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Inlingua Bonn – 11.12.

2017 – Deutsch als Fremdsprache – Fábio Hamann

Textinterpretation

Faszination Mittelalter

Es war eine Epoche der Ritter, Burgherren und Minnesänger, aber auch der

Leibeigenschaft, der Pest und der bitteren Armut: das Mittelalter. Ritterspiele und

Mittelalterfeste ziehen heutzutage viele Menschen an.

Diese Epoche, die etwa von 500 nach Christus bis ungefähr 1500 dauerte, fesselt viele

Deutsche: Historische Romane aus dem Mittelalter stehen regelmäßig auf den deutschen

Bestsellerlisten, entsprechende Fernsehfilme interessieren ein Millionenpublikum. Dazu

kommen Mittelaltermärkte, Mittelalterfeste und andere Möglichkeiten, die Zeit zu erleben.

Viele Menschen wechseln dann für ein paar Stunden schnell ihre Alltagskleidung gegen eine

Kleidung aus dieser Zeit, um sich in eine längst vergangene Epoche zu versetzen. Zu diesen

Veranstaltungen gehört auch das sogenannte „Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“. Die


Veranstalter bezeichnen es selbst als „das größte reisende Mittelalter Kultur Festival der Welt“.

Wer es besucht, wird vom Geruch gegrillten Fleischs empfangen oder von Harfen-, Geigen-

und Trommelmusik. Nicht nur, dass alle mittelalterlich gekleidet sind. Man benutzt auch

Begriffe aus der Zeit oder die man für mittelalterlich hält. Statt „Bier“ gibt es „Met“. Es wird

nicht in „Euro“, sondern in „Talern“ bezahlt. Die Besucher sind bunt gemischt: Kinder,

Erwachsene, Jüngere und Ältere. Warum besuchen sie ein Mittelalterfest?

„Das Schöne ist einfach, die Leute sind hier ungezwungen, und jeder ist halt so, wie er

sein will. Und das finde ich einfach wunderschön. / Es ist immer entspannend, obwohl da auch

Alkohol fließt. Es gibt nie Theater, keine Schlägereien. Die Leute gehen nett, vernünftig

miteinander um. Das macht Spaß. / Also, man merkt es auch, sobald man auf so ’nen Markt

kommt. Man wird automatisch selber langsamer und lässt das alles viel mehr auf sich wirken.“

Alle drei Besucher schätzen die Stimmung auf dem Fest. Sie ist natürlich, ungezwungen; es

gibt kein Theater, also keinen Streit oder Schlägereien – und das, obwohl Alkohol fließt,

getrunken wird. Die Besucherin findet, dass diese ruhige, entspannte Atmosphäre einen

Einfluss auf das eigene Verhalten hat. Man sei empfänglich für diese Ruhe und Entspanntheit,

lasse alle Eindrücke viel mehr auf sich wirken. An einigen Ständen können die Besucher

zuschauen, wie Brot gebacken, getöpfert oder handwerklich gearbeitet wird. Eine Besucherin

ist schon zum dritten Mal auf einem Mittelalterfest. Sie kennt den Grund für die Attraktivität

solcher Feste:

„Eine Fluchtbewegung auch vielleicht auch von diesem ganzen Massenkonsum. Man

ist ja so übersättigt mit allem. Und hier ist es so ‘n bisschen ‚back to the roots‘. Die Besucherin

verwendet die englische Redewendung „back to the roots“ – „zurück zu den Wurzeln“, um zu

verdeutlichen, dass Besucher solcher Feste zumindest für ein paar Stunden das einfache Leben

suchen. Es sei eine Fluchtbewegung in eine andere Zeit. Denn in der modernen Welt sei man

übersättigt, es gebe zu viel, so dass man es gar nicht mehr richtig wertschätzen kann. Es

herrsche Massenkonsum. Walter Pohl, Professor für mittelalterliche Geschichte an der


Universität Wien, wundert es nicht, dass das Mittelalter einen so großen Reiz auf so viele

Menschen ausübt:

„Das liegt dran, dass es auf der einen Seite fremd und exotisch ist und auf der anderen

Seite doch irgendwie vertraut. Das heißt, es hat so eine interessante Balance von Nähe und

Exotik, dass ich das Mittelalter leicht als eine Gesellschaft vorstellen kann, wo alles noch ’n

bisschen einfacher und übersichtlicher ist als in der modernen Welt, die man schwerer

überblicken kann.“

Professor Pohl findet, dass viele Menschen Probleme haben, sich in der heutigen Welt

zurechtzufinden. Solche Mittelalterveranstaltungen seien fremd und vertraut zugleich, es gebe

eine Art Gleichgewicht, Balance, zwischen Distanz und Nähe. Bei gutem Wetter zieht das

„Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“ bis zu 10.000 Besucher an. Die Schausteller, also

diejenigen, die von einem Jahrmarkt zum nächsten fahren, sowie die Künstler werden für eine

Saison engagiert. Diese reicht von April bis Oktober. Edwin Ball organisiert das Fest mit

anderen zusammen. Auch wenn er beruflich viel mit dem Mittelalter zu tun hat, interessiert es

ihn auch privat:

„Das Mittelalter, also, das sind ja, erst mal sind es die Säulen unserer Kultur. Ich

meine, wenn man sich einmal die Geschichte anschaut: Damals wurde Europa geschaffen

durch irgendwelche Bande. Da haben irgendwelche Herzöge, Könige haben sich verheiratet,

um noch mehr Reichtum und noch mehr Ländereien zu haben.“

Edwin Ball ist der Meinung, dass die europäische Kultur auf dem Mittelalter beruht. Er

verwendet das Bild eines Gebäudes mit starken Pfosten aus Stein, Säulen, die das Dach stützen.

Ein wesentliches Merkmal für ein zusammenwachsendes Europa war das System arrangierter

Heiraten, um den Landbesitz, die Ländereien, zu vergrößern. Es wurden Bande,

Verbindungen, geschaffen. Hochzeiten waren in der Regel keine Liebesheiraten, sondern

Zweckverbindungen. Von der Liebe handelten dagegen die Lieder der Minnesänger, die
hochgestellte adelige Frauen anbeteten. Edwin Ball findet allerdings, dass das Mittelalter keine

vergangene Epoche, sondern immer noch sichtbar ist:

„In Deutschland haben wir unglaubliche Zeitzeugen, stumme Zeitzeugen. Wenn wir

nur mal den Rhein durchfahren mit der Schifffahrt: Wir haben hunderte und aberhunderte

Burgen alle 20 Kilometer weiter. Und der Deutsche, der findet im Mittelalter Attribute, die es

im modernen Leben nicht gibt. Also, wenn wir an Ritter denken: Der Ritter steht für ’n

modernen Menschen für ‚Leidenschaft‘, für ‚Ehrlichkeit‘, für ‚Tapferkeit‘ – ist ’n Attribut, das

dem modernen Menschen fehlt.“

Wie es früher war, kann niemand mehr erzählen, es gibt keine menschlichen Zeitzeugen.

Aber es gibt – wie Edwin Ball sagt – stumme Zeitzeugen in Form der vielen Burgen, die zum

Beispiel entlang des Rheins stehen. Edwin Ball gibt keine genaue Zahlenangabe, sondern

verwendet den Ausdruck hunderte und aberhunderte als Synonym für sehr viele. Manche

dieser steinernen Bauten mit starken Mauern und Türmen sind so gut erhalten oder

wiederhergestellt worden, dass man sehen kann, wie die Menschen im Mittelalter gelebt haben.

Das große Interesse an dieser Zeit führt Edwin Ball auch auf bestimmte Werte zurück. Edwin

Ball bezeichnet diese – nicht ganz richtig – als Attribute. So stehen zum Beispiel die Ritter –

nach heutigem Verständnis vergleichbar mit Soldaten – für Werte, die es nach seiner Meinung

in der heutigen Gesellschaft nicht mehr gibt. Irgendwann müssen aber auch die Besucherinnen

und Besucher eines Mittelalterfestes wieder ins Hier und Jetzt zurück. Nicht jedem fällt das

leicht. Aber man kann ja wiederkommen.


Aktivitäten

1. Das Mittelalter …

a) war eine Epoche, die etwa eintausend Jahre umfasst.

b) erstreckte sich über einen Zeitraum von zweitausend Jahren.

2. Mittelalterliche Burgen …

a) gibt es nur entlang des Rheins.

b) dienten überwiegend der Verteidigung.

3. Auf dem „Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“…

a) verkaufen die Besucherinnen und Besucher Selbstgebackenes.

b) sind die meisten Besucherinnen und Besucher auch mittelalterlich gekleidet.

4. Professor Walter Pohl meint, dass …

a) man etwas von mittelalterlicher Geschichte wissen sollte, bevor man ein Fest wie das

„Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“ besucht.

b) Mittelalterfeste wegen einer Mischung aus Bekanntem und Fremdem auf manche Menschen

anziehend wirken.

5. Die Künstler, die auf dem „Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“ zu sehen sind, …

a) haben Fristverträge.

b) sind dauerhaft beschäftigt und reisen von Stadt zu Stadt.


6. Nach Ansicht von Edwin Ball …

a) hat die Liebesheirat ihre Wurzeln im Mittelalter.

b) schätzen Deutsche am Mittelalter bestimmte Werte, die heutzutage mancherorts

verlorengegangen sind.

7. Trage das Verb und das Pronomen im richtigen Kasus ein. Passe ggfs. die Form an

passen

a) Ich habe im Internet für ein Mittelalterfest ein Burgfräulein-Kleid gekauft. Aber leider

______________ _________ das Kleid hinten und vorne nicht. Es ist zu eng und viel zu kurz.

empfehlen

b) Im vergangenen Jahr haben wir die Burg Eltz besucht. Wenn du und dein Mann im Oktober

nach Deutschland kommen, _________________ ich _____________ beiden wärmstens den

Besuch. Ihr werdet begeistert sein!

zulächeln

c) Susanne ist auf einem Mittelalterfest und beobachtet die Anwesenden. Ein Mann im Gewand

eines Minnesängers ________________ _______ ________ Sie lächelt zurück.

bitten

d) Ich habe ___________ Nachbarn um ________ Rat _______________, welches Kostüm ich

zum Mittelaltersfest tragen soll.


helfen

e) ________ Nachbar hat ________ geholfen, ein schönes Kostüm auszusuchen

kaufen

f) Ich habe ______ mittelalterliche Kostüme zum Karneval _____________

8. Schreibe mit eigenen Worten, was die folgenden Begriffe und Ausdrücke aus dem Text

bedeuten. Versuche dafür Sätze als Beispiele aufzubauen.

a) etwas gegen etwas wechseln

b) sich/jdn in etwas versetzen

c) ungezwungen

d) es gibt ein Theater

e) etwas auf sich wirken lassen

f) Fluchtbewegung

g) übersättigt

h) zurück zu den Wurzeln

i) Säule

j) Länderei

k) stumme Zeitzeuge

l) hundert und aberhundert

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