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Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft

auf der Suche nach dem Absoluten

JOSEF ISENSEE

Inhalt

I Verfassungsartikel als Glaubensartikel 1


. 1. An der Spitze des Grundgesetzes 1
2. Positiviertes überpositives Recht 1
3. Zivilreligion . . . . . . . . . . 1
I Ausgangslage der Interpretation . . 7
1
I 1. Zeit der exegetischen Unschuld . 1
2. Das Problem und seine klassische Lösung 1
I Relativierung durch Interpretation . . . . . . 8
1
I 1. Kleine M ünze . . . . . . . . . . . . . . . 1
2. Kollisionen - M enschenwürde gegen M enschenwürde 1
3. Brüchiger Konsens 1
4. Of fener Dissens . . . . . . . . . . . . . 1
5. Verstörung . . . . . . . . . . . . . . . 1
I Christliche Dignitas und säkulare Wirkung 9
1
V 1. Das Bild der Menschenwürde im Christentum 1
2. Säkularisierung und Egalisierung . . . 2
3. Derivat des Christentums . . . . . . . . . . . 2
4. Neutralitätsskru pel und Christophobie . . . . 2
V M enschenwürde: absolute Idee und relative 0
. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
handlungspraktische 2
1. Nicht Grundrecht, doch Grund der Grundrechte . 2
2. Ausstrahlung der Idee und ihre Vermittlung . . . . 2
3. Annäherungen an den Inhalt der M enschenwürde 2
Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
217

I. Verfassungsartikel als Glaubensartikel

1. An der Spitze des Grundgesetzes


„Die Würde des Menschen ist unantastbar", so das Grundgesetz in Arti kel 1
Absatz 1 Satz 1: lapidar, feierlich, geheimnisvoll. Die Wirklichkeit de mentiert: die
Würde des Menschen ist antastbar, und sie wird immer wieder angetastet.
Eben deshalb nimmt das Recht sich ihrer an. „... ist unantast bar":
hier regt sich trotziges Pathos. Im Indikativ steht, was der Sache nach
Imperativ ist. Die deskriptiv scheinende Sprachform macht das
Kategorische der Norm besonders deutlich. 1 Die Norm stemmt sich
gegen die bedrohliche Realität. Der Wortlaut setzt das, was sein soll,
als wirklich. Im Reiche des Rechts rührt niemand an die Würde des
Menschen. Die Unantastbarkeit steht im Verfassungstext als
Wahrheit. Doch ist es keine empirische, sondern eine geglaubte und
zu glaubende Wahrheit, damit doch ein Sollen.2
Das Grundgesetz bietet alles auf, wessen das positive Recht fähig ist,
um diese Verheißung einzulösen. Der Menschenwürde-Satz hat als
Verfas sungsnorm teil am höchsten Rang der staatlichen
Normenhierarchie. Auch innerhalb der Verfassungsnormen kommt
ihm eine Sonderstellung zu. Er gehört zu den Grundsätzen, an die
selbst der verfassungsändernde Gesetz geber nicht rühren darf; er ist
verfassungsrevisionsfest (Art. 79 Abs. 3 GG). Alle Staatsgewalt ist
verpflichtet, die Würde zu achten und zu schützen, also einerseits
sich jeder Beeinträchtigung zu enthalten, andererseits Beein
trächtigungen, die von Dritten drohen, zu verhindern. Damit
kommen ihr die zwei wesentlichen Funktionen der Grundrechte zu:
die der Abwehr und des Schutzes.3

Die Menschenwürde steht an der Spitze des Grundrechtsteils.


Gleichwohl setzt sie sich von den eigentlichen, den im späteren Absatz
des Artikels 1the matisierten „nachfolgenden Grundrechten" ab, gibt
sich also -jedenfalls dem Wortlaut und der systematischen Stellung
nach - nicht als ihresgleichen zu erkennen. Sie hat außerordentliche
Bedeutung, aber es ist fraglich, ob sie der regulären Anwendung
zugänglich ist wie die sonstigen, „ordentlichen" Ver fassungsnormen.
Es fällt auf, daß Menschenwürde-Klauseln üblicherweise in
Eingangsbestimmungen und Vorsprüchen von staats- und
völkerrechtlichen Dokumenten verortet sind;4 hier wie dort bricht der
Zwiespalt auf zwischen fundamentalem Inhalt und prekärer
Rechtsverbindlichkeit. 5

Die Menschenwürde-Sentenz entzieht sich denn auch den Regeln,


denen die Anwendung der nachfolgenden Grundrechte unterliegt.
Für sie besteht kein Gesetzesvorbehalt, und es greifen keine
verfassungsimmanenten Schran ken. Im Kollisionsfall weicht sie
keinem anderen Wert. Sie ist kein Rechtsgut, das gegen andere
abgewogen und mit unverträglichen Gütern zu praktischer
Konkordanz genötigt werden könnte, im Unterschied zu den ihr
nachfolgen den Grundrechten, die sich in den ( „schonenden")
Ausgleich mit den Grund rechten anderer wie mit den Belangen der
Allgemeinheit fügen müssen und deren effektive Freiheitsgewähr
letztlich nicht viel mehr ist als der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 6
In einer Rechtsordnung der relativen Werte ist die Würde des
Menschen ein absoluter Wert.7 Der einzige.

2. Positiviertes überpositives Recht


Die Menschenwürde gehört nicht zum Vokabular der klassischen Men
schenrechtsdeklarationen und der traditionellen Grundrechtskataloge. Ihre Zeit
kommt nach dem zweiten Weltkrieg. Das Wort findet Aufnahme in die
Gründungsdokumente der Vereinten Nationen, die Charta und die Allge meine
Erklärung der Menschenrechte, in die ersten deutschen Landesverfas sungen,
schließlich in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Das
Grundgesetz fand den Begriff vor und machte ihn sich zu eigen. Seine
Menschenwürde-Gewähr in Art. 1 Abs. 1 gehört zum positiven Recht. Als
solches bindet sie nur die deutsche Staatlichkeit. Ihr Geltungsanspruch ist be dingt
und begrenzt durch die Reichweite der Staatsgewalt.8 Die Verfassung hat den
Gegenstand der positivrechtlichen Garantie, die Menschenwürde als solche, nicht
geschaffen, 9 akzeptiert diese vielmehr als eine meta-positive Idee. Doch das
positive Verfassungsrecht tritt hier nicht zurück hinter das Naturrecht. Das
Grundgesetz läßt die philosophische Frage nach der natur rechtlichen Geltung
und Begründung dahinstehen. Im Parlamentarischen Rat gingen die Meinungen
auseinander. 10 Gleichwohl wirkte die Renaissance des Naturrechts, die das
Rechtsdenken nach der deutschen Katastrophe erlebte, auf das Bekenntnis des
Verfassunggebers zu Menschenwürde und Men schenrechten ein. Das
Grundgesetz übernahm Früchte der naturrechtlichen Tradition und verwandelte
sie in positives Recht, 11 jedoch ohne in seinen Im plikationen unübersehbares
Naturrecht pauschal zu rezipieren 12 und ohne eine dynamische Verweisung auf
dessen offene künftige Entwicklung einzu bauen. Nunmehr verkörpert sich im
Eingangsartikel des Grundgesetzes das Leitbild der Menschenwürde als Vorgabe
des Grundgesetzes, wie es sich dem Verfassunggeber von 1949 darstellte. Das
überpositive Recht ist zwar nicht Rechtsquelle innerhalb der staatlichen
Rechtsordnung, wohl aber Rechtserkenntnisquelle.
Das Grundgesetz beansprucht nicht, die Menschenwürde zu gewähren, sondern
lediglich, sie zu gewährleisten. Hier zeigt sich die Selbstbescheidung des
Verfassunggebers, der in der Präambel Verantwortung vor Gott und den
Menschen übernimmt und so volkssouveräner Selbstherrlichkeit und
Allmachtsphantasie abschwört, wie sie in den Vorstellungen von der verfassung
gebenden Gewalt oftmals herumgeistern. Die Unterwerfung unter vorgegebe ne
Normen findet unmittelbaren Ausdruck in dem Bekenntnis, welches das
Grundgesetz um der Menschenwürde willen ( „darum") zu „unverletzlichen
Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Frie dens
und der Gerechtigkeit in der Welt" (Art. 1Abs. 2 GG) abgibt.13 Es folgt hier, auch
in der sprachlichen Fassung, der ein Jahr zuvor durch die General versammlung
der Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte; deren Präambel hebt an:
„Whereas recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable
rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and
peace in the world, ..."14•
Die Würde des Menschen und seine Rechte bilden hier also eine Einheit. Die
Würde ist allen Menschen angeboren, Teil ihrer Wesensnatur („inherent dignity").
Sie liegt der Rechtsgemeinschaft voraus, und sie wird nicht erst durch sie
begründet. Daher ist sie vorgegebener Gegenstand der positivrecht lichen
Anerkennung, nicht deren Erzeugnis. Die Deklaration steht in der Tra dition der
Menschenrechtsdeklarationen des 18.Jahrhunderts, zumal der Virginia Bill of
Rights, die ihrerseits auf die Staatsphilosophie John Lockes zurückgehen. Es ist
kein Zufall, daß sich das Wort Bekenntnis mit der Men schenwürde verbindet.
Auch andere Menschenwürdetexte bedienen sich des religiösen Vokabulars. Die
Völker der Vereinten Nationen bekunden in der Charta von 1945 die
Entschlossenheit, ihren „Glauben" an „Würde und Wert der menschlichen
Persönlichkeit" erneut zu bekräftigen. 15 Die Verfas sung für Württemberg-Baden
von 1946 legt in ihrer Präambel ein „Bekennt nis" ab zu „der Würde und zu den
ewigen Rechten des Menschen" .16 Der All gemeine Redaktionsausschuß des
Parlamentarischen Rates hatte für Art. 1 GG die Formulierung vorgeschlagen:
Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, sei „heilige Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt".17 Anhauch sakraler Weihe und Ton kirchlicher
Verkündigung gehören seit jeher zu den Menschenrechtsdeklarationen. Doch in
der Menschenwürde, die sich in ihrer fundamentalen Aussage über
normale, unmittelbar praxisrelevante Men schenrechte wie die
Meinungsfreiheit emporhebt, ist der religiöse Duktus be sonders
deutlich. In manchen Verfassungstexten ist sie deshalb Thema der
Präambel. In dieser deckt der Verfassunggeber die vorrechtlichen
Grundlagen seines Wirkens auf. Wohl das älteste Beispiel, das einzige
aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, findet sich im Vorspruch der
Verfassung Irlands von 1937: Das „Bestreben, unter gebührender
Beachtung von Klugheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das
allgemeine Wohl zu fördern, auf daß die Würde und Freiheit des
Individuums gewährleistet ... werde", verbindet sich mit der
intensivsten und wortreichsten Anrufung Gottes, die ein heute in
Europa geltender Verfassungstext enthält. Die Verfassung für
Rheinland-Pfalz von 1947 stellt in ihrem Vorspruch die
„Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer
aller menschlichen Gemeinschaft", in einen nicht nur textlich-
räumlichen Zusammenhang mit der Intention, „die Freiheit und
Würde des Menschen zu sichern". Die Verfassung des Freistaates
Bayern von 1946 deutet ihre Ausgangslage: „Angesichts des
Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne
Gott, ohne Gewissen und ohne Ach tung vor der Würde des
Menschen die überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat
...".
Bezüge dieser Art stellen den säkularen Charakter des Staates nicht in
Fra ge. Aber sie weisen auf seine nicht-säkularen Voraussetzungen
hin. Daraus leitet sich keine Staatsreligion ab. Doch können sich aus
der Menschenwür de Tendenzen zu einer Verfassungsreligion
entwickeln, nicht einer solchen, die der Staat der Gesellschaft
verordnet, sondern einer, die sich die Gesell schaft aus der
Verfassung zurechtmacht.

3. Zivilreligion
Bleibt die Menschenwürdeconfessio des Grundgesetzes an sich im Hori zont der
Säkularität, so stillt die Gesellschaft gleichwohl in ihr ihre trans säkularen
Bedürfnisse. Hier zeigt sich das Bild des Erhabenen, das sich ab hebt von der
Trivialität des Alltags. Wo alles zerbröselt, was herkömmlich der Gesellschaft
Zusammenhalt bot, christliche Religion und kulturelle Überlie ferung, bürgerliche
Lebensform und nationale Solidarität, findet die Gesell schaft zur Einheit im
Bekenntnis zur Menschenwürde und erlangt so etwas wie einen Zustand
moralischer Grundsicherheit, in dem ein jeder einem jeden ein Minimum an
Vertrauen entgegenbringen darf. Das Grundgesetz bezeugt die politische
Läuterung der Deutschen, die Abkehr von einer Phase ihrer Ge schichte, in der
von Staats wegen die Würde planmäßig mißachtet wurde. Doch erschöpft es
sich nicht in einer Negation der Negation der Menschen würde. Es richtet ein
positives Ethos auf, in dem die Deutschen ihr besseres Selbst wiederfinden
können. Das Ethos aber strahlt über das ethische Minimum hinaus. Die Grenze
zwischen Recht und Moral wird durchlässig. 18 Da mit entgleitet die Exegese der
Menschenwürde wenigstens teilweise den Hän den der Juristen und geht über auf
Philosophen, Theologen 19 und jedermann sonst, der sich berufen fühlt, in der
offenen Gesellschaft der Verfassungsin terpreten mitzureden.20 In ihrer Sicht
erhebt sich die Idee der Menschenwür de aus ihrer territorialen und personalen
Begrenztheit als staatliche Norm21 in ein kosmopolitisches Universum und
inspiriert einen menschenrechtlichen Missionarismus, der, unbekümmert um
politische, soziale und kulturelle Unterschiede, für sein genuin europäisches
Leitbild kämpft.22
In der Menschenwürde stößt die demokratische Gesellschaft auf ein Tabu. An
sich neigt sie dazu, alles überkommene zu hinterfragen und alles Selbst
verständliche zu zerreden. „Si nous ne sommes pas discutables, nous ne
sommes pas vrais." Doch die Wahrheit, die sich hier auftut, steht nicht zur
Diskussion. Niemand rührt an sie, jedermann akzeptiert sie fraglos. Das Tabu
stiftet auf seine Weise nationale Identität.23 Der Verfassungsartikel erweist sich
damit auch als Glaubensartikel einer Zivilreligion. Diese kann die Nach folge
Rousseaus nicht verleugnen, auch wenn sie nicht so weit geht wie die ser, der die
Abtrünnigen verbannen und der Todesstrafe überantworten woll te, weil sie falsch
geschworen hätten. Gleichwohl findet sich hier ein „rein bürgerliches
Glaubensbekenntnis zu allgemeinen Ansichten, ohne deren Be folgung man weder
ein guter Bürger noch ein treuer Untertan sein könne. "24 Auch das sprachliche
Erscheinungsbild der Menschenwürde-Sentenz erfüllt prima facie die
Anforderungen Rousseaus: die Dogmen der religion civile sollten „einfach, gering
an Zahl und bestimmt ausgedrückt sein und keiner Auslegungen und
Erklärungen bedürfen" .25 In dem „bürgerlichen Glaubensbe kenntnis" regt sich
der Drang nach dem Absoluten. Die demokratische Gesell schaft sucht dem Fluch
des Relativismus, der auf ihr liegt, zu entrinnen, ohne Zuflucht in der
Transzendenz erhoffen zu dürfen. In einer Welt, in der alles fließt, auch Werte,
Normen und deren Auslegung, soll die Menschenwürde festen Grund bieten, auf
dem sie das Gebäude der Freiheit errichtet.
Doch ist der Grund tragfähig? Wie kann die staatliche Rechtsordnung ihren
Grund in sich selber finden? Ein rechtspolitisches Münchhausenstück: daß die
Freiheit sich am selbstgeflochtenen Zopf ihrer Würde aus dem Sumpf der
Unsicherheit soll ziehen können! Läßt sich mit den Mitteln des Rechts das
Absolute handhabbar erfassen und in Wirksamkeit überführen?

II. Ausgangslage der Interpretation

1. Zeit der exegetischen Unschuld


Kein Rechtssatz legt sich selbst aus. Sein Schicksal hängt ab von den Inter preten.
Diese haben von Anfang an alles aufgeboten, wessen sie fähig sind, um der
Menschenwürde, wie das Grundgesetz sie gewährleistet, zu Wirk samkeit zu
verhelfen. Sie könnten auf sich beziehen, was Schiller von den Künstlern
fordert: „Der M enschheit Würdeist Euch in die Hand gegeben. Be wahret sie!/Sie
sinkt mit Euch! Mit Euch wird sie sich heben/" 26
Die Künstler der Jurisprudenz in Rechtswissenschaft und
Rechtsprechung bekränzen die Menschenwürde mit Superlativen:
„vielleicht oberste Leit idee",27 „wichtigste Wertentscheidung" ,28
„oberstes Konstitutionsprinzip", 29 „aktuell geltende Verfassungsnorm
obersten Ranges",30 „oberster Wert" ,31 „höchster Rechtswert" ,32
sogar (in sprachlicher Verwegenheit) „zentralster Wert des
Grundgesetzes",33 das „materielle Hauptgrundrecht", 34 „Höchst
wert" des Verfassungsrechts 35 und des Weltrechts. 36 Zugleich setzt
der exegetische Überbietungswettbewerb ein, die Geltung des
Menschenwürde Satzes möglichst auszuweiten. Er soll allseitig
gelten: nicht nur zwischen Menschen und staatlicher Gewalt,
sondern auch zwischen den Individuen, also Drittwirkung zeitigen
und ihre Inhaber nicht nur berechtigen, sondern auch verpflichten.
Die Menschenwürde, im Text des Grundgesetzes das "Da rum" der
Menschenrechte, stellt sich als "Wurzel" aller "nachfolgenden"
Grundrechte dar, wobei "Nachfolge" einen schönen Doppelsinn
birgt: zum einen die nachgesetzte Plazierung im Text, zum anderen
die Folgsamkeit gegenüber einem Vorbild, eine Art biblischer
Jüngerschaft. Die "Grundrech te insgesamt" werden als
Konkretisierungen der Menschenwürde gedeutet,37 diese als "Wurzel
aller Grundrechte".38 Tendenziell sollen sich alle Verfas sungsnormen,
vom demokratischen Prinzip über das soziale Staatsziel bis zum
Verbot der Todesstrafe, aus der Menschenwürde ableiten. 39
Schließlich die ganze Rechtsordnung, so daß sich die Menschenwürde
als das juristische Weltenei40 entpuppt. In Normen jedweder Art und
jedweden Inhalts soll ein mehr oder weniger großer
Menschenwürdekern stecken, der gegen Kritik und Revision gefeit ist.
Das objektivrechtliche "Konstitutionsprinzip" reichert sich an um die
Dimension des subjektiven Grundrechts, das jedermann mit der
Verfassungsbeschwerde einklagen kann.41
Dennoch zögert die Jurisprudenz lange Zeit, rechtspraktische Folgerungen zu
ziehen, aus Scheu, den "obersten Wert" in juristisches Kleingeld umzu
wechseln, aber auch aus methodologischer Vorsicht, unmittelbar auf der Ab
straktionshöhe der Menschenwürde nach der Lösung praktischer Probleme zu
suchen. Es regt sich unterschwelliges Mißtrauen gegen Großformeln ("Wer
Menschheit sagt, will betrügen. ").42 Die Verfassungsrechtsprechung hält sich
prinzipiell an die "nachfolgenden" Grundrechte sowie die konkre ten
Organisationsnormen. Freilich berufen sich die großen Entdeckungen und
,Prfindungen der Judikatur häufig auf die Menschenwürde. Doch diese ergibt nur
ein Argument neben anderen verfassungsrechtlichen Argumenten.
So begründet die Rechtsprechung den Anspruch auf Sozialhilfe zur Sicherung
eines menschenwürdigen Existenzminimums auch aus dem Rechts- und dem
Sozialstaatsprinzip wie aus dem Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfal tung
und dem Gleichheitssatz.43 Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht 44 und das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 45 leiten sich ab aus dem
Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit in Verbindung mit der
Menschenwürde, ähnlich die Figur der staatlichen Schutzpflicht für das un
geborene Leben aus dem Recht auf Leben in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1
GG.46 Die Menschenwürde bildet nicht den tragenden Grund, sondern bloß
einen Begründungszusatz, gleichsam die Rückversicherung an höchster Ver
fassungsstelle. Der Argwohn regt sich, das „tragende Konstitutionsprinzip" diene
lediglich als verfassungsrechtliche Zierleiste. Die Hypothese drängt sich auf, daß
die richterrechtlichen Kreationen auch dann erfolgt und gleicher maßen
ausgefallen wären, wenn das Grundgesetz den Absatz über die
Menschenwürde nicht enthielte. Jedenfalls vermeidet die Verfassungsrecht
sprechung tunlichst den direkten Rekurs auf den „Höchstwert". Dieser wird
durchwegs mediatisiert durch konkretere, rechtstechnisch einfacher hand
habbare Verfassungsnormen.

2. Das Problem und seine klassische Lösung


Es ist leichter, die höchste Geltungskraft zu beschwören, als inhaltliche
Feststellungen zu treffen und zu sagen, was Menschenwürde überhaupt ist. Die
feierliche Unbestimmtheit, die der Würdeformel Faszination verschafft, bereitet
dem Juristen, der mit ihr arbeiten soll, gerade Probleme. Auf ihn wirkt dunkel,
was in der Öffentlichkeit strahlt. Er steht vor der Schwierigkeit, die
Menschenwürde juristisch zu definieren. Im Parlamentarischen Rat nann te der
Abgeordnete Theodor Heuss sie eine „nicht interpretierte These".47 Doch läßt
sich die Interpretation überhaupt nachholen? Der Jurist macht die ähnliche
Erfahrung wie Augustinus, als dieser sagen sollte, was das Wesen der Zeit sei:
„Was also ist die ,Zeit'? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich
es aber einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht. "48 Der Philosoph und der
Theologe mögen raten, hier zu resignieren, Unbegreifliches nicht begreifen zu
wollen und vor der Menschenwürde zu verstummen. „Das Würdige beschreibt
sich nicht", heißt es im „Faust" .49 In der Tat fasziniert der Gedanke, das Thema
zu umschweigen und es noch nicht einmal mit Wor ten zu berühren. Im
Schweigen könnten alle eins sein, die sie sich im Reden mehr oder weniger
voneinander abheben und auseinandersetzen. Die Men schenwürde wäre das
Tabu der Rechtsordnung, dem sich kein Erklärer nähern dürfte, das Geheimnis,
das alle ehrfürchtig hüteten und das unantast bar wäre auch für die Kunstgriffe
der juristischen Interpretation. In diese Richtung zielt der Versuch, eine
Definition der Menschenwürde für unzu lässig zu erklären.so Doch der Versuch
muß scheitern. Was der Jurist nicht definieren kann, das kann er auch nicht
anwenden. Ein Definitionsverbot entzöge der Norm von vornherein die Chance
praktischer Wirksamkeit.s 1 Gleichwohl ist es der Jurisprudenz bis heute nicht
gelungen, den Inhalt der Menschenwürde generell und abschließend zu
bestimmen. Im Laufe der Jahr zehnte ist zwar eine üppige Kasuistik
herangewachsen, in der konkrete Ge bote und Verbote in Hülle und Fülle
stecken. Doch sie ergeben kein kon sistentes Ganzes. Im Schrifttum wird
deshalb der Vorwurf der Leerformel laut.s2
Der Vorwurf träfe zu, wenn die Menschenwürde im Sinne des Grund gesetzes
beliebigen Deutungen offenstünde. Im offenen Diskurs der Gesell schaft
konkurrieren und kollidieren unterschiedliche Vorstellungen, die jeweils für sich
Richtigkeit reklamieren. Die pluralistische Gesellschaft bahnt sich viele Wege
zum Ziel der Erkenntnis. Doch die Sache selbst ist nicht plura listisch, vielmehr
bildet sie das gemeinsame Recht, in dem die pluralistische Gesellschaft zur
Einheit findet. Als Rechtsnorm ist die Gewähr der Men schenwürde auf
Sinnidentität angelegt. Nur so erlangt sie gleiche Geltung für jedermann. Sie böte
keinen Maßstab für staatliche Entscheidungen, wenn ihre Bedeutungen
changierten und einander widersprächen, sie weiter nichts wäre als eine
Projektionswand für fromme Wünsche jedweden Inhalts. Die juristische
Reproduktion verträgt auch nur ein gewisses Maß an Komplexität.
Ebensowenig wie andere Verfassungsprinzipien taugt die Menschen würde zu
habermasiadischen Bemühungen, aus grundgesetzlicher Wolle ein feinstes
Gespinst verschwebender Netze zu weben. Denn diese wären viel leicht gut für
verfassungspietistische Hausandachten, nicht aber für die ro buste Praxis der
Sozialämter und Landgerichte, denen das Grundgesetz doch auferlegt, die Würde
zu achten und zu schützen.
Dennoch hat sich weithin eine Großformel durchgesetzt, die auf Josef Wintrich
und auf Günter Dürig zurückgeht: die Menschenwürde sei „ge troffen, wenn
der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren
Größe herabgewürdigt wird."53 Die Objektformel nimmt ein Element der
kantianischen Ethik auf, den Menschen als „Zweck an sich selbst" zu begreifen,
„nicht nur als Mittel zum beliebigen Gebrauche für die sen oder jenen Willen".54
Das entspricht der „Idee der Würde eines ver nünftigen Wesens", das allein
dem Gesetz gehorcht, „das es zugleich selbst gibt".55 Als vernünftiges Wesen ist
er Person, im Unterschied zu den Sachen, die nur einen relativen Wert als Mittel
haben, einen Preis, der als Äquiva lent an die Stelle der Sache treten kann. Die
Person aber kann durch nichts substituiert werden. Sie hat keinen Preis, sondern
Würde.56 Die Bedingung der Würde ist Moralität. Würde kommt der Sittlichkeit
und der Menschheit zu, sofern diese der Sittlichkeit fähig ist, indes
Geschicklichkeit und Fleiß einen Marktpreis, Witz, lebhafte Erfindungskraft und
Launen einen Affek tionspreis haben.57 Daraus folgen der Anspruch gegen die
Nebenmenschen auf Achtung, die wechselseitigen Pflichten aller, einander zu
achten, und die Pflicht zur Selbstachtung. Kants Imperativ: „Handle so, daß du
die Mensch heit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern,
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. "58 „Die
Menschheit selbst ist eine Würde. "59 „Menschheit" aber ist für Kant nicht der
Inbegriff aller Individuen, auch nicht ein kosmopolitisches Kollektiv, sondern die
Zu gehörigkeit zur menschlichen Gattung, das Menschsein. Jedermann ist ge
halten, „die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch
anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen
notwendig zu erzeigende Achtung bezieht". 60 Schopenhauer tadelte Kants
Instrumentalisierungsverbot als, bei Lichte betrachtet, höchst vagen,
unbestimmten, seine Absicht ganz indirekt erreichenden Ausspruch, „der für
jeden Fall seiner Anwendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und
Modifikation bedarf, so allgemein genommen aber ungenügend, wen igsagend
und noch dazu problematisch ist".61 Mutatis mutandis läßt sich die Kritik auf
die Objektformel Dürigs übertragen.62 Auch diese ist nur cum grano salis
annehmbar. Mit ihr allein wird der Menschenwürde-Satz nicht operationabel.
Sie bedarf ihrerseits noch der vermittelnden Subformeln auf mehreren
Konkretisierungsstufen, um anwendbar zu werden.
Gleichwohl hat Dürig mit beherztem Zugriff den Entwurf zu einem dog
matischen Gesamtbild geschaffen, das der Menschenwürde praktische Re levanz
im großen und ganzen zuführt.63 In der Tradition des thomasischen
Essentialismus (auf die er sich freilich nicht ausdrücklich beruft) geht er da von
aus, daß die normative Aussage in einer Seinsgegebenheit gründet. Die se
Seinsgegebenheit „Menschenwürde", die unabhängig von Zeit und Raum sei,
bestehe in folgendem: „Der Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn
abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu
befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich die
Umwelt zu gestalten. "64 Die Würde des Menschen aber liegt nicht in der
Verwirklichung seiner spezifischen Fähigkeiten durch das Individuum, sondern
in der „gleichen abstrakten Möglichkeit" zur Verwirklichung. 65 In die Sprache
der Scholastik übersetzt, liegt die Würde nicht im Akt, sondern in der Potenz; sie
gehört zu seiner Wesensnatur oder - im Sinne Kants – zur „Menschheit".
Mithin kommt Würde auch dem Geisteskranken zu, der die Fähigkeit zu freier
Selbst- und Lebensgestaltung von vornherein nicht hat, dem Verbrecher, der die
Fähigkeit mißbraucht, dem Opfer, das in seine Ent würdigung einwilligt. Auf
dieser Prämisse gründet die gleiche Rechtsfähigkeit aller.66 Dürig versteht Würde
als allgemeine und gleiche Qualität des Mensch seins. Er spricht sie dem
Menschen ab der Zeugung zu, weil der individuelle Wesens- und
Persönlichkeitskern festliege und zur Entfaltung treibe, so daß der Mensch, möge
er wachsen oder vergehen, stets er selber bleibe.67 Nach wirkungen der Würde
erkennt er noch im Leichnam.
Auch in dieser Hinsicht korrespondieren die Kriterien weitgehend denen Kants. Dieser
gründet das Person-Sein in der vernünftigen Natur des Menschen. Doch kommt es
nicht darauf an, ob der einzelne von seiner Vernunft tatsächlich Ge brauch macht.
Vielmehr ist der Mensch Person mit der Zeugung. Die Eltern, so Kant, können ihr
Kind „nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit
begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall
überlassen". 68
Verletzt wird die Würde in Dürigs Sicht durch Maßnahmen, die den Men schen
wie ein Tier oder wie eine Sache behandeln: durch Folter, Sklaverei,
Massenvertreibung, Genozid, Ächtung, Vernichtung sogenannten „lebensun werten
Lebens", „Menschenversuche". 69 Als Beispiele nennt er Menschen zucht, heterologe
Insemination, Bruch der Intimsphäre, systematische Ehrver letzung,
psychotechnische Praktiken der Strafjustiz, grausame Strafen.70 Der Interpret der
Würde-Garantie wahrt Sinn für Proportionen und hütet sich, sie auf Bagatellen zu
beziehen, zur Ausweitung des persönlichen Ehrenschutzes oder zur Wahrung von
Sitte und Anstand zu bemühen und so zur „kleinen Münze" abzuwerten.71 Dürig
setzt sich von den Strebungen ab, die Men schenwürde selbst als Grundrecht zu
deuten.72 Für ihn stellt sie „ein oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven
Rechts" dar, welches dann schrittweise zugunsten des einzelnen Rechtsträgers
realisiert werde. Wenn sie auch keine für sich selbst bestehende Klagestütze und
Anspruchsgrundlage bildet, so doch die Basis eines ganzen Wert- und
Anspruchssystems. Dieses entfaltet sich in den überpositiven Menschenrechten, die
ihrerseits in den Freiheits- und Gleich heitsgrundrechten positivrechtliche Gestalt
annehmen, gleichwohl ihren men schenrechtlichen Wesensgehalt gegen
Gesetzesvorbehalte behaupten. 73
In Dürigs Interpretation kommen seine katholische Prägung wie die Er fahrung
von Krieg und Unrechtsstaat zur Geltung. Orientierungssicherheit, Urteilskraft,
Courage und Intuition geben seiner Kommentierung klassischen Rang.74 Im ersten
Geist des Ursprungs.
Jahrzehnt des Grundgesetzes entstanden, atmet sie den
Wenn auch nicht authentisch, kommt sie der Authenti zität nahe. Sie
leistet dogmatische Pionierarbeit. Daher braucht sie sich nicht um
Originalität zu bemühen wie neuere Interpretationen, deren
hochgezüch tete Komplexität und Manieriertheit ihr fernliegen. Sie
bildet gleichsam das Urmeter, an dem die späteren Deutungsversuche
sich messen lassen müssen.

III. Relativierung durch Interpretation

1. Kleine Münze
Die Schwierigkeit, zu bestimmen, was Menschenwürde ist, quält eine kri tische
Hermeneutik. Doch der naive Leser, der nicht von des Methodenge dankens
Blässe angekränkelt ist, bemerkt von ihr überhaupt nichts. Die Schwierigkeit
liegt in der Einfachheit der Aussage. In ihrer Einfachheit leuch tet sie dem
Unbefangenen ein, der nicht den Ehrgeiz hat, sie mit den Mitteln der
wissenschaftlichen Exegese zu reproduzieren. Die Einfachheit gibt der „nicht
interpretierten These" eigentümliches Charisma. Als Dogma einer bürgerlichen
Religion bedarf sie nach Rousseau ohnehin keiner Auslegung und Erläuterung,
jedenfalls keiner durch rechtsgelehrte und amtlich ausge wiesene Mittler, durch
die Priesterkaste der Demokratie. Jedermann ist sein eigener Interpret der
Menschenwürde und sagt, was sie kraft seiner Intuition in der jeweiligen Lage
erheischt oder verwehrt, welche Zumutungen ihr ver träglich und welche es
nicht sind. Was den rechtsgelehrten Skrupulanten schreckt, lockt den
unbedenklichen Vertreter der Popularjurisprudenz. Da sich die Menschenwürde
schwer juristisch fassen läßt, kann hier jedermann um so leichter zugreifen. Er
sieht sich angesichts der Evidenz der Formel der exegetischen Anstrengung
enthoben. Ohne weitere Begründung sucht er über Art. 1 GG eine
Letztbegründung, die seine Position kritikresistent und ver fassungsrevisionsfest
macht.75 So versuchen Betroffene, Advokaten und Ver bandsgutachter, ihre
Interessen aus der Menschenwürde abzuleiten und so am Tabu der Verfassung
zu partizipieren. Die Menschenwürde soll dem ille gal eingeschleusten Ausländer
das Bleiberecht geben und das Asylrecht ver absolutieren, 76 den genetischen
Fingerabdruck verhindern, das hergebrachte Streikverbot für Beamte
aufbrechen,77 die lebenslange Freiheitsstrafe beseiti gen,78 eine
Verfassungspflicht zum Tierschutz begründen. 79 An der Men schenwürde
entzünden sich auch der Profilierungsdrang der Verfassungs juristen und ihr
Überbietungswettbewerb darin, die Verfassungsgarantie zu optimieren und
auszudehnen.
Das Bundesverfassungsgericht setzt sich geduldig und sorgfältig mit schwer- und
leichtgewichtigen, nah- und weithergeholten Rügen des Würde verstoßes
auseinander, auch wenn es sie zumeist als im konkreten Fall unbe gründet
zurückweist, so als Einwand wider lebenslange Freiheitsstrafe 80 und
Sicherungsverwahrung, 81 Zwang zur Selbstbezichtigung, 82 Wohnraumüber
wachung, 83 Verwertung von tagebuchähnlichen Aufzeichnungen im Straf
verfahren, 84 Kontaktsperre. 85 Die Wiederverheirateten klagten das Recht ein, daß
der durch frühere Ehe erworbene Name der Ehefrau als Ehenamen der neuen
Ehe geführt werden darf.86 Der Transsexuelle erwirkt, daß sein emp fundenes
und operativ erworbenes Geschlecht im Geburtenbuch eingetragen wird.87
Dagegen verletze die Ladung zum Verkehrsunterricht nicht die Wür de des
Geladenen, selbst dann nicht, wenn er den Unterricht nicht nötig ge habt hätte.88
Auch die mangelnde Einklagbarkeit des Ehemäklerlohnes diffa miere nicht den
Berufsstand der Heiratsvermittler und beeinträchtige nicht ihre Menschenwürde.
89 Die "wichtigste Wertentscheidung" des Grundgesetzes wird bemüht für
Telefonsex und Zwergenweitwurf. 90 Die Menschenwür de verwandelt sich -
Dürigs Warnungen zum Trotz - in kleine Münze. Man mag darüber streiten, ob
hier ein höchster Wert vergeudet oder ob er lebens nah in den Rechtsalltag
implantiert wird.
Höchste Gerichte deduzieren aus der Menschenwürde konkrete Bedingungen für die
Ausgestaltung des Strafvollzugs bis hin zur Ausmessung der Gemein schaftszelle
nach Quadratmetern, deren Möblierung und der Trennwand zu Waschbecken und
Toilette.91 Als in der Kulturrevolution sich die männliche Lö wenmähne zum
Fortschrittlichkeitsausweis und Protestsymbol erhoben hatte und der Bundesminister
der Verteidigung kraft seiner Befehls- und Kommandogewalt Länge und Tragweise
des Haupthaares von Soldaten regulieren mußte ("Haar Erlaß"), schützte das
Bundesverwaltungsgericht ihn vor dem Vorwurf, die Men schenwürde des Soldaten
werde dadurch verletzt, daß ihm im Interesse seiner eigenen Sicherheit und zur
Erhaltung seiner vollen Funktionsfähigkeit unter Be rücksichtigung der
Hygieneerfordernisse befohlen werde, das Haupthaar nur bis zu der regulierten Länge
zu tragen: "Er wird damit weder zum Objekt noch zum bloßen Mittel herabgewürdigt
oder erniedrigt. Weder wird seine ureigenste In timsphäre mißachtet noch seine Ehre
in demütigender Weise verletzt. Das käme in Betracht bei einem Zwang zum Kürzen
der Haare, durch das der Soldat ge ächtet oder gebrandmarkt erschiene oder durch
das er gröblich entstellt und so der Lächerlichkeit preisgegeben würde. Hiervon kann
bei der Regelung ... keine Rede sein."92
Den Höhepunkt der Würde-Sensibilisierung, gleichsam ihr Ö-Tüpfelchen, bil dete die
Rüge eines grundrechtsbewußten Telefonkunden, dessen Name den Um laut ö enthielt,
die Post verletze ihn in seiner Menschenwürde, weil sie in den durch EDV-Anlagen
gefertigten Fernsprechrechnungen seinen Namen nicht mit ö, sondern mit oe schreibe.
Das Bundesverwaltungsgericht, das 1969 als dritte Instanz entschied, räumt ein, daß
der Name Bestandteil eines in Art. 1 GG an erkannten Persönlichkeitsrechts sei und
daß die Menschenwürde sicher verletzt werde, wenn die Veränderung der
Schreibweise des Namens den Betreffenden verunglimpfe und der Lächerlichkeit
preisgebe. Doch hält das Gericht der Post zu gute, daß ihre Anlagen in der Frühzeit
elektronischer Datenverarbeitung Umlau te nicht verarbeiten könnten, die
vorhandenen Zeichen alle benötigt würden und auch aus Gründen internationaler
Vereinheitlichung keines der knappen Zeichen einem Umlaut weichen könne. Das
Gericht bringt noch einen weiteren Grund da für, daß hier keine Diskriminierung,
Abwertung oder "unwürdige Unterordnung des Menschen unter eine Maschine"
vorliege. Die Schreibweise oe für ö entspre che den Regeln, die sich für den Fall
gebildet hätten, daß die Type ö im Tastenfeld einer Schreibmaschine fehle. „Die
,Regeln für Maschinenschreiben', DIN 5008e, November 1963, sehen unter 1.1 diese
Schreibweise ausdrücklich vor." 93 Men schenwürde also nach Maßgabe der Regeln
für Maschinenschreiben. Was der alten Schreibmaschine recht war, ist dem
Computer billig. Also Gleichheit im Unrecht? Dem unabweislich richtigen Ergebnis
wird eine fehlerhafte Begründung nachgereicht, die Menschenwürde als kleine
Münze in juristisches Falschgeld gewechselt, das Erhabene ins Lächerliche gezogen,
nur weil der Mut fehlt, eine abstruse Rüge zu ignorieren.
Mit ihrer Ausdehnung verflacht die Verfassungsgarantie. 94 Mit ihrer Ver
alltäglichung wird sie banalisiert und verfängt sich im Gestrüpp des Kon kreten. Nun
wird sie ein Grundrecht wie jedes andere. Die unvermeidliche Folge ist, daß sie
ihren absoluten Charakter einbüßt, durch Grundrechte anderer und durch öffentliche
Belange relativiert wird und der grundrechts üblichen Abwägungsaleatorik
anheimfällt.

2. Kollisionen - M enschenwürde gegen M enschenwürde

Aufschlußreich ist die Ächtung der Folter. Sie wird durch nationales wie
internationales Recht sanktioniert; im allgemeinen Rechtsbewußtsein ist sie tief
verankert. Das Tabu der Folter verbindet sich mit dem Tabu der Men
schenwürde.95 Die Menschenwürde begründe ein absolutes Verbot - diese
rigide Rechtsauffassung herrschte unangefochten, solange allein das von der Folter
bedrohte Individuum als Inhaber der Menschenwürde im juristischen Blickfeld
stand, wie es dem Recht der Strafverfolgung angemessen ist. Doch die duale
Beziehung Beschuldigter -Staat wird im Recht der Gefahrenabwehr ersetzt durch
die Dreier-Beziehung Staat - Störer - Opfer. Nun stehen dem Staat zwei
Grundrechtsträger gegenüber, der Störer, dessen Würde zu achten, und das Opfer,
dessen Würde zu schützen ist. Ein Dilemma reißt auf, wenn ein Geiselnehmer im
Gewahrsam der Polizei das Versteck, in dem die Geisel zu verschmachten droht,
nicht nennt und Drohung wie Anwendung physischen körperlichen Zwangs, der
Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, die ein zige Chance eröffnen, das Leben
der Geisel zu retten.96 Falls die Polizei aus Achtung vor der Würde des Täters die
rettende Maßnahme unterließe, gäbe sie die Menschenwürde des Opfers auf, zu
deren Schutz sie verpflichtet ist. Die Schutzpflicht aber wird nicht erfüllt durch
Bemühung, sondern durch Erfolg, also die Rettung. Auf die richtige Lösung des
Grenzfalles kommt es hier nicht an.97 Entscheidend ist die Erkenntnis, daß die
Menschenwürde des einen, als Individualgrundrecht verstanden, notwendig
relativiert wird durch die Menschenwürde des anderen. Kein subjektives
Grundrecht kann absolu te Geltung beanspruchen. Die Menschenwürde ist kein
Grundrecht neben anderen Grundrechten. Sie begründet auch nicht kollidierende
Grundrechts positionen verschiedener Individuen. Wäre das der Fall, müßte es eine
objek tivrechtliche Norm geben, die, im Rang höher als die Menschenwürde, den
Grundrechtskonflikt löste. Doch diese Konfliktlösungs- und Grundrechts
anwendungsregel ist eben das Prinzip der Menschenwürde. 98 Es bildet die
Grundlage aller Grundrechte und steuert so deren Anwendbarkeit und Aus
legung. Deshalb ist es aber selber kein Grundrecht.99
Ein analoges Problem warf das Luftsicherheitsgesetz auf, das die Streit kräfte
ermächtigte, als ultima ratio ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben
von Menschen eingesetzt werden sollte.100 Das Bundesverfas sungsgericht
erklärte die Norm für nichtig, unvereinbar mit Grundrechten, soweit von der
Maßnahme Tatunbeteiligte (Mannschaft wie Passagiere) be troffen würden. 101
Das grundrechtliche Verdikt stützt sich nicht allein auf das Lebensrecht, sondern
auch, und zwar „in Verbindung" mit diesem, auf die Menschenwürdegarantie.
Der Staat, der das Flugzeug abschieße und damit alle Insassen töte, behandle die
gekidnappten Geiseln als bloße Objekte sei ner Rettungsaktion zum Schutze
anderer und spreche ihnen den Wert ab, der dem Menschen um seiner selbst willen
zukomme. Statt das Leben der Geiseln zu schützen, vernichte er es. Daher sei der
Abschuß des Flugzeugs kein ver fassungsrechtlich zulässiges Mittel für den Staat,
um seiner grundrechtlichen Schutzpflicht gegenüber den Personen zu genügen, auf
die sich der Flugzeug angriff richtete. 102 Im Ergebnis darf der Staat also nicht
intervenieren. Er muß untätig zusehen, wie der terroristische Angriff zum
angestrebten Erfolg ge langt und auf diese Weise nicht nur die Flugzeuginsassen
sterben, die er in der gegebenen Situation aus tatsächlichen Gründen nicht hätte
retten können, sondern auch die Opfer des Flugzeugangriffs, die er zwar hätte
retten kön nen, doch nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts aus
grundrecht lichen Gründen, aus Achtung vor der Menschenwürde der
Flugzeuginsassen, nicht retten durfte. Auf den ersten Blick ein Triumph der
Absolutheit der Menschenwürde. Bei näherem Hinsehen deren Kapitulation.
Denn das Bun desverfassungsgericht sieht allein auf die Menschenwürde der
Flugzeuginsas sen, indes es die der externen Opfer ignoriert. Damit der
Würdeschutz für jene absolut sei, wird er für diese von vornherein ausgeschaltet.
Das Dilem ma, daß in dem Gefahrentatbestand Leben gegen Leben und
Menschenwür de gegen Menschenwürde steht, wird einseitig aufgelöst, und zwar
auf die Weise, daß am Ende niemand gerettet werden kann und alle untergehen,
die Insassen des Flugzeugs wie die Opfer des Aufpralls. Die Grundrechtsfürsorge
für die ohnehin dem Tod geweihten ersten Opfer des Terrors führt dazu, daß dem
Staat verwehrt wird, wenigstens die weiteren Destinatare des Terrors zu retten. 103
Das Bundesverfassungsgericht sichert den Geiselnehmern gleich sam freies
Geleit und zwingt den Staat, dessen primärer Daseinszweck die Sicherheit seiner
Bürger ist, im Ernstfall untätig zu bleiben; aber es gestattet ihm, im Wasser
grundrechtlicher Unschuld seine Pilatushände zu waschen.
Das Argument der Menschenwürde löst hier eine Denkblockade aus und bestä tigt
Schopenhauers Vorwurf gegen das "Schiboleth aller rat- und gedankenlosen
Moralisten" .104 Geradezu einfältig handhabt das Gericht die Objektformel, unbe
eindruckt von der Warnung des Philosophen vor der Maxime Kants, die ihr zu
grunde liegt: daß diese für jeden Fall ihrer Anwendung erst besonderer Erklärung,
Bestimmung und Modifikation bedürfe. 105 Der Staat, so das Gericht, mache die
(tatunbeteiligten) Flugzeuginsassen zu reinen Objekten seines Handelns, wenn er das
zur Angriffswaffe umfunktionierte Flugzeug abschieße, und mißachte deren
Subjektstellung in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise.106
Doch es ist nicht der Staat, der sie zu bloßen Objekten degradiert, sondern es sind die
Geiselnehmer. Das Gericht insinuiert, daß diese Lage dem Staat zuzurechnen sei und
dieser sie ausnutze, und wirft ihm vor, daß er, statt, wie es seine Pflicht sei, das Leben
der Geiseln zu schützen, es vernichte. 107 Eben das trifft nicht zu. Zwar

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