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INTELLIGENT LEBEN # 6

THOMAS HAEMMERLI
UND ANDERE

DER ZUG
IST VOLL
DIE SCHWEIZ
IM DICHTESTRESS

KEIN & ABER
 THOMAS HAEMMERLI
 UND ANDERE

DER ZUG IST VOLL


 Die Schweiz im Dichtestress

Anbei schicke ich Ihnen die Satzfahne


Der Zug ist voll von Thomas Haemmerli (Hg.).
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– daß die Satzfahne nur für interne Zwecke verwendet
und nicht an Dritte weitergegeben werden darf
– daß Sie bei Zitaten vor Verwendung bei uns anfragen.
Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Abdrucke
sind nur nach vorheriger Vereinbarung mit dem
Kein & Aber Verlag und der Angabe des Quellen-
nachweises möglich.

 KEIN & ABER
INHALTSVERZEICHNIS

THOMAS HAEMMERLI   5
Vorwort

MANFRED PAPST   8
 Von Tauben und anderen Plagen

PETER SCHNEIDER  10
Dichtestress
 Clique Valaisienne Populaire (CVP)

CHRISTOPH VIRCHOW  12
Gedichte

THOMAS HAEMMERLI  13
 Dichtestress: Ein helvetischer Spleen

GERHARD MEISTER UND SUZANNE ZAHND  40


Ungerschribe!

PETER BODENMANN  42
 Fremdenhass statt Klassenkrampf

CONSTANTIN SEIBT  46
 Bekenntnisse eines deutschen Secondos

DIETER MEIER  51
 Blocher wider besseres Wissen

PHILIPP TINGLER  52
 Dichtestress und Müdigkeitsgesellschaft

RENATA BURCKHARDT  58
 Achtung Tier
THOMAS HAEMMERLI

MICHÈLE ROTEN  61 Reaktion und aufgestellte Schwanzhaare


Alles dicht

THOMAS HAEMMERLI  64
Tupaja im Labor

WOLFGANG BORTLIK  65
Ein Pandämonium patriotischer Poltergeister
Ein paar Mal musste ich den Begriff buchstabieren. 4
BRIDA VON CASTELBERG  73
D-I-C-H-T-E! Etwa bei Dieter Meier. Das lag nicht daran, 5
Buchers Albtraum
dass der Mann in einem seiner Hauptberufe Popstar ist
KÖBI GANTENBEIN  76 und nicht mehr richtig hörte. Nein, Dichtestress mäandert
Dichte Raumpolitik zwar recht penetrant durch die Zeitungsspalten, aber
zum allseits bekannten Begriff hat er es deshalb noch
Biogramme und Nachweise 79
längst nicht gebracht. Kunststück! Er entstammt einem
Randgebiet: der Stress-Forschung eines bayrischen La-
bors mit Tupajas. Die Versuchstiere eignen sich aus zwei
Gründen: 1. Man braucht keine Elektroden an sie anzu-
schliessen: Echauffieren sie sich, lässt sich das an den
aufgestellten Schwanzhaaren ablesen. 2. Kaum sind sie
der Auffassung, Artgenossen beträten ihr Territorium,
reagieren sie heftiger als Schrebergärtner, denen man
durch die frisch bestellten Rabatten trampelt.
1976 hatte Dichtestress einen ersten grossen öffentli-
chen Auftritt, als der Biologe und Kybernetiker Frederic
Vester in einer TV-Sendung zum Thema Stress mit den
Tupajas seine ökologische Apokalyptik illustrierte. Der
Spiegel legte nach mit einer Titelgeschichte zum Thema
Jahrhundertkrankheit Stress.
Danach versank Dichtestress wieder in der Bedeu-
tungslosigkeit und überlebte vor allem in Traktaten vom
ganz rechten Rand, wo man von jeher eine Vorliebe für Deutlich zeigte sich das, als SVP -Bundespräsident Ueli
biologistische Argumente hat. Maurer behauptete, die Schweiz könne die Zuwanderung
Dabei blieb es. Bis in der Schweiz der Begriff plötzlich «kulturell nicht mehr verkraften». Da war es wieder, das
durch die Medien zu geistern begann und zum verbalen Schwarzenbachsche Hadern mit dem Fremden, das im-
Knüppel aller wurde, die glauben, die Schweiz sei kurz mer dort besonders virulent ist, wo wenig oder gar keine
vor dem Untergang durch Übervölkerung oder gar Über- Ausländer wohnen.
fremdung. Man kann sich in guten Treuen darüber streiten, wie
Allerdings wird Dichtestress nicht nur aus xenopho- voll Züge sein dürfen, ob es mehr flankierenden Arbeits-
bem Ressentiment verwendet, sondern beim Nörgeljour- marktschutz braucht oder wie viele Wohnungen in den
nalismus auch aus purer Dummheit und Mangel an Zentren fehlen und warum. Aber nicht mit pseudoobjek- 6
Sprachsensibilität. tiven Unsinnsbegriffen wie Dichtestress. 7
Kolumnisten wie der Satiriker Peter Schneider oder
der ehemalige SPS -Chef Bodenmann registrierten das Dank gebührt den Autorinnen und Autoren, die alle eh-
früh und geisselten Dichtestress als reaktionären Quatsch. renamtlich und aus Überzeugung in die Tasten gehauen
Nun ist es ja meist egal, was die Leute so daherschnur- haben. Und die eine klare Trennlinie ziehen: Da die Aus-
ren oder publizieren. Aber in der Schweiz folgen drei länderfeinde, die sich in Biologismen wie dem Dichtestress
wichtige Abstimmungen mit dem gleichen Hintergrund: ergehen mögen. Hier alle anderen, die den Begriff nicht
die Neuauflage der Schwarzenbach-Initiative gegen Über- ahnungslos verwenden.
fremdung aus den siebziger Jahren, mit der man die Das ist der Zweck dieser Sammlung, die sich im Be-
«wesensfremden» Italiener aus der Schweiz werfen wollte. sonderen an die Kollegen der Journaille richtet und die
Heute sind die Sündenböcke nicht mehr die Italiener, wir zur Mithilfe aufrufen, alle der Lächerlichkeit preiszu-
sondern Zuwanderer aus der gesamten EU . Und die sol- geben 1, die fürderhin ausserhalb der Tupaja-Forschung
len mit der Masseneinwanderungsinitiative der SVP noch von Dichtestress sprechen.
ebenso ferngehalten werden wie mit der ökologisch ver-
brämten Ecopop-Initiative. Das Ziel dabei ist die Abschaf-
fung der Personenfreizügigkeit mit der EU . Genauso wie
bei der dritten Abstimmung, bei der sich SVP und Kon-
sorten gegen die Ausweitung des freien Personenver-
kehrs auf Kroatien sperren.
Argumente und Details mögen sich ändern, stets aber
geht es um die Richtungswahl zwischen einer reaktionär
xenophoben und einer weltoffen modernen Schweiz. 1 Dichtestress der Woche auf www.dichtestress.ch
MANFRED PAPST «Dichtestress» aus der Verhaltensbiologie in die Politik
geraten. «Der Dichtestress in der Schweiz ist die politische
Von Tauben und anderen Plagen Herausforderung, die es anzugehen gilt», sagt CVP -Chef
Christophe Darbellay, und Bundesrat Didier Burkhalter
konstatiert ein «Unbehagen in der schweizerischen Be-
völkerung, das sich gegenwärtig bei Themen wie Dichte-
stress, Migrationsdruck und Zersiedelung» zeige, obwohl
die Lebensqualität in der Schweiz anerkanntermassen
hoch sei. In den Diskussionen zur SVP -Initiative «gegen
Seltsam sind die Wege der Wörter. Sie kommen und ge- die Masseneinwanderung», die am 9. Februar 2014 zur 8
hen. Manche nimmt die Sprache als Dauergäste auf, an- Abstimmung kommt, spielt der Begriff eine wesentliche 9
dere schickt sie nach einer Weile wieder fort. Wörter sind Rolle.
immer auf Wanderschaft, und ihr Sinn wandelt sich. Das ärgert mich, denn das Wort impliziert, dass es
Der Begriff «Dichtestress» tauchte in der NZZ erst- eine Art Naturgesetz gebe, was die zuträgliche Bevölke-
mals 1999 auf, und zwar in einer umfassenden Abhand- rungsdichte betreffe. Er suggeriert zudem, dass die Zu-
lung über die Taubenplage in Zürich unter besonderer wanderer uns zwangsläufig stressen und krank machen,
Berücksichtigung des Stadelhoferplatzes. Der Verfasser und leistet somit einer pseudowissenschaftlich untermau-
machte geltend, dass gegen die rund 15 000 Tauben in erten Fremdenfeindlichkeit Vorschub. An der Wohnungs-
der Limmatstadt (im Vergleich zu 300 000 in Venedig) knappheit und den steigenden Lebenskosten, an den Eng-
kein Kraut gewachsen sei: Abschiessen, Einfangen, Ver- pässen im öffentlichen Verkehr und den Schlangen an
giften sowie Nester-Ausnehmen nütze nichts, solange die der Kasse, an der Umweltbelastung soll allein die Zuwan-
Bevölkerung in falsch verstandener Tierliebe die Vögel derung schuld sein. Das ist, mit Verlaub, Blödsinn.
füttere. Das Überangebot an Nahrung führe zu einer Ex- Ich bin deshalb dafür, dass das Wort «Dichtestress»
plosion sowie Verslumung der Taubenbestände und da- fortan nur noch in Zusammenhang mit den Tauben auf
mit eben zu «Dichtestress»: Die «Ratten der Lüfte» wür- dem Stadelhoferplatz Verwendung findet. In der Auslän-
den einander und vor allem die Jungen fertigmachen, derpolitik hat es nichts zu suchen.
zudem würden sie von Würmern, Flöhen, Wanzen, Mil-
ben und Zecken befallen und litten durch die einseitige
Ernährung an Durchfall, was wiederum die Kotschäden
an den Gebäuden verschlimmere. «Taubenfüttern ist
Tierquälerei» , schrieb der Tierschutz damals.
Das war, wie gesagt, 1999. Inzwischen ist das Wort
PETER SCHNEIDER

Dichtestress Clique Valaisienne Populaire (CVP)

Die Ecopop-Initiative steht. (Versuche einzelner Genfer Christophe Darbellay, unser umtriebiger Ventil-Klausel 10
Gemeinden, durch hinterhältige Verwendung von und energischster Gegner der Freisetzung genveränder- 11
B-Post-Briefmarken das Volksbegehren mindestens zu ter Asylbewerber, hat ein neues Thema von nationalem
verzögern, dürfen als gescheitert betrachtet werden.) Die Rang entdeckt: den Wohnungsbau. Aufgrund der unge-
Initiative fordert, dass jährlich nur noch 0,2 Prozent der hindert in unser Land einströmenden Völkermassen in
bestehenden Bevölkerung neu aus dem Ausland einwan- der jährlichen Grössenordnung von schätzungsweise ei-
dern dürfen. Das klingt nach wenig. Ist es aber nicht. Es ner mittleren Kleinstadt wie Zürich können bekanntlich
handelt sich vielmehr um etwa 16 000 Personen Jahr für immer mehr Einheimische sich die von Ausheimischen
Jahr. Und was werden diese 16 000 zusätzlichen Men- geforderten und von noch Ausserheimischeren ohne
schen tun, sobald sie sich erst einmal bei uns nieder- Wimperzucken gezahlten Mieten nicht mehr leisten. Die
gelassen haben? Sie werden sich vermehren! Wenn sich Folge: Der durch den Wohnungsmangel bedingte Dichte-
aber jeder der 16 000 auch nur ein Mal vermehrt, so sind stress nimmt auch in den Aussenquartieren wie dem
es im nächsten Jahr schon 32 000, im übernächsten Wallis zunehmend zu. Vor allem seit das Bundesgericht
dann 64 000 zusätzliche Einwohner (und so weiter), die geurteilt hat, dass die Zweitwohnungsinitiative bereits
uns die knappe Ackerkrume streitig machen. Hinzu kom- seit ihrer Annahme durch das Volk gültig ist und nicht
men natürlich noch die weiterhin jährlich einreisenden erst frühestens dann, wenn alle Zweitwohnungen schon
16 000, das macht also 48 000 bzw. 96 000 (und so wei- gebaut sind. «Viele, die Ja stimmten, waren sich der Kon-
ter). Dazu addiert sich schliesslich noch der sogenannte sequenzen nicht bewusst», weiss Darbellay: «Es braucht
demografische Zinseszins, sprich: die Kindeskinder. also eine neue Verfassungsänderung, um den Entscheid
Wenn man dann bedenkt, dass schon heute jedes fünfte zu korrigieren.» Offenbar hatten viele geglaubt, die Initia-
Kind zu dick ist (Tendenz steigend!), kann man sich den tive richte sich rein symbolisch nur gegen Zweitminarette
Platzmangel und die drohende Hungersnot leicht selbst oder Unterkünfte für islamistische Zweitfrauen. Wie will
ausrechnen. man mit so einem Volk einen Staat machen?
CHRISTOPH VIRCHOW THOMAS HAEMMERLI

Dichtestress: Ein helvetischer Spleen

Von Tupajas und Menschen Der Kampf gegen den politischen Gegner wird nicht zuletzt 12
geführt als Kampf gegen seinen politischen Sprachgebrauch. 13
Ich leide höchstens Dichte-Qualen hermann lübbe
Im Beisein von Rechtsnationalen.
Ansonsten hab ich nie gelitten
An Dichtestress; so möcht’ ich bitten, «Bisher hatte man aber den Eindruck», hatte Sarah
Dass – wenn Du nicht in Lagos wohnst – Nowotny aber den Eindruck, «dass die Wirtschaft den
Mich mit dem Quatschbegriff verschonst. Dichtestress vieler Schweizer verharmlost. Auch Sie», hielt
Jedoch: Damit der Vers sich auch noch reimt, Nowotny Roland Müller im Interview vor, «haben sich ge-
Oft Dichterstress in mir aufkeimt. rade wieder für Wachstum ausgesprochen. Wie soll man Sie
unter diesen Umständen ernst nehmen?» Eine rhetorische
Frage, die klingt wie ein alttestamentarischer Fluch. Denn
Logische Folgerung hatte dieser Müller es nicht gewagt, sich für Wachstum
auszusprechen? Und damit den Dichtestress vieler
Aus Spanien, Polen, Estland, Flandern Schweizer verharmlost? Wie aber könnte man einen der-
Will wegen ihres Frankens Reiz’ artigen Verharmloser ernst nehmen und für zurech-
Ein jeder in sie einwandern, nungsfähig halten?
Die kleine, enge, nasse Schweiz. Sarah Nowotny ist exemplarisch für eine Spielart der
Dadurch entsteht natürlich Dichte- verblödeten Journaille, die einen im Normalfall kalt lässt,
Stress für alle, die schon da. weil sie völlig folgenfrei ist. Hier ist das nicht der Fall. Bei
So folgt, dass künftig besser – ja! Müller und Nowotny handelt es sich nicht um irgend-
Auf das Gesindel man verzichte. jemanden, hier füllen nicht die üblichen Figuranten mit
Dialogsimulationen Formate, bei denen es eh egal ist, ob
und was gerade gequakt wird. Nein, hier ist immerhin Und damit sind wir beim Thema: der plötzlichen He-
eine Politredaktorin der Sonntagsausgabe der Neuen raufkunft des Wortes «Dichtestress» im politischen Dis-
Zürcher Zeitung dabei, den Direktor des Arbeitgeberver- kurs. Genauer: im politischen Diskurs der Deutsch-
bandes in Sachen Personenfreizügigkeit und Ausländer- schweiz. Denn in Deutschland und Österreich kennt –
politik zu befragen. Und zwar im Vorfeld von Abstim- ausser Naturwissenschaftlern und ein paar Wirrköpfen
mungen, die für das Land entscheidend sind. ganz rechts aussen – keine Sau den Terminus.
Man reibt sich die Augen und fragt sich: Was, bitte Der Begriff stammt aus der Biologie und bezeichnet
schön, erwartet Nowotny denn? Dass der Direktor des Ar- besonders eremitische Kleintiere, die sich in Gegenwart
beitgeberverbandes sagt: «Ihnen, Frau Nowotny, die Sie ja von Artgenossen so sehr echauffieren, dass sie verster-
die doch eher arbeitgeberfreundliche NZZ vertreten, darf ben. Auf den Homo sapiens wurde die Bezeichnung 14
ich einen Primeur verraten. Wir Arbeitgeber haben uns zuweilen angewendet für die armen Tröpfe, die Angsthor- 15
geirrt. Jetzt haben wir ein Einsehen! Viele Schweizer lei- mone ausschütten, wenn sie sich unvermutet in Gegen-
den unter Dichtestress. Ausserdem ist uns zu Ohren ge- wart anderer befinden. Wobei diese Verwendung natür-
kommen, dass Sie, Frau Nowotny, den Eindruck verspür- lich Quatsch ist, denn dafür haben wir die präzise, gut
ten, wir würden das verharmlosen. Deshalb haben wir eingeführte Vokabel «Sozialphobiker».
uns mit einer deutlichen Mehrheit entschlossen, künftig Der Begriff «Dichtestress» also entstammt einem Ne-
jedes Wachstum tunlichst zu vermeiden. Andernfalls, das benzweig der Naturwissenschaft, wurde aber kaum ge-
wissen auch wir, würde der Arbeitgeberverband doch braucht, bis er plötzlich in der Schweizer Politik einen
nicht mehr ernst genommen.» steilen Aufstieg erlebte. Als Kampfbegriff für alle, die
Nowotny ist im falschen Blatt. Man könnte mutmas- glauben, die Schweizer Bevölkerung leide auf ihrem an-
sen, sie sei eine Charge, die man sich halte, um dem gestammten Territorium an Enge. Als Beleg führt man
Drängen der SVP -nahen Vereinigung der Freunde der an, dass es zur Stosszeit auf Strecken wie Bern–Zürich in
NZZ 2 nach mehr nationalkonservativer Gesinnung zu der Bahn zu wenig Sitzplätze hat, dass Automobilisten oft
entsprechen. Unsere Vermutung wäre eher, dass sich im Stau stecken bleiben und dass an begehrten Wohn-
hier eine mässig aufgeweckte Schreibkraft abstrampelt. lagen wie den Innenstädten Genfs oder Zürichs Wohn-
Denn es ist ja nicht nur der Anwurf gegen einen Arbeitge- raum knapper als die Nachfrage ist. Ein Paradefall, wie
bervertreter, er sei für Wachstum, der von Kretinismus sehr das alles im Ungefähren und Metaphorischen bleibt
zeugt, sondern schon Nowotnys Annahme, viele Schwei- und wie schludrig mit dem Begriff gearbeitet wird, prä-
zer litten an Dichtestress. sentiert die Schweiz am Sonntag, in der Chefredaktor
Patrik Müller mit Alan Cassidy über «Noch mehr Zuwan-
2 Seit Längerem versuchen SVP-Kreise um Thomas Matter oder
derer: Neue Zahlen sorgen für Nervosität» schreibt. Wo-
den Unternehmer Philippe Gaydoul, bei der NZZ den Einfluss
der Nationalkonservativen zu stärken. gegen ja nichts einzuwenden wäre, hätte man den Artikel
nicht mit einer Luftaufnahme illustriert, auf der sich die gibt es kaum eine Chance, alles zu widerlegen. Zumal
Menschenmassen der Street Parade über das Nadelöhr von der attackierenden Nowotny nichts explizit formuliert
Quaibrücke wälzen. Bildlegende: «Dichtestress – in die- ist. Müller müsste also erst die einzelnen, bloss insinuier-
ser Form aber nur an einem Tag im Jahr: Menschenmas- ten Vorwürfe benennen, um sie dann abarbeiten zu kön-
se an der Street Parade in Zürich.» Klar, eine Geschichte, nen. Der Begriff Dichtestress ist ein Glücksfall für alle,
bei der es um Differenzen bei der Erhebung von Zuwan- die glauben, man müsse sich an der Urne endlich der
derungszahlen geht, gibt natürlich nicht viel her, also ein- Überfremdung der Schweiz erwehren. Dichtestress ist
mal kräftig den Lukas gehauen mit was immer sich im ein verbaler Knüppel für alle, die fürchten, wir könnten
Fotoarchiv gerade findet. Fürs nächste Mal böte sich ein ökologischen Dringlichkeiten nur durch Abschottung
Dichtestressfoto vom New York Marathon an. Oder eine und Einigelung entsprechen. 16
Gefängniszelle in Delhi, damit man fühlt, wie ernsthaft Dichtestress ist ein Kampfbegriff der Feinde einer of- 17
die Schweiz am Sonntag sich des Dichtestresses vieler fenen Schweiz. Und als das muss man ihn behandeln.
Schweizer annimmt. Genauso wie alle, die ihn bewusst oder – seien wir nicht
Das Perfide am Begriff ist, dass er alles Mögliche zu polemisch – aus Schusseligkeit verwenden.
antippt, dass jeder, der ihn hört, damit sofort negative Ge-
fühlslagen verbindet, und dass er durch die Wortkoppe-
lung von Dichte und Stress eine Kausalität behauptet, der Dummdeutsch statt Verschwörung
ein Anschein von wissenschaftlicher Objektivität und da-
mit Unwiderlegbarkeit anhaftet. Auch wenn Dichtestress in der Debatte ein hochwirksa-
Gehen wir nochmals zum Casus Nowotny zurück. mes Instrument ist, so mögen wir doch an keine konzer-
Was könnte Arbeitgeberdirektor Müller auf die Frage tierte Aktion glauben. Das Königsargument gegen Ver-
nach Dichtestress sinnvollerweise entgegnen? Was wäre schwörungstheorien, das sich einem mit zunehmender
eine adäquate Antwort, wenn ihm in einer einzigen Frage Lebenserfahrung aufdrängt, ist die Tatsache, dass soziale
um die Ohren gehauen wird, er verharmlose Engpässe Gruppen nicht in der Lage sind, komplexe Masterpläne
bei der Bahninfrastruktur, beim motorisierten Individual- umzusetzen. Nie!
verkehr, er verharmlose die Wohnungsnot (oder was Warum aber hat es Dichtestress dauerhaft in die De-
sonst «viele Schweizer» gerade als knappe Güter erleben) batte geschafft? Nun, Journalisten sind nicht nur in dem,
und sei ausserdem unglaubwürdig, weil er ja für Wachs- was sie vertreten, oft Windfahnen, sondern auch hochan-
tum sei? fällig für Sprachmarotten. Kaum taucht etwas auf, das ei-
Hätte Nowotny einen Punkt um den anderen vorge- nen der Bürde genauen Formulierens enthebt, benutzt
bracht, Müller hätte wohl jedes Mal etwas zu entgegnen man es gerne und bereitwillig. Ein paar Jahre lang schrie-
gewusst. Aber in der geballten Form der vagen Metapher ben Journalisten ständig, was alles aufgegleist sei, dann
wurden unzählige Pakete geschnürt. Nachdem Blocher die Vernunft oder Neigung, aber gerade dadurch erlebt er
Wendung x hat nicht mehr die Kraft zu y 3 oft genug wie- sich als besonders professionell, kaltblütig und unbe-
derholt hatte, verbreitete sie sich wie eine Seuche, und stechlich; während er doch nur Nonsens nachbetet. Dazu
seit längerem lesen wir ständig die Metapher vom Kern: gehört etwa der Refrain des nationalkonservativen Kampf-
x ist im Kern y. Dummdeutsch à gogo. blattes, alle Medien – ausser den von Blocher kontrollier-
Journalismus ist sprachlich also ein hoch modeanfälli- ten – seien Mainstream, derweil nur ganz ausgekochte
ges Metier. Um den Durchmarsch des Begriffs Dichte- Investigativjournalisten die wirklich brenzligen Fragen
stress zu erklären, fehlt aber noch ein zweites Element: stellten, etwa ob Frauen nicht doch an den Herd gehörten
Der Aufstieg des Nörgeljournalismus. (schon bei den Höhlenbewohnern!), ob Berlusconi nicht
doch ein Segen für Italien und ob das Volk nicht dringend 18
vom Joch all der frechen Ausländer zu befreien sei. 19
Nörgeljournalismus

Nörgeljournalismus erkennt man am kläffenden Sound. Der Kampf um Worte


Er ist eine Hypertrophie von kritischem Journalismus.
Versuchte Letzterer eine Position durch genaues Nachfra- Meist ist es wurscht, was den lieben langen Tag so alles
gen, durch Skepsis und kluges Entgegnen zu prüfen oder zusammengeschrieben und -publiziert wird. Allerdings
zu demontieren, so betet der Nörgeljournalismus einfach spitzt sich die Schweizer Politik immer wieder auf strate-
einen kurrenten Anwurf nach dem andern herunter. Oft gische Abstimmungen zu, in denen es nur Sieg oder Nie-
sind das Klischees und Ressentiments, denn der Nörgel- derlage gibt. In diesen Auseinandersetzungen um alles
journalist hat nicht die Zeit – oft auch nicht das Format –, oder nichts spielen Worte, spielen Kampfbegriffe eine
sich stichhaltige Gegenargumente zurechtzulegen. Wäh- wichtige Rolle. Felix Müller, Chefredaktor der NZZ am
rend sich der kritische Journalismus der Tradition der Sonntag, schreibt: «Im Jahr 1973 rief der damalige Gene-
Aufklärung verdankt und damit schon etwas angegraut ist, ralsekretär der deutschen CDU Kurt Biedenkopf seine
wurzelt der Nörgeljournalismus topaktuell im Gestus all Partei zum ‹Besetzen der Begriffe› auf. Wer einen Begriff
der Fernseh-Krawallshows, bei denen egal ist, was gesagt definiert und in den politischen Diskurs einführt, der be-
wird, so lange es genügend laut und kontrovers daher- stimmt nicht nur dessen Geltungsbereich. Er gewinnt die
kommt. Und da in der Schweizer Politik das Pendant zur Lufthoheit im politischen Diskurs.»4
TV-Brüllshow die Volkspartei ist, betet der Nörgeljourna- In den USA begann vor zehn Jahren eine breite De-
list gerne ihre Anwürfe herunter. Oft wider seine eigene batte über die Wirkung von Begriffen bei der Entschei-
3 Wobei Blocher für x meist «der Bundesrat» einsetzt, 4 Menschenhandel heisst die neue politische Allzweckwaffe,

seit er aus dem Gremium entfernt werden musste. Felix E. Müller, in NZZ am Sonntag, 7.12.2013
dungsfindung der Stimmbürger. Dabei rückte die Theorie seien ein Übel und prägen so die Interpretation 7. Wähler
des Framing ins Zentrum des Interesses. Frames oder stimmen nicht aufgrund ihrer objektiven Eigeninteressen
Rahmen bezeichnen Wertvorstellungen und Prägungen, oder weil sie ein Programm logisch nachvollziehen kön-
mit denen wir die Welt ordnen. Schon kleine Verschie- nen, sondern sie stimmen für Personen oder Themen,
bungen bei der Präsentation eines Sachverhalts rufen an- mit denen sie sich identifizieren. Deshalb geht es beim
dere Entscheide hervor.5 So meinten bloss 20 Prozent der politischen Framing darum, Sachverhalte so zu erklären
US -Bürger, der Staat gebe zu wenig Geld für Sozialhilfe und in einen Kontext einzubetten, dass Werte, Überzeu-
aus, derweil satte 65 Prozent fanden, der Staat zahle zu gungen und Emotionen des Publikums angesprochen
wenig für die Unterstützung der Armen.6 Die unter- werden.
schiedliche Präsentation der Frage rief andere mentale Luntz verankerte für die Regierung Bush etwa den Be- 20
Frames hervor, was einen erheblichen Einfluss auf die griff ‹climate change› (Klimawandel), der keinen direkten 21
Meinungsbildung hatte. Positionierung und Kontextuali- Bezug zu Forschungsergebnissen über die Erderwär-
sierung von Ideen sind also entscheidend für die politi- mung hat.8 Luntz sagt: «It’s not what you say. You can
sche Debatte. have the best message in the world, but the person on the
receiving end will always understand it through the prism
of his or her own emotions, preconceptions, prejudices
Amygdala vs. präfrontaler Kortex and pre-existing beliefs.»9

Nach der verlorenen Präsidentschaftswahl von John Kerry Dass Menschen nicht logisch und von Interessen geleitet,
im Jahre 2004 machte der Chomsky-Schüler und demo- sondern oft irrational entscheidend, beschäftigt inzwi-
kratische Stratege Professor George Lakoff den Begriff schen auch Neurobiologie und Ökonomie. Benedetto de
«Framing» weitherum bekannt. Lakoff erklärte Kerrys Martino vom University College in London untersucht
Scheitern damit, dass man die Macht des Sprachge- Framing bei der Urteilsfindung. Fazit: Stark vom Fra-
brauchs unterschätzt habe. Die Republikaner hingegen ming-Effekt beeinflusst ist, wer mehr von der Amygdala
hätten unter dem Einfluss von Frank Luntz, Lakoffs gesteuert ist, dem Teil des Hirns, der als Alarmsystem
republikanischem Pendant, seit Jahren mit Frames und
7 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Diskussionspapier zum Expertendialog
konsequenter Wortwahl gearbeitet. Begriffe wie «tax re- (2007): «Politische Reformkommunikation», Veränderungsprozesse
lief» (Steuererleichterung statt -senkung) und «death tax» überzeugend vermitteln, S. 8.
8 http://www.theguardian.com/environment/2003/mar/04/usnews.
(Todes- statt Erbschaftssteuer) implizieren beide, Steuern climatechange, zuletzt besucht: 30.8.2013.
9 Luntz, Frank (2007): Words That Work: It’s Not What You Say, It’s What
5  Chong, Dennis & Druckman, James (2007): Framing Theory, S. 104. People Hear. «Es zählt nicht, was man sagt. Man kann die beste Botschaft
6 Rasinski, Kenneth (1989): «The effect of question wording on public der Welt haben, ein Rezipient wird sie immer aus der Perspektive seiner
support for government spending». Public Opinion Quartely, Vol. 53, S. 391. Gefühle, Vorurteile und vorgefassten Meinungen verstehen.»
dient und schnelles, instinktives Handeln auslöst. Weni- wird knapp», warnt Vester, «die Energiequellen gehen
ger vom Framing-Effekt beeinflussen lässt sich, wer stär- ihrem Ende zu, die Verseuchung der Umwelt schafft ge-
ker vom präfrontalen Kortex bestimmt ist, bei dem sich fährliche Situationen. Nicht zuletzt führte unsere techni-
abstraktes und analytisches Denken abspielt.10 sche Entwicklung – mit dem Essen wuchs der Appetit,
Nun hilft es wenig, dass die Amygdala näher beim das heisst, Produktion und Verbrauch schaukelten sich
Reptilienhirn, der präfrontale Kortex mehr auf der Seite gegenseitig in schwindelerregende Höhen auf – zu einer
des mündigen Menschen anzusiedeln ist. Es gilt: One völligen Pervertierung der uns angeborenen. Die soziale
man, one vote, egal, wo im Schädel es rumpelt, wenn Ab- Belastung durch Stresserscheinungen nahm ihren An-
stimmungsentscheidungen getroffen werden. fang. Die Zeitbombe unserer Bevölkerungsexplosion hat-
Aber: Worte machen Meinungen. Deshalb muss man te zu ticken begonnen.» 22
um sie streiten und ihren unbedachten Gebrauch geis- Weiter drohe die Erschöpfung der Rohstoffe, die glo- 23
seln. bale ökologische Katastrophe und «auf der Ebene des
Menschen eine progressive Neurose. Es kommt zu einer
immer stärkeren Störung seiner biologischen Funktionen
Dichtestress qua Television durch Verkehrsstress, Lärmstress, optischen Stress,
Stress des Zusammenlebens, Stress der Isolation, Leis-
1976 veröffentlicht Frederic Vester flankierend zu seiner tungsstress, Berufsstress. Alles Vorgänge, die – wahr-
TV -Serie zum Thema Stress in der Reihe «dva Öffentliche scheinlich ganz im Sinne der Natur – auf das Zusammen-
Wissenschaft» das Buch Phänomen Stress 11, das im Unter- brechen oder gar Auslöschen der gesamten Population
titel fragt: «Wo liegt sein Ursprung, warum ist er lebens- hinzielen.»
wichtig, wodurch ist er entartet?». Vester ist zwar habili- Ein Stress jagt den nächsten. Wobei der Stress durch
tierter Dr. rer. nat., Biochemiker und, laut Klappentext, Isolation seinen Höhepunkt schon in den siebziger Jah-
auch noch Umweltfachmann, Gründer und Leiter der ren hatte (siehe: «Isohaft ist Folter!» & «Isohaft ist Mord!
Studiengruppen für Biologie und Umwelt undundund, ZL der Gefangenen!»12). Alle anderen Stresse sind noch
aber in Sachen Stress und seiner Entartung gilt Vester als da: der des Zusammenlebens als progressive Neurosen
Populärautor, der einem Laienpublikum wissenschaftli- transzendierende ewige Konstante der Conditio humana
che Erkenntnisse aufbereitet.
12 Isohaft war die Abkürzung für Isolationshaft oder auch «Isofolter»,
Gleich das erste Kapitel von Phänomen Stress ist beti-
wie Teile der radikalen Linken die Einzel- oder Kleingruppenhaft von
telt mit «Menschendichte und Verkehr». «Die Nahrung Mitgliedern der terroristischen Rote-Armee-Fraktion nannten.
«Die Gefangenen» wurden zum beherrschenden Thema der RAF und
10 De Martino, Benedetto et al. (2006): «Frames, Biases, and Rational ihrer Unterstützerszene, und so manche Sprayinschrift richtete sich
Decision-Making in the Human Brain». In: Science, Vol. 13, S. 687. nur an Initiierte, etwa mit der Forderung nach «ZL der Gefangenen»,
11 Frederic Vester (1976): Phänomen Stress. was Zusammenlegung meinte.
genauso wie der topaktuelle – dem Output der Kontem- können, wurde von dem Münchner Zoologen von Holst
porärkunst, dem Aufstand der Zeichen 13 und ganz beson- bei einer besonderen Art von Baumspitzhörnchen, den
ders dem Pictorial turn geschuldete – optische Stress. Tupajas, studiert.»
Muss also – wahrscheinlich ganz im Sinne der Natur!
– die Weltpopulation vor lauter Stress in den Orkus, so Ideal seien die Tupajas, weil sie genau für die Dauer ihrer
sollten wir wenigstens in der Schweiz der völligen Perver- Stressreaktion die Schwanzhaare sträubten.15 Ausser na-
tierung der uns angeborenen Lebensweise Einhalt gebie- türlich, wenn sie – wahrscheinlich ganz im Sinne der Na-
ten, Einhalt der Menschendichte und dem Verkehr. Gera- tur – vor lauter Gesträube krepieren und jeder einzelne
de dem Verkehr! Schwanzhaarsträubemuskel final erschlafft.
«Zu manchen Aspekten des Verkehrsgewühls in un- Bemerkenswert jedenfalls ist: Vester argumentiert 24
seren Grossstädten zeigt die wimmelnde Ansammlung nicht, man habe bei den Tupajas Stress festgestellt, des- 25
einer überbevölkerten Mäusepopulation erschreckende halb sei es naheliegend, dass auch der Mensch ähnlichen
Parallelen», weiss Vester. «Automatisch entstehen bei Stress verspüre. Nein: Vester verfährt genau umgekehrt.
dieser Verkehrsdichte Gruppen von sich beissenden, ver- Er sagt, sozialer Dichtestress sei nicht nur beim Men-
knäuelten Tieren, verendende Tiere, struppige, unge- schen wirksam, sondern auch beim Spitzhörnchen, was
pflegte Untergebene und demgegenüber einige wenige dann wohl insinuieren soll, wie borstengespreizt bzw. ge-
vollgefressene der oberen Hierarchie mit glänzendem stresst beide sind. Wobei Vester unterschlägt, dass Tupa-
sauberem Fell.» jas – so von Holst – «ausgesprochen ungesellig» sind. Sie
Voilà: Vester der Prophet! Hier verendende unge- leben allenfalls paarweise zusammen, den eigenen Wurf
pflegte SBB -Pendler im Dichtestress und Verkehrsge- deponieren sie in einem Zweitnest, das sie nur jeden
wühl, da in einer Limousine Daniel Vasella, vollgefressen zweiten Tag besuchen. Und die Begegnung mit anderen
und mit glänzendem, sauberem Scheitel.14 Artgenossen belastet sie massiv.16 Der Schluss von den
«Sozialer Dichtestress ist», so Vestern, «also nicht nur Eigenbrötlern auf ein soziales Wesen wie den Menschen
bei uns wirksam, sondern schon bei sehr viel einfacheren ist Unsinn.
Arten. Dass auch dort psychische Einflüsse wie Enge, Also zitiert Vester noch den Verhaltensforscher Wil-
Beklemmung, Angst und Unterdrückung messbare kör- helm Schäfer, der postuliere: «Irgendwann gibt es für
perliche Veränderung und selbst den Tod hervorrufen jede Gattung eine Grenze der Dichte, die keine weitere
Anpassung mehr erlaubt und deshalb nicht mehr über-
13Jean Baudrillard (1978): Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. schritten werden darf, oder aber die Population bricht in
14Daniel Vasella, lange Jahre der alles bestimmende Boss des
Pharmamultis Novartis, wurde in der Schweiz zum Inbegriff des 15 Bei von Holst figuriert das als das «Sichtbare Schwanz Sträuben»,

Abzockers. Besonders umstritten war, dass Vasella sich seinen Abgang kurz SST.
bei Novartis mit 72 Millionen Franken vergolden liess. 16 «An die Nieren». In: Der Spiegel, 3/1973.
einer Katastrophe zusammen. Der Dichtestress als natür- zigen Buben. Keiner reagiert. Lars (3)* hat keine
liche Regulation hat die Bevölkerung drastisch verringert Chance. Er verblutet, während Elsa seinen Ba-
und ihr damit auf brutale Weise vielleicht eine neue ckenknochen abnagt. Schon der vierte Fall! Wann
Überlebenschance gegeben.» 17 handelt Bern? Der Gesetzgeber ist gefordert! Jetzt
Auch das lässt sich sowohl bei primitiven Gattungen braucht es Nulltoleranz! Jetzt muss knallhart und
(Tupajas) wie bei semiprimitiven (Helvetier) beobachten. ohne Wenn und Aber und so weiter.»
Derweil dem Helvetier die brutale Ecopop-Initiative viel- *Name der Redaktion bekannt
leicht eine neue Überlebenschance gibt, ist der Tupaja
noch rabiater. Überschreitet die Stressdauer «bei Weib- Muss es so weit kommen? Können wir nicht schon früher
chen zweieinhalb Stunden, so ändert sich ihr Verhalten eingreifen? 26
ins Perverse. Sie versuchen zum Beispiel, andere Weib- 27
chen zu begatten.»18 Und sind der Perversion erst einmal
Käfigtür und Tor geöffnet, dann ist kein Halten mehr: Fehlenden Dichtestress übernehmen
«Nicht selten werden Junge von anderen Tupajas gefres-
sen. Manchmal sogar von der eigenen Mutter.» Ich sehe Kybernetiker Vester schildert ein gelungenes Beispiel von
die Schlagzeile vor mir: Dichtestressabbau: «In einigen afrikanischen National-
parks hatten sich die geschützten Elefantenherden so ver-
Mami frisst 3-Jährigen mehrt, dass sie drohten ihr Revier völlig kahl zu fressen
Die S-Bahn von Bachenbülach nach Zürich ist und zu verhungern. Die Behörden sahen keine andere
überfüllt. Wie immer um 8 Uhr 22. Es ist heiss. Möglichkeit mehr, als selbst die Funktion des fehlenden
Elsa K.* wirkt nervös. Niemand ahnt, dass sie seit Dichtestresses zu übernehmen. Sie erlaubten, den Elefan-
zweieinhalb Stunden an Dichtestress leidet. Doch tenbestand um die Hälfte zu dezimieren, damit wenigs-
dann verbeisst sich Elsa K. in der Backe ihres her- tens der Rest gesunden und überleben konnte.»
Mit der Perspektive des Biologen und Stressforschers
müsste die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu ge-
17 Wilhelm Schäfer (Franfurt 1971): Der kritische Raum. (Ich sage nur: schrieben werden. «Euer Ehren, mein Mandant sah keine
1971! Und: Frankfurt! Und: Kritisch! Schon haben wir zumindest die Schä-
fersche Titel-Tonalität theoriehistorisch einsortiert und ich möchte wetten,
andere Möglichkeit, als selbst die Funktion des fehlenden
dass Schäfer im Literaturapparat die Dialektik der Aufklärung anführt.) Dichtestresses …»
18 Denkt man stringent weiter, so liesse sich damit die Akzeptanz,

um nicht zu sagen, die Kapitulation hoch technisierter westlicher


Dichtesozietäten angesichts immer omnipräsenterer, immer selbst-
verständlicherer Homosexualitätsperversionen erklären, was dann
logisch kontrastierte mit der Resistenz der dichteabstinenten russischen
Gesellschaft infolge der ungeheuren Tiefe des Ostraums.
Vester verkündet Dichtestress Wissenschaft vs. Popularisator

Januar 1976, der Spiegel schreibt: «Vorausbericht zu ei- Der Wissenschaftshistoriker Patrick Kury referiert von
nem neuen, sechsteiligen ZDF -Kolleg, in dem der Holsts Kritik so: Er «betonte, dass es Vesters Film unter-
Münchner Biologe Frederic Vester das ‹Phänomen lassen habe, Stress präzise zu definieren. Zudem vermit-
Stress›, eine der ‹Hauptursachen fast sämtlicher Zivilisa- telten Vesters Sendungen ‹ein grob vereinfachtes und un-
tionskrankheiten›, untersucht.» Im Februar sekundiert seriöses Bild einer Forschungseinrichtung›. Es seien viele
der Spiegel mit der Titelgeschichte: «Krankheit des Jahr- ‹Aussagen über Stress und Antistress getroffen› worden,
hunderts: Stress.» Und popularisiert für sein Publikum bei denen es sich um blosse Behauptungen handelt.»20
weiter, was Vester am TV und im Begleitbuch schon po- 28
pularisiert hatte: «Verschlimmert wird jeder Stress durch Vorwerfen muss man Vester, dass er, was immer gerade 29
‹Dichte›: Je näher ein Affe dem anderen auf den Pelz passt, für seine Zivilisationskritik und Öko-Apokalyptik
rückt, desto mehr Katecholamine scheiden beide aus. anführte. Wobei es dem Kybernetiker darum ging, aufzu-
Dass der soziale Dichtestress messbare körperliche Ver- rütteln und das Modell der Überflussgesellschaft zu dis-
änderungen und sogar den Tod hervorrufen kann, wurde kreditieren. Dafür kamen ihm von Holts Tupajas genauso
in den letzten Jahren vor allem von dem Münchner Zoo- recht wie hungrige Elefanten oder eine gezielt waltende
logen Dietrich von Holst bei einer besonderen Art von Natur, die wahrscheinlich «auf das Auslöschen der ge-
Baumspitzhörnchen, den Tupajas, nachgewiesen.»19 samten Population» hinziele.21
Dietrich von Holst ist irritiert. Genauso wie diverse Mit Vesters TV -Serie, dem Begleitbuch und dem Spie-
seiner Forscherkollegen. So sehr, dass sie sich im Juli in gel-Titel war der Begriff Dichtestress in die Welt gesetzt.
der Klinik Höhenried zu einem Werkstattgespräch tref- Wobei ihm keine grosse Karriere beschieden war. Zuver-
fen. Thema: Die «kritische Bestandesaufnahme zu einem
Modethema». 20 Redebeitrag von Dietrich von Holst in der Sektion «Stress in den

Medien», in: Halbhuber (1977): «Psychosozialer ‹Stress› und koronare


Herzkrankheit.» Verhandlungsbericht vom Werkstattgespräch am
8. und 9. Juli 1976 in der Klinik Höhenried. Zitiert und referiert nach
Patrick Kury (2012): Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom
Stress zum Burnout.
21 Abgesehen davon, dass es Nonsens ist, zu glauben, die Natur ziele

auf irgendetwas ab, kann man gegen die Analogie mit den eremitischen
Tupajas die sozialen Meerschweinchen ins Feld führen. Wie die For-
19 1973 hatte der Spiegel schon über von Holsts Tupaja-Studie «Sozial- schung von Norbert Sachser von der Wilhelms-Universität Münster
verhalten und sozialer Stress bei Tupajas» berichtet. Damals fehlte belegt, verzeichnen Meerschweinchen auch bei massiv höherer Labor-
aber der Begriff Dichtestress noch völlig, und der Artikel betonte mehr belegung weder gesteigerte Aggression noch Stress, sondern organisieren
das Malaise, dass Tupaja-Männchen haben, wenn sie in Hierarchie- einfach ihr Sozialverhalten anders. Und: Etwa zehn Prozent sind homo-
Auseinandersetzungen unterliegen. sexuell, aber mehr aus Neigung denn aus Stress.
lässig taucht er lediglich in obskuren Traktaten von rechts Des Teufels erscheinen Hegg deshalb Grossstädte.
aussen auf. Denn: «Pornografische, sexuell-perverse und ungewöhn-
licher (sic) Verhaltensweisen, deren Ziel nie die Zeugung
ist und sie oft auch ausschliesst, sind in Grossstädten
Dichtestress und blonde Naturburschen häufiger.» Ich raune nur: blond gelockte Naturburschen.

Etwa in Biopolitik. Der Mensch in der Zerreissprobe. Zwi-


schen Alt- und Neuhirn, dem zentralen Werk des Düben- Von Schwarzenbach zu Ecopop
dorfer Psychiaters Jean-Jacques Hegg. Hegg war Anfang
der achtziger Jahre Nationalrat der «Nationalen Aktion Die These, dass Bevölkerungswachstum alles zu Schan- 30
gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» (NA ) den mache, ist ein Evergreen, seit Thomas Malthus 1798 31
und damit ein direkter Nachfolger von James Schwarzen- seinen Essay on the Principle of Population publizierte.23
bach, der mit seinen Überfremdungsinitiativen die Italie- Die Angst vor Bevölkerungswachstum verbreitete sich et-
ner aus dem Land werfen wollte. was in den fünfziger und sechziger Jahren des vergange-
Seit 1972 Valentin Oehen NA -Präsident geworden nen Jahrhunderts, was 1968 im sensationalistischen
war, verfolgte Schwarzenbachs Anti-Ausländerpartei ei- Buch The Population Bomb von Paul und Anne Ehrlich
nen national-ökologischen Kurs, der bis heute in der gipfelte, das zum Bestseller wurde. Damit war das Thema
Nachfolgepartei Schweizer Demokraten anhält. Auch gesetzt, die Furcht vor Bevölkerungswachstum wurde zu
Heggs Biopolitik streitet für Ökologie in einem Land. einem Treiber der frühen Ökobewegung.
Und, natürlich, gegen Dichtestress: «Europäischstämmi- 1967 konstituierte sich in Bern um den Zoologen
ge Bevölkerungen überleben erfahrungsgemäss am bes- Prof. Pierre-André Tschumi die Schweizerische Arbeits-
ten in dünn besiedelten Gebieten, wo sie in engen Kon- gemeinschaft für Bevölkerungsfragen (SafB), der sich
takt mit der unberührten Natur treten können. Man denkt auch Valentin Oehen anschloss. 1972 erfolgte die formel-
unwillkürlich an blond gelockte Naturburschen, die als le Gründung 24, Professor Theo Ginsburg wurde Präsi-
Jäger in einem grossen Eigenrevier umherzustreifen dent, Oehen Vize. Und als solcher arbeitete er kräftig bei
vermögen, materiell genügsam, aber mit grossen (sic) der Formulierung der Statuten mit, die in Artikel 2 fest-
Freiheits- und Bewegungsdrang. Umgekehrt erscheinen
Asiaten besonders unempfindlich bezüglich territorialer
23 Der Ökonom Thomas Malthus behauptet in seinem Essay on the
Frustration.»22 Principle of Population von 1798, die Bevölkerung nehme, verglichen
mit der Nahrungsmittelproduktion, um ein Mehrfaches zu, was in
die Katastrophe führen müsse.
24 Im Folgenden zitiert nach Peter Fankhauser (1995): Hört auf die Erde
22 Jean-Jacques Hegg (2001): Biopolitik, S. 94. zu ermorden, Valentin Oehen 1970 – 1980.
hielten: «Der Verein hat zum Zweck, in Zusammenarbeit nalität, aber auch zu Neurosen wie Depressionen, Burn-
mit der Wissenschaft der Öffentlichkeit den kausalen Zu- out, ADHS , Impotenz, Essstörungen, Invalidität aus psy-
sammenhang zwischen Bevölkerungsdichte einerseits chischen Gründen, Süchten sowohl materieller (Medika-
und der Gefährdung unserer Umwelt anderseits zum Be- mente, andere Substanzen) wie auch immaterieller Art
wusstsein zu bringen.» Mit diesem Programm wirkte Oe- (Spiel- und verschiedene Formen der Onlinesucht).»25
hen nicht nur bei der Arbeitsgemeinschaft, sondern auch Hegg schliesst – man könnte fast schon sagen, in Gedan-
als Präsident und Nachfolger Schwarzenbachs bei der Na- ken die Rolle des fehlenden Dichtestresses skizzierend –:
tionalen Aktion gegen Überfremdung. Es ist «viel schwieriger, eine zu grosse Bevölkerung zu
1988 sollte sich die SAfB in Ecopop umbenennen, wo- verkleinern als umgekehrt. Denkbar sind eigentlich nur
bei der Zweckartikel bis heute noch immer genau gleich Massenvertreibungen, Kriege, Krankheitsepidemien oder 32
lautet. Allerdings hat man angefügt: «Die ECOPOP dis- Naturkatastrophen. Historisch nachgewiesen ist eine we- 33
tanziert sich klar von fremdenfeindlichen und rassisti- sentliche Verkleinerung nur durch die Pest.» Klar, der-
schen Ansichten.» Und legte folgerichtig der Zeitschrift weil man sich – ganz weit rechts aussen – über die histo-
Schweizerzeit von Ulrich Schlüer, dem ehemaligen Sekre- rische Nachweisbarkeit des Holocaust noch streitet.
tär von James Schwarzenbach und treibender Kraft in der
Anti-Minarett-Initiative, den Unterschriftsbogen für die
Ecopop-Initiative bei. Das Boot ist voll
Wenn schon der Zweckartikel die Bevölkerungsdichte
beklagt, ist der Schritt zum Dichtestress nicht weit. Und Sind die Umstände auch anders, so erinnert die Metapher
so findet sich das Thema denn auch prominent auf der vom Dichtestress doch an die Metapher «Das Boot ist
Ecopop-Heimseite. voll», die im Zweiten Weltkrieg die hartherzige Schweizer
Flüchtlingspolitik legitimierte. Beide behaupten eine ob-
jektive Dringlichkeit, die zum Handeln zwingt, beide sind
Dichtestress und ADHS sie vage und appellieren an Ressentiments, und beide
sind sie verlogen, weil das, was sie behaupten, Unsinn ist.
Und nach wie vor sekundieren Leute wie Jean-Jacques Aber der Reihe nach. Der Historiker Professor Edgar Bon-
Hegg, der 2011 auf der Leserbriefseite des Tages-Anzeigers jour, dessen Urteil von links wie rechts respektiert ist, be-
erklärt: «Hauptproblem ist die dauernd wachsende Bevöl- findet in seiner Geschichte der schweizerischen Neutralität
kerung, die Übervölkerung, die zunehmende Bevölke- über die Schweizerische Flüchtlingspolitik während des
rungsdichte. Deshalb spricht man ja auch von Dichte- Zweiten Weltkriegs: «Die ganze damalige Generation hat
stress als krank machendem Faktor. Er führt nämlich zu
psychischen Störungen, zu mehr nackter Gewalt, Krimi- 25 Leserbrief im Tages-Anzeiger vom 29.11.2011.
versagt und ist mitschuldig. Der in jedem Bürger steck- ständen muss man hart und unnachgiebig scheinen,
ende Egoist und latente Antisemit liess ihn die Augen vor muss Vorwürfe, Beschimpfungen und Verleumdungen
der Unmenschlichkeit gewisser Aspekte der behördlichen ertragen und trotzdem widerstehen können und nicht
Asylpolitik verschliessen.»26 umfallen. Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungs-
Ab Frühjahr 1942 deportierten deutsche Spezialein- boot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso
heiten Juden nach Auschwitz und begannen mit den beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen
Massenermordungen. Im Juli wurden aus Paris über Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Ret-
13 000 Juden abtransportiert. Der Bundesrat war wie folgt tung schreien, muss hart scheinen, wenn er nicht alle auf-
ins Bild gesetzt: «Die übereinstimmenden und zuverlässi- nehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er
gen Berichte über die Art und Weise, wie die Deportatio- beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt und wenigstens 34
nen durchgeführt werden, und über die Zustände in den die schon Aufgenommenen zu retten sucht.» 35
Judenbezirken im Osten sind derart grässlich, dass man Damit war das Bild vom vollen Boot Schweiz in die
die verzweifelten Versuche der Flüchtlinge, solchem Welt gesetzt, und es wurde von der Presse bereitwillig
Schicksal zu entrinnen, verstehen muss und eine Rück- aufgenommen. Diese Metapher ist so wirksam, weil sie
weisung kaum mehr verantworten kann.» jedermann sofort einleuchtet: Beim stark besetzten klei-
Vierzehn Tage später erliess Polizeichef Heinrich nen Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen
Rothmund die totale Grenzsperre für Flüchtlinge. Die Öf- und knappen Vorräten muss der wahre Humanist den
fentlichkeit reagierte massiv, so dass Bundesrat Eduard Andrang der Ersaufenden einer Schiffskatastrophe ab-
von Steiger aus seinen Ferien eine Lockerung der Sperre wehren. Sonst gehen alle unter.
befahl. Keine sechs Tage später fand sich von Steiger in Nun ist es oft ebenso billig wie unredlich, aus der his-
Oerlikon an einer Landsgemeinde der Jugendorganisati- torischen Distanz derer, die wissen, wie die Geschichte
on der Reformierten wieder. Vor mehreren tausend Bür- ausging, moralische Urteile zu fällen. Und man muss
gern musste er sich vom Präsidenten der Kirchensynode dem damaligen Bundesrat ja zugute halten, dass die
sagen lassen: Die Kirche lehne sich dagegen auf, «wenn Schweiz nicht von den Nazis besetzt wurde. Deshalb die
man von ihr im Namen der Neutralität fordert, dass sie zu Frage: Hat Bonjour recht? War es moralisches Versagen,
schwerstem Unrecht, das in der Welt geschieht, schwei- all die Juden in den sicheren Tod zurückzusenden? Oder
ge, dass sie gleichgültig zusehe, wenn [man] Völker und war es – von der damaligen Warte aus – eine harte, aber
Rassen vergewaltigt, alles verhöhnt und zerschlagen wird, vertretbare Entscheidung? Weiter im Geschichtstext.
was auch die tragenden Fundamente der Schweiz bildet». Im September 1942 – BGB -Bundesrat von Steigers
Darauf replizierte Bundesrat von Steiger: «Unter Um- entspannte Ferienlaunen sind tempi passati – verschärfte
26 Bonjour, UEK etc., im Folgenden zitiert nach der Bundesrat die Politik gegen Flüchtlinge wieder. Das
http://www.geschichte-schweiz.ch/fluchtlingspolitik-2-weltkrieg.html Rote-Kreuz-Komitee der USA offeriert der Schweiz Le-
bensmittel, um wenigstens jüdische Kinder aufnehmen beabsichtigte der Bundesrat die ‹Überfremdung› und
zu können. Aussenminister Pilet-Golaz lehnt ab: «Zurzeit ‹Verjudung› der Schweiz zu vermeiden.» Auf die Frage
sind es nicht die Nahrungsmittel, die uns Schwierigkeiten von Tages-Anzeiger-Redaktor Linus Schöpfer: «Hatten die
bereiten.» Schweizer Behörden tatsächlich Angst davor, die Nazis zu
Zwei Tage später. Eduard von Steiger nennt als Grund vergrätzen? Verschärften Sie die Asylpolitik in vorausei-
für die harte Haltung «insbesondere das Problem der lendem Gehorsam?» antwortet Zala: «Nein, das kann
Nahrungsmittelversorgung». Schon an der Tagung der man nicht behaupten. Als Eduard von Steiger seinen Kol-
Reformierten hatte Pfarrer Walter Lüthi Bundesrat von legen Pilet-Golaz fragte, ob ein solcher vorauseilender Ge-
Steiger entgegengehalten, es sei «hochgradig lieblos, eini- horsam eine Rolle spiele, antwortete dieser, das Gegenteil
ge zehntausend Flüchtlinge als untragbar zu erachten sei der Fall; ausländische Diplomaten würden eine libera- 36
und gleichzeitig die Nahrung mit vielleicht 100 000 Hun- le Grenzpolitik der Schweiz befürworten.»28 37
den zu teilen». Wobei, nimmt man heutige Erregungs- Wir leben in anderen, zivilisierten Zeiten, die Schweiz
kurven über diverse Formen des Elends in der Welt zum schickt keine Flüchtlinge mehr in den sicheren Tod, nie-
Massstab, dürfte von Steiger in seinen Präferenzen nicht mand kommt um, wenn die Dichtestressfraktion siegt.
komplett falsch gelegen haben, hatte er doch im Rücken Was in beiden Fällen gleich ist: Fremdenfeinde und
«das Volk» gehabt.27 Dummköpfe operieren mit einem Frame, mit einer star-
Der Schlussbericht der «Unabhängigen Expertenkom- ken Metapher, die eine Art objektive Dringlichkeit be-
mission Schweiz – Zweiter Weltkrieg» stellte fest: Das hauptet. Was den Antisemiten des EJPD das volle Boot
EJPD setzte nach dem Ersten Weltkrieg «eine antisemi- mit knappem Proviant war, das ist den Xenophoben von
tisch geprägte Ausländerpolitik» durch. Im Zweiten Welt- heute der volle Zug samt Dichtestress.
krieg herrschten dort «starke fremdenfeindliche und anti-
semitische Tendenzen, und die Polizeiabteilung konzent-
rierte ihre Kräfte auf die Abwehr der Flüchtlinge». Der Wird es in der Schweiz eng?
Historiker Sacha Zala sagt in einem Interview zu den Ab-
sichten des Bundesrates: «1938 wurde ein Abkommen Wer behauptet, in der Schweiz werde es eng, nennt an
zwischen der Schweiz und Deutschland geschlossen. So erster Stelle volle Züge. Dabei ist den Stress bei den SBB
vor allem hausgemacht. So nahm von 1997 bis 2007 die
27 Vergleiche etwa den dräuenden «Hundeholocaust» in Rumänien 2013. Zahl der Einwohner um 7 Prozent zu, die Zahl der Perso-
Der Begriff ist kurrente Begriffsmünze unter Tierschützern, seit wilde
Hunderudel in Bukarest eingeschläfert werden sollen. Nimmt man die nenkilometer im Bahnnetz aber um 44 Prozent. Allein
Boulevardpresse mit ihrem Instinkt für Volkes Emotionen als Grad- 2007 um 5 Prozent. Jede Studie belegt: Wir Schweizer
messer, dann sind ein paar geschundene oder vom Tod bedrohte Tiere
alleweil mehr Aufhebens wert als irgendwelche Tutsi, Südsudanesen
oder Bootsflüchtlinge, die uns bloss unser Hundefutter wegfressen wollen. 28 Linus Schöpfer: «Das Boot war nicht voll», Newsentz.ch, 28.01.2013.
nehmen mehr Mobilität in Anspruch. Das mag die Zu- der gesunkenen Anzahl Bewohner pro Wohneinheit. Und
wanderung akzentuieren, Hauptursache ist sie nicht. Am sie haben, wenigstens in den Städten, damit zu tun, dass
meisten Stress für Zugfahrer aber verursacht das kunden- eine fortschrittsverdrossene Linke sich vor energischer
feindliche Regime von SBB -Boss Andreas Meyer. Seit Verdichtung in die Höhe 29 und nach innen drückt, weil
man kein Billett mehr im Zug lösen kann, seit Kontrol- sie glaubt, höhere Ausnützung sei stets ein Übel. Dabei
leure die SBB -Kunden wie Verbrecher behandeln, derweil läge gerade da der Schlüssel, die Zubetonierung der Land-
schlecht gewartete, komplizierte Automaten und nur teil- schaft zu stoppen und hohen Mietkosten mit einem mas-
weise funktionierende Ticket-Apps den Druck auf die siv ausgeweiteten Angebot entgegenzutreten.
Passagiere erhöhen, ist Zugfahren tatsächlich eine unan- Wenn Fremdenfeinde ständig betonen, wegen des
genehme Angelegenheit geworden. Wobei die Züge aus- Wachstums müsse jährlich eine Stadt wie St. Gallen ge- 38
serhalb der Stosszeiten ja nicht als voll bezeichnet werden baut werden, so ist zu entgegnen: Wären die Schweizer 39
können. Nicht einzusehen ist, warum eine Eisenbahn- von jeher dermassen verzagt gewesen, sie hätten es zu
nation wie die Schweiz ein Passagieraufkommen, das nichts gebracht, und wir müssten noch heute in einer
anderswo in einer einzigen Grossstadt anfällt, nicht be- ärmlichen Agrargesellschaft leben. Und – nochmals – ge-
wältigen könnte. Nicht einzusehen ist, warum alle zur nau darum dreht sich die Kontroverse: da eine konserva-
gleichen Zeit Bahn fahren, bloss weil Steinzeitgewerk- tiv-ländliche Schweiz der Kleingeister. Hier eine offene,
schafter glauben, man müsse wie zu Zeiten der Fliess- moderne und zukunftsoptimistische Schweiz.
band-Industrie gegen Schichtarbeit kämpfen. Anstatt mit
Heimarbeitstagen, Telefonkonferenzen und der Individu-
alisierung der Arbeitszeiten die Dienstleistungsgesell-
schaft sozialverträglich zu modernisieren.
Besonders absurd ist die Behauptung, man leide in
Schweizer Städten an Dichtestress. Greater London, wo
gleich viele Leute wie in der ganzen Schweiz leben, ist
etwa so gross wie der Kanton Zürich. In Paris leben rund
viermal so viele Leute pro Quadratkilometer wie in Zü-
rich. In den sechziger Jahren hatte Zürich mehr Einwoh-
ner als heute, verteilt auf weniger Wohnraum. Ohne dass
sich jemand über Dichte beklagt hätte. Die fehlenden 29 90 Prozent aller Wohnungen der Schweiz sind parterre bis dritter

Wohnungen sind vor allem Folge des gestiegenen Flä- Stock, und selbst in Zürich sind es noch 86 Prozent. Sobald man auch
nur massvoll in die Höhe strebt, hat St. Gallen noch öfters Platz! Zahlen
chenbedarfs der heimischen Bevölkerung und von diver- aus: Giles Keating: «Immobilienmarkt 2013. Strukturen und Perspekti-
sen Treibern wie etwa der höheren Lebenserwartung oder ven.» CS Zürich.
GERHARD MEISTER passant:  Polizei!
UND SUZANNE ZAHND Der Passant wird verprügelt und liegen gelassen.
chlöisu:  So ne Tubu.
UNGERSCHRIBE ! mürggu:  Lue mau, hie ufem Füfliber. Das isch doch o
aus dem Stück «WIR ERBEN – eine Schweizer Saga» dr Tell. U dä het doch o ke Bart.
chlöisu:  Tatsächlech, ke Bart.
Löisu wirft den Fünfliber weg.
löisu:  Dä isch gfäutscht.
mürggu:  Es isch uf aune Füfliber glich. Ke Bart.
Die drei Gebirgstaliban Mürggu, Chlöisu und Löisu sammeln löisu:  De schiessisch die haut o furt. 40
Unterschriften für die Ecopop-Initiative. Oder wars die Initia- 41
tive gegen Masseneinwanderung? Die grenzenlose Massenein-
wanderung? Oder einfach eine der vielen Asylrechtsverschär-
fungsabstimmungen?

chlöisu:  Sid dr Schwizer?


passant:  Ja, warum?
chlöisu:  Ungerschribe!
passant:  Was söu i ungerschribe?
mürggu:  D Schwarzebach-Initiative gäge d’Überfrömdig.
passant: Nei, merci.
Löisu: U warum heit dr ke Bart?
passant:  No e schöne Tag.
löisu:  En ächte Schwizer het e Bart.
chlöisu:  En ächte Schwizer ungerschribt di Inititative.
löisu:  Vo eim ohni Bart bruche mer ke Ungerschrift.
Chlöisu packt den Passanten beim Kragen.
chlöisu:  Die Initiative bruucht jedi Ungerschrift.
passant:  Exgüse, i sött witer.
chlöisu:  Zersch ungerschribe.
löisu:  En ächte Schwizer het e Bart. Dr Tell het scho
eine gha, u mir hei o eine.
PETER BODENMANN Widerspruch 1: Die Einkommen und Vermögen wer-
den in praktisch allen Ländern Europas immer ungleicher
Fremdenhass statt Klassenkrampf verteilt. Die Schweiz zieht die Reichen dank Steuerdum-
ping an wie der Dreck die Fliegen. 11 Prozent aller Milliar-
däre leben in der Schweiz.
Widerspruch 2: National und international gibt es
Regionen, die Einwohner verlieren. Wie etwa das Goms,
Teile Ostdeutschlands und Portugals. Andere Regionen
platzen aus allen Nähten. Zum Beispiel die Region Gen-
In Abstimmungskämpfen haben Faktenverdreher jeweils fersee oder der Grossraum München. Weil Regionalpoli- 42
Hochkonjunktur: 1992 kämpften Verena Diener, Hans- tik längst ein Schimpfwort ist. 43
peter Thür und Andreas Gross gegen den Eintritt in den Unter dem Strich sind die politischen Probleme der
Europäischen Wirtschaftsraum (EWR ). Das wichtigste Landstriche, die unter Abwanderung leiden, grösser als
Argument lieferte ihnen in Buchform Ruedi Strahm: Die jene der Boom-Regionen. Reichere Landstriche haben
Schweiz verliere wegen des EWR ihre Vorreiterrolle in schlicht grössere Möglichkeiten zum Gegensteuern.
Sachen Umweltschutz. In Tokio leben 34 Millionen Menschen. In der Schweiz
Die Fakten im Rückspiegel: Deutschland führte die leben eines Tages vielleicht 11 Millionen Menschen. Führt
Wind- und Sonnenenergie im Alleingang zur Konkur- dies bei richtiger Nutzung des Bodens zu einem Dichte-
renzfähigkeit. Angela Merkel stellte nach Fukushima sie- stress? Vergessen wir es.
ben alte Schrott-Reaktoren ab. CSU -Mann Horst Seehofer In New York sind jeden Tag 5 Millionen Menschen
will mit seinen 12 Millionen Bayern beim Atomausstieg mit der U-Bahn unterwegs. In der ganzen Schweiz mit
der Schnellste sein. den SBB nicht einmal eine Million. Können die Schwei-
21 Jahre nach der EWR -Ablehnung laufen rechte und zerischen Bundesbahnen SBB ihre Produktivität stei-
einst linke Bedenkenträger in der Schweiz Sturm gegen gern? Logo.
die Einwanderung. Dabei hat sich die Festung Europa Die Schweizer Wirtschaft wächst pro Kopf zu lang-
weitgehend gegen Zuwanderung abgeschottet. Die Ge- sam. Können wir die Nachfrage nach Arbeitskräften sen-
burtenraten waren, sind und bleiben tief. Die Zahl der in ken, indem wir geschützte Werkstätten – wie die Land-
Europa lebenden Menschen nimmt nicht zu, sondern wirtschaft – sozialverträglich konkurrenzfähig machen?
eher ab. Und die Schweiz ist inzwischen infolge Perso- Problemarm.
nenfreizügigkeit, Schengen und Dublin-Abkommen Be- Können alle neuen Bauten verdichtet und begrünt
standteil dieses Raumes. Der real existierende Kapitalis- mehr Energie produzieren, als ihre Bewohner verbrau-
mus macht flächendeckend etwas Probleme: chen? Klaro.
Kann die öffentliche Hand durch Um-, Auf- und Ein- Punkt 1: Sofortige Senkung der Zölle für landwirt-
zonung samt Mehrwertabschöpfung günstigen Wohn- schaftliche Produkte auf EU -Niveau. 50 000 Arbeitskräfte
raum in der Nähe der Arbeitsplätze schaffen? Problemlos. würden samt Anhang in die EU abwandern. Oder endlich
Trotzdem beginnt jetzt eine neue Hatz auf Zuwande- etwas Vernünftiges machen.
rer und Ausländer. Fremdenhass wird wieder wichtiger Punkt 2: Ultrascharfes Kartellrecht, damit zu aufwen-
als Klassenkrampf. dige Vertriebsstrukturen wegschmelzen wie der Schnee
Bayern und Baden-Württemberg entwickeln sich wirt- vom letzten Winter. SVP hin, Gewerkschaften her.
schaftlich besser als die Schweiz. Fast niemand will das Punkt 3: Frauen und Männer, die ihre Kinder lieber
wissen. (Im privaten Leben würden solche Wahrneh- zu Hause betreuen wollen, statt einer Erwerbsarbeit nach-
mungsstörungen fachgerecht behandelt.) zugehen, werden steuerlich zur Kasse gebeten. 44
Bayern und Baden-Württemberg kennen – wie die Punkt 4 bis 10: Weitere Massnahmen zum schnellen 45
Schweiz – Zuwanderung. Das geht nie ohne Probleme. Strukturwandel, der Arbeitsplätze vernichtet und die Löh-
Aber wirkliche Probleme haben jene deutschen Bundes- ne der verbleibenden Arbeitsplätze massiv anhebt.
länder, die unter Abwanderung leiden.
Vor gut vierzig Jahren unterstützten grosse Teile der Avenir Suisse und Economiesuisse hätten längst ein ent-
Arbeiterschaft und des vom Ende des Fordismus bedroh- sprechendes Massnahmenpaket vorbereiten und publizie-
ten Kleinbürgertums James Schwarzenbach. Heute hat ren müssen.
sich die Angst vor den Fremden in die neuen Mittel- Der Spuk wäre vorbei, bevor er richtig angefangen
schichten hineingefressen. Auch unter den Medienschaf- hat. Stattdessen müssen wir uns in den nächsten Mona-
fenden nimmt die Zahl jener zu, die fremdenfeindlich ten jeden fremdenfeindlichen Stuss anhören.
hyperventilieren.
Die alte wie die neue Fremdenfeindlichkeit haben den
gleichen Grund: Konkurrenz am Arbeitsplatz tut weh. Die
Mieten sind zu hoch. Die Krankenkassenprämien steigen
Jahr für Jahr. Das Fleisch in Basel ist doppelt so teuer wie
in Lörrach. Überall werden die Gebühren erhöht, um die
Steuern für die Reichen zu senken. Die Teuerung wird
nicht korrekt ausgewiesen. Die realen Löhne sinken.
Politik ist ein Geschäft. Wer die Einwanderungsinitia-
tiven bekämpft, müsste einen Plan B in der Schublade ha-
ben. Damit nicht die produktiven Sektoren der Schweizer
Wirtschaft unter den parasitären leiden.
CONSTANTIN SEIBT sche schaltet, seit die Ecopop-Initiative von zu viel Einge-
wanderten spricht, seit Tausende Online-Kommentare
Bekenntnisse eines deutschen Secondos über fremde Mentalität jammern, seit Dichtestress ein
bekanntes Wort ist und sogar Anti-Dichtestress-Bücher
gemacht werden, denke ich darüber nach, was eigentlich
schweizerisch an mir ist. Und was deutsch. Also was es
bedeutet, ein deutscher Secondo zu sein.
Ich war noch ein Kind, als mein Vater mir das Wich-
tigste sagte. Wir gingen die Kellertreppe hinunter. Plötz-
Der Entscheid für die Schweiz fiel vor dem Fernseher, am lich blieb er kurz stehen, drehte sich um, grinste und sag- 46
6. März 1983, kurz nach 18 Uhr. Eben war mit 48,8 Pro- te: «Erben wirst du mal nichts!» 47
zent Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt wor- Natürlich irrte er sich. Ich hatte bereits geerbt: seine
den. Nase, den Gang und die Augen. Später übernahm ich
Mein Vater: «48 Prozent für Kohl. Diese Idioten.» noch die Zigaretten, den trockenen Ton seiner Kolumnen
Meine Mutter: «Ja, wie kann man nur jemanden wäh- und den Stil, bei Sitzungen vor einem Flipboard zu dozie-
len, der so dick ist?» ren.
Mein Vater: «Ich finde, jetzt reichts. Wir haben doch Und doch hatte er recht: Wer mich wirklich kennen
irgendwo diese Einbürgerungsformulare. Die füllen wir will, muss mein Zimmer kennen. Es gibt zu viele Bücher,
jetzt aus!» zu viel Unordnung und sonst fast nur Ikea: Nichts davon
Meine Mutter: «Bist du sicher?» zeigt Persönlichkeit.
Mein Vater: «Ja.» Etwas fehlt, was mir in der Kindheit bei Schweizer
Meine Mutter: «Aber diese Schweizer – glaubst du, Freunden auffiel: Alle hatten Erbstücke. Darunter spekta-
das sind keine Idioten?» kuläre wie die alte Militärwaffe des Opas, ein Sparschwein
Mein Vater: «Natürlich sind das auch Idioten. Aber es mit ein paar Goldvreneli oder das Chemielabor vom
sind Idioten in dem Land, wo wir gerade zufälligerweise Grossonkel.
leben.» Folgt man dem Klischee, wäre das typisch Deutsche
Damit war die Entscheidung gefallen. Drei Jahre spä- an mir: die Klappe und der Witz. Nur ist das Unfug. Offe-
ter wurden wir Schweizer Bürger. Seither habe ich kaum ne Klappen und trockene Witze gibt es reichlich auch in
darüber nachgedacht: Ich zahle Steuern, gehe zur Wahl- Schweizer Dialekt.
urne und ärgere mich wie alle anderen auch je nach Re- Nicht die Stärken, aber auch nicht die dunklen Seiten
sultat über die Abstimmungs- und Fussballergebnisse. sind das letzte Geheimnis jeder Person, sondern ihre
Aber erstaunlich: Seit die SVP Plakate gegen Deut- weissen Flecken: Was komplett fehlt, übersieht man lan-
ge. Jemanden wirklich kennenlernen, ist wie eine Reise grössere Gefühle. Ich ging fast nie zurück. Und auch in
nach Mekka: Das Innere der Kasba steht leer. Zürich sieht mein Zimmer noch heute so aus, als könne
Ich fürchte, dass es das von Ikeamöbeln getarnte man es ohne Verlust verlassen.
Nichts ist, das im Zentrum meines Herzens steht. Und Das Nichts der Einrichtung gibt meinem unspektaku-
dies mein deutsches Erbe ist. Und mein Vorteil als Secon- lären Leben – Café, Büro, Wohnung – einen kühnen An-
do den Schweizern gegenüber, die schon immer hier leb- strich von Freiheit. Dass mein Herz an nichts klebt und
ten. nach nichts Sehnsucht empfindet als nach ein paar Men-
Der Unterschied vom eingebürgerten zum geborenen schen, dass es nichts speichert ausser Anekdoten, Ge-
Schweizer ist, dass diese ihre Familie ohne Katastrophen schichten, Zitaten, gibt mir die Fähigkeit, den Job als
und ohne Politik begreifen können. Ich nicht. Nicht dass Journalist besser als andere zu machen. Einfach, weil im 48
dies im Alltag ein grosses Thema ist. Aber es ist überall Chaos einer unklaren Welt Geschichten die einzige Wahr- 49
da: in den Kindheitserzählungen meiner Mutter, die Jena heit sind, die zählt. Städte, Vermögen, Karrieren, Men-
brennen sah. In der ängstlichen Art meines Grossvaters, schen zerfallen – und im Falle Deutschlands nicht einmal
der als Sohn eines Gutsbesitzers nach dem Krieg Stufe zu Unrecht. Ihre Namen und Geschichten sind das Einzi-
um Stufe als kleiner Steuerbeamter erklomm und elend ge, was Wert hat – und bleibt.
starb. Im kühnen Arbeitstempo meines Vaters und sei- «Du hast einen schweren Knall», sagten alle Schwei-
nem fast amerikanischen Grinsen. Und in dem, was ich zer Freundinnen, die ich je hatte. «Die Nazis sind seit
manchmal an ihm fürchte: Er sieht nie zurück. 1945 weg. Kein Schwein interessiert sich für sie. Und die
Jedes Kind hat einen kalten Blick. Und jedes Kind Zeiten haben sich geändert.»
nimmt aus den Erzählungen seiner Eltern, was ihm passt, Ich war jedes Mal beleidigt: Das, was ich für das Erns-
und setzt es dann zu einem Monster zusammen. teste meiner leichten Existenz halte, finden sie peinlich.
Meine Folgerung aus den Familiengeschichten mei- Und, Teufel noch mal, sie hatten recht. Ehrlich gesagt,
ner Mutter – Geschichten von Mut in den Trümmern, lebe ich fröhlich, esse gern Ungesundes, ärgere mich
Verrat an Verwandten, brennenden Städten und einer über FDP oder FCZ und schreibe, weil man mir Geld da-
glücklichen Kindheit – war, nichts und niemandem zu für zahlt.
vertrauen als diesen Geschichten selbst. Und ich glaube, es ist das, was mich zu einem Secon-
Generationen meiner Familie lebten im Osten des do macht: Man lebt ein vernünftiges, unspektakuläres Le-
Deutschen Reichs als Bauern – und ich war immer froh, ben, und von Zeit zu Zeit kämpft man mit ein paar Ge-
dass das zu Ende ging. Was sollte ich mit einem Stück spenstern. Es sind die Gespenster aus der europäischen
Boden? Ich verliess Bassersdorf, wo ich 19 Jahre lang auf- Geschichte, interpretiert von jemandem, der nicht dabei
gewachsen, und Winterthur, wo ich sieben Jahre zur war. Man kennt nur ihr Echo.
Schule gegangen war, ohne weitere Gedanken und ohne Abends, wenn das Kindchen in seinen Kissen träumt,
frage ich mich manchmal, ob es etwas davon erbt. Allein DIETER MEIER
mit meiner Tochter spreche ich manchmal wieder die
Sprache meiner Kindheit, Hochdeutsch. Blocher wider besseres Wissen
Wird sie etwas erben? Ich glaube nicht. Die Zeiten ha-
ben sich geändert – jeder ist Kind seiner Zeit. Und Kinder
erben, was sie wollen. Ich denke, das kleine Stück Leere
im Zentrum meines Herzens ist nur mein Erbe, weil ich
es so gewollt habe. Sie wird etwas anderes wollen.

Aufmarsch-Vehikel müssen sein 50


Das war Herrn Blocher immer klar 51
Dichtestress, da hauen wir rein
Volksverhetzung wunderbar.

Das Minarett-Verbot hat schön geklappt


Und Fremdenhass ist immer gut
Ein neues Thema wird geschnappt
Sie will geschürt sein, unsere Glut.
PHILIPP TINGLER Doch ebendiese spontan auftauchenden Bilder sind
offenbar Teil des Problems, wie mir Herr Haemmerli er-
Dichtestress und Müdigkeitsgesellschaft klärte. Denn der Begriff «Dichtestress» sei eigentlich ein
Oder: Das neuronale Paradigma und seine populationsdynamischer Terminus aus der Verhaltens-
Anwendung aufs Parkhaus biologie. Der besagt: Wenn es von einer Spezies zu viele
auf einem Haufen gibt, dann sind die einzelnen Exempla-
re gestresst, werden krank usw. Seit 2008 nun aber, fuhr
Herr Haemmerli fort, geistere dieser Begriff des Dichte-
stresses vermehrt durch eine ganz andere Sphäre, näm-
Dies herrliche Gerät auf dem Bild oben habe ich in einem lich durch die politische Debatte unserer schönen 52
Parkhaus der herrlichen kleinen Stadt St. Monica in Kali- Schweiz, tauche gerade im Zusammenhang mit Zuwan- 53
fornien für Sie aufgenommen, liebe Leser. Es löst ein Pro- derung und den ausländerpolitischen Vorlagen in den
blem, das wir alle kennen: Wer ist nicht schon irgend- Medien gehäuft auf, wo er (der Begriff) nicht selten völlig
wann mal durch ein überfülltes Parkhaus geirrt auf der unreflektiert verwendet werde. Kurz: Es sei Zeit, ein kriti-
Suche nach dem eigenen Auto? Und wissen Sie, auf wel- sches Auge auf dieses Phänomen im veröffentlichten Dis-
ches Stichwort mich das bringt? Dichtestress! Sie wissen kurs zu werfen, und dies will ich jetzt tun, denn mich hat
ja, dass ich diese ganz leicht nerdische Faszination für der Begriff des Dichtestresses ausser an das überfüllte
Wörter pflege, meine Damen und Herren, und jetzt bin Parkhaus auch gleich noch an ein anderes Phänomen er-
ich neulich von meinem alten Freund, Herrn Haemmerli, innert, zu dem ich ihn hier gern kurz in Beziehung set-
auf ebendies faszinierende Wort aufmerksam gemacht zen will: den Begriff der Müdigkeitsgesellschaft.
worden: Dichtestress. Zuerst habe ich «Dichterstress» ver-
standen. Daran leide ich nie. Oder dauernd. Wer wollte es
sagen. «Nein, nicht Dichterstress», korrigierte mich hier- Stress als Leitkrankheit
auf Herr Haemmerli – «Dichtestress.» Und ich verstand.
Und sofort tauchten Bilder vor meinem lebhaften geisti- «Müdigkeitsgesellschaft» ist der Titel eines kleinen Bänd-
gen Auge auf: Wenn zum Beispiel Mitreisende in der Bu- chens von Byung-Chul Han, Professor für Philosophie
sinessclass zu expansiv werden, so dass ich ihnen mit ei- und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in
ner zusammengerollten Ausgabe von Vanity Fair auf die Berlin. Han ist mir entschieden zu wenig liberal, aber das
Finger klopfen muss (amerikanische Ausgabe natürlich). heisst nicht, dass er in besagtem Bändchen nicht interes-
Oder ich bei Yves Saint Laurent in Desert Hills eine zähe sante Beobachtungen machen würde, zum Beispiel über
kleine japanische Seniorin im Kampf um die letzte die allgemeine Promiskuität, die heutzutage alle Lebens-
iPad-Hülle niederringen muss. Dichtestress, Dichtestress! bereiche erfasse. Und eine Hybridisierung, die nicht nur
den aktuellen kulturtheoretischen Diskurs, sondern auch Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesell-
das heutige Lebensgefühl überhaupt beherrsche. Was schaft.» Deren Bewohner «sind Unternehmer ihrer
nun die sogenannte «Müdigkeitsgesellschaft» und ihr selbst». Und: «Diese Selbstbezüglichkeit erzeugt eine
Verhältnis zu einem Phänomen wie «Dichtestress» anbe- paradoxe Freiheit … Die psychischen Erkrankungen der
langt, so ist der «Stress» als solcher zunächst einmal eine Leistungsgesellschaft sind gerade die pathologischen
der «Leitkrankheiten» der spätmodernen Gesellschaft des Manifestationen dieser paradoxen Freiheit.»
21. Jahrhunderts als Teil jener neuronalen Pathologien,
die Han als bestimmend für die «pathologische Land-
schaft» unserer Epoche auflistet: Depression, Aufmerk- Das erschöpfte Selbst – braucht Abwechslung
samkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS ), Border- 54
line-Persönlichkeitsstörung (BPS ), Burn-out-Syndrom Und dann zitiert Han, natürlich, Alain Ehrenberg (Das 55
(BS ). Diese Krankheiten sind laut Han nicht immunolo- erschöpfte Selbst): «Die Karriere der Depression beginnt in
gisch zu bewältigen, also nicht durch Abwehr eines Nega- dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der
tiven, Anderen. Denn sie seien verursacht durch ein Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den
Übermass an Positivität, ein Zuviel am Gleichen, wie sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle
Han es etwas unbeholfen ausdrückt. Und damit wohl et- zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die je-
was meint wie: «Wenn alle Autos gleich aussehen, finde den zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu ver-
ich meins nicht mehr.» pflichtet, er selbst zu werden.» Ich persönlich halte über-
Han selbst vergleicht die Müdigkeitsgesellschaft mit haupt nichts von Anschauungen, die dem Individuum
der «Disziplinargesellschaft» von Michel Foucault. «Fou- immer sofort unterstellen, mit seiner Freiheit überfordert
caults Disziplinargesellschaft aus Spitälern, Irrenhäu- zu sein. Doch was den sogenannten Dichtestress angeht,
sern, Gefängnissen, Kasernen und Fabriken ist nicht so können wir aus all dem doch den Schluss ziehen: Das
mehr die Gesellschaft von heute», schreibt Han. «An ihre Problem ist nicht die Dichte, das Problem ist die Monoto-
Stelle ist längst eine ganz andere Gesellschaft getreten, nie. Das «Zuviel des Gleichen», wenn alle das Gleiche
nämlich eine Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotür- konsumieren, alle die gleiche Frisur haben (gern mittel-
men, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genla- lang für Philosophen), alle dasselbe Restaurant chic fin-
bors.» Wobei er zugleich ein paar meiner liebsten Orte den, alle das Gleiche wollen. Und so möchte ich folgendes
aufgezählt hat. Egal. Weiter: «Die Disziplinargesellschaft Zwischenfazit ziehen: Gerade wegen der Dichte brauchen
ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt wir die Abwechslung.
Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft Mit der Monotonie aber geht paradoxerweise Hektik
bringt dagegen Depressive und Versager hervor.» Und: einher, hektische Monotonie in Form eines Gestaltwan-
«Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die dels der Aufmerksamkeit. Kritisiert man die Übertragung
von Begrifflichkeiten aus Verhaltensbiologie und Zoolo- anderen Form der Aufmerksamkeit, der Hyperaufmerk-
gie auf soziale Dynamiken (und es gibt gute Gründe da- samkeit verdrängt.» Neben einer «sehr geringen Toleranz
für, das zu tun), muss man freilich auch Byung-Chul Han für Langeweile» sei diese «zerstreute» Form der Auf-
kritisieren. Denn im Kapitel «Die tiefe Langeweile» in der merksamkeit gekennzeichnet durch den «raschen Fokus-
«Müdigkeitsgesellschaft» schreibt Han: «Die Zeit- und wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben, Informati-
Aufmerksamkeitstechnik Multitasking stellt keinen zivili- onsquellen und Prozessen». Topoi wie «Dichtestress» be-
satorischen Fortschritt dar. Das Multitasking ist keine Fä- dienen diese Hyperaufmerksamkeit. Und das Ganze
higkeit, zu der allein der Mensch in der spätmodernen kann natürlich nicht gut enden. Dass «das menschliche
Arbeits- und Informationsgesellschaft fähig wäre. Es han- Leben in einer tödlichen Hyperaktivität endet, wenn aus
delt sich vielmehr um einen Regress. Das Multitasking ist ihm jedes beschauliche Element ausgetrieben wird», sagt 56
gerade bei den Tieren in der freien Wildbahn weit verbrei- Han, habe bereits Friedrich Nietzsche gewusst, und zi- 57
tet. Es ist eine Aufmerksamkeitstechnik, die unerlässlich tiert aus Menschliches, Allzumenschliches: «Aus Mangel an
ist für das Überleben in der Wildnis.» Und: «Nicht nur Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus.
das Multitasking, sondern auch Aktivitäten wie Compu- Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heisst die Ruhe-
terspiele erzeugen eine breite, aber flache Aufmerksam- losen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den not-
keit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich ist. wendigen Korrekturen, welche man am Charakter der
Die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen und der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element
Strukturwandel der Aufmerksamkeit nähern die mensch- in grossem Masse zu verstärken.»
liche Gesellschaft immer mehr der freien Wildbahn an.» Nietzsche kann man freilich zu fast allem zitieren.
Und auch die Klage, »der Verlust des kontemplativen Ver-
mögens», also «die Verabsolutierung der Vita activa» sei
Dichtestress und Hyperaufmerksamkeit mitverantwortlich für «die Hysterie und Nervosität der
modernen Aktivgesellschaft», ist nicht neu. Und wer eine
Wir haben es also, jenseits von Dichtestress, laut Han auf- «Emphase des Tätigseins» sowie die «Hyperaktivität und
grund der vielfachen Ansprüche an das spätmoderne Sub- Hysterie des spätmodernen Leistungssubjekts» bemän-
jekt mit einem Gestaltwandel der Aufmerksamkeit zu gelt, scheint irgendwie die Legionen zu übersehen, die
tun. Dies findet Han bedenklich, denn: «Die kulturellen ihre Hyperaufmerksamkeit sitzend zwischen Reality
Leistungen der Menschheit, zu denen auch die Philoso- Shows und Online-Welteroberungsspielchen streuen. Fa-
phie gehört, verdanken wir einer tiefen, kontemplativen zit: Ein bisschen mehr Abwechslung und Kontemplation
Aufmerksamkeit.» Und: «Die Kultur setzt eine Umwelt – schon ist der ganze Dichtestress weg. Die alten Rezepte
voraus, in der eine tiefe Aufmerksamkeit möglich ist. Die- sind tatsächlich manchmal die besten. Und wo habe ich
se tiefe Aufmerksamkeit wird zunehmend von einer ganz jetzt schon wieder meinen Mercedes abgestellt?
RENATA BURCKHARDT höchstens Kühe. Aber auch nur, wenn man sie provo-
ziert. Nein, grundlos wird man in der Schweiz nicht aus
Achtung Tier heiterem Himmel angefallen. Auch nicht von Tauben
und Spatzen, obwohl diese dicht an dicht in Scharen le-
ben und allen Grund für Platzangst hätten. Kämen sie
mal auf die Idee anzugreifen: Hitchcock lässt grüssen.
Nein, hier wird man lediglich von Menschen angefal-
len. Kürzlich im Zug: Ich suche einen freien Sitzplatz.
Aber auf allen Sitzen liegen Taschen und Jacken. Und
Ich wurde bereits verschiedentlich von Tieren angegriffen. weil niemand einen Sitz freigibt, frage ich eine Frau, ob 58
Einmal im Central Park, Boston, schöne Anlage, ich ge- sie so freundlich wäre. Sie nimmt ihre Tasche zähneflet- 59
mütlich am Spazieren: Da springt mir ein Eichhörnchen schend vom Sitz. Wie eine Raubkatze im Käfig rutscht sie
in den Rücken und krallt sich in meiner Jacke fest. Glück- unruhig herum und schaut mich wiederholt aggressiv an.
licherweise hat es nicht zugebissen, lustig wars dennoch Ich sitze absolut normal auf meinem Platz, geradezu
nicht. Ein anderes Mal in Indonesien, ich zufrieden durch überanständig. Fräulein Rottenmeier wäre in vollster
einen kleinen Palmenhain, direkt am Meer: Da kreischt Weise zufrieden mit mir gewesen. Und gestunken hab
unmittelbar an meiner Seite ein Java-Affe, reisst mir an ich auch nicht, das soll hier klar und deutlich gesagt sein.
den Haaren, nimmt dieses büschelweise mit. Auch er hat Irgendwann aber sagt die Frau zu mir, ich solle bitte den
glücklicherweise nicht zugebissen. Immerhin hatten bei- Platz wechseln. Sie ertrage das nicht, ich mache sie ner-
de Tiere erstaunliche, wenn auch kleine Gebisse. vös, es sei ihr schlicht und einfach zu viel. Sie hat einen
So was geschehe wegen der Überforderung. Es sei hochroten Kopf und – bilde ich’s mir ein? – ihr Mund
eine Art Platzangst. Arme Tierchen, dachte ich da. Sitzen schäumt. Fehlt nur noch, dass sie mich wie ein Lama an-
zum Beispiel gemütlich auf ihrem Baum im Wald, und spuckt. Natürlich bin ich mehr als konsterniert. Und
auf ein Mal – ZACK – wird aus heiterem Himmel der wechsle in Windeseile den Sitzplatz.
ganze Wald abgeholzt, und sie haben keinen Baum mehr Erst eine ganze Weile später konnte ich den Vorfall
unterm Arsch. Wen wunderts da, dass sie in ein Un- einordnen. Zwar habe ich beim Wort «Dichtestress» zu-
gleichgewicht geraten. Sind ja nur Tiere und können erst «Dichterstress» gelesen und gedacht: Wow, nun brin-
nicht besonders differenziert reagieren. gen die Medien das Problem endlich auf den Tisch. Denn
In der Schweiz wird man selten von gefährlichen Tie- «Dichterstress» hab ich dauernd. Beim Dichten braucht
ren angegriffen. Es gibt ja kaum welche. Wenns einen man Ideen – Stress pur. Hinzu kommt der finanzielle
Wolf gibt, wird er erschossen. Und eine Viper oder Kreuz- Stress. Der Stress mit der Arbeitsbeschaffung. Wer spielt
otter habe ich ewig nicht mehr gesehen. Gefährlich sind das nächste Stück, wo kann ich lesen, wo publizieren?
Dann aber habe ich genauer gelesen. Im Wort fehlte MICHÈLE ROTEN
ein «r». Also nix mit «Dichterstress», sondern «Dichte-
stress». Dichtestress, die zeitgenössische Bezeichnung von Alles dicht
«Das Boot ist voll». Ein uraltes Angstproblem. Unfassbar
langweilig. Ewig wiederkehrend dieselbe Leier. Als hätten
jene, die das Wort missbrauchen, nicht nur Dichtestress,
sondern ebenso Dichterstress, nämlich keine Ideen.
Dichtestress sagt: In der Schweiz wirds zu eng, alles
wird verbaut, wir haben keinen Platz mehr, die Grenzen
sind zu offen, man muss sie schliessen. Dichtestress sagt: Dichtestress. Hört man ja oft dieser Tage. Ein interessan- 60
Wir haben zu viele Zuwanderer. Und Dichtestress sagt tes Wort! Hier, was mir so dazu einfällt: 61
vor allem: Die Zuwanderer sind an allem schuld. Dass wir – Seit etwa einem Jahr liegt Infinite Jest von David Fos-
alle von allem mehr wollen, tut hierbei nix zur Sache: ter Wallace bei mir herum. Mal auf dem Nachttisch, mal
Mehr Mobilität, mehr Stadt, mehr Zugang, mehr Tech- auf dem Küchentisch, mal in einer Tasche. Ich habe an
nik, mehr Freiheit, mehr Individualität, mehr Wohnraum vielen Orten den letzten Anlauf gestartet – aber nie auf
– schäme sich, wer zu zweit nur 60 Quadratmeter be- dem Klo. (An dieser Stelle noch ein Mini-Exkurs zum ge-
wohnt – und last but not least: mehr Platz im Zug. Nein, genteiligen Thema Dichtefreude, den Sie überspringen
dies alles tut nix zur Sache. Die anderen sind schuld. sollten, falls Sie der Meinung sind, man sollte über solche
Wunderbar! In Zukunft mach ich’s mit meinem Dinge – es geht um Exkremente – nicht sprechen und
«Dichterstress» auch so. Wenn ich keine Idee habe, wenn schon gar nicht schreiben: Eine Freundin sagte mir neu-
zu wenig Aufträge laufen und auch, wenn ich vor lauter lich, sie habe erfahren, dass man in einem Teil ihres
Party schlicht und einfach keine Zeit zum Dichten hatte: Freundeskreises diese spezielle Art von Stuhl, deren
Es sind die anderen schuld. So muss ich, wenns grade Dichte den Gebrauch von Toilettenpapier eigentlich über-
nicht so gut läuft, nicht selber ran, sondern ich kann ein- flüssig macht – und Sie wissen genau, was damit gemeint
fach «Auf sie mit Gebrüll» rufen. Oder so was Ähnliches. ist, auch wenn Sie der Meinung sind, man sollte über sol-
Wunderbare Sache, tut der Seele gut, sehr empfehlenswert. che Dinge weder sprechen noch schreiben, und trotzdem
Ich kann machen und lamentieren, wies mir gerade weitergelesen haben – ein «Diamäntli» nennt. Wunder-
passt. Wie ein Tier. Ich muss nur noch entscheiden, ob schön!) Ich bin auf Seite 713. Das ist etwas mehr als die
ich lieber ein Eichhörnchen oder ein Affe bin. Hälfte. Vom tatsächlichen Roman. Danach kommen noch
mal etwa 130 in maximal 8-Punkt-Schrift bedruckte Sei-
P.S. : Diese Kolumne hat übrigens auch nix mit mir zu ten Anmerkungen, die man lesen MUSS , um den Roman
tun. Die anderen sind schuld. zu verstehen. (Falls das überhaupt geht. Ich kann es noch
nicht recht sagen.) Das Papier ist so dünn, wie man es chen Ort, es ist eng, man steht sich auf den Füssen rum,
von Bibeln kennt. «Etwa 130 Seiten» übrigens, weil mein es dauert ewig, bis man was zu trinken kriegt, und alle at-
Exemplar des Buches fehlerhaft ist, die letzten schät- men einem den Sauerstoff weg, weshalb man konstant
zungsweise 30 Seiten wurden nicht aufgeschnitten. Ich leicht benebelt ist. Und das wird mir jedes Mal durch den
lasse sie so. Ich werde sie wie ein Geschenk feierlich aus- Stress vergällt, der bei mir entsteht, wenn ich dicht bin.
packen, falls ich es mal schaffe, mich der Dichte dieses Ich bin nüchtern ein relativ ausgeglichener Mensch, aber
Buches zu stellen und es tatsächlich fertig zu lesen. angetrunken kann ich mich über die unmöglichsten
– Vor ein paar Tagen habe ich das erste Mal seit sehr Nichtigkeiten aufregen.
langer Zeit einen schlechten Risotto gemacht. Seit mir Jedenfalls denke ich an vieles im Zusammenhang mit
eine original italienische Mamma gesagt hat, dass «un dem Wort «Dichtestress», aber ich denke nicht an die 62
risotto deve soffrire», klappt das eigentlich. Und dann Situation in der Schweiz. Darüber können wir noch mal 63
das! Man hätte ein Haus damit bauen können. reden, wenn Sie keinen Platz mehr haben, dieses Büch-
– Die Situation in meinem Kleiderschrank ist Dichte- lein ganz aufzuschlagen.
stress.
– Neulich wuchsen mir in einer Besprechung zwei Pi-
ckel. Ich ging rein ohne und kam raus mit zwei voll entwi-
ckelten Prachtexemplaren. So ein Gesicht bietet ja nun
den verantwortlichen Bakterien genügend Fläche, sich
ein schönes Plätzchen mit Umschwung zu suchen, ohne
sich gegenseitig in die Quere zu kommen, aber die bei-
den Vollspackos bauten so dicht nebeneinander, dass sie
eigentlich schon fast aufeinanderhockten, was natürlich
weniger schlimm gewesen wäre, weil dann hätte man auf
die Bemerkung «Boah, was für ein Riesenpickel» sagen
können: «Nein nein, es sind eben zwei aufeinander» und
der andere so: «Ach so, ja dann.»
– Manchmal sind die Tage so dicht gepackt mit dem,
was man alles tun sollte, dass es überhaupt keinen Spass
mehr macht.
– Nein, mal im Ernst: Wenn ich dieser Tage denn mal
in einem Klub oder Ähnlichem bin, dann verstehe ich
schon, was Dichtestress bedeutet. So viele Leute am glei-
THOMAS HAEMMERLI WOLFGANG BORTLIK

Tupaja im Labor Ein Pandämonium patriotischer Poltergeister

Mein Schwanz, der spreizt 1970 sass mein Vater schon auf gepackten Koffern, um 64
die Borsten kess, wieder nach Deutschland zurückzukehren, falls die erste 65
mich dünkt’s Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach und
das macht der Dichtestress. seiner «Nationalen Aktion» vom Schweizer Volk ange-
nommen würde. Diese Initiative verlangte, dass die Aus-
Kaum Wasser und schon länder nicht mehr als 10 Prozent der Wohnbevölkerung
gar kein Körnchen: der Schweiz ausmachen dürften. Damals hätte das bedeu-
So ists im Labor tet, dass 300 000 Bewohner die Schweiz hätten verlassen
als Spitzhörnchen. müssen. Mir als jungem Mann war damals nicht klar, wo
das Problem lag. Warum die Schweiz zuerst so ein Wirt-
Es ist mein Kind, schaftswunder lostrat und ausländische Arbeitskräfte ins
was ich jetzt fress. Land holen musste, weil die Eingeborenen zu fein waren
Schuld daran der oder zu wenig Ahnung hatten, diesen oder jenen Job or-
Dichtestress. dentlich zu machen. Jetzt plötzlich sollte ein Teil dieser
gerufenen Menschen wieder abgeschoben werden. Dabei
Mein Herzschlag rast, hatten die Italiener gutes Essen und mediterrane Lebens-
ich denk: o weia! freude gebracht, und die Deutschen möglicherweise eine
Warum grad ich verständliche sprachliche Ausdrucksweise nebst ein paar
ein Test-Tupaja? wirklich guten Fussballern. Und hatte man nicht gerade
zwei Jahre zuvor ungefähr 12 000 Flüchtlinge aus der
Tschechoslowakei aufgenommen? Das waren vor allem
Akademiker und Facharbeiter, die nach dem russischen
Einmarsch geflohen waren. Oh, da war die Schweiz gast-
freundlich und mitfühlend, sogar ich mit meinem Nach- zurückblicken, immer als fremder Fötzel. «Dichtestress»
namen slawischer Herkunft spürte plötzlich Mitgefühl. hat mich noch nie gequält, höchstens «Nicht-dicht-
Nur knapp, mit 54 Prozent Neinstimmen bei einer Stress», ein Gefühl der Beklemmung angesichts des Geis-
Wahnsinnsstimmbeteiligung von 75 Prozent, wurde diese teszustands gewisser Politiker und Demagogen. Ich den-
erste Überfremdungs-Initiative dann doch abgelehnt. ke, es gibt andere Lösungen für die Probleme als eine
Mein Vater packte die Koffer wieder aus. fremdenfeindliche Säuberungspolitik, ob es sich nun um
überfüllte S-Bahnen in Ballungsgebieten handelt oder um
James Schwarzenbach argumentierte ziemlich erfolgreich Umweltschäden durch unkontrollierten Wohnungsbau
mit dem Begriff «Überfremdung». Ich kenne weitere ein- bei Ausländerghettos bis tief in die schönen, gesunden
schlägige Ausdrücke wie «neuzeitliche Völkerwanderung Alpen hinein. 66
von Wirtschaftsasylanten», «multikriminelle Drogenge- 67
sellschaft», «Masseneinwanderung» und «Parallelgesell- 2001 begann ich die Arbeit an meinem dritten Roman
schaften», wenn es um die Angst der Schweizerinnen mit dem Titel Hektische Helden. Mittelpunkt dieses patrio-
und Schweizer vor dem Unbekannten und den Fremden tischen Pandämoniums ist ein Poltergreis namens
geht. Das alles sind Begriffe, die einer Xenophobie ent- Hallauer, der eine Zeitschrift für abendländische Werte
springen, sich aber gerne hinter scheinbarer Vernunft mit dem Namen Okzident herausgibt, ein ebenso nationa-
und postulierter politischer Notwendigkeit verbergen. listisches wie rassistisches Schmierenblättchen. Selbst-
Die allerneueste Variante von «Das Boot ist voll» verständlich sind alle Personen im Roman vorwiegend
nennt sich nun «Dichtestress». So ein Neologismus klingt fiktiv, alle Inhalte, Zitate und Ideologien aber authentisch.
irgendwie auch moderner und ernsthaft besorgter als die Als ich den Plan für diese Satire gegen rechts fasste,
oben erwähnten, mittlerweile diskreditierten Ausdrücke. wusste ich selbstverständlich, dass in der Schweiz – wie
Aber er ist der berühmte alte Wein in neuen Schläuchen notabene in quasi jedem europäischen Nationalstaat –
und deshalb nicht weniger paranoid. Auch «umweltbe- über lange Zeit schon fremdenfeindliches und rassisti-
drohendes Bevölkerungswachstum» ist so ein Ausdruck, sches Gedankengut durch diverse Schädel gebrummt war
aber er ist, wie der Dichtestress, überhaupt gar nicht ras- und sich politisch wie auch literarisch festgesetzt hatte.
sistisch oder fremdenfeindlich gemeint – wenn man der Ich schaute mich ein bisschen um in der einschlägigen
«Vereinigung Umwelt und Bevölkerung» alias Ecopop Literatur und las mit Schaudern in vergilbten Broschüren
glauben will. abstruse Meinungen und Mitteilungen.
Dieses Zuviel an Menschen, das nicht in die Schweiz
kommen soll, wird dann schon irgendwo anders verre- Ich stiess auch auf die «Vereinigung Umwelt und Bevöl-
cken, im Mittelmeer, vor Lampedusa zum Beispiel. kerung», die in den siebziger Jahren gegründet worden
Ich kann jetzt auf insgesamt 44 Jahre in der Schweiz war und die heute unter ihrem französischen Namen
firmiert: Association ÉCO logie et POP ulation, oder – verständlich auch einen reinrassigen Schweizer Prototyp
kurz – Ecopop. Bis 1979 war Valentin Oehen, der seiner- geben, einen Homo Alpinus. Der richtige Schweizer und
zeit James Schwarzenbach als Führer der «Nationalen die richtige Schweizerin stammten von den Pfahlbauern
Aktion» (NA ) beerbt hatte, Vizepräsident dieses Klubs. der Jungsteinzeit und Bronzezeit ab und waren irgend-
Oehen, Sohn eines Käsers aus dem Luzernischen, ist ein welche Kelten.
typischer brauner Grüner und versuchte seit 1970, die NA
auf einen nationalökologischen Kurs zu bringen. Die von Für die schweizerische Rasse bildeten die Alpen immer einen
ihm geleitete Partei hatte aber erst in den achtziger Jah- Jungbrunnen, in dem sie sich erneuerte und belebte. Dort fin-
ren mit einer unverhohlen rassistischen, fremdenfeind- den sich unsere urtümlichen Tugenden, dort befreien wir uns
lichen Politik aufsehenerregende Erfolge und immer vom Virus des Kosmopolitismus, der sich allenthalben bei uns 68
auch ein paar Nationalräte in Bern. eingeschlichen hat. 69
1990 benannte sich die NA in «Schweizer Demokra-
ten» um. Was auch nichts mehr brachte, die Erfolge wa- Ein gewisser Georges de Montenach (1862 – 1925) schrieb
ren dahin, die SVP sollte das politische Portfolio fürder- das 1908 in seinem Buch Pour le visage aimé de la patrie.
hin übernehmen. Er war ein reicher Fribourger Patrizier, Ständerat und
In der Parteizeitschrift Schweizer Demokrat Nr. 6 im päpstlicher Geheimkämmerer.
Jahr 1990 ist jedenfalls ein Referat von Botschafter Auch der Begriff «Überfremdung» stammt nicht von
Rudolf Weiersmüller abgedruckt, dem damaligen Koordi- James Schwarzenbach, sondern taucht schon um 1900 in
nator für internationale Flüchtlingspolitik im Aussen- den einschlägigen Kreisen auf.
ministerium. Der meint, die Schweiz sei «total überbevöl-
kert». Eigentlich könnte unser Territorium nur zwischen Diese Slawen, diese Griechen, diese Südamerikaner, diese
700 000 und 1,4 Millionen Menschen «tragen». Der Rest Orientalen sind alles grosse, unzivilisierte Kinder, die mit
sei «überschüssig». Ja, wohin nur mit all den Schweize- geschmacklosem Tand und grossem Luxus, mit nebulösen
rinnen und Schweizern? Philosophien, mit subversiven Ideen und mit moralischen und
physischen Krankheiten zu uns kommen. Wenn wir nur stark
Die Überfremdungsparanoia, den Rassenschwurbel gibt genug wären, ihnen unsere Kultur aufzuzwingen! Aber nein:
es schon lange in der Schweiz. Das ist kein Import des Sie sind es, die bei uns Propaganda machen, und was für eine
deutschen Nationalsozialismus, obwohl es auch in der und mit welchen Mitteln! Und die Anarchie überzieht unsere
Schweiz feine Exemplare von Bannerträgern der arischen Städte. Das ‹Asylrecht› hatte seine Berechtigung in einer Epo-
Rassentheorie gab. Neben dem blauen, blondäugigen che, als man für die wesentlichsten Freiheitsrechte kämpfte –
Biest, Quatsch, dem blonden, blauäugigen Angehörigen es ist heute zu einer Gefahr geworden.
der höchst überlegenen nordischen Rasse sollte es selbst-
So jammerte Gonzague de Reynold 1909 in der Zeit- Entfernt vom eitlen Tand der mühsamen Geschäfte
schrift Wissen und Leben, sozusagen die Weltwoche von da- Wohnt hier die Seelen-Ruh und flieht der Städte Rauch;
mals. Er war übrigens ein Cousin von Georges de Monte- Ihr thätig Leben stärkt der Leiber reife Kräfte,
nach und kann als Vordenker aller rechten Bewegungen Der träge Müßiggang schwellt niemals ihren Bauch.
in der Schweiz bis 1940 gelten. 1955 bekam er zudem den Die Arbeit weckt sie auf und stillet ihr Gemüthe,
Grossen Preis der Schillerstiftung, den wichtigsten litera- Die Lust macht sie gering und die Gesundheit leidet;
rischen Preis hierzulande. Man wird von einer Faszination In ihren Adern fließt ein unverfälscht Geblüte,
des Grauens gepackt, wenn man all diese Sachen liest. Darin kein erblich Gift von siechen Vätern schleicht,
Neben den Fribourger Katholisch-Konservativen gab Das Kummer nicht vergällt, kein fremder Wein befeuret,
es auch in der restlichen Schweiz genügend Rassisten. Kein geiles Eiter fäult, kein welscher Koch versäuret. 70
Etwa den Aargauer Chirurgen und Militärkopf Eugen Bir- 71
cher, der die Vaterländischen Vereinigungen gründete. Ja, diese Alpen. Wenn man sich heute das Programm des
Noch heute gibt es die Aargauische Vaterländische Verei- Schweizer Fernsehens, etwa bi de Lüt, ansieht, dann kann
nigung, die zu Zeiten des Kalten Krieges auf fröhliche man wirklich zur Überzeugung kommen: Der Homo
Kommunistenhatz ging. Momentan sitzen die SVP und Alpinus lebt!
der rechte Freisinn in diesem Klub, halten sich aber eher
zurück. Manchmal wurde das Stochern im braunpatriotischen
Dann war da Ernst Laur aus Basel, der vierzig Jahre Urschlamm der Schweiz auch schwachsinnig lustig: Ein
lang Chef des Schweizerischen Bauernverbandes war. gewisser Fritz Fick beklagt in der oben schon erwähnten
Seine «Bauernsame» sowie die Hirten und Bergler waren Zeitschrift Wissen und Leben um 1909 die Gefahr einer
ihm nicht nur unentbehrliches Gegengewicht gegen die negroiden Dekadenz in der Schweiz. Fritz Fick? Kein
dekadenten Städter, sondern vor allem dazu geeignet, die Witz, dieser Name ist authentisch. Fritz ist Advokat und
gesunde helvetische Rasse vor dem Ausländer zu bewah- Sohn von Heinrich Fick, der als Zürcher Universitätspro-
ren. fessor das Schweizer Obligationenrecht revidiert hat.
Und so könnte man weiter zitieren und Namen um Heinrich Fick ist aus Deutschland eingewandert und
Namen nennen von gefährlichen Brandstiftern, deren scheint eine Schwäche für Alliterationen gehabt zu ha-
verrottete Gedankenwelt bis heute nachwirkt. ben. Fritz Fick hat später dann unter dem Pseudonym
Heinz Ollnhusen besonders rassistischen Quatsch abge-
Interessant ist das berühmte Gedicht Die Alpen von Alb- sondert.
recht von Haller aus dem Jahre 1729. Auch hier ist völlig (Aber über den Antisemitismus in der Schweiz habe
klar, wer dem Schweizer Glück vor der Sonne steht, welche ich hier absichtlich nichts geschrieben. Dafür reicht der
welschen Süchte das reine Schweizertum versauen. Platz nicht aus.)
1914 wurde der Begriff «Überfremdung» schliesslich BRIDA VON CASTELBERG
Amtssprache, 1917 entstand die Fremdenpolizei. Mir
wurde in den siebziger und achtziger Jahren von dieser Buchers Albtraum
Behörde angetragen, ich solle mein politisches Engage-
ment in der Schweiz sofort sistieren, andernfalls sei ich
«zack, zack wieder draussen!». Heutzutage heisst die
Fremdenpolizei im sanften neuzeitlichen Sprachge-
brauch «Amt für Migration und Integration».
Ich wollte nie Schweizer werden. Jetzt wird es mir in
Basel von der zuständigen Behörde sogar angeboten. Herr Bucher klingelt ohne Pause. Bereits zwei Mal hat er 72
Aber ich überfremde lieber. Und packe notfalls den geklingelt, und niemand kam, so auch jetzt. Der Schlauch 73
Koffer. in seinem Brustkorb, der die Flüssigkeit aus seinem
Brustfell absaugen soll, schmerzt fürchterlich, jeder
Atemzug eine Qual. Die Pumpe macht seit einer Stunde
seltsame Geräusche, ja sie röchelt noch mehr als Herr Bu-
cher selbst. Die Angst, die Pumpe könnte die Funktion
einstellen, treibt Herrn Bucher den Schweiss auf die
Stirn. Das Schmerzmittel, das die Schwester für die Nacht
auf dem Krankentisch hinterlassen hat, ist ausserhalb der
Bucherschen Reichweite, die schmerzbedingt noch einge-
schränkter ist als von Natur gegeben. Niemand kommt.
Seit die Gesetzgebung für ausländische Arbeitskräfte
auch im Gesundheitswesen angewendet wird, ist die
Nachtschicht mangels Pflegender abgeschafft. Obschon
sich keine der ausländischen Kolleginnen je über Dichte-
stress im Stationsbüro beklagt hatte, mussten sie das
Land verlassen – nun stehen die PC verlassen da, denn es
gibt keine Leistungen oder Arbeitszeiten mehr zu erfas-
sen. Unsere Nachbarländer freuts!
Die Medizinstudenten machen keine Nachtwachen
mehr: Der Numerus clausus wurde zwar abgeschafft,
gleichzeitig aber die Studiengebühren um ein Vielfaches
erhöht, so dass sich nur noch Sprösslinge aus begütertem das Frühstück ja gar nicht angerührt. Keinen Appetit? Ich
Haus ein Medizinstudium leisten können – nicht unbe- stelle Ihnen gleich das Mittagessen hin: Nasi Goreng, so
dingt die, welche sich über das Taschengeld aus den ein ausländisches Reisgericht. Riecht ziemlich streng.»
Nachtwachen freuen. Sprichts und entschwindet. Wieder steht das Essen in un-
Herr Gubler, der Bettnachbar, welcher bisher für klei- erreichbarer Distanz.
ne Handgriffe hilfreich zur Seite stand, wurde gestern Die Tür geht auf, und Buchers Tochter tritt ein. «Hal-
nach Hause entlassen, da die Spitaltage, auf die er An- lo Papa, der Bart steht dir gut, richtig modern siehst du
spruch hatte, aufgebraucht waren. Wie er wohl zu Hause aus.» «Das ist nicht freiwillig, verdammt! Es hilft mir ja
mit dem Katheter zurechtkommt? keiner. Kannst du das Essen zu mir stellen? Ich verhunge-
Endlich öffnet sich die Tür. «Guten Morgen, Herr re noch auf Staatskosten. So eine Schweinerei. Da zahlt 74
Bucher», sagt die etwas tollpatschige, aber liebenswerte man regelmässig seine Steuern, seine Krankenkassen- 75
Hilfe und stellt das von der Swiss verpackte Frühstück auf prämien, und das ist der Dank. Keine Pflege, kein Putz-
den Tisch. Die Spitalküche arbeitet wegen vorübergehen- personal, kein anständiges Essen. Wie soll man da ge-
der Spitalengpässe erst ab zehn Uhr. «En Guete!», und sund werden?»
schon ist sie weg und das Frühstück so unerreichbar wie Ja, wie?
das Schmerzmittel.
Gegen elf Uhr erfolgt die Visite: Die Pflegende erkun-
digt sich freundlich nach Buchers Wohlergehen. «Warum
haben Sie die Tablette nicht genommen? Und die Pumpe
tönt auch etwas seltsam. Hat sie denn überhaupt noch
funktioniert?» – «Ja woher soll ich das wissen! Ich bin
doch nicht der Spezialist.» «Nun regen Sie sich nicht
gleich so auf. Ich schalte gerade mal kurz durch zum
Arzt.» Auf dem Bildschirm erscheint ein blutjunger As-
sistenzarzt. «Wie viel Flüssigkeit wurde noch abgepumpt?
300 Milliliter? Ja, dann muss der Schlauch wohl noch
etwas bleiben.» Mattscheibe.
«So, und nun strecken wir noch die Bettlaken, drehen
Sie sich doch mal zur Seite.» – « Wann wechseln Sie denn
die Bettwäsche? Ich habe diese Nacht fürchterlich ge-
schwitzt.» – «Am Donnerstag.»
Und schon ist es Zeit fürs Mittagessen. «Sie haben
KÖBI GANTENBEIN der nächsten Abstimmungen den Meister zeigen – gegen
die «Masseneinwanderung» schlechthin, gegen die ökolo-
Dichte Raumpolitik gisch verderbliche Einwanderung, die die Bedenkenträger
von Ecopop befürchten, und gegen die Kroatinnen und
Kroaten, denen das Freizügigkeitsabkommen der Schweiz
mit der EU auch zugutekommen soll.
Es steht – wieder einmal – nicht nur die Bereicherung
des Alltags durch fremde Menschen und der Verlust von
Weltluft auf dem Spiel. Auch die Kreise, die sehr wohl
Die Einwanderung in die Schweiz war schon Thema, als wissen, wie viel Profit sie den Zuwanderern zu verdanken 76
ich als Bub politisch erwacht bin. Mein Vater – die Mutter haben, warnen vor Schaden und wehren sich deshalb mit 77
durfte noch nicht abstimmen – hatte mitzuhelfen, die aufwendigen Kampagnen. Nötig ist eine Koalition von
Überfremdungsinitiative der Herren Schwarzenbach und Interesse mit Weltluft und Dichtefreude in der Raum-
Oehen zu bodigen. Die zwei Schweizretter erreichten in politik. Dabei gilt: Offenheit für Zuwanderung dank Fort-
den Siebzigerjahren in mehreren Anläufen jeweils Stim- schritt in der Raumpolitik, die Dichte als Schönheit aner-
menanteile gegen die Ausländer von über 40 Prozent. kennt und fördert. Denn nicht die Zuwanderer stiften die
Das gelang, weil sie die Angst vor dem Fremden mit der weitherum beklagten Gefühle von Raumvergeudung,
Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes verknüpft und sondern eine zögerliche Raumpolitik.
in den Italienern, Spaniern und Portugiesen Sündenbö-
cke gefunden hatten. Die Arbeitgeber und die ungerech- Ich nenne drei Felder:
ten Arbeitsverhältnisse waren fein raus. Heute politisiert 1. Das revidierte Raumplanungsgesetz (RPG ) will die
anstelle der beinharten konservativen Nationalisten die Verdichtung der Siedlungen fördern und so die Zersiede-
SVP . Gewechselt hat für die anstehenden Abstimmungs- lung des Raumes bremsen. Dieses Gesetz zügig umzuset-
kämpfe auch die Kombination. Statt der Arbeitsplätze zen und nicht zu zerreden, wird die zu Recht beklagte
und der Löhne werden die Dichte und der Raum zum Betonierung der Landschaft dämpfen. Es dauert aber lan-
Problem. Auf der Strasse sei es dicht, beim Anstehen für ge, bis das Gesetz greift. Es braucht ein entschiedenes
Wohnungen werde es dichter, und in der Migros, auf den Zeichen, dass das Nötige geschieht. Das Bremsspiel, das
Skipisten und im Restaurant sei gar kein Platz mehr. Al- beispielsweise die kantonalen Baudirektoren zurzeit ge-
les wegen der Zuwanderer. Überall ist jemand, und gen das RPG einrichten, ist alles andere als zügig. Diese
schuld daran sind die Fremden. Die Raumpolitik hat da- Politik ist zuwanderungsfreindlich und verschlossen.
mit nichts zu tun. Es ist durchaus möglich, dass die 2. Mit satter Mehrheit wurde die Initiative zu den
Schweizerinnen und Schweizer diesen Fremden im Laufe Zweitwohnungen angenommen. Sie besagt: Zwanzig
Prozent Zweitwohnungen sind dicht genug. Diesem  BIOGRAMME UND NACHWEISE
Grundsatz muss nun das angemessene Gesetz folgen.
Momentan zerreden es jene Kreise, die sich auch mit
Händen und Füssen gegen die Zuwanderungsinitiativen
wehren, weil sie es ihnen erschweren, Kellner, Zimmer- Peter Bodenmann
ist Hotelier in Brig und war Präsident der SP Schweiz.
mädchen und Köche in die Schweiz zu holen. Die Zweit- Fremdenhass statt Klassenkrampf : Weltwoche, 20.4.2011
wohnungsinitiative ins Leere laufen zu lassen, schürt Ab-
Wolfgang Bortlik
wehrreflexe gegen Fremde und nützt den Nationalisten.
1952 in München geboren, kam 1965 in die Schweiz und lebt heute
3. Die Ballungszentren haben Wohnraumprobleme. Es in Riehen, ganz nahe an der Grenze. Er schreibt um sein Leben und
gibt zu wenige Wohnungen, und sie sind zu teuer. In der veröffentlicht 2014 bei Nautilus seinen Roman Arme Ritter.
78
Ein Pandämonium patriotischer Poltergeister: Originalbeitrag
Stadt Zürich wird aktuell die Revision der Bau- und Zo- 79
nenordnung verhandelt. Die Vorlage des Stadtrats zaudert Renata Burckhardt
lebt in Zürich, schreibt Theaterstücke, Prosa, Kolumnen und
mit Bestimmungen, die Stadt als Wohnort für alle zu för- fürs Radio und ist Dozentin an der HGK Basel.
dern, die in der Stadt wohnen wollen. Sie verweist auf theo- Achtung Tier: Der Bund, 25.10.2013
retisch vorhandenen Raum, wagt aber keine Idee, wo und Brida von Castelberg
wie viel neuer Stadt- und Wohnraum in der Dichte mit hat 34 Jahre als Ärztin gearbeitet, die letzten 19 Jahre als Chefärztin
der Frauenklinik Stadtspital Triemli. Ihr Essay Diagnose einer Beziehung
noch mehr Dichte gewonnen werden könnte. Alle Stadt-
ist 2013 bei Kein & Aber erschienen.
und Wohnbaupolitik hängt aber von verfügbarem Raum Buchers Albtraum : Originalbeitrag
ab. Es ist gut, wenn Gemeinden, die am Steuer der Orts-
Köbi Gantenbein
entwicklung sitzen, beherzt Raum für eine Wohnbaupoli- ist Chefredaktor und Verleger von Hochparterre, der Zeitschrift
tik zur Verfügung stellen. Dichte zieht Gebäude einer- für Architektur, Planung und Design aus Zürich.
Dichte Raumpolitik: Originalbeitrag
seits in die Höhe und verdichtet andererseits das Innere.
Als die «Schweizretter» James Schwarzenbach und Thomas Haemmerli
trommelt mit GomS, der Gesellschaft offene & moderne Schweiz,
Valentin Oehen in den Siebzigern einer zögerlich weltof- gegen Finsterlinge und Reaktion.
fener werdenden Schweiz Schreck einjagten, beanspruch- Dichtestress: Ein helvetischer Spleen: Originalbeitrag
Tupaja im Labor: Originalbeitrag
te eine Person 30 qm2 Wohnraum, heute sind es über 50.
Nebst Ausdehnung in die Höhe ist Verdichtung nach in- Dieter Meier
nen nötig. Mit dem Ziel, 2025 wieder bei 30 qm2 pro Per- ist Lyriker.
Blocher wider besseres Wissen: Originalbeitrag
son anzukommen, auch damit mehr Menschen aus aller
Welt kommod Platz in der Schweiz finden. Gerhard Meister
ist Schriftsteller. Er lebt und arbeitet in Zürich.
Ungerschribe!: aus dem Stück «WIR ERBEN – eine Schweizer Saga»
Manfred Papst
ist Ressortleiter Kultur der NZZ am Sonntag und Kolumnist.
Von Tauben und anderen Plagen: NZZ am Sonntag, 3.11.2013.
© 2013 by NZZ am Sonntag

Michèle Roten
ist Kolumnistin bei Das Magazin und Autorin von Wie Mutter sein
und Wie Frau sein. Alles dicht: Das Magazin, 9.11.2013

Peter Schneider
ist Psychoanalytiker und Satiriker.
Dichtestress: Sonntags-Zeitung, 21.10.2012. © 2012 by Sonntags-Zeitung
Clique Valaisienne Populaire (CVP): Sonntags-Zeitung, 26.5.2013.
© 2013 by Sonntags-Zeitung

Constantin Seibt
ist Reporter beim Tages-Anzeiger. Sein letztes Buch ist Deadline.
Wie man besser schreibt, erschienen bei Kein & Aber.
Bekenntnisse eines deutschen Secondos: Neufassung eines Beitrags
im Tages-Anzeiger vom 16.2.2010.

Philipp Tingler
schreibt neben Romanen, Kurzprosa und Sachbüchern regelmässig
für Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Seine Bücher
erscheinen bei Kein & Aber.
Dichtestress und Müdigkeitsgesellschaft: auf Blogmag,
www.tagesanzeiger.ch, 30.10.2013

Christoph Virchow
publiziert sporadisch und lebt in Zürich. Gedichte: Originalbeiträge

Suzanne Zahnd
ist Autorin und Musikerin. Sie lebt und arbeitet in Zürich.
Ungerschribe!: aus dem Stück «WIR ERBEN – eine Schweizer Saga»

Die Gesellschaft offene & moderne Schweiz (GomS) braucht Sie!


Mehr unter www.goms2014.ch

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Auch als eBook erhältlich
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