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Ein Mann und eine Frau, der Filmregisseur Rey und die Perfor
mancekünstlerin Lauren, sitzen sich beim Frühstück in einem
Haus gegenüber. Jede alltägliche Bemerkung, jede kleine Bewe
gung wird registriert. Es ist der Terror eines normalen Tages, der
Wahnsinn der Routine. An diese Routine, aber auch an die Nähe
und die Entfremdung erinnert sich Lauren, nachdem ihr Mann
sich umgebracht hat. Immer wieder hört sie ihre gemeinsamen,
auf Band aufgenommenen Gespräche ab, die Protokolle dieser
verstörenden Liebe. Ihre Einsamkeit teilt sie nun mit dem ge
heimnisvollen Mr. Tuttle, einem irren kleinen Mann, den sie
schon vor Reys Tod durch das Haus hat geistern hören. Er wird
zum Spiegel und zum Echo ihrer Gespräche und ihres Lebens mit
Rey. Mit erbarmungsloser Selbstdisziplin entwickelt Lauren die
Choreographie eines Stücks, in das ihre Erinnerungen und die
Gespräche mit den beiden Männern, ihre tiefe Einsamkeit, einge
hen. Allein stellt sie auf der Bühne in »Körperzeit« Vergangen
heit, Gegenwart und Zukunft in verschiedenen stummen Rollen
dar und wächst durch die Aufführung über ihre Erfahrungen hin
aus.
»Körperzeit« ist ein stilistisch eigenwilliger und intensiver
Roman, der Don DeLillo von einer völlig neuen Seite zeigt. Das
Buch erscheint gleichzeitig weltweit.
Körperzeit
Ein Roman
März 2004
Kein Verkauf!
1. Auflage 2001
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
ISBN 3-462-02973-8
KAPITEL 1
Sie bemerkte, wie das Wasser aus der Leitung nach ein
paar Sekunden undurchsichtig wurde. Erst lief es silbrig
und klar, und dann wurde es nach ein paar Sekunden un
durchsichtig, wie seltsam, dass sie all diese Monate, all
diese Male, wenn sie in der Küche Leitungswasser laufen
ließ, nicht bemerkt hatte, dass das Wasser erst klar lief
und dann, nun, nicht gerade trüb, aber doch undurchsich
tig wurde, aber vielleicht war es vorher gar nicht so ge
wesen, oder sie hatte es bemerkt und wieder vergessen.
Sie ging hinüber an den Schrank, die nassen Blaubee
ren in der Hand, griff hoch nach dem Müsli und nahm die
Schachtel mit an den Küchentresen, die weitgehend
braun-weiße Schachtel, und dann ploppte das Toaster
ding hoch, und sie drückte es wieder runter, weil man
zweimal drücken musste, damit das Brot braun wurde,
und er nickte geistesabwesend, weil es sein Toast war
und seine Butter, und dann schaltete er das Radio ein,
den Wetterbericht.
Die Spatzen waren am Futtertrichter, flügelschlagend,
auf den kreisförmigen Sitzstangen rangelnd.
Sie holte eine Schale aus dem näher gelegenen
Schrank, schüttete Müsli aus der Schachtel hinein und
streute die Blaubeeren oben drauf. Sie rieb sich die Hand
an den Jeans trocken und spürte irgendwo die Farbe
Blau, zerlaufen und blass.
Wie heißt das, der Hebel. Sie hatte den Hebel runterge
drückt, damit sein Brot braun wurde.
Es war sein Toast, es war ihr Wetter. Sie hörte oft den
Wetterbericht und rief den Wetterdienst an, und manch
mal stand sie draußen vorm Haus und schaute in den Kü
stenhimmel, schmeckte die Brise nach verborgenen An
deutungen ab.
an.
Sie goss Milch in die Schale. Er setzte sich hin und
stand wieder auf. Er ging an den Kühlschrank, holte den
Orangensaft und stand mitten im Raum, die Tüte schüt
telnd, damit das Fruchtfleisch sich verteilte und der Saft
dicker wurde. Er dachte immer erst an den Saft, wenn der
Toast fertig war. Dann schüttelte er die Tüte. Dann goss
er den Saft ein und betrachtete das Häubchen aus kni
sterndem Schaum oben im Glas.
Sie klaubte sich ein Haar aus dem Mundwinkel. Sie
stand am Tresen und starrte es an, ein kurzes blasses
Haar, das nicht von ihr stammte und nicht von ihm.
Er stand da und schüttelte den Saft. Er schüttelte länger
als nötig, weil er nicht darauf achtete, dachte sie, und
weil es irgendwie dumpf und harmlos befriedigend war,
ein kindischer Selbstzweck, das Rumpeln und Plätschern
und Papporangenaroma.
Er sagte: »Willst du welchen?«
Sie starrte das Haar an.
»Sag’s mir, ich bin nicht sicher. Trinkst du Saft?«, er
schüttelte das verdammte Ding immer noch, zwei Finger
um die Öffnung geklemmt.
Sie schabte mit den oberen Schneidezähnen über ihre
Zunge, um die komplexe Sinneserinnerung vom Haar
eines anderen Menschen loszuwerden.
Sie sagte: »Was? Nie getrunken, das Zeug. Weißt du
doch. Wie lange leben wir jetzt zusammen?«
»Nicht lange«, sagte er.
Er nahm ein Glas, goss den Saft ein und betrachtete den
aufsteigenden Schaum. Dann setzte er sich ächzend wie
der hin.
»Nicht lange genug, um mir alle Einzelheiten zu mer
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ein. Sie wollte Honig für ihren Tee, obwohl das Wasser
noch gar nicht kochte. Sie hatte etwas Über-Vorbereitetes
oder Überdrehtes oder Überreiztes, und Rey sagte immer,
vielmehr, hatte einmal gesagt, und sie hatte eine Stimme
im Kopf, die ihre eigene war, im Dialog oder Monolog,
und sie trat an den Schrank, aus dem sie den Honig und
die Teebeutel holte – eine Stimme, die aus einer Ge
schichte in der Zeitung drang.
»Wolltest du mir nicht etwas sagen?«
Er sagte: »Was?«
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schlüpfte
vorbei, auf ihre Seite des Tisches. Die Vögel rauschten
vom Futtertrichter auf, mit einem Flügelwirbel aus lauter
B’s und R’s, dem Buchstaben B folgte eine Reihe Vibra
to-R’s. Aber das war es überhaupt nicht. Nicht im Ent
ferntesten.
»Du hast etwas gesagt. Ich weiß nicht. Das Haus.«
»Belanglos. Vergiss es.«
»Ich will es aber nicht vergessen.«
»Es ist belanglos. Lass es mich mal anders ausdrücken.
Es ist langweilig.«
»Sag’s mir trotzdem.«
»Es ist zu früh. Es strengt an. Es ist langweilig.«
»Du sitzt da und redest. Sag’s mir«, sagte sie.
Sie aß etwas Müsli und las die Zeitung.
»Es strengt an. Es ist wie was. Es ist, als müsste man
einen Felsblock bewegen.«
»Du sitzt da und redest.«
»Hier«, sagte er.
»Du hast gesagt, das Haus. Nichts über das Haus ist
langweilig. Ich mag das Haus.«
»Du magst alles. Du liebst alles. Du bist mein trautes
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Er sagte: »Was?«
Oder du wirst zu jemand anderem, zu einem der Men
schen in den Geschichten, führst ausgedachte Dialoge.
Manchmal wirst du zu einem Mann, lebst zwischen den
Zeilen, in einer anderen Version der Geschichte.
Sie dachte und las. Sie tastete nach der Sojaschachtel,
und ihre Hand traf die Safttüte. Sie schaute hoch und
erkannte, dass er gar nicht Zeitung las. Er schaute hin, las
aber nicht, und da begriff sie rückwirkend, dass er die
ganze Zeit nur hingeschaut, die Worte auf der Seite aber
nicht aufgenommen hatte.
Die Safttüte blieb aufrecht stehen. Sie streute noch ein
bisschen Soja in die Schale, für Körnigkeit und langes
Leben.
»Gestern habe ich den ganzen Tag gedacht, es wäre
Freitag.«
Er sagte: »Und, war es das?«
Ihr fiel noch ein zu lächeln.
Er sagte: »Na wenn schon, ist doch egal.«
Sie hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und sie
beinah weiter, zärtlich über den Nacken ins Haar gescho
ben, aber dann doch nicht.
»Ich mein ja bloß. Wie kann denn Donnerstag wie Frei
tag erscheinen? Wir sind aus der Stadt weg. Wir sind aus
dem Kalender raus. Der Freitag sollte hier gar keine
Identität haben. Will noch wer Kaffee?«
Sie goss ihren Tee auf und verharrte am Herd, wartete,
ob er ja oder nein sagen würde. Als sie zurückgehen
wollte, sah sie einen Blauhäher, der auf dem Futtertrich
ter hockte. Sie bremste abrupt und hielt den Atem an. Er
stand groß und glänzend da und wirkte königlich distan
ziert von den anderen Vögeln, die emsig fraßen, und fast
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war ihr, als hätte sie noch nie einen Häher gesehen. Rie
sig stand er da, schaute zu ihr herein, sah, was immer er
sah, und sie hätte Rey am liebsten gesagt, er solle hoch
schauen.
Sie beobachtete den Häher, die schwarzen Streifen quer
über Flügel und Schwanz, und irgendwie, dachte sie,
hatte sie erst jetzt gelernt, wie man schaut. Noch nie hatte
sie etwas so deutlich gesehen, und nicht bloß, weil der
Häher da hockte, wo er war, so nah, dass sie die Einzel
heiten von Federkrone und Färbung erkennen konnte.
Schockklar seine Erscheinung unter den kleineren, bräun
lichen Vögeln, sein mineralisches Blau und gedämpftes
Blau und sein breites, dunkles Kehlband. Doch wenn Rey
aufschaute, würde der Vogel wegfliegen.
Sie versuchte sich über die Details hinaus zu dem Vo
gel selbst vorzuarbeiten, dem Nesträuber und geschickten
Nachahmer, zu dem starren Interesse in seinen Augen,
das, forschend-eisig, wie eine Herausforderung wirkte.
Wenn Vögel in Häuser hineinschauen, was für unmög
liche Welten sehen sie. Stell dir vor. Eine Entblößung
jeder erdenklichen Oberfläche, jedes Vorgangs. Ihr gefiel
der Gedanke, der Vogel sähe sie, eine Frau mit Teetasse
in der Hand, einen Raum im Abseits der Zeit, ganz
gleich, ob sich Tag oder Nacht darüberlegte. Sie schaute
und holte behutsam Luft. Die Klarheit des Augenblicks
war ihr scharf bewusst, aber sie begriff, dass er schon zu
Ende ging. Sie merkte es dem Blauhäher an. Oder viel
leicht auch nicht. Sie führte es selbst herbei, weil sie
nicht länger hinschauen konnte. So muss es sein, endlich
zu sehen, nachdem man sein Leben lang nahezu blind
gewesen ist. Sie sagte etwas zu Rey, der leicht die Hand
hob, was den Häher verjagte, die Spatzen aber nicht ver
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schreckte.
»Hast du ihn gesehen?«
Er wandte sich für die Antwort halb um.
»Sehen wir die nicht die ganze Zeit?«
»Nicht die ganze Zeit. Und nie so nah.«
»Nie so nah. Na gut.«
»Er hat mich angesehen.«
»Er hat dich angesehen.«
Sie stand an derselben Stelle, neben seiner linken
Schulter. Als sie zu ihrem Stuhl ging, flogen die Spatzen
auf.
»Er hat mich beobachtet.«
»Und jetzt ist dein Tag gerettet?«
»Jetzt ist mein Tag gerettet. Meine Woche. Und wer
weiß was noch.«
Sie trank ihren Tee und las. Fast alles, was sie las, ließ
sie träumen.
Sie schaltete das Radio ein und drehte langsam von
Sender zu Sender, las Zeitung, versuchte, den Wetterbe
richt im Radio zu finden.
Er trank seinen Kaffee aus und rauchte.
Sie saß über ihrer Schale Müsli. Sie schaute an der
Schale vorbei in einen Raum hinein, einen Raum in ih
rem Kopf und zugleich hier, vor ihr.
Sie faltete einen Teil der Zeitung zusammen und las ein
oder zwei Zeilen und las noch ein bisschen oder auch
nicht, nippte an ihrem Tee und ließ sich treiben.
Das Radio brachte eine Meldung über eine Rakete, die
unter mysteriösen Umständen unterirdisch in Montana
explodiert war, und sie bekam nicht mit, ob es eine
Atomrakete gewesen war oder nicht.
Er rauchte und schaute nach rechts aus dem Fenster,
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Sie saß da, trank ihren Tee aus und dachte, was sie
dachte, an Erinnerungsspuren und aufflackernde Bilder
und eine Freundin, die sie vermisste, all das schattenflek
kige Zeug eines unteilbaren Augenblicks, wenn an einem
normalen Alltagsmorgen der übliche menschliche Wahn
sinn herrscht, dass man auf schier gar nichts mehr achtet,
außer auf das Ajax, das gekauft werden muss, und die
Vögel hinter ihr, die am Metallgestell des Futtertrichters
rütteln.
Ist das dämlich, beim Essen Zeitung zu lesen.
Sie sah ihn in der Tür stehen.
»Hast du meine Schlüssel gesehen?«
Sie sagte: »Was?«
Er wartete, bis die Frage angekommen war.
»Welche Schlüssel?«
Er schaute sie an.
Sie sagte: »Gestern habe ich eine Lotion gekauft. Woll
te ich dir noch sagen. Zum Einreiben der Muskeln. In
einer grün-weißen Tube auf dem Regal im großen Bade
zimmer oben. Sie ist ohne Fett. Zum Einreiben der Mus
keln. Reib dich damit ein, mein Schatz. Oder sag schön
bitte-bitte, dann tu ich’s für dich.«
»Meine Schlüssel sind alle an einem Ring«, sagte er.
Beinahe hätte sie gesagt, ist das so klug? Aber dann
ließ sie es. Weil wie sinnlos. Wie kleinlich wäre es, so
was zu sagen, morgens oder sonst wann, an einem kraft
voll strahlenden Tag nach dem Sturm.
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KAPITEL 2
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und jetzt waren noch zwei übrig. Ein Mensch, zwei Mo
nate. Sie benutzte eine Flasche mit aufgeschraubtem Pi
stolengriff.
Es fühlte sich wie zu Hause an, hier zu sein, und sie
stürmte durch die Tage mit ihren kleinen, entrückenden
Gewohnheiten, immergleiche Tage, abgeschritten und
verplant, aber zugleich verhangen, ohne Mitte, an man
chen Stellen leer, Tage, die so langsam vergingen, dass
es wehtat.
Sie betrachtete die Seiten, an denen sie mit Rey gearbei
tet hatte, seine frisierte Autobiographie. Da war das Manu
skript, spröder, als er erzählt hatte, fand sie, spröder als
seine Erinnerungen voller Ausschmückungen und überra
schender Wendungen, und die Verzweiflungszustände, die
hinter diesen Geschichten steckten, hatte sie nicht immer
begriffen. Sie fingerte sich durch die Kleider, die er im
Schlafzimmerschrank zurückgelassen hatte. Die Dinge,
die ein Toter zurücklässt, erdrückten sie nicht, und sie
legte die Kleider in eine Kiste für die Bedürftigen.
Wenn sie unten war, spürte sie ihn in den Zimmern im
ersten Stock. Dort war er gern herumgetigert, in einen
winzigen Kassettenrekorder sprechend, das Gesicht vom
Rauch umhüllt, und hatte Anmerkungen zu irgendeinem
öden Skript diktiert, Anmerkungen an einen Autor, des
sen Name ihm nie einfiel. Jetzt war er, Rey, der Rauch,
der Dunstschwaden in der Luft, der früher oder später bis
in den letzten Winkel zog, formlos, aber mit einem Ge
sicht, das irgendwie zu seiner Präsenz gehörte, unver
wechselbar der herumtigernde Mann.
Sie stieg die Treppe hoch, hörte das Geräusch, das ein
die Treppe hochsteigender Mensch macht, und berührte
die Eichenkörnung des Geländerpfostens, als sie oben
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ankam.
Ach, schon gut. Sie wollte hier sein, und es würde ihr
schon gut gehen. Ihre ganze Ehe, all die Zeit ihres Zu
sammenlebens hatten sie hier gelebt.
Ihr Körper fühlte sich anders an, aber sie verstand
nicht, inwiefern. Angespannt, eingespannt, sie wusste es
nicht genau. Etwas fremd und unvertraut. Anders, dün
ner, egal.
Auf einem der Regale in der Speisekammer lag eine
Packung Semmelbrösel. Sie wusste, irgendwo hatte sie
Wachspapier gesehen, die Schachtel war blau und noch
was. Auf solche Dinge kam es jetzt an. Mahlzeiten,
Pflichten, Besorgungen.
Langsam ging sie durch die Zimmer. Sie spürte ihn
hinter sich, wenn sie sich auszog, barfuß auf dem kalten
Boden stand, einen schmuddligen Pullover abstreifte, und
sie drehte sich halb zum Bett um.
An den ersten Tagen der Rückkehr war sie einmal aus
dem Auto gestiegen und beinahe zusammengebrochen –
nicht der große Zusammenbruch aller wichtigen Körper
funktionen, nur ein kleines, hilfloses Zu-Boden-Sinken,
als hätte sie vergessen, wie man aufrecht steht.
Sie überlegte, ein Kotelett zu braten, sehr bewusst al
lein, sie beobachtete sich mehr oder weniger aus einer
Ecke des Zimmers oder stand genau da, wo sie stand,
war, wer sie war, und sah sich kleiner irgendwo in der
Luft schweben, im Glauben, es wäre schon der nächste
Tag.
Sie wollte in Reys Rauch verschwinden, tot sein, er sein,
und sie riss das Wachspapier ab, an der gezackten Kante
entlang, und griff nach der Schachtel Semmelbrösel.
Als das Telefon klingelte, schaute sie es nicht an, wie
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such einer anderen Stimme, die hallo sagt, wer ist da, ja.
Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass sie hier
war, die Anrufe kamen aus New York, wo sie lebte, und
von Freunden und Kollegen in anderen Städten. Sie rie
fen aus ihren Städten an, um ihr zu sagen, dass sie nicht
verstünden, warum sie hierher zurückgekehrt sei. Das sei
doch der allerletzte Ort, an dem sie sein sollte, allein in
einem großen Haus an einer leeren Küste, und sie ging
durch die Zimmer und stieg die Treppe hoch und plante
die Tage im Voraus, denn sie hatte mehr zu tun und we
niger Zeit jetzt, da das Licht unter Druck geriet. Man
schaute hin, und schon war es dunkel, stets überraschend.
Jeden Morgen wachte sie früh auf, das war die
schlimmste Zeit, der erste mörderische Augenblick, im
Bett zu liegen und sich an etwas zu erinnern und im sel
ben Atemzug zu wissen, was es war.
Sie riefen fünf oder sechs Mal am Tag an und dann et
was weniger, und sie dachte an die japanische Frau, ein
wunderschönes und schwieriges Wesen, falls sie über
haupt Japanerin ist, gießt ihren Garten, wenn es nach
Regen aussieht.
Sie nahm die klapprige Blechfähre nach Little Moon,
wo man nur über einen matschigen Weg zum anderen
Ende der Insel laufen konnte, vorbei an windgeschüttel
ten Häusern und einer Kirche, der der Kirchturm fehlte,
ein Marsch von vierzig Minuten zu einem verlassenen
Kunsthandwerkszentrum, Quilts und Holzschnitzereien
vielleicht und ganz sicher Töpferware, und dann zügig
wieder zurück. Die Fähre hatte einen Fahrplan, und
schon das war ein Grund, sie ab und zu zu nehmen.
Der Plan lautete, die Zeit zu organisieren, bis sie wie
der leben konnte.
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Als die ersten Tage der Rückkehr vorbei waren, fing sie
mit ihren Atemübungen an. Denn sie musste ihre Körper
arbeit wieder aufnehmen, das geregelte Leben aus Kat
zenstreckung und methodischer Verrenkung. Sie arbeite
te von der Wirbelsäule nach außen, kroch auf allen vieren
über den Boden, und bei jedem Blutandrang spürte sie
ihre zurückzuckende Aorta. Sie machte Kopfstand und
Nackenabrollen. Sie streckte die Zunge heraus und he
chelte in knapp bemessenen Zeitabschnitten, von ihrer
inneren Uhr bemessen, mit einer Genauigkeit, die sie bis
in die Knochen spürte, zwischen denen ihre Bandschei
ben rattaratsch am Rückgrat entlangklackten.
Aber die Welt war in ihr verloren gegangen.
Nachts war der Himmel ganz nah, ausgebreitet in Ster
nenrauch und Gamma-Kataklysmen, aber sie sah ihn
nicht mehr so wie früher, als Verlängerung der Seele, als
stummes gutturales Wunder, als etwas im ältesten Teil
von ihr, das außerhalb der Sprache lebte.
Sie hörte keinen Wetterbericht mehr. Sie nahm das
Wetter, wie es kam, eiskalter Regen und böige Tage und
große, geduckte Felsen auf abschüssigen Feldern, Clan-
Abzeichen gleich, im Puls von Gewittern, Geschichten
und Zeit. Sie hackte Kaminholz. Sie verbrachte Stunden
am Computerbildschirm, vor der Live-Übertragung einer
Videokamera am Rand einer zweispurigen Straße in einer
finnischen Stadt. In Kotka/Finnland war es mitten in der
Nacht, und sie starrte auf den Bildschirm. Sie fand das
interessant, weil es jetzt geschah, während sie davor saß,
und weil es vierundzwanzig Stunden am Tag geschah,
gesichtslos – Autos, die nach Kotka reinfuhren und wie
der raus, oder einfach die leere Straße in den toten Stun
den. Die toten Stunden waren am besten.
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Sie saß da und starrte auf den Bildschirm. Das war fas
zinierend für sie, real genug, um den Umstand auszuglei
chen, dass nichts passierte. Das Ganze lebte von diesem
Umstand. In Kotka war es drei Uhr morgens, und sie
wartete darauf, dass ein Auto kam – nicht dass sie dar
über nachgedacht hätte, wer darin saß. Allein, dass es
Kotka gab. Das Gefühl von Organisiertheit, von dem
festgelegten Ausschnitt eines Ortes, so wie er ist und wie
man ihn betrachtet, mit der digitalen Anzeige der Ortszeit
in einer Ecke des Bildschirms. Kotka war eine andere
Welt, aber sie konnte sie in ihrer ganzen Realität sehen,
den Stunden, Minuten und Sekunden.
Sie stellte sich vor, dass jemand dazu onanierte, wenn
mitten in der Nacht auf der Straße nach Kotka ein Auto
auftauchte. Das fand sie zum Lachen. Sie hackte Kamin
holz. Jeden Tag hielt sie sich Zeit für die Webcam in
Kotka frei. Sie wusste nicht, was diese Live-Übertragung
bedeuten sollte, nahm sie aber als einen Akt schwebender
Poesie. Am besten in den toten Stunden. Das machte ih
ren Kopf leer und ließ sie die tiefe Stille anderer Orte
spüren, das Mysterium, über die Welt hinweg auf einen
anderen Ort zu schauen, dem nichts geblieben war als
eine Straße, die näher kam und sich wieder zurückzog,
zwei simultane Wirklichkeiten, und in dem digitalen
Display sprangen die Zahlen mit merkwürdiger, hohler
Dringlichkeit um, die Sekunden näherten sich der Minu
te, die Minuten klommen zur Stunde empor, und sie saß
da und schaute zu, wartete auf ein Auto, das auf dieser
Landstraße flüchtige Gestalt annähme.
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Sie ging los und suchte Mr. Tuttle. Sie hatte keine Ah
nung, wo er hinging oder was er tat, wenn er nicht in
ihrer Sichtweite war. Schlafend ergab er mehr Sinn für
sie als leicht glubschäugig ihr gegenüber am Tisch, oder
sogar in ihrer Fantasie. Es fiel ihr schwer, ihn auch nur
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Kassettenrekorder.
Er redete mit ihr, nicht mit einem Drehbuchautor in
Rom oder Los Angeles. Das war Rey in seiner Rolle als
charmanter Fatalist, der die Geschichte seiner Nikotin
sucht vortrug, und mittendrin hörte sie ihren Namen, es
war das erste Mal, dass Mr. Tuttle ihn benutzte.
Dies war keine Kommunikation mit einem Toten. Es
war der lebendige Rey während eines Gesprächs, das er
mit ihr geführt hatte, in diesem Zimmer, nicht lange,
nachdem sie hergekommen waren. Dessen war sie sich
sicher, wusste noch, wie sie nach oben gegangen und in
eine Nacht wirbelnder Empfindungen getaumelt waren,
Wellen von Sex, Beichte und fahlem Schlaf, und zwar
Beichte als Glauben an den Anderen, kein Abladen von
Schuld, sondern ein Vertrauensbekenntnis, vor allem von
seiner Seite, denn er brauchte es, und dann wieder ver
träumter Sex, zwei Menschen, die sich durchdringen,
leicht und luftig wie Meeresgischt, und wie er ihr gesagt
hatte, dass sie ihm helfe, seine Seele wieder zu finden.
All das ein weißer Schimmer irgendwo, ein Eisblitzen
der Erinnerung, und dann hörte sie seine Worte, genau
diese Worte, gesprochen von dem Mann auf dem Stuhl
neben ihr.
»Ich nehme mich durch dich wieder in Besitz. Ich den
ke jetzt wie ich, nicht wie der Andere, der ich geworden
war. Ich esse und schlafe wie ich, nämlich schlecht, was
schlecht ist, aber wie ich, als ich ich war und nicht der
Andere.«
Sie betrachtete ihn, seinen kinnlosen Kopf und Vogel
scheuchenkörper, wie aus einem Comic, aber er konnte
ihren Mann in der Luft, die von seinen Lungen an seinen
Stimmbändern vorbeirauschte, zum Leben erwecken –
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Sie nahm ihn nicht mit in die Stadt, weil ihn dort viel
leicht jemand kannte, und weil er, soviel sie wusste, das
Haus nie von sich aus verließ, und sie wollte ihm keine
Erfahrung aufzwingen, die ihn womöglich verschreckt
hätte, aber vor allem wollte sie verhindern, dass andere
ihn sahen.
Aber dann nahm sie ihn doch mit in die wuchernden
Mails, landeinwärts, in die Dichte des Autosmogs, des
sich voranstupsenden Verkehrs, und sie tat es, wie man
etwas tut, das man für noch seltsamer hält als alles, was
man bislang für allzu seltsam gehalten hat, nämlich spon
tan, um ein gewisses Bedürfnis nach Aktivismus zu stil
len, und ein bisschen auch, vergebens, um die Dinge mit
seinen Augen zu sehen, die Welt in geometrischer Form,
in Mustern und Stapeln, und die langen Gänge voller
Waren, die Käufer in Tänzeltrance und was sonst noch
alles seine Aufmerksamkeit verdienen mochte, was du zu
sehen verlernt hast.
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dern eher Silben, aber auch das eigentlich nicht. Sie legte
auf und rief wieder an.
Sie ging über den langen Flur und die Treppe hoch in den
zweiten Stock, an den leeren Zimmern vorbei bis zum
Bad fast am äußersten Ende. Er saß in der Wanne, als sie
die Tür öffnete. Er bewegte den Kopf nicht, reagierte
überhaupt nicht. Sie stand da und schaute. Er hatte Seife
in einer Hand, einen Waschlappen in der anderen. In die
ser Haltung verharrte er, Hände leicht erhoben, und sie
beobachtete ihn. Er rührte sich nicht. Er sah sie nicht an
oder reagierte in anderer Weise. Seine Hände schauten
kaum aus dem Wasser heraus, das Stück Kernseife, der
geknüllte Waschlappen. Bei reiner Seife, wenn nur der
Seifenkern verarbeitet wird, spricht man von Kernseife.
Sie flüsterte: »Schau mich an.«
Als er dies tat, ohne Scheu, kniete sie sich neben die
Wanne auf die Knie und nahm ihm den Waschlappen aus
der Hand. Sie fuhr damit auf seinen Schultern hin und her
und seinen Rücken hinab. Sie wusch in den Höhlungen
unter dem Arm. Das ist die Achselhöhle, Nummer eins
und Nummer zwei. Sie nahm ihm die Seife aus der ande
ren Hand und rieb sie auf dem Waschlappen und wusch
ihm Brust und Arme, wobei sie, ohne Worte, seine Kör
perteile für ihn benannte. Sie legte den Lappen sanft aufs
Wasser, wo er sich nach innen plusterte und versank, und
sie betupfte unter Wasser den Bauch mit Seife, eine mo
notone Bewegung mit langsam um den Bauchnabel krei
sender Hand. Dann beugte sie sich über ihn, um die Seife
in der Seifenschale abzulegen, die Kernseife, ließ ihn
keinen Augenblick aus den Augen und steckte ihre Hand
ins Wasser, strich am Penis entlang, da ist er, und griff
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Sie sagte: »Sprich wie er. Ich möchte, dass du das für
mich tust. Ich weiß, dass du es kannst. Tu es für mich.
Sprich wie er. Sag, was er gesagt hat, woran du dich er
innerst. Oder sag, was immer dir in den Kopf kommt.
Das ist besser. Sag, was immer dir in den Kopf kommt,
Hauptsache, er ist es. Ich werde dich nicht fragen, wie du
es machst. Ich will nur zuhören. Sprich wie er. Mach’s
wie er. Sprich mit seiner Stimme. Mach mir Rey. Lass
mich ihn hören. Ich bitte dich herzlich. Sei mein Freund.
Ein Vertrauter, das ist ein Freund. Tu es für mich.«
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an ihr vorbei oder durch sie hindurch, und fast wusste sie,
was nun kam. Er sagte: »Aber wo willst du hin?« Er sag
te: »Nur ein bisschen in die Stadt.« Er sagte: »Aber wir
brauchen gar nichts. Und wenn wir es brauchen, hole ich
es. Ich weiß, was zu holen ist. Wir brauchen neues Wie
heißtesgleich. Scheuerpulver.«
Er sagte: »Was?«
Sie wusste es fast sofort, noch bevor er sprach. Sie
wusste es nicht im Einzelnen, aber sie spürte, fühlte den
Wechsel in ihm. Der Tee dampfte in ihrer Tasse. Sie saß
am Tisch und beobachtete ihn, und dann wusste sie es,
restlos, aus dem ersten elektrisierten Wortwechsel, denn
die Stimme, die Stimmen waren nicht seine.
»Aber wir brauchen jetzt in diesem Augenblick keins.
Ich hole welches, wenn ich fahre. Ajax. So heißt das
Zeug. Im Augenblick ist da gar nichts zu scheuern.«
Sie hörte zu, und es war sie. Wer auch sonst, zum Teu
fel. Was sie da alles gesagt hatte.
»Ajax, Sohn des Telamon, glaube ich, falls ich meinen
Trojanischen Krieg noch zusammenkriege, und vielleicht
brauchen wir eine neue Zeitung, denn die alte ist schon
ziemlich abgestanden, und ein großer, tapferer Krieger
und Speerwerfer von mächtiger Kraft, und außerdem ein
Toilettenreiniger.«
Erkennst du, was du vor Wochen gesagt hast, und ja,
wenn es dir vorgetragen wird, und ja, wenn es das Letzte
ist, was du unter den letzten Dingen zu einem Menschen
gesagt hast, den du liebtest und nie wieder sehen solltest.
Das war es, was sie zu ihm gesagt hatte, bevor er ins Au
to stieg und wegfuhr, hätte sie es bloß gewusst, den wei
ten Weg bis nach New York.
Er sagte, er sagte: »Nur eine kleine Spritztour. Sonst
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Sie dachte, sie hätte einen Vogel gesehen. Aus dem Au
genwinkel sah sie, wie sich etwas erhob, am Fenster vor
bei, unheimlich und vogelhaft, aber vielleicht kein Vogel.
Sie schaute hin, und es war ein Vogel, sein Flug eine
vollkommen senkrechte Linie, sein gestreifter brauner
Körper waagerecht, Flügel ruhig schlagend, ein Spatz,
nicht auf dem Wind schwebend, sondern an Höhe gewin
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Es ist nicht wahr, weil es nicht wahr sein kann. Rey ist
nicht im Bewusstsein dieses Mannes lebendig oder in
seinem spürbar fraglichen Zeitbezug, seinem Geh-und-
Steh-Kontinuum. Hübsches Wort. Und was bedeutet es?
Sie meinte damit etwas Kontinuierliches, ein kontinu
ierliches Ganzes, und dabei gibt es nur einen Weg, zwei
Dinge voneinander zu unterscheiden, dieses von jenem,
jetzt von dann, nämlich willkürliche Unterteilungen.
Und genau das kann er nicht.
Sie arbeitete ihren Körper durch, auf dem kalten Boden
zusammengekauert, sich selbst riechend.
Aber es kann nicht wahr sein, dass er von einer Wirk
lichkeit in eine andere treibt, unabhängig von der zeitli
chen Logik. Das ist nicht möglich. Du bestehst aus Zeit.
Diese Kraft sagt dir, wer du bist. Schließ die Augen und
spüre sie. Denn die Zeit definiert dein Dasein.
Doch das ist gerade der Punkt, er brandet und sickert
irgendwie in andere Daseinsfelder hinein, in andere Zeit-
Leben, und dies ist Teil seiner Verstörung und Qual.
Irgendwie. Das schwächste Wort in der Sprache. Und
mehr oder weniger. Und vielleicht. Immer vielleicht.
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Schließlich setzte sie sich ins Auto und fuhr die abgele
genen Straßen ab, die Forststraßen, all die Orte, wo kei
ner hingeht, und sie ließ den Wagen stehen und wanderte
durch die Felder bis zum höchsten Punkt, Hügelkuppe
oder Abhang, und suchte die Gegend ab, die Hände an
den Schläfen, und hielt Ausschau nach Mr. Tuttle.
Von weit weg, wie würde er da aussehen, mit seinem
Trippelgang in der welligen Landschaft?
Wie einer, den du leicht übersehen kannst. Wie einer,
den du durchaus siehst, aber in der üblichen auswerten
den Art nicht recht wahrnimmst.
Wie ein Mann, der sich selbst ein Unbekannter ist.
Wie einer, den du siehst, und dann vergisst du, dass du
ihn gesehen hast. Einfach so, auf der Stelle.
Sie hatte kein Fernglas im Haus gefunden, wozu auch.
Er war nirgendwo hier draußen. Aber sie suchte die
Landschaft stundenlang ab, von verschiedenen Aus
sichtspunkten aus, die Hände an den Schläfen, um das
gleißende Licht abzuhalten.
Wie konnte sich ein solches Übermaß an Verletzlich
keit allein auf der Welt befinden?
Weil es so geschaffen ist. Weil es verletzlich ist. Weil
es allein ist.
Oder du siehst ihn kopfüber, so wie das Auge sieht, be
vor sich das Hirn dazwischenschaltet.
Sie fuhr zum Haus zurück und suchte es komplett ab,
Zimmer für Zimmer, ein weiteres Mal. Sie dachte, sie
würde die Treppen hochgehen und durch den Flur und
nach oben in den zweiten Stock und ihn in dem kleinen
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Sie hatte ein Ding, das sie in den Mund steckte, ein kan
tiges Utensil, eher klein, aus Plastik, und sie presste es
auf ihren Zungenrücken und kratzte ab, was für Überreste
auch immer sich dort angesammelt hatten, eine Pampe
aus Essen, Schleim und Bakterien.
Das war keine Abwehr der natürlichen Funktionswei
sen des Körpers. Sie tat es einfach.
Sie kalkulierte die zu erwartenden Erfordernisse. Dann
überschritt sie sie. Zerschmetterte, was daran praktikabel
war. Das musste getan werden. Es war notwendig, die
sichtbare Form zu ändern, bis hin zur Zunge. Sie unter
drückte etwas, schottete Ventile zum Ich ab, bis hin zu
dem Abgeschrubbten am hintersten Ende der Zunge, das
dem menschlichen Auge verborgen war. Der Geist
zwang es dem Körper auf.
Es war notwendig, weil sie es tun musste. Das machte
es notwendig.
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sie manchmal mit einem Buch auf dem Schoß, die Augen
geschlossen, und spürte, wie er irgendwo im Dunkeln
lebte, und wo er sich befindet, ist es kälter, winterlicher,
und sie wollte ihn am liebsten hereinholen, versuchen,
ihn in den Winkeln kennen zu lernen, wo sein Chaos lau
ert, bis dorthin, wo die Ecken abgeschliffen sind und die
Worte sich enträtseln, in den Teilen der Rede, wo er sein
Dasein orten könnte, und an dem konkreten Ort, wo Rey
in ihm lebt, wieder lebendig geworden, Wort für Wort,
Berührung für Berührung, und sie öffnete und schloss die
Augen und dachte mit einem Blinzeln, dass die Welt sich
verändert hatte.
Er verletzt die Grenzen des Menschseins.
Eine Zeit lang hörte sie auf, ans Telefon zu gehen, wie
sie es seit den ersten Tagen der Rückkehr gelegentlich
mal getan hatte, und als sie wieder dranging, sprach sie
mit einer anderen Stimme.
Ihre Augen mussten sich an den Nachthimmel gewöh
nen. Sie entfernte sich vom Haus, von seinem elektri
schen Lichtschwall, und der Himmel wurde tiefer. Sie
schaute lange hin, und er breitete sich allmählich immer
mehr aus und schmolz und wurde immer tiefer, entwik
kelte Schichten und Helligkeiten und Lichtjahre in derart
unerreichbaren Dimensionen, dass irgendwer Idiotenna
men erfinden musste, um die Anordnungen von Einsern
und Nullen und Potenzen und Mächten und Herrschaften
darzustellen, denn nur die Schlafengehenssprache der
Kindheit rettet uns vor Ehrfurcht und Scham.
Zuerst gehörte die Stimme, mit der sie am Telefon
sprach, zu niemandem, zu einem allgemeinen, neutrali
sierten Menschen, doch dann fing sie an, mit seiner zu
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Körperkunst in extremis:
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Sie sagt, sie gehe auf die Toilette. Als eine Kellnerin
mit der Rechnung kommt, fällt mir ein, dass ich den Re
korder jetzt abschalten kann.
Die Kraft des Stücks liegt in Hartkes Körper. Manch
mal macht sie Weiblichkeit so geheimnisvoll und stark,
dass beide Geschlechter und eine Reihe namenloser Zu
stände darin enthalten sind. Bisher hat sie so manche
Körper zum Leben erweckt, Heranwachsende, Wunder
heiler, eine 120 Jahre alte Frau, die nur von Joghurt lebte,
und, unvergesslich, einen schwangeren Mann. In diesem
Stück ist ihre Kunst hermetisch, langsam, schwierig und
manchmal quälend. Doch niemals ist es die großspurige
Qual erhabener Bilder und Bühnendekorationen. Hier
geht es um Menschen wie du und ich. Was mit dem ein
samen Anderssein beginnt, mündet in Vertrautheit, ja,
Intimität. Es geht darum, wer wir sind, wenn wir gerade
nicht inszenieren, wer wir sind.
Ich sitze da und warte auf Hartke, aber sie kommt nicht
zurück.
Mariella Chapman
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KAPITEL 7
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Als sie aus dem Auto stieg, war jemand da. Sie war noch
nicht draußen, noch halb drinnen, fing gerade an, sich
aufzurichten, und über ihr ragte eine Gestalt in der Ein
fahrt auf.
Beinahe wäre sie auf den Sitz zurückgefallen. Ein
Schock. Sie schaute zu ihm hoch, ein massiger Mann im
mittleren Alter, der mit ihr redete.
Als sie sich zu voller Größe aufrichtete, konnte sie
auch einen kurzen Blick auf sein Auto werfen, das neben
dem Haus geparkt war. Sie hörte ihm zu. Sie versuchte,
seinen Worten zuzuhören und die Situation zu entschlüs
seln, die Grenzen präzise festzulegen.
»Ihnen versichern, dass ich Sie nicht stören möchte.
Habe mehrmals versucht, Sie anzurufen. Keiner drange
gangen. Ich verstehe das völlig. Sie sind hier, weil Sie
Abstand dazu kriegen wollen.«
»Und Sie sind hier?«
Inzwischen war sie wütend. Das Aufragen und dessen
bedrohliche Wirkung verblassten allmählich. Die Angst
schmolz langsam in ihren Körper zurück, in den Blut
kreislauf und die Nervenstränge, die Riffeln ihrer Finger
spitzen, und sie schloss energisch die Autotür, sie knallte
die Tür zu.
»Um über das Haus zu sprechen«, sagte er in ziemlich
distanziertem Tonfall. »Wie es aussieht, gehört dieses
Haus immer noch mir. Meiner Frau und mir.«
Er trat zurück und drehte sich halb um, warf einen
Blick auf das Haus, brachte es konkret ins Gespräch –
sein Haus. Nun, da er hingeschaut hatte, bestand kein
Zweifel mehr.
»Und es gibt etwas, das Sie besprechen wollen.«
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Don DeLillo
Unterwelt
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