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� J.B.

METZLER
Ästhetische Grundbeg riffe Historisches Wörterbuch
(ÄGB) in sieben Bänden

Herausgegeben von Karlheinz Barck


(Gescheftsführung)
Martin Fontius
Dieter Schlenstedt
Burkhart Steinwachs
Friedrich Wolfzettel

Redaktion Berlin Redaktion Frankfurt/Main


Dieter Kliche Sandra Luckert
(Leitung und Koordination) Volker Michel
Bertolt Fessen
Martina Kempter
Ästhetische Grundbegriffe

Band6
Tanz - Zeitalter/Epoche

Studienausgabe

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart Weimar
·
Studentische Mitarbeiter: Maren Gehl, Valentina Six und Annegret Strümpfe! (Redaktion Berlin);
Mercedeh S. Golriz und Denise Meixler (Redaktion Frankfurt am Main)

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar

Gesamtwerk:
ISBN 978-3-476-02353-7

ISBN 978-3-476-02359-9
ISBN 978-3-476-00550-2 ( eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00550-2

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung
des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2010 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2010
www .metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
V

Inhaltsverzeichnis

Benutzungshinweise VI
Siglenverzeichnis VII
Verzeichnis der abgekürzt zitierten antiken und
biblischen Quellen XIII

Artikel

Tanz (RoGER W. MÜLLER FARGUELL, Vollkommen/Vollkommenheit OosEF FRÜCHTL,


Winterthur) Münster; SIBILLE MISCHER, Münster) 3 67
Techniken, künstlerische (FRIEDRICH KITTLER,
Berlin) l 5 Wahrheit/Wahrscheinlichkeit (B URGHARD
Text/Textualität (CLEMENS KNOBLOCH, D AMERA u , verstorben) 3 98
Siegen) 23 Wahrnehmung (MARTIN FONTIUS, Berlin) 436
Theatralität (HELMAR S CHRAMM, Berlin) 48 warenästhetik/Kulturindustrie (MARK N APIERALA,
Tradition - Innovation (Tr11 R. KuHNLE, Jena; TrLMAN REIT z , J ena) 46 1
Augsburg) 74 Weiblichkeit (DOROTHEA D ORNHOF,
Tragisch/Tragik (ROLAND GALLE, Essen) I l 7 Berlin) 48 I
Traum/Vision (H A N S Ur.RrrH RECK, Köln) 1 7 1 Werk (JAN-PETER PuDELEK, Berlin) 520
Wertung/Wert (JAKOB STEINBRENNER,
Unbewußt/das Unbewußte (MAI WEGENER, München) 5 8 8
Berlin) 202 Widerspiegelung/Spiegel/ Abbild (HANS HEINZ
Unheimlich/das Unheimliche (ANNELEEN HoLz, S. Abbondio; THOMAS METSCHER,
MAsscHELEIN, Löwen) 24 r Ottersberg) 617
Unterhaltung/Gespräch (MECHTHILD ALBERT, Wirkung/Rezeption (HERMANN JosEF
Saarbrücken) 260 SCHNACKERTZ, Eichstätt) 670
Urbanismus (HEINZ PAETZOLD , Hamburg/ Witz (MARKUS WrNKLER , Genf; CHRISTINE
Kassel) 2 8 1 Cour.DING, Chico, Cal.) 694
Wunderbar (KARLHEINZ BARCK, Berlin) 730
Vage/unbestimmt (REMO Bomr, Pisa) 3 1 2
Verstehen/Interpretation (RAINER LESCHKE, Zeitalter/Epoche (JusTUS FETSCHER,
Siegen) 3 3 0 Berlin) 774
VI

Benutzungshinweise Hauptsprachen anbelangt, in der Regel nach den


Originalquellen. Außer im Englischen und Fran­
zösischen werden fremdsprachigen Zitaten gängige
Die Artikel der Ästhetischen Grundbegriffe folgen ei­ und leicht zugängliche Übersetzungen hinzu­
nem vorgegebenen Rahmen: Der Artikelkopf gefügt. Quellenangaben altgriechischer und latei­
führt das Lemma an, wie es üblicherweise im nischer Texte werden, wenn ein bloßer Verweis
Deutschen benutzt wird; dann, sofern möglich, auf erfolgt, in der inneren Zitierweise gegeben. Wird
Altgriechisch und Latein sowie in den europäi­ ein Text zitiert, nennt die Angabe Edition und
schen Hauptsprachen Englisch, Französisch, Italie­ Seitenzahl der Übersetzung. Wo keine Überset­
nisch, Spanisch und Russisch. Die vorangestellte zung nachgewiesen ist, stammt sie vom Autor. Für
Artikelgliederung wird zur Orientierung des Le­ sämtliche Zitate im Text werden Stellennachweise
sers auch in der Kopfzeile mitgeführt. geführt. Sammelnachweise folgen auf das letzte der
Die Bibliographie am Ende des Artikels faßt die zu belegenden Zitate. Erscheinen Stellennachweise
wesentliche Literatur zum Thema zusammen und zu Zitaten direkt im laufenden Text, so beziehen
dokumentiert die neuere Forschungslage. Sie ver­ sich die Angaben stets auf die in der vorausgehen­
zeichnet keine Quellentexte; diese werden mit den Anmerkung genannte Edition. Gelegentliche
ausführlichen Angaben im Anmerkungsapparat ge­ Flexionsänderungen in den Zitaten werden nicht
nannt. So verstehen sich die Anmerkungen zu­ eigens gekennzeichnet. Hervorhebungen im Ori­
gleich als eine durchlaufende Gesamtbibliographie ginal stehen ausschließlich kursiv.
zum Thema. Vielbenutzte und gut zugängliche Werk- und
In den Quellenangaben erscheinen die zitierten Einzelausgaben, ebenso große Wörterbücher und
Einzelschriften mit dem Datum des Erstdrucks. Enzyklopädien, werden mit Siglen bezeichnet, die
Liegt zwischen diesem und dem Entstehungsda­ das Siglenverzeichnis erschließt. Ihm folgt ein Ver­
tum ein großer zeitlicher Abstand, so wird letzteres zeichnis der abgekürzt zitierten antiken und bibli­
verzeichnet. Zitiert wird, was die europäischen schen Quellen.
VII

bert [ „ . ] , 35 Bde. (Paris/Neufchastel/ Amster­


Siglenverzeichnis dam 1 7 5 1-1780) : [A-Z] , 17 Bde. (Paris/Neuf­
chastel r 7 5 r-r 76 5); Recueil de planches,
l l Bde. (Paris 1 762-1 772) ; Supplement, 4 Bde.

I. Wörterbücher und (Amsterdam 1 776-1 777) ; Suite du recueil de


Enzyklopädien planches, l Bd. (Paris/Amsterdam I 777) ; Table
analytique et raisonnee, 2 Bde. (Paris/ Amster­
ADELUNG - JOHANN CHRISTOPH ADELUNG, dam 1 780)
Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hoch­ EDWARDS - The Encyclopedia ofPhilosophy,
deutschen Mundart, mit beständiger Verglei­ hg. v. P. Edwards, 8 Bde. (New York/London
chung der übrigen Mundarten, besonders aber 1 967) , l Bd. Supplement, hg. v. D. M. Borchert
der Oberdeutschen ( 1 774-1 786) ; zweyte, ver­ (New York u. a. 1 996)
mehrte u. verbesserte Ausgabe, 4 Bde. (Leipzig EISLER - RUDOLF EISLER, Wörterbuch der philo­
1 793-1 8 0 1 ) sophischen Begriffe und Ausdrücke quellen­
B AYLE - PIERRE B AYLE, Dictionaire historique et mäßig bearbeitet ( 1 8 99) , 4. Aufl„ 3 Bde.
critique, 2 Bde. in 4 Teilen (Rotterdam 1 697) ; (Berlin 1 927- 1 9 3 0)
2. Aufl„ 3 Bde. (Rotterdam 1 702) ; 3 . Aufl„ hg. ENCYCLOPAEDIA BRITANNICA - The Encyclo­
v. P. Marchand, 4 Bde. (Rotterdam I 72ü) ; paedia Britannica, or, a Dictionary of Arts and
4 . Aufl„ hg. v. P. Des Maizeaux, 4 Bde. (Amster­ Sciences, compiled upon a new plan, 3 Bde.
dam u. a. 1 730) ; 5. Aufl„ hg. v. P. Des Maizeaux, (Edinburgh 1 7 7 1 ) [und spätere Auflagen]
4 Bde. (Amsterdam u. a. 1 740) ; hg. v. A. ]. Q. ERSCH/GRUBER -JOHANN SAMUEL ERSCH/
Beuchot, 16 Bde. (Paris 1 8 20-1 824) JOHANN GOTTFRIED GRUBER, Allgemeine
BLANKENBURG - CHRISTIAN FRIEDRICH VON Encyclopädie der Wissenschaften und Künste,
BLANKENBURG, Litterarische Zusätze zu Johann Sect. 1 , 99 Bde. u. Reg.bd. (Leipzig 1 8 1 8-
Georg Sulzers allgemeiner Theorie der schönen 1 892) , Sect. 2, 43 Bde. ( 1 8 27-1 8 89) , Sect. 3 ,
Künste [ „ . ] (zuerst integriert in: SULZER [ 1 786/ 2 5 Bde. ( 1 8 3 0-1 8 50)
1 787] ) , 3 Bde. (Leipzig 1 796- 1 798) FURETIERE - ANTOINE FCRETIERE, Dictionaire
BROCKHAUS - DAVID ARNOLD FRIEDRICH universel, Contenant generale1nent tous les
BROCKHAUS, Conversations-Lexicon oder Mots Fran�ois Cant vieux que modernes, & !es
kurzgefasstes Handwörterbuch für die in der Termes de toutes !es Sciences et des Arts [ . . . ]
gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissen­ 3 Bde. (Den Haag/Rotterdam 1 690) ; 2. Ausg„
schaften und Künsten vorkommenden Gegen­ hg. v. H. Basnage de Bauval, 3 Bde. (Den Haag/
stände [ „ . ] , 6 Bde. u. 2 Suppl.bde. (Amsterdam/ Rotterdam 1 70 1 ) ; Neue Ausg„ hg. v.]. Brutei
Leipzig l Socr-1 8 1 l) [und spätere Auflagen, mit de La Riviere, 4 Bde. (Den Haag 1 727) [und
wechselnden Titeln J andere Auflagen]
CHAMBERS - EPHRAIM CHAMBERS, Cyclopaedia: GOTTSCHED -JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED,
or, An Universal Dictionary of Arts and Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der
Sciences, Containing an Explication of the schönen Wissenschaften und freyen Künste
Terms and an Account of the Things Signified (Leipzig 1 760)
Thereby in the SeYeral Arts, Liberal and Me­ GRIMM - JACOB GRIMM/WILHELM GRIMM,
chanical, and the Several Sciences, Human and Deutsches Wörterbuch, 1 6 Bde. u. Quellen­
Divine, Compiled from the Best Authors, 2 Bde. verzeichnis (Leipzig 1 8 54-1 9 7 1 )
(London l 728) GROVE - The New Grove Dictionary ofMusic
DIDEROT (ENCYCLOPEDIE) - Encyclopedie, ou and Musicians, hg. v. S. Sadie, 20 Bde.
Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et (London/New York 1 980) ; 2. Aufl„ 29 Bde.
des metiers, par une Societe de gens de lettres. (London/New York 200 1 )
Mis en ordre & publie par M. Diderot, [ . . . ] & HAUG - Historisch-kritisches Wörterbuch des
quant a la partie mathematique, par M. d' Alem- Marxismus, hg. v. W F. Haug (Hamburg 1 994 ff.)
VIII Siglenverzeichnis

HEBENSTREIT - WILHELM HEBENSTREIT, Wissen­ LITTRE - MAXlMILIEN PAUL EMlLE LITTRE, Dic­
schaftlich-literarische Encyk:lopädie der Aesthe­ tionnaire de Ja langue fran�aise, 4 Bde. (Paris
tik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch 1 863-1 869) [und spätere Auflagen]
der ästhetischen Kunstsprache (Wien l 843) LTK - Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl„
HEINSIUS - THEODOR HEINSIUS, Volksthümliches hg. v. J. Höfer/K. Rahner, ro Bde. (Freiburg
Wörterbuch der Deutschen Sprache mit Be­ 1 9 5 7-1965); 3„ völlig neu bearb. Aufl„ hg. v.
zeichnung der Aussprache und Betonung für die W Kasper, l I Bde. (Freiburg u. a. 1 993-200 1)
Geschäfts- und Lesewelt, 4 Bde. (Hannover MEYER - HERMANN JULIUS MEYER, Neues
I 8 I 8-1 822) [und spätere Auflagen] Conversations-Lexikon für alle Stände, l 5 Bde.
HEYDENREICH - CARL HEINRICH HEYDENREICH, u. Suppl.bd. Portraits, Ansichten, Karten
Aesthetisches Wörterbuch über die bildenden (Hildburghausen 1 8 5 7- 1 8 60) [und spätere
Künste nach Watelet und Levesque. Mit nö­ Auflagen, mit wechselnden Titeln]
thigen Abkürzungen und Zusätzen fehlender MGG - Die Musik in Geschichte und Gegenwart,
Artikel kritisch bearbeitet, 4 B de. (Leipzig hg. v. F. Blume, I7 Bde. (Kassel u. a. 1 949/ r 9 5 1 -
1 793-1 795) I 986) ; 2 „ neubearb. Aufl„ hg. v . L. Finscher
JACOB - Encyclopedie philosophique universelle, (Kassel u. a. I 994 ff.)
hg. v. A. Jacob, 4 Abt„ 6 Bde. (Paris 1 989- MITTELSTRASS - Enzyklopädie Philosophie und
1 998) Wissenschaftstheorie, hg. v. J. Mittelstraß,
JElTTELES - IGNAZ JEITTELES, Aesthetisches Lexi­ Bd. 1-2 (Mannheim/Wien/Zürich 198 0-- 1 984) ,
kon. Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie Bd. 3-4 (Stuttgart/Weimar 1 995-1 996)
der Philosophie des Schönen und der schönen OED - The Oxford English Dictionary. Second
Künste [„. ] , 2 Bde. (Wien 1 8 3 5 / 1 8 3 7) Edition, hg. v. J. A. Simpson/E. S. C. Weiner,
KLUGE - FRIEDRICH KLUGE, Etymologisches 20 Bde. (Oxford I 9 89)
Wörterb u ch der deutschen Sprache ( I 8 8 3), PANCKOUCKE - Encyclopedie methodique, ou par

24„ erw. Aufl„ bearb. v. E. Seebold (Berlin/ ordre de matieres, par une Societe de Gens de
New York 2002) [und frühere Auflagen] Lettres, de Savans et d' Artistes, I 96 Bde. (Paris/
KOSELLECK - Geschichtliche Grundbegriffe. Lüttich 1782-1 8 3 2)
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen PAUL - HERMANN PAUL, Deutsches Wörterbuch,
Sprache in Deutschland, hg. v. 0. Brunner/ 9„ vollst. neu bearb. Aufl. v. H. Henne (Tübin­
W Conze/R. Koselleck, 8 Bde. (Stuttgart gen 1 992)
1 972-1 997) PAULY - Pauly's Real-Encyclopädie der classischen
KRUG - WILHELM TRAUGOTT KRUG, Allgemeines Altertumswissenschaft, neue Bearb., begonnen
Handwörterbuch der philosophischen Wissen­ v. G. Wissowa, Reihe I , 47 Halbbde. (Stuttgart
schaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. I 894-1 963) , Reihe 2, Halbbde. 1-1 8 (Stuttgart
Nach dem heutigen Standpuncte der Wissen­ I 9 I 4-1 967) , Halbbd. 19 (München I 972) ,
schaft bearb. u. hg. ( 1 827- 1 829) ; zweite, ver­ Suppl.bde. l - I 2 (Stuttgart I903-1 970) ,
besserte u. vermehrte, Aufl„ 5 Bde. (Leipzig Suppl.bde. 1 3- I 5 (München 1 973-1978),
I 8 3 2-1 8 3 8) Register d. Nachträge u. Suppl. (München
KRÜNITZ - JOHANN GEORG KRÜNITZ (Hg.) , I 9 8o) , Gesamtregister, Bd. I (Stuttgart/Weimar
Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines 1 997)
System der Land-, Haus und Staats-Wirthschaft PAULY ( KL) - Der kleine Pauly. Lexikon der
(übers. a. d. Frz.), fortges. v. F. J. Floerke (ab Antike, hg. v. K. Ziegler/W. Sontheimer,
Bd. 73), H. G. Floerke (ab Bd. 78) , J. W D. Bd. l-3 (Stuttgart I 964- I 969) , Bd. 4-5
Korth (ab Bd. 1 24) , C. 0. Hoffmann (ab (München I 972- 1 975)
Bd. 226) , 242 Bde. (Berlin 1 773-1 8 5 8) PAULY ( NEU) - Der neue Pauly. Enzyklopädie der
LAROUSSE - PIERRE ATHANASE LAROUSSE, Grand Antike, hg. v. H. Cancik/H. Schneider/M.
dictionnaire universel du X!Xe siede, 1 5 Bde„ Landfester, 16 Bde. (Stuttgart/Weimar I 996-
2 Suppl.bde. (Paris 1 866- I 8 8 8) 2003)
Siglenverzeichnis IX

RAC - Reallexikon für Antike und Christentum. der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic,
Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und
Christentums mit der antiken Welt, hg. v. T. Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic für­
Klauser (Stuttgart 1950 ff.) kommenden Materien und Kunst-Wörter
RGG - Die Religion in Geschichte und Gegen­ erkläret und aus der Historie erläutert; die
wart. Handwörterbuch für Theologie und Streitigkeiten der ältern und neuem Philoso­
Religionswissenschaft, 3 . Aufl., hg. v. K. phen erzehlet, die dahin gehörigen Bücher und
Galling, 6 Bde. u. Reg.bd. (Tübingen 1 9 5 7- Schrifften angeführet, und alles nach Alphabe­
1 965); 4., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. H. D. tischer Ordnung vorgestellet werden (Leipzig
Betz u. a., 8 Bde. u. Reg.bd. (Tübingen 1 726) ; Zweyte verbesserte und mit denen Leben
1 998 ff.) alter und neuer Philosophen vermehrte Auflage
RITTER - Historisches Wörterbuch der Philo­ (Leipzig 1 7 3 3 ) ; davon Titelauflage (Leipzig
sophie, hg. v. ]. Ritter/K. Gründer (Basel/ 1 740) ; Vierte Aufl. in zween Theilen, mit vielen
Stuttgart 1971 ff.) neuen Zusätzen und Artikeln vermehret, und
ROSCHER - Ausführliches Lexikon der griechi­ bis auf gegenwärtige Zeiten fortgesetzet, wie
schen und römischen Mythologie, hg. v. W. H. auch mit einer kurzen kritischen Geschichte der
Roscher, Bd. l-5 (Leipzig 1 8 84-1 924) , Bd. 6 Philosophie aus dem Bruckerischen großen
(Leipzig/Berlin 1 924-1937) Werke versehen, von Justus Christian Hennings
SANDKÜHLER - Europäische Enzyklopädie zu (Leipzig 1 775)
Philosophie und Wissenschaften, hg. v. WATELET - CLAUDE HENRI WATELET/PIERRE
H. ]. Sandkühler u. a., 4 Bde. (Hamburg 1 990) CHARLES LEVESQUE, Dictionnaire des arts de
SOURIAU - Vocabulaire d'Esthetique, hg. v. E. peinture, sculpture et gravure, 5 Bde. (Paris
Souriau/ A. Souriau (Paris 1 990) 1 792)
SULZER - JOHANN GEORG SULZER, Allgemeine ZEDLER - JOHANN HEINRICH ZEDLER, Grosses
Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach vollständiges Universal-Lexicon aller Wissen­
alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf schaften und Künste, 64 Bde. u. 4 Suppl.bde.
einander folgenden, Artikeln abgehandelt, (Halle/Leipzig 1 7 3 2-1 754)
2 Bde. (Leipzig l77 1/r774); 2. verb. Aufl.,
4 Bde. (Leipzig l778/ r 779); neue (von Christian
Friedrich von Blankenburg] vermehrte Aufl.,
4 Bde. (Leipzig l 786/ r 787); neue [von C. F. v.
Blankenburg] vermehrte zweyte Auflage, 4 Bde. 2. Werkausgaben und Einzel­
u. Reg.bd. (Leipzig 1 792-1 799) schriften
TRE - Theologische Realenzyklopädie, hg. v. G.
Krause/G. Müller (Berlin/New York 1 976 ff.) ADORNO - THEODOR w. ADORNO, Gesammelte
TREVOUX - Dictionnaire universel franyois et latin, Schriften, hg. v. R. Tiedemann u. a., 20 Bde.
vulgairement appele Dictionnaire de Trevoux (Frankfurt a. M. 1 970-1986)
( . . . ] ( 1 704) ; 7. Aufl., 8 Bde. (Paris 1771) [und AST - FRIEDRICH AST, System der Kunstlehre oder
andere Auflagen] Lehr- und Handbuch der Ästhetik (Leipzig 1 805)
TRÜBNER - Trübners Deutsches Wörterbuch, hg. BACON - FRANCIS BACON, The Works, hg. V.
v. A. Götze/W. Mitzka, 8 Bde. (Berlin 1939- ]. Spedding/R. L. Ellis/D. D. Heath, 1 4 Bde.
1 9 5 7) (London 1 8 5 8- 1 8 74)
TURNER - The Dictionary of Art, hg. v. ]. Turner, BATTEliX ( 1 746) - CHARLES BATTEUX, Les beaux
34 Bde. (London 1 996) Arts reduits a un meme Principe (Paris 1 746)
UEDING - Historisches Wörterbuch der Rhetorik, BATTEUX ( 1 747) - CHARLES BATTEUX, Les beaux
hg. v. G. Ueding (Tübingen 1 992 ff.) Arts reduits a un meme Principe (Paris 1 747)
WALCH - JOHANN GEORG w ALCH, Philosophi­ BATTEUX (1773) - CHARLES BATTEUX, Les Beaux
sches Lexicon. Darinnen Die in allen Theilen Arts Reduits a un meme Principe (Paris 1 773)
X Siglenverzeichnis

BAUDELAIRE - CHARLES BAUDELAIRE, CEuvres DESCARTES - RENE DESCARTES, CEuvres, hg. V.


completes, 2 Bde., hg. v. C. Pichois (Paris I 97 5 / C. Adam/P. Tannery, 12 Bde. u. Indexbd. (Paris
1 976) I 897-1 9 1 3 )
BAUMGARTEN - ALEXANDER GOTTLIEB BAUM­ DIDEROT ( ASSEZAT) - DENIS DIDEROT, CEuvres
GARTEN, Aesthetica, 2 Bde. (Frankfurt a. d. 0. completes, hg. v. ]. Assezat/M . Tourneux,
I 750/r 758) 20 Bde. (Paris I 875-I 877)
BAUMGARTEN ( DT) - ALEXANDER GOTTLIEB DIDEROT ( vARLOOT) - DENIS DIDEROT, CEuvres
BAUMGARTEN, Theoretische Ästhetik. Die completes, hg. v. H. Dieckmann/j. Proust/
grundlegenden Abschnitte aus der >Aesthetica< J. Varloot (Paris I 97 5 ff.)
(r750/ r 75 8 ) , lat.-dt„ übers. u. hg. v. H. R. DILTHEY - WILHELM DILTHEY, Gesammelte
Schweizer (Hamburg I 9 8 3 ) Schriften, Bd. I-9, I I, I2 (Leipzig/Berlin I 9 I 4-
BENJAMIN - WALTER BENJAMIN, Gesammelte I 9 3 6) ; Bd. ro, I 3 ff. (Göttingen I 9 5 8ff.) [und
Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppen­ spätere Auflagen]
häuser, 7 Bde. u. 3 Suppl.bde. (Frankfurt a. M. DU BOS - JEAN-BAPTISTE DU BOS, Reflexions
l972-I 999) critiques sur la poesie et sur la peinture ( l 7 I 9),
BLOCH - ERNST BLOCH, Gesamtausgabe, I6 Bde. 7. Aufl„ 3 Bde. (Paris I 770)
u. Erg.bd. (Frankfurt a. M. I959-I 978) FEUERBACH - LUDWIG FEUERBACH, Gesammelte
BODMER - JOHANN JACOB BODMER, Critische Werke, hg. v. W Schuffenhauer (Berlin
Betrachtungen über die Poetischen Gemählde I 967ff.)
der Dichter (Zürich I 74 I ) FLAUBERT - GUSTAVE FLAUBERT, CEuvres comple­
BOILEAU - NICOLAS BOILEAU-DESPREAUX, tes, hg. v. d. Societe des Etudes litteraires fran-
CEuvres completes, hg. v. F. Escal (Paris I 966) 1=aises (Paris I 97 I ff)
BOUTERWEK - FRIEDRICH BOUTERWEK, Aesthetik FREUD ( Gw) - SIGMUND FREUD, Gesammelte
(Leipzig I 806) Werke, hg. v. A. Freud u. a„ Bd. l-1 7 (London
BRECHT - BERTOLT BRECHT, Gesammelte Werke, l 940-- I 952), Bd. I 8 (Frankfurt a. M. 1 968) ,
20 Bde. (Frankfurt a. M. I 967) Nachlaßbd. (Frankfurt a. M. I987)
BRECHT ( BFA) - BERTOLT BRECHT, Werke. Große FREUD ( sA) - SIGMUND FREUD, Studienausgabe,
kommentierte Berliner und Frankfurter Aus­ hg. v. A. Mitscherlich/ A. Richards/]. Strachey,
gabe, hg. v. W Hecht u. a„ 30 Bde. u. Reg.bd. r o Bde. u. Erg.bd. (Frankfurt a. M. 1 96cr--I 975)
(Berlin/Frankfurt a. M. 1 9 8 8-2000) [und spätere Auflagen]
BREITINGER - JOHANN JAKOB BREITINGER, GADAMER - HANS-GEORG GADAMER, Gesammelte
Critische Dichtkunst, 2 Bde. (Zürich 1 740) Werke, ro Bde. (Tübingen l 9 8 5-I 995)
BROCH - HERMANN BROCH, Kommentierte GOETHE ( BA) - JOHANN WOLFGANG GOETHE,
Werkausgabe, hg. v. P. M. Lützeler (Frankfurt Berliner Ausgabe, 22 Bde. u. Suppl.bd. (Berlin/
a. M. l976ff.) Weimar I 960-- I 978)
BURCKHARDT - JACOB BURCKHARDT, Gesamt­ GOETHE ( HA) - JOHANN WOLFGANG GOETHE,
ausgabe, 14 Bde. (Stuttgart/Berlin/Leipzig Werke, hg. v. E. Trunz, I 4 Bde. (Hamburg
I 929-1934) I 948-I 960) [und spätere Auflagen, seit I 972 in
BURKE - EDMUND BURKE, A Philosophical En­ München] [Hamburger Ausgabe]
quiry into the Origin of Our Ideas of the Sub­ GOETHE ( WA) - JOHANN WOLFGANG GOETHE,
lime and Beautiful ( I 757) , hg. v. J. T. Boulton Werke, hg. i. Auftr. d. Großherzogin Sophie
(London I 9 5 8) von Sachsen, I 43 Bde. (Weimar I 8 87- 1 9 1 9)
COLERIDGE - SAMUEL TAYLOR COLERIDGE, The [Weimarer Ausgabe]
Collected Works, hg. v. K. Coburn (London/ GOTTSCHED ( DICHTKUNST) - JOHANN
Princeton I 969ff.) CHRISTOPH GOTTSCHED, Versuch einer
CONDILLAC - ETIENNE BONNOT DE CONDILLAC, Critischen Dichtkunst ( 1 730); 4. Aufl. (Leipzig
CEuvres philosophiques, hg. v. G. Le Roy, 3 I 7 5 I)
Bde. (Paris l 947-I 9 5 I ) HEGEL ( ÄSTH) - GEORG WILHELM FRIEDRICH
Siglenverzeichnis XI

HEGEL, Ästhetik (I835-I838) , hg. v. F. Bassenge HUME - DAVID HUME, The Philosophical Works,
(Berlin I955) hg. v. T. H. Green/T. H. Grose, 4 Bde. (London
HEGEL (GLOCKNER) - GEORG WILHELM 1874-1875)
FRIEDRICH HEGEL, Sämtliche Werke. HUME (ENQUIRIES) - DAVID HUME, Enquiries
Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, mit einer Concerning Human Understanding and
Hegel-Monographie (Bd. 2I-22) und einem Concerning the Principles of Morals, hg. v.
Hegel-Lexikon (Bd. 23-26) hg. v. H. Glockner L. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch (Oxford
(Stuttgart I927-I940) 1975)
HEGEL (TWA) - GEORG WILHELM FRIEDRICH HUME (TREATISE) - DAVID HUME, A Treatise of
HEGEL, Werke, hg. v. E. Moldenhauer/K. M . Human Nature (173g---1740) , hg. v. L. A. Selby­
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HEIDEGGER - MARTIN HEIDEGGER, Gesamtausgabe Werke, aufGrund des Nachlasses veröff. vorn
(Frankfurt a. M. I976ff.) Husserl-Archiv Louvain/Leuven unter Leitung
HEINE (DA) - HEINRICH HEINE, Historisch-kriti­ von H. L. van Breda; ab Bd. 22 in Verb. mit
sche Gesamtausgabe der Werke, hg. v. R. Boehrn unter d. Leitung von S. Ijsseling
M. Windfuhr, I6 Bde. (Hamburg I973-I997) (Den Haag 1950-1987; Dordrecht/Boston/
( D üsseldorfer Ausgabe] London I989ff.)
HEINE (HSA) - HEINRICH HEINE, Säkularausgabe. HUTCHESON - FRANCIS HUTCHESON, Collected
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k:lass. dt. Literatur in Weimar (dann Stiftung HUTCHESON (INQUIRY) - FRANCIS HUTCHESON,
Weimarer Klassik) u. d. Centre National de la An Inquiry Concerning Beauty, Order, Har­
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I970ff.) I973)
HERDER - JOHANN GOTTFRIED HERDER, Särnrnt­ JEAN PAUL (HKA) - JEAN PAUL, Sämtliche Werke.
liche Werke, hg. v. B. Suphan, 33 Bde. (Berlin Historisch-kritische Ausgabe, Abt. l, I8 Bde.
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HOBBES (LAT) - THOMAS HOBBES, Opera philo­ Werke, hg. v. N. Miller, Abt. l, 6 Bde„ Abt. 2,
sophica quae Latine scripsit ornnia, hg. v. 4 Bde. (München I959-I985) ( und spätere
W Molesworth, 5 Bde. (London I839-1845) Auflagen]
HOBBES ( rnv ) - THOMAS HOBBES, Leviathan JUNG - CARL GUSTAV JUNG, Gesammelte Werke,
(165I), hg. v. R. Tuck (Cambridge u. a. 1991) Bd. I, 3, 4, 6-8, II, I6 (Zürich/Stuttgart I958-
HÖLDERLIN (FA) - FRIEDRICH HÖLDERLIN, Särntl. 1969) , Bd. 2, 5, 9, ro, I2-I5, 17-I9 u. Suppl.bd.
Werke. Hist.-krit. Ausgabe, hg. von D. E. Sattler (Olten/Freiburg i. Br. I97I-1987)
(Frankfurt a. M. 1975ff.) ( Frankfurter Ausgabe] KANT (AA) - IMMANUEL KANT, Gesammelte
HÖLDERLIN (GSA) - FRIEDRICH HÖLDERLIN, Schriften, hg. v. d. Kg!. Preuß. bzw. Preuß. bzw.
Sämtliche Werke, 8 Bde„ hg. v. F. Beissner Dt. Akad. d. Wiss. bzw. d. Akad. d. Wiss. d.
(Stuttgart l943-I985) ( Große Stuttgarter Aus­ DDR bzw. Berlin-Brandenb. Akad. d. Wiss.
gabe] (Berlin 1902ff.) [Akademieausgabe]
HOME - HENRY HOME, Elements of Criticisrn, KANT (wA) - IMMANUEL KANT' Werke, hg. V.
3 Bde. (Edinburgh I762) [und spätere Auflagen] W Weischedel, I2 Bde. (Frankfurt a . M . I974-
HUMBOLDT - WILHELM VON HUMBOLDT, Ge­ I977) [Werkausgabe im Suhrkamp-Taschenbuch
sammelte Schriften, hg. v. d. Kg!. Preuß. Akad. Wissenschaft]
d. Wiss„ I7 Bde. (Berlin/Leipzig 1903-1936) KIERKEGAARD - S0REN KIERKEGAARD, Gesarn-
XII Siglenverzeichnis

melte Werke, hg. u. übers. v. E. Hirsch/H. Ger­ Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G.
des/H. M. Junghans, 36 Abt. u. Reg.bd. (Düs­ Colli/M. Montinari (Berlin I967 ff)
seldorf/Köln 1950-1969) NIETZSCHE (SCHLECHTA) - FRIEDRICH
KLEIST - HEINRICH VON KLEIST, Sämtliche Werke NIETZSCHE, Werke, hg. V. K. Schlechta, 3 Bde.
u. Briefe, hg. v. H. Sembdner, 2 Bde. (München (München I954-I956) [und spätere Auflagen]
91993) [und frühere Auflagen] NOVALIS - NOVALIS, Schriften. Die Werke Fried­
KRACAUER - SIEGFRIED KRACAUER, Schriften rich von Hardenbergs, hg. v. P Kluckhohn/R.
(Frankfurt a. M. 1971ff.) Samuel/H.-J. Mähl, Bd. 1-3, 2. Aufl. (Stuttgart
LA METTRIE - JULIEN OFFRAY DE LA METTRIE, I960-I968) ; 3. Aufl. (Stuttgart I977-I988) ;
CEuvres philosophiques, hg. v. F. Markovits, Bd. 4-5 (Stuttgart 19751!988) , Bd. 6 [in
2 Bde. (Paris 1987) 4 Teilbdn.] (Stuttgart 1998 ff)
LESSING (GÖPFERT) - GOTTHOLD EPHRAIM RIEDEL - FRIEDRICH JUSTUS RIEDEL, Theorie der
LESSING, Werke, hg. v. H. G. Göpfert, 8 Bde. schönen Künste und Wissenschaften. Ein Aus­
(München 1970-1979) zug aus den Werken verschiedener Schriftsteller
LESSING (LACHMANN) - GOTTHOLD EPHRAIM (Jena 1767)
LESSING, Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lach­ ROSENKRANZ - KARL ROSENKRANZ, Ästhetik
mann/F. Muncker, 23 Bde. (Stuttgart J l886- des Häßlichen (I853) , hg. v. D. Kliche, 2. Aufl.
I924) (Leipzig I 996)
LICHTENBERG - GEORG CHRISTOPH LICHTEN­ ROUSSEAU - JEAN-JACQUES ROUSSEAU, CEuvres
BERG, Schriften u. Briefe, hg. v. W Promies, completes, hg. v. B. Gagnebin/M. Raymond,
4 Bde. u. 2 Kommentarbde. (München 1968- 5 Bde. (Paris I959-1995)
1992) RUGE - ARNOLD RUGE, Neue Vorschule der
LOCKE (ESSAY) - JOHN LOCKE, An Essay Con­ Aesthetik. Das Komische mit einem komischen
cerning Human Understanding (1690), hg. v. Anhange (Halle 1836)
P. H. Nidditch (Oxford I975) SCHELLING (sw) FRIEDRICH WILHELM JOSEPH
-

LUKACS - GEORG LUKACS, Werke, Bd. 2, 4-I2 SCHELLING, Sämmtliche Werke, hg. V. K. F. A.
(Neuwied/Berlin I962-I97I) , Bd. l3-I7 Schelling, Abt. l , ro Bde„ Abt. 2, 4 Bde.
(Darmstadt/Neuwied I974-1986) (Stuttgart/Augsburg 1856-1861)
MALEBRANCHE - NICOLAS MALEBRANCHE, SCHILLER - FRIEDRICH SCHILLER, Werke. Natio­
CEuvres completes, hg. v. A. Robinet, 20 Bde. nalausgabe, hg. v. J. Petersen u. a. (Weimar
u. 2 lndexbde. (Paris I958-I984) I943ff.)
MEIER - GEORG FRIEDRICH MEIER, Anfangsgründe SCHLEGEL (KFSA) Kritische Friedrich-Schlegel­
-

aller schönen Wissenschaften (1748-I750) , Ausgabe, hg. v. E. Behler u. a. (Paderborn u. a.


2. Aufl„ 3 Bde. (Halle 1754-I759) I958 ff)
MENDELSSOHN - MOSES MENDELSSOHN, SCHLEIERMACHER - FRIEDRICH DANIEL ERNST
Gesammelte Schriften, hg. v. L Elbogen u. a. SCHLEIERMACHER, Krit. Gesamtausgabe, hg. V.
(Stuttgart-Bad Cannstatt I97l ff.) H.-J. Birkner u. a. (Berlin/New York 198off.)
MEW - KARL MARX/FRIEDRICH ENGELS, Werke, SCHOPENHAUER - ARTHUR SCHOPENHAUER,
hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Sämtliche Werke, hg. v. A. Hübscher, 7 Bde„
ZK der SED, 43 Bde„ 2 Bde. Verzeichnis, 1 Bd. 2. Aufl. (Wiesbaden 1946-1950) [und spätere
Sachregister (Berlin 1956-I990) Auflagen]
MONTAIGNE - MICHEL DE MONTAIGNE, Les Essais SHAFTESBURY - ANTHONY ASHLEY COOPER, EARL
(I580) , hg. v. F. Strowski/F. Gebelin/P Villey, OF SHAFTESBURY, Complete Works/Sämtliche
5 Bde. (Bordeaux I906-I933) Werke. Standard Edition, hg. u. übers. v. W
MORITZ - KARL PHILIPP MORITZ, Werke in drei Benda u. a. (Stuttgart-Bad Cannstatt l98Iff.)
Bänden, hg. v. H. Günther (Frankfurt a. M. SOLGER - KARL WILHELM FERDINAND SOLGER,
I98I) Vorlesungen über Aesthetik, hg. v. K. W L
NIETZSCHE (KGA) - FRIEDRICH NIETZSCHE, Heyse (Leipzig 1829)
Abkürzungen griechischer Werktitel XIII

SPINOZA - BARUCH DE SPINOZA, Opera. Im


Auftr. d. Heidelb. Akad. d. Wiss. hg. v.
Verzeichnis der abgekürzt
C Gebhardt, Bd. 1-4 (Heidelberg o. J. [1925]) , zitierten antiken und
Bd. 5 (Heidelberg 1987)
VALERY - PAUL VALERY, CEuvres, hg. v. J. Hytier, biblischen Quellen
2 Bde. (Paris 1957/r960)
VALERY ( CAHIERS) - PAUL VALERY, Cahiers, hg.
v. J. Robinson-Valery, 2 Bde. (Paris 1973/r974)
VISCHER - FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Abkürzungen griechischer
Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Werktitel
Gebrauch für Vorlesungen (1846-1858) , hg. v.
R. Vischer, 6 Bde. (München I922-I923) AISCHYLOS
VOLTAIRE - VOLTAIRE, CEuvres completes, hg. V. Pram. Prometheus
L. Moland, 52 Bde. (Paris 1877-1885) Eum. Eumenides
WIELAND ( AA) - CHRISTOPH MARTIN WIELAND, Ag. Agamemnon
Gesammelte Schriften, hg. v. d. Kg!. Preuß.
bzw. Preuß . bzw. Dt. Akad. d. Wiss. bzw. d. ARISTOPHANES
Akad. d. Wiss. d. DDR bzw. Berlin-Brandenb. Nub. Nubes
Akad. d. Wiss. (Berlin I909ff.) [Akademieaus­ Thesm. Thesmophoriazusae
gabe]
WIELAND (sw) - CHRISTOPH MARTIN WIELAND, ARISTOTELES
Sämmtliche Werke, 39 Bde. u. 6 Suppl.bde. An. De anima
(Leipzig I794-1811) Cael. De caelo
WINCKELMANN - JOHANN JOACHIM WINCKEL­ Eth. Eud. Ethica E udemia
MANN, Sämtliche Werke. Einzige vollständige Eth. Nie. Ethica Nicomachea
Ausgabe, hg. v. J. Eiselein, 12 Bde. (Donau­ Int. De interpretatione
eschingen I825-I829) , Abbildungen, r Metaph. Metaphysica
Bd. (Donaueschingen 1835) Phys. Physica
WOLFF - CHRISTIAN WOLFF, Gesammelte Werke, Poet. Poetica
hg. v. J. Ecole u. a., Abt. 1, 22 Bde., Abt. 2, Pol. Politica
37 Bde., Abt. 3: Ergänzungsreihe (Hildesheim Prob!. Problemata
1964 ff) Rhet. Rhetorica
Sens. De sensu
Top. Topica

3. Text- und Quellensammlungen EURIPIDES


MIGNE ( PL) - PAUL MIGNE (Hg.), Patrologiae Hipp. Hippolytus
cursus completus [„ . ] . Series Latina, 22I Bde.
(Paris I844-I864) , 5 Suppl.bde., hg. v. A. HESIOD
Hamman (Paris 1958-1974) Erg. €pya Kai hµ€pm
MIGNE ( PG) - PAUL MIGNE (Hg.), Patrologiae Theog. Theogonia
cursus completus [„ . ] . Series Graeca, 162 Bde.
(Paris I857-I9I2) HOMER
CCHR ( L) - Corpus Christianorum. Series Latina II. Ilias
(Turnhaut 1954ff.) Od. Odyssee

PINDAR
0. Olympien
XIV Verzeichnis der abgekürzt zitierten antiken und biblischen Quellen

PLATON Brut. Brutus


Alk. I, 2 Alkibiades r , 2 De or. De oratore
Ax. Axiochos Div. De divinatione
Charm. Charmides Farn. Epistulae ad familiares
Epist. Epistulae Fin. De finibus
Euthyd. Euthydemos Inv. De inventione
Gorg. Gorgias Leg. De legibus
Hipp. mai., min. Hippias maior, minor Nat. De natura deorum
Ion Ion Off. De officiis
Krat. Kratylos Or. Orator
Leg. Leges S. Rose. Pro Sex. Roscio Amerino
Phaid. Phaidon Top. Topica
Phaidr. Phaidros Tusc. Tusculanae disputationes
Phil. Philebos
Polit. Politikos HORAZ
Prot. Protagoras Ars Ars poetica
Rep. De re publica c. Carmina
Sis. Sisyphos Epist. Epistulae
Soph. Sophistes S. Sermones
Symp. Symposion
Tht. Theaitetos OVID
Tim. Timaios Am. Amores
Fast. Fasti
SOPHOKLES Met. Metamorphoses
Ant. Antigone Trist. Tristia
Oid. K. Oidipus aufKolonos
Phil. Philoktetes PLAUTUS
Men. Menaechmi
XENOPHON
Kyr. Kyrupaideia PLINIUS
Lak. pol. AaK€5atµovlwv 1roA.1T€ta Nat. N aturalis historia
Mem. Memorabilia
Oik. Oikonomikos QUINTILIAN
Inst. Institutio oratoria

Abkürzungen lateinischer Rhet. Her. Rhetorica ad C. Herennium

Werktitel
SALLUST
AUGUSTINUS Cat. Coniuratio Catilinae
Civ. De civitate dei lug. Bellum lugurthinum
Conf. Confessiones
SENECA
CICERO Benef. De beneficiis
Ac. i Lucullus sive Academicorum Epist. Epistulae ad Lucilium
priorum libri Nat. N aturales quaestiones
Ac. 2 Academicorum posteriorum
Libri TACITUS
Att. Epistulae ad Atticum Ann. Annales
Abkürzungen biblischer Bücher und außerkanonischer Schriften XV

VERGIL
Aen. Aeneis
Aet. Aetna
Ed. Eclogae
Georg. Georgica

Abkürzungen biblischer Bücher


und außerkanonischer Schriften

ALTES TESTAMENT
Gen. Genesis ( 1 . Buch Mose)
Ex. Exodus (2 . Buch Mose)
Lev. Leviticus (3. Buch Mose)
Num. Numeri (4. Buch Mose)
Dtn. Deuteronomium (5. Buch Mose)
Jos. Josua
Jes. Jesaja
Jer. Jeremia
Am. Arnos
Mi. Micha
Ps. Psalmen
Koh. Kohelet (Prediger)
Dan. Daniel

NEUES TESTAMENT
Mt. Matthäus
Mk. Markus
Lk. Lukas
Joh. Johannes
Act. Apostelgeschichte
Röm. Römerbrief
I ., 2. Kor. 1 . , 2. Korintherbrief
Gai. Galaterbrief
Phil.. Philipperbrief
Kol. Kolosserbrief
1 . , 2. Tim. 1., 2. Timotheusbrief
Tit. Titusbrief
Hehr. Hebräerbrief
1 . , 2. Petr. r . , 2. Petrusbrief
1 . , 2 . , 3. Joh. !., 2., 3. Johannesbrief
Apk. Offenbarung Johannis

AUSSERKANONISCHE SCHRIFTEN
Jdt. Judith
Weish. Weisheit Salomos
1., 2. Makk. 1., 2. Makkabäerbuch
Sir. Jesus Sirach
Tanz

Tanz 1. 1 8 .Jahrhundert
(griech. OPXllcrt�, xope:ia; lat. saltatio; engl. dance;
frz. danse; ital. danza; span. danza; russ. TaHel.\)
1. Wissenschaft der Tanzkunst
Einleitung; 1. 18. Jahrhundert; r. Wissenschaft der Die (früh)neuzeitliche Begriffsbildung zum Tanz
Tanzkunst; 2. Verschriftlichung der Tanzsprache; ist weitgehend geprägt von der Ablehnung heid­
3. Semiotik des Tanzes; 4. Der Tanz im Kanon der
schönen Künste; 5. Theatralik des Tanzes; 6. Schillers nisch-kultischer und spätantiker Kunsttanzformen
Ästhetik des Tanzes; II. 19. Jahrhundert; 1 . Kleists durch den Klerus. 4 Der Kanon zumeist pietistisch
>Marionettentheater< und das ron1antische Ballett; motivierter Askesevorschriften führt im frühen
2. Tanz in der bürgerlichen Gesellschaft; 3. Tanz­ r 8. Jh. zu einem Legitimationsdruck auf die Tanz­
pädagogik; 4. Tanz als Metapher des Realen; 5. Nietzsches
meister, deren Traktate zur Tanzkunst darum be­
Rhetorik des Tanzes; III. 20. Jahrhundert; l . Tanz als
poetologisches Modell; 2 . Ausdrucksdimensionen des müht sind, Theorien der Natur- und Kunstbeherr­
Tanzes; 3. Forn1alisierungen des Tanzes; 4. Tanz als schung in einer Tanzwissenschaft zu vereinen. Die
Gesellschaftsutopie; 5. Zeitgenössische Tanzästhetiken; wissenschaftliche Begründung der Tanzkunst cha­
Zusammenfassung rakterisiert den zeitgenössischen Diskurs sowohl
deutschsprachiger Arbeiten von Lovis Bonin (Die
neueste Art zur galanten und theatralischen Tantz­
Kunst, 1 7 1 2) und Samuel R. Behr (Die Kunst wohl
Einleitung
zu Tantzen, r 7 r 3) als auch der französischen von
Claude F. Menestrier (Des ballets anciens et modernes
Der Tanz als körpersprachliche, zumeist rhyth­ selon les reg/es du thedtre, 1 682) und Pierre Rameau
misch-musikalisch induzierte Bewegungsart gehört (Le maftre a danser, 1 725).5 Der Leipziger Tanz- und
zu den ephemeren Kunstformen. Das Substantiv Fechtmeister Johann Pasch hält das geltende Para­
Tanz (mhd. tanz, mnd. dans, danz) ist seit dem digma in seiner Beschreibung wahrer Tanz-Kunst
l 2 ./ l 3. Jh. bezeugt und wurde aus dem Altfran­ ( 1 707) fest: »Wahre Tanz-Kunst ist in Theoria eine
zösischen ( danse) entlehnt. Seine neuzeitliche und Wissenschaft, welche dem Triebe der Natur zu
moderne Begriffsgeschichte orientiert sich v. a. an
gattungsästhetischen, semiotischen und pädagogi­ l Vgl. DOROTHEE GÜNTHER, Der Tanz als Bewegungs­
schen Diskursen. In seinen ekstatischen und rituel­ phänomen. Wesen und Werden (Reinbek b. Hamburg
len Formen gilt er als anthropologische Konstante. 1 1 962) ; KAYE HOFFMAN, Tanz, Trance, Transformation
Gestik, Mimik, Pantomimik sowie seine Bezie­ (München l 984) .
2 Vgl. FRANCIS E. SPARSHOTT, Why Philosophy Neg­
hung zu Drama, Musik, Plastik, Malerei und Poe­
lects the Dance (London 1983); SPARSHOTT, Off the
sie, zu Freiheit und Norm, auch zur sozialen und Ground. First Steps to a Philosophical Consideration
ethnischen Bezugsgruppe bestimmen den Einzel-, of the Dance (Princeton 1988).
Gesellschafts- und Kunsttanz in der Ästhetik seiner VERENA KÜHNE-KIRSCH, Die )schöne Kunst< des Tan­
jeweiligen historischen Erscheinungsform. Vom zes. Phänomenologische Erörterung einer flüchtigen
Kunstart (Frankfurt a. M. u. a. 1 990) , 9.
philosophischen Diskurs nach Platon vernachläs­
4 Vgl. CARL ANDRESE1', Die Kritik der Alten Kirche am
sigt2, findet der Tanz als »synthetische Kunstform«3 Tanz der Spätantike, in: F. Heyer (Hg.), Der Tanz in
erst im 1 8 . Jh. Eingang in den Kanon der schönen der modernen Gesellschaft (Hamburg 1 9 5 8), 1 3 9 ( ;
Künste. Während der Solotanz den Menschen als VERA JUNG, >Wilde< Tänze - >Gelehrte< Tanzkunst, in:
R. v. Dülmen (Hg.), Körper-Geschichten. Studien zur
Kunstwerk und Ausdruckswesen thematisiert,
Historischen Kulturforschung (Frankfurt a. M. 1 996) ,
macht seine soziale Funktion den Tanz zum Träger 43-70.
sakraler und profaner Gesellschaftszeremonielle, Vgl. KURT PETERMANN, Tanzbibliographie. Verzeich­
aber auch zum Medium von Kritik und sozialer nis der in deutscher Sprache veröffentlichten Schriften
Utopie. und Aufsätze zum Bühnen-, Gesellschafts-, Kinder-,
Volks- und Turniertanz sowie zur Tanzwissenschaft
(Leipzig 1 966); KARL HEINZ TAUBERT, Höfische
Tänze. Ihre Geschichte und Choreographie (Mainz
u. a. 1968), 7-1 3 .
2 Tanz

mehr als höchst-nöthiger/ oder auch freudiger Be­ Executio mit Rücksicht auf rhetorische Mnemo­
wegung (per disciplinas Philosophicas) solche Re­ techniken.9 Auf diese Verwandtschaft von Tanz­
geln setzet oder giebet/ damit die Bewegung in und Redekunst verweist bereits Lukian. 10 Der rein
Praxi (in specie per disciplinas Mathematicas) ver­ mechanischen Applikation schulrhetorischer For­
nünftig/ und also recht natürlich und menschlich men auf die Tanzkunst hat Jean Georges Noverre
verrichtet/ und zu einem und dem anderen Ge­ in seinen Lettres sur la danse, et sur les ballets ( r 760)
brauche angewendet werden können.«6 Die Selbst­ eine >Sprache< des Tanzes entgegengesetzt, die mit
disziplinierung an Körper und Geist7 gilt seit der dem Anspruch auftritt, auch die Seele des Publi­
Antike als Regulativ zur Ausprägung sozialer Di­ kums dramatisch zu bewegen. 1 1
stinktionsmerkmale. Gemäß der von Platon darge­
legten Unterscheidung zwischen kriegerischer
2 . Verschriftlichung der Tanzsprache
(rruppix'l, pyrriche) und friedlicher (€µµ€i\na,
emmeleia) Bewegungserziehung8 wird die Tanz­ Über den sprachlich-mimetischen Ursprung des
kunst einerseits militärischen Exerzitien zur Seite Tanzes äußert sich Platon, der die Tanzkunst als
gestellt, andererseits dient sie dem standesgemäß »Nachahmung der gesprochenen Worte durch die
disziplinierten Handeln im öffentlichen Raum. Gesten« (µiµl]O'l� TWV A€yoµE:vwv crx�µam) 12 be­
Bindeglied zwischen physischer und mentaler Dis­ zeichnet hat. Eine Verschriftlichung dieser Tanz­
ziplin bildet in den tanzwissenschaftlichen Trakta­ sprache unternimmt die systematische Tanznota­
ten eine Rhetorik des Tanzes, die Gestus und Ak­ tion von Raoul Auger de Feuillet aus der Schule
tion nach Regeln der Redekunst komponiert. des Charles-Louis Beauchamp, Tanzmeister am
Analog zur Dispositio einer Rede wird die Schritt­ Hof Ludwigs XIV Feuillets Choregraphie, ou l'art de
folge organisiert; die Ordnung der Figuren folgt decrire la danse par caracteres, fif!.ures et sif!.nes demonstra­
den Regeln der Elocutio. Entsprechend führt die tifs ( 1 700) ist die erste moderne bildliche Tanz­
D ars te llung (Repraesentatio) des Tanzes von der schrift seit Thoinot Arbeaus (Anagnrnrn für J e han
lnventio eines Themas, das poetisch, allegorisch Tabourot) im Jahr 1588 gedruckten Notationsver­
oder dramatisch aufgefaßt wird, zur mimetischen suchen Orchesographie. Im r 8 . Jh. wird die Bezeich­
nung Choreographie (aus griech. xop6�, choros,
>Tanz, Reigen< und ypacpnv, graphein, >schrei­
6 JOHANN PASCH, Beschreibung wahrer Tanz-Kunst
( 1 707) , hg. v. K. Petermann (München 1978). 16. ben<) für >Tanzschrift< gebräuchlich. Anders als sei­
7 Vgl. RUDOLF ZUR LIPPE, Naturbeherrschung am nem englischen Übersetzer John Weaver13, der
Menschen, 2 Bde. (Frankfurt a. M. r 97 4) . später in seinen eigenen Anatomical and Mechanical
8 Vgl. PLATON, Leg. 7, 8 1 4d-8 1 6d. Lectures upon Dancing ( r 721) eine streng physiolo­
9 Vgl. PASCH (s. Anm. 6) , 3 2 f.
r o Vgl. L UKIAN, D e saltatione 3 5 f.
gische Kenntnis des tanzenden Körpers fordert,
I I Vgl. JEAN GEORGES NOVERRE, Lettres sur Ja danse, et geht es Feuillet um eine Notation, die Studium,
sur !es ballets (Stuttgart 1 760) , 28 f. Kommunikation und Mnemonik des Tanzes ga­
1 2 PLATON, Leg. 7, 8 r 6a; dt. : Die Gesetze, hg. v. 0. Gi­ rantiert. In seinen tabellarischen Darstellungen
gon, übers. v. R. Rufener (Zürich/München 1 974) ,
werden die elementaren Tanzpositionen durch
304; vgl. HERMANN KOLLER, Mimesis in der Antike.
Nachahmung, Darstellung, Ausdruck (Bern 1 954) , Zeichen der jeweiligen Fußstellungen schematisch
2 5-48. kodifiziert und nach dem System einer Ars combi­
13 Vgl. FEUILLET, Orchesography or, the Art of Danc­ natoria zu komplexen Choreographien verkettet. 1 4
ing, by Characters and Demonstrative Figures, übers.
Nach diesem synoptischen System choreographi­
v. ]. Weaver (London 1 706) .
14 Vgl. CLAUDIA JES CHKE, Tanzschriften. Ihre Ge­ scher und musikalischer Notation publiziert Feuil­
schichte und Methode. Die illustrierte Darstellung ei­ let um 1 700 einen Recueil de danses mit Komposi­
nes Phänomens von den Anfangen bis zur Gegenwart tionen von Louis Pecour. Der Leipziger Tanzmei­
(Bad Reichenhall 1 9 8 3 ) , 73--'78, 1 99-208 ; JUTTA ster Gottfried Taubert charakterisiert in seiner
voss, >Von Schritt zu Schritt in verständlichen Zei­
chen und CharactCrcs1: Zur Geschichte der Tanznota­
materialreichen >Apologie für die wahre Tantz­
tion, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 1 8 ( 1 995), Kunst<, getitelt Rechtschaffener Tantzmeister oder
1 54. gründliche Erklärung der Jrantzösischen Tantz-Kunst
!. 1 8 . Jahrhundert

( 1 7 1 7) , deren 2. Buch eine deutsche Übersetzung keit von Bewegung ein, wie sie Leibniz in seinen
der Choregraphie enthält, Feuillets Kartographie des Meditationen zur >cognitio symbolica< eröffnet hat.
Tanzes als arithmetische Kombinationskunst. 15 Für Lambert ist die symbolische Erkenntnis bezüg­
Taubert erweitert das semiotische Notationssystem lich der Tanzbewegung »auf eine gedoppelte Art
seines französischen Vorbilds zu einem umfassenden figürlich« bedingt, insofern einerseits die Zeichen­
Kompendium der Ethik und der Theorie des Tan­ form eine Figur des Tanzes geometrisch sichtbar
zes, womit er einen bedeutenden Beitrag zur bür­ macht, andererseits Tanzgattungen wie >la chaine<
gerlichen Kulturgeschichte des frühen 1 8 . Jh. lei­ oder >le moulinet< einen abstrakten Bewegungs­
stet. Eine Kritik an Feuillets ebenso komplizierter begriff in Form einer Trope vorstellen. So liege
wie ungenauer »algebre des Danseurs« bringt No­ Feuillets Choreographie der figürlichen Erkenntnis
verre in seinen Lettres sur la danse, et sur les ballets vor: näher als die musikalische Notenschrift: »Da die
»Plus la Danse s' embellira, plus les caracteres se mul­ Tänze selbst Figuren und Bewegungen sind, so ist
tiplieront, & plus cette science sera inintelligible« 1 6. auch die Zeichnung derselben in einem viel ein­
Die kommentierten Choreographien des Gesell­ fachem Verstande figürlich, als die Zeichnung der
schafts- und Volkstanzes aus der zweiten Jahrhun­ Töne in der Musik vermittelst der Noten.«19 Als
derthälfte, wie Carl Joseph von Feldtensteins Envei­ unzureichend bezeichnet indessen Condillac die­
terung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen, sen figürlichen Aspekt der Tanzschrift gerade we­
Tänze zu eifinden, und aufzusetzen; wie auch Anwei­ gen ihrer fehlenden Musikalität. Er kontrastiert die
sung zu verschiedenen National- Tänzen (1 772) , gelten Feuilletsche Tanzschrift mit der Prosodie der alten
als wichtige Dokumente der Nationalfolklore. Sprachen und findet in der Lehre vom musikali­
schen Akzent und den Silbenquantitäten, trotz ein­
geschränkter Kodierbarkeit sprachlicher Dynamik,
3. Semiotik des Tanzes
eine größere Zeichenvarietät, um die Eigenschaf­
Die Tanznotation wird in der Zeichentheorie des ten des Ausdrucks zu taxieren: Ȇn ne sauroit tirer
1 8 . Jh. kontrovers diskutiert. Die Semiotik der aucune induction de la choreographie, ou de l'art
Tanzmeister17 wird in der Psychologia empirica d' ecrire en notes les pas et les figures d'une entree
( 1 73 2) Christian Wolffs in exemplarischer Weise de ballet. [ . ..] Dans notre declamation, les sons,
beigezogen, sie findet ihren Niederschlag aber pour la plupart, [ . ] sont ce que, dans !es ballets,

auch in Etienne Bonnot de Condillacs Essai sur sont certaines expressions que la choreographie
l'origine des connoissances humaines (1 746) und vor al­ n'apprend pas a decrire.«20 Die moderne Semiotik
lem in Johann Heinrich Lamberts Neuem Organon
( 1 764) . In der Psychologia empirica geht Wolff im
Zusammenhang seiner Analyse intuitiver und sym­ 1 5 Vgl. GOTTFRIED TAUBERT, Rechtschaffener Tantz­
bolischer Erkenntnis auf Feuillets Kunst, »Tanz­ meister oder gründliche Erklärung der frantzösischen
schritte durch Zeichen auszudrücken« (saltationes Tantz-Kunst (Leipzig 1 7 1 7) , 737 (2. Buch, Kap.
per characteres exprimendi) , ein: Ȇpe eorundem XLIV) .
I6 NOVERRE (s. Anm. I I ) , 387.
saltationes noviter inventae absenti communicari
1 7 Vgl. GEROLD UNGEHEUER, Der Tanzmeister bei den
facilius ac multo brevius possunt, quam si verbis Philosophen. Miszellen aus der Semiotik des I 8. Jahr­
describendae forent.«18 (Mit ihrer Hilfe könnten hunderts, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 2 ( 1 980) ,
neu erfundene Tänze abwesenden Personen leich­ 3 5 3-376.
18 CHRISTIAN WOLFF, Psychologia empirica (1732), in:
ter und viel kürzer mitgeteilt werden, als wenn sie
WOLFF, Abt. 2, Bd. 5 ( 1 968), 207.
mit Worten beschrieben würden.) Die zeitgenös­ 19 JOHANN HEINRICH LAMBERT, Nenes Organon oder
sische Tanznotation wird in die seit dem r 7. Jh. an­ Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung
dauernde Problematik einbezogen, zwischen den des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum
>figurae hieroglyphicae< und den arbiträren Zei­ und Schein ( 1 764) , hg. v. G. Schenk, Bd. 2 (Berlin
I 990) , 474 (
chen der >linguae< systematisch zu unterscheiden.
20 ETIENNE BONNOT DE CONDILLAC, Essai sur l'origine
Wolff und Lambert gehen überdies auf die Frage des connoissances humaines ( 1 746) , in: CONDILLAC,
nach der intuitiven oder begrifflichen Erkennbar- Bd. 1 ( 1 947) , 67.
4 Tanz

wird die Verbindung synchroner Aussagen (iko­ unter die »unvollkommenen Künste«24 einordnen,
nische Zeichen und Figuren) mit diachronen Ab­ und zwar als dynamische >Mittelgattung< bei der
läufen als "kinesische Codes« (codici cinesici)21 dialektischen Bestimmung von Musik und Plastik.
bezeichnen. Zu den Vorreitern des Paradigmenwechsels um die
Mitte des l 8. Jh„ der die Künste auch nach Maß­
gabe ihrer Fähigkeit bewertet, Bewegung zu reprä­
4. Der Tanz im Kanon der schönen Künste
sentieren, zählt neben Charles Batteux25 und No­
Friedrich Gottlieb Klopstocks Poetik der "Wortbe­ verre auch Johann Gottftied Herder, der die von
wegung«22 kommt das Verdienst zu, den Tanz mit Johann Joachim Winckelmann geprägte kunst­
dem rhythmisch-prosodischen Potential der Spra­ theoretische Diskussion um die Anwendbarkeit
che vereint zu haben. Seine Einführung der >Tanz­ griechischer Schönheitstopoi auf zeitgenössische
kunst< in den Rivalitätskonflikt um den Rang der Kunstformen aus der starren Privilegierung von
schönen Künste und der schönen Wissenschaften ( 1 7 5 8) Ruhe über Bewegung herausführt. Das Aufspren­
signalisiert zudem einen Statuswandel des Tanzes gen strenger Gattungsgrenzen und die Erschütte­
in der ästhetischen Theorie seiner Zeit. Immanuel rung des Schönheitsideals äußerer Ruhe wird für
Kant schätzt in der Kritik der Urteilskraft ( 1 790) den den Kunstbegriff des Sturm und Drang konstitutiv,
ästhetischen Wert der schönen Künste nach ihrer dessen Bildsprache von Johann Georg Hamann in
Fähigkeit, das Spiel der Einbildungskraft von seiten seiner Aesthetica in nuce ( 1 762) als »ein taumelnder
der Empfindung oder von der Idee her zu bewe­ Tanz«26 beschrieben wird.
gen. In den bildenden Künsten werden "blei­ Die Ut-pictura-poesis-Debatte (Winckelmann,
bende«, in den darstellenden "transitorische« Funk­ Lessing, Herder, Goethe) , die sich um das transito­
tionen der Einbildungskraft angesprochen. In die­ rische Moment bildhafter Darstellung dreht, wird
sem Wertsystem bildet der Tanz eine "Verbindung begleitet von der Frage nach der unsichtbaren Be­
der schönen Künste in einem und demselben Pro­ wegung der Musik und ihrer Darstellung im Tanz:
dukte«23. G. W. F. Hegel wird den Tanz im >System Musik stellt nach Herder das innere Wesen des
der einzelnen Künste< seiner Ästhetik ( 1 8 3 5-1 8 3 8) ästhetischen Gegenstandes dar, während die bil­
denden und darstellenden Künste dessen äußere
Darstellung bieten. Im 4. seiner Kritischen Wälder
( r 769) plädiert er fur eine >natürliche Poesie< der
2 I UMBERTO ECO, La struttura assente (Mailand I 968), Tanzkunst, die den Begriff der Schönheit aus der
I 54; dt. : Einführung in die Semiotik, übers. v. J. Tra­ harmonischen Verbindung »lebendiger Bildhaue­
bant (München 1 972) , 2 5 5 . rei«, )>sichtbarer Musik« und )>stummer Poesie«27
22 FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK, Vom deutschen
Hexameter ( I 779) , in: Klopstock, Sämrntliche Werke, gewinnt. Im Anschluß an Platon bezeichnet er in
Bd. IO (Leipzig 1 85 5 ) , 1 29; vgl. WINFRIED MEN­ seiner kunsttheoretischen Spätschrift Kalligone
NINGHAUS, Dichtung als Tanz - Zu Klopstocks Poe­ ( 1 800) die Musik als "Führerin des Tanzes«, die
tik der Wortbewegung, in: Comparatio. Revue inter­ den Menschen in einer unsichtbaren Klangwelt
nationale de litterature comparee 3 ( 1 9 9 1 ) , 1 2()- 1 50.
zum gestischen Ausdruck "eines Tanzes j eder See­
23 IMMANUEL KANT, Kritik der Urteilskraft ( 1 790) , in:
KANT ( wA ) , Bd. I O ( I 974) , 269, 264. lenbewegung«28 anrege. Damit hat Herder im Zei­
24 HEGEL, Vorlesungen über die Ästhetik ( I 8 3 5- 1 8 3 8) , chen auflebender Empfindsamkeit zumal auf die
in: HEGEL ( TWA ) , B d . I 4 ( 1 970) , 262; vgl. ebd„ Tendenz des Sturm und Drang gewirkt, die Bewe­
Bd. 1 5 ( 1 970) , 3 24. gung am Kunstgegenstand mit einer Bewegung
2 5 Vgl. BATTEUX ( I 746) , 2 50-291 .
2 6 JOHANN GEORG HAMANN, Aesthetica in nuce ( I 762) , des seelischen Erlebens zu identifizieren. Die Ver­
in: Hamann, Schriften zur Sprache, hg. v. J. Simon bindung von Kunst- und Selbstbetrachtung, die
(Frankfurt a. M. I 967) , 1 07. funktionale Parallelisierung der Begriffe von >mo­
27 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Kritische Wälder. tion< und >emotion< zieht in der Folge eine Kodi­
Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst
fizierung ästhetisch induzierter Gefuhlslagen mit
des Schönen ( I 769) , in: HERDER, Bd. 4 ( I 878), I 2 I f.
28 HERDER, Kalligone ( I 8oo) , in: HERDER, Bd. 22 sich, zu deren bedeutendstem Illustrator Daniel
( I 8 8o) , 1 8 I . Chodowiecki mit seiner graphischen Serie Natür-
I. I 8 . Jahrhundert

liehe und affectirte Handlungen des Lebens ( I 778) ge- 6. Schillers Ästhetik des Tanzes
worden ist.
In theoretischer Auseinandersetzung mit Kant und
5. Theatralik des Tanzes Herder hat Friedrich Schiller in seinem Brief­
wechsel mit Christian Gottfried Körner, herausge­
Die Suche nach typisierbaren Analogien zwischen geben unter dem Titel Kallias oder über die Schönheit
Kunstkörper und emotionalem Ausdruck des ( 1 79 3 ) , die Rationalität ästhetischer Urteilsbildung
Menschen schlägt sich sowohl in der Affektenlehre mit der zeitgenössischen Diskussion um eine dyna­
und Physiognomik als auch in der Tanz- und mische Kunstform zur Deckung gebracht.31 Die
Schauspieltheorie der zweiten Hälfte des I 8 . Jh. Künste Europas erfahren unterdessen einen nor­
nieder. Im Kampf wider die manierierte Pantomi­ mativen Impuls von Edmund Burkes A Philosophi­
mik auf der Bühne hebt Gotthold Ephraim Lessing cal Enquiry into the Origin of our Ideas �f the Sublime
die moralische Signifikanz der Cheironomie (Ge­ and Beautiful ( I 757) und von William Hogarths
bärdensprache) hervor: »Jede Bewegung, welche The Analysis ef Beauty ( I 7 5 3 ) . Davon nimmt Schil­
die Hand bei moralischen Stellen macht, muß be­ ler v. a. die von Hogarth als »line of grace« dekla­
deutend sein«, hält er im 4. Stück seiner Hamburgi­ rierte Serpentinenform auf sowie das ästhetische
schen Dramaturgie ( I 767�I 768) fest, »oft kann man Ideal eines »ornamental way of moving«32. Seinen
bis in das Malerische damit gehen; wenn man nur Begriff einer »Schönheit der Bewegung«, die ohne
das Pantomimische vermeidet«29. Für die Tanz­ jeden »Tanzmeisterzwang im Gange und in den
bühne hat Noverre, dessen Briefe über die Tanzkunst Stellungen« auskommt, entwickelt Schiller aus der
Lessing I 769 teilweise übersetzt, eine ebenso pro­ Betrachtung des englischen Kontertanzes: »ich
grammatische wie umstrittene Schrift verfaßt, weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein pas­
worin er die intentionale Bedeutsamkeit von Mi­ senderes Bild als einen gut getanzten und aus vie­
mik und Gestik in der getanzten Pantomime reha­ len verwickelten Touren komponierten englischen
bilitieren will: »Enfants de Terpsichore, renoncez Tanz. Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzäh­
aux cabrioles, aux entrechats & aux pas trop com­ lige Bewegungen, die sich aufs bunteste durch­
pliques; abandonnez Ja minauderie pour vous livrer kreuzen und ihre Richtung lebhaft und mutwillig
aux Sentiments, aux graces naives & J. l' expression; verändern un d doc h niemals zusammenstoßen. Alles
appliquez-vous a Ja Pantomime noble; n'oubliez ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht
jamais quelle est l'ame de votre Art; mettez de hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so ge­
l'esprit & du raisonnement dans vos pas de deux.« schickt und doch wieder so kunstlos ineinander,
Noverres ästhetische Konzeption des >ballet d'ac­ daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen
tion< verknüpft den Ausdruck emotionaler Bewe­ scheint und doch nie dem andern in den Weg tritt.
gung mit dem Anspruch, ein bewegtes Gemälde Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten ei­
der Natur und zugleich eine dramatische Hand­ genen Freiheit und der geschonten Freiheit des an­
lung darzustellen: »Un Ballet est un tableau, Ja deren.«33 In seiner Elegie Der Tanz ( I 795) hat
Scene est Ja toile, !es mouvements mechaniques
des figurants sont !es couleurs, leur phisionomie 29 GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, Hamburgische Dra­
est, si j 'ose m'exprimer ainsi, le pinceau, l'ensem­ maturgie ( 1 767- 1 768), in: LESSING (GÖPFERT) , Bd. 4
ble & la vivacite des Scenes, Je choix de Ja Musi­ ( I 973), 250.
que, la decoration & Je costume en font le coloris; 3 0 NOVERRE (s. Anm. 1 l ) , 5 5 , 2 .
3 1 Vgl. MARK WILLIAM ROCHE, Dynamic Stillness.
enfin, le Compositeur est le Peintre. Si la nature lui Philosophical Concepts of >Ruhe< in Schiller, Hölder­
a donne ce fen & cet enthousiasme, l'ame de la lin, Büchner and Heine (Tübingen 1 987), I -62 .
Peinture & de la Poesie, l'irnrnortalite lui est egale­ 32 WILLIAM HOGARTH, The Analysis of Beauty ( 1 7 5 3 ) ,
ment assuree.«30 Noverres synästhetische Konzep­ hg. v. J . Burke (Oxford 1 9 5 5 ) , 56, I 5 3 ·
3 3 FRIEDRICH SCHILLER, Kallias oder über die Schön­
tion der Tanzkunst, welche Poesie, Malerei und
heit. Briefe an Körner ( 1 793), in: Schiller, Sämtliche
Drama in sich vereint, weist bereits auf die roman­ Werke, hg. v. G. Fricke/H. G. Göpfert, Bd. 5 (Mün­
tische Universalpoesie Friedrich Schlegels voraus. chen 1 984) , 42 5 .
6 Tanz

Schiller der freien Spielform einer beweglichen haben rnüsse«36, wobei die These aufgestellt wird,
Sozialordnung nochmals das Gepräge eines >ästhe­ daß im Tanz der Marionette mehr Anmut und
tischen Staates< verliehen, wie er ihn im 27. Brief Grazie zu finden sei als bei den geschicktesten
Über die ästhetische Erziehung des Menschen ( 1 795) Tänzern. Die Marionette erscheint frei von Ziere­
beschrieben hat.34 Jahre nach dem Kallias-Brief­ rei, indem ihre »Seele (vis rnotrix)« stets im
wechsel mit Schiller verfaßt Körner für Heinrich »Schwerpunkt der Bewegung« liegt und sie, der
von Kleists Phöbus einen Aufsatz Über die Bedeutung Schwerkraft »antigrav«37 folgend, den Boden nur
des Tanzes (1 808), der die Verwandtschaft von Pro­ elfenhaft streift, um daraus den Schwung ihrer
sodie und Tanz herausstellt. 35 Glieder zu beleben. Zum romantischen Bewe­
gungsideal wird schwebende Leichtigkeit durch
Charles Blasis in The Code of Terpsichore ( 1 825) stili­
siert. Märchenhafte Elfentänze der Primaballerina
I I . 1 9 . Jahrhundert mit Spitzenschuhen und Tutu haben diesen ätheri­
schen Tanz popularisiert, etwa im Ballett La Syl­
phide ( 1 8 3 2) , später auch in Jacques Offenbachs >El­
1 . Kleists >Marionettentheater< und das romantische
fentanz< aus der Oper Die Rheinnixen ( 1 872) . Kleist
Ballett
hingegen radikalisiert das zeitgenössische Kunst­
Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionetten­ ideal von Anmut und Grazie des Tanzes in der
theater ( l 8 r o) nimmt eine Schlüsselstellung in der Weise paradoxal, daß es erst durch die Künstlich­
ästhetischen Begriffsbildung des Tanzes zur Zeit keit der Bewegung mechanischer Glieder und Pro­
der Romantik ein. Hier wird die Frage erörtert, thesen ganz einzulösen wäre. 38 Anders als Schiller
ob ein Puppenspieler »selbst ein Tänzer sein, oder formalisiert er die Schönheit der Bewegung nicht
wenigstens einen Begriff vorn Schönen im Tanz in Form einer Serpentine, sondern als elliptische
Linie, die den »Weg der Seele des Tänzers« be­
schreibt. Diese Linie könne nicht anders gefunden
3 4 Vgl. SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des werden »als dadurch, daß sich der Maschinist in
Menschen in einer Reihe von Briefen ( 1 79 5 ) , in: den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h.
ebd„ 667.
35 Vgl. CHRISTIAN GOTTFRIED KÖRNER, Über die Be­
mit andern Worten, tanzt«39. Im Modell des Ma­
deutung des Tanzes, in: Phöbus r ( r 808) , r. Stück, rionettentanzes wird eine Annäherung des mecha­
3 3-3 8. nischen Tanzes an den romantischen Topos des
3 6 HEINRICH v. KLEIST , Über das Marionettentheater »Unendlichen« gesucht, in dem sich die Grazie
( r 8 ro) , in: KLEIST, Bd. 2 (7 1 984) , 3 40.
wieder einfinde, »wenn die Erkenntnis gleichsam
3 7 Ebd„ 341 f.
3 8 Vgl. RUDOLF DRUX, Marionette Mensch. Ein Meta­ durch ein Unendliches gegangen ist, [„ ] d. h. in
.

phernkomplex und sein Kontext von E. T. A. Hoff­ dem Gliederrnann, oder in dem Gott«40.
mann bis Georg Büchner (München 1 986) , I 8 1 ;
BERNHARD GREINER, >Der Weg des Tänzers<. Kleists
Schrift >Über das Marionettentheater<, in: Neue 2. Tanz in der bürgerlichen Gesellschaft
Rundschau 98 ( I 987), H. 3, r 1 2-I 3 r .
3 9 KLEIST (s. Anm. 36), 3 40; vgl. PAUL D E MAN, Aes­ Der Durchbruch des Walzers gegen Ende des
thetic Formalization: Kleist's >Über das Marionetten­ 1 8 . Jh. steht im Zeichen einer gewandelten Kör­
theater<, in: de Man, The Rhetoric of Romanticism per- und Bewegungskultur im Übergang zur bür­
(New York 1984) , 263-290; ROGER w. MÜLLER FAR­
gerlichen Gesellschaft. 41 Die anfängliche Unsicher­
GUELL, Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitu­
tion von Bewegung in Texten. Schiller, Kleist, Heine, heit im Wechsel vorn höfischen Gesellschafts- zum
Nietzsche (München 1995), 1 4 1 ff offenen Paartanz spiegelt sich in Johann Wolfgang
40 KLEIST (s. Anm. 36), 3 4 5 . Goethes »Ball auf dem Lande« aus den Leiden des
4 I Vgl. GABRIELE KLEIN, FrauenKörperTanz. Eine Zivi­ jungen Werther (1 774) : »Wir schlangen uns in Me­
lisationsgeschichte des Tanzes (Weinheim/Berlin
1 992) , r o 5 ; RUDOLF BRAUN/DAVID GUGERLI, Macht
nuetts um einander herum [ ] . Lotte und ihr
„ .

des Tanzes - Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herr­ Tänzer fingen einen Englischen [Kontertanz -
schaftszeremoniell r 5 50-I 9 1 4 (München 1993), 1 66 f d. Verf.] an, und wie wohl rnir's war, als sie auch in
II. 1 9 . Jahrhundert 7

der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du füh­ Wohlverhaltens für Jünglinge, die mit Glück in die TVelt
len. [ . . . ] Es ist hier so Mode, fuhr sie fort, daß j e­ treten wollen ( 1 800) sowie Johann Heinrich Katt­
des Paar, das zusammen gehört, bei'm Deutschen fusz' Taschenbuch für Freunde und Freundinnen des
[Walzer - d. Verf.] zusammen bleibt [ . . . ]. Und da Tanzens ( r 800) , in Ilmenau Louis Casortis Der in­
wir nun gar an's Walzen kamen, und wie die Sphä­ structive Tanzmeister für Herren und Damen ( 1 826)
ren um einander herumrollten, ging's freilich an­ und in München Franz Xaver Nadlers Kallischema­
fangs, weil's die Wenigsten können, ein bißchen tik, oder Anleitung zu einem edlen Anstande und zur
bunt durch einander.«42 Analog zur Ballszene aus schönen, gefälligen Haltung des Körpers, sowohl im ge­
Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni ( 1 787)43 sellschaftlichen Umgange als beim Tanze ( 1 8 3 4) . Auch
chiffriert die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen der vom Turnvater Jahn beeinflußte liberale Tanz­
in den aufgeführten Tanzformen von Menuett und lehrer in Jena, Eduard David Helmke, beansprucht
Walzer eine politische wie soziale Gegenwelt, die mit seinem Lehrsystem der Neuen Tanz- und Bil­
mit einer neuen Raum- und Zeiterfahrung korre­ dungsschule ( r 829) , Gymnastik, Philosophie und
spondiert: Auf der Schwelle zum I 9. Jh. verwan­ Ästhetik zu verbinden. Standesbewußt legt die
delt sich das statische Weltbild in ein dynamisches. bürgerliche Tanzpädagogik darauf Wert, »daß nie
Das Menuett (aus lat. minutus, >vermindert, sehr ein Lehrer untergebne oder dienende Personen,
klein<, dt. seit dem 1 7 . Jh. als >Kleinschrittanz< be­ Handwerksgesellen und dergl., die j edoch nicht je­
kannt) tritt in seiner gesellschaftlichen Bedeutung der Tanzlehrer in Unterricht nimmt, zu den Her­
zurück; der Walzer (aus mhd. walzen, >rollen, dre­ ren und Damen in dieselbe Classe«45 aufnimmt.
hen<) , ab Ende des r 8. Jh. als Sammelbegriff ver­ Das spannungsreiche »Abgrenzungs- und Auswahl­
schiedener Drehtänze gebraucht, avanciert zum dilemma«46 prägt das merkantile Selbstverständnis
deutschen >Nationaltanz<. Zugleich differenzieren freiberuflicher Tanzlehrer, die sich im kleinstädti­
und verselbständigen sich Kunst-, Gesellschafts­ schen Milieu der Metternichzeit zu behaupten ha­
und Volkstanz. ben. Helmke richtet sich mit seiner Kunst, sich
durch Selbstunterricht in kurzer Zeit zum feinen Welt­
mann und sehr geschickten Tänzer zu bilden ( r 8 3 o)
3. Tanzpädagogik
auch direkt an den bürgerlichen Verbraucher. Dar­
In diesem sich dynamisierenden Sozialverband über hinaus führt die Einstellung von Tanz- und
fungiert die Etikette als erzieherisches Korrektiv. Sportlehrern an öffentlichen Schulen seit Beginn
So stellt das Standardwerk des Moralphilosophen des 1 9 . Jh. zur Verankerung des Tanzes im huma­
Adolph Freiherr von Knigge, Ober den Umgang mit nistischen Erziehungskanon. Als erster Tanzlehrer
Menschen ( 1788), die Gefahren des Tanzes als Be­ Schulpfortas legt Franz Anton Roller in seinem
währungsprobe guter Erziehung dar: »Der Tanz
versetzt uns in eine Art von Rausch, in welchem
die Gemüter die Verstellung vergessen - Wohl 42 JOHANN WOLFGANG GOETHE, Die Leiden des jun­
dem, der nichts zu verbergen hat!« Knigges »An­ gen Werther ( 1 774) , in: GOETHE ( wA ) , Abt. l, Bd. 1 9
( 1 899) , 2 5 , 3 1 (
ständigkeitsregeln beim Tanze«44 folgen in der er­ 43 Vgl. PAUL NETTL, Mozart und der Tanz. Zur Ge­
sten Hälfte des 1 9 . Jh. eine Reihe von >Leitfaden< schichte des Balletts und Gesellschaftstanzes (Zürich/
und Lehrbüchern zur bürgerlichen Etikette, die Stuttgart 1 960) , 49 ff.
mit ihrer Verhaltens-, Bewegungs-, Körper- und 44 ADOLPH FREIHERR VON KNIGGE, Über den Umgang
mit Menschen ( 1 788), hg. v. G. Ueding (Frankfurt
Tanzkultur ein >gebildetes Publikum<, mithin den
a. M. 1 977) , 278.
Bürger als >Gentilhomme< ansprechen. Es prägt 45 EDUARD DAVID HELMKE, Neue Tanz- und Bildungs­
sich ein inhaltlicher Musterkanon von Bildungs­ schule. Ein gründlicher Leitfaden für Eltern und Leh­
und Habitusschablonen heraus, der durch die obli­ rer bei der Erziehung der Kinder und für die erwach­
gate >Tanzstunde< junger Bildungsbürger vermittelt sene Jugend, um sich einen hohen Grad der feinen
Bildung zu verschaffen und sich zu kunstfertigen und
wird. So erscheinen etwa in Leipzig Georg Carl
ausgezeichneten Tänzern zu bilden ( 1 829; Leipzig
Claudius' Kurze Anweisung zur wahren feinen Lebens­ 1 982), 1 3 3 .
art nebst den nöthigsten Regeln der Etikette und des 4 6 BRAUN/ GUGERL! (s. Anm. 4 1 ) , 240.
8 Tanz

Systematischen Lehrbuch der bildenden Tanzkunst und »Da tanzten sie nun, u m zu zeigen, daß Frankreich
körperlichen Ausbildung von der Geburt an bis zum glücklich sei; sie tanzten für ihr System, für den
vollendeten Wachsthume des Menschen ( 1 843) die Ver­ Frieden, für die Ruhe Europas; sie wollten die
bindung des >Nützlichen< und >Schönen< in schuli­ Kurse in die Höhe tanzen, sie tanzten a la hausse.
scher Bewegungserziehung nahe.47 Freilich manchmal, während den erfreulichsten
Entrechats, brachte das diplomatische Korps allerlei
Hiobsdepeschen aus Belgien, Spanien, England
4. Tanz als 1\Jetapher des Realen
und Italien; aber man ließ keine Bestürzung mer­
Als politische Metapher hat vor allem Heinrich ken, und tanzte verzweiflungsvoll lustig weiter. «49
Heine den Tanz eingesetzt. Bei unmißverständ­ Besonders den seit 1 8 3 0 in Frankreich beliebten
licher Stoßrichtung gegen die Restauration per­ Cancan oder Chahut stellt Heine seiner Leserschaft
sifliert Heine im ersten Teil seiner Reisebilder, Die der Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volks­
Harzreise ( 1 824) , die eingeschränkte Bewegungs­ leben vom Februar l 842 als Karnevalisierung der
freiheit des deutschen Bundestags unter den Be­ gesellschaftlichen Reglements unter dem Bürger­
dingungen des Wiener Kongresses. Seine Allego­ königtum Louis-Philippes vor: »Es ist kaum be­
rese der »diplomatischen Bedeutung des Balletts« greiflich, wie das Volk unter solcher schmählichen
als Pirouettieren des Bundestages, als Menuett der Kontrolle seine lachende Heiterkeit und Tanzlust
kleinen Fürsten oder als trunkenes Schwanken im behält. Dieser gallische Leichtsinn aber macht
Ringen um das europäische Gleichgewicht, stellt eben seine vergnügtesten Sprünge, wenn er in der
»in getanzten Chiffern das Schicksal des deutschen Zwangsj acke steckt, und obgleich das strenge Po­
Vaterlandes vor Augen«48• Dieser Technik einer lizeiauge es verhütet, daß der Cancan in seiner zy­
>getanzten Persiflage< bedient sich Heine auch im nischen Bestimmtheit getanzt wird, so wissen doch
5. Artikel seiner Zeitschriftenserie über Franzö­ die Tänzer durch allerlei ironische Entrechats und
sische Zustände ( 1 8 3 2) , die er für die Augsburger übertreibende Anstandsgesten ihre verpönten Ge­
Allgemeine Zeitung aus dem Pariser Exil verfaßt: danken zu offenbaren, und die Verschleierung er­
scheint alsdann noch unzüchtiger als die Nacktheit
selbst.«50 Mehr noch als in seinen späteren Ballett­
47 Vgl. FRANZ ANTON ROLLER, Systematisches Lehr­
librettos Der Doktor Faust ( 1 847) und Die Göttin
buch der bildenden Tanzkunst und körperlichen Aus­
bildung (Weimar I 843), V-X. Diana ( 1 8 54) , die jene Ambivalenzthematik von
48 HEINRICH H E I N E , Die Harzreise ( 1 826) , in: Heine, Tanzlust und Totentanz aus seiner kulturphilo­
Sämtliche Schriften, lig. v. K. Briegleb, Bd. 2 (Mün­ sophischen Schrift Elementargeister und der Novelle
chen 1 969) , I 4 7 f. Florentinische Nächte (beide 1 8 3 5) wiederaufneh­
49 HEINE, Französische Zustände ( 1 8 3 2) , i n : Heine (s.
Anm. 48), Bd. 3 (München l 9 7 I ) , l 49 f. men, sind Heines journalistische Glossen gezeich­
5 0 HEINE, Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und net von einer ironisch-revolutionären Ästhetik, die
Volksleben ( I 842), in: Heine (s. Anm. 48), Bd. 5 den Tanz als eine subversive Signatur seiner Zeit
(München 1 974) , 394. begreift. 51 Im Versepos vom tanzenden »Tendenz­
5 I Vgl. MAX NIEHAU S , Hinunel, Hölle und Trikot.
bären«52 Atta Troll ( l 84 7) hat Heine zugleich eine
Heinrich Heine und das Ballett (München 1959);
B E N N O V O N W I E S E , Das tanzende Universum, in: Ikone der Gesinnungskritik geprägt, die die politi­
von Wiese, Signaturen. Zu Heinrich Heine und sei­ sche Dichtkunst des Jungen Deutschland ridiküli­
nem Werk (Berlin I 976) , 1 3 4-1 66; KLAUS BRIEGLEB , siert. 53 Diese parodistische Verwendung des Tanzes
Opfer Heine? Versuche über die Schriftzüge der Re­ im Sinne eines politischen Gegenliedes hat Karl
volution (Frankfurt a. M. I 986); M Ü LLER FARGUELL
(s. Anm. 3 9) , l 77 f. Marx in seiner Einleitung zur Kritik der Hege/sehen
5 2 HEINE, Atta Troll ( 1 847) , in: Heine (s. Anm. 48) , Rechtsphilosophie ( 1 843) auf die einschlägige Sen­
Bd. 4 (München I 9 7 I ) , 563 (Caput XXIV, I r . Str.) tenz gebracht, man müsse »diese versteinerten Ver­
53 Vgl. WINFRIED WOESLER, Heines Tanzbär. Histo­ hältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man
risch-literarische Untersuchungen zum >Atta Troll<
ihnen die eigene Melodie vorsingt«54.
(Düsseldorf 1 978), 3 4 I -345, 3 5 I f.
54 KARL MARX , Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso­ Dem stehen vor allem in der zweiten Jahrhun­
phie ( 1 843), in: MEW, Bd. l ( 1 956), 3 8 1 . derthälfte ästhetisierende Ballettbetrachtungen ge-
II. I 9. Jahrhundert 9

genüber, die an der >Realismusfrage< wenig Inter­ tierendem Schein ist nach Nietzsche für Geburt
esse zeigen.55 Nebst Charles Baudelaire, der in La und Geschichte der abendländischen Tragödie
Fanfarlo ( 1 847) das erotische Mysterium des Tanzes ebenso konstitutiv, wie sie sich, im Hinblick auf
als »poesie avec des bras et des jambes«56 feiert, Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunst­
konzentriert sich die ästhetische Begriffsvermitt­ werks61 , aus der Einheit von Tanz, Ton- und
lung des Tanzgeschehens in Theophile Gautiers Dichtkunst stets aufs neue hervorzubringen hätte.
Salons ( 1 8 3 3 ff.) und Feuilletons darauf, den »Singend und tanzend äussert sich der Mensch als
Rausch weiblicher Schönheit, die mythische In­ Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: [ . . . ] Der
szenierung tödlicher Tanzekstase (Giselle, 1 84 1 ) , Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk
das Faszinosum der Femme fatale und des Exoti­ geworden. </" Im menschlichen Kunstwerk des
schen (etwa in der Figur der Salome) in professio­ Tanzes sind Subjekt und Objekt, Tänzer und Tanz
nelle Kunstkritik umzuwandeln.57 ununterscheidbar.63 In der Folge bringt William B.
Yeats die selbstreflexive Struktur dieser Kunstform
auf den Nenner: »How can we know the dancer
5. Nietzsches Rhetorik des Tanzes
from the dance?«64 Das rhetorische und stilistische
Durch seine facettenreiche Verwendung des Tanz­ Spiel mit der Selbstähnlichkeit von Subjekt und
begriffes hat Friedrich Nietzsches Denken in der
Folge vielfaltigsten Einfluß auf Konzeptionen
55 Vgl. HORST KOEGLER, Versuche über das Realismus­
des Tanzes in den bildenden und darstellenden
problem im Ballett des 19. Jahrhunderts, in: Das Bal­
Künsten genommen. In Die Fröhliche Wissenschaft lett und die Künste, hg. v. der Internationalen Som­
( 1 8 82) hat Nietzsche einer Gewohnheit Ausdruck merakademie des Tanzes (Köln 1 9 8 1 ) , 6-1 9 .
gegeben, »im Freien zu denken, gehend, sprin­ 5 6 CHARLES BAUDELAIRE, L a Fanfarlo ( I 847) , in: BAU­
DELAIRE, Bd. l (1975), 573 .
gend, steigend, tanzend«, und dabei Wertfragen als
57 Vgl. THEOPHILE GAUTIER, E crits snr la danse, hg. v.
Choreographie dynamischer Denkfiguren in Szene !. Guest (Arles 1995); DEIRDRE PRIDDIN, The Art of
zu setzen. »Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf the Dance in French Literature from Theophile Gau­
Buch, Mensch und Musik, lauten: >kann er gehen? tier to Paul Valery (London I 952), I 8 f. : KLEIN (s.
mehr noch, kann er tanzen'<«58 In der Götzen­ Anm. 4 1 ) , 1 2o f. ; GUY DUCREY, Corps et graphies.
Poetique de la danse et de la danseuse a la fin du l 9e
Dämmerung ( 1 8 89) ruft Nietzsche die Bedeutung
siede (Genf I 996) , 265, 277.
der Tanzerziehung im platonischen Kulturstaat in 5 8 FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft
Erinnerung, wobei er ergänzt, daß auch Denken ( 1 8 82) , in: NIETZSCHE (KGA) , Abt. 5, Bd. 2 (1973),
wie Tanzen gelernt sein will, »als eine Art Tanzen«: 296.
»Man kann nämlich das Tanzen in jeder Form nicht 59 NIETZSCHE, Götzen-Dämmerung ( 1 8 89) , in: NIETZ­
S CHE (KGA) , Abt. 6, Bd. 3 ( 1 969) , ro3 f.
von der vornehmen Erziehung abrechnen, Tanzen­ 60 Vgl. '1IETZSCHE, Die Geburt der Tragödie ( 1 872), in:
können mit den Füssen, mit den Begriffen, mit NIETZSCHE (KGA) , Abt. 3, Bd. l (1 972), 58 f; MÜL­
den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es LER FARGUELL (s. Anm. 3 9) , 278 f.
auch mit der Feder können muss, - dass man schrei­ 6 I Vgl. RICHARD WAGNER, Das Kunstwerk der Zukunft
( 1 8 50) , in: Wagner, Gesammelte Schriften und Dich­
ben lernen muss?«59 Zur Urverwandtschaft von tungen, Bd. 3 (Leipzig I 887) , 67.
Tanz und Sprache äußert sich Nietzsche in seiner 62 NIETZSCHE (s. Anm. 60) , 26.
Frühschrift zur Geburt der Tragödie aus dem Geiste 63 Vgl. DE MAN, Semiology and Rhetoric, in: de Man,
der Musik ( 1 8 72) . Im kulturhistorischen Rückgriff Allegories ofReading. Figural Language in Rousseau,
auf den frühgriechischen Dionysoskult läßt er den Nietzsche, Rilke, and Proust (New Haven/London
1 979) , 3-I9; JOHN E. ATWELL, The Significance of
Tanz des Tragödienchors aus dionysischem Melos Dance in Nietzsche's Thought, in: The Midwest
und apollinischem Logos hervorgehen: Was der Quarterly 25 ( I 984) , H. 2, 1 29-1 47; NICOLAS s .
dionysisch erregte Satyrchor in leiblicher Symbolik HUMPHREY, Heinrich Heine and Friedrich Nietz­
tanzt, stellen die apollinischen Schauspieler als sche. Dance as Metaphor and Rhetorical Imagery
(Baltimore 1 987) .
sprachlich objektivierte Traumvision auf der Szene
64 WILLIAM B. YEATS, Among School Children ( 1 928),
dar.60 Diese ursprüngliche Trennung von rausch­ in: Yeats, The Poems, hg. v. R. J. Finneran (London
haft-symbolischem Tanz und sprachlich repräsen- I 9 8 3 ) , 2 I 7.
ro Tanz

Objekt des Tanzes65 demonstriert Nietzsche in III. 20. Jahrhundert


Also sprach Zarathustra ( 1 8 8 3 - 1 8 8 5 ) in allegorischen
Tanzliedern sowie im Motiv des Seiltänzers.66 Za­
1 . Tanz als poetologisches Modell
rathustras Aufruf, den »Geist der Schwere [zuJ töd­
ten«, ist an Selbstüberwindung und die Lehre ge­ Als Folge des Virtuosentums in den performativen
bunden, »dass alles Schwere leicht, aller Leib Tän­ Künsten wird das autonome Körperkunstwerk der
zer, aller Geist Vogel werde«67. Seine >Umwertung Tänzerin, wie es auch Edgar Degas und Auguste
aller Werte< und die Anwendung einer elevato­ Rodin wiederholt thematisieren, um die Jahrhun­
rischen Rhetorik des Tanzes auf Gegenstände dertwende zum vorherrschenden Meditationsob­
der Philosophie, Politik und Gesellschaft haben j ekt der Theater- und Tanzästhetiker. Lole Fuller,
Nietzsches polyperspektivischen Dynamismus zur Isadora Duncan, Ruth St. Denis, aber auch eine
>Drehscheibe< des philosophischen Diskurses von gestische Schauspielerin wie Eleonora Duse gelten
Moderne und Postmoderne werden lassen.68 zu j ener Zeit als paradigmatische Gestalten. Im
Zeichen der Problematisierung traditioneller Krea­
tivitätskonzepte substituiert die Tänzerin als »poe­
tologische Modellfunktion«69 nicht selten den klas­
sischen Topos der Muse und verweist damit auf
65 Vgl. JACQUES DERRIDA, La question du style, in: Prozeßcharakter und Medialität künstlerischen
Nietzsche aujourd'hui?, Bd. 1 (Paris 1973), 241 f.
Schaffens der Avantgarde. Mit Schwerpunkten im
66 Vgl. MARION FABER, Angels of Daring. Tightrope
Walker and Acrobat in Nietzsche, Kafka, Rilke and Fin de siede und im Expressionismus profiliert sich
Thomas Mann (Stuttgart 1 979) ; BEATRICE COM­ der Tanz als Medium der Sprach- und Kulturkritik
MENGE, La danse de Nietzsche (Paris 1988); ANNE­ in der literarischen Moderne.70 Inbegriff eines
MARIE PIEPER, >Ein Seil geknüpft zwischen Tier und
neuartigen »synästhetischen Bewegungstheaters<J I ,
Übermensch<. Philosophische Erläuterungen zu
Nietzsches erstem >Zarathustra< (Stuttgart 1 990) . das Bewegung, Raum und Licht miteinander ver�
67 NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra ( I 8 8 3-8 5), in: schmilzt, ist um die Jahrhundertwende Loi:e Fullers
NIETZSCHE (KGA) , Abt. 6, ßd. 1 ( 1 968), 45, 286. >Serpentinentanz<, der ein breites Wirkungsfeld in
68 Vgl. JÜRGEN HABERMAS, Eintritt in die Postmo­ der avantgardistischen Kunstszene vom Impressio­
derne: Nietzsche als Drehscheibe (entst. 1983), in:
nismus über den ornamentalen Jugendstil bis zum
Haberrnas, Der philosophische Diskurs der Moderne
(Frankfurt a. M. 1 9 8 5 ) , 1 04-129; HENK MANSCHOT, Art Nouveau entfaltet. Fullers Freitanz sprengt die
Nietzsche und die Postmoderne in der Philosophie, Fesseln des klassischen Balletts und setzt den Kör­
übers. v. C. Goldmann, in: D. Kamper/W v. Reijen per als bewegliche Lichtskulptur in Szene. Sie be­
(Hg.) , Die unvollendete Vernunft. Moderne versus dient sich einer Lichttechnik, die bereits in den
Postmoderne (Frankfurt a. M. 1 987) , 478-496; GRA­
HAM PARKES, The Dance frorn Mouth to Hand, in: 1 8 8oer Jahren durch die >Chronophotographies<
C. Koelb (Hg.), Nietzsche as Postmodemist. Essays von Eadweard Muybridge und Etienne ]. Marey
Pro and Contra (New York 1 990) , I 27-1 4 r . erprobt wurde.
6 9 GABRIELE BRANDSTETTER, Tanz-Lektüren. Körper­ Stephane Mailarme bringt in seinem Essai Ballets
bilder und Raumfiguren der Avantgarde (Frankfurt
( 1 886) diesen tänzerischen Symbolismus auf ein
a. M. I995), 290.
70 Vgl. WOLFGANG ROTHE, Tänzer und Täter. Gestalten zentrales Axiom: »A savoir que la danseuse n 'est pas
des Expressionismus (Frankfurt a. M. I 979); LEONA une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposes
V AN V AERENBERGH, Tanz und Tanzbewegung. Ein qu'elle n 'est pas unefemme, mais une metaphore re­
Beitrag zur Deutnng deutscher Lyrik von der Deka­ sumant un des aspects elementaires de notre forme,
denz bis zum Frühexpressionismus (Frankfurt a. M.
u. a. 1991); GREGOR GUMPERT, Die Rede vom Tanz. glaive, coupe, fleur, etc„ et qu 'elle ne danse pas, sug­
Körperästhetik in der Literatur der Jahrhundertwende gerant, par Je prodige de raccourcis ou d' e!ans,
(München 1 994) . avec une ecriture corporelle ce qu'il faudrait des
7 I BRANDSTETTER/BRYGIDA M. OCHAIM, Loie Fuller. paragraphes en prose dialoguee autant que descrip­
Tanz. Licht-Spiel. Art Nouveau (Freiburg I 989) , 7.
tive, pour exprimer, dans Ja redaction: poeme de­
72 STEPHANE MALLARME, Ballets ( 1 886) , in: Mailarme,
CEuvres cornpletes, hg. v. H. Mondor/G. Jean-Aubry gage de tout appareil du scribe.<<72 Die stumme Ge­
(Paris 1 974) , 304. bärdenschrift des Tanzes wird in dem Maß zur kri-
III. 20. Jahrhundert ll

tischen Negation der Schriftsprache, als sie den 2. A usdrucksdimensionen des Tanzes
Schriftraum kreiert, ohne ihn zu usurpieren.73
Für die poetische Sprachskepsis des Fin de siede, Die erstrebte Emanzipation vom reinen Wortthea­
als deren Wortführer der junge Hugo von Hof­ ter und die »Überwindung des toten und starren
mannsthal hervortritt, wird der ephemere Tanz Wortweltbildes«81 führen zu Beginn des 20. Jh. zu
zum ersehnten Gegenpol: »Wir sind im Besitz ei­ einer größeren Aufmerksamkeit für die optisch
nes entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig wirkenden Bühnenmittel, die szenische Gestal­
unter den Begriffen zu ersticken. [ . . . ] So ist eine tung, Lichteffekte, Kostüm und Maske sowie für
verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die die expressive Pantomimik. Auch die egalitären
schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tan­ Jazztänze aus Amerika, vom Foxtrott über den
zen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler.«74 Shimmy bis zum Charleston, die Europa in den
In seinem Aufsatz Über die Pantomime ( 1 9 1 l) stellt >Wilden Zwanzigern< bewegen, werden von Heinz
Hofmannsthal der »Sprache der Worte« eine Spra­ Pollack als Revolution des Gese/lscheftstanzes (1 922)
che der »reinen Gebärden« tanzender Körper ent­ betrachtet. In offener Opposition zur klassischen
gegen: »Die Sprache der Worte ist scheinbar indi­ Balletttradition, die mit Serge P. Diaghilevs Ballets
viduell, in Wahrheit generisch, die des Körpers Russes (1 909) noch einmal einen Höhepunkt fin­
scheinbar allgemein, in Wahrheit höchst persön­ det, erlebt die >Bewegungskunst< im Freien Tanz
lich. Auch redet nicht der Körper zum Körper, oder Ausdruckstanz eine epochale, wiewohl auch
sondern das menschliche Ganze zum Ganzen.« 75 heterogene Neubestimmung.82 Als Schlüsselbe­
Daß die Sprachkritik im Tanz eine >Rhetorik des griffe der frühen Reformbewegungen können
Schweigens< beschwört, gilt ebenso für Hofmanns­ >Natur<, >Leben<, >Kosmos<, >Ausdruck< und
thals Tragödienschluß seiner Elektra (1903) »Wer- >Trance< gelten. Gemeinsame Anknüpfungspunkte
glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins: /
schweigen und tanzen« 76 - wie für Rainer Maria
Rilkes Beschreibung der »Tanzfigur« im 28. seiner
Sonette an Orpheus ( 1 923) als einer »unerhörten
Mitte«77• Rilkes Poetik des Tanzes stellt Wandlung 73 Vgl. GUMPERT (s. Anm. 70) , l 5 8 ff. ; BRANDSTETTER
(s. Anm. 69) , 3 3 2 ff. ; DUCREY (s. Anm. 57), 3 72 f.
und Me tamorphos e ins Zentrum seiner B ewe­ 74 HUGO VON HOFMANNSTHAL, Eine Monographie.
gungsgedichte und sucht »in dem Schwung der >Friedrich Mitterwurzer<, von Eugen Guglia [Rez.]
Figur nichts wie den wendenden Punkt<-78. ( 1 895), in: Hofmannsthal, Gesammelte Werke, hg. v.
Das Transitorische des Tanzes ist gleichfalls Ge­ H. Steiner, Prosa, Bd. l (Frankfurt a. M. 1 950) , 265.
genstand des sokratischen Dialogs in Paul Valerys 75 HOFMANNSTHAL, Über die Pantomime ( 1 9 1 r), in:
ebd. , Prosa, Bd. 3 (Frankfurt 1952), 49 f.
L'ame et la danse ( 1 92 1 ) , der die Erkenntnisfunktion 76 HOFMANNSTHAL, Elektra. Tragödie in einem Aufzug
fugativer Kunst zur Sprache bringt. Wie Welle und frei nach Sophokles ( 1 903), in: ebd. , Dramen, Bd. 2
Feuer, so sei auch der Tanz ein »acte pure des me­ ( 1 954) , 7 5 .
tamorphoses«79, in dem der Augenblick die Form 77 RAINER MARIA RILKE, D i e Sonette a n Orpheus
(1923), in: Rilke, Sämtliche Werke, hg. v. E. Zinn,
gebäre und die Form den Augenblick sichtbar ma­
Bd. r (Wiesbaden 1955), 769 [.
che. Die transitorische Form des Augenblicks wird 78 Ebd., 7 5 8 ; vgl. DIETGARD KRAMER-LAUFF, Tanz und
im ekstatischen Drehtanz manifest, wenn sich der Tänzerisches in Rilkes Lyrik (München 1 969) .
Zusammenhalt der Dingwelt scheinbar auflöst und 79 PAUL VALERY, L'ame et la danse (1921), in: VALERY,
Bd. 2 ( 1 960) , 1 6 5 .
die Tänzerin in der Mitte ihrer Bewegung ruht.
80 VALERY, Philosophie d e l a danse ( 1 93 6) , i n : VALERY,
Diese absolute Form der Bewegung bestimmt Va­ Bd. r (1957), 1 400; vgl. KÖRNE-KIRSCH (s. Anm. 3 ) ,
lery in seiner Philosophie de la danse ( l 9 3 6) als ab­ r 49 f. ; GUMPERT (s. Anm. 70) , 1 7 1 ff. ; BRANDSTETTER
strakte Idee des Tanzes, die sich auf andere Künste (s. Anm. 69) , 284-289.
übertragen läßt. In einer beständigen Ablösung, Sr FRITZ BÖHME, Tanzkunst (Dessau 1 926) , 4 r .
82 Vgl. GUNHILD OBERZAUCHER-SCHÜLLER (Hg.),
Verwandlung und Entgrenzung findet sie Eingang
Ausdruckstanz. Eine n1itteleuropäische Bewegung der
ins Gedicht: »Commencer de dire des vers, c' est ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Wilhelmshaven
entrer dans une danse verbale.«80 1 992) .
12 Tanz

finden sich bei Frarn;ois Delsarte im dreiteiligen Körpermitte und unter Betonung der Erden­
System des intellektuellen, emotionalen und physi­ schwere, Mikro- und Makrokosmos, Innen- und
schen Ausdrucksvermögens sowie bei Emile Ja­ Außenwelt, Zentrum und Peripherie in einer or­
ques-Dalcroze im System der >Rhythmischen ganischen Entwicklung hervorbringt. So bezeich­
Gymnastik<, das sich mit der körperlich differen­ net Wigman in ihren Refl e xionen zur Sprache des
zierten Visualisierung musikalischer Strukturen Tanzes ( 1 963) den Raum als »eigentlichen Wir­
durch Bewegung im Raum befaßt. Eingebettet in kungsbereich des Tänzers«: »Nicht der greifbare,
ein allgemeines Programm der Kultur- und Le­ der begrenzte und begrenzende Raum der konkre­
bensreform, erneuert Jaques-Dalcroze das antike ten Wirklichkeiten, sondern der imaginäre, der ir­
Konzept der >Eurhythmie< (e:upu8µia)83 im Rah­ rationale Raum der tänzerischen Expansion, der
men der 1 9 1 2 eingeweihten Gartenstadt in Helle­ die Grenzen der Körperlichkeit aufzuheben ver­
rau bei Dresden, wo in Zusammenarbeit mit dem mag und der ins Fließen gebrachten Gebärde eine
Theaterreformer Adolphe Appia die Idee >rhyth­ scheinbare Unendlichkeit verleiht, in der sie sich
mischer Plattformen< im >lebenden Raum< des zu verstrahlen, zu verströmen, zu verhauchen
Tanztheaters realisiert wird. scheint.«85 Der Tanz wird nicht mehr durch den
Von den bedeutendsten Vertreterinnen des ex­ konkreten Raum, sondern der imaginäre Raum
pressiven Tanzes, namentlich Isadora Duncan, durch den Tanz definiert. Der >ekstatische Tanz<
Mary Wigman84 und Martha Graham, wird die gilt als Paradigma einer subj ektzentrierten Raum­
Relation von Körper und Raum als intuitive Aus­ erfahrung, die eine Verbindung der Tanzenden mit
drucksdimension verstanden, die, ausgehend von den überindividuellen Kräften von Natur und
Kosmos sucht. Entsprechend betonen Dreh- und
Spiraltänze wiederholt die »Radianz des Körpers<<86
und erweitern den »tänzerischen SinrnP getanzter
83 Vgl. PLATON, Rep. 7 , 522a; PLATON, Prot„ 3 26b; Sprache über den kritisch suspendierten Logozen­
L UKIAN, De saltatione 72. trismus der Schriftkultur hinaus zur künstlerisch
84 Vgl. HEDWIG MÜLLER, Die Begründung des Aus­ erlebten Wirklichkeitsinterpretation. 88 »Erst in sei­
druckstanzes durch Mary Wigman (Diss. Köln 1 986) . ner räumlichen Strahlung empfängt der Tanz seine
85 MARY WIGMAN, Die Sprache des Tanzes ( 1 96 3 ;
letzte und entscheidende Wirkung«, schreibt Wig­
München 1 986), 1 2 .
86 BRANDSTETTER, Elevation und Transparenz. Der man: »Denn in ihr verdichten sich seine flüchtigen
Augenblick im Ballett und modernen Bühnentanz, Zeichen zur lesbaren und einprägsamen Spiegel­
in: C. W Thomsen/H. Holländer (Hg.), Augenblick schrift, in der die tänzerische Aussage zu dem
und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeit­ wird, was sie sein soll und werden muß: Sprache -
metaphorik in Kunst und Wissenschaften (Darmstadt
1 984), 48 3 . die lebendige, künstlerische Sprache des Tanzes.«89
87 RUDOLF V O N LABAN, Die Welt des Tänzers (Stuttgart In Form einer zyklischen >Raumharmonielehre<
1 920) , 44. hat Rudolf von Laban die >Weltanschauung des
88 Vgl. INGE BAXMANN, >Die Gesinnung ins Schwingen Tänzers< in die ganzheitlich-vitalistische Konzep­
bringen<. Tanz als Metasprache und Gesellschaftsuto­
tion seiner >Choreosophie< übertragen.90 Sie grün­
pie in der Kultur der zwanziger Jahre, in: H. U. Gum­
brecht/K. L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommu­ det im platonisch-pythagoreischen Ideengut und
nikation (Frankfurt a. M. 1 988), 3 60-3 7 3 ; BRAND­ rekurriert auf Ludwig Klages' biozentrische An­
STETTER (s. Anm. 69) , 4 1 3-42 1 . thropologie sowie auf Henri Bergsons intuitioni­
89 WIGMAN (s. Anm. 8 5 ) , 12. stischen >elan vital<. Fast gleichzeitig mit Rudolf
90 Vgl. RUDOLF VON LABAN, Choreutics, hg. V . L. Ull­
mann (London 1 966) ; dt. : Choreutik. Grundlagen Steiners anthroposophischem Tanzalphabet der
der Raumharmonielehre des Tanzes, übers. v. C. Per­ >Eurythmie< entwirft Laban in den 20er Jahren sein
rottet (Wilhelmshaven 1 9 9 1 ) , 7 f. Notationssystem einer cligitalen >Tanzschrift<, die,
9 1 Vgl. VALERIE PRESTON-DUNLOP, Rudolf von Laban, durch das analoge Modell des dreidimensionalen
in: Oberzaucher-Schüller (s. Anm. 82), 95-rn4;
>Ikosaeders< ergänzt, den Schrifttanz ( 1 928) zu einer
KLAUS THORA, Der Einfluss der Lebensphilosophie
Rudolf von Labans auf das tänzerische Weltbild, in: Methodik mit universalem Anspruch werden
ebd„ 1 54-1 60. läßt.91
III. 20. Jahrhundert l3

3. Formalisierungen des Tanzes Brennpunkt der >Neuen Sachlichkeit< auf der


Bühne stehen die Bauhaustänze Oskar Schlemmers.
Der Theatertheoretiker und Regisseur Edward Die Figurinen seines Triadischen Balletts ( 1 922)
Gordon Craig postuliert in seinem Aufsatz The Ac­ stellen eine kinetische Ganzkörpermaske dar und
tor and the Über-1\1arionette, der 1 908 in seiner Zeit­ bewegen sich mechanistisch im Umfeld einer geo­
schrift The Mask erscheint, eine Stilisierung dar­ metrischen Raumlineatur. Schlemmers analytisch­
stellerischer Bewegung bis zur »symbolical gesture« konstruktivistischer Raum- und Bewegungsbegriff
emes zeichenhaft-andeutenden Gebärdenspiels. prägt sich in seiner Konzeption einer >Tänzerischen
Ihm schwebt ein >Theater der Zukunft< vor, worin Mathematik< aus: »Die Gesetze des kubischen Rau­
der personifizierende Darsteller vollends durch das mes sind das unsichtbare Liniennetz der planimetri­
Maskenspiel einer »inanimate figure« 92 ersetzt schen und stereometrischen Beziehungen. Dieser
würde, die sich tranceartig der vollkommenen Be­ Mathematik entspricht die dem menschlichen Kör­
wegung annähert. 1 92 1 veröffentlicht William B. per innewohnende Mathematik und schafft den
Yeats mit seinen Four Plays Jor Dancers eine Reihe Ausgleich durch Bewegungen, die ihrem Wesen
von marionettenhaft-abstrakten Tanzspielen, die nach mechanisch und vom Verstand bestimmt sind.«
Craigs Theaterästhetik der Künstlichkeit mit den Die abstrakten Funktionsgesetze zwischen Körper
regelhaften Sprechgesängen und Bewegungen des und Raum nehmen in einer »wandelnden Architek­
japanischen No-Theaters verbinden.93 Durch tur« 99 von Modellkostümen Gestalt an, deren Ent­
streng formalisierte Bewegungssprache sollen die stehung veranschaulicht wird, »stellt man sich den
Akteure zum kontrollierten Vorzeigen von Gefüh­ Raum mit einer weichen plastischen Masse gefüllt
len und Gedanken gezwungen werden; eine di­ vor, in der die Stadien des tänzerischen Bewegungs­
stanzierende Gestik, die in ihrer obj ektivierenden ablaufes sich als negative Formen verhärten«100.
Verfremdung auf die Dramaturgie Bertolt Brechts Hinter den Bühnenexperimenten des Bauhauses
vorausweist, aber auch auf die Kunst der Deperso­
nalisierung nach dem hieratischen Vorbild des bali­
nesischen Tanztheaters durch Antonin Artaud (Sur 92 EDWARD GORDON CRAIG, The Actor and the
Über-Marionette ( 1 908), in: Craig, On Movement
le theatre balinais, 193 1 ) .
and Dance, hg. v. A. Rood (New York 1977) , 40,
D e n »bedenklichen Hang, sich z u formalisie­ 50.
ren«94 teilt der Tanz nach Siegfried Kracauer hin­ 93 Vgl. GUMPERT (s. Anm. 70) , 1 1 7.
sichtlich der Skandierung von Zeit in Raumkon­ 94 SIEGFRIED KRACAUER, Die Reise und der Tanz
struktionen mit der Reisekultur. »Was tanzt, will ( 1 925), in: KRACAUER, Bd. 5 / 1 ( 1 990) , 290.
anders werden und dahin abreisen«, hat dem Ernst 95 ERNST BLOCH, Das Prinzip Hoffnung (entst. 1 9 3 8-
1 947; ersch. 1 954-1 959), in: BLOCH, Bd. 5 (1 959),
Bloch in Das Prinzip Hoffnung nachgetragen: »Das 456.
Fahrzeug sind wir selbst.«95 Die Formalisierung des 96 Vgl. SIEGFRIED GIEDION, Mechanization Takes
Tanzes in den 2oer Jahren steht im Zusammenhang Command (Oxford 1 948) .
einer beschleunigten sozialen Mobilität sowie der 97 Vgl. LEONETTA BENTIVOGLIO, Danza e futurisn10
in Italia. 1 9 1 3-193 3 , in: La danza italiana l ( 1 984),
Taylorisierung von Arbeitsprozessen % Sie spiegelt
6 1 -82; BRANDSTETTER (s. Anm. 69) , 3 86-4 1 3 , 424-
sich sowohl in der futuristischen Fasziniertheit an­ 432.
gesichts technisierter Geschwindigkeit wie in der 98 Vgl. VSEVOLOD E . MEJERCHOL ' D , Akter buduscego
kubistischen Zerlegung von Bewegungsabläufen ( 1 922), in: Mej erchol'd. Stat'i, pis'ma, reci, besedy,
Bd. 2 (Moskau 1 968), 488; dt. : Der Schauspieler der
oder in den dadaistischen Zerstückelungsexperi­
Zukunft und die Biomechanik, übers. v. H. Hawe­
menten der >Lettres dansantes<.97 Im Kontext einer mann, in: Mejerchol'd, Theaterarbeit 1 9 1 7-1930,
konstruktivistischen Ästhetik hat Vsevolod E. Me­ hg. v. R. Tietze (München 1 974) , 75.
jerchol'd die Techniken moderner Industriearbeit 99 OSKAR SCHLEMMER , Mensch und Kunstfigur, in:
mit denjenigen der darstellenden Künste paralleli­ Schlemmer/L. Moholy-Nagy (Hg.) , Die Bühne im
Bauhaus (München 1925), 1 3 , 1 6 .
siert: Studium und Inszenierungen des Tanzes fol­
I OO SCHLEMMER, Tänzerische Mathematik, i n : P. Stefan
gen den >Gesetzen der Biomechanik<, mit dem Ziel, (Hg.), Tanz in dieser Zeit (Wien/New York 1 926) ,
unproduktive Bewegung zu eliminieren.98 Im 34.
14 Tanz

steht keine naive Technikbegeisterung, sondern die sehen Agit-Prop-Gruppen bis hin zu den Massen­
»Erkenntnis des Unmechanisierbaren«101 aus einer ornamenten der Revuetheater105 etablieren sich
dialektischen Bestimmung der unaufhaltsamen Me­ Basistechniken der Massenchoreographie, an die
chanisierungsprozesse am menschlichen Körper. eine totalitäre Inszenierung der Volksgemeinschaft
anknüpfen kann, die den »rhythmischen Faktor«
zur Verbindung »aller Glieder des Volkes«106 em­
4. Tanz als Gesellschaftsutopie
setzt.
Der Tanz als Gesellschaftsutopie, als Ausdruck ei­
ner Arbeits- und Volksgemeinschaft, wie sie sich
5. Zeitgenössische Tanzästhetiken
bereits beim Theaterreformer Georg Fuchs in Der
Tanz ( 1 906) als »Kultform«102 der Massen abzeich­ Die Tanzästhetiken der Nachkriegszeit können mit
net und von Havelock Ellis in The Dance of Life Ludwig Wittgenstein als unterschiedliche Sprach­
( 1 923) zum kulturphilosophischen Monismus er­ spiele der » Vorstellung des Tanzens« 107 begriffen
hoben wird, erlebt in der Zwischenkriegszeit werden. Die konzeptionelle >Metaerzählung<
durch die Synthese von Kult- und Arbeitsbewe­ (Jean-Fran�ois Lyotard) tritt hinter das jeweilige
gung seine größte Verbreitung. Als »neuen Kultur­ Darstellungsexperiment mit Tanzkonzepten, -sti­
faktor«103 begrüßt John Schikowski in Der neue len und -traditionen zurück. Sei es, daß ein Voka­
Tanz (1 924) die Solidaritätserfahrung im Rhyth­ bular von Ornamenten neoklassisch inszeniert
mus des kollektiven Tanzes, während Rudolf Bode (George Balanchine) oder die Theatralik der Stile
den »Rhythmus als Lebensanschauung« zelebriert, zur Erfahrung der Alterität wird (Maurice Bejart) ,
die den gymnastischen Gruppentanz gegen das sei es, daß Montage- und surreale Verwandlungs­
»metrische Prinzip«104 von Technik und Intellekt techniken die Kombinierbarkeit von Material und
profiliert. Von Labans chorischem Gesamtkunst­ Geste thematisieren, abstrahieren bzw. negieren
werk über die >Bewegungschöre< der kommunisti- (Gerhard Bohner) : Stets bleibt die Avantgarde der
konzeptionellen Durchbrechung verpflichtet.
Dem stehen jugendkulturelle Musik- und Tanzfor­
101 S CHLEMMER (s. Anm. 99) , 7. men gegenüber, vom Rock'n Roll der 5oer über
1 02 GEORG FUCHS, Der Tanz (Stuttgart 1 906) , 7.
103 JOHN SCHIKOWSKI, Der neue Tanz (Berlin I 924) , 4.
den Rap der 8oer bis zum Techno der 9oer Jahre,
1 04 RUDOLF BODE, Rhythmus und Körpererziehung deren Kennzeichen eine zunehmende Individua­
Oena 1923), 63, 3 5 . lisierung sowie die rasche Kommerzialisierung
105 Vgl. RElNHARD KLO OSSITHOMAS REUTER, Körper­ durch die Kulturindustrie ist. Im Bereich des
bilder. Menschenornamente in Revuetheater und Kunsttanzes weicht das Narrative und Mimetische
Revuefilm (Frankfurt a. M. 1980).
106 BÖHME, Deutscher Tanz und Volkstanz (193 4) , zit. dem aleatorischen Spiel mit Wiederholungen
nach Marion Kant/Lilian Karina, Tanz unterm Ha­ (Merce Cunningharn, Trisha Brown) , der kriti­
kenkreuz. Eine Dokumentation (Berlin 1 996) , 1 27; schen Isolation von getanzten Trivialrnythen (Pina
vgl. HENNING EICHBERG u. a., Massenspiele. NS­ Bausch) und der mechanischen Reduktion im
Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Ze­
>Minima! Dance< (Phil Glass) bis hin zur Intermit­
remoniell (Stuttgart 1 977) .
107 LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Untersu­ tierung der Zeitkünste in Intervallen, Lücken und
chungen ( 1 9 5 3 ) , in: Wittgenstein, Werkausgabe, der bewegungslosen Stille (John Cage) . 108 Mediali­
Bd. l (Frankfurt a. M. i 989) , 3 87. tät und Virtualität markieren als Trendbegriffe das
108 Vgl. BRAND STETTER , Intervalle. Raum, Zeit und
Problemfeld, dem sich die experimentelle Tanz­
Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts, in: M. Ber­
gelt/H. Völckers (Hg.), Zeit-Räume (München praxis am Ende des 20. Jh. durch elektronische
1 9 9 I ) , 22 5-270; HANNE SEITZ, Räume im Dazwi­ Kornpositionstechnik, Videokunst und Computer­
schen. Bewegung, Spiel und Inszenierung im Kon­ simulation stellt. Die gegenwärtige Konstitution
text ästhetischer Theorie und Praxis. Grundlegung des Tanzes in der Selbstbeobachtung setzt der
einer Bewegungsästhetik (Essen i 996) .
Choreograph William Forsythe 1984 in Analogie
1 09 WILLIAM FORSYTHE [Interview]. Gutes Theater
ganz anderer Art, in: Ballett International 7 ( 1984) , zum Wörterbuch: »ein Buch, in dem sich die Spra­
H . 8, 9. che selbst beschreibt« 109.
Zusammenfassung 15

Zusammenfassung Catalogue (München I982); DUCREY, GUY, Corps et


graphies. Poetique de Ja danse et de la danseuse a Ja fin du
I 9° siede (Genf I 996) ; GUMPERT, GREGOR, Die Rede
Die flüchtige Zeitkunst des Tanzes hat im philoso­
vom Tanz. Körperästhetik in der Literatur der Jahrhun­
phischen Diskurs nach Platon, der ihm großen er­ dertwende (München I 994) ; JESCHKE, CLAUDIA, Tanz­
zieherischen Wert beimißt, bis zu seiner Aufurer­ schriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte
tung bei Herder, Schiller, Hegel und Nietzsche Darstellung eines Phänomens von den Anfangen bis zur
wenig Beachtung gefunden. Erst durch seine wis­ Gegenwart (Bad Reichenhall I 9 8 3 ) ; KOCH, MARION,
Salomes Schleier. Eine andere Kulturgeschichte des Tan­
senschaftliche Beschreibung und die elaborierte zes (Hamburg I 995) ; KLEIN, GABRIELE, FrauenKörper­
choreographische Notation zu Beginn des r 8 . Jh. Tanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes (Wein­
wird der Tanz auch Gegenstand semiotischer Un­ heim/Berlin I 992); KÖHNE-KIRSCH, VERENA, Die
tersuchungen. Im Kanon der schönen Künste fin­ >schöne Kunst< des Tanzes. Phänomenologische Erörte­
rung einer flüchtigen Kunstart (Frankfurt a. M. u. a.
det er gegen Ende des r 8. Jh. in seiner Eigenschaft
I 990) ; MÜLLER FARGUELL , ROGER w . , Tanz-Figuren.
Aufnahme, zwischen Kunst und Natur, Regel und Zur metaphorischen Konstitution von Bewegung in Tex­
Freiheit, Gestus und Emotion, überhaupt zwischen ten. Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche (München I 995) ;
bildenden und darstellenden Künsten zu vermit­ SCHEPER, DIRK, Oskar Schlemmer. Das Triadische Bal­
teln. Der Übergang vom Menuett zum Walzer und lett und die Bauhausbühne (Berlin 1988); SEITZ, HANNE,
Räume im Dazwischen. Bewegung, Spiel und Inszenie­
Cancan spiegelt eine gewandelte Körper- und rung im Kontext ästhetischer Theorie und Praxis.
Bewegungskultur der bürgerlichen Gesellschaft; Grundlegung einer Bewegungsästhetik (Essen I 996) ;
sie profiliert einerseits das Virtuosentum auf der SORELL, w ALTER, Der Tanz als Spiegel der Zeit. Eine
Bühne, andererseits eine sittliche Tanzpädagogik. Kulturgeschichte des Tanzes (Wilhelmshaven I 9 8 5 ) .
Der Tanz wird zur politischen Metapher (Heine) ,
zur Figur dynamischen Denkens (Nietzsche) ,
schließlich nach der Jahrhundertwende zum Me­
dium poetologischer Reflexion. Mit dem Auf­
brechen der klassischen Ballettnormen und dem
Aufkommen des Jazz avanciert der Tanz zum Leit­
begriff der >Wilden Zwanziger<; in Theorie und
Techniken, künstlerische
Praxis werden in der ersten Hälfte des 20. Jh. nebst (griech. TEXVcxt; lat. artes; engl. artistic techniques;
dem autonomen Körperkunstwerk die Ausdrucks­ frz. techniques artistiques; ital. tecniche artistiche;
dimensionen des Subjekts erprobt, ebenso die span. tccnicas artisticas; russ. xyJ:IO)KeCTBeHHhie
konstruktivistische Formalisierung und die Ästhe­ cpe,l:ICTBa, xyJ:IO)KeCTBeHHhie TeXHl1K11)
tisierung von Massenchoreographien. Die Nach­
1. Sein als Physis; II. Sein als Vorstellung;
kriegszeit weist eine Differenzierung von jugend­
III. Sein als Technik
kultureller und experimenteller Tanzkultur auf.
Der postmoderne Tanz begreift die historischen
und gegenwärtigen Tanzkonzeptionen als Material
seiner Inszenierung. Künstlerische Techniken heißen im folgenden
Roger W Müller Farguell Aufriß, der ihre europäische Geschichte entwirft,
wissensgesteuerte Verfahrensweisen beim Schaffen
Literatur von Werken, die anders als Inhalte gelehrt und for­
BAXMANN, INGE, >Die Gesinnung ins Schwingen brin­
malisiert werden können, unter den hochtechni­
gen<. Tanz als Metasprache und Gesellschaftsutopie in der
Kultur der zwanziger Jahre, in: H. U. Gumbrecht/K. L. schen Bedingungen von heute also auch automati­
Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation (Frank­ siert. Nun entzieht sich aber nicht nur der Gehalt
furt a. M. I988 ) , 3 60--3 7 3 ; BRANDSTETTER, GABRIELE, oder Sinn, so es ihn denn gibt, seiner Technisie­
Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der rung, sondern auch und gerade der Sachverhalt,
Avantgarde (Frankfurt a. M. 1995); COHEN, MARSHALL/
COPELAND , ROGER (Hg.), What is Dance? Readings in daß j ene künstlerischen Techniken selbst mehr­
Theory and Criticism (New York 1 9 8 3 ) ; DERRA DE MO­ fache Wandlungen durchlaufen haben, versperrt
RODA, FRIDERICA, The Dance Library I480-I980. A sich einer technisierenden Erfassung. Sie können
r6 Techniken, künstlerische

daher nur als Ereignisse innerhalb einer langen Ge­ Schon darum umfaßt TEXVTJ alles, was im Ge­
schichte zureichend beschrieben werden. gensatz zur cpucrn; (physis, Natur) , und das heißt
zum Kocrµo.; (kosmos, Welt[all]) , nicht von sich
selbst her aufgeht, dessen Wesen oder Zweck die
Griechen aber eben deshalb als Nachahmen
1. Sein als Physis (µtµT)<r1<;, mimesis) dieser physis bestimmen. TEXVTJ
verfügt nicht einfach wie v6µo.; (nomos) , die Sat­
Wie alle anderen Worte, die zu denken geben, sind zung, über ein Handeln (rrpa�t<;, praxis) , sondern
auch Kunst und Technik Gaben der Griechen. setzt Seiendes ins Werk, das - nach der klassischen
Entscheidend aber bleibt, daß auf griechisch Kunst Bestimmung bei Aristoteles - Natürlichem entwe­
und Technik nicht wie in der Neuzeit auseinan­ der nachgebildet ist oder es einem Endzweck zu­
derfallen, was künstlerische Techniken fast tautolo­ führt, den die Natur selbst nicht erreicht hätte4:
gisch klingen läßt. Denn im Begriffsumfang reicht Sie heißt daher ein Machen (rrotT)crJ<;, poiesis) im
das Wort TEXVTJ (techne), dessen Wurzel so etwas weiten, nicht auf Poesie beschränkten Sinn. Wenn
wie >zimmern< auf deutsch besagt, von der höch­ dieses Machen - wie bei freien Musikern und
sten prophetischen Zukunftsschau bis zu Künsten Dichtern, Bildhauern und Architekten - wahrhaft
wie Dichtung oder Plastik, vom Alltag der Hand­ Neues sein läßt, kommt den Künstlern derselbe
werke bis zum Negativkompositum für Schwarz­ Ruhm zu wie Erfindern; wenn es bloß Werkstoffe
kunst und »Betrügerei« (KaKOTE:XVtT)V) 1 . handwerklich behandelt, sinkt es herab zum Ge­
Die Griechen scheinen auch die ersten zu sein, gensatz von jener rrotT)crt.;, die in der cpucr1.; (physis)
welche die Frage nach dem göttlichen, fremdlän­ selbst wirkt: der Zwiefalt von Zeugen und Gebä­
dischen oder griechischen Ursprung jeder einzel­ ren. Aus dieser dienenden Funktion der Technik,
nen Kunst und Technik aufgeworfen haben. So die ja in der Antike immer auch Sklavenarbeit ein­
wetteifern Kadmos, Palamedes2, Prometheus, aber schloß, folgt umgekehrt, daß freie griechische
auch Platons Ägypter Theut und selbst die Musen Städte - wie Xenophon über Zweck und Ziel von
um den Ruhm, das griechische Vokalalphabet, Spartas Gesetzen angibt - auf TE:KV01totta (tekno­
diese Grundlage europäischer Dichtung und Wis­ poiia) , dem Kindermachen, gründen5, moderne
senschaft, erfunden zu haben. Allen elementaren Staaten und Wirtschaften seit etwa r 8 00 dagegen -
Kulturtechniken und (gegebenenfalls) Künsten nach Johann Beckmanns Wortprägung - auf Tech­
entsprechen daher Stifter oder Stifterinnen: Pro­ nologie. 6
metheus dem Feuer, Hermes der Leier, Athena der Es war Aristoteles, der den Begriff künstleri­
Flöte, Hephaistos dem Schmiedehandwerk.3 In scher Technik - bezeichnenderweise am Beispiel
diesem Sinn kommt mit den Griechen die Frage des Erzgusses von Götterbildern - maßgeblich be­
selbst auf, wie künstlerische Techniken auf die stimmt hat. In ihrer Geschiedenheit vom natür­
Welt gekommen sind. lichen Zeugen und Werden schließen alle Techni­
ken oder Künste ein Wissen ein. Handwerkern
und Künstlern muß im vorhinein der Anblick des­
r HERAKLIT, B 1 29, in: Die Fragmente der Vorsokrati­
ker, hg. u. übers. v. H. Diels/W Kranz, Bd. I (Berlin sen vorschweben, was ihr Werk nach seiner Voll­
7 I 954) , 1 8 1 . endung sein wird. Das erhebt erste oder leitende
2 Vgl. BARRY B . POWELL, Homer and the Origin o f the Künstler zwar zu Architekten, aber nicht zu neu­
Greek Alphabet (Cambridge u. a. I 9 9 I ) , 5 f., 23 3-23 6 .
zeitlichen Schöpfern oder Genies. Der Macher
Vgl. REIMAR MÜLLER, D i e Entdeckung der Kultur.
Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der bleibt vielmehr nur eine unter vier Ursachen
Kultur von Homer bis Seneca (Düsseldorf/Zürich (mT!a bzw. atnm) , die im vollendeten Gebilde
2003), 4 3 , 73-76. am Werk gewesen sind: der »Stoff« (UAT)7) und die
4 Vgl. ARISTOTELES, Phys. 2, 8, I 99aI 5-I7. geschaute »Form« (abo.; - r 94b26) , der Ausgang
5 Vgl. XENOPHON, Lak. pol. I, 3.
vom »Urquell« (apxil - 194b29) oder Werkenden
6 Vgl. JOHANN BECKMANN, Entwurf einer allgemeinen
Technologie (Leipzig/ Göttingen I 806) . her und schließlich oder zuhöchst der Hingang auf
7 ARISTOTELES, Phys. 2, 3 , I 9 5 a 1 7 . den »Zweck« (TEAO<; - 1 94b3 2) , wie er das Einzel-
I. Sein als Physis l7

ding zu seiner Wirklichkeit (E:vE:pyna, energeia) dige Name apµovia, den eine Tochter von Liebe
bringt. Denn schon weil der Bewirkende ebenso­ und Krieg auch selbst führt 1 1 , steht dabei für das äl­
gut Polyklet heißen kann wie »Bildhauer« teste technische Wissen der Griechen: Das heutige
(avliptaVTorro16c; - l 9 5 a3 4) schlechthin, sind Unteritalien hieß nur darum Großes Griechen­
Künstler bei den Griechen weder Autoren noch land, weil Pythagoras von Samos und seinen ersten
Genies (im Doppelwortsinn von inspiriertem >ge­ Schülern daselbst die Entdeckung gelang, daß die
nius< und technischem >ingenieur<) . acht Töne der Leier zueinander in harmonischen
Die Weise, in der solches Wissen vorgeht, vor­ Beziehungen stehen oder, griechischer gesagt, Ver­
liegt und weitergegeben wird, bleibt in den grie­ hältnisse (t-.6y01) zwischen den kleinsten natürli­
chischen Besprechungen der TiXVTJ daher oft un­ chen Zahlen darstellen: Die Oktave (apµovia) als
terbestimmt. Denn mit einer einzigen Ausnahme Zweiteilung einer schwingenden Saite ist ein
ist es freien Bürgern im Gegensatz zu Sklaven und Durchgang durch ein Ganzes (füa rracrwv) 12, der
Handwerkern (j3avaucr01, banausoi) untersagt, im Doppelschritt einer Quinte und einer Quarte
technisch zu arbeiten. Diese Ausnahme folgt un­ zusammenkommt (2 : 1 = 3 : 2 X 4 : 3 ) 1 3 und am Ka­
mittelbar aus der griechischen Erfindung des einzi­ non (dem späteren Monochord) ebenso praktisch
gen Alphabets, das seit 800 v. Chr. die Laute einer wie mathematisch aufWeisbar und unterweisbar
Sprache einschließlich aller Vokale einzeln an­ wird. Die Kithara also, nicht etwa Platons spätere
schreibt, seit etwa 5 70 gleichfalls die Zahlen und mythische Sphärenharmonie zwischen Sonne,
schließlich in Ausnahmefällen auch musikalische Mond und fünf Planeten, hat Europas Kunst ihr
Tonhöhen. Das Vokalalphabet als Verschriftung erstes >epistemisches Ding<14 geschenkt.
von Ilias und Odyssee, und zwar noch zu Lebzeiten Es gibt daher keine Technik, auch und gerade in
ihres mündlichen Sängers8, bleibt mithin die ele­ den Künsten, die ohne Wissen von Zahlen ihr
mentare oder basale Technik, die allem Kunst­ Werk bewirken könnte. Solange die griechische
schönen seitdem zugrunde liegt. Buchstaben Dichtung von Saiteninstrumenten begleiteter Ge­
(ypaµµaTa, grammata) sind abzählbare Elemente sang bleibt, gelten die Maßzahlen in Harmonie
(crTOtXE:l a, stoicheia) , die Sein und Denken zuein­ und Rhythmus gleichermaßen für epische Vor­
ander halten und damit denken heißen, lang bevor träge, Hynmen und Dramenchöre. Auch die Tem­
sich auch die cpucr1c; (physis) den Griechen in Ele­ pelarchitektur, zumal im pythagoreischen Unter­
mente gliedert. Deshalb gibt j eder Schauspieler italien, setzt einfache ganzzahlige Verhältnisse in
unter attischer Sonne seinen Zuschauern sehr Stein um, und das selbst an Gebäudeteilen, die den
schlicht zu hören, welche Kunst und Lust es ist, Tempelbesuchern verborgen bleiben. Erst bei Ver­
die Buchrolle einer Tragödie oder Komödie gele­ suchen, solche Verhältnisse (1-.oym) (wie im Fall
sen und auswendig behalten zu haben.9 Aus dem­ des Bildhauers Polykleitos) auf den Menschenleib
selben Grunde schickt es sich für freie junge Män­ oder (im Fall der Steinchenfiguren des Pythago-
ner, diesen >Kreis< des Griechenalphabets lang vor
ihren Kampfspielarten zu erlernen: als ypaµµaTIKtl
TiXVTJ (grammatike techne) das Lesen und Schrei­
ben, als ap16µ1]TIKtl (arithmetike) das Rechnen mit 8 Vgl. POWELL (s. Anm. 2), 22 1-237.
Zahlen, als yEwµnptKtl (geömetrike) das Bilden 9 Vgl. JESPER SVENBRO, Phrasikleia. Anthropologie de
beschrifteter Figuren und schließlich als apµovia la lecture en Grece ancienne (Paris 1988), 1 90-- 1 98.
I Q Vgl. ARISTOTELES, Metaph. 13, 3 , r n78aI4.
(harmonia) schlechthin das Singen, Tanzen und
I I Vgl. JOHANNES LOHMANN. Der Ursprung der Musik
Leierspiel. ( I 959), in: Lohmann, Musike und Logos. Aufsätze
Erst Aristoteles, mit dem die mathematische zur griechischen Philosophie und Musiktheorie, hg.
Neigung des Denkens abbricht, setzt das grün­ v. A. Giannar:is (Stuttgart 1 970) , 5 1 .

dende Wissen von der apµovia zu einer unter vie­ I 2 Vgl. ebd„ 82, 39.
I3 Vgl. ebd„ 46, 63, 84.
len gleichrangigen Wissensformen herab, wenn er
1 4 Vgl. HANS-JÖRG RHEINBERGER, Experimentalsy­
etwa Harmonik und Optik (apµovtKtl und OITTIKtl steme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der
[TE:XVTJ]) auf dieselbe Ebene rückt rn Der ehrwür- Proteinsynthese im Reagenzglas (Göttingen 200 I ) .
r8 Techniken, künstlerische

reers Eurytos15) auf die Form (a1ioc;) von Lebewe­ Bis ins Hochmittelalter bleiben Grammatik,
sen wie Pferd und Mensch zu übertragen, versagen Dialektik und Rhetorik die drei elementaren unter
die Mittel griechischer Geometrie und Arithme­ sieben freien Künsten, während die Poetik ein
tik. Aus eben diesem Grund prägt Aristoteles sein Schattendasein fristet. Erst das anschließende, auf
Begriffspaar von Form (€i1ioc;) und Stoff (UAI]) , das eine Vierteilung der Mathematik als Wissen »über
- j eder mathematischen Bestimmtheit bar - den­ Geometrie, Zahlen (Arithmetik) und Sphärik und
noch die Ästhetiken vor Heidegger nachhaltig be­ [ . . . ] Musik« (m;pi yaµ€Tptac; Kai aptßµwv Kai
stimmt hat. Zumal Dichtern und Malern bleibt seit mpmp1Kac; Kai [ . . . ] µwcr1Kac;) 19 durch den Pytha­
Aristoteles' Lehrer Platon alles Wissen von den goreer Archytas von Tarent zurückgehende Qua­
Dingen, die sie darstellen, abgesprochen und nur drivium erweitert dieses >triviale< Trivium um
das immanent technische belassen, Nachahmungen wahrhafte Wissenschaften, die mit den Zahlen
oder »Schattenbilder« sinnlicher Dinge anfertigen auch Techniken einschließen: Musik und Arith­
zu können (€11iwt-ou 1il]µtoupy6c;) 16, die aber schon metik, Astronomie und Geometrie.20 Andere
ihrerseits unsinnliche Ideen nachahmen. (Noch für Kunsttechniken außer dem Singen und Sagen
Hegel erweist das »Produzieren«, sofern es »ein mit übergeht die europäische Universität, bevor im
technischem Verstande und mechanischen Äußer­ späten r 8. Jh. Archäologie und Kunstgeschichte
lichkeiten beschäftigtes Arbeiten« ist, den »Künst­ aufkommen. Nicht zufällig entwickelt Guido von
ler« als »den Meister« jenes »Gottes«, den das Arezzo um r o20, als Neubeginn gegenüber den
»Kunstwerk« als »Werk der freien Willkür«17 doch Griechen, unser Notenliniensystem, tritt um 1 220
ehren soll.) Solche Verfahren entfaltet die helleni­ an die Stelle des alten Wortes >!ist< (Geschick) unser
stische Philosophie in ihren Grammatiken, Poeti­ >kunst< im spätlateinischen Doppelsinn von ars und
ken und Rhetoriken, ohne sie allerdings Techni­ scientia.
ken zu nennen. Wenn Aristoteles' Poetik, bezeich­
nend genug, mathematisch-musikalische t.6yo1 i n
sprachliche überführt und die Metapher, mit der
Empedokles »das Alter >Abend des Lebens«< (ni I I . Sein als Vorstellung
yi]pac; E:crrr€pav 13iou) 18 nennt, aus dem Verhältnis
des Abends zum Tag das des Alters zum Leben her­ In dieser langen Latenzzeit, die künstlerische Tech­
leitet, klärt sie eine lediglich poetische oder auch niken vom Hellenismus bis ins Hochmittelalter
rhetorische Figur, keine künstlerische Technik. umhüllt hat, gibt es allerdings Ausnahmen: Me­
chanik und Architektur. Die Mechanik lehrt seit
Archytas von Tarent, ihrem pythagoreischen Be­
gründer, das diagrammatische Entwerfen »mit der
geometrischen Zeichnung« (1i1aypciµµan YEWµ€­
1 5 Vgl. ARISTOTELES, Metaph. 14, 5, 1 092b 1 0-1 3 . TPIKWt)21 nicht bloß von Werkzeugen wie etwa der
1 6 PLATON, Rep. 1 0, 599d; dt. : Der Staat, übers. v. 0. Kithara, sondern von Maschinen (lateinisch ma­
Apelt (Leipzig 1923), 3 9 5 .
china geht unmittelbar auf dorisches, d. h. unter­
1 7 HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissen­
schaften ( 1 8 1 7) , in: HEGEL ( TWA ) , Bd. IO ( 1 970) , 369 italisches µaxavci zurück, nicht auf ionisch-atti­
(§ 560) . sches µT]xaYT\, das noch lange die Grundbedeutung
1 8 ARISTOTELES, Poet. 2 I , I 4 5 7b24; dt. : Poetik, griech.­ List bewahrt und damit Athens technischen Rück­
dt. , hg. u. übers. v. M. Fuhrmann (Stuttgart 1982) ,
stand belegt) , wie sie seit Heron von Alexandria
69.
I9 ARCHYTAS, B I , in: Diels/Kranz (s. Anm. I), 432. auch ins Theater einziehen. Trotz Platons Verbot,
20 Vgl. ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur mathematische Gesetze in irdischen Materialien
und lateinisches Mittelalter ( 1 948; Bern 4 1 963), 46- zum Laufen zu bringen, reißt die Überlieferungs­
67. kette von Archytas - dessen »zum Nutzen der gan­
2I ARCHYTAS, A I , in: Diels/Kranz (s. Anm. I), 42 r .
zen Menschheit für alle Ewigkeit« (ad omnium uti­
2 2 Vgl. VITRUV, D e architectura 9 , Vorrede, 1 5 ; dt. :
Zehn Bücher über Architektur, lat.-dt., hg. u. übers. litatem perpetuo)22 erarbeitete Gedanken Vitruv
v. C. Fensterbusch (Darmstadt 4 I 987), 4 1 1 . zufolge mehr Würdigung verdienen als die schnell
II. Sein als Vorstellung 19

verwelkenden Lorbeeren und Körper der Sportler dards wie Linearperspektive oder gleichschwe­
- zu Archimedes von Syrakus nicht ab23, bis sie bei bende Temperatur getreten, deren Algorithmen
Vitruv, der auch zwischen einfachen aristoteli­ dann ganze Künstlergenerationen mehr oder min­
schen Werkzeugen und Archytas' Maschinen un­ der unbewußt befolgen mußten. (Es hat drei Jahr­
terscheidet24, die römische Baukunst durchdringt: hunderte gebraucht, bis die Kunstgeschichte Ver­
in den Kampfmaschinen der gallischen Kriege meers Tafelbildern, den schönsten von der Welt,
nicht minder als in den Prachtbauten des Augustei­ die Camera obscura aller Perspektive nachgewiesen
schen Friedens. Ohne mathematisch-technisches hat.) Seit Alberti (wie nach ihm Dürer) Guten­
Wissen wäre die Kuppel des Pantheons nie errich­ bergs Buchdruck ausdrücklich begrüßt und über­
tet worden. dacht hat, schließen solche Standards immer auch
Viele Indizien sprechen nun aber dafür, daß die technische Zeichnungen ein, wie erst das Medium
frühe Neuzeit gerade darin Epoche gemacht hat, Buchdruck sie fehlerlos vermassen kann. 29 Seit
musikalisches oder architektonisches Wissen auf Kepler und Descartes geben solche Diagramme
andere Künste zu übertragen. Filippo Brunelleschi zudem zu wissen, welche Geometrie sowohl der
verläßt die Zunft der Florentiner Goldschmiede, Camera obscura als auch dem perspektivischen
also eine ars mechanica, um nach Jahren privater Sehen zum Grund liegt, welche Algebra sowohl
Mathematikstudien um l 420 erstens die Kuppel dem instrumentalen Akkord wie dem musikali­
von Santa Maria de! Fiore zu konstruieren und schen Hören. Es wird daher möglich, künstlerische
zweitens die Architektur von San Giovanni ins er­ Techniken wie auch tierische Organe als Maschi­
ste linearperspektivische Tafelbild der Geschichte nen statt als bloße Werkzeuge zu denken und den
zu bannen. 25 Leon Battista Alberti, Brunelleschis Begriff des Arbeitssklaven zu verabschieden. (Des­
adliger Freund und Schüler, legt 143 5 oder 1436 halb ersetzen an den Musikinstrumenten Silber,
mit Della Pittura den ersten konstruktiven Traktat Messing, Stahl immer mehr das Pflanzliche und
über Linearperspektive vor, um auch das niedrige
Handwerk der Maler - nach den Leitbildern eukli­
discher Optik und mittelalterlicher Musik - in
eine technisch begründete, also freie Kunst zu 23 Vgl. PLUTARCH, Marcellus 1 4, 6- 1 5 .
24 Vgl. VITRUV, De architectura 1 0 , 1 , 3 ; dt. 46 L
überführen.26 Im Jahr l 596 schli e ßli ch verwirft Si­ 25 Vgl. SAMUEL EDGERTON J R . , The Heritage of Giot­
mon Stevin die ganzzahlig reinen Tonverhältnisse to's Geometry: Art and Science on the Eve of the
der Pythagoreer, um alle elf chromatischen Töne Scientific Revolution ( 1 99 1 ; Ithaca/London ' 1 993);
einer Oktave auf dasselbe irrationale Intervall zu JACQUES LACAN, Le seminaire, hg. V. J.-A. Miller,
livre 7' L'ethique de Ja psychanalyse (entst. 1 9 5 9-
stimmen (>temperieren<) , was Musizieren in belie­
1 960) (Paris 1 986), 160-163 .
bigen Dur- oder Moll-Tonarten überhaupt erst er­ 26 Vgl. MARCEL BACIC, The Birth of Perspective from
laubt. 27 Seitdem umfassen Künste vor allen anderen the Spirit of Music, in: Perspektiva/Perspective
j ene Dreiheit, die Hegel mit gutem Recht roman­ [Ausst.-Kat.] , hg. v. d. Kunsthalle Budapest (Budapest
tisch nannte: Malerei, Musik und Dichtung. Ihrer 2000) , 2 5 1-260.
27 Vgl. SIMON STEVIN, Vande Spiegheling der Singconst
aller Einheit stellt seit l 600 die Guckkastenoper
(entst. 1 5 85) /0n the Theory of the Art of Singing,
dank perspektivischer Kulissen, arioser Primadon­ niederl.-engl., hg. u. übers. v. A. D. Fokker, in: Ste­
nen und generalbaßbegleiteter Rezitative zunächst vin, The Principal Works, hg. v. E. Crone u. a., Bd. 5
Fürstenhochzeiten und nachmals Bürgerfesten vor. (Amsterdam 1 966) , 422-459.
28 Vgl. KANT, Kritik der Urtheilskraft ( 1 790) , in: KANT
Was die Ästhetiken des deutschen Idealismus al­
( AA), Bd. 5 ( 1 908), 3 26-3 3 0 (§ 5 3 ) .
lerdings verdunkeln, seitdem Kants Kritik der Ur­ 29 Vgl. MARIO CARPO, L'architettura dell'eta della
theilskraft das Dichten zur höchsten, nämlich dem stampa. Oralitii, scrittura, libro stampato e riprodu­
Denken nächsten Kunst ernannt hat28, sind jene zione n1eccanica dell'immagine nella storia delle teo­
künstlerischen Techniken, ohne die kein Tafelbild rie architettoniche (Mailand 1 998); engl.: Architec­
ture in the Age of Printing: Orality, Writing, Typo­
und keine Symphonie zustande kämen. An die
graphy, and Printed Images in the History of
Stelle von Stilen, wie sie die Griechen zumal an Architectural Theory, übers. v. S. Benson (Cam­
der Tempelarchitektur unterschieden, sind Stan- bridge, Mass./London 200 1 ) , l l \)-1 24.
20 Techniken, künstlerische

Tierische.) Bei Euler schließlich verschmelzen Denn wo Philolaos von Kroton und sein Schü­
Optik und Akustik30, also die wissenschaftlich­ ler Archytas den Längenverhältnissen von Saiten
technischen Grundlagen romantischer Kunstge­ das Walten oder >Welten< einer Harmonie ablasen
nüsse, zu einer einzigen partiellen Differentialglei­ - nach Philolaos wäre es unmöglich gewesen, mit
chung, die Schwingungen (Frequenzen) im allge­ den Dingen »eine Weltordnung zu begünden,
meinen anzuschreiben erlaubt, weil ihre Lösung wenn nicht Harmonie dazu gekommen wäre«
auf trigonometrische Ausdrücke für Obertongemi­ (KOCJµT]ß�vat, €1 µ� apµov1a E7r€VEV€T0)33 -,
sche, und das heißt Klangfarben, unmittelbar zu­ schreibt die mathematische Physik der Zeitereig­
rückführt. Diese allgemeine, von Euler noch be­ nisse neuzeitlichen Künsten nachgerade vor, was
strittene Lösung der Schwingungsgleichung fand sie physiologisch vorgestellten Sinnen vorzustellen
Daniel Bernoulli.31 Sie hat auf dem Weg über Jo­ haben. Die Zeit des Weltbildes, wie Heidegger sie
seph Fouriers Theorie analytique de la chaleur ( 1 822) nannte, verhält also auch künstlerische Techniken
zur allgemeinsten mathematischen Modellierung zur repraesentatio der res extensa für ein ego co­
physikalisch-ästhetischer Entsprechungen geführt. gito: Reflexion und Refraktion, Spiegelung und
Die Grade solcher Allgemeinheit ermißt Lamberts Brechung sind erst einmal Formeln Cartesischer
Neues Organon an Notationssystemen wie etwa po­ Optik34, bevor die Malerei des 1 8 . Jh. sie auch in
lyphonen Partituren, deren Technizität Sympho­ ihre Tafelbilder setzt. 35 Obertonreihen, wie sie
nien und Sonaten erst ermöglicht hat. 32 ganz entsprechend die Klangfarbenmalerei von
Symphonieorchestern bestimmen, sind erst einmal
Entdeckungen von Joseph Sauveurs neuer experi­
menteller Akustik36, bevor Rameau ihnen den
Dur-Akkord ablernen oder Rousseau dem die na­
30 Vgl. LEONHARD EULER, Lettres a une princesse d'AJ­
turnachahmend-reine Melodie entgegensetzen
lemagne sur divers sujets de physique & de philoso­
phie ( r 768-I 772 ) , in: Euler, Opera omnia, hg. v. A. kann.37 Aber nicht weil empfindende Individuen
Speiser u. a„ Abt. 3, Bd. I I (Zürich I 96o) , 5 I-74 oder geniale Autoren im Werk ihre bloße Seele
(Nr. 22-3 I ) ; ebd., Bd. I2 (Zürich I 96o) , 6-8 ausdrücken würden, kündigen die Künste späte­
(Nr. 1 3 5 ) . stens ab l 770 dem aristotelischen Gebot der Na­
3I Vgl. DANIEL BERNOULLI, Reflexions et eclaircisse­
turnachahmung; sie tun es, weil die Illudierung ei­
mens sur les nouvelles vibrations des cordes, in: His­
toire de l' Academie Royale des Sciences et Beiles ner zweiten Wirklichkeit ohne avancierte Kunst­
Lettres de Berlin 9 ( I 7 5 3 ) , I 47- I 9 5 · techniken nicht zu bewerkstelligen wäre.
32 Vgl. JOHANN HEINRICH LAMBERT, Neues Organon Zwei wissenschaftliche Großproj ekte, die briti­
oder Gedanken über die Erforschung und Bezeich­
sche Royal Society und Diderots französische En­
nung des Wahren und dessen Unterscheidung vom
lrrthum und Schein, Bd. 2 (Leipzig I 764) , I 6 f. (Se­ cyclopedie ( 1 7 5 1-1 7 80) , verfolgen den erklärten
miotik, I , 25 ) . Zweck, Handwerkerwissen, vordem zünftig und
33 PHILOLAOS, B 6, in: Diels/Kranz (s. Anm. I ) , 409. darum geheim, für Wissenschaften anzuzapfen.
34 Vgl. MICHEL AUTHIER, La refraction et l'>oubli< carte­ Aus der merkantilistischen Kopplung von arts und
sien, in: M. Serres (Hg.), Elements d'histoire des
metiers, die seit Jean-Baptiste Colbert Europas
sciences (Paris I 989) , 25 I-273 ; dt. : Die Geschichte
der Brechung und Descartes' >vergessene< Quellen, Manufakturen auf Mode und Europas mechani­
in: M. Serres (Hg.) , Elemente einer Geschichte der sche Künste umgekehrt auf Programmierbarkeit
Wissenschaften, übers. v. H. Brühmann (Frankfurt (wie im Webstuhl Jacques de Vaucansons und her­
a. M. I 994) , 445-486.
nach Joseph-Marie Jacquards) umgestellt hat, wird
35 Vgl. MICHAEL BAXANDALL, Shadows and Enlighten­
mem (New Haven/London I 995 ) , 76- I I 7 . um l 800 ein strenger Gegensatz zwischen Künsten
36 Vgl. JOSEPH SAUVEUR, Principes d'Acoustique e t de und arts industriels, der auch Luhmanns theoreti­
Musique, ou Systeme general des Intervalles des Sous, scher Scheidung zweier Gesellschaftssysteme, Wirt­
& de son application a tous les Systemes & a tous !es schaft und absoluter Kunst, unbefragt zugrunde
lnstrumens de Musique (Paris 1 70 I ) .
liegt. Ganz entsprechend trennen sich um 1 780 die
37 Vgl. JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Essai sur l'origine
des langues (entst. I 7 5 5-176I ) , in: ROUSSEAU, Bd. 5 Ingenieure in Wort und Sache von den Architek­
( I 995 ) , 4 I o-4 1 7 (Kap. 1 2- I 4) . ten; die einen rechnen fortan Statiken und Materi-
III. Sein als Technik 2l

almöglichkeiten durch, die anderen legen kühlen wegtäuschen, daß die Industrialisierung vormals
Zweckbauten - vom Theater über das Gefängnis künstlerischer Techniken schlichtweg ohne Kunst
bis zur Bank - erklärende Fassaden an. Spätestens auskommt. Nachdem Helmholtz ab I 860 die phy­
seitdem ist künstlerische Technik alles das, was sikalischen und physiologischen Prozesse, die j eder
nicht in Konsumentensinne fallen darf, soll es sie Akustik und Optik zugrunde liegen, geklärt oder,
illudieren können. Der Künstler wird daher zum mehr noch, Naturgesetze und Sinnesorgane syste­
Spezialisten der Produktion oder (wie beim Diri­ matisch korreliert hat40, wird es Ingenieuren wie
genten) der Reproduktion, das absolute Kunst­ Thomas Alva Edison möglich, beide Wahrneh�
werk zur Phantasmagorie.38 Die hochtechnische mungen selbst zu industrialisieren: das Hären im
Phantasmagorie schließt allerdings nicht aus, son­ Phonographen (1 877) , das Sehen im Kinetoskop
dern ein, daß erst Wagners Musikdramen, im Un­ ( l 89 3 ) . 41 Künstlerische Techniken schlagen also in
terschied zur klassischen Oper, Arbeitsmusiken zu technische Medien um, Einzelverfahren in ganze
sehen und zu hören geben. Systeme der Aufnahme und Wiedergabe. Derart
Im Jahre 1 793 erkennt das revolutionäre Paris im geschlossene Übertragungsketten erlauben es, die
Theater eine Maschine, die in Optik und Akustik reproduzierten Sänger, Musiker und Schauspieler
- schon den Zuschauern zuliebe - wissenschaft­ aus j edem Wissen im griechischen Wortsinn erst­
lich-technischen Fortschritt machen muß: Ar­ mals wieder zu entlassen: Der frühe Jazz, den fol­
gandlampen erhöhen die Beleuchtung, Maßnah­ gerecht nur Schallplatten überliefern, geht von
men die Stille im Zuschauersaal. Seit 1 8 3 0 begrei­ musikalischen Analphabeten aus um die Welt, der
fen Komponisten wie Berlioz - frei nach Descartes Stummfilmstar bringt es ohne Lektüre und Büh­
- Orchester nicht mehr als eine Spielergruppe, die nenaussprache zu Ruhm. Neuen technischen Be­
aus toten Tieren sanfte Töne lockt, sondern als ei­ rufen zumal für ledige Frauen - von der Telephon­
nen Maschinenpark, der aus Holz und Blech, Stahl vermittlung bis zum Schreibmaschinendiktat - ge­
und Messing gleichwohl homogene Klangteppiche währen Unterhaltungsmedien eine neue Freizeit,
webt. r 8 50 schließlich erklärt Richard Wagner, alle unverwechselbar mit griechischer CJXOAtl (schale,
Dichtung zwischen ihm und Aischylos, dem Ende Muße) .
musikalisch-tr�gischer Gesamtkunstwerke m In einer ersten Phase beruhten diese Medien auf
Athen, habe nurmehr »den Katalog einer Bilderga­ methodisch strikter Trennung zwischen den Sin­
lerie« vorgelegt, »aber nicht die Bilder selbst«39• nesfeldern, deren Eigenheiten sie erkunden. Der
(Das tut zwar Sophokles unrecht, doch nieman­ Phonograph gibt nichts zu sehen, der Stummfilm
dem sonst.) Ab 1 8 56, dem Entdeckungsjahr der er­ nichts zu hören; weil Phonographenwalze und
sten Anilinfarbe, erweitern synthetische Pigmente Zelluloidrolle in Echtzeit beschrieben und ausgele­
auch die Paletten der Maler, ganz wie Metallin­ sen werden können, entfallt das Alphabet als über­
strumente den Farbraum des großen Orchesters sinnliche Einheit aller Sinne. Eben das erlaubt es
zum stufenlosen Spektrum ausbauen. Moderne beiden Medien, in einer Rückkopplungsschleife
Malerei, wie sie seit Realismus und Impressionis­ zu ihren eigenen technischen Parametern neue äs-
mus unterm Konkurrenzdruck der Photographie
steht, kann Albertis standardisierte Zentralperspek­
tive vor allem darum aufgeben, weil der experi­ 38 Vgl. THEODOR w. ADORNO, Versuch über Wagner
mentelle Einsatz neuester Industrieprodukte im­ ( 1 964) , in: ADORNO, Bd. 1 3 (1971), 82--9 1 .
3 9 RICHARD WAGNER, Das Kunstwerk der Zukunft
mer wieder Überraschungen zeitigt.
( 1 8 50) , in: Wagner, Ges. Schriften und Dichtungen,
Bd. 3 (Leipzig ' 1 8 87) , 105 f.
40 Vgl. HERMANN VON HELMHOLTZ, Handbuch der
physiologischen Optik (1 867; Leipzig ' 1 8 86-1 896) ;
III. Sein als Technik HELMHOLTZ , Die Lehre von den Tonempfindungen
als physiologische Grundlage für die Theorie der Mu­
sik ( 1 8 6 3 ; Braunschweig 5 1 896) .
Der nachgerade militärtechnische Kult um mo­ 41 Vgl. FRIEDRICH KITTLER, Grannnophon Film Type­
derne Avantgarden darf aber nicht darüber hin- writer (Berlin 1 986) , r o f. , 2 5-29.
22 Techniken, künstlerische

thetische Verfahren - von der Geräuschrnikropho­ her griechischen, Künste zwei Antworten: Im
nie oder Großaufnahme bis zum Hörspiel oder durchschnittlichen Fall schwankt ihre Reaktion
Trickfilm - zu entwickeln, wie sie der Guckka­ zwischen Übernahme und Absetzung, also bei­
stenbühne allesamt verschlossen bleiben mußten. spielsweise von der filmischen Lichtregie auch in
Das hat wohl als erster Medientheoretiker Hugo modernen Theatern bis zur mittelalterlichen
Münsterberg vorn Harvard Psychological Lab Handschriftlichkeit von Stefan-George-Gedich­
beim technisch-physiologischen Vergleich von ten43; im höchsten Fall dagegen wird Kunst selbst
Sturnrnspielfilrn und Bühnenkunst erkannt.42 So zur Frage nach dem, was moderne Technik heißt,
rückt >das Medium< gerade in den engen Grenzen der Künstler also zum Ingenieur. Paul Valery, der
seiner Bandbreite und Auflösung zu j ener >Bot­ nicht umsonst mit einer Studie über Leonardo da
schaft< (Marshall McLuhan) auf, die marxistische Vinci debütierte, zieht 1 92 8 aus der Erfindung des
Kunstheorien von Bela Balazs bis Walter Benjamin Radios, d. h. der Verschaltung elektrischer Hoch­
allzu ungeschichtlich reflektierten. frequenzen und neuronaler Niederfrequenzen den
Erst in einer zweiten Phase nach dem Ersten Schluß, alle Künste auf »distribution de Realite
Weltkrieg, der die Verarbeitung und Übertragung Sensible a dornicile«44 umzustellen. Gleichwie
medialer Daten zumal militärtechnisch von Me­ Arnphions Leierspiel die architektonische Errich­
chanik auf Elektronik umgestellt hat, sind die ge­ tung der Stadt Theben ist oder das moderne, aber
trennten Sinnesfelder von Auge und Ohr wieder unplatonische Idealschiff seine Form vorn Wind­
kombinierbar geworden. Tonfilm und Fernsehen kanal ernpfängt45, so soll auch die Dichtung - im
bescheren multimediale Illusionen, deren offensi­ Gegensatz zur sofort vergessenen verschwindenden
ver, und das heißt rnassenwirksarner, Realismus Alltagsrede - ihre Sprache in eine derart unaufhör­
zugrundeliegende Hochtechnologien allerdings liche Oszillation zwischen Sinn und Klang der
nicht minder phantasmagorisch oder werbewirk­ Worte versetzen46, daß gerade dies reine Schwin­
sam als ihr großes Vorbild Bayreuth tarnt. Daß sex gen niemals aus dem Gedächtnis geht47, die Über­
and crirne, technischer denn je, zum Inhalt sonder­ tragung also mit ihrer Speicherung zusammenfällt.
gleichen werden, macht das Wunder ihrer Aus­ Aber das alles sind Improvisationen überm Kör­
strahlung unangreifbar. Gerade umgekehrt unter­ per der reellen Zahlen gewesen, Kompromisse
nehmen moderne Medienkünste den asketischen zwischen Kunst und Sinnlichkeiten. In einer drit­
Versuch, derlei versteckte Technologien durch ten Phase nämlich, die den Zweiten Weltkrieg
Mißbrauch oder Verfremdung selbst wie vormals vorbereitet und gewonnen hat, holt die Technisie­
künstlerische Techniken einzusetzen. rung auch das unvordenkliche Medium unserer
Auf diese Herausforderung durch Medien haben Lettern und Ziffern ein: die Alphabetschrift, Euro­
die hergebrachten, und das heißt vorn Ursprung pas erste oder tiefste Technologie. Computer sind
vorn Prinzip her Turingmaschinen und darum im­
stande, diskrete Zeichenketten selbständig zu
schreiben und zu lesen, zu löschen und zu befol­
42 Vgl. HUGO MÜNSTERBERG, The Photoplay: A Psy­
gen. 48 Und da in elektronisch-technischer Praxis
chological Study (New York 1 9 16).
43 Vgl. KITTLER, Aufschreibesysteme. 1 800, 1 900 ( 1 9 8 5 ; schon Leibniz' zwei Ziffern o und r zur Codierung
München 42003) , 2 1 3-446 (Teil I I : 1 900) . aller möglichen Schriften, Geräusche und Bilder
44 PAUL VALERY, La Conquete de l'ubiquite (1928), in: hinreichen, scheint unter Computerbedingungen
VALERY, Bd. 2 ( 1 960) , 1 2 8 5 . die Universalität des griechischen Vokalalphabets
45 Vgl. VALERY, Eupalinos ou l'Architecte ( 1 9 2 1 ) , in:
ebd„ 1 3 6. wiedergewonnen, aber auf der Grundlage der
46 Vgl. VALERY, Au suj et du >Cimetiere marin< ( 1 9 3 3 ) , Zahl. Es gibt daher keine Kunstwerke mehr, deren
in: ebd„ B d . 1 ( 1 957), 1 496-1 507. Ästhetik von Algorithmen, logisch-mathemati­
47 Vgl. VALERY, Histoire d'Amphion ( 1 932), in: ebd„ schen Operationen also, die in endlicher Laufzeit
Bd. 2, 1278.
zum Ende und Erfolg führen, nicht zumindest an­
48 Vgl. ALAN M . TURING, lntelligence Service. Schrif­
ten, hg. v. B. Dotzler/F. Kittler, übers. v. Dotzler u. a. genähert erfaßt werden könnte. In der Miniatur­
(Berlin 1 987) . form digitaler Schaltkreise sind die technischen
Einleitung: Reichweite, Architektonik und gegenwärtiger Zustand des Textbegriffes 23

Verfahren, auf denen nicht nur Europas Künste, Text/Textualität


sondern auch Europas Wissenschaften beruhten,
(engl. text, textuality; frz. texte, textualite;
zu einer ebenso autonomen wie programmierba­
ital. testo, testualira; span. texto, textualidad;
ren Wirklichkeit geronnen. Jede geschichtliche
russ. TeKCT, TeKCTyaJihHOCTb)
oder denkbare Bildgebung, linearperspektivisch
oder nicht, j ede mögliche musikalische Stimmung, Einleitung: Reichweite, Architektonik und
pythagoreisch oder nicht: alle lassen sie sich, gegenwärtiger Zustand des Textbegriffes; 1. Der
scheinbar ohne überhaupt noch Stoffe zu berüh­ begriffiiche Status von Text in der Geschichte;
ren, durch Algorithmen simulieren. Das Internet l . Wort und Begriff; 2. Bezeichnungsfestigkeit und
Begrifflichkeit; 3 . Begriffliche Äquivalente von Text post
kann, was an Werken je entstanden ist, in digitalen und ante litteran1; 4. Der vorfind.liehe Sinn von Text als
Formen speichern und übertragen, unendlich oft Ausgangspunkt; II. Geschichte der Begriffe Text und
und autorlos kopierbar. Ob Künste, Künstler und Textualität; 1. Von der antiken Rhetorik zur Bibel;
ihr einst revolutionärer, nämlich goethezeitlicher 2. Text, Zeichen und Sache in der Hermeneutik der
Aufklärung; 3. Text im Jahrhundert der Philologen;
Urheberrechtsschutz49 dieser Herausforderung ge­
4. Der strukturalistische Textbegriff; 5. Vom Werk zum
wachsen sein werden. steht in den Sternen. Text; 6. Neuere Entwicklungen des Textbegriffs; 7. Die
Computer jedenfalls würden erst dann versagen, soziale Welt als Text; Nachbemerkung
wenn es darum ginge, ihren Sinn oder Zweck
selbst zu bestimmen. Eben damit erweisen sie aber,
daß j ener Sinn, so es ihn denn gibt, kein Men­
schenwerk sein kann: »j 'entends par poesie, d'une Einleitung: Reichweite, Architektonik und
fayon tres generale, Ja recherche du sens inalienable gegenwärtiger Zustand des Textbegriffes
des choses«50.
Friedrich Kittler Zur lateinischen Wortfamilie texere (weben) ge­
hören die Substantive textus/textum/textura (Ge­
Literatur webe, Geflecht, Zusammenhang, Struktur; Mach­
AYRES, JAMES, The Artist's Craft: A History of Tools, art, Stil [der Rede]) , die schon früh auch für den
Techniques and Materials (Oxford 1 9 8 5 ) ; BÜSCHER, Zusammenhang des Gesprochenen und Geschrie­
BARBARA/HERRMANN , HANS-CHRISTIAN VON/HOFF­
MANN, CHRISTOPH (Hg.) , Ästhetik als Programm. Max benen verwendet werden. Textus bei Cicero und
Bense/Daten und Streuungen (Kaleidoskopien, Bd. 5) Quintilian entspricht aber nicht dem deutschen
(Berlin 2004); FRANCASTEL, PIERRE, Art et technique Text, sondern ist eher mit Stil, Duktus, Machart zu
aux XIXe et :xx_e siecles (Paris 1956); HOFSTÄTTER, übersetzen. 1 Als Entlehnung taucht der Ausdruck
HANS H. u. a. (Hg.), Geschichte der Kunst und der künst­
text zuerst im Spätmittelhochdeutschen auf.2 Bis
lerischen Techniken (München [ 1 965] / [ 1 967]); LÖBL,
RUDOLF, TEXNH - Techne. Untersuchungen zur Be­ ins l 8. Jh. verläuft die Bedeutungsentwicklung im
deutung dieses Worts in der Zeit von Homer bis Aristo­ Deutschen und Französischen annähernd gleich.
teles (Würzburg 1 997/2003) ; MAINBERGER, GONSALV Die Encyclopedie ( 1 7 5 1-1780) listet fast die gleichen
K „ Rhetorische Techne (Nietzsche) in der psychoanaly­ Teilbedeutungen auf wie deutsche Nachschlage­
tischen Technik (Freud) . Prolegomena zur Rationalität
der Psychoanalyse, in: J. Figl (Hg.) , Von Nietzsche zu werke: was man liest in den Büchern der Bibel;
Freud. Übereinstimmungen und Differenzen von Denk­
motiven (Wien 1996) , 69-95 ; MITCHAM, CARL, Think­
ing through Technology: The Path between Engineering 49 Vgl. HEINRICH BOSSE, Autorschaft ist Werkherr­
and Philosophy (Chicago 1 994) ; MÖBIUS, HANNO/ schaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus
BERNS, JÖRG JO CHEN (Hg.) , Die Mechanik in den Kün­ dem Geist der Goethezeit (Paderborn u. a. 1 9 8 1 ) .
sten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwis­ 50 ROLAND BARTHES, Mythologies (Paris 1957), 268.
senschaft und Technologie (Marburg 1 990) ; McMFORD, l Vgl. KONAD EHLICH, Zum Textbegriff, in: A. Roth­
LEWIS, Technics and Civilization (New York 1 934); kegel/B. Sandig (Hg.), Text - Textsorten - Semantik.
MUMFORD , LEWIS, Art and Technics (New York 1952); Linguistische Modelle und maschinelle Verfahren
NYE, DAVID E „ American Technological Sublime (Cam­ (Hamburg 1984), I O .
bridge, Mass. 1 994) ; ROHBECK, JOHANNES, Technologi­ 2 Vgl. >Text<, i n : GRIMM, Bd. 1 1 / r / r ( 1 9 3 5 ) , 294; >Text<,
sche Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns in: HANS SCHULZ u. a., Deutsches Fre1ndwörterbuch,
(Frankfurt a. M. 1993 ) . Bd. 5 (Berlin/New York 1 98 1 ) , 201-204.
24 Text/Textualität

Bezeichnung für das Korpus der Heiligen Schriften Ausgangs- und Motivbedeutung fü r fachliche und
(Antonym: Glosse, Kommentar) ; der griechische theoretische Terminologisierungen variabler Strin­
bzw. hebräische Urtext; Passage der Bibel, deren genz und Reichweite dient, handelt es sich um ei­
man sich bedient, ein Dogma zu beweisen oder ei­ nen >fächerübergreifenden wissenschaftlichen Aus­
nen Irrtum zurückzuweisen; Bibelstelle, die als druck<4, behaftet mit den semantischen Eigentüm­
Grundlage der Predigt dient. Daneben gibt es fol­ lichkeiten solcher Zwitterwesen.
gende Teilbedeutungen: prächtiges Evangelien­ In ästhetischen Debatten größerer Reichweite
buch; die Worte zu Musikstücken; Drucktechnik. war >Text< in neuerer Zeit insofern involviert, als
Die heute vorherrschende Bedeutung >(schriftlich) der Ausdruck im polemischen Gegensatz zum
niedergelegte Äußerung von mehr als Satzlänge, Werkbegriff gleichzeitig dessen evaluative Kompo­
die einen Sinnzusarnrnenhang bildet<, folgt recht nente neutralisiert und dessen ehedem exklusive
zwanglos aus der Gegenstandsausweitung der älte­ Zurechnungsbasis verbreitert hat. Die Ausdehnung
ren Oppositionen zu >Text<: Kommentar, Glosse, literatur- und textwissenschaftlicher Bemühungen
Anmerkung. auf sprachliche Trivial- und Gebrauchsformen
Allgemein bezeichnet der Terminus mithin ohne höheren literarischen Anspruch ging damit
»Worte, die - und insofern sie - für Etwas als einher. Was als Werk nicht aufzutreten bean­
Grund- und Unterlage dienen«3. Die gemein­ sprucht, kann als Text gleichwohl Gegenstand
sprachliche Bedeutung des Ausdrucks läßt sich wie fachlicher Bearbeitung werden. Diese Konstella­
folgt zusammenfassen: Wortlaut oder materielle tion ersetzt die alte und paradoxe Ausgangslage der
Vergegenständlichung eines (zumeist schriftlich) fi­ Literaturwissenschaft durch eine neue, nicht min­
xierten Sprachwerkes. Fachsprachlich gehört Text der paradoxe: Ehedem, im Kontext eines emphati­
heute mit Wort, Satz, Zeichen und einigem mehr schen Werkbegriffes, mußte das literarische Kunst­
zu den aspektheterogenen und offenen Grundbe­ werk eigentlich als solches interpretationsunabhän­
griffen der Sprach- und Literaturwissenschaft, die gig identifizierbar sein. Im Grunde mußte die
nicht abschließend definiert werden können, weil Wertung der Forschung vorausgehen, weil nur ein
ihre theoretische Produktivität vorwiegend heuri­ Werk Aufinerksarnkeit beanspruchen konnte.5 Als
stischer Natur ist und sich nur im Rahmen axio­ Texte hingegen sind alle Sprachwerke gleicherma­
matischer Ausformulierungen entfaltet. ßen grau, und ihre schiere Textualität erlaubt es
In der Gemeinsprache ist die Grundbedeutung nicht, ästhetische Wertungen zu begründen.
von Text relativ stabil: Der Ausdruck dient der Be­ Die Opposition von Text und Interpretation
zeichnung schriftlich fixierter Dokumente auf der konnotiert die Autorität des Geschriebenen ge­
einen, ihres Wortlautes auf der anderen Seite. Kon­ genüber den Wechselfällen der subj ektiven Auffas­
turiert wird diese Gemeinbedeutung durch die sung. Nur dann, wenn das Geschriebene selbst Au­
beiden Oppositionen von Text zu Rede und Inter­ torität hat, entwickelt und institutionalisiert sich
pretation. Insofern diese grund- und bildungs­ Philologie als Aufinerksamkeit für Wortlaut und
sprachliche Bedeutung ihrerseits als >technische< Formulierung, für Struktur und Variation ge­
schriebener Sprache 6 Die Oppositionen von Text
>Text<, in: DANIEL SANDERS, Wörterbuch der deut­ zu Auslegung, Glosse und Kommentar unterstrei­
schen Sprache (1 860-1 865), Bd. 212 (Leipzig 1 865), chen diese Konnotation.
1 300. Die Schwächung und Auflösung dieses Systems
4 Vgl. CLEMENS KNOBLOCH / BURKHARD SCHAEDER,
von Oppositionen und Konnotationen ist ein ge­
Fächerübergreifender wissenschaftlicher Wortschatz,
in: Schaeder (Hg.), Siegener Institut für Sprachen im meinsames Merkmal aller neueren Terminologisie­
Beruf (SiSiB) (Essen 1 994) , 1 2 5-148. rungen von Text. Galt der philologischen Praxis
Vgl. LUTZ DANNEBERG, Zur Theorie der werk.imma­ Textualität als die Bedingung der Identität und
nenten Interpretation, in: W. Barner/C. König (Hg.) , Wiederholbarkeit von Sinn, so verschiebt die neo­
Zeitenwechsel. Gern1anistische Literaturwissenschaft
strukturalistische Vorliebe für Lektüren und Lesar­
vor und nach 1 945 (Frankfurt a. M. 1 996) , 3 1 3- 3 42 .
6 Vgl. CESARE SEGRE, >Testo<, in: Enciclopedia Einaudi, ten den Akzent in die Gegenrichtung, hin zur Ein­
hg. v. R. Romano, Bd. 14 (Turin 1 9 8 1 ) , 269-29 r . maligkeit der die Textualität erst konstituierenden
Einleitung: Reichweite, Architektonik und gegenwärtiger Zustand des Textbegriffes 25

>heraklitischen< Lesepraxen, die e s schlechthin un­ auf wechselnde und präzisierende Kontexte ange­
möglich erscheinen lassen, daß man zweimal in wiesen sind. Zwischen den beiden Polen der mate­
denselben Text steigt. Die physische Identität eines riellen Wiederholbarkeit des Zeichenkörpers und
Textes qua Zeichenkörper, philologischer Garant der Unwiederholbarkeit kommunikativer Konstel­
für die (freilich immer grenzwertig gedachte) Re­ lationen liegt der theoretische Verschiebebahnhof,
produzierbarkeit von Sinn, erscheint aus dieser in dem sich die neueren Terminologisierungen
Sicht als unangemessene Verkleidung für die of­ von Text abspielen. Je nachdem, welches Quantum
fene, niemals festlegbare, unendliche Diffusion von von Wiederholbarkeit eine Texttheorie zuläßt,
Sinn, für die ein Text eigentlich stehe. Manfred fahrt sie auf einem anderen Gleis. Eine Extrempo­
Frank hat wiederholt darauf hingewiesen, daß sition wird markiert von der Hypothese, nur der
diese Konstellation von der gemeinhin als >herme­ materielle Signifikant eines Zeichens sei wieder­
neutisch< titulierten nur wenig unterscheidet, was holbar, alles bi- oder multilateral Semiotische, alles
aber die Protagonisten beider Richtungen nicht aus Ausdruck und Inhalt Bestehende hingegen sei
an der Pflege einer unversöhnlichen Feindschaft unhintergehbar konstellationsgebunden. Die (para­
hindert.7 doxe) Formel hierfür lautet: Zeichenhaftigkeit ( =
Die problemtheoretische Klammer, die alle >al­ Textualität) = Unwiederholbarkeit. Diese Position
ten< und >neuen< Textbegriffe zusammenhält, ist läßt sich zu der Annahme >mildern<, bestimmte
die Frage nach der (Un-)Wiederholbarkeit von Zeichen (etwa bezeichnungsfeste, stark lexikali­
Sinn. Ihr Korrolar ist das System der Zurechnungs­ sierte, hoch institutionalisierte) hätten einen iden­
adressen, die für realisierten Sinn in Anspruch ge­ tisch wiederholbaren semantischen Kern, der
nommen werden. Das kann die Autorität des Tex­ durch wechselnde Kontexte bloß spezifiziert oder
tes selbst sein, der Autor, der Rezipient, die Spra­ angereichert wird.
che, die >Sache<, von welcher der Text handelt, Die Mittelposition auf diesem Kontinuum wird
US\V. 8 eingenommen von der (bei Laien und Linguisten
Mit der Abwendung vom geschlossen und sta­ gleichermaßen verbreiteten) >linguistic ideology<9,
tisch gedachten Werk, das in wechselnden Zeiten nach der das gesamte Lexikon einer Sprache durch
und Kontexten lediglich die ihm von Anfang an relativ feste Bedeutungs- und Bezeichnungsver­
innewohnenden >Seiten< offenbart, wird diese hältnisse stabilisiert und wiederholbar gemacht ist,
Wiederholbarkeit zusehends problematisch. Die während die Präzisierung von Sinnanweisungen
Hinwendung zur (per definitionem unwiederhol­ fallweise einerseits in der syntagmatischen Verket­
baren) Dynamik situierter Interaktion und Kom­ tung der Zeichen, andererseits in den Umständen
munikation läßt den >alten< Textbegriff wirklich alt der Verwendung von Ausdrücken zu finden ist.
aussehen. Seine Wiederholbarkeitssuggestion er­ Diese >Ideologie< enthält auch die Hypothese, daß
scheint als trügerische Proj ektion der Schriftform sich für eine situierte Äußerung, einen token im
und als wahrhaft praktische Idealisierung einer interaktionalen Text, eine und nur eine richtige
Schicht, deren Autorität im Auslegungsmonopol Interpretation angeben lasse, die teils an die Inten­
heiliger Schriften begründet und von deren Auto­ tion des Sprechers, teils an die von allen geteilte
rität nur geliehen ist. Die Grundfrage, um die es Bedeutung der Ausdrücke rückgekoppelt sei. Es
hierbei geht, ist eine sprach- und zeichentheoreti­
sche: Kontexte suggerieren die Unwiederholbar­
7 Vgl. MANFRED FRANK, Was ist Neostrukturalismus?
keit von Sinn, sind aber natürlich auf Zeichen und
(Frankfurt a. M. 1984) , 1 29-1 3 4, 541-572.
Symbole angewiesen, die in ihnen zu Zeichen und 8 Vgl. KNOBLOCH, Problemgeschichte und Begriffsge­
Symbolen mit lokalem Sinn werden. Zeichen und schichte, in: H. E. Brekle u. a. (Hg.) , A Science in the
Symbole ihrerseits leben jedoch ausschließlich aus Mak:ing: The Regensburg Symposia on European Lin­
der Suggestion, daß sie einen selbstidentischen, guistic Historiography (Münster 1 996) , 25g---27 3 .
9 Vgl. MICHAEL SILVERSTEIN, Language Structure and
wiederholbaren, gegen wechselnde Kontexte ab­
Linguis ti c ldeology, in: P. R. Clyne/W. F. H anks/C. L.
setzbaren semantischen Gehalt haben, obwohl sie Hofbauer (Hg.), The Elements: A Parasession on Lin­
im Verkehr für die Realisierung ihres Sinnes auch guistic Units and Levels (Chicago 1 979) , 193-247.
26 Text/Textualität

versteht sich, daß dieser metapragmatische Glau­ lieh nicht gegen ihre fallweise vorgenommene
benssatz eng mit dem Systemvertrauen in die Ver­ Deutung abgesetzt werden können, dann ist die
läßlichkeit der sprachlichen Kommunikation zu­ Textualität kultureller Praxen an deren materielle
sammenhängt, mit der allgemeinen Erwartung, Vergegenständlichung nicht gebunden. Es wird
Äußerungen seien in der Regel für alle praktischen folgerichtig, auch da von Texten zu sprechen, wo
Zwecke hinreichend eindeutig. Offenkundig ist wir nur zeichengesteuerte kulturelle Praxen ohne
aber auch, daß dieser Glaubenssatz auf philologi­ dauerhafte Vergegenständlichung vorfinden. Der
sche Textverständnisse abgefärbt hat. Weg wird frei für einen kulturanthropologischen
Am entgegengesetzten Ende des Verschiebe­ Textbegriff, der die Wiederholbarkeitssuggestion
bahnhofs wird nicht das selbstidentisch wiederhol­ in allen zeichenvermittelten kulturellen Praxen
bare Zeichen zur Chimäre, sondern die offenen aufdeckt und expliziert. 10 Daß nicht allein Sprache
und dynamischen Potenzen >antwortender< Kon­ semiotisch prozessiert wird, der Sprache wohl aber
texte und Umstände. Man operiert mit der (grenz­ ein Haupt- und Ehrenplatz im >gesellschaftlichen
wertigen) Hypothese, auch der globale und kom­ Leben der Zeichen< gebühre, ist ja ein (in der
plexe Sinn punktuell-eindeutiger Konstellationen kanonischen Fassung des Cours enthaltenes 1 1 ) ge­
der Textproduktion und -rezeption sei nicht nur meinstrukturalistisches Axiom. Versuche, dieses
eindeutig, sondern im Prinzip auch wiederherstell­ Axiom zu präzisieren und zu entfalten, finden sich
bar und darstellbar für ein späteres Publikum. in vielen kultursoziologischen Theorien des 20. Jh.
Keine historische Disziplin kann ganz ohne diese (z. B. bei Hans Freyer, Alfred Schütz, George Her­
Chimäre leben, wenn sie sich nicht selbst aufgeben bert Mead, Thomas Luckmann, Clifford Gecrtz) .
will - auch die Begriffsgeschichte nicht. Aus einer solchen Sicht lassen sich kulturelle Pra­
Weil der semantische Spielraum des Textbegrif­ xen als (wiederholbare?) Texte auffassen und nach
fes diesen Verschiebebahnhof in seiner Gesamtheit Grad und Art ihrer (scheinhaften oder wirklichen)
umfaßt, ist Text ein potentieller master term, ein Objektivierung in Zeichensystemen anordnen.
gebietskonstitutiver Grundbegriff einer Kulturwis­ Das erste Modell dieser Art findet man der Sache
senschaft, die sich als allgemeine Kultursemiotik nach bei Freyer, der freilich den Ausdruck Text in
versteht. Sein Thema ist die (Un-)Wiederholbar­ diesem Zusammenhang nicht verwendet. 12
keit von Sinn. Daß bei dieser Verlagerung von Sinn in die se­
Mit der Auflösung der für die Alltagsbedeutung miotisch orientierten Vollzüge selbst der >alte<
von Text konstitutiven Oppositionen geht die Ver­ Textbegriff weitgehend auf der Strecke bleibt, ist
flüssigung und Prozessualisierung von Sinn not­ daran zu erkennen, daß verschiedentlich für die
wendig einher. Wenn die objektivierte Schriftform Aufzeichnung und Obj ektivierung solchermaßen
Wiederholbarkeit von Sinn nicht garantiert, dann orientierter Praxen andere und neue Bezeichnun­
werden notwendig alle Erwartungen von Wieder­ gen eingeführt werden: record, Dokument, »Kom­
holbarkeit zweifelhaft. Wenn Zeichen grundsätz- munikatbasis«13 usw. Die wissenschaftsrhetorischen
Potenzen des Textbegriffes freilich ändern sich
bei dieser Verschiebung zu den Vollzügen nicht
IO Vgl. CLIFFORD GEERTZ, Local Knowledge: Further wesentlich. Die Identität und Wiederholbarkeit
Essays in lnterpretive Anthropology (New York von Handlungen unterliegt den gleichen Parado­
1983). xien wie die von Zeichen und Symbolen. Hilfs­
I I Vgl. FERDINAND DE SAUSSURE, Cours d e linguistique
weise Zusatzterminologisierungen (Prätext, Sub­
generale ( 1 9 1 6) , hg. v. T. De Mauro (Paris 1 972) , 3 3 :
dt. : Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, text usw. ) , wie man sie häufi g (aber nicht einheit­
übers. v. H. Lommel (Berlin ' 1 967), 1 9 . lich definiert) antreffen kann, beziehen sich auf
1 2 Vgl. H A N S FREYER, Theorie des objektiven Geistes. Sinnschichten, die ein Text qua Anspielung auf an­
Eine Einleitung in die Kulturphilosophie ( 1 923 ; Leip­ dere Texte oder auf Deutungsgewohnheiten aufru­
zig/Berlin 3 1 934) .
fen kann, ohne daß sie auf der propositionalen
1 3 SIEGFRIED J . SCHMIDT, Grundriß der Empirischen
Literaturwissenschaft ( 1 980; Frankfurt a. M. 1 99 1 ) , 96 Ebene manifest werden. Wenn Geertz, für den
u. ö. Text als Grund- und Leitbegriff fungiert, das »un-
Einleitung: Reichweite, Architektonik und gegenwärtiger Zustand des Textbegriffes 27

packing of performed meaning«14 als Aufgabe der genüber erscheint aus der Sicht der neueren Text­
Kulturanthropologie bestimmt, dann gerät er in begriffe j eder Rückverweis von Sinn auf einen
Schwierigkeiten, die denen der Philologie auf den personalen Urheber als Illusion, weil Sinn als sub­
ersten Blick entgegengesetzt zu sein scheinen. Auf j ektfreie, allein auf Selbst- und Kontextbezügen
den zweiten Blick sind es j edoch beinahe die glei­ gründende Kategorie vorgestellt wird.
chen. Der Versuch, einen von seinen fallweise ak­ Wenn also der kontextuell variierte Selbstbezug
tionalen Vollzügen gar nicht zeichenhaft abgesetz­ der Zeichen die einzige Sinnquelle bildet (wäh­
ten Sinn zu fixieren, zeigt, daß Selbstidentität und rend Subj ektbezug ebenso wie semantische und
Wiederholbarkeit auch bei Handlungen nur in referentielle Identität Illusionen sind) , dann kann
deren sprachlicher Typisierung zu haben ist. So der j eweilige Benutzer eines Zeichens sich zwar
verändert sich am Ende nicht viel. Ein gemein­ einbilden, mit dessen Gebrauch etwas zu intendie­
sprachlicher Text ist ein Gebilde, dem ich mich ren, tatsächlich ist aber die Sinndynamik j edem ab­
(vermeintlich) immer wieder zuwenden kann, sichtlichen Einfluß entzogen. Sowenig der Autor
während ein (Sinn-)Vollzug an sich unwiederhol­ eines geschriebenen Werkes dessen Deutungen in
bar ist. Die sprachliche Typisierung einer kulturel­ der Hand hat, sobald der Text zugänglich ist, so­
len Praxis suggeriert, sie sei so wiederholbar wie wenig kann irgendein Zeichenbenutzer Urheber
ein Zeichen. So stiftet der kulturanthropologische von bestimmtem Sinn sein. Die Vorstellung eines
Textbegriff das Type-token-Problem von der an­ Subj ektes erscheint nun ihrerseits als Artefakt und
deren Seite neu. Eine sprachlich identifizierte und Proj ektion eines Zeichenprozesses, der sich selbst
>ausgepackte< Handlung gewinnt den Anschein konstituiert. Richard Brütting spricht in diesem
von Wiederholbarkeit dadurch, daß sie im günstig­ Zusammenhang davon, der Text werde eine Art
sten Falle einer aus der Kultur der Akteure selbst »semiotisches Mobile«16, bewegt durch die wech­
genommenen sprachlichen Typisierung oder Be­ selnden Beziehbarkeiten auf andere Texte, auf den
deutungskategorie zugeordnet werden kann. Infol­ gesellschaftlichen Gesamttext, auf neue Verwen­
gedessen werden tendenziell die kulturellen Praxen dungsweisen der alten Zeichen.
semiotisch analysierbar, mittels deren die Akteure Mit dem Subjekt als Sinngaranten geht dem neu­
Handlungen als >Fälle von< bestimmten typisierten eren Textbegriff gleichzeitig eine weitere, ehedem
Bedeutungskategorien verstehen. für Sinnkonstitution in Anspruch genommene Be­
Zwangsläufig in Auflösung geraten ist durch die ziehbarkeit verloren: die referentielle Beziehung
geschilderten Verschiebungen ein anderer traditio­ der Zeichen eines Textes auf irgendeine Art von
neller Bezugspunkt des Text-Sinn-Feldes: der Au­ Realität, wie sie von allen klassischen Weisen der
tor oder, wie es in emphatischer Pose oft heißt, das Interpretation (wie auch immer vermittelt, gebro­
>Subjekt< des Sinnes. Von dieser Neuerung wird chen, indirekt, übersetzt) angenommen wird. Re­
gewöhnlich am meisten Aufhebens gemacht, ob­ ferenz ist hier nicht im technischen Sinne der Se­
wohl auch schon in der klassischen Hermeneutik mantik als singulär bestimmter Obj ektbezug, son­
Schleiermachers das biographisch konstituierte dern nur ganz allgemein als Außenbezug von
Subj ekt nur den einen Pol der Sinndynamik bildet Texten gemeint. Da indessen unsere nimmermüden
(>psychologische Interpretation<) , die Rekonstruk­
tion der objektivierten sprachlichen Praxen und
Darstellungstechniken (von den relativ zeitstabilen 14 GEERTZ, Blurred Genres: The Refiguration of Social
Thought (1 980), in: Geertz (s. Anm. ro) , 29.
der Grammatik und des Lexikons bis hin zu den
15 Vgl. FRIEDRICH S CHLEIERMACHER, Hermeneutik
stärker variablen, zeitgebundenen Traditionen und und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue
Gewohnheiten des Sprechens) den anderen, der Testament, hg. v. F. Lücke, in: Schleiermacher,
gleichfalls subj ektfrei gedacht wurde (>grammati­ Sämmtl. Werke, Abt. I, Bd. 7 (Berlin 1 83 8) , 1 2-28 u.
sche Interpretation<) . 1 5 Selbst die >psychologische ö.
16 Vgl. RICHARD BRÜTTING, >E criture< und >texte<. Die
Interpretation< bezieht den Sinn nicht auf die sub­
französische Literaturtheorie mach dem Strukturalis­
jektive Intention des Autors, sondern auf dessen mus<. Kritik traditioneller Positionen und Neuansätze
Persönlichkeit als Folie und Hintergrund. Demge- (Bonn 1 976) , 7 4.
28 Text/Textualität

Chimärenj äger die ganze Welt zum Text erklären, wie medial) reproduzierbar. E s ist dies der theoreti­
kann es natürlich außerhalb ihrer keinen Stützpunkt sche Kontext, der den diversen Umkontextualisie­
für semiotische Mediationen geben. Der Stoff eines rungspraktiken der avantgardistischen Ästhetik ih­
Textes besteht ausschließlich aus anderen Zeichen. ren Distinktionswert zuspielt: Was passiert, wenn
Wenn die Sinndynamik eines Textes ausschließ­ man (wie Marcel Duchamp) einem Urinal ein änig­
lich und autonom im Feld wechselnder Selbstbe­ matisierendes Sprachzeichen beigesellt und es in
züge und Kontextualisierungen spielt, dann ver­ einem Kontext plaziert, der zu ästhetischen Deu­
steht sich seine Unwiederholbarkeit von selbst. tungen einlädt? Wenn es stimmt, daß »einer der
Die j eweils letzte Verwendung eines Zeichens ver­ Haupteinsätze der Kämpfe in der Kunst stets und
ändert ja bereits den Kontext, welcher für die j e­ überall die Frage der legitimen Zugehörigkeit zum
weils nächste Verwendung desselben Zeichenkör­ Feld ist«17, dann vermochte man mit Hilfe des em­
pers als Resonanzraum zur Verfügung steht. Diese phatischen Werkbegriffes (durch dessen schiere
Ansicht hat viele Affinitäten zur literarischen Pra­ Verwendung) das Problem als gelöst darzustellen.
xis Gertrude Steins, zu deren ästhetischen Stilmit­ Der evaluativ neutralisierte und auf alle Zeichen­
teln ja die Veränderung durch Wiederholung ge­ gebilde ausgeweitete Textbegriff hält das Problem
hört, die ständige Repetition eines Ausdrucks oder dagegen als ungelöst im Zustand dauernder kom­
einer Konstruktion, die ihren Sinn just in dem munikativer Präsenz: Die Qualität eines Textes ist
Maße verfremden und verändern, in dem sie im keine ihm innewohnende Eigenschaft, sie ist ledig­
immer komplexer werdenden Kontext ihrer selbst lich eine Art von Akzent, der Zeichengebilden in
gelesen werden müssen. bestimmten Milieus habituell verliehen wird. In­
Gemeinsam ist den neueren Ansätzen in der sofern paßt der modernisierte Textbegriff in eine
Textwissenschaft die polemische Gegenposition zur ideologische >Szene<, deren Vorderbühne egalitär
allgegenwärtigen Suggestion, mit den Zeichenkör­ und relativistisch organisiert ist18: Alles geht, die Sy­
pern sei auch deren Sinngehalt beliebig (technisch steme kultureller und ästhetischer Präferenzen
scheinen gleichberechtigt nebeneinanderzuliegen,
Kitsch, Kunst und Werbung bedienen sich der
17 PIERRE B O U R D I E U , Genese historique d'une estheti­
nämlichen Zeicheninventare; aber auf der Hinter­
que pure, in: Les Cahiers du Musee National d'Art
bühne gilt die distinktive und hierarchisierende Lo­
moderne 27 ( 1 989), 95-rn6; dt. : Die historische Ge­
nese einer reinen Ästhetik, übers. v. B. Dieckrnann, gik der >kleinen Unterschiede< (Bourdieu) . Am
in: Merkur 46 ( 1 992), 975 . Ende heißt >Anything goes< ja nicht, daß alles >in<
1 8 Vgl. PANAJOTIS K O N D Y L I S , Der Niedergang der bür­ wäre, im Gegenteil, es heißt, daß der >in< ist, der
gerlichen Denk- und Lebensform (Weinheim 1 99 1 ) , >Anything goes< sagt. Wehe j edoch, einer hängt An­
23 8-267.
1 9 Vgl. JACK G O O D Y (Hg.) , Literacy in Traditional So­ sichten an, die als >veraltete< erkannt wurden. Das
cieties (Cambridge 1 968); W A L T E R J . O N G , Orality nämlich >geht< durchaus nicht.
and Literacy: The Technologizing of the World (Lon­ Mit der Differenz von Text und Welt geht nicht
don/New York 1982); MICHAEL GIESECKE, Der nur die im weitesten Sinne abbildende Zeichenbe­
Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische
ziehung verloren, sondern auch noch eine weitere
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations­
und Kommunikationstechnologien (Frankfurt a. M. Eigenschaft, die (zu Texten obj ektivierten) Zei­
1991). chen traditionell zugeschrieben wurde: die Eigen­
20 Vgl. E CKART S C HEERER, Mündlichkeit und Schrift­ schaft nämlich, gesellschaftliche Aufbewahrungs­
lichkeit: Implikationen für die Modellierung kogniti­
und Tradierungsform von Wissen zu sein. Im all­
ver Prozesse (Bericht Nr. 7 1 / i 99 1 , Forschungsgruppe
>Mind and Brain<, Zentrmn für interdisziplinäre For­ gemeinen fassen Kulturhistoriker die Genese und
schung (ZiF] , Universität Bielefeld) ; DAVID R. OL­ Verbreitung von Schrift und später dann die des
soN, Mind and Media: The Episternic Functions of Buchdrucks19 nicht allein als mediale Revolutio­
Literacy, in: Journal of Comrnunication 38 (1988), H. nen, sondern als sozial und mental gleichermaßen
3, 27-3 6; O L S O N , Thinking about Narrative, in: B. K.
schwerwiegende Umwälzungen des individuellen
Britton/ A. D. Pellegrini (Hg.), Narrative Thought
and Narrative Language (Hillsdale, N. ]./Hove/Lon­ und gesellschaftlichen Verhältnisses zur Tradierung
don 1 990) , 9g-1 l r . und Aneignung von Wissen.20 Diese Erklärungs-
Einleitung: Reichweite, Architektonik und gegenwärtiger Zustand des Textbegriffes 29

möglichkeit geht mit dem Verlust der Wiederhol­ Pflichtzitate von Nietzsche, Heidegger und Hus­
barkeitssuggestion von Sinn zwar nicht restlos ver­ serl mit einigen Wahlpflichtzitaten von Derrida,
loren, sie verschiebt sich aber unterderhand zu ei­ Lacan, Barthes und anderen wechseln.
ner Lehre, deren Sinn die Konstruktion (vermeint­ Unter den fachlichen Terminologisierungen des
licher) Kontinuitäten in der Kultur ist. Man kann Textbegriffes ist, neben den unzähligen linguisti­
bestenfalls den Anschein von Wissenstradierung schen23, die editionswissenschaftliche zu nennen.24
und -kontinuität an der Dauersuggestion geschrie­ Dort hat sich der Ausdruck Text bis in die jüngste
bener und verbreiteter Texte festmachen; tatsäch­ Zeit als >impliziter Grundbegriff< in der Tradition
lich bilden die niedergelegten Zeichenkörper ka­ der Philologie erhalten. Die praktischen Probleme
nonischer Texte aber nicht mehr als den Anlaß der Edition erzwingen Entscheidungen darüber,
und Auslöser für die Konstruktion von Kontinuität ob der Text eines Werkes ausschließlich die eine
in der Diskontinuität. und richtige Fassung oder aber die Gesamtheit der
Wenn schließlich die Hauptsinnquelle von Tex­ belegten Fassungen und Veränderungen desselben
ten die reflexive Beziehung auf den sich ständig umfaßt.25
verschiebenden Horizont anderer Texte (bzw. ei­ Von großer praktischer Bedeutung ist daneben
nes hypothetischen Gesamttextes) ist, dann führt die Ausweitung textwissenschaftlicher Verfahren
dies automatisch zu einer Universalisierung und und Begriffe auf mediale Obj ektivationen, die
Aufwertung derjenigen textuellen Kategorien, die nicht schriftlich, aber materiell reproduzierbar
traditionell Aspekte partieller Reflexivität von sind: Hörspiele, Filme, Videos, Cartoons, Comics,
Texten beschreiben: Rekurrenz, Zitat, Anspielung, aber auch Ballett, Theater, Parade usw. Wenn eine
Redewiedergabe, geprägte Idiomatik, Intertextua­ Kultur wie ein Zeichensystem funktioniert, dann
lität. Angelegt ist diese Aufwertung bereits in klas­ können alle ihre Manifestationen als Texte gelesen
sischen strukturalistischen Arbeiten. 2 1 Wäre die werden und die fest aufgezeichneten allein haben
Reflexivität des Zeichengebrauchs (d. h. die Ei­ den Vorzug, über den einzelnen Zuwendungsakt
genschaft jeder Zeichenverwendung, die früheren hinaus kontinuiert zu werden.
Verwendungen des nämlichen Zeichenkörpers Geistesgeschichtlich betrachtet, handelt es sich
global zu konnotieren) letztlich die Hauptsinn­ bei den neuen Textbegriffen um eine Radikalisie-
quelle, dann käme eben alles darauf an, die For­
men, Arten und Erscheinungsweisen der Refle­ 21 Vgl. VALENTIN N. VOLOSINOV, Marksizm i filosofia
xivität so zu ordnen, daß auch der Anschein ge­ jazyka (Leningrad 1 928); dt. : Marxismus und Sprach­
ordneter Außenbezüge (>Referenz<, >Subjekt<) philosophie, hg. v. S. M. Weber, übers. v. R. Horle­
mann (Frankfurt a . M . /Berlin/Wien 1 975); TZVETAN
erklärbar wird. Interessant für die Konstitution von
TODOROV, Mikhall Bakhtine et Ja theorie de
Textualität wäre dann die Frage, was sich für die l'enonce, in: H. Geckeler u. a. (Hg.) , Logos Semanti­
verschiedenen Arten von Zeichen noch zu wieder­ kos. Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu
holen scheint, wenn sich ein Zeichenkörper wie­ 1 9 2 1-198 1 , Bd. 1 (Berlin/New York/Madrid 1 9 8 1 ) ,
derholt, und wie die (vermeintliche) Selbstidentität 28g--299; ROMAN JAKOBSON, Poetik. Ausgewählte
Aufsätze 1921-1 97 1 , hg. v. E. Holenstein/T. Schel­
von Zeichen auf diesem Wege ausgebildet wird. Es bert (Frankfurt a. M. 1 979) .
ist dies ja auch das Lernproblem j edes Individuums, 22 Vgl. SILVERSTEIN , The lnterdeterminacy of Contex­
das sich in laufende Zeichenprozesse einschaltet: tualization: When is Enough Enough?, in: P. Au er/ A.
Es muß herausbekommen, was sich für die übrigen Di Luzio (Hg.), The Contextualization of Language
(Amsterdam/Philadelphia 1 992) , 5 5-76.
Zeichenbenutzer noch zu wiederholen scheint,
23 Vgl. EUGENIO COSERIU, Textlinguistik. Eine Einfüh­
wenn sich ein Zeichenkörper wiederholt22, und rung (1 980; Tübingen ' 1 9 8 1 ) .
außerdem noch, welche Situationsparameter den 24 Vgl. SIEGFRIED S CHE!BE/ CHRISTEL LAUFER (Hg.),
Einsatz bestimmter Zeichenkörper steuern. Selbst­ Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie (Berlin
verständlich ist auch die hoch reflexive Frage er­ 1991).
2 5 Vgl. GUNTER MARTENS, Was ist - aus editorischer
laubt, warum die Propagandisten frei flottierenden Sicht - ein Text? Überlegungen zur Bestimmung ei­
und unwiederholbaren Sinnes beständig Texte nes Zentralbegriffs der Editionsphilologie, in:
schreiben, in denen immer wieder die nämlichen Scheibe/Laufer (s. Anm. 24) , 1 3 5- 1 5 6 .
3o Text/Textualität

rung strukturalistischer und semiotischer Gedan­ tive Selbstorganisation des individuellen Bewußt­
ken. Von den strukturalistischen Strömungen ist die seins. Wiewohl die Bedeutung der Wortzeichen in
Kopenhagener Glossematik26 am wichtigsten ge­ gewissen Grenzen obj ektiv ist (bzw. objektiviert
wesen, von den semiotischen die radikalisierte werden kann) , da sie zum Sprachsystem gehört,
Theorie des lnterpretanten aus der Peirceschen se­ geht der Sinn ihrer fallweise situierten Verwen­
miotischen Begriffstrias von Zeichen, Objekt und dung über den obj ektiven Systemwert weit hinaus.
lnterpretant. Schon für den Stammvater der moder­ Begrifflich nennt man einesteils die konzeptuelle
nen Zeichentheorie stand der lnterpretant nicht für oder intensionale Organisation der Wortbedeu­
ein Subjekt, sondern für ein Verhalten oder eine tung selbst (kraft deren sie eine in der Regel grenz­
Gewohnheit, in deren Zusammenhang Phänomene unscharfe Extension definiert) , anderenteils stellt
als Zeichen interpretiert werden müssen, damit das man den Begriff auch als wesentliche, epistemo­
Verhalten als solches weitergehen kann. logische und definierte Konzeptualisierung den
Während traditionell Schrift auch den Maßstab eher akzidentellen, häufig nicht schlüssig definier­
abgibt, an welchem die >flüchtigen< Kommunika­ ten und bloß norninativen Alltagssprachbedeutun­
tionen gemessen werden, hat der >neue< Textbe­ gen gegenüber. In ihrer Verwendung erheben die
griff den Spieß umgekehrt und die Einmaligkeit letzteren nur Anspruch auf kommunikative Identi­
und Unwiederholbarkeit der Interaktion dem Text fizierbarkeit des jeweils Gemeinten, nicht auf des­
qua Lektüre zurückerstattet. Insgesamt liefert die sen wesentliche und erschöpfende Konzeptualisie­
Konjunktur des Verhältnisses von Schrift und rung. Wortbedeutungen bilden eher inklusive Op­
Rede27, die Literalitätsdebatte in den Kulturwis­ positionen und lassen sich als ungeordnete
senschaften, den aktuellen geistesgeschichtlichen Merkrnalskomplexe beschreiben, die nicht bei je­
Hintergrund für die neueren Entwicklungen des der Verwendung alle relevant werden. Schließlich
Textbegriffes. gilt ein weiterer Begriff von Begriff in den neueren
sozialgeschichtlichen Arbeiten, die an den Wör­
tern als Brennpunkten und Organisatoren gesell­
schaftlicher Erfahrnng und Kommunikation inter­
1. Der begriilli che Status von Text in der essiert sind: Begrifflich heißen da Wortbedeutun­
Geschichte gen, die in der analytischen Zusammenschau ihrer
Verwendungen als Träger wesentlicher sozial- oder
ideengeschichtlicher Bewegungen erscheinen,
1 . Wort und Begriff
Wortbedeutungen, die dem Historiker als Fakto­
Die Worte einer Sprache bilden das wesentliche ren und 1 ndikatoren geschichtlicher Prozesse die­
gesellschaftlich obj ektivierte Zeichenmaterial für nen können. 28 Die Widersprüche zwischen den
die alltägliche Kommunikation und für die kogni- verschiedenen Bedeutungen von Begriff bleiben in
praxi ohne negative Auswirkung, wo sich ein ide­
engeschichtlicher Entwicklungsstrang mit einer
26 Vgl. HANS JOERGEN ULDALL/LOUIS HJELMSLEV,
sprachlichen Chiffre fest verbindet (>Kultur<, >Na­
Outline of Glossematics: A Study in the Methodol­
ogy of the Humanities with Special Reference to Lin­ tion<, >Sozialismus<, >Staat< usw.). Dort kann Ideen­
guistics, Bd. I : ULDALL, General Theory (Kopenha­ geschichte als zur gesellschaftlichen Kommunika­
gen 1 9 5 7) . tion hin erweiterte Wortgeschichte begriffen wer­
27 Vgl. JACQUES DERRIDA, L'ecriture et la ditference
den, und die Geschichte der Wortbedeutung zeigt
(Paris 1 967) ; OLSON, Mind and Media (s. Anm. 20) ;
S CHEERER (s. Anm. 20) . wenigstens tendenziell auch die Evolution eines
28 Vgl. REINHART KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Begriffs.
Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt a. M. Für >Text< ist dieses Verfahren nicht praktikabel.
1 979); KOSELLECK, Sozialgeschichte und Begriffsge­ Das Stichwort taugt nicht als Faktor oder Indikator
schichte, in: W. Schieder/V Sellin (Hg.), Sozialge­
geschichtlicher Vorgänge. Es läßt sich nicht be­
schichte in Deutschland, Bd. 1 (Göttingen 1986) , 8C}­
r n9; DIETRICH BUSSE, Historische Semantik. Analyse griffsgeschichtlich adeln. Seine Wortbedeutungen
eines Programms (Stuttgart 1 9 8 7) . zeigen wenig Neigung zu dramatischer Verände-
!. Der begriffiiche Status von Text in der Geschichte 3r

rung. Bis zum Aufkommen von Theorien über malen (Intension) fragen. Man kann schließlich
Text und Textualität dient das Wort fast ausschließ­ von einem (als problematisch unterstellten) Gegen­
lich relativ stabilen Bezeichnungszwecken. Auch stand Text c) nach dessen richtiger begriffiicher
nach der >Verbegriillichung< von Text kann der Charakterisierung oder d) nach dessen adäquaten
Ausdruck bestenfalls als wissenschaftshistorischer Bezeichnungen fragen. Die Vermengung dieser
und wissenschaftssoziologischer Indikator gelten, Problemebenen verursacht das Durcheinander
da seine Relevanz in der nichtfachlichen Kommu­ (nicht nur) beim Textbegriff. Der methodischen
nikation gering, j edenfalls nicht begriilli ch im Unterscheidung dieser verschiedenen Fragestellun­
Sinne der Sozialgeschichte ist. gen entspricht bei Text auch eine historische Dif­
ferenzierung der Sache selbst (die hier eben die
Begriillichkeit und Wortbedeutung von Text ist) .
2. Bezeichnungifestigkeit 1md Begrifjlichkeit
Die Wortgeschichte von Text erlaubt bis zum
Man erhält nur partiell die gleiche Geschichte, 20. Jh. fast nur Fragen nach a) , während die Be­
wenn man einesteils untersucht, was im Laufe der griffsgeschichte von Text eigentlich erst mit dem
Zeit mit den Worten Text und Textualität bezeich­ Problernatischwerden des Gegenstandes Text (und
net worden ist, anderenteils aber die begriilli chen mit der Theoriebildung darüber) im 20. Jh. be­
Äquivalente dessen, was wir heute als Textbegriff ginnt.
vorfinden bzw. mit Text bezeichnen. Sucht man In diesem Sinne sind Gegenstandsausweitung
die historischen Bezeichnungen für verbindlich und Verbegrifilichung von Text parallele Prozesse.
aufbewahrte, vergegenständlichte sprachliche Zei­ Vom festen Namen der Bibel über die Bezeich­
chenprozesse, so findet man, daß sie nicht immer nung schriftlich tradierter Werke und dann von
Texte hießen. Umgekehrt war über einen großen auslegungsfahigen Zeugnissen der Sprachkommu­
Zeitraum Text kein Begriff im sozial- oder ästhe­ nikation überhaupt führt dieser >zwiespältige< Pro­
tikhistorischen Sinne, sondern der eingeführte zeß der Verbegriffiichung und Bezeichnungserwei­
Name für das Korpus bzw. für den überlieferten terung zu einem Ausdruck, der alle sozialsemioti­
Wortlaut der Heiligen Schrift, die Bezeichnung für schen Prozesse umfassen kann.
den Schriftpassus, der einer Predigt zugrunde ge­
legt wurde usw.
3. Begrifjliche Äquivalente von Text post und ante
Die Fixierung eines Wortes als Name und seine
litteram
Begriill ichkeit schließen sich aber tendenziell aus.
Denn zur Begriillichkeit gehört sowohl im er­ Als nominative Äquivalente von Text können alle
kenntnistheoretischen als auch im sozialgeschicht­ Bezeichnungen für auslegungsbedürftige soziale
lichen Sinne eine Art von semantischem Über­ Zeichengebilde gelten, zuerst der Ausdruck Zei­
schuß über die bloße Namensfunktion hinaus: die chen selbst, aber auch Werk, Schrift, Quelle,
>generative< Fähigkeit, neue Gegenstände zu subsu­ Zeugnis, Urkunde. In jüngster Zeit kommt unter
mieren, zu definieren und zu charakterisieren dem Einfluß der neueren französischen Sprachphi­
(>Gegenstand< steht hier für vieles) . Offene Hori­ losophie und einer global auf den sozialen Zei­
zonte der Intension und Extension sind auch Vor­ chenprozeß gerichteten Perspektive der Ausdruck
aussetzung dafür, daß über die Besetzung von Be­ Diskurs hinzu. Im philologischen 1 9 . Jh. heißen
griffen ideologisch gestritten werden kann (>ideo­ die Texte, mit denen man sich so eingehend be­
logisch< ist hier im vorrnarxschen Sinne verstanden schäftigt, fast immer Werke oder Schriften, wäh­
als die gesellschaftliche und kognitive Organisation rend Text nur als Bestimmungswort in der Nomi­
der Ideen und Vorstellungen betreffend) . nalkornposition häufig begegnet (Textkritik, Text­
Die Frage >Was ist ein Text?< läßt sich auf ganz auslegung usw. ) .
unterschiedliche Weise stellen und beantworten29:
Man kann von einem (als gekannt unterstellten) 29 Vgl. KJ.AUS HEGER, Text und Textlinguistik, i n : J . S.
Lexem Text her a) nach dessen Denotaten (Exten­ Petöfi (Hg.) , Text vs. Sentence: Basic Questions of
sion) oder aber b) nach dessen semantischen Merk- Text Linguistics, Bd. T (Hamburg 1 979) , 49-62.
32 Text/Textualität

Aus der Perspektive der übergeordneten Be­ rnatisch erschöpft: Produzentenbezug, Rezipien­
griffe Hermeneutik und Philologie gibt es eine tenbezug, Sach- und Zeitbezug, Sprach-, Sinn-,
komplementäre Begriffigeschichte von Text als Handlungs-, Selbstbezug, intertextuelle Bezüge.
Name für alle als auslegungsbedürftig geltenden Die historische Entfaltung des Begriffs kann je­
Zeichengebilde. In dieser Hinsicht spiegelt die weils als Selektion aus diesen Bezügen beschrieben
wachsende Extension von >Text< den wachsenden werden (wobei das Künstliche, das >Quasi-Hegelia­
Gebietsanspruch der Hermeneutik: von den im nische< an diesem Verfahren herauszustellen ist,
Wortlaut überlieferten heiligen Schriften über die weil ja realiter keinesfalls >Selbstentfaltung< der ein
Schriftzeugnisse der Antike, die Texte der Natio­ für allemal angelegten Aspekte stattfindet; nur
nalphilologie bis hin zum Einschluß des anspruchs­ wenn man, wie nötig, den vorfindlichen Begriffs­
vollen Gesprächs unter Zeitgenossen bei Schleier­ sinn als Ausgangspunkt der Rekonstruktion
macher. Auch die Ausweitung der Textualität auf nimmt, stellen sich die Dinge so dar; das ist auch
alle sozial-semiotischen Prozesse und Ordnungen ein Hauptunterschied zur Wort- und Bedeutungs­
(mithin über die Grenzen des Sprachlichen hinaus) geschichte, die sich ihres durchgehenden Gegen­
folgt in jüngster Zeit noch diesem Muster. standes einfach durch die materiale Lautforrn versi­
chern kann) .
Die vorfindliche Bedeutung von Text steckt vol­
4. Der voifindliche Sinn von Text als Ausgangspunkt
ler Ambivalenzen. Diese findet man aber auch in
Text gehört heute, wie oben notiert, mit Wort, den Verbegriffiichungen und Terminologisierun­
Satz und Zeichen zu den aspektheterogenen und gen des Ausdrucks. Einerseits gilt Text als Name
offenen Grundbegriffen der Sprach- und Literatur­ für Einheiten der realisierten (bzw. fixierten)
wissenschaften, die nicht abschließend definiert Rede, andererseits bezeichnet man auch das mate­
werden können, weil ihre theoretische Produktivi­ rielle Substrat einer Sprechhandlung, das >beliebig<
tät vorwiegend heuristischer Natur ist und sich nur reaktualisiert werden kann, als Text. Im ersten
innerhalb bestehender Axiornatisierungen entfal­ Sinne sind Texte die einzige kommunikative Rea­
tet. 30 Der alltagssprachliche Ausdruck Text dient lität der Sprache, im zweiten Sinne bezeichnet
dabei als Ausgangs- und Anschlußpunkt. Er be­ Text gerade das, was von der kommunikativen
zeichnet wertungsfrei ein materiell abgeschlossenes Realisierung im j eweiligen Fall abgehoben und
und schriftlich niedergelegtes Sprachwerk, jedoch unabhängig ist. Die Textualität eines Sprachgebil­
nicht im Sinne der bloßen physischen Realität, der des oberhalb der Satzebene ist kohärenz- oder ko­
bestimmten Anordnung von Zeichenkörpern, häsionsbedingt. 32 Die Techniken der Herstellung
sondern als Grenzbegriff für die Reproduzierbar­ von Kohäsion sind aber teils sprachsystemisch, d. h.
keit von Sinn. 31 Bis in die Fachumgangssprache lexikalisch oder grammatisch (Anapher, Ellipse,
der Kultur- und Literaturwissenschaft hinein han­ Konjunktion, Merkmalsrekurrenz usw.), teils lie­
delt, wer von Texten spricht, von einer semantisch gen sie ganz in der Sach- und Sinnebene unseres
relativ festen Instanz, die sich in Opposition gegen Weltwissens, teils in einer Schicht unserer Sprach­
subjektive Zutaten der Rezipienten konturiert. kompetenz, die nicht einzelsprachlich gebunden
Hier ist das System der Bezüge darzustellen, das ist.33 Wer vorn geordneten Zusammenhang meh­
den Textbegriff nach heutigem Verständnis axio- rerer Sätze zum Textbegriff kommt, für den sind
Texte Sprachgebilde von mehr als Satzlänge, die
linguistisch beschrieben werden können. Wer Text
30 Vgl. KNOBLOCH, Geisteswissenschaftliche Grundbe­
griffe als Problem der Fachsprachenforschung, m: als Namen für sprachlich realisierten Sinn versteht,
Fachsprache l l ( 1 989) , l 1 3-126. für den bilden die sprachsystemischen Techniken
3 I Vgl. SEGRE (s. Anm. 6) , 270. der >Vertextung< von Sinn nur einen Ausschnitt der
32 Vgl. MICHAEL ALEXANDER KIRKWOOD HALLIDAY/ Textanalyse (Eugenio Coseriu: >transphrastische
RUQAIYA HASAN, Cohesion in English (London
1 976) .
Grammatik< vs. >Linguistik des Sinns<34) .
3 3 Vgl. C OSER!U (s. Anm. 2 3 ) , 5--<). Prekär wird im Ausdruck Text das alltägliche
3 4 Vgl. ebd„ 5 1- 1 5 3 , 1 54-1 76. Vor-Urteil, wonach die Bedeutung der Wörter der
II. Geschichte der Begriffe Text und Textualität 33

Sprache (als einer obj ektiven Instanz) zugerechnet und aufgeklärte Verständnis, das sich ein Experte
wird, der Sinn des Gesagten aber dem Sprechen­ von einem alten Text erarbeitet, oft mit dem einfa­
den: In der abgelösten Form des Textes fallt der chen Vollzugssinn gar nichts zu tun, den ein Text
Sinn ganz dem Rezipienten anheim, und nur die für seine zeitgenössischen Adressaten gehabt haben
erneute kommunikative Thematisierung kann ihn mag, die ihn wohl kaum jahrelang bearbeitet ha­
zwingen, seine Auslegung am >Wortlaut< des Textes ben. Oder, anders gesagt, philologisch können
plausibel zu machen. In vielen Fällen erzwingt die auch triviale Texte nur durch andere, nichttriviale
sympraktische Rede eine Verständigungskontrolle Texte interpretiert werden, aber der >user< eines
am Fortgang des koordinierten Handelns. In j edem trivialen Textes hinterläßt keine Rezeptionsdoku­
Fall erlaubt sie die Rückfrage bei Unklarheiten. mente. Er verfertigt keine interpretierenden Texte.
Der Text hingegen steht allein, und er muß es tun Ziel solcher professionellen Operationen am Text
können, wenn wir ihn für einen Text halten sollen. ist gewöhnlich die Explikation des Impliziten.
Zwar mag der Produzent eines geschriebenen Tex­ Aufgrund des problematischen begriffiichen Sta­
tes bestimmte Adressaten im Auge gehabt haben, tus von Text gehe ich in den folgenden Abschnit­
doch kann 1im Prinzip< jeder einen geschriebenen ten der Durchführung jeweils einen doppelten
Text lesen, auch dann noch, wenn die Gesamtheit Weg: von der Geschichte des Wortes bzw. der
der Orientierungshorizonte des Schreibers längst Wortfamilie zur historischen Praxis der Auslegung
untergegangen ist. Darin liegt bereits die Möglich­ überlieferter Sprachzeugnisse und von den in der
keit, daß der bloße Zeitablauf aus einem gegebe­ Auslegungspraxis und im Begriffsfeld lebendigen
nen Text etwas macht, was dem Autor gar nicht Ansichten über Textualität bzw. über die Natur des
hätte in den Sinn kommen können.35 Darin liegt >Auszulegenden< zu den jeweils vorherrschenden
j edoch auch der Anlaß für die professionelle Re­ Bezeichnungen.
konstruktion untergegangener Horizonte, die frei­
lich nur dann einsetzt, wenn Dokumente aus der
Perspektive der rezipierenden Epoche gleichzeitig
>heilig< und aktuell >unverständlich< sind. In dieser I I . Geschichte der Begriffe Text und
Konstellation lauern die Paradoxien scharenweise. Textualität
Die unter dem Namen des hermeneutischen Zir­
kels bekannte ist nur die auffallendste. Je mehr die
1. Von der antiken Rhetorik zur Bibel
Verständigung auf der abgelösten sprachlichen For­
mulierung allein ruht, desto problematischer wird In der antiken Überlieferung besteht die Tätigkeit
sie. Im Extrem ermöglicht es die Textform, daß des >Philologen< (der zunächst noch >Grammatiker<
der Rezipient Gesagtes bloß zum Anlaß indivi­ hieß, während der Name >Philologe< allgemein
dueller, assoziativer und kontingenter Sinnproduk­ für den Liebhaber der Rede, der Literatur und für
tion nimmt. Gleichwohl halten wir an der Erwar­ den Gebildeten gebraucht wurde37) aus vier bis
tung fest, daß Texte im Prinzip (mehr oder weni­ sechs Teilaufgaben der Textanalyse. Bei Dionysios
ger) richtig verstanden werden können. Die Thrax, einem im 2. vorchristlichen Jahrhundert
Überprüfung kann nur im System der oben ge­ lebenden Schüler Aristarchs und Verfasser des
nannten Bezüge stattfinden. Sprachwissen und ältesten Handbuchs der Grammatik, sind es sechs:
-können des Rezipienten garantieren kein Rede­
oder Textverständnis. Sie geben nur den ersten
35 Vgl. SEGRE (s. Anm. 6) , 27 r .
Plan, der dann in tieferen Schichten abgearbeitet 3 6 Vgl. GEROLD U N GEHEUER, Vor-Urteile über Spre­
wird.36 Und doch hat man unter Umständen vom chen, Mitteilen, Verstehen ( 1 987), in: Ungeheuer,
Text allein die Sprachform. Offenbar rekurriert Kommunikationstheoretische Schriften, Ed. 1, hg. v.
Textverstehen auf die Gesamtheit des Rezipienten­ ]. G. Juchem (Aachen 1 987), 3 2 5-327.
3 7 Vgl. HEYMANN STEINTHAL, Geschichte der Sprach­
wissens, das sinnhaft mit dem Text verbunden wer­
wissenschaft bei den Griechen und Römern mit be­
den kann. Kraft dieser Tatsache gehört es immer in sonderer Rücksicht auf die Logik ( 1 863), Bd. 2 (Ber­
dessen Horizont, und gewiß hat das sicher oft tiefe lin ' 1 8 9 1 ) , 1 4-17.
34 Text/Textualität

r . Lectio, »das gekonnte laute Vorlesen nach Pro­ Staatsakte zu Schriftwerk überhaupt, Literatur,
sodie und Akzent« (avayvwcrn; (VTptj3�<; KCXTa Text.
rrpoau,il\icxv) ; 2. »Erklärung der verwandten rheto­ Die antike Auslegungspraxis verweist durch ih­
rischen Figuren« (E:��yl]crt<; KCXTa TOD<; E:vurrcip­ ren autoritativen Charakter auf den Problemkreis,
xovTcx<; 1IOll]T1KOU<; Tporrou<;) ; 3 . »Sprach- und der namentlich die theologische und juristische
Sacherklärungen« (yP.waawv T€ KCXt 'taTOptwv rrpo­ Hermeneutik bis zum Beginn der Aufklärung be­
xnpo<; arr65om<;) ; 4. »Auffinden der Wortablei­ herrscht: die verbindliche normative Auslegung
tungen« (i:: wµoP.oyiw; €Vp€0't<;) ; 5. »Darlegungen von Gesetzen und heiligen Texten.40 Zu vermitteln
zur Formenlehre« (avcxP.oyicx.; i::KP.oy1aµo<;) ; und war der Wille des Gesetzgebers oder der normative
als höchste Kunst schließlich 6. das »Kunsturteil« Sinn kanonischer Texte für die aktuelle Gegenwart
(Kptm<; rr011]µaTwv38) . In einem Scholion zu Dio­ und Praxis der Zeitgenossen des Auslegenden. Bis
nysios Thrax findet man vier wesentliche Abtei­ zur frühen Neuzeit war die Vorstellung vorherr­
lungen - emendatio (Wiederherstellung des Origi­ schend, der Text sei ein Gegebenes und alle Inter­
naltextes) , lectio, enarratio (Sacherklärung) und iu­ pretationen stammten allein von ihm selbst. Weder
dicium (Kunsturteil) : »Seit alters gibt es vier Teile die Subjektivität des Interpretierenden noch der
der Grammatik: [„ .] Textverbesserung, Vorlesen, Wechsel der zeitlichen Horizonte fanden Berück­
Sacherklärung und Kunsturteil.« (T 6 rrciP.cxt µ(pi] sichtigung.
Tij.; ypaµµanK�<; �v Tfa0'€pa· [„ .] 5top8wnK6v, Im Quintilianischen »dicendi textum«41 (Ge­
avayVWO'TIKOV, (�J]Yl]TlKOV Kat KplTlKOV.39) Das webe der Sprache) schwingt keineswegs die heu­
Auszulegende waren die ypaµµaTa (grammata, lat. tige Vorstellung mit, nach der Textualität gewisser­
literae, wörtlich: die Buchstaben) . Die Bedeutung maßen das Fixierungsmittel von Sinn ist oder das
von grammata weitete sich von Inschrift, Brief, Material, in dem Sinn aufbewahrt wird; vielmehr
ist der Duktus der sprachlichen Gedankenführung
selbst gemeint. Der antike Hermeneut versteht
sich nicht so sehr als Interpret eines Textes im heu­
38 D I O N Y S I O S THRAX, Ars grammatica I , in: Granuna­ tigen Sinne, sondern viel eher als Mittler und
tici Graeci, Bd. 1 1 ! , hg. v. G. Uhlig (Leipzig 1 8 8 3 ) , Sprachrohr von dessen Autor. 42 Der Text als sol­
5 f. ; vgl. T H E O D O R B I R T , Kritik und Hermeneutik
cher ist kaum abgesetzt von den Intentionen seines
nebst Abriß des antiken Buchwesens (München
1 9 1 3) , 7. Urhebers.
39 Commentarius Melampodis seu Diomedis I , in: Aus antiken und patristischen Quellen speist
Grammatici Graeci, Bd. 1 / 3: Scholia in Dionysii sich die das ganze Mittelalter hindurch gültige
Thracis Artern grammaticam, hg. v. A. Hilgard (Leip­ Doktrin vom vierfachen Schriftsinn, kodifiziert
zig 1 90 1 ) , 1 2 .
40 Vgl. HANS-GEORG GADAMER, >Hermeneutik<, in: und systematisiert durch Cassian43 (mit der von
RITTER, Bd. 3 ( 1 974) , ! 062. Origenes stammenden Augustinischen Lehre von
41 QUINTILIAN , Inst. 9, 4, 17; vgl. EMILIO BETT!, Teoria der Stufenfolge des wörtlichen, moralischen und
generale della interpretazione, Bd. 1 (Mailand 1 9 5 5 ) , geistigen Sinnes der Bibel als wichtigstem Vorläu­
3 5 4; dt. : Allgemeine Auslegungslehre als Methodik
fer) . 44 Danach lehrt die wörtliche Bedeutung die
der Geisteswissenschaften, übers. v. Betti (Tübingen
1 967), 266. historischen Tatsachen, die allegorische den Glau­
42 Vgl. JF.AN P F. PIN, L'hermeneutique ancienne. Les benssatz, der sich daraus ergibt, die moralische die
mots et !es idees, in: Poetique 6 ( 1 975), H . 2 3 , 291- daraus folgende Handlungsanweisung und die ana­
3 00; dt. : Die frühe Hermeneutik. Worte und Vorstel­ gogische den theologisch-heilsgeschichtlichen
lungen, übers. v. C. Voigt, in: V Bahn (Hg.), Typolo­
gie. Internationale Beiträge zur Poetik (Frankfurt Sinn. Mit dem Merksatz des 128 3 gestorbenen Do­
a. M. 1988), 97-I I 3 . minikaners Augustinus von Dänemark: »Der
43 Vgl. GERHARD EBELING, >Hermeneutik<, in: R G G , Buchstabe lehrt die Ereignisse, die Allegorie, was
Bd. 3 (3 1 959), 249. du glauben sollst, ! die Moral der Geschichte, was
44 Vgl. ORIGINES , De principiis 4, 2, 4; GADAMER (s.
du tun sollst, die Anagogie (Hinaufführung) , was
Anm. 40) , 1 062; MAXIMILIAN S C HERNER, >Text<. Un­
tersuchungen zur Begriffsgeschichte, in: Archiv für du hoffen sollst.« (Littera gesta docet, quid credas
Begriffsgeschichte 3 9 ( 1 996) , 1 1 7. allegoria ! Moralis quid agas, quid speres anago-
II. Geschichte der Begriffe Text und Textualität 35

gia. 45) Erst von der Reformationstheologie wird gen zu >Text [„ .] in der Musick<, >Text, in der
diese Doktrin umgestoßen. Das sola scriptura (»Al­ Schrifftgüsserey<50 u. a.) eine längere Abhandlung
leyn die schriffi«46) , Luthers Lehre von der Selbst­ über die Bibelstelle, die der Predigt zugrunde ge­
auslegung der Schrift (»scriptura [ „ . ] sui ipsius in­ legt wird. Auch hier heißt es: »Erkläre die Worte
terpres«47) , reduziert den Glaubenswert der Schrift deines Textes, wo es nöthig ist; am allermeisten
zunächst auf ihren Wortsinn und wendet diesen aber suche die Sachen, die in deinem Text enthal­
polemisch gegen die Lehrautorität der Kirche. ten sind, zu erklären.«51 In der semiotischen Fun­
Daraufhin wendet sich die Reformationstheologie dierung des Textes gibt es zunächst weder einen
dem Bibeltext selbst neu zu und verwirft die auto­ Platz für die Subjektivität des Autors noch für den
ritative Tradition seiner Auslegung. In diesem >Eigensinn< der Sprache(n) . Die Möglichkeit, die
Streit steckt eine Einsicht, an die zu erinnern sich Dinge dieser Welt zu verstehen, wird als unproble­
auch heute lohnt: daß nämlich die schriftliche Co­ matisch vorausgesetzt. 52 Es sind und bleiben die
dierung der >gesta< stringenter und dauerhafter ist >Sachen selbst<, auf welche die Zeichen des Textes
als der inferentielle, allusive, kulturelle und prag­ letztlich zurückgeführt werden müssen. Peter
matische Sinn ihres Berichtes in der Kommunika­ Szondi argumentiert, daß genuine Hermeneutik
tion. erst dann ins Spiel kommt, wenn (mit Friedrich
Außerdem wird in der Literatur die Ansicht ver­ Ast und Schleiermacher) sowohl der Autor selbst
treten, daß die reformatorische Disjunktion von als Ziel der Deutungen wie auch die sprachliche
autoritativem Text selbst auf der einen Seite und Brechung des Gegenstandes den Umgang mit Tex­
von zweifelhaft-prüfungsbedürftiger Auslegung auf ten neu perspektivieren. 53
der anderen den Katalysator für das neuzeitliche Definitorisch findet man bei Georg Friedrich
Erkenntnisproblem abgegeben habe.48 Am Beispiel Meier ein Verständnis von Text, das in seinen
autoritativer Texte sei zuerst das Problem aufgetre­ Merkmalen dem heutigen weitgehend entspricht:
ten, verbindlich zwischen >objektivem< Sachgehalt »Der Text (textus) ist die Rede, in so ferne sie, als
und >subjektiver< Zutat zu unterscheiden, und diese der Gegenstand der Auslegung, betrachtet wird.«
Polarisierung sei Muster des neuzeitlichen Er­ Und weiter: »Eine Rede, welche keinen Sinn hat,
kenntnisproblems geworden: zu unterscheiden kan kein Text seyn«54. Auch die Verselbständigung
nämlich, was von den Sinneseindrücken Wirkung des Textsinnes gegenüber dem Verständnis des Au-
der wahrgenommenen Sache selbst und was >sub­
j ektive< Zutat des Erkennenden und seiner Sinnes­
organisation sei. 45 AUGUSTINUS VON D Ä NEMARK, Rotulus pugillaris l ,

Seit dem Mittelalter oszilliert die lexikalische hg. v. A . Walz, in: Angelicum 6 ( 1 929), 256.
46 MARTIN LUTHER, Antwort deutsch auf König Hein­
Bedeutung (bzw. der Bezeichnungswert) des Aus­ richs Buch ( 1 522), in: Luther, Werke. Kritische Ge­
drucks Text zwischen der Ebene des Werkes selbst samtausgabe, Bd. ro/2 (Weimar 1 907) , 232; vgl. LU­
und seiner materiellen Realisierung in einer Ab­ THER, Contra Henricum Regem Angliae ( I 522), in:

schrift. Noch in der humanistischen und der neu­ ebd„ I 86.


47 LUTHER, Assertio ornnium articulorum M. Lutheri
eren Philologie spricht man bei überlieferten Ab­
per bullan1 Leonis X. novissimam dan1natorum
schriften eines Werkes vielfach von dessen Tex­ ( I 5 20) , in: ebd„ Bd. 7 (Weimar 1 897) , 97.
ten. 49 48 Vgl. OLSON, Mind and Media (s. Anm. 20) , 29 f. ; OL-
SON, Thinking about Narrative (s. Anm. 20), ro3 f
49 Vgl. SEGRE (s. Anm. 6) , 270.
2. Text, Zeichen und Sache in der Hermeneutik der 50 Vgl. ZEDLER , Bd. 43 ( 1 745), 305, 3 I 5 .
A ufk lärung 51 >Text einer Predigt<, in: ebd„ 305 .
52 Vgl. PETER S Z O N D I , Einführung in die literarische
Die Textverstehenslehren der Aufklärung sind zu­ Hermeneutik, in: Szondi, Studienausgabe der Vorle­
nächst überwiegend am Verständnis der Sache in­ sungen, hg. v. J. Bollack u. a„ Bd. 5 (Frankfurt a. M.
1975), I42.
teressiert und betrachten den Text nur als Vehikel 53 Vgl. ebd„ I42 f
auf dem Weg zu dieser. In Zedlers Universal-Lexi­ 54 GEORG FRIEDRICH MEIER, Versuch einer allgemeinen
con findet man unter >Text< (neben kurzen Einträ- Auslegungskunst (Halle 1 7 5 7) , 5 8 , 60 (§§ r o 5 , ro9).
36 Text/Textualität

tors ist vollständig gedacht: Der Ausleger ist kei­ keit der Texte reflektiert: »den wahren Sinn«
neswegs gehalten, alles ebenso zu denken, wie es (verum sensum) einer Textstelle dürfe man nicht
der Autor gedacht hat. Er kann eine klarere, gewis­ mit der »Wahrheit ihres Inhalts« (rerum veritate)56
sere, größere Kenntnis des Sinnes haben als dieser. verwechseln; der zur Sprachgestalt gehörige Teil
Zur Auslegung eines Textes gehört die vollständige des Textsinnes ergibt sich aus der Vergleichung des
Erkenntnis der actio, auch insofern sie im Text Sprachgebrauchs in bezug auf die Sache. Im letzten
selbst nicht niedergelegt worden ist. Die wahre Drittel des 1 8 . Jh. , mit dem gewaltig zunehmen­
Natur der Sache, von welcher der Text handelt, ist den Interesse des gebildeten Publikums an Fragen
dessen beste Auslegung. Der Oberbegriff für das der Sprache und der Sprachlichkeit, schlägt das
Auszulegende überhaupt ist bei Meier »Zeichen« Sachinteresse vollends in Sprachinteresse um. Die
(4 f. , 57 [§§ 7, ro3]) . Die auszulegenden Redegat­ Sachdimension der Texte, für Meier noch selbst­
tungen oder Texte sind: l . »die heilige Schrift« verständlicher Interessenschwerpunkt, tritt zurück
( 1 3 0 [§ 2 5 1 ] ) ; 2. »die bürgerlichen Gesetze« ( 1 3 0 hinter deren Eigenschaft, unmittelbarer Ausdruck
[ § 252]); 3 . »sittliche Charakteristik« ( 1 3 0 [ § 253]) der Kulturen, Nationen, Völker zu sein. Die Spra­
(gemeint sind Reden, die auf den Charakter ihres chen selbst werden zu individualisierten Verkörpe­
Urhebers verweisen) ; 4. »Diplomata« (1 3 1 [§ 254] ) ; rungen der nationalen Kulturen. Die allgemeine
5 . »die Oracul [ . . . ] , das ist, [ . . . ] Vorhersehungen« Grammatik der Aufklärungszeit (mit ihrer Mi­
( 1 3 1 [§ 2 5 5] ) . Bei Johann Martin Chladenius findet schung aus sensualistischen und rationalistischen
man wenige Jahre vor Meier die Lehre vom »Sehe­ Motiven) fand in den Einzelsprachen die gemein­
Punckt«55, von der notwendigen Perspektivität ei­ samen Bedingungen vernünftigen Urteilens ver­
nes j eden Textes, mit der dialektischen (und bereits körpert. Sie befindet sich um l 800 überall auf dem
auf Schleiermachers hermeneutische Prinzipien Rückzug. Der fehlende manifeste Kontakt zwi­
hindeutenden) Folgerung, daß man einesteils dem schen Sprachwissenschaft und Hermeneutik im
Autor in seine innersten Absichten und Nebenge­ 18. Jh. , über den sich Hendrik Birus zu wundern
danken folgen, anderenteils aber auch alle obj ekti­ scheint57, hat seine Ursache in der traditionellen
ven Umstände des berichteten Ereignisses nach Gebildeorientierung der Sprachwissenschaftler (im
Zeit, Ort usw. rekonstruieren müsse, um die spon­ Unterschied zur naturgemäßen Werkorientierung
tane Perspektivität des Autors oder Textes zu neu­ der Hermeneutiker). Diese Konstellation ändert
tralisieren. sich erst, als nach l 800 die Sprachwissenschaft
Das primär sachlich gerichtete Interesse der selbst Nationalphilologie (und damit text- oder
Aufklärung an Texten ist freilich mehrfach zu rela­ werkorientiert) wird. Die Anlagen dazu findet
tivieren. Schon von Spinoza wird die Sprachlich- man freilich schon bei Herder, Karl Philipp Mo­
ritz, August Ferdinand Bernhardi und anderen Au­
5 5 JOHANN MARTIN CHLADENIUS, Einleitung zur rich­ toren der Übergangszeit. Auch Johann Heinrich
tigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften Lamberts Zeichenlehre, mit der Theorie der >sym­
(Leipzig 1 742) , 1 82, 1 8 7 (§§ 306, 309) . bolischen Erkenntniß< als Kernstück, dürfte in ei­
56 BARUCH DE SPlNOZA, Tractatus Theologico-Politicus
ner ausgeführten Geschichte der Aufklärungsher­
( 1 670) , in: SPINOZA, Bd. 3 (1925), 1 00 (Cap. 7) ; dt. :
Theologisch-politischer Traktat, übers. v. C. Geb­ meneutik nicht fehlen. 58
hardt (Leipzig 1 908), 1 3 7 -
5 7 Vgl. HENDRIK BIRUS, Zum Verhältnis von Herme­
neutik und Sprachtheorie im l 8. Jahrhundert, in: R. 3. Text im Jahrhundert der Philologen
Wimmer (Hg.), Sprachtheorie. Der Sprachbegriff in
Wissenschaft und Alltag (Düsseldorf/Bielefeld 1 987) , Die Professionalisierung der Philologie, die sich in
143-1 74. mehreren Etappen durch das 19. Jh. zieht, führt zu
58 Vgl. JOHANN HEINRICH LAMBERT, Neues Organon einer zunehmenden Distanzierung der Texte (bzw.
oder Gedanken über die Erforschung und Bezeich­ des Textsinnes) von der Lebenswelt der Rezipien­
nung des Wahren und dessen Unterscheidung vom
ten. Dominierte bislang die Vorstellung, der Text
lrrthum und Schein, ßd. 2 (Leipzig 1 764) , 5-43 ;
AXEL BÜHLER/tUIGl CATALDI MADONNA (Hg.) , >spreche< unmittelbar zu j edem Rezipienten, der
Hermeneutik der Aufklärung (Hamburg 1 994) . mit dem Organon der Philologen (Grammatik,
II. Geschichte der Begriffe Text und Textualität 37

Hermeneutik, Kritik) umzugehen weiß, so wird mehr (bei Ast, Wolf, Schleiermacher) ist es der
>authentischer< Textsinn nun zu einer Größe, die >Geist< der vergangenen Epoche, der erweckt wer­
der mühsamen (und immer approximativ bleiben­ den soll, und das Werk gilt als Ausdruck der (typi­
den) historischen Rekonstruktion bedarf und von schen, klassischen) Individualität des Autors im
professionellen Experten verwaltet wird. Auch Rahmen der Epoche. Nicht mehr das textuell Dar­
wandelt sich die (aufklärerische) Vorstellung von gestellte ist bevorzugter Gegenstand der Rekon­
den nützlichen Lehren, die man aus der Beschäfti­ struktion und des Verständnisses, sondern die
gung mit den >alten< Texten ziehen könne, zum »Cultursituatiorn62 und die Individualität des Au­
eher indirekten, von der bürgerlich-praktischen tors in ihr. Der auszulegende Text wird (vor allem
Welt zunehmend distanzierten Bildungswert. Karl bei Ast63) ein emphatisches Ganzes, bei dem der
Gottfried Wilhelm Theile betrachtet die herme­ Sinn jeder Einzelheit in ihrer Beziehung auf die
neutische Wissenschaft zwar als eine historische Grundidee liegt. Der Hermeneut stopft also nicht
dem Ziel und den Wegen nach, hält aber ihren mehr bloß das Sinngewebe des löchrig geworde­
wesentlichen Inhalt für apriorisch fundiert (nach nen Textes, er muß vielinehr dessen Grundmuster
dem gedanklichen Muster des ausgehenden völlig neu konstruieren.
1 8 . Jh. : Ableitung der wesentlichen und notwendi­ Während Schleiermachers Hermeneutik aber
gen Bestimmungen aus dem Begriff der Mitteilung noch bipolar und dialektisch angelegt ist (zwischen
und des Interpretierens) .59 der umfassenden Rekonstruktion des Sprachzu­
Die Axiomatisierung der Hermeneutik (na­ stands sowie der Traditionen des Sprechens -
mentlich bei Schleiermacher) zu einer allgemeinen grammatische Interpretation - und der Einord­
Textwissenschaft begleitet die Professionalisierung nung der Schrift in die Biographie des Autors -
der Philologien. Theile konstatiert noch, daß die psychologische Interpretation64) , wird Text in der
klassische Philologie bis dato ohne eine Theorie zweiten Jahrhunderthälfte zusehends psychologi­
der Auslegung ausgekommen sei.60 Um 1 900 ist siert. Es gilt nun, das Vorstellen und Erleben des
das Geschäft der Auslegung klassischer Texte kodi­ Autors möglichst authentisch nachzuvollziehen
fiziert und mechanisiert. Die Hermeneutik ist we­ (Dilthey) . Die Psychologie wird zur Leit- und Vor­
sentlich ein Werk der Theologen und Juristen. Erst bildwissenschaft der Philologien und der Sprach­
Schleiermacher vollzieht die Gen1einsan1keit des wissenschaft. Jeder Text ist ein Dokument des
Bildungsbürgertums, Texte auszulegen, auch in Fremdseelischen und will als solches verstanden
der Theorie programmatisch nach (Friedrich Au­ werden. Kongenialität und Intuition sind gefragte
gust Wolf und Ast gehen ihm freilich voraus) . Eigenschaften des Auslegers. Hier ist eine Hypo­
Im 1 9 . J h . ist und bleibt der Status von Text der thek aufgenommen worden, an der die Herme­
eines impliziten Grundbegriffes. Charakteristi­ neutik bis heute trägt: Sie hat sich auf >einfühlende<
scherweise findet man in den Handbüchern und Techniken und Fähigkeiten gestützt, die nicht ob­
Nachschlagewerken der Epoche keinen Eintrag j ektivierbar sind. Komplementär zur Psychologi­
>Text<, wohl aber Komposita mit >Text< als Bestim­ sierung der höheren Hermeneutik findet man die
mungswort und als Grundwort, während der
ganze Kanon der philologischen Termini technici 59 Vgl. KARL GOTTFRIED WILHELM THEILE, >Herme­
wie Konjektur, emendatio, recensio, Kritik, Über­ neutik<, in: ERSCH/ GRUBER, Abt. 2, Bd. 6 ( 1 829) ,
lieferung, Auslegung auf >Text< als einen impliziten 3 04a.
60 Vgl. ebd.
Zentralbegriff verweist.
61 Vgl. SZONDI (s. Anm. 52), l 42 f.
Was das System der konstitutiven Bezüge an­ 62 PHILIPP WEGENER, Untersuchungen über die Grund­
geht, so gibt es folgenschwere Verschiebungen ge­ fragen des Sprachlebens (Halle r 8 8 5 ) , 27.
genüber der Hermeneutik der Aufklärung: Für 63 Vgl. FRIEDRICH AST, Grundlinien der Grammatik,
diese transportieren Texte dominant ein Verständ­ Hermeneutik und Kritik (Landshut 1 808), l 7 I - 1 7 3 ,
1 78-1 8 1 (§§ 7 1 , 7 5 ) .
nis der Sache, von der sie handeln, und in der vol­
6 4 Vgl. FRANK, D a s individuelle Allgemeine. Textstruk­
len Rekonstruktion dieses Sachverständnisses gip­ turierung und -interpretation nach Schleiermacher
felt auch die Leistung des Hermeneuten.61 Nun- (Frankfurt a. M. r 977) .
38 Text/Textualität

Mechanisierung und >Technisierung< der niederen. Arrangements der Zeichen auf verschiedenen
Deren Verfahren werden kochbuchartig in feste Ebenen (und nennt sie >discourse<) .67 Für Louis
Regeln des Umgangs mit klassischen Texten ge­ Hjelmslev, den Mitbegründer der Glossematik,
faßt.65 dessen Ansichten sowohl für die sowjetische Kul­
Der implizite und weitgehend unbewußte Cha­ tursemiotikJurij M. Lotmans als auch für den fran­
rakter des philologischen Textbegriffs zeigt sich in zösischen Strukturalismus (einschließlich seiner
der wenig problematisierten Rückprojektion der Post- und Neoformen) wichtig geworden sind,
eigenen Standards in die erforschten Epochen: Die sind Texte sekundäre oder konnotative Systeme, da
Vorstellung, zu j edem Werk habe es eine und nur ihre eigenen signifikativen Ordnungen auf denen
eine >richtige< Fassung zu geben, während alle >an­ des Sprachsystems aufruhen. Für die textuellen Be­
deren< Abschriften Verfälschungen seien, gehört ziehungen bilden die bilateralen Sprachzeichen
zum Werk-Autor-Verhältnis des 19. Jh., nicht un­ (Ausdruck und Inhalt bzw. Form des Ausdrucks
bedingt aber auch zu den erforschten Texten. Das und Form des Inhalts) ihrerseits nur die Aus­
Original ist die Chimäre der Philologie, und die drucksseite (signifiant) , die den (außersprachlichen)
Überlieferung eines Werkes ist von seiner Verfäl­ Textsinn (signifie) organisiert. 68
schung nicht zu unterscheiden. 66 Hier knüpft unter anderem die Tartuer Schule
der Kultursemiotik an. Bei Lotman wird der
künstlerische Text definiert als explizite, begrenzte,
4. Der strukturalistische Textbegriff
strukturierte und fixierte Zeichenmenge, be­
In ihrer klassischen Fassung kennt die strukturali­ stehend aus externen und internen Beziehungen. 69
stische Lehre allein Systeme von signifikativen Ein­ Die extratextuellen Bezüge ergeben sich unter an­
heiten, die ihren Wert (valeur) in der Opposition derem durch die Relation auf die Gesamtmenge
zu allen anderen Einheiten fixieren. Systemrelatio­ der Elemente und Codes, aus denen die des j ewei­
nen in diesem Sinne sind extratextuell, extrakom­ ligen Textes ausgewählt sind. Literarische Texte
munikativ. Sie werden in der Rede nur >realisiert<, sind ihrerseits modellbildende Systeme, d. h. sie
existieren aber außerhalb derselben. Der Text ist verdichten ihren Sinn und Informationswert durch
lediglich der Ort, an dem man durch methodische Mehrfachcodierung, durch externe und interne
Analyse die Systembeziehungen findet, er ist der Umcodierung von Bedeutungen. Literarische
Inbegriff aller Realisierungen des Systems, als >pa­ Texte erhöhen die Prägnanz ihres Inhalts, ihrer In­
role< aber selbst nicht einheitlich organisiert, son­ formation, ihrer Außenbeziehungen durch beson­
dern voller Kontingenzen. Sehr unterschiedlich dere Prinzipien der parallelen und kontrastieren­
sind Theorie und Emphase, mit denen sich die den Organisation ihrer Innenbeziehungen. Textua­
Schulen des (linguistischen und literaturwissen­ lität beruht nicht notwendig auf Schriftlichkeit,
schaftlichen) Strukturalismus auf ihre textuelle Ba­ sondern auf kanonisch >festgestellter< Formulie­
sis rückbeziehen. Die Distributionsanalyse der rung. Hier gilt, daß jeder realisierte Text eine ge­
Schule um Zelig Harris kennt Texte als materielle ordnete Extraktion aus dem kulturellen Gesamt­
text darstellt, auf welchen die Sinneinheiten letzt­
lich als auf ihren Fundus verweisen. 70
65 Vgl. BIRT (s. Anm. 3 8) . In der gemeinstrukturalistischen Opposition von
6 6 Vgl. S E GRE (s. Anm. 6) , 280. System und Prozeß gehören Texte zunächst ganz
67 Vgl. ZEUG s. HARRIS, Discourse Analysis Reprints auf die Seite des Prozesses. Sie sind dessen Reali­
(1957; Den Haag 1963).
68 Vgl. J Ü RGEN TRABANT, Zur Semiologie des literari­ sierungen und kraft dieser Tatsache auch indirekt
schen Kunstwerks. Glossematik und Literaturtheorie Realisierungsformen des Systems. Es versteht sich,
(München 1 970) , 2 1-3 1 . daß diese Perspektive von der Analyse natürlicher
6 9 Vgl. J URIJ M . LOTMAN, Struktura chudozestvennogo Sprachen her genommen ist, bei der es zunächst
teksta ( 1 970) , in: Lotman, Ob iskusstve (Sankt Peters­
den Anschein hat, daß das System der Einheiten,
burg 1 998), 59-{i6; dt. : Die Struktur literarischer
Texte, übers. v. R.-0. Keil (München 1972), 8 I-9I . Relationen und Oppositionen von der unendli­
7 0 Vgl. SEGRE (s. Anm. 6), 289. chen Menge der Realisierungen als deren Grund-
II. Geschichte der Begriffe Text und Textualität 39

Jage reinlich abgetrennt werden kann. 7 1 Was i n ei­ nicht primär unproblematische Erscheinungsfor­
nem Text steht, das interessiert aus dieser Perspek­ men des Codes, sondern vielmehr problematische
tive zunächst nur, insofern es auf Systembezüge Codierungen einer Kultur sind. Geschwächt wird
rückverweist. Von hier ist es noch ein langer Weg durch diese Problemverschiebung die Autonomie
zu der Erkenntnis, daß der >Sinn< eines Textes kein des Codes, der nun nicht mehr als selbständige
Abkömmling des Sprachsystems ist, dieses viel­ Sinnquelle erscheint, sondern als reine Form für
mehr seinerseits aus den geordneten Chiffren und die geordnete Darstellung kontingenter, konnota­
Kürzeln besteht, mit deren Hilfe >Diskurse<, kultu­ tiv vereinnahmter Sinngehalte. Schon für Uldall ist
relle Texte erzeugt und reproduziert werden kön­ die >Substanz des Inhalts< für alle Zeichensysteme
nen. gleich, die in ein und derselben Kultur operieren.
Die ideengeschichtlich bedeutsame Leistung der Deshalb kann man ein und dieselbe Situation im
Kopenhagener Glossematik (Hjelmslev, Hans Joer­ Prinzip in Texte aller Zeichensysteme übersetzen.
gen Uldall) haftet vornehmlich an den Ausdrücken Auch die Ausweitung des Textbegriffs auf flüch­
Text und Konnotation. Dem gemeinstrukturali­ tige, nicht aufgezeichnete Systeme von Handlun­
stischen Axiom, wonach Inhalt und Ausdruck in gen und Orientierungen findet man bereits in der
Zeichensystemen nur >aneinander< sich ordnen Glossematik. Uldall argumentiert, Soziologen und
und ordnen lassen, haben die Kopenhagener eine Anthropologen müßten an verläßlichen Sprachbe­
bestimmte Gestalt gegeben: das Modell der vier schreibungen interessiert sein, »since they can no
durch Kreuzklassifikation verbundenen Strata.72 more afford to ignore the texts of their situations
Die Inhalts- und Ausdrucksseite eines Zeichensy­ than the linguists the situations of their texts«74.
stems werden jeweils noch einmal in Form und Sowohl die Tartuer Kultursemiotik als auch die an­
Substanz unterteilt, so daß die folgenden vier Strata thropologische Textlehre konnten hier leicht an­
entstehen: Substanz des Ausdrucks - Form des setzen, ebenso natürlich die ungemein erfolgrei­
Ausdrucks - Form des Inhalts - Substanz des In­ chen Film-, Mode- und sonstigen Spartensemioti­
halts. Die Substanz des Ausdrucks ist das Medium ken der letzten Jahrzehnte.
des Zeichenträgers, bei natürlichen Sprachen also Für die Vertreter des Prager Strukturalismus
etwa der Laut, die Schrift, das Morsealphabet. Die stellt sich Text etwas anders dar. 7s Texte gelten als
Substanz des Inhalts ist eine Weltanschauung oder Sequenzen von Satz-tokens, nicht von Satz-types,
Kultur, die Gesamtheit der kulturellen Muster, Ty­ die vielmehr zum Code, zum System, gerechnet
pisierungen, >beliefs<. Die beiden mittleren Schich­ werden. Konstitutiv für die Identität eines Textes
ten (Form des Ausdrucks - Form des Inhalts) defi­ ist nicht die Bedeutung der Sätze, sondern der
nieren eine Sprache, die von der Glossematik mit­ Sinn der Äußerungen, aus denen er aufgebaut ist.
hin als reine Zuordnung von Formen gedacht Das ist im Kern die linguistische Position dieser
wird. Beide substantiellen Strata gehören an sich Schule. Coserius >Linguistik des Sinns<76 kann als
nicht zu einer Sprache, sie liefern ihr nur den Stoff, Programm einer Texttheorie im Geiste des Prager
der von ihr geordnet wird. >Konnotative< Systeme Strukturalismus gelesen werden.
bilden sich, wenn komplexe bilaterale Zeichenein­ Jakobsons klassische Definition eines dichteri­
heiten ihrerseits zu ausdrucksseitigen Verkörperun­ schen Textes nimmt dagegen ihren Ausgang bei ei­
gen weiterer Inhalte werden. Just das ist in allen nem bestimmten Gebrauch, der von den Techni­
Texten der Fall. Die textuelle >Konnotation< macht ken des sprachlichen Codes gemacht wird: Projek-
aus den bilateralen Zeichen des Codes gewisserma­
ßen trilaterale semiotische Einheiten, die auf kul­ 71 Vgl. DE S A U S SURE (s. Anm. I I ) , 24; dt. 10.
turell typisierte Situationen verweisen. Jede Ablö­ 72 Vgl. U L D A L L (s. Anm. 26) , 26.
sung eines Textes aus seinen originären Verwen­ 73 Vgl. ebd„ 29.
dungszusammenhängen erzeugt ein neues Objekt, 74 Ebd„ 30.
75 Vgl. J A K O B S O N (s . Anm. 21); P E T R S G A L L , Remarks
das als Ensemble von Text und Situation beschrie­
on Text, Language and Communication, in: Petöfi (s.
ben werden muß.73 Hier ist der für den neueren Anm. 29) , 8<)--100.
Textbegriff zentrale Gedanke angelegt, daß Texte 76 Vgl. COSERIU (s . Anm. 23), 5 1-1 5 3 .
40 Text/Textualität

tion des Äquivalenzprinzips (Ähnlichkeit, Rekur­ und das einzelne Märchen auf der anderen Seite
renz, Kontrast) von der paradigmatischen Achse schiebt sich eine strukturell und funktional wohl­
der Selektion auf die syntagmatische Achse der geordnete Dramaturgie aus Rollen und ihren
Verknüpfung. Vorgetragen 1 960, wählt diese These Funktionen. Diese ist ihrerseits so stabil, daß sie
durchaus den Code als >Generator< des textuellen auch im Wechsel ausdrucksseitiger Erscheinungs­
Sinnes und vor allem der ästhetischen Qualitäten formen immer erkennbar bleibt. Diese Ordnung
der Sprachkunst. Jakobsons »poetische Funktion der liegt zwar implizit einem Korpus von Texten zu­
Sprache« (poetic function of language) 77, zu Karl grunde, sie bildet aber insofern keinen selbständi­
Bühlers >0rganonmodell<78 als dominante »Einstel­ gen Code, als ihre spezifischen Einheiten von In­
lung auf die Botschaft« (set [Einstellung] toward the halt und Ausdruck außerhalb der Textsorte Mär­
message) 79 hinzuaddiert, ist diesbezüglich sehr deut­ chen nicht als solche vorkommen und sich
lich: Es ist die reflexive Formgebung, die Konzen­ variabler Zeichengestalten zur Materialisierung be­
tration auf das Arrangement der Mittel, was eine dienen können. So besteht eine hochgradige Of­
Zeichenfolge zum künstlerischen Text macht. In fenheit j ener »Mangel- oder Fehlsituation« (c11Tya­
Kunstwerken dominiert die poetische Funktion u;1111 HexBaTKl1 11Jil1 He.aocrnq11) 8 0 , die regelmäßig
das Ensemble der Sprachfunktionen, aber zu fin­ zur Ausgangslage des Märchens gehört. Das >Feh­
den ist sie im Konzert der übrigen Funktionen lende< kann auftreten als Nahrung, Geld, Braut,
auch anderweitig. Jakobson bleibt der Perspektive Bräutigam, Kind, Zaubermittel usw.
des klassischen Strukturalismus darin treu, daß Bedacht ist bei Propp einmal die Reflexivität
Texte für ihn im Kern Manifestationen des ihnen und Autonomie textueller Traditionen (und nicht
zugrunde liegenden Codes bleiben. Dessen Mög­ nur der Traditionen des sprachlichen Codes) , dann
lichkeiten sind es, auf denen die komplexen Sinn­ aber auch der Umstand, daß mit dieser relativen
effekte der Kommunikation basieren. Autonomie einer Textsorte spezifische Tropisie­
Einen ganz anderen, gleichwohl ebenfalls struk­ rungsmöglichkeiten einhergehen: Das dramaturgi­
turalistischen Ansatz wählt Vladimir Propp. Für sche Muster geht so fest in den Erwartungsbestand
ihn geben nicht die Zeichen und Symbole des Co­ der Rezipienten ein, daß es unter den diversesten
des die Bauteile eines (Märchen-)Textes ab, es sind ausdrucksseitigen Erscheinungen aufgerufen wer­
vielmehr die textsortentypischen Rollen, Aktio­ den kann. In der glossematischen Terminologie:
nen, Ereignisse und Entwicklungen, welche in Ganz unterschiedliche Einheiten von Ausdruck
wechselnden zeichenhaften Einkleidungen und und Inhalt konnotieren unter den gegebenen Be­
Abfolgen die im Kern stabile und wiederkehrende dingungen den nämlichen kulturellen Inhalt.
Ordnung des Märchens charakterisieren. Zwischen Propps Ansatz ist überall da wichtig geworden,
den sprachlich-symbolischen Code auf der einen wo es nicht angeht, bei der Analyse von Texten di­
rekt vom Zeichen und seinem (festen, selbstidenti­
schen) Wert auszugehen, wo das für Text oder
77 Vgl. JAKOB S O N , Linguistics and Poetics, in: T. A. Se­ Textsorte konstitutive wiederkehrende Muster in
beok (Hg.), Style in Language (New York/London
der Ebene der Rolle, der Handlung, der Drama­
1 960) , 3 56; dt. : Linguistik und Poetik, übers. v. T.
Schelbert, in: Jakobson (s. Anm. 2 1 ) , 92. turgie liegt. Das ist nicht nur dort der Fall, wo es
78 Vgl. KARL B Ü HLER, Sprachtheorie. Die Darstellungs­ feste Zeichenrepertoires im Sinne einer >Sprache<
funktion der Sprache Oena 1 93 4) , 24-3 3 . gar nicht gibt (also etwa bei allen Formen des bild­
7 9 JAKOBSON (s. Anm. 77) , 3 56; dt. 92. lichen und filmischen Erzählens) , sondern auch da,
80 VLADIMIR J . PROPP, Morfologija skazki ( 1 928; Mos­
kau ' 1 969) , 36; dt. : Morphologie des Märchens, wo mit Hilfe sprachlicher Zeichen rhetorische und
übers. v. C. Wendt (München 1 972) , 39. dramatische Texttraditionen bedient werden. Eine
81 Vgl. KENNETH B U R K E , A Grammar ofMotives (Berke­ breit fundierte philosophische Konzeption drama­
ley/Los Angeles 1 969) . turgischer Textanalysen gibt Kenneth Burke.81
82 Vgl. B R Ü TTING (s. Anm. 1 6) ; FRANK, Das Sagbare
In den neostrukturalistischen Schulen wird das
und das Unsagbare. Studien zur neuesten französi­
schen Hermeneutik und Texttheorie (Frankfurt a. M . Textkonzept radikalisiert, verallgemeinert und ent­
1 980) ; FRANK ( s . Anm. 7) . differenziert. 82 Der Text wird emphatisch aufge-
II. Geschichte der Begriffe Text und Textualität 41

wertet: Vom bloßen Ort der System- (und anderer) 5. Vom Werk zum Text
Beziehungen wird er zum einzigen und eigentli­
chen Zentrum der sprachlichen Sinnproduktion In den 6oer und frühen 7oer Jahren ist zu beobach­
und zum eigentlichen Subjekt der semiotischen ten, wie sich der emphatische Werkbegriff der
Prozesse. Aufgegeben wird die (freilich auch im BRD-Literaturwissenschaft zu einem säkularisier­
klassischen Strukturalismus immer relative) Iden­ ten und weitgehend wertungsfreien Textbegriff
tität und Stabilität der Werte (valeurs), mit denen hin verschiebt. Vertreter avantgardistischer Ästheti­
die Zeichenelemente in den Text eingehen. Es ken wie Max Bense beginnen in den Jahren um
gibt nun außerhalb des universalen Textes (dis­ 1 960, ihre Arbeiten >Texte< zu nennen. Das Litera­
cours) gar keinen Punkt mehr, auf den sich Zei­ rische oder Künstlerische an einem Text gehört
chen beziehen könnten, auch keine relativ stabile damit nicht mehr in die unproblematische Vorab­
langue-Struktur, die den j eweiligen textuellen Ver­ Selektion >würdiger< Gegenstände, es wird zu ei­
wendungen der Zeichen und Schemata zum Halt nem theoretischen Problem, das nach textanalyti­
dienen könnte. Das Prinzip der Differenz ij edes schen Lösungen verlangt. In diesem Kontext wird
Zeichenelement fixiert seinen Wert relativ zu allen in der BRD der neuere Strukturalismus rezipiert. 85
anderen Zeichenelementen) löst bei Ferdinand de Parallel dazu gibt es, über den Textbegriff vermit­
Saussure das Sprachsystem mit seinen relativ festen telt, eine Gegenstandsausweitung, die der Litera­
darstellungstechnischen Ordnungen aus den Kon­ turwissenschaft auch triviale und alltägliche
tingenzen der Rede. Dieses verständige Prinzip Sprachwerke zuführt. Diese Enrwicklung ver­
wird in sein Gegenteil verkehrt, wenn es nicht den schiebt gleichzeitig den literaturwissenschaftlichen
Systemwert, sondern eben die Kontingenzen der Interessenschwerpunkt ein Stück weit von der
j eweiligen Zeichenverwendung im Text aufhellen kunstmäßigen oder >richtigen< Interpretation hin
soll, wie bei Derrida. Saussures berühmter Satz, zur tatsächlichen Rezeption. Die strukturalisti­
wonach es "in der Sprache [ . . . ] nur Verschieden­ schen Poetiken (Jakobson, Jan Mukafovsky, Lot­
heiten ohne positive Einzelglieder« gibt (dans la man, Algirda Julien Greimas, Tzvetan Todorov)
langue il n'y a que des differences sans termes posi­ tragen mit ihren semiotischen und linguistischen
tifs)83 wird grotesk uminterpretiert, denn für de Traditionen zur Obj ektivierung literaturwissen­
Saussure schließt dieser Satz eben auch sein Ge­ schaftlicher Methoden bei.
genteil mit ein: Die jedesmalige Verwendung eines Fast zeitgleich wird in der französischen Diskus­
langue-Elements in der Rede (oder eben im Text) sion das Fundament der post- und neostrukturali­
ergibt immer einen >terme positif<, denn in der stischen Texttheorie gelegt. Wirkungsmächtig sind
Rede beziehen sich die Systemelemente eben in diesem Zusammenhang vor allem Julia Kristeva
nicht nur auf sich selbst, sondern auf das, worüber und die Gruppe Tel quel sowie Barthes, dessen Ar­
gesprochen wird. De Saussures Genfer Schüler tikel für die Encyclopaedia Universalis exemplarisch
(Charles Bally, Albert Sechehaye) haben in diese die Verschiebungen zeigt, die den diskursiven Ge­
Richtung weitergedacht. Die Übertragung des halt des Textbegriffes heimsuchen. Barthes stellt
universalisierten Differenzprinzips auf den Text dort heraus, daß der tradierte Textbegriff nicht zu­
führt dazu, daß man nichts mehr in der Hand hat: fällig im Kontext von gesellschaftlichen Institutio-
Das Gesamt der gesellschaftlichen Kommunikation
besteht dann nur noch aus einem »semiotischen
Mobile«84, das sich ganz unabhängig von den Spre­
83 D E SAUSSURE (s. Anm. I I) , 1 66: dt. 1 4 3 ·
chern (und durch diese hindurch) bewegt und in 84 BR Ü TTING ( s . Anm. 1 6) , 74.
dem es keine feste Stelle mehr gibt. Die gesell­ 85 Vgl. HELGA GALLAS (Hg.) , Strukturalismus als inter­
schaftliche Kommunikation wird zur unkontrol­ pretatives Verfahren (Darmstadt/Neuwied 1 972) :
lierbaren, selbstlaufenden Maschine dämonisiert - HELMUT KREUZER / RUL GUNZENH Ä USER (Hg.) , Ma­
thematik und Dichtung. Versuch zur Frage einer ex­
eine Prozedur, deren Haupteffekt darin besteht,
akten Literaturwissenschaft (Münch en 1965); MAX
daß die Maschinisten zum Verschwinden gebracht BENSE, Theorie der Texte. Eine Einführung in neu­
werden. ere Auffassungen und Methoden (Köln 1 962) .
42 Text/Textualität

nen entstanden ist: Recht, Macht, Kirche, Lehre, sehen Erklärung, der Kommentar zu einem Kunst­
Literatur. Präsentiert wurden Texte als eine Art werk habe selbst ein Text zu sein oder zu werden:
Waffe gegen die Zeit (»une arme contre le » Que le commentaire soit lui-meme un texte, voila en
temps«86) , als moralisch-autoritative Gegenstände somme ce qui est demande par la theorie du texte« .
mit Dauersuggestion, verbunden mit der theoreti­ Rhetorisch steht z u vermuten, daß dieser An­
schen Illusion, die Kommunikation als signifikative spruch ehrgeizigen Kulturwissenschaftlern schmei­
Praxis (»pratique signifiante«, 1 680) ließe sich ein­ cheln könnte, stellt er doch ihre Auslegungen auf
frieren und stillstellen. Barthes selbst betont gegen eine Ebene mit dem ausgelegten Werk. In der
den autoritativen Produktcharakter der Texte, daß Konsequenz, so Barthes, gibt es keine Kritiker
diese weit eher als Inszenierung einer Produktion mehr, sondern