Scardamalia: The Psychology of Written Composition, Hillsdale,
NJ: Routledge 1987.
13 Jens Loescher (Hg.): Writing as a Cognitive Tool. Research Across Disciplines. In: German as a
Foreign Language (GFL), 2/3 (2009). Online-Ressource, URL: http://www.gfl-journal.de/Is-
sue 2 2009.php.
12 | 1 Grundlegung
Alle drei Axiome teile ich uneingeschränkt. „Zu den Quellen“14, eine Art Rephi-
lologisierung des Fachs ist der hier skizzierten Forschungsposition affin. Die
Entzifferung der Handschriften ist philologische Kärrnerarbeit an diesen Quel-
len.
Der Nachvollzug von biographischen oder schreibstrategischen ,Rahmun-
gen‘ der Schreibsituation erfordert darüber hinaus die ,klassische‘ Kompetenz
des Philologen, aus der unübersehbaren Komplexität einer ,Generation‘, die be-
stimmten ,Erlebnissen‘ ausgesetzt ist, aus der Einzelbiographie, aus dem Werk-
ganzen heraus die relevanten Interpretamente zu filtern, die der historischen
Semantik und dem ästhetischen Profil des Einzelwerks eine gewisse ,Objekti-
vität‘ oder Haltbarkeit verleihen – und sei es in der subjektiven hermeneuia des
Interpreten. Betrachtet man die Fachgeschichte genau, so hat es natürlich schon
immer Schreibforscher gegeben: die Editoren der ersten Stunde, also der kriti-
schen Goethe- und Herder-Ausgaben, allen voran Bernhard Suphan und Erich
Schmidt, aber auch die DDR-Goetheforscher Karl-Heinz Hahn und Siegfried
Scheibe, Friedrich Beißner, Klaus Hurlebusch, zuletzt auch Martin Stingelin.15
Es gab jenseits der main-stream-Editorik fachgeschichtlich relevante Persönlich-
keiten wie Eduard Berend oder jetzt Roland Reuß.16 Es gibt einen historisch be-
zeugten Modus philologischen Fragens nach der Genese literarischer Texte, der
Abstand vom Genie oder von Interpolationen eines ,kollektiven Gedächtnisses‘
mit dem Autorsubjekt hält und der dennoch die Abstinenz von produktionsäs-
thetischen oder werkgenetischen Aspekten nicht akzeptiert. Die Autonomie lite-
rarischer Werke anzuerkennen, heißt nicht, die Rede von der black box des schrei-
benden Autors zu übernehmen. Gerade hier ein ,behavioristisches‘ Argument zu
implementieren, das notorische Zurückschrecken davor, bewusste, ,kognitive‘
Vorgänge ,im Kopf‘ in irgendeiner Form zu thematisieren, führt gerade zu jener
,mechanistischen‘ Verkürzung der beobachtbaren Phänomene, die kognitiv ori-
entierten Ansätzen vorgehalten wird. Diese mechanistische Verkürzung wird ge-
rade durch das Vokabular subjektiven ,Verstehens‘ oder durch rein metaphorisch
verbleibende Begriffsimporte aus naturwissenschaftlichen Kontexten zugleich
verdeckt und transportiert. Das Werk entsteht nicht ,irgendwie‘ aufgrund be-
stimmter äußerer Parameter und auch nicht ,irgendwie‘ aufgrund genialischer
Eingebung, sondern in einem überaus komplexen, letztendlich nicht vollkom-
men einholbaren Zusammenspiel von Erinnerung, Assoziation, räumlichem Den-
ken in Verbindung mit kognitiven ,Erleichterungen‘, die besonders das Schreiben
bietet. Darauf als Forschungsgegenstand zu verzichten, ist für eine Literaturwis-
senschaft auf der Suche nach ihrer ,master-competence‘ geradezu fahrlässig.
Die Gefahr bei einer metaphorischen Übernahme ,technizistischer‘ Diskurse
ist ja, dass die Quellen des Fachs verschüttet werden und Philologen ungebremst
und unbehaust in Konkurrenz zu Wissenschaftlern der Nachbardisziplinen zu
treten versuchen: die Arbeitsstuben-Wolldecke gegen den weißen Kittel eintau-
schen – um sich einer Abwehr-Phalanx von alteingesessenen, in den Praktiken
ihrer community eingeübten Naturwissenschaftlern gegenüber wiederzufinden.
Bestimmte Abwehrkämpfe der ,Rephilologen‘ lassen sich aus dieser Vorstellung
des unbehausten Literaturwissenschaftlers ableiten, der – einmal des tradierten
Habitus beraubt – fernab der Drittmittelvergaben die mönchische Klause, die
Arbeitsstuben-Wolldecke wählen muss. Der Blick über den Tellerrand erscheint
in dieser Perspektive als Sündenfall, der nicht rückgängig zu machen ist. – Lässt
es sich dagegen nicht denken, dass eine seriöse Kompetenzerweiterung des Phi-
lologen einen gewissen Purismus in den Philologien nach sich zöge, ja: zuspitz-
te? Nicht die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften,17 sondern
seine Einübung bedeutete?
16 Roland Reuß: „Notizen zum Grundriß der Textkritik“. Modern Language Notes, Bd. 127. H. 3,
2002, S. 584–589; Ders.: „Digitalisierung ohne Daumen. Zur Physiologie des Computerschrei-
bens“. System ohne General. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, hg. v. Davide Giuriato u.a.,
München: Fink, 2006, S. 209–216.
17 Friedrich Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme
des Poststrukturalismus. Paderborn: Schöningh, 1980.
14 | 1 Grundlegung
1.3.1 Literaturwissenschaft
Die deutsche Aufklärungsforschung ist nicht nur „eine scientific community von
seltenem Selbstbewußtsein und Gemeinschaftssinn“19, sondern sie ist geprägt
von einem selbstreflexiven Gestus, der sich in einer Reihe von Forschungsberich-
ten sowie im Interesse der germanistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung
18 John Hayes/Linda Flower: „Identifying the Organization of the Writing Process”. Cognitive
Processes in Writing, hg. v Lee W. Gregg/Erwin R. Steinberg, Hillsdale, NJ: Erlbaum, 1980.
19 Jutta Heinz: „Literarische oder historische Anthropologie? Zur Möglichkeit interdisziplinä-
ren Arbeitens am Beispiel von Literatur und Anthropologie im 18. Jahrhundert“. Innovation und
Transfer. Naturwissenschaft, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Walter
Schmitz/Carsten Zelle, Leipzig: Thelem, 2004. S. 196.
1.3 State of the Art | 15
26 Diese Reihe ist idealtypisch, nicht chronologisch: Michelsen, Schrimpf, Winter und Martens
schrieben ihre Monographien vor der Etablierung des Anthropologieparadigmas.
27 Wolfgang Frühwald/Hans-Robert Jauß/Reinhart Kosellek/Jürgen Mittelstraß/Burkhart Stein-
wachs: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a.M., 1991.
28 Manfred Engel: „Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft –
kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft“. KulturPoetik, Bd. 1, Heft 1, 2001. S. 29.
18 | 1 Grundlegung
29 Karl Robert Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker, München: Beck, 1979. Teil 3,
S. 207–220.
30 Siehe auch Siegfried Scheibe: „Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des frühen
,Faust‘“. Jahrbuch der Goethe Gesellschaft, Bd. 32, 1970. S. 61–71. Ernst Grumach: „Prolegomena
zu einer Goethe-Ausgabe“. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 13, 1950, S. 60–88. Ernst Gru-
mach: „Aus Goethes Vorarbeiten zu den Helenaszenen“. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft,
Bd. 21, 1958. S. 45–71.
31 Walter Müller-Seidel: „Der späte Goethe. Zu seiner Rezeption in der Weimarer Republik“.
Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa, hg. v. Bernhard Beutler/Anke
Bosse, Wien: Böhlau, 2000. S. 469.
1.3 State of the Art | 19
32 FA, 1.Abt., Bd. 14, S. 1022. Die meisten Werke Goethes werden zitiert nach der Frankfurter
Ausgabe (FA), hg. v. Friedmar Apel und anderen. Die Weimarer Ausgabe wird, wie immer in der
Goethe-Forschung, mit WA wiedergegeben. Einzelne Werke zitiere ich nach der Hamburger
Ausgabe, hg. v. Erich Trunz: HA.
33 So Bernhard Suphan, WA, 1.Abteilung, Bd. 34/2, S. 145.
34 Anke Bosse: „,The making of‘ – Blicke in des Autors ,Werkstatt‘: zum Verstehen und Vermit-
teln literarischer Arbeitsweisen“. Editio, Bd. 17, 2003. Dies: „Vom ,Einfall‘ zum Text. Die Ent-
stehung literarischer Texte darstellen und vermitteln“. Akten des Deutschen Germanistentages
2001, Bielefeld, 2002.
35 Anne Bohnenkamp: „Autorschaft und Textgenese“. Autorschaft. Positionen und Revisionen,
hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart, 2002. S. 75. Bohnenkamp zitiert Klaus Hurlebusch.
20 | 1 Grundlegung
Jean Paul, der Titan, der sich den oylmpischen Göttern geschlagen geben
muss, hatte keine Großherzogin und keinen nationalen Gedenkstatus. Es war im
wesentlichen ein einzelner und zunehmend isolierter Germanist, der sich der
Edition dieses Autors annahm. Eduard Berend gilt bis heute als einer der we-
nigen Jean-Paul-Forscher, die den Nachlass des Autors überblicken und die
werkgenetische oder bedeutungserschließende Valenz einzelner Teile einschät-
zen konnten. Ein „großer Teil des Denkprozesses, der sonst im Kopfe vor sich zu
gehen pflegt“, vollzog sich, so Berend in seinen Prolegomena, „auf dem Pa-
pier“.36 Berend, der Muncker-Schüler, war ,Positivist‘, obwohl er der sich for-
mierenden geistesgeschichtlichen Richtung, besonders Rudolf Unger, durchaus
positiv gegenüberstand. Bis heute werden seine Quellentreue, sein genetischer
Blick auf die Werkentstehung gelobt – und dies in einer Zeit, in der die edito-
rische Germanistik einen Dienst an der Nation zu leisten hatte. So galt es neben
den Weimarer Klassikern auch Jean Paul als nationalen Dichter mit klassizistisch
abgerundetem Profil zu präsentieren. Max Kommerell hatte diesem politischen
Auftrag mit seinem notorischen „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“
im Jahr 1932 endgültig entsprochen, und zwar ausdrücklich auch auf Jean Paul
bezogen. Berend bleibt davon nicht frei, seine unvollendet gebliebene kritische
Ausgabe präsentiert das abgeschlossene Werk, eine lineare Entwicklung ,zum
Besseren hin‘, den ,Weimarer‘ Titan als Höhepunkt vor Augen. Besonders diesen
Roman betreffend, werden auch Kategorien der lebensphilosophischen Schule
Wilhelm Diltheys und Stefan Georges greifbar, das „Erlebnis Weimar“ (Komme-
rell) greift als biographisches, aber auch generationenspezifisches Merkmal in
die individuelle Imagination und sprachliche Ausgestaltung des Autors ein.
Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass sich Berend den
Blick freihält auf die werkkonstitutive Funktion des iterativen Weiterschreibens
bei Jean Paul. Die zentrale Funktion der Exzerpte, der Vorarbeiten, der Gedan-
ken-Hefte, der Einfall- und Ideenhefte für das Werk, die Problematisierung des
Werk-Begriffs in den Vorreden (besonders des Hesperus) und die Überarbeitun-
gen im Zug neuer Auflagen, die jenes Ziel der Klassizität ironisieren – wiewohl
keineswegs aufgeben –, die Montage und Verschiebung von ,Bausteinen‘ in sinn-
fremde Werkkontexte, die der Funktionsweise der Metapher und Metonymie ent-
gegenkommen: all diesem wollte Berend Rechnung tragen mit zwei separat pu-
blizierten Lesartenbänden. Dazu kam es bekanntlich nicht mehr. Franz Koch,
seit 1935 Ordinarius in Berlin neben dem Berend-Unterstützer Julius Petersen
hatte von diesem in einem Brief im Juni 1939 in rüdem Ton die Verantwortlichkeit
36 Eduard Berend: Prolegomena zur historischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. Ab-
handlungen der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1927, Philosophisch-
historische Klasse, Berlin: Verlag der Akademie der Wissenschaften, 1927. S. 27. Im Folgenden:
Prolegomena.
1.3 State of the Art | 21
37 Siehe dazu Hanne Knickmann: „Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883–1973). Ein
Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Jahrbuch der
Jean-Paul-Gesellschaft, 1994, Teil 1, S. 7–93. Teil 2 folgte im Jahrbuch 1995 (S. 7–105).
38 Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, Reinbek: Rowohlt, 1974. Siehe auch Peter
Sprengel (Hg.): Jean Paul im Urteil seiner Kritker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls
in Deutschland, München, 1980.
39 In einem Aufsatz für das Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft (2007) zieht Golz nun Goethes
„Vergleichung“ heran, muss aber dessen positive Note abschwächen, um die Dichtomie auf-
rechterhalten zu können (S. 28).
40 Jochen Golz: Welt und Gegenwelt in Jean Pauls „Titan“, Stuttgart: Metzler, 1996. S. 14.
22 | 1 Grundlegung
Ist Jean Paul der Autor, der in das Spannungsfeld von Polarisierungen einer
die deutsche Befindlichkeit abklopfenden Philologie geriet und deshalb allzu
schnell und dezidiert profiliert wurde, so ist die Lichtenberg-Forschung exakt
gegenteilig geprägt. Traditionell herrscht Ratlosigkeit vor, auch wenn der Rang
des Autors spätestens seit der kritischen Ausgabe Leitzmanns außer Frage steht.
Immer schon war das Urteil der Kollegen enthusiastischer als das der Philologen,
von Nietzsche bis zu Helmut Heißenbüttel. Hat sich die main-stream Germanistik
mit mehreren Lehrstühlen in Würzburg und anderswo Jean Pauls angenommen
und eine eigene Arbeitsstelle eingerichet, so hat sich Lichtenberg, trotz der re-
zenten Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften in Darmstadt und Göt-
tingen, die in ihrer exzellenten editorischen Arbeit, so scheint es, bislang nicht
genügend gewürdigt worden ist, nicht als Beschäftigungsmittelpunkt und damit
Institutionalisierungsgut von größeren Forschungsverbünden etablieren kön-
nen. Lichtenberg-Forscher sind engagierte Einzelkämpfer. So hat Ulrich Joost in
einer Fülle von Studien einzelne Aspekte des Lichtenbergschen Werks durch-
leuchtet, aber keinen umfassenden Entwurf zu diesem Autor vorgelegt, sieht
man von der beeindruckenden philologischen Leistung der Briefherausgabe ab.
Auch Wolfgang Promies hat keinen Versuch unternommen, eine Gesamtschau
des Lichtenbergschen Werks vorzulegen, obwohl das öffentliche Interesse an
Lichtenberg vermutlich höher ist als etwa an Jean Paul. Immerhin sind in den
letzten Jahren einige Monographien zum Thema Schreiben bei Lichtenberg und
Jean Paul erschienen44.
Albrecht Schönes Monographie stellte hinreichend unter Beweis: man kann
sich diesem Autor nicht ohne erheblichen wissenschaftsgeschichtlichen Unter-
bau und besonders Kenntnis der naturwissenschaftlichen Teile des Nachlasses45
nähern. Diesen Bereich des Nachlasses hat jedoch kaum jemand, außer einigen
an Lichtenberg interessierten Naturwissenschaftlern46 zu Gesicht bekommen.
44 Geneviève Espagne/Christian Helmreich (Hg.): Schrift und Schreibspiele – Jean Pauls Arbeit
am Text, Würzburg, 2002.
Andreas Erb: Schreib-Arbeit: Jean Pauls Erzählen als Inszenierung „freier“ Autorschaft, Wies-
baden: Dt. Univ.-Verl., 1996.
Stefan Goldmann: “Lesen, Schreiben und das topische Denkende bei Georg Christoph Lich-
tenberg“. Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert, hg. v. Paul Goetsch, Tübingen: Narr,
1994.
Die erste Studie von Rüdiger Campe zum Thema: „Schreibstunden in Jean Pauls Idyllen“,
Fugen, Bd. 1, 1980, S. 132–170.
45 Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergische Kon-
junktive, München: Beck, 1982.
46 Otto Weber: „Ich habe ihn zu erst zur Mechanik gebracht, welches er mir schon tausendmal
gedankt hat“. Georg Christoph Lichtenberg, 1742 – 1799, Wagnis der Aufklärung, hg. v. Sibylle
Spiegel, München: Hanser, 1992.
24 | 1 Grundlegung
Nur so lässt es sich erklären, dass ein überaus begabter Germanist wie Paul
Requadt Lichtenbergs Selbstbeobachtung, die er bereits 1948 klug erkennt, in
den Kontext pietistischer Zeugnisnahme stellt – samt Engführung Adam Bernds
mit dem Experimental-Physiker. Folgerichtig geht es hier auch für Requadt um
die „Überwindung der Assoziationspsychologie“ zugunsten der transzentalen
Erkenntnisphilosophie Kants47. Auch Franz Mautner unternimmt eine groß an-
gelegte Geschichte seines Geistes: allein, diesen geistesgeschichtlichen Darstel-
lungen haftet allzu deutlich der Mangel an einer kollektiv bindenden histori-
schen Konstellation, in die Lichtenberg einzupassen wäre, an48. In den Genera-
tionenzusammenhang der Gelehrtenrepublik, die seit Klopstock das Selbstver-
ständnis der Aufklärung prägt, gehört Lichtenberg, der Freund Alessandro Voltas
und DeLucs, sicherlich nicht oder kaum.
Albrecht Schöne war es, der beherzt die gängigen Komplementärfelder für
die literaturwissenschaftliche Kontextualiserung von Schriftstellern – Philoso-
phie, Literatur, ,Psychologie‘ – beiseite ließ und Lichtenberg als schreibenden
Naturwissenschaftler einführte. Auch methodisch war das Buch ein Novum: mit
Hilfe einiger Assistenten konnte Schöne empirische Daten vorlegen, etwa Aus-
zählungen des Potentialis in den Sudelbüchern. Die Monographie ist ein Meilen-
stein, weil sie Lichtenbergs Ineins von naturwissenschaftlichem Erkenntnisin-
teresse – und Skepsis – auf der einen Seite und seinen literarischen Schreibex-
perimenten auf der anderen Seite profilierte und schlüssig machte – In-Eins,
nicht Analogie oder Übertragung der produktiven Strategien von einem Feld in
das andere. Das hatte zur Folge, dass plötzlich Newton statt Kant, Hartley statt
Adam Bernd, die Royal Society statt der Gelehrtenrepublik im Zentrum standen.
Dies ließ auch die Literarizität der Aphorismen in den Sudelbüchern als eine
experimentelle erscheinen, bereits bei Schöne.
Nun lässt sich mit dem institutionellen Erstarken der Wissenschaftsgeschich-
te ein ,experimental turn‘ in den Literaturwissenschaften beobachten, der sich
mit Michael Gamper, Nicolas Pethes, Christoph Hoffmann verbindet. ,Kern-Au-
toren‘ sind hier Musil, Benn, die konkreten Poeten sowie – Lichtenberg. Bei
dieser methodischen Verschmelzung entstehen mehrere Probleme: zum einen ist
die Darstellung von wissenschaftshistorischen Phänomenen oftmals unterkom-
plex und die weitgefächerte Literatur und das methodische Arsenal der Nachbar-
Disziplin wird zumeist auf einige Leuchttürme eingeengt. Zweitens verbleibt, so
schon kritisch Pethes und Krause, der Begriff ,Experiment‘ auf literarische Texte
bezogen oftmals im rein Metaphorischen: „Dass es literarische Experimente gibt,
wird hier (…) nicht vorausgesetzt, sondern in Frage gestellt“49. Demgegenüber
47 Paul Requadt: Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik, Hameln: Verlag der Bü-
cherstube Fritz Seifert, 1948. S. 69 ff.
48 Franz Mautner: Lichtenberg: Geschichte seines Geistes, Berlin: de Gruyter, 1968.
1.3 State of the Art | 25
lesen sich die drei literarhistorischen Bände50 und die Monographie Experiment
und Literatur. Themen, Methoden, Theorien 51, die Michael Gamper federführend
verantwortet hat, wie Variationen auf das ältere Thema: ,Experimentelle Litera-
tur‘. Der in der Einleitung des zuletzt erwähnten Bandes zitierte Lexikonartikel
von Ulrich Röseberg ist als Abgrenzungsfolie gedacht:
Darüber hinaus werden manche Kunstrichtungen als experimentelle charakterisiert. Damit
sind in der Regel spezifische Darstellungsmethoden (etwa des Dadaismus, des Konstruk-
tivismus u.a.) gemeint. Im folgenden geht es ausschließlich um das Experiment als eine
regelgeleitete wissenschafltiche Erkenntnismethode, dessen Stellung im Methodengefüge
der Wissenschaften.52
1.3.2 Schreibforschung
Das Feld Schreibforschung existiert seit etwa vierzig Jahren und umfasst Berei-
che einer Anzahl von akademischen Fächern: Literaturwissenschaft, Wissen-
schaftsgeschichte, Kulturwissenschaften, Psycholinguistik, Pragmalinguistik,
65 Sylvie Molitor-Lübbert: „Schreiben als mentaler und sprachlicher Prozeß“. Schrift und
Schriftlichkeit, hg. v. Hartmut Günther/Otto Ludwig, Berlin, 1996. Bd. 2, S. 1005–1027. Gerd
Antos, Hans Peter Krings (Hg.): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick, Tü-
bingen: Niemeyer, 1989.
66 Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schrei-
bens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, Tübingen, 2001.
67 Bruno Latour/Steven Woolgar: Laboratory Life, Princeton, 1986. Stillman Drake: Galileo at
Work: his Scientific Biography, Chicago: Chicago University Press, 1978.
68 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen: Wallstein
2001. Christoph Hoffmann: Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate,
Göttingen: Wallstein, 2006.
69 Siehe jedoch Jens Loescher: „Schreiben, Denken, Sprechen: in der Fremdsprache. Ein Neu-
ansatz“ GFL. German as a Foreign Language, Bd. 2, 2008.
70 Siehe jedoch Jens Loescher: “Spaces and Traces. Cognitive Practices in Seventeenth and
Eighteenth Century Ensembles of Text and Drawing”, Gesnerus. Swiss Journal for the History of
Medicine, Bd 71, H. 2, 2014, S. 38–71.
1.3 State of the Art | 29
71 Der Rest dieses Abschnittes („Schreibforschung“) ist aus einer Kooperation mit Walter Erhart
entstanden.
72 Jürgen Baurmann/Rüdiger Weingarten (Hg.): Schreiben. Prozesse, Prozeduren und Produkte,
Opladen, 1995.
Konrad Ehlich/Angelika Steets (Hg.): Wissenschaftlich schreiben – lehren und lernen. Ber-
lin/New York: de Gruyter, 2003.
Otto Kruse/Katja Berger/Marianne Ulmi (Hg.): Prozessorientierte Schreibdidaktik. Schreib-
training für Schule, Studium und Beruf, Bern: Haupt, 2006.
Gerd Bräuer: Schreiben(d) lernen. Ideen und Projekte für die Schule, Hamburg: Ed. Körber-
Stiftung (Amerikanische Ideen in Deutschland, 6), 2006.
73 Gerd Antos/Hans Krings (Hg.): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick,
Tübingen: Niemeyer, 1989.
Konrad Ehlich: „Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation“. Schrift und Schrift-
lichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch. An Interdisciplinary Handbook of
International Research, hg. v. Hartmut Günther/Otto Ludwig, Berlin/New York: de Gruyter, 1994,
Bd. 1, S. 18–41.
Arne Wrobel: Schreiben als Handlung. Überlegungen und Untersuchungen zur Theorie der
Textproduktion, Tübingen: Niemeyer, 1995 (Reihe germanistische Linguistik, 158).
Charles Bazerman: What Writing does and how it does it. An Introduction to analyzing Texts
and textual Practices, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum, 2004.
74 Wolfgang Raible (Hg.): Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze
zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen: Narr, 1995.
Wolfgang Raible (Hg.): Kognitive Aspekte des Schreibens, Heidelberg: Winter, 1999 (Schrif-
ten der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 14).
75 Lew Semjonowitsch Wygotski: Denken und Sprechen, hg. v. Johannes Helm, Frankfurt a.M.:
Fischer, 1971.
Lew SemjonowitschWygotski: Geschichte der höheren psychischen Funktionen, hg. v. Alex-
andre Métraux, Münster, 1992.
John Hayes/Linda Flower: „Identifying the Organization of Writing Processes“. Cognitive
Processes in Writing, hg. v. Lee W. Gregg/Erwin R. Steinberg, Hillsdale, 1980, S. 3–30.
Carl Bereiter/Marlene Scardamalia: The Psychology of Written Composition, Hillsdale/NJ,
1987.
30 | 1 Grundlegung
76 Willem Levelt: Speaking. From Intention To Articulation, London: MIT Press, 1989. Gegen die
Parallelsetzung von Schreiben und Sprechen schon: Jürgen Grabowski: “Writing and Speaking:
Common Grounds and Differences toward a Regulation Theory of Written Language Pro-
duction”. The Science of Writing: Theories, Methods, individual Differences, and Applications, hg.
v. C.M. Levy/S. Ransdell, Mahwah: Erlbaum, 1996, S. 73–91.
77 Mark Torrance/Luuk van Waes/David Galbraith/Gert Rijlaarsdam (Hg.): Writing and Cogni-
tion: Research and Applications. Amsterdam/Oxford: Elsevier. 2007 (Studies in Writing, Bd. 20).
Marielle Leijten/Luuk van Waes/Sarah Ransdell: “Correcting Text Production Errors: Iso-
lating the Effects of Writing Mode From Error Span, Input Mode, and Lexicality”. Written Com-
munication, Bd. 27, H. 2, 2010, S. 189–227.
Ronald Kellogg: “Working Memory Components in Written Sentence Production”. American
Journal of Psychology, Bd. 117, 2004, S. 341–361.
78 Louis Hay: „Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer ,critique génétique’“. Po-
etica, Bd. 16, 1984, S. 307–323.
Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ,critique génétique, Bern,
1999.
Almuth Grésillon: „Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben“. Kultu-
relle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze zum Thema Mündlichkeit und
Schriftlichkeit, hg. v. Wolfgang Raible, Tübingen: Narr, 1995, S. 1–36.
79 Martin Stingelin: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Die poetologische
Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christop Lichtenberg und Friedrich Nietzsche“, Lich-
tenberg Jahrbuch, 1999, S. 81–99.
80 Anne Bohnenkamp: „Autorschaft und Textgenese“. Autorschaft. Positionen und Revisionen,
hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart, 2002, S. 62–80.
Anne Bohnenkamp: das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend. Die Paralipomena zu
Goethes ,Faust‘, Frankfurt a.M., 1994.
1.3 State of the Art | 31
1.4.1 Modell
Ein seit langem bekanntes Charakteristikum des Schreibens (im Gegensatz zum
Sprechen) ist, erstens, die rekursive Prozessierung. Der Schreibende produziert
etwa ein bis zwei Worte pro Sekunde, der Sprechende kann bis zu 5 oder 6 Worte
pro Sekunde artikulieren. Bereits die Verlangsamung des ,outputs‘ führt zu einer
,Rückläufigkeit‘: Vorsprachliche mentale Konzepte, die auf der ,Ebene‘ der
Schreibideation generiert und in Sprache transformiert (enkodiert) werden, kön-
nen aufgrund der Verlangsamung und motorischen Komplexität des Schreibakts
auf die vorherige Ebene ,zurücktransponiert‘ werden. Es gibt gleichsam ein
,feedback‘ auf jeder Ebene der Sprachproduktion beim Schreiben, das für eine
nochmalige ,Bearbeitung‘ auf früheren Stufen sorgt (incremental processing).
Dieser Rückläufigkeit entspricht – wegen der verlangsamten Prozessierung beim
Schreiben – eine prospektive Komponente. Schreibende lesen aktivierte mentale
Konzepte aus, bevor sie sie versprachlichen und motorisch realisieren. Erfolg-
versprechende Konzepte werden selektiert, die anderen werden fallengelassen.
Zweitens aktiviert Schreiben im Gegensatz zum Sprechen bestimmte Erin-
nerungspfade, die es ermöglichen, saliente Konzepte oder Fehlschläge der
Schreibideation im bis jetzt produzierten Text jederzeit abrufbar zu halten. Ins-
besondere der Autor literarischer Texte hat Repräsentationen der vergangenen
Schreibepochen memoriert und kann diese in der aktuellen Schreibsituation ak-
tivieren. Sowohl die produktionstechnische als auch die memorierende Funktion
des Schreibens, die diesen Sprachproduktionsmodus signifikant – kognitiv, neu-
ronal – vom Sprechen unterscheidet, sorgt für eine Überlagerung, eine Art mehr-
fachen ,Durchlaufs‘ aktivierter Konzepte, Lemmata und Lexeme. Das führt zu
den eigentümlich ,dichten‘ mentalen Konzepten und deren sprachlicher Reali-
sierung beim Schreiben, vor allem bei literarischem Schreiben, das sich in Me-
taphern, Kollokationen, syntaktischen Effekten, textueller Mehrschichtigkeit
und anderen Phänomenen äußert, deren kognitive Basis innerhalb der Litera-
turwissenschaft und Linguistik in letzter Zeit intensiv diskutiert wird86.
86 Karl Eibl: Kultur als Zwischenwelt: Eine evolutionsbiologische Perspektive, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 2009.
Gerhard Lauer: „Going empirical. Why we need Cognitive Literary Studies”. Journal of
Literary Theory, Bd. 3, H. 1, 2009 (keine Paginierung).
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 33
Eine Pioniertat der achtziger Jahre war die Modellierung von Phasen wäh-
rend des Schreibvorgangs bei Hayes/Flower, die seitdem mit dem Begriff der
Epoche belegt werden. Diese Epochen sind Planung (planning), ,Übersetzung‘ in
Sprache sowie motorische Realisierung (translating) und die Relektüre des ge-
schriebenen Textes (reviewing). Der Begriff ,translating‘ meint also nicht den
Transfer von einer Sprache in eine andere, sondern den Transfer (,Enkodie-
rung‘) von vorsprachlichen Konzepten in Sprache. Es war, so David Galbraith,87
nicht die Absicht der Autoren, konkrete Arbeitsphasen während des Schreib-
prozesses zu benennen, sondern kognitive ,Ebenen‘, die sich während konkreter
Arbeitsschritte auch überlappen können (reviewing- und planning-Phasen las-
sen sich nicht immer trennen, während translating-Phasen kann auch das nächs-
te Schreibziel geplant werden, etc.). Gleichwohl wird dieser Ansatz immer wie-
der, zu Recht, mit einem verkürzten Verständnis des Schreibens als ,Problem-
Lösen‘ in Verbindung gebracht sowie mit einer linearen Sequenzierung der
Schreibepochen, die dem ,all-at-once‘ von Expertenschreibern nicht gerecht
wird.
Eine erste, wichtige Modifikation dieses klassischen Schreibmodells war ein
Ansatz von Bereiter/Scardamalia, die die Begriffe ,Expertenschreiber‘ und
,Schreibnovizen‘ prägten (expert writers/novice writers).88 Der wesentliche Un-
terschied zwischen beiden Schreibtypen ist laut Bereiter/Scardamalia der Mo-
dus, in dem Wissen während des Schreibens umgeformt wird. Während Schreib-
novizen Wissen im Schreibakt abbilden (knowledge telling), transformieren Ex-
pertenschreiber Wissen in Hinblick auf die Schreibaufgabe, die eigenen kogni-
tiven Ressourcen und die Leseverständlichkeit. Ideenspender ist in diesem Mo-
dell das semantische Gedächtnis, also Weltwissen, nicht das episodische Ge-
dächtnis, also autobiographische Erinnerung. Weitergehend sind aktuelle An-
sätze wie die von David Galbraith. Analog zum hier vorliegenden Modell geht
Galbraith nicht davon aus, dass Expertenschreiber zuvor generierte Schreibziele
in der Schreibepoche lediglich umsetzen (so Bereiter/Scardamalia), sondern
dass vielmehr das ,Verständnis‘ (understanding) der eigenen Formulierungsab-
sicht erst durch das Zusammenspiel von Schreibakt und Einspeisung aus dem
(semantischen) Gedächtnis entsteht. Das ist keine Neuauflage von Lev Wygotskis
,inner speech‘, die ja im Wesentlichen, so in Denken und Sprechen,89 aus derar-
Thomas Anz: Natur-Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur, Paderborn: Mentis,
2009.
87 David Galbraith: “Cognitive Models of Writing”. Writing as a Cognitive Tool. Research across
Disciplines, hg. v. Jens Loescher, German as a Foreign Language (GFL), 2/3, 2009, S. 7–22.
88 Carl Bereiter/Marlene Scardamalia: The Psychology of Written Composition. Hillsdale, NJ:
Erlbaum, 1987. S. 312.
89 Lew Wygotski: Denken und Sprechen, hg. v. Johannes Helm, Frankfurt a.M.: Fischer, 1971.
34 | 1 Grundlegung
90 Ein Ergebnis der ersten Stunde ist natürlich, dass der Schreibende in der Regel nicht mehr
als fünfzig Prozent der Gesamtzeit einer Arbeits-Epoche schreibt: Planungsphasen und Relek-
türephasen nehmen den größeren Teil der Arbeitszeit ein.
91 C.Michael Levy/Sarah Ransdell (Hg.): „The Science of Writing: Theories, Methods, individual
Differences, and Applications”, Mahwah, NJ: Erlbaum 1996. S. 156.
92 Mariëlle Leijten, Luuk van Waes: „Inputlog: New Perspectives on the Logging of On-Line
Writing”. Computer Key-Stroke Logging and Writing: Methods and Applications, hg. v. Kirk P.H.
Sullivan/Eva Lindgren, Bd. 18, Oxford: Elsevier 2006.
93 Luuk van Waes: “Studying Reading during Writing. Influences of Task Complexity on Cor-
rection Behaviour“. Reading and Writing, Bd. 23, 2010, S. 735–742.
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 35
Schreibphase erfolgen. Diese Art des versetzten Bearbeitens des bis jetzt produ-
zierten Textes ist charakteristisch für Expertenschreiber, die über einen umfang-
reichen Arbeitsspeicher verfügen und die mit den verschiedenen kognitiven
,loads‘ jonglieren können, die das Schreiben auferlegt.
Gerade wegen der Aktivierung ,dichter‘ mentaler Konzepte beim Schreiben
lässt sich annehmen, dass ein spezieller Mechanismus das Auslesen mentaler
Konzepte steuert und ad-hoc-Entscheidungen herbeiführt, welches Konzept
,ausgesucht‘ (selektiert) und in Sprache gebracht wird: der read-out-Mechanis-
mus. Es handelt sich dabei um eine automatisierte ,Entscheidungsinstanz‘, die –
im Gegensatz zum ,Monitor‘ – bewusster Wahrnehmung oder Steuerung nicht
zugänglich ist. Wenn also Korrekturen und ,Verbesserungen‘ entweder inkre-
mentell oder memorativ unterstützt werden, dann muss der Autor nicht zwangs-
läufig zurücklesen und den Schreibakt unterbrechen. Zweifellos spielen Relek-
türe- und Planungsphasen eine wichtige Rolle, besonders bei literarischen Tex-
ten mit komplexen Schreibzielen. Die These dieser Arbeit ist es jedoch, dass die
,dichte‘ assoziative Reihung und Überlagerung von mentalen Konzepten beim
Schreiben weniger einer vorausschauenden (prospektiven) und kaum einer
nachträglichen, bewussten Korrektur (Monitor) zuzuschreiben ist, sondern dem
Schreibakt selbst, den komplexen Prozessierungspfaden der Sprachproduktion
während des Schreibprozesses. Diese Hypothesen legen eine Modifikation der
,klassischen‘ Schreibmodelle von Hayes/Flower und Bereiter/Scardamalia nahe.
36 | 1 Grundlegung
‣
Read-out-mechanism Writing ideation Episodic memory
Long-term memory
‣
‣
‣
Lexical encoding Episodic buffer
Visuo-spatial
sketchpad
Phonological Phonological
encoding ‣ loop (buffer)
‣
‣
‣
Monitor
Writing Central executive
Re-reading
Habituation ‣ Text
of read-out
94 Aus: Jens Loescher: “Read-out. A New Component for Writing Models”. Writing as a Cognitive
Tool. Research across Disciplines, hg. v. Jens Loescher, German as a Foreign Language, 2/3, 2009.
S. 94.
http://www.gfl-journal.de.
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 37
95 Der britische Psychologe Alan Baddeley hat seit den achtziger Jahren grundlegende Arbeiten
zum möglichen ,Aufbau‘ des Arbeitsspeichers vorgelegt, die dann von Ron Kellogg auf die
Tätigkeit Schreiben transponiert wurden. In dieser kurzgefassten Einführung für Literaturwis-
senschaflter verwende ich die Begriffe Kurzzeitgedächtnis und Arbeitsspeicher in etwa analog.
Alan Baddeley: „The Episodic Buffer: a new Component of Working Memory?”. Trends in Co-
gnitive Sciences, Bd. 9, 2000, S. 417–423. Ronald Kellogg: “Working Memory Components in
Written Sentence Production”. American Journal of Psychology, Bd. 117, 2004, S. 341–361.
96 In moderner Terminologie sind mentale Konzepte bestimmte episodische (also: ,autobio-
graphische‘) ,Erinnerungen‘, die aus dem Langzeitgedächtnis ,gezogen‘ werden.
38 | 1 Grundlegung
Episodisches/semantisches Gedächtnis
Räumliches Denken
Emotionen
97 Wenn ein Proband nach der Hauptstadt von China gefragt wird, ist das semantische Gedächt-
nis aktiviert, wenn sie/er nach der ersten Begegnung mit einem Chinesen gefragt wird, dann ist
das episodische Gedächtnis aktiviert.
98 Alan Baddeley benennt folgende Komponenten des Arbeitsspeichers: visuospatial sketch-
pad, phonological buffer, episodic buffer, central executive. Informationen werden also – ver-
einfacht ausgedrückt – in räumliche, sprachliche und biographische Komponenten ,zerlegt‘,
abgespeichert und können kurzzeitig, etwa während des Schreibens, abgerufen werden. Der
Zusammenhang zu meinen Schwerpunkten Erinnerung und räumliches Denken ist offensicht-
lich.
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 39
99 Richard S. Lazarus: Emotion and Adaptation, New York: Oxford University Press, 1991.
Richard S. Lazarus: „Appraisal, relational Meaning, Stress, and Emotion“. Appraisal Pro-
cesses in Emotion: Theory, Methods, Research, hg. v. Klaus R. Scherer/A. Schorr/T. Johnstone,
New York: Oxford University Press, 2000.
Klaus R. Scherer: „Appraisal Theory“. Handbook of Cognition and Emotion, hg. v. T. Dal-
geish/M. Power, Chichester: Wiley, 1999.
100 Verwendungsstreichungen markieren einen Textteil nicht, um ihn zu emendieren, sondern
um ihn zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu bearbeiten. Birgit Sick: „Jean Pauls Nachgelas-
sene ,Satiren und Ironien‘ als Werkstatt-Texte. Schreibprozeß – Werkbezug – Optionale Schreib-
weisen“. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, Bd. 41, 2006, S. 51–70.
40 | 1 Grundlegung
101 Ursula Klein: „Visualität, Ikonizität, Manipulierbarkeit: chemische Formeln als ,paper-
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 41
,nach Lavoisier‘ entstehen. Paper tools sind Formeln von Stoffsymbolen, die
durch Vereinfachung der syntaktischen Umformungen und durch bestimmte iko-
nische Merkmale, die die chemischen Verbindungen gleichsam abbilden, näher
beschreibbar sind. Klein nennt entsprechend vier Charakteristika von paper
tools: sie sind visuell, ikonisch, ,manövrierbar‘, und sie sind (natürlich) in einem
materiellen Medium verortet, also extra-mental. Das Besondere an paper tools ist
ihre epistemische Valenz; oder im Kontext der Schreibforschung formuliert: ihre
Funktion der kognitiven Entlastung. Denn paper tools transportieren komplexe
semantische Konzepte. Durch ihre Stellvertreterfunktion ermöglichen sie die An-
deutung dieser semantischen Konzepte, ihre Verschiebung und Kombination.
Gleichzeitig gestatten sie eine ,box the object‘-Strategie, die den Untersuchungs-
gegenstand, das epistemische Objekt, bewusst im Unklaren halten will – sei es
aus heuristischen Gründen oder aus zu diesem Zeitpunkt widerstreitenden Da-
tenbefunden oder Aporien.
Diese schreibananlytischen Phänomene lassen sich autorenspezifisch wie
folgt klassifizieren:
tools‘“. Schrift: Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hg. v. Gernot Grube/Werner
Kogge/Sybille Krämer, Paderborn: Fink, 2005. Dies.: „Paper Tools in experimental Cultures“.
Studies in History and Philosophy of Science, Bd. 32 A 2, 2001.
42 | 1 Grundlegung
1.4.3 Experimente
102 Carina Fueller/Jens Loescher/Peter Indefrey: „Writing Superiority in Cued Recall“. Frontiers
in Psychology , Bd. 4, nr. 764, 2013.
URL: http://www.frontiersin.org/Journal/10.3389/fpsyg.2013.00764/abstract#
103 Jens Loescher/Luuk van Waes/Marielle Leijten: “Effects of Mood on Monitoring Written
Language Production“, in Vorbereitung.
Siehe auch die Master-Arbeit von Pamella Overman: Emotions and Writing. An exploratory
Study of how Emotions affect the Writing Process of young Women, Amsterdam, 2012 (unveröffent-
licht).
1.4 Der Ansatz in einer Nussschale | 43
Das Kapitel 2.5 nimmt den didaktischen Aspekt des Lichtenbergschen Schaf-
fens wieder auf. Der Experimental-Physiker war berühmt für seine Versuche, ein
aufwendiges Instrumentenkabinett garantierte die erwünschte Wirkung. In wel-
cher Relation stehen Lichtenbergs Wissenschaftsverständnis und sein didakti-
sches Konzept? Welche anderen Lehransätze gab es für die entstehenden Natur-
wissenschaften im achtzehnten Jahrhundert? Welche Rolle spielen imaginative
Funktionen von Laborinstrumenten (,Gedankeninstrumente‘), lehr- und for-
schungsseitig? Dies sind die leitenden Fragen des Kapitels 2.5.
In den Schriften Boyles, Christian Wolffs, Lavoisiers und Lichtenbergs, Ka-
pitel 2.6, trifft man auf eine Vielzahl von Instrumentenbeschreibungen, die fast
ausnahmslos mit einer Abbildung einhergehen. Diese Text-Bild-Paare erfüllen
eine wichtige Funktion darin, einem zunehmend größeren, also laienhaften
Publikum eine komplizierte Maschinerie so zu erklären, dass sich durch das
Verständnis der technischen ,Machbarkeit‘ Grundzüge eines physikalischen,
chemischen oder medizinischen Phänomens verdeutlichen. Instrumentenbe-
schreibungen sind also gleichsam Aufforderungen an den Leser, Modelle zu
entwerfen. Insofern sind Text-Bild-Paare und Memoranda als Gedankeninstru-
mente zu sehen, deren didaktischer Wagenheber-Effekt in Kapitel 2.5 beschrie-
ben wurde.
Im ersten Abschnitt des Kapitels 2.6 konzentriere ich mich auf einige ex-
emplarische Beschreibungen der Luftpumpe: der pneumatischen Maschine, die
seit dem siebzehnten Jahrhundert ein Vakuum herstellen konnte (Kapitel 2.6.2).
Entscheidend ist in diesen gedruckten Instrumentenbeschreibungen, die gleich-
wohl auf Text-Bild-Paare nicht verzichten, die Konstruktion einer Raumdeixis
durch ,Zeig-Symbole‘. In den zwei folgenden Abschnitten wende ich mich wei-
teren Gedankeninstrumenten zu, die den Leser komplexe experimentelle Auf-
bauten nachmodellieren lassen: Metaphern und narrative Elemente (Kapitel
2.6.3–2.6.4). Schließlich beziehe ich die Korrespondenz zweier ,hardware dis-
course couples‘ ein: Johann Heinrich Lambert und Georg Friedrich Brander
sowie Lichtenberg und Franz Ferdinand Wolff (Kapitel 2.6.5). Auch hier, in den
Handschriften, spielen Text-Bild-Paare und Memoranda eine entscheidende
Rolle.
Der Lichtenberg-Teil wird durch eine Zwischenbemerkung abgerundet, in
der ich die wissenschaftshistorische Methode dieser Arbeit skizziere (Kapitel 2.7)
46 | 2 Lichtenberg
1 Georg Christoph Lichtenberg: Vorlesungen zur Naturlehre. Notizen und Materialien zur Expe-
rimentalphysik, Teil 1, Göttingen: Wallstein, 2007 [Georg Christoph Lichtenberg: Gesammelte
Schriften. Historisch-kritische und kommentierte Ausgabe, hg. v. der Akademie der Wissenschaf-
ten zu Göttingen und der Technischen Universität Darmstadt, Bd. 3]. Die Sigle lautet: Vorlesun-
gen.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 47
Auch der große Roman blieb ungeschrieben, den Lichtenberg unter wech-
selnden Titeln projektierte. Der Hauptbestandteil des Nachlasses sind die sogen-
nanten Sudelbücher und die Vorlesungsvorbereitungen sowie einzelne Daten-
blätter, Memoranda und Aufzeichnungen des Naturwissenschaftlers – das am
wenigsten erschlossene und vielleicht interessanteste Segment (Faszikel VII-IX).
Einerseits also didaktische Literatur, die sich bei Lichtenberg vielfach, im Orbis
Pictus und in den Dreihundert Fragen, als zentraler Baustein seiner Arbeit erken-
nen lässt. Andererseits eine Gattung, die seit jeher den Interpreten Probleme
bereitet. Denn ungleich anderen ,Aphorismen‘-Sammlungen, seien sie moralis-
tisch, ,enzyklopädisch‘ oder ,fragmentarisch‘, lässt sich kein narrativer oder
,ideeller‘ Strang ausmachen, der die einzelnen Einträge der Sudelbücher zusam-
men bände. Viele der ,kaufmännischen‘ ad-hoc-Einträge stehen tatsächlich so
solitär wie einzelne Haushaltsposten in einer vorläufigen Bilanzierung: deshalb
Lichtenbergs nicht ganz ernst gemeinte Herleitung des Begriffs Sudelbuch aus
dem Buchhalterwesen (P, 1, 352)2.
Die einzige Möglichkeit, eine funktionelle Einheit zumindest einiger dieser
Bände, etwa F und D, herzustellen, wäre folgende: diese Sudelbücher sind La-
bortagebücher, die Schreibexperimente protokollieren. Diese Hypothese ist nicht
metaphorisch gemeint. Sie geht davon aus, dass zumindest einige dieser Text-
zeugen tatsächlich der Gattung Labortagebuch zuzuordnen sind. Das bedeutet
natürlich nicht, dass hier Experimentbeschreibungen, Skizzen und Ergebnisbe-
richte aufzufinden wären. Man sollte sich nicht davon irritieren lassen, dass bei
diesen Experimenten kein ,reales‘ Substrat, kein Untersuchungsobjekt, vorhan-
den ist: die entstehende experimentelle Psychologie hatte bis zu Wilhelm Wundts
Gründung des ersten Reaktionszeitlabors in Leipzig im Jahr 1871 nur die Intro-
spektion zur Verfügung, um zu ,reliablen‘ Daten zu gelangen. William James
referiert Wundts Entdeckungen und experimentelle Maschinerien, aber eine Di-
stanz gegenüber der harten Forschungsrichtung ist mehr als spürbar3. Wittgen-
stein schließlich wird sowohl den Introspektionsbegriff als auch die ,harten‘
Daten der experimentellen Psychologen einer gleichermaßen pragmatisch-skep-
tischen Kritik unterziehen, die sich nicht zufällig mehrfach auf Lichtenberg be-
zieht4. Es ist nicht verfehlt, Lichtenberg als experimentellen Psychologen vor den
beiden Mills, vor Fechner, vor Wundt zu bezeichnen, der Introspektionsproto-
kolle anfertigt.
2 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, München: Carl
Hanser Verlag, 1968. Im Folgenden: P, Band, Seite.
3 William James: The Principles of Psychology,New York: Holt and Macmillan, 1890. 2 Bände.
4 Überhaupt scheinen größere Teile der ordinary language school Lichtenbergs Texte gekannt
zu haben. Henrik von Wright, der Wittgenstein-Freund und –Herausgeber, hat ja die Verbindung
von Lichtenberg und Wittgenstein explizit hergestellt. Spät betreute er noch öffentlich und
wohlwollend die Edition von Gamaufs Vorlesungsmitschriften.
48 | 2 Lichtenberg
Die Kaufleute haben ihr Waste book (Sudelbuch, Kliterbuch glaube ich im Deutschen),
darin tragen sie von Tag zu Tag alles ein was sie verkaufen und kaufen, alles durch einander
ohne Ordnung, aus diesem wird es in das Journal getragen, wo alles mehr systematisch
steht, und endlich kommt es in den Leidger at double entrance nach der italiänischen Art
buchzuhalten. In diesem wird mit jedem Mann besonders abgerechnet und zwar erst als
Debitor und dann als Creditor gegenüber. Dieses verdient von den Gelehrten nachgeahmt
zu werden. Erst ein Buch worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir
meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein anderes getragen werden,
wo die Materien mehr abgesondert und geordnet sind, und der Leidger könnte dann die
Verbindung und die daraus fließende Erläuterung der Sache in einem ordentlichen Aus-
druck enthalten. Vid p.XXVI (P, 1, 352).
5 Frederic Lawrence Holmes: Lavoisier and the Chemistry of Life: an Exploration of Scientific
Creativity, Madison, Wisconsin: University of Wisconsin Press, 1985.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 49
Wie später zu sehen sein wird, ist dies präzise die Darstellungsstrategie Lavoi-
siers, des ,Modell-Naturwissenschaftlers‘ im späten achtzehnten Jahrhundert. Es
ist also zentral, sich Folgendes zu verdeutlichen: Der Begriff ,Sudelbuch‘ wird
von Lichtenberg zu einem Zeitpunkt ,inauguriert‘, als er bereits acht Jahre Su-
delbücher verfasst. Die Skepsis einiger Lichtenberg-Forscher gegenüber dem von
Promies durchgesetzten Begriff ist also durchaus angebracht. Zweitens täuscht
die bürokratische Terminologie, mit der Lichtenberg sein Aufzeichnungs- und
Registratursystem beschreibt. Mit barocken apophtegmata-Sammlungen hat dies
nichts mehr gemein, auch nicht bei Jean Paul. Wie erwähnt, könnten hier durch-
aus klassifizierende naturwissenschaftliche Aufzeichnungssysteme Pate stehen
sowie die common-place-books John Lockes und anderer – bei Jean Paul zumal.
Bei Lichtenberg jedoch zählt das experimentelle Moment, das fragmentarische,
aber dennoch empirische Erkenntnisstreben des skeptischen Naturforschers6,
das den Rhythmus des assoziativen Denkens protokolliert. Bei Lichtenberg und
Wittgenstein sind die Inhalte, die der Rhythmus einer rekursiven, ja: repetitiven
Schreibideation produziert, transitorisch. Sie befinden sich im Status der Daten-
aufnahme und –dokumentation. Auf späteren Ebenen werden diese Inhalte,
wenn möglich, in übergeordnete Zusammenhänge gestellt, werden Hypothesen
und Terminologien darauf begründet. Es war jedoch präzise dieser ,Arbeits-
schritt‘, den Lavoisier – von Beginn seiner Karriere an strategisch – verfolgte,
während Lichtenberg ihn nicht vollzog. Letzterer war zu sehr ,skeptischer Phy-
siologe‘ im Sinn Hartleys, als dass er seinen Forschungsgegenstand – das Den-
ken beim Schreiben – hätte in allgemeine Gesetze oder Kausalitäten bringen
wollen. Und er war zu sehr Skeptiker gegenüber der induktiven Methode des
großen Vorbilds, Newton; gegenüber der deduktiven Methode Descartes’ allemal.
Die meisten Nachweise im Werk Lichtenbergs, die darauf hindeuten, dass
der Schreibende introspektiv kognitive Vorgänge während des Schreibens pro-
tokolliert, sind den Schreibszenen medialer Zurschaustellung in der Literatur der
,Launichten‘, also Sternes, Wielands, Wezels durchaus affin: Entscheidend aber
ist der experimentelle Gestus, der nicht auf einen Effekt beim Leser abzielt. We-
zel, der Hartley-Schüler, mag ähnliches im Sinn gehabt haben: im Versuch über
die Kenntnis des Menschen7 wird gleichsam die Versuchssituation theoretisch
grundiert, die dann im Belphegor8 und mehr noch im Tobias Knaut9 der Figurage
und der Handlung auferlegt wird.
2.2.2 Assoziationen
David Hartley war der erste, der Assoziationen weitgehend physiologisch veror-
tete, also ausschließlich im Gehirn. Locke und Hume hatten es ja vermieden, die
physiologische Komponente ihrer jeweiligen Assoziationstheorien in die Be-
trachtung einzubeziehen; sie verblieben mit ihren Beschreibungskategorien auf
12 David Hartley: Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations, London, 1749.
S. 34. Im Folgenden: Hartley.
13 Joseph Priestley: „Remarks on Dr. Reid’s Inquiry, Dr. Beattie’s Essay, and Dr. Oswald’s
Appeal. Introducing Essay to Hartley’s Theory of human Mind. Disquisitions relating to Matter
and Spirit“. The theological and miscellaneous Works of Joseph Priestley, hg. v. John Towill Rutt,
New York, 1972. Bd. 3, S. 276 (Nachdruck der Londoner Ausgabe 1818).
14 Zitiert nach C.U. M. Smith: „David Hartley’s Newtonian Neuropsychology“. Journal of the
History of the Behavioral Sciences, Bd. 23, 1987. S. 125.
52 | 2 Lichtenberg
Unzer, Tissot). Während Hartley und Priestley Newtons Äther15 in den Nerven
und im Gehirn verantwortlich für die Übertragung der Schwingungen sehen, ist
der epistemische Begriff des Nervensafts zentral für die Irritabilität in der deut-
schen und französischen Tradition. Hallers Kritik an der Schwingungsthese Hart-
leys wird interessanterweise sowohl von Lichtenberg als auch etwa von Johann
Karl Wezel ausdrücklich abgewiesen. Die Vorstellung, Nerven zitterten und
schwängen wie Saiten, sei simplifizierend und werde Hartleys anatomisch kom-
plexeren Vorstellung nicht gerecht. In der Tat bemüht sich Hartley den Begriff der
Schwingung mit der Vorstellung des Äthers zu verbinden, also einer materielo-
sen, luftähnlichen Substanz:
We remark likewise, in pursuing this method of reasoning, that the aether which lies
contiguous to the medullary substance in the ventricles of the brain, is denser than that
which lies in the medullary substance itself. May we not therefore conjecture that one use of
the cavities of the ventricles is to increase and keep up all the vibrations, propagated from
the external nerves into the medullary substance of the brain, by means of the denser
aether lodged in these cavities.16
15 Die berühmte Definition in den Principia (dritte Ausgabe, 1725) lautet: „And we might add
something concerning a certain most subtle spirit which pervades and lies hid in all gross
bodies; by the force and action of which spirit the particles of bodies attract one another at near
distances, and cohere, if contiguous; and electric bodies operate to greater distances, as well
repelling as attracting the neighboring corpuscles, and all sensation is excited, and the members
of dismimal bodies move at the command of the will, namely, by the vibration of this spirit,
mutually propagated along the solid filaments of the nerves, from the outward organs of sense to
the brain; and from the brain to the muscles“. Zit. b. C.U.M. Smith, a.a.O., S. 124.
16 Hartley, 45.
17 David Hume: An Abstract of a Ttreatise of human Nature 1740: a Pamphlet hitherto unknown,
hg. v. John Maynard Keynes/Piero Sraffa, Cambridge, 1938. S. 32. Im Folgenden: Hume.
18 Hartley, 60.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 53
Zunächst fällt auf, dass Hume ausdrücklich „the connection of writing“ als An-
wendungsbeispiel der drei Assoziationsgesetze erwähnt. Das wird im Schreib-
19 Ebda.
20 Hartley, 74.
21 Hume, 67.
22 Hume, siehe das instruktive Vorwort der berühmten Herausgeber Keynes und Sraffa.
23 Hume, 31–32.
54 | 2 Lichtenberg
labor Lichtenbergs und Jean Pauls wieder aufgenommen. Was bedeuten nun die
drei Gesetze der Assoziation? Auch Tissot und später die beiden Mills führen das
Gesetz der Kontiguität auf. Es ist bis in die heutige Zeit, cum grano salis, unan-
gefochten: „when two impressions have been frequently experienced (or even
thought of) either simultaneously or in immediate succession, then whenever
one of these impressions or the idea of it recurs, it tends to excite the idea of the
other“.24 Hartley, der ansonsten Humes Gesetze nicht aufnimmt, betont ja die
Kontiguität, weil sie neben der ,Nähe‘ die Frage der Simultaneität oder Sukzes-
sion von Ideation berührt: ein zentrales Thema für den Physiologen, das auch die
Schreibforscher Lichtenberg und Jean Paul umtreibt. Schon das Gesetz der cau-
sation aber – die berühmten Billardkugeln Humes – finden offensichtlich we-
niger die Zustimmung Hartleys, der an der – skeptischen – Rettung von Vernunft-
schlüssen durch Erfahrung und common sense (,belief‘) nicht interessiert ist. Für
Lichtenberg, den Denker möglicher experimenteller Welten, ist das habituelle
Falsifizieren von Hypothesen durch den Glauben an kausale Zusammenhänge
dagegen zentral. Das Gesetz der resemblance schließlich erscheint als zu ab-
strakt und allenfalls indirekt aktivierbar und wurde von den Mills durch das
Gesetz der Ähnlichkeit (similarity) ersetzt. Jean Paul dagegen setzt mehrfach die
Metapher der familiären Ähnlichkeit, um seine assoziativen Ideencluster zu be-
schreiben.
Nun agiert Hartley wie Locke und Hume mit nominalistischem Impetus: Er
möchte ideelle Konstruktionen von Wahrnehmung zurückführen auf kleinste
Einheiten assoziativer Verknüpfung. Besonders die Abhandlung zu Emotionen
führt zu der Einsicht, dass „the most general of our desires and aversions are
factitious, i.e. generated by association; and therefore admit of intervals, aug-
mentation, and diminutions“.25 Nicht nur sind Emotionen zusammengesetzte
Assoziationen, also auch in der Form hervorrufbar und manipulierbar wie diese,
sondern die basic emotions lassen sich vielmehr auch auf basale Lust- und Un-
lustgefühle zurückführen. Utilitaristisch gewendet vermeidet der Aktant Unlust-
gefühle, die aus wiederholten und daher sedimentierten Verknüpfungen von
Handlung a und negativem Gefühl b bestehen. Durch den ,Lerneffekt‘ wird die
konkurriende Assoziation, die den Willen dazu bringt, Handlung a auszuführen,
schwächer. Hartley geht so weit, die schwächer oder stärker werdenden, hand-
lungsmotivierenden Verknüpfungen physiologisch rückzubinden an die Absto-
ßung oder Anziehung der Partikel in der weißen Gehirnsubstanz.26 Nur am Rand
sei erwähnt, dass hier eine interessante ,Soteriologie‘ greift, die den Materialis-
mus Hartleys und noch mehr Priestleys (natürlich) rückbindet in den christli-
2.2.2.2 Lichtenberg
Lichtenberg und Jean Paul haben sich mit den zeitgenössischen Assoziations-
theorien auseinandergesetzt, sowohl mit Hartley und Priestley als auch mit
Locke. Beide Autoren gehören insofern dem naturwissenschaftlichen, dem neun-
zehnten Jahrhundert an, als sie Versuchsanordnungen konstruieren, in denen sie
die Genese und Wirkungsweise eigener Assoziationen beobachten. Bei Jean Paul
sind die Gedanken-Hefte und das Vita-Buch in diesem Zusammenhang zentral,
bei Lichtenberg die Sudelbücher E und F.
27 Hartley, 382.
28 Hartley, 279.
56 | 2 Lichtenberg
[…] Aber HE. Josephus, äer fixus, Priestley glaubt, man brauche weiter nichts, und wenn er
sagt, man nehme ein einfaches Wesen bloß deswegen an, weil man es so nicht erklären
könne, so hat er so Unrecht nicht. [...] Durch diese Assoziationen erklärt er nun alles,
Gedächtnis, Verstand, Leidenschaften und Willen. Wir können uns keiner Sache nach Will-
kühr erinnern, sondern wir müssen associirte Ideen aufsuchen die gegenwärtig sind mit
jener die wir suchen. Alles hat seinen bestimmten Gang: wir können, keinen Vers rückwärts
hersagen wenn wir ihn auch noch so gut auswendig können, ohne wenigstens es offt
versucht [zu] haben. Urtheilen heißt die congruenz oder incongruentz zweyer Ideen fühlen.
Bey den Leidenschafften geht es ihm sehr gut von statten. [...] Er nimmt fast keinen
Instinckt an, sondern blos eine fühlende Maschine, wenn ich so reden darf, aus der Man
alles machen kan, die aber durch die Vibrationen auf dem Boden des Luftmeers, worauf wir
herum kriechen, so gebildet wird, wie wir sie sehen, und wie wir sie selbst sind.
Allein nicht blos Sensationen erklärt er so, sondern auch complexe und abstrackte Ideen.
Alles komme von äussern Sinnen her nur seyen die abstrackten die Frucht solcher com-
plexen Associationen, deren Ursprung man nicht mehr ergründen kann. Gruppen von
Sensationen können auf eine so wunderbare Weise in eins fliessen, und mit einem Wort
bezeichnet werden [...]. So gelangen wir zu allen abstrackten Begriffen, Substanz, Raum,
Dauer, Krafft, eben so gut als zu dem Begriff weiß, anfangs war es Schnee oder ein Schnupf-
tuch. [...]
Der Wille ist derjenige Zustand des Gemüths, (des Gehirns, nach, Joseph, äer fixus) der
unmittelbar vor Handlungen vorher geht die wir freywillig nennen. Seltsam genug“.
[…] So etwas wie Hartley annimmt muß seyn, sonst wäre gewiß der Bau nicht so künstlich,
und jeder Pudding-stone wäre der Seele zum Kopf hinreichend gewesen, und hat die Seele
solche Vibrationen vonnöthen, so ist gewiß Hartley’s Art, alle Erscheinung des Kopfs dar-
aus zu erklären, ein wahres Meisterstück.
29 Brief Lichtenbergs an Johann Friederich Blumenbach, von Ulrich Joost und Albrecht Schöne
auf 1776/1777 datiert, in Band V,1 dann auf 1783 (S. 148) korrigiert: Parallelstellen des Hartley-
Referats in E 507, 509. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel, hg. v. Ulrich Joost/Albrecht
Schöne, München: Beck, 1983. Bd. 1.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 57
Es ist deutlich, dass wir hier keinen Eklektizismus vor uns haben (wie so oft bei
naturwissenschaftlich interessierten Autoren), sondern der Experimentalphysi-
ker hat sowohl Hartleys Werk als auch Priestleys sekundierende Schriften gele-
sen, vermutlich während des England-Aufenthalts. Was interessiert Lichtenberg
an Hartley? Dass Lichtenberg hypothetisch, gleichsam im Konjunktiv denkt, was
ja auch seine Romanentwürfe hervorgebracht und ihre Ausführung gleichzeitig
verhindert hat, ist bereits bemerkt worden. Was bis jetzt noch nicht genügend
gesehen wurde, ist die Tatsache, dass Lichtenberg den physiologischen Prämis-
sen der Hartley-Schule uneingeschränkt folgt. Das bedeutet, dass im Gegensatz
zu Jean Paul die Seele als privilegierte Instanz im Bewusstseinsstrom ausgedient
hat. Der Dualismus – auch in der einschlägigen Hirnforschung des 20. Jahrhun-
derts bis zu John C. Eccles vertreten – ist bei Lichtenberg tatsächlich nicht mehr
vorhanden. Gerade die Unkontrolliertheit der Aktivierung assoziativer Verknüp-
fungen ist für den Forscher das Faszinosum. Deshalb finden sich bei Lichtenberg
im Gegensatz zu Jean Paul kaum Bemerkungen zu den sich im Umlauf befinden-
den Assoziationsgesetzen. Auch wird kein Diskurs der Innenschau gepflegt wie
im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Der physiologische Ablauf der Ideenas-
soziation in seiner ,Entropie‘ ist der Forschungsgegenstand des Naturwissen-
schaftlers:
Wenn wir beim Nachdenken uns den natürlichen Fügungen des Verstandesformen und der
Vernunft überlassen, so kleben die Begriffe oft zu sehr an andern, dass sie sich nicht mit
denen vereinigen können, denen sie eigentlich zugehören. Wenn es doch etwas gäbe, wie
in der Chemie Auflösung, wo die einzelnen Teile leicht suspendiert schwimmen und daher
jedem Zuge folgen können. Da aber dieses nicht angeht, so muß man die Dinge vorsätzlich
zusammenbringen. Man muß mit Ideen experimentieren (P, 1, 308).
Als ich mich am 24. und 25. Januar 90 auf den Namen des schwedischen Literators und
Buchhändlers Gjörwell besann, den ich gar nicht finden konnte, so bemerkte ich folgendes:
von Anfang verzweifelte ich ganz ihn je aus mir selbst wiederzufinden. Nach einiger Zeit
bemerkte ich dass, wenn ich gewisse schwedische Namen aussprach, ich dunkel fühlte
wenn ich ihm am näher kam, ja ich glaubte zu bemerken, wenn ich ihm am nächsten war,
und doch fiel ich plötzlich ab und schien wiederum zu fühlen dass ich ihn gar nicht finden
würde. Welche seltsame Relation eines verlornen Wortes gegen die anderen, die ich noch
bei mir hatte und gegen meinen Kopf. (…) Endlich bemühte ich mich, nachdem ich mich
die Nacht durch gequält (…) hatte, den Anfangs-Buchstaben zu finden, und als ich an das
G kam nach dem Alphabete stutzte ich und sagte sogleich Gjörwell. (…). „[E]s ist der Körper
meiner Philosophie und ich danke nur Gott, dass er mir eine Seele gegeben hat [die] dieses
korrigieren kann (P, 1, 690)
Zu untersuchen, wo nach Hartleys Theorie meine seltsame Meinung von der Seelenwan-
derung ihre Ursprung hernehmen kann (P, 1, 474).
Nun wäre das von allenfalls marginalem Interesse für diese Arbeit, wenn nicht
Lichtenberg und sein Experimentalnovize Jean Paul erstens Assoziationen in
58 | 2 Lichtenberg
Abb. 3. Sudelbuch F, S.5 [Datiert 6.Mai 1776]. Die abgebildete Handschrift ist Eigentum der
Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Herzlichen Dank an Herrn Dr.
Rohlfing für die gute Kooperation.
60 | 2 Lichtenberg
Transkription
Diejenigen Psychologen die sich in der Naturlehre umgesehen haben, haben allezeit bündiger räsonniert
als die andern, die mit Psychologie angefangen haben. Nichts kann den Je mehr ich Hartleys
Theorie mit meiner Erfahrung vergleiche, desto mehr bestätigt sie sich bei mir. Es stimmt mit
unseren übrigen Erfahrungen so sehr überein. Wenn ich [!] eine Erbse bei Helvoet in die See
geschossen wird
schieße, so würde ich wenn ich die See mein Gehirn wäre vermutlich die Wirkung
an der Chinesischen Küste verspüren. Diese Wirkung würde aber durch jeden Eindruck
den andere Gegenstände auf die See machen, durch Winde die darauf stoßen, durch
Fische und Schiffe die dadurch ziehen, durch Gewölbe die am Boden einbrechen, stark modi-
fiziert werden. Die Form an der Oberfläche eines Landes, seine Berge und Täler,
u.s.w. ist eine mit natürlichen Zeichen geschriebene Geschichte aller seiner Verändrungen
jedes Sandkorn ist ein Buchstabe, aber die Sprache ist uns größtenteils unverständlich. Es
gibt auf an der Oberfläche eine Menge rundlicher Körper mit einer dicken Wurzel
aus der mehrere kleine herausgehen, und verschiedene kleinere Wurzeln, sie leben so
im Äther wie die Polypen im Wasser (Gehirn, Nerven, Rückenmark) und hängen
ihre Wurzeln aus, wie jene ihre Arme. Sie sitzen in einem besonderen Futteral, durch das
ihnen zur Nahrung dient, Decke dient, das sie fortbewegen können, und so ein-
gerichtet ist, daß sie ihre zarten Wurzeln nicht selbst brauchen auf andere Körper zu set-
zen durch dieses Futteral wird die Materie durchgeseigt und gereinigt, die ihren Abgang
[Seitenwechsel zu S. 6]
62 | 2 Lichtenberg
wieder ersetzt. Diese Körper werden auch so wie alle anderen verändert und sind
wie alle anderen eine mit natürlichen Zeichen geschriebene Geschichte, aller Veränderungen
die sie ge erfahren haben. So gut als ein zinnerner Th Teller, dessen empfangene
Stiche und Quetschungen
Schnitte Hieroglyphen alle die Mahlzeiten erzählt, denen er beigewohnt hat. Die
Materie woraus sie bestehen ist von einer besonderen Beschaffenheit von Anfang sehr
weich und fast flüssig, doch nicht aller Eindrücke fähig wie das Wasser, sondern mehr
zum Behalten, und weil es nicht allein Simultanea, sondern auch Successiva
erzählen soll so wird jeden Augenblick etwas davon fest, der Körper wird
immer zäher, so daß er auf die letzt nur ausspricht aber nicht aufzeichnet:
Ich der ich dieses schreibe, habe das Glück ein solcher Körper zu sein. So ist
die Sache. Wenn unsere Seele ein einfaches Wesen ist, warum liest sie nicht die
Veränderung des Welt Erdbodens, so gut wie die ihres Gehirns? Das Gehirn
ist nicht im mindesten mehr aufgelegt zum Aufzeichnen von Veränderungen als
die See, (die Tiere werden durch Licht merklich verändert vielleicht mehr als
andere Körper, die vielleicht durch das elektrische Fluidum ja es ist wahrschein-
lich, daß Wasser nicht durch die Successiva des Lichts aufzeichnet). Es wäre
ein Tier möglich dessen Gehirn die See wäre, und dem der Nordwind
blau und der Südwind rot hieße. Wenn ein Simultanea und Successi-
zeichnet, so oder nur gewisse Körper durchlässt, so summiert er nur gewisse Verände-
rungen. Es wäre sehr zu wünschen, daß man hier auch etwas von einer Absicht sähe.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 63
Die abgebildete und transkribierte Passage ist deshalb ein erstaunliches Do-
kument der literarisch-naturwissenschaftlichen Denkweise Lichtenbergs, weil
sie eine treffsichere Metaphorik der Physiologie des Gehirns und des Rücken-
marks entwickelt, von der Beschreibung einzelner Neuronen samt Dendriten bis
zur Plastizität des Gehirns im Sinn einer Interdependenz der Reize (Exzitationen,
Aktivierungen) und der Memorierungsleistung im Sinn einer episodischen ,Spei-
cherung‘.30
Felice Fontana (1730–1805) hatte mit einem verbesserten Leeuwenhoek-
Mikroskop erstmals Axonen (also die aktivierenden ,Arme‘ der Neuronen) nach-
weisen können. Johann Christian Reil (1759–1813) verwendete Alkohol, um Hirn-
gewebe zu härten und dadurch dergestalt dünnere Schnitte zum Mikroskopieren
zu erhalten. Soemmerring sollte um die Jahrhundertwende erstmals die Galeni-
sche Hirnanatomie an Genauigkeit (was weiße und graue Hirnsubstanz betrifft)
überflügeln. Gleichwohl erstaunt natürlich die Treffsicherheit der Bilder, die
Lichtenberg (im Jahr 1776!) bemüht, um die anatomische Struktur der Hirnpar-
tikel zu beschreiben. Die Färbetechnik, die uns seit etwa hundert Jahren mit
Aufnahmen von Nervenzellen aus dem Gehirn versieht, wurde von Camillo Golgi
1873 erstmals verwendet. Ramòn y Cajal prägte daraufhin den Begriff Neuron für
die Nervenzellen. Ohne Färbetechniken respektive Injektionen ist es auch mit
modernen Mikroskopen nicht möglich, Neuronen zu erkennen. Es war bis zur
Wende zum 20. Jahrhundert strittig, ob das Gehirn überhaupt aus Zellen besteht
– gute sechzig Jahre, nachdem Virchow den Begriff Zelle als Grundsubstanz
organischen Lebens etabliert hatte. Der kurze Abriss soll hinreichen, um zu ver-
deutlichen, wie erstaunlich diese ,literarische‘ Beschreibung der zellulären
Struktur des Rückenmarks und des Gehirns ist, die Lichtenberg uns hier vor
Augen führt.
Ein zweites zentrales Moment betrifft hier den Schreibenden, der in eine
exakte Analogie zu den „rundlichen ,Körpern‘ mit einer dicken Wurzel, aus der
mehrere kleine herausgehen“ gesetzt wird. Der Schreibende zeichnet also zu-
nächst auf, welche Reize und ,Exzitationen‘ ihn erreichen, analog zu den Ner-
venzellen, die alle Successiva und Simultanea aufzeichnen. Das Gehirn und die
kognitive Tätigkeit Schreiben sind eine automatisierte Protokollinstanz. Auf der
anderen Seite ist „das Gehirn nicht zum mindesten mehr aufgelegt zum Aufzeich-
nen als die See“, weil die Nervenzellen zwar von einer weichen Materie sind:
„mehr zum Behalten“ (also die Einschreibung als Memorierung im antiken Sinne
möglich ist), aber doch im Lauf ihrer Aufzeichnung oder Protokollierung immer
fester werden, bis sie nicht mehr aufzeichnen, sondern aussprechen. Auch dies
wird in die Analogie zum Schreiben und dem Schreibenden eingeholt. Der
Schreibende ist also einerseits der Protokollant der kognitiven Vorgänge, die
während des Schreibens stattfinden, andererseits aber auch das produktive
Agens, das neue Ideen und mentale Konzepte produziert. Für einen Physiologen
wie Lichtenberg liegt es durchaus nahe, die Motorik der Schreibbewegung als die
Erbse anzusehen, die bereits gebahnte assoziative Verknüpfungen aktiviert und
damit neue Versprachlichungen mentaler Konzepte. Entscheidend ist hier wie im
ersten Beispiel, dass die Handschrift exakt jene Doppelfunktion des Schreibens –
Protokollmodus und Produktionsmodus – abbildet. Man sieht dies besonders an
dem gezeichneten Randsymbol, das die Epoche, während derer der Schreibende
die eigene Schreibideation beobachtet, hervorhebt (oberes Drittel Abbildung 4):
ein kognitiver Marker par excellence. Diese ,automatische‘ Markierung deutet
darauf hin, dass hier der Protokollmodus aktiviert wird.
Derartige Schreibexperimente können eine schreibstrategische Funktion ha-
ben. Die Vermutung liegt nahe, dass in der Handschrift markierte Schreibepo-
chen dann einsetzen, wenn der Ideenfluss stockt, die Produktivität der Wechsel-
beziehung zwischen Schreiben und Denken nachlässt. In dem Moment, in dem
sich der Schreibende der (physiologischen) Interdependenz seiner Ideen sowie
der Protokollleistung diesen Prozess betreffend bewusst wird, findet der Über-
gang vom Aufzeichnen zum Aussprechen statt: wird der Ausgangsreiz (die Erbse)
in den Assoziationsvorgang ,zurückgefüttert‘. „Es wäre sehr zu wünschen, dass
man hier auch etwas von einer Absicht sähe“: diese Absicht findet in der Tat nur
statt, wenn der Protokollmodus des Schreibenden, der die assoziativen Ideen-
cluster aufzeichnet, bewusst eingesetzt wäre. Bei Jean Paul ist dies der Fall.
Insofern sind also gerade die Reparatur-Epochen der Schreibphasen, in denen
die Schreibideation gleichsam ausgesetzt ist, diejenigen, während derer ,be-
wusst‘ auf den kognitiven Mehrwert des Schreibens (,eigene Gedanken‘) reflek-
tiert wird, während in den produktiven Schreibphasen das Zusammenspiel von
kognitiver Tätigkeit Schreiben und Ideengenese automatisch abläuft.
In Almuth Grésillons Klassiker Literarische Handschriften heißt es über eine
mögliche interdisziplinäre Schreibforschung: „Wird es ihr mit Hilfe der Kogniti-
onswissenschaften gelingen, das Geheimnis des Übergangs vom Gehirn zur
Hand zu lüften und die Grenzen zwischen informativem und kreativem Schrei-
ben zu ziehen?“31. Worauf ich zu Beginn dieses Kapitels hinweisen wollte, ist die
Tatsache, dass Lichtenberg geradezu dazu einlädt, das Geheimnis des Übergangs
von ,brainwriting‘ zu ,handwriting‘ (und vice versa) zu erforschen. Er lädt dazu
ein, weil er selbst – basierend auf Hartleys Assoziationstheorie und Soemmer-
rings Forschungen – dieses Projekt verfolgte. Lichtenberg ist ein Schreibforscher
der ersten Stunde.
32 Platon: Der utopische Staat. Hg. v. Klaus J. Heinisch, Reinbek: Rowohlt, 1960. S. 213.
33 Bruno Latour/Steven Woolgar: Laboratory Life, Princeton, 1986.
66 | 2 Lichtenberg
Ehemals zeichnete mein Kopf (mein Gehirn) alles auf, was ich hörte und sah, jetzt schreibt
es nicht mehr auf, sondern überlässt es Mir. Wer ist dieser Ich? bin ich und der Schreiber
nicht einerlei? (P, 1, 38)
Wenn unsere Seele ein einfaches Wesen ist, warum liest sie nicht die Veränderung des
Erdbodens, so gut wie die ihres Gehirns? Das Gehirn ist nicht im mindesten mehr aufgelegt
zum Aufzeichnen von Veränderungen als die See (P, 1, 34).
Wenn ein Simultanea und Successiva aufzeichnender Körper in einen eingeschlossen ist,
der nur Simultanea aufzeichnet oder nur gewisse Körper durchlässt, so summiert er nur
gewisse Veränderungen. Es wäre sehr zu wünschen, dass man hier auch etwas von einer
Absicht sähe (P, 1, 34).
34 Johann Gottfried Herder: „Vom Erkennen und Empfinden in ihrem menschlichen Ursprunge
und den Gesetzen ihrer Würkung“. Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold/ Martin Bolla-
cher, Frankfurt a.M., 1985–2000. Bd. 4, S. 341. Durch den gesamten Aufsatz hindurch ist der
Verfasser in einen Dialog mit seinem „Kiel“ verwickelt: „Aber leider! kann ich von meinem
Gänsekiel das nicht erhalten. Er schnattert mir vor, daß das ja keine Unterscheidungen der
Natur, sondern menschlicher Zünfte und Bücher sind“. S. 389.
35 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin, 1879. Bd. 8,
S. 348.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 67
Hypothesen und sein ,Verstehen‘ unterliegen den Gesetzen der Anziehung und
Abstoßung der Partikel im Gehirn ebenso wie es für den Forschungsgegenstand,
eben das assoziative Denken, gilt. Gleichwohl soll hier eine ,Absicht‘ darin er-
kennbar sein, dass das Gehirn dem schreibenden Protokollanten eine Hand-
lungsrolle im Experiment überlässt. Es ist diese eine notwendige im ,Spiel‘ um
die mentale Konstruktion von Erkenntnis auf der historischen Ebene beginnen-
der moderner Wissenschaft.
Es gibt eine Fülle von Sudelbucheinträgen, die diesen Zusammenhang ver-
deutlichen36. Ich konzentriere mich hier auf die Bittschrift der Narren aus Sudel-
buch E und A Sea of Troubles aus Sudelbuch B.
36 Ein fingierter Brief an den Freund Ljungberg (B, S. 34–35), eine ,mediale‘ Episode mit Kind
und Buch wie bei Hippel (,Zwei Häsgen‘, B, S. 38–39) .
68 | 2 Lichtenberg
Abb. 5. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 29: S. 118 (Bittschrift der Narren. Sudelbuch E, S. 69).
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 69
Abb. 6. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 29: S. 117 (Bittschrift der Narren. Sudelbuch E, S. 70).
70 | 2 Lichtenberg
der unter uns befindlichen Barden und Druiden unserer Absicht zu ent-
nur
sprechen geglaubt wenn wir eine unsern Köpfen entsprechende oder ent-
bibliothek hätten.
sagende Bibliothek anräsonnierten. Wir haben Originale und
hohen Genius unter uns. Hier in der Ewigkeit, und dort in der Ewig-
immer Halt!
keit, immer kleiner, immer grauer und so spitz[er], nun ists fort
Seelig sind die Toten. O wenn wir Worte hätten unsere Empfindung
zu schreiben. Ein Wort ein Buch, wie sich das Nirgendwo anfängt
ein Buch ein Wort, das heiß ich Kopf dort, dort ists
wir Worte hätten, ein Buch ein Wort, ein Wort ein Buch,
Deutsch,
aber hoher Genius und euer eure Grammatik,
ists gut, so, so. Aber hochzuehrende Herren. Wir alle waren Kinder und
Ihr könnt es wieder werden, wenn hart weich und weich hart bei Euch wird.
Sammelt Ihr nicht und lest ihr nicht. Gut. Wir sind in diesem Haus sind
Kinder
nicht immer zwanzigmal des Tags. Weh! Weh! Wie schrecklich, die
hellen Augenblicke sind die schlimmsten, so möget uns ihr bedauert uns wegen
der unrechten. Glaubt mir, der Himmel straft die Vernünftigen mit Narrheit
und die Narren mit Vernunft. Was! Was! Was! Gabs’n wollt’s nit
siehst? Wenn D’s nit siehst, host d’n Nasen nicht das Genie
z’ riechen.
[,Fußnote‘]
Aus diesen Zeilen in böotischem Dialekt geschriebenen Zeilen sollte
ich fast vermuten, daß das der Verfertiger Konzept von einem gewissen
noch kürzlich
Zeitungsschreiber Manne gemacht worden sei, der, wie mir gesagt worden, auf der einen
saß jetzt aber
bei einem kritischen Gericht auf der ungelehrten Bank sitzen soll
meiner eigenen Unsterblichkeit ich gedenke ihm künftig seine die Unsterblichkeit
erst ins reine bin.
zu verschaffen, sobald ich mit meiner eigenen fertig bin. Ist
Er
es dieser Mann, so muß der Leser merken, daß weil der Mann
vermutlich
nie etwas Kluges gesagt hat, er die weniger vernünftig scheinenden
hergehen,
scheinenden Zeilen, die vor dem Böotischen in einem Raserei Anfall
von Raserei[,] hingegen die böotischen und andern bei einer Wiederkehr
37 So Lichtenberg in Sudelbuch E (P, 1, 353). Ein weiterer Vorläufer zu dieser Idee ist in Sudel-
buch E (P, 1, 353) zu finden.
74 | 2 Lichtenberg
Abb. 7. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 26: Bl. 55v (Sea of troubles, S. 100).
76 | 2 Lichtenberg
Abb. 8. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 26: Bl. 56r (Sea of troubles).
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 77
[Wechsel zu S. 101]
schaffe
[Seitenwechsel zu S. 102)
itiation des Experiments. Dies ist präzise hier der Fall. Der Schreibende verliert
den Zugang zur Schreibideation und leitet deshalb das Experiment ein.
2.2.3.1 Schreibraum
Schreibanalytisch gewendet lassen sich drei Bereiche bei Lichtenberg ausma-
chen:
1. Assoziative Verknüpfungen
2. Räumliches Denken
3. Autobiographische/episodische Erinnerung
Über assoziative Verknüpfungen wurde bereits gehandelt. Die These, dass räum-
liches Denken und Schreiben in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ste-
hen, fußt auf zwei Vorannahmen. Zunächst ist die Tätigkeit Schreiben räumlich:
sie richtet sich (bei den hier interessierenden Schreibszenen) auf einen Schrift-
träger, der es ermöglicht, bestimmte kognitive ,Felder‘ durch Anordnungen von
Schreibblöcken, Spalten, sowie den Wechsel von Zeichnungen, Berechnungen
und Fließtext zu repräsentieren. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass räumli-
che mentale Konzepte (Lakoff, Johnson-Laird) – auch in Verbindung mit auto-
biographischen Rahmungen – durch Schreiben in besonderer Weise aktiviert,
,gefördert‘ werden. Man sieht das an der ,geographischen‘ Metaphorik in der
Erbse-bei-Helvoet-Passage, aber auch in eminenter Weise an naturwissenschaft-
lichen Instrumentenbeschreibungen und Positionspapieren Lichtenbergs, be-
sonders an den Antiphlogiston-Manuskripten.
Es gibt eine lange Forschungstradition in der kognitiven Psychologie, Sozio-
logie und Philosophie, die sich – vor oder nach dem ,spatial turn‘ – mit dem
Zusammenhang von mentaler Produktivität und der (imaginären) Besetzung von
Räumen auseinandersetzt41. Darauf gehe ich an dieser Stelle nicht ein42; ent-
41 Zygmunt Baumann: „Glokalisierung oder Was für die einen Globalisierung, ist für die an-
deren Lokalisierung“. Das Argument, Bd. 38, 1996. S. 661. David Harvey: “From Space to Place
and Back Again: Reflections on the Condition of Postmodernity”. Mapping the Futures. Local
Cultures, Global Change, hg. v. Jon Bird, London, 1993, S. 3–29.
Clifford Geertz: „Afterword“. Senses of Place, hg. v. Steven Feld/Keith Basso, Santa Fe,
1996, S. 259–262.
Henri Lebfevre: The Production of Space, übers.v. Donald Nicholson-Smith, Oxford: Basil
Blackwell, 1974.
Anthony Giddens: A contemporary Critique of historical Materialism, London: Macmillan,
1981.
42 Siehe Jens Loescher: „,The West and the Rest‘: Die ,imaginäre Geographie‘ ost- und west-
deutscher Autoren: Ortheil, Hilbig, Rosenlöcher“. Kulturpoetik, Bd. 11, H. 1, 2011, S. 97–111. Jens
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 81
scheidend für diese Arbeit ist die schreibproduktive Komponente von mental
konstruierten Räumen. Die Besonderheit der sprachproduktiven Tätigkeit
Schreiben ist, dass sie in jedem Fall räumlich ausagiert werden muss. Der
Schriftträger hat bestimmte Maße: vor der DIN-Norm im wesentlichen Oktav-,
Quart- und Duodezbogen. Schon Jean Pauls Scherze in Quart deuten scherzhaft
darauf hin, dass das Format des Papiers durchaus Rückwirkungen auf den
Inhalt des Textes haben kann43. Es ist nun wichtig sich zu verdeutlichen, dass
Ende des achtzehnten Jahrhunderts kulturelle oder gar genormte Vorgaben, wie
der Raum eines Bogens Papier zu füllen sei, kaum existierten. Vergleicht man
die vorliegenden Autographen allerdings mit Galileos Blättern aus dem Kodex
72 oder mit Robert Hookes Protokollen der Sitzungen der Royal Society (Hooke
Folio 44) oder mit Antoni van Leeuwenhoeks ,Apostelbriefen‘ an den Sekretär der
Royal Society, Henry Oldenburg, dann ergibt sich für das achtzehnte Jahrhun-
dert, dass die Symmetrie der Schreibspalten oder Textblöcke vorgegeben und
die Kombination von Textblöcken, Datentabellen, Berechnungen, Zeichnungen
restringiert war. Dies bedeutet aber nicht, dass die Zuordnung von kognitiven
,Funktionen‘ oder Inhalten zu bestimmten Räumen auf dem Papier gänzlich
unterbunden wäre, für die einige Blätter Galileos in exemplarischer Weise ein-
stehen. Alle hier behandelten Autoren nutzen den Papierraum, um bestimmte
kognitive Entlastungen durch Auslagerung und lokale Zuordnung auf dem
Schriftträger zu vollziehen.
Darüber hinaus ist es eine Hypothese dieser Arbeit, dass der Schreibende die
Sprachproduktion im engeren Sinn und die räumlich-motorische Realisierung
,synchronisiert‘. Im Gegensatz zum Sprechen ist Schreiben, so die Hypothese,
auf allen Ebenen der Sprachproduktion mit räumlichen ,Metaphern‘ (George
Loescher: „Kognitive Karten lesen. Spatial turn in der Literargeschichtsschreibung der Wende“.
LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 43, H. 170, 2013, S. 123–135.
43 „Wie die Buchbinder Quart, Oktav, Folio haben, so dünkt mich auch, dass das Band, mit dem
der Autor seine Gedanken verbindet, sich nach dem Formate des Buches richten soll, und eı́n
Autor, der eine große Quartseite zu Dienste seiner Feder vor sich siehet, von dem erwartet man
starke, lange und weitläufige Verbindungen der Gedanken“. Jean Paul, Faszikel 7, zweites Heft,
„Einfälle“ (keine Paginierung).
44 Das Hooke-Folio ist ein etwa dreihundertseitiges Konvolut von der Hand des ersten Sekretärs
der Royal Society, Robert Hooke. Es „überlebte“ auf dem Speicher eines Landhauses in Großbri-
tannien, bevor es im Jahr 2006 wiederentdeckt und von der Royal Society gekauft wurde. Dieser
wissenschaftshistorisch außergewöhnliche Fund wurde digital herausgegeben von
Lisa Jardine und ihren Mitarbeitern. http://webapps.qmul.ac.uk/cell/Hooke/Hooke.html
(03/30/2011). Hooke-folio, a.a.O., S. 663.
82 | 2 Lichtenberg
45 George Lakoff/Mark Johnson. Metaphors we live by, University of Chicago Press, 1980. (Deut-
sche Übersetzung: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 4. Aufl.
Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verl., 2004).
46 Philip Johnson-Laird: Mental Models: Towards a Cognitive Science of Language, Inference,
and Consciousness, Cambridge: Cambridge University Press, 1983.
47 Promies geht davon aus, dass H und K ebenfalls „von vorn und hinten mit doppelter Pagi-
nierung, arabischer und römischer, zweispaltig beschrieben“ wurden (P, 3, 769).
48 Ulrich Joost: „Georg Christoph Lichtenberg: ,Ein Brief, den ich selbst überbringe‘“. Dichter-
handschriften. Von Martin Luther bis Sarah Kirsch, hg. v. Jochen Meyer, Stuttgart: Reclam, 1999.
S. 46.
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 83
2.2.3.2 Erinnerung
Autoren haben deshalb eine überaus genaue Erinnerung an niedergeschriebene
Werkbestandteile, weil sich die Schreibepoche als ganze ins Gedächtnis enko-
diert hat (These 1). Die Handlungsrollen Protokollant, Schreibender, Untersu-
chungsobjekt („Ich“): sie sind Bestandteile der autobiographisch niedergelegten
Schreibepoche. Man kann sich, darüber hinaus, das Schreibinstrument – analog
zum wissenschaftlichen Instrument – als kognitives Hebwerkzeug vorstellen,
das weitere autobiographische Elemente aktiviert, die wiederum die Schreibi-
deation ,füttern‘ (These 2)49.
Dieses ist der SchreibPinsel der Chinesen. A ist ein Rohr, das etwas über
einen halben Fuß lang ist. B ist ein Pinsel von den Haaren einer wilden
Katze wie mir Mr. Wang at Tong sagte (allein er beschrieb auch den
Fuchs als eine wilde Katze:) die unten sehr spitz zugehen. Mit diesem
Pinsel nimmt er etwas Tusche von einer marmornen Tafel so auf, daß
er den Pinsel zugleich im Aufnehmen spitzt, alsdann hält er ihn per-
pendikular über das Papier indem er die Hand mit dem Arm einen so
kleinen Winkel machen läßt, als möglich und sie fest auflegt, und so schreibt
er mit einer großen Geschwindigkeit die Buchstaben auf beigeklebtem Zettul
hat er in meiner Gegenwart geschrieben, und den meinen Namen schrieb
ich mit demselben Instrument, das ich sehr schlecht behandelte, wie man
aus der Probe sieht
(P, 2, 682)
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 87
„Ich bin […] nach England gegangen, um deutsch schreiben zu lernen“ (P, 1,
371), stellt Lichtenberg fest. Literarische (und naturwissenschaftliche) Innovati-
on und das Schreibenlernen werden verknüpft. Nicht zufällig wird das Instru-
ment mit einer Zeichnung abgebildet, Zeigsymbole im Fließtext nehmen auf ein-
zelne Komponenten Bezug. Detailliert wird über die materielle Beschaffenheit
des Schreibinstruments Auskunft gegeben sowie über die Schreibhaltung des
Meisters. Der Professor der Experimentalphysik in spe berichtet von seiner
Schreiblehrstunde und archiviert sorgfältig die zugehörigen Dokumente. Das
vorliegende Manuskript kann – mit einer gewissen Zuspitzung – als Geburts-
stunde des Schreibforschers Lichtenberg gesehen werden. Es wird nicht nur als
Bündel archiviert, sondern – mit Hilfe des Instruments – als Episode in der
Erinnerung abgelegt. Auch wissenschaftliche Konzepte und umfangreiche Ter-
minologien können durch Schreibsituationen autobiographisch eingebettet wer-
den. Metaphorisch gesprochen: der Gebrauch des Schreibrohrs ruft die gesamte
Schreibszene wieder auf, sei es die chinesische Lehrstunde beim Schreibmeister,
sei es die ,Lernphase‘ der neuen chemischen Nomenklatur, sei es der modellie-
rende Dialog mit dem Novizen.
Frappant ist, drittens, die Verbindung von räumlichen Modellen auf der ei-
nen Seite und Erinnerung auf der anderen.
Am 4ten Juli erwachte ich (in Wrest) allein nicht zu vollkommener Klarheit aus einem
Traum von meiner Mutter. Mir träumte sie wäre bei mir in dem Garten von Wrest und hätte
mir versprochen mit mir über den Kanal in der fliegenden Brücke zu fahren. Sie trug mir
aber vorher etwas zu tun auf, dieses verwickelte mich in Schwierigkeiten und ich sah meine
Mutter nicht wieder, hier endigt sich der Traum. Du lebst nicht mehr sagte ich in dem
leichten Schlummer zu mir selbst und über dich ist das: Nun lasst uns den Leib begraben
gesungen worden, und in dem Augeblick fing ich in der Melodie (aber alles in Gedanken)
eine Strophe, allein aus einem anderen Lied (Wo bist du denn o Bräutigam aus dem Lied:
Du unbegreiflich höchstes Gut pp) an zu singen, welches eine unbeschreibliche Wirkung
auf mich hatte, melancholisch allein auf eine Art, die ich dem lebhaftesten Vergnügen
vorziehe (P, 2, 666)
Es ließe sich ein philosophisches Traumbuch schreiben, man hat, wie es gemeiniglich geht,
seine Altklugheit und Eifer die Traumdeutungen empfinden lassen, die eigentlich bloß
gegen die Traumbücher hätte gewendet werden sollen. Ich weiß aus unleugbarer Erfahrung
dass Träume zu Selbst-Erkenntnis führen. Alle Empfindung, die von der Vernunft nicht
gedeutet wird, ist stärker. (...) Daß es mir alle Nacht von meiner Mutter träumt und daß ich
meine Mutter in allem finde ist ein Zeichen wie stark jene Brüche des Gehirns sein müssen,
da sie sich gleich wieder herstellen, so bald das regierende Principium den Scepter nie-
derlegt. Merkwürdig ist, dass einem zuweilen die Straßen der Vaterstadt träumt, man sieht
besondere Häuser, die einen frappieren (P, 1, 554)
Beim Roman. Meine Mutter überall. Nichts leicht geendigt, sondern immer die größte
Schwierigkeit, die die Umstände erlauben, in den Weg geworfen (P, 1, 617).
2.2 „Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ Lichtenbergs Sudelbücher | 89
Das Gäßgen (hinten herum) wo mir Weylands Tochter einmal begegnete gegen ½ eins des
Nachmittags vergesse ich nie, es kam mir wie eine Nacht vor, weil da alles am Tisch saß,
sehr subtil aber herzenswahr. (P, 1, 639).
Vor 20 Jahren wohnte ich einem freien Platz gegenüber, der zwischen 2 parallelen Straßen
lag, und nur an der Seite gepflastert war. Ereignete sich nun der Fall, dass jemand (...) von
D nach A oder von C nach B wollte oder umgekehrt (...), so wurde es so gehalten. War es
schönes Wetter, so ging man so gut man konnte nach der Diagonale. Bei schlechtem Wetter
oder wenn der ungepflasterte Teil sehr morastig war wählte man statt der Diagonale die
zwei Seiten, wobei gemeiniglich, ehe die Reise angetreten wurde, erst nach dem gegen-
überstehenden Winkel hingesehen, und der Schritt etwas beschleunigt wurde. Sowie der
ungepflasterte Boden mehr abtrocknete, fanden sich entweder Kühnere oder solche die
ihre Schuhe weniger schonten, und gingen nicht mehr um den ganzen Winkel, sondern
kreuzten in Linien über die mit der Diagonale parallel liefen, diese Linien näherten sich
nach und nach immer mehr der Diagonale und so ging es mehrenteils. (...) Damals dachte
ich schon etwas über Gleise zu schreiben. (P, 1, 731).
„Sehr subtil, aber herzenswahr“ steuern die mentalen Muster die Bewegungen
der Spaziergänger auf dem Platz. Die ,gelernten‘ Spuren lassen sich nicht als
mathematische Logik nachvollziehen, sondern sie folgen einer bestimmten idio-
synkratischen Verbindung (Assoziation) und ,Aktivierungsstärke‘ (je mehr vor-
gebahnt ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass diese Bahn weiter, ,von
anderen‘ beschritten wird). Dem Beobachter stellt sich das Konglomerat von
Spuren so dar, wie es Hebb’s rule der Einlernung von Assoziationen und Erin-
nerungen vorsieht50. Kleine Aufzeichnungskörper protokollieren jede Bewegung.
Ein Beobachter (der Schreibende) verfolgt den Vorgang. Soweit der ,Aufbau‘ des
,Kognitionsexperiments‘.
Beim Roman sind die ,Brüche des Gehirns‘ ebenso ausgeprägt wie im Ver-
suchsprotokoll. Aber nun werfen sich die größten Schwierigkeiten in den Weg,
die von der Mutter aufgetragene Aufgabe ist nicht lösbar. Denn der innere Auf-
traggeber, die Repräsentation der Mutter, bestimmt, dass das Muster der Spuren
– Erinnerung, Assoziationen – zu beobachten sei, während es die Schreibidea-
tion füttert. Gleichzeitig formuliert der Gegenauftraggeber das Postulat literari-
scher und nicht von der Vernunft beobachteter Produktivität51. Nicht Gott, aber
die Brüche im Gehirn, die Repräsentationen der Mutter generieren, führen die
Schreibfeder. Das Buch chemisch zu analysieren, wie es im Chemie-Traum heißt,
ein Singen und Liedwechseln im Traum, während das regierende Principium das
Szepter niedergelegt hat: hier wird, so scheint es, das Dilemma des Schriftstellers
Lichtenberg in nuce beschrieben. Einerseits sind hier noch die Metaphern der
50 Donald Olding Hebb: The Organization of Behavior, New York: Wiley, 1949.
51 Die Begriffe Auftraggeber und Gegenauftragger stammen aus der strukturellen Semantik von
Greimas. Zitiert bei: Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mannes ohne Eigenschaften,
Wien: Böhlau, 2000. S. 29.
90 | 2 Lichtenberg
Inspiration beredt, die das Beseelte und ,Unwillkürliche‘ betonen52 – wenn auch
physiologisch gewendet –, andererseits darf das regierende Szepter des natur-
wissenschaftlichen Beobachters nicht mehr aus der Hand gegeben werden.
Die These dieses Kapitels besteht darin, dass die Prosafragmente Lichtenbergs
als Einübungstexte in die kognitiven Praxen des Schriftstellers zu lesen sind, wie
er im Orbis Pictus, den Lichtenberg im Göttinger Magazin für Wissenschaften und
Literatur veröffentlichte53, profiliert wird: diese kognitive Praxen orientieren sich
an denen, die Lichtenberg in seinen Dreihundert Fragen an einen jungen Physiker
dem Naturwissenschaftler zuordnet. Lorraine Daston hat dem internalistischen
Begriff der Kognition, wie er von Frederic Lawrence Holmes und David Gooding
vertreten wird, einen pragmatisch orientierten zur Seite gestellt, der auf vier
Faktoren beruht: Ökonomien der Aufmerksamkeit, Techniken der Erinnerung,
Beobachtung und die Konstitution oder den Verlust von Glaubwürdigkeit54. Ich
benutze dieses Konzept, über das ich an anderer Stelle intensiv gehandelt habe55,
hier als Folie für Lichtenbergs hermeneuticum literarischen Schreibens.
52 Friedrich Ohly: „Metaphern für die Inspiration“. Euphorion, Bd. 87, 1993, S. 119–171.
53 Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Literatur, hg. v. G.C. Lichtenberg/Georg Fors-
ter, Göttingen: bei Johann Christian Dieterich, 1780–1785. 1. Jahrgang, 1.–3. Stück, S. 467–498.
Im Folgenden: Orbis Pictus.
54 Lorraine Daston: „Taking note(s)“, a.a.O. (Anmerkung 1). S. 443.
55 Jens Loescher: “Spaces and Traces. Cognitive Practices in Seventeenth and Eighteenth Cen-
tury Ensembles of Text and Drawing”, Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and
Sciences, Bd. 71, H. 2, 2014, S. 38–71. Jens Loescher: „Not Theory-laden, not Realistic: How to see
through Swammerdam’s Microscope“, Journal of the History of Biology (erscheint). Jens Loe-
scher: „,Das Objekt in der Schachtel‘: von Schrödingers Katze, Einsteins Talmudisten, Wittgen-
steins Privatsprache und Musils Gedankenexperiment“, Sprachkunst, 2014.
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 91
Es ist natürlich kein Zufall, dass sowohl im Orbis Pictus als auch in den Hogarth-
Erklärungen 61, aber auch in den naturwissenschaftlichen Schriften Illustrationen
ein wesentliches Element ausmachen. Auch in einer der wenigen wissenschaft-
lichen Veröffentlichungen Lichtenbergs Von einer neuen Art die Natur und Be-
wegung der elektrischen Materie zu erforschen (P, 3, 24–34) sind Kupferstiche
eingefügt. Der Leser dieser wissenschaftlichen oder erbaulichen Veröffentlichun-
gen muss nun vom Text zur Abbildung wechseln und zurück; er verlagert be-
ständig die Aufmerksamkeit. Die Lesetechnik simuliert also die kognitive Praxis
des Naturwissenschaftlers, dessen Fokus sich zwischen Untersuchungsobjekt,
Instrument, Datentabelle und Rahmenbedingungen im Labor hin- und herbe-
wegt. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit ist eine experimentelle Praxis, die
dem lesenden Kollegen als ,Habitustraining’ auferlegt wird.
Ebenso beim Dichternovizen: Hier ist der Orbis Pictus die Wahrnehmungs-
schule, in die sich der lesende Kollege zu begeben hat. Lichtenberg nutzt also
planmäßig Text-Bild-Paare, um über die Lesemechanismen kognitive Praxen ein-
zuüben. Dies ist natürlich analog zu den sogenannten Ratgebern der naturwis-
senschaftlichen Volksdidakten im achtzehnten Jahrhundert, auf die ich in Ka-
pitel 2.5 komme. Schon Comenius nutzte die Interrelation von Abbildung und
Text zu didaktischen Zwecken62, ja: zu einer Wahrnehmungsschule der Novizen
ebenso wie später die Schuldidakten um Karl-Philipp Moritz und Basedow sowie
Johann Siegmund Stoy, der ein ganzes Bilderbuch im Karteikarten-Format her-
ausbrachte63.
Das Ziel des Orbis Pictus ist weniger, wie Lichtenberg andeutet, eine bloße
Stoffsammlung als Steinbruch anzubieten, sondern vielmehr die Werkstatt zu
simulieren, die den Novizen das Handwerk erlernen lässt. Es handelt sich um ein
tiefer liegendes Projekt der Schulung kognitiver Fähigkeiten64. Dem fiktiven Werk
soll
alle die Bestimmtheit, Individualität und Wärme vermittelst gewisser Zusätze durch plus
und minus [gegeben werden, JL], die sich nicht anders als durch genaue Beobachtung und
nähere Kenntnis der Welt finden lassen. (P, 3, 383).
Voraussetzung dafür ist die Beobachtung seiner selbst und anderer, die Wahl und
genaue Skizze des ,Untersuchungsobjekts‘, das Erstreben von Glaubwürdigkeit
durch individuelle Darstellung und, so könnte man ergänzen, die Erinnerung an
wahrgenommene episodische Momente, die „jedermanns Heimlichkeiten“ (P,3,
S. 384) mit einem charakteristischen plus oder minus versehen. Die kognitiven
Praxen des experimentellen Naturforschers und des Schriftstellers sind iden-
tisch. Für den Naturwissenschaftler hat Lichtenberg die erwähnten ,Dreihundert
Fragen‘ entworfen, für den Schriftsteller den Orbis Pictus.
In Lichtenbergs naturwissenschaftlicher Publikation „Von einer neuen Art
die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen“ haben wir ein
Musterbeispiel für die Anwendung kognitiver Praxen vor uns.
62 Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus: Hoc est, omnium fundamentalium in mundo
rerum & in vita actionum pictura & nomenclatura. Levoca 1685, 1. vyd.. Praha: Státnı́ ped. nakl.,
1958 (Nachdruck der 1. 4-sprachigen Ausgabe).
63 Johann Siegmund Stoy: Ausführlicher Entwurf des Buches das unter dem Titel: neue Bilder-
akademie für die Jugend von den berühmtesten Künstlern Deutschlands verfertiget und von der
Weigelischen Kunsthandlung in Nürnberg verlegt wird, Nürnberg, 1779.
64 „Nicht jedem ist es so gegeben zu schreiben, wie es dem Menschen in abstracto zu allen
Zeiten und in allen Welt-Altern gefallen muß. In einer Verfassung der Welt, wie die jetzige ist,
gehört viel Kraft dazu nur immer im Wesentlichen zu wachsen(..).Auf diese Art natürlich zu
schreiben erfordert unstreitig die meiste Kunst, jetzo da wir meistens künstliche Menschen sind;
wir müssen, so zu reden, das Costume des natürlichen Menschen erst studieren; wenn wir
natürlich schreiben wollen. Philosophie, Beobachtung seiner selbst und zwar genauere, Natur-
lehre des Herzens und der Seele überhaupt, allein, und in allen ihren Verbindungen, diese muß
derjenige studieren, der für alle Zeiten schreiben will. Dieses ist der feste Punkt, wo sich gewiß
die Menschen einmal wieder begegnen, es geschehe auch wenn es wolle, ist ein solcher Ge-
schmack der herrschende“. Orbis Pictus, P, 3, 383.
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 93
Die Veranlassung zur Entdeckung dieser Erscheinung war folgende: Die Verfertigung mei-
nes großen Elektrophors war gegen 1777 zu Stand gekommen; in meiner Kammer war noch
alles voll von feinem Harzstaub, der beim Abhobeln und Glätten des Kuchens oder der
Basis aufgestigen war, sich an die Wände und auf die Bücher gelegt hatte, und oft bei
entstehender Bewegung der Luft, zu meinem großen Verdruß, auf den Deckel des Elek-
trophors herab fiel. Nun fügte sichs, daß der Deckel, der von der Decke herabhing, einmal
etwas längere Zeit von der Basis abgehoben war, so daß der Staub auf die Basis selbst fallen
konnte, und da geschah es, daß er sich hier nicht, wie vorher auf dem Deckel, gleichförmig
anlegte, sondern an mehreren Stellen zu meinem großen Vergnügen kleine Sternchen bil-
dete, die zwar anfangs matt und schlecht zu erkennen, als ich aber den Staub mit Fleiß
stärker aufstreute, sehr schön und deutlich wurden, und hier und da erhabener Arbeit
glichen. (P, 3, 27).
Hier ist das Erzähl-Tabu, das seit Harald Weinrichs Diktum die Diskussion dar-
über belebt, was Wissenschaftssprache ist65, erkennbar ausgesetzt. Narrativ wird
die Vorgeschichte des Experimentes ausgebreitet, der Experimentator tritt als
handelnde Person in Erscheinung. Emotive Komponenten sind auf der Be-
schreibungsebene präsent („zu meinem großen Verdruß“, „zu meinem großen
Vergnügen“). Die Verlagerung der Aufmerksamkeit von dem einen epistemischen
Gegenstand zum nächsten wird minutiös berichtet. Man kann den Artikel durch-
aus als publiziertes Labortagebuch bezeichnen. Die Darstellungsstrategie ver-
zichtet darauf, den nicht-linearen Erkenntnispfad nachträglich in das Stratum
geplanter Experimentierung zu bringen. Das Plötzliche, Unerwartete wird be-
tont, das sich durch die Ermüdung, den gleichsam erzwungenen Fokuswechsel
des Experimentierenden einstellt. Der Experimentierende und Protokollierende
muss einer Ökonomie der eigenen Ressourcen folgen, die gleichsam akzidentell
zu einer neuen Konstruktion des epistemischen Gegenstands führt. Episodische
Erinnerung speist dieses ,Aha-Erlebnis‘66:
Dieser mißlichen Erregungsmethode und dieses Spiels wurde ich endlich müde, der Reiz
der Neuheit schwand; und ich fing daher an über die schon gemachten Versuche sorgfältig
nachzudenken, und die vorhandenen genauer zu betrachten. Da erinnerte ich mich eines
lebhaften Knisterns an der Stelle des Elektrophors, die hernach die meisten Sternchen
zeigte (P, 3, 28)
Schließlich wird der lesende Novize in den Blick genommen, der die Experimente
replizieren soll; diesem didaktischen Impetus gibt Lichtenberg im Stil der ,Rat-
geber‘, also wissenschaftsdidaktischer Literatur des achtzehnten Jahrhunderts,
nach.
Da es aber jetzt nicht meine Absicht ist, alles zu beschreiben, was ich gesehen habe,
sondern was andre zu tun haben, um es selbst zu sehen: so wollte ich nicht mehrere
Figuren beifügen, und spare meine Hypothesen für eine andere Abhandlung (P, 3, 31).
Es ist das narrative Element, die prinzipielle Möglichkeit des individuellen Feh-
lers, wie sie Robert Boyle in seinen New Experiments Physico-Mechanicall, Tou-
ching the Spring of the Air67 eingesteht, das Lichtenberg übernimmt, um Glaub-
würdigkeit für seine Daten einzufordern. Zweitens trägt Lichtenberg, wie Boyle
auch, Sorge, tatsächlich Replikationen seines Experimentes zu ermöglichen. Die
letzten zwei Seiten des Artikels sind praktischen Anweisungen ,aus der Werk-
statt‘ vorbehalten. Die Abbildungen und mögliche weitere Experimente werden
also der community überantwortet, ähnlich den konkreten Beobachtungen und
Vorschlägen in der Stoffsammlung des Orbis Pictus.
In Sudelbuch B (P, 1, 114) wird ein Experiment beschrieben, das den Radius
der Schallwellen einer Stimme auf freiem Feld untersucht. Detailliert werden
Versuchsaufbau und Lokalität auseinandergesetzt sowie die Ergebnisse proto-
kolliert. Im Prosafragment Zur Biographie Kunkels Gehöriges (P, 3, 586) wird
dieses Experiment nun ins Satirische und Fiktionale gewendet. Der Experimen-
tator und Erzähler traute sich zu, dem „größten Prinzen“ Wahrheiten zuzurufen,
wenn dieser außerhalb des Radius vorbeiritte.
Ich habe es wohl zwanzig mal auf der Wiese vor dem Grönder Tor versucht, wenn ich mit
einem Radius von 80 Fußen einen Zirkel um mich als den Mittelpunkt beschreibe, so kann
mich kein Mensch mehr verstehen, der außer diesem Zirkel steht, ich mag so laut sprechen,
als ich immer kann und will. Dem größten Prinzen der Erde, wenn er just nach der Tangente
vorbei ritte, getraute ich mir jede Wahrheit ins Gesicht zu sagen ohne daß es für diesen
Prinzen im geringsten mehr sein sollte, als wenn ich es einmal, hinten in meinem Bette, des
Nachts, gegen die Wand zu, gedacht hätte. Also einmal für allemal eine Rede daraus zu
machen, dieses ging nicht an; ich kann schon der Druckerpresse nicht mehr entbehren, wo
andere gesündere Leute noch mit ihrer Lunge auskommen, aber sie sei mir auch nur, ganz
bescheiden, ein Sprachrohr und nicht ein Instrument virtuelle Gegenwart meiner in mei-
nem Vaterland zu bewirken, dieses ist die Ursache warum ich dieses Werkgen habe drucken
lassen (P, 3, 587).
Es ist durchaus möglich, dass aus dem Experiment heraus der narrative Kern, die
Satire, entwickelt wird. Betrachtet man den ,Rhythmus‘ der Einträge in den Su-
delbüchern, so lässt sich die klare Trennung von naturwissenschaftlichen und
literarischen Kontexten nicht aufrechterhalten, zumal man in jedem Fall davon
ausgehen kann, dass Lichtenberg das ,Aufeinanderzuschreiben‘ von naturwis-
senschaftlichen Bemerkungen (,von hinten‘) und von literarischen Bemerkun-
gen (,von vorn‘) als sinnfällige Verbindung naturwissenschaftlicher Innovation,
die sich bei ihm über induktiv generierte Analogien vollzieht, und von ,kleintei-
67 Robert Boyle: The Works, Hildesheim: Olms, 1965, Bd. 1 (Nachdruck der Ausgabe von 1772).
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 95
68 Steven Shapin: „Pump and Circumstance: Robert Boyle’s Literary Technology”. Social Stu-
dies of Science, Bd. 14, 1984, S. 481–520.
Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle, and the Expe-
rimental Life, Princeton: Princeton University Press, 1985.
Peter Dear: “Totius in verba. Rhetoric and Authority in the Early Royal Society”. Isis,
Bd. 76, nr. 2, 1985, S. 144–161.
69 Siehe zur Kritik am barocken Modell etwa in Johann Christoph Gottscheds: Versuch einer
kritischen Dichtkunst (1751) das Kapitel „Vornehmste Regeln einer milesischen Fabel“; oder Gott-
hard Heideggers: Mythoscopia romantica oder Discours Von den so benannten Romans (1698). Die
beste Einführung in das Thema stammt immer noch von Victor Lange: „Erzählfomen im Roman
des achtzehnten Jahrhunderts“. Anglia. Zeitschrift für Englische Philologie, Bd. 76, 1958. Später
Jörg Schönert: „Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Auklärung im Roman des
96 | 2 Lichtenberg
Es gibt eine Polemik, die von Leitzmann bis zu Sauder reicht: Lichtenberg sei der
Meister der kleinen Form, er habe etwa die Prosafragmente nicht in einen ho-
mogenen Roman binden können, weil es ihm an psychischer Disposition für ein
längeres Werk gefehlt habe70. Die Frage stellt sich vielmehr, ob Lichtenberg denn
tatsächlich den Fragment-Charakter der Texte beheben wollte: für sich selbst und
für andere. Die Figurenwahl: ein Buchhändler, ein Oberförster, ein Abenteurer,
späten achtzehnten Jahrhunderts“. Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft, Bd. 44, 1979,
S. 183–229.
70 Gerhard Sauder: „Lichtenbergs ungeschriebene Romane“. Photorin, Bd. 1, H. 1, 1979,
S. 3–14.
Theodor Karl Albert Leitzmann: Aus Lichtenbergs Nachlass, Weimar: Böhlau, 1899.
S. 189–190: „Keiner dieser verschiedenen Pläne (die Prosafragmente, JL) ist zur Vollendung
gekommen; der Grund dazu liegt in der Geistesanlage des Verfassers. So wenig er sich für eine
größere systematische Darstellung eines wissenschaftlichen Problems oder für eine große zu-
sammenhängende Satire trotz der Fülle seiner scharfen und vielseitigen Einzelbeobachtungen
jemals innerlich fertig oder auch nur disponiert fühlte, so wenig dürfen wir erwarten, daß ein
von ihm geschriebener Roman bei aller Feinheit charakteristischer Einzelzüge ein literarisches
Kunstwerk geworden wäre, das sich eine bleibende Stellung hätte erringen können. (…) Der
aphoristische Denker unterschätzte die Kluft, die ihn vom schaffenden Künstler schied; der
spröde Griffel glitt ihm schon im ersten Anfang wieder aus den Händen“. Der neidische Blick
nach Weimar, zur ersten Gilde der Editoren, prägt ganz erkennbar diese Invektive, die dem
eigenen Forschungsgegenstand und damit auch der eigenen Arbeit derart Unrecht tut, dass man
Berends Arbeiten zu Jean Paul mit umso größerem Vergnügen liest.
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 97
zeigt die typisch aufklärerische Vorliebe für standesbetonte und –definierte Fi-
guren. Die plots sind ähnlich den Sensationsromanen eines Siegfried von Itze-
hoe, Knigges, Vulpius’ und vieler anderer reich an Höhepunkten und einer spe-
zifisch wahllos gereihten Abfolge von Ereignissen. Nichts deutet darauf hin, dass
hier die Breite einer comédie humaine tatsächlich erreicht worden wäre, die
Lichtenberg in den Sudelbüchern durchaus als Arbeitsaufgabe in Betracht zog.
Eben deshalb liegt die Vermutung nahe, dass das große Romanprojekt analog zur
Experimentreihe mit Labortagebuch à la Lavoisier gar nicht angestrebt worden
ist. Man kann die Prosafragmente als Übungstexte des Orbis-Pictus-Programms,
als Schreibübungen, die von den Skizzen Chodowieckis iniitiert wurden, lesen.
Es war nicht intendiert, sie zu einem Roman auszuweiten.
Leitzmann konnte die Handschriften zu den sogenannten Romagnoli einse-
hen. Offenbar hat Promies zumindest dieses Segment des Nachlasses nicht im
Original befragt, sondern Leitzmanns Deutungen und Hinweise übernommen;
eventuell war das Konvolut im Nachlass verlegt. Wir haben diese Mappe aufge-
funden; sie ist abgelegt und damit prinzipiell verfügbar unter der Signatur IV,
1971. Das Konvolut weist ein Titelblatt auf: „Romagnoli. Zum Romane [größten-
teils gedruckt Nachlaß S. III–3]. Es umfasst insgesamt 11 Oktavblätter, die nicht
immer vollständig beschrieben sind. Wie Leitzmann angibt, ist die Tinte zum Teil
stark verblasst. Zusätzlich schaltet Promies in seinen Abdruck der Prosafrag-
mente Fundstellen aus Signatur IV,36 ein, ein Notizbuch, in dem Lichtenberg
offenkundig flüchtige Einfälle, besonders zum Doppelten Prinzen niedergelegt
hat. Dieses Notizbuch besteht aus sechs schmalen ,Quartblättern‘. Die überlie-
ferten Kunkel-Fragmente sind bis auf eine Ausnahme nicht mehr in den Hand-
schriften nachweisbar. Es ist zunächst wichtig sich zu verdeutlichen, dass dies
das gesamte Material ist, das zu den Prosafragmenten in Lichtenbergs Nachlass
nachweisbar ist – und dies schon zu Leitzmanns Zeiten, also der Wende vom
neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Lichtenberg ist also vermutlich
nicht im entferntesten der Beendigung eines größeren erzählerischen Werks
nahe gekommen, obwohl die narrativen Entwürfe und Studien zum Doppelten
Prinzen und zu Kunkel durchaus tragfähig sind. Drucken ließ Lichtenberg nur
einen Abriss des Doppelten Prinzen im Kontext der Erzählung Auf dem Blocks-
berg.
Eine zentrale Forderung des Orbis Pictus ist die Originalität des Charakters;
deshalb Lichtenbergs Vorliebe für Dienstboten und ihre Ticks, Steckenpferde
und Fauxpas. Genus humile: Der Protagonist, sein intellektueller Radius und
seine Ausdruckweise sind in den Prosafragmenten ausnahmslos der Unter-
schicht entnommen. Darin Jean Paul verwandt, ist es nicht Lichtenbergs Stärke,
71 Ich danke Herrn Jens Altena von der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen sehr herz-
lich.
98 | 2 Lichtenberg
Die Rolle von Bildern und Gemälden ist im Werk Lichtenbergs, wie bei Goethe
auch, kaum wegzudenken; dies nicht nur im Sinn der literarischen Produktivität
der Bildbeschreibung, sondern auch in dem einer Übertragung der Ausdrucks-
absicht von der eigenhändig angefertigten Zeichnung zum zu schreibenden
Text75. Bilder speisen die Schreibideation in ähnlicher Weise, wie wir es für räum-
liche Metaphern und andere mentale Modelle sahen. Lichtenberg beschreibt wie
Goethe Kindheitserinnerungen an Gemälde, aber auch an halluzinierte Bilder,
etwa während einer Krankheit. Ist für Jean Paul die Musik der emotionale Jung-
brunnen schriftstellerischer Imagination, so übertragen Gemälde bei Lichten-
berg (und Goethe) ihre Bildsprache in die Charakterzeichnungen, die szenischen
Rahmen, in den narrativen Kern des entstehenden Werks.
Unter allen Bildern, die ich habe finden können, gleicht ihm keines besser, als Mahmud,
wo er auf Thron sitzt mit beiden Armen in die Seite gestützt, und sich den königlichen
Federbusch vom Sultan Hussein auf den Kopf setzen läßt, in Hanway’s historical account of
the british trade over the caspian sea. Vol. II, p.180. Nur mit dem Unterschied, daß man sich
bei Kunkeln ebensowenig einen Bart, als ein Diadem denken muß (P, 1, 151)
75 Piktorale Elemente im Werk Lichtenbergs sind etwa: Den Nachtwächter nach der Stimme
zeichnen: E, IV, 29: S. 18, Sudelbuch B, IV, 26, S. 96 (P, 1, 110). Sudelbuch E (IV, 29), S. 47.
Gesichter: E, S. 32; F, S. 642. Fernrohr: E, S. 38. Erdkrümmung: E, S.CV.
76 Siehe auch P, 1, 428.
100 | 2 Lichtenberg
Es ist bemerkt worden, wie nahe sich die Beschreibung und die szenische Um-
setzung von Konzepten, die durch den Kontakt mit Gemälden entstanden sind,
auf der einen Seite und der Progress des ,Lesens‘ eines Gemäldes von der zen-
tralen Bildidee bis zum ephemeren Randsujet sind. Viele Kunstwerke der Malerei
(im achtzehnten Jahrhundert und davor) kodieren den Anfangspunkt der ,Lek-
türearbeit‘ des Betrachters sowie seinen Progress durch die einzelnen Bildwerte
hindurch. Für die niederländische Kunst des siebzehnten Jahrhunderts, Goethes
Liebling, hat Svetlana Alpers eine Kunst des Beschreibens ausgemacht, die der
Bildsprache der entstehenden Naturwissenschaften der Royal Society exakt ana-
log ist77. Instrumentenbeschreibungen und Erklärungen von Abbildungen mi-
kroskopischer oder makroskopischer Objekte folgen dem Pfad, den das Auge des
Betrachters nehmen würde. Sie sind nicht in eine ,logische‘ consecutio einge-
bunden oder eine ,narrative‘ Stringenz. Robert Boyle, Robert Hooke, Antoni van
Leeuwenhoek, Hevelius, Huygens und viele andere Naturphilosophen des sieb-
zehnten Jahrhunderts orientieren sich an der bildinternen Hierarchisierung von
Konzepten. Das bedeutet, dass die Abfolge und Wertung von Bildideen nicht nur
die Rezeptionstätigkeit des Lesers im Sinn einer kognitiven Praxis steuert, son-
dern auch die Pfade wissenschaftlicher Experimentalisierung und Erkenntnis
auf Seiten des Forschers.
Nun gründet sich die Hypothese dieser Arbeit darauf, dass bestimmte Au-
toren in einigen Epochen Transfers von kognitiven Praxen aus den Naturwissen-
schaften initiieren und umsetzen. Wir nannten in Anlehung an Lorraine Daston
Ökonomien der Aufmerksamkeit, die Kunst der Erinnerung, Aufbau und Verlust
von Glaubwürdigkeit und Beobachtung. Es ist deutlich geworden, dass die Di-
daktik gegenüber dem naturwissenschaftlichen Novizen und gegenüber dem
Nachwuchs-Literaten gleichermaßen darauf fußt, diese kognitiven Praxen ein-
zuüben. Ist es möglich, sie als produktionsseitiges Moment beschreibbar zu ma-
chen?
Die These, dass eigene Zeichnungen in den Sudelbüchern oder solche von
fremder Hand (Chodowiecki, Hogarth) analog zu setzen sind mit den Instrumen-
tenskizzen und Abbildungen von Versuchsaufbauten in den Briefen und Vorle-
sungsvorbereitungen Lichtenbergs, die in den nächsten drei Kapiteln im Vorder-
grund stehen werden, liegt nahe. Ein Blick auf Antoni van Leeuwenhoek und
Robert Hooke, auf die beiden großen Mikroskopisten des siebzehnten Jahrhun-
derts belehrt, dass der Beobachtende zugleich der Schreibende ist: mit dem einen
Auge fixiert er das Objekt im Mikroskop, mit dem anderen entwirft er eine Skizze
auf dem danebenliegenden Papier78. Das ist präzise die Beobachtungshaltung,
77 Svetlana Alpers: The Art of Describing: Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago: Uni-
versity of Chicago Press, 1983.
78 Jens Loescher: „Spaces and Traces.“ a.a.O. S. 89.
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 101
die dem Nachwuchsautor eignet. Der Novize des Orbis Pictus wechselt vom Un-
tersuchungsobjekt, also dem Menschen, zum Papier, auf dem er die ,Skizze‘, die
Charakterstudie, aufträgt und wieder zurück. Er ist mit einer beständigen Ver-
lagerung der Aufmerksamkeit befasst, die zu einer kognitiven Entlastung führt.
Dabei ist es unerheblich, ob der ,malende‘ Autor, so Bodmer und Breitinger, die
Charakterstudie tatsächlich zeichnet oder sprachlich realisiert.
102 | 2 Lichtenberg
Abb. 11. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 26: Bl. 86r (Sudelbuch B, S. 151).
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 103
B, S. 151
Sein Gedanke soll sein Ehrengedächtnis sein, mich dünkt das ist
viel gesagt wenn es wahr ist. Jeder der den Menschen weiter kennt,
als der Naturgeschichtsschreiber, oder der ihm ähnliche Moralist, der be-
müssen.
sen eine eigene Kunst erfordert. Etliche habe ich gebraucht, der eine
von welchem einmal
ist ein Peruquenmacher, der einmal Gunkel Schläge bekommen hat; und
Der Peruquenmacher ist sehr defekt, dabei einförmig und enthält bloß
alltägliche Sachen, der Bäcker hingegen liest sich gut, erzählt florissant,
Sie ist 1200 englische
scheint aber parteiisch zu sein. Meilen lang, zuweilen
in Tälern 30 Fuß
Er hatte ein paar Stunden zugebracht, um einen guten hoch sonst auf steilen
G Felsen
Gedanken über die chinesische Mauer zu haben, und war zu nur ib. über die
Flüsse gehen zwei
dem Ende die Sache physisch, moralisch und metaphysisch durchgegangen Etagen von Bögen
104 | 2 Lichtenberg
Abb. 12. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 28: S. 132 (Sudelbuch D).
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 105
D
Kunkel solus
Verse
106 | 2 Lichtenberg
79 Erster Satz Klavierkonzert c-Moll KV 491 (Abschlussvermerk: „Wien, 24. März 1786“). Auto-
graph in der British Library London. Deutlich erkennbar sind in die Partitur, ganz ähnlich den
Büchnerschen ,Karrikaturen‘ im Woyzeck, Zeichnungen eingefügt, unter anderen ein nachdenk-
lich in die Hand gestützter Kopf. Ich danke Matthias Tschirch, Würzburg, für diesen Hinweis.
80 Walter Steffens fügt in die Partitur seines 1979 uraufgeführten Stückes Guernica. Elegie für
Bratsche und Orchester Bilder von bombardierenden Flugzeugen ein.
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 107
Für das Entwickeln der Handlungsabfolge aus dem mentalen Bild und der diesen
Prozessen zugrundeliegenden Charakterstudie war eine spezifische Form der
Archivierung des gewonnenen Materials notwendig. Die Romagnoli-Handschrift
zu „Christoph Seng“ exemplifiziert dies. Das Oktavblatt ist in zwei Spalten ge-
teilt; in der rechten Spalte findet sich die Charakterstudie, über die wir zuvor im
Kontext des Kunkel-Fragments sprachen, in der linken die narrative Ausgestal-
tung. Wir haben ein Ordnungsschema vor uns, das den Orbis Pictus, das bild-
hafte Fragment, und die Hogarth-Erklärungen, also die narrative Ausarbeitung,
auf einem Blatt zusammenbringt.
108 | 2 Lichtenberg
Abb. 13. Cod. Ms. Lichtenberg IV, 19: Bl. 7r (Romagnoli-Fragment, „Christoph Seng“).
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 109
Entwurf
Der Vater stirbt. Der Sohn dessen Geschichte eh Christoph Seng
wird
erzehlet wird verkauft die besten Bücher, weil er aber läßt sich durch kleine Umstände von
einige nicht los werden kann so fängt er an zu stu- seinen Begebenheiten abschrecken,
dieren. Seine Neigung geht auf die Theologie, die selten durch große. Genie ist ihm nicht
Nacht im Bette fällt ihm ein daß er die hebrä. abzusprechen, nur hat ihn die Natur
Bibel verkauft hatte, deswegen resolvierte er mit einer besonderen Empfindung ver-
sich die Rechte zu studieren ohnerachtet er auch sehen, daß ihn alles die macht, daß
kein Corpus Juris hatte. Man findet für gut er selten tut was alle Menschen
einen Teil seiner Lebens-Geschichte ann der Universität würden getan haben.
zu überschreiten, ward Hofmeister bei einem H. von
R. Der Herr wird beschrieben, einige Taten wie
er ihn verteidigt, einige Gespräche die sie führen.
Er gibt ihm einen guten Anschlag der aber weil
die Hauptsache übel abläuft und endlich der Hr.
erstochen wird sich der Hofmeister zu Schiff be-
gibt Soldat wird, hier legt er sich auf die
schönen Wissenschaften im bequemen Verstand,
verliert über ein Mädchen den Verstand, geht
durch, wird von einigen Bauern gefangen, wird
wieder gesund und Informator, endlich Pre-
diger, schreibt einige Bücher macht Neperi-
sche Stäbgen auf den Kauf, verteidigt einen Bauern der
Ehbruchs halben angeklagt
wurde durch allerlei Advokaten Schwänke, wird
abgesetzt. Er fängt in N. eine Spezerey
Kram an, wobei er sich stark auf die
Mathematik legt, und weil er den besten An-
schlag gab wie man den dem Einreißen eines
[Seitenwechsel]
110 | 2 Lichtenberg
Promies’ Autopsie dieses Schriftträgers lautet wie folgt: „Die hier abgedruck-
ten Bruchstücke finden sich auf dem erste Blatt eines zur andern Hälfte leeren
Quartbogens, zu dem der inliegende Bogen mit der Fortsetzung verloren ist, in
der Weise, daß S. 609, 7–11 am Rande neben dem Anfang von S. 608 steht“ (P, 3K,
292). Nach Sichtung dieser Blätter korrigiere ich diese Einschätzung: Es ist kei-
nem akzidentellen Autographenverlust zuzuschreiben, sondern einer intenti-
onalen Schreibstrategie, dass hier wie auf einer Karteikarte links die Ausführung
und rechts der ,Kern‘ des Fragments niedergelegt wurde. Im Ordnungssystem der
entstehenden Naturwissenschaften, also den Karteikarten im Hauptwerk Species
Plantarum Carl Linnaeus’ (1746), waren rechts das Genus, links die Species auf-
getragen81. Das Besondere dieser Ordnungssysteme bestand ja in ihrer ,Erweiter-
barkeit‘: Linnaeus’ Systema naturae umfasste in der Erstauflage elf Seiten, die
dann sukzessive um das Vielfache vermehrt wurden. Der Spätaufklärer Stoy hat,
wie erwähnt, einen beliebig ergänzbaren Orbis-Pictus-,Baukasten‘ für Kinder
entwickelt.
Es ist nun präzise diese ,genetische‘ Dokumentation von Schreibideen, die
Lichtenberg in den Romagnoli-Fragmenten verfolgt. Das Genus, oftmals das Cha-
rakterprofil der Hauptfigur, wird gesondert auf dem Papier platziert, während die
narrative Umsetzung, die Species, in der benachbarten Spalte realisiert wird.
Theoretisch ließen sich weitere Species anschließen, die dem gleichen Genus
angehören. Auch die Kunkel-Fragmente folgen diesem Muster sowie das erwähn-
te Notizbuch (Signatur IV,36), von dem ich hier Blatt 2 recto abbilde.
81 Carl Linnaeus: Species plantarum, first draft (1746), Ms “Gentiana”, Linnean Society of Lon-
don. Zit. b. Staffan Müller-Wille/Sara Scharf: „Indexing nature: Carl Linnaeus (1707–1778) and
his Fact-Gathering Strategies”. The Nature of Evidence: how well do Facts travel?, London School
of Economics, nr. 36, 2008. S. 34.
http://www.lse.ac.uk/collection/economic
2.3 Opus magnum? Lichtenbergs Prosa | 111
Unterscheidet sich das Schreiben des Naturwissenschaftlers von dem des Schrift-
stellers? Erwächst aus der unterschiedlichen Art der Produktivität eine andere
Schreibstrategie? Ist das Zusammenspiel von Formel, Zeichnung und Fließtext,
das auf dem Schriftträger Räume besetzt und derart schreibresultativ distinkte
kognitive Ebenen repräsentiert, ein Phänomen ausschließlich naturwissen-
schaftlichen Schreibens? Will man exemplarische Typen naturwissenschaftlicher
Schreibstrategien profilieren, so bieten sich ,große Namen‘ an: Galilei und La-
voisier. Ein kurzer Blick auf Galileis Kodex 72, also die Vorarbeiten zu den Dis-
corsi, wird im Wesentlichen die räumlich realisierte kognitive Ordnung des
Schreibenden profilieren. Der Wechsel von Zeichnung zu Text, von Berechnung
zur Datentabelle folgt einer Strategie kognitiver Entlastung: stagniert die
Schreibideation in einem Bereich, wird ein anderer ,aufgesucht‘ und vice versa.
Das führt zu beeindruckenden Ensembles von Textblöcken, Zeichnungen, Daten-
tabellen und Berechnungen, die ihrer Anordnung auf dem Schriftträger ent-
sprechend in ,semantische‘ Bezüge zueinander treten.
Bei Lavoisier dagegen herrscht eine korrekturarme Schreibweise, ein line-
ares Fortgehen der Schreibideation jenseits papierorientierter Schreibstrategien
vor. Dabei wäre es verkürzend, Lavoisier als Kopfarbeiter par excellence darzu-
stellen; die Denkbewegung und Versprachlichung erfolgt durchaus schreibori-
entiert: also linear, ,von links nach rechts‘ (es gibt in der Schreibforschung die
Hypothese, dass Attribuierungen nachträglich versprachlicht und motorisch re-
alisiert werden; bei Jean Paul lässt sich Derartiges nachweisen). Allerdings lässt
sich kein ,Entlastungssprung‘ zu einem anderen, eventuell assoziativ und/oder
kontiguitiv abgelegten Thema beobachten. Derlei Entlastungssprünge, wie wir
sie, besonders im Wechsel zur biographischen Schreibweise, bei Jean Paul beob-
achten können (Kapitel 3.3), sind bei Schreibtypen wie Galileo oder Lichtenberg
auf dem Schriftträger markiert. Dies kann wie bei einem Blatt Galileos aus dem
Kodex 72 ein Hiat, eine Kluft zwischen willkürlich ausgebreiteten Schreibblöcken
sein82; dies kann aber auch durch Zweispaltigkeit, wie bei Lichtenberg, umge-
setzt werden. Lichtenberg erprobt ja die zweispaltige Aufteilung des Blattes in
Sudelbuch A und später in K und L, bevor er dann ab 1786 seine naturwissen-
schaftlichen Aufzeichnungen, sowohl die ,Büchelgen‘ als auch die Hefte, die der
82 Galileo Galilei: Notes on Motion, Digitale Edition Ms Gal. 72, Folios 33 bis 196. Biblioteca
Nazionale Centrale, Florence; Istituto e Museo di Storia della Scienza, Florence; Max Planck
Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Im Folgenden: Galmpiwg. Hier Bl.163 verso
http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Galileo Prototype/INDEX.HTM.
114 | 2 Lichtenberg
2.4.2 Schreibtypen
84 Siehe dazu die Ergänzungen der früheren Ausgaben des Erxleben, also die Einleitung und
die Fußnote zu §493, die mehrere Seiten umfasst. Im Einzelnen die Nachweise für obenstehende
Punkte: GCL: Anfangsgründe der Naturlehre nach Johann Christian Polykarp Erxleben, Göttingen:
Walllstein, 2005, S. 952–953, S. 894–901.
85 Siehe Kapitel 2.2.
86 “And to accomplish this, they have indeavor’d, to separate the knowledge of Nature, from
the colours of Rhetorick, the devices of Fancy, or the delightful deceit of Fables. (…) They have
striven to preserve it (nature, JL) from being overpress’d by a confus’d heap of vain, and useless
particulars; or from being straitned and bounded too much up by General Doctrines.” Thomas
Sprat: The History of the Royal Society, St. Louis: Washington University, 1958, S. 62.
87 Statistik und Zufallsrechnung steckten in den Kinderschuhen, LaPlace allerdings war Schü-
ler Lavoisiers, die Bernoullis hatten Grundlagen für statistische Berechnungen gelegt.
116 | 2 Lichtenberg
88 Jürgen Teichmann: „,Die Mythen der Physiker‘. Weltbau und Experiment im 18. Jahrhundert.
Von der mechanischen Astronomie zur chemischen Elektrizitität“. Georg Christoph Lichtenberg.
Wagnis der Aufklärung. Ausstellungskatolog, München: Hanser, 1992. S. 312–315. Peter Brix:
„,Vermächtnisse‘. Lichtenbergs moderne ,Fragen über die Physik‘“. Wagnis der Aufklärung,
S. 397–404, S. 402.
89 Marcellin Berthelot: La révolution chimique, Lavoisier: ouvrage suivi de notices et extraits des
registres inédits de laboratoire de Lavoisier, 1890.
2.4 Ensembles: Lichtenbergs Antiphlogiston-Manuskripte | 117
möglich war. Daraus erklärt sich die Langlebigkeit und die ausufernde Detail-
verliebtheit, um nicht zu sagen: Langatmigkeit der Phlogiston-Debatte, der ge-
genseitigen Übersetzungen und Kommentierungen, besonders im Fall der ,In-
teraktion‘ von Kirwan und der Lavoisier-Schule: nicht die Generierung der Daten
war der Streitpunkt (die Gewichtszunahme der meisten kalzinierten Metalle
stand praktisch außer Frage), sondern die Interpretation der Daten. Die jüngsten
Verlautbarungen des Kontrahenten werden wie diplomatische Depeschen einem
aufwändigen Einverleibungsprozess der textlichen Bearbeitung, Prüfung und
der kommentierten Neuherausgabe unterzogen, besonders gut ablesbar an Ma-
dame Lavoisiers (kommentierter) Übersetzung von Kirwans Essay On phlogiston90
und den Reaktionen der ,Phlogistiker‘.
Soweit der wissenschaftshistorische Hintergrund. Ich dokumentiere nun im
Folgenden einige Blätter aus den Labor-Tagebüchern Lavoisiers, die Marco Be-
retta in einer mustergültigen digitalen Edition, die Großprojekten wie derjenigen
von Galileo’s Kodex 72 in nichts nachsteht, der Öffentlichkeit zugänglich ge-
macht hat91. Sodann werde ich Lichtenbergs naturwissenschaftliche Schreib-
strategien anhand einiger Transkriptionen und Abbildungen aus dem Konvolut
VII B herausarbeiten, das dem sechsten Kapitel des ,Kompendiums‘, also dem
Erxleben, zuzuordnen ist, den „Wirkungen der anziehenden Kraft bei flüssigen
Körpern“.92
sichtsmaßregel abgewichen wird. Die prospektive Planung, die das gesamte Le-
bensprojekt zu Beginn der Karriere in die Nussschale von vier Seiten bringt, sorgt
auf der kognitiven Ebene der Ideengenese und Sprachproduktion beim Schrei-
ben dafür, dass kaum ,Spuren‘ schreibmotorischer Markierung, von Monitorak-
tivität (Korrekturen) und von Ideengenese ,in actu‘ nachweisbar sind. Gerade
dies ist der Befund, der festgehalten zu werden verdient, betrachtet man das
gesamte Konvolut der dreißig Labor-Tagebücher.
Natürlich wird die makellose Beschriftung der Oberfläche des Schriftträgers
an einigen Stellen im Konvolut durchbrochen; zunächst einmal erfordert die
Mischung aus Objektivität, quantitativer Messung und Narrativität, dass oftmals
Datenmengen in schier nicht endenden normalsprachlichen Sätzen präsentiert
werden, nicht in einer Tabelle. In R06 (1778–1782) sind auf Bl.176 recto einige
Zeitungsanzeigen geklebt, überhaupt wird einige Male etwas bricolage geübt,
also das Aufkleben von Korrekturzetteln (R11, Bl.23av). Vereinzelt tauchen Lich-
tenbergsche Kritzeleien in den Protokollen auf.
Das erstaunlichste Moment aber ist die ,Narrativierung‘ der beschreibenden
Passagen. Auf Bl. 17 recto in R01 lesen wir:
Les machines pour éprouver les effets de l’air sur les animaux sont commandées et presque
achevées, il est inutile de les decrire icy dans le moment on en parlera quand elles seront
faittes.
Il est encore un article, c’est de déterminer si l’air sorti des corps est elastique dilatable par
le chaud et par le froid, de la meme manière que celui de l’athmosphere.
Dans les expériences sur les animaux ne pas obmettre les grenouilles » (R01/ S. 17 recto)
Auf diesem Blatt findet sich einer der wenigen Schreibbefehle Lavoisiers: „Ver-
giss nicht die Frösche bei den Tierexperimenten [Atmung]“. Auf Blatt 18 recto des
gleichen Konvoluts begegnet uns wiederum die Klage, dass Instrumente nicht
rechtzeitig geliefert werden; deshalb imaginiert die narrative Projektionsfigur
eine einfachere Maschine, die in etwa den gleichen experimentellen Effekt hätte:
124 | 2 Lichtenberg
Ganz erkennbar wurde zuerst die Zeichnung angefertigt und dann die In-
strumentenbeschreibung um die Zeichnung als Fließtext gelegt. Dies ist bei Lich-
tenberg, in den Briefen an Wolff, genau umgekehrt (Kapitel 2.6). Lichtenberg
formuliert zuerst die Instrumentenbeschreibung aus, dann ergänzt er die Zeich-
nung in einen prospektiv freigehaltenen Raum auf dem Papier. Im Brief an Wolff
(10. Juni 1782) etwa ist dieser Leerraum nicht ausreichend; deshalb mäandert die
Zeichnung in den Text, wie wir in Kapitel 2.6 sehen werden. Auch bei Lavoisier
wird mit Buchstaben als einem Verweissystem gearbeitet, das die beiden Dar-
stellungsmodi zusammenbindet.
Welche kognitive Funktion hat es, wenn der Schreibende zuerst die Zeich-
nung realisiert, dann die Beschreibung? Bei Lavoisier handelt es sich im vorlie-
genden Autograph nicht um eine tatsächlich vorhandene, sondern um eine ima-
ginierte Maschine – eine Maschine, die die gleichen Aufgaben einfacher und in
kürzerer Zeit wahrnehmen kann, nachdem die bestellten durch die Langsamkeit
der Arbeiter nicht fertiggestellt werden konnten. Wir haben bereits erfahren,
dass „die Maschinen, die die Effekte der Luft bei den Tieren unter Beweis stellen
sollen, bereits bestellt und schon bezahlt sind; es ist deshalb unangebracht/un-
produktiv sie hier zu beschreiben, wenn sie doch in dem Moment tatsächlich
gefertigt werden, in dem ich über sie spreche“. Eine Maschine wird also nur dann
gezeichnet und beschrieben, wenn sie noch nicht existiert! Die Instrumente, die
Lavoisier abbildet und im medialen Wechsel mit der sprachlichen Beschreibung
schreibend ,entwickelt‘, sind also Gedankeninstrumente, die nicht die Funktion
einer Nachbildung durch andere Instrumentenbauer oder den Nachvollzug
durch den Novizen haben wie bei Lichtenberg in den Briefen an Wolff. Hier
handelt es sich um kognitive ,Hebwerkzeuge‘, die ein empirisches Problem al-
lererst erkennbar oder experimentell ,lösbar‘ werden lassen. Diese Art schreib-
experimenteller Phantasie, die Suche nach einem Instrument, das gleichzeitig
kognitiv entlastend (beim Zeichnen, beim Beschreiben) wirkt und dadurch wie-
derum die ,inhaltliche‘ Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Pro-
blem fördert, ist grundlegend für Lavoisier und für Lichtenberg.
Die Klagen, dass die Handwerker die Maschinen nicht rechtzeitig liefern,
scheinen also nur vorgeschoben, weil präzise jener kognitive Zustand der expe-
rimentellen ,Lücke‘ gesucht wird, die dann mit einem imaginativen Instrument,
einem Gedankeninstrument gefüllt werden kann.
sind. Analog zu den antiken Quellen zum freien Fall, besonders Aristoteles, un-
terteilt Galileo die Schrift in die Themen gleichmäßige Bewegung, natürlich be-
schleunigte Bewegung und ,gewaltsam‘ beschleunigte Bewegung (Wurfgeschos-
se und andere Projektile). Das Konvolut galt immer als Glücksfall für Forscher,
die an Schreibprozessen interessiert sind: Wissenschaftshistoriker, Naturwissen-
schaftler und Philologen untersuchten Galileos Manuskripte in Hinblick auf die
Genese der ,Propositionen‘ in den Discorsi, in Hinblick auf die ,Lösung‘ von oder
den ,Rückfall‘ auf antike und mittelalterliche Axiome, etwa des freien Falls, und
nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der ,idealistischen‘ Polemik Alexandre
Koyrés gegen den Experimentator Galileo.
Dementsprechend gibt es in der Galileo-Forschung eine lange Tradition akri-
bischer Handschriftenanalysen, die sich vom Begründer der National-Ausgabe
Antonio Favaro über den Doyen Stillman Drake, Winifred Lovell Wisan bis zur
digitalen Ausgabe des Kodex, verantwortet von Peter Damerow und Jürgen
Renn93, spannt. Die Galileo-Forschung kann geradezu als quellenorientierte
Schreibforschung bezeichnet werden. Kaum jedoch wurde den Schreibprozessen
im Kodex selbst Beachtung geschenkt, den individuellen Schreibstrategien, die
Ideengenese und deren evolvierende Versprachlichung unterstützen und steu-
ern. Das für diesen Zusammenhang wichtigste Phänomen in Galileos Konvolut
ist ein kompliziertes Ensemble von Zeichnung, Berechnung, Text und Datenlis-
ten auf mehreren Blättern94. Stillman Drake nannte einige dieser Ensembles
„Memoranda“95: ,Merkblätter‘, auf denen Galileo und seine Schreiber in ,kogni-
tiven Blöcken‘ Ideen zu den genannten Problemen der Discorsi entwickeln. In
mindestens einem Fall werden Skizzen, genauer gesagt Winkeltangenten be-
nutzt, um einen ,Korridor‘ auf das Papier zu legen, der diese Textfelder vonein-
ander abtrennt96.
93 Galmpiwg, a.a.O.
94 Siehe Kodex 72, Galmpiwg, a.a.O., Bl. 61 recto, Bl. 64 recto, Bl.82 recto, Bl. 84 recto, Bl. 96
verso, Bl. 139 recto, Bl.147 recto, Bl.160 recto.
95 Stillman Drake: Galileo at Work: his scientific Biography”, Chicago [u.a.]: Chicago Univ. Press,
1978. S. 80. Blatt 163 verso und Blatt 164 recto sind laut Drake Beispiele für Memoranda.
96 Kodex 72, Galmpiwg, a.a.O., Bl.122 recto.
128 | 2 Lichtenberg
Sudelbüchern E und F beobachten kann? Lässt sich behaupten, dass die Zwei-
spaltigkeit in D, J, K, L letztendlich eine Fortsetzung der Randkommentare der
,frühen‘ Sudelbücher und der Erxleben-Bearbeitung ist, dass also die rechte Spal-
te mit der linken und vice versa in Einzelfällen korrespondiert? Ist schließlich die
Aufteilung der ,späten‘ Sudelbücher in einen naturwissenschaftlichen und einen
,allgemeinen‘ Teil nicht als Fortsetzung der kognitiven Auslagerung im Rand-
kommentar oder des schreibideativen Bezugs in der Zweispaltigkeit zu sehen?
Dergestalt, dass der hintere, naturwissenschaftliche Teil und der vordere allge-
meine ,aufeinanderzulaufen‘?
Man muss sich den Schreibakt vorstellen: der Schreibende ,springt‘ zwi-
schen Teilen des Buches hin und her und teilt seine Gedanken auf; die Schreib-
ideation wird ,gerichtet‘ durch die jeweilige ,Position‘ im hinteren oder vorderen
Teil des Buches. Nun soll hier keine lückenlose Entwicklung des experimentel-
len, also sich selbst beobachtenden und den Schreibvorgang protokollierenden
Lichtenberg dargestellt werden. Sudelbuch D, das erste zweispaltige, beginnt um
1772 und endet 1777; die ersten Aufzeichnungen zu den Vorlesungen datieren auf
Ostern 1780. Sudelbuch J, 1789–1793, führt zum ersten Mal die Aufteilung in zwei
getrennte thematische Räume durch. Randkommentare, also ,Glossen literari-
scher Produktivität‘, lassen sich bereits in den ersten beiden Sudelbüchern nach-
weisen, besonders dann in B, E und F.
132 | 2 Lichtenberg
[VII, B 2]
[Blatt 8 recto]
Den 26. August 1794 (1)
Was die Phlogistiker bisher durch ihr
Darstellung der 58 Grundstoffe kurz Phlogiston erklärt haben, erklären sie theils durch ihr oxygene
wiederholt simpel, durch Gas oxygene, durch hydrogene, und ihre carbone
1. Sie läugnen ein Phlogiston, oder und
eine materielle Ursache der Brenn- Gas carbone.
barkeit.
2. Sie nehmen ein allgemein Säurendes
Prinzip an, das sowohl die Ursache
der Säure aller Säuren als (2)
3. auch die Ursache der Entkalchung ent- Wer Einwände gegen das antiphlog. System macht, ist deswegen
hält. noch kein Verteidiger des Phlogistons.
4. daß das Wasser aus den Basibus der dephlog. und infl. Luft zu-
sammengesetzt sei.
Alle diese Sätze wollen wir nun ein- (3)
mal kurz beleuchten. – Allein hier muß ein altes System verlassen
ich bitten nicht mißverstanden zu werden.
Meine Absicht ist gar nichts weiter als
einige Zweifel beizubringen, auf die
man wenigstens als Philosoph Rücksicht (4)
nehmen muß und über die sich in der Für was dabei die Welt (Geschichte) älter
Folge zu belehren, nun, wenn man
jetzt sieht, daß ein altes System
wankt, nicht gleich wieder mit Laib
und Seele sich in eines zu werfen,
2.4 Ensembles: Lichtenbergs Antiphlogiston-Manuskripte
Zunächst fällt auf, dass nur knapp die Hälfte des Schriftträgers genutzt wird.
Die Randspalte auf der rechten oder linken Seite wird prospektiv für Schreibkom-
mentare, Ergänzungen und Literaturhinweise freigehalten. Im Folgenden werde
ich mich auf die Randkommentare konzentrieren, von denen auf diesen Memo-
randa nicht weniger als sechzehn zu Buche schlagen. Dies sind zum Teil verkürz-
te Titel für das im Fließtext Entwickelte – weniger Glossen für den Lesenden,
mehr solche literarischer Produktivität (1, 3, 4, 6, 9). Zum Teil sind es aber auch
Ergänzungen des Haupttextes (1, 7, 8, 15, 16), Einfügungen (10), Literaturanga-
ben (13) und schließlich Metakommentare (11). Bereits bei Kommentar 1 wird
deutlich, dass der Wechsel in den differenten Schreibraum den Übergang auf
eine andere kognitive Ebene repräsentiert, ähnlich wie es bei Galileos ,Blöcken‘
zu sehen war. Der Grund dafür, dass diese Sätze nicht im Fließtext realisiert
wurden, liegt nicht darin, dass diese Blätter als Vorlesungsvorbereitung gleich-
sam Handzettelfunktionen erfüllen mussten; ebenso wenig sind die meisten
Randkommentare später hinzugefügt worden. Nein, während der Schreibepoche
nimmt der Schreibende einen Wechsel des Schreibraums vor. Hier sucht er ver-
mittels von ,auto-quaestiones‘ weiterführende mentale Konzepte zu entwickeln
oder zwischen zu ,speichern‘. Hier reflektiert er die eigene Handlungsrolle im
Forschungskontext – eine Fundstelle, auf die bereits Albrecht Schöne aufmerk-
sam gemacht hat99:
Sie werden mir erlauben, dass ich hier zuweilen decisiv spreche, nicht weil ich decidieren
will, sondern weil es einmal die Hofsprache des Hypothesenmachens ist(11).
Hier werden auch bestimmte Leitsätze fixiert, die im gesamten Konvolut zur
antiphlogistischen Chemie wiederholt auftauchen:
Wer Einwände gegen das antiphlog. System macht, ist deswegen noch kein Verteidiger des
Phlogistons (2).
Wir haben eine Auslagerung von Formulierungsinhalten vor uns, die gleichsam
,zu früh‘ enkodiert worden sind und jetzt in einer ,Warteschleife‘ abgelegt werden
müssen: in den Modellen der Schreibforschung übernimmt diese Rolle der Ar-
beitsspeicher, genauer gesagt ein slave system des Arbeitsspeichers: der pho-
nological buffer. Die Kapazitäten der slave systems und des Arbeitsspeichers als
ganzem sind begrenzt, was den Verfall der Memorierungsspur und die Menge der
Informationen betrifft. Überlastung des Arbeitsspeichers ist also prinzipiell ein
Problem für Expertenschreiber: sie müssen viele verschiedene kognitive Anfor-
derungen jonglieren: Ideengenese, sprachliche Enkodierung, Monitortätigkeit,
motorische Realisierung. Aufgrund der Komplexität des Formulierungszieles,
des zu schreibenden Textes, müssen diese Schritte überlappend ausgeführt wer-
den; das bedeutet, dass beispielweise die verschiedenen Phasen der Enkodie-
rung in Sprache nicht sequentiell, sondern inkrementell, ,zeitlich analog‘ ablau-
fen. Man kann einen Expertenschreiber unter anderem dadurch definieren, dass
automatisierte Überlagerungen von Konzepten durch diese inkrementelle Pro-
zessierung ,dichte‘ Texte produzieren. Werden Konzepte ,zu früh‘ generiert und
in Sprache gebracht, müssen sie im Arbeitsspeicher zwischengelagert werden.
In der Regel entwickeln Expertenschreiber Strategien der Auslagerung oder
Markierung solcher Elemente, um den Arbeitsspeicher zu entlasten. Diese Stra-
tegien sind oft räumlicher Art, also auf dem Schriftträger situiert (man könnte
sich auch vorstellen, dass der Schreibende das zu memorierenden Element wäh-
rend des Schreibens immer wieder ausspricht, was aber in der Regel zu Interfe-
renzen mit dem aktuellen Schreibziel führt). Einmal schreibmotorisch realisiert
und durch räumliche Exponiertheit markiert (Randspalte), ist der Arbeitsspei-
cher von der Memorierung des Elementes entlastet, und Ressourcen für das ak-
tuelle Schreibziel stehen bereit.
Es ist nun evident, dass die außergewöhnliche Nutzung des Papierrandes bei
Lichtenberg exakt diese Funktion erfüllt. Die Randkommentare sind epistemi-
sche Kerne, die innerhalb des Manuskriptes und von Manuskript zu Manuskript
,weitergereicht‘ werden, bis sie ihre produktive Wirkung entfaltet, Wissen gene-
riert haben. Auch die vermeintlich ,funktionellen‘ Literaturangaben und Zahlen-
beispiele, die Orientierungs-,Titel‘ sind strategischen Auslagerungen während
des Schreibprozesses zuzuschreiben. Die eventuelle Funktion dieser Texte als
Vorlesungsvorbereitung ist irrelevant in Hinblick auf die schreibanalytische Un-
tersuchung: die hier vorliegenden Manuskripte können auch als Selbstverstän-
digung des Naturwissenschaftlers gelesen werden, ähnlich wie Lavoisiers
Grundlagentext. Es wäre ansonsten sinnlos, besonders überzeugende Gedanken
mit „NB“ oder gar „NB (sehr gut)“ zu markieren. Auch die Fragen sind nicht
rhetorischer oder didaktischer Natur, sondern dienen dem Entwickeln weiterer
Hypothesen.
142 | 2 Lichtenberg
Elektrizität nichts dabei tut. Räsonnements sind keine facta Ptolemäus und Tycho haben auch aus
factis räsonniert.
149
150 | 2 Lichtenberg
Daher ist Ihnen die Zersetzung des Wassers so wichtig. Hier die Geschichte und an große
Prozesse. Erzeugung der Luftsäure der inflammablen Luft. Mit einem Wort das geht herrlich
(aber schon bei der infl. Luft geht es hart das Metall (Eisen, Zinck) entzieht
der Säure das Oxygen, dieses macht oxide dieses oxide zersetzt das Wasser.so erklärt es
Hermbstädt.
Die Handschrift und die Transkription verdeutlichen, dass ein Großteil des Textes
ab ,Metall‘ in der Randspalte geschrieben ist. Ganz unten auf der Seite mäandert
der Randtext zurück in die Hauptspalte. Es handelt sich nicht um eine nachträg-
liche Einfügung nach einem längeren Zeitintervall: Das gestrichene ,und‘ nach
,herrlich‘ weist darauf hin, dass allenfalls der nächste Satz „Zersetzung des Was-
sers durch die Pflanzen“ niedergeschrieben worden war. Warum also entscheidet
sich der Schreibende zum ,fliegenden Wechsel‘ in die Randspalte? Es sieht alles
danach aus, dass er die ,Randstellung‘ des Argumentes während des Schreibens
2.4 Ensembles: Lichtenbergs Antiphlogiston-Manuskripte | 151
Eine weitere Funktion des Schreibrandes ist also die ,Auslagerung‘ von weiter-
führenden Gedanken, die während des Schreibens generiert werden. Diese zu-
sätzlichen mentalen Konzepte verlaufen gleichsam parallel zum Haupttext, wie
man anhand des Autographen sehen kann. Es wird parallel prozessiert, obwohl
die Schreibmotorik nur ein Ideenstratum zu einem bestimmten Zeitpunkt reali-
sieren kann. Deshalb führt der Schreibende zunächst den ,Hauptgedanken‘ (,Zer-
setzung des Wassers durch die Pflanzen‘) fragmentarisch weiter und kreiert da-
mit eine Erinnerungsspur an diese Schreibsituation oder den Schreibort, bevor er
dann den ,Nebengedanken‘ – räumlich getrennt – niederlegt. Auch bei Einfü-
gung 12 lässt sich postulieren, dass die Realisierung am Rand der Strategie ko-
gnitiver Auslagerung folgt.
Im Unterschied zu den ausgelagerten ,Sentenzen‘, die zu einem späteren
Zeitpunkt der Schreibideation noch einmal zugeführt werden sollen, transferiert
der Schreibende hier offenbar automatisch bestimmte Elemente der Schreibide-
ation in einen differenten kognitiven Bereich. Die Randspalte fungiert nicht mehr
nur als ,bin‘, als ,Korb‘ für ausgelagerte mentale Konzepte, sondern als im Akt
des Schreibens räumlich markierte kognitive Ebene eines ,logischen Sprungs‘; in
diesem Fall, auf Blatt 17 recto von VII B 4, von der ,narrativen‘ Ebene (Schule der
Antiphlogistiker) zu einer Experimentbeschreibung samt Datenwiedergabe. Ge-
rade beim logischen Sprung lässt sich eine Interrelation der differenten seman-
tischen Blöcke vermuten. Nun ist es nicht so, dass narrative Elemente immer in
der Hauptspalte, empirische Ergebnisse, Literaturangaben und ,Sentenzen‘ im-
mer in der Randspalte dieses Konvoluts realisiert würden. Auf Blatt 18 verso von
VII B4 finden sich narrative Elemente in der Randspalte, die Tabelle auf Blatt 18
recto ist in der Hauptspalte positioniert. Zeichnungen, Berechnungen, Fließtext
und Quellenangaben werden in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander plat-
ziert, besonders in ,Mischkonvoluten‘ wie IV 37.
Ist es abwegig, hier den Versuch einer ,Aktivierung‘ von assoziativ abgeleg-
ten Mustern in Anschlag zu bringen? Die Erbse bei Helvoet sorgt für Verwerfun-
gen an weit entfernten Küsten: der prozessuale, kognitive ,Sprung‘ wird vom
Aufschreibkörper aufgezeichnet, durch die Randspalte markiert. Das automati-
sierte ,Umschalten‘ ist gleichsam eine ,Korrektur‘ der kognitiven Tätigkeit
Schreiben an der parallel – assoziativ – prozessierenden Ideengenese. Diese
,Korrektur‘ erfolgt automatisch (,Aufschreibkörper‘), nicht bewusst.
152 | 2 Lichtenberg
Die Tatsache, dass Lichtenberg explizit auf die ,Kolleg-Hefte‘ Bezug nimmt, also
im Schreibmoment offenbar kein solches verfasst, deutet schon darauf hin, dass
im Konvolut VII B nicht nur die sogenannten Hefte aufbewahrt sind. VII B1 ist
erkennbar ein ,waste book‘ für eine ,freilaufende‘ naturwissenschaftliche Ide-
engenese. Literaturhinweise nehmen im Vergleich zu den anderen betrachteten
Manuskripten deutlich ab. Und wenn es um Übernahmen von anderen Autoren
100 Manuskript S. 1, Vorlesungen zur Naturlehre S. 353. Georg Christoph Lichtenberg: Vorlesun-
gen zur Naturlehre. Notizen und Materialien zur Experimentalphysik, Teil 1, Göttingen: Wallstein,
2007 [Georg Christoph Lichtenberg: Gesammelte Schriften. Historisch-kritische und kommentierte
Ausgabe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Technischen Universität
Darmstadt, Bd. 3]. Im Folgenden zitiere ich sowohl nach der Handschrift (VII B1– B5 ist im
Original durchpaginiert) als auch nach der kritischen Edition. Die Sigle für letztere lautet: Vor-
lesungen.
154 | 2 Lichtenberg
geht, so spielt hier die Transformation in das eigene Denken, die für Lichtenberg
zentral, ja: auf elementare Weise mit dem Schreibakt verbunden ist, eine große
Rolle. Man kann das Konvolut VII B1 als Beispiel dafür lesen, wie der schreibende
Naturwissenschaftler eigene Erkenntnisfragen generiert:
Ja das Verfahren recht zu untersuchen, durch das die Franzosen so vieles ausmachen:
Nämlich wenn sie Eisen in concentrierte Vitriolsäure bringen, so entwickelt sich flüchtige
Schwefelsäure, da sagen sie denn: das Eisen entzieht dem Vitriolöl zum Teil sein oxygen, so
entsteht jene Säure (Manuskript S. 5, Vorlesungen, S. 356).
Näher zu untersuchen was eigentlich oxygéne verglichen mit Theogène und Theagène
heißt ( Manuskript S. 8, Vorlesungen S. 358).
Mein Gedanke warum werden die Oxyde des Eisens gleich so schlecht vom Magneten
gezogen? Man sollte denken Beymischung könne nicht so viel schaden, als Zersetzung
(Manuskript S. 11, Vorlesungen S. 360).
Hier lässt sich gut ablesen, dass die kognitiven Aspekte des Schreibens für Lich-
tenberg aufklärerisch und didaktisch sind – wenn auch hier in eigener Sache. Die
enge Verknüpfung des eigenen Standpunkts des Naturwissenschaftlers, der seit
der Gründungsurkunde der Royal Society zum ,Allerheiligsten‘ zählt, mit dem
Schreibakt, der kognitiven Tätigkeit Schreiben ist zentral. Alle untersuchten Ma-
nuskripte, auch die ,Vorlesungsskripte‘, können als Beispiele für die Transfor-
mation fremden Wissens in das eigene Fragen und empirische Überprüfen ge-
lesen werden. Besonders aber VII B1 bildet exemplarisch ab, wie der Schreibende
über ,assoziative‘ Reihungen von kurzen Einträgen ein Problem so lange um-
kreist, bis eine mögliche experimentelle Überprüfung oder theoretische Lösung
greifbar wird. Die Anekdoten, die auch hier vorkommen – Langobarden („zum
Scherz“!) oder Soldaten, die geometrisches Denken beherrschen, ohne von der
Terminologie zu wissen – haben keine didaktischen Funktionen in einem mög-
lichen Vortrag, sondern sie sind zusätzliche Hebwerkzeuge für ein anspruchs-
volles wissenschaftliches Problem. Die Didaktisierung richtet sich, wie übrigens
auch in den Sudelbüchern, eher auf die eigene Verstehensanstrengung als auf die
anderer.
Außerdem ist Schreiben für Lichtenberg eine Expertentätigkeit, die mit ge-
wissen Strategien verbunden ist. Auch in VII B, 1 gilt, dass der Schreibende die
Darstellungsebene wechselt und damit die kognitive Belastung variiert. Eine Me-
tapher der Schreibforschung spricht hier von der Orchestrierung kognitiver Res-
sourcen. Je fordernder ein Schreibziel (Thema), um so mehr ist der Schreibende
darauf angewiesen, kognitive Anforderungen zu jonglieren. Auch in der langen
,anti-antiphlogistischen‘ Passage der sechsten Auflage des Erxlebens, die nicht
zum Besten der Lichtenbergischen Wissenschaftsprosa gehört101, lässt sich ein
101 Lichtenberg hat in seinem Bestreben, ,Bohlen über die gröbsten Löcher zu nageln‘, in den
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 155
Jonglieren mit den mittlerweile klassischen Themen konstatieren: von der Zer-
setzung des Wassers über die Elektrizität zu De Lucs Theorie der Verdunstung
und wieder zurück zu Lavoisiers principe oxygéné. Besonders die Vorrede zur
sechsten Auflage (Erxleben), in die Lichtenberg etwa acht Seiten Text zu Lavoisier
einschaltet, demonstriert die Schwierigkeit des Übergangs vom ,entdeckenden‘
Schreiben der handschriftlichen Manuskripte in VII B zum darstellenden und
resümierenden Schreiben, das der Vorrede eines Handbuchs gebührt. Auf Schritt
und Tritt begegnen hier, im Jahr 1794, alle Elemente, die wir in den Manuskripten
aus VII B isolierten: Madame Lavoisier verbrennt das Phlogiston (Erxleben, 891);
Newton hätte dies nicht getan. Jedermann sucht die Erklärung für Naturphäno-
mene in seiner Privatwelt (Erxleben, 892), Naturlehre versus Naturwissenschaft
(Erxleben, 892), natürlich Fourcroys Aufteilung der Gegner (im Wortlaut, Erxle-
ben, 893), elektrische Materie besteht aus Phlogiston und einer Säure (Erxleben,
896), natürlich zum Dekretierenden der neuen Nomenklatur (Erxleben, 904). Alle
untersuchten Manuskripte lassen sich also auch als Vorarbeiten zur Vorrede der
sechsten Auflage des Erxlebens in Anschlag bringen, was erneut den Gebrauchs-
charakter der Texte als Vorlesungsskripte in Zweifel zieht und eher die Situation
eines Schreiblabors instantiiert, wie es hier vorausgesetzt und entwickelt wurde.
Eine Predigt über die Worte des Herrn Silberschlags (S. dessen Klosterbergische Versuche
p.21): Sie schlafen solange man demonstriert und wachen nicht eher auf bis man ein Expe-
riment macht102
The scientist asks not only: “I have an idea. How can I build an instrument that will confirm
it?” but also: “I have a new instrument. What will it allow me to do?“.103
2.5.1 Einführung
Richard Sennett hat unlängst in seinem Buch The Craftsman darauf hingewiesen,
dass besonders komplizierte Bedienungsanleitungen Techniken der gezielten
Metapher, der Übernahme der Perspektive des Novizen, der untechnischen Aus-
drucksweise und schließlich der Übertragung, der Analogie aufweisen104. Dies
Abschnitt „Von der Wärme und Kälte“ eine etwa zehnseitige Ergänzung eingebracht, die ver-
mittels eines Verweiszeichens an §494 (Crawfords Phlogiston) angehängt wurde. Siehe auch die
Vorrede zur sechsten Auflage des Erxleben.
102 P, 1, 87.
103 Albert van Helden/Thomas L. Hankins: ‘Introduction: Instruments in the History of
Science”. Osiris, Bd. 9, 1994. S. 4 (special issue: ‘Scientific Instruments”).
104 Richard Sennett: The Craftsman, London: Allen Lane, 2008.
156 | 2 Lichtenberg
2.5.2 Methoden
Lichtenberg machte auf seiner zweiten England-Reise Anfang Oktober 1775 Halt
in Birmingham, besuchte Baskervilles Druckerei und Boltons Dampffabrik. In
Briefen an Johann Andreas Schernhagen vom 16. Oktober 1775 und an Johann
Christian Dieterich vom 13. Oktober 1775 beschreibt er ausführlich seine Ein-
drücke von der Industriestadt und erwähnt, dass ihm die Witwe Baskervilles ein
„Gebetbuch“ geschenkt habe107. Die enge Verbindung von Industrialisierung und
,industriousness‘ der dissenters, die nur in der Provinz Bildungs- und Aufstiegs-
möglichkeiten hatten, macht es wahrscheinlich, dass er zumindest indirekt mit
den Kreis der Lunar Society in Berührung kam108. Die Lunar Society umfasste
nicht mehr als zehn Mitglieder, unter anderen Erasmus Darwin, Thomas Day,
Edgeworth, Wedgwood, den Instrumentenmacher John Whitehurst und zeitwei-
se Joseph Priestley. Besonders Darwins Lehrgedicht The Botanic Garden könnte
mit seiner DeLuc-ähnlichen Verbindung von wissenschaftlichem Ethos und na-
turfrömmiger Bescheidung auf Lichtenberg Einfluss gehabt haben; es wurde 1779
begonnen, erschien aber erst 1789–1791. Es ist auch denkbar, dass Jean-André
DeLuc, der streitbare Calvinist und ehemalige Revolutionär der Genfer Unruhen
von 1766–1768, Lichtenberg auf die dissenters aufmerksam gemacht hat. Wie-
wohl keine Unitarier (als Calvinisten folgten sie dem Dogma der Trinität), teilten
105 P, 2, 670.
106 P, 4, 478.
107 Hans Ludwig Gumbert: Lichtenberg in England. Dokumente einer Begegnung, Wiesbaden:
Harrassowitz, 1977. Band 1, S. 310.
108 Gumbert, a.a.O., S. 317.
158 | 2 Lichtenberg
DeLuc und George Louis LeSage einige Positionen der dissenters, aus dem Glau-
ben fließende Weltsichten und Forschungshabitus, obwohl DeLuc Priestleys ma-
terialistischen Monismus ablehnte. Für die Genfer Calvinisten wie für die Bir-
minghamer dissenters war die Entzauberung der Bibel durch die Neologie und
die Reduktion der Natur auf einen Forschungsgegenstand gleichermaßen inak-
zeptabel. In der Natur drückt sich ein direkt auf Gott führendes Prinzip aus.
Biblische Mythen und Metaphern wie die Sintflut oder die Schöpfungsgeschichte
sind wörtlich zu verstehen, das heißt als Hypothesen des Naturwissenschaftlers
in Anschlag zu bringen. Nur so erklärt es sich, dass DeLuc etwa ein Drittel seines
Lebens mit der geologischen Begründung zubrachte, dass sich die Sintflut tat-
sächlich ereignet hat. Der ,Biblizismus‘ der DeLucschen Naturwissenschaft deckt
sich mit dem strengen Monismus der Unitarier, die, bei Priestley, in einen phy-
siologischen Materialismus mündete. Die Natur ist in dieser Lesart alles, was für
uns von Gott erfahrbar ist. Er selbst hat sich als Urprinzip gleichsam hinter seine
Schöpfung zurückgezogen und ist nur über die Analogie der Naturerkenntnis
greifbar.
Bei Erasmus Darwin sind naturwissenschaftliche Instrumente und Experi-
mente Teil der großen Erzählung, die sich über die Generationen tradiert. Wie das
Gebet oder die Einkehr sind sie Möglichkeiten, sich imaginativ der Schöpfungs-
wirklichkeit zu nähern. Es ist nun kein Zufall, dass Darwin auch ein Experiment
der berühmten Luftpumpe beschreibt – Boyles und besonders Thomas Hookes
Erfindung, die ein Luftvakuum herstellen konnte und heute pneumatische Ma-
schine genannt wird. Dies war für den ,Experimentoteleologen‘ Darwin ein
schwieriger Fall: schon Boyle hatte massive theologische Kritik zu gewärtigen,
weil ein Vakuum in der Natur nicht existiert, nur durch eine experimentelle
Manipulation herstellbar ist und demnach eine Blasphemie darstellt. Weite Teile
von Boyles New Experiments physico-mechanical touching the spring of air sind
eine Verteidigungsschrift gegen die ,Plenisten‘; er, Boyle, kreiere das Vakuum
nur, um an einer Vielzahl von Phänomenen wie Atmung, Verbrennung, Verfall
die Gesetze, hinter denen der unbewegte Beweger Gott steht, untersuchen zu
können.
Joseph Wrights Gemälde Das Experiment mit der Luftpumpe bildet diese An-
maßung des Virtuosen in Gestalt des Instrumentenbauers John Whitehurst ab,
der ebenfalls Mitglied der Lunar Society war109. Aber auch der nachdenkliche
Naturphilosoph wird in das Bildensemble aufgenommen, der Mann am rechten
Bildrand, der das Experiment nicht verfolgt, sondern, die Brille in der Hand, in
109 P, 2, 633: ‘Mrs Hook sagte mir, das Whitefield gestanden hätte, er predige in einer so
sonderbaren Sprache und mit solchen Gebärden, so wohl um die Leute erst herbei zu ziehen als
ihnen seine Wahrheiten besser einzuprägen; in so fern lässt sich ein Bestreben nach Originalis-
mus entschuldigen, wenn sonst die Gedanken einer Einprägung würdig sind‘.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 159
die Ferne blickt. Dabei spielt es keine Rolle, dass der leblose Vogel in der Cam-
pana in dem Moment wiederbelebt wird, in dem der Virtuose das Ventil drückt,
um Luft unter die Glocke einströmen zu lassen. Das Vakuum ist das erste rein
experimentell, also künstlich hergestellte Naturelement in der Geschichte – und,
so die Verbildlichung: es ist tödlich.
160 | 2 Lichtenberg
der eiskalte Dunst fällt, und neblige Tautropfen beschlagen die Kristallwände
Das Vakuum ist analog mit dem Zustand in der Genesis vor der Schöpfungstat
Gottes, die Metaphorik beleiht insbesondere den dritten Tag, der im Buch Hiob
und im zweiten Apostelbrief des Petrus noch einmal aufgenommen wird: die
Scheidung von Wasser und Land. Der biblische Mythos beglaubigt die Legitimität
des ein neues Element schaffenden Experimentators.
Nun hatten die Physikoteleologen wie Brockes oder Haller in der ersten Hälf-
te des achtzehnten Jahrhunderts noch leichtes Spiel: das achtzehnte Jahrhundert
ist zwar keines der großen instrumentellen Neuerungen und Entdeckungen –
sowohl im Vergleich mit dem siebzehnten als auch natürlich mit dem neunzehn-
ten –, aber es führte eine Reihe von Spuren, die das siebzehnte Jahrhundert
gelegt hatte, weiter: in der Astronomie, in der Pflanzenkunde, in der ,Chemie‘, in
der Mathematik (Wahrscheinlichkeitsrechnung, Differentialrechnung). Entschei-
dender ist, dass sich die naturwissenschaftlichen Diskussionen aus den engen
Expertenzirkeln des Barock lösten und in eine breite Öffentlichkeit getragen wur-
den. Wrights Gemälde ist ein schönes Beispiel für die ,Verbürgerlichung‘ natur-
wissenschaftlicher Erkenntnisse im späten achtzehnten Jahrhundert. Zwei Grup-
pen hatten daran gravierenden Anteil: die Instrumentenmacher, also die ,Künst-
ler‘, und die Virtuosen, also die ziehenden Experimentatoren und Aussteller von
wissenschaftlichen Objekten.
Die Polemik gegen die Instrumentenbauer und Laborgehilfen zieht sich von
Boyle bis zu Lichtenberg durch das gesamte siebzehnte und achtzehnte Jahr-
hundert: sie seien faul, unzuverlässig, schmückten sich mit fremden Federn,
110 Zit. b. Werner Busch: Joseph Wright von Derby. Das Experiment mit der Luftpumpe. Eine
heilige Allianz zwischen Wissenscahft und Religion, Frankfurt a.M.: Fischer, 1986. S. 66.
162 | 2 Lichtenberg
111 Lichtenbergs annotiertes Handexemplar der vierten Auflage von Johann Christian Polykarp
Erxleben: „Anfangsgründe der Naturlehre“, Nachdruck, Göttingen: Wallstein, 2005. Im Folgen-
den: Erxleben. S. 243.
112 Gideon Herman De Rogier: Verstreute Aufzeichnungen aus Georg Christoph Lichtenbergs
Vorlesungen über die Experimental-Physik 1781, hg. v. Olle Bergquist, Göttingen: Wallstein, 2004.
Gottlieb Gamauf: Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen. Die Nachschrift eines Hörers,
bearbeitet von Albert Krayer, in: Gesammelte Schriften, historisch-kritische und kommentierte
Ausgabe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Technischen Universität
Darmstadt, Vorlesungen zur Naturlehre, Bd. 2, Göttingen: Wallstein, 2008.
113 Brief an Samuel Thomas Soemmerring, 2.6. 1786, in: Georg Christoph Lichtenberg: Brief-
wechsel, hg. v. Ulrich Joost/Albrecht Schöne, Bd. 3, nr. 1447, München, 1983.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 163
Ein dritter Punkt ist die hausse der Ratgeber und ,Bauanleitungen‘ für Ex-
perimente aller Art besonders in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhun-
derts. Die bekanntesten und von Lichtenberg zitierten sind
1. Jean Antoine Nollet(Abbé) : Die Kunst physikalische Versuche anzustellen
oder Anweisung für die Liebhaber der Naturlehre in Ansehung der Wahl, der
Verfertigung und des Gebrauchs ihrer Instrumente; ingleichen der Zubereitung
und des Gebrauchs der zu physikalischen Versuchen dienlichen Materialien, 3
Bände, Leipzig, 1771.
2. Jean Antoine Nollet: L’Art des expériences, ou avis auy amateurs de la
physique, Sur le choix, la construction et l’usage des instruments; Sur la pré-
paration et l’emploi des drogues qui servent aux expériences, nouvelle edition,
Amsterdam: Chanquion, 1770.
3. Jean Antoine Nollet: Leçons de Physique expérimentale, Paris: Durand
Nev., 1775.
4. John Théophile Desaguliers: Lectures of Experimental Philosophy, wherein
the Principles of Mechanicks, Hydrostatics and Opticks are demonstrated and
explained at large, by a great number of curious Experiments: with a descrip-
tion of the air pump, and several experiments thereon: of the condensing en-
gine…, illustrated with several copper plates suitable to each subject, London:
printed for W Mears, 1719.
5. Sigaud de la Fond: Description et usage d’un cabinet physique expérimen-
tale par Sigaud de la Fond, seconde édition revue, corrigée et augmentée par
M. Rauland, Tome premier, Paris: chez Gueffier, 1784.
6. Willem Jacob ’sGravesande: Physices elmenta mathematica, editio quarta,
Leidæ, Apud Johannem Arnoldum Langerak, Johannem Et Hermannum Ver-
beek. Bibliop., 1748.
7. Pieter van Musschenbroek: Discours sur la meilleure manière de faire les
expériences, 1736.
8. Jacob Leupold: Thearum Arithmetico-Geometricum, 1727.
9. Johann Conrad Gütle: Beschreibung eines mathematisch-physikalischen
Maschinen- und Instrumentenkabinetts: mit zugehörigen Versuchen, zum Ge-
brauch für Schulen, 2 Bände, Leipzig/Nürnberg, 1790–1794
10. Jean Senebier: L’art d’observer, 1774.
11. Georg Christoph Silberschlag: Ausgesuchte Klosterbergische Versuche in
den Wissenschaften der Naturlehre und Mathematik, 1768. Von Lichtenberg
rezensiert in den Göttinger Gelehrten Anzeigen, 1. Juni 1769
12. Bernard Forest de Bélidor : Science des Ingénieurs, 1729.
13. Benjamin Carrad: L’art d’observer, 1769.
164 | 2 Lichtenberg
114 Ulrich Joost: „Aus Vorlesungen“. Einladung ins achtzehnte Jahrhundert, hg. v. Peter Wi-
eckenberg, München, 1988. S. 146.
115 Sonntags zwischen 11 und 12 Uhr konnte die Instrumentensammlung besichtigt werden,
manchmal wurden einzelne Experimente noch einmal vom Gehilfen durchgeführt. Otto Weber:
„Ich habe ihn zu erst zur Mechanik gebracht, welches er mir schon tausendmal gedankt hat“.
Georg Christoph Lichtenberg. Wagnis der Aufklärung, hg. v. Sibylle Spiegel, München: Han-
ser, 1992. S. 338.
116 Erxleben, Einleitung, S. 18.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 165
Dinge einließ, wozu er keine Instrumente hatte. […] Alles lief hinein, Juden,
Christen, Männer, Frauen“117.
In der Vorlesung des Sommers 1785 (Büchelgen K) verwendet Lichtenberg
drei Sitzungen für die Erklärung der Luftpumpe. Auch Brückensätze und einfa-
che Propositionen sind zum Teil ausformuliert. Am 24. Juni 1785 muss Lichten-
berg wegen „bösen Halses“ aussetzen118. Für den 27. Juni notiert er sich als ersten
Punkt: „Entschuldigung [....] Alsdann weiter“110 In der gleichen Vorlesung heißt
es: „Nun komme ich auf §184“120. In Faszikel VII B5 ist ein Kurtzer Plan zum
Vortrage der Theorie der verschienen Luftarten abgelegt, in dem es unter anderem
heißt:
Woher rührt diese Permanentz [der Luft, JL]? Vermuthlich ist es das Hinzutreten eines
dritten, das das Wasser zu Lufft macht. Vielleicht Elektritzität Phlogiston, auch Feuerstoff
vom Lichte getrennt, oder überhaupt durch das charakteristische Ingredienz, der Lufft, das
ganz imponderabel sein kann.
Nun kurz meine Meinung: Ich glaube, und es scheint als wenn sich die Meinung einiger der
größten Physiker der neuen Zeit Priestley, DeLuc, Volta jetzt dahin lenkte. Ein Hauptbe-
standteil aller Luftarten ist das Wasser (...)121
Man kann nicht davon sprechen, dass in den Vorlesungsnotizen durchgängig ein
fragmentierter, aphoristischer Stil vorherrsche. Vielmehr scheint eine Art Hier-
archie des Bekanntheitsgrades der Information für den Sprecher ausschlagge-
bend gewesen zu sein, wie ausführlich die Notizen gestaltet wurden, und Sprech-
performativa sowie andere Ordnungspunkte wurden in den Manuskripten aus-
formuliert. Oftmals werden, auch in den Annotationen zum Erxleben, biogra-
phische Anekdoten oder plastische Veranschaulichungen der Naturphänomene
beigefügt. Bei der Frage, ob Trägheit selbst Bewegung initiieren könne, annotiert
Lichtenberg am Rand: „Auch das Leitertanzen gehört hieher denn während der
Kerl die Beine mit der Leiter in die Höhe zieht so dient ihm der Körper mit seiner
Trägheit zum puncto fixo an dem die Beine befestigt sind um sich zu heben“122.
Bei der Beschreibung der Luftpumpe im Erxleben ergänzt Lichtenberg die
Instrumentenbeschreibung des Vorgängers wie folgt:
Zwischen den Rand der Glocke und den Teller wird ein mäßig dickes nasses Leder (sehr viel
besser zartes Leder, das man in 1 Theil Terpentin und 1 Theil Baumwachs zusammenge-
schmolzen getränkt hat; über alles aber gehen die unten abgeschliffenen Glocken auf einen
mattgeschliffenen Teller mit etwas Baumöl. * L)
*noch besser SchweineSchmaltz das man aber noch einmal sorgfältig schmeltzen muß,
weil die Fleischer um ihm die Weiße zu geben sich des Wassers bedienen, wovon es daher
nicht allemal gantz frei seyn soll.123
Die kognitive Entlastung für den Novizen, die Lichtenberg an Desaguliers’ Ein-
führung lobt, wird auch hier angezielt. Dies allerdings nicht durch die „aphoris-
tische Kürze und Präzision des Ausdrucks“.124 Sondern durch eine kognitive, um
nicht zu sagen imaginative Rahmung des Inhalts, deren sich der Schreibende
und Vortragende bedient und die dem Zuhörenden angeboten wird. Analog zu
den zahlreichen Abbildungen von experimentierenden Laien und die Instrumen-
te manipulierenden Händen in den Versuchsaufbauten der Ratgeber Desaguli-
ers’, Nollets und ’sGravesandes versucht Lichtenberg hier, in den Text eine deik-
tische, bildlich nachvollziehbare Komponente der Praxis, der notwendigen Griffe
des Handwerkers im Labor einzubauen. Die Dampfmaschine, die Lichtenberg
erinnert und die der ,wackere Desaguliers‘ beschreibt, wird so zu einem kogni-
tiven Instrument, das der Leser und Hörer benutzt, um komplexe Versuchsauf-
bauten oder Handhabungen der Instrumente mental zu konstruieren und zu
memorieren.
2.5.3 Instrumente
beruhte, seine Drachen in Engelsgestalt, ein Wal, der Jonas durch magnetische
Kräfte verschluckt oder Christus auf dem Wasser wandelnd, der Peter – erneut
vermittels eines magnetischen Tricks rettet125: dies alles konnte deshalb als krude
religiöse Symbolik missverstanden werden, weil eine wesentliche Analogie un-
beachtet blieb: ,was die Technik für den Menschen‘, so Kircher, ,ist die Natur für
Gott‘. Wiederholt weist Kircher auf die versteckten Mechanismen hin, die zu den
überraschenden ,Wundern‘ im Experiment führen: „Es ist mein Ziel zu zeigen daß
die Himmelsmaschine kein göttliches Wesen ist, sondern wie eine Uhr... In dieser
Maschine werden fast alle Bewegungen durch eine einzige, sehr einfache ma-
gnetische Kraft hervorgerufen, genau wie in einer Uhr alle Bewegungen durch
ein Gewicht hervorgerufen werden“126.
Der Magnetismus, der zum Beweis des Wunders im Experiment führt, ist
gleichsam die diesseitige Bedeutung des Emblems, das sich jenseits auf Gott als
den Urheber der Naturgesetze richtet. Die Sonnenblumen-Uhr, deren Präsenta-
tion durch Kircher in Aix am 3. September 1633 Claude Fabri de Peiresc in einem
langen Protokoll bezeugt, sollte nicht im Sinn von Christian Huygens Zykloiden-
pendel im Jahr 1657 funktionieren, also präzise Messergebnisse liefern. Die ma-
gnetische Uhr sollte auf die verborgene erste Ursache hinweisen, sie kann als
Emblem für die Genesis der Naturgesetze gesehen werden, die in Gott liegt. Hars-
dörffer sieht im Geheimnis der Funktionsweise der Uhr (die ein Betrug ist) gerade
die Analogie zur Handlungsweise Gottes127.
Es handelt sich bei Kirchers Exponaten und Schauexperimenten also weder
um die Sensation per se wie in den Wunderkammern oder in einer bürgerlichen
Kultur der privat, im Wohnzimmer, durchgeführten Experimente, die sich bis ins
neunzehnte Jahrhundert nachweisen lässt, noch um Missionierungen. Instru-
mente sollen die Imagination des Beobachters anregen, sie funktionieren als
kognitive Werkzeuge, als Hebel für Gedankenexperimente und mögliche Hypo-
thesen. „Extremer Konkretismus“ – das berühmte und seit dem ,instrumental
turn‘ berüchtigte Pejorativ des ,Idealisten‘ Alexandre Koyré128. – ist hier, emble-
matisch gewendet, die Devise.
125 Koen Vermeir: „Athanasius Kircher’s magical Instruments: an Essay on ,Science‘, ,Religion‘
and applied Metaphysics”. Studies in the History and Philosophy of Science, Bd. 38, 2007,
S. 363–400. S. 374.
126 Thomas L. Hankins/Robert J. Silverman: Instruments and the Imagination, Princeton,
NJ : Princeton Univ. Press, 1995, S. 35 (Meine Übersetzung).
127 Instruments and the Imagination, S. 33.
128 “We know quite well that Galileo was right. Good physics is made a priori. As I have said, it
must at all costs avoid the temptation and fault of extreme concretism”. Alexandre Koyré:
Metaphysics and Measurement: Essays in the Scientific Revolution, London: Chapman & Hall,
1968, S. 88.
168 | 2 Lichtenberg
Nun gibt es die Angst vor der schieren Masse der Werkzeuge, der epistemi-
schen Objekte. In einer Zeichnung von Leonardo, die in Windsor Castle aufbe-
wahrt wird (Royal Library, nr. 12698 recto), wird der Betrachter mit einer Un-
menge von Instrumenten konfrontiert, die offenbar sintflutartig vom Himmel
regnen. Frank Fehrenbach macht Zangen, Hämmer, Nägel, Winkeleisen, Brillen,
Zirkel, Rechen, Flaschen und vieles andere aus129. Selbst beim ,technoiden‘ Le-
onardo scheint sich der extreme Konkretismus zum horror plenitudinis zu wen-
den. Es ist die Frage, ob diese Instrumente einen imaginativen Mehrwert inne-
haben, ob sie Gedankenexperimente initiieren können, wie bei Galileo und New-
ton geschehen; ob sie über die Verwunderung ob ihrer technischen ,Brillanz‘ (sei
diese auch ein Betrug) und ihrer kritischen Überprüfung assoziative oder rhe-
torisch ,abarbeitende‘ Kettenreaktionen in Gang setzen, Analogien und induk-
tives Denken, wie es Lichtenberg mit seinem Vorbild Newton gegen den Carte-
sischen Deduktivismus in Anschlag brachte; ob sie, schließlich, neue experi-
mentelle Möglichkeiten und damit neue epistemische Dinge zu kreieren vermö-
gen.
Newton bestimmt alles sehr schön in Philos. [optical] Tr[ansactions]. N.85, p.5014 und N88.
p5086. Man muss erst spät an die Hypothesen kommen und blos um die Sachen daraus zu
erklären, und nicht nach ihnen die Sachen bestimmen zu wollen. Man könne sie als wahr-
scheinliche Consectarien aus einer gewissen Lehre gelten lassen, aber nicht als das Fun-
dament der Lehre, oder auch nur als einen wesentlichen Teil der Lehre. – Cartesius schuf
sich eine Hypothese, und darnach muste nun alles passen es mogte wollen oder nicht130.
Zunächst einmal bedarf die ständig wachsende Anzahl der Instrumente offenbar
der Klassifizierung und Katalogisierung – eine Entwicklung, die bereits um 1670
einsetzt. Als Beispiel ziehe ich Johann Kunckels Ars vitraria experimentalis oder
vollkommene Glasmacher-Kunst heran, 1679 auf Kosten des Autors in Amsterdam
erschienen131. Kunckels Buch ist über weite Strecken ein Referat eines älteren
Werkes über die Glasmacherkunst, und es sind Illustrationen zu diesem Thema,
denen ich mich jetzt zuwende. Auf S. 336 lässt Kunckel eine Tafel abbilden, die
die Instrumente der Glasmacherkunst in einer mustergültigen Ordnung präsen-
tieren.
129 Frank Fehrenbach: „Pathos der Funktion. Leonardos technische Zeichnungen“. Instrumen-
te in Kunst und Wissenschaft: zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, hg. v.
Helmar Schramm, Berlin/New York: de Gruyter, 2006. S. 84.–109, S. 84.
130 Erxleben, S. 38.
131 Bei Heinrich Betkio und Consorten.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 169
Abb. 27. Johann Kunckels Ars vitraria experimentalis oder vollkommene Glasmacher-Kunst,
S.335.
170 | 2 Lichtenberg
Jedes Instrument ist wie schon bei Boyle mit einem Buchstaben versehen.
Um diese Abbildung herum gliedert sich eine Liste betitelt „Die fünfte Figur
fürstellend. Den Amsterdamischen Glasmacher-Ofen und deroselben Instrumen-
ta“.
e. Die Halsinellen oder Maurhacken / auff welche man die Instrumenta leget.
f. Der Glasmacher Instrumenta/als das Blas-Rohr/Spiei und Pontello.
g. Die Ofen-Krucken/mit welcher man die Kohlen und die Aschen räumet.
h. Der größere Löffel von Metall/mit welchen man die Aschen und Laugen
aus den Kesseln nimmt.
i. Der kleinere Löffel/mit welchen [sic] man das Metall in den Ofen rüh-
ret/und aus einen Topf in den anderen gießet.
kl Die größere und kleinere Schaufel/mit welchen [sic] man die Glasstück-
lein/so von dem Blasrohr herabgeschlagen werden/aufhebet und in die Töpfe
thut: davon die kleinere Schaufel L so groß ist,/dass sie füglich durch die Mund-
löcher [des Ofens, JL] gehe.132
Wir haben hier, im Jahr 1679, eine Klassifikation in Listendarstellung vor uns,
wie sie erst Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zum Gemeinplatz in der ,na-
turwissenschaftlichen‘ Darstellung wird: bei den großen Enzyklopädisten der
Natur Hans Sloane und Carl Linné. Ziel ist wie in Christian Wolffs Lehrbuch
Nützliche Versuche, aber auch in den zitierten Ratgebern eine gleichsam räumlich
durchexerzierte Ordnung herzustellen: deshalb wird bei Kunckel eine Werkstatt-
oder Laborsituation abgebildet, die Instrumente hängen oder liegen an ihrem
vorgesehenen Platz, sie sind der Größe nach und ihrer Funktionsweise entspre-
chend angeordnet. In dieser ,zweckmäßigen Einrichtung‘, um mit Goethe zu
sprechen, ist das anarchische, bedrängende, gleichsam gottgegebene imagina-
tive Potential, sind die sintflutartig vom Himmel regnenden Instrumente domes-
tiziert, in den häuslichen Zusammenhang eines Wohnlabors oder eines Woh-
nobservatoriums integriert, dessen Prototyp der in Hausschuhen und bequemem
Rock die Sterne ausmessende Hevelius in seinen Selenographia abbilden ließ133.
Der Zusammenhang zwischen den anatomischen Skizzen Leonardos, den phy-
siognomischen Söldner-Studien und den technischen Zeichnungen, die als ima-
ginatives Kontinuum naturwissenschaftliche und künstlerische Themenwahl so-
wie Ausdrucksmittel gleichermaßen umfasst, geht in der rigorosen Taxonomie
und Katalogisierung des frühen achtzehnten Jahrhunderts verloren. Sogar die
Luftpumpe, das Flagschiff des Empirismus, des ,extremen Konkretismus‘ dege-
132 Johann Kunckels Ars vitraria experimentalis oder vollkommene Glasmacher-Kunst, S. 334.
133 Johannis Hevelii Selenographia: sive Lunae descriptio; atque Accuarata, tam Macularum
ejus, quam motuum Diversorum, Aliarumque omnium vicissitudinum, phasiumque, Telescopii ope
Deprehensarum, Delineatio. Gdani, Anno 1647, Autoris sumtibus, Typis Hünefeldianis. S. 6–7.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 171
neriert hier zum Besitzstück des Bürgers. Herrscht bei Leonardo, bei Galilei ein
enger Zusammenhang von Skizze, Instrument und Imagination, so ist das Projekt
des Aufklärers Christian Wolff in seinen Nützlichen Versuchen (1727) die detaillier-
te Beschreibung, um nicht zu sagen: die Pünktlichkeit der Beschreibung des
Instruments und seine Refunktionalisierung. Die Phantastik, das Utopische der
Instrumente, wie sie in Bacons Nova Atlantis in der Gesellschaft der Naturfor-
scher (nicht: der Weisen oder der Gelehrten) mit einem stolzen ,habemus‘ vorge-
wiesen werden, die imaginative Seite selbst der Verhandlungsprotokolle der Roy-
al Society, wie sie Thomas Hooke anfertigte134, und der ,trockenen‘ Korrespon-
denz des Sekretärs Oldenburg, schließlich das allegorische Experiment des Ba-
rock, das Über-Sicht-Selbst-Hinausweisen empirischer Grundlagenarbeit geht
mit dem Terminologie- und Klassifikationsprojekt der Aufklärung verloren.
Spätaufklärer wie Lichtenberg dagegen wollen das kognitive Potential von
Gedankeninstrumenten wiederbeleben. Im Jahr 1788 wird das Verzeichnis einer
Sammlung von Gerätschaften im Göttinger Taschenkalender veröffentlicht, eine –
fiktive – Sammlung von absurden, funktionsuntüchtigen Instrumenten, die ein
verschrobener Sammler zusammengebracht hat. Sechs Jahre vor der Publikati-
on, schreibt Lichtenberg an Georg August Ebell:
Das Büchelchen von dem närrischen, oder wenigstens sonderbaren Marquis of Worcester
[..] besitze ich selbst. Es ist, selbst in der neuen Ausgabe, [...] selten. Es enthält die törigsten
Dinge. Z.E.: er sagt, er habe eine Leiter erfunden, die man ganz bequem in der Tasche tragen
könnte und doch damit die höchsten Mauern erklettern. Aber unter diesen Torheiten be-
findet sich die herrliche Dampf-Maschine, zwar mystisch, aber doch so beschrieben, dass
man einen Hieb, wie der Marquis, haben müsste, wenn man leugnen wollte, dass er der
wirkliche Erfinder oder doch wenigstens frühester Besitzer der Erfindung gewesen sei.135
134 Eine Erfolgsgeschichte ist der Ankauf des sogenannten Hooke-Folios durch die Royal So-
ciety im Jahr 2006. Es wurde von Lisa Jardine und ihren Mitarbeiter/innen ediert und ist online
einsehbar. http://webapps.qmul.ac.uk/cell/Hooke/Hooke.html (geprüft 3. März 2011).
135 An Goerg August Ebell, 26. Oktober 1782. P, 4, 480.
172 | 2 Lichtenberg
Ich präsentiere hier erstmalig eine Handschrift aus Faszikel IV,37 betitelt mit
Fortsetzung des Verzeichnisses der zu verkaufenden Sachen, die in engem Zusam-
menhang mit der Veröffentlichung im Göttinger Taschenkalender steht und ver-
mutlich, trotz des Titels, genau jene Vorarbeiten umfasst, von denen Lichtenberg
im roten Buch sprach. Dementsprechend ist die Handschrift wie bei Promies auf
1783/1784 zu datieren.
Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Auflistung in Schönschrift die Reinlich-
keit und zweckmäßige Einrichtung der aufklärerischen Instrumentenkammern
auf die Spitze treibt: Selbst dem aufklärerischen Bildungsauftrag wird Genüge
getan (,kleine Bibliothek von Taschenausgaben unserer besten Klassiker‘). Die
Maschine ist auf eine groteske Art nutzlos. Sie dient lediglich einer freilaufenden
technischen Imagination, die sich von Hypothesen und Leitfragen verabschie-
det. Die Einzelpositionen der Listen und Taxonomien Linnés oder Hans Sloanes
befinden sich, so will es der Gemeinplatz seit Foucault, außerhalb der Syntax
und Semantik der Normalsprache und entbehren deshalb nicht nur der narrati-
ven Muster älterer Naturgeschichten, sondern auch der Wirklichkeit, die sie zu
klassifizieren trachten. Auch Borges’ berühmte vormoderne Liste ist hier ein-
schlägig, wie überhaupt die Kritik der Postmoderne am Vermessungsprojekt der
Aufklärung:
a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e)
Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich
wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l)
und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen
aussehen137
Freilich da wir nicht wissen wie Empfindung und Vorstellung entsteht, und was aus uns
werden würde, wenn wir diese Dinge selbst wären. Indessen aber kann diese nur aus der
gänzlichen Unmöglichkeit erkannt werden so etwas durch Annahme jener Simplicium
darzustellen. Ich halte die Auflösung jener Aufgabe für möglich. Die Möglichkeit leugnen
wäre Indolenz. Der Webstuhl ist groß und bequem und der Zeddel und Einschüsse sind
unzählige es lässt sich also etwas weben140.
137 Foucault zitiert Borges’ „Aus einer chinesischen Enzyklopädie“ im Vorwort von Die Ordnung
der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999. S. 17.
Borges‘ Text findet sich in Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S. 212.
138 Thomas Sprat: History of the Royal Society, hg. v. Jackson Irving Cope/Harold Whitmore
Jones, St. Louis: Washington University, 1959.
139 P, 2, 280.
140 P, 2, 274.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 177
Zu Lesage. Ich möchte wohl wissen welches besser ist bei einem dunkeln Wort stehen zu
bleiben oder nach der Analogie Ursachen anzunehmen die mich durch Äußerung des
größten Scharfsinns doch endlich beruhigt. Nichts in der Welt kann uns verpflichten eher
stille zu stehen, als bis wir gar nicht mehr im Stande sind, auch nur eine plausible Hypo-
these zu denken. Z.B., bei dem Ursprung der Bewegung, bei dem Ursprung der Dinge141.
Bei diesem induktiven und eben auch intuitiven Denken spielen Instrumente
eine entscheidende Rolle. Lichtenberg hat im Lauf seines Gelehrtenlebens eine
umfangreiche Sammlung von Laborinstrumenten angelegt, nachdem sich sein
ursprünglicher Plan der Übernahme der Kästnerschen Sammlung zerschlagen
hatte. Die Liste, die sich erhalten hat, umfasst etwa dreißig Einträge. Die Samm-
lung wurde später der Hannoverschen Regierung, also dem englischen König
Georg III., gegen eine Leibrente von 200 Talern jährlich übertragen.
Ferner meine ganze Sammlung auch einmal mit den Fragen durchzugehn 1.wie ließe sich
diese Maschine bequemer einrichten ohne aus dem Genus herauszugehen? Und 2. könnte
man dieses nicht besser ausrichten auf einem ganz andern Wege? 3. Gibt es nicht in einem
andern Fache der Physik [etwas] wo ein ähnliches Instrument von Nutzen sein könnte.142
Sobald man etwas bemerkt was in die generelle Physik einschlägt, sogleich damit das
ganze Feld der Physik durchzulaufen, um zu sehen ob sich nichts daraus erklären lasse.
Vielleicht wäre es gut einen bequemen Plan, eine Tabelle zu entwerfen wornach man die
Physik durchlaufen könnte.143.
Die spezifische Form des Fragens ist also auf den ersten Blick durchaus analog zu
dem rhetorischen Fragenkatalog, der ja auch in Jean Pauls Denken eine Rolle
spielt. Zu eng verwandt sind die Techniken der Aufzeichnung, des Exzerpts, der
Sammlung, deren sich beide bedienen, mit rhetorischen topoi und Kollakteen-
sammlungen des Barock, mit dem Erinnerungstheater eines Robert Fludd, mit
Memorierungstechniken und der ars combinatoria eines Reimundus Lullus. Wir
haben auch bei Lichtenberg keine freischwebende naturwissenschaftliche Ima-
gination vor uns, sondern eine solche, die bestimmten Regeln folgt und sich
eines bestimmten Stoffes bedient. Der Unterschied zur Rhetorik mit allen ihren
skizzierten Schattierungen ist erstens die innere Logik, vermittels deren die Da-
ten, Informationen, historischen Versatzstücke in eine neue Hypothese montiert
werden. Und zweitens ist deren Überprüfung dann tatsächlich, für Lichtenberg,
eine empirische Frage.
141 P, 2, 273.
142 P, 2, 392. Parallelstelle: ‘Einmal mein ganzes Kabinett mit der Frage durchzugehen: wozu
kann dieses Instrument außer seiner eigentlichen Bestimmung sonst noch gebraucht werden.
Ich glaube dass ich dadurch manches sparen können werde. Z.B zu Kempelens Maschine könn-
ten die Lampen des Pyrometers recht gut genützt werden. Die Kugeln von Pockholz bei elek-
trischen Versuchen. Dieses kann eine gute Beschäftigung bei schlaflosen Nächsten sein‘. P, 2,
392.
143 P, 2, 288.
178 | 2 Lichtenberg
Man sollte die Skepsis, die sich im sogenannten Chemie-Traum äußert und in
die Verehrung DeLucs ausläuft, nicht überbewerten. DeLucs credo, das heimi-
sche Labor zu verlassen und sich in das große Labor der Natur zu begeben, ist für
Lichtenberg nur die halbe Wahrheit. Lichtenberg hat sich Zeit seines Lebens auf
die Kärrnerarbeit des Tüftelns, der Einrichtung des Versuchsaufbaus, der In-
strumenten-Eichung, der Datengenese und –auswertung, kurz: auf das Erkennt-
nisspiel der entstehenden Naturwissenschaften eingelassen. In den Faszikeln
VII, VIII und VIII des Nachlasses, in denen die naturwissenschaftlichen Schriften
Lichtenbergs aufbewahrt sind, findet sich eine Vielzahl von Autographen, die
mathematische Berechnungen enthalten, vorwiegend kollegiale Publikationen
nachvollziehend, kritisch überprüfend, replizierend. Letztendlich war für Lich-
tenberg die Frage der empirischen Überprüfbarkeit von Hypothesen eine Befrei-
ung vom Verharren im Unbestimmten, das ihm seine Skepsis gegenüber dem
deduktiven cogito des Decartes auferlegte.
Ein gutes Beispiel für diese Art des Fragens ist ein Propädeutikum für junge
Physiker, mit dem sich Lichtenberg intermittierend über mehrere Jahre beschäf-
tigte. Die Handschrift ist in Sudelbuch keraÂw amalueiaÂw überliefert, allerdings
mit Sicherheit später eingefügt worden; es handelt sich also um eine zunächst
separat geführte Liste144:
144 Promies geht davon aus, dass die Blätter mit Sigellack eingeklebt waren. (Kommentar zu
Band 1/2, S. 49). In der Tat sind auf Blatt 8 verso drei Sigellackpunkte auszumachen.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 179
Läßt sich dieses auf etwas Was läßt sich hierbei messen?
anderes referieren, so wie die Was kann es zur Charakteristik
Überwucht auf eine geringe- beitragen?
re Schwere? Gibt es nicht andere ähnliche
Läßt sich dieses in andere Dinge in der Natur?
Dinge zerfällen? Kann man hiervon einen neuen
Was halten höhere Wesen Grund angeben?
hiervon und niedere Wesen hiervon? Gehört es nicht mit unter
Was sind die Grade hier- ein bekanntes Sy Genus von
von und was bestimmt diesel- Dingen?
be? Was leidet es für Abweichun-
Zu was Ende? gen, wenn man gewisse Um-
Was ist es eigentlich? stände ändert?
Sein Umgang in der mensch- Was ist das Unmerkliche
lichen Natur? hierbei?
Taugt es zu einem Gedan- Was geht in mir dabei vor?
ken in der Dichtkunst? Mathematisch betrachtet
Physisch
Sind nicht ganz neue Physiologisch
Wissenschaften selber hierin Metaphysisch
verborgen? Politisch
Es ist es auch würklich? Moralisch
das wofür man es hält? Was übersehe ich wohl
Schadet es nicht? hierin, wegen meinem ein-
Nuzt es nicht zu anderern geschränkten Verstand
Dingen? Was für Mühe hat es nicht die
Läßt sich dieses auf etwas ersten Menschen oder das Kind geko-
Größeres anwenden? stet bis es zu dieser Erkenntnis ge-
Was können hierbei vor Ver- langt ist?
suche angestellt werden?
182 | 2 Lichtenberg
[Blatt 8 verso]
,Mein Gott, wenn das so fortgeht‘: hier ist ein Schreibkommentar, wie er für
Lichtenbergs räumliche Aufteilung des Schriftträgers charakteristisch ist.
Schreibanalytisch gesehen, fallen die ,Jean-Paulschen‘ Unterstreichungen auf,
die auch bei Lichtenberg Einträge voneinander absetzen sollen. Ganz erkennbar
handelt es sich um Sammelblätter, die Einträge wurden zu verschiedenen Zeit-
punkten vorgenommen. Leitzmann vermutet einen Zusammenhang mit der
Haarlemer Preisfrage von 1770: „Was wird zu der Kunst zu beobachten erfor-
dert?“145. Ich teile allerdings Promies’ Meinung, dass die Niederschrift dieser Pas-
sagen wesentlich später erfolgt ist als im Zeitraum von 1767 (Beginn des Sudel-
buches KA) bis 1770. Dafür sprechen zwei Gründe:
Wie kann daraus eine der CCC Fragen an Physiker und Mathematiker formiert werden?146.
Über meinen Fragen-Plan etwas zu schreiben, vielleicht für Prof. Voigt oder für das Archiv
der Zeit.147
Der erste Eintrag aus Sudelbuch J datiert aus dem Zeitraum von 1789–1793, der
zweite aus Sudelbuch L fällt in die Periode von 1796–1799. Für die Annahme
einer thematischen, nicht einer zeitlichen Zuordnung zu KA von Seiten des Ein-
fälle sammelnden Autors spricht, dass sich Lichtenberg durch seine gesamte
Schaffensphase hindurch mit dem Projekt der Dreihundert Fragen auseinander-
gesetzt hat. Im sogenannten Miszellen-Heft von 1798148 findet sich noch einmal
eine ganz ähnlich geartete Liste wie diejenige in KA. „Etwas zu transferieren
(transferring instruments)“, heißt es etwa dort149. Instrumente auf einen anderen
Bereich der Physik übertragen, im Akt der technischen Verbesserung der Ma-
schine neue Hypothesen generieren, die Introspektion („was geht dabei in mir
vor?“150): dies alles trifft auf Techniken eines zeitgenössischen Verständnisses
von Assoziation (Hartley, Priestley) viel mehr zu als auf Techniken der Rhetorik,
den Rosenkranz der loci. Was diesen Ansatz prägt, der ja zeitweise in ein Kom-
pendium oder zumindest einen Aufsatz ausgeweitet werden sollte, ist ein wissen-
schaftlicher Pragmatismus, der sich auf ,Situationen‘, auf Vorgänge im Mentalen
und Kognitiven des Wissenschaftlers bezieht. Ausdrücklich werden auch andere
Bereiche wie Politik und Literatur in diesen Analogie-Schlüsse ziehenden wis-
senschaftlichen Pragmatismus einbezogen sowie Vorurteile, ein Lieblingsthema
Hartleys: ,Es gibt Stammtafeln von Wahrheiten‘, annotiert Lichtenberg im Erx-
leben; das Wort ,System‘ wird in der vorliegenden Handschrift gestrichen und mit
,Genus‘ ersetzt (Bl. 8 recto).
145 Siehe dazu das Sucelbuch keras amalteias, Promies Band 1, S. 173.
146 P, 2, 283.
147 P, 2, 529.
148 P, 2, 21–35.
149 P, 2, 545.
150 Ebda.
184 | 2 Lichtenberg
Wenn ich irgend in etwas eine Stärke besitze so ist es gewiß im Ausfinden von Ähnlich-
keiten und dadurch im Deutlich-Machen dessen was ich vollkommen verstehe, hierauf
muß ich also vorzüglich denken.152
Die Lichtenbergschen Analogien zeigen sich in der Art, in der sich, wenn dieser
Transfer erlaubt ist, die aufgeladenen Eisenspäne im Magnetfeld ausrichten, sich
zu einer Lichtenbergschen Figur zusammenfinden. Transferring instruments
sind Hypothesen oder Theoriebestandteile oder empirische Daten, die in fremde
Gebiete verschoben werden und dort neue Erkenntnisse stiften.
Michael Polanyi beschreibt in seinem Klassiker Implizites Wissen detailliert,
wie die Sonde vom Fremdkörper in der Hand zum verlängerten sensorischen
Mittel der Datengenerierung und Beobachtung wird, vermittels eines ,intuitiven‘
Perspektivenwechsels, einer Hinwendung zum körperlich Entfernten (,distal‘),
das sich als erfahrbare Möglichkeit, aber nicht als explizierbares Phänomen ge-
staltet: als implizites Wissen153. Wäre das Wissen explizit, gäbe es keine For-
schungsfragen und keinen Erkenntniswert des epistemischen Objekts mehr, wäre
das Unbestimmte und Widerrufbare sistiert im isolierten und ausgemessenen
Gegenstand. „Ja nicht mit dem Ende anzufangen“154, heißt es bei Lichtenberg, was
bedeutet: selbst für gesichertes Wissen, die Eigenschaften von Objekten betref-
fend (Schwerkraft, Attraktion und Repulsion, Blutkreislauf, chemische Reakti-
onen, usw.), gilt es, das Spiel des Fragens als Methodicum offenzuhalten – und
sei es als Übung für Novizen. Dabei ist besonders interessant, dass Instrumente
offenbar eine kognitive Funktion innehaben. Sie sollen die Transfers zu anderen
Bereichen der Physik ermöglichen, sie fungieren als Sonden im Sinne Polanyis,
also als Gedankeninstrumente, die implizites Wissen generieren können.
Es bleibt eine Restriktion im Denken Lichtenbergs konstitutiv, die sich dem
freien, physiologischen Spiel assoziativer Verknüpfungen, der Analogiebildung,
dem gelehrten, aber eben automatischen Abarbeiten von loci auferlegt. Man
sieht das an dem zwingenden logischen Aufbau der Liste, an der Idee, einen Plan
zu entwerfen, mit dem man die ganze Physik durchlaufen könnte – mit einem
spezifischen erkenntnisstiftenden kognitiven Instrument an der Hand –, aber
151 P, 2, 266.
152 P, 2, 302.
153 Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. S. 18.
154 P, 2, 545.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 185
auch an dem Konzept, die Sprache wie eine algebraische Formel und verschie-
dene Satzteile als abhängige Variablen zu behandeln: also gezielt das Umfeld
von Worten experimentell zu verändern, um die Auswirkungen auf diese zu mes-
sen. Es ist mehr als möglich, bestimmte Passagen mancher Sudelbücher als ein
derart experimentelles Programm der Manipulation des (semantischen) Umfelds
von Propositionen zu lesen.
Was wir hier an Techniken vor uns haben, ist also präzise nicht die Analogie
DeLucs oder LeSages, die biblische Mythen naturwissenschaftlich verifizieren
wollten. Es ist auch nicht die Analogie Erasmus Darwins, der naturwissenschaft-
liche Erkenntnisse in den ,grand récit’ literarischer Wissensspeicher integrieren
wollte. Bei Lichtenberg herrscht das Paradox des methodisch ungerichteten Fra-
gens. Auch Elemente der mystischen Beschreibung kommen hinzu, wie sie dem
verschrobenen Instrumentensammler zugesprochen wurden: also die Produkti-
vität poetischer, überhöhter Elemente in Instrumentenbeschreibungen. Schließ-
lich lässt sich eine bestimmte Form episodischer Erinnerung nachweisen, die
Boltons Dampfmaschine wieder im Lärm und der Dunkelheit der Situation Kon-
tur annehmen lässt. Insofern kann man also von transferierenden, von Gedan-
ken- und von Erinnerungsinstrumenten sprechen. Erstere helfen den Transfer
zwischen verschiedenen Gebieten der Physik, zwischen Objektgenera, zwischen
literarischem und szientifischem Denken durchführen, der von induktiven Ana-
logien, mehr aber von der Hinwendung zu implizitem Wissen gesteuert wird;
zweitere helfen, die loci von Fragenkatalogen in eine innere Logik impliziten
Denkens umzubilden; letztere rahmen die Erkenntnisbewegung in ein autobio-
graphisches Stratum, das wiederum weitere loci, ,Analogie-Anker‘ in das Denken
und die Schreibbewegung zurückfüttert.
Der Chemie-Traum ist ein kanonischer Text für Interpreten, die Lichtenbergs Wis-
senschaftsskepsis, die Rückkehr zur Naturphilosophie und die Aufgabe des Wis-
senschaftsparadigmas betonen, die Nähe zu DeLuc in Anschlag bringen möch-
ten155. Die Kritik an der quantifizierenden Naturwissenschaft à la Lavoisier im
Text einerseits und seine ästhetische Qualität andererseits weist Lichtenberg, so
die argumentative Strategie, als Schriftsteller aus und hilft das Problem beheben,
dass neben einigen Prosa-Fragmenten kein abgeschlossenes Erzählwerk vor-
liegt. Der fehlende Einfluss Lichtenbergs in der Fachgeschichte der Physik und
155 Jutta Müller-Tamm: ‘Dieses prüfe, mein Sohn, aber chemisch ...‘. Analyse und Erkenntnis in
einer Traumerzählung Lichtenbergs. Metamorphosen. Ästhetik und Experiment um 1800, hg. v.
Sabine Schimma/Joseph Vogl, Zürich, Berlin: diaphanes, 2009, S. 39–50.
186 | 2 Lichtenberg
Nun ist eine Kritik an der dezidiert messgenauen und datenlastigen Argumen-
tation Lavoisiers und seiner Anhänger nicht gleichzusetzen mit einer Kritik am
naturwissenschaftlichen Projekt in toto. Es waren die Größen der experimentel-
len Wissenschaft, Priestley, Cavendish, Kirwan, die Lavoisiers Experimenten
156 Paul Requadt: Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik, Hameln: Verlag der Bü-
cherstube Fritz Seifert, 1948. S. 69 ff.
157 P, 3, 109.
158 P, 3, 109.
159 P, 3, 110.
160 P, 3, 109.
2.5 Lichtenbergs Gedankeninstrumente | 187
prinzipiell die Legitimation absprachen, weil diese nicht replizierbar waren: die
Maschinerie, die Instrumente des Staatsbediensteten Lavoisier waren derart teu-
er, dass sie von keinem seiner Konkurrenten auch nur ansatzweise angeschafft
werden konnten. Kernelemente der Theorie Lavoisiers fußten auf Experimenten,
die nur einmal, in Paris, durchgeführt worden waren. Insofern gewinnt die Mess-
genauigkeit der Instrumente, die demonstrativ durchexerziert und vorgebracht
wird, eine Art mythische Weihe, die alles andere, so Priestley, als objektiv ist. Die
traumhafte Ausstattung, die technische Überlegenheit des Labors garantierte
eine bislang unerreichte Messgenauigkeit (besonders bei Waagen, beim Gaso-
meter und Eudiometer), aber keineswegs Objektivität.
Die erzählerische Kritik am quantifizierenden Messprogramm Lavoisiers ist
also keine am Wissenschaftsparadigma generell, darf nicht als ,Rückfall‘ in die
Naturphilosophie à la DeLuc verstanden werden. Zwar wünscht sich Lichtenberg
eher einen ,chemischen Spinoza als einen chemischen Kant‘, der sich dem Ok-
troy der französischen Anti-Phlogistiker entgegenwerfen könnte, allein: er ver-
bleibt, auch im narrativen Fortgang und Erzählduktus des Traums, im Kreis der
,Experimentellen‘, die sich der Datengewinnung, der Objektivität und der mög-
lichst genauen, einfachen Beschreibung, dem ,plain style‘ im Sinn Thomas
Sprats, verschrieben hatten. Er reiht sich in das ,Who‘s Who’ der Lavoisier-Kri-
tiker ein, ohne das Wissenschaftsparadigma wieder aufzugeben. Das wird be-
sonders deutlich im zweiten Teil des Traums.
Hier nimm diesen Beutel, prüfe was darin ist, und sage mir was du gefunden hast. Beim
Weggehen setzte er fast scherzend hinzu: verstehe mich recht, chemisch prüfe es, mein
Sohn; (...) – Wie froh war ich, als ich wieder was zu untersuchen hatte, denn nun, dachte
ich, will ich mich besser in acht nehmen. Gib acht, sprach ich zu mir selbst, es wird
glänzen, und wenn es glänzt, so ist es gewiß die Sonne, oder sonst ein Fixstern. Als ich den
Beutel aufzog, fand ich ganz wider meine Erwartung, ein Buch in einem nicht glänzenden
einfachen Bande. Die Sprache und Schrift desselben waren keine der bekannten, und
obgleich die Züge mancher Zeilen flüchtig angesehen, ziemlich so ließen, so waren sie es,
näher betrachtet, doch ebenso wenig als die verwickeltsten. Alles was ich lesen konnte,
waren die Worte auf dem Titelblatt: Dieses prüfe mein Sohn, aber chemisch, und sage mir was
du gefunden hast. Ich kann nicht leugnen, ich fand mich etwas betroffen, in meinem weit-
läufigen Laboratorio. Wie, sprach ich zu mir selbst, ich soll den Inhalt eines Buchs che-
misch untersuchen? Der Inhalt eines Buches ist ja sein Sinn, und chemische Analyse wäre
hier Analyse von Lumpen und Druckerschwärze. Als ich einen Augenblick nachdachte,
wurde es auf einmal helle in meinem Kopf, und mit dem Licht stieg unüberwindliche
Schamröte auf. O! rief ich lauter und lauter, Ich verstehe, ich verstehe! Unsterbliches We-
sen, O vergib, vergib mir; ich fasse deinen gütigen Verweis!161.
Der chemische Spinoza, nicht der chemische Kant; Priestley, nicht Lavoisier: Die
Welt und das Buch der Natur lassen sich nicht chemisch analysieren. Macht dies
die quantifizierende Methode sinnlos sogar Newtons Werke werden ja derart auf
161 P, 3, 111.
188 | 2 Lichtenberg
We know quite well that Galileo was right. Good physics is made a priori. As I have said, it
must at all costs avoid the temptation and fault of extreme concretism, and must not allow
imagination to take place of theory164
2.6.1 Einführung
Wie gelingt es, so die leitende heuristische Frage dieses Kapitels, einem zuneh-
mend größeren, also laienhaften Publikum eine komplizierte Maschinerie so zu
erklären, dass sich durch das Verständnis der technischen ,Machbarkeit‘ Grund-
züge eines physikalischen, chemischen oder medizinischen Phänomens verdeut-
lichen? Das detaillierte Verweisen auf Teile des Instrumentes durch die ,Zeig-
162 „Inwiefern lassen sich die Pflanzen als chemische Laboratorien ansehen? Sind sie dieses, so
fragt es sich, was wird aus der Komposition des Wassers? Ich fürchte aber fast, es sieht mit der
Chemie des tierischen und Pflanzen-Körpers so aus: woraus bestehen Newtons Werke? Antwort:
aus Lumpenpapier und Druckerschwärze“. P, 2, 323.
163 P, 3, 522.
164 Alexandre Koyré: Metaphysics and Measurement. Essays in the Scientific Revolution, Lon-
don: Chapman & Hall, 1968. S. 88.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 189
165 John A. Schuster/Graeme Watchirs: “Natural philosophy, experiment and discourse: Be-
190 | 2 Lichtenberg
The former of these (which we, with the glass-men, shall often call a receiver, for its affinity
to the large vessels of that name, used by chymists) consists of a glas with a wide hole at the
top, of a cover to that hole, and of a stop-cock fastened to the end of the neck, at the bottom.
(…) The shape of the glass, you will find expressed in the first figure of the annexed
scheme. And for the size of it, it contained about 30 wine quarts, each of them containing
near two pound (or 16 ounces to the pound) of water. We should have been better pleased
with a more capacious vessel; but the glass-men professed themselves unable to blow a
larger, of such a thickness and shape as was requisite to our purpose.
At the very top of vessel A, you may observe a round hole, whose diameter BC is of about
four inches; and whereof the orifice is incircled with a lip of glas, almost an inch high: for
the making of which lip, it was requisite (to mention that upon the by, in case your Lordship
should have such another engine made for you) to have a hollow and tapering pipe of glas
drawn out, whereof the orifice above mentioned was the basis, and then to have the cone
cut off with an hot iron, within about an inch of the points B, C167.
167 Robert Boyle: The Works, Hildesheim: Olms, 1965, Bd. 1 (Nachdruck der Ausgabe von 1772).
S. 7–8.
192 | 2 Lichtenberg
Abb. 32. Luftpumpe in Boyles “New Experiments touching the Spring of Air”.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 193
Es ist deutlich, wie der Schreibende den Diskurspartner, also den die Be-
schreibung nachvollziehenden, das Instrument visualisierenden Leser in einem
kognitiven Raum orientiert, der durch die beigefügte Zeichnung nur zum Teil
konstituiert wird. Ebenso entscheidend sind die Bezüge auf die handwerkliche
Kunst oder ihre Grenzen (so auch bei Lichtenberg) sowie der Appell an den Leser,
sich selbst als artist und artisan, als Instrumentenbauer zu imaginieren. Viele
Instrumentenbeschreibungen des siebzehnten und mehr noch des achtzehnten
Jahrhunderts lassen sich als ,Bauanleitungen‘ lesen. Instrumentenbauer in der
Ferne sollten in die Lage versetzt werden, die Prototypen nachzubauen und zu
verbessern. Da ein rudimentäres Patentrecht nur insofern existierte, als sich der
betreffende Instrumentenbauer an den ,zuständigen‘ Fürst wenden und diesen
im Gegenzug zu einer Publikation seiner Erfindung um eine Rente ersuchen
konnte, so begegnet dem Historiographen oft eine komplizierte Mischung aus
Offenlegung und Geheimhaltung der Innovation, so bei Branders peinlich ge-
nauer, aber ,elliptischer‘ Beschreibung seiner Teilmethode, also Mikrometer-
Skalen vermittels eines Diamanten auf Glas zu ritzen168.
Peter Heerings Flensburger Forschungsgruppe hat sich einen Namen damit
gemacht, historische Maschinen nachzubauen. Durch diesen heuristischen
Nachvollzug können Rückschlüsse auf zeitgenössische Verständnis-Grenzen von
Maschinenbeschreibungen gezogen werden. Unlängst hat Frances Willmoth, der
gleichen Methode folgend, einen plane table (,Messtisch‘) aus der Beschreibung
von Arthur Hopton: Speculum topographicum: Or the topographicall Glasse: Of
the plaine Table, with a Description thereof, and the Parts thereunto belonging169
nachgebaut und überzeugend argumentiert, dass die ,Bauanleitung‘ keineswegs
detaillierte Arbeitsschritte vorgibt, sondern vermittels bestimmter rhetorischer
Strategien an den Leser appelliert, eine eigene Konstruktionsleistung zu voll-
bringen. Es wird eine Partnerschaft zwischen Autor und Leser etabliert.170
Dies ist präzise die Darstellungsstrategie Boyles durch die gesamten New
Experiments physico-technical, touching the Spring of Air: Adressat ist zwar, an-
geblich, der Neffe Boyles, aber der fiktive Charakter des Adressaten und Mäzens
wird kaum verborgen. Der Mäzen ist das Rollenangebot an den Leser innerhalb
des kommunikativen Zusammenhangs, der ,zerdehnten Kommunikationssitu-
ation‘ der Instrumentenbeschreibung. Der von der technischen Komplexität der
Maschine und dem imaginativen Nachvollzug der Beschreibung überforderte
168 G.F. Brander: Aus seiner Werkstatt, hg. v. Alto Brachner, Museum für Technik, München,
1983, S. 349–378. In zwei kaum bekannten Briefen von Lichtenberg an Brander, die mir im
Digitalisat vorliegen, lobt Lichtenberg die Exaktheit der Branderschen Skalen.
169 Erschienen in London, bei Simon Waterson, 1611.
170 Zit. b. Liba Taub: „Introduction. On Scientific Instruments”. Studies in History and Philo-
sophy of Science, Bd. 40, 2009, S. 337–343, hier S. 340.
194 | 2 Lichtenberg
Leser findet sich in der Position des institutionalisierten Mitglieds des ,Rats‘, der
experimentierenden Gemeinschaft wieder. Er ist als Gentleman in den Prozess
der testimony, der Bestätigung der Plausibilität der Hypothese und der Messer-
gebnisse eingebunden, wie es Steven Shapin gezeigt hat. Aus dem Kodex des
unabhängigen, gegen die Scholastik und das ,Höfische‘ positionierten, nur der
Wahrheit verpflichteten Gentleman entwickelt sich ja, so Shapin, der Code of
conduct der modernen Naturwissenschaft.
Etwa hundert Jahre später wird Lavoisier in seinen Physikalisch-chemischen
Schriften eine derartige Strategie der Rollenzuweisung an den Leser zur Perfek-
tion treiben:
Ich bitte meine Leser, wenn sie diese Abhandlung zu lesen anfangen, sich so viel als
möglich von allen Vorurtheilen los zu machen, nur die Erscheinungen zu sehen, wie sie
sich ihnen darstellen, alles zu verbannen, was Raisonnement hinein gelegt hat, sich in die
Zeiten vor Stahl zu versetzen, und auf einige Zeit, wenn möglich zu vergessen, dass seine
Theorie jemals existiert hat.171
Folgt man der ,externalistischen‘ Position Shapins, also der Idee, dass sich die
Falsifizierungskriterien für Hypothesen in den frühmodernen Naturwissenschaf-
ten über den Code of conduct des Gentleman definieren (Kapitel 2.3), so entdeckt
man unschwer im späten achtzehnten Jahrhundert Reminiszenzen bei Lichten-
berg und anderen Naturforschern:
Die Tafel IV.b stellt die Luftpumpe im Aufriß perspektivisch vor, so wie die vorhergehende
Taf. IV in der untern Hälfte einige ihrer Teile. Ich mache mit der Beschreibung der erstern
den Anfang. DfE ist der Stiefel, der mit seinem obern Ende D in dem viereckichten Tischblatt
befestigt ist. Über dem Tisch zu beiden Seiten von D, erheben sich Säulen, zwischen wel-
chen die Kolbenstange, deren oberer Teil gezähnt ist, vermittelst der Kurbel auf und nieder
gewunden werden kann. Am untern Ende E des Stiefels ist eine gekrümmte ununterbro-
chene Röhre edc angebracht, das obere Ende derselben ist unten an das starke Stück cb,
welches wie ein Stange aussieht, aber eigentlich eine Röhre ist, angeschraubt, so daß es mit
dieser Röhre Gemeinschaft hat. Diese Röhre cb läuft unter dem Teller A der Luftpumpe fort
und öffnet sich endlich bey a in die freye Luft, also ist abcdeE als ein einziger Canal
anzusehen, der, wenn der Hahn m so steht wie er hier gezeichnet worden, ununterbrochen
ist. (Erxleben, 21)
173 Frank Fehrenbach. „Pathos der Funktion. Leonardos technische Zeichnungen“, a.a.O,
S. 84.
174 Heinz-Ludwig Kretzenbacher: „Wie durchsichtig ist die Sprache der Wissenschaften“, In:
Linguistik der Wissenschaftssprache, hg. v. Heinz L. Kretzenbacher/Harald Weinrich, Berlin:
Akademie der Wissenschaften, 1995, S. 22.
198 | 2 Lichtenberg
175 Man sehe mir diese Interpolation von Saul Kripke und Charles Fillmore nach.
176 „Diese Hülse geht nicht so hoch herauf als in der Zeichnung vorgestellt ist, sondern endigt
sich schon unter dem kleinen cylindrischen Stück, welches sich zwischen dem Deckel und der
Pfanne a befindet“ (Erxleben, 23).
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 199
eingeschnitten, welches auf der Zeichnung nicht vorgestellt ist, um das viereckichte Stück-
chen Wachstaffet on (Fig.2) bequem über die Öffnung binden zu können(..) (Erxleben, 22).
Wie unterscheiden sich nun die Deixen und die mediale Interdependenz zwi-
schen Zeichnung und Text bei Boyle und Lichtenberg? Zunächst beginnen beide
Texte mit einer ,incipit-Formel‘: auf die Abbildung wird ausdrücklich verwiesen.
Bei Lichtenberg übernehmen umstandslos die Buchstaben die Funktion der
Agentive im Satz, während bei Boyle („at the top of vessel A“) die normalsprach-
lichen Bezeichnungen hinzugesetzt werden. Beide Abbildungen sind in den ge-
druckten Werken an anderer, entfernter Stelle eingebunden, der Leser muss sich
also innerhalb des Buches bewegen; es findet kein direkter Verweis von Bild auf
Text und umgekehrt statt. Um so mehr geraten die Buchstaben, die Teile der
Maschine bezeichnen sollen, in die Nähe abstrakter Symbole. Jenseits der großen
Klassifikationsprojekte des achtzehnten Jahrhunderts, Linné und Sloane, lässt
sich in der Nachfolge von Leibniz eine Formalisierung der Wissenschaftssprache
beobachten. Die Entzauberung der großen Wissensspeicher des Barock (Hars-
dörffer, Kircher) und der antiken und mittelalterlichen Naturgeschichten (Isidor
von Sevilla und andere) in eine formalisierte Sprache, die die Rolle des Agens im
Satz einnimmt, scheint zunächst eine wesentliche Funktion der ,alten‘ Sprache,
ihren mehrfachen Schriftsinn, außer Kraft zu setzen. In der ,neuen‘ Sprache
dominiert ein Symbol, das eine Bedeutung denotiert (den jeweiligen Teil der
Maschine). Andererseits wird aber nun ein Bild integraler Bestandteil der sprach-
lichen oder metasprachlichen Verweisung. Besonders die Hinweise auf fehlende
oder verkürzt dargestellte Bereiche des Bildes in den Lichtenbergschen und Boy-
leschen Beschreibungen deuten darauf hin, dass hier keineswegs ein unproble-
matisches, eindeutiges Denotat vorliegt, sondern dass das Bild seinerseits wieder
200 | 2 Lichtenberg
Mehrdeutigkeiten ins Spiel bringt. Eine technische Zeichnung ist ja nicht frei von
Konstruktionsleistungen des Rezipienten. Im Gegenteil, sie birgt Techniken der
,Gloriole‘ wie die Schraffur, sie setzt den Betrachter in eine Position des über-
blickenden Beobachters oder Zeugen, sie überhöht heroisch die Funktionalität
der Maschine oder verunklart sie177.
Was wir also besonders in den Instrumentbeschreibungen Lichtenbergs vor
uns haben, ist eine Art ,freilaufende‘ Symbolik, die zwar die Denotatleistung
normaler Sprache, der ordinary language, außer Kraft setzt, aber keine neue
eindeutige Inhaltsbestimmung leisten kann. Man kann sich der These von Staf-
fan Müller-Wille anschließen, dass mit dem Aufkommen von Symbolen, Tabellen
und Listen in der ,naturwissenschaftlichen‘ Literatur des achtzehnten Jahrhun-
derts nicht nur die Syntax der Normalsprache aufgelöst, sondern auch die De-
notatfunktion zur Außenwelt gelockert wird178. Postmodern gesprochen, flottie-
ren die Signifakte (die Buchstabensymbole) hier ohne eindeutige Referenz, ohne
Nomenklatur. Diese wird auf dem entfernten Bild, also in einem anderen Medium
dargeboten, das seinerseits auf mehreren Ebenen und durchaus nur partiell Sinn
stiftet.
Es lohnt sich, zum Ende dieses Abschnitts Christian Wolffs: Nützliche Ver-
suche aus dem Jahr 1727 mit einzubeziehen, die Lichtenberg kannte und schätz-
te179: dies nicht nur deshalb, weil der Aufklärer eine überraschend konzise Be-
schreibung der Entwicklungsgeschichte der Luftpumpe liefert, sondern auch
weil Wolff es – analog zur Terminologiearbeit in der Jurisprudenz und Philoso-
phie – ausdrücklich und programmatisch unternimmt, ein Muster für Instru-
mentenbeschreibungen zu etablieren:
Von meinen Versuchen, davon jetzund der letzte Teil zum Vorschein kommet, verspreche
ich mir unter anderem diesen Nutzen, daß alle, welch sie mit gehörigem Bedachte durch-
lesen werden, absonderlich auch wohl gar Gelegenheit habe sie nachzumachen, daraus
lernen werden, wie man im Experimentieren und Observieren verfahren müsse und wie
man die Versuche und Observationen nutzen könne. (..) Da ich auch alle Instrumente und
Maschinen, welche ich zu meinen Versuchen und Observationen gebraucht, haarklein be-
177 Frank Fehrenbach: „Pathos der Funktion. Leonardos technische Zeichnungen“, a.a.O.,
S. 84–109.
178 Staffan Müller-Wille: „Indexing Nature: Carl Linnaeus and His Fact-Gathering Strategies“,
Svenska Linnésällskapets Årsskrift, 2012, S. 31–60.
179 Lichtenberg Brief vom 28.April 1788 an Gottfried Hieronymus Amelung:
„Daß Ihr Herr Sohn Neigung zur Physik hat, ist sehr herrlich, hat er Genie dazu, so kann er
einfach hier bleiben. Herzlich gern wolt ich ihm meine Ausgabe von Erxlebens Naturlehre
schenken, und wenn er hierher kömmt, soll er sie sogleich bekommen. Ich glaube aber nicht,
dass dieses ein Buch ist, das reizt, sondern für diese Jahre sind Wolffs nützliche Versuche das
Beste, was man einem in die Hände geben kann, auch vernünftige natürliche Magien wie Wieg-
lebs z.E. Diese reizen einen guten Kopf und schlagen durch Schwierigkeiten nicht nieder“ (P, 4,
735).
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 201
schrieben; so trage [ich] nicht den allergeringsten Zweifel, man werde daraus viele me-
chanische Begriffe überkommen, dadurch man zu Erfindung zum Experimentieren und
Observieren nötiger Instrumente in sich ereignenden Fällen geschickt wird. Dieses habe ich
um so viel nötiger zu sein erachtet, weil es insgemein den Gelehrten in diesem Stücke fehlet
und sie daher ihre Instrumente entweder mangelhaft angegeben, oder von den Künstlern
nach ihrem Gutdünken verfertigen lassen, die nach diesem öfters dabei versehen, was am
nötigsten sein sollte. Aus der Beschreibung meiner Instrumente können auch diejenigen
Unterricht holen, welche Instrumente und Maschinen beschreiben wollen: denn was für
ein großer Fehler in diesem Stücke vorgehe, zeigen überflüssig die bisherigen Theatra
Machinarum. Gewiß! Wenn man von allen üblichen Arten der Mühlen nur eine auf solche
Art beschrieben hätte, wie ich meine Instrumente und ihren Gebrauch beschrieben; so
würde man mehr daraus lernen können, als wenn man alle Theatra Machinarum zusam-
men nimmet.180
180 Christian Wolff: Nützliche Versuche. Dadurch zu genauer Erkenntnis der Natur und Kunst der
Weg geebnet wird, Magdeburg, 1727. Erster Teil, Einleitung, nicht paginiert.
181 Wolff, Nützliche Versuche, a.a.O., S. 115.
182 „Ich will mich mit der Beschreibung verschiedener Arten der Lufft-Pumpen jetzt eben nicht
202 | 2 Lichtenberg
sowohl die Maschine als ganzes als auch einzelne Teile in Vergrößerung abbildet.
Die Zeig-Symbole sind wie bei Lichtenberg und Boyle Teil des Fließtexts, aber im
Unterschied zu den Genannten sind am Rand die Angaben zur zugehörigen Ab-
bildung vermerkt – ein Relikt barocker Textordnungsmittel, derer sich ja auch
Lichtenberg, im annotierten Erxleben wie auch in den Handschriften zur Anti-
phlogistik, bedient.
aufhalten/ indem dieses zu unserem gegenwärtigen Vorhaben nicht dienet; mir ist genug wenn
ich diejenige ausführlich darstelle / deren ich mich in gegenwärtigen Versuchen bedienet / und
die von einem geschickten mechanico in Leipzig, Herrn Leupolden verfertiget worden: wobey
ich mir jedoch die Freiheit nehmen werde bey jedem Teile derselben mit anzuführen / was
überhaupt davon zu wissen nötig und nützlich ist. Ich habe diese Lufft-Pumpe schon (a) fast 11
Jahre / nemlich von An 1710 an / und sie beständig gebrauchet / jedoch noch nicht im geringsten
nötig gehabt daran etwas bessern zu lassen“ Wolff, Nützliche Versuche, a.a.O., S. 114.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 203
Legt man nun die drei Beschreibungen der Luftpumpe – Boyles, Wolffs und
Lichtenbergs – nebeneinander, so ist die früheste diejenige, die am meisten ko-
gnitive Orientierung vermittels Leserappellen, Handlungsrollen und einer ,nar-
rativen Stratifikation‘ bietet. Wolffs Text kann die eigene Vorgabe exemplarischer
Beschreibungsgenauigkeit nicht einlösen – präzise weil es ihm weiterer, appli-
zierter kognitiver Entlastungen der Imagination des Rezipienten neben der in-
termedialen Verweisung ermangelt. Lichtenbergs Beschreibung, die von einem
Kapitel zur pneumatischen Maschine im Erxleben flankiert wird, das hier nicht
einbezogen wurde, kann in der Tat als die exemplarische Vorlage gesehen wer-
den, die Wolff für sich in Anspruch nahm. Ihr ist Zurückhaltung auferlegt, was
die kognitive und emotionale Steuerung der Rezeption angeht. Die – sehr gelun-
gene – Abbildung soll das leisten, was der Text vermeiden muss: wie gezeigt,
funktioniert das Zusammenspiel von Abbildung und Beschreibung allerdings
nicht. Ein Blick auf Kunckels und Lavoisiers Techniken des Leserappells lassen
erahnen, wie weit der Weg zur erzwungenen Objektivität der Instrumentenbe-
schreibung gewesen ist, die Lichtenberg an anderen Orten zum Teil wieder auf-
gibt.
2.6.3 Äpfel auf der schiefen Bahn: Metaphern als kognitive Entlastung
183 “I said: the experiment demonstrates; but I should have said: would demonstrate. It would
demonstrate – if it were performed. For, as Galileo honestly admits on the Fourth Day of theses
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 205
same Discorsi (…) he did not perform it. Yet he is sure of the result. We have no difficulty in
understanding the reason: that which should happen, does happen; and that which cannot
happen, does not happen”. Alexandre Koyré: Metaphysics and Measurement: Essays in the
Scientific Revolution, London: Chapman & Hall, 1968, S. 88.
„For the pendulum is not isochronous, as Mersenne was able to verify by experiment (and
Huygens proved it theoretically). Now, if the methods employed by Mersenne were different
from, and more accurate than those of Galileo, it remains nevertheless true that the difference
between the duration of long and short oscillations is quite noticeable, and consequently could
not have failed to be observable in the oscillations produced by Galileo. What did he do then? He
,corrects‘ the experiment, he holds it in his imagination and suppresses the experimental de-
viation. Was he wrong to do so? Not at all! For it is not by following experiment, but by outs-
tripping experiment, that the scientific mind makes progress”. Metaphysics and Measurement,
a.a.O., S. 80.
184 Aexandre Koyré: „Traduttore-Traditore: A Propos de Copernic et de Galilée“. Isis, Bd. 34,
1943, S. 209–210.
185 Der erste Wissenschaftshistoriker, der sich kritisch an Koyrés Thesen abarbeitete, war be-
reits in den sechziger Jahren Thomas Settle: “An Experiment in the History of Science”, Science,
Bd. 133, S. 19–23.
206 | 2 Lichtenberg
For the measurement of time, we employed a large vessel of water placed in an elevated
position; to the bottom of this vessel was soldered a pipe of small diameter giving a thin jet
of water which we collected in a small glass during the time of each descent; the water thus
collected was weighed, after each descent, on a very accurate balance187 .
Seine Rinnen waren in Bohlen geschnitten, die 12 Ellen lang waren. ½ Ellen breit, und 3 Zoll
dick waren; darin ließ er, auf der scharfen Kante Rinnen schneiden von der Breite eines
Zolles, und Pergament ausfüttern, und darin ließ er eine polierte messingene Kugel herun-
ter laufen (Erxleben, 116)
Zum einen frappiert zweifellos bereits Lichtenberg die historische Differenz, die
Koyré zu der These bringen sollte, dass Galileo bewusst die Messergebnisse habe
fälschen müssen, weil die Messmethode derart ungenau gewesen sei, dass ko-
härente Daten gar nicht hätten resultieren können188. Zum anderen aber findet
hier eine gedankliche Konkretisierung statt, die sich am Material festmacht und
sich in der minutiösen, hier gekürzten Beschreibung des experimentellen Ab-
laufs ausdrückt. Eben jene detailverliebte Präparierung der Objekte, der Versuch,
Messgenauigkeit herzustellen durch eine Wasseruhr, die Kugel, die auf der schie-
fen Ebene herabrollt und den freien Fall simuliert: dies sind Elemente eines
Gedankenexperimentes, die offenbar derart eindrücklich sind, dass sie Lichten-
berg aus dem Kopf zitiert. Ob dieses Experiment nun tatsächlich von Galileo oder
erst von Mersenne durchgeführt wurde, ist letztendlich unerheblich, weil die
kognitive Wertigkeit, der epistemische Effè der Idee derart gravierend ist, dass sie
mehreren Generationen zum Mythos wurde. Ähnlich wie Newtons Apfel, der die
Frage aufkommen lässt, warum der Mond nicht auf die Erde falle wie er, haben
diese Mythen die Funktion, komplexe Phänomene auf ein durchschaubares, me-
morierbares, vor allem aber: anknüpfbares ,Modell‘ herunterzubrechen, das in-
novatorische experimentelle Konzepte nachfolgender Generationen initiiert. Die
(Billard-)Kugeln etwa werden von Newton bis Hartley und Locke als die episte-
mischen Objekte fungieren, um Trägheit, Erdanziehung, Kraftübertragung, An-
ziehung und Abstoßung zu beschreiben. Korpuskulartheoretische Mechanik
wird bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein eine wesentliche Rolle bei der
Erklärung physiologischer und chemischer Vorgänge spielen, und Vorstellungen
wie Springfedern in der Luft (Boyle) oder die Reizübertragung in den Nerven via
„vibratiuncles“189 (Hartley), die „corposcules gravifiques“ (P, 2, 262), die eine
wesentliche Rolle in LeSages Theorie der Schwerkraft spielten (P, 2, 262), aber
auch die Assoziationsgesetze bei Locke zehren noch von der Billardkugel-Meta-
phorik.
189 David Hartley: Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations, London 1749,
S. 60.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 209
Ich machte an die obere Diele, gerad über dem Ofen meines Zimmers, etwan einen Schuh
davon, parallel ein Brett an; darauf legte ich vier von den neuen Hygrometern, wovon einer
der überschickte (an Lambert, JL) ist, nebst einem abgeglichenen Reaumurischen Ther-
mometer; heizte darauf das Zimmer bis der Thermometer auf 20 Grad stand, wobei ich die
Kammertür beständig offen ließ, damit die Feuchtigkeit sich in die kalte Kammer ziehen
konnte; in dem Zimmer selbst hielt ich mich nur sehr wenig selbsten auf, nur blos so lang
ich nachsahe, damit alle Verdunstung des Körpers vermieden blieb; in diesem Zustand ließ
ich die Hygrometer 12 Stunden stehen, sodann stellt ich an jedem den Zeiger auf 10 Grade.
Während der Nacht über war das Zimmer erkältet und hatte Feuchtigkeit angenommen,
weil ich mit Fleiß das Fenster offen ließ; mithin waren die Zeiger gegen 70 Grad vor sich
gegangen; sodann heizte ich von neuem und zwar zu dem nemlichen Grad als Tages vorher;
sie giengen auch noch so ziemlich gleich zusammen, nur die zwey äußeren wichen merk-
lich ab, welches ich aber den heftigen Windstößen an das Fenster, welche diesen Tag sehr
stark waren, schuld gab; ich sann also auf eine noch sichere Methode, und diese gelang
besser. Ich bediente mich hierzu eines kupfernen Brütofens, worinn meine Frau ihre Hüh-
nereier legte, Hühner auszubrüten; in diesen legte ich vier Hygrometer mit dem Thermo-
meter, und erwärmte ihn gewöhnlichermaßen mit der Lampe zu dem Grad der brütenden
Eier, nemlich 22° reaumurisch, setzte sodann den Zeiger wie zuvor auf 10 (...) und in diesem
Stand ließe ich sie 8 Stunden unveränderlich stehen. Ich nahm sie sodann heraus und
setzte sie an einen feuchten Ort, ließ die Zeiger gegen 90 vorwärts gehen, that sie darauf
wiederum in den Ofen, zu sehen ob sie wiederum auf 10 zurück gehen würden, und dieses
traf nach oftmaliger Wiederholung allemal auf das präciseste erwünscht ein, wie dann der
überschickte dreimal die Ofenprobe ausgehalten hat; mithin halte ich dafür, dass nach
dieser Art der Terminus oder wenigstens ein sicherer Terminus der Trockenheit zuverlässig
genug und auch an allen Orten zu bestimmen sei, wann man sich eines solchen Ofens
hierzu bediente190
190 Johann Bernoulli (Hg.): Johann Heinrich Lamberts deutscher gelehrter Briefwechsel, Berlin:
Bernoulli (Selbstverlag), 1783. Bd. 3, S. 326.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 211
2.6.5.1 Text-Bild-Paare
Briefwechsel eignen sich per se, um die spezifischen Formen der gegenseitigen
Orientierung eines ,hardware-discourse-couples‘ nachzuzeichnen. In epistolaren
Manuskripten sind Zeichnung und Beschreibung in der Regel nicht räumlich
getrennt, sondern wie in den Briefen Lichtenbergs, denen ich mich jetzt zuwen-
de, nebeneinander gesetzt: Text-Bild-Paare. Leitfragen dieses Abschnittes sind
1. Welche Funktion haben Text-Bild-Paare in produktiver Hinsicht: also als ko-
gnitive Interrelation zwischen Zeichnen und Schreiben?
2. Welche Funktion haben sie rezeptionsseitig; sowohl im Sinn der Relektüre
durch den Schreibenden als auch der Lektüre durch den Textadressaten?
212 | 2 Lichtenberg
Abb. 36. Brief an Franz Ferdinand Wolff, 10. Juni 1782. Bl.59 recto.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 213
[Blatt 58 verso]
33
34 eine gehörig krummgebogene gläserne Röhre
35
36 BD die aber bei B gut mit Kleister, Papier
37
38 und Bindfaden verbunden (lutiert) ist, das
39
40 Ende D steht unter Wasser, so bald nun alles
41
42 zu glühen anfängt so gibt es Blasen bei D. Diese fängt man in
43
44 Arznei-Gläschen auf, die man vorläufig mit Wasser auffüllt,
45 mit ihrer
46 unter dem Wasser umwendet und die Öffnung über D bringt, so
47
48 daß die Blasen in das Arznei-Glas steigen müssen, hat man ihrer
49
50 einige Zoll hoch aufgefangen, so verschließt man das Glas unter
51 nimmt es heraus
52 dem Wasser mit dem Zeigefinger, und bringt e ein ausgeblasenes
53 ein
54 Wachskerzchen oder ausgeblasenes Spänchen, doch müssen an bei-
55
56 den wenigstens noch glühende Punkte sein, in das Arznei-Glas*
57
58 und die wenn sie sich gut entzünden und wieder eine Flamme brennen, so nimmt man
59
60 ist die Luft gut und man nimmt größre Bouteillen und fängt sie so bei D auf,
61
62 verkorkt sie gut (mit etwas Wasser noch im Hals) und stellt sie verkehrt
63
64 zum Gebrauch hin. Ich habe aus 6 Untzen Salpeter zuweilen 40
65
66 Quartier Luft erhalten. Man nummeriert die Bouteillen und wählt zu
67 *soweit hatte ich vor 10 bis 12 Tagen geschrieben und bin hernach verhindert
68 worden bis heute den 10ten Juni.
69 den Hauptversuchen immer welche von den ersten, die, die folgenden und
70
71 letztern sind zum Schießen hinlänglich. Ich habe mir über den
72
73 Zuber bei D ein Brett von der Form nageln lassen worin
74
75 die Bouteillen von selbst stehen bleiben. (…)
76
[Seitenwechsel zu Bl. 60 recto]
77 [„Hat man solche Gläser 6 bis 8, so kann man an einem heitern Tag so viel dephlogistische
78
79 Luft erhalten, als zu den größten Versuchen nötig ist. Wie man
80
81 jede gegebene Masse Luft aus einem Geschirr in das andere bringt,
82
83 ist vermutlich Ew Wohlgeboren bekannt, sollte dieses nicht sein, so
84 aber
85 bin ich ebenfalls zur Erklärung erbötig, aus der Art wie sie aus
86
87 der Retorte oben in die Bouteille übergeht, läßt es sich schon ab-
88
89 nehmen]
90 Nun wollen wir setzen, wir hätten eine Flasche von weißem Glas,
91 etwa
92 voll dephlogistisierter Luft von der besten Art von 2 Quartier oder
93
94 darüber; die von der Form A sind die schicklichsten; so bereitet
95
96 man sich einen anderen Kork B von eben der Dicke wie
97
98 der Dicke wie der auf A, durch diesen geht ein eiserner
99
100 Draht ab, (etwas stark) an welchen unten ein messingenes
101
102 Schüsselgen angeschroben ist, das Schüsselgen muß sehr
103
104 stark sein, die Vertiefung braucht aber nur so groß zu sein, daß sie grade
105 starke
106 eine Erbse halten kann. Fig. 2 stellt das untere Ende in natür-
107
108 licher Größe vor. Der Draht muß so gerichtet sein, daß wenn der
109
110 Kork auf der Bouteille steckt, das Schüsselchen b
111
112 etwa gegen c (Fig 1) das heißt etwas unter die Mitte
113
114 zu stehen kommt. Ist alles so gerichtet, so legt man ein
115
116 Stückchen Phosphorus von dieser Größe (ja nicht mehr!)
117 [in] das Schüsselgen
118 steckt ihn am Licht an, und sobald er brennt, nimmt man den
119
120 ersten Kork von der Flasche weg und bringt so schnell als
121
122 man kann, den brennenden Phosphorus in die Flasche,
123 selben
124 jedoch ohne an den Hals mit dem brennenden Phosphorus anzu-
125
126 streichen und korkt die Flasche nicht gar zu fest mit dem am
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 219
Zunächst fallen die Zeichnungen auf, die Teil des Fließtextes sind, keinen
eigenen medialen ,Ort‘ mehr haben, wie es in den gedruckten Ratgebern der Fall
war. Die Schreibbewegung fasst die Zeichnungen gleichsam ein. Auch in Sudel-
buch A, dem reichsten an naturwissenschaftlichen Zeichnungen, und in einem
Notizbuch, das Lichtenberg für naturwissenschaftliche Einfälle benutzte (Faszi-
kel VI, 59), ergibt sich das gleiche Bild: die Zeichnung wird durch den Text
eingerahmt, obwohl hier keine Notwendigkeit der Leserorientierung besteht. Die
Zeig-Symbole haben nur noch eine marginale Denotatfunktion; man könnte etwa
auch Pfeile applizieren. Denkbar wäre sogar, die Zeichnung in den Text zu im-
plementieren, ,einzunisten‘, und die passenden Beschreibungssegmente direkt
an den passenden Bereich des Instruments zu platzieren. Entscheidend ist also
für die hier beobachtete ,direkte‘ intermediale oder besser: interkognitive Rela-
tion ein produktionsseitiges Moment: Der Schreibende unterläuft genau jene
räumliche Trennung, die der gedruckte ,Ratgeber‘ dem Lesenden auferlegte. Er
nutzt die Möglichkeit des kognitiven Sprungs von der Zeichnung zum Fließtext
und vice versa; gleichzeitig platziert er die differenten Beschreibungen in ein
Ensemble, das seinerseits wiederum epistemische Qualitäten entfalten kann.
Text-Bild-Paare sind prädestiniert für den ,intimen‘ Diskurs der hardware-
discourse-couples und der Sendbriefe. Welche Funktion haben sie genau für den
Adressaten? Auf Bl. 60 verso stellen Zeichnungen zweimal die natürliche Größe
der Objekte dar; der den Versuchsaufbau nachvollziehende Leser könnte die
gefertigten Objekte auf die Zeichnung legen, um ihre korrekte Beschaffenheit zu
prüfen. Hier wird eine direkte, maßstabsgetreue Darstellung der Wirklichkeit im
Brief simuliert, die sprachliche Umschreibungen überflüssig macht. Das Medium
des Bildes erhebt in diesem Lichtenberg-Brief den Anspruch, wissenschaftliche
Objekte und damit auch Experimente ,realistisch‘, nicht nur maßstabsgetreu,
vermitteln zu können. Lichtenberg klammert auf Bl.59 verso die Form des Brettes
aus der sprachlichen Beschreibung aus und überantwortet sie der bildhaften
Darstellung – im Fließtext (Z.73). Das beschreibt präzise das Primat der Abbil-
dung gegenüber der sprachlichen Darstellung, wie wir es hier beobachten kön-
nen. Wenn experimentelle Objekte und wissenschaftliche Instrumente Imagina-
tion freisetzen und in ihrer medialen Darstellung auch erfordern, dann sagen
diesbezüglich Bilder mehr als Worte.
Betrachtet man die Zeichnungen isoliert, so lässt sich sogar bildimmanent
eine Lesersteuerung ausmachen. Auf Bl.59 recto etwa ist der Wassereimer nur
angedeutet, die Retorte und besonders das Rohr nehmen die Bildmitte ein, die
Beine des Kohlenofens sind vereinfacht dargestellt, um, wie Lichtenberg an an-
derer Stelle sagt, „die Zeichnung nicht zu verwirren“. Auf Blatt 60 verso sind in
Figur 2 Schraffuren angebracht, die Windungen an der Halterung illustrieren
sollen sowie die Rundung der Schraube betonen. Schraffuren, die zum ersten
Mal in den technischen Zeichnungen Leonardos erscheinen, lassen sich als Glo-
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 221
Darüber hinaus richten sich die Korrekturen, die im Text angebracht sind, auf
größere Verständlichkeit, auf die didaktische Vermittlung des ,Stoffs‘. Ferner
lässt sich eine direkte Leseransprache ausmachen, wie wir sie bei Lavoisier und
bei Kunckel beobachten konnten (Z. 141–164). Eine biographische Komponente
kommt, weiterhin, ins Spiel. Die Erinnerung, besonders die episodische, unter-
stützt offenbar die technische Konstruktionsleistung, die der kognitive Apparat
leisten muss. So wird dem Novizen hier das leuchtende Beispiel eines besonders
geglückten Experiments dieser ,Bauart‘ vor Augen gestellt und zur Nachahmung
empfohlen. Schließlich ist im Brief im Gegensatz zur ,öffentlichen‘ Beschreibung
im Erxleben eine narrative Dynamisierung zu beobachten, die sich besonders in
Verben und personifizierten Objekten ausdrückt (Z. 114–132), auf die wir auch bei
Branders Experimentbeschreibung gestoßen waren.
Kommen wir abschließend auf den schreibproduktiven Aspekt der Text-Bild-
Paare zurück. Diese Ensembles erfüllen im Wolff-Brief eine ähnliche Funktion
des kognitiven Steigbügels wie die Metapher der Kugel bei Galileo, bei Hartley,
bei Locke. Der Schreibende verdeutlicht sich die Struktur des Instruments durch
die Zeichnung, ergänzt vermutlich bereits die Zeig-Symbole und verfasst dann
222 | 2 Lichtenberg
die Beschreibung. Interessant ist, dass der Schreibende auf Blatt 59 recto offen-
bar die Zeichnung anfertigt, bevor er den vorhergehenden Abschnitt abgeschlos-
sen hat: „denn es ist gar zu ärgerlich, alles auf einmal verunglücken zu sehen“ ist
erkennbar bereits ,eingezogen‘ realisiert, obwohl erst im nächsten Satz „AB ist
die mit Leinen lorizierte Retorte“ die Instrumentenbeschreibung beginnt. Dies
kann auf den prospektiven Auslesemechanismus (read-out) hindeuten, also die
kognitive Instanz, die Schreibideen im Vorgriff auf ihre Tauglichkeit hin ,aus-
liest‘.
Entgegengesetzt stellt es sich auf Bl.60 recto sowie auf Bl.60 verso dar. Figur
2 auf Bl.60 verso ist erkennbar nach der Erwähnung im Fließtext und dement-
sprechend mit räumlichem Abstand vorgenommen worden, das bedeutet: der
Schreibende beendet zunächst die Schreibepoche, bevor er die zusätzliche Zeich-
nung anbringt. Auch auf Bl. 61 verso wird offenbar die gesamte Textsequenz erst
abgeschlossen, bevor die Zeichnung eingepasst wird. Nur zwei Zeilen, ab „Bat-
terie“, lassen den charakteristischen Leerraum, der für die Zeichnungen im Brief
reserviert ist. Hier ist weniger ein schreibproduktives, mehr ein didaktisches
Element in Anschlag zu bringen. Der Schreibende bedürfte der kognitiven Ver-
lagerung zum Modus der Zeichnung nicht, der Lesende durchaus.
2.6.5.2 Memoranda
Memoranda in der Gestalt, wie sie Galileo oder seine Schreiber umsetzten, gibt es
bei Lichtenberg nicht, was, wie erwähnt, auch auf Veränderungen der kulturel-
len Norm, wie ein Schriftträger zu füllen ist, zurückzuführen ist. Es gibt jedoch
auffällige Kombinationen von Zeichnung, Berechnung und Fließtext, die über
die intermediale Relation von Abbildung und Beschreibung hinausgehen, die wir
zuvor in den gedruckten Ratgebern verfolgten. Sie sind auch anders gelagert als
die Text-Bild-Paare der hardware-discourse-couples. Besonders in Faszikel VII, N
lassen sich solche Ansätze zu Memoranda nachweisen, und zwar besonders auf
dem Gebiet, zu dem Lichtenberg die meisten Datenblätter angefertigt, also ei-
genständige Messungen durchgeführt hat: der Astronomie. Dieser Befund, ne-
benbei sei dies erwähnt, ist insofern erstaunlich, als die ,aktive‘ Phase Lichten-
bergs als Astronom mit der Aufnahme regelmäßiger Lehrveranstaltungen in der
Experimentalphysik im Jahr 1776 endete. Von physikalischen oder chemischen
Experimenten – dem Kernbereich des Erxlebenschen Kompendiums, also des
,roten Fadens‘ der Vorlesungen – sind kaum Datenblätter vorhanden.
Ich dokumentiere ein Blatt aus dem Konvolut IX, C, Bl.2, das Höhenmessun-
gen am Hainberg darstellt:
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 223
Abb. 39. Blatt aus dem Konvolut IX, C, Bl.2 mit Höhenmessungen am Hainberg.
224 | 2 Lichtenberg
Die Skizze stellt den Hainberg, die Johannis-Kirchspitze, einen Turm sowie
die Messpunkte A und B dar. Rechts unten sind die Daten zu erkennen, also die
Winkelmessungen, die vermittels des Oktanten entstanden sind. Es ist deutlich,
auch anhand der Korrektur in der Skizze, dass der Turm als Messpunkt nach-
träglich eingefügt wurde. Unten links findet sich eine geologische Skizze, die
gleichsam das Ergebnis der Messung darstellt: die Erhebung des Hainberges.
Daten und Skizzen bilden auf dem Blatt eine Einheit, die es dem Lesenden auch
nach einem längeren Zeitraum ermöglichen soll, die Anordnung und die Ergeb-
nisse der Messung nachzuvollziehen.
Im Vergleich dazu bilde ich eine Azimuth-Messung von John Flamsteed, dem
ersten Direktor der Sternwarte in Greenwich, aus dem Jahr 1676 ab, die ich dem
sogenannten Hooke-Folio entnommen habe:
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 225
Transkription
1676
Dec 19 hour h I II m 8 09 00 the morning the suns following limbe was
in the same Azimuth with Eltham Steeple.
His true Azimuth from the Meridian at
this time by calculation found 51° 15’ East
=to the Angle EOM.
The Angle subtended betwixt Eltham Steeple
and the Windmill at Bromley. at the obser-
vatory on Saturday last 48° 15 3/4=EOB
Therefore the Azimuth of Bromley Windmill B
from the meridian Eastwards BOM 3°00’.
But the Azimuth of Bromley Windmill from
the Magneticall Meridian taken yesterday
was one degree or at most 1 1/4 gr.[ade] to the west
=wards=BOM.
Therefore the variation Mom 4° 00’ or at most
4 1/4 degrees. Westerly in the North. to the East
in the South partte of the compasses. By the
equilibrated needle one foot long
February 25 1679/80 in
the Observatory at
Greenwich: by I.Flamsteed:
E: Eltham Steeple
B: Bromly Windmill
O: the Observatory:
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 227
auf dem Papier realisierte. Memoranda in diesem Sinn sind also komplexe Pro-
tokolle der Schreibideation, ,blue prints‘ von ,Nebengedanken‘ und abgebro-
chenen Pfaden, die in der jeweiligen Schreibsituation nicht realisiert werden
konnten, die aber vom Autor memorativ ,abgelegt‘ wurden. Sie sind, in der be-
reits erwähnten Formulierung Howard Grubers, ein “mental record of his own
previous moves”191.
Abschließend führe ich eines der schönsten Memoranda an, die Lichtenberg
verfertigt hat; ein ,Arbeitsblatt‘ mit Definitionen astronomischer Termini (zuvör-
derst Winkel und Projektionslinien) samt exemplifizierender Zeichnung. Die
Sorgfalt, die hier auf letztere gelegt wurde, stellt noch einmal klar, dass nur das
Ensemble von Text und Zeichnung die Verstehens- und Erinnerungsleistung des
Autors und Rezipienten sichert. Interessant an diesem Autographen ist auch,
dass die letzten vier Zeilen („Ziehe ich nun JF mit JP parallel, so ist…“) eine
eigenständige Kalkulation Lichtenbergs darstellen: eine Art mathematischer ,Be-
weis‘ für eine Lücke im terminologischen System der zeitgenössischen Astrono-
mie. Es kann als sicher angenommen werden, dass die kognitive Entlastung, die
durch das Zusammenspiel des Text-Bild-Paars erzielt wurde, zu dieser eigenstän-
digen methodischen Leistung geführt hat.
191 Howard Gruber: “On the Relation of Aha-Experiences and the Construction of Ideas“. Hi-
story of Science, Bd. 19, 1981, S. 41–59. S .50.
2.6 Lichtenbergs Instrumentenbeschreibungen | 229
Abb. 41. Einzelblatt in Lichtenberg Nachlass Faszikel VII, N „Lose Blätter zu Astronomie,
Geophysik, etc.“
230 | 2 Lichtenberg
ckend war. Eher versprachen die Nervenlehre der philosophischen Ärzte, zu Be-
ginn des neunzehnten Jahrhunderts die Physiologie, besonders die Erforschung
von Reflexen und Sinnestäuschungen, eine Erweiterung subjektiver Erfahrung.
Gerade die Fallstudien der aufklärerischen Anthropologie sprechen von dieser
Neugier auf den ,ganzen Menschen‘: die zuvor genannten naturwissenschaftli-
chen Disziplinen wurden also als Erweiterung einer unabhängigen Erkenntnisin-
stanz, des Ichs, aufgefasst.
Widerspricht dies meiner Deutung Lichtenbergs als naturwissenschaftli-
chem Schreibforscher? Für meine Position spricht ein common sense- und ein
methodisches Argument. Die Tatsache, dass alle nachgewiesenen Beobachtungs-
techniken und Schreibstrategien, alle Rückwirkungen des Körpers auf den Geist
in Literatur, in ein Kunstwerk münden, zeugt von einem ,Mehrwert‘ des Schreib-
labors. Aisthesis schlägt um in Ästhetik. Das empirische Moment wird in Erz
gegossen. Das Kunstwerk ist ein kultureller Wert, der über die Sinne jeweilig
Gestalt annimmt. Insofern ist also, pointiert ausgedrückt, das Schreiblabor ein
Mittel zum Zweck: für Lichtenbergs Interesse an Innovation und ihrem Ergebnis,
für Jean Pauls und Goethes Interesse am Ergebnis. Kognitive Entlastungen, kon-
zeptuelle ,Verdichtungen‘, Varianten- und Alternativwege, Wechsel zwischen
Schreibmodi (protokollierend/literarisch, bildhaft/sprachlich), wie sie in den
letzten Kapiteln an den Schriftträgern nachgewiesen wurden: sie alle sind in der
reflexiven Sicht des Schreibforschers Lichtenberg Willenshandlungen. Auch
Schreibautomatismen sind Teil des rettbaren Ichs: das klandestine Fundament
naturwissenschaftlichen Denkens.
Gerade weil die vorliegende Studie, wie etwa Winfried Menninghaus’ Wozu
Kunst? Ästhetik nach Darwin, „der wissenschaftlichen Herkunft ihres Verfassers
treu“192 bleibt, möchte ich einige heuristische Bestände der Literaturwissenschaft
erweitern. Die hier zu veranschlagenden literarischen Epochen Aufklärung, Ro-
mantik, Klassik etwa haben für einen möglichen Transfer der sich formierenden
Naturwissenschaften in die Literatur kaum heuristischen Wert. Chemiker, Phy-
siker, Mathematiker, Mediziner im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert haben
sich nicht um eine ,Sattelzeit‘ gekümmert: sie haben, erstens, in experimentellen
Zusammenhängen ,reale‘ Beobachtungen gemacht. Sie haben, zweitens, diese
realen Beobachtungen in Theorien gegossen und diese dann kommuniziert. Ich
gehe hier nicht weiter auf die methodische Grundsatzentscheidung ein: für einen
experimentellen Realismus im Sinn Ian Hackings und gegen relativistische, kul-
turelle Schulen der Wissenschaftsgeschichte193. Ich möchte vielmehr darauf hin-
192 Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Berlin: Suhrkamp, 2011. S. 29.
193 Jens Loescher: “Spaces and Traces. Cognitive Practices in Seventeenth and Eighteenth Cen-
tury Ensembles of Text and Drawing”, Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and
Sciences, Bd. 71, H. 2, 2014, S. 38–71.
232 | 2 Lichtenberg
2.8 Zusammenfassung
Schreiben ist für Lichtenberg eine Expertentätigkeit, die mit gewissen Strategien
verbunden ist. Variable Randbesetzung, kognitive Marker, Text-Bild-Paare wer-
den bewusst eingesetzt, um kognitive Praxen zu simulieren und dadurch ,Heu-
reka‘-Effekte zu erzielen. Welche kognitiven Praxen aus den Naturwissenschaf-
ten lassen sich bei Lichtenberg als Transfers nachweisen? Der Vorschlag lautete:
Beobachten, Protokollieren, Modellieren. Für diese kognitiven Praxen ist ein pla-
nendes Schreiben vonnöten, das sich auf die räumlichen Felder des Schriftträ-
gers stützt. Den zugehörigen Manuskripttyp haben wir mit Ensemble benannt.
Jens Loescher: “Not Theory-laden, not Realistic: How to see through Swammerdam’s Mi-
croscope”, Journal of the History of Biology (erscheint).
2.8 Zusammenfassung | 233
Ensembles organisieren den Schreibprozess mehr, als dass sie ihn beschleunig-
ten oder anreicherten. Gleichwohl haben sie wichtige kognitive Funktionen inne
wie konzeptuelle Erinnerung und den Wechsel zwischen Feldern/Themen. In-
sofern ist Lichtenbergs Schreiben dynamisch, auch im Protokollmodus. Wie wir
sahen, sind Text-Bild-Paare entscheidend, wenn kognitive Entlastung von den
Datenmengen des permanenten Protokollierens angestrebt wird. Text/Bild-Paare
dienen auch der Modellierung komplexer Konzepte in der Propädeutik der No-
vizen.
Die kognitiven Aspekte des Schreibens sind für Lichtenberg, erstens, auf-
klärerisch. Die enge Verknüpfung des eigenen Standpunkts des Naturwissen-
schaftlers, der seit der Gründungsurkunde der Royal Society zum ,Allerheiligs-
ten‘ zählt, mit dem Schreibakt, der kognitiven Tätigkeit Schreiben ist zentral. Alle
untersuchten Manuskripte können als Beispiele für die Transformation fremden
Wissens in das eigene Fragen und empirische Überprüfen gelesen werden. Be-
sonders die Antiphlogiston-Manuskripte bilden exemplarisch ab, wie der Schrei-
bende über ,assoziative‘ Reihungen von kurzen Einträgen ein Problem so lange
umkreist, bis eine mögliche experimentelle Überprüfung oder theoretische Lö-
sung greifbar wird. Anekdoten und Zuspitzungen haben entweder didaktische
Funktionen im Demonstrationsexperiment oder sie fungieren als zusätzliche
Hebwerkzeuge für ein anspruchsvolles wissenschaftliches Problem. Die Didak-
tisierung richtet sich, wie übrigens auch in den Sudelbüchern, ebenso auf die
eigene Verstehensanstrengung wie auf die anderer.
Zweitens ist Schreiben für Lichtenberg ein ideengenerierender Automatis-
mus. Die obstinate Wiederholung einiger Denkfiguren und Formulierungen ist
als Strategie zu verstehen, ,Leerstellen‘ der Schreibideation im Sinn wiederkeh-
render ,Mantras‘ schreibmotorisch zu überbrücken. Besonders in den Antiphlo-
giston-Manuskripten werden Passagen wiederholt wörtlich zu Papier gebracht,
was geradezu sinnlos wäre, hätte dies nicht einen ideengenerierenden Effekt.
Das Nebeneinander von literarischen und naturwissenschaftlichen Entwürfen in
den Sudelbüchern und in den Erxleben-Bearbeitungen ist ein gutes Beispiel da-
für, dass eine allzu ,topische‘ oder terminologische Ordnung im waste-book-
Material dem spezifischen Konnex der Ideengenese Lichtenbergs zuwider gelau-
fen wäre. Ist das ,Ideenwürfeln‘ Jean Pauls gleichsam ein Verfahren der assozi-
ativen Verknüpfung ,ausgelagerter‘ Wissensbestände, so kookurrieren Konzepte,
Worte bei dem Schreibtyp, zu dem ich Lichtenberg zähle, direkt physiologisch.
Wie wir über die letzten sieben Kapitel hinweg gesehen haben, ist dies keines-
wegs kruder Somatismus, sondern eben ein ,Lernen‘ mit der Hand.
Wir haben, drittens, bemerkt, dass Schreibsituationen den Rahmen für die-
ses Lernen abgeben. Das ist durchaus analog zum ,Schönschreiben‘ Goethes zu
verstehen – der Maniera des Literaten –, allerdings handelt es sich bei Lichten-
berg nicht um kulturelles Lernen, sondern um das implizite Tasten nach Natur-
234 | 2 Lichtenberg
gesetzen. Der Schreibende aktiviert die gelernten Muster und verknüpft und
überlagert beim sprunghaften, ,sudeligen‘ Schreiben verschiedene Konzepte.
Das Sprunghafte, Abgebrochene, Insistente, Rekapitulierende auch und gerade
der naturwissenschaftlichen Manuskripte ist exakt jener Praxis des Modellierens
analog, die dann an den instrumentebauenden oder -nachvollziehenden Novi-
zen delegiert wird.
Viertens ist Schreiben verifizierend. Es fungiert gleichsam als Replikation
von Experimenten ohne Labor. Dies wurde mit Blick auf die Berechnungen und
generell die Versuchsreferate Lichtenbergs, seine Memoranda, profiliert. Die
Akribie bei den rechnerischen Replikationen kollegialer Experimente, das Inter-
esse für Kalibrierungen und instrumentelle Voraussetzungen und nicht zuletzt
die offenkundige Faszination, ja: Freude an der neuen Nomenklatur Lavoisiers
straft den Gestus des Praezeptors einer universalen Naturlehre und denjenigen
des Skeptikers gleichermaßen Lügen.
3 Jean Paul
3.1 Einführung
Jean Paul ist der emotional aufgeladene Schriftsteller, der Effekte von Stimmun-
gen auf Schreibprozesse nutzt. Wie Lichtenberg verfolgt Jean Paul die Ergebnisse
der Assoziationsforschung sowie die aufkommende Physiologie und ihre Debat-
ten um Sinnestäuschungen; ihnen entnimmt er wertvolle Aspekte für seine Re-
flexionen auf den Schreibprozess. Ich konzentriere mich in meiner Deutung des
schreibenden Jean Paul auf drei Themenkomplexe: erstens Jean Pauls von Lich-
tenberg übernommenes Assoziationskonzept und das damit zusammenhängen-
de pausenlose Schreiben (Kapitel 3.2). Zweitens Jean Pauls Konzept der Biogra-
phie als Werk ohne Abschluss; damit in Verbindung die produktive Wirkung von
Träumen. Hierher gehört auch Jean Pauls Mäandern zwischen einem monisti-
schen und einem dualistischen Konzept des Leib-Seele-Commerciums (Kapitel
3.3.1–3.3.3). Autobiographische Momente sind es ja, die bei Jean Paul die Motiv-
wahl, das Figurenarsenal und die narrative Dynamik der fiktionalen Texte un-
terfüttern (Kapitel 3.3.4–3.3.5).
Drittens erfordert es präzise jenes unabgeschlossene und unabschließbare
Werk, eine über Jahrzehnte anhaltende Memorierungsleistung zu erbringen, um
– ähnlich wie bei Goethe – Fragmente, narrative Kerne, Figurenansätze, For-
mulierungen abrufbar zu halten. Diese Memorierungsleistung wäre nicht mög-
lich ohne die materielle Praxis des Markierens: sowohl im Sinn kognitiver Marker
auf dem Papier, als auch memorativens ,Spurens‘, besonders durch emotionale
Färbung. In Relation zu den kognitiven Praxen Kombinieren, Markieren, Trans-
formieren machen wir drei Manuskripttypen aus: Inventare/Arbeitsblätter (He-
sperus und Satiren), Skizzenblätter (Leben Fibels), schließlich Bündel von Skiz-
zenblättern (Vorrede des Hesperus). Den Skizzenblättern wende ich mich in Ka-
pitel 3.4.1 zu, den Bündeln in Kapitel 3.4.2.
Eine Engführung mit Goethe in Kapitel 3.5 stellt, viertens, unter Beweis, dass
für beide Autoren bürokratische verwaltete (Goethe) oder in processu generierte
(Jean Paul) Manuskriptbündel eine wichtige Funktion insofern innehaben, als
sie das ,Werk‘ symbolisch repräsentieren, ordnen und ,Leerstellen‘ ausfindig
machen lassen, auf die gezielt Schreibideation gerichtet werden kann.
236 | 3 Jean Paul
(Jean Paul)
Wenn man bedenkt, daß Jean Paul einer der schreibseligsten Menschen war, die es je
gegeben hat, daß ihm das Schreiben nicht nur dazu diente, seine Gedanken festzuhalten,
sondern oft auch, sie erst zu entwickeln und zu klären, daß sich daher bei ihm ein großer
Teil des Denkprozesses, der sonst im Kopfe vor sich zu gehen pflegt, auf dem Papiere
vollzog; daß er sich ferner von Jugend auf gewöhnt hatte, alles aufzuschreiben, was ihm in
charakteristischem Ausspruch oder Ausdruck, jedes ,Bonmot‘ seiner Schüler und seiner
Kinder, vor allem jeden eigenen noch so flüchtigen Einfall; daß er endlich zu den Menschen
gehörte, die nichts fortwerfen können, da ihm schon der bloße Gedanke des Untergangs
schmerzlich war, [...] wenn man dies alles bedenkt und noch dazu seinen ungeheuren
Fleiß, der keine Minute des Tage ungenützt ließ, und – last, not least – seinen unerhörten
Gedankenreichtum und seine gewaltige Schaffenskraft, so kann man sich vom dem Um-
fang seines schriftlichen Nachlasses eine ungefähre Vorstellung machen.2
3.2.1 Einführung
Eine sehr interessante Frage besteht darin, wie der Schreibende während der
Schreibepoche neue Schreibziele generiert, da während dieser Phasen ja die
kognitiven Ressourcen weitgehend ,besetzt‘ sind. Prinzipiell bieten sich drei
mögliche Erklärungen an; erstens: der Schreibende ,zieht‘ (neue) mentale Kon-
zepte aus dem episodischen Gedächtnis, also aus der ,Erinnerung‘ an vergan-
gene Erlebnisse, Gefühle, Eindrücke; zweitens: der Schreibende zieht mentale
Konzepte aus dem semantischen Gedächtnis, also einem Lexikon aller existie-
renden Dinge und Abstrakta; drittens: es finden auf sprachlichen Enkodierungs-
ebenen ,Nachbaraktivierungen‘ statt, auf Wortebene werden durch ,Assoziati-
onen‘ neue Schreibziele generiert. Dem Literaturwissenschaftler ist das dritte
Phänomen von so vielen Autoren wohlbekannt, dass sich eine Aufzählung wohl
erübrigt. Von Wortmystikern (Johann Georg Hamann) über Etymologen (Fried-
rich Nietzsche) über ,Sprachphilosophen‘ (Ingeborg Bachmann, Gerhard Rühm
und viele andere) bis zu ,Hirnforschern‘ (Durs Grünbein) reicht diese Kette.
Eben jene dritte Möglichkeit existiert bei Jean Paul und Goethe nicht. In den
Kapiteln 3.2–3.4 und 4.2 vorgenommene Manuskriptanalysen belegen, dass bei
Schreibenden wie Jean Paul oder Goethe Schreibziele und mentale Konzepte aus
dem episodischen Gedächtnis gezogen werden. Die biographischen Elemente
werden im Zug einer Strategie der kognitiven Entlastung dann aktiviert, wenn
der Schreibfluss stockt. Dem trägt die Gattungsentscheidung gegen den Roman
und für die Biographie bei Jean Paul Rechnung.
In einem Dialog aus dem Ciceronianer des Erasmus von Rotterdam wird die
perfekte Schreibsituation für das Zusammenspiel von Schreiben und Denken,
von handwriting und brainwriting kreiert, wobei der Stoiker Nosoponus durchaus
ironische Kommentare seiner Gesprächspartner Hypologus und Bulephorus zu
gewärtigen hat:
Nosoponus: „Das erste ist: Ans Schreiben gehe ich nur in stiller Nachtesstunde, wenn sich
unendlicher Friede und tiefes Schweigen über alles gesenkt hat. [...] Ich habe eine Arbeits-
stube im hintersten Winkel meines Hauses, mit dicken Mauern, doppelten Türen und Fens-
tern, alle Ritzen sind sorgfältig mit Gips und Pech verstopft, so daß selbst unter Tags kaum
ein Lichtstrahl eindringen kann, und auch kein Laut, wenn er nicht besonders penetrant
ist, wie etwa das Geschrei zankender Weiber oder der Krach, den die Handwerker machen“
Bulephorus: „Du hast dein Leben wirklich sehr weise eingerichtet, Nosoponus, ja, ich
würde sogar sagen glücklich, wenn du es dazu noch fertig bringst, störende Gefühlsregun-
gen von dir fernzuhalten; denn wenn sie uns auch nachts noch bis in die einsamen Winkel
verfolgen, was hilft uns dann alle mühsam erkämpfte Stille?“
Nosoponus: „Ich will nicht unnütz viele Worte verlieren, Bulephorus; laß dir daher ein für
allemal sagen: ein Mensch, der für Liebe, Eifersucht, Ehrgeiz, Gewinnsucht und ähnliche
krankhafte Regungen anfällig ist, hat von vornherein keine Aussicht, die Würde zu erlan-
gen, um die wir uns bewerben. Eine so heilige Sache verlangt ein Herz, das rein ist von allen
Fehlern und frei von allen Sorgen und Emotionen […].
Bulephorus: „Gott im Himmel! Jetzt weiß ich erst, was schreiben heißt“.3
„Jetzt weiß ich erst, was schreiben heißt“, so der hedonistische Rollensprecher
zum stoizistischen Schreiber. Man kann den Satz mit Fug und Recht dem emo-
tiven Schreibenden Jean Paul zusprechen, der Emotionen gezielt einsetzt, um
den Wechsel von enthusiastischem Höhenflug und satirischer Abkühlung, von
Schreibrausch und kalkulierter Effektsetzung zu manipulieren. Allerdings könn-
ten Jean Pauls Schreibsituationen nicht unterschiedlicher sein als diejenigen des
pedantischen Stoikers bei Erasmus. Die emotionale ,Sättigung‘ des Jean Paul-
schen Schreibens ist vielfach bemerkt worden, gezielt werden Schreibstimmun-
gen induziert, die mal herabstimmend, mal euphorisch wirken: besonders Emo-
tionen mit negativer Valenz wirken hier schreibproduktiv, weil sich Schreibende
in negativer Stimmung aus dieser befreien wollen und deshalb einer Strategie
pausenlosen Schreibens folgen. Sie sind risikobereiter bei der Aufgaben- und
Themenwahl und dementsprechend auch bei der narrativen Weichenstellung,
Figurenprofilierung, Konfliktverstärkung. Schreibende in negativer Stimmung
3 Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften, hg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1972,
S. 29–39.
238 | 3 Jean Paul
laufen nicht Gefahr, den hedonistischen Gewinn einer positiven Emotion zu ver-
spielen; vielmehr bergen noch unbedachte Ideationspfade die Chance, einen
Stimmungsumschwung zu erreichen4.
Darüber hinaus rufen ,negative‘ Emotionen wie Trauer und ,Melancholie‘ bei
Jean Paul die Schreibstimmung des akribischen, zuweilen pedantischen Korrek-
tors hervor, des Umarbeiters, der im ,Dienst am Detail‘, in den berüchtigten
Überarbeitungsexerzitien der publizierten Werke, aber auch den Archivierungs-
und Registrierungsarbeiten aufgeht5. Schreibbefehle wie „Denk Dir tausend To-
de“, „Male das jüngste Gericht“6 oder „Ich denke jetzt nicht an den Tod, ich bin
schon gestorben“7 sind also dergestalt bewusst eingesetzte Mittel, um in einer
experimentellen Schreibsituation Stimmungen zu induzieren. Nach der Phase
der Akribie flutet die niedrigpulsige Schreibfrequenz zurück in die Breite figu-
raler und narrativer Gestaltung, das synkretistische oder besser: symphronische
Denken Jean Pauls hält Einzug, wie es die Verbindung von positiver Stimmung
und Kreativität postuliert.
Mit Blick auf den Prozessschreiber oder Papierarbeiter Jean Paul scheint dies
ein anwendbares Modell. Sogar die Schreibaufgabe, die viele Ansätze in der
Schreibforschung als Ausgangspunkt nehmen, wird hier von Schreibbefehlen,
besonders in den Konzeptheften, repräsentiert. Im Prinzip heben die Streichun-
gen in den Vorarbeiten zum Hesperus (Kapitel 3.4.2) Schreibaufgaben hervor, die
im Zug eines konzentrischen Einkreisens des pausenlosen Schreibens eingelöst
werden. Vereinfacht gesagt: Dem Modell zufolge entwickelt der Schreibende,
nicht der Planende oder Zurücklesende, ein Verständnis dessen, was er ausdrü-
cken möchte, und ein Verständnis dessen, warum er schreibt (Motivation) oder
welche Rolle er in diesem Prozess einnimmt (Schreib-Ich). Das Selbstbild und die
Motivation des Schreib-Ichs – bei Jean Paul: Jean Paul – besteht offenkundig
darin, sich „in fremdes Lieben und Herz […] erst langsam hinein(zu)reden“ (Sel-
bleb, 1099). Derart entsteht die spezifische Form der Leser(innen)ansprache, der
empathischen Erzählhaltung, der Imperative des emotionalen Wechsels erst im
Verlauf des Schreibens des jeweiligen Werks. Das gesamte Inventar der Selbst-
bilder, des ,Weltwissens‘, der Motivation ist eine prozesshafte Größe, die in der
Schreibsituation kreiert und danach wieder abgelegt wird.
4 Jens Loescher/Luuk van Waes/Marielle Leijten: „Effects of Mood on Monitoring Written Lang-
uage Production”, in Vorbereitung.
5 Jean Pauls Programm der Eindeutschung von Fremdworten, das zur Überarbeitung ganzer
Werke in den zweiten Auflagen führte, hat sogar das Interesse von Linguisten auf sich gezogen:
Elisabeth Behaghel: „Verdeutschungen bei Jean Paul“, in: Otto Behaghel: Verdeutschte Sprache.
Aufsätze, Vorträge und Plaudereien, Lahn, 1927.
6 Götz Müller/Janine Knab/Winfried Feifel (Hg.): Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kriti-
sche Ausgabe, Zweite Abteilung, Sechster Band, Teil 1, Weimar, 1996. S. 17.
7 Jean Paul: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 735.
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 239
3.2.2 Assoziationen
Jean Paul hat Hartley, der sich ja mit dem Zusammenhang von Assoziationen
und Emotionen beschäftigt, intensiv rezipiert. Im neunten Band der Exzerpte
finden sich etwa dreißig Seiten samt einer Gliederung zu Hartleys Hauptwerk,
die Jean Paul bereits 1780 vorgenommen hat.8 Man kann mithin davon ausgehen,
dass Jean Paul entgegen sonstiger Praxis das Buch genau durchgearbeitet hat, so
wie es sich auch für Lichtenberg nachweisen ließ. Darüber hinaus ist eine un-
mittelbare Hume-Lektüre wahrscheinlich.9 Die assoziationstheoretische Basis ist
also für Jean Paul gegeben, der in schreibexperimentellen Dingen als ,Schüler‘
Lichtenbergs betrachtet werden kann. Jean Paul als im Schreiblabor forschenden
Wissenschaftler zu sehen, widerspricht in vielen Teilen der gängigen Meinung
der Disziplin. Jean Paul ist der gefühlsintensive Autor, der nicht beobachtet,
sondern in Schreibstimmungen schwelgt, um sich für die essigsauren Jahre in
der satirischen Fabrik und die unterfordernden Jahre in der Publikationsfabrik
zu entschädigen. Zu Recht wird bei diesem Autor auch auf Publikationsstrate-
gien hingewiesen, die den Wechsel zur Empfindsamkeit (mit) motiviert haben
könnten.
Der Schlüssel zu einem anderen Bild Jean Pauls liegt in den biographischen
,Nebentexten‘, die ja beinahe das Hauptwerk ausmachen. Ich werde mich im
Folgenden auf das sogenannte Vita-Buch und die Gedanken-Hefte (Faszikel 11)
beschränken. Es sind zwei Aspekte, die mich interessieren: erstens die Reflexion
auf die Tätigkeit Schreiben und zweitens der Einfluss der Assoziationsforschung
und der Hirnforschung.
1. Schreibfehler – u. Federstipp (Gedanken, Faszikel 11b, H.7, nr. 190)
3.Schreibe einen Satz mit größ[eren] Unterstreichungen als Parodie: z.B, Schreibe einen
Satz mit immer größeren Unterstreichungen (Fasz. 11b, H.7, nr. 335)
––––––––––––––––––––––
4. zweideutig
Oft schrieb ich unrein, weil ich z[u] rein dachte. Man mußt sich mich dah[er], guter Leser,
an d[eine] Stelle setzen, um rein z[u] schreib[en] d[urch] Errathen d[eine]r Auslegung, um
s[ie] z[u] vermeid[en]. (Vita, Faszikel 10, H.3., Bl.15 recto)
5. Ich belüge hier, sobald ich’s thue, viell.[eicht] Jahrtausende n[ich]t unmittelbar sond[ern]
mittelbar, weil man Schlüsse zieht u[nd] schreibt und diese wied[er] geschrieb[en] werden
und aus diesen wieder Schlüsse gezog[en] wird[en] (Vita, Faszikel 10, H.3, Bl.12 verso)
10 Der Nachlass Jean Pauls ist Eigentum der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer
Kulturbesitz.
242 | 3 Jean Paul
Darüber hinaus wird die ,Sprechhaltung‘, bei den Zitaten Nr. 4 und 5, auf
eine geradezu allegorische Ebene gehoben. Plötzlich erscheint ein ,transsubjek-
tiver Sinngehalt‘, in einem Fall direkt auf den Leser bezogen, im anderen auf die
Nachwelt. Die Sätze enthalten einen sentenzartigen selbstexplikativen Gehalt,
der im Prinzip die gesamte literarische Produktivität Jean Pauls umfasst. In nuce
lässt sich hier beobachten, wie der Übergang vom suchenden, protokollierenden
zum findenden, literarischen Schreiben vonstatten geht.
Besonders Zitat nr. 4 kann als poetologische Sentenz des schreibseligen Au-
tors Jean Paul gelten. Hier liegt eine der wenigen Äußerungen vor, die ein mög-
licherweise weitreichendes graphematisches Verständnis des (seines) Kunstwer-
kes offen legen. Es wird ein Leser imaginiert, dessen Auslegung durch unleser-
liche, zweideutige Handschrift, genauer: durch verschiedene Hände in der glei-
chen Handschrift obstruiert wird. Zweideutige Lesarten oder Auslegungen sind
in den Manuskripten besonders bei Attributen gang und gäbe; wie erwähnt wer-
den sie oftmals ohne Gültigkeitskennzeichnung übereinander gesetzt. Darüber
hinaus klingt der Moduswechsel, vom reflexiven, die eigene Hand beobachten-
den Schreiben zum fließenden, literarischen in der Metaphorik der verschiede-
nen Hände an. Zieht man die Quantität und Qualität der Notate vom Hochsitz des
protokollierenden, reflektierenden Schreibenden in Betracht, so ist es durchaus
nicht abwegig, ein Verschwinden des schlüsseziehenden Autors in der Hand-
schrift vieler Autographe festzustellen, das sich bei Kafka und vor allem Robert
Walser im 20. Jahrhundert wiederfindet.
Jean Pauls Handschriften sind im Gegensatz zu Lichtenbergs arm an Zeich-
nungen. Gelegentlich werden Federproben durchgeführt, fast immer mit der
Kurrentletter ,d‘, oder es werden eine oder mehrere Randhervorhebungen wie
Kreuze oder Striche vorgenommen, besonders im Vita-Buch, dem ,Katechismus‘
des (Selbst-)Biographen. In Faszikel 12a (1782–1784) lassen sich einige Kopfpor-
traits nachweisen, die an Lichtenbergs Charakterskizzen erinnern. Zuweilen
platziert Jean Paul Symbole wie das griechische Delta für Gedanken-Hefte neben
Einträgen.
Nicht nur die Schreibexperimente und die wenigen Schreibgesten lassen
einen außergewöhnlich reflexiv auf die eigene Tätigkeit ausgerichteten Autor
erkennen, sondern auch die Abkürzungen, die sich ab der ,Epochenwende‘, dem
Verlassen der satirischen Essigfabrik 1790, nachweisen lassen. Wie Birgit Sick
zutreffend ausführt, sind die Abkürzungen nicht etwa nur der Schreibökonomie
geschuldet, sondern sie halten eine Bedeutungsvarianz offen, die sie zu Sym-
bolen werden lässt.11 In der Tat ist die Rektion etwa bei abgekürzten Artikeln
11 Birgit Sick: „Jean Pauls Nachgelassene Satiren und Ironien als Werkstatt-Texte. Schreib-
prozeß – Werkbezug – Optionale Schreibweisen“. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, Bd. 41,
2006.
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 243
(zumeist der Anfangsbuchstabe) unklar, und dergestalt lassen sie sich morpho-
syntaktisch nicht eindeutig einem Bezugswort zuordnen. Auch werden die Verb-
Endungen gekappt, was Kongruenzentscheidungen zweideutig werden lässt.
Nicht nur ein semantisches Oszillieren, sondern eine prospektive Schreibstrate-
gie lässt sich hier nachweisen: Bei Änderungen sind Artikel und Verben nicht
anzupassen.
Neben diesen auslotenden, experimentellen Schreibszenen lassen sich die
Autographen, die im Nachlass Jean Pauls in der Staatsbibliothek zu Berlin ar-
chiviert sind, in zwei weitere Gruppen einteilen:
1. Inventare/Arbeitsblätter: vorbereitende Arbeiten, Ideenbausteine, Merkblät-
ter, Charakterzeichnungen und Schreibbefehle
2. Skizzenblätter: Entwürfe mit fließtextlicher Gestalt, zumeist zu den großen
Romanen der 1790er-Jahre.
3.2.3 Monismus-Dualismus
12 Vita-Buch, nr. 386, Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Zweite Abtei-
lung, 6. Bd. Hg. v. Götz Müller/Janina Knab/Winfried Feifel. Weimar: Böhlaus Nachfolger, 1996,
S. 735. Im Folgenden: Vita.
13 Recherche in der online-Edition der Exzerpte der Würzburger Jean-Paul-Arbeitsstelle.
www.jean-paul-portal.de, am 1. Juli 2009.
244 | 3 Jean Paul
Auch David Hume und John Locke nehmen eine prominente Rolle in den Exzerp-
ten ein; vermutlich hat der die Periodika und Wochenschriften wälzende Satiri-
ker im polyhistorischen Gewand zumindest Humes Geschichte Englands im Ori-
ginal gelesen. Hartley und Priestley lassen sich jeweils fünfmal nachweisen14:
Haller, Malpigii, Meier: das Gehirnmark besteht aus Fibern und Fäden – andere: ein Ge-
webe von holen Kanälen – Hartley: aus soliden Fibern – Fontana: diese sind nicht parallel,
son. Convolutae et contortae – Della Torre: aus zusammenhäng. Kleinen Kügelgen, ver-
halten sich zu Blutkügelgen wie 1:815
Obwohl Jean Paul den Dualismus nicht aufgibt, steht er in direkter Folge von
,Lichtenbergs lab‘. Er betrachtet die Assoziationsforschung Humes als physio-
logisch begründbar, und er steht nicht an, Schreibexperimente durchzuführen,
welche die drei Assoziationsgesetze Humes, die zitiert werden,16 falsifizieren sol-
len: „Ideen-Assoziation. Die der Ähnlichkeit ist als ein Theil eines Ganzen blos
körperlich. So jede nur körperlich, die der Kausalität auch, da immer nach der
Ursache die Wirkung eindrang. Es giebt gar keine Erklärung 〈Konstruktion〉 der
Folge, außer der physischen“.17
Ist diese Parteinahme für den Dualismus nun das letzte Wort? Betrachtet man
das umfangreiche Œuvre, besonders einige einschlägige Aufsätze, genauer, so
ergibt sich ein zunehmend diversifiziertes Feld von Positionen.
I
Die Gehirnkammern sind die Obstkammern nicht nur der von den Sinnen gepflückten,
auch der von dem Geiste getriebenen Früchte. – Wir sagen und schreiben dies so leicht hin,
ohne uns zu verwundern und zu befragen, wie etwas Körperliches etwas Geistiges aufbe-
halte, da Aufbehalten, als Erneuern, ja an die Wiedererzeugung grenzt.18
Wenn man auf sich bei den Erfindungen des Wizes, Scharfsinns p., bei dem Erinnern Acht
giebt: so findet man eine Anstrengung der Seele nach einem dunkeln Bilde, d.h. sie er-
schafft die Veränderung im Gehirn, die sie anschauen will und man trenne hier 3 ganz
verschiedne Dinge – 1. diese Kraftäußerung – 2. die Gehirnsveränderung, die mehr ver-
stärkt als erzeugt wurde und ohne die kein einziger Gedanke sein kann, weil sonst auch alle
übrige und das Bewusstsein ohne Gehirn entstehen könnten – 3. und die Anschauung (oder
das Bewusstsein) dieser Veränderung. Das Zentrum dieser divergierenden Wahrheitsradien
kenn’ ich noch nicht: so viel seh’ ich, daß keine Aktion der Seele ohne Reakzion andrer
Monaden möglich ist, daß aber diese Reakzion, der Seele niemals fehlen kann, sie mag mit
Nerven verkettet sein oder nicht.19
II
Ich hatte nämlich etwann ein Heft an diesem Buche geschrieben, als ich, da ich mich
einmal Nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr nach meinem Verstande umsehen wollte, zu
meinen Erstaunen wahrnahm, daß er gar nicht mehr da war. So wenig nun mein Buch
dabei litt, da ich ohne ihn und seine Inspirazion recht gut aus natürlichen Kräften fortset-
zen konnte – wie es denn der Leser aus den Bögen, die in jener Zeit aus meinem Kopfe
giengen, bis zur Beruhigung ersehen muß: – so rasteten doch meine Verwandten und
Taufzeugen nicht eher [...] als bis ich mich auf einen sichern Stuhl sezte und mich gehörig
trepanieren lies. Der Wundarzt schöpfte alle närrische Ideenfibern meines Gehirns – d.h.
die, die wie ein perpetuum mobile unablässig in Schwung verharrten und ohne äußern
oder innern Anschlag von selbst erklangen, wie verdorbene Orgeln zu tönen anfangen, eh’
man noch eine Taste gegriffen – mit einem Löffel heraus und hielt sie mir darin hin. Nach
dieser Operation, durch die mein Gehirn wahrscheinlich bis zur Größe einer Sackuhr ein-
lief, must ich ganz vernünftig denken; ich hätte daraus einen der besten Schlüsse für den
Materialismus ziehen können, wenn mir der Wundarzt die wenigen dazu nötigen närri-
schen Gedankenfibern nicht mit den übrigen herausgezogen hätte. Seit dieser Kur bin ich,
wie ich merke, gar nicht mehr im Stande (in gemischten Gesellschaften verachtet man mich
deswegen): nur einen unsinnigen Gedanken zu bilden, zu schreiben oder herauszusagen
und der Trepan hat, wie es scheint, nur diejenigen Fibern darin stehen lassen, die wenn ich
sie anschlage, blos die besten Ideen geben.
Auf dem gedachten Regalbogen aber sitzet wirklich das System von närrischen Gedanke-
fibern, die mir iezt selber fehlen, ausgebreitet und vollständig genug und paragraphen-
weise aufgepappet. Ein philosophischer Leser sollte sich daher [...] diesen wohlfeilen Re-
galbogen als ein lebendiges Kräuterbuch, als eine Seekarte bei meiner Arbeit, zu diesem
Buche mit kaufen […] um die närrischen Fibern auf dem Bogen gegen die närrischen Ideen
im Buche zu halten und die triftigsten Schlüsse daraus hernach doch nicht zu vergessen.
Denn eine Fibern sind die matres lectionis zu vielen unpunctierten Stellen dieses Werkgens,
oder die Schreibelettern, deren Abdruck hernach aufs Papier gelangte, die fünf Notenlini-
en, in denen meine uninteressante Feder sich auf und nieder bewegte, und sie waren bisher
immer der lange Faden der Materie, den ich und der Leser selten verlor (Teufelpap, S. 391).
Das Gehirn und (besser: oder) die Nerven sind der wahre Körper der Seele; unsre übrige
Einfassung ist der Körper dieses Körpers und dient blos der Nahrung und Fortdauer des
letztern. Denn nur das Gehirn ist das elektrisierende Küssen unsrer geistigen Elektrisier-
maschine, weil blos dieses mit dem Bewegen, Empfinden, und Vorstellen der Seele in
Verhältnis steht. Genau genommen ist dieser Mark- und Brei-Globus mit seinen Streifen der
eigentliche Weltglobus der Seele; die übrige Welt geht sie nichts an: diese empfindet und
kent sie nicht, nur die Veränderungen, die die übrige Welt in den Nerven macht, also nur
die veränderten Nerven.20
19 Über die Fortdauer der Seele. In: Sämtliche Werke, II, 2, 796. Im Folgenden: Fortdauer der
Seele.
20 Fortdauer der Seele, 786.
246 | 3 Jean Paul
Die Gehirnkugel – das heilige Menschenglied, die Himmelkugel auf dem Rumpf-Atlas – ist
in ihrem Zusammenbau wirklich dem ägyptischen Labyrinth ähnlich, das unter der Erde so
viele Gemächer und Paläste hatte als unter dem Himmel; denn nur im Gehirne findet ihr
das uneinige Gestaltenlabyrinth, Kugeln-Hügel, Höhlen, Netze, Bündel, Knoten, Kanäle,
Brücken, Trichter, Balken, Sicheln, Äste, Blätter, dann außer der weißen und grauen Sub-
stanz noch eine gelbe im hintern Lappen des großen Gehirns und eine schwarze in den
Markbündeln – und endlich den gelben Sand in der Zirbeldrüse und die Wasser in den
Höhlen“ [Soemmerring wird auf dieser Seite zitiert].21
III
Sonst aber gilt das Beispiel der unschädlichen Trepanazion mit aller seiner Stärke gegen
den elenden Materialismus oder auch Bonnetismus, der die Gehirnfibern zu Sizstangen
und Objektenträgern der Ideen und den Nervensaft zu einer Gedanken-Goldsoluzion er-
hebt. Der Himmel bewahre ieden Kopf vor der Fibern-, Abdruks- und Saftpsychologie, die
übrigen nicht (Fortdauer, S. 782).
(S)o ist doch, wenn 1000 Bilder im Gehirn dastehen, Bilder der 5 Sinne, der Phantasie u.s.w.
noch immer die Hauptsache, wozu sie schlechterdings nichts beitragen, das Sehen oder
Beschauen derselben unverrichtet und unerklärt, wie ia die Bilder im Spiegel nicht das
Sehen derselben bewirken oder erleichtern, sondern das Auge thut alles: empfindet sich
denn der Gegenstand (hier das veränderte Gehirn) selbst und erklär’ ich das Sehen, wenn
ich sage, ein Bild, das gesehen wurde, war da? (Fortdauer, S. 787)
Wär auf diesem Papier der Ort dazu: so liesse sich’s noch mit 10 Seiten und 10 Beweisen
darthun, z.B. daraus daß Empfindung die Wirkung mehrerer Seelenthätigkeiten auf einmal
ist – daß die Seele, sie sei so leidend als man will, eben deswegen eine Kraft und Rezep-
tivität haben mus, die den Sinnen den Ruhm wieder nimt pppp (Fortdauer, S. 788)
Noch etwas. Der Koffee erleichtert das Denken – über die Unsterblichkeit und seinen eig-
nen Einflus; vielleicht aber sollten wir lieber die scheinbare Hülfe, die der Körper der Seele
leistet, nur Verminderung des Widerstandes nennen, den er ihr that; sie wird nicht von ihm
beflügelt, sondern von ihm befreit und seine Hülfe ist negativ (Fortdauer, S. 787).
Zu den monistischen Ausarbeitungen sollte erwähnt sein, dass hier die Auf-
reihung der gelehrten Exzerpte, der Ideenbücher und -sammlungen durch die
Gehirnfibern ersetzt werden, die man auf dem Repositorium platziert. Da die
Assoziation tatsächlich im Gehirn stattfindet, ist es innerhalb der satirischen
Übertreibung sogar schlüssig, dem Leser die Gehirnfibern als Vademecum für
das Werk in die Hand zu geben. Der von Jean Paul intensiv rezipierte Bonnet ging
ja im Übrigen von der Annahme aus, dass jedem Nerv, der Sinnesempfindungen
überträgt, eine Gehirnfiber zugeordnet ist22. Dergestalt lässt sich durchaus von
einer Lokalisationstheorie ,avant la lettre‘ (vor Gall) sprechen, der sich Jean Paul
hier scherzhaft – samt topischer Bildlichkeit – anschließt.
Ausdrücklich wird innerhalb des analytisch-neutralen Argumentationsfelds
eine Dreiteilung der Handlungsrollen im Schreiblabor vorgenommen: der ,be-
wegende‘ Wille (die Seele), das ,assoziierende‘ Gehirn und der Beobachter. Da-
mit diversifiziert sich die Funktion des Schreibens in zwei Modi: das protokollie-
rende und das literarische (assoziative): exakt analog zu Lichtenberg. Besonders
in den Gedankenheften, im Vita-Buch, aber auch im so genannten grünen Erfin-
dungsbuch (Faszikel 9) lassen sich Schreibexperimente nachweisen, die auf den
unterschiedlichen Schreibmodi aufbauen.
Jetzo indem ich zum Aufschreiben einer Bemerkung nach Vita hinlange, hab ich sie ver-
gessen; und nur durch Schreiben hab ich dies Bemerken des Vergessens nicht vergessen.
(Vita, 761.)
Auch in den großen Romanen ist der Präsentismus des Schreibenden keineswegs
nur mehr einer medialen Desillusionierung geschuldet. Wir haben hier in die
Fiktion integrierte Versuchsanordnungen vor uns. Die Tatsache, dass Jean Paul
auf ,theoretischer‘ Ebene die Seele als Impresario im Konzert der Bewusstseins-
kräfte belässt, bedeutet nicht, dass er auf die Möglichkeiten verzichtet, Schreib-
ideation durch die Doppelkodierung des Schreibens in die Modi Literatur und
Protokoll freizusetzen.
Darüber hinaus scheint Jean Paul aber auch – eine Reihe kürzerer Aufsätze
und Einlassungen in den fiktionalen Texten beweist es – ein genuin ,naturwis-
senschaftliches‘ Interesse an der Funktionsweise des Gehirns (im Schlaf, unter
Alkoholeinfluss, unter bestimmten induzierten Stimmungen) sowie an den
Wechselwirkungen von Schreiben und Ideation entwickelt zu haben. Es ist zu
Recht festgestellt worden, dass Jean Paul rhetorische, kombinatorische und ba-
rocke Formen der Wissenserschließung und -speicherung ebenso ins Spiel eines
,freien‘ – assoziativen – Verknüpfungsmechanismus einspeist, wie er alle an-
deren isolierten Wissenselemente aus der Ökonomie, der Literatur, der Geogra-
22 Micheal Hagner: Homo cerebralis: der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin: Berlin-
Verlag, 1997. S. 257.
248 | 3 Jean Paul
phie, der Historie gleichsam ,entortet‘, um sie dann in die bildhafte Spannung
seines schreibproduktiven Duktus zu zwingen. Der Polyhistor wird als Rolle an-
verwandelt, besonders in den Satiren – nicht ernsthaft als poetische Option in
Erwägung gezogen.
Wie aber verhält es sich mit dem ,Naturwissenschaftler‘, besonders dem
,Mediziner‘? Hier ergibt sich ein unklares Bild. An einigen Stellen des Frühwerks
werden die gängigen Thesen – Nerven als Röhren, Zirbeldrüse, Vibrationen,
Elektrizität – durchaus auf die bewährte Manier der satirischen Entortung preis-
gegeben und finden sich als rein poetische Elemente in einem fiktionalen Ge-
staltungsrahmen wieder. An anderen Stellen wiederum scheint der Griff zur ent-
sprechenden Exzerptensammlung auf dem Regal nicht der aussetzenden
Schreibideation geschuldet, sondern vielmehr dem ,fachlichen‘ Interesse des
experimentellen Beobachters. Konsequent wird nun der Modus literarischen (as-
soziativen) Schreibens abgelegt, und der Beobachter bedient sich des protokol-
lierenden Schreibens.
Nun lässt sich das gesamte Œuvre Jean Pauls nicht verstehen ohne Kenntnis der
Stoffsammlungen zu den Satiren, die im Moment in Würzburg herausgegeben
werden und bereits zum Teil digital verfügbar sind23. Wann und wie sich das
,Aufzeichnungssystem‘ herausgebildet hat, dessen Wissensablagen erst das
Spiel der Assoziationen im Frühwerk ermöglicht, ist kaum zu klären. Jean Paul
kannte die ,klassischen‘ Anleitungsbücher für die Technik des Exzerpierens, die
John Locke, vor allem aber Daniel Georg Morhof auf den Markt gebracht hatten.24
Für den aussterbenden Polyhistor, also den Naturforscher im Gegensatz zum
Naturwissenschaftler, war die Technik des Exzerpts von überragender Bedeu-
tung, um Wissen konservieren und dann in eigene Forschungszusammenhänge
einpassen zu können. Locke beschreibt detailliert, wie ein Index angelegt wer-
den solle und gestaltet den eigenen Traktat nach dieser Methode.25 Auch Morhofs
23 Siehe dazu jetzt auch: Christian Schwaderer: „Jean Pauls Quellmaschinerie: der satirische
Nachlass aus textgenetischer Sicht“ Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, Bd. 45, 2010,
S. 99–108.
24 Daniel Georg Morhof: Polyhistor in tres tomes Literarium Philosophicum et Practicum, Lübeck:
Petrus Böckmann, 1780. John Locke: “A new Method of a Common Place Book”, in: The Works of
John Locke. A New Edition, Aachen: Scientia Verlag, 1963. Bd. 3, S. 331–349. Morhofs Buch ist bei
Jean Paul nachgewiesen in den Exzerpten, 13. Band, 1788, hg. v. Sabine Straub/Monika Vin-
ce/Michael Will, Universität Würzburg, Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition. Manuskriptseite ohne
Zählung (am Ende des Konvoluts).
25 “I take a paper book of what size I please. I divide the two first pages that face one another by
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 249
Werk wirkt wie eine Umsetzung der Exzerptmethode, also einer systematischen
Verortung des zuvor ,entorteten‘ Wissens im willkürlichen Ordnungssystem des
Registers. Es gibt im achtzehnten Jahrhundert wahrhafte Exzerpt-,addicts‘ wie
Winckelmann, der nach mehrjähriger Praxis, folgerichtig und Jean Paul vorweg-
nehmend, seine eigenen Exzerpte zu exzerpieren beginnt26. Die ,heads‘, also die
Titel für einzelne Lemmata, die Index-Nummerierung, die Symbole, aber auch
die Lemmata selbst, die aufwendige textkohäsive Verknüpfungen überflüssig
machen: all dies sind paper tools, die ihre Referenz zum realen Forschungsge-
genstand verloren haben. Paper tools funktionieren nur innerhalb des semanti-
schen Verweissystems, der Ordnung des Exzerptarchivs.
Besonders die großen Kataloge des achtzehnten Jahrhunderts, diejenigen
von Hans Sloane und Linné, folgen dieser Methode. Anhand der Notiz-Bücher
Linnés wird deutlich, wie abgeschottet von den realen Forschungsgegenständen
die Katalogisierung vonstatten geht27. (Religiöse) Analogien, ,wilde‘ Aufzählun-
gen und Verknüpfungen, Metaphern, Ästhetisierungen: all die Elemente früherer
Naturgeschichten, etwa Isidor von Sevillas oder später Conrad Gessners, sind
nun aus dem Wissensarchiv verbannt. Isolierte, ihrer Herkunft beraubte Wissens-
elemente werden in ein ausgefeiltes Ordnungssystem gebracht, das zuerst auf
Notizblättern und Merkzetteln, dann in Handexemplaren bereits publizierter
Werke weiter vervollkommnet wird. Schreiben hat in diesem Kontext den archi-
varischen Vorteil, dass Begriffe und Definitionen isoliert und in neue Ordnungen
gebracht werden können. Linné benutzte dafür ,Karteikarten‘, aber auch ein
Indexsystem, das demjenigen Lockes ähnlich ist: die genera fungieren als
,heads‘, die species als Lemmata28. Klassifizierendes Schreiben produziert also
paper tools, die – ähnlich wie Zeichnungen oder Präparate – aufgrund ihrer
,Bindung‘ an den Schriftträger ,verschiebbar‘ sind und keinen erklärenden oder
kausalen Status in bezug auf eine ’höhere’ (narrative) Ordnung mehr innehaben.
Damit ist der Zustand der Objektivität erreicht, den das achtzehnte Jahrhundert
für die entstehenden Naturwissenschaften prägte.
parallel lines into five and twenty equal parts, every fifth line black, the other red. I then cut
them perpendicularly by other lines that I draw from the top to the bottom of the page, as you
may see in the table prefixed. (…) This is the index to the whole volume, how big soever it may
be”. Locke, A new Method of a Common Place Book, S. 336.
26 Dies war der Fall bei Winckelmanns ,Bearbeitung’ von Bayles Dictionnaire historique. Vgl.
Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 76; für
andere Exzerpte aus Exzerpten: ebd., Bd. 72, fol. 176–191. Siehe dazu auch Elisabeth Décultot:
J.J. Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris, 2000, S. 64.
27 Staffan Müller-Wille/Sara Scharf: „Indexing nature: Carl Linnaeus (1707–1778) and his Fact-
Gathering Strategies”, a.a.O.
28 Carl Linnaeus: Species plantarum, first draft, Ms “Gentiana”, Linnean Society of London,
1746. Zit. b. Müller-Wille/Scharf, S. 34.
250 | 3 Jean Paul
Interessant ist nun, dass die membra disiecta der erschöpfenden Katalogi-
sierung der Natur wiederum in eine sinnhafte, narrative oder symbolische Ord-
nung gebracht werden müssen: Erasmus Darwins ,Wissenschaftslyrik‘, über-
haupt die Lunar Society in Birmingham und andere dissenters oder ,orthodoxe‘
Projekte wie das der Physikoteleologen, später die Restitutionsversuche bibli-
scher Mythen eines Jean-André DeLuc durch dezidiert und demonstrativ durch-
exerzierte exakte Naturwissenschaft: all dies deutet auf eine Gegenbewegung
zum Projekt der willkürlichen Lokalisierung des Wissens im Exzerptarchiv.
Die Exzerpt-Technik Jean Pauls und die ihr entspringende Kombinatorik iso-
lierter narrativer Elemente nun ist lesbar als Versuch der ,Re-Narrativisierung‘
der zeitgenössischen Katalogisierungen. Die ,freie‘ Assoziation, die Elemente des
common-place-books verbindet, restitutiert eine als sinnfällig erfahrbare, also
nicht: katalogisierte Natur. Dadurch, dass dem ,information retrieval‘ aus dem
Index eine assoziativ-produktive Komponente innewohnt – Jean Paul nannte es
,Ideenwürfeln‘ – wird den kombinierten paper tools eine eigene ad-hoc-Bedeu-
tung zuerkannt. Was Jean Paul (und Lichtenberg) aber etwa von DeLucs Projekt
einer ,Naturwissenschaft zurück zur Natur‘ unterscheidet ist der physiologische
Monismus, der die sinnstiftenden Assoziationen steuert. Dieser wird zu keinem
Zeitpunkt aufgegeben. Für Jean Paul ist Wissen ein Zufallsprodukt des assozi-
ierenden Gehirns. Es hat ausschließlich die Funktion, die poesis mentaler Pro-
duktivität mit Inhalt zu füllen.
Wer sich mit Handschriften Jean Pauls beschäftigt, stößt schnell auf Rand-
markierungen unterschiedlicher Art. Hier ist von Bedeutung, dass die Zahlen Teil
eines elaborierten Verweissystems sind, zumeist beziehen sie sich auf ein Regis-
ter, das Jean Paul von den Exzerpten angefertigt hatte. Die Größe des Registers
machte es, laut Vita-Buch, sogar notwendig, für dieses ein weiteres Register
anzufertigen – eine Möglichkeit, die in den Ratgebern Lockes und Morhofs gar
nicht in Erwägung gezogen worden war: „Schreib an jeden Exzerptabsatz eine
Nummer, diese Nummer schreib dir z.B. über Weiber auf; ein Blättgen u. dan zieh
es heraus“ (Vita, Faszikel 10, Heft 3, Bl. 29 recto, nr. 42). Das Vita-Buch gibt
eindrucksvolles Zeugnis darüber ab, wie groß der Arbeitsaufwand für die Ord-
nung und Archivierung des Materials war. Laut Zeitzeugenberichten gab es einen
größeren Beistelltisch, auf dem die wichtigsten ,Nachschlagewerke‘ und Samm-
lungen, also die Gedankenhefte, Register und das Vita-Buch standen. Hier konnte
Jean Paul ,hinlangen‘ („Eben lange ich nach Vita hin“) und die stockende
Schreibideation wieder in Fluss bringen. Das zugehörige Prinzip hat er im so
genannten ,grünen Erfindungsbuch‘ (Faszikel 9) eingeführt: „Gieb einmal Ideen-
Würfel heraus. – auf eine Monatsschrift“ (Faszikel 9, Bl. 41 recto).
Ralf Goebel hat bei seiner verdienstvollen Sichtung und teilweisen Neuord-
nung des Nachlasses (unter ausdrücklicher dankbarer Benutzung der Berend-
schen Vorarbeiten) Heft 7 in Faszikel 9 mit dem Arbeitstitel ,Ideenwürfeln‘ be-
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 251
Es ist deutlich, dass hier nach den Gesetzen der Assoziation Einträge aus den
Exzerptheften verknüpft worden sind. Das Vorgehen ist also nicht analog zum
bürokratischen Schreiben der Registerartikel zu sehen, die auf ähnliche Weise
die Exzerpthefte ,überblicken‘. Die Registerartikel, von denen uns Götz Müller
fünf Beispiele vorstellt,30 haben trotz ihrer abbreviativen Kürze durchaus noch
den Anspruch auf Vollständigkeit und ,ideentopische‘, memorative Funktion.
Das Konzept des Ideenwürfelns dagegen ist es, ausschließlich assoziativ vorzu-
gehen.
Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten ergeben sich dementsprechend
zwischen Lichtenbergs und Jean Pauls Wissenschaftsverständnis? Besonders die
umfangreichen Exzerpte zur Geschichte, aber auch zur Medizin des Letzteren
haben durchaus den Zweck, in der ,Ideenkopulation‘ der fiktionalen Prosa, aber
auch in den ambitionierten Aufsätzen zu medizinischen Themen besonders in
der Frühphase neue Zusammenhänge zu stiften, naturwissenschaftliche Hypo-
thesen aufzustellen. Bei Lichtenberg dagegen herrscht das Paradox des metho-
disch ungerichteten Fragens. Ihm ist die Klassifizierungswut des achtzehnten
Jahrhunderts prinzipiell fremd; stattdessen vertraut er auf seine physikalischen
Instrumente, deren Beschaffenheit sowie Funktion und deren ungewöhnliche
Kombination in Gedankenexperimenten neue Hypothesen generieren können.
Diese Instrumente werden, wie wir in dem propädeutischen Fragenkatalog Drei-
hundert Fragen an einen jungen Physiker sahen, zu Gedankeninstrumenten trans-
formiert, kognitive tools statt paper tools.
Nun wird sowohl bei Lichtenberg als auch bei Jean Paul auf barocke Flori-
legien-Sammlungen, etwa Harsdörffers apophtegmata, verwiesen. Diese histori-
3.2.5 Arbeitsblätter/Inventare
Gut möglich, dass die Exzerpttechnik und die wiederkehrende Lektüre der ei-
genen Aufzeichnungen fremder Quellen, die sich Jean Paul laut Vita-Buch zeit
seines Lebens auferlegt, auch ihren Grund in der Armut findet, die es dem jungen
Autor unmöglich macht, Bücher zu erwerben. In Moritz’ Anton Reiser und Nico-
lais Nothanker spielen Buchhändler bekanntlich eine sinistre Rolle, sie nutzen
die Wissbegierde der Novizen, um sich zu bereichern. Selbst Lichtenbergs Kun-
kel ist undurchsichtig, der Gilde der ,schwarzen Kunst‘ der Buchdruckerei zuge-
hörig. Auch bei Jean Paul finden sich Passagen, die das Fatum der fehlenden
zwei Taler (Brecht über Moritz’ Reiser) durch die essigsauren Idyllen hindurch als
eigene Erfahrung sichtbar werden lassen. Das Schulmeisterlein Wutz, der Tanz-
lehrer und einige andere Figuren erschreiben sich eine eigene Bibliothek samt
Rezensionen und Nachschlagewerken. Auch Fibel gehört zu diesen Orbis-Pictus-
Autoren, die sich die Welt mit eigenen Alphabeten (Büchern) erschließen. Letzt-
lich lässt sich auch die Schreibpädagogik, wie Moritz sie in seinem ABC-Buch und
Jean Paul sie in Levana entwickelt, als autoproduktives, ,konstruktivistisches‘
Programm der Weltaneignung lesen.
Im Jahr 1792 wird diese Phase der Vergangenheit angehören, Moritz wird
seine enthusiastische Reaktion auf die Unsichtbare Loge übermittelt, Jean Paul
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 253
wird wenig später in Weimar – bei Herder und Wieland – reüssiert haben: Die
Geschichte des Erfolgsautors hat begonnen. Das Erstaunliche ist, dass Jean Paul,
ob aus vorgegebenem oder tatsächlichem Zeitmangel heraus –„So sitz’ ich hier
und schreibe unmäßig und bin von niemand gelesen: denn ich selber habe dazu
wenig Zeit und kaum genug zum Schreiben“ (Paling, 737) – die alte Technik
beibehält. Das Inzestuöse der Ideenkopulation, die Jean Paul mit genau der Im-
plikation in vielfältige Bilder gegossen hat,31 bleibt das Produktionsprinzip. In-
sofern ist es in der Tat so, dass die Inventare und die Skizzenblätter, von denen
ich reiches Material aus dem Leben Fibels und den Vorarbeiten zum Hesperus
präsentieren werde, jeweils das Gesamtwerk, das eine „Selbstbiographie“ ist, im
Auge haben. „Ich habe nur 1/4 meines Namens übersetzt“32 lautet die immer
wiederkehrende Figur in den Reflexionstexten; „Viktor (also ich)“, die Aufteilung
in Valt und Wult, die der Funktion der Gehirnkammern in einen Teufel und einen
Engel entspricht: alle sind Bestandteile einer ,großen Konfession‘, die ausdrück-
lich darauf verzichtet, mit den Wissensbeständen der vergangenen Jahrhunderte
– im Zug eines kulturellen Lernens durch Schreiben etwa – in Austausch zu
treten.
Man kann davon ausgehen, dass ein Großteil der Metaphern und Charaktere
sowie eine Vielzahl der Handlungselemente der großen Romane der 1790er-Jahre
sowie der Erzählungen der beiden nächsten Jahrzehnte bereits in den Exzerpten
und in den Arbeitsnotizen zum Hesperus und zum Titan vorliegen. Freimütig
bekennt sich der Autor zum Prinzip der Wiederholung: „Allein da ein Autor
leicht wissen kann, was er sagt, aber nicht, was er gesagt hat in frühern Werken:
so werd’ ich oft manche Gleichnisse, wie Erisichthon seine verwandelte Tochter,
mehr als einmal auf den Markt treiben, weil ich mich unmöglich den ganzen Tag
lesen und so viele Trillionen Gleichnisse memorieren kann“ (Konbio, 1067).
Neben den Exzerptbüchern, über die ich bis jetzt gehandelt habe, ist ein
Überblick über die ,bürokratischen‘ Arbeitsschritte, die Jean Paul – darin Goethe
verwandt – vor die Niederschrift von größeren Romanprojekten setzte, unab-
dingbar. Besonders wichtig sind hier Notiz- und Arbeitsblätter, die Jean Paul
Jungenda, puncta salientia, Paullina, Facienda, Invenienda nannte. Es handelt
sich zumeist, bei den Vorarbeiten zum Hesperus, auf die ich mich hier konzen-
31 „Aus allen Winkeln des Gehirns kriechen verborgene Einfälle hervor, jede Ähnlichkeit, jede
die Stammutter einer Familie von Metaphern, sammlet ihre unähnlichen Kinder um sich, und
gleich einer wandernden Mäusefamilie hängt sich ein Bild an den Schwanz des anderen“. Grön-
ländische Prozesse, zit. n. Berends Einleitung in Jean Pauls Werke (Historisch-kritische Ausga-
be). Berlin 1929, Bd. 1, S. 21. „Lieber Freund, wie die Katholiken schon Jahrhunderte lang mit der
Micl der Maria handeln, so kannst du es mit deiner Dinte wenigstens etliche Jahrzehende, oder
kannst mit deinen Hirnabgängen, wie der Dalai Lama mit seinen Exkrementen, wohl gar dein
Lebelang handeln“ Berend, Einleitung, S. 27.
32 Vita, 712.
254 | 3 Jean Paul
33 Diese Zahl ist eine Schätzung, die ich anhand meiner Sichtungen der Hesperus- (Faszikel 17)
und der Fibel-Vorarbeiten (Faszikel 14) vorgenommen habe. Dass die Würzburger Arbeitsstelle
den Fibel-Vorarbeiten besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist kein Zufall: sie sind ebenso er-
giebig wie die umfangreichen Vorarbeiten zum Titan, aber aufgrund der langen und unterbro-
chenen Schreibphase leichter periodisierbar. Die Gesamtzahl der Autographe stammt von Hel-
mut Pfotenhauer; Vorwort zu Ralf Goebel: Der handschriftliche Nachlass Jean Pauls und die
Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin. Teil 1, Faszikel I bis XV Wiesbaden 2002 (Ka-
taloge der Handschriftenabteilung Staatsbibliothek. Hg. v. Eef Overgaauw, Zweite Reihe: Nach-
lässe, Bd. 6). S. VII.
34 Jochen Golz: Welt und Gegen-Welt in Jean Pauls „Titan“, Stuttgart: Metzler, 1996.
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 255
Abb. 43. Faszikel 1735 Heft 25 Paullina d. 8. August 1792, Bl. 144 recto (am rechten Rand
‚Inhaltsverzeichnis‘ mit den charakterisierten Figuren und den anderen Ordnungsbegriffen Jean
Pauls: Einfälle, oblita, etc.). Seite ist in schlechtem Zustand, oben links Abriss.
1 Liebte die (der?, das?) frivole [???] Wichtig, was [Textverlust durch Abriss] sagte [Textverlust durch
Abriss] [handelte?] wie ein Freier, aber sprach nicht so
2 Er kann[n] [ei]n Frauenz[immer], d[a]s ihn liebt, unmögl[ich] aus M[enschen]lieb[e] aus d[er] Täuschung
reiß[en]
3 Zeige wie er jed[em] erschien: d[urch] Emann[uel] als Dichter
4 – Schreib galant u[nd] elegant – Komisch grob –
5 Er intrigiert zuweil[en] nach d[er] Psychologie, aber dann warf er sich m[it] völl[iger] Aufricht[igkeit] in
d[ie] Arme
6 M[enschen] Sobald er n[ich]t handeln konnte, sah er allen Bosheit[en] gelind zu; Flam[in] red[et] wild.
7 Er dachte bei [?] ans Allgemeine.
8 Warum Swift gemeine Leute liebt.
9 Er ist ein Dichter im Komisch[en] – Mal einmal auf einmal s[ei]ne Fehler
10 Sein Gesicht bleich; Fl[amin]/F[arbe] roth.
11 Er sah sich n[ich]t warm sond[ern] hört sich warm.
12 [Le] Baut hatte n[ich]t d[as] Herz, d[en] Lord z[u] beleidig[en] und s[eine]n Sohn zu fordern.
13 Flucht gern in 1. Entzücken und 2. Rührung.
14 Blos in d[er] höchst[en] Rührung ernsthaft, in d[er] klein[en] n[ich]t.
15 Fluchte in d[er] Rührung.
16 War bloß geg[en] Tugendläugner intolerant
17 Ihm gefiel e[ine] Satire als Kunstverwandte
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 257
Abb. 44. Faszikel 17 Heft 23 Puncta salientia zum II. Roman den 5. Mai 1792, Bl. 123 verso.
Seite in gut erhaltenem Zustand.
258 | 3 Jean Paul
1 Freundschaft vor d[er] Liebe; Liebe in die Zeit der Satire fallend
groß[en]
2 Testament daß er die Güter u[nd] d[as] Vermög[en] nur im
20[sten] J[ahre] bekomme
3 Ein Kammerdien[er] vergibt wie unt[er] d[er] Regents[chaft] alle Stellen usw.
die [in die]
Er sol[l]te ins achte Thüre und zählt die gemalte m[it] und kommt falsch an.
4 Jen(ner) (in) einem halb gebaueten, od[er] halb eingeriss[enen] Gebäude wohnen
5 Feindesquell: 1. Zorn 2. Neid – Stolz – Tugend – Eifer-
sucht – –
6 Jungenda: Satirischer Karakt[er] – Freundschaft – Liebe –
Republik – Ein Zweck – Agathonsche Zweck –
7 Hugo will s[ein]e Geliebte beschü[t]z[en] gegen den Fürst.
8 Zur Zeit d[er] Liebe kriegt er [Atha]marsche Empfindung[en]
9 Ich will vier Halbjahre beschreib[en], e[ins] hielt er in d[er] Stadt, d[em] Land – s[ei]n[e] Frühlingsreise...
10 Er macht e[inen] Gesellen – ist [ei]n Sennenhirt
11 Zwei Freunde entdecken einand[er] in [eine]m süß[en] Au-
genblick ihre nebenbuhlerische Liebe, gerade wo
sie vor patriotisch[en] Entwürf[en] brenn[en].
12 Verkleid[et] sich in [eine]n Harmonika-Herumzieher, um
z[ur] Geliebt[en] z[u] komm[en]
13 Ich bin [ei]n alt[er] Hofkaplan emeritus.
14 D(ie) Schwester weiß nicht, daß Hugo ihr Brud[er] ist – muß
es ihm ab[er] verhehlen, bis z[u] ihr[er] Hochzeit – er
hält ihre schwesterl[iche] Liebe für e[ine] a[ndere] – in der Noth
wirft sie sich an ihn u[nd] nennt ihn Bruder –
er versteht es falsch.
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 259
Besonders mit Blick auf die Handschriften ist die Schreibstrategie der kognitiven
Entlastung erkennbar. In den „Gezeiten schöpferischer Phantasie“, von denen
der Hesperus-Herausgeber der Berend-Ausgabe (Hans Bach) spricht, ist es für
den Autor Jean Paul wichtig, über Techniken und Strategien zu verfügen, ,Pau-
sen‘ der Schreibideation zu überbrücken. Das bedeutet, dass Planungs- und auch
Relektürephasen nicht oder kaum isoliert auftreten. Der Schreibakt wird erkenn-
bar weitergeführt, wenn die Schreibideation ,stockt‘ (wenn keine Versprachli-
chung des mentalen Konzepts möglich ist); es tritt ein Wechsel in der ,Schreib-
rolle‘ auf: vom Autor, der des ,transsubjektiven Sinngehalts‘ des Geschriebenen
sicher ist, zum Protokollanten, der die Prozesse der Ideengenese und Versprach-
lichung aufzeichnet.
In den hier vorgestellten Inventaren lässt sich die Strategie des pausenlosen
Schreibens, die zu einer kognitiven Entlastung führt, am besten nachweisen,
indem man den Wechsel von biographischem Schreiben zu fiktionaler Planung/
Ausarbeitung und vice versa verfolgt. Es ist wichtig festzustellen, dass auf dieser
Ebene der literarischen Produktivität Jean Pauls gerade die Trennung der beiden
kognitiven ,Pfade‘: des biographischen und des fiktionalen, etabliert wird, nicht
die Vermischung, wie sie die großen Romane (Jean Paul tritt als Figur auf etc.)
prägt. Was zählt, ist der assoziative Brückenschlag zwischen den beiden kogni-
tiven Modi, es ist ein produktives, kein ästhetisch-strukturelles Moment. Das ist
auch dadurch nachzuweisen, dass als Interludium zwischen dem Wechsel der
Schreibrollen tatsächlich Schreibepochen des Ideenwürfelns implementiert wer-
den.
Von „Flucht gern in 1. Entzücken und 2. Rührung“ und „Blos in der höchsten
Rührung ernsthaft, in der kleinen nicht“ über „Ich bin ein alter Hofkaplan eme-
ritus“ bis zu „Er ist ein Dichter im Komischen. Mal einmal auf einmal seine
Fehler“ lässt sich das gesamte Spektrum von biographischem Schreiben bis zu
prospektiver Schreibplanung nachweisen, die in einen der kurrenten Schreib-
befehle mündet: die kognitive Verlagerung hat zu einer Entlastung der Schreib-
ideation geführt; der assoziative Brückenschlag zwischen den verschiedenen
und auch räumlich voneinander getrennten Schreibrollen führt zur Genese von
neuen fiktionalen Konzepten (ursprünglich sollte Jean Paul als Hofkaplan oder
als Vaterfigur im Hesperus auftreten, Emannuel als Dichter reüssieren).
260 | 3 Jean Paul
In den Vorarbeiten zum Leben Fibels (Faszikel 14) erscheint der Wechsel zur
biographischen Ebene nun werkimmanent als Schreibmomentum par excel-
lence: der (bei Jean Paul oftmals schreibende) Erzähler, der sich auf die Sitzungs-
berichte der biographischen Akademie beruft, gerät in einen regressus ad infi-
nitum: muss er doch letztendlich auch diese Lebensphase Fibels (das Verfassen
der eigenen Biographie durch den „Ehrgeck“36 Fibel und seine Mitstreiter) mit
einbeziehen und hätte deshalb
„in der Buch-Mitte
Der (fiktionale!) Wechsel zur biographischen ,Matrix‘, für den besonders die the-
matisch verwandte Selberlebensbeschreibung stehen kann, befreit vom narrati-
ven Druck, von der Frage: „Welche Folge ist in die Figuren zu bringen?“37. Bereits
in den hier präsentierten Inventaren zum Hesperus lässt sich diese Schreibstra-
tegie nachweisen.
Jean Paul ist ein emotionaler Autor. Nicht nur seine Figuren haben und zeigen
Gefühle, sondern auch ihr Urheber. Die „widerliche Tränenbrühe“, von der Nietz-
sche sprach, mit der Figuren und Situationen überzogen werden38, das schon
Zeitgenossen irritierende Ausufern in stellare Welten, die forcierte Levitation, die
sich in den Ballonflügen manifestiert, das offensichtliche Buhlen um die weib-
liche Leserschaft in der Figurengestaltung und Handlungsausrichtung sowie in
direkter auktorialer Ansprache: das alles ist eben nicht nur die Erfolgsstrategie
eines Autors, der eine lange Durststrecke hinter sich bringen musste, sondern
Ausfluss einer oder mehrerer Schreibstimmungen. In diese Schreibstimmungen,
so These zwei, hat sich der Autor gezielt versetzt. Jean Paul nutzte Stimulantia,
Musik, (seine) Kinder, Erinnerungen und Träume, um emotionale Gestimmtheit
zu evozieren.
36 Vorwort von Berend zu „Leben Fibels“, Kritische Ausgabe, 1. Abt, Bd. 13, Weimar: Böhlau,
1935. S. 95.
37 Zit. b. Eduard Berend, Vorwort zu Leben Fibels, a.a.O., S. 93.
38 Peter Sprengel (Hg.): Jean Paul im Urteil seiner Kritker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte
Jean Pauls in Deutschland, München: Beck, 1980. S. 56.
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 261
1. Die Wuth, womit ich das gehör[ige] Blatt suchend greifend – bei dem Bewußtsein alles
sanft zu thun – die Sänfte, womit ich bei der Erinnerung die Sache wieder hinlege, wenn ich
nicht gefunden – pp. Ach diese Stelle ist ja meine Darstellung. (Vita, S. 685)
2. ’Jetzt bin ich froh nach, im, mittelst Schreiben’;= was will ich denn sonst? (Vita, S. 696)
3. Das verfluchte Ach. In Schreib-Rührungen fing ich so oft damit an und was bedeutet es?
(Vita, S. 697)
4. Wie ich im höchsten Enthusiasmus sanft (und wüthend) das Papier vom rechten Platz
nehme, um darauf d i e ß zu schreiben (Vita, S. 708)
5. Mitten im Arbeiten kann ich weinend über einen Todesfall fortfahren – ob lustig oder
traurig ist gleichgültig – aber Nachmitt[ags] spür’ ich eine höhere Abmattung als von der
höchsten Anstrengung (Vita, S. 712).
Emotionen spielen nicht erst für Darwin und dann William James eine wichtige
Rolle, sie sind im medizinischen Diskurs der Zeit, besonders bei den Assoziati-
onisten, fest verankert. Bei Hartley verknüpft sich die Wahrnehmung eines be-
kannten guten Arztes mit dem Gefühl des Vertrauens; wenn die assoziative Ver-
bindung durch Wiederholung hinreichend ,festgeschrieben‘ ist, so aktiviert der
Anblick des Mediziners ,automatisch‘ das entsprechende Gefühl. Die produktive
Strategie Jean Pauls geht nun in die umgekehrte Richtung: Emotionen werden
evoziert, um die dazugehörigen ,Auslöser‘ zu aktivieren, wie es in einem Eintrag
aus dem Jahr 1781 zu lesen ist.
Empfindungsassoziation
Eine Idee erweckt die andre, entweder als Grund und Folge, und umgekehrt – oder als Teil
des Ganzen und umgekehrt – oder endlich, weil bei oft mit einander sind erweckt worden.
Wie? Könt’ es nicht eine Empfindungsassoziation geben, wie’s eine Ideenassoziation giebt?
– Ich habe z.B. eine Person oft an einem gewissen Orte sizzen gesehen, die iezt tod ist. Wenn
ich mich nun an eben diesem Orte (wieder) befinde – wenn alle Empfindungen wieder
aufleben, die ich sonst da hatte, wenn iezt meine Phantasie mitwirkt; wird nicht diese
Person als ein Teil dieser Empfindung gegenwärtig zu sein scheinen? Wird nicht das Feuer
der Einbildungskraft mit den iezzigen Empfindungen vergesellschaftet, die Empfindung
selbst erregen? – – Zum wenigsten läßt [sich] hieraus die Ursache von manchen Gespens-
tererschein[ung]en angeben.39
Emotion und Assoziation sind also aufs Engste miteinander verknüpft. Das wird
besonders deutlich anhand des Phänomens der Gedankenstriche. Wie in obigem
Zitat werden sie in den Handschriften oftmals doppelt gesetzt oder schriftbildlich
hervorgehoben. Setzt man mit Berend/Bach die Epochenscheide im Werk Jean
Pauls, vom Satiriker zum satirisch/empfindsamen Autor, um 1790 an, so fällt in
39 Jean Pauls Werke (Historisch-kritische Ausgabe). Berlin 1929, Abt. 2, Bd. 1, S. 69–70.
262 | 3 Jean Paul
der Tat auf, dass sich die Handschrift verändert. Als Prinzip lässt sich formulie-
ren, dass nach der empfindsamen Wende Wortabstände und Buchstabengröße
zunehmen, das Schriftbild ist weniger gedrängt, einige ,gotische‘ (Groß-)Buch-
staben verändern ihre Schreibweise. Auch die Gedankenstriche erfüllen nun an-
dere Funktionen: dienten sie zuvor als Bindemittel der Ideenassoziationen, die
der ,Zufall‘ aufs Papier gebracht hatte, so transferieren sie jetzt emotionale Va-
lenzen zwischen assoziativ aneinandergereihten Sätzen. Dem Zufall der assozi-
ativen Ideengenese wird nun die Emotion als zugrundeliegende induzierende
Stimmung zugeordnet. So zumindest interpoliert es Jean Paul im Rückblick aus
dem Jahr 1821 in der zweiten Vorrede der Unsichtbaren Loge, der berühmten
Gründungsurkunde seiner schriftstellerischen Existenz:
Der Verfasser dieses blieb und arbeitete nach den im 19ten Jahre geschriebenen Skizzen
noch neun Jahre lang in seiner satirischen Essigfabrik (Rosen- und Honigessig lieferte aus
ihr die Auswahl aus de Teufels Papieren), bis er endlich im Dezember 1790 durch das noch
etwas honig-saure Leben des Schulmeisterlein Wutz den seligen Übertritt in die unsicht-
bare Loge nahm: so lange also, ein ganzes horazisches Jahrzehnt hindurch, wurde des
Jünglings Herz von der Satire zugesperrt und mußte alles verschlossen sehen, was in ihm
selig war und schlug, was wogte und liebte und weinte. Als es sich nun endlich im acht-
undzwangisten Jahre öffnen und lüften durfte: da ergoß es sich leicht und mild wie eine
warme überschwellende Wolke unter der Sonne – ich brauchte nur zuzulassen und dem
Fließen zuzusehen – und kein Gedanke kam nackt, sondern jeder brachte sein Wort mit und
stand in seinem richtigen Wuchse da ohne die Schere der Kunst. (Unlog, 15).
Die vier Wesen: ein Gedankenstrich, ein Einfall, ein Zufall, ein Wunsch verändern
in dieser Vorarbeit, die Jean Paul vermutlich 1793, drei Jahre nach der Epochen-
scheide, anfertigte, erkennbar die Schreibstimmung – von der negativen low-
3.2 Jean Pauls Ideenwürfeln | 263
40 Charles Darwin: The Expression of the Emotions in Man and Animals, London: John Murray,
1872. S. 123 ff.
264 | 3 Jean Paul
auf einen automatisierten Mechanismus, der die sich anbietenden Ideen ausliest.
Diesen Mechanismus nannte ich read-out. Besonders im „Ideengewimmel“ eines
Schreibenden wie Jean Paul sind diese ad-hoc und automatisch getroffenen Ent-
scheidungen zentral. Emotionen wirken also nicht nur produktiv auf die Schreib-
ideation, sondern auch auf die Steuerung von Schreibprozessen.
Il y a deux ordres de faits, les faits psychiques et les faits physiologiques ; et ce que le cerveau
offre de particulier, c’est que c’est dans son sein que ces deux ordres de faits se passent.
C’est là ce qui donne aux études sur le cerveau un attrait irrésistible.41
Jean-Pierre Flourens
Träume sind für die Aufklärung eine Provokation. Konnte die Einbildungskraft
noch ins System der Vermögenspsychologie Wolffs, Baumgartens, Meiers, Sul-
zers eingepasst werden, so sind Träume eine unkontrollierbare Kategorie pro-
duktiver Seelenkräfte. Da sie im Konzept der Schulpsychologie, der Anthropo-
logen und später der Physiologen eben deshalb körperlich verstanden werden,
da sie eine seelische Bedeutung nicht haben dürfen, sind Träume gleichsam der
Schauplatz, auf dem der alte Leib-Seele-Dualismus und die Leibnizsche prästa-
bilierte Kalkulierbarkeit, um nicht zu sagen Vernünftigkeit des Ichs ad acta gelegt
werden. Träume lassen sich nicht wie die Einbildungskraft zur Dienerin des Ver-
standes, der in seinem ,geheimen Cabinett‘ verbleibt, herabstufen, weil eben
jenes geheime Cabinett im Schlaf geschlossen ist. Auch die ,Anbindung‘ der
Monade, der Substanz, des seinen Bildern überlassenen Verstandes an die Au-
ßenwelt erfolgt hier nicht mehr; dies aus dem einfachen Grund, weil der Schla-
fende keine Sinneswahrnehmungen der Außenwelt haben kann. Der Schlafende
ist gleichsam das Urprinzip der Verstandesmetaphysik. Schon bei Muratori be-
gegnet uns die Metapher des Magens: der Schlaf und seine Träume verdauen die
Erlebnisse des Tages42.
41 Jean-Pierre Flourens: Psychologie comparée, Paris: Garnier Fréres, 1864, S. 264. „Es gibt zwei
Arten von Phänomenen: die psychischen Phänomene und die physiologischen Phänomene; und
das, was das Gehirn auszeichnet, ist die Tatsache, dass in seinem Bereich beide Arten von
Phänomenen stattfinden. Das ist es, was der Erforschung des Gehirns einen unwiderstehlichen
Reiz verleiht“ (m.Ü., JL).
3.3 Jean Pauls Biographie | 265
Wie kann das Denken, jener Exerzierplatz und Paradelauf des Ichs, derart
mechanisch vorgestellt werden? William Harvey hatte bereits 1628 den Kreislauf
und damit die Funktionsweise des Herzens und der Lunge entdeckt; besonders
bei Georg Ernst Stahl und Nachfolgern geraten Mitte des achtzehnten Jahrhun-
derts autonome Regulationssysteme des Körpers in den Blick. Dass diese wie-
derum an eine metaphysische Kategorie, vis animalis, zurückgebunden wurde,
sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier, vorgreifend auf die Physiologen
des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts, das Konzept der bewegenden und
bewegten Kraft verlassen wird. Die ausufernde Diskussion um den Bau, die
Funktion und das Zusammenspiel der Nerven zeigt nur zu deutlich, dass me-
chanische Prinzipien nicht mehr greifen. Schon bevor Marshall Hall 1833 den
Reiz-Reaktions-Bogen und damit ein schlagendes Beispiel für ,ungesteuerte‘ Re-
aktionsschemata des Körpers entdeckt,43 verbreitet sich Skepsis, ob der Traum
tatsächlich nur ein ,Nachschwingen‘ der Sinneserregungen des Tages sei. Johann
Gottlob Krügers und Unzers Abhandlungen über die Träume sind hier beredt.
Wenn der Traum produktiv ist: woher kommen seine Inhalte? In der Diskus-
sion um Trugbilder, Halluzinationen und Sinnestäuschungen zeichnet sich eine
Lösung ab, die auf der physiologischen Basis des Phänomens besteht und gleich-
sam in einem zweiten Schritt ein ,inneres‘ oder ,subjektives‘ Sehen postuliert.
Das Besondere an diesen Physiologen der ersten Stunde, die sich genau auf der
Schwelle zwischen ,empirischer Psychologie‘ und Medizin sahen44, ist die ,Ret-
tung‘ produktiver mentaler ,Zustände‘, bei gleichzeitiger Rückbindung dieser
Phänomene an das Somatische. Johannes von Müller geht soweit, Phantasie als
notwendiges Konstruktionselement sinnhafter Welt zu etablieren und dergestalt
gegen die klassische Assoziationspsychologie zu positionieren. Sinnesdaten sind
per se assoziativ generiert. Die fortschreitende, nicht terminierbare Konstruktion
von Gestalten und ,Sinneinheiten‘ erfolgt via mentaler Zurüstung.
Die Physiologie betrachtet alle Erscheinungen in der Form der Vision, die nur dem Visionär
allein sichtbar sind, als subjektive Äußerungen des innern Sinnes. Denn die objektive
Vision oder die Vision, welche einen objektiven Grund hat, fällt mit dem gewöhnlichen
Sehen zusammen, und eine Erscheinung dieser Art muß jedem, nicht bloß dem Visionär
sichtbar sein. Wenn daher eine objektive Vision etwas Wunderbares hat, so liegt das nicht
in der Vision selbst, sondern in dem, was die Vision erregen kann, dadurch, daß es das
Sehorgan affiziert. Dieses in dem Objekt liegende Wunderbare geht die Physiologie gar
nichts an. Aber die subjektive Vision, die nur dem Visionär Objektivität hat, unsichtbar
jedem anderen, gehört nur vor die Tribüne der Physiologie45.
42 Ludwig Anton Muratori: Über die Einbildungskraft des Menschen. Mit vielen Zusätzen, hg. v.
Georg Hermann Richerz, Leipzig, 1785 (zuerst Venedig 1745). Bd. 1, S. 214 ff.
43 Marshall Hall: „On the Reflex Function“. Literature and Science in the Nineteenth Century, hg.
v. Laura Otis, Oxford: Oxford University Press, 2002.
44 Siehe das Vorwort Johann Evangelista Purkinjes in Ders.: Beobachtungen und Versuche zur
Physiologie der Sinne, Prag: Calve, 1823. 1. Band.
266 | 3 Jean Paul
Es ist Franz von Paula Gruithuisen, der zuerst ein physiologisches Substrat für
diese subjektiven Sinnkonstruktionen dingfest macht. Seiner These einer inne-
ren Netzhaut folgen im wesentlichen sowohl Purkinje als auch Johannes Müller:
Aus allem geht zugleich hervor, daß die inneren Theile der Sehsinnsubstanz den äußeren
der Netzhaut in Hinsicht der Räumlichkeit des subjektiven Sehfeldes entsprechen, daß
gewisse Theile der innern Sehsinnsubstanz identische Fortsetzungen gewißer Theile der
Netzhaut sind.46
Purkinje geht soweit, jedem Sinn seine spezifischen produktiven mentalen Kom-
ponenten zuzuordnen:
Zunächst diesem läßt sich behaupten, daß Gedächtnis und Einbildungskraft in den Sin-
nesorganen selbst thätig sind, und daß jeder Sinn sein ihm eigenthümlich zukommendes
Gedächtnis und Einbildungskraft besitze die als einzelne begränzte Kraft der allgemeinen
Seelenkraft unterworfen wird.47
ohne körperliche Hülfe das Fibern-Gehwerk und das geistige Repetierwerk wieder im Gang
(Kamptal, 604).
Es verdient, festgehalten zu werden, dass der Autodidakt hier bereits auf ein
Problem hinzuweisen scheint, dass bis heute die zuständigen Disziplinen unter
dem Begriff ,Repräsentation‘ behandeln, also ob es eine mentale Ebene oberhalb
neuronaler Aktivität gibt und wie diese Außenwelt- und Ich-Erfahrung ,herstellt‘.
In der Tat ist bei den Physiologen und damit bei Georg Christoph Lichtenberg und
Jean Paul die Abkehr von den materiellen Konzeptionen mentaler Repräsenta-
tion zu beobachten, wie sie Ernst Platner noch 1790 in der „neuen Anthropolo-
gie“ mit den „wandernden Bilderchen“ vorsah49. Spricht man über die somati-
schen Substrate des subjektiven Sehens, so verlässt man die mentalen Rahmen,
mit denen wir die äußere Welt konstruieren. Man muss kein Anhänger des neu-
ronalen Monismus sein, um anzuerkennen, dass die generativen ,Regeln‘, nach
denen Außenwelterfahrung konstruiert wird, andere sind, als diejenigen, die wir
konstruieren, um deren Funktionsweise zu verstehen. Die Physiologen Johannes
Müller, Johannes Evangelista Purkinje und Jean-Pierre Flourens sind die ersten,
die auf dieses Problem hinweisen und damit ein ganzes Metaphernarsenal, das
von Aristoteles herreicht, in den Bereich historischen und archivarischen Inter-
esses verschieben.
Die black box, die sich durch diesen Verzicht auf das Metaphernarsenal der
Einschreibung, der Spur, der Irritation, des Bildes auftut, lässt sich durchaus als
epistemisches Hindernis im Sinn Bachelards beschreiben50. An diesem episte-
mischen Hindernis arbeiten sich Lichtenberg und Jean Paul, die Experimental-
Autoren des späten achtzehnten Jahrhunderts, ab. Das epistemische Hindernis
wird so, durchaus analog zu Bachelards psychoanalytischer Lesart der Genese
wissenschaftlicher Erkenntnis, insofern als Poetikum gewendet, als nun neue
Metaphern und Beschreibungsrahmen kreiert werden, um die black box mentaler
Repräsentation zu füllen. Diesen Metaphern- und Beschreibungsrahmen eignet
aber nun der epistemische Bruch, den die Physiologie mit sich brachte; sie ver-
suchen, das körperliche Substrat mentaler Repräsentation mit zu denken. Die
„organische Conformation“51 die „innere Offenbarung unserer Organe“52 sollen
Bestandteil des Zusammenspiels von Schreibmotorik und Schreibideation, von
Fingergedächtnis und zerebralem Schreibzentrum werden.
Einer der Hauptvertreter der kurzen hausse der Physiologie im neunzehnten Jahr-
hundert war Johannes von Müller. Er wurde gegen die romantische Medizin in
Berlin als Lehrstuhlinhaber installiert, obwohl seine Bonner Anfänge durchaus
im Gefolge der Romantik, besonders Johann Christian Reils, zu sehen sind.
Johannes Müller verehrte Goethe, und seine Schriften durchziehen Hom-
magen an das Vorbild. Müller muss, so Laura Otis in ihrem Band Müller’s Lab 53,
eine außergewöhnlich schöpferische, ja rastlose Persönlichkeit gewesen sein. Er
hat eine ganze Generation von nachfolgenden Medizinern (du Bois-Raymond,
Virchow und andere) mit seinem Denkstil und seinen Forschungsinteressen be-
einflusst. In Müllers Labor nun, in dem die epistemischen Objekte der führenden
Generation der Physiologie kreiert wurden, scheint ein außergewöhnliches In-
teresse an schöpferischer Phantasie, Kreativität und Assoziation geherrscht zu
haben. So methodisch unangreifbar Müller als Mediziner agierte, so lassen sich
doch immer wieder, mit Rekurs auf Goethe, Parallelen zwischen naturwissen-
schaftlicher Objektivität und ästhetischer Evidenz nachweisen. Besonders in
dem Band Über die phantastischen Gesichtserscheinungen von 1827 findet sich ein
erstaunlicher Absatz, auf den ich mich hier konzentriere: „Das Eigenleben der
Phantasie“:
Wenn die Phantasie das Ähnliche und zugleich das Entgegengesetzte assoziiert, wo ist
denn das Lebensgesetz der Phantasie, durch welches begreiflich wäre, wie sie beides tun
kann, ohne anders als in ihrem Leben tätig zu sein? In den sogenannten Assoziationsge-
setzen liegt das Gesetzmäßige bloß in dem Inhalt der Vorstellungen, in den Objekten der
Assoziation, nicht aber in dem Assoziierenden, in der Phantasie selbst, und die empirische
Psychologie wiederholt hier, was sie immer getan hat, sie stellt Beziehungen zwischen den
Produkten auf und lässt das Leben des produzierenden Geistes gehen.54
Wenn man diese Erörterungen über die Assoziationsgesetze liest, so sollte man glauben,
das Leben der Phantasie wäre nicht ein lebendiges Schaffen, sondern nur selbst die nach
gewissen Gesetzen der Wahlverwandtschaft sich anziehenden und abstoßenden Vorstel-
lungen, gleichsam als wäre eine gewisse Attraktivkraft zwischen den fertigen Vorstellun-
gen das allein Lebendige. Die Phantasie ist dieser Psychologie ein Unendliches von Vor-
stellungen, die untereinander in Beziehung stehen und wovon immer nur eine vorüber-
gehend ins Bewusstsein fällt. Die Beziehung zwischen dem Inhalt des Lebens wird hier das
Lebendige selbst genannt. Dieses Fertige der Vorstellungen ist der empirischen Psychologie
in der Lehre von der Phantasie durchaus ein Notwendiges, und deswegen ist es ihr auch nie
gelungen, der produktiven, schaffenden Einbildungskraft beizukommen, als durch die
Erklärung, daß sie eben wieder aus der Verbindung der fertigen Vorstellungen lebendig sei.
Die Phantasie ist auf diese Art in ihrem Fortschritt in immerwährenden Sprüngen von
fertigen Vorstellungen begriffen.55
Die Phantasie, in ihrer lebendigen Wirksamkeit ewig ihre Objekte in schneller Flucht und
wie in einem Strome wechselnd, ist in diesem Wechsel nur nach einem einfachen Lebens-
gesetze tätig. Sinnliches Vorstellen ist ihre Energie, das sinnlich Vorgestellte immer zu
verändern, zu beschränken, zu erweitern ist das Lebendige in ihrer Energie. Man kann ein
äußeres sinnliches Objekt nicht betrachten, ohne in ewiger Veränderung bald dieses, bald
jenes erweiternd, beschränkend sich lebhafter einzubilden, wir können eine zusammen-
gesetzte architektonische Figur nicht beschauen, ohne eine immerwährende Abstraktion
der sinnlichen Vorstellung, welche bald diesen, bald jenen durch den ganzen durchstre-
benden Elementarteil im Sinne festhält. Hier ist uns nur die der Phantasie notwendige
Veränderung ihres Objektes erkennbar, ihr lebendiger Fortschritt im Erweitern, Beschrän-
ken des sinnlich Aufgefaßten56.
[H]ier ist kein Springen und Hüpfen von Assoziiertem zu Assoziiertem, sondern ein im-
merwährendes Erweitern und Beschränken des sinnlich Vorgestellten, in dessen kontinu-
ierlichen Fortgang die erinnerten Vorstellungen fallen. Die Assoziation besteht also hierin
nur in der Subsumtion des Einzelnen unter ein Allgemeines und in dem Bilden des Allge-
meinen zu einem Konkreten. Mit Unrecht sagt man hier, dem ersten Einzelnen wird das
zweite Konkrete assoziiert. Das zwischen beiden liegende Ähnliche oder das Allgemeine ist
ein notwendiger Akt des Fortschrittes.57
Assoziationen sind also laut Johannes Müller keineswegs conditio sine qua non
menschlichen Weltverstehens. Vielmehr sind sie einem komplexeren mentalen
Vorgang aufgesetzt, der gleichsam ,inhaltslos‘ funktioniert und die Relationen
zwischen Entitäten vorgibt, derer sich dann das assoziative Denken bedienen
kann. Man kann sich dies, auch mit Blick auf ältere philosophische Theorien
(Leibniz, Locke, Hume, Helvetius) als ein set generativer Regeln vorstellen, die
bei Bedarf zur Verknüpfung von Sinnesdaten via Assoziation herangezogen wer-
den. Genau dieses set generativer Regeln wird im Traum dazu verwendet, aus
abgelegten Sinnesdaten Episoden zu generieren. Weder James Mill noch John
Stuart Mill noch Alexander Bain, keiner der ,modernen‘ Assoziationspsycholo-
gen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ordnet assoziative Tätigkeit dem
Traum zu: mit gutem Grund; es ist in der Tat unklar, was die Billardkugeln, um im
Bilde David Humes zu bleiben, in Bewegung setzt, also was der Auslöser der
gesetzmäßig ablaufenden assoziativen Serie sein könnte. Eine Art selbstgenera-
tives Prinzip ist hier vonnöten, das aber – das ist wichtig – „eine materielle, in
der zarten Nervenmasse organisierte Grundlage besitzen“ muss.58
Nun fällt Jean Pauls lebenslange Beschäftigung mit Träumen und der sen-
suell aktivierten, mental agierenden Phantasie, die ephemere Sinnesdaten zu
sinnvollen Mustern und Gestalten zusammenbringt, exakt in den Zusammen-
hang des skizzierten epistemischen Bruchs durch die Physiologie. Zwar werden
Addison nennt die Träume selber träumerisch-schön den Mondschein des Gehirns; diesen
wirft nun, wie ich beweisen werde, eben unser Satellit und Mond aus Fleisch. Die psy-
chologischen Erklärungen sind kaum halbe. (Briefe, 972).
59 Johann Christian August Heinroth: Lebensarbeiten oder mein Testament für Mit- und Nach-
welt, Leipzig: Wiegand, 1845.
60 Ludger Lütkehaus: Dieses wahre innere Afrika. Texte zur Entdeckung des Unterbewussten vor
Freud, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989.
3.3 Jean Pauls Biographie | 271
Die Auferstandenen oder Revenants der Empfindung müssen ihre Sprache aus dem Wa-
chen in den Traum mitbringen und also mit dem Ich zu sprechen scheinen, das sie sprechen
lässt. Hier nun, besonders mehr bei den Worten als den Tönen, tritt der Geist auf, nicht
bloßer Zuschauer und Zuhörer seines Gehirns, sondern als Bilderaufseher und Einbläser
der Empfind-Bilder, kurz als der zweite Mitarbeiter am Traume. (Museum, 1043).
Warum hat sich noch niemand darüber verwundert, daß er in den Scènes détachées des
Traums den agierenden Personen wie ein Shakespeare die eigentümlichste Sprache, die
schärfsten Merkworte ihrer Natur eingibt, oder vielmehr dass sie es ihm soufflieren, nicht er
ihnen? Der echte Dichter ist ebenso im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der Sprachlehrer
seiner Charaktere, d.h. er flickt nicht ihren Dialog nach einem mühsam gehörten Stilisti-
kum der Menschenkenntnis zusammen, sondern er schauet sie wie im Traum lebendig an,
und dann hört er sie. (Briefe, 979).
Daß die Traumstatisten uns mit Antworten überraschen, die wir ihnen doch selber inspi-
riert haben, ist natürlich: auch im Wachen springt jede Idee, wie ein geschlagener Funke,
plötzlich hervor, die wir unserer Anstrengung zurechnen; im Traume aber fehlt uns das
Bewusstsein der letztern, wir müssen also die Idee der Gestalt vor uns zuschreiben, der wir
die Anstrengung leihen. (Briefe, 979).
Nun gibt es in Texten des späten achtzehnten Jahrhunderts eine Metapher für
den Übergang vom suchenden zum findenden Schreiben: die Schildwache. Diese
Metapher lässt sich bei Hippel, Nicolai, Jean Paul und einigen Popularschrift-
stellern nachweisen. Immer handelt es sich um den Übertritt in die dichte
Schreibideation, die aus den verschiedensten Gründen von der Schwellenwache
verweigert werden kann. „Hoch die Schranke“, fordert Hippels Erzähler und
macht damit der Kleinstaaterei der vereinzelten Gedanken ein Ende. Jean Paul,
der für sich in Anspruch nahm, bewusst träumen zu können – er nannte dies
„Wahl- oder Halbträume“ (Museum, S. 1034) – verfolgt mit dieser Strategie, jene
Schranke blockierter Schreibideation gleichsam zu unterlaufen.
„Gut Freund!“, sagte selber die Schildwache im Schilderhause, welche mich im Schlafe für
eine hielt und dachte, ich fragte: „wer da?“ (Paling, 758).
Die Figuren bewegen sich in diesen Wahlträumen und machen sich hörbar: vi-
suelle und auditive Halluzinationen, wie sie Nicolai und Mendelssohn im Ma-
gazin beschrieben, finden statt, die gleichsam ungesteuert verlaufen. Subjektives
Sehen – und Hören – lässt sich als physiologisch begründbare Tatsache einset-
zen, um Schreibkonzepte zu generieren.
Mir träumte: „ich sagte z[u] Napol[eon], ich wäre nie klüger als im Bette, wenn ich eben von
ihm träumte; denn dan müßt[e] ich ihn er und sei[ne] Gedank[en] selbst erschaffen. (Vita,
Faszikel 10 a, nr. 315, S. 29).
ganzen Abend damit verbringt, die Farbe Rot mit geschlossenen Augen zu evo-
zieren61:
Zu manchen Gestalten, sag ich, aber in einer erhabenen Qual: „Ich wecke mich, so seid ihr
ja vertilgt (Museum, 1036).
Einmal sah ich den verstorbnen Herold; „ich darf nur von dir gehen, so sinkst du in Staub“.
Ich ging, er kam wieder – mein Grausen – ich fragte über 2te Welt: „sie sei, aber anders“. Ich
um zu prüfen ob es ein Traum oder eine Wirklichkeit bat ihn, englisch zu sprechen, weil ich
dann (dacht ich im Traum) es selber machen müsste, wenn ich blos träumte, er würde es
dann nicht können. Er konnt’ es auch nicht sehr. Aber die Erscheinung verlief sich. (Vita,
684).
Wenn ich mich nämlich gegen Morgen mit Gewalt durch meine psychologische Einschlä-
ferungskünste wieder ins Schlafen gezwungen, so bringt mich gewöhnlich ein vorausge-
hendes Träumen, worin ich eine Sache nach der anderen unter dem Suchen verliere, auf
den Gedanken und Trost, daß ich träume. Die Gewißheit, zu träumen, erweis’ ich mir
sogleich, wenn ich zu fliegen versuche und es vermag. Dieses Fliegen, bald waagrecht, bald
(in noch hellern Träumen) steilrecht mit rudernden Armen, ist ein wahres wollustreiches
stärkendes Luft- und Ätherbad des Gehirns; nur daß ich zuweilen bei einem zu geschwin-
den Schwingen der Traum-Arme einen Schwindel spüre und Überfüllung des Gehirns be-
fürchte (Museum, 1035).
Außer schönen Landschaften such’ ich darin, aber immer im Fluge (das bleibende Zeichen
eines Wahltraums), noch schöne Gestalten, um ihnen ohne Umstände in den Augen der
größten Gesellschaft um den Hals zu fallen, weil diese Gesellschaft eben nur mein Traum
ist; leider flieg’ ich aber oft lange nach ihnen vergeblich herum, so daß ich mich einmal in
einem Dorfe des Kunstgriffs bediente, zwei sehr schöne, aber nie gesehene Gräfinnen zu
mir rufen zu lassen, weil die Guten, sagt’ ich, von der nun zum Schönfärben durch das
Traum-Erwarten gezwungenen Phantasie durchaus reizend-gesponnen eintreten müssen
(Ebda.)
In den Wahlträumen Jean Pauls begegnet uns also eine ähnlich bewusste, ,ex-
perimentelle‘ Evokation von Halluzinationen und sinnlichen Fehlleistungen wie
in Purkinjes und Müllers und Goethes Selbstversuchen. Eine Art Verhandeln mit
den Traumstatisten setzt ein, ein phänomenologisches Interesse an dem spezi-
fischen mentalen Zustand. Mehr aber noch fasziniert den schlafenden Schrei-
benden – ein Topos, der sich bis zu Descartes’ Meditationes zurückverfolgen lässt
– die Tatsache, dass die Figuren sich im Traum hörbar machen und dem Schrei-
benden ihre Rede und Rolle diktieren. Dieses Phänomen hat nichts mehr mit den
alten Metaphern der Inspiration gemein, die Friedrich Ohly in einem material-
reichen Aufsatz vorgestellt hat62. Die Wahlträume haben ja wie die Sinnestäu-
schungen eine physiologische Ursache; sie sind evozierbar – und sie sind er-
klärbar. Gleichwohl bergen sie eine, in Johannes Müllers Worten, subjektive Au-
thentizität.
Ganz erkennbar liegt hier ein Paradox vor, mit dem sich die Physiologen
auseinandersetzen mussten. Kann man eine physiologische Grundlage für ein
Phänomen annehmen, das es objektiv nicht gibt? So sicher die bejahende Ant-
wort Müllers und Purkinjes war, so sehr brachte sie doch die junge Disziplin
experimenteller Wissenschaften in Schwierigkeiten: denn die (,lügenden‘) Sinne
des Messenden, Beobachtenden, Protokollierenden sind die einzige Methode,
zur Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen. Im Schreiblabor ex-
perimenteller Autoren dagegen wird die Lizenz, den Schlagbaum zu heben und
dem subjektiven Sehen objektive Evidenz zu verleihen, gern in Anspruch genom-
men. Nun situieren sich die Dinge und bewegen sich die Figuren mit überra-
schender Klarheit und lassen sich dem fiktionalen Stoff einverleiben.
Es ist selten, daß ich nicht vor dem Einschlafen bei geschlossenen Augen in der Dunkelheit
des Sehfeldes mannigfache leuchtende Bilder sehe. Von früher Jugend auf erinnere ich
mich dieser Erscheinungen, ich wußte sie immer wohl von den eigentlichen Traumbildern
zu unterscheiden; denn ich konnte oft lange Zeit noch vor dem Einschlafen über sie re-
flektieren. Vielfache Selbstbeobachtung hat mich denn auch in den Stand gesetzt, ihre
Erscheinung zu befördern, sie festzuhalten.[…] wenn ich diese leuchtenden Bilder beob-
achten will, sehe ich bei geschlossenen, vollkommen ausruhenden Augen in die Dunkel-
heit des Sehfeldes; mit einem Gefühl der Abspannung und größten Ruhe in den Augen-
muskeln versenke ich mich ganz in die sinnliche Ruhe des Auges oder in die Dunkelheit des
Sehfeldes. [...] Wenn nun im Anfang immer noch das dunkle Sehfeld an einzelnen Licht-
flecken, Nebeln, wandelnden und wechselnden Farben reich ist, so erscheinen statt dieser
bald begrenzte Bilder von mannigfachen Gegenständen, anfangs in einem matten Schim-
mer, bald deutlicher. Daß sie wirklich leuchtend und manchmal auch farbig sind, daran ist
kein Zweifel. Sie bewegen sich, verwandeln sich, entstehen manchmal ganz zu den Seiten
des Sehfeldes mit einer Lebendigkeit und Deutlichkeit des Bildes, wie wir sonst nie so
deutlich etwas zur Seite des Sehfeldes sehen. […] Es sind selten bekannte Gestalten, ge-
wöhnlich sonderbare Figuren, Menschen, Tiere, die ich nie gesehen, erleuchtete Räume, in
denen ich noch nicht gewesen. Es ist nicht der geringste Zusammenhang dieser Erschei-
nungen mit dem, was ich am Tage erlebt, zu erkennen.63
Diese Passage stammt aus der Feder des Medizinprofessors Müller, nicht aus der
des Schriftstellers Jean Paul. Sie illustriert, wie sich die physiologischen Fallar-
beiten von denen des Magazins unterscheiden. Sie demonstriert aber auch, dass
das ,innere Afrika‘64 der Sinnestäuschungen und Träume keine unbewusste Bot-
schaft, keinen verschobenen Brief und keine Rebellion gegen die symbolische
Ordnung beinhaltet. Drittens verweist sie nochmals auf das Faktum der poesis
(natur-) wissenschaftlicher Erkenntnis, die sich in den ,Narrativen‘ Johannes von
Müllers exemplarisch zeigt. Geht es beim Schriftsteller um narrative Konzepte
und Figurenprofile, so beim Wissenschaftler um eine möglichst umfassende Be-
Aber an einem Autor schätz ich die Hand am meisten; und an der Hand den Daumen
(Grönprozess, 511).
Der Handschrift sieht man es an, daß man schon vieles und flüchtig geschrieben, die
wankende Hand nicht einmal gerechnet. In den – – – gehet man so sichtbar zurück; das – –
verbuttet und verschimmelt auch; und wie ists mit – bestellt? (Konbio, 1067).
Jean Paul und Lichtenberg ziehen aus dem Bewusstsein des physischen Sub-
strats mentaler Konstruktionsleistung die Gewissheit, dass Schreibideation nicht
steuerbar ist. Es ist sogar vielmehr so, dass ein bestimmter Strang der Schreibsen-
sualität, der bei Herder beginnt65, nun seine empirische Berechtigung erhält:
Der dritte NachMitarbeiter am Traum, welcher die Empfindbilder nach einigen geistigen
Gesichtspunkten zu treiben scheint, ist das körperliche Gedächtnis der Fertigkeit. Wenn die
Hand des Tonkünstlers, der Fuß des Tänzers zuletzt eine Kunstreihe von alten Bewegungen
zu geben vermögen, ohne bewußte Einmengung des Geistes, welcher nur die neuern
schwerern befiehlt und erzeugt: so muß im Reiche des Gehirns dieselbe Kunstreihe kör-
perlich-geistiger Fertigkeiten durch den Traum erstehen können, ohne einen größeren Auf-
wand geistiger Regierung, als im Wachen ist; ein leichter Seelenhauch im stillen Träume
treibt das ganze körperliche Windmühlenwerk wieder zum Gange (Museum, 1044).
Die Schreibgeste, die Lessing dazu bringt, mit der linken Hand zu schnippen,
während er mit der rechten schreibt, ist hier wieder aufgenommen66: wenn, in
Hartleys Terminologie, nervöse Vibrationen zu „vibratiuncles“ oder „miniature
vibrations“ im Gehirn führen67, so ist es denkbar, dass die automatisierten mo-
torischen Muster assoziative Verbindungen im Gehirn aktivieren – so die erstaun-
65 Siehe dazu Jens Loescher: „Herr Autor, darf man wohl um die versprochne lange, lange
Erzählung bitten? Schreibszenen und Schreibtypen in der Spätaufklärung“, Sprachkunst,
Bd. 40/1, 2009. S. 28 ff.
66 In einem Brief aus Breslau an Nicolai vom 22.10. 1762 heißt es, er brauche die Bücher, absolut
und gleich; die rechte Hand schreibt ,absolut‘, die linke schnippt mit den Fingern dazu (Sämt-
liche Schriften, hg. v. Karl Lachmann/Franz Muncker, Leipzig, 1904, Bd. 17, S. 193).
67 David Hartley: Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations, London, 1749.
S. 60.
3.3 Jean Pauls Biographie | 275
Das Mechanische, daß das Schreiben zu haben scheint, fällt also ganz weg, und wird mehr
ein nach dem Nervensystem der Hand sich richtender Ausdruck im Buchstaben.69
Wie jeder Mensch nur eine Physiognomik hat, so hat er auch nur eine Handschrift – wie nur
einen Charakter: so auch nur einen Ausdruck desselben.70
Die Anthropologie hat noch keinen sichern Maßstab, wonach sie die Reizbarkeit, Empfind-
lichkeit des Nervens bestimmen, und hieraus die Empfindlichkeit des Charakters angeben
könnte. – Ich glaube, daß die Handschrift wohl der sicherste, bestimmteste und zugleich
sinnlichste Maßstab dafür sein könnte.71
68 GNOTHI SAUTON oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und
Ungelehrte : Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben, Berlin: bei August
Mylius, 1791, hg. v. Moritz/Maimon/Pockels, Bd. 9, H3. S. 49.
69 Magazin, a.a.O,. S. 50.
70 Magazin, a.a.O., S. 53.
71 Magazin, a.a.O., S. 55.
72 Ulrich Bräker, zit. n. Alfred Messerli: „Bräkers Schreibprogramme. Schreibmotive und
Schreibpraktiken in seinen Tagebüchern“. Schreibsucht. Autobiographische Schriften des Pietis-
ten Ulrich Bräker (1735— 1798), hg. v. Alfred Messerli/Adolf Muschg, Göttingen, 2004. S. 42.
73 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis
und Menschenliebe, Leipzig: Weidmanns Erben, 1778. Viertes Buch, S. 12–15.
74 André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frank-
furt a.M., 1980.
276 | 3 Jean Paul
Der satirische, polyhistorische Jean Paul nun lässt sich diese Möglichkeit,
„iedem (...) Begriff durch eine barbarische Benennung eine neue Wichtigkeit [zu,
JL] verschaffen“, nicht entgehen (GrönProzess, 353). In den Grönländischen Pro-
zessen führt er den „Beweis, dass man den Körper nicht blos für den Vater der
Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe, und dass vorzüglich die grös-
ten Geistesgaben die rechte Hand zur glandula pinealis gewählet“.
Ich eine Schreibmaschine. Ich kann nichts weiter thun als mich ärgern u. an meinem Buch
fortschreiben, weil ich gerade 4 Uhr gezählt u. ich also noch bis es 8 schlägt noch 4 Stunden
zu passieren habe. Ich stand zu bald auf weil ich den Mondschein mit dem Tag vermengte;
die Reformatoren in Wien verwechs. es auch täglich; aber sie ärgern sich nicht darüber: Im
Grunde sitzt an allen Schreibtischen Europas, die das beste Glacis gegen die Barbarei sind,
kein so sonderbar ämsiges Wesen als an meinem. Ein a. würde sich immer zu stark aus-
drükken; ich nie: Ich kann es nicht ganz billigen, wenn Droz und Sohn sich hinsetzen und
außerordentlich viel für diese Welt mit ihren Maschinen gezimmert zu haben [behaupten].
Das Kind schreibt manches und hält seine Feder. Aber was schreibe ich? allen Teufel; es
sind mir alle Wissenschaftler einerlei; u. wenn ich sie auch nicht verstände: das Schreiben
darüber verstände ich doch allemal.75
Vor diesem Übel würde uns die Erfindung einer Schreibmaschine am besten schützen,
welche dem Autor die Zusammensetzung der Buchstaben eben so sehr erleichterte, wie die
Rechenmaschine die Zusammensetzung der Zahlen, und welche die Bücher so mechanisch
schrieb, als sie die Presse druckt (Grönprozess, 512).
Aber an einem Autor schätze ich die Hand am meisten; und an der Hand den Daumen. Mit
Recht entziffert Lavater aus der Inskription des Daumens den Werth seines Besitzers und
ein noch ungedruckter Traktat von mir erhebt ihn zum Mikrokosmos in nuce. Wenn das
Denken einen Gleis auf der Stirne fährt; so hinterläst das Schreiben eben dasselbe Zeichen
der Geistesanstrengung auf den Daumen, und Bayle erzählt von Sebastian Maccus, einem
Poeten des siebzehnten Jahrhunderts, daß sein Kiel, den er nie ruhen ließ, tiefe Furchen in
seinen Daumen und seine Schreibefinger gezogen. (Grönprozess, 512).
Diese Passagen aus den Grönländischen Prozessen und aus Exzerpten, die sich
als unmittelbare Vorarbeiten zu den Satiren darstellen, demonstrieren die Viel-
schichtigkeit der Jean Paulschen Poetik: die Umdeutung der Logik in eine phy-
siologische Psychologie assoziativen Denkens und die satirische „Entwirkli-
chung der Wirklichkeit“ (Karl Riha), also die Montage von Wissenselementen in
einen ,willkürlichen‘, assoziativ festgelegten Kontext. Letztendlich sind die Wis-
senselemente, die der Polyhistor exzerpiert, nicht durch ihren Inhalt erinner-
und kombinierbar, sondern die Kontiguität, die zeitliche Abfolge des Schreibens
oder Lesens der Einträge und ihre räumliche Nähe sorgen für die Verknüpfungen,
wie wir in Kapitel 3.2 beobachtet haben. Entscheidend ist nun, dass die Schreib-
75 Satiren, Faszikel 17, Konvolut 29, 1790. Für diesen Hinweis danke ich Birgit Sick, Jean-Paul-
Arbeitsstelle Würzburg, ausdrücklich. Birgit Sick gibt im Rahmen der Vervollständigung der
zweiten Abteilung der Kritischen Ausgabe, die Berend unvollendet lassen musste, Band 10
Satiren und Ironien heraus.
3.3 Jean Pauls Biographie | 277
Transkription76:
76 Der Würzburger Jean-Paul-Arbeitsstelle unter Leitung von Helmut Pfotenhauer sei an dieser
Stelle herzlich gedankt. Die Transkription stellte mir Petra Zaus zur Verfügung, die Band 9
Einfälle, Bausteine, Erfindungen der zweiten Abteilung der Kritischen Ausgabe betreut. Die über-
lassene Transkription wurde von mir grundlegend überarbeitet. Die abgebildete Handschrift ist
Eigentum der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
280 | 3 Jean Paul
32
33 Farben; ie mehr Har
34 zopf
35 [11] Die Poeten nehmen ihr(en) Eselschwanz zu (ei)n(em) Pinsel; das Gehirn in
36
37 die Hand übersezen, der Pinsel ist der Dolmetscher der Empfind(ung);
38
39 entschüttet sich s(einer) Schöpf(un)g; kan das Wasser n(ich)t mehr halten;
40
41 speiet Lava aus – D(er) Frühling reibt die Farben zu s(eine)n
42
43 Gemähld(en) noch – (mi)t (ei)n(em) Pinsel bewafnet – Den Pinsel zerbrech(en) ––
44 von
45 ) Die Leinwand erbt dem Pinsel – s(eine)n Pinsel beherschen, re-
46
47 gieren, bändig(en); er sträubt sich, s(ei)n Ge Farbenvorrath troknet
48
49 zu Staub ein – das satyrische Gewehr strekken – sein Pinsel
50
51 geifert, plaudert aus; Wassersucht des Pinsels – ihn abstumpf(en);
52
53 Feder Prose- Pinsel Poesie Ableiter; über s(eine)n Pinsel die Achsel
54
55 zukken; ihn kämmen, kräuseln, säugen; (ei)n durch 1000 Pinsel durch-
56
57 geseihtes Bild; ihn einem stuzen; ihn ausdrükken et., mel-
58
59 ken; v(om) Blatte mahlen – König in Preuß(en), sol Kaffee malen;
60
61 so malte Simson in s(eine)r Schwäche.
3.3 Jean Pauls Biographie | 281
Das Gehirn in die Hand übersetzen, wie es in Zeile 35/37 heißt: fürwahr.
Diese erstaunliche Textpassage wurde bereits 1785 (Petra Zaus optiert für Juni
178477) geschrieben – der Zeit, in der die meisten Einträge zum Gehirn und zum
Schreiben in den Exzerpten nachweisbar sind. Analog zu den zitierten Stellen
aus den Grönländischen Prozessen meint die Perücke hier das Gehirn, das „durch
eine rümliche Hitze [...] ein elektrisches Glockenspiel von barbarischen Termen
und Regeln und Partizionen [...] erwekken“ soll (Grönprozess, S. 353). Das
Schreibwerkzeug ist im Frühwerk oft ein Pinsel, mit allen kruden oder vielmehr
,barbarischen‘ Nebentönen dieser Wortwahl. Initiiert wird die ,rümliche Hitze‘
assoziativer Verknüpfungen mit der Metapher der Perücke (Z.3), zusätzlich dy-
namisiert sich der Prozess mit dem ominösen Pinsel und der damit verbundenen
emotionalen Aufladung der Schreibtätigkeit (Z.25). Ab hier lässt sich eine ,au-
tomatische‘ Motorik von der ,bewussten‘ Steuerung des Schreibakts unterschei-
den, die für Jean Pauls Schreibsignatur, seinen Schreibtyp charakteristisch ist.
Meiner Markierung im Autograph folgend, wird ein Wechsel der Handschrift
offensichtlich: je ,enger‘ die Schreibideation, die sich aktivierenden und ver-
knüpfenden Assoziationen, um so gedrängter wird die Schrift, besonders auf
S. 11/Bl.8 oben. Es gibt also einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen
Schreibmotorik und Ideation, der sich gleichsam performativ auf dem Schrift-
träger konstituiert.
Vor dem Hintergrund dessen, dass sich Jean Paul als mechanische Schreib-
maschine in der Nachfolge der Automaten der Gebrüder Droz imaginiert, ist es,
erstens, keineswegs abwegig, automatische Markierungen auf dem Schriftträger
auszumachen, die glückende oder scheiternde Schreibideation hervorheben.
Durchgängig und prinzipiell ist bei Jean Paul ein Wechsel der Handschrift zu
verzeichnen, wenn die ,rümliche Hitze‘ über Hand nimmt und die assoziative
Entladung einsetzt. Durch alle Werkepochen hindurch verengt sich die Schrift,
nehmen die Wortabstände ab, erhöht sich der Druck des Schreibwerkzeugs auf
dem Schriftträger. Umgekehrt werden Phasen suchenden Schreibens markiert
durch ausladende Schrift, größere Wortabstände und unkonturierte Buchstaben-
typen. Das Schriftbild wird als kognitiver Marker eingesetzt.
Zweitens lässt sich hier, wie in den Vorarbeiten zum Leben Fibels (Faszikel
14), auf die ich im nächsten Kapitel zu sprechen komme, das Phänomen einer
,doppelten‘ Attribuierung (Z.1, 35) nachweisen. In einer derart freigesetzten as-
soziativen Ideengenese wie der hier vorliegenden werden zuweilen mehrere
mentale Konzepte parallel aktiviert. Da die überwachende Instanz (Monitor) kei-
ne Entscheidung treffen kann, werden beide Konzepte realisiert (zumeist über-
einander geschrieben) und die Entscheidung auf spätere Phasen der Relektüre
des bis jetzt geschriebenen Textes verschoben.
Drittens ist Jean Paul nicht nur ein emotional und assoziativ Schreibender,
sondern er transformiert kontinuierlich Schreibmodi und damit kognitive Pra-
xen. Auf dem Manuskript lässt sich der Übergang von der bürokratischen Ver-
waltung der Schreibideen zum ersten fiktionalen Entwurf ablesen; dementspre-
chend haben wir sowohl ein Inventar als auch ein Skizzenblatt vor uns.
Viertens ist Jean Paul ein räumlich Schreibender. Ab Zeile 29 wird der
Schreibraum auf dem Schriftträger zusehends enger, während das Doppelblatt
eine weitere komfortable Quartseite zur Verfügung stellt. Warum wechselt der
Schreibende nicht die Seite? Offenbar findet eine Verknüpfung zwischen Raum
auf dem Schriftträger und Modus der Schreibideation statt. Der Pinsel ist als
Konzept eingeführt, aber noch nicht als ,Metapher‘ für das Schreibwerkzeug des
assoziierenden Gehirns etabliert. Es gelingt erst nach mehreren ,Anläufen‘, in
einer rekursiven, das heißt: sich in mehreren Schleifen wiederholenden Prozes-
sierung (Z.25–33), die tragende Idee zu finden. Sobald dies geschehen ist, wird
die damit einhergehende kognitive Verlagerung (vom suchenden zum literari-
schen Schreiben) durch den für diese Schreibphase gewählten Seitenanfang
markiert.
Es ist von zentraler Bedeutung, den poetologischen und schreibtheoreti-
schen Hintergrund des Autors auf der einen Seite, der sich aus der zeitgenössi-
schen Assoziationstheorie und aus der Physiologie sowie aus dem Schreiblabor
des Lehrers Lichtenberg speist, und die Schreibperformanz auf der anderen Seite
in eins zu setzen, Schreibinstrumentalität und Schreibproduktivität sind kom-
plementär. Jean Paul, der das Schreiben als Forschungsdisziplin versteht, ist auf
der anderen Seite die Schreibmaschine, die automatische Markierungen im
Fließtext setzt, um Schreibphasen voneinander abzusetzen.
Mir träumte einmal, ich säße auf dem Geburtsstuhle meiner Frau, und der würde zu einem
Kinderstuhle; und der Kinderstuhl würde zu einem Fürstenstuhle (aber dergleichen giebts
ia in unsern Tagen nicht mehr: der Kinderstuhl wird also wol vielmehr zum römischen
Stuhle geworden sein) und der römische würde zu einem Kirchenstuhle; und der wurde, da
ich aufwachte, zu einem alten Lehnstuhle, auf dem ich am Tage schlafe; und der Lehnstuhl
wurde, sobald ich die Feder ergriff und diese Erzählung für meine Leser niederschrieb, der
Lehrstuhl der ganzen Welt, der er noch ist. Die fünf Bonmots, mit denen ich die fünf
Verwandlungen meines Stuhls begleitet, darf ich dem Leser wohl nicht erst erzählen, da er
sie ohne Zweifel schon unter der Lesung meines Traums sich hat träumen lassen (Grön-
prozess, 915).
Neben dem subjektiven Sehen im Traum und Nicht-Traum spielt die Genese des
eigenen Namens und der eigenen Biographie aus dem Sinnenspiel der Organe
eine Rolle. Der Autor schreibt seinen zukünftigen Lebenslauf. Er konstruiert die
3.3 Jean Pauls Biographie | 283
Stationen nach einer physiologischen ,Logik‘, nach einer Kausalität der Sinne-
serregungen. Das meint Jean Paul mit seiner Kritik an der traditionellen Logik.
Wie bei Hartley werden die Schlüsse mit assoziativen Verknüpfungen erklärt.
Hume zufolge bleibt nur der Glaube daran, dass die Billard-Kugeln tatsächlich
einem mechanischem Gesetz folgen. Wo Schlussfolgen und kausale Relationen
implementiert werden, regiert in Wirklichkeit common sense; ebenso erscheint
das eigene Leben in der Vergangenheit und Zukunft als einer ,kausalen‘ Kette der
subjektiven Erscheinungen folgend.
Die meisten jetzigen Autoren schreiben aus Has gegen alle Weitläufigkeit, stat der Romanen
Universalhistorien der Geburten in ihrem Gehirne und die vorigen Biographen eines Har-
lekins sind zu Biographen ganzer Familien von Narren gereift. Nun erlebt der erste Band in
kurzer Zeit Urenkel, und der Sohn wirbt dem Vater Leser, wie der Sohn eines Professors dem
Kollegium des seinigen Ohren und Beutel (Grönprozess, 415).
Die neue Gattung, die Jean Paul folgerichtig ,träumt‘, meint eben jenes ,nach-
vorne‘ und ,nach-hinten‘-Denken der eigenen Biographie aus den assoziativen
Verknüpfungen des Gehirns heraus. Ähnlich wie vorher Wissenselemente entor-
tet in neue Zusammenhänge gebracht worden sind, so werden jetzt Fundstücke
der eigenen Biographie in neue zeitliche Folgen, also Narrative gebracht. Vorbil-
der für diese Technik der assoziativen Montage sind das Schulmeisterlein Wutz,
Quintus Fixlein und der Tanzmeister, die Objekte aus der Kindheit archivieren,
auf „kleine Blätter“ auftragen und in Zettelkästen verstauen (Quintfix, 83). Diese
„Landkarte der kindlichen Welt“ (Quintfix, 83) ähnelt den Exzerptsammlungen
des Autors. Es bedarf lediglich einer ähnlichen ,Freigabe‘ der im Gedächtnis
abgelegten Objekte, ihrer Entkleidung aus den Episoden, in die sie eingebettet
sind und die ihre Erinnerungsspur ausmachen, um neue Bahnen zu legen. Lich-
tenberg mehr als Jean Paul würde hier tatsächlich von Zufall sprechen. Das
bedeutet, dass besonders semantische Konzepte tatsächlich ein randomisiertes
Produkt freigeschalteter Aufmerksamkeit und Kombination/Konstruktion sind.
Man sieht das am Kunkel-Fragment deutlich. Interessant ist nun nicht nur, dass
jener Kunkel auch bei Jean Paul ein kurzes Gastspiel hat78, sondern vielmehr,
dass Jean Paul in ähnlicher Weise mit assoziationsstarken ,Charakterköpfen‘ ar-
beitet, wie man dies von Lichtenberg kennt.
Vom Kaufmann Vagel. Fragmente für den künftigen Biographen seines Lebens.79
Laßt mich recht weitläufig über meinen Verwandten, Kuhn etc. sein; es gefällt mir mehr als
von mir zu sprechen; ich will gern nachher von mir reden und kann nicht aufhören (Vita,
Faszikel 10 a, nr. 317, 29)
78 „(W)enn Kunkel aus dem Urin einen glänzenden Phosphor (in dem nun sein Name wie in
einem Feuerwerk brennt) auszog „Scherze in Quart“, Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Mil-
ler/Wilhelm Schmidt-Biggemann, Abteilung II, Band 1, München: Hanser, 1974. S. 456.
79 Jean Paul: Sämtliche Werke, a.a.O., Abteilung II, Band 1, S. 1019.
284 | 3 Jean Paul
Komische Darstellung eines geistreichen Menschen z.B. Kanne’s, der nach langem Darben
nun endlich sein Werk in höchster Freiheit bei Kaffe, Wein p. vollenden darf. (Vita, 696).
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Geburt des Namens Jean Paul exakt die-
ser Suche nach Spielfiguren, einer Projektionsfläche für freigesetzte Assoziati-
onen geschuldet ist.
„J.P.“ (fragt ich) „das ist ja offenbar dieser P. – dessen Taufname vermutlich Joachim oder
Jobst oder Joseph ist –, welcher mir die Muff-Pugilistin weggeehelicht hat?“ (Paling, 787).
Um das Joditzer Leben unsers Hans Paul – denn so wollen wir ihn einige Zeit lang nennen,
jedoch immer mit anderen Namen abwechseln – am treuesten darzustellen (Selbleben,
1061).
Ich sah mich anfangs in einem Glaskasten in Wien als einen heiligen Leib gebracht, den
man bald für einen heiligen Paul, bald für die heilige Laurentia, die Schirmvögtin der
Bücher und Kenntnisse, ausgab – dann sah ich (es ist ganz so wild, als ein Traum sein kann)
mich in meinen Kupferstich verwandelt, vor dem die Zeit stand und hinter ihrem Rücken
ins Dintenfaß tunkte und waagrechte Linien durch die Stirn, d.h. Runzeln zog – Auf einmal
stand ein Skelett an einem verhangnen Pfeilerspiegel, dem ein unverhüllter gegenüber
hing – Plötzlich fuhr die seidene Hülle auf – und beide Spiegel gaben einander ihre uner-
messliche zurückkriechende Gestalten-Kette, und jede Unendlichkeit wiederholte sich und
die fremde – und die zwei dunklen einschwindenden Reihen schienen die Nachwelt und
die Vorwelt nachzubilden – – was war es? – ein Traum! (Konbio, 1071).
Ich gesteh’ es, ich habe unter dem ganzen Klub wieder den närrischen Gedanken gehabt,
den ich mir schon oft, so toll er ist, nicht aus dem Kopfe schlagen konnte – denn er wird
freilich ein wenig dadurch bestätigt, dass ich wie ein Atheist nicht weiß, wo ich her bin,
und dass ich mit meinem französischen Namen Jean Paul durch die wunderbarsten Zufälle
an ein deutsches Schreibpult getrieben wurde, auf dem ich einmal der Welt jene weitläufig
berichten will – wie gesagt, ich halt’ es selber für eine Narrheit, wenn ich mir zuweilen
einbilde, es sei möglich, dass ich etwan – da in der orientalischen Geschichte die Beispiele
davon tausendweise da sind – gar ein unbenannter Knäsensohn oder Schachsohn oder
etwas Ähnliches wäre, das für den Thron gebildet werde und dem man nur seine edle
Geburt verstecke, um es besser zu erziehen (Hesp, 1020).
Der Ledermann: „Auf meiner Arbeitrstube war ich alles Böse durch Denken – Mordbrenner
– Giftmischer – Gottleugner – ertretender Herrscher über alle Länder und alle Geister –
Ehebrecher – innerer Schauspieler von Satansrollen und am meisten von Wahnwitzigen, in
welche ich mich hineindachte, oft mit Gefühlen, nicht herauszukönnen. – So werd ich denn
gestraft und fortgestraft durch Gedanken für Gedanken, und ich muß noch viel leiden
(Komet, 1003).
Man kann die Wichtigkeit dieses Wahl-Namens für das freisetzende Spiel bio-
graphischer Objekte bei Jean Paul, von dem ja letztendlich das figurale Inventar,
die narrativen Stränge und Bildwelten der großen Romane abhängen, kaum
überschätzen.
3.3 Jean Pauls Biographie | 285
meint natürlich genau diesen Namen, diese imaginative Spielfigur Jean Paul. Ob
es sich nun um einen predigenden Heiligen handelt oder um einen vortragenden
Fremdbiographen, ob es ein falscher Adliger ist, ein cheater, ob ein parlierender
Franzose oder ein tiefsinniger Deutscher, der mit sich französisch sprechen
möchte, imaginiert wird, ob es sich um Satan oder den Kleinbürger Johann han-
delt: die Inventare, Notizbücher und Schreibhefte durchziehen Einträge, die sich
an dem erfundenen Namen Jean Paul delektieren, abarbeiten und die, so scheint
es, dort ihr Refugium in Zeiten fallierender mentaler Produktivität finden. Es sind
also nicht die Biographien des Schreibenden (im Plural), die narratives Material
bereitstellen sollen, sondern es ist jener Jean Paul mit der ungeklärten Herkunft,
der den inneren Schauspieler für die Handlungsrollen gibt, mit Gedanken für
Gedanken bestraft oder belohnt.
Besonders interessant ist das Projekt, in eine zweite Sprache zu wechseln,
weil hier sinnfällig wird, dass tatsächlich Blockaden der Schreibideation beho-
ben werden sollen. Im ,babbling‘ der inneren Rede wird eine Instanz eingeführt,
die anderen lexikalischen Zwängen und Grenzen unterliegt, anderen syntakti-
schen Bauplänen und vermutlich auch anderen generativen Regeln auf der Ebe-
ne der Konzeptgenese und Auswahl geeigneter semantischer Einheiten. Gut
möglich, dass Jean Paul in der inneren Rede tatsächlich zweisprachig verfahren
ist. Bei Lichtenberg liegt der Fall ähnlich und noch deutlicher mit seiner Wahl-
sprache Englisch.
Am Ende dieses Abschnitts komme ich noch einmal auf das Prätentiöse des
Biographen zu sprechen. In der Tat gibt es den Habitus des Vortragenden im
Konnex der Eigen- und Fremdbiographie: im Leben Fibels, in der Selberlebens-
beschreibung. Der Schreibende wirft sich auf, sein Selbst-Biograph zu sein. Wir
haben hier ein auch von Zeitzeugen bestätigtes Phänomen der imperativen Re-
degeste vor uns, die es darauf anlegt, die eigenen biographischen Deutungen
unangreifbar zu machen80. Es ist der Gestus des erzählenden Hochstaplers, der
sich gegen Einwürfe immunisiert. Kurt Wölfel hat sehr zutreffend darauf hinge-
wiesen, dass die Figuren „mit dem Rücken“81 zueinander sprechen. Ganz anders
bei Lichtenberg: die am Orbis Pictus einer Schau von Charakteren orientierten
narrativen Kerne sind absichtlich unvollendet. Sie verbleiben im Status des Frag-
ments, das sich nicht zur in Erz gegossenen Biographie aufwerfen will. Insofern
sind die Teilhabeangebote an den Leser bei Lichtenberg glaubhafter als bei Jean
Paul.
80 So Karl Friedrich Kunz in seinen „Erinnerungen“. Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der
Zeitgenossen, hg. v. Eduard Berend, Weimar: Böhlaus Nachfolger, 2011, S. 122.
81 Kurt Wölfel: Jean Paul-Studien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 99.
286 | 3 Jean Paul
Jeden Tag des langen Schreiblebens gilt es also, sich den Namen Jean Paul
immer aufs Neue zu erfabeln. Der Name Jean Paul vereint Ledermann und Bie-
dermann, Enthusiast und ausgebrannten Künstler, grotesken Anpasser und non-
chalanten Lebenskünstler. Auf das Wasserzeichen im zu bedeckenden Papier
stratifizieren sich die Wahl-Träume82. Der Name ist der kognitive Anker für
Schreibziele und das Auslesen sich anbietender mentaler Konzepte. Es kommt
dem imperativen Gestus des Vortragenden, des Dozierenden oder Predigenden
nahe, dass er die einmal freigesetzte Narration gleichsam in einem innerfiktiven
Akt der Annektierung mit dem inneren Schauspieler Jean Paul amalgamieren
muss. In den Notizbüchern zum Hesperus wird der Auftritt der Figur Jean Paul
gegen Ende des Romans mit vielen Varianten durchgespielt. Im Komet sollte ein
Kandidat Richter eine tragende Rolle spielen; sogar in den Flegeljahren war ein
Auftritt Jean Pauls als Ersatz für den entflohenen Vult geplant.
Auf der Ebene des Schreibens dient der Name also der Orchestrierung ko-
gnitiver, emotionaler und assoziativer Aspekte. Als innerer Schauspieler bewegt
der Name die Figuren in der entstehenden Narration. Auf der Ebene des Schreib-
ergebnisses, der Fiktion, schlägt sich die Besonderheit der Schreibstrategie, die
,Auslagerung‘ einer ordnenden und auswählenden Instanz, die zeitweise sogar
einen Wechsel der mentalen Lexika und Enkodierungspfade vornimmt (von
Deutsch zu Französisch), insofern nieder, als nun der Name Jean Paul, innerer
Schauspieler und kognitive Auswahlinstanz, im Ensemble der erschriebenen Fi-
guren auftritt. Ist Jean Paul auf der schreibprozessualen Ebene der innere Schau-
spieler, der die fiktiven Figuren bewegt, so stellt er auf der Ebene der Fiktion die
Schreibfigur dar, die den Prozess der Entstehung repräsentiert. Zuweilen wird
diese Zwischenfigur ja als schreibend vorgestellt: auf dem Weg zum Ochsenkopf
(Geschichte meiner Vorrede, Quintus Fixlein) und in der Eremitage (Palingenesi-
en). Zuweilen binden sie die Figuren in die literarische Produktion ein: Siebenkäs
fordert „J.P.“ auf: „du, du machst die Edition [der Satiren, JL]“ (Siebenkäs, 741).
Dem Siebenkäs steuert der Verfasser des Hesperus eine Vorrede bei, die dann von
beiden Jean Pauls mit gleicher Datierung unterschrieben wird mit: „Jean Paul Fr.
Richter“ (Siebenkäs, 151). Im ersten Fruchtstück des Siebenkäs ist ein Streitge-
spräch montiert „über die Verwandlung des Ich ins Du, Er, Ihr und Sie“ (Sieben-
käs, 416 ff.). Das Gespräch wird geführt von einem „Professor, (...) Jean Paul, (…)
Regierungsrat Flamin“ sowie Klothilde und Viktor, der in der Ich-Form berichtet
(Siebenkäs, 416).
Klothilde sah mich fragend und bittend um die Erlaubnis eines Wortes und fast zurecht-
weisend an, da ich mich in die Stelle derer zu setzen vergaß, denen ich diese Versetzung
anlobte. Ich hielt errötend inne. Jean Paul bemerkte: „Daher fahren die Zuhörer im Kon-
82 „So unsichtb[ar] hat jeder den sich [eingef] Namen in d[er] Mitte als d.[en] Bog[en] Pap[ier]
des Papiermüllers, bis man ihn ans Licht hält“ (Gedanken, 11b/3, S. 107).
3.3 Jean Pauls Biographie | 287
zertsaale gerade bei den schönsten Adagios, die sie am meisten erweichen, am meisten
über Getöse auf und fluchen und weinen in einer Minute“ (Siebenkäs, 431).
Diese Szene kann gleichsam als Idealtyp des Wirkens der autonomen Traum-
statisten gelesen werden, von dem im vorletzten Abschnitt die Rede war. Der
Schreibende hört die von ihm unabhängige Rede der Figur, die ihn ,zurechtwei-
send‘ ansieht. Jean Paul, die Projektionsfigur der poesis, protokolliert die Emo-
tionen, die mit dieser Urszene für den Schreibenden einhergehen. Berücksichtigt
man, wie wichtig Emotionen für den Schreibenden sind, so liegt es nahe, hier ein
verstecktes Protokoll der Schreibstimmung zu vermuten. Der hohe Mensch ge-
winnt in diesem Rollenspiel an Eigenständigkeit und muss nicht mehr vom or-
chestrierten Zusammenspiel der kognitiven, assoziativen und emotionalen Kom-
ponenten des Schreibens ,zu Wort gebracht werden‘. Gleichzeitig wird aber deut-
lich, dass diejenige Figur, die dieses orchestrierte Zusammenspiel in der Fiktion
repräsentiert, gleichsam das letzte Wort hat: sie verweist auf den Gefühlshaus-
halt des Schreibenden, der zu dieser Szene der sich selbst bewegenden Figuren,
eine Art Battle of the Characters, geführt hat.
Der Kosmos der Figuren setzt sich also aus den aufgrund des ,inneren Sehens‘
oder der Wahlträume sprechenden hohen Menschen zusammen, aus dem kom-
mentierenden und protokollierenden Jean Paul und aus dem schreibenden Bio-
graphen. Da sich Jean Paul des inneren Theaters, das die Narrationen hervor-
bringt, in jedem Moment bewusst ist, verfällt er bereits in der Unsichtbaren Loge
darauf, die daraus entstehenden Texte Biographien, nicht Romane zu nennen.
Das zweite Moment, das zu dieser Gattungsentscheidung führt, ist ein gleichsam
totalisierender Überblick über das Gesamtwerk (prospektiv und retrospektiv),
von dem ich in Kapitel 3.4 handeln werde. Die Einzelwerke in ihrer Progression
machen die Biographie des Autors aus. Das Vaterblatt, das im Nachlass einseh-
bar ist83, firmiert als Lebenslauf.
Der dritte Grund für die Wahl einer Gattung, die es bis dato noch nicht ge-
geben hat, ist natürlich Ironie. Ähnlich wie Jean Paul wortreich Appendices und
Vorreden in den Gattungskanon hineinschreiben möchte, so verfährt er auch mit
der Biographie. Maßgebend wiederum ist der letzte Punkt: wird das eigene Leben
als Geschichte erzählt, so erübrigt sich das leidige Suchen nach der Ereignisket-
83 „Geburtstag meiner Kinder, oder Vaterblatt in einer alten Bibel“, Einzelblatt in Faszikel 10.
Gedruckt in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Götz Müller/Janina Knab,
1996. Abt. 2, Bd. 6, S. 896. Schon Berend erwähnt das Vaterblatt in seinen Prolegomena auf Seite
23.
288 | 3 Jean Paul
te. Da kein Leben den Gesetzen der drei Einheiten folgt und ebenso wenig der
Ereigniskette des ,inneren Lebens‘ eines zu erziehenden Helden, wie es mit un-
terschiedlichen Ausprägungen Blanckenburg und Engel forderten, so erübrigt
sich der Versuch, Handlungen zu motivieren. Die Entscheidung für die Biogra-
phie, die sich als Roman verkleidet (psychologische Geschichte am Blumenstab
einer äußeren), ist aber deshalb nicht als launige zu sehen. An einer Stelle im
bevorstehenden Lebenslauf imaginiert sich Jean Paul als Vorläufer von Sterne
und Fielding, der diesen im Himmel Tom Jones und Tristam Shandy überlassen
habe. Auch Johann Karl Wezel, der den Skeptizismus Humes auf die Spitze treibt
und die Figuren tatsächlich von ihren Zufallsaffekten angetrieben sieht, steht
hier nicht Pate. Nein, ebenso wie der innere Schauspieler Jean Paul muss die
Gattungsentscheidung in der frühen Phase der satirischen Essigfabrik gefallen
sein.
Einer der Gründe für diese Entscheidung dürfte die Möglichkeit zu reflexiven
Einschüben und Problematisierungen der eigenen Rolle gewesen sein, welche
die Biographie in Jean Pauls Sinn einräumt. Da der Schreibende, der sich zu
seinem Selbst-Biographen aufwirft, selbst altert und auf vielfältige Weise in die
Handlung (als seine Biographie) eingebunden ist, ergeben sich hier Digressions-
räume en masse: zuweilen führt der unzuverlässige Biograph eine reale Person
(den Hofer Freund Christian Otto) ein, der das Manuskript des Hesperus, „vier
Heftlein“, aufbewahren oder überarbeiten soll. Manchmal bedient sich der
Schreibende des Kunstgriffs, Biographen des Biographen auf den Plan zu rufen
(Leben Fibels), deren Berichte es notwendig machen, die einmal erzählte Ge-
schichte noch einmal zu erzählen. Und schließlich erfährt er aus der Geschichte,
die ihm aus der Feder fließt, seine wahre Herkunft, eine „Standeserhöhung“
(Hesperus).
Eine Biographie oder ein Roman ist bloß eine psychologische Geschichte, die am lackierten
Blumenstab einer äußern emporwächset (Jubsen, 411).
Mehr als Roman – kein Roman – leider doch nur Roman – weder Roman noch Journal –
Halbroman – diese Titel waren ja doch bei Gott schon alle da, Herr!“ – sagte der Verleger
dem Autor, von dem er träumte (Paling, 758).
Weil in mir der Autor und der Mensch immer überall Koppeljagd und Erbverbrüderung
haben (Paling, 884).
Ein Selbstbiograph ist im Falle einer sprechenden Person in der Mitte eines Dramas oder
andern Gedichts; einzeln und abgerissen gelesen findet niemand etwas bedeutendes in den
besten Reden. Aber wenn man von dem zusammenhängenden Werke endlich auf die Stel-
len kommt: sprechen sie uns bedeutend an. So sind die Schriften eines Autors das Drama,
und seine Selbgeschichte die einzelnen Worte, welche durch jene allein gesteigert werden.
(Vita. 735).
3.3 Jean Pauls Biographie | 289
Nun tut es meiner ganzen Biographie Schaden, daß die Personen, die ich hier in Handlung
setze, zugleich mich in Handlung setzen und dass der Geschicht- oder Protokollschreiber
selber unter die Helden und Parteien gehört (UnLog, 386).
Der Lebensbeschreiber mußte also aus Not – weil er zu veränderlich ist – mit seinen vier
Heftlein quer aus dem goldnen Löwen über die Gasse ziehen und zu dem einzigen ins Haus
gehen, gegen den er sich nicht ändert und ders auch nicht tut, und zu ihm sagen: „Hier,
mein lieber guter Christian Otto, eigne ich dir wieder etwas – vier Heftlein auf einmal
(Hesp, 1221).
Nun lässt sich das Thema, wie so oft bei Jean Paul, in einer letzten Wendung
transzendent ausrichten. Denn der Pfarrerssohn hatte in der Tat einen predigen-
den Habitus, besonders in den ,liebenden‘ Schlüssen der großen Romane,84 die
den Leser versöhnt und ,erhöht‘ entlassen wollen. Es ist nicht zu weit gegriffen,
hier von einer literarischen – und kaum oder gar nicht ironisierten – Sakraments-
pendung zu sprechen. An anderen Stellen ist es das prophetische Schreiben, das
den Apostel Paulus auf den Plan ruft.85 Und wiederum an anderen Werkorten
begegnet eine Art religiöse Levitation:
Und da ich voll Klage meine Augen auf zum Himmel hob und betete: „O Vater des Trostes,
gib den armen wahnsinnigen Menschen Friede und Liebe!“ so sah ich den gestirnten Dra-
chen zwischen dem Arkturus und Kynosura die Flügel wie Wolken aufschlagen und her-
unterziehen; – und wie er glühend tiefer sank, so fiel der Berg aus Eis geschmolzen ein, und
die nahe Asche flatterte um mich, und eine spielende Gestalt wollte in meinen Körper
dringen, um mein Vergehen nachzuspiegeln, und die nahe Erde, dieser Aschenzieher un-
sers warmen Staubs, ergriff mich […] – Da war mein Geist befreiet und loderte empor über
sein zerbrochenes, auf die Erde gebautes Gehäuse. (Jubsen, 558).
Es ist keineswegs Zufall, dass der Biograph die Rolle des Priesters einnimmt. In
der Selberlebensbeschreibung ist es ein „selbhistorischer Professor“, der biogra-
phische Vorlesungen hält. Das Motiv erscheint zu oft im Werk, als dass es nur als
Persiflage auf einige Kant-Biographen gelten sollte (so die seit Berend repetierte
These zum Leben Fibels)86. Nein, die Erzählhaltung des Predigers oder Professors
ist genau diejenige, die dem Biographen in der Tektonik des Gesamtwerks zu-
84 Im Epilog zur zweiten Auflage der Jugendwerke, Berlin, 1822, schreibt der neunundfünfzig-
jährige Autor: „Eigentlich schreib ich ihn (den Epilog, JL) doch nur, um von meinen Lesern, die
auf den letzten Seiten meiner andern Werke immer liebend von mir geschieden, auch an der
Hintertür eines Buches voll satirischer Zänkerei mit dem alten Liebhaben entlassen zu werden“
(Sämtliche Werke, Abteilung II, Bd. 4, S. 261).
85 „Die Erste ist, dass vielleicht mehr der Kaffeetrank als sein Niederschlag instand setzt, die
wässerigen Meteoren der Zukunft wahrzunehmen, zumal da diese geistige Kraftbrühe schon
Romanskribenten wie mich und Voltairen in der Punktierkunst unserer so oft prophetischen
Schreiberei so sichtbar unterstützt“. (Teufelpap, 475).
86 Laut Berend waren dies vier Monographien, die im Todesjahr Kants, also 1804, bei Nicolo-
vius in Königsberg herauskammen. Die Autoren sind heute gänzlich unbekannt. Vorwort zu
Leben Fibels, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, 1. Abteilung, Bd. 13, S. 84.
290 | 3 Jean Paul
kommt. Denn das prophetische Schreiben richtet sich, so die Maßgabe, an einen
künftigen Biographen, der die disiecta membra, die Werke Jean Pauls, sammeln
und in eine Biographie gießen wird.
Es sind dies lauter autobiographische Bücher (?), meine Herren, die ein künftiger Nachfol-
ger und Biograph Lebensbeschreiber selber erst zu einer Lebensbeschreibung verarbeitet
und für welche er mir ... dankt“. (Vita, Faszikel 10a, Bl. 52 recto)
Gib es für Wahrheit des künftigen Biographen aus. (Vita, Faszikel 10a, Bl. 55 recto)
Will man sich über das ,Geheimnis‘ der Produktivität Jean Pauls klar werden,
wäre dies der Ansatzpunkt: die Werke als Fragmente eines produktiven Lebens,
das ein künftiger Biograph zum einheitlichen Bau zusammensetzt. Aus dieser auf
die Nachwelt gerichteten Perspektive ist es keineswegs erstaunlich, die starre
Dialoghaltung des biographischen Erzählers gegenüber seinen Zuhörern zu kon-
statieren. In der Tat hat der biographische Professor ein schweigendes Audito-
rium vor sich, von dem er sich nichts erwartet:
Traum, wo ich schwebe, Weiber küsse und zu Otto sage: sage wenn ich aufwachen soll: so
erwach ich. Er that’s, ich erwachte mit der Anstrengung womit ich mich aus dem Alpdrü-
cken wecke – und lag mit ihm im Bette in einer Wirthstube voll stummer Gäste, um mich
nicht zu stören. Er sagte mir, er habe mich im Traum reden hören. Ich erzählt ihm seine
Erscheinung in der Stube. Endlich wahres Erwachen. (Vita, 684).
in ähnlicher Weise für die dritte Vorrede zum Hesperus (Faszikel 17/H.34), die
durch eine zusammenhängende und vermutlich ununterbrochene Niederschrift
entstanden ist87. Diese bislang in der Jean-Paul-Forschung nicht interpretierten
Textzeugen dokumentieren in aller Deutlichkeit den Übergang vom sammelnden
und ordnenden Habitus der Inventare zum narrativen ,Durchbruch‘.
Gleichzeitig ist dieser Manuskripttyp prinzipiell in Epochen pausenlosen
Schreibens generiert worden. Dies stellt erhebliche Anforderungen an das pro-
zessuale Gedächtnis (Arbeitsspeicher). Die Kombination von kurzphasigem Ge-
dächtnis und der Schreibüberwachung auf der einen Seite und den räumlichen
Spuren diese kognitiven Vorgänge auf dem Schriftträger auf der anderen hat
mich dazu bewogen, diesen Manuskripttyp Skizzenblatt zu nennen. Dies orien-
tiert sich durchaus an Alan Baddeleys räumlicher Komponente des Arbeitsspei-
chers: dem visuospatial sketchpad.
Heft 16 ist ein hundertsiebzehn Blätter zählendes Konvolut, das auf einer
späten Bearbeitungsstufe die fast endgültige Fassung der Erzählung Leben Fibels
darstellt88. Insofern haben wir hier den Übergang vom Ideensammeln und –mon-
tieren zum linearen, narrativen Schreiben vor uns, vom suchenden zum litera-
rischen Schreiben. Ich nenne diesen Manuskripttyp deshalb Skizzenblatt. Die
These ist, dass sich beide Schreibformen und der Übergang von der einen zur
anderen mit hoher Kurrenz in diesem Manuskript nachweisen lassen. Ich werde
zunächst Streichungen demonstrieren, die eine nachgeholte Attribuierung vor-
nehmen und die Funktionsweise der Relektüre verdeutlichen; sodann wende ich
mich rekursiven Reformulierungen zu; schließlich zeige ich, wie dieses orches-
trierte Zusammenspiel von Kognition, Emotion und ,Wissen‘ den Übergang vom
suchenden zum literarischen Schreiben ermöglicht.
Auch hier gilt die Relevanz des Themas für das Jean-Paul-Bild der Disziplin.
Denn die inhaltliche Verschränkung des Schreibens als epistemischer, wissens-
generierender Akt, wie er in der Levana und in der Selberlebensbeschreibung
entwickelt wird, ,greift‘ auch im Leben Fibels, wenn auch bekanntermaßen mit
mehrfach ironischer Brechung. Auf einer zweiten Ebene nimmt nun der kogni-
tive, emotionale und epistemische Moduswechsel zum literarischen Schreiben
seinen dokumentierbaren Verlauf. Dem Schreibenden gelingt in „perennieren-
den Phasen mentaler Zurüstung“89 (Jochen Golz) der ,Durchbruch‘ zum ,trans-
Und die Seelen der Menschen können sich nun, in ieder Entfernung durch die Bücher
miteinander unterreden, uns ich untereinander belehren; ja durch die Bücher können
sogar die Todten um ihre Meinung befragt werden.
Die Bücher machen einen so großen Theil der menschlichen Dinge aus, daß man sie bei-
nahe nicht, als eine untergeordnete Klasse von Dingen in der Kunstwelt betrachten kann,
sondern sich außer der großen Natur und Kunstwelt noch eine Bücherwelt denken muß.
Denn die Bücher sind gleichsam eine Welt außer den Menschen geworden, die nicht in ihm,
sondern worin er lebt – weil kein menschlicher Kopf, das mehr zusammenfassen kann, was
die Bücher, die in der Welt sind, enthalten.92.
Den Wert, den Jean Paul und Moritz (im Anton Reiser) auf die zumeist eigenstän-
dige Erschließung der Bücherwelt legen, lässt sich kaum besser fassen als mit
diesen didaktischen Fingerzeigen93. Diese Euphorie überträgt sich auf die Figur
Fibel, dem die Idee, die tatsächlich Bienrod gebührt, in den Kopf gelegt wird, die
Buchstaben in phonetische und situative Kontexte zu positionieren. Um die Jahr-
hundertwende wurden Buchstaben gar vermenschlicht und vitalisiert, um die
Memorisierung ihrer graphemischen Muster durch die Schreibnovizen zu för-
dern. Die Pädagogen unter den Schriftstellern, also unter anderen Moritz und
Jean Paul, nehmen an dieser Umwälzung regen Anteil, auch was eine Propädeu-
tik der Funktionsweise fiktionaler Literatur angeht. In Moritz Kinderlesebuch fin-
det sich eine Einweisung in Rezeptionsweisen zukünftiger Rezipienten:
Wer spricht denn eigentlich in diesem Buche? Es kommt mir vor, als ob ich selber darin
spreche; und doch habe ich das Buch nicht geschrieben. Der aber das Buch geschrieben
hat, sagt immer ich, und spricht vermutlich an meiner Stelle94.
Schreiben erhellt, vom Schreiben an, das der Schreibmeister lehrt, bis zu jenem, das an den
Autor grenzt (Levana, 832).
93 Die bekannteste Erwachsenen-Didaktik für Lesenovizen ist Adam Bergk: Die Kunst, Bücher
zu lesen, Jena: Hempelsche Buchhandlung, 1799: „Nicht das Buch muß uns eine Erklärung von
dieser oder jener Erscheinung geben, sondern die Bewegungen unseres eigenen Gemüts müssen
den Verstand zum Reflektieren über seine Fähigkeiten nötigen, und ihm die erzählte Tatsache
durch sich selbst erklären. Wir müssen das in uns lesen, worüber nachzudenken uns ein Buch
Gelegenheit gibt“. S. 62.
94 Moritz: „Lesebuch für Kinder“; in: Kinderlogik, a.a.O., keine Paginierung.
294 | 3 Jean Paul
In einem solchen Enthusiasmus war mirs unmöglich, ein geringeres Buch zu ergreifen als
die – Fibel. Wenige Bücher, die ich kaufe oder mache, les’ ich mit solchem Entzücken als
dieses am häufigsten aufgelegte Werklein, dieser vergoldete Türgriff an allen Universitäts-
und Lehr- und Lerngebäuden. Ich mache mir mein Entzücken dadurch begreiflich, daß ich
es aus dem großen alten ableite, womit ich das erste Abcbuch mit seiner goldnen Metall-
schrift auf der hölzernen bunten Flügeldecke in meinen kindlichen Händen glänzen sah.
Schon das Innere des Buchs, nämlich die 24 Buchstaben sind mir nicht gleichgültig, da ich
von ihnen lebe, indem ich sie bloß gehörig wie Karten oder Lose mische; aber doch zieht
mich das Werkchen stärker an, wenn es zu ist und ich das goldne Abc aus meinem goldnen
Zeitalter auf dem Letterholz der Schale vor mir flimmern sehe wie einen durchbrochenen
illuminierten Namenszug auf einem Ehrenbogen (Jubsen, 554)
Auf der anderen Seite macht diese unklare Rollenzuordnung die prekäre Stellung
des Autors am Ende des ausgehenden Jahrhunderts deutlich. Das Jahrhundert
der Skribenten ist sich der kulturellen Transformation bewusst, welche die Tä-
tigkeit Schreiben und den modernen Autor gemeinsam mit kollektiver Wertigkeit
versieht. Wie bei Moritz, Liscow, Nicolai – erstere mussten phasenweise tatsäch-
lich als Schreiber arbeiten – lässt sich auch Jean Paul die Sorge ablesen, dass
dieser Vorgang der kollektiven Wertzuordnung wieder rückgängig gemacht wer-
den könnte:
Ein Edelmann in meiner Nachbarschaft hörte, ich wäre zur Zeit einer der besten Skribenten
in Deutschland. Da er den Umgang mit Büchern, Buchbindern überlässet: so dachte er, ich
wäre ein sogenannter Schreiber. (...) Wie ich höre, so sind Sie ohne einen Prinzipal und Sie
werden auch sobald schwerlich unterkommen, denn es ist jetzt alles mit Skribenten gräu-
lich übersezt und es mag sie niemand umsonst95.
Selbstbildes des Autors ist das Ausschreiben des eigenen Namens. Johannes
Paulus, der Prediger, aber auch Hasus in den Satiren, der Teufel/Ledermann, Valt
und Wult, Flamin im Hesperus: es sind Spielfiguren der eigenen Identität, die die
fiktionale Personage bevölkern. Der Autor Friedrich Richter schreibt den Namen
Jean Paul aus, mal nimmt er sich vor, nur französisch als innere Sprache zu
benutzen98, mal sieht er sich als Prediger, als Paulus. Kurt Wölfel hat in seinen
erhellenden Jean-Paul-Arbeiten dargelegt, dass nicht nur der an Konversationen
Teilnehmende einem Sprechrausch erlag, sondern auch der Schreibende gleich-
sam einen diktatorischen Monolog führt99. Es geht dem Autor nicht darum, Dia-
loge aus Handlungsmotivationen und Figurencharakteren heraus zu motivieren,
die Figuren sprechen zu lassen, vielmehr bleibt der predigende Habitus des
Schreibenden, der den Leser spaßhaft an den Tisch fesselt, dominant. Daher
rührt die Faszination des Erzählers an monologisierenden Gesprächsteilneh-
mern in der Fiktion, die, so Wölffel, „mit dem Rücken“100 zueinander sprechen. In
der Tat: es sind biographische Vorlesungen, die ein „selbhistorischer Professor“
(Selbleben, 1088) hier hält, ähnlich wie es die selbsternannten Biographisten in
Leben Fibels tun.
Zwar darf der Leser durchaus das Wort führen, sein Recht einklagen, die
Plausibilität der Narration kritisieren: Beim Tor des ersten Kapitels fragen die
Leser die Einpassierenden:
Wie heißen Sie? – Ihren Charakter? – Ihre Geschäfte? (Hesp, 512).
bei Thomas Mann heißt, ,rezeptiv‘. Vergleicht man diese Angebote der medialen
Teilhabe mit denen Wezels und Wielands, so fällt hier in der Tat auf, dass sich der
Erzähler gegenüber dem Einspruch seiner Leser immunisiert. Der schreibende
Erzähler zwingt das empfindsame Gegenpart, die potentielle Rezipientin in das
schweigende Lesen (siehe Kapitel 3.4).
Ein Kernproblem des biographischen Erzählers ist, dass die Biographie aus
monologischen Schreibszenen besteht. Die Selberlebensbeschreibung bricht be-
zeichnenderweise mit der frühen Kindheit ab. Fixlein sucht die loci seiner Erin-
nerungen im Kindheitshaus auf und inventarisiert die Devotionalien. Figuren
und Erzähler zehren ihr gesamtes Leben von den Erlebnissen der Kindheit. Wie
auch anders: das Erwachsenenleben ist ein ,langes herrliches Schreibleben‘.
Einerseits muss also die Biographie linear erzählt werden, andererseits erliegt sie
einem Sog zur Kindheit zurück, zur ,Wiege‘ der Narration. Im 24. Patronenkapitel
des Fibels wird dies deutlich, wenn die selbsternannten Biographen um den
Magister Pelz den erzählenden Biographen in den Zwang bringen, die Kindheit
Fibels noch einmal zu erzählen. Um dieses Paradox kreist Jean Pauls Bildfindung
in ,Leben Fibels‘.
lesen will, indes sie noch an der ersten arbeitet. Ich bin den Augenblick fertig und schaue dann
müßig, unter das Buch gebückt, hinauf in ihr halbgeschlossenes gesenktes Auge, das sie, weil
sie mich schon ein wenig kennt, ungemein liebreich zuweilen wie einen Himmel gegen mich
aufschlägt, damit ich etwas habe. Auch ergreift die reizende Dichtung darin ,Luna am Tage‘ sie
in der Tat. Dann les’ ich wieder mit ihr, geschmiegt an ihren linken Arm, die obere Seite und bin
wieder gleich herunter – verzeih’ mir der treffliche Autor der Briefe dieses leichte Wesen! – und
schaue sie in den Ferien durch die Locken und dann von der Seite an und hänge an der nahen
jung- und zartgemalten Wange und an den fein zusammenlaufenden Schönheitslinien des hal-
ben Knospen-Mundes – sie lieset ernst fort, als seh’ sie nicht alles – ich lehne mich ein wenig vor
und erprobe und sichte durch Lächeln den verstellten Ernst – die Purpur-Lippen stemmen sich
gegen das innere Lächeln, aber endlich zerfließen sie eilig ins äußere – und sie legt das Buch
nieder (ich bedaure nur den armen Verfasser) und sieht mich mit ergebener Freundlichkeit an,
gleichsam als sagte sie: nun, so spiele denn, Schäker!“ – Aber ich falle, gerührt von der leuch-
tenden Liebe, ernst an das fromme Herz.“ (Konbio, 1052).
102 Vorwort zu „Leben Fibels“, Kritische Ausgabe, Weimar: Böhlau, 1935. Abt. 1, Bd. 13, S. 101.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 297
Hesperus), keine Datierung der Schreibhefte vornimmt. Folgt man dem Doyen
Berend, so müsste die Entstehungszeit ab dem 25. September 1810 angesetzt
werden. In diese Phase fällt die Beschäftigung mit der Hochzeit, der Erscheinung
Pelzens, die Gründung der biographischen Akademie103. Auf genau diese Passa-
gen konzentriere ich mich in meinen Modellanalysen.104
Der Zustand des Heftes ist fragil, die Heftung ist aufgelöst, die Blätter sind
von Berend nachpaginiert worden. Zum Teil finden sich, wie zuweilen auch in
anderen Konvoluten, Bier oder Weinflecke. Die Schrift unterliegt starken
Schwankungen. Wortabstände, Zeilenabstände, Buchstabengröße, Zeilenrand
differieren erheblich. So wie sich die Handschrift in verschiedene Hände auffä-
chert (Kapitel 3.2), markiert der Schreibende durch diese ,Zeichen‘ unterschied-
liche Stadien der Schreibideation. Absätze werden mit Ordnungszahlen verse-
hen.
Im erwähnten Konvolut (14/16) findet sich auf Blatt 35 recto/ 35 verso fol-
gende Passage:
Wenn [umfangreiche Streichung] er die Farben-Toilette keinen um seinen Tieren machte
und gleichsam über dem dunkeln m farbig dunkeln regendunkeln Holzschnitt den farbigen
langsam
Der Blick auf den Autograph offenbart ein erstaunlich intensives Korrekturver-
halten, besonders Adjektive betreffend. Zu betonen ist, dass kein einziges Sub-
stantiv gestrichen oder eingefügt wird. Diese Gewichtung gilt für das gesamte
Schaffen Jean Pauls durch alle biographischen ,Epochen‘. Liest der Schreibende
zurück (Relektüre), so fällt sein Blick auf die Attributstellen des Satzes. Oft sind
prospektiv Lücken vor Substantiven belassen, um die Einfügungen leichter vor-
nehmen zu können. Adjektiven gilt Jean Pauls besonderes Interesse im soge-
nannten grünen Erfindungsbuch (Faszikel 7). Dort finden sich Listen mit Wort-
feldern zu bestimmten Bedeutungsvalenzen:
Adjektive/Verba: 1. Seiende, breite Blüten. 2. handelnde, samende, fliehende Blüten 3.
leidende, gedrückte, ersäufte – dieses wird erschöpft aus: Zeit (jährlich, ewig, junge, ver-
gehende) (...)“„Adjektiv d[urch] fünf Sinne105.
Die Attribuierung nimmt für einen malenden Autor in der Tradition von Bod-
mer/Breitinger, als der sich Jean Paul auch verstand, eine wichtige Position ein:
„Blos unbelebter Dinge Bild male reich aus“ (ebda.).
103 Vorwort zu „Leben Fibels“, Kritische Ausgabe, Weimar: Böhlau, 1935. Abt. 1, Bd. 13, S. 95.
104 Siehe zu den Vorarbeiten zum Leben Fibels auch Helmut Pfotenhauer: Unveröffentlichtes
von Jean Paul: die Vorarbeiten zum „Leben Fibels“, München: Verl. der Bayerischen Akad. der
Wiss., 2008.
105 Faszikel 7, grünes Erfindungsbuch, S. 21.
298 | 3 Jean Paul
Transkription106:
Und wie war wol gar vollends die junge Frau gegen ihren Mann? – Wie eine
Jungfrau. Was er sagte, daß that sie; aber sie fragte, um zu thun. Ein Mann,
sagte sie, muß sein Recht haben. „Ja, er [nicht lesbar] Mutter. „Ich thue alles,
was er sagt, denn er muß doch wissen warum“. So wurde Fibel von drei
Menschen wie [nicht lesbar].
106 Durchgängig in den Transkriptionen zu Jean Paul bedeutet die graue Markierung eine ,flä-
chendeckende‘ Streichung im Manuskript. Ich verzichte aus Raumgründen zum Teil auf eine
diplomatische Wiedergabe der Zeilenwechsel im Manuskript.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 301
Die Markierung durch die Schrift, die den Wechsel in den Modus des suchen-
den Schreibens angibt, ist, besonders auf Blatt 36 verso, derart deutlich, dass die
Passage hätte ungestrichen bleiben können. Es wäre für den Rücklesenden selbst-
verständlich gewesen, diese Passage erneut dem ideativen Pfad, dem Ideenwür-
feln zuzuführen und sie dann noch einmal auszuführen. Genau das unternimmt
der Schreibende im unteren Drittel des Blattes 36 verso, diesen neuerlichen Mo-
duswechsel zum literarischen Schreiben – die Passage geht unverändert in die
Druckfassung ein! – wiederum durch die Schrift markierend. Betrachtet man nun,
um welche Elemente sich die Bildfindung bewegt, so ist es natürlich Drottas nicht
ganz zeitgemäßer Satz, der zunächst einmal in der vorbereitenden Phase variiert
wird und dann in endgültiger Fassung in der zweiten, ,literarischen‘ Epoche fir-
miert. Der Satz durchläuft also drei Stadien der Ausformulierung, bis er seine
endgültige Gestalt erlangt. Hier stellen sich nun mehrere Fragen:
1. Ab wann ,weiß‘ der Schreibende, dass er einen Moduswechsel vornimmt?
2. Wie fällt die Entscheidung, welche Markierung – Verwendungsstreichung
oder Schrift – gewählt wird?
3. Welche Konzepte der Phasen suchenden Schreibens durchlaufen rekursiv
weitere assoziative Prozessierungen?
Im Zusammenhang dieses Fundes lässt sich nur Frage drei klären. Es ist ganz
erkennbar, dass der Schreibende eine Vielzahl weiterer semantischer Konzepte
und Formulierungsideen in die Phase literarischen Schreibens einbringt, die er
zuvor nicht hatte. Aus dem Abbreviativen, Flüchtigen und Unscharfen der ersten
Phase wird ein flüssiger, plastischer Erzähltext. Das bedeutet, die spezifische
Form der Rückläufigkeit des Schreibens ermöglicht es dem Experten, nicht nur
auf Wortebene, wie zuvor gesehen, sondern auch in komplexeren syntaktischen
Gebilden Überlagerungen vorzunehmen, die dann zu dichten mentalen Konzep-
ten führen. Wie genau der Schreibexperte arbeitet, wenn er den Vorlauf des
suchenden Schreibens hatte, zeigt der Blick auf die Transkription: Fibel ist nicht
fünf Jahre jünger, sondern er wird nicht älter (Revenant am Ende der Erzählung).
Es ist nicht Gewohnheit oder Geborgenheit, sondern Pflicht, die Drottas Verhalten
gegenüber Fibel bestimmt (in der Druckfassung heißt es: „aus Pflicht“). Deshalb
befragt sie seinen Willen (und fragt Fibel nicht). Fibel ist in seine Arbeiten einge-
senkt (passivischer Gebrauch, ,leidend‘) im Gegensatz zu versunken (aktivisch,
weil intransitiv). Die incipit-Formel denn sie sagte wird eingefügt, die im Vorlauf
zweimal realisiert wurde. Neben diesen akribischen semantisch-lexikalischen
Meißelschlägen finden sich fast ebenso häufig syntaktische Justierungen, zu-
meist Konjunktionen: hier wird das konzessive wenn gleich zu ob gleich geändert,
also eine stilistische ,Hebung‘ vorgenommen.
Das erste Beispiel für eine Verwendungsstreichung findet sich auf Blatt 34
recto.
302 | 3 Jean Paul
1 Und so
tag selber.
Im Ganzen besteht das Blatt aus sieben Schreibepochen. ,Und so‘ (1) bezeich-
net den Beginn eines neuen Absatzes, der aber zunächst unterbrochen werden
muss, um den zuvor unvollendet gebliebenen Satz abzuschließen (2). In Schrei-
bepoche drei wird die Einleitung ,Und so‘ wiederaufgenommen und in „Und so
waren endlich einmal drei Unschuldige..“ ausgeführt. Hier stockt nun die
Schreibideation, und die folgende Passage wird mit einer Tilgungsstreichung
emendiert; allerdings lassen sich hier bereits semantische Kerne wie ,Schicksal‘
nachweisen, die in Schreibepoche sechs wieder aktiviert werden. Die Tilgungs-
streichung markiert den Absatz erkennbar als Einheit und setzt ihn ab von dem
folgenden (4). In Schreibepoche vier rastet nun der Protokollmodus ein, der
Schreibprozesse – besonders stagnierende – begleitend reflektiert: der Biograph
artikuliert die Sorge, dass er seine anfängliche Aussage, der Verlobungstag Fibels
sei erfüllender als der Hochzeitstag gewesen, selbst durch seine Beschreibung
widerrufen habe. Ganz erkennbar unterscheidet sich die vorliegende Streichung
(Markierung im Autographen) von der vorhergehenden: die Verwendungsstrei-
chung markiert, dass der angedeutete Gedanke später erneut der Schreibideation
zugeführt werden soll: das ist in den protokollierenden Epochen fünf und sieben
der Fall.
Es ergibt sich also folgendes Bild:
Epochen 1, 2, 3, 6: narrativ
Epochen 4, 5, 7: protokollierend/,biographisch‘/reflexiv.
Bei Jean Paul werden Schreib’pläne’ abgebrochen, der Schreibakt nicht. Die
Strategie der kognitiven Entlastung und diejenige des pausenlosen Schreibens
stellen hohe Ansprüche an die Gedächtnisleistung des Schreibenden. Über län-
gere Arbeitsspannen hinweg müssen liegengebliebene ,Fäden‘ gleichsam griff-
bereit sein, damit sie im geeigneten Moment in die entstehenden assoziativ ge-
nerierten Konzepte verwoben werden können. Dergestalt entstehen ,dichte‘
mentale Konzepte beim (Experten-)Schreiben, dessen vielfältige Möglichkeiten
sich diesem Autographen präzise ablesen lassen.
Zu Beginn des schwierigen Biographie-Kapitels finden sich fast keine unver-
sehrten Textpassagen. Der Schreibende sucht nach dem Dreh- und Angelpunkt
des biographischen Paradoxes, das zeitgleich im Vita-Buch ausformuliert wird
und in der Selberlebensbeschreibung seine endgültige Gestalt erlangt. Dement-
sprechend lassen sich die in Kapitel 3.2 nachgewiesenen ,verschiedenen Hände‘,
die die Auslegung des Lesers vermeiden wollen (also nach einer Metapher, einer
Umschreibung für das Ausdrucksziel suchen), hier erneut beobachten. Zweitens
wird die Strategie des ununterbrochenen Schreibens appliziert. Und drittens las-
sen sich kognitive Marker nachweisen (Blatt 74 verso und 75 verso), die beide
Kernelemente des zu findenden ,narrativen Schlusses‘, der logischen Unmög-
lichkeit des Biographen der Biographen, hervorheben.
306 | 3 Jean Paul
Der gut sichtbare kognitive Marker auf Blatt 74 verso hebt durch eine Streichung
diese narrative Makroposition hervor, die später noch einmal überarbeitet wer-
den soll. Ganz deutlich differiert hier die Schrift vom übrigen Textfluss. Betrach-
tet man den Schriftträger als ganzen, so fällt diese Passage geradezu in die Au-
gen. In einer Relektürephase würde der Schreibende hier mit neuen Planungen
einsetzen und Schreibziele entwerfen, die den nucleus des Markierten um- und
weiterformen. Tatsächlich geschieht ja genau dies; im gesamten biographischen
Kapitel wird damit gespielt, dass der Erzähler, also der Biograph, mit dem selbst-
ernannten Biographen Pelz in Konkurrenz treten muss, zumal seit der Magister
tatsächlich Teil der Biographie Fibels geworden ist.
Wie auf Bl.34 recto sind auf diesem Manuskriptblatt mehrere klar unter-
scheidbare ,Hände‘ im Spiel, die verschiedene Wertigkeiten der jeweils realisier-
ten Ideen markieren. Wichtig ist, dass die beiden kognitiven Marker auf Bl.34
recto und Bl.74 verso auf der Ebene der biographischen Reflektion sich ansie-
deln. Die Strategie der kognitiven Entlastung und der Markierung für die Über-
wachungsinstanz während der Relektüre greifen also ineinander. Genauer: der
Wechsel auf die biographische Reflektionsebene, die wir in den Planungsent-
würfen beobachteten (Kapitel 3.2), erfüllt hier einerseits die Funktion der Über-
brückung von flaws der Schreibideation durch die Strategie der kognitiven Ent-
lastung. Andererseits stellt er aber auch genau jenes Umkreisen und uneindeu-
tige Benennen der Aussageabsicht dar, die es dem Leser erschweren soll, Deu-
tungen zu entwickeln. Denn der Wechsel auf die biographische Protokollebene,
die hier markiert wird, führt ja einerseits ,vom‘ Thema ,weg‘ (kognitive Entlas-
tung), andererseits auf es ,hin‘ (biographisches Paradox).
Die gesamte Einleitungspassage ist geprägt von dem caveat des eindeutigen
Ausdrucks und dementsprechend einem konzentrischen Einkreisen des biogra-
phischen Paradoxes, das die narrative Metaposition in diesem Kapitel ausma-
chen wird. Fast intentional wird das erzählerische Paradox umkreist, aber nicht
benannt, werden semantische Kerne gruppiert, ohne dass es zu einem zeitigen
Zusammenschießen der membra disiecta käme. Ich erinnere an die poesis-auf-
schließenden Allegorien in den Vita- und Gedankenheften, besonders die reine
Handschrift, die die Auslegung des Lesers vermeiden muss (Kapitel 3.2).
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 309
107 „Aber auch als Schriftsteller hat er später diesen Haus- und Winkelsinn fortgesetzt in Wutz
und Fixlein und Fibel; und noch sieht der Mann gern jedes nette niedrige Schieferhäuschen von
zwei Stockwerkchen mit Blumen vor den Fenstern und einem Hausgärtchen, das man bloß vom
Fenster heraus begießt; und im zugemachten Kutschkasten kann der gut häusliche Narr ordent-
lich vergnügt dasitzen und an den Seitentaschen herumsehen und sagen: „Ein prächtiges,
feuerfestes Stübchen! Und draußen fahren die größten Dörfer und Gärten vorbei!. – So viel ist
darzutun, dass er in einem Rittersaale, in einer Petersburg noch weniger schreiben als wohnen
könnte – es wär’ ihm ein Marktplatz mit einem Dache versehen –, indes er doch fähig wäre, auf
dem Montblanc, oder auf dem Ätna, wäre alles gehörig dazu hergerichtet für ihn, in einem fort
zu schreiben und zu wohnen.“ (Selbleb, 1082).
310 | 3 Jean Paul
108 Götz Müller: Mehrfache Kodierung bei Jean Paul. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft,
Bd. 26/27, 1991/1992, S. 67–91.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 311
So muß eben alles, was er gut hört [?] von Nachrichten eingefang[en]
werd[en], was von diesem Ur-Adam bis zu ihm selber zu haben ist,
gleichsam als
Druck
wie man das feinste Postpa- oder Schreib-
Interessant an dieser Passage ist, dass sie eine Fülle von narrativen Konzep-
ten entwickelt, die sich in der endgültigen Niederschrift über das gesamte Kapitel
verteilen. Zunächst wird das Konzept des Postpapiers – eine Lieblingsidee des
Hesperus-Autors – in folgenden Absatz transformiert:
Um also die papiernen Patronen dieses Kapitels, die aus Flintenläufen zurückgeblieben, zu
Land- und Schiff-Patronen für mein Buch zu machen, ist es notwendig, daß ich zwar in
Sitzungen über Fibels jetziges Leben eine Weinlese, aber in Sitzungen über dessen früheres
nur eine Ährenlese halte, und so werden, hoff’ ich, alle so befriedigt, daß man weder pfeift
noch keift (Fibel, 493).
Die Idee der genealogischen Rechnung und der Makulatur, die aus Lumpen be-
steht, sowie den Enkeln und Urenkeln, bis zu denen die Biographie getrieben
werden kann109, erscheinen verstreut auf den nächsten Druckseiten. Der Entwurf
macht deshalb den Eindruck einer Stoffsammlung oder eines Steinbruchs für
weitere Ausarbeitungen.
Von besonderem Interesse in unserem Forschungszusammenhang ist die
Markierung oben rechts (Abbildung 49). Diese ist allem Anschein nach keine
Verwendungsstreichung, von der wir Beispiele auf den letzten beiden Autogra-
phen untersucht haben. Hier werden einzelne Worte mittels einer Hervorhebung
für weitere sprachproduktive ,Durchläufe‘ markiert: Schreib(papier), Makulatur,
Nach(richten). Geht man davon aus, dass der gesamte Abschnitt markiert wird,
so wären weitere semantische Kerne wie Enkel, Lumpen, genealogisch, Spiel-
und Schwerdt-Magen im Fokus. Alle diese semantischen Konzepte werden im
Werk Jean Pauls vielfachen, unterschiedlichen Ausdrucksfeldern zugeordnet. Sie
bringen ihren semantischen Kern in die unterschiedlichsten narrativen Abfolgen
und werden dementsprechend verschieden kodiert. Der Schreibende markiert
nun offensichtlich prospektiv die assoziativ valentesten semantischen Konzepte,
um ihre assoziative Bahnung bei der nächsten rekursiven Schleife zu stärken.
3.4.1.3 Zusammenfassung
Das gesamte Konvolut ist geprägt von Moduswechseln sowohl inhaltlicher als
auch schreibperformativer Art. Da die Strategie des pausenlosen Schreibens ge-
wählt wird, muss der Schreibende eine ad-hoc-Ordnung herstellen, die Verwend-
barkeit und Zugehörigkeit der ausformulierten Teile benennt. Zu Beginn des Ma-
nuskripts sind dies die erwähnten Ordnungszahlen, die einzelne Absätze aus
dem Entwurfsstadium herausheben. Später übernehmen diese Funktion kogni-
109 „Mich wundert daher, dass Biographen eines berühmten Mannes ihn nur bis zu seinem
Tode verfolgen, und selten durch Enkel und Urenkel hindurch. Eigentlich nimmt ja keine Bio-
graphie ein Ende, denn die darin aufgeführten Kinder des Helden zeugen neue, und so fort, und
alles ist dem Helden verwandt.“ (Jean Paul: Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 6, S. 493).
314 | 3 Jean Paul
3.4.2.1 Einführung
Die Vorreden Jean Pauls sind sorgsam durchkonstruierte Wegbereiter des jewei-
ligen Werks, in denen der Autor Einsicht in seine Werkstatt gewährt (2. Auflage
Hesperus 110), seinen Autorstolz zu erkennen gibt (Vorrede zu Vorreden), das Autor-
Leser-Commercium erneuert (Epilog zur zweiten Auflage der satirischen Schrif-
ten). Die Vorrede rahmt das Werk, wie es Norbert Miller und Till Dembeck be-
schrieben haben.111 Insofern handelt es sich hier um eine eigene Textsorte, die
außerhalb des biographischen Spiels der Romane gesetzt werden muss. Auf der
anderen Seite hat Barbara Hunfeld für die Vorrede zur zweiten Auflage des He-
sperus nachgewiesen, wie bearbeitet und durchdacht auch die Passagen sind,
die vermeintlich authentischen Einblick in die Werkstatt des Autors gewähren.112
Auch die empfindsamen Neuauflagen des sich fortbewegenden Schreibers (Un-
sichtbare Loge, Biographische Belustigungen) sind natürlich durchkomponierte
Schreibszenen, die die innere Welt des Autors Jean Paul als äußere am geschütz-
ten Raum der Kutsche oder der Schreibinsel vorbei ziehen lassen. Selbst die
,Architektonik‘ und das ,Bauholz‘, der Blick hinter die Kulissen, verdankt sich
dem gleichen Arbeitsprinzip, das Jean Pauls fiktives Schreiben prägt: Formulie-
110 Jean Paul: Hesperus; In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller, Darmstadt: Wiss.
Buchges. 1989 (4., korr. Aufl.). Abt. 1, Bd. 1, S. 471–1236, hier S. 480–486. Im Text weiterhin
abgekürzt mit der Sigle: Hesp.
111 Norbert Miller (Hg.): Romananfänge: Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin: Literari-
sches Colloquium 1965; Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18.
Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin/New York: de Gruyter 2007.
112 Barbara Hunfeld: Glanz der Unebenheit. Aus Jean Pauls ,Arbeitsloge‘ des „Hesperus“. Jahr-
buch der Jean-Paul-Gesellschaft, Bd. 35/36, 2001, S. 151–164.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 315
Die fixe Idee, auf Geld, Ehren und Glück zu verzichten, um Bücher zu schreiben,
erfährt hier die Nobilitierung als Bestandteil der inneren Welt:
113 Siehe dazu auch: Helmut Pfotenhauer: Jean Paul: Lebenserschreibung: veröffentlichte und
nachgelassene autobiographische Schriften, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2004; Monika
Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung
und des Schreibens, München: Fink 1995.
114 Zit. in Walter Höllerer: „Nachwort“. In: Jean Paul: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4: Kleinere
erzählende Schriften: 1796–1801. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2000,
S. 1226–1251, hier S. 1237.
115 Jean Paul: „Palingenesien“. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller, Abt. 1, Bd. 4:
Leben des Quintus Fixlein u.a., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988 (4., korr.
Aufl.), S. 717–925, hier S. 733.
116 Jean Paul: „Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer; eine Stadtgeschichte und die
wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Mil-
ler, Abt. 1, Bd. 4: Leben des Quintus Fixlein u.a., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell-
schaft, 1988 (4., korr. Aufl.), S. 1081–1138, hier S. 1083–1085.
316 | 3 Jean Paul
kurz jeder Mensch mit einem großen Entschluss oder auch nur mit einer perennierenden
Leidenschaft (und wär’ es die, den größten Folianten zu schreiben), alle diese bauen sich
mit ihrer inneren Welt gegen die Kälte und Glut der äußern ein. Jede fixe Idee, die jedes
Genie und jeden Enthusiasten wenigstens periodisch regiert, scheidet den Menschen er-
haben von Tisch und Bett der Erde, von ihren Hundsgrotten und Stechdornen und Teufels-
mauern.117
Der Jubelsenior gibt zweite und dritte Auflagen heraus und lässt es sich nicht
nehmen, auch diese mit einer auktorialen Rahmung zu versehen. Der über den
Tod hinausschreibende Autor, als den sich Jean Paul im bevorstehenden Lebens-
lauf imaginiert (und dann in Leben Fibels noch einmal abbildet), ist das Idealbild
der Vorrede; der Revenant ist die Einspruchsinstanz gegen die fehlgeleitete Re-
zeption der Nachwelt. Interessant ist in diesem Kontext, wie der Alternde im
auktorialen Rederecht auf den Jüngeren blickt, wie sich also der Imperator-
Gestus jeweils noch einmal überbieten lässt. Zweitens stellt sich, damit zusam-
menhängend, die Frage nach sich verändernden Schreibstrategien, die sich an-
hand einer Untersuchung der Handschrift der dritten Vorrede zum Hesperus her-
auspräparieren lassen:
117 Jean Paul: „Leben des Quintus Fixlein“. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller,
Abt. 1, Bd. 4: Leben des Quintus Fixlein u.a., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
1988 (4., korr. Aufl.), S. 7–260, hier S. 11.
118 Barbara Hunfeld: Glanz der Unebenheit, a.a.O., S. 1.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 317
Das Manuskript besteht aus drei Teilen: Bl. 2 recto bis Bl. 4 verso: Durchfor-
mulierung wesentlicher Teile der Vorrede. Bl. 5 recto bis Bl. 7 recto Ergänzungen
(insgesamt 7). Bl. 8 recto bis Bl. 9 verso: weitere Ausformulierungen. Ursprüng-
lich hatte Jean Paul zwei Oktavblätter vor sich: Oktavblatt eins umfasste Bl. 2
recto und verso und Bl. 9 recto und verso. Oktavblatt zwei umfasste Bl. 3 recto
und verso sowie Bl. 8 recto und verso. Dann folgen die ,gelben‘ Blätter, zunächst
Oktavblatt drei mit Bl. 4 recto und verso sowie zwei Leerseiten. Sämtliche Ergän-
zungen (1–7) stehen auf gelben Einzelblättern. Die Übergänge zwischen diesen
verschiedenen Schriftträgertypen, die mehrere kognitive Bearbeitungsstufen
sichtbar und sinnfällig machen, sind erzähllogisch, das heißt schreibökono-
misch, wenn man das Manuskript auseinanderfaltet und die fehlerhafte Paginie-
rung Berends ignoriert. Das bedeutet: Allem Anschein nach wird die Nieder-
schrift dieses Manuskripts nicht unterbrochen, sondern wir haben eine zusam-
menhängende Schreibepoche vor uns. Das gilt auch für die Ergänzungen, die
zwar auf einem anderen Schriftträger notiert wurden, dies aber, weil der Schrei-
bende die Überarbeitung gestrichener/markierter Passagen räumlich vom Fließ-
text trennen möchte. Hier ist kein zeitlicher Hiatus zwischen Fließtext und Ein-
fügungen anzunehmen. Das beeindruckende Faktum dieses Funds besteht dar-
in, dass das Manuskript eine bis in die Zeichensetzung hinein vollständige
Druckvorlage darstellt. Betrachtet man die Seiten, so hat man dagegen den Ein-
druck, einem vorläufigen Denken in processu beizuwohnen. Es bedarf einer au-
ßergewöhnlichen synthetisierenden kognitiven Leistung, die es dem Schreiben-
den ermöglicht, auf einer derartigen Stufe ein druckfertiges Manuskript zu er-
stellen – dies, wie erwähnt, in einer zusammenhängenden Schreibepoche119.
119 Da diese Handschrift lückenlos sowohl die Textfassung in Berends kritischer Ausgabe als
auch die aller weiteren Ausgaben bis zu Norbert Miller abbildet, erübrigt sich hier eine Tran-
skription. Ich gebe im Folgenden exemplarisch zwei der abgebildeten Textpassagen in der hier
verwendeten Ausgabe der Sämtlichen Werke, hg. v. Norbert Miller, Abteilung I, Bd. 1: Blatt 3
verso auf S. 477–478 von „Endlich drittens“ bis „der Methusalem bekäme so viele“; Blatt 9 recto
auf S. 475–476 von „Purist selber sei ein Beispiel“ bis „das er etwa besessen“ und von „ die
deutsche Gesellschaft allda“ bis „welche Ersatzwörter“.
318 | 3 Jean Paul
Abb. 50. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Bl. 3 verso. Die abgebildete Handschrift ist
Eigentum der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Herzlichen Dank an
Jutta Weber für die gute Kooperation.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 319
Abb. 51. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Blatt 5 recto.
320 | 3 Jean Paul
Abb. 52. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Blatt 6 recto.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 321
Abb. 53. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Blatt 6 verso.
322 | 3 Jean Paul
Abb. 54. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Blatt 9 recto.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 323
120 Eine Ausnahme ist der Übergang von Ergänzung 2 „Wenigstens darf [ich, JL])“ auf Bl. 6 recto
zu Bl. 9 recto „die deutsche Gesellschaft allda, die mich in sich aufgenommen, ersuchen, in die
Verlagsverhandlungen zu gehen“. Der erste Satzteil ist in einer späteren Schreibphase hinzu-
gefügt worden.
121 Siehe zu den Vorarbeiten zum Leben Fibels, die in Faszikel 14 abgelegt sind, auch Helmut
Pfotenhauer: Unveröffentlichtes von Jean Paul: die Vorarbeiten zum „Leben Fibels“. München:
Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2008.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 325
gnitiven Marker 5, so lässt sich die gleiche Ausdehnung beobachten, die in den
Vorarbeiten zu Leben Fibels zu beobachten ist, wenn die Schreibideation in eine
,Flaute‘ gerät. Zweitens sind hier bereits einzelne semantische Konzepte wie
,Archipelagus‘ und ,Inselblätter‘ automatisch markiert worden (,gesperrte‘
Schreibung). Genaugenommen sind die Streichung und die Verweiszahl 5 die
dritte, resp. vierte Markierung dieser Passage! Es liegt nahe anzunehmen, dass
auch sie ad hoc erfolgten und der Schreibende sofort das nächste und letzte
narrative Konzept der Vorrede aufruft: den Hesperus, der vom Morgen- zum
Abendstern gewandelt ist.
328 | 3 Jean Paul
Abb. 55. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Bl. 4 recto. Die abgebildete Handschrift ist
Eigentum der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
3.4 Jean Pauls Papierarbeit | 329
Abb. 56. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 34, Bl. 4 verso.
330 | 3 Jean Paul
dritte!
Blatt 4 verso:
3.4.2.3 Zusammenfassung
Was qualifiziert das dokumentierte Material zum Fund? Dieses Manuskript kann
als Beispiel in nuce dafür gelten, wie der späte Jean Paul seine Schreibmöglich-
keiten und -strategien, die er in einem langen Schreibleben ausbildete, produktiv
macht. Der Schreibende nutzt verschiedene Schriftträger, um rekursive ,Stadi-
en‘, Bearbeitungsebenen zu trennen. Ich spreche hier deshalb von einer Bün-
delung, die semantische Ordnungsklassen herstellt: Fließtext und Ergänzung.
Diese Bündel sind gleichzeitig über die kognitiven Marker zweiter Ordnung (die
Verweiszahlen) in semantische Relation zueinander gebracht.
Der Schreibende, also Jean Paul, nutzt kognitive Marker als Markierung von
Schreibideen, die einem weiteren ,Durchlauf‘ von der Genese mentaler Konzepte
über die sprachliche Enkodierung bis zur motorischen Realisierung zugeführt
werden sollen. Der schreibende Jean Paul nutzt die Auslagerung auf das Papier,
um kognitive Ressourcen für das Zusammenspiel von motorischem Schreibakt
und Ideengenese freizuhalten („Inselblätter“) und um prospektiv die Ideenge-
nese ,auszulesen‘.122 Bediente sich der Schreibende dieser Technik des prospek-
tiven Auslesens nicht, könnte er nicht derart passgenau und in einer ununter-
122 Hier verlasse ich kurz, nicht nur aus rhetorischen Gründen, mein in Kapitel 1 formuliertes
methodisches caveat.
332 | 3 Jean Paul
3.5.1 Einführung
oder wenn ihm die anatomischen Tabellen der perspektivische Aufriß einer göttlichen
Bauart waren, und das anatomische Messer zum Sonnenweiser seiner Lieblingswahrheit
wurde: daß es, um einen Gott zu glauben, nicht mehr bedürfe als zweier Menschen, wovon
noch dazu einer tot sein könnte, damit ihn der lebende erinnre und durchblättere – oder
wenn ihn die Dichtkunst als eine zweite Natur, als ein zweite Musik sanft emporwehte auf
ihrem unsichtbaren Äther, und er unentschlossen wählte zwischen der Feder und der Tas-
te, sobald er in der Höhe reden wollte – – kurz, wenn in seiner Himmelkugel, die auf einem
Menschen-Halswirbel steht, der Ideen-Nebel allmählich zu hellen und dunkeln Partien
zerfiel und sich unter einer ungesehenen Sonne immer mehr mit Äther füllte, wenn eine
Wolke der Funkenzieher der andern wurde, wenn endlich das leuchtende Gewölk zusam-
menrückte: dann wurde vormittags um 11 Uhr der innere Himmel (wie oft draußen der
äußere) aus allen Blitzen eine Sonne, aus allen Tropfen wurde ein Guß, und der ganze
Himmel der obern Kräfte kam zur Erde der untern nieder, und ... einige blaue Stellen der
zweiten Welt waren flüchtig offen. (Hesp, 589–590).
Die Schreiblabore Jean Pauls und Lichtenbergs bergen Unterschiede. Jean Pauls
Interesse ist durchaus physiologisch, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass er an
Autopsien teilgenommen hat. Es ist aber unverkennbar, dass es sich hier um ein
,geistiges Laboratorium‘ handelt und um eine ,Vereinkunst‘, keine ,Scheide-
kunst‘. Das Ziel der experimentellen Anordnung ist die Levitation, der Blick in
die zweite Welt. In letzter Konsequenz ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch
erhöhte Schreibproduktivität, etwa durch die Auslagerung an ,Schreibrollen‘,
letztendlich nur dem Ziel dient, die zweite Welt in den Bereich des Schreibtischs
zu holen. Ganz anders bei Lichtenberg: bei dem Experimentalphysiker liegt, wie
wir sahen, ein genuin naturwissenschaftliches Interesse an dem Zusammenhang
von Assoziation und Schreiben vor.
Jean Paul hat Lichtenbergs Thesen genau studiert. Hat er sie umgesetzt,
ebenso wie er das Schreiblabor institutionalisierte? Zunächst ist poetische Ima-
gination bei Jean Paul nicht ein intellektuelles Spiel mit Versatzstücken eines
großen Naturzusammenhangs, den es zu entdecken/erfinden gilt. Poetische Ima-
gination ist für Jean Paul aufs Engste mit Emotionen verknüpft. Ein Satz wie „Ich
hatte mich auf K’s Anraten damals entsetzlich darüber geärgert“ (P, 1, 899), wäre
Jean Paul nicht aus der Feder geflossen. Insofern ist Jean Paul natürlich kein
Naturforscher; aber er würde die Doppelbedeutung des Wortes Erfindung bei
Lichtenberg durchaus teilen. In dieser Frühphase naturwissenschaftlicher Me-
thodik ist die Grenze zwischen poesis und Protokoll fließend. Goethes naturwis-
senschaftliches Credo steht dafür exemplarisch ein. Das bedeutet: ganz zweifel-
los ist Jean Paul an naturwissenschaftlicher Beobachtung interessiert, zumindest
der Rhetorik der physiologischen Realisten vom Schlage eines Johann Karl Wezel
folgt er. Die möglichen Welten à la Leibniz, die seit dem Spätbarock Poetologien
mit dem argumentativen Rüstzeug versehen, dem Roman den goût des Betrugs,
der Vorspiegelung zu nehmen, diese möglichen Welten finden wie bei Voltaire
und Wezel so auch bei Jean Paul keinerlei Gnade. Jean Paul ist an einer bestimm-
334 | 3 Jean Paul
ten Spielart des Realismus interessiert, die dem Orbis Pictus Lichtenbergs durch-
aus affin ist. Aber anders als dieser und Wezels physiologische Radikalität und
Goethes zarte Empirie, die im Naturphänomen das Symbol der (entwicklungs-
genetischen) Vorsehung sieht, weiß Jean Paul hinter der Natur und Gesellschaft
die zweite Welt, den inneren Menschen. Es gibt bei Jean Paul eine Evidenz des
emotionalen Erlebens – die sich öffnende zweite Welt beim Schreiben –, die
schlechterdings nicht begründbar ist. Wohl aber ist sie protokollierbar durch den
doppelten Modus des Schreibens.
Ich freue mich nicht über den vorigen Absatz (Faszikel 17, Heft 27, S. 85).
Der Leser kehre nun zurück (Faszikel 17, Heft 27, S. 64).
In Siebenkäs hatte den ganzen Abend die Schreibfreude alle Blutkügelchen in ein solches
Rennen und alle Ideen in einen solchen Wirbelwind gesetzt, daß er bei seiner Lebhaftigkeit,
die oft den Schein der Herzen-Aufwallung annahm, ohne weitere Frage über alles Lang-
same, das ihm in den Weg sich stemmte, über den Zögerschritt des Laufmädchens oder
über die Wort-Trommelsucht desselben aufgefahren und als Platzgold losgegangen wäre,
hätt’ er nicht auf der Stelle nach einem besonderen Temperier- oder Kühl-Pulver gegen
freudige Entrüstung gegriffen und solches eingenommen. Es ist leichter, dem schleichen-
den Gang eines schweren, trüben Bluts einen Abfall und einen schnellern Zug zu geben, als
die Brandungen eines fröhlichen stürmenden zu brechen; aber er wußte sich in der größten
3.5 Jean Pauls Werkgedächtnis (Hesperus) | 335
Freude stets durch den Gedanken an die unerschöpfliche Hand zu stillen, die sie gegeben
hatte – und durch die sanfte Rührung, mit welcher das Auge sich vor dem verhüllten
ewigen Wohltäter aller Herzen niederschlägt. Denn alsdann will das von Dankbarkeit und
der Freudenträne zugleich erweichte Herz wenigstens dadurch danken, daß es milder ge-
gen andere ist (Siebenkäs, 83).
Es gilt also, in einigen frühen Romanen Jean Pauls – dem Hesperus, der Unsicht-
baren Loge – den Wechsel hoher und niedriger emotionaler Aktivierungen zu
verfolgen und Rückschlüsse darauf zu ziehen, ob ,change of mood‘ und ,change
of mind‘ in bezug auf narrative Stratifikation, Figurenprofil, Bildlichkeit zusam-
menhängen. Besonders plötzliche ,Umschläge‘ – von der stellaren Apokalypse
zur ,Wiedergeburt‘ im häuslichen Radius – werden im Mittelpunkt stehen, weil
sich die gesteigerte Assoziationsleistung der Schreibideation hier der gezielten
Manipulation durch ,untergelegte’ Emotionen direkt verdankt.
1. Gerade die feinsten und unsichtbarsten Fühlfäden unserer Seele laufen wie Wurzeln
unter der groben Sinnenwelt fort und werden von der entferntesten Erschütterung gesto-
ßen. Z.B. wenn der Himmel gegen Osten licht- und wolkenlos, gegen Westen mit Wolken-
schläuchen verhangen ist: so kehr’ ich mich scherzhafterweise mehr als zehnmal um – steh
ich gegen Osten, so fliegen alle inneren Wolken aus meinem Geiste weg – fahr’ ich gegen
Westen um, so hängen sie sich wieder um ihn her – und auf diese Art zwing’ ich durch
schnelles Umdrehen die entgegengesetzten Empfindungen, vor mir ab- und zuzulaufen.
(UnLog, 225).
2. Meine Lebensbeschreibung sollte jetzo weiterrücken; aber ich kann meinen Kopf und
meine Hand unmöglich dazu leihen, wenn ich nicht auf der Stelle mich aus der gelehrten
Welt in die zweite schreiben will (UnLog, 357).
3. Muß ich nicht, wenn ich so in die Schlagweite des Todes gerate, aufspringen, durch die
Stube zirkulieren und mitten in den zärtlichsten oder erhabensten Stellen abschnappen
und die Stiefel an meine Beinen wichsen, oder Hut und Hosen auskehren, damit es mir nur
den Atem nicht versetzt, und doch wieder mich daran machen und so auf eine verdammte
Art zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwichsen wechseln?
4. Ich wollte, ich hätte dieses Gleichnis nicht genommen. Sooft ich in Lavaters Fragmenten
oder in Comenii ,Orbis Pictus‘ oder an einer Wand das Blut- und Trauergerüste der sieben
Lebens-Stationen besah – sooft ich zuschauete, wie das gemalte Geschöpf, sich verlän-
gernd und ausstreckend, die Ameisen-Pyramide aufklettert, drei Minuten droben sich um-
blickt und einkriechend auf der andern Seite niederfährt und abgekürzt umkugelt auf die
um diese Schädelstätte liegende Vorwelt (...) ... Aber indem ich über andre mich betrübe,
heben und senken mich die Stufen selber, und wir wollen uns nicht so ernsthaft machen!
(UnLog, 425).
5. Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenk-
tisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die
Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grande monde über der Gasse drüben und ans
Palais Royal muß keiner von uns denken, blos weil ich die ruhige Geschichte des vergnüg-
ten Schulmeisterlein erzähle. Und du, mein lieber Christian, der du eine einatmende Brust
für die einzigen feuerbeständigen Freuden des Lebens, für die häuslichen, hast, setze dich
336 | 3 Jean Paul
auf den Arm des Großvaterstuhls, aus dem heraus ich erzähle, und lehne dich zuweilen ein
wenig an mich! (UnLog, 422).
Jean Pauls zweite Welt ist, wie angedeutet, keine Welt des Möglichen, die das
Recht der Fiktion in Kraft treten lässt. Sie ist vielmehr eine Gegenwelt, in der das
biographische Erzählen, das an der Schreibsituation, an den Lebensumständen
und den inneren Zuständen des Schreibenden interessiert ist, zum Erliegen
kommt. Der die zweite Welt Erlebende betrachtet einen Sinnzusammenhang, der
nicht biographisch ausgedeutet werden muss. Nur in der engen Welt des Hiesi-
gen, sei es die häusliche Idylle oder die gesellschaftliche Einengung, bedarf es
der Narration und dem fortschreitenden Ausschreiben der eigenen Existenz. Nun
gibt es in Jean Pauls dualistischer Denkart niemals einen Daseinsmodus ohne
Widerpart. Dem Höhenflug im Kampaner Tal wird also der dunkle des Luftschif-
fers gegenübergestellt. Dem empfindsamen Freundschaftsdialog folgt der erkäl-
tende Kommentar des Satirikers auf den Fuß. Dementsprechend kontrastiert den
freundlich dreinblickenden Himmel, die Parallelwelten der Sterne und den Blick
auf den blauen Planeten eine dunkle Apokalypse.
Dabei ist sowohl in der im Juli 1790 entstandenen Klage (Des todten Shake-
speares Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, dass kein Gott sei 124) als auch
der Rede des toten Christus, die 1795 als Teil des Siebenkäs entstand (Siebenkäs,
270–275), eigen, dass die eigentliche Apokalypse in einem disharmonischen Zu-
sammenzwingen der beiden Welten besteht. Nicht Voltaires Angst, dass die klei-
ne Erde nur die kleine Kammer des Universums ist (Motto zu den Grönländischen
Prozessen: „J’ ai bien peur que notre petit globe terraquéene soit les petites mai-
sons de l’univers“) ist die des Autors, der eine leere zweite Welt mit fast ebenso
unverhohlener Lust abbildet wie eine von Gottes Gnade durchwaltete. Nein, die
Enge eines beide Welten zusammenzwingenden Daseins ist die wahre Höllen-
strafe. Hier ist der die emotionalen Gezeiten suchende Autor der Projektion auf
die dichotomische Weltentrennung beraubt. Es bleibt nur die kleinstädtische
Idylle oder Resignation.
Wie sehr die zweite Welt letztendlich produktionsseitige Garantin des Wech-
sels emotionaler Gezeiten ist, soll im Folgenden eine Synopsis der beiden Texte
unter Beweis stellen.
124 Dieser Text wurde von Jean Paul in die „Bayerische Kreuzerkomödie“ montiert. Sämtliche
Werke, Abt. 2, Bd. 2, S. 589–592.
3.5 Jean Pauls Werkgedächtnis (Hesperus) | 337
Rede des toten Christus vom Weltge- Des todten Shakespear’s Klage unter
bäude herab, daß kein Gott sei (1795) todten Zuhörern in der Kirche, daß
kein Gott sei (1790)
Ich lag einmal an einem Sommeraben- Mir träumte, ich erwachte auf dem Got-
de vor der Sonne auf einem Berge und tesacker
tesacker. Ich hörte die abrollenden Rä-
entschlief. Da träumte mir, ich erwach- der der Thurmuhr
Thurmuhr, da sie 11 Uhr schlug
te auf dem Gottesacker.
Gottesacker Die abrollen- – und suchte am nächtlichen Himmel
den Räder der Turmuhr, die eilf Uhr die Sonne und glaubte, eine Sonnen-
schlug, hatten mich erweckt. Ich such- finsternis blos verdecke sie mir. Die
te im ausgeleerten Nachthimmel die Gräber standen aufgeschlossen wie die
Sonne weil ich glaubte, eine Sonnen-
Sonne, eiserne Thüre des Gebeinhauses
Gebeinhauses; an
finsternis verhülle sie mit dem Mond. den Mauern flogen Schatten, die nie-
Alle Gräber waren aufgetan, und die mand machte, und andre Schatten
eisernen Türen des Gebeinhauses gin- giengen aufrecht in der bloßen Luft.
gen unter unsichtbaren Händen auf Zuweilen hüpfte ein wogender Schim-
und zu. An den Mauern flogen Schat- mer innen an den Kirchenfenstern hin-
ten, die niemand warf, und andre an und zwei bebende unaufhörliche
Schatten gingen aufrecht in der bloßen Misstöne kämpften in der Kirche mit
Luft. In den offnen Särgen schlief einander und wollten vergeblich in ei-
nichts mehr als die Kinder. Am Himmel nen Wollaut vergehen.
hing in großen Falten bloß ein grauer
schwüler Nebel, den ein Riesenschatte
wie ein Netz immer näher, enger und
heißer hereinzog. Über mir hört’ ich
den fernen Fall der Lauwinen, unter
mir den ersten Tritt eines unermessli-
chen Erdbebens. Die Kirche schwankte
auf und nieder von zwei unaufhörli-
chen Mißtönen, die in ihr miteinander
kämpften und vergeblich zu einem
Wohllaut zusammenfließen wollten.
Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein
grauer Schimmer hinan, und unter
dem Schimmer lief das Blei und Eisen
zerschmolzen nieder. Das Netz des Ne-
bels und die schwankende Erde rück-
ten mich in den Tempel, vor dessen
Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilis-
ken funkelnd brüteten.
338 | 3 Jean Paul
Ich ging durch unbekannte Schatten, Ich wurde, ohne mein Gefühl, in die
denen alte Jahrhunderte aufgedrückt Kirche gerückt, in der hinten am Altar
waren. – Alle Schatten standen um den eine einzige hole Stimme tönte und
Altar, und allen zitterte und schlug lebte. Ich sah unbekannte Gestalten,
statt des Herzens die Brust. Nur ein To- denen alte Jahrhunderte aufgeprägt
ter, der erst in die Kirche begraben wor- waren und welche bebten; die von mir
den, lag noch auf seinen Kissen ohne fernern bebten heftiger und wurden zu
eine zitternde Brust, und auf seinem lä- entfärbten Schatten zertrieben; und
chelnden Angesicht stand ein glückli- hinter dem Altar war ein zitterndes
cher Traum. Aber da ein Lebendiger Dunkel, in das die Schatten zerfuhren.
hineintrat, erwachte er und lächelte – die Totenversammlung wurde dem
nicht mehr, er schlug mühsam ziehend Dunkeln immer zugerückt und es fras
das schwere Augenlied auf, aber innen davon ab. In aufgedeckten Särgen la-
lag kein Auge, und in der schlagenden gen schlafende Todte mit einem Ange-
Brust war statt des Herzens eine Wun- sichte vol lebender Träume und lächel-
de. Er hob die Hände empor und faltete ten zuweilen; aber die erwachten lä-
sie zu einem Gebete; aber die Arme ver- chelten nicht. Viele wachende drehten
längerten sich und löseten sich ab, und sich nach mir und schlugen ziehend
die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben die Augenlieder auf; aber innen lag
am Kirchengewölbe stand das Ziffer- kein Auge und in der linken Brust war
blat der Ewigkeit
Ewigkeit, auf dem keine Zahl stat des Herzens ein Loch – eben diese
erschien und das sein eigner Zeiger mit geräderter Mine fiengen nach et-
war; nur ein schwarzer Finger zeigte was in der Luft und ihr Arm verlängerte
darauf, und die Toten wollten die Zeit einander
sich und ris ab und ran aus einander.
darauf sehen. An der Kirchendecke war das Zifferblat
der Ewigkeit, worauf keine Zahl und
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit kein Zeiger war und das um sich selber
einem unvergänglichen Schmerz aus kreisete; dennoch zeigte ein schwarzer
der Höhe auf den Altar hernieder, und Finger darauf und die Todten wollten
alle Toten riefen: „Christus! Ist kein die Zeit darauf sehen. Mich zogs der
Gott?“ Er antwortete: „Es ist keiner.“ entsetzlichen Stimme am Altar näher,
der ganze Schatten jedes Toten erbeb- die aus einer edlen Gestalt wie fast
te, nicht bloß die Brust allein, und ei- Shakespeares seiner tönte; aber man
ner um den anderen wurde durch das sah es nicht, dass sie sprach. Sie
Zittern zertrennt. Christus fuhr fort: sprach so: „Tönet nur fort, ihr zwei
„Ich ging durch die Welten, ich stieg in Misstöne; kein Got und keine Zeit ist.
die Sonn und flog mit den Milchstra- Die Ewigkeit wiederkäuet sich und zer-
ßen durch die Wüsten des Himmels; nagt das Chaos. Der bunte Wesen-Re-
aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, genbogen wölbt sich, ohne eine Sonne,
soweit das Sein seine Schatten wirft, über den Abgrund und tropfet hinun-
und schauete in den Abgrund und rief: ter – das stumme nächtliche Begräbnis
3.5 Jean Pauls Werkgedächtnis (Hesperus) | 339
„Vater, wo bist du?“ aber ich hörte nur der Selbstmörderin Natur sehen wir
den ewigen Sturm, den niemand re- und wir werden selbst mit begraben.
giert, und der schimmernde Regenbo- Wer schauet nach einem göttlichen
gen aus Wesen stand ohne eine Sonne, Auge der Natur empor? Mit einer leeren
die ihn schuf, über dem Abgrunde und schwarzen Augenhöhle starret sie euch
tropfte hinunter. Und als ich aufblickte an. Ach! Alle, alle Wesen stehen in die-
zur unermesslichen Welt nach dem sem ewigen Sturme, den nichts regiert,,
göttlichen Auge, starrte sie mich mit als gekrümte Waisen da und so weit als
einer leeren bodenlosen Augenhöhle das Sein seinen Schatten wirft, giebts
an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos keinen Vater... Wo ziehst du hin; Sonne
und zernagte es und wiederkäuete mit deinen Erden? Auf deinem langen
sich. – Schreiet fort, Misstöne, zer- Weg findest du keine Gott und nur viel-
schreiet die Schatten; denn Er ist leicht auf Einer Erde einen eingebilde-
nicht!“ ten... Wir unglücklichen Toten! Wenn
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wir den wunden Rücken, vom schwe-
wie weißer Dunst, den der Frost gestal- ren Leben entladen, in die Särge nie-
tet, im warmen Hauche zerrinnt; und derlegen und am Lebens Abend in uns-
alles wurde leer.. Da kamen, schreck- re Erde schläfrig und gebükt mit der
lich für das Herz, die gestorbenen Kin- Hofnung kriechen, am Morgen sehen
der, die im Gottesacker erwacht waren, wir Got und seinen Himmel – so reißet
in den Tempel und warfen sich vor die und prasselt uns um Mitternacht aus
hohe Gestalt am Altare und sagten: „Je- dem Todesschlaf und aus der Todtena-
sus! Haben wir keinen Vater?“ – Und er sche das Stürmen und Kämpfen und
antwortete mit strömenden Tränen: Lodern der ungebaueten Natur und es
„Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir kömt kein Morgen... Ungestorbner
sind ohne Vater“. dort! Drücke keinem Todten mehr die
Da kreischten die Misstöne heftiger – Augen zu, denn die Augenlieder faulen
die zitternden Tempelmauern rückten ab und dann sieht er; und sieht keinen
auseinander – und der Tempel und die Gott mehr... Oh ihr beglückten Leben-
Kinder sanken unter – und die ganze digen! Vielleicht fallet ihr heut im
Erde und die Sonne sanken nach – und Abendpurpur und im Blüthenatem nie-
das ganze Weltgebäude sank mit seiner der und sehet in den aufgeschlossenen
Unermesslichkeit vor uns vorbei– und Himmel hinein und über die Fixsterne
oben am Gipfel der unermesslichen Na- hinüber und geht wie die Kinder mit
tur stand Christus und schauete in das iedem Fund und ieder Wunde zum Va-
mit tausend Sonnen durchbrochne ter und verstumt in ein Gebet – gebt
Weltgebäude herab, gleichsam in das uns euren Gott! So glücklich war ich
in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, auch in meinen verflatterten Tagen, da
in dem die Sonnen wie Grubenlichter ich noch den schmerzenden Busen an
und die Milchstraßen wie Silberadern dich legte, du unmöglicher Gott!, da
gehen
gehen. ich noch auf deinen Armen, unter dei-
340 | 3 Jean Paul
Zunächst wird anhand der Synopse deutlich, wie Jean Paul bestimmte se-
mantische Kerne bei der Neubearbeitung verschiebt: Gottesacker, Thurmuhr,
Sonne, Gräber, Gebeinhaus, Mauern, Misstöne, der abfallende Arm, das Ziffer-
blatt. Entscheidend ist aber, dass diese semantischen Konzepte unterschiedliche
emotionale Valenzen aktivieren. Während im älteren Text Shakespeares ,athe-
istisches‘ Szenario eine Immanenz der Heillosigkeit kreiert, wie sie die soge-
nannte schwarze Romantik, besonders in den Nachtwachen des Bonaventura,
wieder aufnehmen wird, so überwiegt im späteren Text die Empathie der Chris-
tus-Figur mit den leidenden Menschen. Das predigende Konterfei nimmt eben
jene vermittelnde Position ein, die der Erzähler Jean Pauls mit Vorliebe für sich
beansprucht. Deshalb entstehen nun die ,stellaren‘ Tableaus der zweiten Welt,
deren das Frühwerk ermangelt; eine romantische Lust am horror vacui ist hier
unverkennbar. Und deshalb wird die Vorstellung der nivellierenden, die Welten
in eins setzenden schöpferischen Geste zur Angstphantasie: „und alles wurde
eng, düster, bang“. Schreibstimmungen rufen also nach dem Abfall vom Teufel
der Satiren emotionale Bildwelten hervor, die im wesentlichen mit den gleichen
semantischen Konzepten arbeiten wie zuvor die monistische Szenerie. Die Ver-
satzstücke der nekrophilen Schauerromantik und der Calderon-Anklänge wer-
den innerhalb der emotionalen Gezeiten, die die monistische Erzählwelt spren-
gen, umgewertet. Plötzlich tauchen Silberadern, Kornkammern auf, die neue
Bilder und narrative Konzepte lagern und des Abbruchs harren. Die Levitation
ob dieser neugewonnenen Schätze wird in den Schlusspassagen der ,neuen‘
Erzähltexte Jean Pauls durch lösende Emotionen: Freude und Weinen geerdet.
Nun hat die Erde wieder kurze Flügel, und das Ich lebt in der kleinen Bieder-
meier-Welt das Gebet, das der satirische Ledermann nur im Schlaf an Gott rich-
ten durfte.
Verharrt der frühere Text also im apokalyptischen Monismus, so etabliert der
spätere die „All-und-tutti-Liebe“ mit der emphatischen Figur Jesus Christus, die
zuvor noch ein Häufchen Asche war. Diese Figur tritt den Heilsbedürftigen sofort
mit ihrem mitleidenden „Ich“ gegenüber, hat eine „hohe, edle Gestalt“ und ihr
Auge wird durch den gesamten Verlauf der Rede nicht trocken. Das heillose
Szenario wird in der Rührung und der Sternenschau (erste graue Markierung)
bereits gegengewichtet. Die grau unterlegten Passagen verdeutlichen die spür-
bare Entwicklung des Ausdruckarsenals im Vergleich zum früheren Text, die der
Entdeckung – und Wirkung – der emotionalen Gezeiten geschuldet ist. Die Rüh-
rung und tutti-Liebe sorgt für den Hochsitz des Schreibenden über dem Weltge-
bäude, der dann in einer weiteren Wendung zum Interieur der Bürger-Klause sich
transformiert. Erst der Wechsel zwischen Euphorie und Lethargie, den Stimulan-
tia und dem „Temperier- und Kühl-Pulver gegen freudige Entrüstung“ öffnet die
beiden Erzählwelten, die Jean Paul im Weiteren ausgestalten wird.
3.5 Jean Pauls Werkgedächtnis (Hesperus) | 343
darin, die von der Aufklärung literarisch dargestellten Kodes und Ausprägungen
der Empfindsamkeit ,in realiter‘ zu leben. Es handelt sich also innerhalb der
fiktionalen Welt der Biographien Jean Pauls nicht mehr um ein mediales oder
anthropologisches Experiment, sondern hier geht es um die Vergesellschaftung
von kulturellen Formen der Empfindsamkeit im erlebenden Subjekt. Wenn man
denn eine Entwicklung der Protagonisten ausmachen will, so wäre es eine, die
sie unter Beweis stellen lässt, dass das empfindsame Experiment des achtzehn-
ten Jahrhunderts einlösbar ist.
Und doch kommen Zweifel auf. Denn diese schönen Seelen scheitern wie
Schoppe oder Gaspard, wenn sie auf sich gestellt sind. Sie bedürfen der ausglei-
chenden Hand des essigsauren Widerparts. Flamins „Bist du denn nicht auch
satirisch“ (Hesp, 554), den größten Gefühlsausbruch Viktors, kommentierend,
deutet auf die Crux der Enthusiasten hin. Einerseits wollen sie soziale Beziehun-
gen, besonders Liebe, neu kodieren und dafür manipulieren sie ihren emotio-
nalen Haushalt exakt in der Form, in der es die Autorfigur in der Schreibszene
und der Schreibende im Schreiblabor unternimmt. Auf der anderen Seite ist das
vernünftige Haushalten mit den eigenen Emotionen, das sich im Diskurs der
Philosophischen Ärzte, aber auch Wielands, Schlossers, Abbts als Postulat ver-
folgen lässt, ebenso normiert. Es wird von den Vaterfiguren eingefordert, die
allerdings ihrerseits scheitern.
Zieht man in Betracht, dass die meisten der hohen Enthusiasten literarisch
produktiv sind (Siebenkäs, Gustav), so liegt es hier nahe, neben dem in der Tat
lebensgeschichtlich zentralen Moment, die menschliche conditio als der zweiten
Welt aufgeschlossen zu verstehen, doch auch produktionsstrategische Momente
zu vermuten. Die Rituale, die von den Figuren vor dem Verfassen oder Lesen der
empfindsamen Briefe peinlichst genau befolgt werden, deuten darauf hin, dass
dem sprachlichen Kode jedenfalls nicht getraut wird. Es ist ein kultureller Kode
der Induzierung von Emotionen, den die Figuren an sich selbst vornehmen. Klot-
hilde, die ihre Gesichtsfarbe wechselt (weiß, dann rot) sorgt deshalb für veritable
Irritationen bei Viktor, weil sie genau diese vergesellschaftete Form der Induk-
tion von Emotionen vorführt – zumindest stellt sich dies dem Protagonisten so
dar. Die Idee der wechselnden Gesichtsfarbe hat Jean Paul bereits in den vor-
bereitenden Schreibheften intensiv beschäftigt127. Das bedeutet, dass die Haus-
haltung, die der kulturelle Kode der Empfindsamkeit einfordert, und die Unmit-
telbarkeit, die er voraussetzt, zu einem klassischen double bind führen: auf der
Erzähler-Ebene wird er so gelöst, dass den Autorfiguren die Narration von Boten
überbracht oder auf beschädigten Schriftträgern zugespielt wird.
127 Siehe dazu den zuvor dokumentierten Autograph Faszikel 17, Heft 25, Satz 11.
3.5 Jean Pauls Werkgedächtnis (Hesperus) | 345
Auf diese leere Stelle will ich gleich noch etwas amüsantes setzen; das uns Schelling diesen
Mittag zum besten gab, wie ihm Goethe einmal beschrieben, daß er mit Jean Paul einen
ganzen Abend Schach gespielt, figürlich. Der hat nämlich ein Urteil über ihn und seine
Gattung herauslocken wollen, und ihn nach G. Ausdruck auf den Sch-dr- führen wollen,
hat einen Zug um den andern getan von Yorick, von Hippel, von dem ganzen humoristi-
schen Affengeschlecht – G. immer neben aus! Nun, Du mußt Dir das selbst mit den gehö-
rigen Fratzen ausführen, wie Jean Paul zuletzt in die höchste Pein geraten ist, und sich
schachmatt hat nach Hause begeben“
Vergleicht man Goethe und Jean Paul – jedoch nicht im Sinn der „Vergleichung“,
also Goethes Jean-Paul-Polemik im Divan –, so wäre Goethe als räumlicher oder
sogar ,mathematischer‘ Denker zu veranschlagen. Ein mögliches Indiz für diese
These ist das Sortieren, Bearbeiten und Zusammenfügen von Manuskriptblät-
tern, das Goethe sein Leben lang praktizierte. Auf ein solches Phänomen trifft
man bei Jean Paul – dem Archiv-Arbeiter par excellence! – schlechterdings nicht.
Jean Pauls Arbeitsanweisungen beziehen sich auch in der nachsatirischen Phase
auf die Ordnung und Erschließung der Exzerpte. Die Registrierung und das neue
,Auswürfeln‘ des Ideenthesaurus sowie seine Vermehrung standen im Mittel-
punkt der ,Nebenstunden‘. Sind Assoziationen also Verknüpfungen zwischen
,Lemmata‘ dieser Ideenkorpora – und damit gerade nicht generativ, sondern
vielmehr rein kombinierend –, so bedarf es einer weiteren Ordnungskategorie,
die entscheidet, welche dieser Verknüpfungen ästhetisch haltbar sind und wel-
che nicht. Bei Goethe gibt es dafür ein naturgesetzliches, aber biographisch aus-
gedeutetes Konzept, das die Möglichkeiten freigeschalteter Genese ,mathema-
tischer‘ Konzepte beschränkt. Jean Paul, der (Selbst-)Biograph, verfügt über die-
ses übergreifende Konzept nicht. Auch die zweite Welt ist ja, wie gezeigt, ledig-
lich Erzählraum für den Wechsel der Schreibstimmungen. Darüber hinaus ist ein
Faszinosum dieses Autors, dass die wesentlichen poetischen und narrativen und
philosophischen ,Anker‘ bereits in jungen Jahren, in der Satirenzeit entwickelt
sind, wenn sie sich auch erst mit der Loge und dem Hesperus gleichsam öffent-
lich zeigen. Prinzipiell überlagern sich die Vorarbeiten thematisch und motiv-
lich: Titan und Siebenkäs verschmelzen zeitweise derart eng, dass sich auf jedem
Schriftträger die Notwendigkeit einer Prüfung Satz für Satz ergibt, besonders was
Leibgeber und Schoppe betrifft. Unsichtbare Loge und Hesperus, Selberlebens-
beschreibung und Fibel, die Vorschule und Titan markieren derartige Verschie-
bungen und Überlagerungen zwischen den Werken. Das Alter und der Rückblick
auf das eigene Schaffensleben wird mit 36 Jahren im bevorstehenden Lebenslauf,
täuschend echt, entwickelt, während sich der tatsächlich gealterte Schriftsteller
nun mit der Kindheit auseinandersetzt und die satirischen Anfänge ins rechte
346 | 3 Jean Paul
Abb. 57. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 32, Bl. 86 recto. Die abgebildete Handschrift ist
Eigentum der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
348 | 3 Jean Paul
Abb. 58. Jean Paul Nachlass, Faszikel 17, Heft 32, Bl. 86 verso. Gut erhaltenes
Heft mit losen Blättern; eins von sechs ‚Schmierheften‘ zum Hesperus.
3.5 Jean Pauls Werkgedächtnis (Hesperus) | 349
Der Bearbeiter, vermutlich Berend, gibt neben der Blattpaginierung auf dem
Autographen an, dass es sich hier um Elemente des 45. Hundsposttages handelt,
also des „Schlussstein(s) und Schwanengesang(s)“ (Hesp, S. 1218) des Romans.
Thematisch lässt sich das Blatt aufteilen in:
1. Der Posthund (E.T.A. Hoffmanns) wird mit einer ,zärtlichen‘ Geste verabschie-
det.
2. Wechsel der Emotionen (vier Wesen der Assoziation, bereits zitiert).
3. Metapher der weiten Schritte.
4. Jean Pauls Abschied von der Schwester, mit der er aufgrund seiner ,Standes-
erhöhung‘ doch nicht verwandt ist.
Nun lassen sich Punkte 1, 3 und 4 in der Druckfassung tatsächlich im 45. Hunds-
posttag nachweisen (Hesp, 1233f.). Die einigermaßen eingängige Stelle zum
Wechsel der Emotionen allerdings nicht, obwohl gerade der gefühlsselige
Schluss des Hesperus durchaus der emotionalen Herabstimmung bedurft hätte.
Mein Vorschlag für die Platzierung dieser Textpassage ist der dreißigste Hunds-
posttag (Hesp, 982), ein Brief Viktors an Emanuel:
Jetzt, da ich so verschiedene Zustände durchlaufe, leidenschaftliche, weise, tolle, ästheti-
sche, stoische; da ich sehe, dass der vollkommenste entweder meine irdischen Wurzeln in
der Erde oder meine Zweige im Äther verbiegt und einklemmt und dass er, wenn er’s auch
nicht täte, doch über keine Stunde dauern könnte, geschweige ein Leben lang; – da ich also
klar einsehe, dass wir ein Bruch, aber keine Einheit sind und dass alles Rechnen und
Verkleinern […]. Ich lasse mich daher nicht mehr irremachen, und meinen Nachbarn auch
nicht mehr, durch die gewöhnlichste Täuschung, dass der Mensch jede Veränderung an
sich – jede Verbesserung ohnehin, aber auch sogar jede Verschlimmerung – für größer
ansieht, als sie hinterher ist. (Hesp, 982).
Die Sache ist diese: solange nämlich ein biographischer Haarstern – wie zum Beispiel
Hesperus – mit seinen Bewohnern brennend vor meiner Seele steht und ich während seiner
Erd- und Sonnennähe in seinen langen Zodiakalschein und durch seinen in Licht aufge-
lösten Kometenkern schauen kann: so lange bin ich selber in Flammen und im Himmel.
Entfliegt aber der Komet in die Erd- und Sonnenferne hinaus: so wird der Lichtschweif, der
70 Grade am Himmel einnahm, vom verdichteten Kerne abgeworfen […] – ausgenommen
bei der zweiten Auflage, d.h. bei der Wiederkehr des Kometen. – Die Darstellungen hoher
Menschen – wie Emmanuel, Viktor, Klothilde – sind durchlebte warme Blütezeiten der
Seele, ach die niemals, niemals wiederkommen, so wenig wie die erste Liebe oder Jugend-
Silberblick oder irgendeine Begeisterung128.
Bei Emmanuels seinem (Charakter; J.L.) dacht’ ich an einen großen Toten, einen berühmten
Schriftsteller, der gerade an dem Tage, wo ich Emanuels Traum von der Vernichtung mit
süßer schauernde Trunkenheit schrieb , aus der Erde ging und halb unter sie. (Hesp, 1232).
Beim letzten Homeriden dagegen prägt sich die Rezitationsleistung der inneren
Stimme während des Schreibens durch narrative Verräumlichung aus. Goethes
phänomenologische, nicht wertende Sicht auf die Wirklichkeit wird durch ein
lineares, stringentes ,Dann‘, ,Und dann‘ ermöglicht, eine sinnhafte Konstruktion
der räumlichen Abfolge von Zeitintervallen. Dieser unerbittliche Zug der Reihung
beschreibender Zeit ermöglicht jene kognitive Fähigkeit des jungen Autors, das
geschlossene Werk prospektiv zu kartieren, ebenso wie es dem gealterten er-
laubt, Brüche und Fragmentarisches in der ,systematischen‘ Geschlossenheit des
Werks zu konzedieren. Besonders die prospektive, vorwegnehmende Sicht auf
das Werk eint Goethe und Jean Paul, die beiden großen ,Anti-Fragmentisten‘ des
späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts, deren Synthese von
produktiver Existenz und ,gehobener‘ Lebenserfahrung nur von einer Handvoll
weiterer Autorpersönlichkeiten eingeholt worden ist.
3.6 Zusammenfassung
(W)as doch alles Schreibens Anfang und Ende ist – die Reproduktion der Welt um mich,
durch die innre Welt die alles packt, verbindet, neu schafft, knetet und in eigner Form,
Manier, wiederhinstellt (Goethe an F.H. Jacobi, 21.8. 1774)
Wir schreiben geistig und mechanisch, wir gebrauchen, materiell ausgedrückt, zum Schrei-
ben Gehirn und Hand
Das Gehirn ist, bei Müller, Purkinje und Stiedenroth, das neue epistemische
Ding, über das im physiologischen Versuch geforscht wird.
Wenn das Nachbild die Imagination oder das Gedächtnis des Gesichtssinnes
ist (nicht: Produkt einer ,unabhängigen‘ memoria), so stellt sich die Frage nach
der ,Affizierbarkeit‘ des Gehirns durch Innervationen, etwa durch die Maniera
des Malers oder die Schreibbewegung. An einer interessanten Stelle in der Far-
benlehre wird die Reflektion über ,subjektive‘ Farben rückgebunden an die Bild-
valenzen, die der Maler aus dem subjektiven Sehen heraus schafft. Dieses sub-
jektive Sehen wiederum wird auf die Werkstatt des Lehrers und die erlernten
Techniken zurückgeführt. Die Konstruktionsleistung des Gehirns, Stiedenroths
,tüchtiges Denken‘ ist es, das auch dem Naturforscher allererst die amorphe
Empirie zur Gestalt werden lässt. Umso mehr dem Künstler, der auf das Gedächt-
nis seiner Sinne angewiesen ist (Kapitel 4.4).
Vor dem Hintergrund der psychologischen Physiologie, derer sich Goethe
bedient, erscheint es möglich, den interpretatorischen Kernbegriff Experiment,
und zwar in seiner ,direkten‘, empirischen Bedeutung, auch hier in Anschlag zu
bringen. Mit Experimenten stehen einmal mehr (literarische) Schreibprozesse in
Zusammenhang. Der Versuch als Mittler zwischen Subjekt und Objekt kann als das
spezifische Programm Goethes gelesen werden, das ähnlich der Newton-Kritik
das Experiment in der Baconschen imperialen Geste der Zurichtung und Kon-
trolle der Natur ablehnte, aber dann doch als Erfahrung und Beobachtung wieder
restitutierte: nur eben nicht im empirischen Sinn der ersten Generation der Royal
Society. Der zarten Empirie Goethes war die Kritik am experimentellen Pro-
gramm, wie sie von Descartes und von Hobbes vorgetragen wurde, ebenso fremd
wie das ,imperialistische‘ credo Bacons. Ein Gedankenexperiment oder das lo-
gische Räsonnement konnte den spezifischen heuristischen ,Austausch‘ zwi-
schen epistemischem Objekt und Experimentierendem nicht ersetzen. Goethe
beteiligt sich ausdrücklich an der alten Polemik gegen Newton, dieser habe sich
auf wenige experimenta crucis beschränkt und ansonsten theoretisiert6.
Im Unterschied zu den natural philosophers der ersten Generation ist der
Beobachter bei Goethe Teil des Versuchszusammenhangs, weil sich nur ihm das
7 „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“, in: Leopoldina, erste Abteilung, Bd. 3,
S. 285–295. S. 289.
8 Ernst Stiedenroth: Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen“, Berlin, 1824. Leopold-
ina, erste Abteilung, Bd. 9, S. 353–355.
,Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort‘, Leopoldina, erste Abteilung,
Bd. 9, S. 307–309.
360 | 4 Goethe
versuche in der Farbenlehre, so ist die Parallele zu von Müllers und Purkinjes
schmerzhaften Experimenten zum ,subjektiven Sehen‘, die im wesentlichen auf
Introspektion als Messmethode gründeten, offensichtlich. Goethe ist also, wenn
er Selbstversuche anstellt, eher Physiologe als Kantianer, eher Empiriker als
Romantiker. Wie die Purkinje-Rezension unter Beweis stellt, hat er die intro-
spektiv erzielten Beobachtungen durchaus protokolliert oder protokollieren las-
sen.
Erstreckt sich diese zarte experimentelle Empirie Goethes nun auch auf seine
literarische Produktivität? Hier stößt man an eine Wahrnehmungsschwelle und
die Exkommunizierung bestimmter Diskurse in der Goethe-Philologie. Besonders
die biographischen Texte, also Dichtung und Wahrheit, die Reiseberichte und die
Elegien, werden als ästhetische Strategien der Kontingenzbewältigung gelesen –
und dies sind sie zweifellos. Was, jedoch, spricht dagegen, sie, zum Teil, als
Frucht experimenteller Schreibsituationen einzuordnen? Die Morphologie des
poetischen Kerns in der Schreibsituation auf eine zart empirische Art zu beob-
achten: wäre dies nicht ein Element des Universalisten Goethe, der symphroni-
schen Lebensgestaltung und produktiven Existenz?
Es gibt einige Anhaltspunkte aus der zeitgenössischen Gehirnforschung, die
eine Korrelation zwischen Schreiben und Sprachproduktion sowie dem ,Abruf‘
mentaler Konzepte (,Erinnerung‘, ,Phantasie‘) auf der uns interessierenden his-
torischen Stufe wahrscheinlich machen. Schreiben taucht in vielen Lokalisati-
onstheorien mit und nach Gall als eigene kognitive Funktion auf: mit gutem
Grund. Sobald mit dem Broca- und dem Wernicke-Zentrum die sprachprodukti-
ven Bereiche in der linken Gehirnhälfte 1861/70 relativ eindeutig bestimmt sind,
stellt sich die Frage nach einem Schreibzentrum von selbst; dies besonders im
Zusammenhang der Aphasie und Agraphie-Forschung. Sigmund Exner postu-
liert 1881 ein Schreibzentrum im motorischen Bereich des Frontallappens – nach
Vorüberlegungen Marcés in den fünfziger Jahren! Warum der Naturforscher, Mor-
phologe und Soemmerring-Freund Goethe und die entstehende Hirnforschung
durch eine Epochenscheide getrennt sein sollen, erschließt sich dem Wissen-
schaftshistoriker nicht.
Es war Déjérine, der Kritiker des Schreibzentrums, der fast zeitgleich ein
Zentrum für Lesen im gyrus angularis (Brodman Area 40) im Parietallappen
lokalisierte. Bis in die moderne Hirnforschung wird dieser Bereich als modales
Umschaltzentrum von Phonemen zu Graphemen gehandelt, also als zentrale
Komponente des Lese- und Schreibprozesses: so Norman Geschwind 1965 in
einem berühmten Aufsatz in der Fachzeitschrift Brain 9 sowie aktuell Stanislav
Dehaene, der diesen Bereich visual word form area nennt10. Schon Charcot führt
9 Norman Geschwind: „Disconnexion Syndromes in Animals and Man“, Brain, Bd. 88, 1965,
S. 237–294.
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 361
10 Um genau zu sein, lokalisiert Dehaene die visual word form area etwas unterhalb des gyurs
angularis: im gyrus fusiformis.
11 Siehe dazu Die Geschichte des Gehirns von H. Oppenheim, Wien, 1897, S. 86: „Agraphie ist als
Begleiterscheinung der motorischen Aphasie bei Stirnlappenschwulst mehrfach konstatiert
worden. Keineswegs aber sprechen die vorliegenden Beobachtungen zu Gunsten der von Exner,
Charcot und noch jetzt von Pitres vertretenen Anschauung, dass ein besonderes Schreibzentrum
am Fuß der zweiten linken Stirnwindung gelegen sei“.
12 J.M.S. Peirce: „A Note on Aphasia in Bilingual Patients: Pitres’ and Ribot’s Laws“. European
Neurology, Bd. 54, 2005, S. 127–131, S. 127.
13 Marjorie Perlmann Lorch/Isabelle Barriére: „The history of written language disorders: Re-
examining Pitres’ case (1884) of pure agraphia“. Brain and Language, Bd. 85, 2003, S. 271–279,
S. 273.
14 Besonders ergiebig sind: Carl Wernicke: Lehrbuch der Gehirnkrankheiten, Bd.II, Kassel/Ber-
lin: Fischer, 1888. Hermann Wilbrand: Über Seelenblindheit als Herderscheinung und ihre Bezie-
hungen zur homonymen Hemianopsie zur Alexie und Agraphie, Wiesbaden: Bergmann, 1887.
362 | 4 Goethe
Die angeführte Textstelle ist für meine Argumentation deshalb zentral, weil sie
die Schreibtätigkeit deutlich absetzt vom Sprechen. Sogar der Modus der Sprach-
produktion scheint zu differieren. Darüber hinaus wird die Rekursivität des
Schreibens von Spalding explicit eingesetzt, um die mentale Störung auszuglei-
chen. Innerhalb dieser kulturellen Form früher medizinischer Fallarbeiten ist
also nicht nur ein motorisches Schreibzentrum sichtbar, sondern auch das Prin-
zip der wechselseitigen Beeinflussung von Schreiben und ,innerer Sprache‘.
Zwar gibt es mehrere Belegstellen, besonders für zwanghaftes Schreiben im Ma-
gazin, aber das Spektakuläre dieses Textes liegt darin begründet, dass wir die
erste Fallstudie einer Aphasie vor uns haben, dem Krankheitsbild, das bis heute
als wesentliche Indikation für die Funktionsweise des sprachproduzierenden
Gehirns gilt. Die historische Fallhöhe verdeutlicht der in der gleichen Ausgabe
des Magazins antwortende Mendelssohn, der sich wieder gänzlich im Fahrwas-
ser der Vermögenspsychologie und der etwas betulich wirkenden Humoralpa-
thologie bewegt.
zept ansehen, war es, die Goethes bereits in früher Phase präsentischem Ver-
ständnis von poetischem Gegenstand und dichterischer ,Bildung‘ zuwiderlief:
„Schreiben ist ein Missbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges
Surrogat der Rede“. Der Mensch ist berufen, „in der Gegenwart zu wirken“16.
Martin Stingelins und Rüdiger Campes Einführung des Konzepts ,Schreibszene‘17
lässt mich an anderer Stelle von solitären Schreibsituationen sprechen, die sich
in der Nachfolge Sternes in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bei
Wezel, Wieland, Hippel, Hamann, Herder und Jean Paul nachweisen lassen18.
Darunter wird ein performatives, selbstreflexives Unterbrechen des fiktionalen
Textes verstanden, das die Autorfigur als Schreibenden mit allen denkbaren At-
tributen des lokalen Umfelds abbildet.
Solitäre Schreibsituationen sind nicht nur, aber besonders die Domäne von
Briefen, Reiseberichten, Diarien: Texten, die zwischen Dichtung und Wahrheit
oszillieren. Besonders sie ermöglichen das tradierte Spiel der Authentisierung
des Erzählers, das vom Barock her weiterlebt. In diesem historischen Kontext ist
es nicht erstaunlich, dass sich beim jungen Goethe Schreibszenen in großem
Umfang nachweisen lassen: zum einen in dem frühen Text Aus Goethes Briefta-
sche. Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe 1776) als auch in den Briefen aus der
Schweiz drei Jahre später.
Nun dass ich mit diesem Blatt Ihnen um so vieles näher rücken kann, nehme ich die Feder19.
Erfrischt durch einige Gläser guten Weins... will ich mein Möglichstes tun20
Ich bilde mir ein, sehr schlaftrunken zu sein und kann nicht eine Zeile weiter schreiben21.
Ganz erkennbar haben wir hier ,klassische‘ Schreibsituationen vor uns, die dem
zeitgenössischen kulturellen Konzept des Briefschreibens folgend, den Schreiber
präsent machen sollen im Sinn einer zeitlosen und ortlosen Ich-Hier-Jetzt-Origo.
Diese deiktischen Mittel schaffen einen ,Textraum‘ (Bühler), der leserorientierend
wirkt. – Auf dem Turm des Straßburger Münsters (Dritte Wallfahrt nach Erwins
Grabe) wartet das diaristische Ich auf Lenz und füllt die Zeit mit Betrachtungen
über das Schreiben. Erzählzeit und erzählte Zeit kommen im Schreibakt zur De-
ckung. „Ich will schreiben, denn mir ists wohl, und so oft ich da schrieb, ist’s
auch andern wohl worden die’s lasen, wenn ihnen das Blut rein durch die Adern
floß und die Augen ihnen hell waren“23.
Goethe hat diese „Andacht des Schreibers“24, die sich besonders in einigen
,intertextuellen‘ Debatten mit dem frühen Herder und dessen Konzept des blin-
den Künstlers (Tastsinn) profilierte, in späteren Jahren aus zwei Gründen abge-
lehnt: sie widersprach dem spezifischen Verständnis des Realismus in der sub-
jektiven Umbildung des poetischen Gegenstands durch den Künstler – dieses
Axiom zieht sich mit wechselnden Bezeichnungen durch alle Werkphasen hin-
durch; sie betonte die Schreibtätigkeit als Suspens von Interaktion, als Realisa-
tion einer „zerdehnten Kommunikationssituation“ (Ehlich), die Goethes ad-hoc-
Verständnis poetischer Imagination und der ,Dialogizität‘ der poetischen Stoff-
findung zuwiderlief. Der geglückte Moment, der die Vergangenheit in sich
schließt und auf die Zukunft weist, wird durch das Schreiben verhindert, das die
Hybris des Zeitensprungs und den Griff auf ferne Lokale, die dem eigenen Wirk-
kreis entzogen sind, geradezu herausfordert. In der Natürlichen Tochter schreibt
diese einen Brief an den König, der sie, dem Gerücht nach, legitimieren und an
den Hof holen soll:
Das Geschriebene mit Gefälligkeit betrachtend.
So hast du lange nicht, bewegtes Herz,
Dich in gemessnen Worten ausgesprochen!
Wie glücklich! Den Gefühlen unsrer Brust
Für ew’ge Zeit den Stempel aufzudrücken!
Doch ist es wohl genug? Hier quillt es fort,
Hier quillt es auf! – Du nahest, großer Tag,
Der uns den König gab und der nun mich
Dem Könige, dem Vater, mich mir selbst,
Zu ungemeßner Wonne, geben soll.
Dies hohe Fest verherrliche mein Lied!
Beflügelt drängt sich Phantasie voraus,
Sie trägt mich vor den Thron und stellt mich vor25
Sie schrieb mit gewandter Feder gefällig und verbindlich, aber doch mit einer Art von Hast,
die ihr sonst nicht gewöhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete
das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie ärgerlich machte und nur größer wurde,
indem sie ihn wegwischen wollte26
Eduard nimmt den illegitimen Kontakt zu Ottilie, zeitgemäß, brieflich auf, muss
das „Billett“ allerdings noch einmal schreiben, weil es, wie der Brief Charlottes,
durch den Bediensteten mit einem Menetekel (Brandfleck) verunstaltet wurde.
„Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte nicht ganz
so zum zweiten Mal aus der Feder“27. Nach der Katastrophe unternimmt der
Baron einen letzten Versuch, die Geflohene zu gewinnen:
„indem er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es werde nun
gleich gegenwärtig sein. Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen,
wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehn-
te. Wird sie noch dieselbe sein? Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verän-
dert? Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er dachte28
„Schreibe einfach, wie Du denkst“, hatte der junge Kleist seiner Schwester ge-
raten. Lessings Sara Sampson konstatiert fassungslos die fehlende Sprache des
Herzens29; die Geste des Schreibens kann die Geste des natürlichen Ausdrucks
(Rameaus Neffe) nicht einholen. Nur Ottilie kann wie Richardsons Clarissa „auf
den Knien“ schreiben30. Die ,schöne Seele‘ bringt Geste des Schreibens und Geste
des natürlichen Ausdrucks zur Deckung, während die anderen Figuren, ein-
schließlich Mittler, den Umsetzungsdispens des Schreibens nutzen, um die ge-
fährlichen Wünsche imaginativ, in einer Hybris des Zeitensprungs umzusetzen.
Dergestalt hat Ottilie keinen Anteil an dem „Verbrechen“31 gegen die Sprache des
Herzens, die sich in ihrer Handschrift entlarvend offenbart.
Die Tätigkeit Schreiben führt für Goethe nicht zur Vergegenwärtigung des
Gegenübers, der Vergangenheit, der eigenen Gefühle und Gefühlsüberschwäng-
lichkeit. Vielmehr birgt das Schreiben in seinem poetischen Vorstellungsvermö-
gen die Gefahr, die besonders in den Wahlverwandtschaften unaussprechlichen
„Geheimnisse des Lebens“32 in unangemessener Form offen zu legen, so Eduard:
Wenn ich Jemand vorlese, ist es denn nicht als wenn ich ihm mündlich etwas vortrüge? Das
Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen
Herzens; und würde ich mich wohl zu reden bemühen, wenn ein Fensterchen vor meiner
Stirn, vor meiner Brust angebracht wäre, so dass der, dem ich meine Gedancken einzeln
zuzählen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vorher wissen
könnte, wo es mit mir hinaus wollte? Wenn mir Jemand ins Buch sieht, so ist mir immer als
wenn ich in zwei Stücke gerissen würde33.
Der Autorstolz, der sich durch moderne Publikationsbedingungen und die ,In-
dividualisierung‘ des Autorstatus im späten achtzehnten Jahrhundert potenziert,
war Goethe, der „mehr als einmal während meiner Lebenszeit“ sich „die dreißig
niedlichen Bände der Lessingischen Werke vor Augen“34 stellte, nicht fremd. Die
große Konfession der Erlebnisdichtung allerdings wird durchgehend der Strati-
fikation eines exemplarischen biographischen Ichs unterworfen. Die „geistige
Figur“35 (Höllerer), die „Gestalt“ (Gundolf) ist eine gleichsam transzendentale
Erlebnisinstanz, die sowohl in den jubilatorischen, Römischen Elegien als auch in
der Marienbader Elegie die Gegenwart des Fühlenden chiffriert.
Dazu kommt noch eine zeittypische, auch den Goethe der ,Lavater-Phase‘
ergreifende Denkfigur: die den Schreibenden entlarvende Schrift. Goethe er-
wähnt die kaum noch lesbare Handschrift erkrankter Korrespondenzpartner
(Orientalist Diez, Hackert), die fiktiven Schreiberfiguren, besonders der dem
Wahnsinn verfallende im Werther verlieren ihre „geläufige Hand“ (Benjamin), die
handschriftlichen Briefe Johann Georg Hamanns, des Propheten mehr als des
Magus, werden wie Reliquien gehütet. Auch in der privaten Korrespondenz be-
nutzt der Weimarer Goethe, wann immer es möglich ist, den Schreiber. Selten
finden sich handschriftliche Zusätze: an Christiane Vulpius36, an den erkrankten
Sohn in Rom. Das bedeutet nicht, dass die Korrespondenzpartner auf Distanz
gehalten werden; die Altersbriefe an Zelter sind ja beredtes Gegenbeispiel. Neben
dem produktionstechnischen Aspekt des Diktats, dem ich mich später zuwende,
spielt hier mediale Objektivierung eine wichtige Rolle. Träumt der Autor der
Farbenlehre an einer Stelle davon, das Manuskript ,ins Konzept drucken zu las-
sen‘, so erfüllt der Schreiber in der Korrespondenz eine ähnliche Rolle: der Status
des Bekenntnisses, der Konfession wird beibehalten, aber die Geste des Schrei-
benden ist ausgelöscht. Das epistolare Ich spricht, aber es hat kein Fenster vor
der Stirn, weil es seiner medialen Rolle, des Schreibenden, enträt.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass in der Korrespondenz des Weimarer Goe-
the kaum noch der Präsentismus des Schreibenden nachweisbar ist, der die Li-
teratur der Humoristen geradezu überschwemmt. Der späte Goethe ließ Manu-
skripte faksimilieren, also vermittels des Steindrucks vervielfältigen: eine tech-
nische Möglichkeit, die seit 1797 existierte37. So wurden einzelne Strophen der
Reinschriften aus dem Buch der Sprüche des Divans isoliert abgebildet38. Die
technische Zurichtung perpetuiert also die Autorindividualität, aber versperrt
dem Leser den Blick auf das Original. Der Sammler von Autographen hat einen
durchaus indezenten Blick auf das Schreibsubjekt, wie Goethe ja selbst zugab.
Nicht das Werk, der Moment der Entstehung und die psychische Disposition des
Künstlers interessieren ihn. Sind bereits die eigenhändig vorgenommenen Rein-
schriften Immunisierungen gegen diesen aufdringlichen Blick, wie später zu se-
hen sein wird, so verstärkt die technische Zurichtung noch jenen Effekt der Zur-
schaustellung des Schreibakts einerseits, andererseits aber seine Aufhebung im
Werk, das objektiv und öffentlich geworden ist. Der Autograph selbst wird zum
technisch reproduzierbaren Werk.
von Diktat und eigenhändigem Schreiben bei Goethe, die verschiedenen Schich-
ten der Textbearbeitung, die durch einen peinlich durchgehaltenen Wechsel des
Schreibgeräts indiziert werden können, und, seltener, die Problematik des Dik-
tats als produktionspsychologischem Modus zentriert. Die einschlägigen Zitate
aus Dichtung und Wahrheit sowie Eckermanns Gesprächen sind bekannt:
Ich war so gewohnt mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammenfinden zu
können, daß ich einige Mal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm einen quer
liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis Ende, ohne mich
von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich
weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einige Mal
begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandleri-
schen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte.39
Nun hat Goethe einen Großteil der eigenhändig geschriebenen Konzepte und
Schemata für Faust II, den West-Östlichen Divan und die Biographik, besonders
die Campagne, tatsächlich mit Bleistift geschrieben; das „Nachziehen mit Tinte“
stellte einen eigenen Arbeitsschritt dar40. Goethes Schreibzeugnis ist also nicht
nur als Tribut an tradierte enthousiasmos-Stilisierungen zu lesen, die bereits im
Spätbarock, bei Johann Christian Günther, Schreibsituationen einbezogen ha-
ben. Der fehlende vierte Akt des Faust II wurde mit weißen Blättern in der Ab-
schrift von 1825 markiert; die fehlenden ,Lagen‘ in Wilhelm Meisters Lehrjahren
sogar mit blauem Schreibmaterial aufgefüllt:
Das Gedruckte der Wanderjahre ist nun ganz abgeschrieben; die Stellen, die ich noch neu
zu machen habe, sind mit blauem Papier angefüllt, so daß ich sinnlich vor Augen habe,
was noch zu tun ist. Sowie ich nun vorrücke, verschwinden die blauen Stellen immer mehr,
und ich habe daran meine Freude (Eckerman, zit. b. FA,I,Bd10, S. 791).
Wir haben in Goethe also durchaus einen auf Schreibgeräte und Sinnlichkeit des
Schreibakts bedachten Schriftsteller vor uns, der zwar nicht, so Benjamin, den
,Sensualisten‘ der ,geläufigen Hand‘ (Lichtenberg, Herder) und auch nicht den
Schreibrhythmiker vom Schlage eines Hamann oder Jean Paul darstellt, aber
doch Impulse aus der Aisthesis der Schreibsituation bezog. Besonders augen-
scheinlich wird das daran, dass Goethe sowohl bei der Neufassung des Faust-
Projekts 1997/98 als auch bei der Arbeit an Wilhelm Meisters Lehrjahren bereits
gedruckte Textteile (Faust-Fragment, im Damenkalender vorveröffentlichte Bin-
39 WA, 1. Abt., Bd. 29, S. 14. „Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine
Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein, so
daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühl-
te. In solchem nachtwandlerischen Zustande geschah es oft, daß ich einen ganz schief liegenden
Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieses erst bemerkte, wenn Alles geschrieben war, oder
wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand“, (Eckermann, 14.3. 1830).
40 „Einiges habe ich noch mit Bleistift notiert, denn das Manuscript steht gerade auf dem
Punkt, wo ich meine Sachen zu verderben anfange“. FA, 2 .Abt., Bd. 14, S. 1023.
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 369
41 Siehe zum Folgenden auch Avital Ronell: Dictations: On Haunted Writing, Indiana: Indiana
University Press, 1986.
42 Friedrich Wilhelm Riemer, Mitteilungen über Goethe, hg. v. Arthur Pollmer, Leipzig, 1921.
Bd. 1, S. 348.
43 Anne Bohnenkamp: das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend. Die Paralipomena zu Goe-
thes „Faust“, Frankfurt a.M., 1994. S. 832. Das vollständige Zeugnis Schuchardts in: Goethes
Gespräche, hg. v. Wolfgang Hernig, Stuttgart, 1972. 3. Band, S. 300–302.
44 Bohnenkamp, a.a.O., S. 813.
45 Tagebuch 23.1. und 11.2. 1827 (WA 3. Abt., Bd. 11 und 19)
46 Leopoldina, a.a.O., 1. Abt., Bd. 9, S. 343 (’Das Sehen in subjektiver Hinsicht. Von Purkinje,
370 | 4 Goethe
2. (D)ie Stellen, wo ich Neues auszuführen habe, sind angemerkt, und wenn der Schrei-
bende an ein solches Zeichen kommt, so diktiere ich weiter und bin auf diese Weise ge-
nötigt, die Arbeit nicht ins Stocken geraten zu lassen47.
3. Keine Gesellschaft gibt’s mehr, wenigstens nicht für mich, und da unterhalte ich mich
dictando in der Gegenwart, hoffend es werde künftig in die Ferne wirken48.
Drei Hypothesen sind zu plausibilisieren: Erstens, die mentale Aktivität des dik-
tierenden Goethe ist die eines Schreibenden, nicht die eines interaktiv Sprechen-
den. Zweitens, das Diktat dispensiert von der Ausführung und Überwachung der
Schreibmotorik, behält aber, besonders bei Goethe, Elemente der Visualisierung
und Aktivierung mentaler Konzepte, die sich bei anderen Autoren der Zeit im
Schreibakt ,öffnen‘ – Diktatsituation ist bei Goethe Schreibsituation49 –; drittens,
Elemente des Schreibprozesses, die dessen produktive ,Wertigkeit‘ ausmachen
wie Rekursivität und ,prospektives Auslesen‘ sowie ,linearisierte‘ Enkodierung in
Sprache gehen in der spezifischen Schreibsituation Goethes nicht verloren.
Zitat 1 untermauert, dass die Generierung mentaler Konzepte, im Purkinje-
Aufsatz „Nachbilder“, besonders im Rahmen des ,Gedächtnisses des Auges‘, an-
sonsten „innere Mährchen“, „Symbole“ genannt, durch den Schreibenden nicht
gehindert, sondern gefördert wird. Der lesende Goethe entwickelt Konzepte, „wie
sie im Geist erregt wurden“, und versprachlicht sie „flüchtig“ – und zwar, das ist
wichtig, im Bewusstsein „der Gegenwart des Schreibenden“. In Zitat 2 ist der
Schreibende zunächst ein Kopist des gedruckten Textes, der dem Diktierenden
einen Impuls zur Generierung passender mentaler Konzepte gibt. Zitat 3 bezieht
sich auf das Konzept der Vergegenwärtigung, das bereits angesprochen wurde.
Dictando entstehen die psychischen Spiegelungen, die wankenden Gestalten, die
,Gesprächspartner‘. Die Präsenz des Schreibers ist also die einer weniger medi-
alen, mehr produktiven ,Verlängerung‘ der mentalen Aktivität Goethes. Durch
den Dispens vom Schreibakt wird das Gedächtnis des Auges aktiviert; durch das
Diktat das Gehör, was eine spezifische ,Überwachung‘ der geleisteten Versprach-
lichung zur Folge hat.
Daß man einen Gegenstand gehörig durchdacht und bis aufs Wort an den Fingern haben
müsse, wenn an in einem gewissen Flusse und also mit Vorteil diktieren wolle, so daß es
wie eine Art von Improvisation oder Stegreifsrede sich ausnehme, fällt in die Augen. Auch
dies, daß der Stil deutlicher werden müsse, weil er fürs Gehör eingerichtet ist und die
Rückblicke auf den Zusammenhang oder die Konstruktion durchs Auge wegfallen. Insofern
1819’).
47 FA, 1.Abt., Bd. 10, S. 791.
48 Brief an Zelter, FA, 2.Abt., Bd. 8, S. 210, Hervorhebung im Original.
49 Das geht, etwa in diesem Brief an Zelter vom 7.3. 1830, bis in ,mediale‘ Techniken der
Präsensfiktion, wie sie Albrecht Koschorke beschrieben hat „Gegenwärtiges diktier’ ich unter
dem feierlichen Glockengeläute, welches zum kirchlichen Trauerfeste ruft; es ist genau gesagt
um dir meinen Zustand fühlbar zu machen“. FA, 2. Abt., Bd. 11, S. 239.
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 371
muß ein solcher dictando entstandener Aufsatz etwas vom Stile und Charakter der Alten
haben(...).50
Um ein solches Abracadabra zu entziffern, lese ich mir die Abhandlung laut vor, durch-
dringe mich von ihrem Sinn und spreche das unverständliche Wort so lange aus, bis im
Fluß der Rede das rechte sich ergibt52.
Und schließlich ist es das Vorlesen, besonders in der Phase von 1819–1823 im
Tagebuch bezeugt, das verdeutlicht, wie der phonetische Input die spezifische
Rekursivität des Schreibakts (Rücklesen) ersetzt.
Darüber hinaus ist Rekursivität, also eine Rückwirkung des Diktierens auf
die Sprachproduktion (sowohl durch nachträgliche Korrektur als auch inkre-
mentell), in actu schwer nachweisbar, weil wir natürlich keine Protokolle des
Diktatprozesses haben und nur ein ,thinking-aloud-Protokoll‘: die Purkinje-Re-
zension. Es käme hier darauf an, den Mythos des ununterbrochenen Sprechens
mit einem Fragezeichen zu versehen. Gerade die Pausen, sei es in der Arbeit an
Wilhelm Meisters Lehrjahren (Zitat 2) durch das Kopieren des Schreibers oder wie
in der Purkinje-Rezension (Zitat 1) durch das eigene Lesen, scheinen den Prozess
der Vergegenständlichung und Verknüpfung mentaler Konzepte und deren En-
kodierung in Sprache zu fördern.
Von dieser fehlenden empirischen Basis einmal abgesehen, gibt es allerdings
eine Fülle von Dokumenten, die Korrekturschritte aufweisen: die meisten der
mehrere Tausende umfassenden Handschriften von Goethes eigener Hand. Das
für den Schreibprozess wichtige Rücklesen wird von Goethe getrennt vom Dik-
tat/’Schreiben’ vorgenommen. Nun bringt er auch eigenhändig Notizen an. Al-
lerdings kommt es selten zu längeren ausformulierten Textpassagen. Das eigen-
händige Schreiben ist der Planung, der prospektiven Ausrichtung vorbehalten.
Selten findet man Schreibbefehle, wie in Manuskripten Jean Pauls und Lichten-
bergs nachweisbar, oder Performanzkommentare wie diesen:
Und ich muß ein neues Blatt nehmen und bitten, dass ihr les’t wie ich schreibe, mit dem
Geiste mehr als den Augen, wie ich mit der Seele mehr als den Händen53.
In der Tat lässt sich die These vertreten, dass die bürokratische Folge der Arbeit-
schritte Schema, Konzept, Mundum, Expedierung (und andere) den sequentiel-
50 Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe, a.a.O., S. 159. Hervorhebung bei Riemer
lateinisch.
51 Hör-, Schreib- und Druckfehler , WA, 1.Abt., Bd. 41/1, S. 184.
52 Hör-, Schreib- und Druckfehler, a.a.O., S. 183.
53 FA, 1.Abt., Bd. 15/1, S. 443.
372 | 4 Goethe
Kanzler Müller berichtet von einem Gespräch am 11.1. 1830 und zitiert dabei
Goethe wie folgt:
Während ich diktiere, denke ich mir die Person, an die schreibe, als gegenwärtig, überlasse
mich naiver Weise dem Eindruck des Moments und meinem Gefühl; später aber vermisse
ich jene Gegenwart und finde manches absurd und unpassend für den Abwesenden.57
54 Wie sehr sich eigenhändiges Schreiben und Diktieren überlagern, beweisen folgende Tage-
bucheinträge: „John war mit meinem Sohn beschäftigt. Ich notierte Schemata zu den nächsten
Ausarbeitungen. Dictierte sie nachher in’s Concept“, WA, 3.Abt., Bd. 9, S. 34 (10. April, 1823).
55 FA, 2.Abt., Bd. 11, S. 582.
56 Ebda.
57 FA, 2.Abt., Bd. 11, S. 218.
58 Jean Paul: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller, München: Hanser, 1962. Bd. 4, S. 400
(„Unsichtbare Loge“).
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 373
der Erzähler darüber, wo er „am Hofe wieder einen wirklichen Charakter“59 auf-
treiben solle, und im letzten Buch des ersten ,postsatirischen‘ Romans tritt eine
zwielichtige Figur namens Jean Paul auf. Es gibt eine Repotenzierung des ima-
ginativen Raums, die Jean Paul von den Humoristen im engen Sinn abhebt.
Es ist genau jene bewusste, reflexive Freisetzung des imaginativen Potenti-
als, die Jean Pauls und Goethes produktive Strategien verbindet; aus der Schreib-
reflexivität der Humoristen ist die Introspektion mentaler Produktivität entstan-
den: das setzt eine erstaunlich ,moderne‘ Kenntnisnahme der Generierung und
Verknüpfung mentaler Konzepte voraus, die allerdings bereits von Hartley und
dann Priestley aus dem Kontext rhetorischer oder esoterischer Kombinatorik
,befreit‘ worden war und im Reilschen Assoziationismus, mehr aber noch in
Purkinjes und Johannes von Müllers Konzept des subjektiven Sehens Einzug in
die sich etablierende Hirnforschung hielt. Ist das Aufzeigen von diesbezüglichen
Parallelen in der Jean-Paul- und Lichtenberg-Forschung kommod, so wird immer
noch außer Acht gelassen, dass es Goethe war, dessen Interessen weder vor dem
,Psychischen‘ noch vor seinen physiologischen Grundlagen Halt machten.
4.2.4.1 Überlieferung
Ausgangspunkt dieses Abschnitts ist Goethes erstaunlich wohlwollende Beur-
teilung der Schreibweise Jean Pauls in der „Vergleichung“ des ,Kapitels‘ „Bes-
serem Verständnis“ des West-Östlichen Divans. Der Tragelaphen-Stil wird plötz-
lich als moderne Ausprägung orientalischer Metaphorik gepriesen, als nachvoll-
ziehbares, gar produktives Entfremdungssignum; Goethe folgt vorbehaltlos dem
Diktum Joseph von Hammer-Purgstalls, der in Jean Paul den Orientalen Deutsch-
lands sehen wollte60. Warum ändert der nachklassische Goethe, der, mit seinen
biographischen Schriften beschäftigt, sich „selbst immer mehr und mehr ge-
schichtlich“61 wird, derart auffällig seine Meinung zum ungeliebten Jünger? In
dieser Arbeits- und Lebensphase, 1814–1819, sieht man den Übersetzer des ,ori-
entalistischen‘ Mahomet von 1800 persische und arabische Schriftzeichen nach-
ziehen, in den Tag- und Jahresheften heißt es dazu:
(D)a aber die Handschrift im Orient von so großer Bedeutung ist, so wird man es kaum
seltsam finden, daß ich mich, ohne sonderliches Sprachstudium, doch dem Schönschrei-
ben mit Eifer widmete und zu Scherz und Ernst orientalische mit vorliegende Manuscripte
so nett als möglich, ja mit mancherley herkömmlichen Zierrathen nachzubilden suchte.
Dem aufmerksamen Leser wird die Einwirkung dieser geistig technischen Bemühungen
bey näherer Betrachtung der Gedichte nicht entgehen62
Einiges deutet darauf hin, dass die Leitfigur der Epoche das Schreiben wiederent-
deckt, um über die fremde persische Kultur auf eine spezifische Art zu lernen,
was ihm Hammer-Purgstall, Diez und Michaelis nicht vermitteln konnten. Es ist
nicht verfehlt, hier von kulturellem Lernen durch Schreiben zu sprechen (Bru-
ner) oder gar von epistemischem Schreiben (Eigler). Der Gedanke der Schrift als
inter/transkulturellem Mittler geht zurück auf Bacon, der in On the Advancement
of Learning ausführt:
But the images of men’s wits and knowledge remain in books, exempted from the wrong of
time and capable of perpetual renovation. Neither are they fitly to be called images, be-
cause they generate still, and cast their seeds in the minds of others, producing and causing
infinite actions and opinions in succeeding ages. So that if the invention of the ship was
thought so noble, which carrieth riches and commodities from place to place, and conso-
ciateth the most remote regions in participation of their fruits, how much more are letters to
be magnified, which as ships pass through the vast seas of time, and make ages so distant
to participate or the wisdom, illuminations, and inventions, the one of the other63
Mahmud. H I.451.
Abusaid Beförderer
des Geschichtsschreibens
selbst Schoenschreiber66
„(D)aß die Orientalen ihre Lieder durch Schreiben, nicht durch Singen verherr-
lichen“, hatte Goethe bereits 1816 in einem Brief an die Brüder Boisserée fest-
gestellt. Schoenschreiben meint also erstens Überlieferung des kulturellen Ka-
nons, zweitens aber auch den Nachvollzug der Überlieferung im eigenen Nach-
schreiben – und dies bezieht sich für Goethe nicht nur auf den schreibgewandten
Orient. Zu der mittelalterlich-apokryphen Handschrift ,Die heiligen drei Könige‘
bemerkt er gegenüber Boisserée: „Sie finden ferner die angeführte Stelle dem
Manuscript in seiner Eigenheit nachgeschrieben. Ich erheitere mir die langen
Winterabende durch solche Facsimiles aus freyer Hand“67 – ,Facsimiles aus freier
Hand‘! Goethes Textkritik biblischer Legenden (Exodus in Besserem Verständnis,
Heilige drei Könige und andere), die sich ja nicht neologisch, in der ,Zerstörung‘
des Mythos äußert, sondern in der ,Dekonstruktion‘ der Legende zum Mährchen68
mündet, ist die eines ,Schoenschreibers‘.
Damit hängen die Reflexionen auf den Geschichtsschreiber als Dichter, Uni-
versalhistorie als Narration zusammen, die sich in der Niebuhr-Rezension, zahl-
reichen Paralipomena sowie in der Maximenreihe „Einzelnes“ in Kunst und Al-
tertum69 nachweisen lassen. Den Goethe, der sich selbst historisch wird, beginnt
die Geschichtsschreibung und kulturelle Kanonisierung (,Überlieferung‘) zu in-
teressieren: wie immer beim späten Goethe in einer komplizierten Mischung aus
Eigen- und Allgemeininteresse. Darüber hinaus geht es in der ,Kunstpolitik‘ von
KuA auch darum, eine nationale Identität kulturell zu konstruieren. Auch des-
halb wendet sich Goethe ja fremdem Terrain, dem Mittelalter, zu. Der ,Divan‘
nun, eingestandenermaßen eine Fluchtbewegung aus der Gegenwartsgeschichte
hinaus, lässt sich als Testfall lesen für das ,Schoenschreiben‘ des Dichters, der
erstens die Mährchen der Vergangenheit ,textkritisch‘ und mit eigener Hand
nachvollzieht und zweitens neue Mährchen produziert. „(Ü)berlieferung blos
Ideal“, heißt es in einem Paralipomenon, das bereits zitiert wurde.
70 Dieses Faksimile habe ich der Ausgabe Konrad Burdachs entnommen. Goethes eigenhändige
Reinschrift des west-östlichen Divans. Eine Auswahl von 28 Blättern in Faksimile-Nachbildung, hg.
v. Konrad Burdach, Weimar: Verlag der Goethe Gesellschaft, 1911. 37 Seiten. Keine Einzelpagi-
nierung.
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 377
Goethe, vom 24. Mai bis zum 17. September 1815 in der Gerber-Mühle bei den
Willemers, hat auf dieses Folio-Blatt aus dem Umfeld des Wiesbadener Registers
arabische Schriftzeichen aufgebracht, und zwar vermutlich, bevor er das Gedicht
zu Papier brachte. „Gott sei geehrt, der gefühlvolle, der gnädige“ lautet die Über-
setzung. Die thematische Übereinstimmung des Gedichtes und des ,Mottos‘ ist
offensichtlich. Aus dem Schönschreiben heraus entsteht das Konzept für das
Gedicht nr. 6 des Wiesbadener Divan-Zyklus.
Ganz deutlich werden die biblischen Märchen ,verinnerlicht‘, sie dienen – in der
Rückschau des autobiographischen Ichs – der Herausbildung der poetischen
Imagination, sie bestücken einen Fundus von ,Bildern‘, Figuren und Abläufen,
auch genealogischen72. „(S)chreibe in guten Stunden die Mährgen auf die ich mir
selbst zu erzählen von ieher gewohnt bin“, schreibt Goethe an Knebel am
21.11.1782. Dabei ist ,Bild‘ durchaus wörtlich zu nehmen; für Wilhelm Meister
spielen bildliche mentale Konzepte eine entscheidende Rolle: In den Lehrjahren
die schöne Amazone, in den Wanderjahren die Joseph-Legende; die Bergschluch-
ten-Szene in Faust II zieht ihre lokale Plastizität bekanntlich aus einer ,Bildbe-
schreibung‘ Wilhelm von Humboldts (Der Montserrat bei Barcelona 73).
Es gibt eine ,kognitive‘ Pause, nachdem der junge Meister das häusliche
Marionettenspiel (Theatralische Sendung) erlebt hat, sich der junge Goethe die
biblischen Märchen im Kontext des Hebräisch-Unterrichts erschließt. Geht es
hier also erkennbar um nachträgliche ,Verortung‘ und Verknüpfung – nicht zu-
fällig wird in Dichtung und Wahrheit in unmittelbarem Anschluss an die Initiation
durch das ,Mährchen‘ das väterliche Training in juristischer, rhetorischer Topo-
logie erwähnt74 –, so unterliegen die fiktiven Figuren, welche die Mustergattung
Märchen mit ihren Erzählungen exemplifizieren, gar einem Redeverbot. Wilhelm
Meister kann die „wunderlichen Erfahrungen, die er sonst zu ungelegener Zeit
schwätzend zersplitterte, nun aber, durch Schweigen genötigt, im stillen Sinne
wiederhol[en] und ordne[n]“75. Der Barbier in den Wanderjahren, der Alte in den
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter befolgen die gleiche kognitive Pause
wie die jugendlichen kulturellen Lerner der ,inneren Mährchen‘. „Hiermit ver-
bindet sich dann die Einbildungskraft und verleiht dem Geschehenen Leben und
Bewegung“76. Bevor die inneren Mährchen Teil des Fundus (komplexer) mentaler
Konzepte werden, müssen sie der memoria oder – modern – dem episodischen
Gedächtnis eingepasst werden. Die kognitive Pause stellt sicher, dass die Bah-
nungen so ,gelegt‘, die loci im theatrum memoriae so gewählt werden, dass die
Narrative auffindbar und aktivierbar sind.
Der inkorporierte Erzählnucleus entwickelt sich wie das Urphänomen aus
dem stetigen Wechselverhältnis von Beobachtung und Reflexion77
So hatte ich selbst gegen die Dichtkunst ein eignes wundersames Verhältnis, das bloß
praktisch war, indem ich einen Gegenstand den ich ergriff, ein Muster das mich aufregte,
einen Vorgänger der mich anzog, so lange in meinem inneren Sinn trug und hegte, bis
daraus etwas entstanden war, das als mein angesehen werden mochte, und das ich, nach-
dem ich es Jahre lang im stillen ausgebildet, endlich auf einmal, gleichsam aus dem Steg-
reife und gewissermaßen instinktartig, auf das Papier fixierte. Daher denn die Lebhaftigkeit
und Wirksamkeit meiner Produktionen sich ableiten mag.78
(M)ir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes so tief
in den Sinn, dass ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt;
mir schien der schönste Besitz solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu
sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern einer
reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegen reiften79
In einer komplizierten Verknüpfung, die typisch für den späten Goethe ist, wird
dieses morphologische Potential zuweilen den biblischen Märchen, dann dem
74 „(D)er Gabe, etwas zu fassen und zu kombinieren“, FA, 1. Abt., Bd. 14, S. 161.
75 Wanderjahre, HA, Bd. 8, S. 353.
76 Wanderjahre, HA, Bd. 8, S. 353.
77 „Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Arbeiten mit“, FA, 1.Abt., Bd. 24,
S. 732.
78 „Konfession des Verfassers“ in der Farbenlehre, FA, 1. Abt., Bd. 23/1, S. 969.
79 „Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort“, WA, 2.Abt., Bd. 11, S. 60.
4.2 Die „Lokulamente“ des Gehirns: „Schoenschreiben“ bei Goethe | 379
Gedanken der Urpflanze, dem Faust, aber eben auch den Kunstmärchen zuge-
ordnet: die neue Melusine gehört zu den frühen Konzeptionen, von der Goethe
bereits in einem Brief an Schiller (2. Schweizer Reise) spricht.
Allerdings sind die inneren Mährchen nicht nur „Gegenstandssymbole“80
(Bühler), die im Lauf des Lebens semantisch reicher werden, sondern sie fungie-
ren als terminologische Ordnungselemente:
Die derbe Natürlichkeit des alten Testaments und die zarte Naivität des neuen hatte ich im
Einzelnen angezogen; als ein Ganzes wollte sie mir zwar niemals recht entgegentreten, aber
die verschiedenen Charakter der verschiedenen Bücher machten mich nun nicht mehr irre:
ich wusste mir ihre Bedeutung der Reihe nach treulich zu vergegenwärtigen81 .
80 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. hg. v. Friedrich Kainz,
Stuttgart: UTB (Fischer), 1982. Bd. 1, S. 220 ff.
81 FA, 1.Abt., Bd. 14, S. 556.
82 „Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Arbeiten mit“, FA, 1. Abt., Bd. 24,
S. 732.
380 | 4 Goethe
Die Theorie physiologischen, ,subjektiven‘ Sehens auf der einen Seite, die in
diesem Jahrhundert von Ludvik Fleck wieder aufgenommen wurde, und die „ge-
heime psychologische Wendung“ zu einer Reflexion auf mentale Repräsentation
auf der anderen Seite sind distinkte Konzepte: gleichwohl wird sich an den Be-
griffen ,inneres Mährchen‘, ,mathematische Symbole‘ und ,blindes Denken‘ er-
weisen, dass Goethes Sprechweise derart auffällig zwischen beiden ,Program-
men‘ oszilliert, dass die unkritische Rede vom ,zarten Empiriker‘ prinzipiell hin-
terfragt werden muss. Allzu oft wird das subjektive Moment in der Erkenntnis-
gewinnung des Naturwissenschaftlers Goethe ,genialisch‘ gesehen: als Intuition,
Kombinationsgabe, Einfühlung oder idealistisch: als exemplarische Inkarnation
menschlicher Vernunft. Hielten sich die Biographen und ,Fragmentisten‘ an ers-
teres, so die Geistesgeschichtler, allen voran Simmel und Cassirer, an letzteres.
Fasst man dagegen die Kernsätze der einschlägigen naturwissenschaftlichen
Schriften ins Auge84, so fällt auf, dass Goethe hier die Wortwahl des singulären
Weltkindes bewusst vermeidet. Vielmehr konturiert sich eine physiologische Be-
schreibung der Außenweltrepräsentation, die sich in glücklichen Momenten zur
Erkenntnis verdichtet. Im Gefolge Bacons und gegen Newton lässt sich für Goe-
the das Beobachter-Paradox nicht aus der Versuchsanordnung wegdenken.
Es muß nämlich (...) die innere productive Kraft jene Nachbilder, die im Organ, in der
Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole freiwillig ohne Vorsatz ent-
falten, wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehn, um aus flüchtigen Schemen wahr-
haft gegenständliche Wesen zu werden (sic)85.
Damit soll nun nicht berühmten Goethe-Bildern wie dem Herman Meyers wider-
sprochen werden, welche die zarte Empirie nicht als Ergebnis physiologischen
Sehens, sondern als letztendlich doch empirisches Substrat einer Anverwand-
lung des Objekts durch das Subjekt und vice versa belegen. Ich zitiere eine der
schönsten Primärtextevidenzen für diese Sicht aus einem Sammelbrief an die
Weimarer aus Castel Gandolfo bei Rom vom 8.10.1787, die sich auf Herders Gott
bezieht:
Je größer die Last, oder je feiner der Zweck (wie z.B. bei einer Uhr), desto zusammengesetz-
ter, desto künstlicher wird der Mechanismus sein, und doch im Innern die größte Einheit
haben. So sind alle Hypothesen oder vielmehr alle Prinzipien. – Wer nicht viel zu bewegen
hat, greift zum Hebel und verschmäht meinen Flaschenzug, was will der Steinhauer mit
einer Schraube ohne Ende? Wenn L. seine ganze Kraft anwendet, um ein Mährchen wahr zu
machen, wenn J. sich abarbeitet eine hohle Kindergehirnempfindung zu vergöttern, wenn
C. aus einem Fußboten ein Evangelist werden möchte, so ist offenbar, das sie alles, was die
Tiefen der Natur näher aufschließt, verabscheuen müssen.86
“(D)en festen Boden der Natur zu betreten”, „ein paar Bänke tiefer hinunter
müssen“ (ebda.), dies vermeiden nicht nur die spekulativen Theologen (ein-
schließlich Herder), sondern auch der Autor der (inneren) Mährchen und der
Physiologe. Allerdings geht es dem Goethe innerhalb des inneren ,être collectif’,
der sich als Autor und ,Physiologe‘ begreift, nicht um objektive Naturerkenntnis
(allzu freisinnig verfahrende Interpolationen zwischen naturwissenschaftlichen
und literarischen Werkteilen lassen dies zuweilen außer Acht). Es geht ihm um
mentale und literarische Produktivität. Der Naturbeobachter übt das Sehen, das
sich dann im Blick auf die literarische Darstellung der Gesellschaft, der ,sittli-
chen Zustände‘ zu bewähren hat:
Mir könnte vielmehr dran gelegen sein, daß das Principium verborgen bliebe, aus dem und
durch das ich arbeite. Ich lasse einem jeden seinen Hebel, und bediene mich der Schraube
ohne Ende schon lange87.
Nachdem Wilhelm eine Reihe „köstlicher Bilder bedeutender Männer des sech-
zehnten Jahrhunderts“90 betrachtet hat, legt der Oheim ihm „Handschriften“ und
„Reliquien“ vor, „von denen man gewiß war, daß der frühere Besitzer sich ihrer
bedient, sie berührt hatte“91:
Dies ist meine Art von Poesie, sagte der Hausherr lächelnd, meine Einbildungskraft muß
sich an etwas festhalten; ich mag kaum glauben, daß etwas geschehen sei, was nicht noch
da ist. Über solche Heiligtümer vergangener Zeit suche ich mir die strengsten Zeugnisse zu
verschaffen, sonst würden sie nicht aufgenommen. Am schärfsten werden schriftliche
Überlieferungen geprüft; denn ich glaube wohl, daß der Mönch die Chronik geschrieben
hat, wovon er aber zeugt, glaube ich selten.
Nicht „wie es wirklich gewesen“, sondern wie es produktiv für den Betrachter
wird, beantwortet also die Authentizitätsfrage. Und ganz erkennbar ist das reli-
giöse Moment verbunden mit der poetischen Wirksamkeit der inneren Mährchen.
Präziser: in genauer Analogie zum Naturforscher, dem sich die Naturphänomene
eben nicht objektiv, sondern als Beobachtetes vermitteln, lassen sich hier die
religiös wertigen Sinnpotentiale durch den ,inneren Sinn‘ erschließen. Überlie-
ferung ist Gnade, weil sie die lacunae einer dichterischen Imagination mit bild-
mächtigen Konzepten abdeckt.
Dass Schreibende auf den Plan treten, wann immer bei Goethe von Überlie-
ferung die Rede ist (Felix nach „Makariens Archiv“, Schoenschreiben im Divan),
lässt sich mit der Tatsache der schriftlichen Überlieferung allein nicht erklären.
Die Schreibenden vielmehr leisten jene sinnliche Textkritik, von der die Rede
war. Sie prüfen die überlieferten Texte auf ihren ,inneren Sinn‘, der dann die
inneren Mährchen bestücken und bereichern kann. Insofern kann man von kul-
turellem Lernen durch Schreiben sprechen.
Es ist also nicht derart verwunderlich, dass der Goethe der Divan-Zeit
(1815–1821 mit Unterbrechungen) das Schreiben für sich entdeckt. Goethe, der
seine „Vielschreiberey in mehreren Sprachen“ im jungen Alter „durch frühzeiti-
ges Diktiren“93 begünstigt hat, bemerkt nun, dass das „Schoenschreiben“ mehr
noch als das Lesen und Deklamieren vergegenwärtigende Anschauung histori-
scher Zeugnisse unterstützt. Das Schreiben generiert darüber hinaus, so die zwei-
te These, jene überbordenden Vergleiche, Tropen, Metaphern klassischer persi-
scher und arabischer Lyrik, die Goethe gegen Michaelis in Schutz nahm. Insofern
kann man durchaus von einer Jean-Paulisierung im Divan sprechen, der ,Ori-
entale‘ Jean Paul, der für sich in Anspruch nahm, dass „(n)och kein Autor so oft
,wie‘ oder ,gleich‘ hingeschrieben als ich“94, wird nicht nur in der „Verglei-
chung“, zum Vorbild.
Den Symbolbegriff der klassischen Periode hinter sich lassen zu können,
erweist sich geradezu als Jungbrunnen der literarischen Produktivität. Zeitgleich
ist das Interesse für die Kunst des Mittelalters auf einem Höhepunkt angelangt,
Sulpiz Boisserés Gemäldesammlung besucht und das erste Heft für Kunst und
Altertum geschrieben. Und der biographische Goethe – mit dem Abschluss der
Biographie Hackerts im Jahr 1811 beginnt er die eigene – bedarf einer konkret-
fasslichen, realistischen Darstellungsweise, zumal für die politischen Ereignisse
in der Campagne in Frankreich, für die eine ,idealistische‘ Abbildung der „sittli-
chen Folge der Äußerungen innerer Zustände“95 nicht mehr tauglich ist. Aus den
mit Schiller verfassten „symbolische(n) Schemata“96 werden solche, die in ellip-
tischer Form Erzählideen fokussieren. Biographischer, innerer Realismus, wie im
Karlsbader Schema festgehalten, und die Lust am Vergleich, am historischen
Rollenspiel, am Redeschmuck halten einander die Waage, ja, bedingen sich. Der
Tragelaph wird so zum Vorbild, ohne dass Goethe, bis 1816 selbst in „einem
häuslichen Verhältnis“ lebend, in die empfindsamen Genre-Arbeiten abgleitet,
die Jean Pauls polyhistorische Höhenflüge erden sollen.
In einem Schema zum ,Divan‘ heißt es:
Dichter als Vorbittender
Entscheidender.
Weissagender.
Schoenschreiben.97
94 Vita-Buch, in: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Zweite Abteilung, 6.
Band, Böhlau, 1996. S. 716.
95 FA, 1.Abt., Bd. 16, S. 512.
96 FA, 1.Abt., Bd. 17, S. 1798 (TuJH, 1798).
97 FA, 1.Abt., Bd. 3/1, S. 719–720.
384 | 4 Goethe
4.3.1 Einführung
„Daß alles, was uns heut bewusst und stämmig als Goethes ,Werke‘ in ungezähl-
ten Buch-Gestalten entgegentritt, einmal in dieser einzigen, gebrechlichsten, der
Schrift, bestanden hat“: in der Tat: dies gilt es gerade bei Goethe ins Bewusstsein
der zuständigen Philologie zurückzuholen, auch wenn größere ,geistesge-
schichtliche‘ Entwürfe heute kaum mehr zu erwarten sind103 als detailgetreue
Beschreibungen des archivierten Materials, die, in wenigen gelungenen Fällen
der ersten drei Generationen von ,Positivisten‘, in der Tat eine Aura von tieferlie-
gender Bedeutung für sich in Anspruch nehmen können. Der unnennbare Text:
* Eine frühere Fassung dieses Abschnittes erschien als Studie in Euphorion. Zeitschrift für Li-
teraturgeschichte, Bd. 106, H. 4, 2012, S. 497–518. Herzlichen Dank an Wolfgang Adam.
102 Walter Benjamin: Kleine Baudelaire-Übertragungen, Gesammelte Schriften, Band IV, 1, 1972.
S. 353–354. Auf diese schöne Textstelle hat zuerst Jochen Golz aufmerksam gemacht.
103 Der letzte große Versuch stammt einmal mehr aus der Schings-Schule. Michael Jaeger:
Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, Würzburg: Königshausen und
Neumann, 2004.
386 | 4 Goethe
dies sind die überschriebenen Schichten eines Palimpsests, wie wir sehen wer-
den. Die Reinschrift dagegen – wiewohl die Krisis des Schreibenden offenbarend
– wird durch die „geläufige Hand“ immunisiert. Als solche besitzt sie Werkstatus.
4.3.2 Schreibsituation
Im Folgenden wird die Marienbader Elegie als Beispiel für die These herange-
zogen, dass auch Goethe handschriftliche Ensembles angefertigt hat, allerdings
nicht Textblöcke und Zeichnungen medial in Beziehung zueinander gesetzt, son-
dern verschiedene Werkstufen übereinander geschrieben hat: das Palimpsest als
memorative Anordnung104. Die Marienbader Elegie ist von jeher als Paradebei-
spiel für die Krisenbewältigung und ,Erhöhung‘ der Verzichtleistung des späten
Goethe interpretiert worden. Glücklicherweise existiert bei diesem Werk eine em-
pirische Grundlage, die das Unterfangen einer schreibanalytischen Untersu-
chung ermöglicht:
Eckermann lenkt bereits den Blick auf eine mögliche Urschrift, die den
Schreibprozess in der Kutsche, auf der Rückfahrt von Böhmen nach Weimar vom
5. bis 17. September 1823, analog abbildet:
Sie sehen das Produkt eines höchst leidenschaftlichen Zustandes. Als ich darin befangen
war, hätte ich ihn um alles in der Welt nicht entbehren mögen…. Ich schrieb das Gedicht
unmittelbar, als ich von Marienbad abreiste und ich mich noch im vollen freischen Gefühle
des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der ersten Station, schrieb ich die erste Strophe,
und so dichtete ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtnis
Gefasste nieder, so das es abends fertig auf dem Papiere stand. Es hat daher eine gewisse
Unmittelbarkeit105
Dass dies eine stark verkürzte und auch falsche Beschreibung des komplizierten
Entstehungsprozesses der Elegie ist, wusste schon Bernhard Suphan, als er den
Band drei der Weimarer Ausgabe vorbereitete. Es lassen sich drei Schichten aus-
machen und anhand der Manuskriptlage beschreiben:
Der Schreibkalender aus dem Jahr 1822, der Teile der Elegie enthält:
Diese Passagen fertigte Goethe offenbar tatsächlich in der Kutsche an; die
Schreibszene spielt eine gewichtige Rolle bei der Textentstehung.
Die Handschrift H 152, die Goethe auf seiner Rückreise zwischen dem 5.
und 7. September 1823 abgefasst hat. Die Mehrzahl der Folioblätter aus diesem
104 Der Terminus ,Palimpsest‘ ist in dem hier wie anderswo verfolgten Ansatz (natürlich) nicht
postmodern zu verstehen, sondern ,real‘ und materiell. Gleichwohl ergeben sich gewichtige
Unterschiede zu spätantiken und mittelalterlichen Palimpsesten: zunächst ist bei Goethe der
Akt der Überschreibung Moment dichterischer Innovation; darüber hinaus ist hier die Intention
fassbar, frühere Textstufen zwar als ungültig zu markieren, sie aber gleichwohl zu überliefern.
105 Eckermann, 16. November, 1823; FA, 2. Abt., Bd. 12, S. 75.
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 387
106 Die Paginierung übernehme ich von Jürgen Behrens’ und Christoph Michels sehr verdienst-
voller kritischer Ausgabe der Marienbader Elegie: Goethe. Elegie von Marienbad. Urschrift. Sep-
tember 1823, Frankfurt a.M.: Insel, 1991. Auf den Seiten 66–85 kollationieren die Autoren die
Reinschrift H 153 und die Urschrift. Die Seitenangaben sind deshalb gewöhnungsbedürftig, weil
die Autoren nur Verso-Seiten als solche benennen, nicht aber Recto-Seiten.
388 | 4 Goethe
19 19
20 20 S. 25v/23
21 21 S. 22/23107
22 22
23 23
Man erkennt anhand der Zusammenstellung, dass die Urschrift, also die Einträge
im Schreibkalender nur ein Drittel des Gesamtvolumens ,abdeckt‘. Wie Behrens
und Michel darstellen, wird der Schreibkalender in zwei Richtungen und zwei
,Arbeitsphasen‘ beschrieben: von Blatt 1v bis Bl.11v von ,vorn nach hintern‘, den
Schreibkalender einmal um 90 Grad nach rechts gedreht; von Blatt 25v–22, von
,hinten nach vorn‘, nunmehr den Kalender um 90 Grad nach links gedreht.108
Abb. 60. Goethe. Schreibkalender 1822. fol. 25 und fol. 24 verso (ein Blatt). Eigentum des
Frankfurter Goethe-Hauses/Freies Deutsches Hochstift 8109.
109 Ich danke Frau Prof. Dr. Bohnenkamp-Renken für die gute Zusammenarbeit und die Ertei-
lung der Druckgenehmigung.
390 | 4 Goethe
Wie entscheidend die Schreibsituation die Handschrift, den Inhalt des Ge-
schriebenen, prägt, zeigt Blatt 25. Hier ist Strophe 1 der Elegie aufgebracht, er-
kennbar später, außerhalb der Kutsche geschrieben. Gleichzeitig aber sind zwei
Verse während der Reise realisiert worden, die vermutlich für die spätere Strophe
20 vorgesehen waren, die aber nicht in die endgültige Fassung integriert wurden.
Die Stanzenform ist bei den schreibsituationell geprägten Strophen im Schrift-
bild realisiert. Es finden sich auf den übrigen beschriebenen Seiten des Kalen-
ders eine für Goethe untypische Anzahl von Korrekturen, Parallelformulierungen
und Überlagerungen von Korrektur und finalem Text. Die Situationsabhängig-
keit, die Goethe für seine kleinen lyrischen Gebilde in Anschlag brachte: sie ist
hier offensichtlich. Die besondere Schreibsituation sorgt dafür, dass der ansons-
ten vorherrschende Immunisierungsprozess nicht bereits auf der Entwurfsebene
vonstatten gehen kann. Vielmehr werden hier parallele Formulierungsideen in
eine gleichsam ,offene‘ Situation der Auswahl gebracht, die Entscheidung auf
eine spätere Schreibepoche postponiert. Der offenkundig eruptive Ideenstrom
soll zunächst fixiert und in eine bildhafte Ordnung gebracht werden. Dabei sorgt
die Situation, die wenig komfortable Fahrt in der Kutsche, dafür, dass der Schrei-
bende keine Ad-hoc-Entscheidungen trifft, was die parallel realisierten Formu-
lierungen angeht – eine Möglichkeit, die ja der ,Symphronismus‘ unseres Autors,
das prospektive Überschauen des gesamten noch nicht realisierten Konzepts in
der aktuellen Durchführung des Details durchaus einräumte.
Der planende Schreibende ist hier gleichsam außer Kraft gesetzt; wenn auch
nicht ganz: Wie am Schema erkennbar, ,weiß‘ der Schreibende, zu welchem
Zeitpunkt er die späteren Strophen (20 und 21) skizziert und markiert diese Zu-
gehörigkeit durch den Wechsel des Schreiborts im Kalender. Diese räumliche
Ordnung, die Vorspiegelung einer materiellen Gestalt von Schreibideen und -pro-
zessen begegnet uns bei Goethe immer wieder, durch alle Schaffensphasen hin-
durch. Der reife Goethe nun entpuppt sich als protokollierender Schreibender,
der die Schreibideation zunächst einmal festhält, ja: sie verstärkt durch Techni-
ken der bildhaften oder räumlichen Ordnung. Von der Schreibskepsis der frü-
heren Phasen, vom ,diktierenden‘ Goethe, der Riemer während der Kutschfahrt
die Wahlverwandtschaften referiert, ist hier nichts zurückgeblieben. Vielmehr
zieht sich der Schreibende auf die produktive Situation der ,Insel‘ einerseits, der
Außenwelteinwirkung andererseits zurück – eine Konstellation, die wir auch bei
den zahlreichen Reisenden mit portablem Schreibset in Jean Pauls Werk beob-
achten können.
Ich stelle zu besserem Verständnis die Strophen 20 und 21 in der Reinschrift
H 152 und der Urschrift gegenüber.
Abb. 61. Goethe Schreibkalender, 1822. fol. 25 verso. Eigentum des Frankfurter Goethe-
Hauses/Freies Deutsches Hochstift.
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 391
392 | 4 Goethe
Abb. 62. Goethe Schreibkalender, 1822. fol. 23. Eigentum des Frankfurter Goethe-Hauses/
Freies Deutsches Hochstift.
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 393
Es ist ganz erkennbar, dass „Todeskampf erneuend sich“ weder einer Tilgungs-
streichung noch einer Verwendungsstreichung zufällt. Es muss als parallele For-
mulierungsoption stehen bleiben wie ,vermissen/entbehren’ auf fol. 23. Deutlich
ist aber auch, dass in Z.2 auf fol. 25v eine zweite Variante etabliert wird: „Wo
Todeskampf und Leben grausam sich bekämpfen“. Erstaunlich ist hier das Re-
flexivpronomen, das von Zeile 1 nach unten ,gezogen‘ wird (ein weiterer Hinweis
darauf, dass diese Passage nicht gestrichen war), während ja auch das Reflexiv-
pronomen unterhalb von ,grausam‘ hätte ,reaktiviert‘ werden können. Der
Schreibende optiert hier erkennbar gegen eine lineare Restitution und für eine
bildhafte. Die Strophe als ganze fungiert als Ensemble, das besonders in seiner
parallelen und offenen Realisation weitere und umfassendere Konzepte der Erin-
nerung einschreiben will.
4.3.3 Werkstatt
Bernhard Suphan konnte den Schreibkalender des Jahres 1822, den Goethe er-
satzweise auf der Rückfahrt aus Böhmen im Jahr 1823 für die Urschrift der Ma-
rienbader Elegie benutzte, weder kennen noch einsehen. Er befand sich zu die-
sem Zeitpunkt bereits in Privatbesitz in Großbritannien und konnte erst Anfang
der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts vom Freien Deutschen Hochstift
erworben werden. Suphan mutmaßt, dass es eine Urschrift der Elegie gegeben
haben könnte (er verfügt nur über H 153 und ein Blatt aus H 152), aber im Kalen-
der des Jahres der Reise, 1823, wird er nicht fündig. Es gibt dort durchaus Nie-
derschriften einzelner Strophen111 und mit der Liebeserfahrung relatierte Einträ-
ge112 sowie Schemata zur Autobiographie, aber nirgends die vermutete Urschrift.
Unser Gedicht, das Produkt der Leidenschaft, ist zugleich ein Beweis hoher, höchster
Künstlerschaft. Die ursprüngliche Gestalt zwar, ich meine diejenige, die dem geistigen
Conzept gleich war, ist nicht bekannt. Goethe hat sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen.
Er hat Blatt und Griffel zur Hand; was ihm unterwegs in den Sinn kommt und sich ausge-
talten will, zeichnet er auf, in Zügen, denen man Ruhe oder Hast, Gunst und Ungunst der
Gelegenheit, Rütteln und Schütteln des Wagens ansieht: Verse und Versansätze, kleine
Stücke zu schriftstellerischen Arbeiten, aphoristische Bemerkungen, Beobachtungen, ja
einzelne bedeutsame Worte. Im Archiv befindet sich der schmale Schreibkalender für das
Jahr 1823, den er in Böhmen benutzt hat, mit Eintragungen der bezeichneten Art, auch ein
paar Ansätzen und Zeilen der Marienbader Gedichte; keine Spur aber von der Elegie (…)113
111 Das vielleicht interessanteste Moment in dem mir vorliegenden Schreibkalender aus dem
Jahr 1823 ist ein Strophenentwurf, der dreimal komplett samt skizziertem Reimschema auf dem
Papier realisiert wird (fol.2–4). Ich gebe hier die letzte Fassung (fol.4):
„Gewogen schienst du mir zu seyn,
Du lächeltest der kleinsten Gabe
Und wenn ich deine Gunst nur habe
so ist kein Täfelchen zu klein“
Goethe versteckte, so die „divinatorischen“ Biographen (Arthur Henkel), Schokolade auf Ge-
steinen, um der geologisch uninteressierten Ulrike die Exkursionen schmackhaft zu machen.
112 Goethe trägt auf einer unpaginierten Seite im Schreibkalender von 1823 auf:
„Un plaisier legitime est lui meme trompeur/Puisqu’ il est fugititif »
113 Bernhard Suphan: Elegie. September 1825. Goethes Reinschrift mit Ulrike von Levetzows Brief
an Goethe und ihrem Jugendbildnis, Weimar: Verlag der Goethe-Gesellschaft, 1900. S. 16.
396 | 4 Goethe
K H 152
Strophe 6
Und wölbt sich nicht das unermeslich grose Und wölbt sich nicht das überweltlich Große,
Gestaltet jetzt und bald gestaltenlose (S. 6) Gestaltet bald, und bald gestaltenlose“
Strophe 7
schlank zierlich fein Wie leicht und zierlich, fein und zart gewoben
Wie leicht und strack, wie schlank Schwebt, Seraphgleich, aus ernster Wolcken Chor,
Als glich es ihr, am blauen Äther droben,
und zart gewoben. Ein zart Gebild aus lichtem Duft empor;
Schwebt
Steigt Seraph gleich aus ernster Wolken
Chor
droben
Strophe 8
Doch nur Momente kannst [dich] unterwinden Doch nur Momente darst dich unterwinden
Ein Luftgebild statt ihrer fest zu halten Ein Luftgebild statt Ihrer fest zu halten.
In s herz zurück. Dort wirst du s besser finden Ins’s Herz zurück! dort wirst du’s besser finden,
Dort regt sie sich in wechselnd[en] Gestalten Dort regt Sie Sich in wechselnden Gestalten;
(K, 3verso) Zu vielen bildet Eine sich hinüber,
Da bildet eins in’s andre sich hinüber So tausendfach, und immer immer lieber“
So tausendfach und immer im[m]er lieber
(K, 5 verso)
Strophe 9
Und mich von da so stufenweis Und mich von dannauf stufenweis’ beglückte;
Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte;
beglückte Den letztesten mir auf die Lippen drückte;
Mich nach dem letzten Kuß So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben
Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben
mich noch ereilte
Und
Den letztesten mir auf die
Lippen drückte
(K, 7)
So bl
So fest beweglich bleibt das
Bild der Lieben,
Nicht starr ins Erz ins weiche
Herz geschrieben (K, 7 verso)
398 | 4 Goethe
Strophe 10
Ins Herz das fest wie zinnen- In’s Herz das fest wie zinnenhohe Mauer
hohe Mauer Sich ihr bewahrt und Sie in sich bewahret
Sich ihr bewahrt und sie in Für sie sich freut an seiner eignen Dauer,
Sich bewahret Nur weis von sich wenn Sie Sich offenbaret
In Ihr sich freut an seiner
eignen Dauer
(K, 8)
Strophe 11
Die Fähigkeit zu lieben. Das Be-
dürfen
Von Gegenliebe waren fast verschwunden War Fähigkeit zu lieben, war Bedürfen
Die HoffnungsLust zu freudigen Ent- Von Gegenliebe weggelöscht, verschwunden;
würfen Ist Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen,
rascher Entschlüssen, rascher Tat sogleich gefunden!
Entschlüssen, frischer That ist Wenn Liebe je den Liebenden begeistet
(K, 11) Ward es an mir auf’s lieblichste geleistet.
neu gefunden
Und wie sie je den Liebenden be-
geistet
Hat Liebe an mir geleistet.
(K, 11 verso)
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 399
Strophe 12
Und wunderst sich daß nicht um Und zwar durch sie! – Wie lag ein innres Bangen,
ihretwillen Auf Geist und Körper unwillkommner Schwere;
Die Sonne stille steht von Schauerbildern rings der Blick umfangen
(K, 23 verso) Im wüsten Raum beklommner Herzensleere;
Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle,
Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.
Strophe 21
Undeutlich bald und bald
und bald im reinsten Strahl[en] Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Stralen;
Wie möchten sie zum Troste fromm[en] Wie könnte dies geringstem Troste frommen?
Die Ebb und Fluth ihr gehen und das Kommen Die Ebb’ und Flut, das Gehen wie das Kommen!
400 | 4 Goethe
Es ist deutlich, wie sich Konkretisierungen und deiktische Mittel in der Rein-
schrift abschleifen und im für Goethe typischen Gestus universaler ,Aufhebung‘
transformiert werden. Adjektive werden entpersönlicht, Vergleiche (Seraph,
zinnhohe Mauer) ihres konkreten res comparationis benommen, die heilende
Kraft der Liebe im grammatischen Statthalter-Subjekt verborgen. In einer beson-
ders für den späten Goethe charakteristischen Wendung wird auch das Lie-
besobjekt nicht mehr als vom Ich begehrtes wahrgenommen, sondern die emp-
fundene Liebe wiederum auf die eigene Person rückprojiziert: es ist plötzlich der
alternde Dichter, der sich für die Geliebte an seiner Existenz erfreut. Auch der
gleichsam versöhnende Konditionalis des Spätwerks, verbunden mit einer tem-
poralen Hierarchisierung der Konzepte wird erst in der Reinschrift ausgearbeitet:
War Fähigkeit zu lieben, war Bedürfen
doch: das Herz spricht; das leidende Ich wird mit ,Du‘ apostrophiert; die Erin-
nerungsbilder sind gleichsam objektiv eingestanzt durch ,handelnde‘ Abstrakta:
Der Tag regt die Flügel, der Kuss zerschneidet, der Missmut beschwert, das Kom-
men (nicht sie!) schauert den Eigennutz weg. Peter von Polenz hat in anderem
Zusammenhang von Deagentivierung gesprochen; ein syntaktischer Modus, der
die semantische Rolle des Agens eigentümlich „ungesättigt“ hält114. Das lyrische
Ich, dem doch ein Gott die Möglichkeit gegeben hat, zu sagen wie es leidet, trägt
eben ,kein Fensterchen vor der Stirn‘. Der Leser soll dem in der Kutsche schrei-
benden Autor nicht über die Schulter sehen.
Wie nun unterscheiden sich die beiden Reinschriften, H 152 und H 153, die
Werkstatt vom immunisierten Werk? Bereits Suphan wusste, dass H 152, also die
vom 5.–7. September unterwegs angefertigte Handschrift die werkgenetisch in-
teressantere ist: hier lässt sich in der Tat die „,ins Innere’ feilende“115 Hand des
Schreibenden und Korrigierenden nachweisen. In der in Weimar angefertigten
,Pracht-Handschrift‘, die Suphan treffend als die „Kunstgestalt der Reinschrift“116
bezeichnet, sind dagegen nur zwei Auffälligkeiten festzustellen. In Strophe 14
wurde ,wohnt‘ mit ,wogt‘ überschrieben. Zweitens gehen in Strophe 6 die Zeilen-
enden beinahe über den Blattrand hinaus, wobei der Schreibende hier nicht in
der nächsten Zeile mit einem Absatz neu ansetzt, wie im Schreibkalender, son-
dern es unternimmt, die Verse auf einer Zeile zu Ende zu führen.
Schreibanalytisch interessanter ist H 152, weil wir hier auf einigen Blättern
ein Palimpsest vor uns haben, also ein mustergültiges Beispiel für das sequen-
tielle und sich selbst verbergende Bearbeiten und ,Erhöhen‘ des literarischen
Textes, für das Goethe einsteht. Die Folge dieser schichtweisen Bearbeitung ist,
dies sei vorweggenommen, dass sich die sprachliche Realisierung der beiden
Reinschriften nur marginal unterscheidet, dass also die ,Reisegestalt der Rein-
schrift‘, H 152, bis auf wenige Ausnahmen die finale Werkgestalt darstellt.
Auf den mir vorliegenden Blättern der Sammlung Culemann (Stadtarchiv
Hannover) lässt sich in der Tat, wie schon Behrens/Michel angaben, auf dem
Doppelblatt in Folio (Strophen 1 bis 12) eine ältere Textschicht erkennen. Mit der
ersten Abbildung zeige ich die Strophen fünf bis acht, mit der zweiten Abbildung
die Strophen neun bis zwölf. Diese Strophen sind mit Ausnahme der fünften und
der zwölften Strophe in der Urschrift K präfiguriert. Ich übernehme die fehler-
hafte Paginierung auf dem Original: Seite 1, Seite 2unpag (unpaginierte Seite),
Seite 2, Seite 4 und 5. Seite 3 (Strophe 13–17) wurde von Bernhard Suphan im Jahr
1887 von Carl Eckermann, dem Sohn Johann Peter Eckermanns, erworben und
später im Goethe-Schiller-Archiv archiviert.
114 Peter von Polenz: „Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die De-
agentivierung“. Wissenschaftssprache, hg. v. Theo Bungarten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984.
115 Suphan, a.a.O., S. 17.
116 Suphan, S. 18.
402 | 4 Goethe
Abb. 63. H 152, Sammlung Culemann, Eigentum des Stadtarchivs Hannover, Seite 2 unpag.
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 403
Die Reinschrift, die Goethe am fünften und siebten September 1823 auf der
Rückfahrt nach Weimar im Tagebuch erwähnt, liegt uns hier vor. Sie stellt die
erste zusammenhängende Niederschrift der schreibsituativen Niederlegung der
Marienbader Elegie im Schreibkalender dar. Als solche könnte sie wertvolle Auf-
schlüsse über Goethes ,Werkstatt‘ geben, also wie frühe Werkstufen in eine blei-
bende Gestalt gebracht werden. Und in der Tat: die Überraschung dieser kaum in
der Goethe-Forschung beachteten Handschriften ist nicht in der Tatsache be-
gründet, dass Goethe umfangreiche Korrekturen vornimmt, besonders auf den
Blättern der Strophen, die nicht im Schreibkalender vorgebildet sind. Die Über-
raschung ist vielmehr, dass eine ältere, genauer gesagt: mehrere ältere Text-
schichten vom Schreibenden ausradiert und mit Tinte neu überschrieben wur-
den, also gerade nicht die bürokratische Abfolge der Anfertigung einer Sequenz
von Schriftstücken befolgt, sondern die finale Fassung dieses kleinen Werks
gleichsam in einer ins Materielle, Räumliche gewendeten Art durch Überlage-
rung, Überschreibung und Auslöschung abgerungen wurde.
Im Groben lässt sich folgender Vorgang rekonstruieren: der Schreibende
nimmt das schreibsituative ,Protokoll‘, den Schreibkalender, vor und bringt es in
eine erste Fassung. Sodann werden einzelne Strophen oder Verse ausradiert und
Korrekturen, Umstellungen und Neuformulierungen in die alte Niederschrift ge-
setzt. In Strophe sechs (Transkription K und H 152 siehe oben) wurde zunächst
,unermesslich‘ geschrieben, dann mit einer Korrektur oberhalb versehen, die
ebenfalls ausradiert wird, bevor dann ,unermesslich‘ in den Fließtext eingepasst
wird. In Strophe acht ist deutlich erkennbar, dass die ältere Textschicht die
Schreibkalender-Variante realisiert: „Da bildet eins in’s andre sich hinüber/ So
tausendfach und immer im[m]er lieber“. Über diese Textschicht setzt der Schrei-
bende „Zu vielen bildet eine sich hinüber“. In Strophe neun ersetzt das spätere
,treue Herz‘ das anfängliche und auch im Schreibkalender vorgezogene ,weiche
Herz‘. In Strophe elf schließlich verdeutlicht sich ad hoc, wie der oben ins Zen-
trum gerückte versöhnende Konditionalis Goethes in dieser Phase der Palim-
psest-Reinschrift erstmalig eingefügt wird. Ganz deutlich ist die ältere Text-
schicht, eine bloße Abschrift des Schreibkalenders, zu Beginn des ersten und des
dritten Verses dieser Strophe überschrieben, also die Spitzenstellung des Verbs
(,war‘, ,ist‘) zu diesem Zeitpunkt als Formulierungsvariante aktiviert und vorge-
zogen worden. Aus dem unmittelbaren Protokoll der Schreibsituation entsteht
das ausgleichende, nivellierende Element des versöhnenden Konditionalis, der
Goethes Spätwerk prägt.
Steht der Papierarbeiter Goethe im Fokus, so ist eine Korrektur auf Seite 4,
Strophe 20 besonders interessant: Auch diese Passage war im Schreibkalender
ins Konzept gebracht und wird nun in der Reinschrift, die auf Seite 4 und 5 den
Charakter des Palimpsests verliert und dementsprechend mehr Korrekturen auf-
weist, wie folgt verbessert:
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 405
1342
er
Wie in der Vergrößerung gut zu erkennen, ist die Entzifferung Suphans zutref-
fend. Wir haben mehrere Bearbeitungsschichten vor uns, die erklären, wie Goe-
the über die Hälfte der Elegie ohne die ,Vorarbeit‘ des Schreibkalenders (so auch
Strophe 12) hat in diese endgültige Form bringen können: ohne Zweifel existieren
mehrere frühere Versionen des Textes auf dem gleichen Schriftträger, und zwar
besonders für die Passagen, die nicht im Schreibkalender vorgeformt sind. Aber
auch die Schreibkalender-Segmente werden in dieser ,Reinschrift‘ zunächst ab-
geschrieben, bevor sie dann auf dem gleichen Schriftträger bearbeitet werden:
vermutlich in der Gestalt, dass der Schreibende immer strophenweise die ältere
Fassung emendiert, bevor er dann eine neue aufbringt. Es handelt sich also
jeweils um ein ,Fenster‘, das vom geschriebenen Text eingerahmt wird: eine von
mehreren Techniken Goethes, die ,kognitive Spanne‘ des Schreibprozesses
gleichsam ,materiell‘ abzubilden und dadurch Aufmerksamkeit zu bündeln. Es
ist diese Technik des Hervorhebens und Sichtbarmachens eines kognitiven Fens-
ters mehr als die Überlagerung von Textschichten, die schreibanalytisch interes-
sant ist.
4.3.4 Werk
Die einfache, aber keineswegs überflüssige Frage lautet: warum hat Goethe kei-
nen neuen Bogen zur Hand genommen, um die Abschrift der Schreibkalender-
Strophen und der neu hinzugefügten (der Eindruck der entsprechenden Passa-
gen von H 152 lässt vermuten, dass es ,Urschriften‘ auch dieser Strophen gegeben
haben muss) in eine Reinschrift zu bringen? Warum lagert er nachweisbare drei
Arbeitsschritte am Text auf dem Schriftträger übereinander? Goethe – zu Gast auf
Schloss Hartenberg bei dem Grafen Joseph Auersperg (5.–7. September 1823) –
verfügt mit Sicherheit über alle notwendigen Materialien, um ein Gedicht zu
bearbeiten.
Zu verräterisch, zu ,singulär‘, zu ,genetisch‘ waren die Handschriften, selbst
wenn die einzelnen Arbeitsschritte in der Bearbeitungsphase der Werkstatt un-
kenntlich gemacht werden, wie wir gesehen haben. Die Handschriften zeigen die
,Krise‘, von der Benjamin spricht – und zwar besonders passend mit Bezug auf
die Marienbader Elegie. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass für Goethe das
Werk nicht notwendigerweise eine gedruckte Gestalt hat. Die ,Pracht-Reinschrift‘
mit blauer Mappe und Goldband sowie Gravur (H 153) hatte für ihn mehr von der
emphatischen Aura des Werks als die reproduzierbaren Druckvorlagen. Die ab-
geschlossenen Werkteile vor sich zu sehen, bedeutet: die abgeschriebenen.
Das Palimpsest der Seiten 1, 2unpag und 2 von H 152 hat eine konkrete
schreibproduktive Funktion inne und ist kein Einzelfall im inneren und institu-
tionellen ,Haushalt‘ Goethes. Die im nächsten Kapitel thematisierte Archivierung
in ,Lagen‘ wird in dieser Reinschrift in den Schichten des Palimpsests abgebildet.
Und das Öffnen und ,Füllen‘ von Fenstern im geschriebenen Text rekurriert auf
die Arbeit am Faust II, dem erneut aus dem Druck hergestellten Manuskript, in
das blaue Blätter eingefügt waren, die Leerstellen anzeigten. Dieser oftmals un-
terschätzte materielle Aspekt der poetischen Werkstatt Goethes steht nicht im
Widerspruch zu dem von Generation zu Generation tradierten Bild des ,Kopfar-
beiters‘, der ganze Werksequenzen mental überschaut und referieren kann. Wie
ich deutlich gemacht habe, wirkt vielmehr das memorative Potential des Ensem-
bles auf dem Schriftträger – das Palimpsest und das ,kognitive Fenster‘ – unter-
stützend in diese Richtung des ,mentalen‘ Durcharbeitens und Kombinierens
weitauseinanderliegender ästhetischer Lösungen. In diesem Fall ist das Über-
schreiben des Textes die Voraussetzung dafür, dass sich Aufmerksamkeitsspan-
nen und aus der memoria gespeiste Assoziationen generieren – ein Prozess, der
ein Gelegenheitsgedicht in Literatur transformiert.
Da für Goethe die Handschrift, das Manuskript Werkstatus besitzt, hat er,
wenn Selbstschreiber, zum Ziel, die Fehler und Verkürzungen vorheriger Text-
stufen in der obersten Schicht des Palimpsests aufzuheben. Hält man dement-
sprechend die ,Reinschrift in Kunstgestalt‘ H 153 und die Palimpsest-Reinschrift
H 152 nebeneinander, so besticht, trotz der Korrekturen auf den letzten beiden
Blättern (Strophen 18–23) in letzterer der Eindruck, man habe hier eine sorgfältig
vorgenommene Abschrift, eine Kopie einer durch viele Arbeitsstufen entwickel-
ten Textgestalt vor sich. H 152 wirkt bereits wie die Abschrift Johns: mit ,goti-
schen‘ Verzierungen der Buchstaben und Schweifklammer, mit einer fast über-
4.3 „Kriselnde Handschrift“ und Palimpsest: Die Marienbader Elegie | 407
118 Jens Loescher: „Lichtenbergs Gedankeninstrumente“, Oxford German Studies, Bd. 41, H.1,
S. 54–77. S. 67.
408 | 4 Goethe
grieren? Ist die wahrhaft kriselnde Handschrift des Schreibkalenders und die
mühevolle und gewissenhafte Schichtung der genetischen Stufen bis zum Werk
in H 152 nur der Gelegenheit geschuldet? Ich meine, hier sei eine emphatische
Vorstellung des genetischen Evolvierens eines Kunstwerks aus der Transforma-
tion der Form am Werk. Es ist unnötig zu sagen, dass zwar der Philologe, so
Goethe, des inneren Sinnes bedürfe, dass aber für den Urheber des Werks auch
der äußere Sinn, des Schreibenden, eine tragende Rolle spielt.
Die späten naturwissenschaftlichen Schriften, besonders Der Versuch als
Mittler zwischen Subjekt und Objekt, sind, es ist oft festgestellt worden, biogra-
phisch. In einem sehr objektiven Sinn sah Goethe das eigene Leben als ,geneti-
sche Entwicklung‘ an. Im werkproduktiven ,All in Eins‘ Goethes geht ja die Po-
etik des elegischen Liebesgedichts, das natürlich eher einen prägnanten Moment
denn nur eine ,Gelegenheit‘ bezeichnet (siehe etwa auch Euphrosyne), parallel
mit der Arbeit an der Autobiographie und den geologischen und botanischen
Studien. Stellt sich dem sich selbst historisch gewordenen Autobiographen die
eigene Lebensgeschichte wie die Spiegelung von Lebensepochen dar, wie wir mit
Blick auf die im gleichen Jahr vorgenommene Dankesschrift ,Wiederholte Spie-
gelungen‘ an Näke feststellen können, so verfährt der Schreibende mit seinen
Handschriften: nicht die philologische Quellenarbeit der Kollationierung von
Textzeugen und des Auffindens oder ,Konstruierens‘ von Urschriften oder an-
deren werkonstitutiven Manuskripten will er der Nachwelt als Aufgabe vorlegen
– also die Sequenzierung der Manuskripte, die sodann bleich und museal aus-
gelegt werden können –, sondern die Spiegelung der einen Handschrift in der
anderen, des einen Werks im anderen – eine ferne Nähe, auch in der Verdoppe-
lung, die nicht zufällig Benjamin in ihnen zu entdecken meinte.
Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf119.
Nun aber, durch das Wort gegenständlich ward ich auf einmal aufgeklärt, indem ich deut-
lich vor Augen sah, daß alle Gegenstände, die ich seit fünfzig Jahren betrachtet und un-
tersucht hatte, gerade die Vorstellung und Überzeugung in mir erregen mußten, von denen
ich jetzt nicht ablassen kann120
Die sittliche Folge der Äußerungen innerer Zustände. Das Wort ,Sittlich‘ folgt in
Goethes poetischer ,Terminologie‘ einer komplexen Doppelcodierung: erstens
meint es, etwa in bezug auf die Kindheit in Frankfurt ,moralisch-religiös-affek-
tiv‘127; zweitens das „gesellig Sittliche“ (ebda), also Konventionelle und ,Schick-
liche‘. Ein Korrektiv schleicht sich ein in Gestalt des Attributs: es regelt die Folge
der Äußerungen innerer Zustände; besonders im Spätwerk sorgt es dafür, dass
die Handlungsmotivation etwa Wilhelm Meisters nichts mehr vom individuellen
,Trieb‘ vieler Figuren der frühen Phase hat.
Geht es um „den innern Menschen“128 und damit um den „inneren“ oder
„kritischen Realism“, den Goethe, besonders für die nachrevolutionären Ereig-
nisse prägt, so gilt es immer, jenes Korrektiv mitzudenken. Es folgt einer Diätetik
des „Angenehmen“129, die sich gegen die bedrohlich gewordene Empirie in Ge-
stalt der Geschichte abschottet. Der Biograph löst den Reisediaristen ab, die
Geschichte wird in der Konfession des Biographen aufgehoben. Zentral für dieses
schreibstrategische Unterfangen ist die Technik der Vergegenwärtigung, die sich
auf innere Symbole gründet.
Diese Reihung von inneren Symbolen, die, wie wir sehen werden, einem spezi-
fischen ,Rechnen‘ folgt, ist notwendig, denn er herrscht ein Übermaß an Empirie,
das durch keinerlei vorgehende Hypothesen geordnet und zugerichtet ist (Reise
in die Schweiz, St. Rochus-Fest). Die Erfahrung höherer Art gelingt eben nicht,
allenfalls kann sie durch ,Besonnenheit‘ dekretiert werden. Im Gegensatz zum
„gewöhnlich(en) Anschauen“ ist „reines Anschauen des Außern und Innern (..)
sehr selten“134 . Reines Anschauen
„äußert sich symbolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch
Rede, uranfänglich, tropisch, als Poesie des Genie’s, als Sprichwörtlichkeit des Menschen-
verstandes135.
Eine interessante ,Reflexion‘ (2.62 nach der Frankfurter Ausgabe), die der Her-
ausgeber der Weimarer Ausgabe Rudolf Steiner (,Redactor‘ Bernhard Suphan) als
Handschrift „von Riemers Hand auf einem Quartblatte, das in das eine der bei-
den Hefte, welche ,physikalische Vorträge schematisiert‘ enthalten, eingeheftet
ist“136 ausweist, lässt sich auf 1805, vermutlich den 2. Oktober datieren137, gehört
also (noch) in den zeitlichen Kontext des Goethe-Schillerschen-Commerciums.
Symbole
1. Die mit dem Gegenstand physisch real identisch sind, wie wir die magnetischen Er-
scheinungen erst ausgesprochen und dann als Terminologie bey den verwandten ge-
braucht haben.
2. Die mit dem Gegenstand ästhetisch ideal identisch sind. Hierher gehören alle guten
Gleichnisse, wobey man sich nur vor dem Witz zu hüten hat, welcher nicht das Verwandte
aufsucht; sondern das Unverwandte scheinbar annähert“
3. Die einen Bezug ausdrücken, der nicht ganz nothwendig, vielmehr einiger Willkür un-
terworfen ist; aber doch auf eine innre Verwandtschaft der Erscheinungen hindeutet. Ich
möchte sie mnemonisch im höheren Sinne nennen, da die gemeine Mnemonik sich völlig
willkürlicher Zeichen bedient.
4. Die von der Mathematik hergenommen sind und weil ihnen gleichfalls Anschauungen
zum Grunde liegen, im höchsten Sinne identisch mit den Erscheinungen werden können138
Symbole sind einerseits im nominalistischen Sinn distinkt (es gibt keine ,höhere‘
Klasse von Symbolen, auf die verwiesen würde) und sie sind kein Teil der em-
pirischen Wirklichkeit, sondern gehören dem gegenständlichen Denken des Be-
obachters zu. Liest man die vier Punkte genau, so lassen sich diese Symbole
keinesfalls als sprachliche auffassen, sondern müssen als mentale Phänomene,
vor der Versprachlichung, verstanden werden.
Wie ein Blick auf den Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geist-
reiches Wort belehrt, geht es nicht nur dem Naturforscher um diese Form des
gegenständlichen Denkens: man könne es „wohl auch ebenmäßig auf eine ge-
genständliche Dichtung beziehen“140. Die ,inneren Mährchen‘, von denen wir
zuvor handelten, sind exakt diese mentalen Symbole, die der ,empirische‘ Goe-
the – dem klassischen Konzept parallel – ,entdeckt‘. Im Gegensatz zum Trans-
formationsdenken eines sich entwickelnden Erzählnucleus herrscht auf dieser
Ebene das Konzeptdenken vor. Die ,mathematischen‘ Symbole sorgen dafür,
dass in der diffus herandrängenden Empirie ,Gegenstände‘ entstehen. Wie am
Purkinje-Aufsatz und der Rezension von Ernst Stiedenroths Psychologie zu Er-
klärung der Seelenerscheinungen gezeigt werden kann, ist dies ein Akt mentaler
Repräsentation:
Es geht aus dem Bisherigen hervor, daß das Denken Reproduktion voraussetzt. Die Re-
produktion richtet sich nach der jedesmaligen Bestimmtheit der Vorstellung. Auf der einen
Seite wird daher für ein tüchtiges Denken eine hinreichend scharfe Bestimmtheit der ge-
genwärtigen Vorstellung vorausgesetzt, auf der anderen Reichtum und angemessene Ver-
bindung des zu Reproduzierenden. Diese Verbindung des zu Reproduzierenden, wie sie für
das Denken taugt, wird selbst großenteils im Denken gestiftet141.
Nicht nur die ,hinreichend scharfe Bestimmtheit der Vorstellung‘, die im Purkin-
je-Aufsatz ,gegenständlich‘ genannt worden war, sondern auch den ,Reichtum
und angemessene Verbindung des zu Reproduzierenden‘ gilt es zu beachten. Die
Bahnungen zwischen abgelegten Sinnesempfindungen, Emotionen, Wissens-
elementen, Gesichtern, ,Gestalten‘, Bewegungsmustern und vielen anderen
mentalen Konzepten müssen ,vernetzt‘ sein; und diese ,webware‘ sollte auf-
grund erfolgter Sammlung durch die ,reine Anschauung‘ reich sein.
kaum zu sagen brauche, es sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltig-
keit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen,
eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinen Geiste aufregen und so von außen
wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen. Sie sind also, was ein
glückliches Sujet dem Dichter ist, glückliche Gegenstände für den Menschen und weil man,
indem man sich mit sich selbst rekapituliert, ihnen keine poetische Form geben kann, so muß
man ihnen doch eine ideale geben“ (FA, 2.Abt., Bd. 4, S. 389)
140 WA, 2. Abt., Bd. 11, S. 60.
141 Leopoldina, a.a.O., S. 353.
4.4 Verdichten, Verschieben, Bündeln: Der späte Goethe | 413
142 Wenngleich der Einfluss der Rhetorik bei Goethe nicht überschätzt werden sollte. Siehe
Helmut Schanzes Monographien.
143 WA, 1. Abt., Bd. 34/2, S. 104.
144 Brief an Wilhelm von Humboldt, 1.12. 1831. FA, 2. Abt., Bd. 11, S. 495.
145 Campagne, FA, 1. Abt., Bd. 16, S. 589.
414 | 4 Goethe
,tüchtige Denken‘ versagt, dann ist die Lücke zu lesen als performativer Kom-
mentar wie in einem Konzept der Farbenlehre:
Dritte Abteilung
Zwischenzeit
Lücke
Jene früheren Geographen, welche die Karte von Afrika verfertigten, waren gewohnt, da-
hin, wo Berge, Flüsse, Städte fehlten, allenfalls einen Elefanten, Löwen oder sonst ein
Ungeheuer der Wüste zu zeichnen, ohne dass sie deshalb wären getadelt worden. Man wird
uns daher wohl auch nicht verargen, wenn wir in die große Lücke, wo uns die erfreuliche,
lebendige, fortschreitende Wissenschaft verlässt, einige Betrachtungen einschieben146
Nicht nur diese ,Ebstorfer Weltkarte des Naturwissenschaftlers‘ oder Titel wie
„Zwischenbemerkung’“ oder die besonders in den fiktionalen Texten des Spät-
werks zunehmenden Verweise auf den ordnenden und herausgebenden „Redak-
teur“ lassen sich als Performanzkommentare scheiternder Genese und Verknüp-
fung mentaler Konzepte deuten. Dies könnte die klassischen Sichtweisen auf
Goethes Altersstil (Kommerell, Schrimpf, Trunz), die der geschlossenen Symbol-
struktur des Spätwerks durch die offenkundigen Brüche, Montagen (in den Wan-
derjahren) und saloppen Wortformungen keinen Abbruch zugefügt sehen wol-
len, durchaus relativieren. Die vielbeschworene Ironie des späten Goethe soll in
dieser Lesart Halt machen vor der symbolischen Textur des Faust und der Wan-
derjahre. – Vielmehr scheint der Sterne-Einfluss, den Goethe vielfach, besonders
in Dichtung und Wahrheit, bestätigt, besonders in der nachklassischen Phase
dafür zu sorgen, dass der ursprünglich den Autor fokussierende Imaginations-
anreiz, der durch die leeren Felder in der Werkanlage initiiert wird (,Elefanten,
Löwen, Ungeheuer in der Wüste’), nun dem Leser überantwortet ist. Wie sonst
soll man Mephistos „sehr ernste(..) Scherze“147, zumeist ad spectatores gespro-
chen, verstehen – am Ende des dritten Aktes (Faust II) wird er gar als möglicher
Kommentator des Gesamtwerks gehandelt.
Schon am 2. April 1811 verzeichnet das Tagebuch „Schema zur Biographie. Her-
der. Friederike von Brion und anderes“153. Dieser zweiten Spiegelung folgt nun,
1823, die dritte durch den „teilnehmenden, unterrichteten Mann“, die abermals
im Tagebuch reflektiert wird: „Nach Tische Gespräch mit Otilien, besonders über
unmittelbare Einwirkung der Personalitäten“154. Einen Tag später heißt es: „Auch
über physische und sittliche Spiegelung“. Derartige Epiphanien von Gegenwart,
deren bekannteste Beispiele nicht zufällig der Lyrik entstammen (Euphrosyne,
Wanderers Nachtlied), sind bei Goethe Legion; sie hängen mit komplexen poeti-
schen Konzepten wie dem geglückten oder prägnanten Moment, der Prävalenz
des erlebenden, besonders des sich erinnernden Subjekts und schließlich einer
gewissen Weltgeborgenheit (,Weltkind‘), einer prinzipiellen symbolischen Les-
barkeit der Dinge und Erscheinungen zusammen.
Zuvor wurde nachgewiesen, dass gegenständliches Denken, gegenständli-
ches Dichten eine Art ,mentale‘ Empirie („innere Anschauung“) projektiert. Die
Produktivität dieser mentalen Konzepte, inneren Symbole besteht darin, dass sie
Wirklichkeitselemente repräsentieren können, dergestalt dienen sie dann auch
der „Fiktion“, dem „Halbroman“, von dem Goethe mehrfach im Zusammenhang
mit der Reise in die Schweiz spricht155. Literarische Produktivität speist sich aus
dem ,Spiel‘ ,symbolischer‘ mentaler Konzepte. Es ist erkennbar, dass für den
Biographen im Gegensatz zum Reisediaristen die Notwendigkeit bedeutungs-
bündelnder mentaler Repräsentanz noch einmal zunimmt, da die Gegenstände
vergangenen Lebens nicht mehr in Anschauung genommen werden können. Die
„physische oder sittliche Spiegelung“, die Goethe etwa auch vor einem Famili-
engemälde ergreift156, erfüllt genau jene Funktion der „Vergegenwärtigung“, der
„zweyten Gegenwart“. Ähnlich wie das ,reine Denken‘ den Gegenstand frei vom
Kritizismus tatsächlich in seiner empirischen Struktur ,wahrnehmen‘ kann, so
haben die physischen oder sittlichen Spiegelungen empirische Qualität.
Reisebeschreibungen und Biographik gehen bei Goethe deshalb ineinander
über, weil Reisen für Goethe, trotz aller Klagen, den ,idealen‘ poetischen Zustand
bedeutete: der Reisende ist gezwungen, die auf ihn eindringende Empirie –
selbst die Antike in Rom ist eine solche! – fortlaufend in Wahrnehmungen zu
verarbeiten und in Synthesen zu zwingen, die Goethe „Formeln“ nannte. Die
höhere Erfahrung gelingt hier, weil dem Dichter die Rückzugsmöglichkeit, der
„Saalgrunde“157 verwehrt ist. Auch die Reisen bilden ja die komplexe Figur der
Spiegelung ab, von Goethe selbst reflektiert: „Der Instinkt, der mich zu dieser
Ausflucht trieb“, so schreibt er an Schiller am 14. Oktober 1797 in Stäfa,
war sehr zusammengesetzt und undeutlich. Ich erinnerte mich des Effekts, den diese Ge-
genstände vor zwanzig Jahren auf mich gemacht; der Eindruck war im Ganzen geblieben,
die Theile waren erloschen, und ich fühlte ein wundersames Verlangen, jene Erfahrungen
zu wiederholen und zu rectifizieren. Ich war ein anderer Mensch geworden, und also muß-
ten mir die Gegenstände auch anders erscheinen.158
4.4.2.1 Maniera
In Goethes Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort hieß
es: „Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns
auf“. Wie, soll im Folgenden gefragt werden, kann der Künstler diese Gegen-
stände darstellen, die zugleich inneres Symbol und Objekt sind? Im Purkinje-
Aufsatz erfahren wir:
Alles kommt darauf an, das Eigenleben des Auges und der correspondierenden Finger zu
der entschiedensten verbündeteten Wirksamkeit heranzusteigern159
Hier kommt ein neues Moment zum ,subjektiven Sehen‘ der Physiologen. Fast
könnte man von einem Reflex sprechen; einem Reiz-Reaktions-Bogen, der direkt
aus dem Rückenmark gesteuert wird. In jedem Fall liegt hier eine automatisierte
Ähnlich wie sich Goethe wünscht, ein ledernes Wams im Bett zu tragen, um die
Gedanken im Schlaf aufschreiben zu können163, so empfiehlt Leonardo da Vinci
in seinem Trattato della pittura dem jungen Maler164, die am Tag studierten Be-
wegungen der zeichnenden Hand nachts noch einmal zu vollführen.
Auch ich hatte die Erfahrung gemacht, daß es von nicht geringem Nutzen ist, wenn du bei
Dunkelheit im Bett liegend, in deiner Vorstellung alle Umrißlinien derjenigen Formen, die
du studiert hast, oder andere beachtenswerte Dinge, die feinsinnigen Betrachtungen ent-
springen, wiederholst: auf diese Weise prägen sich die im Gedächtnis gesammelten Dinge
ein165
Das Ziel ist nicht nur die Stärkung des Gedächtnisses in Bezug auf motorische
Abfolgen, das in der Kunsttheorie der Renaissance, besonders auch von Vasari,
immer wieder betont wird, sondern es geht Leonardo hier um ,neue‘ Bildfindun-
gen, die durch die internalisierten Bewegungsmuster entstehen können. Die neu-
ronalen Muster der Handbewegungen könnten auch bildgenerierend sein. Exem-
pel dieser Maniera des Schreibenden und Malenden ist der Rembrandt-Schüler
Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Goethe muss Arent de Gelder, einen Maler
der gleichen Schule, gekannt haben; Der Mann mit der Partisane, Esther und
Mardochai hingen in der Dresdner Gemäldegalerie, als Goethe sie im Frühjahr
1768 besuchte. Nicht nur Füssli, der „geniale Manierist“ (Goethe über Füssli166)
regte zu den Hexenküchen-Szenen von Faust I an, sondern wohl auch die Al-
chimisten-Werkstatt (1680) Arent de Gelders167.
Hoogstraten, der de Gelder Freund, ist nun der erste Maler, der die Maniera
der Renaissance und die dortigen Anklänge an die Schreibtätigkeit zusammen-
führt; in seiner Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst, anders de zicht-
bare werelt (1678 erschienen), präsentiert sich Hoogstraten als „een schilder-
schrijver“, der der Malerei nur aus finanziellen Interessen nachginge, sich aber
ansonsten als Schriftsteller sehe168. In seinem Zelfportret von 1649 sieht man den
Maler mit beschrifteter Rolle, Stilleben bilden Manuskripte mit der Unterschrift
des Malers ab. Im Zelfportret mit vierregelig onderschrift nimmt van Hogstraaten
die von ihm geforderte Schreibhaltung ein, um die Maniera optimal umsetzen zu
können. Es ist unklar, ob die Bildfigur malt oder schreibt.
Wir haben also ein blindes Schreiben vor uns (die Bildfigur sieht auf den Be-
trachter), dessen internalisierte Abläufe seinerseits ,bildgenerierend‘ wirken kön-
nen. Wie der Maler sein subjektives Sehen (Purkinje, Stiedenroth) durch die Ma-
niera gewinnt, so der Autor durch das Schreiben. Goethe, der mit seiner Farben-
lehre ja auch ein Lehrbuch für junge Maler vorlegte, betont seinerseits in genauer
Analogie zu van Hoogstraten, das Handwerkliche, den artisan im Künstler:
Technischen und artistischen abgeschlossenen Tätigkeitskreisen sind die Wissenschaften
mehr schuldig als hervorgehoben wird, weil man auf jene treu fleißigen Menschen oft nur
als auf werkzeugliche Täter hinabsieht. Hätte jemand zu Ende des sechzehnten Jahrhun-
derts sich in die Werkstätten der Färber und Maler begeben und nur alles redlich und
konsequent aufgezeichnet, was er dort gefunden; so hätten wir einen weit vollständigeren
und methodischeren Beitrag zu unserem gegenwärtigen Zweck169.
In einem Brief vom 14. April aus Italien schreibt Goethe: „Indem ich nicht abließ
an jenem Fuß fort zu modellieren, ging mir auf, daß ich nunmehr Tasso unmit-
telbar angreifen mußte, zu dem sich denn auch meine Gedanken hinwende-
ten“170. Im Bericht an den Herzog des gleichen Monats heißt es:
Indem ich dieses niederschreibe, werden meine Gedanken in die frühesten Zeiten hinge-
führt und die Gelegenheiten hervorgerufen, die mich anfänglich mit solchen Gegenständen
bekannt machten. (..)
In Leipzig machte zuerst der gleichsam tanzend auftretende, die Zymbeln schlagende Faun
einen tiefen Eindruck.
Nach einer langen Pause werde ich auf einmal in das volle Meer gestürzt, als ich mich von
der Mannheimer Sammlung, in dem von oben wohlbeleuchteten Saale, plötzlich umgeben
sah171.
Deutlich entstehen die bildhaften Konzepte durch die Schreibtätigkeit. Die Ma-
niera unterstützt die Erinnerung: Erinnerungsmuster und Bewegungsmuster
(neuronale Netze) aktivieren sich. Beim Modellieren der antiken Statue entsteht
die Schreibidee. Goethes psychologische Theorie des subjektiven Sehens ist be-
reits gut erforscht. Es steht noch aus, den ,Konstruktivismus‘ des subjektiven
Sehens und automatisierte Bewegungsmuster des Künstlers zusammenzuden-
ken.
Ein letzter Gesichtspunkt betrifft den ,Evangelisten‘ Matthäus. Neben der
vorbildlichen Schreibhaltung, die an van Hoogstraaten erinnert, ist die Blickrich-
tung des Schreibenden interessant: nicht die Natur, das Sujet, sondern deren
Abbildung durch den Genius. Nicht nur Naturgegenstände, sondern auch Ge-
mälde regen, als Quintessenz fremden subjektiven Sehens, die eigene Bildgenese
an, ja: es ist denkbar, dass Gemälde für Goethe Versprachlichung und damit
Schreiben direkt nach sich zogen. Die Rolle der Gemälde im Kabinett des Vater-
hauses, besonders die Geschichte Josephs von Johann Georg Trautmann172 die
über sechzig Jahre später den Beginn der Wanderjahre ins Bild setzen sollten, ist
bekannt. Was mich im folgenden interessiert, ist die Rolle von Gemälden als
Nuclei mentaler Konzepte und die Funktion des Zeichnens für das Schreiben.
4.4.2.2 Skizzenblätter
Und da du dieselben (die Formen der Natur, JL) nicht zu machen wissen wirst, wenn du sie
nicht im Geiste siehst und (von hier) abzeichnest, so schaue zu, daß dein Urteil, wenn du im
Freien einhergehst, sich mancherlei Gegenständen zuwende, und betrachte dir nach
einander jetzt dieses, dann jenes Ding, sammle dir ein Bündel verschiedener auserlesener
und unter anderen, weniger guten, ausgewählten Sachen173
Ich werde jedoch nicht davon abgehen, diesen Regeln eine neue Entdeckung des Erfor-
schens hinzuzufügen, die, obwohl sie klein und fast eines Lächelns würdig erscheint,
nichtsdestoweniger von großer Nützlichkeit ist, um den Geist zu unterschiedlichen Erfin-
dungen anzuregen. Und dies ergibt sich, wenn du wiederholt einige Mauern betrachtest,
die mit verschiedenen Flecken beschmutzt oder aus unterschiedlichen Steinen zusammen-
gesetzt sind. Wenn du nämlich irgendeine Gegend zu erfinden hättest, könntest du dort
Vorbilder für verschiedenartige Landschaften erkennen, (...), auch könntest du dort man-
cherlei Schlachten und lebhafte Gesten von Figuren sehen, ebenso wie eigentümliche Er-
scheinungen von Gesichtern, Kleidungsstücken und unendlich vielen Dingen, die du in ein
vollständige und gute Form verwandeln könntest174
„Man müsse nur einen Beutel Farbe auf die Leinwand werfen. (...) Denn wenn man einen
Schwamm voll verschiedener Farben gegen die Wand werfe, so hinterlasse dieser einen
Fleck auf der Mauer, in dem man eine schöne Landschaft erblicke175
Seine [Goethes, JL] Zeichnungen gelten also nur als skizzierte Ideen, als bildlicher, sym-
bolischer Ausdruck dessen, was seine Phantasie, sein Gemüt beschäftigte, als Topo- und
Chronographie der Regionen, in denen sein Geist zu schweben liebte176.
In der Renaissance verbirgt sich hinter der Skizze „die Vorstellung von Indivi-
dualität und Originalität des geistigen Entwurfs eines Künstlers“ im Sinn des
pensiero177. Bei Vasari und natürlich bei Leonardo kann pensiero „als Synonym
von ,Skizze‘ bzw. ,Entwurf‘ Verwendung finden“178. Betrachtet man Porträtskiz-
zen Leonardos und gibt, besonders was die kämpfende Gruppe „auf dem Karton
Leonardos“ (Cellini) angeht, der Versuchung nach, als Vorlage eben jene natür-
lichen Rorschachs zu erwägen, von denen der Maler sprach, so frappiert die
Genauigkeit, das Charakteristische bei Beibehaltung des ,phantastischen‘ Bild-
werts: „mancherlei Schlachten und lebhafte Gesten von Figuren (...) ebenso wie
eigentümliche Erscheinungen von Gesichtern, Kleidungsstücken und unendlich
vielen Dingen, die du in eine vollständige und gute Form verwandeln könntest“
(Leonardo). Von den ,Affektgesichtern‘ Le Bruns, die der Heranwachsende in
Frankfurt kopieren musste, über die Mitarbeit an Lavaters Physiognomie bis zur
Beschäftigung mit Leonardo sind es die ,Köpfe‘ und deren Mimik, die Goethe
prägen. Unnötig zu sagen, dass in der Spätphase das klassizistische Laookon-
Ideal, die Abtönung des Schmerzausdrucks, nun wieder expressiveren Bildwer-
173 Leonardo da Vinci: Buch der Malerei, hg. v. Heinrich Ludwig, Wien, 1882. S. 54.
174 Leonardo, zitiert in: Anfänge der Maniera, S. 173.
175 Botticelli zitiert von Leonardo, Buch der Malerei, S. 68.
176 Riemer: Mitteilungen über Goethe, zit. n. Corpus der Goethezeichnungen, bearb.v. Gerhard
Femmel, Leipzig, 1958. Corpus VII, nr. 685a, S. 131.
177 Anfänge der Maniera, S. 227.
178 Ebda.
4.4 Verdichten, Verschieben, Bündeln: Der späte Goethe | 421
ten weicht. Zieht man Goethes innerhalb der Polemik von Der Sammler und die
Seinigen glimpfliche Behandlung der ,Skizzisten‘ in Betracht – die Beurteilungs-
parameter (Geist, Fragment, Talentzerstreuung) finden sich exakt in Vasaris Le-
onardo-Vita! –, so könnte man annehmen, dass Goethe neben einem Gehirn-
Schema weitere Leonardo-Zeichnungen hat sehen können179. In jedem Fall hat
ihn die Kopfgestaltung des Abendmahls’im Kloster alle Grazie stark beeindruckt.
Besonders im Spätwerk ersetzt die bildende Kunst die Natur als Bildspen-
derin: Vorbild für die Bergschluchtenszene waren bekanntlich eine Bildbe-
schreibung des Montserrat bei Barcelona durch Wilhelm von Humboldt, die Goe-
the „aus der Einbildungskraft nicht los werden“ konnte180 sowie Lasinios Stich
der Eremiten des Campo Santo in Pisa. Die räumliche Anordnung und ,topische
Lesbarkeit‘ der Eremiten lässt in der Tat an ein ,Mnemonische(n) Bild‘ denken.
Interessant ist auch eine mögliche Rückwirkung der Faust-Illustrationen von
Delacroix von 1826 auf den Autor des Faust II sowie die eigenen Skizzen, etwa
zum ,Prolog im Himmel‘, die ,Erscheinung des Erdgeists‘ und die ,Brockenszene‘.
Dies ist keine kunsthistorische Arbeit; dennoch möchte ich darauf hinweisen,
dass die genannten Illustrationen Goethes, im Gegensatz zu Cornelius’ ,klassi-
zistischen‘ Faustblättern, Elemente des Spätwerks ,vorwegnehmen‘. Die Hinter-
gründe und die Personage verschwimmen, die Kolorierung (selten bei Goethe)
transportiert Bildwerte wie Transzendenz, ,2. Welt’, Verlorenheit, schemenhafte
Welterfahrung; dies gilt besonders für die zahlreichen Skizzen von Wolkenfor-
mationen. Auch die skizzierte Aufwärts-Bewegung der Bergschluchten-Szene bil-
det direkt die religiöse Verklärung und Levitation ab, die Goethe auf Kopien oder
Kupferstichen Raffaels oder der für die klandestine Romantikschelte so wichti-
gen Verkündigung Mariae von Rogier van der Weyden in seiner privaten Samm-
lung betrachten konnte.
Es gibt vergleichsweise wenig Literatur über den Zeichner Goethe. Die Lite-
raturwissenschaft hat sich zuvörderst mit der Kunstpolitik der Weimarer Kunst-
freunde auseinandergesetzt, also mit den Bildbeschreibungen Goethes und den
Aufsätzen samt Schemata des Commerciums Goethe/Schiller in den Propyläen
sowie später Goethes strategischer Meisterleistung der Interpretation mittelalter-
licher Gemälde, ohne das Mittelalter profilgebend werden zu lassen. Diese Sicht-
weise greift meiner Meinung nach zu kurz. Schon die eigentümlich unschlüssige
179 Leonardo da Vincis Gemälde, Zeichnungen, Studien, hg. v. Giorgio Nicodemi, Leipzig: Ass-
mus, 1940. Auf S. 106 wird das in Frage kommende Gehirnschema als in Weimar archiviert
ausgewiesen. Besonders auf der Rückreise nach Weimar, in Mailand, hat sich Goethe nochmals
mit Leonardo beschäftigt. In dem hochinteressanten „Notizheft Goethes von der Rückreise aus
Italien 1788“, das zuerst von Lieselotte Blumenthal herausgegeben wurde, beschreibt Goethe
eine Zeichnung, die „gleich neben dem / Pult der da Vincischen Schriften / lincker Hand“ lag“.
FA, 1. Abt., Bd. 15/2, S. 829.
180 15.9. 1800 an W.v. Humboldt. FA, 2. Abt., Bd. 5, S. 67.
422 | 4 Goethe
Behandlung Philipp Otto Runges und Caspar David Friedrichs („zum Verrückt-
werden schön“) zeigt, dass der dilettierende Praktiker Goethe Gemälde jenseits
der eigenen Durchsetzungsstrategien zu lesen verstand. Über die „Skizzisten“
hat sich Goethe, abseits der Polemik von Der Sammler und die Seinigen, sehr
positiv geäußert:
in der skizzenhaften Behandlung unschätzbar, da man alsdann die Arbeit als gründliches
und treffliches Symbol ansehen kann, das alles sagt, wenn es auch nicht alles darstellt181
Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die Skizzen Goethes als Bündel dieser
inneren Symbole interpretierbar sind, wie es auch Riemer vorschlug. Einerseits
geht es für den „Skizzisten“ darum, den Gegenstand ,sehen zu lernen‘. Zweitens
verkürzt und komprimiert die Skizze einen komplexen Zusammenhang affektiver
oder kognitiver Art, der sich bei der ,Konstruktion‘ des subjektiven Wirklichkeits-
ausschnitts ergibt. „Chiffrenhafte Bildnotizen“ (Maisak) ermöglichen es dem re-
trospektiven Betrachter, ein komplexes Erinnerungsbild zu aktivieren. Davon
sprach Leonardo, der ja nicht nur über eine komplexe Chiffrenschrift verfügte,
sondern auch stark vereinfachte skizzenhafte ,Kürzel‘ benutzte, die „auf dem
Strichmännchenprinzip beruh(en)“182. Wichtig ist, dass es sich hier nicht um
reine Mnemotechnik handelt. Immer wenn bei Leonardo von „Gedächtnis“ die
Rede ist, so meint er damit einerseits die Fertigkeit der Hand (mit den bespro-
chenen Übergängen zum Schreiben183), andererseits aber die gesamte kognitive
Karte, ein möglichst großes Bündel mentaler Repräsentationen.
Das „Alphabet der Seele“ (Leibniz) ist kein mystisch oder magisch zu erlangen-
des, allerdings auch nicht das „Verstandes- und Empfindungsalphabet“, das Mo-
ritz (laut Goethe) in Italien entwickelte184. Das ethisch-ästhetische Rechnen ist ein
Akt mentaler Produktivität, der Planungs- und Konkretisierungsprozesse in das
literarische Schreiben überführt. Das Umsortieren, Kleben, Kopieren, ,Mundie-
ren‘, Archivieren von Manuskripten, mit dem der späte Goethe laut Tagebuch
einen Teil seiner Arbeitstage verbrachte, arbeitet einem Denken „auf dem Papier“
vor, auf das Siegfried Scheibe, vor der ,Einführung‘ der Termini durch Plachta,
wiederholt aufmerksam gemacht hat.185 Das Anordnen und Verschieben mentaler
Konzepte eines ,Alphabets der Seele‘ wird so in der Arbeitsweise Goethes sicht-
bar. Warum der Kopfarbeiter Goethe zum Papierarbeiter wurde und ob es eine
Verbindung zum entpersönlichten Stil und Werkinhalt in der Spätphase gibt, ist
bislang weder bei Ernst Grumach, Scheibe, Karl-Heinz Hahn noch bei Anke Bosse
und Anne Bohnenkamp thematisch geworden. Es ist wesentlich mehr im Spiel,
als die Phantasie durch „allerlei Hilfsmittel auf(zu)stutzen“.186 Die räumliche An-
ordnung der ,Denksymbole‘ auf dem Konzeptpapier, die Lücken, der plötzliche
Wechsel von Exzerpt zu lyrischem Fragment oder Schema auf einer Manuskript-
seite besonders in der Spätphase ab 1814, die zunehmende Mischung von natur-
wissenschaftlichen und biographischen Elementen in den Schriften zur Mor-
phologie: dies alles deutet auf ein ,Verschieben‘ und Kombinieren von Denksym-
bolen, einer ,logischen‘ Anordnung von hochkomplexen, imaginativen mentalen
Konzepten.
Bei keinem Autor wird man des Schibboleths der Schreibforschung – Schrei-
ben ist Lesen – mehr gewahr als bei Goethe. Diese ,umgekehrte Archäologie‘, die
wiederum eine Metaphernkette von Freuds Wunderblock bis zu Foucault nach
sich zieht, scheint deshalb möglich gewesen zu sein, weil Goethe spätestens seit
dem Tod Schillers seine eigene Existenz und Produktivität in wörtlichem Sinn
verwaltete. Es ist also aus meiner Sicht wichtig, das Archiv des Dichters und
Schriftstellers nicht nur als aktive Rezeptionssteuerung zu sehen, als konservie-
renden Gestus. Vielmehr ist das Archiv für den archäologischen Leser Goethe
jederzeit in Richtung literarischer Produktivität wendbar.
Goethe, der in der Reise in die Schweiz eine wichtige Stellungnahme auch in
Hinblick auf die spätere Autobiographie und die Campagne abgibt, spricht da-
von, er habe sich „Akten gemacht, worin ich alle Arten von öffentlichen Papie-
ren, die mir jetzt begegnen, (...) einschalte“.187 Ähnliches gibt der retrospektive
Goethe für den italienischen Karneval zu Protokoll. Ab 1797 begegnet uns der
sammelnde und ordnende Goethe, der seinen poetischen Stoff in innere Symbole
bringt, versprachlicht und in Lagen abheftet (Vorbereitung, Faustplan). Aus-
drücklich wird darauf verwiesen, dass diese Anordnung später produktiv nutz-
bar gemacht werden soll. Am 5. Oktober 1797 trägt sich Goethe mit dem Plan:
185 Siegfried Scheibe: „Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des frühen Faust“. Goethe
Jahrbuch, Bd. 32, 1970, S. 63. Bodo Plachta: Editionswissenschaft: eine Einführung in Methode und
Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart: Reclam, 1997.
186 FA, 1.Abt., Bd. 14, S. 1022.
187 WA, 1. Abt, Bd. 34, S. 237.
424 | 4 Goethe
„Reise als Halbroman zu schreiben“.188 Die Fakta sollen also im Prozess des Ord-
nens und Archivierens in die inneren Symbole, in literarisch produktive Konzep-
te gebracht werden. Es war erneut Bernhard Suphan, der im Zusammenhang der
Vorbereitung richtig bemerkt hat, dass „der Sammler im kleinen zum Schriftstel-
ler“ wird.189
Bereits in der Phase der Neuorientierung des Faustprojekts um 1797/98 wird
die Überlagerung verschiedenster Themen auf den Sammelblättern sinnfällig.
Der Rattenfänger von Hameln etwa wird im Rahmen der Xenien Johann Heinrich
Campe zugedichtet190, zum anderen geht das Konzept in die Charakterzeichnung
Mephistos in der Walpurgisnacht191 ein. Auch in den Divan-Paralipomena über-
lagern sich, wie gezeigt, Autobiographie, Mittelalter/,Kunstpolitik‘ sowie die Be-
schäftigung mit den persischen/arabischen Quellen192. Die große Neuord-
nung/Reinschrift des Faust von 1797/98 wies, in Goethes Terminologie, „Lagen“
auf. Auch in der endgültigen Textgestalt, besonders der ,zweiten Werke‘, lassen
sich, so Goethe in einem Brief an Zelter, die Entstehungsschichten nachweisen;
eine Aufgabe, die er, ahnungsvoll, den Philologen zusprach193.
Ernst Grumach weist in bewundernswerter philologischer Akribie nach, dass
das Rheinlandschema (Paralipomenon 84) und die Schönheitsklage der ,ver-
barbarierten‘ Helena P167 (beide um 1800) ursprünglich auf einem Bogen ge-
standen haben müssen, der 1825 bei der Wiederaufnahme der Helena von Goethe
gesichtet und getrennt wurde, da sich nun die klassische Helena herauszu-
schälen beginnt.194 Ein Teil des Textes wird auf einen neuen Bogen, Sammelblatt
III H12, übertragen, die alte, obsolete Schönheitsklage gesondert publiziert. Ich
erwähne das hier, weil, so scheint es, die editorische Akribie nicht bemerkt, wie
erstaunlich eine derart bürokratisch/archivalische ,Expedierung‘ einer komple-
xen poetischen Idee, der ,klassischen‘ Helena ist. Goethe nimmt nach fünfund-
zwanzigjähriger Unterbrechung ein altes Sammelblatt zur Hand und findet sich,
offenbar ad hoc, in die räumliche Anordnung der Textblöcke auf dem Träger;
dieser wird nun geteilt und die Textfragmente neuen ,Fakulamenten‘ zugeordnet.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass bereits zum Zeitpunkt der Abfassung
und Einrichtung der Textblöcke die Ordnung auf dem Memorandum spätere Ent-
scheidungen präformiert. Der lesende, sichtende, ordnende Goethe wird, zumin-
dest von der geistesgeschichtlichen Fraktion, unterbewertet. Es ist noch kaum
erforscht, welche Funktionen die räumliche Bündelung der verschiedenste Werk-
und Sinnfelder umfassenden Paralipomena hat.
Besondere Bedeutung kommt der ,Aktenführung‘ Goethes zu, die Ernst Ro-
bert Curtius in einem souveränen Aufsatz untersucht hat. Das Schematisieren,
Mundieren, Expedieren von Manuskripten ist auf der einen Seite genau analog
zur ,Entpersönlichung‘ der Spätphase; 1789 noch hatte sich Goethe darüber amü-
siert, dass ihm das Faust-Manuskript in der Hand des „Registrators und Canzlis-
ten beim geheimen Concilium“195 Mittelsdorf vorliegt.196 In der Farbenlehre erwägt
er scherzhaft, das Manuskript „im Konzept drucken“197 zu lassen. So lässt sich
eine Parzellierung des Schreibprozesses durch die bürokratischen Bearbeitungs-
schritte beobachten: prospektiv durch Schreibplanungen (Schemata), rekursiv
durch Korrekturen von eigener und fremder Hand mit verschiedenen Schreib-
werkzeugen, die wiederum Bearbeitungsphasen markieren. Literarische Produk-
tivität wird in planbare Schritte und Phasen zerlegt. Schreibtheoretisch gewen-
det, hätte man in Goethes Arbeitsweise die absichtlich verlangsamte und pha-
senbewusste sowie konkretisierte (,Papier‘) Dokumentation der Ideengenese vor
sich, die wiederum Verknüpfungen und Genesen mentaler Konzepte, des seeli-
schen Alphabets: neue Lagen und Textschichten nach sich zieht. Es handelt sich
hier nicht, wie bei Lichtenberg, um das Interesse des Schreibforschers. Auch ist
kein Moderieren von ad-hoc Entscheidungen während der Schreibphasen not-
wendig wie bei Jean Paul. Goethes Aktenführung zielt auf einen absichtlich
kleinschrittigen Annäherungsprozess an Urphänomene im Sinn innerer Sym-
bole. Diese Urphänomene sind mehrfach – biographisch, ,empirisch‘, ästhetisch
– überlagert. Sie können sprachlich oder bildlich oder Hybride sein.
Ein schönes Beispiel dafür ist das Sammelblatt GSA 25/W 945 aus den Di-
van-Vorarbeiten. Auf das Sammelblatt, das im wesentlichen Exzerpte aus Diez’
Denkwürdigkeiten von Asien, aber auch aus d’Herbelots Bibliothèque orientale
enthält, sind zwei kleine ,Quartzettel‘ aufgeklebt. Diese beiden Quartzettel sind
195 Hans-Gerhard Gräf: Goethe über seine Dichtungen, Frankfurt a.M.: Rütten und Loening,
1904. Bd. 2, S. 49.
196 Ebda.
197 Farbenlehre, FA, 1. Abt., Bd. 23/1, S. 511. Parallelstelle: „Indem ich diese Arbeit, welche mich
lange genug beschäftigt , doch zuletzt nur als Entwurf gleichsam aus dem Stegreife herauszu-
geben im Falle bin, und nu die vorstehenden gedruckten Bogen durchblättere, so erinner ich
mich des Wunsches, den ein sorgfältiger Schriftsteller vormals geäußert, daß er seine Werke
lieber zuerst ins Konzept gedruckt sähe, um alsdann aufs neue mit frischem Blick an das Ge-
schäft zu gehen, weil alles Mangelhafte uns im Drucke deutlicher entgegen komme, als selbst in
der saubersten Handschrift” (FA, 1. Abt., Bd. 23/1, S. 292)
426 | 4 Goethe
nun erkennbar später angelegt worden als im Jahr 1815, dem Entstehungszeit-
punkt des ,großen‘ Schriftträgers198. Sie sind – klappbar – so auf den Träger
aufgebracht, dass ein Leerraum genutzt und dergestalt lediglich zwei unwichtige
Einträge verdeckt werden. Der Eintrag auf Quartblatt 2 über die verschiedenen
Glaubensrichtungen im Islam (Schiiten, Sunniten) korreliert nun direkt mit der
Passage auf dem Träger „Wahrlich es gibt bei Gott/keine Religion/Außer der wah-
ren Religion“. Im Prinzip entsteht ein neues, nunmehr dichteres Memorandum,
sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch was die bildhafte Anordnung auf dem
Papier angeht. Als ein solches Ensemble verschiedener biographischer Schichten
(Schreibepochen) wird das Sammelblatt memorativ und in der Bürokratie der
Schreiber und des Archivs abgelegt. Wird dem Schreibenden das Blatt wieder
vorgelegt, aktiviert die bildhafte Anordnung auf dem Schriftträger die komplexe
Erinnerung an die Schreibszene und an die übereinandergelagerten Konzepte.
Goethes Aktenführung übernimmt im Großen, was das Palimpsest der Marien-
bader Elegie im Kleinen unternahm.
198 Die Datierung der Einträge übernehme ich von Anke Bosse. Anke Bosse „,Perles poétiques‘
issues d’un „matériau prodigieux“. Lecture et écriture dans la genèse du Divan occidental-ori-
ental de Johann Wolfgang von Goethe“. Genesis, Paris: Éditions Jean-Michel Place, Bd. 17, 2001,
S. 11–42 .
4.4 Verdichten, Verschieben, Bündeln: Der späte Goethe | 427
Ein letztes Moment betrifft die berühmte Reihenbildung Goethes, die ja als
Bündelung mentaler Konzepte gesehen werden kann. Kommerell, der den Begriff
zuerst prägte, scheint sich der Ursprünge dieser Technik in der bürokratischen
Handhabung Goethes nicht bewusst zu sein. Der Anhang zur Cellini-Biographie
(h) entstand 1798 und in einer weiteren Arbeitsphase 1802/03. Ähnlich wie im
abgebildeten Sammelblatt aus den Divan-Vorarbeiten bedient sich Goethe hier
einer Arbeitstechnik ,materieller‘ Übertragung. Bei der Korrekturarbeit an der
Cellini-Reinschrift (H) schrieb Goethe „auf nebengelegte Blätter Namen und No-
tizen, deren er sich zur Ausarbeitung des Anhanges bedienen wollte, zerschnitt
die Blätter dann in Streifen und ordnete (...) die einzelnen unter jene Über-
schriften ein, durch sauberes Aufkleben“199. Einige Überschriften für Heft h, die
Goethe zum Teil später fallen ließ, lauten:
1 Große Herren 2 Cardinäle Gelehrte 3.4 Privat Personen im ersten Buch im zwei-
ten Buch im dritten Buch im vierten Buch 5. Künstler 6. Cellini Charakter und
Talente Werke 7. Kunst und Kunstwerke 8. GeldSorte
Der Stoff wird also von ,Ordner‘ zu ,Ordner‘, von der Cellini-Reinschrift zum
„Anhang“ verschoben; rubriziert generiert er neue Möglichkeiten der Textkon-
stitution. Bündel von mentalen Konzepten – und von Manuskripten – werden
parallel bearbeitet und wechselseitig ,ergänzt‘. Es war dies präzise Jean Pauls
Technik der Bündelung in der Hesperus-Vorrede – mit dem charakteristischen
Unterschied, dass bei Jean Paul das pausenlose Schreiben moderiert werden
musste, während bei Goethe vermittels der Klebarbeit semantische Relationen
zwischen Oberbegriff und Stoff materiell festgestellt werden.
und für jede andere Rechenoperation kann nun mit Variablen gearbeitet werden.
Für dieses Denken ohne Sprache prägt Leibniz den Begriff cogitatio caeca, blin-
des Denken:
qualem cogitationem caecam vel etiam symbolicam appelare soleo, qua et in Algebra et in
Arithmetica utimur, imo fere ubique. Et certe cum notio valde composita est, non possumus
omnes ingredientes eam notiones simul cogitare: ubi tamen hoc licet, vel saltem in quan-
tum licet, cognitionem voco intuitivam. Notionis distinctae primitivae non alia datur co-
gnitio, quam intuitiva, ut compositarum plerumque cogitatio non nisi symbolica est.200
Diese distinkten Primitiva des Begriffs oder Satzes sind analog zu verstehen zu
den mathematischen Variablen:
Je trouva donc qu’ il y a des certains Termes primitifs si non absolument, au moins à nostre
égard (…) tous les raisonnements se pourroient déterminer à la facon des nombres et meme
à l’egard de ceux ou les circonstances données, ou data, ne suffisent pas à la determination
de la question, on pourroit neantmoins déterminer [Metaphysiquement] mathematique-
ment le degré de la probabilité.201
Und berühmt folgende Passage, die jeglichen metaphysischen Zwist mit dem
Satz löst: Rechnen wir!
L’unique moyen de redresser nos raisonnemens est de les rendre aussi sensibles que le sont
ceux des Mathematiciens, en sorte qu’on puisse trouver son erreur à veue d’oil, et quand il y
a des disputes entre les gens, on puisse dire seulement : contons, sans autre ceremonie,
pour voir lequel a raison.202
200 „De Cognitione, Veritate et Idea“, Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leib-
niz, hg. v. G.D. Gerhardt, Hildesheim, 1960. Bd. 4, S. 423. „Dieses Denken, das wir sowohl in der
Algebra als auch in der Arithmetik benutzen, bin ich gewohnt, blind oder sogar symbolisch zu
nennen; es zeigt sich fast überall. Sicher, wenn der Begriff sehr zusammengesetzt ist, können
wir nicht alle ihm innewohnenden Unterbegriffe zugleich erkennen: wo das dennoch möglich
ist, wo es zumindest oft möglich ist, nenne ich diese Erkenntnis/dieses Denken intuitiv. Die
Erkenntnis/das Denken dieser distinkten ,Primitiva‘ des zusammengesetzten Begriffs geht nicht
anders vonstatten als intuitiv, so dass die Erkenntnis/das Denken vieler Bestandteile des zu-
sammengesetzten Begriffs nichts als symbolisch ist“ (meine Übersetzung).
201 Louis Couturat: Opuscules et fragments inédits de Leibniz/extraits des manuscrits des la
Bibliothèque Royale des Hanovre par Louis Couturat, Hildesheim: Olms, 1961, S. 176 (Nachdruck
der Ausgabe 1903). „Ich habe gefunden, dass es bestimmte ,primitive‘, aber nicht absolute
Begriffe gibt, mit Hilfe unserer Aufmerksamkeit auf diese können sich alle Denkoperationen
nach Art der Zahlen entscheiden lassen, und wenn in Hinsicht auf diese oder die Umstände oder
die ,Daten‘ die Lösung der Frage nicht erlangt werden kann, so kann man dennoch den Grad der
Wahrscheinlichkeit einer metaphysischen Frage mathematisch bestimmen“ (meine Überset-
zung).
202 Couturat, S. 176. „Das einzige Mittel, unsere Denkoperationen auszurichten, ist, sie genauso
sinnvoll (logisch) zu machen wie die der Mathematiker, in der Art, dass der Irrtum sofort ins
Auge fällt; und wenn es einen Disput zwischen den Menschen gibt, kann man einfach sagen:
rechnen wir, ohne weitere Prozeduren, um zu sehen, wer Recht hat“ (meine Übersetzung).
430 | 4 Goethe
„Indessen beschäftigte mich die Bearbeitung solcher gestaltlosen Vorstellungen einige Zeit
lang indem ich sie, durch eine Art mathematischer Symbolik, nach Weise meiner Vorgänger
zu versinnlichen strebte, und die unorganischen Wesen, mit denen ich mehr alchymisch als
chemisch beschäftigte, dadurch zu begeistern trachtete.204 (Paralipomena zu „Dichtung
und Wahrheit“)
Letztendlich zielt die Utopie Leibniz’ an, sämtliche Denkprozesse nach einem
mathematischen Kalkül beschreibbar zu machen. Die Kybernetiker dieses Jahr-
hunderts – John von Neumann: „Meiner Meinung nach funktioniert der Kortex
wie eine riesige Rechenmaschine“ – haben sich nicht umsonst auf Leibniz als
historischen Vorläufer bezogen. Davon war Goethe weit entfernt. Was ihn aber
faszinierte, war der Wahrheitsanspruch der Mathematik, der seiner zarten Em-
pirie, also einer Morphologie des Urphänomens, letztendlich ,uneinholbaren‘
Naturgesetzen zuwiderlaufen musste.
Die Mathematik ist wie die Dialektik ein Organ des inneren höheren Sinnes; in der Aus-
übung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für beide hat nichts Wert als die Form; der
Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die
Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich.205
Was ist an der Mathematik exakt als die Exaktheit? Und diese, ist sie nicht eine Folge des
inneren Wahrheitsgefühls?206
Ist es ausgeschlossen, die ,zweiten Werke‘, Faust II und die Wanderjahre, als
Versuchsanordnungen zu ,lesen‘, die bereits durch die eigene Kunst geschnitzte
Steine auf dem Schachbrett hin und herbewegen, gleichsam Versuchsanordnun-
gen ,auf höheren Stufen‘? Es handelte sich weniger um ein ,bösartiges‘ Experi-
ment wie in den Wahlverwandtschaften, sondern vielmehr um einen Selbstver-
such. Die distinkten Primitiva der Vorgänger-Werke würden noch einmal dem
Kalkül der dichterischen Phantasie zugeführt. Es ergäben sich andere Konstel-
lationen und Antipoden, einem ,inneren Wahrheitsgefühl‘ folgend. Analog zu
den „reihenbildenden Versuchen“208, die sich iterativ dem Urphänomen annä-
hern, hätte man in den zweiten Werken Versuche des ,phänomenalen Denkens‘
vor sich, ,Lösungen‘ für lebenslang virulente poetische Stoffe (,inneres Mähr-
chen‘), für Formeln oder Symbole und schließlich für Sedimente biographischen
Materials zu finden. Ich erinnere an den Goethe, der sorgfältig bereits anderwei-
tig benutzte Stichworte in Rubriken einklebt. Dazu kommt ein Goethe eigener
Habitus der ,Selbstdemontage‘ oder Camouflage, der nicht recht zum klassischen
Werkbegriff passen will. Die zweiten Werke sind auch (!) Ausflüsse jenes „realis-
tischen Tic(s), durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schrif-
ten den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. (...) ich komme mir
vor wie einer, der, nachdem er viele und große Zahlen über einander gestellt,
endlich mutwillig selbst Additionsfehler machte um die letzte Summe, aus Gott
weiß für einer Grille, zu verringern“209.
Blindes Denken nannte es Leibniz, um deutlich zu machen, dass seine Uni-
versal-Sprache streng nominalistisch zu verfahren habe; die Denotate der Zei-
chen spielen darin keine Rolle, geschweige denn deren reale Gestalt. Selbst dem
Goethe der Purkinje-Rezension ginge das zu weit. Was aber zuweilen in der For-
schung unterschätzt wird, ist die Fähigkeit dieses Autors, Figuren ihre einmal
zugestandenen Sympathie-Werte abzuerkennen, ihnen zugeordnete Konzepte
wieder zu entziehen und neu zu verteilen.
Die Juli-Revolution hat Goethe, der zu diesem Zeitpunkt bereits seine Globe-
Lektüre eingestellt hatte, als „Denkaufgabe“ bezeichnet, wie der fassungslose
Eckermann mitteilt (Eckermann, 2. August, 1830). Schon Madame de Staël war
dreißig Jahre früher damit gescheitert, mit einer Neuigkeit aus dem revolutio-
nären Frankreich eine nennenswerte Reaktion hervorzurufen. Dabei ist doch die
Zäsur dieses historischen Ereignisses für Goethe vielfach von ihm bezeugt und
lässt sich seinen Texten, besonders der Natürlichen Tochter, dem Groß-Cophta,
dem Bürger-General, den Ausgewanderten und anderen ablesen. Selbst die Men-
schen seines Umfelds seien Goethe, so Kommerell, zunehmend zu Chiffren men-
taler Größen geworden; zumindest eine genaue Aufgaben- und Rollenverteilung
im späten „être collectif“ wird man konstatieren können. Was brachte den sich
kommentierenden Naturforscher und ,dilettierenden‘ Ästhetiker Goethe im „Ver-
folg“ der Morphologie-Schrift zu dem Satz: „Ich verstehe die menschliche Gesell-
schaft“, während sich Lichtenberg doch mit dem Satz: „Ich verstehe mich“ be-
gnügte?213
Das dritte was mich beschäftigte waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus
dem Zusammentreffen von Nothwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von
Bewegung und Widerstand ein drittes hevorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern
beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind.214
„Ist das Vertrauen in die alte Ordnung einmal zerstört, so kann es nicht wieder-
hergestellt werden“, überliefert uns Eckermann. Von hier aus lässt sich der er-
staunliche Stellenwert der Natürlichen Tochter, den Goethe diesem Werk zumaß,
begreifen: die Macht, der dieses Rousseausche Wesen ausgesetzt ist, ist ungreif-
bar, omnipräsent und verstößt gegen Naturrecht. Selbst die in den Wanderjahren
propagierte Entsagung greift hier nicht. Was Goethe an Revolution und Restau-
ration gleichermaßen missfiel, war die Entwurzelung des Individuums aus dem
Ordo eines natürlichen oder ,künstlerischen‘ Gesetzes. „Absichtlich und blind“
agiert die neue Ordnung.
Dagegen richten sich die ,Rechner‘ unter den späten Figuren: Makarie, der
Turm. Verhilft Makarie, unentwegt „Verwirrungen auflösend“ dem Gesetz der
Natur zu altem Recht (von einem Abschiedsbesuch sehen die in die Kolonie
Fausts Aufbrechenden ab), so betrachten sich die Ingenieure der geglückten
Biographie als Künstler. Die Kadetten-Ausbildung in den Wanderjahren trägt
Züge der beklemmenden Ästhetik totalitärer Systeme. Auch historisch, vor dem
Hintergrund populärer Romanmuster gelesen, sind die Kunstgriffe, mit denen
die Omnipräsenz und ,logische Unfehlbarkeit‘ des Freimaurerbundes erzähle-
risch ,gerettet‘ werden müssen, ermüdend. Und die ausgeklügelte Konstruktion
der Faust-Wette(n), wahrhaft eine „Denkaufgabe“ für die Interpreten, macht ju-
ristischen Schlüssen alle Ehre: in einem frühen Entwurf sollte der gescheiterte
Mephisto ja „zur Appellation“ vor das himmlische Gericht.215 Das Prinzip des
Bösen als die Fächer der Kausuistik ziehender Advokat, der noch eine Rechnung
offen hat; das Prinzip des Guten als desinteressierter, ,würfelnder‘ Herr, der in
der ,Bergschluchten-Szene‘ gar nicht mehr in Erscheinung tritt – ein manichä-
isches oder prästabilisiertes Ordo ist nicht wahrnehmbar.
Es ist dieses aus der Not geborene Ordo des „Rechnen wir!“, das Gesellschaft
,verstehen‘ will, gegen das Faust antritt. Der zwanghaften Logik der Wette un-
terwirft er sich nicht. Vielmehr setzt er sie im Moment des höchsten Glücks außer
Kraft; denn im geglückten Moment, im Kairos richtet sich die Weltordnung auf
den singulären, klassischen Menschen aus, wie uns der berühmte ,Dithyram-
bus‘ der Winckelmann-Schrift belehrt, der eine interessante Reminiszenz des
frühen Herder und Kant im ,Klassischen‘ Goethes darstellt.216 Karl Eibl hat diese
alte, ,dezisionistische‘ Sichtweise der Faust-Figur jüngst wieder profiliert, gegen
die These des unklassischen Faust, wie sie von Keller und Schings vertreten
wurde. Zweifellos ist das Spätwerk durchsetzt mit dem Versuch, eine in Subsys-
teme sich auffächernde Gesellschaft noch einmal rechnerisch zu ,totalisieren‘.
Goethe interessierte nicht mehr die phänomenale Welt, sondern ob sie den von
ihm als wahr empfundenen Axiomen folgte, so Kommerell. Auf der anderen Seite
gibt es Faust. Nicht den handelnden Faust, der nach der Liebe und Schönheit als
letzte Sinnsphäre die Arbeit wählt; nein, den sich erinnernden Faust:
Doch mir umschwebt ein zarter lichter Nebelstreif
Noch Brust und Stirn, erheiternd, kühl und schmeichelhaft.
Nun steigt es leicht und zaudernd hoch und höher auf,
fügt sich zusammen. – Täuscht mich ein entzückend Bild,
Als jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut?
Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf:
Aurorens Liebe, leichten Schwungs bezeichnet’s mir,
215 Goethe hat, so Konrad Burdach, bereits in Frankfurt den apokryphen Processus Sathanae
contra Dominam Virginem coram iudice Jesu gelesen. Das theologischen Gebäude, das der Prolog
im Himmel entwirft, im Hintergrund, klagt Satan in diesem frühen Entwurf das Recht ein,
ungestört böse zu sein. Konrad Burdach: „Das religiöse Problem in Goethes Faust“. Euphorion,
Bd. 33, 1932.
216 Winckelmann, HA, Bd. 12, S. 98–100: „Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes
wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen
fühlt, (...) dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel
gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu
dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen,
von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zu-
letzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut?“ Siehe Kants Die Ordnung der
Natur und natürlich Herders Schiffsreise.
4.4 Verdichten, Verschieben, Bündeln: Der späte Goethe | 435
Diese Textstelle ist seit jeher zitiert worden, um gegen die ,Entkernung‘ der Faust-
Figur als Menschheits-Exempel Position zu beziehen und für deren individuelles
Bewusstsein, für eine Individualitätsproblematik in der Tragödie einzutreten. Der
Lethe-Schlaf und das Helena-Erlebnis löschen Gretchen nicht aus; im Gegenteil;
diese säkularisiert und individualisiert ja bekanntermaßen das „Levitations-
Ballett“218 der Bergschluchten. Mephistos ,Frauen im Plural‘ werden von Faust
mit „Schlecht und modern! Sardanapal!“219 quittiert. Nein, Faust ist weder das
spätmoderne Subjekt, das Luhmann entzifferte, noch der anti-klassische Berser-
ker, der die antike Diätetik zunichte machen wollte. Er ist der Visionär der Erin-
nerung (Friederike in dreifacher Spiegelung) und des Projekts (Kolonie); als Han-
delnder ist er blind, aber das reiche Spiel der vergangenen Sinneseindrücke,
Emotionen und Ereignisse verknüpft sich immerfort zu inneren Bildern und leitet
ihn. Insofern ist Helmut Schanzes Vorschlag, die Bergschluchten-Szene als thea-
trum memoriae zu betrachten, interessant, besonders wenn man an die erwähn-
ten Gemälde/Bildvorlagen denkt. Wenn die zuletzt von Werner Kohlschmidt220
vertretene These zutrifft, dass Doctor Marianus die ,Entelechie‘ Fausts ist, so lässt
sich hier von einem ,inneren‘, mentalen Bild sprechen, das auf der erwähnten
Skizze Goethes realisiert worden ist. Das erwähnte Faust-Paralipomenon 1 sieht
für den Epilog im Chaos auf dem Weg zu Hölle, der später fallen gelassen wurde,
vor: „Schöpfungs Genuss/ von innen“. Dergestalt, von innen, werden noch ein-
mal die emotionalen Valenzen Fausts hörbar:
Höchste Herrscherin der Welt!
Lasse mich im blauen,
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen.
Billige, was des Mannes Brust
Ernst und zart beweget
Und mit heiliger Liebeslust
Dir entgegenträget.
226 Die erste Fassung von Emrichs Buch erschien im Jahr 1942.
227 „So, heißt es, betreten hier (in der Mummenschanz-Szene, JL) ,die Grundbegriffe der poli-
tischen Ökonomie die Bühne‘, und es „beginnen sich (Karl Marx’) Kapital und Faust II wech-
selseitig zu kommentieren“, zit. b. Schöne, FA, 1. Abt., Bd. 7/2, S. 57.
228 Gundolf, S. 528.
229 Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1939.
S. 31.
230 Kommerell, S. 32.
231 Kommerell, S. 39.
232 Kommerell, S. 13.
233 Ebda.
438 | 4 Goethe
4.5 Zusammenfassung
Ähnlich wie Lichtenberg wurde Goethe hier als Naturwissenschaftler, wenn auch
als Mittler zwischen Physiologie und mentaler Repräsentation, gelesen. Die ko-
gnitiven Praxen, die bei Goethe von der zarten Empirie in die Kunst transferieren,
lassen sich mit Verdichten, Überlagern, Bündeln, Verschieben bezeichnen. Ein
antiklassischer Symbolbegriff ermöglicht, wie wir sahen, Goethes Spiegelung
biographischer Epochen sowie seine zunehmend ,kondensierte‘ künstlerische
Wahrnehmung und Darstellung. Mentale Bilder, aber auch Skizzen spielen eine
wichtige Rolle in diesem theatrum memoriae des Schreiben-den/Diktierenden.
Anders als Symbole, Ordnungsbegriffe oder paper tools transportieren Skizzen
Bündel von subjektiv verdichteten Sinneseindrücken. Dieses Verdichten und
Überlagern hat sein direktes Pendant im Manuskripttyp Palimpsest; ebenso fin-
det sich hier, in der Handschrift der Marienbader Elegie, ein letztes Mal die Im-
munisierung gegen die ungeordnete Empirie, die wir einigen naturwissenschaft-
lichen Schriften zuordneten.
Für keinen der hier behandelten Autoren ist die Verwaltung des produktiven
Haushalts derart entscheidend wie für Goethe. Dies aus dem einfachen Grund,
weil Goethe das Werk in der Regel gleichsam in der Vorarbeit aufbaut. Dies aber
nicht ,im Kopf‘, wie es der Topos will, sondern auf dem Papier. Manuell gefertigte
und zugerichtete Memoranda nehmen hier eine zentrale Funktion ein. Ausge-
prägter als bei Lichtenberg werden Memoranda materiell manipuliert, verscho-
ben, umgeordnet. Ihre schreibproduktive und memorative Funktionsweise ist bei
Goethe, dem Schönschreibenden und Aktenarbeiter, durchaus der Maniera des
Skizzisten affin.
Wie bei Jean Paul überlagern sich episodische Gedächtnisinhalte und die
Erinnerung an Schreibepochen. Das eigene Leben wird, ,scribendum‘, noch ein-
mal aufgerufen. Auf dem Schachbrett der Konzeptblätter und Manuskriptkon-
volute lassen sich die verdichteten und überlagerten Konzepte – paper tools – in
verschiedene Sinnzusammenhänge verschieben. Je nach der ,Lücke‘ im Werk
4.5 Zusammenfassung | 439
richten sie sich anders aus. Von hier aus wurde der Unterschied zu Jean Pauls
Inventaren von assoziierten semantischen Konzepten und ihre ad hoc vorgenom-
mene Bündelung auf verschiedenen Schriftträgern deutlich. Nannten wir Jean
Pauls Ordnungsmodus relational, so ist derjenige Goethes absolut. Der späte
Goethe bedarf der Papierarbeit und der Aktenführung nicht mehr. Die zweiten
Werke Goethes lassen sich auch als Ergebnis eines blinden Rechnens lesen, das
an der zarten Empirie nicht mehr interessiert ist.
5 Fazit
Hüten muss man sich als Literaturwissenschaftler bei alldem vor einer flotten Übernahme
von Begriffen und Konzepten anderer Disziplinen, die bei diesen womöglich nur ein müdes
Lächeln provoziert, in der eigenen Disziplin aber zu wolkigen Metaphorisierungen führt.1
Wenn man sich für ein going science-Programm entscheidet, also das Labor auf-
sucht und Experimente durchführt, verändern sich die gesamte Erkenntnishal-
tung, die Darstellungsformen und Argumentationsrahmen, die man im Lauf ei-
ner langen Sozialisierung im Fach gelernt, oft auch als ,tacit knowledge‘ aufge-
nommen hat. Der geisteswissenschaftliche Diskurs ist theoretisch und herme-
neutisch, also universal und ,variantentolerant‘ ausgerichtet. Die spezifische
Methodik naturwissenschaftlicher Disziplinen, hier der Psycholinguistik, zwingt
zu einem eher repetitiven und vertiefenden Duktus, der lieber variierte Aspekte
bekannter Phänomene untersucht, als eine neue Folge von Fragen und Experi-
mentierungen zuzulassen. Innovation wird nicht gesucht, sondern sie ergibt sich
aus der Folge der Hypothesen und experimentellen Falsifizierungen.
Nachdem die These der zwei Wissenschaftskulturen als „Snow von gestern“2
abgetan war, begann vor etwa zehn Jahren entweder metaphorisch oder tatsäch-
lich der Exodus ins Labor – und zwar auch jenseits des ,big science‘ bewilligter
Forschungscluster. Gerhard Lauer und Karl Eibl haben mehr oder weniger ihr
gesamtes symbolisches Kapital in die Waagschale geworfen, um das Paradigma
des going science zu institutionalisieren. Inzwischen ist nach einer Phase der
Euphorie Ernüchterung eingekehrt. Zum einen werden experimentell arbeitende
oder interessierte Literaturwissenschaftler sehr schnell mit der Tatsache kon-
frontiert, dass die Wege von der Hypothese über eine sich im Regelfall auswei-
tende Experimentreihe zum begutachteten, überarbeiteten und dann endlich pu-
blizierten Manuskript mehrere Jahre in Anspruch nehmen: von einer „flotten
Übernahme“ kann also keine Rede sein.3 Bei vielen literaturwissenschaftlich in-
teressanten Fragen: „Wie geht die Verarbeitung ästhetischer Reize vor sich?“
oder „Wie lässt sich literarische Innovation kognitiv oder gar neuronal beschrei-
ben?“ schütteln die zuständigen Naturwissenschaftler zum anderen sofort den
Kopf. Nicht operationalisierbar. Ein elegantes Experiment, zumindest in der Psy-
cholinguistik, ist ein ,flaches‘ Experiment, das mit wenigen Elementen und
1 Wolfgang Braungart: „Was für ein Theater!“. Im Rücken der Kulturen, hg. v. Karl Eibl/ Katja
Mellmann/Rüdiger Zymner, Paderborn: mentis, 2007. S. 476.
2 Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart, 2000. S. 31.
3 Entwaffnend ist hier Menninghaus’ Anmerkung zu Beginn seiner Studie Wozu Kunst? Ästhetik
nach Darwin: „Immerhin weiß ich heute besser als noch vor zwei Jahren, wie sich einige Hy-
pothesen des vorliegenden Buches empirisch testen lassen. Entsprechende Projekte werden
demnächst entwickelt. Ihre Durchführung wird aber frühestens in zwei Jahren zu publizierten
Resultaten führen“. Wozu Kunst?, S. 8. Siehe auch S. 120, Anm. 144.
5 Fazit | 441
4 Kilian Koepsell/Carlos Spoerhase: “Neuroscience and the Study of Literature. Some Thoughts
on the Possibility of Transferring Knowledge”. Journal of Literary Theory, Bd. 2, H. 2, 2008,
S. 363–374.
442 | 5 Fazit
Lauers Frage, wie wir unsere zentralen Axiome begründen können: ob empirisch
oder nicht, ist deshalb durchaus berechtigt.5 Und transzendentale oder logisch
deduzierende Grundlegungen des Fachs, wie im Fall hermeneutischer Interpre-
tation jüngst geschehen, reichen nicht mehr aus.6 Anders ausgedrückt: Bevor
man literaturwissenschaftliche Fragestellungen rephilologisiert – ein Anliegen,
das ich teile –, sollten diese Fragestellungen tatsächlich extraphilologische Per-
spektiven aufweisen.
Nun sehe ich, praktisch von Beginn dieser Arbeit an, eine Frage im Kopf der
Leserin/des Lesers Gestalt annehmen: „Wie hältst Du es mit dem großen neuen
(Schreib-)Medium“? „Ist es nicht anachronistisch, das Schreiben auf Papier zu
thematisieren?“ Diese Frage ist umso berechtigter, als wir auf den Einsatz eines
Schreibtabletts in unseren Experimenten verzichtet und die Computertastatur
eingesetzt haben. Trotzdem: Ich glaube nicht, dass sich basale kognitive Vorgän-
ge aufgrund des neuen Mediums geändert haben. Dafür habe ich im Moment nur
ein common-sense-Argument: unsere Texte haben sich nicht tiefgreifend verän-
dert, seitdem wir am Computer schreiben. Es mag sein, dass sich langfristig
,evolutionäre‘ Anpassungen ergeben; im Moment sind wir definitiv noch im
,Modus‘ des Papierschreibens. Es ist aber sicherlich so, dass hier ein weiteres
und weites Forschungsfeld – und die ersten digitalen Festplatten in Marbach –
warten.
Philologen sind Experten darin, wann und inwiefern sich mentale Produk-
tivität oder Innovation in geglückte und haltbare Formen gießt: aus transitori-
schen Gedankenfolgen ein Kunstwerk entsteht. Ich habe in dieser Arbeit deutlich
gemacht, dass dies eine literaturwissenschaftliche Fragestellung und Kompetenz
ist, nicht ,nur‘ eine psychologische (oder philosophische). Es gilt also, breiter als
bisher getan, Grundlagen mentaler Produktivität, ihre Wechselrelationen mit
materiellen Aspekten, ihre kulturellen Überformungen und möglichen kogniti-
ven ,Data‘-Gegebenheiten – sowohl in historischer als auch in systematischer als
auch empirischer Hinsicht ins Zentrum zu rücken.
Dies ist mein Ansatz. Vielleicht kann man sagen, dass ich der going science-
Fraktion ,harte‘ Daten geben möchte und der ad-fontes-Ausrichtung der Rephi-
lologen eine andere Perspektive auf materielle Quellen. Ob dies Rephilologisie-
rung oder going science ist, eher die Grenzen des Fachs markiert oder dieses
erweitert, mögen andere entscheiden.
5 Gerhard Lauer: „Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung“,
Im Rücken der Kulturen, a.a.O. S. 158.
6 Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologi-
schen Hermeneutik, Berlin/New York: de Gruyter, 2007. Vor welche grundlegenden Probleme die
Bildgebung etwa die Plausibilität philosophischer Argumention stellt, zeigt nolens volens der
voluminöse Band von Bennett/Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience, Oxford, 2003.
Es ist kein Zufall, dass die Autoren Veteranen einer Wittgenstein-Forschung sind, die dessen
Bezüge zur empirischen Psychologie betonen.
6 Apparat
6. 1 Siglenverzeichnis
Lichtenberg:
Jean Paul:
„Auswahl aus des Teufels Papieren“, Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Teufelpap
Miller und Wilhelm Schmidt-Biggemann, II, 2.
„Biographische Belustigungen“, Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Biobel
Miller, I, 4.
„Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Siebenkäs
Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs“, I, 2.
„Briefe und bevorstehender Lebenslauf“, Sämtliche Werke, I, 4. Briefe
„Das heimliche Klaglied“, Sämtliche Werke, I, 4. Heimklag
„Der Jubelsenior“, Sämtliche Werke, I, 4. Jubsen
„Der Komet“, SämtlicheWerke, I, 6. Komet
„Die unsichtbare Loge (Mumien)“, Sämtliche Werke, I, 1. UnLog
„Flegeljahre. Eine Biographie“, Sämtliche Werke, I, 2. Flegeljahre
„Gedankenhefte“, Kritische Ausgabe, hg. v. Götz Müller u.a., II, 7. Gedank
„Grönländische Prozesse“, Sämtliche Werke, II, 1. Grönprozess
„Hesperus“, Sämtliche Werke, I, 1. Hesp
„Kampaner Tal“, Sämtliche Werke, I, 4. Kamptal
„Konjektural-Biographie“, Sämtliche Werke, I, 4. Konbio
„Leben des Quintus Fixlein“, Sämtliche Werke, I, 4. Quintfix
„Leben Fibels“, Sämtliche Werke, I, 6. Fibel
„Levana oder Erziehlehre“, Sämtliche Werke, I, 5. Levana
„Museum“, Sämtliche Werke, II, 2. Museum
„Palingenesien“, Sämtliche Werke, I, 4. Paling
„Selberlebensbeschreibung“, Sämtliche Werke, I, 6. Selbleben
„Titan“, Sämtliche Werke, I, 3. Titan
„Vita-Buch“, Kritische Ausgabe, hg. v. Götz Müller u.a., II, 6. Vita
6.2 Literaturverzeichnis
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von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. G.D. Gerhardt, Hildesheim, 1960, Bd. 4.
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Nollet, Jean Antoine: Leçons de Physique expérimentale, Paris: Durand, 1775.
Nollet, Jean-Antoine: Die Kunst physikalische Versuche anzustellen oder Anweisung für die Lieb-
haber der Naturlehre in Ansehung der Wahl, der Verfertigung und des Gebrauchs ihrer
Instrumente; ingleichen der Zubereitung und des Gebrauchs der zu physikalischen Versu-
chen dienlichen Materialien, Leipzig, 1771 (3 Bände) .
446 | 6 Apparat
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