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Michael St.

Pierre
Gesine Hofinger
Cornelius Buerschaper

Notfallmanagement

Human Factors in der Akutmedizin


Michael St. Pierre
Gesine Hofinger
Cornelius Buerschaper

Notfallmanagement
Human Factors in der Akutmedizin

Mit 44 Abbildungen

13
Dr. Michael St.Pierre, DEAA
Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie
Universitätsklinikum Erlangen
Krankenhausstraße 12
91054 Erlangen

Dr. Gesine Hofinger


Hohenheimer Str. 104
71686 Remseck

Cornelius Buerschaper
Wöhlertstr. 12
10115 Berlin

ISBN 3-540-23456-X
Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Umschlagmotiv: Prof. Dr. Holger Rupprecht, Fürth (rechtes Motiv), Dr. Marcus Schmid, Erlangen (linkes Motiv)

SPIN 10920886
Satz: Stürtz GmbH, Würzburg
Druck: Krips, Meppel

Gedruckt auf säurefreiem Papier 22/2122 – 5 4 3 2 1 0


V

Vorwort

Es gehört zum Wesen der Akutmedizin, dass Routinetätigkeiten immer wieder von kritischen
Situationen unterbrochen werden, die rasches Entscheiden und überlegtes Handeln erfordern.
Die erfolgreiche Bewältigung dieser »moments of terror« gehört zu den herausforderndsten
Situationen des klinischen Alltags.
Bisher beschränken sich Bücher über Notfallmanagement auf medizinische Algorithmen und
erprobte Behandlungsschemata; sie sagen dem Leser, was er tun soll, helfen ihm aber nicht
dabei, wie dieses komplexe Behandlungsgeschehen organisiert werden soll. Damit Patienten
jedoch sicher behandelt werden können, ist mehr als fachliche Kompetenz nötig: Es gilt, Fach-
wissen unter unsicheren Bedingungen, unter Zeitdruck und mit wechselnden Mitarbeitern in
eine gute Patientenversorgung »zu übersetzen«.
Das vorliegende Buch befasst sich mit dieser »anderen Seite« des Notfallmanagements. Hier
geht es um die Fähigkeiten, die Akutmediziner brauchen, um kritische Situationen effektiv zu
bewältigen: Um das Erkennen von kritischen Situationen und ihren Anforderungen, um das
Erstellen einer Handlungsstrategie, um Stressmanagement, um gelungene Kommunikation im
Team und um effiziente Führung. Deshalb sprechen wir auch von »Notfallmanagement« und
nicht einfach von »Notfallbehandlung«.
Die folgenden Kapitel erschöpfen sich jedoch nicht in der reinen Hilfestellung für Zwischen-
fälle und Notfallsituationen. Sie möchten vielmehr dem Leser zu einem grundlegenden Ver-
ständnis derjenigen Faktoren verhelfen, die menschliches Handeln maßgeblich bestimmen.
Deshalb geht es auch um die Quellen von Fehlern: Fehler in der Medizin, insbesondere im
Notfallmanagement, sind keine »Ausrutscher«, sondern haben – neben fehlendem fach-
lichem Wissen – immer systematische Ursachen. Diese liegen in der Natur des Menschen,
in der Zusammenarbeit im Team und in der Organisation unseres Gesundheitswesens. Alle
diese Faktoren zusammen – auf der Ebene der Einzelperson, des Teams und der Organisation
– bezeichnet man als »menschliche Faktoren« (Human Factors).
Ein Buch zum Thema »Human Factors« weckt in der Medizin unterschiedliche Erwartungen.
Wir haben uns beim Schreiben davon leiten lassen, was der praktisch tätige Akutmediziner
an wissenschaftlichen Erkenntnissen und umsetzbaren Tipps wissen sollte. Der Fokus liegt
auf dem Handeln in kritischen Situationen und dem Umgang mit komplexen Problemen. Die
Themenauswahl verfolgt die Intention, Akutmediziner dabei zu unterstützen
4 die Anforderungen in kritischen Situationen besser zu erkennen,
4 die Entstehung von Fehlern zu verstehen,
4 ihr Handeln zu verändern und Fehler zu vermeiden.

Dieses Buch ist nicht als ein umfassendes Lehrbuch zu Human Factors gedacht, sondern als
Einführung in die Psychologie der Human-Factors für die Akutmedizin.
Unter »Akutmedizin« verstehen wir diejenigen nicht-rehabilitativen Bereiche der Medizin,
in denen Ärzte und Pflegekräfte regelmäßig akut mit Situationen konfrontiert werden, in
denen ihre Entscheidungen und ihr Handeln unmittelbar über das Leben und Wohlergehen
der Patienten bestimmen. Aufgrund des Erfahrungshorizontes der Autoren ist dieses Buch in
erster Linie für Ärztinnen und Ärzte geschrieben. Da Akutmedizin jedoch ein Teamgeschehen
ist, bei dem die Ärzteschaft nur einen Teil darstellt, haben wir beim Schreiben immer auch
die Pflegekräfte und das Rettungsdienstpersonal vor Augen gehabt. Somit richtet sich dieses
Buch vornehmlich an Anästhesisten, Intensivmediziner (Chirurgen, Internisten, Pädiater) und
Notärzte sowie an das Rettungs- und Pflegepersonal dieser Bereiche.
VI

Aufbau und Überblick


Das B uch spannt in vier Teilen den Bogen von »Grundlagen« über »individuelle Faktoren«
und »Human Factors im Team« bis hin zu »Sicherheit und Fehler in Organisationen«. Das gan-
ze Buch kann als durchgängiger Text gelesen werden. Andererseits bildet jedes Kapitel einen
abgeschlossenen Text. Durch diesen modularen Aufbau können einzelne Themen auch ohne
Kenntnis der anderen Kapitel gelesen werden. Querverweise und ein ausführliches Stichwort-
verzeichnis erleichtern das »Stöbern« in den einzelnen Kapiteln.
Der Aufbau der einzelnen Kapitel folgt der gleichen Ordnung, mit unterschiedlicher Gewich-
tung der einzelnen Teile: Jedes Kapitel beginnt mit einem Fallbeispiel, an dem wesentliche
Merkmale des Themas exemplarisch dargestellt werden. Durch alle Kapitel ziehen sich als
roter Faden die Fragen: »Was versteht man darunter? Welche Probleme entstehen dadurch?
Wie kann man damit besser gehen?«. In den Kapiteln über individuelle Faktoren und Teams
(Kap. 5–13) folgen dann Tipps für die Praxis, und in allen Kapiteln finden sich am Ende unter
Auf einen Blick nochmals die Kernpunkte als Zusammenfassung.
4 Der erste Teil, Grundlagen, zeigt den Stellenwert von Human Factors in der Akutmedizin
auf. Daten aus weltweiten Studien zu Unfällen und Zwischenfällen belegen die Häufigkeit
und auch die Vermeidbarkeit von Fehlern in der Akutmedizin. Die Anforderungen der
Akutmedizin als komplexes Arbeitsfeld, in dem Fehler wahrscheinlich sind, werden an-
schließend beschrieben. Wir gehen außerdem der Frage nach, was Fehler eigentlich sind,
und skizzieren abschließend die Psychologie menschlichen Handelns, um das Zustande-
kommen von Entscheidungen verstehbar zu machen.
4 Der Aufbau des zweiten Teils, individuelle Faktoren des Handelns, folgt der Struktur
des Handelns als Problemlöseprozess. Thematisiert werden die Beeinträchtigungen und
Einschränkungen des Entscheidens durch die psychischen Prozesse des Denkens und
Handelns. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit Wahrnehmung, Informationsverarbei-
tung, Zielbildung und Planen, Aufmerksamkeit und Stress. Im Abschlusskapitel geht es um
das Ziel allen akutmedizinischen Handelns, um gute Entscheidungen.
4 Der dritte Teil befasst sich mit den Human Factors im Team als einer wesentlichen Quelle für
gutes und schlechtes Entscheiden. Leitfragen sind: Welche Anforderungen an Teams werden
in der Akutmedizin gestellt? Was sind typische Einflussfaktoren von Gruppen auf Fehler?
Was zeichnet gute Kommunikation in kritischen Situationen aus? Welche typischen Feh-
ler in der Kommunikation gibt es? Welchen Einfluss hat Führung auf die Bewältigung von
Notfällen? Was zeichnet gute Führung aus, welche Führungsprobleme gibt es in kritischen
Situationen?
4 Der vierte Teil, Fehler und Sicherheit in Organisationen, stellt organisationspsychologische
Zusammenhänge her zwischen Personen, Strukturen und Prozessen als Quelle von Fehlern
und Sicherheit. Theoriegeleitet gehen wir von der Unvermeidbarkeit von Fehlern in Organi-
sationen aus, zeigen aber Möglichkeiten der Fehlervermeidung und Fehlerbewältigung und
beschreiben Bedingungen und Instrumente einer sicheren Akutmedizin.

Jedes Buch braucht einen Nährboden. Dieses hier entstand aus der mehrjährigen Zusam-
menarbeit eines in der ärztlichen Ausbildung am Simulator tätigen Anästhesisten, zugleich
Intensivmediziner und Notarzt (M. St.Pierre) mit zwei wissenschaftlich und beratend tätigen
Psychologen (G. Hofinger, C. Buerschaper), die sich mit den Schwerpunkten »Handeln in kri-
tischen Situationen«, Problemlösen, Fehler und Fehlermanagement auseinandersetzen. Jeder
von uns hat sich intensiv mit der Arbeitswelt und der Denkweise des jeweils Anderen ausein-
andergesetzt, so dass unser Hintergrund beim Schreiben tatsächlich Praxis und Wissenschaft
bzw. Wissenschaft und Praxis sein konnte.
VII

Da uns die Anwendbarkeit der Inhalte sehr wichtig gewesen ist, haben wir versucht, die wis-
senschaftlichen Theorien und Erkenntnisse in alltagsnaher Sprache zu formulieren. Literatur
über Quellenangaben zu den verwendeten Daten und Konzepten hinaus wurde im Sinne der
Lesbarkeit bewusst sparsam zitiert. Darüber hinaus beginnt jedes Kapitel mit einem Fall-
beispiel, auf das wir im folgenden Text immer wieder Bezug genommen haben. So hoffen wir,
dass wir auch schwierigere Themen »auf den Boden« des akutmedizinischen Alltags holen
konnten.
Wir haben alle Kapitel als Autorenteam geschrieben und verantworten entsprechend alle Feh-
ler gemeinsam. Für uns war das Verfassen dieses Buches eine spannende Zeit, in der wir immer
wieder von der Verschiedenheit profitieren konnten, mit der sich Mediziner und Psychologen
den gleichen Fragen nähern. Wir hoffen, dass unsere Leserinnen und Leser davon profitieren.
Über Anregungen würden wir uns sehr freuen, ebenso wie wir für Hinweise auf Fehler dank-
bar sind.

Danksagung
Wir danken Professor Dietrich Dörner für viele Jahre der Zusammenarbeit und für sein Vor-
bild bei der Übersetzung der Psychologie in eine für Nicht-Psychologen verständliche Sprache.
Wir danken den ehemaligen Kollegen des Bamberger Instituts für Ideen, Literatur und Freund-
schaft und dem Wissenschaftskolleg in Berlin für ein wunderbares Jahr der Freiräume. Wir
danken Professor Jürgen Schüttler für die persönliche Unterstützung und sein Engagement in
der Verbreitung der Patientensimulation und des Notfallmanagements. Viele Kolleginnen und
Kollegen haben durch ihre kritische Durchsicht des Manuskripts maßgeblich zur Praxisnähe
und Lesbarkeit beigetragen; ihnen sei an dieser Stelle dafür gedankt. Unser Dank gilt auch Frau
Hartmann vom Springer-Verlag, die sich für dieses Buch eingesetzt hat und uns zwei Jahre lang
wohlwollend begleitet hat.
Auch unsere Familien haben erheblich zum Erfolg unserer Arbeit beigetragen: Dank dafür also
an Ulrike St.Pierre, Michael Brenner und Antje Rehwaldt sowie an sieben geduldige Kinder.

Erlangen, Remseck und Berlin im November 2004


IX

Inhaltsverzeichnis

I Grundlagen: Fehler, Komplexität


und menschliches Handeln
1 Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 Notfallmanagement und kritische Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Human Factors: Einflussfaktoren und Fehler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3 Fehler in der Akutmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.4 Human Factors: Sicheres Handeln überwiegt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.5 Human Factors – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2 Herausforderung Akutmedizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.1 Komplexität und menschliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.2 Fertigkeiten – Regeln – Wissen:
Handlungsformen in kritischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.3 Komplexität – Auf einen Blick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3 Fehler und Fehlerursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23


3.1 Was ist ein Felher?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.2 Klassifikation von Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.3 Fehlerketten, Zwischenfälle und Unfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.4 Fehler – Auf einen Blick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

4 Die Psychologie menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31


4.1 Die »Psycho-Logik« von Denken, Wollen und Fühlen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
4.2 Grundlagen menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
4.3 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4.4 Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4.5 Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
4.6 Sicherheitsgefährdende Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
4.7 Grundlagen des Handelns – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

II Individuelle Faktoren des Handelns


5 Menschliche Wahrnehmung: Die Sicht der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
5.1 Vom Reiz zum Neuron: Sinnesphysiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5.2 Gestalten und Muster: Organisation der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5.3 Erkennen und Bedeutung schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
5.4 Wahrnehmung und Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
X

5.5 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53


5.6 Wahrnehmung – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

6 Informationsverarbeitung und Modellbildung: Weltbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57


6.1 Organisation des Wissens: Schemata und mentale Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
6.2 Sind wir denkfaul und uneinsichtig?
Ökonomie, Kompetenz und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
6.3 Wunsch und Wirklichkeit: Informationsverzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
6.4 Trugbilder: Inadäquate mentale Modelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
6.5 Was ist wahrscheinlich? Der Umgang mit unsicherer Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
6.6 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
6.7 Informationsverarbeitung und Modellbildung – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

7 Ziele und Pläne: Weichenstellung für den Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69


7.1 Zielbildung und Zielklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
7.2 Planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
7.3 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
7.4 Ziele und Pläne – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

8 Aufmerksamkeit: Im Fokus des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79


8.1 Steuerung des Handelns:
Aufmerksamkeit, Vigilanz und Konzentration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
8.2 Offen für Neues: Hintergrundkontrolle und Erwartungshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
8.3 Störungen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
8.4 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
8.5 Aufmerksamkeit – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

9 Stress: Ärzte unter Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89


9.1 Was ist Stress?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
9.2 Formen der Stressbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
9.3 Vom Stress überwältigt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
9.4 Umgang mit Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
9.5 Beitrag der Organisation zur Stressreduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
9.6 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
9.7 Stress – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

10 Handlungsstrategien: Wege zur guten Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101


10.1 Strategien guten Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
10.2 Strategien im Umgang mit Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
10.3 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10.4 Handlungsstrategien – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
XI

III Human Factors im Team


11 Teamarbeit: Der Schlüssel zum Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
11.1 Kennzeichen von Teams und Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
11.2 Teams und Teamarbeit in der Akutmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
11.3 Probleme und Fehler in der Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
11.4 Kennzeichen guter Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
11.5 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
11.6 Teamarbeit – Auf einen Blick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

12 Kommunikation: Reden ist Gold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125


12.1 Das Chaos gestalten: Funktionen von Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
12.2 Kommunikation verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
12.3 Allgemeine Kommunikationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
12.4 Schlechte Kommunikation in kritischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
12.5 Gute Kommunikation in kritischen Situationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
12.6 Kommunikation nach kritischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
12.7 Kommunikation – Auf einen Blick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

13 Führung: Dem Team Richtung geben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143


13.1 Ein-Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
13.2 Führungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
13.3 Führungsprobleme in kritischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
13.4 Situative Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
13.5 Tipps für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
13.6 Führung – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

IV Fehler und Sicherheit in Organisationen


14 Organisation und Fehler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
14.1 Organisation als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
14.2 Organisationale Fehlertheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
14.3 Organisationale Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
14.4 Organisation und Fehler – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

15 Zuverlässige Akutmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167


15.1 Unternehmensziel Patientensicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
15.2 Fehlervermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
15.3 Fehlerbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
15.4 Die Akutmedizin der Zukunft denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
15.5 Zuverlässige Akutmedizin – Auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
I

I Grundlagen:
Fehler, Komplexität und
menschliches Handeln
1 Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

2 Herausforderung Akutmedizin

3 Fehler und Fehlerursachen

4 Die Psychologie menschlichen Handelns


1

Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

1.1 Notfallmanagement und kritische Situationen —4

1.2 Human Factors: Einflussfaktoren und Fehler —6


1.2.1 Human Factors: Das Individuum —7
1.2.2 Human Factors: Das Team —7
1.2.3 Human Factors: Fehler in der Organisation —7
1.2.4 Human Factors: Das System Gesundheitswesen —8

1.3 Fehler in der Akutmedizin —9


1.3.1 Fehler in der präklinischen Notfallmedizin —10
1.3.2 Fehler in der Notaufnahme und im Schockraum —10
1.3.3 Fehler auf der Intensivstation —10
1.3.4 Fehler in der anästhesiologischen Patientenversorgung —11

1.4 Human Factors: Sicheres Handeln überwiegt —12

1.5 Human Factors – Auf einen Blick —12

Literatur —13
4 Kapitel 1 · Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

) ) Fallbeispiel zunächst, den Patienten hämodynamisch zu stabili-


1 sieren. Auch die Bronchospastik bessert sich im Ver-
Auf einer kardiologischen Intensivstation werden lauf der nächsten 20 Minuten. Es entwickelt sich eine
an einem Nachmittag kurz hintereinander zwei schwere disseminierte intravasale Gerinnungsstö-
kreislaufinstabile Patienten mit Myokardinfarkt auf- rung (DIC) und ein akutes Nierenversagen. Aufgrund
genommen. Der allein diensthabende Assistenz- der DIC kommt es zu einer nicht mehr kontrollier-
arzt kann sich wegen der Arbeitsbelastung durch baren Blutung in dem oberen Gastrointestinaltrakt.
diese beiden Patienten nicht persönlich um einen Trotz des massiven Einsatzes von Gerinnungspro-
stationären Patienten unter Marcumar-Dauerthe- dukten verstirbt der Patient wenige Stunden später
rapie kümmern, der wiederholt kaffeesatzartig er- an den Folgen dieser Gerinnungsstörung.
brochen hatte. Bevor eine geplante Gastroskopie
durchgeführt werden kann, wird der Patient in- Ein Intensivpatient wird durch einen ärztlichen
nerhalb kurzer Zeit hämodynamisch instabil. Eine Behandlungsfehler geschädigt und verstirbt trotz
Hb-Kontrolle ergibt einen Wert von 6,9 mg%. Unter maximaler Intensivtherapie an den Folgen dieses
dem Verdacht einer akuten gastrointestinalen Blu- Fehlers. Obwohl der kardiologische Assistenzarzt
tung werden mehrere iv-Zugänge gelegt und eine die Fehltransfusion zu verantworten hat, haben an
forcierte Volumentherapie begonnen. Es werden diesem Tag eine ganze Reihe von Faktoren das Zu-
6 blutgruppengleiche Erythrozytenkonzentrate in standekommen des Behandlungsfehlers begünstigt:
der Blutbank bestellt. Die zeitgleiche Beanspruchung der Aufmerksamkeit
In der Blutbank herrscht an diesem Tag Personal- durch mehrere kritisch kranke Patienten, die hohe
mangel, zudem gibt es ungewöhnlich viele Not- Arbeitsbelastung durch den Dienst ohne Kollegen,
fallanforderungen durch andere Abteilungen an die Fehlausgabe von Erythrozytenkonzentraten
die Blutbank. Die angeforderten Erythrozyten- durch die Blutbank, die schlechte Ausführung einer
konzentrate werden versehentlich zusammen mit Standard-Kontrollprozedur und die Abwesenheit
2 Erythrozytenkonzentraten für einen anderen jeglicher Kontrolle des ärztlichen Handelns durch
Patienten an die Intensivstation ausgegeben. Die Mitarbeiter der Intensivstation.
Blutprodukte kommen zu einem Zeitpunkt auf Für sich genommen hätte keiner dieser Fakto-
Station, an dem einer der neu aufgenommenen ren den Patienten unmittelbar bedroht. In ihrer Ge-
Patienten die Aufmerksamkeit des Assistenzarztes samtheit bildeten sie eine Konstellation, in der eine
vollständig beansprucht. Er bittet daher die Pflege- einzige weitere Fehlhandlung unbemerkt bleibt und
kraft nach einem flüchtigen Blick auf die Erythrozy- eine kritische Situation mit tödlichem Ausgang her-
tenkonzentrate, diese dem Patienten anzuhängen. beiführt.
Bereits wenige Minuten nach der Blutsubstitution Handlungsfehler wie in diesem Beispiel stellen
verschlechtert sich der Patient hämodynamisch eine Seite der Medaille »Faktor Mensch« dar. Die an-
weiter und klagt über zunehmende Atemnot und dere Seite der Medaille besteht in der Tatsache, dass
Schwindel. auch für die rasche Diagnose und das erfolgreiche
Erst zu diesem Zeitpunkt kümmert sich der Assis- Notfallmanagement der schweren Transfusionsreak-
tenzarzt um diesen Patienten intensiv. Aufgrund der tion Menschen verantwortlich sind. Menschliches
deutlich sichtbaren Hautreaktion deutet er die klini- Handeln kann auch in plötzlich und unerwartet
sche Symptomkonstellation sofort als anaphylakti- auftretenden Situationen trotz mangelnder Infor-
sche Reaktion. Aufgrund eines Hinweises, den eine mationen und Zeitdruck erfolgreich sein.
Pflegekraft gibt, entdeckt er die Fehltransfusion und
beendet die Zufuhr von Fremdblut sofort. Er leitet 1.1 Notfallmanagement
eine Notfallnarkose ein und intubiert den Patienten. und kritische Situationen
Die kontrollierte Beatmung wird durch eine aus-
geprägte Bronchospastik erschwert. Mit Hilfe von Die schwere Transfusionsreaktion ist exemplarisch
hoch dosierten Katecholaminen, einer aggressiven für Notfallsituationen in der Akutmedizin: Anders
Volumentherapie und der Gabe von Kortison und als in weiten Bereichen der klinischen Medizin be-
Histaminantagonisten gelingt es dem Assistenzarzt stimmen oft situative Umstände die Dynamik ärzt-
1.1 · Notfallmanagement und kritische Situationen
5 1

RH RH RH KS RH RH

. Abb. 1.1. Kritische Situationen in der Akutmedizin (mod. nach Badke-Schaub 2002): Routinehandlungen (RH) werden von
einer kritischen Situation (KS) unterbrochen. Erfolgreiches Notfallmanagement bewirkt, dass Handeln früher (A) oder später (B)
wieder in Routinehandeln mündet. Manche Entscheidungen bringen den Patienten jedoch auf einen ganz anderen Behand-
lungsweg (C). Menschliches Entscheiden bestimmt den weiteren Fortgang einer kritischen Situation, unabhängig davon, wie
diese entstanden ist

lichen Handelns. Die kurzfristige Unachtsamkeit 4 unter Zeitdruck gute Entscheidungen zu tref-
des Assistenzarztes wird innerhalb kurzer Zeit zu fen.
einer vitalen Bedrohung für den Patienten. 4 alle verfügbaren Ressourcen zu kennen und die-
Wenig später muss der Assistenzarzt bei dem se einzusetzen.
gleichen Patienten eine Notfallsituation unter Zeit- 4 ein Team führen zu können.
druck und mit wenig Informationen erfolgreich be- 4 die eigenen Schwachpunkte zu kennen und sich
wältigen. Diese Fähigkeit gehört zur Kernkompetenz von anderen helfen zu lassen.
in der Akutmedizin. Diese Kompetenz geht dabei
weit über den Besitz soliden fachlichen Wissens und Notfälle sind häufig dramatisch und scheinen
Könnens (die »technischen Fähigkeiten«) hinaus. mit dem Alltag unvergleichbar. Tatsächlich sind
Gutes Notfallmanagement stellt Anforderungen Notfälle aber nur eine besondere Form von Ent-
an die »nicht-technischen Fähigkeiten« (Flin et al. scheidungssituationen: Es sind Situationen, in denen
2003) wie beispielsweise... menschliches Denken, Entscheiden und Handeln
4 sich durch äußere Umstände nicht unter Druck den weiteren Verlauf der Situation entscheidend be-
bringen zu lassen. einflussen. Solche Situationen heißen wegen dieser
4 wesentliche Merkmale einer Notfallsituation Weichenstellung zum Guten oder Schlechten »kriti-
schnell erfassen zu können. sche Situationen« (Badke-Schaub 2002).
4 Veränderungen der Situationen zu erkennen Für die Handelnden ist es unerheblich, ob der
und sich darauf einstellen zu können. Auslöser einer kritischen Situation eine externe
4 außerhalb eingefahrener Gleise denken zu kön- Ursache (Polytraumatisierung, Ausfall eines Beat-
nen. mungsgerätes), eine plötzliche Erkrankung (Kam-
4 Prioritäten richtig setzen zu können. merflimmern, Lungenembolie, Schlaganfall) oder
6 Kapitel 1 · Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

wie im Beispiel der Fehltransfusion ein Behand- 4 welche psychologischen Mechanismen die Leis-
1 lungsfehler war. Ein größerer Notfall kann aus et- tungsfähigkeit menschlichen Denkens und Han-
lichen kritischen Situationen bestehen, die sich als delns in einer Notfallsituationen bestimmen.
einzelne Analyseeinheiten abgrenzen lassen: Ein Er- 4 wie Menschen trotz schwieriger Arbeitsbedin-
eignis unterbricht das Routinehandeln und verlangt gungen zu guten Entscheidungen gelangen.
eine Entscheidung. Nach erfolgreicher Bewältigung
mündet eine kritische Situation wieder in Routine- In der Human Factors-Forschung wird bei der
handeln (Badke-Schaub 2002; . Abb. 1.1). Analyse von Unfällen und Zwischenfällen überein-
In der Akutmedizin werden problematische stimmend festgestellt (Reason 1997), dass in min-
Situationen unter den Begriffen »Komplikation« destens 80% aller Fälle »menschliches Versagen«,
(List u. Osswald 2002) oder »Zwischenfall« (Gaba also Fehler, eine entscheidende Rolle spielen (z. B.
et al. 1998, Schüttler et al. 2002) thematisiert. Diese Cooper et al. 1978 für die Anästhesiologie; UK P&I
Konzepte stellen die Situation und nötige Bewälti- 1999 für die Schifffahrt; Kemmler 2000 für die Luft-
gungsschritte in den Vordergrund. In diesem Buch fahrt). Bei der Bewertung solcher Fehler und der
wird von kritischen Situationen gesprochen (zur Suche nach Sicherheit ist man von dem Gedanken
Verdeutlichung dramatischer Ereignisse auch von abgekommen, fehlerfreies Arbeiten mit Motivation,
Notfällen), da der Fokus des Buchs die Wirkung Kompetenz oder Erfahrung gleichzusetzen: Hand-
verschiedener Einflussfaktoren auf menschliches Ent- lungsfehler unterlaufen selbst dem erfahrensten und
scheiden ist. motiviertesten Menschen (Amalberti u. Mosneron-
Dupin 1997). Auch im vorliegenden Fall, mit der
1.2 Human Factors: Einflussfaktoren eindeutigen Fehlhandlung einer Fehltransfusion, ist
und Fehler es nur die scheinbar einfachste Lösung, den Assis-
tenzarzt als Verursacher des Handlungsfehlers zu
Die Human Factors-Forschung beschäftigt sich sanktionieren und zu mehr Anstrengung aufzuru-
seit mehr als zwei Jahrzehnten mit dem »Faktor fen und dann den Fall für erledigt zu erklären (per-
Mensch« und seinem Verhalten in kritischen Situ- son approach; 7 Kap. 4).
ationen. Beiträge aus Psychologie, Anthropologie, Um dieses menschliche Fehlverhalten wirk-
Soziologie, Ingenieurwissenschaften fragen u. a. lich verstehen und entsprechend damit umgehen
danach, zu können, ist eine intensive Auseinandersetzung
4 welche Rolle menschliche Fehlleistungen bei der mit den Grundlagen menschlichen Denkens und
Entstehung von Unfällen und Zwischenfällen Handelns bei Einzelnen und Teams unabdingbar.
spielen. Auch das Krankenhaus als Organisation ist durch

Rahmenbedingungen: Gesundheitssystem, Politik ...

Organisation

Team

Individuum

. Abb. 1.2. Darstellung der verschiedenen Ebenen, die von der Human Factors–Forschung untersucht werden
1.2 · Human Factors: Einflussfaktoren und Fehler
7 1
Entscheidungen im Hintergrund (z. B. Personal- 4 entstehen durch unklare Sprache, aber auch
planung der Intensivstation und Blutbank) an der durch Beziehungsstörungen, Missverständnisse
Entstehung dieses Behandlungsfehlers beteiligt. in der Kommunikation.
Schließlich handeln alle Akteure im politischen und 4 neigen Gruppen unter Druck dazu, Informati-
rechtlichen Kontext des jeweiligen Gesundheitssys- onsflüsse und Entscheidungen zu zentralisie-
tems (. Abb. 1.2). ren.

1.2.1 Human Factors: Das Individuum Die Themen Team, Kommunikation und Füh-
rung sind Gegenstand der Kapitel 11–13.
Obwohl Handlungsfehler viele Formen haben
(7 Kap. 3), beruhen sie nur auf einigen wenigen psy- 1.2.3 Human Factors:
chischen Prinzipien. Diese Prinzipien sind auf allen Fehler in der Organisation
Ebenen des Wahrnehmens, Erkennens und Verar-
beitens von Informationen zu finden. Beispielswei- Die Human Factors-Forschung hat die alte Selbst-
se... verständlichkeit, dass Behandlungsfehler in erster
4 wird Handeln immer durch Emotionen, Absich- Linie auf mangelhaft arbeitende Individuen zurück-
ten und Motive bestimmt und kann nie »rein ra- zuführen sind, ins Wanken gebracht. Das Gegen-
tional« begründbar sein. teil dieser Annahme scheint der Fall zu sein: Viele
4 »konstruieren« Menschen sich bereits durch Untersuchungen von Zwischenfällen in anderen
Wahrnehmung ihre Welt und bilden Modelle Hochrisiko-Arbeitsbereichen konnten zeigen, dass
darüber, in welchem Zustand sich ihre Umwelt fehlerhaft handelnde Menschen oftmals nur am
befindet. Ende einer langen Kette von vorangegangenen Fehl-
4 machen Menschen eher Informationen durch entscheidungen stehen (system approach, Reason
Verzerrung »passend« zu ihren mentalen Mo- 1990, 1997; Perrow 1999). Ähnlich wie bei der ge-
dellen, anstatt ihre bisherigen Modelle zu hin- schilderten Fehltransfusion liegen die Ursachen für
terfragen und zu ändern. negative Ergebnisse nicht primär bei den Einzelnen
4 verfolgen Menschen auch in Notfallsituationen und Teams, sondern in den Strukturen und Prozes-
nicht nur Sachziele, sondern auch persönliche sen, die durch Entscheidungen auf anderen Ebenen
Ziele. der Organisation, oftmals lange vor dem kritischen
4 beeinträchtigen psychische und physische Er- Ereignis, getroffen wurden (7 Kap. 3). Die Faktoren
schöpfung (z. B. Stress, Müdigkeit) gute Ent- des Fallbeispiels, z. B. die ärztliche Besetzung von
scheidungsfindung und sicheres Handeln er- Intensivstationen, die personelle Ausstattung ei-
heblich. ner Blutbank und die Kultur, Entscheidungen von
4 können Entscheidungsstrategien helfen, Fehler Medizinern nicht zu hinterfragen, sind konkrete
zu vermeiden. Bedingungen dafür, dass die Fehltransfusion im
Fallbeispiel unbemerkt erfolgen konnte. Aus dieser
Die hier angesprochenen Punkte werden in den Perspektive sind Behandlungsfehler Symptome des
Kapitel 4–10 wieder aufgegriffen. Systems und nicht vorrangig Versagen von Indivi-
duen.
1.2.2 Human Factors: Das Team In den Kapiteln 14 und 15 werden Einflussfak-
toren von Organisationen und Veränderungsmög-
Wenn Menschen im Team zusammenarbeiten, wir- lichkeiten besprochen, beispielsweise...
ken nicht nur die individuellen Einflussfaktoren. 4 die Personalwirtschaft in Krankenhäusern (Per-
Teams haben durch die Interaktion eine eigene Dy- sonaleinsatz, Weiterbildung etc.)
namik. Dadurch entstehen besondere Stärken und 4 der Umgang mit technischen Geräten (Design-
Schwächen. Beispielsweise... probleme, Schulung)
4 passen Menschen sich oft der Mehrheitsmei- 4 die systematische Erfassung von Fehlern (Inci-
nung im Team an und unterdrücken eigene Be- dent-Reporting-System)
denken.
8 Kapitel 1 · Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

1.2.4 Human Factors: bar gewesen wäre. Wenngleich sich die Mehrheit
1 Das System Gesundheitswesen der Patienten innerhalb von 6 Monaten von den
Folgen der unerwünschten Ereignisse erholt hatte,
Krankenhäuser, Rettungsdienste und andere Orga- führten diese doch in 2,6% zu dauerhaften Schädi-
nisationen des Gesundheitswesens arbeiten unter gungen und in 13,6% zum Tod des Patienten. Die
den Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems, Autoren zogen daraus den Schluss, dass von den
der geltenden Gesetze, der volkswirtschaftlichen tödlich endenden Komplikationen 78% vermeidbar
Entwicklung, der gesellschaftlichen Werte etc. Der gewesen wären. Das Robert-Koch Institut (Hansis et
Einfluss dieser Faktoren ist häufig nicht eindeutig al. 2001) kam unter der vereinfachenden Annahme
nachzuweisen. Anhand der unten dargestellten Da- einer Vergleichbarkeit des deutschen und US-ame-
ten wird aber deutlich, dass die »westlichen« Ge- rikanischen Gesundheitssystems zu dem Ergebnis,
sundheitssysteme nicht nur enorme medizinische dass bei ungefähr 16,5 Mio. Krankenhausbehand-
Fortschritte mit sich gebracht haben, sondern auch lungen im Jahr 2001 zwischen 31.600 und 83.000
anfällig sind für bestimmte Fehler. Todesfälle den unerwünschten Folgen medizini-
Faktoren, die jenseits der einzelnen Organisa- scher Interventionen in deutschen Krankenhäusern
tion liegen, sind beispielsweise: zuzuschreiben wären.
4 Ökonomisierung der Gesundheitssysteme Damit würden in Deutschland mehr Menschen
4 Ressourcenmangel an den Konsequenzen medizinischer Diagnostik
4 Aus- und Weiterbildungsordnungen für Heil- und Therapie und an Behandlungsfehlern verster-
berufe ben als beispielsweise am Colonkarzinom (20.200),
4 Arbeitszeitgesetze Mammakarzinom (18.000), Pneumonie (17.800)
4 Gesellschaftliche Bereitschaft, sich mit Fehlern oder im Rahmen von Verkehrsunfällen (7.700) (Sta-
in der Medizin auseinander zu setzen tistisches Bundesamt 2002).

Erst in den letzten Jahren ist auch in der Me-


dizin die Bereitschaft gewachsen, sich der syste- »Adverse Events« –
mischen Betrachtungsweise von Fehlern (Reason Fakten aus dem IOM-Bericht:
1990; Rasmussen et al. 1991; Amalberti 1996; Helm- 5 3–4% der stationär aufgenommenen
reich 2000) anzuschließen. Katalysierendes Ereignis Patienten erleiden Komplikationen
hierfür war nicht zuletzt die 1999 erschienene Be- 5 1 Mio. (auf deutsche Verhältnisse umge-
standsaufnahme zur Zuverlässigkeit des amerika- rechnet 490.000) Patienten werden pro
nischen Gesundheitssystems. Der IOM-Report »To Jahr durch Behandlungsfehler geschädigt
err is human – building a safer health care system« 5 Mindestens 44.000 (auf deutsche Verhält-
(Kohn et al. 1999) stellte drastisch die gesundheits- nisse umgerechnet 30.000) Todesfälle pro
politische Tragweite von Daten aus zwei US-ameri- Jahr sind auf unerwünschte Ereignisse im
kanischen Studien (Harvard Medical Practice Study Krankenhaus zurückzuführen
[HMPS] 1991, Utah and Colorado Medical Practice 5 Möglicherweise versterben mehr Men-
Study [UCMPS] 1992) dar und löste damit inner- schen an den Konsequenzen medizini-
halb der USA eine engagierte Diskussion aus. Die scher Diagnostik und Therapie bzw. an
sehr detaillierte retrospektive Analyse von mehr als genuinen Behandlungsfehlern als an
45.000 Patientenakten ergab höchst alarmierende den häufigsten Karzinomen oder an den
Zahlen zur Patientensicherheit in Krankenhäusern: Folgen eines Polytraumas
Bei 2,9–3,7% der stationär aufgenommenen Patien- 5 Etwa 80% der unerwünschten Ereignisse
ten trat ein medizinischer Behandlungsfehler (»ad- sind auf menschliches Fehlverhalten oder
verse event«) auf. Nachlässigkeit zurückzuführen und sind
Über 50% dieser unerwünschten Ereignisse war damit grundsätzlich vermeidbar
auf menschliches Fehlverhalten und weitere 30% auf
Nachlässigkeit zurückzuführen, womit ein Großteil Behandlungsfehler als Symptom einer »System-
der Schädigung von Patienten prinzipiell vermeid- krankheit« des Gesundheitswesens haben somit
1.3 · Fehler in der Akutmedizin
9 1
eine erhebliche Auswirkung auf Morbidität und dem Stress und der vitalen Bedrohung für den
Mortalität von Patienten. Patienten, so ist es gut möglich, dass die Inzidenz
schwerer Behandlungsfehler in der Akutmedizin
1.3 Fehler in der Akutmedizin höher als auf einer Normalstation ist.
Es ist problematisch, anhand einer Literatur-
Fehler kommen im klinischen Alltag auf Normal- übersicht einen Überblick über Behandlungsfehler
stationen häufig vor. Betrachtet man Behandlungs- in der Akutmedizin geben zu wollen: Die veröf-
fehler unter den Rahmenbedingungen der Akutme- fentlichten Daten geben ein sehr heterogenes Bild
dizin mit ihrer Unübersichtlichkeit, dem Zeitdruck, wieder, weil die lokalen Vorraussetzungen und die

. Tabelle 1.1. Häufigkeit von diagnostischen und therapeutischen Fehlern in der präklinischen Notfallmedizin

Häufigkeit von Fehlern Quelle

5 8–24% aller Verletzungen bei erwachsenen Traumapatienten Buduhan u. McRitchie 2000, Linn et al. 1997
werden übersehen

5 59% aller Wirbelsäulenverletzungen werden prähospital Flabouris 2001


nicht diagnostiziert

5 20% der traumatischen Verletzungen von Kindern werden Peery et a. 1999


übersehen

5 Bei der Versorgung von Schädel–Hirn–Traumata werden im McDermott


Mittel 19 vermeidbare Fehler pro Patient begangen. et al. 2004
Jeder 2. Fehler beeinträchtigt die neurologische Erholung

5 2% aller ärztlichen Handlungen während einer Reanimation Holliman


sind fehlerhaft et al. 1992

. Tabelle 1.2. Häufigkeit von diagnostischen und therapeutischen Fehlern in der Notaufnahme und im Schockraum

Häufigkeit von Fehlern Quelle

5 27% aller Myokardinfarkte wurden primär nicht erkannt Chan et al.1998

5 Fehlerinzidenz 3%, in 50–70% auf Nachlässigkeit zurückzuführen, Kohn et al. 1999


90% vermeidbar (höher als auf Normalstation)

5 Fehlerinzidenz bei Traumapatienten 4%; 6% wurden als vermeid- Davies 1992


bar eingestuft. Der häufigste Fehler war die übersehene intra-
abdominelle Blutung

5 2–9% aller Traumapatienten versterben aufgrund vermeidbarer Simon et al. 1999


Fehler. Die Mehrheit der Fehler ereignet sich während der initialen
Reanimationsphase

5 23% aller Intubationen im Schockraum werden fehlerhaft durch- Mackenzie et al. 1996
geführt

5 Pro Patient in der Notaufnahme werden 8,8 Fehler in der Team- Risser et al. 1999
arbeit begangen
10 Kapitel 1 · Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

Strukturen der Gesundheitssysteme, unter denen et al. 1996; Sefrin u. Sellner 1992) oder Rettungs-
1 Studien durchgeführt wurden, sehr voneinander dif- dienstpersonal (z. B. Buduhan u. McRitchie 2000,
ferieren. Somit sind weder die klinischen Arbeitsbe- Enderson et al. 1990) erfolgt. Jedoch gibt es auch
dingungen vergleichbar noch der Ausbildungsstand hier Ausnahmen mit teils alarmierenden Zahlen
des behandelnden Personals. Dazu kommen eine (. Tabelle 1.1). Ob unter der Unbestimmtheit und
Vielzahl an verschiedenen methodischen Ansätzen, dem Zeitdruck der präklinischen Notfallsituation
mit denen die Daten erhoben wurden. Nur unter bestimmte Handlungsfehler von Notärzten häufiger
dieser Einschränkung können die im Folgenden als von Klinikärzten begangen werden, ist nie Ge-
aufgeführten Daten gesehen werden. Sie sind weder genstand einer Untersuchung gewesen.
vollständig noch geben sie einen repräsentativen
Querschnitt über die verschiedenen Teilbereiche 1.3.2 Fehler in der Notaufnahme
der Akutmedizin wieder. Sie sind vielmehr als eine und im Schockraum
Zusammenstellung von Fehlern zu sehen, die dem
Leser eine Vorstellung über die Größenordnung des Viele Publikationen, darunter der eingangs zitier-
Problems und die Art der Behandlungsfehler ver- te IOM-Report, weisen darauf hin, dass Notauf-
mitteln soll. nahmen der innerklinische Ort sind, an dem die
meisten vermeidbaren Fehler und Nachlässigkeiten
1.3.1 Fehler in der präklinischen begangen werden. Typische Probleme der Notauf-
Notfallmedizin nahme in Zahlen und Fakten aus unterschiedlichen
Studien zeigt die . Tabelle 1.2.
Zu Fehlern in der präklinischen Notfallmedizin
lassen sich in der Literatur wenig Angaben finden. 1.3.3 Fehler auf der Intensivstation
Die Zuverlässigkeit von prähospital getroffenen Di-
agnosen scheint relativ hoch zu sein, unabhängig Das Entstehen von Fehlern auf einer Intensivsta-
davon, ob die Versorgung durch Ärzte (z. B. Arntz tion wird neben der Schwere der Erkrankung

. Tabelle 1.3. Häufigkeit und Ursache von Fehlern in der Intensivmedizin

Häufigkeit von Fehlern Quelle

5 31% der Patienten erleiden während ihres Intensivaufenthalts eine Donchin et al. 1995
iatrogene Komplikation

5 63–83% aller Zwischenfälle sind auf menschliches Versagen Wright et al. 1991; Giraud et al. 1993;
zurückzuführen Beckmann et al. 1996; Buckley et al. 1997

5 13–51% aller Zwischenfälle sind potenziell für den Patienten Donchin et al. 1995; Beckmann et al. 2003
bedrohlich

5 Jeder 10. Neuzugang auf Intensiv wurde aufgrund eines voran- Darchy et al.1999
gegangenen Behandlungsfehlers intensivpflichtig

5 Pro Patient werden täglich 0,3–1,7 fehlerhafte Handlungen Donchin et al. 1995; Beckmann et al. 2003
begangen

5 Die Mehrzahl der Fehler (15–60%) betrifft Medikamentenverord- Wright et al. 1991; Giraud et al. 1993; 1994;
nungen Donchin et al. 1995

5 Vermeidbare unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind auf Inten- Cullen et al. 1997


sivstationen doppelt so häufig anzutreffen wie auf Normalstation

5 Jeder 3. Fehler ist durch fehlerhafte Kommunikation bedingt Giraud et al. 1993
1.3 · Fehler in der Akutmedizin
11 1

. Tabelle 1.4. Häufigkeit von diagnostischen und therapeutischen Fehlern in der Anästhesie und im Aufwachraum

Häufigkeit von Fehlern Quelle

5 31–82% aller Zwischenfälle sind auf menschliches Versagen, Cooper et al. 1978; Kumar et al. 1988; Currie
9–21% auf technische Probleme zurückzuführen 1989; Chopra et al. 1992; Webb et al. 1993;
Buckley et al. 1997; Arbous et al. 2001; Bracco
et al. 2001

5 27–30% aller Zwischenfälle sind auf die bewusste Übertretung Buckley et al. 1997; Chopra et al. 1992
geltender Regeln zurückzuführen

5 1 Medikamentenfehlapplikation kommt alle 133 Narkosen vor. Webster et al. 2001


20% davon sind Verwechslungen zwischen Medikamenten
verschiedener Klassen

5 4% aller Zwischenfälle sind auf nicht vorhersehbare Reaktionen Arbous et al. 2001
des Patienten zurückzuführen. 69–82% aller kritischen Ereignisse
wären vermeidbar gewesen

5 25% aller letal endenden Behandlungsfehler waren auf un- Webb et al. 1993
genügende Kommunikation zurückzuführen, 10% auf organisa-
tionale Strukturen

5 Bei 22% der Patienten kommt es im Aufwachraum zu gering- Webb et al. 1993
fügigen unerwünschten Ereignissen; 0,2% der Ereignisse sind
schwerwiegend

5 Fehler im Aufwachraum betrafen die Atemwege (43%), Kluger u. Bullock 2002


das kardiovaskuläre System (29%) und die Medikamenten-
fehlapplikation (11%). Ursächlich waren fehlerhaftes Entscheiden
(18%), Kommunikationsprobleme (14%) und eine fehlerhafte
Einschätzung des Patientenstatus (7%) verantwortlich. Technische
Probleme traten nur in 7% auf

5 29% der Patienten mit einem Behandlungsfehler mussten Kluger u. Bullock 2002
vom Aufwachraum auf eine Intensivstation oder Intermediate
Care Station verlegt werden

durch strukturelle, technische und organisatorische . Tabelle 1.3 stellt die Größenordnung des Problems
Mängel begünstigt. Viele Studien führen die er- von Behandlungsfehlern auf einer Intensivstation
fassten Fehler auf die Unübersichtlichkeit von Zu- dar.
gängen und Leitungen, die Unzugänglichkeit des
Patienten im Bett, ungenügende Beschriftung von 1.3.4 Fehler in der anästhesiologischen
Medikamenten und auf Probleme mit dem tech- Patientenversorgung
nischen Equipment zurück. Daneben sind vor
allem auch Kommunikationsprobleme zwischen Die Einleitung und Aufrechterhaltung einer Nar-
Ärzten und Pflegepersonal für eine Vielzahl an Fehl- kose ist immer ein potenziell gefährliches Unter-
behandlungen verantwortlich. Leider haben die fangen. Anästhesisten haben sich daher seit Jahr-
meisten Studien Fehler im »Alltag« auf einer Inten- zehnten bemüht, die Inzidenz von Behandlungs-
sivstation erfasst und erlauben daher keine Rück- fehlern und deren Ursachen zu erfassen (Beecher
schlüsse darauf, ob Fehler häufiger in kritischen u. Todd 1954). Aufgrund seiner Vorreiterrolle in
Situationen als unter Routinehandeln vorkamen. der Prävention und Bewältigung von Handlungs-
12 Kapitel 1 · Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

fehlern wird das Fach Anästhesiologie innerhalb Art »Grammatik« zu verstehen, mit der fachliches
1 der Medizin als Modell für Patientensicherheit an- Wissen in gutes Handeln übersetzt werden kann.
gesehen (Kohn et al. 1999; Cooper u. Gaba 2002; Dies geschieht auf dem Umweg über das Aufzei-
. Tabelle 1.4). gen der häufigsten »Grammatikfehler«, der Hand-
lungsfehler in der Akutmedizin. Die Erkenntnisse
1.4 Human Factors: Sicheres Handeln der »Human-Factors«-Forschung sollen für den
überwiegt klinischen Alltag fruchtbar gemacht werden. Dazu
ist zunächst eine Auseinandersetzung mit den Be-
Trotz der vielen Behandlungsfehler, die dringend dingungen notwendig, die Akutmedizin zu einer
Veränderungen des Systems verlangen, sollte nicht besonderen Herausforderung für den Kliniker ma-
vergessen werden, dass Menschen sehr oft richtig chen (7 Kap. 2).
entscheiden. Der Faktor Mensch ist nicht nur ein
Risikofaktor, sondern gleichzeitig der entscheidende 1.5 Human Factors – Auf einen Blick
Faktor für erfolgreiches Notfallmanagement. Kriti-
sche Situationen werden überwiegend gut bewäl-
tigt. Wenn die Dramatik des Notfalls fehlt, werden
5 Kritische Situationen sind Entscheidungs-
solche Situationen vielleicht gar nicht als »entschei-
situationen, in denen menschliches
dend« wahrgenommen, beispielsweise wenn die In-
Handeln – unabhängig vom Zustan-
tubation bei schwierigen Atemwegen korrekt durch-
dekommen der Situation – über den
geführt wird. Auch wenn Fehler gemacht werden,
weiteren Verlauf der Dinge entscheidet.
kommt es nur selten zu einer Patientenschädigung.
Behandlungsfehler und Unfälle sind
Belastbare Zahlen fehlen hierfür, aber ein Großteil
kritische Situationen mit negativem
aller Fehler wird unmittelbar korrigiert, so dass kei-
Ausgang.
ne Folgen für den Patienten erwachsen (. Abb. 1.3).
5 Der Anteil menschlicher Fehler an der
Gerade in Notfallsituationen, in denen der Patient
Entstehung von Unfällen und Zwischen-
bereits vital bedroht ist, sind gute Entscheidungen
fällen beträgt über verschiedene Branchen
von Menschen in der Akutmedizin häufig lebens-
hinweg ca. 80%.
rettend.
5 Die Human Factor-Forschung betrachtet
Die erfolgreiche Bewältigung einer kritischen
menschliches Handeln unter dem Blick-
Situation gleicht dem Gespräch mit einem unbe-
winkel von Sicherheit und Fehlern. Um
rechenbaren Gegenüber: Fachliche Kompetenz
Fehler in der Akutmedizin zu verstehen,
(technical skills) kann das erforderliche Vokabular
muss man das Individuum, das Team,
für das Gespräch liefern. Um mit diesem Vokabular
die Organisation und das Gesundheits-
verständlich sprechen und auf das Gegenüber an-
system betrachten.
gemessen eingehen zu können, wird die Fähigkeit
5 Die Daten zu Behandlungsfehlern zeigen
zum Notfallmanagement benötigt (non-technical
eindringlich die Notwendigkeit, mensch-
skills). Die folgenden Kapitel sind daher als eine
liches Handeln in der Akutmedizin
genau zu untersuchen. Behandlungsfehler
sind nur der sichtbare Teil aller Fehlent-
scheidungen. Kritische Situationen ohne
negative Folgen erleben Akutmediziner
täglich.
5 Human Factors haben auch eine positive
Seite: Menschen sind dank ihrer Fähig-
keiten eine Sicherheitsressource.

. Abb. 1.3. Kritische Entscheidungssituationen, Fehler und


Unfälle (Patientenschädigung)
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13 1
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14 Kapitel 1 · Risikofaktor Mensch? Fehler in der Akutmedizin

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2

Herausforderung Akutmedizin

2.1 Komplexität und menschliches Handeln —16


2.1.1 Komplexität: Ein Merkmal kritischer Situationen —17
2.1.2 Komplexität: Anforderungen an ärztliches Handeln —18
2.1.3 Komplexität und Expertise —19

2.2 Fertigkeiten – Regeln – Wissen:


Handlungsformen in kritischen Situationen —19
2.2.1 Fertigkeitsbasiertes Handeln —20
2.2.2 Regelbasiertes Handeln —20
2.2.3 Wissensbasiertes Handeln und Problemlösen —21

2.3 Komplexität – Auf einen Blick —21

Literatur —22
16 Kapitel 2 · Herausforderung Akutmedizin

) ) Fallbeispiel Röntgenthoraxaufnahme auf der Intensivstation


zeigt alle klassischen radiologischen Zeichen eines
Eine 32-jährige polytraumatisierte Patientin wird beginnenden ARDS.
2 mit den Diagnosen eines Schädelhirntraumas III°,
einer schweren Gesichtsschädelverletzung, einem Eine polytraumatisierte Patientin wird nach
stumpfen Thoraxtrauma, einer offenen Oberschen- der Erstversorgung im Schockraum operativ ver-
kelfraktur und dem Verdacht einer gedeckten Milz- sorgt und entwickelt mehrfach hintereinander Be-
ruptur im Anschluss an die Schockraumdiagnostik atmungsprobleme. Die Beatmungsprobleme führen
operativ versorgt. Zeitgleich operieren Kiefer- und zu einer raschen Verschlechterung der Vitalpa-
Unfallchirurgen an der Patientin. Die Vitalparameter rameter, so dass die Ursachen dafür jeweils unter
sind zunächst stabil. Nach 20 Minuten entwickelt die Zeitdruck gefunden werden müssen. Die Situation
Patientin zunehmend hohe Atemwegsdrücke, die Ti- fordert die behandelnde Anästhesistin in besonde-
dalvolumina nehmen ab und die Sättigung beginnt rer Weise heraus: Alle kritischen Situationen, aus
zu fallen. Die Druck-/Flow-Darstellung auf dem Beat- denen dieser Notfall besteht, präsentieren sich mit
mungsmonitoring zeigt ein unvollständiges Expiri- der fast identischen Kombination von Untersu-
um, auskultatorisch ist die Lunge jedoch unauffällig. chungsbefunden und Monitorparametern, obwohl
Aufgrund der unbekannten Anamnese beginnt die ihnen jedes Mal andere Ursachen zugrunde liegen.
behandelnde Anästhesistin eine Broncholyse, jedoch Diagnose und Therapie werden dadurch erschwert,
ohne Erfolg: Die Sättigung fällt weiter. Eine Explorati- dass die erkennbaren Störungen von Organsyste-
on der Mundhöhle durch die Kieferchirurgen ergibt men ihre Ursache in verborgenen Störungen ganz
einen abgeknickten Magilltubus als Ursache; nach anderer Systeme haben: Die Verschlechterung der
Korrektur normalisieren sich Beatmungsdrucke und Hämodynamik während des zweiten Sättigungsab-
Sättigung. Weitere 20 Minuten später wiederholt falls hat eine pulmonale Ursache (Spannungspneu-
sich das Bild: Die Patientin entwickelt zunehmend mothorax) und der dritte Abfall der Sättigung war
hohe Atemwegsdrucke, die Tidalvolumina nehmen gerätetechnisch bedingt (Leistungsgrenze eines
ab und die Sättigung beginnt rasch zu fallen. Die Anästhesierespirators bei ARDS). Situationen wie
Flow/Zeit-Darstellung auf dem Beatmungsmonito- diejenige aus dem Fallbeispiel weisen eine Reihe an
ring ist unauffällig, auskultatorisch ist auf der rechten Eigenschaften auf, die das Handeln in Anästhesie,
Lunge kein Atemgeräusch zu hören. Da hier präkli- Intensiv- und Notfallmedizin zu einer besonderen
nisch ein Shaldon-Katheter in die V.subclavia einge- Handlungsanforderung werden lassen. Diese Eigen-
legt wurde, vermutet die Anästhesistin einen Span- schaften bezeichnet die Psychologie als die Komple-
nungspneumothorax als Ursache. Nach einer kurzen xität einer Arbeitswelt.
Rücksprache mit dem Unfallchirurgen übernimmt
dieser die Anlage einer Bülaudrainage, aus der Luft 2.1 Komplexität und menschliches
entweicht. Unmittelbar danach normalisieren sich Handeln
die Beatmungsdrucke und die Sättigung erholt sich.
Nach weiteren 45 Minuten zeigt die Patientin erneut Der geschilderte Notfall ist komplex: Er ist unüber-
die gleiche Symptomatik: Sie entwickelt zunehmend schaubar, es muss unter Zeitdruck gehandelt wer-
hohe Atemwegsdrucke, die Tidalvolumina betragen den und viele Aufgaben sind zugleich zu bewältigen.
nur noch 100 ml und die Sättigung beginnt zu fallen. Komplexität erschwert die rasche und vollständige
Die Lunge ist seitengleich ventiliert, jedoch fallen Einschätzung eines Problems und erhöht dadurch
ausgeprägt feinblasige Rasselgeräusche beiderseits die Inzidenz von Fehlern in der Diagnostik und
auf. Die Sättigung ist bei einer FiO2 von 1,0 inzwi- Therapie. Derartige Arbeitsbedingungen kommen
schen bei 70% angelangt. Die Anästhesistin fordert nicht nur in der Akutmedizin, sondern beispielswei-
auf der Intensivstation einen Intensivrespirator an. se auch in der Luft- und Raumfahrt, der Seefahrt,
Mit seiner Hilfe gelingt es ihr noch im Operations- der industriellen Produktionssteuerung, in Atom-
saal, die Oxygenierung zu verbessern. Unter dem kraftwerken und bei der Brandbekämpfung vor.
Verdacht einer schweren Lungenkontusion wird die Es gibt viele mögliche Definitionen für Komple-
Patientin auf die Intensivstation verlegt. Die initiale xität in der Systemtheorie und Psychologie (Cook u.
2.1 · Komplexität und menschliches Handeln
17 2
Woods 2001, Dörner u. Schaub 1995, Perrow 1999, Vernetztheit
Reason 1997, Woods 1988). Komplexität kann je Die Komplexität eines Systems wird wesentlich
nach Perspektive und Analyseziel durch die Vernetztheit seiner Elemente bestimmt:
4 als Eigenschaften einer Situation oder eines Sys- Vernetztheit bedeutet, dass die Elemente oder Pa-
tems rameter einer Situation unmittelbar voneinander
4 als Anforderungen an ärztliches Handeln abhängen. Die Metapher des Netzes verdeutlicht,
dass man in einer vernetzten Situation nicht genau
beschrieben werden. . Abbildung 2.1 fasst die weiß, welche Auswirkungen Handeln hat: zieht man
Merkmale von Komplexität zusammen. an einer Stelle eines Netzes, »wackelt« es womög-
lich an einer weit entfernten Stelle. Vernetztheit be-
2.1.1 Komplexität: wirkt, dass eine Situation für Menschen schwer zu
Ein Merkmal kritischer Situationen durchschauen und Auswirkungen einer Handlung
noch schwieriger vorherzusagen sind. Handeln un-
Eine Situation oder ein Problem wird dann komplex ter diesen Bedingungen führt möglicherweise zu
genannt, wenn mehrere der folgenden Kennzeichen unerwünschten Nebenwirkungen oder zu keinem
vorhanden sind (Badke-Schaub 2002, Dörner et al. erkennbaren Ergebnis. Der Blutdruckabfall auf-
1983; Dörner u. Schaub 1995; Hofinger 2003): grund des Spannungspneumothorax und der Sätti-
gungsabfall aufgrund der technischen Limitierung
Großer Umfang des Beatmungsgerätes sind das Ergebnis enger Ver-
Je nach Schadenslage (man denke nur an Großscha- netztheit.
densereignisse und deren unüberschaubare »Infor-
mationslage«), aktueller Notfallsituation, Pathophy- Eigendynamik
siologie und Vorerkrankungen des Patienten sind Der klinische Zustand des Patienten oder eine Scha-
enorme Daten und zusätzlich auch noch Relationen denslage verändert sich dynamisch, wodurch sich
zwischen diesen Datenmengen vorhanden und zu eine Situation auch ohne Zutun der Akteure wei-
verarbeiten. Da menschliches Denken sequentiell terentwickelt: Während man noch über Problemlö-
geschieht und nur wenige Einheiten gleichzeitig sungen nachdenkt, verändert sich bereits das Pro-
verarbeitet werden können, ist analytisches Denken blem. Diese Eigendynamik einer Situation engt den
vergleichsweise langsam und mühevoll. Durch die Handlungsspielraum ein, da Abwarten Handlungs-
Informationsfülle in einer Notfallsituation werden optionen vernichtet. Eine Therapie, die dem Pati-
kognitive Ressourcen deshalb stark belastet. Als Fol- enten noch vor 10 Minuten entscheidend geholfen
ge davon verlieren Menschen leicht den Überblick. hätte, ist durch eine weitere Verschlechterung des
Gesundheitszustands obsolet geworden. Wie rasch
Entscheidungen getroffen werden müssen, hängt
in der Regel von externen Ereignissen ab. Das setzt
Handelnde unter Zeitdruck. Gelegentlich ist dieser
Zeitdruck die unvermeidbare Nebenwirkung einer
notwendigen ärztlicher Maßnahme (z. B. wenn eine
suffiziente Maskenbeatmung sichergestellt werden
muss, nachdem eine Narkoseeinleitung erfolgt ist).

Zeitverzögerungen
Nicht alle Auswirkungen von Handlungen werden
zeitnah und unmittelbar erlebt. Dadurch kann es
schwierig werden, die weitere klinische Entwicklung
eines Patienten zu prognostizieren. Die Wirkun-
. Abb. 2.1. Komplexität in der Akutmedizin. Komplexität lässt
gen einzelner Handlungen können darüber hinaus
sich durch Eigenschaften einer Situation und durch Anforde- dadurch verschleiert sein, dass sie von Resultaten
rungen an ärztliches Handeln beschreiben anderer Handlungen überlagert werden. Ebenso
18 Kapitel 2 · Herausforderung Akutmedizin

können auch unerwünschte Nebenwirkungen mit eine unklare Ausgangslage und muss spezifische
Verzögerung auftreten und den Zusammenhang mit Randbedingungen beachten, die man nicht bis ins
der auslösenden Handlung verschleiern: Die Anlage Detail kennt. Da sich der Patient oft wie eine black
2 des Shaldon-Katheters im Fallbeispiel erfolgte noch box verhält, bedeutet dies, dass man Entscheidungen
im Schockraum; der Spannungspneumothorax hin- unter Unsicherheit treffen muss. Die Hauptarbeit
gegen zeigte sich erst Stunden später. des Problemlösens besteht darin, diesen Schleier zu
lüften und die Frage zu beantworten: Was genau ist
Irreversibilität eigentlich das Problem (Klein 1992)?
Pathophysiologische Veränderungen im Patienten
sind bisweilen unumkehrbar, wodurch es für eine Einmaligkeit der Situation
erfolgreiche Genesung der einzelnen Organsys- Auch wenn sich eine kritische Situation oft einer
teme ein »zu spät« geben kann. Auch die Folgen klinischen Diagnose zuordnen lässt und der Akut-
mancher Handlungen, beispielsweise der Gabe von mediziner möglicherweise ähnliche Fälle bereits er-
Muskelrelaxantien, können unwiderruflich sein. lebt hat, können in der konkreten Notfallsituation
Handelnde bekommen somit oft nur einen einzigen die Randbedingungen anders sein, so dass Regeln,
Versuch, das Richtige zu tun, und ein Handeln nach die bisher galten, gerade hier nicht anwendbar sind.
dem Prinzip von Versuch und Irrtum ist in diesen Flexibilität ist die Kernanforderung, damit sich das
Situationen riskant. Handeln an den aktuellen Bedingungen orientiert
und nicht ausschließlich durch Erfahrungen der
2.1.2 Komplexität: Anforderungen Vergangenheit geleitet wird.
an ärztliches Handeln
Informationsfülle und -mangel
Die obige Aufzählung von Situationsmerkmalen Viele Informationen, die man bräuchte, sind unter
beschreibt, wie der Handelnde die Komplexität ei- den Bedingungen einer Notfallsituation nicht zu
ner Situation erlebt. Beschreibt man Komplexität bekommen. Viele Informationen, deren Zuverläs-
jedoch aus der Perspektive derjenigen Anforderun- sigkeit und Relevanz nicht eindeutig sind, sind je-
gen, die man für ein erfolgreiches Handeln benötigt, doch potenziell verfügbar oder drängen sich durch
dann lassen sich weitere Merkmale komplexer Auffälligkeit auf. Es muss also immer durch gezielte
Situationen benennen (z. B. Dörner 1989; von der Auswahl und Integration von Daten ein problem-
Weth 2000). bezogenes Informationsmanagement geleistet wer-
den. Wesentlicher Bestandteil eines guten Informa-
Intransparenz und Unsicherheit tionsmanagements ist die Fähigkeit, alle vorhande-
Viele akutmedizinische Probleme (beispielsweise nen Teammitglieder zur Informationsgenerierung
ein Abfall der pulsoximetrisch gemessenen Sätti- und -bewertung einzubeziehen (Salas et al 1992).
gung) sind unspezifisch und vieldeutig. Wichtige
Elemente der Notfallsituation sind für die Handeln- Zeitdruck
den undurchschaubar, entscheidende Informatio- Die für eine Problemlösung zur Verfügung stehen-
nen unzugänglich. Anders als in Überwachungs- de Zeit begrenzt die Möglichkeiten der Analyse, des
einrichtungen der Industrie wurde das Objekt der Planens und des Reflektierens. Ist die Sättigung be-
Akutmedizin, der Mensch, nicht geschaffen, um reits am Fallen, so bleibt nicht mehr viel Zeit, um
»gemonitort« zu werden. Viele physiologische die Ursache herauszufinden. Die Vollständigkeit des
Daten werden daher über schwache externe Signale Informationsgewinns und die dafür zur Verfügung
abgegriffen und sind unterspezifiziert. Es gibt kei- stehende Zeit sind dabei einander entgegengesetz-
nen Monitor, der »ihr Patient hat ein beginnendes te Größen: Es gibt in komplexen Situationen keine
ARDS« oder »der arterielle Druck ist so hoch, weil vollständige Informationsbeschaffung unter Zeit-
der Druckabnehmer auf dem Fußboden liegt« an- druck.
zeigen könnte. Auf diese Ereignisse muss aus viel- Weil eine Entscheidung aber dringend notwen-
deutigen Mustern verschiedener Einzelvariablen dig ist, ersetzt häufig die Übertragung von Vorwissen
geschlossen werden. Insbesondere hat man häufig ein problembezogenes Informationsmanagement.
2.2 · Fertigkeiten – Regeln – Wissen: Handlungsformen in kritischen Situationen
19 2
Dann bestimmen Gewohnheiten der Vergangen- tensetzung und Kompromissbildung wesentliche
heit die Entscheidungen mehr, als es in den aktu- Anforderungen.
ellen Umständen angebracht ist. Emotionen oder
Intuition ersetzen als eine Form der Situationsbe- 2.1.3 Komplexität und Expertise
wertung unter Zeitdruck die Ergebnisse bewussten
Nachdenkens als Entscheidungskriterium. Da Men- Komplexität ist keine statische, objektive Systemei-
schen jedoch nur selten wissen, worauf sich ihre genschaft. Komplexität und besonders die Intrans-
augenblicklichen Emotionen beziehen, ist Handeln parenz eines Realitätsbereiches hängen immer vom
aus Gefühlen heraus ein gefährliches Unterfangen. Wissen und der klinischen Expertise der handeln-
Aus genannten Gründen sind Entscheidungen un- den Person ab. Auch die anderen Komplexitäts-
ter Zeitdruck also in vielfältiger Weise anfällig für merkmale (z. B. die Vernetztheit und Menge der
Fehler. Elemente) sind nur als wahrgenommene Eigenschaft
der Situation relevant. Komplexität kann aus dieser
Risiko Perspektive auch als »mentale Konstruktion« der
In kritischen Situationen der Akutmedizin geht es handelnden Personen beschrieben werden. Diese
für den Patienten um die Wiederherstellung seiner Konstruktion hängt von dem verfügbaren Wissen,
Gesundheit und nicht selten auch um sein Leben. den Wahrnehmungsmustern und den aktuellen In-
Da der Ausgang einer kritischen Situation nie mit teressen ab.
Bestimmtheit prognostiziert werden kann, ist das Experten unterscheiden sich von Anfängern in
Risiko eines bleibenden Schadens oder tödlichen ihrer Fähigkeit, Situationen in vorhandene Sche-
Ausgangs für den Patienten ein unvermeidlicher mata einordnen zu können (7 Kap. 6). Die behan-
Bestandteil eines Notfalls. Für den Mediziner be- delnde Anästhesistin kennt für die Symptomatik
droht eine erfolglose Behandlung ganz existentiell einer abfallenden Sättigung, verbunden mit einem
das Selbstwert- und Kompetenzgefühl. Fehlverhal- Anstieg des Beatmungsdrucks, eine Reihe von Ur-
ten wird für den Akutmediziner zu einem persönli- sachen, die dafür in Frage kommen. Mit diesen
chen, menschlichen und ökonomischen Risiko. Das Schemata überprüft sie die aktuelle Situation. Hat
Wissen um diese Risiken kann zu einem Haupt- man als »alter Hase« genügend Schemata für ein
stressor in einer Notfallsituation werden (7 Kap 9) Problem zur Verfügung, wird eine kritische Situa-
und die Kompetenz zum Entscheiden unter Risiko tion gar nicht mehr als Schwierigkeit wahrgenom-
untergraben. men. Den Berufsanfänger hingegen würde die
gleiche Situation mangels Wissen überfordern. Da-
Zielpluralität neben wird der erfahrene Kliniker im Wissen um
Ziele sollten »Leuchttürme des Handelns” sein potenzielle Probleme gelegentlich mit mehr Un-
(Strohschneider 1992). Sie dienen dazu, dem Akut- sicherheit und Umsicht handeln als ein Anfänger,
mediziner die Kontrolle über eine kritische Situati- der mangels Erfahrung gar keine Schwierigkeiten
on zurück zu geben. Für die Anästhesistin wäre ein erwartet.
solches Ziel die Normalisierung der Oxygenierung.
In komplexen Situationen wie dem vorliegenden 2.2 Fertigkeiten – Regeln – Wissen:
Notfall ist es jedoch schwierig für sie, ihr Oberziel Handlungsformen in kritischen
in kleinere Teilziele aufzugliedern und damit ihren Situationen
Plan eindeutig und klar zu formulieren. Sie muss
viele, zunächst vage und in sich widersprüchliche Kritische Situationen erfordern Handeln als Ant-
Ziele zeitgleich verfolgen, um ihre Probleme lö- wort. Menschliches Handeln ist jedoch nicht gleich-
sen zu können (z. B. zu hohen Beatmungsdruck förmig, sondern wird entscheidend von den An-
vermeiden und dennoch Ventilation sicherstellen; forderungen geprägt, die eine Situation dem Han-
mutmaßlichen Spannungspneumothorax entlasten, delnden auferlegt. Entscheidend ist dabei, ob eine
ohne gesunde Lunge zu schädigen). Für die Zielbil- Situation dem Handelnden bekannt ist und er folg-
dung unter Komplexität gilt daher: Man kann nie lich auf gespeicherte Handlungsmuster zurückgrei-
»nur eines« wollen. Bei Zielpluralität sind Prioritä- fen kann, oder ob eine Situation gänzlich unbekannt
20 Kapitel 2 · Herausforderung Akutmedizin

. Abb. 2.2. Kontrollebenen des


Handelns nach Rasmussen (1983)

ist und damit sowohl das Problem erst definiert 2.2.1 Fertigkeitsbasiertes Handeln
werden muss als auch Lösungen aus dem vorhande-
nen Wissen neu entwickelt werden müssen. In kritischen Situationen werden wie beim Routine-
Nach Rasmussen (1983, 1987) werden drei auf- handeln Fertigkeiten gebraucht, die so »überlernt«
einander aufbauende kognitive Kontrollmechanis- sind, dass sie mehr oder weniger automatisiert aus-
men des Handelns unterschieden: »Fertigkeiten – geführt werden. Für den Akutmediziner gehören
Regeln – Wissen« (. Abb. 2.2). Bekannte Aufgaben dazu Handlungen wie die Intubation, das Legen
in bekannten Situationen werden weitgehend ohne peripher- und zentralvenöser Zugänge oder das
bewusste Steuerung durch Automatismen, das sind Einlegen einer Thoraxdrainage. Solche Handlungen
»eingeschliffene« Fertigkeiten, erledigt. Reichen Au- werden meist geplant oder zumindest vorhersehbar
tomatismen nicht aus, werden »wenn-dann«-Regeln durchgeführt. Sie werden in kritischen Situationen
angewendet, die eine Situation mit gelernten Hand- erst als wichtig bewusst, wenn die erforderlichen
lungsplänen verknüpfen. Nur wenn eine Problem- Fertigkeiten fehlen, falsch ausgeführt werden oder
situation neu ist, wird durch Wissen und problemlö- aus sonstigen Gründen nicht anwendbar sind. Es ist
sendes Denken eine neue Lösung gefunden. dennoch klar, was getan werden müsste. Dann stei-
In einer kritischen Situation wendet man selten gen die Anforderungen: Das Problem muss erkannt
nur Fähigkeiten, nur Regeln oder nur Wissen an. und eingestanden, Alternativen gefunden und even-
Notfallmanagement besteht vielmehr aus einem tuell neu aufgetretene Probleme jetzt mitbearbeitet
beständigen Wechsel zwischen den verschiedenen werden. Sind die Fähigkeiten vorhanden, ist die An-
Handlungsformen. forderung vor allem das sorgfältige Ausführen und
Berufsanfänger unterscheiden sich von erfahre- die stete Kontrolle auf Abweichungen.
nen Klinikern hinsichtlich
4 »eingeschliffener« Fertigkeiten, 2.2.2 Regelbasiertes Handeln
4 erlernter Regeln,
4 Wissen und Problemlösestrategien. Es gibt Probleme, von denen man zwar weiß, dass
sie prinzipiell auftreten können, aber nicht weiß, ob
Erfahrene Kliniker bilden den Problemraum und wann dies der Fall sein wird. Für solche Situa-
auf abstrakterem Niveau ab als Anfänger, deren tionen versucht man, regelbasierte Handlungsfolgen
Aufmerksamkeit sich mehr auf die Oberflächen- vorherzuplanen. In der Situation selbst muss diese
merkmale einer Notfallsituation richtet. Darüber Regelfolge, ein Algorithmus, nur noch abgerufen
hinaus verfügen Experten über eine weitaus größere und umgesetzt werden (Horn u. Hofinger 2001).
Sammlung an Problemlöseregeln, die ebenfalls auf Für viele Probleme sind daher Algorithmen offiziell
einem abstrakteren Repräsentationsniveau formu- festgelegt worden, die dann nur noch abgearbeitet
liert wurden. werden müssen (z. B. Algorithmus für den schwie-
2.3 · Komplexität – Auf einen Blick
21 2
rigen Atemweg); andere Algorithmen (z. B. rasche Weil der Problemraum für den Handelnden ein
Anwendung des intraossären Zugangswegs bei frus- weitgehend unerforschtes Gebiet ist, muss er, anstatt
traner Venenpunktion beim Säugling) haben eher Regeln abzurufen oder Fertigkeiten anzuwenden,
den Charakter von Empfehlungen. Problemlösen. Problemlösendes Denken ist jedoch
Erfahrene Mediziner haben sich für eine Viel- ein relativ langsamer, mühsamer und in seinen Res-
zahl von Problemen ihre persönlichen Algorithmen sourcen begrenzter Verarbeitungsprozess, der unter
gebildet. Problematisch ist in Situationen, die vor- Zeitdruck nicht optimal abläuft.
rangig Regelwissen verlangen, nicht, eine richtige Da die Situationen darüber hinaus unerwartet
Handlung zu finden, sondern die Diagnose des Pro- eintreten, ist der Überraschungseffekt bedeutsam.
blems und die Umsetzung: Die Situation muss iden- Fehler im Management ergeben sich aus einer kom-
tifiziert werden (was bei selten auftretenden Ereig- plizierten Wechselwirkung zwischen der begrenzten
nissen schwierig sein kann) und eine Entscheidung Rationalität des Entscheiders (Tversky u. Kahnemann
muss rasch getroffen werden. Pläne für die Behand- 1974, Kahnemann et al. 1982), seiner unvollständigen
lung sind in der Regel abgespeichert und brauchen oder unzutreffenden mentalen Modelle der Situation
dann »nur« abgerufen zu werden, wenn das Ereignis und einer starken emotionalen Komponente: Die
eintritt. Ein gutes Beispiel für eine solche kritische Gefährlichkeit einer Situation, in der einerseits ein
Situation ist das Auftreten eines Spannungspneu- schnelles Eingreifen erforderlich ist, andererseits aber
mothorax. Sowohl das Krankheitsbild als auch die keine bekannten sicheren Handlungsmöglichkeiten
Therapie sind jedem Akutmediziner bekannt. Es vorhanden sind, wird zum existentiellen Risiko.
gilt daher lediglich, unspezifische Parameter wie ein Notfälle bestehen meist aus etlichen einzelnen
Sättigungsabfall, ein Anstieg der Beatmungsdrucke kritischen Situationen, so dass alle Handlungsebenen
und ein Blutdruckabfall als Symptome dieser Patho- benötigt werden. Das Management von Notfällen
physiologie zu diagnostizieren. Die Therapie mittels kann erleichtert werden, wenn möglichst viele Hand-
Einlage einer Thoraxdrainage wird als Handlung lungen auf die Ebene der Fertigkeiten und Regeln
dann nur noch abgerufen. ausgeführt werden. Durch gut eingeübtes Fachwis-
sen, automatisierte Handgriffe, Pläne für verschiede-
2.2.3 Wissensbasiertes Handeln ne vorstellbare Zwischenfälle, Anwendung von Leit-
und Problemlösen linien etc. wird der Kopf frei zum Problemlösen.

Es gibt kritische Situationen, auf die man so nicht 2.3 Komplexität – Auf einen Blick
vorbereitet ist. Die Ursache dafür kann im momen-
tanen Stand der klinischen Ausbildung einer Per-
son liegen. Sie kann aber auch in der Ökonomie 5 Komplexität lässt sich als Eigenschaften
des menschlichen Gedächtnisses mit seinem Hang von Situationen bzw. Systemen beschrei-
zum Vergessen selten gebrauchten Wissens liegen. ben: Kriterien sind Problemumfang,
Wesentlich häufiger liegt sie jedoch in der Komple- Vernetztheit, Dynamik, Zeitverzögerung
xität des Geschehens – vor allem in Intransparenz, und Irreversibilität.
Vernetztheit und Zeitverzögerung. Durch eine un- 5 Komplexität kann auch als Bündel von
erwartete und unbekannte Kombination von Fakto- Handlungsanforderung gesehen werden.
ren wird dem Akutmediziner eine »unangenehme Intransparenz, Einmaligkeit, Informations-
Überraschung« mit vitaler Bedrohlichkeit beschert. fülle, Zeitdruck, Risiko, Zielpluralität und
Selbst wenn im Rahmen der Berufsausbildung ver- »Mitspieler«.
schiedene Typen von Notfällen und ein möglicher 5 Notfälle setzen sich meist aus einer Viel-
Umgang damit gelernt wurden, sind Situationen zahl kritischer Situationen zusammen.
dieser Art im voraus ‚so‘ nicht bekannt oder zumin- 5 Kritische Situationen verlangen je nach
dest nicht im Detail vorhersehbar gewesen. Es sind Vorhersehbarkeit und Planbarkeit
also immer Ereignisse, auf die man nicht mit dem nach Fertigkeiten, Regelanwendung oder
Abruf von eingeübten Routinen antworten kann. problemlösendem Denken.
22 Kapitel 2 · Herausforderung Akutmedizin

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3

Fehler und Fehlerursachen

3.1 Was ist ein Felher? —24

3.2 Klassifikation von Fehlern —25


3.2.1 Fehler in Ausführung und Planung —26
3.2.2 Fehler beim Problemlösen —27
3.2.3 Fehler und Regelverstöße —27
3.2.4 Aktive und latente Fehler —28
3.2.5 Fehler in der Teamarbeit —29

3.3 Fehlerketten, Zwischenfälle und Unfälle —29

3.4 Fehler – Auf einen Blick —30

Literatur —30
24 Kapitel 3 · Fehler und Fehlerursachen

) ) Fallbeispiel oder darin, dass jemand sich beim Schreiben ver-


tippt hat? Fest steht, dass die ursprüngliche Absicht,
Ein anästhesiologischer Assistenzarzt im zweiten »Fehler« korrekt zu schreiben, nicht gelungen ist.
Jahr der Weiterbildung führt in der HNO-Klinik bei So banal dieses Beispiel anmutet, so geeignet ist
einem 76-jährigen Patienten, der eine Laryngek- es doch, zwei grundsätzlich verschiedene Betrach-
tomie und beidseitige Neckdissektion erhält, eine tungsmöglichkeiten von Fehlern aufzuzeigen:
3 Narkose durch. Aufgrund einer gleichzeitig beste- Fehler können als das unerwünschte Ergebnis
henden Leberzirrhose und Synthesestörung von von Handlungen gesehen werden. Entscheidend
Gerinnungsfaktoren erschweren diffuse Blutungen ist, was das Resultat einer Handlung ist und welche
die Operation. Der Operateur wendet daher wie- Konsequenzen daraus folgen. Diese Sichtweise, Feh-
derholt Tupfer mit unverdünntem Suprarenin zur ler lediglich als unerwünschte Folge von Handlun-
lokalen Blutstillung an. Aufgrund der systemischen gen zu sehen, ist in der Medizin weit verbreitet.
Resorption von Suprarenin und einer gleichzei- Fehler können jedoch auch als falsche Hand-
tig bestehenden Koronarinsuffizienz kommt es lung oder als das Fehlen einer richtigen Handlung
nach einer solchen »Lokalbehandlung« zu einer gesehen werden. Fragt man nach der Ursache da-
Sinustachykardie und vereinzelten polytopen ven- für, warum eine Handlung so und nicht anders
trikulären Extrasystolen. Dem Assistenzarzt ist der vollzogen wurde, so möchte man etwas über die
medizinische Zusammenhang zwischen der Adre- möglichen psychologischen Vorgänge erfahren,
nalingabe und der Entstehung von Extrasystolen die zu einer Fehlhandlung führten. Als Fehlerquel-
nicht klar. Deswegen fordert er nicht den Operateur len werden Prozesse der Informationsverarbeitung
auf, die Gabe von Adrenalin zu beenden, sondern (Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit), die
möchte stattdessen die Arrhythmien mit Lidocain Handlungsziele und Pläne, Teamarbeit und Kom-
behandeln. In seiner Aufregung verwechselt er je- munikation untersucht. . Abbildung 3.1 fasst die
doch die Ampullen Lidocain 2% und Beloc 5 mg, die Sichtweisen auf Fehler zusammen.
eine ähnliche Aufschrift tragen und nebeneinander Im klinischen Alltag werden diese beiden Sicht-
im gleichen Fach des Maquet-Wagens liegen. Durch weisen bei einfachen Handlungen häufig gleich-
die Bolusgabe des β-Blockers erleidet der Patient gesetzt: »Es ist kein passender Tubus im Koffer.«
einen Herzstillstand und wird reanimationspflich- scheint das gleiche zu sein wie »Du hast keinen
tig. Nachdem der Assistenzarzt den anästhesiologi- passenden Tubus in den Koffer getan.«. Es gibt eine
schen Oberarzt hinzugezogen hat, kann der Patient klare Zuordnung von Ursache und Wirkung, von
erfolgreich reanimiert werden. Dieser wird in der falscher Handlung und unerwünschtem Ergebnis.
folgenden Woche ohne neurologische Residuen Die Unterscheidung bekommt jedoch dann
von der Intensivstation auf eine Normalstation wei- Gewicht, wenn es sich um komplexere Handlun-
terverlegt. gen handelt, bei denen Ursachen und Wirkungen
nicht so eindeutig zu bestimmen sind und bei de-
3.1 Was ist ein Felher? nen mehrere Personen an den Handlungen beteiligt
sind: Das unerwünschte Ergebnis lässt sich einfach
Die Frage in der Überschrift beinhaltet unbestreitbar als falsch, als Fehler bestimmen. Sucht man nun die
einen Fehler. Doch worin genau besteht der Fehler? eine Ursache für das Ergebnis und findet eine falsche
Darin, dass das Wort orthographisch falsch da steht, Handlung, wird diese einer Person zugeordnet. Die-

Fehler Fehler
als falsche Handlung „Felher“ als falsches Ergebnis

Eher Suche nach Ursachen


Eher Blick auf Konsequenzen
. Abb. 3.1. Sichtweisen auf Fehler
3.2 · Klassifikation von Fehlern
25 3
se personenbezogene Perspektive führt zu Schuld- Unfälle sind Ereignisse, die in gravierenden Konse-
zuweisungen, die möglicherweise für alle anderen quenzen, in der Akutmedizin mit Patientenschädi-
bequem und entlastend sind. Diese Perspektive des gung enden (. Abb. 1.3.). Allerdings können sowohl
»naming, blaming and shaming« ist die in unserer Zwischenfälle wie Unfälle auch durch externe Aus-
Kultur und wohl insbesondere im medizinischen löser entstehen, womit die Begriffe nicht eindeutig
Bereich »normale« Haltung und wird zum Teil auch sind. Sie sind eher hilfreich bei der Untersuchung
juristisch gefordert. von Konsequenzen aus Ereignissen als bei der Ursa-
Von »Fehlern« und »Fehler machen« spricht chenforschung. In der Medizin wird für Unfälle, die
man allerdings nur, wenn... durch ärztliche Fehler entstanden sind, häufig der
4 eine Absicht zum Handeln bestand. Begriff »Behandlungsfehler« verwendet.
4 ein Ziel verfolgt wurde. Möchte man aus Unfällen und Zwischenfäl-
4 man es besser hätte machen können, indem man len etwas lernen, so sollte man die Frage »Wer war
etwas anderes getan hätte. schuld daran?« verlassen und stattdessen drei ande-
re Fragen stellen:
Diese beiden Bedingungen, dass jemand etwas 4 Was genau wurde falsch gemacht? Wie können
tun wollte und etwas anders hätte tun können, tref- die Fehlhandlungen klassifiziert werden?
fen meistens zu, wenn Fehlverhalten zu Schaden 4 Warum wurde etwas falsch gemacht? Welche
geführt hat; selten gibt es höhere Gewalt ohne eige- psychischen Mechanismen haben bei der Feh-
nes Zutun. Für eine juristische Schuldzuweisung ist lerproduktion eine Rolle gespielt?
deshalb wichtig, ob die handelnde Person nicht nur 4 Welche Kontextfaktoren und Rahmenbedin-
hätte anders handeln können, sondern auch wuss- gungen waren wirksam (Team, Organisation,
te, dass sie etwas Falsches tat oder die Folgen ihres Technik)?
Handelns absehen konnte. In der rein juristischen
Aufarbeitung von Fehlern wird gefragt, welche Vor- 3.2 Klassifikation von Fehlern
läufer eine Handlung hatte, welche guten Gründe
eine Person gehabt hatte oder welche Faktoren ihre Es gibt (seit Freuds »Psychopathologie des Alltagsle-
Urteilsfähigkeit verminderten. Diese Fragen führen bens«, 1901) viele Ansätze, Fehler zu klassifizieren.
dazu, eine falsche Handlung zu verstehen und mög- Allerdings gibt es bis heute keine Fehlertaxonomie,
licherweise zu relativieren. die, von allen Psychologen befürwortet, ein umfas-
Geht man noch weiter und nimmt eine systemi- sendes Bild menschlichen Fehlverhaltens beschrei-
sche Perspektive ein, wird klar, dass selten die eine ben würde. Allen Klassifikationen von Fehlern im
falsche Handlung zu einem falschen Ergebnis führt: Sinne von falschen Handlungen ist gemeinsam, dass
Viele einzelne Handlungen auf vielen Ebenen in der sie unterscheiden, ob etwas falsch gemacht wurde
Organisation führen zusammen dazu, dass Patien- (Ausführungsfehler) oder etwas Falsches gemacht
ten zu Schaden kommen. Einerseits führen komple- wurde (Planungsfehler: regelbasierte Fehler, wis-
xe Zusammenhänge dazu, dass aus Handlungen, die sensbasierte Fehler). Die bekannteste Klassifikation
einzeln gar nicht falsch sind, in Kombination mit stammt von dem englischen Kognitionspsycholo-
anderen Faktoren Fehler hervorgehen. Andererseits gen James Reason (1990), der Formen »unsicherer
zeigt die systemische Perspektive auch, dass einzelne Handlungen« untersucht (. Abb. 3.2). An seine
Fehlhandlungen nicht zu falschen Ergebnissen füh- Darstellung angelehnt werden hier Fehler nach drei
ren müssen: Andere Faktoren wie Hilfe durch ande- unterschiedlichen Perspektiven klassifiziert:
re, Kontrollmechanismen, eigene Aufmerksamkeit 4 Auf welcher Ebene der Handlungskontrolle
oder auch Glück können das »Wirksamwerden« (7 Kap. 2.2) werden Fehler gemacht? (Fehler in
eines Fehlers verhindern. der Ausführung vs. Fehler in der Planung)
In der Fehlerforschung wird die Perspektive auf 4 Wird eine Fehlhandlung absichtlich gemacht?
unerwünschte Ergebnisse meist als Zwischenfall (Fehler und Regelverstöße)
oder Unfall untersucht (Perrow 1999). Zwischen- 4 Wie lange vor dem Unfall und auf welcher Ebene
fälle sind Ereignisse, bei denen Fehler manifest ge- einer Organisation wurde ein Fehler gemacht?
worden sind, aber kein größerer Schaden eintrat. (Aktive und latente Fehler)
26 Kapitel 3 · Fehler und Fehlerursachen

Aufmerksamkeitsfehler („slip“)
unaufmerksam • Unterlassung
• Vertauschung
• falsche Abfolge
• zur falschen Zeit

3 unbeabsichtigt vergesslich
Gedächtnisfehler („lapse“)
• geplante Schritte ausgelassen
• aktuellen Stand vergessen
• Absicht vergessen

Unsichere Regelbasierter Fehler („mistake“)


Handlungen fehlerhaft • richtiges Vorgehen zur falschen Zeit
• falsches Vorgehen
• Unwissenheit

Fehlertypen
beabsichtigt

Regelverstoß („violation“)
Verstoß • Routine-Verstoß
• Ausnahme-Verstoß
• Sabotage

. Abb. 3.2. Fehlerklassifikation (Mod. nach Reason 1990)

Neben diesen auf das Individuum bezogenen 4 Fehler bei der Planung einer Handlung: Die
Fehlern sind viele akutmedizinische Behandlungs- Handlung wird so durchgeführt, wie sie geplant
fehler in der Tatsache begründet, dass kritische war. Die beabsichtigte Folge des Handelns (z. B.
Situationen mit Personen verschiedenster Berufs- dass sich der Zustand des Patienten verbessert)
gruppen bewältigt werden müssen. Fehler entstehen tritt jedoch nicht ein.
durch die Art und Weise, wie miteinander kommu-
niziert, ein Problem gelöst und zur Verfügung ste- Planungsfehler können schwieriger zu ent-
hende Ressourcen genützt werden. Somit kommen decken sein und Patienten stärker gefährden als
4 Fehler in der Teamarbeit Fehler in der Ausführung. Menschen können Ab-
weichungen einer Handlung von einer Handlungs-
als Ursachen in der Akutmedizin dazu. absicht erkennen; dass ein Plan unangemessen ist,
kann jedoch lange unbemerkt bleiben. Planungs-
3.2.1 Fehler in Ausführung und Planung fehler werden oft erst relativ spät daran erkannt,
dass das intendierte Ziel (und nicht etwa nur das
Den Fehlerbegriff kann man nur auf intentionale Ergebnis einzelner Handlungen) nicht erreicht wur-
Handlungen anwenden: Eine Handlung wird mit de.
einer Absicht durchgeführt und erreicht doch nicht
das angestrebte Ziel. Ausführungsfehler
Daraus lässt sich die erste grundlegende Unter- Die geplante Handlung ist angemessen, jedoch
scheidung ableiten: weicht die ausgeführte Handlung vom beabsichtig-
4 Fehler bei der Ausführung einer Handlung: Ein ten Verlauf ab. Dies ist bei der Medikamentenver-
Misserfolg tritt ein, weil Handlungen anders wechselung des Eingangsbeispiels der Fall. Ausfüh-
ausgeführt werden als sie ursprünglich geplant rungsfehler lassen sich nach ihrem Ursprung noch-
waren. mals unterteilen in
3.2 · Klassifikation von Fehlern
27 3
4 Aufmerksamkeitsfehler, die vor allem dann auf-
treten, wenn automatisierte Handlungen in ver- 4. Strategien umsetzen
trauter Umgebung durchgeführt werden, 5. Ergebnis überprüfen
4 Gedächtnisfehler, bei denen Teile von Arbeits- 5 Ergebniskontrolle
abläufen nicht korrekt erinnert werden. 5 Selbstreflexion

Planungsfehler
Hier liegt das Problem in der Angemessenheit des Unzureichendes Problemlösen kann durch Feh-
Plans, der je nach Handlungsanforderung anders ler auf jeder dieser Stufen entstehen. Analysiert man
ausfallen kann: Ist die Situation bekannt, besteht Problemlöseprozesse, so findet man bestimmte
dieser »Plan« in der Anwendung einer Regel. Fehler »Kardinalfehler« im Umgang mit komplexen Pro-
in der Anwendung von Regeln können sein: blemen immer wieder (Dörner 1989, 1999; Dörner
4 Falsche Anwendung einer »guten« Regel (weil u. Schaub 1995).
Kontraindikationen nicht beachtet wurden),
4 Anwendung einer »falschen« Regel oder
4 Nichtanwendung einer »guten« Regel. »Kardinalfehler« beim Umgang mit
komplexen Problemen
Fehlt Wissen über die Situation, so muss man 5 Es wird nicht damit gerechnet, dass es
einen Plan aus dem vorhandenen Wissen gene- ein Problem geben könnte (»Planoptimis-
rieren. Hier können Fehler entstehen, weil etwas mus«).
Falsches gewusst wird oder Wissen im falschen 5 Nur Information, die zu den eigenen
Kontext angewendet wird. So gesehen, trägt neben Annahmen passt, wird zur Kenntnis
dem Ausführungsfehler des Assistenzarztes auch genommen.
ein Planungsfehler zu der kritischen Situation des 5 Es wird ohne ausreichende Zielklärung
Patienten bei. Anstatt sofort das Antiarrhythmikum und Planung ad hoc gehandelt.
Lidocain zu applizieren, hätte er den Operateur auf- 5 Zielkonflikte werden nicht beachtet.
fordern können, die Suprareninzufuhr zu unterbin- 5 Bei der Planung werden Nebenwirkungen
den. und Risiken vernachlässigt.
5 Die Auswirkungen des Handelns werden
3.2.2 Fehler beim Problemlösen nicht nachhaltig kontrolliert.

Kritische Situationen, bei denen eine Lageeinschät-


zung und die erforderlichen Handlungen erst durch In den 7 Kapiteln 6 und 7 werden Fehler auf den
Nachdenken ermittelt werden müssen, erfordern verschiedenen Stufen der äußeren, beobachtbaren
ein Problemlösen. Erfolgreiches Problemlösen Ordnung des Handelns (Handlungsorganisation)
lässt sich in die folgenden Teilschritte zerlegen genauer besprochen.
(7 Kap. 10):
3.2.3 Fehler und Regelverstöße

1. Vorbereitet sein
Die bisher aufgeführten Fehlerformen bewirken,
2. Situation analysieren
dass eine Absicht nicht umgesetzt werden kann
5 Informationsmanagement
oder ein Ziel nicht erreicht wird. Sie werden auch
5 Modellbildung
von dem Handelnden als Fehler wahrgenommen.
3. Pläne entwerfen
Es gibt jedoch auch Verhaltensweisen, die nicht
5 Zielbildung
von der Person, wohl aber von anderen als Fehler
5 Risikoabschätzung
eingestuft werden: das Nicht-Beachten von Regeln
5 Planen
und Handlungsvorschriften. Auch in der Akutme-
5 Entscheiden
dizin gibt es Regeln, Empfehlungen und Leitlinien,
6
die das richtige Handeln von Ärzten ermöglichen
28 Kapitel 3 · Fehler und Fehlerursachen

sollen. Ein absichtliches Abweichen von solchen schenfällen und kritischen Situationen beitragen:
Verfahrensvorschriften wird als Verstoß bezeich- Die Unterscheidung, ob unfallauslösende Fehler von
net. den aktuell handelnden Personen aktiv begangen
Verstöße gegen Sicherheitsregeln werden ab- wurden oder im System latent verborgen »schlum-
sichtlich begangen, aber haben (außer im Fall der merten«. Aktive und latente Fehler unterscheiden
Sabotage) nicht das Ziel, eine unsichere Handlung sich daher in den beiden Punkten:
3 zu begehen oder gar den Patienten zu schädigen. 4 Von wem wurde der Fehler begangen?
Regelverstöße werden begangen, weil sie sinnvoll 4 Wie viel Zeit ist verstrichen, bis die Fehlhand-
sind für die Ziele, denen sie dienen: Medizinische lung zu einem unerwünschten Ereignis geführt
»Sacherfordernisse« kollidieren mit anderen Be- hat?
dürfnissen. Die Entscheidung, die Nüchternheit
für einen Elektiveingriff nicht abzuwarten, weil der Aktive Fehler
Narkosebeginn erst in den Morgenstunden stattfin- Aktive Fehler werden von Menschen unmittelbar an
den würde, kann durch das Schlafbedürfnis bedingt der Mensch-System Schnittstelle (oder Arzt-Patien-
sein. Die Entscheidung, trotz eines vorbeschriebe- ten Schnittstelle) begangen, am »scharfen Ende« ei-
nen schwierigen Atemwegs eine konventionelle In- ner Organisation. Aktive Fehler sind sichtbar, lösen
tubation zu versuchen, entspringt möglicherweise Zwischenfälle oder Unfälle direkt aus und haben so-
dem Bedürfnis, Kompetenz zu zeigen. mit unmittelbare Konsequenzen. Weil aktive Fehler
Regelverstöße entspringen also zum Teil der leicht identifizierbar sind, werden sie Gegenstand
Konkurrenz der Sicherheitsziele zu Effektivität, des öffentlichen Interesses und haben eine Sanktio-
Einfachheit etc. Eine weitere Ursache für Regel- nierung der verursachenden Person zur Folge. Das
verstöße liegt im Prinzip des Lernens: Wenn Si- Verwechseln von zwei Medikamenten wie der Am-
cherheitsregeln mit viel »Puffer« ausgestattet sind, pullen Lidocain 2% und Beloc 5 mg ist ein solcher
also eine Übertretung nicht sofort »bestraft« wird, aktiver Fehler.
lernen Menschen, dass sie solche Regeln gefahrlos
übertreten können. Sie werden im Gegenteil noch Latente Fehler
für die Übertretung belohnt, da die anderen Ziele Sicherheitskritische Entscheidungen werden auch
(schnelles, einfaches Handeln, Bequemlichkeit) er- weitab vom Geschehen am Patienten getroffen,
reicht werden. Solche Regelübertretungen erfolgen von Menschen, die mit Patienten weder räumlich
bald gewohnheitsmäßig (Routineverstöße) und noch zeitlich direkt zu tun haben. Beeinträchtigen
gehören dann zum festen Verhaltensrepertoire so- Fehlentscheidungen die Sicherheit eines Systems,
wie zur Unternehmenskultur (7 Kap. 14). Sie gelten werden sie als latente Fehler bezeichnet. Laten-
nach ihrer »Etablierung« als Gewohnheit erst dann te Fehler sind also Entscheidungen »am stumpfen
als Fehler, wenn sie zu einer Patientenschädigung Ende« der Organisation, die auf allen Ebenen (von
beigetragen haben. direkten Vorgesetzten bis zur Verwaltung) gemacht
Anhand von Regelverstößen und Planungs- werden. Latente Fehler können in Strukturen
fehlern lässt sich eine funktionale Sichtweise von (z. B. bauliche Gegebenheiten) oder Prozessen
Handeln zeigen (7 Kap. 4): Jede Handlung verfolgt (Ausbildung, Dienstplangestaltung) akutmedi-
ein Ziel und dient der Befriedigung von Bedürfnis- zinischer Organisationen vorliegen. Sie haben kei-
sen – auch Handlungen, die sich im Nachhinein als ne unmittelbaren Konsequenzen und bleiben so-
Fehler herausstellen! Die Motive, die das Handeln lange unbemerkt, bis sie in Kombination mit lokal
leiten, sind nicht immer bewusst. Das Sachziel (z. B. auslösenden Faktoren (z. B. aktiven Fehlern von
sichere Intubation) ist nicht unbedingt das hand- Personen) die »Schutzbarrieren« eines Systems
lungsleitende Ziel. durchbrechen. Analysen von Katastrophen aus In-
dustrie und Raumfahrt zeigen, dass latente Fehler
3.2.4 Aktive und latente Fehler unter Umständen über ein Jahrzehnt zurückliegen
können.
Eine dritte Unterscheidung nach Reason (1990) ist Jedes komplexe Arbeitssystem trägt zu jedem
wichtig, um zu verstehen, wie Menschen zu Zwi- beliebigen Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl la-
3.3 · Fehlerketten, Zwischenfälle und Unfälle
29 3
tenter Fehler in sich. Doch es gilt auch für Orga- 3.3 Fehlerketten, Zwischenfälle
nisationsentscheidungen: Was ein Fehler ist, kann und Unfälle
nur vom Ziel aus bestimmt werden! Manchmal ist
in Krankenhäusern nicht die Patientensicherheit Aus der Kombination von aktiven und latenten Feh-
das oberste Ziel, sondern (durch die Organisation lern lässt sich das Zustandekommen von Unfällen
implizit oder explizit vorgegebene) Ziele wie der und Zwischenfällen erklären. Reason (1990, 2001)
reibungslose Ablauf im OP, die Schnelligkeit der beschreibt dieses Aufeinandertreffen vieler Fakto-
Wechsel, Sparsamkeit und Ökonomie. Dann wer- ren anhand des »Käsescheibenmodells« (. Abb. 3.3):
den Vorkommnisse wie die Prämedikation durch Die Entstehung eines Unfalls ist dabei wie die Flug-
einen anderen als den anästhesierenden Arzt als bahn eines Projektils gedacht, das normalerweise
normal angesehen: Sie dienen der Erleichterung durch vielfältige Barrieren davon abgehalten wird,
der Arbeitsorganisation. Für die Patientensicherheit Schaden anzurichten.
sind es aber latente Fehler. Latente Fehler (hier als »Löcher« in den Barri-
erescheiben) ermöglichen es, dass aktive Fehler zu
3.2.5 Fehler in der Teamarbeit Patientenschädigungen führen, wenn sie nicht mehr
korrigiert werden können. Dieses Modell ist auf
Teamarbeit ist bei der Bewältigung kritischer Si- die Arbeitswelt der Anästhesie übertragen worden
tuationen meist nötig. Sie erhöht aber auch für (Gaba et al. 1987).
alle Beteiligten die Komplexität, da die sozialen Bekannt geworden ist diese Idee unter dem Be-
Anforderungen zu den fachinhaltlichen hinzutre- griff der »Fehlerkette«; aktive Fehler stehen somit
ten. Die Mitglieder müssen zusätzlich zu allen ge- am Ende und nicht am Anfang dieser Kette. Men-
nannten Aufgaben ein gemeinsames Problemver- schen, die aktive Fehler begehen, tragen neben ih-
ständnis herstellen, sich koordinieren, Aufgaben rer eigenen Verantwortlichkeit die »Erblast« von
verteilen, Verantwortung und Führung regeln, etc. latenten Fehlern wie unzureichende Ausbildung,
(7 Kap. 11). Probleme, die bei Entscheidungen von problematische Dienstplangestaltung, ökonomische
Teams in kritischen Situationen auftreten können, Ressourcenbegrenzung und vielem mehr.
sind Führungs- und Verantwortungsdiffusion, un- Genau genommen müsste man aber meistens
klare Kommunikation und eine Verschiebung der von einem Fehlernetz sprechen: Ein Fehler führt
Risikobereitschaft. Um Fehler in der Teamarbeit nicht geradlinig zum nächsten Fehler, sondern
zu vermeiden, werden ganz eigene Fähigkeiten die bei Reason genannten »lokalen Auslöser« und
verlangt. »ungewöhnlichen Umstände« treffen mit Fehlern

. Abb. 3.3. Die Dyna-


mik der Unfallentste-
hung. Eine komplexe
Wechselwirkung von
latenten Fehlern und
einer Vielzahl an loka-
len Faktoren führt zu
einem Unfall. Die Bahn
einer Unfallgelegenheit
durchdringt dabei
mehrere Abwehrsys-
teme. (Nach Reason
1990)
30 Kapitel 3 · Fehler und Fehlerursachen

zusammen und schlüpfen so durch das Sicherheits-


5 Fehler können auf allen Ebenen der
netz. Ob »Kette« oder »Netz« – das Ergebnis, der
Handlungskontrolle begangen werden
Unfall, ist nur aus der Verknüpfung der einzelnen
(Automatismen, Regelanwendung,
Fehler und der Randbedingungen möglich. Schwer-
Wissensanwendung).
wiegende Ereignisse sind also nicht durch einen
5 Handeln ist zielgeleitet und dient der
Fehler einer Person verursacht, auch wenn es auf
3 den ersten Blick so aussieht.
Befriedigung von Bedürfnissen.
Zugleich ist es auf Einfachheit und
Betrachten wir das Fallbeispiel vom Anfang
Sparsamkeit gerichtet.
des Kapitels, so scheint der Fall eindeutig zu sein:
5 Bei jeder Handlung spielen Gedächtnis,
Ein Assistenzarzt verwechselt zwei Medikamen-
Wissen, Emotionen und Motive zusammen
te und führt damit eine Asystolie bei seinem Pa-
und werden von dem sozialen Kontext
tienten herbei. Gibt man sich jedoch nicht damit
beeinflusst.
zufrieden, den Schuldigen benannt zu haben, so
5 Fehler, die »vorne« am Patienten began-
stellen sich bei näherer Betrachtung dieses Falles
gen werden, sind »aktive« Fehler. »Latente
viele Fragen: Welches Teamverständnis herrscht in
Fehler« sind Fehlentscheidungen ohne
einem Operationssaal, in dem ein Operateur Supra-
direkte Auswirkungen auf Patienten.
renin in Reanimationsdosen lokal applizieren kann,
Sie »schlummern« unter Umständen lange
ohne dass mit ihm die Folgen einer solchen Hand-
Zeit im System.
lung besprochen werden (7 Kap. 12)? Was ist der
5 Unfälle (Patientenschädigungen) ent-
Grund dafür, dass ein unerfahrener Arzt Antiar-
stehen, wenn Fehlentscheidungen
rhytmika appliziert, ohne zuvor Rücksprache mit
auf vielen Ebenen zusammenwirken
einem Fach- oder Oberarzt genommen zu haben
und die Sicherheitsbarrieren versagen.
(7 Kap. 7.1.2)? Warum lagen zwei Medikamente mit
5 Fehler sind unvermeidbarer Teil mensch-
zum Verwechseln ähnlicher Beschriftung neben-
lichen Handelns. Unfälle sind vermeidbar.
einander in einem Medikamentenfach (7 Kap. 5.3)?
Warum hat die herstellende Firma nicht schon
lange die Beschriftung der Medikamente geändert,
obwohl dies ärztlicherseits wiederholt gefordert
wurde? Jeder dieser Faktoren für sich genom- Literatur
men war noch keine hinreichende Bedingung für
den Zwischenfall. Erst das Zusammentreffen aller Dörner D (1989) Die Logik des Misslingens. Rowohlt, Reinbek
bei Hamburg
Faktoren führte zu dem beinahe letalen Behand-
Dörner D, Schaub H (1995) Handeln in Unbestimmtheit und
lungsfehler. Komplexität. Organisationsentwicklung, 14: 34–47
Dieser Gedanke lässt sich auch so formulieren: Dörner D, Kreuzig HW, Reither F, Stäudel T (1983) Lohhausen:
Fehler sind in komplexen Arbeitssystemen »nor- Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Hu-
mal« (Perrow 1999) und unvermeidlich. Unfälle je- ber, Bern
Freud S (1901) Psychopatholgie des Alltagslebens. Reprint
doch kommen nur zustande, wenn alle Sicherheits-
1948. Fischer, Frankfurt am Main
barrieren versagen. Gaba DM, Maxwell M, DeAnda A (1987) Anesthetic mishaps:
breaking the chain of accident evolution. Anesthesiology
3.4 Fehler – Auf einen Blick 66: 670–6
Perrow C (1999) Normal accidents. Living with High-Risk
Technologies. Princeton University Press, Princeton NJ
Reason J (1990) Human Error. Cambridge University Press,
5 Definition des Fehlers: Eine Handlung
Cambridge UK
liefert nicht das intendierte Ergebnis. Reason J (2001) Understanding adverse events: the human
5 Der Begriff des Fehlers kann nur auf factor In: Vincent C (Hrsg) Clinical Risk Management. En-
beabsichtigte Handlungen angewendet hancing patient safety. BMJ Books, London, 9–30
werden.
6
4

Die Psychologie menschlichen Handelns

4.1 Die »Psycho-Logik« von Denken, Wollen und Fühlen —32

4.2 Grundlagen menschlichen Handelns —33


4.2.1 Bio-psycho-soziale Voraussetzungen des Handelns —33
4.2.2 Handeln —34

4.3 Motivation —36


4.3.1 Vom Bedarf zur Absicht —36
4.3.2 Kompetenzempfinden und Kontrollmotivation —37

4.4 Emotionen —38


4.4.1 Was sind Emotionen? —38
4.4.2 Emotionen und Handlungsregulation —39

4.5 Denken —40


4.5.1 Wissen und Schemata —40
4.5.2 Gedächtnis —41
4.5.3 Denken als Prozess —41

4.6 Sicherheitsgefährdende Einstellungen —42

4.7 Grundlagen des Handelns – Auf einen Blick —43

Literatur —43
32 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

) ) Fallbeispiel druck kann trotz 2000 ml Flüssigkeit nur mit der Bo-
lusgabe von Suprarenin aufrecht erhalten werden.
In einer Kleinstadt kommt es gegen 2 Uhr morgens zu Der Notarzt entschließt sich, die Patientin aus dem
einer Verkehrskontrolle, bei der ein PKW-Fahrer ohne RTW in den KTW zu verladen und den Patienten mit
Vorwarnung mehrere Schüsse auf die kontrollieren- der Diagnose eines perforierten Thorax- und Ab-
de Polizistin abgibt. Das Feuer wird von dem zweiten dominaltraumas mit dem RTW in das 20 Minuten
Streifenbeamten sofort erwidert, der den Täter mit entfernte Krankenhaus der Maximalversorgung zu
Schüssen in den Brustkorb und den Bauch trifft. Über transportieren. Der Patient hat während des gesam-
4 die Rettungsleitstelle werden ein NEF, ein RTW und ten Transports einen instabilen Kreislauf und verliert
ein KTW alarmiert. Der 8 Minuten später eintreffen- laufend Blut über die Thoraxdrainagen. Der Erstbe-
de Notarzt findet eine 28-jährige bewusstseinsklare fund im Schockraum ergibt als Grund für die hämo-
Polizeibeamtin vor, die nach einem Durchschuss des dynamische Instabilität einen Hämatopneumothorax
Oberarms aus der A. brachialis blutet und über eine und massiv freie Flüssigkeit im Bauchraum. Trotz so-
komplette Gefühllosigkeit des Arms klagt. Weitere fortiger operativer Intervention verstirbt der Patient
Verletzungen sind nicht vorhanden, da die Beamtin wenig später noch auf dem Operationstisch. Die Po-
eine kugelsichere Weste trägt. Mit Hilfe eines Druck- lizistin wird ebenfalls in der gleichen Nacht operiert
verbands kommt die Blutung zum Stillstand. Zu und behält eine Restschwäche des rechten Arms.
diesem Zeitpunkt liegt der nicht-invasiv gemessene
Blutdruck bei 90/50 mmHg und die Herzfrequenz bei Ein Notarzt hat nach einem Schusswechsel eine
95/min. Der Notarzt legt bei der Patientin einen peri- leicht- und eine schwerverletzte Person zu versor-
phervenösen Zugang und beauftragt einen Rettung- gen: Auf der einen Seite eine kreislaufstabile weib-
sassistenten, sich um den verletzten Fahrer zu küm- liche Polizeibeamtin mit einer arteriellen Blutung
mern. Dieser findet einen bewusstseinsgetrübten, nach perforierender Gefäßverletzung, auf der an-
tachypnoeischen Patienten mit schwach tastbaren deren Seite einen männlichen Angreifer im Volu-
Pulsen neben dem PKW am Boden liegend vor. menmangelschock aufgrund perforierender Verlet-
Da sich die Venenpunktion bei der Polizistin schwie- zungen des Thorax und Abdomens. Entgegen der
riger gestaltet, beauftragt der Notarzt die Besat- medizinischen Dringlichkeit beginnt der Notarzt
zung des KTW, bei dem Täter einen iv-Zugang zu le- mit der Versorgung der leichter verletzten Person.
gen und mit der Infusion von Kolloidallösungen zu Er belegt das wirksamere Rettungsmittel (RTW) mit
beginnen. Zeitgleich soll er 6 l Sauerstoff über eine der leichter verletzten Patientin und widmet sich
Gesichtsmaske erhalten. Der Notarzt begleitet die anschließend ausführlich ihrer Versorgung. Dies
Patientin in den RTW, wo er ihr einen zweiten peri- geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem der Akutme-
phervenösen Zugang legt und die klinische Unter- diziner über das Verletzungsmuster des Täters und
suchung komplettiert. Diese ergibt außer einer Zer- die damit verbundene vitale Bedrohung informiert
reißung der A. brachialis und einer Instabilität des ist. Die notärztliche Behandlung des polytraumati-
Humerus keine weiteren Verletzungen. Erst jetzt, sierten Patienten beginnt sehr spät und wird durch
15 Minuten nach Eintreffen am Einsatzort, widmet die notwendige Umbelegung der Rettungsfahrzeuge
er sich der Behandlung des Täters, der inzwischen weiter verzögert. Perforierende Thoraxverletzungen
vollständig eingetrübt ist. Auf dem entkleideten sind eines der wenigen Verletzungsmuster, bei de-
Brustkorb und über dem Epigastrium sind mehre- nen ein rascher Transport in die nächste geeignete
re Einschusswunden zu sehen, aus denen es blu- Klinik (scoop-and-run) möglicherweise eine bessere
tet. Der Patient hat nur schwach tastbare Pulse der Prognose für Patienten erbringt als eine längere Ver-
A.carotis. Der Notarzt legt zwei weitere peripherve- sorgung vor Ort (stay-and-play).
nöse Zugänge und intubiert den Patienten. Bei der
Auskultation der Lunge stellt er ein deutlich abge- 4.1 Die »Psycho-Logik« von Denken,
schwächtes Atemgeräusch rechts fest. Aufgrund Wollen und Fühlen
eines beginnenden Hautemphysems legt er auf der
rechten Seite eine Thoraxdrainage ein, aus der sich Gutes Handeln ist das Ziel allen ärztlichen Bemü-
Luft und 600 ml Blut entleeren. Der arterielle Blut- hens. Seit den Anfängen der modernen Medizin
4.2 · Grundlagen menschlichen Handelns
33 4
. Abb. 4.1. Anstelle des oft
angenommenen, rein rationalen
Handelns in Antwort auf Proble-
me der Umwelt (A) spielen bei
der Antwort auf Umwelteinflüs-
se Denken, Wollen und Fühlen
eine Rolle (B)

hat ärztliches Handeln für sich in Anspruch ge- maßen geleitet. Die Entscheidungen des Notarztes
nommen, jederzeit eine rational begründbare The- im Nachhinein als »unlogisch« und »irrational« zu
rapie durchführen zu können. Ein solches, grob bewerten, trifft deshalb nicht den Kern.
vereinfachendes Modell einer Logik des Handelns
impliziert, dass menschliches Handeln seinen 4.2 Grundlagen menschlichen
Ursprung ausschließlich in kognitiven Prozessen Handelns
hat, die als Reaktion auf Umweltreize entstehen.
Handeln wird demnach allein durch die Vernunft Um die in diesem Kapitel skizzierte »Psycho-Lo-
reguliert (. Abb. 4.1A). Das Handeln des Notarztes gik« besser verstehen zu können, werden einige
folgt jedoch nicht diesem Modell: Entgegen der grundlegende Annahmen und Definitionen voraus-
medizinischen Notwendigkeit widmet er seine geschickt. Diese orientieren sich an der Hand-
Aufmerksamkeit der leichtverletzten Person. Über lungspsychologie von Hacker (1986) und Dörner
die Gründe kann man spekulieren: Möglicherweise (1999).
hat es eine Rolle gespielt, dass die Patientin Opfer
eines Gewaltverbrechens ist, dass sie eine Uniform 4.2.1 Bio-psycho-soziale
trägt und von einem besorgten Polizeibeamten be- Voraussetzungen des Handelns
gleitet wird oder dass es sich um eine junge Frau
handelt. Welcher Grund auch immer zutreffen Menschen sind biologische Wesen, die zur Befriedi-
mag, man hat als unbeteiligter Beobachter den gung biologischer Bedürfnisse ihren Geist und ihren
Eindruck, dass eine Reihe »un-logischer« Faktoren Körper einsetzen. Durch ihre geistigen Kapazitäten
das Handeln geleitet haben. Und dieser Eindruck sind Menschen auch »psychologische Wesen«. Sie
trifft in der Tat zu: Es gibt kein Handeln, das nur nehmen ihre Welt subjektiv wahr und wollen sub-
durch Vernunft gesteuert wird; Handeln entspringt jektive psychische Bedürfnisse befriedigen. Darüber
immer einer komplexen Interaktion von Denken, hinaus leben Menschen in Gemeinschaften und sind
Wollen und Fühlen. Daher ist es angemessener, damit »soziale Wesen«, die zum Überleben auf Ko-
von einer Psycho-Logik menschlichen Handelns zu operation angewiesen sind. Aus der entwicklungs-
sprechen (. Abb. 4.1B). geschichtlich parallelen Entwicklung biologischer,
Die »Psycho-Logik« der Interaktion von Den- psychologischer und sozialer Prozesse entsteht
ken, Motivation und Emotion befähigt Menschen, die für die »bio-psycho-soziale Einheit« Mensch
die komplexen und dynamischen Anforderungen (Kleinhempel et al. 1996; Brenner 2002) charakte-
der Akutmedizin zu bewältigen. Sie erklärt darüber ristische Art, wie Denken und Handeln bestimmt
hinaus, warum der Notarzt sein Handeln nicht an wird (Handlungsregulation).
medizinischen Leitlinien ausgerichtet hat: Er war 4 Biologisch sind das menschliche Gehirn, das
von Gefühlen, Bedürfnissen und Denken gleicher- periphere Nervensystem und der menschliche
34 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

Körper insgesamt Träger von Handlungspro- gerichtete geistige Prozesse, die durch Bedürfnisse
zessen. Menschliches Handeln basiert auf der veranlasst und aufrecht erhalten werden. Handeln
phylogenetisch geprägten Struktur neuronaler ist nicht zwingend an die verhaltensseitige, motori-
Prozesse; dies wird beispielsweise in der Wahr- sche Ausführung oder einen Sprechakt gebunden,
nehmung (7 Kap. 5) und in der Stressreaktion mit der wir die Umwelt in unserem Sinne beeinflus-
(7 Kap. 9) deutlich. sen oder verändern wollen. Auch rein gedankliche
4 Psychologisch stehen Denken und Sprache als Operationen, wie das Planen oder die Erzeugung
Handlungsinstrumente im Vordergrund, wo- einer Vorstellung von Objekten sind Handlungen,
4 bei sprachliches Handeln sowohl Ergebnis von sofern sie mit einem Ziel verbunden sind.
als auch wichtigstes Instrument zur Regulation
sozialer Beziehungen ist. Denken ist darüber Handeln kann als Regelkreis beschrieben
hinaus untrennbar mit Gefühlen und Motiven werden
verbunden. Theoretische Modelle des Handelns gehen davon
4 Die individuelle psychische Entwicklung ist aus, dass geistige Prozesse als Regelkreise beschrie-
untrennbar mit der sozialen Entwicklung, der ben werden können (Miller et al. 1960). Demnach
Soziogenese verbunden. Menschen sind Grup- regulieren sich Handlungsprozesse an den gedank-
penwesen, die biologisch auf Fürsorge und lich vorweggenommenen Ziel- oder Soll-Zustän-
Kooperation, psychologisch auf sprachlich- den: Man tut etwas so lange, bis ein jeweils überge-
kommunikative Informationsverarbeitung und ordnetes Ziel erreicht ist. Die Denkprozesse laufen
sozial auf die Einbindung in eine stabile soziale zwischen hierarchisch geordneten Zielen (7 Kap. 7)
Gemeinschaft ausgerichtet sind. »auf und ab«. Die gedankliche Struktur, die bei-
spielsweise in der Auseinandersetzung des Notarz-
4.2.2 Handeln tes mit dem schwerverletzten Gewalttäter entsteht,
weist ein Oberziel auf (den Patienten am Leben
zu erhalten), das wiederum in etliche Teil- und
Handeln ist bedingt durch Zwischenziele (Anlegen venöser Zugänge, Intubati-
Umweltanforderungen und psychische on, Einbringen einer Thoraxdrainage) zerfällt. Auf
Prozesse diese Weise entsteht eine hierarchische und sequen-
Welche Handlungsmöglichkeiten der eingangs be- tielle gedankliche Ordnung, die so lange aufrecht
schriebene Notarzt hat, wird durch die Eigenschaften erhalten bleibt, bis das Oberziel erreicht ist (Hacker
der Notfallsituation bestimmt: Der Ort des Notfall- 1986).
geschehens, die Art der Schädigung, der klinische
Zustand seiner Patienten und die verfügbaren tech- Handeln ist Informationsverarbeitung
nischen und personellen Ressourcen. Zugleich wird Menschliche Handlungsregulation kann als Infor-
sein Handeln aber auch von seinem Wissen und den mationsverarbeitung aufgefasst werden (Klix 1971;
Gedanken, Gefühlen und Absichten bestimmt, mit Dörner 1976). In psychologischen Handlungsthe-
denen er am Notfallort eintrifft oder die er nach ei- orien sind Motivation, Emotion und Denken Pro-
ner ersten Situationseinschätzung dort entwickelt. zesse der Informationsverarbeitung, die Mensch-
Da die Interaktion von Denken, Wollen und Fühlen Umwelt-Beziehungen aufrecht erhalten.
mit einer Situation als Ergebnis menschliches Han-
deln hervorbringt, sprechen wir auch von der »Psy- Die psychischen Instanzen Wollen,
cho-Logik« des Handelns. Fühlen und Denken bilden ein autonomes
System
Handeln ist bewusst und zielgerichtet Ohne dass sich der Notarzt dessen bewusst ist, be-
In der Psychologie versteht man unter Handeln eine einflusst sein Wollen, Fühlen und Denken die Be-
Abfolge von Aktionen, die auf ein Ziel ausgerichtet ziehungen zwischen ihm selbst und seiner Umwelt.
sind. Eine Handlung im psychologischen Sinne ist Weil dieser Einfluss auf das eigene Handeln für ihn
»die kleinste abgrenzbare Einheit bewusst gesteuer- verborgen geschieht, spricht man auch von autono-
ter Tätigkeit« (Hacker 1986). Handlungen sind ziel- mer Handlungsregulation.
4.2 · Grundlagen menschlichen Handelns
35 4
Handeln ist in einen sozialen Handlungsfehler sind nicht schicksalhaft
Zusammenhang eingebettet Trotz ihrer Bedingtheit durch psychische Prozesse
Für den psychologischen Handlungsbegriff ist sind Handlungsfehler kein unvermeidbares und
wichtig, dass individuelles Handeln sozial »einge- damit »schicksalhaftes« Ereignis, das man macht-
bettet« ist. Die Ziele individueller Tätigkeiten ste- los hinnehmen müsste. Umstände, die Handlungs-
hen in Zusammenhang mit Zielen einer sozialen fehler begünstigen, können im Vorfeld analysiert
Gemeinschaft. Unser Denken und Tun dient immer werden (Reason 1997; 7 Kap. 3); Arbeitsplätze sowie
sowohl der individuellen Bedürfnisbefriedigung als Organisationsstrukturen können langfristig fehler-
auch der Aufrechterhaltung von produktiven Grup- vermeidend gestaltet werden. Die Psycho-Logik des
penbeziehungen. Möglicherweise entspringt die be- individuellen Handlungsfehlers kann häufig durch
vorzugende Behandlung der Polizistin eben diesem bewusste Anstrengung und gute Teamarbeit durch-
Wunsch, eine produktive Gruppenbeziehung zu brochen werden.
staatlich ausführenden Organen aufrecht zu erhal- Menschen können unter sehr verschiedenen
ten. Umweltbedingungen erfolgreich handeln, weil sie
eine große Flexibilität besitzen, sich an die Anfor-
Handeln lässt sich (nur) auf der Ebene derungen ihrer Umwelt anzupassen. Merkmale
beobachtbaren Tuns beschreiben der »Umwelt« Akutmedizin (Unbestimmtheit, In-
Das Handeln des Notarztes ist beobachtbar und transparenz und Dynamik; 7 Kap. 2) werden als zu
beschreibbar. Die Prozesse, die es bestimmen, blei- bewältigende Einflüsse auf menschliches Handeln,
ben hingegen verborgen und müssen erschlossen als psychische Regulationsanforderungen wirksam.
werden. Die äußere, beobachtbare Ordnung des Handeln wird durch die im Folgenden genannten
Handelns nennen wir Handlungsorganisation, die Voraussetzungen bestimmt.
innere Ordnung Handlungsregulation.
Aus den vorgestellten Grundlagen lassen sich
5 Handeln ist nur aus der »Psycho-Logik«
einige Postulate ableiten, die für das Verständnis
der Handlungsregulation zu verstehen
von Fehlern in der Akutmedizin bedeutsam sind:
5 Menschliches Handeln vereint biologi-
Auch Handlungsfehler folgen der Psycho- sche, psychologische und soziale Prozesse
Logik der Handlungsregulation 5 Es ist von Entwickungsgeschichte des
Menschen (Phylogenese), der individu-
Auch Handeln, das zu Fehlern führt, wird absichts-
ellen Geschichte (Ontogenese) und dem
voll begangen. Medizinisch gesehen hat der Notarzt
»kulturellen Erbe« beeinflusst
einen Fehler begangen, indem er die leichtverletzte
5 Handeln ist bewusst und zielgerichtet
Polizistin und nicht den schwerer verletzten PKW-
5 Handeln ist als Tun beobachtbar,
Fahrer zuerst versorgt hat. Dies heißt aber nicht,
die zugrunde liegenden »autonomen«
dass der Notarzt den polytraumatisierten Patienten
Prozesse (Motivation, Emotion, Kognition)
bewusst schädigen wollte. Der späte Versorgungsbe-
nicht
ginn war davon verursacht, dass andere Absichten
5 Handeln ist als Informationsverarbeitung
des Notarztes stärker waren. Die handlungsleitende
verstehbar
Absicht war in diesem Fall nicht die Sicherheit des
5 Handeln dient individuellen und sozialen
schwerverletzten Patienten (7 Kap. 3). Der medizi-
Bedürfnissen
nische Fehler wird also durch reguläre psychische
5 Auch Fehlentscheidungen dienen der
Prozesse erzeugt. Dies kann man dahingehend
Befriedigung von Bedürfnissen, sind also
verallgemeinern, dass Handlungsfehler nicht ir-
kein irrationales Verhalten
rationalen oder anpassungsgestörten psychischen
Mechanismen entspringen. Vielmehr nehmen sie
ihren Ursprung in nützlichen psychologischen Pro- Die im Folgenden näher beschriebenen psychi-
zessen. Handlungsfehler folgen, genau wie richtige schen Prozesse sind für die Handlungsregulation
Handlungen, der Psycho-Logik des menschlichen von Bedeutung.
Handelns.
36 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

4.3 Motivation nisse zugleich befriedigen und damit mehrere Mo-


tive zugleich aktiv sind. Geht man beispielsweise in
4.3.1 Vom Bedarf zur Absicht die Kantine, so tut man das sowohl zur Befriedigung
des Hungers als auch um möglicherweise Kollegen
Bedarf, Bedürfnis, Motiv zu treffen, Neuigkeiten zu hören oder Informatio-
Jeder menschliche Organismus hat bestimmte nen miteinander auszutauschen. Solche mehrfach
physiologische Ist-Soll-Differenzen auszugleichen. determinierten Handlungsziele wie »in die Kantine
Der physiologische Bedarf wird vom Menschen als essen gehen« bezeichnet man als Absichten: Eine
4 Bedürfnis wahrgenommen (Bischof 1985), wenn Absicht ist ein »Motivamalgam«, das aus verschie-
die körpereigenen Regulationen nicht mehr aus- denen Motiven gebildet wird (. Abb. 4.2). Absichten
reichen. Hunger ist ein solches Bedürfnis, das auf entstehen permanent neu – je nach Veränderungen
einem Bedarf an Nährstoffen beruht, der nicht der physiologischen und psychologischen Bedarfs-
mehr aus den Körperspeichern gedeckt werden lage des Organismus – und treten in Konkurrenz zu
kann. anderen Absichten (Dörner 1999).
Analog zu physiologischen Bedürfnissen haben
Menschen soziale und »informationelle« Bedürf-
5 Menschen haben physiologische und
nisse (z. B. Wissen, Sicherheit, Nähe; Dörner 1999).
psychologische Bedürfnisse.
Diese beruhen auf Bedarf an Informationen über die
5 Bedürfnisse, die ein geeignetes Ziel
Handlungsumwelt, an sozialen Beziehungssignalen
kennen, nennen wir Motive.
und an Handlungsfähigkeit. Die Wahrnehmung
5 Handlungsziele, die durch mehrere
eines Bedürfnisses (»Ich habe Hunger«) veranlasst
Motive gekennzeichnet sind, nennen wir
zum Handeln.
Absichten.
Als Motiv bezeichnet man ein Bedürfnis, das
mit einem Zielzustand verbunden ist, der zur Be-
dürfnisbefriedigung geeignet ist (Bischof 1985). Ein
Motiv ist also ein Bedürfnis, das ein geeignetes Ziel Lösung der Absichtskonkurrenz
kennt. Für jedes Bedürfnis gibt es in der Regel meh- Abraham Maslow (1943) vertrat die bekannt ge-
rere mögliche Zielzustände, unter denen je nach si- wordene Theorie, dass Bedürfnisse hierarchisch
tuativen Umständen ausgewählt wird. Hunger kann gegliedert seien und unterschied fünf aufeinander
durch den Gang in die Kantine oder durch einen aufbauende Arten von Bedürfnissen. Bei dieser, als
Apfel aus der Kitteltasche befriedigt werden. Pyramide darstellbaren, Hierarchie befinden sich
an der Basis die grundlegenden physiologischen Be-
Absichten als Motivamalgame dürfnisse, die psychologischen Bedürfnisse (Selbst-
Sieht man sich die Bedürfnisbefriedigung näher an, verwirklichung) an der Spitze. »Höhere« Bedürfnis-
so fällt auf, dass Menschen meist mehrere Bedürf- se können nach Maslow erst auftreten, wenn denen

Bedarf Bedürfnis
Ist-Soll-Abweichung Interne Regulation nicht möglich Wahrnehmung
des Bedarfs
d
an
st
zu
el
Zi

Motiv 1

Absicht Motiv 2
Motiv 3
. Abb. 4.2. Vom Bedarf zur
Absicht
4.3 · Motivation
37 4
der jeweils darunter liegenden Stufe Genüge getan bezogene Absichten wie die Aufrechterhaltung des
wurde. Ist dies nicht der Fall, so kann beispielsweise Kompetenzempfindens statt der Absicht zur Lösung
ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Schlaf Entschei- eines akuten medizinischen Problems handlungslei-
dungen stärker beeinflussen als Gedanken um die tend werden.
Patientensicherheit. Dass gerade in den Nachtstun-
den Eingriffe ohne Abwarten der Nüchternheits- 4.3.2 Kompetenzempfinden
grenze durchgeführt werden, weil alle Beteiligten und Kontrollmotivation
sich gerne schlafen legen möchten, ist kein seltenes
Phänomen in der operativen Medizin. Die Hier- Bei jeder Erledigung von Absichten werden spezifi-
archie der Bedürfnisse ist aber nicht durchgängig sche Motive befriedigt. Parallel dazu, in jede Absicht
plausibel – jeder Arzt kennt Situationen, in denen amalgamiert, findet sich bei Menschen ein sehr star-
man über Stunden weder essen noch auf die Toilette kes und unabhängiges Bedürfnis nach Kompetenz.
gehen muss, weil ein Patient die volle Aufmerksam- Psychologen sprechen hier auch von der »Kontroll-
keit beansprucht. motivation«. Damit ist gemeint, dass jeder Mensch
Wenn Bedürfnisse in Konkurrenz zueinander ein existentielles Bedürfnis danach hat, seine Umwelt
stehen können, es aber keine eindeutige Hierarchie im Sinne der eigenen Ziele beeinflussen zu können
gibt, muss es einen anderen Auswahlmechanismus (z. B. Bandura 1977; Flammer 1990; Dörner 1999).
geben. Hier wird Menschen wollen mit Bestimmtheit wissen, was um
4 die Auswahl nach Wichtigkeit und Erfolgser- sie herum geschieht, sie wollen Klarheit über Fak-
wartung und ten und Gewissheit über zukünftige Entwicklungen.
4 die Idee der Abschirmung der aktuellen Absicht »Hilflosigkeit« als subjektiv empfundene Unmög-
lichkeit, seine Umwelt in irgendeiner Weise beein-
vertreten (Dörner 1999; Kuhl 1983): Jede Absicht er- flussen zu können, ist für die menschliche Psyche
hält ein »Aktualitätsgewicht«, das sich (multiplika- existentiell bedrohlich (Seligman 1980).
tiv) aus der aktuellen Wichtigkeit und der Erfolgser- Der jeweilige Zustand der Kompetenz wird als
wartung bestimmt. Wenn etwas komplett unwichtig Kompetenzgefühl wahrgenommen. Sinkt es ab,
ist oder wenn man keine Hoffnung auf Erfolg hat, fühlt man sich also inkompetent, unsicher und nicht
wird es nicht getan (Gewicht=0). Diejenige Absicht mehr handlungsfähig, wird das Kontrollmotiv aktiv.
mit dem gerade höchsten Gewicht wird ausgeführt. Aufgrund seiner Stärke »gewinnt« es häufig gegen
Somit gewinnt jeweils eine Absicht die Oberhand andere Motive – das konkrete Handeln wird eher
und verdrängt weniger wichtige Absichten. Besteht (unbewusst) durch die Wiedererlangung des Kom-
nur ein bestimmtes Zeitfenster zur Erledigung einer petenzgefühls bestimmt als von den (bewussten)
Absicht, nimmt mit der Zeit – wenn sie dringlich Sachzielen.
wird – das Gewicht dieser Absicht zu. Dringlichkeit
»setzt« den Wichtigkeitsfaktor »hoch«. Weniger
5 Kontrollmotivation und Kompetenz-
wichtige Absichten erhalten dadurch zu bestimmten
bedürfnis beschreiben das existentielle
Zeiten eine Chance auf Erledigung, sie können aber
Bedürfnis jedes Menschen, Sicherheit
auch permanent ins Hintertreffen geraten (Dörner
über den Zustand der gegenwärtigen
1999). Dass scheinbar unwichtige Vorhaben wie Te-
Situation, Gewissheit über zukünftige
lefonanrufe, Dokumentation und andere »Kleinig-
Entwicklungen und Einflussmöglichkeiten
keiten« entfallen, hat weniger mit Vergessen als mit
auf die Umwelt im Sinne der eigenen
der Absichtsdynamik zu tun: Es gibt eben ständig
Ziele zu haben.
wichtigere Absichten.
5 Das Kompetenzgefühl ist die Wahrneh-
Sind die Konsequenzen der unbewussten Ab-
mung der eigenen Kontrollmöglichkeiten.
sichtskonkurrenz im Alltag oftmals nur ärgerlich
5 Das Kompetenzbedürfnis wird hand-
(indem man beispielsweise Mahnungen über unbe-
lungsleitend, wenn das Kompetenzgefühl
zahlte Rechnungen erhält), können sie sich in kri-
bedroht ist.
tischen Situationen verhängnisvoll auswirken. Wie
im Folgenden ersichtlich wird, können nicht sach-
38 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

Notfälle in der Akutmedizin sind ein Beispiel berücksichtigen dann z. B. nur noch solche Infor-
für hochgradig dynamische und schwer durch- mationen, die ihre momentane Vorstellung über die
schaubare Situationen, in denen Menschen es Realität und das zugrunde liegende Problem bestä-
schwer haben, ihre Umwelt erfolgreich zu beein- tigen (confirmation bias, 7 Kap. 6).
flussen. Die Kontrollmöglichkeit ist oftmals gering. Kommen zur hohen Unbestimmtheit noch ob-
Weil geringe Kontrollierbarkeit einer Situation das jektive Misserfolge und Bedrohungserlebnisse dazu,
Kompetenzgefühl stark beeinträchtigt, gilt für das wird die Sicherung des Kompetenzempfindens zur
Handeln unter komplexen und dynamischen Um- dominanten Motivation. Eine sachbezogene Aus-
4 weltbedingungen grundsätzlich, dass es (auch) auf einandersetzung mit der kritischen Situation wird
eine Verringerung von Unbestimmtheit durch die dann unmöglich. Dadurch entstehen Handlungs-
Kontrolle der Handlungsumwelt gerichtet ist. Wie weisen, die aus der Perspektive der Patientensicher-
erfolgreich jemand darin ist, hängt von Wissen, Fä- heit (oder anderer Sachziele) Fehler sind. Sie finden
higkeiten und Fertigkeiten und dem Zutrauen in die ihre psychologische Begründung in der kompe-
eigenen Fähigkeiten ab. tenzschutzbezogenen Rationalität (Strohschneider
1999).
v Handeln unter komplexen und dynamischen
Umweltbedingungen ist immer auch auf eine v Kompetenzschutzbezogene Rationalität:
Verringerung von Unbestimmtheit durch die Menschen versuchen, durch Handeln das
Kontrolle der Handlungsumwelt gerichtet. Gefühl der Handlungskompetenz zurückzu-
gewinnen, wenn die Sachprobleme unlösbar
Fehleinschätzungen der Kompetenz scheinen. Sie nehmen beispielsweise selektiv
diejenige Information wahr, die sie in ihrem
Das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten unterliegt
Bild der Situation bestätigt.
jedoch Fehleinschätzungen. Gerade in komplexen
Situationen können die Einschätzung der eigenen
Kompetenz und die tatsächlichen Handlungsfähig- 4.4 Emotionen
keiten deutlich voneinander abweichen.
4 Im Falle der Überschätzung fühlt man sich in Neben den Motiven spielen Emotionen eine wich-
der Lage, etwas zu tun, obwohl die tatsächlichen tige Rolle in der Regulation des menschlichen Han-
Fähigkeiten hinter der Einschätzung zurück delns.
bleiben und plant daher tendenziell riskantere
Handlungen. 4.4.1 Was sind Emotionen?
4 Im Falle einer Unterschätzung der eigenen Kom-
petenz agiert man defensiv und unterlässt mög- Gefühle werden oft als etwas Eigenständiges erlebt,
licherweise hilfreiche Handlungen. etwas vom Denken Getrenntes, aus dem »Bauch«
Kommendes. Man kann sie aber auch als eine an-
Kompetenzschutzbezogene Rationalität dere Art von Informationsverarbeitung auffassen,
Komplexität in Verbindung mit geringen Erfolgs- ein »Denken neben dem bewussten Denken«. In
aussichten des eigenen Tuns können zum Absinken dieser Perspektive sind Emotionen eine unbewuss-
des Kompetenzgefühls und der Aktivierung des te, schnelle, ganzheitliche Bewertung der aktuellen
Kontrollmotivs führen. Das Handeln wird darauf Situation oder eines Ereignisses. Diese Bewertung
gerichtet, das Kompetenzmotiv schnell zu befriedi- verläuft schnell und automatisch, sie verarbeitet
gen. Man tut dann das, was man sicher kann und viel mehr Informationen, als der bewussten Wahr-
was sonst unter vergleichbaren Bedingungen er- nehmung zugänglich sind (7 Kap. 5). Diese »zusam-
folgreich war. Möglicherweise ist man dann jedoch menfassende Situationsbewertung« hat immer eine
mehr damit beschäftigt, das Gefühl der Handlungs- Lust/Unlust-Komponente und wird von physiologi-
kompetenz zurückzuerobern als damit, die tatsäch- scher Aktivierung begleitet (z. B. Scherer & Ekman,
lichen Probleme zu lösen. Menschen möchten dann 1984; Dörner, 1999; . Abb. 4.3).
nur noch Information erhalten, die ihr augenblick- Das Erleben dieser Situationsbewertung (mit
liches Situationsverständnis nicht erschüttern. Sie Aktivierung und Lust/Unlust) bezeichnet man als
4.4 · Emotionen
39 4

Schnelle, ganzheitliche Bewertung


aller wahrgenommenen
Elemente
Aktivierung
Lust / Unlust

Verarbeitung
der bewusst wahrgenommenen
Elemente
Gefühl

Analytische
Bewertung

. Abb. 4.3. Emotionen als ganzheitliche Situationsbewertung

Gefühl. Wenn sich die Bewertung einer Situation allem die Aufrechterhaltung des eigenen Kompe-
über das Gefühl und über das bewusste Denken tenzgefühls ist oder in der Vermeidung weiterer ne-
unterscheiden, kann das daran liegen, dass unter- gativer Emotionen liegt.
schiedliche Informationen verwendet wurden.
Wenn sie erlebt werden, können Gefühle wie 4.4.2 Emotionen und Handlungs-
Wahrnehmungsinhalte weiter verarbeitet werden. regulation
Der Ursprung eines Gefühls kann analysiert wer-
den, die Intensität des Erlebens durch Selbstinstruk- Emotionen kann man als Parameter des psychi-
tionen verändert werden etc. schen Systems auffassen, welche die Auswahl von
Gefühle begleiten nicht nur das Handeln, sie Handlungen beeinflussen und deren Durchfüh-
können selber auch zum Handlungsziel werden. So rung modulieren. Unter Modulation versteht man
kann man Entscheidungen verzögern, weil man die situationsspezifische »Einfärbungen« des jeweiligen
Unlustgefühle eines erwarteten Misserfolgs vermei- Denkens und Handelns. Emotionen und Denken
den möchte oder Handlungen herbeiführen, weil können mit Farbe und Form von Gegenständen
man sich durch Erfolgsgefühle beflügelt fühlt. verglichen werden; jeder Gegenstand wird sowohl
In Situationen, in denen die kognitiven Ressour- durch Farbe als auch durch Form gebildet (Dörner
cen überlastet sind, schalten Menschen auf einen 1999). Jede Handlung wird somit »online« durch
emotionalen Handlungsstil um (z. B. Lantermann emotionale Einflüsse geprägt.
1995). Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gefühle können »kognitiven Gegenständen«
emotionale Bewertung nicht mehr durch eine be- wie beispielsweise einem Plan die spezifische »Far-
wusste Analyse der Sachlage ergänzt wird. Schnelle be« verleihen, indem sie verschiedene Parameter der
und einfache Lösungen werden bevorzugt und eine Wahrnehmung, des Denkens und Handelns verän-
Reflexion findet nicht mehr statt. Die Problemsicht dern. Beispielsweise werden sich Planungsprozesse,
wird vereinfacht und Lösungen werden danach be- die im Zustand von Ärger ablaufen, durch starke
urteilt, ob sie »emotional stimmig« sind. Dies führt »Macher-Tendenz«, geringe Vorausschau und groß-
besonders dann zu sachlich inadäquaten Entschei- zügige Annahmen bezüglich der Ausführbarkeit des
dungen, wenn das Handlungsziel (unbewusst) vor Plans auszeichnen. Bei einem »ärgerlichen« Planer
40 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

beeinflussen Emotionen die Art und Weise des Pla- Externalisierung des Handelns
nens in anderer Weise, als es bei einem ruhig-kon- Gefühle beeinflussen das Ausmaß, mit der sich die
zentriert vorgehenden Menschen der Fall sein wird. Aufmerksamkeit nach außen auf die Situation oder
Die betroffenen »psychischen Einstellgrößen« sind nach innen auf Denken, Planen und Reflexion rich-
4 Auflösungsgrad tet. Dies wiederum entscheidet darüber, wie sehr
4 Selektionsschwelle man von einer Situation »getrieben« wird.
4 Aktivierung Eine Veränderungen dieser Parameter wird im-
4 Externalisierung mer mit Empfindungen auf der Dimension Lust/
4 Unlust begleitet.
Aktivierung
Manche Gefühle (z. B. Ärger, Freude, Angst) ver- 4.5 Denken
leihen Menschen einen »Energieschub«. Dieses als
unspezifisches Sympathikussyndrom bekannte Phä- Denken im engeren Sinne bezeichnet alle höheren
nomen führt zu einer erhöhten Wahrnehmungs- kognitiven Funktionen, die menschliches Handeln
und Handlungsbereitschaft, Sensibilisierung der beim Planen, bei der Erwartungsbildung und beim
Sinnesorgane, muskulärer Vorspannung und zu Entscheiden steuern. Denken ist eine begrenzte
höherer Herz- und Atemfrequenz (7 Kap. 9). Ande- Ressource, weil es sprachlich gebunden ist und se-
re Gefühle, wie Trauer, verringern die Aktivierung. quentiell abläuft: Es kann immer nur ein Gedanke
Die Aufregung einer Notfallsituation ist meistens gedacht werden.
mit erhöhter Aktivierung verbunden.
4.5.1 Wissen und Schemata
Auflösungsgrad
Je nach emotionaler Situation wird ein Wahrneh- Das »Material«, mit dem Menschen denken kön-
mungs- oder Denkprozess mit einem anderen Auf- nen, ist ihr Wissen. Wissen ist nicht in Form von
lösungsgrad und folglich unterschiedlich genau ab- ungeordneten Einzelinformationen, sondern in
laufen. Für den Akutmediziner bedeutet dies, dass kleinen sinnvollen Einheiten, sog. Schemata (Selt
ihm der Einfluss der Gefühle ein unterschiedlich 1913; Bartlett 1932) gespeichert. Schemata sind in
grobes oder detailreiches Bild der Situation liefert. neuronalen Netzen vorliegende Datenstrukturen, in
Widerwillen gegenüber einer Aufgabe wird bei- denen die Regelmäßigkeiten in der Welt und per-
spielsweise von einem geringeren Auflösungsgrad sönliche Erfahrungen mit der Umwelt abgespeichert
begleitet, die Beschäftigung mit dieser Aufgabe ist sind (Cohen 1989). Schemata liegen allen Aspekten
dann eher oberflächlich und »grobkörnig«. des menschlichen Wissens und Könnens zugrunde
und verleihen aller Wahrnehmung ihre Struktur
Selektionsschwelle: Konzentration (7 Kap. 6): Sie beinhalten die Bedeutung sensori-
Gefühle beeinflussen die Häufigkeit von Absichts- scher Eindrücke (sensorisches Wissen), das Wissen
wechsel und damit die Intensität des Handelns: Star- darüber wie etwas gemacht wird (»know how«, Pro-
ke Aktivierung erhöht die Auswahlschwelle (Selekti- zesswissen) und das Wissen, mit welchen Begriffen
onsschwelle), ab der ein Motiv das handlungsleiten- Objekte, Tätigkeiten und Fakten beschrieben wer-
de »verdrängen« kann. Wenn die Auswahlschwelle den können (»know what«; Begriffswissen). Darüber
hoch ist, ist man ganz und gar bei einer Sache, ohne hinaus können Schemata auch Erwartungen bezüg-
ständig abgelenkt zu sein. Ist sie zu hoch, ist man lich der Umwelt beinhalten (Erwartungsschema):
nicht mehr ansprechbar (7 Kap. 8). Solange die Sor- Das kognitive System des Menschen reagiert auf
ge um die verletzte Beamtin groß war, hat der Not- jede Situation mit Wissensstrukturen, die vieles von
arzt des Eingangsbeispiels möglicherweise nur an dem, was wohl erscheinen wird, vorwegnehmen
ihre Versorgung und nicht an den zweiten Patienten (Erwartungshorizont, 7 Kap. 8). Dadurch haben
gedacht. Hilflosigkeit hingegen senkt die Auswahl- Schemata auch eine interpretative und schlussfol-
schwelle, man tut dies und das in der Hoffnung, gernde Funktion, die aus den zugrunde liegenden
irgendetwas zu bewirken: Man beginnt »herumzu- Informationen »mehr macht« als »eigentlich« vor-
wurschteln«. handen ist. Fehlende Daten werden durch Erwar-
4.5 · Denken
41 4
tungswerte »aufgefüllt«. Diese Eigenschaften der Gedächtnis »abgelegten« Inhalte werden kontinu-
Schemata spielen bei der Wahrnehmung (7 Kap. 5) ierlich verändert und umorganisiert, so wie es den
eine entscheidende Rolle. aktuellen Bedürfnissen und der Lebenssituation am
besten entspricht. Erinnerungen sind eher Rekons-
v Als Schema bezeichnet man das allgemeine
truktionen als Abrufe. Welche Informationen wann
Wissen über ein Ereignis oder einen Gegen-
und in welcher Form ins Gedächtnis übernommen
stand, das auf der Grundlage vorausgegange-
und wieder abgerufen werden, ist abhängig von
ner Erfahrung entstanden ist
Vorerfahrungen, Gefühlen, der Situation oder der
Das in Schemata gespeicherte Prozesswissen bildet Tagesform. Auch Gewohnheiten beeinflussen das
die Grundlage für menschliches Handeln. Es be- Gedächtnis. Schemata, die häufig aktiviert werden,
steht aus »Wenn-Dann«-Abläufen, die anhand der können leichter und schneller wieder aufgerufen
Erwartungen überprüft werden (Aktionsschema): werden.
Ist ein bestimmter Sachverhalt gegeben, dann soll Da Denken nur dann funktionieren kann, wenn
etwas Bestimmtes getan werden und etwas Erwart- Menschen ihr momentanes Erleben mit vorherge-
bares o Ä. wird eintreten. hender Erfahrung vergleichen können, müssen sie
Werden mehrere Aktionsschemata aneinan- in der Lage sein, sowohl auf die überdauernden In-
dergereiht, so erhält man ein Verhaltensprogramm formationen im »Langzeitgedächtnis« als auch auf
oder Skript (Schank u. Abelson 1977). Verhaltens- die kurzfristig verfügbaren Gedächtnisinhalte der
programme sind Folgen von Wahrnehmungs-, Wahrnehmung zuzugreifen. Die Gedächtnisinhalte,
Klassifizierungs-, Bewertungs- und Entscheidungs- die in einem Moment aktiviert sind, und mit denen
schritten, in denen Menschen für ähnliche Um- das Denken arbeitet, werden als Arbeitsgedächtnis
weltanforderungen eine Reihe von erfolgreichen bezeichnet (früher Kurzzeitgedächtnis). Das Ar-
Denk- und Handlungsroutinen abgelegt haben. beitsgedächtnis ist kein eigener Speicher, sondern
Verhaltensprogramme können einerseits ohne gro- eine Benennung der aktuell aktiven Schemata. Um
ßen Aufwand in den entsprechenden Situationen das eben Erlebte in das Gedächtnis aufnehmen zu
»abgefeuert«, andererseits aber auch situativ ange- können, verfügen Menschen über einen Art »Proto-
passt und verändert werden. Verhaltensprogramme koll« des Geschehens.
von Akutmedizinern sind das Legen peripherve- Dieses Protokollgedächtnis hält die aktuellen
nöser Zugänge oder die Intubation. Beide Skripten gedanklichen Operationen fest und filtert Einhei-
bestehen aus vielen Einzelschritten und können je ten heraus, die wichtig und relevant sind. Wichtig
nach den Besonderheiten des Patienten modifiziert und relevant ist, was zielführend und lustvoll oder
werden. im Gegenteil erfolglos und schmerzhaft war. Damit
funktioniert auch das Gedächtnis nicht logisch, son-
4.5.2 Gedächtnis dern »psycho-logisch«: Es werden diejenigen Ge-
schehnisse aus dem Protokollgedächtnis langfristig
Mit dem Gesagten ist auch schon eine einfache gespeichert, die etwas mit der erfolgreichen Befrie-
Struktur des menschlichen Gedächtnisses beschrie- digung oder dem starken Ansteigen von Bedürfnis-
ben (Überblick in Dörner u. van der Meer 1994; sen zu tun haben. Der Auswahlprozess anhand die-
Dörner 1999): Wissen liegt in neuronalen Netzwer- ser wenigen Kriterien genügt, um das menschliche
ken als Schemata zusammengesetzt vor und wird Erfahrungs- und Handlungsrepertoire erheblich
durch die Verbindung der Sensorik mit Motorik und auszuweiten. Der irrelevante Rest fällt schnell dem
Motivation in Verhaltensprogrammen wirksam. Die Vergessen anheim.
einzelnen Inhalte des Gedächtnisses sind assoziativ
miteinander verknüpft, was einen ungemein schnel- 4.5.3 Denken als Prozess
len Aufruf relevanter Information erlaubt.
Das Gedächtnis ist aufgrund dieser Struktur ak- Denken ist die interpretierende und ordnungsstif-
tiv und damit kein Computer, bei dem Information tende Verarbeitung von Informationen (z. B. Selz
als Wissen auf eine Festplatte kopiert wurde, um bei 1913/22; Guilford 1964; Klix 1971; Dörner 1976,
Bedarf vollständig reproduziert zu werden. Die im 1999). Das zeigt sich in basalen Funktionen wie
42 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

Erkennen und Identifizieren (7 Kap. 5), Bewertung bestehen (Hovland u. Rosenberg 1960) aus Be-
oder Begriffsbildung ebenso wie beim Schlussfol- wertungen (Denken), Gefühlen und Handlungs-
gern, Planen und Entscheiden oder allgemeiner: impulsen (Motiven). Die Bewertungen sind stark
Problemlösen. Diese Denkoperationen werden gefühlsbetont, häufig kaum sprachlich gefasst und
über Gedächtnisschemata ausgeführt, die gebildet, damit dem Bewusstsein und der Reflexion schwer
umorganisiert, ergänzt und in Zusammenhang ge- zugänglich. Sie werden von Motiven geleitet – man
bracht werden. hat bestimmte Haltungen nicht von ungefähr, son-
Nicht-sprachliches Denken kann in assoziati- dern weil sie zur eigenen Motivlage passen.
4 vem Verknüpfen von Schemata nach gefühlsmäßi- Man unterscheidet fünf riskante Haltungen, die
ger Zusammengehörigkeit bestehen. Analytisches dazu beitragen, dass Sicherheit nicht das handlungs-
Denken ist an Sprache gebunden. Da nur ein Ge- leitende Motiv wird (Jensen 1995). Es steht jeweils
danke zur selben Zeit sprachlich gedacht werden ein anderes Motiv im Vordergrund:
kann (sequentiell), ist das Denken relativ langsam 4 Die Macho-Haltung: bravouröse Handlungen,
(7 Kap. 6). Es erfordert Aufmerksamkeit (7 Kap. 8). die von anderen wahrgenommen werden, sollen
Häufig wirken assoziatives und analytisches Den- das Kompetenzgefühl stärken.
ken zusammen, wie beispielsweise beim Finden von 4 Wer eine anti-autoritäre Haltung einnimmt,
Analogieschlüssen. Sprachliches Denken operiert setzt sich über Regularien hinweg, da er das Ge-
mit Begriffen. Die Ordnung von Wissen in Oberbe- fühl vermeiden möchte, von anderen Menschen
griffe, Unterbegriffe und Nebenordnung (Klix 1971) kontrolliert zu werden.
ist für die Organisation des Wissens wichtig. 4 Impulsivität als Haltung bedeutet, dass es schwer
fällt, mehrere Handlungsoptionen zu generie-
Selbstreflexion: Denken über Denken ren, bevor man zur Tat schreitet. Jemand meint,
Denken kann auf sich selber angewendet werden: dass »schnell etwas tun« immer besser ist als erst
Man kann die eigenen Denkprozesse analysieren einmal nichts zu tun und nachzudenken.
und bewerten. Wenn der Notarzt des Eingangs- 4 Wer sich mangels Unfallerfahrung für unver-
beispiels sich nach dem Einsatz fragt »Wie habe letzlich hält, zeigt eine ausgeprägte Tendenz
ich meine Entscheidungen getroffen?«, hat er eine zum risikoreichen Handeln.
Chance, einen Teil seiner Beweggründe aufzuklären.
Ganz kann man sich selber nie durchschauen. Wenn
er sich nach der initial erfolgreichen Versorgung des . Tabelle 4.1. Sicherheitsgefährdende Einstellungen
und die dazugehörigen »Antidot-Gedanken«
Polytraumas überlegt, mit welcher Strategie er die
Notfallsituation eigentlich strukturiert hat, kann Einstel- Gedanke in Not- »Antidot-
er das erfolgreiche Handlungsmuster identifizieren. lung fallsituation Gedanke«
Diese Art des Denkens, Selbstreflexion (»Zurück-
Macho Ich kann alles Sich auf das
biegung« des Denkens auf sich selbst), ist als Lern- Glück zu verlassen
möglichkeit für komplexe Arbeitsbereiche, in denen ist dumm
Lernen über Versuch und Irrtum zu riskant ist,
Anti- Erzähl du mir Halte dich an die
sehr wichtig. Selbstreflexion (Metakognition) hilft,
Autoritär nicht, was ich tun Regeln, sie sind
schlechte und gute Entscheidungen zu verstehen soll normalerweise
und Ansatzpunkte für Veränderungen zu finden. richtig

4.6 Sicherheitsgefährdende Impulsiv Tu irgendetwas Nicht so schnell


– schnell – erst nachdenken
Einstellungen
Unver- Mir passiert so Es kann auch mir
Ein Phänomen, das Handlungsfehlern häufig vor- letzlich etwas nicht passieren
ausgeht, sind inadäquate Haltungen bzw. Einstel- Resig- Was kann ich Ich bin nicht
lungen zu Sicherheit und Risiko. niert schon tun? hilflos. Ich kann
Einstellungen zeigen exemplarisch die Inter- etwas bewirken
aktion von Denken, Emotion und Motivation: Sie
Literatur
43 4
4 Eine resignierte Haltung bedeutet, bei Schwie-
5 Denken ist wesentlich das sprachliche
rigkeiten rasch aufzugeben. Das Kompetenzge-
Operieren mit Gedächtnisinhalten,
fühl ist so niedrig, dass man nur noch auf Hilfe
die in Schemata organisiert sind.
von anderen wartet.
5 Sicherheitsrelevante Einstellungen ent-
stehen aus der Interaktion von Denken,
. Tabelle 4.1 zeigt für die Patientensicherheit
Motivation und Emotion.
gefährliche Gedanken und »Gegengedanken«
(»Antidot«). Diese können nur über Selbstreflexion
wirksam werden. Es wird empfohlen, sich immer
dann einen Gegengedanken laut vorzusprechen, Literatur
wenn man eine der riskanten Haltungen bei sich
feststellt (Jensen 1995). Allerdings entstehen solche Bandura A (1977) Self–efficacy mechanisms in human agen-
cy. American Psychologist 37: 122–147
Haltungen gerade aus einem Mangel an Reflexion,
Bartlett FC (1932) Remembering. Cambridge University Press,
so dass die betreffende Person selten ohne äuße- Cambridge UK
ren Anlass ihre Haltung ändern wird. Hier spielen Bischof N (1985). Das Rätsel Ödipus. Piper, München
das Team (7 Kap. 11) und die Unternehmenskultur Brenner HP (2002) Marxistische Persönlichkeitstheorie und
(7 Kap. 15) eine wichtige Rolle bei der Verände- die ‚bio–psychosoziale Einheit Mensch‘. Pahl–Rugenstein
Nachfolger, Köln
rung.
Cohen G (1989) Memory in the real world. Erlbaum, London
Dörner D (1976) Problemlösen als Informationsverarbeitung.
4.7 Grundlagen des Handelns – Kohlhammer, Stuttgart
Auf einen Blick Dörner D (1999) Bauplan für eine Seele. Rowohlt, Reinbek
Dörner D, van der Meer E (Hrsg.) (1994) Das Gedächtnis. Pro-
bleme – Trends – Perspektiven. Hogrefe, Göttingen
Flammer A (1990) Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Ein-
führung in die Psychologie der Kontrolle. Huber, Bern u.a.
5 Handeln folgt nicht allein sachlogischen
Guilford (1967) The nature of human intelligence. McGraw–
Argumenten, sondern einer »Psycho- Hill, New York
Logik«. Hacker W (1986) Arbeitspsychologie: Psychische Regulation
5 Psycho-Logik bedeutet, dass die Interak- von Arbeitstätigkeiten. Huber, Bern
tion mit der Umwelt nur aus dem Zusam- Hovland CI, Rosenberg MJ (Hrsg.) (1960) Attitude, Organiza-
tion and Change: an analysis of consistency among atti-
menspiel von Kognition, Motivation und
tude components. Yale University Press, New Haven CT
Emotion zu erklären ist. Jensen RS (1995) Pilot judgement and crew resource man-
5 Diese Handlungsregulation erfolgt agement. Ashgate Publishing Vermont USA
teilweise autonom, d. h. ohne bewusste Kleinhempel F, Möbius A, Soschinka HU, Waßermann M
Entscheidung des Handelnden. (Hrsg.) (1996) Die biopsychosoziale Einheit Mensch. Fest-
schrift für Karl-Friedrich Wessel. Kleine Verlag, Bielefeld
5 Jedes Handeln ist motiviert, es dient der
Klix F (1971) Information und Verhalten. Kybernetische As-
Befriedigung von Bedürfnissen. Neben pekte der organismischen Informationsverarbeitung.
den existenzsichernden Bedürfnissen Hans Huber, Bern u. a.
(physiologische, Sicherheit) gibt es soziale Kuhl J (1983) Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle.
(Nähe, Legitimität) und informationelle Springer, Berlin
Lantermann ED (1985) Emotion und Reflexivität. Urban &
(Kompetenz, Neugier, Ästhetik) Bedürf-
Schwarzenberg, München
nisse. Maslow AH (1943) A theory of human motivation. Psycho-
5 Emotionen sind ganzheitliche, schnelle logical Review 50: 370–396
Situationsbewertungen. Sie werden Miller GA, Galanter E, Pribram KH (1960). Plans and the struc-
als Gefühl bewusst. Emotionen sind ture of behavior. Holt, New York
Schank RC, Abelson R (1977) Scripts, plans, goals, and under-
als Veränderung der Parameter der
standing. Erlbaum, Hillsdale NJ
Handlungsregulation (Auflösungsgrad, Scherer K, Ekman P (Hrsg.) (1984) Approaches to Emotion.
Auswahlschwelle, Aktivierung, Externa- Lawrence Erlbaum, Hillsdale, NJ
lisierung) beschreibbar. Seligman ME (1980) Erlernte Hilflosigkeit. Urban & Schwar-
6 zenberg, München
44 Kapitel 4 · Die Psychologie menschlichen Handelns

Selz Otto (1912/13) Über die Gesetze des geordneten Denk-


verlaufs. Spaemann, Stuttgart
Strohschneider S (1999) Human Behavior and complex sys-
tems: Some aspects of the regulation of emotions and
cognitive information processing related to planning. In:
Stuhler EA, deTombe DJ (eds) Complex problem solving:
Cognitve psychological issues and environmental policy
applications. Hampp, München, pp 61–73

4
II

II Individuelle Faktoren des Handelns


5 Menschliche Wahrnehmung: Die Sicht der Dinge

6 Informationsverarbeitung und Modellbildung: Weltbilder

7 Ziele und Pläne: Weichenstellung für den Erfolg

8 Aufmerksamkeit: Im Fokus des Bewusstseins

9 Stress: Ärzte unter Strom

10 Handlungsstrategien: Wege zur guten Entscheidung

> > Problemsituationen erfordern in unterschiedlichem Ausmaß bewusstes Denken,


Planen und Entscheiden. Ob man Handlungsroutinen anwenden kann oder ob man
neue Problemlösungen finden muss, hängt von zwei Faktoren ab:
4 Wie komplex ist eine Notfallsituation?
4 Konnte der Akutmediziner mit vergleichbaren Situationen Erfahrung sammeln?

Je weniger Erfahrung ein Mediziner mit einer kritischen Situation hat und je
mehr Komplexität und Dynamik zunehmen, desto notwendiger wird es, von
einer Regelanwendung zur kreativen Problemlösung überzugehen. Bewusstes,
problemlösendes Handeln in der Akutmedizin lässt sich nach der Art der notwendigen
Denktätigkeit in einzelne Schritte der Handlungsorganisation gliedern. Auf dem
Hintergrund der »Psycho-Logik« von Denken, Wollen und Fühlen und des Wissens um
Fehler werden diese Schritte in Teil II näher betrachtet. Die Darstellung konzentriert
sich hier auf Einzelpersonen. Entscheidungsprozesse und das Handeln von Teams
werden in Teil III betrachtet:
4 Stufen der Handlungsorganisation (Dörner 1989)
4 Informationsverarbeitung und Modellbildung
4 Zielbildung
4 Planen
4 Entscheiden

Die jeweiligen Kapitel zu diesen »Stufen« der Handlungsorganisation werden von


Kapiteln über die unbewussten Prozesse, die das Handeln mitbestimmen und
beeinträchtigen können, eingerahmt. Diese sind:
4 Wahrnehmung
4 Aufmerksamkeitssteuerung
4 Stress
5

Menschliche Wahrnehmung:
Die Sicht der Dinge

5.1 Vom Reiz zum Neuron: Sinnesphysiologie —48

5.2 Gestalten und Muster: Organisation der Wahrnehmung —49

5.3 Erkennen und Bedeutung schaffen —52

5.4 Wahrnehmung und Gefühle —53

5.5 Tipps für die Praxis —53

5.6 Wahrnehmung – Auf einen Blick —54

Literatur —54
48 Kapitel 5 · Menschliche Wahrnehmung: Die Sicht der Dinge

) ) Fallbeispiel Wahrnehmung dient dazu, den Menschen effizi-


ent mit Informationen aus demjenigen Bereich der
Gegen Ende einer total intravenösen Anästhesie Wirklichkeit zu versorgen, der für sein Überleben
(TIVA) beginnt ein Patient, gegen seinen Tubus zu notwendig ist. Mit dieser Information kann er sich
husten. Der Anästhesist stellt daraufhin das Beat- in seiner Umwelt orientieren und durch Handeln
mungsgerät von einem kontrollierten Beatmungs- seine Bedürfnisse befriedigen. Es ist kein Ziel von
modus auf einen Spontanatmungsmodus um, Wahrnehmung, ein exaktes Abbild der Welt wieder-
indem er den entsprechenden Funktionsschalter zugeben. Die verbreitete Analogie der menschlichen
drückt und mit einem Druckknopf bestätigt. Die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung mit
Aufmerksamkeit des Anästhesisten wird für kurze einem Computer ist daher falsch: Die Augen sind
Zeit von einem anderen Problem in Beschlag ge-
5 nommen. Als er sich wieder dem Patienten zuwen-
keine Kameras, die Reizvorlagen abscannen und die
daraus gewonnenen Bilder im Gedächtnis auf eine
det, zeigt dieser alle Zeichen einer ausreichenden Festplatte brennen. Das Gegenteil ist der Fall: Die
Spontanatmung: Bei gleichmäßigen Thoraxexkur- Reizvorlage wird gar nicht erst vollständig abge-
sionen und einer regelmäßigen CO2-Atemkurve tastet, und das, was menschliche Sinneszellen von
auf dem Monitor hat der Patient ein ausreichendes »draußen«oder aus dem Körperinneren melden,
Atemminutenvolumen. Weil der Patient erneut ge- wird bei jedem Schritt der Weiterleitung gefiltert,
gen den Tubus hustet, entschließt sich der Anäs- bewertet und umorganisiert. Sinnesinformationen
thesist, ihn zu extubieren. Kurz nach der Extubation sind akustisch (hören), visuell (sehen), olfaktorisch
beginnt die pulsoxymetrisch gemessene Sättigung (riechen), gustatorisch (schmecken), haptisch (füh-
zu fallen und der Patient wird zyanotisch. Jetzt erst len), nozizeptiv (Schmerz), kinästhetisch (Bewe-
bemerkt der Anästhesist, dass sein Beatmungsge- gung spüren) und propriozeptiv (Wahrnehmung
rät immer noch volumenkontrollierte Atemhübe der Körperlage). Wenn Wahrnehmung im Folgen-
abgibt, weil es nicht wie beabsichtigt in den Spon- den vor allem anhand des visuellen und akustischen
tanatmungsmodus umgesprungen war. Der Patient Systems besprochen wird, so dient dies der Ver-
wird daraufhin mit der Maske kontrolliert beatmet, einfachung und Veranschaulichung. Die genannten
bis die Spontanatmung wenige Minuten später ein- Mechanismen treffen auch auf andere Sinnesmoda-
setzt. litäten zu.
Wahrnehmung, beispielsweise der Weg von ei-
Ein Anästhesist möchte seinen Patienten extu- ner Kapnografiekurve am Beatmungsmonitor zu
bieren und überprüft zu diesem Zweck dessen Fä- dem Gedanken »der Patient hat eine ausreichende
higkeit zur Spontanatmung. Aufgrund eines Bedie- Spontanatmung« verläuft in drei, allerdings nicht
nungsfehlers wird das Beatmungsgerät jedoch nicht scharf zu trennenden Schritten (. Abb. 5.1):
wie beabsichtigt in einen Modus umgeschaltet, der
dem Patienten eine eigene Atemtätigkeit erlaubt. 5.1 Vom Reiz zum Neuron:
Stattdessen wird der Patient weiterhin kontrolliert Sinnesphysiologie
beatmet. Alles, was der Anästhesist sowohl am
Monitor als auch beim Patienten wahrnimmt, be- Umweltreize, die auf unseren Organismus treffen
stätigt ihn in seiner Meinung, dass sein Gerät dem (z. B. Schallwellen, Lichtwellen, Wärme, Duftstoffe,
Patienten die Eigenatmung erlaubt: Thoraxexkur- taktile Reize) werden von den verschiedenen Sin-
sionen, eine regelmäßige CO2-Atemkurve und ein neszellen verarbeitet. Die Gesamtheit der menschli-
adäquates Atemminutenvolumen sprechen für eine chen Sinnesorgane verhält sich dabei wie ein evolu-
ausreichende Spontanatmung. Widersprüchliche tionär entstandener Filter: Sie reduzieren die Fülle
Parameter wie die Druck/Zeit-Kurve und die Flow/ möglicher Sinneseindrücke und ermöglichen dem
Zeit-Kurve, die eindeutig eine volumenkontrollierte Menschen den Zugang zu dem für ihn relevanten
Beatmung anzeigen, werden von dem Anästhesis- Ausschnitt der Welt. Deshalb können Menschen
ten zu diesem Zeitpunkt nicht beachtet. Da er seine kein ultraviolettes Licht sehen, sich nicht anhand
Wahrnehmung ohne Konflikt als Spontanatmung der Magnetfelder der Erde orientieren und auch
deutet, entfällt jede weitere kritische Überprüfung. nicht auf 100 Meter Entfernung eine Maus im Acker
5.2 · Gestalten und Muster: Organisation der Wahrnehmung
49 5
. Abb. 5.1. Mehrstufiger Prozess
der Wahrnehmung (nach Zim-
bardo u. Gerrig 1999). Top-down
(konzeptgeleitete) und bottom-
up (datengesteuerte) Prozesse
wirken vielfach verschränkt (und
noch gutteils unverstanden)
ineinander

erspähen. Dafür sind die menschlichen Sinnesor- Wahrnehmungsschwellen können dauerhaft durch
gane und die Weiterverarbeitung des sensorischen Schädigung der Nerven verändert werden (durch
Inputs jedoch bestens geeignet, Menschen am Le- Traumatisierung oder Alterungsprozesse). Kurz-
ben zu halten und ihnen eine effektive Erkundung fristig verändern sich Schwellen sowohl durch den
der Welt zu gestatten (Klix 1971; Ramachandran u. Prozess der Adaptation als auch durch motivatio-
Blakeslee 2001). Der Verarbeitungsprozess von Sin- nale Prozesse, die die Aufmerksamkeit regulieren
neszellen kann hier nicht besprochen werden (zur (7 Kap. 4.4; Kap. 8). Für die Entstehung von Wahr-
Sinnesphysiologie z. B. Birbaumer u. Schmidt 1991; nehmungsfehlern auf Ebene der Sinneszellen sind
Goldstein 1997). die neurophysiologischen Mechanismen der Adap-
Alle Sinnesorgane sind in ihrer Ansprechbarkeit tation und Ermüdung relevant: Dauertöne werden
durch relative und absolute Schwellen begrenzt. zunehmend leiser und gleichbleibende Gerüche in-
Aufeinanderfolgende Reize müssen sich deutlich nerhalb von Minuten immer weniger intensiv wahr-
genug voneinander unterscheiden, um als getrennt genommen. Adaptationsprozesse dienen teilweise
wahrgenommen zu werden (relative Schwelle). Hier der Feineinstellung der Wahrnehmung (wie bei-
gilt, dass der Unterschied umso größer sein muss, je spielsweise die Hell-Dunkel-Adaptation des Auges),
stärker der schon vorhandene Reiz ist (Webersches teilweise verschwindet ein Sinnesreiz (wie Gerüche),
Gesetz, nach Zimbardo). Im Lärm des Schockraums wenn er seine Alarmierungsfunktion ausgeübt hat.
wird ein Alarm, der im OP mühelos gehört werden
kann, diese Unterschiedsschwelle vielleicht nicht 5.2 Gestalten und Muster:
überwinden und ungehört bleiben. Organisation der Wahrnehmung
Absolute Schwellen legen fest, ab welcher und
bis zu welcher Stärke (z. B. Helligkeit, Lautstärke) Die erste Ebene der Wahrnehmung erfolgt unbe-
Reize überhaupt wahrgenommen werden können. wusst auf der Ebene der Sinneszellen als eine Um-
50 Kapitel 5 · Menschliche Wahrnehmung: Die Sicht der Dinge

wandlung von chemischen und physikalischen Um- 4 Die Auswahl einiger weniger möglicher Gestal-
weltreizen in neuronale Aktivität. Diese neuronale ten aus der Vielzahl theoretisch möglicher Inter-
Aktivität wird über die verschiedenen Nervenbah- pretationen einer Reizkonfiguration
nen an übergeordnete Zentren weitergeleitet. Auf 4 Die Ordnungsbildung durch das »Bevorzugen«
der nächsten Stufe werden in unterschiedlichen von »guten« Gestalten
Gehirnzentren aus dem sensorischen Input die re-
levanten Eindrücke herausgefiltert und durch Zu- Dieses zweite Prinzip, das in verschiedenen
sammenfassung, Ergänzung und Vereinfachung zu Einzelgesetzen konkretisiert wird, ist die Tendenz
einem sinnvollen Ganzen, der sog. Gestalt, orga- zur guten Gestalt, auch Prägnanzprinzip genannt:
nisiert (zur Gestaltpsychologie Wertheimer 1923, Wenn eine Reizkonfiguration, also die augenblick-
5 1925; Metzger 1936, 1982; Eysenck 1942; Köhler liche Summe aller sensorischen Eindrücke, mehrere
1971). Was für Menschen relevante Eindrücke sind, alternative Deutungen zulässt, setzt sich stets die
ist teils evolutionär gegeben, teils wird es im Lau- größtmögliche Ordnung durch, die beste Gestalt.
fe des Lebens erlernt. Als Folge dieses Organisati- Die »beste« Gestalt ist jeweils die einfachste, ein-
onsprozesses sehen Menschen immer mehr als das, heitlichste, symmetrischste, geschlossenste von al-
was ihre Sinnesorgane an Daten liefern: Sie nehmen len möglichen.
nicht Sinneseindrücke wahr, sondern eine Gestalt,
v Prägnanzprinzip: Wenn ein Sinneseindruck
die für sie Sinn ergibt. Diese Gestalt ist immer mehr
mehrere alternative Deutungen zulässt, setzt
als die Summe ihrer Teile. Gestalten sind »trans-
sich stets diejenige Struktur durch, die von
ponierbar«, d.h. sie werden erkannt, auch wenn
allen möglichen die geordneteste »beste«
sich die Teile verändern, aus denen sie bestehen
Gesamtgestalt (z. B. die einfachste oder ein-
(v. Ehrenfels 1890 nach Vulkovich 2000). Dass ein
heitlichste) annimmt. Das Prägnanzprinzip
Herz schlägt, wird daran erkannt, dass ein Narko-
wird durch die Gestaltgesetze konkretisiert.
semonitor rhythmische Töne von sich gibt; ein EKG
wird auf einem Rhythmusstreifen auch dann noch Anstatt also nur weiterzuleiten, was als sensori-
als solches erkannt, wenn die Linie auf dem Papier scher Input erfasst wurde, konstruiert die mensch-
mangels Farbe nur gestrichelt ist. liche Wahrnehmung gute Gestalten, wodurch eine
An diesem Fundamentalprinzip menschlicher optimale Abhebung und Gliederung eines Gebildes
Wahrnehmung wird offensichtlich, dass es unsere aus dem Gesamt eines Wahrnehmungsfelds bewirkt
Umwelt nicht einfach »gibt«, sondern dass das, was wird. Alles, was Menschen sehen, wird durch kon-
Menschen als ihre Welt erleben, im Zusammenspiel struktive Aktivität spontan zu einem sinnhaften
von angeborenen neuronalen Mechanismen und Ganzen ergänzt. Auch aus einer »objektiv« unge-
erlernten Mustererkennungsprozessen durch das ordneten Reizvorlage werden Gestalten gebildet.
Gehirns konstruiert wird. Diese Konstruktion er- Funktional gesehen dient dies der schnellen und
folgt bereits anhand einiger weniger Inputs, so dass ausreichend sicheren Orientierung . Ein Beispiel
ein Objekt keineswegs vollständig sensorisch erfasst für das Prägnanzprinzip gibt . Abb. 5.2, in der ein
sein muss, bevor es erkannt wird. Gestaltwahrneh-
mung bezeichnet daher das Phänomen, dass auch
eine unvollständige Reizvorlage schnell und eindeu-
tig erkannt werden kann. Die Gestaltwahrnehmung
folgt Regeln, den sog. Gestaltgesetzen, nach denen
das Wahrnehmungssystem entscheidet, welche sen-
sorischen Eindrücke zusammengehören und eine
Gestalt bilden: Gestaltgesetze beschreiben zwei all-
gemeine Wahrnehmungsprinzipien, anhand derer
Informationen so organisiert werden, dass sie z. B.
die Orientierung im Raum ermöglichen, Figuren vor
Grund erkennbar machen und sinnvolle Gestalten . Abb. 5.2. Das Prägnanzprinzip erleichtert die Identifikation
erkennen lassen: unvollständiger Reizvorlagen
5.2 · Gestalten und Muster: Organisation der Wahrnehmung
51 5
. Abb. 5.3. Beispiel für das Gesetz der
Vertrautheit: »Der Wald hat Gesichter«
(Bild von Bev Doolittle 1985).
Auf dem Bild werden der Wald und die
Felsformationen zunächst als Bäume
und Felsen gesehen. Erwartet man jedoch
Gesichter in ihnen wiederzufinden,
so ergeben die einzelnen Elemente des
Bildes einen ganz neuen Sinn. Insgesamt
sind 13 Gesichter zu erkennen

Würfel gesehen wird, der nur durch Aussparungen Nach einer ausreichenden Zahl von Treffern wird
in anderen Figuren »gezeichnet« ist. der Prozess abgebrochen und das Objekt wird er-
Das Prägnanzprinzip wird durch die Gestaltge- kannt: Es ist also nur zum Teil gesehen worden, zum
setze konkretisiert. Die wichtigsten sind: Teil wird es quasi halluziniert. Man sieht nur, was
4 Gesetz der Nähe: Dinge, die nahe beieinander man (unbewusst) sehen will oder zu sehen gewohnt
sind, werden als zusammengehörig wahrge- ist. Wissen und Erwartungen bestimmen, wie man
nommen die Welt wahrnimmt. Hat man etwas erkannt, also
4 Gesetz der Ähnlichkeit: Dinge, die einander eine Festlegung auf eine Hypothese getroffen, erfor-
ähnlich sind, werden als zusammengehörig dert es große Mühe, sich zu einer neuen Deutung
wahrgenommen durchzuringen und diese dann auch zu sehen.
4 Gesetz der guten Fortsetzung: Eine Figur wird
als Zusammenschluss möglichst sinnvoller Li- Wissensabhängigkeit der Hypothesen
nien wahrgenommen. Das menschliche Gehirn Die Hypothesen, die den Wahrnehmungsprozess
kann z. B. sich überkreuzende Linien auf Moni- steuern, werden großteils aufgrund des Wissens
toren als solche wahrnehmen gebildet. Vertrautes wird schneller und sicherer
4 Gesetz der Geschlossenheit: Nicht vorhandene erkannt als Unvertrautes. Je erfahrener jemand ist,
Teile eines Reizganzen werden in der Wahrneh- desto schneller und genauer wird er z. B. eine zya-
mung ergänzt, unvollständige Figuren als ganze notische Verfärbung der Haut als Zeichen einer un-
gesehen genügender Atemtätigkeit sehen.
Auch Hypothesen, die aus bewusstem Denken
Hypothesengesteuerte Wahrnehmung entstehen, können die Wahrnehmung leiten. Oft
Die Leistung der Wahrnehmung geht aber über das führt sogar erst das bewusste Wissen um das, was da
Ergänzen nur teilweise vorhandener oder verdeck- sein soll, zum Sehen (. Abb. 5.3).
ter Vorlagen zu ganzen Gestalten hinaus: Auch die Der Mechanismus der hypothesengesteuer-
Wahrnehmung von vollständig vorhandenen Ob- ten Wahrnehmung nimmt Irrtümer in Kauf. Der
jekten erfolgt unvollständig! Bereits mit dem ersten Satz »Was wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich«
sensorischen Input werden im Abgleich mit Ge- scheint nicht nur eine Hausarztregel zur Auswahl
dächtnisinhalten Hypothesen darüber gebildet, um von Diagnosen, sondern die Auswahlregel unseres
welches Objekt es sich handeln könnte (hypothe- Gehirns schlechthin zu sein. Eine Vielzahl an opti-
sengesteuerte Wahrnehmung, Bruner u. Postman schen Täuschungen zeigt allerdings, wie leicht un-
1951; Dörner 1999). Die wahrscheinlichste Hypo- ser Wahrnehmungssystem dadurch täuschbar ist.
these, d. h. der am besten vorgebahnte Gedächtni- Evolutionär scheint jedoch eine schnelle Musterbil-
sinhalt, wird weiterverfolgt. dung in einer Umwelt, in der optische Täuschungen
Es wird eine Erwartung gebildet, was an einer selten sind, gegenüber einer hundertprozentigen
bestimmten Stelle des Blickfeldes zu sehen sein Abtastung der Reizvorlage, die zwar fehlerfrei,
müsste, und diese Erwartung wird dann überprüft. dafür aber langsamer arbeiten würde, von Vorteil
52 Kapitel 5 · Menschliche Wahrnehmung: Die Sicht der Dinge

Beschriftung der Medikamente Beloc und Lidocain,


die jahrelang sehr ähnlich war (. Abb. 5.4; s. Fallbeis-
piel 7 Kap. 3).
Gestaltgesetze erklären jedoch nicht nur Hand-
lungsfehler. Aus der Kenntnis der Gestaltgesetze
können auch ergonomische Anforderungen für die
Konstruktion von Monitoren und die Entwicklung
von Software abgeleitet werden. Werden diese be-
achtet, so können Informationen besser lesbar und
leichter interpretierbar dargestellt werden.
5 5.3 Erkennen und Bedeutung schaffen

Die dritte Stufe der Wahrnehmung fügt der Mus-


terbildung das Erkennen und Bedeutung zuweisen
hinzu. Die Wahrnehmungsinhalte werden anhand
von Schemata identifiziert und in Kategorien un-
seres Wissens eingeordnet. Vorausgesetzt, die Wahr-
nehmungsinhalte sind dem Handelnden vertraut,
erhält alles Wahrgenommene seine sprachliche Be-
nennung. Auf dieser Stufe wird dem Wahrgenom-
menen seine Bedeutung zugewiesen und es wird
in einen größeren Zusammenhang eingefügt: Aus
visuellen Reizen wird eine Kapnographiekurve auf
dem Bildschirm und der Gedanke »der Patient at-
. Abb. 5.4. Beloc und Xylocain wurden häufig verwechselt
met spontan« taucht auf (. Abb. 5.1). Erst bei diesem
letzten Schritt, nachdem die Wahrnehmungsinhalte
gewesen zu sein. Dieser natürlichen Tendenz, alles bereits vielfach gefiltert und verarbeitet wurden,
schon zu erkennen, ehe man es wirklich gesehen wird Wahrnehmung bewusst. Trotz der vielstufigen
hat, kann man durch Steuerung der Aufmerksam- Verarbeitung fühlt sich Wahrnehmung objektiv an:
keit (7 Kap. 8.1) zum Teil begegnen. Auch für den Menschen meinen, die Welt zu sehen, zu hören und
Anästhesisten aus dem Anfangsbeispiel wäre dieser zu spüren, wie sie ist. Die drei Wahrnehmungsstu-
Schritt, die momentane Deutung bewusst zu hin- fen laufen so schnell ab, dass sie nicht getrennt wahr-
terfragen, der einzige Weg gewesen, seinen Fehler genommen werden. Diese gefühlte Objektivität
selbst zu erkennen. macht es schwer, die Täuschbarkeit der Sinneswahr-
Der Mechanismus der hypothesengesteuerten nehmung nicht nur abstrakt einzusehen, sondern
Wahrnehmung erklärt, warum Medikamenten- diese Erkenntnis auf sich selbst anzuwenden.
verwechselungen gerade in kritischen Situationen
häufig zu fehlerhaften iv-Gaben führen. Unterschei- Erwartungen: »Das ist typisch!«
den sich beispielsweise Ampullen von hochpoten- Das Erkennen und Einordnen von Wahrnehmungs-
ten Medikamenten nicht deutlich, nimmt man sich inhalten in Kategorien wird durch Voreinstellungen
unter Zeitdruck oftmals nicht mehr die Zeit, genau und durch Erwartungen (mind sets, Erwartungs-
hinzusehen. Da der Auflösungsgrad der Wahrneh- schemata) wesentlich erleichtert: Da in einem be-
mung unter diesen Umständen grob ist (7 Kap. 4.4), stimmten Zusammenhang einige Wahrnehmungen
»sieht« man das Medikament, das man zu sehen wahrscheinlicher sind als andere, werden sie neuro-
erwartet und nimmt es. Entfällt unter Stress dann nal voraktiviert. Wahrscheinlicher heißt in diesem
auch noch die bewusste Handlungskontrolle, wird Fall, dass in der persönlichen Erfahrung eine Wahr-
der Fehler auch bei der Gabe des Medikaments nehmung bei einem entsprechenden sensorischen
nicht korrigiert. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Eindruck oft vorgekommen und damit für diese
5.5 · Tipps für die Praxis
53 5
Situation typisch geworden ist. Durch die neuro- Gefühle schwer analysierbar. Da sie aber eben auf
nale Voraktivierung wird die Einordnung und das Wahrnehmungen beruhen, sollten sie ernst genom-
Erkennen schneller und sicherer. Unerwartetes men werden: Sie sind »Rauchzeichen« für Feuer, die
hingegen muss länger und eingehender betrachtet »hinter dem Horizont« der bewussten Wahrneh-
werden, ehe es zweifelsfrei erkannt wird. mung brennen. Ein »ungutes« Gefühl« zu haben,
Die Voraktivierung ist also erfahrungsabhän- bedeutet, dass die Bewertung »hier stimmt etwas
gig: Das Wissen bestimmt, was in einer Situation nicht« getroffen wurde, aufgrund welcher Infor-
wahrscheinlich ist. Damit ist jedoch immer die Ge- mationen auch immer. Es lohnt sich, noch einmal
fahr verbunden, nur das zu sehen, was man immer genau hinzusehen und den Grund für das Gefühl
schon gesehen hat und nicht außerhalb eingefahre- herauszufinden.
ner Gleise denken zu können. Eine Voraktivierung Gefühle gelangen wie andere »Meldungen«
kann auch motivational erfolgen (Dörner 1999): Ist aus dem Organismus als eigener Wahrnehmungs-
ein bestimmtes Bedürfnis aktiv, so werden vorran- inhalt ins Bewusstsein. Deshalb werden sie wie ein
gig diejenigen Dinge wahrgenommen, die zur Befrie- Ereignis von außen erlebt und nicht etwa wie eine
digung des Bedürfnisses führen. Möchte ein Anäs- eigene Konstruktion. Um auf Gefühle angemes-
thesist möglichst rasch seinen Patienten extubieren, sen reagieren zu können, sollte man sich jedoch
weil das Essen im Kasino wartet oder er müde ist, so klarmachen: Nicht das Ereignis selbst verursacht
wird er eher geneigt sein, eine Kapnographiekurve ein Gefühl, sondern die subjektive Bewertung des
als Zeichen ausreichender Spontanatmung zu deu- Ereignisses (. Abb. 5.5). Fängt ein Patient nach
ten: Der Wunsch wird zum Vater des Gedanken. einer längeren Narkose wieder an zu atmen, sieht
der Anästhesist nicht nur die Kapnographiekurve:
v Das Erkennen, also die Einordnung von Wahr-
Er verspürt auch so etwas wie Erleichterung über
nehmungsinhalten in Kategorien, erfolgt
diesen Sachverhalt. Der Grund dafür liegt in der
wie schon die Gestaltbildung hypothesen-
Bedeutung, die er diesem Sinneseindruck gibt: Der
gesteuert, wobei die zugrunde liegenden
Patient ist bald wieder wach und damit war die Nar-
Hypothesen aufgrund von Erfahrung oder
kose erfolgreich.
Motiven gebildet werden.
Die Erklärung von Gefühlen als Bewertung
Mit der Einordnung in Kateogorien und der Be- ist ein Ansatzpunkt für den Umgang mit unange-
nennung als »etwas« geht Wahrnehmung ins Den- nehmen Gefühlen in kritischen Situationen: Sei es
ken über bzw. steht nun den bewussten Denkpro- die Kommunikation mit schwierigen Menschen,
zessen zur Verfügung (7 Kap. 6). sei es der Umgang mit belastenden Ereignissen
(Stressoren; 7 Kap. 9.1.1): Oftmals erhalten diese
5.4 Wahrnehmung und Gefühle Situationen ihre belastende Komponente erst durch
die Deutung, die man dem Verhalten eines Gegen-
Die Wahrnehmung von Ereignissen in kritischen über oder einem Sachverhalt gibt. Möglicherweise
Situationen ist von Emotionen (Scherer u. Ekman kann man eine Person oder eine Situation »auch
1994) begleitet. Zum einen wird aus allen Wahr- anders sehen« und damit einen Teil der Belastung
nehmungsinhalten eine emotionale Bewertung »abfangen«.
der Situation gebildet – auch aus denen, die nicht
ins Bewusstsein gelangen (7 Kap. 4.4, Kap. 8.1). Das 5.5 Tipps für die Praxis
Gefühl, das aus solchen Bewertungen entsteht, ist
häufig unklar, sprachlich nicht gut fassbar. Da sie 4 Wahrnehmung ist subjektiv. Vertrauen Sie lieber
auf unbewussten Wahrnehmungen beruhen, sind auf vier Augen als auf zwei, wenn es wichtig ist.

. Abb. 5.5. Zusammenhang


zwischen Umweltereignissen und
Ereignis Bewertung Gefühl Gefühlen. Nicht die Ereignisse
selbst, sondern erst die Bewertung
derselben lösen Emotionen aus.
54 Kapitel 5 · Menschliche Wahrnehmung: Die Sicht der Dinge

4 Rechnen Sie damit, dass Ihre Wahrnehmung Sie


5 erfolgt hypothesengesteuert: Erwartun-
manchmal in die Irre führt. Erhöhen Sie deshalb
gen über das, was da sein müsste, steuern
in kritischen Situationen den Auflösungsgrad
den Wahrnehmungsvorgang und ersetzen
– sehen Sie bewusst genauer hin, um Irrtümer
teilweise auch das tatsächliche Abtasten
zu entdecken.
der Reizvorlage. Für das menschliche
4 Wahrnehmung wird durch Erwartungen gelei-
Gehirn ist keine Unterscheidung von
tet. Machen Sie sich Ihre Erwartungen bewusst,
konstruierten und real vorhandenen
das ermöglicht Ihnen eine genau Prüfung.
Daten möglich. Die zugrundeliegenden
4 Verwenden Sie möglichst viele Sinnesmodali-
Hypothesen entstehen durch Vorbahnun-
täten, um ein genaues Bild der Situation zu be-
gen aufgrund von Erfahrungen und
5 kommen – hören und sehen und riechen und
Motiven.
fühlen Sie, wie es Ihrem Patienten geht.
5 nimmt Fehleranfälligkeit in Kauf,
4 Gefühle werden nicht durch die Situation her-
um Effizienz und Schnelligkeit zu
vorgerufen, sondern durch ihre Bewertung
erreichen: Die hypothesengesteuerte
– nehmen Sie diese ernst und suchen Sie nach
Organisation von Sinnesreizen dient einer
Ursachen. Denken Sie bei starken unangeneh-
schnellen, eindeutigen, stabilen und
men Gefühlen auch daran, dass Sie Gefühlen
damit sicheren Orientierung im Raum.
nicht hilflos ausgeliefert sind, weil Sie diese Be-
Damit ist eine Anfälligkeit für Irrtümer und
wertungen verändern können.
Täuschungen untrennbar verbunden.
5.6 Wahrnehmung – Auf einen Blick

Aus dem eben Gesagten lassen sich die folgenden Literatur


Prinzipien zusammenfassen, die auf allen Stufen
menschlicher Wahrnehmung wirken: Anderson JR (1983) The Architecture of Cognition. Harvard
University Press, Cambridge (Mass.)
Birbaumer N, Schmidt RF (1991) Biologische Psychologie.
Springer, Heidelberg u. a.
Wahrnehmung …
Bruner JS, Postmann L (1951) An Approach to social percep-
5 befähigt Menschen, sich in der Welt tion. In: Dennis W, Lipitt R (eds) Current trends in social
zu orientieren. Wahrnehmung ist nicht psychology. University of Pittsburgh Press, Pittsburg
auf Wahrheit, sondern auf Nützlichkeit Dörner D (1999) Bauplan für eine Seele. Rowohlt, Reinbek bei
angelegt. Menschen konstruieren sich aus Hamburg
Eysenck H (1942) The Experimental Study of the »Good Ge-
unvollständig erfassten Sinneseindrücken
stalt«: A New Approach. Psychological Review, 49: 344–
diejenigen Teile der Wirklichkeit, die für 364
ihr Überleben notwendig sind. Goldstein EB (1997) Wahrnehmungspsychologie. Spektrum,
5 erfolgt in drei interagierenden Schritten: Heidelberg
Verarbeitung von Sinnesreizen in Klix F (1971) Information und Verhalten. Kybernetische As-
pekte der organismischen Informationsverarbeitung.
den Sinnesorganen, Organisation der
Hans Huber, Bern u. a.
Wahrnehmung (Gestaltwahrnehmung Köhler W (1971) Die Aufgabe der Gestaltpsychologie. Walter
und Musterbildung) sowie Bedeutungs- de Gruyter, Berlin New York
zuweisung und Erkennen. Diese drei Metzger W (1982) Möglichkeiten der Verallgemeinerung des
Prozesse beeinflussen sich gegenseitig Prägnanzprinzipes. Gestalt Theory, 1/1982: 3–22
Metzger W (1936) Gesetze des Sehens. Kramer, Frankfurt am
und sind wissensabhängig.
Main
5 wird durch absolute und relative Schwel- Ramachandran V, Blakeslee S (2001) Die blinde Frau, die se-
len begrenzt. Einige diese Schwellen sind hen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins.
biologisch vorgegeben, andere sind durch Rowohlt, Reinbek
Motivation und durch bewusste Steue- Scherer K & Ekman P (eds) (1984) Approaches to Emotion.
Lawrence Erlbaum, Hillsdale, NJ
rung der Aufmerksamkeit veränderbar.
Wertheimer M (1923) Untersuchungen zur Lehre von der Ge-
6 stalt. Psychologische Forschung, 4: 301–350
Literatur
55 5
Wertheimer M (1925) Über Gestalttheorie. Erlangen: Verlag
der philosophischen Akademie. Reprint: Gestalt Theory,
7: 99–120
Vukovich A (2000) Christian v. Ehrenfels: »Über ‚Gestaltquali-
täten‘«. In: Schmale H (Hrsg.) Hauptwerke der Psychologie.
Kröner, Stuttgart:
Zimbardo P, Gehrig R (1999) Psychologie. 7., neu übersetzte
und bearbeitete Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New
York u. a.
6

Informationsverarbeitung und Modellbildung:


Weltbilder

6.1 Organisation des Wissens: Schemata und mentale Modelle —59

6.2 Sind wir denkfaul und uneinsichtig? Ökonomie, Kompetenz


und Sicherheit —59
6.2.1 Denkfaulheit: Ressourcenschonung —60
6.2.2 Bloß nicht untergehen! Kompetenzschutz —60
6.2.3 Sicherheit und Ordnung: Vermeidung von Unbestimmtheit —60

6.3 Wunsch und Wirklichkeit: Informationsverzerrungen —61

6.4 Trugbilder: Inadäquate mentale Modelle —62


6.4.1 Fixierungsfehler: Aufrechterhalten mentaler Modelle gegen die Evidenz —62
6.4.2 Zu einfache mentale Modelle über komplexe Probleme —62
6.4.3 Wissensfehler —63

6.5 Was ist wahrscheinlich? Der Umgang mit unsicherer


Information —63
6.5.1 Wahrscheinlichkeitsabschätzung: Daumenregeln für den Alltag —63
6.5.2 Probleme im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten —64
6.5.3 No risk, no fun? Der Umgang mit Risiko —65

6.6 Tipps für die Praxis —66

6.7 Informationsverarbeitung und Modellbildung –


Auf einen Blick —66

Literatur —67
58 Kapitel 6 · Informationsverarbeitung und Modellbildung: Weltbilder

) ) Fallbeispiel klinischen Zeichen eines Volumenmangelschocks


erfolgt routiniert: Mehrere periphervenöse Zugänge
Das Meldebild der Rettungsleitstelle lautet: »Ein werden gelegt und eine Notfallnarkose mit Intuba-
Verkehrsunfall mit mehreren Verletzten«. Beim Ein- tion und kontrollierter Beatmung eingeleitet. Die
treffen am Unfallort findet die Notärztin zwei PKWs Notfallsituation weist jedoch einige Besonderheiten
vor, von denen einer aus ungeklärtem Grund von auf, die von der Notärztin nicht wahrgenommen
der Fahrbahn abgekommen und seitlich in das ent- werden. Weder der ungeklärte Unfallhergang, die
gegenkommende Fahrzeug hineingefahren ist. Die fehlenden äußeren Verletzungszeichen noch die
beiden Insassen des einen Fahrzeuges sind leicht Sternotomienarbe, die auf eine Herzoperation hin-
verletzt, der Fahrer des Unfallwagens zeigt äußer- weist, bringen die Notärztin ins Nachdenken dar-
lich keine Verletzungsspuren, ist aber komatös und über, ob es neben der Anfangsdiagnose »Volumen-
hat peripher nur schwach tastbare Pulse. Da der mangelschock« noch eine andere Erklärung für den
Fahrer nicht eingeklemmt ist, kann die technische Zustand des Patienten gibt. Zu keinem Zeitpunkt
6 Rettung aus dem Fahrzeug rasch erfolgen. Die Not- wird eine nicht-traumatologische Ursache wie bei-
ärztin legt mehrere periphervenöse Zugänge und spielsweise ein akuter Myokardinfarkt als Unfallur-
beginnt rasch mit der Volumenzufuhr. Sie intubiert sache in Erwägung gezogen. Offen vorhandene In-
den Patienten und beatmet ihn kontrolliert. Auch formationen werden von ihr während des gesamten
nach mehreren Litern Volumensubstitution sind Einsatzes nicht wahrgenommen.
die zentralen Pulse nicht stärker tastbar, so dass die Dieses Phänomen der Blindheit für das schein-
Notärztin einen Adrenalinperfusor startet. Ihr fallen bar Offensichtliche begegnet Akutmedizinern in
deutlich gestaute Halsvenen auf, jedoch kann sie ihrer täglichen Praxis gar nicht so selten. Wie ist der
einen Spannungspneumothorax bei beidseits kräf- Sachverhalt zu erklären, dass die Notärztin erst nach
tigem Auskultationsbefund ausschließen. Einsatzende und nicht schon während der Patien-
Der Rettungsassistent weist die mit der Thoraxdrai- tenversorgung sehen konnte, dass die äußeren Um-
nage beschäftigte Notärztin auf eine Sternotomi- stände des Verkehrsunfalls auch ganz anders hätten
enarbe hin, die eine vorangegangene koronare gedeutet werden können? Diese Frage berührt den
Bypassoperation anzeigen könnte. Die Notärztin Kern menschlicher Informationsverarbeitung.
geht darauf nicht ein. Unter weiterer Volumengabe Menschliches Denken benutzt Informatio-
wird der Patient mit der Verdachtsdiagnose eines nen, die durch die Wahrnehmung und durch das
Volumenmangelschocks in die Notaufnahme der Gedächtnis bereit gestellt werden (7 Kap. 4 und 5).
nächsten Klinik gebracht. Bei weiterhin schlechten Wissen steht Menschen jedoch nicht in der gleichen
Blutdruckwerten, 3500 ml Volumenersatz und einer Weise zur Verfügung wie Informationen, die von ei-
hohen Katecholamindosierung liefert der Abdo- ner Computerfestplatte gelesen werden. Der Zugriff
men-Ultraschall keinen Hinweis auf freie intraabdo- auf Wissen erfolgt vielmehr selektiv und unterliegt
minelle Flüssigkeit, klinisch und radiologisch ergibt dabei ähnlichen Prinzipien wie die Wahrnehmung:
sich kein Hinweis auf eine knöcherne Verletzung 4 Was häufig vorkommt, wird besser erinnert
und der Röntgenthorax zeigt eine beidseits adäquat 4 Erwartetes wird voraktiviert und ist leichter ab-
ventilierte Lunge mit Zeichen einer ausgeprägten rufbar
kardialen Stauung. Es wird eine transösophageale 4 Verwandtes wird gemeinsam aktiviert (Assozia-
Echokardiographie durchgeführt, die eine ausge- tion)
prägte Akinesie im Vorder- und Hinterwandbereich 4 Wichtiges wird besser erinnert und schneller ab-
des Herzens zeigt. Der Patient verstirbt kurze Zeit gerufen
später im therapierefraktären kardiogenen Schock 4 Stark gefühlsmäßig Bewertetes wird besser erin-
auf der Intensivstation. nert und schneller abgerufen

Eine Notärztin wird mit einem scheinbaren Bewusste Denkprozesse wie Urteilen, Planen,
Routineeinsatz konfrontiert: Ein Verkehrsunfall Analogiebildung oder die Bildung von Prognosen
mit zwei leicht- und einem schwerer verletzten über den Verlauf von Geschehnissen bauen auf
Patienten. Die Versorgung des Patienten mit den einer Vielzahl unbewusster Schritte der Informa-
6.2 · Sind wir denkfaul und uneinsichtig? Ökonomie, Kompetenz und Sicherheit
59 6
tionsverarbeitung auf. In diesem Punkt gleicht das »im Kopf« erstellt, das eine Deutung über den mo-
Denken der Wahrnehmung, bei der ebenfalls dem mentanen Zustand der Umwelt enthält und das ei-
bewussten Erkennen eine Vielzahl an unbewussten gene Handeln begründet. Mentale Modelle ermög-
Verarbeitungsschritten vorausgehen. Grundlegende lichen Stabilität des Wissens und damit planvolles
Denkleistungen, die auf der Basis der Gedächtnisar- Handeln. Man kennt sich in der Welt aus, neue In-
chitektur ablaufen, sind z. B. (Lompscher 1972; Selz formationen können in bereits vorhandene menta-
1913): le Modelle eingefügt werden. Da mentale Modelle
Identifizieren und Klassifizieren von Objekten oder auf vorhandenem Wissen beruhen, das seinerseits
Ereignissen durch persönliche Erfahrungen entstanden ist, un-
4 Bewerten terscheiden sie sich von Mensch zu Mensch. Daraus
4 Verknüpfen ergibt sich für Notfallsituationen die Notwendigkeit,
4 Assoziieren die verschiedenen mentalen Modelle der Einzelnen
4 Imaginieren/Vorstellen miteinander abzugleichen. Geschieht dies nicht, so
besteht die Gefahr, dass jedes Teammitglied auf der
Aus den genannten Abrufbedingungen für Wis- Basis ganz unterschiedlicher Voraussetzungen han-
sen und den grundlegenden Denkleistungen lassen delt (7 Kap. 11.2).
sich einige fundamentale Prinzipien der Informati-
onsverarbeitung ableiten. Diese tragen sowohl zur Umgang mit neuer Information
enormen Leistungsfähigkeit als auch zu vielen Feh- Neue Information wird, wann immer möglich, in
lern des menschlichen Denkens bei. bereits vorhandene mentale Modelle eingefügt (As-
similation). Lernen bedeutet hier, mentale Model-
6.1 Organisation des Wissens: le zu erweitern, ohne dass ihre Struktur verändert
Schemata und mentale Modelle werden muss. Eine arterielle Hypotension in Zu-
sammenhang mit einem Verkehrsunfall »passt« als
Jedes menschliche Wissen – sensorisches und moto- Erweiterung in das Grundmodell »Volumenman-
risches Wissen, Handlungswissen und Faktenwissen gel«. Neue Information kann jedoch auch in einem
– ist im Gedächtnis anhand von Schemata organi- so großen Widerspruch zu bereits Bekanntem ste-
siert (7 Kap. 4.5.1). Schemata sind Zusammenfas- hen, dass sie nicht einfach in ein bestehendes Mo-
sungen, »Wissenspakete« über Dinge, Situationen dell eingepasst werden kann. In diesem Fall müssen
oder Handlungen. Sie können entweder begrifflich mentale Modelle umorganisiert und in ihrer Struk-
(»alles, was zur Intubation gehört«) oder als Skripte tur so verändert werden, dass sie sich den neuen
für Situationen (»wie man intubiert«) angelegt sein Gegebenheiten anpassen (Akkomodation, Piaget
(Bartlett 1932; Schank u. Abelson 1977). Die Orga- 1976). Lernen bedeutet in diesem Fall, dass man
nisation der einzelnen Wissensbestandteile in Sche- die Welt anders als bisher wahrnehmen muss und
mata (z. B. »Narkoseeinleitung und Intubation«) dass man gezwungen ist, bisherige Vorgehensweisen
erlaubt es, Bestandteile der aktuellen Situation zu ändern. Da Menschen jedoch Gewohnheitstiere
4 zu erkennen und einzuordnen (»der Patient ist sind und es generell bevorzugen, ihre bestehenden
bewusstlos und lässt sich mit der Maske beat- mentalen Modelle aufrechtzuerhalten, erfolgt dieser
men. Bisher verläuft alles regelrecht«) Lernprozess häufig nur sehr widerstrebend.
4 zu erklären (»die Bewusstlosigkeit ist durch das
Thiopental bedingt«) 6.2 Sind wir denkfaul und uneinsichtig?
4 vorherzusagen (»wenn ich das Thiopental gebe Ökonomie, Kompetenz
wird der Patient bewusstlos werden«) und Sicherheit

Die Gesamtheit der Schemata, die sich auf einen Viele Denkfehler beruhen auf falschem Wissen oder
bestimmten Realitätsbereich beziehen, bezeichnet auf dem falschen Umgang mit richtigem Wissen
man als mentales Modell (Johnson-Laird 1983). (7 Kap. 3.2.2). Auch wenn sich im Einzelnen eine
Mit diesem Begriff ist die Vorstellung gemeint, dass ganze Reihe an Fehlern bei der Informationsverar-
jeder Mensch sich von seiner Umwelt ein Modell beitung beschreiben lassen, können alle diese Feh-
60 Kapitel 6 · Informationsverarbeitung und Modellbildung: Weltbilder

6.2.2 Bloß nicht untergehen!


Ökonomie Ordnung Kompetenzschutz

Um effizient handeln zu können, benötigen Men-


schen ein stabiles mentales Modell, mit dem sich
eine Situation hinreichend erklären lässt. Um diese
Stabilität zu gewährleisten, wird an einer einmal ge-
Kompetenzschutz
fundenen geistigen Ordnung möglichst lange fest-
gehalten, damit man nicht ständig Neues denken
. Abb. 6.1. Die drei grundlegenden Faktoren, die sich bei der oder von vorne anfangen muss. So gesehen handelt
Bildung mentaler Modelle gegenseitig beeinflussen es sich um eine durchaus sinnvolle Vorgehensweise.
Nicht-Wissen scheint aber auch direkt das Kompe-
tenzgefühl anzugreifen, so dass Umdenken- müssen
6 ler auf drei grundlegende Prinzipien zurückgeführt als eine Bedrohung erlebt wird (7 Kap. 4.3.2). Men-
werden: Ressourcenschonung, Kompetenzschutz schen halten also auch deswegen an ihren mentalen
und Suche nach Ordnung. Diese beeinflussen sich Modellen fest, um das Kompetenzgefühl zu schüt-
gegenseitig (. Abb. 6.1). zen (Dörner 1999). Kompetenzschutz begründet je-
doch nicht nur die Stabilität, sondern auch die Form
6.2.1 Denkfaulheit: Ressourcenschonung von mentalen Modellen: Klare, einfache Modelle
verleihen Sicherheit und das Gefühl, sich auszuken-
Informationsverarbeitung folgt generell dem Prin- nen. Komplexe und differenzierte Welterklärungen
zip der Ökonomie, dem sparsamen Einsatz der be- hingegen bringen Zweifeln und Unsicherheit. Dies
grenzten Ressource »Denken«: Immer dann, wenn erklärt, warum Menschen unübersichtliche Situa-
man etwas bereits zu wissen meint, muss man es tionen häufig unangebracht vereinfachen (Dörner
nicht mehr bewusst ansehen oder darüber nach- 1989). Da der Mensch ohne Kompetenzgefühl nicht
denken. Ein Verkehrsunfall ist dann ein Verkehrs- handlungsfähig ist (7 Kap. 4.3.2), hat Kompetenz-
unfall, so wie man ihn schon oft erlebt hat. Was schutz eine wichtige Funktion in der Regulation der
Menschen wahrnehmen wird davon bestimmt, was menschlichen