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R. B. Dettmeyer
M. A. Verhoff
Rechtsmedizin
unter Mitarbeit von H. Schütz
123
Prof. Dr. med. Dr. jur. Reinhard B. Dettmeyer
Institut für Rechtsmedizin
Universität Gießen
Frankfurter Str. 87
35392 Gießen
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Überset-
zung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikro-
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dere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-
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SPIN 80021242
Vorwort
Rechtsmedizin ist ein interdisziplinär arbeitendes eigenständiges Fach mit einer langen Tradition
im Fächerkanon der medizinischen Disziplinen. Naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse
werden zur Verfügung gestellt, damit Behörden und Gerichte sowie alle Ärztinnen und Ärzte ihrem
Auftrag gemäß arbeiten können.
Vor diesem Hintergrund ein Lehrbuch für Studierende der Humanmedizin zu schreiben, so-
zusagen für den Erstkontakt mit einem Fach, stellt eine besondere Aufgabe dar; dies um so mehr,
als die angestrebte kompakte Zusammenstellung auch für bereits berufstätige Ärztinnen und Ärzte,
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei- und Justizbehörden usw. von Interesse sein sollte.
Am Ende wird der Leser entscheiden, ob die didaktische Umsetzung des relevanten Stoffes den
gestellten Ansprüchen genügt.
Das Buch soll Neugier auf das Fach wecken, Wissen vermitteln und zum Nachdenken anregen.
Es enthält in kompakter Form alle prüfungs- und examensrelevanten Fakten mit einer Reduktion
auf die rechtsmedizinischen Kerninhalte des Faches, u.a. ärztliche Leichenschau, Thanatologie,
forensische Pathologie, Traumatologie, Intoxikationen, Alkohologie, DNA-Analytik und Spuren-
kunde, aber auch die forensische Osteologie, Radiologie und das Medizinrecht sind zu nennen –
Themen, die an keiner anderen Stelle des medizinischen Curriculums vergleichbar systematisch
vermittelt werden.
Das Lehrbuch zeichnet sich durch zahlreiche der rechtsmedizinischen Praxis entstammende
Fallbeispiele aus. Diese sind am Anfang von Kapiteln und Unterkapiteln platziert, sollen in das je-
weilige Thema einführen, Interesse wecken und dabei bewusst Fragen unbeantwortet lassen. Ant-
worten finden sich dann im nachfolgenden Text. Eine weitere Besonderheit des Buches sind die
relativ zahlreichen Tabellen: Fakten werden strukturiert und übersichtlich zum schnellen Nach-
schlagen genauso wie zum Lernen präsentiert. Rechtsmedizin als sehr stark morphologisch orien-
tiertes Fach bedarf zugleich repräsentativer Abbildungen mit charakteristischen wegweisenden
Befunden; diesem Anspruch konnte hier dank zahlreicher Farbabbildungen Rechnung getragen
werden.
Wir sind besonders glücklich darüber, dass wir Herrn Prof. Dr. rer. nat. H. Schütz für die Be-
arbeitung der Kapitel zur forensischen Alkohologie und Toxikologie gewinnen konnten. Spezieller
Dank gebührt folgenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Gießener Institut für Rechts-
medizin, die uns auf unterschiedliche Weise unterstützt haben: Manfred Benner, Christoph G.
Birngruber, Bernd Busch (†), Nicole Graf, Frank Heidorn, Jonathan Krähahn, Gabriele Laszkowski,
Manfred Riße, Michael Witte.
Wir hoffen, mit diesem neuen Lehrbuch »Rechtsmedizin« eine Vielzahl von Kommilitoninnen
und Kommilitonen, Kolleginnen und Kollegen sowie andere Interessierte zu erreichen.
Anregungen und Kritik sind jederzeit willkommen!
Einleiung:
Einstieg ins Thema
Leitsystem
führt durch die
Sektionen
Inhaltliche Struktur:
Klare Gliederung durch
alle Kapitel
Definition:
Erklärung zentraler
Begriffe zum
besseren Verständnis
Wichtig:
Das muss man wissen!
Tabellen:
Kurze Übersicht der
wichtigsten Fakten
Cave: Navigation: Kapitel und
Vorsicht! Bei falschem Vorgehen Seitenzahlen für die
schwerwiegende Folgen möglich schnelle Orientierung
Fallbeispiele:
Typische Fälle aus der
Gerichtsmedizin
Übersicht:
Wichtige Fakten
zusammengefasst
und optisch hervor-
gehoben
Ergänzende
Gesetzestexte im
Originalwortlaut
IX
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
2 Thanatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2.1 Todeseintritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.2 Vita minima, Vita reducta, Scheintod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.3 Supravitale Reaktionen – frühe Leichenveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3.1 Mechanische Erregbarkeit der quergestreiften Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3.2 Elektrische Erregbarkeit der quergestreiften Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3.3 Pharmakologische Reizung der Irismuskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.4 Totenflecke (Livores) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.5 Totenstarre (Rigor mortis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.6 Abnahme der Körpertemperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.7 Spezielle Leichenveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.8 Fortgeschrittene Leichenveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.9 Forensische Entomologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.10 Rechtsmedizinische Todeszeit- bzw. Leichenliegezeitschätzung . . . . . . . . . . . . 19
3 Leichenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.1 Aufgaben und Sorgfaltspflichten bei der ärztlichen Leichenschau . . . . . . . . . . . 24
3.2 Rechtsfragen der Leichenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.2.1 Begriff des »Leichnams« und Veranlassung der Leichenschau . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.2.2 Zeitpunkt der ärztlichen Leichenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.2.3 Rechte und Pflichten des Leichenschauarztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2.4 Feststellung des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2.5 Feststellung der Todeszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2.6 Durchführung der Leichenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.2.7 Feststellung der Todesursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.2.8 Klassifikation der Todesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
3.2.9 Exitus in tabula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
3.3 Spurensicherung am Leichenfundort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
3.4 Zweite Leichenschau (Krematoriumsleichenschau) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
5 Forensische Traumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
5.1 Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
5.1.1 Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
5.1.2 Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
5.1.3 Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
5.2 Traumata und Todesursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
5.3 Vitale Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
5.3.1 Vitale Reaktionen – Blutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
5.3.2 Embolien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
X Inhaltsverzeichnis
9 Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
9.1 Verdachtsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
9.2 Stumpfe Gewalt und Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
9.3 Thermische Verletzungen und Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
9.4 Schütteltrauma-Syndrom (STS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
9.5 Besondere Formen der Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
10 Kindesmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
11 Kindestötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
11.1 Neugeborenentötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
11.2 Tödliche Misshandlung von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
11.3 Körperliche Vernachlässigung mit Todesfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
12 Verkehrsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
12.1 Verkehrsunfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
12.1.1 Rekonstruktion von Verkehrsunfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
12.1.2 Isolierte PKW- und PKW-PKW-Unfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
12.1.3 Fußgänger-PKW-Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
12.1.4 Zweirad-PKW-Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
12.2 Fahrtüchtigkeit – Fahrtauglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
12.2.1 Fahruntüchtigkeit infolge Übermüdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
12.2.2 Fahruntauglichkeit aufgrund von Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
12.2.3 Fahruntauglichkeit aufgrund charakterlicher Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
16 Identifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
16.1 Persönliche Inaugenscheinnahme durch Angehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
16.2 Identifizierung anhand von persönlichen Gegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
16.3 Körpermodifikation und Folgen medizinischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . 241
16.4 Forensische Odontostomatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
XIII
Inhaltsverzeichnis
19 Medizinrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
19.1 Bundesärzteordnung und Approbationsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
19.2 Ärztekammern und Standesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
19.2.1 Weiterbildungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
19.2.2 Berufsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
19.2.3 Standesgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
19.2.4 Ethikkommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
19.3 Die ärztliche Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
19.3.1 Zeitpunkt der ärztlichen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
19.3.2 Art und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
19.3.3 Spezielle Fragen der ärztlichen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
19.4 Therapieverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
19.5 Dokumentationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
19.6 Einsichtsrechte in Krankenunterlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
19.7 Meldepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
19.8 Behandlungsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
19.8.1 Verhalten bei Behandlungsfehlervorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
19.8.2 Behandlungsfehlerprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
19.8.3 Haftung bei Behandlungsfehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
19.9 Medizinrechtliche und medizinethische Probleme am Beginn des Lebens . . . . . . 276
19.9.1 In-vitro-Fertilisation bzw. Insemination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
19.9.2 Präimplantationsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
19.9.3 Pränataldiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
19.9.4 Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
19.10 Medizinrechtliche und medizinethische Probleme am Lebensende . . . . . . . . . . 279
19.10.1 Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
19.10.2 Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
19.11 Rechtsfragen in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
19.11.1 Unterbringung gemäß Unterbringungsgesetz des Bundeslandes
(Psychisch-Kranken-Gesetz: PsychKG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
XIV Inhaltsverzeichnis
19.11.2 Zivilrechtliche Unterbringung von Patienten gemäß Betreuungsrecht des BGB . . . . . 281
19.12 Spezielle Fragen des Medizinrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
19.12.1 Transplantation von Organen und Geweben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
19.12.2 Entnahme von Organen und Geweben von toten Spendern . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
19.12.3 Entnahme von Organen und Geweben bei lebenden Spendern . . . . . . . . . . . . . . . 283
19.12.4 Sterilisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
19.12.5 Kastration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
19.12.6 Regelungen im Transsexuellengesetz (TSG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
19.12.7 Versicherungsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
19.12.8 Unfallversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
19.12.9 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
19.12.10 Der Arzt als Sachverständiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
1
Einleitung
Traditionell werden der Rechtsmedizin vorwiegend Rechtsmedizin bearbeitet weiterhin alle Formen der
1 plötzliche und unerwartete Todesfälle zugewiesen. Im Gewalt gegen Menschen, darüber hinaus umfang-
Vordergrund steht die Klärung der Todesart auf der reicher gewordene verkehrsmedizinische Fragen wie
Basis der festgestellten Todesursache. Neben gewalt- die Beeinträchtigung der Fahrsicherheit durch Krank-
samen und nichtnatürlichen Todesfällen gibt es heiten, Alkohol, Drogen und Medikamente. Die Ver-
plötzliche natürliche, aber auch unklare Todesfälle. kehrsunfalltraumatologie hat in der Nachkriegszeit
Die klinische Rechtsmedizin bezieht sich auf die Unter- erhebliche Bedeutung erfahren. Die forensische DNA-
suchung von Gewaltopfern. Dazu zählen Opfer von Analyse hat die Spurensicherung revolutioniert. Inter-
verschiedenen Formen der Körperverletzung, da- national werden Rechtsmediziner bei Katastrophen
runter Sexualdelikte und Fälle von Kindesmisshand- mit zahlreichen Toten (Krieg, Bürgerkrieg, Natur-
lung sowie Verkehrsunfälle. Die Ergebnisse der Unter- katastrophen wie der Tsunami 2004) benötigt. Sie
suchungen (Obduktionsbefunde, Verletzungsmuster, stehen als Sachverständige zur Verfügung für z.B.
Ergebnisse von Spurenuntersuchungen etc.) müssen den Internationalen Gerichtshof in Den Haag oder
von Rechtsmedizinern vorwiegend mündlich in öffent- für die Inspektion staatlicher Gefängnisse zur Untersu-
lichen Strafverfahren als Sachverständige vor Gericht chung von Insassen auf Zeichen einer Misshandlung
referiert und interpretiert werden. Gegenüber allen (Folter).
Beteiligten des Verfahrens (Gericht, Verteidiger, An- Die »Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medi-
geklagter, Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, in Zivil- zin/Rechtsmedizin« (DGRM) wurde 1904 gegründet
verfahren Kläger und Beklagter) muss der rechtsme- und gehört zu den älteren medizinisch-wissenschaft-
dizinische Sachverständige Rede und Antwort stehen lichen Fachgesellschaften in Deutschland. Seit 1956 (in
und eine neutrale, auf die Sache bezogene Position der DDR) bzw. seit 1976 (in der BRD) gibt es den
vertreten. Sollte der Untersuchungsauftrag von privater »Facharzt für Rechtsmedizin« mit einer Weiterbil-
Seite kommen, z.B. von den Angehörigen eines Verstor- dungsordnung, die derzeit 3½ bis 4 Jahre Weiterbil-
benen zur Klärung der Todesursache, so erhält dung in einem Institut für Rechtsmedizin, ½ bis 1 Jahr
der private Auftraggeber das rechtsmedizinische Gut- in der Pathologie und ½ Jahr in der Psychiatrie vor-
achten. sieht. International ist die deutschsprachige Rechts-
Historisch als medizinisch-naturwissenschaftlich medizin vor allem dank der universitären Bindung
begutachtendes Fach gewachsen um letztlich den Po- führend. Bemühungen um die Einführung eines Fach-
lizei- und Justizbehörden sachverständig beratend arztes für Rechtsmedizin auf europäischer Ebene ha-
bei der Wahrheits- und Urteilsfindung zu helfen, ist ben bislang nicht zum Erfolg geführt.
die »Gerichtliche Medizin« traditionell universitär ver- Die ärztliche Begutachtung mit medizinisch-wis-
ankert. Da die Untersuchungs- und Begutachtungs- senschaftlichen Kenntnissen wird abgefragt von Be-
tätigkeit jedoch weit über die Zwecke der Strafver- hörden und Privatpersonen zur Sicherung von Rech-
folgung hinaus abgefragt wird, also einen wichtigen ten bei zivil-, sozial- und strafrechtlichen Fragestel-
Beitrag zur Rechtssicherheit bzw. einem funktionie- lungen sowie im Verwaltungsrecht. Ansprüche von
renden Rechtsstaat leistet, wird heute statt von »Ge- Patienten, von Gewaltopfern nach Straftaten und Ge-
richtlicher Medizin« von »Rechtsmedizin« gespro- schädigten nach sonstigen Verletzungen wie Arbeits-
chen. unfällen müssen im Einzelfall gutachterlich begründet
überprüft werden. Dabei arbeitet die Rechtsmedizin
Definition an der Schnittstelle von Medizin und Recht als begut-
Rechtsmedizin bedeutet die wissenschaftliche achtendes Fach vorwiegend, aber nicht nur, bei Straf-
Erforschung medizinisch-naturwissenschaftlicher verfahren, wo insbesondere auch Fragen der Rekons-
Tatsachen und Zusammenhänge sowie deren truktion eines Tatgeschehens sowie der Beeinträch-
Darlegung und Interpretation für die Rechts- tigung Beteiligter durch Alkohol und Drogen von Be-
pflege im weitesten Sinne sowie die Befassung deutung sind. Entsprechend umfangreich ist das
mit allen Rechtsfragen, die im Rahmen ärztlicher Tätigkeitsspektrum der universitären Rechtsmedizin.
Tätigkeit der Lehre, Aus-, Fort- und Weiterbildung
auftreten. Leichenfundortuntersuchung und Durchführung
von Obduktionen. Rechtsmediziner werden von den
Ermittlungsbehörden zu Leichenfundorten gerufen
Innerhalb dieser weitgefassten Definition des rechts- für eine erste orientierende Untersuchung des Leich-
medizinischen Aufgabenspektrums hat es im Laufe der nams auf Verletzungen und zur Einordnung von Lei-
Jahre erhebliche Verschiebungen gegeben. Die heutige chenschaubefunden in die Gesamtsituation (Position
1 · Einleitung
3 1
des Leichnams, Verteilung der Totenflecke, Todeszeit- Beteiligten einer Paternitätsbegutachtung (Mutter,
bestimmung, Probleme der Identifikation). Zur Klä- Kind, Putativvater) werden für Vergleichsuntersu-
rung von Todesursache und Todesart kann eine Ob- chungen sog. Speichelproben entnommen. Das an
duktion (gerichtliche Leichenöffnung) angeordnet Spurenmaterial gewonnene STR-Profil kann mit dem
werden. Bei fehlenden Anhaltspunkten für einen na- der verdächtigen Personen verglichen werden. Außer-
türlichen Tod und fehlenden Krankheitssymptomen dem kann ein Abgleich mit der DNA-Analyse-Datei
kann im Einzelfall allein der akute Todeseintritt den des Bundeskriminalamtes (BKA) erfolgen. Ständige
Verdacht auf einen nichtnatürlichen Tod begründen. Verbesserungen der Methodik erlauben die Analyse
minimaler DNA-Spuren, an früher schwierigen Spu-
Öffentliches Gesundheitswesen: Vornahme von Lei- ren wie Einzelzellen und an telogenen Haaren.
chenschauen. Neben der polizeilich veranlassten bzw.
gerichtlichen Leichenschau führen – außer in Bayern Blutalkoholbestimmungen. Quantitativ spielt der
– Amtsärzte der Gesundheitsämter, Rechtsmediziner Trinkalkohol (Ethylalkohol, Äthanol) als die psycho-
oder in speziellen Schulungen ausgebildete Ärzte die physische Fahrsicherheit beeinträchtigende Noxe die
sog. zweite amtsärztliche Leichenschau (Feuerbestat- größte Rolle. Die Beurteilung der Wirkungen des Al-
tungs- bzw. Kremationsleichenschau) durch. Dabei kohols und die Validierung von Untersuchungsverfah-
wird der Leichnam erneut untersucht und die Angaben ren auch für Begleitalkohole (sog. Fuselalkohole) sind
zu Todesursache und Todesart in der Todesbescheini- seit Jahrzehnten fester Bestandteil in der rechtsmedizi-
gung bzw. im Leichenschauschein werden auf Plausi- nischen Alkoholanalytik. Rechtsmedizinische For-
bilität kontrolliert. Dies dient der Rechtssicherheit, da schungsergebnisse haben Gesetzgebung und Recht-
im Einzelfall immer wieder nichtnatürliche und vom sprechung zu Grenzwerten und zur alkoholbedingten
ersten Leichenschauarzt fälschlicherweise als natürlich Fahrunsicherheit geprägt, sowohl im Straf- als auch im
deklarierte Todesfälle entdeckt werden. Ordnungswidrigkeitenrecht. Trinkmengenbehaup-
tungen und Getränkearten können durch die Begleit-
Chemisch-toxikologische Untersuchungen. Die uni- stoffanalyse überprüft werden.
versitären rechtsmedizinischen Institute können bei
Intoxikationsverdacht einerseits anlässlich der Obduk- Verkehrsmedizinische Fragestellungen. Bedeutsam
tion gewonnene Asservate (z.B. Herzblut, Femoral- ist in der gutachterlichen Praxis zur Beurteilung der
venenblut, Hirngewebe, Nierengewebe, Lebergewebe, Fahrsicherheit einer Person nicht nur die Beeinträch-
Galle, Liquor, Knochen, Haare, Finger- und Zehen- tigung der aktuellen Fahrtüchtigkeit durch Alkohol,
nägel usw.) analysieren, andererseits werden Proben Drogen und/oder Medikamente bzw. sonstige Toxine,
von Patienten zur Untersuchung eingesandt (klinische sondern auch die Beurteilung der längerfristigen Fahr-
Toxikologie). Für die Hirntoddiagnostik bei vorge- tauglichkeit bei einer Reihe von Erkrankungen (Herz-
sehener Organexplantation müssen zum Ausschluss Kreislauf-Erkrankungen, Hypertonus, Epilepsien,
einer zentralnervösen Beeinträchtigung ebenfalls che- Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes etc.).
misch-toxikologische Analysen vorgenommen werden. Bei Verkehrsunfallopfern ist das Verletzungsmus-
Ein Großteil der Untersuchungen sind umfangreiche ter nach (Poly-)Trauma zur Rekonstruktion des Un-
Analysen von Blut- und Urinproben auffälliger Ver- fallablaufes zu erfassen: Anprallgeschwindigkeit, An-
kehrsteilnehmer auf Drogen und Medikamente (Hero- pralllokalisationen, Rolle des Verkehrsunfallbeteiligten
in, Kokain, Amfetamine, Psychopharmaka etc.). Aber (Fußgänger, Radfahrer, Fahrer, Beifahrer), z.B. belegt
auch bei Gewaltopfern sind Blut- und Urinproben zu durch den Nachweis sog. Gurtmarken oder Über-
untersuchen, z.B. zum Nachweis sog. K.-o.-Tropfen im rollverletzungen. Nachweis oder Ausschluss von Vor-
Zusammenhang mit Sexualdelikten. erkrankungen als mögliche Unfallursache sollen eben-
falls erfolgen.
DNA-Analyse und Spurenkunde. Die DNA-Labore
rechtsmedizinischer Institute nehmen individualisie- Forensische Radiologie. Die postmortale Röntgen-
rende molekulargenetische Untersuchungen vor. Hier- diagnostik besitzt seit der Entdeckung der Röntgen-
bei hat sich die Untersuchung der Short Tandem strahlen einen wichtigen Stellenwert in der Dokumen-
Repeats (STR) durchgesetzt. Die DNA wird an den ver- tation vorwiegend von knöchernen Verletzungen und
schiedensten asservierten biologischen Spuren ge- bei der Planung der Durchführung der Obduktion,
wonnen. Neben dem kriminalistischen Einsatz ist die z.B. zum Auffinden von Projektilen. Seit Beginn des
Methode zur Vaterschaftsbestimmung (Paternitäts- neuen Jahrtausends nehmen postmortale CT- und
diagnostik) geeignet. Von Tatverdächtigen oder von MRT-Scans zu. Die so entstandenen dreidimensionalen
4 Kapitel 1 · Einleitung
Datensätze ermöglichen »virtuelle Autopsien«. Die an- eine schuldangemessene Bestrafung zu ermöglichen
1 fänglichen Vorstellungen, dass letztere die »echten« bzw. ggf. vorhandene erhebliche Beeinträchtigungen
Obduktionen ersetzen können, wurden in zahlreichen der Schuldfähigkeit schuld- und damit auch strafmin-
Untersuchungen widerlegt. Die Kombination aus virtu- dernd zu berücksichtigen. Derartige regelmäßig nur
eller und realer Leichenöffnung führt zu aussagekräf- retrospektiv mögliche »Schuldfähigkeitsgutachten«
tigen Befunden. erfordern neben dem Nachweis der beeinträchtigenden
Die Röntgenvergleichsanalyse ist eine alte und Substanz die Beurteilung des Verhaltens der Person
effektive Methode zur Identitätsfeststellung. Liegen »vor, während und nach« der Tat. Im Einzelfall kann
von vermissten Personen zu Lebzeiten angefertigte die Beauftragung eines forensisch erfahrenen psy-
Röntgenbilder vor, können an einem unbekannten chiatrischen Sachverständigen notwendig sein, z.B. bei
Leichnam Vergleichsaufnahmen der betreffenden Re- schwereren Neurosen, bei Persönlichkeitsstörungen
gion erstellt und mit diesen verglichen werden. oder für die Prognosebegutachtung vor der Haftent-
In der klinischen Rechtsmedizin sind häufig Rönt- lassung verurteilter Straftäter. Sachverständig zu beur-
genaufnahmen bei der Begutachtung frischer oder teilen sind im Einzelfall auch Fragen wie die Verneh-
verheilter Knochenbrüche mit einzubeziehen, radiolo- mungsfähigkeit, die Gewahrsamsfähigkeit, die Haft-
gische Untersuchungen dienen aber auch der Alters- fähigkeit, die Verhandlungsfähigkeit und die Testier-
schätzung von Lebenden und Verstorbenen. Zuneh- fähigkeit eines Menschen. Glaubwürdigkeitsgutachten
mend stehen für die Beurteilung von Weichteilverlet- bzw. aussagepsychologische Gutachten erfordern be-
zungen CT- oder MRT-Datensätze zur Verfügung. sondere Erfahrung.
Thanatologie
2.1 Todeseintritt –7
Beispiele Sog. Krönlein-Schuss mit Nur kurz überlebbare Funk- Chronische Erkrankungen wie sich
sofortiger Exenteration des tionsstörungen wie eine aus- entwickelnde Sepsis; Tumorleiden
Gehirns; Zertrümmerung des gedehnte hypertone Massen- mit im Finalstadium absehbarem
Organismus bei Überrollen blutung, Perikardtamponade, Todeseintritt: blasse, spitze Nase,
durch ein Schienenfahrzeug, Verbluten nach Innen bei eingesunkene Augen und Wangen,
Explosionen mit Zerreißung rupturiertem Aortenaneurysma grau-blasse Haut, Kaltschweißigkeit
des Organismus (sog. Facies hippocratica)
8 Kapitel 2 · Thanatologie
Je nach Todesursache sind (noch) vitale Reaktio- befunden und autoptisch diagnostizierten Erkran-
nen des Organismus zu erwarten bzw. eine Reaktion kungen verschiedene Sterbenstypen voneinander ab-
der lebenswichtigen Organsysteme. So kommt es beim gegrenzt werden (. Tab. 2.2).
allmählichen Verbluten zu einer Zentralisation des Die Sterbenstypen verdeutlichen, dass im Rah-
2 Blutkreislaufes mit Absinken des Blutdruckes und men der Todesfeststellung die zum Versagen der Or-
Anstieg der Herzfrequenz (Hypotonie, Tachykardie, gane bzw. Organsysteme führende Krankheit in eine
Schocksymptomatik). Beim sog. asphyktischen Er- medizinisch plausible Kausalkette eingebettet sein
sticken tritt eine Dyspnoe hinzu. Zentralnervöse Re- muss. Ist dies der Fall, so ergibt sich eine begründbare
aktionen umfassen z.B. tonisch-klonische Krämpfe Todesursache. Fehlen anamnestisch Hinweise auf
(Agonie bzw. »Todeskampf« im eigentlichen Sinne). eine todesursächlich relevante Erkrankung und bie-
Beim Eintritt des Todes als Folge vorbestehender inne- ten die Umstände des Todeseintritts keine Er-
rer Erkrankungen im Rahmen einer längeren Agonie- klärung für insbesondere das akute Versterben, so ist
phase führt die sich anbahnende hypoxische Schädi- dies in der Todesbescheinigung zu vermerken. Die
gung des ZNS dazu, dass die Sterbephase nicht mehr Häufung derartiger Fälle an einem bestimmten Ort
bewusst erlebt wird. kann den Verdacht auf eine Tötungsserie begründen,
z.B. auf die unbemerkte Gabe tödlich wirkender Me-
! Am Ende der Agoniephase steht der klinische
dikamente in einem Pflegeheim oder auf der Intensiv-
Tod (Herzstillstand). Der Tod des Menschen
station.
als Person (Individualtod) wird festgestellt
durch Veränderungen, wie sie nur nach irre- ! Angaben zur festgestellten Todesursache
versiblem Herz-Kreislauf- und Atemstillstand in der Todesbescheinigung bzw. im Leichen-
möglich sind (sichere Todeszeichen: Toten- schauschein sollen pathophysiologisch
flecke, Totenstarre, Fäulnis; nicht mit dem begründet sein. Angegebene Erkrankungen
Leben vereinbare Verletzungen; Nachweis müssen zu einer todesursächlichen finalen
des Hirntodes entsprechend den Richtlinien Morbidität führen können, so dass ein Ab-
der Bundesärztekammer). leben zum gegebenen Zeitpunkt und unter
den gegebenen Umständen plausibel wird.
Sterbenstypen. Nicht immer gibt es eine singuläre
benennbare konkrete Todesursache, ausgehend von Hirntod und Hirntoddiagnostik. In der Praxis betrifft
einem Organ bzw. Organsystem. So kann die Erkran- die Feststellung des Hirntodes nur jene Patienten, bei
kung eines Organs jenseits der eigenen Funktionen denen die beiden anderen »Eintrittspforten des Todes«,
tödliche Folgewirkungen haben. Schließlich gibt es das Herz-Kreislauf-System und die Atmung, maschi-
Erkrankungen verschiedener Organe bzw. Organsy- nell ersetzt und so zunächst funktionstüchtig gehalten
steme, die erst in ihrem Zusammenwirken tödlich en- wurden, um mit Beendigung dieser intensivmedizi-
den. Möglich ist weiterhin die parallele Erkrankung nischen Maßnahmen eine Organexplantation vorneh-
von Organen bzw. Organsystemen, wobei jede Erkran- men zu können. Erforderlich ist die Feststellung des
kung schon für sich allein den Tod erklären würde. Vor Gesamthirntodes unter festgelegten Voraussetzungen,
diesem Hintergrund können unter Einbeziehung von die normativ u.a. verankert sind im Transplantations-
Anamnese, klinischer Symptomatik, Untersuchungs- gesetz von 1997 (. Tab. 2.3).
Erkrankung und Todes- Erkrankung ist organ- Erkrankungen verschiede- Erkrankungen verschiede-
ursache finden sich spezifisch, führt jedoch zu ner Organe bzw. Organ- ner Organe bzw. Organ-
in einem Organ bzw. einer organunspezifischen systeme führen über eine systeme stellen jeweils
Organsystem Todesursache gemeinsame Endstrecke bereits für sich allein eine
zum Tod organspezifische Todes-
ursache dar
2.2 · Vita minima, Vita reducta, Scheintod
9 2
Massive akute primäre Bewusstlosigkeit 12–72 h, variabel in Ab- Wenn ergänzende Befunde
oder sekundäre Schädi- Apnoe hängigkeit vom Lebensalter erhoben werden:
gung des ZNS Lichtstarre Pupillen mit und von der Art der Hirn- 4 Nulllinien-EEG (bei infra-
Ausschluss von: fehlender Reaktion auf schädigung (primär, sekun- tentorieller Hirnschädigung
4 Intoxikation ein Mydriatikum där) und bei Kindern bis zum
4 Neuromuskuläre Fehlende Hirnstamm- vollendeten 2. Lebensjahr
Blockade reflexe: obligatorisch)
4 Unterkühlung 4 Kornealreflex 4 oder erloschene evozierte
4 Kreislaufschock 4 Okulozephaler Reflex Potenziale (nur bei supra-
4 Metabolische oder 4 Schmerzreaktion auf tentorieller Hirnschädigung
endokrine Komata Trigeminusreiz und bei sekundärer Hirn-
4 Pharyngealreflex schädigung)
4 oder Nachweis des zere-
bralen Zirkulationsstill-
standes
2.2 Vita minima, Vita reducta, borgen werden konnte. Nach erfolgreicher Reanima-
Scheintod tion waren keine zerebralen Schäden nachweisbar.
Deshalb sollte bei nicht ausschließbarer Vita mini-
Vor dem Ausstellen einer Todesbescheinigung bzw. ma und suffizienten Reanimationsmaßnahmen erst
eines Leichenschauscheines ist der sichere Tod eines ein 30-minütiges Nulllinien-EKG zur Beendigung der
Menschen ärztlich festzustellen. Dazu bedarf es des medizinischen Maßnahmen führen. Selbst diskrete
Nachweises sicherer Todeszeichen (Totenstarre, Toten- EKG-Befunde sind noch kein »Nulllinien-EKG« und
flecke, Fäulnis) oder mit dem Leben nicht vereinbarer können nicht mit einem Herzstillstand gleichgesetzt
grober Verletzungen. Derartige sichere Todeszeichen werden. Bei unterkühlten Patienten, solchen mit einer
fehlen in der Phase einer Vita minima bzw. Vita reducta möglichen Intoxikation und nach Beinahe-Ertrinken
(sog. Scheintod). werden längere Reanimationszeiten verlangt bis zur
Wiedererwärmung bzw. Detoxikation und/oder dem
Definition Auftreten sicherer Todeszeichen.
Vita minima bzw. Vita reducta: Zustände, bei Unsichere Todeszeichen sind:
denen die üblicherweise feststellbaren Lebens- 4 fehlende Reflexe
zeichen (Atmung, erhaltene Herz-Kreislauf-Funk- 4 fehlende Atmung
tionen) als Folge einer Dysregulation des Orga- 4 fehlende Herztätigkeit
nismus auf ein Minimum reduziert sein können, 4 weite, lichtstarre Pupillen
so dass ihre noch erhaltene Restfunktion bei 4 abgesunkene Körperkerntemperatur.
unzureichender Untersuchung nicht registriert
wird. Diese unsicheren Todeszeichen dürfen nie zur Attes-
tierung des Todes führen. Bei Unterkühlung darf die
Kältestarre der Muskulatur nicht mit der Totenstarre
Bei klinisch nicht nachweisbaren Lebensäußerungen verwechselt werden.
(Atmung, Herz-Kreislauf-System) und gleichzeitig
! Ohne sichere Todeszeichen keine Todes-
fehlenden sicheren Todeszeichen muss an das Phäno-
bescheinigung.
men des sog. Scheintodes gedacht werden. Vorrangig
ist eine EKG-Kontrolle anzustreben. Bei Unterkühlung Die Ursachen, die zu einer Vita minima bzw. Vita re-
können deutlich längere Zeiten von Herz-Kreislauf- ducta führen können, sind in der AEIOU-Regel ge-
und Atemstillstand toleriert werden. So ist der Fall nannt.
eines 6-jährigen Jungen bekannt, der im Eis einge-
brochen und erst nach 20 Minuten unter Wasser ge-
10 Kapitel 2 · Thanatologie
. Abb. 2.1 Prüfung der elektrischen Erregbarkeit der Bereits während der längeren Agoniephase kann es
mimischen Muskulatur. Frühpostmortal findet sich eine als Folge zunehmender Herzinsuffizienz zu einer
Kontraktion der gesamten ipsilateralen Gesichtsmuskulatur. prognostisch ungünstigen sichtbaren lokalen Stase des
Mit zunehmender Todeszeit beschränkt sich die muskuläre Blutes kommen (sog. »Kirchhofrosen«). Eigentliche
Erregung auf den Reizort in unmittelbarer Umgebung der Totenflecke entstehen jedoch erst nach dem irreversib-
Elektrode (M. orbicularis oculi) len Kreislaufstillstand.
! Totenflecke (Livores) entstehen als Folge der
Absenkung des Blutes entsprechend dem
In gleicher Weise erfolgt die Graduierung bei Reizung
hypostatischen Druck bzw. der Schwerkraft
des M. orbicularis oris. Die Erregbarkeit der mimi-
folgend nach irreversiblem Herz-Kreislauf-
schen Muskulatur wird mit bis zu 20 hpm angegeben,
Stillstand in den sog. »abhängigen«, d.h. zu-
beim M. orbicularis oris bis ca. 11 hpm, bei der Thenar-
unterst liegenden Körperpartien und sind
und Hypothenarmuskulatur werden 10–12 hpm ange-
das früheste sichere Todeszeichen.
geben. Durch elektrische Reizung der Pupillenmusku-
latur – Elektrodeneinstich in die Bindehaut des Auges Die hypostatische Absenkung des Blutes füllt zunächst
am Rande der Hornhaut – ist eine Reaktion bis 20 hpm, die Blutgefäße im subepidermalen Corium in Form
selten länger, auslösbar. kleiner hellroter Flecken. Danach erfolgt eine Aus-
dehnung der Totenflecke durch Konfluktion und als
Folge des Verbrauchs vorhandenen Restsauerstoffs
2.3.3 Pharmakologische Reizung entsteht eine livide bzw. blauviolette Farbe der Toten-
der Irismuskulatur flecke (. Abb. 2.2).
Im Bereich der Totenflecke kann gegen den Druck
Der Einsatz von Pupillomotorika nutzt die postmortal des absinkenden Blutes durch Druck von außen, v.a.
zunächst erhaltene Reagibilität der Irismuskulatur, durch enger anliegende Kleidung, eine häufig streifige
wobei die quergestreifte Irismuskulatur länger pharma- Aussparung entstehen, etwa als Folge des Faltenwurfes
kologisch erregbar bleibt als die glatte Irismuskulatur. der Kleidung (. Abb. 2.3).
Bei der subkonjunktivalen Injektion von Nordadrena- Dort, wo die Haut der Unterlage unmittelbar auf-
lin oder auch Acetylcholin zeigt sich eine erhaltene liegt, also an den sog. Aufliegestellen, überwiegt der
Reagibilität – Nachweis einer Mydriasis bzw. Miosis – Aufliegedruck den hydrostatischen Druck und es
bis zu 20 hpm, selten bis 40 hpm. Weitere Pupillomo- kommt zu einer den Aufliegestellen entsprechenden
torika lassen eine geringere Zeitdauer bei der supra- Aussparung der Totenflecke. Typische Aufliegestellen
vitalen Reaktion erkennen. bei Rückenlage des Leichnams sind die Schulterblatt-
region (schmetterlingsförmige Aussparung der Toten-
flecke), das Gesäß und die Fersen. Weist die Aufliege-
fläche ein bestimmtes Muster auf, so kann dies zu einer
12 Kapitel 2 · Thanatologie
Farbe Ursache
Hellrot 4 Frühpostmortal
4 Als Folge einer CO-Intoxikation (Bildung von Carboxyhämoglobin) als kirschrote Totenflecke, aber
erst ab CO-Hb-Werten von >30%
4 Kältetod
4 Lagerung des Leichnams in der Kälte: erneute hellrote Totenflecke durch Diffusion von Sauerstoff
durch die Haut und Reoxygenierung des Hämoglobins
Blau-livide Farbe der Totenflecke nach dem frühpostmortalen Intervall als Folge des Sauerstoffverbrauchs
lichen feinfleckigen Ansammlung von Blut kommen, Position des Leichnams (sog. Suspensionslage z.B. bei
sog. Vibices (. Abb. 2.5). Erhängen).
! Finden sich bei der Leichenschau Totenflecke,
die nicht mit der Lage des Leichnams korres-
pondieren, so wurde die Position des Leich-
2.5 Totenstarre (Rigor mortis)
nams postmortal verändert, d.h. der Leich-
Neben den Totenflecken als ersten sicheren Todeszei-
nam wurde entweder gewendet oder sogar
chen tritt als zweites sicheres Todeszeichen die Toten-
transportiert und der Leichenfundort ist
starre auf, dies in Abhängigkeit vom Körpergewicht,
möglicherweise nicht der Sterbeort.
vom Ernährungszustand, von vorangegangenem Kräf-
teverzehr und der Umgebungstemperatur, unter Nor-
Innere Totenflecke. Eine ebenfalls hypostatisch be- malbedingungen etwa 3–4 h post mortem. Hinsicht-
dingte Absenkung des Blutes im Körperinneren führt lich der Reihenfolge des Eintretens der Totenstarre
dazu, dass bei der Obduktion innere Totenflecke fest- wird auf die Nysten-Regel verwiesen (. Tab. 2.5). In
stellbar sind, z.B. in der Leber besonders deutlich bei der Praxis werden jedoch häufig Abweichungen von
Rechtsseitenlage des Körpers, in den dorsalen Ab- dieser Chronologie beobachtet.
schnitten der Lungenflügel bei Rückenlage oder in den Das für die Muskelkontraktion und Lösung der
Darmschlingen des kleinen Beckens bei aufrechter Kontraktion notwendige Adenosintriphosphat (ATP)
kann postmortal zunächst über die Kreatinkinasereak-
tion und die anaerobe Glykolyse resynthetisiert werden.
Mit Abnahme des ATP-Spiegels unter ca. 85% des Aus-
gangswertes ist das nicht mehr möglich, es entstehen
endgültig irreversible Verbindungen, die sog. »Weich-
macherfunktion« des ATP erlischt. Vorrangig kann das
in Muskelgruppen geschehen, in denen es agonal bereits
zur erheblichen Abnahme der Glykogenreserven ge-
kommen war (z.B. untere Extremitäten bei Marathon-
lauf). Die Totenstarre findet sich an der quergestreiften
und der glatten Muskulatur, einbezogen sind die Pupil-
le, aber auch die Mm. arrectores pilorum, was zum Bild
einer sog. »Gänsehaut« führen kann (Cutis anserina).
. Abb. 2.5 Vibices. Zahlreiche, feinfleckige blau-livide sog. Prüfung der Totenstarre. In der Praxis werden der
Vibices (Pfeile) innerhalb des Totenflecksystems Eintritt der Totenstarre und ihre Intensität subjektiv
14 Kapitel 2 · Thanatologie
geprüft durch Testung der Beweglichkeit der Gelenke 2.6 Abnahme der Körpertemperatur
und dem dabei auftretenden Widerstand. Eine kom-
plett eingetretene Totenstarre kann meist nur mit er- Neben den Totenflecken und der Totenstarre ist die
heblichem Kraftaufwand durch einen Untersucher Abnahme der Körperkerntemperatur der wichtigste
2 manuell gebrochen werden. Um die Intensität der To- Befund für die rechtsmedizinische postmortale Lei-
tenstarre insgesamt zu prüfen und eventuelle Verände- chenliegezeitbestimmung. Postmortal kommt es im
rungen (Zunahme oder Lösung der Totenstarre) regis- Regelfall nicht zu einer sofortigen Abnahme der Kör-
trieren zu können, muss immer eine Untersuchung perkerntemperatur, vielmehr findet sich primär ein
mehrerer Gelenke erfolgen: Ellenbogen- und Kniege- postmortales Temperaturplateau von 2–3 h. Zunächst
lenke, Hüftgelenke, Kiefer- und Fingergelenke. muss sich ein radiales Temperaturgefälle vom Körper-
kern zur Körperoberfläche entwickeln, erst danach
Wiedereintritt der Totenstarre. Einerseits setzt die kann bei gleichbleibender Umgebungstemperatur eine
Totenstarre zeitlich unterschiedlich ein, je nach Mus- kontinuierliche Abnahme der Körperkerntemperatur
kelgruppe und in Abhängigkeit vom Glykogengehalt unterstellt werden. Die Abkühlkurve verläuft expo-
sowie der Umgebungstemperatur. Andererseits wer- nentiell entsprechend dem Newton’schen Abkühlge-
den nicht sofort alle Muskelfasern eines Muskelbauchs setz. Dabei flacht die Abkühlkurve am Ende vor An-
einbezogen. Deshalb kann bei Prüfung eine Totenstar- gleichung von Umgebungstemperatur und Körper-
re festgestellt werden, die sich mit Druck brechen lässt, kerntemperatur ab, so dass insgesamt ein sigmoidaler
und anschließend können andere bis zu diesem Zeit- postmortaler Temperaturverlauf resultiert.
punkt noch nicht erstarrte Muskelfasern zu einer er- Die Mechanismen für die postmortale Anglei-
neuten Totenstarre führen. chung der Körperkerntemperatur an die Umgebungs-
temperatur sind Konduktion und Konvektion, weni-
! Das Phänomen des erneuten Eintritts einer
ger gravierend Strahlung und Wasserverdunstung.
Totenstarre nach vorangegangenem Brechen
Die Abkühlcharakteristik hat zur Entwicklung eines
kann im Regelfall bis zu ca. 6–8 hpm festge-
Nomogramms (nach Henssge) geführt, mit dem nach
stellt werden.
einmaliger Messung der aktuellen tiefen Rektal-
temperatur und zeitgleicher Messung der Umge-
Lösung der Totenstarre. Ebenso wie der Eintritt der bungstemperatur bei bekanntem Körpergewicht und
Totenstarre ist auch die Lösung der Totenstarre in ho- Berücksichtigung weiterer Parameter über einen Kor-
hem Maße temperaturabhängig. Bei üblicher Zimmer- rekturfaktor eine Schätzung der Leichenliegezeit mög-
temperatur ist eine Lösung der Totenstarre nach 2–3 lich ist (. Abb. 2.6).
Tagen zu erwarten. Voraussetzung ist eine Proteolyse In das Rektaltemperatur-Todeszeit-Bezugsnomo-
mit Lösung der Aktinfilamente aus den Z-Banden, bio- gramm werden die beiden zeitgleich gemessenen Tem-
chemisch begleitet von einem Anstieg des Ammoniak- peraturen – Umgebungstemperatur, tiefe Rektaltem-
spiegels. Einen Überblick zum Verlauf der Totenstarre peratur – eingetragen und durch eine Gerade verbun-
gibt (. Tab. 2.5). den. Diese Gerade schneidet eine vorgegebene Diago-
Eintritt Meist nach 2-4 h, bei Hitze früher, bei Kälte z.T. deutlich später
Reihenfolge Kiefergelenk – Nacken – Gelenke der oberen Extremitäten – Rumpf – untere Extremitäten
(Nysten-Regel) Ausnahme: Früherer Eintritt der Totenstarre nach agonaler Glykogenverarmung
Wiedereintritt Nach frühpostmortalem Brechen der Totenstarre Wiedereintritt bis zu ca. 6–8 hpm
Lösung Sehr stark temperaturabhängig, meist nach 1–3 Tagen beginnend, vollständig nach 2–5 Tagen,
bei tiefer Umgebungstemperatur auch erst nach 2–3 Wochen
Umfang Einbeziehung auch der glatten Muskulatur, z.B. der Pupille, aber auch der Mm. arrectores pilorum
(Bild der »Gänsehaut« – Cutis anserina)
2.6 · Abnahme der Körpertemperatur
15 2
. Abb. 2.6 Rektaltemperatur-Todeszeit-Bezugsnomo- bei einem Körpergewicht von 80 kg eine mittlere Todeszeit
gramm (nach Henssge). Bei einer Rektaltemperatur von von ca. 16 h mit 95%-Toleranzgrenzen von +/-2,8 h
28 °C und einer Umgebungstemperatur von 18 °C ergibt sich
nale. Vom Schnittpunkt aus wird dann eine Gerade Für eine fachärztlich-rechtsmedizinische Schätzung
durch den Schnittpunkt der Diagonalen mit der ersten der Leichenliegezeit sind neben der Kenntnis der Um-
Gerade gelegt und so beide Temperaturskalen mit- gebungstemperatur und der tiefen Rektaltemperatur
einander verbunden. Beim Viertelkreisbogen des ent- alle Umstände von Bedeutung, die Einfluss auf die Ab-
sprechenden Körpergewichts kann die mittlere To- kühlbedingungen haben können. Dazu gehören u.a.:
deszeit abgelesen werden, im äußersten Kreisbogen 4 Ausgangstemperatur des Körpers (präexistente Tem-
die Angabe der 95% Toleranzgrenzen. Allerdings peraturerhöhung bzw. Sepsis, vorangegangener
müssen abkühlungsverzögernde und abkühlungsför- Saunabesuch oder heißes Vollbad?)
dernde Einflüsse berücksichtigt werden, was durch 4 Konstitution bzw. Körperproportionen
empirisch ermittelte Körpergewichtskorrekturfak- 4 Fettanteil des Körpers (Kachexie? Adipositas?)
toren geschieht. 4 Bekleidungszustand: trockene oder feuchte Klei-
dung (ein- , zwei- oder mehrlagig?)
! Als Faustformel gilt: Die postmortale Ab- 4 Bedeckung des Leichnams
nahme der Körperkerntemperatur beträgt 4 Körperposition bzw. -haltung
nach Ablauf eines Temperaturplateaus von 4 Luft- bzw. Windverhältnisse
ca. 2–3 h bei Zimmertemperatur und durch- 4 Lagerung in Flüssigkeit (v.a. Wasser; stehende oder
schnittlichem Bekleidungszustand sowie fließende Flüssigkeit?)
durchschnittlicher Konstitution etwa 0,5– 4 Nähe zu Wärmequellen (Heizkörper, Lichtstrahler
1,5 °C pro Stunde. etc.)
16 Kapitel 2 · Thanatologie
! Ist eine Leichenliegezeitschätzung erkennbar in geschlossenen Räumen, relativ früh durch Hunde
erforderlich, so soll möglichst rasch eine oder Katzen. Schnabelhiebe von Raubvögeln können
Messung der Umgebungstemperatur und der Stichverletzungen vortäuschen. Tierfraßdefekte am
tiefen Rektaltemperatur erfolgen. Einfluss- Leichnam sind nicht unterblutet. Konturen der Defekt-
2 faktoren auf die Abkühlbedingungen müssen ränder können Hinweise auf die Tierart (z.B. Nage-
protokolliert werden. Möglichst rasch rechts- tiere) geben.
medizinischen Sachverstand hinzuziehen!
2.8 Fortgeschrittene
2.7 Spezielle Leichenveränderungen Leichenveränderungen
Bedeutsam sind insbesondere Vertrocknungen bei Nach der Frühphase schreitet die Zersetzung des
postmortal ausbleibender Transsudation und Schweiß- Leichnams in Abhängigkeit u.a. von der Temperatur
sekretion bzw. Anfeuchtung der Haut und Schleimhäu- und der Feuchtigkeit mit unterschiedlicher Geschwin-
te. Vertrocknungen entstehen außerdem infolge der digkeit voran, es kommt zu Autolyse und Fäulnis bis
gestörten Feuchtigkeitsbarriere nach Oberhautschädi- hin zur Skelettierung.
gungen. Da die Epidermis keine Gefäßversorgung ent-
hält, lässt sich bei einem Verstorbenen nicht sagen, ob Definition
die Oberhautschädigung noch zu Lebzeiten, also vital Autolyse: Zersetzung organischer Strukturen
oder erst postmortal entstanden ist. Dem trägt der neu- durch körpereigene Enzyme bzw. Fermente.
trale Begriff »Vertrocknung« Rechnung (. Tab. 2.6). Betroffen sind zunächst enzymreiche innere
Organe wie das Pankreas, später weitere innere
! Geformte Hautvertrocknungen sollten durch
Organe in Abhängigkeit v.a. von der Temperatur.
die Position des Leichnams (Aufliegestellen,
Druckstellen etc.) oder durch ein vorange-
gangenes prä- oder postmortales Geschehen
Zu den autolytischen Prozessen gehören u.a.:
eine adäquate Erklärung finden.
4 Andauung der Magenschleimhaut bis zur Brüchig-
keit der Magenwand und Übertritt von Magenin-
Tierfraß. Neben Vertrocknungen kommen spezielle halt in die Bauchhöhle
Leichenveränderungen als Folge von Tierfraß vor, auch 4 postmortale Selbstandauung des Pankreas
. Tab. 2.6 Häufige postmortale Vertrocknungen der Haut und der freiliegenden Schleimhäute
Lippen Streifige Vertrocknung an der Grenze vom häutigen zum schleimhäutigen Anteil
von Ober- und Unterlippe
Hautabschürfungen Rot-bräunliche Vertrocknung, z.B. streckseitig in Höhe der Knie nach vorangegangenem
Sturz. Auch postmortal zugefügte Hautschürfungen, etwa beim Transport des Leichnams
vertrocknen in gleicher Weise.
Geformte Vertrocknungen Geben die Form bzw. Kontur der Einwirkung wieder, z.B. sog. Defibrillationsmarken, aber
auch Strang-, Drossel- oder Würgemale. Geformte Vertrocknungen können die Konturen
eines einwirkenden Werkzeugs darstellen.
2.8 · Fortgeschrittene Leichenveränderungen
17 2
4 zunehmende Aufhebung der Membranfunktio-
nen, verbunden mit einem extrazellulären Anstieg
der Kaliumkonzentration und einer Abnahme der
Natrium- und Chloridkonzentration
4 Abnahme des pH-Wertes und ein Anstieg der
Laktat-Konzentration.
Definition
Fäulnis: Teils aerobe, teils anaerobe primär bak-
terielle Zersetzungsprozesse, begünstigt durch
Wärme und Feuchtigkeit. Der bakteriell reduktive
Abbau endet teils mit H-Endprodukten, also v.a.
Kohlenwasserstoffen (CH4), H2S und NH3 und
teils mit O2-Endprodukten als Folge oxydativen
Abbaus an der Körperoberfläche.
Die Bakterien für den Fäulnisprozess stammen von . Abb. 2.8 Durchschlagen des Venennetzes. Leichenfäul-
nis mit Gasdunsung des Abdomens, sog. Durchschlagen des
der Hautoberfläche, aus den Luftwegen, dem Magen-
Venennetzes, und aufgeplatzten, zuvor flüssigkeitsgefüllten
Darm-Trakt (physiologische Darmflora), der Genital-
Fäulnisblasen
region und den Konjunktiven. Pathogene Keime, etwa
bei Verstorbenen mit einer Sepsis, können die Fäulnis
beschleunigen. Häufige Fäulniserreger sind Proteus 4 Protrusion der Zunge durch Fäulnisgasdruck
mirabilis, Pseudomonas aeruginosa, Bacillus subtilis, 4 Kotaustritt aus dem After
aber auch Coli-Bakterien und Clostridien, zudem kön- 4 Bei Schwangeren: Austreibung des Feten aus
nen Pilze beteiligt sein. dem Uterus (sog. Sarggeburt)
Als erstes Zeichen der Fäulnis ist eine Grünverfär- 4 Sog. Gasknistern der Gewebe des gesamten Kör-
bung der Haut feststellbar, beginnend häufig im rech- pers
ten Unterbauch als Folge einer Sulfhämoglobinbildung 4 Ausbildung flüssigkeitsgefüllter Fäulnisblasen zwi-
in Anwesenheit von Sauerstoff (. Abb. 2.7). schen Epidermis und subepidermalem Corium
Die Hämolyse in den subkutanen Venen und die 4 Zunehmende erleichterte Ausziehbarkeit und Ab-
postmortale Ausbreitung von Bakterien über das Blut- lösung der Haare und der Fuß- und Zehennägel
gefäßsystem führt zum sog. Durchschlagen des Ve- 4 Verflüssigung bzw. ölige Transformation des Fett-
nennetzes (. Abb. 2.8). gewebes im Körperinneren
Parallel dazu kommt es zu weiteren fäulnisbe- 4 Proteolyse mit Bildung von biogenen Aminen und
dingten Veränderungen des Leichnams: Alkaloiden (Ptomaine)
4 Gasdunsung des Abdomens, auch der Augenlider 4 Das Gehirngewebe wird zunehmend weich und
und des Mundes zerfließlich
18 Kapitel 2 · Thanatologie
. Abb. 2.9 Ablagerung von Fliegeneiern. Zahlreiche, nam relativ gut erhalten bleibt. Dazu gehört insbeson-
weißgraue, postmortal abgelegte Fliegeneier auf den Augen- dere die Mumifikation.
lidern, in den Nasenöffnungen und um die Mundregion
Definition
4 Fäulnisblasen durchsetzen die inneren Organe, die Mumifikation: Konservierung des Leichnams
dadurch wirken wie durchsetzt von schaumigen durch raschen Wasserentzug, in der Regel durch
Blasen (sog. Schaumorgane) bzw. Waben (z.B. sog. trockenen Luftzug bei heißer oder kalter Luft
Wabenleber) (natürliche Mumifizierung). Beginn schon nach
1 Woche möglich, nach Wochen teilweise Mumi-
Aus dem Ausprägungsgrad der Fäulnis lassen sich fikation, komplett nach Monaten.
kaum zuverlässige Rückschlüsse auf die Leichenliege-
zeit ziehen. Im Grundsatz gilt die sog. Casper-Regel,
die aber mit Zurückhaltung anzuwenden ist. Bei der Mumifikation fehlt die Feuchtigkeit für ein
bakterielles Wachstum, die Haut vertrocknet leder-
! Casper-Regel: 1 Woche Luft 2 Wochen
artig-derb. An mumifizierten Leichen sind häufig noch
Wasser 8 Wochen Erdgrab.
zahlreiche Befunde nach Jahren gut erhebbar (Verlet-
Veränderungen am Leichnam können außerdem als zungen nach Gewalteinwirkung, aber auch natürliche
Folge der Ablagerung von Fliegeneiern mit Entwicklung Todesursachen wie z.B. eine Perikardtamponade nach
von Maden auftreten (. Abb. 2.9 und . Abb. 2.10). rupturiertem Myokardinfarkt). Bei inkompletter Mu-
Der Entwicklungszyklus der Fliegen bzw. Maden mifizierung bzw. für eine Mumifizierung nicht ausrei-
erlangt bei der Leichenliegezeitbestimmung über einen chendem Umgebungsmilieu findet sich nicht selten an
längeren Zeitraum Bedeutung (7 Abschn.2.9). der Hautoberfläche eine ausgedehntere Besiedlung mit
Während im Erdgrab eine weitgehende Skelettie- Schimmelpilzen (. Abb. 2.11).
rung des Leichnams – je nach Umweltbedingungen – Unter anaeroben, feuchten Bedingungen kann es
nach ca. 20–30 Jahren erwartet werden kann, können zur sog. Fettwachsbildung (Leichenlipid, Adipocire)
konservierende Umstände dazu führen, dass der Leich- kommen. Dabei werden ungesättigte Fettsäuren (Öl-
2.10 · Rechtsmedizinische Todeszeit- bzw. Leichenliegezeitschätzung
19 2
säure) in gesättigte Fettsäuren umgewandelt. Das sub- . Abb. 2.12 Autoptisch gefundene Fliegen im gesamten
kutane Fettgewebe kann bereits nach einigen Wochen oberen Respirationstrakt bis in die Hauptbronchien
betroffen sein, die Muskulatur nach ca. 3-4 Monaten.
Die komplette Umwandlung der Fette eines Leichnams
in Fettwachs erfolgt erst nach Monaten bis Jahren. Eine Augenlidern sowie bevorzugt an feuchteren Körper-
partielle Konservierung des Leichnams findet einer- regionen. Je nach Spezies und Temperatur bzw. Milieu-
seits statt unter anaeroben Bedingungen, andererseits bedingungen lässt sich der Generationsgang entomo-
bei Lagerung des Leichnams im Moor (sog. Moorlei- logisch bestimmen mit Rückschlüssen auf die Leichen-
chen) durch Einwirkung von Humin- und Gerbsäuren. liegezeit. So bedeuten leere Puppenhülsen, dass zu-
Bei Permafrostleichen kommt es zur Konservierung mindest eine Generation ausgereift ist (. Tab. 2.7).
durch Gefrieren des Gewebes.
Die Besiedelung des Leichnams mit Insekten kann zur Die fachärztlich-rechtsmedizinische Todeszeitschät-
Leichenliegezeitbestimmung genutzt werden, wenn die zung basiert auf der Berücksichtigung zahlreicher Pa-
genaue Insektenspezies bestimmt wurde und deren Ent- rameter, nicht nur der Totenflecke, der Totenstarre und
wicklungszyklus bekannt ist, z.B. Calliphora erythroce- der postmortalen Bestimmung der Umgebungs- sowie
phala (bläuliche Schmeißfliege) oder Musca domestica tiefen Rektaltemperatur bzw. Körperkerntemperatur.
(Stubenfliege). Fliegen können u.U. im gesamten oberen Ebenso ist im Einzelfall z.B. der Füllungszustand des
Respirationstrakt angetroffen werden (. Abb. 2.12). Magens vor dem Hintergrund üblicher Verdauungs-
So legen Fliegen teilweise bereits in der Agonie- prozesse eine wichtige Information. Auch erst bei der
phase ihre Eier ab, postmortal insbesondere dort wo Obduktion erhobene Befunde können für die Leichen-
sie Hautverletzungen vorfinden, aber auch in Mund- liegezeitbestimmung von großer Bedeutung sein. Eine
und Nasenöffnungen, in den Augenwinkeln, unter den Übersicht zur Todeszeitschätzung gibt . Tab. 2.8.
20 Kapitel 2 · Thanatologie
Stadium Zeitdauer
2
Eiablage 24–48 h
Maden Über 10–12 Tage: erst kleinere, dann größere Maden mit typischen siebartigen Madenfraß-
defekten der Haut, verbunden mit der Bildung von Harnstoff und proteolytischer Zersetzung
Neue Fliegen Ca. 14 Tage nach der Verpuppung schlüpfen neue Fliegen; leere Puppenhülsen bedeuten daher
eine Mindestleichenliegezeit von 4 Wochen
Merke: Abweichungen der Berechnung ergeben sich in Abhängigkeit von der Spezies und den Umweltbedingungen
während der Liegezeit
Totenflecke Beginnend ca. 20–30 Min. post mortem am Hals, konfluierend innerhalb
von 30–120 min, komplett nach 6–12 hpm, wegdrückbar auf Fingerdruck
ca. 10-20 hpm
Umlagerbarkeit der Totenflecke Bis zu ca. 12–24 hpm, verbleiben aber teilweise nach ca. 6 hpm an der
ursprünglichen Stelle (sog. doppeltes Totenflecksystem)
Totenstarre Beginn im Kiefergelenk nach ca. 2–4 hpm, komplett nach 6–8 hpm,
bei Hitze schnellerer, bei Kälte langsamerer Eintritt
Wiedereintritt der Totenstarre Erneute Totenstarre nach Brechen bis ca. 6–8 hpm
Lösung der Totenstarre Sehr stark temperaturabhängig, Beginn meist nach 2–3 Tagen, voll-
ständig nach 3–5 Tagen, bei tiefer Umgebungstemperatur auch erst nach
2–3 Wochen
Elektrische Erregbarkeit 1–6 hpm komplett ipsilateral fortgeleitete Kontraktion, nur noch elektroden-
der mimischen Muskulatur nah bis ca. 8 hpm (5–22 hpm)
Pharmakologische Reizung Bis ca. 20 h post mortem möglich mit Mydriatica bzw. Miotika, selten
der glatten Muskulatur der Iris bis ca. 40 hpm
Bestimmung des Kaliumgehaltes in Der Kaliumgehalt nimmt nach Todeseintritt kontinuierlich zu, was eine gute
der Glaskörperflüssigkeit des Auges Todeszeitschätzung in den ersten 2–3 Tagen post mortem erlauben soll
Füllungszustand der Harnblase Bei Todeseintritt in der Nacht: leere Harnblase = Todeszeitpunkt in der ersten
Nachthälfte, volle Harnblase = Todeszeitpunkt in der zweiten Nachthälfte
Abnahme der Körperkerntemperatur Postmortales Temperaturplateau für ca. 2–3 hpm, danach Abnahme der
Körperkerntemperatur um 0,5–1,5 °C/h
Magenentleerung Hilfreich, wenn der Zeitpunkt der letzten Nahrungsaufnahme bekannt ist.
Durchschnittliche Verweildauer im Magen bei leichter Mahlzeit ca. 90 Min.,
bei durchschnittlicher Mahlzeit ca. 3 h, bei schwerer Mahlzeit ca. 4 h
(Wichtig: Identifizierung spezifischer Nahrungsbestandteile!)
Fettwachsbildung (Adipocire) Im Wasser und bei Wärme unter anaeroben Bedingungen schon nach
3–5 Wochen, im Erdgrab erst nach Monaten bis zu 1 Jahr
Mumifizierung Evtl. gering schon nach 1 Woche, teilweise nach Wochen, komplett nach
Monaten; Haltbarkeit für lange Zeit (vgl. z.B. Gletschermumien)
* Die Angaben beziehen sich auf durchschnittliche Umgebungsbedingungen in Mitteleuropa, im Einzelfall müssen
erhebliche Abweichungen berücksichtigt werden!
Leichenschau
Aufgabe Bedeutung
Privatwohnung bzw. Privat- 4 Angehörige (Ehepartner, Lebenspartner, Kinder, Eltern, andere Personen
grundstück der häuslichen Gemeinschaft)
3 4 Besitzer bzw. Eigentümer der Wohnung bzw. des Grundstückes
4 Zufällig anwesende Personen
Lebendgeborene unabhängig Bei der Geburt anwesende Hebamme, ggf. der Arzt, sonst jede andere Person,
vom Körpergewicht und Tot- die bei der Geburt anwesend war bzw. durch eigene Feststellung Kenntnis von
geborene (≥500 g) der Geburt erlangt hat
Fundleichnam Jede Person, die den Leichnam gefunden hat, gilt zwar als zur Veranlassung der
Leichenschau verpflichtet, nach primärer Information der Polizei veranlasst diese
aber die ärztliche Leichenschau
Mit dem Leben nicht vereinbare Zerstörung des Körpers Weite, lichtstarre Pupillen
(z.B. exenterierte innere Organe)
Unter klinischen Bedingungen bei assistierter Beatmung Fehlende Reflexe (Areflexie), Tonusverlust
festgestellter Hirntod (= Zustand der irreversibel erloschenen der Muskulatur
Gesamtfunktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des
Hirnstamms)
nach Angaben von ……«. Todeszeitangaben durch un- Im Anschluss an die Leichenschau ist in einer amt-
geübte Leichenschauärzte sollten sich vorsichtshalber lichen Todesbescheinigung ein nichtvertraulicher und
beschränken auf eine grobe Zeitschätzung, basierend ein vertraulicher Teil auszufüllen.
auf dem Ausprägungsgrad der Totenstarre, der Toten-
flecke und der Körpertemperatur (Leichnam fühlt sich Nichtvertraulicher Teil der Todesbescheinigung. Der
noch warm an oder ist bereits erkaltet). Ist eine Todes- nichtvertrauliche Teil ist für das Standesamt bestimmt
zeitangabe von besonderer Relevanz, so ist über die und enthält Angaben zur Person des Verstorbenen, zur
Polizei eine fachärztlich-rechtsmedizinische Untersu- Art der Identifikation, zur Feststellung des Todes sowie
chung zu veranlassen. Zusatzangaben bei Totgeborenen und Hinweise zum
Infektionsschutzgesetz (IfSG).
3.2.6 Durchführung der Leichenschau Vertraulicher Teil der Todesbescheinigung. Der ver-
trauliche Teil enthält Angaben zur Art der zum Tode
Regeln zur Durchführung der ärztlichen Leichenschau führenden Erkrankung. Hier soll eine plausible zum
finden sich im AWMF-Leitlinien-Register – Leitlinien Eintritt des Todes führende Kausalkette von krank-
der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin haften Veränderungen genannt werden (medizinische
(DGRM) – Nr. 054/002 (http://www.uni-duesseldorf. Feststellungen zur Todesursache). Meist hat der ver-
de/WWW/AWMF/11/054-002.htm). trauliche Teil 3 Durchschläge. Das Original ist für den
Amtsarzt, die Durchschläge sind für das statistische
! Die ärztliche Leichenschau ist am vollständig
Landes- und Bundesamt (Name geschwärzt), für die
entkleideten Leichnam unter Inspektion aller
Feuerbestattung oder die Obduktion und für den lei-
Körperöffnungen bei guten Lichtverhältnis-
chenschauenden Arzt selbst.
sen durchzuführen.
Ein Verstoß gegen die anerkannten Regeln der ärzt-
lichen Sorgfalt bei der Durchführung der Leichen- 3.2.7 Feststellung der Todesursache
schau stellt zunächst eine Ordnungswidrigkeit dar,
was mit einer Geldbuße geahndet wird. Im Einzelfall Die Strukturierung der Angaben zur Todesursache
können aber auch strafrechtliche Konsequenzen, z.B. in der Todesbescheinigung ist orientiert an dem
der Vorwurf der fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB, Muster der Weltgesundheitsorganisation (WHO) »In-
drohen. Nicht sorgfältig durchgeführte Leichen- ternational Form of Medical Certification of Cause
schauen können dazu führen, dass nichtnatürliche of Death«. Die entsprechenden Zeilen sind num-
Todesfälle, einschließlich Tötungsdelikte unentdeckt meriert:
bleiben. Falsch verstandene Rücksichtnahme auf die 4 Ia = Angaben zur unmittelbaren Todesursache
Angehörigen ist daher nicht angebracht. Diese sollten 4 Ib = »als Folge von«, d.h. Angabe von Erkran-
auf die gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung kungen, die zu der unter Ia genannten unmittel-
einer sorgfältigen Leichenschau hingewiesen werden. baren Todesursache geführt haben
28 Kapitel 3 · Leichenschau
4 Ic = »als Folge von«, d.h. Angabe der ursprüng- tet werden, was zu einer differenzierteren Einteilung in
lichen Ursache bzw. des Grundleidens 3 Gruppen geführt hat:
4 II = Andere wesentliche u.U. mittodesursächliche 4 Gruppe I. Die Feststellung der unmittelbaren Todes-
Krankheiten, unabhängig vom unter Ic genannten ursache und der zugrunde liegenden Krankheit
Grundleiden kann hinsichtlich der Kausalität und des Zeitablau-
fes in hohem Maße plausibel sein, was bei sog. »har-
3 Zwischen dem anzugebenden Grundleiden und der ten« Todesursachen der Fall ist: Grunderkrankung
unmittelbaren Todesursache soll ein medizinisch- und unmittelbare Todesursache sind pathophysio-
naturwissenschaftlich anerkannter pathophysiologi- logisch eng verknüpft und treten zeitnah zueinander
scher Mechanismus anerkannt sein. Bei jeder Rubrik auf (Beispiel: ausgedehnte Subarachnoidalblutung
soll zusätzlich eine Zeitangabe erfolgen zur Dauer der bei rupturiertem Hirnbasisarterienaneurysma).
Krankheit vor Eintritt des Todes. Zur Veranschauli- 4 Gruppe II. Dagegen kann eine bekannte Grunder-
chung einige Fallbeispiele: krankung auf mehreren Wegen zum Tode führen,
wenngleich über verschiedene Pathomechanis-
Ç Fallbeispiel men, oder erst mehrere Grunderkrankungen füh-
Beispiel 1: ren über eine gemeinsame Endstrecke zur unmit-
Ia – Myokardinfarkt (Stunden) – als Folge von telbaren Todesursache, sog. »weiche« Todesursa-
Ib – Frische Koronarthrombose (Stunden) – chen (Beispiel: stenosierende Koronarsklerose und
als Folge von Unterlappenpneumonie rechts bei chronisch-lym-
Ic – Stenosierende Koronarsklerose (Jahre) phatischer Leukämie). Im Einzelfall erlaubt die
II – Hypertonus, Diabetes mellitus Krankengeschichte die Festlegung einer priori-
Beispiel 2: tären unmittelbaren Todesursache.
Ia – Rechtsherzversagen (1 Stunde) – als Folge von 4 Gruppe III. Schließlich gibt es Todesfälle, bei denen
Ib – Rezidivierte Lungenthrombembolie (2 Stunden) mangels hinreichender Angaben zur Krankheits-
– als Folge von geschichte und fehlender Kenntnis von den Um-
Ic – Tiefe Beinvenenthrombose (Tage) ständen des Todeseintritts eine unmittelbare To-
II – Linkshirnige hypertone Massenblutung desursache bzw. eine korrespondierende Grunder-
mit Hemiparese rechts (6 Monate) krankung nicht angegeben werden kann. Dann ist
Beispiel 3: bei ungeklärter Todesursache ebenfalls eine unge-
Ia – Perikardtamponade (Minuten) – als Folge von klärte Todesart anzugeben.
Ib – Dissezierendes Aortenaneurysma (Stunden) –
! Vor dem Ausfüllen der Todesbescheinigung
als Folge von
bzw. des Leichenschauscheins ist vom Lei-
Ic – Idiopathische Medianekrose oder Arteriosklero-
chenschauarzt immer zu prüfen, ob die Kran-
se der Aortenwand (Jahre)
kengeschichte und die Umstände des Todes-
II – Hypertonus, Leberzirrhose, Pyelonephritis
eintritts eine finale Morbidität plausibel
erklären, und ob außerdem die Akuität des
Todeseintritts nachvollziehbar ist. Ergibt sich
Nicht alle Zeilen müssen ausgefüllt werden. Ist die
dennoch keine plausible Todesursache, so ist
obligatorisch anzugebende unmittelbare Todesursa-
dies im Formular festzuhalten.
che nicht Folge eines Grundleidens, so bedarf es kei-
ner weiteren Angaben, z.B. Ia: Betäubungsmittelinto- Zahlreiche Untersuchungen haben bestätigt, dass die
xikation, die restlichen Angaben (Ib, Ic und II) bleiben Übereinstimmung von Todesursachen, wie in der To-
frei. desbescheinigung angegeben, mit der tatsächlichen
durch eine Obduktion geklärten Todesursache allen-
! In der Todesbescheinigung bzw. im Leichen-
falls bei 50–60% liegt.
schauschein sind wenig aussagekräftige
»Diagnosen« ebenso wie Angaben von End-
zuständen jedes Sterbeprozesses zu vermei-
3.2.8 Klassifikation der Todesart
den, so z.B. »Altersschwäche«, »Herzversa-
gen«, »Atemstillstand«, »Kreislaufversagen«,
Die Angaben zur Todesart sind zu trennen von den An-
»kein Lebensmut mehr«.
gaben zur Todesursache. Während die Todesursache
Die hinsichtlich ihrer todesursächlichen Bedeutung sich auf die medizinisch-naturwissenschaftliche Ursa-
zu wertenden Befunde können unterschiedlich gewich- che des Todes bezieht, beschreibt die Angabe der Todes-
3.2 · Rechtsfragen der Leichenschau
29 3
art die Umstände des Todeseintritts im Hinblick auf In der Praxis kommt es daher darauf an, Hinweise
deren auch kriminalistische Bedeutung: natürlich, nicht- auf einen nichtnatürlichen Tod als solche zu erkennen
natürlich oder ungeklärt. Die Klassifikation der Todes- (. Tab. 3.4).
art ist daher im Einzelfall für weitere behördliche Maß- Bei spurenarm verlaufenden Tötungsdelikten kön-
nahmen von entscheidender Bedeutung. Dabei gilt: nen Verletzungen fehlen. Schließlich können Hinweise
auf ein Fremdverschulden am Leichenfundort fehlen;
Definition beides darf nicht im Umkehrschluss zur Bejahung
Natürlicher Tod: Tod aus krankhafter innerer eines natürlichen Todes führen. Es gilt:
Ursache, der völlig unabhängig von rechtlich be-
! Es gibt kein zeitliches Intervall, welches die
deutsamen äußeren Faktoren eingetreten ist.
Kausalität zwischen der primären Einwirkung
Nichtnatürlicher Tod: Todesfall, der auf ein von
am Anfang der zum Tode führenden Kausal-
außen verursachtes, ausgelöstes oder beeinfluss-
kette und dem Todeseintritt unterbricht.
tes Ereignis zurückzuführen ist (einschließlich
selbst- und fremdverschuldeter Einwirkungen) Gerade bei zunehmendem zeitlichem Abstand zwi-
Ungeklärte Todesart: Allein aufgrund der ärzt- schen dem primären Trauma und dem Zeitpunkt des
lichen Leichenschau lässt sich mangels Nachweis Todeseintritts wird irrtümlich häufig ein natürlicher
eines natürlichen Todes die Todesart nicht ab- Tod attestiert, obwohl die Kausalität sowohl medizi-
schließend festlegen. nisch-naturwissenschaftlich belegbar als auch rechtlich
anerkannt ist. Dazu folgende Beispiele:
4 Ein Radfahrer erleidet bei einem Verkehrsunfall
Entscheidend ist die Feststellung eines natürlichen eine Unterschenkelfraktur, die medizinisch er-
Todes, also des Nachweises einer definierten inneren folgreich behandelt wird. Nach 1 Jahr kommt es in
Erkrankung, die nach dem gegebenen Zeitverlauf Höhe der Fraktur zur Unterschenkelvenenthrom-
plausibel zum Tode geführt hat bei gleichzeitig feh- bose mit nachfolgender tödlicher Lungenthromb-
lenden Anhaltspunkten für einen nichtnatürlichen embolie (= nichtnatürlicher Tod).
Tod. Dabei ist zu bedenken, dass ein Mensch mit einer 4 Eine Patientin bleibt nach einem hypoxischen
schweren und absehbar zeitnah tödlich endenden Hirnschaden als Folge eines Narkosefehlers ko-
Krankheit noch Opfer eines nichtnatürlichen Todes matös-bettlägerig und stirbt nach 6 Jahren an einer
(Vergiftung, Tötungsdelikt um den Erbfall vorzuver- Pneumonie (= nichtnatürlicher Tod).
legen) werden kann. Wichtig ist die Kenntnis aller Be- 4 Ein Patient erleidet nach einer medizinisch indi-
funde, die auf einen nichtnatürlichen Tod hinweisen zierten Arzneimittelapplikation einen akuten all-
können. Gesetzliche Definitionen des nichtnatürlichen ergischen Schock (= nichtnatürlicher Tod).
Todes geben einen Anhaltspunkt. So lautet z.B. § 6
Abs.3 S. 2 thüring. Bestattungsgesetz: Die Klassifikation der Todesart ist in keiner Weise ge-
koppelt ist mit der Frage der Schuld. Der Tod im aller-
Als nichtnatürlich ist ein Tod anzunehmen, der durch Selbst- gischen Schock erfolgte trotz ordnungsgemäßer ärzt-
tötung, einen Unfall, einen ärztlichen Behandlungsfehler oder licher Therapie, allerdings führte die unerwünschte
durch eine sonstige äußere Einwirkung, bei der ein Verhalten Arzneimittelwirkung (UAW) zu einer erheblichen
eines Dritten ursächlich gewesen sein könnte (Tod durch Vorverlegung des Todeszeitpunktes. Hier gibt es im
fremde Hand), eingetreten ist. Einzelfall Grenzfälle und nicht jede als Folge einer
. Tab. 3.4 Angaben bzw. Befunde mit Hinweischarakter auf einen nichtnatürlichen Tod
ärztlichen Maßnahme herbeigeführte Vorverlegung werden, wenn Anhaltspunkte für einen nichtnatür-
des Todeszeitpunktes muss zur Angabe eines nicht- lichen Tod oder eine ungeklärte Todesart vorliegen. In
natürlichen Todes in der Todesbescheinigung führen. diesem Fall gilt:
Insoweit wird für letale unerwünschte Arzneimittel- 4 Abbruch der ärztlichen Leichenschau.
wirkungen keine Meldepflicht des Leichenschauarztes 4 Sofortige Meldung an die Polizei.
an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzte- 4 Am Leichenfundort keine Veränderungen mehr
3 schaft gesehen. Dennoch ist die Situation besonders vornehmen.
schwierig, wenn ein Patient unmittelbar während eines 4 Vorgenommene Veränderungen protokollieren
ärztlichen Eingriffs, insbesondere auf dem OP-Tisch, (Positionsveränderungen und Teilentkleidung des
verstirbt, sog. »Exitus in tabula«. Leichnams, Aufschneiden der Kleidung, vorge-
nommene Punktionen, sonstige ärztliche Maßnah-
men am Leichnam, auffällige Befunde am Leich-
3.2.9 Exitus in tabula nam).
4 Darauf achten, dass anwesende dritte Personen
Ç Fallbeispiel keine Veränderungen am Leichenfundort vorneh-
Bei einem 56-jährigen Mann mit auffälligem Belas- men.
tungs-EKG wird eine diagnostische Koronarangio- 4 Kurzes eigenes Protokoll als Gedächtnisstütze, falls
graphie durchgeführt. 2 h nach dem Eingriff erleidet – möglicherweise erst Tage oder Wochen später –
der Patient einen Kreislaufkollaps mit Asystolie und Fragen aufkommen. Bedeutsam können sein: Ver-
kann nicht reanimiert werden. Der Mann war bei schlussverhältnisse (Türen, Fenster), anwesende
bestem Wohlbefinden zu Fuß zur Untersuchung Personen und deren Verhalten, augenscheinliche
erschienen. Schon wegen der zeitlichen Nähe des Verletzungen anwesender Personen, Hinweise auf
Todeseintritts zum ärztlichen Eingriff wurde von den Alkohol-, Drogen und/oder Medikamentenein-
Angehörigen der Verdacht geäußert, es sei zu einem nahme, Hinweise auf eine tätliche Auseinanderset-
tödlichen Behandlungsfehler gekommen. Bei der zung.
Obduktion zeigte sich eine Perikardtamponade nach
Koronarwandruptur, eine sehr seltene aber eingriffs- Sollte offensichtlich sein oder sich später herausstellen,
typische und aufklärungspflichtige Komplikation dass eine Straftat vorliegt, kann der Notdienstarzt, Not-
der Koronarangiographie. arzt und/oder der Leichenschauarzt von den Ermitt-
lungsbehörden und in der Hauptverhandlung vor Ge-
richt als sog. sachverständiger Zeuge gehört werden.
Die Frage, ob ein nichtnatürlicher Tod attestiert werden
soll, wenn sich das unvermeidbare Risiko eines ärzt-
lichen Eingriffs schicksalhaft realisiert, ist umstritten. 3.4 Zweite Leichenschau
Einige Ansichten verlangen wenigstens entfernt An- (Krematoriumsleichenschau)
haltspunkte für einen Verstoß gegen anerkannte Regeln
der ärztlichen Sorgfalt (Behandlungsfehler). Im ein- In allen Bundesländern, außer in Bayern, ist gesetzlich
gangs beschriebenen Beispiel ist aber davon auszugehen, eine zweite Leichenschau vorgeschrieben, wenn eine
dass durch die Koronarangiographie der Tod des Pa- Einäscherung oder Seebestattung vorgesehen ist. Da in
tienten womöglich um viele Jahre vorverlegt wurde. beiden Fällen der Leichnam als Beweismittel endgültig
Beim »Exitus in tabula« empfiehlt sich daher eine beseitigt wird, soll ein zweiter Leichenschauarzt noch
Qualifikation der Todesart als »ungeklärt« und die einmal den Leichnam sorgfältig untersuchen und seine
Meldung an die Ermittlungsbehörden. Um jedem Ver- Untersuchungsergebnisse mit den Angaben in der
dacht der Vertuschung vorzubeugen, sollte die Todes- Todesbescheinigung bzw. im Leichenschauschein ab-
bescheinigung bzw. der Leichenschauschein von einem gleichen. Der erste Leichenschauarzt sowie weitere,
unbeteiligten Arzt ausgestellt werden. vorbehandelnde Ärzte können um Auskünfte ersucht
werden, um mögliche Widersprüche zu klären. Beste-
hen danach immer noch Zweifel an einem natürlichen
3.3 Spurensicherung Tod, so kann der Leichnam nicht zur Einäscherung
am Leichenfundort freigegeben werden. Bei Hinweisen auf einen nichtna-
türlichen Tod informiert der zweite Leichenschauarzt
Fragen der Spurensicherung können auch für den Not- die Ermittlungsbehörden. Dann muss die Staatsan-
dienstarzt, Notarzt und Leichenschauarzt bedeutsam waltschaft entscheiden, ob eine gerichtliche Obduk-
3.4 · Zweite Leichenschau (Krematoriumsleichenschau)
31 3
tion erforderlich ist. Die Staatsanwaltschaft kann aber
– in Abhängigkeit vom Ermittlungsergebnis der Polizei
– ohne eine Obduktion den Leichnam zur Kremierung
freigeben.
Ergeben sich für den zweiten Leichenschauarzt
zwar keine Hinweise auf einen nichtnatürlichen Tod,
aber hält er die Befunde und Angaben zur Anamnese
für nicht ausreichend, um sicher von einem natür-
lichen Tod auszugehen, kann er eine Feuerbestattungs-
sektion vor der Kremierung fordern. Diese ist für die
Angehörigen kostenpflichtig und kann von ihnen ab-
gelehnt werden. In diesem Fall würde jedoch nur eine
(für die Angehörigen kostenintensivere) Erdbestattung
zugelassen werden.
Anlass für eine Obduktion im Anschluss an eine
Feuerbestattungsleichenschau haben auch zuvor über-
sehene Tötungsdelikte gegeben (vom ersten Leichen-
schauarzt übersehener kleiner Einschuss, übersehene
Drosselmarke) oder der begründete Verdacht auf einen
Behandlungs- bzw. Pflegefehler. Aber auch irrtümlich
als natürlich angesehene Todesfälle mit längerem Zeit-
raum zwischen schädigendem Ereignis (z.B. Verkehrs-
unfall, Arbeitsunfall) oder Verdacht auf eine zum Tode
führende Berufskrankheit sollen bei der zweiten Lei-
chenschau entdeckt und einer weiteren Klärung zuge-
führt werden.
4
4.3 Sektionstechnik – 35
. Tab. 4.1 Rechtsgrundlagen für eine Obduktion in Abhängigkeit vom Sterbeort und der Fragestellung
Krankenhaus bzw. Klinik Landesgesetz und/oder Krankenhaus- Klinische Sektion bzw. klinisch-
aufnahmevertrag mit sog. »Sektions- wissenschaftliche Sektion (meist in
klausel« der Pathologie)
Nichtnatürlicher Tod bzw. un- §§ 87 ff. Strafprozessordnung (StPO) Gerichtliche Obduktion (strafpro-
4 geklärte Todesart; »zureichende zessuale Sektion)
tatsächliche Anhaltspunkte« für
eine Straftat (§ 152 Abs.2 StPO)
V.a. ansteckende Erkrankung i.S. § 26 Abs. 3 IfSG i.V.m. § 6 Abs.1 IfSG Sog. Seuchensektion auf Anordnung
des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) des Gesundheitsamtes
Tödlicher Arbeitsunfall bzw. Wege- §§ 103 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) VII Sozialrechtliche Sektion (Berufs-
unfall i.S. der gesetzlichen Unfall- unter Umständen i.V.m. der Berufs- genossenschaftliche Sektion; sog.
versicherung (GUV) oder Verdacht krankheitenverordnung (BKV) BG-Sektion)
auf eine Berufskrankheit
Zwar natürlicher Tod, jedoch fort- Wenn klinische Sektion oder gericht- Privatsektion
bestehende Unklarheiten bei der liche Leichenöffnung nicht möglich,
genauen Todesursache können die Totensorgeberechtigten
privat eine Obduktion veranlassen
Natürlicher Tod außerhalb von Trotz öffentlichen Interesses an der Verwaltungssektion, wie es sie in der
Krankenhäusern und Kliniken Klärung der Todesursache in den früheren DDR gab; gemäß einem
meisten Bundesländern keine Rechts- Indikationskatalog konnte behörd-
grundlage – außer in Hamburg und licherseits eine Obduktion veranlasst
Bremen (Gesetzeslücke!) werden
Präparation nach Körperspende Als Verfügung zu Lebzeiten: Anatomische Sektion (nach Leichen-
Schriftlich erfolgte Körperspende schau mit festgestelltem natürlichen
für wissenschaftliche Zwecke Tod oder nach Freigabe des Leich-
nams durch die Staatsanwaltschaft)
4.3 · Sektionstechnik
35 4
anwaltschaft nicht folgt. Die Staatsanwaltschaft hat bei paration teilweise zumindest eine Woche in Form-
der Antragstellung einen Ermessensspielraum. Eine aladehyd fixiert und danach gesondert präpariert.
rechtsmedizinische Obduktion muss gem. §§ 87 ff. StPO Der vordere Rumpf wird durch einen Mittelschnitt
immer von 2 Ärzten durchgeführt werden. Die Straf- vom Jugulum bis zum Mons pubis eröffnet. Dieser
prozessordnung enthält Vorgaben zum Umfang der Schnitt wird in der Pathologie üblicherweise zu einem
Obduktion (Öffnung aller drei Körperhöhlen; § 89 sog. T-Schnitt erweitert, also einem zusätzlichen Schnitt
StPO) und regelt speziell die Obduktion von Neugebo- von Acromion zu Acromion und entlang der Clavi-
renen (§ 90 StPO). culae. Vorwiegend in der Rechtsmedizin wird der Mit-
telschnitt entlang der Halsmitte bis unter das Kinn ge-
Bei Öffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes ist die führt. Der T-Schnitt kann je nach Erfordernis seitlich
Untersuchung insbesondere auch darauf zu richten, ob es entlang beider Arme oder nach unten in Form eines
nach oder während der Geburt gelebt hat und ob es reif oder Y-Schnitts über die Leistenregionen und beide Beine
wenigstens fähig gewesen ist, das Leben außerhalb des Mut- gelegt werden.
terleibes fortzusetzen.
Paketpräparation. Die inneren Organe werden teils
Weitere Regelungen zur gerichtlichen Obduktion fin- im anatomischen Zusammenhang als »Pakete« ent-
den sich in den »Richtlinien für das Strafverfahren und nommen (z.B. Leber, Magen, Duodenum und Pankreas
das Bußgeldverfahren (RiStBV)« (dort Nr. 33–38). oder Mediastinum mit den Lungen usw.), teils als ein-
zelne Organe (Herz, Milz etc.). Besonderes präparato-
Leichenschau und Leichenöffnung sind mit größter Beschleu- risches Vorgehen kann sich aus der fallbezogenen Fra-
nigung herbeizuführen, weil die ärztlichen Feststellungen gestellung ergeben.
über die Todesursache auch durch geringe Verzögerungen an
Zuverlässigkeit verlieren können (Nr. 36 Abs.1 RiStBV). Künstliche Blutleere. Der Hals ist eine relativ häufige
Zielregion von Gewalt. Die Halsorgane bzw. anatomi-
Danach ist bei nicht ausschließbarer Straftat oder wenn schen Strukturen einschließlich der Halsmuskulatur
damit zu rechnen ist, dass Feststellungen bei der Lei- werden daher erst nach Herstellung einer sog. künst-
chenschau später angezweifelt werden, die Leichenöff- lichen Blutleere präpariert. Vorher sind Gehirn und
nung von der Staatsanwaltschaft zu veranlassen, ins- Herz zu exenterieren, das danach passiv Richtung
besondere bei Personen, die sich »in Haft oder sonst in Schädelhöhle und Herzbeutel abfließende Blut bewirkt
amtlicher Verwahrung« (z.B. in der Psychiatrie unter- eine künstliche Blutleere, so dass Verletzungen mit be-
gebrachte Patienten, Personen in Polizeigewahrsam) gleitenden Hämorrhagien bei der Präparation der Hals-
befunden haben. organe und des Halsweichteilgewebes besser erkannt
werden können (. Abb. 4.1).
4.4 Anlässe und Techniken . Abb. 4.3 Präparation der Rückenweichteile zur Dar-
der Exhumierung stellung von Blutungen in Projektion auf die Dornfortsätze
der Wirbelkörper als sog. Widerlagerverletzungen
Ç Fallbeispiel
Der Sohn einer mit 84 Jahren verstorbenen Frau ist
überzeugt, seine Mutter sei von seiner Schwägerin
vergiftet worden. Zeugen hatten berichtet, die
84-Jährige sei akut verstorben, nachdem sie ein Glas
Tee getrunken habe, der von der Schwägerin ge-
bracht worden sei. Von diesen und weiteren »Ver-
dachtsmomenten« hatte der Sohn erst Wochen nach
der Beerdigung seiner Mutter erfahren. Er erstattet
Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und verlangt
eine Obduktion. Die Staatsanwaltschaft entnimmt
der Todesbescheinigung die Angabe eines natür-
lichen Todes bei V.a. Lungenembolie und stellt das
Verfahren ein. Als der Sohn auf eigene Kosten eine
Exhumierung veranlassen will, verweigert das Fried- . Abb. 4.4 Präparation der Rückenweichteile mit Nach-
hofsamt die Zustimmung zur Exhumierung. Zur Be- weis von frischen Einblutungen in Projektion auf die linke
gründung wird angeführt, nach der Erdgrabliegezeit Schulterblattspitze als sog. Widerlagerverletzung
von mehr als 14 Monaten sei nicht davon auszu-
gehen, dass eine Obduktion zur Klärung beitragen
6
4.4 · Anlässe und Techniken der Exhumierung
37 4
könne. Nachdem der Sohn eine rechtsmedizinische
Stellungnahme vorlegt, wonach auch bei einer län-
geren Leichenliegezeit noch Befunde zur Klärung
der Todesursache, insbesondere aber auch zum
Nachweis einer Intoxikation, möglich sind, wird die
Exhumierung gestattet. Bei der rechtsmedizinischen
Sektion des mumifizierten und relativ gut erhal-
tenen Leichnams ist ein rupturierter Myokardinfarkt
mit Perikardtamponade nachweisbar.
Forensische Traumatologie
5.1 Rechtsgrundlagen – 40
5.1.1 Tatbestand – 40
5.1.2 Rechtswidrigkeit – 41
5.1.3 Schuld – 41
hig ist. Schuldhaft hat ein Täter gehandelt, wenn ihm 4 mechanischen Traumen einschließlich Schussver-
sein Tun oder Unterlassen persönlich vorwerfbar ist. letzungen
Unterschieden werden 2 Schuldformen: Vorsatz und 4 verschiedenen Formen des Erstickens
Fahrlässigkeit. 4 abnorme Temperatur- und Druckverhältnisse
4 Vorsatz umfasst das Wissen und Wollen der Ver- 4 elektrische Energie
wirklichung eines Tatbestandes (z.B. wissentlich 4 Intoxikationen
realisierte und gewollte Körperverletzung durch 4 Verhungern und Verdursten
Tun oder Unterlassen) und wird unterteilt in di-
rekten, indirekten und bedingten Vorsatz. Bei den Traumafolgen müssen primär traumabedingte
4 Fahrlässigkeit meint das Außerachtlassen der zu und sofort tödliche Verläufe abgegrenzt werden von
fordernden Sorgfalt durch einen grundsätzlich Sekundärfolgen eines Traumas (. Tab. 5.1).
5 rechtstreuen Täter, der bei pflichtgemäßer Anwen-
dung der zumutbaren Sorgfalt das Unrecht seines
Eine adäquate gutachterliche Beurteilung erfordert
eine exakte Beschreibung der als Folge einer Gewaltein-
Tuns oder Unterlassens hätte erkennen können. wirkung aufgetretenen Verletzungen (. Tab. 5.3).
4 Die persönliche Vorwerfbarkeit kann entfallen, Bei den Formen der Gewalt (. Tab. 5.2) gibt es
wenn eine Person nicht schuldfähig war. Übergänge und Zwischenstufen bzw. Kombinationen,
sodass eine genaue Einteilung im Einzelfall schwer
bis unmöglich sein kann. In zahlreichen Lehrbüchern
5.2 Traumata und Todesursachen wird z.B. die »halbscharfe Gewalt« nicht als eigene
Form aufgeführt.
Eine Kernaufgabe der Rechtsmedizin ist die Beurtei-
lung von Verletzungen hinsichtlich ihrer Entstehung.
Hierbei spielen Entstehungsart und Entstehungszeit 5.3 Vitale Reaktionen
eine Rolle. Oftmals geht es darum, bestimmte Behaup-
tungen zu stützen oder zu widerlegen oder Aussagen Bei allen Todesfällen ist zu prüfen, ob eine festgestellte
dahingehend zu treffen, welche von alternativ genann- Gewalteinwirkung zu Lebzeiten oder postmortal beige-
ten Geschehensabläufen die wahrscheinlichere ist, z.B. bracht wurde (z.B. »Verletzungen« beim Transport des
zur Entstehung eines Monokel- bzw. Brillenhämatoms Leichnams, durch Zerstückelung des Leichnams, durch
(. Abb. 5.1). postmortalen Tierfraß). Zugleich können aus Befun-
An erster Stelle steht die exakte Beschreibung einer den am Leichenfundort, insbesondere Blutspuren,
Verletzung mit genauer Lokalisation, Ausmaßen, Far- Rückschlüsse auf die posttraumatische Handlungsfä-
ben und welche Gewebearten wie verletzt sind. Diese higkeit des Opfers bzw. dessen Position zum Tatzeit-
Beschreibung wird schriftlich dokumentiert und oft- punkt gezogen werden. Zu derartigen Spuren zählen:
mals fotografiert (mit Maßstab). Über diese Informa- 4 Abwehrverletzungen – aktive/passive – als Beleg
tionen erfolgt eine Einteilung der Verletzungsart. Nicht für eine tätliche Auseinandersetzung bzw. erhal-
selten steht nur der Verletzungsbefund für rekonstruk- tene Handlungsfähigkeit
tive Überlegungen zur Verfügung und Angaben Be- 4 Abrinnspuren (Blut, Speichel, andere Flüssigkeiten
troffener müssen nicht zutreffend sein, insbesondere wie erbrochener Mageninhalt) am Leichnam bzw.
wenn nachteilige Rechtsfolgen drohen. Bei den For- am Leichenfundort erlauben eine Einschätzung
men der Gewalt wird unterschieden zwischen: der Position des Opfers (stehend, sitzend, liegend
in Rückenlage, Bauchlage, Links- oder Rechtssei-
tenlage, gebeugt, in kniender Position)
Definition
Vitale Reaktionen: Befunde, die belegen, dass
die einwirkende Gewalt (Trauma, Intoxikation
etc.) einen lebenden Organismus traf, der lokal
. Abb. 5.1 Brillenhämatom. Nicht mehr frisches Brillen- oder systemisch reagieren konnte.
hämatom als Folge von Faustschlägen
5.3 · Vitale Reaktionen
43 5
. Tab. 5.1 Unmittelbar tödliche Traumata (primäre Todesursachen) und spätere Traumafolgen (sekundäre Todes-
ursachen bzw. traumabedingte Komplikationen)
Verbluten nach innen oder außen, je nach insbesondere Protrahierter hämorrhagisch-hypovolämischer Schock
Herzvorschädigung und Geschwindigkeit des Verblu- (kalt-feuchte, blasse Haut, Durst, Übelkeit, u.U. Verwirrt-
tens bei einem Blutverlust ab ca. 1,5 l (bei Erwachsenen) heit, erhöhter Schockindex – Puls/Blutdruck)
Embolien, z.B. Fettembolie bei Weichgewebstrauma, Lungenembolien, wenn sie nicht akut sondern zeit-
Luftembolie bei Eröffnung großer herznaher Venen verzögert auftreten, z.B. fulminante Lungenthromb-
embolie nach traumabedingter Immobilität und tiefer
Beinvenenthrombose; Fettembolien posttraumatisch
durch Emulgation von Blutfetten (Verlegung von bis
aller Lungenkapillaren, zunehmende Rechtsherzbe-
lastung bis zum Überschreiten der Kompensationsfähig-
keit des Herzens)
Zerstörung lebenswichtiger innerer Organe (v.a. Herz, Infektionen, die als Wundinfektionen sekundär auftreten
Lunge, Gehirn, Leber, Rückenmark), entweder einzeln bis zum SIRS (systemic inflammatory response syndrome),
oder kombiniert nach Verkehrsunfällen, Sturz aus wenn 2 von 5 Voraussetzungen vorliegen:
großer Höhe, Überrollen oder Überfahren durch ein 4 stabkernige Granulozyten >10%
Schienenfahrzeug, Explosionen 4 Herzfrequenz >90/min
4 Atemfrequenz >20/min
4 Leukozyten >12.000/μl oder <4000/μl
4 Körpertemperatur >38 °C oder <36 °C
Ersticken, z.B. bei komprimierender Gewalt gegen den Sepsis bzw. Septikopyämie infolge Streuung von Mikro-
Hals oder Kompressionstrauma des Thorax (z.B. sog. organismen (Bakterien, Pilze) und toxischer Kreislaufdys-
Perthes-Druckstauung beim Verschütten) regulation auf z.B. bakterielle Endo- und Exotoxine
Reflektorische Todesfälle, umstritten und erst nach Anaphylaktischer Schock als Immunreaktion auf Immuno-
Ausschluss anderer Todesursachen diagnostizierbar, gene (Proteine, Fremdserum, Insektenstich) oder Haptene
z.B. Bolustod, Karotissinusreflex, Reizung vagaler Fasern (Medikamente wie Analgetika, Antibiotika wie Penicillin,
bei Gewalt gegen den Hals oder den Plexus solaris Röngtenkontrastmittel) mit spezifischen oder kreuzreagie-
(Schlag gegen den Bauch) renden Antikörpern
Rhythmusstörungen des Herzens, insbesondere bei Allergietodesfälle nach Zufuhr des entsprechenden Aller-
der Contusio cordis, die bei Ausschluss anderer Todes- gens, makroskopisch Ödeme (Glottisödem), mikroskopisch
ursachen angenommen werden darf, wenn lokale Nachweis von Mastzellen, eosinophilen Granulozyten,
Hautverletzungen, subkutane Hämorrhagien und Antikörper im Serum
Mikrohämorrhagien im Myokard vorliegen
Zentrale Lähmung, d.h. durch Versagen der zentralen Primär nicht letale Traumata mit sub- oder epiduralem
Regulationsmechanismen als Folge einer direkten Hämatom und/oder Intoxikationen, die protrahiert über
traumatischen Schädigung des ZNS oder indirekt durch Stunden und Tage zu einer Steigerung des Hirndrucks
hypoxische Schädigung (Asytolie, Halskompression, führen mit Einklemmung des Hirnstammes im Foramen
Intoxikationen wie die CO-Intoxikation) magnum
44 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
Scharfe Schnitt Schneiden mit einer Messer, Scherbe, Glas, Glatte Wundränder
Gewalt scharfen Klinge Rasierklinge, Papier
Stich Stechen mit einer Messer, Scherbe, Schere Glatte Wundränder, Wund-
spitzen Klinge winkel
Halbscharfe Hieb: Kombination Beil, Schwert, Zähne Wundränder teils glatt, teils
5 Gewalt aus scharfer und fetzig; Quetschung oder
halbscharfer Gewalt; Zerreißung der Weichteile,
Beißen ggf. Knochenbrüche
Stumpfe Nicht Schlagen, Treten oder Hand, Faust, (beschuh- Hämatom, Schürfwunde,
Gewalt geformt Stoßen mit großer ter) Fuß Quetsch-Riss-Wunde, ggf.
Auftrefffläche, Sturz Knochenbrüche
auf flache Ebene
. Tab. 5.3 Beispiele nicht präziser und präziser Beschreibung von Verletzungen
Hämatom am Ca. 3 cm durchmessendes unscharf demarkiertes Hämatom Bei Ausschluss eines Treppen-
Schädel oberhalb der sog. Hutkrempenlinie und in der Körpermittel- sturzes passend zu einer
linie Schlagverletzung
Hämatom der In Körperlängsrichtung verlaufendes 1,3 cm langes Häma- Hämatom im Sinne einer
Mundschleimhaut tom der Unterlippenschleimhaut 2 cm rechts der Körper- sog. Zahnabdruckkontur, am
mittellinie in Projektion auf den gelockerten Eckzahn ehesten Schlagverletzung
Rötung der Haut Flache, trockene, rot-bräunliche Hautverkrustung streck- Nicht mehr ganz frische
über den Knien seitig in Höhe des Unterrandes der Kniescheiben und an der Hautschürfungen in sturz-
und Ellenbogen Außenseite über den Ellenbogengelenken typischer Lokalisation
Verletzung größerer arterieller bzw. Blutung in umgebende Weichteilgewebe (z.B. in das Interkostalgewebe bei
venöser Blutgefäße Rippenfraktur, in die Oberschenkelmuskulatur bei Femurfraktur) oder in
präformierte Körperhöhlen (Hämatothorax, Perikardtamponade, Hämarthros)
Verletzung großer Gefäße mit erheb- Zeichen des Verblutens: Totenflecke von geringer Ausdehnung und Inten-
lichem Blutverlust (Verbluten) sität (DD: Anämie!), Hervortreten der sog. Eigenfarbe der inneren Organe,
Runzelung der Milzkapsel, streifige subendokardiale Blutung (sog. Ver-
blutungsblutungen), Anämie der Haut und der Schleimhäute
Komprimierende Gewalt mit intraka- Blutaustritt in Form von Petechien der Haut (z.B. der Hals- und Gesichtshaut
pillärem Druckanstieg (z.B. atypisches oberhalb der Kompressionsebene beim Drosseln, ober- und unterhalb der
Erhängen, Erdrosseln, Erwürgen) Gewalteinwirkung bei sog. Perthes-Druckstauung)
Traumatische Schädelbasisfraktur Blutaustritt in die Mundhöhle mit tiefer Blutaspiration (Cave: postmortal
passives Einbluten der Atemwege möglich)
Hämatome der Haut und der Schleim- Vital, wenn gut abgrenzbar, außerhalb hypostatischer Bezirke gelegen und
häute mit bereits erfolgter Änderung der Farbgebung oder Zeichen der Hämatom-
organisation (histologisch); u.U. sind enzym- und immunhistochemische
Untersuchungen zur Vitalitäts- und Wundaltersbestimmung hilfreich
5.3 · Vitale Reaktionen
47 5
Blauviolett: nicht mehr ganz frisch, etwas unscharf begrenzt Maximal wenige Tage
Grünlich: nicht frisch, unscharf begrenzt Mind. 4–5 Tage, meist 6–8 Tage
Akute oder rezidivierte Bettlägerigkeit bei Z.n. Trauma (frischer oder älterer Verkehrsunfall), Spontan-
Lungenthrombembolie thrombose und Thrombembolie; unzureichende Antikoagulation
Fettembolie (in Arteriolen und Posttraumatisch (Décollement); Tod durch Unterkühlung; Z.n. Liposuktion;
Septumkapillaren der Lunge; Bei vorbestehender Erkrankung, z.B. nichttraumatische Fettembolie bei akuter
in den Glomerulumschlingen gelber Leberdystrophie
der Niere; intrazerebral)
Fruchtwasserembolie In der Schwangerschaft; bei der Geburt; histologisch Nachweis von Fruchtwasser-
bestandteilen in der Lunge (Keratinlamellen, Mekonium, Lanugohaare, Schleim),
z.T. mit Zeichen eines beginnenden Schocks (Mikrothromben, Thrombozyten-
aggregate)
Fremdkörperembolie bei i.v. Sog. Fixerpneumopathie mit embolisch verschlepptem Fremdmaterial nach
Drogenabusus Injektion von »gestreckten« Betäubungsmitteln
Gasembolie: Luftembolie, Nach tiefer Halsschnittverletzung mit Eröffnung größerer Venen; suizidale venöse
Stickstoffembolie Injektion von Luft; Stickstoffembolie bei Caisson-Krankheit (sog. Taucherkrankheit);
histologisch rundliche Aussparungen mit umgebenden Leukozyten- und Thrombo-
zytenaggregaten (DD Fäulnisgas!); radiologischer Nachweis, Luftembolieprobe
nach Richter, Gasanalyse
Arterielle Embolie In der Regel Thrombembolie, ausgehend von (gelegentlich infizierten) parietalen
Thromben im linken Herzen (Vorhofthrombus), der Herzklappen, des Endokards oder
nach traumatischer Schädigung der Gefäßintima; Vorhofflimmern; Endokarditis;
thrombosiertes Herzwandaneurysma
Bakterienembolie Verschleppung von Bakterien bei Sepsis; z.B. sog. Löhlein-Herdnephritis bei bakte-
rieller Endokarditis lenta; septischer bzw. infizierter (Thromb-)Embolus
Für eine letale Fettembolie sind ca. 20–30 g Fett zu phisch untersucht werden, um typische Fäulnisgas-
verlangen, bei der Luftembolie sollen Luftvolumina bestandteile wie Kohlendioxid, Wasserstoff, Methan
von mindestens 70 ml erforderlich sein nach Eröff- und Schwefelwasserstoff nachzuweisen bzw. auszu-
nung herznaher Venen. Bei der Obduktion kann die schließen.
Luft bzw. das Gas asserviert und gaschromatogra-
5.3 · Vitale Reaktionen
49 5
5.3.3 Befunde am Respirations-
und Magen-Darm-Trakt
(akutes Lungenemphysem,
Aspiration, Inhalation, Magen-
schleimhauterosionen)
Akutes Lungenemphysem Final heftige Atemexkursionen (Ersticken, Halskompression, Verlegung der Atemwege –
Ausnahme: sog. Bolustod, v.a. periphere Überblähung der Lungen mit rupturierten
Alveolarwänden [Histologie!]); Lungenflügel berühren sich in der Körpermittellinie
(z.B. beim Tod durch Ertrinken; sog. Emphysema aquosum)
Cave: Reanimation mit Beatmung, Fäulnis
Tiefe Rußstaubinhalation Bei (Schwel-)Brand Nachweis von Rußstaub in den peripheren Ästen des Bronchial-
baumes und regelmäßig zugleich toxische CO-Hb-Konzentrationen im Blut
5 Hitzeinhalationstrauma Inhalation heißer Luft: histologisch nachweisbare Hitzeschädigung des respiratorischen
Epithels mit basalständigen Vakuolen und elongierten Zellkernen, häufig verbunden
mit Rußstaubauflagerungen
Rußverschlucken Nachweis von Rußpartikeln im Magen als Folge aktiven Schluckens zu Lebzeiten bei
Brandtodesfällen
Speisebreiaspiration Relativ häufiges finales Geschehen, als vitale Reaktion nur akzeptabel bei tiefer Speise-
breiaspiration mit peripherem akuten Lungenemphysem
Blutaspiration Häufiger Befund bei SHT mit Schädelbasisfraktur, sog. »schachbrettartig« oder auch
leopardenfellähnlich angeordnete subpleurale Blutungen als Folge einer tiefen Blut-
aspiration
Aspiration von Hirngewebe Bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma und kurzzeitig noch erhaltener Atemtätigkeit
Aspiration von Flüssigkeit Aspiriertes Blut oder sonstige aspirierte Flüssigkeit vermischt sich mit der Luft in den
Atemwegen, es entsteht blutiger Schaum bzw. schaumige Flüssigkeit (u.U. Schaumpilz
vor den Atemöffnungen)
Erosionen der Magen- Im Rahmen eines Schockgeschehens (Schockäquivalent) oder als sog. Wischnewsky-
schleimhaut Flecken beim Tod durch Unterkühlung
Verschlucken sonstiger Willkürliches Schlucken bzw. peristaltischer Transport von Blut, Fremdkörpern, Zahn-
Substanzen/Flüssigkeiten fragmenten, Gebissteilen oder z.B. Ertrinkungsflüssigkeit (gilt allein nicht als Nachweis
eines Ertrinkens!)
Positive Lungenschwimm- Bei Neugeborenen zum Nachweis des Gelebthabens außerhalb des Mutterleibes
probe
Positive Schwimmprobe Bei Neugeborenen gemeinsam mit der Lungenschwimmprobe zum Nachweis des
von Magen und Darm Gelebthabens außerhalb des Mutterleibes
Gegebenenfalls stellen histologisch bzw. immun- agonochemische Stressreaktion, bei der die postmortal
histochemisch nachweisbare Reaktionen v.a. am bestimmten Konzentrationen an Katecholaminen kor-
Wundrand eine vitale Reaktion dar. Die wesentlichen relieren sollen mit der Agoniedauer.
Wundheilungsprozesse sind mit konventionell-histo-
logischen Färbetechniken darstellbar. Als Orientierung
können die in . Tab. 5.8 genannten zeitlichen Abläufe 5.3.5 Zeichen posttraumatisch
zugrunde gelegt werden, die eine ungefähre Alters- erhaltener Handlungsfähigkeit
bestimmung von Verletzungen erlauben: Abschätzung
des Zeitintervalls zwischen Verletzungsentstehung Nicht jede Gewalteinwirkung muss zu einer sofortigen
und Todeseintritt. Handlungsunfähigkeit der verletzten Person führen.
Biochemische Prozesse können im Einzelfall als Die Handlungsfähigkeit hängt von der Lokalisation
Vitalreaktion herangezogen werden, vor allem die sog. und Schwere der Verletzung ab. Neben bewussten
5.3 · Vitale Reaktionen
51 5
Stunden Ödematöses Gewebe (Schwellung der Wundränder), evtl. hämorrhagische Demarkierung des
Wundregion
Ab ca. 1 h, z.T. Invasion von Leukozyten (Granulozyten, Monozyten, Makrophagen, Lymphozyten, Lipophagen,
deutlich später Erythrophagen)
Ca. 3 Tage Erstes lockeres Granulationsgewebe, zugleich resorbierende Prozesse: Abraumreaktion mit
(evtl. 4–6 Tage) ersten Siderophagen (hämosiderinpigmentbeladene Makrophagen; positive Berliner-Blau-
Reaktion), Lipophagen
Ca. 4–6 Tage Erste neugebildete kapilläre Blutgefäße (Angiogenese), leukozytäre Abraumreaktion (Sidero-
phagen, Lipophagen); Re-Epithelisierung verletzter Oberflächen
Merke: Die Vitalität der Wundheilung variiert, bei alten Menschen muss u.U. eine verzögerte Chronologie ange-
nommen werden.
Handlungen sind auch bei bereits Bewusstlosen ablau- Bei Stich-/Schnittverletzungen hängt die Zeit bis
fende Automatismen bzw. Reflexe und Streckkrämpfe zum Eintritt der Handlungsunfähigkeit wesentlich von
möglich. Eine möglicherweise erhalten gebliebene der Geschwindigkeit des Blutverlustes ab. Zu einer
Handlungsfähigkeit ist v.a. bei folgenden Fallkonstella- massiven raschen Blutung kommt es bei Verletzungen
tionen zu bedenken: der Herzhöhlen, der Aorta und der A. pulmonalis, li-
4 Selbst beigebrachte Verletzungen, die erst in der mitierend können jedoch eine akute Perikardtampo-
Summe zur späteren Handlungsunfähigkeit ge- nade (Todeseintritt ab ca. 250–300 ml Blut im Herz-
führt haben bzw. bei denen die zuletzt beige- beutel) oder eine massive Blutaspiration sein. Bei we-
brachten Verletzungen eine Handlungsunfähigkeit niger raschem Blutverlust bleibt die Handlungsfähig-
bewirken. keit üblicherweise bis zum Eintritt des hämorrhagischen
4 Sich widersprechende Aussagen insbesondere zur Schocks erhalten.
Chronologie des Tatgeschehens. Bei komprimierender Gewalt gegen den Hals, v.a.
4 Wenn der Fundort des Leichnams nicht dem Tat- beim Erhängen, kommt es sehr rasch zur Bewusst-
ort entspricht und eine Verbringung des Bewusst- losigkeit und Handlungsunfähigkeit, wohingegen bei
losen bzw. des Leichnams durch Dritte ausge- stumpfer Gewalt mit Schädelfrakturen und Hirnverlet-
schlossen ist. zungen je nach Intensität und Lokalisation die Hand-
lungsfähigkeit noch erhalten sein kann. Bei Verletzun-
In der Praxis kommt eine erhaltene Handlungsfähigkeit gen des Halsmarks kann es zu einer weitgehenden
bei Schussverletzungen des Schädels vor, insbesondere Bewegungsunfähigkeit kommen, die trotz vorhande-
wenn nur Frontalhirnanteile verletzt wurden (eher bei nen Bewusstseins keine Handlungen mehr erlaubt.
kleinkalibrigen Projektilen). Verletzungen des Hirn-
stamms sowie des Zwischen- und Mittelhirns führen in
der Regel zu sofortiger Handlungsunfähigkeit.
52 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
Ç Fallbeispiel
Ein 57-jähriger Patient mit einer Quetsch-Riss-
Wunde an der Stirn und mehreren Hämatomen an
Rumpf und Extremitäten wird in die Notaufnahme
gebracht. Der Patient muss sich mehrfach über-
geben und erklärt, dass er sich nicht erinnern könne.
Es wird eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von
0,54‰ gemessen. Die Begleitperson gibt an, dass
der Verletzte in einem Lokal verprügelt worden sei.
. Abb. 5.5 Einseitig umklappbare, abgehobene Epider-
5 Der Patient wird wegen des Verdachts auf ein
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) stationär aufgenommen.
misanteile (Hautfähnchen) bei tangentialer Gewalt gegen
die Haut (sog. Epithelmoräne)
Eine intrakranielle Blutung wird mittels CT aus-
geschlossen. Parallel wird von den behandelnden
Ärzten nach Rücksprache mit dem Patienten die Hautschürfung ist eine tangentiale Gewalt gegen die
Polizei informiert. Die Begleitperson nennt den Haut mit Ausbildung abgehobener Epidermisanteile
Beamten die Wohnanschrift des Täters und weitere (sog. Epithelmoräne; . Abb. 5.5).
Zeugen. Trifft beispielsweise die 25 × 25 cm messende
Etwa 15 Monate später kommt es zur Gerichtsver- Schlagfläche eines Holzhammers in der Mitte auf den
handlung. Der erstbehandelnde Arzt wird als sach- Hirnschädel, werden die Begrenzungen der entstehen-
verständiger Zeuge geladen. Er gibt an, dass er sich den Wunde durch die Anatomie des Schädels, also
nicht mehr erinnere. Ihm wird sein handschriftlicher durch seine Konvexität vorgegeben. Es bildet sich kei-
Befund vorgehalten: »Amnesie, Nausea, Erbrechen. ne für die Waffe charakteristische Form der Verlet-
Kopfplatzwunde, multiple Hämatome«. Der Arzt zung, man würde von einer nichtgeformten stumpfen
sagt, dass er heute keine genaueren Angaben mehr Gewalt sprechen. Trifft dieselbe Stelle des Hirnschä-
machen könne. Auf Befragen äußert er , dass keine dels im Rahmen eines Sturzgeschehens auf eine gerade
Fotodokumentation stattgefunden habe und dies Fläche wie z.B. auf einen Holzfußboden, kann ein von
auch nicht seine Aufgabe sei. dem vorgenannten nicht zu unterscheidendes Verlet-
Der Angeklagte hatte zuvor behauptet, dass der zungsbild entstehen. Es würde sich ebenfalls um eine
57-Jährige mit der Stirn auf einen Barhocker gestürzt nichtgeformte stumpfe Gewalt handeln. Erfolgt dage-
sei. Die Zeugen hatten kurz nach der Tat ausgesagt, gen mit dem erwähnten Holzhammer ein Schlag gegen
dass sie nichts mitbekommen haben. Der Mann, der die Mitte des Rückens, werden die Grenzen der Wunde
den Verletzten ins Krankenhaus gebracht hatte, war durch die Kanten der Schlagfläche des Hammers vor-
zwischenzeitlich verstorben. Der Verteidiger betont gegeben. Im Idealfall bildet sich die Fläche vollständig
in seinem Plädoyer, dass alles für einen Sturz spre- in der Verletzung der Rückenhaut ab. Es wäre damit
che und die Hämatome, wie viele es auch immer eine geformte Verletzung sichtbar. Trifft der Holzham-
gewesen seien, alle oder zumindest größtenteils vor mer nicht mit der Mitte seiner Schlagfläche sondern
dem Vorfall entstanden sein könnten. Dem folgt das mit einer der Kanten auf den Hirnschädel, kann dies
Gericht und spricht den Angeklagten frei. zumindest einseitig die Wundgrenze vorgeben und
letztlich eine geformte stumpfe Gewalteinwirkung dar-
stellen. Die Wundmorphologie ist besonders davon
Charakteristisch für die stumpfe Gewalt ist die Kolli- abhängig, ob das Schlagwerkzeug flächenhaft oder
sion des menschlichen Körpers mit einem Gegenstand kantig auftrifft (. Abb. 5.6 und . Abb. 5.7).
bzw. einer Oberfläche. Dabei kann sich ein Gegenstand
gegen den Körper bewegen, wie beim Schlag oder Stoß. ! Die Verletzungsfolgen von stumpfer Gewalt
Beim Sturz bewegt sich umgekehrt der Körper gegen sind neben dem auftreffenden Gegenstand
den Gegenstand. Bei Verkehrsunfällen kommt es häu- abhängig von Intensität, Bewegungsrichtung
fig zu einer Kombination aus beiden Bewegungen. (Kraftvektor) und dem postexpositionellen
In Abhängigkeit von der auf den Körper auftref- Intervall. Falls es zur Hautdurchtrennung ge-
fenden Fläche und der Lokalisation am Körper kann kommen ist, stellen die sog. Gewebebrücken
eine Hautschürfung, eine sog. geformte oder nicht- am Wundgrund und in den Wundwinkeln ein
geformte Verletzung entstehen. Voraussetzung für eine wichtiges diagnostisches Kriterium dar.
5.4 · Stumpfe Gewalt
53 5
. Abb. 5.6 Wundmorphologie bei flächenhaftem und . Abb. 5.8 »Doppelstriemen«. Schematische Darstellung
kantigem Auftreffen des Schlagwerkzeugs des Entstehungsmechanismus
Verletzungsfolgen Besonderheiten/Voraussetzungen
nach stumpfer Gewalt
Anämische oder Fehlende Zerstörung der Lederhaut; früheste Phase; bei massiver Gewalteinwirkung
hypämische Spur und flexibler Fläche, z.B. Aufschlagen auf Wasser, auch länger bestehend (sog.
anämische Aufschlagspur)
Hautrötung (Hyperämie) Zweite Phase nach Einwirken der Gewalt; immer temporär, bei Hautzerstörung
ggf. im Randbereich sichtbar
Subkutanes Hämatom Mäßiggradige Gewalt in häufig orthogonaler Richtung zur Haut; Dehnung
und Zerreißung von Blutgefäßen; abhängig von Verletzlichkeit des Gewebes,
z.B. bei Frauen und Kindern leichter zu erzeugen
Hämatom in den tieferen Stärkere Gewalt in meist orthogonaler Richtung zur Haut; Dehnung und Zerreißung von
Geweben Blutgefäßen; abhängig von Verletzlichkeit des Gewebes; kann sich subkutan ausbreiten
Schürfwunde Tangentialer Anteil der Gewalt notwendig; möglichst raue Oberfläche und Auftreffen
direkt auf der Haut, allenfalls dünne Bekleidung; häufig als Begleitverletzung im Bereich
der Wundränder bei Kontinuitätsdurchtrennungen der Haut
Dehnungsrisse Dehnung bzw. Zerrung der Haut; bevorzugt über Knochenvorsprüngen, in deutlicher
Entfernung von der Traumalokalisation möglich; Epidermis betreffend, bis ins Corium
reichend
Organeinriss bis hin zur Massive Gewalteinwirkung, z.B. Sturz aus großer Höhe oder Verkehrsunfälle, alternativ
Organzerreißung lokale Gewalteinwirkung wie Treten
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Spezielle Bruchmuster des Neurokraniums durch dessen Aufbau (Vergleich Hühnerei);
bei posttraumatischen Blutungen oder Hirnödem Problem der intrakraniellen Druckstei-
gerung
parallele Streifen, da sich das Material der Hautober- (7 vgl. Fallbeispiel). Bei einem Sturzgeschehen wird
fläche anpasst. von einer sog. einzeitigen Entstehung ausgegangen.
Die Verteilung und die Anzahl der Verletzungen
Gutachterliche Fragestellungen. Eine häufige Frage müssten dann durch einen einzeitigen Ablauf rekons-
ist die Differenzierung von Schlag- und Sturzverletzun- truierbar sein.
gen sowie die Reihenfolge des Auftretens dieser Ver- Bei Kopfverletzungen kommt die sog. Hutkrem-
letzungen. Hierbei ist das Verletzungsbild zu betrach- penregel zur Anwendung: Typischerweise entstehen
ten: Anzahl der Verletzungen, Lokalisation(en), Form, Verletzungen im Rahmen eines Sturzgeschehens un-
Alter der Verletzungen. Es ist die Plausibilität verschie- terhalb einer gedachten Linie, die durch die Krempe
dener Aussagen zu überprüfen. In den meisten Fällen eines aufgesetzten Hutes markiert wird. Schlagverlet-
behauptet das Opfer geschlagen worden zu sein und zungen sind dagegen oberhalb der Hutkrempenlinie
der Tatverdächtige beschreibt ein Sturzgeschehen lokalisiert (. Abb. 5.10).
5.4 · Stumpfe Gewalt
55 5
5.4.2 Frakturen
6 - - Befolgt Aufforderungen
Schweregrad: 14–15 Punkte leicht, 9–13 Punkte mittel, 3–8 Punkte schwer
. Abb. 5.16 Sog. Globusbruch nach stumpfer Gewalt . Abb. 5.17 Großer Schädelbasisringbruch nach Sturz
gegen den Schädel aus großer Höhe
5.4 · Stumpfe Gewalt
59 5
von Lamina externa und interna nach orthogonal auf-
treffender Gewalt kann ein sog. Lochbruch entstehen.
Trifft die geformte stumpfe Gewalt schräg bzw. kantig
auf, resultiert der sog. Terrassenbruch (. Abb. 5.18).
Bei beiden Brucharten kann das Bruchbild an der La-
mina externa mit Form und Größe des aufgetroffenen
Gegenstandes übereinstimmen, sodass Rückschlüsse
auf eingesetzte Werkzeuge oder Waffen möglich sind
(. Abb. 5.19).
Berstungsbrüche sind Folge einer allgemeinen
Verformung des Schädels und treten nicht nur an der
. Abb. 5.18 Loch- und Terassenbruch. Schematische Dar- Stelle der direkten Gewalteinwirkung auf. Bei Druck
stellung zur Entstehung
von beiden Seiten gegen das Neurokranium (Quer-
druck) wird der Querdurchmesser verkürzt. Der Längs-
durchmesser wird verlängert und die größte Zugspan-
nung ist im Bereich des Querdurchmessers zu messen.
So entsteht ein indirekter Bruch entlang des Querdurch-
messers. Kommt es zum Druck von frontal und okzipi-
tal gegen den Hirnschädel, führt dies nach analogem
Mechanismus zu einem längs verlaufenden Bruch.
! Für Berstungsbrüche am Schädel gilt: Quer-
druck erzeugt einen Querbruch, Längsdruck
einen Längsbruch (. Abb. 5.20).
Zu Längsbrüchen des Schädels können außerdem
massive stumpfe Gewalteinwirkungen von frontal oder
. Abb. 5.19 Lochfrakturen nach Schlag mit einem Ham- okzipital und zu Querbrüchen vergleichbare Gewalt-
mer. Die eckig geformten Frakturen passen zu der Form des einwirkungen von der Seite führen. Derartige Frak-
Schlagwerkzeuges bzw. zu den Maßen der Schlagfläche des turen werden nach Stürzen aus großer Höhe oder bei
Hammers Verkehrsunfallopfern beobachtet.
. Abb. 5.20 Druckeinwirkung auf den Schädel zur Verursachung von Schädelbasisquer- und Schädelbasislängsfrakturen
60 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
Scharnierfraktur (Querfraktur) Massive Seit-zu-Seit-Kompression Überrollen des seitlich auf der Fahrbahn
der Schädelbasis (. Abb. 5.21) liegenden Kopfes durch einen PKW
Schädelbasislängsfraktur Massive stumpfe Gewalt von frontal Aufschlag auf Stirn oder Hinterkopf
und okzipital bei Sturz
Schädelbasisringfraktur Kompression der Schädelbasis gegen Sturz und Aufprall mit den Füßen oder
die Halswirbelsäule der Scheitelregion
5 Traktion der Schädelbasis von der Fußwärts Schleifen des Körpers bei
Halswirbelsäule weg einem Verkehrsunfall mit fixiertem Kopf
Die indirekten Frakturen können sowohl an der Orbitawände kommen (Orbitazeichen). Bei den Be-
Schädelkalotte als auch an der Schädelbasis entstehen. troffenen können Monokel- oder Brillenhämatome
Typische Schädelbasisbrüche sind in . Tab. 5.11 aufge- entstehen, ohne dass eine direkte Gewalteinwirkung
führt. gegen die Orbita vorgelegen hat.
Vorwiegend nach Stürzen auf den Hinterkopf kann Zur Rekonstruktion der Reihenfolge bei mehre-
es zu sog. knöchernen Contre-coup-Verletzungen der ren Schädelbrüchen kann die Puppe-Regel hilfreich
sein.
Definition
Puppe-Regel: Von einer Frakturzone ausgehende
Frakturlinien bzw. Frakturausläufer enden immer
an bereits vorher bestehenden Frakturlinien.
. Abb. 5.22 Reihenfolge bei Schlag- und Sturzverletzung nach der Puppe-Regel
Le Fort-Typ Befund
Le Fort I Abtrennung des harten Gaumens mit Durchsetzung der Apertura piriformis, Fossa canina, Kiefer-
höhlen, Keilbeinflügelfortsätze
Le Fort II Pyramidenartige Sprengung des Mittelgesichtes mit schrägen Frakturen durch Nasenbein, schräg
durch Orbita und Jochbein nahe der Maxilla
kung mittelbare Folgen der Verletzungen von todesur- gebremst. Die Kombination dieser Effekte kann dazu
sächlicher Bedeutung: führen, dass sich verschiedene Hirnschichten gegen-
4 Schädelbasisfrakturen mit Blutung in die Mund- einander bewegen.
höhle und nachfolgender tödlicher Blutaspiration 4 Translationstrauma: Das Hirngewebe wird infolge
bei Bewusstlosigkeit nach SHT (subpleurale Blu- der Masseträgheit zum Anstoßpunkt (Coup) hin
tungsherde!) (. Abb. 5.23) und verdichtet und am Gegenstoß (Contre-coup) von
4 Frakturen mit begleitendem erheblichen Blutver- der Dura mater unter Entstehung eines Unter-
lust und Tod infolge Verblutens (. Abb. 5.24). drucks (gewebsdestruierender Sog) abgehoben.
Das Gehirn folgt der Bewegung des Kopfes und
beendet sie nach diesem. So folgt sekundär die Ge-
5.4.4 Forensische Neurotraumatologie, webeverdichtung am Contre-coup und möglicher-
insbesondere Verletzungen weise, allerdings dann wesentlich geringer, der
des Gehirns Unterdruck in Coup-Lokalisation.
4 Rotationstrauma: Das Gehirn bleibt gegenüber
Das Gehirn lagert in der Schädelhöhle relativ beweg- der Drehbewegung des Schädels zurück, sodass
lich. Je nach Auftreffen der stumpfen Gewalt wirkt auf Scherkräfte auf das Gehirn, die Hirnhäute und die
das Gehirn eine axial, also gradlinig fortgeleitete, oder Gefäße wirken. Sekundär können durch das ver-
eine rotatorische Gewalt. Dadurch wird das Gehirn in spätete Abbremsen des Gehirns Scherkräfte in die
die jeweilige Richtung beschleunigt und wieder ab- entgegengesetzte Richtung wirken.
62 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
Epidurale Blutung Zwischen Lamina interna Meist A. meningea Meist Biegungsbrüche des angrenzen-
(. Abb. 5.25) und Dura mater media, seltener den Schädeldaches. Zerreißen des
A. meningea ant. Gefäßes durch Zerrung im Gefäßsulkus
oder post. – ohne Schädelfraktur – möglich
. Abb. 5.25 Posttraumatische epidurale Blutung zwi- . Abb. 5.26 Ausgedehntes subdurales Hämatom mit Mit-
schen knöchernem Schädeldach und Dura mater nach Ver- tellinienverschiebung
letzung der A. meningea media
64 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
der nicht diagnostizierten Verletzung, kann dies zum handelt es sich um Hiebverletzungen, Verletzungen
Vorwurf der fahrlässigen Tötung führen. durch z.B. Sägen und Bissverletzungen. Scharfe und
halbscharfe Gewalt führen zu einer unterschiedlichen
Akutes subdurales Hämatom. Akute subdurale Hä- Verletzungsmorphologie und können durch exakte
matome nach stumpfem SHT imponieren im CT und Betrachtung der Wundränder, des Wundgrundes und
bei der Obduktion sichelförmig. Hämatomblut kann der Wundwinkel gegenüber stumpfer Gewalt abge-
genutzt werden zur Blutalkoholbestimmung zum Zeit- grenzt werden (. Abb. 5.27).
punkt des Traumas. Ursache sind überwiegend Blu-
tungen aus Hirnrindenprellungsherden in Gegenstoß- Scharfe Gewalt. Unterschieden werden Stich- und
lokalisation (Contre-coup). Von Rindenprellungsher- Schnittverletzungen. Ein Stich durchtrennt das Ge-
den ausgehend kann es zu Hämorrhagien im Mark- webe mithilfe eines spitz zulaufenden Werkzeugs mit
5 lager kommen, die nicht mit intrazerebralen Blutungen
aus natürlicher Ursache verwechselt werden sollten.
überwiegend senkrechtem Kraftvektor zur Körper-
oberfläche. Bei einem Schnitt bewegt sich eine scharfe
Kante (Schneide) tangential zum Gewebe. Je nach
Hygrom. Das Hygrom ist eine flüssigkeitsgefüllte Ex- Werkzeug (z.B. Messer) und Bewegungsablauf sind
sudationszyste, deren Interpretation als posttrauma- Stich und Schnitt kombiniert.
tisch umstritten ist. Allgemeine morphologische Kriterien der scharfen
Gewalt:
Epidurales »Brandhämatom«. Durch längere Hitze- 4 Gewebedurchtrennungen unterschiedlicher Tiefe
einwirkung wird Blut in das Schädelinnere hineinge- 4 glatte Wundränder und glatte Durchtrennung bis
presst und lagert sich zusammen mit Fett zwischen zum Wundgrund und in den Wundwinkeln
Dura mater und Lamina interna der Schädelkalotte ab. 4 keine Quetschung, Vertrocknung, Schürfung, kei-
Brandhämatome zeigen eine ziegelrote Farbe und sind ne sog. Gewebebrücken in der Wunde
kein sog. Vitalitätszeichen.
Halbscharfe Gewalt. In Abhängigkeit von der Masse
des Werkzeugs (der Waffe) und der Geschwindigkeit
5.5 Scharfe und halbscharfe Gewalt der Bewegung beim Auftreffen auf den Körper kommt
zu der Stich/Schnittverletzung ein stumpfer Anteil der
Bei der scharfen Gewalt werden Stich- und Schnittver- Gewalt hinzu. Die Mischverletzungen aus scharfer
letzungen abgegrenzt. Bei der halbscharfen Gewalt und stumpfer Gewalt werden als halbscharfe Gewalt
5.5.2 Schnittverletzungen
. Abb. 5.31a, b Anstichelungen der Haut und tieferreichen- . Abb. 5.32a, b Kombinierter Angriff mit einem Messer
de Stichverletzung mit einem spitzbogigem Wundwinkel (a) und einer Schere. Typische Messerstichverletzungen, einmal
und einem Wundwinkel mit eckigen Wundrändern (b) bei mit sog. kleinen Schwalbenschwanz (a) und mehr dreieck-
einschneidigem Messer mit Messerrücken förmige Verletzungen durch Zustechen mit einer Schere (b)
5.5 · Scharfe und halbscharfe Gewalt
67 5
. Abb. 5.33 Passive Abwehrverletzung auf dem Hand- . Abb. 5.34 Aktive Abwehrverletzung gegen einen Mes-
rücken nach einem Angriff mit einem Messer serangriff mit Schnittverletzungen der Handinnenfläche
bzw. der Beugeseiten der Finger
. Abb. 5.35 Aktive Abwehrverletzung zwischen Daumen . Abb. 5.36 In suizidaler Absicht beigebrachte sog.
und Zeigefinger nach einem Messerangriff Probierschnitte sowie tieferreichende Stich-/Schnittver-
letzungen in das Halsweichteilgewebe
neten größeren Venen muss zusätzlich an eine Luft- (bei Rechtshändern). Mehrere parallel verlaufende
embolie gedacht werden. Narben, meist quer verlaufend an der Beugeseite der
Handgelenke, können bei der Leichenschau auf zu-
Tödliche Stich-/Schnittverletzungen: Differenzialdi- rückliegende Suizidversuche hinweisen.
agnose Suizid/Homizid. Charakteristisch für die sui- Abzugrenzen von sog. Probierschnitten sind die
zidale Selbstbeibringung von Stich-/Schnittverlet- oberflächlichen, teils in Quer-, teils in Längsrich-
zungen sind sog. Probierschnitte oder Probierstiche, tung verlaufenden Narben bzw. Schnittverletzungen
gelegentlich in der Halshaut (. Abb. 5.36), häufiger in an den Unterarmen, die als Ausdruck einer Selbst-
Höhe der Handgelenkbeugen. beschädigung (»Ritzen«) entstanden sind. Grundlage
Bei den Probierschnitten handelt es sich um ober- sind autoaggressive Anteile im Rahmen einer psychi-
flächliche, überwiegend parallel zueinander verlaufen- schen Störung, gehäuft bei Persönlichkeitsstörungen
de Schnitte der Oberhaut, allenfalls noch der Leder- vom Borderline-Typ. Werden durch die tiefe Stich-/
haut, die sich um einzelne tiefer reichende Hautdurch- Schnittverletzung größere Halsvenen eröffnet, ins-
trennungen mit Gefäßverletzungen herum befinden. besondere die V. jugularis interna, dann ist ein rascher
Die Verletzungslokalisation ist für die Führungshand Todeseintritt noch vor einem tödlichen Verbluten als
des Suizidenten gut zugänglich, bevorzugt an der lin- Folge einer Luftembolie möglich (. Abb. 5.37 und
ken Handgelenkbeugeseite oder der linken Halsseite . Abb. 5.38).
68 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
a b
. Abb. 5.40a, b Abwehr- und Saugbiss. Unterschiedliche Lokalisation der epidermalen Abschürfung beim Beißen (a) und
Saugen (b)
70 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
scheidend für die Schusswirkung sind die abgegebene Gezogener Lauf. Nur bei Flinten ist das Innere des
Energie und die Radialbschleunigung im Gewebe. Laufes glattwandig. Alle übrigen Schusswaffen werden
Darüber hinaus entstehen Gewebeschädigungen un- heutzutage mit einem sog. gezogenen Lauf hergestellt.
abhängig vom Geschoss durch die Druckwelle und Die Züge sind spiralig angeordnete, parallel zueinander
verschiedene Partikel aus der Treibladung. So ist nach- verlaufende Rinnen in der gesamten Länge des Laufs.
vollziehbar, dass Schreckschusswaffen lebensgefähr- Sie geben dem Geschoss einen Drall und stabilisieren
liche Verletzungen hervorrufen können. Zur punktför- damit seine Flugbahn. Die zwischen den Zügen vorste-
migen Gewalt (geringe Auftrefffläche, hohe Geschwin- henden Flächen werden »Felder« genannt. Forensisch
digkeit) können Verletzungen durch Pfeile (Bogen bedeutsam ist, dass das Projektil ein hochindividuelles
oder Armbrust), Speere oder Vogelschnäbel gezählt Schartenmuster erhält anhand dessen eine Zuordnung
werden. Verletzungen durch Vogelschnäbel betreffen zu einer bestimmten Waffe möglich ist.
5 am häufigsten Kopfschwarte und Kalotte von Wande-
rern oder Joggern, die sich unbeabsichtigt dem Nest Patronenaufbau. Eine moderne Patrone besteht aus:
eines Raubvogels (z.B. Bussard) nähern. Hülse, Treibmittel, Zündelement und Geschoss.
Kurzwaffe Revolver Grundsätzlich Einzelfeuerwaffen: Hahn schlägt beim Durchziehen des Abzugs auf
den Zündstift und muss vor jedem Schuss gespannt werden. Single-Action-Revol-
ver: Spannen nur am Hahn selbst möglich. Am Double-Action-Revolver Spannen
des Hahns zusätzlich mittels Durchziehen des Abzugs möglich. Beim Spannen des
Hahns gleichzeitig Weiterdrehen der Trommel. Je nach Waffentyp Drehung der
Trommel nach rechts oder links, Fassvermögen 5–9 Schuss. Hülse bleibt nach dem
Schuss in der Trommel.
Langwaffe Büchse Zum Verschießen von einzelnen Geschossen, gezogener Lauf. Jagdgewehre sind
(Gewehr) überwiegend Einzellader.
Armeegewehre sind meist automatische Waffen – sog. Sturmgewehre – mit
Gasdruckladeprinzip. Magazine mit 20–30 Schuss. Einzelfeuer, Dauerfeuer und
oftmals auf 3 Schuss begrenzte Feuerstöße einstellbar. Weltweit bekanntestes
Sturmgewehr: AK-47 aus Russland (»Kalaschnikow«).
Maschinengewehre: auf große Schusskapazität ausgelegte Automaten. Meist
Zufuhr von gegurteter Munition mit bis 250 Schuss pro Gurt. Schwere standfeste
Lafette notwendig
Flinte Einzellader zum Verschießen von Schrot, glatter Lauf. Nahezu ausschließlich als
Jagdgewehr. Doppelflinte: Zwei Flintenläufe. Kombinationen mit Büchsenläufen
möglich. Flinten- und Büchsenlauf nebeneinander: Büchsflinte, übereinander:
Bockbüchsflinte. Dreiläufige Gewehre werden als Drillinge bezeichnet, häufige
Kombination: Zwei Flintenläufe nebeneinander und darunter ein Büchsenlauf.
Schreckschusswaffen Nachbildungen von echten Revolvern oder Pistolen mit Funktionsweise der Vor-
bilder. Sog. Laufattrappe muss fest mit Rahmen verbunden sein. Im Innern der
Laufattrappe Schikanen aus Hartmetall. Verschießen von Knallkartuschen
Zahlreiche Spezialwaffen und historische Schusswaffen, die im Einzelfall relevant werden können, sind nicht auf-
geführt.
entwickelt: Jagdmunition soll möglichst schnell töten. Spitze des vollummantelten Hohlspitzgeschosses wird
Primäres Ziel der Kriegsmunition ist das Verletzen, da durch eine Kunststoffkugel gebildet. Das Geschoss
ein verletzter Soldat ein bis zwei weitere Soldaten für pilzt früh beim Eindringen in das Gewebe auf. Die Fol-
seine Versorgung bindet und somit zusätzlich tempo- gen sind eine geringe Eindringtiefe und hohe Energie-
rär kampfunfähig werden lässt. Scharfschützenmuni- abgabe, um den Getroffenen zu stoppen, jedoch so
tion muss schnell und effektiv töten, möglichst ohne in wenig wie möglich zu verletzen.
unmittelbarer Nähe befindliche Menschen zu verlet-
zen. Die Polizei setzt in den Dienstpistolen zunehmend Schrotpatronen. Die Hülse von Schrotpatronen ist
sog. Quick-Defense-Munition (alternative Bezeich- meist aus Kunststoff. Nur der Kopf ist aus Metall, in
nung: Menstopper-Munition) ein: Die eigentliche ihm befindet sich die Zündkapsel. Die davor befind-
72 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
5.6.3 Einschuss
Bezeichnung Charakteristika
Steckschuss Fehlendes Austreten des Projektils aus dem Körper. Gelegentlich Projektil gegenüber der
Einschusslokalisation subkutan tastbar. Mögliche Gründe: Geringe Durchschlagskraft des
Geschosses, schräges Auftreffen, Abbremsen durch Knochen
Durchschuss Projektil hat den Körper verlassen und wird außerhalb aufgefunden. Bei Pistolenmunition
üblicherweise erst ab Kaliber 7,65 mm
Winkelschuss Richtungsänderung des Geschosses im Körper: Ablenkung durch Auftreffen auf Gewebe unter-
schiedlicher Dichte, z.B. Knochen
Streifschuss Projektil streift die Haut. Rinnenförmige grobe Aufreißung der Haut, ggf. mit Unterhaut, zusätz-
lich davon ausgehend in Schussrichtung verlaufende, schräge kleinere Einrisse in der Haut, z.T.
schwer abgrenzbar von einer Platzwunde
Tangentialschuss Nahes Beieinanderliegen von Ein- und Ausschuss. Der Schusskanal durchsetzt Haut, Unter-
haut oder möglicherweise tiefere Weichteilschichten. Deutlicher ovalärer Schürfsaum des
Einschusses gegen die Schussrichtung zeigend
Kontur- oder Beim Schädelschuss: Projektil hat nur noch geringe kinetische Energie. Beim inneren Ringel-
Ringelschuss schuss Bewegung entlang der Lamina interna gegenüber dem Einschuss. Beim äußeren Ringel-
schuss zwar Durchdringen des Schädeldachs, nicht jedoch der Kopfschwarte – Bewegen des
Projektils zwischen Lamina externa und Kopfschwarte
Gellert-Schuss Ablenken des Geschosses auf seiner Flugbahn durch Streifen von Gegenständen. Dadurch
tödliche Verletzungen möglich, obwohl eigentlich in eine andere Richtung geschossen wurde
(z.B. Warnschuss). Durch veränderte Flugbewegung des Geschosses (u.a. Verlust des Dralls)
sind atypische Einschusswunden mit fehlenden Einschusszeichen und adaptierbaren Wund-
rändern möglich
Krönlein-Schuss Schädeldurchschuss mit rasantem Geschoss. Sprengung des Schädeldachs durch die temporäre
Wundhöhle mit vollständiger Exenteration des Gehirnes
74 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
5
. Abb. 5.43 »Backspatter«. Gegen die Schusshand ge- . Abb. 5.44 Krönlein-Schuss. Exenteration des kompletten
schleuderte Gewebefragmente Hirngewebes
entlastung genutzt. So entstehen die Rückschleuder- ! Die Ausschusswunde ist durch eine weit-
spuren, also Gewebeschleuderspuren entgegen der gehende Adaptierbarkeit der Wundränder
Schussrichtung (sog. Backspatter; . Abb. 5.43). gekennzeichnet, weiterhin durch eine
Bei zu hohen Geschossgeschwindigkeiten ist ein fehlende Schürfung der Wundränder und
Bersten des Hirnschädels im Extremfall mit Heraus- ein Fehlen von sonstigen Einschusszeichen.
schleudern des gesamten Hirngewebes möglich (sog.
Krönlein-Schuss) (. Abb. 5.44). Insbesondere wenn Knochensplitter in Schussrichtung
mitgerissen werden, können Gewebeteile aus dem
Knöcherner Durchschuss. Die knöchernen Defekte Ausschuss herausgerissen werden, was zu einem un-
bei einem Durchschuss können durch das Aufdehnen regelmäßigen, meist nicht zentral befindlichen Ge-
des Knochengewebes mit nachträglichem Kollabieren websdefekt führen kann.
kleiner sein als das Kaliber des Projektils (meist bei
höheren Geschwindigkeiten). Andererseits können Pseudoschürfsaum. Liegt der Haut beim Ausschuss
durch die Ausdehnung der temporären Wundhöhle Kleidung an, kann diese als Widerlager fungieren. Da-
oder Störungen der Flugbahn des Projektils Defekte durch kann eine Hautschürfung entstehen, die als Ver-
entstehen, die größer sind als der Außendurchmesser trocknung imponiert.
des Geschosses. Bei einem Berstungsbruch durch Sprengung des
Schädels bei einem Durchschuss kann es schwierig
! Selbst anhand eines sauberen runden Defek-
sein, die »echte« Ausschussverletzung von weiteren
tes an der Lamina externa bei einem Ein-
Hautaufreißungen in der Kopfschwarte und der Ge-
schuss am Neurokranium ist ein sicherer
sichtshaut abzugrenzen.
Rückschluss auf das verursachende Kaliber
nicht möglich. Das tatsächliche Kaliber kann
Knöchernes Ausschusszeichen. Beim Schädel-Hirn-
größer oder kleiner sein.
Durchschuss stellt sich der Ausschuss von der Lamina
interna zur Lamina externa hin trichterförmig erwei-
tert dar. Beim zerborstenen Hirnschädel kann dies
5.6.5 Ausschuss durch Adaptieren der Knochenfragmente rekonstru-
iert werden (. Abb. 5.45).
Beim Austreten eines Projektils wird die Haut durch die Werden lange Röhrenknochen diaphysär nahe der
temporäre Wundhöhle und das Projektil gespannt bis Längsachse durchschossen kann ein ähnliches Bild wie
sie platzt. Es würde sich also um eine echte »Platzwun- an der Schädelkalotte mit trichterförmiger Erweite-
de« handeln. Häufig ist der Ausschuss größer als der rung in Schussrichtung entstehen.
Einschuss, dies ist jedoch kein zwingendes Kriterium.
5.6 · Schussverletzungen (punktförmige Gewalt)
75 5
Absoluter Schmauchhöhle mit Pulverschmaucheinlagerungen, beim Schädel auf der Lamina externa befind-
Nahschuss lich, ggf. unter dem Periost oder sogar auf der Dura. Sternförmige Aufreißung der Haut möglich.
Stanzmarke als Abdruck des Waffengesichts nach festem Aufdrücken der Mündung bei Schussab-
gabe. CO-Myoglobinbildung mit lachsrot verfärbter Muskulatur entlang des Schusskanals, besonders
in dessen Anfangsteil
5 a
Explosionsverletzungen. Explosionsverletzungen
Bei Schussentfernungen ab ca. 5 m wird bei Schrot- sind typische Verletzungen bei kriegerischen Hand-
schussverletzungen üblicherweise kein zentraler De- lungen sowie bei Terroranschlägen. Bei den Explosi-
fekt mehr beobachtet, stattdessen multiple Einzelein- onsfolgen werden primäre, sekundäre, tertiäre und
schüsse. Die zahlreichen Schrotkugeln sind radiolo- quartäre Verletzungen unterschieden (. Tab. 5.18). Bei
gisch gut darstellbar (. Abb. 5.50). Explosionen kommt es einerseits zur Entstehung zahl-
reicher unterschiedlich großer Geschossfragmente
Verletzungen durch Bolzenschussgeräte. Bolzen- und andererseits zu einer erheblichen Druckwelle.
schussgeräte sind als Werkzeuge zur Tiertötung vor Charakteristisch sind multiple unterschiedlich große
dem Schlachten entwickelt. Durch den Einsatz einer und unterschiedlich geformte flächenhafte Verletzun-
Knallkartusche wird eine kräftige Treibladung erreicht. gen der Haut in Abhängigkeit von der Entfernung zum
78 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
Explosionsort (. Abb. 5.51). Bei der Obduktion kön- 5.6.8 Kriminologische Aspekte
nen entsprechend zum Teil zahlreiche Geschossfrag- von Schussverletzungen
mente asserviert werden, die inneren Organe weisen
multiple Zerreißungen und Zerfetzungen auf, intra- Beim suizidalen Erschießen handelt es sich um ein
pulmonal teilweise bedingt durch die Druckwelle der häufiges Phänomen. Bevorzugt betroffen sind natur-
Explosion. Amputationen von Extremitäten kommen gemäß Personen mit Zugang zu Schusswaffen, wie z.B.
ebenso vor wie die Abtrennung des Kopfes. Jäger oder Polizeibeamte. Die entscheidende Frage
bei Verstorbenen mit Schussverletzungen ist, ob eine
Pfeilschussverletzungen. Pfeile werden mit Bögen Selbst- oder Fremdbeibringung stattgefunden hat. Die
oder Armbrüsten über eine vorgespannte Sehne ver- . Tab. 5.19 enthält die wichtigsten Kriterien zur Diffe-
schossen. Entweder handelt es sich um historische Waf- renzialdiagnostik.
fen oder moderne Sportgeräte. Ergänzend sind Harpu-
nen zu nennen, die einen aufpumpbaren Pressluftzylin- Todesursachen bei Schussverletzungen. Bei den
der besitzen. Die Harpune wird gegen den Druck der möglichen Todesursachen nach Schussverletzungen ist
komprimierten Luft von der Mündung her geladen. zu denken an:
4 Sistierung des Blutkreislaufs infolge Zerstörung
der Herzens oder eines Anteils der Aorta
4 Verbluten aus verletzten großen Gefäßen
4 Verbluten oder Herzbeuteltamponade nach Ver-
letzung von Myokard oder Herzgefäßen
4 Zerstörung lebenswichtiger Hirnareale, insbeson-
dere des Stammhirns
4 sekundäre Hirnschwellung nach Kopfschuss
4 zentralnervös bedingter Schock mit Auswirkung
auf die Herzfunktion
Schusswinkel Steile Winkel durch die kurze Schuss- Eher flacher zur Transversalebe-
entfernung möglich ne des Opfers
Auffinden der Waffe In der Nähe des Leichnams Überall möglich bzw. Waffe
nicht auffindbar
bei Verdacht auf Steckschüsse Röntgenaufnahmen der abgehend zeigt sich eine diskrete, nur bei guten
betroffenen Körperregion oder besser ein CT-Scan Lichtverhältnissen erkennbare Sekretabrinnspur.
durchgeführt werden. Dies führt zum Nachweis von In der Haut des Gesichts, insbesondere in den Lid-
Projektilen und erleichtert das präparatorische Vor- häuten, Augenbindehäuten und in der Schleimhaut
gehen mit Entnahme der Projektile erheblich. Im des Mundvorhofes sind zahlreiche petechiale Einblu-
Leichnam verbliebene Projektile sind nur mit Kunst- tungen nachweisbar. Nach Entkleidung zeigen sich
stoffpinzetten zu bergen, um ballistische Untersu- strumpf- bzw. handschuhartig verteilte Totenflecke
chungen zur Individualisierung der Waffe nicht zu an den Armen und Beinen. Der Hausarzt hatte dem
beeinträchtigen. Patienten einige Wochen zuvor ein Antidepressivum
verschrieben. Bei der Obduktion zeigt sich eine
frische Unterblutung der Knochenhaut der rechten
5.7 Gewalt gegen den Hals Clavicula in Höhe des Ansatzes des M. sternocleido-
mastoideus. Der ventrale Bandapparat der Lenden-
Ç Fallbeispiel wirbelbandscheiben weist an zwei Stellen eine Ein-
Nachdem der 58-jährige allein lebende Mann sich blutung auf (sog. »Simon-Blutungen). Anhaltspunkte
mehrere Tage nicht bei seiner Tochter gemeldet für eine strangfremde Gewalt ergeben sich nicht.
hatte und sein Briefkasten nicht geleert wurde, lässt
die Polizei die Wohnungstür öffnen. Sie findet den
Wohnungsinhaber in aufrechter Körperposition Es gibt 3 Arten von komprimierender Gewalt gegen den
frei hängend über einem offenbar umgestoßenen Hals, die durch den von außen wirkenden Druck zur
Hocker und mit einem doppelt um den Hals geführ- Kompression des Halses, d.h. zur Strangulation führt:
ten 1,2 cm dicken Seil, welches zu einer Schlinge ge- 4 Hängen bzw. Erhängen
knotet und an einem Dachbalken befestigt ist. Der 4 Würgen bzw. Erwürgen
Sitz des Knotens findet sich an der rechten Halsseite 4 Drosseln bzw. Erdrosseln
hinter dem Kiefergelenk, unter dem Strangwerkzeug
zeigen sich zwei seitlich ansteigende bräunlich-ver- Pathophysiologische Folgewirkungen der Strangula-
trocknete Strangmarken. Die Haut dazwischen ist tion können sein:
wallartig aufgeworfen und weist kleine Einblutungen 4 Kompression zervikaler Venen und Arterien
auf. Die Gesichtshaut ist gedunsen, etwas zyanotisch, 4 Stimulation von Pressorezeptoren, v.a. über den
die Zunge hervorstehend, vom linken Mundwinkel sog. Karotissinusreflex
6 4 Kompression der Atemwege
80 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
5.7.1 Erhängen
. Abb. 5.52 Korrekte Sicherung des Strangwerkzeuges
Definition
Während es sich beim Erhängen meist um einen Suizid Erhängen: Halskompression durch ein Strang-
handelt, ist beim Erwürgen immer und beim Erdros- werkzeug, wobei das eigene Körpergewicht
seln fast immer von einem Tötungsdelikt auszugehen. die Kompression der Halsvenen und Halsarterien
Selten sind vorgetäuschte Suizide durch Erhängen oder bewirkt.
ein Selbsterdrosseln (in Engstellung fixierbares Dros-
selwerkeug!) bzw. ein akzidentelles Erdrosseln. Ein
akzidentelles Erhängen kommt bei autoerotischen Un- Beim Erhängen ist eine vollständige Umfassung des
fällen und bei Kindern, die gefährliche Erhängungs- Halses durch das Strangwerkzeug nicht erforderlich,
szenen spielen, vor. die Halskompression von vorn kann auch bei nahezu
Ebenso wie z.B. beim Ertrinken finden sich neben liegender Position des Körpers oder im Sitzen bzw. Ho-
den für die Halskompression charakteristischen Be- cken ausreichen (. Abb. 5.53).
funden in unterschiedlicher Ausprägung allgemeine Todesursächlich vorrangig relevant ist nicht etwa
Zeichen des Erstickungstodes (7 Abschn. 5.8). die Verlegung der Atemwege (Trachea, Verschiebung
des Zungengrundes), sondern der kompressionsbe-
! Bei allen 3 Formen der Halskompression dingte Blutzirkulationsstopp im Gehirn mit – bei kom-
können die postmortal nachweisbaren Be- pletter Kompression der Halsgefäße – sehr rasch ein-
6 tretender Bewusstlosigkeit bzw. Handlungsunfähig-
. Abb. 5.54 Typisches (links) und atypisches (Mitte und rechts) Erhängen
. Abb. 5.55 Seitlich ansteigende Strangfurche beim Die Formen der Halskompression führen zu unter-
typischen Erhängen schiedlichen Befunden in der Halshaut, so dass strang-
5
. Abb. 5.56 Strangfurche mit zugehörigem Strangwerk- . Abb. 5.57 Petechien in der Lidbindehaut beim sog. aty-
zeug beim Erhängen pischen Erhängen
bedingte Verletzungen durch Erhängen bzw. Erdros- pischen Erhängen – unvollständiger Gefäßverschluss,
seln und durch Würgen voneinander abgrenzt werden relativ wenig Gewicht in der Schlinge, intervallartige
können. Kompression – führt zu einem Strangulationsdruck,
der den Binnendruck der Halsvenen übersteigt. Da-
Strangfurche beim Erhängen. Beim Erhängen findet durch wird der Blutrückfluss zum Herzen behin-
sich in der Halshaut der meist bereits bräunlich ver- dert und es resultiert eine akute Stauung, Dunsung
trocknete Abdruck des Strangwerkzeuges als Halshaut- und Zyanose des Gesichtes bzw. oberhalb der Strang-
impression (»Strangfurche«), in der sich Abdruckkon- furche. Nach ca. 20 Sekunden andauernder Stran-
turen des Strangwerkzeuges erkennen lassen (z.B. ge- gulation treten petechiale Blutungen der Gesichts-
riffelte oder geflochtene Struktur eines Strickes). Diese haut auf, insbesondere der Lidhäute, der Augenbin-
Abdruckkonturen können bei frühpostmortaler Ent- dehäute und in der Schleimhaut des Mundvorhofes
fernung des Werkzeuges wieder verschwinden, anson- (. Abb. 5.57).
sten sind die Konturen ebenso wie die Breite der Beim typischen Erhängen mit frei hängendem
Strangfurche mit dem Strangwerkzeug abzugleichen Körper können die zervikalen Venen und Arterien
(. Abb. 5.56). schlagartig komplett komprimiert sein, so dass hämo-
Wurde ein sehr breites Strangwerkzeug benutzt, dynamische Folgen fehlen: Keine Dunsung, das Ge-
z.B. ein breiter, weicher Schal, dann können u.U. nur sicht ist blass, keine Petechien. Daneben kann es in
diskrete Halshautbefunde vorhanden sein. Bei auf- beiden Fällen zu neurologischen Folgen der Halskom-
rechter Körperposition verläuft die Strangfurche meist pression (vermehrter Speichelfluss, unwillkürlicher
oberhalb des Kehlkopfes, am unteren Rand können als Urin- und Stuhlabgang, spontaner Abgang von Ejaku-
Folge eines Verrutschens des Strangwerkzeuges im lat) kommen.
Moment des Hineingleitens in die Schlinge Hautschür-
fungen auftreten (Kein Vitalitätszeichen!). Eine Strang- Selbstrettungsversuch. Versucht eine Person den
furche ist kein Vitalitätszeichen, da vergleichbare Be- Tod durch Erhängen durch Griff an bzw. in die Schlin-
funde auch postmortal beigebracht werden können ge zu verhindern, so können Verletzungen der Hals-
(z.B. erst Erdrosseln, dann Erhängen zur Vortäuschung und Wangenhaut auftreten, ein oder mehrere Finger
eines Suizides). können in der Schlinge bleiben.
Zwischenkammblutungen. Bei zwei- oder mehrtou- Verlauf des Erhängens. Die komprimierende Gewalt
rig um den Hals geschlungenem Strangwerkzeug kön- gegen den Hals kann je nach Intensität der Kompressi-
nen als Folge einer Quetschung der Haut in der Kuppe on sehr rasch zur Bewusstlosigkeit und zum Tode füh-
dazwischenliegender Hautfalten kleine Einblutungen ren mit einem stadienhaften Verlauf (. Tab. 5.21).
auftreten.
Obduktionsbefunde. Den Obduktionsbefunden
Hämodynamische Folgen der Halskompression. Die kann entscheidende Bedeutung beim Nachweis des
inkomplette Kompression der Halsgefäße beim aty- Gelebthabens zum Zeitpunkt des Erhängens zukom-
5.7 · Gewalt gegen den Hals
83 5
<5 s Eintritt der Bewusstlosigkeit und Handlungsunfähigkeit; keine eigene Rettungshandlung mehr
möglich; Stauung, Zyanose der Gesichtshaut, beginnende Dunsung
Ab ca. 20 s Auftreten petechialer Blutungen, die u.U. auch konfluieren können; danach Blutaustritt aus Nase,
Mund und Ohr möglich
Ab ca. 30 s Tiefe Inspiration, Kontraktur der Hals- und Atemhilfsmuskulatur, intervallartig auftretende
Krämpfe (Erstickungskrämpfe) alle ca. 15–30 s, u.U. als konvulsivische Krämpfe mit sog. Anschlag-
spuren an den Gliedmaßen (z.B. Handrücken); verstärkte Salivation (Speichelfluss), vermehrter
Tränenfluss und Sekretion aus der Nase
Nach 5–10 min Irreversibler Eintritt des Todes, bis dahin Rettbarkeit gegeben, jedoch u.U. mit hypoxischer
Hirnschädigung
men. Dabei gibt es Befunde durch die direkte lokale 4 Allgemeine Befunde: Überblähung der Lungen,
Gewalteinwirkung sowie indirekte Befunde: subpleurale Blutungen, sonstige Befunde passend
4 Kompression und Vertrocknung des subkutanen zur Annahme eines Erstickungstodes.
Fettgewebes in Höhe der Strangfurche (sog. innere
Strangmarke). Als zuverlässige Zeichen des Gelebthabens zum
4 Zum Teil nur diskret umblutete Frakturen des Kehl- Zeitpunkt des Erhängens gelten petechiale Blutungen,
kopf- und Zungenbeingerüsts können – je nach umblutete Frakturen von Kehlkopf und Zungenbein
Grad der Verknöcherung bzw. in Abhängigkeit vom sowie in der Halsmuskulatur, aber auch sog. Spei-
Lebensalter – vorhanden sein, insbesondere der chelabrinnspuren aus dem Mundwinkel. Als weitere
oberen Kehlkopfhörner und des Zungenbeins. Vitalitätszeichen gelten Zwischenkammblutungen,
4 Blutungen in die Halsmuskulatur fehlen häufig Zerrungsblutungen bzw. Periostblutungen der Cla-
beim Erhängen (im Gegensatz zum Würgen und viculae und die Simon-Blutungen.
Drosseln), aber sog. Zerrungsblutungen als Unter-
! Besonders bedeutsam bei Verdacht auf eine
blutungen des Periost der Clavicula kommen vor
Halskompression ist die bei jeder rechtsmedi-
am Ursprung des M. sternocleidomastoideus
zinischen Obduktion standardmäßig durch-
(beim atypischen Erhängen auch einseitig!).
geführte schichtweise Präparation der Hals-
4 Halsmuskelzerreißungen finden sich nur beim weichteile in sog. künstlicher Blutleere: vor-
Sturz in bzw. mit der Schlinge aus größerer Höhe. herige Exenteration von Herz und Gehirn mit
Ab Sturzhöhen von ca. 3 m schwerere Verletzungen Abfluss des Blutes nach kaudal und kranial,
bis zur Dekapitation. um artifizielle Einblutungen in die Halsweich-
4 Auftreten von Querrissen, sog. Dehnungsrissen teile zu vermeiden.
der Gefäßintima der Aa. carotides.
4 Bei kompressionsbedingter venöser Blutstauung Vorgetäuschter Suizid durch Erhängen. Bei einer
kann es zu Einblutungen in die Zungengrundmus- versuchten Vertuschung eines Suizides oder auch beim
kulatur (sog. Zungengrundapoplexien) kommen. vorgetäuschten Suizid durch Erhängen nach vorange-
4 Einblutungen in den ventralen Bandapparat, v.a. gangenem Tötungsdelikt können schon am Leichen-
der Lendenwirbelbandscheiben (sog. Simon-Blu- fundort feststellbare Befunde wichtige Hinweise geben,
tungen) wenn z.B.
4 Frakturen des Dens axis bzw. der Halswirbelkörper 4 die Verteilung der Totenflecke nicht mit der Auf-
(»Hangman‘s fracture«) mit Verletzung des Hals- findeposition korreliert (Umlagerung des Leich-
markes sind extrem selten. nams?),
84 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
Kriminalistischer Zumeist Suizid; vorgetäusch- Immer Tötungsdelikt; Selbst- Meist Tötungsdelikt, selten
Hintergrund te Suizide durch Erhängen erwürgen ist nicht möglich, Suizid (Knoten dann an der
nach vorangegangenem bei Bewusstlosigkeit er- Halsvorderseite; verdrilltes
Tötungsdelikt (Drosseln, schlafft die Muskulatur sofort! Drosselwerkzeug; Kehlkopf-
Würgen, Vergiften etc.) Häufig Abwehr- bzw. Begleit- skelett eher unverletzt) oder
verletzungen akzidentelles Erdrosseln
Tatwerkzeug Strangwerkzeug (Schnur, Seil, Täter benutzt seine Hände Strangwerkzeug zum Drosseln
5 Strick, selbstgefertigtes zur Halskompression mittels Muskelkraft
Strangwerkzeug)
Befunde in der Strangmarke, teils symme- Teils streifige, teils diffus- Nahezu zirkulär-horizontal
Halshaut trisch, teils asymmetrisch flächenhafte Hautrötung, verlaufende Drosselmarke,
beidseits ansteigend zur evtl. komma- bzw. sichelför- etwa gleichmäßig tief die
Nackenregion; horizontal nur mige Fingernagelabdrücke Halshaut imprimierend
beim Erhängen in fast liegen-
der Position
Lokalisation der Strangmarke bei aufrechter Häufig die deutlichsten Drosselmarke häufig nicht
Befunde Körperposition im Regelfall Befunde in Höhe des Kehl- im oberen Halsbereich
oberhalb des Kehlkopfs kopfes; Kehlkopf- u. Zungen-
beinfrakturen
Formen Typisches Erhängen: Sitz Einhändiges oder beidhändi- Bei schmalem Drosselwerk-
des Knotens oberhalb des ges Würgen zeug imprimierende Drossel-
Nackenhaaransatzes in der marke, bei weichem breitem
Körpermittellinie Drosselwerkzeug u.U. keine
Atypisches Erhängen: Sitz Halshautbefunde
des Knotens in anderen
Lokalisationen
Befundaus- Evtl. zwei- oder mehrtourig Einseitige, lokalisierte und Meist umschriebene Drossel-
dehnung angebrachtes Strangwerk- flächenhafte Befundausdeh- marke, mehrfache Drossel-
zeug mit sog. »Zwischen- nung möglich; Befundintensi- marke durch »Nachfassen«
kammblutungen« tät abhängig von der Gegen- möglich
wehr des Opfers
Befunde bei der Eher geringe Einblutungen Hämorrhagien im subkutanen Hämorrhagien im subkutanen
Obduktion in das Halsweichteilgewebe; Fettgewebe, in der Halsmus- Fettgewebe, in den Hals-
evtl. Querrisse der Gefäß- kulatur, umblutete Frakturen weichteilen, Frakturen von
intima der Aa. carotides; von Kehlkopf- und Zungen- Kehlkopf- und Zungenbein
u.U. einseitige sog. zerrungs- bein
bedingte Unterblutungen der
Knochenhaut der Claviculae
Zeichen der Dunsung und Zyanose des Gesichtes, Petechien der Gesichtshaut, der Lidhäute, der Augen-
hämodyna- bindehäute, der Schleimhaut des Mundvorhofes (beim typischen Erhängen beides häufig
mischen Wirk- fehlend); zur Position des Leichnams passende Totenflecke, evtl. sog. Speichelabrinnspur von
samkeit der Hals- einem Mundwinkel ausgehend. Blutaustritt aus Mund und Nase bei ausgeprägter venöser
kompression Stauung nach Bersten der Schleimhautgefäße, v.a. beim letalen Drosseln, beim Würgen und
beim atypischen Erhängen
Pathophysiologie Vollständige Kompression der Halsgefäße (Venen und Arterien) beim typischen Erhängen und
Drosseln möglich; beim Würgen Erwachsener und beim atypischen Erhängen meist inkomplette
Kompression der Halsgefäße, dann Stauung, Dunsung, Zyanose und Petechien infolge Abfluss-
behinderung (allgemeine Erstickungszeichen)
5.8 · Äußeres und Inneres Ersticken
87 5
Terminus Definition
Apnoe Atemstillstand
finaler Abnahme des Antriebs, einem euphorischem ten beanspruchen. Je nach konkretem Pathomecha-
Zustand und akutem Bewusstseinsverlust. nismus, z.B. zeitweise Freigabe der Atmung bei der
Halskompression, kann das Ersticken deutlich länger
dauern. Die allgemeinen Stadien des Erstickens sind in
5.8.1 Allgemeine Pathophysiologie . Tab. 5.24 genannt.
des Erstickens Als Folge des Erstickungsvorganges können sich
petechiale Hämorrhagien finden: bei der äußeren Lei-
In der gutachterlichen Praxis stellt sich regelmäßig chenschau in den Augenbindehäuten, bei der inneren
die Frage nach der Dauer eines Erstickungsvorgangs. Leichenschau unter den serösen Häuten oberhalb des
Diese wird mit ca. 3–5 Minuten angegeben und in ver- Zwerchfells (. Abb. 5.59).
schiedene Phasen unterteilt, die jeweils ca. 1–2 Minu-
Stadium Pathophysiologie
Stadium der Dyspnoe Zunahme der Atemtätigkeit, inspiratorische Dyspnoe (Stridor), zunehmende Zyanose
(z.B. beim unvollständigen Verschluss der Atemöffnungen durch ein aufgepresstes Kissen)
Terminale Apnoe »Schnappatmung« ohne effektive Bewegungen von Atemluft, endgültiger Atemstill-
stand
Der Herzschlag kann den Atemstillstand noch einige Minuten überdauern, zunehmende Bradykardie!
88 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
gleicher Temperatur höher. Heiße Dämpfe von mehr Nach oben schlagende Flammen führen zur An-
als 100 °C führen bei Einatmung zur Erhöhung der sengung der Haare (sog. Hitzekräuselung mit gelblich-
Temperatur in der Mundhöhle, im Larynx und in der grauen Haarspitzen). Heiße Flüssigkeiten hingegen
Trachea (sog. Inhalationstrauma). Dabei kann es zu durchtränken die Kleidung, die Hitze staut sich in eng
einer schwerwiegenden hitzebedingten Schädigung der anliegenden Kleidungsstücken und wirkt gerade dort
Schleimhäute der Atemwege kommen. Flammen bei länger (Oberkörper, Gürtelregion).
offenem Feuer schädigen am intensivsten nicht beklei-
! Die kindliche Haut ist bis zum ca. 5. Lebens-
dete Stellen des Körpers (Kopf, Hände, Beine), ebenso
jahr dünner als Erwachsenenhaut, so dass es
Stichflammen z.B. beim Grillunfall (. Abb. 5.62).
im Säuglings- und Kleinkindalter schon bei
niedrigeren Temperaturen und kürzeren Ein-
wirkungszeiten zu Verletzungen kommt.
Neben dem Grad der lokalen Hitzeschädigung ist für
die Prognose quoad vitam die Ausdehnung der ther-
mischen Verletzung entscheidend, die nach der sog.
Neuner-Regel berechnet wird mit Modifikationen
bei Neugeborenen, Kleinkindern und Kindern (. Abb.
5.63). Die Prognose thermischer Hautverletzungen ist
abhängig vom:
4 Grad der Verbrennung/Verbrühung (Tiefe des
thermischen Schadens)
4 prozentual betroffenen Anteil der Körperober-
fläche (KOF), d.h. der Fläche des thermischen
Schadens
4 Lebensalter (Prognose ungünstiger bei Neugebo-
renen, Säuglingen und Kleinkindern sowie ab dem
40. Lebensjahr)
. Abb. 5.63 Schätzung der Ausdehnung der Verbrennung nach der sog. Neuner-Regel bzw. nach der Methode von Lund
und Browler
Ein Verbrennungsindex von <80 bedeutet eine geringe Bei Hitzetodesfällen sind vitale Zeichen und Reak-
Lebensgefahr, bei 80–120 besteht akute Lebensgefahr tionen abzugrenzen von postmortal entstandenen ther-
und bei >120 ist ein Überleben unwahrscheinlich. mischen Schäden (. Tab. 5.26). Begrifflich ist der Beweis
Abweichend von der prognostischen Bedeutung des der Lebendverbrennung abzugrenzen von der Verbren-
Verbrennungsindex sind jedoch Besonderheiten wie nung eines Leichnams: Brandmord und Mordbrand.
ein Inhalationstrauma zu berücksichtigen, so dass die Bei weitgehender Verbrennung des Körpers ver-
Prognose im Einzelfall ungünstiger sein kann, als es bleibt ein verkohlter Brandtorso mit fehlenden Extre-
der Verbrennungsindex, der sich auf die Schädigung
der Körperoberfläche bezieht, vermuten lässt (siehe
Verbrennungskrankheit).
Die Einteilung und die Leitsymptome bei Verbren-
nungen sind in Tabelle . Tab. 5.25 genannt. Unfallbe-
dingt wie im Rahmen von thermischen Verletzungen
bei Kindesmisshandlung kommen unterschiedliche
Verbrennungsgrade vor (. Abb. 5.64 und . Abb. 5.65).
Beim sog. Inhalationstrauma kommt es in Abhän-
gigkeit von der Temperatur der inhalierten Dämpfe
bzw. Gase zu einer Hitzeschädigung der Atemwege:
fetzig-membranös desquamierte Koagulationsnekrose
der Schleimhaut des Nasenrachenraumes, des Larynx
und der Trachea, reaktive submuköse Hyperämie, re-
spiratorisches Flimmerepithel – soweit erhalten – mit
lumenwärts ausgerichteter Zell- und Kernelongation, . Abb. 5.64 Verbrühung Grad I der Haut unter rautenför-
eventuell aufgelagerte feine Rußpartikel, die u.U. bis in miger Aussparung der Ellenbeuge nach starker Beugung
die Bronchioli verfolgbar sind. des Ellenbogengelenks
92 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
III Epidermis, Dermis, Weiß bis braun Lederartig mit Ko- - Keine Spontan-
subkutanes Fett- agulationsnekrose heilung
gewebe der Epidermis,
Dermis einschl. der
Hautanhangsgebilde
. Abb. 5.65 Verbrühung Grad III bei einem Kleinkind . Abb. 5.66 Flaches sog. Brandhämatom (kein Vitalitäts-
zeichen!)
5.9 · Thermische Schädigungen
93 5
. Tab. 5.26 Vitale Zeichen und Reaktionen sowie postmortal entstandene thermische Schäden
Tiefe Rußstaubaspiration (Unzuverlässig: Rußstaub- Hitzebedingte Sprengung der Haut und des Unterhaut-
antragungen nur an und in den Atemöffnungen!) weichteilgewebes (Hitzerisse)
Rußverschlucken mit Rußpartikeln im Magen und/oder Sog. Fechterstellung der Extremitäten (hitzebedingte
im oberen Dünndarm Beugekontraktur mit Schrumpfung von Muskeln und
Sehnen)
Direkte thermische Atemwegsschädigung (Hitzeinhala- Hitzebedingte Frakturen, z.B. Schädelfrakturen und Spren-
tionstrauma) gung der Schädelnähte
Inhalation von Rauchgas: Nachweis mit chemisch- Sog. Brandhämatom: intrakraniale epidurale Ansammlung
toxikologischer Bestimmung der COHb-Konzentration von ziegelrot-bröcklig-trockenem Blut (. Abb. 5.66 und
im Leichenblut, u.U. Bestimmung von Zyaniden . Abb. 5.67) nach hitzebedingter Schrumpfung und Ab-
lösung der Dura mater von der Schädelinnenseite
Sog. »Krähenfüße«: streifenartige Aussparung der Hitze- Hitzebedingte Protrusion der Zunge, Rußstaubantragun-
schädigung in den Augenwinkeln ohne Rußantragungen gen an den äußeren Atemöffnungen
durch Zusammenkneifen der Augen
Brandblasen; bei serösem bis gelatinösem Inhalt mit Postmortale Brandblasen enthalten hämolytische Flüssig-
Leukozyten und Fibrin sind diese zu Lebzeiten entstanden keit ohne Leukozyten und ohne Fibrin
Fettembolie in den Lungen gilt als Zeichen des Ge- Hitzeschrumpfung der Galea aponeurotica
lebthabens bei Brandbeginn (DD: andere Ursachen der
Fettembolie)
sticken). Bereits geringe CO-Konzentrationen in digung insbesondere der Schleimhaut des oberen Re-
der Raumluft können zu einer letalen Intoxikation spirationstraktes.
führen. Soweit stickstoffhaltige Polymere verbrannt sind,
Charakteristische Leichenschau- bzw. Obduk- ist auch an Stickoxide bei O2-Mangel oder an die Inha-
tionsbefunde bei letaler CO-Intoxikation sind: hell- lation von Zyanwasserstoff zu denken. Neben den so-
rote Totenflecke (inkl. Nagelbetten), lachsfarbene fortigen Todesfällen durch Rauchgasintoxikation bzw.
Muskulatur, kirschrotes Leichenblut, erhöhte COHb- lokale Hitzeschäden II.–III. Grades von >50% der KOF
Konzentration (meist 40% COHb und mehr), eventuell kommt es zu Spättodesfällen im Rahmen der Ver-
Rußstaubinhalation und Rußverschlucken, Hitzeschä- brennungskrankheit.
Definition
Verbrennungskrankheit: Sie entsteht durch ein
Zusammenwirken des Verbrennungsschocks, der
wie eine Intoxikation wirkenden Einschwemmung
von Pyrotoxinen aus dem hitzegeschädigten Ge-
webe, der Eiweißverluste über das Wundsekret
sowie der Sekundärinfektionen, v.a. des nekro-
tischen Gewebes.
Muskulatur Muskelzittern, Abnahme des aktiven Zunahme der passiven Cave: Verwechse-
kompensierende Muskeltonus Muskelrigidität lung »Kältestarre«
Kälteregulation des der Muskulatur mit
5 Organismus der »Totenstarre«
Atmung Stimulation bis zur Zunehmende zentrale Bradypnoe, Apnoe mit Atemstillstand
evtl. Hyperventilation Atemdepression Pausen
teilweise Verfettung des Zytoplasma der Kardio- Lokale Kältewirkung. Lokale Erfrierungen sind
myozyten rechtsmedizinisch von geringerer Relevanz und finden
4 histologisch darstellbar sind beim Tod durch Un- sich v.a. bei Wintersportlern, unzureichend ausge-
terkühlung im Rahmen einer angenommenen rüsteten Touristen (z.B. in den Alpen) und bei Berg-
Viskositätszunahme des Blutes Mikrothromben in steigern. Betroffen sind: Finger, Zehen, Hände, Füße,
peripheren Gefäßen mit hämorrhagischer Infar- Nase, Ohren. Die Erfrierungen werden in verschiedene
zierung des zugeordneten Versorgungsgebietes Stadien unterteilt:
4 Dermatitis congelationis erythematosa: Infolge
Selten sind beim Tod durch Unterkühlung Hämorrha- Gefäßkonstriktion weißliche Haut, gefühllos oder
gien im Pankreas nachweisbar, beschrieben wurden in schmerzhaft, im Verlauf dann Rötung und Schwel-
Einzelfällen Hämorrhagien im M. iliopsoas. lung, häufig stark juckend.
. Abb. 5.68 Schwärzliche hämorrhagische Erosionen der . Abb. 5.69 Tropfige Verfettung der Tubulusepithelien
Magenschleimhaut, sog. Wischnewsky-Flecken beim Tod der Nieren beim Tod durch Unterkühlung (Sudan-III-Fär-
durch Unterkühlung bung; Vergr. 200-fach)
5.10 · Strom, Blitz, Gase
97 5
4 Dermatitis congelationis bullosa: Ausbildung sub- wortlichen führen. Der Nachweis von letalen Strom-
epidermaler seröser oder hämorrhagischer Blasen unfällen ist zudem von versicherungsrechtlicher Be-
nach Wiedererwärmung der länger oder tiefer deutung.
kälteexponierten Hautregion.
4 Dermatitis congelationis gangraenosa (escharo-
tica): Blau-schwarz verfärbte Extremität (sog. tro- 5.10.1 Stromtodesfälle
ckene Gangrän), die Extremität wirkt wie mumi-
fiziert. Demarkierung des geschädigten Bezirkes, Beim Kontakt mit stromführenden Leitern kann es zu
bakterielle Infektion führt zur sog. feuchten Gang- unterschiedlichen Stromwirkungen auf den Körper
rän. kommen:
4 elektrospezifische Schädigung durch elektrische
Reizung (Muskulatur, Nervensystem, Herz mit
5.10 Strom, Blitz, Gase kardialem Reizleitungsystem)
4 elektrothermische Schädigung durch lokale strom-
Ç Fallbeispiel induzierte Hitzeschädigung
Vom ambulanten Pflegedienst wird im Winter in 4 mittelbare Schäden wie z.B. Sturzverletzungen
einer Altbauwohnung der regelrecht bekleidete leb- nach Stromeinwirkung
lose Körper einer dort allein lebenden 78-jährigen
Frau im Bad auf dem Boden liegend gefunden. In In der Praxis können beim elektrischen Strom 4 Span-
die Badewanne ist Wasser eingelassen, neben der nungsbereiche (Schwachstrom, Niederspannung,
Wanne liegt ein intakter Föhn mit Stromanschluss, Hochspannung, Höchstspannung) unterschieden wer-
am Rande steht ein älterer Heizölofen. Der Notarzt den. Entscheidend für die strombedingte Schädigung
stellt den Tod fest (hellrote Totenflecke, kräftige sind jedoch die Stromflussdauer (Kontaktzeit) und
Totenstarre), tastet subkutan unterhalb der linken die Stromstärke im Körper. Die Stromstärke (I) wird
Clavicula einen Herzschrittmacher und findet im Bad bestimmt durch die Spannung (U) und den Körper-
mehrere teils leere, teils angebrochene Tabletten- widerstand (R) entsprechend dem Ohm-Gesetz
packungen: Diazepam, ein β-Blocker, ein Antidepres- (U = R × I). Der Hautwiderstand an den Stromein-
sivum, ferner Thrombosestützstrümpfe. Auch die tritts- und Stromaustrittsstellen kann variieren, je nach
Nagelbetten sind eher hellrötlich, eine über dem Hornhautdicke, Feuchtigkeit der Haut (herabgesetzter
Sternum in Körperlängsrichtung verlaufende alte Widerstand durch Schwitzen!) oder getragener Schutz-
reizlose Narbe lässt ihn an eine vorangegangene kleidung: Gummistiefel schützen, barfuß auf feuchtem
Bypass-OP am Herzen denken. Da weitere Not- Boden ist besonders gefährlich. Die Wirkung von
arzteinsätze nicht anstehen, füllt der Notarzt nach Stromstärke und Stromspannung auf das Herz ist in
Beendigung der Leichenschau alle Formulare aus . Tab. 5.28 angegeben.
und gibt eine ungeklärte Todesart an. Die daraufhin Der Hautwiderstand bestimmt die Stromstärke im
eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen ergeben Körper, wobei für Wechselstrom verschiedene Be-
nach Veranlassung einer rechtsmedizinischen reiche unterschieden werden können (. Tab. 5.29).
Obduktion als Todesursache eine CO-Intoxikation Gefährlich sind Wechselstromfrequenzen von 40–
(COHb = 32%), ein technischer Sachverständiger 150 Hertz. Todesursache bei Stromunfällen ist in der
stellt später fest, dass der Heizölofen defekt war. Regel das Herzkammerflimmern. Das Risiko eines
tödlichen Verlaufs erhöht sich, wenn der Stromweg
zwischen den Kontaktstellen über das Herz führt (Arm
Elektrotodesfälle sind überwiegend Unglücksfälle, Ar- – Arm oder Arm – Fuß). Beim Stromfluss an anderen
beitsunfälle, gelegentlich Tötungsdelikte (auch fehl- Stellen, z.B. zwischen zwei Fingern, entstehen meist
interpretiert als vermeintlicher Unfall oder Suizid). Bei nur lokale thermische Schäden.
Suiziden (Föhn in der Badewanne!) und Unglücks- Bei Stromunfällen muss die teilweise sehr diskrete
fällen im Rahmen autoerotischer Betätigung werden sog. Strommarke, d.h. die Kontaktstelle mit dem strom-
stromführende Leiter (Kabel) entsprechend installiert, führenden Leiter, am Leichnam gesucht werden.
z.B. in der Genital- und Analregion oder an den Extre- Die Kontaktstelle kann winzig sein, uncharakte-
mitäten. Falsch installierte Elektrogeräte bzw. Elektro- ristisch aussehen oder sogar komplett fehlen. Vor allem
leitungen oder schlecht gewartete Geräte können zu an breiten und feuchten Kontaktflächen entwickelt
tödlichen Elektrounfällen mit dem nachfolgenden sich oft keine Strommarke. Wenn eine Strommarke
Vorwurf der fahrlässigen Tötung gegen die Verant- vorhanden ist, präsentiert sich die lokale elektrother-
98 Kapitel 5 · Forensische Traumatologie
. Tab. 5.28 Wirkung von Stromstärke und Stromspannung auf das Herz
Ampere Wirkung
Ab ca. 15 mA Muskelkrämpfe, Beugekontrakturen, selbständiges Loslassen der Kontaktstelle nicht mehr möglich
Ab 80 mA Kurze Kontaktzeit reicht für Kammerflimmern; Atemstillstand infolge Lähmung der Atemmuskulatur
möglich
Merke: Bei Gleichstrom können etwa vierfach höhere Grenzwerte angesetzt werden
mische Schädigung in der Regel mit folgenden Be- 4 Je nach Intensität der lokalen Stromwirkung sind
funden: schwärzlich-verkohlte Stromkontaktstellen der
4 kraterartige Aufwerfung der Haut mit zentraler Ein- Haut nachweisbar (. Abb. 5.72).
dellung (eingesunkenes Zentrum) (. Abb. 5.70)
4 blasser, »porzellanartiger« Randwall, z.T. blasen- Beim Stromtod in der Badewanne kann gelegentlich in
artig Höhe der Wasserspiegelmarke eine feine streifige
4 »eingebrannte« metallische Materialrückstände Hautrötung festgestellt werden. Auch ohne jeden Be-
vom Stromleiter (sog. »Metallisation«) fund ist bei einem Tod in der Badewanne immer der
4 histologisch Blasenbildungen in dem aufgewor- Verdacht auf einen Stromtod gegeben. Da Strommar-
fenen Randwall (wabenartiges Muster) ken postmortal beigebracht werden können, sind sie
4 fischzugartige Ausziehung der basalen Zellen der keine Vitalitätszeichen. Die Diagnose »Stromtod« ist
Epidermis mit Kernelongation vor allem deshalb nicht selten eine sog. Ausschluss-
5.10 · Strom, Blitz, Gase
99 5
diagnose. In allen Zweifelsfällen muss ein technischer
Sachverständiger herangezogen werden. Ein wichtiges
Ziel ist die Verhinderung weiterer Stromtodesfälle.
Akute Asystolien können bis wenige Minuten nach
dem Stromkontakt auftreten.
Wird der Stromschlag zunächst überlebt, kann es
infolge elektrothermischer Schädigung der Skelett- wie
der Herzmuskulatur (infarktähnliches Schädigungs-
muster) zu Spättodesfällen im Rahmen eines Multi-
organversagens (MOV) einschließlich eines Nieren-
versagens (Crush-Niere) kommen.
Tod im Wasser
. Tab. 6.1 Mögliche Konstellationen der Todesursache beim Auffinden eines Leichnams im Wasser
Tod außer- 4 Plötzlicher Tod aus 4 Jede Form von 4 Tötung durch jede
halb des innerer Ursache, Suizid in Ufernähe Form der Gewalt
Wassers z.B. Myokardinfarkt mit postmortalem oder Vergiften
oder zerebraler Hineingeraten in und postmortales
Insult in Ufernähe das Wasser Verbringen ins
oder beim Lehnen 4 Dekompositionsbe- Wasser zum Vor-
über ein Brücken- dingter Wasserkon- täuschen eines
geländer takt z.B. Verbrin- Todes im Wasser
gung von Leichen- (typischerweise
teilen durch Tiere Ertrinken)
oder Abfallen des 4 Nach defensiver
Leichnams eines Leichenzerstücke-
Erhängten von lung Verbringung
einer Brücke von (ggf. einzel-
nen) Leichenteilen
ins Wasser
spuren« im Gesicht und am Hals. Nach Angaben der nicht falsch, erfasst ihn jedoch nicht vollständig. Nach
Männer habe der Verstorbene von sich aus unbe- dem Überraschungseinatmen (»respiration de sur-
dingt im Fluss baden wollen. prise«) beim Hineingelangen ins Wasser können 4 Sta-
dien des Ertrinkens abgebgrenzt werden (. Tab. 6.2).
Das klassische (typische, unmittelbare) Ertrinken ist Postmortales Intervall. Das postmortale Intervall
Folge eines Verschlusses der Atemöffnungen oder der vom Ertrinken bis zum Auffinden des Leichnams kann
inneren Atemwege durch Flüssigkeiten. Den Vorgang unterschiedlich lang sein und der Erhaltungszustand
als Erstickungstod im Wasser zu bezeichnen ist sicher des Leichnams folglich stark differieren. Zunächst wird
104 Kapitel 6 · Tod im Wasser
. Abb. 6.4 Wasserleiche mit flächenhafter Ablösung . Abb. 6.5 Ausgeprägte Überblähung der Lungen im
der Oberhaut, ausgedehnten Antragungen von Algen und Sinne eines sog. Emphysema aquosum beim Tod durch Er-
Erdreich trinken
Schaumpilz (. Abb. 6.6) Feinblasiger Schaum (wie Rasierschaum) vor Ausbildung zeitnah zur Bergung des
Mund und Nase, ggf. mit hämorrhagischer Leichnams wegen dann eintretender
Komponente Verringerung des Lungenvolumens
DD: Grobblasiger Schaumpilz bei kardialem durch Vermischung von Luft, Wasser,
Lungenödem, bei Drogentoten Ödemflüssigkeit und Bronchialschleim
Flüssigkeitsnachweis in der Sichtbar nach Entfernen der Siebbeinplatte Eindringen von Wasser in die Neben-
Stirn- oder Keilbeinhöhle oder Punktion mit einer Spritze: wässrig- höhlen
(Svechnikov-Zeichen) klare Flüssigkeit
Nachweis von Kieselalgen Enzymatische Verdauung des zu unter- Einatmung und bei intaktem Kreislauf
(Diatomeen) suchenden Gewebes (Lunge, Niere, Leber, Transport durch die Gefäße bis in die
Knochen), im Anschluss mikroskopischer inneren Organe
Diatomeen-Nachweis
gelegentlich Zyanosen des Gesichtes, Halses und der nen Ertrinkungszeichen verändert bzw. zerstört wer-
Schultern beobachtet. Diese sind jedoch ebenso unspe- den können.
zifisch wie Gänsehaut, Schrumpfung von Penis oder
Brustwarzen, Kotabgang oder Zungenbiss. Als ent-
scheidende diagnostische Kriterien sind die sog. Er- 6.2 Badetod
trinkungszeichen (. Tab. 6.3) zu fordern. Die einzel-
nen Ertrinkungszeichen werden in unterschiedlicher Unter dem Badetod werden verschiedene Formen des
Häufigkeit nach einem Ertrinkungstod beobachtet. reflektorischen Todes im Wasser zusammengefasst.
Prinzipiell handelt es sich um eine Ausschlussdiag-
! Zur Diagnose des Ertrinkungstodes ist bei
nose, die erst gestellt werden kann, wenn bei einem im
entsprechender Vorgeschichte nach Mög-
Wasser aufgefundenen Leichnam weder Ertrinkungs-
lichkeit wenigstens ein überzeugendes Er-
zeichen noch Verletzungen, krankhafte Veränderun-
trinkungszeichen zu fordern.
gen oder Hinweise auf tödliche Vergiftungen gefunden
Da gerade nach dem Ertrinken ein erhebliches post- werden, die den Todeseintritt erklären können. Insbe-
mortales Intervall bis zum Auffinden des Leichnams sondere das Fehlen von Zeichen der Wassereinatmung
vergehen kann, ist zu beachten, dass insbesondere hat zu der Bezeichnung »dry drowning« geführt.
durch Fäulnisprozesse mit resultierender Gasbildung Für den Todeseintritt werden verschiedene mög-
einzelne oder im Extremfall alle zunächst vorhande- liche vagale Reflexe diskutiert:
6.3 · Suizid und Tötung im Wasser
107 6
4 Ebbecke-Reflex: Gesichtshaut als Reflexzone zeugenberichte liefern. Diese sind jedoch oft für im
(2. Trigeminusast), Schluckreflex nach dem Ein- Wasser gefundene Leichen nicht verfügbar. Eine Ob-
tauchen in kaltes Wasser, Bradykardie, Atemstill- duktion ist für die Unterscheidung von Tötung und
stand (»Eintauchreflex«). Selbsttötung im Wasser daher unverzichtbar.
4 Aschner-Bulbusdruck-Reflex: Bradykardie nach
Druck auf den Bulbus (okulokardialer Reflex). Suizid im Wasser. Bei einem Suizid fehlen üblicher-
4 Hering-Nasenschleimhaut-Reflex: Bradykardie weise vitale Verletzungszeichen, die als sogenannte
durch chemische oder thermische Reizung der Abwehrverletzungen eingeordnet werden können.
Nasenschleimhaut. Möglicherweise bedeutsam bei Anders kann sich das Bild darstellen, wenn sich eine
Tötungsdelikten in der Badewanne nach plötz- Person in suizidaler Absicht ins Wasser begibt, dort
lichem Zug an den Beinen und Untergehen des jedoch in Panik gerät und strampelt. Dann kann es zu
Kopfes. vitalen Anstoßverletzungen kommen. Als Hinweise
auf zurückliegende Suizidversuche können beispiels-
Es wird davon ausgegangen, dass durch vorangegan- weise entsprechende Narben an den Handgelenken
gene erhebliche Nahrungsaufnahme das Blut in den gewertet werden. Nach der Identifizierung des Leich-
Gastrointestinaltrakt und/oder durch Überhitzung in nams können polizeiliche Ermittlungen z.B. durch
die Peripherie umverteilt wird. Bei zusätzlicher Kreis- Aussagen von Bezugspersonen oder Auffinden eines
laufbelastung durch vagale Reizungen fehlt dann Blut. Abschiedsbriefes die Hypothese eines Suizids weiter
Alkohol bewirkt eine zusätzliche periphere Vasodilata- stützen. Beim kombiniertem Suizid wird eine zweite
tion, möglicherweise auch todesursächlich relevante Suizidmethode gewählt, z.B. Aufschneiden der Pulsa-
Veränderungen der Erregungsleitung des Herzens. dern im Wasser oder vorherige Einnahme von Tablet-
Darüber hinaus werden weitere Reaktionen im ten, jeweils mit dem Ziel, nach blutungs- bzw. medika-
Sinne von akuten »Schockzuständen« mit dem plötz- mentenbedingter Bewusstlosigkeit zu ertrinken.
lichen Tod nach Hineingeraten ins Wasser in Zusam-
menhang gebracht: Alkoholbestimmung und Toxikologie. Vor dem Sui-
4 Kälteschock: massive Blutumverteilung durch die zid wird sich oftmals »Mut angetrunken«, so dass der
periphere Vasokonstriktion Nachweis einer mäßiggradigen Alkoholisierung im
4 Schmerzschock: starke Reizung z.B. des Plexus Femoralvenenblut des Leichnams die Folge wäre. Die
solaris beim »Bauchplatscher«, Versacken des Abgrenzung zu einer erheblichen Alkoholisierung, die
Blutes in die reflektorisch erschlafften Eingeweide- eher an ein akzidentelles Hineingeraten in das Wasser
gefäße denken lässt, ist auch abhängig von der individuellen
4 Kehlkopfschock: Stimmritzenkrampf durch an Alkoholtoleranz.
den Kehlkopf gelangtes Wasser Durch forensisch-toxikologische Analysen fest-
4 Schock nach akuter Trommelfellperforation: stellbare Fremdstoffe, die über eine mögliche ärztli-
Auslösen von Drehschwindel und Orientierungs- cherseits verordnete Medikation hinaus gehen, ggf. in
losigkeit durch in das Mittelohr eindringendes Kombination mit Alkohol, können auf eine »Absiche-
Wasser rung« des Suizids bzw. einen kombinierten Suizid hin-
deuten.
Der Badetod bleibt ein bislang allenfalls teilweise er-
fasstes Phänomen, möglicherweise multifaktorieller Tötung im Wasser. Der Nachweis einer Tötung im
Genese. Es ist zudem davon auszugehen, dass neben Wasser ist möglich über den Nachweis vitaler Verlet-
akuten Kreislaufbelastungen vorbestehende Erkran- zungen. Anhand dieser vitalen Verletzungen kann u.U.
kungen des Herz-Kreislauf-Systems eine begünstigen- der Verletzungsmechanismus bzw. ein Tatgeschehen
de Rolle spielen. besser beurteilt werden, auch zur Abgrenzung eines
Tötungsdelikts gegenüber einem Unfallgeschehen. Bei
spurenarmen Tötungen oder fortgeschrittener De-
6.3 Suizid und Tötung im Wasser komposition des Leichnams kann der Verletzungs-
nachweis unmöglich sein.
Für die Annahme eines Todeseintritts im Wasser
müssen entweder Ertrinkungszeichen vorliegen oder Tötung in der Badewanne. Eine offenbar häufig er-
zumindest fehlen Hinweise auf eine postmortale Ver- folgreich angewandte Tötungshandlung besteht in dem
bringung ins Wasser. Wichtige Hinweise zur Differen- gleichzeitigen Ziehen an beiden Unterschenkeln, so
zierung von Tötung und Selbsttötung können Augen- dass die Atemöffnungen unter Wasser gelangen. Als
108 Kapitel 6 · Tod im Wasser
6
7
Klinische Rechtsmedizin
Kopf oberhalb der sog. Hutkrempenlinie Eher Schlag (außer bei Treppensturz)
Kopf unterhalb der sog. Hutkrempenlinie Eher sturztypische Lokalisationen: Stirnhöcker, Augenbrau-
en, Nasenspitze, Kinnspitze (außer Faustschlag ins Gesicht)
Monokelhämatom Meist Schlag (selten: abgesacktes Blut nach Sturz auf die
Augenbraue; frakturiertes Augenhöhlendach mit Monokel-
hämatom nach Sturz auf den Hinterkopf )
Über den Dornfortsätzen der Wirbelkörper Widerlagerverletzung bei Druck von vorn (mit dem Rücken
auf dem harten Boden liegendes Opfer)
Doppelstriemen Schlagverletzung
* Achtung: Die Interpretation umfasst immer das gesamte Verletzungsmuster, im Einzelfall kann es alternative Er-
klärungen bzw. ungewöhnliche Geschehensabläufe geben.
Dabei ist eine Abgrenzung verschiedener Formen Nicht selten stützt sich die rechtsmedizinische Be-
der Gewalteinwirkung erforderlich. Eine wichtige Fra- fundung zunächst allein auf ein erhobenes Verlet-
ge ist die Differenzierung von Sturz- und Schlagverlet- zungsmuster. Am Ende fließen jedoch In die rechts-
zungen. Häufig erlaubt bereits die Lokalisation einer medizinisch-gutachterliche Beurteilung alle erhält-
Verletzung eine Interpretation (. Tab. 7.1). lichen Informationen ein: mitgeteilte Vorgeschichte,
112 Kapitel 7 · Klinische Rechtsmedizin
. Abb. 7.2 Überlebtes Würgen mit flächenhaften Unter- . Abb. 7.3 Selbstverletzendes Verhalten mit Beibringung
blutungen der Lidbindehäute sog. Probierschnitte beugeseitig in Höhe des Handgelenkes
Verletzungsmuster bei der Untersuchung, Labor- Relativ häufig sieht man in Höhe der Handgelenk-
befunde, evtl. radiologische Befunde. Entscheidend für beugen teils quer, teils längs verlaufende Narben, gele-
7 die rechtsmedizinische Begutachtung ist ein Optimum gentlich auch frische Schnittverletzungen im Rahmen
an Informationen für die Beurteilung von Verletzun- eines Suizid(versuches) (. Abb. 7.3).
gen und die Kenntnis weiterer Befunde in der Gesamt- Während die sog. Probierschnitte der Handge-
schau. Petechiale Hämorrhagien der Lidhäute, der lenksbeuge sich im Regelfall einem Suizid(versuch)
Lidbindehäute und in der Schleimhaut des Mund- zuordnen lassen, gibt es gelegentlich Verletzungs-
vorhofes oder z.B. flächenhafte Unterblutungen der muster, die nicht mit einem behaupteten Tatablauf
Lidbindehäute (. Abb. 7.2) sprechen für eine kompri- in Übereinstimmung zu bringen sind und bei denen
mierende Gewalt gegen den Hals (Drosseln, Würgen, differenzialdiagnostisch fremd- und selbstbeigebrachte
atypisches Erhängen mit evtl. gerissenem Strangwerk- Verletzungen abgegrenzt werden müssen (. Tab. 7.2;
zeug). . Abb. 7.4).
. Abb. 7.4 Betroffene Körperregionen bei typischen Ver- . Abb. 7.5 Selbstverletzendes Verhalten mit parallelen
letzungen nach Selbstbeibringung (nach König 1987) oberflächlichen Hautanritzungen
7.1 · Verletzungen Lebender
113 7
. Tab. 7.2 Charakteristika selbst- und fremdbeigebrachter Stich-Schnittverletzungen (nach König und Pollak 1987)
Art der scharfen Meist Stiche, einige Schnitte, Ganz überwiegend Schnitte, auch Kratzer und Über-
Verletzung vereinzelt Abkappungen gangsformen
Anordnung Regellos über den Körper verteilt Gruppenbildung, scharenweise parallel, vereinzelte
Reihungen, symmetrische Anordnung
Form der Einzel- Meist kurze Verläufe, auch unstetige, Oft lange, stetige, nur schwach gekrümmte, konstante
verletzung stark gekrümmte Formen Formen
Intensität der Stark variierend; oft tiefreichend Nahezu konstant; immer oberflächlich; gleichmäßige
Einzelverletzung Verletzungstiefe auch an gewölbten Körperpartien
Anzahl der Einzel- Große Anzahl seltener Auffallend häufig große Anzahl; evtl. Zeichen vorange-
verletzungen gangener Selbstverletzungen
Einbeziehung In die Verletzung einbezogen; Träger Meist nicht einbezogen; vereinzelt Kampfspuren (selbst
der Kleidung zahlreicher Kampfspuren erzeugt)
Abwehr- Oft typische, tiefe Schnitte an Finger- Keine Abwehrverletzungen; untypische, durchweg
verletzungen beugeseite, Hohlhand, Handrücken oberflächliche Schnitte auch an Fingern, Hand und
und Unterarm Unterarm
Nicht selten wird bei selbst beigebrachten Verlet- rungssumme ausgezahlt zu bekommen. Derartige
zungen eine etwas »abenteuerlich« anmutende Ge- Fälle sind etwa inszenierte bzw. vom angeblichen Un-
schichte erzählt. Auffallend sind oberflächliche, meist fallopfer selbst vorgenommene Abtrennungen von
parallel verlaufende Schnittverletzungen bzw. Haut- Gliedmaßen (Daumen, Finger) bei einem behaupteten
anritzungen in den eigenen Händen zugänglichen
Körperregionen (. Abb. 7.5 und . Abb. 7.6).
Insbesondere im Rahmen eines Strafverfahrens
gibt es unterschiedliche Situationen, die im Einzelfall
eine (rechts-)medizinische Beurteilung des Zustan-
des von Zeugen (Opfern) und Beschuldigten (Tatver-
dächtigen) erfordern: von der Festnahme mit Be-
lehrung und Vernehmung (Belehrungsfähigkeit,
Vernehmungsfähigkeit) über die Ingewahrsamnahme
und Verhandlungsfähigkeit bis hin zur Haftfähigkeit.
Die klinische Rechtsmedizin umfasst auch Begut-
achtungen zu Verletzungsgeschehen, bei denen der
Verdacht auf eine Selbstbeibringung bzw. Selbstver- . Abb. 7.6 Selbst beigebrachte Oberhautanritzungen
stümmelung aufgekommen ist, um z.B. eine Versiche- bzw. oberflächliche Schnittverletzungen
114 Kapitel 7 · Klinische Rechtsmedizin
Unfall im Rahmen landwirtschaftlich-handwerklicher Entscheidend ist hier die zunächst zeitlich befristete
Tätigkeiten. Verbringung einer Person in dafür von der Polizei be-
stimmte Räume bzw. Zellen. Einschränkungen der
Gewahrstauglichkeit können sich ergeben bei:
7.2 Vernehmungsfähigkeit 4 akut therapie- oder operationspflichtigen und/
oder psychophysischen Erkrankungen
Möglichst zeitnah zu einem Tatgeschehen sollen Zeu- 4 internistischen Erkrankungen wie z.B. Diabetes
gen einschließlich der Gewaltopfer und der Beschul- mellitus, hypertone Krise, epileptischer Anfall,
digte vernommen werden. Da – nach Belehrung – die Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc.
Angaben bzw. Schilderungen des Beschuldigten in 4 Intoxikationen mit Alkohol, Drogen, Medikamen-
einem späteren Gerichtsverfahren verwendet werden ten etc.
sollen, muss der Beschuldigte vernehmungsfähig sein. 4 psychiatrischen Erkrankungen wie akute Psycho-
sen (Klaustrophobie etc.), wobei in derartigen Fäl-
Definition len evtl. eine zwangsweise Unterbringung gemäß
Vernehmungsfähigkeit meint die Fähigkeit, bei Unterbringungsgesetz des jeweiligen Bundes-
der Anhörung (Vernehmung) durch die Ermitt- landes zu prüfen ist.
lungsbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft) und
7 das Gericht den Sinn von Fragen verstehen und
sinnvoll darauf antworten zu können. Es reicht die 7.4 Haftfähigkeit
Fähigkeit zu inhaltlich geordneter Kommunikation.
Soll eine Person in Haft genommen werden (Untersu-
chungshaft, Strafhaft), so ist zu prüfen, ob eine solche
Bei der Vernehmung darf die Freiheit der Willens- längerfristige Unterbringung in Untersuchungshaft
bildung nicht durch Erkrankungen, Intoxikationen etc. bzw. in einer Haftanstalt medizinisch vertretbar ist
beeinträchtigt sein. Eine Beeinträchtigung des Be- (syn. Vollzugstauglichkeit). Entsprechende Einschrän-
schuldigten durch verbotene Vernehmungsmethoden kungen der Haftfähigkeit können sein:
(§ 136a StPO), z.B. Androhung von Gewalt (Folter), ist 4 akut lebensbedrohliche Erkrankungen
unzulässig. Vernehmungsunfähigkeit ist z.B. anzu- 4 schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen
nehmen bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen 4 auszehrende chronische Erkrankungen wie Anä-
des Bewusstseins, des Denkens, der Fähigkeit zur Wil- mien, fortgeschrittene Tumorerkrankungen
lensbildung oder des Gedächtnisses. Akute schwerere 4 Zustände nach Hungerstreik
Alkohol-, Drogen und/oder Medikamentenintoxika-
tionen führen zur Vernehmungsunfähigkeit, aber auch Ebenso wie bei anderen Begriffen, gibt es auch für
z.B. eine ausgeprägte Entzugssymptomatik und schwe- die Haftfähigkeit keine Legaldefinition. Für die Fest-
re Ermüdungszustände. So kommt es vor, dass die stellung der Haftfähigkeit können Ärzte der Justizvoll-
prozessuale Verwertbarkeit von Aussagen eines Beschul- zugsanstalten herangezogen werden, ggf. kann eine
digten im Alkohol- oder Drogenrausch später geprüft Untersuchung in einem Justizvollzugskrankenhaus er-
werden muss. folgen.
! Haftunfähigkeit setzt eine nahe krankheits-
bedingte Lebensgefahr, einen schweren geis-
7.3 Gewahrstauglichkeit tigen Verfall oder eine schwere meist chro-
nische Beeinträchtigung des Gesundheitszu-
Gewahrstauglichkeit und Haftfähigkeit sind zu tren-
standes voraus.
nen. Eine Ingewahrsamnahme kann bis zur Vorfüh-
rung beim Haftrichter erfolgen, aber auch z.B. zum Eine in U-Haft befindliche Person wird erst nach
Zwecke der Ausnüchterung. In allen Zweifelsfällen rechtskräftiger Verurteilung am Ende einer Hauptver-
muss die Gewahrstauglichkeit ärztlich kontrolliert handlung in eine reguläre Justizvollzugsanstalt über-
bzw. festgestellt werden. führt. Die Teilnahme an der Hauptverhandlung vor
Gericht setzt voraus, dass der Inhaftierte zur Gerichts-
! Gewahrstauglichkeit betrifft die medizinische verhandlung reisen und den Termin wahrnehmen
Vertretbarkeit einer zeitlich befristeten kann (Reise- und Terminfähigkeit). Die Reise- und
Ingewahrsamnahme einer Person durch die Terminfähigkeit ist im Regelfall ebenfalls nur bei
Polizei. schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchti-
7.5 · Verhandlungsfähigkeit
115 7
gungen nicht gegeben, was ärztlich festgestellt werden
muss. Häufiger wird infrage gestellt, ob ein Angeklag-
ter verhandlungsfähig ist.
7.5 Verhandlungsfähigkeit
Spezielle Fallkonstellationen
bei natürlichen, unklaren
und nichtnatürlichen Todesfällen
benutzt. Betroffen sind v.a. junge Männer zwischen dem Boden einer stenosierenden Koronarsklerose,
20 und 30 Jahren, die bei erstmaliger Inhaftierung zu Myokarditis, Kardiomyopathien, Herzklappenfehler,
Haftbeginn in einer Einzelzelle untergebracht werden. Herzmuskelhypertrophie (Hypertonus). Bei Todesfäl-
Tödliche Intoxikationen in der JVA belegen, dass dort len im Fitness-Studio ist eine Anabolika-Einnahme
Drogen kursieren, außerdem bekommen suchtkranke (Doping) in Betracht zu ziehen. Im Rahmen sexueller
Straftäter weiterhin im Rahmen einer Substitutions- Betätigung sind vorwiegend Männer ab dem 50. Le-
therapie Methadon. bensjahr betroffen, v.a. bei koronarer Herzkrankheit.
Die Todesfälle ereignen sich eher außerhalb der Ehe
Todesfälle in Privatwohnungen. Sogenannte Woh- (Freundin, Rotlichtmilieu) mit unterschiedlichen Auf-
nungsleichen werden zufällig gefunden, z.T. nach län- findeorten (Hotel, Bordell, PKW, im Freien). Unfall-
gerer Leichenliegezeit mit meist fortgeschrittenen bedingte Todesfälle können bei sadomasochistischen
Leichenveränderungen. Auffällig waren z.B. Fäulnis- Praktiken auftreten, aber auch als autoerotischer Un-
geruch, ein nicht geleerter Briefkasten oder fehlendes fall (Fesselung, hypoxieinduzierende Praktiken).
Erscheinen zu verabredeten Terminen. Betroffen sind
eher sozial isoliert lebende Menschen (alte Menschen, Schwangerschaftsassoziierte Todesfälle. Schwan-
Alkoholismus), die Wohnung ist nicht selten verwahr- gerschaftsassoziierte Todesfälle sind selten. Während
lost (dreckiger Zustand, reichlich leere Alkoholika, zur der Schwangerschaft ist an fulminante Lungenthrom-
Kompression sturzbedingter Platzwunden verwendete bembolien zu denken oder an eine Intoxikation (dro-
blutige Tücher). Der Zustand des Leichnams erlaubt gensüchtige Mütter!), unter der Geburt an eine Frucht-
8 häufig keine zweifelsfreie Identifizierung. Anamne- wasserembolie oder eine Uterusruptur. Postpartal wirft
stische Angaben zu Vorerkrankungen sind häufig nicht eine nicht erkannte atonische Nachblutung die Frage
zu bekommen. nach einem Behandlungsfehler auf.
Tod im Bad. Bei Todesfällen im Badezimmer handelt Tödliche Arbeitsunfälle. An Arbeitsplätzen gibt es viel-
es sich mehrheitlich um Unfälle oder Suizide, Tötungs- fältige Gefahren, vor denen z.B. Unfallverhütungsvor-
delikte haben einen Anteil von ca. 5%, natürliche To- schriften der Berufsgenossenschaften schützen sollen.
desfälle von bis zu 30%. Es kommen CO-Intoxika- Als Unfallquellen ist z.B. an Strom zu denken, an Fehl-
tionen sowie Intoxikationen mit Medikamenten vor steuerungen technischer Systeme und Maschinen,
und auch Todesfälle durch Strom. an herabstürzende Gegenstände oder toxische Sub-
stanzen. Für die Anerkennung als Arbeitsunfall muss
! Bei Anhaltspunkten für eine CO-Intoxikation
ein Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit be-
ist immer ein technischer Sachverständiger
stehen. Sogenannte Wegeunfälle, d.h. Unfälle auf dem
heranzuziehen, ebenso bei Todesfällen durch
direkten Weg zur Arbeit und zurück, gelten als Arbeits-
Strom.
unfälle. Bei jedem Arbeitsunfall sind die Polizei und die
Bei mit Wasser gefüllter Badewanne ist auf die Wasser- Berufsgenossenschaft als Träger der gesetzlichen Unfall-
temperatur zu achten, den Wasserstand und ob sich versicherung zu informieren. Aus der Landwirtschaft
die Atemöffnungen ober- oder unterhalb der Wasser- sind Unfälle in Silos bekannt (Fäulnisgase, auch in sog.
oberfläche befunden haben. Lag ein Schaumpilz vor Faultürmen), in der Chemieindustrie gibt es apoplekti-
den Atemöffnungen? Gegenstände in der Badewanne form verlaufende Intoxikationen. Schließlich kann die
(Föhn)? Beim Tod durch Strom in der Badewanne arbeitsbedingte körperliche Belastung Auslöser eines
können Strommarken fehlen! Gelegentlich begeben plötzlichen Todes sein, z.B. bei vorbestehender Herz-
sich Suizidenten ganz oder teilweise bekleidet in die Kreislauf-Erkrankung, was spezielle versicherungsme-
(gefüllte) Badewanne. Werden Personen teilentkleidet dizinische Begutachtungsprobleme aufwirft.
in teilweise noch sitzender Position auf der Toilette
angetroffen, liegt in der Regel ein natürlicher Tod vor Auffinden mehrerer Leichen. Beim plötzlichen Tod
(Lungenthrombembolie, Myokardinfarkt, rupturiertes mehrerer Menschen an einem Ort (Wohnung, Arbeits-
Aortenaneurysma). platz, in der Öffentlichkeit) ist im Regelfall ein nicht-
natürlicher Tod gegeben: Unfälle mit zwei oder mehr
Tod beim Sport und während sexueller Betätigung Leichen, Tötungsdelikte, Kombination von Tötungsde-
(Mors in actu). Unter körperlicher Belastung auftre- likt mit (versuchtem) Suizid (evtl. ein Überlebender),
tende Todesfälle beim Sport sind im Regelfall natür- erweiterter Suizid (. Tab. 8.1).
liche Todesfälle. Als Todesursache dominieren Herz- Fast immer ist bei zwei Leichen der Fundort auch
Kreislauf-Erkrankungen: koronare Herzkrankheit auf der Sterbeort.
8.2 · Todesfälle von Alkoholikern und Drogenkonsumenten
119 8
. Tab. 8.1 Umstände und Termini bei Suiziden und deren rechtsmedizinisch-kriminalistische Relevanz
Umstände Beurteilung
Mitwirkung am Suizid Aktive, über bloße Beihilfe hinausgehende Mitwirkung am Suizid Dritter mit
eigener Kontrolle des Tatgeschehens (= strafbare Tötung auf Verlangen)
Erweiterter Suizid Der Selbsttötung geht die Tötung meist nahestehender Personen (Partner
und/oder Kinder) voraus
Tötung und danach Selbsttötung Zwei Tatgeschehen: ein Tötungsdelikt und nachfolgender Suizid des Täters
bzw. der Täterin
Doppelsuizid Im engeren Sinne gleichzeitiger Suizid, meist von Paaren, jedoch behält
jeder die Tatherrschaft über die ihn betreffende Suizidmethode
Kollektiver Suizid (Massensuizid) In der Neuzeit und außerhalb von kriegsbedingten Situationen bei Sekten-
anhängern
Mehr- bzw. Vielfachtötung (Amok- Dem Suizid vorausgehende Tötung mehrerer bis zahlreicher Personen, die
lauf ) und danach Selbsttötung dem Täter näher bekannt sein können aber nicht müssen
Leichenbeseitigung, Leichenverstümmelung, Lei- Beile und Messer verwandt, die entsprechende Spuren
chenzerstückelung. Die früher gebräuchliche Unter- hinterlassen können (Sägespuren, Anritzungen, Ker-
scheidung zwischen defensiver und offensiver Leichen- ben, Rillenverlauf passend zum Werkzeug). Kanniba-
zerstückelung ist aufgegeben worden zugunsten einer lismus kann im Rahmen von Leichenzerstückelungen
Unterteilung, die den motivationalen Zusammenhang – in der Regel beim Typ III – vorkommen.
und die Befunde berücksichtigt (. Tab. 8.2).
Bei der defensiven Leichenzerstückelung müssen
die gefundenen Leichenteile anatomisch zugeordnet 8.2 Todesfälle von Alkoholikern
werden, in unklaren Fällen (mehrere zerstückelte Lei- und Drogenkonsumenten
chen) sind individualisierende molekulargenetische
Untersuchungen erforderlich. Zum Zerlegen des Leich- Stark alkoholisierte Personen und Drogenkonsumenten
nams erfolgt meist eine Durchtrennung und Abtren- können teils direkt, teils indirekt intoxikationsbedingt
nung in den Gelenken, selten ein Durchsägen z.B. der sterben. Die Mehrzahl der Alkoholtoten hat eine entspre-
langen Röhrenknochen. Als Werkzeuge werden Sägen, chende Anamnese, ein todesursächlich relevanter paral-
I Defensive Mutilation Zerstückelung zum Transport und um die Identifikation des Leichnams zu er-
schweren; häufig Abtrennung des Kopfes, Durchtrennung der großen Gelenke –
nicht selten erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum Todeseintritt
II Aggressive Mutilation Tatbedingter Exzess mit ungerichteter Zerstückelung und Verstümmelung des
Leichnams
IIIa Offensive Mutilation Motivation zur Tötung mit der Absicht sexueller Handlungen am Leichnam oder
an Teilen des Leichnams nach Zerstückelung
IIIb Offensive Mutilation Sexuelle Handlungen mit Verletzungen bis zum Tode und darüber hinaus aus
sexuell-sadistischer Veranlagung
IV Necromanic Mutilation Vom Leichnam werden Körperteile als Fetisch, Trophäe oder Symbol abgetrennt
120 Kapitel 8 · Spezielle Fallkonstellationen bei natürlichen, unklaren und nichtnatürlichen Todesfällen
Gastrointestinaltrakt. Als Ursache eines plötzlichen . Abb. 8.6 Großes Ulcus pepticum ventrikuli
Todes ist zunächst an Blutungen des oberen Gastroin-
testinaltraktes, v.a. Ösophagusvarizenblutungen bei
portaler Leberzirrhose oder Ulkusarrosionsblutungen laterale Nebennierenhämorrhagien, Zeichen der dis-
(Ulcus pepticum ventriculi, Ulcus duodeni) zu denken seminierten intravasalen Gerinnung, Petechien der
(. Abb. 8.6). Blutantragungen in Umgebung des Leich- Haut, der Schleimhäute und der serösen Häute). Der
nams müssen dann nicht auf Verletzungen nach tät- Erregernachweis erfordert eine entsprechende mikro-
licher Auseinandersetzung hindeuten, kaffeesatzartige biologische und virale Diagnostik, sollte jedoch ge-
Antragungen lassen an eine Ulkusblutung denken. Bei führt werden. Gegebenenfalls sind Meldepflichten
Alkoholikern können zahlreiche Hämatome in sturz- nach dem Infektionsschutzgesetz zu beachten.
wie anstoßtypischer Lokalisation vorhanden sein, v.a.
auf dem Boden einer gestörten Blutgerinnung infolge Erkrankungen endokriner Organe. Bedeutsam ist
alkohologener portaler Leberzirrhose. die nicht erkannte diabetische Stoffwechselentglei-
Selten ist eine akute hämorrhagisch-nekrotisieren- sung mit Tod im Coma diabeticum. Bei der Obduk-
de Pankreatitis Ursache eines plötzlichen Todes, meist tion sind makroskopisch unspezifische Befunde gege-
wird aufgrund der Schmerzhaftigkeit des Prozesses ben (Hirnödem, evtl. beginnende hypostatische Pneu-
ebenso wie bei Peritonitiden (perforierte Appendizitis, monie), bei einer Glomerulosklerose Kimmelstiel-
perforiertes Ulkus, perforierte Divertikulitis) rasch die Wilson finden sich rote, feste, fein granulierte Nieren.
Klinik aufgesucht, allerdings kann eine eitrige Perito- Entscheidend sind postmortal biochemische Untersu-
nitis innerhalb von Stunden zum Tode führen. chungen zur Konzentration von Glukose und HbA1c,
hilfreich sind histologische Befunde (. Tab. 8.3). Plötz-
Infektionen. Schwere Infektionen können zu einer liche unerwartete Todesfälle kommen vor bei unent-
foudroyant verlaufenden tödlichen Sepsis führen (bi- deckten Phäochromozytomen – Katecholamine (Adre-
124 Kapitel 8 · Spezielle Fallkonstellationen bei natürlichen, unklaren und nichtnatürlichen Todesfällen
. Tab. 8.3 Diagnostik bei Verdacht auf ein letales Coma diabeticum
Schädelkalotte, Xanthochromie
subkutanes Fettgewebe
Pankreas (histologisch) Unspezifisch; bei akutem Coma junger Menschen evtl. Pankreatitis; Insulitis
Liquor Summenwert aus Glukose und Laktat beim diabetischen Coma: 500–600 mg/dl; erhöhte
HbA1c-Werte (>12,1%)
8
nalin/Noradrenalin) produzierende Tumore – des Ne- denz liegt in Deutschland derzeit bei 0,5‰ (vor 30 Jahren
bennierenmarks, gelegentlich bei unerkanntem Mor- lag die Inzidenz noch bei 1,2–1,8‰). Das Häufigkeits-
bus Addison. Seltene Ursache eines plötzlichen Todes maximum liegt zwischen dem 2. und 4. Lebensmonat.
können bestimmte Stoffwechselerkrankungen sein, wie
z.B. eine ausgeprägte Amyloidose vom kardiovasku- Definition
lären Typ (. Abb. 8.7). Plötzlicher Kindstod: Plötzlicher Tod jedes Säug-
lings oder Kleinkindes, der unerwartet eintritt und
bei dem sich durch eine sorgfältige postmortale
Untersuchung keine adäquate Todesursache
nachweisen lässt (Beckwith 1970).
Die Stavanger-Definition von 1994 präzisiert:
Plötzlicher Tod im Säuglingsalter, der nach Über-
prüfung der Vorgeschichte, Untersuchung der
Todesumstände und den Ergebnissen der Obduk-
tion ungeklärt bleibt.
Gruppe Charakteristika
SIDS im engeren Sinne Obduktion und klinische Befunde lassen keine Todesursache erkennen
Non-SIDS Todesursache ist durch klinische Informationen und durch das Ergebnis der Obduktion
hinreichend geklärt
Verdacht auf SIDS Fälle, bei denen keine Obduktion durchgeführt wurde
126 Kapitel 8 · Spezielle Fallkonstellationen bei natürlichen, unklaren und nichtnatürlichen Todesfällen
Kindesmisshandlung
> > Einleitung den in Deutschland jährlich mehrere tausend Fälle von
Kindesmisshandlung in der polizeilichen Kriminalsta-
Eine 22-jährige kommt mit ihrem neuen Freund und ihrem tistik erfasst, die Dunkelziffer wird jedoch auf bis zu
3-jährigen Sohn in die Ambulanz. Sie berichtet, ihr Sohn sei 100.000 Fälle/Jahr geschätzt.
am Tag zuvor vom Klettergerüst gestürzt, gegen die Kante
des Sandkastens geprallt und mit dem Kopf aufgeschlagen.
Zu Hause habe sich der Sohn übergeben müssen. Jetzt sind 9.1 Verdachtsmomente
größere blaue Flecken zu sehen. Das weinerliche Kind zeigt
auf der linken Wange streifige Hautrötungen, am Rücken Besonders gefährdet sind Kleinkinder vom 2. bis 4.
zwei parallel verlaufende rötliche Striemen in einem Ab- Lebensjahr, außerdem unerwünschte, entwicklungs-
stand von ca. 1 cm. Auf Nachfrage meint die Mutter, ihr gestörte, behinderte und vernachlässigte Kinder.
Sohn sei wohl mit dem Rücken auf die Sandkastenkante Die »aktiv« misshandelnden Täter stammen überwie-
geprallt und dann mit der Wange auf den Boden. Sie sei gend aus dem Kreis jüngerer Erwachsener, Frauen
aber nicht dabei gewesen, ihr Freund habe aufgepasst. Der misshandeln eher »passiv«. Hinweise auf eine Kindes-
Freund, 27 Jahre, meint ,er habe gerade weggesehen, als es misshandlung können sich aus den Gesamtumstän-
passiert sei. Der hinzugerufene Rechtsmediziner ordnet den in Kombination mit medizinischen Befunden
die Verletzungen als Schlag auf den Rücken mit z.B. einem ergeben:
Gürtel ein, die streifigen Rötungen der Wangenhaut als 4 Anamnese bzw. behaupteter Geschehensablauf
Folge eines Schlages mit der flachen Hand und das Erbre- und der Verletzungsbefund passen nicht zueinan-
chen als Folge einer schlagbedingten Gehirnerschütterung. der.
Der behandelnde Arzt teilt der allein sorgeberechtigten 4 Über den primären Vorstellungsgrund hinaus
Mutter mit, dass der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung werden zusätzliche Verletzungen gefunden.
9 bestehe. Die Mutter will empört die Ambulanz mit ihrem 4 Die Angaben zum vorangegangenen Geschehen
Sohn verlassen. Der Arzt besteht auf weitere stationäre Ab- wechseln und/oder bleiben vage.
klärung, insbesondere zum Ausschluss intrakranieller Blu- 4 Anamnestische Angaben von verschiedenen Be-
tungen. treuungspersonen sind sehr unterschiedlich.
4 Ein behaupteter Unfallmechanismus passt nicht
Fälle von Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch zum Alter des Kindes.
und Kindestötung einschließlich der Neugeborenen- 4 Der Arztbesuch erfolgt zeitlich deutlich verzögert.
tötung werfen spezielle Fragen auf. Neben den unter- 4 Es werden mehrere Ärzte bzw. Kliniken aufge-
schiedlichen Gewaltformen, die zu differenzieren sind, sucht.
stellt sich die Frage nach einer adäquaten Reaktion bei 4 Es wird behauptet, das Kind habe sich selbst ver-
begründetem Verdacht auf eine Kindesmisshandlung. letzt oder ein Geschwisterkind habe die Verlet-
zungen verursacht.
Definition 4 In der Vergangenheit gab es bereits stationäre Auf-
Kindesmisshandlung: Die nicht zufällige, be- enthalte wegen Verletzungen oder unspezifischer
wusste oder unbewusste gewaltsame körperliche Störungen (z.B. Gedeihstörung, Nahrungsverwei-
und/oder seelische Schädigung eines Kindes in gerung).
Familien oder Institutionen, die zu Verletzungen 4 Auffällige Häufung von »Unfällen«
und/oder Entwicklungshemmungen und im Ein- 4 Vorbestehende Kontakte zum Jugendamt (auffäl-
zelfall bis zum Tode führt. lige Sozial- bzw. Familienanamnese, häusliche Ge-
walt und Misshandlungen in der Vorgeschichte
auch der Betreuungspersonen, Alkohol- und Dro-
Häufig wird für die physische Kindesmisshandlung genmissbrauch).
der Begriff »Battered Child« gewählt, die jüngere Lite-
ratur spricht von nichtakzidenteller Verletzung (»Non Handelt es sich um ein echtes Unfallgeschehen, dann
Accidental Injury«: NAI) oder Misshandlungsverlet- wird nahezu immer sehr zeitnah der Arzt aufgesucht
zung (»Abusive Injury«; »Inflicted Injury«). Das Spek- und das Unfallgeschehen kann als plausible Erklärung
trum an Gewalt gegen Kinder umfasst vor allem die für die Verletzungen angesehen werden.
stumpfe Gewalt und thermische Verletzungen (Ver- Verletzungen an typischen Lokalisationen für eine
brennungen, Verbrühungen) neben Sonderformen wie nichtakzidentelle Beibringung begründen den Ver-
dem Schütteltrauma-Syndrom sowie die Folgen von dacht auf eine Kindesmisshandlung. Solche Lokalisa-
psychischer Gewalt und Vernachlässigung. Zwar wer- tionen sind u.a.:
9.1 · Verdachtsmomente
129 9
4 Innenseiten der Lippen, Frenulum der Lippen und
der Zunge
4 Verletzungen der Schleimhaut des Gaumens und
der Wangen
4 Verletzungen retroaurikulär, in der behaarten
Kopfhaut und des Gesäßes.
. Tab. 9.1 Klinische Untersuchung bei Verdacht auf körperliche Kindesmisshandlung (nach Herrmann et al. 2010)
Befund/Parameter Maßnahme
Ganzkörper- Erhebung des vollständigen Status: körperlich einschl. Anogenitalregion nach voll-
untersuchung ständiger Entkleidung, neurologisch, Berücksichtigung von Prädilektionsstellen
Befundbeschreibung Lokalisation, Art, Farbe, Größe, Form bzw. Formung, Gruppierung, Zeichen der Wund-
und Dokumentation heilung. Ausmessen aller Verletzungen, immer Skizze mit Messungen dokumentieren,
zusätzlich mit Maßstab fotografieren. Übersichts- und Detailaufnahmen
Frische Bissspuren Für forensischen DNA-Nachweis steriler Abstrich, an der Luft trocknen lassen
. Tab. 9.2 Spezifität von Verletzungen zum Nachweis einer nichtakzidentellen Genese (ohne Frakturen) (modifiziert
nach Herrmann 2002)
Hohe Aussagekraft
ZNS Subdurale Hämatome mit retinalen Blutungen und Gehirnschädigung, retinale Blutung,
Retinoschisis, Glaskörperblutung
Mittlere Aussagekraft
HNO Hypopharynxperforationen
9 Abdomen Verletzungen des linken Leberlappens, der Nieren, des Pankreas, Pankreaspseudozysten
Niedrige Aussagekraft
Abdomen Milzverletzungen
Im Einzelfall ist immer zu prüfen, ob ein plausibles Unfallgeschehen oder eine andere Erkrankung vorliegt!
. Tab. 9.3 Radiologische Spezifität von Frakturen im Hinblick auf eine Kindesmisshandlung (nach Herrmann et al.
2010)
Spezifität Befunde
Hohe Spezifität Klassische metaphysäre Fraktur, Rippenfrakturen, v.a. dorsal, Frakturen von Skapula, Processus
spinosus und Sternum; Frakturen im 1. Lebenshalbjahr und bei prämobilen Säuglingen
Mittlere Spezifität Multiple, v.a. bilaterale Frakturen, Frakturen verschiedenen Alters, Epiphysiolysen, Wirbelkörper-
frakturen oder Subluxationen, Frakturen an Fingern, Händen und Füßen, komplexe Schädelfrak-
turen, Mandibulafrakturen, periostale Reaktionen, Frakturen im Säuglingsalter
Im Einzelfall ist immer zu prüfen, ob ein plausibles Unfallgeschehen oder eine andere Erkrankung vorliegt!
9.2 · Stumpfe Gewalt und Kindesmisshandlung
131 9
Schläge (Stock, Seil, Stange) Sog. Doppelstriemenmuster als anämische Aufschlagspur mit zentraler Abblassung
und feinstreifigen parallelen Hämatomen
Schläge mit der flachen Hand Geformte Hämatome mit streifigen Fingerabdruckkonturen sind insbesondere
an den Wangen möglich, retroaurikuläre Hämatome, HNO-Konsil: Trommelfell-
ruptur?
Schläge mit der Faust Monokel- oder Brillenhämatom, Augenverletzungen, Hämatome der Mund-
schleimhaut inkl. Zahnabdruckkonturen (Zähne als Widerlager!), Organzerreißungen
im Bauchraum (Leber, Milz, Gastrointestinaltrakt)
Schläge mit sonstigen Flächenhafte Hämatome, evtl. geformt mit Konturen passend zum Schlagwerkzeug;
Gegenständen typische Lokalisationen: Rücken, Gesäß, evtl. finden sich Abwehr- bzw. Parierverlet-
zungen in Höhe der Streckseiten der Unterarme
Fußtritte Profilabdruck bei beschuhtem Fuß möglich. Cave: Tritte und Faustschläge gegen
die Bauchdecke müssen nicht zu äußerlich sichtbaren Verletzungen führen,
können aber massive innere Blutungen verursachen!
Fesseln Sog. Fesselungsspuren in Form von mehr oder weniger zirkulären Hautrötungen,
Hautabschürfungen und Hämatomen, v.a. in Höhe der Hand- und Fußgelenke
Fallenlassen oder Werfen Meist flächenhafte Hämatome, auch Frakturen möglich, insbesondere der Schädel-
des Kindes gegen einen Ge- knochen
genstand
Unscharfe Begrenzung zur gesunden Haut Scharfer Rand zur gesunden Haut
Bei Verbrühungen am Thorax pfeilartige Fehlen sog. Abrinnspuren bei zwangsweisem Eintauchen
Konfigurationen des Gesichts
An den Extremitäten spritzerartige Verteilung Handschuh- bzw. sockenartige Verbrühungen nach Ein-
der Verbrühungen tauchen der Hand, des Fußes
Unvollständige Abbildung heißer Kontaktflächen Meist vollständige und klare Kontur des aufgedrückten
heißen Gegenstandes (Zigarette, Bügeleisen, Herdplatte,
Föhnöffnung etc.)
Geringere und wechselnde Verletzungstiefe, da bei Relativ gleichmäßige Verletzungstiefe durch Anpressen
Unfällen der Körper oder der Gegenstand meist nicht und Fixierung des Gegenstandes bzw. des Körpers des
fixiert sind Kindes
9.4 · Schütteltrauma-Syndrom (STS)
133 9
Misshandlungsbedingte Verbrühungen bei Kindern, 4 evtl. Anschlagverletzungen am Kopf
die eine Hand, einen Fuß oder das Gesäß betreffen, zei- 4 sog. subperiostale Zerrungsblutungen in Höhe des
gen eine auffällige wasserspiegelartige Begrenzung. Im Ansatzes der Halsmuskulatur an den Claviculae
Einzelfall können im Rahmen des Tatgeschehens Sprit-
zer heißen Wassers in ein Auge gelangen (. Abb. 9.3).
Kindesmissbrauch
Form des Hymens Anulär – semilunar – fimbrienartig – seltener: septiert, kribriform, mikro-
perforiertes Hymen – Sonderform
Aussehen des freien Hymenalsaumes Glatt – gewellt – Kerben – Tiefe der Kerben – Lücken
Dehnungsfähigkeit der Soweit beurteilbar; Cave: Fremdkörper hinter dem Hymen sind ver-
Hymenalöffnung dächtig auf eine Fremdbeibringung, v.a. bei kleineren Mädchen mit
noch leicht verletzlichem und schmerzempfindlichem Hymen
Analregion: akuter Missbrauch Perianale Schwellung, marginale Hämatome, radiäre (blutende?) Fissuren,
klaffender Anus, lineare Hautabschürfungen
Analregion: chronischer Missbrauch Verdickung der Analhaut, Verlust des Faltenreliefs, verminderter Sphinkter-
tonus, anale Dilatation, venöse Stauung, chronische Fissuren, keilförmige
Vernarbungen und Hautanhängsel (»tags« – nicht in der Körpermittellinie),
Warzen; an sexuell übertragbare Erkrankungen denken
Extragenitale und extraanale Befunde Zum Beispiel: Misshandlungsbefunde wie Griffspuren, Abwehrverletzungen,
beachten Schlagverletzungen etc.
Verdacht auf sexuellen Missbrauch stark (+++), erheblich (++), gering (+).
Im Einzelfall ist bei allen Erregern eine intrauterine bzw. perinatale Infektion möglich, bei Mykoplasmen, Ureaplasma,
bakterieller Vaginose und Candida albicans jedoch fraglich bzw. nicht bekannt.
! Der Nachweis einer sexuell übertragbaren Spermien. Wird von oralen Hautkontakten (Lecken,
Krankheit (STD: sexual transmitted disease) Küssen, Beißen etc.) berichtet, sollten die entsprechen-
bei einem Kind bedarf immer der Abklärung den Hautareale mit einem feuchten Wattestieltupfer
des Infektionsweges. vorsichtig abgerollt werden, auch wenn dort mit
bloßem Auge keine Antragungen zu erkennen sind.
Allerdings ist der Beweiswert für einen sexuellen Kin- Alle Abstriche müssen ebenso wie sonstige Asservate
desmissbrauch bei sexuell übertragbaren Erkrankun- mit den persönlichen Daten beschriftet werden sowie
gen unterschiedlich, auch hier bedarf es einer Betrach- Angaben zum Ort, der Uhrzeit und des Datums der
tung der Gesamtsituation (. Tab. 10.2). Entnahme.
Spurenkundliche Untersuchungen verlangen Ab- Die anogenitalen Untersuchungsbefunde sollen
striche von anal, vaginal und oral zum Nachweis von durch Klassifizierung in Bezug gesetzt werden zu einem
10 · Kindesmissbrauch
139 10
Klasse Befund
Kindestötung
. Tab. 11.1 Fragestellungen bei einem tot gefundenen Neugeborenen und der Kindesmutter
Nachweis der Lebensfähigkeit des Neugeborenen Diagnose der kurz zuvor erfolgten Geburt
Lebensdauer nach der Geburt (positive Lungen- Zeitliche Eingrenzung des Zeitpunktes der Geburt
schwimmprobe (. Abb. 11.1) und/oder positive Magen-
Darm-Schwimmprobe (. Abb. 11.2)
Zeichen des Neugeborenseins und Art der Abnabelung Korrelation von Geburtszeitpunkt und Liegezeit des Neu-
geborenen
Rekonstruktive Aussagen zum Tatgeschehen anhand Klärung des Verbleibs von Plazenta und Nabelschnur
der Befunde bei Leichenschau und Obduktion
11
. Abb. 11.1 Lungenschwimmprobe. Positive Lungen- . Abb. 11.2 Magen-Darm-Schwimmprobe. Positive Magen-
schwimmprobe als Zeichen des Gelebthabens nach der Darm-Schwimmprobe als Zeichen des Gelebthabens nach der
Geburt Geburt
. Tab. 11.2 Vergleichende Daten zur Abgrenzung von sog. plötzlichem Säuglingstod, Tötungsdelikt (Infantizid) und
Münchhausen-Syndrom-by-Proxy (MSbP) in Form des Erstickens (modifiziert nach und orientiert an Noeker u. Keller
2002 sowie Häßler 2007)
1.–12. Lebensmonat Grundsätzlich jedes Alter Säuglinge und Kleinkinder; letale Verläufe
in ca. 10–15%
Auffinden nach längerer Schlaf- Akutes Geschehen, selten Kaum nach längerer Schlafphase
phase, d.h. Intervall zwischen nach längerer Schlafphase
letztem Kontakt und Tod >2 h
Todeseintritt unbeobachtet Tötung zumindest in Täter(in) war allein mit dem Kind
im Schlaf Anwesenheit des Täters
Säugling meist ohne klinische Säugling/Kleinkind Täter(in) berichtet häufig von akuter, lebensbe-
Krankheitssymptome ohne relevante Krankheits- drohlich imponierender Symptomatik (Schreien,
symptome Augen verdrehen, blau anlaufen etc.)
Obduktion und Folge- Obduktion und Folgeunter- Obduktion und Folgeuntersuchungen z.T. wie
untersuchungen decken keine suchungen führen in der beim plötzlichen Kindstod, gelegentlich diskre-
Todesursache auf Regel zum Nachweis der te suspekte Petechien in der Gesichtshaut und/
Todesursache oder in den Lidbindehäuten beim Ersticken
durch weiche Bedeckung; bei lebenden Opfern:
Symptome finden keine Erklärung
Kein Täter; natürlicher Tod Täter mehrheitlich männlich Täter(in) mehrheitlich weiblich
In der Regel kein Wieder- In der Regel keine Wieder- Nicht selten mehrere Kinder betroffen
holungsfall in der Familie holungstat
Eltern psychisch unauffällig Tatspezifische psychische Täter(in) häufig psychisch auffällig, jedoch
Besonderheiten möglich ohne eindeutige psychiatrische Diagnose
Keine vorherige stationäre Be- Besondere Umstände im Auffällig häufig mehrfache ambulante und/
handlung des Säuglings Einzelfall oder stationäre ärztliche Konsultation; Rück-
bildung der Symptome, wenn das Kind von
dem/der Täter(in) getrennt wird
Mütter verheiratet oder eher in Besondere Umstände im Eher distanzierte Partnerschaft; vordergründig
fester Beziehung lebend Einzelfall überbesorgte Mutter, Beziehungssuche zum
Klinikpersonal
Vorangegangene Apnoen oder sog. Gelegentlich »unklare Verlet- Häufiger zuvor Einweisungen zur Behandlung,
ALTE werden kaum berichtet zungen« in der Vorgeschichte z.T. mit sog. ALTE-Symptomatik
Definition
Emotionale Vernachlässigung (Deprivation)
meint ein nicht hinreichendes oder ständig wech-
selndes und nicht ausreichendes emotionales Be-
ziehungsangebot.
Körperliche Vernachlässigung meint eine nicht
ausreichende Versorgung und Gesundheitsfür-
sorge, die zu schweren Gedeih- und Entwick-
lungsstörungen führen kann, bis zum psychoso-
zialen Minderwuchs.
Verkehrsmedizin
. Abb. 12.3 PKW-Frontalaufprall. Fahrerdynamik bei Frontalaufprall ohne Gurt (obere Reihe) und mit Gurt (untere Reihe)
Verletzungen Ursache
Sprunggelenk- und Mittelfußfrakturen Reflektorisches Stemmen der Füße gegen die Pedale
bzw. Fußplatte
Herz- und Lungenkontusionen, Lungenrupturen, Kompression von Thorax und Abdomen; direkte und
Leber- und Milzrisse indirekte Kräfte (Massenträgheit der Organe)
Feine Schnitt- und Schürfverletzungen im Gesicht Kontakt des Gesichts mit der Windschutzscheibe und
Bruch derselben
Luxationen und Brüche der Halswirbelsäule, Fehlen oder falsches Einstellen der Kopfstütze: Rückschleu-
v.a. HWK 6 und 7 derung des Körpers und Peitscheneffekt an Kopf und Hals
Bandartige Vertrocknungen oder Hämatome horizontal »Gurtmarke«: Stumpfe Gewalt durch den Druck des Gurtes
am Unterbauch und meist vom rechten Unterbauch zur und zusätzliche tangentiale Bewegung auf der Haut
linken Schulter
12 mäßig eine Kollision des Kopfes mit der Windschutz- hendes Fahrzeug an Ampeln, am Straßenrand oder am
scheibe erleiden. Die übrigen Verletzungen sind ge- Ende eines Staus. Typische Folge ist das sog. HWS-
prägt durch die Fahrzeugeinbauten und ggf. Airbags. Schleudertrauma.
Die Verletzungen sind meist bei allen Fahrzeuginsas- HWS-Schleudertrauma. Klinisch werden von den
sen in vergleichbarer Intensität ausgebildet. Die Verlet- Betroffenen Kopf-, Nacken-, Schulter-, Arm-, Rücken-
zungen der Fondpassagiere sind zudem abhängig von schmerzen, Schluckbeschwerden, Schwindel, Schlaf-
der Beladung des PKW; gehäuft treten Schädel- und und Konzentrationsstörungen angegeben. Ursächlich
Brustkorbverletzungen sowie Frakturen der unteren ist offenbar nicht die Hyperextension sondern die Trans-
Extremitäten auf. lations- und Rotationsbeschleunigung beim Stoß von
hinten und sekundäres Kippen des Kopfes nach vorn
Seitenaufprall. PKW bieten an der Seite wenig defor- (. Abb. 12.6). So wirken Zug, Druck und Scherkräfte.
mierbares Material. Kommt es zur seitlichen Kollision Manche Autoren gehen von einer notwendigen mini-
mit einem frontal auftreffenden PKW, dringt dieser malen Δv von 10 km/h aus; andere lehnen diesen starren
meist tief in die Fahrgastzelle ein und die Dezelera- Wert ab und sehen vielmehr die fehlende Erwartungs-
tionsstrecke des Oberkörpers ist kurz. Innere Organ- haltung mit dem reduzierten Muskeltonus als wichtigste
verletzungen sind häufig die Folge. Die abrupte Seit- Voraussetzung an. In den Zivilverfahren werden zuneh-
wärtsbewegung des Kopfes bedingt Verletzungen der mend morphologische Korrelate zur Untermauerung
Halswirbelsäule. Die Ausstattung der PKW mit Air- der Diagnose gefordert. Diese können fast nur mit bild-
bagsystemen hat erhebliche Vorteile für Fahrzeug- gebenden Verfahren gesichert werden:
insassen beim Seitenaufprall gebracht. 4 mechanische Beeinträchtigungen der zervikalen
Nervenwurzeln
Heckaufprall. Ein leichter Heckaufprall ist ein häufi- 4 Schädigungen der Nervenendigungen der Hals-
ges Ereignis, vorwiegend beim Auffahren auf ein ste- muskulatur
12.1 · Verkehrsunfall
151 12
Haut der rechten Sprunggelenkregion und Mittelfuß-
luxationen.
12.1.3 Fußgänger-PKW-Unfall
b
. Abb. 12.7a, b Fußgänger-Kollision mit einem PKW (a) und einem LKW (b)
12
punkt in einer Beschleunigungsphase wird seine Front seiner Sicht von rechts (langer Weg über die Fahrbahn
angehoben mit Verlagerung des Anstoßpunktes nach mit besserer Möglichkeit des Wahrnehmens durch den
oben. Der Anstoßpunkt beim LKW-Fußgänger-Unfall PKW-Fahrer) oder links (möglicherweise spontanes
liegt höher, oftmals im Bereich der Oberschenkel. Bei Hervortreten zwischen geparkten Autos) angefahren
einer sehr plan gestalteten LKW-Front kann eine diffe- wurde. Gänzlich andere Umstände können sich erge-
renzierbare primäre Anstoßstelle fehlen. ben, wenn der Fußgänger von vorn oder hinten ange-
fahren wurde.
Befunde am Verletzten/Verstorbenen. An der Klei-
dung (Hosenbein) können Kunststoffabriebe oder Be- Begutachtung der Schuhsohlen. Schleifspuren an
schädigungen des Stoffs zu sehen sein. Dazu korre- den Schuhsohlen belegen, dass sich der Fußgänger
spondierend finden sich am Unterschenkel Schür- zum Kollisionszeitpunkt in aufrechter Position befand.
fungen oder Vertrocknungen und Einblutungen in das Die Position der Schleifspuren lässt Rückschlüsse auf
Unterhautfettgewebe und die darunter gelegene Mus- die Anstoßrichtung zu. Ist nur die Schuhsohle einer
kulatur. Reicht die einwirkende Gewalt des Anstoßes der beiden Schuhe mit einer Schleifspur beschädigt,
aus, entsteht die typische knöcherne Anstoßverletzung weist dies auf das Standbein und somit auf einen dyna-
– der sog. Messerer-Keil (. Abb. 12.8 und . Abb. 12.9). mischen Prozess (Gehen) hin.
Dieser ist gekennzeichnet durch einen Bruchkeil, des-
sen Spitze in die gleiche Richtung wie die einwirkende Aufladephase. Die Aufladephase ist gekennzeichnet
Gewalt zeigt. Damit ist es möglich, die exakte Position durch das Aufladen des Fußgängers auf die Motorhau-
des Fußgängers zum Anstoßzeitpunkt zu rekonstruie- be, Rotation des Körpers sowie Aufschlagen auf und
ren. Für die juristische Würdigung ist es z.B. wichtig, Gleiten über Motorhaube, Frontscheibe und Front-
ob der Fußgänger beim Überqueren der Straße aus scheibeneinfassung. Betroffen sind zunächst Becken
12.1 · Verkehrsunfall
153 12
beobachtet mit entsprechender Schädigung des Hals-
marks. In extremen Fällen mit sehr hohen Kollisionsge-
schwindigkeiten kann es dazu kommen, dass der Fuß-
gänger nach dem primären Anstoß den PKW »überflie-
gt«, also eine Aufladephase ausbleibt.
a b
a b
c d
. Abb. 12.12a–d Frontale Kollision des Zweirads mit der Seite des PKW. a und b Obere Reihe: Anprall in Höhe der Fahr-
gastzelle. c und d Untere Reihe: Anprall in Höhe der Motorhaube
Frühsymptome Spätsymptome
Konvergenzschwäche Phantasiebilder
Häufiges Gähnen Plötzliches Erschrecken mit Herzklopfen bei Änderung der Fahrsituation
Missempfindungen beim Schalten Plötzliche, kurze Absenzen bei offenen Augen mit folgendem Erschrecken
und Kuppeln
fälle so weit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig 12.2.3 Fahruntauglichkeit aufgrund
ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere charakterlicher Mängel
Strecke, und zwar auch bei plötzlichem Auftreten
schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern. Liegt ein schweres Fehlverhalten im Straßenverkehr
vor, z.B. Überholvorgang innerhalb einer geschlosse-
nen Ortschaft mit 100 km/h, wird man zunächst an
12.2.1 Fahruntüchtigkeit infolge eine Enthemmung und erhöhte Risikobereitschaft
Übermüdung durch Alkohol oder andere Fremdstoffe denken. Wird
dann in einer kurz danach entnommenen Blutprobe
12 Die Übermüdung stellt die häufigste nicht fremdstoff- weder Ethanol noch eine andere Substanz nachge-
bedingte Ursache der Fahruntüchtigkeit dar und kann wiesen, ist eine Krankheit in Betracht zu ziehen. Kann
außerdem eine Fremdstoffbeeinträchtigung zusätzlich auch eine Krankheit ausgeschlossen werden, ist davon
verstärken. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, auszugehen, dass charakterliche Mängel vorliegen, die
dass die Übermüdung für den Kraftfahrer frühzeitig den Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen
erkennbar ist. Man unterscheidet zwischen frühen und ungeeignet erscheinen lassen. Erhärtet wird dieser
späten Symptomen (. Tab. 12.2). Verdacht bei Wiederholung solcher Vorfälle.
. Tab. 12.3 Erkrankungen und Erkrankungsgruppen mit Einfluss auf die Fahrtauglichkeit
Herzinsuffizienz Kollapsgefahr
Atmung und Lunge Schwere COPD Auswirkungen auf den Kreislauf mit plötzlichen Synkopen
Nervensystem Z.n. Rückenmarkverletzung Abhängig von der Schwere der motorischen und sensiblen
Defizite
Betäubungsmittel Abhängigkeit (Sucht) und akute Schwere körperliche und geistige Schäden mit Selbst-
und Arzneimittel Intoxikationen überschätzung, Gleichgültigkeit, Reizbarkeit sowie Ent-
differenzierung und Deprivation der Persönlichkeit
12
13
Forensische Alkohologie
und Toxikologie
Die dominierende Rolle des Alkohols im Vergleich zu 13.1.2 Erkennen von Alkohol
dem Konsum bzw. Missbrauch von Drogen und Medi- (Screening)
kamenten führt dazu, dass die Forensische Alkoho-
logie neben der Forensischen Toxikologie gesondert Häufig wird versucht, aufgrund des äußeren Erschei-
betrachtet wird, auch wenn Alkohol als solcher selbst- nungsbildes einer Person Rückschlüsse auf den Alko-
verständlich eine toxische Substanz ist. holisierungsgrad oder die Blutalkoholkonzentration
(BAK) zu ziehen. Hierzu zwei wichtige Hinweise:
4 Das Fehlen einer sog. »Alkoholfahne« spricht vor
13.1 Forensische Alkohologie allem bei bewusstlosen Patienten keinesfalls gegen
eine schwere Alkoholintoxikation. Ursachen für
Nicht Haschisch oder Heroin sind die häufigsten das Fehlen einer Alkoholfahne können beispiels-
Rauschdrogen, sondern Ethanol (Ethylalkohol, weise sein:
C2H5OH, ältere Schreibweise Äthanol, manchmal als 5 geringer Eigengeruch bestimmter Getränke
»Trink«- oder »Speisealkohol« bezeichnet) kommt (Wodka u.a.)
diese Rolle zu. Wenn im Folgenden von Alkohol die 5 kaum erkennbare »flache« Atmung des Patien-
Rede ist, so ist damit stets Ethanol gemeint. Bei der sog. ten
Begleitstoffanalyse (7 Kap. 13.1.8) spielen neben Etha- 5 Beeinträchtigung des Riechvermögens des Be-
nol jedoch auch andere Alkohole eine Rolle. obachters durch Erkältungskrankheiten oder
andere Einschränkungen.
4 Andererseits kann bereits durch den Genuss ge-
13.1.1 Gesundheitliche und ringer Alkoholmengen (z.B. eines Schluckes Bier)
volkswirtschaftliche Bedeutung unter Umständen eine starke Alkoholfahne her-
des Alkohols vorgerufen werden.
Die »Alltagsdroge« Alkohol verursacht bei einer gro- Es ist sehr schwierig und problematisch, eine bestimm-
ßen Zahl von Menschen schwerwiegende gesundheit- te Symptomatik einer konkreten Blutalkoholkonzen-
liche Probleme. 9,5 Mio. Menschen in Deutschland tration zuzuordnen. Zuordnungstabellen (. Tab. 13.1)
konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter sind zur Orientierung hinsichtlich des Zusammen-
Form und etwa 1,3 Mio. Menschen gelten als alkohol- hanges zwischen einer bestimmten Blutalkoholkon-
abhängig. Jedes Jahr sterben in Deutschland nach zentration und den häufig zu erwartenden Ausfaller-
neuen Berechnungen mindestens 73.000 Menschen scheinungen (Leistungseinbußen) geeignet. Es werden
direkt (durch Alkoholmissbrauch) oder indirekt (z.B. jedoch ständig Ausnahmen von diesen mehr oder we-
durch alkoholbedingte Unfälle) an den Folgen ihres niger groben Zuordnungsregeln beobachtet.
Alkoholkonsums. Die volkswirtschaftlichen Kosten Die Ausprägung der klinischen Symptome wird
alkoholbezogener Krankheiten werden auf mehr als von zahlreichen individuellen, physischen und psychi-
162 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
. Tab. 13.1 Häufig beobachtete Stadien der Alkoholwirkung (modifiziert nach Schwerd)
0,5–1,5 Leichte Trunkenheit Euphorie, Kritikschwäche, Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentra-
tionsfähigkeit, Antriebsvermehrung, Rededrang, leichte Gleichgewichtsstö-
rung, Pupillenreaktion verlangsamt, Nystagmus, Spinalreflex abgeschwächt
1,5–2,5 Mittlere Trunkenheit Symptome des vorigen Stadiums verstärkt, dazu Sehstörungen, Geh-
störungen, Distanzlosigkeit, Uneinsichtigkeit
2,5–3,5 Schwere Trunkenheit Starke Geh- und Sprechstörungen (Torkeln, Lallen), zunehmende psychische
Verwirrtheit, Orientierungsstörungen, Erinnerungslosigkeit
Über 3,5 Schwerste Trunkenheit Unmittelbare Lebensgefahr, Bewusstsein meist stark getrübt bis aufge-
hoben, »alkoholische Narkose«, Reflexlosigkeit, Gefahr der Aspiration
von Erbrochenem und des Erstickens in hilfloser Lage, häufig Tod durch
Unterkühlung oder Atemlähmung
schen Faktoren beeinflusst, wie z.B. Alter, Geschlecht, kungsbreiten Rückschlüsse auf die vorliegende Blut-
Konstitution, Ermüdung, Alkoholgewöhnung (insbe- alkoholkonzentration (BAK) gestattet.
sondere genetisch bedingte Ethanolüberempfindlich-
keit) sowie Anflutungs- oder Eliminationsphase. Ähn- Aussagewert der Atemalkoholkonzentration (AAK).
liche Symptome können auch durch andere, nicht al- Als Screeningverfahren für Alkohol eignen sich elek-
koholbedingte Ursachen, wie z.B. Medikamenten- und tronische Geräte (z.B. Alcomat®, Alcometer® und
Drogeneinwirkung, Stoffwechselentgleisungen oder Alcotest® 7010/7310/7410), seit einigen Jahren insbe-
Schädel-Hirn-Traumata (SHT) hervorgerufen werden. sondere der Alkotest 7110 Evidential MK III®, der
Klinisch-chemisch können eine metabolische Azidose, auch eine relativ genaue Messung der Atemalkohol-
13 Hyperlaktatämie, Erhöhung der Serum-Osmolalität, konzentration gestattet. Problematisch ist jedoch die
Hyperurikämie sowie erhöhte Aktivitäten der Serum- Umrechnung von der Atemalkoholkonzentration
enzyme GGT und CK und eine Hypoglykämie zu- (AAK) auf die BAK, da kein konstanter Faktor exis-
sätzliche laborchemisch fassbare Auswirkungen der tiert. Der durchschnittliche Wert beträgt 1:2100, es
schweren Ethanolintoxikation sein. wurden aber auch Extremwerte zwischen 1:700 und
1: >3000 beobachtet. Jedem AAK-Wert kann somit
aufgrund der zahlreichen Einflussfaktoren eine »ge-
13.1.3 Alkohol im Atem, Urin wisse Bandbreite von BAK-Werten« entsprechen. In
und Speichel der Resorptionsphase ist die AAK z.B. häufig größer,
in der späteren Eliminationsphase dagegen kleiner als
Die Atemalkoholanalyse wurde 1998 in Deutschland die venöse BAK.
als Beweismittel im Bußgeldverfahren zugelassen. Weil es keine konstante Relation zwischen Blut-
Prinzip: In den Lungenbläschen (Alveolen) geht der und Atemalkoholkonzentration gibt, die durch Ver-
Alkohol aus dem arteriellen Blut in die eingeatmete wendung eines einheitlichen Faktors eine direkte
Frischluft über. Beim Ausatmen wird deshalb Alkohol Umrechnung von AAK in BAK ermöglichen würde,
abgegeben, was u.a. am Geruch (»Fahne«) feststellbar hat der Gesetzgeber in § 24a Straßenverkehrsgesetz
ist. Im Hinblick auf den invasiven Charakter einer Blut- (StVG) alternativ zu dem BAK-Grenzwert von 0,5‰
entnahme und die nicht unerheblichen Kosten der einen eigenständigen AAK-Grenzwert von 0,25 mg/l
Messung der Blutalkoholkonzentration kann es daher definiert, dessen Überschreitung die gleichen Rechts-
zweckmäßig sein, zunächst den Alkoholgehalt der folgen hat, wie der dort genannte BAK-Wert (Ord-
Atemluft zu messen, der innerhalb gewisser Schwan- nungswidrigkeit).
13.1 · Forensische Alkohologie
163 13
! Die Atemalkoholkontrolle (AAK) ist als aktive Resorptionsphase (Absorption)
Handlung im Gegensatz zur Blutentnahme Alkohol wird dem Organismus fast ausschließlich
nicht erzwingbar. Beim Fehlen einer Blut- durch Getränke zugeführt. Nach oraler Aufnahme
probe ist jedoch eine spätere Untersuchung werden aber im Mund nur geringe Mengen und im
auf andere Fremdstoffe (Drogen, Medikamen- Magen maximal 15% des Alkohols resorbiert. Haupt-
te, Begleitalkohole u.a.) nicht mehr möglich, resorptionsorte des Alkohols sind der Zwölffinger-
ebenso wenig eine Überprüfung der Identität darm und vor allem der obere Dünndarm, wobei die
bei Verwechslungsbehauptungen. Resorptionsgeschwindigkeit vom Konzentrations-
gefälle zwischen Darm und Blutbahn abhängig ist. Die
Aussagewert der Alkoholkonzentration im Urin Resorption hängt von zahlreichen Faktoren ab. Als
(UAK). Urin kann ebenfalls als Untersuchungsmate- Einflussgrößen gelten insbesondere die allgemeine
rial dienen. Zwischen Urinalkohol und Blutalkohol körperliche Verfassung und Konstitution, die Art des
besteht statistisch eine direkte Beziehung, die im Ein- Getränkes (Konzentration, Begleitstoffe), die Nah-
zelfall jedoch so stark streuen kann, dass eine zuver- rungsbestandteile im Magen-Darm-Trakt (Fettanteil,
lässige Umrechnung des Ethanolgehaltes des Urins auf Konsistenz, Gewürze, pH-Wert), der Grad der Magen-
den des Blutes nicht möglich ist. füllung, die Temperatur der Getränke, eine Verabrei-
Grundsätzlich gilt der Erfahrungssatz, dass die chung bestimmter Medikamente, evtl. Magenopera-
Urinethanolkonzentration nach Abschluss der Re- tionen und Krankheiten, gleichzeitige Nikotinaufnah-
sorption der Blutethanolkonzentration »nachhinkt«. me, Veränderungen der Peristaltik, der allgemeinen
Dies bedeutet, dass man im Urin noch Ethanol fest- Motilität und der Durchblutung sowie psychische Fak-
stellen kann, wenn der Abbau im Blut bereits abge- toren. Dies alles führt dazu, dass die Resorption kei-
schlossen ist. Die Ethanolbestimmung im Morgenurin nesfalls mathematisch exakt zu erfassen ist.
von Patienten während der Entzugsbehandlung er- Die Resorption ist in der Regel nach 60–90 Minu-
laubt somit die diskrete Überwachung hinsichtlich ten abgeschlossen, oft wesentlich früher, z.B. wenn
eines Alkoholkonsums am Vorabend, den der Patient hochprozentige Getränke »auf nüchternen Magen« ge-
möglicherweise außerhalb einer Anstalt verbrachte. trunken wurden. Bei starker Magenfüllung (z.B. nach
einer üppigen Mahlzeit) kann eine längere Resorpti-
Aussagewert der Alkoholkonzentration im Speichel onsdauer resultieren, ebenso wenn sich der Magenaus-
(SAK). Speichel ist grundsätzlich als Untersuchungs- gang (Pförtner) verschließt und der Magen somit als
material geeignet. Es ergibt sich eine recht hohe Korre- länger wirkendes Speicherorgan fungiert. Ein solcher
lation der Blutalkoholkonzentration (BAK) und der Krampf des Pförtners (Pylorus-Spasmus) kann bei-
Speichelalkoholkonzentration (SAK), unabhängig von spielsweise durch hochprozentige Spirituosen ausge-
der Art der Alkoholzufuhr (Trinkversuche, Infusion) löst werden. Umgekehrt kann nach Magenresektionen
und auch kurze Zeit nach dem Trink-Ende, falls der die Speicherfunktion des Magens wegfallen und daher
Mund vorher gründlich gespült wurde. eine besonders rasche Resorption erfolgen. Beim lang-
zeitigen mäßigen Genuss geringer Alkoholmengen
können Resorptionsende und Trinkende sogar zusam-
13.1.4 Toxikokinetik des Alkohols menfallen.
Daraus ergibt sich, dass Resorptionsgeschwindig-
Auch ohne eine externe Zufuhr befinden sich bereits keit und Resorptionsdauer den für einen lebenden Or-
geringe Mengen von Alkohol aus dem intermediären ganismus typischen großen Schwankungsbreiten un-
Stoffwechsel im Organismus. Dieser endogene (kör- terliegen und normalerweise nur schätzbar sind. Aller-
pereigene) Alkohol verursacht jedoch lediglich Blut- dings existiert aus vielen Trinkversuchen ein umfang-
spiegel von maximal 0,015‰. reiches experimentelles Erfahrungsmaterial, und die in
Durch Inhalation von extrem stark alkoholhaltigen der Rechtsprechung (BGH St. 25, 246) veranschlagte
Dämpfen lassen sich allenfalls maximale BAK-Werte maximale Resorptionsdauer von 120 Minuten ist sicher
von 0,2‰ erklären. Die Aufnahme über die intakte ein Wert, der praktisch jede Benachteiligung aus-
Haut (transdermale Resorption) führt zu keinen foren- schließt.
sisch relevanten Konzentrationen. Allerdings werden Wird vor oder während der Alkoholaufnahme ge-
tödliche Vergiftungen bei Kindern nach großflächigen gessen, erscheint ein Teil des genossenen Alkohols
Umschlägen mit Alkohol beschrieben. nicht im Blut, d.h. die Resorptionsquote liegt unter
100%. Die Differenz, das sog. Resorptions- oder Alko-
holdefizit, bei dem offensichtlich auch ein sofortiger
164 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
Abbau bei der ersten Leberpassage (First-Pass-Effekt) ! Beim Menschen findet die Biotransformation
sowie durch magenwandständige ADH eine Rolle in erster Linie (90–95%) in der Leber statt:
spielen, kann 10–20%, unter Umständen aber auch Ethanol wird vom Enzym Alkoholdehydroge-
30% oder sogar mehr betragen. Die Ursache ist noch nase (ADH) zu Acetaldehyd oxidiert.
nicht vollständig geklärt.
Nur unbedeutende Anteile des resorbierten Ethanols
werden über die Lunge (2–5%), die Nieren (1–2%)
Resorptionsdefizit
oder die Haut (1–2%) unverändert ausgeschieden. Es
Das durchschnittliche Resorptionsdefizit nach Auf-
verlassen höchstens etwa 10% des im Blut erscheinen-
nahme »normaler« Getränkemengen beträgt bei:
den Ethanols den Organismus, ohne eine intensive
4 Spirituosen im Konzentrationsbereich von
Biotransformation (»Verstoffwechselung«) erfahren
etwa 40 Vol.-%: ca. 10%
zu haben.
4 Wein und Sekt im Konzentrationsbereich von
Die sich anschließende Verstoffwechselung über
etwa 10 Vol.-%: ca. 20%
das Enzym AlDH (Aldehyddehydrogenase) führt zu
4 Bier im Konzentrationsbereich von etwa 5
Essigsäure, die im Zitronensäurezyklus zu Kohlen-
Vol.-%: ca. 30%
dioxid und Wasser abgebaut wird.
Ist die AlDH-Aktivität eingeschränkt, so kann
In der Resorptionsphase kommt es zur Anflutung von Acetaldehyd im Organismus kumulieren und zum
Alkohol im Gehirn, die in der Regel mit stärkeren psy- Flush-Syndrom führen, das z.B. durch Hautrötungen,
chophysischen Ausfällen verbunden ist als bei ver- Übelkeit, Blutdruckabfall und andere Symptome ge-
gleichbaren Konzentrationen in der sog. postresorp- kennzeichnet ist, die unter dem Begriff Alkoholun-
tiven Phase. Mit besonders starken Alkoholwirkungen verträglichkeitsreaktion zusammengefasst werden.
ist nach einem Sturztrunk zu rechnen. Darunter ver- Die Ursachen können genetisch (bei vielen Asiaten be-
steht man die Aufnahme großer Alkoholmengen in obachtet) oder fremdstoffbedingt (Gabe des »Entwöh-
kürzester Zeit (z.B. 1–1,5‰/h). nungsmittels« Antabus oder Aufnahme des Dünge-
mittels Kalkstickstoff) sein.
Verteilungsphase (Distribution) Eine weitere Möglichkeit der Biotransformation
Der Alkohol verteilt sich keinesfalls nur im Blut, son- stellt das MEOS (Microsomal-Ethanol-Oxidizing-
dern im gesamten Körperwasser. Dessen Anteil liegt System) dar. Dieses ist nicht abhängig von der Menge
beim normal konstituierten Mann zwischen 60 und des zur weiteren Oxidation zu Essigsäure erforder-
70% des Körpergewichts (Körpermasse). Abweichun- lichen Nicotinamidadenindinucleotids (NAD+) und
gen beobachtet man bei Pyknikern (50–60%) und kann durch chronischen Alkoholgebrauch angeregt
13 schlanken Personen (70–80%). Bei Frauen ist der Was- (induziert) werden. Bei Alkoholgewöhnten resultieren
sergehalt wegen des konstitutionsbedingten höheren dann erhöhte stündliche Abbauwerte (bis 0,20‰), die
Fettanteils meist um etwa 10% niedriger. bei schweren Alkoholikern 0,29‰ (Durchschnitt) bis
Abgeleitet vom unterschiedlichen Wassergehalt ist 0,35‰ (sehr seltene Ausnahmefälle) betragen können.
der Widmark-Faktor »r« (auch als Reduktions- oder Neuerdings spielt Ethylglucuronid, ein weiteres
Konstitutionsfaktor bezeichnet), der bei Berechnungen Stoffwechselprodukt des Alkohols, eine wichtige Rolle
von Trinkmengen und Blutalkoholkonzentrationen beispielsweise bei der Abstinenzkontrolle (s. Alkohol-
mit Hilfe der Widmark-Formel (7 Abschn. 13.1.6) be- marker).
nutzt wird. Durchschnittliche Werte sind bei Männern Die Kinetik des Ethanols zeigt eine Besonderheit,
mit r = 0,7 und bei Frauen mit r = 0,6 anzusetzen. die für die forensische Praxis von außerordentlicher
Das mit dem Widmark-Faktor r multiplizierte Bedeutung ist: Sie besteht darin, dass weitestgehend
Körpergewicht wird als »reduziertes Körpergewicht« unabhängig von der Blutalkoholkonzentration pro
bezeichnet und entspricht in etwa dem Alkoholvertei- Zeiteinheit praktisch immer nur die gleiche Menge
lungsvolumen (Körperwasser). abgebaut wird und zwar sinkt die Blutalkoholkonzent-
ration bis zum nahezu völligen Verschwinden des Al-
Elimination und Biotransformation kohols um 0,1 bis 0,2 ‰, d.h. durchschnittlich etwa
Die Elimination beginnt bereits kurz nach Trink- 0,15‰ in der Stunde. Man spricht auch von einer linea-
beginn. In Tierversuchen konnte gezeigt werden, dass ren Abbaucharakteristik, weil die graphische Darstel-
bereits wenige Minuten nach der Verabreichung von lung der Blutalkoholkonzentration gegen die Zeit eine
14C-radioaktiv markiertem Alkohol radioaktives 14CO Gerade ergibt. Dies ist für Biotransformationsvorgänge
2
(Kohlendioxid) abgeatmet wird. ungewöhnlich, denn bei zahlreichen anderen Fremd-
13.1 · Forensische Alkohologie
165 13
stoffen (z.B. Medikamenten) richtet sich die in der der Blutalkoholkonzentration (P3). Die Elimination
Zeiteinheit umgesetzte Menge nach der Konzentration setzt aber bereits lange vorher ein (praktisch mit dem
der abzubauenden Substanz. Der Grund für die lineare Eintreffen der ersten Ethanol-Moleküle in der Leber,
Eliminationscharakteristik des Ethanols ist in der be- wenige Minuten nach der Einnahme alkoholischer Ge-
grenzten NAD+-Menge zu sehen. tränke). Es wäre daher nicht ganz korrekt, den aufstei-
genden Teil der Blutalkoholkurve als reine Resorp-
! Unterhalb einer BAK von 0,15‰ verläuft die
tionsphase und den fallenden Kurvenzug als reine
Elimination nicht mehr gleichförmig linear,
Eliminationsphase zu bezeichnen. Man kann lediglich
sondern mehr oder weniger asymptotisch.
sagen, dass im steigenden Teil der Kurve die Resorp-
Daher dürfen Werte unter 0,15‰ nicht mehr
tion und im fallenden Teil die Elimination überwiegt.
als Ausgangspunkt für Rückrechnungen her-
Als reine Eliminationsphase wäre der Kurvenabschnitt
angezogen werden.
anzusehen, der nahezu geradlinig abfällt, da hier offen-
bar die Resorption abgeschlossen ist (postresorptive
Blutalkoholkurve Phase). Im Bereich des Maximums kann die Bilanz
Der in . Abb. 13.1 blau wiedergegebene Kurvenverlauf zwischen Zunahme und Abnahme der Blutalkohol-
(Bateman-Funktion) eignet sich gut zur Erläuterung konzentration ausgeglichen sein, was einen mehr oder
des antagonistischen Charakters von Invasion (Re- weniger horizontalen Verlauf der Blutalkoholkurve
sorption) und Elimination. Er gilt für die meisten verursacht (sog. Gréhant’sches Plateau).
Medikamente, deren Elimination nichtlinear ist, trifft Als weiterer Effekt ist der »Diffusionssturz« be-
aber auf die praktisch lineare Elimination des Alkohols kannt, der folgende Ursache hat: Bei sehr rascher Re-
nicht zu. sorption nach Aufnahme konzentrierter alkoholischer
Unter der Blutalkoholkurve versteht man die Dar- Getränke kommt es zunächst zur weitgehenden Anrei-
stellung des zeitlichen Verlaufs der Blutalkoholkon- cherung des Ethanols im Blut; die Diffusion in die Ge-
zentration. Die Resorptionsgeschwindigkeit des Etha- webe erfolgt nicht mit gleicher Geschwindigkeit. Nach
nols hängt von der Konzentration und damit von der dem Erreichen des Maximums der Blutalkoholkurve
Menge ab, während der Abbau im weiten Umfang diffundiert der Alkohol aus dem Blut ins Gewebe, was
linear erfolgt. Durch die Überlagerung beider Phäno- zunächst zu einem stärkerem Abfall der Blutalkohol-
mene entsteht die in . Abb. 13.1 grün wiedergegebene kurve (»Diffusionssturz«) führt. Erst dann kann sich
Blutalkoholkurve. Nach einer »Resorptionsphase« die gleichmäßige Elimination anschließen. Bei lang-
(P1), in deren Verlauf bereits eliminiert wird, beginnt samem Trinken (z.B. einiger Schnäpse während einer
die »Verteilungsphase« (P2), die erst nach dem Maxi- länger dauernden Mahlzeit) kann die Blutalkoholkur-
mum der Kurve abgeschlossen ist. In dieser Phase ver- ve auch ohne deutlich ausgeprägtes Maximum in den
teilt sich der aufgenommene Alkohol vom Hauptort abfallenden »postresorptiven Teil« übergehen.
der Resorption, dem oberen Dünndarm, gleichmäßig
auf das Blut. Allerdings kann es auch nach dem Maxi-
mum noch zu Nachresorptionen (z.B. von Alkohol- 13.1.5 Fragliche und tatsächliche
Einschlüssen im Nahrungsbrei) kommen. Einflussgrößen
Es folgt der Abschnitt, der hauptsächlich von der auf die Blutalkoholkonzentration
Elimination geprägt ist. Typisch ist der lineare Abfall
Die folgenden Themen spielen insbesondere im Rah-
men von sog. Schutzbehauptungen bei Gerichtsverfah-
ren häufig eine Rolle, spiegeln aber auch verbreitete
laienhafte Ansichten wider.
forensisch relevante Wirkung ist bisher jedoch bei Blutalkoholkonzentration von 0,055‰ gemessen wer-
keinem dieser Produkte wissenschaftlich nachgewie- den. Nur bei extrem hohen Konzentrationen mit star-
sen worden. ker Reizwirkung auf Augen und Atmung lassen sich
BAK-Werte bis zu 0,2‰ erklären.
Alcopops. Weit verbreitet ist die Meinung, dass sog.
Alcopops keinen oder kaum Alkohol enthalten, da Schlaf und Restalkohol. Es besteht kein relevanter
man diesen häufig nicht schmeckt. Tatsächlich beträgt Unterschied zwischen der Abbaugeschwindigkeit des
der Alkoholgehalt üblicherweise 5–6 Vol.-% (in Aus- Alkohols im Schlaf- und Wachzustand.
nahmefällen mehr). Es wird lediglich der Eigenge- Ein häufig bei Gericht zu begutachtendes Phäno-
schmack des Alkohols durch Zusätze von beispiels- men ist der sog. Restalkohol. Geht man nach einem
weise Fruchtaromen (Limonaden) überdeckt. größeren Alkoholgenuss, der zu einer BAK von 2,5‰
führte, etwa um 01:00 Uhr zu Bett, so ist damit zu rech-
Entstehung von Alkohol durch Gärung im Körper. Die nen, dass morgens um 07:00 Uhr (beispielsweise bei
Entstehung nennenswerter Mengen von Alkohol durch der Fahrt zur Arbeitsstätte) immer noch eine wahr-
Gärung (z.B. von Erdbeeren im Magen oder Darm), scheinliche Blutalkoholkonzentration von 1,6‰ vor-
die zu einer messbaren Blutalkoholkonzentration füh- liegt (2,5‰ abzüglich 6 h × 0,15‰). Selbst bei einem
ren würde, ist auszuschließen. sehr hohen Abbau von 0,2‰ pro Stunde wäre immer
noch mit einer Mindestblutalkoholkonzentration um
Alkoholfreies Bier und Diätbier. Nach dem Lebens- 1,3‰ zu rechnen (2,5‰ abzüglich 6 h × 0,2‰).
mittelgesetz ist es erlaubt, Getränke bis zu einem Alko- Besonders verhängnisvoll kann es sich auswirken,
holgehalt von 0,5 Vol.-% als »alkoholfrei« zu bezeich- wenn ein erneuter Alkoholkonsum (z.B. Frühschop-
nen. Dieser Alkoholgehalt ist verkehrsmedizinisch pen) auf einen Restalkohol »aufgesetzt« wird, da dann
gesehen ebenfalls kaum relevant. So müsste etwa eine häufig hohe Blutalkoholkonzentrationen resultieren,
erwachsene männliche Person mit einem Körperge- die – subjektiv betrachtet – oftmals nicht als solche
wicht von 75 kg und normaler Konstitution mindes- erkennbar sind.
tens 26 g Ethanol trinken, um theoretisch (!) auf 0,5‰
zu kommen, und diese Menge wäre erst in etwa 6½ Li- Arbeit, Sport, Sauna, Dusche. Zahlreiche Untersu-
ter eines solchen Bieres enthalten. Zu warnen ist aller- chungen ergaben keine Anhaltspunkte dafür, dass für
dings vor der weit verbreiteten Auffassung, dass die Arbeit, Sport, Ruhe oder Schlaf, Schwitzen oder Kälte-
sog. Diätbiere keinen oder weniger Alkohol enthielten. behandlung verschiedene Rückrechnungswerte ange-
Geringer ist lediglich der Gehalt an Kohlenhydraten. wendet werden müssen.
Der Ethanolgehalt kann sogar über dem normaler Bie-
13 re liegen. Kaffee, Tee, Koffein. Kaffee, Tee und das darin ent-
haltene Koffein haben keinesfalls die »ernüchternden«
Klosterfrau Melissengeist. Dieses Destillat enthält Eigenschaften, die ihnen die Volksmeinung häufig zu-
79 Vol.-% Alkohol und ist in Flaschen im Handel, die schreibt. Zwar gelingt es oft, die durch Alkohol ver-
47, 95, 155, 235, 330, 475 oder 950 ml enthalten (Rote ursachte längere Reaktionszeit zu verkürzen, in vielen
Liste 2011). Der Konsum des Inhaltes einer 47-ml- Fällen verschlechtert sich jedoch die »Reaktionsquali-
Flasche könnte bei einer männlichen Person mit einem tät«, d.h. Versuchspersonen reagieren nach Koffein-
Körpergewicht von 80 kg und normaler Konstitution gabe zwar schneller als bei alleiniger Alkoholverabrei-
zu einer maximalen Blutalkoholkonzentration von chung, sie machen jedoch mehr Fehler.
etwa 0,6‰, der einer 330-ml-Flasche entsprechend zu
einem theoretischen maximalen Wert von etwa 3,7‰ Besonderheiten bei Zuckerkrankheit. Bei Diabe-
führen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass auch tikern mit schwersten Krankheitsbildern können im
bei Unkenntnis des Alkoholgehaltes die berauschende Präkoma oder Koma zwar hohe Acetonkonzentra-
Wirkung beim Genuss größerer Mengen subjektiv er- tionen im Blut auftreten, die spezifischen Methoden
kannt wird. zur Messung der Blutalkoholkonzentration (ADH und
insbesondere die Gaschromatographie) zeigen jedoch
Einatmen oder Einreiben von Ethanol bzw. anderen den wahren Wert der Blutalkoholkonzentration an. Bei
Mitteln. Selbst beim Einatmen von Ethanol-Dämp- schwereren Krankheitszuständen muss stets diskutiert
fen, deren Konzentration das 20- bis 50-fache der zu- werden, ob nicht bereits das Leiden allein eine Leis-
gelassenen MAK-Werte (Maximale Arbeitsplatz-Kon- tungsminderung bewirkt, die eine Teilnahme am Stra-
zentration) betrug, konnte lediglich eine maximale ßenverkehr verbietet.
13.1 · Forensische Alkohologie
167 13
Forensisch relevante Einflüsse auf den Verlauf der
Blutalkoholkurve. Wie die zahlreichen Beispiele ver-
deutlichen, gibt es keine Patentrezepte oder spezielle
Mittel zur Erniedrigung der Blutalkoholkonzentration.
Der Verlauf der Blutalkoholkurve wird praktisch nur
durch die Höhe der aufgenommenen Alkoholmenge,
das Körpergewicht, den Verteilungsfaktor (r), die
Trinkzeit und die Resorptionsverhältnisse gesteuert.
In beschränktem Umfang kann man die Resorption
jedoch beeinflussen, so dass u.U. forensisch relevante
Blutalkoholkonzentrationen nicht erreicht werden.
Die . Abb. 13.2 zeigt den Verlauf der Blutalkoholkurve
bei derselben Person nach Aufnahme gleich großer
Alkoholmengen in Abhängigkeit von Trinkzeit, Kon-
zentration und zusätzlicher Nahrungsaufnahme. Der
kurzzeitige Genuss der gesamten Alkoholmenge (obe-
res Diagramm) führt bei praktisch leerem Magen nach
einem raschen Anstieg der Blutalkoholkurve zu einem
Maximalwert, der sehr viel höher liegt als bei Aufnah-
me der gleichen Alkoholmenge im Rahmen einer um-
fangreichen Mahlzeit (mittleres Diagramm). Auf diese
Weise könnte die oft als Hausrezept kolportierte Dose
Ölsardinen tatsächlich im Einzelfall Einfluss auf den
Verlauf der Blutalkoholkurve haben. Aber auch andere
Nahrungsmittel können zum gleichen Effekt führen.
Verteilt man die Alkoholmenge innerhalb mehre-
rer Stunden auf Einzelportionen (unteres Diagramm),
so liegt die höchste erreichte Blutalkoholkonzentration
in jedem Falle sehr viel niedriger. Steht ausreichend
Zeit zur Verfügung, entspricht der Maximalwert sogar
dem einer Einzelportion.
Kräuterliköre 35 280
kann man umgekehrt die Blutalkoholkonzentration
(BAK) berechnen, wenn A, p und r bekannt sind. Doppelkorn 38 304
13 15 g Ethanol
= 2,1‰ (g Ethanol pro kg Blut)
10 kg KG × 0,7 Der Alkoholgehalt in Vol.-% ist auf dem Etikett der
Flasche deklariert. Umrechnung:
Bei einer erwachsenen männlichen Person mit 4 Vol.-% × 8 = Gramm Alkohol pro Liter
einem Körpergewicht von 70 kg würden dagegen 4 Beispiel: 40 Vol.-% × 8 = 320 g Alkohol pro Liter
nur etwa 0,3‰ (g Ethanol pro kg Blut) erreicht. Das
Beispiel zeigt deutlich, dass auch kleinere Ethanol- Der Alkoholgehalt ausgewählter Getränke in Vol.-%
mengen für Kinder gefährlich sein können. und in g/l kann . Tab. 13.2 entnommen werden.
. Abb. 13.3 Die unterschiedlichen Resorptionsverhält- . Abb. 13.4 Die unterschiedlichen Rückrechnungsmög-
nisse lichkeiten
170 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
ist somit nicht geeignet, einen Nachtrunk auszuschlie- liche Anforderungen hinsichtlich der Genauigkeit der
ßen, er stützt ihn allerdings auch nicht. Auch im Be- Messergebnisse bestehen. Für die klinische Einschät-
reich des Kurvenmaximums spricht ein gemessener zung des Grades einer Alkoholvergiftung bedarf es
Abfall der Blutalkoholkurve keinesfalls gegen einen keiner Blutalkoholbestimmung, die zwei Stellen hinter
Nachtrunk: Ein Diffusionssturz könnte den »fallenden dem Komma berücksichtigt, wie dies bei der Messung
Charakter« verursacht haben. Eine Doppelblutentnah- für forensische Zwecke gefordert wird. Grundsätzlich
me ist nur dann aussagekräftig, wenn zwischen dem ist aber auch in der Klinik damit zu rechnen, dass
Ende des Nachtrunks und der 1. Blutentnahme ein Messergebnisse forensisch relevant werden können,
Zeitintervall <1 Stunde liegt und sie sollte als flankie- d.h. in Gerichtsverfahren verwertet werden. Dies be-
rendes Beweismittel im Rahmen einer Gesamtbewer- trifft beispielsweise Arbeitsunfälle. In diesem Zu-
tung des Falles unter Einbeziehung anderer Kriterien sammenhang ist häufig die Frage nach der Validität
(z.B. Ausfallerscheinungen anlässlich der Sistierung einer Blutalkoholbestimmung zu beantworten, der
und Blutentnahme, Veränderung des Zustandsbildes lediglich ein Messwert mit einem enzymatischen Ver-
im zeitlichen Verlauf) herangezogen werden. fahren zugrunde liegt. Da in vielen klinisch-che-
Wegen der eingeschränkten Aussagefähigkeit der mischen Untersuchungsstellen keine Möglichkeit zur
Doppelblutentnahme stellt die Begleitstoffanalyse Blutalkoholbestimmung für forensische Zwecke, d.h.
(7 Abschn. 13.1.8) inzwischen eine meist validere nach den strengen Richtlinien des früheren Bundes-
Grundlage für die Begutachtung von Nachtrunkanga- gesundheitsamtes (jetzt Bundesinstitut für Arznei-
ben dar. mittel und Medizinprodukte) besteht, sollte eine ge-
sonderte Blutprobe mit einer hierzu geeigneten Venüle
entnommen und fest verschlossen im Kühlschrank
13.1.8 Analytik bei etwa +4 °C (keinesfalls aber tiefgefroren) gelagert
werden.
Blutentnahme und Bestimmung
der Blutalkoholkonzentration (BAK) ! Nach den Vorschriften des früheren Bundes-
gesundheitsamtes muss die Bestimmung der
Die sich an die Blutentnahme anschließende Bestim-
Blutalkoholkonzentration (BAK) nach zwei
mung der Blutalkoholkonzentration (BAK) muss ins-
unabhängigen Methoden bzw. zugelassenen
besondere im forensischen Bereich mit den tiefgrei-
Varianten erfolgen. Es ist ein Mittelwert aus
fenden strafrechtlichen Konsequenzen (. Tab. 13.4)
4 Einzelwerten (pro Methode 2 Werte) zu
höchsten Anforderungen an die Genauigkeit und Spe-
bilden, die eine bestimmte Variationsbreite
zifität genügen, die auch vom Gesetzgeber und der
nicht überschreiten dürfen.
Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Che-
13 mie (GTFCh) gefordert werden. Folgende Verfahren sind zugelassen:
4 Methode nach Widmark: Dieses Verfahren be-
Blutentnahme. Die Blutentnahme muss durch einen nutzt das Reduktionsvermögen des Ethanols ge-
Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. genüber gelbem Chromat (Cr6+) in Schwefelsäure,
Rechtsgrundlage ist der § 81a StPO. Sie ist vom Pro- das zu grünem Cr3+ reagiert. Messtechnische
banden zu dulden und kann (im Gegensatz zur Atem- Grundlage ist eine isotherme Mikrodestillation
alkoholprobe) erforderlichenfalls von der Polizei mit mit anschließender fotometrischer oder titrimet-
körperlicher Gewalt durchgesetzt werden. Beim Le- rischer Bestimmung. Das bereits 1922 von Wid-
benden sollte die Entnahme aus der Kubitalvene (El- mark entwickelte Verfahren ist künftig nicht mehr
lenbeuge), bei der Leiche dagegen aus der Femoralvene vorgesehen und zugelassen.
(Oberschenkel) erfolgen. Dieser magenferne Entnah- 4 ADH-Verfahren: Die enzymatische Ethanolbe-
meort stellt sicher, dass während einer längeren Liege- stimmung verläuft analog der Biotransformation
zeit der Leiche kein Alkohol aus dem Magen zum Ent- des Alkohols in der Leber. Alkoholdehydrogenase
nahmeort der Blutprobe diffundieren und hier den katalysiert die Oxidation von Ethanol zu Acetal-
Alkoholgehalt verändern kann, was beispielsweise bei dehyd bei gleichzeitiger Reduktion von Nico-
Herzblut beobachtet wurde. tinamidadenindinucleotid (NAD+) zu NADH, das
anhand seines Wellenlängenmaximums bei
Analysenverfahren zur BAK-Bestimmung. Grund- 340 nm fotometrisch gemessen wird.
sätzlich muss zwischen der Alkoholbestimmung für 4 Die gaschromatographische Methode in der
klinische und der für forensische Zwecke differenziert Head-Space-Variante: Bei diesem Verfahren wird
werden, da je nach Fragestellung höchst unterschied- nicht die Blutprobe selbst, sondern der Dampf-
13.1 · Forensische Alkohologie
173 13
raum darüber untersucht und im Gaschromato- alkoholischen Getränken. Die toxikokinetische Basis
graphen in die Einzelkomponenten (Alkohole und für Methanol als Alkoholismusmarker ist die Beobach-
andere flüchtige Substanzen) aufgetrennt. Die zeit- tung, dass die Methanolkonzentration im Blut im We-
liche Abfolge der Signale im Gaschromatogramm sentlichen erst bei Blutethanolkonzentrationen unter-
ist charakteristisch für die Art der Substanz, wäh- halb von etwa 0,2‰ abzusinken beginnt. Dies bedeutet
rend die Höhe des Signals der Menge bzw. Kon- wiederum, dass bei Personen, die über längere Zeiträu-
zentration entspricht. me Blutalkoholkonzentrationen oberhalb dieses Be-
reichs aufweisen, mit einer Kumulation von Methanol
Spezifität der Verfahren. Die gaschromatographische zu rechnen ist. Inzwischen wird eine Entscheidungs-
Blutalkoholbestimmung ist die spezifischste aller er- grenze von 10 mg Methanol pro Liter Blut vorgeschla-
wähnten Methoden. Während das Widmark-Verfah- gen. Werte darüber deuten auf chronischen Alkohol-
ren auf alle flüchtigen und leicht oxidierbaren Subs- konsum hin, falls keine methanolreichen Getränke
tanzen anspricht, und auch die ADH-Methode noch (z.B. einige Obstbranntweine) konsumiert wurden.
durch andere Alkohole (z.B. Isopropylalkohol aus Kos- Derartige Rückschlüsse sollen jedoch nicht isoliert er-
metika) gestört werden kann, wird bei einwandfrei folgen. Vielmehr müssen weitere Beurteilungskriterien
durchgeführter gaschromatographischer Alkoholbe- herangezogen werden, z.B. der ärztliche Untersu-
stimmung selbst bei faulen Blutproben mit Sicherheit chungsbericht anlässlich der Blutentnahme (unauf-
nur Ethanol erfasst. fälliges Verhalten trotz hoher Blutalkoholkonzentra-
tion).
Begleitstoffanalyse
Die Messung der Ethanolkonzentration im Blut lässt γ-GT und MCV. Als weitere sog. Alkoholismusmarker
lediglich Rückschlüsse auf die Menge des konsumier- dienen die γ-GT (Gamma-GT = Gamma-Glutamyl-
ten Alkohols zu. Viele alkoholische Getränke enthalten transferase) und das MCV (mittleres korpuläres Ery-
jedoch außer Ethanol noch andere flüchtige Substan- throzytenvolumen). Häufig werden das Auftreten von
zen (z.B. Methanol, 1-Propanol, iso-Butanol, 1-Buta- Aceton und iso-Propanol als Indikator für alkohol-
nol und 2-Butanol), die im Rahmen der Begleitstoff- induzierte Stoffwechselstörungen angesehen, die al-
analyse gaschromatographisch ebenfalls nachgewiesen lerdings auch andere Entstehungsursachen haben
und quantifiziert werden können. Da die Begleitstoff- können.
profile der meisten Getränkesorten bekannt sind oder In diesem Zusammenhang spielt außerdem das
mit Vergleichsproben ermittelt werden können, ist es CDT (Carbohydrate Deficient Transferrin) eine wich-
möglich, Aussagen über die Art und Menge der aufge- tige Rolle. CDT ist eine Variante des Transferrins. Bei
nommenen Getränke zu machen. Die Begleitstoffana- längerem Alkoholkonsum (meist täglichen Mengen
lyse hat sich inzwischen als Methode zur Überprüfung über 60 Gramm Ethanol über mehrere Wochen hin-
von Nachtrunkbehauptungen etabliert und die weg) treten Strukturänderungen der Transferrinmole-
Doppelblutentnahme in den Hintergrund gedrängt. küle auf, die in Form des CDT messbar sind. Die dia-
gnostische Spezifität und Sensitivität von CDT werden
Alkoholkonsummarker als relativ hoch bezeichnet.
Alkohol wird relativ rasch aus dem Organismus elimi-
niert und auch ein Mensch mit Alkoholproblemen ist Bedeutung von Ethylglucuronid (EtG) und Fettsäure-
häufig noch in der Lage, beispielsweise zu einer Unter- ethylestern (FSEE ). Ethylglucuronid und Fettsäure-
suchung nüchtern zu erscheinen. Von Interesse sind ethylester sind ausschließlich aus Ethanol gebildete
daher Indikatoren, die im Nüchternzustand Aussagen nicht flüchtige Stoffwechselprodukte, die daher auch
über die Alkoholgewöhnung und andere evtl. damit in in die Haare eingelagert werden und somit eine länger-
Zusammenhang stehende Probleme ermöglichen. fristige Abstinenzkontrolle gestatten. Ein Nachweis
Solche Fragen stellen sich beispielsweise in Verbin- von EtG bzw. FSEE im Blut und Harn beweist eine
dung mit der Überwachung einer Therapie oder Beur- Alkoholaufnahme selbst dann, wenn kein Alkohol
teilung der Fahreignung durch die Zulassungsbehörde mehr in diesen Körperflüssigkeiten feststellbar ist. Das
im Rahmen der Medizinisch-Psychologischen-Unter- diagnostische Zeitfenster hängt von der konsumierten
suchung (MPU). Alkoholmenge ab und wird mit bis zu 18 h im Serum
und 36 h im Harn angegeben.
Methanol. Erhöhte Methanolkonzentrationen im Zur Orientierung hinsichtlich der Aussagekraft
Blut werden als Hinweis auf chronischen Alkoholkon- der einzelnen Indikatoren kann eine von Iffland und
sum angesehen. Methanol befindet sich in fast allen Grassnack publizierte Übersicht dienen (. Tab. 13.3).
174 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
BAK Erläuterungen
0,0‰ Fahrern oder Fahrerinnen, die sich noch in der Probezeit gem. § 2 a Abs. 1 StVG befinden, oder das 21. Le-
bensjahr noch nicht vollendet haben, ist es untersagt, als Führer eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr
alkoholische Getränke zu sich zu nehmen oder die Fahrt anzutreten, obwohl sie noch unter der Wirkung
eines solchen Getränks stehen. Werte bis 0,2‰ werden jedoch toleriert (s. Anmerkung zu § 24c StVG)
≥ 0,3‰ Werden bei einem/einer Kraftfahrzeugführer/in während der Fahrt Ausfallerscheinungen bemerkt oder
und verursacht er/sie eine gefährliche Verkehrssituation oder gar einen Unfall und wird zum Vorfallszeit-
< 1,1‰ punkt eine BAK von 0,3‰ oder mehr festgestellt, dann ist nach ständiger Rechtsprechung die Möglich-
keit in Betracht zu ziehen, dass der Alkohol (eine) der Ursachen für diese relative Fahruntüchtigkeit
gewesen ist. Kann dies nachgewiesen werden, dann kommt, je nachdem, ob der Vorfall folgenlos ge-
blieben ist oder zu einer konkreten Gefahr oder gar zu einem Unfall geführt hat, eine Verurteilung
wegen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) oder wegen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1
Nr. 1a StGB) in Betracht.
≥ 0,5‰ Wer als Kraftfahrer/-in mit einer BAK von 0,5‰ oder mehr oder mit einer Atemalkoholkonzentration von
und 0,25 mg/l oder mehr angetroffen wird, wird wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG
< 1,1‰ verfolgt, selbst wenn es zu keinerlei alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gekommen ist. Die so
genannten Gefahrengrenzwerte von 0,5‰ BAK bzw. 0,25 mg/l AAK sind seit dem 01.04.2001 an die
Stelle der früheren »0,8‰-Grenze« getreten.
≥ 1,1‰ Ab einem BAK-Wert von 1,1‰ beginnt nach ständiger Rechtsprechung der Bereich der absoluten Fahr-
untüchtigkeit. Wer als Kraftfahrer/-in so viel oder mehr Alkohol im Blut hat, gilt allein deswegen und
ohne dass der Beweis des Gegenteils möglich wäre, als unfähig, am motorisierten Straßenverkehr teilzu-
nehmen und macht sich wegen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) oder – wenn ein Unfall passiert oder
beinahe passiert wäre – wegen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB) strafbar.
≥ 1,6‰ Ab einem BAK-Wert von 1,6‰ liegt bei Radfahrern absolute Fahruntüchtigkeit vor.
kann. Die einer fehlenden Fahreignung zugrunde lie- tion von »nur« 0,3‰ strafbar machen, falls es des-
13 genden Einschränkungen beziehen sich in der Regel wegen zu einem Unfall kommt. Andererseits ist aber
auf einen längeren Zeitabschnitt. bei deutlich höheren BAK-Werten zwischen 0,5 und
Bezogen auf eine konkrete Verkehrssituation ist 1,09‰ lediglich ein Bußgeldtatbestand erfüllt, falls
generell zwischen der Fahrfähigkeit (Fahrfertigkeit) sonst keine Ausfallerscheinungen vorliegen.
und der Fahrtüchtigkeit (Fahrsicherheit) zu unter- Zum Nachweis der absoluten Fahruntüchtigkeit
scheiden. Fahrfähig ist schlechthin auch ein erheblich genügt eine BAK von 1,1‰ oder darüber, bzw. eine
alkoholisierter Kraftfahrer, der sein Fahrzeug noch be- Alkoholmenge im Körper, die auch später zu einer
wegen kann. Fahrtüchtig ist er aber nur dann, wenn er BAK von mindestens 1,1‰ führte.
situations- und zeitbezogen in der Lage ist, psycho- Für den Nachweis der relativen Fahruntüchtigkeit
physisch den hohen Anforderungen des modernen werden dagegen zusätzliche Beweisanzeichen gefor-
Straßenverkehrs zu genügen. dert, wie etwa alkoholtypische Fahrfehler (z.B. Schlan-
In der Bundesrepublik Deutschland existieren für genlinien, Auffahrunfall, Abkommen von der Fahr-
Kraftfahrer die in . Tab. 13.4 genannten Grenzwerte. bahn im Kurvenbereich), alkoholtypische Ausfaller-
Weiterhin: Ab einem BAK-Wert von 1,6‰ oder scheinungen (z.B. lallende Sprache und schwankender
einer AAK von 0,8 mg/l oder mehr ist zur Wieder- Gang) oder Fahren unter erschwerten Bedingungen
erlangung der Fahrerlaubnis eine erfolgreiche medizi- (z.B. mangelnde Alkoholgewöhnung, Müdigkeit, Re-
nisch-psychologische Untersuchung (MPU) erforder- sorptionsphase, Dunkelheit, Krankheit).
lich (§ 13 Nr. 3c FeV).
Die umfangreichen Vorschriften wirken auf den ! Grundsätzlich gilt: Je höher die verlangte
Laien oft verwirrend. Auf der einen Seite kann er sich Leistung zur Tatzeit ist, umso eher tritt unter
beispielsweise bereits ab einer Blutalkoholkonzentra- 6
13.1 · Forensische Alkohologie
177 13
Alkoholeinfluss Versagen auf. Außerdem sind Während Ordnungswidrigkeiten üblicherweise mit
zum Nachweis der relativen Fahruntüchtig- einer Geldbuße und/oder einem befristeten Fahrver-
keit die Anforderungen an die Qualität der bot geahndet werden, sind bei Straftaten nach dem
Beweisanzeichen umso höher, je niedriger Strafgesetzbuch (StGB) schärfere Sanktionen vorgese-
die festgestellte BAK im Bereich zwischen hen. So regelt § 316 StGB den Straftatbestand der
0,3 und 1,09‰ ist. Trunkenheit im Verkehr.
Grenzwerte für absolute Fahruntüchtigkeit nach dem § 316 StGB [Trunkenheit im Verkehr]
Konsum von Drogen und anderen berauschenden (1) Wer im Verkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des
Mitteln (z.B. Medikamenten) existieren derzeit nicht. Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender
Diese Problematik wird im Abschnitt Forensische To- Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, wird
xikologie (7 Abschn. 13.2) bei der Behandlung der mit Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder mit Geldstrafe bestraft ….
Drogen und Medikamente eingehender erörtert.
Wichtig sind folgende Rechtsvorschriften: § 24a Kommt es bei der Trunkenheitsfahrt zu einer Gefähr-
Straßenverkehrsgesetz (StVG), wonach das Führen dung des Straßenverkehrs, so ist der Straftatbestand
eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr unter dem des § 315c StGB zu prüfen.
Einfluss von Alkohol und andern berauschenden Mit-
teln eine Ordnungswidrigkeit ist: § 315c StGB [Gefährdung des Straßenverkehrs]
(1) Wer im Straßenverkehr
§ 24a StVG [Ordnungswidrigkeiten wegen Genusses 1. ein Fahrzeug führt, obwohl er
von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln] (a) infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer
(1) Ordnungswidrig handelt, wer im Straßenverkehr ein Kraft- berauschender Mittel oder
fahrzeug führt, obwohl er 0,25 mg/l oder mehr Alkohol in der (b) infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der
Atemluft oder 0,5 Promille oder mehr Alkohol im Blut oder Lage ist, das Fahrzeug
eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen Atem- sicher zu führen
oder Blutalkoholkonzentration führt. ... und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde
(2) Ordnungswidrig handelt, wer unter der Wirkung eines in der Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheits-
Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels strafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft…
im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt. Eine solche Wirkung
liegt vor, wenn eine in dieser Anlage* genannte Substanz im ! Unter »anderen berauschenden Mitteln« ver-
Blut nachgewiesen wird. Satz 1 gilt nicht, wenn die Substanz steht man außer Drogen auch Arzneistoffe
aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen kon- oder andere Substanzen mit psychotroper
kreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt … Wirkung, die mit Alkohol vergleichbar ist.
(* Auf diese Anlage wird im 7 Abschn. 13.2 eingegangen)
§ 24c StVG regelt das Alkoholverbot für Fahranfänge- 13.1.12 Beurteilung der strafrecht-
rinnen und Fahranfänger. lichen Verantwortlichkeit
§ 24c StVG [Alkoholverbot für Fahranfänger Bei Delikten unter Alkohol und Drogen spielt neben
und Fahranfängerinnen] der Verkehrstüchtigkeit häufig auch die Schuldfähig-
(1) Ordnungswidrig handelt, wer in der Probezeit nach keit eine wichtige Rolle (z.B. bei Unfallflucht und Wi-
§ 2a Abs. 1 StVG oder vor Vollendung des 21. Lebensjahres als derstandshandlungen; 7 Kap. 18).
Führer eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr alkoholische Während bei Verkehrsdelikten durch den Gesetz-
Getränke zu sich nimmt oder die Fahrt antritt, obwohl er unter geber eindeutige Grenzwerte (0,3, 0,5 bzw. 1,1‰) de-
der Wirkung eines solchen Getränks steht … finiert werden konnten, ist dies bei der Beurteilung der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit in dieser Klarheit
! Das Verbot des § 24c StVG bezieht sich nur nicht möglich. Hauptursache dafür ist die unterschied-
auf alkoholische Getränke und nicht auf liche Gewöhnung an Alkohol (Toleranz). So können
Lebensmittel und Medikamente, die Alkohol Alkoholungewöhnte bereits bei BAK-Werten deutlich
enthalten. Aus analytischen Gründen (z.B. unter 2‰ schwerste Ausfallerscheinungen zeigen,
Messunsicherheit, Spuren von Alkohol in während bei chronischem Missbrauch großer Alkohol-
Lebensmitteln) wird allerdings erst ab 0,2‰ mengen selbst BAK-Werte über 3‰ ohne größere Auf-
von einer Alkoholaufnahme ausgegangen. fälligkeiten toleriert werden.
178 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
Hauptgrundlage der Begutachtung sollte daher das tungen (Intoxikationen). Sie ist ein interdisziplinäres
konkrete psychophysische Erscheinungs- und Leis- Fachgebiet, das meist der Pharmakologie angegliedert
tungsbild vor, während und nach der Tat sein. ist. Die Gesellschaft für Klinische Toxikologie (GfKT)
legt ihren Schwerpunkt auf klinische Aspekte. Eine
wichtige Rolle spielen dabei die Giftinformations-
13.1.13 Alkohol, Drogen zentren (GIZ). Innerhalb der Gesellschaft für Toxiko-
und Medikamente logische und Forensische Chemie (GTFCh) beschäftigt
sich insbesondere der Arbeitskreis Klinische Toxiko-
Mit der zunehmenden Verbreitung von Drogen und logie mit der Analytik und Bewertung von Intoxika-
Medikamenten ist häufig auch ihre Wechselwirkung tionen.
(Interaktion) mit Alkohol zu beurteilen. Die Forensische Toxikologie ist die Lehre von den
Giftstoffen (Drogen, Medikamenten und anderen
Toxikokinetische Interaktion Fremdstoffen) sowie deren Nachweis und Wirkung im
Unter einer toxikokinetischen Interaktion würde man menschlichen Körper im Zusammenhang mit einem
den Einfluss eines Fremdstoffes (z.B. eines Medika- rechtserheblichen Hintergrund. Daher ist sie ein zen-
mentes) auf die Kinetik des Alkohols, also den Verlauf trales Arbeitsfeld der Rechtsmedizin. Einsatzgebiete
der Blutalkoholkurve, verstehen. In Internetforen wird sind vor allem die Untersuchung von Vergiftungen bei
beispielsweise kolportiert, dass die H2-Rezeptorblo- Lebenden, Todesfällen (Leichentoxikologie) sowie
cker Cimetidin und Ranitidin einen starken Anstieg Drogen- und Medikamentenmissbrauch.
der BAK verursachen könnten. Untersuchungen erga- Weitere Teilgebiete der Toxikologie sind die Nah-
ben jedoch, dass keine forensisch relevante Beeinflus- rungsmitteltoxikologie, Gewerbetoxikologie, Umwelt-
sung vorliegt. Lediglich bei BAK-Werten unter 0,5‰ toxikologie und Strahlentoxikologie.
kann eine Erhöhung um maximal 0,02‰ auftreten.
! Abgesehen von alkoholhaltigen Zubereitun-
13.2.1 Informationen
gen (z.B. Melissengeist) ist kein Medikament
und Grundlagen
bekannt, das nach therapeutischer Dosie-
rung Alkohol im Organismus erzeugt, vor-
Bei der Frage nach der Giftigkeit (Toxizität) eines Stof-
täuscht, maskiert oder die zur BAK-Bestim-
fes sind in der Regel dessen Menge bzw. Konzentration
mung herangezogenen Analysenverfahren in
von Bedeutung. Manche Substanzen wirken in thera-
ihrer Richtigkeit, Präzision oder Zuverlässig-
peutischen Dosen günstig auf den Organismus, sind
keit beeinträchtigt.
aber in höheren Konzentrationen toxisch. Grundsätz-
13 lich gilt nach Paracelsus (1493–1541):
Toxikodynamische Interaktion
Alkohol ist ein häufiger Interaktionspartner bei Misch- »All Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift;
intoxikationen, meist unter Beteiligung anderer zen- allein die Dosis macht, das ein Ding kein Gift ist.«
tral wirksamer Fremdstoffe (z.B. Medikamenten und
Drogen). Dabei kann die Wechselwirkung additiv (Ge- Die Vergiftung (Intoxikation) ist ein pathophysiolo-
samtwirkung entspricht der Summe der Einzelwir- gischer Zustand, der als Folge der Aufnahme von toxi-
kungen) oder überadditiv bzw. potenziert (Gesamtwir- schen Substanzen (Giften) in den Körper auftritt und
kung ist größer als die Summe der Einzelwirkungen) akut oder chronisch bedingt sein kann. Das Krank-
ausgeprägt sein. Im Rahmen einer Interaktion kann es heitsbild wird Toxikose (griechisch τοξίκωση) genannt.
neben einer Verstärkung auch zu einer Veränderung Vergiftungen mit mehreren Stoffen bezeichnet man als
des Wirkprofils (u.a. sogar paradoxen Reaktionen) Misch- oder Polyintoxikationen.
kommen. Eine Beurteilung muss im jeweiligen Einzel-
fall erfolgen. Häufigkeit von Vergiftungen und Art der Gifte. Man
schätzt, dass in der Bundesrepublik Deutschland
(BRD) jährlich etwa 150.000–200.000 Vergiftungsfälle,
13.2 Forensische Toxikologie meist als Notfälle, in die Krankenhäuser eingeliefert
werden. Die Patienten müssen häufig auf bloßen Ver-
Die Allgemeine Toxikologie (altgriechisch τοξικολογία, dacht hin mit teilweise invasiven Methoden sympto-
toxikologia – die Giftkunde) befasst sich im weitesten matisch behandelt werden, da in den meisten Fällen
Umfang mit den Giftstoffen (Toxinen) und Vergif- keine Möglichkeit zur raschen Durchführung toxiko-
13.2 · Forensische Toxikologie
179 13
logischer Analysen besteht. Diese sind jedoch unver- zeit. Darunter versteht man das Zeitintervall, in dem
zichtbar, da bei etwa einem Viertel aller Vergiftungen eine Konzentration im Blut oder Plasma auf die Hälfte
nicht das zunächst vermutete, sondern ein ganz anderes des Ausgangswertes abgesunken ist. Dieses kann sehr
und oft auch zusätzliches Gift aufgenommen wurde. unterschiedlich sein und z.B. bei GHB (Liquid Ecstasy)
Aus einem aktuellen Bericht des Giftinforma- wenige Minuten, bei Stoffwechselprodukten des Diaze-
tionszentrums (GIZ) der Länder Rheinland-Pfalz und pam dagegen fast 300 Stunden betragen. Nikotin wird
Hessen geht hervor, dass Erwachsene und Kinder bei einer Eliminationshalbwertszeit von 30–90 Minu-
bei einer Letalitätsrate von etwa 0,2% (aufgrund ten ebenfalls relativ rasch ausgeschieden, ansonsten
anderer Statistiken etwa 1,5%) praktisch gleich betei- wäre Kettenrauchen tödlich. Die Halbwertszeiten der
ligt sind. Als Vergiftungsumstände werden versehent- Elimination sind darüber hinaus auch stark abhängig
liche (65%), suizidale (22%), durch Suchtverhalten be- von anderen Parametern (z.B. dem Lebensalter sowie
dingte (5,2%), gewerbliche (2,5%) und unerwünschte Vorschädigungen der Eliminationsorgane Leber und
Arzneimittel(neben)wirkungen (1,8%) genannt. Inter- Nieren) und können dann die genannten Werte deut-
essant ist jedoch die unterschiedliche Verteilung lich überschreiten. Es besteht dann auch bei bestim-
der Vergiftungsursachen auf Kinder und Erwachsene mungsgemäßer Einnahme die Gefahr der Kumulation.
(. Tab. 13.5). Andererseits kann aber durch Enzyminduktion, bei-
spielsweise nach langfristigem Gebrauch von Medika-
! In Deutschland liegt die Zahl der Vergif-
menten (Barbituraten u.a.), die Biotransformation be-
tungen in der Größenordnung der Herz-
schleunigt werden.
infarkte. Häufig wird bei Vergiftungen auf
eine toxikologische Analyse verzichtet und ! Wesentliche Vergiftungserscheinungen sind
lediglich symptomatisch behandelt. Dies in der Regel nach 2–3 Eliminationshalbwerts-
wäre vergleichbar der Behandlung eines zeiten abgeklungen. Eine Ausnahme bilden
Herzinfarktes ohne klinisch-chemische Diag- allerdings Fremdstoffe mit irreversiblem Wir-
nostik oder einer Knochenfraktur ohne Rönt- kungsmechanismus.
genaufnahme.
Einen wesentlichen Einfluss auf die Toxizität eines
Stoffes hat weiterhin die Biotransformation (Metabo-
lisierung). Deren Hauptziel ist die Verbesserung der
13.2.2 Wichtige pharmako- bzw. Ausscheidung aus dem Körper. Man unterscheidet
toxikokinetische Parameter dabei Phase-I-Reaktionen (Funktionalisierung) und
Phase-II-Reaktionen (Hydrophilisierung). Die Reak-
Der Verlauf und die Schwere einer Vergiftung werden tionsprodukte dieser Reaktionen bezeichnet man als
im Wesentlichen durch pharmako- bzw. toxikokineti- Metaboliten eines Arzneistoffes. Dabei muss aber nicht
sche Parameter bestimmt. Dazu zählen neben der Auf- immer eine Entgiftung erfolgen (. Tab. 13.6).
nahmedosis (Giftmenge) hauptsächlich die Bioverfüg- Wenn ein Blutspiegel nur langsam abklingt ist stets
barkeit (u.a. abhängig von der galenischen Zuberei- ein enterohepatischer Kreislauf in Betracht zu ziehen,
tung), die Verteilung (Leber, Nieren und Gehirn sind bei dem sich im Blut vorhandene Fremdstoffe (z.B.
beispielsweise besser durchblutet als Fettgewebe), das Morphin) beim Passieren der Leber in der Galle anrei-
Verteilungsvolumen, die Clearance und die Elimina- chern, die in den Darm abgesondert wird. Von dort
tion. Besonders relevant ist die Eliminationshalbwerts- können Substanzen wieder in den Blutkreislauf rückre-
180 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
. Tab. 13.7 Einteilung der Schweregrade von Vergiftungen nach dem Poisoning Severity Score (PSS)
. Tab. 13.8 Beispiele für Symptome bei Intoxikationen (Auswahl aus: Peters FT, Mall G (2009) Klinische Symptomatik
bei Vergiftungsverdacht. Rechtsmedizin 19: 247-256)
Agitation, Unruhe Amphetamine, Atropin, Scopolamin, Kokain, Lithium, Phenothiazine, Salicylate, selektiv
Desorientiertheit wirkende Serotonin-Reuptake-Inhibitoren, trizyklische Antidepressiva, Theophyllin
Motorisches System
Ataxie, Dysarthrie Alkohol, Barbiturate, Benzodiazepine, Phenothiazine, Zaleplon, Zolpidem und Zopiclon
Respiratorisches System
Kardiovaskuläres System
. Tab. 13.9 Wichtige Toxidrome (Auswahl aus: Peters FT, Mall G (2009) Klinische Symptomatik bei Vergiftungsver-
dacht. Rechtsmedizin 19: 247-256)
Opiatsyndrom oder Somnolenz bis Koma, Miosis, Zyanose, Opiate und Opioide (z.B. Morphin, Heroin,
Narkotisches Syndrom Atemdepression Oxycodon, Methadon, Fentanyl)
Wirkstoffgruppen gewinnen. Eine Azidose wird häufig Neben diesen primär fachspezifischen Symptomen
nach Vergiftungen mit Ethylenglykol, Methanol, Salicy- und Syndromen gibt es auffällige Situationen bzw.
laten und Zyaniden beobachtet, während eine Hypo- Warnsignale, die auch für den Laien erkennbar sind
glykämie einen Verdacht auf Insulin, orale Antidiabe- und sachdienliche Hinweise geben können.
tika sowie Ethanol lenken kann. Veränderungen des Die Möglichkeit einer Vergiftung sollte stets in Be-
Hämoglobins sind bei Vergiftungen mit Kohlenmono- tracht gezogen werden bei:
xid, Zyaniden und Methämoglobinämiebildnern (z.B. 4 unerwarteten Todesfällen junger, bis dahin gesun-
Nitrit, Nitrat, Anilinderivaten und insbesondere Phen- der Menschen
acetinmetaboliten) augenfällig. 4 allen bewusstlosen Patienten
13.2 · Forensische Toxikologie
183 13
4 plötzlichen Erkrankungen von Kindern ohne be- licher sowie ablenkender oder unterbrechender Fra-
kannte Vorerkrankungen gen, werden in einem Schulungsprogramm »Dro-
4 gleichzeitiger Erkrankung mehrerer Personen (z.B. generkennung im Straßenverkehr« der Bundesanstalt
bei Kohlenmonoxidaustritt) für Straßenwesen vorgestellt.
4 Rauschgiftabhängigen (auch als »clean« angesehe-
! Folgende Warnsignale können auf Drogen-
nen)
probleme hinweisen und sind daher für Eltern
4 Personen mit erleichtertem Zugang zu Giften
und Erzieher wichtig:
(Chemikalien, Pestiziden, Pharmaka)
4 plötzliches Absinken der Schulleistungen
4 speziellen Konstellationen (z.B. streitigen Erbfäl-
auf allen Gebieten (nicht nur in einem
len, Bedrohungen, Feindschaften u.a.)
Fach!)
4 Rauchgaseinwirkung oder Bränden
4 Aufgabe oder ständiger Wechsel des
4 allen Krankheitsformen, deren Symptome Ähn-
Freundeskreises
lichkeiten mit denen einer bestimmten Vergiftung
4 Rückzug in eine totale Isolation
zeigen (z.B. ähnelt das klinische Bild einer Arsen-
4 Aufgabe bisheriger Interessen bis zur
vergiftung dem einer Cholera)
Teilnahmslosigkeit
4 unerklärlicher Geldmangel und Schulden
Ein wichtiges Erkennungszeichen insbesondere für
Drogeneinfluss ist die Pupillengröße. Weite Pupillen
(Mydriasis) treten z.B. auf nach dem Konsum von Am-
phetaminen, Cannabis (aber nicht immer), Designer- 13.2.5 Klassifizierung der Gifte
drogen (Ecstasy), Halluzinogenen (LSD), Kokain und
vielen Schnüffelstoffen. Viele Gifte lassen sich hinsichtlich der Wirkung be-
Enge Pupillen (Miosis) werden hauptsächlich bei stimmten Klassen zuordnen. Beispiele für schnell wir-
der Einwirkung von Opiaten (z.B. Heroin) und Para- kende Gifte sind:
thion (E 605) beobachtet. 4 Zyanid (»Sekundentod« aber nur bei aziden Ver-
hältnissen im Magen und dadurch bedingter ra-
! Bei Mischintoxikationen (z.B. Heroin und Ko-
scher Freisetzung von Blausäure, bei vollem Magen
kain) ist die Pupillengröße häufig unauffällig,
dagegen häufig nur Hydrolyse zu Kalilauge aus Ka-
da sich die Effekte weitgehend kompensieren
liumzyanid und qualvoller Tod durch Verätzung)
können.
4 Kohlenmonoxid (z.B. in Auspuffgasen enthalten,
Weiterhin liefert die Pupillen-Lichtreaktion deutliche aber auch bei jeder anderen unvollständigen Ver-
Hinweise auf Fremdstoffe. Sie ist bei zahlreichen Subs- brennung organischer Materialien gebildet)
tanzen (z.B. Amphetaminen, Cannabis, Designerdro- 4 Kohlendioxid (z.B. aus Bergwerken, Gärkellern,
gen, Hypnotika, Kokain und Tranquilizern) deutlich Futtersilos)
verlangsamt. Der Drehnystagmus wird hauptsächlich 4 Chloroform und Ether (häufige K.o.-Mittel zum
bei der Prüfung der Alkoholbeeinflussung eingesetzt. Betäuben von Opfern bei Straftaten)
Alle genannten Tests können jedoch auch durch 4 Parathion (E 605) (Pestizid, das allerdings auch
Krankheiten, Müdigkeit und andere Effekte beeinflusst erst nach lang andauernden heftigen Krämpfen
werden. tödlich wirken kann; Antidot: Atropin)
Besonders wichtig im verkehrsmedizinischen Be- 4 Alkohol (z.B. bei unsinnigen Trinkwetten)
reich sind Beobachtungen zur »geteilten Aufmerksam-
keit«, die gerade bei Drogen und Medikamenten häufig Beispiele für Gifte mit fehlender Initialsymptomatik,
erheblich beeinträchtigt und somit ein relativ zuverläs- deren Wirkung erst nach Stunden oder Tagen einsetzt,
siges Erkennungszeichen sein kann. Darunter versteht sind:
man das Zusammenspiel mehrerer einzelner Hand- 4 Paracetamol (nicht verschreibungspflichtiges An-
lungen, das vom nüchternen, gesunden und ausgeruh- algetikum): Letale Dosis etwa 8 Gramm beim Er-
ten Verkehrsteilnehmer mühelos beherrscht wird (z.B. wachsenen, bei Kindern tödliche Vergiftungen be-
koordiniertes Gasgeben, Bremsen, Lenken Kuppeln reits nach 2 Gramm beschrieben. Tod durch fulmi-
und Schalten). Ein Drogenbeeinflusster dagegen fährt nantes Leberversagen. Antidot: N-Acetylcystein.
häufig wie ein Anfänger. Zahlreiche Aufmerksamkeits- 4 Paraquat (Totalherbizid): Nach der Latenzzeit von
test, wie beispielsweise das simultane Fragen nach zwei mehreren Tagen tödliche Lungenparenchymschä-
Dokumenten (z.B. Führerschein und Fahrzeugzulas- den (Lungenfibrose). Inzwischen in Deutschland
sungspapieren), das Stellen einfacher, aber ungewöhn- selten.
184 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
. Tab. 13.10 Beispiele für auffällige Befunde bei der Leichenschau (Auswahl)
Haarausfall Thallium
Ikterus Lebergifte
können wertvolle und zeitsparende Hinweise auf die an. Kurz nach der Einnahme können sogar noch Tablet-
Art eines Giftes liefern und einen Primärverdacht be- tenreste vorhanden sein, die häufig anhand äußerer
gründen, der sich allerdings nicht bestätigen muss. Es Merkmale (z.B. Form, Farbe, Beschriftung bzw. Prä-
kommt immer wieder vor, dass Dritte (darunter sog. gung) einem bestimmten Präparat (Spezialität) zuge-
»Sterbehelfer«) oder sogar das Opfer selbst derartiges ordnet werden können und so einen ersten gezielten
Material beseitigen (häufige Motive: Angst vor Kom- Verdacht begründen. Die quantitative Bestimmung
plikationen mit der Lebensversicherung, Fragen der der noch nicht resorbierten Menge eines Giftstoffes
»Familienehre«, Vermeidung einer Obduktion). Ge- kann weiterhin Konsequenzen für Art und Umfang
zielte Hinweise auf eine Vergiftung und das Motiv weiterer Entgiftungsmaßnahmen haben.
kann weiterhin ein Abschiedsbrief geben.
Bei der Auswertung quantitativer toxikologischer Urin. Für Suchanalysen (sog. Screeninganalysen) bei
Befunde (insbesondere von Blutspiegeln) ist zu berück- keinem konkreten Verdacht auf einen Fremdstoff wird
sichtigen, dass es in der Agonie und auch danach zu in der Regel Harn benötigt. Vorteile dieses Untersu-
starken Veränderungen der Konzentrationen von chungsmaterials:
Fremdstoffen kommen kann. Ursache für dieses Phä- 4 Fremdstoffe sind im Harn meist in höheren Kon-
nomen, das auch mit »post-mortem release« bezeichnet zentrationen vorhanden als im Blut.
wird, ist hauptsächlich der Zusammenbruch von Fließ- 4 Fremdstoffe können im Harn meist länger nach-
gleichgewichten, die nur im lebenden Organismus ge- gewiesen werden als im Blut.
währleistet sind. Durch diesen Vorgang der postmorta- 4 Der Nachweis der im Harn besonders zahlreich
len Redistribution kann die Interpretation toxikolo- enthaltenen Stoffwechselprodukte (Metaboliten)
gischer Befunde erheblich erschwert werden. Sehr kann eine wertvolle zusätzliche Interpretationshil-
große Unterschiede zwischen den Konzentrationen im fe sein.
Femoral- und Herzblut findet man z.B. bei Digoxin, 4 Harn kann ohne invasive Entnahmetechniken ge-
Propoxyphen und trizyklischen Antidepressiva, gerin- wonnen werden.
gere dagegen bei Kokain, Paracetamol und Salicylaten.
Häufig wird ein Vergiftungsverdacht erst nach Diesen Vorteilen von Harn als Untersuchungsmaterial
dem Tod erhoben. Bei Erdbestattungen können foren- für Screeninganalysen stehen kaum Nachteile gegen-
sisch-toxikologische Untersuchungen aber auch noch über. Lediglich kurze Zeit nach der Einnahme eines
nach einer Exhumierung erfolgen. Um sicher zu stel- Fremdstoffes kann der Fall eintreten, dass trotz bereits
len, ob und ggf. in welchem Ausmaß Fremdstoffe von deutlich messbarer Konzentrationen im Blut ein Nach-
der Leiche aufgenommen (z.B. Schwermetalle aus der weis im Harn noch nicht möglich ist (»lag-times«).
benachbarten Friedhofserde) oder abgegeben wurden Viel häufiger ist jedoch der umgekehrte Fall zu beo-
13 (z.B. durch postmortale Ausscheidungen), sollen außer bachten, dass beispielsweise Drogen (Amphetamine,
Leichenteilen zusätzlich Proben asserviert werden Kokain oder Opiate) oder andere Fremdstoffe im Blut
(z.B. Erdproben aus verschiedenen Bereichen, Sarg- bzw. Serum nach wenigen Stunden überhaupt nicht
beigaben, Kissen, Holzwolle, Sägespäne sowie ver- mehr, im Harn dagegen noch einige Tage oder sogar
schiedene Sargteile). Wochen (z.B. Cannabinoide) nachweisbar sind. Viel-
Nach einer Feuerbestattung, in deren Verlauf alles fach kann dann zwar der ursprünglich eingenommene
organische Material (darunter auch die meisten Gift- Wirkstoff nicht mehr nachgewiesen werden, wohl aber
stoffe) zerstört wird, wäre allenfalls noch die Untersu- mehr oder weniger charakteristische Stoffwechselpro-
chung auf anorganische Gifte (z.B. Thallium und an- dukte (Metaboliten).
dere Metalle) möglich.
Blut. Die Vorteile von Blut als Untersuchungsmaterial
sind in der Aktualität der Aussage zu sehen, falls Blut
13.2.9 Aussagekraft der einzelnen in zeitlicher Nähe zum Vorfall (z.B. Straftat oder Ver-
Asservatarten giftung) entnommen wurde. Der exakt festgestellte
oder zurückgerechnete Blutspiegel eines Fremdstoffes
Die Auswahl eines bestimmten Asservates wird haupt- reflektiert die Wirkung bzw. toxische Situation etwa
sächlich durch die toxikologische und analytische Fra- zum Tatzeitpunkt wesentlich besser als dies eine Harn-
gestellung bestimmt. konzentration je könnte.
Bei der Leichentoxikologie ist zu beachten, dass die
Mageninhalt und Magenspülflüssigkeit. Diese Un- quantitative Untersuchung von Femoralvenenblut in
tersuchungsmaterialien fallen bei akuten Vergiftungen der Regel validere Hinweise auf die Konzentration zum
13.2 · Forensische Toxikologie
187 13
Todeszeitpunkt liefert als beispielsweise Herzblut, bei Als weitere Untersuchungsmaterialien kommen
dem grundsätzlich eine erhöhte Gefahr des »post- grundsätzlich in Betracht:
mortem release« und der Einwanderung von Fremd- 4 Beim Vergifteten aufgefundenes Material (z.B. Ta-
stoffen (z.B. Alkohol) beispielsweise aus dem Magen bletten, Flüssigkeiten, leere Packungen (Abfall-
besteht (Redistribution). eimer und Hausapotheke durchsuchen!). Der
Fundort ist genau zu inspizieren. Von Interesse
Kopfhaare. Fremdstoffe unterschiedlichster Art (Me- sind auch die Medikation der Angehörigen und
dikamente, Drogen, Metallgifte und sogar Alkohol in das berufliche Umfeld bzw. die Beschaffungsmög-
Form seines festen Stoffwechselproduktes Ethylglu- lichkeiten des Opfers.
curonid) werden über die Haarfollikel und Haarwurzel 4 Speichel und Schweiß sind z.B. bei Drogenverdacht
in das Haar eingelagert, das mit einer Geschwindigkeit auf nichtinvasive Art zu erhalten und dienen
von etwa 1 cm pro Monat wächst. Die Haaranalyse hauptsächlich der Suchanalyse (Screening).
gestattet somit die längerfristige Rekonstruktion einer 4 Leber und Nieren (Klärung der Gesamtverteilung
Fremdstoffaufnahme (z.B. »Drogenkarriere«) und und Abschätzung der Giftmenge)
über eine segmentale Analyse sogar Einblick in kon- 4 Muskelgewebe (wichtiges Asservat bei Fäulnis und
krete Zeitabschnitte, z.B. bei einer chronischen Vergif- Verbrennung)
tung. Sie versagt jedoch meist bei einmaliger Aufnah- 4 Galle (Hinweise auf enterohepatischen Kreislauf
me vor der Tat (z.B. bei K.-o.-Mitteln). Allerdings und späte Detektionsmöglichkeit für Opiate)
werden neuerdings Verfahren beschrieben, die auch 4 Gehirn (Nachweis von lipophilen flüchtigen Gif-
einen Nachweis, z.B. von Liquid Ecstasy (s. Abschnitt ten, Abschätzung der Überlebenszeit)
13.2.24), in diesen Fällen ermöglichen sollen. Es ge- 4 Lunge (Nachweis flüchtiger Fremdstoffe wie z.B.
nügen keinesfalls wenige Einzelhaare. Spezielle Asser- Brandbeschleuniger)
vierungstechniken müssen beachtet und ggf. bei foren- 4 Darminhalt (Nachweismöglichkeit für pflanzliche
sisch-toxikologischen Laboratorien erfragt werden. Gifte [Pilze] sowie rektale Beibringung)
4 Finger- und Fußnägel (z.B. Nachweis von Metall-
Ç Fallbeispiel giften)
Forensisch-toxikologischer Nachweis 4 Knochen (chronische Metallvergiftung)
einer Kindstötung 4 Injektionsorte (Nachweis von Insulin und anderen
Das Kind war im August 1988 geboren worden; be- injizierten Substanzen)
kannt sind 4 Krankenhausaufenthalte im Abstand 4 Pflaster oder Verbände (z.B. Fentanylpflaster)
von mehreren Wochen aufgrund von Hyperthermie 4 »exotische« Asservate (abhängig von der jeweili-
und Blutbildveränderungen; die Verdachtsdiagnose gen Fragestellung), z.B. Tampon (s. Fallbericht)
lautete: seltener Stoffwechseldefekt. Das Kind ver-
starb im April 1990. Auf dem Leichenschauschein Ç Fallbeispiel
war eine »natürliche Todesursache« vermerkt. Bei Eine junge Frau wird von ihrem Ehemann nach des-
der klinischen Sektion wird ebenfalls ein seltenes sen Rückkehr von einer längeren Geschäftsreise mit
Stoffwechselleiden vermutet. Anschließend erfolgt lückenlosem Alibi tot in der Wohnung aufgefunden.
die Beerdigung. Nach über einem Jahr kommt ein Ergebnis der Obduktion und chemisch-toxikolo-
erster Verdacht auf, da die Geschwisterkinder ähn- gischen Untersuchung: Zyanidvergiftung.
liche »Vergiftungs«-Symptome aufweisen. Konse- Fall trotzdem unklar, da im Magen kein Zyanid nach-
quenz: Exhumierung der Leiche. In der Haaranalyse weisbar war sondern lediglich im Blut letale Kon-
wird das hochtoxische Psychopharmakon Clozapin zentrationen vorlagen.
(Neuroleptikum) nachgewiesen. Es erfolgt die An- Klärung: Zyanid wurde vom Ehemann vor Antritt der
klage auf Mord. Das Urteil lautet: schwere Körperver- Reise in einen Tampon gebracht und von dort über
letzung mit Todesfolge. die Vaginalschleimhaut resorbiert.
Der Nachweis in den Haaren war möglich, weil die
Mutter den Wirkstoff Clozapin vor dem Tod des
Kindes mehrmals verabreichte, um die Wirkung ! Bei unklarem Vergiftungsverdacht ist hin-
einer ansteigenden Dosis zu testen (daher auch sichtlich der Art und Menge des Untersu-
die 4 Krankenhausaufenthalte). Bei einmaliger Ver- chungsmaterials besonders sorgfältig und
abreichung wäre ein Nachweis in den Haaren aller- umfangreich zu asservieren.
dings kaum zu erwarten gewesen.
188 Kapitel 13 · Forensische Alkohologie und Toxikologie
Aufbewahrung und Transport von Untersuchungs- 4 Es wird versucht, die eigene Harnprobe durch den
material. Transportgefäße dürfen dem Asservat nichts Zusatz oder die Einnahme bestimmter Mittel so zu
hinzufügen (Cave leere Arzneimittelflaschen) aber verändern, dass ein falsch-negative Screeninger-
auch nichts daraus entfernen (Cave Einwanderung lipo- gebnis resultiert.
philer Substanzen in Kunststoffgefäße). Bis zum Errei- 4 Mit Hilfe spezieller über das Internet angebotener
chen des Labors genügt meist Kühlung. Der früher Mittel (z.B. dem Whizzinator, einem künstlichen
empfohlene Zusatz von Säuren oder Konservierungs- Penis) wird versucht, einen drogenfreien Fremd-
mitteln ist nicht erforderlich, er könnte sogar schaden. harn unterzuschieben.
Im Labor erfolgt abhängig von der Art des Fremdstof-
! Man sollte Harnproben nur unter Aufsicht
fes und Asservates eine besondere Behandlung (z.B.
asservieren. Außerdem sollten sich in dem
Phasenseparation, Tiefkühlung, Zusatz von Natrium-
Asservierungsraum kein Wasser und keine
fluorid u.a.).
Toilettenreiniger, Handwaschmittel, Desin-
fektionslösungen oder ähnliches befinden,
da solche Dinge häufig zur Verfälschung be-
13.2.10 Asservierungsstrategien,
nutzt werden.
Asservatarten und Mengen
Grundsätzlich sollten beim Lebenden asserviert wer-
Wegen der meist beträchtlichen Konsequenzen eines den:
Drogennachweises für die Betroffenen kommt es ge- 4 Harn (nach Möglichkeit 50–100 ml): Fragestel-
legentlich zu Manipulationsversuchen. lung: Was wurde eingenommen?
4 Blut (nach Möglichkeit 5–10 ml): Fragestellung:
Manipulation und Verfälschung Wie viel wurde eingenommen?
von Proben 4 Mageninhalt bzw. Erbrochenes (bei Vergiftungen):
Meist geht es darum, Drogenfreiheit nachzuweisen, Fragestellung: Wie lange liegt die Aufnahme zu-
um wieder in den Besitz der Fahrerlaubnis zu gelan- rück und welcher Anteil ist evtl. noch nicht resor-
gen. Es sind aber andererseits Fälle bekannt geworden, biert?
wo beispielsweise durch Auflösen von Tabletten in 4 Kopfhaare zur evtl. Abklärung von Fragen bei Ver-
Urinproben versucht wurde, eine massive »Drogen- dacht auf längerfristige Applikation (z.B. zur Ab-
beeinflussung« mit Konsequenzen für die Beurteilung schätzung der Gewöhnung und Compliance, wei-
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Schuldfähig- terhin zur Abstinenzkontrolle im Zusammenhang
keit) vorzutäuschen. Die Gefahr von Manipulationen mit der Wiedererlangung der Fahrerlaubnis). Da-
besteht hauptsächlich dann, wenn sich Probanden auf bei sind die Asservierungsvorschriften einzuhal-
13 einen bestimmten Untersuchungstermin einstellen ten (etwa bleistiftdicken Haarstrang nach Fixieren
können. Daher werden in vielen Untersuchungsstellen mit einem Faden vom Hinterhauptshöcker ab-
Kontrolltermine nach dem Zufallsprinzip festgelegt schneiden, ein Verschieben der Haare in Längs-
und erst dann telefonisch mitgeteilt, wenn die geplante richtung würde die zeitliche Zuordnung der
Probenahme noch innerhalb des diagnostischen Fens- Fremdstoffaufnahme beeinträchtigen).
ters liegt, die meisten Fremdstoffe also selbst dann
noch nachweisbar sind, falls sie nach Kenntnis des Un- Nachweisbarkeitsdauer
tersuchungstermins rasch abgesetzt wurden. Im Bei der Auswahl der Asservate und Interpretation der
rechtsmedizinischen Bereich ist die Gefahr von Mani- Ergebnisse spielt die Frage der Nachweisbarkeitsdauer
pulationen wesentlich geringer, da die Probengewin- eine wesentliche Rolle. Diese auch als »diagnostisches
nung nicht vorhersehbar ist, beispielsweise anlässlich Fenster« bezeichnete Größe ist hauptsächlich von der
einer Verkehrskontrolle oder nach einem Verkehrsun- Art des Fremdstoffes, der Menge (Dosis) und Applika-
fall. Grundsätzlich muss zwischen 3 Manipulations- tionsfrequenz, daneben von zahlreichen anderen phar-
möglichkeiten unterschieden werden: mako- bzw. toxikokinetischen Parametern abhängig.
4 Die eigene Harnprobe wird mit Wasser, Tee, drogen- Eine allgemeine asservatspezifische Übersicht enthält
freiem Urin oder anderen geeignet erscheinenden . Tab. 13.11. Angaben zu substanzspezifischen »lag-
Flüssigkeiten verdünnt, um die Nachweisgrenze times« finden sich auch bei der späteren Beschreibung
zu unterschreiten. Hier kann eine Manipulation wichtiger Einzelsubstanzen.
durch Messung des Kreatinin-Wertes, der Tempe-
ratur und des pH-Wertes häufig bereits unmittel-
bar nach der Probennahme aufgedeckt werden.
13.2 · Forensische Toxikologie
189 13
Asservat Nachweisbarkeit
Mageninhalt Beginn unmittelbar nach der oralen Aufnahme. Ende bei Abschluss der Resorption Cave: Rückre-
sorptionen vor allem basischer Substanzen aus dem Blut (i.v. Injektion) in den sauren Mageninhalt ist
möglich, dadurch Gefahr der Fehlinterpretation (fälschliche Annahme einer oralen Applikation).
Blut Beginn nach i.v. Injektion und Inhalation sofort, nach oraler Aufnahme abhängig von den auch vom
Alkohol her bekannten Resorptionsparametern nach mehreren Minuten bis zu etwa einer Stunde.
Ende abhängig von den pharmako- bzw. toxikokinetischen Parametern (insbesondere der Elimina-
tionshalbwertszeit).
Harn Beginn abhängig von den vom Alkohol bekannten Resorptionsparametern nach mehreren Minuten
bis zu etwa einer Stunde. Cave: Selbst nach der Aufnahme höherer Dosen können Nachweislücken
(»lag times«) bis zu maximal 1–2 h auftreten. Daher bei Vergiftungsfällen grundsätzlich Harn und Blut
untersuchen. Ende abhängig von den pharmako- bzw. toxikokinetischen Parametern (insbesondere
der Eliminationshalbwertszeit). Es besteht auch eine starke Abhängigkeit vom pH-Wert des Harnes
(basische Substanzen werden bei saurem pH-Wert rasch und bei alkalischem pH-Wert langsam
ausgeschieden; bei sauren Fremdstoffen (Barbiturate u.a.) umgekehrte Verhältnisse. Weiterhin spielt
die Lipophilie des Fremdstoffes eine wichtige Rolle (THC wird nach Aufnahme in fettreiche Komparti-
mente zeitverzögert freigegeben und metabolisiert, dadurch bei Dauerkonsum bis zu mehreren
Wochen nachweisbar; Einzelfälle bis 3 Monate).
Speichel Ähnlich Blut (Werte korrelieren oft gut mit den Blutspiegeln)
Schweiß Ähnlich Blut. Cave: »lag-times« möglich, da der Übergang auf die Hautoberfläche u.U. erst mit erheb-
licher zeitlicher Verzögerung erfolgt. Außerdem können bei mangelnder Hygiene eingetrocknete
Drogenspuren noch nach längerer Zeit einen positiven Testausfall verursachen, obwohl sich im Blut
und Harn keine Drogen mehr befinden.
Haare Beginn: Wenige Tage nach der meist wiederholten Aufnahme, Einzelapplikation nur schwer erfassbar
(Ausnahmen sind aber insbesondere nach Intoxikationen beschrieben). Ende: Monate bis u.U. Jahre,
im Wesentlichen durch die Haarlänge und -behandlung bestimmt.
Bei bestimmten Obduktionen ist eine vorherige Rück- wird nach einem negativen Screeningbefund keine
sprache mit einem forensischen Toxikologen zu emp- weitere Untersuchung mehr durchgeführt. Fällt ein
fehlen, da besondere Fallumstände spezielle Asservate Screeningbefund dagegen positiv aus, so sind bestäti-
(z.B. Glaskörperflüssigkeit oder Liquor) bzw. Asser- gende und differenzierende Untersuchungen erforder-
vierungsstrategien (z.B. bei leicht flüchtigen oder exo- lich, die mit Analysenverfahren durchgeführt werden
tischen Giftstoffen) erforderlich machen können. sollen, denen ein anderes physikalisch-chemisches
Prinzip zugrunde liegt. Hierbei handelt es sich meist
um chromatographische Verfahren (Gaschromatogra-
13.2.11 Analytische Nachweis- phie [GC] und Hochdruckflüssigkeitschromatographie
und Bestimmungsmethoden (high pressure liquid chromatography) [HPLC]) in
Kombination mit spektroskopischen Methoden (meist
Gerichtete und ungerichtete Analysen Massenspektrometrie [MS]). Diese Bestätigungsanaly-
Je nach Fragestellung des Auftraggebers und Fallsitua- sen sind aus folgenden Gründen unverzichtbar:
tion können für die Planung einer Analyse unterschied- 4 Immunoassays können »falsch-positive« Tester-
liche Vorgehensweisen notwendig werden. gebnisse liefern (nach der Einnahme des Husten-
Liegen aufgrund bestimmter Symptome, Syndro- mittels Ambroxol verlaufen z.B. zahlreiche Tests
me oder beispielsweise aufgefundener Substanzen auf LSD positiv obwohl LSD niemals aufgenom-
konkrete Hinweise auf die Art eines Fremdstoffes vor, men wurde).
so wird sich die Analysenstrategie in der Regel zu- 4 Die meisten immunchemischen Screeningver-
nächst auf diesen Primärverdacht konzentrieren. Man fahren erfassen lediglich Wirkstoffgruppen (z.B.
spricht dann von gerichteten Analysen. Beispiel: Wer- Opiate), differenzieren aber nicht zwischen ein-
den bei einem Drogenabhängigen typische Utensilien zelnen Substanzen innerhalb der Gruppe, z.B. zwi-
(Heroinbesteck) entdeckt und liegen stecknadelgroßen schen dem »legalen« Opiat Codein, das in zahl-
Pupillen (Miosis) vor, so ist zunächst an eine Opiat- reichen verschreibungsfähigen Hustensäften ent-
vergiftung zu denken. Allerdings darf auch in diesen halten ist, und dem nicht verkehrsfähigen und
Fällen auf zusätzliche Screening-Untersuchungen daher »illegalen« Opiat Heroin. Eine sichere Ab-
nicht verzichtet werden. grenzung beider Stoffe ist aber von erheblicher
Häufig fehlen jedoch jegliche Hinweise auf Fremd- forensischer Relevanz und beispielsweise mit der
stoffe. Weiterhin kann Unklarheit darüber bestehen, ob Massenspektrometrie leicht möglich.
es sich nur um eine Monointoxikation handelt oder ob
noch andere Substanzen an einer Vergiftung beteiligt Bestätigungsverfahren
sind. In diesen Fällen muss im Rahmen einer unge- (confirming methods)
13 richteten Analysenstrategie (sog. General-unknown- Mit Hilfe der Massenspektrometrie kann eine Substanz
Analytik) mit speziellen chromatographischen und beweissicher identifiziert werden. Zwischen den Signa-
spektroskopischen Suchprogrammen im weitesten Um- len des praktischen Falles und der Referenzsubstanz
fang auf Fremdstoffe geprüft werden. Man nennt diese besteht in der Regel völlige Übereinstimmung.
Art der Untersuchung, die häufig mehrere 1000 Fremd- Der klinische Aussagewert einer toxikologischen
stoffe umfassen kann, auch systematische toxiko- Analyse soll am Beispiel der Vergiftung mit dem
logische Analyse (STA). Solche Analysen können sehr Schmerzmittel Paracetamol erläutert werden, das we-
geräte- und zeitaufwändig sein und werden auch als gen seiner fehlenden Initialsymptomatik besonders
Screeningtests (engl. screen: etwa Sieb, Raster, Filter) gefährlich ist und an der Spitze der Statistiken von Gif-
bezeichnet. Führen sie zu keinem Nachweis, so kann tinformationszentren bei sowohl absichtlichen als auch
eine Vergiftung mit einer extrem seltenen oder auch unabsichtlichen Vergiftungen steht. Dem Nomogramm
neuartigen Substanz trotzdem nicht sicher ausgeschlos- (. Abb. 13.6) liegt ein umfangreiches Datenmaterial aus
sen werden. Vergiftungsfällen zugrunde. Abhängig von der Para-
cetamolkonzentration im Blut und der Zeit nach der
Immunchemische Screeningverfahren Ingestion ist die Hepatotoxizität unterschiedlich einzu-
(Immunoassays) stufen, was auch unmittelbare Konsequenzen für den
Insbesondere im Bereich der Drogenanalytik setzt Einsatz intensivtherapeutischer Maßnahmen bis zur
man zunächst als Screeningverfahren sog. Immuno- Antidotgabe (N-Acetylcystein) hat.
assays ein, die es gestatten, auch hohe Probenzahlen
in kurzer Zeit und ohne aufwändige Vorbereitung in
»negative« und »positive« Fälle zu unterteilen. Häufig
13.2 · Forensische Toxikologie
191 13
organisation nach den Richtlinien der GLP (Good
Laboratory Practice) einschließt. Dabei geht es nicht
nur um die eigentliche Messtechnik, sondern auch
um häufig als eher peripher empfundene Fragen, wie
etwa die ausführliche Beschreibung der Analysenvor-
schriften (wobei Abweichungen von der Standardme-
thode zu vermerken sind), die Archivierung von Mess-
werten sowie die lückenlose Dokumentation des Weges
einer Probe zum und im Labor (sog. Gewahrsamkeits-
kette oder »chain of custody«). Die Validität der Er-
gebnisse ist inzwischen in den meisten forensischen
Untersuchungsstellen durch die Akkreditierung nach
DIN EN 17025 sichergestellt.