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Alles, was der Fall ist

Dorothee Elmigers Roman »Schlafgänger« spielt mit der Freiheit der Kunst  VON TOBI A S L EH MK U HL

Was nicht alles der Fall ist: Es kann einem eines anderen armen Menschen mieteten. An Von all jenen nämlich ist in Schlafgänger
etwas auffallen oder auch einfallen, und gesunden Schlaf ist unter solchem Zeitdruck auch die Rede, denn um Grenzüberschreiter
manchmal überfallen einen sogar gewisse freilich nicht zu denken, höchstens an lichte geht es in den Sätzen, die Elmiger einem
Gefühle. Der Unfall wiederum ist die Initial­ Halbschlafvisionen: »und die Türme versan­ Logistiker, einer Schriftstellerin, einem Jour­
zündung für Robert Musils Roman Mann ken im Boden, und die Kontinente reichten nalisten in den Mund legt, Menschen, die
ohne Eigen­schaf ­ten, und der Abfall ist in Form ins Meer hinein, meine Augen öffneten und ebenfalls zwischen Europa, Afrika und Ame­
von Plastik für die Weltmeere ein großes Pro­ schlossen sich, als atmeten sie mitsamt dem rika unterwegs sind, zu Vorträgen zum Thema
blem. Sicher kann man auch einfach von ei­ Körper, als sei ich im Begriff, für lange Zeit »Der Akt des Fallens in der Literatur« etwa –
nem Dach fallen, wie der Künstler Bas Jan zu verschwinden«. allerdings mit gültigem Reisepass.
Ader es einmal in einem Video gezeigt hat, Ebenfalls im 19. Jahrhundert, genauer: Hier ist es vor allem der Logistiker, der
oder von einem Ast. Am Ende aber fällt man, im Jahr 1855 gründete ein gewisser Victor Probleme mit dem Schlaf hat. Die Schrift­
was »ja bekanntermaßen nicht ganz erklärt Considerant in Texas, auf dem Gebiet des stellerin wiederum muss sich den ja immer
und nach wie vor unabwendbar« ist, einfach in heutigen Dallas, eine Kolonie namens La Ré­ höchst zweideutigen Vorwurf gefallen lassen,
den Schlaf. So zumindest heißt es in Dorothee union. Hier sollte, inspiriert von den I­deen ihre Bücher handelten »von allem und von
Elmigers Buch Schlafgänger. Nach ihrem klug- Charles Fouriers, ein frühes sozialistisches
­ nichts«, eine knifflige Angelegenheit, in der
versponnenen Debüt Einladung an die Wag- Gesellschaftsmodell verwirklicht werden. Der Tat, so hat der Journalist ihr Werk zwar aus­
halsigen entwirft Elmiger hier, nicht minder Versuch scheiterte bald. Knapp hundert Jahre führlich studiert, die angekündigte Rezension
waghalsig, ein dichtes, mitunter undurch­ später wiederum wurde in dem niederlän­ jedoch nie in Angriff genommen: »Vielmehr
schaubar verwickeltes Geflecht von Stimmen dischen Ort Winschoten der bereits erwähnte bestätigten mich die gesammelten Passagen
– fernab aller Figurenpsychologie, unter Ver­ Künstler Bas Jan Ader geboren, ein Pionier in meiner Überzeugung, die journalistische
zicht auf eine klare Handlung und voll per­ der Video- und Konzeptkunst. Er starb 1975, Arbeit sei zwar wichtig, stelle aber in diesem
spektivischer Brechungen: »Nahe der Reuss in als er auf einem kleinen Segelboot den Atlan­ Augenblick eine unzureichende Re­a k­tion auf
Luzern wird der Festgenommene in eine Ne­ tik überqueren wollte. So war auch dies am die Verhältnisse dar.«
benstraße gezerrt und liegt dann auf dem As­ Ende einer der vielen von ihm vollzogenen Eine entschieden angemessenere Re­ a k­
phalt, während in der Küche das Wasser kocht, »Fälle«: ein Unfall eben. tion auf die Verhältnisse, die frappierende
dann der Tee aufgebrüht und zur Hälfte ge­ Was nun haben Bas Jan Ader, Victor Con­ Gleichzeitigkeit der Ereignisse, das Ne­ben­
trunken wird.« siderant und die sicher nicht nur historischen ein­a n­
der von Bootsflüchtlingen und Vor­
Den titelgebenden Schlafgängern auf je­ Schlafgänger gemeinsam? Wobei noch gar tragsreisenden, von Kunst und Literatur, von
den Fall fällt es äußerst schwer, in den Schlaf nicht die Rede war von denen, die nächtens Geschichte und Gegenwart, von allem eben,
zu fallen. Schlafgänger nämlich nannte man Flüsse und Wälder durchqueren, um heimlich was der Fall ist, ist sicher Schlafgänger von
Neuankömmlinge in den Großstädten des 19. Grenzen zu überschreiten, von den Flüchtlin­ Dorothee Elmiger.
Jahrhunderts, die noch nicht über die Mittel gen, die auf dem Weg nach Europa unsichere
verfügten, sich ein eigenes Bett zu leisten, und Boote betreten und nicht selten enden wie Bas Dorothee Elmiger: Schlafgänger
sich deswegen stundenweise hier und dort das Jan Ader: auf dem Grund des Meers. Roman; DuMont Verlag, Köln 2014; 142 S., 18,– €

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