Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
14
Friederike Rese
Erfahrung als eine
Form des Wissens
Die Autorin:
Friederike Rese, PD Dr. phil., ist zur Zeit als Privatdozentin im Fach
Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg tätig. Sie hat
Philosophie und Germanistik an den Universitäten Münster und Tü-
bingen studiert. 2002 wurde sie in Freiburg im Fach Philosophie pro-
moviert und 2010 habilitiert.
Rese (48629) / p. 3 /27.2.14
Friederike Rese
Erfahrung
als eine Form
des Wissens
Originalausgabe
ISBN 978-3-495-48629-0
Rese (48629) / p. 5 /27.2.14
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
§ 14. Körper an einem Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
§ 15. Konstitution und Erstreckung des Ortes . . . . . . . . 200
§ 16. Ort des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
5
Rese (48629) / p. 6 /27.2.14
Inhalt
2. Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
§ 17. Haut als Grenze zwischen Leib und Ort . . . . . . . . 216
§ 18. Leib, Körper und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
§ 19. Kritische Auseinandersetzung mit einem Versuch der
Aufhebung der Grenze zwischen Leib und Welt . . . . 239
§ 20. Genauere Betrachtung der Grenze zwischen
Leib und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
§ 21. Die menschliche Seele und die beiden Bewegungen der
Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
3. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
§ 22. Vorprädikative Momente von Erfahrung . . . . . . . . 271
§ 23. Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
§ 24. Verstehenshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
§ 25. Narrativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
§ 26. Fiktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
4. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
§ 27. Zeit und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
§ 28. Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
§ 29. Geburt und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
§ 30. Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Schlußkapitel
§ 31. Erfahrung als Transformation des Subjekts . . . . . . 407
§ 32. Wirklichkeit zwischen Subjekt und Welt . . . . . . . . 421
§ 33. Erfahrung und philosophische Reflexion . . . . . . . . 429
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
6
Rese (48629) / p. 7 /27.2.14
Einleitung
1
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Griechisch – Deutsch, Neubearbeitung der Über-
setzung von Hermann Bonitz, hrsg. von Horst Seidl, 2 Bde, Felix Meiner Verlag:
Hamburg 31989; hier: Metaphysik, IV1, 1003a21–26.
7
Rese (48629) / p. 8 /27.2.14
Einleitung
8
Rese (48629) / p. 9 /27.2.14
Einleitung
zweiten Teil der Untersuchung soll die zweite der beiden Fragen beant-
wortet werden, indem die Bedingungen betrachtet werden, unter de-
nen Erfahrung dem Menschen zuteilwird. Diese Bedingungen sind der
Ort, der Leib, die Sprache und die Zeit. Gerade weil Erfahrung wesent-
lich an die menschliche Existenz gebunden ist und zu deren Konstitu-
tion beiträgt, unterliegt sie denselben Bedingungen wie die mensch-
liche Existenz überhaupt.
Es ist wichtig zu bemerken, daß so allgemeine Bedingungen wie
der Ort des Menschen, sein Leib, seine Sprache und seine Lebenszeit,
grundlegende Bedingungen von Erfahrung darstellen. Denn Erfahrun-
gen macht der Mensch notwendigerweise als ein Lebewesen, das leib-
lich existiert, Sprache hat und zu einer bestimmten Zeit immer nur an
einem bestimmten Ort sein kann. Erfahrungen gehören in die Lebens-
zeit eines Menschen, und das Wissen der Erfahrung wird als solches in
der Zeit synthetisiert und zustandegebracht. Je nach dem Vergangen-
heits- und dem Zukunftshorizont gewinnen Erfahrungen eine andere
Gestalt; Erfahrung ist also wesentlich geschichtlich verfaßt. Die Exi-
stenz bzw. das Leben des Menschen und seine Erfahrung sind also not-
wendig aufeinander bezogen.
Das Wissen der Erfahrung ist dennoch nicht auf die Thematik der
Lebenserfahrung reduzierbar. Denn in der Lebenserfahrung liegt nur
eine bestimmte Form von Erfahrung vor, eben solche Erfahrung, die
sich auf das Leben des Menschen und die Lebensführung bezieht. Hier
soll das Wissen der Erfahrung aber auf eine umfassendere Weise in
Betracht kommen, nämlich als ein Wissen, das sich grundsätzlich auf
jeden Gegenstand in der Welt und auf alles in der Welt Begegnende
beziehen kann. In der Erfahrung wird dieser Gegenstand oder das-
jenige, das in der Welt begegnet, dem Erfahrenden erschlossen und
zugänglich gemacht. Das Wissen der Erfahrung macht jemanden also
mit etwas in der Welt vertraut, und in der Zunahme des Wissens der
Erfahrung wächst die Vertrautheit mit der Welt. Im Wissen der Erfah-
rung ist der Erfahrende aber zugleich auf sich selbst bezogen, nämlich
auf seine Subjektivität, die die Grundlage für die Erfahrungen in der
Welt darstellt. Leib und Sprache erschließen dem Menschen die Welt,
und dies geschieht jeweils an einem bestimmten Ort und zu einer be-
stimmten Zeit.
Im ersten Teil der Untersuchung gilt es, den Begriff der Erfahrung
genauer zu bestimmen. Das Wissen der Erfahrung, oder anders gesagt:
die Erkenntnisweise der Erfahrung wird häufig mit derjenigen der
9
Rese (48629) / p. 10 /27.2.14
Einleitung
10
Rese (48629) / p. 11 /27.2.14
Einleitung
11
Rese (48629) / p. 12 /27.2.14
Einleitung
bildet schließlich ein Wissen, das sich – ähnlich wie das praktische Wis-
sen der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles nur im Umriß, aber
auf diese Weise doch äußerst genau – begrifflich in seiner Grundstruk-
tur über die für es charakteristischen Momente erfassen läßt. Dies ist
die Aufgabe der folgenden philosophischen Untersuchung.
Diese Untersuchung hat eine längere Geschichte. Vor ungefähr
zehn Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Thema der Erfahrung
auseinanderzusetzen, und dies aus mehreren Gründen: In der Philoso-
phiegeschichte sind zu bestimmten Zeiten bestimmte Themen vorherr-
schend, oder mit Hegel gesagt: Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken
gefaßt. Ich habe angenommen, daß die Thematik der Erfahrung in den
nächsten Jahren zu einer der zentralen Fragestellungen der zeitgenös-
sischen Philosophie werden würde. War bislang die praktische Philoso-
phie und die Frage nach dem menschlichen Handeln vorherrschend –
im Rahmen der philosophischen Debatte, aber auch in meiner eigenen
Forschung – so war absehbar, daß eine Hinwendung zur theoretischen
Philosophie und zur Frage der Erfahrung stattfinden würde. Denn im
Handeln steht das Sein des Menschen hinsichtlich der Aktivitäten des
Menschen im Blick. In der Erfahrung scheint hingegen der Aspekt der
Passivität zu überwiegen. Daß Erfahrung aber neben der für sie cha-
rakteristischen Passivität auch aktive Momente aufweist, werde ich in
der folgenden Untersuchung zeigen.
Außerdem führt der Begriff der Erfahrung in das Zentrum der
menschlichen Existenz. Das Wissen der Erfahrung unterliegt einer
eigentümlichen Spannung zwischen Leib und Sprache. Und es wird
jeweils an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zuteil.
Diese Situiertheit von Erfahrung in der menschlichen Existenz hat
mich zusätzlich für den Begriff der Erfahrung eingenommen. Nicht
zuletzt sind es auch eine Reihe persönlicher Erfahrungen gewesen, die
mich veranlaßt haben, über den Begriff der Erfahrung und über Erfah-
rung als eine Form des Wissens nachzudenken. Erfahrung gehört zum
menschlichen Leben so notwendig hinzu, daß ohne sie ein Fortschritt
im menschlichen Leben nicht denkbar wäre. Denn nur durch Erfah-
rung lernen wir und sind auf das in der Welt Begegnende bezogen. Es
gibt im Leben sowohl die positiven und lebenssteigernden Erfahrungen
als auch die negativen und lebensbeeinträchtigenden Erfahrungen. Bei-
de Arten von Erfahrung sind bekannt.
Ich hoffe, daß diese Untersuchung viele Leser, auch über den en-
geren Kreis des Faches der Philosophie hinaus, erreichen wird. Sie wur-
12
Rese (48629) / p. 13 /27.2.14
Einleitung
13
Rese (48629) / p. 14 /27.2.14
Rese (48629) / p. 15 /27.2.14
Teil I
Begriff der Erfahrung
Rese (48629) / p. 16 /27.2.14
Rese (48629) / p. 17 /27.2.14
Erfahrung ist eine Form des Wissens. Als eine solche steht sie in einem
bestimmten Verhältnis zu anderen Formen des Wissens. Diese Be-
obachtung führt zu folgenden Fragen: Wie verhält sich Erfahrung zu
anderen Formen des Wissens? Kann sie selbst bereits als ein Wissen im
eigentlichen Sinne angesprochen werden, oder bildet sie nur eine Vor-
stufe eines Wissens im eigentlichen Sinne? Und: Welche Bedeutung
kommt der Erfahrung dann für die anderen Formen des Wissens zu?
Aristoteles hat diese Fragen in einer Textpassage am Anfang der Me-
taphysik maßgeblich und für alle weiteren Untersuchungen zu diesen
Fragen richtungsweisend erörtert. 1 Deshalb bildet der Anfang der ari-
stotelischen Metaphysik die Textgrundlage für das folgende Kapitel.
An den Stellen, an denen es erforderlich ist, werde ich diese Textpassa-
ge um weitere Textauszüge aus den aristotelischen Schriften ergän-
zen. 2
Am Anfang der Metaphysik gibt Aristoteles einen Überblick über
verschiedene Formen der Erkenntnis; unter ihnen befindet sich auch
die Erkenntnisweise der Erfahrung (ἐμπειρία). 3 Die Erkenntnisweise
der Erfahrung (ἐμπειρία) gehört für Aristoteles in eine Reihe mit an-
deren Formen des Wissens. Die gesamte Reihe der Formen des Wissens
dient dazu, die Entstehung des philosophischen Wissens zu erklären.
1
Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1–2, 980a21–983a23.
2
Zum Erfahrungsbegriff bei Aristoteles sind die folgenden beiden neueren Mo-
nographien erschienen: Michel Siggen, L’expérience chez Aristote, Peter Lang
Verlag: Bern 2005, sowie Ralf Elm, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Fer-
dinand Schöningh Verlag: Paderborn 1996. Die Studie von Michel Siggen thema-
tisiert den aristotelischen Begriff der Erfahrung sowohl im Hinblick auf die ver-
schiedenen Erkenntnisvermögen, die der Mensch hat und die zum Teil auch den
Tieren zukommen, als auch im Hinblick auf seine Einordnung in die Reihe der
verschiedenen Formen des Wissens. Die Untersuchung von Ralf Elm stellt die
Bedeutung des Erfahrungsbegriffs für Aristoteles’ praktische Philosophie in den
Vordergrund. Während die Studie von Siggen vor allem als Übersicht zu den Text-
stellen geeignet ist, die für Aristoteles’ Begriff der Erfahrung relevant sind, zeich-
net die Untersuchung von Ralf Elm ein hermeneutischer Zugriff aus, der Zusam-
menhänge zwischen verschiedenen Dimensionen des Erfahrungsbegriffs zu
erfassen vermag.
3 Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 980a21–982a2.
17
Rese (48629) / p. 18 /27.2.14
Die Erfahrung folgt auf die Wahrnehmung (αἴσθησιϚ) und geht dem
Wissen der Kunstfertigkeit (τέχνη) vorweg. Auf das Wissen der
Kunstfertigkeit folgen weitere Formen des Wissens: die praktische Ver-
nünftigkeit (ϕρόνησιϚ) als das Wissen des Handelnden, die Wissen-
schaft (ἐπιστήμη) und das philosophische Wissen (σοϕία). Das Ord-
nungsprinzip dieser Genealogie des philosophischen Wissens ist die
zunehmende Allgemeinheit des Gewußten. Während die Wahrneh-
mung auf das Einzelne bezogen ist, geht die Erfahrung (ἐμπειρία) über
das Einzelne hinaus, insofern als sie es erlaubt, verschiedene Wahrneh-
mungen unter einem allgemeinen Gesichtspunkt zusammenzuneh-
men. 4 Deshalb ist das Wissen der Erfahrung allgemeiner als dasjenige
der Wahrnehmung. Jedoch sind erst die Kunstfertigkeit (τέχνη) und
die Wissenschaft (ἐπιστήμη) auf ein wahrhaft Allgemeines bezogen. 5
Und: Erst im philosophischen Wissen (σοϕία) werden die ersten Prin-
zipien von allem, was ist, erkannt. 6 Obwohl Aristoteles in dieser Text-
passage eine Geneaologie des philosophischen Wissens zu geben ver-
sucht, läßt sich auf ihrer Grundlage auch untersuchen, wie sich das
Wissen der Erfahrung zu den anderen Formen des Wissens verhält.
Unter dieser Perspektive soll diese Textpassage im folgenden behandelt
werden.
In der aristotelischen Bestimmung des Verhältnisses von Erfah-
rung zu anderen Formen des Wissens ist es zunächst einmal wesent-
lich, die aristotelische Abgrenzung der Erfahrung (ἐμπειρία) von der
Wahrnehmung (αἴσθησιϚ) hervorzuheben. Denn vor allem im eng-
lischen Empirismus wird der Erfahrungsbegriff häufig mit demjenigen
der Wahrnehmung identifiziert. So neigt zum Beispiel John Locke da-
zu, Erfahrung mit Wahrnehmung gleichzusetzen. 7 Diese Tendenz wird
4
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 980b28–981a2.
5
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 981a5–7; Met. I 1, 981a15–27.
6
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 981b28–29.
7
Eine der Grundüberzeugungen John Lockes ist es, daß alle Vorstellungen des
Verstandes in der Erfahrung begründet liegen, vgl. John Locke, Versuch über
den menschlichen Verstand, Felix Meiner Verlag: Hamburg 52000, II. Buch,
Kap. 1, Abschn. 2, S. 108. Der Verstand wird von Locke als tabula rasa beschrie-
ben, vgl. ebd., S. 107. Anschließend fragt Locke: „Woher hat er [der Verstand] all
das Material für seine Vernunft und für seine Erkenntnis? Ich antworte darauf
mit einem einzigen Wort: aus der Erfahrung. Auf sie gründet sich unsere gesamte
Erkenntnis, von ihr leitet sie sich schließlich her. Unsere Beobachtung, die entwe-
der auf äußere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet ist oder auf innere Ope-
rationen des Geistes, die wahrnehmen und über die wir nachdenken, liefert un-
18
Rese (48629) / p. 19 /27.2.14
serm Verstand das gesamte Material des Denkens. Dies sind die beiden Quellen
der Erkenntnis, aus denen alle Ideen entspringen, die wir haben oder naturgemäß
haben können.“ Ebd., S. 108. In dieser Passage unterscheidet Locke zwischen zwei
Quellen der Erkenntnis: der sinnlichen Wahrnehmung äußerer Dinge („sensati-
on“) und der Beobachtung der eigenen Verstandestätigkeiten („reflection“). Beide
stellen Arten von Erfahrung dar. Auch die Betrachtung der eigenen Verstandes-
tätigkeiten wird in Begriffen der Wahrnehmung beschrieben, obwohl die Wahr-
nehmung hier auf innere Prozesse, oder wie man auch sagen könnte: auf Bewußt-
seinsakte, bezogen ist. Deshalb kann man behaupten, daß John Locke Erfahrung
vor allem als Wahrnehmung denkt, sei es als Wahrnehmung äußerer Gegenstände
oder als Wahrnehmung innerer Bewußtseinsakte.
8 Zur neueren philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Sin-
19
Rese (48629) / p. 20 /27.2.14
20
Rese (48629) / p. 21 /27.2.14
diesem Sinne um es weiß. Es kann aber auch bedeuten, daß man etwas
über ein bloßes Vertrautsein mit diesem hinaus kennt und um seine
Beschaffenheit weiß. Eine solche Art des genaueren Kennens von etwas
bzw. Wissens um etwas würden wir als Wissen im eigentlichen Sinne
bezeichnen. 13 Wenn es aber so ist, daß dem griechischen Wort εἰδέναι
eine ähnliche Mehrdeutigkeit zukommt wie dem englischen Wort to
know, dann stellt sich auch für das Wissen der Erfahrung die Frage,
inwiefern mit ihm eigentlich ein Wissen bezeichnet ist, in dem jemand
bloß mit etwas vertraut ist und in diesem Sinne darum weiß oder aber,
ob das Wissen der Erfahrung auch Züge aufweist, die es in die Nähe
eines Wissens im eigentlichen Sinne rücken.
Doch was heißt es eigentlich, etwas zu wissen? Was heißt ‚Wis-
sen‘ ? Da diese Frage sehr umfassend ist, werde ich sie an dieser Stelle
nur vorläufig beantworten können. Einen Anhaltspunkt in der Be-
antwortung dieser Frage bietet Martin Heideggers Interpretation der
Anfangspassage von Aristoteles’ Metaphysik. In dieser Interpretation
hebt Heidegger hervor, daß die Formen des Wissens, als Formen des
εἰδέναι, allesamt Weisen des ἀληθεύειν seien. 14 Er beruft sich bei die-
ser Aussage auf den Beginn des sechsten Buchs von Aristoteles’ Niko-
machischer Ethik, 15 eine Textpassage, in der Aristoteles eine ganz ähn-
liche Reihe von Formen des Wissens vorstellt wie in der Metaphysik,
mit dem einzigen Unterschied, daß in dieser Passage der Begriff der
13
Wilfrid Sellars weist in seiner Abhandlung Empiricism and the Philosophy of
Mind auf diesen Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen von to know hin,
vgl. Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Harvard Univer-
sity Press: Cambridge, Mass./London, England 1997, S. 17 f. Sellars erwähnt hier
zwei Arten des Wissens: referentielles vs. nicht-referentielles Wissen. Während
das nicht-referentielle Wissen eine bloße Vertrautheit mit etwas meint und von
den Sinnesdatentheoretikern auf Sinneswahrnehmungen bezogen wird, die nicht-
referentiell gegeben sein sollen, vgl. ebd., S. 17 f., versucht Sellars diese Beschrei-
bung der Gegebenheit von Sinneswahrnehmungen zu widerlegen und zu zeigen,
daß selbst sinnliche Wahrnehmungen auf Schlüssen beruhen als ein inferentielles
Wissen darstellen, vgl. dazu Sellars Analyse der Logik des Erscheinen („logic of
looks“), Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, S. 32–46, bes. S. 38.
Anders als für die Sinnesdatentheoretiker, die die Welt in einen Atomismus von
Sinnesdaten zersplittern, sind für Sellars in die Wahrnehmung Überzeugungen
integriert, welche propositional verfaßt sind und aufgrund derer sich etwas auf
eine bestimmte Weise zeigt bzw. auf eine bestimmte Weise erscheint.
14
Vgl. Martin Heidegger, Platon. Sophistes. Gesamtausgabe, Bd. 19, Vittorio
Klostermann: Frankfurt am Main 1992, S. 65–69.
15 Vgl. Aristoteles, EN VI 3–13; bes. EN VI 3, 1139b14–17.
21
Rese (48629) / p. 22 /27.2.14
Erfahrung fehlt und daß es sich bei den hier genannten Formen des
Wissens um Weisen handeln soll, „in denen die Seele entdeckend ist“
(οἷϚ ἀληθεύει ἡ ψυχή) 16. Diese Aktivität der Seele, nämlich das ἀλη-
θεύειν, legt Heidegger folgendermaßen aus:
Das ἀληθεύειν ist eine Seinsweise des Daseins, und zwar, sofern es sich
zu einem Seienden, zur Welt bzw. zu sich selbst, verhält. Das Seiende,
das in griechischem Sinne das eigentliche Sein ist, ist die Welt bzw. das
ἀεί. Da das Sich-Aufhalten-dabei in seinem Sein von dem Wobei her
bestimmt wird, sind die Seinsweisen des Daseins aus dem Verhalten
dazu zu interpretieren. 17
Für die verschiedenen Formen des Wissens bedeutet dies aber, daß der
Mensch in ihnen auf die Welt und sich selbst hin geöffnet ist und daß
er in ihnen die Welt und sich selbst erkennt. Da dies für alle Formen
des Wissens gilt, ist die Abgrenzung der Erfahrung gegenüber den an-
deren Formen des Wissens besonders dringlich. Außerdem scheint in
dieser Textpassage der Nikomachischen Ethik sowie in Heideggers
Deutung die Nähe von Wissen und Wahrheit auf. Denn das ἀλη-
θεύειν, von dem Aristoteles spricht und das Heidegger als Entdeckend-
sein der Seele übersetzt, ist eine Aktivität, die die ἀλήθεια, die Wahr-
heit, oder in Heideggers Übersetzung: die Unverborgenheit, hervor-
bringt. Wissen ist notwendig auf Wahrheit bezogen, insofern jeder,
der etwas weiß, dieses, worum er weiß, in seinem Sein entdeckt hat.
Dies gilt auch für die Erkenntnisweise der Erfahrung. Sie entdeckt et-
was in seinem Sein, oder genauer gesagt: Das Sein desjenigen, das in
der Erfahrung entdeckt wird, ändert sich für denjenigen, der eine Er-
fahrung macht. Da aber auch die anderen Formen des Wissens der Ak-
tivität des Entdeckens, des ἀληθεύειν, unterliegen, ist eine Abgren-
zung der Erfahrung von den anderen Formen des Wissens bzw. des
Erkennens notwendig. Um die Einordnung des Wissens der Erfahrung
in das Ganze der menschlichen Erkenntnis zu ermöglichen, beginne ich
mit der Abgrenzung der Erfahrung von der Wahrnehmung.
16
Aristoteles, EN VI 3, 1139b15.
17 Heidegger, Platon. Sophistes, S. 69.
22