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jfoschepoth

Quellen und Analysen zur Geschichte der Bundesrepublik

Geheimes Deutschland. Ist die Geschichte der Bundesrepublik


schon geschrieben?

von testjofo

1. Geheimes Deutschland

Am Freitag vergangener Woche, habe ich dem Verlag Vandehoeck & Ruprecht in Gö"ingen die
Druckfreigabe für mein neues Buch „Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in
der alten Bundesrepublik“ gegeben. Dieses Buch ist zum ersten Mal auf der Grundlage von
Geheimakten geschrieben worden, die bislang in den Archiven der Bundesregierung, des
Bundesarchivs und einiger Landesarchive (NRW, BW, BY) unter Verschluss gehalten wurden. Ich
werde in meinem Vortrag auf die eine oder andere These meines Buches zurückgreifen, um zu zeigen,
was jene Akten an neuen historischen Erkenntnissen erwarten lassen.

Lücken in der Überlieferung

Gleich zu Beginn meines Forschungsvorhabens stieß ich bei meinen Recherchen im Bundesarchiv
Koblenz auf einige Lücken in der Überlieferung, die immer dann auftraten, wenn sich Probleme und
Entscheidungssituationen verdichteten, die nach einer Lösung riefen. Über die systematische
Erfassung von Aktenzeichen in Antworten auf bestimmte Schreiben, die sich nicht in den Unterlagen
befanden, wurde immer deutlicher, hier fehlen Dokumente, teilweise auch ganze Aktenstücke. Meine
Vermutungen wurden von den zuständigen Archivaren bestätigt. Es gab VS-Akten, die noch nicht
zugänglich waren, deren Freigabe aber bei der jeweils abgebenden Behörde beantragt werden konnte
und zwar jedes Dokument einzeln. Wäre es nicht gelungen, dieses Verfahren – zumindest in meinem
Fall – deutlich effizienter zu gestalten, wäre ich heute nicht hier, sondern säße immer noch im Archiv,
um auf die Freigabe Hunderte von mir beantragter Dokumente zu warten.

Verfahren zur Freigabe von VS-Akten

In einer einmaligen Form guter Zusammenarbeit von Bundesarchiv, Forschung, Historikerverband


und BMI, tatkräftig unterstü@t von den Medien, insbesondere dem Spiegel und der FAZ, gelang es –
nicht zule@t dank der Offenheit des damaligen Bundeinnenministers Schäuble für das Problem –
einen Kabine"sbeschluss zu erwirken, der die Freigabe der sogenannten Alt-VS regelte. Danach
sollten Verschlusssachen, die vor 1995 als solche deklariert worden waren, in einem zeitlich gestuften
Verfahren bis 2025 freigegeben wurden. Konkret bedeutet dies: Bis Ende 2012 werden der Akten der
Jahre 1949-1959 komple" frei gegeben. Der Rest, etwa drei Jahrgänge pro Jahr, folgen bis 2025. Für
mein Projekt galten diese Fristen nicht, so dass ich VS-Akten bis in die Ach@igerjahre hinein einsehen

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und auswerten konnte. Nach einer Sicherheitsüberprüfung durch den Verfassungsschu@ erhielt ich
für meine Forschungen in einer Art „Pilotversuch“ einen privilegierten Zugang, auch damit die
abgebenden Ministerien und Behörden Erfahrungen sammeln konnten, wie die Freigabe von VS-
Akten zu organisieren war, um den immensen Aufwand, den die Durchsicht, Prüfung und
Deklassifizierung der VS-Akten in den kommenden Jahren erforderten, bewältigen zu können. Im
Ergebnis dauerte es von der Antragstellung bis zur Freigabe zwischen neun und zwölf Monate,
teilweise auch länger, bis die Akten zur Verfügung gestellt wurden.

Volumen der VS-Akten

Mit welch einer Größenordnung von VS-Akten haben wir es zu tun? Es war schon eine kleine
Sensation, als ich aufgrund interner Angaben, zunächst für mich alleine und dann auch öffentlich eine
Hochrechnung erstellte, um wie viele VS-Dokumente es sich handeln könnte, die der Forschung
bislang nicht zur Verfügung standen. Eine Schä@ung, basierend auf Angaben des
Bundesministeriums des Innern (15 VS-Dokumente pro Vorgang bei ca. 100 000 Vorgängen) ergab,
dass allein im BMI noch mindestens 1,5 Millionen VS-Dokumente für den genannten Zeitraum bis
einschließlich 1994 schlummerten. Diese Zahl mit fünf der wichtigsten Bundesministerien
multipliziert, ergab eine Summe von 7,5 Millionen VS-Dokumenten. Da die Bundesregierung
allerdings aus mehr als fünf Ministerien zuzüglich einer Vielzahl nachgeordneter, teils sehr großer
und zudem mit einer hohen Sicherheitsstufe ausgesta"eten Behörden besteht, wie das Bundesamt für
Verfassungsschu@, der BND, das BKA und andere, wurde bald klar, dass es sich eher um einen
zweistelligen Millionenbetrag handeln musste.

Wenn man bedenkt, dass auch die Landesarchive über große Akten-Bestände zur Geschichte der
Bundesrepublik verfügen, gibt es auch dort natürlich VS-Material, das noch deklassifiziert werden
muss. Nach einer Umfrage, die das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen durchgeführt hat, füllen die
VS-Akten auf der Ebene der Länder weitere 1,3 Regalkilometer. Schließlich kommen noch die in den
Privatarchiven der politischen Stiftungen dem öffentlichen Recht en@ogenen oder sagen wir es
deutlicher „geklauten“ staatlichen VS-Akten ehemaliger Bundeskanzler und anderer Politiker hinzu,
über deren Größenordnung wir keine verlässlichen Angaben haben.

Wie bei der Euro-Krise mussten auch in Sachen VS-Akten die Zahlen mehrfach nach oben korrigiert
werden. Die le@te Information, die ich bekommen habe, lautet: Das BMVg verfügt nicht etwa nur
über die geschä@ten 1,5 Mio., sondern über 5 Regalkilometer VS-Akten verfügt. Es handelt sich also
insgesamt um ein gigantisches Volumen von Akten, VS-Akten, aber auch Nicht-VS-Akten, das
deutlich über meine ersten Schä@ungen hinausgeht. Es ist auf jeden Fall ein zweistelliges
„Millionending“, das Archivare und Zeithistoriker in den nächsten Jahren zu stemmen haben werden.

Quellenwert der Akten

Natürlich darf man je@t nicht davon ausgehen, dass jedes Dokument, das VS gestempelt ist, ein
bislang unbekanntes Staatsgeheimnis der Bundesregierung oder einer anderen Behörde enthält.
Vielfach sind einzelne Dokumente, die sich in einer VS-Akte befinden, aber nicht VS gestempelt sind,
bedeutsamer als die noch nicht deklassifizierten Geheimdokumente.

Ein Beispiel: In einer VS-Akte des ehemaligen Bundespostministeriums befand sich für das Jahr 1967
eine Abrechnung der für die amerikanischen Streitkräfte erbrachten Dienstleistungen, unter anderem
für die aus dem Verkehr gezogenen, den Amerikanern zur Kontrolle zugeleiteten Postsendungen. Da
der zuständige Abteilungsleiter einen Überblick haben wollte, wie sich die Zahlen in den
vergangenen fünf Jahren entwickelt ha"en, machte der zuständige Beamte eine schöne Aufstellung

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anhand der eingegangenen Zahlungen, die es mir dann ermöglichten, anhand der Stückkosten pro
Sendung zu ermi"eln, wie viele Postsendungen in der Zeit von 1960 bis 1967 von den Amerikanern
zensiert worden sind. Es handelte sich, nebenbei gesagt, allein in sieben Jahren um über 40 Millionen
Postsendungen. Das heißt, in den VS-Akten war ein nicht VS-eingestuftes Dokument wesentlich
bedeutsamer als andere in dieser Akte befindliche VS-Dokumente.

2. Ist die Geschichte der Bundesrepublik schon geschrieben?

Quellen sind Grundlage und Mi"el historischer Erkenntnis. Was ist zu tun, wenn sich die Grundlagen
und die Mi"el, kurz die Möglichkeiten historischer Erkenntnis, in fast dramatischer Weise für die
zeitgeschichtliche Forschung der Bundesrepublik ändern? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus
für eine eher gesellschafts- und kulturgeschichtlich orientierte bundesrepublikanische Zeitgeschichte?
In welche Richtung wird sich die Zeitgeschichte öffnen und entwickeln müssen, um offen für neue
Fragestellungen zur Erschließung der staatlichen Akten zu werden?

Aus der Vielzahl möglicher Fragen möchte ich drei Aspekte herausgreifen.

1. Was ist der Gegenstand? Worum geht es in den Akten? Um den Staat. Die Wiederentdeckung des
Staates als Forschungsgegenstand der Zeitgeschichte ist die Konsequenz.
2. Was ist die Fragestellung? Was ist die Rolle, was die Bedeutung des Staates im historischen Prozess
der Bundesrepublik? Worin besteht z.B. sein Beitrag zur Modernisierung und Liberalisierung der
Bundesrepublik?
3. Was war, was ist das Neue an diesem Staat? Die freiheitlichste Verfassung, die wir je ha"en. Die
Verfassung steht über dem Staat. Verfassung und Rechtsstaatlichkeit wären demnach die Maßstäbe,
an denen die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu messen wären.

2. 1 „ Die Wiederentdeckung des Staates als Forschungsgegenstand.

Die bislang geheim gehaltenen Akten haben eines gemeinsam, sie sind allesamt staatliche Akten. Sie
dokumentieren den Prozess der Entwicklung eines neuen Staates, der dreimal in einem Jahrhundert
seinen eigenen Untergang erlebt hat, 1918, 1933 und 1945. Zwar hat sich die deutsche Zeitgeschichte
immer mal wieder mit bestimmten Aspekten der Politikgeschichte der Bundesrepublik beschäftigt,
vor allem als in den Siebziger- und Ach@igerjahren die ersten deutschen und vor allem
amerikanischen und britischen Quellen frei gegeben wurden. Eine systematische Erforschung des
inneren und äußeren Prozesses aber ist bislang nicht erfolgt. Vielmehr bestimmten seit den
Siebzigerjahren zunächst wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtliche, später auch
kulturgeschichtliche Ansä@e den Blick der Zeitgeschichte auf die Bundesrepublik. Diese Ansä@e
haben sich zweifellos als äußerst produktiv erwiesen und uns wertvolle neue Erkenntnisse zur
Geschichte der Bundesrepublik geliefert. Auffallend ist jedoch, dass der Staat als eigenständiger
Forschungsgegenstand in diesen Ansä@en faktisch nicht vorkommt.

Die neuen Akten bieten die Chance, dieses Defizit auszugleichen und zwar in Form einer neuen
historischen Politikforschung, die sich im Sinne eines vierdimensionalen Politikbegriffs mit der
Erforschung des politischen Systems, der verschiedenen politischen Handlungsfelder, des politischen
Prozesses und nicht zule@t mit den politischen Mentalitäten, Überzeugungen und
Kommunikationsformen in der alten Bundesrepublik beschäftigt.

Hinsichtlich einer empirisch fundierten Analyse und Interpretation des politischen Systems des

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Zusammenwirkens der drei staatlichen Gewalten, der Interaktion von Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft und der Rolle und Bedeutung einzelner Institutionen gibt es noch erhebliche Defizite.
Etwa die fehlende Geschichte der Geheimdienste, wie wir gerade in diesen Woche gemerkt haben.
Aber auch eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts und seiner Rechtsprechung, überhaupt der
Justiz und der großen Prozesse oder auch des Deutschen Bundestages, des Föderalismus fehlt. Und
überhaupt wie entwickelten sich Staat und Demokratie? Wie unterschieden sich die verschiedenen
Phasen? Wie lassen sie sich begrifflich fassen? Lassen sich Staats- und Regierungsformen überhaupt
personalisieren? Waren die ersten 14 Jahre eine Kanzlerdemokratie oder eine autoritäre, eine
patriarchalische oder wie das le@te Angebot lautet eine lernende Demokratie? Oder nicht eher, was
die Quellen nahelegen, eine Staatsdemokratie, die den Staat nicht von der Demokratie her dachte und
formte, sondern die Demokratie vom Staate her?

Neben der historischen Erforschung des politischen Systems erlauben die erst zum Teil frei gegebenen
Regierungsakten auch eine systematische Erforschung der verschiedenen politischen
Handlungsfelder moderner Staatlichkeit wie Sicherheit, Wohlfahrt, demokratische Legitimierung
politischer Entscheidungen und nicht zule@t Rechtsstaatlichkeit verwaltungsmäßigen und politischen
Handelns. Hier wären die verschiedenen Politikfelder der Innen- Rechts- und Sozialpolitik, aber auch
der Außen- und Deutschlandpolitik, von der deutschen „Strategie der psychologischen
Kriegführung“ in den Fünfzigerjahren bis zur Neudefinition dieser Strategie als „Strategie der
psychologischen Verteidigung“ unter Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß Anfang der
Sechzigerjahre. Überhaupt ist die Rolle der Bundesrepublik nicht nur als Opfer, sondern auch als
Akteur im Kalten Krieg und nicht zule@t im deutsch-deutschen Kalten Bürgerkrieg quellenmäßig
noch längst nicht erforscht. Einen Beitrag dazu will zumindest mein Buch „Überwachtes
Deutschland“ leisten.

Schließlichermöglichen die Akten einen sehr viel tiefer gehenden Einblick in den politischen Prozess,
die Interaktion zwischen den an der politischen Gestaltung des öffentlichen Lebens beteiligten
Akteure und Institutionen, als dies bisher möglich war. „Bringing the state back in!“, diese
Forderung der amerikanischen Politik- und Sozialgeschichte in den Ach@igerjahren nach einer
stärkeren Berücksichtigung des Staates in der auch in den USA stark wirtschafts- und
sozialgeschichtlich ausgerichteten Geschichtsschreibung, dürfte auch für die deutsche Zeitgeschichte
in den kommenden Jahren Bedeutung gewinnen. Nicht um die Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher
und ökonomischer Prozesse und Strukturen zu unterschlagen, sondern um die gestaltende und
prägende Macht des Staates angemessener als bisher zur Geltung zu bringen.

2.2 Die Bedeutung des Staates im historischen Prozess der Bundesrepublik

Mein nächster Punkt bezieht sich auf die Entwicklung neuer Fragestellungen, die eine Überprüfung
bisheriger Ansä@e und Theorien zur Folge haben wird. Ich meine insbesondere die Thesen von der
Modernisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik.

Modernisierung und Liberalisierung

Zu den wichtigen Ergebnissen bisheriger zeitgeschichtlicher Forschung gehört die Erkenntnis, dass
die Modernisierung und Liberalisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht erst 1968 oder
in den Sechzigerjahren, sondern bereits in den Fünfzigerjahren begonnen hat. Hans-Peter Schwarz
erkennt schon in den Fünfzigerjahren eine „Periode aufregender Modernisierung“. Axel Schildt und
andere sprechen von „dynamischen Zeiten“, Ulrich Herbert im Anschluss an Jürgen Habermas von
einer „Fundamentalliberalisierung“ der alten Bundesrepublik und dehnt diese Phase auf die Zeit von
1950 bis 1980 aus. Während dieser Zeit habe ein tiefgreifender wirtschaftlicher, politischer und

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sozialer Modernisierungsprozess auf der einen und ein „politisch-kultureller Lern- und
Liberalisierungsprozess“ auf der anderen Seite sta"gefunden. Auffallend ist, dass der Staat als
wichtiger Akteur im dichten Beziehungsgeflecht von Staat und Gesellschaft, Staat und Wirtschaft,
Staat und Kultur, Staat und Wissenschaft etc. so gut wie nicht vorkommt. War der Staat ein
Beschleuniger, Bremser oder neutraler Faktor im Prozess der Modernisierung und Liberalisierung der
Bundesrepublik? Woher hat die gesellschaftliche Dynamisierung ihre Kraft genommen? Durch eine
Liberalisierung durch den Staat oder gegen den Staat? Hielt die Staatsdemokratie der Adenauerzeit
sich aus den Modernisierungs- und Liberalisierungsprozessen der Fünfziger- und Sechzigerjahre
heraus oder förderte sie diese?

Was sagen die Akten? Wie lassen sich etwa die fortgese@ten Verstöße gegen Gese@ und Verfassung in
Sachen Post- und Fernmeldeüberwachung in der Bundesrepublik während der Fünfziger- und
Sechzigerjahre mit der These von der Liberalisierung der Bundesrepublik vereinbaren und erklären?
Wie war es möglich, dass es einem liberalen Rechtsstaat über Jahre gelang, allein mit dem Hinweis auf
die Treuepflicht der Beamten, die Beamten der Post, des Zolls, der Polizei, der Staatsanwaltschaften
und auch der Richter zu gese@es- und verfassungswidriger Öffnung, Beschlagnahme und
Vernichtung von Millionen Postsendungen aus der DDR zu bewegen? Wie lässt es sich mit der These
von der Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik vereinbaren, dass ausgerechnet 1968 ein
Gese@ zur Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses verabschiedet wurde, das jede
Information an die Betroffenen und jede Möglichkeit gegen die Maßnahmen des Staates rechtlich
vorzugehen, ausschloss und vorher des Grundgese@ entsprechend geändert werden musste? Kam
dies, wie angesehene Staatsrechtler seinerzeit kritisierten, einer Ausschaltung der Gewaltenteilung
gleich? Die bislang nicht zugänglichen Regierungsakten machen es erstmals möglich, die Rolle des
Staates im Liberalisierungsprozess der Bundesrepublik zu thematisieren und zu klären.

2.3. Verfassung und Rechtsstaatlichkeit als Maßstab für die Zeitgeschichte

Mein dri"er Punkt hinsichtlich der Bedeutung der VS-Akten für die Zeitgeschichte bezieht sich auf
den Maßstab, mit dem die Geschichte der Bundesrepublik zu messen wäre.

Die These von der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zählt zu den am meisten geschä@ten
Aussagen über die sechzigjährige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Einer der
entschiedensten Verfechter dieser These ist Edgar Wolfrum. Für ihn ist die Erfolgsgeschichte weniger
Ergebnis, als vielmehr Vorausse@ung historischer Erkenntnis, wenn ich den Sa@, den er in seinem
Buch über die „Geglückte Demokratie schreibt, richtig verstehe. Er lautet: „Dass die Bundesrepublik
eine Erfolgsgeschichte war, ist nach simplen Kriterien nicht zu leugnen. Diese Ausgangsbasis für eine
historische Interpretation muss berücksichtigt und darf nicht relativierend herabgewürdigt werden …
Bonn wurde nicht Weimar – das war schon viel“.[1]

Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik folgt somit simplen und nicht wissenschaftlichen Kriterien,
ist nicht Ergebnis, sondern Vorausse@ung historischer Erkenntnis, darf nicht herabgewürdigt werden
und wäre damit nicht offen für einen wissenschaftlichen Diskurs. Die These von der Erfolgsgeschichte
ist somit eher geschichtspolitische Deutung als geschichtswissenschaftliche Erkenntnis.

Was ist bi"e schön Erfolg? Wann fängt er an? Wann hört er auf? Gilt Erfolg für alle Teilbereiche der
Gesellschaft? Wenn nein, für welche nicht? Hier ergeben sich unendlich viele Fragen. War zum
Beispiel die Deutschlandpolitik Adenauers erfolgreich oder nicht? War die Hallstein-Doktrin politisch,
wirtschaftlich oder auch nur diplomatisch ein Erfolg? War der Antikommunismus in seinen

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vielfältigen Auswirkungen auf die innere Entwicklung der Bundesrepublik ein Erfolg? War die
Verfolgung von Kommunisten bei der allein in den Fünfziger- und Sechzigerjahren siebenmal mehr
Menschen rechtskräftig verurteilt worden sind al ehemalige Nationalsozialisten eine
Erfolgsgeschichte? Ist die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Bildungschancen etwa ein Erfolg? Jede
Frage wirft gleichsam neue grundsä@liche Fragen auf. Erfolg ist eine politische und keine historische
Kategorie.

Die These von der Erfolgsgeschichte lebt vom historischen Vergleich, mit dem Vergleich anderer
Epochen der deutschen Zeitgeschichte von der Weimarer Republik, über die NS-Diktatur bis zur
Diktatur der SED. Dass die Geschichte der Bundesrepublik gegenüber diesen Epochen ein Erfolg war,
steht – glaube ich – außer Frage, wobei ein differenzierter Vergleich durchaus größere und kleinere
Gemeinsamkeiten, größere und kleinere Unterschiede, Ähnlichkeiten und Parallelentwicklungen
deutlich machen dürfte. Auch hier bedarf es einer differenzierteren Analyse als eines pauschalen
Vergleichs mit dem Ziel, die Geschichte der Bundesrepublik in einem möglichst positiven Licht
darzustellen.

Was könnte ein neuer Maßstab sein? 60 Jahre Bundesrepublik legen es nahe, die Entwicklung dieses
Staates an seinen eigenen Werten und Normen zu messen. Schon in den Fünfzigerjahren sprach der
SPD-Abgeordnete im Deutschen Bundestag Claus Arndt davon, nur die Verfassungsraison könne die
Staatsraison der Bundesrepublik sein. Ein solcher Maßstab rückt gute und schlechte Zustände in das
Blickfeld, erreichte und unerreichte Verfassungszustände, Verle@ungen und Beschädigungen des
Grundgese@es ebenso wie Weiterentwicklungen der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe. Die Grundrechte sind unmi"elbar geltendes Recht. Was bedeutet ein solcher Sa@?
Wurde die Verfassung immer in diesem Sinn gedeutet und angewendet? Auch hier sprechen die
Akten eine klare Sprache: Nein!

Welche Rolle spielte und spielt zum Beispiel das Verfassungsrecht in der Geschichte der
Bundesrepublik. Lassen sich Hinweise in den Akten finden, wonach die Beamten gleichsam die
Alarmglocke läuten, wenn es darum geht, dass sich möglicherweise in einem Gese@entwurf ein
Paragraph befindet, der gegen die Verfassung verstößt? Oder geht es der Exekutive eher darum,
möglichst nach juristischen Lösungen zu suchen, um entsprechende Normen umgehen zu können?
Die Akten zeigen, dass die Geschichte der Exekutive auch eine Geschichte der Umgehung und
Verle@ung verfassungsrechtlicher und gese@licher Normen ist. Auch hier gibt es einiges
aufzuarbeiten. Die deutsche Geschichte nach 1945 hat es verdient, endlich auch an den von ihr selbst
entwickelten eigenen Maßstäben gemessen zu werden und die Weiterentwicklung dieser Maßstäbe im
historischen Prozess zu analysieren und zu klären. Wie verhielten sich Norm und Wirklichkeit in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zueinander? Dabei sollten wir eines nicht vergessen: Am
Anfang war die Verfassung, nicht der Staat. „Nicht ein Staat hat sich eine Verfassung gegeben,
sondern eine verfassunggebende Versammlung hat einen Staat ‚geschaffen‘.“[2]

Es ist an der Zeit, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wieder zu öffnen für alte und vor
allem neue Fragestellungen. Dazu gehört insbesondere, den Staat als zentralen Forschungsgegenstand
der zeitgeschichtlichen Forschung wieder zu entdecken, ihn als einen wichtigen Akteur, nicht nur im
politischen, sondern auch in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen zu
erforschen. Dazu wird es unerlässlich sein, die Deba"e über eine neue und moderne Politikgeschichte,
die keineswegs nur staatliches Handeln, sondern dieses stets im gesellschaftlichen Kontext erforscht,
voranzutreiben und die Politikgeschichte im Verhältnis zur Gesellschafts-, Wirtschafts- und
Kulturgeschichte neu zu positionieren.

Dabei kann es jedoch nicht darum gehen, wie es auf dem Dresdener Historikertag geschehen ist, die

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Politikgeschichte in dem Sinne zu konzeptualisieren, dass die Politik gleichsam durch das Politische,
durch Rituale, Symbole und Sprechakte erse@t bzw. darauf reduziert wird. Auch bei einer
Politikgeschichte als „Kulturgeschichte der Politik“ rückt der Staat in den Hintergrund und kommt
als eigenständiger politischer Akteur nicht mehr vor. Den Staat als institutionalisierte Macht im
Kontext gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen wiederzuentdecken ist die
große Chance, die von der Öffnung der Millionen Akten ausgeht.

Die Freigabe von Millionen Akten, seien sie nun VS-Akten oder nicht, werden nicht nur unsere
Kenntnisse und Erkenntnisse über die Geschichte der Bundesrepublik in hohem Maße verändern und
erweitern, sondern wird uns auch zu neuen und intensiveren Formen der Zusammenarbeit zwingen,
nicht nur um die Masse des Materials zu bewältigen, sondern auch um neue interdisziplinäre
Fragestellungen zu entwickeln und gemeinsam nach entsprechenden Antworten zu suchen. Dies ist
eine große Chance. Um diese Chance produktiv nu@en zu können, ist u.a, eine engere
Zusammenarbeit mit den Archiven und den Archivaren einerseits, den Rechts- und den
Politikwissenschaften andererseits unerlässlich, auch wenn es da immer noch manche
Berührungsängste gibt.

Ist die Geschichte der Bundesrepublik schon geschrieben? Natürlich nicht! Mit jeder neuen
Fragestellung die Geschichte ein Stück weit neu geschrieben. Das hält sich in der Regel in einem
überschaubaren Rahmen. Der Millionenfund lässt jedoch erwarten, dass der Prozess des Neu- und
Umschreibens der Geschichte der Bundesrepublik erheblich an Dynamik gewinnen wird. Eine
spannende Zeit kommt auf uns zu. Wird die zeitgeschichtliche Forschung der Bundesrepublik die
Chance nu@en?

[1] Wolfrum, Geglückte Demokratie, S. 13.

[2] Böhret, Jann, Kronenwe", Innenpolitik und politische Theorie, S. 78.

(h"ps://wordpress.com/about-these-ads/)
Kurzmi"eilung
Veröffentlicht: Oktober 22, 2012 (2012-10-22T09:50:26+0000)
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