Sie sind auf Seite 1von 58

KAS AUSLANDSINFORMATIONEN AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT

SONDERAUSGABE SONDERAUSGABE
22. FEBRUAR 2011 22. FEBRUAR 2011

AUSLANDSINFORMATIONEN Die „Tunisierung‟ der


Arabischen Welt
Hans-Gert Pöttering
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT –
WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND Umbruch im Nahen
FRIEDEN IN NAHOST? Osten – Was folgt auf die
Ereignisse in Tunesien
und Ägypten?
Michael A. Lange

Ägypten beendet die


Ära Mubarak
Andreas Jacobs

Jemen: Revolution
verschoben?
Thomas Birringer

Umbruch in Nahost –
Stillstand in Iran?
Oliver Ernst
KAS
AUSLA N D S I N F O R M A T I O N E N

SONDE R A U S G A B E

AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT –


WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND
FRIEDEN IN NAHOST?

22. FEBRUAR 2011


Inhalt

3 | DIE „TUNISIERUNG‟ DER ARABISCHEN WELT


Hans-Gert Pöttering

7 | UMBRUCH IM NAHEN OSTEN – WAS FOLGT AUF


DIE EREIGNISSE IN TUNESIEN UND ÄGYPTEN?
Michael A. Lange

34 | ÄGYPTEN BEENDET DIE ÄRA MUBARAK


Andreas Jacobs

39 | JEMEN: REVOLUTION VERSCHOBEN?


Thomas Birringer

44 | UMBRUCH IN NAHOST  – STILLSTAND IN IRAN?


Oliver Ernst

Impressum

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
Tiergartenstraße 35
D-10785 Berlin
Telefon (030) 2 69 96-33 83
Telefax (030) 2 69 96-35 63
Internet: http://www.kas.de
http://www.kas.de/auslandsinformationen
E-Mail: stefan.burgdoerfer@kas.de

Herausgeber: Dr. Gerhard Wahlers

Redaktion: Frank Spengler, Hans-Hartwig Blomeier,


Dr. Stefan Friedrich, Dr. Hardy Ostry, Jens Paulus,
Dr. Helmut Reifeld

Verantwortlicher Redakteur: Stefan Burgdörfer

Gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der


Redaktion wieder. Das Copyright für die Beiträge liegt bei den
KAS-Auslandsinformationen.

Satz: racken, Berlin


AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT –
WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 3

DIE „TUNISIERUNG‟ DER


ARABISCHEN WELT

Hans-Gert Pöttering

Am Ende ging es ganz schnell: Noch am Donnerstagabend


hatte Tunesiens Präsident Zine el Abidine Ben Ali in einer
Fernsehansprache an das tunesische Volk auf dem Höhe-
punkt der Proteste erklärt: „Ich habe verstanden, ich habe
Sie alle verstanden  – Arbeitslose, Bedürftige, Politiker
und alle, die mehr Freiheiten fordern. Ich habe Sie wohl
verstanden.‟

Doch es reichte nicht mehr aus. Der Zenit der Macht war Dr. Hans-Gert Pöttering
nach mehr als 23-jähriger Herrschaft überschritten, die MdEP, Präsident des
Europäischen Parla-
Stimmung im Volk nicht mehr zu drehen. Da halfen auch ments a.D., ist Vor-
keine Versprechen auf mehr Freiheiten. sitzender der Konrad-
Adenauer-Stiftung.

Für viele Beobachter war erstaunlich, dass diese Unruhen


in einem Land begannen, das im Vergleich zur gesamten
Region sowohl mit Blick auf die wirtschaftliche Situation
als auch die soziale Struktur weit entwickelt und fortge-
schritten ist, ja gar als Musterland galt. Jedoch stand als
mehr oder weniger sicher geglaubtes politisches Credo
fest: erst wirtschaftliche und soziale Entwicklung, sodann
politische Freiheiten. Mittlerweile mehren sich die Proteste
in den Ländern der arabischen Welt. Was in Tunesien
begann, muss nicht automatisch die ganze Region wie
in einem Domino-Effekt ergreifen. Doch in jedem Falle
sollte es die Regierenden daran erinnern, ihrer politischen
Verantwortung stärker nachzukommen, wenn sie Ähnli-
ches wie in Tunesien vermeiden wollen.
4 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

ÄGYPTEN

Menschenrechtsaktivisten in der Region rufen bereits auf


zu einer „Tunisierung der arabischen Straße‟ und appel-
lieren an ihre Landsleute, es den Tunesiern gleichzutun.
Ägypten, das im Herbst auf Präsidentschaftswahlen
zusteuert, wird die Lage wohl am kritischsten beobachten.
Der 82-jährige Präsident Hosni Mubarak regiert das Land
am Nil seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Militär, Polizei
und Geheimdienste spielen eine wichtige Rolle, politische
Freiheiten sind eingeschränkt. Die Lage im Land ist besser
als bei vielen Nachbarn, aber auch hier gibt es erste, ernst
zu nehmende Anzeichen einer Protestbewegung, vor allem
bei Jüngeren.

ALGERIEN

Auch in Algerien, das flächenmäßig größte Land der Region,


ist Potential für größere Unruhen gegeben. Präsident
Abdelaziz Bouteflika regiert das Land mit starker Hand,
wobei er sich auf die Unterstützung des Militärs verlassen
kann. Zu Protesten perspektivloser Jugendlicher kam und
kommt es auch hier immer wieder. Noch schwebt warnend
die Erfahrung des Bürgerkrieges Anfang der neunziger
Jahre im kollektiven Gedächtnis, der 100 000 Menschen
das Leben kostete und das Land nahe an den Abgrund
brachte.

LIBYEN

Der Nachbar Tunesiens, die „Große Sozialistische libysch-


arabische Volksrepublik‟ mit ihrem Revolutionsführer
Muammar al-Gaddafi befindet sich in besonders prekärer
Lage, wenngleich Proteste durch den umfassenden
Sicherheitsapparat weitgehend unterdrückt werden.
Klar ist jedoch, dass die Mehrheit der Bevölkerung von
den reichlich fließenden Ölrenditen wenig erhält. Die
soziale und gesundheitliche Infrastruktur ist marode, und
Jugendliche haben auch hier keine wirkliche Perspektive.
Es ist kein Wunder, dass Gaddafi auf die Welle der tune-
sischen Protestbewegung mit Unverständnis reagierte und
Ben Ali nach wie vor als legitimen Präsidenten betrachtet.
Er tut dies, um seine eigene „Legitimität‟ nicht in Frage zu
stellen, bevor es andere tun.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 5

JEMEN

Auf der arabischen Halbinsel steht der Jemen gleich vor


einer doppelten Herausforderung: Gut zwanzig Jahre nach
der Wiedervereinigung von Nord und Süd droht dem Land
der Staatszerfall, drängen politische Kräfte aus dem Süden
auf eine erneute Trennung hin. Die strenge Staatsführung
von Präsident Ali Abdullah Salih ist im ärmsten Land der
Region nicht unumstritten. Auch hier fanden am Sonntag
Demonstrationen von Studenten statt, die skandierten
„Freies Tunis, Sanaa grüßt dich 1.000-mal‟. Ob die Region
nur Lunte gerochen hat oder bereits in Feuer zu stehen
droht: Für die politisch Verantwortlichen ist klar, dass die
Ereignisse in Tunesien, dem Land des Jasmins, in jedem
Falle historisch sind.

Erstmals entlässt ein Volk seinen ausgedienten politischen


Führer. Die Ereignisse zeigen deutlich, dass wirtschaftliche
und soziale Entwicklung sich nicht dauerhaft von der
Gewährung grundlegender politischer Freiheitsrechte und
der Beachtung guter Regierungsführung trennen lassen.
Die Machthaber der Region müssen diese Reformen
angehen, sie dürfen nun nicht nur wieder politische Placebos
verteilen, punktuell, vorübergehend, und nur dort, wo es
nicht weh tut. Wer die Würde des Menschen  – und das
ist eine grundlegende Gemeinsamkeit von Christentum,
Judentum und Islam – achtet, wird politische Freiheit nicht
mit Füßen treten, sondern fördern und fordern.

Es ist im strategischen Interesse Europas, dass die Euro-


päische Union und ihre Mitgliedstaaten hier ermutigend
zur Seite stehen. Als unmittelbare Nachbarregion sind die
Länder für unsere Zukunft von entscheidender Bedeu-
tung. Als Europäer haben wir kein Interesse daran, dass
Nordafrika in Anarchie und Chaos versinkt. Daher gilt
es, Demokratisierung und Stabilität immer wieder neu
auszubalancieren. Dabei können und wollen wir helfen,
dass unsere Partnerländer eigenständig ihren Weg gehen.
Die Europäische Union wird Tunesien bei der Vorbereitung
für die notwendigen Wahlen unterstützen und mit Wahl-
beobachtern dafür sorgen, dass der Wille des Volkes Gehör
findet. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung wird hierzu
einen Beitrag leisten.
6 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Es ist Zeit, dass die Regierungen ihren nach Freiheit


und Würde suchenden Völkern in der Region ein deutli-
ches und verbindliches Zeichen geben. Die notwendige
Botschaft kann keine andere sein, als zu sagen: „Wir haben
verstanden!‟ – und entsprechend zu handeln.

Der Beitrag erschien am 19. Januar 2011 in der Berliner Morgenpost.


AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 7

UMBRUCH IM NAHEN OSTEN


WAS FOLGT AUF DIE EREIGNISSE IN TUNESIEN
UND ÄGYPTEN?

Michael A. Lange

Die Welt blickt in diesen Tagen mit großer Neugier und


wohl auch etwas Verwunderung auf die Arabische Welt und
begleitet über die Medien das sensationelle Geschehen.
Die Ereignisse sind, vor allem für politische Beobachter,
die diese Länder aus früheren Begegnungen zu kennen
glaubten, ebenso überraschend wie besorgniserregend.

Die lange unterdrückten und drangsalierten Bürger dieser Dr. Michael A. Lange
arabischen Staaten erheben sich gegen die despotische ist Teamleiter Politik-
dialog und Analyse
Willkür ihrer Autokraten und begehren auf gegen Bevor- der Hauptabteilung
mundung und Vernachlässigung. Sie fordern Gehör und Europäische und
Beachtung ihrer Würde. Sie wollen teilhaben an den Internationale Zusam-
menarbeit der Konrad-
Entscheidungen über ihre Zukunft und werden sich nicht Adenauer-Stiftung. Er
mehr vertrösten lassen: „We want democracy – now!‟ leitete nahezu 20 Jah-
re lang verschiedene
Büros der Stiftung im
UMBRUCH IN TUNESIEN Nahen Osten, u.a. in
Tunis (1985 bis 1988)
und Kairo (2001 bis
Den Anfang nahmen die Entwicklungen in Tunesien. Ein
2007).
junger Hochschulabsolvent der Informatik aus der Klein-
stadt Sidi Bouzid im Süden Tunesiens, Mohamed Bouazizi,
Dieser Text ist ein
findet trotz abgeschlossenen Studiums und angestrengter Vorabdruck aus
Suche in der Hauptstadt seines Landes keinen adäquaten den Auslands-
Berufseinstieg. Er überwindet seinen Stolz und kehrt in informationen,
seine Heimatstadt zurück, wo er versucht, seinen Lebens- Ausgabe März.
unterhalt auf weniger akademische Weise, aber ehrlich, zu
verdienen.

Er sucht ein Auskommen als fliegender Gemüsehändler.


Die dortigen Behörden begegnen diesem erfolglosen
„abtrünnigen‟ Akademiker mit Misstrauen und verweigern
ihm die nötige Lizenz zum Straßenverkauf, auch weil er
die geforderten Beschleunigungsgelder (Korruption) nicht
8 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

zahlen kann oder zahlen will. Als er trotzdem weitermacht,


greift ihn die Polizei auf, sperrt ihn ein, konfisziert seinen
Eselskarren und sein Gemüse, verprügelt ihn in Erman-
gelung requirierbaren Barvermögens und lässt ihn wieder
gehen.

Der diplomierte Heimkehrer  – in seiner Menschenwürde


zutiefst verletzt  – sieht nach mehrmaliger Wiederholung
dieses Verfahrens vor Aussichtslosigkeit und Scham keine
Alternative als den Freitod. Er übergießt sich mit Benzin
und versucht, sich das Leben zu nehmen, überlebt jedoch
zunächst. Der Präsident des Landes, Zine El-Abidine Ben
Ali, erschrocken über diese grausige Tat, reist noch an das
Krankenbett des offensichtlich Verzweifelten und spricht
ihm telegen sein Mitgefühl aus. Zu spät, der symbolische
Handschlag wird weder das verzweifelte „Opfer‟ noch den
beunruhigten „Täter‟ retten. Am 4. Januar stirbt Mohamed
Bouazizi an seinen Verletzungen.

1987 hatte Ben Ali als damaliger Minis- Fast 25 Jahre zuvor, an einem friedlichen
terpräsident die Macht an sich gerissen. Novembermorgen im Jahr 1987, hatte Ben Ali
Mit Unterstützung des Militärs und der
Polizei zwang er den senilen Republik- als damaliger Ministerpräsident die Macht in
gründer Boughiba in den Ruhestand. Tunesien an sich gerissen. Mit Unterstützung
des Militärs und der Polizei zwang er in einem
Medical Coup den senilen Republikgründer Habib Boug-
hiba, seinen langjährigen Förderer, ohne Blutvergießen
in den „krankheitsbedingten‟ Ruhestand. Die tunesische
Bevölkerung begrüßte das Ende einer längeren Phase wirt-
schaftlicher Stagnation und politischen Attentismus.

Der neue Präsident formierte sogleich eine neue politische


Sammlungsbewegung, die sich Rassemblement Constituti-
onnel Démocratique (RCD) nannte, zu neuen Ufern strebte
und viele engagierte junge Kräfte anzog. Die überalterte
Führungselite der Ära Bourghiba wurde abgelöst. Eine dem
neuen Präsidenten verpflichtete Staatspartei sicherte ihm
die notwendige parteipolitische Unterstützung.

Die Erfahrungen, die das Nachbarland Algerien mit dem


Wahlerfolg der Islamisten und dem folgenden Bürgerkrieg
machte, sicherten dem neuen Präsidenten Anfang der
neunziger Jahre die Unterstützung der Mehrheit der Bürger
bei der dann einsetzenden massiven Verfolgung der Isla-
misten im eigenen Land. Deren damaliger Führer Rachid
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 9

Ghannouchi verließ schließlich isoliert das Land und ging


nach London ins Exil.

Nachdem der Präsident sich auch noch aus der Verbande-


lung Tunesiens mit der PLO gelöst und von pan-arabischen
Träumen und dem Palästinakonflikt distanziert hatte,
konnte er auf die Bereitschaft des Westens zu verstärkter
politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zählen.
Innenpolitisch stabilisiert und außenpolitisch neu positio-
niert, setzte man in Tunesien nun auf wirtschaftliche Libe-
ralisierung und die Förderung der Klein- und Mittelindustrie
sowie des Tourismus. Die Wirtschaft wuchs im Schatten
eines von der Polizei kontrollierten Staates.

Dann heiratete der Präsident eine Tochter des bekannten


Trabelsi-Clans, einer in der tunesischen Wirtschaft schon
damals in äußerst umstrittener Weise aktiven
tunesischen Großfamilie. Unter dem Schutz Kein größeres Geschäft, keine gewinn-
des Präsidenten agierte der Familienclan bringende Lizenz mehr ohne die Beteili-
gung des Trabelsi-Clans oder der Familie
immer unverschämter und beugte das Recht des Präsidenten.
zu seinen Gunsten. Kein größeres Geschäft,
keine gewinnbringende Lizenz mehr ohne die Beteiligung
des Trabelsi-Clans oder der Familie des Präsidenten. Selbst
die dem Präsidenten bisher nahestehende tunesische Unter-
nehmerschaft begann unter seiner Präsidentschaft mehr
zu leiden als zu profitieren. Sie fühlte sich durch seitens
des Trabelsi-Clans erzwungene Geschäftsbeteiligungen um
ihren Profit gebracht und weigerte sich immer häufiger,
die „Schutzgeldzahlungen‟ an das Regime zu akzeptieren.
Unternehmer enthielten sich weiterer Investitionen, orien-
tierten sich nach Europa und entzogen dem Land Zug um
Zug das so dringend benötigte Investitionskapital. Als
dann schließlich die Wirtschafts- und Finanzkrise auch
Tunesiens Wirtschaft erreichte und die Schaffung weiterer,
für die wachsende Zahl gut ausgebildeter Hochschulabsol-
venten notwendiger Arbeitsplätze erschwerte, schwand in
der tunesischen Bevölkerung die neuerliche Zuversicht und
wich wachsender Frustration.

Schließlich erschütterte der Selbstmord des jungen


Studenten das Land und die latente Unzufriedenheit
führte zu ersten Übergriffen auf Polizeistationen  – zuerst
noch in den vernachlässigten ländlichen Gebieten, dann
auch in der Hauptstadt. Die Unzufriedenheit der Bürger
10 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

mit dem menschenverachtenden Vorgehen der (Polizei-)


Behörden ließ sich nicht mehr kontrollieren und entlud
sich in Protesten sogar der städtische Mittelschicht, die,
­unterstützt von in die Hauptstadt strömenden Unzufrie-
denen aus den ländlichen Regionen Tunesiens, den begin-
nenden Volksaufstand nährte. Der Präsidentenclan geriet
in Panik und versuchte, mit seiner dem Präsidenten selbst
treu ergebenen Staats- und Sicherheitspolizei die Situation
in den Griff zu bekommen. Als dies nicht mehr gelang und
die Armee die Gefolgschaft bei der Niederschlagung des
Volksaufstandes verweigerte, war das Spiel vorbei.

Der Präsident erwies sich nur kurz als Kämpfer, flüchtete


dann aber aus seinem Land wie ein Dieb, jedoch nicht,
ohne zuvor noch die Aneignung der in der tunesischen
Zentralbank verwahrten Goldreserven durch seine Ehefrau
durchzusetzen. Er floh zunächst in Richtung Frankreich,
eines vermeintlich befreundeten Landes, und musste dann
schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass sich auch in einem
verbündeten Land ein flüchtender Staatschef sehr schnell
in einen verfemten verwandelt.

UMBRUCH IN ÄGYPTEN

Ein junger ägyptischer Student, Khalid Said, begeistert


sich für die neue Welt des Internets, für soziale Netzwerke
und neue Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu
treten und sich über vieles auseinanderzusetzen, darunter
auch über Politik. Mit ihm im Netz sind aber von Beginn
an nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch
Die totale Kontrolle des Internets galt Vertreter des gut ausgestatteten und ausge-
zwar vornehmlich den Islamisten, doch bildeten ägyptischen Sicherheitsdienstes,
en passant ließ sie sich auch zum Auf-
spüren von Homosexuellen und studen- denen die viel beschworene Freiheit im Netz
tischen Rebellen nutzen. viel zu weit geht, um sie nicht zumindest zu
beobachten und, wenn Politik im Spiel ist, auch zu interve-
nieren. Die totale Kontrolle galt zwar vornehmlich den Isla-
misten und ihren ebenfalls technisch erstaunlich versierten
Protagonisten, doch en passant ließ sie sich eben auch zum
Aufspüren von Homosexuellen und studentischen Rebellen
nutzen.

Zum Rebellen wurde auch der Student. Er startete eine


Karriere als Blogger, die ihn in der ägyptischen Blogger-
szene auffallen ließ, aber nicht nur dort. Die Sicherheits­
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 11

behörden bestellten ihn ein  – eine übliche Warnung, sich


mit seinen Aktivitäten nicht zu weit vom staatlich gedul-
deten Freiraum zu entfernen. Als er diese Mahnung nicht
befolgte, verhaftete ihn die Polizei mehrmals und verprü-
gelte ihn schließlich so schwer, dass er an seinen dabei
erlittenen Verletzungen starb. Als sich diese Nachricht
zuerst in der Bloggerszene und schließlich im gesamten
studentischen Umfeld des Bloggers verbreitete, wuchsen
der Unmut und die Protestbereitschaft der Studenten.
Dann kamen die Neuigkeiten aus Tunis.

Fast drei Jahrzehnte zuvor, nach der Ermordung von


Präsident Anwar As Sadat im Oktober 1981, hatte Hosni
Mubarak als damaliger Vize-Präsident verfassungsgemäß
die Macht in Ägypten übernommen. Wegen der Unterstel-
lung, Sadat habe gerade ihn für dieses bedeutende Amt
ausgewählt, weil er seinem ehemaligen Luftwaffenchef
nicht das Charisma eines möglicherweise erfolgreichen
Herausforderers zubilligte, galt er vielen als Übergangs-
präsident.

Mubarak konzentrierte sich vor dem Hinter- Mubarak säuberte die islamistisch un-
grund des islamistisch inspirierten Attentats terwanderten unteren Mannschafts-
und Offiziersränge, die seitdem nur
zuerst auf die Konsolidierung der innenpoli- noch regimetreuen Berufssoldaten
tischen Lage. Mit Unterstützung des Militärs offenstehen.
säuberte er die offensichtlich islamistisch
unterwanderten unteren Mannschafts- und Offiziersränge,
die seitdem nur noch regimetreuen Berufssoldaten offen-
stehen. Auch gründete er seine politische Macht auf eine
neue politische Sammlungsbewegung, die National Demo-
cratic Party (NDP). Er erhob sie zur Staatspartei und setzte
damit den parteitaktischen Spielereien seines Vorgängers
ein Ende.

Nach der gelungenen innenpolitischen Stabilisierung kon-


zentrierte sich Mubarak auf die außenpolitische Rehabilitie-
rung Ägyptens, das wegen der Friedensverträge von Camp
David zwischenzeitlich den Sitz in der Arabischen Liga und
die Unterstützung der Mehrheit der arabischen Staaten
verloren hatte. Mubarak brachte es fertig, den Friedens-
vertrag im Kern zu erhalten, ihn nach der erfolgreichen
Rückkehr in die Gemeinschaft der Arabischen Staaten für
diese sogar „hinnehmbar‟ zu machen.
12 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Dieser Beweis seiner Standfestigkeit und Verlässlichkeit


machte ihn zum vertrauenswürdigsten außen- und sicher-
heitspolitischen Verbündeten des Westens in der Nahost-
region. Als unermüdlicher, wenn auch immer weniger
erfolgreicher Vermittler im Nahostkonflikt profitierte er
nicht zuletzt von der finanziellen Unterstützung dieser
westlichen Verbündeten und der Bereitschaft ausländischer
Investoren, sich in dem Land zu engagieren. Er vollendete
schließlich die wirtschaftliche Öffnung seines Landes,
indem er der lokalen Unternehmerschaft sogar den Einzug
in die Spitzengremien seiner Partei ermöglichte, die bis
dahin von alten Verbündeten aus Militär und staatlicher
Bürokratie dominiert gewesen war.

In den letzten Jahren wurde diese Regierungsbilanz jedoch


immer stärker durch die ungelöste Nachfolgefrage über-
schattet. Es schien immer wieder gute Gründe für den
ägyptischen Präsidenten zu geben, das Amt noch einmal
„auf sich zu nehmen‟, obwohl die Unzufriedenheit mit
seiner Herrschaft stetig wuchs und sich die Repression
durch die Sicherheitskräfte verschärfte.

Gerade in den letzten Monaten hatten die Diskussionen


um eine neuerliche Kandidatur Mubaraks viele Gemüter
bewegt, ohne dass diese Kritiker eine klare oder gar
einheitliche Vorstellung davon hatten, wer denn an Muba-
raks Stelle als Kandidat antreten sollte. Zu sehr hatten
potentielle Kandidaten jahrelang im Schatten des Präsi-
denten gestanden und keine individuelle Profilierung
geschafft. Eine dynastische Erbfolge, die Übertragung der
politischen Macht auf Mubaraks Sohn Gamal, stieß auch
auf die entschiedene Ablehnung der überwiegend „republi-
kanisch‟ gesinnten Militärs.

Die Kraft des Regimes, deutliche Re- Auch hier wuchs also der Attentismus. Die
formschritte einzuleiten, schwand. Kraft des Regimes, zukunftsorientierte Politik
Selbst die Staatspartei versäumte es,
rechtzeitig Zeichen zu setzen. zu skizzieren und deutliche Reformschritte
ins Werk zu setzen, schwand mit jedem wei-
teren Monat im Leben des gesundheitlich angeschlagenen
Präsidenten. Selbst die Staatspartei versäumte es, recht-
zeitig Zeichen zu setzen und einer jüngeren Gruppe um
Gamal Mubarak tatsächlich exekutive Funktionen zu über-
tragen.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 13

So kam es, wie es vielleicht kommen musste. Als die Ereig-


nisse in Tunis der Jugend in Kairo ein vielversprechendes
Beispiel gaben und der Fall Bouazizi den Fall des in Poli-
zeigewahrsam getöteten ägyptischen Bloggers wieder in
Erinnerung rief, war die revolutionäre Kraft des Moments
groß genug, um die Angst zu überwinden und trotz
Ausgangssperre auf den Straßen ein Ende der obwaltenden
Zustände zu fordern.

DER NORDAFRIKANISCHE AUFBRUCH

Blickt man auf diese jüngsten Ereignisse und Entwick-


lungen in den beiden bis dahin wohl stabilsten nordafrika-
nischen Ländern, in denen über einen Zeitraum von mehr
als fünf Jahrzehnten nur wenige Präsidenten die Geschicke
bestimmten, zwei in Tunesien (Bourghiba, Ben Ali) und
drei in Ägypten (Nasser, Sadat, Mubarak), so erkennt man
durchaus Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede
in den Ursachen, die zu den jüngsten Ereignissen geführt
haben.

In beiden Ländern konsolidierte der neue Machthaber nach


Amtsantritt eine krisenhafte innenpolitische Situation.
In Tunesien drohte die Staatsführung durch persönliche
Sympathien von Angehörigen der Präsidentenfamilie über
Gebühr in den israelisch-palästinensischen Konflikt verwi-
ckelt zu werden, wobei gleichzeitig radikale
Islamisten, angefeuert und unterstützt von In Tunesien konnte sich eine Mittel-
den Ereignissen im Nachbarland, Tunesien zu schicht bilden, in Ägypten profitierten
dagegen zu wenige, als dass sich dies
destabilisieren drohten. In Ägypten musste dauerhaft stabilisierend hätte auswir-
nach dem erfolgreichen Attentat der isla- ken können.
mistisch inspirierten Soldaten der säkulare
Staat im Innern verteidigt und dem Land wieder der Weg
zurück in die Arabische Staatenfamilie gewiesen werden.
Dass dies gelang, ohne sich vom Westen abzuwenden
oder eingeleitete ökonomische und politische „Öffnungen‟
(Infitah, Friedensprozess) zurückzunehmen, war ein wirk-
licher Erfolg. Die wirtschaftliche Liberalisierung dieser
Länder brachte Wohlstand, wenn auch nicht für alle. In
Tunesien konnte sich eine wachsende Mittelschicht bilden,
in Ägypten profitierten dagegen zu wenige, als dass sich
dies dauerhaft stabilisierend auf die innenpolitische Lage
hätte auswirken können.
14 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Auch die beiden monolithischen Sammlungsbewegungen


der Präsidenten, RCD und NDP, trugen durch ihre Exklusi-
vität und Nähe zum Präsidenten dazu bei, dass es keinen
wirklichen Spielraum für parteipolitischen Wettbewerb gab,
ja dieser zeitweise sogar künstlich herbeigeführt werden
musste. Selbst vage Hoffnungen auf einen durch Parteien,
also auf demokratischem Wege, betriebenen politischen
Wandel konnten so nicht bedient werden.

In beiden Ländern war mit dem Ähnlich verlaufen ist auch der Prozess der
Machtwechsel ein Ausnahmezustand wachsenden Repression gegen die Masse
verhängt worden. Die Repression nahm
stetig zu. der Bevölkerung. In beiden Ländern war mit
dem Machtwechsel ein Ausnahmezustand
verhängt worden, der in Ägypten bis zu den jüngsten
Ereignissen fortbestand. Die Repression nahm stetig zu.
Die Kontrolle der Bürger erstreckte sich mit Hilfe neuar-
tiger Instrumente (Internet, Mobilfunk) auf fast alle
Lebensbereiche. Nahezu nichts blieb den Sicherheitsbe-
hörden verborgen, der „gläserne Bürger‟ wurde, sobald
er die Kreise der Herrschenden störte, unweigerlich zum
Objekt der Einschüchterung und Disziplinierung.

Jüngere Bürger arabischer Staaten, nicht zuletzt durch die


Globalisierung der Medien mündig geworden, sahen sich
ihrer Menschenrechte beraubt und protestierten frustriert.
Bald entlud sich die mühsam kontrollierte Wut. Es ist ein
Zeichen für den „Überdruck‟, der in den beiden Gesell-
schaften gerade auch in der Jugend entstanden ist, dass,
bildlich gesprochen, ein kleines Loch im Fahrradschlauch
sofort den ganzen Reifen platzen ließ – ohne Chance, das
Fahrrad noch mit weichendem Reifendruck kontrolliert
nach Hause zu steuern. Der Reifen ist geplatzt und die
Panne zwingt zur Reparatur. Kein Flicken hilft, ein neuer
Schlauch muss her.

Was nun geschieht, wird wohl auch den Unterschieden


in den politischen Konstellationen der jeweiligen Länder
Rechnung tragen müssen. Für beide Präsidenten, selbst
für ihre Sicherheitsorgane kam dieser „Aufschrei‟ überra-
schend, aber nicht nur für sie. Keine Oppositionspartei war
vorbereitet. Selbst die als gut organisiert und informiert
geltenden Muslimbrüder sprangen spät auf den Zug der
Demonstranten auf.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 15

So wird sich der ehemalige Kampfpilot Hosni Mubarak nicht


wie sein Amtskollege Ben Ali davon stehlen. Er verfügt bei
den Massen der ägyptischen Bevölkerung (nicht dagegen
bei den Demonstranten am Tahrir-Platz) noch über eine
deutlich höhere Akzeptanz als der geflohene tunesische
Präsident. Zwar haben beide den Zeitpunkt für eine
würdige Übergabe der Macht verpasst, Mubarak hätte
einen solchen aber zweifellos eher verdient als Ben Ali.
Zudem stützt sich der ägyptische Präsident eher auf die
Armee, der tunesische eher auf die (Geheim-) Polizei. In
beiden Ländern hat die Armee einen eher guten, die Polizei
jedoch einen katastrophalen Ruf.

In Tunesien waren es nicht nur die arbeitslosen Jugendli-


chen, sondern vor allem auch der von der Korruption der
Präsidentenfamilie und der Wirtschafts- und Finanzkrise
gebeutelte Mittelstand, der sich des Präsidenten entledigen
wollte. In Ägypten sind es vorwiegend wütende Jugend-
liche, die den Protest tragen. Das Militär und die riesige
staatliche Bürokratie stehen bisher (noch) abseits. Sie
haben zu viel zu verlieren, wenn nicht nur der Präsident,
sondern mit ihm das gesamte Regime abdanken müsste.
Deshalb nun zu möglichen alternativen Szenarien der
weiteren politischen Entwicklung.

ZUKUNFTSSZENARIO TUNESIEN

Politik

Es war absehbar, dass der verständliche Versuch der


erst einmal im Amt verbliebenen Regierung, sich nahezu
unverändert zur „Übergangsregierung‟ zu machen, schei-
tern musste. Allein schon die Tatsache, dass sich der
Präsident quasi freiwillig und nahezu unmittelbar dem
Urteil des Volkes entzogen hatte, ließ die tunesischen
Demonstranten weitere Opfer der Revolte fordern. Zwar
zerstörte man das Parteigebäude des RCD
in Tunis nicht annähernd so umfassend wie Unbelastete Männer brauchte das
später das der NDP in Kairo. Doch sollten Land. Allein dem Ministerpräsidenten
billigte man schließlich eine Rolle als
weitere mit dem RCD verbandelte Minister „Moderator des Übergangs‟ zu.
und sonstige politische Amtsträger ebenfalls
„bestraft‟ werden. Da half auch kein plötzlicher Parteiaus-
tritt, die „Beschmutzung‟ durch die Regimenähe war nicht
zu reinigen. Unbelastete Männer brauchte das Land. Allein
16 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

dem Ministerpräsidenten billigte man schließlich eine Rolle


als „Moderator des Übergangs‟ zu, und dies wohl auch nur
deshalb, weil er selbst seine Rolle und Funktion auf diesen
absehbaren Zeitraum beschränkt sah und angab, darüber
hinaus kein öffentliches Amt anzustreben.

Man folgt in Tunesien jetzt also weitestgehend den verfas-


sungsrechtlichen Vorgaben  – auch wenn viele noch der
Ära Ben Ali entstammen. Für die Etablierung einer wirkli-
chen, parlamentarischen Demokratie mangelt es an einer
entsprechenden Verfassungsrealität und an einer ausrei-
chenden Zahl in der Bevölkerung verankerter politischer
Parteien. Deshalb muss es vor neuen Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen jetzt vorrangig um eine Reorga-
nisation des (vor-) politischen Raumes gehen. Die auch
staatstragenden, in der Vergangenheit aber zu staats-
nahen Gewerkschaften und Berufsverbände müssen sich
neu erfinden. Die neuen politischen Überzeugungen brau-
chen jetzt den nötigen Raum und die Zeit, sich neu zu
formieren.

Zeit wird zudem benötigt, um die verfassungsrechtlichen


Grundlagen für andersartige (Aus-) Wahlverfahren zu
schaffen und diese im Konsens zur Grundlage der jetzt
anstehenden politischen Weichenstellungen zu machen.
Wie dies geschehen kann, muss nun entschieden werden –
ob mit einem gewählten Parlament, das aber
In vielem  – nicht in allem  – ist die eigentlich diskreditiert ist, mit einem verfas-
Situation in Tunesien jetzt durchaus sungsgebenden Konvent aus „Weisen‟ oder
mit der sich auflösenden DDR zu ver-
gleichen. durch einen runden Tisch aller politischen
Kräfte. In vielem  – nicht in allem  – ist die
Situation in Tunesien jetzt durchaus mit der sich auflö-
senden DDR zu vergleichen.

Wirtschaft

Neben der Umstrukturierung der politischen Akteure und


Instanzen gilt es jetzt jedoch auch, die zügig wiederge-
wonnene Stabilität im Lande zu nutzen, um die wirtschaft-
liche Entwicklung wieder in Gang zu bringen. Zum Glück
sind die Touristenressorts von der Zerstörungswut der
Demonstranten weitgehend verschont geblieben. Auch
die mittelständischen Lohnfertigungsbetriebe sollten die
Revolte überwiegend heil überstanden haben.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 17

Die Zeichen für eine schnelle Wiedergewinnung der schon


einmal erreichten Wirtschaftskraft stehen deshalb recht
gut, wenn diese auch nicht in der Lage sein wird, sofort
alle aufgelaufenen sozioökonomischen Defizite kurzfristig
zu beheben. Der Wegfall der präsidentiellen Korruption ist
sicher ein wichtiger Faktor, der tunesische Unternehmer
dazu bewegen wird, wieder in Tunesien und nicht mehr
vorrangig im Ausland zu investieren. Ein solches „patri-
otisches‟ Verhalten wird den Prozess der wirtschaftlichen
Gesundung sicher beschleunigen.

Gesellschaft

Die Tatsache, dass der auslösende Faktor der Revolte in


Tunesien die Verzweifelungstat eines frustrierten Absol-
venten eines Informatikstudiums gewesen ist, wirft ein
bezeichnendes Licht nicht nur auf die ökonomischen,
sondern vor allem die demographischen Herausforde-
rungen, denen sich die arabischen Staaten gegenüber-
sehen. Wenn über 50 Prozent der Bevölkerung in der
Arabischen Welt unter 30 Jahre alt sind und die Facebook-
Generation der 20- bis 30-Jährigen allein über 20 Prozent
der Bevölkerung ausmacht, entsteht ein ernstzunehmendes
Protestpotential. Ihre andersartige Sozialisation lässt die
Demonstranten mehrheitlich nicht mehr resignieren, wie
es der Tunesier Mohamed Bouazizi getan hat, sondern
stattdessen ihre Rechte auf Teilhabe am wirtschaftlichen
Wohlstand und an politischen Entscheidungsprozessen
einfordern.

Das Ausmaß des Konfliktpotentials wird noch deutlicher,


wenn man bedenkt, dass in Tunesien das Verhältnis der
Sechzigjährigen, die heute die Machtelite
bilden, zu den Zwanzigjährigen eins zu 2,3 Selbst bei Komplettbeseitigung der
beträgt, in Ländern wie Ägypten sogar eins zu aktuellen Elite würden für jeden frei-
werdenden Posten in Wirtschaft und
vier. Hier existiert ein längerfristiges Protest- Gesellschaft mindestens drei Bewer-
ja Gewaltpotential, dass sich jetzt offensicht- ber bereitstehen.
lich immer stärker auf die eigene, verkrus-
tete Machtelite fixiert. Selbst bei Komplettbeseitigung der
aktuellen Elite würden für jeden freiwerdenden Posten in
Wirtschaft und Gesellschaft mindestens drei Bewerber
bereitstehen. Dabei kann die tunesische Gesellschaft sogar
noch ganz beruhigt in die Zukunft sehen, weil sie es heute
„nur‟ auf ein Durchschnittsalter von dreißig Jahren bringt.
18 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Im Vergleich zu den Nachbarländern ist die Zahl mögli-


cherweise frustrierter oder gar gewaltbereiter Jugendlicher
geringer. Länder wie Ägypten mit einem Durchschnittsalter
von 24 Jahren oder gar der Jemen und der Gazastreifen
mit 17 Jahren haben da ganz andere Sorgen.

ZUKUNFTSSZENARIO ÄGYPTEN

In Ägypten werden sich die Dinge dagegen nicht so schnell


wieder normalisieren. Es gibt verschiedene Faktoren, die
den „Heilungsprozess‟ deutlich erschweren werden. Ent-
scheidend ist dabei der Umstand, dass das, was in Ägypten
geschieht, enorme Bedeutung für die Entwicklungen in
anderen Arabischen Staaten haben wird. Zwar ging nicht
alles, was die Arabische Welt verändert hat, von Ägypten
aus, aber erst durch die Adaption dieser Neuerung durch
Ägypten erlangte es Bedeutung für die gesamte Region.
Von einem demokratischen Erwachen der sunnitischen
Staaten ist zweifellos zu erwarten, dass es Auswirkungen
auf andere islamische Regime zeitigen wird. Das ägyptische
Staatswesen war immer schon ein hoch zentralisiertes,
bürokratisches Gebilde, in dem die öffentliche Verwaltung,
das Militär, die zahlreichen Sicherheitsorgane und die früher
noch zahlreicheren Staatsunternehmen über die Staats-
partei aufs Engste miteinander verwoben waren. Nahezu
alle Funktionen waren mit Parteimitgliedern besetzt. Ohne
eine ausreichend bewiesene Loyalität zum Regime konnte
man dort keine auskömmliche Beschäftigung finden.

Sollte die gezeigte Loyalität zum „alten‟ Regime zum


Ausschlusskriterium für zukünftige politische Funktionen
und berufliche Verwendungen werden, wie
Das Militär, aber auch die Sicherheits- dies die bisherige Entwicklung in Tunesien
organe, werden angesichts anhalten- vermuten lässt, wird es viele geben, die etwas
der Massenproteste eine wichtige Rolle
bei der Begleitung der politischen Um- zu verlieren haben  – zu viele womöglich.
strukturierung spielen. Gleichzeitig werden vor allem das Militär, aber
auch die Sicherheitsorgane, angesichts anhaltender Mas-
senproteste weiterhin eine wichtige, wenn nicht entschei-
dende Rolle bei der Begleitung der politischen Umstruktu-
rierung spielen.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 19

Seit der Ausrufung der Republik hat der stets dem Miltär
entstammende, ägyptische Präsident immer auch die
Ehre und Würde des Militärs verkörpert. Das Militär hat
deshalb kein Interesse daran gehabt, dass ihr „höchster
Repräsentant‟, auch wenn er sich inzwischen „zivilisiert‟
hatte, in unwürdiger Weise von einigen Demonstranten
aus seinem Amt vertrieben worden wäre. Deshalb hat der
inzwischen installierte „Oberste Militärrat‟ die von ihm
selbst vollzogene Entmachtung des Präsidenten als „Rück-
tritt‟ verkündet, obwohl offensichtlich scheint, dass dieser
von Mubarak selbst nicht initiiert worden ist. Wenn hier von
„einigen Demonstranten‟ die Rede ist, dann deshalb, weil
selbst 50.000 oder 100.000 mutige Mubarak-Gegner noch
lange nicht die Wünsche und Hoffnungen einer Mehrheit
der über 80 Millionen Ägypter widerspiegeln.

Auch wenn die Meinungen der Demonstran- Allein freie Wahlen können über die
ten durch die internationalen Medien eine inhaltlichen und personellen Präfe-
renzen der ägyptischen Bevölkerung
beeindruckende Verbreitung erfahren, allein präzise Auskunft geben.
freie Wahlen können über die inhaltlichen
und personellen Präferenzen der ägyptischen Bevölkerung
präzise Auskunft geben. Man sollte sich davor hüten, die
Interviews mit demonstrierenden Regimegegnern zum
Maßstab einer möglichen Stimmabgabe in kommenden
Wahlen zu nehmen. Sie stellen eine Momentaufnahme dar
und tragen vielleicht sogar dazu bei, die wahre Stimmungs-
lage im Land zu verfälschen. Das gilt vor allem für das,
was sich eine Mehrheit der Ägypter, und nicht allein die
Demonstranten am Tahrir-Platz, von einer neuen Staats-
führung erhoffen. Dies herauszufinden wird momentan
zudem erschwert durch das erschreckende Fehlen inhalt­
licher und personeller Stringenz in dem, was die Opposi-
tion bisher an Forderungen artikuliert hat.

Kenner des Landes wissen schon lange um die Zersplit-


terung der (partei-) politischen Opposition im Land, die
sich zwischen den Parteien immer wieder genauso mani-
festiert wie in ihrem Inneren. Immer wieder konnten sich
die Gruppierungen nur gegen, selten aber gemeinsam für
etwas aussprechen. Deshalb kann die Einigung der Oppo-
sitionellen, keine fortgesetzte Ausübung der Staatsgewalt
durch den Amtsinhaber zu akzeptieren, auch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass daneben wenig existiert, worauf sie
sich einigen könnten. Dabei sind noch nicht einmal alle
20 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

jene Ägypter ins Kalkül einbezogen, die sich täglich ganz


anderen Problemen gegenübersehen als die überwiegend
der ägyptischen Mittelklasse entstammenden Studenten
auf dem Tahrir-Platz.

Ist also schon die Zielrichtung der Revolte inhaltlich vage


bis unbestimmt, so fehlt es der Opposition zusätzlich an
einer alle Kräfte hinter sich versammelnden Führungs-
figur  – übrigens auch in Tunesien. Allein der langjährige
ägyptische Außenminister Amr Moussa kann für sich ein
wenig das Etikett eines „Dissidenten‟ in Anspruch nehmen,
weil er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Präsi-
denten sein Amt abgeben und vor Jahren die Funktion
des Generalsekretärs der Arabischen Liga übernehmen
musste. So konnte er eine gewisse Distanz zum Mubarak-
Regime bewahren, die ihm in der jetzigen Phase noch
zugute kommen könnte.

Der in den westlichen Medien immer wieder genannte


Mohamed El Baradei dagegen mag in der Weltöffent-
lichkeit ob seiner Verdienste und Auszeichnungen über
eine gewisse Bekanntheit und vielleicht sogar Sympathie
verfügen, den meistern Ägyptern ist er jedoch schon durch
seinen Jahrzehnte langen Auslandsaufenthalt heute eher
fremd. Zudem gelten Landsleute, die ihrer Heimat für so
lange Zeit den Rücken kehren, vor allem den vielen heimat-
verbundenen Ägyptern in den ländlichen
El Baradei hat nicht jahrelang unter Regionen immer ein wenig als „Verräter‟.
dem Regime gelitten, wie es die De- Auch wenn er dafür seine internationalen
monstranten für sich in Anspruch neh-
men. Deshalb wird er nicht die Befrei- Berufungen als Erklärung anführen kann, so
ung von diesem Regime anführen. hat er doch sicher nicht jahrelang unter dem
Regime gelitten, wie es die Demonstranten
für sich in Anspruch nehmen. Deshalb wird er nicht die
Befreiung von diesem Regime anführen, auch wenn sich
das mancher in den westlichen Hauptstädten wünschen
würde.

Es bleiben also das Militär und die Sicherheitsorgane als


wichtige Akteure, die sich nicht durch Gruppen der Zivilge-
sellschaft bevormunden lassen werden. Wenn man ande-
rerseits aber den Hass kennt, den ein Innenminister Adli
auf sich ziehen konnte, und weiß, das zwischen ihm und
anderen Vertretern der Sicherheitsorgane immer großes
Einvernehmen über das herrschte, was politisch notwendig
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 21

erschien, ist daran zu zweifeln, dass dieses Militär wirk-


lich allen Forderungen der Demonstranten gerecht werden
kann. Die Zukunft der Revolte und damit des Landes
allein dem Militär zu überlassen, wäre also ebenso fahr-
lässig, zumal ein Rückfall in autokratische Strukturen und
Prozesse dann nicht auszuschließen wäre. Das Werk wird
also wohl nicht ohne einen Prozess der „Versöhnung‟ von
zivilem und militärischem Denken und Handeln gelingen.
Politik und Militär müssen zusammenkommen, um das in
die Sackgasse manövrierte Land in eine hoffnungsvollere
Zukunft zu führen.

Inzwischen hat sich auch die Vermutung mancher poli-


tischer Beobachter, dass man in Ägypten einen schon in
der Vergangenheit praktizierten Weg über einen „Revoluti-
onsrat‟ mit exekutiven Vollmachten gehen würde, bewahr-
heitet. Die mit Vertretern der ägyptischen
Zivilgesellschaft besetzten „runden Tische‟ Es gilt, eine Art „Übergangsverfassung‟
konnten, auch wegen der offensichtlichen per Referendum in Kraft zu setzen und
zur Grundlage der in sechs Monaten
Zerstrittenheit der verschiedenen Fraktionen, anberaumten Neuwahlen zu machen.
keine dauerhafte Wirkung entfalten. Statt-
dessen hat der „Oberste Militärrat‟ die ägyptische Verfas-
sung kurzerhand außer Kraft gesetzt und ein Gremium ihm
vertrauter Verfassungsexperten mit der Aufgabe betraut,
innerhalb von nur zwei Wochen einen neuen Verfassungs-
entwurf vorzulegen, den es dann zumindest als eine Art
„Übergangsverfassung‟ per Referendum in Kraft zu setzen
gilt, als Grundlage der in sechs Monaten anberaumten
Neuwahlen.

Die Entscheidung des „Obersten Militärrates‟, das gerade


erst unter dubiosen Umständen gewählte ägyptische Parla-
ment aufzulösen, ist konsequent, da von diesem Parlament
niemand eine wirklich konstruktive Rolle im beginnenden
Umbauprozess des ägyptischen Regierungssystems erwar-
ten konnte.

ÄGYPTENS MUSLIMBRÜDER –
IST DER WEG FREI ZUR MACHT?

Zu den bedeutendsten Unwägbarkeiten, die mit diesem


umfassenden Restrukturierungsprozess in Ägypten verbun-
den sind, gehört natürlich die Frage nach der zukünf-
tigen Rolle, die die ägyptische Muslimbruderschaft spielen
22 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

könnte. Die angebliche oder tatsächliche Bedrohung des


ägyptischen Regimes durch die Muslimbrüder war über
Jahre das Hauptargument, weswegen westliche Regie-
rungen eine „robuste‟ Regierungsführung in Ägypten in
Kauf genommen haben.

Die Meinungen über die Bereitschaft und die Fähigkeit


dieser Gruppierung, das möglicherweise gerade entste-
hende politische Machtvakuum zu füllen, den jetzt auf
den Weg zu bringenden politischen Wandlungsprozess
in Ägypten zu beeinflussen oder sogar entscheidend zu
bestimmen, gehen sehr weit auseinander.
Wenige Ägypter, mit denen sich west- Für viele ist die ägyptische Muslimbruder-
liche Vertreter in Kairo politisch ausei- schaft bis heute immer noch eine „Blackbox‟.
nandersetzen, bekennen sich zu einer
Mitgliedschaft in der Muslimbruder- Wenige Ägypter, mit denen sich westliche
schaft. Vertreter in Kairo vornehmlich politisch aus­­
einandersetzen, bekennen sich zu einer Mitgliedschaft.
Die nominelle Größe dieser offiziell zwar verbotenen, vom
Regime aber immer wieder geduldeten Organisation bleibt
deshalb bis heute genauso unbestimmt, wie ihre mögliche
Attraktivität in freien und geheimen Wahlen.

Viele Experten schätzen ihre Wahlchancen zumindest


momentan eher geringer ein als noch vor wenigen
Monaten. Dies mag den neuen Alternativen geschuldet
sein, kann sich aber als Trugschluss und Ergebnis eines
klugen politischen Kalküls der Bruderschaft erweisen. Ihr
Verhalten während des aktuelle Protestes am Tahrir-Platz,
wo es überraschend so gut wie keine islamischen Parolen
zu sehen und hören gab, sollte nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass die politische Zukunft Ägyptens langfristig
eben nicht im Zentrum Kairos, sondern in einem neuen,
frei gewählten ägyptischen Parlament entschieden werden
wird. Dort werden die jungen Studenten, die heute auslän-
dischen TV-Sendern bereitwillig Interviews geben, sicher-
lich in der Minderheit sein.

Zudem verfolgt die Bruderschaft erklärtermaßen seit


geraumer Zeit eine Strategie, die sich nicht an kurzen Fris-
ten orientiert, wie sie Legislaturperioden darstellen, son-
dern langfristig die islamische „Unterwanderung‟ aller poli-
tischen Institutionen zum Ziel hat. Diese muss, nimmt man
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 23

vergangene Wahlerfolge der Muslimbrüder in verschie-


denen ägyptischen Berufverbänden für bare Münze, inzwi-
schen als weitgehend erfolgreich angesehen werden.

Es ist nicht vollständig abwegig zu unterstellen, dass


die von der Bruderschaft aktuell gezeigte Zurückhaltung
Kalkül ist, um die in den westlichen Medien populäreren
Kairoer Studenten den demokratischen Wandel erzwingen
zu lassen und ihn dann zur mehrheitlichen demokratischen
und damit legitimen Machtübernahme zu nutzen. Dabei
bleibt momentan ebenso ungewiss, ob die Bruderschaft
in der bekannten ideologischen Erstarrung verharren wird
oder ob ein Teil der Bewegung nicht doch bereit sein wird,
den parlamentarischen Weg in Richtung der
türkischen Regierungspartei AKP zu gehen. Es gibt schon Positionspapiere, vorge-
Richtig ist, dass sich die bisher in der ägyp- legt von Parlamentsvertretern, die der
Muslimbruderschaft zugeordnet wer-
tischen Öffentlichkeit auftretenden höchsten den können. Klarheit wird aber erst
Repräsentanten der immer noch geheimnis- der anstehende Politikdialog bringen.
umwitterten Organisation bislang mit politi-
schen Standortbestimmungen sehr zurückhielten. Es gibt
zwar durchaus schon politische Positionspapiere, vorgelegt
von einigen Parlamentsvertretern, die der Muslimbruder-
schaft zugeordnet werden können. Klarheit wird aber erst
der anstehende Politikdialog bringen.

Diese Papiere zu studieren, kann schon jetzt nicht schaden,


will man das breite Spektrum der politischen Meinungen
ermessen, das sich bald beim ägyptischen Wähler um
Unterstützung bemühen wird. Ob die überalterten
Führungen der existierenden Oppositionsparteien dieser
organisierten und ideologisch „gestählten‟ Bewegung
tatsächlich wirksam, vor allem aber ideologisch konsistent
und erfolgversprechend entgegentreten können, ist heute
noch nicht absehbar.

Realistisch erscheint, dass die neue ägyptische Staats-


führung Vertreter des Militärs und der Sicherheits-
dienste einschließen wird, und dass deshalb einige der
umfassenden Privilegien dieser Staatsorgane zumindest
vorläufig erhalten bleiben. Ob es noch die alten Generäle
sein können, die mehr als die unmittelbare Übergangs-
phase beeinflussen werden, ist fraglich. Einige jüngere
24 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Militärs könnten die neuerliche konstruktive Distanz zum


politischen Prozess sicher besser dokumentieren als jene
Generäle, die sich noch vor wenigen Tagen im staatlichen
Fernsehen mit dem bedrängten Präsidenten abbilden
lassen mussten.

Die Vertreter der NDP werden es dagegen schwer haben,


ihren politischen Einfluss auch in Zukunft geltend zu
machen. Die Chancen für den Hoffnungsträger des alten
Systems, den Sohn des Präsidenten und Vorsitzenden des
Politischen Komitees der NDP, Gamal Mubarak, in Zukunft
noch eine Rolle zu spielen, scheinen dahin.

DIE ÄGYPTISCHE WIRTSCHAFT

Die Zukunft der ägyptischen Wirtschaft haben die jüngsten


Ausschreitungen zumindest kurzfristig verdüstert. Viele
Vermögenswerte sind in den chaotischen Tagen der Revolte
nicht nur in Kairo zerstört worden, darunter auch viele
neue mittelständische Existenzen, die der Zerstörungswut
und den Plünderungen zum Opfer gefallen sind. Gerade auf
den Mittelstand hatte sich das in den vergangenen Jahren
erstaunlich robuste Wirtschaftswachstum in
Wirtschaftliche Wachstumsraten von Ägypten gegründet. Der infolge der wirt-
bis zu sieben Prozent werden sich nur schaftlichen Liberalisierungspolitik der jetzt
schwer wieder erreichen lassen – und
wenn, dann nur mit ausländischer abgelösten Regierung Nacif erlangte Status
Hilfe. als drittgrößte arabische Volkswirtschaft ist
akut gefährdet. Wirtschaftliche Wachstumsraten von bis
zu sieben Prozent und zuletzt immerhin noch fünf Prozent
werden sich nur schwer wieder erreichen lassen  – und
wenn, dann nur mit ausländischer Hilfe. Es gilt, die depri-
mierenden Erfahrungen, die ägyptischen Jungunternehmer
mit der „Revolte‟ machen mussten, in neue Hoffnung und
in neuerliche Bereitschaft zu Engagement und Investi-
tion zu überführen. Um diese Existenzen zu retten und
Neuanfänge zu ermöglichen, wird es der Unterstützung
nationaler und internationaler Banken durch neue Kredite
bedürfen. Viel wird davon abhängen, wie die internatio-
nalen Wirtschaftsinstitutionen den weiteren Verlauf des
Umbruchs bewerten. Mittelfristige Herabstufungen der
Kreditwürdigkeit des Landes durch internationale Rating-
Agenturen werden sich ebenso wenig vermeiden lassen
wie ein Absturz der ägyptischen Börse und eine deutliche
Schwächung der ägyptischen Währung.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 25

All dies kann und wird einen zweifellos notwendigen wirt-


schaftlichen Neuanfang in Ägypten deutlich erschweren,
wenn nicht sogar unmöglich machen, sollte sich die inter-
nationale Gemeinschaft nicht umgehend entschließen,
Ägypten mit aller Kraft wirtschaftlich zur Seite zu stehen.
Ohne eine Art „Marshallplan‟ wird der ägyptische Banken-
sektor mit der Finanzierung des Wiederaufbaus völlig über-
fordert sein.

Gesucht wird auch eine zukünftige Rolle für nicht der


Korruption verdächtigte Vertreter der ägyptischen (Privat-)
Wirtschaft. Diese haben eine ebenso große Verantwor-
tung, das Staatsschiff wieder flott zu machen, wie ihre
politischen Mitstreiter. Ohne die Sicherstellung des Über-
lebens der ägyptischen Industrie und des Tourismus kann
Ägypten seinen Weg in eine neue politische Ordnung nicht
konfliktfrei schaffen. Dann stünde zu befürchten, dass sich
radikale Autokraten jeglicher Couleur als Ergebnis einer
umfassenden Wirtschaftskrise des Landes ein weiteres Mal
bemächtigen könnten. Klar ist aber auch, dass wirtschaftli-
ches Wachstum und daraus resultierender Wohlstand nicht
wie in der Vergangenheit allein auf wenige beschränkt
bleiben können. Zwar haben sich die Regie-
rung und vor allem der ägyptische Präsident Die staatlich administrierten Löhne
jahrelang erfolgreich gegen die Forderungen konnten nur selten mit der Inflation
im Land mithalten. Dies hatte der
des IWF gewehrt, die Subventionen für Revolte den Boden bereitet.
Grundnahrungsmittel und Energie zu kürzen,
und damit der Masse der Bevölkerung eine Verschlech-
terung ihres Lebensstandards erspart, doch konnten die
staatlich administrierten Löhne nur selten mit der Infla-
tion im Land mithalten. Dies hatte der Revolte den Boden
bereitet.

Jede neue ägyptische Regierung wird deshalb rigide gegen


Korruption und eine andauernde Verschwägerung von poli-
tischer und wirtschaftlicher Oligarchie vorgehen müssen.
Nur eine gerechtere Verteilung von Einkommen und
Vermögen kann in Ägypten den Weg in eine vielverspre-
chende Zukunft weisen, in der der „einfache Ägypter‟ auch
materiell von dem eingeleiteten Umbruch profitieren kann.
26 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

DIE LAGE DER KOPTEN

Eine besondere Herausforderung einer jeden zukünfti-


gen, demokratischeren ägyptischen Regierung liegt
im Verhältnis zwischen der Mehrheit der Muslime und
der christlichen Minderheit der Kopten. Angesichts der
jüngsten Anschläge auf koptische Christen muss es darum
gehen, die Lage nicht nur zu beruhigen, sondern, wenn
schon nicht zu einem gleichberechtigten Miteinander, dann
doch wenigstens zu einem friedlichen Nebeneinander
zurückzuführen.

Die bisherige Staatsführung unter Präsident Mubarak hat


bisher durch ihr resolutes Eintreten für den Schutz der
Religionsfreiheit der Kopten die Rechte dieser religiösen
Minderheit erfolgreich geschützt, auch wenn
Ob es der koptischen Minderheit in sie nicht alle Anschläge verhindern konnte.
einer demokratischeren Ordnung wirk- Ob es dieser Minderheit in einer demokra-
lich besser ginge, muss (noch) bezwei-
felt werden. tischeren Ordnung wirklich besser ginge,
muss (noch) bezweifelt werden. Das hängt
wesentlich vom Grad der konfessionellen Komposition und
Ausrichtung der demokratisierten politischen Institutionen
ab. Die Forderung nach einem Dialog mit den Muslimbrü-
dern, ohne auch der koptischen Minderheit Gespräche
anzubieten oder sie doch wenigstens bewusst einzube-
ziehen, deutet daraufhin, dass die Vertreter der religiösen
Mehrheit ein Vorrecht zur Strukturierung der Zukunft
Ägyptens beanspruchen. Unklar ist heute, inwieweit eine
auch politisch erstarkte Muslimbruderschaft bereit sein
wird, der koptischen Minderheit dieselben Rechte und
denselben Schutz zu garantieren, wie dies die bisherige
Staatsführung zumindest immer bemüht war zu tun.

AUSWIRKUNGEN AUF DIE ARABISCHE WELT

Angesichts der Ereignisse in Tunesien und Ägypten war


absehbar, dass es auch in anderen arabischen Ländern
zu Demonstrationen kommen würde. Schließlich unter-
scheiden sich die politischen und sozioökonomischen
Rahmenbedingungen in diesen Ländern nur graduell
von denen in Tunesien und Ägypten. Gleichzeitig speku-
lierten viele Außenstehende sofort auf eine dem Zerfall
des Ostblocks vergleichbare Entwicklung. Auch wenn das
noch nicht ausgeschlossen werden kann, spricht doch
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 27

einiges dafür, dass es keinen Dominoeffekt geben wird.


Stattdessen ist wohl eher mit einer flexiblen, wenn auch
durchaus ernsthaften Reaktion der einzelnen Regime auf
die jüngsten Entwicklungen zu rechnen.

Klar ist, dass der geflohene ehemalige tunesische Präsi-


dent Ben Ali seinen Amtskollegen mit seinem überhasteten
Abgang keinen Gefallen getan hat. Interessant wird es
sein, zu beobachten, wie sich die saudische Staatsführung
dem offensichtlichen Exilgesuch des tunesischen Präsi-
denten Ben Ali gegenüber verhalten wird, auch angesichts
des gegen ihn ausgestellten internationalen Haftbefehls.

Die vorläufige Aufnahme ist für Saudi Arabien ein zwei-


schneidiges Schwert, kann es sich doch nicht auf das
Argument zurückziehen, man müsse einen muslimischen
Regenten, wie ehedem Idi Amin, vor der „Rache der
Nicht-Muslime‟ schützen. Einen für seine Religiosität nicht
gerade berühmten muslimischen „Dieb‟ vor seinen eben-
falls muslimischen „Opfern‟ zu schützen und ihn bei sich
dauerhaft zu beherbergen, könnte sich als ein schwierig
durchzuhaltendes Unterfangen erweisen, auch wenn die
Gründe dafür recht offensichtlich sind. Eine Bezugnahme
auf das Verhalten der ägyptischen Staatsführung gegen-
über dem persischen Schah Pahlevi kann der saudischen
Führung wohl auch nicht helfen.

Wenn es dann schließlich doch noch zur Mit Blick auf die Entwicklungen in
Auslieferung Ben Alis kommen sollte, könnte Ägypten hat sich der iranische Revo-
lutionsführer Chamenei auf die Seite
sich dies als durchaus destabilisierende der Demonstranten gestellt.
Blamage für die saudische Führung heraus-
stellen. Dass sie vom Iran, dem größten Konkurrenten
um die Hegemonie in der Region, genüsslich ausgenutzt
werden würde, ist anzunehmen. Schon mit Blick auf die
aktuellen Entwicklungen in Ägypten hat sich der iranische
Revolutionsführer Chamenei indirekt auf die Seite der
ihm nun wirklich nicht nahestehenden Demonstranten
gestellt, indem er auf eine ihm jetzt offensichtlich erschei-
nende Islamisierung der ägyptischen Bevölkerung glaubte
hinzuweisen zu müssen. Die ägyptische Führung reagierte
entsprechend erzürnt auf diese Einmischung in die inneren
Angelegenheiten.
28 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Anders stellt sich die augenblickliche Situation im Falle


des ehemaligen ägyptischen Präsidenten dar. Es ist davon
auszugehen, dass dieser vom „Obersten Militärrat‟ gegen
seine ausdrücklichen Willen zum Rücktritt gezwungen
und in seiner Villa in Scharm El-Scheich unter Hausarrest
gestellt wurde. Dass eine Machtübergabe in Form eines
Militärputsches nicht verfassungsgemäß erfolgt ist, liegt
auf der Hand, spielt aber auch keine Rolle mehr, nachdem
der „Oberste Militärrat‟ die ägyptische Verfassung inzwi-
schen außer Kraft gesetzt hat.

Gerüchten zufolge soll Mubarak sich – tief enttäuscht von


„seinen‟ Generälen  – momentan weigern, die ihm nach
seiner Operation in Deutschland verordnete Medikation
einzunehmen. Einigen arabischen Pressemeldungen zu-
folge soll er deshalb sogar schon zur clandes-
Unter den Nachbarstaaten erscheint tinen medizinischen Behandlung  gebracht
der Jemen momentan am meisten worden sein, möglicherweise nach Tabuk in
gefährdet, den Rest an innerer Stabi-
lität zu verlieren. Saudi Arabien.

Unter den Nachbarstaaten Tunesiens und Ägyptens er-


scheint der Jemen momentan am meisten gefährdet, den
Rest an innerer Stabilität zu verlieren, den dieser Staat
noch besitzt. Dies mag auch der Grund für die überhastet
wirkende Erklärung des jemenitischen Staatspräsidenten
gewesen sein, im Gegensatz zu seinen bisherigen Absichten
im Jahr 2013 keine weitere Amtszeit mehr anzustreben.
Damit bot er an, einen noch unklaren politischen Umbruch-
prozess zu begleiten und ihm einen ordnenden Rahmen zu
geben.

Anders gelagert ist die Situation in den ehemaligen


„sozialistisch‟ inspirierten Republiken in Algerien und
Syrien. Auch dort kam es zu Demonstrationen, die jedoch
weniger die Staatsspitze angriffen, sondern eher sozio­
ökonomische Missstände beklagten und Abhilfe forderten.
Für eine unmittelbare Herausforderung der Staatsfüh-
rung reichte der revolutionäre Impetus in diesen Ländern
(noch) nicht. Die Staatssicherheit hätte das wohl auch
sofort unterbunden. Den im Vergleich zu anderen arabi-
schen Staaten weniger brisanten Forderungen der
Protestierenden, die vielleicht sogar durch die Staats-
partei initiiert oder gesteuert worden sind, begegnete
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 29

das Regime durch rasche Preissenkungen und Subventions­


erhöhungen und „entkräftete‟ damit den Protest.

Noch weniger von einem Dominoeffekt bedroht erscheinen


die arabischen Monarchien, vor allem jene in Jordanien und
Marokko. Wie schon in der Vergangenheit zielt der kontrol-
lierte Protest auf ökonomische Defizite und auf die für die
Stabilität dieser Staaten noch weniger bedeutenden Regie-
rungen. Entsprechend könnte die entstandene Unruhe in
der jeweiligen Bevölkerung durch kosmetische Umbeset-
zungen der Regierungen behoben werden.
Sicherlich verbergen sich hinter den artiku- Sicherlich gibt es auch in Jordanien und
lierten sozioökonomischen Missständen auch Marokko „ernstere‟ politische Frustra­
tionen, doch sie kollidieren mit der
„ernstere‟ politische Frustrationen, doch sie Loyalität gegenüber den Monarchen.
kollidieren mit der Loyalität, die in diesen
Ländern den Monarchen immer noch entgegengebracht
wird. Zudem stehen die Sicherheitsorgane und vor allem
die Armee in diesen Ländern vorbehaltlos zum Monarchen
und nicht auf der Seite des Volkes, was mit ihrer Zusam-
mensetzung und Art der Rekrutierung der höheren Offi-
ziersränge zusammenhängt.

Das libysche Regime erscheint zwar nicht zuletzt wegen der


teilweise konfusen Äußerungen des „Revolutionsführers‟
Ghaddafi ebenso herausgefordert. Es wird aber abzuwarten
bleiben, ob die sicher noch anhaltenden Demonstrationen
in diesem Land tatsächlich die „kritische Masse‟ erreichen,
um für den seit mehr als 40 Jahren herrschenden Ghaddafi
gefährlich zu werden. Wie andere Autokraten in der Region,
hatte auch er eine in jüngerer Vergangenheit ebenfalls
von Bengasi ausgehende Revolte mit militärischen Mitteln
erfolgreich niederschlagen können.

AUSWIRKUNGEN AUF ISRAEL

Ein Blick auf die Auswirkungen der Ereignisse in Tunesien


und Ägypten für die Region muss unvollständig bleiben,
würde man die Situation und die möglichen Reaktionen des
Staates Israel ausblenden. Jedem politischen Beobachter
der Region ist klar, dass mit der eingetretenen Destabili-
sierung der „Südfront‟ das alte Menetekel eines Zweifron-
tenkrieges wieder wahrscheinlicher geworden ist. Nach
den Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien und
30 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

der Intervention im Irak konnte sich Israel ganz der mili-


tärischen Bedrohung aus dem „Norden‟, also unmittelbar
aus dem Libanon und Syrien sowie mittelbar aus dem
Iran, konzentrieren. Zwar gab es eine Restbedrohung
aus dem Gazastreifen, doch diese bedurfte
Israel muss bewusst sein, dass eine keiner strategischen Umorientierung der
„Demokratisierung‟ in Ägypten die eigenen Verteidigungsanstrengungen. Dies
Beziehungen zwischen den Ländern
verstärkt zu einem Gegenstand der po- könnte sich  – je nach weiterem Verlauf der
litischen Auseinandersetzung machen Ereignisse vor allem in Ägypten – jedoch als
wird.
notwendig erweisen.

Auch Israel muss bewusst sein, dass eine stärkere „Demo-


kratisierung‟ in Ägypten die ägyptisch-israelischen Bezie-
hungen verstärkt zu einem Gegenstand der politischen
Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern
machen wird. Solange diese Diskussion auf die entspre-
chenden demokratischen Institutionen wie das Parlament
und die Regierung beschränkt bliebe, wäre sie für Israel
wohl unbedenklich. Wenn dieser zentrale außenpolitische
Aspekt jedoch Gegenstand einer demokratischeren Wahl-
auseinandersetzung würde, könnte dies unkalkulierbare
Folgen für das israelisch-ägyptische Verhältnis zeitigen.
Bekanntermaßen ist die Mehrheit der ägyptischen Bevöl-
kerung gegen einen Frieden mit Israel und hat schon in der
Vergangenheit immer wieder die Aufkündigung des Frie-
densabkommens mit Israel und die Ausweisung des isra-
elischen Botschafters oder sogar die (endgültige) Schlie-
ßung der israelischen Botschaft gefordert. Es würde sehr
überraschen, wenn es in zukünftigen, demokratischeren
Wahlauseinandersetzungen keine Gruppierungen gäbe, die
dies zum Thema machen würden.

Die große Zurückhaltung israelischer Beobachter gegen-


über einer Zulassung der Muslimbrüder fußt wesentlich
auf der Erkenntnis, dass diese, sollten sie in Zukunft als
politische Partei an demokratischen Wahlprozessen teil-
nehmen, ihre bekannten  – um es vorsichtig auszudrü-
cken – Israel-kritischen Positionen in die Auseinanderset-
zung um die Unterstützung der Wähler einbringen würden.
Die Folgen wären absehbar. Selbst eine Vertretung dieser
Denkrichtung durch 20 bis 30 Prozent der Abgeordneten
eines zukünftigen ägyptischen Parlaments, was einem
best case-Szenario entspricht, würde es jeder ägyptischen
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 31

Koalitionsregierung unmöglich machen, den bisherigen


außenpolitischen Kurs gegenüber Israel unverändert
fortzusetzen. Und auf eine Koalitionsregierung ähnlich
derjenigen im Libanon muss man sich wohl jetzt auch in
Ägypten vorbereiten. Eine parlamentarische Mehrheit für
eine der zukünftigen Fraktionen im Ägyptischen Parlament
ist schon wegen der zu erwartenden Parteineugründungen
nicht zu erwarten. Die Gründung eines parteipolitischen
Zweigs der Muslimbruderschaft ist ebenso wahrscheinlich
wie das Entstehen einer koptisch ausgerichteten Partei.

All dies ist den Israelis wohl bewusst, weshalb sie sich
bisher auch sehr zurückhaltend gegenüber der „Demo-
kratiebewegung‟ in Ägypten und den anderen arabischen
Staaten geäußert haben. Indessen gilt grundsätzlich, dass
Demokratien weniger häufig (und schnell) zu kriegeri-
schen Mitteln greifen als Diktaturen, zumal gegen andere
­Demokratien. Genauso gilt allerdings, dass ein „kriegs-
müder‟ arabischer Diktator für Israel allemal besser ist,
als eine „kriegslüsterne‟ arabische Bevölkerungsmehrheit.
Darüber hinaus ist der israelischen Führung natürlich auch
klar, dass im Falle einer Aufkündigung des ägyptisch-isra-
elischen Friedensvertrags durch eine zukünftige, demo-
kratisch gewählte ägyptische Regierung Jordanien dem
Beispiel folgen müsste, um das eigene Regime zu erhalten.
Damit wären die Stabilisierungserfolge von Jahrzehnten
dahin, und die Zukunft Israels in der Region wäre unge-
wisser als zuvor.

Manche Beobachter sind optimistischer und versprechen


sich eine Entspannung der Beziehungen durch ein Ende
der Praxis vieler despotischer arabischer Regime, die Kritik
an der Politik Israels als bequemes Ventil zur
Ableitung der Frustrationen ihrer Bevölke- Wenn interne politische und sozioöko-
rung einzusetzen. Wenn interne politische nomische Probleme verstärkt die poli-
tische Auseinandersetzung bestim-
und sozioökonomische Probleme verstärkt men, so das Kalkül, rücken die Bezie-
die politische Auseinandersetzung in den hungen zu Israel aus dem Fokus der
Printmedien.
sich demokratisierenden arabischen Staaten
bestimmen, so das Kalkül, rücken die Außen-
politik und damit die Beziehungen zu Israel aus dem Fokus
der Printmedien. Ob sich diese Hoffnung erfüllen wird,
bleibt jedoch abzuwarten.
32 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

FAZIT

Dieser Beitrag sollte nicht den Eindruck erwecken, als


würden die Forderungen von Teilen der ägyptischen Bevöl-
kerung nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit und einem
Umbau der politischen Ordnung hin zu mehr Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit nicht uneingeschränkt begrüßt. Es
besteht kein Zweifel, dass eine solche Veränderung über-
fällig war und die etablierten Machtsysteme, vor allem das
in Ägypten, zuletzt offensichtlich nicht mehr den notwen-
digen Reformwillen aufbrachten, um ihre Länder aus den
Sackgassen ungelöster Nachfolgefragen und politischer
Reformprozesse herauszuführen.

Nun steht allerdings ein schwieriger, weil umfassender


Umbruch der politischen Ordnung bevor. Diesen zu struk-
turieren und gewaltlos zu einem zufriedenstellenden
Ergebnis zu führen, ist nun Aufgabe aller,
Der Vorwurf, das Geschehene sei in vorrangig ­natürlich der in den politischen
Kollaboration mit den üblichen „Fein- Instanzen agierenden Amts- und Funkti-
den im Ausland‟ herbeigeführt wor-
den, wird von den meisten Beobach- onsträgern, aber eben auch neuer Akteure.
tern als übliche Schutzbehauptung der Es waren schließlich die nach Freiheit und
Regierung zurückgewiesen.
Demokratie strebenden Bürger, die diesen
Prozess erzwungen haben, und sie werden
es auch sein, die ihn zu einem Ergebnis führen. Der
Vorwurf der Ewig-Gestrigen, das Geschehene sei von radi-
kalen Fundamentalisten in Kollaboration mit den üblichen
„Feinden im Ausland‟ herbeigeführt worden, um mit Hilfe
naiver, unschuldiger Bürger das Regime zu stürzen, wird
von den allermeisten Beobachtern als übliche Schutzbe-
hauptung der Regierung zurückgewiesen.

Was den amerikanischen Regierungen über acht Jahre


nicht gelungen ist, nämlich den ägyptischen Präsidenten
zu umfassenden Reformen zu bewegen, das schafften
mutige, ihre Apathie überwindende Bürger in acht Tagen.
Dies belegt sowohl die Relativität externer Einflussnahme
als auch die Relativität angeblicher politischer Allmacht
von Autokraten. Viele Amtsträger in der Region wird das
zu Recht beunruhigen und hoffentlich zu reformerischem
Handeln bewegen.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 33

Das Ausland mag jetzt Sorgen und Hoffnungen artiku-


lieren, verantwortet wird die politische Entwicklung aber
von den Akteuren in den betroffenen Staaten selbst.
Unaufgefordert Ratschläge zu erteilen oder sich gar von
außen in den Prozess einzumischen, wird nicht hilfreich
sein. Die Tunesier und die Ägypter würden sich das
verbitten. Die Würde und der Stolz, in Verbindung mit
dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein, werden den
Prozess intern voranbringen, bis er einen Punkt erreicht,
da sich die Vertreter der neuen politischen
Ordnung in Ägypten mit ihren Vorstellungen Es ist absehbar, dass Ägypten diesen
und Wünschen auch an das Ausland wenden Umbruch nicht vollkommen eigen-
ständig und ganz ohne ausländische
werden. Es ist absehbar, dass Ägypten diesen Hilfe und finanzielle Unterstützung
Umbruch nicht vollkommen eigenständig und erfolgreich bewältigen kann.
ganz ohne ausländische Hilfe und finanzielle
Unterstützung erfolgreich bewältigen kann. Der Wirtschaft
Ägyptens wird ebenso geholfen werden müssen wie die
demokratische Neuordnung des (vor-) politischen Raumes
Unterstützung bedarf. Die notwendigen Neuwahlen ver-
langen nach gründlicher, auch legislativer Vorbereitung.
Sie können erst stattfinden, wenn sich die neuen demo-
kratischen politischen Akteure so weit konsolidiert haben,
dass sie sowohl den gut organisierten Muslimbrüdern, als
auch den bis dahin sicher umgruppierten Profiteuren der
alten Ordnung Paroli bieten können.

In diesem Zusammenhang wird sich auch und vor allem


für Europa die Chance bieten, sich konstruktiv in die Wand-
lungsprozesse einzubringen und den in jüngster Vergan-
genheit geschaffenen Institutionen und Instrumenten der
Mittelmeerpolitik eine neue Bedeutung zu geben. Gerade
Deutschland, aber auch einige osteuropäische Länder
verfügen über noch lebendige Erinnerungen und Erfah-
rungen mit vergleichbaren politischen Umbrüchen. Sicher
können nicht alle Schritte eins zu eins übertragen werden,
nicht alle Instrumente passen in diesen andersartigen
kulturellen und religiösen Bezugsrahmen. Aber vollständig
unbrauchbar und nutzlos sind sie nicht. Es liegt jetzt an
den Ägyptern, zu entscheiden, ob und inwieweit sie die
angebotene Unterstützung annehmen wollen. Entspre-
chende Kooperationsangebote sollten nicht lange auf sich
warten lassen.
34 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

ÄGYPTEN BEENDET
DIE ÄRA MUBARAK

Andreas Jacobs

Dr. Andreas Jacobs


leitet das Auslands- Am Freitag, dem 11. Februar 2011, verkündete Vizepräsi-
büro der Konrad- dent Omar Suleiman um 18 Uhr Ortszeit, dass der ägypti-
Adenauer-Stiftung
sche Staatspräsident Hosni Mubarak sein Amt niedergelegt
in Kairo.
und die Führung des Landes in die Hände eines Militärrates
gelegt habe. Streng genommen bedeutet dieser Schritt
eine  – vermutlich erzwungene  – Machtübernahme des
Militärs. Für die Ägypter, die seit 18 Tagen genau diesen
Rücktritt gefordert hatten, war es aber eine Revolution.
Die ganze Nacht wurde auf den Straßen des Landes geju-
belt und gefeiert. Nach dem Rücktritt wird es jetzt darauf
ankommen, dass der Militärrat einen demokratischen
Übergang einleitet und nicht etwa autokratische Strukturen
wiederherstellt und konsolidiert. Fest steht allerdings, dass
mit der Vertreibung Hosni Mubaraks das ägyptische Volk
sein politisches Selbstbewusstsein wiedergefunden hat.

Am Tag nach dem Rücktritt Mubaraks ist der Besen das


Symbol der Stunde. Überall im Land und vor allem auf dem
Tahrir-Platz wird gefegt, aufgeräumt und sauber gemacht.
Ungeachtet der nach wie vor euphorischen Stimmung und
der Begeisterung für das Erreichte ist vielen Ägyptern
klar, dass nach der Straßenreinigung nun vor allem die
politischen Aufräumarbeiten folgen müssen. Und hier hat
Ägypten noch einen langen und schwierigen Weg vor sich.
Der zurzeit amtierende Militärrat hat sich zwar verpflichtet,
die Macht in einem friedlichen und geordneten Rahmen
an eine zivile und demokratisch gewählte Regierung zu
übergeben, ein expliziter Fahrplan für diesen Prozess gibt
es aber noch nicht. Bereits einen Tag nach dem Rücktritt
Mubaraks zeichnen sich aber einige Tendenzen und Pers-
pektiven ab.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 35

DIE NEUEN MACHTHABER

Seit dem vergangenen Freitag wird Ägypten von einem


Militärrat regiert. Wichtigste Person dieses Rates ist der
bisherige Verteidigungsminister Mohamed Hussein Tantawi.
Der 75-jährige Feldmarschall war unter Präsident Mubarak
zwanzig Jahre lang Verteidigungsminister und galt bislang
als regimetreuer Unterstützer des Präsidenten. In den
Tagen vor dem Machtwechsel soll Tantawi nach Medien-
berichten allerdings eine Schlüsselrolle zugekommen sein.
Ägyptische Zeitungen mutmaßen, dass er es war, der
zwischen der Armeeführung und einem immer starrsin-
niger agierenden Mubarak vermittelte. Tantawi hat damit
zugleich den bisherigen „Kronprinz‟, Omar Suleiman, in
die zweite Reihe gedrängt.

Suleiman war seit langem als möglicher Nachfolger Muba-


raks im Gespräch. Seit seiner überraschenden Ernen-
nung zum Vizepräsidenten am 29. Januar war fest damit
gerechnet worden, dass Mubarak die Amts-
geschäfte an seinen Vize übergeben werde. Immer mehr Ägypter erkannten in Su-
Nur über das wann und wie wurde noch leiman einen Vertreter des alten Sys-
tems und der unter Mubarak gepflegten
spekuliert. Dass nun ein Militärrat und nicht Seilschaften. Das Militär entschied des-
Suleiman die Amtsgeschäfte übernommen halb, selbst die Macht zu übernehmen.
hat, ist vor allem auf Entwicklungen der
vergangenen Tage zurückzuführen. Als Geheimdienstchef
war Suleiman von vielen Ägyptern persönlich für die Atta-
cken und Provokationen bezahlter Plünderer und Schläger
verantwortlich gemacht worden. Gleichzeitig erkannten
immer mehr Ägypter in Suleiman einen Vertreter des alten
Systems und der unter Mubarak gepflegten Seilschaften.
Den Militärs erschien eine Machtübergabe an Suleiman
daher zu riskant. Sie entschieden sich deshalb, Suleimans
Rolle offen zu lassen und selbst die Macht im Land zu über-
nehmen.

Von den allermeisten Ägyptern wurde dieser Schritt nicht


nur begrüßt, sondern sogar herbeigesehnt. Seit Tagen
kursiert der Witz, dass Ägypten das einzige Land der Welt
sei, in dem man sich wünsche, eine Diktatur werde durch
eine Militärdiktatur abgelöst. Die Popularität des Militärs
ist historisch und gesellschaftlich bedingt, hat aber in den
36 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

vergangenen zwei Wochen enorm zugenommen. Allen


Ägyptern ist klar, dass dieser Machtwechsel zwar vom Volk
verursacht, aber vom Militär möglich gemacht wurde.

ANKÜNDIGUNGEN UND VERÄNDERUNGEN

Am Tag Eins nach Mubarak ist über die weiteren Ziele und
Pläne der neuen Militärregierung noch wenig bekannt. In
einer Erklärung betonte das neue Führungsgremium aber
einige allgemeine Absichten. Hiervon sind drei besonders
wichtig. Erstens kündigte das Gremium an, entgegen
früherer Meldungen die bisherige Regierung (die haupt-
sächlich aus Militärs besteht) sowie alle noch amtierenden
Gouverneure bis auf weiteres im Amt zu
Der Militärrat ließ verlauten, dass belassen. Dieser Schritt soll nach Einschät-
Ägypten weiterhin alle internationa- zung von Beobachtern der Stabilisierung und
len Verträge und Abkommen einhalten
wird. Diese Ankündigung ist vor allem der möglichst schnellen Bildung einer neuen
hinsichtlich des Friedensvertrages mit Regierung dienen. Zweitens ließ der Militärrat
Israel bedeutsam.
verlauten, dass Ägypten auch weiterhin alle
eingegangenen regionalen und internationalen Verträge
und Abkommen einhalten wird. Diese Ankündigung ist
vor allem hinsichtlich des Friedensvertrages mit Israel
bedeutsam und wurde dementsprechend in Israel, Europa
und den USA mit Erleichterung aufgenommen. Die dritte
Ankündigung bezieht sich auf die Aufforderung zu einer
vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Bürgern und
Polizei, verbunden mit der Mahnung an die Polizei sich als
„Diener des Volkes‟ zu verstehen. Diese Aufforderung ist
insofern bedeutsam, als sie von den Ägyptern als klare
Unterordnung des verhassten Polizei- und Sicherheits-
apparates unter die neue Führung des Landes und damit
unter das Militär verstanden wird.

Die Rolle des ägyptischen Parlaments und der ägyptischen


Verfassung ist bislang völlig offen. Für die meisten Ägypter
ist allerdings klar, dass beide Organe viel zu eng mit dem
bisherigen Regime verknüpft sind und in dieser Form bzw.
Zusammensetzung keine Legitimität besitzen. Die Legisla-
tive, nach den von massiven Vorwürfen der Wahlfälschung
begleiteten Parlamentswahlen erst im November zusam-
mengetreten, ist folgerichtig bislang nicht in Erscheinung
getreten. Fachleute vermuten, dass das Parlament in
absehbarer Zeit aufgelöst wird.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 37

Ähnliches gilt für die Verfassung. Die derzeitige Verfassung


war nach einer Änderung des Jahres 2007 weitgehend auf
die Interessen des Präsidenten und seines Machtapparates
zugeschnitten. Für die allermeisten Ägypter hat sie deshalb
keine Legitimität mehr. Viele gehen sogar davon aus, dass
durch die Machtübernahme des Militärrates die Verfassung
bereits außer Kraft gesetzt wurde, da ein solcher Macht-
transfer verfassungsmäßig nicht vorgesehen ist.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Noch ist die politische Zukunft Ägyptens weitgehend offen.


Äußerungen aus dem Umfeld der neuen Militärregierung
lassen aber einige mögliche Schritte erkennen, die insge-
samt allerdings ein best-case-Szenario ergeben. Vielerorts
wird vermutet, dass das Militär zunächst versuchen wird,
durch eine Reihe strenger Maßnahmen und Vorschriften
das öffentliche Leben im Land wieder in Gang zu bringen.
Eine Reihe von zivilen Beauftragten und Mittelsmännern
könnten dann Gespräche mit politischen Kräften aus allen
Richtungen führen, um die Bildung einer zivilen Regierung
auf Weisung des Militärs vorzubereiten. Parallel sollten
ein Verfassungsprozess eingeleitet und die bisherigen
Notstandsgesetze aufgehoben werden. Nach der Kons-
tituierung von Parteien könnten schließlich innerhalb
einiger Monate Parlamentswahlen stattfinden, bevor im
September dann fahrplanmäßig ein neuer ägyptischer
Präsident gewählt würde.

Eine ägyptische Tageszeitung schrieb einen Die meisten Ägypter sind sich darüber
Tag nach dem Amtsverzicht Mubaraks, dass im Klaren, dass dem Land ein schwie-
riger politischer und gesellschaftlicher
dies nicht das Ende bedeute, sondern den Prozess der Neuorientierung bevor-
Anfang. Die meisten Ägypter sind sich darü- steht.
ber im Klaren, dass dem Land ein schwieriger
politischer und gesellschaftlicher Prozess der Neuorientie-
rung bevorsteht. Hierbei werden noch viele alte Wunden
aufbrechen und offene Rechnungen beglichen werden.
Wichtige Teile des bisherigen Machtapparates haben ihre
bisherigen Posten behalten, die ungeliebte Polizei ist wieder
auf den Straßen zu sehen, die Rolle der Geheimdienste
ist unklar und schließlich ist offen, ob sich die Protestbe-
wegung mit dem Rücktritt Mubaraks zufrieden geben wird
oder ihre Proteste fortsetzt.
38 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Beobachter erwarten vor dem Hintergrund dieser Gemen-


gelage das Aufbrechen einer Reihe von Macht- und Vertei-
lungskonflikten. Die „Revolution des 25. Januar‟ hat den
Ägyptern gezeigt, dass sie nicht länger der willenlose Spiel-
ball der Mächtigen sind, sondern dass selbst eine harmlose
Facebook-Seite eine Protestbewegung begründen kann,
die nach gut zwei Wochen den Rücktritt des Präsidenten
erzwingt. Dieses Selbstvertrauen werden die Ägypter aller
Voraussicht nach in Zukunft einbringen, wenn es um den
Kampf für Mindestlöhne, gegen Subventionsabbau, für eine
außenpolitische Neuausrichtung oder für mehr Demokratie
geht. Was am vergangenen Freitag in Ägypten geschehen
ist, mag strenggenommen „lediglich‟ ein Militärputsch
sein. Für die Ägypter ist es der Tag, an dem sie ihre nati-
onale Würde und ihr politisches Selbstvertrauen wieder
gewonnen haben. Unabhängig von den derzeitigen oder
künftigen Machtverhältnissen wird dies allein bereits für
nachhaltige politische Veränderungen in Ägypten sorgen.

Der Beitrag wurde am 12. Februar 2011 abgeschlossen.


AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 39

JEMEN: REVOLUTION
VERSCHOBEN?

Thomas Birringer

Nach dem ersten Höhepunkt der Proteste in Ägypten am


25. Januar riefen auch jemenitische Oppositionelle ihren
eigenen „Tag des Zorns‟ aus. Demonstrationen im Jemen
hatten bereits einen Tag nach der Flucht des tunesischen
Präsidenten Ben Ali am 14. Januar begonnen. Die Demons-
tranten fordern seither die Ablösung von Präsident Saleh,
bessere Lebensbedingungen sowie ein Ende der Korrup-
tion und der sozialen Ungerechtigkeit. Ein Umsturz scheint
jedoch nicht unmittelbar bevorzustehen. Thomas Birringer ist
Auslandsmitarbeiter
der Konrad-Adenauer-
Die Jemeniten blicken, wie viele Araber dieser Tage, nach Stiftung in Abu Dhabi.
Ägypten und Nordafrika.1 „Tunisia left, Egypt after it and Dort leitet er das
Yemen in the coming future‟ oder „Ben Ali goes after Regionalprogramm
Golfstaaten.
20 Years, 30 years in Yemen are enough‟2 lauteten die
Sprechchöre in den Straßen von Sanaa in den vergan-
genen Wochen. Schon kurz nach der Flucht des tunesi-
schen Präsidenten berichteten die Medien, dass die jeme-
nitische Regierung die höchste Alarmstufe für das Militär
ausgerufen hat und die Sicherheitskräfte auf den Straßen
zusammenzieht.3

Doch die revolutionäre Stimmung ließ sich auch im


Jemen zunächst nicht bannen. Aus anfänglich wenigen
hundert Protestierern wurden in den vergangenen Wochen
Tausende. Am 3. Februar standen sich dann unter dem
gleichen Motto wie in Ägypten, „Tag des Zorns‟, 20.000
Regime-Gegner und ebenso viele Anhänger des Präsi-
denten in Jemens Hauptstadt gegenüber.4 Doch waren

1 | Welt Online, 03.02.2011.


2 | Laut mehreren Nachrichtenagenturen, u.a. AFP vom
27.01.2011.
3 | al-Quds al-arabi, 15.01.2011.
4 | u.a. al-Jazeera, 03.02.2011.
40 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

damit weniger Kritiker des Präsidenten unterwegs als


bei den letzten Protesten im vorigen Jahr. Über die erste
Februarhälfte hielten die Proteste an, jedoch ohne dass die
Zahl der Demonstranten weiter zunahm.

Die Unterstützer des Präsidenten hatten sich am Tahrir-


Platz versammelt und trugen Plakate mit der Aufschrift:
„Yes for development, yes for stability, no for chaos.‟5 Dafür
wurden immer wieder aus großem Umkreis Menschen ins
Zentrum gebracht. Es gab Essen, Khat und wohl auch
andere Zuwendungen. Die Anti-Saleh-Bewegung war in
andere Bezirke verbannt worden. Ihre Forderung „We will
fight until the fall of Ali Abdullah Saleh’s regime, what’s
most important now is the jasmine revolution‟6 lässt die
aufgeheizte Stimmung erahnen.

Aber Jemens Opposition geht es mehr um Reform als um


Revolution. Sie fordert, der Präsident solle aus Tunesien
seine Lehren ziehen und einen Dialog auf
Präsident Saleh hat aufgrund der Pro- neuen Grundlagen einleiten.7 Schon 2009
teste die Parlamentswahlen verscho- hatte Saleh mit der Opposition einen soge-
ben. Stattdessen will er eine Regierung
der nationalen Einheit bilden. nannten „Nationalen Dialog‟ über politische
Reformen vereinbart, die bis zur Parlaments-
wahl im kommenden April umgesetzt werden sollten8. Die
Parlamentswahlen hat Präsident Saleh nun aufgrund der
Proteste verschoben. Stattdessen will er eine Regierung
der nationalen Einheit bilden. Außerdem hat er angekün-
digt, bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2013 nicht
anzutreten, auch sein Sohn werde nicht zur Wahl stehen.

Als weiteres Zeichen der Annäherung hatte Präsident Saleh


das Parlament und den Shura-Rat zu einer gemeinsamen
Sitzung gerufen, auch wenn er damit vornehmlich seine
politische Machtbasis um sich versammelt hatte. Denn
seine Partei GPC stellt mit 229 Sitzen die Mehrheit im
Parlament, und der Schura-Rat besteht aus 111 von ihm
ernannten Mitgliedern. Mit frühen Zugeständnissen wollte
die Regierungsspitze so den Protesten den Wind aus den
Segeln nehmen. Das Volk wurde durch finanzielle Zusagen

5 | BBC News Middle East, 03.02.2011.


6 | Tawakel Karman, Bürgeraktivistin und Vorsitzende der
Gruppe „Women Journalists Without Chains‟.
7 | al-Jazeera Online, 25.01.2011.
8 | Datum für die Wahlen wäre eigentlich der 27.04.2011
gewesen.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 41

milde gestimmt. Die Gehälter des öffentlichen Dienstes


und bei der Armee sollen in Zukunft um 30 Prozent
erhöht werden, zusätzliche Sozialhilfe wird eingeführt, die
Einkommenssteuer halbiert, und ein staatlicher Fonds soll
sicherstellen, dass Hochschulabsolventen im öffentlichen
Dienst eine Stelle finden.

Indem der jemenitische Präsident schnell auf seine Bevöl-


kerung zuging, reagierte er taktisch klüger als Mubarak
in Ägypten oder Ben Ali in Tunesien. Doch trotz dieser
taktischen Raffinessen bleibt die Kritik. Die Opposition
verweigerte bislang eine Fortsetzung des Nationalen
Dialoges, der im Oktober vergangenen Jahres eingestellt
worden war. Sie wollte nicht mit dem „korrupten Regime
von Saleh‟9 an einem Tisch sitzen.

Zudem werden Analogien zu Tunesiens Ben Ali auf der


Straße offen zur Sprache gebracht. Der jemenitische Poli-
tologe Abdullah Al-Faqih meint: „For his part
the president does not know what is happe- Dass sich Präsident Saleh 2013 aus
ning in the country and seems to be walking dem politischen Geschäft zurückziehen
wird, glauben nur wenige. 2006 hatte
down the path as the ousted Tunisian Presi- er diesen Schritt schon einmal ange-
dent, despite the calls that are rising and kündigt, ohne ihn vollzogen zu haben.
demanding reforms and the return of the
constitution.”10 Dass sich Präsident Saleh wirklich 2013 aus
dem politischen Geschäft zurückziehen wird, glauben nur
wenige. 2006 hatte er diesen Schritt schon einmal ange-
kündigt, ohne ihn vollzogen zu haben. Stattdessen hatte er
Demonstranten dafür bezahlt, auf der Straße sein Bleiben
zu fordern.

Anders als in Ägypten sind die Proteste in Sanaa kein


spontaner Volksaufstand. Weite Teile des Landes begehren
immer wieder gegen die Regierung auf. Noch dazu
verfolgen die auf der Straße scheinbar vereinten Oppo-
sitionsgruppen sehr stark ihre eigenen Interessen. Seit
Jahren gehen die Menschen in Aden, der Hauptstadt des
ehemaligen sozialistischen Südjemens, auf die Straße und
fordern die Abspaltung von der Zentralmacht in Sanaa. Das
sogenannte „Southern Movement‟ wendet sich verstärkt
gegen die Dominanz des Nordens im südlichen Landesteil.
Auch im Norden gibt es Gegner: Die mit den schiitischen

9 | The National, 04.02.2011.


10 | Ebd.
42 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Houthi-Rebellen vereinbarte Waffenruhe wackelt. Eine


andere Gefahr droht von den extremistischen Kräften rund
um al-Qaida. Die Terrororganisation ist zu einer ernst-
haften Bedrohung für die Stabilität des Landes geworden.

Nach Meinung von Aidrus Al Nakib, Chef der Sozialistischen


Partei,11 wird es daher auch weder zu einem Machtvakuum
noch zu chaotischen Verhältnissen wie in Tunesien und
Ägypten kommen. Viele im Jemen suchen nicht den radi-
kalen Sturz des Regimes. Zu groß ist die Angst vor dem
Zerfall. „Die Opposition hat Angst vor einem Sturz des
Regimes, sie hat Angst vor den Militanten, vor al-Qaida,
den Stämmen und den ganzen Waffen hier,‟ sagt dazu
der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Khaled Al-Anesi.12
Die zentrifugalen Kräfte (Rebellen im Norden und Süden,
al-Qaida) könnten bewirken, dass der Jemen zerfällt – wie
der Nachbar Somalia.

Mit über 22 Millionen Einwohnern ist der Jemen nach


Saudi-Arabien einer der beiden großen Staaten auf der
Arabischen Halbinsel. Die Verarmung von weiten Teilen der
Bevölkerung nimmt weiter zu. Inzwischen
Das jemenitische Öl, das zu 70 Prozent sind 35 Prozent der Jemeniten arbeitslos und
den Staatshaushalt finanziert, geht zur etwa 42 Prozent leben unter der Armuts-
Neige. Korruption dominiert den öffent-
lichen Sektor. grenze. Das eigene Öl, das zu 70 Prozent den
Staatshaushalt finanziert, geht zur Neige.
Korruption dominiert den öffentlichen Sektor. Im Index von
Transparency International 2010 belegt das Land Rang 146
von 180. Nach wie vor ist eines der größten Probleme des
Landes die zunehmende Wasserknappheit. Die Hauptur-
sache dafür ist das hohe jährliche Bevölkerungswachstum
mit einem entsprechend großen Anteil junger Menschen.
Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre.

Wie in Ägypten dürften sich die USA hinter den Kulissen um


eine friedliche Entwicklung in Sanaa bemühen. Washington
befürchtet, mit Präsident Saleh einen wichtigen Bünd-
nispartner im Nahen Osten zu verlieren. Besonders für
al-Qaida wird der Jemen als Ausbildungs- und Rückzugs-
gebiet immer interessanter. Große Teile des Landes können
schon alleine aus finanziellen Gründen nicht ausreichend

11 | Welt Online, 03.02.2011; Die sozialistische Partei Jemens


hält zurzeit sieben von 301 Sitzen im Parlament.
12 | Spiegel Online, 03.02.2011.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 43

kontrolliert werden. Salehs Macht endet mittlerweile vor


den Toren der Hauptstadt Sanaa.

Es brennt im Jemen gleich an mehreren Stellen. Doch die


verschiedenen oppositionellen Kräfte sind derzeit anschei-
nend nicht in der Lage, die Welle der Proteste in anderen
arabischen Ländern für sich zu nutzen.
44 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

UMBRUCH IN NAHOST –
STILLSTAND IN IRAN?
DIE DEMOKRATISIERUNGSPROZESSE IN DER REGION
VERSTÄRKEN DEN MACHTKAMPF ZWISCHEN DEN
REFORMKRÄFTEN UND DER FÜHRUNG DES LANDES

Dr. Oliver Ernst ist


als Länderreferent
im Team Afrika und Oliver Ernst
Naher Osten der
Konrad-Adenauer-
Stiftung zuständig
für Israel, Jordanien, „Tod Musawi!‟, „Tod Karroubi!‟ – Am Freitag, dem 18. Feb-
den Libanon, die
ruar, erlebte die Islamische Republik Iran Demonstrationen
Palästinensischen
Autonomiegebiete der besonderen Art: Die Regierung, namentlich der Koor-
und die Türkei sowie dinierungsrat für Islamische Propaganda, hatte für die Zeit
für Iran.
nach den Freitagsgebeten zu Demonstrationen gegen Mir
Hossein Musawi und Mehdi Karroubi aufgerufen, die beiden
Führer der Grünen Bewegung, die für demokratische
Reformen eintritt. Tausende deklamierten den staatlich
angeordneten und im Staatsfernsehen angeheizten „Hass‟
und „Ekel‟ schon während der offiziellen Gebetsfeiern. In
der Freitagspredigt in Teheran forderte der Vorsitzende
des Wächterrates, Ayatollah Ahmed Dschannati, die Justiz
des Landes zu konsequentem Vorgehen gegen Musawi
und Karroubi auf. Am Vortag hatte Generalstaatsanwalt
Gholam-Hossein Mohseni-Edschei bereits angekündigt,
die Führer der Reformbewegung vor Gericht zu bringen.
Zugleich warnte er aber davor, dass die Verhaftung der
„Anführer des Aufstandes‟ derzeit „politisch nicht zweck-
mäßig‟ und nicht im Interesse des Islamischen Systems
sei, da sie dadurch nur zu Helden gemacht würden.

Auch der oberste Justizchef der Islamischen Republik,


Ayatollah Sadegh Laridschani, hatte sich zuvor gegen über-
eilte Schritte gegen die Reformführer gewandt, nachdem
in der Madschlis, dem iranischen Parlament, 223 Abge-
ordnete Musawi und Karroubi für die jüngsten Unruhen
verantwortlich gemacht und ihren Tod gefordert hatte.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 45

Laut Laridschani soll eine Kommission eingesetzt werden,


die die Vorgänge vom vergangenen Montag gründlich
untersuchen soll.

25. BAHMAN – DER TAG DER GRÜNEN BEWEGUNG

In zahlreichen iranischen Städten war es am 14. Februar


2011, dem 25. Bahman 1389, zu Protesten gekommen, an
denen nach Schätzungen bis zu 30.000 Regimegegner und
Anhänger der reformorientierten Grünen Bewegung teilge-
nommen hatten. Es waren wohl die größten Proteste der
Reformkräfte seit den Unruhen im Juni 2009, an denen sich
damals allein in Teheran  – nach Angaben des Teheraner
Bürgermeisters Ghalibaf  – drei Millionen Bürger beteiligt
haben sollen. Die Demonstranten wollten ihre Unterstüt-
zung des demokratischen Wandels in der Region, insbe-
sondere der erfolgreichen tunesischen und ägyptischen
Demokratiebewegungen, zum Ausdruck bringen. Ihre
Protestslogans gingen jedoch zum Teil erheblich weiter und
richteten sich auch gegen das politisch-religiöse Establish-
ment des eigenen Landes: „Nach Ben Ali und Mubarak ist
Seyed Ali Chamenei an der Reihe‟, skandierten sie.

Zu den regierungsfeindlichen Demonstrationen, die außer


in Teheran vor allem in Isfahan, Shiras, Mashad und Rasht
stattfanden, hatten unter anderem der ehemalige Minister-
präsident Musawi und der ehemalige Parla-
mentssprecher Karroubi aufgerufen. Beide Musawi und Karroubi gelten seit 2009
gelten seit ihrer Kandidatur bei den Präsi- als die einflussreichsten Reformkräfte.
Teheran hatte die auch von ihnen
dentschaftswahlen im Jahre 2009 als die beantragten Solidaritätsdemonstrati-
einflussreichsten Reformkräfte und Führer onen untersagt.
der damals gebildeten Grünen Bewegung.
Das Innenministerium in Teheran hatte die offiziell bean-
tragten Solidaritätsdemonstrationen jedoch untersagt.

Der Hardliner Ayatollah Ahmad Dschannati, Vorsitzender


des einflussreichen Wächterrates, hatte diese ablehnende
Haltung in seiner Ansprache auf der offiziellen Revoluti-
onskundgebung in Isfahan damit begründet, dass das
iranische Volk bereits am Revolutionsfeiertag seine Soli-
darität mit dem arabischen Volk zum Ausdruck bringe
und keine Notwendigkeit für weitere Demonstrationen
bestehe. Auf den staatlich organisierten Demonstrationen
46 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

anlässlich des 32. Jahrestages der islamischen Revolution


im Iran waren in diesem Jahr tatsächlich Solidaritätsbe-
kundungen zugunsten der Umstürze in Tunesien und
insbesondere in Ägypten zu hören gewesen. Auf Plakaten
wurde Mubarak als Freund der USA und Israels karikiert.
Said Jalili, Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheits-
rates kommentierte noch am gleichen Tag, dass die Gleich-
zeitigkeit des Sturzes von Mubarak mit der Feier des 32.
Jahrestages der iranischen islamischen Revolution am 11.
Februar darauf hinweise, dass dieser Tag für den Sieg der
Staaten der Region und das Scheitern der USA und des
Zionismus in der Region stehe.

Trotz des Verbotes weiterer Demonstrationen rief am 12.


Februar auch die wichtigste verbotene Reformpartei, die
Beteiligungsfront Islamischer Iran (Jebheye Mosharekate
Iran-e Eslami), auf ihrer Homepage zur
Anders als in Ägypten geht es der Unterstützung der „25. Bahman‟-Proteste
Grünen Bewegung in Iran bei ihren auf und betonte, es gebe Parallelen zwischen
Protesten jedoch nicht um einen Sturz
des Systems. den Forderungen der ägyptischen und irani-
schen Jugend nach „Freiheit und Wandel‟.
Anders als in Ägypten geht es der Grünen Bewegung
in Iran bei ihren Protesten jedoch nicht um einen Sturz
des Systems: „Die Grünen sind von dem Geist der Revo-
lution geleitet, der das unnachgiebige Festhalten an der
Verfassung im Auftrag der Erreichung nationaler Eintracht
verlangt.‟ Starke Kritik äußerte die Beteiligungsfront an
der militanten Verfasstheit der iranischen Regierung: „In
Iran richten sich die Proteste gegen totalitäre Herrscher
und die Einmischung des Militärs und Zellen des Sicher-
heitsapparates, die die Verfassung als Geisel genommen
haben.‟ Und mit Blick auf die Umbrüche in der Region
und die Folgerungen für den politischen Wandel im Iran
forderte die Beteiligungsfront: „Anhaltende Stabilität,
Frieden und Sicherheit können nur durch die Gewährung
bürgerlicher Rechte, sowie freier und gerechter Wahlen
erreicht werden.‟

ISLAMISCHES ERWACHEN UND


DEMOKRATISCHER AUFBRUCH

Stärker an die pro-islamische Rhetorik des offiziellen Tehe-


rans angelehnt, formulierte die reformorientierte Kleriker-
gruppe „Gesellschaft der Ghomer Seminaristen und
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 47

Forscher‟ ihre Aufforderung, sich an den Demonstrationen


am 14. Februar zu beteiligen: „Wir hoffen, dass die nach
Freiheit strebende Bevölkerung des Iran sich in die Reihe der
Unterstützer des ‚Islamischen Erwachens‛ überall auf der
Welt einreiht, indem sie sich an den unabhängigen, volks-
nahen und nichtstaatlichen Demonstrationen beteiligt.‟

Die Formulierung „islamisches Erwachen‟ Religionsführer Chamenei interpre-


hatten sowohl der religiöse Führer Chamenei tierte den Umbruch in Ägypten und
Tunesien einseitig als religiös moti-
als auch andere konservative Kleriker zuvor viert.
bei ihren Freitagspredigten der vergangenen
Wochen verwendet, womit sie den Umbruch in Ägypten
und Tunesien einseitig als religiös motiviert interpretierten.
Religionsführer Chamenei, Präsident Ahmadinedschad und
andere religiöse und politische Führer der Islamischen
Republik stellten die Proteste in den arabischen Ländern
sogar in einen direkten historischen und politischen Kontext
zur Revolution im Iran, die heute im offiziellen Narrativ als
„Islamische Revolution‟ gefeiert wird, obwohl damals alle
gesellschaftlichen und politischen Gruppen (mit Ausnahme
der Monarchisten) den Sturz des Schahs gefordert und
gemeinsam erreicht hatten. Der Sprecher des iranischen
Parlaments und ehemalige Kulturminister unter dem prag-
matischen Präsidenten Rafsandschani, Ali Laridschani,
hatte dagegen am 17. Februar bei einem Treffen von einem
„demokratischen Aufbruch in der Region‟ gesprochen und
die langjährige Unterstützung der arabischen Despoten
durch den Westen angeprangert.

MOBILISIERUNG AUF FACEBOOK

Neben den etablierten Reformkräften hatte vor dem 14.


Februar aber auch die junge Facebook-Generation mobil
gemacht. Wie in Ägypten und Tunesien ist dieses soziale
Netzwerk im Iran inzwischen auch von großer politischer
Bedeutung, wie die Online-Reaktionen auf den bei Face-
book geposteten Demonstrationsaufruf zeigten: Innerhalb
kurzer Zeit hatten sich rund 65.000 Freunde auf der eigens
eingerichteten zentralen „25. Bahman‟-Facebook-Seite zu
den Protesten gemeldet.

Dabei war die Reformbewegung diesmal mit ihrer Demons-


tration am 25. Bahman bewusst auf einen anderen Termin
gegangen als die Regierung. Während man im vergangenen
48 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Jahr noch den offiziellen Tag der Feier der Islamischen


Revolution, den 11. Februar bzw. 22. Bahman, im Iran ein
nationaler Feiertag, für Demonstrationen genutzt hatte,
wählte man diesmal den 14. Februar bzw. 25. Bahman,
einen Werktag. Strategisch machte dies durchaus Sinn: So
war wesentlich klarer, dass man nicht als Teil der von der
Regierung organisierten Revolutionsfeiern aufmarschieren
würde. Damit war die Sichtbarkeit der Grünen Bewegung,
um die es seit einem Jahr auf den Straßen Irans eher ruhig
geworden war, nach außen und innen gewährleistet.

Die Reformbewegung ist mit frischem Wenngleich es am 14. Februar zu mehreren


Mut aus den Protesten hervorgegan- Toten und weit über 100 Verhaftungen von
gen. Der Augenblick für einen demo-
kratischen Wandel in der Region ist Demonstranten kam, ist die Reformbewe-
günstig. gung doch mit frischem Mut aus den aktuellen
Protesten hervorgegangen. Man hat diesen – für demokra-
tischen Wandel in der Region so günstig erscheinenden –
Augenblick nicht ungenutzt verstreichen lassen und dem
Establishment und den Sicherheitskräften gezeigt, dass
man auch der scharfen staatlichen Verfolgung und den
brutalen Angriffen der Milizen zu trotzen gewillt ist.

MUSAWI UND KARROUBI

Musawi und Karroubi standen praktisch seit dem Vortag


der Proteste unter Hausarrest. Jeglicher Besuch wurde
von den Sicherheitskräften unterbunden, sogar die Tele-
fonleitungen wurden gekappt. Dennoch hielten beide über
ihre Homepages Kontakt zu ihren Anhängern. Von beson-
derer Bedeutung war dabei die Grußbotschaft Musawis an
die iranische Nation, die er am Tag nach den Protesten
veröffentlichte: „Die glorreichen Demonstrationen vom 14.
Februar 2011, die einen großen Erfolg für unsere Nation
und die Grüne Bewegung darstellen, fanden trotz zahl-
reicher Bedenken statt  – mit der Beteiligung männlicher
und weiblicher Mitstreiter, die alle Teile unserer Gesell-
schaft repräsentieren. […] Der Stolz der Grünen Bewe-
gung liegt in ihrer Unabhängigkeit und in ihrem Verlass
auf die ungeheure Kraft des großen iranischen Volkes.
Die Grüne Bewegung hat stets ihre Unabhängigkeit von
fremden Einflüssen bewahrt. […] Die Grüne Bewegung ist
immer darauf ausgerichtet, ihre Ziele auf friedlichem Wege
zu erreichen, in Betonung der grundlegenden Prinzipien
der Menschenwürde, in Anerkennung der Souveränität
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 49

und Selbstbestimmung unserer Nation und der uneinge-


schränkten Befolgung der Verfassung.‟

Mit seinem Statement trat Musawi den Vorwürfen der


Reformgegner entgegen, dass die Reformer von den
„Feinden‟, namentlich insbesondere den USA, Großbri-
tannien und den „Zionisten‟, gelenkt seien. Gleichzeitig
erteilte er weiterhin ausdrücklich gewaltsamen Aktionen
eine klare Absage  – eine Eskalation der Gewalt ist nicht
im Sinne der Grünen Bewegung, die auf Reformen inner-
halb des bestehenden Systems setzt und vor allem immer
noch die pragmatische Forderung nach Wiederholung der
Präsidentschaftswahlen auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Durch seinen Bezug auf die geltende Verfassung – und, an
anderer Stelle seiner Erklärung, auf den Revolutionsführer
Imam Chomeini  – unterstrich Musawi, dass er nicht den
Sturz des religiösen Führers Chamenei und des Systems
der Herrschaft der Religiösen Führung (welayat-e faqih)
anstrebt, wenngleich dies radikalere Anhänger der Grünen
Bewegung bei den Straßenprotesten zumindest vereinzelt
gefordert hatten.

Im Grunde knüpft die Grüne Bewegung dort an, wo der


reformorientierte Präsident Mohammad Chatami in den
Jahren seiner Präsidentschaft (1997 bis
2005) mit einer liberalen Öffnung des Iran Die Grüne Bewegung ist nicht nur
begonnen hatte. Die Grüne Bewegung ist motiviert von den Manipulationen der
Präsidentschaftswahl 2009. Sie ist als
dabei nicht nur motiviert von den mutmaß- Bewegung vor allem eine Reaktion auf
lichen Manipulationen der Präsidentschafts- die reformresistente Regierung Ahma-
dinedschads.
wahl 2009, sie ist als Bewegung vor allem
eine Reaktion auf die Regierung von Präsi-
dent Mahmud Ahmadinedschad, der seit 2005 jede Refor-
manstrengung im Keim erstickt hat und auch heute jede
Hoffnung auf demokratische Öffnung zunichte macht.

REAKTIONEN DER HARDLINER

Erwartungsgemäß negativ reagierte Ahmadinedschad auf


die jüngsten Proteste der Reformbewegung. Während
er den Sturz der arabischen Despoten pries, sagte er im
Staatsfernsehen, dass die Proteste in Iran selbst „zu nichts
führen‟ würden und die Organisatoren „nur den Glanz der
iranischen Nation beschmutzen wollten‟. In der Heiligen
Stadt Ghom beschimpfte der Hardliner Ahmad Chatami die
50 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Reformer vor einer Gruppe von konservativen Klerikern


in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Rede noch
aggressiver: „Die Anführer der Schmutzkampagne, insbe-
sondere Musawi und Karroubi, helfen vor allem den USA
und Israel.‟ Den Aufruf zu den Demonstrationen am 14.
Februar bezeichnete er als „Gegnerschaft Gottes‟ (moha-
rebeh) – ein Delikt, das nach der im Iran geltenden Sharia
die Todesstrafe nach sich zieht.

Auch im Parlament forderten 223 Abgeordnete der Mehr-


heitsfraktion der Hardliner die Hinrichtung von Musawi und
Karroubi. Vor allem der ehemalige Parlamentssprecher
Karroubi hatte sich seit den Präsidentschaftswahlen 2009
mit der wiederholten ernsten Bedrohung seines Lebens
öffentlich auseinander gesetzt und seine
Karroubi erklärte wiederholt, dass er Bereitschaft erklärt, für die Grüne Bewe-
sich vor keiner Drohung fürchte und gung als Märtyrer zu sterben. Seinen Willen,
einen Märtyrertod in Kauf nähme. Er
warnte davor, den Wünschen der Men- um jeden Preis die politischen und sozialen
schen mit Gewalt zu begegnen. Reformen im Land zu verwirklichen, hatte er
am 16. Februar nochmals auf seiner Home-
page sahamnews bekräftigt: „Ich erkläre, dass ich mich vor
keiner Drohung fürchte. Als Soldat dieser großen Nation
seit über 50 Jahren bin ich bereit, jeden Preis zu zahlen.‟
Zugleich warnte er mit Blick auf die Umstürze in Ägypten
und Tunesien davor, sich „mit Gewalt den Wünschen der
Menschen entgegen zu stellen‟, und mahnte: „Lernt aus
dem Schicksal der Regierungen, die sich selbst vom Volk
entfernt haben.‟

Mehrfach war auch Musawi körperlichen Angriffen ausge-


setzt. Bilder seiner Verletzungen wurden sogar online
gestellt. Die Täter wurden niemals verfolgt. Doch insbe-
sondere bei diesen beiden populären Führern der Grünen
Bewegung hat das Regime an einer Märtyrerrolle durch
ein vollstrecktes Todesurteil kein Interesse. Zu groß ist die
Sorge, dass sich die Beerdigungs- und Trauerzeremonien
zu Massendemonstrationen gegen das Regime ausweiten
könnten. Zu verbieten oder zu kontrollieren wären diese
Beerdigungsfeiern angesichts der Millionenschar von An-
hängern der Grünen Bewegung wohl kaum.
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 51

DIE MÄRTYRER DER REFORMBEWEGUNG

Wie sensibel die Sicherheitskräfte und das politisch-


klerikale Establishment auf die Gefahr von Märtyrern auf
Seiten der Grünen Bewegung reagiert, zeigt der Umgang
mit dem Fall des bei den jüngsten Protesten mutmaß-
lich von Sicherheitskräften erschossenen Anhängers der
Grünen Bewegung, dem sunnitisch-kurdischen Studenten
Sani Jaleh: Er wird als angebliches Mitglied der parami-
litärischen Basidschi zwar vom Regime vereinnahmt,
aber die Grüne Bewegung hat ein Bild von ihm mit dem
im vergangenen Jahr verstorbenen reformorientierten
Ayatollah Montazeri veröffentlicht, um seine Unterstützung
der Reformer zu belegen. Bei seiner Beerdigungsfeier an
der Universität Teheran am 16. Februar kam es zu gewalt-
samen Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern.
Inzwischen wurde sein Bruder verhaftet, der öffentlich die
Mitgliedschaft von Sani bei den Basidschi bestritten hatte.
Sanis Mitgliedskarte soll eine Fälschung sein, hergestellt
nach seiner Ermordung.

Auch der zweite, mutmaßlich ebenfalls von „Gott, lass mich aufrecht sterben. Ich
Sicherheitskräften getötete Demonstrant, bin es leid, würdelos, auf Knien zu
leben.‟ (Mohammad Mochtari)
der 22-jährige Student Mohammad Mochtari,
wird inzwischen als „Schahid‟ (Märtyrer) der Grünen Bewe-
gung verehrt. Dazu trägt auch der Umstand bei, dass er
auf seiner Facebook-Seite geschrie­ben hatte: „Gott, lass
mich aufrecht sterben. Ich bin es leid, würdelos, auf Knien
zu leben.‟

Seit dem gewaltsamen Tod der ebenfalls mutmaßlich durch


staatliche Sicherheitskräfte oder Milizen getöteten jungen
iranischen Studentin Neda, die im Sommer 2009 weltweit
zum Symbol des Widerstandes der iranischen Jugend gegen
das System der Islamische Republik wurde und im Iran
seitdem als Märtyrerin verehrt wird, weiß das Regime um
die Gefahren, die von solchen Märtyrergestalten ausgehen
können. Und schließlich: Auch in Ägypten und Tunesien
waren es junge Opfer von Gewalt und Willkür der staat-
lichen Sicherheitsorgane, die den entscheidenden Impuls
für eine breite Mobilisierung vieler – auch unpolitischer –
junger Menschen gegeben hatten. Besonders brisant ist
nun der Umstand, dass der vom Regime propagierte Tod
52 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

eines angeblichen Basidsch-Milizionärs durch iranische


Sicherheitskräfte der Reformbewegung auch innerhalb
der Basidsch-Jugend weitere Anhänger zutreiben könnte.
Diese gewaltbereiten und für den Kampf ausgebildeten
Kräfte stellen neben den Revolutionsgarden (Pasdaran)
die wichtigsten Stützen des Regimes dar. Die aktuell im
Iran verbreiteten Gerüchte, innerhalb der Pasdaran sinke
die Bereitschaft, gewaltsam gegen die eigenen Mitbürger
vorzugehen, müssen daher den Kräften um Ahmadined-
schad erhebliche Sorgen bereiten.

Doch noch fühlt sich die Regierung fest im Sattel. Der


Aufruf der Regierung und insbesondere des staatlichen
„Koordinierungsrates für Islamische Verbreitung‟ zu den
Demonstrationen gegen die Grüne Bewegung am 18.
Februar wiederholt ähnliche, ebenfalls staatlich organi-
sierte Massenaufmärsche im Jahr 2009. Auch sie sollten
dazu dienen, den weltweit kommunizierten
Gerade die aktuellen Beispiele zeigen, Bildern vom Aufstand gegen das Regime
dass inszenierte Demonstrationen von eigene Propagandabilder entgegenzusetzen.
Regime-Anhängern die Eskalation wei-
ter verschärfen können. Aber gerade die aktuellen Beispiele in den
arabischen Ländern zeigen, dass diese insze­
nierten Demonstrationen der Regime-Anhänger die Eskala-
tion weiter verschärfen können. Die Regierung spielt hier
also bewusst mit dem Feuer. Gerade mit Blick auf den
anstehenden Jahreswechsel und den damit verbundenen
„Noruz‟-Feiern zum Neujahrstag am 21. März, an dem die
iranische Jugend, vor allen in den großen Städten, ohne
Rücksicht auf die strengen Sittenvorschriften zum Feiern
auf die Straße geht und so alljährlich ihren Unmut und
ihren zivilen sozialen Protest zum Ausdruck bringt, kann
hier die staatlicherseits gestreute Saat für eine erneute
Konfrontation zwischen Reformerlager und Hardlinern
und die Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung
gesehen werden.

NACHBAR TÜRKEI

Selbst die Türkei, die Ahmadinedschad damals als erstes


zu seinem Wahlsieg am 12. Juni 2009 gratuliert hatte,
blieb von den negativen Folgen der aktuellen Proteste im
Iran nicht verschont: Der türkische Präsident Abdullah Gül
weilte am Tag der Proteste gemeinsam mit Außenminister
Ahmet Davutoglu und einer rund 300-köpfigen Delegation
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 53

beim neuen Verbündeten in Teheran, um das türkisch-


iranische Handelsvolumen von zehn auf 30 Milliarden Euro
zu erhöhen. Ein Fahrer von Güls Delegation wurde, im
Rahmen der brutalen Niederschlagung der Proteste, von
der iranischen Polizei verprügelt. Mobile Kommunikation
und die Nutzung sozialer Netzwerke war der Delegation
während ihres Iran-Aufenthaltes, aufgrund der staatlich
organisierten Abschaltungen, nicht möglich. So erhielt
man durch den Besuch bei den iranischen Freunden eine
Ahnung davon, was die iranische Bevölkerung seit Jahren
tagtäglich erlebt, ohne dass die von der pro-islamischen
AKP gestellte türkische Regierung dies bislang öffentlich
kritisiert hätte.

Auf einer gemeinsam mit Präsident Ahma- „Wir sehen, dass manchmal, wenn
dinedschad abgehaltenen Pressekonferenz die Führer und Köpfe von Ländern
die Forderungen ihrer Nationen nicht
kommentierte Gül die aktuelle Situation in beachten, die Völker selbst handeln.‟
der Region: „Wir sehen, dass manchmal, (Abdullah Gül)
wenn die Führer und Köpfe von Ländern die
Forderungen ihrer Nationen nicht beachten, die Völker
selbst handeln, um ihre Forderungen zu erfüllen.‟ Iran
sprach er zwar nicht direkt an, er nahm das Land aber
auch nicht aus. War dies ein „Gorbatschow-Moment‟ in
Teheran? Werden die iranischen Hardliner dafür bestraft,
dass sie die Chancen für Reformen ungenutzt verstreichen
lassen? – „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‟

ZUKUNFTSSZENARIEN

Drei Szenarien lassen sich für die weitere politische Ent-


wicklung im Iran entwerfen:

1. Status quo unter der Hardliner-Regierung: Kurzfristig ist


dies die realistischste Perspektive, wenngleich sie am
wenigsten der aktuellen Reformdynamik in der Region
entspricht, die auch die Entwicklung im Iran und insbe-
sondere der iranischen Grünen Bewegung beeinflusst.
Doch die Trias aus Religionsführer, Präsident und Parla-
ment ist geschlossen gegen ein Aufweichen der konfron-
tativ-reformfeindlichen Haltung. Die 2012 anstehenden
Parlamentswahlen und die Präsidentschaftswahlen 2013
werden aber zur Bewährungsprobe für diese Konstel-
lation. Nach geltendem Recht darf Ahmadinedschad
im Jahr 2013 nicht ein drittes Mal kandidieren. Dies
54 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

schwächt die Hardliner und eröffnet für ihre Gegner in


den verschiedenen politischen Lagern einen größeren
politischen Spielraum.

2. Politischer Erfolg der Grünen Bewegung: Entspricht es


nur westlichem Wunschdenken, dass sich die Grüne
Bewegung im Iran durchsetzen wird? Keineswegs.
Mittelfristig ist dies sogar die wahrscheinlichste Entwick-
lung, da diese Bewegung auf einen größtmöglichen
gesellschaftlichen und politischen Konsens abzielt. Die
Reform-Ära unter Präsident Chatami hat gezeigt, dass
die iranische Bevölkerung mehrheitlich hinter dem
gesellschaftspolitischen Ansatz einer Reform im Rahmen
der gegeben Verfassung steht. Der Vorteil der Grünen
Bewegung ist der anhaltend hohe Mobilisierungsgrad
der eigenen Anhängerschaft und nun auch das Vorbild
der anderen, teilweise erfolgreichen Reformbewe-
gungen im Nahen Osten. Spätestens bei den Präsident-
schaftswahlen 2013 bietet sich der Grünen Bewegung
die Chance, einen Politikwechsel zu erreichen. Wie
schon bei den Präsidentschaftswahlen 2009 tendenziell
zu beobachten war, ist auch 2013 davon auszugehen,
dass die Pragmatiker und moderat-konserva-
Die Verhinderung einer Kandidatur von tiven Kräfte einen neuen reformorientierten
Musawi und Karroubi zur Wahl 2013 Kurs in der Innen- und Außenpolitik mitt-
erscheint nicht unwahrscheinlich. Die
Grüne Bewegung muss neue politische ragen würden, um die nationale Eintracht zu
Führer finden. sichern. Voraussetzung ist allerdings, dass
es die politische Lage der Grünen Bewegung ermög-
licht, überhaupt eigene Präsidentschaftskandidaten
aufzustellen. Angesichts der derzeitigen Kampagnen
erscheint die Verhinderung einer erneuten Kandidatur
der zurzeit wichtigsten Repräsentanten der Grünen
Bewegung, Musawi und Karroubi, durch den Wächterrat
nicht unwahrscheinlich. Die Grüne Bewegung muss hier
in den nächsten zwei Jahren neue fähige und charisma-
tische politische Führer finden.

3. Das „türkische Modell‟: Die Vereinbarkeit von Demo-


kratie und Islam wird in der Türkei seit 2002 unter
der pro-islamischen AKP-Regierung innerhalb eines
säkularen Verfassungsrahmens vorgeführt. In Ägypten
könnten sich selbst die Muslimbrüder mit diesem
offenen und pluralistischen Modell anfreunden. Für die
Islamische Republik Iran würde die Annäherung an das
AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST? 55

„türkische Modell‟ jedoch tendenziell einen ­radikalen


Systemwechsel bedeuten, der derzeit, aufgrund der
massiven politischen Unterdrückung säkularer Bestre-
bungen im Iran, nur von wenigen säkularen Reform-
kräften in Teheran auf die Agenda gesetzt wird.
Langfristig ist ein derartiger Wandel von innen jedoch
keineswegs ausgeschlossen, genauso wenig, wie
perspektivisch ein demokratischer Iran in einem demo-
kratischen Nahen Osten. Gerade die nach der Revolution
von 1979 im Iran geborene Facebook-Generation ist
wesentlich offener für einen derartigen Regimewechsel.

AUSSENPOLITISCHE IMPLIKATIONEN

Der Westen hat im Falle des Iran in den letzten Wochen –


wie zuvor schon im Jahre 2009  – schnell und deutlich
seine Unterstützung für die iranische Reformbewegung
artikuliert. Vor dem Hintergrund der wohl auf
absehbare Zeit nicht endenden sicherheits- Teheran nutzt den Druck von außen als
politischen Konfrontation mit Iran und vor Vorwand, seinerseits den Druck nach
innen zu erhöhen. Kontakte ins westli-
allem aufgrund der repressiven Haltung des che Ausland werden kriminalisiert.
Regimes, ist eine Unterstützung von politi-
schen Reformen im Iran, oder gar der iranischen Zivilge-
sellschaft, von außen jedoch kaum möglich. Derweil nutzt
das Regime in Teheran den Druck von außen sogar als
Vorwand, seinerseits den Druck nach innen zu erhöhen.
Kontakte ins westliche Ausland werden kriminalisiert und
teilweise mit hohen Strafen geahndet.

Der iranischstämmige Wissenschaftler David Menashri vom


Zentrum für Iranstudien an der Universität Tel Aviv hat
das Dilemma der westlichen Iranpolitik so beschrieben:
„Im Iran fahren der Demokratiezug und der Atomzug.
Entscheidend ist, welcher Zug zuerst das Ziel erreicht.‟
Durch die Sanktionspolitik versucht die Weltgemeinschaft
seit einigen Jahren, die Geschwindigkeit des Atomzugs zu
verlangsamen. Der richtige Brennstoff, um die Geschwin­
digkeit des Demokratiezuges im Iran zu erhöhen, ist jedoch
noch nicht gefunden.

Die iranischen Reaktionen auf den Umbruch im Nahen


Osten belegen die tiefe politische Spaltung von Gesell-
schaft und Politik in diesem Land. Während die Hardliner
die „Islamische Revolution‟ von 1978/79 zur Patin des
56 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Umbruchs küren, sehen die Reformer die Proteste von


2009 als wichtigen Impuls für die Demokratiebewegungen
in der Region an. In dieser Sichtweise werden die irani-
schen Reformkräfte von vielen Akteuren der arabischen
Demokratie- und Freiheitsbewegungen unterstützt. Von
besonderer Bedeutung für die iranischen Reformer war die
Verbundenheitserklärung des populären ägyptischen Akti-
visten Wael Ghonim, der sich bei der Grünen Bewegung im
Iran für die Organisation der Solidaritätsdemonstrationen
am 14. Februar bedankte.

DIE MUSIK DER GRÜNEN BEWEGUNG

Schon vor fünf Jahren hat die iranische Sängerin Nazanin


in ihrem Revolutionslied „Someday‟ den langen Weg der
iranischen Freiheitsbewegung seit der „islamischen Revo-
lution‟ im Iran beschrieben. 2009 wurde dieses Lied, mit
den Bildern der Proteste der Grünen Bewegung unterlegt,
einer der populärsten englischsprachigen Protestsongs der
Grünen Bewegung. Der Text ist heute aktueller denn je:

„They were on the march then in 1978. They filled our


minds with hate. They deceived the nation in the name
of religion and soon it was too late. When the soldiers
came we were on the run. Our lives forever changed.
That was no solution, regressive revolution. Together
we must stand.

Someday, we will find a way. Someday, the darkness


fades away.

I’m calling all the children now that we are all grown up,
is it time to make a change. Take this old oppression
with a new aggression, redeem our rightful place.

I have a new solution: it’s called progressive revolution


and someday is right now.‟

Das könnte Ihnen auch gefallen