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Über die Bedeutung der recta ratio oder right reason ist in der Hobbes-Lite-
ratur vieles gesagt worden. Auch über die Herkunft dieses Begriffs aus der
platonisch-stoischen Tradition und seine Rolle im Naturrecht vor Hobbes gibt
es einige Untersuchungen. Zuletzt hat Bernd Ludwig auch und gerade an die-
sem Begriff den Übergang von einer stoisch bestimmten Konzeption des
Naturrechts in De Cive zu einer stark davon unterschiedenen epikureischen
Konzeption im Leviathan erläutert.1 Ich möchte meinerseits nur einige Über-
legungen zur Rolle der Vernunft im Hobbesschen Naturzustand der Menschen
anstellen und einen wie es mir vorkommt neuen Vorschlag zum Verständnis
der Rolle der recta ratio bei der Begründung der Hobbesschen Moralphilo-
sophie machen.
Hobbes bedient sich schon im Widmungsschreiben zu De Cive des undefi-
nierten Begriffs der recta ratio, dessen Verwendung zumindest jedem Cicero-
Leser vertraut war. Dort heißt es, daß „das Wissen der Wahrheit in allen Din-
gen“ (in omni materia veritatis scientia) eine Aufgabe der recta ratio sei, „id est,
Philosophiæ“.2 Wenn die recta ratio dasselbe ist wie die Philosophie, die als
philosophia moralis vom Naturrecht (de iure naturalis) handelt, dann ist sie als
der Geometrie an Gewißheit nicht nachstehende Erkenntnis der ratio (des
Verhältnisses) menschlicher Handlungen zugleich ein Beitrag zur Beseitigung
der falschen Meinungen der Menge (vulgi) über Recht und Unrecht (‚ius et in-
iuria‘). Da diese falschen Meinungen aber eine Quelle der Macht von Ehrgeiz
und Habsucht („ambitio & auaritia“) sind, ist die richtige Moralphilosophie
auch in dem Sinne praktische Philosophie, daß sie nicht nur vom Verhältnis der
menschlichen Handlungen zueinander handelt, sondern selbst eine
___________
1
Bernd Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas
Hobbes‘ Philosophischer Entwicklung von De cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640-
1651, Frankfurt 1998.
2
Thomas Hobbes, Vom Bürger, Widmung, in: ders., Vom Menschen. Vom Bürger,
hrsg. von Günther Gawlik Hamburg 1966, S. 60. Der lateinische Text wird zitiert
nach: Thomas Hobbes, De cive. The Latin Version. A Critical Edition by Howard
Warrender, Oxford 1983.
144 Manfred Baum
Aufgabe bei der Beseitigung der genannten Ursachen des Unfriedens unter den
Menschen hat, also bei der Herbeiführung eines beständigen Friedens (‚pax
constans‘) unter den Menschen. Die Entwaffnung, d. h. Unschädlichmachung,
der kriegsbegründenden Leidenschaften Ehrgeiz und Habsucht geschieht also
dadurch, daß die recta ratio an die Stelle der falschen Meinungen über Recht
und Unrecht tritt. Hobbes will also, wie nach ihm Rousseau, die Menschen so
nehmen, wie sie sind, und ihnen durch die recta ratio der Moralphilosophie eine
Verfassung geben, in der sie, trotz ihrer asozialen Leidenschaften, friedlich
zusammenleben können. Die recta ratio der Philosophie ist demnach dazu be-
stimmt, eine Art von Philosophenherrschaft herbeizuführen. Deshalb fürchtet
Hobbes auch, daß seine Moralphilosophie das Schicksal der Platonischen
‚Republik‘ erleiden und sich als nutzlos erweisen werde, obwohl er die Hoff-
nung nicht aufgeben will, daß es künftig einen Souverain geben werde, der „will
convert this Truth of Speculation, into the Utility of Practice.“3
Die Gesellschaft, in der sich Menschen vor dem und unabhängig vom Staat
befinden, ist nicht auf ihrer Natur, sondern auf ihrem vernünftigen Streben nach
Ehre und Vorteil („honor & vtilitas“4) gegründet. Bedürfnis und Ehrsucht
(„captandâ gloriâ“) sind also die Motive der Vergesellschaftung der Menschen,
die freiwillig (voluntaria) geschieht und die Befriedigung der genannten
Bedürfnisse zum Zweck hat. Die auf diese Weise entstandenen großen und
dauerhaften Gesellschaften sind nun durch wechselseitige Furcht der sie
bildenden Menschen bestimmt, deren Ursache in ihrer natürlichen Gleichheit
hinsichtlich des Vermögens, einander auch töten zu können, und in ihrem von
jedem antizipierbaren Willen, sich gegenseitig zu schaden („voluntas lædendi“5)
besteht. Dem entspricht, daß wir nichts anderes wollen können, als die Absicht
zu haben, uns vor den darin liegenden Gefahren zu schützen.
„Denn jeder verlangt das, was für ihn gut, und flieht das, was über für ihn ist; vor
allem flieht er das Größte der natürlichen Übel, den Tod; und zwar infolge einer
Notwendigkeit der Natur, nicht geringer als die, durch welche ein Stein zur Erde
fällt.“
Nach dieser Einführung des Selbsterhaltungswillens beginnt die Defintio
Juris vermittelst der recta ratio:
„Es ist daher weder absurd noch tadelnswert noch gegen die rechte Vernunft (contra
rectam rationem), wenn jemand sich alle Mühe gibt, seinen Körper und seine Glieder
gegen Tod und Schmerzen zu verteidigen und sie zu erhalten. Was aber nicht gegen
die rechte Vernunft geht, nennen alle recht (iusto) und mit Recht (iure)
gehandelt. Durch das Wort Recht (ius) ist nämlich nichts anderes bezeichnet als die
Freiheit (libertas), die jeder hat, seine natürlichen Vermögen gemäß der rechten
___________
3
Thomas Hobbes, Leviathan, edited by Richard Tuck, Cambridge 1996, XXXI, p.
254.
4
De cive I, 2 (p. 90).
5
Vom Bürger I, 4 (S. 80).
Rationalität im Naturzustand 145
(2) Was notwendig ist, ist nicht gegen die recta ratio. Wenn der Tod das
größte der natürlichen Übel ist, geschieht es gewissermaßen mit der Notwen-
digkeit der Natur (necessitate quadem naturae), daß wir ihn vermeiden wollen,
d. h. seine Vermeidung uns zum Zwecke setzen. Denn natürlicherweise halten
wir ihn für ein, und zwar das größte, Übel. Es muß also nicht entschieden
werden, ob er auch das größte Übel ist, aber wenn wir ihn dafür halten, dann ist
es vernünftig, ihm zu entfliehen. Also ist das ihn Vermeidenwollen seinerseits
vernünftig und deshalb nicht gegen die rechte Vernunft. Geschieht dies also
durch Bemühungen, den eigenen Körper und seine Glieder gegen Tod und
Schmerzen zu verteidigen und sich dadurch selbst zu erhalten (conservare), so
sind auch diese subjektiv notwendigen Bemühungen der rechten Vernunft nicht
zuwider.
Dabei wird die recta ratio offenbar als Gesetz gedacht, durch welches das
subjektive Wollen normiert wird hinsichtlich seiner Vernünftigkeit, ohne daß
man daraus zu schließen braucht, daß diese zur Regel dienende Vernunft ein
außer dem Menschen bestehender Maßstab an sich ist. Es ist also nicht nur die
Folge eines natürlichen Instinktes, wenn der Mensch sich selbst zu erhalten
sucht, sondern diese Leidenschaft kann als mit seiner eigenen Vernunft in
Einklang stehend gedacht werden, wenn man das Wollen als von der
Beurteilung von etwas als gut oder schlecht abhängig gedacht denkt. Das
vernünftige Wollen ist also nicht gegen die rechte Vernunft, wenn es seinerseits
auf vernünftiger Beurteilung des Natürlichen beruht.
Satz (3) „Also1: Selbsterhaltung ist nicht gegen die rechte Vernunft“ ist
damit abgeleitet.
(4) „Was nicht gegen die rechte Vernunft ist, ist rechtmäßig“ jedenfalls
sagen alle, daß es so sei. Dabei wird offenbar wiederum die rechte Vernunft als
Gesetz (oder vielmehr als Gesamtheit aller Gesetze) gedacht und dasjenige
Handeln (factum), das nicht gegen ein Gesetz verstößt, ist relativ auf dieses
Gesetz ein iuste factum, nach dem rezipierten Naturrecht. Diese Erlaubtheit
einer gesetzmäßigen Handlung, die weder gegen ein Gebot noch gegen ein
Verbot verstößt, macht also diese Handlung zu etwas, zu dem wir befugt sind,
d. h. zu einem Iure factum, etwas, das mit Recht getan wird, weil es mit dem
objektiven Recht (der Natur), d. h. der Gesamtheit aller Gesetze, übereinstimmt.
Daraus folgt:
(5) Also2: Selbsterhaltung ist rechtmäßig.
Was auf diese Ableitung folgt, ist nur eine Erläuterung des gewonnenen
Ergebnisses unter Einbeziehung der Nominaldefinition des Rechtes, genauer
des subjektiven Rechtes, die ihrerseits das objektive Recht (der Natur) voraus-
Rationalität im Naturzustand 147
setzt. „Recht ist […] die Freiheit, die jeder hat, seine natürlichen Vermögen
gemäß der rechten Vernunft zu gebrauchen.“8 Diese allgemeine Definition des
subjektiven Rechts als eines mit dem objektiven Recht übereinstimmenden
Freiheitsgebrauchs sieht wie ein Zitat aus einem Lehrbuch des traditionellen
Naturrechts aus. Allerdings ist hier die recta ratio nicht mehr nur etwas, gegen
das nicht verstoßen wird (non contra recta rationem), sondern etwas, gemäß
dem (secundum rectam rationem) die Freiheit der Menschen gebraucht wird.
Dadurch wird der freie Gebrauch der natürlichen Fähigkeiten des Menschen als
selbst vernünftig im Sinne von rechtmäßig, und nicht nur zweckmäßig,
hervorgehoben. Diejenige Freiheit des Menschen, bei der seine natürlichen
Vermögen von seiner recta ratio bestimmt sind, der also die Übereinstimmung
mit der recta ratio bestimmend vorhergeht, ist sein Recht. Dabei wird es wie-
derum gleichgültig, ob die recta ratio als objektiver Regelkanon oder als sub-
jektives Vernunftvermögen gedacht wird, da letzteres als das Vermögen ratio-
naler Erkenntnis des an sich Rechten gedacht werden muß. Deshalb kann
Hobbes sich, gleichsam zitierend, der traditionellen Sprechweise bedienen.
Wendet man diese Überlegungen nun auf denjenigen freien Gebrauch der
natürlichen Vermögen an, durch den der Mensch sich um seine Selbsterhaltung
bemüht, so ergibt sich der Fundamentalsatz des Naturrechts bei Hobbes: jeder
hat das Recht, sein Leben und seine Glieder soviel er kann zu schützen.9 Dieser
Satz ist also seinerseits in Übereinstimmung mit der recta ratio und kann als
eine Erkenntnis der recta ratio des Menschen vom natürlichen und objektiven
Recht angesehen werden.
Bei dieser Deduktion des subjektiven Rechtes auf Selbsterhaltung ist zwei-
erlei offen geblieben: einerseits die Handlungen, durch die ich meinem Recht
auf Selbsterhaltung nachkomme und ihr Verhältnis zu den Handlungen anderer
Rechtssubjekte und andererseits die inhaltliche Bestimmung der als Gesetz
gedachten recta ratio: was bedeutet es inhaltlich, daß meine Handlungen mit der
recta ratio übereinstimmen, die bislang nur eine Leerformel ist?
Die erste Aufgabe löst Hobbes bekanntlich dadurch, daß er die Mittel, die
zum rechtmäßigen Zweck der Selbsterhaltung dienen, als ebenso viele Rechte
auszeichnet. Jeder hat also „das Recht [...], alle Mittel zu gebrauchen und alle
Handlungen zu tun, ohne die er sich nicht erhalten kann.“10 Da das Urteil
darüber, was zur eigenen Selbsterhaltung das notwendige Mittel ist, nur dem
jeweiligen Rechtssubjekt selbst zustehen kann, ist jeder Richter in eigener Per-
son und in eigner Sache und damit, in Anbetracht der Gleichheit aller Rechts-
subjekte, jeder auch Richter darüber, ob das Rechtsurteil des anderen über seine
Angelegenheiten und damit seine berechtigten Handlungen zu seiner Erhaltung
___________
8
Vom Bürger I, 7 (S. 81).
9
Ebd.
10
Ebd. I, 8.
148 Manfred Baum
Recht der anderen selbst entscheiden, ist jeder selbst sozusagen oberster Ver-
fassungsrichter. Die eigene recta ratio ist dann nicht nur Ableitungsvermögen,
sondern auch als Regel (regula) und Maß (mensura) für die Vernunft anderer
(rationis alienae) anzusehen (censenda), sofern sie die eigenen Angelegenheiten
des jeweils Handelnden „berührt“ (Vom Bürger II, 1 Anm.). Wie kann die je
private Vernunft Regel und Maß der Berechtigung fremder Vernunft enthalten,
da doch eine Unterwerfung fremder Vernunft unter die meine auf die
Aufhebung der natürlichen und rechtlichen Gleichheit aller Menschen hin-
ausliefe? Wie kann zudem eine solche Schlußfolgerung bezüglich meines
Rechtes gegenüber dem Recht anderer „wahr“ sein, womit nicht die formale
Richtigkeit der Ableitung, sondern die Wahrheit der Konklusion gemeint sein
muß?
„‚Wahr‘ nenne ich die Schlußfolgerung, die aus wahren Grundsätzen, die
richtig mit anderen Sätzen verbunden sind (ex veris principiis rectè compositio),
einen Schlußsatz ableitet (concludentem)“14, der dann selber wahr ist. Das ist
traditionelle Logik des Beweises, mindestens seit Aristoteles. Woher kommt das
verum principium im Falle des praktischen Syllogismus bezüglich der freien
Selbsterhaltungshandlungen der Menschen? Und was kann hier „Wahrheit“
heißen, da es nicht um theoretische Einsichten zu gehen scheint?
Einen Hinweis auf den Sinn von „wahr“ gibt die schon bekannte Bestim-
mung der „falschen“ Schlußfolgerung (ratiocinatio falsa). Sie ist dadurch defi-
niert, daß in ihr die Menschen nicht auf ihre Pflichten gegen die übrigen Men-
schen sehen, die zur eigenen Erhaltung notwendig sind („officia sua erga
cæteros homines ad conterrationem propriam necessaria non videntium“).
Demnach ist eine wahre Schlußfolgerung diejenige, in der diejenigen Hand-
lungen als berechtigt, weil zur Selbsterhaltung geeignet, abgeleitet werden, bei
denen zugleich auf die Pflichten gegen die übrigen Menschen Rücksicht
genommen wird, sowie darauf, daß solche Berücksichtigung für meinen Zweck
der Selbsterhaltung notwendig ist. Der Gedanke, daß die eigenen Handlungen
nur dann zur Selbsterhaltung dienen, wenn sie die Pflichten gegen andere und
deren Rechte berücksichtigen, ist der Gedanke der goldenen Regel, auf den
Hobbes sich in De Cive III, 26 und IV, 23 beruft: „Quod tibi fieri non vis, alteri
ne feceris“. An der zuletzt genannten Stelle wird ausdrücklich gesagt:
„Jene Regel, an der jeder erkennen kann, ob das, was er tun wird, gegen das Natur-
gesetz ist oder nicht (vtrum id quod facturus sit, contra legem naturæ sit necne15),
nämlich, ‚Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu‘, wird
in beinah ebendiesen Worten von unserem Erlöser ausgesprochen, Math. VII 12:
___________
14
Vom Bürger II, 1 Anm.
15
De cive IV, 23 (p. 129).
Rationalität im Naturzustand 151
Alles also, von dem ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut auch ihr jenen
Menschen.“16
Hobbes hält also die negative und die positive Formel der goldenen Regel für
äquivalent, sie sind in Verbots- und Gebotsform bzw. in Form eines Gebots für
das Unterlassen und das Tun diejenige oberste Regel des Naturrechts, aus der
auch noch das Friedensgebot, das Gebot, das Recht auf alles aufzugeben und
das Gebot pacta sunt servanda, sowie die übrigen Naturgesetze abgeleitet
werden können. Für unseren Zweck ist es ausreichend, darauf hinzuweisen, daß
nur dann die recta ratio einen angebbaren Inhalt hat, wenn wir darunter das
Prinzip der Reziprozität der Handlungsberechtigung der Menschen im
Naturzustand verstehen, unter der einschränkenden Bedingung, daß auch die
Unterlassung von Handlungen gegenüber anderen, von denen ich wissen kann,
daß sie je meiner Selbsterhaltung schaden, wenn andere sie mir gegenüber
ausüben, nur insofern geboten werden kann, als die Unterlassung ihrerseits
meiner Selbsterhaltung dient und nur darum durch die goldene Regel geboten
werden kann. Auch dieses oberste Naturgesetz, das noch über dem ersten
anzusetzen ist, ist also bedingt durch das subjektive Recht der Selbsterhaltung.
Ebendeshalb ist die goldene Regel in ihrer negativen Formulierung für Kant
nicht nur kein Prinzip der ethischen Pflichten sowie der Pflichten gegen sich
selbst, sondern auch nicht als Rechtsprinzip geeignet. Für Hobbes aber ist die
recta ratio nur dann dasjenige, auf dem das subjektive Recht der Menschen und
zugleich die naturgesetzliche Einschränkung dieser Freiheit beruhen, wenn als
ihr Inhalt die goldene Regel gedacht wird.
___________
16
Vom Bürger IV, 23 (S. 122).