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Nach »Unterwelt«, dem großen politischen Roman, hat Don De-

Lillo in »Körperzeit« die intimsten und elementarsten zwischen­


menschlichen Regungen genau beobachtet und unter die Haut
gehend dargestellt. Ein neues Meisterwerk des großen amerikani­
schen Autors.

Ein Mann und eine Frau, der Filmregisseur Rey und die Perfor­
mancekünstlerin Lauren, sitzen sich beim Frühstück in einem
Haus gegenüber. Jede alltägliche Bemerkung, jede kleine Bewe­
gung wird registriert. Es ist der Terror eines normalen Tages, der
Wahnsinn der Routine. An diese Routine, aber auch an die Nähe
und die Entfremdung erinnert sich Lauren, nachdem ihr Mann
sich umgebracht hat. Immer wieder hört sie ihre gemeinsamen,
auf Band aufgenommenen Gespräche ab, die Protokolle dieser
verstörenden Liebe. Ihre Einsamkeit teilt sie nun mit dem ge­
heimnisvollen Mr. Tuttle, einem irren kleinen Mann, den sie
schon vor Reys Tod durch das Haus hat geistern hören. Er wird
zum Spiegel und zum Echo ihrer Gespräche und ihres Lebens mit
Rey. Mit erbarmungsloser Selbstdisziplin entwickelt Lauren die
Choreographie eines Stücks, in das ihre Erinnerungen und die
Gespräche mit den beiden Männern, ihre tiefe Einsamkeit, einge­
hen. Allein stellt sie auf der Bühne in »Körperzeit« Vergangen­
heit, Gegenwart und Zukunft in verschiedenen stummen Rollen
dar und wächst durch die Aufführung über ihre Erfahrungen hin­
aus.
»Körperzeit« ist ein stilistisch eigenwilliger und intensiver
Roman, der Don DeLillo von einer völlig neuen Seite zeigt. Das
Buch erscheint gleichzeitig weltweit.

Don DeLillo, 1936 in New York geboren, hat ein umfangreiches,


mit bedeutenden Preisen ausgezeichnetes erzählerisches Werk
vorgelegt.
»Körperzeit« wurde übersetzt von Frank Heibert, geboren
1960. Er übersetzt aus dem Englischen, Französischen, Italieni­
schen und Portugiesischen.
Don DeLillo

Körperzeit

Ein Roman

Aus dem Amerikanischen


von Frank Heibert

Kiepenheuer & Witsch


Non-profit-ebook by tg

März 2004

Kein Verkauf!

1. Auflage 2001

Titel der Originalausgabe: The Body Artist

Copyright ©2001 by Don DeLillo

Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

© 2001 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie. Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche

Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektroni­

scher Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln

Umschlagfoto: Rudolf Linn. Köln

Gesetzt aus der Times

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Druck und Bindearbeit: Spiegel Buch, Ulm

ISBN 3-462-02973-8

KAPITEL 1

Die Zeit scheint zu vergehen. Die Welt geschieht, entrollt


sich zu Augenblicken, und du hältst inne, betrachtest eine
Spinne in ihrem Netz. Das Licht ist hellwach, die Kontu­
ren der Dinge sind wie gestochen, und auf der Bucht lie­
gen funkelnde Bänder. Du weißt besser, wer du bist, am
kraftvoll strahlenden Tag nach dem Sturm, wenn noch
das kleinste fallende Blatt von Selbstgewissheit durch­
bohrt ist. In den Kiefern tönt der Wind, die Welt beginnt
zu sein, unwiderruflich, und die Spinne reitet auf ihrem
windgewiegten Netz.

Es ergab sich an diesem letzten Morgen, dass sie gleich­


zeitig dort in der Küche waren, umeinander stolperten,
wenn sie etwas aus Schränken und Schubladen holten,
und dem anderen dann am Spülstein oder Kühlschrank
den Vortritt ließen, immer noch ein bisschen traumzer­
schmolzen, und sie ließ Leitungswasser über eine Hand
voll Blaubeeren laufen und sog mit geschlossenen Augen
den aufsteigenden Duft ein.
Er saß hinter der Zeitung, im Kaffee rührend. In seinem
Kaffee, in seiner Tasse. Die Zeitung teilten sie sich, aber
eigentlich war es, unausgesprochen, ihre.
»Ich wollte dir was sagen, aber was.«
Sie ließ Leitungswasser laufen und schien es zu bemer­
ken. Zum ersten Mal bemerkte sie es.
»Mit dem Haus. Das ist es«, sagte er. »Was ich dir sa­
gen wollte.«

Sie bemerkte, wie das Wasser aus der Leitung nach ein
paar Sekunden undurchsichtig wurde. Erst lief es silbrig
und klar, und dann wurde es nach ein paar Sekunden un­
durchsichtig, wie seltsam, dass sie all diese Monate, all
diese Male, wenn sie in der Küche Leitungswasser laufen
ließ, nicht bemerkt hatte, dass das Wasser erst klar lief
und dann, nun, nicht gerade trüb, aber doch undurchsich­
tig wurde, aber vielleicht war es vorher gar nicht so ge­
wesen, oder sie hatte es bemerkt und wieder vergessen.
Sie ging hinüber an den Schrank, die nassen Blaubee­
ren in der Hand, griff hoch nach dem Müsli und nahm die
Schachtel mit an den Küchentresen, die weitgehend
braun-weiße Schachtel, und dann ploppte das Toaster­
ding hoch, und sie drückte es wieder runter, weil man
zweimal drücken musste, damit das Brot braun wurde,
und er nickte geistesabwesend, weil es sein Toast war
und seine Butter, und dann schaltete er das Radio ein,
den Wetterbericht.
Die Spatzen waren am Futtertrichter, flügelschlagend,
auf den kreisförmigen Sitzstangen rangelnd.
Sie holte eine Schale aus dem näher gelegenen
Schrank, schüttete Müsli aus der Schachtel hinein und
streute die Blaubeeren oben drauf. Sie rieb sich die Hand
an den Jeans trocken und spürte irgendwo die Farbe
Blau, zerlaufen und blass.
Wie heißt das, der Hebel. Sie hatte den Hebel runterge­
drückt, damit sein Brot braun wurde.
Es war sein Toast, es war ihr Wetter. Sie hörte oft den
Wetterbericht und rief den Wetterdienst an, und manch­
mal stand sie draußen vorm Haus und schaute in den Kü­
stenhimmel, schmeckte die Brise nach verborgenen An­
deutungen ab.

»Ja genau. Ich weiß, was es war«, sagte er.


Sie trat zum Kühlschrank und öffnete die Tür. Stand
da, als ihr etwas einfiel.
Sie sagte: »Was?« Meinte: Was hast du gesagt?, nicht:
Was wolltest du mir sagen?
Ihr waren die Sojakörner eingefallen. Sie ging zum
Schrank und holte die Schachtel und erwischte die Kühl­
schranktür noch, bevor sie wieder zufiel. Sie griff hinein,
nach der Milch, und dann erst kam an, was er vor unge­
fähr acht Sekunden gesagt hatte, was sie zuerst nicht ge­
hört hatte.
Immer wenn sie sich bücken und in die tieferen, hinte­
ren Teile des Kühlschranks greifen musste, stieß sie ein
Ächzen aus, nein, nicht immer, das wie die Klage eines
ganzen Lebens klang. Sie war zu fit und geschmeidig, um
die Anstrengung zu spüren, war nur Reys Echo, fühlte
sich ein, ächzte sein Ächzen, aber so nahtlos und tief,
dass auch ihr Unbehagen darin lag.
Nun, da ihm eingefallen war, was er ihr hatte sagen
wollen, schien er das Interesse daran zu verlieren. Sie
brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, sie wusste es auch
so. Es lag in der Luft. Es lag in der Pause im Kielwasser
seiner Bemerkung vor acht, zehn, zwölf Sekunden. Etwas
Belangloses. Er würde es wie eine Selbstdegradierung
auffassen, etwas derart Banales anzusprechen.
Sie ging an den Tresen und streute Soja über Müsli und
Früchte. Der Hebel prallte oder prellte hoch. Er stand auf
und holte sich seinen Toast, dann die Butter, und sie
musste sich, ihre Milchtüte in der Hand, vom Tresen
wegdrehen, damit er die Schublade aufziehen und ein
Buttermesser nehmen konnte.
Im Radio ertönten Stimmen in … hörte sich wie Hindi

an.
Sie goss Milch in die Schale. Er setzte sich hin und
stand wieder auf. Er ging an den Kühlschrank, holte den
Orangensaft und stand mitten im Raum, die Tüte schüt­
telnd, damit das Fruchtfleisch sich verteilte und der Saft
dicker wurde. Er dachte immer erst an den Saft, wenn der
Toast fertig war. Dann schüttelte er die Tüte. Dann goss
er den Saft ein und betrachtete das Häubchen aus kni­
sterndem Schaum oben im Glas.
Sie klaubte sich ein Haar aus dem Mundwinkel. Sie
stand am Tresen und starrte es an, ein kurzes blasses
Haar, das nicht von ihr stammte und nicht von ihm.
Er stand da und schüttelte den Saft. Er schüttelte länger
als nötig, weil er nicht darauf achtete, dachte sie, und
weil es irgendwie dumpf und harmlos befriedigend war,
ein kindischer Selbstzweck, das Rumpeln und Plätschern
und Papporangenaroma.
Er sagte: »Willst du welchen?«
Sie starrte das Haar an.
»Sag’s mir, ich bin nicht sicher. Trinkst du Saft?«, er
schüttelte das verdammte Ding immer noch, zwei Finger
um die Öffnung geklemmt.
Sie schabte mit den oberen Schneidezähnen über ihre
Zunge, um die komplexe Sinneserinnerung vom Haar
eines anderen Menschen loszuwerden.
Sie sagte: »Was? Nie getrunken, das Zeug. Weißt du
doch. Wie lange leben wir jetzt zusammen?«
»Nicht lange«, sagte er.
Er nahm ein Glas, goss den Saft ein und betrachtete den
aufsteigenden Schaum. Dann setzte er sich ächzend wie­
der hin.
»Nicht lange genug, um mir alle Einzelheiten zu mer­

ken«, sagte er.


»Ich denke immer, das darf doch hier nicht passieren.
Irgendwo sonst, denke ich, aber nicht hier.«
»Was?«
»Ein Haar im Mund. Vom Kopf eines anderen.«
Er butterte seinen Toast.
»Denkst du, das passiert nur in großen Städten mit ge­
mischter Bevölkerung?«
»Irgendwo sonst, aber nicht hier.« Sie hielt das Haar
zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete es mit
gespieltem Abscheu, oder mit echtem, den sie bis an die
Grenze zum Theater getrieben hatte, den Mund läh­
mungsschief verzogen. »Das denke ich.«
»Vielleicht trägst du es schon seit deiner Kindheit mit
dir herum.« Er kehrte zur Zeitung zurück. »Hattest du als
Kind einen Hund?«
»Hey. Was hat dich denn aufgeweckt?« sagte sie.
Es war ihre Zeitung. Das Telefon war seins, außer
wenn sie den Wetterdienst anrief. Den Computer benutz­
ten sie beide, aber geistig war es ihrer.
Sie stand am Tresen und betrachtete das Haar. Dann
schnippte sie es weg, auf den Boden. Sie wandte sich zur
Spüle, ließ heißes Wasser über ihre Hand laufen und
stellte die Müslischale auf den Tisch. Vögel flogen auf,
als sie in die Nähe des Fensters kam.
»Ich habe dich schon literweise Saft trinken sehen,
Wahnsinnsmengen, ich kann’s gar nicht sagen«, sagte er.
Ihr Mund war immer noch verzerrt von der Erfahrung,
am unbekannten Leben irgendeines Essensverarbeiters
teilzuhaben, oder von einer viel seltsameren, komplizier­
teren Tatsache, dem intimen Weg des Haares von
Mensch zu Mensch und gewissermaßen von Mund zu

Mund über Jahre und Städte und Krankheiten und unhy­


gienisches Essen und viele Verderben bringende Körper­
flüssigkeiten.
»Was? Wohl kaum«, sagte sie.
Gut, sie stellte die Schale auf den Tisch. Sie ging zum
Herd, nahm den Kessel und füllte ihn an der Spüle. Er
suchte einen anderen Radiosender und sagte etwas, das
sie nicht mitbekam. Sie stellte den Kessel wieder auf den
Herd, denn so lebst du ein Leben, auch wenn du es nicht
merkst, und dann schabte sie wieder mit den Zähnen über
ihre Zunge, bewusst nachdrücklich, und betrachtete die
blau aus dem Brenner schießende Flamme.
Sie hatte sich klappmesserartig vom Tresen abwenden
müssen, als er das Buttermesser holen kam.
Sie ging zum Tisch, und die Vögel rauschten wieder
vom Futtertrichter auf. Sie kamen aus dem Schatten unter
der Dachrinne und flogen in Sonnengleißen und Stille
hinein, ein flüchtiger Vorgang von stummer Schönheit,
den sie nur teilweise sah, die Vögel waren von der Sonne
erschlagen, vom Licht verschlungen, entkörperlicht, ver­
wandelt: rein und jäh und splitterhell.
Sie setzte sich hin, blätterte die Teile der Zeitung durch
und merkte, sie hatte keinen Löffel. Sie hatte keinen Löf­
fel. Sie schaute Rey an und sah, dass seitlich auf seinem
Kinn ein Pflaster prangte.
Sie benutzte den alten, verbeulten Kessel anstelle des
neuen, den sie gerade gekauft hatte, weil – sie wusste
nicht warum. Es war ein altes Holzhaus mit vielen Zim­
mern und funktionierenden Kaminen und Tieren in den
Wänden und Schimmel überall, ein Haus, das sie unge­
sehen gemietet hatten, ein Relikt aus der Blütezeit von
Holzhandel und Schiffsbau, viel zu groß, und es gab

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knarrende Dielenbretter und diverse verbogene Küchen­


utensilien von anno dazumal.
Sie tat, sich selbst veräppelnd, als fiele sie fast vom
Stuhl, und ging zum Tresen, um sich einen Löffel zu ho­
len. Die Sojakörner nahm sie auch mit zum Tisch. Sie
hatten einen Geruch, der nicht zu dem sandigen Zeug in
der Schachtel zu gehören schien. Ein schwacher Wei­
zenmief mit einem Hauch Füße dabei. Jedes Mal, wenn
sie davon aß, roch sie es. Sie schnüffelte zwei oder drei
Mal daran.
»Hast dich wieder geschnitten.«
»Was?« Er fuhr sich mit der Hand ans Kinn, sein Kopf
hinter der Zeitung verschwunden. »Nur eine Schramme.«
Sie begann, eine Geschichte aus ihrem Teil der Zeitung
zu lesen. Die Zeitung war alt, von letztem Sonntag, aus
der Stadt, weil sie hierher nicht zugestellt wurde.
»Das ist in letzter Zeit, ich weiß nicht, vielleicht solltest
du dich nicht als Erstes rasieren. Wach doch erst mal auf.
Warum überhaupt? Lass dir deinen Schnurrbart wieder
wachsen. Oder einen Vollbart.«
»Warum überhaupt? Es muss einen Grund geben«, sag­
te er. »Ich will, dass Gott mein Gesicht sieht.«
Er schaute von der Zeitung auf und lachte, leer, wie sie
es nicht mochte. Sie aß etwas Müsli und schaute sich eine
andere Geschichte an. In letzter Zeit neigte sie dazu, sich
in bestimmte Zeitungsgeschichten hineinzuversetzen.
Eine Art Tagtraum-Variation. Sie tat es und merkte dann,
dass sie es tat, und tat es manchmal ein paar Minuten
später von neuem, mit derselben oder einer anderen Ge­
schichte, und merkte es dann wieder.
Sie griff nach der Sojaschachtel, ohne von der Zeitung
aufzuschauen, und streute ein paar Körner in die Schale,

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und im Radio lief Verkehr und Gerede.


Anscheinend ging es darum, dass sie erst mal den alten
Kessel verschleißen musste, ihn noch und noch benutzen,
bis sich Rostblasen darin bildeten, und dann, nur dann
würde sie es in Ordnung finden, den neuen Kessel zu
nehmen, den sie gerade gekauft hatte.
»Musst du Radio hören?«
»Nein«, sagte sie und las Zeitung. »Was?«
»Das ist eine so unglaubliche Scheiße.«
Wie er das scharfe S in Scheiße betonte und das Wort
damit veredelte.
»Ich hab das Radio nicht eingeschaltet. Du hast das
Radio eingeschaltet«, sagte sie.
Er ging zum Kühlschrank und kehrte mit einer großen,
dunklen Feige zurück und schaltete das Radio ab.
»Gib mir was davon«, sagte sie Zeitung lesend.
»Das sollte kein Vorwurf sein. Wer hat eingeschaltet,
wer hat abgeschaltet. Da ist aber jemand heikel heute
Morgen. Dabei müsste eigentlich ich, wie soll ich sagen,
auf Abwehr eingestellt sein. Nicht die junge Frau, die bis
in alle Ewigkeit essen und schlafen und leben wird.«
»Was? Hey Rey. Halt den Mund.«
Er biss den Stiel ab und warf ihn Richtung Spüle. Dann
schlitzte er die Feige mit beiden Daumennägeln auf,
nahm ihr den Löffel aus der Hand, leckte ihn ab und hol­
te damit eine Portion weinrotes Fruchtfleisch aus der
klaffenden Feigenschale. Er klatschte das Zeug auf sei­
nen Toast – Frucht, Fleisch, Mansch – und verschmierte
es mit der Unterseite des Löffels, blutbuttrige Schlieren,
platzendvoll mit Samenleben.
»Eigentlich müsste ich morgens der Empfindliche sein.
Der herumstöhnt. Das Grauen eines neuen Durch­

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schnittstages«, sagte er durchtrieben, »das kennst du noch


nicht.«
»Halt mal die Luft an, ja?«
Sie beugte sich vor, er streckte ihr das Brot hin. In den
Bäumen am Haus saßen Krähen, rau kreischend. Sie biss
ab und schloss die Augen, um über den Geschmack
nachdenken zu können.
Er gab ihr den Löffel zurück. Dann schaltete er das Ra­
dio ein, erinnerte sich, dass er es gerade abgeschaltet hat­
te, und schaltete es wieder ab.
Sie streute Soja in die Schale. Der Geruch lag irgendwo
zwischen Körpergeruch, jawohl, von den unteren Glied­
maßen, und einem authentischen Hülsenfruchtleben in
der Erde, tief und saatig. Aber das traf es nicht. Sie las in
der Zeitung einen Artikel über ein Kind, ausgesetzt in
irgendeinem gottverlassenen. Nichts traf es. Purer Ge­
ruch. Das, was Geruch ausmacht, abgesehen von seinen
Ursprüngen. Es war, als ob, und beinahe hätte sie etwas
in dieser Richtung gesagt, weil es Rey hätte gefallen
können, aber dann ließ sie es bleiben – es war, als ob ein
Gelehrter, sagen wir: im Mittelalter, versucht hätte, alle
bekannten Gerüche zu klassifizieren, und auf etwas ge­
stoßen wäre, das nicht in sein System passte, und das
hätte er Soja genannt, was durchaus ein Teil eines hoch­
trabenden lateinischen Begriffs sein konnte, oder nein,
eigentlich nicht, und sie saß da und dachte an etwas, was
genau, wusste sie nicht recht, Löffel knapp vorm Mund.
Er sagte: »Was?«
»Ich habe nichts gesagt.«
Sie stand auf, um etwas zu holen. Sie schaute den Kes­
sel an und merkte, das war es nicht. Sie wusste, es würde
ihr einfallen, denn das tat es immer, und dann fiel es ihr

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ein. Sie wollte Honig für ihren Tee, obwohl das Wasser
noch gar nicht kochte. Sie hatte etwas Über-Vorbereitetes
oder Überdrehtes oder Überreiztes, und Rey sagte immer,
vielmehr, hatte einmal gesagt, und sie hatte eine Stimme
im Kopf, die ihre eigene war, im Dialog oder Monolog,
und sie trat an den Schrank, aus dem sie den Honig und
die Teebeutel holte – eine Stimme, die aus einer Ge­
schichte in der Zeitung drang.
»Wolltest du mir nicht etwas sagen?«
Er sagte: »Was?«
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schlüpfte
vorbei, auf ihre Seite des Tisches. Die Vögel rauschten
vom Futtertrichter auf, mit einem Flügelwirbel aus lauter
B’s und R’s, dem Buchstaben B folgte eine Reihe Vibra­
to-R’s. Aber das war es überhaupt nicht. Nicht im Ent­
ferntesten.
»Du hast etwas gesagt. Ich weiß nicht. Das Haus.«
»Belanglos. Vergiss es.«
»Ich will es aber nicht vergessen.«
»Es ist belanglos. Lass es mich mal anders ausdrücken.
Es ist langweilig.«
»Sag’s mir trotzdem.«
»Es ist zu früh. Es strengt an. Es ist langweilig.«
»Du sitzt da und redest. Sag’s mir«, sagte sie.
Sie aß etwas Müsli und las die Zeitung.
»Es strengt an. Es ist wie was. Es ist, als müsste man
einen Felsblock bewegen.«
»Du sitzt da und redest.«
»Hier«, sagte er.
»Du hast gesagt, das Haus. Nichts über das Haus ist
langweilig. Ich mag das Haus.«
»Du magst alles. Du liebst alles. Du bist mein trautes

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Heim. Hier«, sagte er.


Er gab ihr, was von seinem Toast übrig war, und sie
kaute es, vermengt mit Müsli und Beeren. Plötzlich
wusste sie, was er ihr hatte sagen wollen. Sie hörte die
Krähen, ganz viele jetzt, sie lärmten in den Bäumen,
schikanierten vermutlich einen Falken.
»Sag’s mir einfach. Dauert bloß eine Sekunde«, sagte
sie und wusste ganz genau, was es war.
Sie sah, wie er an die Brusttasche fuhr, dann zögerte
und die Hand zur Tasse sinken ließ. Es war sein Kaffee,
seine Tasse und seine Zigarette. Ein Vorfall, in der Zei­
tung beschrieben, wie er aus den tintigen Druckzeilen
aufzusteigen und sie hineinzuziehen schien. Du teilst die
Sonntagszeitung auf.
»Sag’s mir doch einfach. Weil ich es eh weiß.«
Er sagte: »Was? Du willst unbedingt diese Sache aus
mir rausholen. Ein Glück, dass wir normalerweise nicht
zusammen frühstücken. Weil meine Morgende.«
»Ich weiß es eh. Also sag’s mir.«
Er schaute in die Zeitung.
»Du weißt es. Na prima. Dann muss ich’s dir nicht sa­
gen.«
Er las, fast schon so weit, seine Zigaretten zu holen.
Sie sagte: »Das Geräusch.«
Er schaute sie an. Er schaute. Dann schenkte er ihr sein
großes Lächeln, die Goldzähne im großen olivdunklen
Gesicht. Das hatte sie seit einiger Zeit nicht gesehen, das
vergrößerte Lächeln, in dem sich plötzlich Rey zeigte,
seine Augen klar und hell, tief eingegrabene Spuren um
den Mund.
»Die Geräusche in den Wänden. Ja. Du hast meine Ge­
danken gelesen.«

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»Es war ein Geräusch. Es war ein Geräusch«, sagte sie.


»Und es war nicht in den Wänden.«
»Ein Geräusch. Na gut. In letzter Zeit habe ich es nicht
gehört. Das wollte ich sagen. Es ist weg. Vorbei. Ende
der Durchsage.«
»Stimmt. Nur, dass ich es gestern gehört habe, glaube
ich.«
»Dann ist es nicht weg. Gut. Ich freue mich für dich.«
»Das Haus ist alt. Es gibt immer ein Geräusch. Aber
das hier ist was anderes. Nicht diese verfluchten Tiere,
die wir nachts herumpoltern hören. Oder das Haus, das
sich setzt. Ich weiß nicht«, sagte sie und wollte nicht be­
sorgt klingen, »als wäre da was.«
Sie las Zeitung, die Stimme versickerte.
»Gut. Ich bin froh«, sagte er. »Du brauchst Gesell­
schaft.«
Du teilst die Sonntagszeitung auf, endlose identische
Druckzeilen mit Menschen, die irgendwo in den Worten
leben, und die seltsame, zurückgehaltene Wirklichkeit
von Papier und Druckerschwärze driftet eine Woche lang
durch das Haus, und wenn du eine Seite anschaust und
eine Zeile von der nächsten unterscheidest, zieht sie dich
hinein, um die halbe Welt werden Menschen gefoltert,
die eine andere Sprache sprechen, und du unterhältst dich
mehr oder weniger unkontrollierbar mit ihnen, bis du
merkst, dass du das tust, und dann hörst du auf und
siehst, was gerade vor dir steht, zum Beispiel ein halb
volles Glas Saft in der Hand deines Mannes.
Sie aß etwas Müsli und vergaß es zu schmecken. Sie
verlor den Geschmack irgendwo zwischen dem Augen­
blick, als sie den Löffel in den Mund schob, und der Se­
kunde des Bedauerns, als sie es hinunterschluckte.

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Er stellte das Saftglas ab. Er nahm die Schachtel aus


der Brusttasche und steckte sich eine Zigarette an, die
Zigarette, die er zu seinem Kaffee rauchte, seit er zwölf
war, wie er ihr erzählt hatte, und er ließ das Streichholz
ein Stück abbrennen, bevor er es in meditativer Zeitlupe
ausschüttelte und an seinen Tellerrand legte. Sie fand das
angenehm, den Tabakgeruch. Er gehörte für sie zu sei­
nem Körper. Er war die Aura des Mannes, ein Rückstand
von Rauch und ungebrochener Gewohnheit, eine Dimen­
sion in der Nacht, und sie leckte ihn von den gekräuselten
grauen Haaren auf seiner Brust und schmeckte ihn in
seinem Mund: Das war Rey im Dunkeln, Zigaretten und
Brummelschlaf und hundert andere Dinge, benennbar
oder nicht.
Aber es war nicht von ihm, das Haar, das sie in ihrem
Mund gefunden hatte. Personal muss vor Verlassen der
Toilette Hände waschen. Es war sein Toast, aber sie hatte
fast die Hälfte davon gegessen. Es war sein Kaffee, seine
Tasse. Berührst du seine Tasse, blinzelt er dich scheel
von der Seite an, so rituell wie ein Boxer beim Berühren
der Handschuhe vor dem Kampf. Aber das hatte sie sich
jetzt ausgedacht, sie wusste es, denn es war ihm scheiß­
egal, was man mit seiner Tasse machte. Es gab genug
Tassen, die er benutzen konnte. Das Telefon war seins.
Die Vögel waren ihre, die nach den Sonnenblumenker­
nen pickenden Spatzen. Das Haar war von jemand ande­
rem.
Er sagte etwas über sein Auto, den Meilenstand, wild
fuchtelnd. Er steuerte, dirigierte gern längere Bemerkun­
gen mit der Hand, ein paar Finger ausgestreckt.
»Gestern habe ich den ganzen Tag gedacht, es wäre
Freitag.«

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Er sagte: »Was?«
Oder du wirst zu jemand anderem, zu einem der Men­
schen in den Geschichten, führst ausgedachte Dialoge.
Manchmal wirst du zu einem Mann, lebst zwischen den
Zeilen, in einer anderen Version der Geschichte.
Sie dachte und las. Sie tastete nach der Sojaschachtel,
und ihre Hand traf die Safttüte. Sie schaute hoch und
erkannte, dass er gar nicht Zeitung las. Er schaute hin, las
aber nicht, und da begriff sie rückwirkend, dass er die
ganze Zeit nur hingeschaut, die Worte auf der Seite aber
nicht aufgenommen hatte.
Die Safttüte blieb aufrecht stehen. Sie streute noch ein
bisschen Soja in die Schale, für Körnigkeit und langes
Leben.
»Gestern habe ich den ganzen Tag gedacht, es wäre
Freitag.«
Er sagte: »Und, war es das?«
Ihr fiel noch ein zu lächeln.
Er sagte: »Na wenn schon, ist doch egal.«
Sie hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und sie
beinah weiter, zärtlich über den Nacken ins Haar gescho­
ben, aber dann doch nicht.
»Ich mein ja bloß. Wie kann denn Donnerstag wie Frei­
tag erscheinen? Wir sind aus der Stadt weg. Wir sind aus
dem Kalender raus. Der Freitag sollte hier gar keine
Identität haben. Will noch wer Kaffee?«
Sie goss ihren Tee auf und verharrte am Herd, wartete,
ob er ja oder nein sagen würde. Als sie zurückgehen
wollte, sah sie einen Blauhäher, der auf dem Futtertrich­
ter hockte. Sie bremste abrupt und hielt den Atem an. Er
stand groß und glänzend da und wirkte königlich distan­
ziert von den anderen Vögeln, die emsig fraßen, und fast

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war ihr, als hätte sie noch nie einen Häher gesehen. Rie­
sig stand er da, schaute zu ihr herein, sah, was immer er
sah, und sie hätte Rey am liebsten gesagt, er solle hoch­
schauen.
Sie beobachtete den Häher, die schwarzen Streifen quer
über Flügel und Schwanz, und irgendwie, dachte sie,
hatte sie erst jetzt gelernt, wie man schaut. Noch nie hatte
sie etwas so deutlich gesehen, und nicht bloß, weil der
Häher da hockte, wo er war, so nah, dass sie die Einzel­
heiten von Federkrone und Färbung erkennen konnte.
Schockklar seine Erscheinung unter den kleineren, bräun­
lichen Vögeln, sein mineralisches Blau und gedämpftes
Blau und sein breites, dunkles Kehlband. Doch wenn Rey
aufschaute, würde der Vogel wegfliegen.
Sie versuchte sich über die Details hinaus zu dem Vo­
gel selbst vorzuarbeiten, dem Nesträuber und geschickten
Nachahmer, zu dem starren Interesse in seinen Augen,
das, forschend-eisig, wie eine Herausforderung wirkte.
Wenn Vögel in Häuser hineinschauen, was für unmög­
liche Welten sehen sie. Stell dir vor. Eine Entblößung
jeder erdenklichen Oberfläche, jedes Vorgangs. Ihr gefiel
der Gedanke, der Vogel sähe sie, eine Frau mit Teetasse
in der Hand, einen Raum im Abseits der Zeit, ganz
gleich, ob sich Tag oder Nacht darüberlegte. Sie schaute
und holte behutsam Luft. Die Klarheit des Augenblicks
war ihr scharf bewusst, aber sie begriff, dass er schon zu
Ende ging. Sie merkte es dem Blauhäher an. Oder viel­
leicht auch nicht. Sie führte es selbst herbei, weil sie
nicht länger hinschauen konnte. So muss es sein, endlich
zu sehen, nachdem man sein Leben lang nahezu blind
gewesen ist. Sie sagte etwas zu Rey, der leicht die Hand
hob, was den Häher verjagte, die Spatzen aber nicht ver­

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schreckte.
»Hast du ihn gesehen?«
Er wandte sich für die Antwort halb um.
»Sehen wir die nicht die ganze Zeit?«
»Nicht die ganze Zeit. Und nie so nah.«
»Nie so nah. Na gut.«
»Er hat mich angesehen.«
»Er hat dich angesehen.«
Sie stand an derselben Stelle, neben seiner linken
Schulter. Als sie zu ihrem Stuhl ging, flogen die Spatzen
auf.
»Er hat mich beobachtet.«
»Und jetzt ist dein Tag gerettet?«
»Jetzt ist mein Tag gerettet. Meine Woche. Und wer
weiß was noch.«
Sie trank ihren Tee und las. Fast alles, was sie las, ließ
sie träumen.
Sie schaltete das Radio ein und drehte langsam von
Sender zu Sender, las Zeitung, versuchte, den Wetterbe­
richt im Radio zu finden.
Er trank seinen Kaffee aus und rauchte.
Sie saß über ihrer Schale Müsli. Sie schaute an der
Schale vorbei in einen Raum hinein, einen Raum in ih­
rem Kopf und zugleich hier, vor ihr.
Sie faltete einen Teil der Zeitung zusammen und las ein
oder zwei Zeilen und las noch ein bisschen oder auch
nicht, nippte an ihrem Tee und ließ sich treiben.
Das Radio brachte eine Meldung über eine Rakete, die
unter mysteriösen Umständen unterirdisch in Montana
explodiert war, und sie bekam nicht mit, ob es eine
Atomrakete gewesen war oder nicht.
Er rauchte und schaute nach rechts aus dem Fenster,

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wo eine ungemähte Wiese zu dem zerfurchten Feldweg


hin abfiel, der zu einer Schotterstraße führte.
Sie las und ließ sich treiben. Sie war hier und dort.
Im Tee war kein Honig. Sie hatte das Honigglas unge­
öffnet neben dem Herd stehen lassen.
Er sah sich nach einem Aschenbecher um.
Sie unterhielt sich mit dem Arzt aus einem Zeitungsar­
tikel.
Erst kamen zwei Meilen Schotter, bevor man die as­
phaltierte Straße erreichte, die in die Stadt führte.
Sie nahm die Feige von seinem Teller, steckte einen
Finger hinein und pulte nach Fleisch.
Eine Stimme meldete das Wetter, aber sie verpasste es.
Sie merkte erst, dass es das Wetter war, als es vorbei war.
Er ließ den Kopf weit zurücksinken und rollte ihn lang­
sam von links nach rechts, um seinen verspannten Nak­
ken zu lockern.
Sie lutschte an einem Finger ihrer Feigen pulenden
Hand und überlegte, was sie einkaufen mussten.
Er schaltete das Radio ab.
Sie trank ihren Tee und las. Sie sah sich mehr oder we­
niger mit einem Arzt irgendwo im Busch reden, daneben
hungernde Menschen im Staub.
Die Zigarette brannte in seiner Hand herunter.
Sie nahm die Sojaschachtel, hielt sie sich schräg vors
Gesicht und roch hinein.
Als er hinausging, wurde ihr bewusst, dass sie ihm et­
was sagen wollte.
Manchmal fällt ihr erst ein, was sie ihm sagen will,
wenn er aus dem Zimmer geht, egal, in welchem sie ge­
rade sind. Dann fällt es ihr ein. Dann ruft sie ihm entwe­
der hinterher oder lässt es, und er reagiert oder lässt es.

21

Sie saß da, trank ihren Tee aus und dachte, was sie
dachte, an Erinnerungsspuren und aufflackernde Bilder
und eine Freundin, die sie vermisste, all das schattenflek­
kige Zeug eines unteilbaren Augenblicks, wenn an einem
normalen Alltagsmorgen der übliche menschliche Wahn­
sinn herrscht, dass man auf schier gar nichts mehr achtet,
außer auf das Ajax, das gekauft werden muss, und die
Vögel hinter ihr, die am Metallgestell des Futtertrichters
rütteln.
Ist das dämlich, beim Essen Zeitung zu lesen.
Sie sah ihn in der Tür stehen.
»Hast du meine Schlüssel gesehen?«
Sie sagte: »Was?«
Er wartete, bis die Frage angekommen war.
»Welche Schlüssel?«
Er schaute sie an.
Sie sagte: »Gestern habe ich eine Lotion gekauft. Woll­
te ich dir noch sagen. Zum Einreiben der Muskeln. In
einer grün-weißen Tube auf dem Regal im großen Bade­
zimmer oben. Sie ist ohne Fett. Zum Einreiben der Mus­
keln. Reib dich damit ein, mein Schatz. Oder sag schön
bitte-bitte, dann tu ich’s für dich.«
»Meine Schlüssel sind alle an einem Ring«, sagte er.
Beinahe hätte sie gesagt, ist das so klug? Aber dann
ließ sie es. Weil wie sinnlos. Wie kleinlich wäre es, so
was zu sagen, morgens oder sonst wann, an einem kraft­
voll strahlenden Tag nach dem Sturm.

22

Rey Robles, 64,

Filmpoet einsamer Orte

Rey Robles, der Regisseur von zwei weltberühmten Fil­


men aus den späten siebziger Jahren, wurde am Sonn­
tagmorgen in Manhattan tot aufgefunden, in der Woh­
nung seiner ersten Frau, der Typberaterin Isabel Corrales.
Nach Auffassung der Polizei war die Todesursache ei­
ne selbst beigebrachte Schusswunde.
Mr. Robles’ Berichte über die erste Hälfte seines Le­
bens waren widersprüchlich, doch glaubwürdige Ein­
schätzungen Dritter lassen vermuten, dass er zum Zeit­
punkt seines Todes 64 Jahre alt war.
Er wurde als Alejandro Alquezar in Barcelona geboren.
Ein biographischer Abriss in der Zeitschrift Cahiers du
Cinéma besagt, dass sein Vater, Arbeiter in einer Textil­
fabrik und militanter Antifaschist, bei den heftigsten
Straßenkämpfen des spanischen Bürgerkriegs in Barcelo­
na ums Leben kam. Der Artikel bringt Belege dafür, dass
Alejandro als kleiner Junge zu den spanischen »Kriegs­
kindern« gehörte, die von ihren Familien in die Sowjet­
union geschickt wurden, als die rechtsgerichtete Diktatur
in Spanien Wirklichkeit zu werden drohte.
Unklar ist, wie viele Jahre er in der UdSSR verbracht
und ob er seine Mutter jemals wieder gesehen hat. Be­
kannt ist, dass er als junger Mann in Paris lebte und sich
als Müllmann, Straßenjongleur und Kleindarsteller in
einigen Filmen Geld verdiente, in denen er Diebe oder
Zuhälter spielte. Zu jener Zeit nahm er den Namen Rey
Robles an, nach einer Nebenrolle, die er in einem obsku­
ren Film noir spielte.

23

Er verbrachte einige Jahre in New York, untertitelte ein


paar spanischsprachige und russische Filme, dann ging er
an die Westküste und arbeitete als livrierter Chauffeur in
Los Angeles. In Hollywood trat er gelegentlich am Rande
in Erscheinung, als Statist in einem halben Dutzend Strei­
fen. Seine erste Chance auf der anderen Seite der Kamera
bekam er, nachdem er der persönliche Chauffeur eines
Multimillionärs geworden war, eines Zementfabrikanten
aus Liechtenstein, der große Summen in internationale
Filmprojekte investierte. Nach eigenen Angaben hatte
Mr. Robles eine Affäre mit der Gattin dieses Mannes und
überredete sie, ihm eine Stelle als Regisseur des zweiten
Drehteams bei einem Italo-Western zuzuschustern, der in
Spanien gedreht werden sollte.
Zehn Jahre später, beim Filmfestival von Cannes, teilte
Rey Robles dem begeisterten Publikum mit: »Die Ant­
wort auf die Fragen des Lebens ist der Film.«
Er hat bei insgesamt acht Spielfilmen Regie geführt.
Der dritte, Mein Leben für deins, eine französisch­
italienische Koproduktion über eine reiche Frau, die von
korsischen Gangstern gekidnappt wird, erhielt in Cannes
die Goldene Palme. Danach folgte Polaris, ein spannen­
der amerikanischer Krimi mit diskreten Anleihen beim
spanischen Surrealismus. Der Film erwarb Kultstatus und
lief lange in diversen Programmkinos hier zu Lande und
im Ausland.
»In seinen Sternstunden erweiterte er die Filmsprache«,
schrieb der Kritiker Philip Stansky. »Sein Thema sind
Menschen in Landschaften der Entfremdung. Was ihn
geistig an- und umtrieb, war die Poesie fremdartiger Or­
te, wo Extremsituationen unvermeidlich sind und die
Figuren lebensentscheidende Erfahrungen machen, ob sie

24

wollen oder nicht.«


Seine späteren Filme waren kommerzielle Misserfolge
und fielen auch bei der Kritik weitgehend durch. Freunde
schreiben Mr. Robles’ Niedergang Alkoholismus und
sporadischen Depressionen zu. In dieser Zeit heiratete er
die Bühnenschauspielerin Anna Langdon. Bald darauf
trennten sie sich wieder, begleitet von grellen Schlagzei­
len in der britischen Revolverpresse, und ließen sich ir­
gendwann scheiden.
Rey Robles hinterlässt seine dritte Frau, Lauren Hartke,
die Performancekünstlerin.

25

KAPITEL 2

Der Tag ist dunstigweiß, und der Highway führt in einen


ausgelaugten Himmel. Vier Spuren Richtung Norden,
und du fährst in der dritten, Autos vor und hinter dir und
links und rechts, doch nicht zu viele, nicht zu nah. Als du
die Höhe erreichst, geschieht etwas, mit einem Mal be­
wegen sich die Autos ohne Hast voran, scheinen
selbstgetrieben und geschmeidig über die glatte Bahn zu
rollen. Alles ist langsam, dunstig und entleert, und alles
geschieht rund um das Wort scheinen. Alle Autos, auch
deins, scheinen in unverbundener Bewegung zu strömen,
erwecken den Eindruck, den Anschein, und über den
Highway läuft ein weißes Brausen.
Dann vergeht die Stimmung. Alles ist wieder laut und
hektisch und verwischt, und du schlüpfst in dein Leben
zurück, spürst in der Brust die schmerzende Last.
Sie sah diese Tage als erste Tage der Rückkehr.
An den ersten Tagen der Rückkehr füllte sie die Spei­
sekammer wieder auf und besprühte die Badezimmerka­
cheln mit Putzmitteln. Es gab eine geräumige Speise­
kammer, einen dunklen, muffigen Raum hinter der Kü­
che, und sie musste nicht aufgefüllt werden. Sie säuberte
und füllte die Futtertrichter, gestaltete ihren Tag um eine
größere Sache mit all ihren Fallen und Stricken, mit ih­
rem Angebot an wimmelnden Varianten. Sie besprühte
Kacheln und Keramik mit fichtennadelduftenden Mitteln,
halb süchtig nach den Dämpfen. Der Mietvertrag galt
noch zwei Monate. Sie hatten für sechs Monate gemietet,

26

und jetzt waren noch zwei übrig. Ein Mensch, zwei Mo­
nate. Sie benutzte eine Flasche mit aufgeschraubtem Pi­
stolengriff.
Es fühlte sich wie zu Hause an, hier zu sein, und sie
stürmte durch die Tage mit ihren kleinen, entrückenden
Gewohnheiten, immergleiche Tage, abgeschritten und
verplant, aber zugleich verhangen, ohne Mitte, an man­
chen Stellen leer, Tage, die so langsam vergingen, dass
es wehtat.
Sie betrachtete die Seiten, an denen sie mit Rey gearbei­
tet hatte, seine frisierte Autobiographie. Da war das Manu­
skript, spröder, als er erzählt hatte, fand sie, spröder als
seine Erinnerungen voller Ausschmückungen und überra­
schender Wendungen, und die Verzweiflungszustände, die
hinter diesen Geschichten steckten, hatte sie nicht immer
begriffen. Sie fingerte sich durch die Kleider, die er im
Schlafzimmerschrank zurückgelassen hatte. Die Dinge,
die ein Toter zurücklässt, erdrückten sie nicht, und sie
legte die Kleider in eine Kiste für die Bedürftigen.
Wenn sie unten war, spürte sie ihn in den Zimmern im
ersten Stock. Dort war er gern herumgetigert, in einen
winzigen Kassettenrekorder sprechend, das Gesicht vom
Rauch umhüllt, und hatte Anmerkungen zu irgendeinem
öden Skript diktiert, Anmerkungen an einen Autor, des­
sen Name ihm nie einfiel. Jetzt war er, Rey, der Rauch,
der Dunstschwaden in der Luft, der früher oder später bis
in den letzten Winkel zog, formlos, aber mit einem Ge­
sicht, das irgendwie zu seiner Präsenz gehörte, unver­
wechselbar der herumtigernde Mann.
Sie stieg die Treppe hoch, hörte das Geräusch, das ein
die Treppe hochsteigender Mensch macht, und berührte
die Eichenkörnung des Geländerpfostens, als sie oben

27

ankam.
Ach, schon gut. Sie wollte hier sein, und es würde ihr
schon gut gehen. Ihre ganze Ehe, all die Zeit ihres Zu­
sammenlebens hatten sie hier gelebt.
Ihr Körper fühlte sich anders an, aber sie verstand
nicht, inwiefern. Angespannt, eingespannt, sie wusste es
nicht genau. Etwas fremd und unvertraut. Anders, dün­
ner, egal.
Auf einem der Regale in der Speisekammer lag eine
Packung Semmelbrösel. Sie wusste, irgendwo hatte sie
Wachspapier gesehen, die Schachtel war blau und noch
was. Auf solche Dinge kam es jetzt an. Mahlzeiten,
Pflichten, Besorgungen.
Langsam ging sie durch die Zimmer. Sie spürte ihn
hinter sich, wenn sie sich auszog, barfuß auf dem kalten
Boden stand, einen schmuddligen Pullover abstreifte, und
sie drehte sich halb zum Bett um.
An den ersten Tagen der Rückkehr war sie einmal aus
dem Auto gestiegen und beinahe zusammengebrochen –
nicht der große Zusammenbruch aller wichtigen Körper­
funktionen, nur ein kleines, hilfloses Zu-Boden-Sinken,
als hätte sie vergessen, wie man aufrecht steht.
Sie überlegte, ein Kotelett zu braten, sehr bewusst al­
lein, sie beobachtete sich mehr oder weniger aus einer
Ecke des Zimmers oder stand genau da, wo sie stand,
war, wer sie war, und sah sich kleiner irgendwo in der
Luft schweben, im Glauben, es wäre schon der nächste
Tag.
Sie wollte in Reys Rauch verschwinden, tot sein, er sein,
und sie riss das Wachspapier ab, an der gezackten Kante
entlang, und griff nach der Schachtel Semmelbrösel.
Als das Telefon klingelte, schaute sie es nicht an, wie

28

es immer im Kino geschieht. Wirkliche Menschen schau­


en klingelnde Telefone nicht an.
Das Wachspapier löste sich rattaratsch von der Rolle,
glitt über die gezackte Kante, und ihr war, als hörte sie es
an ihrer Wirbelsäule entlang.
Sie dachte sich immer schon in den nächsten Tag hin­
ein. Sie plante die Tage im Voraus. Sie saß in dem getä­
felten Zimmer. Sie stand in der Wanne und besprühte die
Kacheln im hohen Bogen, bis der infame Fichtennadel­
dunst aus Säure und Äther sie allmählich in die Knie
zwang. Es fiel schwer, den Sprühknopf loszulassen.
Sie verbrannte sich die Hand an der Pfanne und ging
sofort zum Kühlschrank, und dann war kein Eis in dem
verdammten. Sie hatte das verdammte Eis-Ding nicht
aufgefüllt.
Die Leute gehen dran, wenn das Telefon klingelt, oder
sie lassen es. Sie hörte zu, wie es klingelte. Es schallte
durchs Haus, bei allen Nebenanschlüssen rasselten die
Hörer auf den Gabeln.
Wie absolut seltsam erschien es ihr plötzlich, dass gro­
ße Firmen Semmelbrösel massenproduzierten und ver­
packten und überall auf der Welt verkauften, und zum
ersten Mal betrachtete sie die Semmelbrösel-Schachtel
richtig, sah sie wirklich und begriff, was darin war,
Semmelbrösel nämlich.
Sie saß in dem getäfelten Zimmer und versuchte zu le­
sen. Zunächst hatte sie im Kamin Feuer gemacht. Dieses
Zimmer war mit einem Drang zum Höheren entworfen
worden, zu Brandy und Kaminfeuer, ein misslungenes
Zimmer, unmöglich möbliert, und sie trank Tee und ver­
suchte, ein Buch zu lesen. Aber sie arbeitete sich durch
eine Seite hindurch und starrte dann gleichgültig ins Leere,

29

auf irgendwelche Gegenstände dort.


An den ersten Tagen der Rückkehr aß sie eine höllische
Muschel und verbrachte einige Stunden damit, ständig
auf die Toilette zu rasen. Doch zumindest hatte sie ihren
Körper zurück. Es gibt nichts Besseres als eine wüste
Scheißerei, dachte sie, um Geist und Körper zu vereinen.
Sie stieg die Treppe hoch und hörte sich irgendwie von
anderen Teilen des Hauses aus.
Sie streifte einen schmuddligen Pullover ab. Sie streck­
te einen Arm aus dem Pullover und stieß leicht mit der
Hand an etwas, fragte sich, was es war, obwohl ihr das
schon früher passiert war, und dann fiel ihr die Hänge­
lampe wieder ein, der wackelnde Metallschirm, diese
Lampe, die vollkommen falsch für dieses Zimmer war,
und sie drehte sich zum Bett um, schaute hin, schaute
halb hin, schaute nicht erwartungsvoll, sondern irgend-
wie anders – der Grund, allzu flüchtig, blieb ihr unklar.
Es gab viel zu viele Dinge zu verstehen, doch am Ende
eigentlich nur eines.

In der Stadt sah sie eine weißhaarige Frau, eine Japane­


rin, allein auf einem Steinweg vor ihrem Haus. Sie hielt
einen Gartenschlauch, stand schwerelos unter drücken-
dem Himmel da, flach und reglos, fast wie Geschenkpa­
pier, goss scharlachroten Phlox, und aus der Düse sprühte
weicher Regen.
Manches, was sie sah, erschien ihr fraglich – nicht frag­
lich, eher ständig verwandelt, in Metamorphose versun­
ken, etwas ist gleichzeitig auch etwas Anderes, aber was
und was?
Sie ging wieder ans Telefon. Zunächst sprach sie mit
leiser Stimme, nicht ganz ihrer eigenen, der schiefe Ver­

30

such einer anderen Stimme, die hallo sagt, wer ist da, ja.
Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass sie hier
war, die Anrufe kamen aus New York, wo sie lebte, und
von Freunden und Kollegen in anderen Städten. Sie rie­
fen aus ihren Städten an, um ihr zu sagen, dass sie nicht
verstünden, warum sie hierher zurückgekehrt sei. Das sei
doch der allerletzte Ort, an dem sie sein sollte, allein in
einem großen Haus an einer leeren Küste, und sie ging
durch die Zimmer und stieg die Treppe hoch und plante
die Tage im Voraus, denn sie hatte mehr zu tun und we­
niger Zeit jetzt, da das Licht unter Druck geriet. Man
schaute hin, und schon war es dunkel, stets überraschend.
Jeden Morgen wachte sie früh auf, das war die
schlimmste Zeit, der erste mörderische Augenblick, im
Bett zu liegen und sich an etwas zu erinnern und im sel­
ben Atemzug zu wissen, was es war.
Sie riefen fünf oder sechs Mal am Tag an und dann et­
was weniger, und sie dachte an die japanische Frau, ein
wunderschönes und schwieriges Wesen, falls sie über­
haupt Japanerin ist, gießt ihren Garten, wenn es nach
Regen aussieht.
Sie nahm die klapprige Blechfähre nach Little Moon,
wo man nur über einen matschigen Weg zum anderen
Ende der Insel laufen konnte, vorbei an windgeschüttel­
ten Häusern und einer Kirche, der der Kirchturm fehlte,
ein Marsch von vierzig Minuten zu einem verlassenen
Kunsthandwerkszentrum, Quilts und Holzschnitzereien
vielleicht und ganz sicher Töpferware, und dann zügig
wieder zurück. Die Fähre hatte einen Fahrplan, und
schon das war ein Grund, sie ab und zu zu nehmen.
Der Plan lautete, die Zeit zu organisieren, bis sie wie­
der leben konnte.

31

Als die ersten Tage der Rückkehr vorbei waren, fing sie
mit ihren Atemübungen an. Denn sie musste ihre Körper­
arbeit wieder aufnehmen, das geregelte Leben aus Kat­
zenstreckung und methodischer Verrenkung. Sie arbeite­
te von der Wirbelsäule nach außen, kroch auf allen vieren
über den Boden, und bei jedem Blutandrang spürte sie
ihre zurückzuckende Aorta. Sie machte Kopfstand und
Nackenabrollen. Sie streckte die Zunge heraus und he­
chelte in knapp bemessenen Zeitabschnitten, von ihrer
inneren Uhr bemessen, mit einer Genauigkeit, die sie bis
in die Knochen spürte, zwischen denen ihre Bandschei­
ben rattaratsch am Rückgrat entlangklackten.
Aber die Welt war in ihr verloren gegangen.
Nachts war der Himmel ganz nah, ausgebreitet in Ster­
nenrauch und Gamma-Kataklysmen, aber sie sah ihn
nicht mehr so wie früher, als Verlängerung der Seele, als
stummes gutturales Wunder, als etwas im ältesten Teil
von ihr, das außerhalb der Sprache lebte.
Sie hörte keinen Wetterbericht mehr. Sie nahm das
Wetter, wie es kam, eiskalter Regen und böige Tage und
große, geduckte Felsen auf abschüssigen Feldern, Clan-
Abzeichen gleich, im Puls von Gewittern, Geschichten
und Zeit. Sie hackte Kaminholz. Sie verbrachte Stunden
am Computerbildschirm, vor der Live-Übertragung einer
Videokamera am Rand einer zweispurigen Straße in einer
finnischen Stadt. In Kotka/Finnland war es mitten in der
Nacht, und sie starrte auf den Bildschirm. Sie fand das
interessant, weil es jetzt geschah, während sie davor saß,
und weil es vierundzwanzig Stunden am Tag geschah,
gesichtslos – Autos, die nach Kotka reinfuhren und wie­
der raus, oder einfach die leere Straße in den toten Stun­
den. Die toten Stunden waren am besten.

32

Sie saß da und starrte auf den Bildschirm. Das war fas­
zinierend für sie, real genug, um den Umstand auszuglei­
chen, dass nichts passierte. Das Ganze lebte von diesem
Umstand. In Kotka war es drei Uhr morgens, und sie
wartete darauf, dass ein Auto kam – nicht dass sie dar­
über nachgedacht hätte, wer darin saß. Allein, dass es
Kotka gab. Das Gefühl von Organisiertheit, von dem
festgelegten Ausschnitt eines Ortes, so wie er ist und wie
man ihn betrachtet, mit der digitalen Anzeige der Ortszeit
in einer Ecke des Bildschirms. Kotka war eine andere
Welt, aber sie konnte sie in ihrer ganzen Realität sehen,
den Stunden, Minuten und Sekunden.
Sie stellte sich vor, dass jemand dazu onanierte, wenn
mitten in der Nacht auf der Straße nach Kotka ein Auto
auftauchte. Das fand sie zum Lachen. Sie hackte Kamin­
holz. Jeden Tag hielt sie sich Zeit für die Webcam in
Kotka frei. Sie wusste nicht, was diese Live-Übertragung
bedeuten sollte, nahm sie aber als einen Akt schwebender
Poesie. Am besten in den toten Stunden. Das machte ih­
ren Kopf leer und ließ sie die tiefe Stille anderer Orte
spüren, das Mysterium, über die Welt hinweg auf einen
anderen Ort zu schauen, dem nichts geblieben war als
eine Straße, die näher kam und sich wieder zurückzog,
zwei simultane Wirklichkeiten, und in dem digitalen
Display sprangen die Zahlen mit merkwürdiger, hohler
Dringlichkeit um, die Sekunden näherten sich der Minu­
te, die Minuten klommen zur Stunde empor, und sie saß
da und schaute zu, wartete auf ein Auto, das auf dieser
Landstraße flüchtige Gestalt annähme.

33

Ihre Freundin Mariella rief an, eine Autorin aus New


York.
»Geht es dir gut?«
»Was soll ich sagen?«
»Ich weiß nicht. Bist du denn einsam?«
»Es müsste ein anderes Wort dafür geben. Jeder ist ein­
sam. Das hier ist etwas anderes.«
»Aber findest du nicht. Ich weiß nicht. Es wäre einfa­
cher.«
»Diese Art von Gespräch solltest du mit jemand anders
führen. Ich weiß nicht, wie man so ein Gespräch führt.«
»Wenn du dich nicht so abkapseln würdest. Du musst
doch vertraute Menschen und Dinge um dich haben. Al­
lein, das ist nicht gut. Ich weiß, was du für ihn empfun­
den hast. Und wie verheerend. Gott. Aber du willst dich
doch nicht in dir verkriechen. Ich weiß auch, dass du ein
entschlossener Mensch bist. Du hast einen starken Wil­
len, auf deine heimlich-unheimliche Art. Aber du musst
dich aus dieser Sache hinausbegeben, nicht hinein. Ver­
kriech dich nicht.«
»Erzähl mir, was du gerade machst.«
»Mich voll fressen. Aus dem Fenster gucken«, sagte
Mariella. »Mit dir reden.«
»Was isst du?«
»Möhren.«
»Das ist doch kein Vollfressen.«
»Das ist Aushungern. Ich weiß. Einige seiner frühen
Werke werden im Film-Forum gezeigt. So lange hast du
ihn nicht gekannt. Das könnte ein Plus sein.«

Am Morgen hörte sie das Geräusch. Es war genauso un­


verkennbar wie beim ersten Mal, vor etwa drei Monaten,

34

als sie und Rey nach oben gegangen waren, um nachzu­


schauen. Er vermutete ein Eichhörnchen oder einen
Waschbären, der nicht mehr rauskonnte. Sie hielt das
Geräusch für eine kalkulierte List. Es hatte etwas Wohl­
dosiertes. Sie hielt es nicht für ein Tiergeräusch. Es hatte
fast eine intime Wirkung, als wäre da etwas, atmete die­
selbe Luft wie wir und bewegte sich genauso wie wir. So
war dieses Geräusch, ein Körper im Hohlraum, aber als
sie nachschauten, war niemand da.
Sie war in der Küche, als sie es diesmal hörte. Sie
nahm ihren Tee mit nach oben. Die Zimmer am Ende des
Flurs im ersten Stock. Der dämmrige zweite Stock, wo
die Glühbirnen kaputt, die meisten Möbel abgeräumt
waren. Die kleine Treppe zur Kuppel. Sie schaute in die
Stille, drehte den Kopf hin und her, reckte den Oberkör­
per in den Aufbau hinein, der ziemlich breit war und als
Abstellraum genutzt wurde. Als sie schließlich am Fuß
der Kuppel stand, war ihr Tee kalt. Sie stöberte in alten
Kleidern herum, die in Pappkisten gestapelt lagen, be­
trachtete alte, brüchig gewordene Papiere in Ledermap­
pen. Es gab eine ausgestopfte Eule und einen Stoß unge­
rahmter, schlimm gewellter Aquarelle. Gleich vor dem
Fenster, sah sie, drehte sich ein Blatt. Ein kleines gelb­
braunes Blatt, und es drehte sich in der Luft unter einem
Ast, der sich über das Dach streckte. Nichts deutete auf
ein Larvengespinst hin, an dem das Blatt vielleicht hing,
oder auf ein Büschel Nestbaumaterial von einem Vogel.
Nur das wirbelnde Blatt in der Luft.
Sie fand ihn am nächsten Tag in einem kleinen Zim­
mer, das von dem großen leeren Raum am äußersten En­
de des Flurs im zweiten Stock abging. Er war ziemlich
klein und zartgliedrig, und zuerst dachte sie, das ist ein

35

Kind mit sandblondem Haar, gerade aus dem Tiefschlaf


geholt oder vielleicht unter Tabletten.
Er saß in Unterwäsche auf der Bettkante. Gleich in den
ersten Sekunden dachte sie, kein Entrinnen. Sie tastete
sich rückwärts durch die Zeit zu den früheren Anzeichen,
dass noch jemand im Haus war, und am Ende landete sie
untrüglich wieder bei diesem Augenblick, und ihre
Wahrnehmung war lückenlos und klar bestätigt.

36

KAPITEL 3

Sie sah ihn an.


»Sag’s mir. Du bist schon lange hier?«
Er hob den Kopf nicht. Etwas an ihm war so seltsam,
dass sie ihre Worte hörte, die vorhersagbar und platt in
der Luft hingen. Sie verspürte keine Angst. Er hatte et­
was von einem Findling – Fundsache: verloren, gefunden
–, und sie war wohl der Finder.
»Du bist schon hier«, sagte sie, sprach deutlich, setzte
für jedes Wort neu an.
Er sah sie an und wirkte auf einmal älter, der bloße Akt
des Kopfhebens, ein einfaches Zucken von Kinn und
Augen, das in aller Geringfügigkeit entscheidend für sei­
ne Verwandlung war – älter und etwas feucht, glänzend
auf Stirn und Wangen.
Er sagte etwas.
Sie sagte: »Was?«
Seine Unterwäsche bestand aus weißen Shorts und ei­
nem T-Shirt, das ihm zu groß war, und sie musterte ihn
von Kopf bis Fuß, unverblümt, überall.
»Es ist nicht im Stande«, sagte er.
»Aber warum bist du hier? Und du bist schon lange
hier?«
Er ließ den Kopf sinken und schien über diese Angele­
genheiten nachzudenken, als tüftelte er an den Einzelhei­
ten eines komplizierten Problems.

37

Sie standen draußen, nicht weit vom oberen Ende des


abschüssigen Feldes, und beobachteten ein Hummerboot,
das durch die weißen Schaumkronen pflügte. Sie hatte
ihm aufgewärmte Suppe und etwas Brot, etwas Toast, zu
essen gegeben. Man musste das Ding zweimal runter­
drücken, damit das Brot richtig getoastet wurde.
»Was siehst du?« Sie zeigte in Richtung Boot und vor­
rückende Wolkenlinie.
»Die Bäume sind einige von ihnen«, sagte er.
»Biegen sich. Schaukeln im Wind. Das sind Birken.
Die weißen. Die heißen Papierbirken.«
»Die weißen.«
»Die weißen. Aber hinter den Bäumen.«
»Hinter den Bäumen.«
»Da draußen«, sagte sie.
Er schaute eine Zeit lang.
»Es regnete sehr viel.«
»Es wird regnen. Es wird bald regnen«, sagte sie.
Er trug eine Windjacke und eine Arbeitshose und wirk­
te unglücklich hier draußen. Sie versuchte, ihn nicht un­
ter Druck zu setzen, um etwas herauszubekommen. Sie
fand die Distanz interessant, das Stockende seines Spre­
chens und Handelns, das Autodidaktische, seine anschei­
nende Unbekümmertheit über sein weiteres Schicksal.
Nicht Apathie oder Gleichgültigkeit, dachte sie, sondern
seine begrenzte Fähigkeit, die Konsequenzen zu ermes­
sen. Sie war sich nicht sicher, was es für ihn bedeutete, in
einem fremden Haus gefunden zu werden.
Der Wind blies jetzt schärfer, und sie wandten sich ab.
Aus Spaß spielte sie mit der Vorstellung, er wäre aus dem
Cyberspace gekommen, in tiefster Nacht von ihrem Com­
puterbildschirm herabgestiegen. Aus Kotka/Finnland.

38

Sie sagte: »Nicht: Es regnete. Es wird regnen.«


Er bewegte sich unsicher durch den Raum, drinnen und
draußen, als wäre die Luft verbogen und verdellt. Sie
beobachtete, wie er seitwärts ins Haus tappte, leicht
schlurfend. Vielleicht fürchtete er zu schweben. Sie
konnte nicht aufhören, ihn zu beobachten.
Es war immer als ob. Er tat dies oder das als ob. Sie
brauchte irgendeinen anderen Bezug, um ihn einzuord­
nen.

Sie saßen in dem düsteren, getäfelten Zimmer unter


Drucken mit Segelschiffen. Das Telefon klingelte. Er
betrachtete die verkohlten Scheite, die im Kamin zu­
sammengefallen waren, das Feuer von gestern Abend,
und sie beobachtete ihn. Die Bücher auf den unteren Re­
galen waren größtenteils Sommerlektüre, wie man sie in
Ferienhäusern findet, Bücher, die zu ihrer Rolle passen,
mit verblassten Umschlagillustrationen anderer Häuser in
anderen Sommern, oder Almanache oder Atlanten, mit
einem ausgebleichten Streifen am oberen Rand der höhe­
ren Bücher.
Sein Kinn war eingesunken, hochgradig fliehend, was
seinem Gesicht ein unfertiges Aussehen gab, seine Haare
waren drahtig und verfitzt, voll abstehender Knäuel.
Sie musste sich konzentrieren, um diese Züge wahrzu­
nehmen. Sie schaute ihn an und musste erneut hinschau­
en. Sein Äußeres entzog sich irgendwie von einem Au­
genblick zum anderen, sein Körper drückte kaum etwas
aus.
Sie flüsterte: »Rede mit mir.«
Er saß mit ungeschickt gekreuzten Beinen, ein Hosen­
bein war an seiner Wade hochgerutscht, und sie konnte

39

sehen, dass er ein Stück Bindfaden oben um seine Socke


geknotet hatte, damit sie nicht rutschte. Da musste sie an
jemand anders denken.
»Rede mit mir. Ich rede doch«, sagte er.
Sie glaubte zu verstehen, was er damit meinte. In sei­
nem Tonfall schwang Resignation mit, Mühsal ohne En­
de – Andeutungen, die er ihr nicht ohne weiteres ver­
ständlich machen konnte, ganz gleich, wie viel er sagen
würde. Selbst in seinen Bewegungen schien er um etwas
zu ringen. Sie wusste, sie würde Krankenhäuser und Kli­
niken anrufen müssen, psychiatrische Einrichtungen, um
sich nach einem vermissten Patienten zu erkundigen.
Der Regen traf klopfend und platschend auf die Fen­
sterscheiben, kleine, zählbare Tropfen, und dann war er
überall, prallte aufs Dach der Sonnenveranda und füllte
die Fallrohre, und sie setzten sich hin und hörten zu.
Sie sagte: »Wie heißt du?«
Er sah sie an.
Sie sagte: »Ich bin hierher gekommen, um allein zu
sein. Das ist mir wichtig. Ich bin bereit zu einiger Ge­
duld. Du hast die Chance, mir zu sagen, wer du bist. Aber
ich will niemanden in meinem Haus haben. Du hast die
Chance«, sagte sie, »aber ewig warte ich nicht.«
Es sollte nicht wie eine regelrechte Drohung klingen,
aber wahrscheinlich tat es das doch. Sie würde das
nächstgelegene Obdachlosenasyl anrufen müssen, das
sicherlich nicht in der Nähe lag, und vielleicht die Kirche
in der Stadt oder die Kirche mit dem fehlenden Kirch­
turm auf Little Moon, und am Ende würde sie die Polizei
anrufen müssen, falls alles andere erfolglos blieb.
»Ich bin hier wegen Rey, der mein Mann war, der tot
ist. Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, weil du es

40

gar nicht zu wissen brauchst. Aber ich muss hier eine


Zeit lang allein leben. Sag mir einfach, ob du das ver­
stehst.«
Er machte eine Handbewegung, die auszudrücken
schien, dass sie nichts weiter sagen musste. Natürlich
verstand er das. Aber vielleicht auch nicht.
Das Gewitter kam näher, und sie saßen da und hörten
zu. Der Regen war so absolut, dass sie ihm zuhören
mussten. Sie konnte die Maklerin anrufen und sich be­
schweren, dass da jemand im Haus gewesen sei. Das
konnte sie auch noch tun.
Es war nicht mal Mittag, und ihr kam es schon vor, als
wäre er seit einer Woche da. Sie saßen da und betrachte­
ten das Feuer von gestern Abend.
Dann wurde ihr klar, wer es war, an welchen Mann er
sie erinnerte.
Es war ein Biologielehrer von der High School, ein
ziemlicher Tolpatsch, der bei Dämmerlicht hellhaarig
aussah und glatzköpfig an sonnigeren Tagen und der
einmal eine geplatzte Naht seiner Mokassins mit Klebe­
band repariert hatte und der unregelmäßig stockend
sprach, dass es den Schülern an seiner Stelle peinlich
war, den paar Einfühlsamen, oder sie zappelig machte,
die unverblümt Zappeligen, also alle anderen.
Sie taufte den Besucher zu Ehren dieses Lehrers Mr.
Tuttle. Sie dachte, dann wäre er leichter zu sehen.
Sie flüsterte: »Erzähl mir was.«
Er schlug die Beine auseinander und saß da, eine Hand
auf jedem Knie, wie eine Schaufensterpuppe in einem
roten Klubsessel, den Kopf ihr zugewandt.
»Ich weiß, wie viel.« Er sagte: »Ich weiß, wie viel die­
ses Haus. Einsam am Meer.«

41

Er sah nicht regelrecht erfreut, aber doch irgendwie zu­


frieden aus, technisch zufrieden, dass er die letzte Wort­
gruppe bewältigt hatte. Und aus dem Munde Mr. Tuttles
war das allerdings eine Formulierung, die sie geradezu
widerhallen hörte vor lauter Tiefe. Drei Worte nur. Aber
damit hatte er sie in eine Ansammlung von Gegenumge­
bungen platziert, von gleichzeitigem Innen und Außen.
Das Haus, der Meeresplanet außerhalb, und wie sich das
Wort einsam auf sie und auf das Haus bezog, und wie das
Wort Meer den Gedanken der Einsamkeit betonte, aber
ebenso eine energische Befreiung andeutete, ein Flucht­
mittel aus den Bücherwandgrenzen des Ichs.
Sie wusste, es war töricht, alles so genau zu analysie­
ren. Sie dachte sich da was aus. Aber diese Wirkung hat­
te er, wenn er sich schattengleich durch einen Satz taste­
te, ein Wort in seinen Facetten und Aspekten zeigte,
Wörter wie Monde in bestimmten Phasen.
Sie sagte: »Ich mag das Haus. Ja, ich möchte hier sein.
Aber es ist nur zu mieten. Ich habe es gemietet. In sechs
oder sieben Wochen bin ich hier raus. Vielleicht weniger.
Es ist ein Haus, das wir gemietet haben. Fünf oder sechs
Wochen. Weniger«, sagte sie.
Jetzt beobachtete sie ihn nicht. Sie schaute auf ihre
Handrücken, die ausgestreckten Finger, schaute und
dachte, erinnerte sich an Momente mit Rey, nicht Mo-
mente eigentlich, sondern Zeiten, oder Momente, die
fließend in zusammengesetzte Zeit eingingen, eine Erotik
von Blick und Griff, und sie rollte eine Hand zusammen
und in die andere hinein, vermisste ihn in ihrem Körper
und fühlte sich sexuell abgrundtief allein und starrte die
Stellen an, wo ihre Knöchel blutleer vom Druck ihrer
Hand aufschienen.

42

Er sagte: »Aber du bist nicht weggegangen.«


Sie sah ihn an.
»Ich werde weggehen. In ein paar Wochen. Wenn es
Zeit ist«, sagte sie. »Wenn die Mietzeit vorüber ist. Oder
früher. Ich werde weggehen.«
»Aber du gehst nicht«, sagte er.
Dieser Wechsel vom Perfekt ins Präsens hatte den
Klang von etwas Überwundenem, Hindernis oder Be­
schränkung. Er musste über sich hinauswachsen, um es
hervorzubringen. Und sie hörte etwas in seiner Stimme.
Sie wusste nicht, was es war, aber es trieb sie hoch und
ans Fenster.
Da stand sie und schaute in den Regen. Sie dachte sich,
vielleicht gehörte er ja zu einem der Mobile Homes, die
am Waldrand vor der Stadt verstreut standen, in der Nä­
he, aber vollkommen abgelegen, mit aufgebockten Autos
und einem durchgedrehten Köter, der sich beim Kratzen
in Dreck und Laub zusammenringelt, und Mr. Tuttle ist
der erwachsene Sohn, der schon immer so gewesen ist,
unzugänglich, seit jeher unselbständig, der ganz einfach
so lebt in einer länglichen Schachtel mit seinen ausge­
laugten, alternden Eltern, die sich nie beim Namen nen­
nen, und manchmal ist er tagelang unterwegs, geht hin,
wo immer er hingeht, brabbelnd und unversehrt, in die
Blase Welt hinaus.
Vielleicht auch nicht, dachte sie. Das hatte sie nicht in
seiner Stimme gehört. Da war etwas am Rand, losgelöst
von Einkommensstufen und Verbtempora oder dem, was
seine Eltern im Fernsehen sahen.
Sie wandte sich vom Fenster ab und brachte ihn ein
bisschen zum Reden. An sich schien er nichts gegen Re­
den zu haben. Er redete von Gegenständen im Zimmer,

43

stammelnd, und sie fragte sich, was er wohl sah oder


eben nicht sah oder so anders sah, dass sie sich sparen
konnte, es auch nur ansatzweise zu skizzieren.
Er redete. Allmählich verstand sie. Dazu gehörten viele
Wahrnehmungsebenen, ganze Sozialgeschichten des Zu­
hörens zwischen den Menschen. Seine Stimme hatte et­
was Besonderes, eine Eigenschaft, die sich auch beim
Sprechen noch weiter entwickelte, und sie konnte sie bis
zu ihrem Ursprung zurückverfolgen.
Sie beobachtete ihn. Das war derselbe unglückselige
Mann, den sie vor kurzem aufgestöbert hatte und dem
nicht anzumerken war, ob er spürte, wie er wirkte.
Es war kein regelrechtes Nachahmen, aber sie hörte
Elemente ihrer Stimme, die abgehackte Sprechweise, das
leichte Summen tief in der Kehle, ihre Tonlage, ihren
Klang, und wie schwierig das zuerst war, geradezu unir­
disch, ihre eigene Stimme zu entdecken, die von jemand
anders kam, von ihm, und dann, wie zutiefst verstörend.
Sie war sich nicht sicher, ob es ihre Stimme war. Und
dann wusste sie es. Inzwischen redete er nicht mehr von
Stühlen, Lampen oder Teppichmustern. Er schien ihre
Rolle in einem Gespräch mit jemandem einzunehmen.
Sie versuchte zu verstehen.
Er gestikulierte beim Sprechen, bewegte seine Hand zu
den Worten, und ihr wurde langsam klar, dass sie diese
Dinge zu Rey gesagt hatte, hier im Haus, oder jedenfalls
etwas Ähnliches. Es waren Alltagssätze über einen Anruf
von Freunden, die zu Besuch kommen wollten. Sie erin­
nerte sich, hatte dunkel vor Augen, dass sie damals am
Fuß der Treppe stand und er, also Rey, im ersten Stock
war, im Flur auf und ab ging und am Manuskript arbeite­
te.

44

Jetzt stand sie am Fenster. Die Stimme zitterte und ver­


sickerte allmählich, doch seine Hand blieb in Bewegung,
schlug den schwachen Takt.
Sie schnappte sich einen Mantel vom Haken und ging
in den Regen hinaus. Sie hielt sich den Mantel mit einem
halb ausgestreckten Arm über den Kopf und lief über das
Gras zur ungeteerten Einfahrt, wo das Auto stand. Die
Tür war offen, und sie stieg ein und saß da, denn warum
sollte man an einem so abgelegenen Ort die Tür ab­
schließen. Der Regen rauschte in überlappenden Wellen
an der Windschutzscheibe hinab. Sie saß da. Dann ein
kurzer Anfall von Schüttelfrost, es fiel ihr schwer, den
Klang dieser Stimme abzuschalten. Eines der hinteren
Fenster stand einen Spaltbreit offen, der Geruch nach
nasser Wiese, der Duft nach Landregen, die Spuren von
Meer und Brise und Erinnerungen vermengten sich in der
Luft, aber sie hörte die ganze Zeit diese Stimme und sah
die Handbewegung, unverkennbar Rey, zwei aneinander
gelegte Finger, die wackelten.
Sie wusste nicht, wie lang sie dort blieb. Lange wahr­
scheinlich. Der Regen trommelte auf Dach und Motor­
haube. Wie lang ist lange? Kann man so oder so sehen.
Schließlich stieß sie die Tür auf und ging zum Haus zu­
rück, den Mantel hoch erhoben.

45

KAPITEL 4

Auf dem Futtertrichter saßen fünf Vögel, und alle schau­


ten reglos nach außen, weg vom Futter. Sie beobachtete
sie. Sie schauten oder lauschten nicht so sehr, eher fühl­
ten sie etwas, erspürten es aufmerksam.
Alles falsche Wörter, dachte sie.
Das war der Futtertrichter, der vor der Sonnenveranda
hing, und sie stand in dem weitgehend weißen Zimmer
am breiten Fenster und wartete auf Mr. Tuttle.
Seit ihrer Rückkehr hatte sie Futtertrichter angebracht.
Das entsprach im Grunde der Reichweite ihrer Umge­
bungswelt, dem Stück Natur, das an das Haus grenzte.
Fühlt sich aber an, als fütterte sie die Vögel der Erde, ein
anderes Samenkorn in jeden Futterring, manchmal auch
zwei Körner mit helldunklen Schichten, und dann kom­
men die Vögel und picken oder auch nicht, und es sind
ganz verschiedene Futtertrichter, Käfige, von Ringen
umgebene Zylinder, hängende Untertassen, aufmontierte
Tabletts, und vielleicht ist es ein Falke, wer weiß, der
manchmal die Vögel fernhält, oder ein Häher, der einen
Falken nachmacht, oder sie sehen eine Botschaft in ir­
gendeinem Ereignis außerhalb des wahrnehmbaren Spek­
trums.
Als er hereinkam, sah er sie nicht an, sondern ging
schnurstracks zu dem Glastisch mit den verschnörkelten
Beinen.
Reys Kassettenrekorder lag blinkend mitten auf dem
Tisch.

46

Sie setzte sich und fing an zu sprechen, beschrieb sein


Äußeres. Gesicht und Haar und so weiter. Wachsam oder
nicht. Ziemlich ordentlich oder meistens ungepflegt. Was
noch? Gute, schlechte oder mäßige Nacht.
Nicht dass sie gewusst hätte, wie seine Nächte waren.
Nur eine. Sie hatte nicht schlafen können und nach Mit­
ternacht eine Zeit lang an seiner Tür gestanden und dem
scharrenden, nasalen Atmen gelauscht, überraschend
gerührt. Im Schlaf war er nicht unergründlicher als jeder
andere. Guck mal. Der verhüllte Körper, schwach pulsie­
rend. So fühlst du dich, wenn du den still gewordenen,
verletzlichen Körper betrachtest, der eigentlich fast je-
dem gehören könnte, oder du liegst nach der Liebe neben
deinem Mann, atmest die Hitze seiner gnadenlosen
Träume und fragst dich, wer er ist, grübelst zärtlich über
die Wahrheit, die du nie erfahren wirst, denn darin liegt
das Geheimnis, das der Schlaf beschützt in seinen Ner­
ventiefen, seinen Phasen, Schichten und Falten.
An diesem Morgen sprach sie über seinen Namen, ver­
suchte es jedenfalls. Sie taten es gemeinsam, Start und
Stop. Doch je mehr sie sprachen – sie sprachen eine Zeit
lang und wechselten das Thema, und er schaltete den
Rekorder aus, und sie schaltete ihn wieder ein, und viel­
leicht hatte er früher mal einen gehabt, ja, doch, einen
Namen, aber er hatte ihn vergessen oder verloren und
konnte ihn nicht zurückbekommen.
Sie sagte: »Ich bin Lauren.«
Sie sagte es mehrere Male und zeigte auf sich, weil sie
dachte, vielleicht wäre es hilfreich, wenn er sie mit ihrem
Namen anredete.
Sie sagte: »Wenn du einen Namen hättest. Nimm’s ein­
fach mal an. Gibt es irgendjemanden, der ihn kennen

47

würde? Wo ist deine Mutter? Wenn ich Mutter sage, die


Frau, die ein Kind zur Welt bringt, die weibliche Ver­
wandte, kann dieses Wort? Sag’s mir. Was?«
Er kannte das Wort für Stuhl und Fenster und Wand,
aber nicht für Kassettenrekorder, obwohl er wusste, wie
man ihn ausschaltet, aber anscheinend nicht, wer seine
Mutter war oder wo man sie finden konnte.
»Wenn es eine andere Sprache gibt, die du sprichst«,
erklärte sie ihm, »versuch ein paar Worte zusagen.«
»Ein paar Worte zu sagen.«
»Ja, ein paar Worte zu sagen. Macht nichts, wenn ich
sie nicht verstehe.«
»Ein paar Worte zu sagen, um ein paar Worte zu sa­
gen.«
»Na schön. Dann sei ein Zen-Meister, du kleines Ekel.
Woher weißt du eigentlich, was ich zu meinem Mann
gesagt habe? Wo warst du? Warst du hier irgendwo und
hast gelauscht? Meine Stimme. Hat Wort für Wort ge­
klungen. Erzähl mir was darüber.«
Bei jeder Gesprächspause hörte das Gerät auf zu rau­
schen. Sie beobachtete ihn. Sie versuchte, mit Druck et­
was aus ihm herauszubekommen, kam aber nicht weit
und wechselte wieder das Thema.
»Was hast du gestern gemeint, als du gesagt hast, als
du, glaube ich, gesagt hast – was? Ich weiß den genauen
Wortlaut nicht mehr. Es war gestern. Am Tag vor heute.
Du hast gesagt, ich würde immer noch hier sein, glaube
ich, wenn die Mietzeit. Weißt du noch? Wenn ich weg­
gehen muss. Du hast gesagt, ich ginge nicht.«
»Ich habe das gesagt, was ich gesagt habe.«
»Du hast das gesagt. Dass du irgendwie.«
»Irgendwie. Was ist irgendwie?«

48

»Halt den Mund. Dass du irgendwie, aber egal. Wenn


die Mietzeit vorüber ist. Oder etwas völlig Anderes.«
Er schaltete den Rekorder ab. Sie schaltete ihn ein, er
schaltete ihn ab. Bloße Neugier, dachte sie, oder zielloses
Herumspielen. Aber ihr war danach, ihn zu schlagen.
Nein, doch nicht. Sie wusste nicht, wie ihr war. Es wurde
Zeit, die Krankenhäuser und anderen Einrichtungen an­
zurufen. So war ihr. Sie hatte den Zeitpunkt längst ver­
passt und machte einen Fehler, wenn sie sich nicht er­
kundigte, ihn nicht zu jemandem mit einer gewissen Au­
torität brachte, einem Arzt oder Heimleiter, der Nonne,
die mit Anmut und Kompetenz ein Obdachlosenasyl lei­
tet, aber sie wusste, sie würde es nicht tun.

Sie verbrachte eine Stunde in dem behelfsmäßigen Ar­


beitszimmer im ersten Stock damit, ausgewählte Bemer­
kungen von dem Band zu transkribieren, das sie mit ihm
aufgenommen hatte.
Sie hörte sich sagen: »Ich bin Lauren«, wie eine Figur
in schwarzem Lycra aus einem Science-Fiction-Film.
Und dann fiel es ihr endlich ein. Allmählich begriff sie,
dass er ihre Stimme auf Band gehört hatte. Irgendwann,
bevor sie eine Leerkassette eingelegt hatte, musste er auf
Play gedrückt und sie im Gespräch mit Rey gehört haben,
der oben im ersten Stock stand, den Rekorder in der
Hand, und mit ihr über das Manuskript sprach.
Und so hatte er ihre Stimme nachgemacht.
Was war mit der Handbewegung? Die Handbewegung
verwarf sie. Reiner Zufall, unwesentlich, hatte sie sich
zum Teil ausgedacht.
Jetzt war ihr besser.

49

Tag für Tag arbeitete sie hart an ihrem Körper. Es galt


immer, Zustände zu erreichen, die frühere Extreme über­
schritten. Sie konnte eine Sache bis zum unerträglichen
Äußersten dehnen, gemessen mit Atem oder Kraft oder
Zeitdauer oder Willensstärke, und dann beschließen, die
Grenze noch weiter hinauszuschieben.
Ich glaube, du erschaffst dir deine eigene kleine totali­
täre Gesellschaft, hatte Rey einmal festgestellt, in der du
uneingeschränkter Diktator bist und unterdrücktes Volk,
sagte er, vielleicht bewundernd, von einem Künstler zum
anderen.
Ihre Körperarbeit machte alles durchschaubar. Sie sah
und dachte klar, was womöglich nur bedeutete, dass es
wenig gab, was zu sehen war, und nicht viel zu beden­
ken. Aber vielleicht ging es auch tiefer, die Stellungen,
die sie einnahm und längere Zeit hielt, die übertriebenen
Hüftschwünge, die Schlangengestalten und sich neigen-
den Blüten, die gebetartig durchgehaltene, systematische
Atmung, Leben als bloßes Luftholen, nicht weiter zu
vereinfachen. Erst einatmen, dann hecheln, dann keu­
chen. Davon wurde sie straff und glotzäugig, und im
Nacken schwollen die Arterien. Dieses stundenlange At­
men war so drängend und absurd, dass sie am anderen
Ende in einem unverdorbenen Licht wieder herauskam
und spürte, was Lebendigsein heißt.
Sie fing an, nackt in einem kalten Raum zu arbeiten.
Sie machte ihre Überkreuz-Übungen auf dem bloßen
Boden, ihre Beckenmuskel-Dehnungen, erotisch und
parodierend erotisch zugleich, ihre Zeitlupenwiederho­
lungen von Alltagsgesten, auf die Armbanduhr sehen
oder ein Taxi anhalten, mechanisch zitierte Handlungen
aus einem anderen konzeptuellen Rahmen, oft wiederholt

50

und nun langsamer und wiederholt, den Mund verblüfft


geöffnet, die Augen fest zusammengekniffen vor der
Intensität flüchtiger Bewusstheit.

Isabel rief an, Reys erste Frau.


»Bei der Beerdigung haben wir kaum geredet. Hast du
mich ein bisschen gemieden, kann ich verstehen, glaub
mir, und nachempfinden. Ich akzeptiere auch, was er
getan hat, weil ich ihn schon ewig kenne. Aber für dich
ist das anders. Mir ist gar nicht recht, dass wir nicht gere­
det haben. Ich hab das seit Jahren kommen sehen. Diese
Sache musste einfach passieren. Wir wussten das alle.
Seit Jahren war klar, er wird diese Sache machen. Das
hat er mit sich herumgetragen. Es war sein Ausweg. Er
war kein verzweifelter Mann. Diese Sache hatte er im
Kopf geplant. Es war sein Trick, er wusste, das kann er
machen, wenn er es braucht. Er hat mich sogar gezwun­
gen, ihn in diesem Sessel zu sehen.«
»Aber verstehst du denn nicht?«
»Bitte. Wer versteht, wenn nicht ich? Er war ein un­
möglicher Mann. Schon nach Paris war er sehr schwierig.
Fast elf Jahre waren wir verheiratet. Ich habe mit ihm
Dinge durchgemacht, du würdest es nicht glauben. Denk
nicht, ich erspare dir nichts. Ich erspare dir alles. Dieser
Mann, das hatte nichts mit chemischen Reaktionen in
seinem Hirn zu tun. Sondern damit, wer er war. Offen
gesagt, du hattest gar keine Zeit, das herauszufinden. Ich
will dir nämlich mal was sagen. Wir waren zwei Men­
schen mit einem Leben, und das war sein Leben. Ich bin
mit ihm zusammengeblieben, bis meine Gesundheit rui­
niert war, und dafür bezahle ich bis heute. Ich musste ihn
mitten in der Nacht verlassen. Und warum, was glaubst

51

du wohl? Er drohte, mich umzubringen. Und in diesem


Zimmer, wo ich gerade bin, schaue ich mir die leere Stel­
le an, wo der Sessel immer stand. Einen ganzen Tag war
dieser Sessel noch hier, bis er mir endlich aus den Augen
kam, zum Gerichtsmediziner, mit seinem Blut und was
weiß ich noch alles drauf, ich beschreibt besser gar nicht,
ja, als Beweismittel. Also kauf ich einen neuen Sessel.
Kein Problem. Aber bis dahin gibt es eine leere Stelle.
Natürlich wollte er dir den Augenblick selber ersparen.
Also fährt er nach New York und setzt sich in meinen
Sessel.«
»Es war dein Sessel. War es deine Pistole? Wessen Pi­
stole hat er benutzt?«
»Bist du verrückt, meine Pistole? Das ist noch so was,
das du nicht gewusst hast. Er hat immer eine Pistole ge­
habt. Egal, wo er lebte, er hatte eine Pistole. Diese oder
jene. Ich hab nicht mitgezählt.«
»Nein. Verstehst du nicht? Ich will das nicht hören.«
»Aber ich will es sagen. Ich bestehe darauf. Dieser
Mann hat gehasst, wer er war. Weil, wie lang kenne ich
diesen Mann, und wie lang kennst du ihn? Ich bin nie
weggegangen. Bin ich je weggegangen? Waren wir je
wirklich getrennt? Ich kannte ihn im Schlaf. Und ich
weiß genau, wie sein Hirn funktionierte. Er hat sich zwei
Dinge gesagt. Diese Frau kenne ich schon ewig. Und
vielleicht macht ihr der Schlamassel nichts aus.«

Sie ging los und suchte Mr. Tuttle. Sie hatte keine Ah­
nung, wo er hinging oder was er tat, wenn er nicht in
ihrer Sichtweite war. Schlafend ergab er mehr Sinn für
sie als leicht glubschäugig ihr gegenüber am Tisch, oder
sogar in ihrer Fantasie. Es fiel ihr schwer, ihn auch nur

52

einen Augenblick lang ins Dasein hineinzudenken, in der


oberflächlichsten Art heraufzubeschwören, am Fenster
im staubigen Licht Gestalt werden zu lassen.
Sie stand in der Eingangshalle und rief: »Wo bist du?«

Am Abend saßen sie in dem getäfelten Zimmer, und sie


las ihm aus einem Buch über den menschlichen Körper
vor. Es gab darin Fotos von vieltausendfach vergrößerten
Blutkörperchen, und ein Textabschnitt behandelte die
biologischen Vorgänge bei der Geburt, den las sie ihm
vor, langsam, mit eigenen Kommentaren angereichert,
und stellte ihm Fragen und trank Tee, und nach etwa
vierzig Minuten dieser Sitzung, als sie gerade eine Passa­
ge über den einzentimeterlangen, in Körperflüssigkeit
schwimmenden Embryo las, merkte sie, dass er mit ihr
redete.
Was sie hörte, war allerdings Reys Stimme. Die Imita­
tion war ziemlich genau, der Akzent, die schleppenden
Vokale, die intimen Eigenheiten, die Lautbildung dieses
und nur dieses Stimmorgans, Dinge, die sie von Reys und
nur Reys Stimme kannte, und sie steckte den Kopf ins
Buch, unfähig, ihn anzuschauen.
Sie versuchte sich strikt aufs Zuhören zu konzentrieren.
Sie befahl sich zuzuhören. Ihre Hand hing immer noch in
der Luft, zeigte ihm, wie groß der Embryo war, mit
Daumen und Zeigefinger die Länge angebend.
Sie verfolgte, was er sagte, Wort für Wort, musste aber
nach dem Zusammenhang suchen. Die Rede schweifte
und trudelte. Er sprach von Zigarettenmarken, Players
und Gitanes, Ich gehe meilenweit für Camel Filter, und
dann hörte sie Reys, den Glockenschlaghall von Reys
Lachen, klar und abgesetzt, und zwar nicht von einem

53

Kassettenrekorder.
Er redete mit ihr, nicht mit einem Drehbuchautor in
Rom oder Los Angeles. Das war Rey in seiner Rolle als
charmanter Fatalist, der die Geschichte seiner Nikotin­
sucht vortrug, und mittendrin hörte sie ihren Namen, es
war das erste Mal, dass Mr. Tuttle ihn benutzte.
Dies war keine Kommunikation mit einem Toten. Es
war der lebendige Rey während eines Gesprächs, das er
mit ihr geführt hatte, in diesem Zimmer, nicht lange,
nachdem sie hergekommen waren. Dessen war sie sich
sicher, wusste noch, wie sie nach oben gegangen und in
eine Nacht wirbelnder Empfindungen getaumelt waren,
Wellen von Sex, Beichte und fahlem Schlaf, und zwar
Beichte als Glauben an den Anderen, kein Abladen von
Schuld, sondern ein Vertrauensbekenntnis, vor allem von
seiner Seite, denn er brauchte es, und dann wieder ver­
träumter Sex, zwei Menschen, die sich durchdringen,
leicht und luftig wie Meeresgischt, und wie er ihr gesagt
hatte, dass sie ihm helfe, seine Seele wieder zu finden.
All das ein weißer Schimmer irgendwo, ein Eisblitzen
der Erinnerung, und dann hörte sie seine Worte, genau
diese Worte, gesprochen von dem Mann auf dem Stuhl
neben ihr.
»Ich nehme mich durch dich wieder in Besitz. Ich den­
ke jetzt wie ich, nicht wie der Andere, der ich geworden
war. Ich esse und schlafe wie ich, nämlich schlecht, was
schlecht ist, aber wie ich, als ich ich war und nicht der
Andere.«
Sie betrachtete ihn, seinen kinnlosen Kopf und Vogel­
scheuchenkörper, wie aus einem Comic, aber er konnte
ihren Mann in der Luft, die von seinen Lungen an seinen
Stimmbändern vorbeirauschte, zum Leben erwecken –

54

Luft zu Tönen, Töne zu Worten, Worte zum Mann, ge­


treulich mit Lippen und Zunge gestaltet.
Sie flüsterte: »Was machst du da?«
»Mache ich da. Dies ja das. Ein paar Worte zu sagen.«
»Hast du jemals? Schau mich an. Hast du jemals mit
Rey geredet? So wie wir reden jetzt.«
»Wir reden jetzt.«
»Ja. Sagst du ja? Sag ja. Wann hast du ihn gekannt?«
»Ihn gekannt, wo er war.«
»Damals und jetzt. Meinst du das? Hast du vorm Zim­
mer gestanden und unser Gespräch belauscht? Wenn ich
Rey sage, weißt du, wen ich meine? Beim Reden in ei­
nem Zimmer. Er und ich.«
Er ließ seinen Körper kurz von links nach rechts kip­
pen, ein mechanisches Wackeln, ein Tick und ein Tack,
wie das allererste Spielzeug mit beweglichen Teilen.
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Der Au­
genblick hatte etwas Rohes, wie eine offene Wunde, und
auch sie wurde aufgerissen, für Dinge, die außerhalb ih­
rer Erfahrung lagen, aber zugleich äußerst wichtig waren,
irgendwie, zum Verzweifeln wichtig.
Irgendwie. Was heißt irgendwie?
Sie stellte ihm Fragen, und er redete mit seiner eigenen
Stimme, die quäkte und piepste, gefangen in Zeitformen
und Modulationen, in Singsang-Konjugationen, und sie
merkte, wie sie das, was er sagte, im Geist einem Dritten
gegenüber beschrieb, vielleicht ihrer Freundin Mariella,
die objektiv war, verlässlich, zu gutem Rat in der Lage
und als offenherzig bekannt, und die ganze Zeit lauschte
sie eifersüchtig jedem Wort, das er sagte.
Sie begann, den Kassettenrekorder immer mitzuneh­
men, wohin sie auch ging. Er war klein und leicht und

55

passte in ihre Brusttasche. Sie trug Flanellhemden mit


verschließbaren Brusttaschen. Sie trug gefütterte Stiefel
und wanderte stundenlang auf verlassenen Feldwegen, an
den Salzmarschen entlang, und hörte sich Mr. Tuttle an.

Sie musterte ihr Gesicht im Badezimmerspiegel und ver­


suchte zu begreifen, warum es anders aussah als dasselbe
Gesicht im Erdgeschoss, im lebensgroßen Spiegel der
Eingangshalle, obwohl das eigentlich nicht schwer zu
begreifen war, dachte sie, denn Gesichter sehen die ganze
Zeit und überall anders aus, abhängig von hundert täglich
anderen Faktoren, doch dann dachte sie wieder, warum
sehe ich anders aus?

Sie nahm ihn nicht mit in die Stadt, weil ihn dort viel­
leicht jemand kannte, und weil er, soviel sie wusste, das
Haus nie von sich aus verließ, und sie wollte ihm keine
Erfahrung aufzwingen, die ihn womöglich verschreckt
hätte, aber vor allem wollte sie verhindern, dass andere
ihn sahen.
Aber dann nahm sie ihn doch mit in die wuchernden
Mails, landeinwärts, in die Dichte des Autosmogs, des
sich voranstupsenden Verkehrs, und sie tat es, wie man
etwas tut, das man für noch seltsamer hält als alles, was
man bislang für allzu seltsam gehalten hat, nämlich spon­
tan, um ein gewisses Bedürfnis nach Aktivismus zu stil­
len, und ein bisschen auch, vergebens, um die Dinge mit
seinen Augen zu sehen, die Welt in geometrischer Form,
in Mustern und Stapeln, und die langen Gänge voller
Waren, die Käufer in Tänzeltrance und was sonst noch
alles seine Aufmerksamkeit verdienen mochte, was du zu
sehen verlernt hast.

56

Doch als sie hinkamen, ließ sie ihn angeschnallt im ab­


geschlossenen Auto sitzen, während sie zum HiFi-Laden,
in den Supermarkt und ins Schuhgeschäft ging. Sie kauf­
te ihm ein Paar Schuhe und Strümpfe. Sie kaufte Leer­
kassetten für den Rekorder, die man im Städtchen nicht
bekam, und kehrte mit einem schimmernden Einkaufs­
wagen voller Lebensmitteltüten zurück, und da saß er in
seiner eigenen Pisse und Scheiße.

Vielleicht erlebt dieser Mann eine andere Art von Wirk­


lichkeit, in der er hier ist und da, vorher und nachher, und
er wechselt im Erschütterungszustand dazwischen hin
und her, wie kollabiert, ohne Identität, Sprache und die
Fähigkeit, den Geschmack des honigbestrichenen Toasts
zu genießen, den er vor ihren Augen isst.
Sie dachte, vielleicht lebt er in einer Art unerzähleri­
scher Zeit. Was dachte sie sonst noch? Sie saß in dem
praktisch leeren Arbeitszimmer im ersten Stock und
wusste nicht, was sie sonst noch dachte.

Sie redeten jeden Morgen am Glastisch auf der Sonnen­


veranda, und sie nahm auf, was sie sagten. Der Raum war
ungeheizt, aber sie saßen gemütlich in der täglich wie­
derkehrenden Sonne, bei großen Tassen Pfefferminztee.
Er hockte zusammengesackt da, sprach auf das Gerät
zu, manchmal hinein, anscheinend zu ihm, mit ihm, nur
er und es, und wenn er abrupt mitten im Satz abbrach,
vibrierte sein Mund immer noch etwas nach, eine Schat­
tenbewegung, die dem Zittern eines alten Menschen äh­
nelte, aus Reflex oder Aufregung.
»Hast du Rey gekannt? Weißt du, wen ich meine, wenn
ich Rey sage?«

57

»Es ist nicht im Stande.«


»Versuch zu antworten. Bitte. Du siehst doch, wie
wichtig es mir ist. Sprich wie er. Ein paar Worte zu sa­
gen.«
Selbst im einfachsten Gespräch gibt es einen Kode, der
den Sprechern mitteilt, was außerhalb der bloßen Akustik
vor sich geht. Der fehlte, wenn sie redeten. Ein Takt­
schlag fehlte. Es fiel ihr schwer, das Tempo zu finden.
Das Einzige, was sie hatten, waren unzugeordnete Wör­
ter. Sie verlor den Kontakt zu ihm, manchmal auch das
Interesse, konnte rhythmische Intervalle ebenso wenig
orten wie zeitliche Einsätze, nicht einmal das Stammeln
und Brummen, die hörbaren Pausen, die eine Äußerung
strukturieren. Seinen Zügen war keine Reaktion auf ihre
Sätze anzumerken, und das brachte sie aus dem Konzept.
Es gab weder verschieden starke Betonungen noch das
Gegenteil, Tonlosigkeit. Allmählich begriff sie, dass ih­
ren Gesprächen ein Zeitgefühl fehlte und alle unausge­
sprochenen Andeutungen, alles, was einen Niederlän­
disch Sprechenden mit einem Chinesisch Sprechenden
verbinden könnte – all dies fehlte hier.
»Drück auf das Ding.«
»Drück auf den Knopf. Nein, drück nicht auf den
Knopf. Das ist der Stop-Knopf. Hast du uns im Zimmer
gehört? Ihn und mich. Beim Reden.«
Sie wollte ihn berühren. Sie hatte ihn nie berührt,
glaubte sie jedenfalls, oder wenn, dann flüchtig, einmal
vielleicht, als sie ihn im Auto anschnallte, als er einen
Pullover trug oder eine Jacke.
»Du kennst ihn, wo er noch. Du kennst ihn von früher.
Du hast gehört, wie er mit mir gesprochen hat. Haben wir
dich gesehen? Hattest du dich irgendwo versteckt, damit

58

wir dich nicht sehen konnten? Verstehst du versteckt? Du


kennst seine Stimme. Lass sie hören.«
Sie wusste, sie sagte sich, dass sie keine überspannte
Frau war, die einen für übersinnliche Kräfte empfängli­
chen Menschen trifft, um sich mit ihrem verstorbenen
Ehemann in Kontakt bringen zu lassen.
Das hier war etwas anderes.
Sie beobachtete ihn. Sein Haar sah heute kreidig aus.
Er schien kaum anwesend zu sein, anderthalb Meter von
ihr entfernt. Er wusste nicht, wie man sich in das, was
wir das Hier und Jetzt nennen, einfügt. Was ist das über­
haupt? Möglicherweise gibt es so etwas gar nicht, wenn
man es nicht als Glaubenssache behandelt. Vielleicht
sollte sie eher mit einem Naturwissenschaftler sprechen,
mit jemandem, wenn sie das so genau wüsste, der ihr
sagen konnte, was die Parameter waren. Sie hasste das
Wort. Sie benutzte es, wüsste aber nicht, was es bedeute­
te, und benutzte es trotzdem. Die Vögel am Futtertrichter
gerieten außer Rand und Band.

Sie rief Mariella an, kriegte aber nur den Anrufbeantwor­


ter. Eine Computerstimme sagte Bit/te / hin/ter/las/sen /
Sie / ei/ne / Nach/richt / nach / dem / Pfeif/ton. Die Worte
wurden nicht gesprochen, sondern erzeugt und waren
durch kurze, aber tiefe Intervalle getrennt. Sie legte auf
und rief wieder an, nur um die Stimme noch einmal zu
hören. Merkwürdig, so abgehackt. Der reinste Quanten­
sprung, von einem Wort zum andern. Sie legte auf und
rief wieder an. Eine Stimme für jedes Wort. Acht ver­
schiedene Stimmen. Nicht acht verschiedene Stimmen,
sondern eine männliche Stimme in acht Zeitzyklen. Aber
eigentlich auch nicht männlich. Und nicht Worte, son­

59

dern eher Silben, aber auch das eigentlich nicht. Sie legte
auf und rief wieder an.

Sie ging über den langen Flur und die Treppe hoch in den
zweiten Stock, an den leeren Zimmern vorbei bis zum
Bad fast am äußersten Ende. Er saß in der Wanne, als sie
die Tür öffnete. Er bewegte den Kopf nicht, reagierte
überhaupt nicht. Sie stand da und schaute. Er hatte Seife
in einer Hand, einen Waschlappen in der anderen. In die­
ser Haltung verharrte er, Hände leicht erhoben, und sie
beobachtete ihn. Er rührte sich nicht. Er sah sie nicht an
oder reagierte in anderer Weise. Seine Hände schauten
kaum aus dem Wasser heraus, das Stück Kernseife, der
geknüllte Waschlappen. Bei reiner Seife, wenn nur der
Seifenkern verarbeitet wird, spricht man von Kernseife.
Sie flüsterte: »Schau mich an.«
Als er dies tat, ohne Scheu, kniete sie sich neben die
Wanne auf die Knie und nahm ihm den Waschlappen aus
der Hand. Sie fuhr damit auf seinen Schultern hin und her
und seinen Rücken hinab. Sie wusch in den Höhlungen
unter dem Arm. Das ist die Achselhöhle, Nummer eins
und Nummer zwei. Sie nahm ihm die Seife aus der ande­
ren Hand und rieb sie auf dem Waschlappen und wusch
ihm Brust und Arme, wobei sie, ohne Worte, seine Kör­
perteile für ihn benannte. Sie legte den Lappen sanft aufs
Wasser, wo er sich nach innen plusterte und versank, und
sie betupfte unter Wasser den Bauch mit Seife, eine mo­
notone Bewegung mit langsam um den Bauchnabel krei­
sender Hand. Dann beugte sie sich über ihn, um die Seife
in der Seifenschale abzulegen, die Kernseife, ließ ihn
keinen Augenblick aus den Augen und steckte ihre Hand
ins Wasser, strich am Penis entlang, da ist er, und griff

60

und rieb die Hoden, benannte seine Körperteile, zählte


sie auf, Nummer eins und Nummer zwei, und eine Spur
feuchter Glanz erschien über seinen Lippen.
Seine Hand kam mit dem Waschlappen aus dem Was­
ser. Sie nahm ihn und legte ihn ausgebreitet über ihr Ge­
sicht, drückte ihn porentief an und rieb sich damit über
den Mund. Dann gab sie ihm den Lappen zurück. Sie
berührte sein Gesicht, auf dem ein leichter Flaum spross,
rasiert er sich und wer hat ihm das beigebracht, fuhr mit
dem Finger sanft um seinen Mund, folgte den Konturen
von Lippen, Nase, Brauen und Ohrmuschel und deren
Innenrelief. Von diesem zu jenem. Dies führte zu jenem.
Er schrak vor ihrer Berührung nicht zurück, oder höch­
stens gewohnheitsmäßig, und sie dachte, eigentlich konn­
te ihm gar nichts ungewöhnlich vorkommen, verblüffend
oder aufregend, gemessen an der Tatsache, der allgemei­
nen Unschärfe, was immer es war – an dem atemlosen
Schock, überhaupt hierzu sein.
Sie spürte etwas Flusiges in ihrem Mundwinkel, halb
drinnen, halb draußen, das nur ein Haar sein konnte. Sie
zupfte daran, wischte mit dem Daumen darüber, ein Haar
vom Waschlappen, und sie spürte es nicht mehr auf ih­
rem Gesicht, sie betrachtete ihn und dann ihre Hand, und
vielleicht hatte sie nur etwas gejuckt.
Dann ging sie wieder zurück in den Flur, und natürlich
hatte sie nicht das Gefühl, gerade ein Kind gewaschen zu
haben, aber andererseits war er auch nicht richtig ein
Mann, und wiederum andererseits, so war er eben, außer­
halb des einfachen Entweder-Oder-Pendelschlags, und
immer noch entdeckte sie Dinge, die genauer zu untersu­
chen waren, dachte laut über seinen Gebrauch eines
Waschlappens nach, für ihn eine ausgesprochene Raffi­

61

nesse, wie ihr schien, und sie verteidigte ihre Hand­


lungsweise vor sich selbst, analysierte ihre Reaktion auf
die Bewegung ihrer Hand über seinen Körper, während
sie kilometerweit durch die Blaubeerbrachen wanderte,
durch wallenden Nebel, die Jacke fest geschlossen, mit
laufenden Kassettenspulen.

»Wie konntest du hier wohnen, ohne dass ich es weiß?«


»Aber du weißt. Ich wohne.«
Er schlug sich leicht auf die Wange, ein kleiner Scherz
vielleicht.
»Nein, vorher. Ich höre ein Geräusch, und du bist oben
in einem Zimmer. Wie lange warst du hier? In das Ding
sprechen!«
»In das Ding sprechen«, sagte er mit einer Stimme , die
vielleicht unabsichtlich die ihre imitierte.

Sie war in der Stadt, fuhr eine hügelige Straße entlang, in


der Holzhäuser standen, und sah einen Mann auf seiner
Veranda sitzen, weiter vorn, durch Bäume und Büsche,
mit ausgebreiteten Armen, einen breitgesichtigen, eher
blonden Mann, der faulenzte. In diesem kleinen Zeit­
fleck, dieser Fliegendreckviertelsekunde hatte sie das
Gefühl, ihn zu erkennen. Sein Leben war ein blitzschnell
aufgeschlagenes Buch vor ihrem vorbeigleitenden Blick.
Ein fauler Manipulierer, Makler, Eigentumswohnungen
mit Aussicht auf einen Mückensee. Sie kannte ihn. Sie
durchschaute ihn. Da war er, geschieden und alkoholge­
fährdet, ein Gefühlsfremder für seine Kinder, seine Söh­
ne, zwei Söhne, in Schulblazern, all das in einem bloßen
Blinzeln.
Eine Stimme sagte die Nachrichten im Radio auf.

62

Als der Wagen an dem Haus entlangfuhr, begriff sie im


Abrollen einer vollen Sekunde, dass sie keinen sitzenden
Mann vor sich hatte, sondern eine Farbdose, die auf ei­
nem wackligen Brett zwischen zwei Stühlen stand. Die
weiß-gelbe Dose war sein Gesicht, das Brett seine Arme,
und Geist und Herz des Mannes waren irgendwo in der
Luft, schon vergangen in der Stimme des Nachrichten­
sprechers im Radio.

Sie wählte Mariellas Nummer und kriegte den Anrufbe­


antworter. Sie hörte sich die Ansage an und legte auf, rief
dann wieder an und legte auf. Die nächsten anderthalb
Tage rief sie mehrfach an, hörte sich die Computerstim­
me an und hinterließ keine Nachricht. Als sie wieder
einmal anrief und Mariella dranging, legte sie sanft den
Hörer hin und stand vollkommen reglos da.

Sie sagte: »Sprich wie er. Ich möchte, dass du das für
mich tust. Ich weiß, dass du es kannst. Tu es für mich.
Sprich wie er. Sag, was er gesagt hat, woran du dich er­
innerst. Oder sag, was immer dir in den Kopf kommt.
Das ist besser. Sag, was immer dir in den Kopf kommt,
Hauptsache, er ist es. Ich werde dich nicht fragen, wie du
es machst. Ich will nur zuhören. Sprich wie er. Mach’s
wie er. Sprich mit seiner Stimme. Mach mir Rey. Lass
mich ihn hören. Ich bitte dich herzlich. Sei mein Freund.
Ein Vertrauter, das ist ein Freund. Tu es für mich.«

Sie kamen herangeflogen, direkt auf die ringförmigen


Sitzstangen, drängelten sich an den Futterlöchern, pick­
ten andere weg, mit summenden Flügeln und weiß in der
Sonne glühenden Brüsten, und die Körner rieselten ihnen

63

aus den Schnäbeln. Sie flogen weg und kamen zurück,


halb schwebend, neun, zehn, elf Vögel, andere klammer­
ten sich an das Fliegengitter vorm Fenster, einige saßen
in nahe gelegenen Bäumen und, na, singen ist nicht das
richtige Wort, sie zwitscherten oder piepten oder kreisch­
ten, und sie attackierten einander auf den Sitzstangen
oder rangelten in der Luft, die farbewechselnden Vögel,
die Vögel, die ihre sprechenden Namen rufen, die Vögel,
die kopfunter fressen.

Nachts stand sie vor seinem Zimmer und betrachtete ihn


beim Schlafen. Sie blieb eine Stunde da stehen, dann
ging sie online und sah sich die Autos an, die allmählich
auf der zweispurigen Landstraße nach Kotka und aus
Kotka auftauchten, in Finnland, schaute, bis sie endlich
auch einschlafen konnte, mit dem Anbruch des nordi­
schen Tages.

64

KAPITEL 5

Ein weiterer langsamer Morgen, neblig und still, und das


Telefon klingelte. Sie stand nackt im Trainingsraum,
nach links gebeugt, die Augen geschlossen, und sah auf
ihre Armbanduhr.
Oder saß mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken
da und atmete wie eine Irre. Blies durch die Nasenlöcher
und machte hallende Geräusche in ihrer Kehle, stellte
sich vor, wie ihr Körper emporstieg und wirbelte, eine
Drehung mit jedem Atemzug.
Oder kroch auf allen vieren herum, die Knie hüftbreit
auseinander, Rumpf emporgereckt, spürte die Katzen­
streckung in ihrer Haltung, ließ die Schultern rollen.
Sie stand auf und pendelte langsam hin und her, immer
wieder auf die Uhr sehend, ihr halber Körper schwang
hinter dem Bogen des linken Arms her, des Uhrenarms,
oder der Körper wurde vom Arm angehoben, während
der Kopf sich immer nachdrücklicher drehte, als wäre er
der kleine Zeiger auf der nicht vorhandenen Armband­
uhr, dazu offener Mund und stetig fest geschlossene Au­
gen.
Sie hörte ein Flugzeug den Himmel überqueren, und
dann blinkte das Licht aus und an, das Sonnenlicht, der
Sonnenstrahl, ein Geschehen, das sie sich durch die ge­
schlossenen Augenlider zusammenreimte, und sie wuss­
te, der Nebel hatte sich endlich verzogen.

65

Wenn es auf der Sonnenveranda zu feucht und kalt war,


redeten sie in dem getäfelten Zimmer, und sie machte
Notizen und nahm alles auf. An manchen Morgenden
sprach er kaum, an anderen zeigte er sich willig, und sie
saßen vor dem Kaminfeuer, das sie angezündet hatte, und
das Haus ringsum war tot.
»Hier sein ist zu mir gekommen. Ich bin im Augen­
blick, ich werde den Augenblick verlassen. Stuhl, Tisch,
Uhr, Flur, nur im Augenblick. Das ist zu mir gekommen.
Hier, zu mir. Aus dem Augenblick bin ich weg, bin ver­
lassen, verlasse ihn. Ich werde den Augenblick aus dem
Augenblick verlassen.«
Sie wusste nicht, wie sie das nennen sollte. Sie nannte
es Singen. Er ließ es eine Weile weiterlaufen, hinlaufen,
fortlaufen, und es war Singen, Gesang. Sie beugte sich zu
ihm. Diese Ebene bewies, dass er sich der Inspiration
nicht verschloss. Sie spürte ein Nachgeben in ihrem Kör­
per, das sie aus mühevollem Grübeln bodenwärts und in
etwas nahezu Unbezähmbares hineinzog. Sie beugte sich
zu seiner Stimme, lachte. Sie wollte mit ihm singen, in
die Zeit hineinfallen und wieder heraus, oder in Wörter
oder Dinge, was immer er da tat, aber statt dessen lachte
sie bloß.
»Kommend und gehend verlasse ich. Ich werde gehen
und kommen. Verlassen ist zu mir gekommen. Wir alle
müssen alle, werden alle verlassen werden. Denn ich bin
hier und wo. Und ich werde gehen oder nicht oder nie.
Und ich habe gesehen, was ich sehen werde. Wenn ich
bin, wo ich sein werde. Denn nichts kommt zwischen
mich.«
Sie lachte, er nicht. Es quoll nonstop aus ihm heraus,
und das war kein schizophrenes Gerede oder der Auf­

66

schrei schlotternder Körper, die Gott geschüttelt hat. Er


saß bleich und still da. Sie beobachtete ihn. Das war rei­
ner Gesang, durchsichtig, oder teilte er ihr gerade irgen­
detwas mit? Sie verspürte eine freudige Erregung, die es
ihr schwer machte, aufmerksam zuzuhören. Erzählte er
ihr gerade, wie es war, er zu sein, in seinem Körper und
Kopf zu leben? Sie versuchte, das herauszuhören, doch
es gelang ihr nicht. Die Wörter spulten weiter, schön an­
zuhören und leer, und sie wünschte, er würde mit ihr la­
chen, ihr aus ihrem Ich hinaus folgen. Darum geht es,
jawohl, da rührt sich das wahre Erstaunen. Und einiges
Entsetzen am Rand, oder Angst zu glauben, einiges an
Ich Verschiebung, aber darum geht es, das ist der Keil in
die Ekstase hinein, die alte tiefe Bedeutung dieses Wor­
tes, und deine Augen verdrehen sich nach oben in den
Schädel.

»Was ist der Augenblick? Du hast gesagt, der Augen­


blick. Erzähl mir, was das für dich bedeutet. Zeig mir den
Augenblick.«
Er sagte: »In das Ding sprechen!«
»Was weißt du? Wer ist Rey? Sprichst du mit ihm?
Hast du je mit ihm gesprochen? Weißt du, von wem ich
spreche, wenn ich Rey sage? Ich bin Lauren. Wer ist
Rey? Ein Mann. So groß. Guck mal. So groß. Genau so
groß. Und ein Schnurrbart. Ein Mann mit Haaren auf der
Oberlippe. Schau mich an, Narr. Wie groß? So groß. Ein
Mann mit Bürstenhaaren auf der Oberlippe. Aber dann
hat er sich den Schnurrbart abrasiert.«
Er hatte sich den Schnurrbart abrasiert. Das hatte sie
bis eben vergessen.

67

Sie sah etwas aus dem Augenwinkel. Sie wandte den


Kopf um, und da war nichts. Das Telefon klingelte. Sie
beschloss, sich die Augen untersuchen zu lassen, denn sie
hatte schon ein paar Mal geglaubt, etwas gesehen zu ha­
ben, oder ein- oder zweimal, aus dem rechten Augenwin­
kel, am besten bei einem richtigen Augenarzt, aber sie
wusste, sie würde es bleiben lassen. Das Telefon klingel­
te. Sie hob ab und wartete, dass jemand etwas sagte.

Es war Zeit, ihren Körper abzuschmirgeln. Sie benutzte


für die Fußsohlen einen Bimsstein, rieb ihn kreisend,
Ballen, Fersen, dann seifte sie den Fuß ein zweites Mal
ein und bog ihn wieder hoch in ihre Hand. Sie mochte es,
einen Fuß in der Hand zu halten. Geduldig raspelte sie
die einzige Schwiele ab, dehnte das Unterfangen über
Tage aus, darin verloren, ihr zusammengerollter Körper
ganz allein darauf eingestellt, in genau der feierlichen
Selbstversunkenheit, die sie seit Kinderzeiten kennzeich­
nete.
Sie hatte Schmirgelpapier und Feilen, viele verschiede-
ne Scheren, Zangen und Cremes, die nach Verben des
Abtragens und Entfernens verlangten. Sie musterte ihre
Finger und Zehen. Es gab eine bestimmte Art, wie sie ein
Fingerglied für die schärfere Betrachtung isolierte, mit
Hilfe einer Lupe und eines dunklen Pappstücks, und da
hingen Niednägel herum und Fitzel und Fetzen toter Haut
und kleine Nagelsplitter, in die Luft ragende Partikel.
Endlich mal wieder. Das tat ihr gut.

Vielleicht kann sich dieser Mann nicht gegen die Wahr­


heit der Welt verteidigen.
Welche Wahrheit? Sie dachte, welche Wahrheit?

68

Es heißt doch, die Zeit vergeht, dachte sie. Aber viel­


leicht lebt er in einem anderen Zustand. Das ist eine Art
Zeit, die einfach und überwältigend da ist, ausgebreitet,
unvergehend, und ihm fehlt die angeborene Fähigkeit,
diesen Zustand zu überdenken.
Welche Fähigkeit?
Er kann nichts tun, um sich Zeit vorzustellen, wie sie in
beruhigender Folge existiert, vergehend, fließend, ge­
schehend – die Welt geschieht, muss sie einfach, das füh­
len wir –, mit Namen, Daten und Differenzierungen.
Seine Zukunft ist namenlos. Sie fällt irgendwie mit der
Gegenwart zusammen. Keine der beiden geschieht vor
oder nach der anderen, und vielleicht sind sie gleicher­
maßen zugänglich, und sei es nur in seinem Kopf.
Die Gesetze der Natur erlauben Dinge, die tatsächlich,
in der Wirklichkeit, dachte sie, nie geschehen.
Aber geschehen könnten.
Nicht könnten.
Könnten. Und sei es nur in seinem Kopf, dachte sie.

Sie aß fade, leichte Abendmahlzeiten, rasch, um’s hinter


sich zu bringen. Manchmal kam er nicht, und manchmal
kam er, aß aber nichts, und einmal war er schon seit
sechs oder sieben Stunden weg, und sie ging durchs Haus
und dann im Dunkeln die Einfahrt entlang, leuchtete mit
einer Taschenlampe in die Bäume und sagte ruhig: »Wo
bist du?«
Sie wartete drinnen, ein Buch in den Händen, ein Re­
quisit, saß da und dachte, dachte nicht, irgendeine Frau,
die das Schlimmste kennt.
Da schob er sich ins Zimmer, wirkte wieder wie aufge­
zogen, als ob, als ob. Sie beobachtete ihn bei dem Ver­

69

such, seine Gestalt einem Ohrensessel anzupassen, und


gestattete sich ein gewisses Maß an Erleichterung, eine
körperliche Leichtheit, die sie träumerisch von der
schwerfälligen Frau mit dem Buch befreite.
Ein Mann fiel ihr ein, unerwartet auftauchend. Nicht
der Mann, der jetzt hier war. Ein anderer Mann. Es war
nichts, es war etwas, das ihr durch den Kopf ging, wäh­
rend sie frühstückte, ein plötzlich auftauchender Mann,
wie in einem Film, von unten eingefangen. Nicht einge­
fangen, sondern aufgenommen. Nicht einfangen wie fan­
gen, sondern wie aufnehmen, auf Zelluloid, von unten, so
dass er aufragt. Das kommt als Schock, so wie es ge­
macht ist, ein Mann an der Tür, drohend, wirkungsvoll in
dem und dem Licht, oder sie trifft ihn in der Einfahrt, als
sie aus dem Auto steigt, ein massiger Mann, der plötzlich
über ihr aufragt. Das ist der Schock der Außenwelt, der
Schlag, der Schreck, wenn jemand eindringt, und der
Augenblick wird so gezeigt, dass er zutiefst bedrohlich
für die zwei Menschen ist, die zurückgezogen hier gelebt
haben, in sich selbst versunken. Wie sich herausstellt, ist
er der Besitzer des Hauses, ein massiger Mann, jawohl,
wirkungsvoll, alt, aber fit, oder nicht mal so alt, und au­
ßerdem stellt sich heraus, dass er gekommen ist, um über
Mr. Tuttle zu sprechen.
Sie sah sich in der Szene, in der Einfahrt, wie sie dem
Mann zuhörte. Es war nur etwas Flüchtiges, eine Ge­
schichte, die sie sich selbst erzählte oder vorführte, kei­
neswegs erinnernswert. Der Mann erklärt ihr, dass Mr.
Tuttle, wie auch immer er ihn nennt, ein Familienmit­
glied von der Sorte Vetter zweiten Grades ist oder der
Sohn, noch besser, einer geliebten Schwester, dass er
einen Großteil seines Lebens in diesem Haus verbracht

70

hat, ohne genaue Diagnose, oder noch besser, hirnge­


schädigt, und dass sich eine Teilzeitpflegerin um ihn
kümmert, die der Mann eingestellt hat, der Besitzer, der
ein bisschen tweedig ist, ein bisschen schäbig, aber vor
allem traurig, sozusagen familientraurig. Und als der Be­
sitzer und seine Frau Alma beschlossen fortzuziehen,
weil die Kinder groß waren und selbst Familien gründe­
ten, da wurde entschieden, diesen alten Kasten zu ver­
mieten, krumm und bucklig wie er war, ihr Heim und
Herd voller Erinnerungen, irgendwann vermutlich auch
zu verkaufen, und sie steckten Mr. Tuttle, dessen richti­
ger Name nicht fällt, in eine Einrichtung für Menschen,
die in der einen oder anderen Form behindert sind, hun­
dertfünfzig Kilometer entfernt, deren Zustände den aben­
teuerlichsten Beschreibungen spotten, und als die Familie
erfuhr, dass er in der Einrichtung vermisst wurde, war
niemand auf die Idee gekommen, dass er zu dem Haus
zurückfinden könnte, bis heute. Heute ist es ihnen einge­
fallen, und da ist er nun, der Besitzer, und erkundigt sich.
In ihrer Vorstellung verzichtet sie ebenso wie der Be­
sitzer darauf, den Vergleich mit einem entlaufenen Hund
auf Mr. Tuttle anzuwenden, aus welcher Zurückhaltung
auch immer und so weiter, und so endete das Ganze,
mehr oder weniger, beim Frühstück, der Besitzer und die
Mieterin in der Einfahrt, unbestimmt zum Haus blickend.
Der Name Alma kam aus heiterem Himmel. Schien
aber absolut glaubwürdig. Alles schien glaubwürdig,
sogar die Rückkehr des entlaufenen Hundes, und das
Besondere an der Szene war, es kam nie dazu, dass sie
ihn verriet oder fallen ließ, sondern es endete einfach,
abrupt, so.

71

Sie lief durch die Landschaft, spürte dem nach, was da


war, lauter Himmel und Licht, ein Hämmern irgendwo in
einer Hüttensiedlung nicht weit vom Feldweg, das der
Wind schwach herübertrug, und wie die Klarheit der
Dinge deinen Schritt vertieft, dir etwas zum Einfangen
und Festhalten gibt, und dann verstummte der Hammer.
Sie lief weiter und dachte nach. Es war einer der vogello­
sen Morgende. Eine Stille hing über den Futtertrichtern,
was für eine Leere, fesselnd in ihrer Tiefe.
Drinnen fiel ihr als Erstes auf, dass er die Schuhe trug,
die sie ihm gekauft hatte, adrett, geschnürt, mit Gummi­
sohlen, und das freute sie.
Sie saßen in dem getäfelten Zimmer, das Kassettenge­
rät auf dem Kaffeetisch zwischen ihnen.
Wer hatte ihm beigebracht, sich die Schuhe zuzubin­
den?
Er starrte sie an. Schien sie anzustarren, tat es aber
wahrscheinlich gar nicht. Sie glaubte nicht, dass seine
Augen in der Lage waren, Dinge auszuwählen und zu
gestalten. Jedenfalls nicht auf normale Weise. Das Auge
soll eigentlich gestalten und verarbeiten und ausmalen.
Es soll uns eine Geschichte erzählen, die wir glauben
wollen.
»Dann, wenn es zu mir kommt.«
»Was?«
»Etwas der meisten. Tage ja Jahre.«
»Weißt du, was das bedeutet? Ein Tag. Ein Jahr. Oder
hast du gehört, wie ich diese Worte gesagt habe?«
»Ein paar Worte zu sagen.«
»Ein paar Worte zu sagen.«
»Darin, wenn es kommt.«
»Darin, wenn es kommt. Was?« sagte sie.

72

»Wegzugehen ins Weggehen.«


»Wer will weggehen?«
»Da, als du, ja, du gesagt hast.«
»Was habe ich gesagt?«
Sie merkte, dass sie ihn nie beim Namen genannt hatte.
Sie sprach seinen Namen nur aus, wenn sie allein war, in
den Kassettenrekorder sprach. Denn, natürlich, gib’s zu –
der Name ist goldig und gönnerhaft.
Er sagte, »lass mal«, mit einer Stimme, die nicht ganz
seine war. »Ich mach es später weg.«
Danach fiel er in Schweigen. Ja, fiel. Setzte einen ge­
senkten Blick auf, ein Absacken der Stimmung, wenn sie
es recht interpretierte. Sie deklamierte einen Kinderreim,
auf Französisch. Sie wollte ihn dazu bringen, eine Zeile
nachzusprechen, und er versuchte es, rührend und hoff­
nungslos, und sie stellte fest, dass sie die Szene im Geist
jemandem beschrieb, vielleicht Mariella, vielleicht auch
nicht, als wäre er ein objet trouvé und sie beide müssten
entscheiden, wie brauchbar er wäre.

Nachmittage, überraschend schnell, letztes Licht, das in


den Hügeln jenseits der Bucht versickerte, in allem
ringsum, Bäumen und Erde und dem flach getretenen
Laub unter ihren Füßen, dunkelbraungetöntes Rost und
Gold, und einmal zog ein Schwarm Gänse stumm über
ihre Schulter, flog durch die Welt in ihre heimliche
Nacht.
Allmählich begriff sie, dass sie Rey nicht vermissen,
seine Abwesenheit, seinen Verlust nicht ermessen konn­
te, ohne die Konturen von Mr. Tuttle mitzudenken.
Wenn sie an das klingelnde Telefon ging, wartete sie
darauf, dass der Anrufer zuerst sprach, und zog eine klei­

73

ne, grausame Befriedigung aus dem Innehalten der ver­


blüfften Moleküle.
In einer klaren Nacht nahm sie ihn mit nach draußen
und zeichnete ein Sternbild mit dem Finger nach. Es war
eine Weile her, seit sie den Nachthimmel angeschaut
hatte, und ihr Atem bildete zwei Rauchwölkchen in der
frostigen Luft. Sie zog ihn direkt vor sich und steckte
seine Hände in ihre Jackentaschen und blies ihm Wörter
ins Gesicht, die er wiederholen musste.
Er sagte: »Das Wort für Mondschein heißt Mond­
schein.«
Das machte sie glücklich. Es war logisch, komplex und
seltsam rührend und abgezirkelt schön und wahr – oder
vielleicht gar nicht so abgezirkelt, sondern geradeaus,
wie’s gerader nicht ging.
Sie musste auf einen Namen kommen, den sie ihm ins
Gesicht sagen konnte.

Sie fand den Gedanken interessant, dass er in überlap­


penden Wirklichkeiten lebte.
Viele Dinge sind interessant, Dummchen, aber noch
lange nicht wahr.
Sie durfte nicht vergessen, dass sie Batterien für den
Kassettenrekorder brauchte.
Sie dachte gerne. Was dachte sie gerne? Sie hatte einen
dumpfen Tag und wollte es auf den Nebel schieben.
Vielleicht fällt er, gleitet er, falls das ein brauchbares
Wort ist, aus seiner Erfahrung einer objektiven Welt, der
tiefsten Raum-Zeit-Beschreibung, in der er kein Gefühl
für die zukünftige Richtung hat – gleitet er in ihre, in
jedermanns Erfahrung hinein, in die sonnengeküsste
Standardchronologie der Ereignisse.

74

Bin ich der erste Mensch, der einen Alien entführt?


Der Nebel war dunkle Bronze, wälzte sich tief hängend
Richtung Küste, zerfledderte jedoch bei Bodenberührung
und riss alles mit sich in eine amöbische Suppe.
Wenn es keine geordnete Reihenfolge gibt, abgesehen
von dem, was wir hervorbringen, um uns in der Welt
abzusichern, vielleicht ist es dann auch möglich, was
denn, von einem namenlosen Zustand in den andern
überzugehen, bloß dass es das natürlich nicht ist.
Sie durfte nicht vergessen, dass sie Batterien brauchte.
Das schärfte sie sich ein.
Es war so ein Tag, an dem du Wörter vergisst und Sa­
chen fallen lässt und dich fragst, was du eigentlich aus
einem Zimmer holen wolltest, denn es gibt ja einen
Grund dafür, dass du hier stehst, und du musst dir sagen,
dass es eine bloße Frage von Früher oder Später ist, bis
es dir wieder einfällt, denn es fällt dir immer ein, sobald
du an Ort und Stelle bist.
Irgendwie wird die Sache mitgeteilt.

Sie enthaarte ihre Achseln und Beine mit Wachs. Die


Härchen wurden wie mit kalten Nadelstichen ausgeris­
sen. Sie hatte ein scharfes Körperpeeling, es war gnaden­
los und auf Rezept, und nach der Enthaarung massierte
sie die Creme ein, um altpapierne Haut in Placken und
Schuppen und kleinen Kügelchen zu entfernen, die sie
gern zwischen den Fingern rollte und sich, vollkommen
unmorbide, als den Zelltod von etwas aus ihrem Innern
vorstellte.
Sie benutzte eine Affenhaarbürste an den Ellbogen und
Knien. Es sollte wehtun.
Sie musste nicht nach Tanger fahren, um Luffa-Bade­

75

schwämme und Nagelreiniger aus Orangenholz zu kau­


fen. Das gab es alles in den Malls, den hohen Super­
marktgängen, ebenso wie die Gesichtsbürsten, Rasierer
und Haferflocken-Peelings. Das war ihr Werk, aus allen
früheren Schauplätzen des Aussehens und Auftretens zu
verschwinden und eine Leerstelle zu werden, eine Kör­
pertafel, von der jede Ähnlichkeit mit früher getilgt war.
Sie besaß eine Bleichcreme, die sie so ziemlich überall
auftrug, um sich zu entfärben. Sie schnitt sich das Kopf­
haar ab, erst vorsichtig, dann immer mehr. Es war eine
grobe Angelegenheit, die nahezu brutal wurde, als sie
auch die Haare bleichte. Sie wollte im Spiegel jemanden
sehen, der üblicherweise ungesehen bleibt, den Men­
schen, durch den man mit geübtem Blick hindurchschaut,
der ausgeblutet ist von jeglicher vertrauten Wirkung, das
nächtliche Schreckgespenst öffentlicher Toiletten.
Sie benutzte adstringierende Mittel, um Seifenreste,
Fettspuren und chronisch lauernden Schmutz zu entfer­
nen. Sie klebte Plastikstreifen auf, die sie wieder abriss,
wodurch zahlreiche stöpselartige Unreinheiten aus ihren
Follikeln und Poren gezogen wurden.
Ein verstecktes System, interessant, diese talgigen Aus­
scheidungen, Drüsenereignisse im Körperkosmos, kleine
Pusteln und Ausbrüche, verdichtete Fette, Öle, Salze und
Schweiß, und wie geradezu wissenschaftlich war das
Vergnügen, sie auszumerzen.
Sie stieß auf die Muskellotion, die sie für Rey gekauft
hatte, kurz bevor er weggefahren war, und benutzte sie,
nur um sie zu benutzen.

Sie stand da und schaute ihn an, zwei Körper in einem


Raum. Unter Beobachtung schien er zurückzuweichen,

76

nach innen zu schrumpfen, nicht vor Unbehaglichkeit,


dachte sie, sondern spontan, automatisch, gesteuert von
einem Gesetz, das sein Körper selbständig eingeführt
hatte. Sie legte die Hände auf seine Schultern und schau­
te ihm in die Augen. Sie dachte, wann haben die Men­
schen eigentlich angefangen, sich in die Augen zu schau­
en? Denn das tat sie, forschend, in der Küche bei Mr.
Tuttle.
Lass mal. Ich mach es später weg.
Seine Augen waren grau, aber was besagte das schon.
Seine Augen waren schmuddelgrau, sie waren sanft und
starr und angstlos. Sie schaute. Sie schaute die ganze
Zeit. Sie konnte nicht genug bekommen. Seine Augen
waren grau, fahl geworden in diesem harten Licht, eine
Spur gelblich, und kein zittriges Ich rührte sich darin.
Sie umfasste sein Gesicht mit den Händen und schaute
geradewegs in ihn hinein. Was bedeutete es, als denken-
des Wesen zum ersten Mal tief in die Augen eines ande­
ren zu schauen? Hatte es hunderttausend Jahre gedauert,
bevor es dazu kam, oder war es ihr erster Quantensprung,
der sie zu etwas Höherem, der sie modern machte, dieser
Blick, der zeigt, wir sind seelenallein?
Sie sagte: »Warum denke ich eigentlich, dass ich näher
bei dir stehe als du bei mir?«
Sie wollte nicht witzig sein. Es war die Wahrheit, ein
Paradox, gespenstisch. Dann wollte sie witzig sein, mit
Schmeicheleien und Kosenamen, aber bald kam sie sich
albern vor und ließ es bleiben.

Er frühstückte oder auch nicht, ließ das meiste liegen.


Dann stand er in der Tür zwischen der Küche und dem
langen Flur zur Diele. Sie saß am Tisch, wartend. Er sah

77

an ihr vorbei oder durch sie hindurch, und fast wusste sie,
was nun kam. Er sagte: »Aber wo willst du hin?« Er sag­
te: »Nur ein bisschen in die Stadt.« Er sagte: »Aber wir
brauchen gar nichts. Und wenn wir es brauchen, hole ich
es. Ich weiß, was zu holen ist. Wir brauchen neues Wie­
heißtesgleich. Scheuerpulver.«
Er sagte: »Was?«
Sie wusste es fast sofort, noch bevor er sprach. Sie
wusste es nicht im Einzelnen, aber sie spürte, fühlte den
Wechsel in ihm. Der Tee dampfte in ihrer Tasse. Sie saß
am Tisch und beobachtete ihn, und dann wusste sie es,
restlos, aus dem ersten elektrisierten Wortwechsel, denn
die Stimme, die Stimmen waren nicht seine.
»Aber wir brauchen jetzt in diesem Augenblick keins.
Ich hole welches, wenn ich fahre. Ajax. So heißt das
Zeug. Im Augenblick ist da gar nichts zu scheuern.«
Sie hörte zu, und es war sie. Wer auch sonst, zum Teu­
fel. Was sie da alles gesagt hatte.
»Ajax, Sohn des Telamon, glaube ich, falls ich meinen
Trojanischen Krieg noch zusammenkriege, und vielleicht
brauchen wir eine neue Zeitung, denn die alte ist schon
ziemlich abgestanden, und ein großer, tapferer Krieger
und Speerwerfer von mächtiger Kraft, und außerdem ein
Toilettenreiniger.«
Erkennst du, was du vor Wochen gesagt hast, und ja,
wenn es dir vorgetragen wird, und ja, wenn es das Letzte
ist, was du unter den letzten Dingen zu einem Menschen
gesagt hast, den du liebtest und nie wieder sehen solltest.
Das war es, was sie zu ihm gesagt hatte, bevor er ins Au­
to stieg und wegfuhr, hätte sie es bloß gewusst, den wei­
ten Weg bis nach New York.
Er sagte, er sagte: »Nur eine kleine Spritztour. Sonst

78

nichts. Ich nehme den Toyota. Falls ich je meine Schlüs­


sel finde.«
Und das sagte der Mann in der Tür, der klein aussah
und schwach, niedergedrückt durch irgendetwas. Es
wirkte nicht wie eine Gedächtnisleistung. Das war schon
Reys Stimme, es war die Tonseele ihres Mannes, aber sie
glaubte kaum, dass sich der Mann erinnerte. Es geschieht
jetzt. Das dachte sie. Sie beobachtete, wie er mit der Äu­
ßerung kämpfte, und dachte, irgendwie geschah das jetzt,
in seinem Rahmen, in seinem Zeitfragment, und er gibt
nur hilflos wieder, was sie sagen.
Er sagte: »Mach einen Spaziergang, wie wär’s. Wun­
derbarer Tag. Lass das Auto hier, lass die Schlüssel
hier.«
Er sagte: »Sie sind im Auto. Natürlich. Die Schlüssel?
Wo sonst? So ist es. Wie soll ich sagen? So ist es im­
mer.«
Er stand blinzelnd in der Tür. Rey lebt jetzt, im Geist
dieses Mannes, in seinem Mund und Körper und
Schwanz. Ihre Haut war elektrisiert. Sie sah sich, sie
sieht sich auf ihn zukriechen. Das Bild steht vor ihr. Sie
kriecht über den Boden, und es kommt ihr beinahe wirk­
lich vor. Sie spürt, da hat sich etwas abgetrennt, sanft
abgelöst, und sie möchte ihn zu sich auf den Boden he­
runterziehen, ihn aufhalten, hierbehalten, oder kriecht auf
ihn drauf oder in ihn hinein, aufgelöst, oder liegt einfach
nur bäuchlings da und schluchzt unaufhörlich, während
sie sich von oben beobachtet.
Sie konnte sein Einreibemittel auf ihrem Körper spü­
ren, seine Muskellotion, und dann war er fertig mit Re­
den.

79

KAPITEL 6

Du stehst am Tisch, wühlst in Papieren, und du lässt et­


was fallen. Nur merkst du es nicht. Es dauert eine Sekun­
de oder zwei, bevor du es merkst, und selbst dann merkst
du es nur als eine formlose Verzerrung des wimmelnden
Raums rings um deinen Körper. Doch kaum hast du ge­
merkt, dass dir etwas heruntergefallen ist, hörst du mit
Verspätung, wie es am Boden auftrifft. Das Geräusch
bahnt sich seinen Weg durch ein gewaltiges Netz von
Entfernungen. Du hörst das Ding fallen und weißt im
gleichen Augenblick, was es ist, mehr oder weniger, und
es ist eine Büroklammer. Das weißt du durch das Ge­
räusch, das sie beim Auftreffen auf dem Boden macht,
und durch die zurückgeholte Erinnerung an das Fallen­
lassen selbst, wie das Ding aus deiner Hand fällt oder
vom Rand der Seite rutscht, an die es geklammert war.
Es ist vom Rand der Seite gerutscht. Jetzt, wo du weißt,
dass es dir heruntergefallen ist, erinnerst du dich, wie es
geschehen ist, oder halb jedenfalls, oder vielleicht siehst
du es irgendwie vor dir, oder etwas ganz anderes. Die
Büroklammer trifft mit einem Purzelbaum auf dem Bo­
den auf, schwach und schwerelos, ein Geräusch, für das
es kein lautmalerisches Wort gibt, das Geräusch einer
herunterfallenden Büroklammer, aber als du dich bückst,
um sie aufzuheben, ist sie nicht da.

An diesem Abend stand sie vor seinem Zimmer und


lauschte seinem Wimmern. Das Geräusch war eine Reihe

80

gedämpfter Schreie, Halbschreie, stumpf und gleichför­


mig, und es hatte ein schwaches Echo, ein Feedback, und
war aufgeladen mit einer Trostlosigkeit, die jegliche
Worte beiseite fegte, ihre oder wessen auch immer.
Sie wusste nicht, was es bedeutete. Natürlich wusste sie
es. Er hatte keinen Schutzschild. Er war allein und unfä­
hig zu improvisieren, sich zu verstellen. Sie ging ans Bett
und saß da, versuchte es mit Berührungen und beruhi­
genden Lauten, Linderungen der Nacht.
Er hatte Angst. Wie schlicht und wahr. Sie versuchte
ihn zu umsorgen, ihn für seine Furcht empfindungslos zu
machen. Er war hier, mitten im Geheul der Welt. Dies
war das heulende Gesicht, das Unversöhnliche, das
Nicht-als-ob der Dinge.
Aber woher konnte sie das wissen? Konnte sie nicht.
Vielleicht war er bloß gestört, ungewöhnlich irre.
Nicht, dass das je gewöhnlich wäre. Ein Irrer, der ver­
sucht, in anderen Stimmen zu leben.
Er hatte sich in einer dünnen Decke zusammengerollt.
Sie deckte ihn auf und legte sich auf ihn. Man soll Trost
spenden. Sie küsste sein Gesicht, seinen Hals, rieb ihn
warm. Sie steckte ihre Hand in seine Shorts und begann,
mit ihm zu atmen, ihn in kleine, hauchige Stöhner hin­
einzuführen. So macht man das, wenn sie Angst haben.

Sie dachte, sie hätte einen Vogel gesehen. Aus dem Au­
genwinkel sah sie, wie sich etwas erhob, am Fenster vor­
bei, unheimlich und vogelhaft, aber vielleicht kein Vogel.
Sie schaute hin, und es war ein Vogel, sein Flug eine
vollkommen senkrechte Linie, sein gestreifter brauner
Körper waagerecht, Flügel ruhig schlagend, ein Spatz,
nicht auf dem Wind schwebend, sondern an Höhe gewin­

81

nend und dann plötzlich weg.


Sie sah es zum größten Teil im Rückblick, weil sie erst
nicht wusste, was sie eigentlich sah, und den geisterhaf­
ten Moment nacherschaffen, wie eine Zeile Literatur
schreiben musste, und vielleicht war es gar kein Spatz,
sondern ein kleinerer Vogel gewesen, grau und nicht
braun, getüpfelt und nicht gestreift, aber nicht so klein
wie ein Kolibri, und wie sollte sie das genau wissen,
wenn es kein zweites Mal geschah, und selbst dann,
dachte sie, selbst dann noch.

Es ist nicht wahr, weil es nicht wahr sein kann. Rey ist
nicht im Bewusstsein dieses Mannes lebendig oder in
seinem spürbar fraglichen Zeitbezug, seinem Geh-und-
Steh-Kontinuum. Hübsches Wort. Und was bedeutet es?
Sie meinte damit etwas Kontinuierliches, ein kontinu­
ierliches Ganzes, und dabei gibt es nur einen Weg, zwei
Dinge voneinander zu unterscheiden, dieses von jenem,
jetzt von dann, nämlich willkürliche Unterteilungen.
Und genau das kann er nicht.
Sie arbeitete ihren Körper durch, auf dem kalten Boden
zusammengekauert, sich selbst riechend.
Aber es kann nicht wahr sein, dass er von einer Wirk­
lichkeit in eine andere treibt, unabhängig von der zeitli­
chen Logik. Das ist nicht möglich. Du bestehst aus Zeit.
Diese Kraft sagt dir, wer du bist. Schließ die Augen und
spüre sie. Denn die Zeit definiert dein Dasein.
Doch das ist gerade der Punkt, er brandet und sickert
irgendwie in andere Daseinsfelder hinein, in andere Zeit-
Leben, und dies ist Teil seiner Verstörung und Qual.
Irgendwie. Das schwächste Wort in der Sprache. Und
mehr oder weniger. Und vielleicht. Immer vielleicht.

82

Immer musste sie vielleichten.


Sie kniete mit starr emporgerecktem Rumpf, die Beine
hüftbreit auseinander, Kopf zurück, Arme zurück, Bek­
ken vorgeschoben.
Arme herunterfallen lassen.
Rechte Hand überm rechten Fuß baumeln lassen, dann
die linke überm linken.
Alles strömt vom Becken zurück.
Handflächen auf Fußsohlen legen, Hände den Füßen
anpassen.
Die Zeit ist das einzige Erzählen, auf das es ankommt.
Sie dehnt Ereignisse, macht es möglich, dass wir Leid
erfahren und wieder daraus hervorkommen und den Tod
mit ansehen und wieder daraus hervorkommen. Aber
nicht für ihn. Er ist in einer anderen Struktur, einer ande­
ren Kultur, wo die Zeit nur auf sich selbst verweist,
schier und bloß, bar jeder Geborgenheit.
Position halten.
Alles strömt vom Becken zurück zu Brust, Schulter und
Armen, zum wilden, zurückgeworfenen Kopf.
Position halten, normal atmen, dann unnormal.
Wiederholen.

Der Wind fing am Mittag an zu blasen und ließ immer


noch die Fenster klirren, als sie fünf Stunden später durch
die Flure ging.
Das Telefon läutete.
In der Küche ließ er ein Glas Wasser fallen, und sie
streckte einen Arm aus, als sie sah, wie sich die splittrige
Nässe auf dem Holzfußboden ausbreitete.
Von dem schrillen Wind wurde ihr unbehaglich, er
kehrte sie nach innen, schlimmer sogar als auslöschender

83

Schnee oder Eisablagerungen, die Stromleitungen zu­


sammenbrechen lassen.
Sie machte ein Feuer im Kamin, dann ging sie aus dem
Zimmer und die Treppe hoch, lauschte darauf, wie die
Wände den fauchenden Ansturm aufnahmen.
In der Küche sagte sie: »Lass mal.«
Das Beste an diesem Haus waren der Dielenfußboden
in der Küche und das Eichengeländer im Treppenhaus.
Allein die Wörter zu sagen. Die Wörter zu denken.
Sie sagte: »Lass mal«, und streckte einen Arm aus,
hielt eine Hand hin, um ihm zuvorzukommen, falls er
etwa die Scherben aufsammeln wollte. »Ich mach es spä­
ter weg.«
Der Wind hat etwas an sich. Er raubt dir deine Sicher­
heit, arbeitet sich unablässig in dich hinein, lässt dich
spüren, wie insgeheim dünn alles um dich herum ist, das
Holz, aus dem hundert Unterfangen geschnitzt sind – der
pure Pseudo-Fitzelkram.
Jetzt machte sie es weg. Sie wartete nicht auf später.
Der Augenblick trug etwas in sich, das musste sie
festhalten.

Sie ging an das klingelnde Telefon, und am anderen Ende


war Reys Anwalt. Etwas mit Schulden. Er war schwer
verschuldet. Schuldscheine und Obligationen. Er hatte
Schulden, die andere Schulden unter sich begruben. Das
gab ihr ein gutes Gefühl. Das war ihr Rey. Eine Woge
der Zuneigung überschwemmte sie, obwohl die Mittei­
lung sie auch an ihre eigenen dahinschmelzenden Finan­
zen denken ließ. Das war der Rey, den sie kannte, nicht
irgendein anderer. Sie war sich sicher, er hatte die Sach­
lage nicht genau im Blick gehabt oder sie gehörte für ihn

84

so sehr zu seinen normalen Lebensumständen, dass das


Wissen darum nur eine andere Form des Nichtwissens
war. Es nahm nicht mehr Bewusstsein in Anspruch als
ein sanftes Husten an einem Sommertag. Es gab unbe­
diente Kredite, überzogene Konten und längst überfällige
Steuern. Der Mann sagte ihr lauter Zahlen auf, und seine
Stimme klang, als wäre sie patentiert. Er wies auf die
Konsequenzen hin, die finsteren Wege der ehelichen
Verantwortlichkeit. Sie lachte fröhlich und wünschte ihm
viel Glück.

Dann hörte er auf zu essen. Sie setzte ihn an den Tisch


und fütterte ihn eigenhändig. Sie drängte und neckte. Er
nahm etwas Essen zu sich, dann weniger. Sie versuchte,
ihn zum Essen zu zwingen, aber er verweigerte das mei­
ste passiv, mit abgewandtem Kopf, oder nahm es in den
Mund und ließ es wieder rauströpfeln, ließ es runterbau­
meln oder spuckte.
Sie fing selbst an, weniger zu essen. Sie schaute ihn an
und wollte nicht essen. Er aß drei Tage hintereinander so
gut wie nichts, und sie aß wenig mehr. In gewisser Weise
war das passend. Darauf war sie von sich aus nicht ge­
kommen.
Sie schaute ihn an. Armer Teufel. Sie beobachtete ihn
mit der ganzen Intensität der ersten Augenblicke und
Stunden, aber irgendetwas in ihrem Blick fühlte sich jetzt
anders an, fast wie tödliche Hingabe.
Manchmal folgte sie ihm durchs Haus. Sie beobachtete
ihn beim Schlafen. Morgende auf Band, die Fragen und
Antworten, kleine Lektionen und Lernaufgaben, all dies
verschwamm in einem Dunst aus Zufallssätzen und dann
in mehr oder weniger einmütigem Schweigen. Einmal

85

fütterte sie ihn mit Suppe, während er auf der Toilette


saß. Die Tage waren eine tonlose Leier.

Schließlich setzte sie sich ins Auto und fuhr die abgele­
genen Straßen ab, die Forststraßen, all die Orte, wo kei­
ner hingeht, und sie ließ den Wagen stehen und wanderte
durch die Felder bis zum höchsten Punkt, Hügelkuppe
oder Abhang, und suchte die Gegend ab, die Hände an
den Schläfen, und hielt Ausschau nach Mr. Tuttle.
Von weit weg, wie würde er da aussehen, mit seinem
Trippelgang in der welligen Landschaft?
Wie einer, den du leicht übersehen kannst. Wie einer,
den du durchaus siehst, aber in der üblichen auswerten­
den Art nicht recht wahrnimmst.
Wie ein Mann, der sich selbst ein Unbekannter ist.
Wie einer, den du siehst, und dann vergisst du, dass du
ihn gesehen hast. Einfach so, auf der Stelle.
Sie hatte kein Fernglas im Haus gefunden, wozu auch.
Er war nirgendwo hier draußen. Aber sie suchte die
Landschaft stundenlang ab, von verschiedenen Aus­
sichtspunkten aus, die Hände an den Schläfen, um das
gleißende Licht abzuhalten.
Wie konnte sich ein solches Übermaß an Verletzlich­
keit allein auf der Welt befinden?
Weil es so geschaffen ist. Weil es verletzlich ist. Weil
es allein ist.
Oder du siehst ihn kopfüber, so wie das Auge sieht, be­
vor sich das Hirn dazwischenschaltet.
Sie fuhr zum Haus zurück und suchte es komplett ab,
Zimmer für Zimmer, ein weiteres Mal. Sie dachte, sie
würde die Treppen hochgehen und durch den Flur und
nach oben in den zweiten Stock und ihn in dem kleinen

86

Zimmer finden, das von dem großen leeren Raum am


äußersten Ende des Flurs abging, so wie beim ersten Mal,
als er in Unterwäsche auf der Bettkante saß.
Doch als er nicht da war, wusste sie, er würde auch
später nicht da sein, falls das einen Sinn ergibt. Wenige
Schritte, bevor sie die Tür erreichte, wusste sie, er würde
nicht da sein, und er war’s auch nicht. Das hatte sie die
ganze Zeit gewusst.
Ihr blieb nur, durch die Flure zu schlendern und ihn zu
vermissen. Er war so restlos weg, dass wirklich nichts
übrig blieb, nicht ein Hauch von Anwesenheit war haften
geblieben, doch selbst als die Zimmer um sie herum leer
wurden, spürte sie, dass etwas in ihrem Körper versuchte,
ihn hier zu behalten.
Sie rief verschiedene Einrichtungen an, wobei ihr die
Ironie der Situation nicht entging, hörte sich Stimmen
vom Band an und wählte sich von Optionsmenü zu Opti­
onsmenü und sprach manchmal mit jemandem in einer
aufgesetzten Sorgenstimme.
Sie gab sich dafür zwei Tage Zeit. Am Nachmittag des
zweiten Tages sprach sie mit dem Leiter der psychiatri­
schen Abteilung eines kleinen Krankenhauses, etwa eine
Stunde weiter südlich, und er teilte ihr mit, dass ein
Mann, der in etwa ihrer vagen Beschreibung entsprach,
am Vortag eingeliefert worden sei, Untersuchungen stün­
den noch aus.
Sie hakte nicht weiter nach. Sie wollte glauben, dass er
das sei, gepflegt und ernährt werde, sauber und sicher
und medikamentös versorgt – endlich frei, nicht mehr zu
leiden.
Doch warum sollte er das sein? Er war nicht geistesge­
stört. Warum hatte sie überhaupt jemals erwogen, psych­

87

iatrische Anstalten anzurufen, kurz nachdem sie ihn ent­


deckt hatte? Er benahm sich nicht wie ein Verrückter, nur
Formulierungsvermögen und Verständnis waren einge­
schränkt. Warum hatte sie überhaupt jemals gefunden, er
habe etwas Psychotisches an sich, außer in dem Sinne,
dass Menschen, die unsere festen Vorstellungen bedro­
hen, immer für wahnsinnig gehalten werden?
Andererseits konnte es doch er sein.

Sie hatte ein Ding, das sie in den Mund steckte, ein kan­
tiges Utensil, eher klein, aus Plastik, und sie presste es
auf ihren Zungenrücken und kratzte ab, was für Überreste
auch immer sich dort angesammelt hatten, eine Pampe
aus Essen, Schleim und Bakterien.
Das war keine Abwehr der natürlichen Funktionswei­
sen des Körpers. Sie tat es einfach.
Sie kalkulierte die zu erwartenden Erfordernisse. Dann
überschritt sie sie. Zerschmetterte, was daran praktikabel
war. Das musste getan werden. Es war notwendig, die
sichtbare Form zu ändern, bis hin zur Zunge. Sie unter­
drückte etwas, schottete Ventile zum Ich ab, bis hin zu
dem Abgeschrubbten am hintersten Ende der Zunge, das
dem menschlichen Auge verborgen war. Der Geist
zwang es dem Körper auf.
Es war notwendig, weil sie es tun musste. Das machte
es notwendig.

Seine Zukunft ist nicht im Bau befindlich. Sie ist schon


da und zugänglich.
Sie hatte sie auf Band.
Sie wollte nicht glauben, dass dem so war. Es war auch
ihre Zukunft. Es ist auch ihre Zukunft.

88

Sie spielte das Band ein Dutzend Male ab.


Es bedeutet, dein Leben und dein Tod sitzen an Ort und
Stelle und warten nur darauf, dass du die Verabredung
einhältst.
Sie hörte zu, wie er sagte, lass mal. Ich mach es später
weg.
Es ist die Sache, von der du nichts weißt.
Dann sagte sie es selber, ein paar Tage später. Er war
mit ihr dort gewesen. Es war ihre Zukunft, nicht seine.
Wie viel Mythos bauen wir eigentlich in unser Zeiter­
leben mit ein?
Lass mal, sagte sie.
Er hatte gewusst, dass das passieren würde. Diese Wor­
te würde sie wählen. Er war mit ihr dort gewesen.
Ich mach es später weg.
Sie wollte ihre Zukunft selbst erschaffen, nicht in einen
Zustand kommen, der schon nach ihren Konturen gestal­
tet war.
Etwas geschieht gerade. Es ist geschehen. Es wird ge­
schehen. Das glaubte sie. Es gibt eine Geschichte, einen
Strom von Bewusstsein und Möglichkeiten. Die Zukunft
beginnt zu sein.
Aber nicht für ihn.
Er hat die Sprache nicht gelernt. Es muss einen imagi­
nären Punkt geben, einen Nicht-Ort, wo sich die Sprache
mit unserer Wahrnehmung von Zeit und Raum über­
schneidet, und er ist ein Fremder an dieser Kreuzung,
ohne Worte oder Orientierung.
Aber was wusste sie schon? Nichts. Dies ist das Gesetz
der Zeit. Es ist die Sache, von der du nichts weißt.
Sie hörte ihm zu, wie er es sagte, auf dem Band, mit ei­
ner Stimme, die vermutlich ihre war.

89

Aber vielleicht hatte sie es sich auch ausgedacht, gut


möglich, jedenfalls einen großen Teil davon. Nicht von
Anfang an. Aber im Rückblick, in der Erinnerung.
Aber sie hatte es auf Band, und es war er, und er sagte
es.
Dann sagte sie es selber, aber was soll’s. Was soll’s,
wenn sie dasselbe mit denselben Worten sagte.
Heißt gar nichts. Wenn Leute dasselbe sagen.
Sie hatte auf Band, wie er es sagte, aber vielleicht hatte
sie auch falsch in Erinnerung, was sie selbst gesagt hatte,
als er das Wasserglas fallen ließ, gut möglich. Vielleicht
war es anders gewesen. Eine Spur, sehr, einigermaßen
anders.
Aber was soll’s, wenn es dasselbe ist.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind keine aus­
schließlichen Vorzüge der Sprache. Die Zeit entfaltet
sich in die Fugen des Daseins hinein. Geht durch dich
hindurch, formt und gestaltet.
Aber nicht, wenn du er bist.
Dieser Mann erinnert sich an die Zukunft.
Lass mal. Ich mach es später weg.
Aber wenn du die Angelegenheit systematisch unter­
suchst. Sei klug, dachte sie, und analysiere kühl. Nimm
auseinander und prüfe.
Wenn du die Angelegenheit systematisch untersuchst,
wird dir klar, dass er ein zurückgebliebener Mann ist, mit
rührenden Talenten in ganz bestimmten Spezialgebieten,
etwa Gedächtnisleistung und Mimikry, ein Mann, in ei­
nem großen Haus versteckt, lauschend.
Alles andere ergibt keinen Sinn.
Auch wenn es keiner versteht, es formt und gestaltet
dich. Und in den Nächten, seit er weggegangen war, saß

90

sie manchmal mit einem Buch auf dem Schoß, die Augen
geschlossen, und spürte, wie er irgendwo im Dunkeln
lebte, und wo er sich befindet, ist es kälter, winterlicher,
und sie wollte ihn am liebsten hereinholen, versuchen,
ihn in den Winkeln kennen zu lernen, wo sein Chaos lau­
ert, bis dorthin, wo die Ecken abgeschliffen sind und die
Worte sich enträtseln, in den Teilen der Rede, wo er sein
Dasein orten könnte, und an dem konkreten Ort, wo Rey
in ihm lebt, wieder lebendig geworden, Wort für Wort,
Berührung für Berührung, und sie öffnete und schloss die
Augen und dachte mit einem Blinzeln, dass die Welt sich
verändert hatte.
Er verletzt die Grenzen des Menschseins.

Eine Zeit lang hörte sie auf, ans Telefon zu gehen, wie
sie es seit den ersten Tagen der Rückkehr gelegentlich
mal getan hatte, und als sie wieder dranging, sprach sie
mit einer anderen Stimme.
Ihre Augen mussten sich an den Nachthimmel gewöh­
nen. Sie entfernte sich vom Haus, von seinem elektri­
schen Lichtschwall, und der Himmel wurde tiefer. Sie
schaute lange hin, und er breitete sich allmählich immer
mehr aus und schmolz und wurde immer tiefer, entwik­
kelte Schichten und Helligkeiten und Lichtjahre in derart
unerreichbaren Dimensionen, dass irgendwer Idiotenna­
men erfinden musste, um die Anordnungen von Einsern
und Nullen und Potenzen und Mächten und Herrschaften
darzustellen, denn nur die Schlafengehenssprache der
Kindheit rettet uns vor Ehrfurcht und Scham.
Zuerst gehörte die Stimme, mit der sie am Telefon
sprach, zu niemandem, zu einem allgemeinen, neutrali­
sierten Menschen, doch dann fing sie an, mit seiner zu

91

sprechen. Es war seine Stimme, ein trockenes hohles


Piepsen, ein Vogel auf ihrer Zunge.

92

Körperkunst in extremis:

Langsam, karg und schmerzhaft

Wir sitzen in dem schummrigen oberen Raum eines ara­


bischen Cafés in Cambridge, Massachusetts, und Lauren
Hartke isst einen Ziegenkäsesalat, stochernd, als wäre sie
wütend darauf.
Zwischen zwei Bissen erzählt sie von ihrem neuen Per­
formance-Stück, das sie kürzlich in einem Kellergewölbe
des Boston Center for the Arts gezeigt hat.
Sie hat sich für diesen Anlass in schockierender Weise
verändert, und obwohl die kurze Laufzeit des Stücks zu
Ende ist, sieht sie weiterhin – ja, ausgemergelt aus.
Ihre Haut ist nicht blass, sondern eigentlich farblos,
blutlos und alterslos. Hartke ist spitzknochig und etwas
glubschäugig. Ihre Haare wirken terroristisch. Nicht kurz
geschnitten, sondern abgefetzt, und der natürliche kasta­
nienfarbene Glanz ist einem aschfahlen Weiß gewichen,
mit schwachen rosa Spuren.
Kann ich das Wort »Albino« verwenden und je wieder
zum Mittagessen in diese Stadt kommen?
»Alles Eitelkeit. Sonst nichts«, sagt sie. »Aber Eitelkeit
ist wesentlich für einen Schauspieler. Eine Leere. Daher
kommt das Wort vanitas auch. Und daran arbeite ich,
darauf baue ich auf.«
Hartke, 36, war mit dem Filmregisseur Rey Robles
verheiratet, als er Selbstmord beging. Ihr Vater, Dr. Ro­
bert Hartke, ist ein klassischer Gelehrter, der sein Ren­
tenalter als freiwilliger Mitarbeiter bei Ausgrabungen in
der Ägäis verbringt. Ihre verstorbene Mutter, Genevieve
Last, spielte Harfe im Milwaukee Symphony Orchestra.

93

Ihr älterer Bruder Todd ist China-Experte im Außenmini­


sterium.
»Ich weiß nicht, ob sich das Stück so entwickelt hat,
wie ich es wollte«, sagt sie gerade. »Einiges davon geht
mir immer noch im Kopf herum und nimmt ständig neue
Konturen an.«
Das Stück, Körperzeit, hat sich für drei Abende in die
Stadt geschlichen, ohne jegliche Werbung, abgesehen
von Mund-zu-Mund-Propaganda, und ein motiviertes
Publikum angezogen, dessen Aufmerksamkeit allerdings
im Verlauf des Abends nicht immer gleich intensiv war.
Hartke wollte ganz unverkennbar, dass ihre Zuschauer
das Vergehen der Zeit spüren, aus dem Bauch heraus,
schmerzhaft geradezu. Und so kam es auch; einige der
weniger Eingefleischten verließen das Theater.
Sie haben das Beste verpasst.
Hartke ist eine Künstlerin, die in ihrer Körperperfor­
mance versucht, den Körper abzuschütteln – ihren jeden­
falls. Da gibt es den Mann, der in einer Kunstgalerie
steht, während ein Kollege ihm Kugeln in den Arm
schießt. Das ist Kunst. Oder den üppig tätowierten Mann,
der sich mit einer Dornenkrone schmückt. Das ist Kunst.
Hartkes Werk ist nicht auftrumpfend oder selbstzerflei­
schend. Sie spielt, ist ständig dabei, jemand anders zu
werden oder eine andere archetypische Identität zu erfor­
schen. Da gibt es die Frau, die mit ihrer Vagina malt. Das
ist Kunst. Da gibt es den nackten Mann und die nackte
Frau, die wiederholt immer schneller ineinander rennen.
Das ist Kunst, Sex und Aggression. Da gibt es den Mann
im blutigen Damenslip, der einen Berg Hamburger-
Fleisch besteigt. Das ist Kunst, Sex, Aggression, Kultur­
kritik und Wahrheit. Da gibt es den Mann, der sich Nägel

94

in den Penis hämmert. Das ist Wahrheit, sonst nichts.


Hartkes Stück beginnt mit einer alten japanischen Frau
auf einer kahlen Bühne, die stilisierte Gesten nach Art
des Nô-Theaters vollführt, und es endet etwa fünfund­
siebzig Minuten später mit einem nackten Mann, abge­
zehrt und sprachgestört, der verzweifelt versucht, uns
etwas mitzuteilen.
Ich habe zwei der drei Vorstellungen gesehen, und ich
habe keine Ahnung, wie Hartke es schafft, ihren Körper
und ihre Stimme derart zu verändern. Sie spricht nur
ganz allgemein über das Thema.
»Der Körper ist nie mein Feind gewesen«, sagt sie.
»Ich habe mich immer eins mit meinem Körper gefühlt.
Ich habe ihm Dinge beigebracht, die andere Körper nicht
können. Ich kann in meinem Körper versinken, aber ganz
unbeteiligt. Ich versuche, zu analysieren und neu zu ge­
stalten.«
(Eine persönliche Anmerkung. Hartke und ich waren
zusammen auf dem College und sind seither ziemlich
regelmäßig in Verbindung geblieben. Wir haben oft über
Philosophie diskutiert. Ich habe mir Vorlesungen ange­
hört. Sie war verrückt genug, Philosophie im Hauptfach
zu studieren, bis sie die Universität verließ, um sich einer
Truppe anzuschließen, die in Seattle Straßentheater
machte.)
Weite Teile des Stücks sind mit Klanguntermalung, die
anonyme Roboterstimme eines Anrufbeantworters
spricht eine Standard-Ansage. Diese endlose Tonschleife
fügt sich in das visuelle Gewebe der Performance ein.
Die Stimme beeinflusst besonders den Mittelteil. Hier
tritt eine Business-Frau im Hosenanzug mit Aktentasche
auf, schaut abwechselnd auf die Uhr und versucht, ein

95

Taxi anzuhalten. Dabei geht sie recht stilisiert (womög­


lich inspiriert durch die ältere Japanerin) von einer Hand­
lung zur anderen über. Das macht sie viele Male, unzäh­
lige Male. Dann macht sie es wieder, mit einer halben
Pirouette in extremer Zeitlupe. Entweder sitzt man da
und schaut und hört hypnotisch fasziniert zu, körperlich
und geistig in der Schwebe gehalten, oder man wirft ei­
nen Blick auf die eigene Armbanduhr und schleicht den
Gang hinunter und hinaus in die Nacht.
Hartke sagt: »Ich weiß, dass einige Leute das Stück zu
langsam finden, voller Wiederholungen wahrscheinlich,
und zu ereignisarm. Aber vermutlich ist es eher zu ereig­
nisreich. Ich habe zu viel hineingepackt. Es müsste kar­
ger sein, noch langsamer, als es schon ist, noch länger,
als es schon ist. Es sollte drei Stunden dauern, verdammt
noch mal.«
»Warum nicht vier? Warum nicht sieben?«
»Warum nicht acht?« sagt sie.
Ich frage sie nach dem Video, das während des gesam­
ten Stücks läuft, auf die Rückwand projiziert. Es zeigt
lediglich eine zweispurige Landstraße mit spärlichem
Verkehrsaufkommen. Ein Auto fährt in die eine Rich­
tung, ein Auto in die andere. Ein digitaler Display zeigt
die Zeit an.
»Es hat mit Vergangenheit und Zukunft zu tun«, sagt
sie. »Was man erfahren kann und was nicht.«
»Aber hier erfahren wir beides.«
»Wir erfahren beides. Wir sehen beides«, sagt sie, und
mehr sagt sie nicht.
Ich sitze da und warte. Ich stochere in meinem Baba
Ghanouj. Ich betrachte Hartke. Was ist Baba Ghanouj
überhaupt?

96

»Vielleicht geht es eigentlich darum, die Zeit anders zu


sehen«, sagt sie nach einer Weile. »Die Zeit anzuhalten
oder auszudehnen oder zu öffnen. Ein Stilleben zu schaf­
fen, das lebt, nicht gemalt ist. Wenn die Zeit anhält, tun
wir es auch. Wir halten nicht an, wir werden entblößt und
weniger selbstsicher. Ich weiß nicht. Bei Träumen oder
hohem Fieber oder Drogen oder Depressionen. Verlang­
samt sich die Zeit da nicht, scheint anzuhalten? Was
bleibt? Wer bleibt?«
Der letzte ihrer Körper, der nackte Mann, ist jeglicher
erkennbaren Sprache und Kultur entblößt. Er bewegt sich
eigenartig, wie in einem dunklen Raum, nur langsamer
und gestischer. Er will uns etwas mitteilen. Seine Stimme
ist ab und zu hörbar, auf Band, und Hartke bewegt die
Lippen zum Playback.
Hat mir je eine Figur auf der Bühne einen so einsamen
Menschen gezeigt?
Seine Worte sind letztlich ein Monolog ohne Kontext.
Verben und Pronomen fliegen durch die Luft, und dann
geschieht etwas Verblüffendes. Der Körper springt auf
eine andere Ebene. Er zuckt wie unter Strom und fuchtelt
sich außer Kontrolle, peitscht und wirbelt in abstoßender
Weise. Hartke zwingt ihrem Körper Dinge ab, die ich
bisher nur aus Zeichentrickfilmen kannte. Es ist ein An­
fall, der den Mann aus einer Wirklichkeit hinaus und in
eine andere hineinzukatapultieren scheint.
Das Stück kann zu Ende gehen.
Ich hole tief Luft und stelle die Frage, die ich nicht stel­
len möchte. Sie betrifft Rey Robles, ihre kurze Ehe und
den Schock seines Selbstmords.
Sie schaut durch mich hindurch. Ich beharre, beschämt,
und erinnere sie an das eine Mal, als wir zu dritt waren,

97

in Rom, und Rey mit einer streunenden Katze auf der


Schulter zum Abendessen erschien.
Die Erinnerung tritt in ihre Augen, und sie sackt ein
wenig in sich zusammen. Ich möchte am liebsten dem
Apparat die Schuld geben, der auf dem Tisch steht. Es ist
ein ergonomisch korrektes, zehn Zentimeter langes, vier­
zig Gramm schweres, Nachrichten speicherndes digitales
Aufnahmegerät, und dieser Teufel hat mich zu der Frage
getrieben.
Sie schaut ins Leere.
»Wie einfach wäre es, wenn ich sagen könnte, dieses
Stück ist direkt aus dem entstanden, was mit Rey gesche­
hen ist. Kann ich aber nicht. Schön wär’s, wenn ich sagen
könnte, hier geht es um Geschlechterkampf versus Tod.
Ich möchte das gern sagen, aber ich kann’s nicht. Worum
es geht, ist zu klein und abseitig und kompliziert, und ich
kann und kann und kann es nicht.«
Dann tut sie etwas, das mich auf meinem Stuhl erstar­
ren lässt. Sie schaltet auf eine andere Stimme um. Es ist
seine Stimme, die des nackten Mannes, und sie klingt
gespenstisch wie ein Blasinstrument im Schrank. Nicht
vom Band, sondern live. Nicht Playback, sondern echt.
Die Stimme spricht zu mir, aber ich höre nicht hin. Ich
suche das Gesicht meiner Freundin, und ich sehe sie
nicht richtig. Ich weiß nicht genau, was sie da tut. Man
möchte fast glauben, sie hat männliche Geschlechtsteile,
wie im Stück, eine Prothese natürlich, und vielleicht ei­
nen breiten fleischfarbenen Verband, einen Zensurbalken
für ihre Brüste, mit einem aufgeklebten Büschel Brust­
haare. Oder sie hat ihren Oberkörper so trainiert, dass er
schrumpft, und ihren Unterkörper, dass er sprießt. Ist ihr
alles zuzutrauen.

98

Sie sagt, sie gehe auf die Toilette. Als eine Kellnerin
mit der Rechnung kommt, fällt mir ein, dass ich den Re­
korder jetzt abschalten kann.
Die Kraft des Stücks liegt in Hartkes Körper. Manch­
mal macht sie Weiblichkeit so geheimnisvoll und stark,
dass beide Geschlechter und eine Reihe namenloser Zu­
stände darin enthalten sind. Bisher hat sie so manche
Körper zum Leben erweckt, Heranwachsende, Wunder­
heiler, eine 120 Jahre alte Frau, die nur von Joghurt lebte,
und, unvergesslich, einen schwangeren Mann. In diesem
Stück ist ihre Kunst hermetisch, langsam, schwierig und
manchmal quälend. Doch niemals ist es die großspurige
Qual erhabener Bilder und Bühnendekorationen. Hier
geht es um Menschen wie du und ich. Was mit dem ein­
samen Anderssein beginnt, mündet in Vertrautheit, ja,
Intimität. Es geht darum, wer wir sind, wenn wir gerade
nicht inszenieren, wer wir sind.
Ich sitze da und warte auf Hartke, aber sie kommt nicht
zurück.
Mariella Chapman

99

KAPITEL 7

Das tote Eichhörnchen, das du in der Einfahrt siehst, tot


und geköpft, entpuppt sich als ein verknüllter Streifen
Sackleinwand, aber dennoch schaust du, gehst du mit
einer Mischung aus Schrecken und Mitleid daran vorbei.

Wegen der Einsamkeit. Weil Rauchwolken aus den Sen­


ken zwischen den bewaldeten Hügeln quollen und die
Farne von der Zeit braun versengt waren. Streng wie ein
Urteil war das Ödland mit seinen Schattierungen
versengter Erde unter verdunkeltem Himmel, und die
vom Meer verstreuten Felsen am Rand der Nadelwälder
strahlten ein altes, steiniges Temperament aus, das Uner­
bittliche abgelegter Schwüre und zäher Halsstarrigkeit.
Und weil er gesagt hatte, was er gesagt hatte, nämlich
dass sie am Ende hier sein würde.
Sie hatte einen schmuddligen Sweater, einen Pullover,
den sie versehentlich falsch herum anzog, und dann stand
sie da und überlegte, ob sie ihn ausziehen und richtig
wieder anziehen oder das leicht unbequeme Gefühl des
Pulloverkragens, der zu hoch am Hals saß, ertragen soll­
te. Der Pullover hatte einen Rundkragen. Sie spürte das
kratzende Etikett an der Kehle. Nicht kratzend, etwas
anderes, und sie schlüpfte mit Zeige- und Mittelfinger in
den Kragen, Ellbogen hoch und auswärts gereckt, und
dachte sich in die Unentschiedenheit ihrer Entscheidung
hinein.
Grimmiger Winter, hieß es, grimmig.

100

Aber sie ist wieder hier, im Haus, wie er vorhergesagt


hatte, über das Ende der Mietvereinbarung hinaus. Sie
weiß seine genauen Worte zwar nicht mehr. Aber so hat
sie ihn verstanden, oder seine ungenauen Worte, oder
seine deutliche oder unklare Absicht. Sie hat die Mietzeit
verlängert, welche Worte er auch immer benutzt hatte,
und sie weiß, das hat sie beschlossen, um die Wahrheit
seiner Bemerkung umzusetzen, was wohl jedwede Wahr­
heit, die ansonsten existiert haben könnte, ungültig
macht. Nicht die Umstände haben sie hier festgehalten
oder ein überraschender Zufall, nur seine Bemerkung, an
die sie sich kaum erinnern kann.
Sie zog den Pullover aus und stieß mit der Hand an die
Hängelampe, immer vergaß sie, dass die da hing, dann
zog sie den Pullover wieder über den Kopf, die Vorder­
seite nach vorne, so wie die sich das in Taiwan gedacht
hatten.
Sie wusste, es war halb sechs, und schaute auf ihre
Armbanduhr. War es auch.
Immer wenn sie sich nicht erinnern konnte, wie er aus­
sah, beugte sie sich zu einem Spiegel, und da war er,
nicht wirklich, nur angedeutet, eigentlich fast gar nicht,
aber doch irgendwie anwesend, in einer bestimmten Art
zu denken, in einigen Spiegeln mehr als in anderen, mehr
als eine klägliche Wiedergabe, abhängig von der Uhrzeit,
vom Licht und von der Qualität des Spiegelglases, von
den Strategien des Spiegelglases mit seiner Umkehr von
Links und Rechts, in diesem Zimmer oder jenem, denn
jedes Bild in jedem Spiegel ist virtuell, selbst wenn du
erwartest, dich selber zu sehen.
Sie stieg die Treppe hoch, berührte den Knauf des Ge­
länderpfostens, als sie oben ankam. Das tat sie immer,

101

weil sie die Körnung des Eichenholzes einfach fühlen


musste, die eingekerbten Spuren und Furchen im Holz.
Der Pfosten verjüngte sich zu einem Akanthus-Muster
und war so ungefähr das Beste am ganzen Haus, zusam­
men mit dem Dielenboden in der Küche.
Sie schaute sich Kotka an, nach dem Abendessen, in
Finnland.
Fünf Tage hintereinander fuhr sie hinaus zum Kap, zur
Landzunge, weil die stehenden Möwen, etwas dämlich
auf ihren Stelzenbeinen, all die im Fels gebundene Zeit
zum Fliegen bringen, sobald sie sich schräg in die Lüfte
erheben, sie der Geologie, der Wissenschaft und dem
Geist entreißen und ihr Auftrieb und Höhe und Fülle ge­
ben, in ihre Flugmuskeln pumpen, den Blutfluss, die
hämmernden Herzen, metronomischen Herzen – und weil
sie wusste, dies war der Tag, da es geschehen würde.
Sie lauschte dem Geräusch des Wachspapiers an der
gezackten Kante der Schachtel, als sie das Papier von der
Rolle riss.
Die Heizkörper fingen an zu scheppern, was jetzt häu­
figer vorkam.
Sie setzte sich, um zu essen, was auf ihrem Teller lag,
und dachte, ich habe keinen Hunger. Das Telefon
klingelte. Manchmal dachte sie in Worten, geradeheraus
und durchformuliert. Sie wusste nicht mehr genau, wann
das angefangen hatte, vor einem Tag oder einem Monat,
weil es ihr vorkam, als wäre es schon immer so gewesen.
Vielleicht glaubte sie, sie könnte sich seiner Wirklich­
keit ausliefern, die Logistik von Wort und Gedanke he­
rausfinden, denn so schien er sich durch eine Aussage
oder ein Zimmer hindurchzumanövrieren.
Vielleicht gibt es Situationen, da gleiten wir in eine an­

102

dere Wirklichkeit hinein, können uns aber nicht daran


erinnern, können es auch nicht zugeben, weil das zu ver­
heerend zu verarbeiten wäre.
Dies würde passieren. Sie spielte es im Geist bis zu ei­
nem bestimmten Punkt durch, in den Zimmern und Flu­
ren, und dann brach es ab.
Sie wanderte die Forststraße entlang, vorbei an der
Bruchbude mit dem frisch bemalten weißen Kreuz auf
dem First des Ganzdachhauses und dem ERLÖST!­
Schild draußen davor.
Sie putzte das Bad, benutzte das Desinfektionsmittel
aus der Flasche mit der Spraypistole. Dann hielt sie sich
die Mündung der Spraypistole an den Kopf und sah sich
bei dem, was jeder vielleicht tun würde, wenn er allein
ist, egal in welcher Lebenslage. Es war die Fichtennadel-
Flasche, die Kachel-und-Fugen-Reiniger-Flasche mit
dem Pistolengriff, der Schimmelkiller, und sie hielt sich
die Schnauze, die Mündung an den Kopf, Finger am Pla­
stikabzug, und um die Wirkung zu steigern, ließ sie noch
die Zunge heraushängen.
Das tun Menschen, dachte sie, wenn sie allein in ihren
Leben sind.

Sie war in gewisser Hinsicht glücklich, in vielerlei Hin­


sicht, eingehüllt in Hoffnung, weil sie das Haus hatte, zu
dem sie zurückkehren konnte, wenn sie lange Morgende
in Strauch- und Gelbkieferwäldern umhergestreift war
und Sumpfpflanzen für ihn aufzählte, durchbuchstabierte,
oder ganze Nachmittage, an denen sie über die massiven
Granitflächen draußen am Kap, am Vorgebirge kroch
und das sich zusammenbrauende Wetter beobachtete, die
Federbüsche der immer höher schießenden, donnernden

103

Brandung, mit der Hand über zottige Büschel Irischmoos


streichend, denn dies würde geschehen, wenn sie zurück­
kehrte, wissend, sie würde die Treppe hochsteigen, den
Knauf des Geländerpfostens auf dem Treppenabsatz be­
rühren und den Flur entlanggehen, in seine Zeit hinein.

Die Geschichten, die sie sich erzählte, schienen nicht


ganz zu ihr zu gehören. Sie steckte so unbekümmert dar­
in, dass man meinen konnte, sie kämen aus einer tieferen
Quelle, was auch immer das bedeuten mochte, aus etwas,
das langsam Besitz von ihr ergriff. Woher kamen sie
denn? Nicht aus der Zeitung. Sie hatte seit einiger Zeit
keine Zeitung mehr gelesen. In der Stadt schaute sie sich
eine an, im Supermarkt, nur die Titelseite, und das sah
nach einem völlig anderen Zusammenhang aus, einer
schlüpfrigen Hysterie von Bild und Druckerschwärze, wo
die Welt so flüchtig leicht zu lieben und zu hassen war,
so verlässlich und vergessenswert in ihren Rezepten und
Kriegen und Druckfehlern.
Als sie aus dem Geschäft trat, sah sie die japanische
Frau auf sich zukommen, die weißhaarige Frau, und sie
trug eine gepolsterte Jacke und hielt ihre Hände verbor­
gen. Die Hände steckten zu Fäusten geballt in ihren Jak­
kenärmeln, gegen die Kälte, und sie beobachtete die
Frau, deren Ärmelenden leer zu sein schienen, und ver­
fluchte sich, dass ihr das nicht für ihr Stück eingefallen
war, denn es war fantastisch, mehr brauchte sie von der
Frau gar nicht zu wissen, und es wäre perfekt für das
Stück gewesen, unerklärlich fehlende Hände, und sie
quälte sich mit dem Geheimnis einer gestikulierenden
Gestalt, halb ausgeleuchtet, ohne Hände, und lächelte die
Frau verlogen an, als sie an ihr vorbeiging.

104

Warum nicht hineinsinken? Soll der Tod dich herunter­


holen. Gib dem Tod seinen Schwung.
Warum sollte dich der Tod eines Menschen, den du
liebst, nicht in tiefes Unglück stürzen? Du weißt nicht,
wie du die Menschen, die du liebst, lieben sollst, bis sie
plötzlich verschwunden sind. Dann erst begreifst du, wie
spröde distanziert du ihrem Leiden oft gegenübergestan­
den, wie sehr du dich oft geschont, dich nur selten mit
unbewehrtem Herzen gezeigt und deine Vernetzungen
von Geben und Nehmen bedient hast.
Sie bewegte diese Gedanken und war ganz davon er­
füllt. Augen, Geist und Körper. Sie war unbemerkt in den
abschüssigen Straßen der Stadt unterwegs, bewegte diese
Gedanken, kaufte Lebensmittel und Haushaltswaren und
spielte diese Überlegungen bis zu einem bestimmten
Punkt durch, auf dem langen Flur, zwischen Schlössern,
Werkzeug und Glas.
Warum sollte sein Tod dich nicht in einen totalen Auf­
ruhr, in einen gewänderzerreißenden Kummer stürzen?
Warum solltest du seinen Tod annehmen? Oder dich in
schmallippiger, geschmackvoller Trauer ergeben? War­
um solltest du Rey aufgeben, wenn du den Flur entlang­
gehen und eine Möglichkeit auftun kannst, ihn in Reich­
weite zu haben?
Tiefer sinken, dachte sie. Soll der Tod dich herunterho­
len. Geh, wohin er dich bringt.
Manches Mal dachte sie in diesen Anweisungen,
richtete sie an jemanden, der nicht ganz sie war, andere
Male anders. Sie dachte sich Gesichter da in der Luft, das
des kleinen, vermissten Mannes knapp vor ihren
knochigen Augenhöhlen, wenn sie sich daran erinnern
konnte.
Ich bin Lauren. Aber immer weniger.

105

Als sie aus dem Auto stieg, war jemand da. Sie war noch
nicht draußen, noch halb drinnen, fing gerade an, sich
aufzurichten, und über ihr ragte eine Gestalt in der Ein­
fahrt auf.
Beinahe wäre sie auf den Sitz zurückgefallen. Ein
Schock. Sie schaute zu ihm hoch, ein massiger Mann im
mittleren Alter, der mit ihr redete.
Als sie sich zu voller Größe aufrichtete, konnte sie
auch einen kurzen Blick auf sein Auto werfen, das neben
dem Haus geparkt war. Sie hörte ihm zu. Sie versuchte,
seinen Worten zuzuhören und die Situation zu entschlüs­
seln, die Grenzen präzise festzulegen.
»Ihnen versichern, dass ich Sie nicht stören möchte.
Habe mehrmals versucht, Sie anzurufen. Keiner drange­
gangen. Ich verstehe das völlig. Sie sind hier, weil Sie
Abstand dazu kriegen wollen.«
»Und Sie sind hier?«
Inzwischen war sie wütend. Das Aufragen und dessen
bedrohliche Wirkung verblassten allmählich. Die Angst
schmolz langsam in ihren Körper zurück, in den Blut­
kreislauf und die Nervenstränge, die Riffeln ihrer Finger­
spitzen, und sie schloss energisch die Autotür, sie knallte
die Tür zu.
»Um über das Haus zu sprechen«, sagte er in ziemlich
distanziertem Tonfall. »Wie es aussieht, gehört dieses
Haus immer noch mir. Meiner Frau und mir.«
Er trat zurück und drehte sich halb um, warf einen
Blick auf das Haus, brachte es konkret ins Gespräch –
sein Haus. Nun, da er hingeschaut hatte, bestand kein
Zweifel mehr.
»Und es gibt etwas, das Sie besprechen wollen.«

106

»Ja, genau«, sagte er und schien in eine Art Rosigkeit


auszubrechen, erfreut über ihre schnelle Auffassungsgabe.
Eine Pause entstand. Der Mann hatte etwas leicht Ab­
gewetztes an sich, ein Unbehagen, das sich über viele
Jahre hinweg gebildet haben mochte.
Sie sagte: »Wer bittet wen herein?«
Er hob die Hände.
»Nicht nötig. Glaub ich nicht. Nein, nein, wirklich.«
Dann lachte er über ihre Bemerkung. Endlich erreichte
sie ihn, und er lachte, zeigte sepiabraune Zähne. Sie war­
tete. Langsam erwachte ihr Interesse. Sie spürte allmäh­
lich, dass sie in etwas hineinpasste, sich hier draußen
immer wohler fühlte, in der Einfahrt, zusammen mit dem
Hausbesitzer.
»Ist es denn zu Ihrer Zufriedenheit gewesen?«
»Weitgehend schon, denke ich.«
»Weil, wenn irgendwas ist.«
»Nein, es ist in Ordnung, denke ich. Zimmer.«
»Ja.«
»Zimmer und Zimmer.«
Es war kalt. Sie fragte sich, ob es so kalt hatte werden
sollen.
»Ja«, sagte er. »Im Familienbesitz. Mal sehen, seit
Ewigkeiten. Aber die Instandhaltung.«
»Denk ich mir.«
»Viel Arbeit, viel Reparaturen. Wir waren schon immer
eine vielköpfige Familie, fürchte ich. Ein endloses
Schicksal, wissen Sie, Renovieren und Neustreichen.
Irgendwas ist immer zu reparieren.«
Sie wartete darauf, dass er in diesem Zusammenhang
Alma erwähnte, seine Frau, und die Tatsache, dass die
Kinder erwachsen waren und inzwischen woanders lebten.

107

»Und wir hatten eigentlich gehofft.«


Sein Körper streckte sich, reckte sich schräg empor, in
einer kleinen Offenbarung freudiger Erwartung. In dieser
Haltung sah sie in ihm einen Mann, der versuchte, sich
aus Zwang und lebenslanger Scheu zu lösen.
»Dass es Ihnen nichts ausmachen würde.«
Sie hörte zu, sah die Worte praktisch vor sich und fand
ihn ein bisschen sympathischer und fühlte sich, mit wa­
cher Leichtigkeit, im Innern des Augenblicks.
»Ja.«
»Sehen Sie, da gibt es eine Kommode. Sie steht in ei­
nem der Zimmer oben. Verpackt, glaube ich. Wahr­
scheinlich in dieses gefütterte Material verpackt, das
verwendet wird. Vielleicht ist die Ihnen schon mal aufge­
fallen. Sie sollte nämlich weggebracht werden, abtrans­
portiert, ja, und dann, Sie wissen ja, solche Dinge ge­
schehen nicht immer, wenn sie es sollten. Es ist ein fein
gearbeitetes Stück, in zwei Teilen, und ziemlich alt.«
Das hatte er doch gar nicht sagen sollen.
»Eines der unbenutzten Zimmer im obersten Stock,
verpackt in Decken. Und was wir gern tun würden«, sag­
te er.
Sie bemerkte das Gespinst der Blutgefäße in seinem
Gesicht, ein massiger Mann, jawohl, der zurechtkam, der
in die Jahre kam, seine Haut allmählich gespannt, tiefer
werdende Augenfalten, und eigentlich hatte er etwas zu
Mr. Tuttle sagen sollen, warum der weg war und wohin
und was es noch alles über diesen Mann zu sagen gab,
zur Aufklärung, zur Erläuterung, zur Untersuchung.
»Wäre, wenn wir jemanden schicken würden, um sie
abzuholen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wir haben
versucht anzurufen, und die Frau hat angerufen, die Mak­

108

lerin. Es ist ein altes Familienstück. Wir dachten, wir


würden sie gern aufarbeiten lassen und sie in unser
Schlafzimmer stellen, zu Hause. Wir haben seit einiger
Zeit darüber gesprochen. In unser derzeitiges Zuhause
natürlich. Und dann kam das eine und das andere dazwi­
schen.«
Er hatte Angst, mit dem Reden aufzuhören, weil sie in
keiner Weise reagiert hatte, weder so noch so, und sich
aus der Situation zurückzuziehen schien. Er trat einen
Schritt nach hinten und vollführte eine weitere halbe
Drehung, und da standen sie in der Kälte, der Besitzer
und die Mieterin in der Einfahrt, unbestimmt zum Haus
blickend.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie er aussah, und


vergaß seinen Namen. Aber nur kurz. Es war nur kurz,
und es war nicht sein Name. Es war der Name, den sie
ihm gegeben hatte.
Am Morgen hörte sie das Geräusch.
Sie wusste, es war ungefähr zwanzig nach sieben, und
schaute auf die Küchenuhr. War es auch.
Sie begriff sofort, dass es sich nicht um das Geräusch
aus dem zweiten Stock handelte. Es war anders, nicht so
hoch im Haus und weniger flüchtig als zuvor.
Sie suchte langsam die Zimmer ab, wusste, dass es so
geschehen würde, als Gesang, die singende Stimme eines
Mannes, seine, die den Takt ihres Weges nach oben an­
gab, die Beugung ihrer Hand auf dem Geländerpfosten
bemaß. Hier sein ist zu mir gekommen. Wegen der Ein­
samkeit an der Küste in dieser Jahreszeit, und weil sie
den Geländerpfosten jedes Mal berühren musste.
Sie ging am Treppenabsatz weiter, in den Flur hinein,

109

fühlte sich, wie immer sie sich gerade fühlte, entblößt,


offen, das Gegenteil von vielschichtig vielleicht, falls das
einen Sinn ergibt, und sie war sich bei jedem Schritt der
Welt bewusst.
Sie wusste, wie es geschehen würde, als sie mit dem
Wagen an den NEU/GEBRAUCHT-Schildern vorbei­
fuhr, in jedem Anbauschuppen lag Feuerholz gestapelt,
oder bedeckt mit blauer Plane neben Garagen und
Scheunen. Sie würde zum Haus zurückkehren und die
Treppen erklimmen, vorbei an AUTOTEILE und
SCHWEISSARBEITEN, und den Flur im ersten Stock
entlanggehen, in gesungener Bewegung, sich einem Kör­
per anpassend, der dabei war, ihrer zu werden.
Sie konnte ihn in der Brust und der Kehle hören, wie er
hypnotisch sprach, und sie näherte sich der Tür zu ihrem
Zimmer, ihrem Schlafzimmer, das weiter unten im Haus
lag. In dem Zimmer oben stand nichts als eine Kommo­
de, verpackt in Speditionsdecken. Seine Zeit war hier,
sein Maß oder seine Dimension oder mit welcher forcier­
ten Formulierung du es auch immer bezeichnen wolltest.
Sie war eine Närrin, tausendfach. Sie näherte sich der
Tür und war auf diese und auf jene Weise eine Närrin,
aber nicht in ihrem Zimmer, an AUTOWERKSTATT
und NEU/GEBRAUCHT vorbeifahrend, wo Feuerholz
unter Leinwand und Segeltuch gestapelt lag, denn an
diesem Ort war Rey intakt, in seinem wirklichen Körper,
Rauch in Haar und Kleidung.
Sie wusste, wie es geschehen würde, über den Punkt
des Durchspielens hinaus, denn sie weigerte sich, den
Grenzen der Konventionen zu gehorchen.
Sobald sie ins Zimmer tritt, wird sie bereits dort gewe­
sen sein, jetzt, nachts, beim Ausziehen. Es kommt darauf

110

an, dass sie sich dem Augenblick anpasst, einen schmudd­


ligen Pullover abstreift, den Rücken zum Bett gewandt.
Sie steht barfuß da, streckt einen Arm aus dem Pullover
und stößt oben mit der Hand an etwas. Die Hängelampe
fällt ihr ein, völlig falsch für dieses Zimmer, der Metall­
schirm wackelt, und dann dreht sie sich um und schaut,
wissend, was sie sehen wird.
Er sitzt in Unterwäsche auf der Bettkante, steckt sich
die letzte Zigarette des Tages an.
Bist du nicht im Stande, dir so etwas vorzustellen,
selbst wenn du es siehst?
Liegt das, was geschieht, so weit außerhalb der Erfah­
rung, dass du es unbedingt entschuldigen oder als falsche
Wahrnehmung abstempeln musst?
Ist die Wirklichkeit zu mächtig für dich?
Geh das Risiko ein. Glaub, was du siehst und hörst. Es
ist der Puls jeder heimlichen Andeutung, die du je an den
Rändern deines Lebens verspürt hast.
Sie sind zwei reale Körper in einem Zimmer. So emp­
findet sie sie, in dem gespaltenen Herzen der halben Se­
kunde, während sie sich um den Türpfosten herumge­
schoben hat: Hände, die berühren und reiben, und Mün­
der, die sich langsam öffnen. Sein Schwanz wird groß in
ihrer lockeren rosa Faust. Ihre Münder stehen einen Spalt
breit offen für Zungen, Brustwarzen, Finger, welche Flei­
schauswüchse auch immer, für ein flüsterndes War und
Ist, und ihre Augen öffnen sich auf die Seele des Ande­
ren.
Sie blieb auf der Türschwelle stehen, war sich ihres
Gesichtsausdrucks deutlich bewusst.
Sie werden schon geschlafen haben und aufgewacht
und zum Frühstück nach unten gegangen sein, wo sie

111

durch ihren jeweiligen Alltagstrott waten, Milch eingie­


ßen, Saft schütteln, während ein Blauhäher vom Futter­
trichter aus zuschaut, und sie schnüffelt an den Körnern
in der Sojaschachtel. Nichts auf der Welt ist für sie einfa­
cher, als nach draußen zu seinem Wagen zu gehen, seine
Autoschlüssel zu nehmen und zu verstecken, verschlin­
gen, zerschlagen, zernagen, begraben, in der Knochener­
de, an einem kraftvoll strahlenden Tag im Spätsommer,
nach dem tosenden Sturm.
Doch bevor sie ins Zimmer trat, konnte sie ihren Ge­
sichtsausdruck spüren. Sie kannte ihn, ein Fries falscher
Hoffnung.
Eine Weile stand sie da, dachte sich in die Situation
hinein. An der Schwelle zum Zimmer hielt sie inne, sah
in den Flur zurück und spürte die Leere ringsum. Und da
geschah es, dass sie, den Rücken am Türpfosten, zu Bo­
den ging, schaukelnd, sich windend, langsam, fast nach­
denklich, den Mund zu einem Stöhnen öffnete, oh, das
tonlos blieb. Sie saß auf dem Boden vor ihrem Zimmer.
Die Linie über den Augen zierte weiterhin ihr Gesicht,
wunderbare Aussichten. Dieser schwebende Ge­
sichtsausdruck kam nahezu ohne sie aus, so dass sie wie
ein Kind ihre Backen aufblasen und ihn wegpusten konn­
te.
Sie dachte, sie würde sich gar nicht die Mühe machen,
dort hineinzuschauen. Albern. Der Raum ging nach
Osten und musste schlierig sein vor Morgenlicht, fasri­
gen Ablagerungen und Knäueln sonnenbestrahlten Stau­
bes, Schmier, wie ihre Mutter es gern nannte.
Vielleicht war das alles eine erotische Träumerei. Das
Ganze war eine Stadt, erbaut für eine schmutzige Fanta­
sie. Sie war eine sexuelle Hysterikerin, ha. Nicht, dass sie

112

das geglaubt hätte.


Sie saß da, dachte sich in die Unentschiedenheit ihrer
Entscheidung hinein. Dann arbeitete sie sich am Türpfo­
sten hoch, langsam, tief atmend, den Rücken am geriffel­
ten Holz, aus der Hocke empor, die Handlung über eine
längere Zeitspanne hin ausdehnend. Ihre Mutter starb, als
sie neun war. Ihre Schuld war es nicht. Es hatte nichts
mit ihr zu tun.
Das Zimmer war leer, als sie hinschaute. Keiner war
da. Das Licht vibrierte so sehr, dass sie die wahren Far­
ben von Wand und Boden sehen konnte. Sie hatte die
Wände nie zuvor gesehen. Das Bett war leer. Sie hatte
die ganze Zeit gewusst, dass es leer sein würde, sie holte
lediglich auf. Sie betrachtete das Laken und die Decke,
das Knäuel auf ihrer Seite des Bettes, die als einzige in
Gebrauch war.
Sie trat ins Zimmer und ans Fenster. Sie öffnete es. Sie
riss es auf. Sie wusste nicht, warum sie das tat. Dann
wusste sie es. Sie wollte den Biss des Meeres auf ihrem
Gesicht spüren, den Fluss der Zeit in ihrem Körper, um
zu erfahren, wer sie war.

113

Don DeLillo

Unterwelt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

Gebunden

In seinem großen Roman »Unterwelt« beschwört Don


DeLillo ein faszinierendes Panorama der letzten Hälfte
dieses Jahrhunderts. Unsere Alltagswelt, Kunst, Sport
und Politik, die alles bestimmende Bilderflut von der
Werbung bis zum Internet spiegeln sich im Leben der
Figuren, in deren Mittelpunkt Nick Shay, Manager in
einer Müllentsorgungsfirma, und Klara Sax, eine Kon­
zeptkünstlerin, stehen.

»Ein grandioser Zeit- und Epochenroman.«


Süddeutsche Zeitung

114

Don DeLillo

Valparaiso

Ein Stück in drei Akten

Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

Gebunden

67 Interviews in viereinhalb Tagen mit tödlichem Aus­


gang – nur weil Michael Majewski ins falsche Flugzeug
gestiegen ist. Durch einen grotesken Irrtum wurde er zum
Talkshowstar und Medienereignis. Don DeLillo hat mit
seinem Theaterstück »Valparaiso« unseren von den Me­
dien beherrschten Alltag brillant persifliert.

»Odysseus im Talkstudio. Don DeLillo sucht in seinem


Theaterstück nach der Seele der Fernsehwelt.«
Der Spiegel

115

Don DeLillo

Mao II

Roman

Aus dem Amerikanischen von Werner Schmilz

KiWi 564

In seinem brillanten Roman schildert Don DeLillo in


eindringlichen Bildern den Gegensatz von Individuum
und Masse, von Gewalt und Kreativität. Im Mittelpunkt
der spannenden Handlung steht ein berühmter Schriftstel­
ler, der auf einer Reise von New York über London nach
Beirut in ein irrwitziges Spiel auf Leben und Tod gerät.

»Dieser Roman ist ein Juwel.«


Thomas Pynchon

116

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