ERKENNTNIS
OBJEKTIVER
WAHRHEIT
DIE TRANSZENDENZ DES MENSCHEN
IN DER ERKENNTNIS
1
DIETRICH VON HILDEBRAND
in Liebe und Verehrung
dankbar zueignet
2
ZU DIESEM BUCH
Die Kernfrage dieses Buches, ob der Mensch das "Gefängnis der eigenen
Gedankenspinugewebe" transzendieren und die Wirklichkeit so
erkennen kann, wie sie an sich ist, ist ja zugleich die Frage nach der
Erkennbarkeit objektiver Wahrheit. Denn Wahrheit liegt in der recht zu
verstehenden Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit, noch
präziser, in dem Zusammentreffen der im Urteil vollzogenen
behauptenden Setzung in bezug auf einen Gegenstand mit dem
Selbstverhalten dieses Gegenstandes. Wahrheit besteht also weder in der
Brauchbarkeit eines Urteils, noch in seiner macht- und lebensfördernden
Wirkung, noch in seiner logischen Widerspruchsfreiheit im
Gesamtzusammenhang eines Systems, noch in der Beziehung zu einem
Menschen, vielen Zeitgenossen oder auch sämtlichen Menschen, die
dieses Urteil für wahr halten — sondern Wahrheit eines Urteils besteht
einzig und allein darin, daß der in einem Urteil behauptete Sachverhalt
wirklich besteht, daß er unabhängig von irgendeiner Meinung darüber
unserem Bewußtsein transzendent ist.
3
Eine sowohl für alle Erkenntnis und Wissenschaft als auch für das
persönliche Leben grundlegendere und existentiellere Frage als die nach
der Erkennbarkeit objektiver Wahrheit kann es wohl nicht geben. Und
für die Metaphysik ist es, wie Kant richtig sah, ebenfalls die
Schicksalsfrage, ob wir, wie es im folgenden gezeigt werden soll,
allgemeine und notwendige Sachverhalte erkennen können, bzw. worin
diese gründen.
Auch Wissenschaftstheorie und Existenzphilosophie sollten in ganz
anderem Ausmaß, als dies bisher der Fall ist, diese Grundfrage ernsthaft
stellen.
Josef Seifert
4
EINLEITUNG
"Es hat gewiß jeder Mensch, der in solchen Betrachtungen heimisch ist,
gegen jeden derartigen Idealismus ein tiefes Mißtrauen empfunden,
sooft er sich einmal recht deutlich von der ewigen Konsequenz,
Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der Naturgesetze überzeugte; er
hat den Schluß gemacht: hier ist alles soweit wir dringen, nach der
Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt
so sicher ausgebaut, endlos, gesetzmäßig und ohne Lücken; die
Wissenschaft wird ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben
haben, und alles Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht
widersprechen. Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugnis: denn
wenn es dies wäre, müßte es doch irgendwo den Schein und die
Unrealität erraten lassen. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch,
jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir
selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren,
oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau,
hörte ein dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen
Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst
subjektives Gebilde begreifen. Sodann: was ist für uns überhaupt ein
Naturgesetz? Es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen
Wirkungen, das heißt, in seinen Relationen zu andern Naturgesetzen,
die uns wieder nur als Summe von Relationen bekannt sind. Also
verweisen alle diese Relationen immer nur wieder aufeinander und sind
uns ihrem Wesen nach unverstänchich durch und durch; nur das, was
wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und
5
Zahlen, sind uns wirklich bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir
gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert
und uns zum Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt
gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und
Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raumvorstellungen. Diese aber
produzieren wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der
die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter
diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, daß
wir in allen Dingen nur eben diese Formen begreifen: denn sie alle
müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen und die Zahl gerade ist das
Erstaunlichste in den Dingen. Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im
Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde
mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge
heranbringen, so daß wir damit uns selbst imponieren. Dabei ergibt sich
allerdings, daß jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede
Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt also in ihnen
vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt
sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein
Bau der Begriffe konstruiert werden konnte. Dieser ist nämlich eine
Nachahmung der Zeit-Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden
der Metaphern." (1. Abschn.)1
"Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt,... nur durch
den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Körper
sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als
Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergißt, lebt er
mit einiger Ruhe, Sicherheit, Konsequenz: wenn er einen Augenblick
nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre
es sofort mit seinem 'Selbstbewußtsein' vorbei."2
"Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern,
Metanomyen, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
übertragen, geschmückt wurden, und die nach einem langen Gebrauch
einem Volke fest kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten
sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind,
Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind,
1
Ne. We. Bd. III, S. 317/18: "Über Wahrheit und Lüge im außermorali-
schen Sinn", 1. Abschnitt (Schluß). Die Hervorhebungen stammen von mir.
2
A. a. O., S. 316 (1. Abschnitt).
6
Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als
Münzen in Betracht kommen."3
"Wir wissen aber immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit
stammt?...: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu
lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun
vergißt freilich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also in der
bezeichneten Weise unbewußt und nach hundertjährigen
Gewöhnungen — und kommt eben durch diese Unbewußtheit, eben
durch dies Vergessen, zu dem Gefühl der Wahrheit."4
3
A. a. O., S. 314 (1. Abschnitt).
4
A. a. O., S. 314 (1. Abschnitt).
5
Sehr deutlich hat auf diesen von Hume und Kant ausgehenden Imma-
nentismus B. Schwarz in seinem Aufsatz "Wahrheit und Wissenschaft''
hingewiesen, wo er dieses "geistesgeschichtliche Phänomen von
gewaltigem Ausmaß" den "Kampf der Philosophie gegen die Wahrheit"
nennt (a. a. O., S. 99).
6
Dieser Zusammenhang wird seiner sachlichen Seite nach besonders im II.
Teil der vorliegenden Arbeit behandelt. In den eingangs zitierten
Nietzsche-Stellen tritt er deutlich hervor. Es muß hier auch erwähnt
werden, daß die amoralistische Lebens- und Machtphilosophie Nietzsches
(vgl. Ne. We. Bd. III, S. 310, 311, 320) in engstem innerem
Zusammenhang mit dem Relativismus und Nihilismus steht. Dies tritt bei
Nietzsche am deutlichsten hervor im Willen zur Macht (I. Buch I, 1—4; 1,
1—12; 1, 22—24) a. a. O., S. 7—16; 20—22. (Vgl. Ne. We. Bd. 111, S.
507—562; S. 1405.) In einer Arbeit über "Wahrheit und Irrtum bei F.
7
Achtundzwanzig Jahre nach dem Aufsatz Nietzsches "Über Wahrheit
und Lüge im außermoralischen Sinn" zu einer Zeit der Hochblüte des
Immanentismus hat Edmund Husserl in seinem Werk Logische
Untersuchungen jeden erkenntnistheoretischen Immanentismus und
8
Relativismus unter der Form des schon in der Kantischen Philosophie
grundgelegten "Psychologismus" bekämpft, der alle Seinsgesetze auf
Denkgesetze zurückführt.7
Im Augenblick, da ich mit Kant leugne, daß sich der Mensch im
Erkennen selbst überschreitet und mit der Wirklichkeit, wie sie in sich
ist geistig in Berührung tritt, im Augenblick, da ich leugne, daß der
Mensch im Erkennen das Seiende "empfängt" und behaupte, der
Mensch sei im Erkennen ein spontan-tätiges, künstlerisch schaffendes
Subjekt, befreie ich ihn nicht, wie es scheinen mag, sondern sperre ihn
in jenes immanentistische Gefängnis der eigenen
"Gedankenspinngewebe" ein, von dem Nietzsche spricht.
Dieser "Verlust der Transzendenz", der die Neuere Philosophie bis zur
Gegenwart hin weitgehend kennzeichnet,8 tritt besonders mit der
7
Der Begriff "Psychologismus", wie Husserl ihn versteht, wird in den
Logischen Untersuchungen Bd. I, § 38 ff., besonders deutlich. (Im
siebenten Kapitel "Der Psychologismus als skeptischer Relativismus".)
Vgl. etwa S. 124: "Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder
nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Gesetze faßt oder
sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf
gewisse ‘ursprüngliche Formen’ oder ‘Funktionsweisen’ des
(menschlichen) Verstandes, auf das ‘Bewußtsein überhaupt' als
(menschliche) ‘Gattungsvernunft’, auf die ’psychophysische Konstitution’
des Menschen, auf den ‘intellectus ipse’, der als angeborene (allgemein
menschliche) Anlage dem faktischen Denken und aller Erfahrung
vorhergeht u. dgl. — ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des
spezifischen Relativismus." In extenso behandelt Husserl Wesen und
Begriff des Psychologismus im 4. und 5. Kapitel des ersten Bandes, a. a.
O. Aus terminologischen Gründen werde ich den Begriff
"Psychologismus" in einem viel eingeschränkteren Sinn gebrauchen. (Vgl.
I. Teil der Arbeit, S. 54 ff.)
8
Es bedarf wohl keiner eingehenden Belegung dieser These. Sie wird
überdies im Laufe dieser Arbeit immer deutlicher und durch zahlreiche
Zitate belegt werden. Eine eindrucksvolle Analyse dieses Faktums findet
sich im 7. Kapitel, I. Teil, der Logischen Untersuchungen: "Der Psycho-
logismus als skeptischer Relativismus", insbesondere deshalb, weil Husserl
dort die Unterscheidung zwischen individuellem Relativismus und spezi-
fischem Relativismus, bzw. Anthropologismus durchführt, der die
Wahrheit nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf "die Spezies
Mensch" relativ setzt: "Können wir bei dem Subjektivismus (individuellem
9
"Kopernikanischen Wendung" Kants hervor, nach der nicht mehr das
menschliche Erkennen von den "Sachen selbst", die dem Erkennen
vorhergehen, geformt wird, sie in ihrem Sein erfaßt, sondern umgekehrt
sie formt und bestimmt.
Bestünde die "Erkenntnis" wirklich darin, daß der Mensch seine
eigenen Anschauungs- und Denkformen auf die ihm in ihrem Sein an
sich unbekannten Dinge anwendet, könnte der Mensch wirklich nur den
aus einem "Chaos der Sinnesempfindung" durch seine
Anschauungsformen und Kategorien geschaffenen Gegenstand
erkennen, beziehungsweise wäre das Erkennen im Grunde eine solche
spontane Tätigkeit des Geistes — so wäre der Mensch rettungslos vom
Sein abgeschnitten. Infolge dieser Umkehrung der
Erkenntnis-Ding-Beziehung in der "Kopernikanischen Wendung"
rettet Kant nur scheinbar notwendige und allgemeingültige
Wahrheiten, begründet aber in Wirklichkeit mit seinem
transzendentalen Idealismus höchstens notwendig und allgemein in der
"species Mensch" gründende Irrtümer. 9
Es soll später gezeigt werden, daß unter den Kantischen
Voraussetzungen Nietzsche wirklich damit recht hätte, daß "die
Wahrheiten Illusionen sind, von denen man vergessen hat, daß sie
welche sind"10 Allerdings enthüllt sich der Widerspruch, der in jedem
derartigen Relativismus liegt, wenn wir die einzige Frage an Nietzsche
richteten, ob alles, was er jetzt über Wahrheit und Irrtum gesagt hat,
daß nämlich die Wahrheiten Illusionen sind, wiederum nur eine Illusion
oder absolut und objektiv wahr sei — doch dies soll an gegebener Stelle
behandelt werden.11
Die immanentistischen und zum Relativismus führenden
Konsequenzen der "Kopernikanischen Wendung" hat Nietzsche in der
Unzeitgemäßen Betrachtung: "Schopenhauer als Erzieher" besonders
10
klar ausgesprochen (nach seiner eigenen Erklärung hat Nietzsche
diesen ebenfalls 1873 verfaßten Aufsatz im Grunde über seine eigene
Entwicklung geschrieben):
11
Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem 'heiligsten Innern'
messen?..."12
Was Nietzsche hier mit Kleist das "heiligste Innere" nennt, ist jene tiefe
Wirklichkeit im Menschen, in der sich seine existentielle Beziehung
zur Wahrheit konstituiert. Es gibt ein Zentrum in der Seele des
Menschen, das wahre Lebenszentrum des Geistes, in dem der Mensch
so auf die Wahrheit zugeordnet ist und auf die Wirklichkeit in der Fülle
ihrer in sich ruhenden Bedeutsamkeit und Kostbarkeit, daß er im
Innersten getroffen wird, wenn er zur Überzeugung kommt, niemals die
objektive Wahrheit und objektive Werte erkennen zu können. Lebt der
Mensch in und aus diesem auf die Wahrheit gerichteten,
wertantwortenden13 Zentrum, so ist der Augenblick "sein Tod", in dem
ihm verkündet würde: alle Güter und Personen, auf die antwortend du
glücklich bist, alle Wahrheit, die du zu erkennen glaubtest, Gott selbst
— all dies ist nicht unabhängig von dir, all dies wird mit dem Tode
"nichts" mehr sein; denn es "lebt" nur von Gnaden deiner selbst, deiner
Natur, deiner Konstitution; dieser Augenblick bedeutet dann seine
Verzweiflung, aus der nichts, nichts ihn erretten kann und soll außer
der Wahrheit selbst. Nur sie, die befreiende Wahrheit, die dieses
Verzweiflung bringende Wort Lügen straft, kann uns aus dieser
Verzweiflung retten — Flucht, Verdrängung, Unernst sind keine
Rettung, auch wenn sie uns die Verzweiflung vergessen machen. Denn
12
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Ne. We. Bd. 1, S. 302/
3 Die zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl.
Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 163.
13
Das Wesen der in der gesamten Sittlichkeit entscheidenden “Wert-
antwort” hat Dietrich von Hildebrand in Christliche Ethik, Kap. 17, erst-
malig zu voller philosophischer Gegebenheit gebracht und damit jene
“Antwort” des Willens oder des Herzens bezeichnet, die der Mensch,
einem werttragenden Gut um jener Bedeutsamkeit und Kostbarkeit willen
gibt, die es in sich besitzt, jene Antwort, die ihm auf Grund seines Wertes
gebührt.(Vgl. Christliche Ethik, Kap. 18.) Wir werden auf diesen Begriff,
den D. von Hildebrand geprägt hat und der ein Zentralbegriff für die
gesamte Ethik ist, in geeignetem Zusammenhang zurückkommen. Vgl.
dazu auch B. Wenisch, Der Wert — eine an D. von Hildebrand orientierte
Auseinandersetzung mit Max Scheler.
12
die Verzweiflung, von der wir nicht wissen, ist, wie Kierkegaard so tief
gesehen hat, die schlimmste Verzweiflung13a .
Die Erkenntnis der Wahrheit über die wichtigsten Wirklichkeiten die
Beziehung zu einer Wahrheit, die unabhängig vom menschlichen Geist
wahr ist, die er erkennen kann, indem er sich selbst transzendiert, das
ist der Lebensnerv der Person. Wenn wir in und aus dieser von jedem
Menschen geforderten Beziehung zur Wahrheit leben, verstehen wir
die Verzweiflung, die die gebührende Antwort auf die
"Gefängniswände unseres illusionshaften Glaubens" wäre, der niemals
die Wirklichkeit an sich erreichen würde. Wenn also jene
Wirklichkeiten nicht "an sich" wären, die entweder von uns unabhängig
oder ein bloßer Schein sind, wie die Werte hoher Güter, andere
Personen, die Wahrheit, Gott — dann müßten wir wie Kleist
empfinden:
"Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden
sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken,
sind grün — und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen
die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut
was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem
Verstande..."14
"... Der Gedanke, daß wir hienieden nichts, gar nichts von der Wahrheit
wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz
anders heißt... dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele
erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe
keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände
in den Schoß, und ich suche ein neues Ziel, dem mein Geist,
froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde
es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf
13a
Vgl.- S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 39 ff., S. 47 ff., Anm.,
S. 48 ff., in: S. Kierkegaard: Ges. Werke, 24./25. Abt., Düsseldorf 1957.
14
Vgl. H. Von Kleist, Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. 6, S. 163. An diese Stelle
schließt die von Nietzsche zitierte mit den Worten an: "Wir können nicht
entscheiden..." Anschließend in demselben Brief (a. a. O., S 164) schildert
Kleist, wie seine Freunde diese seine Erschütterung nicht verstanden und
versuchten, ihn mit einer harmlosen philosophischen Lektüre zu
"beruhigen", die auf die über den Sinn unseres Lebens entscheidende Frage
ob wir nämlich eine absolute Wahrheit erkennen können, keine Antwort
gibt.
13
Kaffeehäuser und Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe,
um mich zu zersträuen und zu betäuben, Torheiten, die ich mich
schäme aufzuschreiben und doch ist der einzige Gedanke, den in
diesem äußeren Tumulte meine Seele unaufhörlich mit glühender
Angst bearbeitet, dieser: dein einziges und höchstes Ziel ist gesunken...
Ich kann nicht einen Schritt tun ohne mir deutlich bewußt zu sein,
wohin ich will..."15
Es gibt zahlreiche Briefe und Notizen aus jenem Kreis von Schülern,
die sich in Göttingen um E. Husserl versammelten, aus denen
hervorgeht, daß sie sich angesichts des Deutschen Idealismus, wie er
von der "Kopernikanischen Wendung" ausgeht und angesichts der von
ihm getragenen Richtungen, nach denen alle Seins- und Wesensgesetze
auf Denkgesetze reduziert werden — in einer ähnlichen inneren
15
Brief vom 23. März 1801. A. a. O., S. 165.
16
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44c, S. 229.
14
Verzweiflung befanden, wie Heinrich von Kleist.17 Und so gingen sie
nach Göttingen, um unter der Führung E. Husserls aus dem Gefängnis
des Immanentismus und Relativismus auszubrechen; und in der Tat
bedeuten die Logischen Untersuchungen eine klassische Widerlegung
des erkenntnistheoretischen Immanentismus und Relativismus, den E.
Husserl dort unter dem Namen des "Psychologismus" bekämpft. Mit
Recht sahen die meisten Schüler Husserls in dessen Hauptwerk einen
Durchbruch zur vollen Transzendenz der Erkenntnis, zu den "Sachen
selbst", zu den nicht nur dem Einzelnen, sondern jedem menschlichen
Geiste transzendenten, notwendigen Wesenheiten, in denen jene
veritates aeternae gründen, die endgültig seit Kant verloren zu sein
schienen.18 Dieser Durchbruch zur Transzendenz, und zugleich die
Besinnung auf das Wesen der philosophischen Methode als der
Einsicht in notwendige, unzurückführbare Urgegebenheiten,
Wesenheiten und Wesenssachverhalte wurde von den bedeutendsten
Schülern des frühen Husserl fortgeführt und durch viele neue
Erkenntnisse bereichert.19
17
Vgl. dazu etwa eine Tagebuchaufzeichnung Edith Steins (1913) in: Edith
Stein, Lebensbild einer Philosophin und Karmelitin (Sr. Teresia Renata a.
Sp. S.), S. 30. Vgl. auch Sr. Teresia a. M. D., Edith Stein, S. 40.
18
Obwohl er historisch zunächst vergessen wurde, darf man den groß-
artigen Durchbruch zur vollen Transzendenz der Erkenntnis hier nicht un-
erwähnt lassen, den "der böhmische Leibniz" Bernhard Bolzano, schon
1837 in seiner Wissenschaftslehre leistete. Husserl selbst betont, von
welcher Große dieses Werk sei und wieviel er Bolzano verdanke.
19
Wir denken dabei in erster Linie an Adolf Reinach und seine erkenntnis-
theoretischen Ausführungen (in seinem Hauptwerk Zur Phänomenologie
des Rechtes — Die apriorischen Grundlagen des Bürgerlichen Rechts, in:
Was ist Phänomenologie?; in: Gesammelte Schriften die Aufsätze "Kants
Auffassung des Humeschen Problems", S. 1, und "Zur Theorie des
negativen Urteils", S. 56., an Alexander Pfänder, besonders an seine
erkenntnistheoretischen Erwägungen in der Logik; an verschiedentliche
Ausführungen Max Schelers, Edith Steins, Hedwig Conrad-Martius', auf
die wir im Laufe der Arbeit hinweisen werden; vor allem aber denken wir
an die bedeutenden, im deutschen Sprachraum noch kaum bekannten oder
gar in ihrem Rang anerkannten erkenntnistheoretischen Werke Dietrich
von Hildebrands, besonders an What is philosophy?, das demnächst in
deutscher Sprache erscheinen wird. Auf die übrigen wird in späteren
Fußnoten verwiesen werden. Ebenso scheint mir eine solche
15
Husserl selbst aber hat sich schon sehr früh, vor allem mit seinen Ideen
zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie
(1913)20 von diesem von ihm neu beschrittenen Weg "zu den Sachen
selbst", von diesem Durchbruch zur Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis, völlig losgelöst, was dazu führte, daß viele seiner Schüler
und ihm nahestehende Philosophen sich von seiner Philosophie
abwendeten, da sie seine wichtigsten Erkenntnisse von ihm
16
preisgegeben sahen.21 Es ist eine unerklärliche und tragische Tatsache,
daß derjenige Denker, der die "verlorene Transzendenz" des Menschen
in der Erkenntnis am klarsten wieder entdeckt hatte, in seinen
Spätschriften in einen so radikalen Idealismus und Immanentismus 21a
verfallen ist, was übrigens zu einer vollkommenen Verwirrung des von
vornherein unglücklich gewählten und so belasteten Terminus
"Phänomenologie" geführt hat,22 welchen Begriff wir daher für die
ursprünglich damit gemeinte klassische (bei allen philosophischen
Einsichten aller Zeiten angewandte) philosophische Methode nicht
verwenden wollen.23
21
Husserls Wendung zum Transzendentalismus, dessen Überwindung viele
seiner Schüler und Freunde gerade in den Logischen Untersuchungen (der
ersten Fassung von 1901 vor allem) sahen, wurde von Alexander Pfänder
vollkommen zurückgewiesen. (Vgl. Herbert Spiegelberg, Alexander
Pfänders Phänomenologie, S. 3—4; bes. S. 17—19). Auch Adolf Reinach,
der ja die transzendentale Wendung Husserls kaum mehr erlebte, hat sie,
wie aus seinen Gesammelten Schriften klar hervorgeht, insbesondere aus
den nach 1913 auf dem Felde verfaßten Schriften und Aufzeichnungen,
entschieden abgelehnt. Auch Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius u. a.
vollzogen diese Wendung nicht mit, auch nicht Max Scheler vor seiner
ganz anderen Wendung und gänzlichen Umkehr seiner Philosophie, die er
tragischerweise in seinen Spätschriften (bes. Die Stellung des Menschen im
Kosmos) vollzog. Am entschiedensten allerdings hat D. von Hildebrand
eine jedem transzendentalen Idealismus entgegengesetzte, diesen weit über
die Logischen Untersuchungen hinaus überwindende Erkenntnislehre
erarbeitet. (Vgl. dazu den 11. Teil dieser Arbeit.)
21a
Wir werden am Ende des II. Teiles dieser Arbeit auf den besonderen
Immanentismus der Spätphilosophie Husserls genauer eingehen, wie er in
den Cartesianischen Meditationen (Husserliana, a. a. O., Bd. 1) hervortritt.
22
Dies wird aus dem 11. Teil dieser Arbeit, besonders der Auseinander-
setzung mit E. Husserls Spätphilosophie, deutlicher werden.
23
Die phänomenologische Methode in diesem klassischen Sinn wurde m.
E. zu ihrer eigentlichen Vollendung gebracht und auch theoretisch am
deuthlichsten erfaßt von D. von Hildebrand. Vgl. What is philosophy? S
222-226. Wegen des irreführenden, vor allem aber zunehmend im Sinne
des späten Husserl verstandenen Ausdrucks "Phänomenologie" verwendet
auch D. von Hildebrand diesen früher von ihm (im erwähnten Sinn)
gebrauchten Begriff nicht mehr.
17
Jeder, der die letzte Bedeutung der in dieser Einleitung angedeuteten
Fragen siehe und sich der Bedrohung der Transzendenz der
menschlichen Erkenntnis durch den Immanentismus bewußt ist, wird
erfassen wie wichtig es ist, sich wieder einmal von neuem "den Sachen
selbst" zuzuwenden und das Wesen und die Stufen der Transzendenz
des Menschen zu erforschen. Dies kann — bei möglichster
Beschränkung auf das Wesentliche — nur durch eine systematische
Behandlung dieses Problems geschehen, in Auseinandersetzung mit
den Grundformen des erkenntnistheoretischen Immanentismus.
Die eigene, unmittelbare Erkenntnis der "Sachen selbst", die
unumgänglich für jede philosophische (und nicht bloß
"philosophiehistorische") Untersuchung dieser Frage nötig ist, wurde
mir vermittelt durch die Einsichten der klassischen Denker der
"philosophia perennis" (insbesondere Platon, Aristoteles, Augustinus,
Bonaventura, Thomas v. Aquin, Descartes und Leibniz); ferner durch
den Husserl der Logischen Untersuchungen, Adolf Reinach, Alexander
Pfänder und Max Scheler — aber vor allem durch die
erkenntnistheoretischen Werke Dietrich von Hildebrands, in denen mir
am deutlichsten die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis zu
voller philosophischer "prise de conscience" 24 gelangt zu sein scheint.
Diese Erkenntnisse wurden mir ferner in besonderer Weise durch die
Vorlesungen und Werke meines Lehrers Balduin Schwarz vermittelt
wie ich auch seinen eingehenden Analysen von Erkenntnis und Irrtum
viele auf meine Arbeit bezüglichen Erkenntnisse verdanke.
24
Dieser von D. v. Hildebrand oft verwendete Ausdruck stammt von
Jacques Maritain und bedeutet "ins volle Licht des Bewußtseins heben"
sich ausdrücklich bewußt werden.
25
Die nun folgende Analyse erhebt keineswegs den Anspruch, auch nur
einigermaßen vollständig zu sein.
18
verschiedene, ja z. T. sogar einander entgegengesetzte Bedeutungen,
daß es nötig erscheint, ihn zu klären. Ein bescheidener Beitrag zu dieser
Klärung soll in der vorliegenden Arbeit geleistet werden.
Das aus dem Lateinischen kommende Wort "Transzendenz" weist
immer auf ein "Überschreiten" bzw. ein "Darüberhinausliegen" hin.
Einerseits kann es bedeuten, daß eine Wirklichkeit jenseits einer
Grenze oder jenseits einer anderen Wirklichkeit liegt; dann erhält der
Begriff "Transzendenz" seine spezielle Bedeutung jeweils durch die
Art der Grenze, jenseits der etwas liegt bzw. durch die beiden
Wirklichkeiten, deren eine jenseits der anderen liegt.26 Diese Grenze ist
dabei nicht eine rein räumliche oder eine unbedeutend geistige.
Andererseits kann mit "Transzendenz" auf einen Akt des
Überschreitens hingewiesen werden, und dann handelt es sich um eine
spezifisch personale Fähigkeit. So spricht man nicht von
"Transzendenz", wenn ein Reh eine Baumgrenze überschreitet oder
wenn ein Kind ein anderes an Intelligenz übertrifft. Die überschrittene
Grenze muß einen geistigen und wesentlichen Charakter haben.
Bleiben wir zunächst ein wenig bei der Bedeutung von
26
Vgl. dazu auch die Begriffsanalyse der Ausdrücke "Transzendenz",
"transzendent" und "transzendental" in Fritz Leist, Transzendenz, tran-
szendent und transzendental, a. a. O., S. 295 ff.
19
ersten Fall wäre der Mensch ins Gefängnis seiner Immanenz
eingeschlossen, im zweiten kann er sich transzendieren. Die Grenze,
die er damit überschritte, wäre sein eigenes, bewußtes Sein, die
Wirklichkeit jenseits dieser Grenze jenes Sein, mit dem er in Berührung
träte.
Falls wir zeigen können, daß der Mensch nicht nur faktisch und zufällig
Seiendes jenseits seiner selbst erkennen kann, sondern auch ewige,
wesensnotwendige Wahrheiten, so ist klar, daß er nicht nur sich selbst,
sondern auch das historisch sich Wandelnde, das Gefängnis des
Augenblicks, die Leere des Zufälligen transzendiert.
In der absoluten Gewißheit und Evidenz, mit der uns diese Wahrheiten
gegeben sind, überschreiten wir auch jene Meinungen, die der Zweifel
stets annagen kann, und überwinden den Immanentismus des
Relativismus, Historismus, Soziologismus, Psychologismus und
transzendentalen Idealismus — dies hoffe ich im zweiten Teile dieser
Arbeit zu zeigen.
Schließlich liegt auch in der Wesenserkenntnis, wenn man sie künstlich
isoliert, noch ein Eingeschlossensein in sich selbst, solange wir nicht
auch mit der konkreten, aktuell existierenden Wirklichkeit der
Außenwelt und vor allem anderer Personen in Beziehung treten
können. Gegenüber dem Solipsismus Stirners, aber auch des späten
Husserl mit seiner radikalen Ausklammerung der Existenz und der
Ablehnung jedes Realismus als widersinnig, soll erwiesen werden daß
der Mensch über sich hinaus auch zur vollen, konkreten, substantiellen
Wirklichkeit gelangen kann und welch einzigartige Transzendenz
gerade darin liegt.
Doch die Frage, ob wir Seiendes jenseits unserer selbst erkennen
können, tritt noch deutlicher in ihrer Bedeutung hervor, wenn wir uns
fragen, ob vielleicht alle Kostbarkeit der Dinge und Personen, die diese
in sich zu besitzen scheinen, nur Illusionen sind.27 Ein solcher
Wertrelativismus28 würde den Menschen in die Wüste einer absurden,
in sich vollkommen wert- und sinnlosen Welt einschließen. Einem
27
Diese Frage nach dem objektiv Guten steht seit Platons Dialogen im
Mittelpunkt metaphysischen und ethischen Interesses.
28
Vgl. dazu besonders die eingehende Analyse und Überwindung des
ethischen Relativismus in D. von Hildebrand, Christliche Ethik, a. a O,
Kap. 9. Vgl. auch zu diesem Problem Fritz Wenisch, Die Objektivität der
Werte.
20
solchen Nihilismus29 gegenüber versuche ich, besonders im Anschluß
an Dietrich von Hildebrand, die Transzendenz des Menschen in der
Werterkenntnis darzulegen, in der der Mensch eine solche neutrale
Welt durchbricht und zu objektiven Werten gelangt. Die
allerentscheidendste Frage nach der Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis aber ist, ob er nur endliches Seiendes erkennen kann, vom
Sein selbst, vom absoluten Sein aber nichts weiß — oder ob es eine
Gotteserkenntnis gibt und wir etwas vom Licht des Vollkommenen
erkennen und damit die Grenzen des Endlichen übersteigen können.
Diese Frage kann in diesem Buch nicht mehr ausgeführt werden, aber
in ihr gipfelt die Grundfrage nach der Transzendenz des Menschen in
der Erkenntnis.30 Wenn ich auch nicht einmal die zuletzt aufgeworfene
Frage hier behandeln kann, obgleich sie zentral zum Thema dieser
Arbeit gehört, so möchte ich doch andeutungsweise noch weitere
prinzipiell neue Formen der Transzendenz des Menschen erwähnen,
29
Daß der Nihilismus im tiefsten Grunde eben darin liegt, daß aller
objektive "Sinn und Wert" geleugnet wird, hat F. Nietzsche mit größter
Schärfe gesehen. Vgl. Der Wille zur Macht, vor allem S. 10-28, aber auch,
S. 29-98.
30
Es bedarf wohl keiner längeren Erklärung, um zu sehen, was schon "auf
den ersten Blick" einleuchtet: Die Leugnung jener Transzendenz des
Menschen in der Erkenntnis, die darin liegt, daß er die Wirklichkeit, wie
sie in sich selbst ist, erkennen kann (und also nicht auf bloße "Phänomene
beschränkt ist), führt auch zu einem Immanentismus bezüglich der ent-
scheidendsten Frage nach der Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis, der Frage nach der Gotteserkenntnis. Wenn wir also die
Fähigkeit des Menschen und ihre Dimensionen zu voller philosophischer
Bewußtheit gebracht haben, in der Erkenntnis sich selbst und die eigenen
Bewußtseinszustände und Veranlagungen oder immanenten Aktvollzüge
zu transzendieren und die Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie in sich
selber ist — dann haben wir damit jenen elementaren Immanentismus
überwunden, der von vornherein jede Möglichkeit einer Gotteserkenntnis
ausschließt. Andererseits haben wir damit noch nicht die
allerentscheidendste Frage nach, der Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis beantwortet: Ist der Mensch in seiner Erkenntnis auf das
endliche, kontingente Seiende beschränkt oder kann er auch dieses
erkennend überschreiten und etwas vom Sein selbst, vom Absoluten, von
Gott erkennen?
21
damit die verschiedenen Transzendenzbegriffe und der Gesamtrahmen
sichtbar werden, in dem die folgenden Untersuchungen stehen.
In eine grundsätzlich neue Richtung geht die Frage, die man als die
nach der Transzendenz des Menschen in der Wertantwort 31 bezeichnen
kann. Ist der Mensch in sein immanentes Lust- und Glücksstreben
eingekerkert, und vermag er alle Wirklichkeit nur unter dem
Gesichtspunkt seiner eigenen Entelechie zu betrachten — oder kann
der einem Gute innewohnende Wert, z. B. die Kostbarkeit, die eine
andere Person in sich besitzt, als solche seinen Willen und sein Herz
motivieren? Kann der Mensch "Antworten" geben, einfach weil sie
einem Gut gebühren,32 Handlungen setzen, einfach damit etwas Gutes
realisiert werde? Die Grenze, die der Mensch damit überschritte, wären
jene immanenten Strebungen des Eigenlebens, 33 die der Hedonismus
oder Eudaimonismus als einzige Grundmotive des Menschen
betrachtet. Die sittlich gute Antwort wäre die höchste Form dieser
Wertantwort, in der der Mensch sich selbst transzendieren konnte.
Besitzt der Mensch Freiheit, so kann er ferner jene Gesetze seiner
physiologischen Konstitution und psychischen Anlagen, jene
Umstände des Milieus und Zeitgeistes transzendieren, von denen der
Determinismus in seinen verschiedenen Spielarten behauptet, daß sie
ihn gänzlich bestimmen. Dieser stellt daher eine ganz elementare Form
des Immanentismus dar, da er die Freiheit leugnet, die die Person
überhaupt erst zur Person macht und die in allen Dimensionen
personaler Transzendenz, besonders aber in der sittlichen Wertantwort
vorausgesetzt ist.
In einem radikial neuen Sinn sprechen wir von Transzendenz als
Unsterblichkeit. Die Frage ist hier: Gibt es ein Leben jenseits der
Grenze des Todes? Ohne Unsterblichkeit leben wir im "Schatten des
Todes". Da ein einfachhin endlos verlängertes menschliches Leben
seines eigentlichen Sinnes beraubt wäre, müssen wir weiterfragen: Gibt
es ein unsterbliches Leben in der vollen Erkenntnis Gottes, das dann
31
Diesen von ihm selbst geprägten entscheidenden Begriff hat D. von Hil-
debrand in Christliche Ethik, Kap. 17, eingehend analysiert und dabei m.
E. eine für die gesamte Ethik und Metaphysik der Person fundamentale
Wirklichkeit herausgearbeitet.
32
Die grundlegende Beziehung des Gebührens wird a. a. O., Kap. 18,
dargelegt.
33
Vgl. D. v. Hildebrand, Eigenleben und Transzendenz.
22
nicht nur ein Überschreiten der Grenze des Todes wäre, sondern auch
alles Bruchstückhafte und Endliche unserer jetzigen Erkenntnis
überstiege und überdies in Richtung auf die wertantwortende Hingabe
von unendlicher Transzendenz wäre? Hier gipfeln alle Fragen nach der
Transzendenz, und hier allein fände das Wort Pascals seine Erfüllung:
"L'homme passe infiniment l'homme."34 — "Der Mensch übersteigt
unendlich den Menschen." Diese Frage nach der Transzendenz als
ewigem Leben35 aber läßt sich letztlich von der menschlichen
Erkenntnis her nicht endgültig beantworten, und so taucht hier eine
ganz neue Bedeutung von Transzendenz auf: nämlich einerseits als ein
die Grenzen der menschlichen Erkenntnis transzendierender Glaube
und andererseits als das Licht der Offenbarung, das alle natürlichen
Erfahrungen transzendiert, und der Einbruch, die "Erscheinung" des
absoluten, transzendenten Gottes in die Immanenz der Welt ist. —
Diese letzte Frage nach der Transzendenz des Menschen übersteigt aber
schon die philosophische Erkenntnis.
34
Vgl. Blaise Pascal, Oeuvres completes, S. 515 (Fr. 131-434).
35
Es ist offenkundig, daß nicht nur schon die größten Philosophen der
Antike die Unsterblichkeit der Seele erkannten, sondern daß diese Tran-
szendenz als ewiges Leben wesenhaft zu jeder christlichen Lehre gehört.
Es sei hier erwähnt, daß an seine Stelle heute bei vielen Theologen eine
Auffassung tritt, in der "Transzendenz" nur noch das zukünftige
geschichtliche Leben bedeutet im Sinne von Ernst Blochs Prinzip
Hoffnung oder im Sinne der Vorstellungen einer "neuen Menschheit" bei
Herbert Marcuse. Ist es da nicht beschämend, daß Marcuse solchen
Theologen sagen muß, daß diese Auffassung mit jedem Christentum
unverträglich ist? (Vgl. "Neues Forum" XV/176-177. August/September
1968) Vgl. auch D. von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt
Gottes, Kap. 19.
23
In diesem Sinn transzendiert der Mensch alle materiellen und
animalischen Gebilde; er steht in seinen personalen Akten "jenseits"
der ihnen immanenten Gesetze.
Vor allem meinen wir "Transzendenz" in diesem objektiven Sinn, wenn
wir sagen: "Gott ist (der Welt) transzendent." Die Frage, ob es jenseits
dieser Welt und der Geschichte ein absolutes Sein gibt, was der
Atheismus, Historismus oder Pantheismus in allen seinen Formen
leugnet, ist die Frage nach der Transzendenz Gottes in diesem Sinne,
die der hl. Augustinus in die Worte faßt: "Causa itaque rerum, quae
facit nec fit, Deus est."36
36
Augustinus, De Civitate Dei, V, X.
37
N. Hartmann macht in seiner Metaphysik der Erkenntnis, 8. Kap., S. 88
f., ähnliche Unterschiede, die dann in seiner Erkenntnislehre eine große
Rolle spielen. Dem Transzendenten im Sinne des Erkannten (an sich,
Seienden), das also Objekt der Erkenntnis ist, stellt er das Unerkannte
(jenseits der relativen Erkenntnisgrenze) und das Unerkennbare "Transob-
jektive" (jenseits der allgemeinmenschlichen Erkenntnisgrenze)
gegenüber. Ein genaueres Eingehen auf diese Terminologie ist hier nicht
möglich. Noch problematischer sind die Begriffe des "Transintelligiblen"
und "Irrationalen" (a. a. O., S. 90). Am ehesten trifft N. Hartmann den
gemeinten Unterschied im III. Teil (Kap. 33) seines Werkes, a. a. O., S. 24,
24
Gibt es also, so können wir uns fragen, eine Wirklichkeit, die nicht nur
faktisch vom Menschen noch nicht erforscht ist, sondern die prinzipiell
jenseits seiner Erkenntnis- und Erfahrungsgrenze liegt?
Daß es ein solches prinzipiell menschlicher Erkenntnis transzendentes
Sein gibt, wäre sicher, nachdem wir eindeutig zu einer philosophischen
Gotteserkenntnis gelangt sind. Damit hätten wir mit Gewißheit die
Existenz eines unendlichen Wesens erkannt, das uns in der jetzigen
Erfahrung nicht unmittelbar selbst gegenwärtig und gegeben ist, wie
uns andere Menschen oder die Welt gegeben sind. Daß ein solches Sein
existiert und damit die prinzipiellen "Grenzen" menschlicher
Erkenntnis bezüglich dieses "transzendenten Seins" können wir also
erst sehen, wenn wir auch die Größe der Erkenntnis des Menschen
begreifen,38 die ihn dazu befähigt, die Existenz und gewisse
Wesenseigenschaften eines unendlichen Seins zu erfassen, das
prinzipiell unsere menschliche Erkenntnis übersteigt.39
8 f.: "... im Wesen der Erkenntnis, als einer an die inneren Bedingtheiten
realer Subjekte unlösbaren Funktion, wurzelt sowohl die relative
Erkenntnisgrenze (Objektionsgrenze) als auch die absolute
Erkennbarkeitsgrenze (Rationalitätsgrenze)...; beide bestehen nicht am
Seienden als solchen, sondern nur für das erkennende Subjekt... ein
andersgeartetes Erkennendes, als das menschliche Subjekt, hätte zweifellos
andere Erkenntnisgrenzen in derselben Welt des Seienden, vielleicht auch
gar keine." A. a. O., S. 249: "es gibt nicht das an sich Irrationale, es gibt
nur das für uns Irrationale." (A. a. O., s. 250.)
38
"Die Größe und das Elend des Menschen" ist ja deshalb der in tiefer
gegenseitiger Beziehung stehende Doppelaspekt des Menschen, der im
Mittelpunkt der Philosophie Pascals steht. Vgl. Blaise Pascal, Oeuvres
completes, S. 506-528. (fr. 53-202, die Pascal selbst noch klassifizierte
unter den Titeln "grandeur", "misère", "contrariétés" etc.)
39
Das Wesen der philosophischen Gotteserkenntnis und der zentralen
Gegebenheiten der "Analogie" wird in der schon erwähnten Fortsetzung
dieser Arbeit eingehend behandelt werden.
25
Wir meinen jenen Begriff der "absoluten Transzendenz", wie er bei
Karl Jaspers und vielen modernen Philosophen und Theologen
verwendet wird. Wenn man nämlich die radikale Unerkennbarkeit der
"Dinge an sich", der Wirklichkeit in sich selbst — oder auch wenn man
die gänzliche Unerkennbarkeit Gottes behauptet, dann erhalten die
Ausdrücke "absolute Transzendenz der Wahrheit" oder "absolute
Transzendenz Gottes" einen Charakter, der nur scheinbar mit dem
letztgenannten zusammenfällt, in Wirklichkeit ihm entgegengesetzt
ist.40
Man meint hier nämlich nicht das absolute Sein, das durch seine
absolute Fülle unsere Erkenntnis unendlich übersteigt (dessen Existenz
und gewisse Wesenseigenschaften wir aber erkennen können, durch
welche Größe unserer Erkenntnis wir eben wissen, daß dieses Sein alle
unsere jetzige Erfahrung unendlich übersteigt), sondern einfachhin ein
uns schlechthin Unbekanntes, das ebensogut das Nichts als Gott sein
40
In dem hier gemeinten Sinn verwendet etwa K Jaspers sehr oft den
Transzendenzbegriff. Vgl. etwa den III. Bd. seiner dreibändigen
Philosophie, S. 2 ff., S. 6 R., S. 41 f., S. 43 ff., wo sich der Versuch findet,
das Sein als Transzendenz, als jenseits von Subjekt und Objekt, von Sein
und Nichts, als letztlich, völlig unerkennbar zu bestimmen. Vgl. etwa auch
dasselbe in Jaspers, Nietzsche, Kap. 2. Vor allem S. 194 ff., wo Jaspers in
der Auslegung des Nietzsche-Wortes "nichts ist wahr, alles ist erlaubt"
diesen Begriff der "absoluten Transzendenz" als des "absolut
Unbestimmbaren" entwickelt. Diesen Gedanken findet man schon im
plotinischen Begriff des En und dann bei einer großen Zahl von Denkern,
etwa bei John Scotus Eriugena oder Nikolaus von Cues bis hin zur neueren
Philosophie bei Hegel, Schelling, aber besonders auch in M. Heideggers
Seinsbegriff. Von dort aus wirkte sich dann dieser Begriff der "absoluten
Transzendenz" besonders auf viele Theologen, zunächst evangelische,
dann auch katholische, aus. In einer Fortsetzung dieser Arbeit, einer
Abhandlung über die Gotteserkenntnis, soll dieses Thema ausführlich
behandelt werden. Inwiefern dieser Begriff der "Transzendenz" auch dem
Kantischen System zugrunde liegt, wird im 11. Teil dieses Buches
behandelt werden. Vgl. dazu auch F. Leist, Transzendenz, transzendent und
transzendental, a. a. O., S. 297 ff. Auf diesem Transzendenzbegriff beruht
ferner die Erklärung der Notwendigkeit des Pluralismus in Metaphysik und
Religion bei Franz Kröner, Zur transzendenten Metaphysik, a. a. O., S. 142
ff.
26
könnte. Absolute Transzendenz der Wahrheit heißt hier einfach
Agnostizismus, und das ist radikales Eingesperrtsein in unsere
Immanenz.
Eine große Verwirrung ist dadurch verbreitet worden, daß sich hinter
dem heute meist verbreiteten Transzendenzbegriff41 die Leugnung jeder
Transzendenz des Menschen verbirgt.
Wieder ist es F. Nietzsche, der diese Auffassung des Menschen als den
radikalen Immanentismus aufdeckt, den sie darstellt:
41
Außer diesem gibt es heute, wie schon erwähnt, einen wohl ebenso ver-
breiteten "Transzendenz"-Begriff, hinter dem sich eine Form des
Immanentismus verbirgt: die historisch zukünftige, die gegenwärtigen
Mängel angeblich transzendierende Gesellschaft im Sinne des Marxismus,
H. Marcuses oder vieler "Revolutionstheologen". Vgl. dazu die
entscheidende Analyse der Wesensunterschiede zwischen den beiden
äquivokerweise mit "Zukunft" bezeichneten Wirklichkeiten (ewiges Leben
und historische Zukunft) in D. von Hildebrand, Das trojanische Pferd in
der Stadt Gottes, S. 272 ff. Vgl. auch Fußnote 35 dieser Einleitung.
27
doch fest, daß die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre
Erkenntnis wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr
die Erkenntnis von der chemischen Analyse des Wassers sein muß."42
42
Vgl. Menschliches Allzumenschliches, I. Bd., 9, in: Ne. We. Bd. I, S. 452.
28
Das Thema der Arbeit
und einige methodische Vorüberlegungen
29
Gewißheit berühren, daß ihre metaphysische, von uns und unsern
Akten unabhängige Existenz absolut gewiß ist?43
Die vorliegende Arbeit ist also sowohl erkenntnistheoretisch als auch
metaphysisch. Gegenüber jeder Beschränkung auf eine Beschreibung
von "bloßen Phänomenen" zielt sie vielmehr auf möglichst
durchgeklärte Einsichten in das letzte, metaphysische Wesen der
Erkenntnis und grundlegender Gegenstände der Erkenntnis ab.
43
Diese Fragen beziehen sich vor allem auf die reale Existenz der eigenen
Person sowie anderer Personen, auf Raum und Zeit, auf gewisse Eigen-
schaften des materiellen Seins sowie auf die Existenz objektiver Güter und
Werte und notwendiger Wesenheiten und an höchster Stelle auf Gott.
30
gar nicht zu, reduziert es sofort auf etwas anderes und sagt, es sei
"nichts als" ein Epiphänomen eines physiologischen Prozesses, es sei
"nur" das "Zu-sich-Kommen" eines (impersonalen) "objektiven
Geistes", es sei "nichts als" die "Synthesis" einer nicht gegebenen
"transzendentalen Apperzeption" usw. Der bewußte Akt wird ganz
umgedeutet und bestenfalls als ein sekundärer, untergeordneter
"Aspekt" betrachtet.
Demgegenüber soll im Folgenden der bewußte, personale Akt des
Erkennens voll ernst genommen und gezeigt werden, daß er eine
intelligible Wesenheit besitzt, deren Merkmale zunächst analysiert
werden sollen, wie sie sich allgemein in jedem Erkennen finden. Im II.
Teil der Arbeit wird dann sichtbar werden, daß ein angenommenes
"schöpferisches Prinzip" jenseits des bewußten Erkenntnisaktes
niemals dessen "metaphysisches Wesen" gegenüber einem "bloß
psychologischen" sein könnte, sondern dem Erkennen gegenüber
höchstens ein zweites, uns unbewußtes Prinzip. Außer dieser
notwendig aus einer solchen idealistischen, tiefenpsychologischen oder
soziologischen Ansetzung sich ergebenden "Dualität" zwischen dem
bewußten ("empirischen") und dem unbewußten ("transzendentalen")
"Ich" wird sich dann aber auch zeigen, daß niemals ein "in sich
unbewußtes" (geistiges oder materielles) Sein eine solche ungeheure
angenommene "Schöpfertätigkeit" vollbringen könnte, sondern
höchstens ein jenseits unseres Geistes existierender anderer personaler
Geist. Es wird dann allerdings im II. Teil ausgeführt werden, welche
Wirklichkeiten wir im Erkennen in einer über allen Zweifel erhabenen
Transzendenz derart berühren, daß uns auch kein "spiritus malignus"
jemals über ihre Existenz täuschen könnte. Schließlich kann auch die
Unmöglichkeit der Existenz eines solchen "allmächtigen Betrügers"
eingesehen werden. In Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie
Edmund Husserls wird allgemein die Widersprüchlichkeit und
Vieldeutigkeit der idealistischen Philosophie des "transzendentalen
ego" und vor allem die einzigartige, von Husserl geleugnete
Transzendenz aufgezeigt werden, die in der Erkenntnis der
real-existierenden Welt liegt.
Die Rolle der Untersuchungen des ersten Teils für den zweiten
31
jene Urform der Transzendenz und die Elemente verstanden hat, die in
jeglicher Erkenntnis eingeschlossen sind; ja allein dann können jene
Fragen nach der Transzendenz unserer Erkenntnis im metaphysischen
Sinn überhaupt erst richtig gestellt werden.
Wenn also im ersten Teil diejenige Form der Transzendenz betrachtet
wird, die schon der Wahrnehmung eines Hauses oder seiner Farbe
eigen ist, so wird doch durch diese Untersuchungen viel Licht auf jene
Transzendenz metaphysischer Erkenntnis fallen, die im II. Teil
behandelt werden soll. Denn die Wesenszüge jeglichen Erkennens, wie
die Rezeptivität oder die Intentionalität sind ja auch Wesenszüge der
"metaphysischen" Erkenntnis, die man daher niemals verstehen kann,
solange man die allgemeinen Wesensmerkmale jeglichen Erkennens
mißversteht. Und damit ist der vielleicht wichtigste Grund für die
Untersuchungen des I. Teils schon berührt.
Denn im Laufe der Geschichte der Philosophie und besonders im
gegenwärtigen chaotischen Zustand, in dem sich die Philosophie
weithin befindet, werden gerade für die philosophische, für die
metaphysische Erkenntnis jene Wesenszüge geleugnet, die für alle
Erkenntnis entscheidend sind und die die Erkenntnis überhaupt erst zur
Erkenntnis machen. Die Intentionalität und Rezeptivität der
Sinneswahrnehmung wurde noch leichter anerkannt als der
empfangende Grundzug der Wesenseinsichten. Gerade hier, wo die
empfangende, intentionale Beziehung des Geistes zum Gegenstand
ihren Höhepunkt erreicht, wo die Erkenntnis nicht nur vom Schaffen
verschieden ist (wie überall), sondern wo jegliches Schaffen (sei es
bewußt oder unbewußt) völlig ausgeschlossen ist, weil der Gegenstand
dieser Erkenntnis in sich notwendig ist und als Seinsbereich jede
"Zufälligkeit" und "Erfindbarkeit" ausschließt, die für alle Phantasie
und Schöpfung vorausgesetzt ist, und die in dem Seinsbereich vorliegt,
dem etwa die Wahrnehmung oder alle Arten von Realkonstatierung
zugeordnet sind, gerade hier also, in Metaphysik und Philosophie
leugnen fast alle neueren Philosophen den rezeptiven Grundcharakter
der Erkenntnis und deuten ihn in einen schöpferischen, spontanen um.
In Wirklichkeit aber lassen ausschließlich philosophische Irrtümer eine
spontan-schöpferische Tätigkeit bezüglich ihres Gegenstandes zu,
philosophische Erkenntnis aber ist mehr als alle übrige empfangend.44
44
Damit soll freilich nicht geleugnet werden, daß die Akte der Begriffs-
bildung und des Urteilens spontaner Natur sind, was zu Ende des ersten
32
Außerdem fällt noch aus einem anderen Grunde durch die
Untersuchungen des I. Teiles viel Licht auf jene des zweiten. Denn
wenn uns auch eine Wahrnehmung einerseits prinzipiell täuschen kann,
anderseits sich zum Teil nicht auf von Menschen unabhängige Aspekte
der Wirklichkeit bezieht, so ist doch jene Erkenntnis, in der wir das
notwendige Wesen jeglicher Erkenntnis erkennen, jene Erforschung
letztlich intelligibler Wesensunterschiede, wie zwischen Erkenntnis
und Irrtum, die wir im ersten Teil vornehmen, metaphysischer Natur.
Denn sie bezieht sich 1. auf etwas, das niemals ein bloß für den
Menschen sich konstituierender Aspekt der Wirklichkeit sein kann,
sondern auf das, was Erkenntnis an sich ist und 2. auf eine intelligible
Wesenheit, die uns mit einer über alle Täuschungsmöglichkeit
erhabenen Gewißheit gegeben ist. Nicht jegliche Erkenntnis, wohl aber
die Erkenntnis des Wesens jeglicher Erkenntnis hat also einen
Gegenstand, der sich uns in seinem notwendigen, an sich seienden Sein
erschließt. Im II. Teil wird dann diese Art von Erkenntnis, die wir im I.
Teil anwandten, zum Thema der Untersuchungen erhoben werden.
Dann werden wir sehen, wie schon im ersten Teil der Schlüssel zur
Antwort auf die erwähnten wichtigsten Fragen liegt.
und im zweiten Kapitel des I. Teils behandelt wird. Auch gilt das über den
Ausschluß jeder spontan-schöpferischen Tätigkeit im Bereich der Philo-
sophie Gesagte in vollem Umfang nur von der philosophischen Erkenntnis
im engeren Sinn, der Wesenseinsicht. Ganz anders liegt der Fall bei
metaphysischen Spekulationen, die den Bereich des Gegebenen und Ein-
sichtigen verlassen und hypothetisch Theorien aufstellen, die eine
mögliche Antwort auf durch Einsicht unlösbare Fragen bieten. (Eine solche
Spekulation ist etwa die "prästabilierte Harmonie", die Leibniz u. a. zur
Erklärung der geheimnisvollen und von ihm für unmöglich gehaltenen
"Wechselwirkung" von Leib und Seele annahm.)
33
Deduktionsgesetze, die ausschließlich in einer originären Einsicht
gegeben sein können. Und selbst ein Positivismus, der nur empirische
Realkonstatierung und Induktion anerkennen möchte, setzt nicht
empirisch nachweisbare, sondern letztlich durch sich selbst evidente
Prinzipien der Induktion voraus. Dies nachzuweisen ist hier nicht der
Ort. Hauptsächlicher Gegenstand der Philosophie sind intelligible,
notwendige Wesenheiten, die nur in der philosophischen Urmethode
der Wesenseinsicht oder Wesensschau erfaßt werden können, wie sie
im II. Teil der Arbeit breit behandelt wird. Daß es sich bei den in
solchen Einsichten erfaßten Wahrheiten keineswegs um bloße
Behauptungen handelt, die grundlos wären und nicht vielmehr auf
Grund ihrer Evidenz keiner weiteren Begründung bedürftig oder fähig
sind, kann nur sehr indirekt auf drei Wegen gezeigt werden, die ich
soweit als möglich beschreiten werde.
Erstens können die behandelten Sachverhalte dadurch zu deutlicher
und allgemein anzuerkennender Gegebenheit gebracht werden, daß die
Unterscheidung zusammenhängender, aber verschiedener
Wirklichkeiten klar durchgeführt wird, indem man die Merkmale
anfahrt, die dann wohl unbestreitbar auf eine, nicht aber auf eine andere
der erforschten Wirklichkeiten zutreffen.
Zweitens kann bei vielen Wahrheiten gezeigt werden, daß ihre
Leugnung sie notwendig wieder stillschweigend voraussetzt.
Drittens kann oft nachgewiesen werden — eine Methode, die Platon in
seinen Dialogen häufig verwendet —, daß ein Philosoph das, was er
an einer Stelle leugnet, an einer andern selbst sieht oder zugibt.
Das alles sind sicherlich nur indirekte Hinweise darauf, daß es sich in
der Philosophie nicht um blinde Behauptungen, sondern um evidente
Sachverhalte und Wesenszusammenhänge handelt, die auf Grund ihres
unableitbaren Gehaltes nur unmittelbar eingesehen werden können; so
gewissenhaft auch die Arbeit sein muß, die zu einer Herausarbeitung
und systematischen Darstellung dieser evidenten Sachverhalte führt, so
kann sie dem Leser doch nur den Weg zu diesen durch nichts
ersetzbaren Einsichten weisen. Daß es unabhängig von diesen
Einsichten kein äußeres "Wahrheitskriterium" gibt, ist nicht ein
Mangel, sondern gründet vielmehr in der Würde der Wesenseinsicht,
die auch im Leben die zentrale Urform der Erkenntnis ist und für die
34
das Wort Spinozas zutrifft, daß die Wahrheit sowohl sich selbst als
auch das Falsche offenbart.45
Es muß schon hier betont werden, daß unsere Methode im Grunde ein
schlichtes Erfassen in sich notwendiger, intelligibler Sachverhalte ist
und keinerlei subjektives Interpretieren bzw. Spekulieren. Die in
Wahrheit bestehenden und mit Evidenz eingesehenen Sachverhalte
sollen in ihren Zusammenhängen zu solcher Klarheit gebracht werden,
daß ihre innere Intelligibilität offenbar wird. Dabei weiß jeder, der es
einmal versucht hat, welch sorgfältige Prüfung, welch mühsame
Arbeit, welch unausgesetztes Auf-der-Hut-Sein vor vorschnellen
Urteilen nötig ist, um die wirklich notwendigen, eindeutig gegebenen
Wesenssachverhalte ohne Verwechslungen und Irrtümer
herauszuarbeiten. So einleuchtend und "einfach" auch diese
Wesenssachverhalte sind, so schwierig ist es, sie bis zu eindeutiger
Gegebenheit durchzuklären.
Es ist aber ein weit verbreitetes Vorurteil, diese große philosophische
Arbeit der Durchklärung von Wesenssachverhalten zu verkennen und
zugleich zu meinen, das "Sehen" des Gegebenen, die
"Phänomenologie" der Erkenntnis, die als ,,Beschreibung'' von
"Erscheinungen" mißverstanden wird, bedürfe nachträglich einer
"Theorie", d. h. zur Erklärung des Erschauten herangetragener
Hypo-Thesen. Diese etwa von N. Hartmann vertretene Auffassung
werden wir später zurückweisen.
Selbst an den wenigen Punkten, wo wir Sachverhalte untersuchen
werden, die uns nicht vollständig gegeben und nicht in sich evident sind
(etwa gewisse Sachverhalte bezüglich der objektiven Existenz der
Außenwelt), ist kein konstruktives Spekulieren erlaubt, sondern
vielmehr ein "Sehen" dessen erfordert, was die unmittelbar gegebenen
Sachverhalte uns eindeutig verbürgen. Es ist das Erkennen "im Spiegel
des unmittelbar Gegebenen" und nur in diesem klassischen Sinn
"Spekulation", zu der wir jedoch in dieser Arbeit nur an ganz wenigen
Stellen Zuflucht nehmen müssen.
45
Die gemeinte Stelle stammt aus der Kurzen Abhandlung und lautet: "Es
kann keine andere Klarheit geben, durch welche sie — die klaren Ideen —
klargemacht werden könnten. Daraus folgt, daß die Wahrheit sowohl sich
selbst als auch die Falschheit offenbart." II. XV. a. a. O.. S. 89.
35
I. Teil
36
1. KAPITEL
DIE INTENTIONALITÄT UND REZEPTIVITÄT
JEDER FORM VON ERKENNTNIS
Wie schon aus der Einleitung hervorgeht, wird in diesem Teil erstens
auch jene Erkenntnis behandelt, deren Gegenstand ein sich nur als
"Objekt" für eine Person konstituierender Aspekt der Wirklichkeit ist,
wie es etwa Farben oder Töne sind, die nicht unabhängig vom
perzipierenden Subjekt existieren.46 Der Begriff der Erkenntnis wird
zweitens (im Unterschied zum nächsten Teil der Arbeit) hier zunächst
insofern in einem weiteren Sinn verstanden, als er auch solche Akte
mitumfassen soll, in denen sich Wirkliches unserem Geiste nicht ohne
ein über die Erkenntnis im strengen Sinn hinausgehendes
Interpretations- bzw. Glaubenselement erschließt; in solchen Akten ist
prinzipiell eine Täuschungsmöglichkeit gegeben.
Bevor auf die Versuche eingegangen wird, die Erkenntnis
immanentistisch umzudeuten, soll versucht werden, frei von allen
Vorurteilen und Konstruktionen das Wesen des bewußten, personalen
Aktes der Erkenntnis zu betrachten und jene intelligiblen Wesenszüge
zu untersuchen, die in jeder Erkenntnis gefunden werden können, von
der schlichten Wahrnehmung eines "rot" bis zu den höchsten Formen
der Einsicht und des geistigen Erfassens. Zunächst möchte ich an Hand
von Texten Dietrich von Hildebrands einige Wesensmerkmale der
Erkenntnis anführen, die dann gegenüber den gegen sie erhobenen
immanentistischen Einwänden näher geklärt werden sollen.
Erkenntnis läßt sich auf nichts anderes zurückführen oder aus ihm
ableiten
46
Im V. Kapitel seines Werkes What is philosophy? hat Dietrich von Hilde-
brand gezeigt, wie die Objektivität (im Sinne des eigentlich gemeinten,
gültigen Aspekts) dieses humanen Aspekts der Außenwelt keineswegs da-
durch aufgehoben wird, daß er nicht "unabhängig" von jedem Wahrgenom-
menwerden besteht.
37
"Das Erkennen ist eine jener letzten Gegebenheiten, die sich nicht auf
irgend etwas anderes reduzieren lassen, die wir darum nicht
'definieren', auf die wir nur indirekt hinweisen können. Das eigentliche
Wesen des Erkennens läßt sich nur unmittelbar erfassen..." 47
Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnis ist eine
intentionale
"Mit der ganzen reichen Welt, die uns umgibt..., sind wir nicht nur
kausal48 verbunden, wie apersonale Gebilde, wie ein Stein, eine Pflanze,
ein Tier, sondern auch in dieser ganz einzigartigen Weise eines
geistigen Erfassens, jenes intentionalen Teilhabens an ihnen, jenes
geistigen Umfassens, wie es die Erkenntnis darstellt."
47
Diese und die folgenden Stellen stammen aus Sinn philosophischen
Fragens und Erkennens I, 1 u. 2. Dietrich von Hildebrand hat dieselben
Themen noch ausführlicher in seiner umfassendsten
erkenntnistheoretischen Arbeit ausgeführt, in: What is philosophy?
(Kap. I), das demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen soll.
Daß es sich bei diesem unmittelbaren Erfassen, bei der originären
Wesenseinsicht, um die rationalste Art der Erkenntnis handelt, in der
alle Prinzipien und alle unzurückführbaren, intelligiblen Data erfaßt
werden und auf der auch alle stringenten Deduktionen beruhen, hat
schon Aristoteles ausdrücklich betont (vgl. etwa 2. Analytik, vor allem
2-8; a. a. O., S. 16-34).
Ich werde in den späteren Kapiteln ausführlich auf dieses Thema eingehen
und möchte hier nur noch darauf hinweisen, daß von Hildebrand in den
Prolegomena zu Christliche Ethik das Wesen dieser philosophischen
Grund-Methode, die er in den beiden angegebenen Werken ausführlich
entwickelt, kurz und klar dargestellt hat.
48
Dies ist zunächst im Gegensatz zur causa efficiens, der "Wirkursache"
verstanden. Aber dann auch im Gegensatz zur Material-, Formal- und
Finalursache. Es stellt überhaupt ein großes Verdienst Dietrich von
Hildebrands dar, ausdrücklich darauf hingewiesen zu haben, daß es außer
den vier von Aristoteles entdeckten noch viele andere metaphysische
Grundbeziehungen gibt, besonders im Reich der Personen.
38
"Wenn wir sagen können, daß das Sein der Person nicht gedacht
werden kann ohne ihre Fähigkeit zu erkennen, so kann anderseits auch
das Erkennen nicht gedacht werden ohne die geistige Person, ohne das
bewußte Sein derselben, ohne ihre intentionale Struktur und ohne ihre
Fähigkeit zu transzendieren. Es ist eine völlig einzigartige Berührung,
in die ein Seiendes mit einem anderen Seienden tritt, indem es dasselbe
erkennt. Sie ist nicht wie eine kausale Berührung bei Gegenständen
verschiedenster Art möglich, sondern sie setzt notwendig voraus, daß
das eine Seiende ein personales Subjekt ist, ein bewußt Seiendes."
"Und das Erkennen ist weiterhin eine einseitige Berührung, in der das
Objekt von dem Subjekt erfaßt wird, m. a. W. eine Berührung, die nur
eine Veränderung im Subjekt, nicht im erkannten Objekt bedeutet.
Aber diese Veränderung im Subjekt darf nicht als ein
Einbezogenwerden des erkannten Gegenstandes in unser personales
Sein umgedeutet werden... Wenn wir ein Orange sehen, so haben wir
an dem Orange in ganz eigenartiger Weise teil. Wir besitzen es geistig,
indem wir ein Bewußtsein von ihm haben. Aber diese intentionale
Berührung muß völlig von einer realen Seinsteilnahme getrennt
werden. Wir 'werden' nicht orange, indem wir das Orange sehen. . .
Das Erkennen vollziehen wir, es ist ein realer Bestandteil von uns. . .,
aber das erkannte Objekt ist dadurch, daß wir es erkennen, noch
keineswegs ein realer Bestandteil unseres personalen Seins."
Psychologistischer Immanentismus
Will man sich das Wesen des Erkennens als Grundlage des gesamten
geistigen Lebens der Person zu voller philosophischer Gegebenheit
bringen, muß man dies in Auseinandersetzung mit den verbreiteten
Versuchen tun, Erkenntnis auf ganz andere Wirklichkeiten
zurückzuführen. Solche Reduktionsversuche gehen meist Hand in
Hand mit der Anwendung falscher Modellvorstellungen, bzw.
39
irreführender Analogien, nach denen man das Erkennen zu fassen sucht
und durch die man sein eigentliches Wesen verfälscht. Es sind dies
besonders Modellbilder aus dem Bereich des Körperlichen und des
Mechanischen.49
Unter dem Einfluß von Hegel und der sogenannten Lebensphilosophie
sind allerdings mehr Modellvorstellungen aus dem Reich des
organischen Lebens wirksam geworden;50 an die Stelle des
mechanistischen oder organistischen Bildes vom Menschen und der
Welt ist schließlich heute vielfach ein dynamisches Bild vom Menschen
getreten, in dem nicht mehr so sehr pflanzliches Leben in allen seinen
Dimensionen causa exemplaris ist, nach der man das Geistige deutet,
sondern eher Energieprozesse, Evolutionsprozesse, in deren vagen
Vorstellungen Bilder von materiellen wie von physiologischen,
organischen Prozessen ineinanderfließen, und wo dann seelische und
geistige Akte als von organischen und chemischen Prozessen erzeugt
angesehen werden.51
49
Im II. Teil der Arbeit wird deutlich, daß auch in der Erkenntnistheorie
Kants solche Modellbilder aus dem Mechanischen eine große Rolle
spielen. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werten, welchen Einfluß solche
Vorstellungen in den kybernetisch orientierten Schulen der Psychologie,
Soziologie und Philosophie haben, wo die "programmierte Maschine" zum
herrschenden "anthropologischen" Leitbild erhoben wird. (Vgl. dazu etwa:
Akten des XIV. internationalen Kongresses für Philosophie, Wien, 11; a. a.
O.: "Kybernetik und Philosophie der Technik", bes. die Beiträge der Herren
H. L. Dreyfus (a. a. O., S. 493 ff.), Hans Titze (a. a. O., S. 560 ff; bes. Nr.
21, 23, 24, 33, 36); Ladislaus Tondl (a. a. O., S. 570 ff.)
50
Besonders deutlich tritt dies bei Hegel in der Phänomenologie des
Geistes zutage, (Vorrede, s. 12; S. 24/25; S. 44/45), wo dieses Bild des
organischen Lebens geradezu als das gesamte System beherrschend
erscheint. Vgl. dazu etwa auch Herbert Marcuse, Hegels Ontologie. . ., S.
270 ff., S. 347 ff., wo besonders klarwird, wie in der so verbreiteten
Auflösung allen Seins in die "Geschichtlichkeit" dieses Bild des
organischen Lebens verfälschend auftritt. Vgl. dazu auch die von J.
Hirschberger zitierten Stellen in seiner Geschichte der Philosophie, Bd. II,
S. 417 f., wo er auch auf dieses Phänomen hinweist.
51
Dies trifft auf fast sämtliche gehirnphysiologisch orientierte
Psychologen, wie etwa H. Rohracher zu, wenn sie die Sinnesempfindungen
und ähnliche Phänomene erklären wollen oder wenn sie überhaupt das
Verhältnis des Seelenlebens zu den Gehirnvorgängen beschreiben. Es trifft
40
Wie kommt es zu diesen irreführenden Körperbildern? Außer dem
schon in der Einleitung angedeuteten Vorurteil, wonach man das
personale Sein für eine "bloß psychologische", "bloß subjektive"
Wirklichkeit hält, sind es noch viele andere Gründe, die zu solchen
Reduktionsversuchen führen.
Da ist einmal die Schwierigkeit zu nennen, die personale geistige
Wirklichkeit zu erfassen, während sich das organische und materielle
Sein viel leichter beobachten läßt.
Dies rührt zunächst daher, daß eine Hauptquelle unseres Wissens über
Seelisches und Geistiges das eigene Erleben ist, in dem uns Freude,
Erkenntnis oder Willen in einer eigentümlichen "lateralen" Weise
bekannt werden, die später genauer behandelt wird und die ganz
verschieden ist von dem "frontalen" Bewußtsein von etwas in der
Wahrnehmung, das den Ausgangspunkt für alle wissenschaftliche oder
philosophische Forschung bildet.52 Während uns nun pflanzliches und
materielles Sein immer in dieser Weise gegeben ist, müssen wir unsere
seelischen Akte und Erlebnisse erst nachträglich in der Reflexion
"projizieren", um sie überhaupt zu Gegenständen der Erkenntnis zu
machen. Da wir etwa unsere Freude nicht im Vollzug selbst betrachten
können, müssen wir auf sie reflektieren, um sie zu einem Gegenstand
der Erkenntnis zu machen; das aber führt leicht zu Verfälschungen. Nur
weil diese Akte ein intelligibles Wesen besitzen, ist ihre Erkenntnis
allen sonstigen Wahrnehmungen an Tiefe und Sicherheit überlegen.
Außerdem läßt sich auch aus einem anderen Grund das organische und
materielle Sein viel leichter beobachten und erfassen als die Person.
Das Greifbare, Sichtbare, Meßbare, objektiv "Feststellbare" dieser
sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeiten läßt sie für viele als die causa
exemplaris aller Wirklichkeit erscheinen. Es bedarf einer viel größeren
Wachheit und Tiefe, um das Wesen der Person zu erfassen, nicht nur
weil das personale Sein in vielfacher Hinsicht in ein unergründliches
stark etwa auch auf Denker wie Teilhard de Chardin zu, wo "kosmische
Energien" und "Prozesse" fast zur Erklärung sämtlicher Gegebenheiten
herangezogen werden. vgl. dazu etwa H.-E. Hengstenberg, Mensch und
Materie, S. 84 ff., S. 101 ff.
52
Diese später genauer zu untersuchenden Unterschiede verdanke ich be-
sonders den erkenntnistheoretischen Vorlesungen D. von Hildebrands, in
denen dieser die erwähnten Probleme ausführlich und scharf analysiert hat
(1964 in Salzburg).
41
Geheimnis reicht, sondern weil es sich auch nicht sehen, greifen,
betasten, unmittelbar mit Instrumenten und Maschinen messen oder
experimentell feststellen läßt, was für viele Menschen die einzig
wissenschaftlichen Methoden sind. Nur die oberflächlichsten
Äußerungen der Person lassen sich auf diese Weise in der
experimentellen Psychologie erforschen, aber ihr eigentliches Sein und
Wesen ist unsichtbar, ungreifbar, unmeßbar. Es ist uns nur in einer
gänzlich eigenartigen Weise in der Erfahrung unmittelbar in uns selbst
gegenwärtig und in anderen Personen auf vielerlei Weise in einer
intuitiven Weise gegeben.
Die Begriffe und Worte fehlen uns, es entsprechend wiederzugeben;
tief sinnvolle Analogien aus dem Reich des Sichtbaren und Hörbaren
müssen von gefährlich irreführenden unterschieden werden.
Und am allerschwierigsten ist die philosophische Wesensanalyse der
notwendigen Wesenheiten des Seins und der Akte der Person in ihrer
Intelligibilität. Schwieriger noch als eine philosophische Einsicht in das
Wesen der räumlichen Bewegung oder die Deskription empirischer
Eigenschaften personalen Seins ist die philosophische Einsicht in das
notwendige und intelligible Wesen der Person und ihrer Akte. Zu der
Schwierigkeit philosophischer Wesensschau im allgemeinen, von der
Platon spricht,53 tritt hier noch jene hinzu, die auch das wache
vorphilosophische Verhältnis und der stets gegenwärtige, lebendige
Kontakt zu dem personalen Sein voraussetzt. Es gibt Menschen, die
keine intensive unmittelbare Beziehung zu dem unsichtbaren,
bewußten Sein anderer Personen und den unendlich differenzierten
Dimensionen intellektueller, geistiger, sittlicher Werte besitzen. Wie
leicht geht der Mensch in seinem Nachdenken nicht über die sichtbare
und greifbare Wirklichkeit hinaus und steigt kaum zu der Welt des
personalen Seins hinauf, das wir nicht mit den Sinnen wahrnehmen
können und das doch so real ist, daß alles materielle Sein damit nicht
verglichen werden kann. Wie leicht versinkt der Mensch gleichsam in
der leiblichen Wirklichkeit, begegnet selten einer andern Person
wirklich als einer Person, als einem Du, erkennt kaum die ungeheuren
53
Etwa in der Politeia, 6. Buch, oder in der ganzen Apologie. In What is
philosophy? S. 50 ff., wird ausführlich die Gefahr behandelt, in der
theoretischen Erkenntnis allgemeiner Zusammenhänge den unmittelbaren
Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren und in falschen Verallgemei-
nerungen zu "räsonnieren".
42
Unterschiede zwischen verschiedenen Persönlichkeiten, erlebt kaum
die unbegrenzten Dimensionen geistiger und sittlicher Werte, nach
denen wir streben sollen, ist blind für das Drama von Gut und Böse, in
dem sich letztlich das Leben jedes Menschen abspielt.
Damit aber berühren wir schon einen Punkt, der über die allgemeine
Schwierigkeit, das personale Sein zu erfassen, hinausgeht. Die
Wahrheitserkenntnis eines Menschen hängt nicht nur von seinen
intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch von seiner existentiellen
Grundeinstellung, von seiner wertantwortenden Grundhaltung ab. 54
Wenn wir die Wahrheit erkennen, daß Gut und Böse die Achse der
geistigen Welt sind, wenn wir uns klar bewußt machen, daß es überaus
schwer ist, wider alle die an uns herantretenden Versuchungen, wider
allen Stolz und Eigenliebe die objektive Wahrheit und vor allem ein
objektives Sittengesetz, das wir erkennen können und dem wir uns
unterwerfen sollen, anzuerkennen und zu befolgen, wenn die Existenz
und Erkennbarkeit Gottes und einer sittlichen Wertordnung fordert, daß
wir unser Leben von der natürlichen Trägheit und Eigenliebe
"bekehren", dann ist es allzuverständlich, daß kaum etwas den
Menschen mehr locken muß, als die Realität einer objektiven Wahrheit,
die Realität objektiver Werte, eines von jeder Willkür unabhängigen
Maßstabs für sein Leben zu leugnen und damit sich selbst zu seinem
eigenen Herrn zu machen. Diese tief realistische Erkenntnis durchzieht
schon Platons Werke, und im Gorgias,55 vor allem aber auch in der
Erklärung des Höhlengleichnisses im Staat56 spricht Platon diese
Wahrheit erschütternd aus, daß die Menschen "das Licht der Wahrheit
hassen und ihre eigene Finsternis mehr lieben als das Licht." Dieser
tiefste Grund, warum man die Wirklichkeit des Geistigen leugnen, bzw.
das wahre Wesen der Person nicht wahrhaben möchte, kann hier nur
angedeutet werden, darf aber besonders heute, wo dies allgemein
verdrängt und vergessen wird, nicht unerwähnt bleiben. Denn hier liegt
sicher auch eine Hauptwurzel der Irrtümer über die Erkenntnis, in
denen man den Menschen von jeder objektiven, transzendenten
Wahrheit abschneidet.
54
Dies hat D. von Hildebrand in Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis
nachgewiesen, wo er die verschiedenen Formen der Wertblindheit
behandelt.
55
Vgl. Gorgias, 457c—458b, 524d—526b.
56
Vgl. Politeia, 517a.
43
Dazu kommt noch ein Drittes: Alle geistigen Akte, das gesamte Leben
der menschlichen Person ist innig mit dem Leib, mit organischen und
materiellen Vorgängen verbunden. Diese Verbundenheit ist so eng, daß
man auch, abgesehen von den ersten beiden Gründen, leicht in
Verwirrung gebracht werden kann und über diesen leiblichen
Prozessen und ihrer innigen Verbindung mit der Seele diese selbst
vergißt. Man wendet sich der Erforschung dieser Vorgänge zu, was
leichter fällt; man ist beeindruckt von der immer deutlicher erforschten,
engen Verbindung dieser Vorgänge mit dem Geist und merkt dabei
nicht, daß dieser dennoch substantiell von ihnen verschieden, voll real
und in keiner Weise aus ihnen zu erklären oder zu verstehen ist, was
schon in Platons Phaidon zum Ausdruck kommt.57
Und das ist der am leichtesten zugängliche Grund, warum man das
personale, geistige Sein nur als ein "Epiphänomen" solcher leiblicher
Prozesse auffaßt oder auch die Person ständig in Analogie zu
materiellen und organischen Prozessen sieht und aufzufassen sucht.
57
An der berühmten Stelle, an der Sokrates eindrucksvoll zeigt, wie nicht
alle physischen Bedingungen, sondern einzig und allein die erkannte Ge-
rechtigkeit und sein freier Entschloß Ursache für sein Bleiben im
Gefängnis sind (Phaidon, 98c—99b). Vgl. vor allem Platons großartige
Widerlegung des Einwands des Simmas, die Seele könne eine vom Leib
abhängige und hervorgebrachte "Stimmung" ("Harmonie") sein (a. a. O.,
92e—95a).
58
Vgl. dazu den II. Teil dieser Arbeit, wo der "Psychologismus" in dem
weiten Sinn behandele werden soll, in dem Husserl ihn versteht.
44
individuellen,59 oder zu einem Anthropologismus,60 das heißt zu einer
Auffassung, die die Wahrheit zwar nicht auf den einzelnen Menschen,
aber auf den menschlichen Geist im allgemeinen zurückführt, die mit
der Wahrheit auch das Sein auf den menschlichen Geist relativ setzt,
indem sie alle "Seinsgesetze" auf "Denkgesetze" reduziert.61 Der frühe
Husserl widerlegt diesen Relativismus ausführlich und hat mit Recht
darauf hingewiesen, daß fast keiner der Denker der Neuzeit sich diesem
Einfluß gänzlich entzogen habe.62
Solange man Psychologismus in diesem weiteren Sinne faßt, nämlich
als jede Theorie, die alle objektiven Seinsgesetze auf Denkgesetze
zurückführt, muß auch die Kantische Interpretation der Erkenntnis eine
psychologistische genannt werden,63 da das Erkennen nach ihm den
59
Vgl. Logische Untersuchungen, Bd. I, Kap. 7: "Der Psychologismus als
skeptischer Relativismus", §§ 34, 35, S. 114-116.
60
Vgl. a. a. O., §§ 36 ff. Vgl. dazu auch die glänzende Analyse und Wider-
legung des Psychologismus in Kap. 5: "Die psychologischen
Interpretationen der logischen Grundsätze", S. 78 ff.
61
Vgl. dazu bes. a. a. O. Bd. I, Kap. 3 und 8.
62
A. a. O., Bd. I, Kap. ;, S. 116.
63
Ottokar Blaha versucht in seinem Buch Die Ontologie Kants
darzulegen daß es bei Kant "transzendentale Subjekte", "Subjekte an
sich", und somit "Dinge an sich", letzte ontologische
Wirklichkeitselemente gäbe, in deren überindividuellem Wesen "ewige
Gesetze" der Wirklichkeitskonstitution gründen. Falls dies zutrifft, so
müßte man m. E. gegen eine solche Auffassung dasselbe einwenden,
was im II. Teile dieser Arbeit gegen den Begriff des transzendentalen
ego in der Spätphilosophie E. Husserls eingewendet werden wird.
Aus vielen Stellen bei Kant scheint mir indessen hervorzugehen, daß wir
nach Kant in keiner Weise wissen können, ob diese "Denkgesetze" für alle
möglichen Wesen in jeder möglichen Welt gelten (was uns übrigens, wie
im II. Teil der Arbeit ausgeführt wird, gar nicht der Metaphysik im
eigentlichen Sinn näherbrächte), sondern vielmehr scheint es mir
(zumindest in der Kritik der reinen Vernunft) klarzusein, daß es sich hier
nach Kant nur um Gesetze des allgemein-menschlichen Denkens und
Anschauens handelt, deren Gültigkeit wir nur für den Bereich unserer
Erfahrung, den Bereich der Erscheinungswelt für den Menschen erkennen
können. (Vgl. KdrV, B 298/99, 307-309.) Daß diese Auffassung Kants eine
psychologistische (im Sinne der Logischen Untersuchungen) ist, hat schon
B. Bolzano klar gesehen. Vgl. seine Grundlegung der Logik, a. a. O., S. 60
45
Gegenstand aus einem amorphen Stoff erschafft und da nach ihm alle
synthetischen, apriorischen Urteile (und Soseinseinheiten) in
subjektiven Gesetzen des Denkens und Anschauens gründen. Sofern
der Psychologismus (in diesem weitesten Sinn) jenseits unserer bewußt
gegebenen Akte "Verstandesgesetze" ansetzt, die sozusagen "unsere
Menschenwelt" erzeugen, die wir jedoch im bewußt vollzogenen
Erkennen keineswegs als von uns geschaffen erleben, beschäftigt er uns
in diesem Kapitel nicht, da wir hier ja ganz schlicht vom uns
unmittelbar gegebenen Akt des Erkennens ausgehen wollen. 64 Es mag
zwar bei den einzelnen Denkern nur sehr schwer genau unterschieden
werden, ob sie das Erkennen auch dem bewußten Erleben nach als ein
Schaffen und "Anwenden von Begriffen" deuten wollen, oder
ausschließlich in einem jenseits des bewußten Reiches liegenden
Bereich.65 Trotzdem wird wohl im allgemeinen weder von Kant noch
von den meisten seiner Nachfolger geleugnet werden, daß sich der
Erkenntnisakt dem unmittelbaren Erlebnis nach weder als ein Erzeugen
darstellt noch als ein bloßes "Feststellen" von "Bewußtseinstatsachen"
46
oder von "subjektiven" Ideen, welche Auffassung Kant ja gerade als
"subjektiven Idealismus" bekämpft hat. 66
66
Eine klare Darstellung von Kants Bekämpfung dieses "Idealismus" mit
Anführung der wichtigsten Stellen siehe in O. Blahas Die Ontologie Kants
S. 30-32. Dieser sogenannte "unmittelbare Realismus" Kants wird im II.
Teil der Arbeit als Gegensatz zu dem Realismus im eigentlichen Sinn
dargetan werden.
67
Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a. O., Bd. II
(Teil 1), S. 3. In Schopenhauers These liegt noch ein weiterer Irrtum
abgesehen von dem des Psychologismus; die Sonne ist ja auch dann, wenn
ich sie als bloßen Bewußtseinsinhalt deute, etwas anderes als das Auge und
das Erlebnis des Sehens — und erst recht als ein Gefühl im Auge wie das
Brennen oder Geblendetwerden.
68
Dies ist ein typischer Fall für ein falsches "Körperbild", eine irreführende
Analogie, wobei man außerdem eine billige Plausibilität mit philo-
sophischer Intelligibilität verwechselt. Vgl. Dietrich von Hildebrands Be-
kämpfung der "Bewußtseinskasten"-Auffassung in What is philosophy?, S.
47
Mit dieser körperhaften Auffassung des Erkennens hängt ein weiterer
Irrtum zusammen. Man faßt das reale Objekt oder die von ihm
ausgehenden "Wirkungen" auf das Subjekt als Ursache (hauptsächlich
im Sinne der causa efficiens) für einen "Bewußtseinsinhalt" (oder ein
"phantasma") auf. Also nimmt man in den meisten psychologistischen
Theorien ein äußeres Ding als "Ursache" für einen "Bewußtseinsinhalt"
an, aber niemals das Ding selbst, sondern — so wird behauptet — nur
das Bewußtsein und seine Inhalte seien mir bekannt.69
Damit hängt eine weitere Auffassung zusammen, die E. Husserl, a. a.
O.,70 als einen "schier unausrottbaren Irrtum" bezeichnet, daß es
nämlich einen "immanenten Gegenstand" (den Bewußtseinsinhalt) und
diesem gegenüber einen "transzendenten Gegenstand" gäbe. Es gäbe
demnach im Erkennen eine "Verdoppelung", zu dem wirklichen
Gegenstand käme der "unserem Bewußtsein inexistente" Gegenstand.
Diesen drei psychologistischen Grundthesen liegen ganz offenbar drei
verschiedene Körperbilder zugrunde. 71 Im ersten Fall das Bild des
Kastens, "in" den etwas hineintreten müsse, im zweiten Fall das Bild
einer physikalischen Ursächlichkeit (etwa einer Energieverwandlung)
oder einer physiologischen Kausalreihe (wie sie etwa in unserem
Nervensystem bei der Sinneswahrnehmung tatsächlich stattfindet und
als deren letztes Glied dann die Wahrnehmung aufgefaßt wird). Dem
dritten Irrtum liegt im besonderen das Bild eines Photoapparates oder
Spiegels zugrunde (wie dies ja auch der rein physiologischen Seite etwa
einer Sehwahrnehmung entspricht, nämlich dem Verhältnis zwischen
Gegenstand und Bild in der Netzhaut).
48
Subjektiver Idealismus und Rationalismus als Psychologismus
72
Daß Descartes unter "idea innata" eigentlich nur verstand, daß solche
Wesenheiten (Gottes, der Seele selbst etc.) dem Geiste gegenwärtig sind,
wenn immer er nur sich auf sie richtet, daß er sie aber als unserem Geiste
transzendente, intelligible Wesenheiten erkannte, die in sich notwendig
und intelligibel-unveränderlich sind, geht aus vielen Stellen und dem
Wesentlichsten seiner Philosophie deutlich hervor. Vgl. etwa Meditationen
5, 5; 5,17; 1 e Erwiderung, a. a. O., S. 105 ff.; S. 106/7; 1. Erwiderung (Nr.
158), Prinzipien, S. 283/284, S. 300 (!) etc.
73
Eben gegen Berkeleys Subjektivismus, "esse est percipi", wendet sich
Kant. Vgl. dazu J. Hirschberger, a. a. O., Bd. II, S. 221 f.
74
Vgl. dazu E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, I, S. 499 ff.:
"Zusammenstellung der wichtigsten Äquivokationen der Termini
Vorstellung und Inhalt".
75
Wie auch bei Kant.
49
schon Kant als "einen Skandal der Philosophie und allgemeinen
Menschenvernunft" bezeichnet.76
76
Vgl. KdrV, a. a. O., B XXXIX, Anm., allerdings nur, um selbst einer noch
tieferen Form des Immanentismus zu verfallen (wie wir in den folgenden
Kapiteln sehen werden), welcher sich überdies schon in der hier erwähnten
psychologistischen Auffassung, wenn auch auf Grund mangelnder Diffe-
renziertheit in verworrener Weise, findet. Dies kann man erst nach einer
genauen Analyse der verschiedenen "Sachen" verstehen, die man mit dem
Ausdruck "Bewußtseinsinhalt" meinen kann.
50
beide mit dem dadurch doppeldeutigen Ausdruck "Bewußtseinsinhalt"
bezeichnet.77
Durch die ganze Geschichte der Philosophie zieht sich diese
Verwechslung hin und führt immer wieder zu einem Mißverstehen und
Leugnen der Erkenntnis. Sie hängt damit zusammen, daß man der
einzigartigen Natur des personalen Seins nicht voll Rechnung trägt.
Es kann in diesem Zusammenhang nur auf eine fundamentale
Doppeldeutigkeit hingewiesen werden, die dem Begriff
"Bewußtseinsinhalt" zugrunde liegt. Man kann damit nämlich
einerseits die Inhalte meines Bewußtseins meinen als die realen "Teile"
meines bewußt vollzogenen Seins (etwa Akte, wie Erkennen,
Behaupten, Fragen, Wollen, Lieben, zu deren Wesen es gehört, von
77
Obwohl Edmund Husserl, angeregt von Einsichten F. Brentanos, in
seinen Logischen Untersuchungen (a. a. O., Bd. II, 1, S. 342 ff.) diesen
Unterschied gewissermaßen philosophisch entdeckt und in klassischer
Weise herausgearbeitet hat (vgl. bes. a. a. O., S. 372 ff.), obwohl sein Werk
auch nach den Ideen... und nachdem er zunehmend eine idealistische
Wendung nimmt, in gewisser Weise noch von diesem Unterschied geprägt
bleibt, hat doch der späte Husserl das eigentliche Wesen und die Bedeutung
dieser beiden Wirklichkeiten des Vollzugsbewußtseins einerseits und des
intentionalen "Bewußtseins von" anderseits verkannt, indem er den
Unterschied zwischen personalem, real existierendem Geist und
"impersonal Geistigem" in einer nie zuvor dagewesenen Weise leugnet.
(Vgl. die Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Husserls im II. Teil
dieser Arbeit.) Schon seit der zweiten Auflage der Logischen
Untersuchungen zeigt sich im erwähnten V. Abschn. des zweiten Teils
über "internationale Erlebnisse..." — und Husserl weist selbst ausdrücklich
darauf hin (a. a. O., S. 357, 361) —, wie er die Einsichten, die er bes. im §
8 (S. 359-363) über die Widersprüchlichkeit des Begriffs des "reinen Ich"
entwickelt, nicht mehr anerkennt. Damit verkennt er auch das eigentliche
Wesen des Vollzugsbewußtseins und der Cartesianischen Entdeckung, die
ja gerade in der klar begriffenen Unterscheidung zwischen den
verschiedenen "Sachen" gründet, die mit dem Ausdruck Be-
wußtseinsinhalt" gemeint sein können und die schon dem berühmten
augustinischen "si fallor, sum"-Argument zugrunde liegen. Meines
Wissens hat erst Dietrich von Hildebrand (vor allem in den noch nicht
veröffentlichten erkenntnistheoretischen Gastvorlesungen, die er 1964 an
der Universität Salzburg gehalten hat) auf das eigentliche Wesen und die
grundlegende Bedeutung dieses Unterschiedes gebührend hingewiesen.
51
einem Subjekt bewußt vollzogen zu werden). Anderseits meint man mit
demselben Begriff aber alle Gegenstände, sofern ich von ihnen ein
Bewußtsein habe. Die "Inhalte" meines Bewußtseins in diesem Sinn
müssen keineswegs zum bewußten Sein des Subjektes gehören, es
können Körper, Pflanzen, ideales Sein, andere Personen etc. sein. In
seiner ersten Bedeutung schließt der Begriff Bewußtseinsinhalt ein, daß
es sich um ein von der Person bewußt erlebtes Sein handelt, ist also
zugleich eine ontologische Bestimmung, im zweiten Fall keineswegs.
Alles Seiende, sofern eine Person von ihm Bewußtsein hat, wird dann
"Bewußtseinsinhalt" genannt, welcher Ausdruck hier allerdings
unangebracht und verwirrend ist.
Doch mit der bisherigen Unterscheidung bewegen wir uns gleichsam
noch an der Oberfläche des zentralen Wesensunterschiedes, der hier zu
deutlicher Gegebenheit gebracht werden soll. Die Art nämlich, in der
ich mir meiner Zustände und Akte bewußt bin, ist von derjenigen
vollkommen verschieden, in der ich von Häusern, Ländern,
historischen Ereignissen oder anderen Personen Bewußtsein habe.
Aller meiner Akte bin ich mir in einer Weise bewußt, in der man
ausschließlich um das eigene, personale Sein "wissen" kann; das
Vollzugsbewußtsein mit der ihm eigenen Art des
Mir-Bekannt-Werdens der vollzogenen Erlebnisse oder Akte ist jenes
staunenswerte, geheimnisvolle Sich-selbst-Besitzen der Person, das auf
nichts anderes zurückgeführt werden kann. Es ist der wache Vollzug
des eigenen Seins. Es besteht schon vor jedem reflexiven
Sich-auf-sich-selbst-Zurückbiegen (einem andern Wesensmerkmal der
Person, jener Fähigkeit, sich selbst gewissermaßen zum Gegenstand
der eigenen Erkenntnis oder Vorstellung machen zu können). Man
kann das Vollzugsbewußtsein auch ein "laterales" Bewußtsein nennen,
im Unterschied zu dem "frontalen" "Bewußtsein von" etwas, das die
Subjekt-Objekt-Situation einschließt.78 Während das laterale
Bewußtsein eine "Seinsbeziehung", ein bewußtes Sein ist, ist das
Bewußtsein von ein "habere quoddam", wie es der heilige Augustinus
formuliert, ein intentionales "Haben" eines Gegenstandes, ein geistiges
"Teilhaben" an dem Sein von etwas, und im Falle der im Vollsinn
78
Die Ausdrücke "laterales" und "frontales" Bewußtsein zur Bezeichnung
des Unterschiedes zwischen "Vollzugsbewußtsein" und "Bewußtsein von"
stammen von Dietrich von Hildebrand.
52
kontemplativen Erkenntnis eine erkennende Vermählung mit ihm. 79
Während das, was im ersten Sinn "Bewußtseinsinhalt" ist, wirklich als
realer "Bestandteil" meines Seins in mir ist, steht mir nun etwas
gegenüber. Dieses "Bewußtsein von", diese intentionale
Subiekt-Objekt-Beziehung ist ein Wesenszug jeden Erkennens, aber
auch der Vorstellung oder des Meinens und überhaupt aller Akte, in
denen die Person zur Wirklichkeit in eine bewußte Beziehung tritt. Mit
der Herausarbeitung der Subjekt-Objekt-Beziehung, bzw. des
"Bewußtseins von" wird also ein Wesensmerkmal jeder Erkenntnis
gefaßt, das aber die Erkenntnis auch mit Akten teilt (die nicht Erkennen
sind) — wie Vorstellung oder Assoziation. Ja sogar im Traum, in einer
Täuschung oder Halluzination finden wir dieses intentionale
"Bewußtsein von", dessen volles Verständnis gleichwohl zum
Verständnis der Erkenntnis unentbehrlich ist.
Dies führt auf den erwähnten Irrtum des Psychologismus zurück, der
letzten Endes alle Dinge, von denen ich ein Bewußtsein habe, auf
"Inhalte", auf meinem Bewußtsein immanente "Teile" zurückführen
möchte und den Geist wie einen Spiegel auffaßt, in dem
selbstverständlich niemals der Gegenstand, sondern nur sein "Bild"
sein kann oder wie einen "Kasten", der niemals etwas anderes umfaßt,
als was realiter in ihm sich befindet. So könne auch der Geist niemals
sehen, was "jenseits" seiner selbst ist, sondern nur "immanente
Abbilder" die in ihm seien. Um diejenige Vorstellung von
"immanenten Gegenständen" deutlich zu kennzeichnen, gegen die im
jetzigen Augenblick der Untersuchung angekämpft wird, muß noch
jene Äquivokation im "Bild"-Begriff angedeutet werden, die N.
Hartmann in seiner Polemik gegen die Phänomenologie hervorhebt, auf
die dann anschließend eingegangen werden soll. Man könnte nämlich
mit N. Hartmann, so fragwürdig diese Terminologie sein mag, unter
79
Die zwei Grundthemen der Erkenntnis, das Notionsthema (das die Frage:
was ist das? beherrscht und das in der Antwort 'so ist es' seine Erfüllung
findet) und das kontemplative Thema "der erkennenden Vermählung" mit
dem Gegenstand hat Dietrich von Hildebrand herausgearbeitet. Vgl. bes.
What is philosophy?, Kap. VI.
53
"Bild" oder "bloßem Bewußtseinshalt" auch intentionale Gegenstände
verstehen, von denen wir Bewußtsein haben, die aber keine reale
Existenz besitzen, z. B. Traumgegenstände.80 Auch solche bloße
Gegenstände einer Halluzination könnte man mit einem gewissen
Recht gegenüber den realen Gegenständen, von denen wir Bewußtsein
haben, als "bloße Bewußtseinsinhalte" bezeichnen. Doch gerade durch
die Betrachtung eines solchen geträumten Gegenstandes, der keine
reale transzendente Existenz besitzt, können wir die Falschheit der in
unserem Zusammenhang bekämpften Auffassung dartun, nach der uns
nur unserem Bewußtsein inexistente Inhalte bekannt seien. Gerade im
Falle der Täuschung wird die grundlegende Verschiedenheit zwischen
unserem Vollzugsbewußtsein und den Gegenständen klar, von denen
wir ein Bewußtsein haben.81 Gerade hier wird deutlich, wie falsch und
irreführend es ist, den Geist mit einem Spiegel und den in ihm
erscheinenden Abbildern zu vergleichen: Ein Haus, das ich in einem
lebhaften Traum oder in einer Halluzination vor mir sehe, ist
ebensowenig ein Teil meines bewußten Seins wie ein wirkliches Haus.
Es hat zwar nur das armselige und geringste Sein des "Objektseins für
meinen Geist", es scheint nur mir zu sein. Aber deshalb ist es in keiner
Weise eher ein Teil meines realen, bewußten Seins als ein wirkliches
Haus, wiewohl eine falsche Plausibilität dies nahezulegen scheint. Das
im Traum gesehene Haus besitzt zwar keine transzendente, reale
Existenz, aber es ist doch wesenhaft "jenseits" des bewußt vollzogenen
Träumens, das zu meinem personalen, unkörperlichen Sein gehört und
damit einer gänzlich anderen Seinsart angehört als sein Gegenstand:
Das Haus zeigt sich mir in seiner materiellen Natur, einer bestimmten
Ausdehnung, Gestalt, mit Zahlen angebbaren Proportionen von Länge,
Höhe und Tiefe, mit bestimmten Farben usw. Keine einzige dieser
Eigenschaften kommt meinem bewußten Akt zu; wie sehr ich ihn auch
durchforschen mag, werde ich nie in ihm irgendeine Eigenschaft seines
"bloß intentionalen" Gegenstandes finden. In diesem Akt findet sich,
weder ein Haus noch das Bild eines Hauses, wie es sich in einem
80
N. Hartmann behauptet dann, wie gleich näher erläutert wird, daß niemals
die Gegenstände als solche in ihrem realen Sein, sondern immer "bloß"
intentionale Gegenstände ("Bilder") uns gegeben sein können, daß also
immer das Seiende vom intentionalen Gegenstand verschieden sei.
81
Vgl. dazu den grundlegenden Abschnitt aus E. Husserls Logischen
Untersuchungen. II, 1, V S. 372 ff.
54
Spiegel finden kann. Die Frage des Seins und Nichtseins des Hauses
liegt ganz jenseits der realen Existenz meines bewußten Seins. Gerade
die Tatsache, daß der Gegenstand, von dem ich Bewußtsein habe, nicht
real ist, während mein bewußt vollzogenes Träumen voll real ist,
beweist die Wahrheit, daß der Gegenstand meines "Bewußtseins von"
kein Teil oder Inhalt meines Bewußtseins ist. Denn das geträumte Haus
existiert nicht in mir, sondern es existiert überhaupt nicht.
Schon in der Subjekt-Objekt-Situation82 als solcher liegt also eine
Vorstufe der Transzendenz des Erkennens, die prinzipielle Fähigkeit
nämlich, bloß immanente Bewußtseinszustände (wie etwa Müdigkeit
es ist) zu überschreiten und in intentionaler Weise an einem
Gegenstand geistig teilzuhaben,83 der "jenseits" meines bewußten Seins
liegt. Dieses intentionale Bewußtsein von etwas, das ich nicht selbst
bin, ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis, in der ich geistig an der
Wirklichkeit teilhabe. Denn alle Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse
und Personen, die ich erkenne, sind jenseits der Akte, in denen sie mir
gegeben sind, sie existieren jenseits meines bewußten, personalen
Seins. Ich kann sie daher nur berühren, wenn ich meine eigenen
Bewußtseinszustände überschreiten kann, wenn ich nicht in mir
gleichsam steckenbleibe, wie alles apersonale Sein "in sich steckt". Ich
kann nämlich klar einsehen: von all diesen Dingen habe ich ein
Bewußtsein — und andererseits: all diese Wirklichkeiten sind von
meinem bewußten Sein verschieden, sie liegen jenseits meiner
Erkenntnisakte.
82
Es muß gesagt werden, daß diese Subjekt-Objekt-Situation in keiner
Weise die Vorstellung nahelegen darf, als handle es sich dabei um
"Objekte" im Sinne von "Gegenständen" als Gegensatz zur Person. Es
handelt sich hier um eine radikal vom Dingbegriff verschiedene
Gegebenheit: Personen sind uns gerade am allermeisten gegenüber. Die
Subjekt-Objekt-Situation im hier gemeinten Sinn findet sich am
charakteristischsten in dem Fall, in dem eine unverwechselbare,
individuelle, lebendige, unvermischbare Person mir gegenübersteht.
Gerade auf Grund der Eigenschaften, die eine Person von allen "Objekten"
im Sinne der Dinge unterscheidet, ist dies so. Manche Denker haben den
"chosisme" fälschlicherweise schon in der Anerkennung dieser
Subjekt-Objekt-Situation sehen wollen.
83
Die Subjekt-Objekt-Situation ist ausschließlich bei Personen und nicht
bei Tieren zu finden. Daß dies keine bloße Behauptung ist, wird im 2. Ka-
pitel, S. 98 ff. ausgeführt werden.
55
Wenn man daher das Sich-selbst-Überschreiten im Erkennen auf das
immanente Bewußtsein reduzieren will, stellt man ein falsches Dogma
auf, das schon durch die Tatsache der intentionalen Akte, durch die
Urgegebenheit der Subjekt-Objekt-Situation als solche widerlegt wird:
Man behauptet, es sei weniger geheimnisvoll, daß wir uns unser selbst
bewußt sind, als daß wir von anderem Seienden Bewußtsein haben.
Man möchte ein unableitbares und irreduzierbares "Mirandum" auf ein
anderes, nicht weniger geheimnisvolles zurückführen.84 Den Vertretern
dieses Dogmas des "Psychologismus", dieser falschen Reduktion des
Gegenstandsbewußtseins auf das Vollzugsbewußtsein bzw.
Selbstbewußtsein hat Descartes so geantwortet:
"Denn woher hast du das, daß alles, was der Geist denkt, in ihm selbst
sein müsse? Wahrlich, wenn das der Fall wäre, dann müßte er, wenn er
die Größe der Welt erkennt, auch sie in sich haben, und so wäre er nicht
nur ausgedehnt, sondern an Ausdehnung doch größer als die Welt "85
Die Selbsterkenntnis in der Reflexion wird von manchen für die einzige
Art gehalten, in der wir uns unseres Seins bewußt werden können,
84
Vgl. dazu What is philosophy?, S. 15 ff.
85
R. Descartes, Meditationen, 5. Erwiderung (550).
56
woraus sie mitunter sogar ableiten wollen, daß uns das eigene Sein nie
im gegenwärtigen Augenblick, sondern nur in Form einer
nachträglichen "Projektion" als Gegenstand der Reflexion gegeben sei;
sie wenden daher — zu einem ähnlichen Ergebnis wie der
Psychologismus kommend — gegen Descartes ein, nicht das eigene
Sein, sondern nur ein nachträglich vom eigenen Sein entworfenes
"Erinnerungs-Bild" sei uns bekannt.86 Hier möchte man nicht das
Objekt-Bewußtsein auf das Vollzugsbewußtsein, sondern umgekehrt
das Vollzugsbewußtsein auf einen Gegenstand des "Bewußtseins von"
reduzieren. Diese Auffassung scheine mir nicht nur falsch, sondern
auch widersprüchlich zu sein. Dies geht zunächst aus einem Vergleich
zwischen Vollzugsbewußtsein und Reflexion hervor. Es ist unmittelbar
einsichtig und deshalb auch in jeder möglichen Erfahrung gegeben, daß
ein Gefühl wie Haß im unmittelbaren Vollzug auch dann erlebt wird,
wenn es in keiner nachträglichen (oder auch gleichzeitigen) Reflexion
zum Gegenstand gemacht wird. Ich muß in keiner Weise etwa meine
Erkenntnis- oder Aufmerksamkeitsintention von einem Bild, das ich
betrachte, wegwenden und auf mich selbst richten, um mein Sehen
bewußt zu erleben, das jederzeit einer Reflexion zugänglich, aber
keineswegs, solange ich es nicht zum Gegenstand einer Reflexion
mache, unbewußt ist.
Vor allem führt die Zurückführung des Vollzugsbewußtseins auf das
Gegenstandsbewußtsein zu einem "regressus ad infinitum". Denn wenn
ich mir nur in einer Reflexion meiner Schadenfreude bewußt sein
könnte, dann wäre auch diese Reflexion wieder vollkommen unbewußt,
solange ich sie nicht ihrerseits in einer Reflexion zum Gegenstand
machte, usw., was zu der absurden Konsequenz führt, daß ich immer
nur von Gegenständen, niemals aber auch meines Wissens von ihnen
oder überhaupt meiner Akte bewußt sein könnte; ja nicht einmal die
86
Diese Spielart des "Phänomenalismus" (vgl. J. Hirschberger, Geschichte
der Philosophie, II. Bd., S. 527-544) ist in unserem Zusammenhang in-
teressant, weil sie das genaue Gegenstück zum Psychologismus bildet und
doch bezüglich des eigenen Seins zu demselben Bild-Irrtum führt, den wir
auf S. 69 ff. näher behandeln.
57
Identität meiner selbst als Reflektierender mit mir als Gegenstand
meiner Reflexion könnte mir je bewußt werden. 87
Außerdem widerspricht diese Reduktion der grundlegendsten
Erfahrung, aus der heraus wir einsehen können, daß wir uns notwendig
des Aktes selbst (in der Weise des Vollzugsbewußtseins) bewußt sind,
in dem wir von einem Gegenstand Bewußtsein haben. Gerade in den
Augenblicken, in denen wir uns selbst "vergessen" und in den Anblick
eines Gegenstandes oder einer Person ganz "versunken" sind —also in
keiner Weise in einer Selbstreflexion uns selbst zum Gegenstand
machen—, erreicht unser Vollzugsbewußtsein seine höchste und
ausdrücklichste Form. Oder wer würde behaupten, in einer
Bewunderung oder Liebe, in der ein Kunstwerk oder eine Person in
einem kontemplativen Augenblick mein ganzes Bewußtsein
beherrscht, sei ich meiner selbst und meiner Liebe völlig unbewußt?
Diese Andeutungen sollen nur darauf hinweisen, daß das
Vollzugsbewußtsein und "Bewußtseinsinhalte" im Sinne bewußter Akte
grundsätzlich von dem Bewußtsein verschieden sind, in dem wir von
einem uns (zumindest funktional) gegenüberstehenden Seienden
Bewußtsein haben.
Es handelt sich hier um einen für jede Erkenntnistheorie und
Metaphysik entscheidenden Unterschied, ohne dessen Verständnis man
niemals in das Wesen des Erkennens eindringen kann.
Die Subjekt-Objekt-Relation kann nie als eine Kausalrelation aufgefaßt
werden.
Wenn wir uns die Natur der Subjekt-Objekt-Situation zur Gegebenheit
bringen, können wir auch Folgendes sehen: Der Gegenstand einer
Erkenntnis kann niemals als ein Bewußtseins-"Inhalt" aufgefaßt
werden, der über eine physiologische Kausalreihe als deren letztes
Glied von einem äußeren Gegenstand hervorgebracht würde. Dieses
zweite psychologistische Körperbild, das anfangs erwähnt wurde,
entlarvt sich damit auch als ein falsches mechanistisches Modellbild,
87
Einen ähnlichen Widerspruch bzw. unendlichen Regreß könnte man auch
für den Irrtum des Psychologismus aufzeigen, insofern ich nach seiner An-
nahme nie von mir sprechen könnte als dem Gegenstand einer Reflexion
was ja nur "ein Bild" wäre, sondern ich könnte meiner nur bewußt sein in
einem völlig unreflektierten Vollzug des eigenen Seins. Vgl. dazu auch
mein Buch Leib und Seele, s. 45 ff., wo die hier behandelten Analysen des
Bewußtseins und seines Gegenstandes fortgesetzt werden.
58
das ungeeignet ist, die Erkenntnis zu klären. Denn wenn wir von der
Erkenntnis als bewußtem, intentionalem Teilhaben an einem
Gegenstand sprechen, können wir niemals den Erkenntnisakt als
"Wirkung" und den Erkenntnisgegenstand als "Ursache" im Sinne der
causa efficiens oder einer der andern vier aristotelischen causae
auffassen, ohne das Wesen der in der Erkenntnis eingeschlossenen
Subjekt-Objekt-Beziehung gänzlich zu verfälschen.88 Die aristotelisch-
thomistische Vorstellung, daß "in unserem Geist" sich Formen fänden,
die durch den Gegenstand gewissermaßen aktualisiert würden, und
ähnliche Auffassungen scheinen mir ebenfalls von irreführenden
organischen Bildern auszugehen und dabei das spezifische intentionale
"Bewußtsein von" in seinem Wesen zu verfehlen. Wenn man das
Wesen der Subjekt-Objekt-Situation erfaßt und zugibt, daß diese zum
Wesen des Erkennens gehört, dann scheint jede Auffassung
grundsätzlich falsch, der gemäß das erkannte Objekt irgendwie in uns
hineinkommen oder in uns sein müsse und derzufolge die Beziehung
zwischen unserem Geist und der Wirklichkeit nur darin bestehen
könne, daß das äußere Ding etwas in uns Befindliches anregt oder
"aktualisiert".
Die Behauptung, alle geistigen Vorgänge und Akte seien das Produkt
irgendwelcher kausaler Einflüsse, führt notwendig in einen inneren
Widerspruch, der so offenkundig ist, daß man ihn kaum übersehen
kann.
Wenn man, wie etwa H. Rohracher88a sagt, alle geistigen Vorgänge
seien nur das Ergebnis elektro-chemischer, physiologischer
88
Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die vier von Aristoteles ent-
deckten metaphysischen Grundbeziehungen zwar sehr wichtig, aber
keinesfalls ausreichend sind, um damit sämtliche metaphysische
Beziehungen zu erfassen. Es gibt in Wirklichkeit noch mindestens sieben
oder acht ebenso grundlegende und unreduzierbare metaphysische
Grundbeziehungen, die Dietrich von Hildebrand in einem Seminar
ausführte, das er 1964 in Salzburg hielt.
88a
Vgl. H. Rohracher, Einführung in die Psychologie, S. 23—25; 60—62;
vgl. auch. 507: "Alle psychischen Vorgänge, also auch die
59
Gehirnvorgänge—und daraus folgt mit logischer Notwendigkeit, daß
auch Erkenntnis als kausale Wirkung physiologischer Prozesse
aufgefaßt wird — dann wird die Erkenntnis auf die Stufe eines
Schmerzes im Bein herabgedrückt und ihres transzendierenden
Charakters beraubt. Denn dann gibt es kein Erkennen mehr als ein
Erfassen des Gegenstandes; dieses ist nämlich wesenhaft eine
intentionale, d. h. originär geistige Beziehung, die mit einem kausalen
Verursachtsein des "Erkennens" notwendig unvereinbar ist. Denn wäre
Erkennen das Produkt materieller Vorgänge, so wäre es eine durch
veränderte materielle Vorgänge jederzeit änderbare "Wirkung", deren
eventuelle "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit erstens rein
mechanisch und von Erkennen wesensverschieden und zweitens rein
zufällig und unerklärlich bliebe. Wenn also "Erkenntnis" eine Wirkung
von Gehirnprozessen wäre, könnte man niemals vom Gehirn und
seinen Funktionen irgend etwas wissen.
Sowohl in der richtigen These, daß es ein Gehirn und physiologische
Vorgänge in ihm gibt, als auch in der falschen Behauptung, daß das
gesamte bewußte Leben nur ein Produkt bzw. Epiphänomen
chemischer u. ä. Vorgänge sei, setzt man die Fähigkeit der Erkenntnis
und ihre Transzendenz voraus: nämlich etwas Reales feststellen zu
können und sogar etwas, was von unserem Bewußtsein ganz
unabhängig ist und weder den Charakter eines Scheins noch einer
Erscheinung hat. Wenn es aber diese Fähigkeit, die ein bloßer Effekt
physiologischer Vorgänge im Hirn wesenhaft nicht besitzen kann bzw.
wenn es Erkennen nicht gibt, dann können wir auch vom Gehirn und
seinen Funktionen nichts wissen.
Wer also die Erkenntnis auf Gehirnfunktionen bzw. deren Wirkungen
reduziert, leugnet eo ipso die Existenz eines Gehirns,—bzw. gibt jeden
Wahrheitsanspruch seiner Thesen über ein Gehirn preis, von dessen
Existenz oder Nicht-Existenz er ausschließlich durch wirkliche
Erkenntnis etwas wissen kann, die unmöglich die Wirkung bzw. das
Epiphänomen materieller Prozesse sein kann.
Daß die Erkenntnis wesensnotwendig von mechanischen und sonstigen
sie determinierenden Wirkursachen unabhängig sein muß, leuchtet
schon daraus ein, daß sie ja das Seiende selbst geistig berühren muß
60
und nicht durch veränderte "Ursachen" (im Gehirn), sondern
ausschließlich durch veränderte Gegenstände "anders" werden darf. Es
mögen ohne weiteres physiologische Bedingungen bzw. parallele
physiologische Vorgänge für das menschliche Erkennen nötig sein.
Diese dürfen aber niemals causae efficientes des Erkennens sein, ohne
dieses von vornherein unmöglich zu machen.
89
Grundzüge einer Metaphysik des Erkennens, 1. Teil, 3. Abschn., s. 106
ff.
90
Vgl. a. a. O., S. 47, b7.
61
bekommt, nie aus seiner Sphäre heraustreten kann.''91 Diese "Immanenz
des Setzens"92 auf der einen Seite, nach der alle "intentionalen
Gegenstände" vom Bewußtsein abhängig bleiben und dieses nie den
Gegenstand selbst erfassen könne, und andererseits die
"Erkenntnisintention des Transzendenten", der gemäß wir durch das
"Bild" (den intentionalen Gegenstand) doch immer auf einen
transzendenten, autonom und real existierenden Gegenstand abzielen,93
bedeuten nach Hartmann die "Antinomie des Bewußtseins", die sich in
ihrer Widersprüchlichkeit zunächst einfach darstelle und auch rational
nicht wirklich aufzulösen sei. Husserl habe sich also eine
"Vereinfachung der Bildproblematik" 94 zuschulden kommen lassen.
Die Tatsache, daß er kein "Ichzustand" ist, macht den "intentionalen
Gegenstand" noch keineswegs zu etwas "Transzendentem", sagt N.
Hartmann95, sondern eben zu dem mit "Bild" Gemeinten, durch das wir
in der Erkenntnis auf den vom Bild verschiedenen Gegenstand
abzielen, wie der Fall der Täuschung beweise.
Dazu ist zunächst zustimmend zu sagen, daß die autonome Realität des
Gegenstandes für jede Erkenntnis entscheidend ist. Und zwar ist diese
autonome "Realität" jeweils entsprechend dem Wesen d" erkannten
Seienden eine verschiedene. So setzen etwa andere Personen auf Grund
ihres Wesens eine von meinem und jedem Erkennen unabhängige
Realität voraus, während Farben dies nicht tun, die Pläne, die ein
Optimist entworfen hat und mir erzählt, geben wiederum auf Grund
91
A. a. O., S. 61, 4.
92
A. a. O., S. 62.
93
Man sieht, wie sich Hartmann vom Kantianismus und Neokantianismus
der Marburger Schule, dem er selbst angehörte, zu lösen sucht und auch -
besonders gegenüber dem späten Husserl - klar die auf ein "Ding an sich"
gerichtete Transzendenz des Erkennens (zumindest als im Phänomen
begründet, wenn auch nach ihm nicht als solches evident gegeben)
anerkennt:
"Die nachstehenden Untersuchungen gehen von der Auffassung aus, daß
Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegen-
standes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren
will, sondern ein Erfassen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und
unabhängig von ihr vorhanden ist." (1. Satz der "Metaphysik des
Erkennens".)
94
A. a. O., S. 81.
95
A. a. O., S. 115.
62
ihres Wesens jene eigentümliche "Realitätsstufe" vor, die solch einem
Entwurf eigen ist etc. Käme diese jeweils ihrem
Wesen entsprechende "An-sich-Realität" den Dingen nicht wirklich zu,
sondern wären sie uns nur so gegeben, als hätten sie diese Realität oder
"bestünde" gar die Wirklichkeit nur aus "intentionalen Gegenständen"
für ein (transzendentales) ego, wären alle "intentionalen Gegenstände"
nur in den entsprechenden "intentionalen Akten" dieses ego
"konstituiert" (!), wie der späte Husserl annimmt, so wären wir in jenen
radikalen Immanentismus eingeschlossen, der im II. Teil dieser Arbeit
ausführlich widerlegt werden soll und den N. Hartmann 96 treffend so
kennzeichnet:
So richtig dies sicher in dem eben angedeuteten Sinn ist, so muß doch
andererseits manches gegen Hartmanns Thesen eingewandt werden.
Erstens bleibt es irreführend und gefährlich, den in einer Täuschung
bloß scheinbar seienden Gegenstand als "bloß immanentes Bild" von
einem Gegenstand aufzufassen, wie oben schon dargelegt wurde. 97
Zweitens ist es, wie im II. Teil ausführlich behandelt wird, ein falsches
Dogma, daß wir niemals unmittelbar einen Gegenstand in seiner
autonomen Realität an sich und unter Ausschluß jeder
96
A. a. O., S. 115.
97
Edmund Husserl weist in den Logischen Untersuchungen, Bd. II, 1, in
Kap. V, §11, und vor allem in der Zurückweisung der "Bildertheorie", S.
421 ff., sehr mit Recht darauf hin, daß ja schon zur Rekognoszierung des
Bildes" als "Bild" ein intentionales Bewußtsein von einem Gegenstand
selbst vorhanden sein muß, als dessen "Bild" wir das Bild erkennen; sonst
kommen wir in einen unendlichen Regreß. Ferner legt der Begriff "Bild",
"immanenter Gegenstand" nahe, daß man die einzigartige Natur der inten-
tionalen Beziehung verkennt.
63
Täuschungsmöglichkeit erkennen können. Es wird gezeigt werden, wie
viele Fälle es gibt, in denen "das Ding an sich" in unserer Erkenntnis
"intentionaler Gegenstand" ist. Es wird auch klarwerden, wo wir Dinge
erkennen können, die unmöglich ein sich nur für den Menschen
konstituierender Aspekt der Wirklichkeit sein können. Das können wir
auch schon aus dem wichtigsten dritten Einwand erkennen, den man
gegen N. Hartmann erheben muß:
Drittens. Sogar für solche sich nur für den Menschen konstituierende
Aspekte (etwa den humanen Aspekt der Außenwelt), die allerdings in
anderem Sinn objektiv sind,98 ja sogar für die Täuschung gilt, daß es
kein scheinbar Seiendes ohne ein absolut und an sich Seiendes geben
kann, ebenso wie keine Relation ohne absolut Seiendes möglich ist.
Doch nicht nur das: Dieses schon für jede Täuschung vorausgesetzte an
sich Seiende muß auch als solches unmittelbar erkannt und damit selbst
"intentionaler Gegenstand" meiner Erkenntnis sein, sonst käme keine
Täuschung zustande. Also widerlegt gerade der Fall der Täuschung,
den N. Hartmann zum Beweis für seine These heranzieht, ebendiese
These. Denn wenn auch der Gegenstand, über den ich mich täusche,
nicht selbst in seinem Ansichsein unmittelbar "intentionaler
Gegenstand" meiner Erkenntnis sein mag, so setzt doch jede Täuschung
gewisse Wirklichkeiten, die "an sich" sind, voraus, ohne deren
unmittelbare, täuschungsfreie Erkenntnis ich mich gar nicht täuschen
könnte. Erstens ist die absolute Existenz des Täuschenden
vorausgesetzt für jede Täuschung, zweitens ist es an sich wahr, da,!
ihm et«was bloß zu sein scheint, was nicht an sich ist. Drittens ist es an
sich so, daß etwa der Mensch, von dem ich träume, auf Grund seines
Wesens eine Existenzweise zu besitzen scheint, eine Art der Existenz
"vorgibt", die er als bloße Traumgestalt nicht besitzt. Wenn all dies und
vieles andere nicht "an sich" wäre und wahr wäre, gäbe es überhaupt
keine Täuschung. Indem der Träumende ferner all dies erkennt, täuscht
er sich keineswegs—und dies führt uns auf einen für jede
Erkenntnistheorie entscheidenden Unterschied, der jetzt gemacht
werden muß, obwohl er erst im 3. Kapitel des I. Teils in seiner
Bedeutung hervortreten wird und im II. Teil erst ausführlich behandelt
werden kann.
98
Vgl. What is philosophy?, Kap. V: "Objectivity and Independence", S.
152 ff.
64
Die Transzendenz jeden Erkennens
99
Dies gilt auch für die spontanen Akte oder Antworten, die noch tiefer
vom Erkennen verscheiden sind.
100
Dieses entscheidende Merkmal des Erkennens wird S. 77 ff. behandelt.
65
ausprägt, wie im nächsten Kapitel deutlich wird—vernehme ich
gleichsam von der Objektseite ein: "So ist es!" — Aber auch in einem
lebhaften Traum oder einer voll wachen Halluzination liegt dieses
Element ausdrücklich vor, so wie auch bei Sinnestäuschungen.
Die Seinsautonomie des Erkenntnisgegenstandes. Das entscheidende
Element des Erkennens im Gegensatz zu jeder Täuschung, zu allem
bloß Geträumten oder Halluzinierten, ist jedoch, daß der
"Seinsanspruch" des Gegenstandes zu Recht besteht. Sosehr bei einer
Täuschung durch Traum oder durch eine Fata Morgana die drei
erwähnten Elemente des Erkennens vorliegen, so liegt in der
Täuschung als solcher doch nicht die eigentliche Transzendenz und das
Erkennen des Gegenstandes, weil sich der Gegenstand nur als seiend
"gibt", nicht aber wirklich ist, so daß das erkennende Berühren der
Wirklichkeit nicht stattfindet. Daß der Gegenstand seinsautonom ist
und nicht nur einem Subjekt zu sein scheint, gehört wesenhaft zum
Erkennen. Nur wo dies vorliegt, finden wir die Transzendenz, die
jedem Erkennen eigen ist.
66
er wirklich sei. Aber wenn ich genau hinblicke, sehe ich, daß ich nur
diesen Seinsanspruch im vollen Sinn des Wortes erkannt habe; daß er
zu Recht besteht, habe ich in einem (vielleicht kaum merklichen
Element von) 'Glauben' angenommen.'' 101 Und wenn man auf Grund
dieser bescheidenen Bemerkung unsere gesamte Erkenntnis überblickt,
so findet man weithin dieselbe Situation. Sprechen wir nicht auch dort
von "Erkenntnis", wo sich uns Seiendes auf Grund der Erkenntnis
anderer in unserer Wissenschaft erschlossen hat, wo wir etwas
"wissen", weil wir es vertrauenswürdigen Menschen "geglaubt" haben?
Fast sämtliche wissenschaftliche Erkenntnis haben die meisten
Wissenschaftler durch solchen— kaum merklichen — "Glauben"
erworben. Wie könnte ein Mensch anders Chemie, Geographie oder
Geschichte studieren, wie könnte jemand Vergangenes "erkennen",
wenn nicht durch "Glauben"? Edmund Husserl hat ferner schon in den
Logischen Untersuchungen (Bd. 11, 2) nachgewiesen, daß in jeder
Sinneswahrnehmung neben dem unmittelbar Gegebenen ein
Wissenshintergrund und Elemente der Interpretation, der Erwartung
und Vervollständigung enthalten sind, die weit über das eigentlich
Erkannte im strengen Sinn hinausgehen und durch die sich uns doch
erst der Gegenstand erschließt. Es ist unmöglich, hier auf das
interessante Thema einzugehen, welche verschiedenen Formen eines
solchen Über-das-Gegebene-und-Erkannte-Hinausgehens es gibt und
wie sich dem Menschen vieles Seiende nur durch solche
"Glaubens"- und Interpretationselemente hindurch erschließt. Niemand
sollte und könnte nur das für wahr und seiend halten, was er im strengen
Sinn des Wortes erkannt hat!
Aber dennoch muß man sehen, daß die "Erkenntnis selbst" von diesen
Glaubenselementen verschieden ist, daß es niemals in der Erkenntnis
selbst liegt, daß sich "uns etwas erschließt, was nicht ist", sondern
vielmehr in diesen über das Erkennen hinausgehenden, von ihm schwer
zu lösenden Elementen des Glaubens, der Annahme und Interpretation
und anderen Elementen, die verständlicherweise bei nicht genügender
Erkenntnisgrundlage in die Irre führen können.
Man muß aber ganz klar festhalten, daß oft der Erkenntnisbegriff eben
auf alle Arten des "Sich-Erschließens eines Seienden" angewendet
wird—und dann gehört es nur zum Begriff des Erkennens, daß sein
67
Gegenstand autonom ist. Dann sind Täuschungen (die eine Grundlage
in Erkanntem haben) und entsprechende Erkenntnisse nicht ihrer
inneren Struktur nach verschieden, sondern nur von außen her als
verschieden erkennbar... Wenn man hingegen Erkenntnis in einem
engeren Sinn versteht, dann meint man damit jenen urgegebenen Akt,
in dem sich uns ein Seiendes in seiner autonomen Realität erschließt
und wo wir es selbst erfassen. Ohne eine solche Erkenntnis im engeren
Sinn, das heißt das Erfassen von Sachverhalten, die tatsächlich an sich
so sind und uns in diesem Ansichsein gegeben sind, wäre überhaupt
keine Täuschung möglich, wie schon gezeigt wurde.
Bei diesem Erkennen im engeren Sinn gehört es durchaus nicht bloß
zum Begriff, sondern zum notwendigen Wesen dieses Aktes, daß sich
uns in ihm Seiendes, wie es ist, erschließt.102 Das Wesen der Erkenntnis
soll nun weiter erforscht werden, damit dies deutlicher wird.
102
Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum, S. 53: "Die höchste Stufe des Ge-
gebenen... kann also nicht irren." Wir berühren hier wahrscheinlich weit-
gehend den Unterschied, den Platon mit dìja und åpist×mh
gekennzeichnet hat oder auch mit seiner Gegenüberstellung von péstiw
(Glaube, Meinung) åpist×mh (Erkenntnis), obwohl Platon in den Begriff
der åpist×mh wohl auch hineinnimmt, daß ihr Gegenstand eine
unveränderliche, notwendige Idee (Wesenheit) ist und andere näher zu
besprechende Elemente. Jedenfalls scheint Platon eindeutig diesen
Unterschied zwischen Erkenntnis im eigentlichen und in einem weiteren
Sinn im Auge gehabt zu haben, wenn er besonders im Theaitetos (187b—
210d) die (de facto) "richtige doxa" (ìru× dìja) der Erkenntnis
gegenüberstellt, wie ich überhaupt den platonischen Analysen der
Erkenntnis, insbesondere im Theaitet, mehr verdanke, als ich in Fußnoten
zum Ausdruck bringen kann. In einer anderen Hinsicht kommt der hier
eingeführte Unterschied dem näher, was Aristoteles im Gegensatz zu
Platon, der die Sinneserkenntnis selbst als trügerisch ablehnt, über die
Irrtumslosigkeit des vordiskursiven Erkennens gesagt hat. (Vgl. De an.
427b, 12). Siehe J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, I, S. 179.
Diese Andeutungen müssen hier genügen. Die Erkenntnis im eigentlichen
Sinn gegenüber der mit Glaubens- und Interpretationselementen verbunde-
nen Erkenntnis (im weiteren Sinn) wird im dritten Kapitel des I. Teils und
vor allem im II. Teil dieser Arbeit ausführlich behandelt.
68
Im Rahmen dieser Arbeit sprechen wir von "Erkenntnis" und können
dabei diesen grundlegenden Akt der Person nicht in seiner
Verzweigtheit, sondern nur in seinen fundamentalen Grundzügen
untersuchen. So gehen wir weder auf alle die verschiedenen Arten des
Erkennens ein, die den verschiedenen Seinsarten entsprechen—wie
etwa Sachverhaltserkenntnis im engeren Sinn im Unterschied zur
Kenntnisnahme von Sachen—, noch wenden wir uns in dieser Arbeit
dem Unterschied zwischen dem ersten kenntnisnehmenden Akt und
dem erkennenden Verweilen beim Gegenstand zu. Wir grenzen auch
nicht das aktuelle Erkennen vom überaktuellen Akt des Wissens
einerseits, das sich nur auf Sachverhalte bezieht, und des Kennens
andererseits, das sich nur auf "Gegenstände" als solche bezieht, ab.
Auch können wir nicht die Eigenart der beiden Grundthemen der
Erkenntnis herausarbeiten, des Notionsthemas einerseits und des
kontemplativen Themas andererseits. Bezüglich dieser Unterschiede
können wir hier auf die zitierten Schriften A. Reinachs, A. Pfänders, E.
Husserls und vor allem D. von Hildebrands verweisen.
Was wir in dem Rahmen dieser Arbeit vom Erkennen sagen wollten,
gilt sowohl für die erstmalige, punktuelle Erschließung des
Gegenstandes als auch für das dauernde, erkennende Verweilen beim
Gegenstand; es gilt für das Wesen allen Erkennens als solchen und muß
daher auch für die Allerkenntnis und Allwissenheit Gottes gelten.
Wir meinen mit "Erkenntnis" in dieser Arbeit also jenen elementaren
Urgestus, der sowohl punkthafte Erkenntnis von Sachverhalten und
Kenntnisnahme von "Gegenständen" als auch in modifizierter Weise
dauerndes erkennendes "Haben" eines Seienden auszeichnet: Die
aktive Rezeptivität, die Autonomie des Gegenstandes, das
SichErschließen-des-Gegenstandes-unserem-Geist, wobei uns das
Seiende zumindest potentiell immer neu Kenntnis seiner selbst
spendet—all diese Züge sind in den genannten Formen des Erkennens
zu finden. Erkennen meint hier also einen Urtypus von geistigem Akt,
und wir wählen diesen Terminus, um die im "Wissen" gelegene
Einschränkung auf Sachverhalte und jede sonstige Einschränkung auf
einen Teilbereich des Erkennens zu vermeiden.
69
Wenn betont wird, das Subjekt überschreite sich selbst im Akt des
Erkennens, so muß daran festgehalten werden, daß dies nicht bedeutet,
es schaffe etwas außerhalb seiner selbst—Erkennen ist vielmehr ein
empfangendes Sich-Selbst-Überschreiten.
103
D. von Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens
I,1 und 2. Vgl. What is philosophy? I, 2. Vgl. dazu auch B. Schwarz, Der
Irrtum in der Philosophie, I. Teil, I. Abschnitt, I. Kap., 6.
70
des Erkennens. Wenn sie philosophisch besonders undifferenziert sind,
wie viele von der Physiologie inspirierte Formen des Psychologismus,
dann setzen sie den Raum und die objektive Existenz der Außenwelt
durchaus als real existierend und als solche bekannt voraus. Sie nehmen
physiologische Prozesse als unbezweifelbare, objektive Wirklichkeit
an—und behaupten dann, diese "Reize" verwandelten sich in
"Bewußtseinsinhalte" und diese allein seien uns letztlich bekannt,
weshalb wir niemals erkennen könnten, wie die Wirklichkeit objektiv
ist. So widerspruchsvoll eine derartige Position ist — weil ständig
vorausgesetzt wird, daß wir Raum, Zeit, Materie, physiologische
Prozesse, Kausalität usw. in ihrem objektiven Sein erkennen können —
, so wird darin doch eine gewisse Rezeptivität der Wahrnehmung und
der Erkenntnis nicht geleugnet.104
Obwohl die wahre Rezeptivität der Erkenntnis notwendig ihren
intentionalen (sinnvoll und bewußt auf ein vom Subjekt verschiedenes
Objekt bezogenen) Charakter einschließt, so kann doch in vager und
nicht konsequenter Philosophie das intentionale Haben eines Objekts
in ein "Sein" im Bewußtsein umgedeutet werden, ohne daß dabei der
rezeptive Charakter des Erkennens geleugnet würde.
Jetzt wollen wir uns einer Auffassung zuwenden, die vor allem die
Rezeptivität des Erkennens leugnet, jenen Geschenkcharakter des
Erkennens, in dem das Erkannte sich uns erschließt.
Diese beiden Auffassungen kommen für uns hier in keiner Weise aus
einem historischen Interesse für diese beiden Denker in Betracht,
sondern vielmehr als "ideale Irrtümer", weshalb wir sie von vielen
anderen widersprüchlichen Positionen derselben Denker befreien
müssen. Wir wiederholen, daß in diesem Kapitel die Auffassung der
Erkenntnis als Schaffen nur insofern betrachtet wird, als dieses
Schaffen für ein bewußtes erklärt wird. Natürlich findet man bei
Nietzsche von der Geburt der Tragödie an in sämtlichen Werken
zahlreiche Stellen, in denen er einen Psychologismus im vorhin
104
Dies bewog ja auch den späten Berkeley, Gott als Urheber unserer
subjektiven Ideen anzusetzen, und genau aus diesem Grunde nahm ja auch,
Kant an, daß die Sinneseindrücke, die ich, empfange, von einem "Ding an
sich'' ausgehen müssen.
71
behandelten Sinn, einen Materialismus oder die Lehre von einem
unbewußten Schaffensvorgang, ja sogar von einer Art bösem Weltgeist
vertritt. Dennoch erklärt Nietzsche (vor allem auf dem Gebiete der
metaphysischen, philosophischen Erkenntnis) das Erkennen
zunehmend in seinen späteren Werken als einen bewußten Akt des
Schaffens und Zeugens.
Das hindert nicht, daß er oft sehr der Kantischen Position ähnliche
Thesen vertritt. Bei Kant wird zwar die Erkenntnis in ein "Schaffen''104a
des Objekts aus einem amorphen Stoff umgedeutet, aber bei ihm (und
besonders beim späten Schelling) tritt die erwähnte notwendige
Zweiteilung in ein unbewußtes (transzendentales, schöpferisches!) und
ein bewußtes Ich hervor. Da Kant den elementar rezeptiven Charakter
des Erkennens, sofern es uns bewußt gegeben ist, nicht ganz leugnen
kann, deutet er eben das "Spontane" als ein jenseits unseres
Bewußtseins gelegenes "Ich" um. Dieses wird immer mehr zum
"Unbewußten". Diese Auffassung (sofern Kant, aber auch Nietzsche
und andere Denker sie vertreten) wird im Il. Teil untersucht.
Es gibt aber eindeutig eine Auffassung, nach der auch der bewußte Akt
des Erkennens als ein schöpferischer verstanden wird und in der
deshalb die Rezeptivität auch dem bewußt erlebten Akt des Erkennens
abgesprochen wird. Ich möchte gewisse Stellen Nietzsches zitieren, die
dann auch bei Sartre und in weiten Kreisen moderner Philosophie, der
Psychologie und der Lebensphilosophie ihre "Früchte" getragen haben.
Wenn dort vielleicht auch in bezug auf die Sinneswahrnehmung der —
dem bewußten Erleben nach — rezeptive Grundzug der Wahrnehmung
nicht geleugnet wird, so wird doch im moralischen, metaphysischen
und religiösen Bereich die Rezeptivität auch des bewußten
Erkenntnisaktes geleugnet. "Eine erste Bewegung, ein aus sich
rollendes Rad, einen Schaffenden sollst du schaffen." 105
72
"Auch im Erkennen fühle ich immer nur meines Willens Zeuge- und
Werde-Lust; und wenn Unschuld in meiner Erkenntnis ist, so geschieht
dies, weil Wille zur Zeugung in ihr ist.''106
Im Willen zur Macht spricht Nietzsche einmal von seinem ersten
Hauptwerk, der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, und sagt
dabei unter anderem Folgendes: "In der Vorrede bereits, mit der
Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräch eingeladen wird,
erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artistenevangelium: ,Die
Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen
metaphysische Tätigkeit...''107
Schon aus diesen Sätzen kann man entnehmen, daß der Begriff "Kunst"
im Zentrum des Denkens Nietzsches steht—und es wäre in der Tat
möglich, seine ganze Philosophie darzustellen, indem man nur die
Bedeutung genau untersucht, die er den Begriffen "Kunst" und
"Künstler" gibt. Was man sogleich bemerken muß, ist die ungeheure
Ausdehnung und damit die Mehrdeutigkeit der Begriffe "Kunst" und
"Künstler" bei Nietzsche. So kommen schon in der Geburt der Tragödie
Ausdrücke vor wie: " . . . das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst,
sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft.''107a
Aber auch dort, wo Nietzsche von Kunst im engeren Sinn spricht,
betrachtet er sie nur von einer ganz bestimmten Seite. "Ästhetik"
bedeutet bei ihm niemals die Lehre vom Schönen oder vom Gegenstand
der Kunstbetrachtung. Eine solche Philosophie nennt Nietzsche
verächtlich "Weibsästhetik". Wenn er von Kunst spricht, so meine er
diese immer "vom Phänomen Künstler her gesehen", nicht vom
Betrachter aus. Außerdem löst er noch das Produzieren und Schaffen
des Künstlers von jeder objektiven Ordnung des Schönen los, von jeder
rezeptiven Tätigkeit, in der die besondere Schönheit rezeptiv erfaß
wird, die bestimmten Melodien und Rhythmen, Sprechweisen, Szenen
und Gestalten objektiv eigen ist. Er faßt den Akt des Künstlers als ein
durch keine objektive Ordnung "begrenztes" Zeugen, als "höchste"
Willkür auf.
Und diese von jedem Empfangen objektiver Sinneinheiten und Werte
isolierte schöpferische Tätigkeit des Künstlers, die im Bild des "aus
106
Nietzsche, Zarathustra, 2. Teil: "Auf den glückseligen Inseln". Ne. We.
Bd. II, S. 345.
107
Vgl. Nietzsche, Wille zur Macht, a. a. 0., S. 578 (IV).
107a
Ne. We. Bd. I, S. 87 (15).
73
sich rollenden Rades" treffend dargestellt ist, überträgt Nietzsche vom
Bereich der Kunst auf den Bereich des ganzen Lebens, der Kultur, der
Metaphysik, der Religion, jeden Erkennens. 108
108
Es wird später deutlich, welche ungeheuerlichen Konsequenzen diese
Auffassung der Erkenntnis hat; es kann in dieser Arbeit nicht gezeigt
werden, welche Motive Nietzsche zu diesem Gedanken bewegen, wie er
darin die Erfüllung des "Willens zur Macht" und des "Lebens" erblickt und
warum er diesen Gedanken, "daß das Leben nun ein Experiment des
Erkennenden sein dürfe", als "den großen Befreier" ansah—jetzt genügt es,
auf diese Interpretation der Erkenntnis selbst hinzuweisen: In einer
früheren unveröffentlichten Arbeit Wahrheit und Irrtum bei Nietzsche
versuchte ich, einerseits die Ansatzpunkte Nietzsches bei Kant zu zeigen
und anderseits, daß der Relativismus bei Nietzsche nicht eigentlich ein
Irrtum ist, sondern daß es sich um den bewußten Versuch handelt, sich dem
Joch jeglicher objektiver Wahrheit zu entziehen, der nur verständlich wird,
wenn man den Lebens- und Machtbegriff bei Nietzsche tiefer verstanden
hat als die schrankenlose illegitime Herrschaft des bloß subjektiv
Befriedigenden, des "amor sui usque ad contemptum Dei" (Augustinus).
Vgl. D. von Hildebrands Christliche Ethik, Kap. 3 (S. 49); die dort
gemachten, für die ganze Ethik entscheidenden Unterscheidungen von drei
Bedeutsamkeitskategorien ermöglichen das eigentliche Verständnis des
"Willens zur Macht" bei Nietzsche.
109
Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, a. a. O., S. 697 (1067).
74
seinem Sein, seinem Wesen, seinem Wert sich nicht dem Subjekt
erschließt, sondern von diesem geschaffen wird.
Ja, die Auffassung der Erkenntnis als ein "Sinngeben" muß man als die
heute weithin herrschende bezeichnen. Diese Interpretation der
Erkenntnis als ein Schaffen verbindet die beiden Elemente des
Immanentismus, die in diesem Kapitel behandelt werden sollen. Sie
geht davon aus, daß das Erkennen kein Empfangen, sondern ein radikal
von jeder objektiven Ordnung "freies" Schaffen und Erzeugen ist, daß
also die Sinnlinie von mir, von meinem bewußten Sein ausgeht, indem
sie dort anhebt, zum Objekt hin verläuft und dieses schafft und
hervorbringt. Indem sie eine solche Spontaneität unseres Erkennens
annimmt, geht diese Auffassung in einem gewissen Sinn noch weiter
als die psychologistische, in der immerhin noch soviel Abhängigkeit
unserer Erkenntnis von irgendwelchen "äußeren Ursachen" anerkannt
wird, soviel "Rezeptivität", daß noch nach dem "transzendenten
Objekt" (im Unterschied zu einem "immanenten") oder, wie bei
Berkeley, nach dem Urheber meiner Ideen gefragt wird. Obwohl das
esse mit dem percipi identifiziert wird, setzt man doch Intentionalität
und vor allem Rezeptivität soweit voraus, daß man sich mit einer
vollkommen bewußtseinsimmanenten "Erklärung" der Erkenntnis
nicht zufrieden gibt. Hier jedoch—in der radikalsten
"Willens-Position" Nietzsches, die sich dann etwa bei Sartre fortsetzt—
wird versucht, die Erkenntnis vollkommen als "aus sich rollendes Rad",
als quasi-göttliches Schaffen (quasi-göttlich, nicht nur, weil dem
Menschen göttliches Schaffen zugeschrieben wird, sondern weil darin
auch eine Karikatur des Schaffens Gottes liegt, in dessen Wesen alle
ewigen "rationes" der Dinge liegen und der allein den geschaffenen
Dingen und Personen autonome Wirklichkeit verleiht) aufzufassen, in
dem die Frage nach einem "jenseits" der Erkenntnis liegenden Sein
immer mehr als sinnlos erscheint, in dem Sein und Wahrheit auf den
Akt des Erkennens beschränkt werden. 110 In allem glaubt Nietzsche
sozusagen nichts anderes als seinen "Willen zur Macht", seine
dionysische Schöpferkraft als zureichenden Grund zu erkennen. 111
110
Diese Auffassung findet ihren radikalen Höhepunkt in Heideggers
Schrift Platons Lehre von der Wahrheit, S. 26—30; S. 35—38.
111
Das hindert selbstverständlich nicht, daß wir bei Nietzsche andere, dem
widersprechende Stellen finden.
75
Damit aber werden alle Dinge letztlich nicht einmal mehr als
"Erscheinungen" betrachtet, denen ein objektives "Sein an sich"
entsprechen könnte, sondern als Gestalten und Spiele — und dieser
Schein ist bei Nietzsche die Realität112 —, in denen ich nur mich,
meinen Willen, meinen "Willen zur Macht—und nichts außerdem"
kenne.
76
überschreiten als in der Erkenntnis. Wenn wir wie Sokrates nicht bloß
nach eigenem Glück oder gar nach unserer rein subjektiven
Befriedigung dürsten, sondern nach dem, was in sich selber wertvoll
und gut ist, wenn wir unter schweren persönlichen Opfern oder sogar
um den Preis des Lebens ein Unrecht nicht begehen wollen,
transzendieren wir uns in einer einzigartigen Weise.113 Diese
Transzendenz der Wertantwort und vor allem der Hingabe an das
sittliche Gute geht weit über die der Erkenntnis hinaus und ist mit
unserem ewigen Schicksal verknüpft, wie schon Platon sah. Diese
sittliche Wertantwort ist aber nicht rezeptiv, sondern spontan. 114
113
Vgl. dazu D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. 3, 17, 18. Die über
den Bereich des Erkennens hinausgehenden Formen der Transzendenz
können in dieser Arbeit nicht angeführt werden. Es gibt nicht nur den Un-
terschied zwischen "rezeptiver Transzendenz" (des Erkennens) und der
spontanen, sondern auch andere Unterschiede, die mit diesem unmittelbar
nichts zu tun haben. So ist etwa die Transzendenz die in der Unsterblichkeit
des Menschen liegt, weder "spontan" noch "rezeptiv". Diese Andeutung
muß hier genügen.
114
Abgesehen davon, daß die Wertantwort dieselbe spontane Richtung der
Transzendenz besitzt wie auch ein Urteilsakt, ist sie von diesem viel
verschiedener als dieses vom Erkennen, weil in ihr nicht das Erkenntnis-
thema herrscht und sie eine ganz andere "Grenze" überschreitet. Vgl. Die
Einleitung, S. 29 ff.
77
denen eine Person das Gefangensein in sich selbst überschreiten kann,
offenbar. Einerseits spricht der andere zu mir, und ich höre und
verstehe, ich lausche. Anderseits spreche ich zum andern und antworte.
Der entscheidende und grundlegende Unterschied zwischen diesen
beiden Richtungen der Transzendenz leuchtet in seiner inneren
Notwendigkeit ein.
Wenn der andere zu mir spricht, sich mir erschließt, bin ich gleichsam
"leer". Ich empfange etwas. Denn was ich vernehme, ist nicht Teil
meines eigenen Seins, sondern sein Wort. Die Sinnlinie geht dabei
eindeutig vom andern aus und verläuft zu mir. Er ist es, der sich mir
erschließt. Ich transzendiere mich hier also, indem ich empfange und
das Wort verstehe, das ein anderer zu mir spricht. Diese Richtung der
Transzendenz ist der Grundzug allen Erkennens und genau sie nennen
wir "rezeptiv". Dieser Begriff hat also nichts mit "passiv" zu tun im
Sinne eines unaktiven, untätigen Verhaltens, eines reinen
Sich-prägen-Lassens.115 Im Gegenteil: Diese rezeptiven Akte des
Menschen sind zutiefst aktiv. Ja die eigentlichste geschöpfliche
Tätigkeit ist gerade die Rezeptivität. Wir sind ja von uns selbst,
unabhängig von dem Sein und den Werten, an denen wir in der
Erkenntnis teilhaben, gleichsam nichts. Ein Mensch, der an nichts
erkennend teilhätte, würde in einer vollkommenen Finsternis leben. Die
Natur, die Schönheit, andere Personen, alle Werte, im tiefsten Sinne
Gott sind die Quelle all unseren geistigen Lebens und sie alle liegen
jenseits unseres Geistes. Ausschließlich im Erkennen, in jenem
Empfangen können wir zunächst in Beziehung mit ihnen treten. Diese
erste Richtung der Transzendenz ist deshalb gleichsam das Urwort der
kontingenten Person. Sie findet sich nicht nur im Erkennen und in dem
inneren Teilhaben am Seienden, durch das wir gleichsam "erfüllt"
werden, wodurch unser eigenes Sein erwache, sondern auch im
Affiziertwerden, im Getroffenwerden durch Werte, in denen nicht nur
unser Intellekt Werte sieht und erkennt, sondern unser Herz von ihrer
Stimme bewegt wird. Diese intimere Teilhabe am werttragenden
115
Vgl. dazu bes. B. Schwarz, Der Irrtum i. d. Philosophie, I, I, 6.
78
Seienden ist auch zutiefst rezeptiv.116 Die "empfangende Transzendenz"
ist also "die metaphysische Rolle des Menschen''.117
Doch ich kann anderseits auch sprechen. Ich kann nicht nur lauschen
und hören, sondern ich kann auch demjenigen, der zu mir spricht,
antworten. Dabei überschreite ich mich in der umgekehrten Richtung
Hier schweige ich nicht mehr, der Gehalt liegt nicht mehr auf der
Objektseite, im Wort der andern Person, die Sinnlinie verläuft nicht
mehr von ihr zu mir, sondern umgekehrt von mir zu ihr. Ich spreche
und antworte. Ich bin in einem ganz neuen Sinn der Urheber dieser
Akte, indem ihre Sinnlinie von mir ausgeht, von mir "gesetzt" ist.
Obwohl die erste Richtung der Transzendenz für alle kontingenten
Personen primär ist, heißt dies keineswegs, daß die zweite Richtung
der Transzendenz, das Sprechen und besonders das Antworten (mehr
noch als das Schaffen) weniger wichtig und wesentlich wäre. Im
Gegenteil: In diesen Antworten allein können wir zu Trägern der
höchsten Werte, der sittlichen werden.
Doch auch diese "spontanen" Akte des Menschen bleiben abhängig
von dem "Wort", auf das wir antworten, von den Werten, die sich uns
erschließen müssen, bevor wir antworten. Dies gilt sogar von der
"spontansten" aller Tätigkeiten des Menschen, dem Schaffen.
Sicherlich, hier bringen wir etwas hervor, wir erfinden etwas, dennoch
aber können wir nur schaffen und erfinden, was wir auch irgendwie
zuerst finden. Dies gilt nicht nur für philosophische Werke, die, wie wir
sehen werden, gänzlich von der Einsicht in ewige Wahrheiten getragen
sein müssen, die unabhängig von uns existieren, wo jede "Erfindung"
ausscheidet, sondern wir brauchen nur an die Rolle der Inspiration der
geschenkhaften "Einfälle" in der schöpferischen Kunst zu denken um
zu sehen, daß alle spontane Tätigkeit des Menschen, und zwar desto
116
Dies hat wiederum D. von Hildebrand am klarsten herausgearbeitet. Vgl.
etwa seine klassischen Ausführungen über das Thema in Christliche Ethik,
Kap. 17, S. 251 ff. Vgl. auch Über das Herz, Kap. 2. "Nichtgeistige und
geistige Formen der Affektivität" S. 73 ff.
117
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß in Gott "reine Spontaneität"
bestünde und daß es nicht auch in der göttlichen Erkenntnis (etwa der
gegenseitigen Erkenntnis der göttlichen Personen) "das Urbild" dessen
geben mag, was hier als Rezeptivität, als die eine Grundrichtung des
"Dialogs" herausgearbeitet wird.
79
mehr, je tiefer sie ist, von der rezeptiven getragen sein muß, sonst wird
sie tot und unfruchtbar.
Die zweite Richtung der Transzendenz, in der wir nicht hören, sondern
"sprechen", nenne ich "spontan''. 118
Mögen auch zwischen einem Akt des Urteilens, einem
Willensentschluß, einer Liebe oder einem spezifisch schöpferischen
Akt in anderer Hinsicht große Unterschiede bestehen, sie alle sind
"spontan" in dem eben bestimmten Sinne, in dem sie das "Wort des
Subjekts" sind, das dieses ausspricht bzw. zu einem Gegenstand oder
einer anderen Person spricht.
Dieser "Dialog"—mit den zwei Grundrichtungen der Transzendenz —
durchzieht das gesamte geistige Leben der Person. Und es ist
verhängnisvoll, wenn man diesen Unterschied als einen "bloß
psychologischen" auffaßt (und nicht vielmehr als einen
metaphysischen von letzter Bedeutung erkennt) und deshalb versucht,
die "rezeptiven Akte" auf spontane zurückzuführen.119 Man
118
Der Begriff der "spontanen" Akte wurde schon von Adolf Reinach her-
vorgehoben. (In: Zur Phänomenologie des Rechts.) Aber der Begriff
"spontan" wird dort in einem etwas engeren Sinn gefaßt. (Vgl. I. Kapitel:
"Die sozialen Akte".) Für ihn sind etwa Antworten wie die Empörung über
ein Unrecht keine spontanen Akte, weil er das willensmäßige Erzeugen mit
in den Begriff des Spontanen hineinnimmt. Dietrich von Hildebrand hat
hingegen als erster diese beiden Begriffe in What is philosophy? in dem
Sinn eingeführt, in dem sie hier verwendet werden und wo sie die zwei
Grundrichtungen aller transzendenten und intentionalen Akte der Person
bedeuten. In Christliche Ethik (Kap. 17, S. 253) zeige er klar, wie auch
affektive Antworten, wie Empörung oder Liebe (gegenüber dem
Affiziertwerden), diesen spontanen Charakter tragen.
119
Genau das versucht, wie im II. Teil gezeigt wird, Kant, indem er die
Rezeptivität nur in einem "psychologischen Bereich" des uns "Gegebenen"
anerkennt, jenseits dessen er spontan gebildete Anschauungs- und Denk-
formen annimmt, deren Anwendung in Urteilen Kant für Erkenntnisse hält.
Jede Philosophie, die letzten Endes nur spontane Akte anerkenne und in
ihnen das Ursprüngliche siehe, wie Kant, Fichte, Schelling, Nietzsche oder
Heidegger—oder auch viele, ja die meisten Formen der Tiefenpsychologie
sowie viele Formen der Soziologie und materialistisch-evolutiver
Erklärungen der Erkenntnis—führt in notwendiger Konsequenz in eine
monologische Metaphysik, das heiße in einen radikalen Immanentismus, ja
Solipsismus.
80
vergewaltigt damit die Wirklichkeit und richtet sich außerdem gegen
die gesamten metaphysischen und sittlichen Grundlagen unseres
Lebens, letzten Endes gegen Gott, da man einen spontanen Akt des
menschlichen Geistes diese "setzen" oder "schaffen" läßt und sie
deshalb nicht als an sich bestehende, transzendente Wirklichkeit mehr
anerkennen kann. Vielleicht wäre es besser, der Terminologie
Alexander Pfänders und der Frühschriften D. v. Hildebrands (vgl. Die
Idee der sittlichen Handlung, a. a. O., S. 9) darin zu folgen, daß man
die spontanen Akte "zentrifugal" und die rezeptiven "zentripetal"
nennt, weil diese Termini unmißverständlicher auf die gemeinten
Urgegebenheiten hinweisen.
In allen seinen Formen stellt das Erkennen den klassischen Fall einer
"rezeptiven Transzendenz" dar. Jetzt, nachdem die zwei
Grundrichtungen der Transzendenz analysiert wurden, kann man dies
noch klarer sehen. Es zeigen sich also nicht nur jene psychologistischen
Auffassungen als falsch, die jede Transzendenz des Erkennens leugnen
und diese auf bloße "Bewußtseinsinhalte" beschränkt sein lassen,
sondern ebenso, wenn nicht noch mehr die Behauptung, das Erkennen
sei zwar ein transzendenter, aber ein spontaner Akt, die sich bei
Nietzsche fand. Wir sehen, daß eine solche Auffassung in einen
radikalen Immanentismus führt, da für die menschliche Person jede
Transzendenz unmöglich ist, wenn sie nicht in einer rezeptiven
grundgelegt ist. Ja, diese zwei "Grundrichtungen" personaler
Transzendenz gründen so notwendig im Wesen des Erkennens oder
Stellungnehmens und Schaffens, daß sie sich analog in jedem
personalen Sein überhaupt finden müssen.
81
2. KAPITEL
DIE REZEPTIVITÄT DES ERKENNENS GEGENÜBER
DER SPONTANEITÄT VON BEGRIFFSBILDUNG UND
BEHAUPTUNG
Vergleicht man den Akt, in dem wir Dinge mit Begriffen bezeichnen
oder Sachverhalte in Urteilen behaupten, mit dem Akt des Erkennens
selbst, so geht einem die rezeptive Transzendenz in der Erkenntnis noch
deutlicher auf; denn oft hat man den rezeptiven Charakter des
Erkennens deshalb verkannt und in einen spontanen umgedeutet, weil
man diese eng verbundenen und doch so eindeutig voneinander
verschiedenen Akte miteinander verwechselte. So hielt zum Beispiel
Kant den Akt des Urteilens, der wirklich spontan ist, für den Grundakt
des Erkennens, eine Auffassung, die weit verbreitet ist und
schwerwiegende Konsequenzen hat, wie noch gezeigt werden wird. Es
muß hier etwas weiter ausgeholt werden:
Innerhalb der verschiedenen Arten der Erkenntnis gibt es einen ganz
fundamentalen Unterschied, auf den vor allem Adolf Reinach
hingewiesen hat: den zwischen Gegenstandserkenntnis einerseits und
Sachverhaltserkenntnis andererseits.120
120
Vgl. Adolf Reinach, Zur Theorie des negativen Urteil, in: Gesammelte
Schriften, S. 87 ff., wo dieser Unterschied mit den Begriffen "Kenntnis-
nahme" und "Erkenntnis" bezeichnet wird. Vgl. dazu auch D. von Hilde-
brand, What is philosophy?, Kap. I, I ff. Wir folgen der später von D. von
Hildebrand eingeführten Terminologie, wonach "Erkenntnis" alle
kognitiven Akte umfaßt und der von Husserl und Reinach eingeführte
Unterschied mit den beiden Begriffen "Gegenstands"- und
"Sachverhaltserkenntnis" bezeichnet wird. Auf die Gegenstands- bzw.
Sachverhaltsdiskussion bei Brentano, Meinong, Mally u. a. kann hier nur
hingewiesen werden. Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum..., II. Teil, Exkurse
S. 281—290, K. Wolf, Die Grazer Schule, a. a. O., S. 32—45. Auf die
Diskussion desselben Problems bei Husserl und Reinach wird im Laufe des
Kapitels verwiesen werden.
82
Unter "Gegenstandserkenntnis" ist alles Erkennen gemeint, auf dessen
Objekt wir nur mit Namen oder Begriffen, nicht aber mit Sätzen
unmittelbar abzielen. "Haus", "Rot", "Person", "Erkennen", "Wille"
können wir direkt nur mit Begriffen bzw. Ausdrücken, niemals mit
Sätzen bzw. Urteilen bezeichnen. Begriffe sind durch dieselbe
"Bedeutung" geeinte Ausdrücke, d. s. Worte, insofern wir durch sie
mittels ihrer Bedeutung auf etwas, auf eine bestimmte sinnvolle
Soseinseinheit hinweisen, die sich sowohl von dem absolut
ungestalteten Chaos als auch von anderen Gebilden abhebt.121
Sinnvollerweise werden alle Wesenheiten und alle spezifischen
Soseinseinheiten, die nicht eine bloße Zusammenfügung von
Elementen sind, sondern eine höhere Sinneinheit bilden, mit Begriffen
bezeichnet. Alles Seiende stellt nur in sehr verschiedenem Maß und
sehr verschiedener Gehaltfülle und innerer Notwendigkeit eine solche
Soseinseinheit, ein "Etwas" dar. Je nach der objektiven Dichte und
Stufe seiner inneren Einheit ist der dieser "Einheit" entsprechende
Begriff sinnarm und künstlich oder klassisch und sinnvoll. 122
"Gegenstände" im weitesten Sinn des Wortes, also konkrete oder
allgemeine Soseinseinheiten, können wir als solche nur mit Begriffen
bezeichnen, in denen wir meinend auf einen Gehalt abzielen. Auf den
Gehalt "rot" oder "gelb" können wir z. B. nur mit einem Begriff
hinzeigen, wohingegen wir den Sachverhalt, daß "orange" der
Ähnlichkeitsordnung nach zwischen "rot" und "gelb" liegt, niemals
durch einen Begriff, sondern nur durch ein Urteil behaupten können.
Weder der Begriff noch die Bildung und Anwendung von Begriffen
dürfen nun mit der Gegenstandserkenntnis als solcher verwechselt
121
Es können hier nur in vereinfachender Form die Grundeinsichten
angedeutet werden, die E. Husserl in meisterhaften Analysen in den
Logischen Untersuchungen, II, 1, S. 42 ff., 49 ff., 54 ff, entwickelt hat.
122
Mit Namen hingegen bezeichnen wir immer konkrete individuelle
Wesen, die eine besonders ausgeprägte und bedeutungsvolle Individualität
besitzen. So kann man nicht einzelne Insekten, wohl aber Hunde oder
Katzen mit Namen bezeichnen. Je höher wir im Reich des Seienden
aufsteigen, desto mehr Tiefe des Sinns hat ein Name. Bei einer Person
gewinnt das Individuum ein unvergleichliches Übergewicht über die
Gattung, und hier hebt sich gerade dieser einzelne von allem anderen
Seienden und allen andern Personen ab. Am tiefsten ist aber die Fülle des
Konkreten in Gott, der deshalb im höchsten Sinn einen "Namen" hat.
83
werden, sondern folgende fundamental verschiedene "Sachen" müssen
festgehalten werden:123
1. Erstens der "Gegenstand" selbst, zum Beispiel der Gehalt "rot" oder
eine Rose. Dieser ist von allen Begriffen oder auch den Akten, in denen
ich ihn erkenne, eindeutig verschieden.
2. Der Akt der Erkenntnis, in der sich mir ein Gegenstand erschließt,
den ich erfasse, indem ich mich selbst überschreite und in intentionaler
Weise an ihm teilhabe. Dieser Akt besteht also darin, daß sich der
Gegenstand meinem Geist erschließt.
3. Der Begriff. Das Wort ordnen wir dadurch einem Begriff zu, daß wir
ihm eine Bedeutung verleihen, daß wir diese mit dem Wort verknüpfen
und durch die Bedeutung dann auf den Gegenstand meinend abzielen.
Der Begriff hat den Charakter eines "Mediums", eines "ens rationis",
dessen Bedeutung ähnlich einem Spiegelbild letzten Endes
ausschließlich von der Sache selbst her verstanden werden kann, die
ich meine und die ebenso jenseits des Begriffes liegt wie jenseits des
Erkenntnisaktes. In diesem Sinn kann man von der "Transzendenz" der
Begriffe sprechen und damit meinen, daß jeder Begriff auf eine Sache
jenseits seiner selbst hinweist. Der Begriff hat eine eigentümliche
Mittelstellung zwischen dem Gegenstand und meinem Akt: durch
einen Begriff meine ich eine Sache.
4. Der Akt der Begriffsbildung und in unserem Zusammenhang
besonders der Begriffsanwendung; er ist immer spontan. Durch einen
Begriff meinen wir eine Sache, zielen auf sie ab. 124
Je tiefer innerlich geeint dabei das Seiende ist, auf das ich mit meinem
Begriff abziele, desto klassischer ist der Begriff.
123
Wir können hier nur sehr grob diese Unterschiede angeben, die E.
Husserl in dem berühmten Abschnitt "Ausdruck und Bedeutung" seiner
Logischen Untersuchungen, II, 1, 1, ausgeführt hat. In gründlichster Weise
wurden die Analysen von A. Pfänder in seiner Logik fortgeführt. Vgl. auch
die Analysen D. von Hildebrands in What is philosophy?, Kap. 1., und B.
Schwarz im Irrtum... I, II 5, 1, 3. Vgl. auch Adolf Reinach, Theorie des
negativen Urteils, in: Gesammelte Schriften, S. 56 ff.
124
Vgl. dazu die Untersuchungen über dieses Thema in Husserls Logischen
Untersuchungen II, 1, 1, S. 50 ff., S. 54 ff. Zur Spontaneität des Aktes der
Begriffs-Bildung und -Anwendung vgl. A. Reinach, Gesammelte Schriften,
S. 65 ff.
84
Sprachliche Ausdrücke beziehen sich aber nicht einfach auf eine
bestimmte Sache, sondern sie sind meist in der Sprache sehr vieldeutig
gebraucht und können sich auf vielerlei beziehen. 125 Deshalb erhalten
sie ihre klare Bedeutung erst durch die Art, wie ich sie in Aussagen
verwende. Und dabei sollte meine Begriffsanwendung ganz von der
Erkenntnis der Wirklichkeit getragen sein. Je klarer sich mir der
Gegenstand, auf den ich durch meinen Begriff abziele, in der
Erkenntnis erschlossen hat, desto klarer werden auch meine Begriffe
sein. Wenn ich hingegen ganz verschiedene Dinge mit demselben
Ausdruck meine, ohne sie zu unterscheiden, werden meine Begriffe
äquivok und verwirrend. Solche nicht aus einem unmittelbaren
Sachkontakt gewonnene oder angewendete Begriffe führen dann durch
ihre Mehrdeutigkeit und Unklarheit leicht zu Irrtümern.126 Der Akt des
Meinens einer Sache durch einen Begriff, bzw. zunächst der Akt der
Begriffsbildung, ist also weder ein immanenter Zustand, ein aus der
Umwelt, der geschichtlich geformten Sprache usw. zu erklärender
Vorgang, noch ein im eigentlichen Sinn schöpferischer Akt, durch den
ich die Bedeutung eines Wortes schaffen würde; er ist vielmehr ein
spontaner, intentionaler Akt, der auf einen objektiven, meinem Akte
transzendenten Gegenstand abzielt, von dem ich ein Bewußtsein habe
und den ich durch meinen Begriff meine, welche Beziehung eine
Urgegebenheit ist.127 Wie schon ausgeführt, ist aber alle spontane
Transzendenz des Menschen, sofern sie sinnvoll ist, von einer
rezeptiven Transzendenz, dem Hören und Empfangen innerhalb des
Urdialogs, in dem wir stehen, getragen. Nur in einem (rezeptiven) Akt
des Erkennens kann sich mir erschließen, was dem Begriff sozusagen
sein Leben und seinen Sinn gibt: der Gegenstand.
Je mehr also der spontane Akt der Begriffsbildung und -anwendung
von einem rezeptiven Akt der Erkenntnis getragen wird, in dem sich
mir eine sinnvolle, objektive Seins- bzw. Soseinseinheit erschließt,
125
Vgl. dazu Logische Untersuchungen, II, 1, 3. Kapitel: "Das Schwanken
der Wortbedeutungen und die Idealität der Bedeutungseinheit."
126
Vgl. dazu besonders die Analysen von B. Schwarz, Der Irrtum in der
Philosophie, I, II, 5, 4, und vor allem die Analyse solcher äquivoker
Ausdrücke die zur "Irrtumsform der stillschweigenden Identifizierung"
führen können, a. a. O., I, I, 3, 1—8.
127
Vgl. dazu E. Husserl, Logische Untersuchungen, II, 1, 1, Kap. 1, § 9,
und Kap. 2.
85
desto sachgerichteter und besser sind auch meine Begriffe, desto klarer
werde ich die verbalen Ausdrücke, in die ich sie fasse, in Sätzen
gebrauchen und ihnen dadurch ihre Bedeutung immer eindeutiger
verleihen. Dieses Getragensein der spontanen Akte der Begriffsbildung
von der Erkenntnis der gemeinten Sachen ist so entscheidend, daß man
sagen muß: Nur in dem Maß werden Worte Begriffen eigentlich
zugeordnet, als ich die mit ihnen gemeinte Sache selbst verstehe und
mit ihnen verbinde.128
Die Begriffe sind also dazu bestimmt, ganz auf die Wirklichkeit
bezogen zu sein und durch ihren klaren Gebrauch in wahren Sätzen auf
ein Seiendes abzuzielen, das sich uns einmal in einer Erkenntnis
erschlossen hat oder jedenfalls erschließen kann. Sosehr aber auch die
Begriffe bestimmt sind, von dieser ihrer Beziehung zur Sache "zu
leben", sosehr können sie auch ohne diese Beziehung auftreten. Sie
können in falschen Aussagen verwendet werden, sie können
verwirrend gebraucht werden und so dazu führen, die Beziehung zur
Wirklichkeit nicht herbeizuführen, sondern vielmehr zu verhindern.
Dies gilt besonders für die Philosophie, weil es sich in ihr nicht um bloß
faktische Aussagen handelt, trotz deren Falschheit wenigstens der Sinn
der Begriffe und ihre intentionale Bezogenheit auf einen Gegenstand
erhalten bleibt.
Da nämlich die philosophischen Begriffe auf in sich notwendige
Wesenheiten abzielen, die nicht anders sein können, wird auch der Sinn
eines Begriffes—und nicht nur seine Anwendbarkeit auf reale Gebilde
— sofort dunkel und verworren, wenn falsche Aussagen gemacht
128
Mit diesem "Verbinden" meine ich hier nur die Beziehung des inten-
tionalen, meinenden Abzielens selbst zu einer Sinneinheit, noch nicht das
was E. Husserl in den Logischen Untersuchungen als
Bedeutungs-Erfüllung den Bedeutungs-Intentionen gegenübergestellt hat
nämlich all jene Akte der Wahrnehmung usw., in denen der gemeinte
Gegenstand zu voll anschaulicher Gegebenheit kommt, und die nicht
notwendig das meinende Abzielen auf einen Gegenstand begleiten und ihm
"Erfüllung" verleihen.
86
werden, in denen Wesenswidersprechendes behauptet wird.129 Wenn
deshalb die so einfache und doch zugleich so schwierige
philosophische Wesensschau nicht auf solche letztlich intelligible
Urgegebenheiten geheftet bleibt und wenn man nicht mit Begriffen,
welche in wahren Aussagen gebraucht werden, eindeutig auf sie
abzielt, dann entsteht schon über den Sinn der Begriffe selbst eine
unheimliche Verwirrung, dann verbreitet sich ein geistfeindlicher,
gegen die wahre intelligibilität gerichteter Nebel, der uns vom Sein
abschneidet, dann gibt es "unwahre" Begriffe,129a in denen einerseits
irrige Thesen impliziert sind und anderseits die mit diesen Begriffen
gemeinten Sachen wesenhaft nicht so sein können, wie sie gemeint
werden. So sind Begriffe wie der des "transzendentalen Ich" oder der
Teilhardsche Begriff der "Totalisation" (der Einschmelzung des
Individuums in einer (Übermenschheit überindividueller Art) 130
Begriffe, die Dinge, oder besser "Un-Dinge" meinen, die wesenhaft
nicht sein können, die notwendigen Wesensgesetzlichkeiten
widersprechen und deshalb nicht nur falsch sind, sondern
anti-intelligibel, wesenhaft dunkel und in sich unmöglich sind.
Während im gewöhnlichen Leben nur die faktische Erfahrung zeigen
kann, ob ein Begriff ohne Beziehung zur Wirklichkeit gebraucht wird,
ist in der Philosophie mit manchen Begriffen nicht eine bloße Fiktion
und faktisch nicht existierende "Sache", sondern eine confusio, ein
wesens-unmögliches und -unverständliches "Etwas" gemeint. Während
also etwa in der Zoologie auch ein der Wirklichkeit nicht
entsprechender Begriff (z. B. einer Tierart) möglicherweise eine solche
Entsprechung finden könnte, können in der Philosophie sinnlose
129
Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie, I, I, 2, 4; die
Analyse der verwirrenden und irrigen psychologistischen Formulierung
des Widerspruchsprinzips, a. a. O., I, I, 3, I—8, und vor allem in E. Husserl,
Logische Untersuchungen, a. a. O., I, 5, S. 78 ff.
129a
Im strengen Sinn kann es freilich keine unwahren Begriffe geben. Nicht
nur haben auch solche Begriffe jene elementare "Bedeutung", die einen
Begriff zum Begriff macht (vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, II,
1, S. 54 ff.), sondern sie können auch in wahren Sätzen verwendet werden.
130
Vgl. dazu D. von Hildebrand, Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes
S. 344 ff. Zum "falschen Begriff" "Transzendentales Ich" vgl. S. 246 ff.
unten.
87
Begriffe gebrauche, d. h. in einem Begriff Merkmale verbunden
werden, die wesenhaft von der Sache her unverträglich sind.
Das werden wir später klarer sehen. Hier sei nur noch hinzugefügt, daß
aus diesem Grund die wesenhafte Beziehung der Begriffe und
Aussagen auf einen ihnen selbst transzendenten Gegenstand besonders
in der Philosophie immer im Auge behalten werden muß. Jedes rein
immanente "Verständnis" in der Philosophie ist nämlich nicht einmal
ein Verständnis eines philosophischen Begriffes. Wenn ich einen
künstlichen Begriff schaffe oder einen klassischen durch Merkmale
bestimme, die dem Wesen der Sache entgegengesetzt sind, dann kann
ich das Gemeinte, bzw. die "gemeinte Sache" in keiner Weise
verstehen. Ich kann höchstens lernen, wie diese Begriffe zu gebrauchen
sind, welche Merkmale ihnen von einem Philosophen zugesprochen
werden usw.: Aber in Wirklichkeit beziehen sie sich auf eine
Scheinwelt, ja auf eine dem wahren kìsmow nohtikìw feindlich
entgegengesetzte, dunkle Nichtigkeit. (Und erst wenn ich dies
verstanden habe verstehe ich auch die auf ein anti-intelligibles
"Unding" abzielende "Bedeutung" eines solchen Begriffs.) In der
modernen Philosophie und besonders der hermeneutisch orientierten
leugnet man vielfach diese Urbeziehung philosophischer Begriffe und
Aussagen auf transzendente "Sachen", auf eine unserem Geiste
transzendente Welt, in diesem Fall intelligibler, notwendiger
Wesenszusammenhänge, und will sich beschränken, das von anderem
Geiste historisch "Gemeinte" zu erfassen. Man will ein bloß
immanentes Textverständnis erreichen.131 Dies machte ich als Satz- und
131
Dies tritt in der heutigen Diskussion über Hermeneutik klar zutage,
worauf hier nicht in extenso eingegangen werden kann. E. Betti bezeichnet
etwa die "Immanenz des hermeneutischen Maßstabs" geradezu als einen
der Kanons der Hermeneutik. Vgl. Allgemeine Auslegungslehre als Metho-
dik der Geisteswissenschaften, S 16, S. 216, am deutlichsten wird der "her-
meneutische Immanentismus" auf S. 218, vor allem Fußnote 5. Diese Auf-
fassung hänge natürlich mit der Philosophie Hegels und Diltheys eng zu-
sammen, wonach es — insbesondere in der Philosophie — keine jenseits
des Geistes und seiner Bedeutungsintentionen liegende, unabhängige
Wirklichkeit gibt. Diese Zusammenhänge können hier nicht weiter verfolgt
werden. Es sei nur noch auf E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine
Methodik der Geisteswissenschaften, S. 14, verwiesen. Dasselbe
Phänomen eines "Sprach- bzw. Begriffsimmanentismus" liegt
offensichtlich A. Schaffs Aufsatz Sprache, Denken, Handeln, zugrunde. A.
88
Begriffsimmanentismus bezeichnen, von dem man auf dem Gebiete der
Philosophie, Psychologie, Soziologie und Theologie heute weitgehend
sprechen muß. Denker, die ihre Begriffe im Gegensatz zu den
Wesenheiten bilden, machen uns gleichsam blind, sie bringen die
gegenteilige Wirkung von der wahren Philosophie im Leser hervor. Sie
wecken nicht unseren schlafenden Geist, damit er mit voller
Bewußtheit die Wirklichkeit erkenne und staunend in sie eindringe,
damit er den transzendenten Gegenstand bewußter als sonst ergreife—
sondern sie verdunkeln das Licht, das wir ja irgendwie schon kennen,
und stürzen uns in eine Leere, in der wir uns von aller Realität
abgeschnitten fühlen.
a. O., S. 309, wird deutlich, daß es für A. Schaff keine der begrifflichen
Formulierung und Sprache vorhergehende, objektiv seiende Wirklichkeit
gibt, zu der der Mensch Zugang hätte. Dasselbe gilt für den Beitrag Yvon
Gauthiers, Hermeneutique philosophique et heuristique metaphysique. Der
Autor behandelt dort die hermeneutischen Werke B. Lonergans, P.
Ricoeurs und vor allem H. G. Gadamers und Methode — Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik. In der Interpretation und eigenen Stel-
lungnahme zum II. Teil dieses Werkes kommt Gauthier zu dem Ergebnis:
"I1 n'y a d'être que dans et par le langage. Entre l'être et le langage, il n'y a
pas d'isomorphisme egalisateur, le langage ne dit que parce qu'il y a à dire
(es gibt zu sagen) et qu'il y a vient au langage (es gibt zur Sprache), mais
ce qu'il y a à dire et ce qui vient au langage n'est pas avant d'être langage."
Gegenüber diesem totalen, von Heidegger ausgehenden Immanentismus
hat etwa B. Schwarz in The role of linguistic analysis in error analysis das
Verhältnis zwischen Sachbeziehung und Hermeneutik in der Philosophie
und die jeder Begrifflichkeit vorhergehende Existenz der "Sachen"
überzeugend herausgearbeitet. J. H. C. Newman zielt mit seinen Begriffen
"notional apprehension" (rein begrifflich immanentes Verständnis) und
"real apprehension" (wirkliches Verständnis—"of things", der "Sachen
selbst") wohl auf denselben Unterschied ab. In seinem Werk Grammar of
assent hat diese Unterscheidung die grundlegendste Bedeutung, da ja auf
ihr Newmans Unterschied zwischen "notional" und "real assent'` ruht.
Sicherlich meint Newman mit diesen beiden Begriffen noch andere
Unterschiede, die hier nicht herausgearbeitet werden können, aber
derjenige zwischen rein immanentem Verständnis eines Begriffes und dem
Verständnis der Sachen selbst liegt wohl zugrunde. Vgl. Grammar of
assent, Kap. I, 2, S. 29 ff. und Kap. III, S. 36 ff.
89
Man weiß nie, wovon die Rede ist. Es sind Worte und Begriffe, aber
keine möglichen und wirklichen Sachen. Diesen Irrtümern und
Schlagworten nun ist eine Generation von Studenten ausgesetzt, denen
man systematisch erklärt, daß es in der Philosophie eigentlich keine
transzendenten Sachen und Gegenstände gäbe, sondern nur die
Gedanken und "Intentionen" der einzelnen Denker und "der Zeit".
Es wurde deshalb schon an dieser Stelle so weit vorausgegriffen, weil
es sich hier erstens um wichtige Dinge für das Verständnis der
Beziehung zwischen Begriff, Sache und Erkenntnis handelt und weil
hier zweitens die Bedeutung der vorhin getroffenen Unterscheidungen
aufleuchtet: zwischen Erkennen, Gegenstand, Begriff und meinendem
Abzielen auf den Gegenstand sowie zwischen den beiden
Grundrichtungen der Transzendenz.
Am Gesagten darf uns auch in keiner Weise irremachen, daß es einen
gänzlich und buchstäblich von jedem Sachkontakt getrennten
Gebrauch von Begriffen und Urteilssätzen nicht gibt, ohne daß ein
solcher zu einem rein mechanischen Hersagen von Wortklängen
degeneriert. Die Bedeutung eines Ausdruckes "lebt" ja so sehr von der
Sache, daß "Begriffe", von jedem Sachkontakt abgeschnitten, nichts
bedeuten würden, dadurch auf die Stufe eines Geräusches herabsänken,
ja, ihren "Begriffs-Charakter" verlören und daher auch in keiner Weise
verstanden werden könnten. Daher setzt auch das Verständnis der
Meinungen der Denker der Geschichte einen bestimmten Sachkontakt
voraus, analog wie es ohne gewisse Erkenntnisse keinen Irrtum und
keine Täuschung geben kann, wie wir gesehen haben.
Aber der Sachkontakt kann sehr wohl in dem Sinne fehlen, daß nicht
die einem Begriff in der Wirklichkeit entsprechenden Sachen, sondern
andere gesehen werden.
Zunächst gibt es den schon erwähnten weiten Bereich von
Modellvorstellungen, wo nur das irreführende "Modell" die gesehene
"Sache" ist; an Hand dieser Modellbilder kann man sehr geschickt die
falschen Systeme von Philosophen "verstehen". Man sieht dann aber
nicht den wirklich thematischen Sachbereich, über den jedoch die
Urteile gefällt werden. So ist es etwa nicht das wirkliche Wesen von
Erkenntnis und Wahrnehmung, das man beim "Verständnis" der
psychologistischen Irrtümer über Erkenntnis sieht, sondern die
"Sache", an Hand deren man das Gemeinte "versteht", ist das
irreführende Körperbild zweier mechanisch aufeinander einwirkender
Körper, des Gehirns, eines Kastens, Spiegels und anderer Körperbilder.
90
An Hand solcher und anderer Modellvorstellungen ist es möglich, ohne
wahren Sachkontakt in unserem Sinn die widersprechendsten
philosophischen Systeme in Vorlesungen über Philosophiegeschichte
glänzend und "verständnisvoll" zu interpretieren, d. h. nicht bloße
Worte wiederzugeben, sondern mit Einfühlung die zugrunde liegenden
Modellvorstellungen zu verstehen.
Ferner gibt es auch die Möglichkeit, Sachverhalte behauptend
hinzustellen und dabei wirklich zu meinen, ohne ihr wirkliches
Bestehen einzusehen oder auch nur einsehen zu können. Im täglichen
Leben sind vorschnelle Behauptungen oder Vorurteile Beispiele dafür.
Dabei kennt man wohl mehr oder minder deutlich die mit dem
Subjektsund Prädikatsbegriff gemeinten Sachen und hat auch eine
gewisse Erkenntnis von der Natur des angesetzten Sachverhalts, aber
der Sachkontakt, der fehlt, ist die erkennende Berührung des wirklich
bestehenden Sachverhaltes. So mag sich jemand in das Denken eines
atheistischen oder theistischen, eines objektive, allgemeingültige
sittliche Werte behauptenden oder leugnenden Denkers derart
quasischauspielerisch "einfühlen", daß er wohl den geringen
"Sachkontakt" besitzt, der ihm erlaubt, die Bedeutung der Urteile, die
Natur der in ihm angesetzten Sachverhalte zu erfassen, ohne daß er aber
ihr wirkliches Bestehen oder ihre objektive Widersprüchlichkeit
erkennen würde. Es fehlt ihm also dieser eigentliche,
genuin-philosophische Kontakt mit der Wirklichkeit, den wir hier
meinen: ein unmittelbares, erkennendes Berühren der wirklich
bestehenden Sachverhalte, deren Bestehen man behauptet.
Schließlich gibt es auch ein durch Äquivokationen belastetes,
ungeklärtes Behaupten, bei dem in einem Satz ununterschieden
mehrere durchaus verschiedene Sachverhalte angesetzt bzw.
vorausgesetzt werden. Dies kann sich verbinden mit vagen
Vorstellungsgegenständen, in denen die verschiedensten Gegenstände
ineinanderlaufen. Auf diesem Wege gerät ein Denker auch leicht in
einen Grad von Abstraktion und Losgelöstheit von jedem Sachkontakt,
daß eher seine Sätze bloß sprachlichen (eigenwilligen) "Regeln"
entsprechen, als daß die von ihm gefällten Urteile irgendwelchen
gesehenen Sachverhalten folgen.
Wenn wir uns auf den Sachkontakt innerhalb der Philosophie
konzentrieren, so kann man von diesem nur dort im eigentlichen Sinn
sprechen, wo die einem Begriff in Wirklichkeit entsprechende
91
Wesenheit und der einem wahren Urteil wirklich entsprechende
Sachverhalt selbst gesehen werden.
Sosehr sich auch der Akt der Begriffsanwendung von dem Erkennen
der Sache unterscheidet, so drückt sich doch gerade in der von der
aktiv-rezeptiven Erkenntnistätigkeit getragenen Spontaneität der
begrifflichen Fassung das geistige Haben der Sache aus, das im
Erkennen liegt. Hierin gerade tut sich auch der entscheidende
Unterschied zwischen Mensch und Tier in aller Deutlichkeit kund:
Jenes bewußte, intentionale Teilhaben an einem Gegenstand, das schon
in jeder Wahrnehmung liegt, zeigt sich deutlich darin, daß wir die
Sachen nennen können. Wenn ein "Tier" dies könnte, den Dingen
"Namen" zu geben, dann wäre es eben kein Tier, sondern ein Mensch.132
Zwischen dem analogen "Bewußtsein", das wir bei Tieren finden und
diesem bewußten Ergreifen der Wirklichkeit liegt ein Abgrund, der sich
in der tief staunenswerten Fähigkeit der Sprache ausprägt. Mit den
Begriffen weisen wir ja ausdrücklich auf das hin, was sich uns in der
Erkennens erschlossen hat, was wir kennengelernt haben: auf die all
unseren Akten transzendenten Gegenstände. Dies drückt sich auch
darin aus, daß die Frage: Was heißt dieser Begriff eigentlich?
gleichbedeutend ist mit der andern: Was ist das? Die rezeptive
Transzendenz unseres Erkennens erweist sich also gerade, indem wir
ihre Beziehung zur spontanen Transzendenz unserer Begriffsbildung
und -anwendung untersuchen.
132
Es wird erzählt, Max Scheler habe häufig gesagt: "Wenn ich einen Hund
sprechen hörte, würde ich eher denken, er sei ein verzauberter Prinz als daß
ich (das Unmögliche) annähme, daß tatsächlich ein Hund spreche."
92
kommen. Während wir nämlich trotz all des Gesagten von Begriffen
als solchen nicht eigentlich Wahrheit und Falschheit aussagen können,
ist das Urteil132a der primäre "Ort" von Wahrheit und Falschheit. In
jedem Urteilsakt sagen wir aus, daß etwas existiert oder wie etwas ist,
und weisen also auf ein Sein jenseits unseres Urteilsaktes und auch
jenseits des Urteilssatzes hin. Wir weisen nicht wie mit Begriffen
einfach auf Gegenstände hin, ohne deren Sein irgendwie zu setzen,
sondern sagen mit dem Urteil "Sachverhalte" aus. Wenn wir also sogar
annähmen, man könne die Bedeutung eines Begriffs oder das mit einem
Urteil "Gemeinte" verstehen, ohne auf die Sachen zu blicken, so ist es
ganz eindeutig, daß wir die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils
niemals feststellen können, ohne auf die dem Urteil selbst
transzendenten Sachverhalte zu blicken. Die Intention eines wahren
Urteils ist dieselbe wie die eines irrigen, solange man das Urteil
immanent betrachtet. Wahrheit oder Falschheit des Urteils hängt
dagegen ausschließlich vom Bestehen oder Nichtbestehen des
behaupteten Sachverhalts ab. Während wir mit dem Begriff als solchem
nur auf einen Gegenstand "hindeuten", sagen wir durch ein Urteil sein
Sein oder sein Sosein aus— das unserem Urteil selbst transzendente
Sein oder Nichtsein der Sache. Dies ist sogar schon so, wenn wir
aussagen, ob oder was wir geträumt haben. Selbst da behaupten wir
Sachverhalte, die bestehen oder nicht bestehen können, die jenseits
unseres Urteilsaktes und des Urteilssatzes liegen.
Die Wahrheit reicht so weit wie das Sein. Sie ist das Echo des Seins.133
Es kann nichts geben, über dessen Existenz oder Wesen nicht wahre
oder falsche Aussagen gemacht werden können. In jedem Urteilsakt
erheben wir den Anspruch, daß "es" so ist, wie wir sagen, mit anderen
Worten, daß der in dem Urteil als bestehend behauptete Sachverhalt
wirklich besteht. Ohne diesen Bezug auf ein ihnen selbst
transzendentes Sein, bzw. ohne das Abzielen auf das wirkliche
132a
Unter "Urteil" wird hier immer die mit einem Behauptungssatz ver-
knüpfte "Bedeutung" verstanden, die sowohl vom Urteilsakt als auch vom
"Satz" (der aus Worten besteht) unterschieden werden muß. Das Urteil,
dessen Natur vor allem Husserl und Pfänder untersuchten, "besteht" nicht
aus Worten, sondern aus Begriffen.
133
Vgl. v. Hildebrand, Die Untergrabung der Wahrheit, in: Das trojanische
Pferd in der Stadt Gottes, und The dethronement of Truth, in: The new
Tower of Babel.
93
Bestehen des jenseits des Urteils liegenden Sachverhalts würden alle
Urteilssätze buchstäblich zu einem sinnlosen "flatus vocis". Und zwar
gilt dies keineswegs nur für die alltäglichen, banalen Dinge des Lebens,
nicht nur in Urteilen über die Tageszeit, über die Einwohnerzahl einer
Stadt usw., sondern in jedem Urteil überhaupt, sei es in Philosophie,
Psychologie oder sonstwo, erheben wir notwendig den Anspruch, daß
die behaupteten Sachverhalte jenseits unserer Urteile tatsächlich
bestehen. In jeder Behauptung erheben wir notwendig den Anspruch
auf Wahrheit—außer in der Lüge, die aber wegen der fehlenden
Überzeugung und der absichtlichen Unwahrheit nicht als "Behauptung"
bezeichnet werden darf. Doch selbst in der Lüge bleibt im Urteil(ssatz)
als solchem ein objektiver "Anspruch" auf Wahrheit bestehen.
Mit dem Hinweis auf ein meinem Urteilsakt transzendentes Sein auf
einen "Sachverhalt", setze ich aber die rezeptive Transzendenz des
Erkennens als von der spontanen des Urteilsaktes verschieden voraus.
Denn die Tatsache, daß ich ein Urteil ausspreche, liegt ja beim Irrtum
oder der Lüge ebenso vor und garantiert in keiner Weise, daß der
diesem Urteilssatz transzendente Sachverhalt in der Tat besteht. Ich
kann deshalb ein Urteil mit dem in ihm liegenden Wahrheitsanspruch
berechtigterweise nur dann fällen, wenn sich mir in einem vom
Urteilsakt selbst verschiedenen Erkenntnisakt erschlossen hat, daß "es
so ist". Es ist gleichermaßen evident, daß ein "blindes" Behaupten
möglich, wie daß es unberechtigt ist. Nicht im Urteilen als solchem
schaffe ich Wahrheit oder erschließt sich mir Wahrheit—sonst gäbe es
keine falschen Urteile, sondern wenn ich nicht gänzlich blind behaupte,
so setze ich wesenhaft im Behaupten eines Sachverhaltes voraus, daß
dieser sich mir erschlossen hat: entweder habe ich ihn erkannt oder ich
nehme ihn auf Grund anderer erkannter Sachverhalte an, die mir sein
Bestehen "versichern".
94
eines a zu einem b. (Die Überzeugung existiert daher nicht zwischen
Gegenstandserkenntnis und Begriffsbildung.) Die Überzeugung ist
nicht, wie das Behaupten bzw. Urteilen, an die worthafte Formulierung
gebunden, sie ist nicht wie diese das "Setzen" eines Sachverhaltes
durch die Bedeutungseinheiten eines Satzes hindurch. Die
Überzeugung ist vielmehr das Fürwahrhalten eines Urteils bzw. das
Glauben, daß ein Sachverhalt besteht.
Dabei müssen in der Überzeugung gewissermaßen zwei Schritte
unterschieden werden, deren einer notwendig Erkenntnis im engeren
Sinn voraussetzt, während die Überzeugung in einem zweiten Sinn
auch unabhängig von einer Erkenntnis entstehen kann; und wie beim
Urteilsakt kann der ihr entsprechende Inhalt wahr oder falsch sein.
Einmal gibt es als eine notwendige Folge jeder Sachverhaltserkenntnis
die Überzeugung als ein sich "vom sich selbst ausweisenden
Sachverhalt Überzeugenlassen". Sofern ich einen Sachverhalt erkenne,
überzeugt er mich gewissermaßen selbst von sich. Überzeugung in
diesem Sinn ist Überzeugtwerden, wobei die Erkenntnis eines
Sachverhaltes gleichsam als ein Element dieses Erkennens selbst
zugleich ein "Für-wahr-Halten" dieses Sachverhaltes in mir erzeugt.
Damit leuchtet aber schon ein zweites Element der Überzeugung auf,
ein spontaner Zug in ihr, in dem nicht mehr das Seiende mich
überzeugt, sondern ich als theoretische Antwort auf das
Sich-Ausweisen des Sachverhalts mein "Ja" spreche, mein: "ja, so ist
es", das jedoch nicht notwendig zu einer entsprechenden Behauptung
des Sachverhalts führen muß und ungleich dieser in der Zeit linear
fortzudauern vermag. Diese spontane Antwort des Subjekts auf den
erkannten Sachverhalt kann zwar ganz von der Erkenntnis getragen
sein, besitzt aber, anders als die erste, mehr rezeptive Stufe der
Überzeugung, einen spontanen Charakter und ist der Erkenntnis
gegenüber etwas ganz Neues, eben ein Fürwahrhalten, ein "Glauben",
das weit über das Erkennen im engeren wie auch im weiteren Sinn
hinausgehen kann, ungleich dem rezeptiven "Überzeugtwerden" vom
Gegenstand in der Erkenntnis. Diese Überzeugung kann sich ferner in
illegitimer Weise von jeder Erkenntnisbasis lösen und so zum bloßen
"Meinen" und einem "Fürwahrhalten" werden, das dann zu
Scheinmeinungen führt.134
134
Die Unterscheidungen zwischen Urteilsakten und Urteilssätzen,
zwischen Sachverhalten und Gegenständen, gehen hauptsächlich auf
95
Urteilssatz und Urteilsakt — Überzeugung und Überzeugungsinhalt
In jedem Urteilsakt erhebe ich den Anspruch, das von mir gefällte
Urteil sei wahr. Wahr oder falsch ist niemals der Akt des Behauptens,
ein seelischer Akt, der sich in einem Zeitpunkt vollzieht, sondern wahr
oder falsch kann nur das Urteil, d. i. die dem Urteilssatz entsprechende
Bedeutungsganzheit sein, die aus Subjektsbegriff, Copula und
Prädikatsbegriff besteht und eine ganz andere Seinsart besitzt als der
Urteilsakt. Das Urteil wird zwar in einem Augenblick von mir
formuliert, jedoch seine Wahrheit oder Falschheit besteht nicht bloß zu
einem bestimmten Zeitpunkt. Es ist offenbar sinnlos, zu sagen, das
Urteil, Cäsar ist ermordet worden, sei nur in dem jetzigen Augenblick
wahr, da ich es formuliere; fünf Minuten später, wenn niemand daran
denkt, sei es nicht mehr wahr. Mit Recht hat deshalb schon Bolzano auf
die "ideale" Existenz von "Sätzen an sich" hingewiesen135 und mit Recht
hat Husserl das "Urteil" als ideale Bedeutungseinheit herausgearbeitet,
die kein zeitliches Gebilde und nicht mit dem zeitlich formulierten Satz
identisch ist.136
Diese spärlichen Andeutungen des klassischen Unterschiedes, den
Bolzano analysiert und den E. Husserl im Abschnitt "Ausdruck und
Bedeutung" im II. Band der Logischen Untersuchungen entwickelt hat,
müssen hier genügen, um zu verstehen, daß nur das Urteil als
Urteilsinhalt, daß nur der "Urteilssatz" als ideale Bedeutungseinheit
wahr oder falsch ist, niemals aber die Urteilsakte, die in keiner Weise
96
wie der Urteilssatz aus Subjektsbegriff, Copula und Prädikatsbegriff
gebildet sind, sondern die jenes Behaupten oder Setzen sind, in denen
ein individueller Mensch ein Urteil als wahr bzw. einen Sachverhalt als
bestehend setzt.
Für die Überzeugung als Antwort, in der wir sprechen: "ja, so ist es".
ließe sich ein ähnlicher Unterschied zwischen ihrem Inhalt als idealem
Bedeutungsgehalt einerseits und den Überzeugungsakten anderseits
nachweisen, die als solche weder wahr noch falsch sind. Im ersten Sinn
des Wortes können viele Subjekte dieselbe Überzeugung haben, sie
können denselben Sachverhalt für bestehend halten. Der Inhalt ihrer
Überzeugung (das "dies ist so") ist identisch derselbe; der Akt der
Überzeugung, des Fürwahrhaltens ist hingegen in jeder Person
individuell verschieden. Nur den Inhalt, niemals den Akt der
Überzeugung können mehrere Menschen "teilen".137
137
Vgl. dazu A. Reinach, Zur Theorie des negativen Urteils, in:
Gesammelte Schriften, S. 56 ff. Vgl. auch What is philosophy?, Kap. I, von
D. von Hildebrand.
138
Eine besonders überzeugende Analyse des Wesensunterschiedes
zwischen Sachverhalt und Gegenstand findet sich in A. Reinachs Zur
Theorie des negativen Urteils, in: Gesammelte Schriften, S. 78 ff. In einer
Fußnote a.a.O., S. 82 ff., weist Reinach auf die Geschichte des
Sachverhaltsbegriffs hin.
97
geistige Sein der Person zwar nicht aus Teilen gebildet, aber eine
Einheit vieler verschiedener Akte, Gehalte, Dimensionen,
Beziehungen, Eigenschaften, deren letzte Einheit im substantiellen
Subjekt ihre Verschiedenheit und Differenziertheit nicht aufhebt.139
Essenz und Existenz, Gattung und Art, Substanz und Akzidentien,
Analogien und Beziehungen zu anderem Seienden, diese und viele
andere "Verbindungen" der "Elemente" lassen es zu, daß wir Aussagen
machen und nicht nur mit Begriffen auf die Wirklichkeit hinweisen
können. Prinzipiell reicht die Wahrheit soweit wie das Sein. Allen
"Sachen" und Personen entsprechen nämlich viele Sachverhalte über
ihre Existenz und ihr spezifisches Sosein. Jedem solchen Sachverhalt
entspricht wiederum ein Urteil, in dem wir auf seinen "Bestand"
hinweisen. Je mehr Gehalt ein Seiendes besitzt, desto zahlreicher sind
auch die verschiedenen Dimensionen, auf die wir in Aussagen
hinweisen können. So einfach etwa im klassischen Sinn des Wortes das
Wesen der Liebe ist, so unerschöpflich sind doch die
Wesenssachverhalte, die in ihr gründen. Je tiefer wir uns in ihr Wesen
versenken, desto mehr ihrer Wesenseigenschaften erfassen wir.
Allerdings können auch alle möglichen Aussagen niemals das Wesen
der Liebe erschöpfen, und zwar erstens deshalb, weil jeder Begriff und
jede philosophische Aussage auf etwas hinweist, was wir nur in einer
Erkenntnis, nur in einer unmittelbaren Schau erfassen können. Denn
die Sprache ist ja überhaupt nur ein Medium, durch das hindurch wir
auf das Sein abzielen, dessen Fülle sich uns jedoch ausschließlich in
der Erkenntnis erschließt. In diesem Sinn "transzendiert" das Sein
wesenhaft die Begriffe und Aussagen.
Zweitens erschöpft sich eine Wesenheit niemals in den in ihr
gründenden Sachverhalten. Gleichwohl ist bei klaren Begriffen jede
Aussage entweder wahr oder falsch. Sie trifft entweder einen
Wesenszug der Sache oder nicht. Und wenn wir auch bei weitem nicht
genügend Begriffe oder Verben haben, um alle Sachverhalte aussagen
98
zu können, die sich uns in der Erkenntnis erschließen, so können wir
doch auf Wesenszüge und -zusammenhänge eindeutig in wahren
Urteilen hinweisen, in denen wir sagen, wie "etwas" ist; ein Urteil, das
einen eindeutig bestehenden Sachverhalt leugnet, ist falsch. In jedem
Urteilssatz setzen wir einen Sachverhalt als seienden an, und das
schließt ein, daß wir in jeder Behauptung notwendig den Anspruch
erheben, das gefällte Urteil sei wahr.
Gegenstand eines Urteils ist immer ein Sachverhalt, den wir in der
spezifischen "Sachverhalts-Erkenntnis" erkennen. Andererseits können
wir Sachverhalte nur erkennen, indem wir auf die Gegenstände und
Wesenheiten blicken, in deren Existenz oder Sosein sie gründen. Beide,
die Wahrnehmung oder Schau, in der sich ein Gegenstand oder eine
Wesenheit unserem Geiste als solche erschließt, und die
Sachverhaltserkenntnis sollen hier unter dem Erkenntnisbegriff gefaßt
werden.
Es wurde schon gezeigt, daß die Sinneinheiten, die wir mit Begriffen
meinen, mehr oder weniger klar und eindeutig erfaßt werden können.
Es gibt nun nicht nur äquivoke Begriffe, in deren Verwendung die
Verwechslung verschiedener Wirklichkeiten zum Ausdruck kommt,
sondern es gibt auch äquivoke Aussagen, die dann zustande kommen,
wenn die mit den Begriffen gemeinten Wirklichkeiten nicht klar und
eindeutig ins Auge gefaßt werden. Es ist jedoch durchaus möglich, trotz
unvollständiger Erkenntnis einen ganz bestimmten Sachverhalt in
einem Urteil zum Ausdruck zu bringen. Die unvollständige Erkenntnis
als solche führt also weder zu falschen noch zu unklaren Urteilen, auch
in der Philosophie nicht, wo es wegen der Allgemeinheit der Aussagen
besonders schwer ist, sich vor falschen Verallgemeinerungen zu hüten
und eine echte Wesensallgemeinheit zu fassen. Zu unklaren und
mehrdeutigen Urteilssätzen, die sich dann in mehrere Urteile zerlegen
lassen, kommt es, wenn wir über das unvollständig Erkannte
hinausgehen, wie noch später klar wird.
140
Vgl. Zum Folgenden v. Hildebrand, What is philosophy?, S. 18, 20.
99
1. Der Sachverhalt: das a-sein eines b. Er besteht unabhängig vom
Erkennen.
2. Der Erkenntnisakt (Sachverhaltserkenntnis). In ihm erschließt sich
mir der Sachverhalt. Die Sinnlinie des Aktes verläuft vom
"Gegenstand" zu mir. Die rezeptive Transzendenz des Erkenntnisaktes
ist hervorzuheben.
3. Die Überzeugung. Vom rezeptiven (Überzeugtwerden in der
Erkenntnis ist die spontane Stellungnahme der Überzeugung zu
unterscheiden. Dieses "Glauben", daß ein Sachverhalt besteht, ist ein
individueller, personaler Akt. Er besteht linear und überaktuell in
zeitlicher Dauer.
4. Der Urteilsakt. Er ist spontan; die Sinnlinie verläuft von mir zum
Gegenstand; ich lausche nicht, sondern ich spreche. Er vollzieht sich
punktuell in einem Zeitmoment. Er kann als solcher nicht wahr oder
falsch sein und ist ein individueller, personaler Akt.
5. Das (der) Urteil(sinhalt) ist kein personaler Akt noch Teil desselben,
sondern die aus Subjektsbegriff,, Copula und Prädikatsbegriff,
bestehende Bedeutungsganzheit, durch die wir auf den Sachverhalt
behauptend abzielen. Dasselbe Urteil kann von mehreren Personen
gefällt werden. Wie seine Wahrheit und Falschheit hat es selbst eine
überzeitliche Existenz als ideale Bedeutungseinheit.
100
3. KAPITEL
ERKENNTNIS UND IRRTUM
"Erwägt man ferner, daß zwar nicht alle Erkenntnis Täuschungen enthält,
wohl aber alle Erkenntnis Täuschungen enthalten kann, daß es also zum
Wesen der jeweiligen Einsicht gehört, berichtigt werden zu können,..." Vgl.
auch a. a. O., S. 523 ff.
101
Die Frage, ob wir zwischen eigenen Irrtümern und Erkenntnissen
unterscheiden können oder immer über die Frage im dunklen bleiben,
ob wir uns irren oder nicht, ist eine der wesentlichsten Fragen nach
der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis.
142
Platon, Gorgias, 454 d, e. Vgl. dazu auch Platons Irrtumslehre im
Sophistes, 230 ff.; bes. 230 d. In 233 ist der Sophist von Platon als eben
derjenige gekennzeichnet, der bezüglich der philosophischen Gegenstände
aber auch in anderen Bereichen, Überzeugungen ohne Erkenntnis erzeugt.
102
Es handelt sich hier nicht um eine bloße Wortdefinition der Erkenntnis,
um eine Tautologie, sondern um eine Einsicht in die unerfindbare
"Sache Erkenntnis": Es gibt nicht Erkenntnisse, in denen sich uns
Wirkliches erschließt, und andere, in denen wir Irrtümer erkennen,
sondern im Erkenntnisakt irren wir uns niemals—nur m unseren
Überzeugungen oder Urteilen können wir uns irren.
Allerdings muß hier noch einmal an den im ersten Kapitel
durchgeführten Unterschied zwischen Erkenntnis im engeren (und
eigentlichen) Sinn und Erkenntnis im weiteren Sinn erinnert werden. In
der Wahrnehmung, in dem Kennenlernen der Wirklichkeit, das uns
durch Mitteilung anderer Menschen vermittelt wird, oder in den
meisten wissenschaftlichen "Erkenntnissen" gehen wir mit vollem
Recht über das eigentlich von uns Erkannte hinaus. Vieles Seiende
erschließt sich uns nur, indem wir in Glaubenselementen oder aus
vergangener Erfahrung schöpfend in "Interpretationen" über das im
strengen Sinn von uns Erkannte hinaus die Linien des Seienden
ausziehen, bzw. die autonome Existenz von etwas annehmen. In
solchen Akten, deren Wesen in einer eingehenden Analyse untersucht
werden könnte, ist sicherlich Irrtum nicht ausgeschlossen. Aber wenn
man genauer zusieht, muß man unweigerlich bemerken, daß die hier in
enger Verbindung vorliegenden Akte des Erkennens einerseits und der
Interpretation und des Glaubens andererseits wesensverschieden sind.
Und ausschließlich in den letzteren ist die Irrtumsmöglichkeit gelegen.
Mit klassischer Einfachheit hat Descartes diese platonische Einsicht in
der 4. Meditation wieder formuliert. 143
Wenn wir aufmerksam unsere Irrtümer betrachten, sagt er, werden wir
immer finden, daß diese niemals in der Erkenntnis selbst gelegen
waren, sondern allein darin, daß wir mit dem spontanen Akt
(Willensakt) des Urteilens144 über das Erkannte hinausgegangen waren.
Die Akte des Urteilens sind also keineswegs auf den Bereich des
(begrenzten) Erkennens beschränkt, sondern wir können auch
143
Descartes, Meditationen 4 (9—21, bes. 14).
144
Der früher eingeführte Begriff "spontaner Akt scheint mir genau das zu
treffen, was Descartes mit "Willensakt" meint; zugleich scheint mir dieser
Begriff präziser zu sein, da ja auch die Erkenntnis in einem gewissen Sinn
ein freier Akt ist und andererseits der Urteilsakt nicht mit der spezifischen
freien Willensantwort identisch ist.
103
behaupten, was wir nie erkannten. In jedem Irrtum tun wir das, und es
besteht der notwendige Wesenszusammenhang:
Immer wenn ich irre, behaupte ich, was ich nicht erkannt habe.
Aus vielfach verschiedenen berechtigten Gründen, meist allerdings aus
unberechtigten, gehen wir im täglichen Leben und noch mehr im
theoretischen Denken oft über das hinaus, was sich uns in der
Erkenntnis erschlossen hat. Wir halten Urteile für wahr, sind von
Sachverhalten fest überzeugt und behaupten sie — ohne erkennendes
Berühren der Sache.
Es ist eine der tiefsten Wesenseigenschaften der Erkenntnis, daß wir
unmöglich erkennen können, was nicht ist.144a Es ist absolut unmöglich,
jetzt etwas zu erkennen und später einzusehen, daß dies nicht war: es
ist nicht möglich, etwas Falsches zu erkennen. Vgl. Descartes,
Meditationen 4, 14: "... alles, was ich einsehe, das sehe ich.. . ohne
Zweifel richtig ein, und hierin kann ich mich unmöglich täuschen. .."
Aber da wird gleich der früher erwähnte Einwand wiederkehren:
Erkennen wir nicht in jeder Täuschung etwas, was nicht ist?
Dagegen ist zu sagen: Die Täuschung liegt nicht im "Wahrnehmen"
eines "halluzinierten Sees" oder eines "gebrochenen Stabs" im Wasser,
sondern in einem objektiven und einem subjektiven Element, wovon
ein jedes klar von der Wahrnehmung verschieden ist. 145 Das, was ich
erkenne, "gibt vor", unabhängig von mir so zu sein, wie ich es sehe. Es
scheint also anders zu sein, als es tatsächlich ist. Was ich erkenne, ist
aber nur, daß der "gebrochene Stab", den ich da sehe, wirklich
gebrochen zu sein "vorgibt"—und in der Erkenntnis dieser Tatsache
täusche ich mich keineswegs. Der als gebrochen erscheinende Stab
täuscht vielmehr mich, indem er mir etwas zum "Glauben" vorlegt,
indem er mich einlädt, etwas zu glauben, was nicht ist. Dieser etwas
nicht Seiendes nahelegende "objektive Schein" ist das objektive
Element der Täuschung, das auch nach seiner "Erkenntnis als Schein"
bestehen bleibt.
Das subjektive Element der Täuschung ist ein gewisser "Glaubensakt",
in dem ich diesem Eindruck vertraue, diesen "objektiven Schein" ernst
144a
Dies gilt allerdings nur für die "Erkenntnis im engeren Sinn". Vgl. dazu
S. 74 ff. dieser Arbeit und die folgenden Ausführungen.
145
Vgl. dazu Wesen der Täuschung im Unterschied vom Irrtum, in Die Idole
der Selbsterkenntnis: Max Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 222 ff.
104
nehme. Wenn ich einen auf Grund objektiven Scheins angenommenen
Sachverhalt in einem Urteil formuliere, irre ich mich.
Aber was ich da formuliere: "Dieser Stab ist gebrochen", habe ich ja
nicht erkannt— das habe ich vielmehr bloß gemeint; ich habe geglaubt,
daß das scheinbar so seiende Ding, das ich erkannte, wirklich so sei.
Geirrt habe ich mich also nur in einem über das anschaulich Gegebene
und Erkannte hinausgehenden "Meinen", aber nicht in den
Erkenntnissen, die jeder Täuschung notwendig zugrunde liegen,
nämlich: ich sehe einen Stab, der objektiv gebrochen zu sein scheint.
Wäre diese Erkenntnis selbst eine Täuschung, so wäre es sinnlos, von
Täuschung überhaupt zu sprechen. Auf Grund dieser wirklich
erkannten Sachverhalte aber haben wir einen anderen als bestehend
angenommen: Dieser Stab ist wirklich gebrochen.
Wir haben also — in der Täuschung unausgesprochen, im Irrtum
ausdrücklich formuliert—einen Sachverhalt angenommen, den wir
nicht erkannt hatten.146 Selbst wenn man unkorrekterweise auch das
objektive Element der Täuschung allein, den "objektiven Schein", den
wir trotz allen Wissens wahrnehmen (auch wenn ich weiß, daß der Stab
nicht gebrochen ist, sehe ich ihn gebrochen), eine Täuschung nennen
will, so ist der Irrtum damit auf jeden Fall verhindert. Es ist ja nun klar,
daß ich beim Aussprechen des Satzes über die (objektive)
Gebrochenheit des Stabes einen Sachverhalt formuliere, den ich nicht
erkennen konnte.147
146
Ähnliches ließe sich auch für die Täuschungen über das fremde oder vor
allem das eigene seelische Sein zeigen. Vgl. Generelle Quellen der
Täuschungen der inneren Wahrnehmungen, von Max Scheler, in:
Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 254—309.
147
Es zeigt dies wieder, daß die "Seinsautonomie" des Gegenstandes zwar
nur zum Begriff des Erkennens im weiteren Sinn (des mit Erkenntnis Hand
in Hand gehenden Glaubens bzw. des "Glaubens", der Wirklichkeit zum
Gegenstand hat), aber zum notwendigen Wesen des Erkennens im eigent-
lichen Sinn gehört. Es gibt keine "Wahrheit für mich". Denn die geglaubte
Seinsautonomie des geträumten Hauses wurde gerade nicht erkannt, und
das, was bei der Täuschung erkannt wurde, daß ich träume und -mir ein so
und so gearteter Traumgegenstand gegeben ist, das ist objektiv so und
scheint oder erscheint mir nicht bloß. Alles, worauf sich die Erkenntnis im
engeren Sinn also bezieht, ist seinsautonom und an sich so. Denn es ist
keineswegs nur "für mich" (wahr), daß ich dies und nicht jenes träumte,
sondern dies ist objektiv so. Jedes bloß scheinbare Sein und jede
105
Konsequenzen dieser Wahrheit
106
oder Interpretationen Irrtümer sein, in den von all dem vorausgesetzten
Erkenntnissen (im eigentlichen Sinn) aber niemals. Also sind alle
Philosophen (ja alle Menschen überhaupt) in all ihren Erkenntnissen
einig. Im Widerspruch zueinander und zur Wahrheit stehen sie nur in
ihren Irrtümern, von denen man allerdings vielleicht mehr findet als
von formulierten Wahrheiten. Aber das wird einen niemals mehr an der
Wahrheit irremachen, und man wird beginnen, von einer "immanenten
Lektüre" der Philosophen, bei der man in ihr System "hineinkommen"
will, abzugehen und überall die Fragen zu stellen: Was haben sie
gesehen? Was ist die echte Einsicht, der ich folgen kann? Worin kann
ich das Gemeinte wirklich selbst "in den Sachen" sehen?, und endlich:
Wo finde ich Behauptungen, deren Falschheit ich klar erkennen kann?
Sicherlich wäre es im täglichen Leben weder möglich noch
wünschenswert, nichts für wahr zu halten als das, was wir erkannt
haben. Nicht nur wissen wir von unzähligen äußeren Wirklichkeiten
des Lebens, von der Vergangenheit, von der Politik, ausschließlich,
indem wir anderen Menschen Glauben schenken, die uns solche Dinge
mitteilen, sondern auch letztlich bedeutsame Wirklichkeiten, auf die
wir unser ganzes Leben gründen, wie die Einstellung oder Liebe
anderer Personen, erkennen wir nur, indem wir sie über das Erkannte
hinaus glauben.149a Auch in der Philosophie sind in manchen Fragen
über das Erkannte hinausgehende Spekulationen berechtigt, jedoch
können fast alle philosophischen Fragen durch Erkenntnisse im
eigentlichen Sinn ihre Beantwortung finden. Wenn wir daher in der
Philosophie ausschließlich auf das Viele lauschten, das sich uns
wirklich in der Erkenntnis erschließt, würden wir nie irren. Eine lange,
ständig wiederholte Selbstprüfung, in der wir uns das viele vorschnelle
Urteilen abgewöhnen, und eine unbedingte Liebe zur Wahrheit, in der
wir diese in allen Bereichen und auch in ihren Forderungen
anzunehmen bereit wären, könnten uns bis an dieses Ideal führen. Doch
die prinzipielle Erreichbarkeit dieses Zieles (die nur an der
Dies hat auch einen tragischen Aspekt, der deutlich im Hyppolitos von
149a
107
menschlichen Schwäche in vielen Fällen scheitert), ja auch nur der Sinn
der Arbeit in dieser Richtung ist ausschließlich dann gegeben, wenn wir
wissen: Unsere Erkenntnis selbst berührt immer die Wirklichkeit und
niemals nicht Seiendes!
Doch da erheben sich viele Fragen: Wie sollen wir eine solche Aufgabe
vollbringen? Wenn wir auch einverstanden sind, daß zwischen
Erkennen und Irren ein tiefer gehender Unterschied besteht, als wir
dachten, glauben wir nicht doch subjektiv, daß wir erkennen, gerade
wenn wir irren? Haben wir nicht dieselbe subjektive Meinung, Wahres
zu erkennen, wenn wir irren, wie wenn wir etwas Wahres aussprechen?
Sind ferner nicht alle unsere Erkenntnisse unvollständig und damit
irgendwie relativ? Was nützt es schon, eine kleine, ausschnitthafte
Wahrheit zu erkennen, deren Formulierung vielleicht schon wieder
falsch ist, weil sie nicht "das Ganze" ist?
108
nicht erkannt haben und für den wir doch schon eine fertige Erkenntnis
zur Hand haben möchten.150
Irrtum liegt also nur dort, wo wir behaupten zu wissen, obwohl wir
nicht wissen. In dieser Einsicht hat Platon das Wesen der Doxa entdeckt
und in der Apologie erscheint Sokrates als derjenige, der den Sophisten
beweist, wieviel sie "meinen" zu wissen, ohne es je erkannt zu haben,
und er fordert alle auf, doch zu bedenken, was sie wissen und was sie
nicht wissen.151
Welche Motive immer ein Irrtum haben mag, sei es, daß wir durch eine
täuschende "Ähnlichkeit" verführt werden, sei es, daß wir Eitelkeit oder
Gedankenlosigkeit oder gar dem Haß der Wahrheit verfallen sind, die
unsere "bösen Werke" offenbar macht, oder sei es einfach die
Schwierigkeit, auf die Stimme der Wahrheit zu lauschen und zu
schweigen—in keinem Irrtum handelt es sich jemals um die
Formulierung einer unvollständigen Erkenntnis als solcher, sondern
immer um Behauptungen von Sachverhalten, die wir nicht erkannt
hatten. Sosehr auch die Behauptung mit der Erkenntnis verbunden
auftreten kann, so daß es schwer ist, beide voneinander zu trennen, so
ist doch die Behauptung von der Erkenntnis wesensverschieden.
Daher ist die Überschreitung der unvollständigen Erkenntnis im
Urteilen, die zum Irrtum führt, keineswegs mit der Unvollständigkeit
der Erkenntnis als solcher verknüpft und muß auch dann nicht eintreten,
wenn wir eine noch sehr unvollständige Erkenntnis formulieren,
obwohl dies—besonders bei der auf allgemeine
Wesenszusammenhänge gerichteten philosophischen Erkenntnis—
sehr schwer ist und leicht zum Irrtum führen kann. Aber als solches ist
die Formulierung einer noch so unvollständigen Wahrheit in keiner
Weise mit Irrtum verbunden. Dieser entsteht vielmehr dann, wenn wir
150
In seinem Buch Der Irrtum... I, I, 2, 3, macht B. Schwarz die klare
Unterscheidung zwischen unvollständiger Wahrheit und Irrtum. Dort und
im folgenden findet sich auch die Ablehnung des Relativismus und Imma-
nentismus, der diesen Unterschied leugnet.
151
Deshalb ist die Apologie nicht nur ein klassisches Dokument, sondern
die "Magna Charta" der Philosophie, indem sie deren Grundaufgabe auf-
zeigt, von aller Doxa, von allen ohne Erkenntnis gefällten allgemeinen
Behauptungen frei zu werden und nur zu sagen, was die Stimme des Seien-
den selbst uns sagt, was wir wirklich erkennen und worin niemals ein
Irrtum ist. Vgl. Platon, Sophistes, 229 c: 230 a—d.
109
unseren Blick nicht mehr ganz auf die erkannte, selbst gegebene Sache
gerichtet halten, sondern "über diese hinausdenken", zu früh
verallgemeinern, interpretieren oder einfach blind behaupten. Wenn
also auch für viele — keineswegs für alle— Irrtümer ein "objektiver
Schein152 vorausgesetzt ist, so ist es doch niemals die Erkenntnis dieser
irreführenden Ähnlichkeit selbst, die uns in Irrtum führt, sondern der
Irrtum liegt in der über das Erkannte hinausgehenden Behauptung, dies
Ähnliche sei gleich—nicht also darin, daß ich eine Ähnlichkeit erkenne,
sondern daß ich eine Gleichheit behaupte, die ich nicht erkannt habe.153
152
Daß ein solcher "objektiver Schein" dem Irrtum meist zugrunde liegt,
hat B. Schwarz in seinem Buch Der Irrtum... eindrucksvoll nachgewiesen.
Dieser "objektive Schein" kann dabei in noch sehr verschiedenem Sinn
gemeint sein: Zunächst kann man den Begriff "objektiven Schein" so weit
verstehen, daß er für jeden eigentlichen Irrtum vorausgesetzt ist. Man meint
dann damit den Gegensatz zum total Beziehungslosen, das man nicht
verwechseln und durch das man daher nicht zu Irrtümern geführt werden
kann. So kann etwa kein normaler Mensch die geometrische Figur des
Kreises mit dem Mitleid verwechseln, sondern für jeden Irrtum ist eine
gewisse objektive Verwandtschaft vorausgesetzt. — Zweitens kann man
unter "objektivem Schein" eine viel weiter gehende Ähnlichkeit oder
Verwandtschaft zweier Wirklichkeiten verstehen, als die für jeden Irrtum
vorausgesetzt ist. Neben ganz merkwürdigen Irrtümern, die in abwegigen
und abstrusen Spekulationen oder in einem Haß der Wahrheit ganz
offenkundige Gegebenheiten und Unterscheide vergewaltigen oder
leugnen, gibt es auch objektiv naheliegende Verwechslungen, wie die
zwischen Urteilsakt und Urteilssatz, die man leicht begehen und dadurch
zu Irrtümern gelangen kann, solange niemand auf diesen Unterschied
hinweist. — Drittens könnte man den Begriff "objektiven Schein" in einem
ganz falschen Sinn auffassen, in dem er den Wesensunterschied zwischen
der rezeptiven Transzendenz des Erkennens und der spontanen Tätigkeit
des Irrens verwischen würde und der Irrtum auch als eine rezeptive
Tätigkeit, als "ein Erkennen eines notwendig irreführenden objektiven
Scheins" gedeutet würde. Also gäbe es eigentlich ein falsches Erkennen,
das Irrtum genannt, und ein wahres Erkennen, das Erkenntnis genannt
würde und der Unterschied zwischen Erkenntnis und Irrtum wäre somit nur
ein von außen dazukommender, wie der zwischen Porträts von wirklichen
und solchen von erfundenen Personen.
153
Descartes sieht darin sehr tief einen Beweis dafür, daß niemals Gott uns
in Irrtum führt, indem er uns eine Natur gegeben hätte, die als solche irrt;
110
Wie kann ich selbst wissen, ob ich irre oder erkenne?
niemals die Erkenntnis, deren Fähigkeit uns Gott gegeben hat, sondern
allein der freie Akt des Urteilens, insofern er von uns "mißbraucht" wird
führt zu Irrtümern. Vgl. Meditationen, IV (9—21).
154
Vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. I, Zweiter Teil, 1. Abschn.,
Kap. 2, 4, S. 98 ff.
155
A. a. O., S. 101 (VII, 87, 88). Kierkegeards Ablehnung der Hegelschen
Grundkonzeption, seiner Historisierung des Seins und der Wahrheit, ja
Gottes selbst, seines Versuches, eine allumfassende Erkenntnis zu
erreichen, in der Gott selbst zu sich kommt, seiner Auflösung des
Christentums — die klare Zurückweisung dieser Hegelschen
Grundgedanken kommt besonders deutlich in der Unwissenschaftlichen
Nachschrift zum Ausdruck. Am großartigsten wohl in Bd. 1, Zweiter Teil,
2. Abschn., Kap. 1I; auch Kap. 2.
156
Dies zeigt sich erstens darin, daß Kierkegaard den aus dem Hegelschen
System folgenden historischen Relativismus klar sieht und entschieden ab-
lehnt. (Vgl. a. a. O. Bd. I, Erster Teil, VII, 22, Fußnote S. 29, 30.)
Außerdem schreibt Billeskov Jansen in seinem Kommentar zu dieser
Stelle: "1849" (also drei Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes der
Unwissenschaftlichen Nachschrift) "nimmt Kierkegaard Abstand von
111
"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den
einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze
mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir:
wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die
reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"157
112
Auf einen derartigen Immanentismus kann folgende Antwort gegeben
werden:
Niemand kann leugnen, daß jemand mit erstaunlicher subjektiver
Sicherheit falsche Meinungen vertreten kann. Doch wenn man die
notwendigen Wesensunterschiede zwischen Erkennen, Überzeugtsein
und Urteilen nicht übersieht, die im 2. Kapitel entwickelt wurden, wird
man leicht sehen, daß die falsche Sicherheit von der wahren Sicherheit,
die von der Erkenntnis getragen ist, ganz verschieden ist. Niemals
können wir bei einem Irrtum das lichtvolle Bewußtsein von einem
Sachverhalt, das bewußte geistige Haben und Erfassen eines
Gegenstandes erleben, wie es in der Erkenntnis allein vorliegt.
Das Vollzugsbewußtsein ist also beim Irrtum keineswegs das gleiche
wie bei der Erkenntnis. Beim Aussprechen eines wirklich erkannten
Sachverhalts haben wir, wie aus den vorigen Untersuchungen über die
Überzeugung und die Erkenntnis hervorgeht, eine vollkommen
andersartige Sicherheit als beim Aussprechen eines Urteils, dessen
Gegenstand wir nicht erkennen, sondern nur auf Grund anderer
Erkenntnisse vage "meinen". Wie im II. Teil dieser Arbeit näher geklärt
wird, in dem die absolut gewissen Erkenntnisse behandelt werden
sollen, ist die wahre Sicherheit von der falschen keineswegs nur von
einem "idealen Beobachter" aus verschieden, sondern auch im Erlebnis
von "innen her" ganz anders. Dies geht schon daraus hervor, daß es sich
bei der falschen Sicherheit ausschließlich um eine "Sicherheit der
Zustimmung", nicht aber um eine "Sicherheit der Erkenntnis" handeln
kann. "Sicherheit" bedeutet also jedesmal etwas ganz Verschiedenes:
einmal bedeutet es, daß mir der Sachverhalt selbst gegeben ist und mich
überzeugt, indem er sich in der Erkenntnis in seinem Bestand ausweist,
das zweite Mal bedeutet es nur, daß ich ohne Zweifel und mit
uneingeschränkter Festigkeit meine Zustimmung zu einem Sachverhalt
gebe. Diese von der Gewißheit der Erkenntnis ganz verschiedene
"Sicherheit" kann zum Beispiel in einem Glaubensakt, sei es einem
Menschen oder Gott gegenüber, viel stärker und ausgeprägter sein als
in einer Überzeugung, die einen evidenten mathematischen
Zusammenhang betrifft.
Daß also bei Irrtum und Erkennen das Vollzugsbewußtsein ganz
verschieden ist, ist eine Wahrheit von letzter Bedienung, die uns aus
dem Gefängnis des erwähnten Immanentismus befreit, demgemäß wir
unser ganzes Leben lang niemals wirklich die eigenen Irrtümer
bemerken und sicher sein könnten, daß wir erkennen. Denn auch ein
113
(in keiner Erkenntnis, deren wir sicher sind, gegründeter) fideistischer
"Glaube" könnte uns ja in keiner Weise aus diesem Immanentismus
befreien, ja ein vollkommen blinder Glaube, dem keine Erkenntnis
vorhergeht, ist unmöglich und widersprüchlich, wie hier nur erwähnt
werden kann.
Wenn man klar die wesenhafte, rezeptive Transzendenz der Erkenntnis
erfaßt hat und sie von dem mit "Glauben" verbundenen "Erkennen im
weiteren Sinn" unterschieden hat, dann muß man sehen: Es gibt keine
falsche Erkenntnis, und alle Urteile, die wir fällen, indem wir nur dem
Logos des Erkannten folgen, sind wahr.
Über die Frage der Unbewußtheit der spontanen Tätigkeit beim Irren
158
Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum... I, I, 2, 8 ff.
114
wäre, zu unterscheiden, wo wir rezeptiv empfangend und wo spontan
kreativ sind.
Es handelt sich bei diesem Einwand also nicht um den Hinweis auf
(Überzeugung und Behauptung, sondern mehr auf Einbildung und
Phantasie. Zunächst muß dazu bemerkt werden, daß es keineswegs für
den Irrtumsakt konstitutiv ist, daß ich in ihm den für wahr gehaltenen
Sachverhalt erkannt zu haben glaube. Ich kann mir beim Irrtum sehr
wohl bewußt sein, daß ich etwas bloß annehme und vage meine und es
mir keineswegs selbst gegeben ist.
Der genannte Einwand bezieht sich also nur auf solche Irrtümer in
denen der Irrende ausdrücklich das Bewußtsein hätte, der behauptete
Sachverhalt sei ihm selbst tatsächlich gegeben, er erkenne ihn, etwas
erschließe sich ihm wirklich. So bilden wir uns etwa im täglichen
Leben oft fest ein, etwas genau gesehen oder gehört zu haben, ohne daß
dies der Fall wäre. Doch auch wenn wir von der Erinnerung absehen,
bei der zu fragen ist, in welchem Sinn sie Erkenntnis genannt werden
kann, mischt sich oft eine Interpretation oder halb bewußte Phantasie
zur Erkenntnis und läßt sich dann vielleicht im Innenaspekt schwer von
der Erkenntnis selbst unterscheiden. So können wir uns etwa fest
einbilden, etwas tatsächlich zu sehen, z. B. an anderen Personen eine
Feindseligkeit uns gegenüber wahrzunehmen, wobei unsere halb
bewußte Phantasietätigkeit unsere "Einbildungen" derart auf andere
projiziert, daß sie uns in ihnen tatsächlich "gegenübertreten". Dies gilt
aber auch für die Philosophie, wo wir uns eigenmächtigen
Spekulationen, die weit über das Gegebene hinausgehen, so sehr
hingeben können, daß wir tatsächlich ein transzendentales ego und
seine Tätigkeiten einzusehen glauben, daß wir es für gegeben halten,
daß alle Monaden fensterlos sind und "de petites perceptions" haben
müssen, oder daß das Kontradiktionsprinzip "aufgehoben" werden
kann; wir können soweit gelangen, daß wir wirklich zu "sehen" meinen,
daß nicht Napoleon, sondern der "Weltgeist" auf dem Pferde
einherreitet. Es ist auf Grund dieses Don-Quichotesken Zuges im
Menschen, daß er so sehr in einer konstruierten und phantasierten Welt
leben kann, daß er schließlich nicht mehr eine übelriechende
"Maritorne", sondern eine erhabene, süß duftende Prinzessin vor sich
zu haben glaubt, so sehr, daß er sie quasi wirklich "sieht".
Aber dies geschieht dann doch, weil wir im Grunde nicht sehen wollen.
Wir könnten uns die Phantasietätigkeit zu Bewußtsein bringen und klar
unterscheiden, wo uns wirklich etwas selbst gegeben und wo es
115
erfunden ist. Abgesehen von einer durch solche Phantasie im äußersten
Fall hervorgerufenen Sinnestäuschung, auf deren Beziehung zur
Erkenntnis schon früher eingegangen wurde, ist eben doch niemals der
Weltgeist, sondern nur Napoleon von Hegel gesehen worden. Der
Innenaspekt und das Vollzugsbewußtsein ist besonders in der
Philosophie gänzlich verschieden, wenn uns ein Sachverhalt selbst
leibhaftig gegeben ist, sich uns erschließt, sich unserem Geiste
eindeutig aufdrängt — als wenn die "Sache selbst" nicht besteht und
nicht bestehen kann und unser Geist im dunkeln irrt und in
Scheinmeinungen vage einen "fiktiven Sachverhalt" projiziert, der uns
niemals wirklich gegeben ist und deshalb auch nicht als selbst gegeben
erlebt werden kann.
Unsere Gewißheit im Irrtum ist eben doch auch hier bloß diejenige der
"sicheren Zustimmung", aber niemals der sicheren Erkenntnis, in der
uns die Sache von sich selbst überzeugt. Bei einem vorurteilslosen
Betrachten der Wirklichkeit wird offenbar, daß sich nicht nur die
spontane Tätigkeit des Behauptens, sondern auch diejenige der
Phantasie eindeutig im Vollzuge vom Erkennen selbst abhebt. In einem
gewissen Sinne sogar noch mehr als Überzeugung und Behauptung.
Um das zu sehen, beachte man, daß bei der Phantasie die spontane
Tätigkeit schon vorhergeht und dann gleichsam eine rezeptive
"Wahrnehmung des zuerst Konstruierten, Phantasierten oder
Erlogenen" stattfindet: In der "Wahrnehmung" einer solchen "Fiktion"
irre ich mich ja auch nicht, sondern nur im Glauben, diese Fiktion sei
Wirklichkeit. Die auch im Vollzug als vom Erkennen verschieden
erlebte spontane Tätigkeit folgt hier nicht, wie im Fall der Überzeugung
und des Urteils, der Erkenntnis nach, sondern geht ihr vielmehr vorher.
Wenn Don Quichote, bevor er die einen Sarg tragenden Mönche für
Entführer einer Jungfrau hält und sich ein Drama ausmalt, wirklich auf
die ihm gegebene Realität blickte, könnte er jederzeit das, was sich ihm
erschließt, von dem, was er sich ausmalt als auch im Vollzug ganz
verschieden erlebt, unterscheiden. Dies sieht man ein, sowie man sich
in den Akt der Phantasie versenkt.159
Wenn schon klar war, daß jenes organisch das Erkannte fortführende
Interpretieren und das zum Irrtum führende "Glauben" an einen
"objektiven" (also keineswegs von uns irgendwie hervorgebrachten)
Dies wird am Ende des 2. Kapitels des II. Teils der Arbeit noch klarer
159
werden.
116
"Schein" im Vollzug vom Erkennen selbst verschieden sind, um wieviel
mehr ist jede Art von Konstruktion, Phantasie oder gewagter
Spekulation auch im Vollzug vom Erkennen verschieden. Denn das
"Sehen" von im weitesten Sinn des Wortes "eingebildeten"
Sachverhalten ist ja nicht einmal mit dem tatsächlichen "Wahrnehmen"
eines objektiven Scheins, wie des gebrochenen Stabs im Wasser, zu
vergleichen: ein phantasieerzeugter "Schein" ist niemals so deutlich
und scheinbar unabhängig gegeben wie eine Sinnestäuschung. Und
selbst wenn er ebenso deutlich wäre, würde das keinen Einwand gegen
die Wesensverschiedenheit von Erkennen einerseits und Täuschung
und Irrtum andererseits darstellen, wie schon gezeigt wurde.
Vor allem aber ist die dem "fiktiven Sachverhalt" vorhergehende
Tätigkeit der Phantasie oder Einbildung eindeutig auch im Vollzug
erlebt und qualitativ ganz verschieden vom Vollzug des Erkennens
noch mehr, als es schon für Überzeugung und Behauptung erwiesen
wurde. Es bleibt also der Satz bestehen: In der Erkenntnis selbst können
wir uns niemals irren.
Es ist von zentraler Bedeutung, zu sehen, daß hier eine echte veritas
aeterna im später zu behandelnden Sinn vorliege und nicht eine
Tautologie, ein bloß analytisches Urteil im Sinne Kants und des
Positivismus. Es ist keine bloße Begriffsbestimmung der Erkenntnis,
daß sie niemals irren kann, sondern eine Wesenseinsicht von letztem
erkenntnistheoretischem und metaphysischem Gewicht. Es geht um ein
aus unmittelbarer Anschauung gewonnenes "synthetisches Urteil a
priori."160 Die Wahrheit dieses Satzes kann nämlich niemals erkannt
werden, wenn man bloß auf den "Begriff des Erkennens", sondern
ausschließlich, wenn man auf die "Sache Erkenntnis" blicke.
Nur auf diesem Hintergrund kann die Wahrheit aufrechterhalten und
verteidigt werden, daß der Mensch ein Wesen ist, fähig, das Wahre vom
Falschen zu scheiden. Dabei muß noch einmal nachdrücklich betont
werden, daß diese Einsicht nur vollzogen werden kann, wenn man die
radikale Falschheit der Auffassung der Erkenntnis als spontanen oder
Damit liegt schon hier in nuce die Antwort auf die Grundfrage des II.
160
Teiles der Arbeit, die Kant als die Frage nach der Möglichkeit einer
"Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", bezeichnet hat.
117
gar als schöpferischen Akt durchschaut und ihre wesenhafte
Rezeptivität, ihren empfangenden Grundzug, eingesehen hat. Denn
würde die Erkenntnis auch nur in irgendeiner Weise spontan im Subjekt
beginnen und ein Objekt schaffen, so würde sie nicht nur irren können,
sondern notwendig dem Irrtum unterworfen sein — es sei denn, es gäbe
eine zufällig von außen kommende Übereinstimmung oder eine Art
prästabilierter Harmonie zwischen "Erkenntnis" und Wirklichkeit. Eine
solche Lösung, wie z. B. N. Haremann und Leibniz sie vorschlagen, ist
aber unhaltbar und würde auch letztlich jede Erkenntnis leugnen, wie
wir schon sahen.
"wenn wir einen Blick auf das Leben der geistigen Person vom Typus
Mensch werfen, so drängt sich uns ohne weiteres auf, welche
fundamentale Rolle das Erkennen in demselben spielt. Die einzigartige
Fähigkeit, an der ganzen übrigen Welt teilzuhaben, wie sie das
Erkennen in allen seinen Abstufungen von einer einfachen
Kenntnisnahme bis zu der Einsicht in einen notwendigen Sachverhalt
darstellt, ist das Fundament für unser ganzes geistiges Leben. All unser
Wollen und Streben, unser Lieben und Hassen, unser sich Freuen und
Trauern setzt ein Bewußtsein von dem Objekt unseres Wollens und
Strebens, unseres Liebens und Hassens, unseres sich Freuens und
Trauerns voraus, ein Wissen von ihm, ein verstehendes Erfassen."161
Kein Schaffen und keine Phantasie, ja nicht einmal Täuschung ist, wie
gezeigt wurde, ohne Erkenntnis möglich. Jede Are der Transzendenz
des Menschen ist in der Teilhabe am Sein grundgelegt, die im Erkennen
liegt. Deshalb ist jede Auffassung, die die Transzendenz jeglicher
Erkenntnis leugnet, auch ein alle weiteren Formen der Transzendenz
leugnender Immanentismus.
161
D. von Hildebrand, Sinn philosophischen Fragens und Erkennens, I, 1.
118
Mit dem Hinweis auf jene Transzendenz, die jeder Erkenntnis eigen ist,
erheben sich insbesondere drei Fragen, die hier gestellt und im
folgenden Teil der Arbeit behandelt werden sollen:
Es wurde gezeigt, daß nur die Erkenntnis im engeren (eigentlichen)
Sinn irrtumslos ist, daß wir aber existentiell bedeutsamste
Wirklichkeiten in ihrem Sein nur erfassen können, wenn wir in einem
gewissen Akt des Glaubens oder der Interpretation über das eigentlich
Erkannte hinausgehen. So können wir weder die Existenz der Dinge
der Außenwelt, noch die Existenz anderer Personen, geschweige denn
ihre innere Einstellung der Welt gegenüber "erkennen", ohne zu
glauben, daß alle diese Wirklichkeiten wirklich objektiv so sind, wie
sie zu sein scheinen bzw. "vorgeben" zu sein, was allein wir bei den
genannten Wirklichkeiten im strengen Sinn des Wortes erkennen
können.
Die erste Frage also lautet: Wie weit und auf welche Wirklichkeiten
erstreckt sich die Erkenntnis im engeren Sinn? Ist es vielleicht so, wie
es fast den Anschein hat, daß wir gerade die wichtigsten Elemente der
Wirklichkeit nicht erkennen, sondern nur in einem irrtumsausgesetzten
"Meinen" erfassen können? Wenn wir aber die reale Existenz der
Außenwelt, die Existenz und das Wesen anderer Personen oder die
eigene Vergangenheit nicht im engeren Sinn des Wortes erkennen
können, was taugt dann unsere Erkenntnis, was erfaßt sie dann
überhaupt?
Gehen wir ferner nicht gerade in der Philosophie beständig Über das
Erkannte hinaus, indem wir allgemeingültige Urteile fällen? Verfallen
wir dabei nicht einer künstlich entworfenen "statischen Welt", während
wir nur Dynamisches und Wandelndes wirklich erkennen? Verlassen
wir nicht gerade in der Philosophie in falschen Verallgemeinerungen
das Erkannte, das sich immer nur auf anschaulich Wahrgenommenes
bezieht, wie daß ich etwa diesen Tisch oder Menschen sehe und
erkenne, daß er zu existieren scheint etc.? Sind also vielleicht gerade
"allgemeingültige Aussagen" immer Irrtümer?
Noch eine zweite Frage erhebt sich: Wenn wir auch mit Sicherheit
erkennen können, daß wir eine rote Rose sehen, ja sogar, wenn wir
erkennen können, daß hier eine rote Rose ist, so ist doch dieses Rot
keine unabhängig von jedem perzipierenden Subjekt bestehende
Qualität. Daß sie sich mir als Erscheinung der Wirklichkeit darbietet,
ist sicherlich "an sich" so, aber die Farbe selbst konstituiert sich nur für
ein wahrnehmendes Subjekt. Ist unsere Erkenntnis auf solche Dinge
119
beschränkt, oder wie und wo können wir erkennen, wie die Dinge an
sich sind, d. h. unabhängig von der subjektiven Verfaßtheit
irgendwelcher Wesen? Wo können wir Wirklichkeiten erkennen, wie
sie objektiv in sich selber sind? Können wir denn überhaupt jemals
etwas erkennen, was weder Schein noch Erscheinung sein kann,
sondern die Wirklichkeit sein muß, wie sie unabhängig von uns als
erkennenden Subjekten ist?
Und noch eine dritte Frage muß man sich stellen, auf die die
Untersuchungen des ersten Teils der Arbeit führen: Wo ist unsere
Wahrnehmung oder Erkenntnis auf etwas gerichtet, was nicht nur
wahrscheinlich so ist, sondern absolut gewiß so? Dies fällt von einem
anderen Gesichtspunkt aus wieder mit der ersten Frage zusammen, wie
weit die Erkenntnis im engeren Sinn gegenüber der mit Glauben und
Interpretation verbundenen reicht. Aber es müssen die Elemente und
Voraussetzungen untersucht werden, die für die absolut gewisse
Erkenntnis nötig sind, sowie das Wesen der Evidenz, der Einsicht und
Gewißheit, vor allem aber die Frage nach der objektiven Gültigkeit und
dem objektiven Bestand der in solcher Gewißheit eingesehenen
Sachverhalte.
120
II. Teil
Neue Stufen der Transzendenz der Erkenntnis:
Unbezweifelbar gewisse Erkenntnis, Erkenntnis der
"Dinge an sich" und ewiger Wahrheiten
121
1. KAPITEL
DIE EINSICHT IN NOTWENDIGE WESENSZUSAMMENHÄNGE
UND DIE UNBEZWEIFELBARE EXISTENZ EINES AN SICH
SEIENDEN SUBJEKTS
Solange man vom bewußten Akt der Erkenntnis ausgeht, wie er uns
unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist, würden Kant und viele
Philosophen mit ihm wohl nicht leugnen, daß die Erkenntnis als
bewußter Akt die rezeptive Transzendenz zu besitzen scheint, wie sie
bisher behandelt wurde. Sie werden zugeben, daß uns in der Erfahrung
Gegenstände gegeben sind, die keineswegs mit den bewußten Akten
identifiziert werden dürfen, in denen sie uns gegeben sind. Im
Unterschied zu den "Psychologisten" im früher behandelten Sinn
werden solche Philosophen den rezeptiven Charakter der
Wahrnehmung und, solange man nur den bewußten ("empirischen")
Erkenntnisakt betrachtet, jeder Erkenntnis nicht nur zugeben, sondern
sogar für etwas Selbstverständliches halten, was gar kein tiefes Staunen
verdient. Dennoch können sie in einem ausweglosen Immanentismus
steckenbleiben.162
Der hier gemeinte Immanentismus besteht im wesentlichen in zwei
Grundthesen. Die erste Grundthese lautet:
Es sind uns zwar vom Vollzugsbewußtsein verschiedene
"Gegenstände" gegeben, aber diese sind niemals das Sein, wie es in sich
selber ist, sondern nur wie es uns erscheint; ferner ist zwar unserem
Erkennen, wie es von uns bewußt erlebt wird, jene Rezeptivität: eigen,
in der sich uns die "Gegenstände" erschließen, aber der bewußte Akt
des Erkennens ist nur ein empirisch-psychologischer Ausschnitt aus
dem Gesamtprozeß des Erkennens. Die zweite Grundthese besteht
darin, daß man jenseits unseres bewußten Erkenntnisaktes eine uns
162
Allerdings nur, indem sie den letzten, metaphysischen Charakter der
bisher gewonnenen Einsichten und die weiteren Erkenntnisse verkennen,
die darin beschlossen liegen und gleichsam nur ans volle Licht
philosophischer Bewußtheit "gehoben" werden müssen.
122
nicht selbst gegebene "schöpferische Tätigkeit" ansetzt, 163 die sowohl
das empirische erkennende Subjekt als auch seine "Gegenstände"
schafft, bzw. konstituiert und von deren Existenz der "naive Realist"
gar keine Ahnung hat. Diese jenseits da "rezeptiven", bewußten Aktes
liegende spontane Tätigkeit mache, daß wir niemals die Dinge, wie sie
in sich selber sind, erkennen können, sondern nur scheinbar an sich
seiende Wirklichkeiten, die jedoch im Grunde nichts als Produkte jener
unserem Erkennen heimlich zugrunde liegenden produktiven Tätigkeit
sind.164
163
Daß es sich bei dem nicht-empirischen, transzendentalen Ich um eine
ausgesprochen spekulative Ansetzung, um eine Hypothese handelt, gibt
Kant selbst zu, wie auch Freud oder Jung "das Unbewußte" als eine
Hypothese erklären, die uns keineswegs unmittelbar gegeben ist. Vgl.
Kant, KdrV, B XVI—XIX. Vgl. vor allem unsere Fußnote 226 a, S. 178/79.
Vgl. Freud, Gesammelte Werke, XIII, 65, wo er von der Unsicherheit der
psychoanalytischen Spekulation spricht und von möglichen Antworten auf
die von ihm aufgeworfenen Fragen: "vielleicht gerade solche, durch die
unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird".
164
Die Natur dieser quasi-göttlichen Produktivität wird im Verlaufe der
Arbeit näher ausgeführt werden, besonders auch in der
Auseinandersetzung mit dem späten Husserl. Doch kann vielleicht schon
hier angedeutet werden, welche prinzipiellen Unterschiede zwischen einer
"transzendental-philosophischen Produktivität" und der göttlichen
Schöpfung bestehen: 1. Die transzendentale Subjektivität ist im Gegensatz
zum göttlichen Sein weder Substanz, noch Person, noch lassen sich auf sie
irgendwelche Kategorien und ontologischen Bestimmungen anwenden. 2.
Sie ist der Welt und dem Menschen nicht transzendent wie Gott, sondern
immanent als impersonale Geiststruktur oder apersonale "Schicht" seiner
Seele. 3. Die von ihr hervorgebrachten Gegenstände haben nur die Realität
von "Erscheinungen", die für ein erkennendes Subjekt bestehen, während
die geschaffenen Dinge durch Gott sind, aber nicht bloß "für" Gott
bestehen, sondern ein autonomes, in sich selber ruhendes Sein haben. Das
von Gott "Getragensein" bildet keinen Gegensein zum Ansichsein. 4. Die
von allem Sein vorausgesetzten notwendigen und ewigen Wesenheiten, die
etwa bei Augustinus im notwendigen Wesen Gottes selbst gründen, werden
— was wesenswidersprüchlich ist — in der Transzendentalphilosophie
Kants als etwas Geschaffenes, Erzeugtes, als Folge einer synthetisierenden
Tätigkeit hingestellt und sind vor allem bei ihm "nicht mehr" Prinzipien
der Gegenstände an sich, sondern bloß der gedachten und vorgestellten
123
Was die bewußt erlebte Erkenntnissituation betrifft, wird hier also nicht
die Intentionalität, Rezeptivität und scheinbare Transzendenz unserer
Erkenntnis geleugnet—in dem Sinne, daß sich uns in bezug auf das
"empirische Subjekt" gewissermaßen "objektive" Gegenstände
erschließen, die in keiner Weise in Teile unser Vollzugsbewußtseins
aufgelöst werden, wie im "subjektiven Idealismus", gegen den Kant
sich entschieden wendet.165 Weder die Rezeptivität der Erkenntnis, noch
daß die Objekte jenseits aller Bestimmungen der Akte und
Empfindungen des empirischen Subjekts liegen, wird also bei Kant
geleugnet: Und dennoch erhalten sowohl Transzendenz als auch
Rezeptivität der Erkenntnis in dieser Auffassung einen Todesstoß, weil
es nicht das Seiende an sich selbst ist, das sich unserem Erkennen dieser
Auffassung gemäß erschließt, sondern bloß das von einem unbewußten
Teil des Ich spontan "erschaffene", bzw. durch die Funktionen des
Subjekts bestimmte Objekt, das nicht vom erkennenden Geiste
unabhängig an sich besteht und in diesem Sinne unserem Ich nicht
transzendent ist.
Wenn wir von der Problematik der einer Maschinenwelt entlehnten
Begriffe absehen, wie die "bestimmenden Funktionen", die
"Denkformen" usw., können wir das Problem so fassen: Kann unsere
Erkenntnis im engeren Sinn jemals einen Gegenstand so fassen, wie er
an sich ist, oder kann sie immer nur "Seinsansprüche" erfassen, die sie
in einer Art "Glauben" annimmt, und ist das eigentliche objektive Sein
der Dinge uns verborgen? Diese Frage wurde schon im I. Teil (vgl. S.
72 ff) durch den Aufweis beantwortet, daß kein Schein und keine
Erscheinung (von etwas nicht an sich Seiendem) möglich sind ohne
eine Erkenntnis im engeren Sinn, die sich wesensnotwendig auf das
autonome, an sich seiende Sein von etwas richtet. Im Anschluß an die
Untersuchungen des ersten Teils könnte man die Frage also auch so
einschränken: Was kann Gegenstand unserer Erkenntnis im
eigentlichen Sinn sein? Wo überall sind wir fähig, Seiendes so zu
erkennen, wie es in sich selber ist, unabhängig von all unseren Akten,
Gefühlen, von unserer ganzen Natur? An welchen Punkten können wir
124
die zur Verzweiflung führende Anschauung überwinden, wir könnten
niemals die Grenzen unserer "menschlichen Sicht" des Universums
überschreiten; was die Wirklichkeit in sich, abgesehen von dieser
menschlichen Erfahrungsweise ist, sei uns gänzlich unerkennbar?
Es sind dies die Fragen nach derjenigen Transzendenz unseres
Erkennens, von der nicht nur das Schicksal jeder Erkenntnislehre und
Metaphysik, die "als Wissenschaft wird auftreten können", sondern
auch der Sinn unseres Lebens abhängt und deren Leugnung seit Hume
und Kant ein Grundzug jener Richtung der Neueren Philosophie
geworden ist, die die Menschen am meisten formt. 166
166
Vgl. dazu besonders B. Schwarz, der dies« "geistesgeschichtliche
Phänomen von gewaltigem Ausmaß" den "Kampf der Philosophie gegen
die Wahrheit" nennt, (Wahrheit und Wissenschaft, S. 99). Auch Husserl
weist in seinen Logischen Untersuchungen, bes. Bd. I, S. 116 ff., sehr zu
Recht auf diese Tatsache hin; doch ist er selbst, wie auf S. 233 ff. gezeigt
wird, von den "Ideen" an (1913) einem radilkalen Immanentismus
verfallen.
125
etwas gehalten werden darf, was unabhängig von unserem Geiste—
objektiv—besteht.
Zweitens kann auch behauptet werden, es handle sich um einen
unbewußten Teil des "Ich", der "Person", da "Geistes", der "Seele", das
nach ihm eigenen, unserem bewußten Zugriff entzogenen "Gesetzen"
die Welt des Bewußtseins und ihre "Gegenstände" formt, die also nur
real zu existieren "scheinen", in Wirklichkeit jedoch bloß vom
Unbewußten erfundene "Märchen" seien, von einem Unbewußten, das
nicht nur individuell, sondern wie bei Jung, auch "archetypisch"
aufgefaßt werden mag.
Sehr verwandt mit dieser Form des Immanentismus und der Ursprung
dieser Auffassung ist eine etwas andere, welche nicht einfach ein
psychologisches "Unbewußtes" als schöpferisch-spontanen Ursprung
unserer Erkenntnis ansetzt, sondern ein "transzendentales Ich", eine
"Ichheit", einen "unbewußten Geist" usw., eine Auffassung, die uns bei
Kant und im deutschen Idealismus begegnet. Hier ist es gleichsam ein
unserem Bewußtsein nicht unmittelbar gegeben, sondern ein ihm
vorhergehendes "Vernunftgesetz", "Anschauungsformen" und
"Denkformen", welche aus einem chaotischen Stoff von
"Sinnesempfindungen" oder auch ohne diesen "die Welt" erschaffen.
Bei diesem "transzendentalen Ich" oder wie immer man es auch
genannt hat, handelt es sich nicht um eine substantielle Realität,
sondern um eine "logische"; doch zugleich um ein eminent
"schöpferisches" "Formungsprinzip" hinter dem bewußten (empirisch
genannten) "Ich", das diesem gleichsam alle Gegenstände der inneren
und äußeren "Erfahrung" erschafft. Es war Kants ungeheuerliches
Bemühen, alle Welt davon zu überzeugen, daß alles, was wir erkennen,
kein Sein an sich, das heißt ein Sein jenseits unserer Erfahrung besitze,
sondern daß das Ding an sich uns radikal unbekannt sei und damit nur
als ein—schon bei Fichte wegfallender—negativer Grenzbegriff
gedacht werden kann, während demnach die Welt der Erscheinung
("wie uns die Wirklichkeit erscheine") das einzig Bekannte wäre.
Eine vierte Grundform dieses Immanentismus wäre die von Descartes
widerlegte, aber im Schopenhauerschen Weltwillen und in gewissen
Nietzsche-Stellen wiederkehrende Vorstellung eines uns überlegenen
Geiste, oder "Weltwillens", eines "spiritus malignus", der uns in allem
täuschen möchte und uns vorgaukelt, was nicht ist. Nichts von dem,
was wir erkennen, wäre demnach unabhängig von uns, sondern dies
alles bliebe der von einem bösen Geiste uns vorgestellte "Schein".
126
Diese Position ise deshalb die weitaus tiefste, weil sie die ungeheure
"Erfindungskraft" und "Phantasie", die nötig ist, um eine Welt auch nur
"als Vorstellung" zu erschaffen, nicht einem impersonal-geistigen,
unbewußten oder gar materiellen Prinzip zuschreibt, sondern einem
allmächtigen Wesen, dem die Wahrhaftigkeit und die Urgüte fehlt.167
Eine fünfte Form dieses Immanentismus machte ich hier nur andeuten,
weil sie sich eigentlich jeglicher rationalen Darstellung entzieht, da sie
die Aufhebung aller logischen und metaphysischen unwandelbaren
Prinzipien und Wesenheiten einschließt und damit die
irrationalistischste Philosophie darstellt, die man sich vorstellen kann.
Ich meine die Philosophie Hegels.168 Das Denken dieses Giganten läßt
sich durch seine fundamentale Verwirrung nicht fassen. Der werdende
Gott, der sich selbst dialektisch entfaltende Weltgeist denkt hier
gleichsam "in" mir, und es handelt sich sowohl in meinen Akten als
auch in den Objekten meines Erkennens letztlich nur um denselben
Geist, der sich bewegt und entfaltet und wieder aufhebt und der
ausmacht, daß alles, was eine geistige Struktur besitzt, indem es
gedacht wird, gleichsam zu sich selbst zurückkehrt und damit das Sein
selbst ist. "Denken ist Sein" und "die Wahrheit ist das Ganze" (aller
Wirklichkeit, aller Gedanken, aller Gegensätze) — in diesen beiden
Sätzen drückt sich die wahrhaft babylonische Verwirrung aus, in die
Hegels Philosophie führt und in der die ganze klassische Fragestellung
Descartes' aufgehoben wird. Der Immanentismus liegt hier darin, daß
es letztlich nur einen Geist gibt und daß mein Denken das Denken
dieses Geistes ist, weshalb seine Wahrheit nicht mehr in irgendeiner
Übereinstimmung mit einem objektiven Sein liegen kann (bzw. in der
Tatsache, daß ich das Bestehen von Sachverhalten behaupte, die "an
167
Wieder anders ist die im Averroismus vertretene Lehre von der einen
Weltvernunft, in der sich unser Denken abspielt.
168
Diesen absoluten Irrationalismus in Hegels Philosophie hat R. Kroner in
seinem Buch Von Kant zu Hegel, bes. Bd. II, S. 267—273, klar
hervorgehoben, wenn auch in anderer Betonung als es hier geschieht. So
sagt Kroner (a. a. O., S. 271): "Hegel ist ohne Zweifel der größte
Irrationalist den die Geschichte der Philosophie kennt."
127
sich" bestehen),169 sondern der immanente geistige Vollzug da
Weltgeistes selbst ist, an dem ich in "Irrtümern" und "Erkenntnissen"
teilhabe, in dem ich gleichsam "schwimme". Hegels Philosophie ist
damit nicht deshalb "wahrer"—seiner Meinung nach — als irgendeine
andere, weil sie deren Irrtümer erkennt oder weil sie mehr vom
objektiven Sein erkennt, sondern weil sich in ihr der gesamte "Prozeß"
in einem viel reicheren Maße "bewußt" wird.
Also stellt die Position Hegels in gewissem Sinn die "Krönung" all
dieser Formen des Immanentismus dar. Nachdem sie mit Kant die
Erreichung des jenseits unseres Erkenntnisaktes liegenden, objektiven
und transzendenten Seins geleugnet hat, leidet sie nicht an dieser
verzweiflungsvollen Lage, sondern erklärt den immanenten Vollzug
des Denkens selbst und sein geschichtliches Wachstum für identisch
mit dem Sein, mit Gott und damit für die "Wahrheit selbst".
Auch Martin Heidegger hat bekanntlich durch seinen Begriff da "In-
der-Welt-Seins" den Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus
aus der Welt schaffen und für ein Scheinproblem erklären wollen. 170
Indem er die entscheidende Bedeutung dieser Urfrage der Philosophie
und des Menschen, von der letztlich sogar alles wahre Glück abhängt,
abgetan hat, ist es ihm gelungen, die "philosophische Welt" weitgehend
davon zu überzeugen, daß Kant mit seinem Angriff auf die klassische
169
B. Bolzano bemerkt schon 1837 in seiner Wissenschaftslehre, I, 1, § 44.
mit Recht: "Einen ganz eigenen Weg zur Widerlegung des Skeptizismus"
schlage die Identitätsphilosophie (Schelling u. a.) ein, die zu bemerken
glaube, "daß keine vollkommene Wahrheit stattfinden könnte, wenn nicht
das Subjektive und das Objektive, die Vorstellung und ihr Gegenstand in
einer gewissen Rücksicht ein und dasselbe wären." Bolzano setzt hinzu
"daß diese Verwirrung durch die bisher gewöhnliche Erklärung der
Wahrheit begünstigt worden sei... Denn wenn man die Wahrheit für's erste
schon nicht als ein Prädikat bloßer Vorstellungen, sondern nur ganzer
Sätze, ferner nicht als eine nur den gedachten, sondern als eine auch
objektiven Sätzen zukommende Beschaffenheit betrachtet, endlich nicht
durch das vieldeutige Wort Übereinstimmung, sondern nur dadurch erklärt
hätte, daß sie diejenige Beschaffenheit eines Satzes sei, zufolge der er
gewissen Gegenständen eine Beschaffenheit beilegt, die ihnen wirklich
zukommt: gewiß, dann würde es unsern Identitätsphilosophen, wenn nicht
unmöglich, doch bei weitem schwerer geworden sein, ihr Identifizieren
hier anzubringen." (A. a. O., S. 60.)
170
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, S 43. S. 202—208.
128
Metaphysik und die Transzendenz (ihr Herz) keine "revolutionierende
Tat", keine "kopernikanische Wende" begangen hat, welche einen
wahren Menschen, wie Heinrich von Kleist einer war, zur
Verzweiflung bringen mußte.
171
"Subjektiv" bedeutet hier einen Mangel, wie aus der folgenden Stelle
klarwird. Vgl. dazu die zentral wichtige Klärung sechs verschiedener
Bedeutungen des Wortes "subjektiv" in D. von Hildebrands What is
philosophy?, S. 153—158.
129
kann: Esse est percipi. Dieser "See" existiert auch nicht etwa "in mir",
sondern er existiert überhaupt nicht real. Sein ganzes "Sein" beschränkt
sich darauf, daß er einem Subjekt zu sein scheint. Dieses "Sein"
versinkt ins Nichts, sobald ich vom perzipierenden Subjekt absehe.
Zugleich aber ist dieser See nicht etwa in dem positiven Sinn
subjektiv,172 daß er Teil eines realen Subjektes wäre, wie der voll reale
Akt des Getäuschtwerdens, sondern ungleich diesem "prätendiert" er,
unabhängig vom Subjekt zu existieren, das ihn wahrnimmt.
Unsere Frage lautet also nun, welche Wirklichkeiten überhaupt nicht
sind, wenn sie keine von einem erkennenden Subjekt unabhängige
Existenz besitzen.
Um diese Frage noch besser zu verstehen, sollte man jedoch nicht nur
an eine Halluzination oder Illusion eines Individuums denken, also an
eine Relativität für ein Individuum, sondern auch an die Möglichkeit,
daß alle Menschen so organisiert wären, daß ihnen dieselben Dinge zu
sein schienen, die aber an sich nicht so wären, wie sie zu sein
prätendieren, die wir also niemals in ihrem objektiven Sosein an sich
erkennen könnten.
Selbst wenn es sich dabei nicht bloß um eine psychische Bedingung
handelte, wie vielleicht bei Berkeley oder Hume, sondern um eine
allgemein-menschliche Verstandeskonstruktion, wie bei Kant
angenommen wird, welche uns verhindert, jemals das objektive, von
jedem erkennenden Subjekt unabhängige Sein so zu erreichen, wie es
in sich selber ist, wird diejenige Transzendenz der Erkenntnis
geleugnet, die in diesem Kapitel behandelt werden soll.
An dieser Stelle ist die Frage jedoch noch nicht am Platze: Wo ist es
mit absolut unbezweifelbarer Gewißheit möglich, die objektive
Wirklichkeit erkennend zu berühren?, sondern: Welche Wirklichkeiten
beanspruchen überhaupt, unabhängig von unserer subjektiven Anlage
und unseren Akten so zu existieren, wie wir sie erkennen? Zählen wir
zunächst nur die wichtigsten auf: Raum, Zeit, was in ihnen sich
vollzieht, also räumliche Bewegung, materielles Sein als substantielles
Sein, zeitliche Entfaltung, Werden, Wachstum, Pflanzen und Tiere,
andere Personen, wir selbst als objektive, metaphysische Personen
(nicht nur als uns selbst "erscheinend"), alle Wesenheiten und
172
Subjektiv in diesem Sinn heißt personal und schließt nicht den
geringsten Gegensatz zur voll objektiven, realen Existenz ein, die die
Person ja in besonderer Weise besitzt. Vgl. a. a. O., S. 124, 146, 153—155.
130
Wesensgesetzlichkeiten bzw. -sachverhalte; an letzter und höchster
Stelle Gott. Und selbst für Ihn leugnet schon Kant 173 und vor allem ein
Großteil moderner "Theologen", daß er jenseits des Bewußtseins aller
Menschen, an sich, vor und nach aller Geschichte IST — d. h. man
leugnet die Transzendenz Gottes.174 Alle diese Wirklichkeiten, die hier
aufgezählt wurden, beanspruchen einsichtigermaßen auf Grund ihres
Wesens, vollkommen objektiv in sich selber zu existieren, als Dinge an
sich, und weder einem einzelnen Individuum, noch auch der ganzen
Menschheit oder Gott selbst bloß zu "erscheinen".
All diese Wirklichkeiten, soweit wir sie erkennen und soweit wir sie
nicht erkennen, müssen nicht nur "absolut unbekannt und als
Grenzbegriff" "an sich" existieren, sondern ebenso, wir sie erkannt
werden und als solche unabhängig von uns zu sein vorgeben—sonst
sind sie überhaupt nicht.175 Dies kann erst am Schluß des Kapitels voll
173
In KdrV, am klarsten B 846—847, B 643—647. Vgl. vor allem
Metaphysik der Sitten, II, I, I, II. Hauptst., 2. Abschn. (Das, was Pflicht des
Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten.) § 18
(A 109), a. a. O., S. 579 f.: "In Ansehung dessen, was über unsere
Erfahrungsgrenze hinaus liegt, aber doch seiner Möglichkeit nach in
unseren Ideen angetroffen wird, z. B. der Idee von Gott, haben wir
ebensowohl auch eine Pflicht, welche Religionspflicht genannt wird, die
nämlich 'der Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher
Gebote'. Aber dieses ist nicht das Bewußtsein einer Pflicht gegen Gott.
Denn, da diese Idee ganz aus unserer eigenen Vernunft hervorgeht, und
von uns, sei es in theoretischer Absicht, um sich die Zwecksmäßigkeit im
Weltganzen zu erklären, oder auch, um zur Triebfeder in unserem
Verhalten zu dienen, von uns selbst gemacht wird, so haben wir hierbei
nicht ein gegebenes Wesen vor uns, gegen welches uns Verpflichtung
obläge: denn da müßte dessen Wirklichkeit allererst durch Erfahrung
bewiesen (geoffenbart) sein; sondern es ist die Pflicht des Menschen gegen
sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft sich darbietende Idee auf das
moralische Gesetz in uns, wo es von der größten Fruchtbarkeit ist,
anzuwenden." (Vgl. auch S. 168, Anm. 213 dieser Arbeit.)
174
Dies soll ausführlich in einer Arbeit über philosophische
Gotteserkenntnis behandelt werden.
175
Ihre Existenz "an sich" zu leugnen, bedeutet, sie zu einem bloßen
"Schein" zu erklären, was auch nicht besser wird, wenn man diesen, wie
Kant, "Erscheinung" nennt. Kant selbst sieht dies an manchen Stellen. Vgl.
KdrV, B 297—315, B 350—355.
131
begriffen werden, hier muß man nur darauf hinweisen, um überhaupt
die Transzendenz der Erkenntnis zu verstehen, die jetzt behandelt
werden soll und die besagt, wir erkennten diese Wirklichkeiten, wie sie
nicht nur jenseits unseres bewußten Erkenntnisaktes zu sein scheinen,
sondern wie sie jenseits unseres Bewußtseins und unabhängig von ihm
in sich sind.
Einen besonderen Fall, der weder als bloß subjektiver Schein existiert
und auch nicht als allgemein menschlicher Schein, bildet der humane
Aspekt der Außenwelt, der weder unabhängig von jedem
perzipierenden Subjekt besteht, noch ein bloß "subjektiver" Eindruck
ist, sondern eine objektive Erscheinung, ein objektiver, das heißt
gültiger und eigentlich gemeinter "Aspekt der Außenwelt".176
So "beansprucht" etwa eine Farbe nicht, unabhängig von jedem
wahrnehmenden Subjekt als Eigenschaft der Materie zu bestehen;
ebenso ist die Perspektive oder auch das Relationsverhältnis der
Außenwelt zu unserem eigenen Leib, das alle unsere Wahrnehmungen
formt und das bei einem Riesen oder winzigen Zwerg ganz anders
wäre, als es bei uns ist, für diesen "humanen Aspekt der Außenwelt"
entscheidend. Dieser gibt sich als ein tief sinnvoller, objektiv gemeinter
"Aspekt" der Außenwelt.
Dagegen sind der Raum oder die Zeit177 selbst oder die Ausdehnung der
materiellen Substanzen oder auch die Energiekräfte, die Tiere und
Pflanzen usw. ganz offenbar eine reine Illusion, wenn sie nicht
unabhängig von jedem wahrnehmenden Subjekt existieren. Am
deutlichsten ist dies bei einer Person. Wenn diese nur von einer anderen
realen Person vorgestellt oder halluziniert würde, wäre sie nicht: All
diese Wirklichkeiten—so können wir mit letzter Evidenz einsehen —
176
Dies hat meiner Überzeugung nach wiederum am klarsten D. von
Hildebrand in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk What is
philosophy? (Kap. V.) herausgearbeitet.
177
Vgl. dazu vor allem B. Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, S. 78, S.
114. Vgl. auch H. C.-Martius, Der Raum und Die Zeit. Zur Auflösung der
Zenonischen "Aporien" bezüglich des Raumes und der Zeit vgl. vor allem
A. Reinach, Vom Wesen der Bewegung, in: Gesammelte Schriften, S.
406—461.
132
"geben vor", unabhängig von all den Akten, in denen ein Subjekt sie
erkennt, so zu bestehen, wie sie erkannt werden. 178
Wenn wir niemals entscheiden könnten, ob vielleicht keines dieser
Dinge in sich so ist, wie es uns zu sein scheint, und in diesem vollen
Sinn jenseits unseres Geistes ist, wenn alle diese Dinge vielleicht nur
uns (oder allen Menschen) "an sich zu sein" schienen und unabhängig
von unseren Erkenntnisakten absolut nichts oder etwas total anderes,
Chaotisches wären, wenn wir damit rechnen müßten, daß die ganze
Welt nur als "unsere Vorstellung" im Sinne Schopenhauers bestünde,
dann wären wir in einer grauenvollen Weise in das Gefängnis unserer
Immanenz eingesperrt und könnten niemals wissen, wie das Seiende,
das so elementar an sich und metaphysisch zu sein scheint, wirklich ist.
Das Schlimmste wäre, daß die Welt des Wertvollen, dessen, was sich
in sich, auf Grund seines Wesens aus dem Indifferenten herauszuheben
scheint, dann vielleicht "in Wirklichkeit" an sich neutral und absolut
indifferent wäre. Wenn es uns fraglich bliebe, ob nicht die Welt des in
sich Sinnvollen, des in sich Kostbaren und Wertvollen, letzten Endes
doch keine Proprietät des Seins an sich wäre, 179 sondern nur eine
menschliche "Projektion" in die Dinge, so wäre Verzweiflung die
einzig gebührende Antwort, eine Antwort, die Heinrich von Kleist
gegeben hat.180
Zum Abschluß muß noch die Frage genauer gestellt werden, was denn
eigentlich mit "an sich sein" und mit "unabhängig von jedem
erkennenden Subjekt" gemeint ist. Darauf muß erstens geantwortet
werden, daß damit der Gegensatz zu jedem "für ein Subjekt Bestehen",
bzw. der Gegensatz zu all dem gemeint ist, was nur einem Subjekte
scheint bzw. erscheint. Von "Schein" sprechen wir dort, wo etwas
wesenhaft eine autonome Existenz "beansprucht" (wie etwa ein Haus
178
Ihnen gegenüber ist ein "Erzrealismus" (Goethe) die einzig richtige
Philosophie.
179
Daß sie dies sind, legt D. von Hildebrand in Christliche Ethik, bes. in
Kap. 7 und Kap. 9, dar.
180
Vgl. dazu die Einleitung zu diesem Buch. Vgl. auch D. von Hildebrand,
Christliche Ethik, Kap. 17, 18.
133
oder eine andere Person) und diese nicht besitzt, sondern wo nur einem
Subjekt scheint, daß etwas solcherart existiert. Von "Erscheinung"
sprechen wir in dem hier gemeinten Zusammenhang überall dort, wo
es zur "Seinsweise" von etwas gehört, ein nur von einer Person
wahrnehmbarer "Aspekt" einer Sache zu sein. Solcherart sind Farben
oder Töne, die perspektivische Sicht der Außenwelt, unser "subjektiv"
Zeiterlebnis (etwa was wir als "lange" oder "kurz" empfinden), unser
Erlebnis von Entfernungen als "groß" oder "klein", was von unserer
Körpergröße etc. abhängt. Dies und vieles andere "beansprucht" in
keiner Weise, unabhängig von jedem Subjekt als autonome Realität der
Dinge zu existieren. Es ist deshalb kein "Schein", sondern eine
"Erscheinung", die in dem Maß objektiv, d. h. gültig ist, als sie nicht
bloß zufällig und auf ein einzelnes Subjekt relativ ist (wie etwa, daß
zwei Personen derselbe Weg ganz verschieden lang vorkommt),
sondern in sich sinnvoll und daher zum humanen Aspekt der
Wirklichkeit gehört (wie etwa Farben und Töne etc.). Für diese
Wirklichkeiten ist es also vollkommen "legitim", daß ihre
Existenzweise eben darin "besteht", daß sie sich nur für ein Subjekt
konstituieren, ja sie können gar nicht anders existieren denn als
"Erscheinung". Um diese Art der Existenz zu verstehen, muß man das
Wesen des bewußten, personalen Seins betrachten, das von etwas
Bewußtsein haben kann und so wird man sehen, daß darin die
Möglichkeit gründet, daß es gewisse Aspekte oder auch Realitäten
(Töne etwa, die nicht eigentlich Aspekte sind) geben kann, die
wesenhaft nur als Erscheinung für ein Subjekt existieren können, deren
erfüllte Existenzweise sich erst in ihrem Wahrgenommenwerden
konstituiert.
Während dies aber bei "Erscheinungen" die in ihrem Wesen gründende
reale Existenzweise ist, Gegenstand eines Bewußtseins von Subjekten
zu sein, können zuweilen auch solche "Dinge" nur als "Objekte für ein
Bewußtsein von" existieren, die damit zu einem bloßen nichtigen
Schein herabsinken, weil zu ihrer Realwerdung wesensnotwendig
gehört, daß sie nicht bloß für ein Subjekt existieren, nicht bloß von ihm
wahrgenommen werden. Am allermeisten gehört dies zum Wesen jedes
Subjektes, jeder Person, voll real zu existieren und niemals bloß als
"Objekt" eines "Bewußtseins von" einer anderen Person zu "sein". Eine
von mir bloß vorgestellte oder ausgedachte Person existiert überhaupt
nicht als Person. Es kann zwar jedes Seiende bloß als "Objekt" eines
"Bewußtseins von" "existieren", aber nur für die "Erscheinungen"
134
bedeutet dies die ihnen eigene Existenzweise. (Wenn ich etwa im
Traum ganz bewußt und vernehmlich einen Satz einer
Beethovensymphonie hören könnte, dann wären zwar keine von außen
kommenden Schallwellen da, die "Einbettung" der Symphonie in die
reale Welt würde fehlen, aber ich hätte dennoch die "wirkliche"
Symphonie gehört, die sich in den Tönen konstituiert, die ich wirklich
wahrgenommen habe. Für die Töne gilt "esse est percipi" in dem Sinne,
daß ihre volle Existenzweise als Töne eben darin besteht, Objekte des
Hörens, des "Bewußtseins von" zu sein.) Im Augenblick hingegen, in
dem etwa eine Person nur von einer andern im Traum wahrgenommen
wird, sinkt sie zu einem "bloßen Schein" herab. Zu ihrem Wesen gehört
es nämlich, an sich, d. h. nicht bloß als Gegenstand eines Bewußtseins
von einer anderen Person zu existieren. 181
181
Wenn gesagt wurde, daß eine im Traum deutlich gehörte Beethoven-
Symphonie kein bloßer Schein ist wie eine im Traum wahrgenommene
Person, die nicht wirklich existiert, wenn ferner gesagt wurde, daß sich das
"objektive Sein" der Symphonie in ihrem Wahrgenommenwerden
konstituiert und nicht unabhängig von den es wahrnehmenden Subjekten
"an sich" ist, so sollen damit zwei wesentliche Bezüge zur Realität nicht
geleugnet werden, die eine im Konzertsaal von einer im Traum
vernommenen Symphonie unterscheiden und die uns erlauben, in
gewissem Sinn die erstere als "wirkliche" der geträumten Symphonie
entgegenzustellen. Wir haben diese Elemente schon erwähnt. — Erstens ist
eine Symphonie durch die Tatsache, daß sie von wirklichen Musikern real
aufgeführt wird, daß viele an sich bestehende Umstände vorliegen, in die
das Klangbild einer Symphonie sich organisch einfügt, in das Gesamt der
Realität einbezogen, was bei der bloß geträumten Symphonie fehlt.
Zweitens: Während zwar Töne nicht wie Farben als Eigenschaften realer,
an sich bestehender Körper auftreten, so sind sie doch darauf bezogen,
nicht nur einer individuellen Person zu erscheinen, sondern prinzipiell allen
Menschen. Während die im Traum gehörte Symphonie nur einer einzelnen
Person erscheint bzw. von ihr wahrgenommen werden kann, besteht eine
ganz neue Realitätsdimension einer Symphonie darin, daß alle in einem
Raum vereinigten Menschen sie hören können. Diese beiden Elemente
treten deutlich hervor, wenn wir etwa an Rufe eines Menschen denken, die
dieses Eingebettetsein in die Realität verlieren, wenn sie nicht von einem
rufenden Menschen ausgehen und wenn nur ich, nicht andere Menschen
am selben Ort sie hören können.
135
Damit schließe dieser Begriff des "an sich" auch die Unabhängigkeit
von jedem kontingenten Subjekt in dem Sinne ein, daß diese Dinge
gänzlich unabhängig davon existieren, ob andere Subjekte überhaupt
sind oder nicht sind oder ob überhaupt irgendein kontingentes Subjekt
ist. Denn eine Abhängigkeit von einem geschaffenen Subjekt würde
wohl bedeuten, daß etwas nur "für" dieses Subjekt als Objekt seines
"Bewußtseins von" existierte. Von diesem muß es aber unabhängig
sein, um an sich zu sein, was für viele Wirklichkeiten die ihrem Wesen
nach einzige Weise ihrer Realisierung ist.
Nicht aber müßte ein "Ding an sich" von anderen Tätigkeiten eines
Subjektes unabhängig sein, die nichts mit einem bloßen "Bewußtsein
Wenn uns auch dieses Eingebettetsein in die Realität erlaubt, von einer
"tönenden" und "färbigen" realen Außenwelt zu sprechen, hebt dies
dennoch den Wissensunterschied nicht auf, daß sich die Realität von
Farben und Tönen im Wahrgenommenwerden durch Personen konstituiert,
während es andere Seiende gibt, die "an sich" und keineswegs nur im
"Objektsein für Subjekte" existieren.
Daß in gewissem Sinn auch bloß im Traum wahrgenommene Töne
"wirkliche" und nicht "scheinbare" Töne sind, leuchtet durch zwei
Überlegungen noch klarer in dem Sinn des damit Gemeinten auf. Wenn wir
uns erstens auf das Vernehmen einer reinen, schönen Melodie beschränken
die nicht von anderen Menschen herzukommen scheint, sondern in der
gleichsam nur uns selbst jene Musik vernehmlich würde, die wir in einem
Augenblick großer Freude anstimmen machten, dann wird klar, daß wir
hier wirkliche Töne und nicht bloß "scheinbare" Töne hörten, auch wenn
diese nur im Wahrgenommenwerden durch uns selbst sich konstituieren
würden. Das schließt nicht aus, daß noch ein neuer Bezug zur Realität
hinzutreten würde, wenn diese Töne auch für andere Personen hörbar
würden.
Zweitens wird klar, daß auch im Falle, daß eine Musik nur im Traum von
Instrumenten her und für alle Menschen vernehmlich aus einer bestimmten
Richtung eines Raumes zu kommen scheint und dabei "vorgibt", von
anderen Personen hervorgerufen zu werden, der hier vorliegende "Schein"
nicht die Töne qua Töne, sondern nur ihre wesentlichen Bezüge zur
"Realität an sich" betrifft. Vor allem aber konstituiert sich das objektive,
reale "Sein" von Tönen und Farben nur im Wahrgenommenwerden durch
Personen und besteht niemals "an sich" wie die Seienden, in die Farben und
Töne gleichsam "eingebettet" sind und die unabhängig von ihrem
Wahrgenommen werden durch Personen sind.
136
von" zu tun haben. Wenn ein Künstler eine Kathedrale schafft, so
besteht diese zwar nur durch ihn, aber nicht nur "für ihn", sondern
unabhängig von ihm auch nach seinem Tode und der Steinbau existiert
unabhängig von allen bewußten Akten, in denen jemand ihn erkennt.
Deshalb bedeutet auch die zu unserem Begriff des "an sich Seins"
gehörende Unabhängigkeit in keiner Weise, daß ein Seiendes nicht von
Gott geschaffen und erhalten sein dürfte.181a Denn in dem Sinne existiert
ja nichts unabhängig außer Gott allein. Wohl aber bedeutet es, daß
etwas nicht als bloßer "Gedanke" Gottes existiert, sondern die ihm
eigene autonome Existenz besitzt, die man erfassen kann, ganz ohne an
die Tatsache zu denken, daß Gott dieses Seiende schafft und erkennt
und die jedem Seienden in verschiedener Weise wesenhaft als jeweils
"seine Form der realen Existenz" eigen ist.
Bei den notwendigen Wesenheiten gehört zu ihrer Unabhängigkeit
sogar, daß sie von veränderbaren Willensentschlüssen Gottes
unabhängig sind, wie in den entsprechenden Abschnitten ausgeführt
werden wird. Sie müssen also auch unabhängig sein im Sinne von
ungeschaffen. Allerdings mag es auch für sie eine nur spekulativ zu
ertastende "Abhängigkeit" geben, insoferne sie nicht außerhalb und
getrennt von Gott existieren, sondern wohl in seinem unveränderlichen
Wesen irgendwie grundgelegt sind und es abbilden, wie dies etwa die
mittelalterliche Philosophie seit Augustinus und besonders
Bonaventura in kühnen Spekulationen ausgeführt hat. 182 Die in unserem
Zusammenhang primär mit "an-sich-seiend" gemeinten Dinge sind jene
Wirklichkeiten, die ohne eine an sich seiende Realität oder
181a
Die Herausarbeitung der Kontingenz der Welt und der Existenz Gottes
erforderte eine eigene Arbeit, die hier nicht unser Thema ist, jedoch
durchaus in den Aufgabenbereich der Philosophie fällt und den Glauben
nicht voraussetzt. — Hier beschäftigt uns überdies die Natur der
Abhängigkeit der Welt von Gott nur unter dem Gesichtspunkt ihrer
Verschiedenheit von jener "Abhängigkeit", die einen Gegensatz zur An-
sich-Existenz der Welt bilden würde. Bei dieser Abgrenzung setzen wir
nicht einmal die Gottesbeweise, geschweige denn den Glauben an die
Offenbarung voraus oder besser, die Wesensunterschiede zwischen diesen
beiden Formen der "Abhängigkeit" sind schon vor der Anerkennung der
realen Existenz Gottes verständlich.
182
Vgl. dazu Etienne Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura, Kap. 4,
7.
137
Substantialität, welche niemals durch das bloße "Gedachtwerden" (sei
es notwendiger oder zufälliger Weise) ersetzt werden kann, überhaupt
nicht real werden können. Die in diesem Teil betonte Unabhängigkeit
und in sich ruhende Existenz bedeutet also den totalen Gegensatz zu
jedem bloßen Gedacht- oder Vorgestelltsein von einem Bewußtsein.
Alle genannten Wirklichkeiten wären also keine "Erscheinung",
sondern ein bloßer "Schein", wenn ihr Sein in einem "Gedachtsein"
oder "Objektsein" für einen oder alle Geister, Gott inbegriffen,
aufginge. Und deshalb ist auch die Reduzierung von Seinsgesetzen
(unabhängigen, an sich seienden in unserem Sinn) auf Denkgesetze das
Ende jeder Metaphysik, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob
diese "ewigen Gesetze der Wirklichkeitskonstitution" 183 nur in einem
individuellen Bewußtsein, im menschlichen Geiste als solchem oder in
allen Geistern, Gott eingeschlossen, gründen würden.
Um den hier herauszuarbeitenden Begriff des "An-sich-Seins" noch
klarer zu fassen, muß man ihn von einem weiteren Sinn des "An-
sich-Seins" abheben. Denn natürlich gibt es überhaupt kein Sein, kein
"Etwas" noch auch irgendeine Relation oder einen "Traumgegenstand",
die nicht zugleich an sich sind und an sich als eben dieses "Etwas"
bestehen. Der Begriff eines Seins für jemanden ist in diesem Sinne
ebenso widersinnig wie der einer Wahrheit für jemanden. Wenn ich
etwa einen schwarzgelockten Traum-Herrn sehe, ist dies "an sich" so,
und es ist nicht nur für mich, sondern an sich falsch, daß der von mir
gesehene "Traum-Herr" blondgelockt sei.184
Auch der "bloße Schein" einer bloß als Objekt eines "Bewußtseins von"
bestehenden "geträumten Person" besitzt diese schwächste Seinsweise
(nämlich "Objekt eines Bewußtseins" und nichts weiter zu sein) "an
sich". Es ist wirklich und in diesem Sinne "an sich'' so, daß dieser
Traum-Mensch Objekt meines "Bewußtseins von" ist.185
183
Von solchen "Gesetzen" spricht etwa O. Blaha in seinem Buch Die
Ontologie Kants im Zusammenhang mit seiner besonderen,
"ontologischen" Kant-Interpretation.
184
Vgl. dazu auch Andreas Konrad, Untersuchungen zur Kritik des
phänomenalistischen Agnostizismus und des subjektiven Idealismus, Bd. I,
S 7, S. 23—25, wo dies mit außerordentlicher Klarheit aufgewiesen wird.
185
Seine wirkliche Existenz als Person, die ich im Traum für real halte, ist
auch nicht im weitesten Sinn des Begriffs "an sich". Sie ist vielmehr
138
Aber in dem jetzt zu behandelnden und von Kant primär gemeinten
Sinn bedeutet "An-sich-Sein" gerade den Gegensatz zu allem, dessen
"Sein" sich darin erschöpft, "Objekt" des Denkens und Wahrnehmens
von Subjekten zu sein. Jene "Seienden" im weitesten Sinn des Wortes
also, deren "Sein" nur darin besteht, einem Subjekt zu scheinen oder zu
erscheinen und die "außer seiner Vorstellung keine eigene Existenz
haben", dürfen in dem spezifischen Sinn des Wortes nicht "an sich
seiend" genannt werden.
Es handelt sich also in den folgenden Untersuchungen bei der Frage
nach dem "an sich Seienden" nicht um die Frage nach dem, was
überhaupt ist und damit im weitesten Sinn des Wortes "an sich" ist,
sondern es geht vielmehr um die entscheidende Frage nach dem, was
weder Erscheinung für Subjekte noch ein diesen bloß scheinendes
Etwas, sondern was "in sich ist" in dem Sinne, daß sein Sein nicht nur
in dem Objektsein für Subjekte Bestand hat.
Der Kantische Idealismus und Subjektivismus gründet, wie besonders
deutlich aus einer Stelle in den Prolegomena hervorgeht, in der
Verwechslung zwischen den Dingen, in deren Wesen es liegt, bloß als
Erscheinung für Subjekte zu existieren, und denen, in deren Wesen es
umgekehrt liegt, an sich zu existieren, unabhängig davon, ob sie von
einem Subjekt erkannt werden oder nicht. Indem er auch alle diese
Dinge unter die "Erscheinungen" einordnet, vollzieht Kant, wie ihm
scheint, einen geringen, in Wirklichkeit einen ungeheuren Schritt, der
— wenn er auf Wahrheit beruhte — uns zu jener Verzweiflung führen
müßte, die H. von Kleist angesichts der Kantischen Philosophie
erlebte.186
überhaupt nicht. Also kann eine Person auch etwas für real seiend halten,
was in überhaupt keinem Sinne ("an sich") ist.
186
Vgl. die Einleitung dieser Arbeit.
139
die Ausdehnung, den Ort und überhaupt den Raum mit allem, was ihm
anhängig ist (Undurchdringlichkeit, Materialität, Gestalt etc.), auch mit
zu den bloßen Erscheinungen zähle, dawider kann man nicht den
mindesten Grund der Unzulässigkeit anführen; und so wenig wie der,
so die Farben nicht als Eigenschaften, die dem Objekt an sich selbst,
sondern nur dem Sinn des Sehens als Modifikation anhängen, will
gelten lassen, darum ein Idealist heißen kann: so wenig kann mein
Lehrbegriff idealistisch heißen bloß deshalb, weil ich finde, daß noch
mehr, ja alle Eigenschafen, die die Anschauung eines Körpers
ausmachen, bloß zu seiner Erscheinung gehören: denn die Existenz des
Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht, wie beim wirklichen
Idealismus aufgehoben, sondern nur gezeigt, daß wir es, wie es an sich
selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können... Hieraus läßt sich
nun ein leicht vorherzusehender, aber nichtiger Einwurf gar leicht
abweisen: 'daß nämlich durch die Idealität des Raums und der Zeit die
ganze Sinnenwelt in lauter Schein verwandelt würde'." 187
Prolegomena, S 13, Anm. II (289, 290). Vgl. dazu auch das Folgende in
187
140
erläuterten Sinne beansprucht. Es soll irgendein Mensch unternehmen,
zu sagen, was — außer einem radikal unaussagbaren und irrationalen
Grenzbegriff—vom Menschen übrigbleibt von an sich seiender
Realität, wenn die Zeit nicht an sich, sondern nur als Erscheinung
existiert, "die außer unserer Vorstellung keine Existenz hat"!
188
Vgl. dazu M. Heideggers Diskussion von "Phänomen", "Erscheinung",
"bloße Erscheinung", "Schein" etc. in: Sein und Zeit, § 7 A (S. 28 ff.).
189
Vorausgesetzt, daß dieser "Mann" wirklich nur als Ausgeburt der
Phantasie des fiebernden Iwan aufzufassen ist. Vgl. F. Dostojewskij, Die
Brüder Karamasow: "Der Fiebertraum".
141
Konstitution sämtliche Menschen diese Gestalt des Fiebertraums
halluzinieren müßten: Denn das Steckenbleiben des Fiebernden in
seiner Immanenz hat ausschließlich darin seinen Grund, daß diese
Person "an sich" zu existieren scheint, jedoch in Wirklichkeit nicht
unabhängig vom "Objektsein für seinen Geist" (oder für alle Geister!)
an sich ist. Und deshalb wird das Steckenbleiben in unserer Immanenz
auch einzig und allein dann überwunden, wenn all die Wirklichkeiten,
die auf Grund ihres Wesens die erwähnte "an-sich-Existenz"
beanspruchen, tatsächlich an sich sind. Wenn daher anstatt einer
zufälligen psychologischen Konstitution allgemeine,
gesamtmenschliche Anschauungsformen und Kategorien die uns
"erscheinende" und nicht "an sich seiende" Welt aus einem Chaos von
Empfindungen, die von einem uns absolut unbekannten Ding an sich
herrühren, erschaffen würden, dann wäre diese Welt in Beziehung auf
die einzig entscheidende Frage nach den "Dingen an sich" eine
ebensolche Scheinwelt wie die Welt des Fiebernden. Wenn die Gesetze
des reinen, transzententalen Ego den Gegenstand "konstituieren", der
unabhängig vom erkennenden Subjekt, durch dessen intentionale Akte
er begründet wird, nicht an sich ist, dann ist diese Auffassung Kants
oder des späten Husserl ein Immanentismus, der uns noch viel radikaler
von der transzendenten Welt abschneidet, als die Fiebertraumwelt des
Kranken diesen von den "an sich seienden" Dingen und Personen
trennt.
Denn bei dem Geisteskranken oder Fiebernden handelt es sich um eine
einzelne Störung, die sowohl die frühere und spätere Erfahrung des
Kranken als auch die "objektive" Erfahrung der anderen als "Maß"
besitzt. Vor allem wird nie geleugnet, daß Raum, Zeit und alles, was
sich in ihnen vollzieht, daß Pflanzen, Tiere, und vor allem daß andere
Personen und wir selbst wesensmäßig "an sich" als reale, substantielle
und von jedem Erkanntwerden, von jedem "Obiekt-sein für ein
Bewußtsein"—und nichts anderes kann "Erscheinung" möglicherweise
heißen—unabhängige Personen existieren. Im Idealismus wird aber
auch dies geleugnet.190
190
Bekanntlich gibt es bei Kant und Fichte einen sogenannten "moralischen
Beweis" der Existenz anderer Personen, der uns aus dem Gefängnis des
Solipsismus befreien soll; auch der späte Husserl nimmt einen Zugang zur
"Intersubjektivität" an, worauf später ausführlich eingegangen werden soll.
Hier kann dazu nur folgende Bemerkung gemacht werden:
142
Um einem solchen Immanentismus zu entfliehen — so zeigt sich nach
diesen Untersuchungen —, muß ich in der Lage sein, in meiner
Erkenntnis "Gegenstände" oder Personen in jenem vollen, autonomen,
objektiven und von meinem Erkenntnisakte unabhängigen Sein zu
berühren, das zu besitzen sie jeweils "beanspruchen''. 191 Die Frage, wie
dies möglich sei, soll nun im Folgenden gestellt werden. 19.04.96 18:35
In einer sicheren Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie "an sich ist", liegt
die Grundlage unseres gesamten Wissens, unserer gesamten Beziehung
zur Wirklichkeit, aller empirischen Wissenschaften und auch all
unseren Glaubens, der ohne ein solches Fundament absolut gewisser
Seinserkenntnis unmöglich wäre und in sich zusammenbräche. Die
grundlegende philosophische Frage nach einer solchen gewissen
Erkenntnis hat zwei grundsätzliche Richtungen:
1. Wo kann ich die Wirklichkeit in ihrem Sosein in einer Weise
erkennen, daß es unmöglich ist, daß sie mir bloß so zu sein scheint bzw.
erscheint, unabhängig von mir aber gänzlich anders ist? Wo kann ich
Wirklichkeit in ihrem Sosein in einer Weise erkennen, daß mich keine
143
Täuschung trügen, kein böser Geist irreführen kann, wo ist es
unmöglich, daß "es in Wirklichkeit ganz anders ist"?
2. Die zweite Grundfrage aber lautet: Wo kann ich die konkrete,
substantielle, reale Welt in ihrem objektiven Sein an sich und in ihrer
konkreten Existenz mit Sicherheit erkennen?
Die erste Frage ist die nach den objektiven und notwendigen
Wesenheiten der Dinge, die niemals eine bloße Erscheinung sein
können und in welchen die notwendigen Sachverhalte gründen, die
Gegenstand jeder Metaphysik, Erkenntnislehre, Ethik usw. sind.
Die zweite Frage betrifft die metaphysische Existenz meiner eigenen
Person, der Außenwelt und schließlich die Existenz Gottes.
Mit der Beantwortung dieser Fragen, das ist, mit der Möglichkeit, ein
in diesem Sinne objektives Sein zu erkennen, steht und fällt der Sinn
unserer gesamten geistigen Existenz.
Augustinus hat dies klar erkannt und die absolut gewisse Erkenntnis als
Fundament all unseren Wissens und auch als unumgängliche
Grundlage des Glaubens erwiesen, der durch einen "fideistischen"
Ausgangspunkt192 vernichtet wird. Nicht nur der radikale Skeptizismus
der Akademie, sondern auch der seit Kant verbreitete grundsätzliche
Agnostizismus in bezug auf unsere Erkenntnis der objektiven
metaphysischen Realität wurde schon bei Augustinus überwunden:
Selbst ein Mensch, der an aller Wirklichkeit und Wahrheit zweifeln
würde, könnte dies nicht tun, ohne in einigen Punkten absolut gewisse
Erkenntnisse zu haben, deren er sich nur noch bewußt zu werden
braucht. Auch wenn er das in seiner bewußten, "philosophischen"
Reflexion meist wieder vergißt, gibt es doch keinen Menschen, selbst
nicht den radikalen Zweifler, der nicht an einigem unbezweifelbar
Seiendem festhält; ja, ohne das könnte er keine einzige Frage stellen
und nicht einmal einen Zweifel äußern.
Dies zeigt der hl. Augustinus in De Trinitate (X, X, 14) mit
unübertrefflicher Klarheit und der nur ihm eigenen schlichtesten — fast
möchte man sagen: heiligen—Präzision:
Unter "Fideismus" wird hier jede Auffassung verstanden die eine sichere
192
144
dubitat, certus esse vult; si dubitat, cogitat; si dubitat, scit se nescire; si
dubitat, judicat non se temere consentire oportere. Quisquis igitur
aliunde dubitat, de his omnibus dubitare non debet: quae si non essent,
de ulla re dubitare non posset."
"Wer könnte jedoch zweifeln, daran, daß er lebt, sich erinnert, einsieht,
will, denkt, weiß und urteilt? Auch wenn nämlich jemand zweifelt, lebt
er; wenn er zweifelt, erinnert er sich, woran er zweifelt wenn er
zweifelt, sieht er ein, daß er zweifelt; wenn er zweifelt, will er sicher
sein; wenn er zweifelt, denkt er; wenn er zweifelt, weiß er, daß er
(etwas) nicht weiß; wenn er zweifelt, urteilt er, daß er seine
Zustimmung nicht blind (ohne genügende Erkenntnis) geben solle.
Wenn deshalb jemand auch an allem andern zweifelt, so darf er doch
an all diesem nicht zweifeln: Denn wenn (all) dieses nicht wäre, könnte
er überhaupt an nichts zweifeln."
193
Außer bei Augustinus, Descartes und D. von Hildebrand findet sich das
eigentliche Verständnis für diese im Cogito unmittelbar gegebene
unmittelbare Gewißheit des eigenen Seins besonders bei Leibniz. Vgl.
Noveaux Essais, 4. Buch. VII. § 7.
194
Dies behauptet zum Beispiel F. W. J. Schelling von Descartes. Vgl.
Schellings Werke Bd. V., S. 77—83.
145
Angeln hebt. An diesen unmiteelbaren Erkenntnissen zerschellt jede
Möglichkeit des Zweifels.
Als Ausgangspunkt für diese befreiendste und grundlegendste
philosophische Erkenntnis, die uns ein für allemal dem Skeptizismus
und Immanentismus entreißt, fordert Augustinus nichts, als daß ich an
allem zweifle. In diesem Zweifel werde ich dann finden, daß mir
Seiendes so gegeben ist, wie es in sich selbst ist.
Wenn ich auch an der Wirklichkeit von allem zweifle, so ist mir doch
in diesem Akt mit absoluter Gewißheit gegeben, daß ich lebe, daß ich
bin und daß ich bewußt bin als Subjekt. Ich erfasse, daß dieses mein
Sein nicht wieder nur mir "scheinen" oder "erscheinen" kann, sondern
an sich ist. Denn jedes Einem-Subjekt-Scheinen oder Erscheinen setzt
das reale Subjekt voraus, dem etwas scheint, und dies kann nicht wieder
nur "Erscheinung" sein. Ferner bin ich mir selbst nicht nur als
Gegenstand meiner Reflexion bewußt, so wie ich von äußeren Dingen
ein "Bewußtsein von" habe,"195 sondern als der, dem etwas erscheint,
bin ich mir unmittelbar meiner selbst bewußt. Und zugleich ist dieser
Zusammenhang zwischen "Erscheinung" und einem Subjekt, dem
etwas erscheint und das weder selbst "Erscheinung" sein kann, noch
seiner selbst unbewußt ist, ein notwendiger, allgemeiner
Wesenszusammenhang. Ebenso erfasse ich genauso unmittelbar,196 daß
ich zweifle und daß ich mich dazu an das erinnern muß, woran ich
zweifle.
Doch nicht nur in mir selbst finde ich das mit Gewißheit vor, etwa in
einem Akt unmittelbarer Selbstbeobachtung oder "innerer
Wahrnehmung", die ich dann beschreibe. Ich finde dies auch nicht etwa
als eine bloß psychologische Notwendigkeit vor, wie daß ich nicht zwei
Gegenständen zugleich volle Aufmerksamkeit schenken kann. Ich
finde dies auch nicht in einer blinden Denknotwendigkeit vor, die zur
Folge hätte, daß ich etwa als Mensch nicht anders zweifeln oder den
Zweifel nicht anders denken kann, nein: Das notwendige Wesen des
Zweifels selbst ist mir in seiner Intelligibilität mit absoluter Gewißheit
146
gegeben, so daß ich einsehe: Kein Mensch, ja, kein denkendes Wesen in
keiner möglichen Welt könnte je zweifeln, ohne von dem Sachverhalt
ein Bewußtsein zu haben, an dem es zweifelt.197 Daß dieser Gegenstand
197
Diese objektive Wesensnotwendigkeit ist aber nicht nur von jeder Art
blinder Denknotwendigkeit verschieden, sondern es liegt auch ein
"Abgrund" zwischen ihr und der "leeren" Notwendigkeit einer bloßen
Begriffsanalyse, die sich nur aus der Anwendung des
Widerspruchsprinzips ergibt. Dies leuchtet sofort auf, wenn man dem hier
über den Zweifel Gesagten Sätze gegenüberstellt, wie: Ein Greis muß in
jeder möglichen Welt alt sein oder: Ein Hirsch müßte in jeder möglichen
Welt ein Geweih tragen. Diese für die sprachliche Anwendung des
betreffenden Begriffs erforderlichen Merkmale gehören zur
konventionellen Definition des Begriffes, der auch in einer sinnvollen
Einheit gewisser Merkmale einer Sache begründet sein mag. Aber in der
vom Begriff unabhängigen Sache selbst sind diese Merkmale keineswegs
notwendig verbunden. So ist etwa ein "alter Mann", den ich mit dem
Begriff Greis stets meine, keineswegs als solcher notwendig alt; derselbe
Mann kann auch jung sein. Die "Sache alter Mann" ist also nicht notwendig
alt. Hingegen kann die "Sache Zweifel" unmöglich existieren wenn eines
der in ihr notwendig geeinten Merkmale fehlt. Dieser Unterschied wird im
Abschnitt über "analytische und synthetische Urteile" näher erläutert
werden, hier sei aber schon darauf hingewiesen, daß die erstmals in voller
Klarheit von D. von Hildebrand durchgeführte und bei E. Husserl gänzlich
fehlende Unterscheidung zwischen zufälligen oder zwar sinnvollen, aber
nicht notwendigen Sinneinheiten einerseits — und notwendigen,
unerfindbaren andererseits m. E. eine der wesentlichsten Unterscheidungen
für die Erkenntnistheorie und Metaphysik ist. Vgl. What is philosophy?,
Kap. IV, bes. S. 104—131. Die Frage, ob ein solcher Unterschied bestehe
findet sich allerdings schon in Platons Parmenides, 130a—e. Noch
deutlicher hat Descartes diesen Unterschied in den Meditationen, bes. in
der 5. gesehen, obwohl dort der transzendente Charakter dieser
Wesenheiten keineswegs so klar gesehen wird wie bei Hildebrand. Leibniz
wieder verkennt bei seiner Unterscheidung zwischen vérités de feit und
vérités de raison die Grundlage der Wesenseinsichten und verwechselt oft
die in den verschiedensten Wesenheiten gründenden notwendigen
Wahrheiten mit bloß tautologischen Urteilen, die sich auf das Prinzip des
Widerspruchs zurückführen lassen. Vgl. dazu die im folgenden Kapitel
zitierten Stellen aus den Werken Leibniz'. Allerdings scheint Leibniz diese
in den "Essenzen" gründenden notwendigen Wahrheiten nicht nur in vielen
konkreten Einsichten stillschweigend anzuerkennen, sondern auch
147
eines Zweifels ferner niemals eine Sache, eine Farbe, der Raum oder
eine Person, sondern ausschließlich ein Sachverhalt sein kann, das
a-Sein eines b, sehe ich ebenso ein. Diese Zusammenhänge finde ich
also nicht nur konkret in meinem Zweifel vor, sondern erkenne sie als
Wesenssachverhalte, als veritates aeternae. 21.01.14 02:23
Ferner verstehe und weiß ich, daß ich zweifle—doch nicht nur das,
sondern ich sehe die ewige Wahrheit ein, daß niemals ein unbewußtes,
apersonales Wesen zweifeln könnte. Ich sehe ein, daß es notwendig
zum Wesen des Zweifels gehört, bewußt vollzogen zu werden und nicht
nur das: Im Unterschied zum ebenfalls bewußt erlebten, dumpfen
physischen Schmerz gehört auch zum Wesen des Zweifels, so sehr
bewußt zu sein, daß man auch reflexiv wissen und sagen kann, daß man
zweifelt. Ein Mensch in einem dumpfen Bewußtseinszustand kann
Schmerz fühlen, aber nicht zweifeln. (Ja sogar ein Tier kann Schmerz
fühlen.) Ich sehe also ein, daß niemand je zweifeln könnte, ohne
verstehen zu können, daß er zweifelt. Ferner finde ich, daß ich nur an
einem Sachverhalt zweifeln kann, den ich noch nicht klar erkannt habe.
Ich sehe etwa, daß die eben deutlich als notwendig eingesehenen
Sachverhalte von mir unmöglich bezweifelt werden können.
Zugleich merke ich auch, daß ich jedesmal weiß, daß ich das, woran
ich zweifle, nicht erkannt habe, wenn ich zweifle.—Doch auch dies
finde ich wieder keineswegs nur mit einer empirischen Gewißheit in
mir selbst, sondern ich sehe ein, daß dies im Wesen des Zweifels
notwendig gründet, sobald ich auf ihn blicke. Dieses Wissen des
eigenen Nichtwissens, von dem Augustinus spricht, gehört notwendig
zum Zweifel. Wenn ich einen Sachverhalt erkenne, kann ich nicht
daran zweifeln, soferne ich ihn erkannt habe. Doch auch an einem
Sachverhalt, den ich zwar nicht erkenne, von dem ich aber nicht weiß,
daß ich ihn nicht erkenne, kann ich nicht zweifeln. Dies ist wiederum
in jeder möglichen Welt gültig.
Außerdem finde ich, daß ich über den Sachverhalt, an dem ich zweifle,
sicher sein will, daß ich den Sachverhalt erkennen will, an dem ich
zweifle. — Doch nicht nur das, sondern: Jeder wirkliche Zweifel
schließt notwendig den Wunsch nach Erkenntnis des Bezweifelten
148
ein.198 Wenn dieser Wille — wie bei so vielen Skeptikern—fehlt, dann
ist der Zweifel in dem Maß, in dem er fehlt, unecht und verbirgt nur
den Wunsch, nicht dem Licht einer objektiven, absoluten Wahrheit
ausgesetzt zu sein, unter dem Schein eines Zweifels.
Darin ist wieder unzählig vieles eingeschlossen: Indem ich im Zweifel
nach der Erkenntnis des Sachverhalts strebe, an dem ich zweifle, weiß
ich auch in vorphilosophischer Weise, was Erkenntnis ist. Wenn ich
also nur aufmerksam auf das Wesen des Zweifels und alles, was mir in
ihm notwendig mitgegeben ist, achte, kann ich auch die notwendigen
Sachverhalte einsehen, die im Wesen von Erkenntnis gründen und die
wir in den bisherigen Untersuchungen erkannten. Im Zweifelsakt ist
mir also auch das notwendige Wesen der Erkenntnis gegeben, das ich
ans volle Licht philosophischer Bewußtheit heben kann, indem ich nur
darauf achte, daß ich ja weiß, was Erkennen ist, indem ich zweifle.
In der Sehnsucht nach sicherer Erkenntnis ist aber auch die Sehnsucht
nach Wahrheit, ja sogar nach unbezweifelbarer Wahrheit
eingeschlossen und damit auch nach Urteilen, deren Übereinstimmung
mit den wirklichen Sachverhalten sich in einer unbezweifelbaren
Erkenntnis ausweist. Damit ist aber auch das Wesen des Irrtums in der
Wesenserkenntnis des Zweifels mitgegeben — den zu begehen ich
fürchte, wenn ich zweifle. Alles, was ich also über Erkenntnis,
Überzeugung, Urteil, Wahrheit, Irrtum, Sicherheit, Sachverhalt usw.
bis jetzt eingesehen habe, kann ich einsehen, indem ich mich nur in das
Wesen eines einzigen Zweifelsaktes vertiefe.
Indem ich einsehe, daß niemand zweifeln kann, der nicht die Frage
nach der Wahrheit stellt, kann ich auch das notwendige Wesen der
Frage erkennen und z. B. unter vielem anderen einsehen, daß eine
Frage niemals wahr oder falsch sein kann, daß auch sie die mangelnde
Erkenntnis des gefragten Sachverhaltes einschließt usw.
Indem ich einsehe, daß niemand wirklich zweifelt, der nicht die
Erkenntnis dem Zweifel vorzieht, sehe ich schließlich auch Werte ein.
die der Zweifelnde erkennen muß, um überhaupt zweifeln zu können.
198
Zumindest den Wunsch nach einer im Erkennen sich als begründet
ausweisenden Überzeugung. Der Zweifel kann sich ja prinzipiell auf alle
Sachverhalte erstrecken, von deren Bestehen ich überzeugt bin, ohne sie
absolut gewiß zu erkennen. Wenn ich also in einem Glaubenszweifel auch
nicht unmittelbar einen Sachverhalt erkennen will, will ich doch erkennen,
ob meine Überzeugung von seinem Bestehen begründet ist.
149
Er muß den Wert der Wahrheit und Erkenntnis, die innere in sich
ruhende Bedeutsamkeit der Wahrheit erfassen, die besser ist als der
Zweifel und dem Unwert des Irrtums entgegengesetzt. Er kann ferner
erkennen, daß ein wirklicher Zweifel nicht den Unwert eines
sophistischen Scheinzweifels träge, hinter dem die Heuchelei eines
Menschen steht, der die Wahrheit gar nicht erkennen will. Endlich kann
der Unwert dieser Haltung und derjenige des Irrtums im Zweifel
erkannt werden. Ja, man kann sogar den Unwert der nicht die Wahrheit
suchenden und heuchlerischen, verlogenen Haltung als einen sittlichen
Unwert gegenüber dem intellektuellen Unwert des Irrtums als solchem
erfassen. Darin ist aber vieles andere, wie Freiheit, Verantwortlichkeit,
Wert, Wertantwort, Gebührensbeziehung, die Merkmale sittlicher
Werte199 und viele andere letztlich intelligible Gegebenheiten
mitgegeben, in die ich zahllose Wesenseinsichten gewinnen kann, ohne
vom Beispiel des Zweifels und dem, was in ihm gegeben ist, abzugehen
und noch viele andere Erfahrungen heranzuziehen.
Diese Werte erfasse ich nicht nur als vom Zweifelnden subjektiv
notwendig vorausgesetzt, sondern als im Wesen von Sein, Erkenntnis,
Wahrheit, Wahrheitsliebe, Lüge usw. gründend, also als objektive
Eigenschaften dieser Wirklichkeiten "an sich".
Ferner kann ich sehen, daß die in der Frage nach der Wahrheit zum
Ausdruck kommende Liebe zur Wahrheit nicht nur eine Kostbarkeit in
sich, das heißt einen Wert200 besitzt, sondern daß die Sehnsucht nach
Wahrheit und die Erkenntnis selbst auch ein objektives Gut für den
Menschen darstellt, der diese Haltungen besitzt. Ebenso sehe ich auch
ein, daß der Irrtum nicht nur an sich einen Unwert besitzt, sondern auch
ein objektives (Übel für den Menschen darstellt, der sich in ihm
befindet, ja ich kann sogar einsehen, daß es eine Hierarchie der Werte
und Unwerte gibt, die mit der Schwere der objektiven Übel und Güter
200
Der hier verwendete Wertbegriff wurde erst von Dietrich von
Hildebrand in der Auseinandersetzung mit Max Schelers Formalismus in
der Ethik ... herausgearbeitet, indem er drei Arten der Bedeutsamkeit
unterschied, durch die ein Seiendes sich aus der Sphäre des Indifferenten
herausheben kann: 1. Das bloß subjektiv Befriedigende, 2. Das objektive
Gut für eine Person. 3. Der Wert als das in sich Bedeutsame, die
Kostbarkeit, die ein Seiendes in sich besitzt. Vgl. D. von Hildebrand,
Christiche Ethik, Kap. 1 bis 3.
150
in einer intelligiblen Beziehung steht — ich kann also beispielsweise
einsehen, daß die verlogene Einstellung des der Wahrheit feindlichen
Menschen ein größeres Übel für ihn darstelle als der Irrtum als solcher;
noch viele andere Einsichten in Wert und Unwert kann ich gewinnen,
indem ich nichts anderes betrachte, als was im Wesen des Zweifels
alles gegeben und eingeschlossen ist. Ich sehe auch ein, daß im Zweifel
nicht nur die Sehnsucht nach einem wahren Urteil eingeschlossen ist,
sondern daß ich auch implicite zwei Urteile notwendig im Zweifel fälle,
von denen ich überzeugt sein muß und deren Wahrheit ich erkannt
haben muß, zumindest undeutlich, um überhaupt zweifeln zu können:
Erstens urteile ich, daß die Gründe für meine Zustimmung nicht
ausreichen, das heißt für eine positive oder sichere Überzeugung über
das Bestehen des Sachverhaltes. Zweitens bin ich auch überzeugt, daß
ich über das Bestehen eines Sachverhaltes kein Urteil fällen soll, wenn
dieser sich mir nicht in einer Erkenntnis entsprechend erschlossen hat.
Ich erkenne meinen Zweifel also als gebührende Antwort auf diese
Situation und bin auch überzeugt, daß es schlechter wäre, blindlings
meine Zustimmung zu geben. Auch die Erkenntnis dieser objektiven
Wertordnung ist notwendig im Zweifel eingeschlossen: ihrer bin ich
stillschweigend sicher, indem ich zweifle. Allerdings gilt dies nur für
den durch Wahrheitsliebe motivierten Zweifel und nicht für jenen, der
nicht "rein" und echt ist, der also mit einer Gleichgültigkeit oder sogar
Feindschaft gegen eine objektive Wahrheit und gegen objektive Werte
verbunden ist. Dies ist aber kein wirklicher Zweifel, sondern eine unter
dem Schein des Zweifels versteckte Ablehnung der Wahrheit.
Auch die Erkenntnis, daß eine andere Unmittelbarkeit und Sicherheit
der Erkenntnis vorausgesetzt wäre, um über den bezweifelten
Sachverhalt sicher sein zu können, ist im Zweifel eingeschlossen, ja
sogar ein gewisses Wissen um die Art und das Wesen einer solchen
Erkenntnis.201
Und dies alles ist nur ein Bruchteil der Fülle ewiger und notwendiger,
in sich einsichtiger Wahrheiten, die ich keineswegs deduktiv ableite,
noch aus dem Erfahren meines eigenen Zweifels empirisch beobachte
und dann induktiv verallgemeinere, sondern diese allgemeinen,
notwendig wahren Urteile kann ich nur aus der höchst rationalen,
201
Dies setzt sogar Kant voraus, indem er von den "Erscheinungen"
beschränkt wäre, sondern die Dinge an sich erkennen könnte. KdrV, B
307—315.
151
unmittelbaren Einsicht in die Wesenheiten und Wesenssachverhalte
gewinnen, die mir im Zweifel gegeben sind. Es handelt sich hier
durchwegs um synthetische Urteile a priori, was nicht heißt, daß sie
unabhängig von jeder, also auch der Soseinserfahrung, erkannt werden
müßten. Ihre Erkenntnis muß vielmehr, wie gleich näher ausgeführt
wird, nur unabhängig von empirischer Realkonstatierung und
Induktion sein. Noch viel weniger gründen aber diese synthetischen
Urteile a priori in einer transzendentalen Struktur des Subjekts und sind
etwa nur logisch als Bedingung der Möglichkeit unserer Erfahrung
vorausgesetzt, sondern all diese synthetischen Urteile a priori
formuliere ich, weil ich die in ihnen gemeinten Sachverhalte in dem
meinem Geiste transzendenten Wesen der gemeinten Sachen selbst
einsehe. Ich sehe: Es ist nicht bloß notwendig, daß ich sie so denke,
wobei ich auf die menschliche Erfahrung beschränkt wäre und mir das
Ansichsein der Wirklichkeit unbekannt bliebe, sondern es ist
notwendig, daß diese Sachverhalte "an sich so sind". Überdies wäre
durch die Erkenntnis, daß ich sie notwendig so denken müßte, noch
nichts über ihr wirkliches Bestehen ausgesagt.
In Wirklichkeit habe ich jedoch die eben formulierten
Wesenssachverhalte als im in sich notwendigen Wesen des Zweifels,
der Erkenntnis, der Überzeugung usw. gründend eingesehen: Ich habe
eindeutig erkannt, daß sie in jeder möglichen Welt notwendig bestehen
müssen. Daß ich hier das "an sich seiende Wesen der Dinge" berühre,
das alle möglichen konkreten und unter dieses Wesen "fallenden"
Wirklichkeiten beherrscht, bzw. für sie gilt, ihnen ihr Gesetz
vorschreibt—dies ist eine letzte Urgegebenheit, die ich nur unmittelbar
einsehen kann in jener höchsten Form der philosophischen Erkenntnis,
die notwendig allem Beweisen und Schließen vorausgehen muß: der
Wesenseinsicht.202
Wenn ich darüber nachdenke, daß ich einmal an der Möglichkeit der
absolut gewissen Wesenseinsicht gezweifelt habe, jetzt aber gewiß bin,
daß sie besteht, dann geht mir auch in diesem Früher und Später die
Realität und das Wesen der Zeit auf, daß sie irreversibel ist und niemals
das, was früher war, jemals später werden könnte, daß jeder Augenblick
unwiederholbar ist usw. — ferner könnte ich mich in die
202
Daß jeder Beweis und Schluß von der Sicherheit nicht beweisbarer,
sondern nur durch Einsicht erfaßbarer Prämissen abhängt, hat Aristoteles
in der Zweiten Analytik, 71b—73b, nachgewiesen.
152
Wesenssachverhalte versenken, die mir in der geheimnisvollen,
unergründlichen Wirklichkeit der Zeit gegeben sind und die
Augustinus so eindrucksvoll in den Confessiones schildert.203
All die genannten Wesenssachverhalte gründen im Wesen der
verschiedenen, besonderen Inhalte (der Zeit, des Zweifels usw.) und
können keineswegs, wie die Wahrheit hohler Begriffsanalysen und
Tautologien, durch eine bloße Anwendung des Widerspruchsprinzips
aus diesem abgeleitet werden.204
Und bei all diesen Zusammenhängen —dies ist das Entscheidende und
dies sehe ich klar ein—handelt es sich nicht um so Scheinendes oder
mir Erscheinendes, sondern um "an sich so Seiendes".
"Wer also auch an allem andern zweifelt, kann an dem allem nicht
zweifeln: Denn wenn dies nicht wäre, könnte er überhaupt an nichts
zweifeln."
Quae si non essent, also wenn all die vom Zweifel wesensgesetzlich
vorausgesetzten Akte und Wirklichkeiten und die in ihrem Wesen
gründenden Zusammenhänge nicht wirklich wären, könnten wir an
überhaupt nichts zweifeln.205
203
Vgl. A. Augustini Confessionum Liber XI (III—XXXI.)
204
Bei seiner Scheidung zwischen "vérités de raison" und "vérités de fait"
scheint Leibniz alle notwendigen und ewigen Wahrheiten auf das Prinzip
des Widerspruchs zurückführen zu wollen. Vgl. Monadologie, SS 33—35,
in: Die philos. Schriften, Bd. 6, S. 612. Vgl. auch Noveaux Essais sur
l'entendement, IV, 2., a. a. O., Bd.5, S.342ff.
205
Es kann hier nur noch angedeutet werden, da dies in ein neues Thema
führen würde, daß in Descartes' Meditationen deutlich wird, wie sich uns
im Zweifel auch die eigene Unvollkommenheit und Kontingenz enthüllt.
Das Licht der vollkommenen Erkenntnis und des vollkommenen Seins, auf
dessen Hintergrund wir die Unvollkommenheit des eigenen sehen, führt
Descartes zu dem klassischen Kontingenzbeweis und dem sogenannten
ontologischen Gottesbeweis, dessen Grundgedanke ist, daß "wir das
Krumme nur am Geraden messen können" (vgl. Bonaventura, Hexaéim. V,
30 u. 32 tVp. 359: "Judex enim est rectum sui et obliqui"). — Das Elend
des Menschen, von dem die moderne Philosophie so voll ist, kann nur auf
dem Hintergrund der Größe des Menschen verstanden werden, was Pascal
in den Abschnitten aus den Pensées: "Misère" und "Grandeur" (53—118),
a. a. O., S. 506 bis 512, wunderbar gezeichnet hat. So erhebt sich Descartes
— "in diesem Sinne ein wahrhaft existentieller Denker" (B. Schwarz) —
von der Erkenntnis des Zweifels bis zur allerhöchsten Form der
153
Daß es sich bei diesen Wesenseinsichten in allgemeingültige und
notwendige Zusammenhänge nicht um falsche Verallgemeinerungen
handelt, die aus empirischer Selbstbeobachtung abgeleitet werden,
zeigt sich besonders deutlich auch darin, daß wir ja gar nicht faktisch
zweifeln und unseren Zweifel beobachten müssen, um diese
Erkenntnisse zu gewinnen—allein die Vorstellung des Zweifels
genügt, um mit Gewißheit die in seinem Wesen notwendig gegründeten
Sachverhalte zu erkennen.
Bevor diese zentralen Gegebenheiten, die eben behandelt wurden,
weiter analysiere werden können, müssen jedoch an einem
exemplarischen Fall die Versuche angedeutet werden, die im "Cogito"
gegebene Transzendenz des Menschen, in der er die "Dinge an sich"
erkennt, zu leugnen.
154
2. KAPITEL
DIE UNENTTHRONBARKEIT DER ERKENNTNIS DES
"DINGES AN SICH" IM "COGITO".
"Nicht dadurch, daß ich, bloß denke, erkenne ich irgendein Objekt,
sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf
die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme,
kann ich irgendeinen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich
selber nicht dadurch, daß ich mir meiner als denkend bewußt bin,
sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung
der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin... also ist durch die
Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt in
Ansehung meiner selbst als Objekts nicht das mindeste gewonnen. Die
logische Erörterung des Denkens überhaupt wird fälschlich für eine
metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten."
Aus den vielen Stellen, die man bei anderen Philosophen findet und in
denen sich jene Kantischen Einwände gegen die metaphysische
Erkenntnis des Cogito als eines "Dings an sich" in einfacherer Form
aussprechen, möchte ich nur eine Stelle Nietzsches herausgreifen:
206
KdrV, B 406—413.
155
ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz 'ich denke' ausgedrückt ist,
so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren
Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, — zum Beispiel, daß ich
es bin, der denkt, daß überhaupt ein Etwas es sein muß, das denkt, daß
Denken eine Tätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches
als Ursache gedacht wird, daß es ein 'Ich' gibt, endlich, daß es bereits
feststeht, was mit Denken zu bezeichnen ist — daß ich weiß, was
Denken ist... An Stelle jener 'unmittelbaren Gewißheit', an welche das
Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der
Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht
eigentlich Gewissensfragen des Intellekts, welche heißen: 'Woher
nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und
Wirkung? Was gibt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem
Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache
zu reden?' Wer sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der
Erkenntnis getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten,
wie es der tut, welcher sagt: 'ich denke und weiß, daß dies wenigstens
wahr, wirklich, gewiß ist' — der wird bei einem Philosophen heute ein
Lächeln und zwei Fragezeichen bereitfinden...207
F. Nietzsche, Von den Vorurteilen der Philosophen, 16, in: Jenseits von
207
156
und Funktionen unserer Sinnlichkeit bzw. unseres Verstandes
bestimmt, also nicht das "Ich an sich".
Mit einem Worte: Das "Ich", das uns im "Cogito" gegeben ist, sei
letzten Endes eine durch "die Aufsummierung der Irrtümer unseres
Verstandes entstandene Fiktion", wie Nietzsche es klarer ausdrücken
würde, das "Ich" sei uns niemals in seinem "Sein an sich" bekannt und
damit (gemäß den Ausführungen über das "Ding an sich" im ersten
Kapitel) keine "Erscheinung", sondern ein "Schein", der uns zur irrigen
Meinung verführe, die uns im "Cogito" gegebene "Seele" sei eine
unserer "Erfahrungswelt" transzendente, an sich seiende Realität.
Der innere Widerspruch, in den sich der Idealismus verstricht, wird von
D. von Hildebrand in folgender Weise aufgezeigt:
157
picture and regains its rightful place even when a person tries to explain
it away as something else."208
Kant setzt also zwei Dinge voraus, die seine idealistische Interpretation
der Erkenntnis widerlegen:
208
D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 16.
158
aber, was sich einem Subjekt erschließt— und sei es auch nur eine
Traumfigur— ist als solches (wenn auch vielleicht nur in der
schwächsten Seinsweise des bloßen "Objektseins für jemanden") an
sich.
Aber bei dem zweiten Widerspruch, in den der transzendentale
Idealismus sowie auch jeder Relativismus führt, handelt es sich nicht
bloß um die Voraussetzung eines "Dinges an sich" in diesem weitesten
Sinn. Denn Kant setzt voraus, daß er die Erkenntnis erkennt, wie sie
nicht bloß als "Schein", ja nicht einmal bloß als "objektive
Erscheinung" für ein Subjekt, sondern wie sie in sich selber ist.
Um dies deutlich zu verstehen, muß jetzt noch einmal eingesehen
werden, daß es keine "Erscheinung" ohne ein "Ding an sich" im
engeren Sinn des Wortes, in dem es den Gegensatz zu Schein und
Erscheinung bedeutet, geben kann. Schon die Tatsache bzw. der
Sachverhalt, daß eine Farbe als gültiges "Antlitz" der Außenwelt bzw.
als Erscheinung für Menschen existiert, ist nicht wieder eine
"Erscheinung", die für ihr Realwerden eines perzipierenden Subjekts
bedürfte; ebenso ist das Wesen von "Erscheinung", das ich etwa
gegenüber dem Wesen von "an sich seiender Realität" philosophisch
analysiere, nicht wieder eine Erscheinung.
In jedem Augenblick, da wir (wie Kant vom Erkennen) philosophisch
vom Wesen einer Sache reden, setzen wir notwendig voraus, daß wir
das an sich seiende Wesen von etwas erkennen, das unmöglich
wiederum nur "Erscheinung" sein kann. Dies gilt also schon vom
"Wesen von Erscheinung" als solchem. Aber hier ist dennoch die
Realität, die diesem Wesen entspricht, eben Erscheinung.
Wenn Kant jedoch von dem spricht, was Erkennen wesenhaft ist, ein
so und so geartetes Bestimmen, dann setzt er notwendig voraus, er sagt
nicht nur, was das Wesen der Erkenntnis "an sich" ist, sondern auch,
daß jede reale Erkenntnis nicht nur der Erscheinungsgegenstand für
jemanden ist. Die Erkenntnis oder auch der Akt des Träumens selbst
kann nicht wiederum nur "Erscheinung" für ein Subjekt sein. Vor allem
aber kann das Subjekt, dem etwas erscheint, nicht wiederum nur als
einem andern Subjekt er-scheinend aufgefaßt werden, was in einen
unendlichen Regreß führen würde, wie gleich noch näher gezeigt wird.
Einfach formuliert könnte man sagen: Wo immer etwas als
Erscheinung für ein Subjekt existiert, setzt dies notwendig voraus, daß
es viele Wirklichkeiten gibt, die nicht bloß als Erscheinung für ein
Subjekt, sondern an sich und unabhängig existieren.
159
Im Grunde sieht man den inneren Widerspruch der Leugnung eines in
diesem Sinne "an sich" und nicht bloß als Erscheinung existierenden
Seienden schon daran, daß man von "Erscheinung" spricht. Woran
könnte man denn die Erscheinungshaftigkeit messen und überhaupt so
nennen, wenn nicht an dem "Ding an sich"? Der Begriff "Erscheinung"
verliert jeden Sinn, wenn man nirgends "Dinge an sich" kennt. 209
Wenn Nietzsche sagt: Ich lebe nur in einer Scheinwelt, nur in meiner
"Menschenwelt". Alles ist Schein, so muß man dagegenhalten: Und
dies, daß ich nichts an sich Seiendes erkennen kann, nichts von der
objektiven Wirklichkeit erfassen kann, wie sie in sich ist, ist dies
wiederum nur ein Schein? Nietzsche setzt offenbar voraus, daß dies
nicht wieder bloß ein Schein oder eine Erscheinung für ein Subjekt,
sondern daß dies "an sich" so ist.
Ich kann also weder die Existenz noch die Erkennbarkeit eines "Dinges
an sich" leugnen, ohne beides ständig vorauszusetzen. Ich muß
notwendig voraussetzen, weil es notwendig so ist, daß jeder Schein und
jede Erscheinung ein Sein verlangt, das selbst weder Schein noch
Erscheinung sein kann.
An dieser Stelle muß auch auf den inneren Widerspruch hingewiesen
werden, der zwischen dem Kantischen Begriff "allgemeingültig" und
der Deutung des Erkennens als geistiges Schaffen liegt. Schon in diesen
"für alle Menschen gültigen" Prinzipien, die Kant annimmt, liegt eine
zumindest implizite Anerkennung anderer Personen und ihres Soseins,
das Kant unmöglich erkennen könnte, wenn Erkennen, wie er erklärt,
209
Nietzsche hat der Unhaltbarkeit des Idealismus beredten Ausdruck
gegeben, obwohl er ihm selber an anderen Stellen verfallen ist: "Der faule
Fleck des Kantischen Kritizismus ist allmählich auch den gröberen Augen
sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung
'Erscheinung' und 'Ding an sich' — er hatte sich selbst dieses Recht abge-
schnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden
insofern er den Schloß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erschei-
nung als unerlaubt ablehnte — gemäß seiner Fassung des Kausalitäts-
begriffs und dessen rein intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung
andrerseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie also ob das
'Ding an sich' nicht nur erschlossen, sondern gegeben sei." (Wille zur Macht
— Ne. We., Bd. III, S. 863.) "Vielleicht erkennen wir dann, daß das Ding
an sich eines homerischen Gelächters wert ist: daß es so viel, ja alles schien
und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist." (Nietzsche, Menschliches
Allzumenschliches, Bd. I, 16.)
160
ein Konstruieren wäre. Hier setzt Kant einen rezeptiven Akt des
Erkennens voraus. Jeder transzendentalphilosophische Ansatz und
überhaupt jede Philosophie, die das Erkennen in ein geistiges
"Erzeugen" umdeutet, schneidet sich von allem Sein an sich und damit
a fortiori von dem anderer Personen ab. Wenn man Erkennen als
Konstruieren deutet, muß man notwendig Solipsist sein — das ist die
einzig-mögliche Konsequenz. Denn das "Allgemeingültige" besteht ja
wiederum nur als meine Konstruktion und wäre ja dann nicht "an sich"
für alle Menschen gültig.
Wie in der Auseinandersetzung mit dem späten Husserl gezeigt werden
wird, kann man auch in der Annahme eines (in sich
widerspruchsvollen) transzendentalen ego keinerlei Ausweg zu diesem
besonders greifbaren Widerspruch jedes transzendentalen Ansatzes
finden. Denn wie kann ich von einem "an sich" und "für andere"
gültigen transzendentalen ego wissen, wenn dieses macht, daß all mein
sogenanntes "Wissen" eine "Konstruktion", eine von mir vollzogene
"Synthesis" ist?
So wie es schon unmöglich ist, vom Aristippschen Standpunkt der Lust
als einzigem Motiv allen Strebens plötzlich auf den Benthamschen
utilitären Standpunkt eines Strebens nach der Lust möglichst vieler
überzuspringen — denn das Streben nach dem bloß subjektiv
Befriedigenden und Lustvollen ist notwendig auf die eigene Person
beschränkt —, so kann ich noch weniger von der Deutung des
Erkennens als Schöpfung einer "Erscheinungs"-Welt plötzlich zur
Annahme der Gültigkeit dieser von meinem Geist spontan erzeugten
Kategorien und Synthesen für andere Menschen übergehen, deren
autonomes Sein ich ja unter den idealistischen Voraussetzungen
unmöglich erkennen kann. Im Kantischen Begriff des
"Allgemeingültigen" nimmt er stillschweigend an, er könne das "Feld
der Erscheinungen" überfliegen und zum autonomen "Sein an sich"
vorstoßen. Darin liegt jedoch ein Widerspruch zu jener
"transzendentalen Zufälligkeit der Kategorien", von denen Kant selbst
spricht, ja ein Widerspruch zu jeder möglichen Fassung einer
transzendentalen Konstitution. Das "Gefängnis des Immanentismus",
das durch diese Lehre geschaffen wird, werden wir im folgenden näher
untersuchen. Hier sei nur auf den inneren Widerspruch verwiesen, den
wir eben andeuteten.
161
Nicht Descartes' zentrale Einsichten,210 sondern vielmehr deren
Bekämpfung bildet einen Grundzug der Neueren Philosophie. An
diesem Punkte löst man sich mit aller Entschiedenheit von der
Möglichkeit los, absolute, objektive und ewige Wahrheit erkennen zu
können, und glaubt seit Humes Positivismus und der Kantischen
Vernunftkritik, sich auf die "Erfahrung", welche auf den Menschen
relativ betrachtet wird, bzw. auf die "Prinzipien ihrer Möglichkeit"
beschränken zu müssen, woraus sich die Leugnung jener Transzendenz
ergibt, in der der Mensch zum metaphysischen Sein durchdringt. Nicht
der einzelne, "empirisch" gegebene Mensch, aber seine
"transzendentalen Denkstrukturen" und in diesem Sinn doch wieder der
Mensch wird zum "Maß aller Dinge" gemacht, ja auch zum Maß der
Religion und zum Maß "Gottes" selbst, der (mit der "Seele" und
"Welt") des Menschen "transzendentale Vernunft-Idee" genannt wird,
210
Damit soll nicht geleugnet werden, daß sich bei Descartes manchmal
Irrtümer oder überaus irreführende Begriffe finden, die Anlaß zu Irrtümern
gegeben haben, wie etwa der Begriff der "idea innata", der allerdings bei
Descartes selbst an vielen Stellen so erkläre wird, daß jedes Mißverständnis
ausgeschlossen ist, als handle es sich dabei nicht um unmittelbar
zugängliche "notwendige Naturen" bzw. sogar um das Wesen des in Frage
stehenden Seienden, und zwar als "unveränderliche, von meinem Geiste
unabhängige Wesenheit der Sache selbst".
Vgl. Descartes, Meditationen, 1. Erwiderung (152): "Mein Beweisgrund
dagegen war folgender: Das, wovon wir klar und distinkt einsehen, daß es
zu der wahren und unveränderlichen Natur oder Wesenheit oder Form einer
Sache gehört, das können wir von dieser Sache mit Wahrheit behaupten."
Vgl. auch a. a. O., 153—158. Ebenso 5. Meditation, 5. Vgl. auch Descartes'
Prüfung des Programms des Regius, in: Principia philosophiae, a. a. O., S.
283, 284. Eine sehr klare Stelle findet sich auch in der 3. Meditation 6,
während im übrigen in der dritten Meditation oft nicht klar ist, ob Descartes
von den transzendenten Wesenheiten der Dinge selbst oder von
"subjektiven" Ideen spricht. In der 2. Erwiderung, 189, wieder kommt wie
in den schon erwähnten Stellen, ganz eindeutig zum Ausdruck, daß
Descartes eine unmittelbare Einsicht in die unerfindbare Wesenheit von
Dingen annimmt. Auch findet sich im Programm des Regius, a. a. O., S.
300 eine Erläuterung, wie der Begriff "idea innata" zu verstehen sei und
daß Descartes darunter nur verstehe, "daß uns von Natur eine Fähigkeit
innewohnt, wodurch wir Gott" (sowie das eigene Sein und andere
Wesenheiten) "erkennen können".
162
"durch die wir eigentlich nur zu wissen bekommen, daß wir nichts
wissen können";211 Gott wird als "heuristische Fiktion",212 ja letzten
Endes als Geschöpf des Menschen, als von seinern Geist erzeugte213
"Idee" betrachtet. So ungeheuerlich sind die Konsequenzen dieser
Philosophie, von so letzter, an die tiefste Tiefe unserer Existenz und des
Seins selbst rührender Tragweite sind die hier liegenden Fragen. Die
"Erfahrung" des Menschen wird anthropozentrisch versubjektiviert.
Nietzsche weist auf diesen Zusammenhang in einem anderen, tiefen
Aphorismus hin:
"Was tut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes
— und zwar mehr aus Trotz gegen ihn als auf Grund seines Vorgangs
— macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten
Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und
Prädikat-Begriffs — das heißt: ein Attentat auf die
Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie,
als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen,
antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs
antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an 'die Seele', wie man an
die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte 'Ich'
ist Bedingung, 'denke' ist Prädikat und bedingt — Denken ist eine
Tätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muß. Nun
versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List,
ob man nicht aus diesem Netz herauskönne — ob nicht vielleicht das
Umgekehrte wahr sei: 'denke' Bedingung, 'ich' bedingt; 'ich' also erst
eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant
wollte im Grund beweisen, daß vom Subjekt aus das Subjekt nicht
bewiesen werden könne — das Objekt auch nicht: die Möglichkeit
einer Scheinexistenz des Subjekts, also 'der Seele', mag ihm nicht
immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als
211
KdrV, B 498.
212
KdrV, B 799; auch B 644, 647. B 699 (als ob).
213
KdrV, B 708, B 396: "Man kann sagen, der Gegenstand einer bloßen
transzendentalen Idee" (= Welt, Seele, Gott) "sei etwas, wovon man keinen
Begriff hat, obgleich diese Idee ganz notwendig in der Vernunft nach ihren
ursprünglichen Gesetzen erzeugt worden." Vgl. S. 137, Anm. 173, dieser
Arbeit.
163
Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden
dagewesen ist."214
"Ein großer, ja sogar der einzige Anstoß wider unsere ganze Kritik
würde es sein,217 wenn es eine Möglichkeit gäbe, a priori zu beweisen,
daß alle denkenden Wesen an sich einfache Substanzen sind, als solche
also (welches eine Folge aus dem nämlichen Beweisgrund ist)
Persönlichkeit unzertrennlich bei sich führen und sich ihrer von aller
Materie abgesonderten Existenz bewußt sind. Denn auf diese Art hätten
wir doch einen Schritt über die Sinnenwelt hinaus getan, wir wären in
das Feld der Noumenen (Dinge an sich) getreten, und nun spreche uns
niemand die Befugnis ab, in diesem uns weiter auszubreiten,
anzubauen, und, nachdem einen jeden sein Glücksstern begünstigt,
darin Besitz zu nehmen. Denn der Satz: Ein jedes denkende Wesen als
ein solches ist einfache Substanz, ist ein synthetischer Satz a priori, weil
214
F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Das religiöse Wesen, 54, Ne.
We., Bd. II, S. 615/16.
215
Vgl. KdrV, B 406 ff.
216
KdrV, B 409/10.
217
Es gibt in Wirklichkeit viele andere Einwinde gegen Kant, von denen
einige im vorigen Abschnitt erwähnt wurden.
164
er erstlich über den ihm zugrundegelegten Begriff hinausgeht und die
Art des Daseins zum Denken überhaupt hinzutut, und zweitens zu
jenem Begriff ein Prädikat (der Einfachheit) hinzufügt, welches in gar
keiner Erfahrung gegeben werden kann. Also sind synthetische Sätze a
priori nicht bloß, wie wir behauptet haben, in Beziehung auf
Gegenstände möglicher Erfahrung, und zwar als Prinzipien der
Möglichkeit dieser Erfahrung selbst thunlich und zulässig, sondern sie
können auch auf Dinge überhaupt und an sich selbst gehen, welche
Folgerung dieser ganzen Kritik ein Ende macht und gebieten würde, es
beim Alten bewenden zu lassen."
Kant selbst spricht es also ganz deutlich aus, daß "seiner ganzen Kritik
ein Ende gemacht wäre", sollte es wirklich so sein, daß wir in der
augustinisch-cartesischen Erforschung des Wesens und Subjekts des
Zweifels synthetische Sätze a priori gewinnen können, die im Wesen
der Dinge an sich selbst gründen, was nachzuweisen im vorigen Kapitel
versucht wurde.
Bevor diese Frage in Entgegnung auf die Kantischen Einwände wieder
aufgenommen werden kann, muß jedoch geklärt werden, was die zu
Recht im Zentrum der Kantischen Philosophie stehende "Frage nach
der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori" eigentlich bedeutet.
218
Eine bahnbrechende Analyse der eigentlichen Natur dieses
Unterschiedes findet sich in D. von Hildebrands What is philosophy?, S.
77 ff. Hier können nur einige Punkte dieser ausführlichen Analyse erwähnt
und fortgeführt werden.
165
erforscht. Das ist umso mehr zu beklagen, als eine derartige
Untersuchung zugleich dazu führt, jene Verwechslungen und Irrtümer
zu erkennen, ohne die das gesamte Kantische System undenkbar wäre
und zugleich zu der klaren Erkenntnis zwingt, daß Kant die Frage nach
der Möglichkeit einer Metaphysik, "die als Wissenschaft wird auftreten
können", so lange großartig formuliert hat, als er nach "der Möglichkeit
synthetischer Urteile a priori" fragt. Er versteht darunter notwendig
gültige Urteile, die keine bloßen Begriffsbestimmungen oder
Tautologien sind.
Kant wollte den "Immanentismus" und die Unfruchtbarkeit einer rein
analytischen "Metaphysik" überwinden, das heißt einer Philosophie,
die nur dadurch die notwendige Wahrheit ihrer Urteile erreicht, daß sie
im Prädikatsbegriff das als notwendig zum Subjekt gehörig bezeichnet,
was "sie selbst zuerst in den Begriff hineingelegt hatte." 218a Ein solches
analytisches Urteil wäre etwa: "Jeder Greis ist notwendig ein alter
Mann.''219 Dieser Satz läuft auf den anderen hinaus: "Ein alter Mann ist
notwendig ein alter Mann." Diese offene Tautologie ist in der ersten
Formulierung nur deshalb eine verdeckte, weil man in dem
Subjektsbegriff zwei Eigenschaften (alt und Mann) verbindet, ohne sich
dessen deutlich bewußt zu sein. Daher kann leicht die Notwendigkeit
der Wahrheit dieses Satzes, die sich in Wirklichkeit einfach aus der
Anwendung des Identitäts- bzw. des Widerspruchsprinzips ergibt, wie
eine von der "Sache" her notwendige Verbindung zweier Eigenschaften
(des Mannseins und des Altseins) erscheinen. Wenn man die verdeckt
tautologischen Sätze in offen tautologische Sätze überführt, was bei
218a
Die Wahrheit analytischer Urteile ergibt sich also einfach aus einer An-
wendung der sogenannten "obersten logischen Grundsätze", die A. Pfänder
in seiner Logik (III, Kap. I—V) unübertrefflich analysiert hat. Zugleich
weist er sowohl die Verschiedenheit als auch die Beziehung zwischen
diesen "obersten Grundsätzen" im logischen und im ontologischen Sinn
nach.
219
Ähnliche Sätze führt Leibniz in den Nouveaux Essais, IV, II (a. a. O., S.
343) wohl mit der Erwähnung an, daß es sich hier um "propositions
identiques" handle, die uns in keiner Weise über einen Gegenstand be-
lehren, aber rätselhafterweise ohne sie den nur in originärer Wesenseinsicht
erfaßbaren "notwendigen Wahrheiten" gegenüberzustellen; ja, Leibniz
stellt diese Sätze geradezu als Beispiele für die metaphysischen hin (eine
Behauptung, die er a. a. O., IV, VIII näher ausführt): "J'ay ecrit ce que j'ay
ecrit... Le rectangle equilateral est un rectangle..."
166
jedem rein analytischen Satz möglich ist, dann ist klar, daß die
Wahrheit sämtlicher solcher Sätze feststeht, ganz unabhängig davon,
um welche Sache es sich in ihnen auch handeln mag. In ihnen wird
eigentlich nur das Widerspruchsprinzip auf die verschiedensten
Gegenstände an gewendet; ohne jegliche über die Erkenntnis des
Widerspruchsprinzips hinausgehende Erkenntnis kann man sozusagen
"mit geschlossenen Augen" die Wahrheit und notwendige Gültigkeit
jedes analytischen Satzes feststellen, der uns nicht im mindesten über
eine Sache belehrt außer daß er zum Ausdruck bringt, daß auch für sie
das Identitätsprinzip und das Widerspruchsprinzip gelten.
Das wahrhaftig Unfaßbare ist nun, daß Kant der ganzen Metaphysik
vor ihm den Vorwurf macht, nichts weiter als solche "eitlen Sätze" in
sich enthalten zu haben:219a
"er fand,... daß um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts
beilegen müsse, als was er seinem Begriff gemäß selbst in sie gelegt
hatte."220
"Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes
Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen
gewesen
219a
Man muß sich dabei allerdings klarmachen, daß Leibniz trotz seiner
tiefen Einsichten in notwendige Wesenszusammenhänge, welche sich
keineswegs auf eine bloße Anwendung des Widerspruchsprinzips
zurückführen lassen, gerade an den entscheidenden Stellen (Monadologie,
§§ 33—35, in: "Die philosophischen Schriften", Bd. 6, S. 612; Nouveaux
Essais, V, IV, II a. a. O., Bd. 5, S. 342 ff.; IV, VII, § 8: a. a. O., S. 394 ff)
den Verdacht nahelegt, daß er die von ihm a priori eingesehenen "vérités
de raisonnement" sämtlich für im Widerspruchsprinzip gegründet hielt und
dabei gar nicht merkte, daß damit — außer der in sich bedeutsamen und für
das ganze Universum grundlegenden Gültigkeit des Widerspruchsprinzips
— alle übrigen "vérités de raison" bloße Anwendungen bzw. reine
Wiederholungen des Widerspruchsprinzips wären, deren Leere Leibniz
keineswegs wie Kant durchschaute obwohl er in den Nouveaux Essais (IV,
VIII: a. a. O., Bd. 5, s. 409 ff.) nahe daran ist.
220
Kant, KdrV, B XII.
167
sei."221
Es kann hier nicht auf die vielen sich an diese Zitate knüpfenden Fragen
eingegangen werden, aber schon die Ungeheuerlichkeit eines solchen
Vorwurfs (der die ganze Metaphysik zu einer letztlich von einem Kind
oder Narren — der keine Erkenntnis außer von den obersten logischen
Grundsätzen zu besitzen braucht — ausübbaren Wissenschaft erklärt)
verrät, daß Kant an dem eigentlichen Unterschied zwischen
analytischen und synthetischen Urteiien222 vorbeiging. Indem er aber
das Wesen des zentralen, von ihm bemerkten Unterschiedes verkannte,
verfiel er mit seiner "Erklärung", wie synthetische Urteile a priori
möglich seien, einem noch viel weitergehenden und schlimmeren
Immanentismus, als eine bloß "tautologische Metaphysik" ihn
darstellen würde, was aus einer Untersuchung dieses Unterschiedes
erhellen wird.223
Kant führt für die Unterscheidung zwischen analytischen und
synthetischen Sätzen ein irreführendes Merkmal an: Er definiert
nämlich analytische Sätze als solche Sätze, bei denen mit dem Begriff
des Subjekts das Prädikat schon zugleich mitgedacht wird. Im
Unterschied dazu seien synthetische Sätze solche Sätze, bei denen im
Subjektsbegriff noch nichts vom Prädikatsbegriff enthalten sei, bei
denen also durch Hinzufügung des Prädikatsbegriffs der
Subjektsbegriff erweitert werde.
221
KdrV, B XV.
222
Deren dogmatische Behauptung er andererseits derselben Metaphysik
vorwirft.
223
Gegenüber Leibniz hat B. Bolzano sich ganz klar gegen jene Theorien
gewendet, nach denen im Widerspruchsprinzip, in dem Satz vom
ausgeschlossenen Dritten, dem Identitätsprinzip oder anderen ähnlichen so
genannten "obersten Denkgesetzen" der "Grund aller Wahrheit im
Denken" zu finden sei. Aus ihnen sind nämlich "keine der Rede werten"
Wahrheiten abzuleiten... Zwar dürfe ihnen keine Wahrheit widersprechen,
aber das gelte für jeden wahren Satz... Die Redeweise "oberste
Denkgesetze" erkennt Bolzano vor allem deswegen als unangemessen,
"weil dieser Name Veranlassung gibt, sich vorzustellen, als ob es Gesetze
wären, an welche sich bloß unser (menschliches) Denken gebunden
findet". Infolge seiner Einsicht aber "drücken diese Sätze eine den Dingen
an sich selbst zukommende Beschaffenheit aus" und gehören daher in die
Ontologie. (Wissenschaftslehre, I, 1, § 545, a.a.O., S.61.)
168
Diese Ausdrucksweise ist nun nicht nur äußerst vieldeutig, sondern
einfach falsch, weil sie statt des wahren Merkmals des von Kant
gesehenen Wesensunterschiedes ein falsches anführt. Das kann nur
verstanden werden, wenn man sich zunächst den im ersten Teil der
Arbeit durchgeführten Unterschied zwischen dem Begriff und der
Sache, auf die dieser hindeutet, einerseits, und dem Urteil und dem
Sachverhalt, auf den dieses sich bezieht, andererseits vor Augen hält.
Denn nur dann kann man erkennen, wie doppeldeutig die Aussage ist,
bei analytischen Sätzen werde der Prädikatsbegriff schon "mitgedacht",
bei synthetischen erst "hinzugefügt".
Das Irreführende dieser Ausdrucksweise wird klar, wenn man sich des
von Kant angeführten Beispiels für einen "analytischen" Satz erinnert:
Den Satz "Alle Körper sind notwendig ausgedehnt" erklärt Kant für
einen analytischen Satz, was gemäß dem von ihm angegebenen
Merkmal für den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen
Sätzen durchaus natürlich ist. Man stelle neben diesen einen wirklich
analytischen Satz: "Jeder Greis ist ein alter Mann", der sich auflösen
läßt in den Satz: "Jeder alte Mann ist ein alter Mann." In diesem Satz
habe ich also in der ersten Formulierung bloß durch das Prädikat den
Subjektsbegriff erläutert; dem in der zweiten Formulierung
hervortretenden sachlichen Gehalt nach ist der Satz aber nicht mehr als
die Anwendung des Widerspruchsprinzips auf den alten Mann.
Man mag Kant zugeben, daß man in beiden Fällen beim Subjektsbegriff
schon an den Prädikatsbegriff denke — doch darauf kommt es in
Wirklichkeit bei dem Unterschied zwischen analytischen und
synthetischen Sätzen in keiner Weise an. Bei analytischen Sätzen, die,
wie Kant mit Recht hervorhebt, insgesamt a priori notwendig sind,
stammt diese Notwendigkeit immer aus einer und derselben Quelle
nämlich der universalen Gültigkeit der obersten logischen
Grundgesetze. Sie sagen im Grunde nichts anderes als: "Gesetzt, eine
Sache ist a, so ist es notwendig wahr, daß sie a ist." Zur Verdeutlichung
des entscheidenden Punktes eignet sich noch besser der analytische
Satz von der Form: "Jeder Greis ist (notwendig) alt", was dasselbe
bedeutet, wie: "Jeder alte Mann ist alt."
In dem Augenblick nun, wo wir auf die mit dem Subjektsbegriff
"Greis" gemeinte "Sache" unabhängig von dem Begriff blicken, die
ihm schon das Merkmal "alt" zuspricht, werden wir finden, daß das
Alter diesem alten Manne keineswegs notwendig zukommt. Blicken
wir hingegen nur einen Augenblick auf die mit "Körper" gemeinte
169
Sache ganz unabhängig von irgendeinem sie bezeichnenden Begriffe
so werden wir finden, daß ihr die Ausgedehntheit und
Dreidimensionalität ebenso notwendig zukommt wie zuvor, als wir sie
"Körper" nannten. Die in dem Urteil: "Jeder Körper ist notwendig
dreidimensional ausgedehnt" zum Ausdruck gebrachte Notwendigkeit
ist gänzlich unabhängig von der Benennung der Sache "Körper" mit
dem Begriffe "Körper" und ist auch keineswegs bloß die der "obersten
logischen Grundgesetze"; sie gründet vielmehr in dem spezifischen
Wesen des "Körperseins", und kein realer Körper könnte je anders als
dreidimensional existieren. Nehmen wir auf der anderen Seite den
Begriff "Greis" weg und sagen wir: "Dieser Mann ist notwendig alt",
so ist dies ein falscher Satz, da derselbe Mann ja auch jung sein kann,
und dies sogar real war, und da das Alter ihm gerade nicht notwendig
eigen ist. Gar nicht am Begriffe Körper hingegen, sondern ganz im
Wesen der mit diesem Begriff bezeichneten Sache liegt es, daß sie
notwendig ausgedehnt ist; ein unräumlicher oder in zwei Dimensionen
existierender realer Körper ist eine Unmöglichkeit. Also nicht auf
Grund des Begriffes Körper, sondern auf Grund des Wesens dieser
"Sache" ist es notwendig ausgeschlossen, daß eine solche Sache sich in
zwei, einer oder gar keiner räumlichen Dimension entfaltet. Das
Wesentliche bei synthetischen Sätzen a priori ist also, daß ein in keiner
Weise auf die obersten ontologischen und logischen Grundsätze
reduzierbarer, notwendiger Sachverhalt, unabhängig von allen
Begriffen und sprachlichen Bezeichnungen besteht. Solange ich, wie
Kant, die Begriffe nicht von den Sachen unterscheide, kann ich dies
freilich nicht sehen.
Die Notwendigkeit der Wahrheit synthetischer Sätze a priori kann also
keineswegs auf Grund der "logischen Grundgesetze" eingesehen
werden, sondern setzt eine Einsicht in das spezifische Wesen voraus, in
dem der gemeinte Sachverhalt gründet. So konnte keiner der im Wesen
des Zweifels gründenden Sachverhalte anders eingesehen werden als
dadurch, daß die vor jeder begrifflichen Fassung liegende notwendige
Wesenseinheit "Zweifel" unmittelbar erschaut wurde. Es handelte sich
dabei nicht um eine bloße Begriffsbestimmung, beziehungsweise um
die Aussage: Ich nenne Zweifel einen Akt, der dieses und jenes
Merkmal hat, so wie ich etwa alle schweren und kleinen Töpfe "topu"
nennen und dann sagen könnte: "jeder 'topu' ist klein und schwer." Die
Verbindung der Eigenschaften "klein" und "schwer" im Topf bleibt
dabei eine rein zufällige. Beim Zweifel hingegen bestand die sinnvolle,
170
ja notwendige Einheit von Merkmalen schon vor jedem Begriffe, und
wie immer ich diese "Sache" nennen mag, ihr Wesen und die notwendig
in ihm gründenden Sachverhalte bestehen schon vor all meinen
Begriffen.
Jedem beliebigen Körper kommt Ausdehnung so notwendig zu, wie der
Sachverhalt besteht, daß 7 + 5 = 12, den auch Kant als einen
synthetischen Satz a priori erkennt, der keineswegs, wie sogar Leibniz
meinte, eine Sache bloßer Definition ist, sondern ebenso notwendig und
immer bestünde, wenn kein Mensch ihn erkennen oder gar formulieren
würde.
Der Unterschied zwischen analytischen a priorischen und
synthetischen a priorischen Urteilen leuchtet schließlich noch klarer
auf, wenn bedacht wird, daß es sich bei der "Definition" des
Unterschiedes dieser Sätze durch deren Merkmale keineswegs um
etwas Willkürliches handeln kann, sonst könnte man Kant niemals
vorwerfen, daß er diesen Unterschied "nicht richtig" bestimmt hat.
Worauf er mit diesen beiden Begriffen hinauswill, sind jedoch zwei
wesenhaft verschiedene Arten von Urteilen, zu denen jeweils
bestimmte Merkmale notwendig gehören. Deshalb ist es nicht eine
Frage der Definition, diese Begriffe zu bestimmen, sondern eine Frage
des Soseins der in ihnen gemeinten und von jeder begrifflichen
Erfassung unabhängigen, wesensverschiedenen "Gebilde", die der
Philosoph vorfindet und nicht erst durch seine Begriffe zusammenfaßt.
Die gegebenen Andeutungen über das Wesen dieses Unterschiedes
müssen hier genügen.
171
dem Urteil selbst transzendenter Sachverhalt gemeint wird; wenn
dieser wirklich besteht, ist das ihn setzende Urteil wahr, besteht er
nicht, ist es falsch. Je nach Art des Urteils kann ich einen zufälligen,
individuellen oder einen allgemeinen und notwendigen Sachverhalt als
bestehend "setzen". Synthetische Urteile a priori bringen wesenhaft das
Bestehen allgemeingültiger und notwendiger Sachverhalte zum
Ausdruck. Solche Sätze sind deshalb ausschließlich dann möglich,
beziehungsweise berechtigt — denn sie sind ausschließlich dann wahr
—, wenn es eine positive Antwort auf die eigentliche Grundfrage der
Metaphysik gibt, nämlich auf die Frage:
Bestehen notwendige, allgemeingültige Sachverhalte, und kann ich, sie
erkennen?
Denn wenn ich synthetische Sätze a priori bilde, ohne daß die
wesenhaft in ihnen behaupteten, notwendigen Sachverhalte objektiv
und meinem Geiste transzendent bestehen, wenn ich, wie Kant, nicht
diese einzige, sondern eine andere "Begründung" der synthetischen
Sätze a priori versuche, nämlich daß ich eine solche Denkstruktur oder
"transzendentale Konstitution" besitze, daß ich sie notwendig als
Grundlage und Bedingung der Möglichkeit meiner Erfahrung denken
muß, wenn ich die synthetischen Urteile a priori also als Ergebnis einer
"transzendentalen synthesis" erkläre, dann begehe ich, wie Nietzsche
die Kantische Grundposition genial gekennzeichnet hat, höchstens
"unwiderlegbare Irrtümer".224
Kant stellt die Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile a
priori, wobei er übersieht, daß diese in ihrem Sinn völlig
zusammenbrechen, daß sie zu Irrtümern werden, wenn sie nicht ihnen
selbst transzendenten notwendigen und allgemeingültigen
Sachverhalten im Sein an sich entsprechen.225 Kant merkt nicht, daß
jede andere "Erklärung" der synthetischen Urteile a priori diese zu
Irrtümern erklärt, was nicht im geringsten dadurch irgendwie verändert
224
F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, n. 265: "Was sind denn
zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind die unwiderlegbaren
Irrtümer des Menschen." Ne. We., Bd. II, S. 159.
225
Zu einem volleren Verständnis dessen vgl. die meisterhaften Analysen
A. Pfänders über das Urteil und den wesensnotwendig in ihm gründenden
Anspruch auf Wahrheit, Logik, I, Kap. I—3 u. bes. Kap. 5.
172
wird, daß sie als notwendige Bedingung für jede Erfahrung erwiesen
werden.226
Wenn also die notwendige Beziehung jedes Urteils auf einen ihm
transzendenten Sachverhalt gesehen wird, ist klar: Nicht sosehr die
Frage nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori als
vielmehr nach der Erkenntnis von objektiv bestehenden, notwendigen
und allgemeingültigen Sachverhalten ist die Grundfrage jeder
Metaphysik und Erkenntnislehre und eine Grundfrage jedes Menschen.
Und auf diese Frage haben Descartes und Augustinus eine Antwort
gefunden, was jetzt noch gegenüber den Kantischen Einwänden näher
geklärt werden soll.
226
Dies hat wiederum D. von Hildebrand m. E. am deutlichsten nach-
gewiesen. Vgl.: "The many meanings of the concepts: a priori and
experience", in: What is philosophy?, S. 86 ff., bes. S. 93—95.
Vgl. dazu: Kant, KdpV, § 8, II, a. a. O., S. 166, 168. Wir gehen in
226a
173
Sittlichkeit erklären, die ihm als eindeutige Tatsache feststand. (Vgl.
KdpV, A 84, 8s.) Zugleich wollte er auch das von D. Hume als aus
Gewohnheit stammende Fiktion erklärte Kausalprinzip begründen.
Hier entging Kant merkwürdigerweise wiederum die Flachheit der
Humeschen Argumentation, der die Uneinsichtigkeit eines im
einzelnen Fall bestehenden Kausalzusammenhangs als Einwand gegen
die absolute Evidenz des Prinzips vom zureichenden Grunde ansah
(vgl. A. Pfänder, Logik, S. 221 ff.).
Dadurch, daß Kant viele zeitgenössische Thesen philosophisch nicht
eingehend untersuchte bis zu dem Punkt, wo sich herausstellt, daß sie
keine Tatsachen sind, die wichtigen Prinzipien widersprechen, sondern
Irrtümer — nahm Kant wie in den Antinomien, Parologismen etc. an,
daß zahlreiche Widersprüche in der uns gegebenen Welt bestünden, die
sich nur durch seine gigantische Konstruktion aus der Welt schaffen
ließen, in der alle diese Antinomien erklärt und aufgelöst würden. Wir
können in dieser Arbeit selbstverständlich nicht unternehmen, dies
näher auszuführen oder gar alle jene sich bei näherer Analyse als
notwendigen Wahrheiten widersprechende Irrtümer herausstellenden
Thesen zu untersuchen, die Kant als unumstößliche Tatsachen
hinnahm.
Wir erwähnen diesen Punkt nur und wollen dabei betonen, daß sich hier
wieder deutlich zeigt, wie hypothetisch und konstruktiv Kant in seiner Phi-
losophie vorging und diese gleichsam als "beste Erklärung", als beste ver-
suchsweise angebotene "Riesenhypothese" anbot, nicht aber ihre innere
Notwendigkeit und Einsichtigkeit irgendwo behauptet. Auch eine in KdrV,
B XX, sich findende Fußnote weise auf diese "dem Naturforscher nachge-
ahmte Methode" hin, die in Wirklichkeit "widerphilosophisch" ist, weil sie
den Gegensatz zu absoluter Gewißheit und zu Einsicht in sich notwendiger
Zusammenhänge bildet. An deren Stelle tritt die "beste Erklärung" ("Man
versuche es daher einmal..."), wobei Kant vergißt, daß diese erstens die
Einsicht in in sich intelligible Sachverhalte notwendig voraussetzt und daß
sie zweitens den in sich intelligiblen Sachverhalten, von denen Philosophie
handelt, nicht angemessen ist. Überdies werden durch die Kantische Kon-
struktion die Probleme gar nicht gelöst. Ihre "Auflösung", soweit sie nicht
unerforschliche Geheimnisse betreffen (die aber von Widersprüchen
wesensverschieden sind), kann nur durch jene mühsame und von Kant
vernachlässigte philosophische Forschung geleistet werden, die die von
Hume geäußerten Meinungen über Kausalität, die deterministischen
Auffassungen und andere Irrtümer als solche entlarvt.
174
ich nach Kant niemals etwas an sich Notwendiges; dies habe vielmehr
den "fiktiven Gegenstand" aller Transzendenzphilosophie und
Metaphysik gebildet, die jetzt erledigt sei.
Das zweite Vorurteil gründet in folgender Erwägung: Kant sah bis zu
einem gewissen Grad, daß ohne das, was sich an den Gegenständen
unserer Erfahrung nicht wandelt und worüber wir allgemeine, nicht
empirische Urteile fällen, überhaupt keine Erfahrung möglich wäre —
Raum, Zeit, Wesenheiten, Sein, Widerspruchsprinzip, Wesensgesetze
aller Art. Da Kant einerseits sieht, daß wir nicht gänzlich unabhängig
von der Erfahrungswelt, in der eben diese notwendigen Elemente eine
grundlegende Rolle spielen, zu diesen notwendigen Elementen
gelangen können, anderseits aber auf Grund seiner Beschränkung auf
den empiristischen Erfahrungsbegriff im Sinn von Realkonstatierung
und Induktion meint, diese notwendigen Zusammenhänge könnten uns
niemals als solche selbst in einer Erfahrung in ihrem Sein an sich
gegeben sein, folgt daraus ganz konsequent das zweite Vorurteil:
Kant glaubt, diese notwendigen Elemente in der Erfahrungswelt
könnten nicht in den Dingen selbst liegen, sondern nur von uns an diese
herangetragen werden. Die notwendigen Bedingungen aller
Erfahrung227 müssen also Produkte unseres Geistes sein.
Kant übersieht, daß synthetische Urteile a priori in dem Augenblick zu
Irrtümern werden, in dem ihr Bezug auf notwendige und damit an
sich bestehende allgemeingültige Sachverhalte weggenommen wird.228
Und dieser Bezug wird notwendig weggenommen, wenn man die
wesenhaft rezeptive Transzendenz der Erkenntnis in so leichtfertig
hypothetischer Weise leugnet, ohne dabei auch nur zu merken, was
dadurch geschieht:
227
Mit der Reduzierung des a priori auf solche "Bedingungen der Mög-
lichkeit" der Erfahrung beschränkt Kant außerdem das gewaltige Reich
notwendiger Wesenszusammenhänge auf einen kleinen Teil derselben.
Vgl. D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 86 ff., bes. 92 ff.
228
Die Tatsache, daß die synthetischen Urteile a priori die für alle Erfah-
rung unumgängliche Voraussetzung und Bedingung ihrer Möglichkeit
bilden würden, bewies als solches nichts für ihre Wahrheit. Vgl. D. von
Hildebrand, What is philosophy?, S. 95. Vgl. auch Kant, KdrV, A 98, a. a.
O., S. 172.
175
"Bisher nahm man an, all unsere Erkenntnis müsse sich nach den
Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie etwas a priori durch
Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde,
gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher
einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik besser damit
fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach
unserem Erkenntnis richten... Es ist hiermit ebenso wie mit dem ersten
Gedanken des Kopernikus bewandt..."229
229
KdrV, B XVI.
230
Das eigentliche Kennzeichen des Subjektivismus und der Kantischen
Position hat B. Bolzano treffend mit den Worten ausgedrückt, "daß man
sich noch das Recht, zu urteilen, obgleich es bei dieser Ansicht nur als ein
Recht methodisch zu irren, erscheint, aus dem Grunde vorbehält, weil
unsere Irrtümer nie eine Widerlegung zu besorgen haben". (Wissenschafts-
lehre, I, I, § 44, a. a. O., S. 60.) B. Bolzano wendet dies zwar nicht un-
mittelbar auf die Kritische Philosophie selbst an, die er als "keinen gänz-
lichen, aber doch einen solchen Skeptizismus" bezeichnet, "der uns gerade
dort zweifeln macht, wo es am nötigsten für uns wäre, nicht zu zweifeln".
Doch ebenso wie sich das von Bolzano Gesagte auf den konsequenterweise
aus dem Kantischen Kritizismus sich ergebenden Subjektivismus und
176
Die kopernikanische Wendung Kants und damit sein gesamtes System
ruht also auf einer negativen und m. E. falschen Antwort auf eine Frage,
die wir uns nun von neuem stellen wollen:
Berühren wir in unserer aus unmittelbarem Erfahrungskontakt mit dem
Gegebenen gewonnenen philosophischen Wesenserkenntnis — und in
weniger ausdrücklicher Weise in unserem gesamten geistigen Leben —
die objektiven, notwendigen Wesenheiten der Dinge an sich mit einer
über allen Zweifel erhabenen Gewißheit und sind deshalb die
synthetischen Urteile a priori sicher wahr oder nicht?
Und weiter: Können wir auch konkrete, substantielle Wirklichkeiten in
ihrem Sein an sich erkennen, personales Sein, die Wirklichkeiten des
Raumes und der Zeit und alles, was "die Außenwelt" bildet — vor
allem aber: Können wir die reale, metaphysische Existenz Gottes
erkennen oder nicht?
Relativismus anwenden läßt, auf den er es selbst anwendet, gilt es für die
Kantische Philosophie selbst, zumindest für alle philosophischen bzw. alle
synthetischen Urteile a priori im Kantischen Verstande des Wortes und für
alle Urteile Über "Dinge an sich".
231
Für die Tatsache, daß die bei M. Scheler (in: Phänomenologie und
Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 308 f.) und schon vor ihm grundgelegte,
von D. von Hildebrand aber in ganz neuem Sinne vollzogene
Unterscheidung zweier grundsätzlich verschiedener
Erfahrungsbegriffe von transzendentalphilosophischer Seite
weitgehend ignoriert wird, ließen sich viele Beispiele anführen. Daß
diese Frage nicht einmal diskutiert wird, ist ein trauriges Zeichen, da ja
die genannte Unterscheidung, wie Kant selbst sagt, "seiner gesamten
Kritik ein Ende bereiten würde", wenn sie Gültigkeit besitzt. Sogar in
dem an literarischen Auseinandersetzungen so reichen Werk E.
Heintels, Die 6eiden Labyrinthe der Philosophie, Bd. I, wird die Frage
177
Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig, doch ist zweifellos der
Hauptgrund eine geistige Lähmung in Beziehung auf die
Wahrheitssuche, eine tödliche Getroffenheit der Philosophie in unserer
Zeit. Sonst müßten solche Unterscheidungen wie die Aufdeckung
zweier gänzlich verschiedener Begriffe von Erfahrung, durch die der
gesamte Ausgangspunkt der Kantischen Vernunftkritik geklärt, bzw.
hinweggenommen wird, als Ereignisse ersten Ranges innerhalb der
Philosophiegeschichte begrüßt oder wenigstens diskutiert werden.
Denn die ganze Vernunftkritik mit ihrem vermessenen Anspruch durch
die "kopernikanische Wendung" alle bisherige Philosophie als
"seichtes Geschwätz'' dargetan zu haben, beruht auf einer
Verwechslung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen
178
Bedeutungen des Begriffs "Erfahrung''. 232 Nachdem D. von Hildebrand
die Charakteristika der philosophischen apriorischen Erkenntnis und
ihrer Gegenstände herausgearbeitet hat, nämlich die strenge innere
Notwendigkeit233 der eingesehenen Zusammenhänge, die von uns am
Beispiel der im notwendigen Wesen des Zweifels gründenden
Zusammenhänge aufgewiesen wurde, nachdem er die unvergleichliche
Intelligibilität234 solcher wesensnotwendiger Zusammenhänge erwiesen
hat, die ein letztes inneres Verstehen, ein Einsehen derselben erlaubt,
nachdem er schließlich die absolute Gewißheit235 als ein drittes
Merkmal der apriorischen Erkenntnis aufgezeigt hat gegenüber aller
bloßen Wahrscheinlichkeit, stellt D. von Hildebrand die Frage, in
welchem Sinne solche notwendigen Zusammenhänge von jeder
Erfahrung unabhängig sein müssen.
Und hier stößt er auf eine fundamentale Verwirrung im
Erfahrungsbegriff, die in der Philosophiegeschichte zu vielen Irrtümern
geführt hat und ohne die Kants Vernunftkritik keinen Bestand hat.
232
Vgl. Dietrich von Hildebrand, What is philosophy?, Kap. IV, 2 ff.
233
What is philosophy?, S. 64—69.
234
A. a. O., S. 69—70.
235
A. a. O., S. 70—86.
236
A. a. O., S. 88.
179
Frage erwiesen, ob es eine absolut gewisse Erkenntnis notwendiger und
intelligibler Sachverhalte gibt.237
237
A. a. O., S. 89 ff.
238
A. a. O., S. 90 ff.
239
A. a. O., S. 90.
240
A. a. O., S. 90—92; 114 ff.
241
A. a. O., S. 92—97.
242
A. a. O., S. 94.
180
"Indeed, the mere fact that a proposition is an indispensable
presupposition for other facts is not even a proof for its truth, and much
less a proof, therefore, for its apriori character in the sense of absolutely
necessary, highly intelligible facts. And, on the other hand, there are
genuinely apriori states of facts which possess only a slight formal
function with respect to other facts, for example. . . . Willing
presupposes knowledge. . ."243
243
A. a. O., S. 94—95.
244
A. a. O., S. 96—97.
181
Chaotischen abheben wie ein zufälliger Haufen von Steinen etc.245
Davon verschieden sind die "Unities of a genuine type",246 (Einheit des
echten Typus), die eine viel höhere Würde besitzen und einer
Beschreibung zugänglich sind, wie etwa die verschiedenen Tierarten
oder Pflanzengruppen. Bei diesen Einheiten gibt es ferner den
Unterschied zwischen konstitutiver Soseinseinheit und Erscheinungen
bzw. ästhetischer Wesenheit.
Gegenüber der zufälligen Einheit besitzt diese "Einheit des echten
Typus" eine ungekünstelte Allgemeinheit und einen viel höheren Grad
innerer Konsistenz. Aber sie erlaubt uns in keiner Weise, durch ein
Absehen von der konkreten Existenz zu apriorischen Einsichten in ihr
Wesen zu gelangen. Ein Absehen von der konkreten Existenz des
Seienden, an dem sie sich uns erschließt, würde zu keinerlei
Erkenntnissen von wissenschaftlichem Ernst führen, was sofort
deutlich wird, wenn wir uns ausdenken, ein Naturwissenschaftler
würde eine
genaue Analyse und Beschreibung einer bloß geträumten Pflanzen-
oder Käferart liefern.
Eine ganz neue Stufe der "Einheit" stellt die notwendige
Wesenseinheit247 dar. Und nur bei ihr ist auch ein Absehen von der
konkreten hic et nunc-Existenz des Seienden möglich, an dem uns eine
solche Wesenheit aufgeht, ohne daß dadurch die Einsicht in ihr
intelligibles, notwendiges und unerfindbares Sosein irgendwie an
Würde verlöre.248 Ebenso ist uns bei diesen und ausschließlich bei
diesen notwendigen Wesenseinheiten (wie Person und deren Akten,
Zahl, sittliche Werte etc.) die notwendig alle konkreten Gebilde
beherrschende Gültigkeit solcher Wesenheiten und damit die aus ihrem
Wesen notwendig fließende Beziehung zur konkreten Wirklichkeit
gegeben, was im dritten Kapitel des II. Teils gezeigt werden soll.
Nur auf dem Hintergrund der Entdeckung dieser wesensnotwendigen
Soseinseinheiten, deren nähere Charakteristik im dritten Kapitel
245
A. a. O., S. 100 ff.
246
A. a. O., S. 102 ff.
247
A. a. O., S. 110—140.
248
Genau dies übersieht E. Husserl, und dies führt ihn zu seinem späteren
transzendentalen Idealismus. Auch F. Lauers Kritik an Husserl geht, wie
Hildebrand zeigte, an diesem entscheidenden Punkte vorbei. Vgl. a. a. O.
S. 99 (Anm. 4).
182
gegeben werden soll, kann verstanden werden, wieso in vielen Fällen
die Soseinserfahrung der Ausgangspunkt für die Einsicht in
notwendige, allgemeingültige Sachverhalte und damit für wahre
synthetische Sätze a priori sein kann. Nur durch diese bei Husserl
fehlende Unterscheidung v. Hildebrands kann die den gesamten
Kritizismus Kants umstürzende und widerlegende Entdeckung zweier
Arten von Erfahrung in ihrem Gewicht gewürdigt werden, wie sie D.
von Hildebrand in aller Einfachheit darlegt:
"The term 'experience' has at least two meanings. If someone says 'I
cannot talk about love. I do not know what it is because I never have
experienced it, the sense of experience here is evidently quite different
from mere blunt observation. Here it means that something has never
disclosed itself in its essence to my mind, that it was never given to me
in a concrete moment which would have enabled me to grasp it in its
essence..."249
249
A. a. O., S. 86.
183
Unter doxa sind hier alle Vorurteile und ihr unbewußt wie eine
Nebelwand wirkender Einfluß verstanden, der sich zwischen uns und
das gültige Antlitz der Wirklichkeit schiebt, auch die Abstumpfung für
die Werte und die Tiefendimensionen der Wirklichkeit — alles, was in
uns nicht aus dem unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit, so wie
sie uns in der Erfahrung gegeben ist, hervorgegangen ist.
184
der Farbe niemals von dem Begriff eines stofflichen Seienden
deduzieren und auf diese Weise einem Blinden den Begriff der Farbe
vermitteln... Dieselbe Feststellung gilt... für viele letzte data der
geistigen Ordnung obwohl das intuitive Erfassen hier keine
Sinneswahrnehmung ist, sondern ein geistiges Schauen von nicht
geringerer Unmittelbarkeit als eine Wahrnehmung. Es ist unmöglich,
das Wesen des Raumes, der Person, der sittlichen Tugenden oder des
Bewußtseins von dem Begriff des Seins oder den sogenannten ersten
Begriffen abzuleiten. Alle diese letzten data müssen wenigstens einmal
in einer ursprünglichen Intuition erfaßt werden, und die philosophische
prise de conscience muß auf dieser Urerfahrung aufgebaut werden...
250
D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 27, 28 ff.
185
Erkenntnislehre, mit im Vergleich dazu sekundären Problemen
vermengt und dadurch belastet wurde.
Die Kernfrage, ob es eine von Realkonstatierung und Induktion mit
ihrer im besten Fall höchsten Wahrscheinlichkeit unabhängige, absolut
gewisse Erkenntnis notwendiger Sachverhalte gibt, wird mit der ganz
anderen, sekundären Frage verwechselt, ob es eine von jeder
Erfahrung, auch von der Soseinserfahrung unabhängige Erkenntnis
gäbe.
Die dunkle und verhältnismäßig zweitrangige Frage, ob wir das
notwendige Sosein gewisser Dinge schon im Vollzug unseres
bewußten Seins "kennen" und nicht erst durch eine von außen
kommende Soseinserfahrung kennenlernen müssen, ist sicher ein
legitimes Problem. Vielleicht sind uns Einheit und die fundamentalen
Prinzipien des Seins, Substanz, Akzidenz, personales Sein — schon im
Vollzug unseres Bewußtseins selbst mitgegeben, so daß niemand
eigens eine Erfahrung suchen muß, in der sich diese Gehalte seinem
Geist erstmals erschließen, in der er sie "kennenlernt". Vielleicht gibt
es Dinge, die wir von "vornherein" schon kennen. Aber die bejahende
oder verneinende Antwort auf diese Frage würde absolut nichts für
unsere Kardinalfrage präjudizieren, wie von Hildebrand schlagend
nachweist.250a Weder würde die Angeborenheit gewisser Urgehalte ihre
objektive Gültigkeit beweisen können, noch würde sogar eine
vorgeburtliche Schau der "Ideen" als solche den Charakter notwendiger
Wesenheiten und der in ihnen gründenden notwendigen Sachverhalte
irgendwie erklären. Andererseits ist zweifellos für die Einsicht in den
notwendigen Sachverhalt, daß Wollen Erkenntnis voraussetzt oder gar,
daß Orange der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen Rot und Gelb
liegt, der Erfahrungskontakt mit einem Seienden nötig, an dem sich uns
das betreffende notwendige und intelligible Sosein erstmalig erschließt,
das jedoch, wie die in ihm gründenden Sachverhalte, mit absoluter
Gewißheit erkannt werden kann.
Schon bei Aristoteles, noch mehr aber bei Kant kommt die Frage nach
einem wieder ganz verschiedenen "Apriori" zur Sprache: die Frage
nach den fundamentalsten Prinzipien, die alles übrige Seiende
"möglich" machen. Bei Kant verdrängt diese Frage ausdrücklich das
klassische Apriori-Problem, und die "Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung" treten an die Stelle von in sich notwendigen, intelligiblen
250a
Vgl.: What is philosophy?, S. 86—97.
186
Wesenheiten und Prinzipien, die nicht nur die Bedingung unserer
Erfahrung, sondern der Wirklichkeit "an sich" sind. Während
Aristoteles nach den obersten, durch sich selbst einleuchtenden
Prinzipien fragt, die für alles Sein und Erkennen die objektive
Voraussetzung bilden, leugnet Kant ja geradezu den in sich
notwendigen und intelligiblen Charakter der apriorischen Prinzipien,
spricht vielmehr — welch ungeheuerlicher Gedanke! — von der
"transzendentalen Zufälligkeit der Kategorien" und ersetzt den
Charakter der Notwendigkeit "in sich" durch den Charakter der
notwendigen Vorausgesetztheit von uns. Damit unterhöhlt er, wie
schon gezeigt, den ganzen Wahrheitsgehalt und Sinn dieser Prinzipien.
Nicht die Frage nach der Vorausgesetztheit gewisser Prinzipien für
alle übrigen Bereiche der Erfahrung und des Denkens, sondern die
innere Notwendigkeit und der objektive Bestand dieser fundamentalen
und anderer notwendiger Sachverhalte ist die Kardinalfrage der
Erkenntnislehre. Denn nur wenn diese Prinzipien objektiv wahr sind,
d. h. nur wenn die in ihnen behaupteten Sachverhalte an sich bestehen,
sind sie würdige Gegenstände der Erkenntnis. Sonst wären sie bloße
unwiderlegliche Irrtümer. Der Charakter der inneren Notwendigkeit
und Intelligibilität solcher Wesenssachverhalte, die für jede mögliche
Welt gelten, ist in keiner Weise in ihrer formalen Vorausgesetztheit für
alles übrige Seiende gegründet. Auch reichen notwendige
Wesenheiten, wie wir gesehen haben und noch deutlicher zeigen
werden, viel weiter als diese fundamentalsten Prinzipien.
Durch diese hier angedeutete Abhebung des klassischen
Apriori-Problems, das im Brennpunkt philosophischen Interesses
stehen muß, von ganz andersartigen und im Vergleich dazu
untergeordneten Problemen, hat D. v. Hildebrand einen der größten
erkenntnistheoretisch-metaphysischen Beiträge geleistet. Auch hat er
dadurch den Kampf gegen diese "an-sich"-seienden "apriorischen"
Wesensgesetze, ihr Verdrängtwerden durch ganz andere Dinge und ihre
eigentliche Natur unvergleichlich klar herausarbeiten können. Im
Zusammenhang damit konnte dann die verderbliche Doppeldeutigkeit
des Ausdrucks "Erfahrung" voll aufgedeckt werden.
187
Hier sei ausdrücklich betont, daß in der Erkenntnis notwendiger
Wesenheiten der Dinge aufleuchtet, daß die Leugnung der
Erkennbarkeit der "Dinge an sich" nicht nur widersprüchlich ist, was
schon gezeigt wurde, sondern daß diese einsichtigermaßen besteht und
in der Wesenserkenntnis vorliegt.
Nicht nur Kant setzt voraus, daß er weiß, was Erkenntnis in ihrem Sein
wirklich ist, sondern dies kann man wirklich erkennen:
Wir sind in den bisherigen Untersuchungen zum Wesen der Erkenntnis
als einer so intelligiblen Gegebenheit durchgedrungen, daß sie
eindeutig etwas gänzlich Objektives, Autonomes ist, das niemals
"Schein" oder "Erscheinung von etwas" oder "bloßes Phänomen" oder
"bloß etwas Psychologisches'' sein kann, sondern sich als eine objektive
Wirklichkeit erweist, über deren objektives, autonomes Sein keinerlei
Täuschung möglich ist:
"Es ist völlig sinnlos zu sagen, was wir Gerechtigkeit nennen, sei
vielleicht nur eine Erscheinung und die zugrundeliegende Realität eine
Erfindung der Schwachen zu ihrem Schutz... die Philosophie wird nie
etwas dem vorphilosophischen Erkennen völlig Fremdes entdecken.
Sie kann unmöglich herausfinden, zwei so verschiedene Wirklichkeiten
wie Erkenntnis und Wille seien tatsächlich ein und dasselbe, oder
Gerechtigkeit sei in Wahrheit nichts anderes als ein Erzeugnis der
Verbitterung der Schwachen und Mittelmäßigen (d. h. dessen, was wir
genauer gesagt Ressentiment nennen). Die Feststellung, daß jemand,
der vorgibt, gerecht zu sein, tatsächlich nur von Ressentiment getrieben
ist, kann durchaus einen vernünftigen Grund haben; aber es ist absurd
zu sagen, Gerechtigkeit sei in Wirklichkeit nur ein Ressentiment der
Schwachen. Angenommen, man könnte behaupten, es gäbe auf dieser
Welt keine wahre Gerechtigkeit, so bliebe es dennoch absurd zu
erklären, die Gerechtigkeit als solche sei eine Erfindung der
Schwachen, um der Stärkeren Herr zu werden. Die erste Behauptung
kann wahr oder falsch sein, die zweite ist einfach sinnlos."251
251
D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 16,18.
188
(willkürliche Gebilde wie ein Steinhaufen oder eine regellose Linie)
und andere, die zwar sehr sinnvoll sind, aber keineswegs innere
Notwendigkeit der Elemente besitzen. So sind eine Katze, ein Löwe,
ein Pferd oder eine Nation und ihr Charakter sinnvolle, aber nicht
notwendige Gebilde.
Der Gegenstand der philosophischen Erkenntnis sind jedoch, wie wir
gesehen haben, hauptsächlich innerlich notwendige Wesenheiten:
"Wir machen einen Versuch mit der Wahrheit! Vielleicht geht die
Menschheit daran zu Grunde! Wohlan!" Immer und immer wieder
spricht Nietzsche von der Willkür der Schaffenden, von der Willkür der
Erkennenden und von der eigenen Person und ihren Wünschen und
Begierden als dem Maß der "Wahrheit".
252
D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 17, 18.
Wie H.-E. Hengstenberg mit Recht hervorhebt, handelt es sich in bezug
252a
189
Wenn wir uns nach den Wurzeln dieses immer wieder durchbrechenden
totalen Relativismus bei Nietzsche fragen, so kommen wir zurück zu
Kant. Auch für Nietzsche ist es weniger die empirische Erkenntnis, die
ein Schaffen ist, als viel mehr (was schon Platon im Theaitetos als ein
Merkmal des Relativismus klar herausstellt) alle metaphysische,
ethische und religiöse Erkenntnis, die im Grunde angeblich ein bloßes
Schaffen darstelle.
Für Kant sind alle notwendigen Elemente der Wirklichkeit, ja in seinem
opus posthumum konsequenterweise sogar die gesamte Erfahrung ein
Produkt unseres Geistes, nur werden diese nach den strengen Gesetzen
unseres Verstandes erzeugt. Doch für Kant ist dieses "Schaffen"
unbewußt, jenseits unseres Bewußtseins.
Nietzsche schildert die völlige Aushöhlung des Wahrheitsbegriffes
durch die Transzendentalphilosophie, indem er nämlich mit dem
angemessenen Namen "Illusion" das bezeichnet, was Kant Wahrheit
genannt hat. Kant ist fast etwas "professoral" befriedigt mit seiner
"Lösung" des Erkenntnisproblems. Dabei bemerkt er nicht, wie es
einen unendlichen Unterschied macht, ob ich immer einen
notwendigen Irrtum begehe, oder ob ich die Wirklichkeit mit meinem
Geist erreiche, ob die Notwendigkeit meiner Erkenntnis nur eine
"Denknotwendigkeit" ist, also in einer Art "Zwangsidee meines
Geistes" oder im notwendigen Wesen der Dinge selbst begründet ist.
Vor allem aber liegt die Wesensnotwendigkeit überhaupt nicht in
meinem Denken, sondern einzig und allein in den Dingen selbst.253 Also
abgesehen davon, daß eine "Denknotwendigkeit" etwas vollkommen
Belangloses wäre und nicht im geringsten eine Lösung irgendeines
philosophischen Problems darstellt, läßt sie sich auch überhaupt nicht
aufrechterhalten: Nur wenn der Geist als etwas verstanden wird, was
wirklich etwas in sich selbst Notwendiges und Intelligibles erkennen
kann, wird er ernst genommen, sonst muß man ihn notwendig auf etwas
Unbewußtes und Ungeistiges zurückführen.
Und das hat sowohl Kant als auch Nietzsche getan: denn für Kant liegt
der Ursprung aller Notwendigkeit in einem unbewußten Teil des Ich,
in einem mir in keiner Weise gegebenen, sondern nur spekulativ
erschlossenen An-sich-Teil des Ich, bei dem man sich fragen muß, wie
190
man dazukommt, ihn ich und gar reines oder transzendentales Ich zu
nennen und nicht meinen Leib oder das Unbewußte.
Diesen — zumindest in den Grundlagen seiner Gesetze — absolut
unbewußten Teil des Ich nennt Kant transzendentales Ich. Alle
Notwendigkeit der Erkenntnisse wurzelt bei ihm in den spontan
erzeugten Verstandeskategorien und deren "Synthesen", die bei
anderen denkenden Wesen total anders sein könnten. Damit ist die
Notwendigkeit nicht mehr im Wesen der Dinge begründet und besitzt
auch keinerlei innere Intelligibilität, sondern könnte prinzipiell auch
anders sein. Damit ist schon bei Kant die Notwendigkeit untergraben,
abgesehen davon, daß eine Denknotwendigkeit sowieso nur zu
"notwendigen Irrtümern" führen könnte. Ebenso ist es auch für
Nietzsche bis zu seinen Spätwerken eine dunkle und absolut blinde
Macht, der dionysische Urgrund der Seele, aus dem aller "Geist"
gezeugt ist.
Noch tiefer sehen wir, wie nichtig eine bloße "Denknotwendigkeit" ist,
wenn wir bedenken, daß damit die ganze innere Gehaltfülle und
Intelligibilität der notwendigen Wesenheiten übersehen wird. Die
innere leuchtende Ratio, die Quelle allen geistigen Lebens und zutiefst
mit der Wesensnotwendigkeit zusammenhängend, ist die Intelligibilität
der Wesenheiten. Ich sehe: Dies ist so und muß so sein. Alle jene
Wesenheiten, wie z. B. des Zweifels, können gar nicht anders sein, sie
sind unerfindbar, unschaffbar und "unkonstituierbar". im
transzendentalen Sinn. Und hier ist auch der Grund, warum nicht nur
die Deutung des Erkennens als bewußtes Schaffen falsch ist, sondern
auch die Vorstellung unmöglich wird, als könne der Geist notwendige,
intelligible Wesenheiten unbewußt "erzeugen". Nein! Weder bewußt
noch unbewußt, weder von Menschen noch von Göttern können und
könnten jemals solche in sich notwendigen Wesenheiten erfunden oder
irgendwie "gemacht" werden.
Hier ist der absolute Endpunkt der Phantasie, welche man im Einfluß
von Nietzsche in der neueren Psychologie bis zum Überdruß als die
Grundkraft des Menschen preist. Die schöpferische Tätigkeit kann sich
nur im Bereich des Nicht-Wirklichen einerseits und des Zufälligen oder
nicht Wesensnotwendigen anderseits bewegen, nicht aber im Reich
191
notwendiger Wesenheiten, welche das Fundament der ganzen
Wirklichkeit bilden.
Also steht die Wirklichkeit in schroffem Gegensatz zu Kants
Auffassung. In der Erkenntnis des Notwendigen bin ich so rezeptiv,
hier muß ich so schweigen wie nirgends im Reich des bloß
Empirischen. Denn hier rühre ich nicht nur an das Sein, dessen Majestät
mir verbietet, willkürlich zu erfinden, sondern hier rühre ich sogar an
etwas Ewiges, etwas Notwendiges, an die "ewigen rationes" der Dinge,
die für alles konkrete Seiende in jeder möglichen Welt gelten und die
jeden Gedanken eines Schaffens ausschließen.254 Ja, und wenn dennoch
der Mensch auch hier noch wagt, zu phantasieren, dann schafft er nicht,
sondern er irrt. Die Unterwerfung unseres Geistes unter etwas
vollkommen Objektives und Notwendiges ist eine einzigartige
Transzendenz unserer Erkenntnis. Hier gilt in einer ganz einzigartigen
Weise: Das Maß unserer Erkenntnis, das Maß des Seins und des
Nichtseins sind nicht wir, sondern die Wahrheit.
Wir überschreiten uns hier und geben jegliche Willkür auf mit all ihrer
Hohlheit und Armseligkeit, und wir dringen in jene Objektivität und
Sinnfülle echter Wesenheiten ein, deren "ontologische" Wahrheit jedes
Schaffen ausschließt.
254
Dies wird in besonderer Weise den Gegenstand des folgenden Kapitels
bilden.
255
Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, I, I, 2; Ne. We., Bd. 1, S.
448.
192
Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nötig und mit
ihm die Tugend der Bescheidung."
Man kann sagen, daß diese Worte Nietzsches vielleicht die verbreitetste
Gefahr, die schlimmste Drohung des Immanentismus in unserer Zeit
betreffen, den historischen Relativismus, der in (Übereinstimmung mit
Hegel und Heidegger) die Geschichte als den einzigen Maßstab der
Wahrheit anerkennt und die historisch-soziologische Lebendigkeit von
Ideen an die Stelle ihrer Wahrheit setzt.
Dieser historische Relativismus hängt auch mit den schon genannten
Formen des Immanentismus tief zusammen, und zwar vor allem damit,
daß man die Wahrheit schon bei Kant, erst recht bei Hegel, nicht mehr
in der Transzendenz des Urteils und in seiner Übereinstimmung mit
dem Sein begreift, sondern in das Denken selbst verlegt. Am
"klassischsten" hat deshalb Heidegger die These des Relativismus
formuliert, indem er sagt: Wahrheit ist "das Entdeckendsein des
Daseins", eine "Seinsweise des Menschen", und damit wird für ihn die
Geschichte abendländischer Metaphysik nicht mehr zu dem großen
Kampf zwischen wahren und falschen Thesen, zu der philosophia
perennis auf der einen Seite und zu den Angriffen darauf, die sich auf
der anderen Seite von Kallikles und Protagoras bis zu Heidegger
ständig fortziehen — sondern zur "Geschichte der Wahrheit", ja sogar
zur "Geschichte des Seins". Wenn nämlich das Denken des Menschen
selbst "die Wahrheit ist", dann ist natürlich seine Geschichte die
Geschichte der Wahrheit.
Doch das alles ist natürlich selbst in höchstem Maß widersprechend, da
ja Heidegger ständig für seine eigenen Behauptungen Wahrheit im
klassischen Sinn beansprucht und von den gegenteiligen Thesen —
etwa den meinen — offenbar behaupten muß, sie seien falsch.
Abgesehen davon, daß es überhaupt kein Anzeichen eines wesentlichen
Fortschrittes philosophischer Erkenntnis in der Geschichte gibt, so
beweise dieser ja nicht im geringsten, daß das Wachsen des
Erkenntnisvermögens, das wir etwa im Leben des einzelnen Menschen
eindeutig erleben, daß dieses Gewordensein unseres
Erkenntnisvermögens in irgendeiner Weise ein Gewordensein und eine
Wandelbarkeit seines Gegenstandes bedeutet. Mag unser
Erkenntnisvermögen tausendmal geworden sein, jene Gegenstände der
Erkenntnis, die wir in ihrer Notwendigkeit erfassen können, sind
dennoch wesenhaft ungeworden und von unserem Werden unberührt.
193
Das ist ja diejenige Dimension der Transzendenz unserer Erkenntnis,
von der Augustinus spricht, daß wir, gewordene und werdende und uns
wandelnde Menschen, uns selbst überschreiten und erkennend mit
Gegenständen in Berührung treten können, die nicht geworden sind,
sondern ewig gleichbleiben:255a Wir dringen hier durch alle
Wandelbarkeit, die dem nicht Wesensnotwendigen anhaftet, zu etwas
Ewigem, über alle Zeiten Gültigem vor, wir transzendieren das
Veränderliche und dringen zu einer ewigen Wirklichkeit vor, deren
Sein in dem eben beschriebenen Sinne ideal ist und zugleich alles Reale
"beherrscht", wie im 3. Kapitel deutlich werden wird (s. S. 766 ff.).
Wir meinen mit "ewigen Wahrheiten" also nicht bloß, daß die Wahrheit
selbst wesenhaft "statisch" ist und ewig wahr bleibt, was für jede
Wahrheit gilt. Denn auch jede Wahrheit über ein historisches Ereignis
bleibt in alle Ewigkeit wahr, so wesenhaft, daß Bonaventura mit Recht
die Meinung zurückweist, Gott könne ein einmal geschehenes Ereignis
durch seine Allmacht ungeschehen machen, weil dies in sich
unmöglich ist.256 Daß Napoleon in St. Helena gestorben ist oder daß
Goethe den Faust geschrieben hat und alle Wahrheiten über
geschichtliche Ereignisse bleiben in alle Ewigkeit wahr.
Doch die Wirklichkeit, auf die sich diese Wahrheiten beziehen,
verändert sich. Deshalb ist in diesen Sätzen ihre Beziehung zur Zeit
festgehalten. Beim Gegenstand der philosophischen Wahrheit sind es
auch unveränderliche Wirklichkeiten, ewige Tatsachen, wie Nietzsche
sagt, auf die sich meine Urteile beziehen. Das Wesen der Zeit, des
Raumes, der Gerechtigkeit, der Liebe, der Erkenntnis, des Zweifels
oder Urteils, der Person oder sittlicher Werte, der Freiheit und
Verantwortung — all dies bleibt in Ewigkeit und ist in keiner Weise
der Abhängigkeit von der Zeit unterworfen.
Der historische Relativismus nun meint interessanterweise gar nicht die
Wahrheiten über historische Ereignisse, wo noch eine gewisse — dem
zeitlich Geschehenden entsprechende — Dynamik der Wahrheit
255a
An sich sollte man hier lieber von Zeitlosigkeit statt von Ewigkeit
sprechen, um die unendlich dauernde reale Existenz des absoluten Seins
von der zeitlosen "idealen Existenz" abzugrenzen. Im Anschluß an den
Ausdruck "ewige Wahrheiten" verwenden wir aber hier den Ausdruck
"ewig" statt "zeitlos".
256
Vgl. Bonaventura: I. Sent. 42 un. 3 Concl., t. I, p. 752—754. Vgl. auch
E. Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura, Kap. 5, S. 192 ff.
194
festzustellen wäre, nämlich insofern die Wahrheit das Echo des
Seienden ist, tauchen immer neue Wahrheiten gleichsam auf, die dem
neu Geschehenden entsprechen.
Der historische Relativismus bezieht sich aber gerade auf die
metaphysischen und ethischen Wahrheiten, wo jeder Wandel auch im
Gegenstand der Erkenntnis ausgeschlossen ist. Dies leugnen aber die
historischen Relativisten, weil sie die Existenz notwendiger
Wesenheiten nicht anerkennen, sondern nur noch die schwankenden
Meinungen und Zeitmoden kennen und diese mit der Wahrheit selbst
verwechseln, weil sie außerdem den Unterschied zwischen Irrtümern
(die manchmal zeitbedingt sind) und Wahrheiten übersehen.
In Wirklichkeit aber setzen die historischen Relativisten auch in bezug
auf ethische und metaphysische Wahrheiten zumindest eine ewige
Wahrheit voraus: daß nämlich keine notwendigen und ewigen
Wesenheiten von Dingen existieren und erkannt werden können,
sondern daß die Wahrheit eben im Grunde nicht "jenseits der Köpfe der
Menschen" existiert, die in der Geschichte gedacht haben. Wenn diese
"ewige Wahrheit" keine ist, so ist der historische Relativismus
unhaltbar, wenn sie wahr wäre, ach, denn dann gäbe es ja eine ewige
Wahrheit... aber nun ist diese vorausgesetzte "ewige Wahrheit" eben
keine ewige Wahrheit, sondern ein alter Irrtum.
195
ich jetzt Kopfschmerzen fühle; diese Erkenntnisse mögen absolut
gewiß sein, aber sie beziehen sich weder auf allgemeingültige noch auf
bedeutsame Sachverhalte. Allerdings kann sich diese Art der Evidenz
auch auf viel tiefere Dinge beziehen, wie etwa, daß ich absolut gewiß
sein kann, einem Notleidenden helfen zu wollen etc. ... Diese Evidenz,
die sich auf konkrete, einzelne Sachverhalte bezieht, ist aber in jedem
Fall sehr verschieden von der durch die Intelligibilität notwendiger
Wesenheiten "geformten" Gewißheit. Diese ist eine viel "erfülltere"
Gewißheit, da die "Sache selbst" intelligibel und evident ist. Damit
hängt zusammen, daß diese Evidenz nicht nur auf eine
einzelne Person beschränkt ist wie die erste, sondern jeder Person und
auch jederzeit zugänglich ist. Die Evidenz, die sich auf einzelne,
zufällige Tatsachen bezieht, besteht nur für bestimmte Zeit und nur für
mich. Im nächsten Augenblick kann sie schon dem Gedächtnis mit der
diesem eigenen Unsicherheit übergeben sein. Zu den evidenten
Wesenssachverhalten kann ich hingegen jederzeit wieder zurückkehren
und von ihnen jene durch ihre innere Einsichtigkeit geformte
"lichtvolle Gewißheit" gewinnen, in der sie sich meinem Geist absolut
sicher in ihrem Bestand ausweisen. Man könnte nach dem Grund oder
einem Kriterium für diese Gewißheit fragen.
"These 'necessary' intelligible unities are so filled with ratio and with
intelligibility that their objective validity no longer depends upon the
act in which we grasp them. We saw before that if in a dream the such-
being of a triangle, of red, or of willing were clearly and unequivocally
given to me, the essence itself would not be merely dreamt... We must
now advance still further. With respect to the evident states of fact,
which are necessarily rooted in these essences, any possibility of an
invalidation through a distortion, or insufficiency of our mind, is
excluded. Here it would be senseless to say, 'Perhaps all these states of
facts are not valid, perhaps the insight that values presuppose a personal
being as bearer is only due to a distortion of our intellect, such as
craziness or idiocy'. . . . For the luminous intelligibility and rationality
of such insights precisely proves that we are neither crazy nor idiots.
Indeed the extreme form of insanity would be to affirm that dogs are
just, or that stones are charitable, or that Mars both exists and does not
exist . . . The unities in which these necessary states of facts are
grounded stand entirely on their own feet. All attempts to make these
insights relative are dashed to pieces by the meaningfulness and power
of the such-being in which they are rooted. If they are univocally and
196
clearly given, they do not need any criterion for the integrity of the act
that grasps them, but, on the contrary, they themselves justify the
grasping act as not contaminated by error." 257
257
D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 115, 116. Vgl. auch a. a. O.,
S. 130, 131.
258
Die im dritten Kapitel näher zu erläuternde "ideale Existenz" dieser
notwendigen Wesenheiten und ihre eminente Beziehung zum real-kon-
kreten Sein in ihren verschiedenen Formen wird eindrucksvoll in What is
philosophy?, S. 114—140, herausgearbeitet.
O. Blaha hat in seinem Werk Das unmittelbare Wissen die Unmittel-
259
barkeit des Wissens betont gegenüber all den schon im ersten Teil
behandelten Versuchen, unser Wissen bzw. Erkennen bloß auf
"Abbilder" der Wirklichkeit einzuschränken. Sosehr mir die
Ablehnung der Abbildtheorie und das Aufzeigen ihrer inneren
Widersprüchlichkeit ganz richtig scheint, so wenig kann ich den a. a.
O., S. 88 ff., vorliegenden Lösungsversuch und Begründungsversuch,
wie ein Einzelsubjekt unmittelbar um etwas wissen könne, teilen.
Erstens scheint mir die Transzendenz der Erkenntnis die
Verschiedenheit von Subjekt und Objekt sowie die Verschiedenheit der
individuellen Subjekte und ihrer Akte geradezu einzuschließen und
197
Hier zerschellt jeder Zweifel, jede Möglichkeit des Wahnsinns und
damit die Auf-mich-Zurückgeworfenheit, die im Zweifeln liegt. In
jedem Menschen, der sich nach der Wahrheit sehnt, lebt eine unstillbare
Sehnsucht, das Seiende — und zwar je höher es steht, desto mehr, im
höchsten Sinne Gott— mit einer über jeden Zweifel erhabenen
Gewißheit so zu berühren, wie es in sich ist. Und gerade dies ist in der
Wesenserkenntnis einsichtigermaßen für wichtigste Wirklichkeiten
möglich. Hier liegt deshalb ein Triumph der Transzendenz über die
Immanenz, ein "Bankett des Geistes".
Diese absolut gewisse Erkenntnis enthüllt schließlich am radikalsten
die Unmöglichkeit, die "Transzendenz" der Erkenntnis durch die
Übereinstimmung eines "immanenten Vorgangs" mit einer
"transzendenten Wirklichkeit" zu erklären, wie dies etwa gegenüber
Augustinus Leibniz mit seiner Auffassung der geschlossenen Monaden
und der ihnen allein bekannten, immanenten "Ideen" versuchte, in
denen die ewigen Wahrheiten "repräsentiert" würden, wie dies ferner
Nikolai Hartmann mit seiner Lehre von der partiellen Deckung der
Seins- und Denkkategorien versucht hat und viele andere Denker auch.
Auf diese Weise könnte man sogar aus der Transzendentalphilosophie
noch eine Transzendenzphilosophie machen; dies aber ist absolut
unmöglich.
nicht irgendwie auf eine ontische Einheit, auf ein Einssein oder eine
Art gemeinsames, Leben" zurückgeführt werden zu können, was auch,
wie schon im 1. Teil angedeutet wurde, nicht eher die unmittelbare
Erkenntnis einer Sache begründen könnte.
Zweitens scheint mir nur an den "archimedischen Punkten" wirklich
diejenige Unmittelbarkeit des Erkennens vorzuliegen, in der ich mit
alle Täuschungs- und Irrtumsmöglichkeit ausschließender Gewißheit
die "Sache selbst", wie sie "an sich" besteht, berühren kann. Dies
scheint mir nicht ohne weiteres bei der Erkenntnis der Außenwelt und
überhaupt jeder Erkenntnis unmittelbar möglich zu sein, was ja den
Gegenstand dieses zweiten Teiles der Arbeit bildet.
Drittens scheint mir auch (was O. Blaha, a. a. O., S. 84 ff., bestreitet), daß
es eine durch Sinne vermittelte, wenn auch in anderer Hinsicht
unmittelbare Wahrnehmung gibt, deren "Abhängigkeit" von aus der
Außenwelt eindringenden kausalen Einwirkungen mir unleugbar scheint.
(Vgl. dazu den Abschnitt über "mittelbare, unmittelbare und unvermittelte
Erkenntnis", S. 217 ff.)
198
Transzendentalphilosophie als Immanentismus und Gegensatz zur
Transzendenzphilosophie
260
Vgl. bes. KdrV, B 25, B 36, B 117—136.
260a
Vgl. KdrV, A 95, a. a. O., S. 170; A 98, a. a. O., S. 172; A 99, a. a. O.,
S. 173. KdrV, B 642 ff.
261
Solche Versuche, über den transzendentalen Ansatz wieder zu einer
Philosophie des Transzendenten zu kommen, finden sich seit Kant in
großer Zahl. W. Cramers Philosophie etwa stellt einen solchen Versuch
dar. Vgl. dazu H. Wagner, Ist Metaphysik des Transzendenten möglich?
Die verschiedenen Versuche brauchen hier nicht aufgezählt zu werden.
199
Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll", baut also
notwendig auf der Leugnung notwendiger, transzendenter Wesenheiten
der Dinge, die uns als solche bekannt seien, auf. Die durch eine
"transzendentale Synthesis" gebildete "Einheit des Gegenstandes" ist
also genau der unvereinbare Gegensatz zur in sich notwendigen,
transzendenten Einheit des Gegenstandes. "Transzendent" heißt: dem
Seienden an sich eigen, "transzendental": vom Subjekt auf das Objekt
projiziert.
Wenn wir wissen, was die transzendenten, notwendigen Wesenheiten
der "Dinge an sich" sind, so ist der Transzendentalphilosophie
schlechthin jeder Boden genommen. Wenn wir Recht haben, so
empfangen und erkennen wir in ebenso rezeptiver Weise das Wesen der
Dinge, das Notwendige in ihnen wie ihre empirischen Gestaltungen.
Wenn Kant Recht hat, so ist uns das unserem Geiste transzendente
Wesen der Wirklichkeit radikal unbekannt; wir müssen nur die Dinge
immer unter bestimmten allgemeinen Formen begreifen; was wir
wissen, ist höchstens noch, unter welchen unserem Geist immanenten
Anschauungs- und Denkformen wir die Welt betrachten müssen bzw.
wie wir nach ebenso immanenten Vernunftgesetzen der praktischen
Vernunft denken müssen (Postulate), wie die Wirklichkeit "an sich"
sei.262 Oder wir können von der Transzendentalphilosophie aus nur
durch den krassesten philosophischen Dogmatismus, in dem sich
überdies einige Widersprüche verbergen, behaupten, es gäbe eine
völlige oder partielle "Deckung" zwischen transzendentalen Prinzipien
und transzendentem Sosein der Dinge.
Wenn wir ferner die transzendenten notwendigen Wesenheiten der
Dinge an sich erkennen können, ist notwendigerweise der Gegenstand
der "Transzendentalphilosophie" eine Konstruktion bzw. "Erfindung"
Kants. Und hier sollte man nicht vergessen, daß Kant die
"kopernikanische Wendung" und damit die gesamte
Transzendentalphilosophie als eine Hypothese erklärt hat. 263 Es steht
also nicht eine von unserer Seite behauptete Einsicht gegen eine von
Kants Seite behauptete Einsicht, sondern Einsicht gegen hypothetisch
angesetzte Möglichkeit.
262
Dies geht m. E. ganz deutlich aus vielen Stellen bei Kant, bes. aus KdrV,
B 846, 847 (A 818, 819) hervor!
263
KdrV, B XVI.
200
Alle notwendigen Eigenschaften der Gegenstände unserer Erkenntnis
sind nach unserer Auffassung also keineswegs nur Eigenschaften
bloßer Gegenstände unseres Anschauens und Denkens (keine bloßen
Eigenschaften der "Erscheinungen"), sondern wirkliche Eigenschaften
der "Sachen selbst", der "Dinge an sich", die sich unserem Geiste
erschließen. Es gibt nach der letztlich evidenten
Transzendenzphilosophie keine transzendentalen Anschauungs- und
Denkformen etc. Die einzige "transzendentale Bedingung" unseres
Erkennens (außer in dem früher besprochenen Bereich wirklicher
"Erscheinungen", die auf den Menschen bezogen sind) ist nichts
anderes als die Fähigkeit des Geistes, zu erkennen, das heißt die
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, in der er ein Seiendes
intentionaliter "haben" kann: Die notwendigen Eigenschaften der
Dinge aber sind ebensosehr im objektiven Sein der Dinge gegründet
wie ihre empirischen Zufälligkeiten.
Dieses transzendente Sein und Wesen der Dinge ist nach Kant unserem
Geiste vollkommen unbekannt, und diese These bildet den
Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie. Diese von ihm selbst
als solche erklärte Hypothese aber glauben wir durch die eines äußeren
Kriteriums weder fähige noch bedürftige Einsicht widerlegen zu
können, daß die transzendente Wirklichkeit, wie sie in sich selber ist,
unserem Geiste durchaus, wenn auch nicht in ihrer Totalität, zugänglich
ist.
201
Gewißheit gegeben sind, muß philosophische Erkenntnis von ihr
unabhängig sein.264
In der unmittelbaren Erfahrung meiner selbst als erkennendes Subjekt
handelt es sich aber zunächst um einen einzigartigen Fall von
Realitätserfahrung, in der mir mein objektives, von keinem Zweifel
entthronbares Sein in einem gegenüber der empirischen Erfahrung ganz
neuen Sinn von Erfahrung gegeben ist, nämlich als bewußter Vollzug
meines bewußten Seins, nicht also als etwas, von dem ich Erfahrung
habe, sondern was ich selbst bewußt erfahre, erlebe und bin. 265 Die
Realität, die mir in dieser Erfahrung gegeben ist, kann unmöglich eine
"Erscheinung" sein, sondern das konkrete, reale Sein meiner eigenen
Person und ihrer Akte ist mir als solches in der Erfahrung meines
bewußten Seins unmittelbar zugänglich als das Sein, ohne dessen volle,
metaphysische Realität aller Schein und alle "Erscheinung'' absolut
undenkbar und unmöglich wären.
Doch über diese unmittelbare Gegebenheit meiner eigenen konkreten
Akte hinaus ist mir auch deren "Sosein", deren intelligible Wesenheit
mitgegeben, die ich zwar einmal in konkreter Erfahrung kennenlerne,
die aber dann davon unabhängig mir bekannt ist, so daß ich nicht
faktisch zweifeln muß, um eindeutig und klar das notwendige Wesen
des Zweifels vor meinem Geist zu sehen und zu erforschen. Es handelt
sich hier also keineswegs um eine bloße Konstatierung und
Beschreibung eines faktischen Seienden, sondern um ein tiefes,
innerliches Eindringen in die intelligible Soseinseinheit von etwas. Von
einer solchen an einem konkreten Seienden gewonnenen
"Soseinserfahrung" braucht die philosophische Erkenntnis in keiner
Weise unabhängig zu sein, um zu notwendigen und allgemeingültigen
Urteilen zu gelangen. Im Gegenteil: Je mehr solcher erfahrungsmäßiger
Kontakte ich besitze, je mehr vorphilosophischen Erfahrungskontakt
ich mit der Wirklichkeit habe, desto tiefer leuchten mir die intelligiblen
Wesenheiten auf, nach deren notwendiger Sinngestalt das Konkrete
"regiert" wird.266
264
Vgl. dazu D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 86 ff.
265
Dies hat Leibniz vielleicht am schärfsten formuliert. Vgl. Nouveau
Essais, IV, VII, § 7. Die philosophischen Schriften, Bd. V, S. 202/3.
266
Dies wird im 3. Kapitel der vorliegenden Untersuchung behandelt wer-
den (s. S. 290 ff.).
202
Solche Soseinserfahrung, in der ich notwendige Wesenheiten berühre,
und die Realerfahrung durchdringen sich in der philosophischen
Erfassung des "Cogito" derart, daß ich das eine nicht vom andern
trennen kann, so verschieden auch das unmittelbare Innesein meiner
Person im Vollzug meiner Akte von den Einsichten in das notwendige,
allgemeingültige Wesen dieser Akte ist.
In der Erkenntnis des "si fallor, sum" oder des "Cogito, sum" gewinne
ich keineswegs ausschließlich eine Wesenseinsicht, wie wenn ich
erkenne, daß Farbe notwendig Ausdehnung einschließt. Ich vollziehe
darin vielmehr ausdrücklich jenes einzigartige Innesein meines
konkreten, individuellen Seins, das ich ständig bin. In der Erkenntnis
des "Ich bin und darin kann mich niemand täuschen" mache ich mir
gleichsam ausdrücklich bewußt, mache ich zum Gegenstand meiner
Erkenntnis, daß ich immer um mich und meine Akte weiß. Dieses
bewußte Innesein der voll realen eigenen Person kann ich
ausschließlich bei meiner eigenen Person gewinnen. Nur zu mir selbst
habe ich jenen staunenswerten Zugang.
Zugleich ist mir jedoch nicht ausschließlich mein konkretes Sein und
meine Akte gegeben, sondern untrennbar damit verknüpft erkenne ich
auch deren notwendiges Wesen, das, was das Vollzugsbewußtsein als
solches wesenhaft vom "Bewußtsein von etwas" unterscheidet, den
Unterschied zwischen dem substantiellen Sein der Person und den von
dieser Person getragenen Akten, das Wesen von Zweifel, Erkennen
usw. In dieser unmittelbaren Berührung meiner eigenen Akte dringe ich
zu ihrem notwendigen Wesen vor und damit überschreite ich mein
eigenes konkretes Sein; ich erkenne nicht nur das Wesen "meines"
Bewußtseins, das ich nun deskribieren müßte: Nein! Ich dringe ein in
eine letzte, unzurückführbare, notwendige und intelligible Einheit und
sehe: Ohne zu urteilen, zu erinnern, zu wollen, zu wissen usw. kann
niemand zweifeln. Es ist "das Urteil", "die Erkenntnis", "der Wille"
selbst, die ich erkenne. Und zu einer solchen absolut gewissen Einsicht
in notwendige und allgemeingültige (in jeder möglichen Welt gültige!)
Wesenssachverhalte kann ich nur durchdringen, weil mir nicht nur das
konkrete Sein meiner Akte gegeben ist, nicht nur etwas, was "in mir"
ist, sondern etwas, was jenseits meiner selbst und in sich notwendig
ist.267
267
Dies wird im folgenden Kapitel näher behandelt werden.
203
In seinem Werk De vera religione führt Augustinus den Gedankengang
des "si fallor, sum" aus und zeigt dann noch deutlicher als sonst die
einzigartige Transzendenz, die im Cogito liegt, und besonders, wie ich
im "Cogito" zu ewigen Wahrheiten über das Wesen der Erkenntnis und
der Wahrheit gelangen kann:
"Deinde regulam ipsam quam vides concipe hoc modo: Omnis qui se
dubitantem intelligit, verum intelligit, et de hac re quam intelligit cenus
esr. Omnis ergo qui utrum sit veritas dubitat, in se ipso habet verum
unde non dubitet; nec ullum verum nisi veritate verum est. Non itaque
oportet eum de veritate dubitare qui potuit undecumque dubitare. Ubi
videntur haec, ibi est lumen sine spatio locorum et temporum et sine
ullo spatiorum talium phantasmate. Numquid ista ex aliqua parte
corrumpi possunt, etiamsi omnis ratiocinator intereat aut apud carnales
inferos veterescat? Non enim ratiecinatio talia facit, sed invenit. Ergo
antequam inveniantur, in se manent, et cum inveniuntur, nos innovant."
(De vera religione, XXXIX, 73, 205—207.)
In diesen wenigen Sätzen ist wieder eine ganze Welt von Wahrheit
unerschöpflich ausgedrückt. Jeder, der erkennt, daß er zweifelt, erkennt
ein wirklich Seiendes und ist dieser Wirklichkeit sicher. In dem Wort
verum drückt sich das ganze ontologische und existentielle Gewicht der
Erkenntniswahrheit, ihre Urbezogenheit auf das Sein aus, mit dem
übereinstimmend sie eben "Erkenntnis" ist und mit dem
übereinstimmend Urteile wahr sind. Jeder also, der an der Wahrheit
zweifelt, findet in sich etwas Wirkliches (seinen Zweifel) und etwas
Wahres (daß er nämlich zweifelt), an dessen Wahrheit er nicht zweifeln
kann. Auch erkenne ich nicht nur eine konkrete Wirklichkeit (meinen
Zweifel), sondern einen notwendigen Wesenssachverhalt (omnis
ergo...), eine ewige Wahrheit, d. h. eine Wahrheit, die nicht nur selbst
unvergänglich ist, wie jede Wahrheit, sondern die sich auch auf einen
ewig gültigen Sachverhalt bezieht. Also kann niemand an der Wahrheit
zweifeln, auch wenn er an allem sonst zweifelt. Diese ewige Wahrheit,
dieser Wesenssachverhalt ist jedoch nicht mit mir selbst identisch und
nicht wandelbar, also überschreite ich mich in seiner Erkenntnis selbst
und zugleich auch die Zeit und alles Veränderliche. Dieses "Licht" der
Wahrheit geht niemals unter, auch wenn ich stürbe. Ich habe eine
unmittelbare, absolut gewisse Erkenntnis von etwas, was ich nicht
204
selbst bin, was von meiner Person verschieden ist, nämlich diese
ewigen Wesenszusammenhänge:
In sich selbst soll man nicht deshalb einkehren, weil diese Wesenheiten
ein "Teil" unseres Seins wären, sondern weil man die Wahrheit
unmittelbar mit dem Geiste berühren kann; dies gilt überall dort, wo es
sich um keine empirische Wahrheit handelt, die uns durch die Sinne
vermittelt wird, sondern um jene unmittelbare Berührung, in der der
Geist manche Gegenstände umfassen kann, wie notwendige
Wesenheiten. Steige über deine wandelbare Natur hinaus: Suche über
dir: Transcende teipsum! — Dieses Licht ewiger Wahrheiten würde
bleiben, auch wenn jeder Mensch unterginge: Denn solches mache ich
nicht, sondern ich finde es vor! Gerade also diese apriorischen, über der
empirischen Erfahrung notwendigen Wesenheiten sind etwas, was
unabhängig von meiner Person besteht und was nicht mein Geist
hervorbringt. Ja, genau im Gegensatz zu Kants Immanentismus verhält
es sich in Wirklichkeit: diese innerlich notwendigen Wesenheiten sind
die einzige — wesenhaft zeitlose — Quelle allgemeingültiger Urteile.
Dies ist auch keine Theorie, sondern eine letzte Einsicht, ja die
grundlegendste metaphysische Einsicht überhaupt: Die rezeptive
Transzendenz der Erkenntnis wird gerade dort mit unbezweifelbarer
Gewißheit erkannt, wo sie ewige, in sich notwendige
Wesenszusammenhänge erfaßt, über die sie nicht getäuscht werden
kann: Auch bevor diese erkannt waren, ruhen sie vollkommen in sich:
in se manent. Wir finden sie und bringen sie nicht hervor, ja, wir können
sogar erfassen: Niemand, selbst Gott nicht, könnte sie verändern; sie
sind nicht geschaffen und könnten niemals gemacht werden — als
Synthesis, welche die transzendentale Apperzeption hervorbrächte!
Wenn wir uns ihnen zuwenden, erneuern sie uns, das heißt: Alles Licht
in unserer Erkenntnis kommt daher, daß wir uns diesen in sich
notwendigen Zusammenhängen zuwenden, an denen alle Wirklichkeit
205
teilhabt — oder besser: Auch alles Licht, was in den konkreten,
individuellen Personen ist, kommt daher, daß sie teilhaben in der einen
oder anderen Weise an diesem "unvergänglichen Licht".
Ob es sich um einen notwendigen Sollenszusammenhang handelt (etwa
daß ich nicht verleumden, nicht ehebrechen und nicht morden oder daß
ich in der Liebe das Glück des Geliebten über das Glück meiner Einheit
mit ihm stellen soll) oder um einen notwendigen Seinszusammenhang
(etwa daß niemand zweifeln kann, ohne ein Bewußtsein von dem
Sachverhalt zu haben, an dessen Bestehen er zweifelt oder daß es kein
Zweifeln ohne ein von diesem selbst verschiedenes, reales Ich geben
kann) — weder die Notwendigkeit, noch die Allgemeingültigkeit, noch
die Intelligibilität solcher Wesenszusammenhänge wird irgendwie
dadurch gefährdet, daß ich einmal erfahren haben muß, was "Liebe"
ist, oder daß ich einmal einem konkreten Zweifel "begegnet" sein muß,
um ihr "Sosein" kennenzulernen.268
Deshalb irrt sich Kant in dem pseudoplausiblen, dogmatischen
Ausgangspunkt seiner ganzen Philosophie: nämlich in der Meinung,
die philosophische Erkenntnis, die auf Notwendiges und
Allgemeingültiges gerichtet ist, müsse von jeder Erfahrung unabhängig
sein. Sie muß in Wirklichkeit ausschließlich von Erfahrung im Sinne
von Realkonstatierung und Induktion unabhängig sein. Einer der
philosophischen "Ausfälle" Kants ist gerade dieser sein Ausgangspunkt
von dem Vorurteil Humes, in der Erfahrung sei uns nur reine Faktizität
268
Es wird als eines der größten Verdienste des frühen Husserl und noch
mehr Max Schelers zu betrachten sein, die Soseinserfahrung als eine vom
positivistischen Erfahrungsbegriff unberücksichtigte und für die
Philosophie klassische Erkenntnisquelle hervorgehoben zu haben. Vgl. M.
Scheler, Phänomenologie und Erkenntnistheorie, G. W., Bd. 10, besonders
S. 380 f. Doch hier muß wiederum mit allem Nachdruck darauf
hingewiesen werden, daß weder Husserl noch Scheler diejenige Erfahrung
philosophisch voll entdeckt haben, die allein als Ausgangspunkt für
philosophische Einsichten in Frage kommt: nämlich diejenige eines
Seienden, das eine notwendige Wesenheit besitzt. Dort allein besitzt die
Einklammerung des Daseins, von der Husserl und Scheler sprechen, ihre
Anwendbarkeit. Vgl. D. von Hildebrand, What is philosophy?, Kap. IV, 2:
The many meanings of the concepts apriori and experience, 3 C: Necessary
essential Unity. Zur Frage des Erfahrungsbegriffs bei Hildebrand und
Scheler vgl. auch die ausführlichere Darstellung und eigenständige
Behandlung dieses Themas in B. Wenisch, Der Wert, II, 1—4.
206
gegeben, niemals seien uns im Bereich dessen, was uns anschaulich
selbst gegeben ist und als solches erschließt, intelligible Wesenheiten
und notwendige Wesenszusammenhänge als solche bekannt. Daß
dieses Grunddogma Kants, das er mit Hume und dem Empirismus und
Positivismus teilt, falsch ist, wird im Laufe der Untersuchungen dieses
und des nächsten Kapitels immer deutlicher werden.
"Also erkenne ich mich nicht selber dadurch, daß ich mir meiner als
denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner
selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt
bin."
269
Vergleiche a. a. O. X, Kap. 3—5, wo Augustinus noch ausführlicher die
hier gemachten Unterschiede klarmacht, wie überhaupt De Trinitate die
tiefsten und reichhaltigsten Stellen über Geist, Seele, Erkenntnis, Be-
wußtsein enthält, die man nur finden könnte.
207
constituit. Numquid ergo alia sua parte aliam partem suam videt, cum
se conspicit, sicut aliis membris nostris, qui sunt oculi, alia membra
nostra conspicimus, quae in nostro possunt esse conspectu? Quid dici
absurdius vel sentiri potest? Unde igitur aufertur mens, nisi a se ipsa?
et ubi ponitur in conspectu suo, nisi ante se ipsam? Non ergo ibi erit ubi
erat, quando in conspectu suo non erat; quia hic posita, inde sublata est.
Sed si conspicienda migravit, conspectura ubi manebit? An quasi
geminatur, ut et illic sit et hic, id est, et ubi conspicere, et ubi conspici
possit; ut in se ipsa sit conspiciens, ante se conspicua?
Nihil horum nobis veritas consulta respondet: quoniam quando isto
modo cogitamus, nonnisi corporum fictas imagines cogitamus, guod
mentem non esse paucis certissimum est mentibus, a quibus potest de
hac re veritas consuli. Proinde restat ut aliquid pertinens ad ejus
naturam sit conspectus ejus, et in eam, quendo se cogitat, non quasi per
loci spatium, sed incorporea conversione revocetur: cum vero non se
cogitat, non sit quidem in conspectu suo, nec de illa suus formetur
obtutus, sed tamen noverit se tanquam ipsa sit sibi memoria sui. 270
In dieser Stelle kommt klar zum Ausdruck, was Kant nach dem Vorbild
der Empiristen niemals verstehen konnte: daß ich mir selbst nicht "als
bestimmt durch die Funktionen meines Denkens" bewußt bin, sondern
ohne alle Bestimmung durch "Funktionen" (welcher
Maschinenausdruck!) mich selbst berühre, wie ich bin, mir selbst ohne
alle Vermittlung bewußt bin.
Kant konnte weder das transzendierende Wesen des Erkennens
verstehen (obwohl er es in jedem Satz voraussetzt), in dem ich bei der
Erkenntnis notwendiger Wesenheiten den wirklichen Gegenstand
unmittelbar in seinem autonomen Sein erfasse, noch verstand er die
durch keine Sinne vermittelte, durch keine Kausalreihen und
"bestimmende Funktionen" hindurchgehende unmittelbare Berührung
meines eigenen konkreten personalen Seins in jenem alle meine Akte
begleitenden Vollzugsbewußtsein sowie auch in meinem erkennenden
Erfassen meiner selbst als "Objekt" meiner Erkenntnis.
Kant hätte niemals auf seinen irrigen Gedanken verfallen können, wir
könnten auch unser eigenes Sein niemals in dem erkennen, was wir "an
sich" sind, hätte er nicht in den Körperbildern gedacht, die Augustinus
mit dem Bilde des "Auges", das sich niemals selbst sehen kann, wie es
ist, verwirft und als haltlose Konstruktionen entlarvt.
270
Augustinus, De Trinitate, XIV, VI, 8.
208
"sine ulla phantasiarum vel phantasmatum imaginatione ludificatoria
mihi esse me idque nosse et amare certissimum est. Nulla in his veris
Academicorum argumenta formido dicentium: Quid si falleris? Si enim
fallor, sum. Nam qui non est, utique nec falli potest; ac per hoc sum, si
fallor. Quia ergo sum, si fallor, quo modo esse me fallor, quando certum
est me esse, si fallor? Quia igitur essem, si fallerer, etiamsi fallerer,
procul dubio in eo, quad me novi esse, non fallor. Consequens est
autem, ut etiam in eo, quod me novi nasse, non fallar. Sicut enim novi
esse me, ita etiam hoc ipsum, nosse me. Eaque duo cum amo, eundem
quoque amorem quiddam tertium nec imparis aestimationis eis quas
novi rebus adiungo. Neque enim fallor amare me, cum in his quae amo,
non fallar; quamquam et si illa falsa essent, falsa me amare verum esset.
Nam quo pacto recte reprehenderer et recte prohiberer ab amore
falsorum, si me illa amare falsum esset? Cum vero illa vera atque certa
sint, quis dubitet quod eorum, cum amantur, et ipse amor verus et certus
est? Tam porro nemo est qui esse se nolit, quam nemo est, qui non esse
beatus velit. Quo modo enim potest beatus esse, si nihil sit?"271
271
De civitate Dei, XI, XXVI.
209
Innesein meines eigenen Seins besitze, sondern auch als eine
Wesenseinsicht in den Zusammenhang zwischen substantiellem Sein
des "Ich" (sum) und dem Akt des Irrens bzw. der Täuschung, der
wesenhaft ein Subjekt voraussetzt; dies ist eine veritas aeterna, eine
ewige Wahrheit, die sich auf alle denkenden Wesen und auf alle
Täuschungen und Zweifel bezieht.
In dieser absolut gewissen Erkenntnis meiner eigenen, substantiellen
Existenz, die notwendig für meinen Zweifel vorausgesetzt ist, "habe ich
tatsächlich das Feld der Phainomena überschritten und bin in das Reich
der Noumena eingetreten". Daß es sich hier eindeutig um eine absolut
gewisse Erkenntnis meiner selbst als "Dinges an sich" handelt und daß
wirklich Kants Kritik durch diese augustinische Einsicht widerlegt
wird, sieht man noch deutlicher ein, wenn man sich die drei evident
verschiedenen "Sachen" vor Augen hält, die mit dem Begriff
"Bewußtseinsinhalt" gemeint werden können.
272
Ich stütze mich im Folgenden auf Analysen D. von Hildebrands, die
dieser besonders in seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen (1964 in
Salzburg) hervorhob.
210
Erwägung ziehen, wie er in einem Traum oder einer Halluzination
vorliegt: daß nämlich diese Wirklichkeiten, die "an sich zu sein"
"beanspruchen", nur scheinbar "an sich" sind, nicht aber in
Wirklichkeit.
Es zeigt sich also die Möglichkeit, daß diese Wirklichkeiten nicht "an
sich" sind, sondern nur die elende Seinsweise besitzen, nichts andern
als "Objekte unseres Bewußtseins von" zu sein. Dies aber führt zu
einem gänzlich vom ersten verschiedenen Begriff von
"Bewußtseinsinhalt". Wir können nämlich im Unterschied zu
wirklichen Personen geträumte "Personen" "bloße Bewußtseinsinhalte"
nennen. Hiermit haben wir also im Unterschied zum ersten einen
negativen, einschränkenden Begriff von "Bewußtseinsinhalt".
Und für Kant, der die völlige Unerkennbarkeit von "Dingen an sich"
behauptet, müssen auch alle objektiven Erscheinungen (wie der
humane Aspekt der Außenwelt) zu "bloßem Schein" herabsinken, da es
keine Dinge mehr gibt, als deren "gültiges, wahres Antlitz" die
"Erscheinungen" betrachtet werden könnten; dies alles wurde schon
besprochen. Jetzt aber gilt es, hervorzuheben, daß sich in der genialsten
Formulierung des augustinisch-cartesischen Grundgedankens: "si
fallor, sum" besonders plastisch gerade auf der Möglichkeit, daß die
Gegenstände unserer bewußten Akte nicht real und bloße
"Bewußtseinsinhalte" sind, die absolut gewisse und voll reale bewußte
Existenz abhebt, die wir in einem dritten Sinn
3. "Bewußtseinsinhalt" nennen können, welcher Begriff dann die
bewußten Akte einer Person und deren bewußte Existenz bedeutet. Der
Akt des "fallor" kann nun unmöglich wieder als ein möglicherweise
irrealer "Gegenstand" betrachtet werden, von dem ich Bewußtsein
habe. Einer Erscheinung kann nichts erscheinen, und nicht einmal
einem realen Akt als solchem kann etwas erscheinen, sondern nur mir,
dem notwendig von jedem Irrtum vorausgesetzten realen, lebendigen,
substantiellen Subjekt der Akte der Erkenntnis oder des Irrens und der
Täuschung kann etwas erscheinen. Was also Augustinus im "si fallor,
sum" so unwiderstehlich aufdeckt, ist die Wahrheit, daß die volle
metaphysische Realität der Person und des Aktes der Täuschung in
keiner Weise dadurch getrübt wird, daß der Gegenstand, von dem ich
ein Bewußtsein habe, nicht existiert und ein bloßer
"Bewußtseinsinhalt" im zweiten Sinn des Wortes ist. Diese Erkenntnis
hat Descartes wieder aufgegriffen, und es ist abwegig, darin auch nur
die geringste Wendung zum Subjektivismus sehen zu wollen. Denn die
211
reale Person ist ja im höchsten Sinn objektiv und real seiend, mehr als
irgendein materieller Gegenstand. Nur die Verwechslung zwischen
"Bewußtseinsinhalt" im zweiten Sinn mit der Person und ihren realen
Akten konnte zu dem Mißtrauen verführen, diese als bloß "subjektiv",
als bloß "psychologisch" dem metaphysischen Sein entgegenstellen zu
wollen. Denn ein "bloß subjektives Sein", d. i. ein bloß einem Subjekt
scheinendes Sein, ist allerdings die schwächste Form des Seins, die
jeden metaphysischen Ernstes entbehrt. Gänzlich im Gegensatz dazu
ist der Akt der Täuschung und das diesen tragende Sein des Subjekts in
höchstem Maße real und objektiv und metaphysisch seiend.
Kant machte nun das Vollzugsbewußtsein in ein "Bewußtsein von"
umdeuten, das sich nicht von dem Bewußtsein unterscheidet, das ich
von äußeren Dingen in der Wahrnehmung habe. 273 Er möchte alles mir
273
In De Tninitate von Augustinus stehen Gedanken über die Seele, die
eine vollkommene Widerlegung Kants bieten; dort weist Augustinus
auf dieselben schon damals verbreiteten Irrtümer hin, deren Opfer
Hume und Kant waren und die auf einer falschen Analogie mit Körpern
beruhen (a. a. O. X, III, 5):
"Quid ergo amat mens, cum ardenter se ipsam queerit ut noverit, dum
incognita sibi est?... se ipsam? Quomodo, cum se nondum noverit, nec
quisquam possit amare quod nescit?
An ei fama predicavit speciem suam, sicut de absentibus solemus
audire? Forte ergo nan se amat, sed quod de se fingit, hoc amat, longe
fortasse aliud quam ipsa est: aut si mens sui similem fingit, et ideo cum
hoc figmentum amat, se amat antequam noverit; quia id quod sui simile
est intuetur: novit igitur alias mentes ex quibus se fingat, et genere ipso
sibi nota est. Cur ergo cum alias mentes novit, se non novit, cum se ipsa
nihil sibi possit esse praesentius? Quod si ut oculis corporis magis alii
oculi noti sunt, quam ipsi sibi; non se ergo quaerat nunquam inventura.
Nunquam enim se oculi praeter specula videbunt: nec ullo modo
putandum est etiam rebus incorporeis contemplandis tale aliquid
adhiberi, ut mens tanquem in speculo se noverit.
At in ratione veritatis aeternae videt quam speciosum sit nosse
semetipsam, et hoc amat quod videt, studetque in se fieri? quia quamvis
sibi nota non sit, notum tamen ei est quem bonum sit, ut sibi nota sit.
Et hoc quidem permirabile est, nondum se nosse, et quam pulchrum sit
se nosse, jam nosse..."
Vgl. auch die folgenden Stellen, die S. 215 zitiert werden.
212
Gegebene in die Welt der "Erscheinung" bannen und merkt die von
Augustinus und Descartes offenbar gemachte Unmöglichkeit nicht, daß
es ein das Sein der "Dinge an sich" verfehlendes Bewußtsein von etwas
(bloßen Erscheinungen) geben kann ohne ein voll reales und als solches
bewußtes, selbst gegebenes Sein, dem allein etwas erscheinen kann und
das unmöglich wieder Erscheinung sein kann. Gerade die Realität
dieses Aktes und des ihn notwendig "tragenden" Subjekts ist es ja, was,
wie Augustinus zeigt, jeden Schein und jede Erscheinung erst möglich
macht. Dies ist kein Schluß, sondern eine unmittelbare Einsicht in einen
wesensnotwendigen und zugleich real erlebten Zusammenhang.
Wenn Kant also meint, dieses "Vollzugsbewußtsein" sei mir niemals
unmittelbar selbst gegeben und könne als solches nie Gegenstand der
Reflexion sein, fällt er den von Augustinus klargelegten Körperbildern
zum Opfer und tritt in Widerspruch zu den erwähnten
Wesenszusammenhängen und unmittelbar gegebenen Sachverhalten.
"An cum se nosse amat mens, non se quam nondum novit, sed ipsum
nosse amat; acerbiusque tolerat se ipsam deesse scientiae suae, qua vult
cuncta comprehendere? Novit autem quid sit nosse, et dum hoc amat
quod novit, etiam se cupit nosse. Ubi ergo nosse suum novit, si se nen
novit? Nam novit quod alia noverit, se autem non noverit: hinc enim
novit et quid sit nosse. Quo pacto igitur se aliquid scientem scit, quae
se ipsam nescit? Neque enim alteram mentem scientem scit, sed se
ipsam. Scit igitur se ipsam. Deinde cum se quaerit ut noverit,
quaerentem se jam novit. Jam se ergo novit. Quapropter non potest
omaino nescire se, quae dum se nescientem scit, se utique scit. Si autem
se nescientem nesciat, non se quaerit ut sciat. Quapropter eo ipso quo
se quaerit, magis se sibi notam quam ignotam esse convincitur. Novit
enim se quaerentem atque nescientem, dum se quaerit ut noverit."274
"quia non ita dicitur menti, Cognosce te ipsam, sicut dicitur, Cognosce
Cherubim et Seraphim: de absentibus enim illis credimus, secundum
quod caelestes quaedam potestates esse praedicantur. Neque sicut
dicitur, Cognosce voluntatem illins hominis: quae nobis nec ad
sentiendum ullo modo, nec ad intelligendum prsesto est, nisi
corporalibus signis editis; et hoc ita, ut magis credamus quam
274
Augustinus, De Trinitate, X, III, 5.
213
intelligamus. Neque ita ut dicitur homini, Vide faciem tuam: quod nisi
in speculo fieri non potest. Nam et ipsa nostra facies absens ab aspectu
nostro est, quia non ibi est quo ille dirigi potest. Sed cum dicitur menti,
Cognosce te ipsam, eo ictu quo intelligit quod dictum est, Te ipsam,
cognoscit se ipsam; nec ob aliud, quam eo quod sibi praesens est." 275
"Nullo modo autem recte dicitur sciri aliqua res, dum ejus ignoratur
substantia. Quapropter, cum se mens novit, substantiam suam novit; et
cum de se certa est, de substantia sua certa est. Certa est autem de se,
sicut convincunt ea quae supra dicta sunt. Nec omnino certa est, utrum
aer an ignis sit, an aliquod corpus vel aliquid corporis. Non est igitur
aliquid eorum: totumque illud quod se jubetur ut noverit, ad hoc
pertinet ut certa sit non se esse aliquid eorum de quibus incerta est,
idque solum esse se certa sit, quod solum esse se certa est. Sie enim
cogitat ignem aut aerem, et quidquid alind corporis cogitat. Neque ullo
modo fieri posset ut ita cogitaret id quod ipsa est, quemadmodum
cogitat id quod ipsa non est. Per phantasiam quippe imaginariam cogitat
haec omnia, sive ignem, sive aerem, sive illud vel illud corpus,
partemve illam, seu compaginem temperationemque corporis; nec
utique ista omnia, sed aliquid horum esse dicitur. Si quid autem horum
esset, aliter id quam cactera cogitaret, non scilicet per imaginale
figmentum, sicut cogitantur absentia, quae sensu corporis tacta sunt,
sive omnino ipsa, sive ejusdem generis aliqua; sed quadam interiore,
non simulata sed vera praesentia (non enim quidquam illi est se ipsa
praestantius): sicut cogitat vivere se, et meminisse, et intelligere, et
velle se. Novit enim haec in se, nec imaginatur quasi extra se illa sensu
tetigerit, sicut corporalia qusodam tanguntur. Ex quorum cogitationibus
si nihil sibi affingat, ur tale aliquid esse se putet, quidquid ei de se
remanet hoc solum ipsa est."276
275
Augustinus, a. a. O., X, IX, 12.
276
Augustinus, De Trinitate, X, X, 16.
214
Man könnte diese unvergleichlich tiefen Einsichten des hl. Augustinus
auch so formulieren: Wir selbst haben von unserem Sein, das wir selbst
sind, ein einzigartiges "Vollzugs"-Bewußtsein eben dieses unseres
Seins, das wir auch zum "Gegenstand" unserer Erkenntnis machen
können. Wir wissen in unmittelbarer Weise von uns. Hingegen haben
wir von allen körperlichen Substanzen in keiner Weise jene
unmittelbare Kenntnis, die wir im Vollzug unseres eigenen Seins von
uns selbst besitzen, und sind daher auch keine von ihnen. Wir stellen
sie vielmehr als Objekte eines "Bewußtseins von" dunkel vor und
können sie gar nicht anders—etwa "in einer wahren und unmöglich
eingebildeten inneren Gegenwart" erleben, in der wir uns selbst
erleben. Da wir also von unserem eigenen Sein jenes unmittelbare
Wissen im Vollzug dieses unseres Seins besitzen, während alle
körperlichen Substanzen (oder eine einzelne von diesen, die wir nach
dem Materialismus angeblich sein sollen) uns wesenhaft ausschließlich
als Objekte eines "Bewußtseins von" gegeben sind, können wir also
keine solche materielle Substanz sein, sondern wir selbst, unser eigenes
Sein ist eben ausschließlich das, von dem wir unmittelbar im Vollzug
wissen.
Dem kann noch hinzugefügt werden: Wenn wir uns wirklich in das
Wesen dieses keineswegs bloß erschlossenen, sondern uns unmittelbar
im Vollzug selbst gegebenen Seins vertiefen, das wir selbst als Träger
und Subjekt unserer Akte sind, dann sehen wir ein: Alle Akte setzen
notwendig ein sie tragendes Subjekt voraus, das notwendig substantiell
und nicht wieder bloß ein Akzidenz sein kann. Dieses bewußte,
lebendige, intentional auf Gegenstände gerichtete Sein ist ferner
wesenhaft eine geistig-bewußte Substanz und keine materielle. Es ist
uns im Wesen des räumlich ausgedehnten Seins einerseits gegeben, daß
es nicht Träger geistiger, einfacher Akte sein kann, wie es uns
umgekehrt im anschaulich gegebenen bewußten Sein als
wesensnotwendig aufleuchtet, daß dieses voll substantiell real, aber
niemals räumlich ausgedehnt sein kann.277 Dies leuchtet noch deutlicher
auf, wenn wir versuchen, irgendeines der auf alles materiell Seiende
anwendbaren Prädikate auf unsere Akte und uns selbst anzuwenden.
Eine schwere oder leichte Freude, ein längerer oder kürzerer
Erkenntnisakt, ein in Höhe, Tiefe und Breite meßbarer
277
All dies wird in einem Buch über Leib — Seele — Unsterblichkeit
ausführlich vom Verfasser behandelt werden.
215
Willensentschluß, ein dickes oder färbiges Erinnern oder Subjekt—all
dies ist wesenswidersprüchlich und unsinnig.
Ohne hier weiter ausführen zu können, was nur eine eingehende
Analyse über "Leib und Seele" leisten könnte, sei hier in diesen
knappen Andeutungen darauf hingewiesen, daß tatsächlich im "Co
gito" die absolut gewisse Erkenntnis des nicht-materiellen,
intentional-bewußten substantiellen Seins des Subjekts des Zweifels
und Denkens erreicht werden kann; nicht nur in der Wesenserkenntnis
als solcher, sondern auch in der unbezweifelbaren Erkenntnis des
realen Subjekts und seines substantiell-geistigen Seins gewinnen wir
synthetische Wahrheiten a priori und können damit den Kantischen
Einwänden gegen das Cogito begegnen. Es handelt sich dabei weder
um Trugschlüsse (Paralogismen) noch überhaupt um Schlüsse, sondern
um die unmittelbare Einsicht in das Wesen des uns eindeutig in seiner
Realität "an sich" gegebenen, eigenen substantiellen Seins im "si fallor,
sum".
D. von Hildebrand hat in What is philosophy?, Kap. VI, S. 172 ff., eine
278
216
des Objekts in ihr treffen aber auch auf diese Wahrnehmung von etwas
Geistigem zu.279
Die leibhaftige Präsenz des Gegenstandes in jeder Form der
Wahrnehmung, wo wir ihn anschaulich selbst intentional besitzen, ist
aber nicht die einzige Form der Unmittelbarkeit von Erkenntnis.
Um eine zweite zu sehen, folgen wir einmal diesem Gedankengang:
Denken wir nur einen Augenblick an das unbegreifliche Geheimnis,
wie uns jede sinnliche Wahrnehmung durch zahllose Kausalreihen
vermittelt wird. Reize treffen auf unsere Sinnesorgane, werden über
komplizierte, elektro-chemische Prozesse zu unserm Gehirn geleitet:
und ohne diese kausalen und physiologischen Prozesse nehmen wir
keinen Gegenstand wahr. Das ungeheuer Staunenswerte dabei ist, daß
eine Kausalkette nötig ist, damit ein Gegenstand intentional vor
unserem Geist stehen kann. Mit anderen Worten, die Wahrnehmung, in
der wir in keiner Weise bloß kausal, sondern intentional mit einem
Objekt verbunden sind (was durch eine Welt voneinander geschieden
ist), ist doch zugleich das letzte Glied einer in unserem Leib
stattfindenden Kausalkette. Dies ist ein solches Wunder, daß es allein
ein Gottesbeweis sein kann. Nicht nur die Kausalketten sind
keineswegs intelligibel, und es ist durchaus nicht einzusehen, warum
wir nicht ganz andere Erlebnisse psychischer Art erleben, wenn
gewisse Ströme in unserem Gehirn auftreten. Vor allem ist es
wunderbar und unbegreiflich, daß wir nicht bloß kausierte psychische
Erlebnisse haben, wie etwa Schmerzen, sondern daß wir einen
Gegenstand unmittelbar (im ersten Sinn) wahrnehmen, obwohl er uns,
durch Kausalketten unseres Leibes vermittelt, gegenübertritt. Daß wir
dabei Gegenstände erfassen, ist ein natürliches "Geheimnis". Denn wir
könnten die vom Raum ausgehenden Strahlungen in einer vollkommen
anderen Weise erleben, also auch etwas sehen, was nicht ist, ohne daß
dies im geringsten "unwahrscheinlicher" wäre. 280
279
Diese überaus widrige Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffes ist wie-
der in besonderer Weise der klassischen Phänomenologie zu verdanken,
am deutlichsten bei D. von Hildebrand ausgeführt. Vgl. What is
philosophy?, Sinn philosophischen Fragens und Erkennens, Kap. VI.
280
Das gehe noch viel weiter. Nicht nur etwas sehen, was nicht ist, sondern
überhaupt könnten die elektromagnetischen Wellen, die Licht- oder die
Schallwellen vollkommen anders von uns erlebt werden: Es ist ja gar nicht
217
Trotz seiner unmittelbaren Selbstgegebenheit, in der ein Gegenstand
uns in der Sinneswahrnehmung entgegentritt, ist er also doch, durch
Kausalreihen vermittelt, uns gegenwärtig. Man könnte also sagen, er ist
uns nicht unvermittelt, wenn auch unmittelbar präsent. Jedoch —
abgesehen von dem Wunder dieser Verbindung zwischen Kausalität
und Intentionalität als solchem—wieso könnte nicht durch diese
Kausalketten uns bloß "scheinbar Seiendes" vermittelt werden? Könnte
man ja sogar die Gehirnpartien in einer so differenzierten Weise
erregen, daß alles, was wir je erlebten, wie gegenwärtig vor uns stünde,
ohne tatsächlich da zu sein? Man hat ja schon Versuche in dieser
Richtung durchgeführt.
Jedenfalls wäre es prinzipiell denkbar, daß durch solche Kausalketten
uns ganz andere Gegenstände vorgestellt werden, als tatsächlich
existieren.
Ist aber alle unsere Erkenntnis in diesem Sinne durch "kausale
Funktionen bestimmt" oder nicht? Gibt es auch eine Erkenntnis, in der
uns etwas nicht nur unmittelbar gegenwärtig, sondern auch völlig
unvermittelt selbst gegenwärtig ist, wo es also keine Möglichkeit der
Täuschung mehr gibt—so müssen wir hier fragen? Können wir
unabhängige Existenz sicher erkennen, oder ist diese nur ein Postulat?
Gibt es nur Dinge, wie andere Personen, die unabhängig von uns zu
sein scheinen, und wir müssen diesem objektiven Existenzanspruch
"Glauben schenken" in dem Sinne, in dem Husserl von einem
"Weltglauben" gesprochen hat?281
Wir müssen uns zwei Dinge klarmachen: Erstens ist es möglich
(prinzipiell), dieselben Kausalreihen im Gehirn anzuregen, ohne daß
die Kausalität dabei vom wirklichen Gegenstand ausgeht. Zweitens:
selbst wenn sie vom wirklichen Gegenstand ihren Ausgang nimmt, ist
es überaus geheimnisvoll und wunderbar, daß er uns dadurch selbst
gegenwärtig wird intentional und unmittelbar und daß nicht statt dessen
ganz andere merkwürdige Erlebnisse in uns ausgelöst werden.
Um die Eigenart dieser kausal vermittelten Erkenntnis aber noch tiefer
zu verstehen, müssen wir sie noch von einem anderen Phänomen
trennen, das es auch nur im Bereich der körperlichen,
218
wahrgenommenen Welt gibt. Wir meinen den entscheidenden
Unterschied zwischen konstitutiver und "Erscheinungs"-Wesenheit.282
Es gründet nämlich im Wesen der räumlich ausgedehnten und
besonders der im Raum strukturierten und geordneten Dinge, vor allem
der Lebewesen, daß es eine Doppeltheit von konstitutivem Sosein gibt
(zum Beispiel beim Walfisch als Säugetier oder beim Diamanten als
"Kohle") und von "Erscheinungssosein", von dem "Gesicht"
gleichsam, das dieses Seiende unserem Blick darbietet.
Dies ist wiederum verschieden von dem Falle, in dem etwas (Farbe)
getragen und hervorgerufen wird von etwas gänzlich anderem (Welle),
das keineswegs als das "konstitutive Wesen" von Farbe bezeichnet
werden kann.283
Diese Doppeltheit von Erscheinung und konstitutivem Wesen liegt im
Wesen der körperlichen Substanzen und bestünde überall, wo sichtbare
Körper geschaut werden können. Dieser Unterschied bestünde auch für
ein Wesen, das alle Dinge in einer unvermittelten Weise sieht und ihre
Farben und Gestalten schaut, ohne daß dieser gesehene Gegenstand
durch Kausalreihen im Leib vermittelt wäre und dadurch eine
Täuschung zustande kommen kann.
Jedenfalls fallen bei den geistigen Dingen, die uns in der Erfahrung
gegeben sind, also bei uns und unseren Akten und bei den notwendigen
Wesenheiten, auch bei denen räumlicher Dinge (Raum, Zeit, Körper,
Materie, Bewegung im Raum usw.) beide Arten von bloßer
Vermitteltheit und auch die Doppeltheit von Erscheinungswesenheit
und konstitutiver Wesenheit weg.
Es sind "keine Funktionen", nicht irgendwelche
Verstandeskonstitutionen oder gar Kausalreihen, durch die die
unmittelbare Erkenntnis meiner selbst oder auch der Wesenheiten der
Dinge hindurchgehen müßte;284 diese—wenn ich sie einmal
kennengelernt habe—schaue ich vielmehr selbst; keine bloße
"Erscheinungswesenheit" könnte eine dahinter liegende "konstitutive"
verbergen (dieser Unterschied besteht hier absolut nicht mehr, sogar bei
der Wesenheit der Farbe u. ä.); keine Kausalkette zwischen mir und der
282
Vgl. dazu auch D. von Hildebrand, What is philosophy? (IV, 3), S. 102
ff. und S. 166 ff.
283
A. a. O., S 110 ff.
284
In diesem Sinn ist also der Satz, "nihil est in intellectu, quod non prius
fuerit in sensibus" falsch.
219
Sache kann mir irgendwie etwas bloß "scheinbar Seiendes" vorstellen,
sondern ich umfasse den Gegenstand direkt ohne Vermittlung der Sinne
oder irgendwelcher anderer Vorgänge 285, die zwischen meinem Geist
und dem Gegenstand stünden.286 Und endlich sind all diese
Wirklichkeiten mir unmittelbar selbst gegeben, sie sind leibhaftig
präsent, welche Unmittelbarkeit wir auch als ein Charakteristikum
jeder Wahrnehmung kennenlernten. Hier überbringen mir aber nicht
wie in der Sinneswahrnehmung kausalreihenartige Sinnesfunktionen
die Kenntnis vom Gegenstand, wodurch "Schein" und "Erscheinung"
zustande kommen können, in denen ich nicht den Gegenstand berühre,
wie er in sich ist. Also bricht in allen diesen Fällen jede Möglichkeit
eines Immanentismus zusammen—jede Möglichkeit, etwas bestehe
nur für meinen erkennenden Geist und nicht in sich.
Diese in jedem Sinn des Wortes unmittelbare Erkenntnis reicht also
soweit wie überhaupt notwendige Wesenheiten. 287 Denn sie alle (etwa
285
Es gibt noch eine andere Bedeutung von "unmittelbar" und "vermittelt",
nämlich das unmittelbar, aber fundiert Gegebene. So setzt die Wahr-
nehmung der Schönheit einer Melodie das Hören der Töne und die Apper-
zeption der Melodie voraus. Die Schönheit der Melodie ist mir aber nicht
weniger unmittelbar gegeben als die Töne selbst. Sie ist auch nicht als
solche "vermittelt" durch Sinnesorgane und Kausalreihen, wie die Töne
selbst, aber sie setzt allerdings tragende Elemente (etwa Töne) und deren
Wahrnehmung voraus. In einem ganz anderen Sinn des Wortes könnte man
also auch die Schönheit einer Melodie durch die sie tragenden Töne und
deren Wahrnehmung "vermittelt" nennen.
286
Das heiß: natürlich in keiner Weise, daß nicht für alle seelischen Akte
Gehirnvorgänge die "Bedingung" sind, aber diese sind in keiner Weise die
Ursache und liegen auch nicht "zwischen meinem Geist und der Sache"
wie bei der Sinneswahrnehmung, sondern bilden vielmehr die
Voraussetzung dafür, daß mein Geist wach ist und sich frei unmittelbar
solchen Wesenheiten und Gegenständen zuwenden kann.
287
Nur notwendige, weil die andern nicht so sehr auf eigenen Füßen stehen
und keine solche innere Konsistenz haben, daß sie unabhängig von ihrer
konkreten Verwirklichung irgendein Erkenntnisinteresse besitzen, bzw.
daß sie einen von jeder Realkonstatierung unabhängigen Wesensgehalt
besitzen, zu dessen Erkenntnis auch ein einmaliger Erfahrungskontakt
genügt der schon beweist, daß es sich hier nicht um eine Fiktion, sondern
um Wirkliches handelt.
220
auch das Wesen von Raum, Körper, materieller Substanz und
Akzidenz, Farbe, räumlicher Bewegung usw.) können unmittelbar als
seiend mit dem Geiste erfaßt werden. (Nur die konkreten Farben,
Raumteile oder Körper werden durch Kausalreihen vermittelt, nicht
aber ihr Wesen, welches unserem Geist unmittelbar zugänglich ist,
sobald wir nur überhaupt einmal solches berührt haben, sei es auch nur
in einem Traum. Daß der Raum nicht mehr oder weniger als drei
Dimensionen haben kann,287a wissen wir etwa nicht nur durch den
sinnlich vermittelten Raum, also aus der Realkonstatierung des Raum",
die uns allerdings durch körperliche Organe vermittelt wird, sondern
durch eine unmittelbare Wesenseinsicht in den Raum.)
Ferner betrifft diese in jedem Sinn des Wortes unmittelbare Erkenntnis,
die uns aus den Fängen des in diesem Kapitel behandelten
Immanentismus befreit, auch Realität, reales konkretes Sein, und zwar
das unserer eigenen Person und ihrer Akte (und natürlich auch ihrer
Wesenheiten). Hier fällt natürlich auch beim konkreten Sein unserer
Akte der Unterschied zwischen "Erscheinungswesenheit" und
irgendeiner "dahinter" liegenden "konstitutiven" Wesenheit
einsichtigermaßen weg, und wir berühren diese unmittelbar. 288
287a
Die Thesen über vier- und mehrdimensionale Räume, mit denen
Physiker rechnen, haben einen ähnlichen Charakter wie die bekannten
Fiktionen mathematisdcher Art. Es scheint mir ein Mißverständnis, diese
Thesen metaphysisch-philosophisch "ernst" zu nehmen. Vgl. meine
Besprechung von Materie und Geist von J. de Vries in: Philosophischer
Literaturanzeiger Bd. 24, H. 2, S. 92—95.
288
Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß es nur bei körperlichen Din-
gen die Möglichkeit der Täuschung oder des Irrtums gibt und daß es nicht
ein weites Feld der "Selbsttäuschungen" gäbe. Die Unmittelbarkeit, mit der
wir unser eigenes Sein mit einer über jeden Zweifel erhabenen Sicherheit
erfassen, gilt einerseits für das Vollzugsbewußtsein als solches, anderer-
seits für die Wesenseinsichten in intelligible Zusammenhänge über das
eigene Sein und drittens für jene Art des reflexiven Bewußtseins, in der wir
uns einerseits einen Vollzug eines Aktes oder das eigene Sein, von dem wir
immer ein Bewußtsein haben, zu voll wacher, ausdrücklich vollzogener
Gegebenheit bringen und andererseits das intelligible, notwendige Wesen
eben dieses Aktes oder des Vollzugsbewußtseins vor Augen führen.
Keineswegs gilt diese von jeder Täuschungsmöglichkeit unbetroffene
Gewißheit für nachträgliche oder gleichzeitige Reflexionen, in denen wir
221
Auch die schlußfolgernde Erkenntnis ist keineswegs durch
Sinnesorgane vermittelt, in der wir etwa vom konkreten Sein unserer
eigenen Person und der Wesenseinsicht, daß zufälliges Seiendes nur
durch in sich notwendiges sein kann, aufsteigen zum Beweis der
Existenz Gottes.
Sowohl die unerfindbare Idee eines absolut vollkommenen Wesens als
auch der Aufstieg vom Kontingenten zum Absoluten sind uns in keiner
Weise durch irgendwelche sinnliche Kausalreihen vermittelt worden.
Es ist absolut falsch, zu sagen, alle unsere Erkenntnis hebe in dem
Sinne bei den Sinnen an, daß wir nicht nur als erstes
Sinneswahrnehmungen haben, sondern daß uns auch nichts unmittelbar
gegeben sei, ohne durch Sinne vermittelt worden zu sein. Wer hat
jemals seinen Zweifel, sein Erkennen oder sein Bewußtsein gesehen,
getastet, gefühlt, gerochen oder geschmeckt und erst recht den
Zusammenhang zwischen zufälligem und notwendigem Sein? Also
sowohl konkretes, reales Sein als auch die notwendigen, intelligiblen
Soseinseinheiten der Dinge sind uns in jedem Sinn unmittelbar gegeben
und schließen jede Möglichkeit aus, ein Schein oder auch eine
"Erscheinung" sein zu können:
"Cum enim duo sunt genera rerum quae sciuntur, unum earum quae per
sensus corporis percipit animus, alterum earum quae per se ipsum:
multa illi philosophi garrierunt contra corporis sensus; animi autem
firmissimas per se ipsum perceptiones rerum verarum ... nequaquam in
dubium vocare potuerunt."
uns leicht vieles über uns einbilden oder uns in der Erinnerung täuschen
können.
222
übrigen Wissenschaften und zugleich die Königin aller natürlichen
Wissenschaften.
223
Diese unendliche Zahl meiner Erkenntnisse, die allein in jener ersten
formal eingeschlossen sind, zeigt trotz der Armut des materialen
Gehaltes die Unendlichkeit der Zahl der mir möglichen absolut
gewissen Erkenntnisse. Dasselbe wendet Augustinus auf das Wissen
der Sehnsucht nach Glück an und fährt dann fort:
"ltem si quispiam dicat, errare nolo; nonne sive erret sive non erret, errare
tamen eum nolle verum erit? Quis est qui huic non impudentissime dicat,
Forsitan falleris? com profecto ubicumque fallatur, falli se tamen nolle non
fallitur. Et si hoc scire se dicat, addit quantum vult rerum numerum
cognitarum, et numerum esse perspicit infinitum. Qui enim dicit, Nolo me
falli et hoc me nolle scio, et hoc me scire scio; jam et si non commoda
elocutione, potest hinc infinitum numerum ostendere."288a
"Mag das Volk glauben, daß Erkennen ein Zu-Ende-Kennen sei, der
Philosoph muß sich sagen: wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem
Satz 'ich denke' ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von
verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht
288a
Augustinus, De Trinitate, XV, XII, 21. Die absolut gewissen, unmittel-
baren und durch Sinne nicht vermittelten Erkenntnisse umfassen aber
keineswegs nur eine solche formal-unendliche Anzahl von Erkenntnissen,
sondern sie reichen erstens soweit wie materiale, notwendige Wesenheiten
reichen, die ein viel weiteres Feld sind, als man denken möchte. Auf allen
Gebieten, seien es Raum, Zeit, Körper, Bewegung, Farbverhältnisse, seien
es sittliche Werte und Gegebenheiten, seien es logische Prinzipien und
metaphysische Wirklichkeiten, die Person und ihre verschiedenen Akte
oder die Kontingenz aller uns bekannten Dinge, seien es ästhetische
Gegebenheiten, sei es die Gemeinschaft, das Recht und seine Bereiche, der
Staat usw. — überall finden wir unzählige material verschiedene
notwendige Wesenheiten und die Sachverhalte, die in ihnen gründen. Also
hat die Philosophie ein weites Feld der Forschung vor sich, das sie wohl
niemals wird erschöpfen können. Außerdem finden wir im "si fallor, sum"
oder in den Gottesbeweisen auch eine unmittelbare und unvermittelte
Realerkenntnis.
224
unmöglich ist— zum Beispiel, daß ich es bin, der denkt, daß überhaupt
ein Etwas es sein muß, das denkt..."289
Weil also in jener unmittelbaren Gewißheit, daß ich sein muß, und zwar
als lebendiges Subjekt, um zweifeln zu können, unzählige andere
Fragen nach dem Wesen von Erkennen, Sicherheit, Wahrheit usw.
eingeschlossen sind, welche ich zweifellos nicht alle auf einmal
erkenne, da also meine Erkenntnis kein "Zu-Ende-Kennen" ist, meint
Nietzsche damit schon die Möglichkeit absoluter Gewißheit widerlegt
zu haben. Denn wie soll ich etwas sicher wissen, das vieles andere
notwendig einschließt, das ich noch nicht klar erkannt habe. Gegen ein
System wiederum, bei dem erst Ende klarwürde, daß der Anfang wahr
ist, erhebt Kierkegaard vor allem in der Unwissenschaftlichen
Nachschrift seine Einwände.290 Um dem Nietzscheschen Einwurf zu
begegnen, müßte man nach Ansicht derartiger "Systemphilosophen"
ein Gesamtsystem fertig haben, bevor man irgend etwas sicher wissen
könne, ein System also, in dem nicht nur die Zusammenhänge aller
Wirklichkeit erkannt und dargestellt werden, sondern in dem man
behauptet, die Gewißheit der Erkenntnis irgendeines Sachverhaltes
hänge von der Gewißheit aller übrigen mit diesem einen Sachverhalt
notwendig verbundenen Sachverhalte ab. Erst am Schluß also würde
alles klar, und solange das System nicht fertig ist, ist sozusagen alles
ungewiß und "in der Luft".
Diese Behauptungen laufen darauf hinaus, daß wir niemals ein
Seiendes mit absoluter Gewißheit erkennen können, wenn wir nicht
zugleich das erfassen, was von ihm notwendig eingeschlossen oder
vorausgesetzt ist. Wir haben gesehen, wie viele Einsichten in
notwendige Wesenssachverhalte gewonnen werden können, wenn wir
uns nur in das Wesen des Zweifels und all dessen, was in ihm enthalten
ist, vertiefen. Dabei konnten wir sehen, daß alle die
Wesenssachverhalte, die wir ausdrücklich oder andeutungsweise
erkannten, innerlich notwendig zusammenhängen. Alle diese
Sachverhalte hängen in den Wesenheiten (des Zweifels usw.), also der
Ordnung des Seins nach derart notwendig zusammen, daß die einen
unmöglich bestehen könnten, wenn nicht auch die anderen bestünden.
Abschn., 4a, b.
225
Nachdem wir also einige mit Sicherheit erkannt hatten, wäre diese
Gewißheit sofort wieder in Frage gestellt worden, wenn jemand einen
der weiteren — von uns noch nicht ausdrücklich erkannten —
Sachverhalte geleugnet hätte, die objektiv notwendig von den bereits
erkannten Sachverhalten eingeschlossen oder sogar vorausgesetzt sind.
Denn wenn wir die von jemandem geleugneten (und von uns noch nicht
erkannten) Sachverhalte nicht mit Gewißheit erkennen können (und
wie können wir das wissen, bevor wir sie erkannt haben?), so würde
damit auch unsere erste Gewißheit sich als eine nur scheinbare
erweisen und auch die erste Sicherheit würde erschüttert und ihres
"Bodens" beraubt sein.
Kein Mensch, er sei denn ein Narr, könnte behaupten, alle objektiv
notwendig zusammenhängenden Sachverhalte auf einmal erschauen zu
können.
Wie ist es also möglich, einen notwendigen Wesenssachverhalt (wie
etwa, daß ich mich erinnern muß, um zu zweifeln) oder den realen
Sachverhalt, daß ich bin, mit Gewißheit zu erkennen, ohne daß ich all
jene Sachverhalte zugleich schon eingesehen hätte, ohne die dieser
nicht sein kann? Ist unsere Gewißheit und die Wahrheit also nur eine
scheinbare, weil wir nicht alles wissen? — Daß unser Erkennen kein
"Zu-Ende-Kennen" ist, sondern wesenhaft unvollständig, und zwar
auch in bezug auf die notwendig von dem Erkannten vorausgesetzten
Dinge, hat Descartes so formuliert:
291
Descartes, Meditationen, 5. Erwiderung (537).
226
folgen, daß wir in der Ordnung der Erkenntnis "voraussetzen" müßten,
was der Ordnung des Seins nach vorausgesetzt ist.
Wesenhafte Unvollständigkeit unserer Erkenntnis und absolute
Gewißheit sind also keine Gegensätze. Wir können bei der Betrachtung
einer Wesenheit (z. B. des Zweifels) eine Teilwahrheit mit voller
Gewißheit einsehen, ohne zugleich alle andern Wahrheiten mitzusehen.
Deshalb ist unsere Erkenntnis keineswegs relativ, wenn auch
unvollständig.292 Denn der eingesehene Sachverhalt besteht tatsächlich
genauso, wie ich ihn erkenne. Und ich kann über sein Bestehen absolut
sicher sein, ohne alle notwendig mit ihm verknüpften Sachverhalte
zugleich einzusehen.
Das heißt aber, daß gerade das Gegenteil von dem, was Nietzsche
behauptet, wahr ist: Ich setze nicht alle übrigen (mit dem erkannten
notwendig verknüpften) Sachverhalte im Sinne einer "Annahme" bloß
voraus, ohne deren Rechtfertigung ich auch über das (demnach
"scheinbar") absolut sicher Erkannte nicht wirklich gewiß sein könnte,
sondern umgekehrt: Indem wir in einem Punkt klar und deutlich und
über allen Zweifel erhaben das objektive Bestehen eines Sachverhalts
einsehen, sind wir zugleich sicher, daß alle notwendig mit ihm
verknüpften Sachverhalte (auch wenn wir sie noch gar nicht ahnen),
auch bestehen.
Ein Gleichnis dafür ist das Betrachten einer Rosette in einer gotischen
Kathedrale, deren klare Sichtbarkeit nicht dadurch vermindere oder
abgeschwächt wird, daß ich nicht zugleich alle Mauern und Pfeiler
betrachten kann, auf denen die Rosette ruht.
Auf die Frage also: Gibt es einen Anfang der Philosophie?, müssen wir
antworten: Sicher gibt es grundlegendere und weniger grundlegende
Sachverhalte und Wahrheiten. Wir können jedoch an vielen Stellen
(keineswegs nur an den grundlegendsten) in das Reich jener
notwendigen und ewigen Wesenszusammenhänge oder an einen Punkt
der konkreten Welt im Cogito eintreten, ohne daß die Gewißheit
unserer Erkenntnis so lange in Frage gestellt bliebe, als wir noch nicht
auf alle Fragen geantwortet hätten, die sich auf das beziehen, was
292
Diesen Unterschied hat B. Schwarz in seinem Buch Der Irrtum...
herausgearbeitet. Besonders hat die Bedeutung dieses Unterschiedes D.
von Hildebrand in Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, (1968), Kap.
III, hervorgehoben.
227
notwendig mit dem von uns Erkannten verbunden oder auch von ihm
objektiv vorausgesetzt ist.293
Dabei muß zweierlei unterschieden werden.
Es gibt erstens viele Dinge, die wir in einer Einsicht "mitsehen" und
mitmeinen, ohne uns dessen ausdrücklich bewußt zu sein (etwa im
Beispiel des "cogito, ergo sum" das Wesen von Bewußtsein, Sein,
Substanz, usw.). Von diesen wissen wir in unserer absolut gewissen
Einsicht, daß wir sie auch ebenso einsehen können, wenn wir den Blick
nur auf sie richten. Alles, was wir in einer gewissen Erkenntnis
mitsehen, ohne es klar zu erkennen, schwäche deren absolute
Gewißheit in keiner Weise. Von dem Lichte dieser Erkenntnis fällt
vielmehr auch ein Schimmer auf alle damit notwendig verknüpften
Zusammenhänge.
Zweitens aber müssen wir festhalten: Eine absolut gewisse Einsicht,
oder auch zwei absolut gewisse Einsichten in zwei objektiv notwendig
verknüpfte Wahrheiten werden nicht einmal dann erschüttert, wenn wir
sie noch nicht "mitsehen", ja sogar wenn wir auf Grund unseres
schwachen Erkenntnisvermögens ihren Zusammenhang prinzipiell
nicht erkennen können.
So können wir die Verschiedenheit unseres Leibes von unserer Seele
als einen substantiellen Unterschied einsehen, und auch ihr
Zusammenhang ist uns vielfach gegeben (sei es vom Leib zur Seele,
wie im physischen Schmerz oder von der Seele zum Leib, wie im
Willen); trotzdem können wir prinzipiell nicht das "Wie" dieses
Übergangs von leiblichen Prozessen zu einem seelischen Erlebnis
erklären und erkennen. Offenbar ist dieses aber irgendwie notwendig.
Sollen wir deshalb irgendeinen der absolut gewiß eingesehenen
Sachverhalte leugnen, weil diese Schwierigkeit offenbleibt? Sollen wir
etwa die Realität des Leibes leugnen oder die Seele zu einem bloßen
"Epiphänomen" physiologischer Prozesse erklären?—Nein! An beiden
müssen wir festhalten als an sicher Erkanntem, obwohl wir eine mit
293
Deshalb gibt es zwar grundlegende, aber keine "ersten Wahrheiten" für
unser Erkennen. Und auch in Gott selbst, also der Ordnung des Seins nach,
ist die Fülle des Seins selbst die Grundlage von allem —und nicht etwa nur
eine Wahrheit, auf der alle weiteren als auf ihrem Fundament ruhen
würden, ähnlich dem Bau eines Hauses, wo ein Stein auf dem nächsten
ruhte und nicht umgekehrt.
228
diesen Wahrheiten der Ordnung des Seins nach notwendig verknüpfte
Wahrheit absolut nicht erkennen können.
Ebenso können wir die Freiheit unseres Willens mit einer zweifellosen
Gewißheit erfassen und in ihrem Wesen erkennen. Wir können auch
die Existenz eines absoluten Wesens, die Existenz Gottes mit
Sicherheit erkennen. Trotzdem können wir die Art des göttlichen
Aktes, von dem wir einerseits absolut abhängen, anderseits nicht
determiniert werden, nicht erkennen. Dies bleibt ein Mysterium, das
uns unerkennbar ist, solange wir leben. Also kann nicht einmal die
prinzipielle Unfähigkeit des Menschen, wesensnotwendig miteinander
verknüpfte Sachverhalte in ihrem Zusammenhang einsehen zu können,
die Gewißheit unserer Erkenntnis dieser Sachverhalte hindern, die uns
eindeutig in ihrem Sein gegeben sind.294
294
Diese zentrale Wahrheit hat Dietrich von Hildebrand besonders in den
Prolegomena zur Christlichen Ethik ausgeführt. Er hat darauf auch an
vielen andern Stellen hingewiesen als auf eine überaus wichtige Wahrheit.
Vgl. vor allem Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, S. 45 ff. und 102
ff.
Kardinal Newman hat darüber das Wort gesprochen: "Zehntausend
Schwierigkeiten rechtfertigen keinen einzigen Zweifel." Vgl.
Universitätspredigten. Aber auch Descartes hat dies besonders klar
gesehen und ausgesprochen: "Mais, à cause que es nous avons depuis
connu de Dieu, nous assure que sa puissance est si grande, que nous ferions
un crime de penser que nous eussions jamais esté capables de faire aucune
chose, qu'il ne l'eust auparavant ordonnée, nous pourrions aysément nous
embarrasser en des difficultez tres-grandes, si nous entreprenions
d'accorder la liberté de nostre volonté avec ses ordonnances, & si nous
taschions de comprendre, c'est à dire d'embrasser & comme limiter avec
nostre entendement toute l'estenduë de nostre libre arbitre & l'ordre de 1a
Prividence eternelle.
Au lieu que nous n'aurons point du tout de peine à nous en delivrer, si nous
remarquons que nostre pensée est finie, & que la toute-puissance de Dieu,
per laquelle il n'a pas seulement connu de toute éternité ce qui est ou peut
estre, mais il l'a aussi voulu..., est infinie. Ce qui fait que nous avons bien
assez d'intelligence pour connoistre clairement & distinctement que cette
puissance est en Dieu, mais que nous n'en avons pas assez pour comprendre
tellement son estenduë que nous puissions sçavoir comment elle laisse les
actions des hommes entièrement libres & indéterminées; & que, d'autre
costé, nous sommes aussi tellement assurez de la liberté et l'indifference
229
qui est en nous, qu'il n'y a rien que nous connoissions plus clairement...: de
façon que la toute-puissance de Dieu ne nous doit point empescher de la
croire. Car nous aurions tort de douter de ce que nous appercevons
interieurement & que nous sçavons par experience estre en nous, pource
que nous ne comprenons pas une autre chose que nous sçavons... estre
incomprehensible (pour nous) ,de sa nature'." (Descartes, Principes, I, §
40, 41 a. a. O., S. 42.)
Diese und viele andere Stellen bei Descartes beweisen, wie sehr man ihm
zu Unrecht einen Rationalismus vorwirft, der sich vermißt, die gesamte
Wirklichkeit erkennend zu erfassen, der also letztlich wie bei Hegel der
autonomen menschlichen Vernunft ein Erfassen des absoluten Geistes
zumißt ein "Zu-sich-selber-Kommen" des "objektiven Geistes".
Dies ist in keiner Weise die Konsequenz des cartesischen Ansatzes, der
erstens die Skepsis durch eine absolut gewisse Erkenntnis überwinden will
und zweitens das "objektive System der Wirklichkeit" in einer möglichst
systematischen und umfassenden Weise erkennen will, was immer
Aufgabe der Philosophie sein muß. Gott aber erkannte Descartes nicht nur
als eine niemals von irgend etwas anderem, etwa dem "cogito"
deduzierbare Wesenheit an, sondern auch als etwas, was unseren Geist
unendlich übersteigt was unendlich viele Geheimnisse birgt, die unserer
Vernunft unzugänglich sind und von denen der Philosoph nur einsehen
kann, daß Gott sie uns offenbaren kann: "Wenn daher Gott uns etwas von
sich oder anderen Dingen offenbaren sollte, was die natürlichen Kräfte
unseres Verstandes überschreitet, wie dies bei den Mysterien der
Fleischwerdung oder der Dreieinigkeit der Fall ist, so werden wir, obgleich
wir sie nicht klar einsehen, doch uns leidet weigern, sie zu glauben, und
wir werden uns durchaus nicht wundern, daß vieles teils in seiner eigenen
unermeßlichen Natur, teils in den von ihm geschaffenen Dingen unsere
Fassungskraft überschreite ... wir wollen ... Vorsicht gebrauchen und uns
immer gegenwärtig halten, daß Gott der unendliche Schöpfer aller Dinge
ist und wir durchaus endlich sind." Principia, 24, 25. Vgl. dazu auch etwa
4. Med. 7 oder 5. Erw. 531, a. a. O., S. 344.
Deshalb ist Descartes Philosophie nur autonom in dem Sinne, daß sie auf
eigenen Füßen steht und nicht "fideistisch" den Glauben zum Ausgangs-
punkt macht, was widerspruchsvoll ist, nicht aber in dem Sinne, daß
Descartes den Anspruch erhöbe, alles erkennen zu können, oder daß es
jenseits der menschlichen Vernunft keine Geheimnisse mehr geben könne.
Ja im Gegenteil, Descartes zeigt in seiner philosophischen
Gotteserkenntnis, daß wir ein unendlich unser Verstehen übersteigendes
Sein mit absoluter Gewißheit erkennen können und deckt somit in
230
Die wahre Voraussetzungslosigkeit der Philosophie
231
sind jede Art von Glaubensinhalt, jede ungeprüfte Annahme oder gar
Hypothesen als Ausgangspunkt philosophischer Erkenntnis unzulässig.
In allen gültigen philosophischen Erkenntnissen muß sich das Sein
selbst unserem Geist ausweisen, und das schließe aus, daß wir es aus
vorausgesetzten und nicht in sich evidenten Prinzipien erschließen
bzw. ableiten.
Allerdings mag es sein, daß nicht der Erkenntnisordnung, aber der
Seinsordnung nach Sachverhalte die objektive, ontische Voraussetzung
für die von uns als evident erkannten Sachverhalte bilden, ohne daß wir
jene schon erkannt hätten oder auch nur in der Lage sein müßten, sie zu
erkennen. Das haben wir ja vorhin gesehen.
Für die Voraussetzungslosigkeit der Philosophie, ohne die wesenhaft
keine absolut gewisse Erkenntnis möglich wäre, ist allerdings auch in
keiner Weise erforderlich, daß der Philosoph "leer" an die Welt
herantreten und keinerlei Erfahrung haben müsse. Im Gegenteil: Je
reicher seine vorphilosophische Erfahrung ist, desto mehr ist ihm die
Möglichkeit verliehen, sich auf deren intelligible, notwendige
Wesenszüge zu richten und sich von allen Vorurteilen und im negativen
Sinne "subjektiven" Voraussetzungen freizumachen. Ein möglichst
reicher unmittelbarer Sachkontakt ist für einen Philosophen ja gerade
dringend erfordert. Je mehr dieser erforderten Voraussetzungen ein
Philosoph hat, desto leichter wird er sich von allen "verbotenen"
Voraussetzungen inhaltlicher Art lösen können. Je mehr
Voraussetzungen, die ihn mit der objektiven Wirklichkeit und ihrer
Fülle in Berührung bringen, einem Philosophen geschenkt sind, desto
mehr kann er alle "doxa", alle bloß übernommenen "Ansichten"
überwinden.
Diese legitimen "Voraussetzungen" sollen aber gar nicht mit diesem
Ausdruck bezeichnet werden, sondern in ihnen gründet ja die wahre
Voraussetzungslosigkeit der Philosophie als der unmittelbare Zugang
zu in sich notwendigen und einsichtigen Seins- und
Sollenszusammenhängen.
232
3. KAPITEL
WAHRER "PLATONISMUS" UND WAHRER REALISMUS
233
des"Ich-Begriffes" zugrunde, die bei Husserl tragischerweise — im
Gegensatz zu seinem großartigen Beginn in den Logischen
Untersuchungen295 ihren Höhepunkt erreicht.
Wahrscheinlich ließe sich sogar zeigen, daß auch bei Averroes und in
jeder Philosophie, die dem Wesen der Person, als von allem
impersonalen "Geist" verschieden, nicht gerecht wird, dieselben
Doppeldeutigkeiten in anderer Form sich finden.
Wir wollen an einigen zentralen Stellen die Doppeldeutigkeit sowie die
Unterschiede klarstellen, auf die es uns hier ankommt, das Beispiel des
späten Husserl wählen wir aus mehreren Gründen.
Erstens weil er den Unterschied zwischen intentionalem,
gegenständlichem Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt des vollzogenen
Bewußt- seins besonders klargemacht hatte und trotz dieser im ersten
Kapitel ausgeführten Unterschiede in einen radikalen Immanentismus
fiel.
Zweitens weil bei ihm die genannten Äquivokationen besonders
deutlich hervortreten und im erwähnten Spätwerk zu fassen sind.
234
Drittens weil dadurch klar wird, wie Heidegger dieselben Gedanken in
den immer ihm als gänzlich neu zugeschriebenen Begriffen des
"In-der-Welt-Seins" u. ä. übernommen hat und nur wenig von Husserls
radikalstem idealistischem Immanentismus abweicht. Statt der
Oberwindung des Gegensatzes zwischen "Realismus—Idealismus"
und der Seinsvergessenheit der ganzen bisherigen Philosophie und wie
die anderen maßlosen Ansprüche Heideggers lauten, finden wir bei ihm
den unheimlichsten metaphysischen Solipsismus und idealistischen
Immanentismus, der nur ein wenig mit "existentialistischen" Gedanken
vermischt ist.
Wir wollen die gänzlich verschiedenen Wirklichkeiten zunächst
nennen und dann an Stellen aus Husserl zeigen, wie sie alle im selben
Begriff des transzendentalen ego vermischt werden;296 durch das
systematische Übergehen notwendiger, intelligibler
Wesensunterschiede entsteht auch jene tiefe Verwirrung, ja letztlich
Unverständlichkeit, die Husserls und jede transzendental-idealistische
Philosophie kennzeichnet.
Manchmal meint Husserl mit dem transzendentalen ego nichts anderes
als
a) das konkrete, personale Subjekt; zumindest treffen die Aussagen, die
er macht, nur auf dieses zu. Dann wieder meint er
b) das in seiner Existenz eingeklammerte Ich, das Ich als reines Sosein
— als Phänomen; wieder an anderen Stellen
296
Roman Ingarden hat schon in seinen kritischen Bemerkungen zu den
Cartesianischen Meditationen (ebenda, S. 213), sowie in späteren
Vorträgen über E. Husserl (etwa in: Über den transzendentalen Idealismus
E. Husserls, a. a. O., S. 196, 197; 200—204) auf manche dieser
schwerwiegenden Äquivokationen im Begriff des "transzendentalen ego"
hingewiesen, allerdings mehr, indem er sie als "Schwierigkeiten"
bezeichnete, in die der Husserlsche Idealismus führe, und ohne auf alle der
hier genannten wesensverschiedenen Gebilde einzugehen, deren
Verwirrung in jedweder Form m. E. nicht bloß in unlösbare
Schwierigkeiten führt, sondern von Grund auf verkehrt ist.
R. Ingardens großes Verdienst Dein mir ferner darin zu liegen, daß er in
dem eben erwähnten Beitrag aus dem internationalen Kolloquium (der phä-
nomenologischen Philosophie) in Krefeld klar zeigt, daß der Gegensatz
Realismus-ldealismus" keineswegs, wie dies vielfach angenommen wird,
in dem "transzendentalen Idealismus" Husserls "überwunden" ist. Vgl.
dazu die folgenden Ausführungen.
235
c) meint er mit demselben Begriff nicht das ganz konkrete, bloß in
seiner Existenz eingeklammerte Ich als "Phänomen", sondern das in der
"eidetischen Wesensschau" zugängliche intelligible, notwendige
Wesen der Person, also den eigentlichen Gegenstand der
philosophischen Erkenntnis der Person. Schließlich
d) versteht er unter dem transzendentalen ego das transzendentale als
quasi-göttliches ego, als die ganze Welt konstituierend und als "Quelle
allen Seins, allen Sinnes, allen Erkennens". Einen anderen Aspekt
dieser Verwirrung enthüllt Husserl darin, daß er es
e) als "transzendentale Intersubiektivität" erklärt und darin den
Unterschied zwischen meiner Person und anderen Personen, meinem
ego und anderen "egos" zugleich voraussetzt und leugnet. Und
schließlich als sechster Sinn, der eine Nuance der beiden letztgenannten
darstellt, faßt Husserl
f) die transzendentale Subjektivität als Gegensatz zu jedem real
existierenden Subjekt, als dieses ausschließend, als eine reine "Ichheit",
die nicht individuell, sondern in allen die gleiche und alle konkreten
Ichs konstituierend ist (bei universaler Einklammerung von deren
Existenz).
236
Noch deutlicher ist, daß Husserl oft mit dem transzendentalen ego die
konkret und individuell existierende Person meint, wenn er etwa sagt
(§ 9):297
"Wie weit kann das transzendentale Ich sich über sich selbst täuschen
und wie weit reimen die absolut zweifellosen Bestände trotz dieser
möglichen Täuschung?"
"Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchem
Cogito bewußt seiende und mir geltende. Ihren ganzen... Sinn erhält sie
ausschließlid1 aus solchen cogitationes. In ihnen verläuft mein ganzes
Weltleben, wohin auch mein wissenschaftlich Forstendes und
begründendes Leben gehört. Ich kann in keine andere Welt hineinleben,
hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten und -handeln..."
297
Wenn nichts anderes angegeben wird, beziehen sich die in Klammern
den Zitaten beigefügten §§-Nummern auf die Cartesianischen Medita-
tionen.
298
Vgl. etwa auch Landgrebes Beitrag am "Krefelder Kolloquium", Die
Bedeutung der Phänomenologie Husserl für die Selbstbesinnung der
Gegenwart, a. a. O., S. 220 ff.
237
"Wir fragen, wer ist denn das Ich, das solche transzendentale Fragen
rechtmäßig stellen kann? Kann in das als natürlicher Mensch...?"
Dieses "Ich", das sich "über dem naiv interessierten Ich" (interessiert
an der Existenz der Wirklichkeit, anderer Personen usw.) als das
phänomenologische, als "uninteressierter Zuschauer'' dieser
"unbeteiligte Zuschauer seiner selbst" kann wiederum nur die konkrete,
individuelle, bewußt existierende Person sein. Diese allein, dieses
einzigartig sich selbst bewußt besitzende Seiende allein kann schauen,
"sich selbst zuschauen" usw. Ebenso gilt dies, wenn Husserl in § 40
sagt, daß alles, was für mich ist und gilt, dies "in meiner
Bewußtseinssphäre" tut, daß alles "Bewußthaben einer Welt", daß alle
Wahrheit und Sein nur cogitatum meines cogito sei... usw. Wenn die
ganze Welt, zu der ich eine bewußte Beziehung habe, mir bewußt ist,
so kann dies wiederum nur das konkret und individuell existierende,
personale, bewußte Subjekt sein, von dem die Rede ist. Dabei liegt in
dieser Stelle wieder die später zu behandelnde Verwirrung zugrunde,
als würde die Tatsache, daß ich von nichts weiß, was nicht intentionaler
Gegenstand meines Bewußtseins wird, bzw. zu dem ich nicht in
bewußte, intentionale Beziehung trete, bedeuten, daß die Welt und alle
Seienden nur cogitata meines cogito wären, bzw. mir nie in ihrer von
meiner Subjektivität gänzlich unabhängigen Wirklichkeit gegeben sein
könnten.
238
Jedenfalls aber wollen wir hier ausdrücklich festhalten, daß sich das
von Husserl an all diesen und anderen Stellen Gesagte auf nichts
anderes sinnvollerweise beziehen kann als auf das konkret existierende
Ich, das sich von jedem nur ideal Existierenden oder von Wesenheiten,
aber auch Kunstwerken, mit einem Wort von allen geistigen Gebilden
außerpersonaler Natur durch eine Welt unterscheidet. Die zitierten
Husserl-Stellen beziehen sich
auf "die menschliche Person, die Seele des Menschen, die nicht nur in
einem analogen, sondern in einem gegenüber allem materiellen, allem
apersonalen Sein ungleich potenteren Sinn voll real ist,... die ganz
individuell, voll real hier und jetzt existiert'299...
"Innerhalb der metaphysischen Sphäre", so sagte D. von Hildebrand
weiter in dem zitierten Seminar, "scheint mir der allertiefste
Unterschied der zwischen Person und impersonalen Wesen zu sein, der
allertiefgreifendste außer dem von unendlich und endlich. Es ist dies
ein viel größerer Unterschied (Gegensatz) als zwischen Substanz und
Akzidenz oder irgend etwas anderes — eine neue Welt!" "Darum
möchte ich hier ausgehen von der Zweideutigkeit des Begriffes
,geistig'. Einmal meint man damit etwas Nichtmaterielles, entweder
etwas ideal Existierendes oder aber auch etwas Konkretes,
Individuelles, was aber doch nicht dieselbe Art der Realität wie ein
individueller Körper hat — und das andere Mal meint man das ganz
anders Geartete eines bewußten Subjektes, eine ganz neue Dimension
des Seins, das erwachte Sein, im Vergleich zu dem alles andere Sein
schläft, was das Mittelalter sehr schön mit dem Wort zum Ausdruck
gebracht hat: 'das sich selbst besitzende Sein'."
299
Die entscheidenden Unterschiede zwischen "geistig`. im Sinne des Per-
sonalen und im Sinne apersonaler Gebilde hat in ihrem ungeheuren Ge-
wicht und der durch die ganze Geschichte der Philosophie nie voll erkann-
ten Verschiedenheit Dietrich von Hildebrand in seinem Seminar "Geist und
Person" klar herausgearbeitet, das er 1964 in Salzburg hielt und daraus wir
einiges zitieren wollen. (Nach Originaltonbändern angefertigte Abschrift.)
239
offenbar auf dieses urreale, hic et nunc existierende, individuelle,
bewußte Sein, auf die Person beziehen.
Dies war gerade die von Husserl als "Rückfall in den Objektivismus"
betrachtete300— in Wirklichkeit aber klassisch-philosophische
Entdeckung Descartes'. Nur einem real-existierenden Subjekt kann
irgend etwas scheinen oder erscheinen. Nur dieses kann sich irren, wie
schon Augustinus zeigt. Diese meine Existenz ist mir unmittelbar selbst
gegeben. Ich kann von ihr absehen, aber indem ich das tue, setze ich sie
schon wieder voraus. Das heißt zweitens, daß alle Akte, von denen
Husserl spricht, alle Erkenntnisse, alle Evidenzen und alle
Einklammerung nur von einem existierenden, konkreten ego vollzogen
werden können, d. h. von dem von Husserl eingeklammerten, bzw. als
unerkennbar, ja unsinnig angesehenen "Endchen der wirklichen Welt"!
Das heißt schließlich drittens, daß alle nunmehr zu behandelnden
Bedeutungen von "transzendentalem ego" ausschließlich von der
Person erforscht und gestaut werden können. Alles Philosophieren —
sogar das "transzendental-phänomenologische", das dies zu vergessen
scheint — ist doch nur der Akt einer existierenden Person.301
300
Abgesehen von den folgenden Stellen Husserls selbst vgl. dazu etwa
auch L. Landgrebes Aufsatz Die Bedeutung der Phänomenologie Husserls,
S. 217ff.
301
Dies hat S. Kierkegaard gegenüber dem Hegelianismus in seiner Un-
wissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (I, II, 4a,
S. 97—101) klar hervorgehoben.
240
mein reines Leben mit all seinen reinen Gemeintheiten, das Universum
der Phänomene im Sinn der Phänomenologie..."
In § 7 bestimmt dies Husserl noch näher. (Das Sein der Welt nicht mehr
als selbstverständliche Tatsache, sondern nur noch als
"Geltungsphänomen".)
302
Diese Hervorhebung nicht im Original.
241
Seinsgeltung, wie aller objektiv apperzipierten Tatsachen, so auch
derjenigen der inneren Erfahrung."
"als dem transzendentalen Ich, dem erst mit der
transzendentalphänomenologischen epoché hervortretenden ..., als
reduziertes Ich" (S 11).
242
2. Es ist eine (sehr künstliche und wie später klarwird, in mancher
Hinsicht widersinnige) Abstraktion, die ausschließlich als Objekt für
ein abstrahierendes, einklammerndes, real existierendes Subjekt
existiert; dieses "Ich als Phänomen" ist also nicht das erkennende
Subjekt, sondern nur das Objekt dieses erkennenden Subjekts.
3. Es besitzt kein bewußtes, personales Sein, nicht einmal eine ideale
Existenz, sondern ist das in seiner Existenz eingeklammerte reine
Sosein eines konkreten Ich.
4. Es kann deshalb keinen einzigen Akt vollziehen, weder
philosophieren, noch sonst etwas tun, sondern nur analysiert werden.
5. Es setzt nicht nur zu seiner Erkenntnis und "quasi-Existenz" als (von
der Existenz) abstrakter Erkenntnisgegenstand das real-existierende
Subjekt voraus, dessen Objekt es ist, sondern es enthält auch in sich
eine andere notwendige Beziehung auf ein real-existierendes Ich, auf
"das Endchen der wirklichen Welt", auf die "substantia cogitans",
insoferne es "dessen" mögliches Sosein ist, also die Möglichkeit der
Existenz einschließt (von der ja nur künstlich vom Philosophen
abgesehen wird), bzw. bei einem grundsätzlichen Absehen, ja Leugnen
der existierenden, seienden Welt, eine absurde Fiktion, ein Phantom
wird.
6. Wenn ich von diesem "reinen Ich" als Phänomen spreche und ihm
personale Eigenschaften zuschreibe (wie erkennen, vorstellen usw.),
dann kommen diese ihm ja nur zu, insofern ich es als Möglicher Weise)
so existierend, als real betrachte. Also: Nur wenn dieses Ich wirklich
existierte, hätte es irgendeine personale Eigenschaft, als
eingeklammertes, als bloßes "Phänomen" hat es keine solche.
7. Es ist zwar, wie Husserl immer wieder betont, konkret, solange nur
die Existenz eingeklammert ist, oder besser: es ist das — mögliche—
Sosein eines konkreten, personalen Ich. Es ist noch nicht die
allgemeine, notwendige Wesenheit. Damit kommen wir zu der dritten
Bedeutung des Begriffs transzendentales ego bei Husserl und müssen
dabei auch sehen, welchen eigentlichen Sinn die epoché, die
Einklammerung des Daseins, in der Philosophie zu spielen hat und wie
Husserl sie ganz äquivok gebraucht.
243
Während Husserl, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben,
zunächst das Ich in seiner ganzen Konkretheit beläßt und ausschließlich
die Existenz einklammert und alle übrigen Wissenschaften auf diesen
Boden stellen will, ja sogar die ganze Lebenseinstellung verändern
wollte in die eines "uninteressierten Zuschauers seiner selbst", was
besonders deutlich im erwähnten Vortrag Landgrebes in Salzburg
herauskam303 handelt es sich jetzt um den schon früher behandelten
klassischen Sinn der "Einklammerung", der in allen übrigen
Wissenschaften, die wesenhaft auf Realkonstatierung und Induktion
angewiesen sind, üb«haupt keinen Sinn hat, sondern nur in der
Philosophie, in der notwendige, intelligible Wesenheiten der Dinge
Gegenstand der Erkenntnis sind.
Durch das bloße "Einklammern der Existenz" erreiche ich in keiner
Weise die notwendige Wesenheit der Person, und dieses Absehen von
der konkreten Existenz des Seienden, von dem ich bei der
philosophischen Analyse ausgehe, gewinnt ausschließlich, wie Dietrich
von Hildebrand in entscheidender Weise gezeigt hat, einen Sinn, wo ff
sich um Data von so letzter innerer Notwendigkeit und Intelligibilität
handelt, die so auf eigenen Füßen und jenseits alles Zufälligen stehen,
daß auch ein geträumter Gegenstand als Erfahrungsgrundlage genügen
würde, um sich trotzdem über diese intelligiblen Data nicht zu
täuschen.304 Während ein Naturwissenschaftler jedes
Forschungsinteresse verliert, wenn sich herausstellt, daß der scheinbar
reale Gegenstand, von dem er ausging, nicht objektiv existierte,
sondern ein bloßer "Traumgegenstand" war, während dann auch seine
303
Vgl. dazu auch besonders L. Landerebe, Die Bedeutung der Phäno-
menologie Husserls, a. a. 0., S. 223.
304
Dies wurde schon S. 185 ff. ausführlicher behandelt. Hier sei nur noch
erwähnt, daß im Unterschied zu der vorigen Bedeutung von "transzenden-
talem ego" als in seiner Existenz eingeklammertem "Ich" als "Phänomen"
und im Gegensatz zu den sinnvollen, aber nicht notwendigen Soseins-
einheiten, die Husserl nicht von diesen unterscheidet, die notwendigen We-
senheiten eine schon vor jeder Abstraktion bestehende, echte
Allgemeinheit besitzen, die sich unserem Geiste als solche in ihrer
Notwendigkeit aufdrängt und keineswegs erst durch einen "Akt" der
Abstraktion erreicht wird. Vgl. dazu: What is philosophy? S. 129—131.
Dies hat auch Augustiaus in De Trinitate, IX, VI, 9—12, mit großer
Klarheit herausgearbeitet.
244
Ergebnisse zusammenbrechen und bloß "geträumt" sind, erschließt sich
mir der Gegenstand der Philosophie in seiner Wesensnotwendigkeit
und Allgemeingültigkeit in einer solchen Weise, daß, selbst wenn der
konkrete Ausgangspunkt nicht real sein sollte, der intelligible
Gegenstand der philosophischen Erkenntnis davon unberührt bleibt;305
wenn mir am Verhalten eines Menschen plötzlich das Wesen der
Wahrhaftigkeit oder der Ehrlichkeit aufgeht und nachträglich stellt sich
heraus, daß er gar nicht wirklich wahrhaftig war, sondern heuchelte,
dann ändert dies nichts an dem mir an ihm aufleuchtenden Wesen der
Wahrhaftigkeit und seiner allen Täuschungsmöglichkeiten enthobenen
objektiven Gültigkeit. Dies hängt damit zusammen, daß philosophische
Erkenntnis Einsicht in intelligible, notwendige Zusammenhänge und
nicht Feststellen von bloßen Fakten ist.
Während bei Husserls unter B ausgeführter universaler epoché nur ein
Gegenstand reiner Deskription vorliegt, der überdies alles Interesse
verliert, wenn diese Deskription sich nicht auf tatsächlich Existierendes
richtet, tritt nur bei dem Gegenstand philosophischer Erkenntnis, bei
dem eidos der Dinge, das zu klassisch ist, um jemals erfunden sein zu
können, der eigentliche Sinn dieses Absehens von konkreter Existenz
klar hervor. Also hier handelt es sich in keiner Weise um das Ich und
die Welt in aller Konkretheit mit eingeklammerter Existenz als ein
Geltungsphänomen, um eine "phantomhafte" Welt, sondern um die
intelligible Wesenheit, die nicht Gegenstand der anderen
Wissenschaften, sondern Gegenstand der Philosophie ist. Husserl
spricht auch von dieser Einsicht (wenn auch in einem sehr mit
Irrtümern verbundenen Sinn), wenn er von der "eidetischen Intuition"
als zweiter phänomenologischer Methode neben der epoché spricht.
Dies tritt ganz klar in § 34 hervor, wo also auf einmal die apriorischen,
wesensnotwendigen Zusammenhänge, der klassische Gegenstand der
Philosophie seit Platon und Aristoteles, an die Stelle des phantomhaften
"Phänomens" des Ich und der Welt treten.
Um das Wesen dieser ganz anderen, klassischen Gegebenheit zu
erforschen, die Husserl mitunter mit transzendentalem ego meint,
wenden wir uns wieder den Aussagen zu, die wir über diese Wesenheit
der Person im Unterschied zum bloßen Gegenstand einer "Deskription"
machen können.
245
1. Während jene in der Existenz eingeklammerte konkrete Person eine
reine Abstraktion ist, die ihre ganze "Existenz" dem Akt des Subjekts
verdankt, dem es beliebt, von aller konkreten Existenz abzusehen,
besitzt die intelligible Wesenheit der Person eine "ideale Existenz".
2. Sie besitzt einen in sich notwendigen, intelligiblen Charakter,
während das bloße Absehen von der Existenz in keiner Weise dazu
führt, sondern dabei alle Zufälligkeit, alles Andersseinkönnen bestehen
bleibt, das dem Menschen in all den Aspekten eignet, die die
Naturwissenschaften erforschen, wo es sich um von außen kommende
Realkonstatierungen handelt; auch allen sinnvollen, aber doch nicht
intelligiblen Verbindungen von "Elementen", wie wir sie bei Pflanzen,
Tieren, Kunstwerken, in der Natur finden, haftet diese Zufälligkeit 306
an. Die notwendige Wesenheit hat hingegen keinerlei
Erfindungscharakter, ist auch nicht einmal eine Erfindung Gottes; sie
ist auch niemals von einem (Kontingenten) ego konstituiert, ist in sich.
3. Sie selbst hat im Unterschied zu A keinerlei personale Eigenschaften,
sondern ist die ideal existierende, intelligible Wesenheit personalen
Seins.
4. Dennoch — und auch das läßt Husserl mit seiner "totalen epoché" in
geradezu widersinniger Weise weg — besteht eine Urbeziehung
zwischen intelligiblem Sosein der Person und konkreten Personen.
Denn alle Wesenseigenschaften der Person, das heißt, alle
Eigenschaften, die ich in der "eidetischen Intuition" als wesenhaft der
Person eigen erfasse, wie freier Wille, Bewußtsein, ihre verschiedenen
Akte usw. — all dies sind ja Eigenschaften, die nicht die "Wesenheit
der Person" selbst, sondern ausschließlich konkrete, existierende
Personen besitzen. Wenn ich etwa über das Wesen sittlicher Schuld
nachdenke, erfasse ich ja doch, daß nicht dieses "allgemeine" Wesen,
sondern nur eine individuelle, existierende Person schuldig sein kann.
Ich schaue gleichsam "durch die allgemeine, notwendige Wesenheit
der Person" viel tiefer auf das, was die konkret existierende Person an
Eigenschaften besitzt, was sie ist. Eine reine Wesensforschung, bei
nicht nur systematischer methodischer Einklammerung der Existenz,
um die notwendige, intelligible Wesenheit zu erforschen, sondern bei
306
Zufällig heißt hier einfach "kontingent" bzw. nicht wesensnotwendig
und hat nichts mit Zufall im engeren Sinn und dem Fehlen eines aus-
drücklich gewollten Sinnes zu tun.
246
Ausklammerung, ja völliger Leugnung allen Interesses an der Existenz
von etwas, ist ein Unding, eine Phantomphilosophie. 307
D. Das transzendentale ego als Ursprung allen Sinnes und aller Geltung
— Transzendentalphilosophie als Gegenteil der
Transzendenzphilosophie
307
Vgl. S.290 ff. dieses Kapitels.
308
Der Begriff "phänomenologische Reduktion" hat also, wie nod1 klarer
werden wird, bei Husserl drei Wesentlich verschiedene Bedeutungen, was
zu einer ähnlichen Verwirrung führt, wie die Äquivokation im Begriff des
"transzendentalen ego":
1. Epoché als das Inhibieren der Existenz der Welt und des Ich, wodurch
das künstliche Gebilde (B) der Welt und des Ich in all ihrer Konkretion als
reines "Phänomen" entsteht.
2. Die Epoché als das berechtigte und klassische Absehen von der kon-
kreten Existenz des Seienden, an dem uns das notwendige, intelligible
Wesen der Person, der Sittlichkeit, der Erkenntnis aufgeht, wobei dieses
Wesen selbst jedoch eine notwendige Beziehung auf das real und konkret
Existierende hat, das ihm entspricht, "dessen" Wesen es ist.
3. Epoché als das radikale Ausklammern der konkret existierenden Welt
als Gegensatz zu jedem Behaupten der realen Existenz des "Ich" und der
"Welt". (Vgl. dazu S. 255 ff. dieses Kapitels.)
247
quasischöpferisches,309a ja quasi-göttliches Sein.309 Dies beginnt schon
im § 8:
"Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchem
cogito bewußt seiende und mir geltende. Ihren ganzen, ihren
universalen, und spezialen Sinn und ihre Seinsgehung hat sie
ausschließlich aus solchen cogitationes... ich kann in keine andere Welt
hineinleben... als die in mir und aus mir selbst Sinn und Geltung hat."
309a
Zur Berechtigung des Ausdrucks "quasi-schöpferisch" vgl. S. 130
(Anm. 164) dieser Arbeit und J. Seifert, Kritik am Relativismus und
Immanentismus in E. Husserls "Cartesianischen Meditationen", in:
Salzburger Jb. f. Philos XIV/1970, 101 ff., wo der Begriff der passiven
Synthesis bei Husserl im Verhältnis zum Begriff "Schöpfung" behandelt
wird.
309
In dieser neuen Bedeutung von "transzendentalem ego" spricht Husserl
von diesem schon in den Ideen... als "absolutes Sein", als Sein, "quae nulla
re indiget ad existendum", wobei mit nulla re nicht nur jedes geschaffene
Seiende gemeint ist, wie bei Descartes, sondern offenbar jedes Sein
überhaupt. R Ingarden hat in Über den transzendentalen Idealismus bei E.
Husserl, a. a. O., s. 199—204, auf die vielfache Doppeldeutigkeit hinge-
wiesen, die dem Husserlschen Begriff des "absoluten Seins" zugrunde
liegt.
248
unserem bewußten Dialog mit der Welt, in dem wir offenbar nicht den
Sinn der "Worte" geben, die wir empfangen und vernehmen, sondern
es widerstreitet auch der Wahrheit, da dieser Dialog nicht nur ein
psychologischer Aspekt, sondern eine letzte metaphysische Realität ist.
Hier wird die Rezeptivität des Subjekts ganz stillschweigend als bloßer
Aspekt gedeutet, ohne die ungeheuerliche Wendung zu sehen, die das
einschließt und die Kant wenigstens noch als solche (kopernikanische)
bis zu einem gewissen Grade erkannt hat.
"So geht also in der Tat dem natürlichen Sein der Welt... voran als an
sich frischeres Sein das des reinen ego und seiner cogitationes. Der
natürliche Seinsboden ist in seiner Seinsgeltung sekundär, er setzt
beständig den transzendentalen voraus...". (§ 8). "Für mich, das
meditierende Ich, das, in der epoché stehend und verbleibend, sich
ausschließlich als Geltungsgrund aller objektiven Geltungen und
Gründe setzt, gibt es also kein psychologisches Ich, keine psychischen
Phänomene ... als Bestandstücke psycho-physischer Menschen... Die
objektive Welt, die für mich ist, die für mich je war und sein wird, je
sein kann mit allen ihren Objekten, schöpft, sagte ich, ihren ganzen
Sinn und ihre Seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst,
aus mir als dem transzendentalen ich..." (§ 11).
Die Einsichtigkeit des Sachverhalts, daß nur das Subjekt durch seine
Akte zu der objektiven Welt Zugang haben kann, das Geheimnis jeder
Person, daß in ihr gleichsam eine neue Welt liegt, daß, indem diese sich
ihr erschließt, die ganze Welt gleichsam ein neues, unersetzliches Mal
bewußt ergriffen und erfaßt wird — diese Wahrheiten werden
stillschweigend mit einer nicht nur uneinsichtigen, sondern sogar
einsichtiger Weise falschen These identifiziert: daß diese gesamte
Wirklichkeit durch meine Akte begründet werde, aus mir Sinn und
Geltung habe. Dies führt zu einem radikalen Immanentismus trotz
249
allem "Gerede" von Transzendenz, und hier berühren wir etwas, was
auch für Heideggers Philosophie gilt:
Hier sehen wir also, was transzendental nun bei Husserl eigentlich
bedeutet. Ebenso sehen wir, wie hier bei aller Betonung der
"Transzendenz" der Welt der äußerste denkbare Immanentismus
vorliegt. Gerade da die dem Subjekt transzendente, objektive
Wirklichkeit, der objektive Sinn, die objektiven Werte geleugnet
werden, an denen das Subjekt teilhaben könnte, wird die Quelle dieses
Sinnes vom Sein selbst in das Subjekt verlegt, das durch seine Natur
gleichsam alle "transzendente Welt" begründet. Und diese Tätigkeit,
diese quasigöttliche, schöpferische Tätigkeit, die vollkommen allem
unmittelbar Gegebenen widerstreitet (siehe die oben behandelte
Verwechslung) begründet allen "scheinbar" jenseits des Subjekts
liegenden "immanent-transzendenten" Sinn. Insofern also mein ego
angeblich allen transzendenten Sinn gibt, heißt es transzendental.
Dieses Sinngeben geht weit über alles Schaffen hinaus, dem ja
zumindest die Sinnprinzipien des Schaffens und des Geschaffenen
absolut vorgegeben sind. Die Husserlsche Konstitution bringt auch
diese noch hervor und ist noch "schöpferischer" als alles Schaffen. Also
ist die Transzendentalphilosophie der genaue Gegensatz zu der
Transzendenzphilosophie
und betrifft ein Unding, bringt schon als Begriff einen Irrtum zum
Ausdruck.
Wenn ich als Kontingente Person etwas als bloßes "Objekt für mich"
"setze", so bleibe ich in einem vollkommenen Immanentismus
eingeschlossen und das von mir "Gesetzte" verbleibt als bloßer
250
Bewußtseinsgegenstand ohne transzendente Realität. 310 Wenn Gott
hingegen etwas schafft, so verleiht er diesem Seienden ein von dem
"Objektsein für Gottes Geist" unabhängiges Sein. Er verleiht ihm volle
autonome Realität. Dies darf allerdings nur so verstanden werden, daß
der Mensd1 nicht bloß ein Objekt für Gottes Erkennen, sondern eine
substantielle, freie Person ist, die von ihm verschieden ist und niemals
so, daß der Mensch durch sich selbst "autonom" bestehen, werden oder
sein könnte. Wenn ich allerdings nicht begreife, daß Gott, ich und
andere Personen nicht ein selbes "Ich" besitzen können, dann verstehe
ich solche Wesenswidersprüche nicht. Aber dies ist absolut evident.
Mit anderen Worten: Ganz gleichgültig, ob ich wäre oder nicht, wären
die anderen Personen und Gott. Ferner sind alle anderen Personen und
ich selbst Kontingent, Gott allein ist absolut. All diese
Unterscheidungen, die hier nur angedeutet werden können, und viele
andere werden aber selbst von dem so besonders für Unterscheidungen
und exakte philosophische Herausarbeitung der Dinge angelegten
Husserl einfach umgangen.
Indem Husserl die eigentliche Rezeptivität des Erkennens in dem früher
bestimmten Sinn leugnet, gibt er auch dem Begriff intentional den Sinn
von "spontan". Er behauptet also, aller rezeptiven intentionalen
Tätigkeit des Subjekts liege letztlich eine spontane zugrunde. (Vgl. §
14 und auch § 20.) Damit wird weiter sogar das Widersinnige
behauptet, daß alle Sinnfülle und alle Wesenheiten vom
transzendentalen ego konstituiert würden, also nicht objektive, in sich
notwendige Sinneinheiten darstellen, sondern eine vom Subjekt
ausgehende Synthesis seien — ein "Zusammendenken" gleichsam.311
310
Innerhalb meiner Ichheit". Denken wir nur an das dritte Grundprinzip
des Fichteschen Systems. Vgl. dazu die Ausführungen über das "Ding an
sich" in den beiden vorigen Kapiteln.
311
Trotz gewisser Versuche bei Husserl, diesen "Anthropologismus" und
aprioristischen Konstruktivismus zu überwinden, ist dies von Husserls
Ansatz der "Konstitution" der Welt durch ein transzendentales ego her
unmöglich, was im folgenden Abschnitt noch deutlicher wird.
Vollkommen zu Recht bestehen daher folgende Bedenken, die R. Ingarden
zu den Cartesianischen Meditationen (a. a. O., S. 219) geäußert hat:
"Ich könnte nicht sagen, daß die echten idealen Gegenstände: die Ideen, die
idealen Begriffe und die Wesenheiten, 'Produkte', 'intentionale Gebilde'
sind, die in subjektiven Operationen geschaffen werden. Und dies nicht nur
251
E. Das transzendentale egoals Gegensatz zur real existierenden Person
aus dem Grunde, weil mir meine Intuition diese Gegenständlichkeiten als
unschaffbar, unentstehbar zeigt, sondern auch aus dem wissenschaftstheo-
retischen Grunde, daß dann die Idee einer eidetischen Wissenschaft, sich
entweder widersinnig zeigt oder sich in die Idee: 'Schöpfung besonderer
Art' verwandelt..." Besonders dem als erstes erhobenen Bedenken
Ingardens muß voll und ganz zugestimmt werden, wenn man die Stellen
aus den Cartesianischen Meditationen (§ 38 ff.) betrachtet, auf die er sich
dabei bezieht: Husserl unterscheidet dort zwischen einer "aktiven und einer
passiven Genesis" und sagt dazu: "In der ersten fungiert das Ich als durch
spezifische Ichakte, als erzeugendes, konstituierendes"... er spricht weiter
von "Vernunfterzeugnissen, die insgesamt den Charakter der Irrealität
haben (der idealen Gegenstände)". (§ 38) R. Ingarden weist auch an der
erwähnten Stelle auf den inneren Widerspruch hin, in den jede Auffassung
des Erkennens als Erzeugen von etwas führt und der zu Anfang des zweiten
Kapitels (II. Teil) der vorliegenden Arbeit behandelt wurde.
Noch in mancher Hinsicht ausführlicher bringt Ingarden dieselben Argu-
mente in Über den transzendentalen Idealismus bei E. Husserl (a. a. O., S.
192, 193, 195 ff.) vor. Dabei gilt, wie schon aus den zitierten Stellen
hervorgeht, die Husserlsche Auffassung des Hervorbringens und Konsti-
tuierens der Welt im Bewußtsein ebenso für die passive Arie für die aktive
Genesis, eben "für allen Sinn". Husserl spricht von der "Konstitution durch
passive Genesis" (§ 38, S. 112).
Wenn Husserl das "reine ego" nicht als das göttliche, absolute Sein selbst
faßt, in dem dann die notwendigen Wesenheiten gegründet (allerdings
nicht von ihm geschaffen, erzeugt etc.) wären, ist ein anthropologistischer
Relativismus, wie Husserl selbst ihn in den Logischen Untersuchungen be-
stimmt und als widersinnig widerlegt hat, die unausweichliche Folge.
Daran wird auch nichts durch den von Husserl als gänzlich in seinem
Geiste approbierten Versuch E. Finks geändert, der versucht, einen
wesentlichen Unterschied zwischen der Husserlschen "Konstitutionsidee"
und der kritizistischen herauszuarbeiten. (Vgl. bes.: E. Husserl in der
gegenwärtigen Kritik, a. a. O., S. 145 ff.). Denn diese bleiben im
wesentlichen doch gleich, wie die erwähnten Stellen zeigen. Vor allem aber
führt die Husserlsche Idee des "transzendentalen ego" als "absolutes
Alleben", die gleich besprochen werden soll, außer zu den bisherigen
Äquivokationen und Irrtümern noch zu anderen inneren Widersprüchen,
die Husserls "transzendentalen Idealismus" als innerlich unhaltbar
erweisen werden.
252
F. Der transzendentale Idealismus und die transzendentale
Intersubjektivität
Wenn wir uns die Frage stellen: Was ist dieses transzendentale ego in
dem zuletzt erwähnten Sinn, was entspricht ihm als Wirklichkeit?,
so müssen wir sagen: nichts. Es ist eine phantastische Erfindung.
Erstens gibt es keine Wirklichkeit, welche Ideen, notwendige
Wesenheiten usw. konstituiert bzw. schafft.. Einzig in Gott, der damit
aber wesenhaft selbst ewig ist, sind alle Wesenheiten in einem ganz
anderen geheimnisvollen Sinn "begründet". Also werden hier dem
transzendentalen ego, der Kontingenten, begrenzten Person
quasigöttliche Prädikate zugeschrieben. Anderseits ist diese
Wirklichkeit nach Husserl überhaupt keine Person, überhaupt kein
individuelles Ich mehr, aber auch nicht eine Wesenheit. Gott, ideales
Sein, andere Personen und "ich" sind hier in einer phantastisch
unheimlichen Weise miteinander verwirrt.
Nachdem Husserl (§ 40) noch einmal ausgeführt hat, daß alles "Sein
und alle Wahrheit ganz und gar in mir verläuft", aller Sinn und alle
Werte von meinen cogitationes konstituiert würden, stellt er die
cartesianische Frage:
In § 41 löst Husserl die ganze Frage mit einer Sophistik, die schon
bedenklid1 an Heidegger erinnert, mit dem "Außer-Mir", das ich immer
schon als natürlicher Mensch habe (das berühmte "In-der-Welt-Sein"
Heideggers ist also ein Husserlscher Gedanke); er bezeichnet einfade
das cartesianische Problem als einen Widersinn, ohne richtige Gründe
dafür angeben zu können. Dann aber verkündet er seinen
Immanentismus noch klarer:
253
"Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich
konstituierender Seinscharakter. Jeder erdenkliche Sinn, jedes
erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den
Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein
konstituierenden."
"Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das
außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher
Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig
gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist
auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen Konkretion der
transzendentalen Subjektivität." (§ 41)
Wenn wir uns fragen, was Husserl denn mit Bewußtsein meine,
außerhalb dessen es kein Sein geben soll, so stoßen wir auch auf eine
weitere, von den bisher behandelten ganz verschiedene
Doppeldeutigkeit. Husserl meint mit diesem Begriff nicht nur ohne
klare Unterscheidung einmal die reale Person, dann die in ihrer
Existenz eingeklammerte als "Ich-Phänomen", dann die intelligible
Wesenheit, dann eine quasi-göttliche Fähigkeit des Menschen —
sondern die Rede von "dem Bewußtsein" verschleiert auch noch die
Tatsache, daß es Verschiedene bewußte Seiende gibt und nicht ein
Bewußtsein.
Gehen wir auf die Aussagen Husserls zurück, in denen er unter dem
transzendentalen Ich das bewußte Sein selbst meint (A), die einzige
Wirklichkeit, die adäquat mit dem Ausdruck "Bewußtsein" bezeichnet
wird, so taucht die entscheidende Frage auf: Welches Bewußtsein meint
Husserl hier? — Ist mein, des Philosophierenden Ich, Bewußt sein
gemeint, ist das Bewußtsein einer anderen Person gemeint, oder ist gar
das bewußte Sein des absoluten Seins, Gottes, gemeint?
Nun ist es aber unmöglich, wenn man verschiedene bewußte Seiende
erkennt, von einem oder von dem Bewußtsein zu sprechen, jenseits
dessen es nichts geben könne. Denn wenn es nicht nur ein einziges,
sondern mehrere bewußte Seiende gilt, so ist es eine wesensnotwendige
und intelligible Tatsache, daß eine Person (ein bewußtes Seiendes) der
anderen transzendent sein muß. Um ein anderes bewußtes Sein
254
erkennen zu können, muß ich notwendig etwas erkennen können, was
ich nicht bin und was nicht nur aus meinen Akten seine Gültigkeit und
sein Sein erhält.
Diese notwendige, ewige Wahrheit wird nur durch das Sophisma
Husserls — und aller idealistischen Philosophie — verschleiert, daß
man mit demselben Begriff "Ich", "Subjekt", "ego", "transzendentale
Subjektivität" usw. bald mich und bald andere Personen — oder gar
Gott — meint. Es ist dann jedoch ein glatter Widerspruch zu behaupten,
es gäbe keine Möglichkeit, ein transzendentes Sein als solches zu
erkennen, was nicht durch das Bewußtsein konstituiert sei, und
anderseits den notwendig aus einer solchen Position sich ergeben den
Solipsismus abzulehnen. Scheinbare Plausibilität erreicht dieses
Sophisma dadurch, daß man nicht von mir und anderen Personen
spricht, sondern "vom Bewußtsein", das sich schließlich als
"lntersubjektivität erfährt". Man verdeckt damit die Wahrheit, daß
nämlich in dem Augenblick, da ein Bewußtsein (= bewußtes Sein) von
anderen bewußten Seienden Bewußtsein besitzt und diese real
existieren, sie dem ersten absolut transzendent und keineswegs bloß
von ihm konstituiert sein können.
Diesem Widerspruch entgeht man noch weniger, wenn man das
"Bewußtsein" als das "Wesen eines jedes bewußten Seins" auffaßt,
denn gerade dann gehört — im Augenblick, in dem man verschiedene
bewußte Seiende anerkennt — wesensnotwendig zum Bewußtsein in
Gemeinschaft ein transzendentes Erkennen, um die Realität einer
andern Person erkennen zu können.
Im Augenblick nämlich, in dem man behauptet, jenseits des
Bewußtseins gäbe es kein Sein und alles Sein, alle Transzendenz sei in
dem Sinn immanent, als sie "ihren ganzen, ihren universalen und
spezialen Sinn und ihre Seinsgeltung ausschließlich in solchen
cogitationes hat" (§ 8), führt eine solche Position notwendig in den
Solipsismus. Im Augenblick, in dem man sagt: "Transzendenz in jeder
Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender
Seinscharakter" (S 41), leugnet man die Transzendenz im
metaphysischen Sinne, in dem sie in diesem Teil behandelt wird und
kann nur mehr ein Bewußtsein (das "Ich") anerkennen und niemals
mehr andere reale Personen, die ja noch viel mehr meinem Bewußtsein
transzendent sind als irgendein materieller Gegenstand.
Dieser Solipsismus wird auch von Husserl als Folge seiner Position
gesehen und schließlich keineswegs wirklich überwunden.
255
"Aber wie steht es dann mit den anderen ego's, die doch nicht bloße
Vorstellung und Vorgestelltes in mir sind, synthetische Einheit
möglicher Bewährung in mir, sondern sinngemäß eben Andere. Haben
wir also dem transzendentalen Realismus" (damit ist Descartes'
Philosophie gemeint) "nicht Unrecht getan? Es mag ihm an
phänomenologischer Grundlegung fehlen, aber im Prinzipiellen behält
er Recht, insofern als er einen Weg von der Immanenz des ego zur
Transzendenz des Andern sucht." (§ 42)
Husserl gibt hier also mehr oder minder klar zu, daß der andere
wesenhaft nicht nur in einer "immanenten", sondern einer wirklichen
Transzendenz, nicht bloß als in mir konstituiert und aus meinen
cogitationes allen Sinn und Seinsgeltung schöpfend, zumindest zu
existieren "scheint". Husserl gibt auch zu, daß es unmöglich scheint,
aus seiner Position den Solipsismus zu vermeiden:
,,Unwillkürlich halte ich mich, das ego, für einen solus ipse, und halte
alle konstitutiven Bestände, schon nachdem ich ein erstes Verständnis
gewonnen habe, für konstitutive Leistungen, immer nod1 für bloß
eigene Gehalte dieses eigenen ego. (§ 62)
312
Vgl. Sein und Zeit, §§ 12, 13, 18 B—21; 26, 27; 43, 44.
256
Ohne mich hier auf eine ausführliche Auslegung fieser Stelle einlassen
zu können, sei nur bemerkt, daß fiese "anderen", mit denen ich eine
gemeinsame Welt habe, dennoch bloß "in mir, dem transzendentalen
ego, konstituiert" bleiben. Das aber heiße nichts anderes als die
offenkundige Wahrheit, daß ich in einer Welt mit anderen Personen zu
leben scheine, daß das "phänomenale Bild der Welt", das
"In-der-Welt-Sein" sich so gibt. Aber — und das ist die
allentscheidende Frage — ist es wirklich so? Sind diese anderen
Personen voll real und das heiße nichts anderes, als wirklich meinem
Sein transzendent, unabhängig von meinen Akten, in sich real, genauso
wie mein Sein nicht bloß "als Objekt ihrer cogitationes" sein kann?
Wenn andere historische Personen real sind, müssen sie ja schon vor
mir existiere haben, wie ein Sokrates oder Augustinus, und nicht nur
von Gnaden meiner cogitationes, "in denen mein Weltleben verläuft"
und darin ich sie denke. Wenn aber jetzt lebende Personen nicht
unabhängig von meinem Bewußtsein und seinen Akten und jenseits
ihrer existieren, so sind sie überhaupt nicht real.
Ohne eine solche in ihrem Wesen liegende Unabhängigkeit von
meinem Geist zu haben, sind sie überhaupt nicht, wie schon im ersten
und zweiten Kapitel dieses Teiles gezeigt wurde — auch wenn ich in
meiner Welterfahrung noch so konkret und eng mit ihnenzusammen zu
leben scheine. Denn dies wäre dann ein bloßer Schein in der
Husserlschen und Heideggerschen Welt mit ihrer "immanenten
Transzendenz". Vor allem in den Paragraphen vor § 60 und diesem
selbst versucht Husserl, durch doppeldeutige Analysen der
"Fremderfahrung", dieses "Phänomens", zu einer Intersubjektivitze zu
gelangen. Aber diese sogenannte "Intersubjektivität" hat nichts mit
einer wirklichen Oberwindung des Solipsismus zu tun, es ist in keiner
Weise der Durchbruch zu realen, anderen Personen, mit denen ich in
Gemeinschaft lebe und die meinem Bewußtsein transzendent sind. Es
sind nicht andere Ichs mit der Wesenhaft jedem bewußten, personalen
Sein eigenen unersetzlichen, unvermischbaren Individualität, es sind
keine anderen lebendigen, sehenden Subjekte. Nein! Diese "anderen"
sind wieder nur Phänomene, sie gehören zu meiner "Umwelt" (§ 60),
ich bin ein "Mitmensch" (S 60), insofern ich sie phänomenal als
"andere" habe — aber sie sind nicht wirklich, objektiv, unabhängig von
meinem Bewußtsein! Dies drücke sich gerade an der Stelle aus, in der
Husserl den Solipsismus überwunden zu haben behauptet:
257
"Der Schein des Solipsismus ist aufgelöst, obschon der Satz die
fundamentale Geltung behält, daß alles, was für mich ist, seinen
Seinssinn ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre
schöpfen kann." (§ 62. vgl. ff.)
Damit sind sie eben gerade nicht andere: "aus mir selbst, ausschließlich
aus meiner Bewußtseinssphäre ihren Seinssinn schöpfend"; haben sie
bloß die schwache "Existenz" jener "Phänomene", die wir Seite 240 ff.
ausgeführt haben. Damit aber ist Husserl, der in den Logischen
Untersuchungen den Psychologismus und Anthropologismus so
großartig widerlege hat, selbst in einen noch radikaler im eigenen
Bewußtseinsleben steckenbleibenden Immanentismus geraten.
Dagegen ist der Psychologismus noch harmlos, da er erstens nicht so
prinzipiell jedes transzendente Sein leugnet, auf dieses vielmehr (wie
etwa Berkeley) wieder zurückschließt, und zweitens nicht jede Existenz
so radikal ausschaltet wie Husserl.
Und damit kommen wir auf den widersinnigsten Punkt zurück, daß ja
nach Husserl mein transzendentales ego, das reine ego, nicht ein
existierendes, lebendiges Subjekt sein soll, sondern ein in seiner
Existenz eingeklammertes "Etwas" (vgl. S. 240 ff.). Und zwar soll ich
nicht nur in methodischer Einklammerung von der Existenz zwecks
Wesensforschung absehen (was, wie erwähnt, bei den intelligiblen,
notwendigen Wesenheiten, dem Gegenstand philosophischer
Forschung, sinnvoll ist), sondern auch zum methodischen Zweifel als
dem Infragestellen der Existenz übergehen, um zu absolut gewissem
Sein zu gelangen. Dabei klammert aber Husserl nicht (wie Descartes)
nur die Existenz der Außenwelt ein, um dann zu sehen, daß mir die
eigene Existenz unbezweifelbar gewiß gegeben ist, sondern ohne
Grund klammert Husserl auch die eigene Existenz ein, wobei er die
entscheidende Einsicht Descartes' verkennt, daß zwar die Welt mir
prinzipiell bloß "erscheinen" könnte, damit aber die Realität des
existierenden Subjekts und seines Täuschungsaktes unangetastet wäre.
Husserl dehnt also grundlos, ja widersinniger Weise diesen
methodischen Zweifel auf das ego aus und damit ist sein
transzendentale ego kein reales Subjekt. Endlich aber, und das ist das
258
Absurdeste, sieht er nicht nur von der Existenz ab, er klammert sie nicht
nur ein, sondern klammert sie radikal aus, er streicht sie aus, er erhebt
die Epoché zu einer metaphysischen These und erklärt eine
Philosophie, die jemals wieder eine reale Existenz des ego oder der
Welt erreichen will, den "transzendentalen Realismus", wie er eine
solche Philosophie nennt, für "einen Widersinn" (§ 42). Er versetzt uns
in eine "gespenstische Welt" ohne jede reale Existenz. Er nennt am
Abschluß der Cartesianischen Meditationen alle Wissenschaft und
Philosophie, die den "Seinsglauben" nicht aufgegeben hat, eine
"Wissenschaft in der Weltverlorenheit" und setzt dann hinzu:
"Man muß die Welt erst durch die epoché verlieren, um sie in
universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen. Noli foras ire, sagt
Augustin, in te redi, in interiore homine habitat veritas."
Augustinus sagt, ich muß mich in mich selbst sammeln und dann
transzendieren, um zur Wahrheit, zu anderen Personen, zu Gott zu
gelangen. Vor allem aber bin zunächst auch ich selbst als lebendige,
existierende Person das Unbezweifelbar Wirkliche, das sich gegenüber
allem "fallor" erweist. Wenn ich diese Existenz aber leugne, dann ist ja
auch das transzendentale ego ein "Phänomen" mit eingeklammerter
Existenz, und dann bedürfte es, wie wir gesehen, ja selbst wieder eines
lebendigen, realen Subjekts, für das allein es Phänomen sein könnte.
Wenn Husserl aber von der "absoluten einzigen Konkretion der
transzendentalen Subjektivität" als dem "alles tragenden Sein" (§ 41
und 64) spricht, dann scheint er wieder an eine Art Allgeist zu denken,
der in allen Individuen wirkt und sie trägt und in dem sie geeint sind.
313
De vera religione, XXXIV.
259
Jedenfalls spricht er einer als Geistsubstanz aufgefaßten
"lntersubjektivität" geradezu göttliche Prädikate zu:
Vor solchen Widersprüchen können wir nur mit Erstaunen stehen und
uns fragen, wie ein Mann, der die Logischen Untersuchungen schreiben
konnte, zu einer derartigen Philosophie kommen konnte, in der alle
notwendigen, intelligiblen Wesenszusammenhänge zwischen der
einzelnen, bewußten Person, anderen und Gott geleugnet werden. 314
Eine solche Philosophie kann nicht verstanden werden, denn sie setzt
sich über die Quelle aller Verstehbarkeit hinweg, die intelligiblen
Wesensnotwendigkeiten:
daß jedes bewußte Sein real existieren und individuell sein muß, daß es
nie mit einer andern Person in eine Fusion zusammenfließen kann, daß
jede andere bewußte Seiende mir transzendent ist, daß es unabhängig
von mir existieren muß, um überhaupt real zu sein, daß das Erkennen
keine schöpferische Tätigkeit ist, sondern eine rezeptive, der nicht
wieder eine spontane (konstituierende) zugrunde liegen kann, daß die
notwendigen Wesenheiten dem Bewußtsein absolut transzendent und
unveränderlich sind, daß wir selbst kontingent und veränderlich sind,
daß nicht nur andere Menschen, sondern erst recht Gott, das an sich
erste Sein, unserem Geiste transzendent ist und wir seine Existenz
einsehen können usw. usw. Wenn ein Philosoph sich aber systematisch
über diese intelligiblen und notwendigen, ewigen Wahrheiten
hinwegsetzt, dann wird er unverständlich, dunkel und verwirrend, was
man nicht mit Tiefe verwechseln darf. Denn die wahre Tiefe eines
Philosophen besteht darin, in möglichster Einfachheit und zugleich
Differenziertheit die notwendigen Wesensunterschiede und ewigen
Wahrheiten herauszuarbeiten und zu voller philosophischer
Bewußtheit zu bringen.
314
Die wirkliche Beziehung meines "ego" zu Gott würde eine neue Arbeit
über Gotteserkenntnis erfordern. Gerade in der Verwischung der dort zu
behandelnden Wesensunterschiede, des unendlichen Abstands Zwisten
dem göttlichen und meinem Sein, liegt aber die größte Verwirrung und der
tiefste Irrtum Husserls.
260
Wahrer Platonismus
"Die Philosophen sind diejenigen, welche das sich immer gleich und
auf dieselbe Weise Verhaltende fassen können; die aber dies nicht
können, sondern immer unter dem Vielen und mannigfach sich
Verhaltenden umherirren, sind nicht Philosophen."315
Als die wichtigste Eigenschaft der Philosophen führt Platon an, daß sie
nicht dem Veränderlichen überhaupt und besonders nicht den
schwankenden Zeitmoden und wechselnden Anschauungen
unterworfen sind, sondern "daß sie (die Philosophen) immer diejenigen
Erkenntnisse lieben, welche ihnen etwas offenbaren von jenem Sein,
welches immer ist und nicht durch das Entstehen und Vergehen unstet
gemacht wird''.316
Daß sie sich etwas in sich Notwendigem und ewig Gleichbleibendem
zuwendet, ist also für Platon das erste Grundmerkmal philosophischer
Erkenntnis; daß er sich den "Urbildern", den "Ideen" oder den
Wesenheiten der Dinge zuwendet und sie tiefer zu erfassen sucht,
scheint Platon ferner nicht nur ein Grundzug des Philosophen, sondern
darüber hinaus überhaupt jedes guten Menschen zu sein. Die
notwendigen Wesenheiten des Seienden und ihre Erkenntnis erscheint
Platon mit das Wichtigste im menschlichen Leben überhaupt."317
Die früher schon behandelte Frage, was diese notwendigen
Wesenheiten der Dinge sind und ob der Mensch dem zufälligen und
geschichtlichen Sein ausgeliefert ist oder dieses transzendieren und zu
ewig-gültigen Maßstäben dringen kann, ist eine der
allerentscheidendsten Fragen überhaupt.
315
Platon, Politeia, VI. Buch, 484b.
316
A. a. O., 485b.
317
Auch Reinach weist in Was Ist Phänomenologie, auf die Tatsache hin,
daß diese Wesenheiten zum Wichtigsten in der Philosophie und, wenn man
es bis zum Ende durchdenkt, zum Wichtigsten in der Welt überhaupt
gehören.
261
"Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten aber ist es,
was uns von den bloßen Tieren unterscheidet und in den Besitz der
Vernunft und Wissenschaft setzt, indem sie zur Erkenntnis unserer
selbst und Gottes erhebt. Eben dieses ist es, was man in uns als
vernünftige Seele oder Geist bezeichnet."318
318
Leibniz, Monadologie, 29.
319
Platon hat überdies, wie im ersten Kapitel dieser Arbeit erwähnt wurde,
die Erkenntnis im engeren Sinn von allem bloßen "Meinen" und jeder (auch
der "richtigen") "Doxa" unterschieden, welcher Unterschied ebenfalls bei
ihm mit åpist×mh im Unterschied zu péstiw (ìru× dìja) bezeichnet wird.
262
Denn sie geht nicht nur vom aktuellen Gegenwärtigsein stets in ein
Vergangensein und Nichtmehrsein über320, sondern könnte auch keinen
Augenblick existieren, ohne an unveränderlichen, ewigen Wesenheiten
"teilzuhaben". Platon unterschied nun nicht klar zwischen zwei
grundverschiedenen, notwendigen Beziehungen des wandelnden auf
ein ewiges Sein. Zunächst könnte das reale, vergängliche Sein
unmöglich ohne ein immer aktuelles, unwandelbares "ens realissimum"
sein, was näher zu erweisen den Gegenstand einer eigenen Arbeit über
philosophische Gotteserkenntnis bilden würde. Zweitens aber ist das
kontingente Seiende nur, indem es in seinem Wesen an etwas Ewigem
und Unvergänglichem "teilhat". Dies hat Platon vor allem im Auge,
wenn er sieht, daß das wandelbare, kontingente Seiende "aus Sein und
Nichtsein gemischt" ist. Könnte es doch keinen materiellen Körper
geben ohne den Raum und seine drei Dimensionen sowie die unendlich
vielen notwendigen Gesetze des Raumes! Könnte es doch überhaupt
nichts Seiendes geben ohne das im "Wesen des Seins" notwendig
gegründete, unveränderliche Gesetz vom Widerspruch, ohne das
Gesetz der Identität oder dasjenige vom ausgeschlossenen Dritten!
Könnte es doch die Person nicht geben ohne die zeitlosen, ewigen
Wesensgesetze nicht nur des Raumes und der Zeit, sondern aller
personalen Akte und des bewußten Seins der Person. Ohne diese
zeitlosen Wesensgesetze ist ja, wie schon gezeigt wurde, nicht einmal
ein einziger Zweifelsakt denkbar und überhaupt möglich. Das gesamte
geistige Leben des Menschen, die Sphäre der sittlichen Werte und
Forderungen sowie der rechtlichen Beziehungen, die Gemeinschaft,
das Erkennen, Wollen und Fühlen, die gesamte Wirklichkeit ist ohne
solche zeitlose Wesenheiten unmöglich und könnte unmöglich ohne sie
sein.
Erst in der Erkenntnis von Wesenszusammenhängen, die nicht
wechseln, nur in deren Erkenntnis und in der Beziehung zu
nicht-empirischen Wahrheiten und zu anderen Personen im Lichte
dieser ewigen
320
Dies gilt für alles kontingente reale Seiende überhaupt, tritt aber be-
sonders im Tode hervor: welches "Sein" hätte etwa das menschliche Leben
noch, wenn es mit dem Tode endgültig nicht mehr wäre, wenn das letzte
Wort dasjenige Orpheus' aus Glucks gleichnamiger Oper wäre: "Eurydike
ist nicht mehr!" Obwohl auch das vergangene Sein nicht einfach ein Nicht-
sein ist, kommt es doch ohne Beziehung auf Unsterblichkeit diesem nahe.
263
Wahrheiten321 — entfaltet sich ferner die Intelligenz, der Reichtum, der
metaphysische Ernst und die einzigartige Größe personalen Seins, über
sich selbst hinausschreiten zu können:
"Du fragst: warum wollen doch alle Seelen mit so großem Fleiß die
Gefilde der Wahrfecit sehen? — So höre: Dort auf jenen lichten
Flächen wächst die Weide des edelsten Teiles der Seele, und auf dieser
Wiese finden die Flügel, welche die Seele beschwingen, ihre
Nahrung... Auf dieser Bahn, da schaut die Seele ... nicht die
Wissenschaft, die stets am Gegenstände wechselt und mit dem, was wir
in der Zeit wirklich nennen, spielt; nein hier erkennt die Seele die
Wissenschaft vor dem, was wahrhaft und ewig da ist."322
321
Im höchsten, hier nicht mehr thematischen Sinn deshalb nur in der Be-
ziehung zum in
jeder Hinsicht absolut seienden Gott.
322
Platon, Phaidros, 247 d ff.
323
Eine Analyse der verschiedenen Seinsbegriffe würde eine eigene Arbeit
erfordern. Hier wollen wir nur die Bedeutungen hervorheben, die im Laufe
264
Wenn man von "Sein", vom "Sein selbst" im Unterschied zum
Seienden spricht, kann man damit den Gegenstand jenes Staunens
meinen, das Leibniz für den Anfang der Philosophie hielt: darüber,
"daß überhaupt etwas ist nicht vielmehr nichts". Mit "Sein" in diesem
ersten Sinn meinen wir daher das, was jedes Staubkorn, jede Zahl, jedes
Seiende überhaupt und Gott selbst besitzen. Das hier Gemeinte können
wir nur in dem dritten Grad aristotelischer Abstraktion erfassen: Es ist
das jenseits aller weiteren Bestimmungen liegende "Sein" selbst. Im
Gegensatz zu Hegel, der dieses allgemeine "Sein" auf Grund seiner Ast
völligen Unbestimmbarkeit mit dem Nichts identifizierte, muß betont
werden, daß es gerade den Gegensatz zum Nichts bedeutet, allerdings
nur jenen Gegensatz zum Nichtsein, den wir in überhaupt jeglichem
Seienden finden. In diesem "Sein" gründen ferner auch jene
Grundprinzipien (Identitätsprinzip, Kontradiktionsprinzip, Satz vom
ausgeschlossenen Dritten), die für alles Seiende eine grundlegende
Rolle spielen.
Wenn wir dieses "Sein" betrachten, sehen wir aber gleichzeitig, daß es
als solches gar nicht ist, sondern daß jegliches Seiende sich nicht
einfachhin aus dem Nichtsein hervorhebt, sondern dies auf eine
bestimmte Weise tut, daß jedes Seiende ein bestimmtes Sosein besitzt,
eine bestimmte Seinsart. Nicht das allgemeinste Sein, sondern eben
diese jeweils besondere "Seinsart" des materiellen, menschlichen,
idealen, oder an höchster Stelle des absoluten Seins, stellt den
eigentlichen Gegenstand der Metaphysik dar. Das "Sein" in diesem
zweiten Sinn ist also gerade nicht das allem Seienden Gemeinsame,
sondern das jeweils Besondere seiner Seinsart, seiner "Weise", sich aus
dem Nichtsein in die Welt des Seins zu erheben.
Wenn wir also das Sein des Seienden in diesem zweiten, vom ersten
ganz verschiedenen Sinne betrachten, leuchtet als eine grundlegende
Wahrheit auf, daß es drei grundsätzliche Richtungen bzw.
"Dimensionen" gilt, in denen Seiendes sich aus dem Nichtsein erheben
und "sein" kann. Diese drei Dimensionen stehen in vielfacher
Beziehung zueinander und müssen in Gott alle drei in vollkommenster
Weise bestehen, sie können aber auch getrennt von einander auftreten.
Zunächst kann etwas sich auf Grund seiner inneren Intelligibilität und
"Lichtfülle" aus dem Nichtsein herausheben. In diesem Sinne sind etwa
265
der Gegenstand der Mathematik, die idealen Raumgesetze oder die
Zahlen und ihre intelligiblen Zusammenhänge spezifisch aus dem
Chaotischen, Nichtseienden herausgehoben durch ihre innere
"Gestalthaftigkeit" etc. Alles, was ein notwendiges Wesen besitzt (und
je erfüllter und reicher dieses ist, desto mehr), hebt sich dergestalt aus
dem Nichtsein. Den Gegensatz dazu bildet das Chaotische, Dunkle,
Ungestaltete, Unintelligible.
Eine zweite, prinzipiell von der ersten unterschiedene Dimension des
Seins ist diejenige der Realität, bzw. der realen Existenz. In diesem
Sinn ist das substantielle Sein in besonderer Weise Urbild des Seins,
das konkret-individuell existierende Sein im Gegensatz zu allem bloß
abstrakten oder als bloßer Gegenstand eines "Bewußtseins von"
existierenden Sein. Einen Höhepunkt erreicht diese Dimension des
Seins in der Person, diesem "sich selbst besitzenden", erwachten, voll
real vollzogenen, individuell-existierenden Sein, gegenüber dem alles
übrige Seiende "schläft" und gleichsam "nicht ist", weil es sein Sein
nicht bewußt vollzieht.
Ein solches reales Seiendes, wie etwa ein Stein, kann aber viel weniger
intelligibel sein als etwa eine Zahl oder die ideale Wesenheit des
Kreises als Gegenstand der Mathematik. Es fällt diese Dimension des
Seins, nämlich die Realität, nicht notwendig mit der erst genannten
zusammen.
Eine dritte Grunddimension des Seins ist schließlich das in sich
Bedeutsame, der Wert. Ein Seiendes, das nicht nur einfach intelligibel
oder real ist, sondern auch sein soll, hebt sich in der zentralsten Weise
aus dem Nichtsein heraus. Am deutlichsten ist dies bei sittlich guten
Haltungen oder Handlungen, die gebieterisch gefordert sind, von denen
es nicht nur besser ist, wenn sie sind, als wenn sie nicht sind, sondern
die in "absolutem" kategorischem Sinn sein sollen, während ihr
Gegenteil, etwa böse Handlungen, nicht sein sollen. Der Wert ist das
Herz des Seins, während das Unwertige, nicht seinsollende Sein,
obwohl es etwa als Haß und Grausamkeit voll real existieren kann, in
gewissem Sinn vom innersten Geheimnis, bzw. Wesen des Seins (dem
Sein, das nicht nur einfach faktisch ist, sondern sein soll, ein Charakter,
der ihm bleibt, auch wenn es schon existiert) noch weiter entfernt ist
als das Nichtseiende.
Diese knappen Andeutungen eines der zentralsten Themen der
Metaphysik müssen genügen, um darauf hinzuweisen, daß in bezug auf
diese drei Dimensionen des "Seins" die Frage nach der Transzendenz
266
des Menschen in der Erkenntnis zu stellen ist: 1. Wo kann ich
intelligibles, in sich notwendiges Sein erkennen? 2. Wo kann ich das
voll real existierende Sein erkennend 3. Wo und wie kann ich
wertvolles Sein erkennen?
In enger Verbindung mit dem Thema dieses Kapitels, nämlich die
Beziehung zwischen notwendigen, ewigen Wesenheiten und
konkretrealem Seiendem zu erforschen, werden wir auch diese drei
Grunddimensionen der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis
an
entscheidenden Punkten erweisen. Es soll herausgearbeitet werden, in
welchem Verhältnis sie alle drei zu den notwendigen Wesenheiten und
"ewigen Wahrheiten" stehen und daß die Betonung des voll real,
konkret-individual existierenden Seins in keiner Weise zu der
"platonischen" Betonung notwendiger Wesenheiten in irgendeinem
Gegensatz steht.
Schließlich soll auch im Gegensatz zu dem Husserlschen
Immanentismus einer von aller konkreten Existenz abgelösten "Welt
des Idealen" gerade die notwendige Beziehung idealer, notwendiger
Wesenheiten auf das konkret-Existierende besonders herausgearbeitet
werden.
Obwohl es notwendige und vom konkreten Seienden verschiedene
ideale Wesenheiten da Seienden und der in ihm gegründeten Werte
herauszuarbeiten gilt, muß deutlich erwiesen werden, daß diese
Wesenheiten sich ganz auf das konkret existierende Seiende und die
voll realen Werte der Dinge beziehen, "deren Wesen" sie ja in näher zu
bestimmendem Sinne "sind".
267
Person an der tiefsten Wurzel getroffen. Wenn wirklich alle in sich
notwendigen Wesenszusammenhänge, ohne die nichts sein kann, in
Wirklichkeit nicht solche, sondern von unserem Geist an die Dinge
herangebrachte Elemente wären, so wäre Nihilismus die letzte
Konsequenz.
Wir haben schon zu zeigen gesucht, daß Kant mit der Leugnung in sich
notwendiger Wesenheiten das geleugnet hat, wonach er in seiner
großartigen Fragestellung suchte: den Ursprung, die Begründung für
notwendige Wahrheiten, für "synthetische Urteile a priori". Jetzt aber
gilt es, noch mehr die Zentralität dieser Frage zu sehen: Kant sah —
und es ist so — daß alle Sinnhaftigkeit und Gestaltetheit der Welt, das,
was sie aus dem Chaotischen erhebt, eben jene notwendigen Elemente
und nicht-empirischen Zusammenhänge sind, die nicht dem Zufall und
der Faktizität unterworfen sind.
Wenn es aber nichts in sich selber Notwendiges gibt, nichts in sich
selber auf Grund seines Wesens Sinn- und Wertvolles, sondern wenn
alle Notwendigkeit, statt im transzendenten Sein, nur in einer
transzendentalen, aller Erfahrung vorgängigen Verstandeskonstitution
liegt, dann gibt es im Grunde wieder keine Notwendigkeit und keinen
in sich ruhenden Wert; denn dann ist hinter der "Notwendigkeit" wieder
die Faktizität meiner Verstandeskonstitution, von der ich —abgesehen
davon, daß sie nie die Wahrheit begründen kann324— nicht einmal
einsehen kann, ob sie nicht auch anders sein könnte bei anderen Wesen
(dies gibt Kant zu) oder auch bei anderen Menschen (dies leugnet Kant
inkonsequenterweise, wie schon früher bemerkt wurde).
Indem er sie auf eine "Verstandeskonstitution" zurückführt, erklärt
Kant im Grunde die synthetischen Urteile a priori für unwiderlegbare
notwendige Irrtümer; indem er sie auf eine nicht in sich selbst
notwendige, sondern auf den Menschen relative
Verstandeskonstitution zurückführt, reduziert Kant alles "Notwendige"
im Grunde auch auf etwas "Empirisches" wie die Empiristen; denn der
Denn selbst wenn ich nach Kant das notwendige Wesen meines Verstan-
324
des als "an sich seiender" Realität einsehen könnte und sogar, daß alle
möglichen Wesen an dieselben Denkgesetze gebunden wären, dann
blieben unter den Kantischen Voraussetzungen alle
synthetischen Urteile a priori über die übrigen Gegenstände unserer
Erkenntnis immer noch
bloß "unwiderlegbare Irrtümer", vgl. Teil II, Kap. 2, dieser Arbeit.
268
einzige wirkliche Gegensatz zum Zufälligen, Empirischen ist das in
sich notwendige Sein und damit "ewige Wahrheiten".
In sich notwendige Wesenheiten sind die einzige Begründung für
notwendige Wahrheiten. Im Augenblick, da "notwendige" Wahrheiten
aus "Verstandesgesetzen" abgeleitet werden, verlieren sie nicht nur ihre
objektive Einsichtigkeit, ihre Intelligibilität in sich selbst, sondern sind
vor allem in ihrem "Ursprung" unnotwendig und dunkel. Sie kommen
— wenn sie nicht auf Grund der in ihnen selbst liegenden
Notwendigkeit als solche intelligibel sind — dann aus einer "blinden",
unbewußten Macht.
Es ist deshalb durchaus auch in der Konsequenz von Kant, wenn
Schelling oder schon der frühe Nietzsche als Ursprung allen Geistes
einen blinden, irrationalen Urgrund der Seele annimmt, den Nietzsche
das "Dionysische" nennt. Die objektive Intelligibilität der Wirklichkeit
Wird geleugnet und muß daher durch ein "blindes" Anwenden von
Anschauungsformen und Kategorien etc. ersetzt werden. Die
Intelligibilität und innere Notwendigkeit des alle Wirklichkeit
begründenden notwendigen Seins und der das Seiende ermöglichenden
notwendigen Wesenheiten ist aber die Lebensquelle des Geistes. Wenn
man ewige Wahrheiten leugnet, muß man daher notwendig den Geist
auf etwas Ungeistiges zurückfuhren. Bei Kant, Hegel, Schelling,
Schopenhauer und Nietzsche liegen deshalb auch die
psychologistischen, skeptizistischen, relativistischen, historistischen
und positivistischen Angriffe verborgen, die die Person und ihr
geistiges Leben aus einer irrationalen dunklen Macht, aus einem
dunklen Trieb "begründen" und damit im Nihilismus auflösen.
Deshalb sollen hier noch einmal die Merkmale notwendiger
Wesenheiten erwähnt werden, wie sie im Vorausgegangenen schon
erarbeitet wurden, sowie jetzt auch auf die für alle objektiven Werte
und für die konkret-existierende Wirklichkeit grundlegende Bedeutung
ewiger Wesenheiten bzw. ewiger Wahrheiten hingewiesen werden soll.
269
"Noch abgesehen von ihrer konkreten Existenz hier und jetzt, sind sie
(diese notwendigen Wesenheiten) etwas vollkommen Autonomes und
Objektives, unabhängig von ihrem Objektsein für unser Bewußtsein."325
"Hierbei verdient meiner Meinung nach die höchste Beachtung, daß ich
bei mir unzählige Ideen finde von gewissen Dingen, von denen man,
wenngleich sie vielleicht nirgendwo außer mir existieren, dennoch
nicht sagen kann, sie seien Nichts. Und wenngleich ich sie in gewisser
Weise willkürlich denke, so erdichte ich sie dennoch nicht, vielmehr
haben sie ihre wahrhaften und unveränderlichen Wesenheiten."326
"Offenbar ist alles, was wahr ist, auch etwas... wenn ich selbst träumte,
so ist dennoch alles sicher wahr, was meinem Verstand einleuchtend
ist."327
"Es gehört wesenhaft zu diesen notwendigen Soseinseinheiten, daß wir
es bei ihnen mit einem so ,potenten' Sosein zu tun haben, daß es auf
Grund seines Gehaltes vollkommen auf eigenen Füßen steht, und daß
es nicht aufhört, ein durchaus seriöser Gegenstand unserer Erkenntnis
zu werden, selbst unter der Annahme, es existiere kein realer
Gegenstand dieser Art. Ja, in der Tat, diese klassischen notwendigen
Einheiten sind so potent, daß sie in gewissem Sinne sind, selbst wenn
zufällig kein Exemplar ihrer Art konkret existiert. Wir können ein
echtes Eidos nicht in das Reich der Phantasie verbannen, in das Reich
der Fiktionen, Halluzinationen oder Träume. In welcher Weise auch
immer diese Wesenheiten sich unserem Geiste erschließen, sie stehen
in einem solchen Ausmaß auf ihren eigenen Füßen, dank ihrer inneren
Potenz und Fülle ihrer notwendigen Sinnhaftigkeit, daß die völlige
Autonomie ihres Seins unerschütterlich ist. Für ihre volle Gültigkeit
325
D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 17.
326
R. Descartes, Meditationen V, 5.
327
A. a. O., V, 6.
270
bedürfen sie weder der Hilfe ihrer Gegenwart in einem konkret
existierenden Gegenstand noch ihres Gedachtwerdens von uns. Sie
allein besitzen im vollen Sinn eine ideale Existenz, eine Art der
Existenz, die sie auf Grund der Solidität und Notwendigkeit ihres
Soseins besitzen. Sie können von keiner Relativität berührt werden in
dem Akt, in dem sie uns gegenwärtig werden. Diese Notwendigen'
intelligiblen Einheiten sind so mit ratio erfüllt und voll Intelligibilität,
daß ihre objektive Gültigkeit nicht mehr von dem Akt abhängt, in dem
wir sie erfassen. Wir haben zuvor gesehen, daß wenn mir in einem
Traum das Sosein eines Dreiecks, der Farm rot oder des freien Willens
klar und eindeutig gegeben wäre, so wäre die Wesenheit selbst in keiner
Weise bloß geträumt... wenn wir anderseits von einem unbekannten
Metall träumen würden, oder von einer neuen Käferart, so würde der
Traumcharakter nicht nur die Existenz dieser Inhalte angehen, sondern
auch ihr Sosein. Sie würden deshalb alles ernsthafte
Erkenntnisinteresse verlieren... Doch im Falle des Soseins, das eine
notwendige Einheit besitzt, ist der Traumindex völlig äußerlich in
bezug auf sie, und kann sie in keiner Weise ihrer Gültigkeit und
Bedeutung berauben."328
We saw that these necessary and highly intelligible essences exclude
any assumption that they are mere fictions or illusions. Even if we
suspend the question as to whether any just man truly exists, the essence
of justice clearly excludes the possibility that it is a mere fiction or
illusion. It could never be the mere product of a human mind. It is in
any case something objective, possessing an autonomy of being. It is.
We have only to compare it with the such-being of a horse or a
mountain in order to grasp the 'ideal existence' which justice as such
possesses, independently of its concrete realization in a man, an ideal
existence which the such-being of a subspecies of beetles, for example,
in no way possesses.
The very fact of this 'ideal existence' reveals itself especially when we
consider that all the states of facts rooted necessarily in these essences
are an eminent object of synthetic propositions, full of plenitude and
importance. The most classical domain of truth comprises the
propositions referring to these necessary states of facts, to these eternal
verities.
328
Vgl. D. v. Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und
Erkennens, S. 57.
What is philosophy?, S. 114, 115.
271
As we shall see later on, these eternal verities apply to all possible
reality and thus contain a fundamental insight into reality. When we
grasp the full validity of these states of facts, their intrinsic impact and
import, then we understand that it is impossible to deny the 'ideal
existence' of these beings."329
329
D. v. Hildebrand, What is philosophy?, F. 16/17. Darauf folgt eine
genauere Analyse der verschiedenen Arten dieser idealen Existenz in den
verschiedenen Seinsbereichen sowie des verschiedenen Verhältnisses
solcher idealer Wesenheiten zur Realität. Trotz ihres klärenden Charakters
kann diese wichtige Analyse hier nicht angedeutet werden.
330
Vgl. a. a. O., S. 112 ff., sowie die Analyse notwendiger Wesenheiten im
vorigen Kapitel dieser Arbeit.
331
Wir sprechen hier nicht von jenen Wesenheiten, die, wie Hildebrand a.
a. O., S. 118 ff., zeigt, wesenhaft vom Reich des real Existierenden aus-
geschlossen sind.
272
Wesenheiten nicht von den konkreten, ihnen entsprechenden Seienden
ableiten, da diese auch ihrem Sosein nach entstehen und werden und
also nicht notwendig sind.
Von den notwendigen Wesenheiten von Person, Zweifel, Erkenntnis,
Wille, Ehrfurcht, Liebe, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Bitte,
Verzeihen usw. kann man hingegen unmöglich sagen, sie würden und
entstünden — sie sind einfach, und zwar unabhängig und vor jedem
konkreten Seienden, das ihnen jedoch notwendig entsprechen muß. 332
Da sie notwendig sind, sind sie auch zeitlos und unveränderlich. Als
die "aeternae rationes" oder "ldeen" bzw. Wesenheiten gewisser Dinge
sind sie selbst notwendig.
Wenn uns also ein immer gleichbleibendes, in sich notwendiges Wesen
solcher (in ihrer konkreten Existenz wie auch in ihrem konkreten
Sosein) zufälliger Dinge aufgeht, kann deren unveränderliche,
notwendige und intelligible "Soseinseinheit" nicht einfachhin identisch
sein mit den konkreten Soseinseinheiten konkreter Personen und ihrer
Akte oder anderer konkret-existierender Wirklichkeiten, die alle
entstehen und vergehen. Bloß das "Gemeinsame" der wechselnden,
kontingenten Dinge können diese Wesenheiten aber auch nicht sein,
denn wie könnten sie dann notwendig und intelligibel sein und alles
konkret Seiende "beherrschen"?
Wenn es also in den nicht-notwendigen Dingen Notwendiges gibt, so
kann die Sinnfülle und Notwendigkeit ihres Soseins nicht in diesen
veränderlichen konkreten Dingen selbst gegründet sein. Die Bedeutung
dieser Wahrheit kann nur ermessen werden, wenn man die
Wesensnotwendigkeit als völlig verschieden von der bloß aus dem
Widerspruchsprinzip stammenden Notwendigkeit erkennt. 333
Wenn es also nicht überhaupt geleugnet wird, daß wir allgemeingültige
und ewige metaphysische Wahrheiten (synthetische Urteile a priori)
einsehen können, dann muß man auf zugeben, daß diese intelligiblen
Wesenheiten das Sein der konkreten Dinge und auch ihr konkretes
Sosein in einem erst näher zu bestimmenden Sinne transzendieren.
332
Dies gilt nicht von den nichtnotwendigen Soseinseinheiten, wie Hund,
Katze, Hirsch, Rose etc., die zwar auch nicht "entstehen", aber doch nicht
notwendig sind oder vor jedem konkret Seienden als dieses beherrschend
existieren und erkannt werden können. Sie werden vielmehr wirklich, aus
diesem erkannt.
333
Vgl. Kap. 2 des zweiten Teiles der Arbeit: S. 170 ff.
273
Denn wenn es notwendige Wesenheiten von (ihrer Existenz und ihrem
konkreten Sosein nach) nicht notwendigen Dingen gilt, dann müssen
sie "jenseits" und vor aller konkreten Dingwelt eine "ideale Existenz"
besitzen, sie müssen dann die in jeder möglichen Welt gültigen "ewigen
Wahrheiten" über nicht-ewig Seiendes einschließen.
2. Wenn ich ferner die notwendigen Wesenheiten wirklich nur in und
an den konkreten Dingen erkennen könnte, dann könnte ich sie niemals
mit absoluter Gewißheit erkennen. Denn etwas real Existierendes
(außer meiner eigenen Existenz und der Existenz Gottes) kann ich
überhaupt nie mit absoluter Gewißheit erkennen. Ferner könnte ich
selbst bei den in mir mit unmittelbarer Gewißheit erlebten Akten nur
eine "absolute, empirische Gewißheit" im Augenblick der
unmittelbaren Berührung mit dem konkreten Seienden haben, wie die
Gewißheit: ich sehe jetzt, daß ich im Zweifel des bezweifelten
Sachverhalts bewußt bin und daß dies notwendig ist.
In Wirklichkeit sind diese Wesenheiten hingegen in sich notwendig und
unabhängig von ihrer konkreten Verwirklichung hier und jetzt etwas
Autonomes. Nur deshalb kann ich sie jederzeit betrachten, wenn ich
nur meinen Geist auf sie richte und ohne daß ich sie in einem konkret
gegebenen Seienden als dessen notwendiges Wesen erkennen könnte.
Wie gesagt, kann mir ja überdies eine solche notwendige Wesenheit
nicht nur aus dem Realkontakt bekannt werden, sondern auch durch
eine bloß erdichtete Gestalt, eine Romanfigur etc. Selbst die
Realerfahrung hat für die Erkenntnis notwendiger Wesenheiten immer
nur die Funktion, mich mit einer solchen intelligiblen Soseinseinheit in
Berührung zu bringen, die autonom und "etwas" ist, unabhängig von
der Frage, ob sie wirklich in dem mir zum Ausgangspunkt dienenden
Seienden verwirklicht ist. Auch wenn wir ferner das Wesen des
Verzeihens oder eines Versprechensaktes oder da Zweifels an einem
konkreten Fall kennenlernen, so sehen wir nicht die Notwendigkeit des
konkreten Soseins dieser Akte, sondern ihrer Wesenheit selbst ein, die
als ihr "eidos" deutlich vor unserem Geiste steht. Dieses intelligible
eidos — und nicht nur das konkret verwirklichte Sosein — ist in diesem
Falle ebenfalls "Gegeben".
Das konkrete Sosein der Akte ist mir ja im Unterschied zu deren
intelligibler Wesenheit nur undeutlich und unklar, mit anderen Akten
gemischt und oft nur auf Grund von "Glaubenselementen" gegeben,
während die intelligible Wesenheit mir unmittelbar intuitiv selbst
gegeben ist. Wenn mir an einem konkreten Menschen das Wesen der
274
Reue aufgeht, ist mir also deren notwendiges Wesen voll anschaulich
und unmittelbar gegeben, während diese konkrete Reue als diesem
Wesen entsprechend und es erschließend mir viel weniger deutlich
gegeben ist. Ober das konkrete Sosein des Reueaktes kann ich mich
täuschen, über die notwendige Wesenheit der Reue nicht. 334
334
Diese Unterschiede — und damit vor allem den Unterschied zwischen
intelligiblen, notwendigen Wesenheiten und dem ihnen entsprechenden,
konkreten Sosein der Dinge — hat der hl. Augustinus mit besonderer
Eindringlichkeit gesehen und in De Trinitate eindrucksvoll dargestellt:
"Sed cum se ipsam novit humana mens..., non aliquid incommutabile
novit...: aliterque unusquisque homo loquendo enuntiat mentem suam, quid
in se ipso agatur atttendens; aliter autem humanem mentem speciali aut
generell cognitione diefinit.. Itaque cum mihi de sua propria loquitur,
utrum intelligat hoc aut illud, an non intelligat, et urrum Igelit, an nolit hoc
aut illud, credo: cum vero de humana specialiter aut generaliter Herum
dicit, agnosco et approbo. Unde maxifestum est, alind unumquemque
widere in se, quod sibi alius dicenti credat, non tamen videat; alind autem
in ipse veritate, quod alius quo-tue possit intueri: quorum alterum mutart
per tempora, alterum incomutabili aeternitate consistere. Neque enim
oculis corporeis multas mentes videndo, per similitudinem colligimus
generalem vel specialem mentis humanae notitiam: sed intuemur
inviolabilem veritatem, ex qua perrecte, quantum possumus, definiamus,
non qualis sit uniuscuiusque hominis mens, sed qualis esse sempiternis
rationibus debeat."
10. Nach einer ebenfalls sehr wichtigen, schönen Stelle über die "unver-
änderlichen, unseren Geist transzendierenden Regeln" des Schönen fährt
Augustinus in 11 fort:
"Nam unde in me fraterni amoris inflammatur ardor, cum audio virum
aliquem pro fidei pulchritudine et firmitate acria tormenta tolerasse? Et si
mihi digito ostendatur ipse homo, studeo mihi conjungere, notum facere,
amicitia colligare. Itaque si facultas datur, accedo, alloquor, sermonem
confero, affectum meum in illum quibus verbis possum exprimo,....Amo
itaque fidelem et fortem virum amore casto atque germano. Quod si mihi
inter nostras loquelas fateatur, aut incautus aliquo modo sese indicet, quod
vel te Deo credat incongrua, atque in illo quoque carnale aliquid desideret,
et pro tali errore illa pertulerit, vel speratae pecuniae cupiditate, vel inani
aviditate laudis humanae; statim amor ille, quo in eum ferebar, offensus, et
quasi repercussus, atque ab indigno homine ablatus, in ea forme permanet,
ex qua eum talem credens amaveram. Nisi forte ad hoc amo jam, ut talis
sit, cum talem non esse comperero. At in illo homine nihil mutatus est:
275
Schließlich enthält jegliches konkrete, kontingente Seiende
wesensnotwendig nicht nur die intelligible Wesensstruktur als solche,
sondern auch Zufälliges, Erfindungshaftes in sich.
Vor allem aber kann die notwendige, ideale Wesenheit selbst überhaupt
nicht in einem kontingenten, zufälligen Seienden real werden, sondern
nur etwas, das an dieser notwendigen Wesenheit "teilhat", in dem sich
aber Notwendiges mit Zufälligem mischt.
Wie kann ich also aus — ihrem realen Dasein und Sosein nach — nicht
absolut gewiß berührbaren Dingen, denen überdies noch Zufälliges
beigemischt ist, durch Abstraktion (?!) absolut gewisse
Wesenserkenntnis haben, wenn dieses intelligible Datum nicht die
konkrete Soseinseinheit transzendiert und von ihr verschieden ist?
Indem ich sie mit absoluter Gewißheit einsehe, erkenne ich dann
umgekehrt, daß alles konkrete Seiende unter ihren "Gesetzen" steht.
Wir müssen jetzt noch an zwei Irrtümern die Wichtigkeit des Gesagten
erläutern; dabei wird auch die untrennbare Verbundenheit
mutart tamen potest, ut fiat quod eum jam esse credideram. In mente autem
mea mutata est utique ipse existimatio, quse de illo aliter se habebat, et
aliter habet: idemque amor ab intentione perfruendi ad intentionem con-
sulendi, incommutabili desuper justititia jubente deflexus est. Ipsa vero
forme inconcussee ac stabilis veritatis, et in qua fruerer homine bonum eum
credens, et in qua consulo ut bonus sit, eadem luce incorruptibilis sinceris-
simaeque rationis et meae mentis aspectum, et illam phantasiae nubem,
quam desuper cerno, cum eumdem hominem quem videram cogito, imper-
turbabili aeternitate perfundit."
"... Itaque de istis (schönen Dingen) secundum illam (Wahrheit) judicamus,
et illam cernimus rationalis mentis intuitu. Ista vero aut praesentia sensu
corporis tangimus, aut imagines absentium fixas in memoria recordamur,
aut ex earum similitudine talia fingimus, qualia nos ipsi, se vellemus atque
possemus, etiam opere moliremur: aliter autem rationes artemque
ineffabiliter pulchram talium figurarum super aciem mentis simplici
intelligentia capientes." VII, 12. "In illa igitur aeterna veritate, ex qua
temporalia facta sunt omnia, formam secundum quam sumus, et secundum
quam vel in nobis vel in corporibus vera et recta ratione aliquid operamur,
visu mentis aspicimus." Augustinus, De Trinitate, IX, VI, 9—IX, VII, 12.
276
von wahrem Realismus und der Anerkennung einer "idealen Existenz"
deutlicher werden.
Wir sehen in diesem Zusammenhang von Nominalismus und
Positivismus ab, die indirekt durch alle bisherigen Analysen widerlegt
sind. Wir müssen vielmehr an gewisse Gedanken von Aristoteles und
Thomas und noch viel mehr an große Irrtümer von Averroes, Hegel
oder Husserl denken.
Wir finden in diesen Philosophien ansatzweise oder in konsequenter
Durchführung den Versuch, die "unnötige Verdoppelung der Welt
durch eine ideale Existenz notwendiger Wesenheiten" zu vermeiden
und diese allgemeinen, notwendigen Elemente irgendwie in die Dinge,
in die wirkliche Wele hineinzunehmen. (Beim späten Husserl finden
wir in gewisser Hinsicht den umgekehrten Versuch.)
Entweder schreibt man dann, wie Hegel dies in höchstem Maß tut, den
allgemeinen, idealen, impersonal-geistigen Wesenheiten eine Art
hypostasierter, quasi-personaler Realität zu und behauptet das
"Wirken" eines "allgemeinen Geistes" — oder man versucht
zumindest, die allgemeinen Wesenheiten als "konstitutive Elemente"
der konkret existierenden Seienden aufzufassen. Dann wären alle
"allgemeinen", alle den notwendigen Wesenheiten unterworfenen Züge
der wirklichen Welt tatsächlich ein und dieselben in allen Individuen.
Nur das unerklärliche, unsagbare Individuum-Sein wird dann als
wirklich individuell dem Seienden zugesprochen.
Dies ist aber ein Irrtum. Denn das "Menschsein" von Beethoven und
Platon ist in keiner Weise in betten dasselbe, so daß etwa nur die
"Beethoven-Eigenheiten" oder tie "Platon-Eigenheiten" individuell,
alle wesenhaft menschlichen Eigenschaften in ihnen hingegen
allgemein und ein und dieselben wären. In Beethoven und Platon sind
vielmehr auch alle zum Wesen des Menschen gehörenden
Eigenschaften, wie ihr freier Wille, ihr Erkenntnisvermögen etc. ganz
individuell.
Ja, hier scheint mir eher noch der Nominalismus im Recht zu sein.
Denn bei nicht-notwendigen Soseinseinheiten, deren allgemeine Züge
wir durch Induktion und Abstraktion gewinnen, ist tatsächlich das
Allgemeine in gewisser Weise nach dem konkreten Seienden und aus
fiesem erst gewonnen. Die "notwendigen Wesenheiten" hingegen
gehen der konkreten Wirklichkeit eindeutig als "Bedingung ihrer
Möglichkeit" und Grund ihres "Sinnes" vorher, was sich durch die
vorhin besprochenen Argumente erweisen läßt.
277
Jedenfalls scheine mir die Position, das Allgemeine bestehe in idealer
Existenz vor den Dingen oder als Abstraktion nach den Dingen —
je nach dem Fall — möglich zu sein. Daß hingegen die allgemeinen
Wesenszüge der Wirklichkeit als allgemeine in den individuellen
Dingen als deren Konstituentien bestünden, ist unmöglich. Dies führt
in objektiver Konsequenz notwendig zum Averroismus, den selbst der
hl. Thomas nicht genügend in seiner Wurzel getroffen zu haben scheint.
Es ist von größter Bedeutung, das wirkliche Verhältnis zwischen
allgemeinen, notwendigen Wesenszusammenhängen und
individuellem Seiendem zu sehen. Dies schließt eindeutig die ideale
Existenz der ersteren ein und gerade diese verbürgt die voll individuelle
Existenz konkreter Seiender. Jedes "Hineinnehmen" der allgemeinen,
notwendigen Elemente in die einzelnen Seienden als deren konstitutive
"Bestandteile" hingegen löst die Individuen und deren letzte
Eigenständigkeit auf, rückt sie entweder in die Nähe von "Teilen" eine
Kontinuums oder macht sie zu "Manifestationen" einer "allgemeinen
Substanz". Eine solche ist jedoch ein in sich widersprüchliches
Gebilde. Wir können mit letzter Evidenz erfassen, daß "Allgemeinheit"
niemals Merkmal einer Substanz und ihrer Proprietäten sein kann.
Der Charakter des "Allgemeinen" ist vielmehr auf die "idealen
Gebilde" beschränkt. Darum führt auch die Nichtanerkennung der zwei
Wirklichkeitsbereiche von realem und tief auf dieses hingeordnetem
"idealem" Sein notwendig zur Auflösung des Individuums und letztlich
zum Pantheismus. Mit diesen Hinweisen, die nach einer näheren
Ausführung verlangen, um voll geklärt zu werden, müssen wir uns hier
begnügen. Die Erkenntnis dieser "idealen Gebilde" ist auch vor der
Beantwortung der schwierigen Frage möglich, ob und inwiefern diese
"idealen Gebilde" in einer notwendigen Beziehung zu Gott stehen, die
uns jedenfalls nicht unmittelbar gegeben ist.
Werterkenntnis
278
Wenn es aber keine Erkenntnis objektiver Werte gibt, dann sind unser
geistiges Leben und die metaphysische Welt selbst an ihrer tiefsten
Wurzel getroffen: Denn die Werte sind das Herz des Seins.335
Gäbe es nur die Transzendenz der Erkenntnis im Erfassen in sich
notwendiger Wesenheiten, wie sie auch "Kreis" und "Gerade" sind, so
gäbe es das nicht, was allein unser Leben wirklich sinnvoll machen
kann: die Welt der Werte, die Wirklichkeit, die Fülle des Seienden als
etwas, was sich in verschiedenen Rangstufen aus der Sphäre des
Indifferenten und Neutralen heraushebt durch seine in sich ruhende
Bedeutsamkeit und Kostbarkeit, das heißt durch eine Kostbarkeit, die
dem Ding an sich selbst eigen ist und ihm in keiner Weise von uns
beigelegt wird oder von einer Relation des Dinges auf uns abhängt. Der
innere Reichtum, das Wesen des menschlichen Geistes und seine
Fähigkeit, sich selbst zu überschreiten, die Tiefe seines Intellekts,
seines Willens und seines Herzens entfaltet sich erst dort, wo er etwas
begegnet, was nicht nur in sich selber notwendig, sondern was in sich
selber bedeutsam und allem relativ oder absolut neutralen Sein
entgegengesetzt ist und noch viel mehr allem, was zwar ist, aber nicht
sein sollte, das heißt allen unwertigen Wirklichkeiten, wie es alle
ungerechten Leiden und noch mehr alle ungerechten Taten und
Stellungnahmen sind. Diese tiefste Dimension des Seins, diese Quelle
allen Sinnes, die Werte, die in sich ruhende Bedeutsamkeit, hat D. von
Hildebrand in einzigartiger Klarheit herausgearbeitet, so fundamental
und überall vorausgesetzt diese Wirklichkeit auch immer war. 336
335
Deshalb ist Suds die absolute Wertfülle das "Zentrums' des absoluten
Seins: die Heiligkeit Gottes.
336
Vgl. bes. D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. I—5; 7—9. Es kann
hier nicht darauf eingegangen werden, welche zentrale Rolle der Wert
schon seit der Platonischen Philosophie der Idee du Guten in der
Geschichte der Philosophie (man denke an den Begriff des "bonum") ge-
spielt hat. Zu einer philosophischen "prise de conscience" des Wertes ist es
allerdings in besonderer Weise seit Nietzsches Leugnung der Werte
gekommen, in der Nietzsche, klarer als dies gewöhnlich geschah, die
Eigentümlichkeit und fundamentale Bedeutung des Wertes als Nidel
einfach mit dem Begriff des Seins identisch ins Auge gefaßt hat. Die Stufen
in der philosophischen Herausarbeitung des Wertes nach Nietzsche
brauchen hier nicht erwähnt zu werden. Der frühe Max Scheler stellt in
dieser Entwicklung einen Höhepunkt dar. Allerdings muß ausdrücklich
betont werden, daß D. von Hildebrand durch seine Entdeckung dreier
279
Die klare Erkenntnis objektiver Werte ist aber noch gewichtiger als die
Herausarbeitung eines von unserem Geiste unabhängigen, objektiven
Seins als solchem.337
Daß ich fähig bin, diese Dimension des Seienden zu erfassen, in der es
sich aus dem Neutralen, Indifferenten heraushebt — nicht nur durch
meine subjektive Befriedigung, nicht einmal nur durch die Tatsache,
daß es objektiv gut für mich ist — sondern in sich selber, auf Grund
seines Wesens, darin liegt die Quelle allen geistigen Lebens, allen
wahren Glückes.
In den objektiven Werten liegt das eigentliche Geheimnis des Seins,
von ihnen empfängt die Transzendenz unserer Erkenntnis ihren tiefsten
Sinn. Das hat Nietzsche erkannt und deshalb ist sein Nihilismus von
solcher "Tiefe". Es ist so, wie Nietzsche sagt: Eine Wirklichkeit, die
zwar ist, in sich selber aber überhaupt keine Bedeutsamkeit und keinen
Wert besitzt, oder einen so minimalen wie die Materie eines
weggeworfenen Werkzeuges, oder gar eine unwertige reale Welt wäre
viel furchtbarer in ihrem Sein als in ihrem Nichtsein. 338
280
Das Staunen über die Realität der Werte ist deshalb noch viel tiefer als
das Staunen darüber, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.
Denn es ist das Staunen darüber, daß etwas ist, von dem es besser ist,
daß es ist, als daß es nicht ist, daß etwas ist, das in sich sein soll, auch
wenn es schon ist.
Die Werterkenntnis setzt natürlich in eminentem Sinn die volle
Transzendenz unserer Erkenntnis überhaupt voraus. Wer sie leugnet,
muß konsequenterweise, wie wir gesehen haben, auch alle objektiven
Werte leugnen. Es gibt aber auch andere Gründe, die nicht vom
allgemeinen Relativismus abgeleitet sind und zur Leugnung der Werte
führen. Diese hat Dietrich von Hildebrand in Christliche Ethik vor
allem im Kapitel "Ethischer Relativismus" behandelt. 339 In der
unendlichen Tiefe und Majestät des Reiches objektiver Werte und ihrer
Intelligibilität liegt auch der Grund für die Tiefe und Geistigkeit unserer
Motive und Antworten. Wer deshalb Objektive Werte und ihre
Erkennbarkeit leugnet, leugnet damit auch alle gestiegen Motive im
Bereich des Sittlichen und der übrigen Wertanworten. Eine blinde,
eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen —und nun sieht
die Welt wertlos aus..." Ne. We., Bd. III, S. 678.
"Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: Das Dasein,
so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne
ein Finale ins Nichts: 'die ewige Wiederkehr'.
Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das 'Sinnlose')
ewig" Ne. We., Bd. III, S. 853.
"Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten
Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man
anerkennt, handelt; hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das
geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge
anzunehmen, das Göttlich', das leibhafte Moral wären' Ne. We., Bd. III, S.
567.
"Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie
sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert
nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn:
das Pathos des 'Umsonst' ist das Nihilisten-Pathos — zugleich noch als
Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten." Ne. We., Bd. III, S. 549.
339
Vgl. auch die ausgezeichnete Arbeit von Fritz Wenisch, Die Objektivität
der Werte.
281
ungeistige Daseinsgier muß dann mit ihrem entsetzlichen
Immanentismus an ihre Stelle treten. 340
340
Diese Folge zeigt sich am konsequentesten in Nietzsches Werken. Die
dionysische Lebenshaltung, das Streben nach Rausch, Wollust und
Machtgefühl tritt an die Stelle aller geistigen, von Wert und Sinn diktierten
Antworten. Dies habe ich in einem Aufsatz über F. Nietzsche zu zeigen
versucht. Vgl. Ne. We., Bd. III, S. 755, 911. Oder Ne. We., Bd. 1, 24: "das
Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird". "Der Grausame genießt den höchsten Kitzel
des Machtgefühls", Ne. We., Bd. I, S. 1029 (18).
In Jenseits von Gut und Böse, im Abschnitt: "Der freie Geist", in dem
Nietzsche sein Ideal des "freien Geistes", des "Versuchers" (42, Ne. We.,
Bd. II, S. 605) schildert, spricht er diese "Motive" deutlich aus: "Wir Um-
gekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht
haben, wo und wie bisher die Pflanze 'Mensch' am kräftigsten in die Höhe
gewachsen ist, vermeinen, daß dies jedesmal unter den umgekehrten
Bedingungen geschehen ist, daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst
ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Vorstellungskraft (sein
'Geist') unter langem Druck und Zwang sich ins Feine und Verwegene
entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen
gesteigert werden mußte — wir vermeinen, daß Härte, Gewaltsamkeit,
Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit,
Stoizismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, den alles Böse,
Furchtbare, Tyrannische, Raubtier- und Schlangenhafte am Menschen so
gut zur Erhöhung der Spezial Mensch dient, als sein Gegenteil..." (44) Ne.
We., Bd. II, S. 606. "jenes Gefühl von Glück,... das der Rausch jeder Art
mit sich bringt." Ne. We., Bd. III, S. 744.
Im Zarathustra (III. Teil): "Von den drei Bösen" (Ne. We., Bd. II, S. 436)
bezeichnet Nietzsche die drei von ihm nun als höchste eingesetzten Grund-
motive: Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht."
"Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit... mit dem Wort dionysisch ist
ausgedrückt: . . . ein Hinausgreifen... über den Abgrund des Verbrechens:
das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere
schwebendere Zustände; ein verzücktes Ja-sagen zum Gesamtcharakter des
Lebens . . ." (Wille zur Macht, 1049/50).
Und an anderer Stelle nennt Nietzsche den Rausch das "Zeichen der
Selbstherrlichkeit und Kraft".
Eine eigene Arbeit wäre erforderlich, um genauer die von jeder Wahrheit
und objektiven Werten losgelöste, bzw. sich gegen diese richtende
Lebenshaltung zu untersuchen, die letztlich ein Triumph des wider die
282
Was sind Werte? (Drei Kategorien der Bedeutsamkeit)
283
Eine-Zigarette-Anzünden... wir sind uns bewußt, dieser Akt ist
bedeutsam, er ist etwas, was sein soll."
284
I. Das bloß subjektiv
Befriedigende (Kompliment)
285
II. Der Wert = das in sich
Bedeutsame (Großmütiges
Verzeihen)
286
2. "Ein Leben, das
ununterbrochenen Strom von
Vergnügungen bestünde, könnte
uns niemals einen Augenblick
jenes seligen Glückes gewähren,
das echt werthaltige
Wirklichkeiten erzeugen...die
egozentrische Lust, die Aristippos
als das einzig wahre Gut
hinstellte..., egozentrisches
'Glück' zehrt sich auf die Dauer
selbst auf und endet in Langeweile
und Leere... Das beständige
Genießen des bloß subjektiv
Befriedigenden wirft uns
schließlich in unsere eigene
Begrenztheit zurück und kerkert
uns in uns selbst ein.
Im Falle des subjektiv
Befriedigenden... ist unser
Vergnügen das principium und
die am Gegenstand haftende
Bedeutsamkeit des Angenehmen
oder Befriedigenden das
principiatum."
"Deshalb ist der Unterschied
zwischen dem Glück, das der
bloßen Existenz eines Wertes
entströmt und dem Vergnügen an
etwas subjektiv Befriedigendem
kein Unterschied des Grades,
sondern der Art: eine
Wesensverschiedenheit."
287
2. "Sicherlich haben die Dinge,
die wir in sich selber bedeutsam
nennen, die werttragenden Dinge,
die Fähigkeit, Freude zu
spenden... Das Entzücken, die
Ergriffenheit, die wir als Zeuge
einer edlen sittlichen Tat oder
beim Anblick der Schönheit eines
sternenbesäten Himmels erleben,
setzt wesenhaft das Bewußtsein
voraus, daß die Bedeutsamkeit
des Gegenstandes in keiner Weise
von der Freude, die er uns
schenkt, abhängt. Denn diese
Seligkeit erwächst gerade aus
unserer Konfrontation mit einem
in sich selbst bedeutsamen
Gegenstand, der majestätisch und
autonom in seiner Erhabenheit
und Hoheit vor uns stehe. Es
gehört gerade zu unserer
Seligkeit, daß wir hier einen
Gegenstand finden, der
vollkommen unabhängig von
unserer Reaktion auf ihn ist,
dessen Bedeutsamkeit wir nicht
verändern, weder erhöhen noch
verringern können; denn sie
erwächst ihm nicht aus einem
Verhältnis zu uns, sondern aus
seiner eigenen Ranghöhe. Er steht
gleichsam als eine Botschaft von
oben vor uns; er trägt uns über uns
selbst hinaus... Unsere
Zuwendung zu einem Wert erhebe
uns... befreie uns vom Kreisen um
uns selbst und
288
träge uns in eine von uns selbst,
unseren Stimmungen, unserer
jeweiligen Verfassung
unabhängige, transzendente
Ordnung. Dieses beglückende
Erlebnis setzt eine Teilhabe an
dem in sich Bedeutsamen voraus,
ihm wohne eine Harmonie inne,
die allein das in sich Gute, das
wesenhaft Edle ausstrahlen. Es
entfaltet eine Leuchtkraft vor uns,
die mit der inneren Schönheit des
Wertes 'kongenial'... ist...
Die...Sehnsucht, einer alle
Egozentrik überragenden
Wirklichkeit gegenüberzustehen,
gehört Wahrhaft zum tiefsten
Wesen des Menschen... Das echte,
tiefe Glück... ist Wesenhaft ein
Begleitphänomen; denn es ist in
keiner Weise die Wurzel dieser
Bedeutsamkeit, sondern ströme
als Überfluß aus ihr hervor...
Darum ist dieses Glück etwas
'Sekundäres, ungeachtet der
Tatsache, daß die Fähigkeit, uns
Freude zu spenden, ein
wesentliches Merkmal der Werte
ist. Wir sollen uns sogar an ihnen
freuen. Der Wert ist hier das
principium (Bestimmende) und
unser Glück das principiatum
(Bestimmte)."
289
"Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal finden wir in der Weise, in der
jeder Bedeutsamkeitstypus sich an uns wendet."
3. "Andererseits stellen bloß
subjektiv befriedigende
Gegenstände eine Forderung
dieser Art an uns. Sie ziehen uns
an, laden uns ein; aber es ist uns
ganz klar, daß wir ihnen keine
Antwort schulden und es uns
freisteht, ihrer Einladung zu
folgen oder nicht. Wenn uns ein
köstliches Gericht lockt, spüren
wir deutlich, daf3 es ganz in
unserem Belieben steht, ob wir
dieser Verlockung nachgeben
oder nicht. Wir alle wissen, wie
lächerlich es wäre, wollte jemand
sagen, er unterwerfe sich der
Verpflichtung, Bridge zu spielen
und überwinde die Versuchung,
einem Kranken zu helfen."
290
3. "Jedes werttragende Gut lege Schönheit in Natur und Kunst,
uns gewissermaßen die mit... einer großen Wahrheit, mit
Verpflichtung auf, ihm eine der Herrlichkeit sittlicher Werte.
adäquate Antwort zu geben. Wir In allen diesen Fällen sind wir uns
sprechen hier noch nicht von der deutlich bewußt, daß der
einzigartigen Verpflichtung, die Gegenstand eine adäquate
wir die sittliche nennen und die an Antwort von uns fordert. Wir
unser Gewissen appelliere. Wir begreifen, daß es weder unserer
denken jetzt an den Eindruck, den willkürlichen Entscheidung noch
wir empfangen, sobald wir mit unserer zufälligen Stimmung
etwas in sich Bedeutsamem überlassen ist, ob wir antworten
konfrontiere werden, etwa mit der oder nicht und wie wir antworten.
3 A. "Die Anziehungskraft des
subjektiv Befriedigenden lullt uns
dagegen ein und versetzt uns in
einen Zustand, in dem wir dem
Instinkt nachgeben; sie hat die
Tendenz, unser freies
Personzentrum zu entthronen.
291
3 A. "Die Forderung eines echten unaufdringlicher, soberer
Wertes nach adäquater Antwort (nüchterner) Weise. Sie appelliert
ergeht an uns in souveräner, aber an unser freies Personzentrum."
"Schließlich spiegelt sich die wesenhafte Verschiedenheit beider
Bedeutsamkeitskategorien deutlich in der Art, in der wir auf sie
antworten. Betrachten wir die Begeisterung, mit der wir auf eine
heroische sittliche Tat reagieren, und vergleichen wir diese Antwort mit
unserem Interesse an etwas subjektiv Befriedigendem, z. B. einer
vorteilhaften geschäftlichen Spekulation."
292
4. "Wir sehen klar, daß die Hinausgehens über die
Antwort im ersten Fall den Grenzen unserer
Charakter einer Hingabe Ichbezogenheit, einer gewissen
unserer selbst, eines Unterwerfung hat."
"Die Verschiedenheit von Wert und nur subjektiv Befriedigendem ist
zuweilen als bloßer Gradunterschied interpretiert worden... Tatsächlich
war dies die Meinung Max Schelers... Aber für diese
Bedeutsamkeitsarten gibt es keinen gemeinsamen Nenner. Wir stehen
hier vor zwei völlig verschiedenen Gesichtspunkten: Bedeutsamkeit
meint in jedem Fall etwas anderes."
5. "Wir können von größerem
oder geringerem Vergnügen
sprechen, aber das nur subjektiv
Befriedigende gestattet uns nicht,
hier den Begriff von niedriger und
höher, wie in der Wertsphäre
anzuwenden... Die
Anziehungskraft der Krone auf
Macbeth, die tiefe Befriedigung
seines Hochmutes und Ehrgeizes,
die das Königtum ihm verschafft,
ist dem in sich Bedeutsamen
keinesfalls näher als die
angenehme Qualität eines
warmen Bades."
293
5. "Sobald wir die Attribute
'niedriger' und 'höher' auf zwei
erfreuliche Erlebnisse anwenden,
beurteilen wir sie schon vom
Gesichtspunkt des Wertes und
nicht mehr von dem des bloß
subjektiv Befriedigenden. Wir
können also sagen: Die Freude,
die wir beim Hören einer
Haydn-Symphonie empfinden, ist
etwas Höheres als das Vergnügen,
das uns eine gute Speise machen
kann. Höher bedeutet hier edler
und ist offenbar ein Urteil über
zwei Erlebnisse vom
Wertgesichtspunkt aus... die aus
dem rein subjektiv
Befriedigenden stammende
Qualität eines warmen Bades ist
dem bescheidenen Wert einer
geistreichen Bemerkung ebenso
fern wie dem hohen Wert eines
großmütigen Verzeihensaktes."
294
"Die Tatsache, daß der Unterschied zwischen Wert und subjektiv
Befriedigendem ein wesenhafter ist, dem zwei verschiedene
Sinngehalte von Bedeutsamkeit entsprechen, tritt vor allem im Fall
eines Konfliktes zwischen der Verlockung eines Angenehmen und der
Forderung eines Wertes zutage...die Kategorie Res subjektiv
Befriedigenden ist nicht auf gewisse Gegenstände gerichtet, die in sich
selbst keine andere Bedeutsamkeit besäßen, sondern auf den
Gesichtspunkt, unter dem wir uns diesen Dingen zuwenden."
341a
Zur näheren Analyse dieser Bedeutsamkeitskategorie vgl. a. a. O., S. 67
ff, und vor allem die Analyse des Sokrates-Wortes, S. 72 ff.
295
Die Objektivität der Werte — Wesenserkenntnis und Werterkenntnis
"Das zentrale Problem ist jedoch die Frage, ob die Werte echte
Seinsproprietäten sind, die wir im Seienden vorfinden können, selbst
wenn wir von jeder möglichen Motivation absehen. Sagen wir von
einem Reueakt, er ist sittlich gut oder rahmen wir einen Mann als
intelligent oder als ein Genie oder sprechen wir von der Würde der
menschlichen Person, so berufen wir uns ohne Zweifel auf Vorzüge,
die Proprietäten des betreffenden Seienden sind; wir meinen nicht nur
Gesichtspunkte möglicher Motivation. Der sittliche Adel eines
Reueaktes, seine in sich ruhende Bedeutsamkeit ist uns eindeutig
gegeben, wenn wir uns in das Wesen eines solchen Aktes vertiefen. Um
die innere Gutheit und sittliche Schönheit der Reue zu erkennen,
brauchen wir sie nicht unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu
betrachten. Es genügt schon, daß unser Geist ungehindert von Hochmut
und Begehrlichkeit sei und unser geistiges Auge nicht durch eine
Perversion unseres Willens erblindet.''341
Doch welcher Art ist diese Erkenntnis? — Wieder werden wir die
zentrale Rolle der platonischen Entdeckung notwendiger
Soseinseinheiten erkennen:
"Und wenn wir erkennen: diese innere Gutheit, dieser sittliche Wert
wohnt wirklich der Reue inne, so ist dies nicht bloß eine
Wahrnehmung, ähnlich der, die uns ermöglicht festzustellen, daß Blut
rot ist. Vielmehr verstehen und begreifen wir, daß eine wesenhafte
Verbindung zwischen dem Wert und dem Gegenstand besteht. Es ist
nicht nur eine andere und tiefere Beziehung als die zwischen Substanz
und Akzidenz — die typische Relation des Anhaftens, der Inhärenz —
, sondern darüber hinaus eine notwendige, intelligible Verbindung,
nicht bloß eine faktische und akzidentelle. Wir verstehen: die Reue ist
sittlich gut und so muß es sein. Das besagt allerdings nicht, wir könnten
den Wert der Reue durch eine Deduktion ihrer Bedeutsamkeit von
etwas anderem beweisen. Wir sahen früher: die Bedeutsamkeit als
solche kann man nie von irgend etwas Neutralem ableiten. Jeder Wert
muß erfaßt werden. Ist ein Mensch für einen Wert blind, so können wir,
296
wenn wir ihm helfen wollen, ihn zu erfassen, nichts anderes tun, als
ihm den Weg ebnen, indem wir alle Hindernisse in seinem Willen
entfernen und versuchen, ihn in die Ausstrahlungssphäre dieses Wertes
zu ziehen."
Wenn wir aber auch keinen Wert von etwas anderem ableiten können,
so heiße das in keiner Weise, die Werterkenntnis sei nicht ebenso gewiß
und objektiv wie irgendeine andere Erkenntnis. Wir haben im
Gegenteil schon gesehen, daß die ursprünglichste und rationalste
Erkenntnis, auf der übrigens alle Schlußverfahren ruhen, die
Wesenseinsicht in notwendige Zusammenhänge ist. Eben die
Wesenserkenntnis ist aber auch die Grundlage der Werterkenntnis:
... "haben wir einmal den Wert erfaßt, so verstehen wir, daß er
wesenhaft im Sosein der Reue gründet. Die essentielle Verbindung
zwischen sittlicher Gutheit und Reue ist uns nicht weniger univok
gegeben. Mit anderen Worten: die Relation zwischen einem Seienden
und seinem Wert ist bei einer direkten Bedeutsamkeit 342 in sich (dem
Wert) nicht empirisch und kontingent, sondern vielmehr notwendig
und intelligibel. Betrachten wir die Liebe, dann begreifen wir sofort:
sie ist notwendig gut. Wir... verstehen: so ist es und muß es immer sein.
Es ist einfach unsinnig zu behaupten, wir meinten mit dem Wert eines
Aktes der Liebe oder der Gerechtigkeit nur einen
Motivationsgesichtspunkt, denn der Wert selbst zeigt sich uns evident
als eine Proprietät dieser Akte."
Wenn wir diese Bedeutsamkeit in sich, die einem Akt auf Grund seines
Wesens eigen ist, mit einer bloß indirekt (durch den Befehl einer
Autorität) bedeutsamen Sache vergleichen, so wird dies noch klarer.
Wir werden gleich zeigen, wie dies in keiner Weise einen Idealismus
in dem Sinne einschließt, als wären "Werte" damit etwas vom
Konkreten, Individuellen Ausgeschlossenes, bloß "Ideales". Der Wert
gründet vielmehr im intelligiblen "Sosein" von etwas und wird real, wo
immer etwas sich verwirklicht, was dieses Wesen hat.
Jetzt gilt es, klar die Objektivität der Werte zu erkennen:
"Wir sehen also: Der Wert ist in jedem Sinn des Wortes objektiv. Er ist
objektiv, sofern er eine echte Proprietät des Seienden ist, von dem wir
342
Im Unterschied zum Nützlichen, vgl. a. a. O., Kap. 4.
297
den Wert aussagen. Selbst abgesehen von jeder möglichen Motivation
besitzt das Seiende Werte. Sie gehören sosehr zu ihm, daß sie geradezu
das Mark seines Sinngehaltes bilden. Man kann sie keineswegs als nur
relationale Aspekte des Seienden, die dieses für unser Wünschen und
Wollen hat, interpretieren.
... auch wenn wir sie in reiner Kontemplation betrachten, leuchten sie
fort in derselben inneren Schönheit und Gehaltfülle, in ihrem
axiologischen Charakter, in eben der Gesolltheit, die ihr reales Sein
umgibt."
"Der moderne Begriff des Axioms, der eine willkürliche Annahme oder
bestenfalls eine Hypothese bezeichnet, hat also das unmittelbar
Einsichtige als Ausgangspunkt verdrängt. Man hat vergessen, daß die
Fähigkeit eines Beweises oder Argumentes, etwas intelligibel zu
machen, letztlich in der Möglichkeit gründet, ein Urteil mit anderen zu
verknüpfen, die entweder selbst unmittelbar einsichtig oder durch
unmittelbar einsichtige Prinzipien sicher begründet sind. Wäre die
unmittelbare Einsichtigkeit nicht Höhepunkt aller Intelligibilität und
letzte Quelle aller absoluten Gewißheit, dann wäre jeder Beweisgrund
seiner Einsichtigkeit beraubt; er wäre ebenso sinnlos, wie der Begriff
einer Wirkursache in einer Welt ohne Erstursache. Haben wir einmal
Über die Beziehung zwischen Wert und objektivem Gut der Person
343
298
erfaßt, daß das unmittelbar Einsichtige eine höhere Intelligibilität
besitzt als jede Erklärung aus den Ursachen (ex causis) und daß die
ganze Intelligibilität und verbürgende Kraft eines Beweises auf der
Intelligibilität des unmittelbar Einsichtigen beruht, so bricht jene
Gleichsetzung der Intelligibilität mit dem aus Folgerungen und
Gründen Bewiesenen zusammen. Angesichts eines Evidenten
fortgesetzt Beweise fordern, zu fragen, warum es so sei, ist kein
Zeichen, daß man nach einer tieferen Intelligibilität verlangt, sondern
im Gegenteil ein Zeichen für die Unfähigkeit, das Wesen der Evidenz
und der Intelligibilität zu verstehen...
Außerdem hat ein Wert, der sich in seiner Bedeutsamkeit evident
darbietet, eine viel höhere Intelligibilität, als irgendein Beweis je
erwirken könnte; er macht jede Frage, warum er bedeutsam sei,
überflüssig. Das gilt vor allem für den allgemeinen Begriff des Wertes
oder des in sich Bedeutsamen . . ."344
Darin, daß wir aber nicht nur etwas in sich Notwendiges, sondern auch
etwas in sich Bedeutsames, Kostbares, Wertvolles erkennen können,
liegt eine Transzendenz unserer Erkenntnis, die weit über jene
hinausgeht, in der wir ein reales, individuelles Seiendes (die eigene
Person) oder notwendige autonome Wesenheiten als solche berühren
können. Darin, daß wir das notwendige Wesen von etwas erkennen
können, das auf Grund dieses Wesens auch in sich bedeutsam ist, liegt
eine solche Tiefe der Transzendenz, daß man sie als eine vollkommen
neue Dimension der Transzendenz erfassen muß. So wie die
344
Im 9. Kapitel der Christlichen Ethik findet sich eine Widerlegung des
ethischen Relativismus und die Behandlung einiger Gründe, die es ver-
ständlich machen, warum in der Wertsphäre zwar ebensosehr eine innere
Intelligibilität herrscht wie im Gegenstand der Geometrie, wie aber sowohl
regen der größeren Tiefe und Ehrfurcht, die zur Werterkenntnis voraus-
gesetzt ist als auch wegen vieler anderer Gründe es nur allzu verständlich
ist, daß es viele Formen der Wertblindheit und der Leugnung objektiver
Werte gilt, die in keiner Weise irgendeinen Beweis gegen deren Intelligibi-
lität bilden. Dieses Thema hat D. v. Hildebrand am ausführlichsten in
seinem Werk Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis ausgeführt. Vgl.
auch zum Thema des Wertrelativismus F. Wenisch, Dir Objektivität der
Werte.
299
Wirklichkeit in sich selbst öde, "immanent" wäre, wenn alles vom
neutralen Rhythmus eines neutralen Seins beherrscht wäre, wenn alle
Werte und Bedeutsamkeit auf bloß subjektive Gefühle reduziert
würden, so liegt auch hier — in der Teilhabe an der wesenhaften
Gutheit von etwas — ein Höhepunkt der Transzendenz unserer
Erkenntnis.
Wir können in dieser Arbeit nicht von der noch höheren Transzendenz
des Menschen sprechen, die darin liegt, daß er Träger sittlicher Werte
werden kann. Hier wollen wir nur darauf hinweisen, daß auch die
Erkenntnis der sittlichen Werte eine viel höhere Transzendenz
einschließt als alle sonstige Werterkenntnis, da es sich hier um das
ewige, unwandelbare Maß unseres Lebens handelt, um die höchsten
Werte, um Werte, die uns vor eine Entscheidung angesichts der
Ewigkeit stellen, in denen, wie Kierkegaard sagt, "das Ewige atmet".
Daß es sich hier um Werte handelt, die auf Grund ihres Wesens
unendlich tief sind, daß sie in der tiefsten Beziehung zum Wesen Gottes
stehen, und vieles andere ist Grund für die einzigartige Transzendenz
unserer selbst in ihrer Erkenntnis.
345
Von den auf Seite 261 ff. getroffenen Unterscheidungen verschiedener
Seinsbegriffe fällt Licht auf den Sinn dieses Ausdrucks, daß
"Bedeutsamkeit ebenso fundamental, wie das Sein" ist. B. Wenisch
bemerkt in Der Wert S. 20, anläßlich dieser These: "Es gibt nichts, was so
fundamental ist, wie das Sein oder was das Seiende in seinem Sein
transzendieren könnte." Solange man "Sein" in der ersten der erwähnten
Bedeutungen dieses Begriffs versteht, gilt dies ganz sicherlich nur, insofern
auch alle Werte und Güter das "Sein" in diesem umfassendsten,
allgemeinsten Sinne einschließen, aber nicht, insofern dieses "Sein" im
300
Wirklichkeit neutral, jede Bedeutsamkeit ein bloß relationaler Aspekt,
würde einem vollständigen Zusammenbruch des Kosmos
gleichkommen. Wir verstehen jetzt die elementare — ich möchte sogar
sagen unvermeidbare Wichtigkeit der Frage: Was ist der Sinn, die
Bedeutsamkeit eines Seienden?
Hier liegen letzte, an die Wurzel unseres Daseins gehende, im wahrsten
Sinn des Wortes existentielle Probleme. Sie transzendieren jedoch den
Bereich unseres eigenen Seins, denn sie beziehen sich auf etwas, was
seine von uns unabhängige innere Notwendigkeit besitzt und die letzte
metaphysische Schicht berührt. Solcherart ist die Frage nach dem Sinn
und der Bedeutsamkeit des einzelnen Seienden und vor allem des
ganzen Universums. Wenn wir nur wissen, daß etwas ist oder existiert,
sind wir noch nicht zu der vollen Antwort durchgedrungen, die sich
objektiv aufdrängt und nach, der unser Geist wesenhaft dürstet. Die
Existenz eines Dinges ruft notwendig die Frage nach seinem Sinn,
seiner Bedeutsamkeit hervor. Die metaphysische Unbefriedigtheit, die
wir erfahren, solange wir keine Antwort auf diese letzte Frage über das
Universum haben, ist in der natürlichen Sphäre ein 'Präludium' zu jener
'Unruhe', die nach dem hl. Augustinus unser Herz erfüllt, bis wir Gott
gefunden haben...
Ist uns diese Frage aber einmal ganz bewußt geworden, so verstehen
wir auch, daß diese Bedeutsamkeit (nach der wir hier fragen) mit dem
in sich Bedeutsamen, dem Wert, zusammenfällt. Keine andere Art der
Bedeutsamkeit könnte je diese letzte Antwort geben. Mit der
Feststellung, etwas sei subjektiv befriedigend oder selbst ein objektives
Gut für die Person, bleibt die fundamentale Frage seiner endgültigen
Bedeutsamkeit unbeantwortet.
...Wie nur die Autonomie des Seins (d. h. seine Vorgegebenheit
gegenüber dem Bewußtsein und seine Unabhängigkeit von unserem
Geist) die letzte Erfüllung unseres Suchens nach Wahrheit zu spenden
allgemeinsten Sinne schon irgendwie mit dem Werte identisch wäre oder
diesen auch nur in seinem Begriff einschlösse. Wenn "Sein" im zweiten
Sinn als die jeweils besondere Weise des Seins verstanden wird, dann ist
es selbstverständlich, daß Werte auch sind, besonders wenn sie konkret
verwirklicht existieren. Dann ist ja das Wertsein sogar die Innerste der drei
Dimensionen des Seins, kann aber weder von der ersten (dem
Intelligibelsein) noch von der zweiten (dem Realsein) abgeleitet werden.
Es kann hier nur auf die Kapitel 7, 8, 12 in Christliche Ethik verwiesen
werden, sowie auf die ausgezeichneten Bemerkungen, die B. Wenisch a. a.
O., besonders in Kap. V, 5, macht.
301
vermag, ebenso kann die unabweisbare metaphysische Frage der
Bedeutsamkeit nur von dem autonom in sich Bedeutsamen, dem Wert,
beantwortet werden !"346
"Versuchen wir, uns eine vollkommen neutrale Welt vorzustellen —
eine wesenhaft unmögliche Fiktion — , so wird uns klar, daß alles
seinen Sinn verlieren würde: unser Leben wäre zu einem absurden
circulus vitiosus herabgedrückt; es würde sogar unter das Niveau des
tierischen Lebens absinken. Selbst in einer Welt, in der nur die
Bedeutsamkeit des subjektiv Befriedigenden existierte, würde unser
Leben zusammenbrechen. Eingekerkert in unsere Egozentrik, ohne den
archimedischen Punkt objektiver Bedeutsamkeit, wären wir vom
wahren Glück wie von jeder Selbsthingabe, von aller Liebe, aller
Begeisterung und Bewunderung ausgeschlossen. wir könnten nicht
einmal behaupten, daß Weisheit der Torheit vorzuziehen ist...
"Mit der Behauptung dieser Tatsache führen wir den Wert keineswegs
als ein Postulat ein. Eine Solde Interpretation würde vollkommen
mißverstehen, was wir meinen... Unser Ziel ist ausschließlich, die
Konsequenzen aus einer Leugnung des Wertbegriffes zu ziehen und zu
zeigen, in welchem Ausmaß er beständig vorausgesetzt wird...
jedermann an das zu erinnern, was er in einer tieferen Schadet besitzt,
ihn in diese tiefere Schicht zu ziehen, in der er das datum des Wertes
erfaßt und daß er gerade den Angelpunkt des Daseins und Lebens
bildet."347
346
Vgl. Christliche Ethik, Kap. 5, S. 92—94. "Wert'. heißt also bei D. von
Hildebrand zugleich das, was immer der letzte Sinn des bonum war, und
zugleich unterscheidet sich sein Wertbegriff von dem Schelers und der
"Wertphilosophie" oder gar dem relativistischer "Werttheorien"
fundamental. Vgl. a. a. O., Kap. 9.
347
Vgl. a. a. O., S. 95, 96.
302
enthalten, für einander widersprechend ansehen. So meint man heute,
die substantielle Verschiedenheit von Leib und Seele sei unverträglich
mit der Einheit des Menschen, während sie in Wirklichkeit ihre
Voraussetzung ist. So meint man, die absolute Verschiedenheit und
optische Transzendenz Gottes als unendliches personales Wesen sei
mit seiner Gegenwart in der Schöpfung unvereinbar, während sie in
Wirklichkeit ihre Grundlage und eines ohne das andere undenkbar
wäre. So meint man, die Liebe und Einheit zwischen zwei Personen
und vor allem zwischen Gott und dem Geschöpf sei unverträglich mit
der realen und ewig bewahrten Verschiedenheit d« Personen, während
in Wirklichkeit gerade diese erst die Vereinigung der Liebe möglich
macht und gerade in der Gemeinschaft die Individualität am tiefsten
gegenwärtig und erfüllt ist.
Andererseits meint man, tief zu sein, wenn man das
Widerspruchsprinzip in Gott aufhebt (in der Nachfolge von Nikolaus
von Cues), wenn man "jenseits" des Gegensatzes von Gut und Böse
"steht", wenn man den Gegensatz von wahr und falsch in Gott für
irrelevant hält.
So wendet sich Nietzsche (und dann Heidegger) entschieden gegen jede
"übersinnliche Welt", gegen jedes Maß der Wirklichkeit durch die
platonischen Einsichten. Er meint sogar, diese unnötige "Verdoppelung
der Welt", die schon Aristoteles Platon vorwarf, stelle eine Entwertung
der wirklichen Welt dar.348
Verschiedenheit und Unterscheidung von Verschiedenem heißt jedoch
nicht Trennung und Auseinanderreißen und stellt nicht den mindesten
Gegensatz zur Einheit zweier Wirklichkeiten dar. Es gibt nämlich ganz
verschiedene Arten der "Einheit". Identität ist nur eine von ihnen,
keineswegs die einzige.
348
Nietzsche meint, durch diese Flucht in eine erlogene, fingierte Welt
würde die diesseitige Welt, die "Erde" (Zarathustra) verdächtigt und ent-
wertet. Deshalb müsse man sie abschaffen. Vgl. dazu besonders auch am
der Götzendämmerung den Abschnitt: "Wie die 'wahre Welt' endlich zur
Fabel Wurde", den Heidegger in seinem Bude über Nietzsche, Bd. I,
ausführlich behandelt. Vgl. dazu auf M. Heidegger, Platons Lehre von der
Wahrheit.
303
1. Wenn man mit "Platonismus" allerdings jenen
"Ideenimmanentismus" meinen sollte, wonach wir nur "Ideen"
erkennen können, aber nicht ihre Beziehung zur wirklichen Welt, so
muß man demgegenüber auf die spezifische Urbezogenheit der
Wesenheiten auf das konkrete, substantielle Sein und seine
Eigenschaften hinweisen. Dabei geht es noch nicht um die Rolle der
Erfahrung für die Wesenserkenntnis, sondern um ein in ihnen
gründend" Merkmal. Jede Wesenheit "lebt ja davon", daß sie von der
Soseinseinheit der jeweils Soseienden "handelt", indem meistens auch
das substantielle, oft das individuell-personale Sein gerade das "ist",
was wir im Akt der Wesenserkenntnis besser begreifen. In diesem Sinn
ist jede Abschneidung der Wesenheiten von der Welt des konkreten,
existierenden Seins unsinnig und unmöglich.
Die Transzendenz unserer Wesenserkenntnis liegt gerade darin, daß es
sich in ihr um das Wesen und den Maßstab von allem So-seienden
handelt, um das, was in jedem konkret Soseienden dieses Wesens
"verwirklicht" ist. Sonst, wenn es sich nämlich nur um "Ideen"
handelte, ohne Beziehung zu einem konkreten Seienden (was in sich
unmöglich ist, da es sich ja dabei immer um das Sosein von etwas
handelt, auf das die Wesenheit hinweist), wären wir allerdings in einer
"immanenten Ideenwelt" eingeschlossen, ja, damit würde aber auch
diese ihres Sinnes beraubt sein.
2. Andererseits ist Nietzsches Gedanke, es handle Eide bei den
notwendigen, ideal seienden Wesenheiten als solchen um eine
"Entwertung der wirklichen Welt" (was Heidegger ihm unbedenklich
nachsagt) ein radikales Mißverständnis. Denn in Wirklichkeit liegt
gerade in den "rationes aeternae" der Dinge, in der Tatsache, daß es
etwas Unerfindbares, notwendig Vereintes, gibt, der einzige Grund für
die Sinnfülle, ja überhaupt für das Sein der konkreten Dinge. Die
konkrete Existenz von Dingen wäre völlig hohl und gleichgültig ohne
jene Sinnfülle, die gerade darin gegründet ist, daß nicht alles
"ebensogut anders sein könnte", daß es nicht einfach faktisch "so ist",
wie wir feststellen können, sondern daß es in seinem Sein an einer
unerfundenen und unerfindbaren Sinnfülle teilhat, welche unmöglich
wäre, gäbe es nicht über dem Wandelnden und vor ibm
wesensnotwendige Fülle, die jede Zufälligkeit ausschließt. Dies soll
nun am Beispiel der Werte, bei denen das Mißverständnis, als handle
es sich bei deren notwendigen Wesenheiten um eine "abgetrennte, zum
304
konkret Existierenden beziehungslose Welt", besonders verbreitet ist,349
veranschaulicht werden.
Es soll dabei auch deutlicher als bisher gezeigt werden, wie falsch der
Einwand gegen die ideale Existenz notwendiger Wesenheiten ist, der
besagt, deren Beziehung zur konkret-existierenden Welt bleibe bei
ihrer Annahme unverständlich.
"Und wenn wir erkennen: diese innere Gutheit, dieser sittliche Wert
wohnt wirklich der Reue inne — so ist dies nicht bloß eine
Wahrnehmung, ähnlich der, die uns ermöglicht festzustellen, daß Blut
rot ist. Vielmehr verstehen und begreifen wir, daß eine wesenhafte
Verbindung zwischen dem Wert und dem Gegenstand besteht. Es ist
nicht nur eine andere und tiefere Beziehung als die zwischen Substanz
und auch historisch gut begründeten Analyse (Der Wert) die volle
Beziehung der Werte zum konkreten Sein herausgearbeitet, in Ausein-
andersetzung mit den vielerlei gegen M. Scheler und D. von Hildebrand
besonders von der Seite der Scholastik erhobenen Einwänden.
305
und Akzidenz — die typische Relation des Anhaftens, der Inhärenz —
, sondern darüber hinaus eine notwendige, intelligible Verbindung,
nicht bloß eine faktische oder akzidentelle. Wir verstehen: Die Reue ist
sittlich gut und das muß so sein... die Bedeutsamkeit als solche kann
man nie von etwas Neutralem ableiten. Jeder Wert muß erfaßt werden...
Aber wenn es wahr ist, daß der Wert der Reue nicht von einem
neutralen Bereich, von neutralen Gesetzen oder von der immanenten
Logik eines neutral gesehenen Seienden abgeleitet werden kann, so
steht auch fest: haben wir einmal den Wert erfaßt, so verstehen wir, daß
er wesenhaft im Sosein der Reue gründet. Die essentielle Verbindung
zwischen sittlicher Gutheit und Reue ist uns nicht weniger univok
gegeben... die Relation zwischen einem Seienden und seinem Wert ist
bei einer direkten Bedeutsamkeit in sich nicht empirisch und
kontingent, sondern notwendig und intelligibel... Es ist einfach
unsinnig zu behaupten, wir meinten mit dem Wert eines Aktes der
Liebe oder der Gerechtigkeit nur einen Motivationsgesichtspunkt, denn
der Wert selbst zeigt sich uns evident als eine Proprietät dieser Akte."350
"Man mag vielleicht entgegnen: Der Wert ist nur ein Ideal, das in der
Wesenheit eines Etwas wurzelt, aber keine Proprietät eines realen,
konkreten, individuellen Aktes... Wenn Ausdehnung wesenhaft zur
Natur der Materie gehört, so findet sich offenbar überall, wo es
konkretes, körperhaftes Seiendes gibt, auch Ausdehnung als eine
konkrete, reale Proprietät. Alle diese Elemente, Merkmale und
Proprietäten, die essentiell in einer Wesenheit gründen, werden real,
konkret und individuell, sobald ein Objekt, das seine Wesenheit besitzt,
real wird. Darum ist die Frage, ob der Wert auch an einem konkreten,
individuellen List von bestimmter Art haftet, als solche schon
gegenstandslos..."351
"die reale konkrete Existenz eines werttragenden Seienden ist jedoch
keineswegs eine notwendige Bedingung für das Auffinden eines
Wertes; der sittliche Adel einer heroischen Tat kann ebenso in der
Handlung eines Romanhelden erfaßt werden." "Werte gehören so sehr
zum Seienden, daß sie geradezu das Mark seines Sinngehaltes bilden."
"Die Gutheit der Gerechtigkeit, die Kostbarkeit einer unsterblichen
Seele, und der Wert der Erkenntnis sind auch in dem Sinn objektiv, daß
ihre Bedeutsamkeit keine Beziehung zu einer Person voraussetzt: im
Gegensatz zum objektiven Gut für die Person sind sie in sich
bedeutsam".
350
D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 110.
351
A. a. O., S. 111.
306
"Die Fülle der Werte ist die wahre, volle Wirklichkeit... der innere
Gestus des Wertes in seinem Glanz und seiner Gesolltheit ist in
Wahrheit das Herz und die Seele des Seins...das innere Feuer der
Werte, ihre immerwährende Glorie und Herrlichkeit: dies ist das letzte
Wort.''352
Teils wegen der Beschränktheit des Rahmens, teils wegen des Planes
zu einem ausführlichen Werk über "Leib, Seele, Unsterblichkeit"353
möchte ich in dieser Arbeit davon absehen, noch ausführlicher als
bisher herauszuarbeiten, wie wir im "si fallor, sum" mit absoluter,
zweifelloser Gewißheit die unentthronbare, an sich seiende Existenz
der eigenen Person erfassen können.
Dies wurde in den wesentlichen Zügen ja schon im vergangenen
Kapitel entwickelt und hier sei nur noch ausdrücklich betont, daß beim
"Cogito" die "Einklammerung" der eigenen Existenz oder gar die
Leugnung ihrer Erkennbarkeit und die Ablehnung des
"transzendentalen Realismus", wie wir sie in Husserls Spätphilosophie
fanden, unhaltbar falsch ist. Im "Cogito" ist der Punkt, wo wir nicht nur
— wie in jeder Wesenseinsicht — in Beziehung auf alle einer
notwendigen Wesenheit entsprechenden konkret existierenden und
überhaupt möglichen Seienden absolut gewisse Erkenntnisse haben,
sondern die reale Existenz der eigenen Person selbst unmittelbar
berühren in ihrer Unentthronbarkeit. Wenn man den eigentlichen
Vorrang der realen Existenz vor rein ideal-Seiendem erkennt, dessen
352
A. a. O., S. 99. Mit der Frage nach dem letzten Sieg der Werte in der
Wirklichkeit berühren wir die entscheidendste Frage nach der Tran-
szendenz des Menschen in der Gotteserkenntnis, was den Gegenstand einer
neuen Arbeit bilden würde.
353
Dort soll vor allem die substantielle Verschiedenheit von Leib und Seele
als Bedingung der Möglichkeit ihrer tiefen Einheit behandelt werden.
Ferner sollen grundlegend verschiedene Dimensionen und Weisen ihrer
Vereinigung herausgearbeitet werden sowie das Wesen der Substantialität
der Seele, ihre Abhängigkeit und Unabhängigkeit vom Leibe, das
Verhältnis und die verschiedenen Arten von unbewußtem und bewußtem
Sein u. a. m.
307
Eigenart wir vorhin andeuteten, dann versteht man auch, wie tief
beglückend es ist, das konkrete, individuell-existierende Sein, das voll
reale Sein unmittelbar berühren zu können, was schon in diesem
Kapitel gegenüber dem Immanentismus des späten Husserl und seiner
Cartesianischen Meditationen sowie in den ersten beiden Kapiteln des
II. Teiles vorliegender Arbeit herausgearbeitet wurde.
In der absolut gewissen Erkenntnis der eigenen Person und des Wesens
meiner Akte in ihrem "Sein an sich" ist auch eingeschlossen, daß ich
eine von mir selbst verschiedene, geheimnisvolle Realität erfasse: die
Zeit. In dem Obergang vom Zweifel zur absolut gewissen Erkenntnis,
die den Zweifel entthront und der Vergangenheit angehören läßt, in der
Tatsache, daß ich zweifelte und nun nicht mehr zweifle, leuchtet mir
nicht nur die notwendige Wesenheit, sondern auch die Realität der Zeit
auf, in der sich mein Sein vollzieht und entfaltet. Ich sehe ein, daß die
Zeit nicht Teil meines bewußten Seins, sondern vielmehr eine
objektive, von ihm vorausgesetzte, mediumshafte Wirklichkeit ist —
ich sehe ein, daß der Zeitpunkt, in dem ich zweifelte und der
Augenblick, in dem ich zur vollen Einsicht geh langte, verschieden
sind, ja daß Zweifel und Gewißheit nicht (im selben Sinn) im selben
Augenblick in mir bestehen können. Ich sehe ein, daß die Zeit, in der
ich einen bestimmten Zweifel hegte, niemals wieder kommen kann; ich
sehe ein, daß die Zeit nie zurückgehen kann und daß vergangene
Augenblicke niemals wieder gegenwärtige werden können, was sie
doch waren, ehe sie vergehen konnten. Vieles andere Staunenswerte
sehe ich über das Wesen und zugleich über die volle Realität der Zeit
ein, was mich in unergründliche Geheimnisse fahrt und es mir
schwermacht, die "Zeit selbst" von dem zu unterscheiden, was in einer
Beziehung zu ihr steht, ohne sie selbst zu sein, wie Veränderung,
Bewegung, Vergehen des Seins... Wäre die Zeit nur eine subjektive
Anschfauungsform und keine objektive Realität, in der sich unser Sein
vollzieht, so wären sowohl meine eigene Person als auch die Außenwelt
ein bloßer Schein, was wir schon früher gesehen haben.
Wenn wir sagen, daß die objektive Realität der Zeit "an sich" mit
absoluter Gewißheit erkannt werden kann, so muß dies näher erklärt
werden. Können wir die reale Zeit mit ebensolcher Gewißheit erkennen
308
wie unser eigenes Sein? Können wir auch den Raum mit absoluter
Gewißheit erkennen?
Wir können bezüglich' der Realität der Zeit nicht auf jenen
elementarsten und einleuchtenden Wesens-Zusammenhang hinweisen,
der zwischen jedem Akt des Zweifels oder Erkennens und dem von ihm
notwendig vorausgesetzten realen Subjekt besteht. Die Zeit ist nicht so
elementar und unausweichlich als notwendige, reale Grundlage jedes
bewußten Aktes gegeben, wie die Realität des "Ich" im "si fallor, sum".
Sie "drängt sich" unserem Geist nicht in derselben Weise "auf".
Ferner gibt es bei der Zeit nicht jene urhafte Berührung ihres realen
Seins, die uns hinsichtlich unseres eigenen Seins im
Vollzugsbewußtsein gewährt ist.
Dazu kommt noch, daß die Zeit selbst als von unserem Sein
verschieden und als Grundlage jedes Werdens und jeder Erinnerung ein
so geheimnisvolles unergründliches und — für sich betrachtet —
dünnes "Medium" ist, daß sie sozusagen dem sich rein auf sie
richtenden Blick zu verblassen droht.
Aber trotzdem müssen wir sehen, wie wir auch dem realen eigenen Sein
und den alle realen Seienden beherrschenden notwendigen
Wesenszusammenhängen auch das reale Sein der Zeit mit absoluter
Gewißheit erkennen und unmittelbar-unvermittelt berühren können.
Gegenüber dem Raum hat sie den "Vorzug", daß sie in keiner Weise in
ihrer konkreten Realität durch die Sinnesorgane "vermittelt" wird,
sondern uns in ein« ganz unmittelbar-unvermittelten Weise mit dem
Vollzug unseres bewußten Seins schon gegeben ist. Außerdem ist sie
das notwendige "Medium" nicht nur aller Körper und ihrer
Bewegungen, wie es auch der Raum ist, sondern auch all unserer
geistigen Akte. Die Zeit ist uns in unseren realen Akten, etwa dem
Zweifel und der mit ihm verknüpften Erinnerung, als voll reales
''Mediums'' dieser Akte und ihrer ''Phasen'' unmittelbar zugänglich.
Wir können nicht nur die ideale Wesenheit der Zeit unmittelbar und
unvermittelt erfassen (dies können wir bei sämtlichen notwendigen
Wesenheiten und selbstverständlich auch der des Raumes), sondern
auch ihr reales Sein können wir in einer analogen Unmittelbarkeit
erfassen, "innerlich wahrnehmen", wie in der Reflexion unser eigenes
Sein. In jeglicher Erinnerung, ohne die unsere Existenz unmöglich ist,
begegnen wir der geheimnisvollen Wirklichkeit der Zeit. Zugleich
können wir das notwendige, intelligible Wesen der Zeit erfassen. Darin
gründet etwa eindeutig die Tatsache, daß die Zeit die objektive, reale
309
Voraussetzung jeglicher Veränderung, Bewegung, jedes Werdens
überhaupt ist und dies sehen wir wiederum in seiner notwendigen
Gültigkeit für jede mögliche Welt ein. Wir sehen ein, daß dies "an sich"
so ist und daß es sich in keiner Weise so verhält, wie viele annehmen,
daß nämlich die Zeit eine Folge oder ein Attribut der Veränderung ist
und nicht vielmehr jedem Werden notwendig als sein "Medium" und
seine Voraussetzung vorhergeht. Dies hat Kant etwa gegenüber
Aristoteles klar gesehen, indem er die Zeit als "Bedingung der
Möglichkeit" für alle Erfahrung von Veränderung begreift. Allerdings
muß gegen Kant gemäß unserer früheren Erkenntnis betont werden,
daß die Zeit in einem objektiven, metaphysischen Sinn "an sich" die
Bedingung der Möglichkeit jedes Werdens ist. Indem wir im Zweifel
die metaphysische Realität der eigenen Person erkennen und die
objektiven, notwendigen Wesenheiten der hier in unmittelbarer
Erfahrung gegebenen Akte erfassen, gilt alles über die Autonomie
dieses Seins ''an sich''; schon Gesagte auch für die Zeit. Von ihr haben
wir ähnlich wie beim "Cogito" zugleich eine Wesenserkenntnis und
zugleich eine unmittelbare, unvermittelte Realerkenntnis.
Ebenso wie A. Reinach in seinem Aufsatz: Über das Wesen der
Bewegung (in: Ges. Schriften a. a. O.) nachgewiesen hat, daß die
absolute Bewegung der relationalen vorhergeht und daß der Raum die
objektive Voraussetzung bewegter oder ruhender Körper ist, könnte
auch erwiesen werden, was einer späteren Arbeit vorbehalten sein muß,
daß die "an-sich-Realität" der Zeit objektives Medium und
Voraussetzung der Dauer und jeder Entwicklung unseres Seins, jeder
Erinnerung etc. ist. Ohne die "Realität der Zeit an sich" würde unser
ganzes Leben, unser geistiges sowie leibliches Sein zu einem Schein,
nicht einer objektiven "Erscheinung" herabsinken. Alle Akte der
Umkehr und Veränderung wären ohne sie ein bloßer Schein, wie wir
schon gesehen haben.
Es kann erst in einer späteren Veröffentlichung eine genaue
Wesensanalyse der Zeit geboten werden, in der auch die scheinbaren
Antinomien des Raumes und der Zeit und zahlreiche andere Fragen
behandelt werden.
Hier sei nur auf einige Wesensmerkmale der mit absoluter Gewißheit
erkannten realen Zeit hingedeutet: Die Zeit hat am meisten den
Charakter eines "Mediums" für alle konkret werdende Wirklichkeit,
wie auch für deren Dauer. Die Zeit sinkt zu einem relativen "Nichtsein"
oder erhebt sich zu höchster Bedeutung je nach dem Seienden, das sich
310
in ganz verschiedener Weise in ihr entfaltet oder in ihr dauert. Die Zeit
bedeutet Dauer, Fülle der Augenblicke, Reichtum oder Flüchtigkeit
und Armut, je nach dem Seienden, das in ihr ist.
Im Wesen der Zeit selbst liegt ihr reinster Kontinuums-Charakter, die
kontinuierliche Abfolge der in einander übergehenden Zeitmomente,
der kontinuierliche "Strom", dessen einzelne Augenblicke sich zwar
nicht klar von den andern wie echte Individuen abheben, dessen
einzelne "Strecken" und "Punkte" aber doch absolut unwiederholbar
und einmalig sind. Es ist evident, daß zwar Experimente, aber niemals
vergangene Augenblicke (oder vergangene Taten etc.) wiederholt oder
ungeschehen gemacht werden könnten. Ebenso existieren die Teile und
"Punkte" der Zeit nie wie die des Raumes ''nebeneinander'', zugleich,
sondern ''nacheinander'' oder ''voreinander''. Auch auf die
Unumkehrbarkeit und viele andere Wesensmerkmale der Zeit kann hier
bloß hingewiesen werden.
Je mehr wir uns in diese notwendigen, intelligiblen Wesensmerkmale
der Zeit vertiefen würden, desto klarer würde uns, daß die Zeit
tatsächlich ein in sich notwendiges, unerfindbares Sosein besitzt, das
ebenso wie ihre Realität mit absoluter Gewißheit erfaßt werden kann,
wenn wir uns nur in das Sosein der vom Akt des Zweifels notwendig
eingeschlossenen Akte der Erinnerung u. a. versenken.
Doch auch das große Thema der Zeit würde den Rahmen dieser Arbeit
sprengen. Wir müssen uns hier mit dem Hinweis begnügen, daß das
über die Wesenseinsicht und Realerkenntnis früher Gesagte einschließt
und die Grundlage dafür bildet, daß wir auch die Realität der Zeit und
ihr Wesen mit einer über allen Zweifel erhabenen Gewißheit als "an
sich seiende Realität" und nicht bloß als "subjektive
Anschauungsform" begreifen können, daß wir im "si fallor, sum" etwa
oder in der Wesenseinsicht in den Akt des Behauptens, in dem wir
Subjekt, Kopula und Prädikat nacheinander aussprechen, das
notwendige Wesen und die Realität der Zeit unmittelbar berühren
können, in ähnlicher Weise wie unser eigenes Sein und die
notwendigen Wesenheiten überhaupt.
311
Immanentismus
312
Formen versteckt und nicht weniger katastrophal ist trotz allem
Schönen, was Kant oft sagt, trotz seiner überragenden Genialität, als
das Werk des Positivismus Humes. Wenn auch nur Raum und Zeit, um
alles übrige einmal unerwähnt zu lassen, bloße subjektive
Anschauungsformen sind, die ich in der Erfahrung voraussetze, die
aber nicht wirklich so sind, wie ich sie erkenne, dann sind auch alle
andern Personen, all ihre Eigenschaften, all ihre Freuden und Leiden,
ihre Liebe und ihre Empörung, ihre Schuld und Bekehrung, die
Wesenhaft die volle Realität der Zeit einschließen, eine bloße
"Konstruktion" meines Geistes, die sich — mir unbewußt — im
"transzendentalen Ich" vollzieht.354 Schon wenn ich Raum und Zeit
wegnehme — in denen ich ja auch alle anderen Personen kenne, in allen
ihren Akten, ihren Veränderungen, ihrer Umkehr, ihrem Sprechen, den
Ereignissen des Lebens — kenne ich vom andern "Menschen an sich"
(und dieser allein interessiert mich und nicht ein bloßes "Mitsein")
nicht. Wenn Raum und Zeit nicht gänzlich von meinem Geist
unabhängige Wirklichkeiten sind, in denen sich objektiv mein Sein
vollzieht, dann bin ich selbst und dann ist die Welt ein
"selbsterfundenes Märchen".
Wenn die Zeit nur eine subjektive Anschauungsform und keine
''objektive autonome Realität wäre, wenn es in der Folge davon auch
keine Objektive Seinsbewegung in der Zeit" gäbe, wie H. C.-Martius
sie in ihrem Buch Die Zeit herausgearbeitet hat, dann wäre es z. B. nicht
objektiv so, daß ein Mensch eine Schuld beging, vor der er nicht
schuldig war oder nach der ihm diese Tat wieder verziehen und
nachgelassen werden könnte.
354
Hier müssen wir noch einmal ausdrücklich betonen, daß die Deutung der
Erkenntnis als Anwendung spontan vom Geist erzeugter Anschanungs- -
und Denkformen auf ein amorphes Material notwendig zum Solipsismus
führen muß, wie wir schon auf S. 163 ff., 252 ff. gezeigt haben.
Daher verfällt Kant schon in der Behauptung der Allgemeingültigkeit tran-
srendentaler Prinzipien einem Widerspruch, da er hierbei unkritisch die
Existenz anderer Menschen implicite voraussetzt. Auch die Ansetzung
eines transzendentalen ego hilft hier nichts, da ich ja dessen "an sich" und
für andere Menschen bestehende Gültigkeit einsehen müßte, was niemals
in einem Akt des Konstruierens, sondern ausschließlich in einem
rezeptiven Erkennen möglich wäre.
313
Also nicht nur für das Sprechen oder die Erinnerung, sondern auch für
die allertiefsten, personalen Wirklichkeiten im Menschen ist die Zeit
als eine objektive Realität vorausgesetzt, wenn nicht unser ganzes
Leben zu einer "maya", zu einem bloßen unwirklichen Schein erklärt
werden soll. Die Frage nun, auf die es jetzt ankommt, ist, ob die andern
Personen objektiv, also unabhängig von meinem Sein sind, und zwar
so sind, wie ich sie sehe und erkenne. Kant hat in seiner Verschiebung
der Wahrheitsfrage durch die nach der unentbehrlichen
Vorausgesetztheit verkannt, daß — außer den wirklich "erscheinenden"
sekundären Sinnesqualitäten — die ganze Natur, die äußere Welt, und
vor allem andere Menschen (ganz zu schweigen von den sittlichen
Werten und vor allem von Gott) überhaupt nur sind, wenn sie
unabhängig von unserem Erkennen, außer uns und jenseits des bloßen
"Objektseins" für einen Geist, auch den göttlichen Geist, "an sich" sind.
Wenn ich mich nicht mit jenem "Mitsein" zufrieden geben will, das von
der Frage des von mir unabhängigen Seins der geliebten Person absieht
und einen metaphysischen Solipsismus darstellt, als welchen Gabriel
Marcel sehr zu Recht Heideggers Philosophie bezeichnet hat, dann muß
mich der Kantische Gedanke, niemals das "Ding an sich" oder der
Husserlsche, niemals die individuelle Existenz erkennen zu können, zur
Verzweiflung bringen. In der Außenwelt und besonders der Realität
anderer Personen nimmt ja die konkrete, individuelle Existenz
gegenüber der idealen Wesenheit eine unvergleichliche
Vorrangstellung ein und macht Ofenbar, daß außer in Gott, wo die
notwendige Wesenheit und die reale Existenz einander gegenseitig
einschließen, nicht die ideale Wesenheit als solche, sondern das
substantielle, individuelle Seiende, das real Existierende das
"eigentliche Sein" ist, sosehr ihm in anderer Hinsicht als Bedingung
seiner Möglichkeit die notwendige, ewige Wesenheit personalen Seins
vorhergeht. Doch sehen wir gerade, wenn wir das Wesen der Person
betrachten, in diesem den einzigartigen Primat und die unvergleichliche
Kostbarkeit, die dem individuell existierenden personalen Sein in
seiner absoluten Einzigartigkeit gegenüber aller "idealen Existenz"
zukommt.
Die Frage also, ob wir in der Gemeinschaft mit der voll realen, von dem
Objektsein für uns und jeden andern Geist unabhängigen Existenz
anderer Personen in Berührung treten, ist in einer Hinsicht noch
bedeutungsvoller als die Frage, ob wir in der Wesenserkenntnis eine
314
autonome, für alles mögliche Seiende gültige und es beherrschende
Wirklichkeit berühren.
Zwar haben wir schon in den vorausgehenden Kapiteln gesehen, daß
gewisse Aspekte von Raum und Zeit, daß das objektiv-gültige "Antlitz"
der Wirklichkeit sich auf der Ebene der Erscheinung konstituiert, auf
der Ebene des Gegenstandseins für den Menschen, beziehungsweise
für ein Bewußtsein.
Aber schon die "primären Sinnesqualitäten" (wie Gestalt, Form,
Ausdehnung) haben ein vollkommen von jedem perzipierenden
Subjekt unabhängiges, objektives Sein (Ausdehnung, Masse,
Bewegung usw.), das wir zwar in einem bestimmten "Menschenaspekt"
sehen, das aber objektiv ist, und erst Recht sind Raum und Zeit, noch
viel mehr aber andere Personen wesenhaft "an sich" (oder sie wären ein
bloßer Schein).
Alle genannten Wirklichkeiten und am tiefsten andere Personen
erheben also den "Anspruch", sind uns gegeben als etwas, was
unabhängig von jedem Erkenntnissubjekt sein muß, um objektiv zu
sein, ja um überhaupt zu sein! Ungleich den Sinnesqualitäten als
solchen, liege im Wesen von all diesen Seienden, unabhängig von jeder
Erkenntnis voll aktuell so zu existieren, wie wir sie erkennen. Dieses
Bewußtsein begleitet jeden Menschen mit so elementarer
Ursprünglichkeit, daß es fast absurd erscheine, dies zu betonen und in
tiefem Staunen diese Wahrheit ins volle Licht philosophischer
Bewußtheit zu heben. In jedem Augenblick, in dem wir mit einem
Menschen sprechen, hören, was er getan hat, was er tun wird, erkennen,
was er ist und vor allem, ihn lieben, haben wir das urgegebene Wissen,
daß all dies, Raum, Zeit, Dinge, andere Menschen, ihre vergangene
Schuld, ihre späte Umkehr, so sind, objektiv und unabhängig von all
unserer Erkenntnis so sind, wie wir sie erkennen. Wäre diese
unabhängige Existenz der Welt nur ein Schein, so wäre die einzig
richtige Antwort jene Verzweiflung Heinrich von Kleists, jene
Verwundung unseres "heiligsten Inneren", von der wir schon in der
Einleitung gesprochen haben.
An dieser Stelle möchte ich nunmehr die vom Erkenntnisstandpunkt
bedeutsame Frage stellen: Wenn wir also jetzt erkannt haben, daß in
vielen Fällen die vollkommen objektive, subjektsunabhängige
Wirklichkeit vorausgesetzt wird, wenn unser ganzes Leben davon
getragen ist, wenn sogar vollkommene Sinnlosigkeit in es einziehen
würde, wäre dieser "objektive Unabhängigkeitsanspruch" der
315
Außenwelt ungültig, wenn also nur durch schwere Irrtümer und
Verwechslungen Heidegger sagen konnte, daß dieses Problem kein
seriöses Problem, sondern eine Scheinfrage sei,355 dann müssen wir uns
nun die Frage stellen: Wie können wir die Legitimität dieses
elementaren Anspruches erkennen, den wir sehen, wenn wir das
Gegebene ernstnehmen? — Ist dieser Anspruch nicht vielreiche doch
355
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, I. Teil, VI. Kap., § 43a: "Die Frage,
ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein bewiesen werden Rinne, ist
als Frage, die das Dasein" (= der Mensch) "als In-der-Welt-sein stellt —
und wer anders sollte sie stellen? — ohne Sinn" (S. 202). Die Fragestellung
Descartes' und auch Kants, der es als Skandal der Philosophie bezeichnet,
einen Beweis für das Dasein der Dinge außer mir noch nicht geliefert zu
haben, lehnt also Heidegger als sinnlos ab, obwohl sie sich seit Platon und
Augustinus als eine der klassischen Fragen erweist. Heidegger schreibt (a.
a. O., S. 205): "Der ,Skandal der Philosophie' besteht nicht darin, daß dieser
Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer
wieder erwartet und versucht werden." Dabei mein: Heidegger, diese Frage
setze voraus, daß man ein isoliertes, "weltloses" Subjekt künstlich ansetze.
Das "Dasein als In-der-Welt-sein" verstanden sei jenseits aller solcher
Fragestellungen. In Wirklichkeit aber verwechselt Heidegger die Tatsache,
daß es zum Menschen selbstverständlich gehört, "in einer Welt" zu leben
und ständig auf sie bezogen zu sein, was Descartes nicht nur nicht leugnet,
sondern wovon er ausgebt und was gerade den Ansatzpunkt seiner Frage
bildet — mit der ganz anderen Frage, ob der objektive Anspruch dieser
Augenwelt zu Recht besteht, unabhängig davon, Gegenstand unseres
"Bewußtseins von" zu sein, "an sich" zu existieren. Die Frage ist gerade,
ob wir nur ein Welt habendes Dasein" sind, das sich beständig in einer Welt
"vorfindet" oder ob es an sich diese reale Welt gibt, ob sie "an sich" so ist,
wie sie uns gegeben ist oder ob sie wie eine Traumwelt nur "an sich" zu
sein scheint, was bei jeder Täuschung der Fall ist. Es scheint mir bei
Heidegger eine unehrliche Scheinüberwindung dieses Problems
vorzuliegen, bei der die eigentliche Frage nicht einmal gestellt, aber dabei
im Grunde in einer extrem idealistischen Weise gelöst wird, wie bes. aus §
44 a. a. O. hervorgeht. Diese Heideggersche "Lösung" der klassischen
Frage nach der objektiven Existenz der Außenwelt ist ebenso idealistisch
wie die Husserlsche Lösung der Frage des aus seinem Idealismus sich
ergebenden Problems da Solipsismus durch "das Phänomen des
Fremdbewußtseins", was wir schon zu Eingang dieses Kapitels behandelt
haben.
316
im Grunde eine Täuschung in dem Sinne, daß er nicht erfüllt ist, und
wir also doch in einer Welt leben, wo wir wie durch ein "Wunderglas"
getäuscht werden, ähnlich dem, das E. T. A. Hoffmann in dem
Sandmann beschreibt und das der Zaubermann Copula einem jungen
Manne gibt, der dadurch das, was "an sich" eine Puppe ist, als eine
menschliche Person sieht?
Wir haben gesehen, daß die objektive Realität der eigenen Person und
ihrer Akte in keiner Weise durch die Infragestellung der unabhängigen
objektiven Existenz der Gegenstände der Außenwelt entthront würde,
sondern vielmehr auch in jedem Traum vorausgesetzt wäre. Jetzt
wollen wir uns eine neue Frage stellen: Wie können wir sicher sein, daß
wir nicht ewig träumen von der Welt, daß diese keine Fabel ist, wie das
von Stirner als konsequente Folge jedes Idealismus aufgedeckt und
vertreten wurde?
Abgesehen von dem inneren Grauen, von dem absoluten Widerspruch
zu dem majestätischen Anspruch der Außenwelt, zu sein, unabhängig
davon, ob ich von ihr weiß oder nicht, ist es, wie schon im I. Teil
gezeigt wurde, absolut einsichtig, daß ich in keiner Weise bewußt diese
Außenwelt schaffe, in der ich täglich Neues lerne. Es ist absolut gewiß,
daß ich nicht das größte Genie bin und alle Werke und Dinge schaffe,
die ich sehe. Es ist aber auch absolut gewiß, daß nicht ein "an-sich-Teil"
meiner selbst dieser Schöpfer sein kann, da das Unbewußte als ein
absolut Unbewußtes niemals etwas schaffen, vor allem sinnvoll
schaffen kann, was auch eine Wesenseinsicht ist. (Ein so erbärmlicher
Gott, der nicht einmal weiß, was er selbst alles ständig schafft, ist ein
Unding.)
Außerdem aber ist das Traumerlebnis durch eine besondere Unordnung
gekennzeichnet und durch die assoziative Abfolge der Dinge bedingt,
die häufig sogar wesenseinsichtigen Gesetzen widersprechen, etwa
dem Gesetz der Kontinuität der Bewegung, der Unteilbarkeit von
Personen usw. — außerdem aber ist die "Traumwelt" auch nicht wie
317
die Tageswelt durch die verschiedensten Sinneswahrnehmungen und
Sinnzusammenhänge gegenseitig gestützt.356
Also bleibt für den Leugner der Außenwelt "an sich" ganz offenbar nur
die Möglichkeit, daß ein böser Geist mir die Außenwelt vorgaukelt —
böse, weil er eine der grauenhaftesten Täuschungen in mir hervorrufen
würde, da geradezu aller Sinn meines Lebens ausgelöscht und
unterhöhlt würde, wenn der Ernst, in dem ich andere Menschen z. B.
als reale Personen liebe, untergraben würde. Ein böser allmächtiger
Geist, wie Descartes erkannt hat, wäre dann der einzige Urheber, der
— ohne die objektive Realität der Außenwelt — mir in seiner Allmacht
einen in allem überzeugenden, täuschenden Schein der Welt
vorgaukeln könnte, ohne daß diese wirklich wäre.
Dies ist eine abstruse Konstruktion nicht bloß deshalb, weil es
"unrealistisch" ist, sondern aus dem tiefsten Grund, den Descartes
anführt, der Wahrhaftigkeit Gottes, das heißt, dem Wesenswiderspruch
zum Absoluten, den dies einschließen würde.357 Wir müssen uns
klarmachen, daß — ohne die Bosheit eines solchen Geistes zu
verstehen — im Grunde die östlichen Religionen alle einen solchen
täuschenden Betrug der Wirklichkeit annehmen, daß Hegel dies auch
im Grunde annimmt, daß auch Kants Lehre irgendwie darauf
hinausläuft, daß dies eindeutig Schopenhauers Auffassung ist und daß
etwa Nietzsche den Urgrund da Kosmos als einen "Willen zur Macht"
auffaßt, der sowohl Gut als Böse, der alle Betrügerei einschließt. 358
Doch wir brauchen uns nur der tragischen Situation dieses Lebens
bewußt zu sein, wir brauchen nur an unseren Tod zu denken und vor
allem an den geliebter Waen. Ich sage, wenn dieser das letzte Wort
wäre, dann wäre der Schöpfer der Welt ein böser Betrüger, und das
nehmen schließlich alle Atheisten und alle Menschen an, die nicht von
der Unsterblichkeit überzeugt sind.
356
Eine Analyse der objektiven Existenz der Außenwelt findet sich auch in
What is philosophy? von D. von Hildebrand; ich stütze mich vorwiegend
auf die noch erweiterte Analyse dieser Frage in seinen
erkenntnistheoretischen Gastvorlesungen (Salzburg 1964).
357
Eine nähere "Begründung" dieser kartesischen Einsicht könnte erst in
einer Arbeit über philosophische Gotteserkenntnis geleistet werden.
358
Diese Auffassung kennzeichnet Nietzsches Philosophie von der Geburt
der Tragödie an bis zum letzten Aphorismus am dem Willen zur Macht.
318
Warum nun, so frage ich, sollte nicht ein solcher böser Geist auch
imstande sein, den Menschen mit einem Gaukelspiel zum Narren zu
halten — außer dies widerspricht dem Wesen des Absoluten?
Descartes' Alternative ist zutiefst richtig. In der Gutheit Gottes ist das
letzte Fundament nicht nur all unserer Hoffnung und unseren
Vertrauens, sondern auch alles unseres dauernden, auf Erinnerung
aufgebauten Wissens und unseres Vertrauens auf die objektive Realität
der Außenwelt und anderer Personen. 359
In diesem Punkt ist Descartes noch über das Augustinische "si fallor,
sum"-Argument hinausgegangen und hat hier die tiefste Wirklichkeit
als letzten Grund der gewissen Erkenntnis entdeckt.
Trotz des bisher Gesagten und von Descartes Zugestandenen über die
absolut gewisse Einsicht in wesensnotwendige Wahrheiten und der
zweifellos gewissen Existenz der substantiellen, metaphysischen
Wirklichkeit der eigenen Person ist es ganz wahr, daß eine letzte und
absolute Gewißheit, die dauert und die auch das Vertrauen auf die
Erinnerung an einmal Erkanntes wesentlich mit einschließt, vor allem
aber, daß die absolute Gewißheit bezüglich der objektiven Wirklichkeit
der Außenwelt nur an dem letzten und höchsten Punkt zu erreichen ist:
in der Güte des absoluten Wesens. Denn wenn Wille zur Täuschung in
jenem Geiste sein könnte, ohne den weder ich noch irgend etwas sonst
sein könnte, dann wäre das letzte Fundament der Wirklichkeit zerstört
und damit das Vertrauen auf alles, was ich nicht im Augenblick mit
letzter Evidenz einsehe, unberechtigt. Doch ist uns wohl schon vor der
ausdrücklichen philosophischen Gotteserkenntnis, der höchsten Form
der Transzendenz des Menschen in der natürlichen Erkenntnis, die
Unmöglichkeit eines "Betrüger-Geistes" als Hintergrund des Seins und
unseres Lebens in geheimnisvoller Weise im Wesen der Wirklichkeit
selbst ahnungshaft gegeben. Wir kennen aus der Ordnung der Natur
und unserer Wesenserkenntnis immer etwas vom Wesen Gottes, was
uns verhindert, an der objektiven Außenwelt zu zweifeln, auch dann,
359
Dabei müssen wir ganz klar anerkennen, worauf Descartes wiederholt
hingewiesen hat, daß er nicht von der unmittelbaren Einsicht in einen
Wesenszusammenhang (in der 5. Meditation nennt er hier ausdrücklich
auch das Wesen des Dreiecks) oder in das "Cogito, sum" spricht, sondern
von dem Vertrauen auf die Erinnerung unserer Einsicht und auf die
Erkenntnis der nicht wesensnotwendigen, objektiven Existenz der
Außenwelt.
319
wenn wir nicht ausdrücklich an Gott glauben oder seine Existenz
erkannt haben.
Im Wesen der Werte, im Wesen der Ordnung von Gut und Böse, im
Wesen der Schönheit von Natur und Kunst gibt es etwas wie einen
Widerschein von jener letzten Ordnung und Güte und "veracitas Dei",
die den letzten Grund des Seins bildet und von der ich auf Grund diese
"Abglanzes" schon überzeugt bin, bevor ich ausdrücklich in der
Erkenntnis dazu aufsteige. Eine gewisse Kenntnis des Wesens der
Wirklichkeit verbietet mir anzunehmen, ein Dämon habe die Welt
geschaffen oder ein "allmächtiger Betrüger" gaukle sie mir vor. Eine
vom Teufel erfundene Welt "sähe anders aus", obwohl die Macht des
Bösen in der Wirklichkeit so gewaltig ist. Doch die Unschuld eines
Kindes, die herzbewegende Güte, die manchen Menschen eigen ist, die
"Frohe Botschaft der Werte''360 verkündet als eine in all diesen Werten
vernehmliche "Stimme" den letzten Grund der Wirklichkeit als den
Inbegriff des Guten.
Man könnte gegen diese Einsicht Descartes' einwerfen, wie Nietzsche,
man "moralisiere damit das Sein", man begehe einen kindlichen
Anthropomorphismus und wisse im Grunde nichts vom absoluten Sein.
Und damit kommen wir zu der höchsten Frage der Philosophie und zur
Frage nach dem Gipfel der Transzendenz des Menschen in der
philosophischen Erkenntnis: zur Frage nach der Erkennbarkeit des
Daseins und gewisser Wesenseigenschaften Gottes, ohne welche
Erkenntnis wir trotz aller gewonnenen Einsichten in gewissem Sinne
noch unter Schattenbildern herumtappen. Im Wissen, daß diese höchste
philosophische Erkenntnis von Platon und Aristoteles bis Augustinus
und Anselm, von Thomas v. A. und Descartes bis zu verschiedenen
Denkern der Moderne gewonnen wurde, überlassen wir die eigene
Klärung dieser höchsten Stufe der "Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis" einer späteren Veröffentlichung. Wir mußten uns in dieser
Arbeit damit begnügen, das sichere Fundament aufzuweisen, auf dem
sich alle weiteren Dimensionen der "Transzendenz des Menschen"
erheben.
360
Vgl. D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. 13.
320
Wenn es auch nur gelingen sollte, einem einzigen Leser durch meine
Arbeit die Augen dafür zu öffnen, daß der Mensch die an sich seiende
Wirklichkeit und die objektive Wahrheit erkennen kann, so wäre die
Veröffentlichung dieser Arbeit nicht umsonst. Denn, was Sokrates als
Aufgabe des Philosophen bezeichnet, nämlich anderen einen "geistigen
Hebammendienst" zu leisten, ist ein heute besonders nötiges Ziel auch
dieses Buches: Möge es inmitten des geistigen Chaos der Gegenwart
anderen zur "Geburt" der Erkenntnis objektiver Wahrheit verhelfen,
von der aller Sinn unseres Lebens abhängt.
361
Vor allem die bedeutende Schrift von Walter Hoeres, Kritik der tran-
szendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, Stuttgart 1969; Alice von
Hildebrands klare und tiefe Analyse, On the Pseudo-Obvious (in:
Verwahrheit, Wert und Sein, hrsg. von B. Schwarz, Regensburg 1970), und
das umfassende Werk Winfried Weiers, Sinn und Teilhabe, Salzburg 1970.
321
unmittelbare Sachkontakt verlassen wird. Doch konnte mich kein
Argument davon überzeugen, daß die im I. Teil der Arbeit vorgetragene
These falsch oder auch bloß unwesentlich wäre: daß nämlich nicht bloß
im Begriff, sondern im Wesen von Erkenntnis (im engeren Sinn)
gründet, daß in ihr selbst kein Irrtum liegen kann. Vor allem die im I.
Teil der Arbeit dargelegte Einsicht Platons und Descartes', daß der Akt
des Erkennens und der des Irrens wesensverschieden sind und niemals
auf der Ebene des empfangenden Erkennens, sondern ausschließlich
auf der Ebene spontan-produktiver geistiger Tätigkeit ein Irrtum sich
finden kann, muß wohl gegen Einwände Hengstenbergs noch
abgesichert, darf aber unmöglich aufgegeben werden. Ähnliches gilt
für den Einwand Hoeres', der nicht bloß das Erkennen selbst (das
Erfassen der Wirklichkeit) als ein Empfangen erfaßt, sondern auch das
anschließende Urteilen für eine "empfangende Schau" hält. Dabei wird
wohl der Urteilsakt mit der "Sachverhaltserkenntnis" identifiziert. So
unvergleichlich viel näher ich der Erkenntnislehre Hoeres' stehe als der
transzerdentalphilosophischen, so muß ich doch in der Entdeckung der
Spontaneität des Urteilsaktes eine echte Erkenntnis Kants erblicken,
deren volle Anerkennung und Klärung mir gerade dann wichtig scheint,
wenn man den entdeckenden, empfangenden Grundzug des
Erkenntnisaktes so klar aufweist wie Hoeres. Gerade in dem
unerbittlichen Kampf gegen jede Form des transzendentalen
Idealismus, nach dem das Erkennen selbst ein Erzeugen des
Gegenstandes ist, muß man das empfangende Erfassen des Seins von
dem der Behauptung eigenen geistig-spontanen "Hinstellen" des
Sachverhalts durch das Medium eines "Urteils" unterscheiden. Doch
verdanke ich sowohl Hoeres als auch Hengstenberg zahlreiche wichtige
Anregungen zu einem vertieften Verständnis des Verhältnisses
zwischen Erkenntnis, Irrtum, Sein und Wahrheit, auf die ich in späteren
Veröffentlichungen eingehen möchte. Insbesondere der I. Teil meiner
Arbeit ist ja der Natur des Erkenntnisaktes gewidmet. Es ist der
Versuch, die "Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis"
herauszuarbeiten, d. h. die einzigartige Form des
Sich-selbst-Überschreitens, die im Erkennen liegt. Dabei ist es vor
allem der empfangende Grundgestus des Erkennens, sein
"zentripetaler" Charakter, dem mein Interesse gilt. Erkennen ist
niemals ein geistiges "Hervorbringen" und niemals ein "immanenter"
psychologischer Zustand, sondern ein Empfangen, Erschauen, Erfassen
von einem Sein, das unserem Erkenntnisakt transzendent ist, jenseits
322
seiner liegt. Dies hat W. Hoeres (a. a. O.) bewundernswert klar
herausgearbeitet.
Dabei ist es ein marxistisches und auf die Transzendentalphilosophie
zurückgehendes grobes Vorurteil, als sei ein solches Empfangen bloße
Passivität, als bestünde nicht eine ungeheuer staunenswerte Tätigkeit
des Empfangens und eine unvergleichliche Größe des Menschen darin,
aktiv empfangen zu können, ein Sein zu erfassen, geistig zu haben, wie
Augustinus es oft ausdrückte, das er nicht selber ist.362
Hier berühre ich nun eine wichtige Richtung der Ergänzung meiner
Arbeit durch eine ausführlichere Klärung des Wesens der Wahrheit, als
sie mir in diesem Buch möglich war. Vor allem der Terminus
"unvollständige Wahrheit" und "Wahrheiten", der öfters von mir
gebraucht wird, bedürfte einer Klärung. In beiden Fällen ist der
Ausdruck "eine Wahrheit" gleichbedeutend mit einem "wahren Urteil"
über einen bestimmten Sachverhalt. Allerdings kommt dabei die
Tatsache zum Ausdruck, daß "die Wahrheit" über einen bestimmten
Tatbestand ganz unabhängig davon ist, ob sie von Menschen in einem
wahren Urteil tatsächlich ausgesprochen wird oder nicht. Wenn wir ein
"wahres Urteil" fällen, so entsteht nicht durch dieses Aussprechen erst
"die betreffende Wahrheit", sondern sie besteht schon zuvor und "reicht
so weit wie das Sein" selbst. Mit "Wahrheiten" ist also das gemeint,
was den verschiedenen wahren Urteilen entspricht, schon bevor diese
formuliert werden und was dann in ihnen ihre Wahrheit ausmacht.
Selbstverständlich ist damit nicht gemeint, daß das Wesen der
Wahrheit, die "Übereinstimmung" eines Urteils mit dem in ihm
behaupteten Sachverhalt, jeweils ein verschiedenes wäre. Wenn man
unter "Wahrheit" das Wesen der Wahrheit meint, gibt es natürlich nur
eine Wahrheit. Leider kann eine in diesem Zusammenhang überaus
wichtige nähere Analyse der Wahrheit in diesem Rahmen unmöglich
geboten werden; ich kann nur auf die unübertrefflichen Analysen des
Urteils und seines Wahrheitsanspruchs sowie des Wesens der Wahrheit
hinweisen, die A. Pfänder in seiner Logik geleistet hat.363 Sie können in
vollkommenster Weise die hier nötige Ergänzung bieten.
362
Dies haben Hoeres a. a. O. und John Crosby in Zur Kritik der
marxistischen Anthropologie (Dissertation, Salzburg 1970) hervorragend
nachgewiesen.
363
Vgl. dazu Alexander Pfänder, Logik, Tübingen 1963, S. 384: "Falschheit
des Urteils liegt schon dann vor, wenn das Selbstverhalten des
323
Der Ausdruck "unvollständige Wahrheit" muß ferner so verstanden
werden, daß ein vollständig wahres Urteil den Gegenstand, auf den es
sich bezieht, nicht erschöpft und daher durch andere vollständig "wahre
Urteile" ("Wahrheiten") vervollständigt werden muß. Nicht aber ist
damit irgendwie gemeint, daß ein univokes Urteil "halbwahr" bzw.
mehr oder minder wahr, also "unvollständig wahr" sein könnte, was
allerdings, wie Hengstenberg mit vollem Recht hervorhebt, in einem
Widerspruch zu der Natur der Wahrheit sowie zu meinem Versuch, den
Relativismus und die Skepsis zu überwinden, stehen müßte. Zweifellos
würden die von mir in diesem Zusammenhang gebrauchten Ausdrücke
oft erst durch eine eingehendere Analyse ihren präzisen Sinn erhalten.
Doch scheint es mir für den Leser möglich, bei Ausdrücken, die ein
verschiedenes Verständnis zulassen, den von mir gemeinten Sinn aus
dem Zusammenhang zu erkennen.
Am meisten muß vielleicht einem falschen Verständnis des öfters
gebrauchten Ausdrucks "einige Wahrheiten" vorgebeugt werden.
Sicherlich ist mit dem auch hier verwendeten Plural nicht gemeint, es
gäbe "mehrere Wahrheiten", die einander widersprächen und
irgendeinen Gegensatz zum Wesen der Wahrheit oder zur einen,
allumfassenden Wahrheit bilden würden. Augustinus, der den
Ausdruck "veritates aeternae" geprägt hat, war einer solchen Meinung
so fern, daß dieser Punkt keiner näheren Erläuterung bedarf. Offenbar
können niemals zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte
Urteile, von denen das eine auf das Bestehen eines Sachverhaltes
abzielt und das andere die Existenz desselben Sachverhaltes leugnet,
zugleich wahr sein.
Wenn daher von ewigen Wahrheiten im Plural die Rede ist, so sind
damit zunächst besondere wahre Urteile gemeint, die zusammen einen
"Teil" der einen Wahrheit (als dem Inbegriff wahrer Urteile) bilden.
324
Diese besondere Art von wahren Urteilen hebt sich von den übrigen
durch die Eigenart der ihnen entsprechenden Sachverhalte ab. Jedes
Urteil (immer als mit einem Urteilssatze verknüpfte "Bedeutung"
verstanden) zielt ja auf das Bestehen eines Sachverhaltes ab und ist
dann wahr, wenn der Sachverhalt wirklich in der Weise besteht, wie
das Urteil ihn "meint". Die "ewige Wahrheiten" genannten Urteile
zielen nun auf eine ganz besondere Art von Sachverhalten ab, deren
Eigenart der Terminus "ewig" angibt. Gegen diesen Ausdruck könnte
ja zunächst geltend gemacht werden, daß jedes wahre Urteil, daß "jede
Wahrheit" "ewig" bzw. zeitlos ist. Auch die Wahrheit eines Urteils, das
sich auf den gewöhnlichsten Sachverhalt bezieht, wie etwa auf die
Einwohnerzahl einer bestimmten Stadt zu einer bestimmten Zeit, kann
sich niemals ändern. Dieses Urteil, wenn es wirklich wahr ist, kann
niemals "unwahr" werden. Dennoch enthalten solche "Wahrheiten"
insoferne einen Bezug zur Zeit, als die Sachverhalte, auf die sie sich
beziehen, zeitlich wandelbar sind. So verändert sich die Einwohnerzahl
einer Stadt ständig und daher ist — der veränderlichen Natur solcher
Sachverhalte entsprechend — in derartigen "Wahrheiten" ein Bezug
zur Zeit enthalten. Es wird das Bestehen oder Bestandenhaben dieses
oder jenes Sachverhalts zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt behaupte.
Würde man diese Bezugnahme solcher Urteile auf den bestimmten
historischen Augenblick, zu dem der in ihnen behauptete Sachverhalt
bestand, weglassen, so würde ein gleichlautender Urteilssatz im
Grunde verschiedene Urteile zum Ausdruck bringen, von denen sehr
wohl eines wahr, ein anderes falsch sein könnte. So wäre ein Satz, wie:
"Heuer starb Sokrates" wahr, wenn er auf das Jahr 399 v. Chr. bezogen
und in diesem Jahr ausgesprochen worden wäre, hingegen falsch, wenn
man das darin gemeinte Ereignis mit denselben Worten auf einen
anderen Zeitpunkt (etwa das Jahr 1970 n. Chr.) verlegen wollte.
Und genau diese Art des Bezugs zur Zeit fälle bei den "ewigen
Wahrheiten" weg, da die in ihnen ausgesägten Sachverhalte nicht
zeitlich wandelbar sind, sondern zeitlos, notwendig, unwandelbar und
höchst intelligibel. Jedes universale apodiktische Urteil — somit
nahezu jedes philosophische Urteil — weist, wie wir gezeigt haben,
wesenhaft auf das Bestehen solcher notwendiger, zeitloser
Wesenszusammenhänge hin. Die Philosophie steht und fällt daher mit
der Möglichkeit, solche Wesensgesetze zu entdecken und voll bewußt
zu erkennen. Dem Nachweis, daß es solche zeitlosen, intelligiblen und
unwandelbaren Wesenssachverhalte, Wesensgesetze etc. gibt, ist
325
insbesondere der II. Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet. Dort wird
auch behandelt, wie diese zeitlosen Wesenszusammenhänge (die man
selber "veritates aeternae" nennen kann, wenn damit auch primär die
auf sie bezüglichen wahren Urteile gemeint sind), die in "notwendigen
Wesenheiten" (dem, was Platon primär mit den "Ideen" im Auge hatte)
gründen, von größter Bedeutung für die gesamte Wirklichkeit sind, wie
ohne sie keine Erkenntnis und überhaupt kein Sein bestehen könnte. So
wichtig hier auch eine Weitere Klärung ist, so kann ich mich
diesbezüglich mit dem Hinweis auf die Analyse der Wahrheit in
Pfänders Logik und in den später zitierten Quellen begnügen.
Notgedrungen konnte in diesem Buch nicht mehr alles ausführlich
untersucht werden, was schon in den Büchern, auf die ich mich in
meiner Forschung stützte, erarbeitet wurde.
Ähnliches gilt für den an zentraler Stelle dieser Arbeit eingeführten
Ausdruck "notwendige Wesenheit". Es ist damit etwas Prinzipiell von
dem Verschiedenes gemeint, was etwa Hengstenberg als "Wesenheit"
bezeichnet und von dem er sagt, es sei ausschließlich in Gott
"notwendig". Er meint dabei das konkret-individuelle Sosein eines
Seienden und dieses ist natürlich bei keinem Kontingenten Seienden
notwendig. Das betreffende Seiende und damit sein konkretes Sosein
könnten ja auch nicht existieren. Es ist also mit "notwendiger
Wesenheit" hier ein allgemeines, notwendiges Genus gemeint, das, wie
wir im II. Teil nachweisen, ein bestimmtes "ideales Sein" besitzt, das
ja auch Hengstenberg voll anerkennt. Ja, in: Thesen zur
Seinskonstitution (in: Franzisk. Studien, Jg 49, H. 1—2) hat er auf die
verhängnisvollen Folgen hingewiesen, die jede Auffassung hat, die das
"allgemeine, ideale Sein" als konstitutiven Bestandteil des einzelnen
Seienden auffaßt. Allerdings macht Hengstenberg den m. E. überaus
wichtigen, ja entscheidenden Unterschied nicht, den wir in D. v.
Hildebrands erkenntnistheoretischen Werken finden: Das Sosein der
verschiedenen Seienden hat eine zutiefst verschiedene Stufe innerer
Sinneinheit und Sinnfülle. Während etwa eine zufällige
Aneinanderreihung von Tönen keine Melodie ergibt und von keinerlei
innerem "Sinnprinzip" her geeint ist, während die "Einheit" dieser
Tonfolge nur diejenige ihres faktischen Vorkommens ist, rein von
außen und lose geeint, treffen wir z. B. schon in einer sinnvollen
Melodie oder in anderer Weise in den verschiedenen einzelnen
Pflanzenoder Tierarten auf ein inneres Sinnprinzip, das es erlaubt,
einen Unterschied zwischen Allgemeinem und Individuellem zu
326
machen; hier finden wir ein sinnvolles, bis zu einem gewissen Grad
intuitiv erfaßbares, jedenfalls sinnvollerweise durch Beobachtung und
Induktion empirisch erforschbares allgemeines "Eines". Dennoch sind
diese Gebilde solcherart, daß ein empirisches Kennenlernen und
Studium der Fakten unerläßlich ist. Dieses sinnvolle "morphische"
Sosein besitzt nicht den Charakter voller Intelligibilität. Es läßt sich
hier das "Allgemeine" nicht an einem einzigen Fall schon feststellen,
sondern erfordert wiederholtes Kennenlernen. Vor allem aber hängen
die einzelnen Momente innerhalb dieses Soseins nicht dergestalt
notwendig zusammen, daß irgendeine Einsicht möglich wäre, die uns
das Urteil erlaubte, daß dieses und jenes Element notwendig mit diesem
und jenem anderen verknüpft wäre. Eine philosophische, apriorische
Erkenntnis über die Unterschiede zwischen Katzen und Hunden kann
es eben nicht geben, sondern zum wissenschaftlich soliden Feststellen
dieses Unterschiedes sind ausgedehnte empirische Forschungen,
Beobachtungen und Induktion erfordert.
In der Philosophie hingegen finden wir als deren Hauptgegenstände
Typen von Sosein, die eine wesenhaft höhere Stufe der "Einheit",
nämlich innere Notwendigkeit und Intelligibilität besitzen. Hier finden
wir nicht nur ein inneres Sinnprinzip, sondern ein nicht mehr
kontingent-veränderliches, ein notwendig-unerfindbares Sosein, wie
Person, Erkenntnis, Freiheit, Gerechtigkeit etc., das uns erlaubt: 1. an
einem einzigen realen, ja bloß vorgestellten Fall das allgemeine Sosein
kennenzulernen, 2. die notwendige Verbindung, etwa zwischen
Gerechtigkeit und Freiheit, Verantwortlichkeit, Person einzusehen,
derart, daß ich z. B. erkennen kann, daß wesenhaft nie das Sosein von
Gerechtigkeit oder irgendeinem sittlichen Wert sich konstituieren
könnte in einem außerpersonalen, unfreien Seienden. 3. eine Einsicht,
ein Verstehen der intelligiblen, lichtvoll von innen her einander
fordernden Elemente dieser "Soseinseinheiten"; dies ist im Falle der
einzelnen Tierarten unmöglich. 4. Absolute Gewißheit über die
allgemeine, ausnahmslose Gültigkeit der in solchen "notwendigen
Wesenheiten" gründenden Gesetze für jedes individuelle Seiende, das
ein solchen Wesenheiten "entsprechendes" Sosein besitzt, also: Wo
immer — in jeder möglichen Welt — die Qualität der Gerechtigkeit
vorkommt, muß sie in einer freien, verantwortlichen Person realisiert
werden.
Die notwendige innere "Geeintheit" dieser "idealen notwendigen
Wesenheiten" ist auch der Grund dafür, daß die "konditionale
327
Notwendigkeit" besteht, von der Hengstenberg spricht. Nur hier also
gilt, was Hengstenberg treffend als "konditionale Notwendigkeit"
bezeichnet. (Wenn Gerechtigkeit existiert, muß Freiheit sein.) Denn z.
B. im Falle einer Tierart, wie einer Kuh oder einem Schaf, sind
philosophische, absolut gewisse Erkenntnisse in allgemeine "Gesetze"
über jedes individuelle Schaf, bzw. jede Kuh, unmöglich. Die
verschiedenen Tierarten, so sinnvoll sie sind, könnten auch andere
Merkmale aufweisen, es könnte alle möglichen Verbindungen jener
verschiedensten Elemente geben, die sinnvoll, aber nicht notwendig in
den einzelnen Tierarten vereinigt sind. Daher ist eben hier nicht eine
philosophisch-apriorische, sondern eine empirisch-induktive
Forschung angebracht.
Es hängt nämlich nicht bloß an der Methode (etwa der Husserlschen
epoché), wann apriorisch-philosophische Erkenntnis möglich ist,
sondern ebensosehr an der Eigenart des Gegenstandes und der Stufe
innerer Sinneinheit. Und gerade darin sehe ich eine der überragendsten
Entdeckungen D. v. Hildebrands, die im Laufe dieses Buches teils
erläutert, teils vorausgesetzt wird. Daher kann man — so verstanden —
unmöglich auf den Terminus der "notwendigen Wesenheiten"
verzichten, der ganz bewußt gebrauche ist.
Damit berühren wir auch schon den Terminus "absolute Gewißheit",
der ebenso bewußt verwendet wird. Allerdings muß er recht verstanden
werden. Er bezieht sich auf eine Erkenntnis, in der ich das von meinem
Geist verschiedene Seiende mit einer von keinem Zweifel
erschütterbaren Gewißheit erfasse, und zwar nicht bloß mit einem
subjektiven Gefühl der Sicherheit, sondern mit einer objekeiven, von
der Sache selbst meinem Geist gespendeten Gewißheit, in der nicht
bloß objektiv keine Täuschung und kein Irrtum mehr möglich sind,
sondern ich auch weiß, daß solches ausgeschlossen ist. Der Terminus
"absolut" beziehe sich dabei zunächst auf diesen archimedischen
Punkt, an dem jede Zweifelsmöglichkeit und Berechtigung eines
Zweifels ausscheidet. Zweitens aber bedeutet er — wenn es sich um
allgemeine Zusammenhänge handelt — den Gegensatz zu dem
"graduellen Wachsen" der Wahrscheinlichkeit, wie wir es bei aller
empirisch-induktiven Erkenntnis der "Naturgesetze" finden. Es ist
nicht von dem Wahrscheinlichen je ein graduelles Wachsen bis zu
dieser Gewißheit möglich, sondern die Absolute Gewißheit ist eine
wesensmäßig von jeder, auch der höchsten "Wahrscheinlichkeit"
verschiedene Gegebenheit. Es ist meine feste Überzeugung, die
328
insbesondere anhand der augustinischen Zweifelsanalysen in dieser
Arbeit erhärtet wird, daß eine solche philosophische Gewißheit
möglich ist und daß nur in ihr die Philosophie und jedes menschliche
Wissen, ja, auch jedes Glauben ein "fundamenrum inconcussum"
findet, ohne das diese "in der Luft" hängen, ja, unmöglich sein würden.
Absolute Gewißheit bedeutet daher den Gegensatz zu jeder
"irrationalen Annahme", anfänglichen "Hypothese", zu jeder Art eines
deshalb rational nicht mehr beweisbaren Wissens, weil es ungewisser
als das Bewiesene wäre; es handelt sich hier vielmehr um das
rationalste Wissen, das die Grundlage jedes Beweises ist, das die
Grundlage der durch irgendwelche Beweise erreichbaren Sicherheit ist,
um ein Wissen, das nur deshalb keines Beweises, keiner weiteren
Begründung fähig ist, weil es einer solchen nicht bedürftig ist.
In der 1970 erschienenen Festschrift für D. v. Hildebrand (Wahrheit,
Wert und Sein, Regensburg: 1970; hrsg. von B. Schwarz) wurde dies in
den Beiträgen von Balduin Schwarz (D. v. Hildebrands Lehre von der
Soseinserfahrung) in den philosophiegeschichtlichen
Zusammenhängen und der Beziehung zur Erfahrung und von Fritz
Wenisch (Gewißheitskriterium und Einsicht) gegen den Positivismus
und dessen Einwände herausgearbeitet. Dietrich von Hildebrands
Analysen dieses Phänomens werden in meiner Arbeit zitiere und sind
zur Ergänzung in dieser Frage heranzuziehen. Schließlich wäre es
äußerst wünschenswert, in diesem Zusammenhang die Beiträge anderer
Autoren zu berücksichtigen, die über das Problem der Gewißheit
gearbeitet haben, wie A. Schöpf oder F. Wiedmann.
Doch muß der Ausdruck "absolute Gewißheit" gegen ein anderes
mögliches Mißverständnis abgesichert werden. Es ist damit keineswegs
irgendeine mystische, außergewöhnliche Erfahrung gemeint oder gar
ein bloß subjektives inneres Gefühl der Gewißheit, sondern eine von
der Natur des Gegenstandes her "determinierte", ganz von seiner
letzten Ineelligibilität und Zugänglichkeit für unseren Geist
"getragene" Gewißheit. Selbstverständlich ist diese, wie Descartes so
tief sah, auf die Augenblicke dieses letzten "bewußten Durchdringens"
beschränkt und ausschließlich dann gegeben, wenn der menschliche
Geist sich ganz rein auf die "Sachen selbst" richtet, diese sprechen läßt
und in seinen Behauptungen nicht über das Eingesehene hinausgeht. Es
ist mit dieser "absoluten Gewißheit" nicht gemeint, daß in bezug auf
die "zeitlosen Wesensgesetze", die "veritates aeternae", keinerlei
Irrtum möglich sei: eine Behauptung, die schlagend durch die
329
Wirklichkeit widerlege wird. Doch sind, wie wir zeigten, diese Irrtümer
nur möglich, wenn vom Menschen irgendeine der Bedingungen nicht
erfüllt wird, die ihn bis zur absoluten Gewißheit führen, wenn er daher
zu dieser von dem Sachkontakt gespeisten letzten Gewißheit gar nicht
kommt.
Keineswegs meint der Ausdruck "absolute Gewißheit" irgendein
vollkommenes göttliches Wissen. Weder besitzen wir eine
unwandelbar dauernde Erkenntnis und Gewißheit über die
Wirklichkeit, noch können wir irgendein Seiendes durch und durch
vollkommen durchdringen und in vollkommen umfassender Weise
erkennen. In dieser Richtung des ewig-wandellosen Besitzes der
Erkenntnis einerseits und des vollständigen Durchdringens
andererseits läge ein ganz neuer Sinn des Ausdrucks "absolut", den wir
daher in dieser Bedeutung in keiner Weise auf die menschliche
Gewißheit anwenden wollen. Wir betonen ja ausführlich, daß jede
menschliche Erkenntnis unvollständig ist und auch, daß wir immer und
immer wieder zu den Quellen der "absoluten Gewißheit" hindringen
müssen. Und hier liegt selbstverständlich eine nicht-absolute
Begrenztheit unserer Gewißheit, sowohl was den Gegenstand, auf den
sie sich erstreckt (Umfang und Tiefe der Erkenntnis und Gewißheit),
als auch was die Vollkommenheit des "Besitzes" dieser Gewißheit
anlangt (ewige Dauer). Hier möchte ich jedoch auf einen wichtigen
Punkt der Ergänzung dieser Arbeit hinweisen, den ich bald in einer
weiteren Veröffentlichung vorzulegen hoffe: Die augustinischen und
cartesischen Analysen des Zweifels und die gewaltige im "sf fallor,
sum" enthaltene Einsicht in "ewige Wahrheiten" einerseits und in die
objektive, metaphysische Existenz einer Person andererseits bilden den
Kernpunkt dieser Arbeit. Der hier gelegene einzigartige
"archimedische Punkt", den Augustinus entdeckte, begrifft die
Doppeltheit der Realerkenntnis und der Wesenserkenntnis, die im
"Cogito" in inniger gegenseitiger Durchdringung vorliegen, wie wir im
II. Teil der Arbeit ausführten.
Doch gibt es in bezug auf die notwendigen Wesensgesetze, die "ewigen
Wahrheiten" einen anderen Punkt, der — allerdings ohne zugleich
Gewißheit über die Existenz einer Person zu geben — vielleicht noch
zentraler, fundamentaler und einleuchtender ist und den Aristoteles in
seiner Auseinandersetzung mit der Skepsis schärftstens
herausgearbeitet hat: die "obersten logischen Grundgesetze" und
insbesondere das Widerspruchsprinzip, das notwendig mit allen darin
330
gründenden Zusammenhängen von jedem Zweifel und — vor allem —
jeder Wahrheitsleugnung vorausgesetzt ist. Da die im
"Widerspruchsprinzip" gelegenen und in ihm gründenden "ewigen
Wahrheiten" noch grundlegender und formaler sind als die im Wesen
des Zweifels eingeschlossenen, so liegt hier eine wichtige Ergänzung
zum II. Teil dieser Arbeit, die ich in einem Aufsatz behandeln werde.
Die Überzeugungskraft und letzte Einsichtigkeit dieser von Aristoteles
und Pfänder herausgearbeiteten Wahrheiten wird das Kernthema
unserer Arbeit noch weiter klären.
Durch eine solche Weiterführung könnte auch noch leichter gesehen
werden, daß die von uns hervorgehobene absolut gewisse Einsicht in
notwendige, ausnahmslos allgemeingültige "Wesensgesetze", die wir
anhand der augustinischen Zweifelsanalysen darlegten, in keiner Weise
mit einer "Introspektion" verwechselt werden darf. Es handelt sich
dabei um unserem Bewußtsein "transzendente"
Wesenszusammenhänge, die wir mit ebensolcher absoluter Gewißheit
einsehen können, wenn sie sich gar nicht (oder nicht primär) auf unser
personales Sein beziehen. So ist die Einsicht in die
"an-sich-bestehende" ausnahmslose Gültigkeit der ontologischen und
logischen "obersten Grundgesetze" von derselben jeden Irrtum
ausschließenden und jeden Zweifel überwindenden absoluten
Gewißheit, wie die Einsicht in die Tatsache, daß ein Zweifelsakt
niemals vorkommen könnte ohne ein ihn vollziehendes, voll wirkliches
Subjekt.
Damit antworte ich schon teilweise auf einen weiteren Haupteinwand,
den Hoeres und in etwas anderer Weise Hengstenberg gegen meine
Auffassung vorbringen, daß ich nämlich der "Introspektion" einen
höheren Grad der Gewißheit als der "Außenweltserkennenis"
einräume, ja, die absolute Gewißheit zu sehr auf die Introspektion
einschränke. Dies gilt jedenfalls insoferne in keiner Weise, als ich die
Einsicht in wesensnotwendige, allgemeingültige Zusammenhänge als
eine Hauptquelle absolut gewisser Erkenntnis herausarbeite und diese
keinerlei "innere Wahrnehmung" ist, sondern sich vielmehr auf eine
von meinem individuellen Bewußtsein gänzlich verschiedene,
notwendige und ineelligible Sphäre "idealer Gesetzlichkeiten" bezieht.
Allerdings bezieht sich besagter Einwand primär auf die Erkenntnis der
wirklichen Welt. Und hier scheine ich wirklich die absolute Gewißheit
auf die unentthronbare, von jedem eigenen Zweifel vorausgesetzte
Existenz meiner eigenen Person einzuschränken.
331
Tatsächlich scheint mir etwa der Versuch von Hoeres unzulässig, keine
prinzipielle Priorität der Erkenntnis der eigenen Person vor der
Erkenntnis der Außenwelt zuzugeben, ja, ein solches Zugeständnis
schon für den ersten Schritt zum Idealismus anzusehen. Erstens handelt
es sich hier schon deshalb in keiner Weise um einen "Idealismus", weil
die Transzendenz menschlichen Erkennens sich ja ebenso in der
Erkenntnis der eigenen Person findet, ja, die Tatsache, daß nur "ich" es
bin, dessen Existenz sich mir in ihrer Wirklichkeit in einzigartiger,
unausweichlicher Weise aufdrängt und erschließt, gibt dieser
Erkenntnis keinerlei "subjektivistische Note". Wichtig ist, daß in der
mit absoluter Gewißheit erfaßten eigenen Existenz mir eine wirkliche
Person in ihrer Existenz gegeben ist: Ich bin, also existiert wirklich eine
Person, also ist die objektive, metaphysische Existenz einer Person
erwiesen. Um den objektiven Charakter dieser Erkenntnis zu betonen,
könnte man sagen: cogito, ergo sum, ergo esse est.
Zweitens habe ich betont, wenn auch in dieser Arbeit nicht ausführen
können, daß wir auch über die Existenz Gottes eine absolute Gewißheit
— von verschiedenen Wesenseinsichten und der Realerkenntnis der
eigenen Person aus gewinnen können, damit aber "absolute Gewißheit"
über ein von uns vollkommen verschiedenes, in keinerlei
"Introspektion" erfaßbares, allerrealstes Sein.
Drittens habe ich im I. Teil der Arbeit auch eine unmittelbare absolute
innerhalb der Sinneswahrnehmung betont, insoferne die in dieser
unmittelbar gegebenen Sachverhalte betrachtet werden; so kann ich
etwa eindeutig und sicher erkennen, daß ein Stab mir als gerade oder
gebrochen "erscheint" und mir daher nahelegt, ihn für wirklich gerade
oder gebrochen zu halten. Allerdings schiene es mir entschieden eine
(Überspannung der menschlichen Fähigkeiten zu sein, eine absolut
gewisse Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit des im Einzelfall
Wahrgenommenen zu behaupten, wie mir jeder Fall der
Sinnestäuschung zu beweisen scheint. Überdies ist das sich an jede
Sinneswahrnehmung anschließende "Glaubenselement" (vgl. den I.
Teil der Arbeit) zwar durchaus legitim, macht aber doch die in der
Sinneswahrnehmung liegende Realerkenntnis der objektiven Welt zu
einer "Erkenntnis im weiteren Sinn", die nicht wesenhaft irrtumsfrei ist.
Daher hat die im Vollzugsbewußtsein eingeschlossene unabweisbare
Erkenntnis der metaphysischen Wirklichkeit des eigenen Seins eine
unleugbare Priorität über die Erkenttnis der Außenwelt durch die
Sinneswahrnehmung.. Diese "Priorität" darf weder zeitlich noch so
332
verstanden werden, als erzeuge die eigene Person die "Außenwelt"
durch Anschauungsformen etc., sondern "Priorität" nur in dem Sinne,
daß wir in bezug auf unsere eigene Existenz eine einzigartige,
unabweisbare Gewißheit besitzen. Es ist im einzelnen Fall durchaus
möglich, daß eine Landschaft oder eine andere Person bloß
"halluziniert" ist, während es in keinem einzigen Falle möglich ist, daß
jemand seine eigene Existenz bloß "träumt" oder "halluziniert", weil
für jede Täuschung und jeden Irrtum die objektive Existenz des
Träumenden, die metaphysisch voll seriöse Wirklichkeit des Irrenden
vorausgesetzt ist.
Viertens habe ich keinerlei "prinzipielles Mißtrauen" oder Skepsis
gegenüber der Gültigkeit der Sinneswahrnehmung geäußert, sondern
vielmehr ausgeführt, daß wir in Beziehung auf das Gesamt unserer
Außenweltserfahrung, auf Grund des "Netzwerkes" sich gegenseitig
bestätigender Sinneswahrnehmungen, zu einer Sicherheit über die
darin gegebene Außenwelt und deren "objektive, transzendente
Existenz" gelangen können. Doch besteht diese Gewißheit nicht im
einzelnen Fall und bedarf überdies, um zur "absoluten Gewißheit" zu
werden, wie Descartes in einzigartiger Tiefe und Klarheit sah, der
Erkenntnis, daß mein Schöpfer kein böser Dämon sein kann, was sicher
eine ausführlichere Darlegung verdienen würde, als ich sie bieten
konnte.
Fünftens muß ich den Einwand, ich würde dadurch die
Außenweltserkenntnis und die absolut gewisse "Wesenserkenntnis"
heillos "trennen", entschieden zurückweisen. Denn die Tatsache, daß
wir mit absoluter Gewißheit notwendige, allgemeine Wesensgesetze
erkennen können, die sich auf jedes mögliche Seiende, oder speziell auf
den Raum oder alle räumliche Bewegung etc. beziehen, ist ja eine
besonders wichtige "Bestätigung", ja ein unentbehrlicher "Beweis" für
die objektive Wirklichkeit der durch die Sinne wahrgenommenen Welt.
Denn die Tatsache, daß — im Gegensatz zum Traum — die im
Wachzustande wahrgenommene Welt diesen unmittelbar und
unvermittelt mit absoluter Gewißheit erkennbaren, wesensnotwendigen
Gesetzen so streng "gehorcht", ist ja das wichtigste Element der
wundervollen "Ordnung" der konkreten Außenwelt, jener "Ordnung",
die ein Hauptbeweis für die objektive Wirklichkeit der Außenwelt ist.
Daran anschließend muß sechstens betont werden, daß man mir auf
Grund der Anerkennung einer "idealen Existenz" der notwendigen
Wesenheiten (II. Teil, Kap. 3) keinesfalls zu Recht den Vorwurf
333
machen kann, ich würde die reale Welt von einer "idealen" trennen. Ich
trenne sie nicht, sondern unterscheide sie nur als zwei verschiedene,
aber zutiefst aufeinander bezogene Wirklichkeitsbereiche. In diesen
idealen, notwendigen Wesenheiten gründen ja Gesetze, die in jedem
möglichen Fall der wirklichen Existenz eines Seienden, das einer
solchen "Wesenheit" entspricht, ihre Anwendung finden. Ich weiß also
mit jeder einzelnen Einsicht in einen solchen allgemeinen
Wesenszusammenhang, etwa daß Gerechtigkeit wesenhaft eine freie,
reale Person voraussetzt, um sich zu "konstituieren" (im
Hengstenbergschen metaphysischen Sinne und als Gegensatz zu jeder
bloß "transzendentalen" Konstitution, wie sie der späte Husserl
vertritt), etwas über alle individuell-konkreten gerechten Handlungen
oder Haltungen, daß diese nämlich in jedem einzelnen Falle eine
individuell-reale, freie Person wesenhaft voraussetzen. Die Erkenntnis
notwendiger Wesenheiten und Wesensgesetze ist also ein
hauptsächlicher indirekter "Schlüssel" zur Erkenntnis der wirklichen
Welt, wenn ich auch das individuelle Vorkommen von gerechten
Handlungen nicht durch Einsicht in allgemeine
Wesenszusammenhänge, sondern nur durch Sinneswahrnehmungen
und andere geistige Formen der Wahrnehmung erkennen kann. Doch
diese Verschiedenheit von Wesenseinsicht und Wahrnehmung bedeutet
doch noch lange keine "Trennung" beider, sowenig wie die
Verschiedenheit zweier Personen Gemeinschaft und Vereinigung
ausschließt. Eine ausführlichere Analyse der Sinneswahrnehmung und
weiterer geistiger Formen der Wahrnehmung, wie sie z. B. Hedwig
Conrad-Martius, Hans Jonas und D. von Hildebrand an verschiedenen
Stellen gegeben haben, kann ich leiser nicht durchfahren, nehme aber
diese mir von Hengstenberg und Hoeres gegebene Anregung dankbar
für eine spätere Veröffentlichung an. Zu einer solchen Ergänzung der
Analyse der Wahrnehmung würde auch die wichtige Frage gehören, wo
uns "durch" Wahrnehmung nicht nur der "humane Aspekt der
Außenwelt", sondern die Seienden, wie sie "an sich" sind, gegeben
sind. Hier kann ich nur betonen, daß ich so weit entfernt von einem
Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmung oder gar die höheren
Formen "geistiger Wahrnehmung" bin, daß ich von der Tatsache
überzeugt bin, daß sich uns viele Elemente der "Dinge an sich"— in
dem früher herausgearbeiteten engeren Sinn dieses Ausdrucks — in der
Wahrnehmung erschließen.
334
Es ist ferner wichtig, noch ausdrücklich hervorzuheben, was sich aus
dem Gesagten ja ergibt, daß die Rede von den "ewigen Wahrheiten"
und von "absoluter Gewißheit" nicht den mindesten Glauben an die
Offenbarung voraussetzt. Wir wehren uns entschieden gegen jedes
fideistische Voraussetzen des Glaubens, das in der Philosophie von
verhängnisvollen Folgen ist, sobald man annimmt, es gäbe kein
sicheres Wissen ohne vorausgesetzte Glaubensinhalte. Wir wollen
vielmehr zeigen, wie vor jedem Glauben bzw. unabhängig von jedem
Glauben eine von keinem Zweifel zu erschütternde Erkenntnis
objektiver Wahrheit möglich ist. Dabei meine ich hier nicht, daß es
keine Philosophie der Glaubens oder der Religion geben könnte, die
übrigens den positiven Glauben des "Religionsphilosophen" nicht
voraussetze und bei der es sich um intelligible, philosophisch erfaßbare
Wesensstrukturen des Glaubens oder der Stellungnahmen, die bloß auf
Grund des Glaubens möglich sind, handelt. Es wäre eine von
schwerwiegenden Vorurteilen belastete Haltung, die diese Möglichkeit
bestreiten wollte. Doch darum geht es in dieser Arbeit in keiner Weise.
Was wir hier hervorheben, ist vielmehr die entschiedene Verteidigung
einer rein philosophischen Erkenntnis, wie sie sich nicht nur in der
Antike und bei Descartes, sondern ebenso bei Augustinus, Thomas v.
A. oder Bonaventura findet, worauf wir hier leider nicht näher eingehen
können.
Nachtem ich bisher die "Sachen" andeutete, die in dieser Arbeit
herausgearbeitet werden (vgl. dazu auch die Einleitung) und vor allem
einige Bemerkungen machte, um Mißverständnissen vorzubeugen,
müssen auch die Auffassungen genannt werden, die als unhaltbar und
irrig bekämpft und mit aller Entschiedenheit abgelehnt werden müssen.
Dies ist zunächst jede Form der Skepsis und vor allem des Relativismus.
Dabei ist er von keiner entscheidenden Bedeutung, wodurch der
Relativismus die Wahrheit "relativieren" möchte: Manche extremen
Relativisten behaupten, die Wahrheit (und damit das Sein) sei von
jedem individuellen Menschen abhängig, der Einzelne sei das "Maß der
Dinge, der seienden, daß sie sind und der nicht seienden, daß sie nicht
sind". Andere Relativisten wollen die Wahrheit im Einfluß des
Hegelianismus von der besonderen historisch-soziologisch-kulturellen
Epoche abhängig machen und auf die interpersonal-historische Realität
gewisser Ideen zu einer bestimmten Zeitepoche reduzieren. Wieder
andere (wie Kant, Fichte oder der späte Husserl) möchten die Wahrheit
auf die "menschliche Vernunft" als solche zurückführen, auf die für alle
335
Menschen gültigen Anschauungs- und Denkformen (bzw. die von der
Vernunft erzeugten "transzendentalen Ideen") oder auf die
menschlich-intentionalen Akte, die nach dem späten Husserl allen Sinn
konstituieren. In unserer Arbeit wollten wir aufweisen, das jede Form
der Transzendentalphilosophie, nach der das Erkennen selbst oder eine
diesem zugrunde liegende Struktur des "transzendentalen Ich" den
Gegenstand "hervorbringt" statt ihn in seiner von unserem Erkennen
unabhängigen, "an-sich-seienden" Wirklichkeit zu erfassen, nicht nur
irrig, sondern relativistisch ist (vgl. dazu den II. Teil dieser Arbeit, vor
allem den Abschnitt über E. Husserls Spätphilosophie). Statt zu einer
Wahrheit führt auch diese letztere Auffassung höchstens zu notwendig
der "specie Mensch" eingeborenen Irrtümern. Es soll gezeigt werden,
daß es zwischen klassischem "Realismus" (diesen so weit gefaßt, daß
auch Platon und Augustinus "Realisten" sind) und
Transzendentalphilosophie keinerlei Brücke gibt und alle solchen
Versuche unhaltbar sind. Dies sollte primär durch eine systematische
Analyse der Transzendenz der Menschen in der Erkenntnis (aber auch
anhand einiger Beispiele) erwiesen werden. 364
Ebenso entschieden wie jede Form des Relativismus und
Transzendentalismus wird in diesem Buch auch der Positivismus,
Neopositivismus und Empirismus zurückgewiesen. Dies geschieht
allerdings fast nur indirekt durch die systematischen Analysen der
"notwendigen Wesenheiten", der analytischen und synthetischen
Urteile und durch den Aufweis der Möglichkeit, zu Jahren
"synthetischen Urteilen a priori" zu gelangen, durch den Aufweis des
doppeldeutigen "Erfahrungsbegriffes" und der empiristischen
(positivistischen) Einengung desselben etc. 365
364
An dieser Stelle muß ich auf eine wichtige philosophische
Neuerscheinung noch einmal ausdrücklich hinweisen: W. Hoeres, Kritik
der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, Stuttgart 1969, wo
dieser Punkt vor allem gegenüber den neuscholastischen Versuchen, eine
derartige "Brücke" zu bauen, erhärtet wird. Ein ausführliches Eingehen auf
dieses bedeutende Buch war mir leider in dieser Arbeit nicht mehr möglich,
aber ich konnte es im "Philosophischen Literaturanzeiger" (Bd. 22, H 6, S.
324—328) besprechen.
365
Hier möchte ich insbesondere auf die oben erwähnten Aufsätze hin
weisen: D. v. Hildebrands Lehre von der Soseinserfahrung in ihren philo-
sophiegeschichtlichen Zusammenhängen, von B. Schwarz und:
336
Abschließend möchte ich noch auf einige weitere Werke hinweisen,
deren ausführliche Berücksichtigung wünschenswert, aber wegen da
relativ knappen Raumes und da groß angelegten Themas dieser Arbeit
unmöglich war.
Besonders denke ich hier an die Werke H. E. Hengstenbergs, die eine
ausführliche Berücksichtigung erfordern und sehr der Klärung und
Ergänzung meiner Analysen dienen würden.
Während die unerbittliche Zurückweisung jeder
transzendental-philosophischen Umdeutung des Erkennens in ein
geistiges Produzieren mich mit W. Hoeres eng verbindet, sehe ich in
dem gewaltigen historisch-systematischen Werk Winfried Weiers: Sinn
und Teilhabe — Das Grundthema der abendländischen
Geistesentwicklung (Salzburger Studien zur Philosophie, Bd. 8,
Salzburg 1970) in anderer Richtung wichtige Ergänzungen zu meiner
Arbeit. Insbesondere der Aufweis der "Emanzipation des
transzendenten Sinnes aus dem transzendentalen Sinn" (vgl. a. a. O.
Kap. 20—22) enthält eine für meine Arbeit wesentliche historische
Ergänzung. Weiers Werk enthält jedoch weit darüber hinaus eine
unerschöpfliche Fülle historischer Untersuchungen, die in engster
Verbindung zu meiner Arbeit stehen. Doch war es leider unmöglich,
das dort neu erarbeitete Material sowie die systematischen
Ausführungen Weiers bei der Herausgabe dieser Arbeit zu
berücksichtigen.366
Ferner hätte ich gerne die für mein Thema relevanten Beiträge in:
Wahrheit, Wert und Sein (Festgabe für D. v. Hildebrand zum 80.
Geburtstag, hrsg. von B. Schwarz, Regensburg 1970) berücksichtigt,
da vor allem die Beiträge von J. Crosby, A. von Hildebrand, B. Schwarz
und F. Wenisch sich mit wichtigen Ergänzungen direkt auf mein Thema
beziehen: Auf das Problem des "Wahrheitskriteriums" (F. Wenisch)
und vor allem auf den im I. Teil meiner Arbeit behandelten zentralen
Unterschied zwischen der Wesensstruktur von Erkennen und Irren.
Dieser wichtige Unterschied wird am Beispiel des
Scheinselbstverständlichen (On the Pseudo-Obvious) von Alice von
Hildebrand klar und überzeugend herausgearbeitet. Den vollkommen
337
zu Unrecht mit echter Evidenz verwechselten Charakter solcher
innerhalb der "Philosophie" häufiger "Scheinselbstverständlichkeiten",
ja, deren wirklicher Evidenz und Gewißheit entgegengesetzten
Charakter arbeitet die Autorin glänzend heraus. Schließlich konnte ich
auch auf einige Ergänzungen zu dieser Arbeit nicht mehr hinweisen,
die in Dissertationen von John Crosby, Damian Fedoryka und Franz
Ryschawy an der Universität Salzburg vorliegen (1970) und zahlreiche
Ergänzungen sowohl in historischer Hinsicht, insbesondere über B.
Bolzano (Ryschawy), als auch in systematischer Hinsicht bieten.
Endlich hätte ich auch noch gerne auf eigene Ergänzungen zu meiner
Arbeit367 hingewiesen, die sich insbesondere auf den II. Teil, Kap. 3,
beziehen. Vor allem die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis
des "Seins selbst" in den verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks
wird a. a. O. weiter aufgewiesen, wie auch die in dieser Arbeit bloß
angedeuteten "drei Grunddimensionen des Seins" dort näher
herausgearbeitet wurden.
Die hier gebotenen Hinweise können selbstverständlich in keiner
Weise erschöpfend sein, sondern nur in mancher Hinsicht die Arbeit
klären und ergänzen.
In dem Bemühen, den Blick auf die einzigartige Fähigkeit der
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis objektiver Wahrheit zu
richten, fühle ich mich den bedeutendsten Philosophen der Geschichte
zutieftst verpflichtet und stehe auf "ihren Schultern", wenn auch gerade
manche der berühmtesten und patentesten Denker in tragischer oder
auch ressentimenterfüllter Weise das Gefängnis eines
"Immanentismus" verkündeten bzw. verkünden und dem Menschen
diese Fähigkeit des Sich-Überschreitens in der Erkenntnis auf der, wie
wir sahen, auch alle weiteren Dimensionen menschlicher Transzendenz
beruhen. Es handelt sich daher bei unserem Thema um den
"Lebensnerv" des Geistes, gegen den heute unzählige Angriffe geführt
werden.
Mit unserem Buch wollen wir zunächst die weithin abgestorbene
Diskussion über diese zentrale Frage wiederbeleben und vor allem —
wider alle Skepsis und geistige Erlahmung unserer Zeit — nachweisen,
daß der Mensch der Öde und dem geistigen Tod einer "Eingesperrtseins
367
Vgl. meinen Beitrag: Die verschiedenen Bedeutungen von "Sein" — D.
v. Hildebrand als Metaphysiker und M. Heideggers Vorwurf der Seins-
vergessenheit in: Wahrheit, Wert und Sein, a. a. O., S. 301—332.
338
in die eigenen Gedankenspinngewebe" entkommen und zur "Quelle"
seines geistigen Lebens gelangen kann, die in der von seinem Geist
unabhängigen Wirklichkeit liegt. Dies vermag der Mensch, weil er
fähig ist, sein eigenes Bewußtsein in einer auf nichts anderes
zurückführbaren, höchst staunenswerten Weise zu überschreiten und
die Wirklichkeit in der Fülle ihrer inneren Bedeutsamkeit und
Kostbarkeit zu erfassen, wie sie "in sich" ist — jenseits aller
Abhängigkeit von einem menschlichen Geist.
339
ANHANG ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Der Grund dafür, daß die zweite Auflage des binnen Jahresfrist in erster
Auflage vergriffenen vorliegenden Buches erst jetzt erscheint, besteht
vor allem darin, daß dieser zweiten Auflage ein Anhang beigegeben
werden sollte, der jedoch beinahe zu einem Buch anwuchs, so daß der
Autor im Einvernehmen mit dem Verlag schließlich entschied, diesen
Anhang für eine oder mehrere getrennte Veröffentlichungen
aufzuheben. Sonst wäre die zweite Auflage von Erkenntnis objektiver
Wahrheit nicht mehr dasselbe Buch geblieben.
Im folgenden seien deshalb nur kurz die grundsätzlichen Probleme und
Ergebnisse dargestellt, deren ausführliche Behandlung, Begründung
und bibliographische Dokumentation ich als Fortsetzung dieses Buches
für entscheidend wichtig halte und — wenigstens teilweise — in
absehbarer Zeit zu veröffentlichen hoffe.
Ontologische Wahrheit
Zunächst erfordert der neue Titel dieses Buches, das, wie im Vorwort
zur ersten Auflage erwähnt, ursprünglich Die Transzendenz des
Menschen in der Erkenntnis hieß, eine eingehendere Untersuchung des
Wesens von Objektiver "Wahrheit":
Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den verschiedenen
als "ontologische Wahrheit" (oder "Seinswahrheit") faßbaren
Gegebenheiten einerseits, und der "logischen Wahrheit"
("gnoseologischen" Wahrheit oder "Urteilswahrheit") andererseits; (die
Frage der sittlichen oder künstlerischen Wahrheit kann in unserem
Zusammenhang ganz außer Betracht bleiben).
Mit Hilfe des Ausdrucks "ontologische" Wahrheit kann man einmal auf
die selbst-evidente Tatsache hinweisen, daß jedes Seiende, insofern es
ist oder auch nur möglich ist, prinzipiell erkennbar sein muß. In dieser
"transzendentalen" Bestimmung allen Seins (im scholastischen Sinn
des Wortes "transzendental" als allgemeinste universale
Seinsbestimmung, nicht im Kantischen Sinn von "transzendental"!) als
erkennbar (intelligibel) ist eine tiefe Wesenseinsicht der Scholastik
ausgedrückt. Während etwas nicht Seiendes oder gar etwas "in sich
Unmögliches" unerkennbar sein kann, liegt es im notwendigen Wesen
allen wenn auch nicht notwendig dem menschlichen, so doch dem
340
erkennenden Geist prinzipiell geöffnet zu sein, solcherart daß jedes
Seiende in seiner Eigenart und Existenz verstehbar und erkennbar ist,
jeweils in einer seinem Sein entsprechenden Erkenntnisform.
Einen zweiten und noch tieferen Sinn von "ontologischer Wahrheit"
haben wir im Auge, wenn wir gerade nicht jedes Seiende schlechthin
als "wahr" bezeichnen, sondern unter den existierenden Wirklichkeiten
z. B. eine wahre einer falschen Freundschaft, Treue, Liebe etc.
entgegenstellen. Im dritten Kapitel des zweiten Teils des vorliegenden
Buches wird die Verschiedenheit allgemeiner notwendiger
Wesenheiten von den einzelnen Dingen untersucht. In Anlehnung an
diese Analysen wäre zu zeigen, wie insbesondere bei allen
werttragenden Wirklichkeiten die "Idee" oder die "allgemeine
Wesenheit" von etwas viel "vollkommener" ist im Sinne eines "Ideals"
als alles, dem wir innerhalb der empirisch erfahrbaren Welt begegnen.
So messen wir die konkreten von uns erfahrenen Lieben oder gerechten
Handlungen an einer "idealen" und intelligiblen "Idee" der Liebe oder
Gerechtigkeit und beurteilen nach dieser "Idee" im Sinne eines
"Ideals", ob und inwieweit die Wirklichkeit ihr entspricht.
Insbesondere auf der Grundlage einer philosophischen Gotteslehre
(oder auch von seiten der Offenbarungs-Theologie) ließe sich im
Anschluß an Augustinus' Quaestio XLVI De Ideis diese bereits vom
"wahren Platonismus" her zu gewinnende Einsicht in die "ontologische
Wahrheit" als Übereinstimmung mit der "Idee" wesentlich vertiefen
und ausfahren, daß überall, wo wir ein notwendiges Wesen oder auch
wo wir einen tief sinnvollen "Logos" und inneren Sinngehalt eines
Seienden finden, wir eine "Idee" in Gottes Geist (in je verschiedenem
Sinne) annehmen müssen.
Mit Platon und Augustinus (und ihren Nachfolgern, zu denen nicht bloß
Anselm, Bonaventura oder auch Descartes zählen, sondern auch
Thomas v. Aquin) ließe sich dann von "ontologischer Wahrheit" eines
Seienden dort und in dem Maße sprechen, in dem ein Seiendes seinem
"idealen Wesen" bzw. seiner "göttlichen Idee", der "ewigen Idee dieses
Seienden in Gottes Geist" entspricht. Wenn man sich dabei aller
nötigen Unterscheidungen zwischen notwendigen und nicht
notwendigen Wesensgesetzen und Wesenheiten, die in der
vorliegenden Abhandlung bereits behandelt wurden, bewußt bleibt,
kann man in tiefem Sinn von der "ontologischen Wahrheit" eines
Seienden als dem Maß seiner Übereinstimmung mit seiner allgemeinen
"Idee" oder — wenn es sich z. B. um einen individuellen Menschen
341
handelt — auch mit seiner besonderen "idealen Gestalt", in der es von
Gottes Schöpfergeist geplant ist, sprechen.
Schließlich kann man auch von ontologischer Wahrheit als jener
inneren Wahrheit" sprechen, die keinerlei "Übereinstimmung" mehr
beinhaltet, sondern die wir etwa in den notwendigen Wesenheiten
selbst vorfanden. "Innere Wahrheit" meint dann den "inneren Sinn", ja
die innere "Unerfindbarkeit", wie wir sie z. B. im notwendigen
intelligiblen Wesen von etwas entdecken. In dieser Bedeutung kann
auch das göttliche Wesen selber als "wahr" bezeichnet werden, nicht
weil es seiner eigenen Idee von sich entspräche (was ein nicht
sinnvoller Gedanke wäre), sondern weil man hier die letzte
ontologische Quelle allen Sinns, Seins und aller Wahrheit im Auge hat,
den Ursprung der "ontologischen Wahrheit" im zweiten und letztlich
auch derjenigen im ersten Sinn. Von dieser ontologischen Wahrheit im
dritten Sinn war die Rede, als wir von der unerfindbaren Sinnfülle
notwendiger Wesenheiten handelten, an deren Eigenart Kant in der
Transzendentalphilosophie so grundsätzlich vorbeiging und in der das
metaphysische Fundament jener unbezweifelbaren Gewißheit der
Wesenserkenntnis liegt, von der wir bereits handelten. Dem
entsprechend wäre eine Untersuchung der "ontologischen Wahrheit"
im Sinne "innerer Wahrheit" ein entscheidender metaphysischer
Beitrag zur Fortführung von Erkenntnis objektiver Wahrheit (bes. S.
151 ff.; S. 191 ff.; S. 198 ff. und des dritten Kapitels des zweiten Teils).
Die in der Wesenserkenntnis gewonnene unbezweifelbare
Transzendenz das Menschen in der erkennenden Hinnahme einer
Seinsstruktur, die unmöglich eine Täuschung sein oder in seiner
subjekiv-transzendentalen Verfassung gründen kann, sondern uns über
das "Ding an sich", das "Sein selbst" belehrt, würde durch eine solche
Untersuchung der "inneren" ontologischen Wahrheit notwendiger
Wesenheiten wesentlich deutlicher werden.
Noch unmittelbarer von der Thematik das Buches her geboten wäre
eine weitere Analyse der Eigenart der Urteilswahrheit. Was hatten wir
im Auge, wenn wir das aus Begriffen bestehende "Urteilsgebilde" (vgl.
eben, S. 98 ff.) als wahr oder falsch bezeichneten?
Zweifellos meinten wir mit Urteilswahrheit irgendwie geartete
Übereinstimmung zwischen dem Urteil und dem Sein, eine adaequzeio
342
intellectus et rei, wie es die klassische scholastische Urteils- und
Wahrheitslehre mit Recht nenne. Doch welcher Art ist diese
"adaequatio" ?
Innerhalb des Dialektischen Materialismus, insbesondere in seiner auf
Lenins Empiriokritizismus zurückgehenden Komponente, wird das
Wesen der Wahrheit als "Widerspiegelung" bezeichnet; von dieser
"Widerspiegelung" wird behauptet, sie sei ein wesenhaft materielles
Phänomen; auf diese Weise soll begründet werden, daß ausschließlich
der Materialismus auch eine "objektive Wahrheit" vertreten kann.
In Absetzung von dieser (mit anderen vom Deutschen Idealismus
beeinflußten oder pragmatischen Zügen der Marxistischen
Erkenntnistheorie unvereinbaren) Lehre gilt es, Folgendes zu betonen:
Zunächst handelt es sich bei der adaequatio zwischen Urteil und
Sachverhalt in keiner Weise um ein Abbildungsverhältnis, oder gar um
ein "Widerspiegelungsverhältnis", wie dies z. B. A. Pfänder glänzend
in seiner Logik gezeigt hat. Die "Entsprechung" zwischen
Urteil(sinhalt) und Sachverhalt ist meist mit einer äußersten
"Unähnlichkeit" verbunden; das logische Urteilsgebilde, das in
folgenden Sätzen ausgedrückt wird: "der Mond scheint" oder
"Verantwortlichkeit setzt Freiheit voraus", ähnelt z. B. keineswegs dem
Sachverhalt des Scheinens des Mondes oder der Beziehung zwischen
Freiheit und Verantwortlichkeit, wenngleich diese den Gegenstand des
Urteils bilden und das Urteil wahr ist. Die "Übereinstimmung" besteht
vielmehr in einem logischen Zusammentreffen der urteilsmäßigen
"Setzung" eines Sachverhalts mit dem wirklichen seinsmäßigen
Bestehen desselben. Das tatsächliche "Selbstverhalten" eines
Gegenstandes trifft zusammen mit dem im Urteil gemeinten und
"behaupteten Verhalten" desselben Gegenstandes.
Von daher ergibt sich bereits zweitens schärfste Kritik an der
Marxistischen Behauptung, daß die Übereinstimmung zwischen Urteil
und Sachverhalt nur als eine materielle Widerspiegelung (analog der
im buchstäblichen Spiegel zu findenden) gedeutet werden kann, und
daher Materialismus und Anerkennung objektiver Wahrheit untrennbar
verknüpfe seien. Gerade das Gegenteil ist wahr: Wie die
Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt keinerlei
Widerspiegelung ist, so ist sie erst recht keine materielle
Widerspiegelung oder irgendeine mit materiellen Analogien und
Begriffen überhaupt erfaßbare Beziehung; vielmehr handelt es sich
hier um ein rein logisches und "durch und durch" "geistiges", d. h. nicht
343
materielles, nicht in räumlichen Verhältnissen sich Abspielendes oder
zwischen nicht identischen materiellen Teilen bestehendes Verhältnis.
Also erweist sich die Anerkennung objektiver Wahrheit und die
Anerkennung einer nicht-materiellen Wirklichkeit bzw. "geistigen"
Entsprechung als untrennbar, im krassen Gegensatz zur
MarxistischLeninistischen Behauptung.
Ferner ist klar daran festzuhalten, daß die verschiedenen Bedeutungen
von "ontologischer Wahrheit" durchaus in keinem Gegensatz zur
klassischen und bloß tiefer zu interpretierenden Adäquationstheorie der
Wahrheit stehen, wie Heidegger durch seine die verschiedensten
Wahrheitsbegriffe vermengenden und verwirrenden
a½lhqteia-Diskussion nahelegt. Im Gegenteil: die verschiedenen
Dimensionen ontologischer Wahrheit sind notwendig mit der
"Urteilswahrheit" verknüpft. Man könnte von seinsmäßiger Walhoheit
gar nicht reden, ohne Urteilswahrheit bereits vorauszusetzen, die in der
recht zu verstehenden "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit
besteht. Umgekehrt fundiert die ontologische Wahrheit gerade die
Möglichkeit von Erkennen und Urteilen und damit von
"Urteilswahrheit". Im Namen der wie immer verstandenen
Seinswahrheit gegen die absolut grundlegende Rolle der
Urteilswahrheit als adaequatio aufzutreten, muß daher als eine dem
Wesen der Wahrheit durchaus widersprechende und in sich
widerspruchsvolle philosophische Position betrachtet werden.
344
wohl die philosophisch anspruchsvollste. Sie versucht entweder, das
Wesen der Urteilswahrheit, oder in der Form, in der neuerdings
"unorthodoxe" Vertreter des logischen Positivismus (wie N. Rescher in
seinem Buch Coherence Theory of Truth) sich ihr zuwenden, die
Bedingung und das Kriterium von Wahrheit in der "Kohärenz" zu
sehen.
Zunächst muß dabei gefragt werden, was unter "Kohärenz" eigentlich
zu verstehen sei, worüber keinerlei Klarheit herrscht. Bei Hegel und
Bradley tendiert der Sinn von Kohärenz zu dem einer streng
notwendigen oder logisch aßleitbaren (zusammenhängenden)
gegenseitigen Abhängigkeit, wobei der Sinn und die Wahrheit eines
Satzes von dem Sinn und der Wahrheit aller übrigen abhinge und diese
notwendig einschlösse. Ja, "Wahrheit" besteht danach in einem
("dialektisch" verstandenen) Verhältnis notwendigen gegenseitigen
Zusammenhangs.
Bei Rescher wird wohl unter Kohärenz primär einfachhin
Widerspruchsfreiheit in bezug auf andere Sätze verstanden.
Eine unmittelbar anschließende Frage gilt dem x, womit zu
"kohärieren" Urteilswahrheit sein oder garantieren soll? Handelt es sich
um Übereinstimmung oder logisch notwendige Abhängigkeit mit allen
anderen Urteilen, mit einigen, nur mit den wahren?
1. Fassen wir diese Theorie als Versuch einer Wesensbestimmung der
Wahrheit auf, so ist sie jedenfalls falsch, wie aus folgendem
einleuchtend gemacht werden kann (und wie übrigens auch Rescher a.
a. O. betont): Was wir mit Wahrheit meinen, oder besser was
Urteilswahrheit ist, ist evidentermaßen etwas anderes als logische
Kohärenz mit anderen Urteilen. Wenn wir auf die mit dem Ausdruck
"Wahrheit" bezeichnete Urgegebenheit achten, so ist klar, daß wir
damit eben die oben charakterisierte "Übereinstimmung" mit der
Wirklichkeit und nicht das Verhältnis eines Urteils zu einem andern
meinen. Selbst wenn mit Hegel anzunehmen wäre, daß sämtliche
Urteile, die wahr sind, notwendig zusammenhängen, so bestünde
eindeutig ihre Wahrheit nicht in diesem gegenseitigen Abhängigkeits-
und Kohärenzverhältnis, sondern sie bestünde vielmehr in der
Tatsache, daß alle diese notwendig zusammenhängenden Urteile mit
den Sachverhalten "übereinstimmen", die sie behauptend "setzen".
Abgesehen von der indirekt durch das unmittelbar (unter 2) Folgende
sich ergebenden Kritik der "Kohärenztheorie" als versuchter
Wesensbestimmung der Urteilswahrheit, erweist sich deren Falschheit
345
auch, wenn man der Frage, womit ein Urteil übereinstimmen soll, um
wahr zu sein, näher nachgeht. Denn offenbar kann nicht die
Übereinstimmung mit allen anderen Urteilen gemeint sein, da ja dann
auch die falschen mit eingeschlossen wären, und dann jede Wahrheit
auch mit ihrer Leugnung kohärent sein müßte, was Unsinn ist. Wenn
man aber nur die "Kohärenz" eines Urteils mit allen wahren Urteilen
als Wesen der Wahrheit bezeichnet, bewegt sich eine solche Definition
entweder in einem zu einem infiniten Regreß führenden circulus
vitiosus, oder sie nimmt ein von Kohärenz verschiedenes Wesen der
Wahrheit als "adaequatio" an, als jene grundlegende Eigenschafe eines
Urteils, mit dem "übereinstimmend" ein anderes Urteil eben wahr sein
soll. In jedem Fall wird offenbar, daß "Kohärenz" nicht das Wesen der
Urteilswahrheit sein kann. Wie auch Rescher gezeigt hat, setze jede in
diesem Sinne konsequente Kohärenztheorie die Urgegebenheit des
Wesens der Wahrheit als adaequatio nur wieder voraus. Die
Urteilswahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit dem bestehenden
Sachverhalt ist absolut "unhintergehbar", unleugbar, ohne in
Widersprüche zu geraten, aber vor allem ein letzt-evidentes datum.
2. Weder notwendige gegenseitige Zusammenhänge noch bloße
Widerspruchsfreiheit von Urteilen mit sämtlichen anderen Urteilen
kann ferner zu Recht als Bedingung der Wahrheit bezeichnet werden,
da schon gezeigt wurde, daß es gerade zum Wesen der Wahrheit gehört,
im Widerspruch zu (wenigstens kontradiktorisch entsprechenden)
falschen Urteilen zu stehen. Ferner kann nicht einmal notwendige
Kohärenz eines Urteils mit allen anderen wahren Urteilen, wohl aber
Widerspruchsfreiheit eines Urteils in bezug auf alle anderen wahren
Urteile als Bedingung der Wahrheit bezeichnet werden.
Widerspruchsfreiheit ist tatsächlich ein bereits von Platon im Gorgias
betontes Merkmal der Wahrheit, wenn er sagt, Wahrheit könne nie
widerlegt werden, sondern nur Irrtümer können widerlegt werden.
Denn nur falsche Urteile können in Widerspruch mit bereits als wahr
erkannten Urteilen geraten, niemals aber wahre Urteile. Diese
Widerspruchslosigkeit besagt aber in keiner Weise notwendige
Abhängigkeit. Und hier berühren wir eine bei Bradley und Hegel
vorliegende falsche Voraussetzung der idealistischen Kohärenztheorie
der Wahrheit: nämlich eine Leugnung wirklich empirischer, faktischer,
nicht notwendiger Wahrheiten. Es liegt aber im Wesen sowohl der
Urgegebenheit der Kontingenz als auch der Entscheidungsfreiheit, daß
346
es metaphysisch nicht notwendig miteinander verknüpfte Sachverhalte
wirklich gilt, was sich durch kein "System" aus der Welt schaffen läßt.
Damit ist jedoch klar, daß Kohärenz im Sinne einer notwendigen
gegenseitigen Implikation aller Wahrheiten nicht Bedingung für
Wahrheit ist.
Hingegen ist Kohärenz im Sinne einfacher Widerspruchslosigkeit
allerdings Bedingung für Wahrheit, jedoch auch das nur, wenn man
Widerspruchslosigkeit in bezug auf andere (oder alle) wahren Urteile
meint. Daß es eine Wahrheit, die anderen wahren Urteilen widerspricht,
nicht geben kann, gründet in der evidenten "Einheit" aller Wahrheit und
allen Seins: in der mit der Erkennbarkeit allen Seins
zusammenhängenden Widerspruchslosigkeit der Wirklichkeit und
Wahrheit.
3. Als Kriterium kann die Kohärenz eines wahren Urteils mit anderen
wahren Urteilen nicht schlechtweg in Betracht kommen, es sei denn im
Sinne eines rein negativen Kriteriums: daß nämlich ein Urteil, das
anderen wahren Urteilen (als wahr erkannten Urteilen) widerspricht,
nicht wahr sein könne.
Offensichtlich ist jedoch Kohärenz (Widerspruchslosigkeit) mit
anderen wahren Urteilen (und erst recht mit falschen Urteilen) nicht
genug, um Wahrheit zu sichern. Die Widerspruchslosigkeit eines
Systems oder eines Urteilsganzen beweist nicht Wahrheit. So sind alle
rein empirisch falschen Urteile, auch wenn sie keinem andern wahren
Urteil widersprechen, immer noch falsch. (Wenn man allerdings nicht
nur die bereits erkannten, sondern auch die noch nicht erkannten Urteile
in die Diskussion einbezieht, dann gibt es für jedes falsche Urteil —
auch für jedes bloß empirisch falsche — ein oder mehrere wahre
Urteile, denen es widerspricht: auf alle Fälle seinem kontradiktorischen
Gegenteil, aber auch vielen anderen wahren Urteilen. Da menschliches
Erkennen endlich ist, kann diese Tatsache jedoch nicht als Grundlage
eines Wahrheitskriteriums dienen.)
Man muß allerdings zugeben, daß unter bestimmten Voraussetzungen
(z. B. bei den Vermutungen eines Sherlock Holmes über sehr komplexe
kriminalistische Sachverhalte, oder bei einem überaus komplexen
System von wahren Urteilen, in Fällen wo gewisse Anzeichen für die
Wahrheit eines weiteren Urteils sprechen) die bloße
Widerspruchsloslgkeit bzw. eine sinnhafte "Entsprechung" (Kohärenz
hier also als nicht bloß faktische Widerspruchslosigkeit, sondern als
347
sinnvolle Entsprechung verstanden) schon ein gewisses, wenn auch nie
ein ausreichendes Kriterium für Wahrheit sein kann.
Wenn allerdings unter Kohärenz die formal-logische oder die in
manchen Seinsgebieten vorliegende material-wesenhafte notwendige
Verknüpfung zweier wahrer Urteile verstanden wird, dann ist eine
solche notwendige Verknüpfung eines noch nicht als wahr erkannten
Urteils mit einem bereits als wahr erkannten ein ausreichendes
Kriterium für seine Wahrheit.
Diese Art der Kohärenz wird ja stets bei dem logischen Schließen aus
bereits bekannten Fakten verwendet.
Allerdings verweist uns die bereits oft wiederholte Tatsache, daß nur
die notwendige Verknüpfung eines Urteils "mit bereits als wahr
erkannten Urteilen" uns seine Wahrheit garantiert, darauf, daß es ein
noch viel tieferes und ursprünglicheres "Kennzeichen" der Wahrheit
geben muß, das nicht innerhalb der Kohärenz liegt.
Die pragmatistische (pragmatizistische) und neopositivistische
Wahrheitstheorie: Diese Theorie kommt wiederum sowohl als
Wesens-"Definition" der Wahrheit als auch als kriteriologische
Wahrheitstheorie oft vor. Auf C. S. Peirce, W. James und J. Dewey in
besonderem Maße zurückgehend, findet sich diese Theorie auch bereits
früher in vielen Stellen bei Nietzsche u. a. Nicht als Wesenstheorie von
begrifflicher Bedeutung und Wahrheit, wohl aber als kriteriologische
Theorie der Wahrheit kommt sie auch innerhalb des Dialektischen
Materialismus und der Marxistischen Textbuch-Philosophie oft vor.
Wahrheit wird in diesen Theorien entweder in
politischgesellschaftlicher Nützlichkeit, im Erfolg einer Theorie, im
lebensfördernden Charakter einer Auffassung (Nietzsche) u. ä.
gesehen, oder aber der Erfolg wird als Kriterium der Wahrheit
gewertet, wie im Marxismus, wo man häufig polemische Äußerungen
gegen den pragmatistischen Wesensbegriff von Wahrheit antreffen
kann.
1. Als Wesensbestimmung von Urteilswahrheit ist die pragmatistische
Wahrheitsdefinition völlig unbrauchbar. Denn was immer sonst die
Beziehung zwischen Wahrheit und Erfolg sein mag, Wahrheit meint
jedenfalls nicht diesen Erfolg, ist nicht mit ihm identisch. Am ehesten
legt sich eine derartige Auffassung noch dann nahe, wenn man mit
Peirce oder auch mit dem "Wiener Kreis" unter "Erfolg" die Summe
der Erfahrungen versteht, in denen sich eine Theorie verifizieren (oder
"nicht falsifizieren") läßt. Die Wahrheit eines Urteils wäre dann der
348
"Erfolg" nur im Sinne der praktischen Erfahrung (Versuche etc.), in
denen diese Wahrheit verifiziert werden kann.
Doch auch hier (in dieser spezifisch eingegrenzten Bedeutung von
Erfolg) zeigt sich deutlich, daß die Wahrheit eines Urteils eben nur sein
Abziehen auf einen Sachverhalt, der wirklich besteht, meint; ein Urteil
kann demgemäß durchaus wahr sein, bevor es verifiziert wird; bereits
der Wortsinn von "Verifikation" als "Bestätigung von Wahrheit" zeigt
übrigens die Verschiedenheit der Wahrheit, die bestätigt werden soll,
von ihrer Bestätigung als solcher.
Erst recht ist Wahrheit evidenterweise nicht identisch mit einem Erfolg
in anderem Sinne, etwa dem politischen Erfolg einer Ideologie im
Machtkampf (die nationalsozialistischen oder kommunistischen Siege
z. B.) oder einfach der Beherrschung des Zeitgeistes. Hier bedeutet
"Erfolg" nicht mehr die Wahrnehmung des in einem Urteil
vorhergesagten Sachverhalts bzw. das Eintreten dieses Sachverhalts,
was in der Tat die Wahrheit des ihn vorhersagenden Urteils bestätigt,
sondern hier bedeutet "Erfolg" einen dem Sinn und der
Behauptungsintention des Urteils an sich fremden äußeren Zweck, zu
dem jemand das Urteil "gebraucht", oder dessen Überzeugungs- und
Motivationskraft bei den Massen. Dieser Erfolg ist ebenso wenig
identisch mit Wahrheit, daß er
2. nicht einmal eine notwendige Bedingung für Wahrheit ist, es sei
denn, man setze eine Metaphysik voraus, nach der die Wahrheit, die
offensichtlich in der Geschichte nicht immer siegt, auf die Dauer und
in ihren Tiefenwirkungen und vor allem am Ende der Weltgeschichte
siegen muß. Eine solche Metaphysik kann allerdings niemals auf
materialistischer Grundlage gültig begründet werden, sondern nur auf
einer theozentrischen, nach der in und durch Gott am Ende der Welt
letztlich nur die Wahrheit siegen wird. Daß der Marxismus in einer
säkularisierten Gestalt eine solche Überzeugung vom
historischahistorischen "Endsieg des Wahren" (in der Ideologie des
Proletariats bzw. der "klassenlosen Gesellschaft") vertritt, ist eine
Inkonsequenz. Denn der Sieg einer bloß von materiellen ökonomischen
Bedingungen abhängigen Entwicklung kann niemals deren Wahrheit
garantieren, sondern nur wenn ein unendlich weiser und mächtiger
Geist Urquell allen Seins ist, wird "am Ende" sicher nur die Wahrheit
herrschen. Doch selbst aus theistischer Sicht kann niemals begründet
werden, der historische Sieg von Ideen als solcher und deren politische
Macht seien eine Wahrheitsbedingung; ja sogar der eschatologische
349
Sieg der Wahrheit ist mehr eine notwendige Folge der Wahrheit und
der Macht Gottes als eine Bedingung für Wahrheit.
3. Auch als "Kriterium" der Wahrheit kommt der "Erfolg" nur im ersten
Sinn des Ausdrucks in Frage, wo nämlich mit "Erfolg" das Eintreten
eines von einer Theorie gerade behaupteten Sachverhalts gemeint ist.
In diesem Sinne, wie von marxistischen Textbüchern immer wieder
herangezogen wird, beweist der "Erfolg" von Experimenten —
zumindest insofern deren Ergebnis sich unmittelbar auf ein in einer
Hypothese vorhergesagtes Gesetz bezieht — die Wahrheit dieser
Hypothese.
Sobald jedoch "Erfolg" einen Sachverhalt meint, der nicht strikt der
Urteilssetzung entspricht, so beweist "Erfolg" überhaupt nicht
notwendig die Wahrheit eines Urteils. In diesem Sinne ist z. B. der
marxistische Anspruch, die kommunistischen Siege bewiesen die
Wahrheit des kommunistischen Systems, falsch, ja geradezu absurd.
Dabei ist auf den oft hervorgehobenen Widerspruch hinzuweisen, in
den die marxistische Ideologie dadurch gerät, daß sie zwar die
politischen Siege des Nationalsozialismus oder den wirtschaftlichen
Fortschritt des Westens nicht als Wahrheitsbeweis anerkennt, wohl
aber seit Lenin die eigenen "Erfolge" als Wahrheitsbeweise anführt.
Dabei ist die These vom historisch-gesellschaftlichen Erfolg als
Wahrheitsbeweis bei Hegel wenigstens noch durch die Philosophie des
"Weltgeistes" begründet, während eine solche Begründung innerhalb
des Dialektischen Materialismus ganz fehlt, sondern nur in Form eines
blinden darwinistisch-naiven und "dialektischen" Fortschrittsglaubens
weiterlebt. Doch in jedweder — auch der Hegelschen — Form ist die
Theorie, daß irgendein historisch-gesellschaftlicher Erfolg als solcher
ein Wahrheitsbeweis sei, abzulehnen. Denn offenbar haben die
widersprechendsten Ideologien und Überzeugungen vorübergehend
historischen Erfolg gehabt und die Ideen des Zeitgeistes, die sich
überdies oft widersprechen, jeweils für wahr zu halten, stellt einen trotz
Hegels Autorität leicht durchschaubaren und primitiven Irrtum dar.
In einer ganz anderen Form ist dieser Gedanke des "Erfolges" als
Wahrheitskriterium übrigens auch in der Apostelgeschichte im
Gamaliel-Argument enthalten, der vorschlägt die Apostel nicht
hinzurichten, denn: ist ihre Lehre Menschenwerk, wird sie sich von
selbst verlieren, ist sie göttlichen Ursprungs, wird sie trotz
menschlicher Vernichtungsversuche bestehen bleiben. In dieser Form
ist etwas Tiefes in der Auffassung gesehen, daß die historische
350
Wirksamkeit einer Religion deren Wahrheit beweise, insofern hier eine
allgemeine (und nicht mehr durch besagtes "Erfolgs"-Kriterium zu
erkennende) Wahrheit zugrundegelegt wird: nämlich die, daß eine
einheitliche und auf Jahrhunderte wirksame religiöse Anschauung, die
sich nicht in zahllose Sekten zersplittert, nicht als bloßes Produkt
menschlichen Geistes, sondern nur als göttliche Wirkung möglich ist.
Doch selbst hier darf das Kriterium des "Erfolges" und Dauerns
ausschließlich im Zusammenhang anderer und noch tieferer
Kennzeichen der Wahrheit angewendet werden, was in diesem Rahmen
nicht näher begründet werden kann.
Noch ein Zusatz ist nötig: Wenn man mit "Erfolg" im ersten Sinne nicht
die jeweils einem Sachverhalt angemessene Erfahrungs- und
Verifikationsart, sondern vielmehr immer eine empirische Verifikation
meint, wie es in gewissem Ausmalt bei Peirce und noch mehr bei den
Vertretern des logischen Positivismus geschieht, dann ist eine solche
oft alle anderen Erkenntnismethoden als bloß zu "sinnlosen Sätzen"
führend abqualifizierende Kriteriologie der Wahrheit grundfalsch. Nur
bei experimentell oder wahrnehmungsmäßig überprüfbaren
Sachverhalten kann eine solche empirische Verfikationsmethode als
Kriterium für die Wahrheit von Sätzen bzw. als Weg von deren
Feststellung mit Recht angesehen werden. Sobald jedoch apriorische
Wesenszusammenhänge oder Sinnzusammenhänge oder andersartige
Sachverhalte auf dem Spiele stehen, läßt Sich deren Wahrheit gerade
prinzipiell nicht mit Erfahrungen im Sinne der pragmatistischen,
pragmatizistischen oder neopositivistischen Theorien feststellen.
Deshalb kann auch "Erfolg" im Sinne von Wahrnehmung und
empirischen Verifikationsmethoden nur in ganz eng begrenztem
Rahmen als ein Kriterium für Wahrheit unter anderen überlegenen
Kriterien anerkannt werden, auf die sogar die empirischen
"Verifikationen" als auf ihre letzte Quelle zurückgehen.
Die Konsensustheorie der Wahrheit: Wiederum im Rückgriff auf
Peirce und andere vorwiegend amerikanische Denker wurde eine der
Kohärenztheorie nahestehende Wahrheitstheorie, eine
Konsensustheorie der Wahrheit, entwickelt. Demnach wäre entweder
Konsens das Wesen der Wahrheit, bzw. konsensusfähig zu sein, oder
zumindest wäre die Konsensfähigkeit einer These eine Bedingung oder
ein Kriterium für ihre Wahrheit.
Dabei kann wiederum entweder der Konsens "vieler" als solcher als
Wesen der Wahrheit oder als Kriterium für Wahrheit gemeint sein, oder
351
aber es kann nur der Konsens mit bereits als wahr erkannten Urteilen
bzw. mit Personen gemeint sein, von denen feststeht oder anzunehmen
ist, daß sie die Wahrheit erkannten. In diesem letzteren Sinne geht ja
auch der Gottesbeweis "ex consensu gentium" auf den Konsens als
Wahrheitskriterium zurück (also lange vor Circe).
1. Als Wesenscharakterisierung von Wahrheit ist weder der faktische
Konsens irgendwelcher Personen noch die Konsensfähigkeit
brauchbar. Denn was die Wahrheit eines Urteils ist, ist evidenzermaßen
von dem Konsens oder der Konsensfähigkeit verschieden. Wenn ich
erfahre, daß ein Urteil konsensfähig ist oder daß über es Konsens
herrscht, erfahre ich nicht damit, daß das Urteil wahr ist; die Wahrheit
ist damit nicht ausgesagt, wie sich auch daraus ergibt, daß ich
weiterfragen muß, ob denn Konsens ein Kriterium oder eine Bedingung
von Wahrheit ist, was eine sinnlose Frage wäre, wenn mit Konsens und
Wahrheit oder mit Konsensfähigkeit und Wahrheit dasselbe gemeint
wäre.
2. Wenn unter Konsens einfach die Übereinstimmung vieler Menschen
oder auch nur der Konsens der Weisen, Erfahrenen etc. gemeint ist,
dabei aber nicht absolut vorausgesetzt werden kann, daß die
"konsentierenden" Personen notwendig und sicher die Wahrheit
erkennen, dann ist der Konsens auch in keiner Weise Bedingung der
Wahrheit. Ganz offensichtlich kann ein Urteil wahr sein, obwohl die
Toren oder sogar "die Weisen" nicht darüber übereinstimmen.
Wenn unter Konsensfähigkeit jedoch bloß gemeint ist, daß alle
Wahrheit prinzipiell trotz aller persönlicher Schwierigkeiten und
Hindernisse erkennbar ist und daher prinzipiell Konsens über sie erzielt
wenden kann, dann ist Konsensfähigkeit in diesem Sinne ähnlich wie
Erkennbarkeit und als Folge derselben allerdings ein Wesensmerkmal
der Wahrheit. In diesem Sinn ist es auch "Bedingung" bzw.
notwendiges Merkmal der Wahrheit, daß prinzipiell Übereinstimmung
über sie erzielt werden kann. Jedoch besagt diese Konsensfähigkeit
nicht im geringsten, daß historisch unter allen Menschen oder auch nur
unter allen Wahrheitsliebenden ein Konsens über alle Wahrheit erzielt
wenden kann. Darüber noch mehr im Rahmen unserer Diskussion des
"Dogmatismus-Problems".
3. Als Wahrheitskriterium kann der Konsens vieler überhaupt nicht
dienen. Denn die Vielen stimmen sehr häufig gerade im Irrtum überein;
erst recht kann nicht das, was etwa "der moderne Mensch" (den es
faktisch gar nicht gibt, sondern der eine fiktive Größe bleibt)
352
übereinstimmend annimmt, als wahr betrachtet werden. Nicht einmal,
wenn man nur an den Konsens von Weisen denkt, bietet deren Konsens
mehr als einen gewissen u. U. starken Hinweis auf Wahrheit.
Nur dort, wo absolut feststeht, daß eine Autorität die Wahrheit
erkannte, bietet Konsens Garantie der Wahrheit. Dabei ist mit Konsens
im Unterschied zu Kohärenz gemeint, daß ein und denselben
Sachverhalt Übereinstimmung herrscht. Ausschließlich innerhalb der
Theologie, die die Hl. Schrift als Gottes unfehlbar wahres Wort
betrachtet, darf und soll der eindeutig erwiesene Konsens mit diesem
"Wort" als absolutes Kriterium für Wahrheit betrachtet werden (bzw.
in der katholischen Kirche auch der Konsens mit den Dogmen).
Jede säkularisierte Form jedoch, die den Konsens vieler oder den
Konsens mit einigen als Autoritäten geachteten Menschen für ein
letztes Wahrheitskriterium hält, ist irrig. Denn solange ein Wesen
irrtumsanfällig ist, wie jeder Mensch als solcher, kann niemals der
Konsens mit ihm als absolutes Wahrheitskriterium betrachtet werden.
Allerdings kann in begrenztem Maß auch hier (z. B. in der Historie,
wenn eine Theorie eines Historikers durch eine vertrauenerweckende
Originalquelle eines Augenzeugen bestätigt wird) der Konsensus mit
einer "Autorität" eine gewisse zuverlässige Gewähr bzw. ein Kriterium
für "wahrscheinliche" Wahrheit bieten, im Maße der echten Kompetenz
oder Vertrauenswürdigkeit eines Zeugen oder einer Autorität.
Ebenso kann, wie wiederum aus der Kriminalistik, Historie oder dem
Recht erhellt, der Konsens mehrerer oder vieler als solcher dann als
Wahrheitskriterium gelten, wenn er kaum oder gar nicht anders als
durch die Wahrheit erklärbar ist. Dies wird ja auch in der berühmten
Begebenheit von Susanne im Bade geschildert, wo der Prophet Daniel
mit Recht aus dem mangelnden Konsens des Berichtes der beiden Alten
auf Lüge schließen kann, während ihr Konsens ein Anzeichen von
Wahrheit gewesen wäre.
Wenn nämlich zwei oder mehr wirkliche oder angebliche Augenzeugen
einer Begebenheit in einer Einzelheit, über die sie sich kaum
abgesprochen haben können und eine Abhängigkeit voneinander
ausgeschlossen ist, übereinstimmen, ist Wahrheit der plausibelste
Grund dieser Übereinstimmung. Insofern ist also Konsens unter ganz
bestimmten Umständen Kriterium der Wahrheit selbst dort, wo noch
nicht von vornherein die Wahrheit der einen Seite feststeht.
Die erwähnte wesensnotwendige Tatsache hingegen, daß mit der
Erkennbarkeit der Wahrheit auch immer die prinzipielle
353
Verständigungsmöglichkeit gegeben ist, kommt als Kriterium für
Wahrheit kaum in Frage; denn, wenn nicht andere innere Kriterien
vorliegen, kann Übereinstimmung leicht auch in Irrtümern erzielt
werden und deutet als solche noch gar nicht auf Wahrheit. Die unter
zahllosen Denkern herrschende Übereinstimmung in bezug auf
Nationalsozialismus oder ein kommunistisches Glaubensbekenntnis
oder auch diejenige über ein religiöses und wahres Glaubensbekenntnis
beweist als solche nicht die Wahrheit. Nur wenn aus anderen Gründen
angenommen werden darf, daß die Übereinstimmung aus wahren und
guten Gründen erfolgte, darf diese Übereinstimmung als zusätzliche
"Wahrheitsbestätigung" begrüßt werden.
Die Evidenztheorie der Wahrheit: Abschließend sei hier nur auf die von
F. Brentano vertretene und philosophisch tiefste der falschen
Wahrheitstheorien verwiesen, die nämlich Wahrheit mit Evidenz
gleichsetzt, oder wenigstens in Evidenz das entscheidende Kriterium
der Wahrheit sieht.
1. Wenn Evidenz als Wesen der Wahrheit derart betrachtet wird, daß
Wahrsein eines Urteils nur besagen solle, daß dieses Urteil entweder
evident ist, zur Evidenz gebracht werden kann oder daß ein mit Evidenz
Urteilender so urteilen würde, dann ist diese Theorie eindeutig falsch
und stellt eine besonders gefährliche, weil subtile Untergrabung der
Wahrheit dar, dadurch daß sie das principiatum (nämlich Evidenz) zum
principium macht und dadurch überdies den Charakter von Evidenz
verfälscht. Denn die Evidenz eines Urteils meint gerade, daß ein Urteil
auf Grund seiner Wahrheit dem erkennenden Geist einleuchtend oder
gewiß erkennbar werden kann. Seine Wahrheit bedeutet beileibe nicht,
daß es evident werden kann, vielmehr eben dies Schlichte, daß es mit
einem tatsächlich bestehenden Sachverhalt übereinstimmt. Zu sagen,
wahr sein bedeute ebenso zu urteilen, wie ein mit Evidenz Urteilender
urteilen würde, verkennt sowohl das Wesen der Wahrheit als
Übereinstimmung als auch die Tatsache, daß Evidenz nur von der
Wahrheit her versenden, begründet und definiert werden kann, niemals
aber Wahrheit von der Evidenz her. Denn in dem Augenblick, wo nicht
mehr die als "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit verstandene
Wahrheit den Grund für die Evidenz bildet, rückt das so verkannte
Evidenzerlebnis auf die Stufe eines bloß psychologisch immanenten
Erlebnisses herab und dem Subjektivismus ist Tür und Tor geöffnet.
Evidenz wird ein subjektives Erlebnis, anstatt als jenes wesenhaft
transzendierende Erlebnis erkannt zu werden, in dem der Erkennende
354
des seinem Geist transzendenten wahren Urteils inne wird, das als wahr
von Evidenz ganz verschieden und unabhängig ist.
Es wäre näher zu zeigen, daß Brentanos Lehre darin ihre Wurzel hat,
daß Brentano die Adaequatio-Lehre verwirft, weil er die
"Übereinstimmung" zu wörtlich nimmt, so daß die Wahrheit über
fiktive oder nicht bestehende Dinge von ihm nicht mehr als adaequatio
anerkannt wird.
Es ist jedoch offenbar, daß eben immer die Wirklichkeit und die
tatsächlichen Sachverhalte Maß der Wahrheit für die mit ihnen
"übereinstimmenden" Urteile ist: die seienden Dinge sind Maß der
Wahrheit darüber, daß sie sind, die nicht Seienden Maß der Wahrheit
darüber, daß sie nicht sind. So treffen Brentanos Bedenken gar nicht
den tieferen Sinn der "adaequatio".
2. Wenn man Evidenz als verwirklichte versteht, ist sie sicher auch
nicht Voraussetzung für Wahrheit; denn jedes Urteil ist entweder wahr
oder falsch, ganz unabhängig davon, ob es von uns oder von einem
andern Menschen mit Evidenz erkannt wird oder nicht.
Brentano hat jedoch die mögliche Evidenz im Auge (ähnlich wie Peirce
die mögliche Sinneserfahrung). Dann ist es allerdings (weniger
Bedingung für Wahrheit als eher) im Wesen der Wahrheit und ihrer
Erkennbarkeit begründet, daß sie wenigstens prinzipiell zur Evidenz
gebracht Werden kann, vorausgesetzt, man versteht hier Evidenz nicht
als Einsicht, sondern als die dem jeweiligen Sachverhalt entsprechende
Form sicherer Erkenntnis. In diesem Sinn ist es zwar nicht das Wesen
von Wahrheit, wohl aber eine notwendige Folge (Implikation) eines
wahren Urteils, daß ein mit Evidenz Urteilender es fällen würde.
3. Als Kriterium für Wahrheit ist Evidenz allerdings das höchste und
grundlegendste. Alle anderen Wahrheitskriterien, die wir diskutierten,
führen jeweils von mittelbarer auf unmittelbare Evidenz im Sinne einer
"Wahrnehmung" von Tatsachen oder im Sinne des "Einsehens letztlich
gegebener Zusammenhänge" zurück. Wenn auch die Evidenz (vor
allem die der Sinne) sekundär durch andere Kriterien (z. B. Kohärenz
mit bereits als wahr erkannten Urteilen) zusätzlich "bestätigt" werden
kann, so bedarf sie — wenigstens bei tatsächlicher unmittelbarer
Evidenz — solcher Bestätigung keineswegs notwendig, während alle
anderen Kriterien ihrerseits der Evidenz als Grundlage notwendig
bedürfen.
355
Da auf die Frage des "inneren" Kriteriums für Wahrheit innerhalb
dieses Anhangs noch verschiedentlich eingegangen werden wird, kann
diese kurze Diskussion hier abgebrochen werden.
356
Hegels allen Glauben "aufbebendem" "absolutem Wissen" mit Recht
vorwarf. Ein solches Streben nach einer schon in der Apologie des
Sokrates so tiefsinnig und ironisch bekämpften "übermenschlichen
Weisheit" entspringt in der Tat dem Hochmut und schließt ein
Verkennen der Grenzen unserer Natur ein.
Gleich pervertiert ist ein Streben nach Gewißheit, bei dem uns die
Gewißheit unserer Erkenntnis einer Wahrheit wichtiger wird als der
Inhalt und die Bedeutung einer Wahrheit und wir die von Pieper
erwähnte tiefe Einsicht von Aristoteles und Thomas v. Aquin
vergessen, daß das geringste Wissen über die höchsten Dinge mehr
wert ist als das sicherste Wissen über geringere. So wie einem
Liebenden der geringste Hinweis über die Person und Liebe des
Geliebten wichtiger ist als das sicherste Wissen über weniger wichtige
Gegenstände, so sollte im allgemeinen unser Streben primär auf die
wichtigsten Wahrheiten abzielen, wie immer sie dem Menschen
zugänglich sind, und niemals sollte uns die Gewißheit des eigenen
Erkennens wichtiger werden als der Inhalt einer Wahrheit.
Die Pervertierung des Gewißheitsstrebens wird jedoch dort am größten,
wo die Gewißheit von der Wahrheit, von der allein sie wahrhaft
begründet werden kann und ihren Wert empfängt, losgelöst wird, so
daß Gewißheit uns wichtiger wird als die Wahrheit, und die — dadurch
"unterminierte" — "Gewißheit" der Prinzipien unseres Denkens und
Handelns nicht nur von der Wahrheit "isoliert" wird, sondern an deren
Stelle tritt: "Gewißheit" als Ersatz für Wahrheit, wie dies im
vorliegenden Buch bezüglich der Kantischen Begründung von
"synthetischen Urteilen a priori" kritisiert wird.
In der Kritik all dieser Phänomene, die sicherlich die Neuzeit
weitgehend beherrschen, stimme ich dem erwähnten Einwand voll zu.
Doch kann ich mich diesem Einwand in keiner Weise anschließen,
insofern darin neben den drei erwähnten berechtigten Kritiken drei
weitere Thesen enthalten sind: nämlich
1. daß prinzipiell das ernste Bemühen um unbezweifelbare und
unfehlbar gewisse Erkenntnis (in der keine Täuschung sein kann)
verfehlt sei, weil es die menschlichen Erkenntnisgrenzen verkenne; 2.
daß die Frage der Erkenntnisgewißheit höchstens eine untergeordnete
Bedeutung habe, nicht aber eine zentrale Stellung einnehme; 3. daß das
ernsthafte Stellen der Gewißheitsfrage zum Subjektivismus führe und
daher auch historisch erst bei Descartes und innerhalb der auf ihn
folgenden (subjektivistischen) Philosophie eine zentrale Rolle spiele,
357
in der mittelalterlichen und antiken Philosophie hingegen stets eine
untergeordnete Rolle gespielt habe.
Die erste dieser Thesen wird in den Hauptteilen dieses Buches durch
den positiven Aufweis der Möglichkeit absolut gewisser Erkenntnis
indirekt kritisiert bzw. widerlegt. Im Rahmen der historischen
Hinweise über Augustinus und Bonaventura wird noch zusätzlich
einiges zu dieser These kritisch bemerkt werden.
Bezüglich der zweiten These gälte es aufzuweisen, daß wir gerade im
Maß unserer Liebe zu einer objektiven Wahrheit auch nach Gewißheit
der Erkenntnis streben und streben sollen, wo immer diese uns
geschenkt ist. Dies ist erstens und vor allem von dem Interesse an der
Wahrheit selbst gefordert; denn wir wissen ja von der Wahrheit bzw.
von deren objektivem Bestehen, an dem uns liegt, ausschließlich durch
unsere Erkenntnis und die in ihr gegründeten berechtigten Akte des
Annehmens und Glaubens. Wir können daher gar nicht am wirklichen
(sicheren) Sein und der Wahrheit interessiert sein, ohne zugleich an der
sicheren Erkenntnis derselben interessiert zu sein als dem einzigen
Fundament, auf dem unser Interesse an der Wahrheit sich als
gerechtfertigt und als auf etwas Wirkliches gerichtet erweisen kann.
Zweitens ist unser Interesse an Erkenntnisgewißheit auch deshalb
gefordert, weil die gewisse Erkenntnis der Wahrheit auch ein hohes Gut
für uns ist. In dem Maß, in dem wir es in diesem Leben erlangen
können, sollen wir wenigstens grundsätzlich danach streben; in dem
Maß, in dem es uns im jetzigen Leben nicht geschenkt ist, sollen wir,
wie Sokrates in Platons Phaidon, uns danach sehnen, nach dem Tode
diese Erkenntnisgewißheit über die höchste und umfassendste
Wahrheit zu erlangen; diese Sehnsucht, fern davon, in rationalistischem
Gegensatz zum Glauben zu stehen, ist ja auch in der christlichen
Hoffnung auf die visio beatifica enthalten und findet überdies in der
Begründetheit und "Vernünftigkeit" des Glaubens selbst schon in
diesem Leben eine gewisse Erfüllung. Drittens ist Erkenntnisgewißheit
entscheidend wichtig, weil alle Wahrscheinlichkeit und alles Glauben
stets den Boden eines unbezweifelbaren Wissens voraussetzen. Wenn
wie Sokrates in Platons Phaidon, uns danach sehnen, nach dem Tode
auch nichts im echten Sinn, d. h. begründeterweise, glauben, wie im
ersten Teil des vorliegenden Buches innerhalb der Diskussion der
"Erkenntnis im engeren Sinn" ausgeführt wurde. Was für den Glauben
gilt, gilt auch für Wahrscheinlichkeit, die gleichfalls nur auf der
Grundlage von Gewißheit möglich ist.
358
Aus dem bisher Gesagten ist bereits nicht nur die zentrale Bedeutung
der Gewißheitsfrage, sondern auch die Irrigkeit der weiteren These
offenbar, daß das ernste Streben nach natürlicher Erkenntnisgewißheit
zum Subjektivismus führe. Dies wäre höchstens dann wahr, wenn man
heimlich einen Skeptizismus voraussetzt, dem gemäß jedes Suchen
nach unbezweifelbarer Gewißheit nur zur Skepsis und zum Zweifel an
allem Erkennen führen könne und damit zum Subjektivismus. Gibt es
dagegen gewisse Erkenntnis, so führt uns die Suche nach ihr zu
sicherem Wissen um objektive Wahrheit und damit zur Überwindung
jedes Subjektivismus und zur Begründung auch allen sinnvollen
Vertrauens und Annehmens. Wie könnte aber jemand, dem an der
Wirklichkeit selbst, an der objektiven Wahrheit liegt, der Frage
gegenüber gleichgültig sein, ob es diese Wirklichkeit und Wahrheit am
Ende gar nicht gibt oder ob seine Erkenntnis derselben, durch die er
von ihr weiß, tatsächlich sicher begründet ist und damit auch eine
zuverlässige Grundlage für ein auf erkannten Gründen aufgebautes
Glauben darstellt!?
Auch im Hinblick auf seine "historische Seite" ist der diskutierte
Einwand gegen das Gewißheitsstreben unberechtigt. Es ist zwar eine
verbreitete falsche Meinung, daß erst seit Descartes und in der Neueren
Philosophie nach ihm das Gewißheitsproblem eine zentrale und, wie
man fälschlich meint, unweigerlich zum Subjektivismus führende
Rolle spiele. Doch wurde bereits im vorliegenden Buch an Hand von
einer Reihe von Augustinus-Stellen gezeigt, an welch zentraler Stelle
und wie intensiv Augustinus die Frage beschäftigt hat, ob es
unbezweifelbare Erkenntnis der Wahrheit gilt; sein in den Confessiones
beschriebener Lebensweg, seine Retractationes, sein Contra
Academicos, De Libero Arbitrio und viele andere Werke beweisen,
welch ernstes Problem der Skeptizismus für Augustinus persönlich
darstellte und wie wichtig es ihm war, zu einem allen Zweifel
überwindenden, unfehlbaren Wissen der Wahrheit zu gelangen. Auch
für Parmenides, Platon, Aristoteles (siehe spätere Ausführungen weiter
unten), Thomas v. A. und viele andere Denker der Antike und des
Mittelalters könnte man ähnliches zeigen. Hier sei nur kurz darauf
eingegangen, daß Bonaventura (wie ich in einem bald erscheinenden
Aufsatz zu zeigen suche) in einer ganz ausdrücklichen Weise, die
Descartes an Radikalität in nichts nachsteht, die Wichtigkeit einer
gewissen Erkenntnis betont. Eine solche Erkenntnis, die auf der
Objektseite durch Unveränderlichkeit und Notwendigkeit, auf der
359
Subjektseite aber durch unfehlbare Gewißheit (infallibilitas)
ausgezeichnet ist, gehört sogar unabdingbar zum Adel der
menschlichen Erkenntnis (nobilitas cognitionis) und zur Würde des
Erkennenden (dignitas cognoscentis). Es würde einen wichtigen
systematischen und historischen Beitrag zur Fortsetzung dieses Buches
darstellen nachzuweisen, daß bei Bonaventura (und bereits bei
Augustinus) nicht nur die im vorliegenden Buch besonders
hervorgehobenen Merkmale apriorischer Wesenserkenntnis
(Wesensnotwendigkeit, lückenlose Allgemeinheit, hohe Intelligibilität
und absolute Gewißheit), sondern noch weitere die Eigenart dieser
Erkenntnis und ihres Gegenstandes sehr erhellende Momente
aufgewiesen werden. Hier seien nur die wichtigsten Merkmale der
gewissen Erkenntnis notwendiger Wesensgesetze, wie Bonaventura sie
herausarbeitet, angeführt: ihr Gegenstand ist absolut wesensnotwendig,
so daß selbst die Allmacht Gottes eine solche Wesensnotwendigkeit
nicht ändern könnte, weil dies eine in sich absurde Un-Macht bedeuten
würde und eine absolute Unmöglichkeit ist, diese Wesensgesetze sind
unveränderlich (immutabiles); und, daraus erwachsend, ewig bzw.
zeitlos (aeternae, interminabiles); und dies wiederum nicht bloß
faktisch, sondern im Sinne wesenhafter Unzerstörbarkeit und
Unvergänglichkeit.
Daß diese Merkmale den "Dingen selbst" zukommen und nicht bloß
auf eine subjektive Denknotwendigkeit oder Setzung zurückgehen,
erweist sich besonders deutlich durch weitere Kennzeichen dieser
Erkenntnis bzw. ihres Gegenstandes, der notwendigen Wahrheiten
bzw. Wesenssachverhalte:
durch die luminositas (hohe Intelligibilität), kraft deren der Gegenstand
solcher gewissen Erkenntnis dem rationalen Geist als "einsichtig", als
"selbst-evident" einstrahlt. Damit hängt wieder die Unbeurteilbarkeit
dieser Gesetze als letzte Quelle unserer objektiven Gewißheit
zusammen. Diese "iniudicabilitas" meint nach Augustinus und
Bonaventura zunächst, daß diese Gesetze, um in ihrer Gültigkeit und
Objektivität erkannt zu werden, keinerlei außer ihnen liegenden
Kriteriums bedürfen. Sie sind wegen ihrer unzurückführbaren Evidenz
keines Beweises fähig oder bedürftig; die sie erfassende Erkenntnis ist
deshalb wesenhaft unmittelbar in dem Sinne, daß ihr Gegenstand nicht
durch das Medium irgendwelcher anderer Gegenstände erkannt oder an
ihnen bemessen und beurteilt werden kann. Da es nichts sicherer
Erkanntes gibt, können wir unsere Erkenntnis und Anerkennung dieser
360
notwendigen Wahrheiten nicht nach "irgendetwas anderem" richten,
sondern diese "richten" von sich aus unseren Geist, weisen unsere
Erkenntnis als "richtig" aus, sind die Quelle aller Richtigkeit unseres
Denkens. Wir können ihr Licht an nichts anderem, sondern nur unsere
Erkenntnis an ihrem selbst-evidenten Licht beurteilen; unser an sich
fehlbares Denken ist "ihrem Richtspruch" gemäß wahr oder falsch.
Eine zweite Bedeutung dieser "iniudicabilitas" muß hier unerwähnt
bleiben.
Mit der "iniudicabilitas" hängt ein weiteres Merkmal dieser Erkenntnis
zusammen, in dem uns die objektive Wahrheit des in ihr Erkannten
verbürgt wird, nämlich ihre Unbezweifelbarkeit (indubitabilitas), ja
ihre unfehlbare Gewißheit (infallibilitas), wie Bonaventura betont. In
diesem doppelten Sinn war auch im vorliegenden Buch von "absoluter
Gewißheit" die Rede: als Zweifel ausschließend und als Irrtum
ausschließend. Bonaventura fügt in diesem Zusammenhang hinzu, daß
weder die veränderlichen Dinge noch der veränderliche Geist als
solche, sondern nur die notwendigen und unveränderlichen "rationes"
(Ideen, Wesenheiten, Wesensgesetzlichkeiten, Wesenspläne) der
Dinge unserem Geist diese unfehlbare und absolut unbezweifelbare
Erkenntnis zu spenden vermögen. Ganz in dem in diesem Buch
intendierten Sinn führt Bonaventura die Transzendenz dieser
notwendigen Wesensgesetze als von unserem Geist und den
veränderlichen Dingen unabhängig, als von unserem Geist
vorgefundene "lux et veritas infallibilis" aus, die in einem rezeptiven
Erkenntnisakt erfaßt wird. Betonter als bei Augustinus und im
Gegensatz zu Descartes hängt nach Bonaventura nicht nur die Evidenz
der Sinne, sondern auch die der eigenen Erkenntnis im Cogito in
bestimmtem Sinne von der Erkenntnis dieser notwendigen,
unveränderlichen Wahrheiten ab. Darin liegt eine wichtige
systematische Ergänzung zu den Ausführungen des vorliegenden
Buches: daß nämlich die Evidenz des eigenen Seins nicht neben
derjenigen notwendiger Wesensgesetze steht, sondern der letzteren als
der Erkenntnis der "rationes aeternae" zu verdanken ist. Denn wie
könnten wir auch nur mit Gewißheit erkennen, daß wir existieren, wenn
wir dies nicht "im Licht" der unveränderlichen Gesetze des
Widerspruchs, des notwendigen Vorausgesetztseins eines Subjekts für
jeden Akt etc., also "im Licht ewiger Wahrheiten", verstünden. Daß die
Gewißheit der Erkenntnis unseres eigenen Seins durch keinen Zweifel
erschüttert werden kann, erkennen wir also auf Grund der ("logisch",
361
wenn auch nicht notwendig zeitlich) primären Erkenntnis notwendiger
Wesenszusammenhänge. So ist die Erkenntnis notwendiger
Wesenszusammenhänge selbst uns durch unbezweifelbare und
unfehlbare Gewißheit als objektiv verbürgt und Anfang aller übrigen
Gewißheit.
362
"Soseinserfahrung" im Sinne des reinen "Kennenlernens" einer
notwendigen Wesenheit und einer Erfahrung des in einem Fall
existierenden (oder vorstellbaren) ,Soseins" wird dort klarer gemacht
werden.
In der Einleitung zu meinem Buch Leib und Seele. Ein Beitrag zur
philosophischen Anthropologie (Salzburg 1974) finden sich einige
Ausführungen zu dem weiteren Problem, inwieferne intelligible, doch
nicht notwendige Soseinseinheiten und ihre Erfahrung Ausgangspunkt
philosophischer Analysen werden können. Zum Problem der
"negativen Erfahrung" machte William Marra in seinem Aufsatz
"Creative Negation" (in: Wahrheit, Wert und Sein, hrsg. v. B. Schwarz,
Regensburg 1970) sehr bemerkenswerte Beiträge.
Weitere wichtige Beiträge Bonaventuras — vor allem im Itinerarium
—, die die Beziehung zwischen Erkenntnisgewißheit und Erinnerung
betreffen, ein von Descartes gesehenes und nur unzureichend gelöstes
Problem, können hier bloß angedeutet werden. Bonaventura zeigt
überzeugend, daß es sich nicht um ein blindes Vertrauen auf das
Gedächtnis handelt, wenn wir auf in der Vergangenheit gewonnenen
Einsichten weiterbauen, deren gegenwärtige Erinnerung nur durch
Gottes Wahrhaftigkeit gerechtfertigt werden könne, so daß volle
Evidenz und Gewißheit nur dem je augenblicklichen evidenten
Erkennen zukomme. Er weist nach, daß diese Gesetze, wie sie dem
Intellekt des sie erst Erkennenden (intellectui apprehendentis)
unfehlbar und Unbezweifelbar sind, so auch unauslöschbar
(indelebiles) dem Gedächtnis des sich Erinnernden (memoria
recolentis) eingeprägt und dem Geist gleichsam immer gegenwärtig
sind; ihr Licht ist, wenn auch gewöhnlich nicht thematisch, doch dem
in der Gegenwart Erkennenden präsent, nicht wie etwas dem
Gedächtnis blind Geglaubtes, sondern "tanquam semper praesentes".
Damit ist außer der veracitas Dei der letzte Gewißheitsgrund unserer
Erinnerung auch der ständigen Gegenwart dieser Wahrheiten vor
unserem Geist zu verdanken, so daß wir ihrer einerseits ständig in
überaktueller Weise sicher sind und andererseits wissen, daß wir uns
ihrer jeden Augenblick aktuell versichern können. Innerhalb unserer
Auseinandersetzung mit Stegmüller werden wir auf dieses Problem in
diesem Nachwort noch einmal zurückkommen.
Als Fortführung des dritten Kapitels, II. Teil, dieses Buches wäre auch
der von Augustinus und Bonaventura gebrachte Aufweis eines weiteren
Merkmals der Wesensgesetze, ihrer "incoarctabilitas", wichtig. Damit
363
ist ihre Unabhängigkeit von Raum und Zeit, ihre Gegenwart "vor" dem
Geist jedes Menschen aller Zeiten gemeint, worin sich ihre
Transzendenz sowohl gegenüber dem konkret-individuellen Wesen der
Einzeldinge als auch gegenüber dem menschlichen Geist manifestiert.
Auch zeigt die "incoarctabilitas" dieser Gesetze, daß sie nicht von der
(Soseins-)Erfahrung der Einzeldinge in dem Sinn abhängen, daß die
Gewißheit, mit der wir sie erfassen, von der Gewißheit unserer
Erkenntnis des konkret-existierenden Soseins der Einzeldinge
abhängen würde, was, wie früher ausgeführt, widersprüchlich wäre,
sondern in einer eigenen Erfahrung des "reinen, idealen" Soseins
kennengelernt werden. Nur so ist letztlich die Tatsache verständlich,
daß diese Wesensgesetze und die Wahrheiten über sie nicht "deine" und
"meine" sind und auch nicht vom aktuellen "Sosein" der Dinge in Raum
und Zeit abhängen, sondern allgemein sind und sich jedem
erkennenden Menschen als "dieselben" Gesetze zeigen, die
"selbst-evident" sind. Sie müssen also etwas sowohl unserem Geist als
auch den Einzeldingen gegenüber Transzendentes, Ungeschaffenes
sein. Auf sie, und nicht auf das individuelle Sosein der Einzeldinge,
bezieht sich die Soseinerfahrung, von der philosophische Erkenntnis
ausgeht. Es ist im Rahmen dieses Anhangs unmöglich, diese Lehre
weiter zu verfolgen, die das im vorliegenden Buch Gesagte weiter
klären und außerdem bei einer absolut gewissen Erkenntnis sei eine erst
in der Moderne aufgekommene und mit einem Subjektivismus
verbundene, nicht bloß in sachlicher, sondern auch in historischer
Hinsicht falsch ist.
364
Augustinus und Bonaventura haben die unleugbare Gegebenheit
"idealer Wesenheiten" und ewiger Wahrheiten klar gesehen und
andererseits jede platonische oder neuplatonische Infragestellung der
Absolutheit des göttlichen Seins vermieden. Es kann sich bei der
Erklärung der "Einheit" dieser beiden Wahrheiten nur um einen
spekulativen Versuch der Klärung handeln, in welcher Richtung die
Lösung der "aporetischen Beziehung" zwischen den beiden eindeutig
und klar erkennbaren Wahrheiten (ewige Wahrheiten und Absolutheit
Gottes) liegt. Vgl. dazu das unten noch über Aporien, Antinomien und
Paradoxien Gesagte.
365
B. daß es eben nicht ist) und die Annahme des nicht-Seins von
Wahrheit in sich widersprüchlich ist, da es ja auch bei dieser Annahme
wahr wäre, daß es keine Wahrheit gibt. Daß es sich bei dieser
augustinischen Argumentation und bei entsprechenden späteren
Argumentationen (z. B. bei Bolzano) um keinen Sophismus handelt,
sondern um eine tief ins Wesen der Wirklichkeit und Wahrheit
hineinleuchtende Tatsache der Evidenz, "daß es Wahrheit gilt",
versuche ich in einem demnächst im Münchener Jahrbuch für
Philosophie erscheinenden Artikel "Bonaventuras Interpretation der
augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit" zu zeigen.
Ferner wäre der z. B. von Leibniz und Scheler als evidentester
Ausgangspunkt für die Erkenntnis betrachtete Sachverhalt, "daß es
überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts", eingehend zu
behandeln. Auch hier liegt ein in vielfältigem Sinn entfaltbares
urevidentes Urteil (bzw. mehrere solche Urteile und entsprechende
Sachverhalte) vor: sowohl die sich auf "Sein" im weitesten Sinn (also
auch z. B. ideal Seiendes einschließend) als auch die sich auf real
existierendes Sein im engeren Sinn beziehende Tatsache, "daß es
überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts", ist urevident und in
jeder anderen evidenten Erkenntnis "mitgegeben".
Auch die ersten metaphysischen Seinsprinzipien sowie das "Sein" im
weitesten Sinn als ihre Grundlage, bilden einen grundlegendsten
evidenten Ausgangspunkt für absolut gewisse Erkenntnis: das
Identitätsprinzip, das Widerspruchsprinzip, das Prinzip vom
ausgeschlossenen Dritten (das gegenüber den Einwänden moderner
mehrwertiger Logiker weiter zu klären wäre) oder das Prinzip vom
zureichenden Grunde sind in noch fundamentalerem Sinn als die auf
ihnen aufbauenden entsprechenden Obersten Logischen Gesetze von
absolut unbezweifelbarer, unfehlbarer Gewißheit. Aristoteles wählt im
Buch Gamma seiner Metaphysik das Widerspruchsprinzip als ein
solches selbst-evidentes grundlegendstes Prinzip, das jede Skepsis
widerlegt und von jeder These eines Skeptikers unweigerlich
vorausgesetzt wird; das vor allem in seiner objektiven Wahrheit mit
Gewißheit erkannt werden kann. Augustinus zeigt auch (in: Contra
Academicos), daß nicht nur jede These, sondern auch jeder Zweifel das
Widerspruchsprinzip notwendig voraussetzt, da ich ja nur zweifeln
kann, wenn ich weiß, daß ein Sachverhalt nur entweder bestehen oder
nicht bestehen kann. Bei Bonaventura und vielen anderen
mittelalterlichen Philosophen wurde das Widerspruchsprinzip als ein
366
absolut grundlegendes selbst-evidentes Prinzip näher erklärt, als ein so
elementar evidenter Sachverhalt, daß kein Denkakt möglich ist, ohne
daß (wenigstens stillschweigend) die Wahrheit dieses Prinzips erfaßt
wird. In jüngster Zeit wurde das Widerspruchsprinzip (vor allem in
logischer Fassung) in E. Husserls Logischen Untersuchungen
gegenüber seinen psychologistischen und relativistischen
Fehlinterpretationen neu in seinem objektiven Charakter
herausgearbeitet. Bei B. Schwarz in Der Irrtum in der Philosophie wird
diese Analyse durch ihre Anwendung auf die Irrtumsproblematik
weiter geklärt; auch in A. Pfänders Logik finden wir eine besonders
bemerkenswerte Darstellung der Evidenz sowohl des
Widerspruchsprinzips im logischen wie des es fundierenden
Widerspruchsprinzips im ontologischen Sinn. In einer wesentlich über
Husserl hinausgehenden und den späteren
transzerdentalsubjektivistischen Standpunkt Husserls (und der von
Maréchal beeinflußten Neuthomistischen Schule) glänzend
kritisierenden Darstellung des Widerspruchsprinzips hat W. Hoeres in
Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie gegenüber
dem "Transzendentalen Relativismus" die objektive, unserem Geist
transzendente Notwendigkeit und Gültigkeit des Widerspruchsprinzips
als eines letztevidenten Prinzips erwiesen. In diesem Zusammenhang
sei auch auf den Beitrag von J. Crosby in der Festschrift für B. Schwarz:
Rehabilitierung der Philosophie (hrsg. von D. v. Hildebrand,
Regensburg 1974, S. 108 ff.) hingewiesen, in dem eine weitere Klärung
der "objektiven Evidenz" des Widerspruchsprinzips als eines
selbst-evidenten Seinsgesetzes, an dem jeder Skeptizismus und
Relativismus scheitert, vorgenommen wird. In seiner letzten Evidenz
und in seinem absolut grundlegenden Charakter für alles Sein und alle
Wahrheit (und die gesamte Logik) eignet sich das Widerspruchsprinzip
in der Tat in besonderer Weise als Ausgangspunkt für den Aufweis
absolut gewisser Erkenntnis objektiver Wahrheit und Wirklichkeit.
Auch von dem noch so radikal Zweifelnden wird dieses Prinzip als
"Bedingung der Möglichkeit" solchen Zweifels miterfaßt; vor allem
jedoch kann es als objektives, unserem Geist transzendentes
Wesensgesetz für alles Seiende vom Zweifelnden mit Evidenz erkannt
werden. Ohne daß die Wahrheit des Widerspruchsprinzips wenigstens
implizit erfaßt (und jedenfalls vorausgesetzt) wird, könnte selbst der
radikalste Zweifel nicht zustandekommen.
367
Ein anderer möglicher Ausgangspunkt für absolut gewisse Erkenntnis
betrifft wiederum das "Sein", doch nicht in dem allgemeinsten Sinn
genommen, in dem die ersten metaphysischen Prinzipien in ihm
gründen, auch nicht in dem Sinne, "daß es überhaupt etwas gibt und
nicht vielmehr nichts", sondern vielmehr im Sinne des " to³ o·ntvw o¹n",
des "Seins im eigentlichsten, vollsten Sinn". Dabei ist noch nicht das
absolute, vollkommenste Sein gemeint, sondern vielmehr jene
Dimension oder jener "Kern" der Wirklichkeit, der im
hervorragendsten Sinn als "Sein" bezeichnet werden kann. Daß dieses
"wahrhaft Seiende" und auch die mit ihm verknüpften elementarsten
Unterschiede innerhalb der Wirklichkeit von elementarer Evidenz
seien, wurde in vielen Formen vertreten. Hier wäre die Platonische
These, die "Ideen" wären das "wirklich Wirkliche", die Aristotelische,
dies sei die "Substanz", die von Augustinus, Kierkegaard oder D. v.
Hildebrand vertretene These, das "eigentlich Seiende" sei die Person,
und andere Thesen zu diskutieren und dabei jeweils die Frage zu
stellen, ob es bei diesem "eigentlich Seienden" auch um eine
letzt-evidente, mit Gewißheit erkennbare "metaphysische
Grundtatsache" gehe. Hier sei nur auf eine Schule hingewiesen, die am
ehesten ihre These über das "Sein" im eigentlichsten Sinn mit dem
Anspruch auf erste Evidenz verbindet: auf den sogenannten
"existentiellen Thomismus", wie er insbesondere von E. Gilson
vertreten wird. In diesem Sinn erhebt Gilson in seinem Buch Being and
Some Philosophers, in einer langen arabisch-scholastischen Tradition
stehend, zunächst "das Sein" auf die Stelle des erst erkannten und
evidentesten Gegenstands der Erkenntnis. Dabei geht er gleich dazu
über, damit auch den elementaren Unterschied zwischen möglichem
Seienden (das er als "Seiendes minus Existenz" faßt) und wirklichem
Seienden, bzw. den Unterschied zwischen Wesen und Existenz, als
evidenten aufzuweisen, indem er ausdrücklich an ein unmittelbares
"Einsehen" (Sehen) appelliert und die Rolle des Philosophen als eines
Menschen beschreibt, der auffordert, in eine bestimmte Richtung zu
blicken und es dem Partner überläßt, zu sehen — oder zu übersehen. In
der Tat ist hier der Bezug zur Einsicht am Platz, denn der Unterschied
zwischen Wesen und Existenz (und zwischen möglichem und
wirklichem Sein) zeichnet sich durch eine unzurückführbare
Einsichtigkeit aus und kann ausschließlich mit Hilfe von Einsicht erfaßt
werden. Auch ist dieser Unterschied so elementar, daß er tatsächlich in
fast allen Formen des Zweifels, sicher im si fallor, sum und der
368
Erkenntnis der eigenen Person mit-erkannt wird oder sogar (implizit)
vorher erkannt sein muß. Die Eigenart "dessen, was" wir dabei mit
"Existenz" meinen und vom Wesen eines Seienden unterscheiden,
diese Gegebenheit von zentralster Bedeutung, welche den Unterschied
zwischen wirklicher Welt und "Welt" als bloße Möglichkeit ausmacht,
wird dabei miterfaßt. Auch ist es gewiß evident, daß dieses Existieren,
dieses "to be" oder "esse" einen einzigartig hervorgehobenen Platz
innerhalb dessen einnimmt, was wir als "Sein" im eigentlichen Sinn
bezeichnen, wie Gilson im Anschluß an Thomas v. A. vertritt. In einer
eingehenden Auseinandersetzung und einer Würdigung des Buches
Gilsons sowie der thomasischen und thomistischen Metaphysik wird in
meiner Arbeit Essence and Existence (1976) dieses "esse" (bzw.
Existenz) in seiner Verschiedenheit vom und Beziehung zum Wesen
eines Seienden untersucht werden. Es handelt sich dabei ohne Zweifel
um einen der schwerst zu analysierenden und zugleich elementarsten
Unterschiede, um etwas, was "jedes Kind" "kennt" und zugleich um
etwas, was wir kaum zur vollen Klarheit begrifflichen und
philosophischen Erfassens zu bringen vermögen; in ähnlicher Weise ist
auch die in noch viel eigentlicherem Sinn "das Sein" im vorzüglichen
Sinn ausmachende Gegebenheit individuell-einzigartiger Existenz, wie
wir sie nur innerhalb des personalen Seins finden, philosophisch kaum
zu fassen und durch das Medium von Begriffen auszudrücken.
Zugleich ist Existenz und auch personaleinzigartige Existenz eine
elementarste Urgegebenheit. In den in diesem Buch dargelegten
Einsichten in die Existenz des denkenden Subjekts, den
Auseinandersetzungen mit dem späten Husserl und mit dem Vorwurf
des Platonismus haben wir das "Sein" als Existenz stets miterkannt und
"vorausgesetzt" als eine elementare, jederzeit zu philosophischer "prise
de conscience" erhebbare Urgegebenheit. An manchen Stellen des
Buches ist ausdrücklich von diesem Unterschied und seiner Bedeutung
die Rede, ohne daß dabei hinreichend auf seine zentrale Rolle
eingegangen werden konnte.
In der näheren Analyse dieser Themen wird vor allem zu zeigen sein,
daß Gilson — unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant — zwar
völlig im Recht ist, wenn er hervorhebt, daß sich "Existenz" von allen
Wesensprädikaten eines Seienden grundsätzlich unterscheidet und
auch daß Existenz — als individuelle Existenz, als konkrete Existenz
eines Seienden — begrifflich nicht faßbar ist (ähnlich wie es wegen des
"ineffablen" Charakters eines Individuums unmöglich ist, durch einen
369
Allgemeinbegriff auf sein individuelles Sein als solches hinzuweisen;
nur durch ein "Zeigen" oder einen Namen oder in einem besonderen
Wahrnehmen oder Erfassen eines Individuums können wir auf dieses
abzielen, dieses zum Gegenstand eines intentional-geistigen Aktes
machen). Aber zugleich wäre zu zeigen, daß sowohl Kant als auch
Gilson übersehen, daß Existenz, wenn auch gewiß kein
Wesensprädikat, doch ein ungeheuer reales Prädikat eines Seienden ist,
ein "Existenzprädikat"! Da Gilson gerade die Existenz als "das Sein"
bezeichnet, ist es unfaßbar, daß er mit Kant sagen kann, zwischen
hundert bloß vorgestellten und hundert wirklichen Talern bestehe kein
einziger in einem Prädikat angebbarer Unterschied und kein
Unterschied an Vollkommenheit; daß diese bis in die Gegenwart
(Malcolm, Hartshorne u. a.) die Diskussion des anselmischen
Gottesbeweises bestimmende These Kants falsch ist, sieht man leicht,
wenn man sich die Tatsache klarmacht, daß zwischen einem bloß
möglichen und einem wirklichen Gegenstand nicht "gar kein
Unterschied" besteht, sondern vielmehr ein radikaler, "sämtliche
Wesensprädikate" mitumfassender Unterschied. Solange man
dieselben Wesensprädikate auf wirkliche Gegenstände einerseits und
auf bloß mögliche andererseits anwendet, bewegt man sich in einer
"existentialen" Äquivokation. Der scharfe Verstand oder die sittlichen
Qualitäten eines bloß möglichen Menschen und die eines wirklichen
Menschen sind durch "eine Welt" verschieden. Und in der Tat haben
wir in allen Sprachen Begriffe wie Existieren, Werden etc., durch die
wir auf den radikalen Unterschied der bloß möglichen Welt "vor" und
der wirklichen Welt "nach" der Schöpfung hinweisen können.
Und dies ist so, obwohl die mit Existenz bezeichnete Gegebenheit sich
—jedenfalls in allen kontingenten Seienden — von allen essentiellen
Prädikaten unterscheidet; damit ist sie aber nicht weniger ein reales
Prädikat.
Ferner: wenn auch kein Allgemeinbegriff als solcher die individuelle
Existenz zu treffen vermag und überdies kein Wesensbegriff die
allgemeine Eigenart von Existenz, wo immer sie vorkommt,
ausdrücken kann, so kann man doch begrifflich die allgemeine Struktur
dessen, was es heißt zu existieren, analysieren; der Begriff "Existenz"
selber sowie ihm verwandte Begriffe dienen dazu. Eine solche
begriffliche Analyse von "Existenz" versucht ja Gilson selber, obgleich
er — auf Grund mangelnder Unterscheidung der eben erwähnten
verschiedenen Dinge — diese Möglichkeit ausdrücklich leugnet. Auf
370
diesen Widerspruch in seinen Äußerungen haben mit Recht einige
seiner Kritiker (wie L.-M. Régis) hingewiesen.
In einer Abhandlung Essence and Existence (1976) habe ich eine dieses
Buch ergänzende Untersuchung über Existenz und ihre Erkennbarkeit
durchgeführt, u. a. um die Diskussion des ontologischen Arguments bei
Kant, Malcolm, Hartshorne, Findlay u. a. kritisch zu würdigen. Die
Erfassung der allgemeinen "Eigenart" oder des "Wesens" von Existenz
im Sinne nicht des "Soseins", sondern dessen, "was 'existieren' heißt",
unterscheidet sich jedoch von aller sonstigen Wesensanalyse; darauf so
nachdrücklich hingewiesen zu haben, stellt ein großes Verdienst
Gilsons darf.368
Die oben erwähnte Untersuchung über "Existenz" und über den
Unterschied zwischen Sosein und Existenz als einen letztevidenten
Unterschied wird somit auch einen prinzipiell neuartigen Beitrag zur
Fortführung dieses Buches darstellen. Das Erfassen dessen, was
"Existenz" ist, richtet sich auf einen von sonstigen Wesenheiten und
Wesensgesetzen, wie sie in diesem Buch behandelt wurden, ganz
verschiedenen "Gegenstand" im weitesten Sinn des Wortes. Auch die
von einer allgemeinen Analyse dessen, was "Existenz" heißt, ganz
verschiedene Erkenntnis eines hic et nunc existierenden Seienden,
dessen Existenz durch keinen allgemeinen Begriff faßbar ist als
individuelle, wird dort näher dargelegt werden; dabei wird kritisch zu
prüfen sein, ob Gilsons Meinung, die Existenz werde nur im "Urteilen"
erfaßt, der Wirklichkeit entspricht. Es gilt zu zeigen, daß eine solche
Existenz-Erkenntnis, wie sie in diesem Buch eine entscheidende Rolle
spielte bei der Erkenntnis der Existenz der eigenen Person und der
realen Außenwelt, auf eine einzigartige Erfahrung im
Vollzugsbewußtsein bzw. auf Wahrnehmung zurückgeht, die sich
wesenhaft auf Einzeldinge (existierende Dinge) richtet; im Gegensatz
zur thomistischen These, nur Allgemeines könne Gegenstand des
Intellekts (Verstehens) sein, ist, Duns Scotus folgend, m. E. überdies
die Tatsache eines intellektuellen Begreifens des Individuums als
Individuum in seiner ineffablen Eigenart herauszuarbeiten, wie es jeder
368
Allerdings sieht Gilson dabei die gleichermaßen zentrale Rolle des
"Wesens" eines Seienden nicht, das ja seinerseits (als Wesen einer Person
eines Staubkorns etc.) die Existenz und deren ganze Würde und Eigenart
"bestimmt". Insofern muß das "eigentlich Seiende" nicht in "Existenz als
solcher", sondern in der "Einheit aus Wesen und Existenz" erkannt werden.
371
Liebe zugrundeliegt, worauf wieder Duns Scotus tiefsinnig
hingewiesen hat.
Ein anderer möglicher Ausgangspunkt für absolut gewisse Erkenntnis
ist die "selbst-evidente Existenz" des Absoluten, des göttlichen Seins
(quo maius nihil cogitari possit), wie Anselm von Canterbury und im
Anschluß an ihn viele andere Denker dies vertreten haben, oder aber
die Einsicht: wenn es überhaupt etwas gibt, gibt es auch ein absolutes,
ewiges, göttliches Sein. Seit Parmenides zumindest bleibt die Frage, ob
das göttlich-absolute Sein einen ersten Ausgangspunkt für absolut
gewisse Erkenntnis bilden kann, ein Grundproblem abendländischer
Philosophie. Die Behandlung dieses Problems (und eine Verteidigung
sowohl der Kontingenzbeweise als auch des Anselmischen
Gottesbeweises) ist im oben angekündigten Buch über Gottesbeweise
unternommen worden.
Daß es noch weitere mögliche Ausgangspunkte für die sichere
Erkenntnis objektiver Wahrheit gibt, sei hier nur erwähnt. Auf solche
weitere Ausgangspunkte, z. B. das, was E. Husserl eine "rein logische
Grammatik" nennt, oder die evidente Objektivität von Werten oder die
Urphänomene des sittlich Guten und Bösen, deren Evidenz M. Scheler,
D. v. Hildebrand und in jüngster Zeit wieder H.-E. Hengstenberg zu
Beginn seiner Grundlegung der Ethik (Stuttgart 1972) dargelegt haben,
und damit auch auf die Evidenz eines Sollens, kann hier bloß
hingewiesen werden. Z. T. wurde dieses Thema ja innerhalb des
vorliegenden Bedies bei der Analyse des augustinischen
cogito und im letzten Kapitel bereits behandelt. Einer dieses Buch
ergänzenden Untersuchung bedürfte auch die Frage, ob und in welchem
Sinn die Sinneswahrnehmung Ausgangspunkt absolut gewisser
Erkenntnis sein könne, worauf im ersten Teil dieses Buches nur kurz
eingegangen wurde.
Daß es eine solche Breite und Vielfalt von Urgegebenheiten gibt, die in
ihrer letzten Evidenz als Ausgangspunkte unbezweifelbar gewisser
Erkenntnis dienen können, rührt von der in diesem Buch (S. 225 ff.)
bereits ausgeführten Tatsache her, daß die Wirklichkeit nicht ein
geschlossenes System ist, in dem jeder Sachverhalt nur auf der
Grundlage der Erkenntnis aller übrigen Sachverhalte erkannt werden
372
könnte. Ja, es gibt nicht einmal eine erst-evidente Wahrheit, ein
einziges wahres Urteil, das für seine Wahrheit keine andere Wahrheit
voraussetzt und so selbst Grundlage aller übrigen Wahrheiten und aller
Erkenntnis wäre; noch weniger können die grundlegendsten
Wesenssachverhalte oder die erwähnten selbst-evidenten Sachverhalte
voneinander abgeleitet werden. Vielmehr gibt es zwar grundlegendste
und weniger grundlegende selbst-evidente Sachverhalte bzw.
Wesenheiten in Hinsicht auf die "Ordnung unseres Erkennens" (so sind
etwa die ersten metaphysischen Prinzipien grundlegendste "Prinzipien"
des Erkennens), aber weder handelt es sich hier um ein einziges wahres
Urteil (vielmehr sind die ersten Seinsprinzipien schon verschiedene
gleich-evidente), noch läßt sich ein einziger "Bezirk" der Wirklichkeit
(etwa die ersten Seinsprinzipien) als absolut grundlegendster
Gegenstand sicheren Erkennens abgrenzen; vielmehr sind (neben den
ersten Seinsprinzipien) auch grundlegendste logische Sachverhalte,
unsere eigene Existenz oder die Tatsache, daß wir zu erkennen
vermögen und uns dabei entdeckend verhalten etc. in je verschiedener
Weise dermaßen grundlegend, daß wir, ohne sie zu wissen, nichts
wissen könnten. Auch können andere weniger grundlegende
Sachverhalte — wie daß allgemein "jeder Schein eine reale Person
voraussetzt" oder daß der Gegenstand des Zweifels Sachverhalte (nicht
einfach "Sachen") sind oder daß eine Frage als solche nicht wahr und
falsch sein kann — schon mit Gewißheit erkannt werden, bevor andere
grundlegendere Sachverhalte (wie die ersten metaphysischen
Prinzipien) schon ausdrücklich erkannt sind. Bei der gewissen
Erkenntnis eines Sachverhaltes haben dann andere (oft notwendig
vorausgesetzte) Sachverhalte den Charakter von stets schon implizit
mit-erkannten Tatsamen und Prinzipien; es gibt überhaupt keine
Tatsache bzw. keinen Sachverhalt, den wir erkennen könnten, ohne
dabei schon — zumindest implizit — andere Sachverhalte
mitzuerkennen. Innerhalb der ersten Seinsprinzipien sind etwa das
Identitäts- und Kontradiktionsprinzip untereinander gegenseitig
abhängig, insofern z. B. der Sachverhalt nicht bestehen kann, daß kein
Seiendes gleichzeitig im selben Sinne sein und nicht sein kann, ohne
daß zugleich die wahrhafte Identität jedes Seienden mit sich selbst
bestünde; diese zwei auseinander nicht ableitbaren Prinzipien hängen
doch notwendig zusammen; auch setzt die Erkenntnis des einen
Prinzips voraus, daß das andere jedenfalls implizit mit-erkannt ist.
Wiederum könnten wir diese Prinzipien gar nicht mit Gewißheit
373
erkennen, wüßten wir nicht gleichzeitig (wenigstens implizit), daß wir
existieren, daß wir evident erkennen können, daß unser Erkennen nicht
ein Produzieren, sondern eine entdeckende Hinnahme bzw. eine Schau
des Gegebenen ist usw.
Von daher ist zu erklären, daß es eine große Freiheit in der Wahl des
Ausgangspunktes gibt, den wir aus dem Gefüge in vielfacher
wechselseitiger Abhängigkeit stehender selbst-evidenter Wahrheiten
herausgreifen, um zuerst ihn zu erkennen und uns dann auch den mit
ihm notwendig verknüpften Prinzipien und Wahrheiten zuzuwenden.
Diese Tatsache, auf die wir innerhalb einer kurzen Auseinandersetzung
mit W. Stegmüller noch zurückkommen werden, hindert in keiner
Weise, daß jeder dieser mit Gewißheit erkennbaren Sachverhalte ein
"archimedischer", unerschütterlicher Punkt ist, auf dessen
unbezweifelbarem und mit unfehlbarer Evidenz erfaßten Boden unser
Erkennen sicher ruht; wenn auch dem endlichen Erkennen jene
"Unruhe" wesentlich ist, in dem stets weiter und weiter nach der
Erkenntnis des intelligiblen "Gesamtgefüges" der allumfassenden
Wahrheit strebt.
374
die zwar weder bloße Erscheinung noch gar "Schein" sind, die aber
doch nicht völlig unabhängig vom erkennenden Subjekt bestehen, wäre
zu untersuchen. Der "Gegenstandscharakter" eines Seienden "für" ein
erkennendes Subjekt, seine "Objektstelle", an die es gerückt werden
kann, ist z. B. nicht dem Seienden "an sich" eigen, sondern schließt eine
Beziehung zum Erkennenden ein und wird durch das erkennende
Subjekt "mitkonstituiert". Zwar steht das erkannte Seiende (außer im
Fall der Reflexion) wesenhaft und objektiv dem Erkennenden
"gegenüber" und insofern gründet die Subjekt-Objekt-Situation im
metaphysischen Wesen der Person und ihres "Gegenüber" (insofern
handelt es sich hier auch um viel mehr als um Erscheinung); aber
andererseits — obwohl sie mehr als Erscheinung und erst recht nicht,
wie dies oft behauptet wird, bloße Frucht einer künstlichen
Subjekt-Objekt-Spaltung ist — beinhaltet die Objekt-Stelle, an der sich
ein Seiendes mir gegenüber befindet, doch eine an mein Subjekt
gebundene "Perspektive" und einen objektiven "Aspekt" eines anderen
Seienden, der diesem nicht schlechtweg "an sich", unabhängig vom
erkennenden Subjekt, zukommt. Ähnliches würde auch für den
"Ich"- oder den "Du"-Charakter eines Seienden gelten.
Es wäre eine sorgfältige Untersuchung nötig, um die genaue Eigenart
der jeweiligen Abhängigkeit solcher "Aspekte" oder die Erkenntnis
beeinflussender "Relationen" vom erkennenden Subjekt
herauszuarbeiten. Eine solche Fortführung des vorliegendes Buches,
wie sie etwa in der Besprechung desselben im "international
Philosophical Quarterly" (Vol. XIV, No. 3; Sept. 1974) von J. Hart
vorgeschlagen wird, würde im Sinne einer weiteren Klärung der
"Konstitutionsproblematik" eine wichtige Ergänzung bilden. Doch
würde eine solche Ergänzung in keiner Weise in der von Hart
vorgeschlagenen "sanguinischeren" Mittelstellung zwischen
Transzendentalphilosophie und Transrendenzphilosophie (als
realistischer Ontologie) münden; vielmehr würde sowohl die jeweils
verschiedene "Objektivität" solcher konstituierten "Erscheinungen"
oder "Aspekte" der Wirklichkeit herausgearbeitet werden müssen als
auch jener zentrale Wirklichkeitsbereich des "an sich Seienden" durch
eine solche Untersuchung nur noch eindeutiger hervortreten. Zu dessen
Wesen gehört es durchaus, in der in diesem Buch angegebenen Weise
"an sich" zu existieren und so erfaßt zu werden, wie er in sich selber
ist, unabhängig vom erkennenden Subjekt, das sich selber transzendiert
und am Seienden in seinem Selbstsein erkennend partizipiert. Auf diese
375
so einfache und doch zugleiche so geheimnisvoll-tiefe Grundstruktur
des Erkennens als Entdeckung eines an sich Seienden hat W. Hoeres in
seinem Buch Kritik der transzendentalphilosophiseben
Erkenntnistheorie, besonders im Schlußteil desselben, in einer
besonders klärenden Analyse hingewiesen. In Hoeres' Buch finden sich
viele völlig neue Beiträge zum Konstitutionsproblem, insbesondere im
Rahmen der kritischen Untersuchung jener der
Transzendentalphilosophie eigenen Verkennung des Erkennens als
rezeptiv hinnehmenden Akt. Dort wird die von Hart anscheinend
vorgeschlagene "Synthese" zwischen Realismus und transzendentaler
Konstitution scharfsinnig als "Versuch im Unmöglichen" erwiesen. In
anderer Richtung als in Hoeres' Buch würde die
Konstitutionsproblematik in der eben erwähnten systematischen
Erforschung aller Arten von "Aspekten" des Seins für erkennende
Subjekte geklärt werden. Gerade ein allen Aspekten volles
Rechnung-Tragen, die vom Subjekt mit-konstituiert werden, würde
dabei zum tieferen Verständnis der überwältigenden Rolle jener
Erkenntnis führen, deren intentionaler Gegenstand die Wirklichkeit
selbst in ihrem vom Subjekt ganz unabhängigen Wesen und Existieren
ist.
Eine weitere wichtige Ergänzung zu diesem Buch wäre eine Kritik der
verschiedensten Formen des Fideismus, der einen rational nicht
begründbaren Glauben als Ausgangspunkt aller Philosophie wählt bzw.
für unvermeidbar hält. In vielen Formen des Fideismus (z. B. der
sogenannten Reformphilosophie, die besonders H. Dooyeweerd neu
begründete, manchen Formen christlicher Existenzphilosophie und
zeitgenössischer thomistischer Philosophie) wird ein relgiöser
(jüdischer oder christlicher) Glaube als Ausgangspunkt des
Philosophierens und als letzte Instanz für philosophische Erkenntnis
befürwortet. Eine solche Auffassung verkennt, daß jeder
Offenbarungsglaube bereits auf philosophischen Voraussetzungen und
Erkenntnissen (wenigstens implizit) beruht und daß die
natürlich-philosophische Erkenntnis dem Glauben gegenüber durchaus
selbständig und vorgeordnet ist, trotz vieler gegenseitiger
376
Beziehungen. Vor allem mit der Form des Fideismus, die sich nicht so
sehr auf irgendeinen Offenbarungsglauben, sondern auf "Glauben" im
Sinne eines unbegründeten "Annehmens" stützt, wäre eine
Auseinandersetzung wichtig. Eine solche Auffassung wird nicht nur
von manchen Existenzphilosophen (etwa Windischer) vertreten,
sondern etwa auch von einem modernen "Wissenschaftstheoretiker",
wie W. Stegmüller, z. B. in seinem Buch Metaphysik, Skepsis,
Wissenschaft (2. Aufl. Berlin—Heidelberg 1969). Stegmüller
argumentiert dort, daß eine Einsicht in evidente Zusammenhänge nur
in einem weder begründbaren noch widerlegbaren, weder rational
gerechtfertigten noch als unberechtigt erweisbaren Glauben
angenommen bzw. verworfen werden kann. Der Grund für diese
Position ist u. a. Stegmüllers Ansicht, daß jede Argumentation gegen
Einsicht notwendig zu einem Selbstwiderspruch führt, da jede
Argumentation oder Beweisführung, jedes Anführen von Gründen
gegen die Existenz von Einsichten wieder selbst Einsichten als
Ausgangspunkt voraussetzt (worin Stegmüller völlig zugestimmt
werden muß); andererseits führe jede rationale Begründung von
Einsicht zu einem zirkulären Argument bzw. zu einer petitio principii,
da man für jede derartige Argumentation bereits Einsicht und deren
Gültigkeit voraussetze.
Soll damit nur gesagt sein, daß es kein äußeres Kriterium und erst recht
keinen "Beweis" für Einsicht geben kann, so ist dem ebenfalls ganz
beizupflichten. Doch gilt es, den Grund dafür klar zu erkennen, der
nämlich darin besteht, daß die direkte Erkenntnisform der Einsicht
keines Beweises fähig ist, weil sie keines Beweises bedürftig ist. Einen
Beweis für Einsicht zu verlangen, heißt ja gerade, das Wesen von
Einsicht zu verkennen. Und überdies führt jeder Versuch, Einsicht in
ihrer Gültigkeit durch irgendeinen Beweis zu begründen, wie bereits
Aristoteles in der Zweiten Analytik gezeigt hat und wie Stegmüller
neuerdings aufweist, einem ungültigen zirkulären
Argumentationsverfahren.
Doch so sehr Stegmüllers Hinweis auf den zirkulären Charakter jeder
beweishaften, argumentativen Begründung der Einsicht beizustimmen
ist, so wenig seiner Begründung; der Schluß, den er aus der
Unbegründbarkeit der Einsicht durch Beweise, Argumente etc. zieht,
daß nämlich diese ihren Grund darin habe, daß Einsicht überhaupt nicht
rational zu begründen sei und nur in einem irrationalen Glauben
angenommen werden könne, ist sowohl logisch unbegründet als auch
377
falsch. Die Einsicht in evidente Sachverhalte besitzt eben nicht in
einem "Argument" (Beweis), sondern in der inneren Intelligibilität, in
der wesenhaften Notwendigkeit, der "iniudicabilitas" und
unbezweifelbaren Gewißheit, in denen uns der Gegenstand gegeben ist,
eine volle rationale Rechtfertigung in sich selbst, und zwar eine viel
größere als irgendein Kriterium oder Beweis, der ja wieder auf Einsicht
aufbauen müßte, sie jemals geben könnte.
Die Evidenz einsichtiger Sachverhalte ist selbst die eminenteste
rationale Rechtfertigung und muß keineswegs blind geglaubt werden.
Der Begriff einer blind "geglaubten Evidenz" ist außerdem eine
contradictio in adjecto: eine bloß unbegründet zu glaubende Evidenz
ist überhaupt keine Evidenz.
Überdies unterscheidet Stegmüller nicht zwischen fünf
grundverschiedenen Arten von Voraussetzungen, die er stillschweigend
so behandelt, als würden für jede dieselben Bedenken gelten, was in
Wirklichkeit gar nicht zutrifft. Wenn Stegmüller also meint, daß man
notwendig Einsicht bereits voraussetzt, um Einsicht zu begründen, so
kann dies folgende völlig verschiedene Dinge meinen:
Erstens kann es heißen, daß man die Existenz von Einsicht nur mit
Hilfe von Einsicht feststellen kann, daß es also Einsicht objektiv geben
muß, damit man sie feststellen kann. In diesem Zusammenhang sollte
man gar nicht davon sprechen, daß wir Einsicht voraussetzen, sondern
vielmehr davon, daß Einsicht objektiv, ontologisch, vorausgesetzt ist,
damit Einsicht festgestellt werden kann. Dasselbe läßt sich für
Erkenntnis überhaupt sagen. Wir können Erkenntnis nur mit Hilfe von
Erkenntnis, nur durch Erkenntnis feststellen. Also ist die
Tatsächlichkeit von Erkenntnis objektiv dafür vorausgesetzt, daß man
Erkenntnis feststellen kann. Nur wenn es Erkenntnis wirklich gibt, kann
sie festgestellt werden. Dies ist völlig zuzugeben, stellt aber auch nicht
den mindesten Einwand gegen die Begründbarkeit bzw. rationale
Erkennbarkeit von Einsicht bzw. Erkenntnis dar.
Würde dies einen Einwand darstellen, könnte es prinzipiell keine
sichere Erkenntnis darüber geben, daß es Erkenntnis oder Einsicht gilt.
Damit würde also Stegmüller nicht bloß die menschliche Erkenntnis
(als rational gerechtfertigte) leugnen, sondern auch daß es überhaupt so
etwas wie sichere, rational gerechtfertigte Erkenntnis geben könne.
Denn weder Engel noch Gott könnten anders ihre Erkenntnis oder
Einsicht rational begründen als eben wieder durch Einsicht oder
Erkenntnis, daß sie einsehen und wissen. Obwohl ich nicht annehme,
378
daß Stegmüller diese kühne These von einer "absoluten Unmöglichkeit
rationaler Erkenntnisbegründung" vertritt, könnte er von seinem
philosophischen Standort aus diese Konsequenz doch ziehen wollen
und rational begründbare Erkenntnis oder Einsicht überhaupt leugnen
und sie wesenhaft (für Menschen und jedes mögliche denkende Wesen)
durch einen durch nichts begründbaren "Glauben" an Einsicht
grundlegen wollen.
Wäre aber Stegmüller auch bereit, diese — mir absurd scheinende —
Konsequenz aus seiner Position zu ziehen, so bliebe der Haupteinwand
gegen seine Auffassung davon ganz unberührt: daß nämlich die
Ablehnung dieser ersten Art von (ontologischer) Voraussetzung im
Zusammenhang rationaler Erkenntnisbegründung in keiner Weise
berechtigt ist. Dabei ist es nicht nur in keiner Weise evident (und erst
recht nicht beweisbar), daß die ontologische Vorausgesetztheit von
Einsicht zur Feststellung von Einsicht deren rationale Begründung
ausschließe, sondern das Gegenteil ist evident:
Die Fähigkeit rationaler Einsicht ist wesenhaft vorausgesetzt, um
Einsicht feststellen zu können. Ja, man kann sogar noch weiter gehen:
Es ist einsichtig, daß nur die (objektiv vorausgesetzte) Fähigkeit
evidenten Erkennens (Einsehens) es sein kann, mit der die Existenz von
Einsicht zweifelsfrei festgestellt und die Einsicht als rational
gerechtfertigt erkannt werden kann. Denn jede andere Feststellung,
jeder andere Ausweis der Einsicht als rational gerechtfertigt müßte
entweder durch Beweis erfolgen, und dann würde er auf selbst-evidente
Prämissen (und wieder auf Einsicht) zurückgehen, oder aber durch
irgendein äußeres Kriterium verbürgt werden, das ebenfalls direkt oder
indirekt mit Hilfe von Einsicht in evidente Sachverhalte gerechtfertigt
werden müßte. Damit führt aber jede andere rationale Rechtfertigung
der Erkenntnis und Einsicht (außer deren Feststellung mit Hilfe
unmittelbar evidenten Erkennens und Einsehens) in der Tat zu einem
unhaltbaren Zirkelschluß, zu einer petitio principii. Also ist die
Tatsache, daß Einsicht objektiv vorausgesetzt ist, um Einsicht zu
rechtfertigen bzw. als rational begründet zu erfassen, nicht nur kein
Einwand gegen eine voll legitime rationale Begründbarkeit von
Einsicht, sondern der evidenzermaßen einzig mögliche und voll
legitime Weg der rationalen Begründung von Einsicht.
Darauf weist die große abendländische Tradition der Philosophie mit
den in ihr vorfindlichen Analysen von Evidenz immer wieder hin;
besonders das oben bereits erwähnte, von Augustinus und Bonaventura
379
näher erläuterte Merkmal der "iniudicabilitas", daß es eben kein
äußeres Merkmal für Einsicht gibt, sondern vielmehr die innere
Notwendigkeit und Klarheit des Gegenstandes selbst die Einsicht
richtet und ihre Wahrheit verbürgt, besagt eben dies: daß ich nur
einsehen, evident erfassen kann, daß ich einsehe; daß der Gegenstand
mit dem Licht seiner Intelligibilität dem Erkennenden verbürgt, daß
sein Erkennen nicht irrt.
Dabei kann man innerhalb der ersten (ontologischen)
Vorausgesetztheit von Einsicht für ihre Feststellung noch zwei
Bedeutungen unterscheiden: einmal kann man darauf verweisen, daß es
Einsicht tatsächlich geben muß, damit es die ihr eigene innere
Selbst-Rechtfertigung im Sinne der evident-gewissen Erfassung eines
Seienden geben könne. Dies ist selbstverständlich und der Hinweis
darauf, daß es "evidente Selbst-Rechtfertigung" von Einsicht nur geben
kann, wenn und insofern es Einsicht gilt, stellt gewiß keinen Einwand
gegen diese Art von rationaler Begründetheit dar. Sodann könnte man
mit der ontologischen Vorausgesetztheit von Einsicht für ihre
Begründung meinen, eine gewisse Feststellung von Einsicht verlange
jeweils eine zweite (Meta-)Einsicht, mit deren Hilfe die Gültigkeit der
ersten als evidente festgestellt werde, im Sinne einer Einsicht in die
Evidenz einer anderen Einsicht (man würde etwa behaupten: um das
Widerspruchsprinzip mit Gewißheit einzusehen bzw. um diese Einsicht
als rational gerechtfertigt zu begründen, bedarf es einer zweiten
Einsicht, daß die erste Einsicht in das Widerspruchsprinzip wirk