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Das Buch zum Film

mit Tom Hanks,


Bill Paxton,
Kevin Bacon,
Gary Sinise
und Ed Harris

Deutsch von
Karl Georg

GOLDMANN VERLAG
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1994
unter dem Titel »Lost Moon« bei
Houghton & Mifflin, New York
Deutsche Erstausgabe Oktober 1995
Copyright © 1994 by Jim Lovell und Jeffrey Kluger
All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995


by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Umschlaggestaltung: Design Team München
Cover art photography © Universal Pictures
Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
Druck: Elsnerdruck, Berlin
Verlagsnummer: 42998
Redaktion: Ute Thiemann
T. T. • Herstellung: Ludwig Weidenbeck
Made in Germany
ISBN 3-442-42998-6
Houston, Texas. 11. April 1970. Um exakt 13 Uhr
13 zünden die Triebwerke des Raumschiffs Apollo
13. Zwei Tage später steuert es plangemäß die
Mondumlaufbahn an, als plötzlich eine heftige
Explosion das Schiff erschüttert. Sehr schnell fällt
die Bordenergie aus. Während der Sauerstoff in der
Kapsel immer knapper wird, suchen Captain Jim
Lovell und seine zweiköpfige Crew fieberhaft nach
einem Ausweg. Schließlich unternehmen sie den
scheinbar aussichtslosen Versuch, mit Hilfe der
kleinen Mondfähre heil zur Erde zurückzukehren.
Doch der Sauerstoffvorrat reicht nur 48 Stunden –
und dann muß die Fähre das Eintauchen in die
Erdatmosphäre überstehen. Die dramatischsten vier
Tage in der Geschichte der amerikanischen
Raumfahrt brechen an…
Diese wahre Abenteuergeschichte ist den
erdgebundenen Astronauten gewidmet: meiner Frau Marilyn
und meinen Kindern Barbara, Jay, Susan und Jeffrey,
die in jenen vier Tagen im April 1970
meine Ängste und Sorgen teilten.

JIM LOVELL

In Liebe für meine Familie – im engsten und im weiteren


Sinn, einst und jetzt –, die dafür sorgte, daß ich immer
auf einer festen Umlaufbahn blieb.

JEFFREY KLUGER
Prolog

Montag, 13. April 22:00 Uhr, Ortszeit Houston

Niemand wußte, wie die Geschichten über die Giftkapseln


entstanden waren. Die meisten Menschen hatten davon gehört,
und die Mehrzahl glaubte sie sogar. Die Presse und die breite
Öffentlichkeit mit Sicherheit, aber sogar ein paar Leute bei der
Raumfahrtbehörde. Ein neuer Mann trat an seinem ersten
Arbeitstag bei der NASA an, begegnete zum ersten Mal einem
Besatzungsmitglied, und sobald er wieder an seinem
Schreibtisch saß, wandte er sich an den Mann neben ihm und
wollte wissen: Haben Sie schon von diesen Giftkapseln
gehört?
Jim Lovell mußte bei diesen Giftkapselgeschichten immer
lachen. Giftkapseln! Vergiß es! Es gab einfach keine Situation,
in der man jemals ernsthaft einen, nun ja, vorzeitigen Abgang
in Erwägung zog. Und selbst wenn es eine gäbe, hatte man
allerhand Möglichkeiten, es leichter hinter sich zu bringen als
durch Gift. Schließlich gab es in der Kommandokapsel eine
Vorrichtung zum Abblasen des Sauerstoffs. Ein Handgriff, und
der angenehme Innendruck von fünf Pfund pro Quadratzoll
(pounds per square inch = psi) würde augenblicklich auf Null
abfallen. Die Atmosphäre in der Kapsel würde ins Vakuum
entweichen, den Astronauten würde schlagartig die Luft aus
der Lunge gerissen, ihr Blut würde auf der Stelle – und
buchstäblich – ins Kochen geraten, während Gehirn und
Körper verzweifelt nach Sauerstoff verlangten, und der
gesamte Organismus würde unter diesem Schock schlicht und
einfach zusammenbrechen. In ein paar Sekunden wäre alles
vorbei – rasch und schmerzlos. Der Tod würde keineswegs
langsamer eintreten als durch irgendeine lächerliche
Giftkapsel, und es wäre auf jeden Fall ein weitaus
ehrenvollerer Tod.
Natürlich mußte weder Lovell noch jemand anders auch nur
eine Sekunde darüber nachdenken, was diese
Abblasvorrichtung bewirken konnte. Keiner der Astronauten in
einer der zuvor gestarteten zweiundzwanzig Raumkapseln war
jemals in eine Situation geraten, in der er diesen letzten
Ausweg hätte in Erwägung ziehen müssen. Lovell selbst war in
drei dieser Kapseln mitgeflogen, und er hatte die Atemluft
immer nur zum vorgesehenen Zeitpunkt ablassen müssen:
Nach Beendigung des Fluges, wenn das Raumfahrzeug im
Meer schwamm und die Fallschirme auf dem Wasser trieben,
wenn die Froschmänner sich der Farbmarkierung näherten und
der Rettungskäfig vom Hubschrauber heruntergelassen wurde,
wenn die Kapelle auf dem Flugzeugträger die Instrumente
stimmte und er die kleine Rede probte, die er halten mußte,
bevor er sich zur medizinischen Untersuchung, zu einer
abschließenden Einsatzbesprechung und dann unter die Dusche
begab.
Bis heute hatte es so ausgesehen, als verliefe dieser Flug
ebenso routinemäßig wie alle anderen. Tatsächlich war es auch
so gewesen, bis heute abend, laut Ortszeit in Houston –
obgleich es hier draußen, 320000 Kilometer von zu Hause
entfernt und nach fünf Sechsteln der Strecke zum Mond, keine
Rolle spielte, welche Zeit man in Südtexas schrieb. Aber egal,
welcher Zeitpunkt – dieser Flug ins Weltall steckte mit einem
Mal in Schwierigkeiten. Im Augenblick ging im Inneren der
Kapsel fast zuviel auf einmal vor sich, als daß Lovell und seine
beiden Astronautenkollegen noch den Überblick behalten
konnten, aber ihr Hauptaugenmerk galt dem Sauerstoff, der
beinahe zu Ende war, der Energie, die beinahe aufgebraucht
war, und dem Haupttriebwerk, das wahrscheinlich – auch
wenn sich dies nicht mit Bestimmtheit feststellen ließ –
ausgefallen war.
Es war eine denkbar schlechte Lage, genau die Lage, die sich
die Presse, die Öffentlichkeit und die Neulinge bei der
Weltraumbehörde ausmalten, wenn sie nach den Giftkapseln
fragten. Lovell und seine Kameraden indes dachten nicht an
Gift, Abblasen oder dergleichen. Sie überlegten vielmehr, wie
sie die Energieversorgung, die Sauerstoffzufuhr und alle
anderen Schäden an ihrem Raumfahrzeug wieder in Ordnung
bringen könnten. Ob sie es tatsächlich konnten, war fraglich.
Noch nie war ein Raumschiff so weit von zu Hause entfernt
in eine derart mißliche Lage geraten. Den Leuten in Houston
war gar nicht wohl zumute, und dies teilten sie per Funk auch
mit.
»Apollo 13, bei uns arbeiten jede Menge Leute daran«,
meldete sich eine Stimme aus der Mission Control, der
Bodenkontrolle in Houston. »Wir werden euch Bescheid
geben, sobald wir etwas haben. Ihr werdet es als erste
erfahren.«
»Oh«, erwiderte Lovell, und seine Stimme klang gereizter als
beabsichtigt. »Vielen Dank.«
Lovell war deswegen so ungehalten, weil Houston aufgrund
ihrer Berechnungen nur eine Stunde und vierundfünfzig
Minuten Zeit hatte, sich etwas einfallen zu lassen. Länger
reichten nämlich die Sauerstofftanks in der Kapsel nicht.
Danach würde sich die Kapsel, deren Innenraum etwa den
Ausmaßen eines großen Autos entsprach, allmählich mit dem
Kohlendioxid ihrer verbrauchten Atemluft füllen, und die
Besatzung würde keuchend, schwitzend und mit weit
aufgerissenen Augen langsam ersticken. Sollte dies geschehen,
dann würde die führerlose Kapsel weiter in Richtung Mond
fliegen, seine Rückseite umrunden und mit einer
Geschwindigkeit von bis zu 40000 Kilometern pro Stunde
wieder auf die Erde zusteuern. Leider würde sie nicht genau
auf die Erde zufliegen, sondern den Heimatplaneten um rund
64000 Kilometer verfehlen und in eine weite, elliptische
Umlaufbahn eintreten, auf der sie 384000 Kilometer weit ins
Weltall hinausgetragen werden würde, dann zurück in
Richtung Erde und wieder hinaus ins All, und so weiter und so
fort – ein grausig sinnloser, nie endender Kreislauf, der leicht
diejenigen überdauern konnte, die ihn in Gang gesetzt hatten.
Jahrtausendelang würde die Menschheit die dahinsausende
Kapsel mit Lovell und seinen Astronautenkollegen sehen
können, konserviert für alle Ewigkeit, ein blinkendes,
höhnisches Mahnmal an die Technologie des zwanzigsten
Jahrhunderts.
Das reichte, damit die Menschen auf die Giftkapseln zu
sprechen kamen.

Montag, 13. April, 23:30 Uhr, Ostküstenzeit

Jules Bergman knöpfte seinen grauen Blazer zu, zog die


blauschwarze Krawatte zurecht und schaute in die Kamera,
während der Countdown lief. Noch zehn Sekunden bis
Sendebeginn. Das Stimmengewirr um ihn herum wurde leiser,
wie immer kurz vor einer Sendung. Bergman würde nur etwa
eine Minute Zeit für seinen Live-Bericht haben, und er wußte,
daß er, wie bei allen derartigen Sondermeldungen, in der
kurzen Zeitspanne möglichst viele Informationen unterbringen
mußte.
Seit Bergmans Eintreffen herrschte eine angespannte
Atmosphäre im Studio. Keiner der mit Raumfahrt befaßten
Mitarbeiter hatte damit gerechnet, so spätabends noch hier zu
sein, aber als die Nachrichten der Presseagenturen aus Houston
eintrafen und die ABC-Korrespondenten ihre
zusammenhanglosen Notizen durchgaben, schienen die
Menschen von überall herbeizuströmen. Ein Anfänger wäre
vielleicht von der Schnelligkeit beeindruckt gewesen, mit der
die gigantische Nachrichtenmaschinerie des Senders in
Schwung kam, aber Bergman war kein Anfänger. Für ihn war
es lediglich ein Rätsel, wieso ein großer Nachrichtensender
auch nur daran denken konnte, die Kameras abzuschalten und
Feierabend zu machen, wenn ein Raumfahrzeug mit
Astronauten an Bord 320000 Kilometer fern der Heimat war.
Bergman berichtete seit Alan Shepards kurzem suborbitalen
Flug im Jahre 1961 über bemannte Weltraumfahrt, und er hatte
seither die Erfahrung gemacht, daß es einen garantiert den
Kopf kostete, wenn man in diesem Geschäft davon ausging,
daß ein ruhiger Flug auch weiterhin ruhig bleiben würde.
Bergman hatte sich wie kein anderer Journalist vor ihm die
Aufgabe gesetzt, alles über Weltraumflüge zu lernen; er hatte
sich in Zentrifugen herumwirbeln lassen, war in Flugzeugen
aufgestiegen, in denen Schwerelosigkeit simuliert wurde, hatte
sich in abgeworfenen Rettungsflößen aussetzen lassen, und all
das nur, um besser zu verstehen und den zahlenden Zuschauern
besser erklären zu können, welch schmalen Grat die Piloten
beschatten.
Der Haken war nur, daß die Zuschauer derzeit anscheinend
keine Erklärungen wollten. Das hier war nicht Shepards
Mercury 3 oder Glenns Mercury 6, und mit Sicherheit war es
nicht Apollo 11 mit Neil Armstrong, Michael Collins und Buzz
Aldrin an Bord – jener großartige Flug, bei dem vor knapp
neun Monaten zum erstenmal Menschen auf dem Mond
gelandet waren. Das hier war Apollo 13, die dritte geplante
Mondlandung, und im Frühling des Jahres 1970 langweilte
man sich sowohl im Sender als auch im ganzen Land über
solche Berichte.
Statt der allerneuesten Nachrichten vom Mond strahlte man
bei ABC die Dick Cavett Show aus. Cavett würde mit
Susannah York, James Whitmore und ein paar Mitgliedern der
New York Mets reden, der Weltmeistermannschaft, aber in den
ersten Minuten der heutigen Abendsendung stimmte er die
Zuschauer wenigstens in Gedanken auf den Mondflug ein.
»Ist ein großartiger Tag heute in New York«, flachste Cavett
mit seiner Band und dem Publikum, bevor seine Gäste
vorgestellt wurden. »Ein Wetter zum Mädchenangucken.
Apropos Mädchenangucken. Haben Sie gewußt, daß unser
erster lediger Astronaut unterwegs zum Mond ist? Swigert
heißt er, stimmt’s? Ein Typ, der angeblich in jedem Städtchen
ein Mädchen sitzen hat. Nun, das mag schon sein, aber ich
halte es bei allem Optimismus doch für etwas naiv,
Nylonstrümpfe und Pralinen zum Mond mitzunehmen.« Das
Publikum lachte artig. »Und haben Sie gelesen, daß diesen
Raketenstart drei Millionen Zuschauer weniger verfolgt haben
als den letzten? Colonel Borman war neulich hier, und er gab
zu, daß die Raketenstarts irgendwie ihren Reiz verlieren. Aber
um fair zu sein: Es mag auch daran gelegen haben, daß es ein
schöner Tag war und viele Leute draußen waren, und viele
Leute haben vielleicht auch gedacht, der Start wäre bloß eine
Wiederholung vom letzten Sommer.« Wieder lachte das
Publikum artig.
Während Cavett redete, beendete Jules Bergmans Regisseur
im Nachrichtenstudio der ABC den Countdown von zehn bis
eins, und auf einmal erschienen auf dem Bildschirm statt des
Talkmasters in roten Buchstaben die Worte »Apollo 13« und
in Hellblau »Sonderbericht«. Eine Sekunde später war statt des
Textes Bergmans Gesicht zu sehen.
»Im Raumschiff Apollo 13 hat sich ein folgenschweres
Versagen der Elektronik ereignet«, begann er, »durch das die
Astronauten sich zwar nicht in unmittelbarer Gefahr befinden,
das aber eine Mondlandung nicht mehr zuläßt. Sekunden nach
einer Inspektion der Raumfähre ›Aquarius‹ krochen Jim Lovell
und Fred Haise zurück in die Kommandokapsel und
berichteten dann, sie hätten einen lauten Knall gehört, gefolgt
von einem Druckabfall in zwei von drei Brennstoffzellen.
Ferner meldeten sie, sie könnten sehen, daß Treibstoff,
offenbar Sauerstoff und Stickstoff, aus dem Raumschiff
entweicht, und die Meßgeräte für diese Gase stünden auf Null.
Mission Control hat den Astronauten befohlen, die
Energieversorgung des Raumschiffes herunterzufahren und die
Stromversorgung abzuschalten, während Spezialisten nach
einer Lösung dieser Probleme suchen. Ohne diese drei
Brennstoffzellen wird es problematisch werden, genügend
Energie für die Zündung des Haupttriebwerks zu beziehen, das
sie zurück zur Erde bringen soll. Ein weiteres Problem, dessen
Ausmaß erst noch ermittelt werden muß, stellt der
offensichtliche Sauerstoffverlust in der Kommandokapsel dar.
Mission Control bestätigte, daß es sich um ernsthafte Probleme
handelt, wiederholte aber, die Astronauten an Bord von Apollo
13 seien nicht unmittelbar gefährdet. Allerdings bestehe die
Gefahr, daß der Flug abgebrochen werden müsse.«
So rasch, wie er aufgetaucht war, verschwand Bergman vom
Bildschirm, und an seiner Statt erschien abermals der fröhliche
Dick Cavett. Das Stimmengewirr im Studio erhob sich wieder,
kaum daß die Kamera abgeschaltet war. Die in Sachen
Raumfahrt erfahrenen Mitarbeiter waren alles andere als
zufrieden mit den Nachrichten, die sie gerade ausgestrahlt
hatten. Die Astronauten waren also »nicht unmittelbar
gefährdet«? War das die offizielle Darstellung der NASA? Wie
man nicht unmittelbar gefährdet sein konnte, wenn man fast
eine halbe Million Kilometer entfernt war und kaum noch
Sauerstoff zum Atmen hatte, war unklar, aber
höchstwahrscheinlich würde die Raumfahrtbehörde bald schon
mit anderen Prognosen aufwarten. Die Sprecher der NASA
sträubten sich immer, das Wort »Notfall« auszusprechen, und
beließen es lieber bei einer »Panne«, aber wenn sie sich mit
einer ausgewachsenen Krise konfrontiert sahen, gaben sie es
normalerweise auch zu. Das Studio in New York war bereits
telefonisch mit David Snell, dem Korrespondenten in Houston,
verbunden, um die neuesten Verlautbarungen der
Raumfahrtbehörde zu erhalten. Berater von North American
Rockwell (vormals North American Aviation), der Firma, die
das Raumschiff gebaut hatte, wurden bereits ins Studio
gebeten, um die aufgetretenen Schwierigkeiten zu erklären.
Auf der anderen Seite des Studios ratterten die neuesten
Berichte der Presseagenturen aus Houston über die
Fernschreiber, und die Nachrichtenredakteure eilten hin, rissen
sie ab und reichten sie Bergman. Nur Minuten nach
Ausstrahlung seines verhalten optimistischen Berichtes mußte
der Journalist feststellen, daß sich die Prognosen in der Tat
geändert hatten – und keineswegs zum Guten. Die
Kommandokapsel von Apollo 13, so wurde nun in den
neuesten Verlautbarungen der NASA eingeräumt, war ohne
jede Luft- und Energieversorgung; die Astronauten mußten, so
wie es jetzt aussah, ihr Schiff verlassen und sich in die
Mondfähre begeben; und sie befanden sich, wie die
Raumfahrtbehörde nun zugab, tatsächlich in Lebensgefahr.
Inzwischen bereitete der Regisseur die Kameramänner auf
eine weitere Sondersendung vor. Heute abend würde es
bestimmt keinen Dick Cavett mehr geben.
1

27. Januar 1967

Jim Lovell weilte zum Dinner im Weißen Haus, als sein


Freund Ed White verbrannte.
Eigentlich gab es gar kein richtiges Dinner, lediglich
Sandwiches, Orangensaft und einen mittelmäßigen Wein, die
auf gedeckten Tischen im Green Room aufgetragen wurden.
Doch da die Sonne eben untergegangen war und Lovell an
diesem Tag keine andere Verabredung zum Essen hatte, kam
es einem Dinner ziemlich nahe.
Eigentlich verbrannte Ed White auch nicht. Der Qualm tötete
ihn, nicht die Flammen. Es dauerte schätzungsweise nur
fünfzehn Sekunden, bis er – zusammen mit Gus Grissom, dem
Kommandanten, und Roger Chaffee, dem rangniedrigsten
Besatzungsmitglied – an den giftigen Dämpfen erstickte, die
sie einatmeten. Letzten Endes war es so vermutlich besser.
Niemand wußte genau, wie heiß es im Cockpit geworden war,
aber wenn man bedenkt, daß die Kapsel mit reinem,
hochentzündlichem Sauerstoff gefüllt war, dürfte das
Thermometer auf über 750 Grad gestiegen sein. Bei einer
derartigen Temperatur gerät Kupfer ins Glühen, schmilzt
Aluminium, und Zink geht in Flammen auf. Gus Grissom, Ed
White und Roger Chaffee – empfindliche Wesen aus Haut und
Haaren, Fleisch und Knochen – hatten nicht den Hauch einer
Chance.
Jim Lovell konnte nicht wissen, was den drei Männern
zugestoßen war. Im Augenblick konzentrierte sich Lovell auf
seine Aufgabe, und die bestand darin, daß er die Runde
machte, den Leuten die Hand schüttelte und ein paar Worte mit
ihnen plauderte. Etliche Würdenträger hatten sich versammelt,
um die Happen und Getränke des Weißen Hauses zu
verdrücken, und Lovell hatte die Aufgabe, so viele wie
möglich zu begrüßen. Die Einladungskarte, die man Lovell per
Post zugesandt hatte, war in bezug auf diesen Teil seiner
Aufgabe eindeutig gewesen:
»Green und Blue Room für Fotoaufnahmen mit Botschaftern
und Händeschütteln«, stand darauf.
Derartige Abendempfänge waren für Lovell natürlich nichts
Ungewohntes, und die Offenheit bei der Einladung überraschte
ihn nicht. Es handelte sich einfach mal wieder um das übliche
»Herumreichen«, wie er und die anderen Mitglieder des
Astronautenkorps so etwas nannten. Anlässe, bei denen
irgendein Gouverneur oder Handelskammerpräsident zum
Abrunden eines Empfangs einen Raumfahrer zum Vorzeigen
brauchte, worauf die NASA einen oder zwei
Besatzungsmitglieder für eine Party abstellte, damit sie sich
mit dem Gastgeber fotografieren ließen und für gute Laune
sorgten. Auf diese Tour verstanden sich alle Astronauten,
besonders aber Lovell. Mit einer Größe von einem Meter
achtzig, einem Gewicht von 77 Kilogramm und dem typischen
Aussehen eines Mannes aus dem Mittleren Westen war er
geradezu ein Bilderbuchastronaut – ideal für einen
Prominenten, der genau das richtige Foto für die Wand in
seinem Büro brauchte. An diesem Abend indessen würde es
weniger Gelegenheiten für derartige Fotos geben als sonst.
Laut Einladungskarte sollte der Empfang pünktlich um 17:14
Uhr – da stand tatsächlich 17:14 – beginnen und spätestens um
18:45 Uhr enden. Unklar war, was man sich im Weißen Haus
von den zusätzlichen 60 Sekunden am Anfang erhoffte, aber
Lovell und die anderen vier Astronauten hatten nichts weiter
zu tun, als 91 Minuten lang zur Verfügung zu stehen und die
Gäste abzuklappern. Danach stand es ihnen frei, loszuziehen
und Washington zu genießen.
Wenn Lovell sich schon anderthalb Stunden lang irgendwo
herumreichen lassen mußte, dann gab es, ehrlich gesagt,
Schlimmeres als das Weiße Haus. Lyndon Johnson, der bei
derartigen Stehempfängen immer zu Bestform auflief, war
anwesend, und Lovell freute sich darauf, den Präsidenten
begrüßen zu können. Die beiden waren sich etwa einen Monat
vorher zum ersten Mal begegnet, als Lovell und sein Copilot
Buzz Aldrin zu einer Ansprache mit anschließender
Ordensverleihung auf Johnsons Ranch eingeladen worden
waren. Das war kurz nach der Landung ihrer Gemini-12-
Kapsel im Atlantik gewesen, dem letzten einer ungemein
erfolgreichen Reihe von zehn Flügen in diesem winzigen
Raumfahrzeug.
Insgeheim hatte Lovell das Gefühl gehabt, er habe den Orden
eigentlich gar nicht verdient. Nicht daß der Flug kein
Riesenerfolg gewesen wäre; nicht daß sie die bei dieser
Mission vorgesehenen Aufgaben nicht erfüllt hätten. Aber bei
den neun vorausgegangenen Flügen waren ebenfalls fast alle
Aufgaben erfüllt worden, und ohne die bei Gemini 3 bis 11
gesammelten Erfahrungen wäre Gemini 12 gar nicht möglich
gewesen. Johnson jedoch liebte große Gesten, und im Verlaufe
dieses letzten Gemini-Fluges – als Lovell seine
Zweimannkapsel so mühelos an eine unbemannte Agena-
Rakete ankoppelte, als rangiere er einen Pontiac in eine
Parklücke; als Buzz ausstieg und auf der Agena mitflog wie
ein Kuhreiher auf dem Rücken eines Rhinozeros – wurde der
Präsident immer zufriedener mit seinem Milliarden Dollar
teuren Raumfahrtprogramm. Kaum waren Lovell und Aldrin
im Meer niedergegangen, als Johnson auch schon Fotografen
und Redenschreiber bestellen ließ und die Helden zu einer
kleinen Feierstunde ins gastfreundliche Südtexas einlud.
Hinterher hatte Lovell eine Schwäche für den Präsidenten
und zählte sich zu Johnsons größten Bewunderern. Aber selbst
wenn heute kein hoher Regierungsvertreter dagewesen wäre,
hätte sich die Teilnahme an dem Empfang gelohnt. An diesem
Abend ging es darum, die Unterzeichnung einer
vieldiskutierten und nüchtern als ›Vertrag über die Prinzipien
der Tätigkeit der Staaten auf dem Gebiet der Erforschung und
Nutzung des Weltraums‹ bezeichneten Vereinbarung zu feiern.
Lovell wußte, daß es sich um keinen weltbewegenden Vertrag
handelte; es war kein zweites Versailles, kein Appomattox,
und es handelte sich auch nicht um eine Übereinkunft zum
Verzicht auf Kernwaffenversuche. Es handelte sich vielmehr
um einen typischen Vertrag, wie er geschlossen wird, weil, wie
die Diplomaten sagen, »etwas zu Papier gebracht werden
sollte«.
Dieses Etwas hatte mit dem Weltraum zu tun – genauer
gesagt mit den Grenzen, die den Weltraum definieren. Seit die
erste Proto-Nation erstmals ihr Revier auf dem Boden der
ersten besiedelten Savanne absteckte, hatten Staaten ihre
Grenzen ständig ausgedehnt. Es begann mit einem Kreis um
das Lagerfeuer, und schließlich kann eine Dreimeilenzone im
Meer vor der Küste hinzu. In den letzten zehn Jahren, seit dem
Beginn des Raumfahrtzeitalters, waren aus den drei Meilen
zweihundert Meilen geworden, und aus der Expansion nach
außen war eine Expansion nach oben geworden, und die
Völker der Welt hatten darüber debattiert, ob und wie künftig
die Grenzen dieser höchst exotischen neuen Gebiete abgesteckt
werden könnten.
Das Abkommen, das heute von über sechzig Nationen
unterzeichnet wurde, sollte dafür sorgen, daß es keinerlei
Grenzen gab. Unter anderem enthielt es Garantien dafür, daß
der Weltraum niemals militärisch genutzt werden würde, daß
kein Land einen Teil des Orbits zu seinem Eigentum erklären
dürfte, und daß es keinerlei territoriale Ansprüche auf dem
Mond, dem Mars oder irgendeinem anderen Planeten geben
sollte, zu denen die Menschheit eines Tages fliegen könnte.
Für Lovell und die anderen an diesem Abend anwesenden
Astronauten war jedoch Artikel 5 des Dokuments wichtiger –
eine Sicherheitsklausel betreffs der Rückkehr von
Raumfahrern. Dieser Bestandteil des Vertrages garantierte, daß
kein Astronaut oder Kosmonaut, der vom Kurs abkam und auf
feindlichem Gebiet niedergehen mußte, sei es zu Lande oder
zu Wasser, gefangengenommen und von den
Sicherheitskräften des betroffenen Landes abtransportiert
werden durfte. Vielmehr sollten sie als »Repräsentanten der
Menschheit« behandelt und »sicher und unverzüglich in das
Land zurückgeführt werden, in dem ihr Raumfahrzeug
registriert ist«.
Beim Zusammenstellen der Astronautendelegation heute
abend hatte die NASA eine sorgfältige Wahl getroffen. Neben
Lovell, der zweimal im Rahmen des Gemini-Programms
geflogen war, war Neil Armstrong anwesend, ein erfahrener
Testpilot der NASA, dessen einziger Gemini-Flug – zehn
Monate zuvor mit Gemini 8 – um ein Haar unglücklich
geendet hätte, als plötzlich seine Manövrierraketen versagt
hatten, worauf die Kapsel mit haarsträubenden 500
Umdrehungen pro Minute ins Rollen und Gieren geraten war,
so daß die Flugkontrolle sich gezwungen gesehen hatte, den
Einsatz abzubrechen und ihn im erstbesten Ozean – notfalls
auch in einem Ententeich – herunterzubringen. Außerdem war
Scott Carpenter zugegen, dessen Mercury-Flug vor fünf Jahren
beinahe ebenso schiefgegangen wäre, als er auf der letzten
Umlaufbahn zuviel Zeit mit astronomischen Experimenten
verschwendete, das Fluglage-Steuersystem nicht richtig
bediente und 400 Kilometer von den Bergungstrupps entfernt
im Atlantik niederging. Während die Navy in aller Eile
hindampfte, hockte der zweite Amerikaner, der die Erde
umkreist hatte, in seinem Rettungsfloß, verzehrte seine
Notration und suchte den Horizont nach einem Schiff ab, das,
wie er verzweifelt hoffte, das Sternenbanner gehißt hatte.
Sowohl Armstrong als auch Carpenter hätten bei ihren
Flügen die durch den jetzigen Vertrag gewährten Garantien gut
gebrauchen könnten, und das war zweifellos einer der Gründe,
weshalb die NASA sie heute abend hergeschickt hatte. Die
Anwesenheit der beiden anderen Mitglieder der Delegation,
Gordon Cooper und Dick Gordon, war schwerer zu erklären,
aber wahrscheinlich hatte die NASA einfach gelost und die
ersten beiden Namen genommen.
Lovell wurde gleich zu Beginn des Empfangs von Johnson
begrüßt – nur ein kurzes Hallo, nicht vergleichbar mit dem
Katzbuckeln des Präsidenten nur einen Monat zuvor – und
schlenderte dann zum Büffet, um sich ein Sandwich zu
organisieren und die herumstehenden Würdenträger zu
begutachten. Ihm stand allerhand Arbeit bevor. Kurt Waldheim
aus Österreich war anwesend; Patrick Dean, der britische
Botschafter, war gekommen; Anatoly Dobrynin von der
sowjetischen Botschaft hatte sich eingefunden; Dean Rusk,
Averell Harrimen und Arthur Goldberg vertraten die
Vereinigten Staaten. Die Anwesenheit so vieler geopolitischer
Größen hatte auch etliche Volksvertreter vom Capitol Hill
angelockt, darunter Everett Dirksen, den Oppositionsführer im
Senat, Senator Albert Gore senior aus Tennessee sowie die
Senatoren Eugene McCarthy und Walter Mondale aus
Minnesota. Andere Washingtoner Prominenz hatte sich
ebenfalls eine Einladung verschafft.
Lovell mischte sich unter die Menge, grüßte hier, plauderte
dort, bis er schließlich Hubert Humphrey entdeckte, der mit
Carpenter und Gordon ins Gespräch vertieft war. Als er sich
ihnen näherte, hörte er, wie der Vizepräsident in seinem
typisch näselnden Tonfall wie immer eindringlich auf die
beiden einredete.
»Das ist ein wegweisender Vertrag, einfach wegweisend«,
sagte Humphrey gerade, als Lovell zu ihnen stieß. »Jeder
profitiert davon, sogar die Länder, die kein eigenes
Raumfahrtprogramm haben, weil die Supermächte die
außerirdischen Gefilde nicht militärisch nutzen werden.«
»Die Astronauten haben das immer unbedingt befürwortet«,
sagte Carpenter, der damit die Grundeinstellung der NASA
wiedergab, eine Einstellung, an die er von ganzem Herzen
glaubte. »Zwischen den amerikanischen und den russischen
Besatzungen herrscht schon lange ein kameradschaftliches
Verhältnis. Wir waren immer der Meinung, daß die friedliche
Erforschung eine zu große Aufgabe für ein einzelnes Land ist.«
»Viel zu groß«, pflichtete Humphrey bei.
»Worüber sich die Astronauten die meisten Sorgen machen«,
sagte Lovell, nachdem er sich vorgestellt hatte, »ist die Frage
der Sicherheit. Wäre schön zu wissen, daß wir jedes Land
überfliegen können, sogar ein feindliches, und im Falle einer
Notlandung jederzeit herzlich empfangen werden.«
»Das ist eine der wichtigsten Zielsetzungen dieses
Vertrages«, antwortete der Vizepräsident. »Die Sicherheit der
Astronauten.«
Die Astronauten plauderten noch etwa ein, zwei Minuten mit
Humphrey Gerade lange genug, damit die Regierung merkte,
daß die von der NASA abgestellten Botschafter des guten
Willens ihre Aufgabe ernst nahmen, aber so kurz, daß auch
andere Gäste beim Vizepräsidenten zum Zuge kamen. Die drei
Männer wollten sich gerade trennen, um weitere Gäste zu
begrüßen, als Lovell plötzlich unruhig wurde. Bei der
Anspielung auf die Sicherheit der Astronauten war ihm wieder
etwas eingefallen, um das er sich Sorgen machte.
»Wann hat heute der Countdown am Cape angefangen?«
fragte Lovell beim Weggehen Gordon.
»Am frühen Nachmittag«, antwortete Gordon.
Lovell schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach sechs. »Dann
sollten sie bald fertig sein«, sagte er. »Gut.«
Der Test, um den es ging, war keine Kleinigkeit. Heute hatte
die NASA eine umfassende Generalprobe für den Countdown
zum ersten Einsatz eines Apollo-Raumfahrzeuges angesetzt,
der in drei Wochen beginnen sollte. Falls alles gelaufen war
wie geplant, müßte in diesem Augenblick die Einstiegluke der
Kommandokapsel geschlossen werden, so daß sich die
dreiköpfige Besatzung in einer geschlossenen Atmosphäre aus
reinem Sauerstoff bei einem Druck von 16 Pfund pro
Quadratzoll (psi) befand. Lovell selbst hatte unzählige solcher
Tests mitgemacht. Von Natur aus bestand bei einem
Countdown-Test keinerlei Gefahr, aber bei der
Raumfahrtbehörde bekam man auf Anfrage immer wieder zu
hören, sie könnten es kaum abwarten, bis dieser hier vorbei sei.
Es war natürlich nicht die Besatzung, die Anlaß zur Sorge
gab. Gus Grissom, der Kommandant, war sowohl im Mercury-
als auch im Gemini-Programm geflogen; Ed White, der Pilot,
war ebenfalls mit der Gemini-Kapsel geflogen. Selbst Roger
Chaffee, der Co-Pilot, der noch nicht im Weltraum gewesen
war, war durch die harte Schule der Flugerprobung gegangen.
Nein, es war vielmehr das Raumfahrzeug, das Anlaß zur Sorge
gab.
Die Apollo-Kapsel erwies sich selbst bei wohlwollendster
Einschätzung immer mehr als eine Art Ford Edsel des
Raumfahrtzeitalters. Genaugenommen hielt man sie in
Astronautenkreisen für schlimmer als einen Edsel. Ein Edsel
war eine Fehlkonstruktion, aber im Grunde genommen eine
harmlose Fehlkonstruktion. Die Apollo-Kapsel indes war
geradezu gefährlich. In der Frühphase der Entwicklung und
Erprobung des Raumfahrzeugs war die Düse des riesigen
Haupttriebwerks, das fehlerfrei funktionieren mußte, um das
Schiff in die Mondumlaufbahn und hinterher auf den Rückweg
zur Erde zu bringen, zersprungen wie eine Teetasse, als die
Ingenieure es zünden wollten. Bei einem Landetest im
Erprobungsbecken der Herstellerfirma war der Hitzeschild
gerissen, so daß die Kommandokapsel wie ein 35 Millionen
Dollar teurer Stein zu Boden gesunken war. Das
Kontrollsystem für die lebenserhaltenden Einrichtungen hatte
bereits 200 einzelne Mängel aufgezeichnet, und am gesamten
Raumschiff belief sich die Zahl auf etwa 20000. Bei einer
Erprobung in Downey hatte Gus Grissom die
Kommandokapsel angewidert stehenlassen, nachdem er eine
Zitrone daraufgelegt hatte.
Gestern nachmittag, so munkelte man, war schließlich der
absolute Höhepunkt erreicht worden. Den Großteil des Tages
über hatte Wally Schirra – ein erfahrener Astronaut des
Mercury- und Gemini-Programms und der Kommandant der
Ersatzcrew – mit seinen Kollegen Walt Cunningham und Donn
Eisele einen identischen Countdown-Test absolviert.
Als das Trio nach sechs langen Stunden verschmitzt und
müde aus dem Schiff geklettert war, hatte Schirra keinen Hehl
daraus gemacht, daß er überhaupt nicht zufrieden mit dem war,
was er erlebt hatte.
»Ich weiß nicht, Gus«, sagte Schirra, als er sich später mit
Grissom und Joe Shea, dem Direktor des Apollo-Programms,
im Mannschaftsquartier in Cape Kennedy traf, »diesem Schiff
fehlt nichts, auf das ich den Finger legen könnte, aber mir ist
dabei einfach unwohl zumute. Irgendwas daran klingt nicht
richtig.«
Die Feststellung, daß irgendeine Maschine »nicht klingt«, ist
mit das Beunruhigendste, was ein Testpilot einem anderen
melden kann. Der Begriff bezieht sich auf eine Glocke mit
einem feinen Riß, die äußerlich mehr oder weniger intakt
wirkt, aber statt eines tönenden Gongs nur ein hohles
Scheppern von sich gibt, wenn man den Klöppel anschlägt.
Dann sollte die Maschine lieber zu Bruch gehen, sobald man
sie zu fliegen versuchte – wenn beispielsweise die Düsen
abfielen oder die Triebwerke wegbrechen, dann wußte man
wenigstens, woran man arbeiten mußte. Aber ein Raumschiff,
das »nicht richtig klingt«, konnte einem tausenderlei
Schwierigkeiten bereiten. »Falls du irgendein Problem hast«,
erklärte Schirra seinem Kollegen, »würde ich an deiner Stelle
aussteigen.«
Grissom war durch diese Aussage mit Sicherheit beunruhigt,
aber er reagierte erstaunlich locker auf Schirras Warnung. »Ich
werd’s im Auge behalten«, sagte er.
Gus fieberte dem Einsatz entgegen; er brannte darauf, dieses
Raumfahrzeug zu fliegen. Sicher hatte das Schiff seine
Macken, aber schließlich waren Testpiloten dazu da, diese
Macken zu finden und sie zu beheben. Und selbst wenn es ein
Problem mit dem Schiff geben sollte, würde es nicht so leicht
sein, einfach auszusteigen, wie Schirra geraten hatte. Die aus
drei Schichten in Sandwichbauweise gefertigte Luke war
weniger für ein leichtes Aussteigen konstruiert, sondern diente
in erster Linie der Stabilität der Apollo-Kapsel. Die
Innenverkleidung war mit einem abgedeckten
Drehmechanismus, einem Drehrad und sechs Bolzen versehen,
die in die Kapselwand griffen. Die nächste Schicht war noch
komplizierter: Winkelhebel, Rollenlager, eine Arretierung
oben und zweiundzwanzig Bolzen. Vor dem Lift-off, dem
Abheben beim Start, wurde das gesamte Raumschiff zudem
mit einer Panzerung zum Schutz vor aerodynamischen
Spannungen umgeben. Diese Schicht sollte abplatzen, lange
bevor das Raumfahrzeug in die Erdumlaufbahn eintrat, aber
bis dahin stellte sie ein weiteres Hindernis zwischen der
Besatzung im Inneren der Kapsel und dem Rettungsteam
außen dar. Wenn die Zusammenarbeit zwischen Astronauten
und Rettungsteam bestens funktionierte, ließ sich die
dreischichtige Luke in etwa neunzig Sekunden entfernen.
Unter ungünstigen Umständen konnte es weitaus länger
dauern.
Lovell, der im Green Room des Weißen Hauses stand, sah
auf seine Uhr. In etwa einer halben Stunde müßte der Testlauf
vorbei sein. Er würde erst aufatmen, wenn er hörte, daß seine
Freunde die Kapsel verlassen hatten.
Der Countdown in Cape Kennedy, rund 1500 Kilometer
weiter südlich an der Atlantikküste von Florida gelegen, verlief
nicht gut. Von dem Zeitpunkt an, als die Besatzung
angeschnallt wurde, bis etwa ein Uhr nachmittags hatte die
Apollo-Kapsel die schlimmsten Erwartungen ihrer Kritiker
erfüllt. Schon als Grissom den Schlauch seines Anzugs mit der
Sauerstoffversorgung der Kapsel verband, meldete er einen
»säuerlichen Geruch«. Der Gestank verschwand bald, und das
Kontrollteam für die lebenserhaltenden Systeme der Kapsel
versprach, sich darum zu kümmern. Kurz darauf stellten die
Astronauten zu ihrem Unmut fest, daß es auch
Verständigungsprobleme gab.
»Wie stellt ihr euch denn vor, daß wir vom Mond aus mit
euch reden sollen«, blaffte der Kommandant über das
Rauschen hinweg, »wenn wir uns nicht einmal zwischen
Startrampe und Blockhaus verständigen können?« Die
Techniker versprachen, sich auch darum zu kümmern.
Um 18:20 Uhr Florida-Ortszeit, bei T minus 10 Minuten,
wurde der Countdown vorübergehend unterbrochen, und die
Techniker befaßten sich mit den
Verständigungsschwierigkeiten und einigen anderen Mängeln.
Wie üblich wurde dieser Probestart sowohl in Cape Kennedy
als auch im Manned Spacecraft Center in Houston, Texas,
überwacht. Laut Protokoll lag die Gesamtleitung während des
Countdowns und des Lift-offs bis zu dem Augenblick, da sich
die Antriebsdüsen der Trägerrakete vom Startturm lösten, beim
Team in Florida. Danach übernahm Houston.
Bei dem Testlauf in Florida waren Chuck Gay, der für die
Erprobung der Raumfahrzeuge zuständige Chief Spacecraft
Test Conductor, und Deke Slayton zugegen, einer der ersten
sieben Astronauten des Mercury-Programms. Slayton war,
bevor er ins All fliegen konnte, wegen Herzrhythmusstörungen
für fluguntauglich erklärt worden, hatte aber das Beste aus der
Situation gemacht und war zum Direktor für den Einsatz der
Flugmannschaften ernannt worden – im Grunde genommen
also zum Chefastronauten –, während er still, aber beharrlich
darauf hinarbeitete, wieder fliegen zu dürfen. Slayton war ein
derart leidenschaftlicher Astronaut, daß er ein paar Stunden
zuvor, als der Funkverkehr mit der Kapsel
zusammengebrochen war, angeboten hatte, mit in das
Raumfahrzeug zu steigen, sich einen Platz zwischen den
weniger wichtigen Geräten zu Füßen der Astronauten zu
suchen und zuzusehen, ob er das Rauschen nicht selbst
beheben könnte. Die Verantwortlichen für den Test hatten die
Idee verworfen, und so saß Slayton nun an der Konsole neben
Stu Roosa, dem für die Verbindung mit der Kapsel zuständigen
Capsule Communicator oder CAPCOM. Die Oberaufsicht in
Houston hatte an diesem Tag Chris Kraft, der stellvertretende
Direktor des Manned Spacecraft Center, der bei sämtlichen
sechs Mercury- und allen zehn Gemini-Flügen als Flugdirektor
mitgewirkt hatte.
Kraft, Slayton, Roosa und Gay wollten die Übung rasch
hinter sich bringen. Über einen halben Tag lang lag die Crew
unter ihrem eigenen Körpergewicht und den unförmigen
Druckanzügen flach auf dem Rücken, und dies auf Sitzen, die
für die Schwerelosigkeit im All entwickelt worden waren,
nicht aber für irdische Schwerkraftverhältnisse. In ein paar
Minuten würden sie den Countdown weiterlaufen lassen, den
simulierten Start beenden können und danach die Männer
herausholen.
Doch es sollte anders kommen. Wenige Augenblicke, bevor
die Uhr wieder eingeschaltet werden sollte, um 18:31 Uhr, gab
es den ersten Hinweis darauf, daß etwas nicht stimmte, als die
Techniker, die den Videomonitor für die Kommandokapsel
überwachten, eine jähe Bewegung durch das Lukenfenster
wahrnahmen, eine Art Schatten, der rasch über den Bildschirm
zog. Die Controller, an die beherrschten Bewegungen der
gutausgebildeten Besatzung bei einem wohlbekannten
Countdown gewöhnt, starrten auf den Schirm. Einen
Augenblick später meldete sich knisternd eine Stimme von der
Spitze der Rakete.
»Feuer im Cockpit!« Es war Roger Chaffee, der Neuling in
der Crew.
James Gleaves, ein Techniker, der vom Startturm aus per
Kopfhörer den Funkverkehr überwachte, drehte sich
unverzüglich um und rannte auf den White Room zu, der von
der obersten Ebene des Turms zu der Raumkapsel führte. Gary
Propst, ein Kommunikationskontrolltechniker im Blockhaus,
blickte sofort auf seinen obersten linken Monitor, der mit einer
Kamera im White Room verbunden war, und meinte – meinte
–, durch das Guckloch in der Einstiegsluke einen hellen Schein
zu sehen. Deke Slayton und Stu Roosa, die an der CAPCOM-
Konsole saßen und Flugpläne besprachen, blickten auf ihren
Monitor und glaubten, züngelnde Flammen um die
Einstiegluke zu sehen.
Der stellvertretende Testleiter William Schick, der an einer
Konsole nebenan saß und über jedes wichtige Vorkommnis im
Verlauf des Countdowns Protokoll führen mußte, schaute
augenblicklich auf seine Uhr und notierte dann pflichtgemäß:
»18:31 Feuer im Cockpit.«
Genau dieselben Worte erschallten über Funk aus der
Raumkapsel. »Feuer im Cockpit!« schrie Ed White in sein
gestörtes Funkgerät. Der Flugarzt blickte auf seine Konsole
und sah, daß Whites Puls dramatisch gestiegen war. Die
Anzeigen der Bewegungsmelder für das Innere der Kapsel
vollführten einen Veitstanz.
Gleaves hörte auf der Rampe ein plötzliches Wunsch, das aus
der Kommandokapsel drang, so als habe Grissom die O2-
Abblasvorrichtung geöffnet, um die Atmosphäre aus dem
Schiff zu pressen – genau das würde man tun, um einen Brand
zu ersticken. Systemtechniker Bruce Davis, der in der Nähe
stand, sah Flammen seitlich aus dem Schiff schießen,
unmittelbar neben dem Versorgungskabel, das das
Raumfahrzeug mit dem Boden verband; im nächsten Moment
züngelten Flammen um diese Nabelschnur. Propst konnte an
seinem Monitor im Blockhaus Flammen hinter dem Guckloch
erkennen; durch sie hindurch sah er zwei Arme – der Lage
nach mußten es Whites sein –, die nach irgend etwas zu greifen
versuchten.
»Wir sind in Brand geraten! Holt uns hier raus!« schrie
Chaffee, dessen Stimme über den einen ungestörten Funkkanal
der Kapsel deutlich zu hören war. Auf der linken Seite von
Propsts Schirm tauchte ein zweites Paar Arme in der Luke auf
– es mußten Grissoms sein. Donald Babbitt, der Rampenchef,
dessen Arbeitsplatz auf der obersten Ebene – Level 8 – des
Startturms keine fünf Meter von der Kapsel entfernt war,
schrie Gleaves zu: »Holt sie da raus!« Als Gleaves auf die
Luke zustürmte, drehte sich Babbitt um und griff zu seiner
Funkverbindung mit dem Blockhaus. In diesem Augenblick
schoß eine mächtige Qualmwolke seitlich aus der Kapsel, und
Flammenzungen schlugen aus einer darunterliegenden
Kühlleitung.
Mit beherrschtem Tonfall rief Gay, der Testleiter, den
Astronauten zu: »Besatzung aussteigen.« Er erhielt keine
Antwort. »Besatzung, könnt ihr jetzt aussteigen?«
»Sprengt die Luke!« schrie Propst. »Warum sprengen sie die
Luke nicht auf?«
Durch den Qualm auf der Rampe schrie jemand: »Sie fliegt
in die Luft!«
»Räumt die Ebene«, befahl jemand anders.
Davis drehte sich um und rannte zur Tür des Startturms.
Creed Journey, ein weiterer Techniker, warf sich zu Boden.
Gleaves zog sich vorsichtig von der Kapsel zurück. Babbitt,
der das Blockhaus alarmieren wollte, blieb an seinem
Arbeitsplatz. Auf der Konsole zur Überwachung der
lebenserhaltenden Systeme wurde ein Kabinendruck von 29
psi verzeichnet, doppelt so hoch wie auf Meereshöhe. Die
Temperatur war nicht mehr meßbar. In diesem Moment gab
die Raumkapsel Apollo 1 unter dem Inferno in ihrem Inneren
nach. Sie platzte mit einem donnernden Krachen, und ein
fürchterlicher Hitzeschwall wurde freigesetzt. Vierzehn
Sekunden waren seit Chaffees erstem Notruf vergangen.
Donald Babbitt, der knapp fünf Meter von der Apollo-Kapsel
entfernt war, bekam die volle Wucht der Explosion zu spüren.
Die Druckwelle warf ihn zurück, und der Hitzeschwall fühlte
sich an, als habe jemand eine Hochofentür aufgerissen.
Klebrige, geschmolzene Klümpchen schossen aus dem Schiff,
flogen auf seinen weißen Laborkittel und brannten sich durch
das darunterliegende Hemd. Die Papiere auf seinem
Schreibtisch ringelten sich ein und verkohlten. Gleaves, der
sich in der Nähe befand, wurde rückwärts an die
Notausgangstür geschleudert – eine Tür, die, wie er erst jetzt
entdeckte, nur nach innen aufging. Davis, der sich von der
Kapsel abwandte, spürte einen sengenden Hitzeschwall am
Rücken.
An der CAPCOM-Station im Blockhaus versuchte Stu Roosa
fieberhaft, über Funk die Besatzung zu rufen, während Deke
Slayton die Blockhaussanitäter zusammentrommelte. »Geht
raus zur Startrampe«, befahl er ihnen. »Die werden euch
brauchen.« In Houston mußte Chris Kraft hilflos das Chaos auf
der Rampe mit ansehen.
»Warum können die sie nicht da rausholen?« rief er seinen
Controllern und Technikern zu. »Warum kommt niemand an
sie heran?«
Schick schrieb in sein Logbuch: »18:32: Rampenleiter befahl,
der Crew beim Ausstieg zu helfen.«
Auf Rampenlevel 8 sprang Babbitt von seinem Schreibtisch
auf, rannte zum Aufzug und schnappte sich einen
Kommunikationstechniker. »Sagen Sie dem Testleiter, daß wir
einen Brand haben!« schrie er. »Ich brauche
Feuerwehrmänner, Rettungswagen und Gerät.« Dann rannte
Babbitt wieder nach innen und schnappte sich Gleaves und die
Systemtechniker Jerry Hawkins und Stephen Clemmons.
Es gab nur eine Möglichkeit, an die Männer heranzukommen.
»Wir montieren die Luke ab«, schrie der Rampenleiter seinen
Mitarbeitern zu. »Wir müssen sie da rausholen.«
Die vier Männer besorgten sich Feuerlöscher und drangen in
die schwarze Wolke vor, die aus der Raumkapsel quoll. Ohne
etwas erkennen zu können, betätigten sie die Feuerlöscher und
drängten die Flammen etwas zurück, doch der tintenschwarze
Qualm und die dichte Wolke aus giftigen Dämpfen erwies sich
als mörderisch, und die Männer zogen sich rasch zurück. In
einer Ausrüstungsstation weiter hinten fand Systemtechniker
L. D. Reece etliche Gasmasken und reichte sie der hustenden
Rampencrew. Gleaves versuchte, den Streifen Klebeband
abzureißen, mit dem die Maske einsatzbereit gemacht wurde,
und stellte fest, daß das Klebeband dieselbe Farbe wie die
Maske hatte, so daß es bei dem Qualm fast nicht zu sehen war.
(Denke daran, das für das nächste Mal zu melden. Ja, du mußt
daran denken, das zu melden.) Babbitt schaffte es schließlich
dennoch, die Maske einsatzbereit aufzusetzen, mußte aber
feststellen, daß sie ein Vakuum um sein Gesicht bildete, so daß
das Gummi zu eng anlag und er nicht atmen konnte. Er riß die
Maske herunter und probierte eine andere, die jedoch kaum
besser funktionierte.
Die Rampencrew drang wieder in den Qualm vor und
kämpfte so lange mit den Verschlußbolzen an der Luke, wie es
die Hitze, die Dämpfe und ihre defekten Gasmasken zuließen.
Dann torkelten sie keuchend und hustend hinaus an die
geringfügig reinere Luft, bis sie wieder soweit bei Atem
waren, daß sie einen weiteren Versuch unternehmen konnten.
Auf Level 6 hörte Techniker William Schneider die Schreie
von oben und rannte zur Treppe. Auf dem Weg nach oben sah
er, daß das Feuer mittlerweile bis zu den Leveln 6 und 7
herabzüngelte und auf den Versorgungsteil des Raumfahrzeugs
übergriff. Er ergriff einen Feuerlöscher und unternahm den
sinnlosen Versuch, Kohlendioxid in die Klappen zu sprühen,
die zu den Düsen des Moduls führten. Unten auf Level 4 hörte
Techniker William Medcalf die Alarmrufe, sprang in einen
Aufzug und fuhr hinauf zu Level 8. Als er die Tür des White
Rooms aufriß, sah er vor sich eine Wand aus Hitze und Feuer
und einen Trupp hustender Männer. Er rannte über die Treppe
hinab auf eine tiefere Ebene und kehrte mit einer Handvoll
Gasmasken zurück. Als er eintraf, empfing ihn der aufgeregte,
rußverschmierte Babbitt und schrie: »Sofort zwei
Feuerwehrmänner! Die Besatzung ist da drin, und ich will sie
da raushaben!«
Medcalf setzte sich über Funk mit der Feuerwache auf Cape
Kennedy in Verbindung und teilte mit, an Startkomplex 34
würden Löschwagen benötigt; er erfuhr, daß bereits drei Züge
ausgerückt waren. Als Medcalf wieder in den White Room
kam, wäre er beinahe über die Männer der Rampencrew
gestolpert, die inzwischen ihre defekten, undichten Masken
abgenommen hatten und auf allen vieren durch den dichten
Qualm zur Raumkapsel krochen, wo sie an den
Verschlußbolzen der Luke arbeiteten, bis sie nicht mehr
konnten. Gleaves war halb bewußtlos, und Babbitt befahl ihm,
sich von der Kommandokapsel zu entfernen. Hawkins und
Clemmons ging es kaum besser. Babbitt warf einen Blick
zurück in den Raum, entdeckte zwei andere, noch frischere
Techniker und schickte sie in den Qualm.
Es dauerte noch etliche Minuten, bis die Luke zumindest
teilweise geöffnet war, und auch dann klaffte nur ein etwa
fünfzehn Zentimeter breiter Spalt an der Oberseite. Breit genug
jedoch, um einen letzten Schwall Hitze und Qualm aus dem
Inneren der Raumkapsel entweichen zu lassen und
festzustellen, daß das Feuer erloschen war. Babbitt drückte und
schraubte weiter, bis es ihm gelang, die Luke loszustemmen
und sie ins Cockpit zu stoßen. Dann zog er sich erschöpft von
der Kapsel zurück.
Systemtechniker Reece war der erste, der ins Innere der
ausgebrannten Apollo-Kapsel spähte. Nervös steckte er den
Kopf durch die Luke und sah ein paar blinkende Warnlichter
am Armaturenbrett und einen schwachen Strahler am Platz des
Kommandanten. Ansonsten sah er gar nichts – auch nicht die
Besatzung. Aber er hörte etwas. Reece wußte genau, daß er
etwas hörte. Er beugte sich hinein und tastete auf der mittleren
Couch herum, wo Ed White hätte sein müssen, aber er spürte
nur verbranntes Material. Er nahm die Gasmaske ab und schrie
in die Kapsel: »Ist da jemand?« Keine Antwort. »Ist jemand da
drin?«
Clemmons, Hawkins und Medcalf erschienen mit
Taschenlampen und schoben Reece beiseite. Die drei Männer
leuchteten in das Cockpit, aber mit ihren vom Qualm gereizten
Augen konnten sie lediglich eine Ascheschicht auf den
Astronautencouchen erkennen. Medcalf zog sich von der
Kapsel zurück und stieß mit Babbitt zusammen. Er würgte.
»Da drin ist nichts übriggeblieben«, berichtete er dem
Rampenleiter.
Babbitt stürmte zu dem Raumfahrzeug. Weitere Menschen
versammelten sich um die Kapsel, und weitere Lampen
wurden ins Innere gerichtet. Babbitt, dessen Augen sich
langsam erholten, war der festen Überzeugung, etwas zu
sehen. Direkt vor ihm war Ed White – er lag auf dem Rücken,
hatte die Arme über dem Kopf ausgestreckt und langte dorthin,
wo einst die Luke gewesen war. Links war Grissom zu
erkennen, der sich leicht zu White umgedreht hatte und
zwischen den Armen seines Kollegen hindurch ebenfalls nach
der Luke griff. Roger Chaffee war in der Dunkelheit
nirgendwo zu sehen, aber Babbitt vermutete, daß er
wahrscheinlich noch auf seiner Couch angeschnallt war. Die
Regel für den Ernstfall sah vor, daß bei einem Notausstieg der
Kommandant und der Pilot die Luke bedienten, während das
dritte Besatzungsmitglied an seinem Platz blieb. Zweifellos
war Chaffee dort und wartete geduldig – und jetzt auf ewig –,
bis seine Kollegen ihr Werk vollbracht hatten.
James Burch von der Feuerwache auf Cape Kennedy bahnte
sich einen Weg durch die Menschenmenge zum
Raumfahrzeug. Burch hatte derlei schon gesehen, die anderen
Männer hier aber nicht. Respektvoll machten die Techniker,
deren Aufgabe es war, die beste Technologie zu warten, die
menschliches Wissen erdenken konnte, dem Mann Platz, der
immer dann zuständig war, wenn es durch ein Versagen eben
dieser Technologie zu einem verheerenden Unglück kam.
Burch kroch durch die offene Luke ins Cockpit und blieb,
ohne es zu wissen, über White stehen. Er ließ den Strahl seiner
Lampe über das verkohlte Armaturenbrett und die
herunterbaumelnden, verkohlten Drähte schweifen.
Unmittelbar unter sich bemerkte er einen Stiefel. Da er nicht
wußte, ob die Besatzung noch lebte, und nicht die Zeit für eine
vorsichtige Erkundung hatte, ergriff er den Stiefel und zog
heftig daran. Die noch immer heiße Masse aus geschmolzenem
Gummi und Stoff löste sich in seiner Hand, und Whites Fuß
kam zum Vorschein. Burch tastete mit der Hand höher und
spürte Knöchel, Wade und Knie. Die Uniform war teilweise
verbrannt, doch die darunterliegende Haut war nicht in
Mitleidenschaft gezogen worden. Burch zog an der Haut, um
festzustellen, ob sie sich vom Fleisch lösen ließ – eine häufige
Folge bei Brandverletzungen, wie er wußte. Diese Haut war
jedoch intakt und allem Anschein nach auch der Körper. Das
Feuer war zwar außerordentlich heiß gewesen, hatte aber nur
kurz gebrannt. Es waren die giftigen Dämpfe gewesen, die das
Leben dieses Mannes gefordert hatten, nicht die Flammen.
Der Feuerwehrmann zog sich bis zur Luke zurück, ließ den
Blick ein weiteres Mal durch das grausig ausgebrannte Cockpit
schweifen und entdeckte zwei weitere Leichen. Sie lagen links
und rechts von der mittleren und waren im gleichen Zustand
wie Whites. Burch stieg aus der Raumkapsel.
»Sie sind alle tot«, sagte Burch leise. »Das Feuer ist
erloschen.« Im Laufe der nächsten Stunden trafen Fotografen
und Techniker ein, die für die peinlich genaue Untersuchung
des Unglücks, die mit Sicherheit folgen würde, vor Ort alles
aufzeichneten, darunter auch die Stellung eines jeden Schalters
und Hebels im Cockpit. Es sollte bis weit nach zwei Uhr
morgens dauern, mehr als dreizehn Stunden nach Beginn des
verhängnisvollen Probe-Countdowns, bis die Besatzung von
Apollo 1 aus ihrer Raumkapsel geborgen wurde.
Die anläßlich der Unterzeichnung des Weltraumabkommens
angesetzte Feier im Weißen Haus endete, wie vorgesehen,
genau um 18:45 Uhr. Sie klang, wie alle Veranstaltungen im
Weißen Haus, beinahe unmerklich aus. Der Präsident empfahl
sich ohne große Ankündigung. Auch das Essen und die
Getränke auf den Tischen verschwanden auf ähnliche Weise.
Danach strömten die Menschen langsam, einmütig und ohne
eigens dazu aufgefordert werden zu müssen, dem Ausgang zu,
so als würden sie von einem unsichtbaren Luftstrom dorthin
gezogen. Kurz vor 19 Uhr standen die fünf Astronauten, die an
diesem Abend hierherbestellt worden waren, auf der
Pennsylvania Avenue und rangelten mit den Touristen um die
wenigen Taxis, die zu dieser Tageszeit die Prachtstraße
befuhren.
Scott Carpenter nahm das erste Taxi in Beschlag und fuhr
zum Flughafen, um einer Verpflichtung in einer anderen Stadt
nachzukommen. Lovell, Armstrong, Cooper und Gordon, die
alle mit einer Maschine der NASA hergekommen waren und
erst morgen wieder in Houston zurückerwartet wurden, hatten
bereits Zimmer im Georgetown Inn an der Wisconsin Avenue
reserviert.
Seit 1962, als Wally Schirra in die Stadt gekommen war, um
sich nach seinem gelungenen neunstündigen Weltraumflug
einen Orden und einen Handschlag bei Präsident Kennedy
abzuholen, diente das Inn vielen Würdenträgern der NASA bei
ihren Besuchen in der Hauptstadt als inoffizielle Herberge. Das
Haus war so weit abgelegen, daß es genau die notwendige
Privatsphäre bot, nach der sich die Weltraumpioniere sehnten,
war zugleich aber auch so neu und vornehm, daß sie den
Aufenthalt genießen konnten.
Noch bevor Lovell, Armstrong, Cooper und Gordon an
diesem Abend zurückkehrten, wußte Collins Bird, der Besitzer
des Hotels, daß es Ärger gegeben hatte. Bob Gilruth, der
Direktor des Manned Spacecraft Center und an diesem Abend
ebenfalls zu Gast im Weißen Haus, war abgespannt und mit
versteinerter Miene an die Rezeption gekommen. Er hatte
bereits mit Houston telefoniert und erfahren, was an
Startrampe 23 vorgefallen war.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Mr. Gilruth?« fragte Bird.
»Wir haben Ärger, Collins«, antwortete Gilruth tonlos.
»Richtigen Ärger.«
»Können wir irgend etwas dagegen tun?«
Gilruth ging weiter, ohne etwas zu sagen.
Als die Astronauten eintrafen und sich auf ihre Zimmer
begaben, verkündeten die blinkenden roten Lämpchen an ihren
Telefonen, daß eine Nachricht für sie vorlag. Lovell rief bei
der Rezeption an und erfuhr lediglich, daß er sich sofort mit
dem Manned Spacecraft Center in Verbindung setzen sollte. Er
rief unter der Nummer an, die man ihm genannt hatte. Eine
unbekannte Stimme meldete sich, vermutlich irgendein
Angestellter bei der Verwaltung oder der Presseabteilung des
Apollo-Programms. Im Hintergrund konnte Lovell klingelnde
Telefone und lautes Stimmengewirr hören.
»Die Einzelheiten sind noch unklar«, berichtete ihm der
Mann am Telefon, »aber heute abend gab es ein Feuer auf
Rampe 34. Ein schlimmes Feuer. Wahrscheinlich hat die
Besatzung nicht überlebt.«
»Was meinen Sie mit ›wahrscheinlich‹?« fragte Lovell.
»Haben sie überlebt, oder haben sie nicht überlebt?«
Der Mann schwieg kurz. »Wahrscheinlich hat die Besatzung
nicht überlebt.«
Lovell schloß die Augen. »Weiß schon jemand Bescheid?«
»Diejenigen, die Bescheid wissen müssen. Dürfte nicht lange
dauern, bis die Medien davon erfahren. Wenn es soweit ist,
werden sie jeden bestürmen, der mit der Raumfahrtbehörde zu
schaffen hat. Man rät Ihnen dringend, sich bis auf weiteres
bedeckt zu halten.«
»Was verstehen Sie unter ›bedeckt halten‹?«
»Verlassen Sie heute abend nicht das Hotel.
Genaugenommen sollten Sie auch Ihr Zimmer nicht verlassen.
Rufen Sie bei der Rezeption an, wenn Sie etwas wollen. Rufen
Sie den Zimmerservice an, wenn Sie etwas essen wollen. Wir
möchten nicht, daß irgendwelche nicht abgestimmten
Verlautbarungen abgegeben werden.«
Benommen legte Lovell auf. Er kannte Grissom, White und
Chaffee seit Jahren und war mit allen befreundet, vor allem
aber White kannte er sehr gut. Fünfzehn Jahre zuvor hatte
Lovell, der als junger Fähnrich zur See die Marineakademie in
Annapolis besuchte, an einem Wettkampf zwischen Navy und
Army in Philadelphia teilgenommen und bei einer
gutbesuchten Hotelparty einen sympathischen Kadetten aus
West Point kennengelernt, dessen Namen er nicht ganz
verstanden hatte. Wie es die Tradition gebot, tauschten die
Teilnehmer improvisierte Geschenke aus, die an den
Wettkampf und die anschließende Feierstunde erinnern sollten.
Da er nichts anderes zur Hand hatte, nahm Lovell einen seiner
Navy-Manschettenknöpfe ab und gab ihn dem West Pointer;
der West Pointer revanchierte sich mit einem Army-
Manschettenknopf, und die beiden jungen Männer gingen
wieder ihrer Wege.
Als Lovell über ein Jahrzehnt später ins Astronautenkorps
aufgenommen wurde, erzählte er seinem Kollegen Ed White
die Geschichte. White schaute ihn mit offenem Mund an. Er
war der West Pointer gewesen, und genau wie Lovell hatte
auch er die Geschichte im Laufe der Jahre unzählige Male
erzählt, und ebenso wie Lovell hatte auch er den
Manschettenknopf noch. Rasch freundeten sich die beiden
Astronauten an. Mit Grissom war Lovell nicht so eng
verbunden gewesen, aber der erfahrene Mercury-Pilot wurde
im ganzen Astronautenkorps geschätzt. Wie alle, die Grissom
kannten, hatte auch Lovell große Hochachtung vor den
Leistungen des Mannes und bewunderte sein fliegerisches
Können. Chaffee war eine unbekannte Größe. Als Angehöriger
der dritten Astronautengeneration hatte der junge Pilot wenig
Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit den Männern gehabt, die
im Zuge des Gemini-Programmes geflogen waren. Die NASA
indessen hatte Chaffee für den ersten Apollo-Flug ausersehen,
und das besagte eine Menge. Was noch wichtiger war:
Grissom hatte sein jüngstes Besatzungsmitglied einmal als
»richtig tollen Burschen« bezeichnet. Und das wollte noch
mehr heißen.
Geistesabwesend trat Lovell auf den Gang, als auch die
anderen Astronauten gerade aus ihren Zimmern kamen.
Gordon und Armstrong hatten ebenfalls mit Houston
gesprochen. Cooper, der Ranghöchste der Gruppe und einer
der sieben ersten Mercury-Piloten, hatte einen Anruf des
Abgeordneten Jerry Ford erhalten, dem einflußreichen
republikanischen Mitglied des Raumfahrtausschusses im
Kongreß.
»Schon gehört?« fragte Lovell.
Die anderen drei nickten.
»Was, zum Teufel, ist da vorgefallen?«
»Was vorgefallen ist?« sagte Gordon. »Diese Raumkapsel ist
vorgefallen, das reicht. Die hätten die Kiste längst verschrotten
sollen.«
»Wissen die Frauen schon Bescheid?« fragte Lovell.
»Bislang hat keiner etwas gesagt«, antwortete Cooper.
»Wer könnte ihnen Bescheid sagen?« fragte Armstrong.
»Mike Collins ist da«, sagte Lovell. »Pete Conrad und Al
Bean sollten ebenfalls da sein. Deke ist am Cape, aber seine
Frau ist daheim, ganz in der Nähe von Gus’ Haus.« Er stockte.
»Kommt es wirklich darauf an, wer es ihnen sagt?«
Collins Bird, der noch immer unten im Foyer war, hatte zu
guter Letzt doch aus Houston von dem Unglück erfahren. Der
Hausherr der inoffiziellen NASA-Herberge wußte, was die
Astronauten im vierten Stock in dieser Nacht brauchten, und er
wies sein Personal an, Zimmer 503 aufzuschließen, eine Suite
mit einem Wohnzimmer, wo die Astronauten ungestört
beisammensitzen und miteinander reden konnten. Lovell und
die anderen verzogen sich in das Zimmer, riefen in der Küche
an und bestellten sich etwas zu essen und, was noch wichtiger
war, eine Ration Scotch. Morgen mußten sie zur Untersuchung
der Todesursache ihrer Kollegen und anderen dringenden
Besprechungen nach Houston fliegen. Der heutige Abend
jedoch gehörte ihnen, und sie würden genau das tun, was alle
Piloten tun, wenn ein Mitglied ihrer kleinen, verschworenen
Gemeinschaft stirbt. Sie würden darüber reden, wie und warum
es passiert war, und sie würden sich dabei betrinken.
Die Unterhaltung zog sich bis in die frühen Morgenstunden
hin. Die Astronauten sorgten sich um die Zukunft des
Raumfahrtprogramms, diskutierten darüber, ob es noch
möglich sein werde, bis zum Ende des Jahrzehnts zum Mond
zu fliegen, grollten der NASA, die wegen dieser
Terminplanung soviel Druck ausgeübt hatte, und redeten sich
schließlich in Rage, weil die NASA so eine Schrottkiste von
Raumschiff gebaut und sich geweigert hatte, auf die
Beschwerden der Astronauten zu hören.
Als der Alkohol zur Neige ging und die Sonne hervorkam,
wandte sich das Gespräch, wie nicht anders zu erwarten, dem
Tod zu. Stillschweigend waren sich die Astronauten einig, daß
Grissom, White und Chaffee zwar den Heldentod gestorben
seien, aber niemand auf diese Weise, durch ein Feuer in einer
verankerten, antriebslosen Kapsel, enden wollte. Wenn man
schon abtreten mußte, dann lieber in einer außer Kontrolle
geratenen Rakete auf dem Weg in die Stratosphäre oder in
einer der Erde entgegenstürzenden Raumkapsel; lieber wollten
sie’ auf dem Mond stranden oder mit ausgefallenen
Bremsraketen für immer in der Erdumlaufbahn kreisen.
Vielleicht war es respektlos, so etwas zuzugeben, in dieser
Nacht zumal, aber den Astronauten war nur zu bewußt, daß ein
gewaltsamer Tod zwar niemals erstrebenswert war, zuallerletzt
aber ein Tod auf der Erde.
Gus Grissom, Ed White und Roger Chaffee wurden vier Tage
später, am 31. Januar beerdigt. Grissom und Chaffee wurden
mit allen militärischen Ehren auf dem Arlington National
Cemetery bestattet. White wurde auf eigenen Wunsch in West
Point begraben, dort, wo einst auch sein Vater zur letzten Ruhe
gebettet werden sollte. Neben zahlreichen Würdenträgern,
darunter auch Lyndon Johnson, nahmen die verbliebenen
Angehörigen von Grissoms erster und Chaffees dritter
Astronautengeneration an der Feierstunde in Arlington teil. Jim
Lovell und die anderen Astronauten der zweiten Generation
sowie Lady Bird Johnson und Hubert Humphrey begaben sich
nach West Point.
Die Trauerfeier für White war eindeutig die bescheidenere
von beiden. Etwa neunhundert Besucher nahmen an dem
Gottesdienst in der Old Cadet Chapel teil. Anschließend trugen
Lovell, Borman, Armstrong, Conrad, Aldrin und Tom Stafford
den Sarg hinauf zu einem Kliff über dem zugefrorenen Hudson
River, wo ein paar weitere Worte gesprochen wurden, bevor
man Whites sterbliche Hülle in den betonharten Boden bettete.
In Arlington ging es nicht annähernd so bescheiden zu. Im
Beisein des Präsidenten und mit Phantom-Düsenjägern, die im
Formationsflug über das Grab hinwegzogen, mit Trompetern,
Schützenabteilungen und Ehrengarden wurden Grissom und
Chaffee wie verstorbene Staatsoberhäupter zur letzten Ruhe
geleitet. Schirra, Slayton, Cooper, Carpenter, Alan Shepard
und John Glenn trugen den Sarg ihres alten Mercury-Kollegen
Grissom. Chaffee wurde von Männern der Navy und
Astronauten aus seiner Generation zu Grabe getragen.
Präsident Johnson drückte den trauernden Hinterbliebenen sein
Mitgefühl aus. Als einer der Verantwortlichen für das atemlose
(rücksichtslose?) Tempo, mit dem das Raumfahrtprogramm in
den letzten Jahren vorangetrieben worden war, mußte er
jedoch feststellen, daß seine Beileidsbezeugungen eher kühl
aufgenommen wurden. Chaffees Vater schenkte dem
Präsidenten kaum Beachtung, als sie sich am Grabe
begegneten.
Grissoms Eltern würdigten den Texaner keines Blickes.
2

21. Dezember 1968

Am Sonnabend vor Weihnachten wurden Frank Borman, Jim


Lovell und Bill Anders kurz nach drei Uhr morgens im
Besatzungsquartier des Kennedy Space Center geweckt. Es
war noch mehrere Stunden bis Sonnenaufgang, aber das unter
der Tür hindurchdringende Neonlicht erhellte den Raum
soweit, daß den Astronauten sofort klar wurde, wo sie sich
befanden.
Für eine Kaserne waren die Quartiere gar nicht schlecht. Bei
der Unterbringung der Männer, die sie ins Weltall zu schießen
gedachte, sparte die NASA kaum an Kosten. Die Schlafräume
waren mit neuen Teppichböden und erstaunlich eleganten
Möbeln ausgestattet, und an den Wänden hingen Kunstdrucke
in teuren Rahmen. Darüber hinaus verfügte der Komplex über
ein Konferenzzimmer, eine Sauna und eine voll ausgestattete
Küche mit eigenem Koch. Dieser Luxus war weniger ein
Zeichen von Verschwendung auf Seiten der
Raumfahrtbehörde, als vielmehr eine wohlbedachte
Vorsichtsmaßnahme. Die Leute im Planungsstab wußten sehr
wohl, daß man eine Crew in den letzten Tagen vor einem Start
isolieren mußte, damit sie sich voll und ganz auf den Einsatz
konzentrieren konnte und zugleich vor Erkrankungen wie
Grippe oder einer Erkältung geschützt war, die das ganze
Unternehmen gefährden konnten. Aber sie wußten auch, daß
Männer, die man in Quarantäne hielt, alles andere als glücklich
waren, und unglückliche Männer waren keine guten Piloten.
Lovell hörte, wie es an der Tür klopfte, schlug ein Auge auf
und sah, daß Deke Slayton vom Gang hereinschaute. Er
begrüßte den Chef der Astronauten mit einem Brummen und
einem schwachen Winken und wünschte sich insgeheim, er
möge wieder verschwinden. Lovell war besser als seine beiden
Kollegen mit dem morgendlichen Ritual vor einem Start
vertraut. Zunächst würden sie lange und heiß duschen – zum
letzten Mal für acht Tage –, dann stand die letzte medizinische
Untersuchung an, und hinterher gab es das traditionelle
Steakfrühstück mit Ei, an dem Slayton und die Ersatzcrew
teilnahmen. Danach würden sie die sperrigen, aufblasbaren
Druckanzüge anlegen, den Helm aufsetzen und unbeholfen,
aber lachend und winkend zum klimatisierten Bus gehen, der
sie zur Startrampe bringen würde, wo sie mit dem ratternden
Aufzug am Startturm nach oben fahren und mühsam ins
Cockpit steigen würden. Zu guter Letzt würde dann die Luke
der Kapsel zugeklappt und luftdicht verschlossen werden.
Lovell hatte all dies schon zweimal über sich ergehen lassen,
und die NASA hatte dieses Ritual insgesamt schon
siebzehnmal zelebriert. Folglich gab es keinerlei Grund zu der
Annahme, daß es heute anders verlaufen würde. Tatsächlich
aber war es an diesem Tag ganz anders. Zum ersten Mal sollte
eine Besatzung nach dem traditionellen Duschen, Ankleiden
und Frühstücken nicht in die Erdumlaufbahn geschossen
werden. Diesmal wollte die NASA Apollo 8 starten, und das
Ziel war der Mond.
Es war noch keine zwei Jahre her, seit Gus Grissom, Ed
White und Roger Chaffee durch ein Feuer im Cockpit ums
Leben gekommen waren, und erst jetzt verblaßte die
Erinnerung an dieses Unglück allmählich. Borman, Lovell und
Anders waren nicht die ersten Amerikaner, die in den seither
verstrichenen dreiundzwanzig Monaten ins Weltall flogen; das
waren vor knapp acht Wochen Wally Schirra, Donn Eisele und
Walt Cunningham gewesen, und an jenem Tag war die
Erinnerung an die verlorene Besatzung allgegenwärtig
gewesen. Obwohl Schirra, Eisele und Cunningham die ersten
waren, die jemals eine Apollo-Raumkapsel steuerten, wurde
ihr Einsatz offiziell als Apollo 7 bezeichnet. Zuvor hatte es
fünf unbemannte Apollo-Flüge gegeben, die als Apollo 2 bis 6
geführt wurden. Vor dem Brand hatten Grissom, White und
Chaffee die Ehre für sich in Anspruch genommen, mit
Apollo 1 zu fliegen, aber die Verantwortlichen bei der NASA
hatten ihre Zustimmung noch nicht gegeben, da vor dem
verhängnisvollen Probe-Countdown bereits zwei unbemannte
Flüge stattgefunden hatten. Die toten Astronauten hätten
folglich allenfalls auf die Bezeichnung Apollo 3 hoffen
können. Nach dem Feuer änderte man bei der NASA jedoch
seine Meinung und beschloß, dem Wunsch der Astronauten
posthum stattzugeben und die Todeskapsel als Apollo 1 zu
bezeichnen.
Zu der bedrückten Stimmung während des dem Start
vorausgehenden Rituals vor acht Wochen hatte auch der
Umstand beigetragen, daß Wally Schirra der Kapsel, in der er
als Kommandant fliegen sollte, noch immer nicht ganz traute
und keinen Hehl aus seiner Einstellung machte. In den Tagen
und Stunden nach dem Brand von Apollo 1 verhielt sich die
NASA wie jede andere Regierungsbehörde, die unverhofft mit
unangenehmen Vorfällen konfrontiert wird: Sie ernannte eine
Kommission, die herausfinden sollte, was schiefgegangen war
und wie man alles wieder ins Lot bringen könnte. Dem
siebenköpfigen Ausschuß gehörten hochrangige Vertreter der
NASA, der Raumfahrtindustrie und Frank Borman als einziger
Astronaut an. Borman und seine Kollegen waren sich bewußt,
daß sie nicht sämtliche Systeme und Komponenten der Kapsel
allein analysieren konnten, und so setzten sie wiederum
einundzwanzig untergeordnete Kommissionen ein, die jeweils
einen anderen Teil der Apollo-Kapsel untersuchen sollten, bis
die Ursache des Feuers gefunden und behoben war.
Von den einundzwanzig Unterausschüssen hatte Ausschuß
Nummer 20, der die Maßnahmen bei einem Notfall während
des Fluges untersuchen sollte, den klarsten Auftrag. Ihm
gehörten unter anderem die noch unerfahrenen Astronauten
Ron Evans und Jack Swigert sowie Jim Lovell an, mit zwei
Starts in die Erdumlaufbahn der Veteran im Team. Während
sich die Medien auf Borman und die NASA-Bosse stürzten,
die die Ursache des Brandes ermitteln sollten, fand die Arbeit
von Lovell, Swigert, Evans und der Männer in den anderen
Ausschüssen so gut wie keine Beachtung.
Dies wurmte einige Männer im Astronautenkorps. Warum,
zum Teufel, stellte man ausgerechnet diesen Borman so dar,
als sei er der einzige Astronaut, der der Raumfahrtbehörde in
ihrer dunkelsten Stunde helfen konnte? Lovell jedoch war
diese Arbeit in aller Stille nur recht. Eine Nachuntersuchung
über einen Einsatz durchzuführen, der Menschenleben
gefordert hatte, konnte eine grausige Angelegenheit sein, und
so etwas machte man nicht gern ein zweites Mal, wenn man es
einmal erlebt hatte. Zumal dies nicht der erste tragische
Unglücksfall war, von dem das Astronautenkorps der NASA
heimgesucht worden war. Bereits vor zwei Jahren hatte sich
ein derartiger Zwischenfall ereignet, und damals war es
Lovells Aufgabe gewesen, die Angelegenheit aufzuklären.
Bei einer derartigen Untersuchung ging es im Grunde
genommen um Totengräberarbeit, und Lovell hegte daher
keinerlei Groll, daß Borman dazu auserkoren worden war, die
Ursache des verhängnisvollen Unglücks herauszufinden, bei
dem Grissom, White und Chaffee ums Leben gekommen
waren. Wie sich herausstellte, war diese Untersuchung noch
grausiger, als man sich zunächst vorgestellt hatte. Während die
Untersuchungskommission in ihrem Konferenzzimmer
zusammensaß und die Mitglieder der einundzwanzig
Unterausschüsse sich in Schreibstuben und Büros rund um
Houston und Cape Kennedy einrichteten, führte der Kongreß
in gereizter Atmosphäre ebenfalls Anhörungen durch und
durchkämmte die Organisationslisten der NASA, um
festzustellen, wessen Aufgabe es gewesen wäre, derartige
Unfälle zu verhindern, und wie es zu einem solchen Pfusch
hatte kommen können.
Bald schon wurde allen klar, daß umfassende
Verbesserungen an der Kommandokapsel nötig sein würden,
und daß sämtliche Meckereien der Astronauten wie auch der
NASA-Ingenieure in den vorausgegangenen Jahren berechtigt
gewesen waren. George Low, einer der stellvertretenden Chefs
der Raumfahrtbehörde, berief eigens eine Kommission für
Veränderungen an der Kommandokapsel ein, von der er sich
einerseits mehr Übersicht und Ordnung beim Umbau
versprach, die andererseits aber auch als Ansprechpartner für
die Astronauten dienen sollte, damit diese in aller Offenheit
ihre Änderungswünsche vortragen konnten. Auch die
Herstellerfirmen öffneten den Apollo-Piloten sämtliche Türen
– teils aus Schuldgefühl, teils aus heller Panik vor einem
weiteren Unglück, hauptsächlich aber aus dem Wunsch heraus,
der NASA, wie versprochen, ein weltraumtaugliches Fluggerät
zu liefern.
Wally Schirra, Donn Eisele und Walt Cunningham, die drei
Männer also, die das unmittelbarste Interesse an der
Zuverlässigkeit der nächsten Apollo-Kapsel hatten, nutzten
dieses Angebot voll aus. Wie ein Erkundungstrupp streiften sie
durch die Fabrik in Downey, Kalifornien, und überprüften
noch während des Zusammenbaus die zahlreichen Bestandteile
des Raumfahrzeugs.
»Falls jemand von euch Schwierigkeiten hat, etwas zu
kapieren, dann sagt mir Bescheid, und wir finden eine
Lösung«, sagte Schirra etwas großspurig zu Cunningham und
Eisele.
Borman, der offizielle, wenn auch weniger großspurige
Abgesandte der NASA bei North American, regte sich
schließlich über die Einmischung durch Schirra und seinen
Untergebenen auf, rief die Bosse bei der Raumfahrtbehörde an
und verlangte, seine Astronautenkollegen härter an die
Kandare zu nehmen. Das Feuer, so meinte Borman, sei
zumindest teilweise durch das Chaos und widersprüchliche
technische Übermittlung innerhalb der NASA verursacht
worden. Das Letzte, was die mit dem Umbau betrauten
Männer jetzt gebrauchen könnten, seien zig Vorschläge für
Veränderungen an einer aus Millionen von Teilen bestehenden
Raumkapsel. Die NASA pflichtete ihm bei, Schirra gab nach,
und die Verbesserungen der Apollo-Kapsel wurden von nun an
mit mehr System vorgenommen.
Borman fungierte fortan als Sprecher, der auf die
stillschweigende Unterstützung der anderen Piloten bauen
konnte, und gemeinsam setzten sie fast alle Forderungen der
Astronauten nach einem neuen, sichereren Raumfahrzeug
durch. So verlangten sie zum Beispiel eine per Gasdruck
betriebene Einstiegluke, die sich innerhalb von sieben
Sekunden öffnen lassen müsse. Sie verlangten zuverlässigere,
feuersichere Kabel in der ganzen Kapsel. Sie verlangten, daß
die Raumanzüge und sämtliche Textilien aus unbrennbaren
Beta-Stoffen hergestellt werden sollten. Vor allem aber
verlangten sie, daß die leicht entzündbare, aus 100 Prozent
Sauerstoff bestehende Atemluft in der Kapsel durch eine
weitaus weniger gefährliche Mischung aus 60 Prozent
Sauerstoff und 40 Prozent Stickstoff ersetzt werden sollte. All
ihre Wünsche wurden erfüllt.
Als man Schirra später darauf hinwies, daß Bormans
Zurückhaltung offenbar richtig gewesen war und die
Verbesserungen, die die Piloten gefordert hatten, auf diese
Weise ebenso durchgesetzt worden waren, und zwar ohne
Zank und Streiterei, reagierte dieser ungerührt. »Wir alle haben
ein Jahr lang wegen drei guten Männern schwarze Armbinden
getragen«, pflegte er zu sagen. »Aber verdammt will ich sein,
wenn nächstes Jahr jemand wegen mir eine trägt.«
Die Umbauten an der Apollo-Raumkapsel waren nicht die
einzigen Veränderungen, die die NASA im Anschluß an das
Feuer ausprobierte. Darüber hinaus wurden auch die Einsätze,
zu denen diese Raumfahrzeuge starten sollten, einer
Überprüfung unterzogen. Obwohl John E Kennedy seit 1963
tot war, überschattete nach wie vor sein großes Versprechen –
oder sein verdammtes Versprechen, je nachdem, wie man es
betrachtete –, wonach die Amerikaner noch vor dem Jahre
1970 auf dem Mond landen würden, die Arbeit bei der
Raumfahrtbehörde. Unter den Verantwortlichen bei der NASA
galt es als schweres Vergehen, sich dieser Herausforderung
nicht zu stellen, aber noch schwerer wog die Angst davor, eine
weitere Astronautencrew zu verlieren. Dementsprechend
gingen die nachdenklicher gewordenen NASA-Bosse dazu
über, öffentlich wie auch privat klarzumachen, daß Amerika
zwar nach wie vor versuchen werde, noch vor dem Ende des
Jahrzehnts den Mond zu erreichen, aber statt des atemlosen
Tempos der vergangenen Jahre werde nun eine etwas
gemächlichere Gangart eingeschlagen.
Aufgrund der vorläufigen Missionsplanung sollte Schirra mit
Apollo 7 zum ersten bemannten Apollo-Flug starten, der
zunächst nur in die nähere Erdumlaufbahn führen und vor
allem zur Erprobung der nach wie vor als unzuverlässig
geltenden Kommandokapsel dienen sollte. Danach wäre dann
Apollo 8 an der Reihe, eine Mission, in deren Verlauf
McDivitt, Dave Scott und Rusty Schweickart ins erdnahe
Weltall vordringen und sowohl die Kommandokapsel als auch
das Lunar Excursion Module, kurz LEM genannt – die
Mondfähre also –, erproben sollten.
Danach sollten Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders zu
einer ähnlichen Mission mit zwei Raumfahrzeugen starten, bis
in die schwindelerregende Höhe von sechseinhalbtausend
Kilometern fliegen und bei hoher Geschwindigkeit die
riskanten Manöver zum Wiedereintritt in die Erdatmosphäre
üben, die für eine sichere Rückkehr vom Mond notwendig
waren.
Danach war noch alles offen. Laut Planung sollte das
Programm bis zu Apollo 20 fortgesetzt werden, und ab Apollo
10 war bei jedem Flug mit einer Landung der ersten beiden
Menschen auf dem Mond zu rechnen. Aber bei welchem
Einsatz dies geschehen und um welche Männer es sich handeln
würde, war noch völlig unklar. Bei der NASA war man
entschlossen, nichts zu überstürzen. Selbst wenn es bis Apollo
15 dauern sollte, bis das technische Gerät erprobt war und eine
Landung einigermaßen sicher erscheinen sollte, müßte man
sich eben solange gedulden.
Im Sommer 1968, zwei Monate vor dem geplanten Start von
Apollo 7, wurde diese vorsichtige Zeitplanung aufgrund von
Ereignissen im sowjetischen Kasachstan und in Bethpage,
Long Island – nordöstlich von Levittown gelegen –, über den
Haufen geworfen. Im August traf die erste Mondfähre vom
Herstellerwerk, der Grumman Aerospace in Bethpage, in Cape
Kennedy ein – eine einzige Katastrophe, selbst nach
Einschätzung der wohlmeinendsten Techniker. Bei den ersten
Erprobungen des fragilen, folienbespannten Raumfahrzeuges
sah es so aus, als weise jede entscheidende Komponente
schwere, nicht behebbare Mängel auf. Die einzelnen Teile der
Mondfähre, die zerlegt zum Cape transportiert wurde und dort
zusammengebaut werden sollte, wollten anscheinend nicht
zusammenpassen. Elektrizität und Installation funktionierten
nicht so wie angegeben, überall fanden sich unsaubere
Schweißnähte, klaffende Anschlußstellen und leckende
Dichtungen.
Einige Mängel waren natürlich zu erwarten gewesen. Zwar
hatte man zehn Jahre lang schnittige, geschoßförmige
Raumkapseln gebaut, die durch die Atmosphäre in die
Erdumlaufbahn fliegen konnten, aber noch niemand hatte
bislang versucht, ein bemanntes Raumfahrzeug zu
konstruieren, das ausschließlich im Vakuum des Weltalls oder
in Mondnähe zum Einsatz kommen sollte, wo nur ein Sechstel
der irdischen Schwerkraft herrschte. Aber die Anzahl der
Mängel an diesem Vehikel übertraf selbst die
Vorstellungskraft der größten Pessimisten bei der NASA.
Zur gleichen Zeit, da das LEM derartige Kopfschmerzen
bereitete, schnappten Auslandsagenten der CIA noch weitaus
beunruhigendere Neuigkeiten auf. Laut Gerüchten aus dem
Kosmodrom Baikonur in Kasachstan, südöstlich von Moskau
gelegen, plante man in der Sowjetunion, noch vor Jahresende
ein Raumschiff vom Typ Zond um den Mond herum fliegen zu
lassen. Niemand wußte, ob es sich um einen bemannten Flug
handeln sollte, doch der Zond-Typ konnte mit Sicherheit eine
Besatzung aufnehmen, und das Jahrzehnt, in dem die Sowjets
den Amerikanern im Weltall ein ums andere Mal eins
ausgewischt hatten, hatte eines gezeigt: Wenn man in Moskau
auch nur die geringste Chance sah, einen Coup im Weltraum
zu landen, würde man es garantiert versuchen.
Bei der NASA war man zunächst ratlos. Mit dem LEM zu
fliegen, bevor es gebrauchsfähig war, war ein Ding der
Unmöglichkeit, aber Apollo 7 loszuschicken und dann
monatelang keinen weiteren Start zu wagen, während die
Russen auf dem Mond herumspazierten, kam auch nicht in
Frage. Anfang August 1968 wurden Chris Kraft, der
stellvertretende Direktor des Manned Spacecraft Center, und
Deke Slayton in Bob Gilruths Büro zitiert. Wie gerüchteweise
zu vernehmen war, hatte Gilruth, dem die Gesamtleitung des
Centers oblag, den ganzen Morgen über mit George Low, dem
Direktor des Apollo-Raumfahrzeugprogramms, konferiert, um
festzustellen, ob es für die NASA eine Möglichkeit gäbe, ihr
Gesicht zu wahren, ohne den Verlust einer weiteren
Astronautencrew zu riskieren. Als Slayton und Kraft in
Gilruths Büro eintrafen, kamen er und Low sofort zur Sache.
»Chris, wir haben ein ernsthaftes Problem mit unseren
nächsten Flügen«, sagte Low unverblümt. »Da sind einerseits
die Russen und zum andern das LEM, und beide wollen nicht
so, wie wir es uns wünschen.«
»Vor allem das LEM nicht«, erwiderte Kraft. »Wir haben
damit jeden nur erdenklichen Ärger.«
»Dann kann es bis Dezember also nicht fertig werden?«
fragte Low.
»Nie und nimmer«, erklärte Kraft.
»Wenn wir Apollo 8 plangemäß starten wollen, was könnten
wir alleine mit Kommandokapsel und Versorgungsteil machen,
damit es trotzdem einen weiteren Fortschritt in unserem
Programm darstellt?«
»In der Erdumlaufbahn nicht viel«, sagte Kraft zögernd. »Das
meiste, was in unseren Möglichkeiten steht, haben wir bereits
für Apollo 7 eingeplant.«
»Stimmt genau«, sagte Low zögernd. »Aber nehmen wir
einmal an, Apollo 8 ist nicht einfach nur eine Wiederholung
des Fluges von Apollo 7. Falls wir bis Dezember kein
einsatzbereites LEM haben sollten, könnten wir dann mit dem
Kommando- und Versorgungsteil etwas anderes machen?«
Low hielt einen Moment inne. »Zum Beispiel den Mond
umrunden?«
Kraft blickte weg, schwieg eine Zeitlang und dachte über
Lows Frage nach. Dann schaute er seinen Chef wieder an und
schüttelte langsam den Kopf.
»George«, sagte er, »das ist eine ziemlich komplizierte
Vorgabe. Wir haben alle Hände voll zu tun, damit die
Computerprogramme für einen Flug in die Erdumlaufbahn
rechtzeitig fertig sind. Und Sie wollen wissen, was ich von
einem Mondflug innerhalb der nächsten vier Monate halte? Ich
glaube nicht, daß wir das schaffen.«
Low wirkte seltsam ungerührt. Er wandte sich an Slayton.
»Was ist mit den Astronauten, Deke? Falls wir von der
Technik her für einen Mondflug bereit wären, hätten Sie dann
eine Crew, die den Einsatz übernehmen könnte?«
»Die Crew ist nicht das Problem«, antwortete Slayton. »Die
könnte rechtzeitig zur Verfügung stehen.«
Low hakte nach. »Wen möchten Sie losschicken? McDivitt,
Scott und Schweickart sind als nächste dran?«
»Denen würde ich das nicht überlassen«, sagte Slayton. »Die
üben schon seit langem mit dem LEM, und McDivitt hat klar
und deutlich gesagt, daß er mit der Fähre fliegen will. Bormans
Crew hat sich noch nicht so lange damit beschäftigt. Außerdem
machen die sich bereits Gedanken darüber, wie man nach
einem Flug im Weltall wieder in die Erdatmosphäre eintreten
kann, und genau darauf kommt es bei diesem Einsatz an. Ich
würde es Borman, Lovell und Anders überlassen.«
Slaytons Antwort ermutigte Low, und auch Kraft, der sich
vom Enthusiasmus der anderen Männer anstecken ließ, gab
allmählich nach. Er bat Low, ihm etwas Zeit zu lassen, damit
er mit den Technikern sprechen und sich erkundigen könnte,
ob sich die Probleme mit der Software würden lösen lassen.
Low war einverstanden, und Kraft und Slayton brachen auf
und versprachen, ihm in ein paar Tagen Bescheid zu geben.
Sobald er wieder in seinem Büro war, trommelte Kraft in aller
Eile sein Team zusammen.
»Ich werde euch jetzt eine Frage stellen, und ich möchte
binnen zweiundsiebzig Stunden eine Antwort hören«, sagte er.
»Können wir unsere Computerprobleme soweit in den Griff
bekommen, daß wir bis Dezember zum Mond fliegen
können?«
Krafts Team verzog sich, kehrte aber nicht erst
zweiundsiebzig Stunden später zurück, sondern bereits nach
vierundzwanzig. Die Antwort war einmütig: Ja, sagten sie, die
Aufgabe ließ sich schaffen.
Kraft meldete sich telefonisch bei Low. »Wir glauben, daß es
möglich ist«, erklärte er dem Direktor des Apollo-
Raumfahrzeugprogramms. »Vorausgesetzt, mit Apollo 7 geht
nichts schief, dann sollten wir unserer Ansicht nach Apollo 8
über Weihnachten zum Mond schicken.«
Am 11. Oktober 1968 umrundeten Wally Schirra, Donn
Eisele und Walt Cunningham mit Apollo 7 die Erde und
landeten elf Tage später im Atlantischen Ozean. Die Medien
waren begeistert, der Präsident übermittelte der Besatzung
telefonisch seine Glückwünsche, und die NASA verkündete,
der Flug habe sein Soll zu »101 Prozent« erfüllt. Der
Einsatzplanungsstab bei der Raumfahrtbehörde nahm sich nun
vor, Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders nur sechzig
Tage später zum Mond zu schicken.

Die Vorbereitungen für den Start von Apollo 8 wurden von der
NASA überaus geschickt in Szene gesetzt. Nur zwei Tage,
bevor die 68 Meter hohe Saturn-1-B-Rakete mit Apollo 7
gestartet wurde, ließ die Raumfahrtbehörde die Saturn 5 aus
der Halle rollen, eine gigantische, 110 Meter hohe
Trägerrakete, die benötigt wurde, um die Raumkapsel aus der
Erdatmosphäre in Richtung Mond zu schießen. Die NASA
versuchte das Ereignis herunterzuspielen – aber die meisten
Leute nahmen sehr wohl wahr, daß die Rakete gerade zu dem
Zeitpunkt herausgerollt wurde, als Kameraleute aus aller Welt
wegen des Starts von Apollo 7 zugegen waren.
Die Presse geriet in helle Aufregung. »USA bereiten
Mondflug für Dezember vor«, verkündete die New York Times.
»Apollo 8 bereit für Mondumrundung«, verhieß der
Washington Star und fügte in kleineren Buchstaben hinzu, daß
der Flug »offiziell noch immer als zweiter Start in die
Erdumlaufbahn bezeichnet wird«.
Bei der NASA hingegen zierte man sich nach wie vor und
räumte lediglich ein, daß ein Mondflug von Apollo 8 möglich
sei, mehr aber nicht. Bevor Apollo 7 sicher gewassert sei,
werde keine diesbezügliche Entscheidung gefällt. Borman,
Lovell und Anders wußten natürlich seit langem, daß der Flug
zum Mond beschlossene Sache war, und Lovell war über diese
Entwicklung begeistert. Obwohl es einiges gab, das für die
Erprobung der Mondfähre in der äußeren Erdumlaufbahn
sprach, befürchtete Lovell, daß dieser Einsatz etwas öder
ausfallen könnte, als ihm recht war. Als Pilot der
Kommandokapsel müßte er im Apollo-Mutterschiff bleiben,
während Borman und Anders die vorgeschriebenen Tests mit
dem LEM durchführten. Wenn nun statt dessen ein Flug ohne
LEM in die Mondumlaufbahn stattfinden sollte, würden die
Aufgaben der drei Besatzungsmitglieder völlig neu verteilt
werden. Und da Lovell offiziell als Navigator bei dieser ersten
translunaren Mission vorgesehen war, könnte ihm die
interessanteste Aufgabe zufallen.
Die Reaktion von Borman, dem Kommandanten bei diesem
Flug, war etwas zurückhaltender. Borman, bekannt für seine
blitzschnellen Reflexe und seine Entscheidungsfähigkeit, galt
als einer der besten Piloten der NASA. Aber er neigte auch zur
Vorsicht.
Der Colonel der Air Force und Gemini-7-Veteran wurde von
seinen Astronautenkollegen immer wieder wegen der
vorsichtigen Route aufgezogen, auf der er mit seiner T-38 von
Houston nach Cape Kennedy flog. Aufgrund einer strengen
Sicherheitsvorschrift waren die Piloten angehalten, immer über
dem Festland zu bleiben und niemals über den Golf von
Mexiko zu fliegen. Doch die meisten Männer – die von Berufs
wegen ihr Leben in unerprobten Flugzeugen aufs Spiel setzten
– kümmerten sich nicht um diese ihrer Ansicht nach
übertriebene Vorsichtsmaßnahme und riskierten lieber eine
Abkürzung über den Golf, wenn sie Zeit sparen wollten.
Borman indessen hielt sich im allgemeinen an die Regel und
wählte die trockenere, wenn auch umständlichere Route
entlang der Küste von Texas, Louisiana, Mississippi, Alabama
und schließlich Florida. Niemand verlor je ein Wort darüber,
daß dieser Umweg auf mangelnden Mut hindeuten könnte, und
darum ging es auch nicht. Man fand sich vielmehr damit ab,
daß der Mann, der so vehement um Aufnahme ins
Astronautenkorps ersucht und gemeinsam mit Jim Lovell
206mal die Erde umkreist hatte, keinerlei Grund sah, ein
Risiko einzugehen, wenn man sicher genauso zum Ziel kam,
Bill Anders, das unerfahrenste Mitglied im Team, reagierte auf
die Ankündigung, daß sie zum Mond fliegen sollten, mit
ähnlich gemischten Gefühlen wie Borman, wenn auch aus
anderen Gründen. Als Pilot der Mondfähre hatte sich Anders
darauf gefreut, den Großteil der Testmanöver mit dem noch in
der Erprobung stehenden Raumfahrzeug zu überwachen und
dafür zu sorgen, daß die Fähre einsatzfähig würde. Nun, da die
Fähre am Boden bleiben sollte, hatte er erheblich weniger zu
tun und mußte lediglich auf das Haupttriebwerk des
Versorgungsteils und den Zustand der
Kommunikationssysteme und der Elektrik an Bord achten.
Auch diese Arbeit war wichtig, aber sie ließ sich nicht
annähernd mit dem Steuern der Mondfähre in einer Höhe von
sechseinhalbtausend Kilometern vergleichen.
Nun blieb den Astronauten nur noch die heikle Aufgabe, es
ihren Frauen zu sagen. Valerie Anders und Marilyn Lovell
reagierten mit verhaltener Zustimmung auf die Neuigkeit.
Nicht so jedoch Susan Borman. Susans Ansicht nach – so
jedenfalls gingen die Gerüchte – war ein Flug mit Apollo 8 ein
unwägbares Risiko, und sie legte auch keinen Wert darauf, daß
ihr Gatte als Kommandant auserkoren war. Zwar hatten die
Frauen der Astronauten so gut wie keinen Einfluß auf die
Einsatzplanung, aber innerhalb der engen Gemeinschaft der
NASA konnten sie ihren Mißmut deutlich zum Ausdruck
bringen. Susan, so hieß es, habe sich vor allem auf Chris Kraft
eingeschossen und ihm klargemacht, daß er kein freundliches
Wort mehr von ihr zu erwarten habe, selbst wenn Frank diesen
aberwitzigen Flug überleben sollte.

Als Apollo 8 am Morgen des 21. Dezember startete, waren


zumindest nach außen hin aller Zank und Zweifel vergessen.
Kurz nach 5 Uhr morgens wurde die Kapsel mit Borman,
Lovell und Anders geschlossen. Der Start sollte um 7:51 Uhr
erfolgen. Um 7 Uhr begannen die Fernsehübertragungen, und
viele Menschen im Lande waren wach, um das Ereignis live
mitzuerleben. Aber auch in Europa und Asien verfolgte ein
Millionenpublikum das Geschehen.
Von dem Augenblick an, als die gewaltige Saturn-5-
Trägerrakete gezündet wurde, war allen Fernsehzuschauern
klar, daß es sich um einen Start handelte, wie er in der
Geschichte der Menschheit noch nie dagewesen war. Noch
klarer war dies den Männern in der Raumkapsel – einer von
ihnen war noch nie im Weltall gewesen, und die beiden
anderen waren zuvor nur mit der vergleichsweise mickrigen,
34 Meter hohen Titan-Rakete in der Gemini-Kapsel geflogen.
Die Titan war ursprünglich als Interkontinentalrakete
entwickelt worden, und wenn man in der Kapsel an ihrer
Spitze festgeschnallt war, wo ursprünglich die
Atomsprengköpfe sitzen sollten, konnte man ganz genau
spüren, um welch unbändiges Projektil es sich handelte. Die
leichtgewichtige Rakete hob anstandslos von der Rampe ab,
und in atemberaubend kurzer Zeit nahmen Geschwindigkeit
und Druckbelastung zu. Wenn die zweite der beiden Stufen
ausbrannte, war die Titan so schnell, daß ein Druck von acht g
auf der Besatzung lastete – die im Durchschnitt 77 Kilogramm
schweren Astronauten hatten mit einem Mal das Gefühl, 616
Kilogramm zu wiegen. Ebenso beunruhigend wie das Tempo
und die Druckbelastung war der Kurs, den die Rakete
einschlug. Das Steuerleitsystem der Titan war so konstruiert,
daß die Navigation in der Seitenlage erfolgte. Daher rollte die
Rakete während des Anstiegs 90 Grad nach rechts, so daß die
Astronauten den Horizont durch die Fenster senkrecht sahen –
ein schwindelerregendes Gefühl. Noch beunruhigender waren
die ballistischen Flugbahnen, die in den Steuerungscomputer
der Titan eingespeist waren. So wurde die Rakete unter den
Horizont ausgerichtet, wenn sie ein militärisches Ziel anpeilte,
und oberhalb des Horizonts, wenn sie in Richtung Weltraum
flog. Während die Rakete an Höhe gewann, suchte der
Computer fortwährend nach dem richtigen Kurs, so daß die
Spitze der Rakete sich ständig nach oben und nach unten, nach
links und nach rechts bewegte, wie die Schnauze eines
Spürhundes, der sein Ziel sucht, sei es Moskau, Minsk oder die
Erdumlaufbahn, je nachdem, ob die Rakete Atomsprengköpfe
oder Raumfahrer beförderte.
Die Saturn 5 sollte angeblich ganz anders sein. Obwohl sie
die atemberaubende Schubkraft von rund 3500 Tonnen
entwickelte – fast neunzehnmal soviel wie die Titan –
versprachen die Ingenieure, daß es sich mit dieser Rakete
weitaus angenehmer fliegen lasse. Die Druckbelastung sollte
angeblich nicht über vier g steigen und aufgrund der sanften
Beschleunigung und der ungewöhnlichen Flugbahn zeitweise
sogar unter ein g sinken. Die Astronauten, von denen viele auf
die Vierzig zugingen, hatten der Saturn 5 deshalb bereits den
Spitznamen »Altherren-Rakete« verliehen. Da die Saturn aber
noch nie Astronauten ins Weltall befördert hatte, stand das
angeblich so ruhige Flugverhalten bislang nur auf dem Papier.
Doch schon während der ersten Minuten ihres Fluges mit
Apollo 8 stellten Borman, Lovell und Anders fest, daß die
Gerüchte über die angeblich »schmerzlose« Rakete tatsächlich
zutrafen.
»Die erste Stufe war sehr ruhig, und die hier ist noch
ruhiger!« jubelte Borman beim Aufsteigen, als die mächtigen
F-1-Triebwerke ausgebrannt waren und die kleineren J-2-
Triebwerke zugeschaltet wurden.
»Roger, ruhig und ruhiger«, antwortete der CAPCOM.
Keine zehn Minuten später war die sanfte Trägerrakete
ausgebrannt, nachdem sie die Astronauten in eine feste
Umlaufbahn etwa 160 Kilometer über der Erde befördert hatte,
und die beiden Stufen fielen ins Meer.
Aufgrund der Einsatzvorschriften muß ein Raumschiff, das
zum Mond fliegen soll, zunächst drei Stunden lang in einem
sogenannten »Parkorbit« die Erde umkreisen. In dieser Zeit
verstaut die Besatzung Ausrüstungsgegenstände, stellt die
Instrumente ein, bestimmt ihren Standort und sorgt dafür, daß
die Kapsel bereit für die lange Reise ist. Erst wenn alles
überprüft ist, erhält sie die Erlaubnis, das Triebwerk der dritten
Raketenstufe der Saturn 5 zu zünden und das Gravitationsfeld
der Erde zu verlassen.
Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders wußten, daß sie
sich sofort an die Arbeit machen mußten, sobald ihr Schiff in
der Umlaufbahn war, und drei Stunden lang alle Hände voll zu
tun haben würden. Lovell schnallte sich als erster los, aber
sobald er die Sitzgurte gelöst hatte und nach vorne trieb, wurde
ihm gewaltig übel. Man hatte die Astronauten von den ersten
Anfängen des Raumfahrtprogramms an vor dieser möglichen
Übelkeit aufgrund der Schwerelosigkeit im All gewarnt, aber
in den winzigen Mercury- und Gemini-Kapseln, in denen man
sofort mit dem Kopf an die Einstiegluke stieß, sobald man aus
dem Sitz schwebte, war dieses Unwohlsein kein Problem
gewesen. In der Apollo-Kapsel jedoch gab es mehr
Bewegungsraum, und Lovell mußte feststellen, daß ihm das
schwer auf den Magen schlug.
»Herrje«, sagte er mehr zu sich selbst, als an seine Kollegen
gewandt. »Bloß nicht zu schnell bewegen.«
Sachte schwebte er vorwärts und entdeckte – wie
Generationen reumütiger Trinker, denen sich der Kopf dreht,
sobald sie im Bett liegen –, daß er seine aufgewühlten
Eingeweide in den Griff bekam, wenn er den Blick auf eine
Stelle richtete und sich ganz langsam bewegte. Vorsichtig
entfernte sich Lovell von seinem Sitzplatz, übersah aber, daß
sich ein kleiner Metallknebelkopf vorne an seinem Raumanzug
an einer der Metallstreben der Couch verhakt hatte. Als er sich
weiterbewegte, hallten ein lautes Ploppen und ein Zischen
durch die Raumkapsel. Der Astronaut schaute nach unten und
bemerkte, daß sich die leuchtend gelbe Schwimmweste, die
aus Sicherheitsgründen beim Start über dem Meer getragen
wurde, vollständig aufgeblasen hatte.
»Ach, verflucht«, murmelte Lovell, senkte den Kopf und
schob sich wieder auf seinen Platz.
»Was ist passiert?« fragte Anders verblüfft und blickte von
seiner Couch rechts neben Lovell auf.
»Wie sieht’s denn aus?« sagte Lovell, der sich mehr über sich
als über seinen Untergebenen ärgerte. »Ich glaube, ich habe
mich irgendwo mit meiner Weste verhakt.«
»Tja, dann hak’ sie doch los«, sagte Borman. »Wir müssen
die Luft aus dem Ding rauslassen und es verstauen.«
»Ich weiß«, sagte Lovell. »Aber wie?«
Borman begriff, worauf Lovell hinauswollte. Die
Schwimmwesten wurden durch kleine, unter Druck stehende
Flaschen voller Kohlendioxid aufgeblasen, und wenn man das
Ablaßventil öffnete, entströmte das CO2 in die Umgebung. Auf
dem Meer war das kein Problem, aber in der engen Apollo-
Kapsel konnte das etwas kitzlig werden. Das Cockpit war mit
Behältern voller Lithiumhydroxid-Granulat ausgerüstet, die
das CO2 aus der Luft filtern sollten. Wenn diese Behälter aber
einen bestimmten Sättigungsgrad erreicht hatten, konnten sie
nichts mehr absorbieren. Obwohl Ersatzbehälter an Bord
waren, wollte Lovell den ersten Filter nicht aufs Spiel setzen,
indem er einen kräftigen Schwall Kohlendioxid in die kleine
Kabine abließ. Borman und Anders schauten Lovell an, und
alle drei Männer zuckten hilflos die Achsel.
»Apollo 8, Houston. Versteht ihr uns?« meldete sich der
CAPCOM, der sich offenbar Sorgen machte, weil er so lange
nichts von der Besatzung gehört hatte.
»Roger«, antwortete Borman. »Wir hatten einen kleinen
Zwischenfall. Jim hat aus Versehen eine Schwimmweste
aufgeblasen, so daß er jetzt um die Brust herum ein bißchen
üppig ist.«
»Roger«, erwiderte der CAPCOM, der anscheinend auch
keine Lösung anzubieten hatte. »Haben verstanden.«
Unterdessen verstrichen langsam die Minuten in der
Erdumlaufbahn, und die Crew durfte nicht noch mehr Zeit mit
einer lächerlichen Schwimmweste vergeuden. Plötzlich fanden
Lovell und Bormann eine Lösung: das System zur
Urinbeseitigung. Im Stauraum zu Füßen der Couch war ein
langer Schlauch, der über ein kleines Ventil aus der Kapsel
hinausführte. Am anderen Ende des Schlauches befand sich ein
zylindrisches Anschlußstück. Die gesamte Vorrichtung wurde
in Astronautenkreisen als »relief tube«, als Erleichterungsrohr
bezeichnet. Ein Raumfahrer, der sich erleichtern mußte, konnte
den Zylinder an seinem Raumanzug anschließen, das Ventil
nach draußen öffnen und in aller Ruhe aus einem viele
Millionen Dollar teuren Raumschiff, das mit 40000 Kilometer
pro Stunde dahinraste, in die Schwärze des Weltalls
hinauspinkeln.
Lovell hatte schon unzählige Male von dem
Erleichterungsrohr Gebrauch gemacht, aber nur aus dem
Grund, zu dem es vorgesehen war. Nun mußte er
improvisieren. Er zerrte die Schwimmweste herunter, drückte
sie an die Urinschleuse, und nach einigem Hin und Her gelang
es ihm, den Ablaßstutzen in den Schlauch zu zwängen. Es
funktionierte. Lovell winkte Borman mit erhobenem Daumen
zu, und Borman nickte. Und während der Kommandant und
der Pilot des LEM die Checkliste für den Mondflug
durchgingen, preßte Lovell geduldig das Kohlendioxid aus der
Schwimmweste und bügelte den ersten Fehler wieder aus, der
ihm nach 430 Stunden im Weltraum unterlaufen war.
Die Zündung der Rakete, die Apollo 8 aus der
Erdumlaufbahn beförderte, verlief ebenso problemlos wie der
Start. Als der Antrieb gezündet wurde, beschleunigte das
Raumfahrzeug langsam von 27200 Kilometer pro Stunde auf
40000 Kilometer pro Stunde, wobei es die Kreisbahn um die
Erde verließ und geradeaus in Richtung Mond flog. Ab jetzt,
so wußten die Astronauten, würde es eher gemächlich
zugehen. Doch das Schiff würde immer noch unter dem
Einfluß der Erdanziehungskraft stehen, während es sich immer
weiter von dem Planeten entfernte. Zwei Tage lang würde die
Geschwindigkeit des Raumfahrzeugs stetig sinken, erst auf
32000 Kilometer pro Stunde, dann auf 16000 Kilometer pro
Stunde, und schließlich, nach etwa fünf Sechsteln der Strecke,
bis auf 3200 Kilometer pro Stunde. An diesem Punkt würde
die Anziehungskraft des Erdtrabanten stärker werden als die
des Heimatplaneten, und das Schiff würde wieder
beschleunigen. Bis dahin aber konnte es in einem
Raumfahrzeug auf dem Weg zum Mond sehr ruhig zugehen,
und die Astronauten wie auch die Männer am Boden mußten
sich gegenseitig wach halten. Am Morgen nach dem Start von
Apollo 8 meldete sich Houston, um der Besatzung in der
Kapsel etwas die Zeit zu vertreiben.
»Sagt mir Bescheid, wenn’s Zeit fürs Frühstück ist«, sagte
der CAPCOM am ersten vollen Tag des Fluges kurz nach 9
Uhr. »Ich möchte euch etwas aus der Zeitung vorlesen.«
»Gute Idee«, antwortete Borman. »Wir haben noch keine
Nachrichten gehört.«
»Ihr seid die Nachrichten«, sagte der CAPCOM lachend.
»Nun mach mal halblang«, sagte Borman.
»Ernsthaft«, beharrte Houston. »Der Flug zum Mond nimmt
sowohl bei den Zeitungen als auch im Fernsehen einen
Sonderplatz ein. Es ist die Nachricht schlechthin. Die
Schlagzeile der Post lautet: ›Mond, jetzt kommen sie‹.
Außerdem wurde berichtet, daß elf GIs, die fünf Monate lang
in Kambodscha festgehalten wurden, gestern freigekommen
sind und bis Weihnachten zu Hause sein werden. Im
Entführungsfall in Miami wurde ein Verdächtiger
festgenommen, und David Eisenhower und Julie Nixon haben
gestern in New York geheiratet. Er wurde als ›nervös‹
geschildert.«
»Klar«, sagte Anders.
»Die Browns haben Dallas gestern mit 31 zu 20
niedergemacht«, fuhr Houston fort. »Und wir sind ein bißchen
neugierig: Wen wollt ihr heute, Baltimore oder Minnesota?«
»Baltimore«, sagte Lovell.
»Außerdem gibt’s noch eine richtig große Nachricht: Erst vor
ein paar Minuten verkündete das State Department, daß die
Besatzung der ›Pueblo‹ heute abend um 9 Uhr freigelassen
wird.«
»Klingt gut«, sagte Lovell. Dann bot er mit einem Blick auf
die Instrumente eine weitere Nachricht, die für die an dem
Gespräch beteiligten Männer noch bedeutsamer war. »Die
Berechnungen an Bord zeigen an, daß Apollo nach 25 Stunden
Flug 166400 Kilometer von zu Hause entfernt ist.«
»Ja«, sagte Houston. »Unser Flugplan weist eine ähnliche
Zahl auf.«
»Herrliche Aussicht von hier draußen«, sagte Borman.
Den Großteil ihrer Reise über hatten die Astronauten von
Apollo 8 ihr Ziel im Blick, den Mond, der vor ihnen immer
größer wurde. Nach dem Verlassen der Erdumlaufbahn warfen
sie ein paar begeisterte Blicke auf den langsam
zurückfallenden Planeten, dann drehten sie ihr Raumfahrzeug
herum und flogen mit der Nase nach vorn, wie es sich gehörte.
Genaugenommen war dies im Weltall nicht notwendig, wo ein
Transportmittel aufgrund der Newtonschen Gesetze immer die
gleiche Richtung beibehält, egal, wohin sein Bug gerichtet ist.
Aber aus alter Gewohnheit und weil für Piloten alles seine
Ordnung haben muß, mußte ein Raumfahrzeug nach vorne
ausgerichtet sein, und genau so flogen die Astronauten. Wenn
sich das Schiff nach dem zweiten vollen Tag jedoch dem
Mond näherte, würde die Besatzung es erneut umdrehen
müssen.
Wenn Apollo 8 seine Spitzengeschwindigkeit von bis zu
8000 Kilometern pro Stunde erreichte, würde das Schiff sich
zu schnell bewegen, um von der relativ schwachen
Anziehungskraft des Mondes erfaßt zu werden. Überließe man
es sich selbst, würde es sich dem Mond nähern, seine
Rückseite umfliegen und dann wieder auf einen Kurs in
Richtung Erde einschwenken, wie ein mit einer Wurf schlinge
geschleuderter Stein. Dieses Phänomen, gemeinhin freie
Rückkehrbahn genannt, war zwar nützlich für die Astronauten,
wenn sie bei einem Triebwerksausfall möglichst rasch wieder
zur Erde zurückfliegen wollten, aber wenn eine Besatzung
nicht nur an der Rückseite des Mondes vorbeifliegen, sondern
in eine Umlaufbahn einschwenken wollte, war es ein Nachteil.
Um diese Wurfschlingenbahn verlassen zu können, mußte das
Raumfahrzeug um 180 Grad gedreht werden, so daß es mit
dem Hinterteil voran flog, worauf dann das Haupttriebwerk
des Mutterschiffes mit seinen 9 Tonnen Schubkraft gezündet
wurde, bis Apollo soweit abgebremst war, daß es vom
Gravitationsfeld des Mondes eingefangen werden konnte.
Dieses Manöver, als Lunar Orbit Insertion (Eintritt in die
Mondumlaufbahn) oder kurz LOI bezeichnet, war einfach,
barg aber gewisse Risiken. War die Brenndauer des
Triebwerks zu kurz, dann würde das Schiff in eine
unkalkulierbare – und unkontrollierbare – elliptische
Umlaufbahn geraten, in der es hoch über die eine Hälfte des
Mondes hinwegfliegen würde, um dann tief auf die andere
herabzusinken. Wenn das Triebwerk zu lange brannte, würde
das Schiff zu langsam werden und nicht in die Umlaufbahn
eintreten, sondern auf den Mond stürzen. Zusätzlich erschwert
wurde dies, weil die Zündung des Motors auf der
Mondrückseite stattfinden mußte, wodurch eine Verständigung
zwischen Kapsel und Bodenstation unmöglich war. Houston
mußte daher die bestmöglichen Koordinaten für den
Zündzeitpunkt erarbeiten, die Daten an die Crew weiterleiten
und dann darauf vertrauen, daß diese das Manöver auf eigene
Faust durchführte. Die Bodenkontrolle wußte genau, wann das
Raumfahrzeug bei plangemäß erfolgter Brennphase aus dem
mächtigen Mondschatten hervortreten würde, und erst, wenn
man wieder das Funksignal von Apollo 8 empfinge, würde
man wissen, ob die LOI wie vorgesehen funktioniert hatte.
Apollo 8 war zwei Tage, 20 Stunden und vier Minuten
unterwegs – das Raumfahrzeug war nur mehr ein paar tausend
Kilometer vom Mond und über 320 000 Kilometer von der
Erde entfernt –, als der CAPCOM, in diesem Fall Jerry Carr,
der Besatzung über Funk die Erlaubnis gab, mit dem Eintritt in
die Mondumlaufbahn zu beginnen. An der Ostküste war es
kurz nach vier Uhr morgens am Heiligabend, in Houston kurz
vor drei, und selbst die fanatischsten Mondfans auf der
westlichen Erdhälfte lagen noch in tiefem Schlaf.
»Apollo 8, hier ist Houston«, sagte Carr. »Ihr habt GO für
LOI um 68:04.«
»O.K.«, antwortete Borman ruhig. »Apollo 8 hat GO.«
»Ihr seid auf dem bestmöglichen Weg außen herum«, sagte
Carr, der um einen ermutigenden Tonfall bemüht war.
»Roger«, sagte Borman. »Ein guter Weg.«
Carr gab die Daten für die Motorzündung an die Kapsel
durch, und Lovell tippte sie in den Bordcomputer ein. Etwa
eine halbe Stunde blieb noch, bis das Raumfahrzeug in den
Funkschatten hinter dem Mond eintreten würde, und wie in
derartigen Momenten üblich, ließ die NASA die Minuten
weitgehend in Stille verstreichen. Die Astronauten, die
sämtliche Handgriffe vor dem Zünden des Haupttriebwerks gut
eingeübt hatten, nahmen wortlos auf den Couchs Platz und
schnallten sich an. Natürlich könnte ihnen kein Sitzgurt
irgendeinen Schutz bieten, falls es beim Eintreten in die
Mondumlaufbahn zu einem Unglück kommen sollte.
Nichtsdestotrotz verlangte das Einsatzprotokoll, daß die
Besatzung Gurte anlegte, und daran hielten sie sich.
»Apollo 8, Houston«, meldete sich Carr nach einer langen
Pause. »Wir haben unsere Mondkarten vor uns liegen und sind
bereit.«
»Roger«, antwortete Borman.
»Apollo 8«, sagte Carr etwas später, »euer Treibstoff bleibt
konstant.«
»Roger«, sagte Lovell.
»Apollo 8, ihr habt noch 9 Minuten und 30 Sekunden bis zum
Abreißen des Signals.«
»Roger.«
Als Carr sich das nächste Mal meldete, waren es noch fünf
Minuten bis zum Abreißen der Funkverbindung, dann zwei
Minuten, dann eine Minute und schließlich noch zehn
Sekunden. Zu genau dem von der Flugplanung vor Monaten
errechneten Zeitpunkt schwenkte das Raumfahrzeug in die
Umlaufbahn hinter dem Mond ein, und die Stimmen von
CAPCOM und Besatzung wurden zunehmend von Knistern
und Knacken überlagert.
»Gute Reise, Jungs«, rief Carr, der sich trotz der
zusammenbrechenden Funkverbindung verständlich machen
konnte.
»Besten Dank, Jungs«, rief Anders zurück.
»Wir sehen uns auf der anderen Seite«, sagte Lovell.
»Ihr habt jetzt endgültig GO«, sagte Carr.
Dann riß die Verbindung ab.
In der unwirklichen Stille sahen die Astronauten einander an.
Lovell wußte, daß sie irgendwelche, nun ja, tiefschürfenden
Gefühle haben müßten – aber allem Anschein nach gab es
nicht viel Tiefschürfendes zu empfinden. Klar, der CAPCOM,
die Computer und das Rauschen in den Kopfhörern verrieten
ihm, daß er sich auf die Rückseite des Mondes zubewegte, aber
sinnlich wahrnehmen konnte er dieses gewaltige Ereignis
nicht, das da vonstatten ging. Er war vor einigen Augenblicken
schwerelos gewesen, und schwerelos war er auch jetzt. Vor
einigen Augenblicken war vor dem Fenster tiefe Schwärze
gewesen, und die gleiche tiefe Schwärze war auch jetzt noch
da. Da unten war also irgendwo der Mond? Nun ja, dann
würde er es eben einfach mal glauben.
Borman wandte sich nach rechts, um sich mit der Crew zu
beraten. »Und? Wollen wir die Sache angehen?«
Lovell und Anders warfen noch einmal einen prüfenden
Blick auf ihre Instrumente.
»Von mir aus können wir loslegen«, sagte Lovell zu Borman.
»Von mir aus auch GO«, stimmte Anders zu.
Lovell, der auf der mittleren Couch lag, tippte die letzten
Befehle in den Computer ein. Etwa fünf Sekunden vor dem
geplanten Zündzeitpunkt blinkte auf einem Bildschirm ein
kleines »99:40« auf. Die kryptische Zahl war eine der letzten
Sicherheitsvorkehrungen des Raumfahrzeuges gegen einen
Pilotenfehler. Es war der Code, mit dem der Computer noch
einmal nachfragte: »Seid ihr sicher«, sein »Letzte Chance«-
Code, der Code, mit dem er nachhakte: »Überzeugt euch, daß
ihr wißt, was ihr tut, denn jetzt geht’s auf eine Höllentour.«
Unter den blinkenden Ziffern befand sich ein kleiner Knopf
mit der Aufschrift »Proceed« – weitermachen. Lovell starrte
auf die 99:40, dann auf den Proceed-Knopf, dann wieder auf
die 99:40, dann wieder auf den Knopf. Und kurz vor Ablauf
der fünf Sekunden legte er den Zeigefinger auf den Knopf und
drückte zu.
Einen Moment lang bemerkten die Astronauten gar nichts;
dann hörten sie mit einem Mal ein Grollen hinter sich. Ein paar
Meter hinter ihnen öffneten sich die Ventile in den riesigen
Tanks des Raumfahrzeuges, und aus drei Düsen strömten drei
verschiedene flüssige Chemikalien in die Brennkammer. Diese
Chemikalien – Hydrazin, Dimethylhydrazin und
Stickstofftetraoxid – wurden Hypergole genannt und
zeichneten sich dadurch aus, daß sie sich selbst entzündeten,
sobald man sie miteinander in Verbindung brachte. Anders als
Benzin, Diesel oder flüssiger Wasserstoff, die allesamt einen
Zündfunken brauchen, damit die molekular gebundene Energie
freigesetzt wird, reagieren Hypergole wie Katalysatoren. Man
vermenge zwei Hypergole, und sie reagieren aufeinander wie
zwei Kampfhähne; läßt man sie lange genug in einem
begrenzten Raum beisammen, setzen sie eine erstaunliche
Menge an Energie frei.
Genau diese explosive chemische Reaktion fand jetzt
unmittelbar hinter Lovell, Anders und Borman statt. Als diese
Chemikalien sich in der Brennkammer entzündeten, schoß ein
glühend heißer Strahl aus der glockenförmigen Düse des
Haupttriebwerks am Heck des Raumfahrzeugs, und Apollo 8
wurde immer langsamer. Borman, Lovell und Anders spürten,
wie sie rückwärts auf ihre Couchs gepreßt wurden. Statt der
Schwerelosigkeit, an die sie sich gewöhnt hatten, herrschte nun
zumindest eine leichte Schwerkraft, so daß sich das
Körpergewicht der Astronauten von null auf einige Kilogramm
erhöhte. Lovell blickte zu Borman und hob den Daumen;
Borman lächelte grimmig zurück. Viereinhalb Minuten lang
dauerte die Brennphase des Triebwerks, dann erlosch das
Feuer in seinem Inneren.
Lovell warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Er suchte die
mit »Delta V« gekennzeichnete Angabe. Das »V« stand für
»Velocity«, die Geschwindigkeit, und »Delta« bedeutete
Veränderung – »Delta V« gab folglich an, inwieweit sich die
Geschwindigkeit des Schiffes durch das Bremsmanöver mit
dem Haupttriebwerk verringert hatte. Lovell entdeckte die Zahl
und wollte am liebsten die Faust hochreißen – 2800! Bestens:
2800 Fuß (850 Meter) pro Sekunde war nicht gerade eine
Vollbremsung, wenn man mit 7500 Sachen dahinschoß, aber
es war genau der gewünschte Wert, wenn man die Umlaufbahn
verlassen und die Anziehungskraft des Mondes auf sich
einwirken lassen wollte.
Neben dem Delta V leuchteten nun zwei Zahlen auf: 60,5 und
169,1. Es waren die Angaben für den Pericynthion und den
Apocynthion – der niedrigste und der höchste Punkt in der
Umlaufbahn um den Mond. Jeder Gegenstand, der am Mond
vorbeiflog, hatte ein Pericynthion, aber ein Pericynthion und
ein Apocynthion bekam man nur, wenn man nicht einfach
vorbeiflog, sondern den Himmelskörper tatsächlich umrundete.
Die Raumkapsel mit Frank Borman, Jim Lovell und Bill
Anders, das zeigten diese Zahlen an, war nun ein Satellit des
Mondes und umkreiste ihn in einer elliptischen Flugbahn,
deren höchster Punkt 169,1 Meilen (310 Kilometer) und deren
tiefster 60,5 Meilen (111 Kilometer) über der Mondoberfläche
lag.
»Wir haben’s geschafft!« jubelte Lovell.
»Auf den Punkt genau«, sagte Anders.
Bormann stimmte ihnen zu. »Umlaufbahn erreicht. Wollen
wir hoffen, daß die Zündung morgen klappt, damit wir wieder
nach Hause kommen.«
Das Einschwenken in die Umlaufbahn war ebenso wie das
Verschwinden hinter dem Mond eine eher akademische
Erfahrung für die Astronauten. Sobald das Triebwerk
abgeschaltet hatte und die Besatzung wieder schwerelos war,
bestätigten lediglich die Daten auf den Instrumenten, was sie
geschafft hatten. Der Mond war knapp hundert Kilometer unter
ihnen, aber weil die Fenster oben an der Kapsel angebracht
waren, konnten ihn die Astronauten nicht sehen. Borman,
Lovell und Anders kamen sich vor wie Besucher in einer
Kunstausstellung, die sich noch nicht nach den Bildern
umgedreht hatten. Allerdings konnten sie jetzt – und zwar
ungestört, da sie erst in zwanzig Minuten wieder Kontakt mit
der Bodenstation bekommen würden – eine erste
Untersuchung des Festkörpers vornehmen, dessen
Anziehungskraft sie hielt.
Borman griff zur Handsteuerung rechts von seinem Platz und
betätigte kurz die außen am Raumfahrzeug angebrachten
Raketen zum Rollen. Das Schiff geriet in Bewegung und
drehte sich langsam entgegen dem Uhrzeigersinn. Bei der
ersten Drehung um 90 Grad wurden die Astronauten auf die
Seite gekippt. Nach weiteren 90 Grad standen sie auf dem
Kopf, so daß der Mond, der zuvor unter ihnen gewesen war,
nun scheinbar über ihnen hing. Hinter dem Fenster links von
Borman tauchte die hellgraue, gipsartige Mondoberfläche zum
erstenmal auf, und Borman war es denn auch, der als erster
große Augen bekam. Danach sah ihn Lovell durch das Fenster
in der Mitte und schließlich auch Anders. Den beiden
Astronauten blieb ebenso die Luft weg wie ihrem
Kommandanten.
»Großartig«, flüsterte jemand.
»Phantastisch«, antwortete jemand.
Unter ihnen glitt eine zerklüftete und zerrissene Landschaft
vorbei, die bislang noch kein menschliches Auge je erblickt
hatte – nur die Kameras der Robotsonden. Nach allen
Richtungen erstreckte sich eine endlose, ebenso reizvolle wie
häßliche Ebene mit Hunderten – nein, Tausenden, nein,
Zehntausenden – von Kratern, Löchern und Trichtern, die
Hunderte – nein Tausende, nein Millionen – von Jahren alt
waren. Es gab Krater, die nebeneinander lagen, Krater, die sich
überlappten, Krater, die andere Krater umgaben. Es gab Krater,
so groß wie ein Fußballplatz, Krater, so groß wie ganze Inseln,
Krater, so groß wie kleine Länder.
Viele dieser uralten Krater waren von Astronomen, die die
von den Raumsonden zur Erde gefunkten Bilder ausgewertet
hatten, katalogisiert und mit Namen versehen worden, und
nach monatelangem Studium kannten die Astronauten sie
ebensogut wie markante Punkte auf der Erde. Dort waren die
Krater Daedalos und Ikaros, Korolew und Gagarin, Pasteur,
Einstein und Tsiolkowsky. Rundum aber lagen zig weitere
Krater, die bislang weder ein Mensch noch ein Roboter zu
sehen bekommen hatte. Die Astronauten waren wie
benommen. Sie drückten ihre Gesichter an die fünf winzigen
Fenster, versuchten, soviel wie möglich mitzubekommen, und
verschwendeten einen Moment lang keinen Gedanken auf
ihren Flugplan, ihren Auftrag oder die Hunderte von Menschen
in Houston, die darauf warteten, daß sie sich wieder meldeten.
Über dem näherkommenden Horizont tauchte etwas Zartes,
Schimmerndes auf. Es war weiß, pastellblau und hellbraun,
und es schien geradewegs aus der grauen Landmasse vor ihnen
aufzusteigen. Die drei Astronauten wußten, was sie vor sich
sahen, aber Borman nannte es trotzdem beim Namen.
»Erdaufgang«, sagte der Kommandant leise.
»Hol die Kameras«, sagte Lovell rasch zu Anders.
»Bist du dir sicher?« fragte Anders, der für Fotos und
Kartierung zuständig war. »Sollten wir nicht die vorgesehenen
Fotozeiten abwarten?«
Lovell starrte auf den schimmernden Planeten, der über dem
pockennarbigen Mond schwebte, dann blickte er seinen
Untergebenen an. »Hol die Kameras«, wiederholte er.

Am Heiligabend erfuhren die Amerikaner in den


Morgennachrichten, daß drei ihrer Landsleute in einer
Umlaufbahn um den Mond kreisten. Vor den Häusern von
Borman, Lovell und Anders in Houston herrschte ein
Gedränge, wie man es seit dem Mercury-Programm nicht mehr
erlebt hatte.
Reporter blockierten die Gehsteige und zertrampelten die
Vorgärten.
Doch erst tags darauf, am Morgen des ersten
Weihnachtsfeiertages, passierte etwas Interessantes, als ein
Rolls-Royce vom Neiman-Marcus-Kaufhaus in die Auffahrt
von Lovells Haus einbog. Ein Mitarbeiter der NASA ging zu
dem Wagen, wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer und
geleitete ihn zur Überraschung wie auch zur Verärgerung der
Reporter, die vom Haus ferngehalten wurden, zur Tür, wo er
Marilyn Lovell eine große Schachtel überreichte. Die
Schachtel war in königsblaues Geschenkpapier eingepackt und
mit zwei Styroporkugeln verziert, die eine meerblau, die
andere mondfarben und gesprenkelt. Um die Mondkugel
kreiste ein winziges weißes Raumfahrzeug aus Plastik. Marilyn
riß die Verpackung auf und schlug das mit Sternen übersäte
Pergamentpapier in der Schachtel beiseite. Darunter befanden
sich eine Nerzjacke und eine Geschenkkarte mit den Worten:
»Frohe Weihnachten und alles Liebe vom Mann im Mond.«
Den ganzen Morgen erledigte Marilyn Lovell ihre Hausarbeit
in der Nerzjacke, die sie über ihrem Hausanzug trug. Als sie
mit den Kindern später zur Christmette ging, zog sie ein
ordentliches Ausgehkleid für die Kirche an, doch die
Nerzjacke behielt sie an. Erst als sie das Haus verließ, sahen
die Reporter, die bei knapp 27 Grad Celsius draußen warteten,
was der Mann in dem Rolls-Royce gebracht hatte.
Doch am Heiligabend galt das Hauptaugenmerk der Presse
dem Geschehen, das sich rund 400000 Kilometer weiter weg
abspielte, wo der Mann, der einige Wochen zuvor die Jacke
gekauft und für die rechtzeitige Zustellung gesorgt hatte, in
einer nunmehr kreisrunden Umlaufbahn in knapp hundert
Kilometern Höhe den Mond umflog. Die Besatzung mußte
zehn noch nie dagewesene Aufgaben erfüllen, wozu unter
anderem eingehendes Fotografieren von Mond und Erde,
Messungen im Gravitationsfeld des Mondes und
kartographisches Erfassen möglicher Landestellen und ihrer
Topographie zählten.
Als sie das Mare Tranquillitatis betrachteten, das Meer der
Ruhe, eine uralte, knochentrockene Lavaebene, auf der die
erste geplante Mondlandung stattfinden sollte, bemerkten
Borman, Lovell und Anders eine geschwungene Bergkette
knapp südwestlich des Kraters Secchi. Dieses Gebirge war von
Astronomen auf der Erde längst kartiert worden, doch die
einzelnen Berge waren viel zu klein, als daß man sie per
Teleskop hätte sehen können. Genau solche Oberflächendetails
aber benötigten die Astronauten zum Navigieren, wenn sie aus
der Umlaufbahn hinab zum Mond fliegen wollten. Am Rande
der zerklüfteten Gebirgskette, die das Meer der Ruhe
eingrenzte, entdeckte Lovell einen kleinen, dreieckigen Berg,
den seines Dafürhaltens noch nie jemand erfaßt hatte, der aber
so unverwechselbar war, daß er von künftigen Besatzungen
jederzeit wiedererkannt werden konnte.
»Hast du den Berg da schon mal gesehen?« fragte Lovell
Borman und deutete auf die Formation.
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Wie sieht’s mit dir aus?« fragte er Anders, der bei allen
topographischen Fragen das letzte Wort hatte.
»Nee«, sagte Anders. »An die Form würde ich mich
erinnern.«
»Dann habe ich ihn entdeckt«, sagte Lovell lächelnd, »und
ich werde ihm einen Namen geben. Was haltet ihr von ›Mount
Marilyn‹?«
Für die Verantwortlichen bei der NASA waren die
wissenschaftlichen Aufgaben, die die Astronauten von Apollo
8 erfüllten, ebenso wichtig wie die Öffentlichkeitsarbeit. Die
Raumfahrtbehörde plante zwei Fernsehsendungen live aus der
Mondumlaufbahn, eine am frühen Morgen des Heiligabend
und eine längere zur besten Sendezeit noch am gleichen
Abend. Die morgendliche Sendung erzielte eindrucksvolle
Zuschauerzahlen, brach jedoch keine Rekorde, da viele
Menschen im Lande mit letzten Vorbereitungen für das
Weihnachtsfest beschäftigt waren. Bei der Abendsendung
indessen, die von hundert Millionen Haushalten empfangen
wurde, sah es ganz anders aus. Alle drei Sender nahmen sie in
ihr Programm auf, da sie der Ansicht waren, daß die Mehrzahl
der Zuschauer sich entweder die Bilder vom Mond ansehen
werde oder gar nichts. Die Übertragung begann um 21:30 Uhr,
und ganz Amerika, aber auch viele Menschen rund um den
Erdball, ließen alles stehen und liegen, um sie zu verfolgen.
»Ein herzliches Willkommen vom Mond.« Mit diesen
Worten wandte sich Jim Lovell an die Leute bei der NASA
und die Menschen auf der Welt. Und als er zu reden begann,
flimmerte eine weiße Kugel vor einem farblosen Hintergrund
über den Bildschirm. Darunter, knapp über dem unteren
Bildschirmrand war ein sanft nach unten geschwungener
Bogen zu erkennen.
»Was Sie hier sehen«, sagte Anders, während er die Kamera
ausrichtete und seinen schwerelosen Körper an der
Kapselwand stabilisierte, »ist die Erde über dem
Mondhorizont. Wir werden ihr eine Zeitlang folgen und uns
dann umdrehen und Ihnen Bilder von dem weiten, dunklen
Terrain zeigen.«
»Wir befinden uns seit sechzehn Stunden in einer elliptischen
Umlaufbahn von 111 bis 310 Kilometern Höhe«, sagte
Borman, während Anders das Objektiv nach unten, auf die
Mondoberfläche richtete, »führen Experimente durch, nehmen
Bilder auf und zünden ab und zu das Triebwerk unseres
Raumfahrzeugs, um zu manövrieren. Und im Laufe dieser
Stunden hat jeder von uns eine andere Einstellung zum Mond
bekommen. Mein persönlicher Eindruck ist, daß es sich um
eine riesige, einsame, furchterregende leere Ebene handelt, die
aussieht wie Wolken und Aberwolken aus Bimsstein. Es dürfte
gewiß kein einladender Ort zum Leben oder zum Arbeiten
sein.«
»Frank, ich denke darüber ähnlich«, sagte Lovell. »Die
Einsamkeit hier oben ist ehrfurchtgebietend. Es wird einem
dabei klar, was man auf der Erde hat. Von hier aus gesehen, ist
die Erde eine Oase in der Endlosigkeit des Weltalls.«
»Was mich am meisten beeindruckt hat«, schaltete sich
Anders ein, »waren die lunaren Sonnenauf- und -untergänge.
Der Himmel ist pechschwarz, der Mond ist ganz hell, und
zwischen den beiden ist eine leuchtende Linie.«
»Am besten läßt sich das Ganze hier als ein riesiges Gebiet
aus Schwarz- und Weißtönen beschreiben«, fügte Lovell
hinzu. »Ohne jede Farbe.«
Laut Flugplan sollte die Übertragung vierundzwanzig
Minuten dauern, während das Schiff über den Mondäquator
dahinglitt und 72 Grad der 360 Grad umfassenden Umlaufbahn
zurücklegte. Die Astronauten sollten in dieser Zeit Erklärungen
und Beschreibungen, Hinweise und Anmerkungen abgeben
und dabei versuchen, mittels Worten und körnigem
Bildmaterial zu vermitteln, was sie sahen. Sie gaben sich dazu
jede erdenkliche Mühe.
»Diese Gegend ist nicht so stark mit Kratern übersät, sie muß
also ziemlich neu sein«, sagte einer von ihnen.
»Das hier ist ein Krater mit Delta-Rand…«
»Hier drüben ist ein dunkler Bereich, möglicherweise ein
alter Lavastrom… Jetzt kommen einige interessante alte
Doppelringkrater ins Bild. Am Rand dieses Berges verläuft
eine Rinne, die ein paarmal nach rechts abknickt.«
Die Astronauten fuhren fort, und das Publikum zu Hause
betrachtete die neuen Bilder und hörte die neuen Worte und
nahm soviel wie irgend möglich davon auf. Schließlich waren
die letzten Sendeminuten angebrochen. Schon Wochen vor
dem Flug hatten sich die Astronauten darüber unterhalten, wie
sie am Vorabend des höchsten Festtages im christlichen
Kalender eine Übertragung von einer Welt zur anderen
beenden sollten. Kurz vor dem Start waren sie zu einem
Entschluß gekommen, und nun war am Rücken des
Flughandbuches ein Blatt Papier (feuerfest natürlich, wie
inzwischen alles) mit ein paar kurzen getippten Sätzen
befestigt. Anders, der mit einer Hand die Kamera aus dem
Fenster richtete und mit der anderen das Blatt hielt, sagte:
»Wir nähern uns jetzt dem Sonnenaufgang auf dem Mond, und
die Besatzung von Apollo 8 möchte allen Menschen daheim
auf der Erde eine Botschaft zukommen lassen.«
»Am Anfang«, so hob er an, »schuf Gott Himmel und Erde.
Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der
Tiefe.« Langsam las Anders vier Zeilen, dann reichte er Lovell
das Blatt.
»Und Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das
Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und
Morgen der erste Tag.« Lovell übergab Borman das Blatt.
»Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem
Himmel an besondere Orte, daß man das Trockene sehe.«
Borman fuhr fort bis zum Ende des Abschnitts und endete mit
den Worten: »Und Gott sah, daß es gut war.« Als er die letzte
Zeile gelesen hatte, legte Borman das Blatt weg.
»Und wir, die Besatzung von Apollo 8«, drang seine Stimme
knackend aus 385000 Kilometer Entfernung durch das Weltall,
»wünschen Ihnen zum Schluß eine gute Nacht, alles Gute, ein
frohes Weihnachtsfest und möge Gott euch schützen, euch alle
auf der guten Erde.«
Auf den Fernsehgeräten verschwand jäh das Bild von der
Mondoberfläche. Statt dessen sah man Farbstreifen, dann
statisches Flimmern und schließlich Nachrichtensprecher, die
schwärmerisch rekapitulierten, was sie und alle übrige Welt
gerade gesehen hatten. Im Raumfahrzeug jedoch ging es
erheblich weniger andächtig zu. Sobald die Sendung vorüber
war, wandten sich Frank Borman und seine Besatzung wieder
ihren Aufgaben zu und setzten sich per Funk mit Houston in
Verbindung.
»Sind wir nicht mehr auf Sendung?« fragte Borman den
CAPCOM Ken Mattingly.
»Wird bestätigt, Apollo 8«, antwortete Mattingly. »Habt ihr
alles verstanden, was wir zu sagen hatten?«
»Laut und deutlich. Danke für die wunderbare Sendung.«
»O.K«, sagte Borman. »Und jetzt, Ken, hätten wir gern, daß
alles für den transirdischen Einschuß klargemacht wird.
Können Sie uns wie versprochen ein paar gute Worte geben?«
»Ja, Sir. Ich habe eure Manöver, und dann führen wir eine
kurze Systemeinweisung durch.«
Mattingly gab die Daten und Koordinaten für die Zündung
zum Rückschuß zur Erde (kurz TEI, Trans-Earth Injection)
durch. Sobald die Zahlen in den Computer eingegeben waren,
schnallten sich die Astronauten auf ihren Couchs an, und
Houston schwieg, während alle erforderlichen Vorbereitungen
getroffen wurden und die Minuten bis zum Abreißen des
Funksignals verstrichen. Im Gegensatz zur LOI-Zündung
mußte das Raumfahrzeug bei der TEI-Zündung mit dem Bug
nach vorn ausgerichtet werden und wieder Geschwindigkeit
aufnehmen. Auch gab es diesmal keine Wurfschlingenbahn,
auf der das Schiff automatisch zurück zur Erde fliegen würde,
falls das Haupttriebwerk nicht zünden sollte. Sollte die
Zündung nicht funktionieren, würde Apollo 8 ein ständiger
Satellit des Erdtrabanten werden, und Frank Borman, Jim
Lovell und Bill Anders würden innerhalb etwa einer Woche an
Sauerstoffmangel zugrunde gehen, während ihr Raumfahrzeug
Jahrhunderte – nein, Jahrtausende, nein, Jahrmillionen – lang
alle zwei Stunden den Mond umrundete.
Die Mannschaft flog in den Funkschatten ein, und die
Controller am Boden saßen ruhig da und warteten. Irgendwo
auf der Rückseite des Mondes müßte das gewaltige
Haupttriebwerk des Versorgungsteils zünden, aber Houston
würde erst in etwa vierzig Minuten wissen, ob es funktioniert
hatte. In der Mission Control herrschte derweil Schweigen, und
erst als die letzten Sekunden verstrichen, versuchte Ken
Mattingly, das Schiff zu erreichen. »Apollo 8, hier Houston«,
sagte er. Er erhielt keine Antwort.
Acht Sekunden später: »Apollo 8, hier Houston.« Keine
Antwort. Achtundzwanzig Sekunden später: »Apollo 8, hier
Houston.« Achtundvierzig Sekunden später: »Apollo 8, hier
Houston.« Weitere hundert Sekunden lang saßen die Männer
der Bodenkontrolle schweigend da, dann hörten sie plötzlich
Lovells Stimme über ihre Kopfhörer: »Houston, hier Apollo
8«, und schon seinem triumphierenden Tonfall konnten sie
entnehmen, daß der Motor planmäßig gezündet hatte. »Laßt
euch bitte eins gesagt sein: Den Weihnachtsmann gibt es.«
»Wird bestätigt«, gab Mattingly zurück. »Ihr müßt es ja am
besten wissen.«
Am 27 Dezember um 10:51 Uhr Ortszeit Houston ging die
Raumkapsel im Pazifischen Ozean nieder. Im Landegebiet
etwa eintausendfünfhundert Kilometer südwestlich von Hawaii
war es noch vor der Morgendämmerung, und die Besatzung
mußte neunzig Minuten lang in dem heißen, schlingernden
Raumfahrzeug warten, bis die Sonne aufging und das
Bergungsteam sie aufnehmen konnte. Der Kommandoteil
schlug auf dem Wasser auf und drehte sich dann mit der
Oberseite nach unten in die »stabile Position 2«, wie es die
NASA nannte (»stabile Position 1« war die aufrechte Lage).
Borman drückte auf den Knopf, mit dem die Ballons am
Oberteil des kegelförmigen Raumfahrzeugs aufgeblasen
wurden, und langsam richtete sich die Kapsel auf. Von dem
Zeitpunkt an, als die Besatzung ausstieg und vor die
Fernsehkameras trat, war klar, daß der Jubel, mit dem Amerika
die Astronauten empfangen würde, selbst die in Sachen
Öffentlichkeitsarbeit erfahrene NASA überraschen würde.
Borman, Lovell und Anders waren über Nacht zu Helden
geworden und wurden bei zahllosen feierlichen Diners mit
Ruhm und Ehren überhäuft. Sie wurden vom
Nachrichtenmagazin Time zu Männern des Jahres erklärt,
hielten eine Ansprache vor dem Kongreß, zogen in einer
Konfettiparade durch New York, trafen den aus dem Amt
scheidenden Präsidenten Lyndon Johnson und wurden vom
künftigen Präsidenten Richard Nixon empfangen.
Sie hatten sich die Ehrungen verdient, aber schon nach
überraschend kurzer Zeit war alles wieder vorbei. Als die
Besatzung von Apollo 8 zurückkehrte, hatte Amerika
bewiesen, daß man zum Mond fliegen konnte. Jetzt wollte man
unbedingt auf den Mond fliegen. Im Anschluß an die
triumphale Mission beschloß man bei der Raumfahrtbehörde,
daß zwei weitere Probeflüge genügen sollten, um die
Zuverlässigkeit von Ausrüstung und Flugplan zu erproben.
Irgendwann im Juli sollte dann Apollo 11 – die glückliche
Apollo 11 – starten und den Abstieg in den uralten Staub auf
dem Mond wagen. Neil Armstrong, Michael Collins und Buzz
Aldrin waren dafür vorgesehen, und im Augenblick sah es so
aus, als werde Armstrong derjenige sein, der den historischen
ersten Schritt unternehmen würde.
Auf Apollo 11 sollten weitere Mondlandungen erfolgen, und
Lovell, inzwischen der erfahrenste Mann im Astronautenkorps,
rechnete sich gute Chancen auf den Posten des Kommandanten
bei einem dieser Flüge aus. Als die Besatzungslisten für die
künftigen Missionen ausgegeben wurden, stellte Lovell denn
auch fest, daß er und zwei Neulinge, Ken Mattingly und Fred
Haise, als Ersatzteam für Apollo 11 und als Besatzung für
Apollo 14 vorgesehen waren, die im Oktober 1970 auf dem
Mond landen sollte. In nicht ganz zwei Jahren würde Lovell zu
dem felsigen Himmelskörper zurückkehren, den er gerade
verlassen hatte, und diesmal würde er den Spaziergang auf
dem Mond unternehmen können, wegen dem er ursprünglich
Astronaut geworden war. Danach wollte er in den Ruhestand
gehen.
Wie sich herausstellen sollte, gab es Schwierigkeiten bei der
Verwirklichung dieser Pläne. Vor Lovell sollten Alan Shepard,
Stuart Roosa und Edgar Mitchell mit Apollo 13 zum Mond
fliegen. Shepard, der erste Amerikaner im Weltall, war am 5.
Mai 1961 zum Nationalhelden geworden, als er mit seiner
winzigen Mercury-Kapsel einen fünfzehn Minuten dauernden
suborbitalen Flug unternommen hatte. Seither hatte er wegen
hartnäckiger Schwierigkeiten im Innenohr, die seinen
Gleichgewichtssinn beeinträchtigten, am Boden bleiben
müssen. Shepard, der unbedingt wieder fliegen wollte, hatte
unlängst eine neue Operationsmethode über sich ergehen
lassen, von der er sich eine Behebung seines Leidens
versprach, und setzte innerhalb der Raumfahrtbehörde alle
Hebel in Bewegung, um für einen Flug zum Mond eingeteilt
zu werden. Bald schon mußte er jedoch feststellen, daß er nach
neunjähriger Pause mehr Zeit brauchte, um sich an die
Belastung zu gewöhnen. Noch bevor die Besatzungslisten
endgültig feststanden, suchte Deke Slayton Jim Lovell auf und
fragte ihn, ob es ihm etwas ausmachen würde, seine Pläne zu
ändern. Was hielte er davon, Shepard mit Apollo 14 fliegen zu
lassen und statt dessen Apollo 13 zu übernehmen? Ihm sei viel
daran gelegen, sagte Deke, und das Gelingen beider Einsätze
würde dadurch weitestgehend gesichert.
Lovell zuckte die Achseln. Klar, sagte er. Warum nicht?
Freimütig gestand er Slayton, daß er sich darauf freue, wieder
zum Mond zu fliegen, und nichts dagegen einzuwenden habe,
wenn er sechs Monate früher als erwartet an die Reihe käme.
Im Grunde genommen sei eine Mondlandung wie die andere,
und von der Zahl einmal abgesehen, könnte es kaum einen
Unterschied geben, ob er mit Apollo 13 oder mit Apollo 14
fliege.
3

Frühjahr 1945

Als der Siebzehnjährige die Glas-und-Messing-Tür zum


Empfangszimmer sah, wußte er, daß er hier falsch war. Oh, es
gab noch andere Hinweise: Ein in einem Wolkenkratzer im
Herzen des Geschäftsviertels an der Michigan Avenue
ansässiges Geschäft handelte normalerweise nicht mit
Chemikalien für den Hausgebrauch. Und ein kleiner
Ladeninhaber hätte auch das Wort »Aktiengesellschaft« nicht
so groß und breit im Firmennamen stehen. Nein, das hier sah
ganz und gar nicht so aus wie der Hobbyladen für
Freizeiterfinder, den der Junge hier anzutreffen gehofft hatte.
Doch im Telefonbuch hatte »Chemikalien« gestanden, und
Chemikalien waren genau das, was er heute brauchte. Da er
eigens mit dem Zug vom Haus seiner Tante in Oak Park nach
Chicago gefahren war, wäre er sich albern vorgekommen,
wenn er jetzt unverrichteter Dinge wieder kehrtmachte.
Als er die Tür aufstieß, befand er sich in einem riesigen, mit
einem dicken Teppich ausgelegten Büro, an dessen anderem
Ende ein beängstigend wuchtiger Mahagonischreibtisch stand.
Die an dem Schreibtisch sitzende Frau, die aussah, als habe sie
noch nie im Leben ein Reagenzglas gesehen, bemerkte den
zögernd unter der Tür stehenden Jungen.
»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?« fragte sie.
»Äh, ich wollte ein paar Chemikalien kaufen«, sagte er.
»Können Sie mir sagen, woher Sie kommen?«
»Aus Milwaukee«, antwortete er, während er zaghaft durch
das Zimmer ging. »Ich bin gerade auf Familienbesuch in der
Nähe von Chicago.«
»Nein«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich meine, ob
Sie jemand geschickt hat?«
»Na klar.« Er strahlte. »Jim Siddens und Joe Sinclair.«
»Sind das Ihre Arbeitgeber?«
»Das sind meine Freunde.«
Wieder dieses knappe Lächeln. »Dürfte ich Ihren Namen
erfahren?«
»James Lovell.«
»James Lovell«, sagte sie und schrieb den Namen auf. »Einen
Augenblick bitte, James – äh, Mr. Lovell. Ich will mal
nachsehen, ob jemand aus unserer Verkaufsabteilung Zeit für
Sie hat.« Sie stand auf. »Für den Fall, daß ich jemanden finde
– können Sie mir sagen, wofür Sie sich interessieren?«
»Nichts Großes. Bloß ein bißchen Kaliumnitrat, Schwefel
und Holzkohle. Allenfalls ein, zwei Pfund.«
Die Frau verschwand hinter einer holzgetäfelten Tür und
kehrte etwa eine Minute später wieder zurück. »Die meisten
unserer Verkäufer sind leider beschäftigt«, sagte sie. »Aber
Mr. Sawyer wird Sie empfangen.«
Lovell wurde durch die Tür in ein weiteres Büro mit einem
entschieden kleineren Schreibtisch geleitet, an dem besagter
Mr. Sawyer saß. »Mein Sohn«, sagte Mr. Sawyer, als der
Teenager in seinem Büro Platz nahm, »ich weiß nicht, woher
du unseren Namen hast, aber weißt du, wir verkaufen unsere
Chemikalien normalerweise nicht pfundweise, wir verkaufen
ganze Eisenbahnwaggons voll.«
»Äh, ja, Sir, das hatte ich schon befürchtet. Aber Sie haben
hier doch bestimmt auch kleinere Mengen?«
»Ich fürchte, nein. Wir liefern unsere Chemikalien ab Lager.
Und selbst wenn wir welche hier hätten… Nun ja, weißt du,
was Kaliumnitrat, Schwefel und Holzkohle ergeben, wenn man
sie im richtigen Verhältnis miteinander mischt?«
»Raketentreibstoff?«
»Schießpulver.«
Das konnte nicht sein. Lovell war sich sicher, daß er die
Zutaten richtig aufgeschrieben hatte. Als er, Siddens und
Sinclair sich an ihren Chemielehrer gewandt hatten, hatten sie
ihm genau dargelegt, daß sie eine Rakete bauen wollten, die
richtig fliegen sollte. Zuerst wollten sie ein Flüssigtreibstoff-
Modell bauen, genau wie Robert Goddard, Hermann Oberth
und Wernher von Braun. Aber nachdem sie aus zersägten
Eisenrohren Brennkammern gebastelt, Modellflugzeuge wegen
der Zündkerzen ausgeschlachtet und Blechbüchsen als Treib
Stofftanks ins Auge gefaßt hatten, war ihnen klargeworden,
daß ihnen die Sache eine Nummer zu groß war. Ihr
Chemielehrer hatte ihnen geraten, sie sollten statt dessen eine
Kartonröhre nehmen, sie mit einer hölzernen Nase und Flossen
versehen und unten Treibstoffpulver hineinpacken. Er hatte
ihnen die Zutaten für den Treibstoff genannt, aber kein Wort
davon gesagt, daß es sich um Schießpulver handelte. Mr.
Sawyer jedoch versicherte Lovell, daß es sich um Schießpulver
handelte, und geleitete den Teenager mit leeren Händen aus
seinem Büro.
Als er ein paar Tage später wieder in Milwaukee war, stellte
Lovell seinen Lehrer zur Rede. »Natürlich ist mir klar, daß es
sich um Schießpulver handelt«, sagte der Lehrer. »Das Zeug
gibt es schon seit zweitausend Jahren. Da sollte man doch
davon ausgehen, daß es sich allmählich herumgesprochen hat.
Aber wenn man es mischt und nicht zu fest stopft, dann
verbrennt es nur, ohne zu explodieren.«
Unter Anleitung ihres Lehrers bauten Lovell, Siddens und
Sinclair ihre Rakete – ein knapp einen Meter hohes
Leichtgewicht –, stopften unten die, wie sie hofften, richtige
Menge Pulver hinein und versahen sie mit einer Zündschnur.
Am darauffolgenden Sonnabend trugen sie die Rakete hinaus
auf ein großes, freies Feld und richteten sie gen Himmel.
Lovell, der eine Schweißermaske trug, hatte sich selbst zum
Startchef ernannt, und während Siddens und Sinclair in
vermeintlich sicherem Abstand warteten, steckte er die
Zündschnur an – einen mit Schießpulver gefüllten Strohhalm.
Dann rannte er, wie Generationen von »Startchefs« vor ihm, so
schnell wie möglich weg.
Trotz seiner Nervosität hatte Lovell seine Aufgabe
einwandfrei erfüllt. Mit offenem Mund kauerte er neben seinen
Freunden und sah zu, wie die Rakete, die er gerade gezündet
hatte, einen Augenblick lang glimmte, dann verheißungsvoll
zischte und schließlich zum Erstaunen der Jungen vom Boden
abhob. Mit einer Rauchspur stieg sie etwa 25 Meter hoch,
geriet dann gefährlich ins Schlingern, flog plötzlich eine
scharfe Kurve und explodierte mit einem lauten Knall.
Qualmende Raketentrümmer fielen vom Himmel und
landeten im Umkreis von fünf Metern am Boden. Die Jungen
rannten zum Startort, um ein paar der heruntertrudelnden
Überreste aufzufangen, als könnten sie anhand der brennenden
Stücke erkennen, was schiefgegangen war. Auf den ersten
Blick erkannten sie gar nichts, aber offenbar hatten sie trotz
der Anleitung des Chemielehrers das Pulver zu fest gestopft.
Für Siddens und Sinclair, denen nach Abschluß der High-
School eine erfolgreiche berufliche Laufbahn in der
aufblühenden Nachkriegsindustrie offenstand, waren der Start
und das unrühmliche Ende der Rakete wenig mehr als ein Jux.
Für Lovell indessen war es etwas ganz anderes. Seit etlichen
Jahren schon beschäftigte er sich mit Raketen, nachdem er per
Zufall auf ein paar Bücher gestoßen war, die sich mit der
weltweiten Entwicklung dieser Wissenschaft befaßten –
hauptsächlich natürlich in den Vereinigten Staaten (wo
Goddard einer der Vorreiter der Raketentechnologie war), in
der Sowjetunion (wo Konstantin Ziolkowski ähnliches
geleistet hatte) und in Deutschland (wo Hermann Oberth und
Wernher von Braun Pionierarbeit geleistet hatten).
Schon als Junge hatte Lovell beschlossen, sein Leben der
Raketentechnologie zu widmen. Doch auf der Schule wurde
ihm klar, daß es so einfach nicht werden würde. Ein High-
School-Abschluß in Milwaukee war nicht die beste
Voraussetzung für einen derart ausgefallenen Beruf, und aufs
College zu gehen, wo er die entsprechende Ausbildung hätte
genießen können, kam nicht in Frage. Sein Vater war fünf
Jahre vorher bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und
seine Mutter hatte seither Schwerstarbeit leisten müssen, um
Essen und Kleidung für die Familie zu beschaffen. Der Besuch
einer weiterführenden Schule ließ sich damit nicht finanzieren.
Als das letzte Jahr auf der High School anbrach, dachte
Lovell über die letzte Chance nach, die sich ihm bot: das
Militär. Sein Onkel hatte 1913 seinen Abschluß auf der
Marineakademie in Annapolis gemacht, war während des
Ersten Weltkriegs als einer der ersten Marinepiloten Einsätze
gegen U-Boote geflogen, und seine Geschichten von
Luftkämpfen in Doppeldeckern aus Holz und Leinwand hatten
den Neffen immer wieder begeistert. Militärmaschinen zu
fliegen war zwar nicht dasselbe wie Raketen zu bauen, aber es
hatte immerhin etwas mit Luftfahrt zu tun. Und wenn in den
Vereinigten Staaten überhaupt jemand planmäßig
Raketenforschung betrieb, dann war es das Militär. Schon zu
Beginn seines letzten Schuljahres bewarb Lovell sich an der
Marineakademie, und ein paar Monate später teilte man ihm
mit, daß er als dritter Ersatzmann ausgewählt worden war. Das
war zwar schmeichelhaft, aber mehr auch nicht: Lovell würde
nur dann in Annapolis angenommen werden, wenn die drei
Jungs, die vor ihm an der Reihe waren, von einem
Mißgeschick ereilt würden.
Als er sich bereits mehr oder minder damit abgefunden hatte,
daß ihm keine große Zukunft bevorstand, wurde Lovell
ausgerechnet von der Organisation gerettet, die ihn gerade
abgelehnt hatte: der Navy. Wenige Wochen vor den
Abschlußprüfungen auf der High School suchte ein Werber der
Navy die Schulen in Milwaukee auf und berichtete vom
sogenannten Holloway Plan. Das Militär, das nach dem
Zweiten Weltkrieg dringend neue Flieger brauchte, initiierte
ein Programm, bei dem High-School-Abgängern eine
zweijährige Fachschulausbildung zum Ingenieur ermöglicht
wurde, gefolgt von einer Pilotenausbildung und einer
sechsmonatigen aktiven Dienstzeit im Range eines Fähnrichs
zur See. Danach sollten die Teilnehmer als Berufsoffiziere von
der Navy übernommen werden, aber zuvor durften sie ihre
zwei verbliebenen Jahre auf dem College absolvieren und
ihren Abschluß machen. Anschließend würden sie sofort ihren
Dienst als Marineflieger antreten.
Für Lovell klang dieses Angebot großartig, und er ergriff die
Gelegenheit beim Schopf und meldete sich freiwillig. Ein paar
Monate später schrieb er sich als Erstsemestler auf der
University of Wisconsin ein.
Von März 1946 bis März 1948 studierte er in Wisconsin
Ingenieurswesen. In dieser Zeit stellte er zudem einen weiteren
Antrag auf Aufnahme in die Marineakademie, diesmal auf
Betreiben einer weitaus hartnäckigeren Person – seiner Mutter.
Das Oberhaupt des Lovellschen Haushaltes freute sich darüber,
daß ihr Sohn aufs College ging, aber daß er seine Ausbildung
unterbrechen sollte, um mit der Ausbildung bei der Navy
anzufangen, gefiel ihr ganz und gar nicht* Angenommen, der
Ernstfall trat ein, bevor er seinen Abschluß hatte? Könnte es
nicht passieren, daß er für die Dauer des Konflikts plötzlich
auf einem Schiff oder in einem Schützenloch festsaß, immer
älter wurde und seine Ausbildung immer weiter
hinausschieben mußte, während sich der Krieg oder die Krise
in die Länge zogen? Ihr kam die ganze Angelegenheit zu
riskant vor.
Zu ihrer Besänftigung bewarb sich Lovell ein zweites Mal in
Annapolis, doch er machte sich nur wenig Hoffnung. Die
Aufnahme auf der Akademie, so vermutete er, war genauso
vom Zufall abhängig wie vor zwei Jahren. Während er auf den
Ablehnungsbescheid wartete, meldete er sich beim
Marinefliegerstützpunkt in Pensacola, Florida, um mit der
Flugausbildung zu beginnen. Noch bevor er die theoretische
Flugausbildung beendet hatte, schlug der Zufall zu. Er war
gerade auf dem Weg zum Unterricht, als er eines Tages von
einem Unteroffizier in der Verwaltung abgefangen wurde, der
ihm ein Schreiben aushändigte. Demnach sollte er sich
umgehend auf der Marineakademie in Annapolis melden, um
seinen Diensteid als Fähnrich zur See abzulegen.
Genaugenommen handelte sich nicht einmal um einen Befehl:
Lovell hatte das Recht, abzulehnen und seine Flugausbildung
fortzusetzen. Aber er mußte sich auf der Stelle entscheiden.
Die Fluglehrer auf der Schule in Florida, lauter junge Männer,
die frisch aus dem Krieg zurück waren, hegten bezüglich
seiner Wahl keinerlei Zweifel.
»Schauen Sie, Lovell«, sagte ein Flieger zu ihm, »wozu
wollen Sie das machen? Sie sind bereits Fähnrich, Sie haben
schon die Hälfte der Ausbildung hinter sich, und was noch
wichtiger ist: Sie werden bald fliegen. Wollen Sie das alles
wegwerfen, mit Ihrer Ausbildung von vorne anfangen und
riskieren, daß Sie zumindest in den nächsten vier Jahren nicht
im Cockpit einer Maschine sitzen werden?«
»Aber angenommen, es kommt zu einem Krieg oder etwas
ähnlichem«, sagte Lovell. »Angenommen, wir werden von hier
verlegt und können jahrelang nicht mehr zur Schule gehen.«
»Sie werden nicht verlegt werden. Ihnen kann allenfalls
passieren, daß Sie nach Annapolis gehen und zwei Jahre später
fertig werden als die anderen Jungs hier.«
Der Einwand war nicht von der Hand zu weisen, und Lovell
beschloß zu seinem eigenen Erstaunen, der Marineakademie
einen Korb zu geben. Bevor er jedoch sein Schreiben absenden
konnte, bestellte ihn Captain Jeter, der Leiter der theoretischen
Flugausbildung, zu sich. Jeter legte Wert darauf, daß er genau
wußte, was an seiner Schule vor sich ging.
»Sie haben also von der Marineakademie Bescheid
bekommen, Fähnrich Lovell«, sagte Jeter, als Lovell sich bei
ihm meldete.
»Ja, Sir.«
»Und die wollen, daß Sie sich sofort entscheiden?«
»Ja, Sir.«
»Und wie ist im Augenblick Ihre Haltung dazu?«
»Nun ja, Sir«, begann Lovell, der sich freute, seinem
Kommandeur mitteilen zu können, daß er die
Pilotenausbildung nicht abbrechen würde, daß er sich durch
den Ruf von Annapolis nicht den Kopf hatte verdrehen lassen.
»So wie ich das sehe, bin ich bereits Fähnrich und in der
Flugausbildung, und ich war bereits zwei Jahre auf dem
College. Meiner Ansicht nach bringt mich die Marineakademie
kein Stück weiter, als ich jetzt schon bin.«
Jeter schien ihm beizupflichten, aber offenbar kaute er eine
ganze Weile daran. Dann sagte er: »Lovell, sind Sie bislang
zufrieden mit der Navy?«
»Ja, Sir.«
»Sind Sie sicher, daß Sie bei der Navy Karriere machen
wollen?«
»Ja, Sir.«
»Dann gehen Sie auf die Marineakademie, mein Sohn«, sagte
der Kommandeur streng, »und genießen Sie die bestmögliche
Ausbildung, die Sie bekommen können, wenn man sie Ihnen
bietet.«
Innerhalb weniger Tage hatte Lovell, nachdem er ehrenvoll
als Fähnrich nach dem Holloway Plan entlassen worden war,
gepackt und war weg, um sich als Fähnrich in Annapolis
vereidigen zu lassen – ein freiwilliger Abstieg vom
Pilotenanwärter zum Fußvolk. Im gleichen Jahr noch wurde
das vom Bürgerkrieg zerrissene Korea in die Demokratische
Volksrepublik Nordkorea und die Republik Südkorea geteilt.
Die zunehmenden Spannungen im Lande zwangen die
Vereinigten Staaten, ihre Streitkräfte zu verstärken, wovon
auch die Nachwuchspiloten betroffen waren, die sich unlängst
im Rahmen des Holloway-Plans gemeldet hatten. Viele der
jungen Flieger wurden sofort nach Übersee verlegt, und die
meisten kämpften tapfer in dem Krieg, der schließlich
ausbrach. Obwohl die Navy ihre Piloten reichlich
auszeichnete, konnte der Großteil während der nächsten sieben
Jahre die Ausbildung nicht fortsetzen.

Lovell blühte in Annapolis auf, behielt aber stets auch die


Entwicklung auf dem Gebiet der Raketentechnologie im Auge.
Inzwischen war Wernher von Braun, der Erfinder der V-2, von
Peenemünde an der deutschen Ostseeküste ins amerikanische
New Mexico umgesiedelt worden, wo er unter dem
Codenamen »Operation Bumper« mit Erfolg einen
zweistufigen Flugkörper gestartet hatte, der eine Rekordhöhe
von 400 Kilometer erreichte und mit Bildern zurückkehrte, die
deutlich die Erdkrümmung zeigten. Für sämtliche
Raketenbegeisterte im ganzen Land war das eine Sensation.
Als noch grüner Fähnrich zur See konnte Jim Lovell diese
Entwicklung am Rande mitverfolgen. Vor ihm lagen vier
unvorstellbar schwere Jahre, und für Flausen wie die
Weltraumfahrt hatte er währenddessen keine Zeit. Auf der
Marineakademie konnte man jederzeit scheitern, aber die
höchste Aussteigerquote gab es im ersten Jahr. Brachte man
das hinter sich, ohne den Verstand zu verlieren, dann standen
die Aussichten, daß man bis zum Ende durchhielt, ziemlich
gut.
Glücklicherweise mußte Lovell die Schinderei während der
ersten zwölf Monate – beziehungsweise der verbleibenden
sechsunddreißig – nicht allein durchstehen. Wie die meisten
anderen Fähnriche hatte er, als er nach Annapolis ging, zu
Hause eine Freundin. Heiraten durften die Studenten in
Annapolis nicht, weil man davon ausging, daß angehende
Seeleute, die sich an ein Leben beim Militär gewöhnen sollten,
keine Zeit für eine Familie hätten. Ebensowenig aber wollte
man, daß jemand die ganzen vier Jahre ohne jede
zwischenmenschliche Beziehung hinter sich brachte. Verlangt
man von einem durchschnittlichen Neunzehnjährigen, daß er
die auf der Marineakademie übliche Arbeitsfülle bewältigt,
ohne ab und zu seiner Freundin schreiben oder ihr Bild
betrachten zu dürfen, wenn die Schinderei unerträglich wird,
dann riskiert man, daß der hoffnungsvolle Offiziersanwärter
eher einen Nervenzusammenbruch erleidet, als eine
militärische Führungsposition einzunehmen. Eine Freundin zu
Hause, aber nicht in der Nähe, das war genau nach dem
Geschmack der Vorgesetzten auf der Akademie.
Die Freundinnen der Offiziersanwärter wurden seit jeher als
»Anhang« bezeichnet, was aber nicht bedeutete, daß man sie
als unwillkommene Belastung betrachtete – sie galten vielmehr
als schmuckes Beiwerk. Der »Anhang« durfte die
Marineakademie nur zu vorab geplanten Ereignissen besuchen,
zum beaufsichtigten Tanztee beispielsweise oder zum Ball.
Ansonsten aber blieben die Mädchen grüppchenweise in
Unterkünften wie Ma Chestnuts Pension, gleich außerhalb des
Akademiegeländes. Die Offiziersanwärter verabredeten sich
mit ihnen und machten sich fein, durften aber nur nach
Abschluß der Abendveranstaltungen, wenn sie sie zu ihren
Pensionen zurückbegleiteten, außerhalb des Akademiegeländes
mit ihnen allein sein. Lediglich fünfundvierzig Minuten Zeit
bekamen sie dafür, und das reichte gerade mal für einen
langsamen Spaziergang und ein zärtliches Abschiednehmen,
für mehr aber nicht. Die Offiziersanwärter kosteten diese
erlaubte Dreiviertelstunde bis zum letzten Augenblick aus,
trieben sich bei Ma Chestnut oder den anderen Häusern gerade
solange herum, wie es ihre Furcht vor disziplinarischen
Maßnahmen zuließ, und kamen dann atemlos wieder durchs
Tor gerannt, just als die fünfundvierzigste Minute anbrach.
Lovells »Anhang« während seiner Studienzeit auf der
Akademie war Marilyn Gerlach, eine Pädagogikstudentin aus
Milwaukee, die er auf der High-School kennengelernt hatte, als
er in die vorletzte und sie in die unterste Klasse ging. Die
beiden waren durch scheue Blickkontakte in der Schulcafeteria
aufeinander aufmerksam geworden, wo Lovell für ein freies
Mittagessen hinter der Theke arbeitete, während sie davor
anstand.
Lovell hatte nur ein beiläufiges Interesse für die kichernde
Dreizehnjährige, bis die Klassenabschlußfeier vor der Tür
stand und er keine Partnerin hatte. Lovell beugte sich über
Linseneintopf und Hackbraten, schrie über den Lärm der
schlangestehenden Schüler hinweg und fragte das viel jüngere
Mädchen, ob es Lust habe, mit zum Tanz der Älteren zu
kommen.
»Ich kann doch überhaupt nicht tanzen«, rief sie
wahrheitsgemäß zurück – hoffte allerdings, kokett und
unglaubwürdig zu klingen.
»Macht nichts«, sagte er. »Ich bring’s dir bei.« Aber er hatte
keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.
Die Verabredung verlief bestens, ihre Beziehung reifte, und
die beiden blieben zusammen, als Lovell auf die nicht weit
entfernte University of Wisconsin und später nach Annapolis
ging. Ein Jahr nach seinem Eintreffen auf der Marineakademie
schrieb Lovell Marilyn einen Brief, in dem er ihr erklärte, daß
viele andere Offiziersanwärter verlobt seien und nach ihrem
Abschluß heiraten wollten. Das Komische dabei sei allerdings,
daß sie anscheinend alle mit Mädchen aus dem Osten verlobt
seien. Irgendwie, deutete er vage an, müsse es etwas mit der
geographischen Nähe zu tun haben, daß die Beziehungen
besser funktionierten. Natürlich teilte er ihr das ohne
besondere Absicht mit; er dachte nur, es könnte sie
interessieren.
Wie sich herausstellte, interessierte es Marilyn Gerlach sehr,
und binnen zwei Monaten hatte sie ihre Koffer gepackt und
zog nach Washington, D. C. wo sie ihre Ausbildung auf der
George Washington University fortsetzte und sich eine
Teilzeitarbeit im Kaufhaus Garfinckel besorgte. Drei Jahre
später saß sie in der Dahlgren Hall auf dem Gelände der
Marineakademie Annapolis, als Fähnrich zur See Lovell und
seine Kameraden vom Abschlußjahrgang 1952 zur Feier des
Tages jubelten, sich gegenseitig umarmten und ihre Mützen in
die Luft warfen. Dreieinhalb Stunden später standen der
frischgebackene Offizier und das Mädchen aus seiner
Heimatstadt in der St. Anne’s Episcopal Cathedral im
historischen Zentrum von Annapolis und wurden Mr. und Mrs.
James A. Lovell jr.
Nur 50 der 783 Studenten aus der Abschlußklasse des Jahres
1952 wurden sofort für die Marinefliegerei ausgewählt. Lovell,
der diese Stunde der Wahrheit nie aus dem Blick verlor, hatte
seine Vorliebe für die Luftfahrt während der vierjährigen
Ausbildungszeit so deutlich wie möglich zum Ausdruck
gebracht und sogar seine Abschlußarbeit über ein noch nie
dagewesenes Thema geschrieben: Mit Flüssigtreibstoff
fliegende Raketen. Eine Arbeit übrigens, die Marilyn
pflichtschuldig abtippte, obwohl sie sich ständig darüber
ausließ, daß ihr angehender Ehemann sich und seinem
Notendurchschnitt einen besseren Dienst erwiese, wenn er ein
herkömmlicheres Thema, Militärgeschichte zum Beispiel,
gewählt hätte. Nichtsdestotrotz erwarb sich Lovell mit dieser
Arbeit sowohl eine erstklassige Note als auch einen
exzellenten Ruf, und als das halbe Hundert Anwärter für die
Flugschule auserwählt wurde, befand er sich unter den
Glücklichen.
Die Pilotenausbildung dauerte vierzehn Monate, und
nachdem sie vorbei war, wurden die Absolventen von der
Navy gefragt, wo sie stationiert werden möchten. Lovell, der
sich an der Ostküste niederlassen wollte, meldete sich für den
Marinestützpunkt Quonset Point in der Nähe von Newport,
Rhode Island. In seiner Naivität hatte er angenommen, seine
Wahl würde eine Auswirkung auf seinen künftigen Standort
haben. Doch bei der Navy ging man anders vor, und nachdem
man sein Gesuch bearbeitet und seinen Wunsch zur Kenntnis
genommen hatte, wurde er prompt nach Mofett Field in der
Nähe von San Francisco versetzt.
Als der grüne Jungoffizier mit Frau und frisch verliehenen
Schwingen an der Uniform an der Westküste eintraf, wurde er
der Composite Squadron Three zugeteilt, einer Einheit, deren
Spezialität hochriskante nächtliche Landungen auf
Flugzeugträgern waren. Einen Düsenjäger vom Deck eines
schwankenden Flugzeugträgers zu starten und ihn sicher
wieder auf einem aus der Höhe dann anscheinend zu
Dominosteingröße geschrumpften Schiff zu landen, ist eine der
schwersten Aufgaben für einen Marinepiloten. Das gleiche
Manöver bei Nacht zu fliegen, oftmals unter ungünstigen
Witterungsverhältnissen und bei Kriegsbedingungen – bei
verdunkeltem Schiff also –, hieß, Schwierigkeiten geradezu
herauszufordern. In den frühen fünfziger Jahren steckte die
Nachtfliegerei von Trägern aus noch in den Kinderschuhen;
nur die Pechvögel unter den Piloten wurden zu derartigen
Einsätzen abgestellt und mußten sich mit dem Katapult in die
Dunkelheit schleudern lassen, während ihre Kameraden sich
unter Deck gemeinsam einen Film anschauten.
Jim Lovell lernte die Kunst des Nachteinsatzes vor der
kalifornischen Küste, aber sechs Monate später, an einem
eisigen Februarabend vor der Küste des noch immer besetzten
Japan, unternahm er seinen ersten Nachtflug über einem
fremden Meer.
Die Flugbedingungen waren alles andere als ideal. Kein
Mond stand am Himmel, und da die Sterne hinter einer
leichten Wolkendecke lagen, war auch kein Horizont zu
erkennen.
Glücklicherweise war das Manöver, das der Skipper in dieser
Nacht von seinen Piloten verlangte, relativ unkompliziert. Laut
Flugplan sollten die vier F2H-Banshees zu einem
Patrouillenflug unter Kampfbedingungen vom Träger, der USS
»Shangri-La«, starten. Zu den Nachtkampfübungen gehörten
normalerweise ein Sammeln der Maschinen nach dem Start in
einer Höhe von 1500 Fuß (450 Meter) und danach ein
Überfliegen der Trägergruppe in 30000 Fuß (9000 Meter)
Höhe. Anschließend sollten die Piloten wieder zur Landung
einschweben. Zwar würde keinerlei Licht an Bord des Trägers
den Piloten den Rückweg weisen, doch das Schiff würde an
die Banshees ein Funksignal auf 518 Kilohertz ausstrahlen, auf
das die Nadeln der Richtungssuchgeräte (Automatic Direction
Finder, kurz ADF) wie eine Wünschelrute reagierten, so daß
die Männer lediglich der angegebenen Richtung folgen
mußten, um direkt auf den Träger zuzusteuern. Es war eine
einfache, alltägliche Übung, und mit etwas Glück könnten die
Piloten wieder an Bord sein, bevor die zweite Spule des
Abendfilms eingelegt wurde. Doch dann gab es fast vom Start
weg nichts als Ärger.
Lovell war als erster der vier Piloten in der Luft, gefolgt von
seinen Kameraden Bill Knutson und Daren Hillery. Wie bei
derartigen Übungen üblich, sollte Dane Klinger, der Führer des
Schwarms, zuletzt vom Flugdeck starten. Doch Klinger wollte
gerade vollen Schub geben, als sich die Wolkendecke, die
schon die ganze Zeit drohend am Himmel gehangen hatte,
senkte und so dicht wurde, daß fast nichts mehr zu erkennen
war. Klinger bekam den Befehl, die Turbinen abzustellen und
an Bord zu bleiben, und über Funk nahm man Kontakt zu
Lovell, Knutson und Hillery auf, die gerade mit dem Sammeln
begonnen hatten.
»November Papas«, meldete sich das Schiff mit dem
Rufzeichen des Schwarms, »die Übung wurde wegen
schlechten Wetters abgesagt. Sammeln und dann dreißig
Minuten lang auf 1500 Fuß über dem Schiff kreisen. Wir holen
euch runter, sobald ihr ein bißchen Treibstoff verbraucht habt.«
Lovell saß in seinem Cockpit und mußte wider besseren
Wissens lächeln. Für ihn wäre es Einführungsritual und
Erleichterung zugleich, wenn er seinen ersten Nachtflug
erfolgreich hinter sich bringen könnte. Aber angesichts der
Gefahren wäre er auch erleichtert, wenn ihm die ganze
scheußliche Angelegenheit erspart bliebe, und sei es auch nur
für einen Abend.
Wie vorgeschrieben; flog Lovell vom Schiff aus zwei oder
drei Minuten geradeaus, zog dann eine 180-Grad-Kurve und
flog zurück, damit sich seine Kameraden an ihn hängen
konnten. Aber als er die Stelle erreichte, wo die Maschinen
und der Träger sein sollten, waren sie nirgendwo zu sehen. Er
warf einen Blick auf den Höhenmesser: 1500 Fuß. Er warf
einen Blick auf sein ADF: Träger direkt vor ihm. Doch Lovell
sah rundum nichts als Dunkelheit.
»November Papa One, hier spricht Two«, meldete sich
plötzlich Knutson in seinem Kopfhörer. »Wir sehen dich nicht.
Kannst du uns sagen, wo du bist?«
»Habe Home Plate noch nicht erreicht«, antwortete Lovell.
»Nun, Three hat zu mir aufgeschlossen«, sagte Knutson.
»Wir kreisen in 1500 Fuß über Home Plate und warten auf
dich.«
Lovell war verwirrt. Wieder blickte er auf Höhenmesser und
ADF; alles schien in Ordnung zu sein. Er schaute auf den
Einstellknopf des ADF: das Gerät war tatsächlich auf den
Empfang von 518 Kilohertz eingestellt. Er tippte auf das Glas
über dem Instrument. Die Nadel zeigte weiterhin alles richtig
an. Was Lovell nicht wußte – nicht wissen konnte –, war, daß
eine Funkleitstation an der japanischen Küste ebenfalls auf 518
Kilohertz sendete. Seine Begleiter hatten Glück gehabt und
rechtzeitig den Funkstrahl des Schiffes angepeilt, bevor sie von
der Küstenstation angepeilt worden waren. Wie es der Zufall
wollte, empfing Lovells Richtungsanzeiger indessen das Signal
von der Küste, das ihn nun stetig und beharrlich vom Schiff
weg – und in die Nacht hineinlotste, die immer schwärzer und
unfreundlicher wurde.
»Home Plate«, rief er den Träger in der Hoffnung, daß man
ihn zumindest auf dem Radar des Schiffes sehen müßte.
»Könnt ihr mich erkennen?«
»Negativ«, meldete die »Shangri-La«.
Mit einem Mal war Lovell überhaupt nicht mehr ruhig. Unter
der heißen, luftundurchlässigen Fliegerkombination lief ihm
der Schweiß über Brust, Bauch und Beine.
»Home Plate«, sagte er, »ich habe anscheinend irgendwo
meine Begleiter verloren. Ich werde auf Gegenkurs gehen und
sehen, ob ich wieder auf sie stoße.«
»Roger, November Papa One. Suchen Sie in aller Ruhe.«
Lovell drehte die Maschine um 180 Grad, und der ADF
reagierte und deutete nun zum Heck der Maschine, um
anzuzeigen, daß der unsichtbare Träger und die beiden
unsichtbaren Piloten jetzt hinter ihm wären. Lovell fluchte. Der
ADF irrte sich nie. Aber vielleicht, dachte er, war die Frequenz
des Zielfunkgerätes geändert worden, ohne daß man ihm
Bescheid gesagt hatte. An seinem Bein war ein sogenanntes
»Kniebrett« mit einer Aufstellung der neuesten
Funkfrequenzen festgeschnallt, die man den Piloten vor dem
Besteigen der Flugzeuge ausgehändigt hatte. Sämtliche Piloten
trugen solche Kniebretter, wenn sie aufstiegen, aber Lovells
war etwas anders als die meisten. Der frischgebackene Pilot
hatte immer Schwierigkeiten gehabt, im Dämmerlicht unter
dem Armaturenbrett die winzigen Zahlen auf den Flugplänen
zu erkennen, und so hatte er in den Mußestunden während der
langen Reise nach Fernost Ersatzteile aus dem Lagerraum
zusammengetragen und eine raffinierte kleine Lampe
erfunden, die er an seinem Kniebrett befestigen konnte. Man
stecke das Kabel der Lampe in den Stromanschluß der
Maschine, drücke auf ein Knöpfchen, und das Kniebrett war
erleuchtet.
Lovell war stolz auf seine Erfindung, und jetzt hatte er zum
erstenmal Gelegenheit, sie auszuprobieren. Er griff zum Kabel,
schob es in die Anschlußbuchse und legte den Schalter um.
Kaum hatte er das jedoch getan, als es ein helles Flackern gab
– ein unmißverständlicher Hinweis auf einen Kurzschluß
aufgrund einer Überlastung der Bordelektrik – und sämtliche
Lämpchen am Armaturenbrett ausgingen.
Lovells Herz pochte heftig. Sein Mund wurde trocken. Er
blickte sich um und sah gar nichts. Auf einmal war es in der
Maschine ebenso dunkel wie draußen. Er riß die
Sauerstoffmaske ab, atmete ein oder zwei Züge Kabinenluft
ein und schob sich eine Stiftlampe in den Mund, um die
Instrumente anzuleuchten. Der dollargroße Strahl der winzigen
Taschenlampe tanzte über die Armaturen und warf einen
fahlen Lichtschein auf jeweils ein Instrument. Lovell las die
Anzeigen, so gut er konnte, ließ sich dann zurücksinken und
überlegte, wie er sich nun verhalten sollte.
Wenn ein Pilot in einer derartigen Klemme steckte, hatte er
zwei Möglichkeiten – verlockend war keine davon. Er konnte
erklären, daß er in eine Notlage geraten sei, und darum bitten,
daß der Träger die Beleuchtung einschaltete. Der Skipper
würde wahrscheinlich einwilligen, aber es wäre über alle
Maßen peinlich. Angenommen, dies wäre ein richtiger
Nachteinsatz in einem richtigen Krieg? Entschuldigung, liebe
Feindschiffe, würdet ihr bitte kehrtmachen, damit wir unser
Licht einschalten können? Die Alternative war kaum besser: Er
könnte gleichfalls erklären, er sei in eine Notlage geraten, sich
dann aber in Gegenrichtung halten und versuchen, einen
Landeplatz in Japan zu finden. Zumindest wäre er dann über
Land, und nicht über dem eisigen, tintenschwarzen Meer. Aber
mit dem unzuverlässigen ADF und ohne Cockpit-Beleuchtung
würde er wahrscheinlich nie und nimmer eine Rollbahn finden.
Die Maschine wäre verloren, und er müßte per Fallschirm
landen.
Lovell nahm die Stiftlampe aus dem Mund, schaltete sie ab
und starrte in die Dunkelheit. Schräg unter sich, etwa bei zwei
Uhr, meinte er ein schwaches grünliches Schimmern im
schwarzen Wasser zu erkennen. Die unheimliche Strahlung
war kaum sichtbar und wäre Lovell vermutlich auch nicht
aufgefallen, wenn seine Augen aufgrund der Schwärze im
Cockpit nicht an die Dunkelheit gewöhnt gewesen wären.
Doch bei dem Anblick machte sein Herz einen Satz. Er wußte
genau, worum es sich bei dem seltsamen Schimmern handelte:
eine Wolke aus phosphoreszierenden Algen, die durch die
Schraubenbewegung des Trägers zum Leuchten gebracht
worden waren. Als Pilot wußte man, daß eine sich drehende
Schiffsschraube Wasserorganismen zum Leuchten brachte und
man auf diese Weise ein gesuchtes Schiff finden konnte. Es
war eine der unzuverlässigsten und verzweifeltsten Methoden,
ein verirrtes Flugzeug sicher zurückzubringen, aber wenn alles
andere versagte, mußte man auf einen solchen Trick
zurückgreifen. Lovell sagte sich, daß alles andere versagt hatte,
und mit einem fatalistischen Achselzucken hängte er sich an
den schwachen grünen Streifen im Wasser.
Knapp vor dem Lichtfleck im Wasser ging er auf eine Höhe
von 1500 Fuß und stieß auf seine beiden Begleitmaschinen, die
dort auf ihn warteten. Er war außer sich vor Freude, als er die
beiden kreisenden Flugzeuge sah, aber er wußte, daß er sich
seine Erleichterung nicht anmerken lassen durfte.
»Wir wollten dich schon aufgeben«, meldete sich Hillery per
Funk bei Lovell. »Freut uns, daß du dich uns anschließen
willst.«
»Hatte ein paar Probleme mit den Instrumenten«, funkte der
unsichtbare Pilot aus seinem dunklen Cockpit zurück. »Nichts
Weltbewegendes.«
Obwohl sich der Schwarm nun gesammelt hatte, waren
Lovells Schwierigkeiten noch nicht annähernd überstanden:
Erst mußte er die unbeleuchtete Maschine wieder auf dem
Flugdeck des Trägers landen. Eine sichere Landung aber war
nur möglich, wenn er ständig Höhenmesser und
Fluggeschwindigkeitsanzeiger im Auge behielt, doch mit
Lovells schwacher Stiftlampe ließen sich nicht beide
Instrumente zugleich anleuchten.
Da er den Träger zuletzt erreicht hatte, flog Lovell nun die
dritte Maschine der Dreierformation, was wiederum hieß, daß
er das Landedeck zuletzt ansteuern mußte. Die drei Maschinen
flogen das Schiff von Steuerbord aus an, und Lovell sah zu,
wie erst der eine und dann der andere Begleiter nach Lee
abkippte. Er hörte, wie Snapper Control, der Mann, der dem
für das Landesignal zuständigen Offizier half, die beiden
anderen Piloten rief, als sie sich querab vom Heck des Schiffes
befanden, und ihnen mitteilte, sie sollten mit dem Landeanflug
beginnen. Sie gingen bis auf 150 Fuß (45 Meter) herunter,
hängten sich hinter das Schiff und flogen dann stetig immer
tiefer, bis sie über dem Deck waren und ohne Zwischenfall
aufsetzten. Lovell konnte sie nur ob der geglückten Landung
beneiden. Während er die Stiftlampe mit den Zähnen festhielt,
hörte er, wie er von Snapper Control zum Landeanflug
eingewiesen wurde. Mit einem Auge auf den näherkommenden
Hecküberhang des Trägers zu achten und mit dem anderen die
Instrumente im Blick zu behalten, war nicht einfach, aber
Lovell hatte das Gefühl, daß er es schaffen könnte. Rasch
näherte er sich in einer Höhe von 250 Fuß (75 Meter) – dies
hatte ihm ein letzter Blick auf den Höhenmesser bestätigt –
dem Schiff, als er plötzlich von der Kanzel aus unmittelbar
unter seinem linken Flügel ein rotes Licht bemerkte.
Er hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Mit Sicherheit
befand sich zwischen ihm und dem Wasser kein weiteres
Flugzeug, und um ein kleines Boot oder eine Leuchtboje hinter
dem Träger konnte es sich auch nicht handeln. Erschrocken
begriff Lovell, was er da sah. Das Licht war eine Spiegelung
der Positionslampe an seiner eigenen Flügelspitze auf dem
wogenden Wasser, das, wie er nun feststellte, keineswegs
sichere 250 Fuß, sondern knapp 20 Fuß (6 Meter) unter ihm
lag. Ein rascher Blick auf den Höhenmesser bestätigte dies.
Lovell befand sich praktisch auf Höhe der Wellen, und sein
Fahrwerk streifte fast das Meer, so daß er demnächst entweder
auf dem Wasser aufschlagen oder das breite Heck des
gigantischen Trägers rammen würde.
»Hochziehen, November Papa One, hochziehen!« schrie ihm
Snapper Control zu. »Sie sind viel zu tief!«
Lovell riß den Steuerknüppel zurück, schob die Gashebel
nach vorne, und heulend schoß die Banshee auf eine Höhe von
500 Fuß (150 Meter). Wieder überflog er den Träger, drehte
einmal mehr bei und steuerte erneut die Anflugschneise an.
Diesmal war er 500 Fuß hoch.
»Sie sind zu hoch, November Papa One, viel zu hoch«,
brüllte ihm der Flugleitoffizier zu. »Sie können aus dieser
Höhe nicht anfliegen!«
Lovell jedoch wußte, daß diese Höhe genau richtig für ihn
war. Wenn er an die im Schein seiner Taschenlampe
flackernden Instrumente und das wie eine schwarze Wand vor
ihm aufragende Heck des riesigen Trägers dachte, dann wollte
er lieber zu hoch zur Landung auf dem Schiff ansetzen, als von
hinten zu tief darauf zuzufliegen. Als das Flugdeck immer
näher kam, ließ Lovell die Maschine wie einen Stein von 500
auf bloße 150 Fuß durchsacken. Dann ging er buchstäblich im
freien Fall herunter, bis er mit einem markerschütternden
Schlag, bei dem zwei Reifen platzten, auf das flache Deck
knallte und nach vorne schlitterte. Abrupt kam er zum Stehen,
nachdem der Haken am Heck seiner Maschine die letzte quer
über das Deck gespannte Fangleine erwischte.
Lovell stellte die Triebwerke ab und ließ den Kopf in die
Hände sinken. Der Einweiser kam zum Düsenjäger gerannt,
und der blaß gewordene Pilot löste die Sitzgurte, kletterte aus
dem Cockpit und stieg mit wackligen Beinen hinunter aufs
Deck.
»Schön, daß Sie sich entschieden haben, wieder an Bord zu
kommen«, sagte der Einweiser.
»Schön, wieder hier zu sein«, bekam er heiser zur Antwort.
Als er unter Deck ging, bereitete sich Lovell auf die
Einsatzbesprechung mit seinem Schwarmführer vor, doch er
wurde vom Bordarzt abgefangen, der eine kleine Flasche
Brandy bei sich hatte. »Sie sehen nicht besonders gut aus«,
sagte der Arzt. »Nehmen Sie einen Schluck Medizin. Geht auf
mich.« Lovell ergriff die Flasche und leerte sie mit einem Zug.
Als sich Lieutenant Junior Grade Lovell mit Lieutenant
Commander Klinger traf, schilderte er nach besten Kräften,
welche Schwierigkeiten er mit dem ADF und bei der
Einschätzung der Höhe während des Landeanflugs gehabt
habe, und zögernd erwähnte er auch die kleine Erfindung, die
den Stromausfall in seinem Cockpit verursacht hatte. Der
Skipper hörte sich das Ganze anscheinend voller Mitgefühl an,
nickte scheinbar verständnisvoll und zog dann, als Lovell
fertig war, den Einsatzplan für die Nachtflüge tags darauf
hervor. Schwungvoll und mit einem Lächeln schrieb er ganz
vorne auf die Liste »Lovell«.
»Sie sind vom Pferd gefallen«, sagte der Skipper. »Und jetzt
müssen Sie wieder rauf.«
Wie befohlen flog Lovell gleich am nächsten Abend wieder
hinaus in die Dunkelheit. Diesmal fand der ADF das Schiff
problemlos, diesmal schwebte er tadellos ein, und diesmal
gelang ihm eine einwandfreie Landung. Aber diesmal nahm er
auch sein phantastisches, beleuchtetes Kniebrett nicht mit.
Jim Lovell gewöhnte sich schließlich an dieses hochriskante
Leben als Trägerpilot; er brachte es auf insgesamt 107
Nachtlandungen und wurde zuletzt Ausbilder auf einer ganzen
Reihe neuer Flugzeuge, darunter die FJ-4 Fury, die F8U
Crusader und die F3H Demon. Um 1957 aber verloren die
Patrouillenflüge über dem friedlichen Pazifik und die
Übungseinsätze für Luftkämpfe, die allem Anschein nach nie
stattfinden würden, allmählich ihren Reiz. Als sich Ende des
Jahres die Gelegenheit zu einer Versetzung bot, bewarb sich
Lovell – der inzwischen auf die Dreißig zuging und eine
dreijährige Tochter sowie einen zweijährigen Sohn hatte – für
einen der gefährlichsten Posten, den das Militär zu bieten
hatte: Das U.S. Navy Aircraft Test Center in Patuxent River,
Maryland.
Lovell war gespannt auf die neue Aufgabe. Es gehörte schon
ein beträchtliches Geschick dazu, einen Kampfjet zu fliegen,
der bereits für einsatztauglich befunden worden war. Aber
derjenige zu sein, der vorher über diese Tauglichkeit zu
befinden hatte, dazu gehörte noch viel mehr. Mit unerprobten
Flugzeugen in den Himmel über dem südlichen Maryland
aufzusteigen, das, so dachte sich Lovell, müßte ungefähr das
Schärfste sein, was es in der Fliegerei gab, und als sein Antrag
bewilligt wurde, packte er rasch seine Familie zusammen und
bereitete sich auf den Umzug nach Osten vor. Aber noch bevor
er aus Kalifornien aufbrach, bekam diese scharfe neue
Laufbahn einen kleinen Dämpfer ab.
Am 4. Oktober 1957 verblüffte die Sowjetunion Washington
und die ganze westliche Welt mit der Nachricht, daß es ihr
gelungen sei, eine Robotkugel namens »Sputnik« in eine 900
Kilometer hohe Umlaufbahn um die Erde zu schießen. Die
Kugel wog nur 84 Kilogramm, die höchstmögliche Last, die
Moskaus alte R-7-Rakete tragen konnte. Nur einen Monat
später starteten die sowjetischen Ingenieure eine weitaus
stärkere Rakete und einen viel größeren Sputnik, der diesmal
über 500 Kilogramm wog.
Die Vereinigten Staaten waren blamiert; sie mußten sich
rasch etwas einfallen lassen. Einen Monat darauf schoben
amerikanische Ingenieure eine kleine, schmale Vanguard-
Rakete hinaus auf die Startrampe, setzten einen niedlichen,
etwa 15 Zentimeter großen Satelliten obenauf, zündeten sie
und hofften das Beste. Die Vanguard stand ein paar Sekunden
lang verheißungsvoll rauchend auf der Rampe, stieg ein paar
Zentimeter weit hoch und flog dann in tausend Fetzen. Der
orangengroße Satellit fiel zu Boden, rollte weg und blieb dann
am Rand der asphaltierten Startrampe liegen, von wo aus er
sein albernes Piepzeichen an die gedemütigten Flugleiter im
Blockhaus funkte. Die ganze Welt lachte über das Debakel des
Westens, allen voran die amerikanischen Zeitungen, die sich
tagelang über diesen Geniestreich und den großartigen neuen
»Kaputtnik« ausließen.
Lovell verfolgte diese Vorgänge und fand die Scherze nicht
besonders spaßig. Hatten die Vereinigten Staaten nicht all
diese tollen Deutschen draußen in White Sands sitzen? Hatten
die Vereinigten Staaten nicht schon vor einem Jahrzehnt
»Operation Bumper« durchgeführt? Warum ließen sie sich
dann jetzt so vorführen? Es war eine leidige Angelegenheit,
aber ein Marineflieger wie Lovell konnte sich über so etwas
nicht endlos den Kopf zerbrechen. Er wollte demnächst
Flugzeuge testen – und davon baute man in Amerika wahrlich
nicht die schlechtesten. Er hatte keine Lust, sich mit Quatsch
über Raketen zu belasten. Außerdem flogen diejenigen, die
ihm am meisten am Herzen lagen, anscheinend immer in
Stücke.
4

April 1970

Sy Liebergot war Datensalat gewöhnt. Er mochte ihn nicht –


keiner mochte so etwas. Aber er war daran gewöhnt.
Liebergot hing wie alle Controller auf Gedeih und Verderb
von den Daten auf seinem Bildschirm ab. Für den ungeübten
Betrachter ergaben die Leuchtsymbole nicht den geringsten
Sinn. Einem Controller aber verrieten die Zahlen auf dem
Monitor, daß mit der kleinen Kapsel, in der mit seiner Hilfe
400000 Kilometer entfernt Menschen durchs All flogen, alles
in bester Ordnung war, und das war sehr gut, oder aber, daß
etwas nicht in Ordnung war, und das war sehr schlecht. Wenn
etwas nicht in Ordnung war, so hieß das, daß die Menschen in
der Kapsel möglicherweise nie mehr aus den himmlischen
Sphären zurückkehrten, denen sie lediglich einen Besuch
hatten abstatten wollen, und die Leute am Boden wollten dann
wissen, ob es vielleicht an den Leuchtsymbolen lag, die
plötzlich Sperenzchen machten, und ob es einem vielleicht
eher hätte auffallen müssen. Deshalb wurden Liebergot und
alle anderen nervös, als die Daten auf den Bildschirmen
plötzlich verrückt spielten.
Nicht daß jemand gewußt hätte, worauf dieser gelegentliche
Datensalat zurückzuführen war. Genaugenommen konnte man
so etwas nicht einmal voraussagen. Es war schon
vorgekommen, wenn eine Apollo-Kapsel auf der Umlaufbahn
hinter dem Mond verschwand. Es war bereits vorgekommen,
wenn sich eine in der Erdumlaufbahn fliegende Gemini-Kapsel
zwischen zwei Bodenstationen befand. Es war schon
vorgekommen, wenn eine Mercury-Kapsel die Umlaufbahn
verließ und mit einer Geschwindigkeit von 27000 Kilometern
pro Stunde in die Erdatmosphäre eintrat, so daß sie inmitten
einer Wolke aus heißer, ionisierter Luft flog, die jeden
Funkverkehr lahmlegte.
In all diesen Fällen konnte es passieren, daß die von der
Kapsel übermittelten Daten weitestgehend unbrauchbar waren,
aber bevor sie gänzlich verschwanden, spielten sie, nun ja,
verrückt. Manchmal teilten einem die Leuchtzeichen am
Bildschirm mit, der Kabinendruck sei auf Null abgefallen;
manchmal teilten sie einem mit, ein Sauerstofftank sei
explodiert, habe ein Schott zerstört und einen Teil des
Raumfahrzeugs beschädigt, oder zwei Brennstoffzellen seien
ausgefallen, oder der Hitzeschild habe sich gelöst und die
Steuerraketen funktionierten nicht. Meistens war es nicht so,
meistens handelte es sich nur um Datensalat – aber wenn es
zutraf, dann steckte die Kapsel in ernsten Schwierigkeiten. Das
Problem dabei war, daß man nie genau wußte, worum es sich
handelte, bevor die Gemini Kontakt mit der nächsten
Bodenstation aufnahm, die Mercury wieder aus dem
Ionensturm herausflog oder die Apollo wieder auf der hellen
Seite des Mondes auftauchte.
Liebergot war zuständig für die Kommandokonsole für
Elektrik und Lebenserhaltungssysteme – Electrical and
Environmental Command Console, kurz EECOM. Die
Bezeichnung EECOM stammte von der NASA, aber Liebergot
und seine Kollegen nannten sich insgeheim lieber Männer fürs
leibliche Wohl. Sie waren diejenigen, die die inneren Organe
des Schiffes überwachten, die dafür sorgten, daß alle
lebensnotwendigen Flüssigkeiten und Gase zur Verfügung
standen, und die letztendlich für das Überleben dieses
mechanischen Organismus’ in einer lebensfeindlichen Umwelt
verantwortlich waren.
Während der ersten anderthalb Jahre des bemannten Apollo-
Programms hatten die Männer, die an den Konsolen der
Mission Control arbeiteten, Bemerkenswertes
zustandegebracht. Nach einiger Zeit kannten sie die Strecke
zum Mond ebensogut wie einst die Schiffskapitäne die alten
Handelsrouten. Viermal schon hatten sie Astronauten zum
Mond geschickt – zweimal, bei Apollo 11 und 12, hatten sie
sie sogar auf den Mond gelotst –, und viermal hatten sie sie
sicher wieder zurückgebracht. Liebergot hatte wie der Großteil
der Männer in diesem Raum an all diesen Flügen mitgewirkt,
und allmählich hatte er das Gefühl, daß es wenig gab, was er
und seine Kollegen nicht voraussagen konnten, sei es während
des Starts, beim Mondspaziergang oder bei der abschließenden
Landung im Wasser, und kaum etwas, was sie nicht im Griff
hatten. Als die Raumfahrtbehörde im Winter und Frühling mit
der Planung für Jim Lovells, Ken Mattinglys und Fred Haises
Flug mit Apollo 13 befaßt war, wußten die Controller, daß sie
ihre ganze Erfahrung brauchen würden.
Nach Vorstellung der NASA-Oberen sollte es eine lange,
strapaziöse Mission werden. Die ersten beiden
Mondlandungen, Apollo 11 und 12, waren an zwei eher
problemlosen Stellen auf dem Mond erfolgt, dem Meer der
Ruhe und dem Ozean der Stürme. Derart flache, wüstenartige
Gegenden eigneten sich zwar bestens zur Landung, für
Geologen aber waren sie eher langweilig – kilometerweit
nichts als Staub und Steine, alle etwa gleich alt und gleich
beschaffen.
Wenn man etwas wirklich Interessantes wollte, mußte man in
die Mondberge vordringen. Die höher gelegenen Landschaften
auf dem Mond unterschieden sich geologisch derart vom
Tiefland, daß sie sogar das Sonnenlicht heller reflektierten und
auf den irdischen Betrachter wie ein lockendes Leuchtzeichen
wirkten. Mit Apollo 13 gedachte die NASA diesem Lockruf zu
folgen. Als Zielort für die dritte Mondlandung war die
sogenannte Fra-Mauro-Region vorgesehen, ein zerklüfteter
Gebirgszug etwa 17Q Kilometer östlich der Landestelle von
Apollo 12. Von Fra Mauro erwartete man zum einen
interessante Bodenproben, andererseits aber sollten bei der
Erkundung der Gegend und der Suche nach einem geeigneten
Landeplatz das Können der Astronauten und die
Manövrierfähigkeit der Mondfähre auf eine ernste Probe
gestellt werden.
Noch riskanter als der Bestimmungsort von Apollo 13 war
die Flugroute, die man einzuschlagen gedachte. Bei allen
vorherigen Missionen zum Mond waren die Besatzungen auf
der sogenannten freien Rückkehrbahn geflogen, auf der sie
automatisch wieder nach Hause kommen würden, falls das
Haupttriebwerk des Versorgungsteils ausfallen sollte.
Bei Apollo 13 würde dies nicht möglich sein. Schon vom
Terrain her war der Landeort in der Fra-Mauro-Region
gefährlich, aber noch gefährlicher waren die Lichtverhältnisse,
die zur vorgesehenen Ankunftszeit herrschen würden.
Nach dem derzeitigen Flugplan würde das Schiff den Mond
zu einem Zeitpunkt erreichen, zu dem die Sonne so ungünstig
stand, daß die Schatten, die die Fra-Mauro-Berge
normalerweise warfen, verschwunden wären. Ohne diese
Schatten aber würden die Piloten eventuelle Hindernisse viel
schwerer erkennen können. Es war ein Leichtes, die Flugbahn
des Schiffes so zu verändern, daß die Schatten bei der Ankunft
der Astronauten länger waren – dazu wäre nur ein kurzes
Zünden des Haupttriebwerks beim Anflug auf den Mond
erforderlich. Sobald aber das Triebwerk gezündet wurde, wäre
die Freiflugbahn dahin. Falls es Apollo 13 nicht gelingen
sollte, in eine Umlaufbahn um den Mond einzutreten, würde
die Kapsel zwar ebenfalls wieder in Richtung Erde fliegen,
aber sie würde ihr Ziel um ungefähr 60000 Kilometer
verfehlen.
Die Astronauten und die Mission Control, die sie unterstützen
sollte, arbeiteten bei der Vorbereitung dieses riskanten
Unternehmens so viele Stunden wie nie zuvor. Um die an den
Konsolen der Mission Control sitzenden Männer auf ihre
Aufgabe einzustimmen, führte man vorzugsweise
Flugsimulationen durch. Bei einer typischen Simulation ging
es im Kontrollraum genauso geschäftig zu wie während eines
echten Fluges – die Konsolen waren voll besetzt, die
Bildschirme voller Daten, über Kopfhörer gingen Gespräche
ein, und auf den Projektionswänden an der Stirnseite des
Raumes blinkten allerlei Zeichen und Symbole. Der einzige
Unterschied war, daß die eingehenden Informationen nicht aus
dem Weltall, sondern von einer Doppelreihe Konsolen hinter
einer Glaswand auf der rechten Seite des Hauptraumes
stammten. Dort saßen die Simulationskontrolleure (Simulation
Supervisors), kurz Simsups genannt. Ihre Aufgabe war es,
diese Übungsflüge zu leiten und die Männer an den
Kontrollkonsolen mit simulierten Problemen zu konfrontieren,
um festzustellen, wie rasch sie eine Lösung fanden. Das
Verhalten eines Controllers bei derartigen Simulationen konnte
ausschlaggebend für seine künftige Laufbahn bei der
Raumfahrtbehörde sein.
Ein paar Wochen vor dem Start von Apollo 13 saßen
Liebergot und die anderen Controller eines Nachmittags an
ihren Konsolen und überwachten die üblichen Daten während
einer Routinephase einer bislang ganz normal verlaufenden
Flugsimulation. Es handelte sich um eine sogenannte voll
integrierte Simulation, das heißt, daß man ohne das
tatsächliche Raumfahrzeug, aber mit den Astronauten am
Boden übte. Gleich nebenan befand sich auf dem Gelände des
Johnson Space Center das Trainingsgebäude für die Besatzung,
wo Attrappen der Kommandokapsel und der Mondfähre
standen. Dort befanden sich an diesem Tag Lovell, der
Kommandant des geplanten Fluges, Mattingly, der Pilot der
Kommandokapsel, und Haise, der Pilot der Mondfähre. Wie
bei allen Simulationen – und auch beim richtigen Flug –
konnten die Controller den Funkverkehr zwischen Astronauten
und CAPCOM hören, aber sie konnten sich nicht in die
Gespräche einschalten. Sie konnten auf einer separaten
Funkverbindung mit dem Flugdirektor in der Mission Control
oder mit einem der zahlreichen, aus drei oder vier Mann
bestehenden Unterstützungsteams sprechen.
Die Controller und die Besatzung spielten gerade eine
Flugphase etwa hundert Stunden nach dem Start durch, ein
Zeitpunkt, zu dem Lovell und Haise in dem zerbrechlichen,
spartanischen LEM unten auf dem Mond sein würden,
während Mattingly die Stellung in der relativ geräumigen
Kapsel rund 100 Kilometer über ihnen hielt. In diesen Phasen
war die Belastung der Männer am EECOM normalerweise am
geringsten, denn das Mutterschiff hatte nicht viel zu tun, und
außerdem riß jedesmal das Funksignal ab, wenn es hinter dem
Mond verschwand. Solange das Raumfahrzeug reibungslos
funktionierte, bevor es verschwand, konnte man sich während
der vierzigminütigen Funkstille ein wenig strecken, den Blick
vom Bildschirm wenden und alle bevorstehenden Manöver
planen.
Als eine der für diesen Tag vorgesehenen
Funkunterbrechungen eintrat, musterte Liebergot gerade seinen
Bildschirm und bemerkte etwas Komisches: ein kaum
wahrnehmbares Absinken des Kabinendrucks. Diese
Unregelmäßigkeit – nicht mehr als eine leichte Abweichung
der Druckwerte – tauchte kurz vor dem Verschwinden des
Schiffes hinter dem Mond auf, und danach war eine weitere
Datenübermittlung nicht mehr möglich. Liebergot und sein
Unterstützungsteam nahmen sofort Kontakt miteinander auf.
»Haben Sie den Kabinendruck gesehen?« fragte das
Unterstützungsteam.
»Gesehen«, sagte Liebergot.
»Wie weit ist er heruntergegangen?«
»Etwa ein Zehntel psi, nicht mehr.«
»Nicht viel«, erwiderte das Unterstützungsteam. »Was halten
Sie davon?«
»Wahrscheinlich ist es gar nichts«, antwortete Liebergot.
»Datensalat?«
»Bestimmt. Kurz vor dem Abreißen des Signals. Was sollte
es denn sonst sein?«
Liebergot und sein Unterstützungsteam entspannten sich, da
sie überzeugt waren, daß Datensalat die richtige Erklärung für
das Phänomen war. Bei einem tatsächlichen Flug wäre es auch
die richtige Erklärung gewesen, doch bei dieser Simulation
hatten sich die Simsups dafür entschieden, daß Datensalat die
falsche Erklärung sein sollte. Während der vierzigminütigen
Funkstille ergriffen Liebergot und sein Unterstützungsteam
keinerlei Maßnahmen wegen der Anomalie bei der Sauerstoff
Versorgung, da sie davon ausgingen, daß es sich lediglich um
eine harmlose Fehlinformation handelte. Dann tauchte das
Schiff wieder aus dem Funkschatten auf, und Ken Mattingly
meldete sich.
»Wir hatten einen plötzlichen Druckabfall, Houston«, sagte
er. »Kabinendruck ist runter auf Null, und im Augenblick bin
ich auf Anzugdruck. Ich nehme an, wir haben ein Leck, aber
ich weiß es nicht genau.«
Liebergot erstarrte. Der Druckverlust war echt gewesen. Mit
diesem Test sollte die Tüchtigkeit der EECOM geprüft
werden, und er hatte versagt. Die Simsups – die verfluchten
Simsups – hatten ihn gewaltig ausgetrickst. Lovell, Mattingly
und Haise hatten damit nichts zu tun. Man hatte Mattingly
plötzlich mit einer Komplikation konfrontiert – natürlich nicht
mit einem echten Druckabfall im Simulator; nur die Nadel des
Kabinendruckmesser war auf Null gefallen –, und er hatte das
einzig Richtige getan: Seinen Anzug angelegt, ihn geschlossen
und die Wiederaufnahme des Funksignals abgewartet. Nur
Liebergot und seinem Unterstützungsteam hatte man eine
Warnung zukommen lassen… und sie hatten nicht das
geringste unternommen.
Liebergot wartete auf eine Reaktion des Flugdirektors. Wenn
Chris Kraft noch Direktor gewesen wäre, der Mann, der beim
Mercury- und Gemini-Programm die Aufsicht über die
Mission Control innehatte, dann, so dachte sich Liebergot,
wäre er wahrscheinlich erledigt, gefeuert. Kraft verstand
keinen Spaß. Wenn man ein Schiff verlor, auch wenn es sich
nur um eine Attrappe handelte, dann konnte einen das den
Kopf kosten. In diesem Fall hatte Liebergot zwar kein Schiff
verloren, aber kostbare vierzig Minuten, in denen er und sein
Unterstützungsteam eine Lösung hätten finden können, bevor
es zu der vorher absehbaren Katastrophe kommen konnte.
Kraft hatte zugunsten seines weiteren Aufstiegs im NASA-
Management vor einiger Zeit seine Position als Flugdirektor
aufgegeben. Seine Stelle hatte Gene Kranz übernommen, ein
vierschrötiger Mann mit Bürstenschnitt, der als Kampfflieger
am Koreakrieg teilgenommen hatte und noch vor dem
Mercury-Programm zur NASA gestoßen war, wo er langsam,
aber stetig Karriere machte.
Die Männer im Kontrollraum wußten immer noch nicht recht,
was sie von Kranz halten sollten. Er leitete die Mission Control
von seinem einzeln stehenden Pult aus wie ein alter Soldat.
Seine Anweisungen waren knapp und präzise, sein Ton duldete
keinen Widerspruch.
Im gesamten Kontrollraum hatte man gehört, wie Mattingly
über Funk von seinen Schwierigkeiten berichtet hatte; im
gesamten Kontrollraum hatte man gehört, wie der CAPCOM
sein »Roger« durchgegeben hatte. Und jetzt wartete der
gesamte Kontrollraum darauf, wie Kranz reagieren würde.
»In Ordnung«, sagte der Flugdirektor nach einer schier
endlos scheinenden Pause. »Nehmen wir uns das Problem
vor.«
Liebergot atmete auf. Das, so wußte er, hieß bei Kranz soviel
wie: »Ich lasse Sie diesmal ungeschoren davonkommen.«
Erleichtert und dankbar zugleich stürzte er sich mit Feuereifer
in die Arbeit.
Liebergot und die anderen Controller beschlossen, einen
bislang nur wenig erprobten Notfallplan auszuprobieren, bei
dem die Mondfähre vom Mutterschiff abgekoppelt wurde, um
sofort wieder anzudocken und dann mit ihm verbunden zu
bleiben. Auf diese Weise konnte das LEM als eine Art
Rettungsboot dienen, in dem sich die Astronauten bis zum
Anflug auf die Erde aufhielten, um dann vor dem Eintritt in die
Atmosphäre zurück in die Kommandokapsel zu kriechen und
die Mondfähre abzutrennen. Seit Beginn des Apollo-
Programms im Jahr 1964 beschäftigte man sich mit der
Möglichkeit, das LEM als Rettungsboot zu verwenden, und
Anfang 1969, als die Astronauten von Apollo 9 erstmals mit
der Mondfähre in die Erdumlaufbahn geflogen waren, hatte
man dieses Manöver sogar ein paarmal geprobt. Doch niemand
glaubte ernsthaft daran, daß man jemals darauf zurückgreifen
müßte.
Kranz ließ diese Rettungsboot-Übung ein paar Stunden lang
laufen, bis er überzeugt war, daß die Astronauten die
Überlebensvorschriften begriffen und Liebergot seine Lektion
gelernt hatte. Aber zu guter Letzt bliesen sie diese Simulation
ab und wandten sich einer anderen, weniger raffinierten zu.
Das war natürlich sinnvoll. Bis zum Start blieben ihnen nur
mehr ein paar Wochen, und sie mußten noch allerhand
Zwischenfälle durchspielen, die weitaus wahrscheinlicher
waren als eine nicht funktionsfähige Kommandokapsel und ein
als Rettungsboot dienendes LEM.

Trotz der vielversprechenden Zielsetzung nahm man im Land


nur wenig Anteil am bevorstehenden Flug von Apollo 13. Vom
Unterhaltungswert her gab es im Frühjahr 1970 viele Dinge,
die spannender waren als die Abenteuer des – wie viele waren
es inzwischen? – fünften und sechsten Mannes, die auf dem
Mond spazierengingen. Am 9. April, zwei Tage vor dem
geplanten Start, erwähnte die New York Times den Flug mit
keinem Wort. Auf der Titelseite wurde statt dessen von der
überraschenden Ablehnung von Judge G. Harrold Carswell,
Präsident Nixons letztem Kandidaten für den obersten
Gerichtshof, durch den Senat berichtet.
Auch in den Nachrichten standen in dieser Woche andere
Themen im Mittelpunkt: Die Bekanntgabe, daß es in
Südostasien die höchsten Verluste seit elf Monaten gegeben
hatte; ein Beschluß des Obersten Gerichtshofes von
Massachusetts, die Freigabe der Untersuchungsergebnisse zum
Tod von Mary Jo Kopechne aufzuschieben; eine Erklärung von
Paul McCartney, daß er »persönliche Differenzen« mit den
anderen drei Beatles habe und die Band verlassen werde; und
die Eröffnung der neuen Baseballsaison. In der Times vom 10.
April, einen Tag vor dem Flug, erschien in dieser Woche die
erste größere Meldung über Apollo 13 – auf Seite 78, wo auch
der Wetterbericht stand.
Wenn das Unternehmen überhaupt auf Interesse stieß, dann
vor allem wegen der morbiden Faszination, die die
Flugnummer dieser Apollo-Mission ausübte. Bei sämtlichen
Mercury-Flügen hatte man zu Ehren der sieben ersten
Astronauten jedesmal die Ziffer 7 an den Namen angehängt:
Faith 7, Friendship 7, Sigma 7 Die bemannten Gemini Flüge
hatten mit Gemini 3 begonnen, aber nach zehn Einsätzen mit
Gemini 12 aufgehört. Das bemannte Apollo-Programm hatte
mit Apollo 7 angefangen, und da man bei der NASA vierzehn
Flüge plante, wußte man, daß sich Apollo 13 letztendlich nicht
vermeiden ließe.
Einem uralten Aberglauben in Zusammenhang mit einem der
größten wissenschaftlichen Unternehmen der Menschheit zu
frönen, übte einen nahezu unwiderstehlichen Reiz aus, und die
meisten Menschen applaudierten angesichts dieser Anmaßung,
dieser geradezu herausfordernden Arroganz der NASA, die
den Flug trotzdem unternehmen wollte und zudem auch noch
eine große, schreiende »XIII« auf die Embleme an den
Anzügen sticken ließ, die die Astronauten während ihres
Fluges tragen sollten. In den Wochen vor dem Start stürzten
sich Presse und Öffentlichkeit wie die Aasgeier auf die Zahl
13, und man suchte nach immer neuen Hinweisen auf einen
verhängnisvollen Ausgang dieser Mission. (Der Flug sollte am
11. April 1970 beginnen, also 4/11/70 nach der amerikanischen
Schreibweise – wenn man die Ziffern addiert, kommt immer
13 heraus. Der Start sollte um 13:13 Uhr Ortszeit Houston
erfolgen. Wenn alles planmäßig verlief, würde das
Raumfahrzeug am 13. April ins Gravitationsfeld des Mondes
eintreten.)
Bei der NASA fand man diesen Hokuspokus äußerst
lächerlich, und Lovell ging es genauso. Für den
Kommandanten der Raumkapsel war dieser Flug in die Fra-
Mauro-Region eine wissenschaftliche Expedition, nicht mehr
und nicht weniger. Er hatte keine Zeit, sich um
abergläubisches Geschwätz zu kümmern, und das Motto, das
er für das offizielle Emblem dieser Mission aussuchte,
spiegelte diese Ansicht wider. Lovell besann sich auf seine
Zeit in Annapolis und griff auf das alte Navy-Motto Ex tridens
scientia (»Durch das Meer Wissen erlangen«) zurück, das er zu
Ex luna scientia veränderte. Das Erlangen von Wissen schien
Lovell ein hinlänglich guter Grund für einen Flug zum Mond
zu sein.
Die Vorbereitungen für den Start von Apollo 13 verliefen
ohne Zwischenfälle – soviel zum Thema Pech, wie Jim Lovell
gern feststellte –, bis Charlie Duke sieben Tage vor dem Flug
krank wurde. Duke war der Pilot der Mondfähre bei der
Ersatzcrew, der außerdem John Young als Kommandant und
Jack Swigert als Pilot der Kommandokapsel angehörten. Duke
hatte sich bei seinen Kindern mit Röteln angesteckt und
unwissentlich auch Young, Swigert, Lovell, Mattingly und
Haise gefährdet. Bei Blutuntersuchungen stellte man fest, daß
Lovell und Haise, aber auch die übrige Ersatzcrew Antikörper
im Blut hatten. Mattingly hingegen war nicht dagegen immun,
so daß die Gefahr bestand, daß er daran erkranken könnte.
In derartigen Fällen hielt man sich bei der NASA an eine
simple Regel: Einem von Krankheit bedrohten
Besatzungsmitglied durfte man das Steuer eines
Raumfahrzeugs nicht anvertrauen. Folglich wurde Mattingly
vom Flugplan gestrichen. Lovell, der fast ein Jahr lang mit
dieser Crew trainiert hatte, ging an die Decke. Jetzt? Ihr wollt
jetzt, eine Woche vor dem Start, die Crew umstellen, weil sich
möglicherweise jemand irgend etwas eingefangen hat? Bei der
Einsatzbesprechung in Houston, auf der die Entscheidung
bekanntgegeben wurde, legte sich Lovell für seinen
Kapselpiloten ins Zeug.
»Wie lange dauert bei so etwas die Inkubationszeit?« fragte
der Kommandant den Mannschaftsarzt.
»Etwa zehn Tage bis zwei Wochen«, antwortete der Doktor.
»Dann wäre er also beim Start gesund?« sagte Lovell.
»Ja.«
»Und gesund, wenn wir zum Mond kommen?«
»Ja.«
»Und woran hapert’s dann?« sagte Lovell. »Wenn er Fieber
bekommt, während Fred und ich unten auf dem Mond sind, hat
er genug Zeit zum Auskurieren. Und wenn es ihm bis dahin
nicht besser geht, kann er’s auf dem Rückflug ausschwitzen.
Wenn man die Röteln hat, gibt’s doch gar nichts besseres als
ein gemütliches Raumschiff.«
Der Mannschaftsarzt starrte Lovell ungläubig an, wartete, bis
er ausgeredet hatte, und strich dann Mattingly aus der
Besatzungsliste.
Obwohl Lovell sich energisch für seinen Kapselpiloten
einsetzte, war auch sein neues Besatzungsmitglied nicht zu
verachten. Der achtunddreißigjährige Jack Swigert war bislang
vor allem deswegen bekannt, weil er der einzige nicht
verheiratete Astronaut bei der NASA war. Anfang der
sechziger Jahre – als es vor allem auf den äußeren Anschein
und erst danach auf die Fähigkeiten ankam – wäre so etwas
undenkbar gewesen. Aber Ende der sechziger Jahre war diese
Einstellung etwas lockerer geworden – auch bei der NASA.
Swigert, ein hochaufgeschossener Mann mit Bürstenschnitt,
galt als draufgängerischer Junggeselle – was von der NASA
mit einem Augenzwinkern toleriert wurde –, der ein überaus
geselliges Leben führte. Ob das zutraf, wußte man nicht genau,
aber Swigert tat sein Bestes, um diesen Ruf aufrechtzuerhalten.
Nach Mattinglys Ausfall mußten die Astronauten ein paar
Tage lang mühsam im Simulator üben, bevor sie und die
NASA überzeugt waren, daß die Zusammenarbeit der neuen
Crew genausogut funktionierte wie die der alten. Erst
achtundvierzig Stunden vor dem Start wurde Swigert für
flugtauglich befunden. Jetzt standen die Flugplaner nur noch
vor einem Problem: Sie mußten eine neue Erinnerungsplakette
für die Mondfähre anfertigen lassen. Diese Tafel, auf der die
Namen der drei Besatzungsmitglieder eingraviert wurden, war
bereits an das vordere Landbein genietet. An ihrer Statt sollte
nun eine neue, anklemmbare Plakette hergestellt werden, auf
der dem Personalwechsel Rechnung getragen wurde.
Das dritte Besatzungsmitglied von Apollo 13 war der Pilot
der Mondfähre, der einstige Marineflieger Fred Haise. Mit
sechsunddreißig Jahren war Haise der Jüngste im Trio, und
aufgrund seiner schwarzen Haare und der weichen Züge wirkte
er eher noch jünger. Obwohl er verheiratet war und drei Kinder
hatte – ein viertes war gerade unterwegs –, nannten ihn seine
Freunde immer noch »Pecky«, ein furchtbar kindischer
Spitzname, den er sich eingehandelt hatte, als er bei einem
Theaterstück in der ersten Klasse den Specht spielte. Im
Gegensatz zu Lovell und Swigert, empfand Haise das Fliegen
als zweitrangig. Ihm kam es bei der Raumfahrt vor allem auf
das Erkunden an, die wissenschaftliche Arbeit, das Forschen.
Ein NASA-Wissenschaftler bezeichnete ihn einmal als
»Bohrwurm«, und er bezog sich dabei auf die fast schon
übernatürliche Freude, die Haise gezeigt hatte, als er die
geologische Ausrüstung sah, mit der er und Lovell am Mond
Bodenproben entnehmen sollten. Zu tollkühnen Mercury-
Zeiten hätte man einen Mann wie ihn kaum unter den
Astronauten erwartet. Aber in einer Crew, die vorne auf ihren
Druckanzügen die Aufschrift Ex luna scientia trug, war er
genau am richtigen Platz.

Apollo 13 wurde plangemäß am 11. April um 13:13 Uhr


Ortszeit Houston gestartet, und drei Stunden später verließ das
Raumfahrzeug die Erdumlaufbahn in Richtung Mond. Für
Swigert und Haise, die noch nie im Weltraum gewesen waren,
waren der Start, die Wartebahn um die Erde und der Einschuß
in Richtung Mond absolut neue Erfahrungen. Für Lovell, der
bereits zum vierten Mal mit einer Rakete flog (und zum
zweiten Mal mit der gigantischen Saturn 5), war es kaum mehr
als eine Rückkehr zum Gewohnten. Am ersten vollen Tag des
Fluges funkte der Mondveteran die Erde an, um ein bißchen zu
flachsen. Er, Borman und Anders hatten diese Plänkeleien
während ihres einwöchigen Fluges im Jahr 1968 schätzen
gelernt.
»Hallo da unten, Houston, hier 13«, sagte Lovell.
»13, hier Houston, schießt los«, antwortete der CAPCOM.
Wie bei allen Flügen waren die für den Sprechfunk
eingeteilten CAPCOMs ebenfalls Astronauten, weil man
davon ausging, daß drei Männer, die in einer Blechbüchse mit
40000 Kilometern pro Stunde dahinrasten, lieber mit einem
Pilotenkollegen reden wollten als mit irgendeinem Techniker,
der seine ganze Flugerfahrung auf dem Passagiersitz einer
Linienmaschine gesammelt hatte. An diesem Tag war Joe
Kerwin, ein relativ unerfahrener Neuling bei der NASA, der
CAPCOM. Kerwin war noch nie im Weltall gewesen, aber in
sämtlichen Flugmanifesten stand, daß er eines Tages fliegen
würde, und so etwas zählte.
»Wir hätten fast etwas vergessen«, sagte Lovell zu Kerwin.
»Wir würden gerne wissen, was es in den Nachrichten gab.«
»O.K. viel Neues gibt’s nicht«, erwiderte Kerwin. »Die
Astros hatten mit 8 zu 7 die Nase vorn. Die Braves holten im
neunten Inning fünf Läufe, haben es aber gerade so geschafft.
In Manila und anderen Gegenden der Insel Luzon gab es
Erdbeben. Der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der sich
gestern euren Start am Cape angesehen hat, und Präsident
Nixon werden heute ihre Gesprächsrunde beenden.
Die Fluglotsen streiken immer noch, aber zu eurer
Beruhigung kann ich euch mitteilen, daß die Lotsen bei der
Mission Control nach wie vor ihren Dienst tun.«
»Gott sei Dank«, sagte Lovell lachend.
»Außerdem«, fuhr Kerwin fort, »werden im Mittelwesten ein
paar Transportunternehmen bestreikt. In Minneapolis haben
einige Schullehrer die Arbeit niedergelegt. Und die heutige
Lieblingsbeschäftigung im ganzen Land…« Kerwin legte eine
Kunstpause ein. »Äh, habt ihr übrigens eure
Einkommenssteuererklärungen fertig gemacht?«
Swigert, der auf der mittleren Couch saß, schaltete sich ins
Gespräch ein. »Wie beantragt man eine Fristverlängerung?«
fragte er sachlich und ernsthaft.
Kerwin lachte. »Joe, das ist nicht besonders komisch«,
protestierte Swigert. »Da unten ist alles ein bißchen schnell
gegangen, und ich brauche eine Fristverlängerung.« Jetzt
konnte man über Funk auch ein paar andere Controller lachen
hören. »Ich meine es wirklich ernst«, sagte Swigert. »Ich habe
meine noch nicht eingereicht.«
»Du bringst hier die ganze Bude durcheinander«, sagte
Kerwin.
»Na ja«, grummelte Swigert. »Kann sein, daß ich noch was
anderes als die vorgesehene medizinische Quarantäne abreißen
muß, wenn wir zurückkommen.«
»Wir sehen zu, was wir tun können, Jack«, sagte Kerwin.
Ȇbrigens, eure Uniform des Tages besteht heute aus einer
Fliegerkombination mit Schwertern und Orden, und heute
abend gibt’s in der unteren Ausrüstungs-Bucht den Film ›Der
Flug von Apollo 13‹ mit John Wayne, Lou Costello und
Shirley Temple. Over.«
Lovell wunderte sich ab und zu, daß Astronauten und
Bodenkontrolle soviel Zeit mit Wortgeplänkel zubringen
konnten. Natürlich gab es während des Fluges keinen Film,
und es gab weder Schwerter noch Orden oder gar eine Uniform
des Tages. Aber ein Mann, der einst die Marineakademie in
Annapolis besucht hatte, hatte immer etwas für Anspielungen
auf das betuliche Leben an Bord eines geräumigen Navy-
Schiffes übrig. Früher, zu Zeiten des Mercury-Programms,
hatte es scherzhaft geheißen, die Astronauten stiegen nicht in
die Kapseln, sondern sie zögen sie an. Die Raumfahrzeuge
waren ungemein klein gewesen, und die Flüge hatten im
Durchschnitt allenfalls achteinhalb Stunden gedauert. Der
Innenraum der Gemini-Kapseln, in denen Lovell seine ersten
Erfahrungen in der Erdumlaufbahn gesammelt hatte, war etwa
doppelt so groß gewesen, aber dafür war auch die Anzahl der
Insassen doppelt so groß.
Bereits bei Apollo 8 hatte Lovell festgestellt – und Haise und
Swigert machten diese Erfahrung jetzt –, daß die
Mondfahrzeuge der NASA ein völlig anderes
Konstruktionsprinzip repräsentierten. Die Apollo-
Kommandokapsel war ein dreieinhalb Meter hoher Kegel mit
einer fast vier Meter breiten Basis. Die Wände der
Astronautenkabine bestanden aus dünnen Aluminiumschichten
in Sandwichbauweise mit isolierendem Füllmaterial in
Wabenform. Außen herum befanden sich eine Hülle aus Stahl,
weitere Waben und noch eine Schicht Stahl. Lediglich diese
nur ein paar Zentimeter starke Außenwand trennte die
Astronauten im Cockpit vom Vakuum des Weltalls, wo die
Temperatur im Sonnenlicht auf bis zu 140 Grad Celsius
steigen und im Schatten auf bis zu minus 140 Grad fallen
konnte. Im Kapselinneren herrschten angenehme 22 Grad
Celsius.
Die Astronautencouchs lagen nebeneinander, aber eigentlich
waren es gar keine richtigen Couchs. Da die Besatzung nahezu
den ganzen Flug über schwerelos war, brauchten sie zu ihrer
Bequemlichkeit keinerlei Polsterung; die sogenannte Couch
bestand daher lediglich aus einem Metallrahmen mit einem
Stoffbezug – einfach zu bauen und, was noch wichtiger war,
leicht. Jede Couch stand auf zusammenklappbaren
Aluminiumstreben, die so konstruiert waren, daß sie den
Aufprall absorbierten, wenn die an Fallschirmen hängende
Kapsel zu hart im Wasser landete oder gar an Land, falls ein
Fehler bei der Zielortberechnung unterlaufen sollte. Zu Füßen
der drei Pritschen befand sich ein Stauraum, der als
Ausweichraum (unerhört und bei den Mercury- und Gemini-
Kapseln unvorstellbar!) diente und als untere Ausrüstungs-
Bucht bezeichnet wurde. Hier waren die Vorräte und die
Ausrüstung verstaut, und hier befand sich auch die
Navigationsstation.
Unmittelbar vor den Astronauten war ein breites, stahlgraues
Armaturenbrett. Die etwa fünfhundert Bedienungsknöpfe –
hauptsächlich Kippschalter, Druckknöpfe und einrastende
Drehknöpfe – waren so konstruiert, daß man sie auch mit den
ungelenken Handschuhen des Raumanzugs bedienen konnte.
Wichtige Schalter, zum Beispiel zum Zünden der Motoren
oder zum Absprengen von Schiffsteilen, waren durch
Schlösser oder Arretierungen gesichert, so daß man sie nicht
versehentlich mit dem Knie oder dem Ellbogen betätigen
konnte.
Im Rücken der Astronauten – hinter dem Hitzeschild, der den
Boden der konischen Kommandokapsel beim Eintritt in die
Erdatmosphäre schützte – befand sich der rund acht Meter
lange zylindrische Versorgungsteil. Aus dem Heck des
Versorgungsteils ragte die glockenförmige Düse des
Haupttriebwerks. Die Astronauten hatten keinen Zugang zum
Versorgungsteil, und da die Fenster der Kommandokapsel
nach vorne gerichtet waren, konnten sie ihn auch nicht sehen.
Der Innenraum des Versorgungsteils war in sechs voneinander
getrennte Bereiche unterteilt, die die Eingeweide des Schiffes
enthielten – Helium als Preßgas für die Treibstoffe,
Brennstoffzellen zur Strom- und Wassererzeugung,
Wasserstoff tank, Lebenserhaltungssystem, Kraftstofftank und
Haupttriebwerk. In Bucht Nummer vier befanden sich
außerdem zwei nebeneinander liegende Sauerstofftanks.
Am anderen Ende von Versorgungs- und Kommandoteil war
das mit der Kapsel durch einen luftdichten Tunnel verbundene
LEM. Das vierbeinige, sieben Meter hohe Fluggerät hatte eine
eigenartige Form, durch die es aussah wie eine riesige Spinne,
und bei seinem Jungfernflug mit Apollo 9 bekam es auch den
Spitznamen »Spider« verpaßt. Die Kommandokapsel nannte
man ebenso bezeichnend »Gumdrop«, weil sie an die Form
von Gummidrops erinnerte. Für Apollo 13 hatte Lovell sich
etwas würdigere Namen ausbedungen und die
Kommandokapsel schließlich »Odyssey« und die Mondfähre
»Aquarius« getauft. (In der Presse wurde irrtümlicherweise
berichtet, die Bezeichnung »Aquarius« sei eine Reverenz an
Hair – ein Musical, das Lovell weder gesehen hatte noch sehen
wollte. In Wirklichkeit hatte er den Namen aus der ägyptischen
Mythologie entlehnt, wo der Wassermann als Inbegriff für
Fruchtbarkeit und Wissen galt. Für »Odyssey« hatte er sich
einfach wegen des Klanges entschieden, und weil der Begriff
laut Wörterbuch für »eine lange Reise mit wechselndem
Verlauf« stand – auch wenn er auf den letzten Teil hätte
verzichten können.) Während die Kabine der »Odyssey«
relativ geräumig war, ging es im Cockpit der Mondfähre,
einem knapp zwei Meter dreißig großen, querliegenden
Zylinder, der nur über zwei Dreiecksfenster und zwei winzige
Instrumentenbretter verfügte, bedrückend eng zu. Mit dem
LEM konnten gerade mal zwei Männer bis zu zwei Tage
fliegen. Aber keinen Tag länger.
Die NASA war äußerst stolz auf diese aneinandergekoppelten
Raumfahrzeuge und zeigte sie nur zu gerne her. Seit dem
triumphalen Erfolg der weihnachtlichen Fernsehübertragung
aus Apollo 8 vor zwei Jahren hatten auch die folgenden
Besatzungen Fernsehkameras für die laut Flugplan
vorgesehenen Live-Sendungen in der Ausrüstungs-Bucht
mitgenommen. Während der Mondlandung von Apollo 11 im
Sommer 1969 erreichte diese Praxis ihren Höhepunkt, als
Fernsehstationen auf der ganzen Welt Neil Armstrongs und
Buzz Aldrins erste zaghafte Schritte auf dem Mond
übertrugen. Als Apollo 13 an die Reihe kam, hatten die
Fernsehsender und die Öffentlichkeit hingegen ihr Interesse
verloren. Kurz nach Vollendung des zweiten Flugtages war der
erste Fernsehbericht der Besatzung vorgesehen, doch kein
Sender gedachte, ihn zu übertragen. Die Ausstrahlung sollte
am Montag, dem 13. April, um 20:24 Uhr beginnen, wenn auf
NBC Rowan & Martinas Laugh-In und bei CBS Here’s Lucy
lief. Bei ABC gab es den aus dem Jahr 1966 stammenden Film
Where Bullets Fly.
Die Zuschauer im ganzen Land hatten nur wenig Interesse an
einer Programmänderung zugunsten der Sendung aus dem
Weltall gezeigt, und selbst die NASA-Techniker in der
Mission Control waren nur mäßig interessiert. Die
Ausstrahlung sollte anderthalb Stunden vor Ende der
Nachmittagsschicht beginnen, und die Mehrzahl der Männer
an den Kontrollkonsolen freute sich bereits auf den Feierabend
und einen kurzen Abstecher ins »Singin’ Wheel«, eine Kneipe
gleich neben dem Gelände des Space Center.
Die NASA und auch die Apollo-Besatzung entschieden sich,
die Sendung trotzdem durchzuführen und sie sämtlichen
Sendern anzubieten, damit sie dort aufgezeichnet und
zumindest in Ausschnitten während der Nachrichten um 23
Uhr ausgestrahlt werden könnte. Ein kurzer Bericht, so dachte
man sich, wäre allemal besser als gar kein Bericht. Außerdem
freuten sich die Frauen der Astronauten auf diese
unregelmäßigen Fernsehsendungen, und die NASA wollte
ihnen nicht mitteilen müssen, daß der Brauch nicht fortgesetzt
werden würde. An diesem Abend, so stellten die Controller in
Houston fest, hatte Marilyn Lovell mit zweien ihrer vier
Kinder, der sechzehnjährigen Barbara und der elfjährigen
Susan, bereits auf den Polstersesseln in der verglasten VIP-
Galerie am hinteren Ende der Mission Control Platz
genommen. Bei ihnen befand sich Mary Haise, die Frau des
Astronauten, der zum erstenmal im All flog, und bereitete sich
ebenfalls darauf vor, ihren Mann auf dem Bildschirm zu sehen.
Die Sendung, die außer Marilyn, Barbara, Susan, Mary und
den Controllern niemand sah, begann mit einem flackernden,
verschwommenen Bild von Fred Haise, der gerade auf den
Tunnel zwischen Kommandokapsel und Mondfähre
zuschwebte. Lovell und Swigert hatten die Plätze getauscht,
damit Lovell von der mittleren Couch aus die Kamera
bedienen konnte.
»Wir wollen heute im Raumschiff Odyssey anfangen«, sagte
Lovell, »und Sie dann durch den Tunnel zur Aquarius geleiten.
Unser Kameramann ruht jetzt auf der mittleren Couch und
blickt zu Fred, und Fred wird jetzt in den Tunnel steigen, so
daß wir Ihnen danach ein bißchen was von der Mondfähre
zeigen können.«
Haise kam auf die Kamera zu, trieb dann durch die konische
Kommandokapsel und stieg mit dem Kopf voran in den Tunnel
zum LEM. Lovell schwebte langsam hinter ihm her.
»Eins ist mir aufgefallen, Jack«, wandte sich der auf dem
Kopf stehende Haise an seinen CAPCOM. »Wenn man in der
Kommandokapsel in aufrechter Position ist und dann nach
unten in die Aquarius umsteigen will, muß man sich völlig neu
orientieren. Obwohl ich das im Wassertank geübt habe, kommt
es mir immer noch ziemlich unnatürlich vor. Wenn ich runter
ins LEM komme, stehe ich plötzlich mit den Füßen an der
Decke.«
»Das ist ein tolles Bild, Jim«, wandte sich Jack Lousma, der
CAPCOM, ermunternd an den Kommandanten. »Und das
Licht ist genau richtig.«
Lovell stieg ins LEM, drehte sich um und schwebte mit den
Füßen voran auf eine große Ausbuchtung am Boden der
Mondfähre zu. »Damit die Leute daheim Bescheid wissen«,
sagte Haise. »In dieser Blechbüchse unter Jims Füßen befindet
sich der Aufstiegsantrieb des LEM, mit dem wir wieder vom
Mond wegkommen. Im Augenblick habe ich meine Hand auf
einem weißen Kasten neben der Antriebsabdeckung. Das ist
Jims Rucksack, der ihn während des Aufenthalts auf dem
Mond mit Sauerstoff und Kühlwasser versorgt.«
»Roger, Fred, wir sehen es«, sagte Lousma. »Die Bilder, die
rüberkommen, sind sehr gut, und deine Beschreibung ist gut.
Wir sehen, daß Jim die Kamera genau dahin hält, wo wir
hingucken möchten, also rede weiter.«
Während die Sendung auf die gleiche unbekümmerte Art
weiterlief, war ein Großteil der Männer in der Mission Control
mit anderen Dingen beschäftigt. Über den geschlossenen
Funkverkehr, der nur für die Leute an den Konsolen gedacht
war, planten die Controller weitere Manöver, die die
Besatzung durchführen sollte, sobald die Sendung zu Ende
war. Kranz, der Flugdirektor, leitete die Gespräche, ging auf
Fragen ein, setzte Prioritäten und entschied, welche Übungen
wichtig waren und welche warten könnten.
Bei den Manövern, die Houston plante, handelte es sich
vorwiegend um Routinevorgänge, kleinere Kurswechsel, die
Ausrichtung der Hauptantenne des Versorgungsteils.
Reine Routine war auch das geplante, sogenannte »Cryostir«.
Der Versorgungsteil war nicht nur mit zwei Sauerstoff –,
sondern auch mit zwei Wasserstofftanks bestückt, deren Gase
sich in einem superkalten oder kryogenischen Zustand
befanden. Im Sauerstofftank zum Beispiel konnte die
Temperatur bis auf minus 206 Grad Celsius sinken, wodurch
das Gas in einer sogenannten superkritischen Dichte blieb –
eine Art instabiler Aggregatzustand, in dem der betreffende
Stoff weder eindeutig fest noch eindeutig flüssig oder
eindeutig gasförmig ist. Diese Tanks waren so gut isoliert, daß
es, wenn man sie mit gewöhnlichem Eis füllen und in einen 21
Grad warmen Raum stellen würde, achteinhalb Jahre dauern
würde, bis das Eis schmolz, und weitere vier Jahre, bis das
Wasser auf Zimmertemperatur erwärmt wäre. Dies jedenfalls
behaupteten die Konstrukteure, und da niemand die Probe aufs
Exempel machen wollte, glaubte ihnen die NASA einfach aufs
Wort.
Das eigentliche technische Wunderwerk jedoch kam erst zum
Tragen, wenn Sauerstoff und Wasserstoff aus den superkalten
Tanks ausströmten. Die Tanks nämlich waren mit drei
Brennstoffzellen verbunden, die wiederum mit drei als
Katalysatoren wirkenden Platin-Elektroden versehen waren.
Sobald die Gase in die Zellen strömten, kam es durch die
Katalysatoren zu einer chemischen Reaktion, bei der dreierlei
Abfallprodukte entstanden: Strom, Wasser und Wärme. Aus
nur zwei Gasen also erzeugten diese Zellen die drei
lebenswichtigen Produkte, ohne die ein bemanntes
Raumfahrzeug nicht auskommen konnte. Obwohl Sauerstoff-
und Wasserstofftanks gleichermaßen wichtig für das
Überleben der Besatzung waren, kam es doch vor allem auf die
Sauerstofftanks an, denn die enthielten überdies den ganzen
Vorrat an Atemluft für die Besatzung. Jeder der beiden runden,
Sechsundsechzig Zentimeter durchmessenden Tanks enthielt
320 Pfund Sauerstoff bei einem Innendruck von 935 Pfund pro
Quadratzoll (psi). In diesen Tanks befanden sich zwei Elektro-
Sonden, die wie zwei Finger wirkten, mit denen man die
Wassertemperatur in der Badewanne ausprobiert. Die eine, die
von oben nach unten durch den ganzen Tank verlief, war eine
Kombination aus Tankuhr und Thermostat; die andere, die
unmittelbar daneben lag, war eine Kombination aus
Heizelement und Ventilator. Das Heizelement brauchte man,
um den Sauerstoff zu erwärmen, damit er sich ausdehnte, falls
der Innendruck im Tank zu tief absank. Die Ventilatoren
brauchte man zum Umrühren (auf englisch stir) des
Tankinhalts – ein Vorgang, den der EECOM mindestens
einmal pro Tag verlangte, da superkritische Gase zur
Schichtbildung neigen, was wiederum die Messung des
genauen Tankinhalts beeinträchtigt.
Während Liebergot auf dieses Umrühren wartete und andere
Controller weitere Verfahren vorbereiteten, setzte die
Besatzung von Apollo 13 ihre Fernsehsendung fort. Auf einem
großen Monitor in der Mission Control tauchte das milchige
Bild des Mondes auf und weckte Erinnerungen an die
Übertragung aus Apollo 8, als noch die ganze Welt zugesehen
hatte.
»Vor unserem rechten Fenster«, sagte Lovell, der Sprecher,
»können Sie jetzt das Ziel erkennen. Ich will mal sehen, ob ich
es per Zoom besser ins Bild bringen kann.«
»Er kommt uns schon größer vor«, sagte Haise. »Ich kann
mit bloßem Auge deutlich ein paar Strukturen erkennen.
Bislang aber sieht er vor allem grau aus, mit einigen weißen
Flecken.«
Danach richtete Lovell die Kamera wieder in den Innenraum
des LEM. Auf dem Bildschirm war Haise zu sehen, der mit
irgend etwas beschäftigt war, das wie eine große Stoffbahn
wirkte. »Jetzt sieht man Fred bei seinem
Lieblingszeitvertreib«, erklärte Lovell.
»Er steckt doch gar nicht in der Vorratskammer, oder?«
fragte Lousma.
»Das ist sein zweitliebster Zeitvertreib«, sagte Lovell. »Im
Augenblick spannt er seine Hängematte auf, damit er später am
Mond drin schlafen kann.«
»Roger. Schlafen und danach essen.«
Lovell wandte sich von Haise ab und trieb wieder auf den
Tunnel zu. »O.K. Houston«, sagte er. »Wir haben die
Inspektion von Aquarius beendet, die wir extra für die
Fernsehzuschauer durchgeführt haben, und begeben uns jetzt
zurück in die Odyssey.«
»O.K. Jim. Wir meinen, ihr solltet jetzt Schluß machen, aber
was meint ihr?«
»Wir sind bereit, wann immer ihr abbrechen wollt«, stimmte
Lovell zu.
In seinem Tonfall schwang Erleichterung mit. »Wir müssen
nur das Rückhalteventil für den Kabinendruck stellen.«
»Roger«, sagte Lousma.
Dieses Rückhalteventil in der Mondfähre sorgte dafür, daß in
den beiden Raumfahrzeugen stets die gleichen
Druckverhältnisse herrschten. Haise, der das Gespräch
mitgehört hatte und ihm helfen wollte, drehte am Ventil,
worauf ein plötzliches Zischen ertönte und ein Ruck durch
beide Raumfahrzeuge ging. Lovell, der die Kamera hielt,
zuckte sichtlich zusammen. Schon zu einem früheren
Zeitpunkt des Fluges hatte der Kommandant seinen
übereifrigen Kollegen im Verdacht gehabt, daß er das
Rückhalteventil manchmal über das unbedingt erforderliche
Maß hinaus betätigte, um sich dann schelmisch darüber zu
freuen, wenn seine zwei Mitinsassen sich erschreckten. Heute,
am dritten vollen Flugtag, nervte der Scherz ein bißchen.
»Jedesmal wenn er das macht«, sagte Lovell in aller
Offenheit, »schlägt uns das Herz bis zum Hals. Jack, wir sind
bereit, wann immer ihr abbrechen wollt.«
»O.K. Jim«, schloß Lousma. »Es war eine großartige
Sendung.«
»Roger«, antwortete Lovell. »Klingt gut. Wir, die Crew von
Apollo 13, wünschen euch allen da unten einen schönen
Abend. Wir machen jetzt die Aquarius wieder dicht, kehren
zurück zur Odyssey und verbringen einen angenehmen Abend.
Gute Nacht.«
Und damit wurde der Bildschirm dunkel.
Marilyn Lovell, die in Houston saß, lächelte. Ihr Ehemann
sah gut aus, wenn auch ein bißchen verwegen mit seinem
Dreitagebart, und seine Stimme klang ruhig und gelassen.
Zwar hätte er sich während der Fernsehsendung mit Sicherheit
nichts anmerken lassen, falls er sich wegen irgend etwas
Sorgen machte, aber aus seinem Tonfall hätte man es trotzdem
heraushören können. Doch Marilyn hatte heute abend nichts
herausgehört. Bislang war ihr Mann offenbar mit dem Flug
rundum zufrieden, und sie vermutete, daß er sich auf den
Höhepunkt freute: die Mondlandung. Sie war ihrerseits froh,
daß er fast die Hälfte hinter sich hatte, und freute sich auf die
Landung im Pazifik. Marilyn schaute auf ihre Uhr,
verabschiedete sich vom NASA-Betreuer, der mit ihr
ferngesehen hatte, und begab sich gemeinsam mit Mary Haise
nach Hause, um dafür zu sorgen, daß die Kinder rechtzeitig zu
Bett kamen.
In der Mission Control sah Lousma derweil die Liste mit den
Manövern durch, die die Besatzung noch ausführen mußte,
bevor auch sie sich zur Nachtruhe begeben konnte. Als
CAPCOM hatte er zumindest etwas Einfluß darauf, wann die
Astronauten ihre Aufgaben ausführen mußten, und er wollte
ihnen erst ein paar Minuten Zeit lassen, damit sie die Kamera
verstauen und zu ihren Couchs zurückkehren konnten, bevor er
die Anweisungen zum Aktivieren der Ventilatoren und
Heizelemente in den kryogenischen Tanks, zum Zünden der
Steuerraketen und zum Einstellen der Antennen durchfunkte.
Noch bevor Lovell den Tunnel und Haise das LEM verlassen
hatte, mußten sich Crew und Controller augenblicklich ihren
Aufgaben zuwenden. Am Armaturenbrett in der
Kommandokapsel blinkte eine gelbe Warnleuchte, die
anzeigte, daß möglicherweise – möglicherweise – mit dem
Druck in den superkalten Tanks etwas nicht stimmte. Zur
gleichen Zeit blinkte auch auf Liebergots Konsole ein
entsprechendes Lämpchen auf. Liebergot, der die Angaben auf
seinem Bildschirm überflog, stellte fest, daß ein System zu
niedrigen Druck in einem der Wasserstofftanks meldete –
einem Tank, der in den vergangenen zwei Tagen schon
wiederholt Schwierigkeiten gemacht hatte. Wenn die Kryo-
Tanks oder ihre Meßgeräte Sperenzchen machten, dann war
das ein Hinweis darauf, daß alle vier ordentlich durchgerührt
werden mußten. Während Lovell zurück zu seiner Couch auf
der linken Seite schwebte und Swigert sich zu seinem Platz in
der Mitte hangelte, funkte Houston seine Anweisungen durch.
»Wir möchten, daß ihr auf 060 nach rechts rollt und mit den
Werten auf Null geht.«
»O.K. wird gemacht«, antwortete Lovell.
»Und wir möchten, daß ihr eure C4-Düsen checkt.«
»O.K. Jack.«
»Und wir haben noch etwas für euch, wenn ihr soweit seid.
Wir möchten, daß ihr eure Kryo-Tanks umrührt.«
»O.K.«, sagte Lovell. »Wartet einen Moment.«
Während Lovell die Einstellung der Düsen vorbereitete und
Haise den Zugang zum LEM verschloß und durch den Tunnel
zurück zur »Odyssey« trieb, betätigte Swigert den Schalter
zum Umrühren aller vier kryogenischen Tanks. Liebergot und
die Männer im Nebenkontrollraum überwachten ihre
Bildschirme und warteten darauf, daß sich nach dem
Umrühren der Druck im Wasserstofftank stabilisierte.
Bei der Planung einer Mondmission werden von Astronauten
und Controllern alle möglichen Unglücksfälle in Betracht
gezogen, aber kaum etwas gilt als schrecklicher,
unberechenbarer und verhängnisvoller als ein plötzlicher
Treffer durch einen verirrten Meteoriten. Bei
Geschwindigkeiten, wie sie in der Erdumlaufbahn erreicht
werden, würde ein nur wenige Millimeter großes kosmisches
Sandkorn beim Aufprall auf ein Raumfahrzeug die gleiche
Energie freisetzen wie eine rund 100 Kilometer pro Stunde
schnelle Bowlingkugel. Das Hindernis wäre unsichtbar, aber es
könnte das Schiff aus der Bahn werfen, ins Kreiseln bringen
und möglicherweise ein Loch in die Außenwand reißen, durch
das schlagartig die Atemluft entwiche. Außerhalb der
Erdumlaufbahn, wo noch höhere Geschwindigkeiten erreicht
wurden, war die Gefahr eher noch größer. Als die Apollo-
Astronauten die ersten Mondflüge unternahmen, verloren sie
zwar nicht viele Worte darüber, aber nichts fürchteten sie so
sehr wie den abrupten Schlag, die jähe Erschütterung und das
plötzliche Aufklaffen der Außenwand, alles Hinweise darauf,
daß ihr hochmodernes High-Tech-Gerät durch einen absurden
und statistisch kaum berechenbaren Zufall mit einem frei
durchs All schweifenden Gegenstand zusammengestoßen war.
Seit dem Umrühren der Tanks waren sechzehn Sekunden
vergangen, und die Astronauten von Apollo 13 führten ihre
Manöver aus und warteten auf weitere Befehle, als das
Raumfahrzeug urplötzlich von einem heftigen Schlag
erschüttert wurde. Swigert, der an seiner Couch festgeschnallt
war, spürte, wie das Schiff unter seinen Füßen erbebte. Lovell,
der in der Kommandokapsel umherschwebte, hatte das Gefühl,
ein Donnerschlag träfe ihn. Haise, der sich noch immer im
Tunnel befand, sah, wie sich die Wände um ihn verzogen.
Lovell reagierte zunächst wütend. Haise! Es mußte an Haise
und diesem verdammten Rückhalteventil liegen! Einmal
mochte so ein Scherz durchaus komisch sein. Aber zweimal?
Dreimal? Selbst wenn es auf den Übermut eines
Grünschnabels zurückzuführen war, aber das ging zu weit. Der
Kommandant wandte sich dem Tunnel zu und wollte seinem
Kollegen einen wütenden Blick zuwerfen. Doch als die beiden
Männer sich ansahen, erstarrte Lovell. Haise hatte die Augen
weit aufgerissen und wirkte überhaupt nicht fröhlich. So sah
man nicht aus, wenn man sich gerade einen Jux auf Kosten
seines Chefs erlaubt hatte und allenfalls eine leichte
Zurechtweisung erwartete. Diese Augen verrieten, daß Haise
erschrocken war – wahrhaftig und zutiefst erschrocken.
»Ich war’s nicht«, stieß Haise krächzend hervor, bevor der
Kommandant seine Frage herausbrachte.
Lovell wandte sich nach links, zu Swigert, aber auch von
dem erfuhr er nichts. Er sah dieselbe Verwirrung, dieselbe
Reaktion, denselben Blick. Über Swigerts Kopf, mitten auf der
Instrumentenkonsole der Kommandokapsel, blinkte eine gelbe
Warnleuchte auf. Gleichzeitig gellte ein Alarmton in Haises
Kopfhörer, und auf der rechten Seite des Armaturenbretts, wo
sich die Anzeigen für die elektrischen Systeme befanden,
leuchtete ebenfalls ein Lämpchen auf. Swigert kontrollierte die
Instrumente und stellte fest, daß sie offenbar einen jähen und
unerklärlichen Energieverlust in einem von Controllern und
Astronauten so genannten »main B bus« hatten – einer von
zwei Stromsammelschienen, die die Energie für die
Kommandokapsel lieferten. Bei einem Energieverlust in einem
solchen »Bus« konnten 50 Prozent aller Systeme im
Raumschiff ausfallen.
»He«, wandte sich Swigert per Funk an Houston, »wir haben
hier ein Problem.«
»Hier Houston, sag das noch mal«, meldete sich Lousma.
»Houston, wir haben ein Problem«, wiederholte Lovell. »Wir
hatten ein main B bus undervolt.«
»Roger, main B undervolt. O.K. bitte warten, 13, wir
kümmern uns darum.«
Sy Liebergot, der wie alle anderen Controller das Gespräch
mitgehört hatte, wollte sofort einen prüfenden Blick auf seine
Konsole werfen. Doch bevor er dazu kam, hörte er über
Kopfhörer eine schreiende Stimme.
»Was ist mit den Daten los, EECOM?« Es war Larry Sheaks,
einer der drei Männer im Nebenkontrollraum, die die Angaben
der lebenserhaltenden Systeme überwachten und Liebergot bei
eventuellen Störungen beistanden. Nach Sheaks meldete sich
George Bliss, ein weiterer EECOM-Ingenieur: »Wir haben
mehr als ein Problem.«
Liebergot blickte auf seinen Monitor und hielt die Luft an.
Allem Anschein nach spielten sämtliche Datenaufzeichnungen
verrückt. Das sind nicht die „Zahlen, die man bei einem
normalen Flug bekommt, dachte er. Das sind unsinnige und
falsche Angaben, die dir irgendein neunmalkluger Simsup bei
einem Test vorgibt, wenn er sehen will, ob du aufgepaßt hast.
Aber das hier war kein Test. Die erste und schlimmste
Angabe, die Liebergot auffiel, stand gleich neben den Zahlen
für den Wasserstoffvorrat, die er einen Augenblick zuvor noch
so gespannt beobachtet hatte, und betraf die beiden
Sauerstofftanks des Raumfahrzeugs. Seinen Daten zufolge war
Tank Nummer zwei, der immerhin die Hälfte des
Sauerstoffvorrates für das ganze Schiff enthielt, plötzlich nicht
mehr vorhanden. Die Daten waren einfach auf Null gefallen,
verschwunden, oder, wie die Controller es ausdrückten, in den
Keller gerutscht.
»Wir haben Druckverlust auf O2-Tank zwo«, bestätigte Bliss.
Liebergot betrachtete seinen Bildschirm und entdeckte
weitere schlechte Nachrichten. »O.K. wir haben Druckverlust
auf Brennstoffzellen eins und zwo.«
Einen Augenblick lang hatte Liebergot das Gefühl, ihm
werde übel. Anhand dessen, was er über seinen Kopfhörer
mitbekam und am Bildschirm sah, waren der Großteil des
Energie- und Atemluftsystems der »Odyssey« ausgefallen.
Diese Feststellung war furchtbar, aber sie war völlig unlogisch.
Es konnte durchaus sein, daß mit den Bauteilen alles in
Ordnung war und nur die Sensoren kaputtgegangen waren.
So etwas passierte von Zeit zu Zeit, und ein guter EECOM
zog erst die weniger schlimmen Möglichkeiten in Betracht,
bevor er übereilte Rückschlüsse zog.
»Wir könnten ein Problem mit den Instrumenten haben,
Flight«, wandte sich Liebergot an Flugdirektor Kranz. »Lassen
Sie mich das abklären.«
»Roger«, sagte Kranz.
Lovell, Swigert und Haise, die in der noch immer bebenden
und schaukelnden »Odyssey« saßen, konnten dieses Gespräch
nicht mithören, aber ihr Armaturenbrett zeigte an, daß
Liebergot recht haben könnte. Haise stieß sich aus dem
Tunnel, kehrte zu seiner Couch zurück, überprüfte die
elektrischen Daten und sah, daß Sammelschiene B offenbar
wieder in Ordnung war.
Er seufzte. »O.K. Houston«, sagte er. »Im Augenblick sieht
die Spannung wieder gut aus.« Dann fügte er leicht nervös
hinzu: »Wir hatten einen ziemlich lauten Knall hier zusammen
mit dem Spannungsabfall und dem Alarm.«
»Roger, Fred«, antwortete Lousma gelassen – so als wäre ein
»lauter Knall« etwas ganz Normales bei einem Flug zum
Mond.
»In der Zwischenzeit«, fügte Lovell hinzu, »nehmen wir uns
den Tunnel vor und dichten ihn wieder ab.«
Lovells gelassener Tonfall wurde durch die Dringlichkeit
Lügen gestraft, mit der das »Dichtmachen« vor sich ging.
Swigert schnallte sich von der Couch los und tauchte durch die
untere Ausrüstungs-Bucht in den Tunnel. Alle drei
Astronauten dachten das gleiche: Möglicherweise handelte es
sich um einen Meteor. Da die Kommandokapsel allem
Anschein nach in einigermaßen gutem Zustand war, hatte er
wahrscheinlich das LEM getroffen. Falls dem so war, wollte er
so rasch wie möglich die Luke zuschlagen und den Tunnel
abdichten, damit die Atemluft aus der Kommandokapsel nicht
durch die Röhre in die leckgeschlagene Mondfähre und von
dort ins Weltall entweichen konnte.
Swigert bekam die Luke zu, konnte sie aber nicht verriegeln,
so sehr er sich auch bemühte. Lovell schwebte in den Tunnel,
schubste Swigert beiseite und probierte es selbst, doch nach
einigen Versuchen mußte auch er sich geschlagen geben.
Wenn die Außenwand des LEM beschädigt wäre, müßte
mittlerweile der Innendruck in beiden Raumfahrzeugen
abfallen. Wenn es sich um einen Meteor gehandelt hatte, so
hatte er offenbar weder die Mannschaftskabine des LEM noch
die Kommandokapsel in Mitleidenschaft gezogen.
»Vergiß die Luke«, sagte Lovell zu Swigert. »Wir montieren
sie einfach ab und befestigen sie irgendwo, damit sie uns nicht
im Weg ist.«
Swigert nickte, und Lovell schob sich aus dem Tunnel, durch
die Ausrüstungs-Bucht und begab sich wieder zu seiner Couch,
um einmal mehr das Armaturenbrett zu überprüfen. Allem
Anschein nach hatte er weitere gute Neuigkeiten für die
Mission Control. Während die Angaben für Sauerstofftank
Nummer zwei in Houston abgefallen waren, waren sie im
Raumfahrzeug deutlich gestiegen. Auf Lovells Armaturenbrett
‘stand die Anzeige für den Tankinhalt im obersten Bereich der
Skala. Diese Angabe mochte zwar nicht unbedingt
hundertprozentig genau sein, aber sie lag doch weitaus näher
an der zu erwartenden Sauerstoffmenge als die Daten am
Monitor des EECOM, nach denen der Tank leer war. Lovell
gab Lousma die frohe Botschaft durch, und dieser antwortete
mit einem unverbindlichen »Roger«.
Lousma konnte sich im Augenblick nicht genauer festlegen.
Angenommen, es handelte sich um ein »Problem mit den
Instrumenten«, wie Liebergot hoffnungsvoll angedeutet hatte,
dann ergaben die Vorfälle im Raumschiff keinen Sinn.
Theoretisch konnte es gleichzeitig zu Störungen in einem
Sauerstofftank, einer Brennstoffzelle und einer Sammelschiene
kommen, da der Sauerstoff aus den Tanks in die
Brennstoffzellen strömte, die wiederum die Sammelschienen
mit Energie versorgten.
Die Wahrscheinlichkeit, daß eine dieser Komponenten
versagte, war jedoch verschwindend gering. Die
Wahrscheinlichkeit aber, daß ein Tank, zwei Brennstoffzellen
und eine Sammelschiene gleichzeitig ausfielen, war praktisch
gleich Null.
Inzwischen wuchs die Aufregung in der Mission Control, als
auch die anderen Controller immer neue Unregelmäßigkeiten
meldeten. Kurz nach dem Ruck, der die »Odyssey« erschüttert
hatte, meldete sich Bill Fenner, der Lenk-Offizier oder
GUIDO, einer der für die Berechnung der Flugbahn des
Raumfahrzeugs zuständigen Männer, und gab an, er habe an
Bord des Schiffes einen »hardware restart« festgestellt. Dieser
Begriff bezog sich auf einen Vorgang, bei dem der
Bordcomputer im Falle einer Störung alle möglichen Daten
sammelt, um eine mögliche Fehlerquelle zu ermitteln. In einem
Raumfahrzeug wie der »Odyssey«, in dem es derart viele
verwirrende Probleme gab, wäre ein Hardware-restart keine
Überraschung. Allerdings schien der Computer davon
auszugehen, daß sich die Ursache für den von der Besatzung
gemeldeten Knall innerhalb des Schiffes befand. Damit fiele
ein Meteoritentreffer aus. Was aber hatte das Schiff so
erschüttert, wenn nicht ein Felsbrocken aus dem All?
Sekunden nach dem Knall meldete sich der für Instrumente
und Kommunikation zuständige Offizier ebenfalls mit einem
Problem.
»Flight, INCO«, sagte er.
»Los, INCO«, antwortete Kranz.
, »Etwa zu dem Zeitpunkt, als wir das Problem hatten, haben
wir auf OMNI umgeschaltet.«
»O.K. Sie sagen, Sie sind auf OMNI gegangen?«
»Ja.«
»Sehen Sie zu, ob Sie die Zeiten korrelieren können«, sagte
Kranz. Dann wiederholte er zur Sicherheit und der
Verständlichkeit wegen:
»Stellen Sie fest, zu welchem Zeitpunkt Sie auf OMNI
gegangen sind, INCO.«
Das Wiederholen war wichtig, denn der INCO hatte
gemeldet, daß das Funksystem des Raumfahrzeuges seit dem
rätselhaften Ruck, der die »Odyssey« erschüttert hatte, von
sich aus nicht mehr über die S-Band-Richtantenne sendete,
sondern auf vier kleinere, nach allen Seiten ausgerichtete
Antennen am Versorgungsteil umgeschaltet hatte. Das
Funkgerät eines Raumschiffes sollte jedoch ebensowenig von
sich aus die Antennen wechseln wie ein Fernseher den Kanal.
Einige der Controller im Raum reagierten erleichtert auf den
Zwischenfall mit der Antenne. Es mußte sich einfach um ein
Problem mit den Instrumenten handeln. Daß ein
Sauerstofftank, eine Brennstoffzelle und eine Sammelschiene
ausfielen, war an sich schon mehr als unwahrscheinlich, aber
daß gleichzeitig auf eine andere Antenne umgeschaltet wurde,
das war einfach zuviel des Guten. Es wäre genauso, als
untersuche ein Automechaniker einen nagelneuen Wagen, um
einem dann zu erklären, daß Batterie, Lichtmaschine und
Anlasser hinüber seien, und außerdem sei der Kühler geplatzt,
die Reifen hätten keine Luft mehr und die Türen seien
abgefallen. In so einem Fall neigt man eher dazu, die
Fähigkeiten des Mechanikers in Frage zu stellen als den
Zustand des Autos.
Vor allem Kranz’ Vermutungen liefen in diese Richtung, und
über Funk wollte er Liebergot auf die Probe stellen.
»Sy, was wollen Sie unternehmen?« fragte er. »Haben Sie ein
Problem mit einem kaputten Sensor oder was?«
Lousma fragte sich genau das gleiche. Er unterbrach kurz die
Verbindung“ mit der Kapsel und fragte Kranz:
»Können wir ihnen irgendeinen Anhaltspunkt geben? Liegt
das nur an den Instrumenten, oder haben wir ein echtes
Problem?«
Auf der Leitung des EECOM wurden ebenfalls Zweifel laut.
»Larry, Sie glauben nicht an den Druckverlust im O2-Tank,
oder?« fragte Liebergot Sheaks.
»Nein, nein«, antwortete Sheaks. »Abgabe ist in Ordnung,
Lebenserhaltungskontrollsystem ist in Ordnung.«
Die Zweifel der Controller rührten vor allem daher, daß die
Angaben in der »Odyssey« nicht mit denen am Boden
übereinstimmten. Immerhin hatten Lovell, Swigert und Haise
bereits mitgeteilt, daß ihren Daten zufolge der Sauerstofftank
und die Sammelschiene wieder in Ordnung waren. Warum
aber sollte man bei voneinander abweichenden Werten den
schlechten Glauben schenken?
Im Raumfahrzeug indessen änderten sich die zunächst
vielversprechenden Datenangaben dramatisch. Haise, der die
Instrumente seit dem ersten Störfall nicht mehr aus den Augen
gelassen hatte, warf einen Blick auf die Sammelschienendaten,
und seine Hoffnung sank. Laut den Sensoren der »Odyssey«
war Sammelschiene B, die sich anscheinend erholt hatte,
wieder zusammengebrochen. Und was noch schlimmer war:
Auch die Werte für Sammelschiene A wurden schlechter. Es
schien, als wirke sich die Störung in der kaputten
Sammelschiene auch auf die intakte aus. Bei Lovell, der die
Angaben für Sauerstofftanks und Brennstoffzellen überwachte,
sah es noch schlechter aus: Sauerstofftank zwei, der einen
Augenblick vorher noch randvoll gewesen war, war den
Instrumenten zufolge jetzt leer. Darüber hinaus waren die
Werte für die Brennstoffzellen am Armaturenbrett der
»Odyssey« nun ebenso schlecht wie auf Liebergots Bildschirm
– demnach gaben zwei der drei Zellen überhaupt keinen Saft
mehr her.
Auf die letzte Anzeige hätte Lovell verzichten können. Wenn
die Daten für die Brennstoffzellen stimmten, dann konnte er
seinen Abstecher in die Fra-Mauro-Berge abschreiben. Bei
Mondlandungen gab es bei der NASA ein paar unabänderliche
Regeln, und eine davon lautete: Wenn nicht alle drei
Brennstoffzellen vollkommen in Ordnung sind, wird
nirgendwo hingeflogen. Theoretisch reichte eine
Brennstoffzelle unter Umständen völlig aus, aber wenn es um
etwas so Grundsätzliches wie die Energie an Bord eines
Raumfahrzeuges ging, ließ sich die NASA auf keinerlei Risiko
ein, und für die Raumfahrtbehörde boten selbst zwei intakte
Brennstoffzellen nicht genügend Sicherheit. Lovell wandte
sich an Swigert und Haise und deutete auf die Anzeigen für die
Brennstoffzellen.
»Wenn die stimmen«, sagte Lovell, »ist die Landung
gestorben.«
Swigert funkte die schlechte Nachricht an die
Bodenkontrolle. »Wir haben jetzt auch Spannungsabfall in
Sammelschiene A«, teilte er Houston mit. »Er beträgt etwa
fünfundzwanzigeinhalb. Sammelschiene B steht im
Augenblick bei Null.«
»Roger«, sagte Lousma.
»Und noch was, Jack«, fügte Lovell hinzu. »O2-Tank
Nummer zwo steht auf Null. Habt ihr das mitbekommen?«
»O2-Inhalt ist Null«, wiederholte Lousma.
All dies war schlimm genug, aber Lovell mußte sich noch mit
einem weiteren Problem herumschlagen. Mehr als zehn
Minuten nach dem Knall torkelte und trudelte das
Raumfahrzeug immer noch. Jedesmal wenn sich das Schiff
bewegte, zündeten automatisch die Steuerdüsen, um es wieder
in eine stabile Fluglage zu bringen. Aber kaum war dies
geschehen, geriet das Schiff wieder ins Schlingern, und die
Düsen zündeten erneut.
Lovell griff zu der rechts von seinem Platz am
Armaturenbrett angebrachten Handsteuerung. Wenn die
Automatik nicht in der Lage war, das Schiff in den Griff zu
kriegen, dann schaffte es vielleicht ein Pilot. Lovell wollte die
»Odyssey« aus einem wichtigen Grund wieder stabilisieren.
Ein Apollo-Raumfahrzeug flog nicht einfach geradeaus zum
Mond – die Nase der Kommandokapsel nach vorne
ausgerichtet und das LEM davor angedockt wie eine
überdimensionale Kühlerfigur. Vielmehr drehte sich das Schiff
langsam um die eigene Achse. Dies wurde als Passive Thermal
Control (passive Temperaturregelung) oder PTC bezeichnet,
und dieses »Drehen am Spieß«, wie es die Astronauten
nannten, sollte dafür sorgen, daß es an keiner Stelle zu einer
Überhitzung durch die ungefilterte Sonne oder zu einer
Unterkühlung auf der Gegenseite kam. Durch das Zünden der
Steuerraketen waren diese gleichmäßigen Umdrehungen von
Apollo 13 zunichte gemacht worden, und wenn es Lovell nicht
gelingen sollte, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen,
bestand die Gefahr, daß die extrem hohen, beziehungsweise
extrem niedrigen Temperaturen durch die Außenhaut des
Schiffes drangen und empfindliche Geräte beschädigten. Aber
die »Odyssey« wollte sich nicht stabilisieren lassen, so sehr
sich Lovell auch mit der Handsteuerung abmühte. Kaum hatte
er sie im Griff, wich sie auch schon wieder vom Kurs ab.
Irgend etwas – wußte der Teufel, was es war – brachte das
Schiff ins Torkeln.
Der Kommandant ließ die Handsteuerung los, löste seinen
Gurt und schwebte zum Fenster auf der linken Seite, um
festzustellen, was da draußen los war.
Die Chancen, auf diese Weise einen Grund für das
Flugverhalten des Schiffes entdecken zu können, waren gering,
aber wie sich herausstellte, lohnte sich der Versuch. Sobald
Lovell die Nase ans Glas drückte, erkannte er eine dünne,
weiße gasartige Wolke, die das Schiff umgab, im Vakuum des
Weltalls kristallisierte und einen schimmernden Hof bildete,
der sich nach allen Seiten ausdehnte. Lovell atmete tief durch,
als ihm langsam aufging, daß sie womöglich ganz tief in der
Bredouille steckten.
Denn eines will der Kommandant eines Raumschiffes
zuallerletzt sehen, wenn er aus dem Fenster schaut: Stoffe, die
aus seinem Schiff entweichen. Raumschiffpiloten fürchten
entweichende Stoffe ebenso wie Flugzeugpiloten Rauch aus
einer Tragfläche. Wenn etwas entweicht, läßt sich das nicht
mehr als Instrumentenfehler abtun oder auf irrige
Datenübermittlung schieben. Wenn etwas entweicht, dann
bedeutet das, daß das Raumfahrzeug beschädigt ist und
langsam, aber sicher ausblutet. Lovell betrachtete die
wachsende Gaswolke. Wenn seine Landung auf dem Mond
nicht schon durch die ausgefallenen Brennstoffzellen zunichte
gemacht worden war, dann mit Sicherheit durch das hier. Er
nahm es trotz allem philosophisch – so was ist halt
Berufsrisiko, dachte er. Er wußte, daß es für das Gelingen
einer Mondlandung keinerlei Garantie gab, bevor die
Landebeine des LEM im Mondstaub aufsetzten, und im
Augenblick sah es nicht danach aus, als sollte dies jemals der
Fall sein. Irgendwann, dessen war Lovell sich klar, würde er
das noch bedauern, aber nicht jetzt. Jetzt mußte er Houston –
wo man noch immer die Instrumente überprüfte und die
Angaben analysierte – mitteilen, daß der Fehler keineswegs an
den Daten lag, sondern daß die »Odyssey« angeschlagen und
von einer leuchtenden Gaswolke umgeben war.
»Meiner Ansicht nach sieht es so aus«, teilte Lovell der
Bodenstation gelassen mit, »als ob wir etwas ausblasen.« Der
Deutlichkeit halber – und möglicherweise auch, um sich selbst
zu überzeugen – wiederholte er: »Wir blasen irgend etwas ins
All hinaus.«
»Roger«, antwortete Lousma so sachlich, wie es sich für
einen CAPCOM gehörte. »Haben verstanden, ihr blast etwas
aus.«
»Es ist irgendein Gas«, sagte Lovell.
»Könnt ihr uns etwas Genaueres sagen? Wo kommt es her?«
»Im Augenblick kommt es aus Fenster eins, Jack«,
antwortete Lovell. Genaueres hatte er aufgrund seines
begrenzten Blickwinkels nicht zu bieten.
Der nüchterne Bericht aus dem Raumfahrzeug schlug im
Kontrollzentrum ein wie eine Bombe.
»Besatzung glaubt, daß sie etwas ausblasen«, schaltete sich
Lousma in das Funknetz ein.
»Das habe ich gehört«, sagte Kranz.
»Haben Sie das mitbekommen, Flight?« hakte Lousma nach.
»Roger«, bestätigte ihm Kranz. »O.K. und jetzt soll jeder mal
nachdenken, was wir ausblasen könnten. GNC, haben Sie auf
Ihrem System irgend etwas, das abnormal aussieht?«
»Negativ, Flight.«
»Wie ist es mit Ihnen, EECOM? Können Sie anhand der
Instrumentenangaben irgend etwas erkennen, das aus dem
Schiff entweichen könnte?«
»Wird bestätigt, Flight«, sagte Liebergot, der natürlich an
Sauerstofftank Nummer zwei dachte. Wenn eine Tankanzeige
plötzlich auf Null steht und das Raumfahrzeug von einer
Gaswolke umgeben ist, dann kann man davon ausgehen, daß
es da einen Zusammenhang gibt, zumal das Schiff vorher von
einem verdächtigen Knall erschüttert worden war. »Ich werde
mir die Systeme vornehmen und sehen, was da entweichen
könnte«, sagte Liebergot zum Flugdirektor.
»O.K. fangen wir mit der Überprüfung an«, stimmte Kranz
zu. »Ich nehme an, EECOM, Sie haben Ihr
Unterstützungsteam hinzugezogen, damit wir uns der Sache
mit vereinten Kräften annehmen können.«
»Ist bereits geschehen.«
»Roger.«
Die Veränderung im Kontrollraum war geradezu greifbar.
Niemand sprach es laut aus, niemand verkündete es offiziell,
aber den Controllern wurde allmählich klar, daß es bei Apollo
13, die erst vor wenig mehr als zwei Tagen zu ihrem
triumphalen Forschungsflug gestartet war, inzwischen ums
schlichte Überleben ging. Als sich diese Erkenntnis
breitmachte, meldete sich Kranz über das
Kommunikationsnetz.
»O. K.«, begann er. »Jedermann sollte die Ruhe bewahren.
Wir sollten sichergehen, daß niemand etwas unternimmt, das
die Stromversorgung ruinieren oder zum Verlust von
Brennstoffzelle Nummer zwei führen könnte. Wir wollen das
Problem lösen, aber wir wollen es nicht durch Herumraten
noch verschlimmern.«
Lovell, Swigert und Haise konnten Kranz’ Rede nicht hören,
aber im Augenblick mußte ihnen niemand sagen, daß sie die
Ruhe bewahren sollten. Die Mondlandung war endgültig
gestorben, aber darüber hinaus befanden sie sich vermutlich
nicht in unmittelbarer Gefahr. Wie Kranz festgestellt hatte, war
Brennstoffzelle Nummer zwei in Ordnung. Und soweit die
Besatzung und die Controller wußten, war auch Sauerstofftank
Nummer zwei noch intakt. Nicht umsonst ließ die NASA alle
lebenswichtigen Systeme in einem Raumfahrzeug doppelt und
dreifach auslegen. Ein Raumschiff mit einer Brennstoffzelle
und einem Tank mochte einen zwar nicht mehr zur Fra-Mauro-
Region befördern können, aber mit Sicherheit konnte es einen
zurück zur Erde bringen.
Lovell schwebte zur Mitte der Kommandokapsel, um
festzustellen, über wieviel Sauerstoff sie noch verfügten und
welcher Spielraum ihnen damit bliebe. Wenn die Ingenieure
alles richtig geplant hatten, müßte die Besatzung bei ihrer
Rückkehr noch über genügend O2-Reserven verfügen. Der
Kommandant warf einen Blick auf die Anzeige und erstarrte:
Die Nadel für Tank zwei stand deutlich unter der höchsten
Füllmenge und fiel vor Lovells Augen stetig weiter.
Diese Entdeckung, so schrecklich sie auch sein mochte,
erklärte eine Menge. Was immer auch mit Tank Nummer zwei
passiert sein mochte, es war vorbei. Der Tank hatte sich
entweder selbständig gemacht, war explodiert oder aufgeplatzt
– er war jedenfalls ausgefallen und spielte für das weitere
Funktionieren des Schiffes keine Rolle mehr. Tank eins jedoch
entleerte sich nach wie vor langsam. Sein Inhalt strömte
offensichtlich ins All, und die Wucht des Austritts verursachte
zweifellos die unkontrollierten Bewegungen des Schiffes. Gut
zu wissen, daß zumindest das Schlingern aufhören würde,
sobald die Anzeige am Nullpunkt angelangt war. Die Kehrseite
der Medaille war, daß mit dem Sauerstoffvorrat auch das
Leben der Besatzung enden würde.
Lovell wußte, daß in Houston höchste Aufregung herrschen
mußte. Die Druckabweichung war so gering, daß die
Controller sie möglicherweise noch gar nicht bemerkt hatten.
Als Pilot ging er instinktiv davon aus, daß man in so einem
Fall am besten tiefstapelte, kühl und nüchtern blieb. He, Jungs,
fällt euch irgendwas am anderen Tank auf? Lovell stupste
Swigert an, deutete auf die Anzeige von Tank Nummer eins
und dann aufs Mikrophon. Swigert nickte.
»Jack«, fragte der Pilot der Kommandokapsel ruhig, »seht ihr
Kryo-Druck von O2-Tank Nummer eins?«
Es gab eine Pause. Möglicherweise schaute Lousma auf
Liebergots Monitor, vielleicht sagte Liebergot ihm gerade
Bescheid. Vielleicht wußte er es auch schon. »Wird bestätigt«,
sagte der CAPCOM.
Soweit Lovell wußte, würde es eine Weile dauern, bevor es
mit Apollo 13 zu Ende ging. Er hatte keine Möglichkeit
nachzurechnen, wie groß das Leck im Tank war, aber wenn die
Anzeigenadel als Hinweis gelten konnte, hatte er mindestens
noch zwei Stunden, bis die 320 Pfund Sauerstoff entwichen
waren. War der Tank erst einmal leer, dann hing die ganze
Stromversorgung des Schiffes von drei Kompaktbatterien ab,
und die ganze verbliebene Atemluft für die Besatzung befand
sich in einem einzigen kleinen Sauerstofftank. Beides sollte
eigentlich erst am Ende des Fluges in Gebrauch genommen
werden, wenn die Kommandokapsel vom Versorgungsteil
getrennt war, aber dennoch etwas Energie und Luft für den
Wiedereintritt in die Erdatmosphäre benötigt wurde. Der kleine
Tank und die Batterien hielten allenfalls ein paar Stunden
durch. Wenn man den Restinhalt des leckenden
Sauerstofftanks hinzuzählte, dann konnte die »Odyssey« die
Besatzung etwa bis Mitternacht, Ortszeit Houston, am Leben
erhalten, allenfalls bis 3 Uhr morgens. Jetzt war es kurz nach
22 Uhr.
Aber da war ja nicht nur die »Odyssey«. An ihrem Bug war
nach wie vor die intakte »Aquarius« angekoppelt, eine
»Aquarius« ohne Leck und ohne Gaswolke. Eine »Aquarius«,
in der bequem zwei Mann unterkommen und überleben
konnten, und wenn man etwas zusammenrückte auch drei.
Egal, was mit der »Odyssey« geschah, in der »Aquarius«
konnte die Besatzung Zuflucht finden. Jedenfalls eine Zeitlang.
Von ihrem jetzigen Standort im All aus, das wußte Lovell,
dauerte die Rückkehr zur Erde etwa einhundert Stunden. Die
Mondfähre hatte nur für etwa fünfundvierzig Stunden Atemluft
und Energie – genug für den Abstieg zum Mond, einen
anderthalbtägigen Aufenthalt und die Rückkehr zur
»Odyssey«. Und dieser Luft- und Energievorrat reichte auch
nur dann fünfundvierzig Stunden, wenn sich, wie vorgesehen,
zwei Mann an Bord befanden. Bei einem weiteren Insassen
wurde diese Zeit um einiges kürzer. Strom- und
Wasserversorgung des Landefahrzeuges waren gleichermaßen
begrenzt. Aber Lovell war klar, daß die »Aquarius« im
Augenblick den einzigen Ausweg darstellte. Er blickte zu Fred
Haise, denn er war derjenige, der das LEM am besten kannte
und der aus den begrenzten Mitteln das Beste herausholen
konnte.
»Wenn wir wieder zurückkehren wollen«, sagte Lovell zu
seinem Astronautenkollegen, »dann müssen wir die ›Aquarius‹
benutzen.«
Etwa zur gleichen Zeit wie Lovell hatte auch Liebergot den
Druckabfall in Tank eins bemerkt. Im Gegensatz zum
Kommandanten war der EECOM, der sicher im Kontrollraum
in Houston saß, nicht bereit, das Schiff abzuschreiben, aber
große Hoffnung hatte auch er nicht. Liebergot wandte sich
nach rechts zu Bob Hesselmeyer, dem für die
lebenserhaltenden Systeme des LEM zuständigen Controller.
Im Augenblick war es, als befänden sich der EECOM und sein
Pendant für die Mondfähre in zwei völlig verschiedenen
Welten. Beide arbeiteten für die gleiche Mission, beide
kämpften mit der gleichen Krise, doch während Liebergot
nichts als blinkende Lämpchen und Datensalat auf seiner
Konsole sah, überwachte Hesselmeyer eine ruhende
»Aquarius«, die keinerlei besorgniserregende Zahlen zur Erde
funkte.
Beinahe neidisch schielte Liebergot zu Hesselmeyers
ordentlichem kleinen Bildschirm mit all den ordentlichen
kleinen Zahlen und schaute dann mit grimmiger Miene auf
seine eigene Konsole. Zu beiden Seiten des Monitors befanden
sich Handgriffe, mit denen das Wartungspersonal den
Bildschirm herausziehen konnte, wenn Reparaturen oder
Nachbesserungen notwendig waren. Liebergot stellte mit
einem Mal fest, daß er sich seit etlichen Minuten krampfhaft
an diesen Griffen festhielt.
5

Montag, 13. April, 23:40 Uhr, Ostküstenzeit

Wally Schirra hatte sich den ganzen Abend lang auf einen
Cutty Sark mit Soda gefreut. Vier Stunden lang hatte er sich
mit purem Soda begnügt, ein freundliches Gesicht gezogen
und allen möglichen Leuten die Hände geschüttelt, während
die munter einen draufmachten. Jetzt kam endlich auch er
dazu, sich einen hinter die Binde zu gießen. Schirra störte es
nicht besonders, daß er der einzige Nüchterne bei einem
offiziellen Empfang war. Für Wally war das heute Arbeit,
einer von zig Abenden, bei denen man herumgereicht wurde.
Wenn der Abend vorbei war, konnte er tun und lassen, was er
wollte, aber solange er hier war, befand er sich im Dienst.
Schirra nahm dienstlich an einem Empfang des American
Petroleum Club in New York teil. Er war nicht nur ein
besonderer Partygast, sondern auch der gefeierte Redner des
Abends. Normalerweise hetzte ein Ex-Astronaut nicht einfach
wegen irgendeines Empfanges nach New York; aber er mochte
diesen Verein ziemlich und nahm gerne an dessen
Veranstaltungen teil. Außerdem hatte er ohnehin in die Stadt
gemußt. Nach seinem Ausscheiden bei der NASA Anfang
1969 hatte er einen Vertrag mit CBS geschlossen, wonach er
Walter Cronkite bei der Berichterstattung über die Apollo-
Mondlandungen beistehen sollte. Im Juli 1969, bei Apollo 11,
war er zum erstenmal im Einsatz gewesen, danach im
November bei Apollo 12. Erst vor zwei Tagen hatten er und
Cronkite über den Start von Apollo 13 berichtet. Morgen
würden sich Jim Lovell, Jack Swigert und Fred Haise für die
Landung auf dem Mond bereitmachen, und Schirra sollte
wieder seinen Beitrag zur entsprechenden Sendung leisten.
Doch das war morgen. Jetzt jedoch beendete Schirra seinen
Auftritt beim Petroleum Club und begab sich quer durch die
Stadt zu Toots Shors Laden an der West 52nd Street. Wally
kannte Toots gut, und obwohl es bereits spät war, wußte er,
daß der gesellige Kneipenbesitzer wahrscheinlich wieder ein
ziemlich volles Haus hatte. Schirra betrat das Restaurant,
begab sich an die Bar und bestellte einen Cutty mit Wasser.
Wie erwartet, war der Laden voll. Und wie erwartet, tauchte
zeitgleich mit dem Drink auch Toots auf, der sich eilig einen
Weg durch die Kneipe bahnte. Wally lächelte ihm entgegen,
aber seltsamerweise lächelte Toots nicht zurück.
»Wally, rühr den Drink nicht an«, sagte Shor, sobald er bei
ihm war.
»Stimmt was nicht, Toots?«
»Wir haben eben einen Anruf gekriegt – unten in Houston ist
der Teufel los.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nichts Genaues, aber sie haben irgendein Problem.
Ein großes Problem, Wally. Draußen wartet ein Wagen der
CBS auf dich. Cronkite will auf Sendung gehen, und du sollst
ihm beistehen.«
Schirra stürmte aus der Tür und sah das Auto. Im nächsten
Moment war er schon auf dem Weg zu CBS. Dort
angekommen rannte Schirra ins Studio, wo Cronkite gerade
auf Sendung gehen wollte.
Der Nachrichtenmoderator sah gar nicht gut aus. Er rief
Schirra zu sich und schob ihm einen Stapel Agenturberichte
zu. Eilig überflog Schirra den Text und wurde von Satz zu Satz
blasser. Das war schlimm. Das war schlimmer als schlimm.
Das war… noch nie dagewesen. Er hatte tausend Fragen, aber
dafür war keine Zeit.
»Wir fangen in einer Minute an«, erklärte ihm Cronkite,
»aber so können Sie nicht auf Sendung gehen.«
Schirra blickte an sich herab und stellte fest, daß er noch
immer offizielle Abendgarderobe trug. Cronkite schickte einen
Boten zu seinem Umkleideraum, und kurz darauf brachte er
eine Tweedjacke mit Ellbogenflicken und eine schmuddelige
Krawatte. Schirra ließ sich kurz schminken und zog dann
Cronkites Sachen über sein gestärktes Rüschenhemd.
Der Journalist und der Astronaut nahmen ihre Plätze ein.
Sekunden später blinkte das rote Licht an der Kamera auf, und
die Fernsehzuschauer im ganzen Land sahen einen ruhigen
Walter Cronkite und daneben den leicht benommenen Wally
Schirra. Cronkite begann seinen Text vorzulesen, und erst da,
zeitgleich mit allen anderen Amerikanern, erfuhr Schirra das
ganze Ausmaß der Krise an Bord von Apollo 13.
Auf der anderen Seite der Stadt war noch nicht einmal das
Eis in Wallys verwaistem Drink geschmolzen.

Die Fahrt vom Manned Spacecraft Center in Houston bis zum


Vorort Timber Cove dauerte etwa fünfzehn Minuten, aber an
einem guten Abend, wenn kein Verkehr herrschte, konnte
Marilyn Lovell es in elf oder zwölf Minuten schaffen. Heute
war so ein Abend, und Marilyn wußte, daß sie früh genug zu
Hause sein würde, um ihr jüngstes Kind, den vierjährigen
Jeffrey, ins Bett zu stecken und Susan und Barbara zu einer
vernünftigen Uhrzeit schlafen zu legen. Wie fast alle NASA-
Frauen war Marilyn die Strecke schon zigmal gefahren, aber
an diesem Abend hätte sie gerne darauf verzichtet.
Bei den drei vorherigen Raumflügen ihres Mannes, als die
Fernsehstationen der NASA noch jede gewünschte Sendezeit
einräumten, war alles viel einfacher gewesen.
Marilyn fühlte sich betrogen, wenn sie daran dachte, wie sehr
sich seither alles geändert hatte. Vor fünf Monaten, als Apollo
12 unterwegs gewesen war, hatte Jane Conrad wenigstens
einige von Petes Sendungen sehen können, ohne daß sie extra
zum Space Center fahren mußte. Bei diesem Flug hatten die
NASA-Bosse noch auf das gleiche gewaltige
Zuschauerinteresse wie bei Apollo 11 gehofft, und um der
Öffentlichkeit etwas zu bieten, hatte man den Astronauten statt
der schlichten Schwarzweißkamera, die Neil und Buzz auf
dem Mond verwendet hatten, sogar eine Farbbildkamera
mitgegeben. Anscheinend eine gute Idee, aber nur solange, bis
Al Bean und Pete Conrad tatsächlich auf dem Mond waren und
ihre wunderbare neue Kamera versehentlich auf die Sonne
richteten, so daß das Objektiv regelrecht gegrillt wurde und
alle weiteren Übertragungen gestrichen werden mußten. Von
da an ging es für die NASA und die Fernsehsender bergab, und
obwohl die Techniker der Raumfahrtbehörde die Kameras an
Bord von Apollo 13 mit stärkeren Filtern ausgerüstet hatten,
die eine störungsfreie Übertragung zur Erde gewährleisteten,
hatten die Fernsehstationen weitestgehend auf alle
diesbezüglichen Angebote verzichtet.
Marilyn bog mit ihrem Auto in die Auffahrt an der Lazywood
Lane ein, stellte den Motor ab und blickte auf ihre Uhr. Es war
zu spät, um ihr ältestes Kind, den fünfzehnjährigen Jay, in der
St. John’s Military Academy in Wisconsin anzurufen und ihm
mitzuteilen, daß die Sendung gut gelaufen sei und sein Vater
einen großartigen Eindruck gemacht habe. Jay wußte, daß man
ihn sofort verständigt hätte, wenn etwas nicht gutgegangen
wäre, aber Marilyn wollte es ihm trotzdem lieber selbst sagen.
Jetzt mußte sie damit bis morgen warten.
Marilyn scheuchte Susan und Barbara ins Haus, während sie
die Auffahrt hochlief. Elsa Johnson, eine Freundin aus der
Gegend von Cape Kennedy, die während des Mondfluges bei
den Lovells wohnte, hatte sich bereit erklärt, heute abend auf
Jeffrey aufzupassen, und Marilyn wollte sie so rasch wie
möglich ablösen. Während der »Dienstreisen« ihrer Männer
waren die Astronautenfrauen zutiefst dankbar, wenn Freunde
ihnen Gesellschaft leisteten, und Marilyn wollte Elsas
Großmut nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.
»Wie war Jim?« fragte Elsa, sobald Marilyn hinter Susan und
Barbara ins Haus kam.
»Prima«, sagte Marilyn. »Fröhlich und gelassen. Sie sehen
alle aus, als hätten sie da oben viel Spaß. Wie geht’s Jeffrey?«
»Der schläft schon. Ist sofort eingenickt.«
Marilyn hängte ihren Pullover in den Kleiderschrank, ging
ins Wohnzimmer und zuckte leicht zusammen, als sie einen
Mann bemerkte, der auf ihrer Couch saß und in einer
Illustrierten las. Dann lachte sie über sich und winkte ihm zu.
Der Mann war Bob McMurrey, ein Protokolloffizier der
NASA. Der Frau und den Kindern eines jeden
Besatzungsmitglieds wurde routinemäßig wenigstens ein
Protokollmann zugeteilt, der die Zeit vom Start bis zur
Landung bei der Familie zubrachte, sie vor der Presse und den
Schaulustigen abschirmte und alle unerwarteten
Entwicklungen während des Fluges erklärte.
Für gewöhnlich war dies eine anspruchsvolle Aufgabe, und
McMurrey, der den Lovells bereits bei Apollo 8 zugeteilt
gewesen war, war lange Arbeitszeiten gewöhnt. Bei Apollo 13
jedoch gab es bislang weder Schaulustige und Reporter vor
dem Haus noch irgendwelche unerwarteten Entwicklungen.
McMurrey hatte die vergangenen Tage weitgehend so
zugebracht wie diesen Abend – er saß auf dem Sofa, trank
Kaffee und las eine Illustrierte nach der anderen. Zu seinen
Füßen lag dösend Christie, der Collie der Lovells, als habe er
ihn bereits ersatzweise als Familienoberhaupt akzeptiert,
solange sein eigentliches Herrchen weg war.
Marilyn hatte an diesem Abend ein bißchen Gesellschaft
haben wollen und daher Betty Benware, ihre unmittelbare
Nachbarin, auf einen Drink eingeladen. Doch Betty hatte sich
entschuldigt. Ihr Mann Bob war der örtliche Leiter der Philco-
Ford-Gruppe, die die Konsolen und Geräte in der Mission
Control wartete, und das Ehepaar hatte sich gerade zwei Tage
lang um seine Chefs gekümmert, die eigens angereist waren,
um einmal mitzuerleben, wie die Arbeit bei einem richtigen
Flug ablief.
Vom Protokollmann einmal abgesehen, war der Empfänger,
den die NASA vor drei Tagen in ihrem Schlafzimmer
installiert hatte, die einzige weitere Verbindung, die Marilyn
während des langen Fluges mit dem Space Center hatte. Dieser
Kasten, ein kleiner Lautsprecher, der über eine Telefonleitung
mit dem Kontrollzentrum verbunden war, ermöglichte es den
Astronautenfrauen, rund um die Uhr den Funksprechverkehr
zwischen ihren Männern und dem CAPCOM mitzuhören.
Diese Gespräche bestanden zu über 90 Prozent aus
unverständlichem Zeug – jede Menge Zahlen und
Vektorenangaben, die gelegentlich sogar die Controller öde
fanden. Aber Marilyn und die anderen Frauen achteten
weniger auf die Worte als auf den Tonfall – den besorgten Ton
–, und aus diesem Grund war der Kasten unentbehrlich. Zu
dieser fortgeschrittenen Stunde, wenn die Besatzung bereits
schlief, hörte man jedoch nur statisches Rauschen. Und da
McMurrey gemütlich im Wohnzimmer saß und offenbar nichts
zu berichten hatte, meinte auch Marilyn, sie müsse sich in
Gedanken nicht ständig mit dem Flug beschäftigen. Statt
dessen wollte sie in die Küche gehen und mit Elsa einen
Kaffee trinken. Bevor sie dazu kam, ging die Haustür auf, und
Pete und Jane Conrad kamen herein.
»Hast du ihn gesehen?« fragte Jane Marilyn.
»Alle hab’ ich sie gesehen«, sagte Marilyn. »Sie sehen
großartig aus. Anscheinend läuft alles genau wie geplant.«
»Jim fliegt eine erstklassige Mission«, sagte Conrad.
»Ich wünschte nur, sie brächten die Übertragung im
Fernsehen«, sagte Marilyn. »Damit die Leute sehen, was für
tolle Arbeit die leisten.«
»In den Spätnachrichten soll eine Minute drüber kommen«,
sagte Jane. »Wenn auch nur, um die Leute daran zu erinnern,
daß sie da oben sind.«
Marilyn wollte Pete und Jane gerade auf eine Tasse Kaffee in
die Küche bitten, als das Telefon klingelte.
»Marilyn?« meldete sich eine vorsichtig fragende Stimme.
»Jerry Hammack hier. Ich rufe vom Center aus an.« Jerry
Hammack und seine Frau Adeline, die auf der anderen
Straßenseite wohnten, waren gute Freunde der Lovells.
Hammack war Chef des NASA-Bergungsteams, das die
Apollo-Kommandokapseln nach der Landung aus dem Meer
fischte.
»Jerry«, sagte Marilyn überrascht, »wieso arbeitest du so spät
noch?«
»Ich wollte dir bloß ausrichten, daß du dir keinerlei Sorgen
zu machen brauchst. Die Russen, die Japaner und viele andere
Länder haben bereits ihre Hilfe bei der Bergung angeboten.
Wir können sie an jeder x-beliebigen Stelle im Meer
runterbringen und in Nullkommanichts auf einen Träger
schaffen.«
»Jerry, wovon redest du da? Bist du etwa betrunken?«
»Hat dir noch niemand Bescheid gesagt?«
»Worüber?«
»Über das Problem…«
»Was für ein Problem?« fragte sie Hammack mit merklich
gehobener Stimme. »Jerry, ich habe Jim eben am Bildschirm
gesehen. Alles war in Ordnung!« In der Küche drehten sich
Elsa und Jane um.
Ȁh, na ja, es ist aber nicht alles in Ordnung. Ein paar Dinge
sind schiefgegangen.«
»Was für Dinge?!«
»Na ja… hauptsächlich handelt es sich um ein Problem mit
der Energieversorgung«, druckste Hammack herum.
»Genaugenommen um ein Problem mit den Brennstoffzellen.
Denen geht der Strom aus, und, na ja, es sieht nicht so aus, als
könnten sie die Landung durchführen.« Marilyn hörte das
andere Telefon im Arbeitszimmer klingeln und sah, wie
McMurrey an den Apparat eilte.
»Oh, Jerry, das ist ja furchtbar«, sagte sie. »Jim hat so hart
dafür gearbeitet. Er wird sehr enttäuscht sein.« Sie bemerkte,
wie Jane sie anblickte und ihr zuraunte: »Was ist passiert?«
Marilyn hob abwiegelnd die Hand.
»Ja, dessen bin ich mir sicher«, sagte Hammack. »Aber ich
wollte jedenfalls, daß du dir keine Sorgen machst. Wir tun hier
drüben alles, was wir können.«
Marilyn legte auf und wandte sich an Jane. »Das ist ja
furchtbar«, erklärte sie. »Mit einer Brennstoffzelle ist
irgendwas schiefgegangen, und sie wollen die Landung
streichen. Dabei war das der einzige Grund, weshalb Jim
wieder da raus ist, und jetzt muß er einfach kehrtmachen und
zurückfliegen.«
»Marilyn, das tut mir ja so leid«, sagte Jane. Die beiden
Freundinnen fielen sich in die Arme, und über Janes Schulter
hinweg sah Marilyn Conrad und McMurrey vor dem
Arbeitszimmer stehen und aufgeregt miteinander flüstern.
Conrad wirkte blaß und beunruhigt.
»Marilyn«, fragte Conrad heiser, »wo ist der Empfänger?«
»Wieso brauchst du denn den Empfänger?« erwiderte
Marilyn.
»Hat etwa noch niemand mit dir gesprochen?«
»Doch, ich habe eben mit Jerry Hammack gesprochen. Er hat
mir von dem Problem mit der Brennstoffzelle erzählt.«
»Marilyn«, sagte Konrad leise, »es handelt sich um mehr als
nur ein Problem mit einer Brennstoffzelle.« Conrad setzte
Marilyn in einen Sessel und erklärte ihr alles, was der
Protokollmann ihm gerade berichtet hatte: Das Verschwinden
von Sauerstofftank Nummer zwei, die Schwierigkeiten mit
Tank Nummer eins, das entweichende Gas, das Schlingern, der
Energieabfall, die knapp werdende Atemluft und der
rätselhafte Knall, mit dem alles angefangen hatte. Marilyn
hörte zu, und dann wurde ihr plötzlich übel. So etwas durfte
einfach nicht passieren. Bevor Jim wieder losgeflogen war,
hatte er ihr versichert, daß genau so etwas niemals passieren
würde.
Marilyn riß sich von Conrad los, rannte zum Fernseher und
stellte ihn an. Instinktiv schaltete sie nicht auf CBS, wo Wally
Schirra, der Freund der Familie arbeitete, sondern auf ABC, zu
Jules Bergman, der Koryphäe unter den
Wissenschaftskorrespondenten. Sie bereute es beinahe
augenblicklich. Bergman, so stellte sie fest, redete über genau
den Sauerstofftank, den Conrad gerade erwähnt hatte, über die
Kreiselbewegungen des Raumfahrzeuges und über den
rätselhaften Knall. Aber im Gegensatz zu Conrad redete
Bergman auch noch über etwas anderes: die Aussichten.
Während Marilyn zuhörte, erklärte Bergman seinen
Zuschauern, daß in so einem Fall zwar niemand eine genaue
Voraussage machen könne, aber die Chancen, daß die
Besatzung von Apollo 13 lebend zurückkommen werde,
stünden allenfalls bei zehn Prozent.
Marilyn wandte sich vom Fernseher ab und schlug die Hände
vors Gesicht. Die von dem Nachrichtenmann genannte Zahl
war schlimm genug, aber selbst wenn er von besseren Chancen
und einem glücklicheren Ausgang gesprochen hätte, wäre der
Bericht erschreckend gewesen. Obgleich es keiner der anderen
Anwesenden bemerkt hatte, war Marilyn sofort aufgefallen,
daß Bergman, ebenso wie zuvor Conrad und Hammack, einen
besorgten Tonfall angeschlagen hatte.

Andere Menschen in Houston, die weder in der Mission


Control saßen noch Familienangehörige der gefährdeten
Piloten waren, hörten die Neuigkeiten auf andere Art.
Ingenieur Andy Saulietes, der mit drei seiner Kollegen auf dem
Dach von Haus 16A des Manned Spacecraft Center
übernachtete, stellte eine Anzahl kostspieliger astronomischer
Geräte ein. Wie in den letzten drei Nächten richteten Saulietes
und die anderen ein starkes 35-Zentimeter-Teleskop ungefähr
auf den Mond aus und betrachteten die Bilder, die sie auf dem
danebenstehenden Schwarzweiß-Bildschirm empfingen.
Hauptsächlich konzentrierten sie sich auf ein flimmerndes,
rasch kleiner werdendes Objekt, das ihren Instrumenten
zufolge etwa 320 000 Kilometer von der Erde entfernt war.
Mit bloßem Auge besehen, war das Objekt absolut
unauffällig, aber Saulietes und die anderen Männer verfolgten
genauestens seine Bahn.
Was sie sahen, war die abgekühlte, ausgebrannte dritte Stufe
der Saturn-5-Trägerrakete von Apollo 13, die sich mit
ungefähr 3200 Kilometern pro Stunde von der Erde entfernte.
Der mit einem einzigen Triebwerk versehene oberste Teil der
Rakete hatte Apollo 13 vor zwei Tagen aus der Erdumlaufbahn
geschossen und flog nun in Richtung Mond. Irgendwo in der
Nähe mußten auch die Raumkapsel und die Mondfähre samt
Versorgungsteil dahinrasen, aber das winzige Raumfahrzeug
war längst außer Reichweite von Saulietes’ Teleskop. Und
selbst die dritte Stufe war, wie Saulietes und seine Kollegen
feststellten, auf dem Bildschirm kaum mehr zu erkennen.
Die Männer auf dem Dach hatten ein Funkgerät dabei, so daß
sie den Verlauf des Fluges verfolgen und auf wichtige
Ereignisse achten konnten, die eventuell für ihre
Beobachtungen von Bedeutung waren. Das Ereignis, auf das
sie in erster Linie warteten, war das Ablassen von Wasser oder
Urin aus dem Raumschiff »Odyssey«. Sobald irgendeine
Flüssigkeit aus dem Schiff geblasen wurde, gefror sie und
bildete eine eisige Wolke aus funkelnden Flocken, die Wally
Schirra, der Meister des Wortspiels, einst Sternbild Urion
getauft hatte. Wenn die Wolke heute nacht groß genug war,
und wenn das Sonnenlicht richtig darauf fiel, dann, so glaubte
Saulietes, könnte er das Raumfahrzeug vielleicht entdecken.
Gegen 21:35 Uhr meinte Saulietes, der gerade mit der
Schärfeneinstellung seines Teleskops beschäftigt war und nur
mit halbem Ohr auf das Gespräch zwischen Kapsel und
Bodenstation achtete, gehört zu haben, wie Swigert etwas von
einem Problem sagte. Kurz darauf meinte er zu hören, wie
Lovell die Durchsage wiederholte. Saulietes verschwendete
nicht viele Gedanken auf diese Funksprüche. Er hatte die
Mondflüge von Apollo 8, 10, 11 und 12 begleitet, und
Raumfahrzeuge meldeten immer wieder kleinere Störungen,
bei denen sie Houston um Beistand anfunkten. Aufmerksam
wurde er erst, als er ein paar Minuten später das Bild auf
seinem Monitor sah.
Mitten auf dem Bildschirm tauchte plötzlich und unerwartet
ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt auf, der stetig zunahm. Er
war genau da, wo sich das Raumschiff befinden mußte, aber
für eine Wasser- oder Urinwolke war er viel zu groß, und
Saulietes hatte auch bei den vorherigen vier Mondflügen nichts
dergleichen gesehen. Es sah fast aus, als umgebe eine riesige
Wolke aus Gas das Schiff und breite sich langsam dreißig oder
vierzig Kilometer weit aus. Saulietes griff zu seinem
Bildschirm und drückte auf die Aufnahmetaste. Das Gerät
würde drei oder vier Kopien dieses Bildes ziehen, die er später
abrufen und genauer untersuchen konnte. Aber es war
unwahrscheinlich, daß die Bilder Saulietes viel verraten
würden; vermutlich war der merkwürdige Hof um das Schiff
nur auf einen Fehler an seinem Teleskop oder am Monitor
zurückzuführen. Falls dem so war, wollte er rasch die Ursache
herausfinden, bevor er diesen ansonsten vorbildlichen Flug
weiterverfolgte.
Chris Kraft, der stellvertretende Direktor des Spacecraft
Center, hatte ebensowenig wie Saulietes einen Grund, sich
wegen des weiteren Verlaufes der Mondmission Sorgen zu
machen. Seitdem er den Platz des Flugdirektors zu Beginn des
Apollo-Programms abgegeben hatte, konnte Kraft seine Arbeit
etwas gelassener angehen, und die Veränderung störte ihn
nicht im geringsten. Nachdem er bei sechs hochgradig
stressigen Mercury- und zehn Gemini-Flügen seine Pflicht in
der Mission Control getan hatte, war Kraft mehr als zufrieden,
als er nach Jim Lovells und Buzz Aldrins Gemini 12 die
Verantwortung auf Gene Kranz und die anderen
Flugdirektoren übertragen konnte, die unter ihm arbeiteten.
Im Augenblick stand Kraft unter der Dusche. Es war kurz vor
22 Uhr, und soweit er gehört hatte, lief im nahe gelegenen
Space Center und in der Apollo-Kapsel alles vorbildlich. Die
Crew müßte sich etwa um diese Zeit zur Ruhe begeben, und
Kraft gedachte es ihr gleichzutun.
Durch die Badezimmertür hörte Kraft, wie das Telefon
einmal klingelte, dann ein zweites Mal, dann ging seine Frau
ran.
»Betty Ann?« sagte die Stimme am anderen Ende. »Hier
Gene Kranz. Ich muß mit Chris reden.«
Betty Ann, die aufgrund von Krafts langjähriger Dienstzeit
bei der Raumfahrtbehörde so gut wie nichts mehr überraschen
konnte, reagierte gelassen auf Kranz’ Anruf.
»Gene, Chris ist gerade unter der Dusche. Kann er dich
zurückrufen?«
»Nein, das kann er nicht. Du mußt ihn sofort herholen«, sagte
Kranz. »Auf der Stelle.«
Betty Ann eilte zum Badezimmer und holte Kraft tropfnaß
ans Telefon.
»Chris«, sagte Kranz, »du solltest lieber rüberkommen. Wir
haben ein Riesenproblem. Wir haben Sauerstoff verloren, eine
Sammelschiene ist ausgefallen, Brennstoffzellen sind
ausgefallen. Anscheinend hat es eine Explosion gegeben.«
Kraft zog sich rasch an, rannte mit nassen Haaren aus dem
Haus und sprang in seinen Wagen. Mit fast hundert Sachen
raste er durch die dunklen Straßen der ruhigen Vorstadt, in der
sich die Menschen gerade schlafen legten, und schaffte die
fünfzehn Kilometer bis zum Space Center in weniger als einer
Viertelstunde.
Wenn es bei einem Raumflug, zumal bei einem so
komplexen Flug wie einer Mondmission, zu einer Krise
kommt, arbeiten die Männer im Raumfahrzeug und die
Männer am Boden in einer Art abwiegelnder Hierarchie
zusammen. Geriet ein Schiff in plötzliche Schwierigkeiten,
dann standen zunächst die Piloten im Mittelpunkt. Sie waren
es, die den Knall hörten, eventuelle Lecks feststellten oder
anhand der Instrumente feststellten, wenn etwas nicht stimmte,
und daher waren sie es auch, die bei einer Krise die
pessimistischste Haltung einnahmen. Obwohl kein Pilot gerne
sein Schiff aufgeben oder seine Mission abbrechen wollte, gab
es doch Grenzen, die er aufgrund seiner Erfahrung und seiner
Eindrücke nicht überschreiten wollte. Danach kamen die
einzelnen Controller an den Konsolen in Houston. Die
Mehrzahl dieser Männer hatte nie in einem Raumfahrzeug
gesessen; sie mußten sich darauf verlassen, daß ihnen die
Zahlen auf ihren Bildschirmen verrieten, was mit dem von
ihnen überwachten Schiff nicht stimmte. Im Gegensatz zu den
Männern im Raumfahrzeug wußten die Controller, daß ihr
Leben und ihre Gesundheit nicht vom Zustand des
Raumfahrzeugs abhing. Dies führte zwar manchmal dazu, daß
sie mehr Zutrauen in ein angeschlagenes Schiff hatten, als
dieses eigentlich verdiente, aber es sorgte auch dafür, daß sie
an die Lösung des Problems mit einer Abgeklärtheit
herangingen, zu der die Astronauten selbst nicht fähig waren.
Den größten Abstand zu dem Problem hatte der Flugdirektor,
der allerdings auch die höchste Verantwortung dafür trug, daß
es gelöst wurde.
Zusätzlich zu all den festgeschriebenen Regeln, die bei einem
Flug einzuhalten waren, arbeitete der Flugdirektor auch nach
einer ungeschriebenen Regel, die man als Herunterfahren
bezeichnete. Bevor eine Mission offiziell abgebrochen wurde,
mußte der Flugdirektor aufgrund dieser Regel zusehen, daß er
sie soweit wie möglich retten konnte, ohne das Leben der
Astronauten zu gefährden. Wenn eine Besatzung nicht auf dem
Mond landen konnte, konnte sie ihn dann wenigstens
umrunden? Und wenn sie dazu nicht imstande war, konnte sie
dann wenigstens um ihn herumfliegen und eventuell ein paar
rasche Eindrücke sammeln? Ein Flug zum Mond war eine
komplizierte und teure Angelegenheit, und wenn sich schon
die vorrangigen Ziele des Projekts nicht erreichen ließen, so
mußte der Verantwortliche darauf achten, daß zumindest
zweit- oder drittrangige Ziele erreicht wurden. Erst wenn bei
einer heruntergefahrenen Mission alle Möglichkeiten
ausgeschöpft waren, durfte der Flugdirektor die ihm
anvertraute Crew zurückholen.
In der siebenundfünfzigsten Flugstunde von Apollo 13, als
Marilyn Lovell und Mary Haise Anrufe von der NASA
erhielten, als Chris Kraft zum Space Center raste und Jules
Bergman auf Sendung ging, lief die abwiegelnde Hierarchie
der NASA auf Hochtouren. Gene Kranz ging, wie immer in
kritischen Momenten, rauchend hinter seiner Konsole in der
Mission Control auf und ab und bediente seine Sprechanlage,
als handelte es sich um die Telefonzentrale einer Kleinstadt.
An den anderen Konsolen betrachteten die Controller ihre
Bildschirme, analysierten die Daten und hofften, die Probleme
lösen zu können, soweit sie die in ihrer Zuständigkeit
liegenden Teile des Schiffes betrafen.
Und im Raumfahrzeug selbst bewältigten die drei am
unmittelbarsten betroffenen Männer die Krise mit einem
persönlichen Einsatz, den die Männer am Boden kaum
ermessen konnten.
Etwa sechzig Minuten nach Beginn der Krise bereitete
Lovell, Swigert und Haise nach wie vor das ununterbrochene
Rollen und Schlingern ihres Raumfahrzeugs, das vermutlich
durch das Leck in Sauerstofftank Nummer eins verursacht
wurde, die größten Schwierigkeiten. Diese unerwünschten
Bewegungen wurden in der knappen Pilotensprache Sätze
genannt, und während die Controller mit aller Macht nach der
Ursache für die vielfältigen Probleme der »Odyssey«
fahndeten und sich um eine provisorische Lösung bemühten,
versuchte Lovell weiterhin diese Sätze unter Kontrolle zu
bringen.
»Ich kriege das Ding nicht zur Ruhe«, knurrte der
Kommandant vor sich hin, während er die pistolengriffartigen
Regler für die Steuerdüsen hin und her bewegte.
»Wir machen immer noch verdammt heftige Sätze,
stimmt’s?« sagte Swigert, der auf seinem Platz in der Mitte
saß.
»Schieb’s darauf«,, sagte Lovell und deutete mit dem Kopf
auf die schimmernde Gaswolke vor dem Fenster.
»Paß auf den Ball auf«, warnte ihn Swigert mit einem Blick
auf ein Instrument am Armaturenbrett. »Sieh zu, daß die
Kreisel nicht blockieren.«
Das Instrument, das Swigert so nervös musterte, der
Fluglageanzeiger – unter Piloten 8er Ball genannt –, war eine
kleine, mit allerlei Winkelmarkierungen und
breitengradähnlichen Linien versehene Kugel. Die Kreisel, die
seinen Stand bestimmten, waren das Herz des
Navigationssystems an Bord. Um sich im Weltall zu
orientieren, mußte eine Crew jederzeit die Position ihres
Raumfahrzeuges im Verhältnis zu einem bestimmten
Himmelspunkt feststellen können. Zu diesem Zweck war das
Raumfahrzeug mit einem Trägheitsführungssystem
ausgerüstet. Es bestand aus einer festen Plattform, einem
sogenannten stabilen Element, die in Kardanringen aufgehängt
war, so daß sie ihre Richtung im Raum unabhängig von der
Lage des Schiffes beibehalten konnte. Ihre Ausrichtung
erfolgte nach den Sternen und wurde ungeachtet aller
Drehbewegungen des Raumfahrzeuges beibehalten. Drei
Kreisel hielten die Plattform in bezug auf einen Punkt im
Weltraum fest. Die Kardanringe, an denen sie aufgehängt war,
schwangen bei jeder Bewegung des Schiffes mit. Das
Führungssystem teilte dem Bordcomputer laufend die Lage des
Schiffes im Verhältnis zu dem stabilen Element und somit zu
den Sternen mit, und der 8er Ball lieferte den Piloten die
gleiche Information.
Für ein Raumfahrzeug, das seine Flugbahn auf der rund
400000 Kilometer langen Reise zum Mond um Bruchteile von
Graden korrigieren mußte, arbeitete das System
außerordentlich gut – mit einer kleinen Ausnahme. Wenn das
Raumfahrzeug versehentlich zu stark nach rechts oder links
gierte, konnten die Kardanringe aneinanderstoßen und in dieser
Stellung blockieren, so daß der Computer keine Möglichkeit
mehr hatte, die Lage des Schiffes zu bestimmen. Ein
Raumfahrzeug ohne Navigationssystem nutzte niemandem
etwas, zuallerletzt den Piloten, die darauf angewiesen waren,
daß sie damit wieder zurückkamen, und deshalb war der 8er
Ball so konstruiert, daß er die Besatzung auf eine drohende
Blockierung der Kardanringe hinwies. Zusätzlich zu den in die
Kugel eingravierten Linien und Winkeln waren auch zwei um
180 Grad auseinanderliegende, etwa groschengroße rote
Scheiben aufgemalt. Wenn eine rote Scheibe im Fenster
auftauchte, so hieß das, daß die Kardanringe demnächst
aneinanderstießen. Bewegte sich die Scheibe in Fenstermitte,
dann bedeutete dies, daß die Kardanringe blockiert und damit
alle Angaben über die Lage des Schiffes verloren waren – und
dies galt, zumindest bezüglich der Navigation, auch für das
Schiff. Als nun Swigert auf das Instrument blickte, tauchte
rechts ein roter Farbfleck auf. »Rot kommt in Sicht«, warnte er
Lovell erneut.
»Ich sehe es«, sagte Lovell mit einem Blick zum
Armaturenbrett. »Und ich wünschte, es wäre nicht so.« Er zog
das Schiff hart nach Backbord, und der rote Fleck verschwand.
Die Instrumente an der Navigationskonsole im Kontrollraum
meldeten die gefährliche Bewegung ebenso wie Lovells
Lageanzeige, und der GUIDO machte Kranz darauf
aufmerksam.
»Flight, GUIDO«, meldete er sich über das Funknetz.
»Los, GUIDO«, antwortete Kranz.
»Er ist kurz vor einer Kardanblockierung.«
»Roger. CAPCOM, empfehlen Sie ihm, die Düsen C-3, C-4,
B-3, B-4, C-1 und C-2 einzusetzen, und weisen Sie darauf hin,
daß er kurz vor einer Kardanblockierung ist.«
»Roger«, antwortete Lousma, schaltete dann auf Boden-
Bord-Funk um und gab seine Anweisungen an die Besatzung
weiter.
Lovell hörte die Durchsage und nickte Swigert zu, gab aber
Lousma keine Bestätigung. Während der Kommandant die
Lageanzeige im Auge behielt, stellte der Pilot der
Kommandokapsel die Steuerdüsen nach Lousmas Anweisung
ein.
»13, Houston. Versteht ihr uns?« fragte Lousma, als er keine
Antwort bekam.
Haise überwachte in der Zwischenzeit die immer
problematischer werdende Energieversorgung des
Raumfahrzeuges.
»Ja«, antwortete der Pilot der Mondfähre der Bodenstation,
während er sich seinen Kollegen zuwandte. »Haben
verstanden.«
»Bestätigen«, fügte Lovell kurz hinzu.
Während Lovell und Swigert darum bemüht waren, die
»Odyssey« zu stabilisieren, lief Kranz weiter hinter seiner
Konsole auf und ab und befaßte sich gleichzeitig mit hundert
anderen Problemen. Auf der Sprechanlage des Flugdirektors
meldete sich der INCO und berichtete, daß er die allergrößten
Schwierigkeiten habe, die Antennen auf dem schlingernden,
energiearmen Schiff auszurichten. Der Führungs- und
Navigationsoffizier oder GNC (Guidance and Navigation)
meldete Probleme mit der Temperaturregelung, da die
Sonnenstrahlung zu lange auf die eine Seite des Schiffes
einwirke. Der EECOM meldete, die zahllosen Probleme bei
der Energie- und Sauerstoffversorgung, mit denen der ganze
Schlamassel angefangen hatte, seien noch nicht behoben und
würden allem Anschein nach schlimmer.
Es war vor allem der Bericht des EECOM, dem Kranz seine
ganze Aufmerksamkeit widmete. Sy Liebergots verzweifelter
Feststellung zufolge schien es, als müsse man Sauerstofftank
Nummer zwei, der nach einer Flugzeit von 55 Stunden und 54
Minuten unter so rätselhaften Umständen ausgefallen war,
endgültig abschreiben; Tank Nummer eins, dessen Werte vor
einigen Stunden noch bei vollen 860 psi gelegen hatten, war
nun auf die halbe Füllmenge gesunken und verlor pro Minute
weiterhin mehr als ein Pfund Druck; die Brennstoffzellen eins
und drei waren so gut wie hinüber; Brennstoffzelle Nummer
zwei, die einzige noch funktionierende, verlor rasch an
Leistung, und mit ihr auch die verbliebene Sammelschiene.
Das ganze labile System drohte zusammenzubrechen.
Liebergot und sein aus George Bliss, Dick Brown und Larry
Sheaks bestehendes Unterstützungsteam wußten, daß ihnen nur
äußerst begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung standen. Um
einen völligen Ausfall des elektrischen Systems zu verhindern,
konnte der EECOM jederzeit die für den Wiedereintritt in die
Erdatmosphäre vorgesehenen Batterien des Raumfahrzeugs an
die beiden ausgefallenen oder ausfallenden Sammelschienen
anschließen. Die Batterien lieferten erstaunlich viel Energie
und würden das Schiff fast sofort wieder voll mit Strom
versorgen. Der Haken dabei war, daß sie nur ein paar Stunden
hielten. Wenn Liebergot die Batterien jetzt einsetzte, würde die
»Odyssey« die Energiereserven verbrauchen, die sie später
dringend beim Eindringen in die Erdatmosphäre benötigte –
vorausgesetzt, sie schaffte überhaupt den Rückflug zur Erde.
Griff er aber nicht auf diese Maßnahme zurück, konnte sich
die ganze Situation noch verschlimmern. Wenn der
verbliebene Sauerstofftank leer war, würde das Raumfahrzeug
automatisch auf den kleinen O2-Tank in der Kommandokapsel,
den sogenannten Auffangtank, umschalten, der ebenfalls für
den Wiedereintritt benötigt wurde.
Liebergot fiel nur eine Lösung ein: Zur Unterstützung der
ausfallenden Sammelschiene kurz die Batterien anschließen
und dann den Stromverbrauch so rasch und soweit wie
möglich drosseln. Dadurch ließe sich zumindest die
verbliebene Brennstoffzelle entlasten und der völlige
Zusammenbruch der Stromversorgung so lange
hinausschieben, bis man eine bessere Lösung fand.
Liebergot schaltete sich in das Netz des Flugdirektors ein.
»Flight«, sagte er zögernd.
»Schießen Sie los«, erwiderte Kranz.
»Ich glaube, im Augenblick können wir nichts anderes tun,
als die Energie herunterzuschalten.«
»O. K.«, sagte Kranz. »Sie wollen die Energie
herunterschalten, sich die Telemetrie und das ganze Zeug
vornehmen und dann wieder hochschalten?«
Liebergot mußte unwillkürlich schmunzeln. Wieder
hochschalten? Kranz wollte wissen, ob sich dieses Schiff
wieder hochschalten ließ? Nein, wollte er ihm am liebsten
sagen, so wie es im Augenblick aussah, war dieses Schiff am
Ende und würde nie wieder hochgeschaltet werden können.
Aber es war wohl kaum der richtige Zeitpunkt für einen
derartigen Meinungswechsel.
»Das ist richtig«, bestätigte Liebergot.
»Wie weit wollen Sie die Energie herunterschalten?«
»Um insgesamt 10 Ampere, Flight.«
»Um insgesamt 10 Ampere«, wiederholte Kranz und pfiff
leise. Das gesamte Raumfahrzeug verbrauchte nur etwa 50
Ampere. Liebergot schlug demnach vor, 20 Prozent seiner
Systeme stillzulegen. Kranz schaltete sich beim CAPCOM ein.
»CAPCOM, wir empfehlen Checkliste eins bis fünf zur
Energiereduzierung im Notfall. Wir wollen den jetzigen
Energieverbrauch bis zu einem Delta von 10 Ampere
herunterschalten.«
»Roger, Flight«, sagte Lousma und nahm Funkkontakt mit
der Kapsel auf. »13, hier ist Houston. Wir möchten, daß ihr
euch die Checkliste vornehmt, die rosa Seiten eins bis fünf.
Schaltet die Energie runter, bis wir bei einem Delta von 10
Ampere sind.«
Lovell blickte Swigert und Haise an und lächelte verkniffen.
Das Drosseln des Energieverbrauchs war der erste nützliche
Vorschlag, mit dem die Bodenstation aufwartete.
Während Jack Swigert anhand der Anweisungen auf den rosa
Seiten die ersten Systeme abschaltete, fuhr Chris Kraft gerade
auf den Parkplatz vor Haus 30, dem Gebäude der Mission
Control, und rannte durch den Haupteingang auf die Fahrstühle
zu. Sobald er im zweiten Stock eintraf und den hohen Raum
betrat, wo er im Lauf der Jahre so viele Flüge beaufsichtigt
hatte, wußte er, wie schlimm es um diese Mission bestellt war.
Eine kleine Gruppe Männer drängte sich um Jack Lousmas
CAPCOM-Konsole, und größere Ansammlungen hatten sich
um die Konsolen des EECOM und des Flugdirektors gebildet.
Kraft begab sich durch den amphitheaterartig abgestuften
Kontrollraum hinab zu Kranz’ Konsole in der dritten Reihe,
wo Kranz ihn mit einem dankbaren Nicken begrüßte. Kraft
stöpselte seinen Kopfhörer an seiner eigenen Konsole an und
schaltete sich in den Boden-Bord-Funk und in das Netz des
Flugdirektors ein, um zu sehen, was er dabei erfahren konnte.
Er erschrak augenblicklich. Von dem Abbruch von Gemini 8
vor fünf Jahren und dem Brand von Apollo 1 vor drei Jahren
einmal abgesehen, hatte Kraft noch nie erlebt, daß ein
Flugdirektor mit derart vielen Problemen zugleich konfrontiert
war. »TELMU und CONTROL, von Flight«, wandte sich
Kranz an die für die Lebenserhaltung und die Navigation der
Mondfähre zuständigen Offiziere.
»Los, Flight«, meldete sich Bob Hesselmeyer, der TELMU.
»Könnten Sie sich mal die Daten vor dem Start vornehmen
und zusehen, ob Sie irgendeinen Hinweis auf die Ursache des
Ausblasens finden?«
»Roger, Flight.«
»Und ich möchte in den nächsten fünfzehn Minuten einen
Bericht darüber – knapp und anschaulich.«
»Roger.«
»Network, von Flight«, wandte sich Kranz an die Techniker,
die sich um die Computer im Real Time Computer Complex
kümmerten, einer im Erdgeschoß des Space Center
untergebrachten Abteilung, in der sich die schnellsten Rechner
befanden, die die NASA besaß.
»Los, Flight.«
»Bringen Sie mir einen weiteren Computer im RTCC, ja?«
»Wir haben bereits ein Gerät im RTCC, und unten haben wir
zwei Rechner.«
»O.K. ich möchte ein weiteres Gerät oben im RTCC, und ich
brauche zwei Mann, die sich da unten mit Delogs auskennen.«
»Roger.«
»GNC, Flight«, sagte Kranz.
»Los, Flight«, meldete sich der Führungs- und Navigations-
Offizier.
»Sagen Sie mir, wieviel Treibstoff für die Steuerdüsen
bislang insgesamt verbraucht wurde.«
»Roger, Flight. Wir sind noch unter Limit.«
»EECOM, von Flight.«
»Los, Flight.«
»Was können Sie über den derzeitigen Zustand der
Sammelschienen sagen?«
»Ich… äh… geben Sie mir noch zwei Minuten, Flight.«
»O.K. Lassen Sie sich Zeit.«
Kraft, der die Gespräche des Flugdirektors mithörte, war
nicht überrascht, daß Liebergot Schwierigkeiten hatte, die
Routineanfrage von Kranz zu beantworten. Selbst der
unerfahrenste Mann im Kontrollraum konnte erkennen, daß
dieser Notfall vor allem den EECOM anging, und von dessen
Konsole konnten in dieser Nacht keine raschen Antworten
kommen.
Womit sich Liebergot und sein Unterstützungsteam derzeit
befaßten, ließ sich über das Netz des Flugdirektors nicht auf
Anhieb feststellen. Auf dem Kanal des EECOM indessen war
alles viel klarer – und zugleich weitaus verwirrender. Das
Drosseln des Energieverbrauchs und das Anschließen der
Batterien waren zwar relativ extreme Maßnahmen, um das
Zusammenbrechen der Energieversorgung zu verhindern, aber
offensichtlich griffen sie nicht. Die Daten auf den
Bildschirmen von Sy Liebergot und seinem
Unterstützungsteam ließen erkennen, daß der Druck in Tank
Nummer eins auf 318 psi gefallen war, und selbst dieser
Sauerstoffvorrat war niedriger, als es den Anschein hatte. Der
Sauerstofftank benötigte einen Druck von mindestens 100 psi,
damit das Gas durch die Leitungen in die verbliebene
Brennstoffzelle strömen konnte. Verlor der Tank weitere 218
psi Druck, dann war der restliche Sauerstoff im Tank nutzlos.
Und was noch schlimmer war: Der stetig abfallende Druck im
Haupttank hatte dazu geführt, daß sich auch der Auffangtank
allmählich leerte. Die »Odyssey« hatte damit begonnen, sich
selbst zu zerstören.
»He, Sy«, meldete sich Bliss aus dem Nebenkontrollraum.
»Wir sollten den Auffangtank abklemmen und weitestgehend
auf Kryo gehen. Wir müssen den Auffang retten.«
»Geht der Tank runter?« fragte Liebergot.
»Roger«, sagte Bliss mit Nachdruck.
Liebergot stöhnte auf. »Flight, EECOM«, sagte er.
»Los, EECOM.«
»Wir sollten den Auffangtank abklemmen und retten. Wir
benutzen soweit wie möglich den Kryo.«
»Äh, sagen Sie das noch mal«, sagte Kranz skeptisch.
»Wir sollten den Auffangtank in der Kommandokapsel
isolieren.«
»Wieso das?« blaffte Kranz, der sich noch immer nicht damit
abfinden mochte, daß das Schiff so gut wie verloren war. »Ich
verstehe das nicht, Sy.«
»Ich möchte soweit wie möglich die Kryos verwenden.«
»Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie meiner
Ansicht nach tun sollten, wenn Sie die Brennstoffzellen
erhalten wollen.«
»Die Brennstoffzellen werden von den Tanks im
Versorgungsteil gespeist, Flight. Der Auffangtank ist im
Kommandoteil. Wir möchten den Auffangtank retten. Wir
werden ihn beim Wiedereintritt brauchen.«
»O.K.«, sagte Kranz und senkte die Stimme. »Ich kann Ihnen
folgen, ich kann Ihnen folgen.« Er ging wieder auf Netz und
sagte schicksalsergeben: »CAPCOM, wir isolieren den
Auffangtank.«
»13, hier Houston«, funkte Lousma. »Wir möchten, daß ihr
euren O2-Auffangtank isoliert.«
»Roger«, erwiderte Swigert und legte den Schalter für den
Auffangtank an der Wiedereintritts-Konsole um.
Die Männer am EECOM-Netz konnten währenddessen ihre
düsteren Ahnungen kaum noch verhehlen.
»George, es sieht übel aus.«
»Du sagst es.«
»Das geht schief. Wir verlieren es.«
»Sieht so aus.«
Auf Liebergots und Bliss’ Bildschirmen war der Druck im
verbliebenen Sauerstofftank jetzt unter 300 psi, und pro
Minute sank er um weitere 1,7 Pfund. Bliss nahm Stift und
Notizblock zur Hand und stellte rasch ein paar Berechnungen
an.
Seiner Schätzung nach würde der Tank in einer Stunde und
vierundfünfzig Minuten unter die kritische Grenze von 100 psi
fallen und wäre fortan nutzlos.
»Dann wären die Brennstoffzellen hinüber«, sagte Bliss
finster zu Liebergot.
Liebergot jedoch hatte eine letzte Alternative, aber er griff
nur ungern darauf zurück: Er könnte die Reaktanzventile an
den beiden defekten Brennstoffzellen schließen lassen. Die
Reaktanzventile regulierten den Sauerstoffzufluß aus den
riesigen kryogenischen Tanks zu den Zellen. Wenn sich das
Leck in Tank Nummer eins weder in der Außenwand noch in
den Zuleitungen befand, dann war es vielleicht weiter unten, in
einer der beiden Brennstoffzellen. Wenn man die Ventile
schloß, würde man entweder den weiteren Sauerstoffverlust
unterbinden, so daß sich die Lage in der »Odyssey« wieder
stabilisierte und die Energie wieder hochgeschaltet werden
konnte, oder aber es bewirkte gar nichts. Dann könnte man das
Schiff getrost abschreiben und sich anderweitigen
Rettungsplänen zuwenden.
Das Problem war nur, daß es kein Zurück mehr gab, wenn die
Reaktanzventile erst einmal geschlossen waren. Diese Ventile
waren so fein und präzise eingestellt, daß man, waren sie
einmal geschlossen, einen ganzen Trupp erfahrener,
fachkundiger Techniker brauchte, um sie wieder zu öffnen.
Liebergot wußte, daß dieser Vorschlag praktisch auf das
Eingeständnis hinausliefe, daß die Mission abgebrochen
werden mußte. Liebergot gab sich keinerlei Hoffnung mehr
hin, die Kommandokapsel könnte nach Überstehen der Krise
noch soweit funktionstüchtig sein, um auch nur den Mond zu
umrunden. Aber er hätte gerne darauf verzichtet, diese
schlimme Tatsache offiziell auszusprechen. Soweit er jedoch
erkennen konnte, blieb ihm keine andere Wahl.
»Flight, EECOM«, sagte Liebergot.
»Schießen Sie los, EECOM.«
»Ich möchte die Reaktanzventile schließen, zuerst bei
Brennstoffzelle drei, und sehen, ob wir das Entweichen
stoppen können.«
Falls Kranz von der Tragweite seines Vorschlags überrascht
war, so zeigte er es diesmal nicht. »CAPCOM«, sagte er
ungerührt, »Sie sollen das Reaktanzventil zu Brennstoffzelle
Nummer drei schließen. Wir wollen versuchen, den O2-Verlust
zu stoppen.«
Lousma bestätigte Kranz’ Befehl und funkte das
Raumfahrzeug an. »O.K. 13, hier ist Houston. Wie es scheint,
verlieren wir über Brennstoffzelle drei O2, deshalb wollen wir
das Reaktanzventil an der Brennstoffzelle schließen. Habt ihr
verstanden?«
»Habe ich recht gehört?« fragte Haise Lousma. »Ihr wollt,
daß ich das Reaktanzventil an Brennstoffzelle drei schließe?«
»Wird bestätigt«, antwortete Lousma.
»Ihr wollt, daß ich die Brennstoffzellen ein für alle Mal
stillege?«
»Wird bestätigt.«
Haise wandte sich an Lovell und nickte betrübt. »Es ist
offiziell«, sagte der Astronaut, der vor einer Stunde noch damit
gerechnet hatte, als sechster Mensch den Mond zu betreten.
»Es ist vorbei«, sagte Lovell, der der fünfte gewesen wäre.
»Tut mir leid«, sagte Swigert, der mit dem Mutterschiff in
der Mondumlaufbahn geblieben wäre, während seine Kollegen
unten herumspazierten. »Wir haben alles getan, was wir
konnten.«
Liebergot, Bliss, Sheaks und Brown behielten unterdessen
gebannt ihre Monitore im Auge, während das Ventil in
Brennstoffzelle drei geschlossen wurde. Die Anzeige für
Sauerstofftank Nummer eins bestätigte ihre schlimmsten
Befürchtungen: Der O2-Verlust ging weiter. Liebergot bat
Kranz, er solle befehlen, auch Brennstoffzelle eins zu
schließen. Kranz tat es – und der Sauerstoffverlust ging weiter.
Liebergot wandte den Blick von seinem Bildschirm. Damit,
so wußte er, waren sie am Ende. Hätte sich die Explosion oder
der Meteoriteneinschlag, oder was immer auch das Schiff
beschädigt hatte, acht Stunden früher oder eine Stunde später
ereignet, hätte ein anderer EECOM die Totenwache halten
müssen. Doch der Zwischenfall ereignete sich nach 55
Stunden, 54 Minuten und 53 Sekunden, als rein zufällig gerade
die letzte Stunde von Liebergots Schicht lief. Jetzt war
Liebergot ohne eigenes Zutun im Begriff, als erster Controller
in der Geschichte der bemannten Raumfahrt das ihm
anvertraute Schiff zu verlieren.
Der EECOM wandte sich nach rechts, wo Bob Hesselmeyer
saß, der zuständige Offizier für die lebenserhaltenden Systeme
des LEM. Als Liebergot erneut auf Hesselmeyers Bildschirm
blickte, mußte er unwillkürlich an die seinerzeitige Simulation
denken, diese furchtbare Simulation, die ihn vor ein paar
Wochen fast um seinen Job gebracht hätte.
»Weißt du noch«, sagte Liebergot, »wie wir uns mit diesen
Rettungsbootmaßnahmen befaßt haben?«
Hesselmeyer warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Als wir uns bei dieser Simulation mit Betriebsverfahren
befaßt haben, wie sich das LEM als Rettungsboot einsetzen
läßt?« wiederholte Liebergot.
Hesselmeyer schaute nach wie vor verständnislos.
»Ich glaube«, sagte Liebergot, »es wird Zeit, daß wir sie
hervorholen.«
Der EECOM machte sich aufs Schlimmste gefaßt, ging
wieder auf Netz und rief den Flugdirektor.
»Flight, EECOM.«
»Schießen Sie los, EECOM.«
»Der Druck in O2-Tank eins ist bis auf 297 runter«, sagte
Liebergot. »Wir sollten besser über ein Umsteigen ins LEM
nachdenken.«
»Roger, EECOM«, sagte Kranz. »TELMU und CONTROL,
von Flight«, meldete er sich bei den für Führung und
Lebenserhaltung des LEM zuständigen Offizieren.
»Los, Flight.«
»Ich möchte, daß Sie sich von ein paar Leuten ausrechnen
lassen, wieviel Energie wir zur Lebenserhaltung im LEM
mindestens brauchen.«
»Roger.«
»Und ich möchte LEM-Besetzung rund um die Uhr.«
»Ebenfalls Roger.«

Zur selben Zeit, da dieses Gespräch stattfand, stellte Swigert


fest, daß die Angaben bezüglich des Sauerstoffdruckes im
Raumfahrzeug noch düsterer aussahen als am Boden: Der
Druck in Tank eins war auf nur mehr 205 psi gefallen.
»Houston«, meldete er sich wieder über Funk, »sieht so aus,
als wäre der Druck von O2-Tank eins bloß noch knapp über
200. Habt ihr den Eindruck, daß er immer noch sinkt?«
»Er geht langsam auf Null«, antwortete Lousma. »Wir
denken gerade darüber nach, das LEM als Rettungsboot zu
verwenden.«
Swigert, Lovell und Haise nickten einander zu. »Ja«, sagte
der Pilot der Kommandokapsel, »genau darüber denken wir
auch nach.«
Als schließlich das O.K. der Bodenstation zum Verlassen des
Schiffes vorlag, verlor die Besatzung keine Zeit mehr. Wenn
die drei Männer nach wie vor auf eine Rückkehr zur Erde
hoffen wollten, konnten sie nicht einfach ins LEM umsteigen
und ihr angeschlagenes Mutterschiff im Stich lassen. Da die
»Odyssey« für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre am
Ende des Flugs noch gebraucht wurde, mußten sie vielmehr ein
System nach dem anderen abschalten, damit die Instrumente
weiter betriebsbereit und die Einstellungen erhalten blieben.
Unter idealen Bedingungen erledigten dies alle drei Männer;
unter den derzeitigen Bedingungen jedoch mußte sich Swigert
alleine darum kümmern, weil die »Aquarius« zur selben Zeit,
da die »Odyssey« stillgelegt wurde, in Betrieb genommen
werden mußte, und diese Aufgabe mußten zwei Mann
erledigen, bevor in der Kommandokapsel endgültig die Lichter
ausgingen.
Lovell und Haise schwebten in das LEM, aus dem sie vor
knapp zwei Stunden ihren munteren Reisebericht gesendet
hatten. Haise bezog seinen Platz auf der rechten Seite des
Raumfahrzeugs und studierte die abgeschalteten Instrumente.
Lovell trieb zu seinem Platz auf der linken Seite.
»Ich hätte nicht gedacht, daß wir so rasch wieder
hierherkommen«, sagte Haise.
»Sei froh, daß du überhaupt hierherkommen kannst«, gab
Lovell zurück.
Die Aussicht, bald wieder ein intaktes Schiff befehligen zu
können, gab Lovell vorübergehend neue Hoffnung, aber
Houston war im Begriff, sie zunichte zu machen. In der
Mission Control räumten die Controller der
Nachmittagsschicht etwa zu diesem Zeitpunkt ihre Konsolen
für die Nachtschicht.
Die noch frischen Techniker aus Glynn Lunneys Team trafen
an ihren Plätzen ein, stöpselten ihre Kopfhörer in die Buchsen
an den Konsolen und standen schweigend neben den total
erschöpften Männern, die seit zwei Uhr nachmittags im Dienst
waren. An der Konsole des Flugdirektors bereitete sich Lunney
darauf vor, Gene Kranz abzulösen. An der Konsole des
EECOM trat Clint Burton neben Liebergot und legte ihm
mitfühlend die Hand auf die Schulter. Liebergot blickte auf,
lächelte müde, schob sich von der Konsole hoch und deutete
mit einem besorgten Achselzucken auf seinen Platz. Burton
nickte, setzte sich vor den Bildschirm und stellte
augenblicklich fest, daß sich die Lage weiter verschlimmert
hatte.
»George«, sagte er zu Bliss, der nach wie vor im
Nebenkontrollraum arbeitete, »wie lange hält der Tank noch
durch?«
»Äh…« Bliss stockte, konsultierte seine Daten und
berechnete die Verlustgeschwindigkeit. »Etwas über eine
Stunde. Wir bekommen einen neuen Wert.«
»Ich habe nicht verstanden«, sagte Burton ungläubig und
wechselte einen erschrockenen Blick mit dem neben ihm
stehenden Liebergot.
»Wir bekommen gerade einen neuen Wert, Clint«,
wiederholte Bliss.
»O.K. Ich möchte, daß du so genau wie möglich
nachrechnest.«
»Roger.«
Burton wollte der Besatzung keine neuen Schätzungen
übermitteln, bevor Bliss mit seinen Berechnungen fertig war,
und kurz darauf war er froh darum. Als er die Sauerstoffdaten
überprüfte, stellte Bliss fest, daß die Verlustrate von 1,7 Pfund
pro Minute auf 3 Pfund und mehr gestiegen war.
»EECOM, ECS«, sagte Bliss. »Wir haben noch für etwas
weniger als vierzig Minuten Sauerstoff in Tank eins.« Nach
einer kurzen Unterbrechung meldete er sich erneut: »Die
Verlustrate steigt ständig, EECOM. Jetzt sieht es aus, als
blieben uns nur noch etwa achtzehn Minuten.« Einen Moment
später teilte Bliss Burton mit, daß sie statt der vorausgesagten
achtzehn Minuten nur mehr sieben hätten. Eine Minute darauf
waren es nur noch vier.
»Flight, EECOM«, sagte Burton.
»Schießen Sie los.«
»Wir müssen den Auffangtank öffnen. Der Druck fällt ab.«
»Sollten sie nicht lieber mit Luft aus dem LEM versorgt
werden?« fragte Lunney.
»Erst müssen wir das LEM in Betrieb nehmen!« drängte
Bliss über Burtons Kopfhörer.
»Wir müssen erst ins LEM hinein, Flight«, wiederholte
Burton.
»CAPCOM, sagen Sie ihnen, sie sollen ins LEM!« befahl
Lunney. »Wir müssen die Sauerstoffzufuhr im LEM
aktivieren!«
»13, Houston«, meldete sich Lousma bei Swigert. Er war
noch nicht abgelöst worden und saß nach wie vor an der
Konsole des CAPCOM. »Wir möchten, daß ihr euch jetzt ins
LEM aufmacht.«
Swigert hörte Lousmas Befehl, war aber nicht gewillt, sofort
darauf zu reagieren. Er wußte, daß er zumindest eine Zeitlang
von der in der Kommandokapsel verbliebenen Atemluft leben
konnte, und er wollte nicht umsteigen, bevor er mit dem
Abschalten fertig war. »Fred und Jim sind bereits im LEM«,
sagte er.
Während Swigert in aller Eile die Geräte abstellte, bemühten
sich Lovell und Haise, das LEM in Betrieb zu nehmen. Ihr
erstes Augenmerk galt der Führungsplattform. Die »Aquarius«
war mit einem aus drei Kreiseln bestehenden Führungssystem
ausgestattet, das grundsätzlich mit dem der »Odyssey«
identisch war. Bevor die Plattform benutzt werden konnte,
mußte Swigert als Pilot der Kommandokapsel laut
Einschaltprotokoll die Ausrichtung und die Koordinaten seines
Raumfahrzeugs notieren und sie an den Kommandanten im
LEM weitergeben. Der Kommandant nahm dann rasch ein
paar entsprechende Berechnungen zu jeder Koordinate vor,
damit die leicht unterschiedliche Ausrichtung von LEM und
Kommandokapsel berücksichtigt wurde, und tippte die
angeglichenen Zahlen in den Computer des LEM ein. Diese
Berechnungen und Eingaben mußten erfolgen, bevor die
»Odyssey« endgültig abgeschaltet wurde, da sonst sämtliche
Daten in ihrem Computer für immer verloren waren.
In aller Eile riß Lovell ein leeres Blatt aus dem Flugplan und
holte einen Stift aus der Oberarmtasche seiner
Fliegerkombination. Lovell unterbrach Swigert und Haise, die
sich Abschaltwerte zuriefen, und verlangte die ersten
Koordinaten, die Swigert prompt lieferte. Doch als der
Kommandant die Zahlen auf seinen Notizzettel schrieb und die
notwendigen Berechnungen anstellen wollte, packte ihn
kurzfristig Panik, und er war plötzlich unsicher, ob er selbst
derart simple Additionen und Subtraktionen meistern könnte.
»Houston«, sagte Lovell. »Ich habe ein paar Zahlen für euch,
aber ich möchte, daß ihr meine bisherigen Berechnungen
nachprüft.«
»O.K. Jim«, erwiderte Lousma leicht irritiert.
»Der Roll-CAL-Winkel ist minus 2 Grad«, sagte Lovell mit
einem Blick auf sein Blatt. »Die Winkel für die
Kommandokapsel lauten 355.116778 und 351.87.«
»Roger, wir verstehen.« Stille kehrte ein, als die Männer an
der Führungskonsole Lovells Rechenkünste überprüften und
Lousma dann mit erhobenem Daumen zuwinkten.
»O.K. Aquarius«, sagte er, »für uns sehen eure Berechnungen
gut aus.«
Lovell signalisierte Haise, er solle die Zahlen in den
Computer eintippen, ließ sich von Swigert die übrigen
Koordinaten geben, und während der nächsten Minuten
arbeitete die Besatzung hektisch, legte Trennschalter um und
betätigte jeden für die Wiederinbetriebnahme des
Raumfahrzeuges notwendigen Knopf und Regler. Dies ging
ziemlich chaotisch vonstatten, da die Bodenkontrolle den
Astronauten Anweisungen zurief und die Besatzung
Rückfragen stellte, so daß die Gespräche sich oftmals
überschnitten und keine der beiden Seiten brauchbare
Informationen erhielt. Glynn Lunney, der bei diesem Wortsalat
kurz die Orientierung verlor, befahl versehentlich, in der
»Odyssey« die Lagesteuerraketen abzuschalten, bevor in der
»Aquarius« die entsprechenden Düsen aktiviert waren, und
einen Augenblick lang drohte der »Aquarius« ein Blockieren
der Kreiselplattform. Zu guter Letzt aber war das
Raumfahrzeug einsatzbereit und Lovell gab Houston Bescheid.
»O.K.«, funkte er Lousma an. »Aquarius ist an, und Odyssey
ist gemäß den Betriebsverfahren, die ihr Jack durchgegeben
habt, abgeschaltet.«
»Roger, wir verstehen«, antwortete Lousma. »Genau so soll
es sein, Jim.«
Swigert, der sich noch in der inzwischen dunklen und stillen
»Odyssey« befand, ließ den Blick durch die Kapsel schweifen,
noch nicht bereit, sein »Reich« aufzugeben.
Oft gab es unter den Besatzungen, die zum Mond flogen,
leichte Auseinandersetzungen darüber, welche zwei
Astronauten auf dem Mond landen sollten und wen man mit
der weit weniger attraktiven Aufgabe betrauen sollte, weiter in
der Mondumlaufbahn zu bleiben. Manch ein Kapselpilot
empfand dieses Herumkreisen als einen Affront, eine
Beleidigung seiner fliegerischen Fähigkeiten. Schließlich
vergab die NASA die anspruchsvollsten Aufgaben bei einer
Mission immer an die besten Piloten.
Swigert hatte die Sache nie so gesehen. Er mochte seine
Aufgabe und war stolz darauf. Sicher war sie nicht ganz so
aufregend wie die des Kommandanten oder des LEM-Piloten,
aber dafür hatte sie andere Vorteile. Der Pilot der
Kommandokapsel war es, der bei dieser Expedition ins
Unbekannte grundsätzlich am Ruder saß; der als Navigator
fungierte, der das Schiff punktgenau dahin steuerte, wo die
beiden anderen ihr Landefahrzeug abkoppeln und mit dem
Abstieg zum Mond beginnen konnten; und er war es auch, der
zur Stelle sein und das Rendezvous-Manöver leiten mußte,
wenn sie wieder aufstiegen. Und notfalls wurde vom
Kapselpiloten auch verlangt, sein Raumfahrzeug alleine
zurückzufliegen, falls seine Kameraden den Wiederaufstieg
nicht schafften. Man hatte Swigert ein wunderbares Schiff in
die Hand gegeben, damit er all diese Aufgaben erfüllen konnte,
und nun mußte er aufgrund von Pech und Zufall dieses Schiff
aufgeben. Zumindest so lange, bis ihm, Lovell, Haise und der
NASA etwas einfiele, wie sie das Raumfahrzeug wieder in
Betrieb nehmen konnten.
Swigert schwebte aus der rasch abkühlenden »Odyssey«
durch den Tunnel in die langsam wärmer werdende
»Aquarius« und ließ sich zu Lovell und Haise hintreiben.
»Jetzt seid ihr dran«, sagte er.

Glynn Lunney gönnte sich einen Moment Zeit und atmete


erleichtert durch – aber nur kurz. Seine Crew war gerade von
einem Schiff, in dem sie die nächsten paar Minuten mit
Sicherheit nicht überlebt hätte, in ein anderes umgestiegen, in
dem sie wahrscheinlich die nächsten paar Tage nicht überleben
würde. Das war natürlich eine Verbesserung, wenn auch nur
von begrenztem Wert. Lunneys momentane Sorge galt nicht
den Lebenserhaltungssystemen im LEM. Es würde sich
einfach zeigen müssen, ob genügend Sauerstoff-, Wasser- und
Energiereserven an Bord waren, um die drei Männer so lange
zu versorgen, bis sie wieder zur Erde zurückkehrten. Was ihm
Kopfzerbrechen bereitete, war die Flugbahn des
Raumfahrzeugs.
Beim Abbruch eines Mondfluges gab es ein paar
Möglichkeiten, das angeschlagene Schiff zur Erde
zurückzuholen. Die naheliegendste war der sogenannte direkte
Abort, bei dem die in Richtung Mond fliegende Besatzung
Kommando- und Versorgungsteil umdrehte, so daß sie mit
dem Heck voran flog, dann das Haupttriebwerk zündete und
knapp über fünf Minuten lang mit der vollen Schubkraft von 9
Tonnen brennen ließ. Durch dieses Manöver sollte das
Raumfahrzeug – das sich mit etwa 25000 Kilometern pro
Stunde bewegte – zum Stillstand kommen und dann in die
entgegengesetzte Richtung fliegen.
Eine Alternative zum direkten Abort war der sogenannte
circumlunare Abort. Wenn sich das Raumfahrzeug bereits zu
nahe am Mond befand, blieb es weiter in der freien
Rückkehrbahn, umrundete den Erdtrabanten und wurde
aufgrund der Schwerkraft wie mit einer Wurf schlinge
zurückgeschleudert. Dieses Manöver konnte länger dauern als
der direkte Abort, hatte aber den Vorteil, daß dazu keine
Zündung des Haupttriebwerks, kein Umdrehen auf halber
Strecke erforderlich war – genaugenommen mußte die
Besatzung einfach nur weiterfliegen.
Bei Apollo 13 kam die freie Rückkehrbahn nur begrenzt in
Frage. Der außergewöhnliche Kurs, auf dem das Schiff die
Fra-Mauro-Region ansteuern sollte, verlief abseits der
Freiflugbahn.
In einer derartigen Situation sah der Flugplan ein Manöver
vor, das man PC+2-Brennphase nannte. Zwei Stunden nach
Passieren des Pericynthion – dem niedrigsten, auf der
Rückseite gelegenen Punkt in der Umlaufbahn um den Mond –
würde das Raumfahrzeug sein Haupttriebwerk zünden,
wodurch der Kurs soweit korrigiert wurde, daß das
Raumfahrzeug wieder auf die Freiflugbahn geriet. Zugleich
nahm auch die Geschwindigkeit zu, so daß die Zeit für den
Rückflug verkürzt wurde.
Die Missionsplaner bei der NASA waren froh, daß ihnen
mehrere Möglichkeiten zur Verfügung standen. Und bei derart
heiklen Manövern wie einer Notzündung zum Abbruch der
Mission und zur Rückführung des Raumfahrzeugs zur Erde
war diese Auswahl auch erforderlich. In diesem Fall jedoch
hätten sie gern die eine oder andere Möglichkeit mehr gehabt.
Nahezu jedes in den Flugplänen festgeschriebene und von den
Besatzungen einstudierte Abortprotokoll ging von der
Voraussetzung aus, daß zumindest ein wichtiger Bestandteil
des Raumfahrzeugs zur Verfügung stand: Das riesige
Haupttriebwerk am Versorgungsteil.
Wenn das Triebwerk nicht schon bei dem Knall, der das
Schiff erschüttert hatte, beschädigt worden war, dann war es
durch den Energieverlust so gut wie unmöglich geworden, den
für die Zündung notwendigen Strom zu erzeugen.
Natürlich hatte auch das LEM ein Triebwerk –
genaugenommen hatte das LEM sogar zwei Triebwerke, eins
für den Abstieg und eins zum Aufsteigen –, aber für einen
derartigen Flug war das LEM nicht konstruiert. Es war
durchaus möglich, daß sich die aneinandergekoppelten Schiffe
mit gelegentlichen Schüben durch die beiden Triebwerke des
Landefahrzeuges steuern ließen – aber konnten sie auch die
Schubkraft leisten, die für eine Rückkehr zur Erde erforderlich
war? Die Ingenieure wollten darüber gar nicht erst
nachdenken. Aber solange niemand eine Möglichkeit fand, wie
man den angeschlagenen Versorgungsteil wieder flottbekam,
war dies die einzige Chance für eine Rückkehr – und dieses
noch nie erprobte Manöver mußte während Lunneys Schicht
ausgearbeitet und durchgeführt werden.
»O.K. Alle herhören«, wandte sich Lunney über Funk ruhig
an den Kontrollraum. »Wir müssen uns mit einer Menge
Probleme von großer Tragweite herumschlagen.«

Das Haus von Marilyn und Jim Lovell im Houstoner Vorort


Timber Cove füllte sich unterdessen mit Nachbarn, Freunden
von Nachbarn, NASA-Angestellten und deren Gattinnen,
Protokolloffizieren und ihren Assistenten.
Marilyn empfing jeden neuen Besucher und wunderte sich
nur, woher all diese Menschen die Neuigkeit wußten, die sie,
die Frau des in Gefahr schwebenden Astronauten, gerade erst
selbst erfahren hatte. Die Neuankömmlinge gesellten sich zu
Elsa Johnson, den Conrads und anderen und halfen ihnen, die
Reporter abzuwimmeln, an die ununterbrochen klingelnden
Telefone zu gehen und sich um die Frau zu kümmern, deren
Mann, wenn man Jules Bergman Glauben schenkte, den
morgigen Tag mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht
überleben würde.
6

Dienstag, 14. April, 1:00 Uhr, Ostküstenzeit

Chris Kraft hatte in dieser Nacht keine große Lust, eine


Pressekonferenz abzuhalten. Aber er nahm an, daß er nicht
umhin konnte; genaugenommen wußte er, daß er nicht umhin
konnte. Bei den anderen Notsituationen, nach denen ihn die
Presse gerne fragte – dem Carpenter-Flug, dem Glenn-Flug,
den nicht funktionierenden Steuerdüsen bei Gemini 8 – hatte er
nicht die Zeit gehabt, mit Reportern herumzutrödeln. Diese
Notfälle waren in der Erdumlaufbahn eingetreten, so daß es bis
zur Landung nur etwa eine halbe Stunde dauerte, und als die
Krise soweit bereinigt gewesen war, daß er mit der Presse
sprechen konnte, trieben die Kapseln bereits im Wasser, und
die Kameramänner hatten Lohnenderes zu filmen als einen
Flugdirektor, der am Podium saß und Fragen beantwortete.
In dieser Nacht jedoch ging alles viel langsamer, und seit
dem Augenblick, als es sich herumgesprochen hatte, daß es an
Bord von Apollo 13 ein Problem gab, hatten die Reporter
Stellungnahmen von den Männern im Kontrollraum verlangt.
Sobald Lovell, Swigert und Haise in die »Aquarius«
umgestiegen waren, hatte Bob Gilruth, der Direktor des Space
Center, Kraft, McDivitt und Flugbetriebsdirektor Sig Sjoberg
gebeten, die Presse zufriedenzustellen. Die Pressekonferenz
hatte in dem ein paar hundert Meter von der Mission Control
entfernten Gebäude für Öffentlichkeitsarbeit stattgefunden.
Kraft war die knapp einen halben Kilometer lange Strecke
gerannt, und nun, da die Konferenz zu Ende war, rannte er
noch schneller wieder zurück.
Obwohl der stellvertretende Direktor des Space Center nur
eine halbe Stunde fortgewesen war, sah er, sobald er wieder in
die Mission Control kam, daß sich die Atmosphäre dramatisch
verändert hatte. An der EECOM-Konsole herrschte nun, da das
Mutterschiff weitgehend stillgelegt war, weitaus weniger
Betrieb. Am Bildschirm, auf dem zuvor die alarmierenden
Daten bezüglich der Sauerstoff- und Energieversorgung der
angeschlagenen »Odyssey« aufgeblinkt hatten, war jetzt
hauptsächlich eine gerade Linie mit Nullen und Leerstellen zu
sehen. Clint Burton und eine Handvoll weiterer Techniker
standen da, tuschelten miteinander und beugten sich über die
Konsole, um gelegentlich einen Blick auf den Schirm zu
werfen, so als gäbe es noch immer eine Chance, das
stillgelegte Raumfahrzeug wieder in Betrieb zu nehmen. Aber
die eigentliche Arbeit an dieser Konsole war vorüber.
An anderen Kontrollpulten war die Stimmung weitaus
weniger gedämpft. Obwohl mittlerweile Glynn Lunneys Team
übernommen hatte, machte Gene Kranz’ Team keine
Anstalten, den Raum zu verlassen. An den meisten Konsolen
standen die unlängst abgelösten Controller hinter ihren
Nachfolgern und blickten wie gebannt auf die Bildschirme, die
sie während der vergangenen acht Stunden überwacht hatten.
An der Konsole des CAPCOM saß Jack Lousma die meiste
Zeit alleine, damit er seine Unterredungen mit der Besatzung
in Ruhe führen konnte. Die anderen Konsolen, an denen
normalerweise immer nur ein Mann saß, waren von
Menschentrauben umlagert.
Der größte Andrang herrschte wie schon zuvor an der
Konsole des Flugdirektors, wo Lunney die Haussprechanlage
bediente, während Kranz hinter ihm auf- und abging, und
gelegentlich diverse Controller seines Teams zur Beratung zu
sich zitierte. Als Kraft zu den beiden Flugdirektoren hinging
und einen Blick auf die Konsole warf, war ihm klar, daß sie
alle Hände voll zu tun hatten. Über Lunneys Monitor leuchtete
eine Reihe von grünen, gelben und roten Lämpchen, die
wiederum mit den anderen Konsolen im Raum verbunden
waren. Während des Starts informierten die Controller den
Flugdirektor mittels dieser Lämpchen über den Zustand ihrer
Systeme in der kurzen, aber heiklen Phase zwischen dem
Abheben des Raumfahrzeugs von der Rampe und dem
Zeitpunkt, bis es in die Erdumlaufbahn eintrat. Ein grünes
Licht zeigte an, daß die Systeme der Controller normal
funktionierten, ein gelbes hieß, daß es ein Problem gab und der
Controller unbedingt mit dem Flugdirektor sprechen mußte,
und ein rotes bedeutete, daß Gründe für einen Abbruch
vorlagen.
Nach der Startphase wurden diese Lämpchen überflüssig, und
im Laufe der Zeit waren die Flugdirektoren dazu
übergegangen, mit ihrer Hilfe festzustellen, welcher Controller
sie sprechen wollte. Ein Controller, der per
Kommunikationsnetz eine Frage oder eine Bitte vorbringen
wollte, bekam häufig mitgeteilt, er möge »auf Gelb gehen«,
damit der Flugdirektor sich mit dem Problem
auseinandersetzen konnte, ohne die Rückmeldung zu
vergessen. An Lunneys Konsole blinkten derzeit über die
Hälfte der zwei Dutzend Lämpchen gelb auf, und als sich der
Flugdirektor ins Netz einschaltete, hatte er fast alle Controller
in der Leitung.
»O.K.«, sagte Lunney in sein Mikrophon, »ich möchte, daß
alle mal einen Moment herhören. RETRO, GUIDO,
CONTROL, TELMU, GNC, EECOM, CAPCOM, INGO und
FAO. Ich möchte, daß jeder sich zuschaltet. Gebt mir bitte ein
Gelb.«
Sofort erloschen die grünen Lichter an Lunneys Konsole, und
die gelben blinkten auf.
»Aufgepaßt«, sagte Lunney, »ich möchte den derzeitigen
Stand der Dinge in jeder Hinsicht durchgehen. Am wichtigsten
ist zunächst einmal, daß wir das Triebwerk zünden. Dazu
müssen wir zuerst Flugbahn und Lage in Ordnung bringen.
Wir müssen die Energie im LEM herunterschalten und alles
abklemmen, was nicht unbedingt erforderlich ist, damit wir
nicht unnötig Strom verbrauchen. Und wir brauchen Leute, die
nicht an den Konsolen eingespannt sind, damit sie sich mit den
langfristigen Problemen befassen, die sich aus dem Einsatz des
LEM als Rettungsboot ergeben. TELMU, ich nehme an, Sie
arbeiten an sämtlichen Versorgungsproblemen – O2, Wasser,
Energie?«
»Roger, Flight«, antwortete der TELMU.
»Können Sie schon einen allgemeinen Überblick geben?
Haben Sie schon eine Möglichkeit herausgefunden, wie wir
mit den vorhandenen Reserven zurückkommen können?«
»Negativ, Flight.«
»Arbeiten wir daran?«
»Wir arbeiten daran.«
»In Ordnung. Ich möchte darüber weiter auf dem laufenden
gehalten werden.«
»Roger, Flight.«
»CONTROL, Flight«, meldete sich Lunney danach.
»Los, Flight.«
»Wir müssen nach wie vor die Lage und Bewegung des
Raumfahrzeugs in den Griff bekommen, bevor wir den Motor
zünden können. Arbeiten Sie an dem Problem?«
»Bestätigt.«
»Stehen wir kurz vor einer Lösung?«
»Negativ.«
»Wie lange, glauben Sie, wird es noch dauern?«
»Das kann ich jetzt noch nicht einschätzen, Flight. Wir
versuchen Ihnen so schnell wie möglich etwas zu liefern.
Grumman hat uns ein Verfahren mitgeteilt, wie wir den
Autopilot des LEM unter Berücksichtigung des toten
Kommando- und Versorgungsteils programmieren können. Ich
schlage vor, Sie schicken eine Crew in den Simulator und
lassen sie ausprobieren, ob es funktioniert.«
»FIDO, Flight«, sagte Lunney.
»Los, Flight.«
»Wie ist zum jetzigen Zeitpunkt die größte Annäherung an
den Mond?«
»Etwa 100 Kilometer, Flight.«
»Bergung, Flight.«
»Los, Flight.«
»Was für Schiffe haben wir in den Landegebieten stehen?«
»Kümmern uns gerade um die Feststellung von Schiffen im
Atlantischen und Indischen Ozean.«
»O.K. Gentlemen«, sagte Lunney. »Das sind die
Hauptpunkte, die mir derzeit einfallen. Ich möchte, daß wir ein
paar davon bereinigen. Hat jemand sonst noch etwas zu
besprechen? RETRO?«
»Negativ, Flight.«
»GUIDO?«
»Negativ, Flight.«
»GNC?«
»Negativ, Flight.«
»FIDO?«
»Negativ, Flight.«
»CAPCOM?«
»Negativ, Flight.«
»O.K. ihr könnt jetzt wieder auf Grün gehen. Aber wir sollten
uns darüber im klaren sein, daß wir diesbezüglich am Ball
bleiben und die Sache richtig durchziehen müssen.«
Das komplizierteste Problem, mit dem sich Lunney befassen
mußte, war die Zündung. Seit die Astronauten vor etwa einer
Stunde in die »Aquarius« umgestiegen waren, hatte man noch
keine endgültige Entscheidung darüber getroffen, wie man die
aneinandergekoppelten Schiffe auf Heimatkurs steuern wollte,
und da die Geschwindigkeit des Raumfahrzeuges mit
zunehmender Annäherung an den Mond auf bis zu 8000
Kilometer pro Stunde stieg, blieben in Bälde nur noch wenige
Möglichkeiten übrig. Ein direkter Abort, falls er überhaupt
versucht werden sollte, wurde immer schwieriger, je weiter
sich das Schiff von der Erde entfernte. Eine PC+2-Zündung
würde jede Menge Planung erfordern, und die Zeit bis zum
Erreichen des Pericynthion wurde immer knapper. Natürlich
konnte man das Triebwerk jederzeit nach Erreichen des PC+2-
Punktes zünden, aber je früher die Zündung erfolgte, desto
weniger Treibstoff verbrauchte man zum Einschießen in die
Flugbahn in Richtung Erde.
Kraft wußte, welche Rückholroute er wählen würde. Das
Haupttriebwerk fiel aus, dessen war er sicher. Kraft
bezweifelte, ob die angeschlagene »Odyssey« der Belastung
standhalten würde, selbst wenn man eine Möglichkeit finden
sollte, die für die Zündung erforderliche Energie zu erzeugen.
Niemand wußte, in welchem Zustand der Versorgungsteil war,
aber der Heftigkeit des Knalls nach zu schließen, war es
durchaus möglich, daß durch den jähen Schub von 9 Tonnen
der gesamte hintere Teil des Raumfahrzeuges wegknickte und
die aneinandergekoppelten Einzelbausteine – LEM,
Kommando- und Versorgungsteil – nicht etwa in Richtung
Erde befördert wurden, sondern geradewegs auf den Mond
zutrudelten.
Kraft war klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, die Jungs
heimzuholen: Sie mußten den Antrieb des LEM einsetzen –
und, was noch wichtiger war, sie mußten ihn auf der Stelle
einsetzen. Apollo 13 würde nicht vor morgen nachmittag
hinter dem Mond verschwinden, und von da an würde es
weitere drei Stunden dauern, bis das Schiff den PC+2-Punkt
erreichte. Mit dem Einschuß in die richtige Flugbahn über
einen halben Tag zu warten, wäre bestenfalls fahrlässig und
schlimmstenfalls grobe Rücksichtslosigkeit gegenüber der
Crew. Kraft wollte statt dessen, daß das Abstiegstriebwerk
sofort gezündet wurde, um Apollo 13 auf die freie
Rückkehrbahn zu steuern. Wenn das Raumfahrzeug dann
wieder hinter dem Mond hervorkam und den PC+2-Punkt
erreichte, sollte die Crew alle weiteren zur Kurskorrektur und
Beschleunigung erforderlichen Manöver durchführen.
Kraft wollte sich gerade mit seinem Vorschlag an Kranz
wenden, als dieser sich zu ihm umdrehte.
»Chris«, sagte er, »verflucht, ich trau’ einfach dem Triebwerk
vom Versorgungsteil nicht.«
»Ich auch nicht, Gene«, erwiderte Kraft.
»Ich weiß nicht genau, ob wir ihn zünden können, wenn wir
ihn brauchen.«
»Ich auch nicht.«
»Eins steht jedenfalls fest: Ich glaube, wir müssen um den
Mond herum.«
»Da stimme ich zu«, erklärte Kraft. »Wann soll die Zündung
erfolgen?«
»Nun, bis morgen nachmittag will ich jedenfalls nicht
warten«, sagte Kranz. »Wie wär’s, wenn wir jetzt mit einer
kurzen Brennphase auf Freiflug gehen? Dann hätten wir das
schon mal hinter uns, und danach können wir uns überlegen,
ob wir ihnen morgen mit einem PC+2 ein bißchen mehr
Tempo geben wollen.«
Kraft nickte. »Gene«, sagte er schließlich, »ich glaube, das ist
eine gute Idee.«
Die drei Männer, die sich annähernd 400000 Kilometer
entfernt im engen Cockpit der »Aquarius« befanden, mußten
sich mit profaneren Dingen befassen als mit einer
Triebwerkzündung zum Einschuß in die Rückflugbahn zur
Erde. Während sich die dreiköpfige Besatzung in dem für zwei
Mann gebauten Raumfahrzeug einrichtete, hatte Lovell
Gelegenheit, sich einmal genauer anzusehen, wie es um seine
Chancen bestellt war. Das, was er sah, gefiel ihm ganz und gar
nicht. Der Kommandant stand an seinem Platz im linken
Kabinenteil, eingezwängt zwischen der Backbordwand auf der
einen und einem aus der Wand ragenden Bedienungselement
mit den Griffen für die Lagesteuerung auf der anderen Seite.
Haise stand rechts außen, wo er sich zwischen die
Steuerbordwand und die Lagesteuerung auf seiner Seite
quetschen mußte. Swigert saß hinter den beiden Piloten auf
einer erhöhten Stelle im Boden, unter der sich das für den
Wiederaufstieg vom Mond benötigte Triebwerk befand. Wenn
Lovell zu weit nach rechts geriet, stieß er gegen Swigert, der
wiederum gegen Haise gedrückt wurde. Wenn Haise sich zu
weit nach links treiben ließ, lief das Ganze umgekehrt ab.
Da die für zwei Mann konstruierte Kabine nun von drei
Mann aufgewärmt wurde, und weil die Stromversorgung und
die lebenserhaltenden Systeme allmählich Wirkung zeigten,
stieg die Temperatur in der zuvor eiskalten »Aquarius«
langsam an – aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. In der
»Odyssey« war die Temperatur nach dem Abschalten fast
augenblicklich gefallen, und als Lovell vor dem Umsteigen in
die »Aquarius« ein letztes Mal die Daten der
lebensversorgenden Systeme überprüft hatte, stand das
Thermometer bei knapp 14 Grad und sank weiter. Jetzt, da
sämtliche Geräte in der Kommandokapsel abgeschaltet waren,
wurde es in der Kabine deutlich kälter, und da der Tunnel
zwischen den beiden Raumfahrzeugen wegen der klemmenden
Luke noch immer nicht verschlossen war, sank auch die
Temperatur in der Mondfähre. Schon jetzt bildete sich
aufgrund der Kälte und der Ausdünstung der drei Männer
Kondenswasser an Wänden und Fenstern.
»Wird nicht leicht werden, das Ding zu fliegen, wenn wir
nicht mal aus dem Fenster sehen können«, sagte Lovell zu
niemand speziellem, als er einen Blick durch das beschlagene
dreieckige Bullauge vor seinem Gesicht warf.
»Wir werden sie abwischen«, sagte Haise.
»Und wir werden sie ständig abwischen müssen. Je kälter es
wird, desto mehr werden sie beschlagen.«
»Kannst du da draußen überhaupt etwas sehen?« fragte
Haise.
Lovell wischte ein Guckloch an seinem Fenster frei und
spähte hinaus. Der Anblick, der sich aus der »Aquarius« bot,
ähnelte weitgehend dem aus der »Odyssey«: Eine wirbelnde
Wolke aus gefrorenen Sauerstoffkristallen und Partikeln, die
vermutlich von der Explosion herrührten.
»Genau die gleiche Mistwolke wie von nebenan«, sagte er.
»Nun ja, die werden wir wohl nicht wegkriegen, oder?« sagte
Haise mürrisch.
»Weißt du«, sagte Lovell an Swigert gewandt, »wenn es hier
drin kalt wird, dann wird’s in der Odyssey eisig. Vielleicht
sollten wir etwas Verpflegung und Wasser rüberholen, bevor
es zu spät ist.«
»Soll ich es übernehmen?« fragte Swigert.
»Das wäre eine große Hilfe. Füll so viele Trinkbeutel wie
möglich mit Frischwasser aus dem Tank und nimm ein paar
Essensbeutel mit.«
»Bin schon unterwegs«, sagte Swigert.
Die Rationen für den zehntägigen Flug zum Mond waren
mehr als großzügig bemessen, so daß die Speisekammer der
»Odyssey« bis zum Bersten gefüllt war. Es gab Beutel mit
Truthahn und Soße, Spaghetti bolognese, Hühnersuppe,
Hühnersalat, Erbsensuppe, Thunfischsalat, Rühreiern,
Cornflakes, Brotaufstrich, Schokoriegeln, Pfirsichen, Birnen,
Aprikosen, Schinkenstreifen, Pasteten, Orangengetränken,
Zimttoasts, Keksen und vielem anderen mehr. Die Beutel
waren mit unterschiedlich gefärbten Klettverschlüssen
versehen, anhand derer jedes Besatzungsmitglied seine
Rationen erkannte.
Swigert schnappte sich einige Handvoll Beutel und ließ sie
neben sich in der Luft treiben. Dann wandte er sich dem
Trinkwassertank zu, nahm ein paar Trinkbeutel und wollte sie
mit Hilfe der an einem biegsamen Schlauch befestigten
Plastikspritzpistole füllen. Der erste Versuch ging jedoch
daneben, und eine quecksilberartige Wasserkugel trieb zu
Boden und spritzte auf Swigerts weiche Stoffschuhe.
»Verdammt!« stieß Swigert hervor.
»Stimmt was nicht?« rief Haise.
»Nein. Ich habe mir bloß die Schuhe naß gemacht.«
»Die trocknen wieder«, sagte Haise.
»Die gefrieren, bevor sie trocknen«, versetzte Swigert.
Für Lovell war der äußere Zustand des Raumfahrzeugs
wichtiger als die Haushaltsführung im Inneren. Obwohl er
nicht erwartet hatte, daß die bei dem Störfall freigesetzte
Wolke aus Gas und Trümmern sich so rasch auflösen würde,
war der Ausblick durch das beschlagene Fenster nach wie vor
entmutigend. Der das Schiff umgebende Hof stellte an sich
kein Sicherheitsproblem dar. Da sich das Raumfahrzeug und
die Trümmer außen herum mit annähernd gleicher
Geschwindigkeit fortbewegten, war es unwahrscheinlich, daß
eins der Bruchstücke mit dem Schiff kollidierte. Und sollte
dies doch geschehen, war die Differenz in der relativen
Geschwindigkeit von Trümmern und Raumfahrzeug so gering,
daß allenfalls eine leichte Beule entstehen konnte. Weitaus
mehr Sorgen machte sich Lovell denn auch wegen der
Navigation.
Der Kommandant konnte nur hoffen, daß die Angaben, die er
in den Computer des LEM eingegeben hatte, einigermaßen
ausreichten, damit das Führungssystem die wahre Lage des
LEM feststellen konnte. Aber um das Raumfahrzeug so präzise
auszurichten, wie das vor einer Triebwerkzündung erforderlich
war, mußte er eine weitaus genauere »Feinausrichtung«
durchführen. Zu diesem Zweck sucht der Kommandant mit
dem Fernrohr vorbestimmte Sterne, richtet seinen Sextanten
aus, bestimmt die zu messenden Winkel und justiert das
Führungssystem anhand der abgelesenen Werte. Da
»Odyssey« und »Aquarius« den Mond in einem Abstand von
nur knapp hundert Kilometern umkreisen würden, konnte jede
Fehlberechnung beim Einschuß in die Freiflugbahn dazu
führen, daß die aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge auf der
Rückseite aufschlugen.
Fast die ganze letzte Stunde über hatte man in Houston schon
über diesem Problem gegrübelt, immer wieder das Schiff
angefunkt und nachgefragt: »Aquarius, könnt ihr schon
irgendwelche Sterne sehen?« Wenn Lovell jedoch aus dem
Fenster blickte, sah er nicht nur die als Orientierungspunkte für
die Ausrichtung benötigten Sterne, sondern Hunderte, ja
Tausende von hell schimmernden Lichtpunkten aus Partikeln
und Kristallen. Unmöglich, die echten von den falschen
Sternen zu unterscheiden. Lovell kam zu dem Entschluß, daß
es nur eine Abhilfe gab: Er müßte »Aquarius« und »Odyssey«
mittels der Steuerdüsen des LEM innerhalb der Wolke
herummanövrieren und Ausschau nach einer Lücke halten,
durch die er freie Sicht ins Weltall hatte.
»Reich mir mal ein Tuch, Freddo«, sagte Lovell zu Haise.
»Ich will sehen, ob ich nicht aus dem Zeug raussteuern kann.«
Der Kommandant wischte erst das Fenster auf seiner und
dann auf der Seite des LEM-Piloten ab. Die beiden Männer
warfen einen langen Blick durch ihre Gucklöcher und pfiffen
unisono.
»Was für eine Sauerei«, sagte Haise.
»Nicht schlimmer als auf dieser Seite«, sagte Lovell.
Er stellte das Lagekontrollsystem auf Handbetrieb ein und
ergriff den Steuerknüppel. Wie bei der »Odyssey« waren
außen an dem Raumfahrzeug in gleichmäßigem Abstand vier
Bündel zu je vier Steuerdüsen angebracht. Gesteuert wurde das
ganze System wie auf der »Odyssey« durch eine Art
Pistolengriff. Lovell drückte die Steuerung ganz vorsichtig
nach vorne, so daß die Nase gesenkt wurde. Sofort krängte das
Schiff links nach oben. Waren die Steuerdüsen der »Odyssey«
ruppig gewesen, so ließen sich die der »Aquarius« anscheinend
überhaupt nicht regulieren.
»Hua!« rief Lovell und ließ den Griff los. »Die giert ja
verdammt weg.«
»So dürfte sie sich eigentlich nicht verhalten«, sagte Haise.
»So hat sie sich mit Sicherheit auch noch nie verhalten.«
Das Problem dabei war, wie Lovell und Haise klarwurde, der
Schwerpunkt der aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge.
Die Konstrukteure waren davon ausgegangen, daß das
Lagekontrollsystem des LEM erst gebraucht wurde, wenn es
vom Kommando- und Versorgungsteil getrennt war und allein
auf den Mond zusteuerte. Die Steuercomputer in den
Simulatoren, mit denen Lovell und Haise geübt hatten, waren
so programmiert, daß sie die Masseverhältnisse der allein
fliegenden Mondfähre simulierten; die Piloten wiederum
waren es gewohnt, daß man das kleine Raumfahrzeug mit
einem leichten Einsatz der Steuerdüsen praktisch in jede
gewünschte Richtung drehen konnte. Das LEM jedoch, das
Lovell an diesem Tag steuerte, flog nicht allein, sondern
schleppte das an seinem Dach angekoppelte, rund 30 Tonnen
schwere Mutterschiff als toten Ballast mit sich herum. Dadurch
verlagerte sich der Schwerpunkt deutlich nach oben, so daß er
etwa in Höhe der Kommandokapsel oder gar darüber lag, und
die genau abgestimmten Steuerraketen des LEM reagierten
vollkommen anders als gewohnt.
Swigert, der in der Kommandokapsel spürte, wie das Schiff
plötzlich krängte, schwebte mit seinen Nahrungs- und
Wasserbeuteln durch den Tunnel zurück, um festzustellen, was
da los war.
»Wie ist hier unten der Stand der Dinge?« fragte Swigert, als
Lovell den Steuergriff ein weiteres Mal leicht nach vorne
drückte und das Raumfahrzeug erneut mit einem unbeholfenen
Krängen reagierte.
»Versuchen uns nach den Sternen auszurichten«, erklärte
Haise.
»Wird mit dem da hinten dran nicht leicht werden«, bemerkte
Swigert und deutete mit dem Daumen auf den Tunnel zur
»Odyssey«.
»Was du nicht sagst«, versetzte Lovell mit einem grimmigen
Lachen.
Sobald Lovell den Steuergriff betätigte, wurde das
Ausbrechen des Schiffes von den Lagekontrollsystemen an
Bord und im Kontrollraum in Houston registriert. Hal Loden,
der für das Navigationssystem der Mondfähre zuständige
Mann, erschrak, als er anhand seiner Skalen die Bewegungen
bemerkte. Die Anzeigen für alle drei Kreisel in dem
Raumfahrzeug schlugen wie verrückt aus, bis über den Bereich
der unkontrollierten Bewegung hinaus, so daß es jederzeit zu
einer Blockierung kommen konnte. Wenn die Kreisel
blockierten und die Navigationsdaten verloren waren, die
Lovell so mühsam auf den Navigationscomputer der
»Aquarius« übertragen hatte, dann war auch ihre letzte Chance
zunichte, das Schiff für eine Triebwerksbrennphase zur
Kurskorrektur auszurichten.
»Flight, CONTROL«, sagte Loden hastig.
»Los, CONTROL«, antwortete Lunney.
»Sieht so aus, als ob wir von den Kreiselwinkeln abweichen.
Er ist im Augenblick auf mittlerem Impuls, und ich nehme an,
genau den will er auch haben, aber wenn er nicht genau
aufpaßt, blockiert er ganz schnell die Kreisel.«
»Vielleicht hält er Ausschau nach Sternen«, sagte Lunney.
»Vielleicht, aber es wäre eine Bestätigung wert.«
»Roger«, sagte Lunney. »CAPCOM, er soll auf seine Kreisel
achten.«
»Roger«, sagte Lousma und setzte sich per Funk mit dem
Raumfahrzeug in Verbindung. »Aquarius, Houston. Ihr achtet
doch auf eure Kreisel, oder?«
Lovell, der gerade ausprobierte, wie sich dieses
Raumfahrzeug fliegen ließ, wandte sich zu Haise um und
verdrehte die Augen. Ja, er achtete auf die Kreisel. Und auf die
Düsen. Und auf die Lagekontrolle. Und auf die Trümmerwolke
vor seinem Fenster.
In der Zwischenzeit dachten Jerry Bostick, Chuck Deiterich
und die anderen RETROS, FIDOS und GUIDOS außer Dienst
weiter über eine Zündungsmöglichkeit nach, mit der sich die
Besatzung zurückholen ließe. In den Flugplänen sowohl der
Bodenkontrolle als auch der Astronauten war eine ganze
Anzahl vorbereiteter Abbruchszenarien aufgeführt, sogenannte
Block-Data-Manöver, in denen sämtliche Koordinaten des
Raumfahrzeuges, die Brenndauer und Informationen enthalten
waren, die für ein paar der am ehesten wahrscheinlichen
Abortsituationen erforderlich waren. Da jedoch bei allen
Abbruchsituationen von einem intakten Versorgungs- und
Kommandoteil ausgegangen wurde, erwarteten Lovell und
Deiterich nicht wirklich, einen ausgearbeiteten Abort zu
finden, der zu der derzeitigen Extremsituation paßte.
Allerdings gelang es den Controllern, die Koordinaten für
einen zeitweise in Betracht gezogenen, aber so gut wie noch
nie versuchten »docked DPS burn« auszutüfteln, eine Zündung
des Abstiegs-Antriebssystems der Mondfähre bei
angekoppeltem Kommando- und Versorgungsteil. Dieses
Manöver war zwar praktisch unerprobt, aber soweit Bostick
und Deiterich feststellen konnten, war es auch verhältnismäßig
einfach. Bei einer Kurskorrektur, mit der ein 400000 Kilometer
entfernt im Weltall fliegendes Schiff in eine Flugbahn gelenkt
werden sollte, die es um 65000 Kilometer näher an die Erde
heranführte, kam es auf absolute Genauigkeit bei
Zündzeitpunkt und Dauer der Brennphase an. Aufgrund der
gewaltigen Strecke, die es bis zur Rückkehr noch bewältigen
mußte, konnte sich bei der Ausrichtung des Raumfahrzeuges
eine Abweichung um den Bruchteil eines Grades am Ende der
Reise zu einer Kursabweichung von mehreren tausend
Kilometern summieren. Da die »Odyssey« und die »Aquarius«
derzeit mit knapp 5000 Kilometern pro Stunde oder rund 1400
Metern pro Sekunde dahinflogen, gingen Bostick, Deiterich
und die anderen davon aus, daß das Raumfahrzeug nur um
etwa 5 Meter pro Sekunde beschleunigen mußte, damit es nicht
wie bisher an der Erde vorbeiflog, sondern sicher im Meer
landete.
Die Controller waren sich sicher, daß dieses Manöver
praktikabel war – und genau wie Kraft waren sie sich bewußt,
daß es baldmöglichst durchgeführt werden mußte. Je später sie
das Triebwerk für den Einschuß in die Rückflugbahn zur Erde
zündeten, desto länger mußte die Brennphase veranschlagt
werden. Aber bevor sie die Zündung riskieren konnten, mußten
sie Lunney von ihrer Idee überzeugen. Und bevor Lunney sich
überzeugen ließe, würde er Kranz und Kraft dafür gewinnen
wollen. Die Controller außer Dienst stupsten ihre an den
Konsolen sitzenden Kollegen an und drängten sie, mit der
Überzeugungsarbeit zu beginnen.
»Flight, FIDO«, sagte Bill Boone, der Flugdynamik-Offizier
in Lunneys Team.
»Schießen Sie los«, sagte Lunney.
»Wir beschäftigen uns hier mit etwas, das Sie wissen sollten.
Wir untersuchen gerade ein Manöver, durch das wir unserer
Meinung nach auf eine Freiflugbahn kommen müßten.«
»Hmmm«, sagte Lunney unverbindlich.
»Unser Nebenkontrollraum arbeitet im Augenblick sämtliche
Vektoren aus, und in etwa zehn Minuten habe ich das Manöver
parat, so daß wir es nach etwa 61:30 Stunden Flugzeit
durchführen können.«
Lunney schaute auf die Uhr an der Stirnseite der Mission
Control, wo die verstrichene Zeit angegeben war. Seit dem
Start von Apollo 13 waren 59 Stunden und 23 Minuten
vergangen – etwa dreieinhalb Stunden seit dem Zwischenfall.
»Und es ist eine Freiflugbahn?« fragte Lunney.
»Wird bestätigt«, versicherte ihm Boone. »Durch die
Zündung beschleunigen wir um fünf Meter pro Sekunde. Sie
können also mit der Zahl arbeiten.«
Lunney sagte nichts. Boone wartete nervös, und an der
Konsole des Flugdirektors leuchtete statt des grünen
Lämpchens für den Lenk-Offizier jetzt das gelbe auf, woran
Lunney erkennen konnte, daß der GUIDO nicht nur mithörte,
sondern sich ins Gespräch einschalten wollte.
»Flight, GUIDO«, sagte Gary Renick.
»Los, GUIDO.«
»Wir haben jetzt die Führungs- und Navigationsdaten«, sagte
Renick, »und wir können bestätigen, daß wir jetzt
möglicherweise eine durchaus brauchbare Zündung
durchführen und auf die Freiflugbahn gelangen können.«
»Roger.«
Einmal mehr verfiel Lunney in Schweigen. Er kannte noch
nicht alle Einzelheiten der bevorstehenden Zündung, aber er
wußte auch, daß dies nicht notwendig war. Es war die Aufgabe
der Führungsjungs, die Besonderheiten bei einem Manöver
auszutüfteln, und wenn die sagten, sie hätten eine Zündung
parat, dann hatten sie wahrscheinlich auch eine. Seine Aufgabe
bestand nur darin, sein O.K. dafür zu geben.
Bei einem derartigen Flug jedoch gedachte Lunney – seiner
Allmacht als Flugdirektor zum Trotz – sein O.K. nicht ohne
vorherige Beratung zu geben. Er schob sein Mikrophon
beiseite und wandte sich nach hinten zum Gang um, wo sich in
den letzten zehn Minuten eine kleine Gruppe gebildet hatte. Zu
Kranz und Kraft hatten sich Bob Gilruth, der Direktor des
Space Center, Missionsdirektor George Low und
Chefastronaut Deke Slayton gesellt. Die fünf Männer hatten
miteinander geredet, als Lunney sich umdrehte, und sie traten
sofort näher, drängten sich um ihn und redeten aufgeregt. Die
Controller im ganzen Raum spitzten die Ohren und versuchten,
ob sie über ihre Kopfhörer etwas mitbekamen, aber von dem
Gespräch auf dem Gang war kein Wort zu verstehen. Sie
reckten die Hälse und blickten zu den sechs miteinander
diskutierenden Männern, ohne feststellen zu können, zu
welcher Entscheidung sie kamen. Ein paar Augenblicke später
meldete sich Lunney wieder.
»FIDO, Flight«, sagte er.
»Los, Flight«, antwortete Boone.
»Wie lange würden Sie für dieses Freiflugmanöver genau
brauchen?
Könnten Sie es auch bei 61 Stunden durchführen statt bei
61:30 Stunden?«
»Äh, Roger«, sagte Bonne. »Kann ich. Es handelt sich nur
um eine Frage des Vektors, an dem ich es durchführen will.«
Lunney drehte sich wieder um. Erneut herrschte ein paar
Augenblicke lang Schweigen im Netz, während hinter der
Konsole aufgeregte Gespräche stattfanden. Schließlich meldete
sich der Flugdirektor wieder auf dem Kommunikationskanal.
»Gentlemen«, ließ sich Lunney vernehmen, »bei 61 Stunden
werden wir eine Zündung durchführen, die uns um fünf Meter
pro Sekunde beschleunigen und auf die Freiflugbahn bringen
wird. Wir wollen erst auf die Freiflugbahn, und dann geben wir
bei PC+2 einen weiteren Schub. FIDOs, besorgt mir
schleunigst Daten für die 61-Stunden-Marke, und danach stellt
ihr weitere Berechnungen für zwei um jeweils 15 Minuten
verzögerte Zündungen, für den Fall, daß wir diese nicht
hinkriegen.«
Lousma griff zum Einschaltknopf an seinem Mikrophon, um
der Besatzung die gute – oder zumindest bessere – Nachricht
durchzugeben, aber bevor er dazu kam, hörte er in seinem
Kopfhörer plötzlich Stimmen aus dem Schiff.
Genau wie der CAPCOM hatten auch die Astronauten
Schalter an ihren Kopfhörerkabeln, auf die sie drücken
mußten, wenn sie sich mit der Bodenstation in Verbindung
setzen wollten. Obwohl dieses Hin- und Herschalten durchaus
lästig sein konnte, beschwerten sich die Astronauten darüber
nur selten. Immerhin waren durch diesen Mikrophonknopf in
gewissem Maße auch Privatgespräche möglich – und dazu gab
es im Weltall nicht oft Gelegenheit. Nur bei besonders
schwierigen Aufgaben, wenn die Besatzung alle Hände voll zu
tun hatte und in ständigem Kontakt mit dem Boden stehen
mußte, wurde dies anders gelöst. In diesem Fall stellten die
Astronauten ihr Kommunikationssystem auf »hot mike« oder
»Vox« um, so daß die Mikrophone durch die Stimmen
aktiviert wurden und der CAPCOM jedes Wort mithören
konnte. Den Großteil des Fluges über hatte die Besatzung von
Apollo 13 die geschlossene Mikrophoneinstellung benutzt,
aber vor etwa einer Minute hatte sie vermutlich aus Versehen
auf stimmaktives Mikrophon umgeschaltet, so daß ihre
Gespräche mitgehört werden konnten, ohne daß sie es wußten.
»Gibt es irgendeine Möglichkeit, das Ding zu steuern,
Freddo?« konnte man Lovell hören.
»Was ist das?« fragte Haise.
»Sieht so aus, als ob sich die Steuerbefehle gegenseitig
aufheben. Ich könnte genausogut – «
»Ganz genau. TTCA wird dir das beste – «
»Ich möchte aus diesem Rollen rauskommen. Was ist, wenn
ich auf – «
»Ist egal, worauf du gehst – «
»Laß mich dieses Nicken mit dem – «
»Steuerst du das Rollen mit dem – «
»O.K. probier das – «
»Probier was – «
»Probier das – «
»Tja, ich krieg das hier nicht – «
Lousma hörte ein paar Sekunden lang zu, und als er sich
nicht an die Crew wandte, hörte auch Lunney zu. Genau wie
Lousma machte sich auch der Flugdirektor Sorgen über das
Gehörte.
»Jack«, sagte Lunney, »Sie könnten ihnen mitteilen, daß wir
über Vox mithören.«
Schwer zu sagen, ob Lousma Lunney hörte oder ob er durch
das Gespräch der Besatzung zu abgelenkt war. Jedenfalls
reagierte er nicht, sondern lauschte weiter den Gesprächen aus
dem Schiff.
»Warum, zum Teufel, manövrieren wir hier so herum?«
fragte Lovell gerade. »Blasen wir immer noch irgendwas aus?«
»Wir blasen nichts aus«, erwiderte Haise.
»Warum können wir das dann nicht abstellen? Was ist, wenn
wir – «
»Jedesmal, wenn ich versuche – «
» – kann dieses Rollen nicht wegkriegen.«
»Versuch das Rollen abzustellen.«
»Und wie sieht’s jetzt mit der mistigen Lage aus?« fragte
Lovell.
»Die Lage ist O.K.«, antwortete Haise.
»Verflucht!« rief Swigert. »Ich wünschte, ihr würdet euch
mit etwas beschäftigen, mit dem ich mich auskenne.«
Lunney schaltete sich ins Netz ein. »CAPCOM«, meldete er
sich wieder und diesmal etwas strenger. »Sie sollten ihnen
mitteilen, daß wir über Vox mithören.«
Lousma schien über die Schwierigkeiten, die die Astronauten
mit der Lagesteuerung des Schiffes hatten, ebenso besorgt wie
über die Wortwahl, mit der sie darüber diskutierten. Nun, da
der zunächst glatt verlaufende Flug in eine kritische Phase
geraten war, hatten sich die Fernsehsender direkt in den
Boden-Bord-Funk eingeklinkt, und jedes Wort, das Houston
oder die Besatzung von sich gaben, wurde im ganzen Land
ausgestrahlt. Früher waren diese Gespräche erst nach
siebensekündiger Verzögerung eingespeist worden, damit die
für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen NASA-Mitarbeiter
Gelegenheit hatten, eventuelle Obszönitäten auszumerzen.
Nach dem Brand in Apollo 1 jedoch hatte man bei der NASA
erkannt, wie wichtig uneingeschränkte Offenheit für das
Ansehen der Raumfahrtbehörde war, und die Zensur an Ort
und Stelle abgeschafft.
Die Folgen dieser neuen Ehrlichkeit machten sich
augenblicklich bemerkbar. Letztes Frühjahr hatte es einen
ziemlichen Aufschrei in der Presse gegeben, als Gene Cernan
bei Apollo 10 ein ungewolltes »Scheißding!« herausrutschte,
nachdem er versehentlich auf einen Abbruchschalter gedrückt
und das Schiff knapp 15 Kilometer über dem Mond in wilde
Kreiselbewegungen versetzt hatte. Der Großteil der NASA-
Mitarbeiter hatte durchaus Verständnis für Cernans Fluchen
und ärgerte sich über die verlogene Zimperlichkeit der Medien,
doch die Presse beeinflußte die öffentliche Meinung, und die
öffentliche Meinung war ausschlaggebend für die Finanzierung
des Mondprogramms, und bei der Raumfahrtbehörde wollte
man sich weder mit der Presse noch mit der Öffentlichkeit
anlegen. Sobald Apollo 10 zurückgekehrt war, wurde eine
Verfügung erlassen, wonach die Piloten bei künftigen
Missionen daran denken sollten, sich wie Gentlemen zu
benehmen. Unfeine Redensarten – selbst ein vergleichsweise
harmloses »mistig« – würden auch bei einem Notfall nicht
mehr geduldet werden.
»Aquarius«, wandte sich Lousma auf Lunneys Anweisung
hin an das Raumfahrzeug, »wollten euch nur wissen lassen,
daß wir euch auf Vox empfangen.«
»Ihr empfangt was?« rief Lovell über das Rauschen hinweg.
»Wir empfangen euch alle auf Vox«, wiederholte Lousma
und fügte dann ausdrücklich hinzu: »Wir verstehen euch laut
und deutlich.«
Swigert, von dem der letzte Kraftausdruck stammte, verstand,
worauf der CAPCOM hinauswollte, schaute Lovell an und
zuckte entschuldigend die Achseln. Lovell, der an seine
eigenen Flüche dachte, winkte ab. Haise, auf dessen Seite des
Armaturenbretts sich die Kommunikationseinrichtungen des
Raumfahrzeugs befanden, langte nach seinem Vox-Schalter
und brachte ihn in die übliche Position.
»O.K. Jack«, sagte er seinerseits mit leichtem Nachdruck,
»wie verstehst du uns jetzt auf normal?«
»Verstehe euch gut.«
»O.K.«
»Aquarius«, fuhr der CAPCOM fort, »wir würden euch gern
über unseren Plan bezüglich der Zündung informieren. Wir
gedenken, bei 61 Stunden ein Beschleunigungsmanöver um
fünf Meter pro Sekunde durchzuführen, das euch auf eine
Freiflugbahn bringt. Dann schalten wir die Energie herunter,
um die Reserven zu schonen, und bei 79 Stunden wollen wir
eine PC+2-Zündung durchführen und vollen Schub geben. Wir
möchten, daß ihr so schnell wie möglich auf Freiflugbahn
kommt und Energie herunterschaltet. Was haltet ihr davon, in
37 Minuten mit einer Zündung um fünf Meter pro Sekunde zu
beschleunigen?«
Lovell nahm die Hand vom Steuergriff, ließ das Schiff
treiben und wandte sich mit fragendem Blick an seine
Kollegen. Swigert und Haise zuckten nur die Achseln.
»Sieht nicht so aus, als hätten wir hier oben eine bessere
Idee«, erklärte Lovell.
»Meinst du, 37 Minuten reichen?« fragte Haise.
»Eigentlich nicht«, antwortete Lovell. »Jack«, wandte er sich
wieder an den CAPCOM, »wir wollen’s versuchen, wenn uns
gar nichts anderes übrigbleibt, aber könntet ihr uns etwas mehr
Zeit geben?«
»O.K. Jim, wir können ein Manöver zu einem für euch
genehmeren Zeitpunkt ausrechnen. Gebt uns die Zeit vor, und
wir stellen uns darauf ein.«
»Dann sollten wir uns auf eine Stunde einstellen, wenn wir
können.«
»O.K. wie wär’s bei etwa 61 Stunden und 30 Minuten?«
»Roger«, sagte Lovell. »Aber wir sollten bis dahin in Kontakt
bleiben und dafür sorgen, daß wir die Zündung richtig
hinkriegen.«
»Roger«, sagte Lousma.
Die Stunde bis zur Zündung, mit der Apollo 13 auf eine freie
Rückkehrbahn gebracht werden sollte, würde für die
Besatzung hektisch werden. Bei einer planmäßig verlaufenden
Mission waren laut Flugplan mindestens zwei Stunden für die
sogenannten Abstiegsaktivierungsmaßnahmen vorgesehen;
darunter verstand man das Einstellen der Schalter und Knöpfe
vor dem Zünden des Abstiegs-Antriebssystems der Mondfähre.
Jetzt mußte die Besatzung die gleiche Aufgabe in der halben
Zeit erledigen, ohne daß dies zu Lasten der notwendigen
Sorgfalt gehen durfte. Überdies galt es, das Raumfahrzeug
noch genau auszurichten, was Lovell aufgrund der wilden
Schlingerbewegungen noch nicht annähernd geschafft hatte.
Doch während die Männer an Bord des Schiffes im Verlauf
dieser Stunde kaum zum Luftholen kamen, konnte man am
Boden erst einmal tief durchatmen.
Gene Kranz nahm seinen Kopfhörer ab, trat einen Schritt
zurück und sah sich im Raum um. Im Augenblick dachte er
nicht an die problematische Zündung – darum kümmerten sich
seine Astronauten und Flugdynamikteams. Ihn beschäftigten
vielmehr die für die Lebenserhaltung der Besatzung
notwendigen Reserven. Vor ein paar Minuten hatte Kranz in
der Mission Control bekanntgegeben, daß sich vor Beginn der
Vorbereitung für die Zündung sein gesamtes Team unten in
Zimmer 210, einem Datenanalyseraum in der Nordwestecke
des Flugbetriebstraktes, versammeln sollte. Kranz wußte, daß
sowohl die bevorstehende Zündung zum Einschuß in die
Freiflugbahn als auch die PC+2-Zündung unbedingt notwendig
waren, aber ihm war auch bewußt, daß sie gar nichts nützten,
wenn man nicht irgendeine Möglichkeit fand, die an Bord des
LEM vorhandenen Wasser-, Sauerstoff- und Energiereserven
so einzuteilen, daß sie für den Rückflug reichten. Jetzt ging das
Gerücht um, Kranz ziehe sein Team aus dem normalen
Schichtbetrieb ab, damit es sich ausschließlich mit dem
Problem der Grundversorgung befassen könne. Zu diesem
Zweck griff Kranz auf einen Begriff aus dem militärischen und
industriellen Krisenmanagement zurück und taufte seinen Stab
in Tiger Team um.
Als Kranz sich in der Mission Control umsah und kurz die
Anwesenden zählte, stellte er fest, daß der Großteil seiner
Mitarbeiter sich nach wie vor an oder bei den Konsolen
befand. An der Konsole des EECOM entdeckte er zu seiner
Freude und Erleichterung zudem einen neuen Mann: John
Aaron, einen siebenundzwanzigjährigen Wunderknaben aus
Oklahoma.
Aaron, ein Flugmechanikingenieur, war 1965 direkt vom
College zur Raumfahrtbehörde gegangen.
Ursprünglich mit der Konstruktion von Raumfahrzeugen
betraut, zeigte Aaron soviel technisches Geschick, daß er
bereits im Frühjahr 1965 einen Posten in der Mission Control
zugewiesen bekam, wo er während Ed Whites historischem
Spaziergang durchs Weltall im Verlauf von Gemini 4 an der
EECOM-Konsole saß. Als Gemini 5 in die Umlaufbahn
geschossen wurde, arbeitete er bereits regelmäßig als EECOM
und übernahm meistens die Schicht beim Start einer Mission –
die nervenaufreibendste und unbeliebteste Schicht, zu der
normalerweise nur die besten Controller eines jeden Teams
eingeteilt wurden. Aarons Arbeit war stets geschätzt worden,
aber wahrhaft gefeiert wurde sie erst seit einem Zwischenfall
während der Startphase von Pete Conrads, Dick Gordons und
Al Beans Mondflug mit Apollo 12 im vergangenen November,
bei dem er kühlen Kopf bewahrt und so die Mission gerettet
hatte.
Gene Kranz streifte in der Mission Control umher, trommelte
sein Tiger Team zusammen, bat Aaron hinzu und brachte alle
zu Zimmer 210. Es handelte sich um einen großen,
fensterlosen Raum voller Konferenztische und Stühle. Wände
und Arbeitsflächen waren mit Computerausdrucken bedeckt –
telemetrischen Angaben aus der ruhigeren Frühphase des
Fluges. Normalerweise sollten all diese Tabellen zu einem
späteren Zeitpunkt, lange nach Abschluß des vermutlich
routinemäßig verlaufenden Fluges, in aller Ruhe gelesen und
analysiert werden. Als die fünfzehn Männer von Kranzens
Truppe jetzt in den Raum drängten und auf Stühlen und
Tischkanten Platz nahmen, wurden die Ausdrucke einfach
beiseitegefegt und blieben zerknüllt am Boden liegen.
Kranz nahm den Platz an der Stirnseite des Zimmers ein und
verschränkte die Arme. Der leitende Flugdirektor galt als
emotional, ja sogar explosiv, an diesem Abend jedoch wirkte
er zwar entschlossen, aber zurückhaltend.
»Bis zum Ende dieses Fluges«, begann Kranz, »seid ihr alle
von den Konsolen abgezogen. Die Leute draußen im
Kontrollraum werden den Flug leiten, aber die Leute in diesem
Raum hier werden die Vorgaben liefern, die dann von denen
da draußen ausgeführt werden. Was ich von jedem von Ihnen
ab sofort möchte, ist ganz einfach – Vorschläge, aber davon
jede Menge.«
»TELMU«, sagte Kranz und wandte sich an Bob
Hesselmeyer. »Von Ihnen möchte ich ein paar Kalkulationen.
Wie lange halten die Systeme im LEM bei voller
Energieleistung durch? Wie lange bei teilweiser? Wie ist es um
das Wasser bestellt? Was ist mit der Batterieleistung? Wie
sieht es mit dem Sauerstoff aus? EECOM« – er wandte sich an
Aaron – »in drei bis vier Tagen werden wir die
Kommandokapsel wieder brauchen. Ich möchte wissen, wie
wir die Kiste wieder so in Betrieb nehmen können, daß sie bis
zur Landung durchhält – einschließlich des Führungssystems,
der Steuerdüsen und des Lebenserhaltungssystems –, und zwar
nur mit der Energie, die in den Batterien für den Wiedereintritt
übrig ist.
RETRO, FIDO, GUIDO, CONTROL, GNC«, sagte er und
sah sich im Zimmer um, »ich möchte Vorschläge zu PC+2-
Zündungen und Kurskorrekturen von jetzt bis zum
Wiedereintritt. Inwieweit können wir mit einem PC+2
beschleunigen? Welchen Ozean können wir damit erreichen?
Können wir später als PC+2 zünden, falls notwendig?
Außerdem möchte ich wissen, wie wir das Schiff ausrichten
wollen, falls wir nicht nach den Sternen navigieren können.
Können wir uns nach der Sonne richten? Können wir uns nach
dem Mond richten? Wie sieht’s mit Orientierung nach der Erde
aus?
Zum Schluß eine Bitte an alle in diesem Raum: Ich möchte,
daß jemand zu den Computern geht und weitere Ausdrucke ab
dem Zeitpunkt des Einschusses in die Mondbahn besorgt. Wir
wollen doch mal sehen, ob wir nicht herausfinden, was mit
diesem Raumfahrzeug von Anfang an schiefgegangen ist. In
den nächsten paar Tagen werden wir uns Betriebsverfahren
und Manöver einfallen lassen müssen, die wir noch nie
ausprobiert haben. Ich möchte sichergehen, daß wir wissen,
was wir damit anstellen.«
Kranz hielt inne, ließ den Blick einmal mehr vom einen
Controller zum nächsten wandern und wartete, ob jemand eine
Frage hatte. Niemand hatte eine, wie so oft nach Kranz’
Ansprachen. Er wandte sich um, ging wortlos aus dem Raum
und begab sich wieder in die Mission Control, wo sich zig
andere Controller um das Wohlergehen der drei gefährdeten
Astronauten kümmerten. In dem Zimmer, das er gerade
verlassen hatte, saßen derweil die fünfzehn Männer, von denen
er erwartete, daß sie ihnen das Leben retteten.

Die Männer in der »Aquarius« wußten nichts von Kranz’


Ansprache, und zumindest im Augenblick brauchten sie auch
keine aufmunternden Worte. In einer halben Stunde sollte die
Zündung zum Einschuß in die Freiflugbahn erfolgen, und das
LEM war noch nicht einmal annähernd dafür vorbereitet.
Haise war in die Checkliste mit den »Abstiegsaktivierungen«
vertieft und wechselte ab und zu ein paar kurze Worte mit dem
CAPCOM.
Lovell verfolgte das Gespräch mit einem Ohr, wartete auf
Anweisungen, die ihn betrafen, und legte ab und zu einen
Schalter um, den Haise nicht erreichen konnte. Die meiste Zeit
über aber war der Kommandant vollauf mit anderen Aufgaben
beschäftigt. Er betätigte die Steuerung jetzt behutsamer und
gekonnter und bekam allmählich ein Gefühl für das toplastige
Schiff, das er mittlerweile auf allen drei Achsen um 360 Grad
drehen konnte. Doch jedesmal, wenn er aus dem Fenster
blickte, hing eine unverändert dichte Wolke um die
»Aquarius«. Er zündete die Steuerdüsen und versuchte nach
vorne aus dem leuchtenden Hof herauszufliegen, aber er schien
dem Schiff zu folgen, als würden die Partikel und Kristalle
mangels eines anderen Gravitationsfeldes von dessen
Schwerkraft angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten.
Da die Zeit knapp wurde, hatte Lunney zwei Mann aus der
Ersatzmannschaft von Apollo 13 – John Young, den
Kommandanten, und Ken Mattingly, den zurückgestellten
Piloten der Kommandokapsel – zu den Simulatoren beordert,
wo sie einige Manöver ausprobieren sollten, auf die Lovell
eventuell zurückgreifen konnte. Young wiederum hatte mit
Charlie Duke telefoniert – dem Piloten der Mondfähre, dessen
Röteln ursprünglich zum Austausch der Besatzung von Apollo
13 geführt hatten –, ihn vom Krankenlager aufgescheucht und
ins Space Center beordert. Tom Stafford, der besser als jeder
andere über die Gefahren Bescheid wußte, die beim
Manövrieren eines LEM in Mondnähe auftauchen konnten,
wurde Lousma zugeteilt und gebeten, ebenfalls ein paar Ideen
beizusteuern. Im Verlauf der letzten Minuten hatten die eilig
zusammengetrommelten Astronauten und der erschöpfte
CAPCOM zahlreiche Vorschläge an Lovell durchgegeben. So
sollte er unter anderem das Schiff so drehen, daß der
Versorgungsteil das Sonnenlicht abhielt und er durch die
dreieckigen Fenster des LEM in die Dunkelheit blickte. Doch
all diese Vorschläge führten zu nichts. Egal, wohin Lovell
auch blickte, überall war ihm die Sicht auf die Sterne versperrt.
Verzweifelt ließ der Kommandant den Steuergriff für die
Düsen los und schwebte vom Armaturenbrett weg. Die
Kreiselplattform nach den Sternen auszurichten, war
unmöglich, davon war er jetzt überzeugt. Wenn Houston die
Koordinaten für die Zündung durchfunkte, blieb Lovell nichts
anderes übrig, als die Daten einfach in seinen
Navigationscomputer einzugeben und zu hoffen, daß das
Trägheitsführungssystem dazu in der Lage war, die Daten
anzugleichen und das Raumfahrzeug entsprechend
auszurichten. Wenn ja, würde die Besatzung zurück zur Erde
fliegen. Falls nicht, flogen sie irgendwo anders hin.
»Wir werden uns mit dem begnügen müssen, was wir
haben«, sagte Lovell zu Haise und Swigert. »Wollen wir
hoffen, daß es reicht.«
Die Controller am Boden kamen etwa zur selben Zeit wie
Lovell zum gleichen Schluß, und anhand ihrer Daten konnten
sie ersehen, daß sich die Lage des Schiffes beruhigt hatte und
der Kommandant offenbar ihrer Meinung war. Theoretisch
sollten die Berechnungen, die Lovell durchgeführt hatte und
die am Boden überprüft worden waren, für die Ausrichtung des
Trägheitsführungssystem in der Mondfähre genügen – blieb
nur zu hoffen, daß es auch in der Praxis funktionierte.
Gary Renick wählte Lunney an, um ihm mitzuteilen, daß der
Zeitpunkt für die Zündung gekommen sei.
»Flight, GNC«, sagte er.
»Los.«
»O.K. wir haben die Vektoren soweit klar, daß die Crew sie
einspeisen kann.«
»In Ordnung«, sagte Lunney »CAPCOM, bereiten Sie die
Crew auf die Durchgabe der Daten vor.«
»Roger«, sagte Lousma. »O.K. Aquarius«, rief er über Funk
die Besatzung, »seid ihr bereit, die Koordinaten für das
Manöver zu empfangen?«
»Wird bestätigt«, sagte Lovell.
»Na denn los. Bezweckt wird eine Kurskorrektur für eine
Zündung auf Freiflugbahn«, begann Lousma in aller Form.
»Und die Koordinaten sind NOUN 33, 061,29,4284 minus
00213. HA und HP sind NA. Die Neigung ist…«
Langsam gab Lousma die Daten für die Schubkraft, die
Brennzeiten, die Triebwerkstellwinkel und die Delta-V-
Angabe für die vorgesehene Geschwindigkeitsveränderung
durch, die Haise pflichtgemäß wiederholte.
Sobald sämtliche Daten notiert waren, würde Haise die
Lagekoordinaten in den Navigationscomputer eingeben, der
wiederum dem Raumschiff den Befehl erteilte, sich in die
gewünschte Position für die Zündung zu steuern.
Die Tests, die Young und Duke im Simulator durchführten,
zeigten, daß der Autopilot des LEM das Schiff während des
Triebwerkeinsatzes in einer stabilen Lage halten konnte. Wenn
das Schiff in der für die Zündung notwendigen Lage zur Ruhe
gekommen war, sollte Lovell die spinnenbeinartigen
Landefüße des LEM ausfahren, damit sie dem Abstiegs-
Antriebssystem nicht im Wege waren. Danach würde der
Computer die vier Lagesteuerungsraketen der »Aquarius« 7,5
Sekunden lang zünden. Durch diese Maßnahme, gemeinhin
»Leckage« genannt, sollte das Raumfahrzeug leicht nach vorne
gestoßen werden, so daß der Brennstoff für den Abstiegsmotor
an den Tankboden gedrückt wurde und es nicht zu
Blasenbildung kam. Danach würde das Abstiegs-
Antriebssystem automatisch zünden und 5 Sekunden lang bei
zehnprozentiger Schubkraft brennen – gerade genug, um das
Schiff in Bewegung zu bringen. Danach mußte Lovell den
Schubregler langsam auf 40prozentige Leistung schieben und
ihn so halten, damit das Triebwerk genau 25 Sekunden lang
mit einer steten Schubkraft von 1,78 Tonnen brannte. Nach
Ablauf dieser Phase würde der Computer die Brennkammer
schließen, und das Triebwerk würde zum Stillstand kommen.
Theoretisch müßte Apollo 13 sich dann auf der für den
Rückflug zur Erde notwendigen Bahn befinden.
Haise gab die Daten des Trägheitsführungssystems in den
Bordcomputer ein und blickte aus dem rechten Fenster,
während Lovell links hinaussah. Swigert reckte den Hals und
schaute ihnen über die Schulter, als die Steuerraketen
automatisch zündeten und das Raumschiff in die vom
CAPCOM vorgegebene Lage brachten. Darauf griff Lovell
zum Armaturenbrett und legte den Schalter für die Landebeine
des LEM um.
Vor dem Flug hatte sich der Kommandant auf diesen
Handgriff gefreut, da er den entscheidenden Augenblick für
die geplante Mondlandung markierte. Jetzt hatte das Ausfahren
der Landebeine eine andere Bedeutung, und Lovell spürte, wie
tief die Enttäuschung saß – ein Gefühl, das er jedoch rasch
unterdrückte. Die Beine rasteten ein, und nach einem Blick aus
dem Fenster nickte Lovell Haise zu.
Haise behielt den Countdown-Timer des LEM im Blick und
wandte sich dann per Funk an die Bodenstation.
»O.K.«, sagte er, »1 plus 30 für Zündung.«
Am Boden gab Lousma die Durchsage an Lunney weiter, der
die Männer über Funk um Ruhe bat und während der nächsten
30 Sekunden eine letzte Konferenzschaltung durchführte.
»O.K. wir wären soweit«, sagte er schließlich.
»Roger, Aquarius«, gab Lousma an Lovell durch. »Ihr habt
GO für die Zündung.«
Lovell stellte den »Master Arm«-Schalter auf On und blickte
sich rasch um, ob alles andere in Ordnung war. Die
Führungskontrolle stand auf »Primary Guidance«, die
Schubkontrolle stand auf »Auto«, die Antriebskardanringe
waren gelöst, die Anzeigen für Treibstoff, Temperatur und
Druck sahen gut aus, das Schiff blieb in der richtigen Lage.
Jetzt übernahm der Computer, und Lovell konnte sich auf die
Countdown-Anzeige konzentrieren. Dreißig Sekunden vor der
Zündung blinkte auf der Anzeige »06:40« auf, woran der
Kommandant ersehen konnte, daß der Computer den Antrieb
aktiviert hatte. Zweiundzwanzigeinhalb Sekunden später –
genau 15 Sekunden vor der Zündung – sprangen die kleinen,
außen am Raumfahrzeug angebrachten Düsen an. Lovell,
Haise und Swigert verspürten einen leichten Stoß, als das LEM
unter ihren Füßen etwas ruckelte.
»Wir haben Leckage«, sagte der CONTROL-Offizier.
Lovell konzentrierte sich weiter auf die Computeranzeige,
und genau fünf Sekunden vor der Zündung blinkte das
vertraute »99:40« auf, mit dem der Kommandant gefragt
wurde, ob er das Manöver wirklich durchführen wolle. Ohne
zu zögern drückte Lovell auf den »Proceed«-Knopf, und
einmal mehr wurde das Schiff von einem dumpfen Vibrieren
erfaßt.
»Wir haben Zündung, niedrige Schubeinstellung«, sagte der
CONTROL-Offizier.
Lovell blieb 5 Sekunden lang auf dieser Schubleistung, dann
schob er den Regler um weitere 30 Prozent nach vorne.
Das Vibrieren wurde stärker.
»Vierzig Prozent«, meldete er über Funk an die Bodenstation.
»Vierzig Prozent«, wiederholte CONTROL. »Zahlen sehen
gut aus.«
»Die Zahlen bleiben gut, ja?« fragte Lunney unsicher.
»Sieht O.K. aus, Flight«, versicherte ihm der CONTROL-
Offizier.
»O.K. Aquarius, sieht gut für euch aus«, sagte Lousma.
Lovell nickte und hielt den Schubregler weiter in Stellung,
während das Vibrieren andauerte.
Lovell warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Das Triebwerk brannte 10 Sekunden, 20 Sekunden, dann
volle 30 Sekunden und hörte immer noch nicht auf. Dann,
einen Augenblick später als geplant – 0,72 Sekunden genau,
wie der Computer in der Mission Control feststellte –, war die
Brennphase beendet, und das Triebwerk stellte sich ab.
»Brennschluß«, erklärte CONTROL.
»Auto-Brennschluß«, bestätigte Lovell.
Sowohl die Controller am Boden als auch Lovell im
Raumfahrzeug blickten sofort und fast gleichzeitig auf die
Instrumente, an denen die Flugbahn und die Delta-V-Werte
angegeben waren, und lächelten, als sie das Ergebnis sahen.
Apollo 13 hatte genau so beschleunigt, wie sie es geplant
hatten.
Lovell wartete, daß Houston ihm den Befehl zum »Trimmen«
nach der Zündung gab. Dieses Manöver, ein kurzer Einsatz der
Lagesteuerungsraketen, wurde normalerweise nach einer
Routinezündung zur weiteren Kursangleichung verlangt.
Boone, Renick, Bostick, Deiterich und die anderen
Navigationsoffiziere blickten auf ihre Konsolen und
versuchten festzustellen, wieviel Trimmung erforderlich war.
Um so verblüffter waren sie, als sie die Antwort parat hatten:
Gar keine war nötig. Laut den Zahlen auf ihren Monitoren war
die Brennphase, mit der sie gegen alle Regeln und
Flugvorschriften verstoßen hatten, punktgenau gewesen.
Apollo 13 befand sich jetzt auf einer Bahn, auf der das Schiff
hinter dem Mond vorbei- und dann direkt auf die Erde
zufliegen würde.
Etwas ungläubig rief Lousma das Schiff: »Ihr seid klar,
Aquarius. Kein Trimmen erforderlich.«
»Kein Trimmen, sagt ihr?« fragte Haise und warf Lovell
einen Blick zu.
»Wird bestätigt. Kein Trimmen erforderlich.«
»Roger«, sagte Lovell grinsend.
»O.K.«, meinte Haise und lächelte ebenfalls.
Lovell stieß sich vom Armaturenbrett ab und rieb sich mit
dem Handrücken über die Augen. Er war erleichtert, wenn
auch nur vorübergehend. Die Flugbahndaten auf seinen
Instrumenten waren zwar ermutigend, aber um die anderen
Angaben war es ganz anders bestellt. Als er einen Blick auf die
Anzeigen für die Lebenserhaltungs- und Energiesysteme warf,
stellte er unwillkürlich eine kurze Berechnung an. Wenn die
derzeitige Flugbahn und Geschwindigkeit des Schiffes
unverändert blieben, müßte Apollo 13 nach einer Flugzeit von
152 Stunden die Erde erreichen, ab jetzt gerechnet etwa 91
Stunden oder knapp vier Tage. Das LEM aber war – bei einer
Besatzung von zwei Mann – nur für etwa die Hälfte dieser Zeit
ausgerüstet. Obwohl Houston eine Zündung um PC+2 nur
beiläufig erwähnt hatte, war Lovell sich ziemlich sicher, daß
eine geplant war. Aber selbst wenn er nach dem Umfliegen des
Mondes das Abstiegs-Antriebssystem voll aufdrehte und es
brennen ließ, bis die Tanks leer waren, konnte dies seiner
Ansicht nach den Flug allenfalls um einen Tag verkürzen.
Damit wären sie immer noch einen Tag länger unterwegs, als
die knappen Sauerstoff- und Energievorräte des LEM reichen
würden.
»Wenn wir wieder heimkommen wollen«, sagte Lovell zu
Swigert und Haise, »müssen wir uns etwas einfallen lassen,
damit das Schiff durchhält.«
In Zimmer 210 in der Mission Control stellte Bob
Hesselmeyer seinerseits ein paar rasche Berechnungen an. Im
Gegensatz zu Lovell hatte der TELMU des Tiger Teams Stift,
Papier, Computerausdrucke, Datenmaterial, Energievorgaben
und ein Unterstützungsteam aus technischem Personal, das ihm
beim Kalkulieren half. Aber die Zahlen, die dabei
herauskamen, gefielen ihm genausowenig wie Lovell.
Der erste Gedanke galt der Versorgung mit Sauerstoff, denn
Atemluft war das wichtigste, wenn die Crew heil zurückkehren
sollte – aber um den Sauerstoff mußte man sich anscheinend
die wenigsten Sorgen machen. Laut Flugplan hatten Lovell
und Haise ursprünglich zwei Tage auf dem Mond bleiben und
vom LEM aus zwei Erkundungsgänge unternehmen sollen.
Das hieß, daß sie die Kabine zweimal vollkommen
dekomprimieren und anschließend die alten Druckverhältnisse
hätten wiederherstellen müssen. Aus diesem Grund verfügte
die »Aquarius« über mehr Sauerstoff als die früheren
Mondfähren. Selbst bei einer dreiköpfigen Besatzung sollte
sich der Sauerstoffverbrauch nur auf knapp 0,23 Pfund pro
Stunde belaufen, und bei solchen Werten reichte der
Tankinhalt über eine Woche lang.
Ganz anders war es um den Kohlendioxidgehalt in der
Atemluft bestellt. Das LEM war, genau wie die
Kommandokapsel, mit Lithiumhydroxid-Filtern ausgerüstet,
die die Kohlendioxidmoleküle in der Luft banden. Das Schiff
verfügte über zwei Primärfilter, die über einen Tag lang
hielten, und drei Sekundärfilter, die in Betrieb genommen
werden konnten, wenn die beiden anderen gesättigt waren.
Alles in allem würden diese fünf Luftfilter nur 53 Stunden lang
funktionieren – und das auch nur, wenn sich, wie vorgesehen,
zwei Mann im LEM befanden. Bei einem zusätzlichen
Passagier sank die Lebensdauer der Filter auf unter 36
Stunden. Zwar verfügte auch die »Odyssey« über
Lithiumhydroxid-Filter, die während des Fluges nicht mehr
gebraucht wurden, aber die konnten aufgrund unterschiedlicher
Größe in der »Aquarius« nicht verwendet werden. Es kam also
gar nicht darauf an, wieviel Sauerstoff die Mondfähre
mitführte, denn die Atemluft würde sich bald so stark mit
giftigem Kohlendioxid anreichern, daß die Besatzung
spätestens am Mittwoch morgen gegen 3 Uhr ersticken mußte.
Beinahe ebenso schlecht stand es um die Stromversorgung.
Ein voll funktionsfähiges LEM brauchte, wenn alle Systeme in
Betrieb waren, etwa 55 Ampere. Wenn die Energie statt der
vorgesehenen zwei jedoch vier Tage reichen sollte, durfte das
Raumfahrzeug lediglich 24 Ampere verbrauchen. Eine
derartige Reduzierung war zwar radikal, aber sie ließ sich
zumindest bewerkstelligen.
Ähnliches galt für den Wasservorrat. Sämtliche
energieverbrauchenden Geräte im LEM erzeugten Wärme, und
wenn sie nicht entsprechend gekühlt wurden, überhitzten sie
und fielen aus. Daher zog sich ein Netz aus Kühlrohren mit
einer Lösung aus Wasser und Glykol durch das ganze Schiff,
über die die überschüssige Wärme zu einem Sublimator
abgeleitet und der Dampf anschließend ins All ausgeblasen
wurde. Aus dem Wassertank, den das LEM mitführte, sollte
sowohl das Kühlsystem gespeist als auch die Besatzung
versorgt werden. Alles in allem führte das Raumfahrzeug etwa
338 Pfund Wasser mit, von dem allein die Gerätekühlung etwa
6,3 Pfund pro Stunde verbrauchte. Wenn der Vorrat bis zur
Erde reichen sollte, mußte der Verbrauch auf knapp über 3,5
Pfund reduziert werden. Damit dies möglich war, mußte der
Stromverbrauch bis auf 17 Ampere gesenkt werden.
Angesichts dieser Zahlen schreckte Hesselmeyer zurück und
rieb sich die Augen. Für einen derartigen Flug war das LEM
nicht gebaut. Niemand – vielleicht mit Ausnahme der Leute
bei Grumman – wußte, ob das LEM für einen solchen Flug
überhaupt geeignet war.
Hesselmeyer runzelte die Stirn und wandte sich an die um ihn
sitzenden Männer.
»Wenn wir sie wieder heimholen wollen«, sagte er, »müssen
wir uns etwas einfallen lassen, damit das Schiff durchhält.«
7

Januar 1958

Als Jim Lovell im Aircraft Test Center der Navy in Patuxent


River, Maryland, eintraf, war er alles andere als ausgeruht. Der
neunundzwanzigjährige Lieutenant hatte gerade mit einer im
sechsten Monat schwangeren Frau, einem zwei Jahre alten
Sohn, einer vier Jahre alten Tochter und einem fünf Jahre alten
Chevy, der ihn in nahezu jedem Staat zwischen der San
Francisco Bay und der Chesapeake Bay im Stich gelassen
hatte, eine Fahrt quer durchs ganze Land hinter sich gebracht.
An einem trostlosen Januarnachmittag kamen Lovell und seine
Familie in Pax River an – und wurden von typischem
Küstenwetter empfangen: Zu warm für Schnee, zum Regnen
zu kühl, statt dessen fiel ein naßkalter Nieselregen vom endlos
grauen Himmel. Nicht gerade ein schöner Willkommensgruß
für einen Mann, der mehr als viereinhalbtausend Kilometer
gefahren war. Aber weitaus schlimmer als Jim Lovell, der
etwas bedrückt war, als er mit dem Chevy auf dem ihm
unbekannten Marinestützpunkt herumfuhr, empfand Marilyn
Lovell den neuen Standort.
In den letzten vier Jahren hatten die Lovells in einem
Außenbezirk von San Francisco gewohnt, einer kleinen
Siedlung nahe der Moffett Field Naval Air Station, und
Marilyn hatte sich dort überaus wohl gefühlt. Sie war in
Milwaukee geboren und wegen ihres Liebsten, der die
Marineakademie besuchte, nach Washington gezogen, aber sie
mochte weder die bitterkalten Winter im Mittelwesten noch die
schwülen Sommer am Potomac, und als die Navy ihren Mann
zu einer Air Base im gemäßigten kalifornischen Küstenklima
versetzt hatte, konnte sie ihre Koffer gar nicht schnell genug
packen.
Kaum in Sunnyvale eingetroffen, nahm sich Marilyn vor, ein
Haus zu finden, das der Vorstellung entsprach, die sie vom
idyllischen Leben an der Westküste hatte, und binnen kürzester
Zeit entdeckte sie eins: Ein hübscher Bungalow an einer Straße
mit dem hübschen Namen Susan Way Das ganze erste Jahr
über, in dem die Lovells dort wohnten, machte sich Marilyn
mit aller Kraft daran, das bescheidene Haus in ein wirkliches
Heim zu verwandeln; sie hängte Vorhänge auf und klebte
Tapeten, kaufte die Möbel, soweit sie mit dem Sold ihres
Mannes erschwinglich waren, und überall auf dem winzigen
Grundstück pflanzte sie Lilien und Tulpen, Geranien und
Hyazinthen an, die in der kalifornischen Sonne prächtig
gediehen.
Hier wohnte das Paar mit seiner zweijährigen Tochter
Barbara auch, als Jay, der erste Sohn, zur Welt kam. Als die
Familie 1958 den Versetzungsbefehl bekam, war Marilyn
wieder schwanger. Während sie und Jim packten, beschlossen
sie, das neue Baby, falls es ein Mädchen werden sollte, zu
Ehren der hübschen Straße, die sie nun verließen, Susan zu
nennen.
In Maryland würden sie weit weniger idyllisch wohnen.
Lovell war Lieutenant und angehender Testpilot, als er an die
Ostküste versetzt wurde, und weder der Dienstrang noch die
Aufgabe waren mit vielen Vergünstigungen oder Zulagen
verbunden. Die für die jungen Offiziere und ihre Familien
bestimmten Apartments am Stützpunkt befanden sich in einem
Häuserkomplex, den die Bewohner als Bimssteinblocks
bezeichneten. Wie der Name sagte, handelte es sich um eine
Reihe viereckiger, bunkerartiger Behausungen aus den beim
Militär üblichen Betonplatten, die man in einem
undefinierbaren Grauton gestrichen hatte.
Die Wohnungen selbst waren noch trostloser: Winzig kleine
Fenster, bedrückend niedrige Decken und freiliegende Rohre,
die aus dem Boden ragten, an den Wänden hochführten und in
der darüberliegenden Wohnung verschwanden. Die Navy
stellte für jedes Paar, 85 Quadratmeter Wohnraum zur
Verfügung, ohne Rücksicht darauf, ob man Kinder hatte oder
nicht. Als die Lovells mit ihrem Chevy vor diesen
kastenartigen Bauten anhielten, sank ihre Stimmung auf den
Tiefpunkt.
Lovell warf seiner Frau einen etwas nervösen Blick zu, als sie
im Nieselregen vor ihrem neuen Zuhause standen und ihre
Kisten auf den nassen Gehsteig ausluden. »Nun ja«, sagte er,
»ich muß zugeben, daß es nicht ganz so ist wie in
Kalifornien.«
»Nein«, sagte Marilyn, die gerade zum fünften Mal die
Adresse auf der regennassen Karte überprüfte, die ihr der
Angestellte im Quartiermeisterbüro gegeben hatte. »Ganz
bestimmt nicht.«
»Ich fürchte, hier wirst du nicht allzu viele Blumen ziehen
können«, sagte Lovell.
»Hmm.«
»Meinst du, du hältst es eine Weile hier aus?«
»Ich bin mit einem Marineflieger verheiratet. So was gehört
dazu.«
»Vermutlich ja«, sagte Lovell erleichtert.
»Aber eins sage ich dir«, versetzte Marilyn. »Falls wir je ein
viertes Kind bekommen sollten, wird es bestimmt nicht
Bimssteinblock heißen.«
Bei der Navy war man der Ansicht, daß derart schmucklose
Unterkünfte durchaus ihren Zweck erfüllten. Erstens kannten
sich die Frauen der Testpiloten mit dem Leben beim Militär
aus und wußten, daß man kein großes Gezeter anstimmte, und
zweitens waren die Testpiloten derart mit dem Fliegen
unerprobter Maschinen beschäftigt, daß sie nicht oft genug zu
Hause waren, um ihre Umgebung überhaupt wahrzunehmen.
Die Aufgabe, die Lovell übernahm, konnte einen
gewöhnlichen Piloten kaum reizen. Für einen Flieger mit
einem gewissen Maß an Draufgängertum jedoch war sie ideal.
Aber sie war gefährlich.
Jeden Tag konnte es vorkommen, daß die Testpiloten, die
gerade in ihren Quartieren ein Nickerchen machten oder an
ihren Schreibtischen saßen und Berichte verfaßten, den
unverkennbaren, markerschütternden Knall hörten – oder
besser gesagt: spürten –, wenn wieder einmal ein Flugzeug ein
oder zwei Kilometer weiter weg abgeschmiert war, gefolgt
vom Motorengedröhn der Rettungsfahrzeuge, dem Heulen der
Sirenen und der tiefschwarzen Rauchwolke, die am Horizont
aufstieg.
Oftmals gelang es den Piloten, sich so rechtzeitig aus der
abstürzenden Maschine herauszukatapultieren, daß sie sicher
am Fallschirm landen und den Konstrukteuren mitteilen
konnten, was an dem Fluggerät, das sie ihnen in die Hand
gegeben hatten, nicht stimmte. Genauso oft jedoch gelang es
ihnen nicht, und dann galt es wieder einmal Abschied von
einem ehrgeizigen Piloten zu nehmen, der sich freiwillig für
das gefährliche Fliegerleben in Pax River gemeldet hatte. Zwar
gab es immer wieder ein paar Piloten, die einen derart
riskanten Beruf genossen, ihre Frauen jedoch – mit Sicherheit
aber die Frauen mit einem zwei Jahre alten Sohn, einer vier
Jahre alten Tochter und einem fünf Jahre alten Chevy, den sie
ohne einen Mann im Haus niemals flott bekamen – waren
weitaus weniger begeistert.
Damit die Piloten bei möglichst niedrigem Verschleiß an
Maschinen eine möglichst hohe Überlebenschance hatten,
mußten die Neuankömmlinge in Pax River eine beinharte
sechsmonatige Ausbildung als Testpiloten durchlaufen. Im
Januar 1958, als Jim Lovell und die anderen neuen Piloten
ihren Dienst antraten, erprobte das Militär gerade eine neue
Generation von Kampfflugzeugen, darunter die A2J Vigilante,
die F4H Phantom und die F8U-2N Crusader. Wenn die
angehenden Testpiloten nicht gerade mit ihren
Schulflugzeugen in der Luft waren, um sich die zum Erproben
dieser neuen Jets notwendigen Fertigkeiten anzueignen, saßen
sie im Klassenzimmer und lernten aeronautisches
Spezialwissen, wie die Berechnung von Flugbahnen,
Schockwellen, Steigungsrate und Rollmoment um eine feste
Längsachse. Und wenn der Arbeitstag zu Ende war und die
Flugschüler in ihre winzigen Behausungen zurückkehrten,
erwarteten sie weitere Aufgaben. Denn dann mußten sie für
ihre Ausbilder noch die Berichte über die theoretische
Schulung am Morgen und den praktischen Flugunterricht am
Nachmittag anfertigen.
Lovell, der sich ganz auf diese intensive Ausbildung
konzentrierte, saß jeden Abend ein oder zwei Stunden zu
Hause und lernte. Er hatte sich in der Kleiderkammer neben
dem Schlafzimmer einen provisorischen Arbeitsraum
eingerichtet, aus einer Sperrholzplatte einen
Behelfsschreibtisch gebaut und trug einen mit Watte
ausgestopften Helikopterhelm, damit ihn das Geschrei seiner
zwei kleinen Kinder und des Neugeborenen nicht störte. Diese
freiwillige Klausur sollte sich letzten Endes auszahlen. Als die
sechsmonatige Büffelei überstanden war, hatte Lovell, so
wurde bekanntgegeben, als Klassenbester abgeschlossen und
selbst allgemein bekannte Wunderknaben wie Wally Schirra
und Pete Conrad ausgestochen.
Ein derart guter Klassenabschluß war für einen Piloten in Pax
River von großer Bedeutung. Es gab diverse Einheiten, denen
die neuen Testpiloten zugeteilt werden konnten, und die einen
waren weniger hoch angesehen als die anderen. Wer großes
Glück hatte, wurde in die Flight Test Division aufgenommen,
eine Mannschaft, die sich ein neues Flugzeug zuerst vornahm,
damit aufstieg und feststellte, wie schnell und wendig die
Maschine war. Bei der nächsten Einheit, der Service Test
Division, die weniger die Flugeigenschaften, als vielmehr die
Ausdauer eines Flugzeugs erprobte, flog man die neue
Maschine eher gemächlich, aber dafür über weite Strecken, um
festzustellen, wann sie gewartet und überholt werden mußte.
Eine Stufe tiefer stand die Armaments Test Division, deren
Piloten hauptsächlich mit dem Erproben von Bordwaffen,
Bomben und Raketen eines neuen Flugzeugtyps befaßt waren.
Am wenigsten begehrt, und damit am Ende der Skala, war die
Electronics Test Division; hier kreisten die hervorragend
ausgebildeten Piloten langsam über Militärstützpunkten und
umliegenden Städten und sammelten mit Richtantennen und
Radargeräten Daten.
Alle Piloten in Pax River hatten Angst, sie könnten der
Electronics Test Division zugeteilt (besser gesagt:
zugeschoben) werden – mit Ausnahme des jeweiligen
Klassenbesten. Es stand zwar nirgendwo festgeschrieben, war
aber seit langem üblich, daß der Begabteste sich eine Einheit
aussuchen konnte. In der Abschlußklasse des Jahrgangs 1958
wußte jedoch niemand, daß man in diesem Jahr von der
üblichen Praxis abwich. Der Kommandeur der Electronics Test
Division hatte erklärt, er habe es satt, daß man ihm ständig die
Klassenbesten vorenthalte, und wolle sich auch einmal seine
Piloten aussuchen dürfen. Daraufhin hatte
Stützpunktkommandeur Butch Satterfield ihm versprochen, der
Beste der nächsten Klasse – Jim Lovells Klasse – werde seiner
Einheit zugeteilt.
»Sir?« sagte Lovell an dem Nachmittag, an dem
bekanntgegeben wurde, wer welcher Einheit zugeteilt wurde,
und nahm in Commander Satterfields Büro Haltung an. »Wäre
es möglich, daß man mich einer falschen Einheit zugeteilt
hat?«
»Einer falschen Einheit, Lieutenant?«
»Ja, Sir«, sagte Lovell. »Ich – ich hatte irgendwie
angenommen, ich würde der Flight Test Division zugeteilt
werden.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen?« fragte Sattersfield.
»Nun ja, Sir, ich habe als Klassenbester abgeschlossen…«
»Lieutenant, ist mit der Electronics Test Division etwas nicht
in Ordnung?«
»Nein, Sir«, log Lovell.
»Wußten Sie, daß der Kommandeur von Electronics Test
ausdrücklich den besten Piloten Ihrer Klasse verlangt hat?«
»Nein, Sir, das wußte ich nicht.«
»Nun, so ist es aber. Sie sollten sich also schleunigst dort
hinbegeben. Und vergessen Sie nicht, sich bei ihm zu
bedanken, wenn Sie dort sind.«
»Bei ihm bedanken, Sir?«
»Weil er Sie persönlich angefordert hat.«
Als Lovell seinen geruhsamen Posten als Radartester antrat,
wurden 50 Kilometer weiter flußaufwärts, in Washington,
politische Weichen gestellt, die sein Leben erneut verändern
sollten. Ein halbes Jahr, nachdem die Sowjetunion die Welt
mit dem Start ihrer Sputniks überrascht hatte, überlegte die
Regierung der Vereinigten Staaten noch immer, wie sie diesem
Schlag gegen die Ehre der technologisch führenden Nation
begegnen sollte. Weil er ungehalten wegen des eigenen
Versagens war, aber auch aus Angst vor weiteren Erfolgen der
Sowjets, schaltete sich widerwillig Präsident Eisenhower ein.
Seit dem Ersten Weltkrieg unterhielt die Bundesregierung eine
unbedeutende Behörde namens National Advisory Committee
on Aeronautics oder NACA, deren Aufgabe es war,
hinsichtlich der Technologie von Flugzeugen und Düsenjägern
auf dem laufenden zu bleiben und der Regierung beim
Ausgeben von Forschungs- und Entwicklungsgeldern zu
helfen. Eisenhower wollte nun, daß die NACA künftig auch
für die Entwicklung von Fluggeräten zuständig sein sollte, die
außerhalb der Erdatmosphäre eingesetzt werden konnten.
Daraus entstand schließlich die National Aeronautics and
Space Administration oder NASA.
Die vordringlichste Aufgabe der neu gegründeten NASA war
der Bau eines Raumfahrzeugs, mit dem ein Mensch in die
Erdumlaufbahn geschossen werden konnte. Mit der Leitung
dieses Projektes wurde Dr. Robert Gilruth betraut, ein
Luftfahrtingenieur an der Langley Research Facility in
Virginia. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ein
geeignetes Raumfahrzeug zur Verfügung stand, konzentrierte
sich Gilruth von Anfang an auf die Auswahl der
»Astronauten« – oder Sternenfahrer –, der Männer also, die es
irgendwann fliegen sollten.
Mehrere Wochen lang überlegten Gilruth und seine
Mitarbeiter, welche Voraussetzungen in bezug auf Größe,
Gewicht, Alter und Ausbildung von derartigen Piloten verlangt
werden sollten, und als sie fertig waren, leiteten sie ihre
Vorstellungen an Air Force und Navy weiter. Beim Militär gab
man die entsprechenden Zahlen in die neuen, zimmergroßen
Computer ein, und herauskam eine Liste mit 110 Namen. Noch
am gleichen Tag wurden Telegramme an die ersten
vierunddreißig Männer verschickt, von denen etliche ihren
Militärdienst am Aircraft Test Center in Patuxent River,
Maryland, ableisteten.
Die Männer, die aus dem großen Saal des Dolley Madison
House an der Ecke H Street und East Executive Avenue in
Washington, D. C. strömten, waren mehr oder weniger
verdutzt. Angeblich, so hatte man sie glauben lassen, sollte es
sich um eine Dienstbesprechung handeln, bei der es, so hatten
sie angenommen, um militärische Angelegenheiten ging. Doch
die Konferenz, an der sie eben teilgenommen hatten, war
völlig anders verlaufen als alle Dienstbesprechungen, die sie
bislang erlebt hatten.
Genaugenommen hatte es zahlreiche Hinweise gegeben, daß
die heutige Konferenz mehr als nur ein wenig ungewöhnlich
werden würde. Erstens hatte man die Piloten angewiesen,
keine Uniform zu tragen. Statt dessen war Zivilkleidung,
vorzugsweise Anzug, erwünscht. Und zweitens hatte man sie
gebeten, niemandem etwas von der Einladung zu erzählen –
weder ihren Frauen noch ihren Kameraden, nicht einmal
anderen Männern, die ihrer Ansicht nach ebenfalls daran
teilnehmen würden. Die Einladung, die Jim Lovell erhalten
hatte, war diesbezüglich sehr deutlich gewesen.
»Melden Sie sich beim Personalbüro wegen CNO OP5
Special Projects Matter«, stand darauf. »CNO« war die
Abkürzung für das Oberkommando der Marine, »OP5« hieß
Operations Division 5, die Einheit, der Pax River angehörte;
und »Special Projects Matter« hieß mit anderen Worten: »Stell
keine Fragen, sondern gehe einfach hin, dann wird man dir
schon alles rechtzeitig erklären.«
Nicht minder merkwürdig war der Ort, an dem sich Lovell
laut diesem geheimnisvollen Telegramm melden sollte. Es war
durchaus schon öfter vorgekommen, daß ein Marineoffizier
dienstlich nach Washington zitiert wurde, aber normalerweise
mußte er dann entweder im Pentagon direkt oder in einer der in
der ganzen Stadt verstreuten Dienststellen der Navy
vorsprechen. Lovell hingegen wurde zum Dolley Madison
House bestellt, einem öffentlichen Gebäude, in dem einst die
Gattin des vierten Präsidenten gewohnt hatte und wo seither
eine Dienststelle der Regierung untergebracht war.
Jim Lovell saß an seinem Schreibtisch in der Electronics Test
Division, als das Telex für ihn eintraf. Es war an einem
Mittwoch, und laut Stellungsbefehl sollte er am nächsten
Morgen in Washington sein. Lovell hatte gute Lust, sofort zu
den anderen Männern aus seiner Klasse zu gehen, ihnen die
Vorladung zu zeigen und zu fragen, ob sie ebenfalls eine
bekommen hätten und was sie davon hielten. Doch der junge
Lieutenant nahm die Dienstvorschriften genau, und wenn ihm
das Oberkommando der Marine auftrug, Stillschweigen zu
bewahren, dann gedachte er sich auch daran zu halten.
Außerdem würde er morgen früh ohnehin Bescheid wissen.
Lovell wachte am Donnerstag im ersten Morgengrauen auf
und zog seinen ungewohnten Anzug an. Als er seine
Reisetasche auf den Rücksitz des Wagens stellte, sah er, daß er
nicht der einzige Pilot aus Pax River war, der sich noch vor
Sonnenaufgang davonstahl. Da war Pete Conrad, ebenfalls in
steifem Zivil, der ihm verlegen zunickte, während er zum
Parkplatz ging, und auch Wally Schirra, der wortlos vom
Stützpunkt fuhr und dem Posten am Tor nur kurz zuwinkte.
Die Männer, die an diesem Morgen aufbrachen, hatten
peinlich auf die in dem CNO-Telex verlangte Geheimhaltung
geachtet, doch als sie ein paar Stunden später inmitten dreißig
anderer Piloten von Navy und Air Force im großen Saal des
Dolley Madison House umhergingen, konnten sie jederzeit
über den Grund ihres Hierseins spekulieren. Bislang hatte noch
niemand etwas erfahren. Gerüchteweise hieß es, das
Verteidigungsministerium wolle ein neues Raketenflugzeug
entwickeln, das die alte X-15 ersetzen solle. Andere wagten
immerhin die Vermutung, bei der Konferenz müsse es
irgendwie um Raumfahrt gehen. Lovell tippte ebenfalls darauf,
wenn auch nur insgeheim, denn an derart tollkühnen
Überlegungen wollte er die anderen Männer nicht teilhaben
lassen.
Nachdem die letzten Piloten eingetroffen waren, wurden die
Türen an der Rückseite des Raums geschlossen, und ein Mann
mit kahler Stirn, der wie ein Gelehrter wirkte, besagter Dr.
Robert Gilruth, trat auf das Podium.
»Gentlemen«, sagte er ohne lange Vorrede, sobald er sich
vorgestellt hatte, »wir haben Sie hierhergebeten, weil wir mit
Ihnen über das Projekt Mercury sprechen möchten.«
Eine Stunde lang schilderte Dr. Gilruth den schweigenden
Piloten seinen Plan – das bei weitem ehrgeizigste, aufregendste
und hirnverbrannteste Vorhaben, von dem sie jemals gehört
hatten. Gilruth, das sagte er von vorneherein, hatte vor, binnen
drei Jahren einen Mann – höchstwahrscheinlich einen der
Männer in diesem Raum – in die Erdumlaufbahn zu befördern.
Bei dem für diese Aufgabe vorgesehenen Raumfahrzeug
würde es sich weniger um einen Flugapparat handeln, als
vielmehr um eine Art, nun ja, Kapsel, einen Behälter aus
Titanium mit einem Durchmesser von knapp 1,80 Metern an
der Basis und einer Höhe von insgesamt nur 2,70 Metern. Mit
dieser Kapsel sollte ein auf einer Couch angeschnallter Pilot
auf der Spitze einer Atlas-Trägerrakete, einer ballistischen
Rakete mit einer Schubkraft von über 160 Tonnen, in die
Erdumlaufbahn geschossen werden.
Etwa ein halbes Dutzend Männer wollte man für diese Flüge
auswählen, und jeder sollte die Erde etwas länger umrunden
als sein Vorgänger. Der letzte Mann sollte sogar zwei Tage im
Weltall bleiben. Das gesamte Programm sollte unter ziviler
Verwaltung stehen, so daß die Männer, die sich dafür
meldeten, zwar in Rang und Würden blieben, aber nicht mehr
dem Verteidigungsministerium unterstellt wären. Zuständig für
sie wäre statt dessen eine neue Regierungsbehörde, die
National Aeronautics and Space Administration. Viel weiter,
so sagte Dr. Gilruth, seien die Pläne der NASA bislang noch
nicht gediehen, aber wenn jemand irgendwelche Fragen habe,
wolle er sie gerne beantworten.
Zaghaft blickten die Piloten einander an. Sie wußten nicht, ob
sie amüsiert oder interessiert reagieren sollten. Schließlich
wurde eine Hand gehoben.
Hieße es nicht, daß die Atlas-Rakete, nun ja, häufig auf der
Startrampe explodierte, wollte ein Pilot wissen.
Um ehrlich zu sein, räumte Dr. Gilruth ein, habe es in der
Vergangenheit ein paar Unfälle gegeben, aber die Ingenieure
seien einhellig der Ansicht, daß die Schwierigkeiten behoben
seien.
Sei eigentlich schon ein Prototyp der, äh, Kapsel gebaut
worden, fragte jemand anders.
Gebaut? Nein, gestand Gilruth. Aber ein paar erstklassige
Leute hätten bereits ein paar erstklassige Pläne erstellt.
Wie würde der Pilot die Kapsel während des Fluges steuern,
fragte ein anderer.
Gar nicht, antwortete Gilruth. Der gesamte Flug werde vom
Boden aus gesteuert.
Und wie stelle man sich die Landung vor, wollte ein vierter
Pilot wissen.
Es gebe keine Landung, sagte Gilruth, sondern eine
Wasserung. Die Kapsel würde mit Hilfe kleiner Raketen die
Erdumlaufbahn verlassen und an einem Fallschirm ins Meer
schweben.
Und wenn die kleinen Raketen nicht funktionierten?
Genau deshalb, sagte Gilruth, wolle er Testpiloten.
Am Ende der Fragestunde bat Gilruth die Männer, sich das
soeben Gehörte über Nacht durch den Kopf gehen zu lassen.
Für morgen seien weitere Besprechungen angesetzt, und tags
darauf träfen sie mit Ärzten, Psychologen und anderen am
Projekt Beteiligten zusammen, und dabei würden alle weiteren
Fragen beantwortet werden.
Als Gilruth vom Podium trat, standen die Männer auf,
brachten einander beim Hinausgehen mit Blicken zum
Schweigen und begaben sich zu den Hotels, die für sie in der
Stadt reserviert worden waren. Die Gruppe aus Pax River
mußte zum Marriott Hotel an der Fourteenth Street, und die
meisten Männer konnten es kaum abwarten, bis sie dort waren.
Dieser Gilruth mochte zwar für Freitag und Sonnabend weitere
Besprechungen angesetzt haben, aber im Augenblick wollten
die Piloten ihre eigene Besprechung abhalten, nur für sich
alleine. Nachdem sie im Hotel abgestiegen waren und sich
ihrer Taschen entledigt hatten, begaben sich Lovell, Conrad
und Alan Shepard, ein ehemals in Pax River stationierter Pilot,
auf Schirras Zimmer, schlossen die Tür und legten
vorsichtshalber die Kette vor.
»Nun«, sagte Lovell. »Was denkt ihr, Gentlemen?«
»Tja, um die X-15 geht’s nicht, soviel steht mal fest«, sagte
Conrad.
»Es ist eine gefährliche Aufgabe, soviel steht mal fest«, sagte
Schirra.
»Ich hätte jedenfalls ein besseres Gefühl dabei, wenn sie
etwas anderes als die Atlas verwenden würden«, meinte
Lovell. »Die Wände von dem Ding sollen so dünn sein, daß sie
zusammenbricht, wenn sie nicht unter Druck steht.«
»Je leichter sie ist, desto schneller fliegt sie«, sagte Shepard.
»Und desto eher geht sie in die Luft«, fügte Lovell hinzu.
»Daß ich eventuell meinen Arsch riskiere, macht mir weniger
Sorgen«, sagte Schirra. »Aber ich mache mir Sorgen, ob ich
eventuell meine Karriere riskiere.«
Die Männer im Zimmer sahen aneinander an und nickten.
Schirra hatte genau das ausgesprochen, was sie alle dachten.
Sie waren zwar nicht unbedingt scharf darauf, sich oben an
einer Trägerrakete festschnallen zu lassen und genauso zu
enden wie der unglückselige Satellit, der mitsamt der beim
Start explodierenden Vanguard in Stücke geflogen war, aber
sie hatten auch keine Angst davor. Als Testpilot lief man
ständig Gefahr, daß die nächste Maschine, in die man stieg, die
letzte sein konnte. Für die Piloten kam es vielmehr darauf an,
daß sich ein derart hohes Risiko auch beruflich bezahlt machte.
Wenn sie irgendwie auf Kurs blieben, wenn sie sich und ihre
Testmaschinen wieder heil zu Boden brachten, dann förderte
das, davon gingen sie aus, ihre Aufstiegschancen ganz
erheblich – vom einfachen Flieger zum Staffelführer, dem
achtzehn Maschinen unterstanden, oder zum Kommandeur
eines vier Staffeln umfassenden Geschwaders, vielleicht sogar
zu einer Laufbahn im Pentagon, zu einem eigenen Kommando,
und sei es auch nur über ein kleines Schiff, einen Tanker zum
Beispiel oder einen Truppentransporter, und schließlich zum
Kommandeur eines Flugzeugträgers, vielleicht sogar im
Admiralsrang. Es war ein langer Weg, auf dem einem alles
mögliche in die Quere kommen konnte, aber er war klar
vorgegeben. Die Voraussetzung war, daß man nicht auf ein
Abstellgleis geriet. Brachte man hingegen ein paar Jahre mit
irgendeiner versponnenen, absonderlichen Tätigkeit zu – als
Freiwilliger bei einem halbausgegorenen Raumfahrtprogramm
zum Beispiel –, dann konnte es passieren, daß man nie wieder
die Kurve kriegte.
Wally Schirra jedenfalls hatte zu hart gearbeitet, um das, was
er erreicht hatte, einfach aufs Spiel zu setzen. Und je mehr er
darüber nachdachte – je mehr er sich laut darüber ausließ, ob
den Kerlen drüben im Dolley Madison House wirklich bewußt
sei, was für ein Opfer sie von den Männern im Marriott
verlangten –, desto größer wurden auch die Vorbehalte der
anderen Leute in Schirras Zimmer.
Zumindest am Anfang. Lovell jedenfalls wurde nach einer
Weile nachdenklich. Könnte es nicht sein, daß dieses scheinbar
wahnwitzige Programm die schnellste Aufstiegsmöglichkeit
bot? Wäre es nicht möglich, daß man durch diesen Flug auf
einer Atlas-Rakete den Staffelführer, Geschwaderkommodore
und Schiffskommandeur einfach übersprang und sich direkt in
den Admiralsrang katapultierte? Und könnte es sein, daß
Wally dies, bei aller Kameradschaft, ganz genau wußte?
Versuchte er etwa Zweifel zu provozieren, damit ein paar
seiner Konkurrenten ausstiegen, bevor sie überhaupt
angefangen hatten? Man konnte ja nie wissen. Aber Lovell, der
seit zwanzig Jahren nichts anderes als Raketen im Sinn hatte,
der vor über anderthalb Jahrzehnten selbst eine kleine Atlas
gebaut hatte, dachte nicht daran, sich jetzt wegen ein paar
Sorgen um seine Karriere davon abhalten zu lassen, eine
richtige Rakete zu besteigen. Eine halbe Stunde nach ihrem
Eintreffen im Marriott hatten zwar alle Piloten eingesehen, daß
Projekt Mercury durchaus das Ende ihrer Karriere bei der
Navy bedeuten könnte. Dennoch war jeder entschlossen, alles
Erforderliche zu tun, um mit dabei zu sein.
An der Lovelace Clinic in Albuquerque, New Mexico, fand
eine erste Tauglichkeitsuntersuchung im Rahmen des Projekts
Mercury statt. Zweiunddreißig der insgesamt vierunddreißig
für das Programm ausgewählten Männer hatten sich
entschieden, auf das Angebot einzugehen. Danach wurden die
Freiwilligen in kleinere Einheiten zu sechs oder sieben Mann
unterteilt und jeweils gruppenweise eine Woche lang zur
medizinischen Untersuchung nach Lovelace geschickt. Fünf
der sechs Männer, die mit Lovells Gruppe in Lovelace
eintrafen, standen die sieben harten Tage mit Erfolg durch.
Gleich bei der Ankunft wurde den angehenden Astronauten
klar, daß die NASA eine Tauglichkeitsprüfung mit ihnen
durchführen wollte, wie sie noch nie eine erlebt hatten.
Bereitwillig lieferten sich sechs kerngesunde, topfitte Männer,
die alle unbedingt bei der medizinischen Untersuchung
durchkommen und in das Programm aufgenommen werden
wollten, den Ärzten aus und ließen widerspruchslos alles mit
sich geschehen, was man sich in der Klinik in New Mexico
vorgenommen hatte. Den Ärzten wurde allein bei der
Vorstellung fast schwindlig.
In den nächsten sieben Tagen wurden den Piloten Blutproben
abgenommen und Röntgenaufnahmen ihrer Herzkranzgefäße
gemacht, sie mußten EEGs, EMGs und EKGs über sich
ergehen lassen, man analysierte ihre Magensäure, testete ihr
Atemverhalten unter Streß, unterzog sie Entwässerungs- und
Leberfunktionstests, man setzte sie zum Belastungs-EKG aufs
Fahrrad oder schickte sie aufs Laufband, prüfte ihre visuelle
Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Lungenkapazität, man
untersuchte ihre Zeugungsfähigkeit, ihren Urin und ihre
Verdauung. Die angehenden Astronauten mußten sich
Farbstoff in die Leber spritzen, kaltes Wasser in die Ohren
gießen und unter Strom stehende Nadeln in die Muskulatur
stechen lassen, man pumpte ihnen radioaktives Barium in die
Eingeweide, quetschte ihre Prostata, schob ihnen Sonden in die
Nebenhöhlen, pumpte ihnen den Magen aus und piekte ihnen
in die Venen. Kopf und Brust hingen voller Elektroden, und
bis zu sechsmal pro Tag jagte man ihnen zu diagnostischen
Zwecken ein Klistier in den Darm.
Nach Überstehen dieser alptraumhaften Woche bekam jeder
der sechs Männer eine Karte überreicht, auf der entweder
stand, bislang sei alles in Ordnung, und sie sollten sich zu
weiteren Tests bei der Wright Patterson Air Force Base in
Dayton, Ohio, melden, oder es hieß, sie seien für untauglich
befunden worden und sollten sich bei ihrer alten Dienststelle
melden, die Regierung bedanke sich für ihren Zeitaufwand und
Einsatz. Die ersten sechs Tage waren um keinen Deut weniger
scheußlich, als man den sechs Piloten vorausgesagt hatte, und
am siebten bekamen alle ihre Karten, wonach sie sich bei der
Wright Patterson Base melden sollten – mit einer Ausnahme.
»Sind Sie in letzter Zeit krank gewesen, Lieutenant?« fragte
Dr. A. H. Schwichtenberg, als Jim Lovell mit dem
Marschbefehl nach Maryland in sein Büro trat.
»Nicht daß ich wüßte, Sir. Warum?«
»Wegen Ihrem Bilirubin«, sagte der Arzt, schlug eine vor
ihm liegende Mappe auf und überflog das oberste Blatt. »Es ist
ein bißchen hoch.«
»Ich habe nicht mal gewußt, daß ich Bilirubin habe«, sagte
Lovell.
»Nun, Sie haben aber welches, Lieutenant. Wir alle haben es.
Es handelt sich um ein natürliches Leberpigment, aber Sie
haben ein bißchen zuviel davon.«
»Kann man von so etwas krank werden?« fragte Lovell.
»Eigentlich nicht. Normalerweise bedeutet das, daß Sie krank
waren.«
»Aber das heißt doch auch, daß es mir jetzt wieder gutgeht,
wenn ich krank gewesen wäre.«
»Das stimmt, Lieutenant.«
»Und wenn es mir jetzt wieder gutgeht, gibt es keinen Grund,
weshalb ich nicht bei dem Programm bleiben kann.«
»Lieutenant, da draußen sind fünf Männer, die keine
Bilirubin-Störung haben, und fünfundzwanzig weitere, die
wahrscheinlich auch keine haben, sind schon unterwegs.
Meine Entscheidung muß sich auf irgend etwas stützen. Ich
weiß, daß Sie in der vergangenen Woche viel über sich
ergehen lassen mußten, und wir danken Ihnen für Ihre Mühe.«
»Könnten wir den Lebertest nicht noch mal machen?« hakte
Lovell nach. »Vielleicht ist ein Fehler unterlaufen.«
»Haben wir bereits«, sagte Schwichtenberg. »Und die
Antwort lautet nein. Aber wir bedanken uns trotzdem für Ihre
Mühe.«
»Wissen Sie«, beharrte Lovell, »wenn Sie immer nur die
Vollkommensten nehmen, Sir, kommen am Ende immer die
gleichen Ergebnisse heraus. Haben Sie aber jemanden mit
einer kleinen Anomalie, dann können Sie viel mehr dabei
lernen.«
Schwichtenberg schloß Lovells Akte, schob sie beiseite und
blickte auf. »Wir danken Ihnen«, wiederholte er langsam, »für
Ihre Mühe.«
Am nächsten Tag kehrte Jim Lovell zu den Bimssteinblocks
und der Electronics Test Division in Pax River zurück. Zwei
Wochen später kam auch Pete Conrad zurück. Ein paar
Wochen darauf saßen beide Männer bedrückt vor ihren
Fernsehgeräten, als sich ihr Kamerad Wally Schirra
gemeinsam mit Al Shepard, Deke Slayton, John Glenn, Scott
Carpenter, Gordon Cooper und Gus Grissom im Saal des
Dolley Madison House, wo sich auch Lovell und die anderen
versammelt hatten, einer Schar von Reportern stellten, denen
sie als Amerikas erste Astronauten präsentiert wurden.
Lovell verfolgte die Feierstunde an dem kleinen Fernsehgerät
in seiner engen Wohnung, und am gleichen Apparat sah er im
Laufe der nächsten drei Jahre auch zu, wie diese Männer genau
die Flüge unternahmen, für die man ihn als nicht tauglich
befunden hatte. Da war zunächst Al Shepards
fünfzehnminütiger »suborbitaler« Flug mit einer kleinen
Redstone-Rakete, dann unternahm Gus Grissom mit dem
gleichen Raketentyp einen ähnlichen Flug. Dann war da John
Glenns Flug mit der größeren Atlas-Rakete, bei dem erstmals
ein Amerikaner in die Erdumlaufbahn geschossen wurde, und
später flog auch noch Scott Carpenter mit der Atlas-Rakete.
Zur gleichen Zeit, da die Mercury-Astronauten Geschichte
machten, ging es auch mit Lovells Pilotenkarriere aufwärts,
allerdings in bescheidenerem Rahmen. Die Electronics Test
Division, die sich doch nicht, wie er zunächst befürchtet hatte,
als Abstellgleis erwies, wurde 1961 mit der weitaus
dynamischeren Armament Test Division zusammengelegt und
in Weapons Test Division umbenannt. Da die
Düsenkampfflugzeuge ständig weiterentwickelt wurden,
mußten auch die von ihnen mitgeführten Waffen immer
ausgeklügelter werden, und bald wurde klar, daß ein Pilot, der
seine Bomben und Raketen wirkungsvoll ins Ziel bringen
wollte, eher Techniker und Elektronikexperte sein mußte als
schlichter Bombenschütze. Die erste neu entwickelte Maschine
mit einem vollkommen integrierten Waffen- und
Elektroniksystem war die F4H Phantom, ein Allwetter-
Flugzeug, das speziell für den Nachteinsatz geeignet war.
Lovell, der auf dem Träger »Shangri-La« genau die dafür
erforderlichen Flugkünste gelernt hatte, wurde zum
Programmleiter der Weapons-Test-Gruppe ernannt, die das
neue Flugzeug beurteilen sollte. Diese neue Aufgabe bedeutete
sowohl mehr Prestige als auch häufiges Reisen, hauptsächlich
zum Werk von McDonnel Aircraft in St. Louis, wo die
Maschine gebaut wurde. Und letzten Endes war damit auch ein
Umzug verbunden. Als die Testphase der F4H abgeschlossen
war und der Zeitpunkt kam, da die künftigen Piloten dafür
ausgebildet werden sollten, betraute man Lovell auch mit
dieser Aufgabe. Er zog mit seiner immer größer werden
Familie aus den Bimssteinblocks aus und ließ sich an der
Oceana Naval Air Station in Virginia Beach nieder, wo er als
Fluglehrer bei der Fighter Squadron 101 arbeiten sollte.
Im Sommer 1962 neigte sich das Mercury-Programm dem
Ende zu, und nachdem Deke Slayton die niederschmetternde
Nachricht bekommen hatte, daß er aufgrund einer
Herzrhythmusstörung nicht mehr starten könne, standen nur
mehr die Weltraumflüge von Wally Schirra und Gordon
Cooper aus. Lovell befand sich im Bereitschaftsraum des
Stützpunkts Oceana, trank Kaffee und bereitete sich auf den
Nachmittagsflug vor. Nebenbei griff er zu einem Exemplar
von Aviation Week & Space Technology und blätterte darin
herum. Angesichts des ausklingenden Mercury-Programms
hatte die Zeitschrift zuletzt häufig Artikel über das
bevorstehende Gemini-Programm und die Zweimannkapseln
gebracht, mit denen die dafür auserwählten Männer ins All
fliegen sollten. In dieser Woche gab es nichts Neues über das
Raumfahrzeug, aber am Ende des Nachrichtenteils war ein
anderer kleiner Artikel versteckt, in dem über die jüngste
Presseverlautbarung der NASA berichtet wurde. »NASA will
neue Astronauten aufnehmen«, lautete die Überschrift. Und:
»Kommenden Herbst werden fünf bis zehn zusätzliche
Astronauten für das bemannte Raumfahrtprogramm der NASA
ausgewählt werden«.
Lovell stellte seine Tasse so heftig auf den Tisch mit den
Zeitschriften, daß der Kaffee überschwappte, las die kurze
Mitteilung noch einmal, und noch bevor er damit fertig war,
beschloß er, sich erneut zu bewerben. Ja, er war jetzt älter,
beinahe vierunddreißig. Aber Alter, so dachte er sich, bedeutet
auch Erfahrung. Ja, zehn freie Stellen bei der NASA hieß auch,
daß sich noch mehr Männer melden würden als beim letzten
Mal, aber die Leute bei der Raumfahrtbehörde kannten seinen
Namen bereits. Und ja, da war noch die leidige Sache mit dem
Bilirubin. Aber nun, da man vier Mercury-Flüge erfolgreich
durchgeführt hatte und trotzdem über vier gesunde Piloten
verfügte, nahm Lovell an – zumindest hoffte er es –, daß man
bei der NASA vielleicht weniger Wert auf Musterexemplare
der Gattung Mensch legte, sondern vielmehr die bestmöglichen
Piloten suchte. Durchaus möglich, daß Lovell aufgrund seiner
ersten Ablehnung auch beim zweiten Mal für untauglich
befunden werden würde. Aber er wollte es wenigstens noch
einmal versuchen. Ins Weltall zu fliegen und ein neues
Raumfahrzeug zu erproben, so dachte er sich, war doch ein
ganz anderes Abenteuer, als nach St. Louis zu fliegen und
einen neuen Jet zu testen.

»He, Lovell, Telefon für Sie«, rief jemand in die Schreibstube


der Staffel in Oceana hinein.
Jim Lovell blickte müde von dem Einsatzbericht auf, den er
seit einer halben Stunde studierte, und rief zurück: »Wer ist
denn dran?«
»Ich habe ihn gefragt, aber er wollte es nicht sagen.«
Lovell legte den Bericht hin, drückte auf den blinkenden
Knopf an seinem Telefon und griff zum Hörer.
»Ich suche Jim Lovell«, sagte die Person am anderen Ende.
Die Stimme kam Lovell bekannt vor, aber er konnte sie nicht
zuordnen. Es war der 13. September 1962, über zwei Wochen
nach seiner Rückkehr von der NASA, wo er etliche
Vorstellungsgespräche für das Gemini-Programm geführt
hatte. Während der Zeit bei der Raumfahrtbehörde hatte er
allerhand Leute kennengelernt und allerhand Stimmen gehört.
Wenn er den Anrufer kannte, wußte er nicht genau, woher.
»Am Apparat«, antwortete Lovell.
»Jim, hier ist Deke Slayton.«
Lovell setzte sich aufrecht hin, sagte aber nichts. Die
Tauglichkeitsuntersuchung der NASA hatte an der Brooks Air
Force Base in San Antonio, Texas, stattgefunden, und wie
beim letzten Mal hatte Lovell hauptsächlich mit Ärzten
gesprochen. Im Gegensatz zum letzten Mal allerdings hatte er
die erste Untersuchungsrunde überstanden und war zu weiteren
Gesprächen zur Ellington Air Force Base in Houston geschickt
worden. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Astronaut
ausgeschieden war, hatte man Deke zum Direktor für den
Einsatz der Flugmannschaften ernannt und ihm damit die
Verantwortung für die Arbeit der derzeitigen Astronauten und
die Auswahl aller künftigen übertragen. Lovell hatte in
Houston ein langes Vorstellungsgespräch mit Deke geführt,
und er hatte mit einem Anruf von ihm gerechnet. Aber ob
dieser Anruf gute oder schlechte Nachrichten brachte, das
wußte er nicht.
»Jim, sind Sie dran?« fragte Slayton.
»Äh, ja, Deke, ich bin da.«
»Tja, ich habe gerade wegen des neuen Astronautenteams
herumtelefoniert.«
»Aha«, sagte Lovell, der einen etwas trockenen Hals bekam.
»Und ich habe mich gefragt«, sagte Slayton, »ob Sie
vielleicht Lust hätten, für uns zu arbeiten.«
»Sollte ich denn?« rief Lovell so laut, daß sich die anderen
Männer in der Schreibstube zu ihm umdrehten.
»Genau das frage ich Sie.« Slayton lachte.
»Ja, ja«, stammelte Lovell. »Natürlich.«
»Gut«, sagte Slayton. »Freut mich, Sie an Bord zu haben.«
»Ich freue mich, an Bord zu sein. Können Sie mir sagen, wer
es sonst noch geschafft hat? Hat es Pete diesmal geschafft?«
»Das werden Sie schon noch herausfinden. Wir wollen jetzt,
daß alle neuen Besatzungsmitglieder runter nach Houston
kommen, damit wir sie übermorgen der Presse vorstellen
können. Wir möchten, daß bis dahin alles geheim bleibt, und
deshalb möchte ich, daß Sie morgen hierherfliegen, sich ein
Taxi nehmen und direkt zum Rice Hotel fahren. Haben Sie das
notiert?«
»Rice Hotel«, wiederholte Lovell, während er nach einem
Notizzettel langte und mitkritzelte.
»Und wenn Sie dort sind, sagen Sie, für Sie sei im Namen
von Max Peck reserviert.«
»Nach Max Peck fragen«, sagte Lovell.
»Nein, fragen Sie nicht nach Max Peck. Sagen Sie ihnen, Sie
wären Max Peck.«
»Ich bin Max Peck?«
»Ganz genau.«
»Deke?«
»Hmm?«
»Wer ist Max Peck?«
»Das werden Sie schon noch herausfinden.«
Slayton legte auf. Lovell hielt den Hörer in der Hand, drückte
auf die Gabel und rief aufgeregt Marilyn an.
»Wir ziehen um«, sagte Lovell, als seine Frau sich meldete.
»Wohin?« fragte Marilyn.
»Nach Houston.«
Keine Reaktion. Aber Lovell hätte schwören können, daß
Marilyn hörbar gelächelt hatte. »Komm nach Hause«, sagte
sie. »Du solltest es den Kindern selbst sagen.«

Als Lovell tags darauf am William Hobby Airport in Houston


eintraf, war kein Mensch da, der ihn in Empfang nahm.
Slayton hatte die Sache mit der Geheimhaltung offenbar ernst
gemeint. Als Lovell aus der Maschine stieg, empfing ihn
lediglich ein Schwall heißer, feuchter Luft. Nachdem er durch
die Gepäckausgabe war, tat der viel zu warm angezogene
Yankee, wie ihm geheißen, und rief ein Taxi.
Auf der Fahrt zum Hotel sagte sich Lovell, er müsse
achtgeben, denn wenn er mit seiner Familie hierherziehen
wollte, sollte er schon mal damit anfangen, sich
zurechtzufinden. Als das Taxi auf dem Gulf Freeway
entlangfuhr, bemerkte Lovell eine große Reklametafel auf
einem Gebäude. »Gäste in unserer Stadt wohnen im Rice
Hotel. Ihre Herberge in Houston!« stand auf diesem Schild.
Und darunter, in kleineren Buchstaben: »Max Peck, Manager.«
Verwirrt versuchte Lovell, vom weiterfahrenden Taxi aus
noch einen Blick auf das Schild zu werfen, aber er war zu
langsam. Vor dem Hotel angekommen, bezahlte er den Fahrer,
ging hinein und blickte sich um. Nirgendwo war etwas von
Deke, Conrad oder sonst jemandem zu sehen, der auch nur
entfernt nach NASA aussah. Lovell, der sich mehr als nur ein
bißchen verloren vorkam, ging so lässig, wie er konnte, zur
Rezeption und nickte der Empfangsdame grüßend zu.
»Ich habe ein Einzelzimmer für mich reservieren lassen«,
sagte Lovell. »Mein Name ist Max Peck.«
Die Empfangsdame war ein knapp zwanzigjähriges Mädchen.
»Bitte entschuldigen Sie? Wer sind Sie?«
»Ich bin Mr. Max – ich meine Mr. Peck. Mein Name ist Max
Peck.«
»Äh, das glaube ich nicht«, sagte das Mädchen.
»Nein, wirklich«, sagte Lovell wenig überzeugend.
Auf einmal tauchte hinter der Empfangsdame ein weiterer
Hotelbediensteter auf, ein großer, jovial wirkender Mann mit
einem Namensschild, das ihn als Wes Hooper auswies.
»Ich kümmere mich schon darum, Sheila«, sagte er zu dem
Mädchen und wandte sich dann an Lovell. »Freut mich, daß
Sie da sind, Mr. Peck. Wir haben Sie schon erwartet. Hier ist
Ihr Schlüssel, und sagen Sie uns Bescheid, wenn irgend etwas
nicht in Ordnung sein sollte.«
Lovell, der etwas benommen war, dankte Mr. Hooper und
ging in die Richtung, die man ihm gewiesen hatte. Das hier,
dachte er, war mehr als albern. Geheimhaltung und
Abschirmen vor der Presse mochte ja noch angehen, aber diese
Versteckspielerei war schlichtweg lächerlich. Lovell begab
sich auf sein Zimmer, warf seine Tasche auf das Bett und legte
sich dazu. Im nächsten Augenblick klingelte auch schon das
Telefon.
»Hallo?« sagte er müde, als er abhob. Niemand meldete sich.
»Hallo«, wiederholte er, diesmal schärfer.
»Wer ist da?« fragte eine Stimme am anderen Ende.
»Und wer sind Sie?« erkundigte sich Lovell.
»Hier spricht Max Peck.«
»Wer?« Lovell wurde jetzt laut.
»Max Peck.«
»Sind Sie in dem Hotel beschäftigt?«
»Äh, nein«, antwortete der Mann. »Ich bin ebenfalls Gast.
Und ich glaube, Sie haben mein Zimmer.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Lovell.
»Ich aber«, erwiderte der Mann.
»Hören Sie«, blaffte Lovell, »ich weiß nicht, wie viele Max
Pecks heute hier sind, aber Sie können mir ruhig glauben, daß
ich einer davon bin. Das ist mein Zimmer, die Reservierung ist
unter meinem Namen erfolgt, und ich gedenke, hier zu bleiben.
Wenn Ihnen das nicht paßt, rate ich Ihnen, sich an den
Manager zu wenden. Soweit ich weiß, ist sein Name Max
Peck!«
Lovell legte auf. Vielleicht hatte Slayton einen Grund für
diesen Unsinn, aber er konnte ihn nicht erkennen. Einer Sache
war er sich indessen sicher: Er würde nicht alleine in diesem
Zimmer hocken bleiben und darauf warten, daß jemand kam
und alles klarstellte. Es war kurz nach 18 Uhr, und Lovell
wollte duschen, sich umziehen, nach unten gehen und etwas
essen. Und wenn sein Inkognito auffliegen sollte, weil er sich
zu Speis und Trank in ein Hotelrestaurant setzte, dann flog es
eben auf.
Sobald er im Foyer war, stellte Lovell fest, daß er umsonst
darauf geachtet hatte, möglichst wenig aufzufallen, denn den
anderen Männern, die die NASA hatte hierherkommen lassen,
war es anscheinend völlig gleichgültig. Mitten in der
Hotellounge hatte es sich Pete Conrad bequem gemacht,
rauchte eine Pfeife und genehmigte sich einen Drink. Neben
ihm, ebenfalls mit einem Drink in der Hand und in der anderen
eine riesige, stinkende Zigarre, saß der Navy-Pilot John
Young. Lovell hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht:
Conrad und Young, beides alte Kameraden aus Pax River. Er
kannte die beiden Männer gut, achtete sie beide und wäre mit
jedem von ihnen sofort zum nächstbesten Planeten geflogen,
egal, mit welchem Raumschiff. Eilig ging er durch das Foyer,
so daß Young und Conrad ihn nicht bemerkten, schlich sich an
seine Fliegerkameraden heran und schlug beiden auf die
Schulter.
»Dann ist die Flotte also gelandet«, rief Lovell.
»Jim!« sagte Conrad, drehte sich um und musterte ihn durch
die Qualmwolke, die um seinen Kopf hing.
»Wie habt ihr euch denn in das Programm geschmuggelt?«
fragte Lovell, während er Conrad und Young die Hand
schüttelte.
»Vermutlich durchs gleiche Schlupfloch wie du«, sagte
Conrad.
»Nun, von mir aus können sie das Schlupfloch ruhig
offenlassen«, sagte Lovell. »Scheint mir, als wären wir bislang
eine reine Navy-Gruppe.«
»Nicht ganz«, sagte Young und schaute zu einem Sessel, der
ein paar Meter weiter weg stand. Lovell folgte Youngs Blick
und bemerkte zum erstenmal, daß dort ein weiterer Mann saß,
unverkennbar ein Soldat, der sich ebenfalls einen Drink gönnte
und Zeitung las.
»Ed?« sagte Young zu dem Mann, der sich daraufhin
lächelnd um drehte. »Ich möchte dir Jim Lovell vorstellen.
Jim, das ist Ed White, Air Force.«
Der Mann stand auf, kam einen Schritt auf Lovell zu und
streckte die Hand aus. Lovell betrachtete kurz sein Gesicht.
Irgendwie kam ihm der Mann bekannt vor.
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Lovell und streckte
ebenfalls die Hand aus.
»Genaugenommen«, sagte White, »kennen wir uns bereits.«
Ich wußte es, dachte Lovell, der sich dunkel an etwas zu
erinnern meinte, das Jahre zurücklag.
»Aber nur vom Telefon«, fügte White hinzu.
»Oh?« sagte Lovell.
»Ich bin der Max Peck, der auf Ihrem Zimmer angerufen
hat.«
»Sie waren das? Sind hier heute etwa lauter Max Pecks?«
fragte Lovell. Conrad und Young nickten. »Nun ja, ich kann’s
kaum erwarten, all die anderen kennenzulernen, die heute
eingeflogen werden.«
Keiner der vier Männer wußte, wen die NASA sonst noch im
Rice Hotel unterbringen wollte, aber wenn die
Raumfahrtbehörde die Neuankömmlinge schon nicht in
Empfang nahm, dann wollten zumindest sie es tun. Lovell,
Conrad, Young und White postierten sich in der Lounge,
orderten neue Drinks und verlegten ihre Stellung dann zum
Essen ins Restaurant.
Den ganzen Abend über behielten sie das Foyer im Auge,
und im Laufe der Zeit tauchten fünf weitere Männer auf, die
allesamt ebenso verdattert wirkten wie Lovell, als dieser das
Hotel betreten hatte. Da waren Frank Borman, Jim McDivitt
und Tom Stafford, alle von der Air Force. Da war Elliot See,
ein ziviler Testpilot von General Electric. Und zu guter Letzt
war da auch Neil Armstrong, ein weiterer Zivilist – und ein
Mann, der als Testpilot viel für die NASA gearbeitet hatte. In
Anbetracht seiner Verdienste um die Raumfahrtbehörde hatte
man davon ausgehen können, daß er diesen Schritt
unternehmen würde. Die Neuankömmlinge wurden von den
bereits anwesenden Männern herbeigewinkt, vorgestellt und
aufgefordert, sich zu ihnen zu setzen und einen mitzutrinken.
Als der neunte und letzte Pilot eingetroffen war, setzten sich
sämtliche Männer hin und sahen sich verwundert an. Hunderte
von Testpiloten hatten sich vor ein paar Monaten bei der
NASA beworben, und diese neun hier waren ausgewählt
worden. Jeder einzelne von ihnen, Armstrong und See einmal
ausgenommen, hatte den Großteil seines Berufslebens beim
Militär zugebracht und sich langsam, aber stetig hochgedient,
und jetzt hatte jeder von ihnen kurzerhand – und, so könnte
man sagen, leichtfertig – einen Schlußstrich gezogen. Es war
nicht klar, wenn sie in den Weltraum fliegen würden, wie es
ihnen dort ergehen würde, oder ob sie vielleicht, wie der arme
Deke, überhaupt nicht dazu kämen. Aber eins war ihnen klar,
als sie im gedämpften Licht der ruhigen Hotellounge saßen,
ihre Drinks genossen und vor sich hinrauchten: Wenn ihre
bisherige Karriere tatsächlich vielversprechender gewesen sein
sollte als diejenige, die sie jetzt einzuschlagen gedachten, dann
sah es zumindest im Augenblick nicht danach aus.
8

Dienstag, 14. April 1970, 7:00 Uhr

Genaugenommen wachte Marilyn am vierzehnten nicht auf, da


sie die letzte Nacht gar nicht geschlafen hatte. Für Marilyn
begann der Dienstag morgens um 7 Uhr, als sie nach etwa
einstündigem, unruhigem Schlaf ihr Schlafzimmer verließ. Erst
um 6 Uhr hatten Betty Benware und Elsa Johnson sie vom
Fernseher verjagt, wo sie den Großteil der Nacht zugebracht
hatte, und ins Bett geschickt. Marilyn hatte protestiert und
behauptet, sie sei nicht müde, doch Elsa und Betty hatten sie
daran erinnert, daß ihre Kinder bald aufwachen würden, und
zumindest ihretwegen müsse sie ein kurzes Nickerchen
machen. Marilyn hatte sich widerwillig gefügt und in ihr Bett
gelegt, aber eine Stunde später stand sie wieder auf und kehrte
ins Wohnzimmer zurück.
Die letzte Nacht war mehr als turbulent gewesen. Marilyn
hatte keine Ahnung, wie viele Menschen sich in ihrem Haus
aufgehalten hatten, aber der Anzahl der vollen Aschenbecher
und der überall im Wohnzimmer herumstehenden halbvollen
Kaffeetassen nach zu schließen – von den diversen Menschen,
die nach wie vor im Haus herumliefen oder vor dem Fernseher
saßen und leise miteinander redeten, gar nicht zu sprechen –,
mußten es an die sechzig Leute gewesen sein.
Wegen all diesen Freunden, Nachbarn und
Protokolloffizieren, die ihr Haus bevölkerten, hatte Marilyn
angenommen, daß ihre Kinder am dringendsten Zuwendung
brauchten. Doch die nahmen sie bislang am allerwenigsten in
Anspruch. Jeffrey war zwar zuerst von dem Tumult im
Wohnzimmer aufgeschreckt worden, aber Adeline Hammack
hatte anscheinend seine Neugier gestillt, ohne ihn aufzuregen.
Die Töchter hatten bislang noch keine Erklärung verlangt, und
Marilyn war dankbar dafür. Barbara Lovell hatte offenbar
herausgefunden, in welcher Gefahr ihr Vater schwebte, hatte
aber, dem dunklen Zimmer und der fest umklammerten Bibel
nach zu urteilen, beschlossen, auf ihre Art damit umzugehen
und sich in den Schlaf zu flüchten. Solange sie nicht von sich
aus Ermutigung suchte, zögerte Marilyn, sie deswegen
aufzuwecken. Und sie wollte auch ihre jüngere Tochter Susan
nicht stören, die bemerkenswerterweise während des ganzen
frühmorgendlichen Tohuwabohus fest schlief. Susan würde
noch früh genug von selbst aufwachen und erfahren, was die
Nachbarn, die Presse und der Großteil der Welt bereits wußte.
Marilyn sah keinen Grund, ihre Tochter jetzt um den Schlaf zu
bringen, zumal sie so gut wie sicher wußte, daß sie in den
nächsten Tagen nicht mehr allzu viel finden würde.
Bei dem vierzehnjährigen Jay war es etwas anderes. Marilyn
hatte um drei Uhr morgens in der St. John’s Military Academy
angerufen, eine Aufsichtsperson in Jays Schlafquartier
geweckt, ihm in aller Kürze die Krise erklärt und ihn gebeten,
Jay sofort die Nachricht zu überbringen, bevor ein anderer
Frühaufsteher das Radio anstellte und ihm vorher Bescheid
sagen konnte. Am liebsten hätte Marilyn persönlich mit ihrem
Sohn gesprochen, aber das, so wußte sie, hätte es ihm nur noch
schwerer gemacht. Halbwüchsige Jungen neigen oft zu mehr
Tapferkeit, als gut für sie ist, und bei Kadetten ist dies noch
viel ausgeprägter. Wenn Jay die Nachricht von seiner Mutter
erführe, würde er sich höchstwahrscheinlich dazu verpflichtet
fühlen, mehr Haltung zu bewahren, als gut für ihn war. Besser,
er erfuhr es von anderer Seite und rief dann, wenn er die
Nachricht verdaut hatte, zu Hause an, um sich genauer zu
erkundigen. Der Ausbilder hatte Verständnis dafür gehabt und
Marilyn versichert, er werde sich sofort auf Jays Zimmer
begeben, und seither versuchte Marilyn, ständig erreichbar zu
sein, falls Jay zurückrufen sollte.
Marilyn Lovell ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee
zu holen, obwohl sie eigentlich gar keinen wollte. Sie konnte
spüren, wie das Haus wieder zum Leben erwachte, und auch
auf der Straße tat sich etwas, wie sie mit einem Blick aus dem
Fenster feststellte. Gehsteig, Auffahrt und Rasen waren
plötzlich voller Männer mit Notizblöcken, Mikrophonen und
Fernsehkameras. Etliche Übertragungswagen waren
vorgefahren und parkten überall, wo sie einen Platz hatten
finden können. Etwas ungläubig betrachtete Marilyn das
Schauspiel. Waren das nicht die gleichen Menschen, die
während der letzten zwei Tage so verdächtig wenig Interesse
gezeigt hatten? Diejenigen, die die Übertragung ihres Mannes
am Abend zuvor nicht ausgestrahlt hatten, die die Nachricht
von seinem bevorstehenden Start auf der Seite mit dem
Wetterbericht versteckten?
Im Arbeitszimmer klingelte der Apparat, über den man vom
Haus aus in ständigem Kontakt mit dem Space Center stand,
und Marilyn konnte hören, wie ein Protokolloffizier abnahm
und sich meldete. Es folgte ein leises Gespräch, dann kam der
Mann, an den sie sich vom letzten Abend nicht mehr erinnern
konnte, zu ihr in die Küche.
»Mrs. Lovell«, sagte er unsicher, »das war das Büro für
Öffentlichkeitsarbeit. Die Fernsehstationen haben sich dorthin
gewandt und wollten wissen, ob Sie damit einverstanden sind,
wenn sie für die geplante Berichterstattung einen Sendemast in
Ihrem Garten aufstellen.«
»Einen Sendemast? Auf meinem Rasen?«
»Äh, ja. Sie warten am Telefon, und ich muß wissen, was ich
ihnen mitteilen soll.«
Marilyn dachte einen Augenblick nach. »Gar nichts«, sagte
sie.
»Mrs. Lovell, ich muß denen irgend etwas mitteilen.«
»Nein, Sie müssen denen gar nichts mitteilen, aber ich habe
ihnen eine Menge zu sagen.«
Marilyn ging mit dem Protokolloffizier ins Arbeitszimmer
und griff zum Hörer. »Hier spricht Marilyn Lovell. Ich habe
erfahren, daß die Fernsehleute eine Art Sendemast in meinem
Vorgarten aufstellen wollen. Stimmt das?«
»Nun, ja«, sagte der Anrufer aus dem Büro für
Öffentlichkeitsarbeit. »Geht das O.K.?«
»Hätten die ihren Mast nicht gestern oder vorgestern
aufstellen können, wenn sie gewollt hätten?«
»Nun, ja«, antwortete der Anrufer. »Aber da war alles noch
ganz anders.«
»Wie das?«
»Nun, der Flug verlief einwandfrei. Jetzt ist es… Sie wissen
schon… von größerem Nachrichtenwert.«
»Wenn eine Mondlandung nicht genug Nachrichtenwert hat«,
sagte Marilyn, »dann weiß ich nicht, wieso das bei einer
mißglückten Mondlandung anders sein sollte. Sagen Sie den
Fernsehleuten, daß mir bis zum Ende dieses Fluges keinerlei
Geräte auf mein Grundstück kommen. Und falls das jemandem
nicht passen sollte, dann sagen Sie ihm, er kann das mit
meinem Mann klären. Ich erwarte ihn am Freitag wieder
zurück.«
Beim Büro für Öffentlichkeitsarbeit waren Reporter
entschieden willkommener, aber bislang hatte nur ein kleiner
Teil der Presse die Einladung angenommen.
Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit verfügte über zwei
Gebäude. Auf der einen Seite des mit Kies bestreuten Hofes
befand sich ein großes Verwaltungsgebäude mit Büros für die
Angestellten, Lager- und Bibliotheksräumen für die Tausende
von Dokumenten und Millionen Meter Film, aus denen das
Archiv der NASA bestand. Auf der anderen Seite des Hofes
stand ein längeres, niedrigeres Gebäude mit einem mehrere
hundert Sitze umfassenden Auditorium, in dem die NASA ihre
Pressekonferenzen abhielt.
Während der monatelangen Pause zwischen den Flügen,
wenn das Auditorium weitgehend ungenutzt blieb, wurde
dieses Gebäude in eine Anlaufstelle für Besucher
umgewandelt, in der man alte Mercury- und Gemini-Kapseln,
aber auch Vitrinen voller Uniformen, Helme und anderen
Gegenständen besichtigen konnte. Stand wieder einmal ein
Flug an, dann wurden die Ausstellungsstücke weggeräumt und
statt dessen Arbeitstische und tragbare Schreibmaschinen für
die Reporter aufgestellt, die über die Mission berichten
wollten. Während des Fluges von Apollo 11 im Juli 1969
stritten sich 693 akkreditierte Reporter um die begrenzten
Arbeitsplätze, die ihnen die NASA zur Verfügung stellen
konnte.
Anläßlich von Apollo 13 hatten sich nur 250 Journalisten
eingefunden, und es gab noch etliche freie Arbeitsplätze.
Im Laufe der letzten zehn Stunden jedoch hatte sich dies
geändert. Seit den ersten Berichten von dem Zwischenfall
hatten sich Dutzende von Fernseh-, Radio- und
Zeitungsreportern, die ihre Artikel aus dem von
Presseagenturen übermittelten Material zusammengeschustert
hatten, am Space Center eingefunden, wollten eingelassen und
akkreditiert werden und verlangten Zugang zu allen für sie
interessanten Informationen.
Brian Duff, der sich in der Mission Control befand, ein paar
hundert Meter vom Auditoriumsgebäude entfernt, war sich des
rapide gestiegenen Medieninteresses bewußt, und er war froh
darüber. Duff war der Direktor für Öffentlichkeitsarbeit am
Space Center, und in den zehn Monaten, die er den Posten nun
innehatte, hatte er seine Abteilung nach einer einzigen, alles
einschließenden Regel geleitet: Wenn die Sache gut läuft, dann
erzählt den Medien alles, was sie wissen wollen; wenn die
Sache schlecht läuft, dann erzählt ihnen noch mehr. An diesem
Morgen versuchte Duff nach besten Kräften, sich an den
zweiten Teil der Regel zu halten.
Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit hatte, ebenso wie die
neuerdings zugelassenen Reporter oben auf der VIP-Galerie,
eine eigene Konsole, von der aus sie den Flug verfolgen
konnten. Mit der Konsole des Public Affairs Officer oder PAO
– des NASA-Sprechers also –, konnte jedoch weit mehr
gemacht werden, als lediglich Daten abzurufen und sich in
Gespräche einzuklinken.
Den ganzen Flug über wurde sämtlicher Funksprechverkehr
mit der Kapsel vom jeweils diensttuenden PA-Offizier
mitverfolgt, der laufend die Gespräche kommentierte, während
er mit gedämpfter Stimme, wie ein Sportreporter, der von
einem Golfmatch berichtet, das technische Fachchinesisch
übersetzte. Dieser Sprechverkehr zwischen CAPCOM und
Astronauten, überlagert vom Kommentar des NASA-
Sprechers, sollte an die Sender weitergeleitet und im ganzen
Land ausgestrahlt werden. Die PAO-Männer hatten diese
Aufgabe lange vor Duff versehen – seit 1961, um genau zu
sein, als sie sich erstmals mit »Hier ist die Mercury-Control«
meldeten, gefolgt von der Gemini-Control und der Apollo-
Control. Heute war die beruhigende Stimme des NASA-
Sprechers wichtiger denn je, und Duff stand persönlich hinter
der Konsole bereit, damit garantiert nichts schiefging.
»Hier ist die Apollo-Control bei 67 Stunden, 23 Minuten«,
sagte Terry White, der diensthabende Offizier an diesem
Morgen. »Flugdirektor Glynn Lunney ist noch immer in der
Mission Control, und wir haben zu diesem Zeitpunkt keine
genaue Vorstellung, wann er Gelegenheit zu einem
Lagebericht findet. Bislang neigen wir noch immer zu einer
PC+2-Zündung bei 79 Stunden und 27 Minuten seit Beginn
des Fluges, etwa gegen 20 Uhr 40 heute abend. Wir haben jetzt
noch etwa 9 Stunden bis zum Abreißen des Signals, wenn das
Raumfahrzeug hinter dem Mond verschwindet, aber im
Augenblick ist Apollo 13 stabil. Wir werden Sie weiter auf
dem laufenden halten, sowie sich die Situation verändert und
sobald Flugdirektor Lunney abkömmlich ist.«
Terry White schaltete sich aus, und man hörte wieder nur
noch die Gespräche zwischen Kapsel und Bodenstation.
»Aquarius, hier Houston«, konnte man Jack Lousma hören.
»Die letzten Kursdaten zeigen, daß euer Pericynthion irgendwo
um die 136 Seemeilen liegen wird, das heißt, daß eure
Flugbahn immer noch gut ist. Over.«
Lousmas Durchsage war klar und deutlich, ganz anders
hingegen die Stimme aus Apollo 13.
Man konnte die Worte vor lauter Knacken und Knistern im
Äther kaum verstehen, ja man konnte nicht einmal erkennen,
ob Jim Lovell oder einer seiner Kameraden sprach.
»Hallo, Houston, hier Aquarius«, sagte die Stimme aus der
Kapsel. »Bitte wiederholen.«
»Wir sagen, ihr liegt auf 136 Seemeilen.«
»Jack, wir empfangen eine Menge Störgeräusche«, meldete
sich die Stimme aus der ›Aquarius‹. »Könnt ihr uns
verstehen?«
»Jim, ihr seid trotz Störgeräuschen verständlich, aber gerade
noch so«, antwortete Lousma. »INCO checkt nach, was wir da
tun können.«
»Roger«, meldete sich wieder die Stimme aus der Kapsel,
offenbar also doch Lovell. »Wir bleiben dran.«
Etliche Sekunden lang knisterte es im Boden-Bord-Funk,
dann ertönte wieder Lousmas Stimme. »Aquarius, hier
Houston«, rief der CAPCOM. »Ist es jetzt besser?«
»Hier Aquarius«, meldete sich Lovell über dem Rauschen.
»Negativ.«
Eine ganze Weile hörte man nichts als dieses Rauschen,
während sich der INCO mit seinem Unterstützungsteam
besprach. Diese Störung, woran immer sie auch liegen mochte,
war zwar lästig, aber keineswegs lebensbedrohend. Duff, der
nach wie vor an der PAO-Konsole stand, wurde langsam
nervös. Der Großteil der Zuschauer im ganzen Land schaltete
jetzt zum erstenmal, seit sie von dem Zwischenfall gehört
hatten, den Fernseher ein, und eine gestörte Funkverbindung
mit dem angeschlagenen, unter Energieknappheit leidenden
Schiff war sehr beunruhigend. Er hörte sich das Rauschen etwa
eine Minute lang an, dann stupste er White an.
»Einspringen«, befahl er ihm. »Reden Sie. Wiederholen Sie
sich, wenn es sein muß. Aber verfallen Sie nicht in Schweigen.
Schweigen klingt so, als wäre bereits alles zu Ende.«
»Äh, hier ist die Apollo-Control«, sagte White. »Wir rechnen
damit, daß die Funkverbindung wieder besser wird, nachdem
die dritte Stufe der Saturn 5 auf dem Mond aufgeschlagen ist.
Die Funkfrequenz, auf der die dritte Stufe sendet, stört unsere
Verbindung etwas, aber nach dem Aufschlag, noch im Laufe
des heutigen Tages, sollte das aufhören.«
Duff lächelte zumindest vorübergehend erleichtert. Es kam
gar nicht darauf an, mit welcher Erklärung White aufwartete,
solange er nur irgendeine zu bieten hatte. Das war zwar nicht
viel, aber wenigstens hätten die Leute draußen im Land und,
was noch wichtiger war, die Presse, nicht das Gefühl, man
ließe sie im unklaren. Aus einer im unklaren gelassenen Presse
konnte leicht eine ungnädige Presse werden, und eine
ungnädige Presse konnte im Handumdrehen über einen
herfallen. Heute, das wußte Duff ganz genau, brauchte er das
Wohlwollen der Presse mehr als jemals zuvor.
Im Cockpit der weit entfernt dahintreibenden »Aquarius«
machte sich Jim Lovell mindestens ebenso viele Sorgen wie
Brian Duff um die gestörte Funksprechverbindung, aber aus
anderen Gründen. Terry White hatte nur einen Teil der
Geschichte erzählt. Es stimmte zwar, daß die ausgebrannte
dritte Stufe der Saturn-5-Rakete, die auf den Mond zusteuerte,
wo ihr Aufschlag von einem Seismographen gemessen werden
sollte, den Apollo 12 dort hinterlassen hatte, den Funkverkehr
mit der »Aquarius« störte. Die Raketenstufe – von der NASA
S-4B genannt – und das LEM sendeten tatsächlich auf der
gleichen Frequenz, aber da man nicht davon ausgegangen war,
daß die Mondfähre abgekoppelt und gezündet werden würde,
bevor die Trägerrakete auf dem Mond einschlug, hatte man
derartige Überlagerungen für unproblematisch gehalten.
Verschlimmert wurde das Ganze dadurch, daß die
Ersatzkommunikationssysteme, die durch eine derartige
Störung normalerweise nicht beeinträchtigt wurden, nicht so
funktionierten, wie sie sollten. Sobald das Abstiegs-
Antriebssystem nach der Brennphase zum Einschuß in die
Freiflugbahn abgestellt worden war, hatte die NASA der Crew
befohlen, einen Teil der weniger wichtigen Geräte
abzuschalten, um Energie für die später angesetzte PC+2-
Zündung zu sparen. Unter diesen Geräten befand sich auch der
Großteil der Sendeantennen sowie die sekundären
Kommunikationssysteme, und mit jedem weiteren umgelegten
Schalter wurde die Verbindung zwischen Kapsel und
Bodenstation undeutlicher. Als alle Schalter gekippt waren,
stand Lovell jeweils nur eine einzige Antenne zur Verfügung,
so daß er immer erst die richtige finden und dann das
Raumfahrzeug so beiholen mußte, daß das Signal auf der Erde
deutlich ankam.
»Houston, hier Aquarius«, schrie Lovell kurz nach Whites
letzter Live-Übertragung über das Rauschen in seinem
Kopfhörer hinweg. »Die Kommunikation ist im Augenblick
sehr, sehr gestört. Versteht ihr das?«
»Aquarius, hier Houston«, schrie Lousma zurück. »Haben
empfangen. Bei uns ist sie auch gestört. Bleibt dran, während
wir drüber nachdenken.«
»Houston, hier Aquarius«, schrie Lovell erneut, während er
kurz die Steuerdüsen betätigte und das Schiff ein paar Grad
nach Backbord dirigierte. »Ich kann euch nicht verstehen.«
»Jim, hier Houston«, schrie Lousma zurück. »Wir können
euch auch kaum verstehen. Bleibt dran.«
Lovell rückte seinen Kopfhörer zurecht und schloß die
Augen. »Hat einer von euch mitbekommen, was er gerade
gesagt hat?« fragte er und wandte sich ratsuchend an Haise.
»Kaum«, sagte Haise. »Ich glaube, er hat gesagt, daß er dich
nicht hören kann.«
»Tja, verflucht«, sagte Lovell. »So was ähnliches habe ich
mir fast gedacht.«
»Aquarius, hier Houston«, schallte Lousmas knackende
Stimme plötzlich aus den Kopfhörern der Besatzung, so daß
alle drei zusammenfuhren.
»Schieß los, Houston«, sagte Lovell.
»Im Augenblick klingt es, als wäre die Verbindung zu uns
etwas besser. Wie versteht ihr uns?«
»Hier ist immer noch eine starke Störung drauf.«
»O.K. wir haben ein paar Vorschläge«, sagte Lousma. »Wir
raten euch, den Trennschalter für die Endstufe auf Tafel
sechzehn zu drücken. Over.«
Lovell nickte Haise zu, der auf den entsprechenden Knopf
drückte. In seinem Kopfhörer war keinerlei Veränderung
festzustellen.
»Houston, hier Aquarius«, meldete er sich bei der
Bodenstation. »Wir haben immer noch Störgeräusche.«
»In Ordnung«, sagte Lousma. »Wir wollen versuchen, ob wir
durch ein Unterbrechen und Wiedereinschalten
Kommunikation und Telemetrie verbessern können. Wir
werden also ein paar Minuten lang keinen Kontakt haben, und
es könnte sein, daß es in euren Kopfhörern ein bißchen laut
wird.«
»Lauter als jetzt kann es gar nicht werden«, erwiderte Lovell.
Lousma schaltete sich aus, und statt des anhaltenden
Rauschens ertönte ein lautes, stetes Summen. Lovell schob den
Kopfhörer ein, zwei Zentimeter weiter nach vorne, damit ihm
das Gebrumme nicht direkt ins Ohr dröhnte. Durch die
Unterbrechung kam der Kommandant ein paar Sekunden zum
Nachdenken, und zuallererst dachte er an Schlaf. Die Sonne,
die in Houston gerade aufging, schien alles andere als
gleichmäßig auf die aneinandergekoppelten Teile von Apollo
13. Da das Abstiegs-Antriebssystem des LEM erdwärts
gewandt war, fiel die Sonne durch das Fenster auf der Seite des
Kommandanten und tauchte die Besatzung in helles Licht.
Aber wenn sich die Lage des Raumfahrzeuges nur um ein paar
Grad änderte, herrschte wieder tiefe Dunkelheit.
Diese jähen Übergänge von Tag und Nacht störten Lovell
normalerweise nicht. Durch die passive Temperaturregelung,
die dafür sorgte, daß keine Seite des Schiffes zu lange der
direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt wurde, wechselten auf
dem Flug zum Mond Licht und Dunkelheit im Raumfahrzeug
fortwährend. Nach etwa einem Tag hatten sich die Astronauten
daran gewöhnt und hielten ihre planmäßigen Schlaf- und
Wach-, Arbeits- und Ruhezeiten ein, als ginge die Sonne hier
im Weltall genauso auf und unter wie zu Hause in Houston.
Solange sich die Besatzung an diese Zeiteinteilung hielt, so
hatten die Mediziner der NASA herausgefunden, würde ihr
Biorhythmus weitestgehend unbeeinträchtigt bleiben.
Bis Dienstag morgen um sieben Uhr war dieser Rhythmus
jedoch völlig durcheinandergeraten. Anhand des
ursprünglichen Flugplanes hätte die Schlafphase der Besatzung
am Vorabend um zehn Uhr beginnen und bis vor etwa einer
Stunde andauern sollen. Aber selbst bei einem routinemäßig
verlaufenden Flug erwartete niemand, daß die Crew volle acht
Stunden durchschlief. Mangels körperlicher Anstrengung
durch die Schwerelosigkeit und aufgrund des stetigen
Adrenalinausstoßes während eines Fluges zum Mond
rechneten die Ärzte allenfalls mit einer Schlafzeit von fünf bis
sechs Stunden. Diese fünf bis sechs Stunden jedoch waren
selbst bei einem planmäßig verlaufenden Flug absolut
notwendig, wenn die Besatzung ihre alltäglichen Aufgaben
ohne schwerwiegende Fehler erledigen sollte. Bei einem alles
andere als planmäßig verlaufenden Flug brauchte die Crew
hingegen mehr Ruhezeit.
Als die Brennphase zum Einschuß in die Freiflugbahn
beendet war, hatten die Ärzte den Zeitplan für die Arbeits- und
Schlafstunden gründlich überarbeitet, und die Besatzung sollte
sich ab sofort daran halten. Haise, so wurde entschieden, sollte
zuerst schlafen und sich zu diesem Zweck etwa ab der 63.
Flugstunde, gegen 4 Uhr morgens, bis zur 69. Flugstunde,
gegen 10 Uhr morgens, in die Kommandokapsel zurückziehen.
In der »Odyssey« gab es nicht einmal genug Sauerstoff, um
einen Schlafenden zu versorgen, aber bei offener
Verbindungsluke zwischen den beiden Schiffen sollte
genügend Atemluft aus der Mondfähre einströmen. Während
Haise schlief, sollten Swigert und Lovell Wache halten und
derweil die Ersatzkommunikationssysteme und alle anderen
Geräte abschalten, die man bei der NASA außer Betrieb haben
wollte. Sobald Haise aufwachte, sollte er frühstücken, mit
seinen Kollegen etwaige Probleme besprechen, die sich
während seiner Schlafphase ergeben hatten, und dann das
Ruder alleine übernehmen, während sich Lovell und Swigert
von Flugstunde 70 bis Flugstunde 76 in die Kommandokapsel
zurückzogen. Bis 17 Uhr würde die ganze Besatzung wieder
im Dienst sein, so daß sie in aller Ruhe die PC+2-Zündung um
20:40 Uhr vorbereiten konnte.
Kaum hatte Lousma die Anweisungen der NASA-Ärzte
durchgefunkt, als den Betroffenen klarwurde, daß es nicht
leicht werden würde, die von den Medizinern vorgegebenen
Wach- und Schlafzeiten einzuhalten. Haise war wie vom
Donner gerührt, als er durch den Tunnel in die »Odyssey«
schwebte. Als die Besatzung das stillgelegte Mutterschiff
verlassen hatte, lag die Temperatur bereits bei unangenehmen
14 Grad Celsius, aber in den seither verstrichenen Stunden war
sie noch weiter gefallen.
Die zweiteiligen Fliegerkombinationen aus Beta-Stoff waren
nicht zum Warmhalten geeignet, da in der Kommandokapsel
ständig 22 Grad Celsius herrschen sollten, und Haise schlang
augenblicklich die Arme um den Leib und schwebte in
Richtung seiner Couch, um in den Schlafsack zu kriechen. Die
dünnen Stoffhüllen, die die Astronauten während der
Schlafphasen benutzten, dienten jedoch lediglich zur
Sicherung, damit während der Nachtruhe niemand aus
Versehen mit einem schwerelosen Arm oder Bein an einen
Schalter geriet. Haise zog seinen Schlafsack heraus, schlüpfte
hinein und drückte sich so dicht wie möglich an seine Couch.
Aber trotz der zusätzlichen Stoff schichten lag er hellwach und
bibbernd da, während sein Körper gegen die kalte Metallwand
des Raumfahrzeugs gepreßt wurde.
Ebenso störend wie die sinkende Temperatur in der
»Odyssey« waren die Geräusche. Durch die offene Luke
zwischen den beiden Schiffen drang nicht nur Atemluft in die
Kommandokapsel, sondern auch Lärm. Selbst wenn das
rasselnde Kühlsystem und die grollenden Steuerdüsen des
LEM einen Mann nicht am Schlaf hindern konnten, dann
schafften es die lautstarken Unterhaltungen von Lovell und
Swigert, die nach wie vor versuchten, sich trotz des Rauschens
im Boden-Bord-Funk verständlich zu machen. Haise, der im
Astronautenkorps berühmt dafür war, daß er so gut wie überall
und unter beinahe allen Bedingungen schlafen konnte,
bemühte sich nach Kräften, nicht auf den Lärm von nebenan
zu achten, aber um vier Uhr morgens – weniger als zwei
Stunden nach Beginn seiner sechsstündigen Schlafphase – gab
er es schließlich auf, kroch aus seinem Schlafsack und
schwebte durch den Tunnel in das LEM zurück.
»Ist das alles?« fragte Lovell und sah auf seine Uhr, als Haise
sich durch die Oberseite des LEM kopfüber zwischen ihn und
Swigert treiben ließ.
»Da oben ist es zu kalt«, murmelte Haise, ergriff einen der
Essensbeutel, die Swigert einige Stunden zuvor
herübergeschafft hatte, und riß ihn auf. »Zu kalt und zu laut.
Ihr könnt es ja probieren, aber ich an eurer Stelle würde nicht
damit rechnen, daß es besonders ruhig ist.«
Jetzt, um 7 Uhr morgens, als die Funkverbindung aufgrund
des vorübergehenden Abschaltens unterbrochen war, schloß
Lovell die Augen und spürte sofort, wie die Erschöpfung ihn
übermannte. Am Boden, so wußte er, würde jetzt Gerald
Griffins Team, das die Nacht über zumindest einige Stunden
geschlafen hatte, Glynn Lunneys Team, das nach der langen
Nachtschicht abgespannt war, an den Konsolen ablösen. Selbst
Jack Lousma, der gestern nachmittag angetreten war und eine
Doppelschicht gearbeitet hatte, würde die Konsole des
CAPCOM an Astronaut Joe Kerwin übergeben.
Lovell war froh, daß ein neues Team antrat. Aber so frisch
Griffins Männer an diesem Morgen auch sein mochten, sie
mußten mit drei Astronauten zusammenarbeiten, die
schläfriger und zweifellos gereizter waren als jede Crew, mit
der sie es bislang zu tun gehabt hatten. Lovell wollte sein
Bestes versuchen, damit alles weiterhin so ruhig ablief wie
möglich, aber dazu müßte man am Boden ein paar
Zugeständnisse machen.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich knackend und
knisternd Lousmas Stimme in seinem Kopfhörer. »Wie
empfangt ihr uns jetzt?«
Lovell fuhr bei dem Geräusch zusammen und schlug die
Augen auf. »Wir empfangen euch nach wie vor mit starkem
Rauschen«, sagte er müde. »Die Störgeräusche scheinen darauf
hinzudeuten – «
»Ich habe das Letzte nicht verstanden, Jim.«
»Ich – sagte – wir – haben – nach – wie – vor – Stör – ge –
räusche«, erwiderte Lovell laut und langsam.
»Wir ebenfalls.«
»Wollt ihr, daß wir in dieser Ausrichtung bleiben?« fragte
Lovell.
»Bleibt noch ein, zwei Minuten so, Jim«, antwortete Lousma.
»Bis dahin werden wir es beurteilt haben.«
In diesem Moment hatte Lovell, der davon am allermeisten
überrascht wurde, auf einmal genug von dem Rauschen, der
Kälte und den vagen Ratschlägen des CAPCOM.
»Ich will euch mal sagen, was ihr dringend für uns tun
solltet«, blaffte Lovell. »Ihr solltet dringend versuchen, das
hier zu bereinigen. Seht zu, ob ihr uns nicht die richtigen
Anleitungen durchgeben könnt, die ganze Chose, bevor wir
alle meschugge werden.«
Es war kein schlimmer Ausbruch, aber über Funk, wo man
normalerweise nüchtern und emotionslos miteinander sprach,
klang es aufbrausender, als man dies in Houston je erlebt hatte.
Lovell blickte zu seinen Kollegen, die ihm verständnisvoll
zunickten. Lousma schaute zu den Männern neben seiner
Konsole, die genauso darauf reagierten. Sowohl er als auch
Lovell wußten, daß der CAPCOM die ganze Zeit nichts
anderes versucht hatte, als die richtigen Anweisungen
durchzugeben. Und sowohl er als auch Lovell wußten, daß ihm
der Kommandant dafür verbunden war. Lovell mußte lediglich
Dampf ablassen, wozu er nach den letzten zehn Stunden auch
allen Grund hatte. Und es war höchste Zeit, daß er es tat.
Lousma blickte nach hinten zu Kerwin, der darauf wartete,
ihn abzulösen. Jetzt, so beschloß er, war der Zeitpunkt
gekommen, da er den Platz am Mikrophon räumen sollte. Er
zuckte die Achseln, stand auf, nahm seinen Kopfhörer ab und
zog für Kerwin seinen Stuhl zurück. Kerwin stöpselte seinen
Kopfhörer ein, setzte sich hin und ging so leutselig wie
möglich auf Sendung.
»Jim«, meldete er sich, »wie ist jetzt die Verbindung?«
»Nun ja«, grummelte Lovell, als er anhand der Stimme
merkte, daß ein Personalwechsel stattgefunden hatte, und
mäßigte sich mit seiner Antwort. »Wir haben noch immer eine
Menge Hintergrundgeräusche.«
»O.K. wir kümmern uns weiter darum«, versprach Kerwin,
»aber eure Verbindung zu uns ist jetzt ausgezeichnet.«
»Roger«, sagte Lovell ausdruckslos und schloß wieder die
Augen.
Der Kommandant ging nicht auf Kerwins kleine
Aufmunterung ein. Wenn die Funkverbindung derzeit klar sein
sollte, dann war das in Ordnung. Höchstwahrscheinlich
handelte es sich auch in diesem Fall nur um eine
vorübergehende Abhilfe, wie bei allen Maßnahmen, die den
Männern am Boden bislang eingefallen waren. Binnen kurzem,
so dachte Lovell, würde die Verbindung wieder
zusammenbrechen, und wer wußte, was für weitere Systeme
noch.
Er schlug die Augen auf und blickte aus dem Fenster auf den
grauweißen, gipsartig aussehenden Mond, der jetzt knapp
65000 Kilometer entfernt war und fast das ganze dreieckige
Guckloch ausfüllte. Laut Flugplan sollten Fred Haise und er
heute mit dem Landefahrzeug auf dem riesigen
Himmelskörper aufsetzen. Das war jetzt natürlich nicht
möglich – und zumindest Lovell würde wahrscheinlich auch
nie mehr dazu kommen. Er war schon zweimal hierher
geflogen und wußte, daß die Aussichten auf ein weiteres Mal
nur gering waren. Falls er, Swigert und Haise nicht wieder
zurückkamen, war sogar fraglich, ob jemals wieder jemand
hierher reisen würde.
»Freddo«, sagte Lovell an Haise gewandt, »ich fürchte, das
wird für lange Zeit der letzte Flug zum Mond sein.«
Da die Mikrophone in der »Aquarius« auf Vox geschaltet
waren, konnte man die düstere Feststellung des
Kommandanten 320 000 Kilometer entfernt, in der Mission
Control, klar und deutlich verstehen. Und von dort wurden sie
in alle Welt ausgestrahlt.

Glynn Lunney, noch immer als diensttuender Flugdirektor im


Einsatz, hörte kaum hin, als Jim Lovell seine Feststellung über
die künftige Erkundung des Mondes äußerte. Es kam selten
vor, daß der Mann, der den Einsatz leitete, nicht zumindest mit
halbem Ohr die Gespräche zwischen CAPCOM und den
Astronauten verfolgte. Aber wegen der gestörten Verbindung
zum Raumfahrzeug und der zahlreichen Gespräche auf seinem
Anschluß hatte Lunney darauf vertrauen müssen, daß Kerwin
den Funksprechverkehr mit dem LEM alleine handhabte. Die
meisten anderen Controller hatten mehr Zeit, die Gespräche
auf Kerwins Leitung mitzuhören, so auch Terry White, der in
ein paar Minuten, nach seiner Schicht an der PAO-Konsole,
nach Hause fahren wollte.
Wie alle anderen in der Mission Control und draußen im
Land hörte auch White Lovells Bemerkung, und sie traf ihn
genauso wie alle anderen Mitarbeiter bei der NASA. Für eine
Behörde, die auf öffentliche Gelder angewiesen war und deren
finanzielle Ausstattung von einer guten Öffentlichkeitsarbeit
abhing, war dies schlimmer als ein beiläufiges »verflucht«
oder ein ungewolltes »mistig«. Hier handelte es sich um einen
nüchtern und in aller Ruhe geäußerten Zweifel – Zweifel am
Ausgang des Fluges, Zweifel am Programm, Zweifel an der
Raumfahrtbehörde selbst. Für die NASA war dies eine
Ruchlosigkeit ersten Ranges.
Kerwin, ein CAPCOM mit ansonsten guten Instinkten,
reagierte auf Lovells ungewollte öffentliche Bemerkung hin
auf die schlechtestmögliche Weise: Er sagte gar nichts, da er
keine unnötige Aufmerksamkeit erwecken wollte. Statt dessen
hing sie jedoch unkommentiert im Raum und wurde mit jeder
Sekunde bedeutungsschwerer. White wartete noch ein paar
endlos scheinende Momente lang ab und sprang dann in die
Bresche.
»Hier ist die Apollo-Control bei 68 Stunden und 13
Minuten«, sagte er. »Flugdirektor Glynn Lunney und vier
seiner Controller werden sich demnächst zur Pressekonferenz
in das Gebäude für Öffentlichkeitsarbeit begeben. Lunney wird
von Tom Weichel, dem zuständigen Offizier für die
Bremsraketen, Clint Burton, dem EECOM, Hal Loden, dem
CONTROL, und Merlin Merritt, dem TELMU, begleitet
werden. Ferner wird auch Major General David O. Jones von
der United States Air Force daran teilnehmen, der die
Bergungstrupps des Verteidigungsministeriums befehligt.«
White hatte gut reagiert. Die von ihm gewählten Worte
sollten nicht nur beruhigend wirken und die Zuhörer zu Hause
ablenken. Vielmehr stellten sie auch eine Art Bitte an die
Medien dar. Steht zu uns, besagten sie, arbeitet mit uns. Wir
haben das gleiche gehört wie ihr, und wir sind gerne bereit, mit
euch darüber zu sprechen. Aber gebt uns die Gelegenheit, erst
gemeinsam darüber zu reden, bevor ihr es veröffentlicht.
Ob die Medien die Bedeutung von Whites Worten
verstanden, war unklar, und es würde auch unklar bleiben, bis
Lunney und sein Team sich mit den Reportern
zusammensetzten. Im Augenblick jedoch war Lunney
anderweitig beschäftigt und würde wahrscheinlich noch mehr
abgelenkt werden. Seit dem Ende der Brennphase im
Morgengrauen konzentrierten sich die Männer im
Kontrollraum vor allem auf eines: Die PC+2-Zündung, die
siebzehn Stunden später erfolgen sollte. Da Lunney an der
Konsole saß und Kranz mit seinem Tiger Team in Klausur
gegangen war, waren die Flugdirektoren Gerald Griffin und
Milt Windler für diese Aufgabe verantwortlich, und sie hatten
in der Kürze der Zeit Bemerkenswertes zustande gebracht.
Während der letzten vier Stunden waren die beiden
Flugdirektoren außer Dienst beinahe ununterbrochen im
Kontrollraum unterwegs gewesen und an einer Konsole nach
der anderen stehengeblieben, hatten die dort sitzenden Männer
ausgehorcht und alle möglichen Ideen zusammengetragen, wie
sich eine lange, komplizierte Brennphase des
Mondfährenantriebs bei angekoppeltem Kommando- und
Versorgungsteil bewerkstelligen ließe. An den meisten
Konsolen saßen die diensttuenden Männer des Lunney-Teams
nicht alleine, sondern wurden von den Controllern des Griffin-
und des Windler-Teams unterstützt, die die ganze Nacht über
dageblieben waren. Überall wurde diskutiert, wurden Ideen
ausgetauscht und Vorschläge gemacht. Diese improvisierten
Konferenzen dauerten von drei Uhr morgens bis sieben Uhr
früh, und als am Dienstagmorgen die neuen Controller
bereitstanden, um das Team vom Montagabend abzulösen,
hatten Griffin und Windler drei verschiedene Möglichkeiten
für eine Zündung um PC+2 entwickelt. Keine davon war ideal,
das wußten sie, aber sie alle brachten Apollo 13 in eine
Flugbahn, auf der die Rückkehr zur Erde weniger lang dauern
würde als auf der derzeitigen.
Als Brian Duff seine frühmorgendliche Pressekonferenz
vorbereitete, Glynn Lunney die letzte Stunde an der Konsole
zubrachte und Fred Haise von einer schlaflos verbrachten
Nachtruhe aufstand, saßen Griffin und Windler müde auf dem
Gang neben der Konsole des Flugdirektors, hatten die
Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt und
hofften – zumindest schien ihre Haltung dies auszudrücken –
sie könnten nur für ein paar Augenblicke dem anhaltenden
Stimmengewirr in dem Raum entrinnen. Hinter ihnen tauchte
Chris Kraft auf und legte beiden die Hand auf die Schulter. Die
zwei Männer drehten sich um.
»Was haben wir rausgekriegt?« fragte Kraft. Griffin und
Windler blickten ihn einen Moment lang entgeistert an. »Was
haben wir bezüglich der Zündung rausgekriegt?« stellte Kraft
klar. »Wissen wir schon, wie wir dabei vorgehen wollen?«
»Wir haben einige ziemlich gute Vorstellungen«, sagte
Griffin. »Unserer Ansicht nach gibt es drei Möglichkeiten, und
jede davon bringt uns ein gutes Stück weiter.«
»Sind sie in zwölf Stunden ausführbar?« fragte Kraft.
»Das sollte möglich sein«, sagte Griffin.
»Wären Sie bereit, in einer Stunde darüber zu reden?«
»Wie meinen Sie das?« fragte Windler.
»Nachher wollen sich im Zuschauerraum ein paar Leute
zusammensetzen und all das besprechen, und wir werden ihnen
alles so gut wie irgend möglich erklären müssen.«
»Was für Leute, Chris?« fragte Griffin.
»Gilruth, Low, McDivitt, Paine – hauptsächlich Leute auf der
Ebene«, sagte Kraft. »Dazu Sie zwei, Deke, Gene und alle, die
wir Ihrer Ansicht nach sonst noch brauchen könnten. Alles in
allem wahrscheinlich um die fünfundzwanzig Mann.«
Griffin war mehr als überrascht. Daß man Männer wie Deke,
Kraft, McDivitt, Kranz und alle anderen Flugdirektoren zu
einer Besprechung in die Mission Control brachte, mochte ja
durchaus angehen – während eines Fluges trafen sich derart
hochstehende Leute ständig in und um den Kontrollraum, um
die diversen Probleme und Maßnahmen zu bereden –, aber der
Chef der NASA persönlich und die anderen Oberen nahmen
selten an diesen Konferenzen teil. Diese Leute hatten einen
anderen Blickwinkel; sie verließen sich darauf, daß Kranz und
die anderen Flugdirektoren die einzelnen Flüge durchführten,
während sie für das Programm insgesamt verantwortlich
waren. Noch nie zuvor hatten sich diese Männer in der
schalldichten, verglasten VIP-Galerie der Mission Control zu
einer Sitzung getroffen. Und diese Zusammenkunft des
Ältestenrates der Raumfahrtbehörde, vergleichbar einer
gemeinsamen Sitzung beider Kammern des Kongresses, sollte
vor den Augen der Controller stattfinden, die noch nie zuvor
derart viel NASA-Prominenz auf einmal gesehen hatten.
»Und das soll in einer Stunde stattfinden?« fragte Griffin.
»In weniger als einer Stunde«, sagte Kraft. »Und vorher
möchte ich mich mit allen Flugdirektoren besprechen und
sichergehen, daß wir unsere Eisen im Feuer haben. Holen Sie
Glynn von der Konsole weg, und dann suchen wir uns ein
Plätzchen, wo wir reden können.«
»Kranz ist mit seinem Tiger Team unten«, sagte Windler.
»Sollen wir den auch dazuholen?«
»Ja«, sagte Kraft, aber dann überlegte er es sich. »Nein. Nein,
lieber nicht. Ich möchte ihn nicht unnötig stören. Er soll bis zur
eigentlichen Konferenz weiter an den lebensnotwendigen
Reserven arbeiten. Wir berichten ihm dann alles.«
Griffin und Windler stupsten Lunney an, erklärten ihm, daß
Kraft ihn brauche, und der Flugdirektor übergab die
Verantwortung an seinen Assistenten und folgte den drei
Männern zu einem Aufenthaltsraum. Kaum waren sie dort,
schloß Kraft die Tür, setzte sich hin, deutete mit dem Kopf auf
seine Flugdirektoren und forderte sie wortlos auf, ihn in ihre
Erkenntnisse einzuweihen. Lunney wußte kaum mehr als
Kraft, daher übergab er das Wort an Griffin, der mit Kraft alle
drei Brennphasen durchging, die sie gerade ausgearbeitet
hatten. Die wissenschaftlichen Grundlagen mußten sie Kraft
nicht erklären; ihm ging es vielmehr um die Folgen eines jeden
Manövers – welche Risiken damit verbunden waren, welche
Vorteile sie boten, wie sie sich auf die Überlebenschancen der
Astronauten auswirkten.
Griffin sprach offen und ohne Umschweife, und Kraft hörte
zu, nickte gelegentlich, sagte aber nichts. Sobald der
Flugdirektor fertig war, sprang Kraft ein. Er brachte Zweifel
und Einwände vor, klopfte Griffins Vorschläge ab, mißtraute
seinen Kalkulationen, kurzum, er versuchte, die Fragen der
Männer im VIP-Raum vorwegzunehmen. Griffin und Windler
antworteten Kraft nach besten Kräften, und Lunney, der den
Großteil davon zum erstenmal hörte, nickte zustimmend. Nach
knapp einer Stunde schien Kraft schließlich zufrieden. Er
öffnete die Tür und wollte die Gruppe zur Besucher-Galerie
führen. Doch Griffin hielt ihn auf.
»Wissen Sie, Chris«, sagte er, »mir wäre bestimmt wohler
zumute, wenn wir da nicht alleine hineingehen würden.«
»Wen brauchen Sie sonst noch?« fragte Kraft.
»Nun ja, diese Daten hier haben hauptsächlich mein FIDO
und mein RETRO ausgetüftelt.«
»Wie heißen sie?«
»Chuck Deiterich und Dave Reed«, erwiderte Griffin.
»Wenn’s nach mir ginge, würde ich nirgendwo ohne meine
Zahlenjongleure auftreten.«
»Holen Sie sie«, sagte Kraft. »Und Gene ebenfalls.«
Kraft wartete, während Griffin Deiterich, Reed und Gene
Kranz holte, und sobald sie zurück waren, begaben sich die
Männer gemeinsam zum VIP-Bereich. Dort empfing sie ein
beeindruckendes Aufgebot. Die Reporter, die sonst an den
Pressekonsolen in der vorderen rechten Ecke der Galerie
saßen, hatten weichen müssen, und in der vorderen linken
Ecke warteten etwa zwei Dutzend schweigender Männer. Ein
paar hatten auf den Kinostühlen Platz genommen, aber die
meisten standen auf den Gängen, hockten auf Stuhllehnen oder
lehnten an den Wänden. Durch das vom Boden bis zur Decke
reichende Fenster an der Stirnseite der Galerie konnte man die
ganze Mission Control überblicken, und ab und zu sah man,
wie ein Controller einen verstohlenen Blick zu der
schweigenden Versammlung hinter der Panoramascheibe warf.
Kraft kam unverzüglich zur Sache.
»In etwa zwölf Stunden«, so fing er an, »werden wir unsere
PC+2-Zündung durchführen müssen. Wir beabsichtigen damit,
die Besatzung so rasch wie möglich zurückzuholen, und zwar
bei geringstmöglichem Verbrauch an lebensnotwendigen
Reserven. Die Flugdirektoren haben einige Möglichkeiten für
diese Zündung ausgearbeitet, und da Gerrys Team den
Großteil des Zahlenmaterials geliefert hat, soll er es auch
erklären.«
Griffin trat einen Schritt vor, räusperte sich und schilderte
langsam und bedächtig die geplanten Maßnahmen, die er
gerade eben in aller Kürze mit Kraft durchgesprochen hatte.
Das größte Problem der Apollo 13 war Zeit – holte man sie
rasch genug zur Erde zurück, dann lösten sich alle Probleme
wegen der Reserven von selbst. Dies ließe sich am einfachsten
bewerkstelligen, indem man das Abstiegs-Antriebssystem
zündete und bei voller Leistung brennen ließ, solange der
Treibstoff reichte, damit das Schiff so stark wie möglich
beschleunigt wurde.
Doch die einfachste Lösung war nicht unbedingt auch die
beste. Wenn man den Antrieb brennen ließe, bis der Treibstoff
ausging, hatte man später keine Möglichkeit mehr zu einer
Kurskorrektur, die sich jederzeit als notwendig erweisen
könnte: Apollo 13 mußte noch über 400000 Kilometer
zurücklegen, so daß der geringste Fehler bei der
Flugbahnberechnung vielfältige Auswirkungen haben konnte.
Die Aufstiegsstufe verfügte ebenfalls über ein Antriebssystem,
und notfalls konnte man auch das zünden. Aber dazu mußte
die Besatzung erst die Abstiegsstufe absprengen – und in der
Abstiegsstufe befand sich der Großteil der Batterien und
Sauerstofftanks der Mondfähre.
Länge und Intensität der Brennphase, so fuhr Griffin fort,
seien nicht nur für die Treibstoffreserven und die Dauer des
Rückfluges ausschlaggebend, sondern auch für das Seegebiet,
in dem die Besatzung später landen werde. Da vom Weltall aus
nur ein Teil der Ozeane auf der Erde erreichbar sei und nur auf
einem dieser Ozeane, dem Pazifik, die entsprechenden
Bergungsschiffe bereit stünden, seien die
Auswahlmöglichkeiten begrenzt. Bei den drei
unterschiedlichen Manövern, die Griffin und Windler
ausgearbeitet hatten, werde dies auf unterschiedliche Weise
berücksichtigt.
Griffins Worten zufolge käme zunächst eine lange
Brennphase in Frage. Lovell würde dabei den Abstiegsantrieb
bei voller Leistung ganze sechs Minuten lang brennen lassen,
bevor er ihn wieder abstellte. Durch dieses Manöver, das
Griffin der Einfachheit halber als superschnelle Brennphase
bezeichnete, würde die Crew am Donnerstagmorgen im
Atlantischen Ozean landen, knapp sechsunddreißig Stunden
nach der für diesen Abend geplanten PC+2-Zündung. Bei
einem derart raschen Rückflug würden die Reserven im LEM
auch bei pessimistischster Einschätzung ausreichen, und das
war ein schwerwiegender Grund. Doch die superschnelle
Brennphase hatte auch ihre Nachteile. Sie kostete nicht nur
enorme Treibstoffmengen, sondern die Besatzung würde
dadurch auch in einem Seegebiet landen, in dem die Navy
bislang nicht einmal einen Fischkutter stationiert hatte.
Damit ein derartig radikales Manöver gelingen konnte, müßte
Lovell den jetzt nutzlosen Versorgungsteil absprengen, um die
Masse der aneinandergekoppelten Schiffe zu reduzieren. Die
Flugdirektoren, erklärte Griffin sicherheitshalber, gäben sich
keinesfalls der Illusion hin, daß der vermutlich durch eine
Explosion beschädigte Versorgungsteil wieder in Betrieb
genommen werden könnte, aber nichtsdestotrotz wollten sie
ungern darauf verzichten.
Der Versorgungsteil nämlich saß an der Basis der
Kommandokapsel und schützte so den Hitzeschild. Der
Hitzeschild wiederum schützte die Besatzung vor der
Reibungshitze beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.
Niemand hatte bislang getestet, was passierte, wenn der
Hitzeschild anderthalb Tage lang schutzlos
Sonneneinstrahlung und Kälte im Weltall ausgesetzt wurde,
und dies war nicht der Zeitpunkt für irgendwelche
Experimente. Und selbst wenn ein Hitzeschild derartige
Bedingungen normalerweise aushielt, kam erschwerend hinzu,
daß man bei Apollo 13 nicht von Normalverhältnissen
ausgehen konnte. Wenn bei der Explosion, die die beiden
Sauerstofftanks zerstört hatte, auch nur ein Haarriß in dem
dicken, mit Epoxydharz beschichteten Schild entstanden war,
könnte er sich aufgrund der extrem niedrigen Temperaturen im
sonnenlosen All verbreitern. Dennoch, sagte Griffin
zusammenfassend, wäre die superschnelle Rückkehr
erwägenswert, falls sich das Problem mit den Reserven als
unüberwindbar erweisen sollte.
Die von Griffin vorgebrachte zweite Brennphase war etwas
weniger radikal, so daß man zwar Treibstoff sparen würde,
aber der Rückflug einige Stunden länger dauerte. Der größte
Vorteil dabei war, daß sich die Erde während der längeren
Rückflugzeit um eine Vierteldrehung weiter bewegte, so daß
das Raumfahrzeug im Pazifik landen könnte, wo zahlreiche
Bergungsschiffe bereitstanden. Der größte Nachteil dabei war,
daß genau wie bei der superschnellen Brennzeit der
Versorgungsteil abgesprengt werden müßte.
Brennphase Nummer drei bedeutete zwar den langsamsten
Rückflug, war aber die sicherste Lösung. Dabei würde Lovell
das Abstiegs-Antriebssystem der »Aquarius« viereinhalb
Minuten lang bei nur zeitweise voller Leistung brennen lassen,
und der Versorgungsteil müßte nicht abgesprengt werden.
Genau wie bei Brennphase Nummer zwei würde die Kapsel
dabei im Pazifik niedergehen, aber sie würde nicht am
Donnerstagmittag, sondern erst einen Tag später landen – in
über drei Tagen also oder nur zehn Stunden früher als ohne
PC+2-Zündung.
Wenn man nur die Schonung des Hitzeschildes und einen
günstigen Landeplatz in Erwägung ziehe, so schloß Griffin,
dann sei diese Brennphase sicherlich der richtige Weg. Aber
hinsichtlich der an Bord vorhandenen Reserven könnte es
etwas eng werden.
Griffin beendete seinen Vortrag und überließ die Wahl den
Verantwortlichen bei der Raumfahrtbehörde. Sofort gingen
mehrere Hände in die Höhe. Wie groß war die
Wahrscheinlichkeit, daß der Hitzeschild beschädigt sei?
Vermutlich gering, antwortete Griffin, aber wenn er gerissen
sei, liege die Wahrscheinlichkeit, daß sie die Crew verlören,
bei etwa 100 Prozent. Wie weit würden die Reserven allenfalls
reichen? Das ließe sich im Moment noch nicht feststellen,
räumte Griffin ein. Kranz, der neben ihm saß, stimmte zu.
Wie die genaue Geschwindigkeitsveränderung und
Brennphasendauer bei allen drei Manövern aussehe, wollte ein
anderer wissen. Deiterich und Reed traten vor, reichten ihre
handgeschriebenen Notizen herum und erklärten die
Bedeutung der aufgekritzelten Zahlen. Nahezu eine Stunde
lang wurden sämtliche Möglichkeiten diskutiert. Deke Slayton,
der Chefastronaut und Sprecher aller Astronauten, plädierte für
den schnellstmöglichen Rückflug, und etliche andere schlossen
sich ihm an. Aber die Mehrzahl der Anwesenden plädierte für
Brennphase Nummer drei. Ja, die Reserven könnten sich als
problematisch erweisen, aber beschäftigten sich nicht Kranz
und das Tiger Team samt dem legendären John Aaron damit?
Ja, es könnte schwierig werden, den Medien und den
Menschen im Lande zu erklären, warum man eine Crew in
einer derartigen Extremsituation auch nur eine Stunde länger
als notwendig im All ließ – von einem Tag gar nicht zu
sprechen. Aber wäre es nicht noch viel schwerer zu erklären,
weshalb man zuließ, daß die Astronauten den Großteil des
Rückfluges über ohne Treibstoff auskommen, mit einem
beschädigten Hitzeschild in die Atmosphäre eintreten und in
einem Ozean landen mußten, in dem die Navy mit Mühe und
Not ihre Schiffe in Position bringen konnte?
Kraft und seine Flugdirektoren brachten ihre Argumente vor
und verfolgten dann zufrieden, wie sich die Männer in dem
Raum auf die langsamste Variante festlegten. Die
Flugdirektoren, die diese Option ebenfalls vorzogen, hatten
gehofft, daß auch die NASA-Chefs sich darauf festlegen
würden. Nun, da sich nach Vorbringen aller Argumente
Einstimmigkeit abzeichnete, sorgte Chris Kraft für eine
Entscheidung.
»Damit sind alle einer Meinung«, faßte er zusammen. »Bei
79 Stunden und 27 Minuten wird eine viereinhalb Minuten
andauernde Brennphase erfolgen, durch die das Raumfahrzeug
um 260 Meter pro Sekunde beschleunigt wird und nach 142
Stunden Flugzeit im Pazifik niedergehen müßte. Wenn alles
gut geht, wird Apollo 13 am Freitagnachmittag wieder zurück
sein.«
Die Männer im Raum nickten, standen fast gleichzeitig auf
und gingen zu den Türen. Während sich die Controller an den
Konsolen umdrehten, um einen letzten Blick auf ihre
abziehenden Chefs zu werfen, wandte sich Gerald Griffin an
Glynn Lunney.
»Was hältst du davon, wenn wir aufhören, darüber zu reden«,
sagte er, »und lieber zusehen, ob wir es schaffen?«
9

Dienstag, 14. April, 14:00 Uhr

Als Gene Kranz einige Stunden nach dieser Konferenz die


VIP-Galerie betrat, dachten die beiden Reporter an den für die
Medien bestimmten Konsolen nicht einmal im Traum daran,
ihn anzusprechen. Ein weniger erfahrener Journalist hätte es
getan, hätte versucht, eine Voraussage, eine Einschätzung oder
zumindest eine Stellungnahme zu bekommen. Doch die
Reporter an den Konsolen wußten Bescheid. Wenn Gene
Kranz mitten in der Nacht auf der VIP-Galerie auftauchte,
dann kam er nicht, um zu reden. Vielmehr wollte er hier ein
bißchen schlafen.
Seit Kranz letzte Nacht seine Konsole an Glynn Lunney
übergeben hatte, war er mit seinem Tiger Team in Zimmer 210
eingeschlossen gewesen und hatte anhand von
Computerausdrucken und Tabellen über die vorhandenen
Reserven nachgegrübelt. Zwar stimmten ihn seine Daten alles
andere als zuversichtlich, aber auf der anderen Seite des
Raumes, wo die mit dem LEM beschäftigten Controller saßen,
sah es zumindest etwas vielversprechender aus. Nachdem Bob
Hesselmeyer im Anschluß an die Inbetriebnahme des LEM
kurz die vorhandenen Reserven berechnet und die Zahlen mit
Kranz noch einmal überschlagen hatte, wurde er, im
Unterschied zu den meisten anderen Männern des Teams,
wieder an die Konsolen geschickt.
Hesselmeyer war ein guter TELMU, aber er war auch der
jüngste im Dienstplan von Apollo 13. Mit der Einteilung der
im LEM vorhandenen Reserven beauftragte Kranz lieber Bill
Peters, einen TELMU aus Gerry Griffins Team, der seit
Gemini 3 im Jahr 1965 bei jeder Mission mitgewirkt hatte.
Wie sich herausstellen sollte, vertraute der Leiter des Tiger
Teams Peters zu Recht. Schon gegen Mittag konnte Bill Peters
mit bemerkenswerten Fortschritten bei der Lösung der
Versorgungskrise der »Aquarius« aufwarten.
Peters nahm zunächst die Wasser- und Energieversorgung in
Angriff, um die es am prekärsten bestellt war, und errechnete,
daß sich der Verbrauch weitaus mehr senken ließe, als Kelly
und Hesselmeyer für machbar gehalten hatten. Laut den
Berechnungen, die Peters und seine Elektrotechniker erstellt
hatten, schien es durchaus möglich, den Stromverbrauch im
LEM bis auf 12 Ampere herunterzufahren. Bei voller
Energieleistung standen dem LEM etwa 1800 Ampere aus vier
Batterien in der Abstiegs- und zwei Batterien in der
Aufstiegsstufe zur Verfügung. Damit verglichen, waren 12
Ampere nicht viel. Aber Peters rechnete aus, daß er sich einen
viel höheren Verbrauch nicht leisten konnte, wenn er die für
den Rückflug notwendige Energie in Betracht zog und eine
kleine Notreserve einplante. Je mehr Strom der TELMU
einsparen konnte, desto geringer wäre auch der Wasserbedarf,
und durch Peters’ Radikalkur ließen sich die knappen Reserven
eine ganze Weile strecken.
Das von ihm verordnete Maßhalten hatte jedoch seinen Preis.
Das teilweise Abschalten der Systeme, das die LEM-
Ingenieure zwischen dem Einschuß in die Freiflugbahn und der
PC+2-Zündung angeordnet hatten, war im Vergleich mit den
von Peters für den Rückflug geplanten Maßnahmen gar nichts.
Sobald das für 20:40 Uhr vorgesehene
Beschleunigungsmanöver erfolgt wäre, wollte er das
Abschalten von buchstäblich allen stromverbrauchenden
Komponenten der Mondfähre anordnen, bis auf drei
Ausnahmen: Das Kommunikationssystem und eine der
dazugehörigen Antennen, das Kabinengebläse, das für die
Zirkulation der vorhandenen Atemluft sorgte, und die Pumpen
der Kühlanlage, damit die beiden anderen Systeme nicht
überhitzten. Stillgelegt werden sollten die Computer, das
Führungssystem, die Kabinenheizung, das Rendezvous-Radar,
das Landeradar, die Instrumenten- und Armaturenbeleuchtung
sowie unzählige weitere Geräte.
Natürlich hatte Peters’ drastischer Abschalteplan noch einige
Haken. So war zum einen zu erwarten, daß es in dem bereits
jetzt ziemlich ungemütlichen LEM noch ungemütlicher werden
würde, wenn es nach dem Abschalten der Instrumente und der
Kabinenbeleuchtung dunkel im Cockpit wurde und die
Temperatur noch weiter absank. Zum zweiten hatte bislang
noch niemand eine Lösung dafür gefunden, wie man ohne neue
Lithiumhydroxid-Filter eine zu hohe Anreicherung der
Atemluft mit Kohlendioxid vermeiden wollte. Die meisten
Sorgen bereitete jedoch der Umstand, daß die Mondfähre nicht
nur die Energie für ihre eigenen Systeme liefern mußte. Schon
bevor Lovell, Swigert und Haise die »Odyssey« verlassen
hatten, hatte die Kommandokapsel nach dem Ausfall der drei
Brennstoffzellen ihren Strom aus einer der drei für den
Wiedereintritt benötigten Batterien bezogen. Damit das Schiff
vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre wieder in Betrieb
genommen werden konnte, mußte diese Batterie aufgeladen
werden, und dies konnte nur über das bereits voll ausgelastete
elektrische System der »Aquarius« erfolgen. Während Peters
noch hin- und herrechnete, wie er das Raumfahrzeug mit der
vorhandenen Energie eine halbe Woche über die Runden
bringen könnte, kam John Aaron vorbei, um sich ein paar
Ampere für die angeschlagene Kommandokapsel auszuborgen.
»Bill«, sagte Aaron, nachdem er sich Peters in einer Ecke von
Zimmer 210 geschnappt hatte, »Sie wissen doch, daß die
Kommandokapsel nicht mit zweieinhalb Batterien auskommt.«
»Ich weiß, John«, sagte Peters.
»Und Sie wissen auch, daß ich Saft von Ihnen brauche.«
»Auch das weiß ich.«
»Wieviel können Sie mir geben?«
»Wieviel brauchen Sie denn?« fragte Peters vorsichtig. »Sie
haben doch bloß klitzekleine Batterien da drin. Die brauchen
nicht viel, oder?«
»Wir müssen die leere auf etwa 50 Ampere aufladen«,
erklärte Aaron, »und als sie das Schiff verlassen haben, war sie
bis auf 16 runter. Ich muß Sie also um etwa 34 Ampere
bitten.«
Peters dachte einen Augenblick nach. »Vierunddreißig…
vierunddreißig könnte ich schaffen, aber genaugenommen
verlangen Sie viel mehr von mir. Meine Ladegeräte und
Verbindungskabel haben einen Wirkungsgrad von nur 30 bis
40 Prozent. Vierunddreißig Ampere bis zu Ihnen rüberzuleiten
wird mich also etwa 100 Ampere kosten.«
»Das weiß ich, Bill«, sagte Aaron voller Verständnis.
»Kriegen Sie es dennoch hin?«
Peters ging von den ihm insgesamt zur Verfügung stehenden
1800 Ampere aus und rechnete im Kopf rasch nach. »Ja«,
sagte er zögernd, »das müßte von mir aus möglich sein.«
Die Männer, die sich mit der Kommandokapsel befaßten,
mußten noch kompliziertere Problemlösungen finden, und hier
wurde Aarons Talent zum Vermitteln und Beschwatzen weit
dringender gebraucht. Am meisten Kopfzerbrechen bereitete
dem leitenden EECOM nicht die Frage, wie er seine Batterien
aufladen sollte, sondern wie um alles auf der Welt er in der
Lage sein sollte, die »Odyssey« wieder in Betrieb zu nehmen.
Normalerweise war das Wiedereinschalten der Apollo-
Kommandokapsel sowohl energie- als auch zeitaufwendig. Bei
den Vorbereitungen zum Start benötigten die Techniker an der
Rampe einen ganzen Tag dazu, und sie verbrauchten Tausende
von Ampere, bis jedes System warmgelaufen und auf seine
Funktionstüchtigkeit hin überprüft worden war, bevor sie die
Kapsel für einsatzbereit erklärten. Es war ein mühseliger
Vorgang, aber da ihnen unbegrenzt viel Strom und Zeit zur
Verfügung standen, arbeiteten die NASA-Ingenieure so
sorgfältig wie möglich.
Bei Apollo 13 konnte sich Aaron diesen Luxus nicht leisten.
Er und Kranz stellten einige Berechnungen über die
Energiereserven an, und die Zahlen, die dabei herauskamen,
waren beunruhigend. Selbst wenn die dritte Batterie der
»Odyssey« voll aufgeladen sein sollte, würde Aarons Strom
nur für zwei Stunden reichen, wenn der Zeitpunkt zur
Wiederinbetriebnahme der Kapsel kam.
Dennoch glaubte Aaron fest daran, daß die Sache machbar
war.
Er mußte sich nur noch etwas einfallen lassen, wie er seine
Vorstellungen den Controllern erklären sollte, die für die
Systeme des Raumfahrzeuges zuständig waren. Im Prinzip
ging jedermann in Zimmer 210 davon aus, daß technische
Vorbehalte hintangestellt werden müßten, wenn man die
Kapsel heil zurückholen wollte, in der Praxis aber war keiner
bereit, Abstriche in seinem Bereich zu machen. Aaron rief die
zuständigen Controller am Konferenztisch zusammen und
redete auf seine bauernschlaue Art auf sie ein, wie eine
Mischung aus Cowboy und Staubsaugervertreter.
»Jungs«, sagte er, »ich weiß, ich kenn’ mich mit euren
Systemen nicht besonders aus, darum paßt auf und korrigiert
mich, wenn ich einen Fehler mache, aber ich glaube, ich hab’
ein paar Ideen, wie wir das Schiff wieder auf die Reihe
kriegen, wenn es soweit ist. So wie ich es sehe, reichen unsere
Batterien etwa zwei Stunden, in denen wir von null auf hundert
hochfahren müssen.«
»John«, meldete sich Bill Strable, der Führungs- und
Navigations-Offizier, zu Wort, »das ist in der Zeit nicht zu
schaffen.«
»Tja, nun, das habe ich auch gedacht, Bill«, erwiderte Aaron
leicht amüsiert. »Aber ich glaube, wenn wir bereit sind, ein
paar Abstriche zu machen, könnten wir die Sache
durchziehen.«
»Klar kann man sie durchziehen«, sagte Strable, »aber kann
man sie auch sicher durchziehen?«
»Meiner Ansicht nach ist vielleicht sogar das möglich«,
erklärte Aaron. »Ich habe ein paar Ideen. Vielleicht sollten wir
alle mal einen Blick draufwerfen, könnte sein, daß wir sie ein
bißchen aufmöbeln können.«
Mit nahezu entschuldigender Miene brachte Aaron einen
Stapel Computerausdrucke zum Vorschein, die mit
Buntstiftmarkierungen übersät waren, lauter Kalkulationen,
Voraussagen und Berechnungen, die Aaron mit Hilfe von Jim
Kelly, seinem Elektrospezialisten, erarbeitet hatte.
Auf den ersten Blick wurde klar, daß es sich hierbei
keineswegs bloß um »ein paar Ideen« handelte. Das hier war
eine brutal realistische, bis ins Detail ausgearbeitete Analyse
der vorhandenen Energiereserven und wie lange das Schiff
damit auskommen mußte, egal, ob die Controller sie hören
wollten oder nicht.
Er reichte die Unterlagen herum, wartete, bis die Controller
sie sich zu Gemüte geführt hatten, und dann begann das
erwartete stundenlange Verhandeln, Feilschen und
Diskutieren. Die Controller hatten Einwände, und sie hatten
ebenfalls Ideen, aber ihnen stand nicht viel Zeit zur Verfügung.
Wenn Apollo 13 auf der jetzigen Flugbahn blieb, würde das
Raumfahrzeug die Erde in weniger als zweiundsiebzig Stunden
erreichen. Angenommen, die PC+2-Zündung erfolgte wie
geplant, dann würde die Flugzeit nur mehr zweiundsechzig
Stunden betragen. Wenn Aaron seine Checkliste zum
Wiedereinschalten der Kommandokapsel nicht binnen
achtundvierzig Stunden fertig hatte, lief das Wunderkind aus
Oklahoma Gefahr, seine erste Crew zu verlieren.

Gerald Griffin war jetzt seit über fünf Stunden für den Flug
verantwortlich, und bislang war alles relativ ruhig verlaufen.
Während der Schicht von Kranz’ Team hatte sich die
Explosion des Sauerstofftanks ereignet, als Lunneys Team
Dienst hatte, waren das Abschalten der Energie in der Kapsel
und der Einschuß in die Freiflugbahn erfolgt, und während der
Schicht von Windlers Team würde die PC+2-Zündung in
Angriff genommen werden.
Griffin war klar, welche Aufgabe er hatte: Das Schiff
funktionsfähig zu halten, dazu beizutragen, daß es keine
weiteren technischen Komplikationen gab, und dafür zu
sorgen, daß es soweit wie möglich bereit war für die Zündung
um PC+2. Bis auf letzteres löste Griffins Gruppe ihre
Aufgaben bislang gut.
Die vorherigen Bemühungen von Lunneys Team, die
Kreiselplattform trotz der das Schiff umgebenden
Partikelwolke auszurichten, waren fehlgeschlagen, und als
Lunney beschlossen hatte, die Zündung zum Einschuß in die
Freiflugbahn alleine aufgrund der aus der Kommandokapsel
übertragenen Daten durchzuführen, hatten die Männer im
Kontrollraum lediglich die Achseln gezuckt und das Beste
gehofft. Die Brennphase würde, wie sie wußten, nur kurz sein,
und falls sich bei der Ausrichtung der Plattform Fehler
eingeschlichen haben sollten, würde das keine allzu großen
Folgen nach sich ziehen. Bei der Zündung um PC+2 jedoch
war das anders. Die vorgesehene Brennphase würde nicht nur
weit länger dauern, sondern sie würde auch nahezu achtzehn
Stunden später erfolgen. Das Trägheitsführungssystem neigte
mit der Zeit zu Abweichungen, und selbst wenn die
Koordinaten, die Lovell gestern nacht um 22 Uhr aus der
»Odyssey« übertragen hatte, um 2 Uhr 45 morgens noch
stimmen sollten, wären sie am kommenden Abend um 20 Uhr
10 mit Sicherheit verfälscht.
Daher hatten Griffin und sein Team den Großteil der
vergangenen sieben Stunden über in ständigem Kontakt mit
den Technikern im Simulationsraum des Space Center
gestanden, wo Charlie Duke und John Young
Lösungsmöglichkeiten für die Ausrichtung zu finden
versuchten, auf die die Führungs- und Navigations-Offiziere
noch nicht gekommen waren. Bislang waren die Ergebnisse
nicht ermutigend.
Egal, wie die beiden Piloten sich auch drehten, die simulierte
Sonne tauchte die Partikel rund um das LEM in gleißendes
Licht, so daß nicht einmal die nächsten Sterne zu erkennen
waren. Als der Nachmittag anbrach und der neueste
deprimierende Bericht aus dem Simulationsgebäude eintraf,
saßen Chuck Deiterich, Dave Reed und Ken Russell
zusammengesackt an ihren Konsolen in der vordersten Reihe
der Mission Control und wußten nicht mehr weiter.
»Und was sollen wir jetzt machen?« fragte Reed und sah
Deiterich und Rüssel an. »Was empfehlt ihr als nächstes?«
»Ich bin für alle Ratschläge offen«, sagte Deiterich.
»Ich nehme an, wir geben die Sache mit den Sternen auf«,
erklärte Russell.
»Wenn wir sie nicht sehen können, können wir uns auch
nicht an ihnen orientieren«, bemerkte Deiterich.
»Ich vermute, wir könnten immer noch warten, bis wir hinter
dem Mond sind«, sagte Russell. »Sobald sie im Dunkeln sind,
leuchten die Partikel nicht mehr so stark.«
»Damit wird die Zeit aber ziemlich knapp, oder?« gab Reed
zu bedenken. »Die haben nur eine halbe Stunde Dunkelheit,
und danach sind es nur mehr zwei Stunden bis zur Zündung.
Wenn etwas schiefgeht, haben sie keine Zeit mehr, es
auszubügeln.«
»Seien wir doch mal ehrlich«, sagte Russell. »Das einzige,
was wir da draußen sehen können, ist die Sonne, und die
verursacht den ganzen Ärger.«
»Ganz genau«, rief Deiterich. »Warum benutzen wir sie dann
nicht, wenn sie schon da ist? Sie ist doch ein Stern, oder? Der
Computer akzeptiert sie doch, oder? Egal, wie viele Partikel da
draußen herumfliegen, bei der Suche nach der Sonne ist
garantiert kein Irrtum möglich.«
Er schaute zu Reed und Russell, die ihm ihrerseits skeptische
Blicke zuwarfen. Normalerweise kam es bei der
Feineinstellung der Führungsplattform auf absolute
Genauigkeit an. Da sich der Sternenhimmel im Umkreis von
360 Grad dreidimensional rund um das Schiff erstreckte, kam
ein einzelner Stern dem platonischen Ideal des geometrischen
Punktes sehr nahe: Er war unendlich klein, unendlich genau,
und eine unendliche Anzahl davon ergab einen Winkel von
einem Grad. Wenn man ein paar dieser hellen Himmelspunkte
anpeilte, konnte man die Plattform so genau einstellen, daß die
Fehlerquote beim Navigieren praktisch bei null lag.
Etwas ganz anderes war es hingegen, wenn man statt der
Sterne die Sonne benutzte. Zunächst einmal war sie riesengroß
und mit einem Durchmesser von rund 1,4 Millionen
Kilometern nur etwa 150 Millionen Kilometer – nach
kosmischen Maßstäben gerechnet, ist das lediglich eine
Armeslänge – von der Erde entfernt. In ihre riesige Masse, die
am Himmel einen halben Gradwinkel einnahm, paßten
Dutzende kleiner Sternenpunkte. Deiterich, das war Reed und
Russell auf der Stelle klar, wollte nicht etwa, daß sie die
Plattform neu auf diesen groben Punkt hin ausrichteten; er
schlug lediglich vor, sie sollten anhand der Sonne die bereits
vorliegende Ausrichtung überprüfen. Aber Deiterich hatte
seinen Vorschlag kaum geäußert, da bekam er bereits Zweifel.
»Wir haben es natürlich mit einem ziemlich großen Objekt zu
tun, nicht?« sagte er.
»Einem sehr großen«, sagte Russell.
»Und was ist mit der Optik?« fragte Deiterich. »Wenn man
ein zur Sternenbeobachtung gedachtes optisches Gerät auf die
Sonne richtet, brät man sich die Augen.«
»Die haben Filter, mit denen sich das verhindern läßt«, sagte
Russell. »Trotzdem bin ich von dem Vorschlag noch nicht
ganz überzeugt. Das ist ein ziemliches Provisorium, was wir
hier vorhaben, Jungs. So was geht im Simulator, aber wollt ihr
euch bei einem Flug wirklich darauf verlassen?«
»Nicht unbedingt«, sagte Deiterich. »Aber haben wir eine
andere Wahl?«
Russell und Reed blickten einander an.
»Keine«, sagte Russell.
Zwei Reihen weiter oben saß Griffin und sah, daß die beiden
Männer in der vordersten Reihe über irgend etwas heftig
diskutierten. Er hoffte von ganzem Herzen, daß es um einen
Plan zur Ausrichtung ging. Griffin führte wie alle anderen
Flugdirektoren ein Logbuch, in das er bei allen entscheidenden
Phasen einer Mission die entsprechenden Daten eintrug.
Bislang war die Stelle, wo er die Angaben zur Feinabstimmung
notieren wollte, noch leer, und er wurde allmählich nervös. Bis
zu PC+2 waren es noch sieben Stunden, aber in gut vier
Stunden würde es zum Abreißen des Signals kommen, wenn
das Raumfahrzeug hinter dem Mond verschwand. Die
Führungs- und Navigations-Offiziere mußten ihm zumindest
einen guten Vorschlag liefern, und zwar möglichst schnell. Die
Männer in der vordersten Reihe gluckten noch etliche Minuten
zusammen, standen dann plötzlich auf und kamen zu Griffin.
»Gerry«, sagte Russell, als sie neben seiner Konsole standen,
»wir werden die bestehende Ausrichtung anhand der Sonne
überprüfen müssen.«
Schweigend blickte Griffin seine Männer an. Schließlich
bemerkte er: »Und etwas Besseres fällt uns dazu nicht ein?«
»Uns jedenfalls nicht«, gab Russell zurück. »Sobald wir in
den Mondschatten kommen, werden wir sehen, ob ein paar
Sterne auftauchen, und dann noch mal eine kurze Überprüfung
vornehmen. Aber das ist nur eine Ausweichmöglichkeit.«
»Und wie wohl ist Ihnen bei einer Ausrichtung allein nach
der Sonne zumute?« fragte Griffin.
»Ziemlich wohl«, erwiderte Russell mit soviel
Selbstsicherheit, wie er nur aufbringen konnte.
»Ziemlich wohl?«
»Ja«, pflichtete Deiterich bei. »Aber mehr können wir
wahrscheinlich auch nicht erwarten.«
Griffin musterte seine Führungs- und Navigations-Offiziere.
»Rufen Sie Charlie Duke und John Young«, sagte er
schließlich. »Die sollen die Sache im Simulator ausprobieren.«
Die drei Astronauten im Cockpit der »Aquarius«
verschwendeten keinen Gedanken auf die Sonne. Der
Himmelskörper, der ihre ganze Aufmerksamkeit forderte, war
vierhundertmal kleiner – obwohl er unendlich viel größer
wirkte –, nicht einmal annähernd so weit entfernt und rückte
von Minute zu Minute näher. Während John Young und
Charlie Duke im Mondfähren-Simulator ihre Versuche
machten, war die wirkliche Besatzung knapp 20000 Kilometer
vom Mond entfernt und flog mit etwa 4800 Kilometern pro
Stunde darauf zu. Je näher Apollo 13 dem Mond kam, desto
häufiger ertappten sich die Astronauten dabei, wie sie
verstohlen aus dem Fenster blickten. Zunächst hatten sie dem
Drang nicht nachgegeben, zumal sie eigentlich keine Zeit dazu
hatten. Das Kommunikationssystem forderte noch immer ihre
ganze Aufmerksamkeit, das Raumfahrzeug mußte wegen der
Temperaturregelung ständig gedreht werden, das
Energiehochfahren vor der PC+2-Zündung stand unmittelbar
bevor, und außerdem mußten sie die Partikelwolke ständig im
Auge behalten, falls doch irgendwo ein Stern
hindurchschimmern sollte. Die riesige, gipsgraue Halbkugel
jedoch, die vor ihnen schwebte, konnte keine noch so dicke
Wolke aus glitzernden Partikeln verdecken.
Der Mond, auf den die Besatzung zuflog, war zu drei
Vierteln voll, so daß nur ein breiter, sichelförmiger Streifen an
seiner Westseite im Dunkeln lag. Aus dieser Nähe sah man
durch die kleinen Dreiecksfenster des LEM nur Ausschnitte
dieser gewaltigen Mondmasse, so daß sich die Astronauten
nach vorne beugen und den Hals soweit wie möglich recken
mußten, wenn sie den ganzen Himmelskörper erfassen wollten.
Lovell bereitete diese große Nähe allmählich Sorgen.
Der Kommandant wandte sich vom Fenster ab und drehte
sich nervös zu Haise um.
»Was meinst du, wie die mit der Ausrichtung klarkommen,
Freddo?« fragte er.
»Toll kann’s nicht sein, sonst hätten wir schon was gehört«,
erwiderte der Pilot des LEM.
»Nun ja, unsere Fehlertoleranz schwindet ziemlich schnell
dahin.«
»Mit genau 1300 Metern pro Sekunde«, bemerkte Haise mit
einem Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige seines
Computers.
»Was hältst du davon, wenn wir sie anfunken und zusehen,
ob wir die Sache nicht ein bißchen beschleunigen können?«
fragte Lovell. Doch bevor Haise auf Sendung gehen konnte,
schaltete sich Houston ein.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich der CAPCOM. Der
Stimme nach zu urteilen, hatte Vance Brand, ein weiterer
angehender Astronaut, Joe Kerwin an der Konsole abgelöst.
»Schießt los, Houston«, sagte Haise.
»O.K. wir haben ein Verfahren für eure Ausrichtung
ausgearbeitet«, erklärte Brand. »Und zwar möchten wir, daß
ihr bei ungefähr 74 Stunden eine Überprüfung anhand der
Sonne durchführt. Wir geben euch die Daten in Kürze durch,
und wir gehen davon aus, daß die Plattform O.K. ist und keine
weitere Ausrichtung erfordert, wenn ihr innerhalb von einem
Grad am Zielpunkt liegt. Falls der Sonnencheck O.K. ist,
geben wir euch danach einen Stern zum Sicherheitscheck auf
der Rückseite, wenn ihr im Dunkeln seid. Over.«
Haise wiederholte die Anweisungen sicherheitshalber,
unterbrach dann die Verbindung und wandte sich mit fragender
Miene an Lovell und Swigert, die in der Kunst der
Himmelsnavigation weitaus erfahrener waren.
»Was haltet ihr davon?« fragte Haise.
Lovell pfiff leise. »Nun ja, es müßte unsere Ausrichtung
bestätigen.« Er wandte sich an Swigert. »Was hältst du
davon?«
»Ziemlich unpräzise Methode, meinst du nicht?« sagte
Swigert.
»Sehr unpräzise«, pflichtete Lovell ihm bei. »Was für eine
Fehlertoleranz wollen sie uns geben?«
»Ein Grad.«
»Das macht zweimal die Sonne. Das ist ja so, als würde man
auf ein Scheunentor zielen.«
»Die Frage ist nur«, sagte Swigert, der, ohne es zu wissen,
fast die gleichen Worte gebrauchte wie Reed unten auf der
Erde. »Hast du eine bessere Idee?«
Lovell schwieg. »Keine«, erwiderte er schließlich. »Und
du?«
»Nein.«
»Ruf zurück«, wies Lovell Haise an. »Machen wir uns
bereit.«
Haise meldete sich wieder bei Brand, und der CAPCOM gab
dem LEM-Piloten die Techniken für den Sonnencheck durch.
Das von Deiterich, Russell und Reed erdachte und von Duke
und Young getestete Verfahren war relativ problemlos. Lovell
würde in den Computer eingeben, daß er sein
Navigationsteleskop auf die Sonne richten wollte, und der
Genauigkeit wegen den exakten Quadranten angeben – oder
das »Feld«, wie es die Navigatoren bezeichneten. In diesem
Fall hatten Reed, Russell und Deiterich das nordöstliche Feld
ausgesucht. Im Führungssystem war die Sonne nicht als
Ausrichtungspunkt gespeichert, aber es konnte sie finden.
Wenn der Computer den Befehl entgegengenommen hatte,
würden die sechzehn Steuerdüsen der Mondfähre automatisch
zünden und das Raumfahrzeug dorthin schwenken, wo der
Computer die Sonne vermutete. Wenn das obere rechte Feld
der Sonne danach bis auf ein Grad genau im Fadenkreuz des
mit starken Filtern versehenen Teleskops stand, wußte Lovell,
daß die Ausrichtung zufriedenstellend war. Wenn nicht, dann
steckten sie in der Klemme.
Lovell, so wurde entschieden, sollte sich um den
Navigationscomputer kümmern, die für den Sonnencheck
notwendigen Daten eingeben und die Lageanzeige im Auge
behalten, um festzustellen, ob sich das Raumfahrzeug in die
geplante Richtung bewegte. Swigert würde sich rechts von
Haise ans Fenster begeben, auf die Sonne achten und Lovell
Bescheid geben, sobald sie in Sicht kam. Haise sollte das
Navigationsteleskop übernehmen und notieren, auf welchen
Punkt der Sonne das Fadenkreuz gerichtet war.
Das Team in Houston begab sich ebenfalls an seine
Arbeitsplätze. Griffin bat um Ruhe im Netz und forderte die
hinter den Konsolen stehenden Männer auf, ihre diensttuenden
Kollegen nicht zu stören. Er zog das Logbuch zu sich und trug
in der Spalte »GET« (Ground Elapsed Time; die seit dem
Augenblick des Abhebens verstrichene Zeit) »73:32« ein, und
unter »Anmerkungen« schrieb er: »Beginn Sonnencheck«. Im
Raumfahrzeug justierte Fred Haise das
Kommunikationssystem ein letztes Mal und schaltete – sei es
absichtlich oder zufällig – auf Vox. Sofort hörte man am
Boden die knackenden Stimmen der miteinander sprechenden
Astronauten.
»Ich habe kein allzu großes Vertrauen in die Sache«, sagte
Lovell gerade leise.
»Wir werden es hinkriegen«, erwiderte Haise.
»Sei da nicht so sicher. Könnte immer noch sein, daß ich
mich letzte Nacht verrechnet habe.«
Lovell gab die Daten, die Brand ihm übermittelt hatte, in den
Computer der »Aquarius« ein. Der Computer akzeptierte die
Angaben, verarbeitete sie langsam und wartete dann, daß der
Kommandant auf »Proceed« – Ausführen – drückte. Nach
einem kurzen Blick zu Haise und dann zu Swigert drückte
Lovell auf die Taste. Eine Sekunde lang tat sich gar nichts,
dann war durch die Fenster der feine Dunst der hypergolischen
Gase zu erkennen, als die Düsen des Landefahrzeuges
zündeten. Die Astronauten konnten spüren, wie das Schiff
träge beidrehte. Lovell ließ die Nadeln der Lageanzeige nicht
aus den Augen.
»Wir rollen«, rief er. »Jetzt kommt Gieren – Rollen, Nicken –
wieder Gieren. Houston, empfangt ihr das alles?«
»Negativ, Jim«, sagte Brand. »Wir bekommen vom
Computer keine hohen Bit-Werte heruntergefunkt.«
»Roger«, bestätigte Lovell und wandte sich nach rechts.
»Kannst du schon was erkennen, Jack?«
»Nichts«, antwortete Swigert.
»Ist da drüben irgendwas?« fragte er Haise.
»Nein.«
Russell, Reed und Deiterich, die in der vordersten Reihe der
Mission Control saßen, hörten der Besatzung wortlos zu. Auch
Brand saß schweigend an der Konsole des CAPCOM, bis er
wieder gerufen wurde. Griffin zog sein Logbuch zu sich und
notierte »Sonnencheck eingeleitet«. Über den Boden-Bord-
Funk hörte man weiter die Gesprächsfetzen der Besatzung.
»Gieren rechte Seite«, konnte man Haise hören. »FDI des
Kommandanten.«
»Trägheitseinstellung – «, erwiderte Lovell.
»Plus 190«, sagte Haise. »Plus 08526.«
»Gib mir 16 – «
»Ich habe HP auf dem FDI – «
»Zwei Diameter draußen, nicht mehr – «
»Zero, zero, zero – «
»Gib mir das AOT, gib mir das AOT – «
Etwa acht Minuten lang dauerte dieses Gemurmel der
Besatzung an, während die »Aquarius« herumschwenkte und
die Controller schweigend mithörten. Dann meinte Swigert, er
habe auf der rechten Seite des Schiffes etwas entdeckt: Ein
schwaches Blinken, dann nichts, dann wieder ein Blinken.
Plötzlich sah er eindeutig einen kleinen Ausschnitt der
Sonnenscheibe in der einen Ecke seines Fensters. Er riß den
Kopf nach rechts, wollte sich dann nach links umdrehen und
Lovell darauf aufmerksam machen, aber bevor er etwas sagen
konnte, fiel ein greller Sonnenstrahl auf das Armaturenbrett,
und der Kommandant, der immer noch die Anzeigen
überwachte, blickte abrupt auf.
»Sag an, Jack!« sagte er. »Was siehst du da?«
»Wir haben eine Sonne«, sagte Swigert.
»Wir haben etwas Großes«, erwiderte Lovell lächelnd.
»Siehst du irgend etwas, Freddo?«
»Nein«, sagte Haise, während er durch das Teleskop spähte.
Dann drang Licht in das Glas, und er rief: »Ja, vielleicht ein
Drittel Diameter.«
»Sie kommt noch«, sagte Lovell mit einem Blick aus dem
Fenster, bevor er sich etwas abdrehte, als die Sonne einfiel.
»Ich glaube, sie kommt noch.«
»Schon fast da«, sagte Haise.
»Wir haben sie«, rief Lovell. »Ich glaube, wir haben sie.«
»O.K.«, sagte Haise, während er zusah, wie die Sonne über
das Fadenkreuz des Teleskops und dann nach unten glitt.
»Schon fast da.«
»Hast du sie?« fragte Lovell.
»Schon fast da«, wiederholte Haise.
Durch das Teleskop sah er, wie sich die Sonne den Bruchteil
eines Grades weiterbewegte, dann noch einen Bruchteil. Die
Steuerdüsen liefen einen Moment weiter und stellten sich dann
ab, so daß das Raumfahrzeug – und die Sonne – zum Stillstand
kamen.
»Was hast du da?« sagte Lovell. »Was hast du da?«
Haise sagte gar nichts. Dann wandte er sich langsam vom
Teleskop ab und drehte sich mit einem breiten Grinsen zu
seinen Kollegen um. »Den rechten oberen Rand der Sonne«,
verkündete er.
»Wir haben es!« schrie Lovell und riß die Faust hoch.
»Wir sind drauf!« sagte Haise.
»Houston, hier Aquarius«, meldete sich Lovell.
»Schießt los, Aquarius«, antwortete Brand.
»O.K.«, sagte Lovell. »Sieht so aus, als sei der Sonnencheck
in Ordnung.«
»Wir haben verstanden«, sagte Brand. »Wir sind froh, das zu
hören.«
In der Mission Control ertönte zuerst ein Johlen aus der
ersten Reihe, wo der RETRO, der FIDO und der GUIDO
saßen, in das nach und nach immer mehr Controller
einstimmten, bis schließlich der ganze Raum in begeisterten
Applaus ausbrach.
»Houston, hier Aquarius«, ertönte Lovells Stimme über den
Lärm hinweg. »Habt ihr das empfangen?«
»Empfangen«, sagte Brand breit grinsend.
»Ist nicht ganz zentriert«, meldete der Kommandant.
»Steht etwas weniger als einen Radius seitlich.«
»Klingt gut, klingt gut.«
Brand blickte nach hinten und lächelte Griffin zu, der
zurückgrinste, ohne sich um den Tumult um ihn herum zu
kümmern. Normalerweise sollte es in der Mission Control
keine Unruhe geben, aber Griffin wollte wenigstens ein paar
Sekunden lang ein Auge zudrücken. Er zog das Logbuch zu
sich und schrieb »73:47« in die freie Spalte unter »GET«.
Unter »Anmerkungen« trug er »Sonnencheck erfolgt« ein.
Dabei bemerkte er zum erstenmal, daß seine Hände zitterten
und die letzten drei Eintragungen in seinem Buch unleserlich
waren.

In Houston, wo Marilyn Lovell für die sichere Heimkehr ihres


Mannes betete, ging die Sonne fast zur gleichen Zeit unter wie
in dem knapp vierhunderttausend Kilometer entfernten
Raumfahrzeug. Seit den beiden Erdumkreisungen, als sie
zweimal über die Nachtseite hinweggeflogen waren, war die
Sonne ständig präsent gewesen. Sie war nicht immer
unmittelbar zu sehen, aber sie war immer da: Sie erwärmte das
Schiff, bevor es sich zum Temperaturausgleich wieder um die
eigene Achse drehte, sie wurde von den Partikeln reflektiert,
die seit der Explosion des Sauerstofftanks das Schiff umgaben,
und sie hatte das Armaturenbrett während der
Ausrichtungsüberprüfung in gleißendes Licht getaucht.
Jetzt, um 18:30 Uhr, als Apollo 13 sich dem Mond bis auf
eine Entfernung von zweieinhalbtausend Kilometer näherte –
weniger als der Durchmesser des Erdtrabanten –, trennten sich
die Wege von Schiff und Sonne.
Wie bei allen Mondflügen üblich, näherte sich Apollo 13
dem Erdtrabanten von Westen, von der dunklen Seite aus also,
da der Mond zu drei Vierteln voll war. Je näher das
Raumschiff ihm kam, desto tiefer tauchte es in die Dunkelheit
ein. Obwohl noch immer vereinzelte Sonnenstrahlen auf das
Schiff fielen, schien von der Mondoberfläche aus nur das
schwache, schimmernde Licht der Erde in das immer dunkler
werdende Cockpit – das reflektierte Licht des Heimatplaneten,
der wiederum das Licht der Sonne reflektierte. Diese
zunehmende Dunkelheit bedeutete aber auch, daß die Wolke
aus Partikeln, die das Schiff noch immer umgab, immer
weniger Licht widerspiegeln konnte. Vor einer Stunde hatten
Lovell, Haise und Swigert ihre gewohnten Positionen
eingenommen. Während Haise über der Checkliste für die
Zündung brütete und Swigert ihm dabei soweit wie möglich
beistand, übernahm Lovell wieder den Platz am Fenster.
»Ich habe den Skorpion!« verkündete der Kommandant.
»Wirklich?« fragte Haise und begab sich sofort ans Fenster.
»Jawoll. Und Antares.«
»Die kommen alle raus«, sagte Swigert, der ebenfalls aus
Lovells Fenster blickte.
»Du sagst es«, erwiderte Lovell. »Dort ist Nunki, dort
Antares. Könnte sein, daß es für einen Sicherheitscheck
reicht.«
Swigert pflichtete ihm bei. »Wahrscheinlich wird es mehr als
reichen.«
»Wollen wir es ihnen mitteilen?« fragte Haise.
»Ja«, sagte Lovell und sprach in sein Mikrophon: »Houston,
hier Aquarius.«
»Schieß los, Jim«, sagte Brand.
»Setze euch hiermit in Kenntnis, daß ich Antares und Nunki
vor dem Fenster habe, und ich wollte nur wissen, ob ihr den
Ausrichtungscheck versuchen wollt.«
»Roger«, sagte Brand. »Wir haben verstanden, welche Sterne
ihr seht. Bleibt dran, bis wir euch wegen des Sicherheitschecks
Bescheid sagen.«
Brand unterbrach die Verbindung mit der Kapsel und
schaltete sich in das Netz des Flugdirektors ein, um sich mit
seinem GUIDO zu besprechen. Kranz’ Team war vor etwa
zwei Stunden an die Konsolen zurückgekehrt und gedachte,
zumindest die nächsten paar Stunden dort zu bleiben. Milt
Windlers Team hatte sich am Nachmittag mehrere Stunden in
der Nähe der Mission Control bereitgehalten, um Griffins
Team zum Schichtwechsel kurz vor Sonnenuntergang
abzulösen. Aber Kranz hatte den Männern im Saal und
insbesondere seinem Freund Windler mitgeteilt, daß er trotz
des Risikos, jemanden in seiner Ehre zu kränken, sobald wie
möglich seine Leute einsetzen und die PC+2-Zündung
durchführen lassen werde; danach könnte Windlers Team
gerne übernehmen. Um 16:30 Uhr kam das Tiger Team aus
Zimmer 210, verteilte sich in der Mission Control und
übernahm achselzuckend und mit einem gemurmelten
»entschuldige bitte« die Konsolen, die es am Vorabend um
22:30 Uhr verlassen hatte. Die Männer aus Griffins Team, die
ohnehin in wenigen Minuten abgelöst werden sollten, räumten
ihre Plätze und zogen sich auf die Gänge zurück, wo sie sich
zu Windlers Team gesellten.
Jetzt, als Brand mit Bill Fenner, dem GUIDO, die Pläne für
die Ausrichtung durchsprach und Fenner darüber mit Kranz
diskutierte, kam es wegen der Betreuung des Fluges zum
ersten Mal zu Differenzen. Der Sternencheck zur genauen
Überprüfung des Trägheitsführungssystems, so verkündete
Kranz über sein Netz, werde gestrichen. Die
Ausrichtungsdaten, die Lovell aus der »Odyssey«
übernommen habe, hätten sich bei der Brennphase zum
Einschuß in die Freiflugbahn bewährt und seien zudem bei
dem improvisierten Sonnencheck bestätigt worden. Wenn man
jetzt weiter herumpfusche, so Kranz, bringe man sich nur
unnötig in Schwierigkeiten und vergeude zudem Treibstoff für
die Steuerdüsen und kostbare Zeit. Er teilte seine Entscheidung
Fenner mit, der sie wiederum Brand mitteilte, und dieser gab
sie der Besatzung durch.
»He, Aquarius«, meldete sich der CAPCOM, »wir sind mit
eurer derzeitigen Ausrichtung ziemlich zufrieden. Wir wollen
nicht, daß ihr für einen weiteren Check noch mehr Treibstoff
für die Steuerdüsen verbraucht. Bleibt also einfach so wie
bisher.«
»O.K. verstanden«, sagte Lovell, schob dann sein Mikrophon
beiseite, wandte sich an Haise und verdrehte etwas die Augen.
»Da haben wir zum erstenmal auf diesem Flug die Sterne, und
jetzt wollen wir sie nicht verwenden.«
»Die haben Bammel, wir könnten vor der Zündung etwas
vermasseln«, sagte Haise vermittelnd.
»Ich habe Bammel, daß wir etwas vermasseln, bevor wir
überhaupt soweit sind.«
Der Sternencheck würde sich ohnehin bald erübrigen, da die
Zeit dafür rasch verstrich. In etwa anderthalb Stunden würde
Apollo 13 hinter dem Mond verschwinden, und damit würde
auch der Funkkontakt für fünfundzwanzig Minuten
unterbrochen. Zwei Stunden danach müßten sie dann zur
Zündung ihres Antriebssystems bereit sein.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Brand. »Wenn ihr
empfangsbereit seid, kann ich euch die Daten für das PC+2-
Manöver durchgeben. Danach möchtet ihr euch vielleicht auf
das Abreißen des Signals vorbereiten.«
»O.K.«, sagte Haise und zog Notizblock und Stift heran. »Ich
bin bereit.«
Brand teilte die Daten mit, gab Vektoren, Gierwinkel und die
daraus resultierenden Landepunkte auf der Erde durch, und
Haise notierte alles und las es zur Bestätigung noch einmal laut
vor.
Lovell hörte am Tonfall des CAPCOM, daß er sich Sorgen
machte, aber er selbst war froh, daß er dem Abreißen des
Signals und der näherrückenden Zündung relativ gelassen
entgegensah. Anders als bei der Zündung zum Einschuß in die
Freiflugbahn würde es sich diesmal um eine lange Brennphase
handeln, bei der das Antriebssystem 5 Sekunden lang mit
minimaler Schubkraft, dann 21 Sekunden lang mit
40prozentiger Schubkraft und schließlich 4 Minuten lang mit
vollem Schub eingesetzt werden würde. Ausgelöst werden
würde sie, genau wie die Zündung zum Einschuß in die
Freiflugbahn, per Computer, aber Lovell würde die Schubkraft
manuell steuern. Falls der Antrieb nicht genau bei 79:27:40.07
zünden sollte, würde Lovell auch dies übernehmen.
Trotz allem empfand Lovell eine überraschende Gelassenheit,
je näher der Zeitpunkt für die Zündung rückte, und während
Haise fortfuhr, die von Brand durchgebenen Daten zu notieren,
warf der Kommandant einen weiteren Blick aus dem Fenster.
Wie sich herausstellte, hatte er sich gerade den richtigen
Moment ausgesucht. Nach einer Flugzeit von 76 Stunden, 42
Minuten und einigen Sekunden ging die Sonne hinter dem
Mond unter, und Apollo 13 tauchte in den Schatten ein. Die
funkelnden Partikel um das Schiff verschwanden schließlich,
und der Himmel war auf allen Seiten, egal, wohin man auch
blickte, mit eisig weißen Sternen übersät.
»Houston«, sagte Lovell, »die Sonne ist untergegangen und –
Mann – schau – dir – die – Sterne – an.«
»Ist das da draußen Nunki?« fragte Haise, als er sich zum
Fenster umwandte, und deutete auf einen Stern, den Lovell
vorher kaum hatte ausmachen können, der aber jetzt hell wie
ein Leuchtfeuer am Himmel stand.
»Ja«, sagte Lovell, »und Antares kann ich auch viel besser
sehen.«
»Was ist das da drüben für eine Wolke?« fragte Swigert, der
sich über Lovells Schulter beugte.
»Die Milchstraße«, antwortete Lovell und deutete auf einen
strahlendweißen Streifen, der sich über den Himmel zog.
»Nein, nicht die leuchtende«, sagte Swigert. »Die dunkle –
das heißt, eigentlich sind es zwei dunkle, die wie
Kondensstreifen aussehen.«
Lovell folgte Swigerts Blick und sah zwei schaurig dunkle
Streifen, die teilweise die Sterne verdeckten. »Ich wüßte beim
besten Willen nicht, was das sein könnte«, sagte er. »Es
könnten die Partikel sein, die weggeflogen sind.«
»Bei unseren Manövern?« fragte Haise.
»Nein«, sagte Lovell, »bei unserer Explosion.«
Schweigend blickten die drei Astronauten zu den beiden
Wolken.
Brands Stimme zerriß die Stille. »Aquarius, hier Houston.«
»Schießt los, Houston.«
»O.K. Jim, wir haben noch etwas über zwei Minuten bis zum
Abreißen des Signals, und von uns aus sieht alles gut aus.«
»Roger«, sagte Lovell. »Ich nehme an, ihr wollt nicht, daß
wir irgendwelche anderen Systeme aktivieren oder sonstige
Vorbereitungen treffen, bis wir das Signal wieder empfangen.«
»Roger. Ganz genau«, erwiderte Brand.
»O.K. dann rühren wir uns nicht. Wir sehen uns auf der
anderen Seite wieder.«
Die Besatzung von Apollo 13 verfiel wieder in Schweigen,
und 120 Sekunden später war die Verbindung mit Houston
abgerissen.
Die Crew bewahrte Ruhe, als sie aus dem Erdschein in die
völlige Dunkelheit und Funkstille auf der Rückseite des
Mondes hineinflog. Da auf der Vorderseite des Mondes nur ein
schmaler Streifen am westlichen Rand im Dunkeln lag, war auf
der Rückseite lediglich ein ebenso schmaler Streifen im Osten
erleuchtet, so daß Apollo 13 bei der Umrundung des Mondes
ständig in Dunkelheit gehüllt war. Allein das Fehlen der Sterne
verriet, daß sich unter dem Schiff, bis hin zum Horizont, ein
Himmelskörper befand.
Nahezu zwanzig Minuten lang flogen die Astronauten durch
dieses schwarze Nichts, bis knapp fünf Minuten vor
Wiedererfassen des Signals in der Ferne eine grauweiß
gesprenkelte Sichel auftauchte. Haise sah sie zuerst und griff
nach der Kamera. Danach sah auch Lovell sie vom linken
Fenster aus und nickte, allerdings eher bestätigend als
begeistert. Swigert, der so etwas noch nie gesehen hatte,
schnappte sich seine Kamera und schwebte zu Lovell hin,
worauf der Kommandant sich zurücktreiben ließ, damit sein
Kollege das Schauspiel genau betrachten konnte. Unter ihnen
glitt jetzt dieselbe Einöde vorbei, die Lovell vor sechzehn
Monaten von Apollo 8 aus erblickt hatte und die bis zum Jahr
1968 keine Menschenseele jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Seither allerdings hatten sie über ein Dutzend Menschen
gesehen.
Swigert und Haise betrachteten in ehrfürchtigem Schweigen
die Mares und die Krater, die Gräben und die Berge – die
ganze weite Landmasse des Mondes.
Fünf Minuten später, zum vorgesehenen Zeitpunkt für das
Wiedererfassen des Signals, stellte Lovell den Schalter an
seinem Mikrophon auf »Senden« und meldete sich
rücksichtsvoll flüsternd bei der Bodenkontrolle.
»Guten Morgen, Houston. Wie empfangt ihr uns?«
»Empfangen euch einigermaßen gut«, erwiderte Brand.
»In Ordnung. Wir empfangen euch ebenfalls ziemlich gut.«
Lovell warf einen Blick über Swigerts Schulter auf die unter
ihnen vorbeigleitende Formation. »Zu eurer Information: Wir
überfliegen jetzt das Mare Smythii, und es sieht aus, als ob wir
uns entfernen.«
»Wir rücken wirklich ab«, fügte Swigert etwas bedauernd
hinzu.
»Oh, ja, ja.« Lovells Antwort war ebenso für seinen Kollegen
wie auch für die Bodenstation bestimmt. »Wir sind nicht mehr
auf 222 Kilometer. Wir fliegen weg.«
»Habe verstanden, Aquarius«, sagte Brand.
»Wir brauchen immer noch eine Zeitvorgabe zum
Energiehochschalten für die Zündung«, erinnerte Lovell die
Bodenkontrolle.
»O.K. Bleibt dran.«
Brand schaltete aus, und während Haise und Swigert mit den
Kameras am Fenster blieben, bewegte Lovell sich im Cockpit
hin und her und spielte nervös an den Schaltern für die
Energieversorgung herum. Er schwebte von einem Bereich des
Armaturenbrettes zum nächsten, griff um Haise und Swigert
herum und murmelte ein gelegentliches »Entschuldige,
Freddo« oder »Verzeihung, Jack«.
Nach zwei oder drei Minuten hielt Lovell inne, verzog sich
auf die Abdeckung des Aufstiegsantriebs, wo bislang Swigerts
Platz gewesen war, und verschränkte die Arme.
»Gentlemen«, sagte er mit absichtlich überlauter Stimme.
»Wie sehen eure weiteren Pläne aus?«
Verblüfft fuhren Haise und Swigert herum. »Unsere Pläne?«
sagte Swigert.
»Ja«, sagte Lovell. »Uns steht ein PC+2-Manöver bevor.
Gedenkt ihr, euch daran zu beteiligen?«
»Jim«, sagte Haise leicht larmoyant, »das ist unsere letzte
Chance, diese Bilder zu schießen. Wir sind extra bis hierher
geflogen – meinst du nicht, daß wir denen ein paar Bilder
mitbringen sollten?«
»Wenn wir nicht heimkommen, wirst du sie nie entwickeln
lassen können«, gab Lovell zurück. »Jetzt mal hergehört. Wir
schaffen die Kameras aus dem Weg, und dann machen wir
alles klar für die Zündung. Wird kein geruhsamer Flug werden,
bis wir landen.«
Haise und Swigert verstauten ihre Kameras, nahmen ihre
Positionen wieder ein, und während der nächsten Stunde
arbeitete die Besatzung konzentriert. Brand gab ihnen die
Anweisungen zum Hochschalten der Energie durch, die
Astronauten betätigten die entsprechenden Schalter, und
langsam wurden die Systeme der »Aquarius« wieder in Betrieb
genommen.
Die letzten Minuten vor dem Manöver ließ die Besatzung
schweigend verstreichen. Diesmal standen den Piloten keine
Anschnallgurte zur Verfügung und auch keine Couchen. Statt
dessen würden sie einfach stehenbleiben, sich an der Wand
abstützen und den jähen Schub abfedern, denn mangels
Schwerkraft ließ sich der leichte Andruck relativ problemlos
überstehen. Lovell blickte zu Haise und hob den Daumen,
dann drehte er sich zu Swigert um und wiederholte die Geste.
»Übrigens, Aquarius«, drang Brands Stimme in die Stille,
»wir haben die Resultate auf dem Seismographen von Apollo
12. Sieht so aus, als sei eure dritte Stufe gerade auf dem Mond
aufgeschlagen und hätte ihn ein bißchen erschüttert.«
»Na ja, dann hat bei diesem Flug wenigstens etwas
geklappt«, sagte Lovell. »Ihr seid bestimmt froh, daß das LEM
nicht auch aufgeschlagen ist.«
Lovell schaute zum Mond, als könnte er die Staubwolke und
den kleinen Krater sehen, wo die Rakete aufgeschlagen war.
Statt dessen sah er einen kleinen, ebenmäßig geformten
dreieckigen Berg inmitten der Krater und Berge, die das Mare
Tranquillitatis säumten. Es war der Mount Marilyn, der sich
ihm da vermutlich zum letztenmal präsentierte, bevor Apollo
13 sich vom Mond entfernte.
»Zehn Minuten bis zur Zündung«, verkündete Haise. Kurz
danach rief er: »Acht Minuten bis zur Zündung«, dann: »Sechs
Minuten bis zur Zündung«, dann: »Vier Minuten bis zur
Zündung.« Schließlich schaltete sich Brand an der Konsole des
CAPCOM ein.
»Jim, ihr habt GO für die Zündung, GO für die Zündung.«
»Roger, habe verstanden«, sagte Lovell. »Wir haben GO für
die Zündung.«
»Auf mein Zeichen noch zwei Minuten und vierzig
Sekunden«, meldete Brand. »Ab jetzt.«
Lovell blickte auf den Flugzeitnehmer, holte tief Luft und
hielt sie an. Im Cockpit war es dunkel, und der Bug des
Raumfahrzeuges war auf die schwach leuchtende Erde
gerichtet, während er zusah, wie die Uhr auf Zero sprang.
Dann spürte er, wie das Antriebssystem des LEM unter seinen
Füßen zum Leben erwachte.
10

Dienstag, 14. April, 15:30 Uhr, Pazifischer Ozean

Mel Richmond würde im Südpazifik wahrscheinlich nicht


seekrank werden. Zum einen war das Schiff, auf dem er sich
befand, der Helikopterträger »Iwo Jima«, zu groß, um selbst
bei rauher See ins Rollen zu geraten. Darüber hinaus war
Richmond schon zu oft hier draußen gewesen.
Richmond war der Fachmann, was die Bergung
zurückkehrender Raumfahrzeuge anging.
In den Tagen vor dem Start eines Mercury-, Gemini- oder
Apollo-Raumfahrzeugs stellte die NASA ein Team von
Bergungsexperten ab, die sich an Bord eines zur
voraussichtlichen Landestelle geschickten Schiffes begaben
und das Bergen von Kapsel und Besatzung leiteten.
Richmond, der zweithöchste Mann im Besucherteam der
NASA, ging mehr in seiner Arbeit auf als die meisten. Lange
bevor eine Rakete samt Besatzung die Rampe verließ, zog sich
der ehemalige Air-Force-Mann und derzeitige
Flugbahnexperte mit dem Einsatzplan des Fluges, Karten von
den möglichen Wiedereintrittpunkten und einem weltweiten
Wetterbericht in Klausur zurück. Allein aufgrund dieser
Unterlagen verfaßte er einen Bericht über sämtliche für das
zurückkehrende Raumfahrzeug in Frage kommenden
Landepunkte und die bei der Bergung von Kapsel und
Besatzung anzuwendenden Techniken. Dieser Bericht wurde
das »Buch« – die Hauptanleitung für die Bergung – für die
jeweilige Mission, und wenn der Wiedereintritt näherrückte
und man Klarheit über die endgültige Landestelle bekam,
waren es diese Anweisungen, die bei der komplexen
Rettungsaktion Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt wurden.
Während der vierzehn Tage auf See kam es abwechselnd zu
Perioden tödlicher Langeweile und hektischer Aktivität, je
nachdem, welche Übungen gerade angesetzt waren. Am
anstrengendsten waren die jeden zweiten Tag stattfindenden
Bergungsmanöver, wenn eine Raumfahrzeugattrappe ins
Wasser geworfen wurde, worauf der Träger sich ein paar
hundert Meter entfernte und das gesamte Rettungsteam –
Froschmänner, Hubschrauberpiloten, Decksmannschaften,
Beobachter – die Bergung übte.
Etliche Tage lang hatten die Bergungsübungen für die
Rückkehr von Apollo 13 gute Fortschritte gemacht. Doch nun,
da das Raumfahrzeug vier Tage im All war, waren sämtliche
sorgsam entwickelten Methoden und verordneten Übungen
hinfällig.
Nach dem ursprünglichen Flugplan sollte die
Kommandokapsel von Apollo 13 am Dienstag, 21. April, um
15:17 Uhr etwa 207 Seemeilen südlich der Weihnachtsinsel im
Meer niedergehen – vier Tage nach dem Start der Mondfähre
aus den Randbergen des Fra-Mauro-Kraters. Im Laufe der
letzten Tage jedoch war der ursprüngliche Plan verändert
worden, und Apollo 13 würde nach Auskunft der Jungs in
Houston am Nachmittag des 17 April zurückkehren –
möglicherweise auch erst am Abend des siebzehnten oder
irgendwann am achtzehnten – und im Südpazifik landen –
vielleicht aber auch im Indischen Ozean oder im Atlantik. Der
genaue Zeitpunkt und Ort hingen vom Ausgang der PC+2-
Zündung ab. Mel Richmond arbeitete nicht gern nach derart
ungenauen Vorgaben.
In Houston war es um 20 Uhr 40 bereits dunkel, als das
Abstiegs-Antriebssystem der Mondfähre »Aquarius« zur
Zündung für die viereinhalbminütige Brennphase klargemacht
wurde, aber draußen bei der Weihnachtsinsel, etwas südlich
von Oahu, war um 15 Uhr 40 Ortszeit noch heller Nachmittag.
Zwar konnte dank der aggressiven Öffentlichkeitsarbeit der
NASA alle Welt den Boden-Bord-Funk mithören, nicht aber
die Männer des Bergungsteams. Einer der Funkoffiziere der
»Iwo Jima« konnte die Gespräche zwischen CAPCOM und
Crew über einen Kommunikationssatelliten mitverfolgen, aber
die Verbindung war schlecht, und die Übertragung konnte
nicht auf dem ganzen Träger ausgestrahlt werden.
Ein weiterer Funkoffizier stand in direktem Kontakt mit der
Mission Control. Dieser Offizier war es auch, der die
regelmäßigen Telefonkonferenzen zwischen der »Iwo Jima«
und Houston vermittelte, und er würde es als erster erfahren,
wenn die PC+2-Zündung erfolgreich durchgeführt worden war
– oder auch nicht. Kurz vor 15 Uhr 30 tauchten Mel Richmond
und eine Handvoll weiterer Mitglieder des Bergungsteams
beim zweiten Funkoffizier auf und warteten auf die neuesten
Nachrichten. Im Satellitenraum auf der anderen Seite des
Schiffes verfolgte der zuständige Offizier die Gespräche
zwischen Raumfahrzeug und Kontrollraum, die sonst niemand
auf der »Iwo Jima« mithören konnte.
»Auf mein Zeichen noch zwei Minuten und vierzig
Sekunden«, hörte der Funkoffizier Vance Brands Stimme aus
Houston, als der Zeitpunkt der Zündung näherrückte.
»Roger, wir haben es«, hörte er Jim Lovells Antwort durch
das Rauschen im Boden-Bord-Funk.
Eine Zeitlang herrschte Schweigen.
»Eine Minute«, verkündete Brand.
»Roger«, antwortete Lovell. Weitere sechzig Sekunden
Schweigen.
»Wir brennen bei 40 Prozent«, hörte der Funkoffizier jetzt
Lovell sagen.
»Houston empfängt.« Fünfzehn Sekunden verstrichen.
»Hundert Prozent«, sagte Lovell.
»Roger.« Im Hintergrund war starkes Rauschen zu
vernehmen. »Aquarius, hier Houston. Es sieht gut aus.«
»Aquarius, ihr habt GO bei drei Minuten.«
»Roger.«
»Aquarius, zehn Sekunden bis GO.«
»Roger.«
» – sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins«, zählte Brand
ab.
»Brennschluß!« rief Lovell.
»Roger. Brennschluß. Gute Brennphase, Aquarius.«
»Sag das noch mal«, rief Lovell über das Rauschen hinweg.
Brand hob die Stimme. »Ich – sagte – das – war – eine – gute
– Brennphase.«
»Roger«, rief Lovell. »Und jetzt wollen wir so bald wie
möglich die Energie herunterschalten.« Im Satellitenraum des
Trägers lehnte sich der Funkoffizier zurück und nahm den
Kopfhörer ab. Er zumindest wußte jetzt, wenn auch als
einziger an Bord der »Iwo Jima«, daß Apollo 13 tatsächlich
auf sie zukam. Im zweiten Funkraum auf der anderen Seite des
Schiffes standen Mel Richmond und die anderen Männer des
Bergungsteams im Halbkreis um das noch immer stille
Funkgerät. Schließlich, fast eine Minute nach Brennschluß,
meldete sich knackend Houston über den kleinen Lautsprecher
des Funkgeräts.
»Iwo Jima, Houston, bei 69 Stunden und 32 Minuten
Flugzeit«, sagte die Stimme. »Pericynthion-plus-zwo-
Brennphase erfolgt. Voraussichtliche Landestelle 600
Seemeilen südöstlich von Amerikanisch-Samoa bei 142
Stunden und 54 Minuten GET.«
»Roger«, antwortete der Funker. »Brennphase erfolgt.«
Die Männer des Bergungsteams schauten sich lächelnd an.
»Nun«, sagte Richmond zu dem neben ihm stehenden
Offizier, »sieht so aus, als bekämen wir am Freitag Arbeit.«
Sobald die PC+2-Brennphase abgeschlossen war, nahm Gene
Kranz, der an der Konsole des Flugdirektors saß, den
Kopfhörer ab, stand auf und sah sich im Raum um. Die
Männer schlugen einander auf den Rücken und feierten das
erfolgreich durchgeführte Manöver, so daß es in der Mission
Control eine Zeitlang zuging wie im Tollhaus, jedenfalls
gemessen an der dort üblichen Atmosphäre. Kranz dachte nicht
daran, seinen Leuten das Feiern zu untersagen; er war der
Meinung, daß seine Leute sich das gegenseitige
Beglückwünschen verdient hatten. Außerdem würde er
demnächst wieder alle Hände voll zu tun haben. Kranz wußte,
wer sich alles im Raum aufhielt, und er war überzeugt, daß
sich demnächst drei Männer um seine Konsole versammeln
würden. Und da er von vornherein wußte, was sie ihm
mitteilen würden, war ihm auch klar, daß es bei der
Besprechung turbulent zugehen würde.
Er blickte eine Reihe tiefer und etwas nach links und sah, daß
Deke Slayton, der hinter der Konsole des CAPCOM gestanden
hatte, auf ihn zukam. Dann warf er einen Blick nach hinten
und sah, wie Chris Kraft an der Konsole des
Flugbetriebsdirektors den Kopfhörer abnahm und sich nach
unten begab. In der verglasten Galerie hinter Kraft konnte er
Max Faget erkennen, den Leiter der Abteilung für Technik und
Entwicklung am Space Center, der von Bob Gilruth als einer
der ersten in die Space Task Force berufen wurde, die vor
zwölf Jahren den Kern der NASA gebildet hatte. Faget schob
sich gerade durch das Gedränge und kam ebenfalls in den
Kontrollraum. Kranz seufzte und drückte die Zigarette aus, die
er zu Beginn des PC+2-Manövers angezündet hatte, und die
mittlerweile bis auf seine Fingerspitzen heruntergebrannt war.
Slayton traf als erster bei ihm ein.
»Und was ist unser nächster Schritt hier, Gene?«
»Nun, Deke«, sagte Kranz, der seine Worte sorgfältig wählte,
»wir werden daran arbeiten.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es da soviel dran zu arbeiten
gibt«, sagte Slayton. »Wir werden die Crew zu Bett schicken,
stimmt’s?«
»Irgendwann, klar.«
»Irgendwann dürfte nicht genügen. Die letzte planmäßige
Schlafperiode war vor vierundzwanzig Stunden. Die brauchen
etwas Ruhe.«
»Das weiß ich, Deke«, setzte Kranz an, aber bevor er
ausreden konnte, hörte er von hinten eine andere Stimme. Es
war Kraft.
»Wie weit sind wir mit dem Herunterschalten der Energie,
Gene?«
»Das kommt schon noch, Chris«, antwortete Kranz ruhig.
»Sind wir bereit zur Durchführung?«
»Wir sind bereit, aber es ist eine langwierige Arbeit, und
Deke meint, wir sollten die Crew erst schlafen schicken.«
»Schlafen?« sagte Kraft. »Eine Schlafperiode dauert sechs
Stunden! Wenn Sie die Crew vor dem Herunterschalten so
lange aus dem Verkehr ziehen, vergeuden Sie sechs Stunden
lang unnütz Strom. Außerdem ist Lovell einverstanden. Haben
Sie ihn etwa nicht über Funk gehört?«
»Aber wenn man sie weiter wach hält und ein kompliziertes
Abschaltverfahren durchführen läßt, obwohl sie kaum die
Augen aufhalten können«, sagte Slayton, »laufen wir Gefahr,
daß jemand einen Fehler macht. Ich würde lieber jetzt ein
bißchen Energie verschwenden, als später ein weiteres
Unglück zu riskieren.«
Hinter Slayton nickte Faget, der jetzt zu der Gruppe gestoßen
war, Kranz grüßend zu.
»Max«, sagte Kranz, »Deke und Chris wollten mir gerade
mitteilen, welche Schritte wir ihrer Meinung nach als nächstes
unternehmen sollten.«
»Passive Temperaturregelung, stimmt’s?« sagte Faget
nüchtern.
»PTC?« Slayton klang erschrocken.
»Klar«, sagte Faget. »Schon seit Stunden ist die eine Seite
des Schiffes auf die Sonne gerichtet und die andere zum
Weltall. Wenn wir nicht bald ein Drehen am Spieß hinkriegen,
friert uns die eine Hälfte der Systeme ein und die andere wird
gekocht.«
»Können Sie sich vorstellen, was es für die Crew bedeutet,
wenn wir jetzt ein PTC-Rollmanöver von ihr verlangen?«
fragte Slayton.
»Oder was es für die zur Verfügung stehende Energie
bedeutet?« ergänzte Kraft. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns
so etwas im Augenblick leisten können.«
»Und ich bin mir nicht sicher, ob wir uns ein Hinausschieben
leisten können«, konterte Faget.
Mehrere Minuten lang zog sich das Streitgespräch hin, und
die Männer an den umliegenden Konsolen wandten
gelegentlich den Kopf und warfen einen Blick hin. Zu guter
Letzt hob Kranz, der die ganze Zeit über ungewöhnlich ruhig
gewesen war, die Hand, und die drei anderen Männer –
strenggenommen alles seine Vorgesetzten – hörten auf zu
reden.
»Gentlemen«, sagte Kranz, »ich danke für Ihre Beiträge. Als
nächstes wird die Crew eine passive Temperaturregelung
durchführen.« Er drehte sich um und nickte Faget zu, der
seinerseits nickte. »Danach werden sie die Energie in ihrem
Raumfahrzeug herunterschalten.« Er nickte Kraft zu. »Und
schließlich«, sagte er mit einem entschuldigenden Blick zu
Slayton, »werden sie sich schlafen legen. Eine müde Crew
kann mit ihrer Erschöpfung fertigwerden, aber wir können
nicht damit fertigwerden, wenn wir dem Schiff weiteren
Schaden zufügen.«
Kranz wandte sich wieder seiner Konsole zu und damit war
die Entscheidung endgültig.
Die nächsten zwei Stunden über führte die müde Besatzung
die Aufgaben durch, die man in der Bodenkontrolle von ihnen
verlangte, und erst danach bekam sie das O.K. zum Schlafen.
Selbst dann noch waren die Ruhezeiten knapp bemessen, nicht
länger als drei Stunden am Stück, und Haise sollte sich als
erster hinlegen, während Lovell und Swigert bis zu seiner
Rückkehr in der »Aquarius« Wache hielten.
Jetzt, eine Weile nach Mitternacht, war Haises Schlafperiode
fast zu Ende, und die beiden Männer im Cockpit der
Mondfähre stellten fest, daß sie ab und zu ebenfalls einnickten.
In der kalten, lauten Kabine der »Aquarius« zu schlafen war,
wie sich herausstellte, schwierig, aber nicht unmöglich. Man
mußte sich lediglich einreden, daß man eigentlich gar nicht
schlafen wollte, sondern nur ein paar Minuten lang die Augen
zumachen – selbst wenn man wegdämmerte und im Halbschlaf
vor dem Armaturenbrett schwebte –, und daß man eigentlich
immer noch wach sei und für jeden Notfall bereit.
»Aquarius, hier Houston«, ertönte plötzlich die Stimme von
Jack Lousma, dem CAPCOM der Mitternachtsschicht, aus
Lovells Kopfhörer.
»Hmm, jaa«, murmelte Lovell und versuchte, hellwach zu
klingen. »Hier Aquarius.«
»Es wird langsam Zeit, daß ihr beide ins Bett kommt und
Fred rausholt«, sagte Lousma.
»Roger«, grummelte Lovell. »Freu’ mich schon drauf.«
»Nehmt drei Stunden und meldet euch bei 85 Stunden 25
Minuten zurück«, sagte Lousma.
»Roger.«
Der Kommandant rieb sich die Augen und schwebte hoch in
die »Odyssey«. Dort ging er zu Haises Couch auf der rechten
Seite und rüttelte ihn wach. Lovells Schätzung nach war die
Temperatur in der Kommandokapsel mittlerweile bis auf vier,
fünf Grad gesunken. Um den schlafenden Haise jedoch hatte
sich eine fast körperwarme Luftschicht gebildet. Im
schwerelosen und somit auch konvektionslosen Raum war die
warme Luft nicht leichter als die sie umgebende kalte Luft,
und deshalb konnte sie nicht aufsteigen.
Lovell half Haise hoch und schickte ihn hinunter in das LEM.
Dann legte sich der Kommandant auf seine Couch, schlang die
Arme um den Oberkörper und rollte sich ein, damit er sowenig
Körperwärme wie möglich verlor.
Einen Augenblick später sank Swigert auf seine Couch und
tat es ihm gleich.
Von seinem Platz in der »Odyssey« aus konnte Lovell den
Lärm hören, den der noch immer benommene Haise in der
»Aquarius« machte, als er seinen Kopfhörer aufsetzte und sich
über Funk in Houston meldete. Haise sprach zwar aus
Rücksicht auf seine Kollegen mit gedämpfter Stimme, aber in
dem engen Raumfahrzeug hörte man jedes Flüstern, und als
Lovell sich in den Schlaf sinken lassen wollte, hörte er
unwillkürlich das einseitige Gespräch mit, das auf der anderen
Seite des Tunnels stattfand.
»Ich bin erst vor einer Minute oben weg, Jack«, sagte Haise
gerade zu Lousma, »und bin jetzt unten im LEM. Nach dem zu
urteilen, was ich durchs Fenster sehe, wird der Mond mit
Sicherheit kleiner.«
Im LEM herrschte Schweigen. Lovell nahm an, daß Lousma
Haise zu dem bislang Geleisteten beglückwünschte und ihm
versicherte, daß der Mond von nun an stetig kleiner werden
würde.
»Ich sag’ dir eins«, erwiderte Haise auf irgend etwas, das
Lousma gesagt hatte, »diese Aquarius ist große Klasse.«
Wieder Schweigen. Höchstwahrscheinlich sagte Lousma jetzt
zu Haise, die Besatzung sei ebenso große Klasse.
»Wenn ich höre, was da unten alles geleistet wird«, wandte
Haise bescheiden ein, »dann werden die Jungs da unten bei
diesem Flug wahrscheinlich auf eine größere Probe gestellt als
wir hier oben.«
Nein, nein, sagte Lousma vermutlich, wir tun nur das, wozu
wir ausgebildet wurden. Ihr seid es, denen der schwerste Teil
zufällt.
»Na ja, wir versuchen bloß zurechtzukommen«, erwiderte
Haise. »Wir wollen nur am Freitag bereit für den
Wiedereintritt sein.«
Lovell kniff die Augen fester zusammen und drehte das
Gesicht zur Wand, wobei er die Luftschicht um ihn herum, die
gerade warm geworden war, wieder aufwirbelte. Wenn sich
sein LEM-Pilot und der CAPCOM mit diesem
zuversichtlichen Gerede von wegen Wiedereintritt aufmuntern
wollten, war das in Ordnung. Aber Lovell wollte nichts davon
hören. Laut der letzten Mitteilung, die er von der Bodenstation
bekommen hatte, waren er und seine Crew knapp 25000
Kilometer vom Mond entfernt und flogen lediglich mit 1500
Metern pro Sekunde, deutlich unter 5000 Kilometer pro
Stunde. Ihre Geschwindigkeit, so wußte er, würde während der
nächsten knapp 40000 Kilometer stetig weiter sinken, bis sie in
das Schwerkraftfeld der Erde gerieten. Bis dahin würde Lovell
sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlen. Ein Schiff,
das 25000 Kilometer vom Mond entfernt war, war auch noch
über 360000 Kilometer von zu Hause entfernt – viel zu weit
weg, um von einer Wende zum Guten zu sprechen. Seit
Montagabend, dachte Lovell, während ihn langsam der Schlaf
übermannte, hatte er allerhand Gefühle erlebt, aber grundloser
Optimismus war nicht darunter gewesen.

Ed Smylie, der Chef der Abteilung Crew-Systeme, trat aus


dem Fahrstuhl. Er hatte einen Metallbehälter unter den Arm
geklemmt und hielt nervös nach Deke Slayton, Chris Kraft
oder Gene Kranz Ausschau.
Die Männer in der Mission Control wollten Smylie unbedingt
sehen – genauer gesagt, sie wollten den viereckigen,
schachtelartigen Gegenstand sehen, den er dabei hatte. Seit
dem Knall, dem Ausblasen und dem Schlingern von Apollo 13
am Montagabend hatten sich die Männer im Space Center und
vor allem die Ingenieure der Abteilung Crew-Systeme den
Kopf über die Lithiumhydroxid-Filter zerbrochen. Das
Problem, wie man die viereckigen Filter aus der
Kommandokapsel in die runden Filterbehälter der Mondfähre
einpassen sollte, schien relativ geringfügig, verglichen mit den
sonstigen Komplikationen dieses Fluges, aber es drängte
trotzdem.
Wenn man bedachte, daß sich drei Männer in der »Aquarius«
aufhielten, dürfte der erste der beiden Filter der »Aquarius«
etwa nach einer Flugzeit von 85 Stunden mit CO2 gesättigt
sein. Weit vor der Rückkehr des Schiffes würde auch der
zweite Filter voll sein, und dann würden die Astronauten
binnen kurzem an dem von ihnen selbst ausgeschiedenen
Kohlendioxid ersticken.
Smylie und seine Leute jedoch hatten nunmehr einen
wunderbar simplen Plan entwickelt, wie sich das
Kohlendioxidproblem in der »Aquarius« lösen ließe. Das
Lithiumhydroxid-System im LEM funktionierte genau wie das
in der Kommandokapsel mit Hilfe eines Kabinengebläses, das
die Atemluft im Raumfahrzeug durch Einlaßschlitze an der
Vorderseite der Filterbehälter ansaugte, worauf das
Lithiumhydroxid das CO2 band und die gereinigte Luft an der
Rückseite wieder ausströmte. Zudem befanden sich an der
Cockpitwand zwei Schläuche, so daß der Kommandant und
der LEM-Pilot ihre Druckanzüge im Falle eines Lecks am
Raumfahrzeug direkt an das Luftreinigungs- und
Lebenserhaltungssystem anschließen konnten.
Damit die übergroßen Filter der Kommandokapsel in der
ungastlichen Mondfähre funktionierten, gedachte Smylie den
hinteren Teil – den Austrittsteil – der sperrigen
Lithiumhydroxid-Behälter in einen Plastikbeutel zu stecken
und diesen mit festem, luftdichtem Klebeband zu verschließen.
Ein gebogenes Stück Karton, innen an dem Beutel festgeklebt,
sollte für die notwendige Stabilität sorgen und verhindern, daß
die Austrittsschlitze verdeckt wurden. Anschließend wollte
Smylie ein kleines Loch in den Beutel stechen, das eine Ende
des Schlauchanschlusses vom Druckanzug einfügen und die
Verbindungsstelle ebenfalls mit Klebeband luftdicht
verschließen. Wenn das Luftreinigungssystem des LEM lief,
würde die Atemluft durch die Vorderseite des viereckigen
Filterbehälters angesaugt und auf der Rückseite wieder
ausgeblasen, wobei sie in den Beutel und dann durch den
Schlauch gedrückt würde. Von dort würde sie über das
Luftreinigungssystem des LEM und dann wieder in die Kabine
geleitet.
Grundsätzlich würde das CO2-Filtersystem des LEM genauso
arbeiten wie sonst auch, nur daß der behelfsmäßig mit dem
Einlaßschlauch verbundene Filter aus der Kommandokapsel
die Funktion des aufgebrauchten Filters aus dem LEM
übernehmen würde. Wenn der neue Filter ebenfalls
aufgebraucht war, könnte jederzeit ein neuer besorgt und
eingesetzt werden.
Smylie war stolz auf seine seltsame, unhandlich aussehende
Erfindung. Er wußte, daß der kleine Behälter den Astronauten
wahrscheinlich das Leben retten würde. Und so etwas, sagte er
sich, ließ sich eben nicht bewerkstelligen, wenn man mit einem
Kopfhörer an einer Konsole saß, auch wenn man einen Titel
wie TELMU innehatte.
Es war mittlerweile 3 Uhr früh am Mittwochmorgen, und
Fred Haise genoß es, alleine im LEM zu sein. Er mochte die
ungewohnte Stille, die ungewohnte Bewegungsfreiheit, vor
allem aber wollte er die kurze Gelegenheit auskosten, da er die
Verantwortung für sein »eigenes« Schiff hatte.
»Houston, hier Aquarius«, meldete sich Haise leise bei
Lousma, während er zu Lovells verwaistem Platz schwebte.
»Los, Fred«, sagte Lousma.
»Ich blicke gerade auf die linke Seite des Mondes zurück«,
erklärte Haise, »und kann gerade noch die Ausläufer der Fra-
Mauro-Formation erkennen. Wir haben sie nicht sehen können,
als wir näher dran waren.«
»O.K.«, erwiderte Lousma. »Der Monitor sagt, daß ihr jetzt
26088 Kilometer vom Mond entfernt seid, Fred, und euch mit
einer Geschwindigkeit von knapp 1500 Metern pro Sekunde
fortbewegt.«
»Wenn dieser Flug vorbei ist«, bemerkte Haise, »wird uns
erst wirklich klar werden, wozu das LEM fähig ist. Wenn es
einen Hitzeschild hätte, würde ich sagen, wir bringen es
zurück.«
»Naja, zumindest habt ihr den Leuten daheim bei eurer
Übertragung am Montagabend einen guten Eindruck vom
Inneren des Schiffes vermittelt«, erwiderte Lousma. »War eine
gute Sendung, die ihr da gemacht habt.«
»Etwa zehn Minuten später wäre sie noch besser geworden.«
»Ja«, pflichtete Lousma bei, »danach war ziemlich rasch der
Wurm drin.«
Haise wandte sich vom Fenster ab und schwebte zu Swigerts
Platz auf der Abdeckung des Aufstiegsantriebs. Er griff in den
Stauraum und wühlte in den Essensbeuteln herum, die Swigert
gestern aus der »Odyssey« herübergeholt hatte.
»Und nur zu deiner Information, Jack«, funkte Haise. »Ich
werde mir jetzt die Zeit mit etwas Rindfleisch in Soße und
anderen erlesenen Köstlichkeiten vertreiben.«
»Ich nehme doch an, du hast dazu die Erlaubnis des
Kommandanten«, sagte Lousma.
»Rate mal«, sagte Haise lächelnd, »wo der Kommandant in
diesem Augenblick ist.«
»Trotzdem, an seiner Stelle würde ich dich alles abzeichnen
lassen, was du gegessen hast, damit ich auf dem laufenden
bleibe.«
»Verstanden.«
»Und, Fred«, fügte Lousma hinzu. »Wenn du irgendwann
mal nicht mit deinem Rindfleisch beschäftigt bist, könntest du
uns den CO2-Stand mitteilen.«
Lousmas lässiger Tonfall täuschte über die Dringlichkeit
seiner Bitte hinweg. Ed Smylies Besuch in der Mission Control
war sowohl für den Ingenieur als auch für die Controller
zufriedenstellend verlaufen. Der improvisierte Luftfilter hatte
Slayton, Kranz, Kraft und die für die lebenserhaltenden
Systeme des LEM zuständigen Offiziere, die sich um die
Konsole des CAPCOM geschart hatten, beeindruckt, und der
Bericht von der erfolgreichen Erprobung in der
Vakuumkammer hatte sie davon überzeugt, daß die Behelfs
Vorrichtung tatsächlich funktionieren könnte. Jetzt, nachdem
Smylie wieder weg war, lag seine Erfindung nach wie vor auf
Lousmas Konsole und zog andere Controller an, die
vorbeischlenderten und sie betasteten.
Die Tatsache, daß Smylies Behälter im Labor leicht
herzustellen war, garantierte noch lange nicht, daß man ihn im
Weltraum ebenso leicht basteln konnte, und allmählich wurde
es dafür höchste Zeit. Die Kohlendioxidkonzentration in der
Kommandokapsel und dem LEM wurde von einem ohne
Stromversorgung auskommenden Instrument festgestellt, das
einem Thermometer ähnelte und den Druck des giftigen Gases
in der gesamten Atemluft maß. In einem intakten Schiff sollte
die Quecksilbersäule nicht höher als 2 oder 3 Millimeter
ansteigen. Wenn sie über 7 stieg, wurde die Besatzung
angewiesen, die Lithiumhydroxid-Filter auszutauschen. Stieg
sie über 15, so bedeutete dies, daß die Filter gesättigt waren
und binnen kurzem die ersten Anzeichen einer CO2-Vergiftung
– Schwindelgefühl, Orientierungslosigkeit und Übelkeit –
einsetzen würden. Nachdem Fred Haise seinen Roastbeef-
Beutel zusammengefaltet und in den hinteren Teil des Cockpits
hatte treiben lassen, schwebte er zu dem Kohlendioxid-
Meßgerät, sah auf die Anzeige und erstarrte.
»O.K.«, erklärte Haise ruhig, »auf dem Meßgerät steht 13.«
Blinzelnd musterte er die Anzeige ein zweites Mal. »Jawohl,
13.«
»In Ordnung«, sagte Lousma. »Da haben wir ja eine ziemlich
hohe Konzentration, deshalb wollen wir jetzt anfangen, den
kleinen Filterbehälter zu basteln, den wir ausgetüftelt haben.«
»Willst du, daß ich mich in die Odyssey begebe und das
Material zusammentrage?«
»Nein«, antwortete Lousma. »Wir wollen den Skipper jetzt
noch nicht damit behelligen. Wir lassen ihn noch ein paar
Minuten schlafen.«
Als Lousma dies sagte, hörte Haise ein scharrendes Geräusch
aus dem Tunnel. Er blickte nach oben und sah, wie Lovell mit
vor Müdigkeit roten Augen kopfüber in die »Aquarius«
schwebte. Der Kommandant tauchte hinab zur Abdeckung des
Aufstiegsantriebs, drehte sich um und nahm Platz. Er warf
einen neugierigen Blick auf Haises halbleeren Roastbeef-
Beutel, der in Höhe seiner Augen schwebte, fing ihn in der
Luft und warf ihn quer durch das Cockpit zu dem LEM-
Piloten. Haise fing den Beutel und verstaute ihn rasch in einem
Müllsack.
»Du bist ja furchtbar früh wieder zurück«, sagte Haise.
Lovell gähnte. »Es ist zu kalt da oben, Freddo.«
»Du mußt dich ganz ruhig halten.«
»Ich habe versucht, mich ganz ruhig zu halten. Es nützt
nichts mehr. Würde mich überraschen, wenn es da drin mehr
als ein Grad hat.«
Lovell langte nach vorne, setzte seinen Kopfhörer auf und
meldete sich bei Lousma.
»Hallo, Houston, hier Aquarius. Kommandant Lovell meldet
sich zum Dienst zurück.«
»Roger, Jim. Ist Jack bei dir?«
»Nein, der pennt nach wie vor.«
»O.K.«, sagte Lousma. »Ich schlage vor, sobald er aufsteht,
sollten wir uns ranhalten und zwei von diesen
Lithiumhydroxid-Behältern bauen. Ich glaube, dazu werden
wir drei Paar Hände brauchen.«
»In Ordnung«, erwiderte Lovell, schüttelte den Kopf, bis er
wieder klar denken konnte. »Wir nehmen uns dann diese Filter
als nächste Maßnahme vor.«
Obwohl die Ruheperiode noch über eine Stunde dauern sollte
und Swigert es im Gegensatz zu Lovell geschafft hatte, in der
eiskalten »Odyssey« fest einzuschlafen, wurde er bald von
dem plötzlichen Geplauder und Herumrumoren im LEM
geweckt. Wenige Minuten, nachdem Lovell durch den Tunnel
hinabgestiegen war, tauchte auch Swigert auf. Am Boden trat
Joe Kerwin, dessen vierte Schicht als CAPCOM in ebenso
vielen Tagen anstand, seinen Dienst an und nahm Lousmas
Platz an der Konsole ein.
»O.K.«, meldete sich Lovell bei dem neuen Mann in
Houston, »Jack ist jetzt bei mir, und sobald er seinen
Kopfhörer aufhat, sind wir empfangsbereit.«
»Roger, Jim«, sagte Kerwin zur Bestätigung und Begrüßung
zugleich. »Wann immer ihr soweit seid.«
Während der nächsten Stunde ging es an Bord von Apollo 13
zu wie bei einer Schnitzeljagd. Kerwin las die von Smylie
zusammengestellte Liste mit den erforderlichen Ersatzteilen
vor, und die Besatzung wurde im ganzen Raumfahrzeug
herumgeschickt, um Materialien zusammenzutragen, die nie
für den Gebrauch gedacht waren, für den sie jetzt benötigt
wurden.
Swigert schwebte zurück in die »Odyssey« und holte eine
Schere, zwei der übergroßen Lithiumhydroxid-Behälter und
eine Rolle mit grauem Klebeband, mit dem normalerweise in
der letzten Phase eines Fluges Abfallbeutel an der Innenwand
des Schiffes befestigt wurden. Haise holte das LEM-Handbuch
hervor, schlug die dicken, kartonierten Seiten mit den
Anweisungen zum Aufstieg vom Mond auf – die Seiten, für
die er nun keinerlei Verwendung hatte –, und nahm sie aus den
Ringen. Lovell öffnete den Stauraum hinten im LEM und holte
die in Plastik eingewickelte Thermo-Unterwäsche heraus, die
er und Haise bei ihren Ausflügen auf dem Mond unter den
Druckanzügen getragen hätten. In diese einteiligen
Kombinationen, die nichts mit gewöhnlichen langen
Unterhosen gemein hatten, waren meterweise feine Röhrchen
eingewebt, durch die Wasser zirkulierte, damit die Astronauten
während ihrer Arbeit im gleißenden Licht des Mondtages
gekühlt wurden. Lovell schlitzte die Plastikverpackung auf,
warf das jetzt nutzlose Unterzeug wieder in die Kiste und
nahm das jetzt unschätzbar wertvolle Plastik mit.
Als alle Materialien zusammengetragen waren, las Kerwin
die Bauanleitung vor, die Smylie verfaßt hatte. Die Arbeit ging
bestenfalls schleppend voran.
»Dreht den Behälter so, daß ihr die Austrittsseite vor euch
habt«, sagte Kerwin.
»Die Austrittsseite?« fragte Swigert.
»Die Seite mit der Befestigung. Ab sofort bezeichnen wir sie
als Oberseite und das andere Teil als Unterseite.«
»Wieviel Klebeband sollen wir verwenden?« fragte Lovell.
»Etwa einen Meter«, antwortete Kerwin.
»Einen Meter…«, wiederholte Lovell laut nachdenkend.
»Nehmt etwa eine Armlänge.«
»Und den Beutel ziehe ich dann so über den Behälter, daß er
an den Seiten des Austrittsteils anliegt?« fragte Swigert.
»Kommt drauf an, was du unter ›Seiten‹ verstehst«, erwiderte
Kerwin.
»Gute Frage«, sagte Swigert. »Die offenen Enden.«
»Roger«, bestätigte Kerwin.
So ging es eine Stunde hin und her, bis schließlich der erste
Filter fertig war. Die Astronauten, die in dieser Woche
technische Meisterleistungen wie eine Landung in den
Mondbergen hätten vollbringen sollen, schwebten einen Schritt
zurück, verschränkten die Arme und betrachteten selig das
groteske Verpackungskunstwerk, das am Schlauch des
Druckanzuges hing.
»O.K.«, meldete Swigert stolzer als beabsichtigt an die
Bodenstation. »Unser selbstgestrickter Lithiumhydroxid-Filter
ist komplett.«
»Roger«, antwortete Kerwin. »Sieh nach, ob Luft
durchströmt.« Swigert bückte sich und hielt sein Ohr an die
offene Seite des Filters. Leise, aber deutlich hörte er, wie die
Luft durch die Schlitze und vermutlich über die frischen
Lithiumhydroxid-Kristalle gesogen wurde. In Houston
versammelten sich die Controller um den Bildschirm an der
Konsole des TELMU und starrten auf die Kohlendioxid-Werte.
Langsam und zunächst kaum wahrnehmbar sank die Anzeige
am CO2-Meßgerät, erst auf 12, dann auf 11, 5, schließlich auf
11 und danach noch tiefer. Die Männer in der Mission Control
schauten einander an und lächelten. Die Männer im Cockpit
der »Aquarius« ebenfalls.
»Ich glaube«, sagte Haise zu Lovell, »ich möchte jetzt mein
Roastbeef aufessen.«
»Ich glaube«, sagte der Kommandant, »ich möchte mich
anschließen.«
An den Konsolen in Houston war man am Mittwoch
keineswegs so guter Dinge wie im Raumfahrzeug.
Sicherlich gab es in der Mission manch einen Grund,
optimistisch zu sein. An der Konsole des TELMU, wo die
Aufzeichnungen für die lebenserhaltenden Systeme des LEM
ständig überwacht wurden, waren die Werte der
Kohlendioxidkonzentration an Bord der »Aquarius« ständig
gefallen. Knapp sechs Stunden nach Inbetriebnahme von Ed
Smylies genialem Filtersystem war der CO2-Gehalt der
Atemluft auf bloße 0,2 Prozent gesunken – so niedrig, daß er
sich mit den Bordmeßgeräten kaum feststellen ließ,
geschweige denn den Astronauten gefährlich werden konnte.
An der Konsole des INCO hatte man anscheinend ebenfalls
alles gut im Griff. Kurz nach der PC+2-Brennphase war das
von Max Faget verlangte kurze PTC-Rollen erfolgt. Durch die
kontrollierte Drehung des Schiffes um die eigene Achse stand
die S-Band-Antenne des LEM zur Erde hin, so daß die
Astronauten in ständiger Funkverbindung mit der Bodenstation
standen, ohne hektisch zwischen den Antennen hin- und
herschalten zu müssen. Auf anderen Stationen in der Mission
Control jedoch waren die Zahlen auf den Bildschirmen nicht
annähernd so vielversprechend wie beim INCO und beim
TELMU. Am schlimmsten sahen die Daten beim FIDO,
GUIDO und RETRO aus.
Als das Abstiegs-Antriebssystem der »Aquarius« zur PC+2-
Brennphase gezündet worden war, wollte man damit das Schiff
nicht nur beschleunigen, sondern auch eine Feinkorrektur der
Flugbahn durchführen. Apollo 13 mußte so auf die Erde
zufliegen, daß der Winkel beim Wiedereintritt in die
Atmosphäre nicht kleiner als 5,3 und nicht größer als 7,7 Grad
war. Flog die Kapsel mit einem Winkel von 5,2 Grad oder
weniger an, prallte sie von der Atmosphäre ab, wurde ins All
zurückgeschleudert und umkreiste bis in alle Ewigkeit die
Sonne. Flog sie aber in einem Winkel von 7,8 Grad oder noch
steiler an, dann gelänge ihr zwar der Wiedereintritt, aber
aufgrund der hohen Reibungshitze und des Andrucks wäre die
Besatzung noch vor der Wasserung tot.
Um dies zu vermeiden, sollte die Flugbahn von Apollo 13
durch die PC+2-Brennphase genau auf den schmalen
Wiedereintrittskorridor mit einem Anflugwinkel von 6,5 Grad
ausgerichtet werden. Die Bahnwerte, die kurz nach der
Brennphase auf den Bildschirmen der Flugdynamiker
aufgetaucht waren, hatten auch darauf hingedeutet, daß dieses
Ziel erreicht worden war. Jetzt jedoch, achtzehn Stunden nach
der Brennphase, ließen neue Werte darauf schließen, daß die
Flugbahn auf rätselhafte Weise flacher wurde, bis auf einen
Winkel von 6,3 Grad und niedriger.
Chuck Deiterich an der Konsole des RETRO bemerkte die
Abweichung als erster.
»Verfolgt jemand diese Flugbahndaten?« fragte er, ohne sein
Mikrophon einzuschalten, und drehte sich zu Dave Reed um,
dem rechts von ihm sitzenden Flugdynamik-Offizier.
»Ich verfolge sie«, antwortete Reed.
»Und was entnimmst du ihnen?«
»Wenn ich das bloß wüßte«, gab Reed zurück.
»Wir sind zu flach, das steht mal fest.«
»Definitiv.«
»Meinst du, die Brennphase war richtig?« fragte Deiterich
unsicher.
»Herrje, Chuck, sie muß richtig gewesen sein. Die Daten
waren zufriedenstellend. Das einzige, was mir dazu einfällt, ist,
daß die Flugbahndatenübermittlung an sich nicht stimmt. Das
Schiff ist immer noch so weit weg, daß wir vielleicht noch
nicht den genauen Kursverlauf haben.«
»Diese Zahlen sinken aber schon seit einer ganzen Weile,
Dave«, sagte Deiterich nachdrücklich. »Die Datenübermittlung
stimmt.«
Wenn sowohl Deiterich als auch Reed recht hatten und weder
bei den Zahlen noch bei der Brennphase ein Fehler unterlaufen
war, dann gab es für die flache Flugbahn kaum eine Erklärung.
Die naheliegendste Lösung – genaugenommen die einzige
Lösung – lautete, daß irgendwo an der »Odyssey« oder der
»Aquarius« etwas ausgeblasen wurde und die
aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge durch diese seitlich auf
sie einwirkende Schubkraft leicht vom Kurs abkamen.
Doch woher dieses Ausblasen kommen sollte, wußte
niemand. Die beschädigten Tanks des Versorgungsteils waren
längst leer, und alle anderen Systeme, aus denen etwas
entweichen könnte – die Wasserstofftanks zum Beispiel oder
die Lagesteuerungsraketen –, waren stillgelegt. Die konische
Kommandokapsel hatte keine gasbetriebenen Aggregate, mit
Ausnahme der kleinen Steuerdüsen, und die waren ebenso
abgeschaltet wie alle anderen Geräte an Bord. Am LEM war
ein derart unerklärlicher Gasaustritt ebenso unwahrscheinlich
wie an der Kommandokapsel. Fast alle Systeme waren seit der
PC+2-Brennphase abgeschaltet, und die verbliebenen wurden
vom TELMU und vom CONTROL genau überwacht. Falls aus
irgendeiner Leitung oder einem Tank Gas entweichen sollte,
wäre dies längst entdeckt worden.
Es gab nicht viele Möglichkeiten zur Korrektur der Flugbahn.
Falls man tatsächlich feststellen sollte, daß etwas ausgeblasen
wurde, und falls man auch noch das Leck fand, könnte man
das Raumfahrzeug möglicherweise so drehen, daß der
Austrittsdruck in die entgegengesetzte Richtung wirkte.
Dadurch würde vermutlich der Anflugwinkel von Apollo 13
steiler werden und damit auch der Wiedereintritt in die
Erdatmosphäre riskanter. Da es aber unwahrscheinlich war,
daß man die Ursache des Ausblasens feststellen konnte, blieb –
auch wenn die überarbeiteten FIDOs, GUIDOs und RETROs
gar nicht daran denken wollten – nur eine Alternative: Man
mußte die Energie im LEM wieder hochschalten, die
Führungsplattform neu ausrichten und eine weitere Zündung
des Abstiegs-Antriebssystems vornehmen.
»Wenn sich der Eintrittswinkel nicht von selbst stabilisiert«,
sagte Deiterich, »müssen wir das Ding noch einmal zünden.«
»Dann können wir bloß hoffen, daß er sich von selbst
stabilisiert«, sagte Reed.
Aber wenn die GUIDOs, FIDOs und RETROs den
Abstiegsantrieb der »Aquarius« erneut zünden wollten, mußten
auch die Zahlen auf dem Schirm des CONTROL-Offiziers –
des Mannes, der die nicht-lebenserhaltenden Systeme des LEM
überwachte – mitspielen. Im Augenblick sah es nicht danach
aus. Wie Milt Windler schon vor der PC+2-Zündung
befürchtet hatte, stieg allmählich der Druck in dem
superkritischen Heliumtank, der das Triebwerk mit Treibstoff
versorgte.
Das auf minus 268 Grad gekühlte Gas stand normalerweise
unter einem Druck von 80 psi, aber Helium dehnt sich rasch
aus, so daß die Tanks ein Vielfaches dieses Drucks aushalten
konnten. Erst wenn der Druck in den runden, doppelwandigen
Behältern auf über 1800 psi stieg, wurde es problematisch. An
diesem Punkt würde dann die in die Gasleitung eingebaute
Membran, die sogenannte »burst disk« reißen, und das Gas
würde ins All entweichen.
Dadurch würde zwar ein weiterer Druckanstieg verhindert,
aber man hätte auch kein Helium mehr, um den Treibstoff in
die Brennkammer zu pressen, und somit keinerlei Möglichkeit,
das Triebwerk noch einmal zu zünden, falls ein weiteres
Manöver erforderlich sein sollte. Die Besatzung konnte nur
darauf hoffen, daß von der vorherigen Brennphase noch
genügend Treibstoff – sogenannter ausgepreßter Treibstoff –
für eine weitere Zündung in den Zuleitungen war, ein
bestenfalls fragwürdiges Unterfangen. Während Deiterich und
Reed noch ungerührt über eine neuerliche Zündung des
Triebwerks sprachen, bemerkte Dick Thorson, der
CONTROL-Offizier, mit einem Mal, daß der Heliumdruck
stieg.
»CONTROL«, meldete sich Glenn Watkins, der für das
Antriebssystem zuständige Offizier in Thorsons
Unterstützungsteam.
»Schieß los, Glenn«, antwortete Thorson.
»Ich weiß nicht, ob du die Daten verfolgst, aber die Werte für
das superkritische Helium steigen.«
»Ich verfolge sie«, sagte Thorson. »Wann ist deiner
Schätzung nach die Druckgrenze erreicht?«
»Das wissen wir nicht genau«, antwortete Watkins. »Wir
überprüfen das noch. Aber im Augenblick stehen wir bei 1881
psi.«
»Und wann haben wir den Höchststand erreicht?«
»Das wissen wir auch nicht genau«, sagte Watkins.
»Aber wir rechnen mit einem Ausblasen bei etwa 105
Stunden.«
Thorson blickte auf seinen Flugzeitnehmer: Apollo 13 war
jetzt seit 96 Stunden unterwegs.
»Ich möchte, daß ihr Diagramme anlegt und dafür sorgt, daß
wir verstehen, was da vor sich geht«, sagte er. »Ich möchte
wissen, wie dieses Ausblasen passieren wird, wann es
passieren wird und in welche Richtung es losgehen wird. Ich
möchte keinerlei Überraschung erleben.«
Die Astronauten in ihrem weitgehend abgeschalteten
Raumfahrzeug mit dem nutzlosen Armaturenbrett hatten keine
Möglichkeit festzustellen, daß der Druck in dem Heliumtank
unter ihren Füßen stieg und ihre Flugbahn immer flacher
wurde. Am Mittwochnachmittag um ein Uhr war man in der
Bodenkontrolle unschlüssig, ob man ihnen die schlechten
Nachrichten mitteilen sollte. In den zehn Stunden, die seit dem
Einbau der Lithiumhydroxid-Filter vergangen waren, hatte
man an Bord der »Aquarius« alle Hände voll zu tun gehabt.
Die Besatzung hatte die meiste Zeit über die passive
Temperaturregelung, das sogenannte Drehen am Spieß,
überwacht, die Betriebsverfahren zum Wiedereinschalten der
»Odyssey« diskutiert, die in zwei Tagen anstand, und sich mit
der Bodenkontrolle beraten, wie man mit den vier vollen
Batterien des LEM die teilweise leere Batterie in der
Kommandokapsel aufladen könnte. Zwar hatte Haise vor der
langen Schicht von Morgengrauen bis zum späten Nachmittag
ein paar Stunden schlafen können, Lovell und Swigert jedoch
nicht, und gegen Mittag befahlen Deke Slayton und Flugarzt
Willard Hawkins dem Kommandanten und dem Kapselpiloten,
sich in die »Odyssey« zu begeben und es noch einmal zu
versuchen. Am frühen Mittwochnachmittag lagen die beiden
Männer auf ihren Couchen und schliefen, und die »Aquarius«
war wieder in der Hand von Fred Haise.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Vance Brand, der
kurz zuvor Joe Kerwin an der Konsole des CAPCOM abgelöst
hatte.
»Schießt los, Houston.«
»Wollten euch bloß mitteilen, daß ihr im Augenblick
ziemlich gut auf Kurs liegt, etwa um die 6,5 Grad«, berichtete
Brand mit aufmunterndem Tonfall. Dann schwieg er kurz.
»Aber wir haben eine leichte Abweichung, und wenn wir die
nicht korrigieren, wird euer Wiedereintrittskorridor zu flach.«
»In Ordnung«, sagte der derzeitige Kommandant. »Was
wollen wir dagegen unternehmen?«
»Wir haben uns gedacht«, sagte Brand, »daß wir bei etwa
104 Stunden eine Mittkurs-Zündung durchführen. Nur eine
kleine, um etwa 20 Meter pro Sekunde.«
»O.K.«, sagte Haise. »Klingt gut.«
»Die einzige Schwierigkeit dabei ist«, fügte Brand hinzu,
»daß wir auch den Druck in eurem superkritischen Heliumtank
im Auge behalten und damit rechnen, daß die Membran reißt.
Wir wissen nicht genau, wann das passieren wird –
möglicherweise bei etwa 105 Stunden. Aber selbst wenn es
früher losgeht, sollten wir unserer Ansicht nach genügend
ausgepreßten Treibstoff haben, so daß wahrscheinlich alles
klargeht.«
»Das klingt ebenfalls O.K.«, sagte Haise.
Ob dies für Haise tatsächlich O.K. war, ließ sich anhand
seines Tonfalls über Boden-Bord-Funk nicht feststellen. Wenn
sich die Flugbahn derart geändert hatte, daß eine weitere
Zündung erforderlich war, dann handelte es sich keineswegs
um eine »leichte Abweichung«. Darüber hinaus dürfte dem
LEM-Piloten der Gedanke daran, daß wieder unkontrolliert
Gas aus einem der Tanks von Apollo 13 ausgeblasen wurde –
diesmal zudem aus der Abstiegsstufe von Haises geschätzter
Mondfähre –, gar nicht gefallen.
Zwischen Bodenkontrolle und Raumfahrzeug herrschte
Schweigen, als Haise vom linken Pilotenplatz des LEM aus
wieder zum Stauraum im hinteren Teil des Cockpits schwebte.
Unter den wenigen persönlichen Gegenständen, die die
Besatzung mit an Bord genommen hatte, befanden sich auch
ein kleiner Kassettenrekorder und eine Handvoll Kassetten mit
Songs, die die Astronauten ausgesucht hatten. Niemand hatte
erwartet, daß sie auf dem Weg zum Mond viel Zeit zum
Musikhören haben würden, aber gegen Ende der Woche, nach
dem Umladen der aus der Fra-Mauro-Region mitgebrachten
Mondsteine und dem Abtrennen des LEM, gedachte die Crew
auf dem Heimflug die Kassetten zu genießen. Jetzt natürlich
war die »Aquarius« nach wie vor an die »Odyssey«
angekoppelt, und der für die Mondsteine gedachte Stauraum
war leer, aber Apollo 13 befand sich zweifellos auf dem
Rückflug, und Haise wollte Musik hören. Als Vance Brand
nun an seiner CAPCOM-Station saß, wurde das Rauschen in
der Funkverbindung nicht etwa von einer besorgten Frage des
zeitweiligen Kommandanten unterbrochen, sondern durch die
Anfangsakkorde von »The Age of Aquarius«, einem der ersten
Stücke auf der Wunschliste der Astronauten. Die Controller im
Raum schauten einander an und lächelten. Fred Haise ließ sich
anscheinend nicht so leicht aus der Fassung bringen.
»He, Fred, hast du eine Frau da oben, oder was?« meldete
sich Brand.
»Damit könnte ich gar nichts anfangen«, antwortete Haise
lachend.
»Tja, nachdem du schon so gute Laune hast«, sagte Brand,
»will ich dich noch mehr aufmuntern. Jemand hat mir gerade
den neuesten Bericht über eure Reserven gereicht, und es sieht
so aus, als würdet ihr nur zwischen 11 und 12 Ampere pro
Stunde verbrauchen. Das sind zwei Ampere unter dem
errechneten Wert des TELMU, und es sieht richtig gut für euch
aus.«
»Roger«, sagte Haise.
»Außerdem seid ihr aufgrund unserer Flugbahnerfassung
jetzt etwa 70000 Kilometer vom Mond entfernt. Wie der FIDO
mir mitteilt, heißt das, daß ihr in den Einflußbereich des
irdischen Schwerkraftfeldes kommt und allmählich wieder
beschleunigt.«
»Ich dachte mir doch, daß es langsam Zeit dafür wird«, sagte
Haise.
»Roger«, sagte Brand.
»Wir sind auf dem Heimflug.«
»Ganz genau.«
Haise stellte seinen Kassettenrekorder etwas leiser, ließ ihn
hinter sich in der Luft treiben und schwebte zum Fenster.
Wenn Apollo 13 inzwischen tatsächlich das Gravitationsfeld
des Mondes verlassen hatte, dann wollte er zumindest einen
letzten langen Blick zurückwerfen. Da die Unterseite des LEM
auf den Mond gerichtet war und auch die Fenster in die gleiche
Richtung wiesen, sollte er freie Sicht auf den Erdtrabanten
haben. Und da seine Kollegen schliefen und es bis auf die
blechernen Töne aus dem Kassettenrekorder still im Cockpit
war, herrschte genau die richtige Atmosphäre für einen Blick
zum Abschied. Doch plötzlich schlug die Stimmung um.
Haise wollte sich gerade zum rechten Fenster begeben, als
ein sattsam bekannter Knall das Schiff erschütterte. Er streckte
sofort die Hand aus und hielt sich am Schott fest. Es hatte fast
genauso geklungen wie bei der Explosion am Montagabend,
auch wenn der Knall zweifellos leiser gewesen war; und die
Erschütterung war ebenfalls so ähnlich gewesen, allerdings
weniger heftig. Diesmal jedoch war eine andere Stelle
betroffen. Wenn Haise sich nicht irrte – und er wußte, daß er
recht hatte –, dann war die Erschütterung nicht vom
Versorgungsteil ausgegangen, sondern von der Abstiegsstufe
des LEM, direkt unter seinen Füßen.
Haise mußte heftig schlucken. Es müßte die
Überdruckmembran am Heliumtank gewesen sein. Wenn
einem die Bodenstation mitteilte, man müsse mit einem
Ausblasen rechnen, und einen Augenblick später knallte und
bebte es an Bord, dann konnte man davon ausgehen, daß
zwischen beidem ein Zusammenhang bestand. Aber Haise, der
die »Aquarius« in- und auswendig kannte, wußte, daß dem
nicht so war. Die Druckmembranen klangen nicht so, wenn sie
rissen, und es gab auch keine solche Erschütterung. Vorsichtig
schwebte er hinauf zu seinem Bullauge, spähte hinaus und
erschrak genauso wie vierzig Stunden früher Jim Lovell, als er
ausströmendes Gas vor dem Fenster entdeckt hatte. Die dichte
weiße Wolke aus eisigen Schneeflocken, die aus der
Abstiegsstufe der »Aquarius« entwich, sah ganz und gar nicht
so aus wie der feine Heliumdunst, der bei einer gerissenen
Membran ausströmte.
»O.K. Vance«, sagte Haise so ruhig wie möglich. »Ich habe
eben einen leisen Knall gehört. Klang, als wäre es aus der
Abstiegsstufe gekommen. Und ich habe wieder Schneeflocken
aufsteigen sehen, so ähnliche wie vor ein paar Tagen. Ich frage
mich«, sagte er mit hoffendem Unterton, »wie die Druckwerte
für das superkritische Helium aussehen.«
Brand saß wie erstarrt da. »O.K.«, sagte er. »Habe
verstanden, daß du einen Knall und einige Schneeflocken
wahrgenommen hast. Wir werden uns die Sache hier unten mal
vornehmen.«
Die Männer in der Mission Control reagierten auf diese
Meldung wie elektrisiert.
»Hast du diesen Funkspruch empfangen?« fragte Dick
Thorson von der CONTROL-Konsole aus bei Glenn Watkins
an, dem Antriebsspezialisten in seinem Unterstützungsteam.
»Habe empfangen.«
»Wie steht’s ums Superkritische?«
»Unverändert, Dick«, sagte Watkins.
»Sicher?«
»Sicher. Druck steigt weiter. Das kann es nicht gewesen
sein.«
»CONTROL, Flight«, meldete sich Gerry Griffin von der
Konsole des Flugdirektors.
»Sprechen Sie, Flight«, antwortete Thorson.
»Haben Sie eine Erklärung für den Knall?«
»Negativ, Flight.«
»Flight, CAPCOM«, meldete sich Brand.
»Los, CAPCOM«, antwortete Griffin.
»Weiß jemand, was da geknallt haben könnte?«
»Noch nicht«, sagte Griffin.
»Und was wollen wir ihm dann mitteilen?« fragte Brand.
»Sagen Sie ihm nur, daß es nicht das Helium war.«
Während Brand sich wieder mit dem Raumfahrzeug in
Verbindung setzte und Griffin auf Konferenzschaltung mit
seinen Controllern ging, musterte Bob Hesselmeyer, der
TELMU, die Daten auf seiner Konsole. Er überprüfte die
Sauerstoffwerte und die Kohlendioxidkonzentration, die
Wasserreserven und den Lithiumhydroxid-Vorrat, und dann
bemerkte er die Batteriewerte: Die vier kostbaren
Energiequellen in der Abstiegsstufe der »Aquarius« konnten
auch zusammen kaum genügend Strom für das angeschlagene
und überlastete Schiff liefern. Die Werte von Batterie Nummer
zwei waren gefährlich tief gesunken und sanken stetig weiter.
Wenn die übermittelten Daten in Ordnung waren, dann mußte
es, ähnlich wie am Montagabend im Versorgungsteil,
irgendwo einen Kurzschluß gegeben haben. Und wenn es
einen Kurzschluß gegeben hatte, würde die Batterie bald nicht
mehr zur Verfügung stehen, und mit ihr ein Viertel der
Energiereserven, die man in Houston bereits bis zum letzten
Ampere eingeteilt hatte. Aber die Daten waren noch zu
unvollständig, als daß man Rückschlüsse hätte ziehen können,
und so wies Hesselmeyer Griffin nicht darauf hin. Und da
Hesselmeyer seine Feststellung Griffin nicht meldete, wurde
sie damit auch nicht an die Besatzung weitergeleitet.
In diesem Moment war das vermutlich auch gut so. Fred
Haise, der am Fenster stand und auf die größer werdende
Wolke rund um das Unterteil des LEM blickte, hatte im
Augenblick mehr als genug um die Ohren.
11

Mittwoch, 15. April, 13:30 Uhr

Don Arabian war in Haus 45, im Mission Evaluation Room


oder MER, als in der »Aquarius« Batterie Nummer zwei
hochging. Obwohl Arabians Arbeitsräume knapp einen halben
Kilometer von der Mission Control entfernt waren – in einem
gesichtslosen, barackenartigen Bau, in dem auch Leute wie Ed
Smylie arbeiteten –, befand Arabian sich keineswegs am
Rande des Geschehens. Er und sein Personal waren mit den
gleichen Bildschirmkonsolen ausgestattet wie die Männer in
der Mission Control, sie hörten dieselben Gespräche zwischen
Raumfahrzeug und Bodenstation mit, sie verfolgten die
gleichen vom Schiff übermittelten Telemetriedaten. Der
einzige Unterschied war, daß in der Mission Control jeweils
ein Mann für einen Bereich der Kommandokapsel oder des
LEM zuständig war. Von Arabian aber erwartete man, daß er
alles im Auge behielt. Als in der »Aquarius« die Leistung von
Batterie Nummer zwei abfiel, wußte er, daß gleich sein
Telefon klingeln würde.
Don Arabian war der Fachmann für Systeme. Für »Mad
Don«, wie man ihn allgemein nannte, und die fünfzig oder
sechzig anderen Männer, die im MER arbeiteten, stellten jede
Schraube, jeder Bolzen und jedes Geräteteil in einem
Raumfahrzeug ein System dar. Eine Brennstoffzelle war ein
Energiesystem; das LEM war ein Landesystem; ein
Warnlämpchen – bestehend aus Glühfaden, Schraubfassung
und Glaskolben – war ein Beleuchtungssystem. Selbst die
Astronauten, deren Aufgabe darin bestand, die Knöpfe zu
drücken, damit die anderen Geräte liefen, waren für Arabian
und seine Mitarbeiter Systeme.
Insgesamt gab es in der Kommandokapsel 5,6 Millionen
derartiger Systeme; im LEM waren noch etliche Millionen
mehr. Wenn eines davon nicht funktionierte, mußte Don
Arabian herausfinden, warum.
Als Fred Haise einen Knall in der Abstiegsstufe meldete und
die Daten auf dem LEM-Bildschirm im
Missionsbeurteilungsraum einen Energieabfall in Batterie zwei
anzeigten, machte Arabian sich an die Arbeit. Er war gerade
ein paar Minuten dabei, als das Telefon an seiner Konsole
klingelte.
»MER«, meldete sich Arabian.
»Don? Hier Jim McDivitt.«
»Wie ich sehe, habt ihr da drüben ein Problem«, sagte
Arabian.
»Überwachen Sie Batterie zwo?« fragte McDivitt.
»Wird überwacht.«
»Und was halten Sie davon?«
»Ich glaube, ihr habt ein Problem.« Auf der anderen Seite
herrschte sorgenvolles Schweigen. »Jim«, sagte Arabian, und
fast klang es, als lache er, »haben Sie schon zu Mittag
gegessen?«
»Äh, nein.«
»Na denn, warum kommen Sie nicht vorbei und essen etwas
mit mir. Ich bestelle uns eine Pizza, und dann nehmen wir uns
die Sache vor.« Arabians Lässigkeit beruhte weniger auf
Überheblichkeit als vielmehr auf Zuversicht. Obwohl er bisher
kaum Zeit gehabt hatte, sich eingehender mit dem Problem in
der »Aquarius« zu befassen, war er sich ziemlich sicher, daß er
die Ursache gefunden hatte. Jede der vier Batterien des LEM
bestand aus einer Reihe von Zink- und Silberplatten, die in
einen Elektrolyten getaucht waren und auf diese Weise Strom
erzeugten. Dabei entstanden als Abfallprodukte Wasserstoff
und Sauerstoff. Normalerweise bildeten sich die beiden Gase
in so geringen Mengen, daß man sie kaum messen konnte.
Aber ab und zu kam es zu einer Überproduktion, und dann
konnte es vorkommen, daß die Dämpfe sich in einer Mulde der
Batterieabdeckung sammelten. Arabian war diese Mulde nie
ganz geheuer gewesen. Wenn Wasserstoff und Sauerstoff sich
auf engstem Raum im richtigen Verhältnis mischen, bedarf es
nur noch eines winzigen Funkens, und es gibt eine Explosion.
In einer Batterie konnte es natürlich am ehesten zu einer
Funkenbildung kommen, und als Haise den Knall und die
Schneeflocken gemeldet hatte, mußte Arabian sofort an diese
Gefahrenquelle denken. Die Batterien, die man bislang in alle
Mondfähren eingebaut hatte, waren potentielle Zeitbomben,
und nun war eine davon hochgegangen.
Die Diagnose war jedoch gar nicht so schlimm. Nachdem er
sich mit dem vor Ort weilenden Vertreter der Eagle Picher
Company, der Firma, die die Batterien herstellte,
zusammengesetzt hatte, kam Arabian zu dem Schluß, daß der
dadurch entstandene Schaden am LEM durchaus zu verkraften
war. Es war eindeutig eine leichte Explosion gewesen, denn
die Batterie funktionierte noch. Noch wichtiger aber war – da
die Batterie mit Sicherheit beschädigt war –, daß die übrigen
Teile des elektrischen Systems den Ausfall allem Anschein
nach ausglichen.
Arabian, der Mann von Eagle Picher und ein
Elektroingenieur des MER begaben sich in das
Konferenzzimmer von Haus 45. Nach wenigen Minuten
tauchte auch Jim McDivitt in Begleitung zweier Vertreter von
Grumman auf, dem Hersteller der Mondfähre. Kurz danach
traf Arabians Pizza ein.
»Männer«, sagte der MER-Chef, während er ein Stück Pizza
abriß und den Karton quer über den Tisch zu McDivitt schob,
»wir haben uns die Werte angesehen, und die gute Nachricht
lautet: Es ist nichts Großartiges.« Er wandte sich an den
Ingenieur von Eagle Picher. »Einverstanden?«
Der Ingenieur pflichtete bei.
»Dann bleibt die Batterie also funktionstüchtig?« fragte
McDivitt.
»Sollte sie«, erwiderte Arabian.
»Und mit der Energie, die uns zur Verfügung steht, können
wir den Rückflug schaffen?«
»Sollten wir«, sagte Arabian. »Wir verbrauchen ohnehin
weniger Ampere, als wir dachten, und wir sollten auch
innerhalb der Fehlertoleranz bleiben.«
»Dann hat also gar keine Explosion stattgefunden?« fragte
der Mann von Grumman.
»Oh, natürlich hat es eine Explosion gegeben«, sagte
Arabian.
»Aber dabei ist nichts… hochgegangen«, half der Mann von
Grumman nach.
»Aber klar doch«, sagte Arabian, während er seine Pizza
vertilgte. »Die Batterie ist hochgegangen.«
»Aber müssen wir das wirklich so formulieren? Ich meine,
die Batterie funktioniert doch noch. Sie werden die Leute nur
unnötig aufregen, wenn Sie sagen, es sei etwas
hochgegangen.«
»Welche Formulierung würden Sie vorschlagen?«
Der Mann von Grumman sagte nichts.
»Jetzt hören Sie mal«, sagte Arabian nach kurzem
Schweigen, »Sie und ich wissen, daß es zwischen uns keinerlei
Probleme gibt. Aber wenn die Batterie Mist baut, dann drücke
ich das auch so aus. Und wenn ein Tank Mist baut, dann sage
ich das genauso. Und wenn die Crew Mist baut, ebenfalls.
Männer, das sind doch bloß Systeme, und wenn man nicht
bereit ist, Fehler einzugestehen, dann kann man sie auch nicht
beheben.«
Arabian war mit dem ersten Stück Pizza fertig, holte sich ein
neues aus dem Karton und warf einen kurzen Blick auf seine
Armbanduhr. An Bord von Apollo 13 gab es noch acht
Millionen andere Systeme, die heute seine ganze
Aufmerksamkeit erforderten. Er wollte seine kostbare Zeit
nicht mit einem Arbeitsessen vergeuden.

Jim Lovell war unangenehm überrascht, als er feststellte, was


während seiner Schlafperiode im LEM vorgefallen war. Am
Mittwoch morgen um kurz nach zehn hatte er sich durch den
Tunnel in die »Odyssey« begeben, und erst kurz vor drei war
er wieder heruntergeschwebt. Er hatte seit der Tankexplosion
keine viereinhalb Stunden mehr am Stück geschlafen, und da
sie in etwa achtundvierzig Stunden landen würden, kam die
Ruhepause gerade zum rechten Zeitpunkt.
Lovell war wie immer auf diesem Flug vor dem planmäßigen
Weckruf von der Bodenstation aufgewacht. Er erhob sich von
der eiskalten Couch in der Kommandokapsel, schaute sich mit
trübem Blick um und schwebte durch die untere Ausrüstungs-
Bucht zum Tunnel. Bevor er jedoch in das LEM hinabtauchte,
hielt er inne und dachte nach. Lovell hatte ab und an schon mit
dem Gedanken gespielt, gegen eine eiserne Regel bei jedem
Raumflug zu verstoßen, und jetzt entschloß er sich dazu. Er
öffnete die oberen zwei oder drei Knöpfe seiner
Fliegerkombination, griff unter sein Thermo-Unterhemd,
tastete nach den biomedizinischen Sensoren, die man ihm am
Samstag vor dem Start auf die Brust geklebt hatte, und riß sie
mit zusammengebissenen Zähnen ab.
Lovells Ansicht nach gab es allerhand Gründe, weshalb die
Elektroden weg mußten. Zunächst einmal juckten sie. Der
Klebstoff, mit dem die Sensoren befestigt waren, war
vermutlich so verträglich wie möglich, aber nach vier Tagen
wurde einem selbst der hautfreundlichste Kleister lästig.
Außerdem konnte er Strom sparen, wenn er die Sensoren
abmontierte. Das biomedizinische Überwachungssystem, das
die Bio-Daten der Astronauten zur Erde funkte, wurde ebenso
wie alle anderen Geräte von den vier Batterien der »Aquarius«
gespeist, und auch wenn es nicht gerade ein Energiefresser
war, verbrauchte es trotzdem Strom. Und schließlich spielte
auch die Intimsphäre eine Rolle. Jim Lovell war wie jeder
Testpilot stolz darauf, daß man anhand seines Tonfalls
keinerlei Gefühlsregung feststellen konnte.
Aber nicht alle Körperreaktionen ließen sich willentlich
steuern, und selbst der abgebrühteste Pilot hatte schon erlebt,
daß es in Notsituationen zu unkontrollierbaren
Schweißausbrüchen und beschleunigtem Herzschlag kommen
konnte. Lovell wußte nicht, wie hoch sein Puls nach der
Explosion am Montagabend gewesen war, aber es wurmte ihn,
daß es anscheinend sonst jeder wußte, vom Flugarzt über die
FIDOs bis zu den akkreditierten Reportern. Er sah nicht ein,
daß seine Pulswerte in alle Welt ausgestrahlt werden sollten,
falls es in den nächsten zwei Tagen zu einer weiteren Krise
kommen sollte. Nachdem er die Elektroden abgezupft hatte,
knüllte er sie zusammen, steckte sie in die Tasche und stieß
sich in Richtung der Mondfähre ab.
»Morgen«, sagte Haise, als Lovells Kopf aus dem Tunnel
ragte. »Sieht so aus, als hättest du endlich ein bißchen
geschlafen.«
Lovell blickte auf seine Uhr. »Wow«, sagte er. »Sieht ganz so
aus.«
»Kommt Jack auch runter?« fragte Haise.
»Nee.« Lovell schwebte ins Cockpit herunter. »Sägt immer
noch vor sich hin. Wie sieht die Lage hier unten aus?«
»Tja«, sagte Haise, »die haben definitiv entschieden, daß wir
irgendwann heute nacht eine Mittkurs-Zündung vornehmen
sollen. Wahrscheinlich bei etwa 105 Stunden. Unsere
derzeitige Flugbahn wird zu flach.«
»Hmmm«, meinte Lovell.
»Und sie sind ziemlich sicher, daß wir es versuchen werden,
bevor das Helium entweicht.«
»Wäre sinnvoll.«
»Außerdem«, sagte Haise, »sieht es so aus, als hätte es in der
Abstiegsstufe einen kleinen Zwischenfall gegeben.«
»Einen… Zwischenfall?«
»Einen Knall. Und wir haben etwas ausgeblasen.«
Der Kommandant warf seinem LEM-Piloten einen langen
Blick zu, griff zu seinem Kopfhörer und drückte auf die
Sprechtaste.
»Houston, hier Aquarius«, meldete sich Lovell.
»Roger, Jim«, sagte Brand in Houston. »Guten Morgen.«
»Sag mal, Vance, was habt ihr bezüglich des Ausblasens in
der Abstiegsstufe festgestellt? War es ein Ausblasen? Blasen
wir nach wie vor aus?«
Brand, der den Bericht von Arabian und McDivitt aus Haus
45 noch nicht erhalten hatte, wich aus. »Fred hat es gemeldet.
Sieht er es immer noch?«
Lovell wandte sich mit fragender Miene an Haise. Haise
schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte Lovell. »Fred hat nichts weiter gesehen.«
»O.K.«, erwiderte Brand kurz angebunden.
Lovell wartete, ob der CAPCOM noch etwas hinzufügen
wollte, aber Brand sagte nichts mehr. In dem mit allerlei Codes
und Kürzeln versetzten Funksprechverkehr zwischen
Raumfahrzeug und Bodenstation war dieses Schweigen mehr
als vielsagend. Brand wußte noch nicht, was der Knall zu
bedeuten hatte, und er zöge es ganz gewiß vor, wenn der
Kommandant nicht weiter nachhakte.
Lovell ließ noch einen Augenblick verstreichen und wandte
sich dann anderen Dingen zu.
»Außerdem höre ich, daß wir damit rechnen müssen, daß das
superkritische Helium bei etwa 105 Stunden entweicht«, fuhr
Lovell fort.
»Eher bei 106 oder 107«, erwiderte Brand.
»Und vorher führen wir eine kleine Mittkurskorrektur
durch?«
»Roger«, sagte Brand. »Das garantiert nicht nur, daß ihr den
Treibstoff auspressen könnt, sondern es bedeutet auch, daß
eure Lagesteuerungsraketen durch den Überdruck im
Heliumtank betriebsbereit sind. Dadurch könnt ihr
dagegenhalten, falls ihr durch das Ausblasen ein bißchen
herumgestoßen werdet.«
»Roger«, wiederholte Lovell skeptisch. »Ich kann
dagegenhalten.«
Er unterbrach die Verbindung, schürzte die Lippen und kam
zu dem Entschluß, daß ihm das soeben Gehörte ganz und gar
nicht gefiel.
Er spürte, wie er unter der jähen Anspannung die Zähne
aufeinanderbiß. Plötzlich meldete sich Brand wieder über
seinen Kopfhörer.
»Und es gibt im Augenblick noch etwas, Jim. Könntest du
den Schalter für deine biomedizinischen Systeme in die andere
Richtung kippen? Wir empfangen zwar ein Signal, aber keine
Daten.«
Lovell schwieg. Brand schwieg ebenfalls. Drei Sekunden
vergingen, in denen der Mann, der gelassen an seiner Konsole
in der Bodenkontrolle saß, auf eine Antwort aus dem
Raumfahrzeug wartete.
»Wißt ihr was, Houston«, sagte der Kommandant schließlich.
»Ich habe das biomedizinische Zeug nicht mehr dran.«
Lovell blieb in Funkverbindung mit dem Boden und
wappnete sich für den Tadel, den er vermutlich gleich zu hören
bekommen würde. Statt dessen herrschte ein paar Sekunden
lang Schweigen.
»O.K.« war alles, was der CAPCOM schließlich sagte.
Als in Houston die Nacht anbrach, hatten Lovell, Swigert und
Haise an viel mehr zu denken als an die in ein paar Stunden
bevorstehende Mittkurskorrektur. Die Mission Control hatte
eben beschlossen, die seit Montag abgeschaltete
Kommandokapsel für kurze Zeit wieder in Betrieb zu nehmen
und die Energie hochzuschalten.
Seit die Astronauten vor nahezu achtundvierzig Stunden die
Kapsel verlassen hatten und in die Mondfähre umgestiegen
waren, war die »Odyssey« mehr und mehr abgekühlt. So
schlimm das auch für die Männer in dem relativ gut isolierten
Cockpit sein mochte, viel schlimmer war es noch für die in der
dünnen Außenhaut des Raumfahrzeugs eingebauten
elektronischen Geräte. Bei einer Außentemperatur vom minus
173 Grad ließen sich die elektronischen Eingeweide des
Schiffes selbst bei bester passiver Temperaturregelung nicht
warmhalten. Aus diesem Grund waren die empfindlichsten
Apparaturen an Bord mit zusätzlichen Heizelementen
ausgerüstet, die sich automatisch ein- und wieder
ausschalteten, aber seit dem Abschalten der »Odyssey« waren
auch die Heizelemente außer Betrieb.
Kaum eines der zig Millionen Systeme an Bord der
Kommandokapsel war so kälteempfindlich – und zugleich so
wichtig für den Wiedereintritt – wie die Lagesteuerungsraketen
und die Kreiselplattform. Die Steuerdüsen der
Kommandokapsel liefen genau wie die Raketen des LEM mit
Flüssigtreibstoff, der als Gas ins All ausgeblasen wurde. Wie
jede Flüssigkeit durfte er nur eine ganz bestimmte Zeit der
Kälte ausgesetzt werden, sonst erstarrte er und war für die
Raketen nicht mehr zu gebrauchen.
Noch empfindlicher war das Trägheitsführungssystem. Wenn
das Gerät soweit abkühlte, daß das Schmiermittel für die drei
Kreisel zu zähflüssig wurde, funktionierte die Plattform nicht
mehr genau. Zumal sich gleichzeitig die fein gerändelten
Beryllium-Komponenten verzogen, so daß das genauestens
vermessene Instrument noch mehr aus dem Gleichgewicht
geriet. Am Mittwochabend, als abzusehen war, daß die
Kommandokapsel weitere vierundzwanzig Stunden durch das
eiskalte All fliegen mußte, beschloß Gary Coen – der
Führungs-, Navigations- und Leit-Offizier oder GNC – sich zu
erkundigen, wieviel Kälte die Systeme unbeschadet aushalten
konnten. Zuerst wandte er sich an den vor Ort anwesenden
Vertreter der Firma, die das Trägheitsführungssystem
hergestellt hatte.
»Sie müssen etwas für mich erledigen«, sagte Coen zu dem
Gastingenieur, nachdem er in den GNC-Nebenkontrollraum
geeilt war, wo die Repräsentanten der Herstellerfirmen saßen.
»Ich brauche Einsicht in Ihre Firmenunterlagen, um
festzustellen, welche Erfahrungen Sie bei der Inbetriebnahme
eines völlig kalten Trägheitsführungssystems gemacht haben.«
»In völlig kaltem Zustand?« fragte der Ingenieur.
»Völlig«, sagte Coen. »Ohne Heizelemente.«
»Das wird nicht einfach sein. Diesbezügliche Erfahrungen
liegen nicht vor.«
»Gar keine?« fragte Coen.
»Gar keine. Wozu auch? Das Gerät wird normalerweise
beheizt. Wir wissen bereits, daß das Ding nicht funktioniert,
wenn man ohne Heizelemente fliegt.«
»Dann gibt es also nicht die geringsten Erfahrungswerte?«
fragte Coen.
»Nun ja«, sagte der Ingenieur nach kurzer Pause, »einer
unserer Mitarbeiter hat abends mal ein Führungssystem mit
nach Hause genommen und es versehentlich über Nacht in
seinem Kombi gelassen. Es ist bis auf minus ein Grad
abgekühlt, war aber tags darauf sofort wieder
funktionstüchtig.«
Coen schaute den Mann an. »Das ist alles?« Der Mann
zuckte die Achseln. »Tut mir leid.«
Da mehr Erfahrungswerte nicht zur Verfügung standen,
wußte der GNC, daß es nur eine Möglichkeit gab. Irgendwann
vor dem Wiedereintritt mußten die Hitzesensoren und die
Telemetrie in der Kommandokapsel für kurze Zeit
eingeschaltet werden, um den Zustand dieser Geräte zu
überprüfen. Falls die Systeme zu weit abgekühlt waren, mußte
man sie eventuell beheizen.
Das Hochfahren der Energie in der Kommandokapsel ginge
natürlich – auch wenn man nur kurz die Temperatur an Bord
messen wollte – zu Lasten der für den Wiedereintritt wichtigen
Batterien. Aber da man die Batterien notfalls über das LEM
wieder aufladen konnte, ließen sich eventuell ein oder zwei
Ampere erübrigen. Am Mittwochabend um 19 Uhr wurde
Swigert aufgefordert, die Kommandokapsel vorübergehend
wieder in Betrieb zu nehmen.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Vance Brand an der
Konsole des CAPCOM.
»Schießt los, Houston«, antwortete Lovell.
»Während wir uns für die Mittkurs-Zündung bereit machen,
haben wir hier einen Plan zum Hochfahren der Energie und
zum Einschalten der Instrumente in der Kommandokapsel,
damit wir die Telemetrie überprüfen können.«
»Heißt das, wir sollen die Kommandokapsel einschalten?«
»Wird bestätigt«, sagte Brand.
Lovell unterbrach die Verbindung mit der Bodenstation und
wandte sich zu Swigert um, der in den Nahrungsbeuteln
herumgekramt und eine Bestandsaufnahme gemacht hatte.
Swigert blickte ebenso überrascht auf.
»Hast du das mitbekommen?« fragte der Kommandant.
»Sicher«, antwortete Swigert. »Ich nehme bloß an, es handelt
sich um einen Irrtum.«
»Überzeugen wir uns«, sagte Lovell und ging dann wieder
auf Sendung. »O.K. Houston. Jack holt sich ein Blatt Papier
und notiert sich alle Betriebsverfahren, die ihr für ihn habt.«
Swigert schnappte sich den Flugplan, holte einen Stift aus
seiner Ärmeltasche und meldete sich persönlich.
»Vance, hier ist der dritte Offizier der LEM-Besatzung, bereit
zum Empfang«, sagte er.
»In Ordnung, Jack, das ist ein etwas längeres Verfahren. Du
wirst wahrscheinlich zwei bis drei Blatt brauchen.«
Während Brand diktierte, schrieb Swigert wie wild mit, aber
es war ein mühseliges Unterfangen. Es galt, Batterien in
Betrieb zu nehmen, Stromsammelschienen anzuschließen,
Inverter hinzuzuschalten, Sensoren zu aktivieren, Antennen
auszurichten, die Telemetrie anzustellen. Im Gegensatz zu
allen Reaktivierungsmaßnahmen, die Swigert geübt hatte,
handelte es sich diesmal um eine reine Improvisation, ein
teilweises Hochfahren der Energie, an das er nicht einmal zu
denken gewagt hätte. Doch knapp eine halbe Stunde später
hatte Swigert alle Vorgaben notiert. Er nahm den Kopfhörer ab
und sprang durch den Tunnel hinauf zur »Odyssey«, um
Brands Anweisungen auszuführen.
Lovell und Haise, die unten in der »Aquarius« blieben, hatten
keine Ahnung, was Swigert machte. Nur ab und zu hörten sie,
wie er einen Schalter umlegte oder auf einen Knopf drückte.
Ganz anders unten am Boden. Am Mittwoch abend um 19 Uhr
hatte Griffins Team Dienst. Das hieß, daß Buck Willoughby an
der GNC-Konsole saß, Chuck Deiterich an der RETRO-
Konsole, Dave Reed der FIDO war und Sy Liebergot – der den
Platz mit John Aaron vom Tiger Team getauscht hatte – der
EECOM. Auf Liebergots Bildschirm, wo während der letzten
zwei Tage nur Nullen geblinkt hatten, flackerten jetzt
Bildpunkte auf. Binnen kürzester Zeit wurden daraus Zahlen,
und die Zahlen ergaben solide, zufriedenstellende Daten.
»Empfängst du diese Werte?« fragte Liebergot Dick Brown
im EECOM-Nebenkontrollraum.
»Bestätigt.«
»Sieht sehr gut aus«, sagte Liebergot.
»Sehr gut«, pflichtete Brown bei.
Auf anderen Bildschirmen im Raum tauchten ähnliche
Angaben für die Steuerraketen, die Treibstoffleitungen und das
Führungssystem auf. Die Controller an den Konsolen, die sich
bereits mit dem Verlust der »Odyssey« abgefunden hatten,
waren ebenso gebannt wie der EECOM. Swigert beendete
derweil seine Arbeit in dem Raumfahrzeug, tauchte durch den
Tunnel hinab in das LEM und setzte seinen Kopfhörer auf.
»In Ordnung, Vance«, meldete er sich. »Ich habe sämtliche
Betriebsverfahren ausgeführt. Wie sieht es mit eurem Empfang
aus?«
»O.K. wir empfangen tatsächlich Daten von euch, Jack«,
erwiderte Brand.
»Und wie sieht es mit der Telemetrie der alten ›Odyssey‹
aus?«
Brand überflog die Angaben auf seinem Bildschirm und hörte
sich die Berichte an, die von den anderen Controllern auf dem
Anschluß des Flugdirektors eingingen.
»Sieht nicht zu kalt aus«, sagte er nach kurzer Pause. »Sieht
sogar ziemlich gut aus. Die Temperaturen bewegen sich
zwischen plus 30 und minus 6 Grad, je nach Sonneneinfall. Es
sieht also nicht schlimm aus.«
»Roger. Besten Dank«, sagte Swigert.
»Jetzt möchten wir, daß du zurückgehst und gemäß der
Abschaltverfahren wieder alles stillegst.«
»Roger«, sagte Swigert, der bereits seinen Kopfhörer
abnahm. »Bin schon unterwegs.«
Als Jack Swigert durch den Tunnel verschwand, ließ Jim
Lovell sich nach hinten treiben und lehnte sich mit dem
Rücken an die Wand. Er war erleichtert über den Zustand der
Kommandokapsel – aber nur ein bißchen. Die
Temperaturangaben aus dem Schiff waren zweifellos
verheißungsvoll, lagen aber teilweise dennoch 6 Grad unter
dem Gefrierpunkt, und dies war in Anbetracht der
kälteempfindlichen Geräte alles andere als optimal. Außerdem
war, auch wenn die Kommandokapsel zumindest
vorübergehend intakt wirkte, die Mondfähre nicht in Ordnung.
Kurz vor dem Wiedereinschalten der »Odyssey« hatte sich
Brand wieder gemeldet und Lovell schließlich doch noch
mitgeteilt, daß der Knall und die von Haise beobachteten
Schneeflocken auf eine Explosion in Batterie Nummer zwei
der Abstiegsstufe zurückzuführen seien. Zwar fügte der
CAPCOM gleich hinzu, nach Ansicht von Don Arabian handle
es sich um ein nur geringfügiges Problem, aber dem
Kommandanten war dennoch nicht ganz wohl zumute.
Aufgrund der schwachen Batterie leuchtete am Armaturenbrett
ständig ein Alarmlämpchen auf, und da die Ingenieure nicht
vorausgesehen hatten, daß die Batterie hochgehen würde,
traute Lovell auch ihren jetzigen optimistischen Prognosen
nicht.
Zudem machte Lovell sich wegen der Mittkurs-Zündung
Sorgen. Selbst wenn die Batterie im LEM genug Strom liefern
sollte, und auch wenn die Kommandokapsel so warm bliebe,
daß sie zu gegebener Zeit funktionierte, wäre damit
niemandem gedient, wenn das Raumfahrzeug nicht möglichst
rasch in den Wiedereintrittskorridor gesteuert würde. Lovell
betätigte die Sprechtaste, um sich bei Brand zu melden und ihn
zu fragen, wann genau man in Houston von der Besatzung
erwartete, daß sie mit der Vorbereitung für die Zündung
beginne. Doch bevor er auf Sendung gehen konnte, funkte
Brand das Schiff an. Offenbar beschäftigte den CAPCOM der
gleiche Gedanke.
»O.K. Jim, wir möchten, daß ihr Seite 24 eures Systembuchs
aufschlagt und euch für ein Wiedereinschalten bei 105 Stunden
bereitmacht.«
»O.K. Vance«, sagte Lovell und griff dankbar nach dem
Buch. »Mittkurs bei 105. Ich gehe auf Seite 24.«
»Nun sieht die Situation im Augenblick so aus«, sagte Brand,
»daß wir gegenwärtig ein bißchen flach fliegen, und eine 14
Sekunden lange Brennphase mit einer Schubkraft von 10
Prozent wird uns mitten in den Korridor führen.«
»Roger. Verstehe.« Lovell holte einen Stift aus der Tasche an
seinem Ärmel und schrieb mit.
»Wir wollen das Raumfahrzeug nicht komplett einschalten,
also keinen Computer oder Flugzeitnehmer. Wir nehmen
einfach eine manuelle Zündung vor, bei der du das Triebwerk
über die Start- und Stop-Knöpfe regelst.«
»Roger«, sagte Lovell, der immer noch mitschrieb.
»Und was die Lage angeht, da wollen wir das Raumfahrzeug
per Handsteuerung so ausrichten, daß die Erde bei euch in
Fenstermitte steht. Stellt eure Optik so ein, daß die horizontale
Linie des Fadenkreuzes parallel zur Beleuchtungsgrenze der
Erde liegt. Wenn ihr sie während der ganzen Brennphase so
haltet, wird die Lage korrekt sein. Hast du das?«
»Ich glaube schon.«
Lovell schrieb auch diese Anweisung auf, aber nachdem ihm
deren Sinn klargeworden war, hielt er inne. Wenn die Energie
im LEM nach der PC+2-Zündung heruntergeschaltet worden
war, dann war auch das Trägheitsführungssystem stillgelegt.
Dadurch war die Ausrichtung hinfällig, deren Daten Lovell am
Montagabend so mühsam aus der Kommandokapsel
übernommen und deren Einstellung er am Dienstag nicht
minder mühselig überprüft hatte. Bei der langen Brennphase
zum Einschuß in die Freiflugbahn oder der noch längeren
PC+2-Brennphase wäre dies katastrophal gewesen, vor der
kurzen, ganze 14 Sekunden dauernden Brennphase zur
Mittkurskorrektur, zu der man Lovell jetzt auffordern würde,
stellte dies jedoch kein großes Problem dar. Dafür brauchte
man nur eine ungefähre Ausrichtung mit einer Fehlertoleranz
von bis zu 5 Grad.
»He«, sagte er zu Brand, »das klingt ja genau wie das, was
wir uns seinerzeit bei Apollo 8 ausgedacht haben.«
»Ja, wir haben uns schon alle gefragt, ob du dich wohl dran
erinnern würdest. Und weiß Gott, so ist es«, sagte Brand. »Und
Fred, wenn Jim die Erde im Fenster stehen hat, solltest du
durch das Teleskop auch die Sonne sehen können. Sie müßte
ganz oben im Blickfeld sein, genau auf Cursormitte. Dies
würde bestätigen, daß eure Lage korrekt ist.«
»Ich verstehe, Vance«, sagte Haise.
»Freddo«, sagte Lovell an Haise gewandt, »was sagst du,
wenn wir die PTC stoppen und uns auf die Suche nach der
Erde begeben?«
»Jederzeit, wenn du bereit bist.«
Lovell brauchte ein paar Minuten, bis er die Checkliste auf
Seite 24 durchgelesen hatte, dann aktivierte er alle für die
Zündung erforderlichen Geräte, darunter auch die
Trennschalter für die Lagesteuerungsraketen. Als er damit
fertig war, umfaßte er den Steuergriff und zog ihn leicht nach
rechts, so daß die in Gegenrichtung zur Drehbewegung des
Schiffes wirkenden Düsen eingesetzt wurden. Erstaunlich
mühelos kam die »Aquarius« zum Stillstand. Swigert, der sich
auf der anderen Seite des Tunnels befand, spürte das Grollen
und erriet, was seine Kollegen vorhatten. Er schaltete noch die
letzten paar Geräte ab, schwebte zurück in das LEM und nahm
wieder seinen Platz auf der Triebwerksabdeckung ein. Als
Lovell das Raumfahrzeug auf der Suche nach dem
Heimatplaneten herumzog, beugte Haise sich an sein
Dreiecksfenster.
»Wow!« rief er Lovell zu. »Ich habe die Erde.«
»Ich auch«, antwortete Lovell.
»Du hast diese Manöver allmählich ganz gut drauf, Jim.«
Lovell sah zu, daß sein Sextant auf die Erde ausgerichtet
blieb, und Haise blickte durch sein Teleskop.
Wie Houston versprochen hatte, stand die Sonne genau auf
Cursormitte.
»Houston«, meldete er sich. »Jim hat die Ausrichtung auf die
Erde, und ihr habt recht: Die Sonne ist auf AOT.«
»Roger. Gut gemacht, 13«, antwortete der CAPCOM.
Anhand der Stimme erkannte Haise, daß Brand in den letzten
paar Minuten von Jack Lousma an der Konsole abgelöst
worden war. »Wenn die Lage eurer Meinung nach O.K. ist,
nun, dann könnt ihr euch von mir aus aussuchen, wann ihr
zünden wollt.«
Lovell blickte auf seine Uhr. Es war noch nicht einmal
annähernd Zeit für die Zündung.
»Wir führen doch einen Countdown durch, oder?« fragte er.
»Oder sollen wir einfach irgendwann anfangen?«
»Könnt ihr euch aussuchen«, antwortete Lousma.
»Ihr macht es euch leicht.«
»Es kommt nicht auf den Zeitpunkt an, Jim.«
»Ich verstehe.« Lovell wandte sich an seine Kollegen. »Seid
ihr bereit, es zu versuchen?«
Haise und Swigert nickten.
»In Ordnung«, sagte der Kommandant. »Jack, da wir keine
Uhr für den Countdown haben, mußt du die Zeit für die
Brennphase mit deiner Uhr nehmen. Wir brennen 14 Sekunden
lang mit 10 Prozent. Freddo, da wir keinen Autopiloten haben,
nimmst du den Steuergriff und achtest darauf, daß wir nicht zu
sehr eiern. Nicken und Rollen regle ich von meiner Steuerung
aus, und ich kümmere mich auch um Zündung und
Brennschluß. Verstanden?«
Wieder nickten Haise und Swigert.
»Ich hoffe nur, die Jungs, die sich das ausgedacht haben,
wissen, was sie tun«, murmelte Lovell. »Houston«, meldete er
sich dann, »sagen wir doch einfach, wir zünden in zwei
Minuten.«
»Roger. Zwei Minuten. Haben verstanden.«
Lovell stellte die Schubregelung auf 10 Prozent, legte die
Hand über die Start- und Stop-Knöpfe und ergriff mit der
anderen die Lagesteuerung. Rechts von ihm achtete Haise
darauf, daß die Erde auf Fenstermitte stand, und umfaßte mit
der rechten Hand seinen Steuergriff. Swigert hatte den Blick
auf die Uhr geheftet.
»Zwei Minuten von meinem Zeichen ab«, sagte er. »Ab
jetzt.«
Sechzig Sekunden Stille verstrichen.
»Eine Minute«, verkündete Swigert.
»Eine Minute«, meldete Haise an die Bodenkontrolle.
»Roger«, antwortete Houston.
»Fünfundvierzig Sekunden«, sagte Swigert.
»Dreißig Sekunden.«
Dann: »Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei,
eins.«
Lovell drückte auf den roten Knopf und spürte einmal mehr
das Vibrieren des Triebwerks unter seinen Füßen.
»Zündung«, sagte der Kommandant zu seinen Kollegen.
Swigert achtete auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. »Zwei
Sekunden, drei Sekunden.«
Haise stand am Fenster und starrte auf die Erde. Der Planet
wich nach links ab, und der LEM-Pilot steuerte mit den Düsen
gegen, bis sie wieder auf Mitte stand. »Beim Gieren
festhalten«, murmelte er.
»Fünf Sekunden, sechs Sekunden«, sagte Swigert.
»Nicken und Rollen O.K.«, sagte Lovell, als der Planet vor
seinem Sextanten tanzte.
»Acht Sekunden, neun Sekunden«, rief Swigert.
»Dranbleiben«, sagte Lovell. Der Planet ruckelte leicht weg,
aber der Kommandant zog das Raumfahrzeug hoch und fing
ihn wieder ein.
»Bleibe dran«, sagte Haise.
»Zehn, elf«, zählte Swigert.
»Gleich haben wir’s, Fred«, sagte Lovell und legte den
Zeigefinger auf den Stop-Knopf.
»Zwölf, dreizehn.«
Der Planet zitterte wieder.
Vierzehn Sekunden.
Lovell drückte kräftig auf den Knopf, viel kräftiger als
notwendig.
»Brennschluß!« rief er.
»Brennschluß!« wiederholte Haise.
Sofort verstummte das Triebwerk der Mondfähre, und das
Vibrieren hörte auf. Durch den Sextanten sah man die
Erdsichel genau oberhalb der horizontalen Linie des
Fadenkreuzes stehen.
»Houston, Brennphase beendet«, verkündete Lovell.
»O.K. Jungs«, erwiderte Lousma. »Gute Arbeit.«
Lovell warf einen weiteren Blick durch sein Meßkreuz, dann
auf das dunkle Armaturenbrett und schließlich wieder durch
das optische Gerät auf die ferne, etwa groschengroße Erde.
»Ich möchte, daß jeder in diesem Raum seine derzeitige
Tätigkeit beendet und nach Hause geht.«
Kranz stand an der Stirnseite von Zimmer 210 und hoffte,
daß man ihn trotz des Stimmengewirrs der etwa zwei Dutzend
über ihre Computerausdrucke und Energieberechnungen
gebeugten Controller verstand. Soweit er feststellen konnte,
hatte ihn niemand gehört.
»Ich möchte, daß jeder in diesem Raum seine derzeitige
Tätigkeit beendet und nach Hause geht«, wiederholte er etwas
lauter. Wieder reagierte niemand.
»He!« brüllte der ehemalige Air-Force-Mann. Diesmal
hielten die Controller inne und wandten sich ihm zu. »Das
Tiger Team macht Feierabend. Ich erwarte, daß sich jeder von
Ihnen sechs Stunden aufs Ohr legt, und ich möchte vor morgen
früh niemanden hier sehen.«
Für kurze Zeit herrschte Stille im Raum, dann machten ein
paar Controller Anstalten zu widersprechen. Nach einem Blick
zu Kranz jedoch überlegten sie es sich anders. Der leitende
Flugdirektor dachte offensichtlich nicht daran, sich
irgendwelche Einwände anzuhören. Es war Donnerstag
morgen, kurz nach Mitternacht, sechsunddreißig Stunden vor
der Landung, und von wenigen Gelegenheiten abgesehen, hatte
das Tiger Team Zimmer 210 seit Montag nacht nicht mehr
verlassen. Seinerzeit hatten sie sich hierher zurückgezogen, um
eine Möglichkeit zu finden, wie man die Kommandokapsel mit
dem nur für drei Stunden reichenden Strom, den die für den
Wiedereintritt vorgesehenen Batterien lieferten, in Betrieb
nehmen und fliegen konnte. Heute nacht sah es so aus, als
hätten sie zumindest dieses Problem gelöst.
Natürlich war John Aaron die Aufgabe zugefallen, den
Energieverbrauch der »Odyssey« einzuteilen. Viele Controller
im Raum glaubten nicht, daß Aaron eine derartige
Energieeinsparung gelingen könnte. Doch mit der Zeit
deuteten die bunt ausgemalten Tabellen und Diagramme des
leitenden EECOM ganz auf einen Erfolg hin.
Aaron verrichtete aber nur die eine Hälfte der in Zimmer 210
anfallenden Arbeit. Ebenso wichtig war es, den genauen
Stromverbrauch eines jeden einzelnen Systems in der
Kommandokapsel festzustellen, damit man wiederum festlegen
konnte, in welcher Reihenfolge sie zugeschaltet werden
sollten. Bei einem normalen Flug hielt man sich beim
Einschalten der Kommandokapsel an einen festgelegten Plan,
aber bei Apollo 13 galt keine Normalität mehr, und da bei
diesem Energiehochfahren eine Vielzahl von Systemen auf der
Strecke würde bleiben müssen, mußte eine völlig neue
Checkliste angelegt werden. Diese Aufgabe fiel Arnie Aldrich
zu.
Aldrich kannte die Kommandokapsel so gut wie kaum ein
anderer Ingenieur am Space Center, und ihm war klar, daß für
ihn wie auch für John Aaron Einsparen das oberste Gebot war.
Sobald Aaron den zulässigen Stromverbrauch eines Systems
oder Subsystems errechnet hatte, reichte er die Aufstellung an
Aldrich weiter, der daraufhin eine Schaltfolge entwarf, die sich
an diesen Einschränkungen orientierte.
Kurz nach der Mittkurskorrektur und anderthalb Tage vor der
Landung war die gesamte Checkliste – alles in allem weit über
zehn Seiten mit Hunderten von Einzelschritten – komplett.
Deshalb wollte Kranz sein Team endlich über Nacht nach
Hause schicken.
Kurz bevor er seine Ankündigung machte, mußten sich
Aaron und Aldrich noch einer Aufgabe zuwenden, die, wie sie
wußten, einen Sturm der Entrüstung hervorrufen würde. Den
abfallenden Energiekurven nach zu urteilen, würde der
vorhandene Strom gerade noch reichen, um die
Kommandokapsel notdürftig wieder in Betrieb zu nehmen,
vorausgesetzt, ein System bliebe abgeschaltet: Die Telemetrie,
durch deren Datenübermittlung die Controller und die
Astronauten wußten, ob sie alles richtig machten. Als die
letzten Seiten der Checkliste fertiggestellt waren, riefen Aaron
und Aldrich die anderen Mitglieder des Tiger Teams
zusammen, um ihnen ihr Vorhaben zu erklären.
»Gentlemen«, begann John Aaron, als er am Kopfende des
Konferenztisches in Zimmer 210 Platz nahm. »Arnie und Gene
und ich haben mit den Zahlen hin- und herjongliert. Und wir
sind jetzt mit der Checkliste zwar ziemlich zufrieden, aber es
gibt da einen kleinen Haken.« Er hielt einen Augenblick inne.
»Den bisherigen Ampere-Angaben nach zu urteilen, sieht es so
aus, als müßten wir die Energie blind hochschalten.«
»Und das heißt?« fragte jemand.
»Keine Telemetrie«, sagte Aaron kurzum.
Die Proteste, die sich rund um den Tisch in Zimmer 210
erhoben, trafen Aaron, aber sie überraschten ihn nicht.
»John, damit fordern wir die Komplikationen geradezu
heraus«, wandte jemand ein.
»Wenn wir es nicht machen, fordern wir noch mehr heraus«,
gab Aaron zurück.
»Aber so etwas hat noch nie jemand versucht. An so etwas
hat noch nicht einmal jemand zu denken gewagt.«
»Wäre nicht das erste Mal, daß bei diesem Flug etwas
irregulär ist«, bemerkte Aaron.
»Das ist nicht nur irregulär, John«, wehrte sich ein anderer.
»Das ist schlichtweg fahrlässig. Angenommen, irgendein
System überhitzt und brennt durch. Wir würden es erst
erfahren, wenn es zu spät ist.«
»Und angenommen, wir verbrauchen unseren ganzen Saft
fürs Überwachen der Systeme und haben dann nicht mehr
genug übrig, um sie in Betrieb zu nehmen?« entgegnete Aaron.
»Wo stehen wir dann?«
Das Gemurre am Tisch ging weiter, und Aaron, das wurde
deutlich, hatte sich noch nicht durchgesetzt. Er klappte seine
Energiediagramme auf, betrachtete sie lange, und mit einem
Mal schien er etwas zu bemerken.
»Wartet mal kurz«, sagte er und blickte mit einem
beschämten Lächeln auf, als wollte er sagen: Wie konnte ich
das bloß übersehen. »Wie wär’s mit was anderem. Wie wär’s,
wenn wir noch ein paar Ampere einsparen, damit wir die
Telemetrie ein paar Minuten anschalten und die Systeme
überprüfen können, wenn alles andere in Betrieb ist. Ich gebe
zu, es ist nicht so gut wie eine laufende Überwachung, aber
zumindest hätten wir dadurch die Möglichkeit, eventuelle
Probleme festzustellen, bevor irgendwelcher Schaden
entstehen kann. Wie wäre es damit?«
Die Männer am Tisch blickten zu Aaron, dann sahen sie
einander an.
Daß es ein Zugeständnis war, ließ sich nicht leugnen, und
nach und nach erklärten sich die Mitglieder des Tiger Teams
damit einverstanden.

Um drei Uhr morgens stellte Fred Haise fest, daß er Fieber


bekam. Es fing an wie üblich: Mit Schwindelgefühl,
aschgrauer Haut und Gliederschmerzen. Das war zwar
unerfreulich, überraschte Haise aber nicht weiter. Schon
gestern morgen hatte er erste Anzeichen einer beginnenden
Krankheit bemerkt, als er – was in den vergangenen Tagen
nicht oft vorgekommen war – pinkeln wollte und plötzlich
heftige Schmerzen verspürt hatte.
Natürlich hatte keiner der drei Männer an Bord von Apollo
13 in letzter Zeit viel gepinkelt, und der Grund dafür war ganz
einfach: Sie hatten nicht viel getrunken. Gleich zu Beginn der
Krise hatten die TELMUs den Astronauten erklärt, daß ihre
Wasserreserven äußerst knapp seien. Da das Wasser in der
»Odyssey« rasch gefror, mußten sie mit den Vorräten der
»Aquarius« auskommen. Aber da der dortige Tank zugleich
auch das Kühlsystem speiste, mußten sie ihren
Trinkwasserverbrauch knapp bemessen. Gingen sie zu sorglos
mit den Reserven um, dann stillten sie ihren Durst womöglich
auf Kosten der Technik, die sie am Leben erhielt.
Die Astronauten waren sich sehr wohl bewußt, daß eine
derartige Einschränkung ernstliche Folgen nach sich ziehen
könnte. Während der Ausbildung hatten die NASA-Ärzte ein
ums andere Mal darauf hingewiesen, daß ihr Körper im All
keine Giftstoffe ausscheiden könne, wenn sie nicht genug
Wasser zu sich nähmen. Und wenn sie die Giftstoffe nicht
ausschieden, würden die schädlichen Rückstände sich in ihren
Nieren ansammeln und eine Infektion verursachen, die sich
zunächst durch Schmerzen beim Wasserlassen und dann durch
Fieber äußerte. Bereits am Mittwochmorgen um zehn Uhr
hatte Haise leichte Anzeichen eines Fiebers festgestellt, und
jetzt, am Donnerstag morgen – knapp dreißig Stunden vor dem
möglicherweise gefährlichsten Wiedereintritt in der Geschichte
der Mondflüge –, spürte er es zum zweitenmal.
Jim Lovell fiel auf, wie blaß sein Kollege war. »He, Freddo,
ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ja, klar«, murmelte Haise. »Mir geht’s gut. Warum?«
»Weil du alles andere als gut aussiehst, darum.«
»Na ja, es ist aber so.«
»Soll ich das Thermometer holen, Fred?« fragte Swigert. »Es
ist oben im Sanitätskasten.«
»Nein, nicht nötig.«
»Bist du sicher?« fragte Swigert.
»Absolut.«
»Es macht keine Mühe.«
»Ich habe gesagt, es geht mir gut«, wiederholte der LEM-
Pilot mit Nachdruck.
»O.K.«, sagte Swigert und warf Lovell einen Blick zu.
»O.K.«
Lovell betrachtete seine beiden Kollegen und überlegte, was
er unternehmen könnte, doch bevor er zu einem Entschluß
kam, wurde er in seinen Gedanken unterbrochen. Unter dem
Boden des LEM ertönte ein dumpfer Schlag, gefolgt von
einem Zischen, und dann wurde das Cockpit von einem
weiteren Knall und einem leichten Vibrieren erschüttert.
Lovell beugte sich sofort zum Fenster. Unter dem
Raketenbündel links außen sah er die nur allzu vertrauten
Eiskristalle aufsteigen. Einen Moment lang war Lovell
verdutzt, dann fiel ihm sofort wieder ein, was das Geräusch
und das Ausblasen bedeuteten.
»Damit«, sagte er an seine Kollegen gewandt, »hätten wir
keine Probleme mehr mit dem Helium.«
»Wurde auch Zeit«, sagte Haise mit einem Blick auf seine
Uhr.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Jack Lousma. »Ist
euch in der letzten Sekunde etwas aufgefallen?«
»Ja, Jack«, antwortete Lovell. »Ich wollte mich gerade bei dir
melden. Mir ist aufgefallen, daß unter Quadrat vier allerhand
Geblubber abgegangen ist. Ich vermute, das war das Helium.«
»Roger«, sagte Lousma. »Die Angaben hier zeigen an, daß
euer Druck bis auf 1921 Pfund gestiegen war und jetzt auf 600
runter ist, bei rasch fallender Tendenz.«
»Nun ja, das hört man gern«, sagte Lovell. »Aber das heißt
wahrscheinlich, daß wir Probleme bekommen, wenn wir die
passive Temperaturregelung wiederaufnehmen wollen.« Als
der Kommandant aus seinem Fenster auf die sich ausbreitende
Heliumwolke blickte, sah er, daß Erde und Mond, die sich bei
der PTC-Rotation nach der letzten Brennphase ungefähr in
Fenstermitte bewegten, merklich verschoben hatten. Jetzt stand
die Erde höher, während der Mond tiefer sank, und beide
drohten gänzlich aus seinem Blickfeld zu entschwinden. »Sieht
so aus, als hätte das Ausblasen meinem Gieren
entgegengewirkt und die Neigung etwas verändert. Nennen die
so was ein rückstoßfreies Entweichen?«
»Genau«, sagte Lousma. »Dann möchte ich keines mit
Rückstoß sehen.«
»Das gilt für uns beide.«
»Tja, der Druck sinkt jetzt auf unter 50 Pfund. Seht ihr jetzt
weniger Geblubber?«
Lovell blickte aus dem Fenster. »Ja«, sagte er, »weit
weniger.«
»O.K.«, sagte Lousma. »Warum überwacht ihr im
Augenblick nicht einfach die Position des Raumfahrzeuges,
achtet darauf, wie sich Nicken und Gieren entwickeln und
haltet uns auf dem laufenden? Wir äußern uns dann später
dazu, ob wir eine Wiederaufnahme der PTC für richtig halten.«
»Roger. Wir überwachen.«
Lovell blieb am Fenster, schlang wegen der Kälte im Cockpit
die Arme um den Oberkörper und sah zu, wie Erde und Mond
vorbeiglitten. Die Bewegung der beiden Himmelskörper hatte
etwas beinahe Hypnotisches an sich, und Lovell stellte fest,
daß ihn in dieser Zeit der Untätigkeit am frühen Donnerstag
morgen eine merkwürdige Ruhe überkam. Er wußte, daß er in
den nächsten ein, zwei Stunden wieder die
Lagesteuerungsraketen betätigen und einmal mehr die
langweilige Prozedur der PTC-Rotation durchführen mußte,
doch darüber machte er sich im Augenblick wenig Gedanken.
Während der Kommandant aus dem linken Bullauge blickte,
wurden die beiden anderen Besatzungsmitglieder anscheinend
von der gleichen seltsamen Gelassenheit erfaßt und
beschlossen, eine nicht vorgesehene Ruheperiode einzulegen.
Haise, der sich wegen seines Fiebers nicht in die
Kommandokapsel begeben wollte, zog sich ein Stück in den
Tunnel zurück, so daß sein Kopf über der Abdeckung des
Aufstiegstriebwerks hing, und schlief auf der Stelle ein.
Swigert nahm die von Haise verlassene Position des LEM-
Piloten an Steuerbord ein, rollte sich am Boden zusammen und
schlang einen Draht um seinen Arm, damit er an Ort und Stelle
blieb. Lovell sah zu, wie die beiden sich zur Ruhe legten, und
meldete sich nach einer Weile bei der Bodenkontrolle.
»Houston«, sprach er leise in sein Mikrophon.
»Hier Houston«, antwortete Lousma, der unwillkürlich
ebenfalls die Stimme senkte. »Wie geht es dir, Jim?«
»Nicht schlecht. Überhaupt nicht schlecht.«
»Bist du allein da oben, oder sind Jack und Fred bei dir?«
»Jack und Fred schlafen, und im Augenblick«, sagte Lovell
mit einem Blick auf Erde und Mond, deren Lage sich jetzt
stabilisierte, »sieht es nicht so aus, als hätten wir bezüglich der
PTC Schwierigkeiten.«
»Gut. Von uns aus sieht auch alles ziemlich problemlos aus.
Wir behalten das im Auge und sagen dir Bescheid, falls
weitere Verfahren anstehen.«
»Roger«, sagte Lovell.
»Genaugenommen«, fügte Lousma hinzu, »gibt es ein
Verfahren, das wir durchsprechen könnten, falls du Zeit dazu
hast. Die Lenk-Offiziere haben mir gerade ein paar Notizen
überreicht, über die du dir ein paar Gedanken machen sollst.«
Der CAPCOM schwieg kurz. »Was hältst du davon, wenn wir
ein paar Ideen bezüglich Wiedereintritt und Landung
durchsprechen?«
Lovell antwortete nicht sofort, sondern ließ einfach den Blick
durch das Cockpit schweifen. Zunächst musterte er das dunkle
Armaturenbrett, dann seine schlafenden Kollegen, er
betrachtete Erde und Mond, die etwas seitwärts verschoben an
seinem leicht aus dem Lot geratenen LEM vorbeistrichen, und
dann die verbliebenen Schneeflocken, die aus dem mittlerweile
so gut wie nutzlosen Abstiegs-Antriebssystem ins All
entwichen.
Ja, stellte er fest. Die Landung wäre genau das, worüber er
jetzt gerne sprechen würde.
12

Donnerstag, 16. April, 8:00 Uhr

Die Morgenschicht hatte noch nicht einmal angefangen, aber


Jerry Bostick, dem Flugdynamik-Offizier, reichte es an diesem
Tag schon wieder. Und er befürchtete, daß es bald noch
schlimmer kommen würde.
»Verflucht«, murmelte Bostick leise, der an seiner Konsole in
der ersten Reihe stand und angewidert den Bildschirm
musterte. Er beugte sich über die Schulter von Dave Reed, dem
diensthabenden FIDO, und warf einen weiteren Blick auf die
leuchtenden Zahlen.
»Verflucht!« wiederholte er, und diesmal sprach er so laut,
daß Reed sich umdrehte.
»Wo ist das Problem, Jerry?« fragte Reed.
»Das willst du gar nicht wissen«, antwortete Bostick.
»Probier’s doch.«
Bostick deutete auf den Bildschirm, fuhr mit dem Zeigefinger
an einer Spalte mit Zahlen entlang und hielt bei einem
bestimmten Wert inne. Reed beugte sich vor und kniff die
Augen zusammen. Über der Spalte, auf die Bostick deutete,
stand »Flugbahn«. Und die Zahl, auf die er zeigte, lautete
»6,15«.
»O nein«, stöhnte Reed und ließ den Kopf auf die Hände
sinken.
Seit gestern abend um 22 Uhr die Mittkurskorrektur von
Apollo 13 erfolgt war, hatten die Zahlen auf diesem Schirm
vielversprechender ausgesehen als die ganze andere
Telemetrie, die von dem Raumfahrzeug übermittelt wurde. Vor
der Zündung des Abstiegs-Antriebssystems war die Flugbahn
von »Aquarius« und »Odyssey« auf 5,9 Grad abgeflacht und
lag somit nur knapp einen halben Grad über der beim
Wiedereintrittskorridor zu beachtenden Untergrenze. Nach der
Brennphase zur Mittkurskorrektur war der Winkel auf
beruhigende 6,24 Grad gestiegen, annähernd auf den beim
Wiedereintritt idealen Wert von 6,5 Grad. Jetzt jedoch, am
Donnerstagmorgen um 8 Uhr, achtundzwanzig Stunden vor der
Landung, war die Flugbahn allem Anschein nach wieder
flacher geworden.
»Jerry, was, zum Teufel, geht da vor?« fragte Reed und wich
etwas zur Seite, damit Bostick näher an den Bildschirm
herankam.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Nun, das abgeblasene Helium kann es nicht gewesen sein.«
»Nee, das reicht für so etwas bei weitem nicht aus.«
»Vielleicht sind die Flugbahnberechnungen falsch.«
»Die Berechnungen sind in Ordnung, Dave.«
»Vielleicht ist die Datenübermittlung gestört.«
Bostick blickte auf die 6,15, die unverändert auf dem
Bildschirm stand. »Sieht das für dich nach Datensalat aus?«
Wenn der Fehler weder am Helium noch an den
Flugbahndaten lag und das Raumfahrzeug sich weiterhin dem
unteren Bereich des Korridors näherte, dann mußte eine
weitere Korrektur erfolgen und das Abstiegs-Antriebssystem
des LEM erneut gezündet werden. Da aber das als Preßgas für
den Treibstoff notwendige Helium entwichen war, war es
unwahrscheinlich, daß sich das Triebwerk noch einmal zünden
ließ. Bevor Bostick über diese neue Entwicklung nachdenken
konnte, näherte sich von hinten Glynn Lunney.
»Jerry«, sagte Lunney, »ich muß mit Ihnen reden. Wir haben
da ein Problem.«
»Ich habe hier ebenfalls ein Problem, Glynn«, sagte Bostick.
»Sieht so aus, als würde die Flugbahn wieder flacher.«
»Stimmen Ihre Bahnberechnungen?« fragte Lunney.
»Allem Anschein nach, ja«, antwortete Bostick.
»Blasen wir irgend etwas aus?«
»Nein, soweit wir das erkennen können«, sagte Bostick.
»Nun, setzen Sie Ihre Prioritäten«, erklärte Lunney. »Aber
befassen Sie sich auch mit folgendem: Ich habe eben einen
Anruf von der Atomenergiekommission erhalten. Die machen
sich Sorgen wegen des LEM.«
Bostick hatte so etwas befürchtet. Während ihres kurzen
Aufenthaltes auf dem Mond sollten Jim Lovell und Fred Haise
nicht nur Steine sammeln, sondern auch eine Anzahl
automatischer Meßinstrumente zurücklassen, unter anderem
einen Seismographen, einen Sonnenwind-Kollektor und einen
Laser-Reflektor. Da sich die vorgesehenen Messungen über ein
Jahr erstrecken sollten, aber keine Batterie derart lange hielt,
wurden die Geräte durch einen kleinen Atomreaktor betrieben,
der mit verbrauchtem Uran aus Kernreaktoren gespeist wurde.
Auf dem Mond stellte dieses winzige Kraftwerk keinerlei
Gefahr da. Was aber würde geschehen, so hatten einige
Beteiligte eingewandt, wenn der kleine Brennstab gar nicht bis
zum Mond gelangte? Was wäre, wenn die Saturn 5
explodierte, bevor das Raumfahrzeug die Erdumlaufbahn
erreichte, und das Uran irgendwo niederginge? Um eine
eventuelle Gefährdung zu verhindern, hatten die Konstrukteure
der Mondfähre das nukleare Material in einem dicken,
hitzebeständigen Keramikbehälter untergebracht, der selbst
eine Explosion, ein Ausglühen beim Wiedereintritt und einen
Aufprall auf der Erde überstehen sollte, ohne daß Strahlung
freigesetzt werden würde. Sobald das Raumfahrzeug die
Erdatmosphäre verließ und sich auf dem Weg zum Mond
befand, war der Schutzbehälter überflüssig, und niemand
verschwendete einen weiteren Gedanken darauf.
Aber jetzt war die Mondfähre von Apollo 13 auf dem
Heimflug, und der gefürchtete Wiedereintritt rückte immer
näher, so daß Jerry Bostick bereits damit gerechnet hatte, daß
die Atomenergiekommission bald herumschnüffeln und sich
über den Kernbrennstab und die Keramikumhüllung auslassen
würde.
»Wann haben die sich bei Ihnen gemeldet, Glynn?« fragte
Bostick jetzt Lunney.
»Erst vor kurzem. Die sind ziemlich nervös wegen des
Brennstabes.«
»Haben Sie denen gesagt, daß wir den Behälter wiederholt
getestet haben?«
»Habe ich.«
»Und haben Sie ihnen auch gesagt, daß wir keinen Grund
sehen, wieso er den Wiedereintritt nicht überstehen sollte?«
»Habe ich.«
»Und die haben Ihnen nicht geglaubt?«
»Oh, geglaubt haben sie mir schon, aber sie wollen trotzdem
eine Rückversicherung. Sie wollen sichergehen, daß wir ihn
nicht einfach irgendwo ins Meer werfen, wenn das LEM
runterkommt, sondern so tief wie möglich im Ozean
versenken. Können Sie sich darum kümmern?«
Bostick ging an die Decke – jedenfalls gemessen am
normalerweise eher moderaten Umgangston in der Mission
Control. »Oh, so ein Mist, Glynn, das ist doch lächerlich. Wir
haben den verfluchten Keramikbehälter gebaut, damit wir uns
darüber keine Sorgen zu machen brauchen. Solange wir das
LEM irgendwo herunterbringen, wo es niemandem auf den
Kopf fällt, stellt es nicht die geringste Gefahr da.«
Glynn Lunney pflichtete Jerry Bostick wohl durchaus bei,
aber er behielt es für sich.
Die Atomenergiekommission war eine Regierungsbehörde,
und die Regierung finanzierte die NASA, und wenn die Leute,
die über den Etat der Raumfahrtbehörde mitzubestimmen
hatten, wollten, daß sich ein Flugdirektor dieses Problems
annahm, dann mußte sich der Flugdirektor wohl oder übel
fügen. Lunney hörte mehrere Minuten lang verständnisvoll zu,
während sein FIDO Dampf abließ, zuckte in Gedanken an die
Washingtoner Bürokraten ebenso wie er die Achseln und
wandte dann ein, daß die Atomenergiekommission vielleicht,
aber nur vielleicht, nicht ganz unrecht haben könnte. Die
Korrektur der wieder flacher werdenden Flugbahn von Apollo
13 ginge mit Sicherheit vor, aber sobald dies geklärt sei, sollte
die Atomenergiekommission ihren Willen haben. Warum nicht
einfach eine besonders tiefe Stelle im Meer suchen und dafür
sorgen, daß die Mondfähre genau dort herunterkäme?
»Wir kümmern uns darum, Glynn«, sagte Bostick schließlich.
»Kein Problem. Ich glaube, vor der neuseeländischen Küste
gibt es eine Stelle, die genau dem entspricht.«
Lunney nickte dankbar, ging weg und widmete sich anderen
Dingen, und Bostick kümmerte sich wieder um seine Aufgabe.
Er wandte sich der Konsole zu und sah, daß Reed sich
aufgeregt mit dem FIDO beriet. Bostick beugte sich über die
beiden Männer, musterte mit zusammengekniffenen Augen
den Bildschirm und sah, daß die zuvor schon flacher
gewordene Flugbahn anscheinend völlig weggesackt war: Der
entsprechende Wert in der Spalte mit den Flugbahndaten lag
nur noch knapp über 6,0 und sank weiter ab. Der Tag, der so
schlecht begonnen hatte, wurde in der Tat noch schlimmer.
Jim Lovell aß gerade ein Hot-Dog, als Joe Kerwin sich
meldete und ihm von der Flugbahnveränderung berichtete.
Genaugenommen versuchte Jim Lovell, ein Hot-Dog zu essen,
aber er kam nicht dazu. Für die Astronauten in der »Aquarius«
und das Team in der Bodenkontrolle begann der Arbeitstag am
Donnerstag frühmorgens, und Lovell konnte zwar nicht für die
Crew in Houston sprechen, aber seine Jungs kamen ihm
zumindest einigermaßen munter vor. Als Fred Haise und Jack
Swigert morgens um 3:30 Uhr ihre spontane dreistündige
Ruheperiode eingelegt hatten, hatte Lovell es für besser
gehalten, sie nicht zu stören, und die Entscheidung erwies sich
als richtig.
Swigert wirkte heute morgen regelrecht aufgekratzt. Und
Haise, der gestern grau und kränklich gewirkt hatte, hatte heute
sogar etwas Farbe im Gesicht. Lovell war sich nicht sicher, ob
die leichte Röte ein Anzeichen dafür war, daß es ihm wieder
besser ging, oder lediglich ein Fiebersymptom. Aber Haise
hatte bereits klargestellt, daß er diesbezüglich keinerlei Fragen
wünschte, und Lovell gedachte dies zu respektieren. Ein, zwei
Stunden lang wuselte die Crew an diesem letzten vollen Tag
des Fluges im Cockpit herum und kümmerte sich um ihre
diversen Pflichten, und sie wirkten wie drei Männer in einer
Fischerhütte, die sich für einen Angelausflug fertigmachten.
Jetzt, um 8 Uhr 30, während Jerry Bostick, Glynn Lunney und
David Reed über die flacher werdende Flugbahn und den
nuklearen Brennstoff diskutierten, hielt Lovell die Zeit für
gekommen, seine Besatzung zu verpflegen.
»Sag mal, Jack«, meinte der Kommandant nach hinten
gewandt. Swigert saß wie üblich auf der Triebwerksabdeckung
und blätterte in einem Systembuch herum. »Wie sieht es mit
unseren Vorräten dahinten aus?«
»Ich gucke mal nach«, sagte Swigert. Er ließ sein Buch neben
sich in der Luft schweben und öffnete den großen Tragebeutel,
in dem er die Nahrungsmittelpackungen verstaut hatte.
»Nicht allzu gut, Jim«, sagte er, während er in den
Klarsichtbeuteln herumkramte. »Kalte Suppe, noch mal kalte
Suppe und… das hier sieht wie Kompott aus.«
»Wie wär’s, wenn du ins Schlafzimmer läufst und ein paar
Rationen holst?«
»Kein Problem.«
»Möchtest du irgendwas, Freddo?« fragte Lovell.
»Klar«, sagte Haise. »Wie wär’s mit ein paar Hot-Dogs?«
Swigert sprang hoch in die eiskalte Kommandokapsel,
schwebte zum Nahrungsmittelschrank und wühlte in den
restlichen Packungen herum. Ganz unten waren die luftdicht
verschlossenen Beutel mit den Hot-Dogs. Alle waren sie, wie
Swigert zu seinem Erstaunen feststellte, stocksteif gefroren. Er
holte einen Beutel heraus, betrachtete ihn neugierig, nahm
noch zwei und schwebte lachend durch den Tunnel zurück.
»Tja, Gentlemen«, verkündete er, sobald er wieder
auftauchte, »ich habe das Gewünschte, aber ich bin mir nicht
sicher, ob ihr es wollt.«
Lovell streckte die Hand aus, nahm das eisüberzogene
Päckchen, das Swigert ihm anbot, und schlug es dann lachend
an das Schott. Ein dumpf hallender Ton ertönte.
»Klingt ja köstlich«, bemerkte Lovell.
»Sieht auch köstlich aus«, sagte Haise.
»Laßt’s euch schmecken«, rief Swigert.
Bevor Lovell das gefrorene Würstchen weglegen konnte,
ertönte Joe Kerwins Stimme in seinem Kopfhörer.
»Aquarius, hier Houston.«
»Schießt los, Houston«, meldete sich Swigert.
»Sagt mal, Männer, wollte euch bloß wissen lassen, daß ihr
laut Anzeige noch 200000 Kilometer weg seid, das sind etwa
15000 Kilometer weniger als noch vor zwei Stunden. Da bin
ich nämlich gekommen. Und euer lächelnder FIDO sagt mir,
daß ihr über 5500 Kilometer pro Stunde drauf habt, und das in
einer 5000-Kilometer-Zone.«
»Sehr gut«, sagte Swigert.
»Da wäre nur noch eins«, fuhr Kerwin fort. »Der gute FIDO
läßt uns wissen, daß die Flugbahn ein bißchen flach ist, und er
spielt sozusagen ein bißchen mit dem Gedanken an eine
weitere Mittkurskorrektur etwa fünf Stunden vor dem
Wiedereintritt. Wenn wir sie machen, geht es allenfalls um 0,6
Meter pro Sekunde.«
Lovell, Swigert und Haise warfen sich zweifelnde Blicke zu.
»Der FIDO legt sich heute ja richtig ins Zeug«, bemerkte
Swigert aufgebracht.
»Oh, es macht ihm einen Heidenspaß«, antwortete Kerwin
und schaltete dann rasch ab.
Lovell gefiel das ganz und gar nicht. Falls das Triebwerk
nach dem Entweichen des Heliums nicht mehr funktionieren
sollte, ließe sich das Manöver wahrscheinlich auch mit den
Lagesteuerungsraketen durchführen. Aber um das Schiff um
0,6 Meter pro Sekunde zu beschleunigen, müßten die kleinen
Düsen eine gute halbe Minute lang mit voller Kraft laufen, so
daß sie danach womöglich nicht mehr zu gebrauchen wären,
während bei dem großen Triebwerk der Abstiegsstufe ein paar
Sekunden bei niedriger Schubkraft genügten.
»Das klingt ganz und gar nicht gut«, sagte Lovell zu Haise,
während er seinen Hot-Dog wegwarf.
»Ganz meine Meinung«, pflichtete Haise ihm bei.
Der Kommandant verließ seine Position und wollte gerade im
Tunnel verschwinden, um sich auf die Suche nach einem
leichter verdaulichen Frühstück zu begeben, als Kerwin sich
wieder meldete.
»Jim, wir wollen dich und Jack noch mal einspannen. Und
zwar möchten wir, daß ihr ein bißchen Energie vom LEM in
die Kommandokapsel abzweigt, damit wir die
Wiedereintrittsbatterie aufladen können.«
»O.K.«, antwortete Lovell und winkte Swigert zu. »Ich gebe
dir Jack.«
Swigert meldete sich, und Lovell nahm den Kopfhörer ab,
damit er ungehindert durch den Tunnel kam. Aber sobald
Kerwin Swigert das Betriebsverfahren erklärte und das »Aha«
und »Hm« des Piloten der Kommandokapsel zu ihm
hochdrang, machte Lovell sich Sorgen.
»Sind die sicher, daß sie jetzt mit dem Saft herumpfuschen
wollen?« rief er Swigert zu und steckte den Kopf wieder aus
dem Tunnel. »Wir müssen immerhin noch vierundzwanzig
Stunden mit dem LEM fliegen.«
Swigert gab dies an die Bodenstation weiter. »Eine Frage von
hier aus. Wenn wir jetzt Strom abzweigen, werden dann nicht
die Reserven im LEM knapp, die wir bis zum Wiedereintritt
brauchen?«
»Das ist negativ, Jack. Laut der neuesten Berechnung haben
wir Ampere-Stunden bis zu 203 Flugstunden, und die Landung
ist bei 142 angesetzt.«
»Kein Problem«, rief Swigert Lovell zu. »Die haben 203
Stunden ausgerechnet.«
»Haben sie die Sache getestet?« rief Lovell zurück. »Oder
kann es passieren, daß wir beide Batterien leerorgeln, wenn
wir Energie in die Kommandokapsel ableiten?«
»Sagt mal, Houston«, meldete sich Swigert. »Jim möchte
wissen, ob diese Methode ausprobiert und für O.K. befunden
wurde. Wir laufen doch nicht etwa Gefahr, daß wir die
Batterien leer machen, oder?«
»O.K. Jack, das Verfahren an sich wurde noch nicht
ausprobiert, aber in Anbetracht der Geräte, durch die der Strom
fließt, sollte keinerlei Gefahr für die Batterien bestehen. Aber
denkt an den Grund für die ganze Aktion: Eure
Wiedereintrittsbatterie hat 20 Amperestunden zu wenig, und
uns bleibt nichts anderes übrig, als sie aufzuladen, wenn wir
euch zurückholen wollen.«
Murrend erklärte sich Lovell einverstanden. Swigert ging
wieder auf Sendung und war den Großteil des Vormittags
damit beschäftigt, sich die Betriebsverfahren zum Aufladen zu
notieren, zwischen den beiden Schiffen hin und
herzuschwimmen, um die entsprechenden Schalter zu
betätigen, und den Stromaustausch vom einen Raumfahrzeug
zum anderen zu überwachen. Während er voll ausgelastet war,
meldete sich der CAPCOM – mittlerweile hatte Vance Brand
Dienst – bei Lovell und Haise und wies ihnen ebenfalls ein
paar Aufgaben zu.
Es ging um die Gewichtsverteilung. Vor der Zündung des
Abstiegs-Antriebssystems mußten die FIDOs das genaue
Gewicht von Fracht und Besatzung der »Aquarius« wissen,
und auch die Führungs- und Navigationsoffiziere mußten
wissen, wieviel Ballast die »Odyssey« mitführte, bevor die
Kreiselplattform ausgerichtet und die Kapsel auf
Wiedereintrittskurs gebracht werden konnte. Die Computer
eines Apollo-Raumfahrzeuges waren so programmiert, daß sie
das Gewicht der Kommandokapsel auf dem Rückflug vom
Mond um etwa einen Zentner höher veranschlagten als auf
dem Hinflug – soviel wogen die Gesteins- und Bodenproben,
wegen denen die Astronauten ursprünglich dort hinflogen.
Aber Apollo 13 kehrte ohne Mondgestein zurück, und vor dem
Wiedereintritt sollte die Besatzung etliche
Ausrüstungsgegenstände aus dem LEM in die
Kommandokapsel umladen, sie in den Staukisten unterbringen,
die für die kostbaren Mondproben gedacht waren, und darauf
hoffen, daß das Gewicht stimmte und der Computer sich
täuschen ließ.
»O.K. Jim«, meldete sich Brand, während Swigert arbeitete,
»wenn du ein bißchen Zeit zum Mitschreiben hast, haben wir
hier die Stauliste, in der festgelegt ist, welche Geräte ihr vor
der Landung umladen müßt.«
»Ich kann sofort mitschreiben«, sagte Lovell, holte seinen
Stift aus der Ärmeltasche und gab Haise ein Zeichen, ihm
einen Flugplan als Notizblock zuzuwerfen.
»In Ordnung, ihr sollt die zwei 70-Millimeter-Hasselblad-
Kameras hinübertragen, die schwarzweiße Fernsehkamera,
sämtliche belichteten 16- und 70-Millimeter-Filme, den
Datenrekorder des LEM, zusätzliche Sauerstoffschläuche,
zusätzliche Sauerstoffilteraufsätze, die Klappe des
Abfallbeseitigungssystems und den Flugdatenordner des LEM.
Hast du das empfangen?«
»Empfangen.«
Lovell zeigte Haise die Liste, und die beiden Männer
machten sich daran, die vom CAPCOM genannte Fracht
zusammenzutragen. Haise öffnete einen Stauraum, holte die
beiden Fotoapparate heraus und ließ sie hinter sich in der Luft
schweben; Lovell öffnete den nächsten und zog die
Sauerstoffschläuche heraus. Inzwischen öffnete Haise den
dritten, entdeckte etwas Merkwürdiges und hielt inne. In
diesem Fach lagen übereinandergestapelt die PPKs (Personal
Preference Kits) der Astronauten, aus Beta-Tuch bestehende
Beutel, in denen jedes Besatzungsmitglied ein paar persönliche
Erinnerungsstücke oder Glücksbringer mitnehmen durfte, die
zwar nicht ausschlaggebend für das Gelingen der Mission, aber
wichtig für das Wohlbefinden der Männer waren. Manche
Astronauten nahmen alten Familienschmuck mit, manche eine
Münze oder eine kleine Flagge. Lovell hatte eine kleine
Goldbrosche mit einer diamantenbesetzten »13« dabei, die er
vor dem Flug hatte anfertigen lassen, und die er Marilyn bei
seiner Rückkehr schenken wollte.
Als Fred Haise seinen PPK vor sich liegen sah, bemerkte er
einen zugeklebten und mit der Aufschrift »Für Fred«
versehenen Umschlag, der obenauf geheftet war. Die
Handschrift erkannte er sofort. Nachdem er sich umgeschaut
und festgestellt hatte, daß der Kommandant nicht zusah, nahm
Haise den Umschlag an sich und riß ihn auf. Sofort trieben
etliche Bilder heraus. Auf dem ersten war seine Frau Mary zu
sehen, auf dem zweiten sein ältester Sohn Fred, auf dem dritten
sein zweiter Sohn Stephen und seine Tochter Margaret. Haise
schnappte sich die in der Luft schwebenden Porträts und
schaute in den Umschlag hinein. Darin steckte ein in der
gleichen gestochenen Handschrift verfaßter Brief.
Lieber Fred, stand da. Wenn Du dies liest, wirst Du bereits
auf dem Mond gelandet und hoffentlich wieder auf dem
Rückflug zur Erde sein. Hiermit wollen wir Dich wissen lassen,
wie sehr wir dich lieben, wie stolz wir auf Dich sind, und wie
sehr du uns fehlst. Komm rasch wieder heim! In Liebe, Mary.
»Von Mary?« fragte Lovell leise von hinten. Haise blickte
verdutzt auf.
»Hmm«, sagte er. »Sie muß es demjenigen zugesteckt haben,
der letzte Woche die PPKs verstaut hat.«
»Nett«, sagte Lovell mit einem wissenden Lächeln. Er hatte
zuvor einen Brief von Marilyn in seinem Beutel gefunden.
Wie durch ein stillschweigendes Übereinkommen verloren
die Männer kein weiteres Wort mehr über den Brief, sondern
trugen stumm die restlichen Ausrüstungsgegenstände
zusammen. Lovell konnte zwar nicht wissen, was Haise
empfand, aber er vermutete, daß ihm ähnliche Gedanken durch
den Kopf gingen wie ihm. Dieser Flug, stellte er mit
plötzlichem Verdruß fest, reichte ihm allmählich. Es war
schmerzlich genug, daß er ständig an die gescheiterte
Mondlandung erinnert wurde, sei es beim Betrachten der in der
Ferne verschwindenden Fra-Mauro-Berge, bei jedem
sehnsüchtigen Blick auf seinen ungebrauchten Raumanzug
oder wenn er die nutzlose Checkliste für das Abstiegsmanöver
sah. Nun gut, die Landung, für die er und Haise so lange
trainiert hatten, sollte nicht stattfinden; aber dann war es
höchste Zeit, daß sie ihre Sachen verstauten und sich bereit
machten, diesen unglückseligen Flug hinter sich zu bringen.

»Hier ist die Apollo Control bei einer Flugzeit von 119
Stunden und 17 Minuten«, meldete sich Terry White kurz nach
der Mittagspause von der Konsole des NASA-Sprechers aus.
»Das Raumfahrzeug ist jetzt 112 224 Seemeilen von der Erde
entfernt. Die Geschwindigkeit beträgt derzeit 5993 Kilometer
pro Stunde und nimmt weiter zu. Wir rechnen mit Beginn des
Wiedereintritts nach 142 Stunden, 40 Minuten und 42
Sekunden, das sind ab jetzt noch 23 Stunden und 22 Minuten.
Etwa 5 Stunden vor dem Wiedereintritt wird wahrscheinlich
eine Brennphase zur Mittkurskorrektur von etwas weniger als
0,6 Meter pro Sekunde erfolgen.
Heute nachmittag um 15 Uhr wird Neil Armstrong, der
Kommandant von Apollo 11, im großen Auditorium der
Mission Control eine Pressekonferenz halten, bei der diverse
technische Aspekte von Apollo 13 zur Sprache kommen
werden. Außerdem hat der Präsident des Chicago Board of
Trade folgende Nachricht an die Mission Control gesandt: ›Die
Chicagoer Börse hat heute morgen um 11 Uhr für eine Minute
ihre Geschäfte unterbrochen, um des Mutes und der Tapferkeit
von Amerikas Astronauten zu gedenken und für ihre
Unversehrtheit bei der Rückkehr zur Erde zu beten.‹ Hier ist
die Apollo Control.«
Chuck Deiterich stand vor der Schiefertafel im
Bereitschaftsraum gleich neben der Mission Control. Wohin er
auch blickte, überall sah er, wie es schien, einen FIDO, einen
RETRO oder einen GUIDO.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte Deiterich bei der
Zusammenarbeit mit den erfahrenen Navigations-Offizieren
viel Glück gehabt, und er hoffte, daß es auch an diesem
Nachmittag noch etwas anhielt. Während Bostick, Reed und
Bill Peters sich mit der wieder flacher werdenden Flugbahn
von Apollo 13 befaßt und über eine Möglichkeit nachgedacht
hatten, die Mondfähre zur Zufriedenheit der
Atomenergiekommission im Ozean zu versenken, war
Deiterich mit anderen Problemen beschäftigt gewesen.
Am wichtigsten war jetzt die Frage, wie die Besatzung ihren
ausgefallenen Versorgungsteil und das intakte LEM abtrennen
konnte, wenn es Zeit wurde, die Kommandokapsel für den
Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auszurichten. Wäre der
Flug von Apollo 13 planmäßig verlaufen, dann hätte sich die
»Odyssey« mit Hilfe der Steuerdüsen am Versorgungsteil von
der »Aquarius« entfernt, und das Landefahrzeug wäre in der
Mondumlaufbahn zurückgelassen worden. Nach dem gleichen
Prinzip wäre auch der Versorgungsteil von der
Kommandokapsel abgetrennt worden, wenn es an der Zeit war,
den Hitzeschild freizulegen und mit dem Wiedereintritt zu
beginnen. Doch bei diesem Flug lief längst nichts mehr
planmäßig, und die Steuerdüsen, auf die es bei diesen
Manövern ankam, funktionierten schon seit geraumer Zeit
nicht mehr.
Deiterich und seine Kollegen hatten jedoch einige elegante
Lösungsmöglichkeiten gefunden. Sie entschieden, daß Jim
Lovell und Fred Haise im LEM bleiben sollten, wenn der
Versorgungsteil abgetrennt wurde, während Jack Swigert in
die Kommandokapsel umsteigen sollte. Kurz vor dem
Abtrennen sollte Lovell die Steuerdüsen des LEM einmal kurz
betätigen, so daß die aneinandergekoppelten Schiffe
vorwärtsgeschoben würden. Danach sollte Swigert auf den
Knopf drücken, mit dem die kleinen Explosivkörper zwischen
Versorgungs- und Kommandoteil gezündet wurden, und die
Kapsel abtrennen. Gleichzeitig würde Lovell die Steuerdüsen
erneut auslösen, diesmal allerdings in die entgegengesetzte
Richtung, so daß sich das LEM und die daran angekoppelte
Kommandokapsel – mit Swigert an Bord – rückwärts vom
Versorgungsteil entfernten.
Einfacher, aber nicht weniger elegant, war das Verfahren
zum Abtrennen des LEM. Bei einem normalen Flug schlossen
die Astronauten vor dem Zurücklassen der Mondfähre sowohl
die Luke im Landefahrzeug als auch in der Kommandokapsel,
so daß der Tunnel von beiden Schiffen aus abgedichtet war.
Daraufhin öffnete der Kommandant ein Ventil im Tunnel, blies
die Atemluft aus und paßte den Druck an die Verhältnisse im
Weltall an. Dadurch konnten beide Schiffe voneinander
getrennt werden, ohne daß es zu einem unkontrollierten,
explosionsartigen Entweichen der Luft kam.
Während des Fluges von Apollo 10 im letzten Frühjahr hatten
die Controller erstmals mit einem teilweise unter Druck
stehenden Tunnel experimentiert. Wenn man die
Verbindungen löste, durch die beide Raumfahrzeuge
aneinandergekoppelt waren, so ihre Vorstellung, müßte das
LEM vom Mutterschiff weggedrückt werden, aber weitaus
langsamer und weniger unkontrolliert, als wenn der Durchgang
zwischen Kapsel und Mondfähre unter vollem Druck stünde.
Nach Ansicht der Controller wäre diese Methode durchaus
nützlich, falls einmal die Steuerdüsen am Versorgungsteil
ausfallen sollten. Jetzt, ein Jahr später, waren die Düsen
ausgefallen, und die Flugdynamik-Offiziere waren froh, daß
sie das Manöver in den Flugplänen für eventuelle Notfälle
abgeheftet hatten. Gestern hatte man Jack Lousma das
Verfahren erklärt, und er hatte es stolz an Lovell übermittelt.
»Wenn wir das LEM abtrennen«, hatte er berichtet, »gehen
wir genauso vor wie bei Apollo 10 – die Gute wird einfach
losgemacht.«
»O.K«, hatte Lovell weitaus skeptischer zurückgefunkt.
Jetzt, am Donnerstag nachmittag, mußte Deiterich ein
weiteres neues Verfahren mit seinen Kollegen abklären.
Diesmal ging es um das Führungssystem von Apollo 13. Bevor
die Kommandokapsel in die Atmosphäre eindringen konnte,
mußte das Führungssystem aktiviert und dann – mit Hilfe einer
Teleskop-Peilung auf Sonne und Mond – ausgerichtet werden.
Das konnte eine mühselige Arbeit sein, und da sämtliche
optischen Geräte durch Kondenswasser beeinträchtigt waren,
würde sie diesmal wahrscheinlich noch mühsamer werden.
Trotzdem waren Deiterich und die anderen Flugdynamik-
Offiziere zuversichtlich, daß es die Besatzung ohne allzu große
Schwierigkeiten schaffen müßte.
Zur Sicherheit müßte die Ausrichtung, sobald sie erst
vorgenommen war, noch einmal überprüft werden.
Normalerweise behielt der Pilot der Kommandokapsel dabei
durch das Fenster den Horizont der vorbeiwandernden Erde im
Blick. Wenn die Ausrichtung des Raumfahrzeuges stimmte,
deckte sich die Erdkrümmung mit Gradmarkierungen, die in
bestimmtem Abstand ins Fenster eingraviert waren. Bewegte
sich der Planet wie vorgesehen, dann konnte während des
Wiedereintritts der Computer die Steuerung übernehmen.
Wenn nicht, wußte die Besatzung, daß mit der Kreiselplattform
etwas nicht stimmte, und das Raumfahrzeug mußte per Hand
durch die Atmosphäre zur Landestelle gesteuert werden. Das
Problem bei Apollo 13 jedoch war, daß man kurz vor dem
Wiedereintritt keinen Horizont würde anpeilen können. Weil
man das Raumfahrzeug so rasch wie möglich zurückholen
wollte, näherte sich Apollo 13 der Erde von der Nachtseite aus,
so daß die Astronauten zum kritischen Zeitpunkt allenfalls eine
dunkle Masse würden erkennen können.
Aber Chuck Deiterich hatte eine Idee. »Männer«, sagte er zu
den andern Flugdynamik-Offizieren im Bereitschaftsraum,
»morgen mittag werden wir ein Problem bekommen – genauer
gesagt, wir werden unsere Ausrichtung anhand eines nicht
vorhandenen Horizonts überprüfen müssen.«
Er drehte sich zur Tafel um und zeichnete einen langen, nach
unten verlaufenden Bogen, der den Rand der Erdkugel
darstellen sollte. »Nun wird zwar die Erde nicht zu sehen sein,
aber die Sterne sind immer da«, sagte er und malte über dem
Erdhorizont ein paar Kreidepunkte auf die Tafel. »Aber bei der
hohen Geschwindigkeit des Schiffes bleibt uns vielleicht nicht
genügend Zeit, um festzustellen, mit welchen wir es zu tun
haben.« Er wischte die Sterne mit dem Schwamm weg.
»Natürlich steht uns da draußen auch noch der Mond zur
Verfügung«, sagte Deiterich. Oberhalb des Erdumrisses malte
er einen kleinen Mond auf die Tafel. »Während das
Raumfahrzeug den Planeten umkreist und sich der Atmosphäre
immer mehr nähert, wird es so aussehen, als ginge der Mond
unter.« Deiterich malte einen zweiten Mond unter den ersten,
dann einen weiteren, dann noch einen und immer mehr, wobei
jeder näher an dem mit Kreide gezeichneten Erdhorizont lag,
bis der letzte teilweise von ihm überlagert wurde.
»An einem bestimmten Punkt«, sagte er, »wird der Mond
hinter der Erde untergehen und verschwinden. Er wird immer
zum gleichen Zeitpunkt verschwinden, egal, ob es Tag ist oder
Nacht, ob wir den Horizont sehen können oder nicht.« Der
RETRO berührte die Tafel nur mit der Kante des Schwammes
und wischte vorsichtig den langgezogenen Bogen weg, der den
Horizont darstellte, ließ aber die Monde stehen. Er deutete auf
den Mond, der zuvor halb vom Horizont verdeckt gewesen
war.
»Wenn wir auf die Sekunde genau wissen, wann der Mond
verschwindet, und wenn uns der Pilot der Kommandokapsel
mitteilt, daß er tatsächlich verschwindet, dann, Gentlemen, ist
unsere Ausrichtung für den Wiedereintritt punktgenau.«
Es war über einen Tag her, seit die Besatzung von Apollo 13
aus den Fenstern der Kommandokapsel hatte blicken können.
Die Sicht aus der Mondfähre war natürlich seit Montag etwas
eingeschränkt gewesen, da durch die ständigen Ausdünstungen
der Astronauten die Luftfeuchtigkeit gestiegen war und sich
wegen der niedrigen Temperatur Kondenswasser an den
Dreiecksfenstern niedergeschlagen hatte.
Die Kommandokapsel war lange davon verschont geblieben
– hauptsächlich deshalb, weil sich die Astronauten den
Großteil des Fluges über unten in der »Aquarius« aufgehalten
hatten.
Jetzt, als für Apollo 13 der letzte Abend im All anbrach, war
die Temperatur in der Kommandokapsel niedriger als je zuvor,
und es kam trotz der beträchtlich niedrigeren Luftfeuchtigkeit
zu Kondenswasserbildung. Beunruhigt stellte die Besatzung
fest, daß sämtliche Fenster, Wände und Instrumente in dem
klammen Cockpit mit perlengroßen Wassertropfen bedeckt
waren. Aufgrund der Schwerelosigkeit konnten die Tropfen
nicht zu Boden fallen, aber sobald sich die irdische
Schwerkraft bemerkbar machte, würden sich die Astronauten
in der »Odyssey« vorkommen wie in einer Karsthöhle.
Lovells Ansicht nach bedeutete dies Ärger. Wenn die
Fenster, die Wände und die Instrumente derart naß waren,
dann drang die Feuchtigkeit garantiert auch hinter das
Armaturenbrett, wo alles voller Drähte, Glühbirnen und
elektrischer Anschlüsse war. Die Ingenieure von North
American Rockwell hatten zwar dafür gesorgt, daß die
zahllosen Stromanschlüsse des Schiffes wasserfest waren, aber
das Isoliermaterial schützte nur vor der unter normalen
Umständen in der Kabine herrschenden Luftfeuchtigkeit.
Niemand hatte es für notwendig gehalten, die Elektronik so zu
isolieren, daß ihr auch derartige Mengen von Kondenswasser
nichts anhaben konnten. Wenn das Schiff morgen angeschaltet
wurde und die Instrumente wieder unter Strom standen, konnte
es durchaus geschehen, daß wegen eines einzigen blanken
Drahtes oder einer porösen Isolierung das ganze System
zusammenbrach.
Als es Zeit zum Abendessen wurde, schlürfte Lovell in dem
unwesentlich wärmeren LEM lustlos kalte Suppe aus einem
Verpflegungsbeutel, gab es dann auf und machte sich auf den
Weg zur Kommandokapsel, um den Zustand des Schiffes zu
überprüfen.
»Was hast du vor?« fragte Haise, der Lovells Ansicht nach
fiebriger aussah – und sogar klang – als gestern.
»Die Kondensation oben überprüfen«, sagte Lovell.
»Ich komme mit«, bot Haise an.
»Warum bleibst du nicht hier? Du siehst schlecht aus,
Freddo, und da oben ist es eiskalt.«
»Mir geht’s gut«, sagte Haise.
Lovell sprang durch den Tunnel nach oben. Haise folgte ihm,
und die beiden Männer schwebten zum Fenster auf der linken
Seite, der Seite des Kommandanten, durch das Lovell vor
zweiundsiebzig Stunden das Ausblasen entdeckt hatte. Jetzt
konnte man durch das nasse Glas überhaupt nichts erkennen,
und als Lovell mit dem Finger darüber strich, lösten sich ein
paar Tropfen und trieben in der Luft.
»Das ist vielleicht eine Sauerei«, sagte er kopfschüttelnd.
»Eine Sauerei«, wiederholte Haise.
»Nun ja, wir werden erst Bescheid wissen, wenn wir den
Strom einschalten.«
»Und den Strom werden wir nicht einschalten, bevor sie uns
die Checkliste durchgegeben haben.«
Seitdem Lovell und Haise die Geräte aus der »Aquarius« in
die »Odyssey« umgeladen hatten, forderte Lovell in Houston
die Liste an, an der John Aaron und Arnie Aldrich so lange
gearbeitet hatten. Sie wußten, daß die Übermittlung Stunden
dauern konnte, da Swigert jeden einzelnen Schritt aufschreiben
und zur Bestätigung noch einmal vorlesen mußte.
Als der Kommandant den diensttuenden CAPCOM, Kerwin,
das erste Mal nach der Liste gefragt hatte, reagierte dieser
ausweichend.
»Sie existiert«, sagte Kerwin.
»Sie existiert«, hatte Lovell Haise zugeraunt, und dann
zurückgefunkt: »O.K. das ist gut.«
Als Lovell sich das letzte Mal erkundigt hatte – mit
nachdrücklichem Hinweis darauf, daß es mittlerweile
Donnerstag sei und Freitag mittag die Landung erfolgen
sollte –, hatte Brand versucht, ihm gut zuzureden. »Wir sind
fast fertig«, hatte der CAPCOM mit einem entschuldigenden
Lachen gesagt. »Spätestens am Samstag oder Sonntag haben
wir sie für euch vorliegen.« Der Kommandant fand das gar
nicht komisch.
Jetzt, am Donnerstag abend um 18 Uhr 30, achtzehn Stunden
vor der Landung, reichte es Lovell. Er schwebte, gefolgt von
Haise, durch den Tunnel zurück und rief nach Swigert.
»He, Jack, bist du bereit, dich an die Arbeit zu machen?«
»Sehe ich etwa so aus, als wäre ich beschäftigt?« antwortete
Swigert.
»Dann hol die Jungs an die Strippe und laß dir die
Betriebsverfahren durchgeben. Ich habe die Warterei satt.«
Lovell drückte auf die Sprechtaste.
»Houston, hier Aquarius.«
»Schieß los, Jim«, meldete sich Brand.
»Ich möchte daran erinnern, daß ich auf die
Betriebsverfahren zum Hochschalten warte, damit ich sie mit
der Crew einmal durchspielen und sichergehen kann, daß wir
eure Weisungen kapiert haben.«
»Jim, wir werden sie euch garantiert noch durchgeben«, sagte
Brand.
»O.K…« Lovells Tonfall verriet, wie ärgerlich er war.
»Wir haben sie so gut wie fertig.«
»O.K…«
»Wir müßten sie in… etwa einer Stunde haben.«
»Ich warte darauf«, sagte Jim Lovell und schaltete sich mit
einem heftigen Druck auf die Taste aus.
Obwohl er Brands Versprechen nicht glaubte – und
wahrscheinlich glaubte Brand selbst nicht einmal daran –,
sagte der CAPCOM, wie sich herausstellen sollte, die
Wahrheit. Sobald Lovell die Verbindung unterbrochen hatte,
ging hinten in der Mission Control die Tür auf, und Aaron,
Aldrich und Gene Kranz tauchten auf.
Aaron reichte Brand eine Kopie der Checkliste, woraufhin
Brand augenblicklich über Boden-Bord-Funk das Schiff rief.
»Houston, Aquarius.«
»Schießt los, Houston«, meldete sich Lovell.
»O.K. wir sind soweit, daß wir euch den ersten Teil der
Checkliste durchgeben können.«
»In Ordnung, Vance. Ich verbinde dich mit Jack, also bleib
dran.«
Lovell gab Swigert ein Zeichen, daß er seinen Kopfhörer
aufsetzen sollte, besorgte sich zwei oder drei überflüssig
gewordene Flugpläne, holte einen Stift heraus und überreichte
alles dem Piloten der Kommandokapsel. »Du bist dran, Jack.«
»O.K. Vance«, sagte Swigert über Funk. »Ich bin
empfangsbereit.«
»O.K. Jack«, antwortete Brand, »aber du mußt dich noch
einen Augenblick gedulden. Wir wollen den Flugdirektoren
und dem EECOM ebenfalls eine Kopie der Checkliste
zukommen lassen, und das kann ein, zwei Sekunden dauern.«
»Roger, Houston.« Swigerts Tonfall war kaum weniger
scharf als Lovells.
Aaron griff zum Telefon an der Konsole des CAPCOM und
bestellte weitere Kopien. Zwei Minuten lang herrschte
Funkstille, während die Männer an der CAPCOM-Konsole auf
und ab gingen, die Besatzung im Raumfahrzeug wartete und
die Leute in der Mission, Control gelegentlich zur Tür
schielten, um nachzusehen, ob die Kopien eintrafen. Kranz, der
zunehmend ungeduldiger wirkte, gab Brand ein Zeichen, daß
er weitersprechen sollte.
»Sag mal, Jack«, meldete sich der CAPCOM bei Swigert.
»Wie sieht’s mit dem Wasser in der Kommandokapsel aus?
Habt ihr noch Wasserbeutel übrig?«
»Negativ. Ich bin hochgegangen und wollte den Trinkwasser
tank ablassen, aber da ist nichts rausgekommen.«
»Ah«, sagte Brand. »Uns war schon klar, daß im
Trinkwassertank nichts mehr drin ist, aber wir haben uns
gefragt, ob vielleicht noch Beutel übrig sind?«
»Nein.«
»O.K.«
Brand dachte gerade über weitere Gesprächsthemen nach, als
die Tür zur Mission Control aufgerissen wurde. Die Männer an
der Konsole des CAPCOM, die damit gerechnet hatten, einen
Ingenieur mit einem Stapel Kopien hereinstürmen zu sehen,
stöhnten auf, als statt dessen ein halbes Dutzend Controller
zum CAPCOM hingingen. Diese Männer wollten ebenso wie
Kranz, Aaron und Aldrich zugegen sein, wenn ihr Meisterstück
an die Astronauten durchgegeben wurde, und natürlich wollten
sie alle eine Kopie der Vorlage haben.
»Jack, wir werden uns wahrscheinlich noch fünf Minuten
gedulden müssen. Wir bekommen hier immer mehr Zuhörer.
Dieses Betriebsverfahren ist von allerhand Leuten erarbeitet
worden, und ein paar davon haben es ausprobiert, und die
hätten wir gern dabei, während wir es durchgeben.«
Brand wartete auf eine Antwort, erntete aber nur ein fünf
Sekunden langes, frostiges Schweigen. Auf einmal schaltete
sich eine andere Stimme in den Boden-Bord-Funk ein. Es war
Deke Slayton, und Brand war froh darum. Als Astronaut –
auch wenn er bislang noch nicht ins All geflogen war –
erkannte Brand anhand des Tonfalls, daß die Besatzung
allmählich aufsässig wurde, und er wußte, daß er nur begrenzte
Autorität hatte. Slayton als Chefastronaut hatte – auch wenn er
ebenfalls nie ins All geflogen war – sicher mehr Einfluß.
»Wie sieht’s mit der Temperatur da oben aus, Jack?« fragte
Slayton wie beiläufig. »Seid ihr schon mächtig am
Holzhacken?«
Swigerts Tonfall änderte sich auf der Stelle. »Deke, im LEM
liegt sie derzeit bei 10 Grad, glaube ich«, sagte er so freundlich
wie lange nicht mehr. »In der Kommandokapsel ist sie
niedriger.«
»Ein schöner Herbsttag, was?«
»Ganz genau. Und nur damit du es weißt: Anhand eurer
vorigen Checkliste wurde alles in der Kommandokapsel
verstaut. Ausgenommen die Hasselblads, weil wir mit denen
den Versorgungsteil fotografieren wollen, wenn wir ihn
abtrennen.«
»Roger. Habe verstanden, Jack.«
»Im LEM ist ebenfalls alles gut verstaut, ausgenommen die
paar Sachen, die wir noch rüberschaffen müssen.«
»Roger. Habe ebenfalls verstanden.«
Slaytons Eingreifen bewirkte bei Swigert genau den
Umschwung, den sich der Chefastronaut erhofft hatte.
Lovell hingegen ließ sich von Deke Slayton nicht so leicht
beschwichtigen.
»Hör zu, Vance«, blaffte der Kommandant, der Slayton
einfach überging und sich, wie es das Protokoll vorschrieb,
direkt an den CAPCOM wandte, »du mußt dir darüber
klarwerden, daß wir uns hier oben an unsere Arbeits- und
Ruhezeiten halten müssen. Wir können nicht ständig
herumsitzen und warten, bis du uns die Betriebsverfahren
durchgibst. Wir müssen sie vor uns liegen haben, sie uns
anschauen, und wir müssen unsere Leute ins Bett schicken.
Also denk dran und sieh zu, daß du uns die Checkliste
durchgibst.«
Viereinhalb Minuten lang herrschte buchstäblich Funkstille
zwischen Apollo 13 und der Bodenkontrolle. Dann flog ein
weiteres Mal die Tür zur Mission Control auf, und ein
atemloser Ingenieur mit einem Stapel Checklisten kam
hereingestürmt. Von 19 Uhr 30, Ortszeit Houston, bis fast
zwanzig nach neun wurde die endlose Checkliste
durchgegeben, und Swigert schrieb alles mit. Fünfzehn
Stunden vor dem errechneten Zeitpunkt der Landung und
etwas mehr als zwölf Stunden vor Beginn des Hochschaltens
wurde die letzte Anweisung übermittelt, und Swigert klappte
sein Buch zu.
»O.K. Jack«, sagte der CAPCOM. »Ich wundere mich ja
selber, aber allem Anschein nach haben wir alles unter Dach
und Fach.«
»In Ordnung«, sagte Swigert. »Falls wir noch Fragen haben
sollten, melden wir uns wieder.«
»O.K. Wir haben das alles im Simulator durchgespielt, und
unserer Meinung nach dürfte nichts Unvorhergesehenes mehr
passieren.«
»Das will ich doch hoffen«, sagte Swigert, »weil es morgen
nämlich darauf ankommt.«

Trotz all der Schlafperioden, die man in Houston für die Crew
ansetzte, kam keiner der Männer in der Apollo 13 groß zum
Schlafen. Jedesmal wenn einer der Astronauten sich nach drei-
oder vierstündiger Ruhezeit wieder zurückmeldete, fragte ihn
der CAPCOM beiläufig, wie viele Stunden er tatsächlich
geschlafen habe. Und fast immer bekam er die gleiche
Antwort: Eine Stunde, vielleicht ein bißchen mehr. Aber
meistens war es erheblich weniger.
Der Flugarzt hatte die von den Männern genannte
Stundenzahl mitgeschrieben, und das Ergebnis beunruhigte ihn
zunehmend. Seit Montag abend hatte die Besatzung pro Tag
durchschnittlich etwa drei Stunden am Stück geschlafen. Jetzt
war Freitag morgen um 2 Uhr 30, zehn Stunden vor der
Landung, und Swigert hatte diesen Durchschnitt noch nicht
erreicht. Lovell und Haise anscheinend auch nicht, dem
rastlosen Herumrumoren nach zu urteilen.
»Fred«, meldete sich Lousma bei dem Astronauten, der wach
sein sollte. »Schläfst du gerade?«
»Schieß los«, grummelte Haise, öffnete die Augen und setzte
den Kopfhörer auf.
»Ich habe ein paar Minuten Arbeit für euch. Ein paar
Änderungen in der Anordnung der Schalter auf der
Checkliste.«
»O.K.«, sagte Haise. »Ich hole Jack.«
Als Swigert dies hörte, meldete er sich sofort. »O.K.
Houston, hier Aquarius«, sagte er müde.
»Wie lange hast du dich ausgeruht, Jack?« fragte Lousma.
»Oh, ich schätze, etwa zwei oder drei Stunden«, log Swigert.
»Es war furchtbar kalt, und ich habe nicht besonders gut
geschlafen.«
»Roger. So wie es aussieht, kannst du es noch etwa zwei
Stunden lang versuchen, bevor wir uns mit der
Mittkurskorrektur befassen müssen.«
»Na ja«, sagte Swigert, »versuchen können wir’s ja, aber es
ist furchtbar kalt.«
Swigert stupste Lovell an, der gar nicht geweckt werden
mußte.
»Es gibt Arbeit«, sagte er.
»Toll«, erwiderte Lovell.
Die drei Astronauten rafften sich auf und begaben sich
schwerfällig auf ihre Positionen. Die Controller in der
Bodenstation tauschten besorgte Blicke aus. Deke Slayton
schaltete sich ein.
»He, Jim. Da du gerade auf bist und im Augenblick alles
hübsch ruhig ist, möchte ich dir ein, zwei Dinge sagen, über
die du nachdenken kannst. Vor allem eins. Ich weiß, daß
keiner von euch vernünftig schläft, und vielleicht solltet ihr
den Sanitätskasten aufmachen und zwei Dexedrin-Tabletten
pro Nase auspacken.«
»Nun ja… ich habe das noch nicht angesprochen«, sagte
Lovell. »Es wäre… es wäre eine Überlegung wert.«
»O.K.« Slayton schwieg kurz. »Ich wünschte, uns fiele etwas
ein, wie wir euch eine Tasse mit heißem Kaffee hochschaffen
könnten. Würde euch jetzt wahrscheinlich ziemlich gut
schmecken, nicht wahr?«
»Ja, mit Sicherheit. Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt es
hier drin werden kann, vor allem, wenn die PTC langsamer
wird. Im Augenblick steht die Sonne auf der Düse des
Haupttriebwerks vom Versorgungsteil und kommt überhaupt
nicht bis zum LEM herunter.«
»Haltet aus«, sagte Slayton wenig überzeugend. »Es wird
jetzt nicht mehr lange dauern.«
›Nicht mehr lange‹ war, wie Slayton sehr wohl wußte, ein
relativer Begriff. Da die Mittkurskorrektur frühestens in vier
Stunden erfolgen sollte, würde es mindestens noch drei
Stunden dauern, bis die Mondfähre wieder hochgeschaltet und
damit auch wärmer werden würde. Für die dreißig Männer, die
zur Frühschicht in der Mission Control arbeiteten, waren drei
Stunden keine lange Zeit, aber den Astronauten in der eiskalten
Apollo 13 mußte es wie eine Ewigkeit vorkommen.
Slayton hatte wie alle anderen Männer im Raum seit Montag
den Energieverbrauch der »Aquarius« überwacht, und
angesichts der übermittelten Daten wurde er zunehmend
zuversichtlicher.
Slayton meldete sich über das Controller-Netz beim
Flugdirektor und fragte Milt Windler, ob es vielleicht möglich
wäre, ein bißchen überschüssige Energie aufzuwenden, um das
LEM etwas früher einzuschalten.
Das Team des TELMU führte ein paar rasche
Energieberechnungen durch und meldete sich mit einer guten
Nachricht zurück: Die Besatzung durfte das Schiff einschalten.
Windler leitete dies an Lousma weiter. »CAPCOM, sagen Sie
ihm, er soll das Licht anschalten.«
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Lousma.
»Schießt los, Houston«, antwortete Lovell.
»O.K. Skipper. Uns ist etwas eingefallen, wie ihr euch
warmhalten könnt. Wir haben beschlossen, sofort mit dem
Hochfahren der Energie im LEM zu beginnen. Nur im LEM
allerdings, nicht in der Kommandokapsel. Nehmt euch also die
Checkliste zum Klarmachen des LEM vor und schlagt die
Dreißig-Minuten-Aktivierung auf. Verstanden?«
»Äh, verstanden«, sagte Lovell. »Und ihr seid sicher, daß wir
ausreichend Energie für so etwas haben?«
Slayton schaltete sich ein. »Jim, ihr steht mit allen Systemen
bei 100 Prozent.«
»Das klingt ermutigend.«
Der Kommandant wandte sich an seine Kollegen, hob beide
Daumen und machte sich dann mit Haises Hilfe daran, in aller
Eile die entsprechenden Schalter umzulegen, so daß sie für das
halbstündige Hochschalten der Energie nur einundzwanzig
Minuten brauchten. Kaum waren die Systeme der »Aquarius«
wieder in Betrieb, spürte die Besatzung, wie die Temperatur in
dem kalten Cockpit langsam stieg. Sobald dies geschah, sorgte
Lovell dafür, daß sie noch schneller stieg.
Er faßte zum Lagesteuerungsgriff, der jetzt wieder aktiviert
war, und drehte das Raumfahrzeug so herum, daß die Sonne
mitten auf das LEM schien. Fast augenblicklich strömte gelb-
weißes Licht ins Cockpit. Lovell hob den Kopf, schloß die
Augen und lächelte.
»Houston, die Sonne fühlt sich wunderbar an«, sagte er. »Sie
scheint genau durch die Fenster, und hier drin wird es bereits
wärmer. Habt vielen Dank.«
»Im Ansitz wird es immer wärmer, wenn die Enten fliegen«,
sagte der CAPCOM.
»Genau.« Lovell schlug die Augen auf. »Und wenn ich aus
dem Fenster schaue, Jack, dann kommt uns die Erde
entgegengedüst wie ein D-Zug. Ich glaube nicht, daß viele
LEMs die Erde aus dieser Perspektive gesehen haben. Ich halte
immer noch Ausschau nach dem Fra Mauro.«
»Nun denn«, sagte Lousma, »dann fliegst du in die falsche
Richtung, Mann.«

Als am Freitag die Sonne aufging und auf der Straße vor dem
Haus der Lovells wieder die Reporter und Kamerateams
aufmarschierten, fanden sich im Wohnzimmer erneut allerhand
Freunde, Astronauten und Familienangehörige ein.
Gemeinsam saßen sie vor dem Fernseher und sahen sich die
Sonderberichte an.
»Apollo 13 ist jetzt 60000 Kilometer von der Erde entfernt
und fliegt mit einer Geschwindigkeit von 11200 Kilometern
pro Stunde.« Mit diesen Worten eröffnete Korrespondent Bill
Ryan die Today-Show. »Der Kurs steht nun fest, so daß in
etwa sechs Stunden mit einer Landung im Pazifik zu rechnen
ist. Der Helikopterträger ›Iwo Jima‹ ist vor Ort in Position
gegangen, und das Wetter, das ein paar Tage lang wechselhaft
war, hat sich nun wieder beruhigt.
Noch steht dem Raumfahrzeug eines der kritischsten
Manöver bevor. 8 Uhr 23 Ostküstenzeit sollen die Astronauten
den Versorgungsteil absprengen, und um 11 Uhr 53 gilt es, die
Mondlandefähre abzutrennen, die ihnen als Rettungsboot
diente, seit die Energieversorgung im Mutterschiff ausfiel.
Alan Bean, ein Astronaut von Apollo 12, erklärte in diesem
Zusammenhang, wenn etwa eine Stunde vor der Landung die
Mondfähre abgetrennt und der Wiedereintritt wie gewohnt
erfolgen werde, sei der eigentliche Notfall überstanden…«
Plötzlich hörte Marilyn Lovell aufgeregte Stimmen im
Vorgarten, dann so etwas wie Applaus. Sie stürzte ans Fenster
und sah gerade noch, wie sich etliche Nachbarn, die offenbar
Sektkisten trugen, durch den Reporterpulk drängten und über
den Rasen kamen. Marilyn lächelte etwas skeptisch. Sie war
ihnen dankbar für diese Geste und freute sich über den Besuch.
Aber den Sekt würde sie noch eine Weile auf Eis liegenlassen,
zumindest vorerst.
In der Mission Control herrschte keinerlei Aufregung, als Jim
Lovell die Lagesteuerungsraketen kurz zündete, um eine
leichte – und, wie er hoffte, letzte – Kurskorrektur
vorzunehmen und das Raumfahrzeug genau in die Mitte des
etwa 40 Kilometer breiten Wiedereintrittskorridors zu
dirigieren. Die vier Steuerdüsen hatten fünf Tage lang
einwandfrei funktioniert, und daher bereitete den Controllern
auch die jetzige kurze Zündung keinerlei Kopfzerbrechen,
auch wenn diesmal das Überleben der Astronauten beim
Wiedereintritt davon abhing. Aber die Männer an den
Konsolen waren an diesem Morgen mit nichts anderem
beschäftigt als mit dem Überleben der Astronauten beim
Wiedereintritt. In der Mission Control in Houston ging es um
kurz nach 7 Uhr morgens – als gerade die zweite Stunde der
Today-Show anbrach und Jim Lovells Manöver mit den
Steuerdüsen gelang – zu wie in einem Ameisenhaufen. Drei
Stunden zuvor hatte laut dem Plan, den Gene Kranz während
der Woche ausgearbeitet hatte, Milt Windlers Team die
Konsolen verlassen, und zum erstenmal seit der PC+2-
Zündung am Dienstagabend traten wieder Kranz’ Controller an
– jetzt nicht mehr als Tiger Team. Windlers Team räumte auf
der Stelle seine Plätze für sie, aber keiner der Männer verließ
den Kontrollraum. Statt dessen standen sie in der Nähe ihrer
Konsolen herum oder lehnten an der Wand und tranken
Kaffee. Der Großteil der Männer aus den beiden anderen
Teams schloß sich ihnen an. Keiner wollte den diensttuenden
Controllern in die Quere kommen, aber niemand hatte Lust,
das Auditorium zu verlassen. Kranz’ Männer stöpselten ihre
Kopfhörer ein, drehten sich zu den Monitoren um und nahmen
sich ihr erstes und vielleicht kitzligstes Manöver an diesem
Tag vor: Das Absprengen des Versorgungsteils.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Joe Kerwin, der
diensttuende CAPCOM.
»Schieß los, Joe«, antwortete Fred Haise.
»Wenn du mitschreiben willst: Ich habe Lage und Neigung
für Abtrennung des Versorgungsteils. Dafür brauchst du
keinen Block, ein einfacher Notizzettel tut es auch.«
Lovell, Haise und Swigert befanden sich auf ihren gewohnten
Positionen im Raumfahrzeug, allesamt wach und halbwegs
munter. Lovell hatte sich gegen die Dexedrin entschieden, die
Slayton seiner Crew letzte Nacht verordnen wollte. Er wußte,
daß die stimulierende Wirkung bald vorüber sein würde, und
danach ginge es ihnen nur um so schlechter. Im Augenblick, so
hatte der Kommandant beschlossen, mußten sie sich mit ihrem
Adrenalin begnügen. Haise, dessen Gesicht noch immer fiebrig
rot war, brauchte einen Adrenalinstoß am allernötigsten, und
allem Anschein nach bekam er gerade einen.
»Schießt los, Houston«, sagte er, riß ein Blatt aus einem
Flugplan und zückte seinen Stift.
»O.K. die Vorgehensweise ist folgendermaßen: Erstens, LEM
in folgende Lage manövrieren: Rollen, 000 Grad; Nicken, 91,3
Grad; Gieren, 000 Grad.« Haise schrieb eilig mit und reagierte
nicht sofort. »Soll ich diese Lagedaten wiederholen, Fred?«
»Negativ, Joe.«
»Danach soll Jim mit den vier Steuerdüsen des LEM einen
Schub um 0,15 Meter pro Sekunde auslösen, Jack die
Trennung vornehmen lassen, und dann einen Schub um 0,15
Meter pro Sekunde in die Gegenrichtung auslösen. Hast du
das?«
»Ich habe es. Wann sollen wir das tun?«
»In etwa dreizehn Minuten. Manöver ist aber nicht
zeitkritisch.« Lovell schaltete sich ein. »Können wir es
jederzeit vornehmen?«
»Wird bestätigt. Ihr könnt abtrennen, wann immer ihr soweit
seid.« Sobald die Freigabe von der Bodenstation vorlag, sprang
Swigert durch den Tunnel hinauf in die »Odyssey« und bezog
seine Position vor den Absprengschaltern in der Mitte des
Armaturenbretts. Lovell und Haise begaben sich an ihr
jeweiliges Fenster. Neben den drei Männern schwebten
griffbereit Kameras, da sie hofften, den vermutlich durch eine
Explosion beschädigten Versorgungsteil fotografieren zu
können. Swigert hatte bereits vorsichtshalber das
Kondenswasser an sämtlichen fünf Fenstern der »Odyssey«
abgewischt, damit die Sicht nach draußen nicht beeinträchtigt
wurde.
»Houston, hier Aquarius«, meldete sich Lovell. »Jack ist jetzt
in der Kommandokapsel.«
»Sehr schön, sehr schön«, sagte Kerwin. »Fahrt jederzeit
fort.«
»Jack!« rief der Kommandant durch den Tunnel hinauf. »Bist
du bereit?«
»Alles klar, wenn ihr es seid«, schallte es zurück. »In
Ordnung, ich zähle von fünf rückwärts, und bei Zero drücke
ich auf die Tube. Wenn du die Bewegung spürst, trennst du sie
ab.«
Swigert rief sein »Roger«, ergriff mit der linken Hand die
große Hasselblad und legte den Zeigefinger der rechten Hand
über den mit SM JETT gekennzeichneten Schalter. Im LEM
nahm Lovell die Kamera in die linke Hand und legte die rechte
um den Griff für die Steuerdüsen. Haise hielt seine Kamera
ebenfalls bereit.
»Fünf«, rief Lovell durch den Tunnel, »vier, drei, zwei, eins,
zero.« Der Kommandant schob den Griff nach oben, löste so
die Düsen aus und setzte die aneinandergekoppelten
Raumfahrzeuge in Bewegung. In der Kommandokapsel
reagierte Swigert sofort und betätigte den Schalter für den
Versorgungsteil.
»Absprengung!« verkündete er.
Die drei Besatzungsmitglieder hörten den dumpfen Knall und
spürten gleichzeitig den Ruck. Lovell zog daraufhin den
Steuergriff nach unten und aktivierte so die in Gegenrichtung
wirkenden Düsen.
»Manöver ausgeführt«, rief er.
Lovell, Swigert und Haise beugten sich aufgeregt ans
Fenster, hoben die Kameras und suchten den Himmel ab.
Swigert hatte sich für das große, runde Lukenfenster in der
Mitte der Kapsel entschieden, aber als er jetzt die Nase
dagegen drückte, sah er… gar nichts. Er stürzte nach links,
zum Fenster des Kommandanten, und sah auch von dort aus
nichts. So schnell wie möglich schwebte er zur anderen Seite
des Raumfahrzeugs, spähte durch Haises Bullauge ins All
hinaus, soweit dies möglich war, und entdeckte wieder nichts.
»Nichts, verdammt!« brüllte er durch den Tunnel nach unten.
»Gar nichts!«
Lovell stand an seinem dreieckigen Fenster, drehte den Kopf
hin und her und sah ebenfalls nichts. Er blickte zu Haise, der
ebenso fieberhaft wie er Ausschau hielt und auch nicht mehr
entdeckte. Leise vor sich hin fluchend wandte sich Lovell
wieder dem Fenster zu und mit einem Mal sah er es: Links
oben trieb ruhig und elegant, fast wie ein großes Kriegsschiff,
ein riesiger silberner Körper am Fenster vorbei.
Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte aber
kein Wort heraus. Der Versorgungsteil schwebte genau an
seinem Fenster vorbei, füllte es vollkommen aus, und als er
langsam zurückfiel, geriet er ins Rollen, so daß man ein
Teilstück der vernieteten Außenhülle sehen konnte. Als er
weiter abtrieb, drehte er sich noch mehr und zeigte ein weiteres
Teilstück. Dann, nach einer weiteren Sekunde, riß Lovell
angesichts dessen, was er sah, die Augen weit auf. Der riesige
silberne Zylinder hatte sich gerade wieder weitergedreht, als
ein besonders greller Sonnenstrahl auf die Stelle fiel, wo’ sich
Teilstück Nummer vier befand – oder hätte befinden sollen.
Statt dessen klaffte dort ein Loch, ein riesiger Schlitz, der
sich über die ganze Länge des Versorgungsteils erstreckte.
Teilstück vier, immerhin ein Sechstel der gesamten
Außenhülle des Versorgungsteils, war wie eine Tür
konstruiert, die man aufklappen konnte, damit die Ingenieure
Zugang zu den technischen Apparaturen im Inneren hatten,
und die vor dem Start fest verschlossen wurde. Jetzt war diese
ganze Tür allem Anschein nach fort, losgerissen und vom
Schiff weggesprengt. Aus dem dabei entstandenen Riß hingen
dicke Bündel gekappter Drähte, aufgeringelter
Gummidichtungen und in Fetzen gerissenes, in der Sonne
funkelndes Mylar-Isolationsmaterial. Darunter lagen die
lebenswichtigen Organe des Schiffes: Die Brennstoffzellen,
die Wasserstofftanks, dazwischen die zahllosen Rohre, die sie
miteinander verbanden. Und in der anderen Hälfte dieses
Segments, dort, wo Sauerstofftank Nummer zwei hätte sein
sollen, befand sich, wie Lovell voller Erstaunen feststellte, nur
mehr ein großes, schwarzes Loch.
Der Kommandant packte Haise am Arm, schüttelte ihn und
deutete hinaus. Haise sah, worauf der Kommandant deutete,
und riß ebenfalls die Augen auf. Hinter Lovell und Haise kam
Swigert hektisch aus dem Tunnel getaucht und brachte seine
Hasselblad mit.
»Und die halbe Seite des Raumfahrzeugs fehlt!« teilte Lovell
Houston per Funk mit.
»Stimmt das?« sagte Kerwin.
»Gleich neben der – schau mal da, siehst du das? Gleich
neben der S-Band-Antenne. Die ganze Außenverkleidung
wurde weggerissen, fast bis hinunter zum Triebwerksboden.«
»Habe es notiert«, sagte Kerwin.
»Sieht so aus, als hätte die Düse des Haupttriebwerks
ebenfalls etwas abgekriegt«, sagte Haise, packte Lovell am
Arm und deutete auf die große Triebwerksglocke, die unten
aus dem Versorgungsteil herausragte. Lovell sah eine lange
braune Brandspur an der konischen Düse.
»Ihr meint, es hat die Glocke erwischt, ja?« fragte Kerwin.
»So sieht es jedenfalls aus. Ist eine richtige Sauerei.«
»O.K. Jim«, sagte Kerwin. »Wir möchten, daß ihr ein paar
Bilder schießt, aber wir möchten auch, daß ihr Treibstoff spart.
Führt also keine unnötigen Manöver durch.«
Bei diesem Funkspruch riß Lovell sich zusammen, als ihm
klarwurde, daß es hier vor allem darum ging, Bilder zu
machen, und bislang hatte die Besatzung noch keine. Der bei
der Explosion beschädigte Versorgungsteil trieb bereits davon.
Lovell bewegte sich nach links, packte Swigert am Arm und
zog ihn ans Fenster. Augenblicklich nahm der Pilot der
Kommandokapsel per Teleobjektiv ein Foto nach dem anderen
auf. Lovell setzte seine Kamera an und knipste ebenso
fieberhaft durch den schmalen Fensterausschnitt, der für ihn
übrigblieb. Auf der rechten Seite des Schiffes fotografierte
Haise ebenfalls. Die Besatzung ließ den Versorgungsteil nicht
aus den Augen, bis er nur mehr wie ein torkelnder Stern
wirkte, der Hunderte von Metern vom Schiff entfernt durchs
All trieb. Erst über zwanzig Minuten, nachdem Swigert den
mit SM JETT gekennzeichneten Schalter betätigt hatte, lösten
sich die drei Astronauten vom Fenster.
»Mann«, murmelte Haise vor sich hin, »das ist ja
unglaublich.«
»Tja, James«, meldete sich Kerwin, »wenn ihr nicht besser
auf ein Raumfahrzeug achtgebt, können wir euch vielleicht
keins mehr geben.«

»Hier ist die Apollo Control, Houston, bei einer Flugzeit von
138 Stunden, 15 Minuten. Apollo 13 ist derzeit 34350
Seemeilen von der Erde entfernt und fliegt mit einer
Geschwindigkeit von 11600 Kilometern pro Stunde.
Mittlerweile versammeln sich immer mehr Menschen im
Zuschauerraum der Mission Control. Bereits eingetroffen sind
Dr. Thomas Paine, der Chef der NASA, Mr. George Low,
einer der stellvertretenden Leiter der NASA, die Abgeordneten
George Miller aus Kalifornien, zugleich Vorsitzender des
Raumfahrtkomitees des Repräsentantenhauses, Olin Teague
aus Texas und Jerry Pettis, ebenfalls aus Kalifornien.
Anwesend sind ferner die Astronauten Dave Scott und Rusty
Schweickart von Apollo 9 sowie Lew Evans, der Präsident von
Grumman. Man muß nicht eigens darauf hinweisen, daß all
diese hochrangigen Besucher im Kontrollraum sehr an dem
Bericht von Apollo 13 über den Zustand des Versorgungsteils
interessiert waren, als sich die Besatzung nach dem Abtrennen
davon entfernte. Hier ist die Apollo Control, Houston.«
Um die Position des EECOM hatten sich etliche Controller
versammelt, als der Zeitpunkt zum Hochschalten der
»Odyssey« gekommen war. John Aaron war natürlich schon
seit 4 Uhr morgens da, als das Tiger Team aus Zimmer 210
gekommen war und die Plätze an den Konsolen wieder
eingenommen hatte. Aber gegen 10 Uhr morgens – etwa drei
Stunden vor der Wasserung des Raumfahrzeuges – nahm die
Anzahl der Männer an der EECOM-Konsole in der zweiten
Reihe zu. Zuerst tauchte Sy Liebergot auf, zog sich einen Stuhl
heran und nahm links von Aaron Platz, dann gesellten sich
Clint Burton und Charlie Dumis dazu. An den meisten anderen
Konsolen hielt sich mindestens ein Angehöriger eines anderen
Teams neben dem diensttuenden Controller auf, aber nur an
der EECOM-Konsole waren die Ingenieure in voller Stärke
vertreten.
»Flight, EECOM«, meldete sich Aaron über Funk, während
er einen Blick auf die drei anderen Controller warf, die ihn
umlagerten.
»Los, EECOM«, antwortete Kranz.
»Wenn die Crew bereit ist, können wir jederzeit die Energie
hochfahren.«
»Roger, EECOM«, sagte Kranz. »CAPCOM, Flight.«
»Los, Flight«, antwortete Kerwin.
»Der EECOM sagt, die Kommandokapsel kann jederzeit in
Betrieb genommen werden.«
»Roger, Flight«, sagte Kerwin. »Aquarius, Houston.«
»Schießt los, Houston«, antwortete Lovell.
»Ihr habt GO zum Hochschalten der ›Odyssey‹.«
Im Cockpit der »Aquarius« sah Lovell Swigert an und winkte
ihn zum Tunnel. Im Gegensatz zum Aufzeichnen der
Checkliste vor vierzehn Stunden war die Ausführung relativ
einfach, und der Pilot der Kommandokapsel sollte nicht mehr
als eine halbe Stunde dafür benötigen.
Als der erste Schalter umgelegt wurde und wieder Strom
durch die kalten Drähte floß, machte Lovell sich darauf gefaßt,
daß es jeden Augenblick knallen und zischen könnte, falls sich
tatsächlich Kondenswasser auf einem ungenügend isolierten
Kabel niedergeschlagen hatte und einen Kurzschluß auslöste.
Aber als das Hochschalten der Kapsel weiterging, als Swigert
den ersten Trennschalter umlegte, dann den zweiten, den
dritten und so weiter, vernahmen die Besatzungsmitglieder
lediglich ein beruhigendes Summen und Glucksen, was darauf
hindeutete, daß ihr Raumfahrzeug wieder zum Leben
erwachte. Wenn es bei diesem Vorgang überhaupt irgendwo
Aufregung gab, dann eher an John Aarons Konsole als an Bord
von Apollo 13. Aarons Berechnungen zufolge durfte das Schiff
nicht mehr als 43 Ampere verbrauchen, wenn es über
genügend Strom für den zwei Stunden dauernden
Wiedereintritt verfügen sollte. Aber da er sich bei der
Diskussion in Zimmer 210 durchgesetzt hatte, als es um den
Zeitpunkt zum Einschalten der Telemetrie gegangen war,
würde er erst dann wissen, ob er sich im Bereich des Erlaubten
befand, wenn sämtliche Systeme in der Kommandokapsel in
Betrieb waren und die Datenübermittlung zur Erde wieder
funktionierte. Sollte sich herausstellen, daß die »Odyssey«
mehr als 43 Ampere verbrauchte, und sei es auch nur für kurze
Zeit, dann bestand die Gefahr, daß die Batterien noch vor der
Landung im Wasser leer waren.
Als Lovell Swigert hinauf in die »Odyssey« schickte, beugten
sich Aaron, Liebergot, Dumis und Burton gespannt über die
EECOM-Konsole. Zwanzig Minuten lang fand so gut wie kein
Funkverkehr mit dem Schiff statt. Schließlich meldete Lovell
der Bodenkontrolle, die letzten Schalter seien umgelegt,
darunter auch die für die Telemetrie. Langsam wurde der
Bildschirm des EECOM wieder hell. Als die Ampere-Daten
auftauchten, zuckten die vier EECOMs zurück, als hätten sie
sich die Finger verbrannt. Dort stand die Zahl 45.
»Mist«, fluchte Aaron. »Was, zum Teufel, haben diese 2
Ampere da zu suchen?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Liebergot.
»Ich würde was dafür geben, wenn ich’s wüßte«, ließ sich
Burton vernehmen.
»Tja, die haben da jedenfalls mit Sicherheit nichts verloren.
Wir sind weit über unserem Limit!« Aaron meldete sich bei
seinem Unterstützungsteam. »Elektronik, EECOM.«
»Los, EECOM«, tönte es zurück.
»Wir verbrauchen hier 2 Ampere zuviel.«
»Ich sehe es, EECOM.«
»Geht die Checkliste durch und seht nach, was wir noch
wegnehmen können.«
»Roger.«
Aaron unterbrach die Verbindung und beugte sich zur
Führungs- und Navigationskonsole. »Ist bei euch irgend etwas
an, das nicht laufen sollte?«
»Nein, soweit ich sehen kann, John.«
»Gut, überprüft es. Irgend etwas schluckt 2 Ampere.«
Während Aaron sich mit seinem GNC unterhielt, verteilten
sich Liebergot, Dumis und Burton in den vorderen drei Reihen
und sahen nach, ob möglicherweise ein anderer Controller ein
Instrument angelassen hatte, das jetzt unnötig Strom
verbrauchte. Noch bevor jemand anders reagieren konnte,
meldete sich Aarons Unterstützungsteam zurück.
»EECOM, ECS«, sagte der Controller.
»Schieß los.«
»Wir haben es. Es sind die B-MAGs, die Ersatzkreisel. Sag
dem GNC, die Crew soll sie abstellen.«
Aaron beugte sich sofort wieder nach links. »Check deine B-
MAGs, GNC. Sind sie an?«
Der Führungs- und Navigationsoffizier blickte auf seinen
Bildschirm und sackte zusammen. »Ach, verflucht«, stöhnte
er.
»Flight, EECOM«, meldete sich Aaron. »Sagen Sie dem
CAPCOM, er soll die Crew die Ersatzkreisel abstellen lassen.«
Joe Kerwin gab Aarons Nachricht an die »Odyssey« weiter,
wo Swigert den entsprechenden Schalter betätigte, worauf die
Ampere-Daten am Bildschirm des EECOM wieder auf 43
sanken. Aber wie Aaron befürchtet hatte, waren ein paar
kostbare Ampere vergeudet.
Mit dem Hochschalten der Kommandokapsel – auch wenn
dies nur teilweise erfolgte – war die Mondfähre »Aquarius«
entbehrlich geworden. Nach einer Flugzeit von 140 Stunden
und 52 Minuten – weniger als zwei Stunden vor der Landung –
war Apollo 13 25 000 Kilometer von der Erde entfernt und
näherte sich ihr mit einer Geschwindigkeit von mehr als 15
000 Kilometern pro Stunde. Die Erde war längst nicht mehr
eine in weiter Ferne liegende Scheibe inmitten von Sternen,
sondern eine riesige blaue Masse, die, vom dreieckigen Fenster
des LEM aus betrachtet, den ganzen Himmel ausfüllte.
Während er durch das Bullauge hinausblickte, sagte Lovell:
»Freddo, es wird Zeit, daß wir aus dem Schiff hier abhauen.«
Von Haise kam kein Ton.
»Freddo?«
Lovell drehte sich zu seinem Kollegen um und erschrak bei
dessen Anblick. Haise stützte sich mit aschfahlem Gesicht an
das Schott.
Er hatte die Augen geschlossen, die Arme um den
Oberkörper geschlungen und zitterte am ganzen Leib vor
Kälte.
»Fred!« sagte Lovell. Es klang besorgter, als er beabsichtigt
hatte. »Du siehst furchtbar aus.«
»Vergiß es«, sagte Haise abwinkend. Es fiel wenig
überzeugend aus. »Vergiß es. Mir geht’s gut.«
»Genau«, sagte Lovell und schwebte zu ihm hin. »Du siehst
einfach Klasse aus. Kannst du noch zwei Stunden
durchhalten?«
»Ich kann so lange durchhalten, wie ich muß.«
»Zwei Stunden, das reicht allemal. Danach treiben wir im
Südpazifik, machen die Luke auf, und draußen hat es 27
Grad.«
»Siebenundzwanzig Grad«, wiederholte Haise etwas
verträumt und fing wieder an zu zittern.
»Mann«, murmelte Lovell, »du bist völlig fertig.« Der
Kommandant stellte sich hinter Haise und legte die Arme um
ihn, damit er etwas von seiner Körpertemperatur abbekam.
Zuerst schien es nichts zu bewirken, aber nach und nach legte
sich das Zittern.
»Fred, warum gehst du nicht nach oben und hilfst Jack?«
sagte Lovell. »Ich mache hier alles fertig.«
Haise nickte und wollte in den Tunnel springen. Aber vorher
hielt er inne und sah sich eine ganze Weile im Cockpit der
»Aquarius« um. Plötzlich schwebte er zu seinem Platz. Dort
hing ein großes Netzgewebe an der Wand, mit dem verhindert
wurde, daß kleinere Gegenstände hinter das Armaturenbrett
treiben konnten. Haise packte das Netz, zog einmal heftig
daran und riß es ab.
»Als Souvenir«, sagte er achselzuckend, knüllte das Gewebe
zusammen, stopfte es in die Tasche und verschwand im
Tunnel.
Sobald er alleine in der Mondfähre war, blickte Lovell sich
ebenfalls lange um. In den vier Tagen, die sie auf engstem
Raum gemeinsam verbracht hatten, hatte sich im Cockpit
allerhand Müll angesammelt, und das am Montagabend noch
makellose Mondlandefahrzeug »Aquarius« sah mittlerweile
aus wie ein galaktischer Schrottkahn. Lovell watete durch
Papierfetzen und Abfälle zu seinem Fenster. Bevor er selbst
das Schiff verließ, hatte er noch etwas zu erledigen: Er mußte
die aneinandergekoppelten Schiffe in die von Jerry Bostick
vorgegebene Lage steuern, damit das LEM vor der
neuseeländischen Küste im Ozean versank.
Lovell packte ein letztes Mal den Lagesteuerungsgriff und
zog ihn zur Seite. Das Schiff gierte leicht, und einige
herumtreibende Blätter gerieten in Bewegung. Ohne den
Versorgungsteil, durch den der Schwerpunkt so weit nach
hinten verlagert worden war, ließ sich die »Aquarius« weitaus
besser steuern. Sie war jetzt fast so wendig, wie Lovell es von
der Arbeit am Simulator in Houston und Florida her in
Erinnerung hatte. Mit ein paar gekonnten Steuermanövern
brachte er das Landefahrzeug in die gewünschte Position und
meldete sich dann bei der Bodenkontrolle.
»O.K. Houston, Aquarius. Ich bin in der für das Abtrennen
des LEM gewünschten Lage und gedenke jetzt auszusteigen.«
»Etwas Besseres fällt mir auch nicht ein«, erwiderte Kerwin.
Lovell schaltete die letzten Systeme ab und beschloß dann,
ebenfalls ein Souvenir mitgehen zu lassen. Er streckte die
Hand aus, ergriff den über dem Fenster angebrachten
Sextanten und drehte einmal daran. Er ließ sich leicht
abschrauben, und Lovell steckte ihn ein. Als er sich in dem
Stauraum hinten im Cockpit umschaute, sah er den Helm, den
er auf dem Mond hätte tragen sollen, ergriff ihn und klemmte
ihn sich unter den Arm. Schließlich nahm er sich das andere
Fach vor und holte die Plakette heraus, die Haise und er am
vorderen Landebein des LEM befestigen wollten, sobald sie
ausgestiegen und zur Erkundung losgezogen wären.
Lovell hielt seine Beute fest, sprang durch den Tunnel in die
untere Ausrüstungs-Bucht der »Odyssey«, packte seine
Souvenirs in eine Staukiste und begab sich zu den Couchs. Er
wollte sich instinktiv zum Platz auf der linken Seite begeben,
doch als er sich aus der Ausrüstungs-Bucht hervorwand, stellte
er fest, daß Haise sich zwar auf der Couch an der rechten Seite
angeschnallt hatte, Swigert aber den Platz des Kommandanten
eingenommen hatte. Während der Abstiegs- und
Wiedereintrittsphase nach einem Mondflug war es üblich, daß
der Kommandant seinen gewohnten Platz dem Piloten der
Kommandokapsel überließ. Da die kritischsten Aufgaben bei
diesen Flügen dem Kommandanten und dem Piloten der
Mondfähre zufielen, wurde der Kapselpilot häufig übersehen.
Während des Wiedereintritts jedoch, wenn das LEM, mit dem
die beiden anderen Astronauten zum Mond geflogen waren,
längst abgetrennt war, übernahm grundsätzlich der Pilot der
Kommandokapsel die Verantwortung. In Anerkennung seines
fliegerischen Könnens und als Ausgleich für die undankbare
Aufgabe, die er bislang übernommen hatte, durfte er die
Kapsel landen. Deshalb mußte der Kommandant dieser
Mission jetzt, als der Wiedereintritt näherrückte, mit der
mittleren Couch vorliebnehmen.
»Skipper meldet sich an Bord«, sagte Lovell zu Swigert.
»Aye-aye«, antwortete Swigert etwas befangen.
Lovell setzte seinen Kopfhörer auf und nickte, dann meldete
sich Swigert über Funk.
»O.K. Houston, wir sind bereit zum Schließen der Luke.«
»O.K. Jack. Hat Jim sämtliche Filme aus der Aquarius
mitgenommen?«
Lovell nickte Swigert zu.
»Ja«, sagte Swigert. »Wird bestätigt. Und wir haben auch
daran gedacht, Jim rauszuholen.«
»Gut gemacht, Jack«, sagte Kerwin. »Dann wollen wir jetzt,
daß ihr die Luke verschließt und den Tunnel bis auf etwa 3 psi
ausblast. Wenn die Luke den Druck etwa eine Minute
zurückhält, ist das O.K. und ihr könnt die Aquarius
abtrennen.«
»O.K.«, sagte Swigert. »Habe verstanden.«
Lovell bedeutete Swigert, er solle an seinem Platz bleiben,
stand von seiner Couch auf und schwebte zur unteren
Ausrüstungs-Bucht. Er tauchte in den Tunnel, klappte die Luke
zum LEM zu und legte den Hebel um. Dann zog er sich in die
»Odyssey« zurück, holte die Luke, die er am Montag abend
entfernt und gesichert hatte, und paßte sie wieder ein.
Falls die Luke sich als ebenso widerspenstig erweisen sollte
wie vor vier Tagen, konnte das LEM nicht abgetrennt werden,
und der Wiedereintritt konnte nicht so erfolgen wie geplant.
Selbst wenn die Luke schließen sollte, würde es ein paar
Minuten dauern, bis die Drucksensoren bestätigten, daß alles
dicht war und das Schiff keine Atemluft verlor. Ohne diese
Bestätigung wäre der Wiedereintritt natürlich nicht möglich.
Argwöhnisch betrachtete Lovell die Luke und betätigte den
Verschlußmechanismus. Mit einem satten Klicken rastete die
Verriegelung ein. Er stellte den Schalter zum Ausblasen des
Tunnels ein und ließ die Atemluft ins All entweichen, bis nur
mehr ein Druck von 2,8 psi herrschte. Dann kippte er den
Schalter zurück und schwebte wieder zu seiner Couch.
»Dicht?« fragte Swigert.
»Ich hoffe es«, sagte Lovell.
Auf diese laue Bestätigung hin betätigte der Kapselpilot
etliche Schalter am Armaturenbrett und nahm das
Sauerstoffsystem in Betrieb, worauf frisches CO2 ins Cockpit
strömte. Mehrere Sekunden lang starrte er gespannt auf die
Anzeige.
»O nein«, stöhnte Swigert auf.
»Stimmt etwas nicht?« fragten Lovell und Haise fast
einstimmig.
»Der Zustrom ist zu hoch. Sieht so aus, als hätten wir ein
Leck.«
John Aaron, der in der Bodenkontrolle über den Bildschirm
des EECOM gebeugt war, entdeckte den Sauerstoff-Wert zum
gleichen Zeitpunk wie Swigert.
»O nein«, stöhnte er.
»Stimmt etwas nicht?« fragten Liebergot, Burton und Dumis
fast einstimmig.
»Der Zustrom ist zu hoch. Sieht so aus, als hätten wir ein
Leck.«
Swigert meldete sich über den Boden-Bord-Funk: »O.K.
Houston, wir haben hohen O2-Zustrom.«
»Roger, Jack«, antwortete Kerwin. »Wir überprüfen es.«
Während Swigert den Blick nicht von den Instrumenten
nahm, meldete sich Aaron bei seinem Unterstützungsteam. Er
und die anderen Ingenieure unterhielten sich leise über die
mögliche Ursache eines Lecks, während die drei anderen
EECOMs in der zweiten Reihe laut miteinander diskutierten.
Nach wenigen Minuten meinte Aaron das Problem gelöst zu
haben. Im LEM herrschte etwas weniger Druck als in der
Kommandokapsel. Da während der letzten vier Tage die Luke
offen und die »Odyssey« abgeschaltet gewesen war, war der
Druck in beiden Raumfahrzeugen von der »Aquarius« aus
geregelt worden. Als die Kommandokapsel hochgeschaltet war
und die Luke verschlossen wurde, stellten die Drucksensoren
den Unterschied fest, worauf sofort der Zustrom erhöht wurde,
um den üblichen Kabinendruck herzustellen. In wenigen
Augenblicken, so dachte sich Aaron, müßte dieser Wert
erreicht sein, und dann sollte auch der hohe Zustrom aufhören.
»Reißt euch mal eine Minute zusammen«, sagte er zu den
Umstehenden. »Ich glaube, es regelt sich von selbst.«
Vierzig Sekunden später pendelten sich die Daten auf dem
Bildschirm des EECOM und im Raumfahrzeug ein.
»O.K.«, sagte Swigert hörbar erleichtert, »er sinkt jetzt, Joe.«
»Roger«, meldete sich Kerwin. »In diesem Fall könnt ihr das
LEM abtrennen, wenn ihr dazu bereit seid.«
Lovell und Swigert blickten auf den Zeitnehmer am
Armaturenbrett. Ihre Flugzeit betrug jetzt 141 Stunden und 26
Minuten.
»Kann ich’s in vier Minuten machen?« fragte Swigert.
»Eine hübsche runde Zahl«, antwortete Lovell.
»O.K. Houston«, meldete sich Swigert. »Wir trennen ab bei
141 plus 30.«
Von den fünf Fenstern in der Kapsel aus konnten die
Astronauten lediglich das silbern spiegelnde Dach der
»Aquarius« sehen. Dreieinhalb Minuten verstrichen.
»Dreißig Sekunden bis zum Abtrennen des LEM«, sagte
Swigert.
»Zehn Sekunden.«
»Fünf.«
Swigert griff zum Armaturenbrett.
»Vier, drei, zwei, eins, zero.«
Der Kapselpilot legte den Kippschalter um, und die drei
Besatzungsmitglieder vernahmen einen dumpfen, beinahe
komisch klingenden Knall. Von ihren Fenstern aus sahen sie,
wie die Mondfähre zurückfiel, und sie sahen den
Verbindungstunnel, dann die S-Band-Antenne, danach die wie
Grasbüschel abstehenden anderen Antennen. Langsam
vollführte die jetzt nicht mehr angekoppelte »Aquarius« eine
anmutige Rolle vornüber.
Lovell blickte gebannt hinaus auf das sich drehende Schiff,
sah die Fenster, die Lagesteuerungsraketen. Er konnte die
vordere Luke erkennen, durch die Haise und er nach der
Landung im Staub der Fra-Mauro-Berge ausgestiegen wären.
Er erkannte das Trittbrett, auf dem er gestanden hätte, um die
Ausrüstungsbucht zu öffnen, bevor er den Fuß auf den Mond
gesetzt hätte. Und er sah, wie die neunstufige Leiter, über die
er hinabgestiegen wäre, beinahe höhnisch in der Sonne
glitzerte. Das LEM rollte sich weiter ab, so daß es kopfüber
hing und mit den vier ausgestellten Landebeinen zu den
Sternen deutete, während die knittrige goldene Haut der
Abstiegsstufe das Licht einfing und zur »Odyssey« warf.
»Houston, LEM-Abtrennung ist erfolgt«, verkündete Swigert.
»O.K. habe verstanden«, sagte Kerwin leise. »Lebwohl,
›Aquarius‹, und vielen Dank.«
Nach dem Abtrennen des Landefahrzeugs war nur mehr der
Grundbaustein von Apollo 13 übrig. Ohne die 36stöckige
Saturn-5-Rakete, mit der es von der Rampe abgehoben hatte,
die 14,5 Meter lange dritte Raketenstufe, mit der der Einschuß
in die Mondbahn erfolgte, dem etwas über 8 Meter langen
Versorgungsteil, das Atemluft und Energie hätte liefern sollen,
und das 7 Meter hohe LEM, mit dem Lovell und Haise zum
Mond fliegen sollten, war von dem Raumfahrzeug lediglich
noch die dreieinhalb Meter hohe Kapsel übrig, die nun auf die
Erde zusteuerte, wo sie nach einem kontrollierten Rücksturz
durch die Atmosphäre im Meer landen würde. Vorher jedoch
mußte die Besatzung noch eine Aufgabe erledigen.
»Wie sieht es mit dem Monduntergangs-Check aus?« fragte
Haise Lovell.
»Bist du bereit dafür?« fragte Lovell Swigert.
»Sobald wir auf der Nachtseite sind«, antwortete Swigert.
Die von Swigert angesprochene Nachtseite der Erde war nur
noch einige Minuten entfernt, aber obwohl der Planet unter
ihnen hell erleuchtet war, konnten Lovell, Swigert und Haise
nichts erkennen. Apollo 13 näherte sich der Erde rückwärts.
Das Raumschiff mußte mit dem Heck voran in die
Erdatmosphäre eindringen, denn dort befand sich der
Hitzeschild, der die dabei entstehende Reibungsenergie
ableitete. Während der letzten Stunde näherten sich die
Astronauten deshalb der Erde im Blindflug und in Rückenlage.
Lediglich ihre Instrumente verrieten ihnen, wie hoch sie sich
noch über dem Ozean befanden.
Die Kapsel blieb mehrere Minuten lang auf diesem Kurs,
dann schwenkte sie in die Erdumlaufbahn ein, flog bei
Dämmerung über Westeuropa und Westafrika hinweg und bei
Dunkelheit über den Nahen Osten. Das Raumfahrzeug näherte
sich der Erde immer mehr, und die dunkle Masse unter seinem
Heck breitete sich zunehmend aus. Schließlich sahen auch die
Astronauten von ihren Fenstern aus den großen, abgerundeten
Schatten, und sie wußten, sie waren wieder zu Hause. Darüber
hing – ungewohnt klein – ein weißer, zu drei Vierteln voller
Mond.
»Houston«, meldete sich Swigert, »nehmen Monduntergangs-
Check vor.«
Der Kapselpilot warf einen Blick auf seine 8er Kugel, um
sich von der Lage der »Odyssey« zu überzeugen, und sah dann
aus dem Fenster auf den Mond. Als die Kapsel zunehmend an
Höhe verlor und der Horizont immer höher aufragte, sank der
Mond tiefer und tiefer.
»Er geht unter, Joe«, meldete sich Swigert bei Kerwin. »Wir
sind jetzt auf etwa 45 Grad runter, und er geht weiter unter.«
»Roger.«
»Jetzt ist er auf 38 Grad.«
»O.K. Jack. Klingt sehr gut.«
Lovell und Haise achteten auf den Flugzeitnehmer am
Armaturenbrett, während Swigert aus dem Fenster schaute.
Der Mond sank von 38 auf 35 Grad, dann auf 20 und noch
tiefer. Der Zeitpunkt, zu dem laut Jerry Bostick der Mond
untergehen sollte, rückte immer näher. Schließlich blieben nur
mehr fünfzehn Sekunden.
»Siehst du irgend etwas, Jack?« fragte Lovell.
»Bis jetzt nicht.«
»Jetzt?«
»Negativ.«
»Jetzt? Nur noch drei Sekunden.«
»Noch nichts«, antwortete Swigert. Dann, genau zu dem vom
FIDO vorausgesagten Zeitpunkt, sank der Mond noch ein
Stück, und mit einem Mal tauchte am unteren Rand eine
dunkle Einkerbung auf. Mit einem breiten Grinsen drehte sich
Swigert zu Lovell um.
»Monduntergang«, sagte er und ging auf Sendung. »Houston,
Lage ist gecheckt und O.K.«
»Gut gemacht«, sagte Joe Kerwin.
Jim Lovell drehte sich zu den links und rechts von ihm
sitzenden Männern um und lächelte. »Gentlemen«, sagte er,
»wir sind kurz vor dem Wiedereintritt. Ihr solltet euch auf
einiges gefaßt machen.«
Der Kommandant überprüfte unwillkürlich die Sitzgurte um
Schulter und Schoß und straffte sie etwas. Swigert und Haise
taten instinktiv das gleiche.
»Joe, wie weit draußen sind wir jetzt?« fragte Swigert den
CAPCOM.
»Ihr fliegt mit einer Geschwindigkeit von 40000 Kilometern
pro Stunde und seid so nahe an der Erde, daß wir euch auf
unserer Projektionswand kaum mehr sehen können.«
»Ich weiß, daß wir alle euch für die prima Arbeit danken
wollen, die ihr geleistet habt«, sagte Swigert.
»Wird bestätigt, Joe«, stimmte Lovell zu.
»Ich will euch eins sagen«, erwiderte Kerwin. »Wir haben
das gerne getan.«
Daraufhin schwieg die Besatzung im Raumfahrzeug, und
auch im Kontrollraum in Houston kehrte Stille ein. In vier
Minuten würde die Kapsel in die obersten Schichten der
Atmosphäre eindringen, und aufgrund der Reibungshitze
würden Temperaturen bis zu knapp 3000 Grad auf den
Hitzeschild einwirken. Wenn die dabei entstehende Energie in
Elektrizität umgewandelt würde, entspräche sie einer Leistung
von 86000 Kilowatt-Stunden, genug, um Los Angeles
anderthalb Minuten lang mit Strom zu versorgen. An Bord des
Raumfahrzeugs jedoch hätte diese Hitze nur eine Wirkung: Mit
steigender Temperatur würde die Kapsel von einer Schicht aus
ionisierter, elektrisch leitender Luft eingehüllt, so daß etwa
vier Minuten lang die Funkverbindung zwischen Schiff und
Bodenkontrolle abreißen würde. Erst hinterher, wenn der
Funkkontakt wiederhergestellt wurde, würden die Controller
am Boden erfahren, ob der Hitzeschild intakt geblieben war
und die Crew überlebt hatte. Wenn nicht, mußten sie davon
ausgehen, daß die Besatzung den Hitzetod gestorben war. An
der Konsole des Flugdirektors stand Gene Kranz auf, zündete
sich eine Zigarette an und setzte sich mit seinen Controllern in
Verbindung.
»Sprechen wir vor dem Wiedereintritt noch einmal alles
durch«, verkündete er. »EECOM, haben Sie GO!«
»GO, Flight«, antwortete Aaron.
»RETRO?«
»GO.«
»GUIDO?«
»GO.«
»GNC?«
»GO, Flight.«
»CAPCOM?«
»GO.«
»INCO?«
»GO.«
»FAO?«
»Wir haben GO, Flight.«
»CAPCOM, Sie können der Crew mitteilen, daß sie GO für
den Wiedereintritt haben.«
»Roger, Flight«, sagte Kerwin. »Odyssey, hier Houston. Wir
hatten gerade eine letzte Konferenzschaltung, und jeder sagt,
daß ihr großartig ausseht. In etwa einer Minute wird das Signal
abreißen. Willkommen daheim.«
»Vielen Dank«, sagte Swigert.
In den folgenden sechzig Sekunden starrte Swigert wie
gebannt aus dem linken Fenster, Haise richtete den Blick zum
rechten Fenster des Raumfahrzeugs und Lovell zum mittleren.
Draußen wurde ein schwaches rosa Schimmern erkennbar, und
gleichzeitig spürte Lovell die ersten Anzeichen der wieder
einsetzenden Schwerkraft. Dann ging die rosa Farbe in einen
Orangeton über, und die eher andeutungsweise vorhandene
Schwerkraft stieg auf etwa ein g. Langsam verwandelte sich
der Orangeton in ein sattes Rot, als sich glühende Partikel vom
Hitzeschild lösten, und die Schwerkraft stieg auf zwei, drei,
fünf g, und erreichte kurzfristig Spitzenwerte von bis zu sechs
g. In Lovells Kopfhörer ertönte nur statisches Rauschen.
Auch die Männer an den Konsolen in der Mission Control
empfingen über ihre Kopfhörer nichts als dieses Rauschen.
Sobald es einsetzte, wurden sämtliche Gespräche auf dem Netz
des Flugdirektors, zwischen den Controllern und ihren
Nebenkontrollräumen und auch im Auditorium selbst
eingestellt. Der digitale Flugzeitnehmer an der Stirnseite des
Raumes stand bei 142 Stunden und 38 Minuten. Sobald er bei
142 Stunden und 42 Minuten angelangt war, würde Joe Kerwin
das Raumfahrzeug rufen. Während der ersten beiden Minuten
ohne Funkkontakt gab es im Kontrollraum und auf der
Besuchergalerie keinerlei Bewegung. Als die dritte Minute
verstrich, rutschten etliche Controller unruhig auf ihren Sitzen
hin und her. Als die vierte Minute sich dem Ende zuneigte,
reckten einige Männer im Kontrollraum den Hals und blickten
zu Gene Kranz.
»In Ordnung, CAPCOM«, sagte der Flugdirektor und drückte
die Zigarette aus, die er sich vier Minuten vorher angezündet
hatte. »Teilen Sie der Crew mit, daß wir auf Meldung warten.«
»Odyssey, Houston wartet auf Meldung, over«, meldete sich
Kerwin.
Vom Raumfahrzeug war nichts als statisches Rauschen zu
hören. Fünfzehn Sekunden verstrichen.
»Versuchen Sie es noch mal«, ordnete Kranz an.
»Odyssey, Houston wartet auf Meldung, over.« Weitere
fünfzehn Sekunden vergingen.
»Odyssey, Houston wartet auf Meldung, over.« Weitere
dreißig Sekunden verstrichen.
Die Männer an den Konsolen starrten gebannt auf ihre
Bildschirme. Die Gäste auf der VIP-Galerie sahen einander an.
»CAPCOM, versuchen Sie es noch mal«, befahl Kranz.
Langsam vergingen weitere drei Sekunden, dann auf einmal
änderte sich das Rauschen in den Kopfhörern der Controller.
Eigentlich war es nicht mehr als eine leichte
Frequenzschwankung, aber sie war deutlich feststellbar.
Unmittelbar darauf ertönte unverkennbar eine menschliche
Stimme.
»O.K. Joe«, meldete sich Jack Swigert.
Joe Kerwin schloß die Augen und atmete tief durch, Gene
Kranz stieß die Faust in die Luft, und die Menschen auf der
VIP-Galerie umarmten sich und klatschten.
Die Astronauten in der nicht länger vom Kontakt mit der
Außenwelt abgeschnittenen Kapsel verbrachten einen relativ
ruhigen Flug. Als sich der Ionensturm um das Schiff legte,
hatte die immer dichter werdende Atmosphäre den zunächst
40000 Stundenkilometer schnellen Sturz bis zu einem
vergleichsweise sanften freien Fall bei knapp 500 Kilometern
pro Stunde abgebremst. Das feurige Rot vor den Fenstern war
in einen hellen Orangeton übergegangen, dann in ein Hellrosa
und schließlich in den altbekannten Blauton. Während der
letzten Minuten der Funkstille hatte die Kapsel die Nachtseite
der Erde verlassen und flog in den Tag hinein. Lovell schaute
auf die Schwerkraft anzeige: Dort stand 1,0 g. Er warf einen
Blick auf den Höhenmesser: Er zeigte 35000 Fuß an, etwa
10500 Meter.
»Bereitmachen für die Bremsfallschirme«, sagte Lovell zu
seinen Kollegen. »Und wollen wir hoffen, daß sie richtig
zünden.« Der Höhenmesser fiel von 28000 auf 26000 Fuß,
knapp 8000 Meter. Bei 24000 Fuß hörten die Astronauten
einen dumpfen Knall. Sie blickten aus den Fenstern und sahen
zwei helle Stoffstreifen. Dann blähten sie sich auf.
»Wir haben zwei geöffnete Bremsfallschirme«, meldete
Swigert der Bodenkontrolle.
»Roger«, antwortete Kerwin.
Inzwischen flog die Kapsel zu langsam und zu niedrig, als
daß sich Geschwindigkeit und Höhe am Armaturenbrett
ablesen ließen, aber Lovell wußte, daß sie sich laut Flugplan
im Augenblick knapp 20000 Fuß (etwa 6000 Meter) über dem
Wasser befanden und mit einer Geschwindigkeit von lediglich
280 Kilometern pro Stunde fielen. Vor weniger als einer
Minute hatten sich die beiden Bremsfallschirme von selbst
abgesprengt und drei weitere waren ausgelöst worden, gefolgt
von den drei Hauptfallschirmen. Einen Sekundenbruchteil lang
schossen diese Stoffbahnen durch die Luft, dann blähten sie
sich so ruckartig auf, daß die Astronauten an ihre Couchen
gepreßt wurden. Lovell warf instinktiv einen Blick zum
Armaturenbrett, aber der Geschwindigkeitsmesser zeigte keine
Veränderung an. Er wußte jedoch, daß ihre
Sinkgeschwindigkeit jetzt nur mehr 32 Kilometer pro Stunde
betragen müßte.
An Deck der USS »Iwo Jima« blickte Mel Richmond
blinzelnd zum Himmel, sah aber nichts als blauen Äther und
weiße Wolken. Der Mann links neben ihm suchte ebenfalls
schweigend den Himmel ab und stieß dann einen leisen Fluch
aus, was darauf hindeutete, daß auch er nichts sah. Dem Mann
rechts von ihm ging es genauso. Die Matrosen traten an Deck
an und richteten nach allen Seiten Laufplanken aus.
Plötzlich schrie jemand hinter Richmonds Rücken: »Da ist
sie!«
Richmond drehte sich um. Nur ein paar hundert Meter
entfernt sank ein winziger schwarzer Kegel, der an drei
riesigen Fallschirmen hing, dem Wasser entgegen. Er jubelte,
und die Männer links und rechts von ihm fielen ebenso ein wie
die Matrosen an Deck. Die in der Nähe stehenden
Kameramänner folgten ihren Blicken und stellten ihre
Objektive ein. In der Mission Control flackerte der riesige
Projektionsschirm an der Stirnseite des Raumes auf und zeigte
die herabschwebende Kapsel. Auch hier stimmten die Männer
Jubelrufe an.
»Odyssey, hier Houston. Wir sehen euch an den
Hauptfallschirmen«, rief Joe Kerwin, der sich das eine Ohr
zuhalten mußte. »Sieht wirklich großartig aus.« Kerwin
wartete auf eine Antwort, konnte aber bei dem Lärm rundum
nichts hören. Er wiederholte den eigentlichen Sinn der
Mitteilung: »Wir haben euch im Fernsehen, Jungs!«
Von der Kapsel aus, der der Applaus der Männer in der
Mission Control und auf der »Iwo Jima« galt, funkte Jack
Swigert ein »Roger« zurück, aber er achtete weniger auf die
Stimme im Kopfhörer als auf den rechts von ihm liegenden
Mann. Jim Lovell, der einzige in der Kapsel, der so etwas
schon mitgemacht hatte, warf einen letzten Blick auf den
Höhenmesser und hielt sich dann unwillkürlich am Rahmen
der mittleren Couch fest. Swigert und Haise taten instinktiv das
gleiche.
»Festhalten«, sagte der Kommandant. »Wenn es so ähnlich
geht wie bei Apollo 8, kann es etwas ruppig werden.«
Dreißig Sekunden später spürten die Astronauten, wie sie
abrupt, aber schmerzlos abgebremst wurden, als die Kapsel –
ganz anders als Apollo 8 – glatt ins Wasser tauchte. Sofort
blickten die drei Besatzungsmitglieder zu den Bullaugen auf.
Vor allen fünf Scheiben sahen sie Wasser.
»Männer«, sagte Lovell, »wir sind wieder daheim.«

Marilyn stieß einen Freudenschrei aus. Mit Tränen in den


Augen saß sie inmitten der Menschen in ihrem Wohnzimmer
und sah am Fernseher zu, wie die »Odyssey« auf dem Wasser
aufschlug und die drei Fallschirme, an denen die Kapsel herab
geschwebt war, ins Meer sanken. Sie hatte ihren Sohn Jeffrey
die ganze Zeit über auf dem Schoß sitzen gehabt, und als das
Raumschiff tiefer und tiefer schwebte, hatte sie ihn
unwillkürlich immer fester an sich gedrückt. Als die
Wasserung erfolgte, schrie Jeffrey protestierend auf.
»Tut mir leid«, sagte Marilyn lachend und weinend zugleich
und küßte ihn auf den Kopf. »Tut mir leid.« Sie drückte ihn
noch einmal an sich und ließ ihn dann herunter.
Augenblicklich tauchte Betty Benware auf und umarmte sie
kräftig. Dann erschienen Adeline Hammack und Susan
Borman. Weiter hinten öffnete Pete Conrad die erste Flasche
Sekt, gefolgt von Buzz Aldrin und Neil Armstrong, und die
anderen taten es ihnen gleich. Marilyn stand auf, suchte ihre
anderen Kinder und umarmte sie, während auf allen Seiten der
Sekt spritzte. Jemand gab ihr ein Glas in die Hand. Sie trank
einen langen, prickelnden Schluck, und wieder stiegen ihr die
Tränen in die Augen – diesmal allerdings wegen des Sekts.
Von weitem hörte Marilyn das Telefon im Schlafzimmer
klingeln. Es klingelte ein zweites Mal, und Betty verschwand,
um den Hörer abzunehmen. Einen Augenblick später tauchte
sie wieder auf.
»Marilyn, das Weiße Haus ist dran.«
Marilyn reichte einem der Umstehenden ihr Glas, rannte ins
Schlafzimmer und ergriff den herunterbaumelnden Hörer.
»Mrs. Lovell«, meldete sich eine Frauenstimme. »Ich
verbinde Sie mit dem Präsidenten.«
Mehrere Sekunden vergingen, und dann vernahm Marilyn die
tiefe, bekannte Stimme.
»Marilyn, hier ist der Präsident. Ich wollte mich erkundigen,
ob Sie Lust haben, mich nach Hawaii zu begleiten und Ihren
Mann abzuholen.«
Marilyn schwieg geistesabwesend, lächelte im Gedanken an
das Raumfahrzeug, das sie gerade im 27 Grad warmen Wasser
des Südpazifik hatte schaukeln sehen, vor sich hin. Ein leichtes
Knacken ertönte in der Verbindung mit Washington.
»Mr. President«, sagte sie schließlich. »Von Herzen gerne.«
Epilog

Weihnachten 1993

Wenn Jim Lovell sich nur eine Sekunde später umgedreht


hätte, hätte seine Enkelin vielleicht den Hitzeschild der
»Odyssey« kaputtgemacht. Genaugenommen war es nicht der
ganze Hitzeschild, den die zehn Monate alte Allie Lovell
beschädigt hätte, als sie sich an der Kredenz im Arbeitszimmer
ihres Großvaters hochziehen wollte, sondern nur ein
flaschenkorkengroßes Stück, das in einen Briefbeschwerer aus
Plexiglas eingegossen war.
Lovell hing sehr an dieser bescheidenen Trophäe. Immerhin
hatte er in den Monaten nach der Wasserung von Apollo 13,
als die NASA Andenken im Dutzend anfertigen ließ, gehofft,
ein Stück vom Hitzeschild ergattern zu können. Die kleinen
Überbleibsel waren eigentlich gar nicht für die
Besatzungsmitglieder bestimmt gewesen, sondern für die
Staatsoberhäupter, mit denen die Astronauten auf ihrer nach
der Rückkehr aus dem All in aller Eile organisierten Reise
durch fünf Länder zusammentreffen würden. Als die
Auslandsbesuche jedoch beendet waren, war eines der
Andenken übriggeblieben, und der Mann, der das
Raumfahrzeug kommandiert hatte, von dem dieses verkohlte
Stück stammte, hatte es als Souvenir eingesteckt und mit nach
Hause genommen.
»Holla!« sagte Lovell jetzt, als Allie mit der Hand über die
Kredenz fegte und das dreiundzwanzig Jahre alte Andenken
um ein Haar heruntergeworfen hätte. »Faß das lieber nicht an.«
Mit zwei raschen Schritten war Lovell bei seiner Enkelin,
hob sie hoch, legte sie wie einen Mehlsack über die Schulter
und küßte sie auf die Stirn. »Vielleicht sollten wir lieber
deinen Daddy suchen gehen«, sagte er.
Der Tag fing gerade erst an, und Lovell hatte das Gefühl, daß
ihm ein paar hektische Stunden mit noch etlichen Beinahe-
Unfällen bevorstanden. Nicht nur Jeffrey, sein jüngster Sohn,
würde mit seinem Nachwuchs zum Weihnachtsessen anwesend
sein, sondern auch seine anderen Kinder. Die Lovells der
zweiten Generation würden alles in allem sieben Lovells der
dritten Generation mitbringen – von zehn Monaten bis zu
sechzehn Jahren alt –, und vermutlich würden noch allerhand
weitere Erinnerungsstücke, die in dem getäfelten Zimmer
auslagen, in Gefahr geraten.
Da waren reihenweise Plaketten, eine ganze Wand voller
Urkunden, die eingerahmten Glückwunschbriefe von
Präsidenten und Vizepräsidenten, Gouverneuren und
Senatoren, die nach den erfolgreichen Flügen mit Gemini 7,
Gemini 12 und Apollo 8 eingegangen waren. Ebenfalls unter
Glasrahmen waren die kleinen Stofflaggen und
Uniformaufnäher, die Lovell bei diesen Flügen getragen hatte.
Ferner war da der »Emmy«, den man Lovell, Frank Borman
und Bill Anders allen Ernstes für ihre Übertragung aus der
Mondumlaufbahn zu Weihnachten vor fünfundzwanzig Jahren
verliehen hatte. Links und rechts des »Emmy« lagen weitere
Pokale und Orden aus – die Collier Trophy, die Harmon
Trophy, die Hubbard Medal, die deLavaulx Medal –, die
Lovell allesamt nach seinen ersten drei Raumflügen überreicht
worden waren. Am stolzesten aber war er auf die Mitbringsel
aus den drei Raumfahrzeugen, die er geflogen hatte: die
Systembücher, Flugpläne, Stifte und anderen Utensilien,
darunter sogar Zahnbürsten.
Was in diesem mit Erinnerungen erfüllten Raum jedoch fast
völlig fehlte, waren Andenken an Lovells vierten und letzten
Flug, seinen einzig nicht erfolgreichen. Für eine Mission, die
ihr vornehmliches Ziel nicht erreicht, gibt es keine Harmon
Trophy, und wenn ein Raumfahrzeug explodiert, bevor es sein
Ziel erreicht, wird einem auch keine Collier Trophy verliehen.
An den Flug von Apollo 13 erinnerten neben dem Stück vom
Hitzeschild lediglich ein gerahmter Glückwunschbrief von
Charles Lindbergh sowie – auf dem Fensterbrett – die in letzter
Minute aus der längst verglühten Mondfähre »Aquarius«
mitgenommenen Souvenirs: der Sextant und die für das
vordere Landebein gedachte Erinnerungsplakette.
Lovell riß sich von diesen Andenken los und trug Allie in die
Küche seines gemütlichen Hauses in Horseshoe Bay, Texas,
wo Marilyn sich mit Jeffrey und dessen Frau Annie unterhielt.
»Ich glaube, die gehört euch«, sagte Lovell zu Jeffrey, als er
ihm seine Tochter übergab.
»Hat sie wieder herumgekramt?« fragte Jeffrey.
»Wollte gerade anfangen.«
»Tja, dann mach dich mal auf etwas gefaßt«, sagte Marilyn.
»Da kommen noch sechs andere dazu.«
Lovell lächelte bei dieser Warnung, aber sie wäre eigentlich
nicht notwendig gewesen. In den sechzehn Jahren, die er und
Marilyn mit vier Kindern in dem kleinen Häuschen in Timber
Cove gewohnt hatten, hatten sie sich an turbulente Feiertage
gewöhnt. Timber Cove war natürlich längst Vergangenheit, ein
Stück Erinnerung, das, wie so vieles aus den Zeiten des
Apollo-Programms, in immer weitere Ferne rückte.
Mitte der siebziger Jahre hatten die Familien, die sich rund
um das Manned Space Center in den Vorortsiedlungen von
Houston niedergelassen hatten, ihre Siebensachen gepackt, die
Zelte abgebrochen und sich in alle Winde zerstreut. Diese
Abwanderung hatte ganz langsam begonnen – Neil Armstrong
verkündete, er ginge wieder nach Ohio zurück, um als
Industrieberater und Dozent am College zu arbeiten; Michael
Collins zog nach Washington und stieg beim State Department
ein; Frank Borman übernahm einen Posten bei Eastern Airlines
–, aber sie war nicht aufzuhalten gewesen. Als 1969 Apollo 11
auf dem Mond landete, hatten sich begeisterte NASA-Planer
vorgestellt, sie würden in den frühen siebziger Jahren noch
mindestens neun weitere LEMs zu neun weiteren
Landepunkten auf dem Mond schicken. Bis zu Beginn der
achtziger Jahre, so die optimistischsten Erwartungen, würde
das Fundament für die erste ständige Mondbasis stehen, erbaut
an genau einer der Stellen, die zuvor von den Astronauten
erkundet worden waren.
Es kam natürlich ganz anders. Als Apollo 13 noch flog, war
Apollo 20 bereits gestrichen, ein Opfer des neuen Sparkurses
der Regierung, nachdem die Öffentlichkeit laut gefragt hatte,
warum Amerika weitere Mondflüge unternehmen wollte, wo
man doch bereits bewiesen habe, daß man hinkommen könne.
Nach Apollo 13, als bei soviel kosmischem Übereifer beinahe
drei Astronauten ums Leben gekommen wären, wurden rasch
auch Apollo 19 und Apollo 18 gestrichen. In Washington
gestattete man jedoch die planmäßige Durchführung der
Apollo-Flüge 14 bis 17, für die das Gerät bereits gekauft und
bezahlt war, und im Laufe der nächsten zweieinhalb Jahre
wurden diese letzten Flüge – mit den glücklichen Astronauten,
die dafür ausgesucht wurden – zum Mond unternommen.
Im Dezember 1972, als die letzte vom Mond zurückkehrende
Besatzung im Pazifischen Ozean gelandet war, beschlossen ein
paar Mitglieder dieser rund um das Apollo-Programm
gewachsenen Gemeinschaft der Testpiloten, in der Gegend zu
bleiben. Fred Haise, der aufgrund der Umstände, von Pech und
eines schludrig gewarteten Versorgungsteils nicht die
Gelegenheit hatte, den Fuß auf den Mond zu setzen, versprach
man andeutungsweise das Kommando bei Apollo 19. Als
dieser Flug gestrichen wurde, arbeitete der einstige Pilot der
Mondfähre bei den ersten Gleittests des Prototypen für das
spätere Space Shuttle mit, bevor er ausstieg und Ende der
siebziger Jahre zu Grumman ging. Ken Mattingly, der
aufgrund der Umstände, von viel Glück und fehlender
Antikörper gegen die Röteln nicht an Bord der gescheiterten
Apollo 13 sein durfte, flog schließlich bei der erfolgreichen
Mission von Apollo 16 mit und übte sein fliegerisches Können
beim anschließenden Shuttle-Programm aus. Deke Slayton,
dem man 1959 einen Weltraumflug versprochen hatte, und der
dann 1961 erleben mußte, wie dieses Versprechen gebrochen
wurde, als man bei ihm Herzrhythmusstörungen feststellte,
hielt sich bis 1975 beharrlich im Umfeld des Astronautenkorps
auf. Dann durfte er schließlich an Bord einer ausgemotteten
Apollo-Kapsel zu einem politisch unschätzbar wertvollen,
wissenschaftlich allerdings nutzlosen Rendezvous mit einer
sowjetischen Sojus-Kapsel in die Erdumlaufbahn fliegen.
In diesem Sommer stieg Deke Slayton zusammen mit Tom
Stafford und Vance Brand in das Cockpit des letzten Apollo-
Raumfahrzeugs der NASA und kam schließlich zu seinem
Flug auf der Spitze einer Rakete, auf den er über anderthalb
Jahrzehnte hatte warten müssen.
Mit Ausnahme dieser und ein paar anderer Piloten, hatten die
meisten Männer, die sich in den Anfängen des Mondflug-
Programms der NASA angeschlossen hatten, ihren Abschied
genommen, als die Raumfahrtbehörde sich um andere Dinge
kümmerte. Jim Lovell verließ das Astronautenkorps im Jahre
1973 und arbeitete zunächst für eine Schiffsfirma und danach
in der Telekommunikationsbranche. Harrison Schmitt, der
Pilot der Mondfähre bei Apollo 17, kehrte nach New Mexico
zurück und kandidierte erfolgreich für den Senat der USA.
Selbst Jack Swigert, der sich bei einem derart unmöglichen
Flug so großartig bewährt hatte, und dem bei der NASA alle
Türen offengestanden hätten, beschloß sein Glück nicht
überzustrapazieren, kehrte nach Colorado zurück und stieg
ebenfalls in die Politik ein.
Wie Schmitt kandidierte auch Swigert für den Senat, aber im
Gegensatz zu Schmitt verlor er die Wahl. Im Jahre 1982
erklärte der Astronaut im Ruhestand erneut seine Kandidatur,
diesmal für das Repräsentantenhaus, und diesmal gewann er.
Einen Monat vor seiner Wahl im November jedoch stellte man
einen besonders aggressiven Blutkrebs bei ihm fest. Drei Tage
vor der Amtseinführung im Januar war er tot. Armer Jack,
dachte Lovell oft. Für ihn fing alles immer so gut an und
endete immer so schlecht.
Im Frühjahr 1970, als Swigert, Lovell und Haise sicher aus
dem Weltall zurückkehrten, hatte es natürlich so ausgesehen,
als würde es das Schicksal gut mit ihnen meinen. Laut Ortszeit
Houston war die Kommandokapsel »Odyssey« am 17 April
um 12 Uhr 7 im Pazifik niedergegangen, und seit John Glenns
Rückkehr, der vor acht Jahren als erster Amerikaner in einer
Umlaufbahn um die Erde geflogen war, hatte die ganze Nation
nicht mehr so einhellig vor Erleichterung aufgeseufzt.
»Astronauten landen nach viertägiger Tortur sanft und
unverletzt im Zielgebiet«, hatte die New York Times verkündet.
»Landung der Kapsel mit Applaus, Zigarren und
Trinksprüchen begrüßt.«
Kurz nachdem die Kapsel ins Wasser getaucht war, hatte man
Lovell, Swigert und Haise in ein Rettungsboot geholfen und
sie an Bord eines Helikopters gehievt. Auf dem Deck der »Iwo
Jima« stiegen sie aus dem Hubschrauber, winkten müde und
verschlafen lächelnd den jubelnden Matrosen zu und wurden
nach unten gescheucht. Die Männer unterzogen sich der nach
einem Flug üblichen medizinischen Untersuchung, bei der
abgesehen von der Feststellung, daß sie nicht mehr bei
allerbester Gesundheit waren, nichts Überraschendes
herauskam. Haise hatte sich eine fiebrige Infektion zugezogen,
und darüber hinaus litten sie alle drei unter Flüssigkeitsverlust,
wiesen die bei einem derartigen Erschöpfungszustand üblichen
Schwindelgefühle und Orientierungsprobleme auf und hatten
allesamt beträchtlich an Gewicht verloren. Lovell, der vor dem
Flug 77 Kilo gewogen hatte, hatte am meisten verloren: Fast
sechseinhalb Kilogramm in sechs Tagen.
Nach der Untersuchung brachte man Lovell und Swigert in
den Gästequartieren unter, und Haise kam auf die
Krankenstation. An diesem Abend nahmen die beiden
gesundgeschriebenen Astronauten an einem gemeinsamen
Essen mit den Offizieren der »Iwo Jima« teil. Es gab ein Menü
mit Krabben und Salat, Steak, Hummer und alkoholfreiem
Sekt, und dazu, so jedenfalls stand es auf der hastig
hektographierten Speisekarte, als Nachtisch unter anderem
»Mondfrüchte-Melba« und »Apollo-Törtchen«. Obwohl diese
Kost, gemessen an den Maßstäben der zivilisierten Welt,
vielleicht nicht weiter erwähnenswert war, kam sie den drei
Männern, die fast eine Woche lang kalte Rationen aus
Plastikbeuteln geschlürft hatten, wie die reinste Ambrosia vor.
Tags darauf wurden alle drei Astronauten, die jetzt
frischgewaschene blaue Fliegerkombinationen mit einem
rechts auf der Brustseite angenähten Apollo-13-Emblem
trugen, per Helikopter nach Amerikanisch-Samoa geflogen, wo
sie sich an Bord einer Transportmaschine vom Typ C-141
begaben und nach Hawaii gebracht wurden. Dort, so hatte man
ihnen mitgeteilt, würden sie von der Air Force One erwartet,
der Maschine des Präsidenten.
Präsident Nixon hatte Wort gehalten und war an diesem Tag
nach Houston geflogen, wo er Marilyn Lovell, Mary Haise und
Dr. und Mrs. Leonard Swigert, Jacks Eltern, abholte und sie
zur Begrüßung der zurückkehrenden Apollo-Besatzung nach
Honolulu mitnahm. Laut Protokoll müssen der Präsident und
sein Gefolge bei derartigen Anlässen zuerst landen, damit das
Staatsoberhaupt die Ehrengäste persönlich empfangen kann.
Als sich die C-141 jedoch Hawaii näherte, war von der Air
Force One weit und breit nichts zu sehen, und so mußten die
Männer, die einen Gutteil der letzten Woche in einer
Umlaufbahn um den Mond hätten zubringen sollen, nun am
Sonntag stundenlang über Honolulu kreisen und darauf warten,
daß der Präsident auftauchte. Erst als Nixons Maschine auf der
Rollbahn stand und die ihn begleitenden Personen auf dem
Flugfeld Aufstellung bezogen hatten, konnte die C-141 landen.
Dann allerdings hielt Nixon sich nicht mehr an das Protokoll.
»Warum gehen Sie nicht zuerst hin?« sagte er zu den
Familien. »Das hier sollte eine private Begrüßung sein.«
Marilyn Lovell, Mary Haise und die Swigerts rannten über die
Rollbahn zu den etwas benommenen Astronauten.
Trotz Nixons Zugeständnis gab es für die Beteiligten an
diesem und am nächsten Tag nicht einmal annähernd
Gelegenheit zu einer privaten Begegnung. Während der
achtundvierzig Stunden, die sich die Astronauten von Apollo
13 im Südpazifik aufhielten, wurden sie auf Schritt und Tritt
von den Medien verfolgt, die ihre Berichte von den
Begrüßungsfeierlichkeiten in alle Welt ausstrahlten. Die Bilder
und Geschichten waren allesamt positiv, genaugenommen fast
kriecherisch. Erst als die Astronauten wieder in Houston
eintrafen, wurde die Berichterstattung in der Presse etwas
kritischer. Am Montagabend um 18 Uhr 30, eine Woche nach
dem Zwischenfall, setzte die NASA eine Pressekonferenz an,
bei der sich die Astronauten erstmals seit dem Start den
Medien stellten. Kurz nach den einleitenden Worten eines
Pressesprechers der NASA stellte ein Reporter genau die
Frage, die Lovell – und die Raumfahrtbehörde – am meisten
gefürchtet hatten, auch wenn sie gehofft hatten, niemand werde
sie stellen.
»Captain Lovell«, rief einer der Reporter im Raum, »was
haben Sie damit gemeint, als sie während der Mission die
Bemerkung machten: ›Ich glaube, das hier wird für lange Zeit
der letzte Flug zum Mond sein‹?«
Lovell zögerte einen Augenblick. Auf dem Flug von Hawaii
hierher hatte er versucht, sich eine Antwort auf diese nahezu
unvermeidliche Frage zurechtzulegen – auf so eine Frage
mußte man vorbereitet sein. Die ehrlichste Antwort lautete,
daß er es genau so gemeint habe. Wenn man in einem
Raumschiff mit zu wenig Atemluft und zu knapper Energie auf
die Rückseite des Mondes zutorkelt und sich kaum eine
Chance ausrechnet, jemals wieder zur Erde zurückzukehren,
dann wirkt das im Hinblick auf die Aussichten der anderen
Männer, die ins All fliegen sollten, alles andere als
vertrauensfördernd, und Lovell bezweifelte tief und aufrichtig,
daß jemals wieder ein Flug stattfinden würde. Aber diese
Antwort vertraute man allenfalls seinen Freunden, seiner Frau
oder seiner Besatzung an, aber man sprach sie nicht vor einem
Saal voller Reportern aus. Eine derartige Antwort wollte
wohlüberlegt sein, und Lovell setzte stockend zu seiner
Erwiderung an.
»Eine gute Frage«, schmeichelte der Astronaut dem Reporter.
»Zunächst einmal müssen Sie sich unsere Situation zum
damaligen Zeitpunkt klarmachen. Wir würden demnächst den
Mond umrunden, wir wußten nicht, was mit unserem
Raumschiff passiert war, und wir schauten aus dem Fenster
und versuchten, so viele Fotos wie möglich zu schießen, bevor
wir auf der anderen Seite wieder herauskamen und auf
Heimatkurs gingen. Vielleicht habe ich damals gedacht, wir
sollten so viele Bilder wie möglich machen, weil dies auf lange
Sicht der letzte Flug zum Mond gewesen sein könnte. Aber
wenn ich jetzt zurückblicke, und auch im Hinblick darauf, wie
es der NASA gelungen ist, uns zurückzuholen, glaube ich das
nicht mehr. Ich nehme an, es wird darauf hinauslaufen, daß
man unsere Probleme genau analysiert, und ich sage Ihnen
voraus, daß wir diesen Zwischenfall überwinden und weitere
Fortschritte machen werden. Ich hätte keine Bedenken,
demnächst wieder zu fliegen.«
Lovell hielt inne und blickte ins Publikum. Es war nicht die
beste Antwort gewesen, und sie wäre anders ausgefallen, wenn
er nur ein wenig mehr Zeit zum Überlegen gehabt hätte. Aber
grundsätzlich, so wurde ihm klar, stimmte sie. Er konnte nur
hoffen, daß schnell die nächste Frage kam, damit er es dabei
belassen konnte.
Ein anderer Reporter tat ihm den Gefallen. »Jim, apropos
›wieder fliegen‹ – Sie haben gesagt, dies wäre Ihr letzter Flug,
aber Sie möchten vorher unbedingt noch auf dem Mond
landen. Wie denken Sie jetzt darüber? Würden Sie es gern
noch einmal versuchen, vielleicht mit Apollo 14, 15, 16, oder
ist Marilyn…«
Der Reporter ließ die Frage mit diesem »Marilyn«
ausklingen, und im Saal erhob sich beifälliges Gelächter.
Lovell lachte mit und wartete, bis wieder Ruhe einkehrte,
bevor er antwortete.
»Nun ja«, sagte er, »ich bin sehr enttäuscht, genau wie Fred
und Jack übrigens, daß wir unsere Mission nicht zu Ende
führen konnten. Sicherlich haben wir uns eine Landung auf
dem Mond gewünscht. Fra Mauro klingt so verheißungsvoll,
dachten wir. Aber das war mein vierter Raumflug, und in
unserem Betrieb gibt es so viele Leute, die noch nie geflogen
sind, die es aber verdienen und auch das Talent dazu haben.
Und sie verdienen einen Flug. Wenn die NASA den Eindruck
hat, unser Team sollte noch einmal zum Fra Mauro fliegen,
wäre ich gewiß dazu bereit. Aber ansonsten denke ich, daß
jetzt andere an der Reihe sind.«
Lovell hatte über diese Antwort weit weniger lange
nachgedacht als über die anderen. Doch als er sie laut
aussprach, wußte er, daß auch sie genau so gemeint war. Vier
Flüge reichten; über zwanzig andere Piloten warteten auf ihre
Chance; und wie der Reporter angedeutet hatte, ging es auch
um Marilyn. Nach Pax River und Oceana, Gemini 7 und
Gemini 12, Apollo 8 und Apollo 13 konnte eine
Astronautenfrau, deren Mann länger im Weltall gewesen war
als jeder andere Amerikaner, mit Recht erwarten, daß es nicht
ewig so weiterging. Jim Lovell, obwohl mit Leib und Seele
Testpilot, gedachte diese Erwartung zu respektieren.

Auch wenn der Kommandant von Apollo 13 persönlich nicht


mehr zum Mond fliegen wollte, gedachte die NASA
weiterzumachen. In den Fabriken von Grumman und North
American Rockwell und in den Montagehallen auf dem
Gelände des Space Center standen noch immer etliche Saturn 5
und Apollo-Raumfahrzeuge startbereit. Bevor man bei der
Raumfahrtbehörde auch nur daran denken konnte, eine weitere
Besatzung ins All zu schicken, mußte man die Ursache des
Unfalls feststellen, bei dem die letzte beinahe ums Leben
gekommen wäre.
Bislang gab es wenig Anhaltspunkte. Nach einer
Untersuchung der Bilder, die die Besatzung von Apollo 13 mit
zurückgebracht hatte, kam man bei der NASA zu dem Schluß,
daß die Schäden an dem Schiff nicht von einem
Meteoriteneinschlag oder dergleichen herrühren konnten.
Das Loch im Versorgungsteil von Apollo 13 konnte nicht
durch einen von außen auftreffenden Felsbrocken entstanden
sein, der den Sauerstofftank zerstört hatte; vielmehr mußte es
eine Explosion im Tank selbst gegeben haben, bei der ein Teil
der Rumpfverkleidung weggerissen worden war. Am 17. April,
nur wenige Stunden nach der Landung der Kommandokapsel,
ernannte NASA-Chef Thomas Paine eine Kommission, die
feststellen sollte, was diese Explosion ausgelöst hatte.
Das von Paine eingesetzte Gremium wurde von Edgar
Cortright geleitet, dem Direktor des Langley Research Centers
in Virginia. Mit ihm arbeiteten vierzehn weitere
Ausschußmitglieder, darunter der nach wie vor umjubelte Neil
Armstrong, ein Dutzend Ingenieure und Manager der NASA
und, bezeichnenderweise, ein unabhängiger Beobachter. Bei
der NASA wußte man, daß der Kongreß, der noch immer über
die im internen Kreis und hinter verschlossenen Türen erfolgte
Untersuchung nach dem Brand von Apollo 1 verärgert war,
einen derartigen Beobachter dabeihaben wollte, der die Arbeit
der Gruppe überwachte. Und weil man sich bei der NASA
noch genau an die Prügel erinnerte, die man seinerzeit bezogen
hatte, fügte man sich bereitwillig.
Die Cortright-Kommission machte sich sofort ans Werk.
Zwar wußte niemand in dem Ausschuß, was man bei ihrer
Suche nach der Ursache der Explosion an Bord von Apollo 13
finden würde, aber alle waren sich bewußt, daß es sich nicht
nur um ein einzelnes Versagen gehandelt hatte. Wie
Flugpioniere und Testpiloten seit den Anfangstagen der
Luftfahrt feststellten, werden schwere Unfälle so gut wie nie
durch ein technisches Versagen allein hervorgerufen; sie sind
vielmehr immer die Folge einer Reihe nicht miteinander in
Verbindung stehender kleinerer Störungen, die für sich
genommen keinerlei Schaden anrichten würden, in ihrer
Gesamtheit aber durchaus zum Absturz selbst des erfahrensten
Piloten führen können.
Im Zuge der Materialprüfung befaßte sich die Cortright-
Kommission zuallererst mit der Entstehungsgeschichte von
Sauerstofftank Nummer zwei. Normalerweise war für jeden
größeren Baustein eines Apollo-Raumfahrzeugs, von der
Kreiselplattform über die Funkgeräte bis zu den
Flüssiggastanks, ein Qualitätskontrolleur zuständig, der ihn
von der ersten Entwurfsphase bis zum Start regelmäßig
überprüfte. Jede Unregelmäßigkeit bei Herstellung oder
Erprobung wurde vermerkt und zu den Akten gelegt. Je dicker
der Ordner zum Zeitpunkt des Starts, davon konnte man im
allgemeinen ausgehen, desto mehr Kopfzerbrechen hatte das
Teil bereitet. Über Sauerstofftank Nummer zwei lag, wie sich
herausstellte, ein ganzes Dossier vor.
Die Probleme mit dem Tank begannen im Jahr 1965, etwa zu
dem Zeitpunkt, als Jim Lovell und Frank Borman mitten in der
Vorbereitung für Gemini 7 steckten und man bei North
American die Apollo-Kommandokapsel baute, den Nachfolger
der zweisitzigen Raumfahrzeuge. Wie bei derart umfassenden
Vertragsgeschäften üblich, hatte North American nicht vor, die
ganzen Entwicklungs- und Konstruktionsarbeiten selbst
auszuführen, sondern ließ einzelne Teile von Zulieferfirmen
anfertigen. Eine der heikelsten Aufgaben, die auf diese Weise
nach außerhalb vergeben wurden, war die Konstruktion der
superkalten Flüssigkeitstanks für das Raumfahrzeug, mit der
man die Beech Aircraft in Boulder, Colorado, betraute.
Bei Beech und North American wußte man, daß die Tanks
für das neue Schiff mehr als nur gut isolierte Flaschen sein
mußten. Bei einer so unberechenbaren Füllung wie flüssigem
Sauerstoff und Wasserstoff brauchte man allerhand
Sicherheitsmaßnahmen in den halbrunden Behältern, darunter
Ventilatoren, Thermostate, Drucksensoren und Heizelemente,
die sich unmittelbar in der superkalten Flüssigkeit befinden
und allesamt über elektrischen Strom betrieben werden
mußten.
Das Stromsystem der Apollo-Raumfahrzeuge war auf eine
Spannung von 28 Volt ausgelegt – das entsprach genau der
Leistung der drei Brennstoffzellen im Versorgungsteil. Trotz
dieser relativ niedrigen Spannung mußte man besonders die
Heizelemente in den kryogenischen Tanks gut im Auge
behalten. Normalerweise betrug die Temperatur in den Tanks
konstant minus 205 Grad. Dadurch waren der gekühlte
Sauerstoff und Wasserstoff zwar gerade noch flüssig, aber es
konnte auch ständig Gas verdunsten, das wiederum die
Brennstoffzellen speiste und das Cockpit mit Atemluft
versorgte. Gelegentlich jedoch sank der Druck in den Tanks zu
weit ab, so daß die Versorgung der Brennstoffzellen und der
Besatzung gefährdet war. Um dies zu verhindern, wurden ab
und zu die Heizelemente eingeschaltet, um die Flüssigkeit
»aufzukochen« und den Innendruck wieder zu erhöhen.
Natürlich war es nicht ohne Risiko, ein Heizelement in einem
unter Druck stehenden Sauerstofftank anzubringen. Um aber
die Explosionsgefahr so gering wie möglich zu halten, hatte
man die Heizelemente mit einem Thermostaten ausgestattet,
der automatisch die Stromzufuhr unterbrechen sollte, wenn die
Temperatur in den Tanks zu hoch anstieg. Die vorgesehene
Höchsttemperatur lag vergleichsweise niedrig: Nach Ansicht
der Ingenieure durften die superkalten Tanks keinesfalls
wärmer als 27 Grad werden. Verglichen mit der sonst in den
Behältern herrschenden Temperatur aber war das eine
Erwärmung um immerhin 230 Grad. Wenn die Heizung
angestellt wurde und normal funktionierte, blieben die Schalter
an den Thermostaten geschlossen – oder aktiv –, so daß die
Heizelemente mit Strom versorgt wurden. Stieg die
Temperatur im Tank über 27 Grad, dann schaltete der
Thermostat ab, und der Stromkreis wurde unterbrochen.
Als North American den Auftrag zur Herstellung des Tanks
an Beech Aircraft vergab, wies man die Zulieferfirma darauf
hin, daß die Thermostate – wie der Großteil aller anderen
elektrischen Systeme an Bord – für die 28 Volt-Spannung im
Raumfahrzeug ausgelegt werden müßten, und Beech
garantierte dies. Aber die Apollo-Kapsel mußte auch eine weit
stärkere Spannung verkraften. Während der Gerätetests und
Ausrüstungserprobungen vor dem Start hingen die Schiffe
wochen- und monatelang an den Rampengeneratoren in Cape
Kennedy und das waren im Vergleich mit den Brennstoffzellen
mächtige Maschinen, die eine konstante Spannung von 65 Volt
erzeugten.
Schließlich machte man sich bei North American Gedanken
darüber, daß das empfindliche Heizungssystem durch einen
derartigen Stromstoß noch vor dem Start beschädigt werden
könnte. Man beschloß, die Vorgaben entsprechend zu ändern,
und teilte Beech mit, daß die bisherige Planung für die
Heizelemente hinfällig sei und die gewünschten Geräte auch
die relativ hohe Stromspannung an der Startrampe aushalten
müßten. Bei Beech vermerkte man den Änderungswunsch und
baute das gesamte Heizungssystem um – oder zumindest fast
das gesamte Heizungssystem. Unerklärlicherweise tauschten
die Ingenieure die Schalter an den Thermostaten nicht aus, so
daß die neuen, auf 65 Volt ausgelegten Heizelemente mit den
alten, auf 28 Volt ausgelegten Thermostatschaltern ausgestattet
waren. Sowohl bei Beech, als auch bei North American und
bei der NASA selbst überprüften Ingenieure die von Beech
gelieferten Bauteile, aber niemand entdeckte die
Schwachstelle.
Obwohl durch einen falschen Schalter nicht
notwendigerweise der Tank beschädigt werden konnte –
ebensowenig wie ein Haus beim ersten Lichteinschalten
abbrennt, weil die Kabel schlampig verlegt wurden –, war dies
ein schwerer Fehler. Allerdings waren andere, gleichermaßen
geringfügige Nachlässigkeiten notwendig, damit es schließlich
zu einem Unglück kam. Die Cortright-Kommission fand sie
rasch.
Die Tanks, die schließlich in Apollo 13 eingebaut wurden,
wurden – mitsamt den auf 28 Volt ausgelegten
Thermostatschalter – am 11. März 1968 zum Werk von North
American Rockwell in Downey, Kalifornien, transportiert.
Dort wurden sie in ihre aus Metall bestehende Halterung,
normalerweise Rahmen genannt, eingesetzt und in
Versorgungsteil Nummer 106 eingebaut. Versorgungsteil 106
war für Apollo 10 vorgesehen, eine Mission, bei der Tom
Stafford, John Young und Gene Cernan das LEM erstmals in
der Mondumlaufbahn erproben wollten. Doch im Laufe der
nächsten Monate wurden kleinere technische Verbesserungen
an der Konstruktion der Sauerstofftanks vorgenommen, so daß
sich die Ingenieure entschlossen, die Tanks aus dem
Versorgungsteil von Apollo 10 auszubauen und durch neuere
zu ersetzen. Die alten Tanks sollten nach den neuen Vorgaben
umgebaut werden und für einen anderen Versorgungsteil bei
einem der nächsten Flüge verwendet werden.
Der Ausbau der Flüssiggastanks aus einem Apollo-
Raumfahrzeug war keine leichte Aufgabe. Da es aufgrund der
zahllosen Röhren und Leitungen so gut wie unmöglich war, die
Tanks einzeln auszubauen, mußte man den ganzen Rahmen
mit allen Geräten entfernen. Dazu hängten die Techniker den
Rahmen an einen Kran, lösten die vier Bolzen, mit denen er
befestigt war, und zogen ihn heraus. Am 21. Oktober 1968,
dem Tag, an dem Wally Schirra, Donn Eisele und Walt
Cunningham nach ihrem elftägigen Flug mit Apollo 7
landeten, lösten Ingenieure bei Rockwell die Bolzen am
Tankrahmen von Raumfahrzeug 106 und wollten ihn
vorsichtig herausziehen.
Dabei übersah man jedoch, daß einer der vier Bolzen nicht
gelöst worden war. Als die Winde in Gang gesetzt wurde, hob
sich der Rahmen um etwa fünf Zentimeter, wurde dann durch
den Bolzen festgehalten, der Kranhaken rutschte ab, und der
Rahmen sackte wieder zurück. Dabei gab es zwar nur eine
leichte Erschütterung, aber die Vorgehensweise in so einem
Fall war eindeutig: Nach jedem noch so kleinen Zwischenfall
im Werk mußten die betroffenen Bauteile des Raumfahrzeugs
auf eventuelle Schäden untersucht werden. Die Tanks in dem
abgesackten Rahmen wurden überprüft und für in Ordnung
befunden. Kurz danach wurden sie ausgebaut, auf den neuesten
technischen Stand gebracht und in Versorgungsteil Nummer
109 eingebaut, das wiederum bei einem gemeinhin unter der
Bezeichnung Apollo 13 bekannten Raumfahrzeug
Verwendung finden sollte. Anfang 1970 wurde die Saturn 5
mit der auf der Spitze sitzenden Apollo 13 zur Rampe gerollt
und für April startbereit gemacht. Hier, so stellte die Cortright-
Kommission fest, wurde dann der letzte der Fehler gemacht,
die schließlich zum Verhängnis führten.
Eine der wichtigsten Maßnahmen in den Wochen vor einem
Apollo-Start war der Countdown-Demonstrations-Test. Im
Verlauf dieser stundenlangen Übung probten die Männer im
Raumfahrzeug und die Bodenmannschaft zum erstenmal alle
Schritte bis zur tatsächlichen Zündung der Trägerrakete am
Tag des Starts. Damit diese Generalprobe unter möglichst
realistischen Bedingungen ablief, wurden die Flüssiggastanks
unter Druck gesetzt, steckte man die Astronauten in volle
Montur und brachte den Kabinendruck auf genau den Stand,
den er auch beim Start haben würde.
Beim Countdown-Demonstrations-Test von Apollo 13, bei
dem Jim Lovell, Ken Mattingly und Fred Haise auf ihren
Couchs festgeschnallt waren, traten keinerlei größere Probleme
auf. Gegen Ende der langen Generalprobe jedoch meldete die
Bodenmannschaft eine kleinere Unregelmäßigkeit. Bevor das
Raumfahrzeug abgeschaltet werden konnte, mußten die
Flüssiggastanks entleert werden, aber das kryogenische System
machte Schwierigkeiten. Normalerweise war das Ablassen der
Tanks nicht schwierig – die Ingenieure mußten lediglich durch
eine Leitung gasförmigen Sauerstoff hineinpumpen und den
Flüssigsauerstoff durch die andere herauspressen. Beide
Wasserstofftanks und auch Sauerstofftank Nummer eins ließen
sich problemlos leeren. Aber aus Sauerstofftank Nummer zwei
entwichen nur etwa 8 Prozent der 320 Pfund superkalten
Flüssiggases. Als die Ingenieure am Cape und bei Beech
Aircraft den Aufbau des Tanks und seine
Entstehungsgeschichte untersuchten, meinten sie, das Problem
gefunden zu haben. Als der Rahmen vor achtzehn Monaten
heruntergefallen war, so vermuteten sie nun, hatte der Tank
mehr Schaden erlitten, als den Technikern im Werk zunächst
klargeworden war: Ein Ablaßstutzen am oberen Teil des
Sauerstoffbehälters mußte dabei verbogen worden sein.
Dadurch strömte der in den Tank gepumpte gasförmige
Sauerstoff sofort wieder aus, ohne daß der flüssige Sauerstoff
herausgepreßt wurde.
Angesichts einer derart offensichtlichen Fehlfunktion an
einem Raumfahrzeug, bei dessen Bau sich die Ingenieure so
gut wie keine Fehlertoleranz erlauben durften, hätten sofort
alle Alarmglocken losgehen müssen. In diesem Fall war dem
nicht so. Das Entleeren der Tanks wurde nur bei den Tests auf
der Rampe vorgenommen. Während des Fluges spielte dieser
Ablaßstutzen keine Rolle, da der in den Tanks enthaltene
Sauerstoff über ein völlig anderes Leitungssystem sowohl zu
den Brennstoffzellen strömte als auch zum sogenannten
atmosphärischen System, das den Kabinendruck regelte und
das Cockpit mit Atemluft versorgte. Sollte es den Ingenieuren
also gelingen, den Tank an diesem Tag zu entleeren, dann
könnten sie ihn vor dem Start wieder auffüllen, ohne sich noch
einmal Sorgen wegen der Einfüll- und Ablaßstutzen machen zu
müssen. Die Methode, die sie sich dafür einfallen ließen, war
ebenso elegant wie simpel.
In seinem derzeitigen superkalten Zustand und bei dem
relativ geringen Innendruck würde man den Flüssigsauerstoff
niemals aus dem Tank bekommen. Aber was würde passieren,
so fragten sich die Techniker, wenn man das
Beheizungssystem einsetzte? Warum nicht einfach den
Tauchsieder einschalten, die Suppe kurz aufkochen, damit der
Druck erhöht und der gesamte Sauerstoff durch den
Ablaßstutzen herausgedrückt werden konnte?
»Ist das die beste Lösung, die uns einfällt?« fragte Jim Lovell
die Techniker an der Rampe, als er zu einer Besprechung im
Betriebsgebäude am Cape eingeladen wurde, bei der man ihm
das Verfahren erklärte.
»Jedenfalls die beste, die uns einfällt«, sagte man ihm.
»Ansonsten aber funktioniert der Tank so wie geplant?«
»Ganz sicher.«
»Und soweit ihr ersehen könnt, liegen keine weiteren Mängel
vor?«
»Ganz sicher nicht.«
»Und der Ablaßstutzen spielt während des Fluges keine
Rolle?«
»Nicht die geringste.«
Lovell dachte einen Augenblick nach. »Wie lange würde es
dauern, den ganzen Tank auszubauen und durch einen neuen
zu ersetzen?«
»Nur fünfundvierzig Stunden, aber wir müßten ihn erst
erproben und überprüfen. Wenn wir das Startfenster verpassen,
müssen wir den ganzen Flug um wenigstens einen Monat
verschieben.«
»Nun ja«, sagte Lovell nach einer Denkpause, »wenn euch
allen dabei wohl zumute ist, schließe ich mich an.«
Mehrere Monate später, bei seiner Aussage vor der Cortright-
Kommission in Cape Kennedy, stand Lovell zu seiner
Entscheidung. »Ich war mit dieser Lösung einverstanden«,
sagte er. »Wenn sie funktionierte, konnten wir rechtzeitig
starten. Wenn nicht, müßten wir möglicherweise den Tank
austauschen, und der Startzeitpunkt würde sich verschieben.
Niemand in der Testcrew an der Rampe wußte, daß die
falschen Thermostate im Tank waren, oder dachte daran, was
passieren könnte, wenn die Heizelemente zu lange
eingeschaltet blieben.«
Doch in dem Tank befand sich der falsche Thermostat – der
mit dem für 28 Volt ausgelegten Schalter –, und die Heizung
lief viel zu lange. Am Abend des 27 März, fünfzehn Tage vor
dem geplanten Starttermin von Apollo 13, wurden die
Heizspiralen im zweiten Sauerstofftank des Versorgungsteils
Nummer 109 eingeschaltet. Angesichts der riesigen
Sauerstoffmenge in dem Tank konnte es nach Schätzung der
Ingenieure bis zu acht Stunden dauern, bevor das letzte Gas
entwichen war. Diese Zeit müßte mehr als genügen, um den
Tank bis auf etwa 27 Grad Celsius zu erwärmen, aber die
Techniker wußten, daß sie sich notfalls auf den Thermostaten
verlassen konnten. Als dieser Thermostat jedoch die kritische
Temperatur erreichte und der Schalter sich öffnen sollte, wurde
er durch die 65 Volt-Spannung, unter der er stand, sofort
kurzgeschlossen.
Die Techniker an der Startrampe in Cape Kennedy konnten
beim besten Willen nicht wissen, daß dieser winzige Baustein,
der eine Überhitzung des Tanks verhindern sollte, verschmort
war. Zwar beaufsichtigte ein Ingenieur das Entleeren des
Tanks, aber anhand seiner Instrumente konnte er lediglich
erkennen, daß der Schalter am Thermostat geschlossen blieb,
worauf er davon ausging, daß der Tank noch nicht soweit
erhitzt war. Den einzigen Hinweis darauf, daß das System
nicht ordnungsgemäß funktionierte, hätte eine Anzeige an der
Kontrolltafel der Startrampe geben können, auf der ständig die
Innentemperaturen in den Sauerstofftanks gemessen wurden.
Sollte dort die Temperatur über 27 Grad steigen, dann wußte
der Techniker, daß der Thermostat versagt hatte, und er würde
das Heizungssystem abschalten.
Unglücklicherweise konnte die Anzeige an diesem Meßgerät
nicht über 27 Grad steigen. Da es so gut wie nie vorkam, daß
im Tank derart hohe Temperaturen herrschten, und 27 Grad
ohnehin schon im unteren Gefahrenbereich lagen, hatten die
Männer, die diese Kontrolltafeln entwickelt hatten, keinen
Anlaß gesehen, die Skala über die 27 Grad hinaus anzulegen.
Daher konnte der diensttuende Ingenieur an diesem Abend
nicht wissen, daß die Temperatur in diesem Tank bis auf 538
Grad stieg.
Die Heizung lief fast den ganzen Abend lang, und ständig
stand die Temperaturanzeige bei ungefährlichen 27 Grad. Als
die acht Stunden vorüber waren, hatte sich der Großteil des
Flüssigsauerstoffs verflüchtigt, genau wie die Ingenieure
gehofft hatten – zugleich aber waren durch die Hitze Teile der
Teflonschicht weggeschmolzen, die das Stromkabel für die
Ventilatoren isolierte. Daher ragten jetzt blanke Kupferkabel in
den leeren Tank, der bald mit einer der hochexplosivsten
Flüssigkeiten gefüllt werden würde, die es gibt: mit reinem
Sauerstoff.
Siebzehn Tage später und etwa 320000 Kilometer draußen im
Weltall hatte Jack Swigert auf eine tägliche Routineanweisung
von der Bodenkontrolle hin den Ventilator im Sauerstofftank
eingeschaltet, um den Inhalt aufzurühren. Als Swigert dieser
Aufforderung an den zwei Tagen zuvor nachgekommen war,
hatte der Ventilator problemlos funktioniert. Diesmal jedoch
entstand an dem blanken Draht ein Funken, der das restliche
Teflon entzündete. Explosionsartig waren in dem reinen
Sauerstoff Temperatur und Druck gestiegen, so daß der Hals
des Tanks platzte, die schwächste Stelle. Die 300 Pfund
Sauerstoff strömten aus, rissen die Außenverkleidung des
Versorgungsteils ab und verursachten so den Knall, den die
Besatzung gehört hatte. Als das Rumpfteil davonflog, prallte es
gegen die S-Band-Richtantenne und verursachte das
mysteriöse Umschalten, das der Kommunikationsoffizier am
Boden im gleichen Augenblick feststellte, als die Astronauten
den Knall und die Erschütterung meldeten.
Tank Nummer eins war zwar durch die Explosion nicht
unmittelbar beschädigt worden, war aber durch ein
Röhrensystem mit Tank Nummer zwei verbunden. Als ein Teil
dieser Leitungen durch die Explosion abgerissen wurde,
strömte auch der Inhalt von Tank eins ins All. Verschlimmert
wurde dies noch dadurch, daß sich aufgrund der Explosion
mehrere Ventile verklemmten, die die Treibstoffversorgung
der Lagesteuerungs-Raketen regelten, so daß diese nicht mehr
zur Verfügung standen. Als das Schiff durch die Explosion des
Tanks und das anschließende Ausblasen aus der Trimmung
geriet, zündete der Autopilot die Steuerdüsen, um die Lage des
Raumfahrzeuges zu stabilisieren. Aber da nur einige Raketen
funktionierten, konnte das Schiff nicht wieder auf Kurs
gebracht werden, und als Lovell auf Handsteuerung überging,
kam er mit dem teilweise ausgefallenen System auch nicht
besser zurecht. Innerhalb von zwei Stunden war das
Raumfahrzeug ohne Sauerstoff und Energie.
Damit blieb nur noch die Frage ungelöst, was die rätselhafte
Abflachung der Flugbahn auf dem Rückweg verursacht hatte,
und hierzu durften sich die TELMUs eine Lösung einfallen
lassen. Die »Aquarius«, so schlossen die Controller, war
immer wieder von selbst vom Kurs abgekommen, und zwar
nicht durch ein unentdeckt gebliebenes Leck in einem
beschädigten Tank oder Leitungssystem, sondern durch den
austretenden Dampf des eigenen Kühlsystems. Diese nach dem
Verdunsten der Kühlflüssigkeit am Sublimator
ausgeschiedenen Dampfschwaden hatten die Flugbahn des
LEM bisher noch nie beeinträchtigt, weil das Landefahrzeug
normalerweise erst in der Mondumlaufbahn in Betrieb
genommen, vom Mutterschiff abgekoppelt und zum Abstieg
auf den Mond eingesetzt wurde. Auf einem derart kurzen Flug
war der austretende Dampf nicht stark genug, um die
Mondfähre von ihrem Kurs abzubringen. Im Verlauf des rund
380000 Kilometer langen antriebslosen Rückfluges zur Erde
konnte dieser kaum meßbare Rückstoß jedoch die Flugbahn
des Raumfahrzeugs durchaus so verändern, daß es vom
Wiedereintrittskorridor abkam.
Im Frühsommer veröffentlichte die Cortright-Kommission
den Bericht mit ihrer Feststellung, wobei man zerknirscht
einräumte, daß von Anfang an keiner dieser Fehler hätte
unterlaufen dürfen, aber auch andeutete, es habe sich lediglich
um technische Probleme gehandelt – immerhin habe die
NASA verhindern können, daß drei tote Astronauten mit ihrer
Kapsel auf ewig die Erde umkreisten.
Als der Bericht veröffentlicht wurde, stürzte man sich in
Houston förmlich darauf. Aber Jim Lovell, Jack Swigert und
Fred Haise waren nicht darunter. Zu dieser Zeit befanden sich
die Männer, die am unmittelbarsten von den Folgen eines
verschmorten Thermostats, eines nicht für hohe Temperaturen
ausgelegten Thermometers, eines geplatzten Tanks und eines
Dampf erzeugenden Sublimators betroffen waren, außer
Landes. Als letzte Aufgabe in Zusammenhang mit ihrer
Mission absolvierten sie im Auftrag der NASA eine Reise
durch fünf befreundete Staaten.
Sechs Monate nachdem die Besatzung von Apollo 13 von
ihrer Goodwilltour zurückgekehrt war, startete Apollo 14 – mit
verbesserten Thermostatschaltern, gut isolierten Drähten und
einem dritten Sauerstofftank ausgerüstet, der in einem eigenen
Rahmen im Versorgungsteil untergebracht war – zu den Fra-
Mauro-Bergen. Jim Lovell hielt sich während des Fluges
meistens in der Mission Control auf und sah mit
ausdrucksloser Miene zu, wie Al Shepard und Ed Mitchell ihre
Fußstapfen im Mondstaub hinterließen. Kurz danach verließ
Lovell, der bereits endgültig aus dem Kreis der für einen
Mondflug in Frage kommenden Astronauten ausgeschieden
war, das Apollo-Programm und stieg bei der Entwicklung des
neuen Space Shuttle ein, für das er zusammen mit den
Herstellerfirmen an der Konzeption des Armaturenbretts
arbeitete.
Lovell befand sich eines Nachmittags im Werk von
McDonnel Aircraft in St. Louis, studierte Baupläne und
Schalteranordnungen und prüfte Armaturenbrettattrappen, als
er den Kopf hob und sich langsam umblickte. Mit einem Mal
dämmerte ihm, daß er vor fünfzehn Jahren als junger Navy-
Mann aus Pax River in genau diesem Raum dazu beigetragen
hatte, das Armaturenbrett für die neue F4H Phantom zu
entwerfen. Nach einem erfüllten Pilotenleben mit zwei Flügen
in der Erdumlaufbahn und zwei weiteren zum Mond, so wurde
ihm mit einem Mal klar, hatte sich der Kreis geschlossen. An
diesem Abend stieg Jim Lovell in seine T-38 und kehrte
diesmal endgültig zu seiner Familie in Timber Grove zurück.

Kurz vor Mittag trafen am Heiligabend auch die übrigen


Familienmitglieder in Jim und Marilyn Lovells Haus in
Horseshoe Bay ein. Wie immer seit der Geburt des fünften,
sechsten und siebten Enkelkindes, ging es dabei lautstark zu.
Zuerst kam die sechzehnjährige Lauren herein, dann der
vierzehnjährige Scott und die neunjährige Caroline. Hinter
ihnen kamen Thomas, zwölf Jahre alt, Jimmy, acht, und John,
vier, durch die Tür gefegt. Ihnen wiederum folgten die bereits
völlig entnervten Eltern. Allie, das Baby, das sich gerade von
der Suche nach allen möglichen zerbrechlichen Gegenständen
im Haus ausruhte, wurde in Gegenwart so vieler Leute wieder
munter und krabbelte mitten hinein ins Getümmel. Es gab ein
allgemeines Hallo, Sack und Pack wurden fallengelassen, und
dann – Lovell hätte es voraussagen können – raste John, einer
seiner Enkel, zu seinem Arbeitszimmer. Soweit Lovell sich
erinnern konnte, hatte John bislang bei keinem Besuch der
Anziehungskraft dieses holzgetäfelten Raumes mit den
wunderbaren, ideal als Spielzeuge geeigneten Trophäen
widerstehen können. Und jedesmal hatte Lovell sich gefragt,
ob sein Enkel hinter dem ganzen Schnickschnack mehr als nur
Spielzeug sah.
Heute ließ Lovell John ein paar Minuten lang allein spielen
und ging erst dann hinter ihm her. John stand, wie schon so oft,
wieder vor dem Mondglobus in der einen Ecke des Zimmers.
Es war ein großer Globus, mit einem Durchmesser von über
einem Meter, auf dem die Mondoberfläche bis ins letzte
landschaftliche Detail genau dargestellt war. Fünfzehn kleine,
aufgeklebte Papierpfeile markierten darauf die Stellen, wo im
Laufe der Jahre bemannte oder unbemannte Raumfahrzeuge
gelandet waren: die amerikanischen Ranger- und die
sowjetischen Luna-Sonden, die amerikanischen Surveyor und
die russischen Lunochods – und natürlich die Apollos der
Amerikaner.
Auf Lovells Globus konnte man im Augenblick weder die
Pfeile noch irgendwelche Landschaftsmerkmale erkennen.
John ließ den Globus wie üblich kreiseln und versetzte ihm,
sobald er langsamer zu werden drohte, sofort wieder einen
Schubs. Lovell blieb stehen und betrachtete die Krater und die
Mares, die Berge und Schluchten, die verschwommen an ihm
vorüberflitzten, dann trat er hinter seinen Enkel. Er streckte
den Arm aus, bremste den Globus mit der flachen Hand ab und
führte den Jungen zum Fensterbrett, wo der Sextant aus der
»Aquarius« stand.
»John«, sagte der einstige Kommandant, »ich zeige dir etwas,
was dir gefallen wird.«
Hinter Lovell kam der Globus zum Stillstand. Einer der
kleinen Papierpfeile deutete genau auf den Fra-Mauro-Krater.
ANHANG

Missionsverlauf von Apollo 13

Flugzeit in Datum und Ereignis


(Std:Min:Sek) Zeit in
Houston
00:00:00 Sa. 11. April Start
13:13 Uhr
02:35:46 Sa. 11. April Einschuß in Bahn zum Mond
15:48 Uhr
30:40:50 So. 12. April Mittkurskorrektur zum
19:53 Uhr Verlassen der Freiflugbahn
55:11:00 Mo. 13. April Beginn der letzten
20:24 Uhr Fernsehübertragung
55:54:53 Mo. 13. April Sauerstofftank 2 explodiert
21:07 Uhr
57:37:00 Mo. 13. April Besatzung verläßt »Odyssey«
22:50 Uhr
61:29:43 Di. 14. April »Aquarius«-Antrieb gezündet;
02:42 Uhr Rückkehr auf Freiflugbahn
77:02:39 Di. 14. April Apollo 13 umfliegt Rückseite
18:15 Uhr des Monds
79:27:39 Di. 14. April »Aquarius «-Antrieb gezündet
20:40 Uhr für PC+2-Beschleunigung
Flugzeit in Datum und Ereignis
(Std:Min:Sek) Zeit in
Houston
86:24:00 Mi. 15. April Besatzung bastelt CO2-
03:38 Uhr Filterbehälter
97:10:05 Mi. 15. April Batterie Nummer 2 in der
14:23 Uhr »Aquarius« explodiert
105:18:28 Mi. 15 April »Aquarius«-Antrieb zu
22:31 Uhr Kurskorrektur gezündet
108:46:00 Do. 16. April »Aquarius« verliert Helium-
01:59 Uhr Preßgas
137:39:52 Fr. 17 April »Aquarius« zündet
06:52 Uhr Lagesteuerdüsen zur
Kurskorrektur
138:01:48 Fr. 17 April Versorgungsteil abgesprengt
07:14 Uhr
141:30:00 Fr. 17 April »Aquarius« wird abgetrennt
10:43 Uhr
142:40:46 Fr. 17 April Wiedereintritt beginnt
11:53 Uhr
142:54:41 Fr. 17 April Wasserung
12:07 Uhr
Bei Apollo 13 beteiligte Personen

John Aaron EECOM (Electrical and Environmental


Command Officer; Elektrizitäts- und
Nachrichten-Übertragungssystem-Offizier)
Arnie Aldrich System-Chef, Flugbetriebsleitung
Don Arabian Direktor, Flugbeurteilungsraum
Stephen Bales GUIDO (Guidance Officer; Lenk-Offizier)
Jules Bergman Wissenschaftlicher Sonderkorrespondent,
ABC News
George Bliss Unterstützungsingenieur des EECOM
Bill Boone FIDO (Flight Dynamics Officer;
Flugdynamik-Offizier)
Jerry Bostick FIDO
Vance Brand CAPCOM (Capsule Communicator;
Raumfahrzeug-Verbindungsmann) und
Astronaut
Dick Brown EECOM-Unterstützungsingenieur
Clint Burton EECOM
Gary Coen GNC (Guidance, Navigation and Control
Officer; Führungs- und Navigations-
Offizier)
Edgar Cortright Langley Research Center, NASA
Chuck Deiterich RETRO (Retro Fire Officer; Bremsraketen-
Offizier)
Brian Duff Direktor, Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit,
NASA
Charlie Duke Ersatzpilot für LEM bei Apollo 13; LEM-
Pilot bei Apollo 16
Charlie Dumis EECOM
Max Taget Direktor, Abteilung Entwicklung und
Konstruktion, Manned Spacecraft Center
Bill Fenner GUIDO
Bob Gilruth Direktor, Manned Spacecraft Center
Alan Glines INCO (Instrumentation and Communications
Officer; Instrumenten- und
Kommunikations-Offizier)
Jay Greene FIDO
Gerald Griffin Flugdirektor
Jerry Hammack Chef des Kapsel-Bergungsteams
Willard Hawkins SURGEON (Flugarzt)
Bob TELMU (Telemetry, Electrical, EVA
Hesselmeyer Mobility Unit Officer for the lunar modul;
für die Mondfähre zuständiger Telemetrie-
und Funküberwachungs-Offizier)
Tom Kelly Für die Mondfähre zuständiger leitender
Ingenieur, Grumman Aerospace
Joe Kerwin CAPCOM und Astronaut
Jack Knight TELMU
Chris Kraft Stellvertretender Direktor, Manned
Spacecraft Center
Gene Kranz Leitender Flugdirektor
Sy Liebergot EECOM
Hal Loden LEM-Flugkontrolloffizier(CONTROL)
Jack Lousma CAPCOM und Astronaut
Jim Lovell Kommandant bei Apollo 13
George Low Direktor, Abteilung Space and Flight
Missions
Glynn Lunney Flugdirektor
Ken Mattingly Ersatz-Kapselpilot bei Apollo 13; Kapselpilot
bei Apollo 16
Jim McDivitt Kommandant bei Gemini 4 und Apollo 9;
Leiter des Apollo-Programm-Büros
Bob McMurrey NASA-Protokoll-Offizier
Merlin Merritt TELMU
Thomas Paine NASA-Angestellter
Bill Peters TELMU
Dave Reed FIDO
Gary Renick GUIDO
Mel Richmond Bergungsoffizier
Ken Russell GUIDO
Phil Schaffer FIDO
Larry Sheaks Unterstützungsingenieur der EECOM
Sig Sjoberg Direktor, Flight Operations
Deke Slayton Direktor, Flight Crew Operations
Ed Smylie Chef der Abteilung Crew Systems; Erfinder
des Lithiumhydroxid-Adapters
Bobby Spencer RETRO
Bill Stoval FIDO
Bill Strable GNC
Larry Strimple CONTROL
Jack Swigert Kapselpilot bei Apollo 13
Ray Teague GUIDO
Dick Thorson CONTROL
Glenn Watkins Offizier für Antriebssysteme;
Unterstützungsingenieur für TELMU
John Wegener CONTROL
Tom Weichet RETRO
Terry White NASA-Offizier für Öffentliche
Angelegenheiten
Buck GNC
Willoughby
Milt Windler Flugdirektor
John Young Ersatzkommandant bei Apollo 13;
Kommandant bei Apollo 16
Die bemannten Apollo-Missionen

APOLLO 7
Besatzung: Wally Schirra, Kommandant Donn Eisele,
Kapselpilot Walt Cunningham, Pilot der
Mondfähre
Start: 11. Oktober 1968
Landung: 21. Oktober 1968
Auftrag: Erste Erprobung des Apollo-Versorgungs- und
Kommandoteils in der Erdumlaufbahn. Ohne
Mondfähre
APOLLO 8
Besatzung: Frank Borman, Kommandant Jim Lovell,
Kapselpilot Bill Anders, Pilot der Mondfähre

Start: 21. Dezember 1968


Landung: 27. Dezember 1968
Auftrag: Erster bemannter Flug in die
Mondumlaufbahn; nur Versorgungs- und
Kommandoteil.
APOLLO 9
Besatzung: James A. McDivitt, Kommandant David Scott,
Kapselpilot Rusty Schweickart, Pilot der
Mondfähre
Start: 3. März 1969
Landung: 13. März 1969
Auftrag: Erste Erprobung von Kommando- und
Versorgungsteil mit Mondfähre in der
Erdumlaufbahn
APOLLO 10
Besatzung: Tom Stafford, Kommandant
John Young, Kapselpilot Gene Cernan, Pilot der
Mondfähre
Start: 18. Mai 1969
Landung: 26. Mai 1969
Auftrag: Erste Erprobung von Kommando- und
Versorgungsteil mit Mondfähre in der
Mondumlaufbahn. Stafford und Cernan steuern
LEM bis auf 50000 Fuß (etwa 15000 Meter) an
den Mond heran
APOLLO 11

Besatzung: Neil Armstrong, Kommandant Michael Collins,


Kapselpilot Buzz Aldrin, Pilot der Mondfähre

Start: 16. Juli 1969


Landung: 24. Juli 1969
Auftrag: Erste Mondlandung. Armstrong und Aldrin
landen im Meer der Ruhe, und laufen 2 Stunden
und 31 Minuten auf dem Mond herum. Collins
bleibt mit Kommando- und Versorgungsteil in
der Umlaufbahn
APOLLO 12
Besatzung: Pete Conrad, Kommandant Dick Gordon,
Kapselpilot Alan Bean, Pilot der Mondfähre
Start: 14. November 1969
Landung: 24. November 1969
Auftrag: Zweite Mondlandung. Conrad und Bean landen
im Meer der Stürme, sammeln Gesteinsproben
und bergen Teile der unbemannten Mondsonde
Surveyor, die im April 1967 in der Nähe
gelandet war
APOLLO 13
Besatzung: Jim Lovell, Kommandant Jack Swigert,
Kapselpilot Fred Haise, Pilot der Mondfähre

Start: 13. April 1970


Landung: 17 April 1970
Auftrag: Versuch der dritten Mondlandung. Nach 55
Stunden, 54 Minuten und 53 Sekunden
explodiert ein Flüssigsauerstofftank; dadurch
Ausfall der Energie- und Atemluftversorgung in
Kommando- und Versorgungsteil. Besatzung
verläßt Kapsel und überlebt Flug bis wenige
Stunden vor der Landung im LEM; steigt dann
für Wiedereintritt in die Erdatmosphäre in
Kapsel um und trennt Mondfähre ab
APOLLO 14
Besatzung: Alan Shepard, Kommandant Stuart Roosa,
Kapselpilot Ed Mitchell, Pilot der Mondfähre
Start: 31. Januar 1971
Landung: 9. Februar 1971
Auftrag: Dritte Mondlandung. Shepard und Mitchell
setzen in der Fra-Mauro-Region auf, dem Ziel
von Apollo 13
APOLLO 15
Besatzung: Dave Scott, Kommandant Al Worden,
Kapselpilot Jim Irwin, Pilot der Mondfähre

Start: 26. Juli 1971


Landung: 7. August 1971
Auftrag: Vierte Mondlandung. Scott und Irwin setzen
am Hadley-Graben im Apennin-Gebirge auf.
Erste Erprobung des allradgetriebenen Mond-
Mobils
APOLLO 16
Besatzung: John Young, Kommandant Ken Mattingly,
Kapselpilot Charlie Duke, Pilot der Mondfähre
Start: 16. April 1972
Landung: 27. April 1972
Auftrag: Fünfte Mondlandung. Young und Duke landen
in den Cayley-Descartes-Bergen, fahren 27 km
mit dem Mond-Mobil und sammeln 96 Kilo
Mondproben
APOLLO 17
Besatzung: Gene Cernan, Kommandant Ron Evans,
Kapselpilot Harrison Schmitt, Pilot der
Mondfähre
Start: 7 Dezember 1972
Landung: 19. Dezember 1972
Auftrag: Sechste und letzte Mondlandung. Cernan und
Schmitt setzen im Taurus-Gebirge in der Nähe
des Littrow-Kraters auf, sammeln 110 Kilo
Mondproben und heben fünfundsiebzig
Stunden später nach drei Ausflügen wieder ab
Anmerkungen des Autors

Es ist eine der Ironien des historischen Journalismus, daß die


Wiedergabe eines Ereignisses, das einst für Schlagzeilen
sorgte, oftmals länger dauern kann als das eigentliche Ereignis.
Die Besatzung von Apollo 13 bereitete sich etwa zwei Jahre
lang auf den Flug zum Mond vor und war dann nur sechs Tage
unterwegs. Die Recherchearbeiten und das Schreiben von
Apollo 13 dauerten alles in allem nicht viel länger – etwa
zweieinhalb Jahre vom Beginn bis zur Fertigstellung des
Manuskripts –, aber sie dauerten länger.
Wie bei vielen derartigen Sachbüchern war einer der Autoren
an dem hier wiedergegebenen historischen Ereignis beteiligt;
anders als bei vielen derartigen Büchern jedoch ist Apollo 13 in
der dritten Person geschrieben. Hätten die Schlüsselereignisse
ausschließlich im Raumfahrzeug stattgefunden, wäre es
erzählerisch am sinnvollsten gewesen, den Bericht in der
ersten Person zu verfassen, aus der Sicht des Kommandanten
dieser Mission. Aber die an dem Flug beteiligten Männer und
Frauen vertraten einhellig die Meinung, daß die Geschichte
von Apollo 13 an vielen Schauplätzen stattgefunden habe. Aus
diesem Grund haben wir versucht, den Leser an möglichst
viele dieser Örtlichkeiten zu führen – in Fernsehstudios und
Konferenzzimmer, in Privatwohnungen, Hotels und Fabriken,
auf Schiffe, in Büros, Bereitschaftsräume und Laboratorien
und natürlich in die Mission Control und das Raumfahrzeug.
Ein solcher Gesamtüberblick schien nur bei einer Erzählung in
der dritten Person möglich.
Glücklicherweise gab es auch dreiundzwanzig Jahre nach
dem Flug von Apollo 13 noch eine reiche Hinterlassenschaft
an Papieren, Bandaufzeichnungen und ähnlichem. In den
Bibliotheken der NASA sind tausende Seiten Unterlagen und
etliche hundert Stunden Bandmitschnitte aufbewahrt, die sich
sowohl auf den Flug an sich als auch auf die anschließende
Untersuchung beziehen, und die uns dankenswerterweise alle
zugänglich gemacht wurden. Am hilfreichsten waren die
Mitschnitte und Abschriften der während des Fluges geführten
Gespräche, über das Netz des Flugdirektors, über Boden-Bord-
Funk und die diversen Anschlüsse zu den
Nebenkontrollräumen in der Mission Control. Oftmals ist
Lesen und Anhören dieser Wortwechsel von sich aus
spannend. Ebenso häufig jedoch verfallen die
Gesprächsteilnehmer in technischen Jargon. Daher haben wir,
obwohl die im Text zitierten und während des Fluges
entstandenen Funkgespräche unmittelbar aus den Bändern und
Abschriften übernommen wurden, in vielen Fällen
redaktionelle Veränderungen vorgenommen, komprimiert oder
der besseren Verständlichkeit und des Erzählflusses wegen
umgeschrieben. In keinem Fall aber wurde dadurch die
Bedeutung oder Aussage eines Gesprächs verändert. Andere in
diesem Buch vorkommende Dialoge, von denen es weder
schriftliche Unterlagen, noch Bandaufzeichnungen gab,
wurden durch Interviews mit mindestens einem –
normalerweise aber mehreren – der Hauptbeteiligten
rekonstruiert. Die Auskünfte bezüglich Jack Swigerts
Gedanken und Empfindungen wurden teils seinen schriftlichen
Hinterlassenschaften entnommen, teils stammen sie aus den
Erinnerungen der anderen Besatzungsmitglieder oder von
einem auf Band aufgezeichneten Interview, das kurz vor
seinem Tod geführt wurde, und das uns der Drehbuchautor und
Filmemacher Al Reinert großzügigerweise zur Verfügung
stellte.
Es versteht sich auch ohne große Worte – obgleich dies
nachlässig wäre –, daß wir ebenso wie die Astronauten, die
ihre Rückkehr einer ganzen Heerschar von Mitarbeitern
verdanken, in der Schuld etlicher Menschen stehen, die uns
ihre kostbare Zeit zur Verfügung stellten, damit Apollo 13
entstehen konnte. Viele dieser Menschen waren direkt und
persönlich am heroischen Geschehen während dieser
grauenhaften Woche im April 1970 beteiligt. Andere
erinnerten sich an Apollo 13 lediglich als historisches Ereignis,
waren aber weise genug, die Denkwürdigkeit des Vorfalles zu
erkennen.
Zur ersteren Gruppe zählen Eugene Kranz, Christopher Kraft,
Sy Liebergot, Gerald Griffin, Glynn Lunney, Milt Windler,
John Aaron, Fred Haise, Chuck Deiterich und Jerry Bostick,
denen wir zu besonderem Dank verpflichtet sind. Unschätzbare
Hilfe leisteten außerdem Don Arabian, Sam Beddingfield,
Collins Bird, Clint Burton, Gary Coen, Brian Duff, Bill Fenner,
Don Frenk, Chuck Friedlander, Bob Hesselmeyer, John
Hoover, Walt Kapryan, Tom Kelly, Howard Knight, Russ
Larsen, Hal Loden, Owen Morris, George Paige, Bill Peters,
Ernie Reyer, Mel Richmond, Ken Russell, Andy Saulietes, Ed
Smylie, Dick Snyder, Wayne Stallard, John Strakosch, Jim
Thompson, Dick Thorson, Doug Ward, Guenter Wendt und
Terry Williams.

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