Christliche Spiritualität
lehren, lernen und leben
V&R unipress
Bonn University Press
Titelbild: Joachim Blauel – Bildnummer 591
Beckmann, Max (1884–1950): Große Gewitterlandschaft (Landschaft mit Holzfällern), 1932
München, Pinakothek der Moderne
Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH.
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Unterrichtszwecke. Printed in Germany.
Es scheint absurd, sich dieses Ziel zu setzen, müssen wir doch, wenn das
Wort »Gott« einen Sinn machen soll, davon ausgehen, dass er alle unsere
Möglichkeiten ihn zu denken sprengt. Aber dazu bekennt sich ausdrücklich
auch die Theologie; sie weiß, dass sie nicht »über« Gott reden kann, sondern
allenfalls unter ihm stehend von ihm, gebunden an das Wort der Schrift, über
das sie nicht verfügt, das sie allenfalls neu zum Sprechen bringen kann. Dass
ihr dies bewusst ist, spiegelt sich in dem strengen Regelwerk authentischer
theologischer Interpretation der Schrift, zu dem alle Teildisziplinen beizutra-
gen suchen – für Außenstehende nicht leicht einsehbar und auch im Inneren,
besonders für Studienanfänger, nicht gerade zugänglich, eher verwirrend.
Deshalb lohnt es sich, gelegentlich auf elementare Entwürfe zurückzugreifen,
wie das Ausbildungskonzept des Pariser Regularkanonikers Hugo von Sankt
Viktor (1096–1141). Sein Didascalicon de studio legendi beschreibt die Ele-
mentarstruktur theologischen Lernens in faszinierender Einfachheit als Ab-
folge von fünf Schritten: lectio – meditatio – oratio – operatio – contemplatio
(vgl. Didasc V,9; PL 176, 797A–798A).1
Die vorliegenden historischen und systematisch-theologischen Interpreta-
tionen dieses Werkes (vgl. Ernst 1987, S. 93–109; zum Gesamtwerk und so-
zialen Umfeld Hugos vgl. Berndt 1999, Chenu 1974) gestatten dem Prakti-
schen Theologen, Hugos Entwurf eher frei, im Beziehungsfeld gegenwärtiger
theologischer Didaktik zu kommentieren, d. h. ihn unmittelbar in unsere
Kontexte hineinsprechen zu lassen. Er macht es uns leicht, denn seine Spra-
che ist plastisch, dicht und alltagsnah. Er bringt seine Hörer in Kontakt mit
ihren Erfahrungen. Er polemisiert nicht, sondern zeigt wie ein guter Bergfüh-
rer, wo es lang geht und hört eher einen Satz zu früh auf als zu spät. Er drückt
uns eine Landkarte in die Hand und macht uns Mut, einfach loszugehen. Je
weiter wir vorankommen, umso mehr Abstand gewinnen wir freilich auch zu
der Route, die wir bisher verfolgt haben. Welche heimlichen Voraussetzun-
gen und verdeckten Ansprüche dominieren unsere Weise, Theologie zu leh-
ren und zu erlernen? Welchen Preis zahlen wir für das, was wir in den letzten
tausend Jahren beibehalten, was wir dazugelernt und was wir aus den Augen
verloren haben?
Geistes- und theologiegeschichtlich steht Hugo an einer Umbruchstelle:
Die Theologie wechselt aus dem Windschatten der großen Abteien (wie
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Cluny oder Citeaux) in das brodelnde Milieu der neuen Städte (etwa Bo-
logna, Paris, Oxford, Köln, Prag), aus den Händen der Mönchsorden (der Be-
nediktiner und Zisterzienser) in die der Kanoniker an den Domkirchen sowie
der neuen Stadtseelsorger: der Bettelorden. Hugos Hörer sind selbstverständ-
lich allesamt Kleriker oder Mönche; sie bringen schon eine gewisse geistliche
Bildung mit, aber kennen andererseits im Unterschied zu heute keinerlei
ernsthafte Alternativen zu ihrer christlich-abendländisch definierten Lebens-
welt.
Zugleich wirkt sein didaktisches Konzept (zum wissenschaftstheoreti-
schen und methodischen Konzept des Didascalicons vgl. Ernst 1987, S. 94,
Anm. 16) ausgesprochen modern: Neben dem Lehrstoff und seinem An-
spruch an die Dozenten erörtert er die Fragen und Einstellungen der Studie-
renden als wichtige Bedingungen fruchtbaren Lernens; so zählen für ihn zur
disciplina eines erfolgreichen Studiums »Bescheidenheit, eifriges Fragen, ru-
higes Umfeld, kritisches Prüfen, einfache Lebensführung und (man höre und
staune:) Auslandsaufenthalt« (Didasc III,13; PL 176, 773B; übernommen von
Bernhard von Chartres (+1130): Ernst 1987, S. 101, Anm. 76).
Zu den fünf Stichworten, mit denen Hugo seine Studenten anzuleiten
sucht, sei vorweg noch bemerkt, dass die beiden ersten und das letzte – also
lectio, meditatio, contemplatio – zu den Grundbegriffen schon der altkirchli-
chen spirituellen Praxis gehören und öfter in Hugos spirituellen Schriften
auftauchen (z. B. in: In Eccl Hom XIX; PL 175, 117A–118B; De Sacr IV; PL
176, 184C–185A), während die Fünferreihe, offenbar eine originelle Er-
weiterung der klassischen Trias durch Hugo, nur zweimal erscheint: am Ende
des Didascalicon und, sprachlich höchst prägnant, in der Kleinschrift De me-
ditatione.
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sondern als eine ganze Bibliothek. In ihr sind die Glaubenserfahrungen und
Lebensmuster vieler Generationen von Juden und Christen gespeichert, je-
doch nicht so, dass sie säuberlich nebeneinander stehen, sondern sie überla-
gern sich vielschichtig. Ihrer schriftlichen Fassung liegen vielfach mündliche
Tradierungen voraus, die immer wieder neuen Verhältnissen angepasst, d. h.
»umgeschrieben« werden mussten.
Die Visualisierung dieser Tiefenschichtung der Textstrukturen hilft zu
entdecken, was wir bei der Routine stillen Lesens biblischer Texte, besonders
wenn wir sie schon zu kennen meinen, leicht übersehen: die im Text ange-
legten Gegensätze und die dahinter steckenden strittigen Fragen, die er lösen,
bzw. die Praktiken, die er aufbrechen will.
Neben den Exegeten haben auch die Praktischen Theologen Wege entwi-
ckelt, vorschnelles Verstehen aufzuhalten, indem etwa im Predigtkurs der
Gruppe vorgeschlagen wird, den Perikopentext zunächst über das Gehör auf-
zunehmen (wie das ja auch im Gottesdienst geschieht) und sich in einem
ersten Gruppengespräch über die Höreindrücke auszutauschen. So wird das
Befremden über die unterschiedlichen Eindrücke der Teilnehmer zum Aus-
gangspunkt eines neuen, nun dringlich gewordenen Fragens nach der tat-
sächlichen Botschaft des Textes. Die biblischen Texte sind schließlich alle-
samt für das Vorlesen und Anhören durch die Gemeinde konzipiert; der Bi-
beltext ist nur eine Partitur, das Wort Gottes in der Gemeinde zu Gehör zu
bringen. Im Anhören sind wir entlastet vom Entziffern und Aufsammeln der
Buchstaben, die den Text festhalten; Ohr, Herz und Verstand werden in ande-
rer Weise gefordert als beim stillen Lesen, sich einen Reim zu machen auf
die Bilder, die er in unserm Innern weckt, aber auch auf die Irritationen, die
der Bibeltext auszulösen vermag, und die Lösungswege, die er andeutet (vgl.
Zerfass 1992, S. 79–97).
So oder so geht es darum, sich dessen bewusst zu werden, welch ein an-
spruchsvoller und riskanter Vorgang das Lesen darstellt, wie sehr wir beim
Lesen bereits »auslesen« und auch schon interpretieren, d. h. uns u. U. den
Weg zur Botschaft der Texte auch verstellen können (vgl. Zirker/Muth 1997).
Auf diesem Hintergrund wird plausibel, warum die mittelalterliche Herme-
neutik als zweiten Schritt einfordert:
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was uns angeht, uns aber noch nicht einleuchtet, was also für unsere Situation
aufbereitet, d. h. unseren Möglichkeiten zu verstehen, angepasst werden
muss.2
Von der Akribie und methodischen Kompetenz moderner Sprachanalyse
und ihrer Verwendung in der Exegese wäre Hugo fraglos hell begeistert, in-
klusive der linguistischen Verfahren, z. B. zur Analyse der »Sprechakte« der
öffentlichen wie der Alltagssprache, insbesondere ihrer unbewussten, sug-
gestiven und mitunter manipulativen Anteile. Auf solche Unter- und Ober-
töne der biblischen Texte ist freilich auch schon der Spürsinn der antiken und
mittelalterlichen Hermeneutik gestoßen und hat deshalb eine mehrstimmige
Ambition des Bibeltextes unterstellt: Sie rechnete mit einem konkreten histo-
rischen Aussagegehalt (»sensus historicus«), aber darüber hinaus mit einem
Doppel- und Hintersinn, wie er auch in den Worten unserer Alltagssprache
mitschwingt (etwa in Worten wie »Nacht, Tod, Licht, Stern, Weg«), sodass
sie noch mehr und anderes sagen können, als man zunächst hört (»sensus
allegoricus«, von allegorein = etwas anderes sagen), insbesondere aber, dass
sie die geheimnisvolle Macht haben können, Wünsche zu wecken, Verhal-
tensänderungen nahe zu legen (»sensus tropologicus«, von trepein = wen-
den), sodass wir damit rechnen müssen, dass auch scheinbar reine Aussage-
sätze verdeckte Handlungsimpulse transportieren können. (Didasc V,1–4; PL
176, 789B–793B. Die Terminologie schwankt und kann noch breiter ausge-
faltet werden, wenn z. B. auch mit einem sensus mysticus gerechnet wird;
vgl. Walter 2000.)
Was also der Arbeitsschritt »Meditation« bei Hugo von St. Viktor anzielt,
gehört bis heute zum Kerngeschäft der Theologie: In der reflexiven Ausei-
nandersetzung mit dem Text der »Heiligen« Schrift sind nicht nur die origi-
nären Aussagegehalte zu erfassen, sondern auch ihre enorme Wirkungsge-
schichte und ihre tiefe Verwurzelung in der Kulturgeschichte der Mensch-
heitsfamilie zu entdecken und als Verstehensbrücke zu nutzen, um das Wort
der Schrift in die Gegenwart zu holen, in seinem Anspruch auch hier und
jetzt ernst zu nehmen.
Und was macht ihr, fragt Hugo von St. Viktor, wenn ihr verstanden habt,
was der Text sagen will, woran er euch »er-innert«? Was macht ihr mit dem,
was er euch »ein-fallen« ließ?
Der klassische Vorschlag der christlichen Tradition empfiehlt, die Medi-
tation mit einer Phase der Kontemplation ausklingen zu lassen, sich die Zeit
zu nehmen für ein ehrfürchtiges Verkosten dessen, was man entdeckt hat.
Auch Hugo kennt und würdigt diesen Dreischritt (In Eccl Hom XIX; PL 175,
117A–118B; De Sacr IV; PL 176, 184C–185A). Aber er kennt offenbar auch
andere Stimmungslagen am Ende einer ernsthaften Auseinandersetzung mit
dem Text, nämlich Erschöpfung, Ratlosigkeit, Enttäuschung, eine gewisse
Resignation. So schlägt er im Didascalicon noch zwei weitere Zwi-
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schenschritte vor. Sie laden auf eigentümliche Weise dazu ein, auf Abstand
zum Text zu gehen.
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unserem Tun und Lassen, also inmitten unserer Alltagsarbeit – als ein begeg-
nender, uns ansprechender »Vater«, der sich von unseren Pannen und Fehl-
starts nicht irritieren lässt, sondern uns immer neu einlädt, an dem mitzuwir-
ken, was er vor und für uns in Gang gebracht hat und uns jetzt zuspielt.
Das Vertrauen auf dieses unbeirrbare Entgegenkommen Gottes inmitten
unserer Alltagsmühe und »Bedrängnis« ist auch für die Bibel nicht selbstver-
ständlich, sondern erwacht erst spät, in der tiefsten Krise Israels. Im definiti-
ven Zusammenbruch seiner Königsdynastie, im Desaster des Babylonischen
Exils vernimmt Israel erstmals die Frohe Botschaft: »Gott ist dein König! ...
Sanft wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, sein Volk in die Freiheit«
(Jes 40,9ff; vgl. Zerfass 1999; 1994).
Dieses befreiende »Entgegenkommen« Gottes – ungeachtet unserer
Schuldgeschichte – rückt Jesus in die Mitte seiner Frohbotschaft. Unermüd-
lich umschreibt er in seinen Gleichnissen, wie sich »Gottes Herrschaft und
Reich« unter unseren Alltagsbedingungen manifestiert, aber auch, wie sich in
seinem eigenen Leben und Sterben zeigt, dass dieser Vorgang an die Bereit-
schaft zum Gewaltverzicht gebunden ist. Seine Jünger sollen, wie er, auf die
Menschen zugehen: »ohne Brot, ohne Vorratstasche, ohne Geld im Gurt,
ohne zweites Hemd« (Mk 6,8). Dann erfahren sie, was Paulus bekennt: »Das
Schwache an Gott ist stärker als die Menschen« (1 Kor 1,25) und »Wenn ich
schwach bin, dann bin ich stark« (2 Kor 12,10).
Erst als unsere Kirche die verführerische Einladung des Römischen Kai-
sers, den christlichen Glauben zur Staatsreligion zu erheben, annahm und
sich von ihm mit allen Privilegien und Machtsymbolen der staatlichen Be-
amten ausstaffieren ließ (den Steuereinnahmen, den Statussymbolen und
Herrschaftsansprüchen), kam sie und die in diesem Ungeist christianisierte
Welt immer neu ins Schleudern (vgl. Moltmann 1995, S. 150–217) – bis in
den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts das »Ende der konstantinischen
Epoche« anbrach (vgl. Chenu 1964). Erst wenn wir in unserem Handeln als
einzelne wie als Volk Gottes, von der sog. Hierarchie bis in die Gemeinden
herunter, zum Verzicht auf jede, auch die sog. »sanfte« Gewalt – die mieseste
Form von Machtmissbrauch – zu verzichten lernen, werden wir fähig, das
»Entgegenkommen Gottes« wahrzunehmen, die Eigenart seiner »Herrschaft«
und seines »Reiches« zu erfassen und uns ihr anzuvertrauen
In diesem vierten Schritt geht es also um weit mehr als um das Testen der
Praxisrelevanz dessen, was wir in der Bibel gerade gelesen haben und um
dessen »erfolgreiche« Anwendung auf unsere Verhältnisse. »Erfolg ist keiner
der Namen Gottes« (M. Buber). Wohin der Schritt vom Lesen zum Tun führt,
ist nicht kalkulierbar, kann nicht vorweg abgeschätzt werden. Er verträgt
auch keinerlei Bedingungen oder Vorbehalte. »Der Nächste ist nicht der, den
ich mag, es ist jener, der mir nahe kommt – ohne Ausnahme« (E. Stein). In
ihm kommt mir Gott entgegen. Dadurch gewinnt nicht nur unser Handeln an
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Volumen, sondern auch unser Vermögen, Gott zu denken: »Wer die Wahr-
heit tut, kommt ans Licht« (Joh 3,21).
Hugo weiß, wovon er da redet und was seine Hörer oder Leser an dieser
Stelle zurückschrecken lässt. Darum sagt er kurz und bündig, worauf es jetzt
ankommt:
»Der Weg zum Leben ist das Tun des Guten. Wer ihn betritt, findet das
Leben. Habe Courage und sei ein Mann! Denn der Weg lohnt. Sooft wir,
von Anstrengung erschöpft, angeleuchtet werden vom Wohlwollen Got-
tes, können wir schmecken und sehen, dass der Herr gut ist (Ps 34,9)«5.
Deshalb ist die Schrift kein Lesebuch, sondern »ein Buch des Lebens«. Sie
erschließt uns den Alltag und seine Arbeit als Ort der Gotteserfahrung.
Darum kann Hugo sagen: »Operatio componit (veritatem)« (vgl. Ernst
1987, 103.286), d. h. unser Tun bündelt den Wahrheitsgehalt dessen, was wir
gelesen haben, richtet ihn zu und bringt so zusammen, was himmelweit aus-
einander zu liegen scheint: unsere Alltagsarbeit und das Offenbarwerden der
»Herrschaft Gottes«. Diese beglückende Erfahrung, mit Gott zu »kooperie-
ren«, betrachtet Hugo deshalb nicht nur als Geschenk, sondern auch als meri-
tum, d. h. als etwas, das zwar von Gott ermöglicht, aber zugleich von uns
Menschen gewirkt wird und deshalb auch als unser Werk und »Verdienst«
gelten darf. Denn es verdankt sich auch unserem Mut, mit dem, was wir als
Gottes Weisung in uns aufgenommen haben, in unserem konkreten Umfeld
zu experimentieren. Nur weil wir das Buch aus der Hand gelegt und uns dem
Alltag zu stellen bereit waren, konnten wir neue Erfahrungen des Entgegen-
kommens Gottes »machen« (vgl. ebd., S. 108, Anm. 117), um so »zusammen
mit allen Heiligen die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und
die Liebe Christi zu verstehen, die alles Erkennen übersteigt« (Eph 3,18).
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ist: Gott – »Alles und in Allem« (1 Kor 12,6). Daher jetzt die große Stille der
Sabbatruhe: reine Freude und reines Glück: contemplatio exultat. Was ich
gelesen habe, hat sich in meiner Existenz als wahr erwiesen. Was das »Ent-
gegenkommen Gottes«, sein »Reich« und seine »Herrschaft« vermag, hat
sich mir »gezeigt«. Darum ist diese Erfahrung tiefer Stimmigkeit auch schon
ein Vorgriff auf die eigene Zukunft, die »Vollendung« des Glaubens (Ernst
1987, S. 103.286; weitere Charakterisierungen des Unterschieds zwischen
Meditation und Kontemplation in: Didasc V,10; PL 176, 798A–D).
Man kann, was Hugo von St. Viktor seinen Studenten zu sagen hat, nicht
knapper zusammenfassen, als er selber dies tut:
»Dazu, dass wir die Wahrheit erfassen, liefert das Lesen den Stoff, die
Meditation arbeitet ihn auf, das Gebet hebt die Wahrheit Gott entgegen,
das Handeln bündelt sie, die Kontemplation geht beglückt in ihr auf«6.
Gewiss würde Hugo auch andere Querverbindungen und Abkürzungen für
möglich halten – etwa den Schritt aus der Lektüre unmittelbar ins Gebet, oder
aus dem Gebet in die Kontemplation. Gott hat mehr Wege, uns zu erreichen,
als uns Routen einfallen, ihn zu suchen. Hugo gibt eine Anleitung für Anfän-
ger und ist bemüht, die Schwellen niedrig zu halten. Er zeigt ihnen einen
Weg, der sich bewährt hat.
Originell und reizvoll ist seine Wegskizze vor allem wegen des lebhaften
Wechsels der Perspektiven und der Gangart, die er anschlägt. Es wird bei ihm
nie langweilig. Er appelliert nirgends an unser Gewissen, er »predigt« nicht. Er
lockt, und man spürt: Er spricht aus eigener Erfahrung, weiß, wo es lang geht.
Was wäre ihm zu dem Studienkonzept eingefallen, das in den siebziger
Jahren mit der Unterscheidung von vier theologischen Fächergruppen und
ihrer spezifischen Methodologie (und zwar in Forschung und Lehre) für den
Diplomstudiengang entwickelt wurde? Seine beiden ersten Stufen hätte er
darin gewiss wiedererkannt. Aber dass wir uns damit zufrieden geben konn-
ten und – um der »Sauberkeit« der Wissenschaft willen – bereit waren, Hu-
gos übrige Schritte kurzerhand an die Priesterseminare und Hochschulge-
meinden, an Exerzitienhäuser und Selbsterfahrungsgruppen abzutreten, hätte
er nicht akzeptiert.
Diese faktische Abkoppelung der Spiritualität, d. h. des Ranges geistlicher
Erfahrung aus dem Projekt, Gott denken zu lernen, ist uns denn auch nicht
gut bekommen – weder den Studenten noch ihren Lehrern. Es hat die Res-
sentiments der »Frommen« geschürt und ihre heimliche Abwanderung aus
dem theologischen Diskurs in konservative Rückzugsinseln befördert, aber es
hat auch eine konstruktive Kritik des blinden Flecks im Auge der theologi-
schen Avantgarde geschwächt.
Der Wind hat sich inzwischen gedreht. Eine neue Bereitschaft ist gewach-
sen, die Bedeutung der Spiritualität für die Reflexionsfähigkeit der Theologie
anzuerkennen und auch zur Geltung zu bringen. Dennoch müssen wir ein-
räumen, einen Kairos verpasst zu haben. Die Streichung von Lehrstühlen an-
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redet. Du redest draußen, aber lässt mich innen kalt (wörtlich: ›salbst
mich nicht‹). Deshalb weiß ich das wissenschaftliche Niveau deiner
Theologie zu schätzen. Aber weitaus kostbarer wird sie mir, wenn ich sie
in die Kontemplation hineinnehme. Denn auch das, was an deiner hohen
theologischen Bildung wertvoll ist, kommt nur zutage, wenn man sie in
die Kontemplation hineingenommen hat«7.
Anmerkungen
1 Auf diesen Text hat mich erstmals P. Willigis Jäger aufmerksam gemacht;
Hilfestellung bei der Verifizierung leisteten meine Würzburger Kollegen Stephan
Ernst und Wolfgang Weiß. Allen habe ich zu danken.
2 Lectio ad cognoscendam veritatem materiam ministrat, meditatio coaptat (De
Med; PL 176, 993C). Sie greift breiter aus als die Kontemplation (vgl. ebd. 994B–
997A); vgl. auch: In Eccl Hom XIX (PL 175, 117AB); vgl. Ernst 1987, S. 108,
Anm. 117.
3 Quomodo sint quae sciuntur quia sunt, et quomodo facienda sunt (De Med; PL
176, 994B).
4 Doctrina bona est, sed incipientium est. Tu vero te perfectum fore promiseras, et
ideo tibi non suffucit, si incipientibus coaequaris … Considera ergo ubi sis, et quid
agere debeas facile agnosces (Didasc V,8; PL 176, 796D).
5 Via est operatio bona, qua itur ad vitam. Qui viam hanc currit, vitam quaerit. Con-
fortare et viriliter age. Habet haec vita praemium suum, quoties eius laboribus fati-
gati superne respectus gratia illustramur, gustantes et videntes quoniam suavis est
Dominus (Didasc V,9; PL 176, 797C).
6 Primo lectio ad cognoscendam veritatem materiam ministrat, meditatio coaptat,
oratio sublevat, operatio componit, contemplatio in ipsa exsultat (De Med; PL 176,
993C).
7 Tu mihi das verbum. Quid autem est verbum sine intelligentia? Per verbum qui-
dem intelligentia venit. Sed ille intelligentiam in corde ponit, qui intus illuminat,
non qui foris sonat. Unctio eius docet nos de omnibus. Tu foris loqueris; sed intus
non ungis. Propterea amabilis mihi quidem est tua eruditio. Sed magis amabilis est
eius contemplatio; quia et hoc, quod in tua eruditione amabile est, nonnisi ex eius
contemplatione est (In Hier IX; PL 175, 1130B; vgl. Ernst 1987, S. 108, Anm.
118).
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Literatur
BERNDT, Rainer: Sankt Viktor, in: TRE 30 (1999), S. 42–46.
BITTER, Gottfried: Chancen und Grenzen einer Spiritualitätsdidaktik, in: Schreijäck,
Thomas (Hg.): Werkstatt Zukunft. Bildung und Theologie im Horizont
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CHENU, M. Dominique: Civilisation urbaine et théologie de Huge de Saint Victor au
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DERS.: La fin de l’ère constantinienne, in: Ders.: L’évangile dans les temps. Parole de
dieu II, Paris 1964, S. 639–645.
ERNST, Stefan: Gewissheit des Glaubens. Der Glaubenstraktat Hugos von St. Viktor
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MOLTMANN, Jürgen: Das Kommen Gottes, München 1995.
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WALTER, Peter: Schriftsinne, in: LThK 9 (2000), Sp. 268f.
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theologen (Hg.): Das Handeln der Kirche in der Welt von heute, München
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DERS.: Grundkurs Predigt 2, Düsseldorf 1992.
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ZIRKER, Hans/MUTH, Ludwig: Lesen/Lesekultur, in: LThK 6 (1997), Sp. 850f.
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