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Schriften zum Internationalen Recht

B a n d 176

Verfassung und
Verfassungsvertrag
Konstitutionelle Entwicklungsstufen
in den USA und der EU

Von

Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg

D u n c k e r & I l u m b l o t * Berlin
KARL-THEODOR FRHR. ZU GUTTENBERG

Verfassung und
Verfassungsvertrag
Schriften zum Internationalen Recht

Band 176
Verfassung und
Verfassungsvertrag
Konstitutionelle Entwicklungsstufen
in den USA und der EU

Von

Karl-Theodor Frhr. zu G u t t e n b e r g

Duncker & Humblot • Berlin


Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat
diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

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der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Satz: werksatz • Büro für Typografie und Buchgestaltung. Berlin
Druck: Berliner Buchdruckerei Union G m b H . Berlin
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ISSN 0720-7646
ISBN 978-3-428-12534-0

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entsprechend ISO 9 7 0 G ®

Internet: http:/Avww.duncker- hu mblot .de


Vorwort

Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt
dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in sich. Manche kleine wie epochale
Erschütterung führt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht
der Nostalgie.

Scheinbar unberührt von alledem wähnte man bis zuletzt konstitutionelle Pro-
zesse. Trotz gelegentlich zweifelhafter Verfassung unserer Gesellschaften gab es
selten einen Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Verfassung.

So pionierhaft sich diesbezüglich der amerikanische Pfad zu gestalten wusste,


so eklektisch eigen wurde der europäische beschritten. Letzterer befindet sich
wiederkehrend am Scheideweg. Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern
sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch
Schiffbruch erleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich
keuchendes historisches Durchatmen? Zumindest verpasste Europa in den Jah-
ren 2007 und 2008 zum wiederholten Male den icaipöq (Kairos) und ließ die
notwendige Unbedingtheit des Gestaltungswillen nur schemenhaft erkennen.

Es ist indes müßig zu debattieren, ob es die - letztlich nie eingeräumte - Furcht


vor der eigenen Courage oder lähmender Pragmatismus war, der aus einem hart
erkämpften Verfassungsvertrag schließlich einen .Vertrag von Lissabon" werden
ließ und selbst diesen in vermeidbare Warteschleifen drängte.

Gleichwohl bildet auch diese Zäsur ein lebendiges wie traditionell paradoxes
Beispiel europäischer Verfassungsgeschichte, wonach in jeder noch so brachialen
Ablehnung immanent der Fortgang angelegt ist.

Demzufolge hätte die vergleichende Beurteilung zweier Verfassungsprozesse


mit einem gewissen Optimismus bei jeder „europäischen Krise" enden können. Die
Betrachtungen und Bezugnahmen dieser (2006 eingereichten) Monographie gehen
nunmehr bis in das Jahr 2007 - abgesehen von einigen punktuell aktualisierten
Gedanken.
***

Diese Arbeit entspringt einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfällen.


Oder nach anderem - im obigen Sinne untypischem - Verständnis der vereinzelten
Wahrnehmung eines ..Kairos".
6 Vorwort

Augenblicken kann man schwer zu Dank verpflichtet sein, den sie gestaltenden
Persönlichkeiten jedoch umso mehr. Insbesondere wenn der be- und ergriffene
Moment dauerhafte Kräfte zu entfalten wusste.

Ein unerreichtes (nicht lediglich) wissenschaftliches Kraftfeld und die Teil-


nehmer verpflichtendes Erbe war und ist das nunmehr zu Recht „legendär" zu
nennende „Häberle-Seminar", das dem von Konrad Hesse geprägtem Vorbild
längst weit enteilt ist - ohne den „akademischen Enkeln" Erinnerungen und Be-
rufungen auf eine Leitfigur der Verfassungslehre zu entwinden. Der Gedanke an
die Teilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer
Alltagserlebnisse dauerhaft - und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qua-
lität eigenen Gemurmels. Von Herzen Danke meinem großen Lehrer Prof. Dr.
Dies. mult. h.c. Peter Häberle für Unzähliges, das kein Vorwort angemessen ab-
bilden könnte. In besonderer Verbundenheit danke ich einem weiteren tatsächlich
bedeutenden Europäer, Prof. Dr. Rudolf Streinz.

Wie oft wurde der Kairos der Fertigstellung durch freiberufliche wie später
parlamentarische „Ablenkung" versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen
Faktums einer bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie
Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch
ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte.

Allzu viele mussten meine verwegene Charakter- und Lebensmelange ertragen


und ich bin allen überaus dankbar für unbeugsame Gelassenheit. Gleichwohl:
Wirkliche Besserung ist kaum absehbar.

Meiner Frau und meinen Töchtern sei diese familienunfreundliche Lektüre in


tiefer Dankbarkeit zugedacht. Sie sind der unerreichte wie dauerhafte ,/echte
Augenblick" meines Lebens.

Berlin, im Winter 2008 Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung 15

B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Ent-


wicklungslinien in den USA und der Europäischen Union 19
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 20
1. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen Einflusses .. 20
2. Die ..Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa? 22
3. Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen 23
4. Die Entstehung des Verfassungsstaates - der ..Vorabend" der Bundesver-
fassung 24
a) Wege zur Emanzipation - von den „Fundamental Orders of Connec-
ticut" zur Unabhängigkeitserklärung 24
b) Wege zum Konsens - von den ..Articles of Confederation" zum ..Great
Compromise" 27
c) Der Verfassungskonvent 29
d) Ratifizierung und ..Federalists" gegen „Antifederalists" 33
e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Men-
schenrechte: konstitutionelle ..Morgendämmerung" - die Bill of
Rights 35
5. ..We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung 38
6. Eine (ge)zeitenfeste Verfassung 40
7. Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte - Strukturierungs-
ansätze 41
8. Konstitutionelle Selbstfindung und kulturelle Selbstverwirklichung . . . . 45
9. Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständ-
nisses 47
10. Eine dynamische Verfassung - „living Constitution" 48
11. Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Ver-
fassungsstaates 49
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie
des Verfassungsverständnisses 51
1. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses 52
2. Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses 53
a) Von Paneuropa zur Europa-Union ( 1 9 2 3 - 1 9 4 4 ) 53
b) Verfassungsentwürfe nach 1945 59
aa) Hertensteiner Programm (1946) 59
8 Inhaltsverzeichnis

bb) Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von


Europa (1948) 59
cc) Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948) 60
dd) Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951) 61
c) Wege zum Europarat 61
d) „Verfassungsentwürfe" ab 1952 64
aa) Die Europäische G e m e i n s c h a f t für Kohle und Stahl (1952) ... 64
bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen
G e m e i n s c h a f t - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EG KS
(1953) 65
cc) Römische Verträge (1957) 67
e) Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre 68
f) Stationen zur Europäischen Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren 69
aa) Der Entwurf von M a x Imbodcn (1963) 69
bb) Die Verfassungsdiskussion 1984 - D a s Europäische Parlament
als Akteur 70
(1) Ausgangspunkte der Debatte 70
(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäi-
schen Parlaments 71
(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion 74
cc) Die Einheitliche Europäische Akte (1986) 75
dd) Der Verfassungsvertrag der G e m e i n s c h a f t der Vereinigten Eu-
ropäischen Staaten von F. C r o m m e (1987) 76
ee) Der Vertrag von Maastricht (1992) 77
ff) Die Verfassungsdiskussion 1994 - der Herman-Bericht 79
(1) Ausgangspunkte der Debatte 79
(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäi-
schen Parlaments 80
(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion 82
gg) Der Vertrag von A m s t e r d a m (1997) 84
hh) Verfassungsbemühungen um die Jahrtausendwende 84
ii) Konstitutionelle „ M o r g e n d ä m m e r u n g " in Europa - die G r u n d -
rechtecharta 87
(1) Die Sachlage vor dem Herzog-Konvent 88
(2) Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents 90
jj) Mit „ H u m b o l d t " nach Nizza? 94
(1) Gründe für ein Debatten-Crescendo 97
(2) Die politische Dimension der Verfassungsdebatte 100
(3) Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Aus-
einandersetzung 102
(a) Das Ideal einer ..Föderation von Nationalstaaten" ... 103
9 Inhaltsverzeichnis

(b) Das Ideal eines „Europas der Nationen" 106


(c) Das Ideal eines „Europas der Regionen" 108
(d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz 109
(e) Zwischenfazit 110
(4) Das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und po-
litischer Diskussion 111
(a) Die Legitimationsfunktion als G r a d m e s s e r der (politi-
schen) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vor-
bild? III
(b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Ver-
fassungsdebatte 114
(c) Integrations- und Identifikationsfunktion: Transparenz
und Bürgernähe. EU-Skepsiskultivierung 116
kk) Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung .. 118
II) Die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge 120
(1) Ausgewählte Verfassungsattribute 122
(2) Die Qualifikation der Verträge durch den E u G H - ein „eu-
ropäisches M a r b u r y vs. M a d i s o n " 124
(3) Völkerrechtliche Qualifikationen 129
(4) Konstitutionelle Defizite der Verträge 131
m m ) Aus der Nizzastarre zum Konvent 135
(1) Der Post-Nizza-Prozess - parlamentarische Einfiusssphä-
ren 135
(2) Die Erklärung von Laeken - eine „stille Revolution" der
Integrationsgeschichte 139
nn) Inkurs: Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis 140
(1) Das Verfassungsverständnis - allgemeine Überlegungen . 141
(2) Der „europäische" Verfassungsbegriff 142
(a) Zwei Vorfragen 143
(b) Allgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbe-
griffes 145
(c) Verfassungsfähigkeit und deren Voraussetzungen ... 147
(d) Staat und Verfassung im „wechselseitigen Korsett"? . 149
(e) Fazit 153
(3) Das Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern 154
(a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung 159
(b) Das Vorverständnis von Demokratie. Gewaltenteilung
und Kompetenzverteilung 160
oo) Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte (Privat-)Ent-
würfe 164
pp) Der Europäische Konvent 166
(1) Auftrag und Z u s a m m e n s e t z u n g - das innovative Konvents-
moment 166
10 Inhaltsverzeichnis

(2) Die Gestaltung der Konventsarbeit 167


(3) Inkurs: Der Konvent als Zentralisierungsplattform'? .... 169
(4) Zeitgemäße Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit? 172
(5) Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des einzelnen Mit-
glieds 174
(6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abstimmung(sprobleme)
im Europäischen Rat 175
qq) Einige Gedanken zum Ergebnis des Verfassungskonvents ... 180
(1) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder
Verfassungsvertrag? 180
(2) Inhaltliche A n m e r k u n g e n . Präambel und „Leitmotto". Plä-
doyer für eine „Europäische Gesprächskultur" 185
rr) Elemente einer Ratifikationskrise 188
3. Drei Folgerungen 192
III. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständ-
nisses auf europäische Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge ... 194
1. Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a - ein Faktor des europäischen
Einigungsprozesses 197
2. Die konkrete Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess 199
a) Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten Weltkrieg? 199
b) Die 6 0 e r Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Span-
nungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz 204
c) Die 7 0 e r Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und
Friktionsfeldern 207
d) Die 80er Jahre: Konflikt und Kooperation 210
e) Die Folgejahre nach 1 9 8 9 / 9 0 sowie ein Ausblick 213
3. Europäische Einflusssphären im amerikanischen Rechtsdenken - Schlag-
lichter 215
4. Inkurs: Teilaspekte einer Europäischen Rechtskultur. Europaverständnis 217
5. Ein historisch gewachsenes „transatlantisches V e r f a s s u n g s f u n d a m e n t " 219
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates ( U S A ) bzw. der Ver-
fassungsgemeinschaft ( E U ) durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpre-
tation und Verfassungsprinzipien 221
I. G e b u n d e n e Verfassunggebung - Wege zur Verfassungsergänzung und
Verfassungsänderung 222
a) USA: Die A m e n d m e n t s als Abbilder einer Verfassungsergän-
zung - Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte 222
aa) Artikel V der Bundesverfassung - ein Faktor der Stabilität und
Flexibilität 223
bb) „Self-Restraint" in der Verfassunggebung 226
cc) Initiative und Ratifikation - das Verfahren 229
(1) Das Modell „congressional proposaP' - der Regelfall ... 229
(2) Das Modell „constitutional Convention" - Option zur To-
talrevision? 231
12 Inhaltsverzeichnis

(3) Versuche zur Begrenzung von „amending power" 235


(4) Ratifikationserfordernisse und Problemlagen - das Kurio-
s u m 27. A m e n d m e n t 236
(5) Beendigung des Amendment-Verfahrens 242
dd) Möglichkeit der Interpretation von A m e n d m e n t s 243
ee) Die generellen W i r k k r ä f t e des Amendment-Verfahrens 245
b) Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs-
(vertrags)änderung 248
aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union 249
bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen
Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts 251
cc) Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge 252
dd) Verfassungsänderung nach dem Verfassungsvertrag - die neuen
Verfahren 256
(1) Das Fünfstufenmodell des Verfassungsvertrages 256
(2) G e m e i n s c h a f t s a u t o n o m e Verfassungsänderung betreffend
einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung 260
2. Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere
die Rolle der Obersten Gerichte 260
a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsinterpretation 262
b) Der U S - S u p r e m e Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege
der Verfassungsgerichtsbarkeit 271
aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - M a r b u r y
vs. Madison 271
bb) A n m e r k u n g e n z u m Wesen des ..judicial review" 277
cc) Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption
und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels 279
(1) M o m e n t a u f n a h m e n einer Verfassungsgerichtshistorie ... 279
(2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik - An-
merkungen zur ..political question doctrine" 285
(3) Inkurs: ..counter-majoritarianism" 289
c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsge-
richtsbarkeit - Richtwerte f ü r den E u G H ? 290
aa) Verfassungsgerichtliche Interpretationspotentiale im Verfas-
sungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten 291
bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit .... 297
d ) Der E u G H als Verfassungsgericht. Verfassungsrechtsprechung ... 301
aa) Das Rollengeflecht des E u G H 303
bb) Der E u G H als „Motor der europäischen Integration"? 308
cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild einer offenen Ge-
sellschaft 311
e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und
Verfassung 312
12 Inhaltsverzeichnis

f) Vergleichende Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit - Kongruenz


der Aufgaben 313
3. G r u n d g e d a n k e n und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA)
und einer Verfassungsgemeinschaft (Europäische Union) 317
a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und
Einzelstaaten 318
b) Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten 318
aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus 318
(1) Charakter eines Bundesstaates 321
(2) Funktionsweise des US-Föderalismus 322
(3) Inkurs: Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebe-
ne 323
bb) Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte 324
cc) Ergänzungen aus vergleichender Sicht 329
c) Das Prinzip der Gewaltenteilung 331
aa) Vorbemerkung 331
bb) Die Ausgestaltung in den USA 332
cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union 335
d) Identität und der Begriff der Nation 338
e) Das Demokratieprinzip - Anmerkungen 343
f) Inkurs: Verbreitung direktdemokratischer Elemente 349
g) Das Verhältnis zwischen Recht und „ M o r a l " . Souveränitätsverzicht 350
h) Finalität - die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung 353
i) Ausgewählte institutionelle Aspekte 354
j) Europäische Grundrechtecharta - Bill of Rights 356
k) Wertegemeinschaft Europa und USA - „ever closer union" und „ever
strenger union" 357
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 358
1. Vergleichende A n m e r k u n g e n zum Konventsverfahren 359
2. Vergleichende A n m e r k u n g e n zu den Konventsergebnissen 364
3. Lehren für die Europäische Union aus d e m Vergleich der Verfassungge-
bungsprozesse 369

C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Kuropas und d e r USA 373


I. Einleitung 373
II. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas 374
1. Bisherige Regelungen im Primärrecht der Europäischen G e m e i n s c h a f t 374
2. Die Europäische Grundrechtecharta 375
a) Gottesbezug 375
b) Kirchen und Religionen 376
3. Der Entwurf des Europäischen Konvents 377
a) Änderungsanträge 379
13 Inhaltsverzeichnis

b) Die Beratungen der Regierungskonferenz 381


c) Bewertung 381
4. Der Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittskandidaten) der
Europäischen Union sowie in den deutschen Bundesländern 382
a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union 383
b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur
Europäischen Union 388
c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesre-
publik Deutschland 388
III. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung des U S - S u p r e m e
C o u r t zur Trennung von Staat und Religion 391
1. Die Frage nach einem „ G o t t e s b e z u g " in der Verfassung der Vereinigten
Staaten von A m e r i k a 393
a) Entstehung und Entwicklung der „Establishment C l a u s e " 393
b) Inhalt und Reichweite der „Establishment C l a u s e " nach der Recht-
sprechung des S u p r e m e Court 395
aa) Die Vertreter einer Trennung und einer Z u s a m m e n a r b e i t zwi-
schen Staat und Religionsgemeinschaften 395
bb) Z u s a m m e n f a s s e n d e r Überblick über die Rechtsprechung des
Supreme C o u r t 396
2. Gottesbezug in den bundesstaatlichen Verfassungen 399
IV. Das US-Modell ein Vorbild für Europa? 402

Nachwort 403

Zusammenfassung 405

Anhänge 408

Literaturverzeichnis 416

Sachwortverzeichnis 465
. £ s wird ein Tag kommen, wo man jene beiden ungeheu-
ren Gruppen: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika
und die Vereinigten Staaten von Europa einander ge-
genüberstellt. sich die Hände über den Ozean hinüber
reichen wird [ . . . ) jene beiden unendlichen Gewalten:
die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes,
miteinander verbinden wird sehen." 1

Victor Hugo

A. Einleitung

„ E p l u r i b u s u n u m " , „ A u s v i e l e m e i n e s " - s o l a u t e t e d a s M o t t o , u n t e r d e m vor


ü b e r 2 1 5 J a h r e n d i e a m e r i k a n i s c h e n 2 S t a a t e n z u r U n i o n z u s a m m e n f a n d e n . Ein
M o t t o , d a s p r o g r a m m a t i s c h z u v e r s t e h e n ist. D a s L a n d , d a s w i e kein a n d e r e s d e n
P l u r a l i s m u s a u f s e i n e F a h n e n g e s c h r i e b e n hat, e r ö f f n e t erst a u f d i e s e r e i n h e i t l i -
chen. g e m e i n s a m e n Basis den S p i e l r a u m für die Entfaltung von Vielheit. Sich
zu einer Nation zu vereinigen, die ursprüngliche a u t o n o m e Vielfalt gegen einen
von e i n e r Z e n t r a l r e g i e r u n g g e w ä h r t e n P l u r a l i s m u s e i n z u t a u s c h e n b e d e u t e t e i n d e s
Verzicht; die bisher unter losem Konföderationsdach weitgehend selbständigen
E i n z e l s t a a t e n m u s s t e n u m d e s G e m e i n s a m e n w i l l e n d e n A n s p r u c h auf d a s E i g e n e
zurückschrauben und Souveränitätsrechte abgeben.

1
V. Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Pariser Friedenskongresses (nach
der Proklamation der Zweiten Französischen Republik, wurde er 1849 in die verfassungs-
gebende Nationalversammlung gewählt), im Internet abrufbar unter http://www.e\amen-
europaeum.com/EEE/ EEE2003/24Ideen.htm.
2
„Amerika" und ..amerikanisch" beziehen sich nach allgemeinem Sprachgebrauch im
Folgenden auf die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Die Herkunft der Kontin-
entsbezeichnung war lange Zeit umstritten. Mittlerweile ist jedoch geklärt, dass die Na-
mensgebung auf zwei Deutsche zurückzuführen ist. Der deutsche Humanist M. Ringmann
begeisterte sich für den Entdecker und Seefahrer Vespucci. Der mit Ringmann befreundete
Kosmograph M. Waldseemiiller nahm dessen Vorschlag auf, Vespuccis Namen auf der
seiner ..Cosmographiae Introductio" beigegebenen Weltkarte von 1507 für den neuen und
erst vage umrissenen Erdteil zu verwenden. Ringmann hatte vorgeschlagen. Vespuccis
Vornamen Amerigo (der sich von Imre oder Emerich, dem zusammen mit dem Vater hei-
liggesprochenen Sohn des Ungarnkönigs Stephan I herleitet) entsprechend den Namen der
Kontinente der ..Alten Welt". Europa. Afrika, zu feminisieren und in dieser Form als „Ame-
rica" zu übernehmen. Andere Versionen, denen zufolge der Kontinent nach Amalrich, dem
Namen zweier Könige von Jerusalem im 12. Jahrhundert, oder nach der 1529 gegründeten
Stadt Maracaibo benannt worden sei. sind einwandfrei widerlegt. Vgl. F. Luubenberger,
Ringmann oder Waldseemüller? Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Na-
mens Amerika, in: Archiv für Wiss. Geographie, Bd. XIII. H. 3; A. Ronsin, Dicouverte et
bapteme de V Amerique, 2. Aufl. 1992.
16 A. Einleitung

Wie schwer ein solcher Verzicht fällt, wie nahe das Eigene und wie fern das
Gemeinsame erscheint, wenn man beides gegeneinander abzuwägen beginnt, zeigt
sich in aller Deutlichkeit in dem schwierigen Prozess der europäischen Einigung,
der so mühsam und zäh vonstatten geht und daher auch weiterhin so wenig Begeis-
terung zu erwecken vermag. Gerade angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint
es angebracht, sich mit einigen Argumenten und Grundfragen zu beschäftigen, mit
denen man damals, als es um die amerikanische Einigung ging, für und wider die
bundesstaatliche Lösung focht und zu ermitteln, welches Modell der Vermittlung
von Einheit und Vielfalt schließlich die Mehrheit überzeugte.

Szenenwechsel: Am 18. Juni 2004 wurde europäische Verfassungsgeschichte


geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten
sich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist
lang und ein Rückblick darf sich keineswegs auf Dezember 2001 beschränken,
in dem sich ein pluralistisch zusammengesetztes 105-köpfiges Gremium an die
Ausarbeitung einer „Verfassung für Europa" machte. Am 28. F e b r u a r 2 0 0 2 ver-
sammelten sich in Brüssel die Vertreter von Regierungen und Parlamenten aus
ganz Europa zu der ersten Sitzung des EU-Konvents. Einheit in der Vielfalt: Die
Verfassung einer freiheitlichen Gemeinschaft gab Anlass zu intensiven Debatten
innerhalb des Konvents.

Als der europäische Verfassungskonvent seine Beratungen aufnahm, war dies


von allgemein verbreiteter Skepsis begleitet. Die Erwartungen wurden von al-
len Beteiligten heruntergespielt. Bezeichnenderweise schien (zumindest in der
Anfangsphase des Konvents) nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der
Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien wie in
der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia
verglichen. 3

Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines
Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als „Europäischer
Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen
Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das Ergebnis
der europäischen Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung" be-
zeichnet wurde, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen
Bundesverfassung aufzuweisen.

Bereits seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(EGKS) haben die USA ein lebhaftes Interesse am europäischen Integrationspro-
zess gezeigt. Es ist für Europa auch heute bedeutsam zu wissen, welche Perzeption
die fortschreitende europäische Integration und das Projekt „europäische Verfas-

3
Vgl. M. Rosenfeld. T h e European Convention and Constitution Making in Philadelphia,
in: International Journal of Constitutional Law 1/2003, S. 373 ff.
17 A. Einleitung

sung" in den USA erfährt, um im sich wandelnden transatlantischen Verhältnis 4


für Verständnis zu werben und um erneute Missverständnisse zu vermeiden. Die
konstitutionelle Fortentwicklung Europas betrifft die USA als wichtigsten Partner
der Europäischen Union unmittelbarer als dies in manchen Kreisen der amerika-
nischen Administration und einzelner Think Tanks wahrgenommen werden will.
Die Annahme, die USA würden das europäische Interesse teilen, den Prozess
der europäischen Integration dauerhaft in eine „transatlantische Partnerschaft der
Gleichen" einzubetten, führt (mittlerweile) allerdings zu weit. 5

Allerdings gibt es zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiterhin


eine Vielzahl verknüpfender Aspekte, die freilich einer ständigen Neudefinition
unterworfen sind. Eindrucksvoll waren in diesem Kontext die Worte von Präsident
J. F. Kennedy, der am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 1962 in der
Hall of Independence in Philadelphia seine transatlantische Rede mit dem Wunsch
beendete, das sich einigende Europa und die Vereinigten Staaten dereinst in einer
„Declaration of Interdependence" verbunden zu sehen. Selbst wenn die transat-
lantische Atmosphäre wiederkehrend einigen Turbulenzen unterworfen ist, sollte
das feinsinnige Wortspiel mit der amerikanischen „Declaration of Independence"
vom 4. Juli 1776 nicht in Vergessenheit geraten.

Nicht selten werden die Vorstellungen über Europas zukünftige Rolle in der Welt
mit historischen Argumenten unterfüttert, etwa wenn auf die säkulare Tendenz
zu einer immer eigenständigeren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik
oder - im Gegenteil - auf die dauerhafte sicherheitspolitische Abhängigkeit Euro-
pas von den USA verwiesen wird. Unabhängig davon, wie berechtigt oder abwegig
historische Rekurse dieser Art tatsächlich sind, dürfte sich ein kurzer Rückblick
auf die jeweiligen Verfassunggebungsprozes.se und demzufolge auf einige Kapitel
aus dem Geschichtsbuch der amerikanisch-europäischen Beziehungen bei der
Erörterung von Grenzen und Möglichkeit der internationalen Rolle eines stärker
integrierten Europa als überaus hilfreich erweisen. Wie auch in anderen Politikfel-
dern. kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen, die Risiken
und Chancen bestimmter politischer Maßnahmen realitätsgerechter zu beurteilen,
Fehlperzeptionen zu erkennen und somit die verantwortlichen Akteure in die Lage
zu versetzen, angemessen auf neue Herausforderungen zu reagieren.

Gleichwohl wird dieser historische Brückenschlag im einschlägigen wissen-


schaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, nur ganz vereinzelt und kursorisch

4
Mit ..transatlantisch" ist ausschließlich das Verhältnis zwischen Europa und den
Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten
jenseits und diesseits des Atlantiks.
?
So aber G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel
der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. im Internet unter
www.rewi.hu-berIin.deAVHI/deutsch/fce/fce402/burghardt.htm. S. 1.
18 A. Einleitung

v o r g e n o m m e n 6 u n d z u m T e i l i n s e i n e r B e r e c h t i g u n g v e r n e i n t 7 , z u m Teil e i n g e -
schränkt bejaht8.

Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die a m e r i k a n i s c h e Verfassung der Tatsache, dass


d i e T h e o r i e v o n V e r f a s s u n g u n d S t a a t d e r E r f a h r u n g g e f o l g t ist, s t a t t sie z u m
Ausfiuss einer Idee zu m a c h e n , die die Wirklichkeit umgestalten sollte.9

In Kraft gesetzt nämlich w u r d e das amerikanische Verfassungssystem buchstäb-


lich o h n e w i r k l i c h e V o r s t e l l u n g v o n e i n e m S t a a t . Ü b e r s p i t z t l i e ß e s i c h d e r G e d a n k e
anschließen, d a s revolutionäre A m e r i k a k a m erst über d e n U m w e g der praktischen
E r f a h r u n g zu seinen Verfassungsprinzipien.10 Europa musste, vielleicht durfte
einen anderen W e g beschreiten, bediente sich allerdings ähnlicher Mittel und fand
viele inhaltliche B e z u g s p u n k t e im amerikanischen Verfassungsstaat.

6
Siehe allerdings aus jüngerer Zeit T. Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung.
Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003.
der allerdings zum einen den Ausgang des europäischen Verfassungskonvents noch nicht
berücksichtigen konnte, zum anderen eine weitgehende Beschränkung auf (wiewohl rechts-
vergleichende) Legitimationsaspekte vornehmen musste. Vgl. auch S. Hülscheid/. Europäi-
scher Konvent. Europäische Verfassung, nationale Parlamente, in: JöR 53 (2005). S. 429 ff.
7
Vgl. etwa S. Hobe. Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsge-
bung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1. 2003. S. I ff..
12.
8
W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, in: Inte-
gration. 2 / 2 0 0 2 . S. 83 ff.. 93.
9
Ähnlich auch D. Howard. Die G r u n d l e g u n g der amerikanischen Demokratie. Frank-
furt a. M. 2001.
10
Hierin ist einer der wesentlichen Unterschiede zur französischen Revolution zu
erkennen, die mit der klaren Vorstellung angetreten war. wie der Staat zu gestalten sei. um
das Ziel der bürgerlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Der Anspruch
der amerikanischen Revolution gestaltete sich da vergleichsweise gering.
B. Verfassungserweckung u n d
Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Entwicklungslinien
in den USA u n d d e r E u r o p ä i s c h e n Union

Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerikani-


sche Verfassung als Vorbild. 1 Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher
auch unter dem Aspekt der Ähnlichkeit pluralistischer Beeinflussung fast geboten. 2

Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die
europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat
der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zu-
rückblicken. die andere fertigt sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach
klassischen Modellen noch ihre Kinderschuhe ohne dabei modische Entwicklun-
gen außer Acht zu lassen. Europa steht in vielerlei Hinsicht bereits auf festen
Füßen, die jedoch einer dauerhaften, resistenten Ummantelung bedürfen.

Diese Voraussetzungen zu Grunde gelegt soll ein Begriffspaar gebildet werden,


das den unterschiedlichen Status der Verfassungsentwicklung widerspiegelt, die
kulturelle Basis jenseits der Verfassungskultur allerdings fast umkehrt: Verfas-
sungsbestätigung und Verfassungserweckung. Die Kultur ist für beides Impuls-
geber, kontrastiert jedoch in ihrer Ursprünglichkeit. Während in den Vereinigten
Staaten der Einfluss und die Kombination eigentlich fremder Kulturen der Ver-
fassung erst zu ihrer Genese verhalfen, kann Europa auf ein jahrhundertelanges
Nebeneinander, und - aus gewissen Blickwinkeln, etwa dem des christlichen
Abendlandes - auf Verschmelzungen zurückblicken, die Grundlage aller Verfas-
sungsbildung und damit auch ihrer Erstarkung sind.' Gewiss, auch die Einflüsse
auf die erste Fassung der amerikanischen Verfassung waren europäische, jedoch

1
Vgl. unten III. und IV. sowie II.2.f)jj)(4)(a).
:
Auch im Sinne einer ..kulturellen Verfassungsvergleichung*', vgl. P. Häberle, Euro-
päische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 252 ff. unter Bezugnahme auf die ..Verfassungs-
vergleichung als ,fünfte 1 Auslegungsmethode" (vgl. dazu ders.. Grundrcchtsgeltung und
Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ 1989. S. 913 ff.).
Im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang könnte man nun versucht sein - auch
angesichts der bislang zu konstatierenden Verfassungsfortschritte - von „Verfassungserstar-
k u n g " zu sprechen. Eine erstarkende Verfassung wächst jedoch begrifflich zunächst aus
sich selbst. Dem Wort ..Erweckung" ist hingegen die äußere sanfte, zuweilen rüttelnde Hand
wesenseigen, weshalb dieser Begriff auch im Hinblick auf die schöpferischen Gedanken,
die die „Gründungsväter" und bis heute große Denker (aber auch gelegentlich allein die
Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile) dem Gebilde „Europa" zuteil werden lassen.
20 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bestätigt wurde sie mittels eines mehr und
mehr autarken amerikanischen Selbstbewusstseins. Ein Befinden, vor dem Europa
noch steht: Verfassungsbewusstsein und übergreifend europäisches Selbstbewusst-
sein. Was hierbei nun in welcher Reihenfolge einander bedingt, wird auch von
der Außendarstellung gegenüber den europäischen Bürgern abhängen. Eine der
Demokratie verpflichtete Verfassung entwickelt und bestätigt sich nicht zuletzt
durch die Bevölkerung.

I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung

1. Augenblicke und Marksteine


des europäischen kulturellen Einflusses

Europa und die Vereinigten Staaten einem Vergleich zu unterziehen bedeu-


tet auch immer, die wechselseitigen kulturellen Impulse mit einzubeziehen. Die
Vereinigten Staaten, ihr Selbstverständnis, die heutigen politischen, rechtlichen
und gesellschaftlichen Fundamente wären ohne die englische Prägung, begonnen
durch die Gründung von Kolonien Anfang des 17. Jahrhunderts 4 (Jamestown und
die Kolonie Virginia 1607 5 ) an der nordamerikanischen Ostküste, nicht denkbar.
Insbesondere brachten viele dieser Siedler ein in England ausgebildetes Grundver-
ständnis der Möglichkeiten und Errungenschaften eines Rechtsstaats mit auf den
neuen Kontinent. Die tiefe Verwurzelung der Freiheit in ihren „status negativus,
activus und positivus" 6 rührt bereits aus dieser Zeit. Einen hohen Stellenwert nah-
men alsbald die Menschenrechte nach der Bill of Rights von 1689, die Beteiligung
der wohlhabenden Bürger an Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Traditionen

A n w e n d u n g finden soll. Dies impliziert freilich, dass der Status der E r w e c k u n g nach
Ansicht des Verf. noch fortdauert.
4
Es würde freilich zu weit f u h r e n , spanische oder auch portugiesische Einflüsse auf
die großen Entdecker wie C. Columbus oder A. Vespucci zurückzuführen. Beide sahen nie
das heutige Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika: dies gelang wohl erst 1512 d e m
spanischen Governeur von Puerto Rico J. P. de Leon mit dem Betreten des heutigen Floridas.
Gleichwohl sind gegenwärtig durchaus spanische Wurzeln in den südlichen Staaten wie
Kalifornien, N e w Mexico. Texas oder Florida durch einen hohen hispanischen, lateiname-
rikanisch geprägten Bevölkerungsanteil spürbar, was kaum verwundert, nachdem Florida
erst 1819 von Spanien erworben. Texas und andere ehemals spanische oder mexikanische
Gebiete wie Kalifornien 1845 „einverleibt" wurden.
?
Die erste englische Niederlassung befand sich bemerkenswerterweise, 1577 von
F. Drake begründet, in Kalifornien (New Albion).
6
In Anlehnung an G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte. 2. Aufl. 1905.
S. 81 ff.; siehe auch ders.. A l l g e m e i n e Staatslehre. 3. Aufl. 1914 (Neudr. 1960). S. 4 1 8 ff.:
D.P.Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR I I I (1986), S . 2 3 0 f f . ;
G. Radbruch. Rechtsphilosophie. 3. Aufl. 1932 (Studienausg. 1999). S. 67 ff.: R. Zippelius,
Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. 1999, S. 344 ff.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 21

der lokalen Selbstverwaltung, das Recht auf ein Geschworenengericht und auf
„habeas corpus" bei Inhaftierung ein. 7

Die Rechtsordnungen begründeten sich zum einen auf dem tradierten englischen
gemeinen Recht (Common Law), auf den von der Krone gewährten verfassungs-
ähnlichen Kolonialcharten 8 , auf Gesetzgebungsakten der kolonialen Vertretungs-
körperschaften sowie den übergeordneten Gesetzen des Parlaments in London.
Ungeachtet dieses zweifellos vorherrschenden englischen Potentials, das sich
weiterhin durch die (Amts-)Sprache äußert, sollten aber auch weitere kulturelle
Wurzeln nicht außer Acht gelassen werden. Die Erschließung Nordamerikas stand
im Zeichen europäischer Großmachtrivalitäten, die sich durch die Bemühungen
der englischen Krone, den Vormachtanspruch gegen Spanien, die Niederlande 9
und bis 1763 gegen Frankreich zu behaupten, manifestieren lassen. Insbesondere
wird der französischen Gestaltungskraft oftmals ein allzu geringer Stellenwert
eingeräumt. 1 0 Frankreichs Einfluss, der freilich mit dem Pariser Frieden von 1763
spürbar geringer wurde, zeigt sich wie der weiterer europäischer Staaten (beispiels-
weise wird die Zahl der Deutschen 1775 auf 200 000 geschätzt) durch kulturelle
Grundsteine anderer Art: Neben ökonomischen Verlockungen bot Nordameri-
ka zahlreichen religiösen Dissidenten Zuflucht - Puritaner, Quäker. Hugenotten,
englische Katholiken. Eine auf der abendländischen Kultur basierende „Western
Civilization", die sich über den Atlantik spannt, findet ihren Ursprung im We-
sentlichen in europäischen Wurzeln, deren Hauptstämme von der griechischen
Philosophie und dem Christentum geformt wurden. Auch bedeutende Entfaltungen

Vgl. auch M. Berg. Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a - Teil II. Historische
und Politische Entwicklung, in: Staatslexikon. Sechster Band. 7. Aull 1992. S. 3 7 3 ff.:
K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959.
S.3.
h
Es gab drei Rechtstypen der Besiedlung, deren ursprüngliches System bis heute in
den einzelnen Bundesstaaten spürbar ist: die Kronkolonie (z. B. Virginia), Eigentümerko-
lonie (Maryland) und Freibriefkolonie (New Plymouth in Massachusetts, New Häven in
Connecticut): hierzu ausführlich K. Loewenstein (1959). S. 2 f.; W. Brugger, E i n f ü h r u n g in
das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001. S. 1.
9
Die Holländer k a u f t e n 1626 die Insel Manhattan f ü r 24 Dollar den Indianern ab
und gründeten dort N e w Amsterdam. Nachdem 1655 ein Versuch der Schweden, sich in
der Delaware-Bucht niederzulassen, abgewehrt werden konnte, musste sich freilich die
holländische Siedlung 1664 den Engländern ergeben. Die Siedlung erhielt den Namen New
York.
10
Während des 16. Jahrhunderts war die Erforschung des nordamerikanischen Kontin-
ents überwiegend den Franzosen vorbehalten, die sich im frühen 17. Jahrhundert schließlich
im Osten Kanadas niederließen und bis in den heutigen Mittleren Westen gelangten (bei-
spielhaft der französische Entdecker R.R.C. de La Salle 1 6 4 3 - 1 6 8 7 . der „patron saint"
von Chicago); erst 1699 wurde die französische Kolonie von Louisiana an d e r M ü n d u n g
des Mississippi gegründet. Siehe auch zur Kolonialperiode in der US-amerikanischen Ge-
schichte K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten.
1959. S. I ff.
22 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

der Musik und bildenden Kunst, der Philosophie, Literatur und der Wissenschaft
tragen eine unverkennbar europäische Kennzeichnung."

T. Jeffersons11 Zeit von 1784 bis 1789 als Gesandter in Paris darf zu den Mark-
steinen politischer Entwicklung in Amerika gezählt werden. Sein grundsätzlich
am englischen Recht, am antiken Republikanismus und am Individualismus der
Aufklärung ausgerichtetes Staatsdenken erfuhr durch den französischen Einfluss
und die geistige Unterstützung der französischen Revolution den Feinschliff. In
seine Präsidentschaft fällt schließlich auch der Louisiana Purchase, der Kauf des
ausgedehnten Louisiana-Gebiets von Frankreich (1803). Die Vertreter „seiner"
politischen Richtung vereinigten sich schließlich unter Jeffersons Führung zur Re-
publikanischen Partei (die spätere Demokratische Partei). Eine weitere kulturelle
Einfiussnahme von Jefferson sollte nicht vorenthalten werden: Bekanntlich betä-
tigte er sich auch als Architekt und orientierte sich bei seinen für die amerikanische
Architektur impulsgebenden Entwürfen an der Baukunst der spätrömischen An-
tike sowie den Werken A. Palladios. Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits
die Vielfalt des europäischen kulturellen Erbes in den Vereinigten Staaten.

2. Die „Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa?

Dahingegen die berühmte Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als Ab-


kehr von Europa zu bezeichnen wäre unzutreffend. Unabhängigkeitserklärungen
können Wirkungen in zwei Richtungen entfalten: einerseits wird dem Neuen, Inno-
vativen ein hohes Gewicht eingeräumt, andererseits bilden traditionelle Elemente
den notwendigen, kontrollierenden Gegenpol. 3 Konservative und moderne Ge-
dankengänge, mit einer vordergründigen Betonung des Fortschrittlichen, treffen

" So gibt es ein schöpferisches Musikleben nach europäischem Vorbild seit etwa 1800.
Als frühester Komponist gilt der aus Mähren s t a m m e n d e A. P. Heinrich. Die Komponisten
der sog. „ N e u e n g l a n d s c h u l e " (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) wie J.K. Paine!H. Parker
und E. McDowell sahen ihre Vorbilder in J. Brahms und E. Grieg. Andere, wie D. G. Mason
und C A / . Loefßer, griffen später auf C. Debtissy und M. Ravel zurück: vgl. zur amerika-
nischen Musikgeschichte H.W. Hitcheock. Music in the United States, 2. Auflage 1974.
Die amerikanische Kunst w u r d e stets von Emigranten mitgeprägt - beispielhaft in der
Architektur W. Gropius/L Mies van der Rohe, in Malerei und Skulptur der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts M. Ernst IL. Moholy-Nagy oder N. Gabo. siehe umfassend M. Baigell,
A History in American Painting, 1971.
12
Siehe zu T. Jefferson das große Werk von D. Malone, Jefferson and his T i m e .
6 Bde. 1 9 4 8 - 1 9 8 1 sowie R.M. Johnstone, Jefferson and the Presidency, 1978.
n
Dies offenbart sich in j ü n g s t e r Zeit beispielsweise in Kroatien. Slowenien oder
in den baltischen L ä n d e r n , die nach d e m Bruch mit Jugoslawien bzw. der Sowjetunion
zum einen den mutigen Schritt zu einer neuen Verfassung wagten, dieser „westliche"
Maßstäbe verliehen, zum anderen aber einer verstärkten Brauchtumpflege nachgehen,
die sich gerade ihren Ursprüngen besinnt, vgl. zur neueren Verfassungsentwicklung
in Osteuropa T. Schweisfurth/R.AIIeweldt, Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteu-
ropa. in: G. Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 23

sich auch im Streben nach Souveränität. Ein veränderten Umständen angepass-


tes Staatswesen würde ohne die Rückbesinnung auf grundsätzlich staatstragende
Elemente in Kürze zusammenbrechen. Der Text der von Jefferson verfassten Unab-
hängigkeitserklärung ist Spiegelbild dieses Phänomens. Er besteht aus drei Teilen,
wobei einer Auflistung der Demütigungen und Ungerechtigkeiten Englands eine
Rechtfertigung der Revolution und schließlich eine Darstellung der Grundlagen
des neuen amerikanischen Gemeinwesens folgt. Und selbst dieses „neue" Ge-
meinwesen folgt tief ausgetretenen europäischen Spuren. Da eine Bezugnahme
der Kolonien auf das englische Recht über Jahre fruchtlos blieb, greift man auf die
Gedanken der Aufklärung und damit auf Elemente das Natur- und Vernunftrechts
zurück. So wurde unter anderem wie folgt formuliert:

„We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are
endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that a m o n g these are Life,
Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are
instituted among M e n . deriving their just powers from the consent of the governed, - Thal
whenever any Form of Government b e c o m e s destruetive of these ends. it is the Right of
the People to alter or to abolish it. and to institute new Government, laying its foundation
on such principles and organizing its powers in such form, as to t h e m shall seem most
likely to effect their Safety and Happiness." 1 4

3. Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen

Auch die Verfassungen der Einzelstaaten 15 , die teilweise den Anregungen des
2. Kontinentalkongresses 16 1775/76 folgten, umfassten indes Grundrechtserklä-
rungen. die sich nicht nur an der Hinterlassenschaft Englands, sondern auch an
den damals aktuellen Leitlinien des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts
ausrichteten. Die europäische Aufklärung fand also in einigen ihrer Basis- und

2. Aufl. 1997, S . 4 5 f f . : H. Roggeniann. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in


Osteuropa, in: Recht in Ost und West 1996. S. 177 ff.; rechtsvergleichend H. Roggeniann
(Hrsg.). Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999: G. Brunnen Verfassunggebung
in Osteuropa, in: Osteuropa Recht 1995, S. 258 ff.; R. Steinberg, Die neuen Verfassungen
der baltischen Staaten, in: JöR 43 (1995), S. 258 ff.
u
Zitiert nach P. Kurland/R. Urtier, T h e Founders' Constitution, Vol I. 1987. S. 9 ff.;
komplett abgedruckt bei R. D. Rotunda. Modern Constitutional Law. 6 t r ed. 2000. Appendix
A. S. 524 ff.; siehe zum Inhalt der Unabhängigkeitserklärung auch W. Brugger, E i n f ü h r u n g
in das öffentliche Recht d e r U S A , 2. Aufl. 2001. S . 2 f . , ausführlich J. Heideking, Die
Verfassung vor d e m Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung d e r amerikanischen
Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 . 1988: K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis
der Vereinigten Staaten. 1959. S. 5 ff.
15
1780 hatten sich bereits elf von 13 Staaten eine Verfassung gegeben. South Carolina
und N e w Hampshire griffen dabei als erste noch nicht einmal auf die Anregungen des
Kontinentalkongresses zurück.
16
Dazu K. Loewenstein (1959). S. 6.
24 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Programmideen 1 7 ihre ersten kodifizierten, staatstragenden Bewährungsproben


auf dem nordamerikanischen Kontinent. Die nachfolgende Bundesverfassung er-
fuhr eine nachhaltige Prägung durch die Neuerungen in den Einzelverfassungen,
die neben der umfassenden Betonung der Gewaltenteilung von einer Stärkung
der gesetzgebenden Körperschaften als Mittelpunkt der Staatsgewalt über die ein-
geschränkteren Rechte der gewählten Gouverneure als Inhaber der ausführenden
Gewalt bis zu einer gesteigerten religiösen Toleranz und einer Intensivierung der
demokratischen Grundsätze der Volkssouveränität reichten.

Sogar im Hinblick auf den momentanen Zustand der Entwicklung Europas


erweist sich die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten zwischen 1774
und 1788 als aufschlussreich. Das Ergebnis der Kontinentalkongresse waren die
1777 beschlossenen und 1781 ratifizierten Articles of Confederation, die ers-
te Verfassung der Vereinigten Staaten. Diese Konföderationsartikel etablierten
einen Staatenbund, den K. Loewenstein „als historisch übliche und wohl auch
zweckmäßige Übergangsstufe [ . . . ] von gesonderten Einzelstaaten zum echten
Bundesstaat" 18 qualifizierte. Inwieweit diese Erscheinungsform mit der europäi-
schen Wirklichkeit vergleichbar ist, wird noch zu zeigen sein. 1 '' An dieser Stelle
nur so viel zur Ausgangslage: In Europa wie in den Vereinigten Staaten existierten
Einzelstaaten beziehungsweise wie in Deutschland Länder vor der Schaffung
eines übergeordneten „Bundes". Gemeinsam ist beiden Entwicklungen die Urhe-
berschaft der Gründungsinitiative, die nicht „dem Volk", sondern den Vertretern
der Einzelstaaten zuzubilligen ist.

4. Die Entstehung des Verfassungsstaates - der


„Vorabend" der Bundesverfassung

a) Wege zur Emanzipation - von den „ Fundamental


Orders of Connecticut" zur Unabhängigkeitserklärung

Knüpfte man die amerikanische Verfassungsgeschichte an das Vorhandensein


eines Textes, der zumindest einige der heute allgemein angelegten verfassungstheo-
retischen Kriterien erfüllt, so ließen sich bereits die 1638 in Hartford erlassenen
Fundamental Orders of Connecticut heranziehen, um das frühe Aufkeimen kon-
stitutioneller Strukturen abzubilden. 20 Tatsächlich sollte es aber fast 140 Jahre

17
N. Hinske, A u f k l ä r u n g , in: Staatslexikon. Bd. 1 , 7 . Aufl. 1992. S. 391 ff. klassifiziert
die tragenden Ideen der Aufklärung in ..Programm-. Kampf- und Basisideen".
18
K. Loewenstein (1959), S. 7. In Art. II der Konföderationsartikel heißt es: ..Each State
retains its sovereignty, f r e e d o m . and independence, and every Power. Jurisdiction and right.
which is not by this Confederation expressly delegated to the United States, in C o n g r e s s
assembled."
19
Siehe unten IV. 3. b).
20
Sie gehen damit sogar dem englichen „Instrument of Government" von O. Cromwell
aus dem Jahr 1653 vor.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 25

d a u e r n , bis ein D o k u m e n t einer B e w e g u n g e n t s p r a n g , die a l l g e m e i n unter d e m


Begriff „ A m e r i c a n Revolution" resümiert wird.21 Vorangegangene Einigungsbe-
m ü h u n g e n u n t e r d e n K o l o n i e n w i e e t w a B . Franklins P l a n e i n e s B u n d e s a u s d e m
Jahre 1754 oder die bereits 1743 geschlossene „ N e w England C o n f e d e r a t i o n "
konnten keine stabile, g e m e i n h i n akzeptierte O r d n u n g etablieren.

A u f d i e E i n z e l h e i t e n d e r a m e r i k a n i s c h e n R e v o l u t i o n ist a n d i e s e r S t e l l e n i c h t a u s -
schweifend einzugehen.22 B e w e g g r ü n d e und Resultat sollen j e d o c h nicht gänzlich
v e r s c h w i e g e n w e r d e n , n a c h d e m a u c h sie geistiger A u s g a n g s p u n k t der folgenden
V e r f a s s u n g s b e w e g u n g waren.23 Ein vergleichsweise trivialer Auslöser, d e r Ver-
such des britischen Parlaments, die Kolonien durch Zölle und Besteuerung an
den Kosten des S i e b e n j ä h r i g e n Krieges zu beteiligen, e n t f l a m m t e ab 1763 eine

21
Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung wird - in Analogie zur Französischen
Revolution - tatsächlich überwiegend als ..Amerikanische Revolution" bezeichnet. Zu-
mindest das Selbstverständnis der G r ü n d u n g s v ä t e r der Vereinigten Staaten ist damit aber
keineswegs getroffen. Ihnen ging es nicht um den Bau einer neuen Gesellschaft, nicht um
die Umwälzung bestehender Staats- und Machtverhältnisse, sondern - wie bereits anlässlich
des ersten Kontinentalkongresses 1774 in Philadelphia z u m Ausdruck gebracht - um die
Wiedereinsetzung in ihre alten Rechte vor 1763. um die Restauration der durch die englische
Krone unterbrochenen und missbrauchten Rechtstradition, vgl. auch U. Opolka, Politische
Erklärungen: Die Verfassungen der nordamerikanischen Staaten und der Französischen
Revolution, in: E. B r a u n / F . H e i n e / U . Opolka (Hrsg.). Politische Philosophie, 6. Aufl. 1998.
S. 183 f. Insbesondere hat aber bereits T. Paine. einer der publizistischen Wegbereiter so-
wohl der amerikanischen Unabhängigkeit w i e dann später d e r Französischen Revolution,
in seinem Werk diesen restaurativen Aspekt deutlich betont, auch wenn er einer der ersten
war. die das damalige amerikanische Geschehen als Revolution bezeichneten. So heißt es in
Paines berühmter Schrift ..Die Rechte des M e n s c h e n " aus den Jahren 1791/92. die Revolu-
tion in A m e r i k a sei ..eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von
Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die Wahrheit und die Existenz des M e n s c h e n
und die Moral mit politischer Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbindet", zitiert nach
einer Übersetzung von D.M. Forkel, hrsg. von T. Stemmler, 1973. S. 173. Bemerkenswert
in diesem Kontext ist auch eine rückblickende Ä u ß e r u n g von J. Adams in einem Brief
an T.Jefferson vom 24. August 1815: ..Die Revolution fand im Herzen des Volkes statt,
und diese wurde bewirkt von 1760 bis 1775 im Verlauf von 15 Jahren, bevor ein Tropfen
Blut in Lexington vergossen w u r d e " , vgl. J.Adams, in: L . J . C a p p o n (Hrsg.). T h e A d a m s -
Jefferson Letters. T h e Complete Correspondence between T. Jefferson and A. and J. Adams,
11. 1959. S . 4 5 5 . Speziell zum historisch-sozalwissenschaftlichen Aspekt der ..Revolution"
der Klassiker von H. Arendt. Über die Revolution. 1965 (engl. Originalausgabe 1963) sowie
K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. 3. Auflage 1973: C. Lindner, T h e o r i e
der Revolution. 1972: H. Wassmund. Revolutionstheorien. 1978: K. Lenk. T h e o r i e n der
Revolution, 2. Auflage 1982.
22
Detaillierte Darstellungen der . A m e r i c a n Revolution" finden sich bei C. Bonwick,
T h e A m e r i c a n Revolution. 1991: D. Higginbotham, T h e War of A m e r i c a n Independence.
1977: H.-C. Schröder. Die amerikanische Revolution. 1982: H. Dippel. Die amerikanische
Revolution 1 7 6 3 - 1 7 8 7 , 1985: S.E. Morison it. a.. T h e Growth of the A m e r i c a n Republic,
2 Bde.. 7. Auflage. 1980: F. Freidel (Hrsg.), Harvard G u i d e to A m e r i c a n History, 2 Bde..
C a m b r i d g e (Mass) 1974: A.M. Schlesinger, T h e Cycles of A m e r i c a n History, Boston
1986. Siehe auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten. 1959. S. 4 ff.
26 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Kontroverse zwischen den Kolonisten und der britischen Krone und führte - nach
der Eskalation in einen bewaffneten Konflikt - schließlich zur bereits erwähnten
Erklärung der Unabhängigkeit durch die ..dreizehn vereinigten Staaten von Ameri-
ka'" am 4. Juli 1776. 24 In der Präambel wird unter Berufung auf das Naturrecht die
Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie das Prinzip der Volkssouveränität
postuliert. Textlich kulminiert die Erklärung in der Verkündigung neuer staatlicher
Souveränität. Angesichts der Form und inhaltlichen Gewichtung könnte beinahe
von einer „Postambel" gesprochen werden, wenn es am Schluss heißt:

„We, T H E R E F O R E . the Representatives of the U N I T E D STATES OF A M E R I C A [ . . . ] ,


do. in the N a m e , and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly
publish and declare. That these United Colonies are. and of Right ought to be F R E E
A N D I N D E P E N D E N T STATES [ . . . I " 2 5 .

Die Erklärung ermöglichte den Amerikanern die völkerrechtliche Anerkennung


als Krieg führende Partei und punktuelle Hilfe durch andere Mächte. Erst im Pa-
riser Frieden von 1783 fand die Unabhängigkeit nach einem wechselvollen Krieg
unter Beteiligung Frankreichs, Spaniens und der Niederlande ihre tatsächliche
Anerkennung durch das englische Mutterland. Die Declaration of Independence
wurde zu einem der bedeutenden Dokumente der Menschheitsgeschichte, in Spra-
che und Anspruch gelegentlich (allzu pathetisch) mit den Geboten der großen
abendländischen Religionen verglichen. Ihr Gedankengerüst formte das Funda-
ment der folgenden Verfassungsentwürfe. 2 6 Inhaltlich bildet sie die c o m m u n i s
opinio der aufgeklärten Naturrechtslehre. Der Einfluss J. Lockes ist überall dort
spürbar, wo von Konsens und Widerstand die Rede ist."

2?
Im transatlantischen Kontext bedeutsam die Dissertation von O. Vossler, Die amerika-
nischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an T h o m a s
Jefferson. 1929.
2
~ An der Erklärung waren folgende bisherigen Kolonien beteiligt: Connecticut. Dela-
ware. Georgia. Maryland, Massachusetts, New Hampshire, N e w Jersey, New York. North
Carolina. Pennsylvania. Rhode Island. South Carolina und Virginia. Umfassend zur Un-
abhängigkeitserklärung, ihrer Vorgeschichte und Tragweite J. R. Pole. T h e Decision of
American Independence. 1975. Eine heute ..klassisch" zu nennende Analyse der Erklärung
liefert C.L Becker; T h e Declaration of Independence. A Study in the History of Political
Ideas. 1922 (Neudr. i960).
25
Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of A m e r i c a n History. 1983,
S. 2 8 0 f.
26
Hierzu W. P Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfas-
sung und politische Ideen der amerikanischen Revolution. 1973: B. Bailyn, T h e Ideological
Origins of the A m e r i c a n Revolution. Neuausg. 1992.
2
Der theoretische Abschnitt der Unabhängigkeitserklärung wird emotional von der Ab-
rechnung mit dem englischen König George ///. überlagert. Dort wird das archaische Motiv
des Widerstands gegen einen Tyrannen a u f g e g r i f f e n . Insoweit steht die Erklärung durch-
aus in gewisser Rechtstradition der Monarchomachen. der Absetzung Philipps 11.1581.
der Hinrichtung Karls I. und der Bill of Rights von 1689. Diesen Aspekt heben auch
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 27

Die vielfältigen europäischen Einflüsse auf Staatsphilosophie und verfassungs-


politisches Ideengut, der spürbare Impuls der großen englischen Juristen Cocke
und Blackstone28 sowie nicht zuletzt das gestärkte Selbstbewusstsein nach über
20 Jahren erbittertem Ringen aus dem als Klammergriff empfundenen Behar-
ren der englischen Krone verdichteten sich schließlich zu dem, was man den
„amerikanischen Konsensus am Vorabend der Bundesverfassung" genannt hat. 29

Wie auch J. Ellis in seinem Werk „Founding Brothers" in sechs Episoden über
die ersten Jahrzehnte des neuen Gemeinwesens beschreibt, reichte die Einig-
keit über Jeffersons Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zunächst nicht
über den Willen, das Joch der englischen Krone loszuwerden, hinaus. „The first
founding (1776) declared American independence; the second (1787), American
statehood". 3 0 In Bezug auf den ersten Schritt bestand Einigkeit; der zweite war
zwischen „Föderalisten" und Anhängern eines losen Staatenbundes höchst umstrit-
ten. Noch heute besteht bis in die Tätigkeitsfelder der Tagespolitik eine Spannung
zwischen den damals von Hamilton und Jefferson verkörperten Denkschulen. Der
Einfluss derjenigen, die in den USA auf den „State rights" bestehen, nimmt seit
den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu.

b) Wege zum Konsens - von den „Articles of


Confederation" zum „Great Compromise"

Der Vorabend nahm freilich einige Jahre in Anspruch. Er umfasste neben der Un-
abhängigkeitserklärung auch einzelstaatliche Verfassungsbemühungen, die teils
den Anregungen der Kontinentalkongresse folgten, sowie verschiedene Grund-
rechtserklärungen und die 1781 in Kraft getretenen (1777 formulierten) Articles
of Confederation als erste bedeutende Marksteine auf dem Wege zu einer dauer-

W. Reinhard. Vom italienischen H u m a n i s m u s bis zum Vorabend der Französischen Revolu-


tion. in: H. F r e n s k e / D . M e r t e n s / W . R e i n h a r d / K . Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen
Ideen, aktualisierte Ausgabe 1996. S. 241 ff., 369. sowie E. Angermann. Ständische Recht-
stradition in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in: Historische Zeitschrift 200
(1965). S. 61 ff. hervor. Der Rückschluss Reinhards (1996). die Unabhängigkeitserklärung
sei damit nicht von Rousseau abhängig, geht allerdings fehl, da mit Rousseaus Idee des
..volonte generale" gerade die Forderung nach e i n e m Selbstbestimmungsrecht gegenüber
Spanien und Großbritannien begründet wurde.
:s
Siehe umfassend mit Blick auf das englische ..Erbe" das klassische Werk von
C. E. Stevens. Sources of the Constitution of the United States - Considered in Relati-
on to Colonial and English History. 2 nd ed. 1894. reprint 1987.
29
Vgl. auch H. Steinherger. 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung: Zu Einflüssen
des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung; Vortrag,
gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 4. Juni 1986. 1987. S . 6 : umfänglich
C. Rossiter. T h e Political T h o u g h t of the American Revolution, 1963; C.L Becker. T h e
Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. i960).
J. Ellis, T h e Founding Brothers. T h e Revolutionär)- Generation, 2002. S. 27.
28 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

haften Verfassung. Beachtenswert sind in diesem Bezugsrahmen Connecticut und


Rhode Island, deren Verfassungen erst 1819 bzw. 1842 folgten, nachdem sich ihre
bisherigen königlichen Charters nach leichten Modifizierungen längerfristig als
zweckdienlich erwiesen hatten.

Die Einzelstaatsverfassungen waren sogleich Experiment und Impulsgeber


für die nachmalige Bundesverfassung. Von einem sanften Anstoßen späterer
Verfassungsprinzipien kann hingegen nicht gesprochen werden. Gegenüber den
ursprünglichen königlichen Charters erhielt die Legislative einen höheren Stellen-
wert, unter anderem durch möglichst gleichmäßige Repräsentation. Der Gedanke
der Volkssouveränität erfuhr stabile Grundlegungen. 1 1 Die Repräsentanten der
Exekutive - von Versammlungen gewählte Gouverneure - mussten beschränkte
Rechte hinnehmen. Von überragender Tragweite war schließlich die nachhalti-
ge Etablierung der Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Gewalten. 3 2
Ferner galt das Zweikammersystem (mit der Ausnahme Pennsylvanias) als un-
entbehrliches Instrument zur Balancierung und Entschärfung unvermeidlicher
Konflikte zwischen Exekutive und Legislative.

Die Brückenfunktion vom ungeordneten Nebeneinander der Einzelstaaten zum


letztlich errichteten Bundesstaat nahmen die Anicles of Confederation ein. die
einen Staatenbund zu begründen wussten, der aus de facto souveränen Staaten
bestand, deren verbindendes Element ein Kongress sein sollte, in dem jeder
Staat eine Stimme besaß. Die Begriffe Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit
fanden erstmals zusammengehörig im Hinblick auf Einzel- oder Mitgliedsstaaten
Berücksichtigung:
„Each State retains its souvereignty, f r e e d o m . and independence, and every Power.
Jurisdiction and right. which is not by this confederation expressiv delegated to the
United States, in Congress assembled.*'"

Inhaltlich wurde für Verfassungsänderungen Einstimmigkeit gefordert. Der


Kongress, der ursprünglich nicht als Zentralregierung gedacht war und lediglich
marginale Zuständigkeiten vereinnahmte u , dehnte seine Rechte in der Folgezeit
sukzessiv aus. Eine permanente zentrale Exekutivgewalt fehlte in den Anicles aber
ebenso wie eine Regelung der Gerichtsbarkeit, des zwischenstaatlichen Handels
und der Steuererhebung." Das Fehlen einer Finanzhoheit und von Zwangsbe-

31
Jedoch wurde keineswegs überall der Anspruch auf Volkssouveränität festgehalten
und lediglich in Massachusetts erfolgte eine B e f r a g u n g des Souveräns zur Verfassung.
32
Z u m Verfassungsprinzip Gewaltenteilung siehe unten IV.3.c).
33
Art. II. Zitiert nach R.D.Rotunda u.a.. M o d e r n Constitutional Law, 6* ed. 2000.
Appendix B.
34
Dazu zählten die Hoheitsrechte im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und
der Verteidigung im Namen der souveränen Einzelstaaten.
35
Vgl. zu Einzelheiten K. Loe wen stein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der
Vereinigten Staaten. 1959. S. 7 f. Siehe auch W. Brugger, E i n f ü h r u n g in das öffentliche
Recht der U S A . 2. Auflage 2001, S. 2 f.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 29

fugnissen ließ nach d e m Wegfall der äußeren Bedrohung das Unvermögen zur
einheitlichen Willensbildung klar zu Tage treten, w a s sich äußerst negativ auf
die Handels- und Finanzpolitik niederschlug. Letztere musste nach der Einbuße
der durch das britische Merkantilsystem gesicherten Handelsbeziehungen neue
V e r b i n d u n g e n g e w i n n e n , in d e r a u s w ä r t i g e n Politik galt es V e r s t i m m u n g e n mit
England und Spanien geschlossen zu begegnen36 und zwischen den Staaten k a m es
zu förmlichen Handelskriegen aufgrund rigider Zollschranken und mangelhafter
Zusammenarbeit.

c) Der Verfassungskonvent37

Den S c h w ä c h e n d e r Articles o f Confederation sollten schließlich die ab Mai


38
1787 in Philadelphia v e r s a m m e l t e n 55 Delegierten der Einzelstaaten - aus-

36
Gerade der Kongress bewies seine gravierendsten Schwächen auf außenpolitischem
Gebiet. Großbritannien kam der im Frieden von Paris genannten Verpflichtung nicht nach,
seine Truppen aus dem Staatsgebiet der USA abzuziehen. Als J. Adams 1784 nach London
reiste, um der Großbritannien einen Handelsvertrag vorzuschlagen, musste er unverrichteter
Dinge zurückkehren, nachdem die Briten ihn mit der heiklen Frage konfrontiert hatten,
ob er eine Nation oder einen der 13 Staaten vertrete. Bei dem Versuch, mit Spanien
eine Klärung der Grenze zu Florida zu erzielen, war der Kongress e b e n s o erfolglos wie
bei der angemessenen Begleichung der e n o r m e n Kriegsschulden. Vgl. zu alledem auch
K. Loewenstein (1959), S. 7 f.
Auf die Details des Konvents. Verfahrensbesonderheiten, dessen Z u s a m m e n s e t z u n g
und Beratungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf g r u n d l e g e n d e Betrachtungen
verwiesen. Aus der deutschsprachigen Lit. ausführlich insbesondere J. Heideking. Die
Verfassung vor d e m Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen
Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1988: A. Adams fW. P. Adams (Hrsg.). Die A m e r i k a n i s c h e Re-
volution und die Verfassung: 1 7 5 4 - 1 7 9 1 . 1987. Z u d e m die historischen Darstellungen
von D.J. Haupt ly. A Convention of Delegates - the Creation of the Constitution. 1987:
D. G. Smith. T h e Convention and the Constitution. T h e Political Ideas of the Founding Fa-
thers. 1987; L W. Levy (Hrsg.). T h e Framing and Ratification of the Constitution. 1987;
J.D. Elazar. T h e A m e r i c a n Constitutional Tradition. 1988. Siehe auch C. Wolfe. On Un-
derstanding the Constitutional Convention of 1787. in: T h e Journal of Politics. 39 (1977).
S . 9 7 f f . ; C.C. Jillson. Constitution-Making: Alignment and Realignment in the Federal
Convention of 1787, in: T h e A m e r i c a n Political Science Review, 75 (1981), S. 598 ff.;
A.H. Kelly/W.A. Harbison/H. Beiz (Hrsg.), T h e A m e r i c a n Constitution - its Origins and
Development, 7th ed. 1991. Klassische Standardwerke sind weiterhin: N.C. Towle. Histo-
ry and analysis of the Constitution of the United States, 3^ ed. 1871. reprint 1987; C. van
Dören, T h e Great Rehearsel. T h e Story of the M a k i n g and Ratifying of the Constitution of
the United States, 1948.
38
Rhode Island war nicht vertreten. Einige radikale Republikaner wie P. Henry und
S. Adams waren freiwillig ferngeblieben. Das erleichterte es den ..Nationalists", sich gegen
die B e f ü r w o r t e r einzelstaatlicher Souveränität durchzusetzen. Die größten Differenzen in
den Beratungen, die unter Vorsitz von G. Washington bis Mitte September andauerten, wa-
ren das Verhältnis von Bundesregierung und Einzelstaaten, die Gewaltenteilung innerhalb
der Bundesregierung sowie die Interessenkonflikte zwischen Nord- und Südstaaten auf
30 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nahmslos Vertreter der bürgerlichen und landbesitzenden Schicht - durch die


Schaffung eines zentralen Regierungssystems entgegenwirken.

Die genannten Delegierten werden verbreitet als „Verfassungs- oder Gründervä-


ter" („founders") bezeichnet. Tatsächlich ist hierbei aber ein differenzierterer Blick
angebracht. Der Historiker / Ellis hat die amerikanischen „Verfassungsväter" im
Anschluss an die „Gründerväter" der Unabhängigen Vereinigten Staaten „founding
brothers" und die Verfassunggebung elf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung
„the second founding" genannt. 3 9

Neben den klangvollen Namen der Konventsmitglieder rückten in jüngerer


Vergangenheit weitere Verfassungsväter ins Blickfeld der Verfassungshistoriker.
Dies ist insbesondere auf die erneut aufgeflammte Debatte um die Bedeutung der
„original meaning" in der Verfassungsinterpretation zurückzuführen. Im Zuge
dieser Diskussion erscheinen eigentliches Konzept und Zusammensetzung der
Gründer immer weniger fassbar. Das Spektrum der „Founders" schließt im eng-
lischen Sprachgebrauch „drafters", „framers", „ratifiers", „adopters" und selbst
„we the people" ein. Neben den Konventsdelegierten selbst werden verbreitet
auch die zahlreichen Teilnehmer an den einzelstaatlichen Ratifizierungskonventen
genannt. Einige erweitern diesen Ansatz um die Zahl all derer, die die öffentliche
Debatte um die Verfassung zu prägen verstanden. Allerdings ist die Kategorie
„public debate" selten zitierfähig und kaum konkret genug, um den Vorwurf einer
gewissen Willkür in der Auswahl zu entkräften. 4 0

Die damalige Entscheidung zu einem völligen verfassungstheoretischen Neube-


ginn markierte den entscheidenden Wendepunkt zur konstitutionellen Moderne.
Federführend für diese Entwicklung war ein damals 36-jähriger Delegierter aus
Virginia, J. Madison41. Er schlug eine radikale Abweichung vom ursprünglichen

der einen, kleinen und großen Einzelstaaten auf der anderen Seite, vgl. dazu J. Heideking,
Revolution. Verfassung und Nationalstaatsgründung, in: W . P . A d a m s u . a . (Hrsg.), Die
Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Bd. 1. S. 32 ff.. 43. Weitere bekannte Delegierte waren
A. Hamilton (New York), der 81-jährige B. Franklin und J. Wilson (beide Pennsylvania).
G. Mason (Virginia, den Jefferson, der selbst zu der Zeit als Gesandter in Paris weilte,
später ..the Cato of his country without the avarice of the R o m a n " nennen sollte) sowie
J. Dickinson (Delaware).
39
Vgl. J. Ellis. T h e Founding Brothers. T h e Revolutionary Generation. 2002.
4
" Vgl. zu der Diskussion um die Auswahl d e r ..Founders" neuerdings S. Cornell, T h e
Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1 7 8 8 - 1 8 2 8 ,
1999: zu den unterschiedlichen Aspekten der Meinungsbildung in der einzelstaatlichen
..public debate": B. McConville, These Daring Disturbers of the Public Peace: T h e Struggle
for Property and Power in Early N e w Jersey, 1999 sowie W. Holton, Forced Founders:
Indians. Debtors. Slaves, and the Making of the American Revolution in Virginia. 1999.
41
Z u r Person J. Madison und dessen Einfluss auf die Verfassungswerdung siehe die
bemerkenswerte Studie von J.N. Rakove. J a m e s M a d i s o n and the Creation of the A m e r i -
can Rcpublic, 1990: zu dessen späterer Präsidentschaft ( 1 8 0 9 - 1 8 1 7 ) R.A. Rutland. T h e
Presidency of J a m e s Madison, 1990.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 31

Auftrag des Konvents vor: die Konföderationsartikel sollten nicht revidiert, son-
dern durch den Beschluss einer neuen, nationalen Regierungsform ersetzt werden.
Madisons Vorstellungen basierten auf einem eigenen Entwurf, der als „Virginia-
Plan" bekannt werden sollte. 42 Er sah im Kern eine präsidiale Republik vor, die
auf einer strengen Gewaltenteilung durch ein Zweikammerparlament beruhte.

Anstoß an dem Entwurf nahmen allerdings die kleinen Staaten, da sich die
Sitzverteilung im Kongress nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundesstaates
richten sollte. Virginia hätte damit ein erhebliches Gewicht im Kongress gehabt.
An den Rand des Scheiterns brachte die Beratungen überdies der Interessenkon-
flikt zwischen dem kommerziell ausgerichteten Norden und dem auf Sklavenarbeit
angewiesenen, Agrarprodukte exportierenden Süden. Politische Protagonisten und
Gegenpole dieser Auseinandersetzung waren einerseits die „Nationalisten" - Be-
fürworter einer starken Zentralregierung (die sich entgegen dem heutigen Sprach-
gebrauch Federalists nannten) - und auf der anderen Seite die Anhänger der
Souveränität der Einzelstaaten sowie einer größtmöglichen Dezentralisierung der
Macht. Letztere wurden von ihren Widersachern geschickterweise mit dem Na-
men Antifederalists belegt, um das Negative und im Zweifel Unpatriotische ihres
Standpunktes hervorzuheben. Die Spannungen waren von einer Vermengung un-
auflöslich erscheinender materieller Interessen mit generellen Einwänden gegen
jegliche Machtkonzentration gekennzeichnet.

Schließlich konnte ein für die Konventsmitglieder akzeptabler Kompromiss


(ehrfurchtsvoll „The Great Compromise" genannt) erzielt werden: im Repräsen-
tantenhaus war nunmehr eine Vertretung nach der Bevölkerungszahl vorgesehen,
der Senat bot hingegen ungeachtet der Größe jeweils zwei Sitze für die einzelnen
Staaten. 43 Der Souveränität der Einzelstaaten wurde durch das innovative Prinzip
des Föderalismus 44 und durch die Entscheidung über ein neues Wahlrecht 45 Rech-

J
- Der Verfassungsdebatte lagen drei ..Plans" zugrunde. Der Vorschlag von New Jersey
(„New Jersey-Plan"), d e r e i n e Kollektivspitze vorsah, glich dabei in manchen Einzelheiten
der späteren Schweizer Verfassung von 1848 (siehe i.Ü. auch P. Widmer. Der Einfluss der
Schweiz auf die Amerikanische Verfassung von 1787, in: Schweizerische Zeitschrift für
Geschichte. 38 (1988), S. 359 ff.), der von Virginia hatte Ähnlichkeiten mit der späteren
Verfassung der dritten französischen Republik. Den dritten ..Plan" legte A. Hamilton vor;
darin wurde ein System bevorzugt, das d e m ..British G o v e r n m e n t " als laut Hamilton ..the
best in the world". frappierend ähnelte.
43
Aktualität erlangten diese Frage und die Argumente der früheren Auseinandersetzung
bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2 0 0 0 und der knappen (letztlich gerichtlichen)
Entscheidung für den Wahlsieger G. W. Bush.
44
Dazu ausführlicher unten IV. 3.b).
45
Für die Wahl zum Repräsentantenhaus, d e m einzigen Bundesorgan, das nach der
ursprünglichen Verfassung direkt gewählt werden musste. galt die Bestimmung, dass die
Qualifikationen für die W ä h l e r nicht höher angesetzt werden dürften als für das ..populäre"
Haus des jeweiligen Einzelstaates (Art. I §2 par 1 der Verfassung). Dem Kongress wurde
lediglich das Recht eingeräumt, die von den Einzelstaaten geregelten ..Zeiten. Orte und
32 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nung getragen. Der Bundesregierung wurde die Befugnis erteilt, Einfuhrzölle


und Steuern zu erheben, eine Flotte und ein Heer zu unterhalten, die Milizen der
Staaten zu beaufsichtigen (und nötigenfalls militärisch einzusetzen) sowie den
Handel zwischen den Staaten und dem Ausland zu regulieren. Den Gipfel der
Machtfülle bildete die berühmte Bestimmung, die es dem Kongress ermöglichte,
alle Gesetze zu beschließen, die notwendig und angemessen („necessary and pro-
per") seien, um die in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen wahrzunehmen
(Art. I § 8 par. 18 der Verfassung). Eine weitere Beschränkung der Einzelstaaten
bildete das Verbot der Münzprägung und Papiergeldausgabe. Allerdings wurde
damit erst ein gemeinsamer Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währungs-,
Wirtschafts- und Außenhandelspolitik ermöglicht. Kompensation für den Verlust
der einzelstaatlichen Souveränität sollte der Senat bieten, über den die Staaten
Einfiuss auf die Gesetzgebung, den Abschluss von Verträgen und die Ernennung
hoher Amtsinhaber nehmen konnten.

Nicht mehrheitsfähig waren Anregungen, ein Organ („Council of Revision")


zu schaffen, das Gesetze der Einzelstaaten u n d / o d e r des Kongresses auf ihre
Verfassungsmäßigkeit überprüfen würde. Auch die Zuweisung dieser Funktion an
den in der Verfassung vorgesehenen Obersten Gerichtshof fand keine Zustimmung.

Essentiell für die Zustimmung der Südstaaten zur Verfassung war die Anerken-
nung der Institution der Sklaverei. Diese Akzeptanz wurde letztlich konkludent
in drei Klauseln deutlich. Nach Art. I § 2 par. 3 der Verfassung sollten bei der
Berechnung der Bevölkerungszahl im Hinblick auf die Zuteilung von Sitzen im
Repräsentantenhaus „other persons" (womit Sklaven gemeint waren) als Drei-
Fünftel-Personen gewertet werden. Weiterhin musste gemäß Art. IV § 2 par. 3
der Verfassung ein flüchtiger Sklave von den Behörden des Staates, in den er
geflüchtet war, an seinen Herrn ausgeliefert werden. Zudem durfte der Import von
Sklaven vom Kongress bis zum Jahre 1808 nicht verboten, jedoch ein Steuer von
nicht mehr als 10 Dollar auf jeden importierten Sklaven erhoben werden (Art. I
§ 9 par. 1 der Verfassung).

Die einzelstaatlichen Verfassungen dienten, wie bereits erwähnt, als wegweisen-


der Erfahrungsschatz für die Inhalte der Bundesverfassung. Vorbilder etwa für die
Gestaltung der Bundesgewalt mit einer Zweikammerlegislative, einer Einmann-
exekutive und einem obersten Gerichtshof waren insbesondere die Verfassungen
von New York und Massachusetts." 6

A r t " der Wahlen zu ändern (Art. I §4 par. 1 der Verfassung). Vgl. auch K.L. Shell. Die
Verfassung von 1787. in: W . P A d a m s u . a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika.
Bd. 1. 1990. S. 277 ff., 2 8 0 f.
46
Z u m Ideengehalt der Einzelstaatsverfassungen: W. P. Adams. Republikanische Verfas-
sung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen
Revolution. 1973. Siehe zu deren Einfiuss auf die Bundesverfassung auch H.G. Keller. Die
Quellen der amerikanischen Verfassung, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte
16 (1953), S. 107 ff.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 33

Die am 17. Sept. 1787 verabschiedete Verfassung spiegelte letztlich den mühse-
lig errungenen Kompromiss zwischen Interessenlagen wider, die sich in einem ma-
teriell ausgerichteten Nord-Süd-Konflikt und einem grundsätzlichen, weitgehend
ideellen Streit um etwaige Segnungen des Föderalismus oder eines ausgeprägten
Zentralismus offenbarten.

d) Ratifizierung und „Federalists" gegen „Antifederalists"

Der Verabschiedung sollte nach dem Willen der Delegierten die baldige Ratifi-
zierung folgen. Diese hätte sich bei Berücksichtigung der damaligen Rechtslage
schwierig gestaltet. Die Kongressordnung sah nämlich prinzipiell Einstimmigkeit
vor. welche angesichts der zahlreichen Kompromisse kaum zu erreichen schien.
So beschloss man. die Zustimmung zur Verfassung nicht dem Kongress in New
York, sondern eigens zu berufenden verfassunggebenden Versammlungen in den
einzelnen Staaten zu überlassen. 47 Überdies sollten nach Art. VII des Verfassungs-
entwurfs bereits neun von dreizehn Ja-Stimmen die übrigen Staaten binden. Diese
Taktik zahlte sich aus. denn am 2. Juli 1788 wurde durch die Zustimmung des
zehnten der dreizehn Gründungsstaaten die Verfassung ratifiziert. North Carolina
und Rhode Island zögerten mit der Ratifizierung noch bis zum 21. November
1789 beziehungsweise 29. Mai 1790. Auch in New York galt es Widerstände ge-
gen den Verfassungsentwurf zu brechen. 4 8 Wie unter einem Brennglas prallten
dort die herausragenden Vertreter von Federalists und Antifederalists aufeinander,
die in einer geistig-ideologischen Auseinandersetzung das gemeinsame Funda-
ment der Revolution in zwei Varianten des Republikanismus zu spalten wußten.
Beide Seiten versuchten mit einer Flut von Flugblättern, Zeitungsartikeln, Reden
und Pamphleten die öffentliche Meinung zu indoktrinieren. Die Antifederalists
befürworteten dabei die Idee einer überschaubaren Republik in einem lockeren
Staatenbund, ähnlich der Struktur, wie sie in den „Articles of Confederation""
vorgesehen war. 49

47
Gleichzeitig wurde, dem Beispiel aus Massachusetts folgend, allmählich das Volk
als eigentlicher Souverän ins Spiel gebracht.
4S
Hierzu ausführlich L.G. de Pauw, T h e Eleventh Pillar: N e w York and the Federal
Constitution. 1966: R. Brooks, Alexander Hamilton. Melanchton Smith and the Ratification
of the Constitution in New York, in: William and M a r y Quarterly 24 (1967), S. 339 ff.
49
Unter B e r u f u n g auf Montesquieu widersprachen die Antifederalists der Auffassung,
ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten könne problemlos als freiheitliche Repu-
blik geführt werden. Die neu geschaffenen Verfassungsorgane und Institutionen betrachtete
man als potentielle G e f a h r für die Bedürfnisse der Einzelstaaten und ihrer Bürger. Überdies
wurde der bis dahin fehlende Grundrechtekatalog beklagt. Vgl. zu den A r g u m e n t e n und
Vertretern dieser Bewegung insgesamt J. T. Main. T h e Antifederalists. Critics of the C o n -
stitution 1781 - 1 7 8 8 , 1961; C.M. Kenyon. M e n of Little Faith: T h e Antifederalists on the
Nature of Representative Government, in: William and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3 ff.
Neuerdings S. Cornell. T h e Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition
34 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Demgegenüber stand das Modell der Federalists, die für das Modell einer
..Bundesrepublik" mit einer effektiven Zentralgewalt sowie für eine Stärkung
und Expansion der Wirtschaft eintraten. Den theoretischen und intellektuellen
Unterbau hierzu lieferten A. Hamilton, J. Madison und J. Jay, die unter dem
gemeinsamen Pseudonym ..Publius" 85 Essays veröffentlichten, in denen sie die
Bedeutung und Vorteile der Verfassung hervorzuheben suchten. Diese heute unter
dem Titel „Federalist Papers" versammelten Schriften gelten zu Recht als eines
der wichtigsten Dokumente zur Staatstheorie und zählen zu den Klassikertexten
im Verfassungsleben 5 0 , vielleicht sogar in literarischer Hinsicht. 51

In deren Plädoyer für einen amerikanischen Bundesstaat lebt die damals ge-
führte Diskussion wieder auf und es sind prinzipielle Überlegungen über die
Probleme zu finden, die Einigungsprozesse von solcher Größenordnung aufwer-
fen. Zudem ist eine Stringenz der Argumentation zu erkennen, die verwundern
muss, wenn man die Entstehungsgeschichte der „Papers"bedenkt: Sie waren zu-
nächst schlicht eine Serie von Zeitungsartikeln, die etwa ein Jahr lang, nämlich
1787/88. in mehrtägigem Abstand in drei New Yorker Zeitungen erschienen, bevor
sie zusammengefaßt als Buch publiziert wurden. Der Anlass für diese eifrige Publi-
kationstätigkeit war, für die Ratifizierung der neuen, nunmehr bundesstaatlichen
Verfassung zu werben.

Es war nicht vorgesehen, die Verfassung per Volksentscheid zu ratifizieren,


vielmehr oblag diese Aufgabe gewählten Konventen. Dennoch richteten sich die
Artikel der Autoren ebenso wie die Artikel und Pamphlete der Verfassungsgegner
unmittelbar an die interessierten Bürger; es wurde argumentiert, polemisiert, mit
zahlreichen Mitteln der politischen Rhetorik um Zustimmung gerungen. Offenbar
fand diese öffentlich geführte Kontroverse um die künftige Gestalt der Union auch
die erwünschte Resonanz; sie erweckte Leidenschaften. Gerade mit Blick auf

in A m e r i c a . 1 7 8 8 - 1 8 2 8 . 1999. Siehe auch die Textsammlung von H.J.Storing!M. Dry


(Hrsg.). T h e Complete Anti-Federalist, 7 Bde. 1977.
50
Die Begrifflichkeit ..Klassikertexte im Verfassungsleben" prägte P. Häberle. Siehe
ders., Klassikertexte im Verfassungsleben. 1981 sowie ders., Verfassungslehre als Kultur-
wissenschaft. 2. Aufl. 1998. S . 4 8 1 ff.
51
J. Gebhardt spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von einem „Iivre de circonstance. das
dank des Formats seiner Autoren und des Erfolgs der vertretenen politischen Position
schließlich einen hervorragenden Platz e i n n e h m e n sollte im literarischen corpus der a m e -
rikanischen Ziviltheologie", vgl. ders.. T h e Federalist (1787/88). in: H. Maier u. a. (Hrsg.),
Klassiker des politischen Denkens, Bd. II. 5. Aufl. 1987, S . 5 8 ff., 58. Textausgaben wur-
den u. a. herausgegeben von J.E. Cooke ( Hrsg.), T h e Federalist, 1961; C. Rossiter (Hrsg.),
T h e Federalist, 1961: B. F. Wright. T h e Federalist, 1961 - mit o f t zitierter Einleitung;
/. Kramnick (Hrsg.). T h e Federalist Papers. 1987. Deutschsprachige Übersetzungen editier-
ten u. a. A. und W. P. Adams (Hrsg), H a m i l t o n / M a d i s o n / J a y : Die Federalist Artikel. 1994
sowie F. Ermacora (Hrsg.), Alexander Hamilton. J a m e s Madison, John Jay. Der Föderalist.
1958. Zur politischen Interpretation der Federalist Paper vgl. D. F. Epstein. T h e Political
Theory of the Federalist, 1984. Siehe auch K. von Oppen-Rundstedt. Die Interpretation der
amerikanischen Verfassung im Federalist, 1970.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 35

den europäischen Einigungsprozess ist es erhellend, wie eine von Leidenschaft


getragene Einigung andere Kräfte freisetzt als ein Zusammenfinden, das auf
mühsamen, kleinteiligen Gewinn-und-Verlust-Rechnungen beruht.

Gleichwohl: Über die unmittelbare Bedeutung der Federalist Papers in der


Auseinandersetzung um die Verfassung sind die Meinungen geteilt; New York
jedenfalls wählte einen anti-federalistischen Konvent. Nachdem jedoch mit Vir-
ginia als zehnter Staat nach Massachusetts ein anderer großer Schlüsselstaat die
Verfassung ratifiziert hatte, stand der Staat New York vor der Wahl, der Union
fernzubleiben und eine Sezession der Stadt New York zu riskieren oder sich dem
Druck der Umstände zu beugen. Der Konvent entschloss sich schließlich mit
knapper Mehrheit für die Ratifizierung.

Obwohl die Anti-Federalisten unter dem Strich den Kampf um die Verfassung
verloren hatten, ging im Rahmen des erzielten Kompromisses ihre Idee vom
republikanischen Kleinstaat ebenso in das amerikanische Selbstverständnis ein
wie die einzelnen Prinzipien ihrer federalistischen Widersacher.

Der Verdienst der Federalist Papers lag weniger in deren tagespolitischem Erfolg
als in der ideenpolitischen Langzeitwirkung auf das politische Selbstverständnis
der amerikanischen Republik.

Der Schritt zu einer neuen, die nationale Willensbildung und Entscheidungsfin-


dung vereinfachenden Fasson staatlichen Zusammenlebens hatte sich zuletzt trotz
oder gerade aufgrund der langatmigen Ratifikationsauseinandersetzung vollzogen.
Einige der Staatsversammlungen hatten die neue Verfassung allerdings nur unter
der Prämisse ratifiziert, dass G. Washington als erster Präsident den Beschluß
eines Grundrechtekatalogs im Kongress durchsetzen würde.

e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der


Menschenrechte: konstitutionelle „Morgendämmerung" - die Bill of Rights

In ihrer Tragweite ist dabei die Verfassung Virginias vom 12./29. Juni 1776
kaum zu unterschätzen. Sie sollte die erste Verfassung sein, die den Schritt von
traditionellen konstitutionellen Denkmustern zur Verfassungs-Moderne insoweit
zu meistern vermochte, als sie erstmals Regeln der Staatsorganisation („Consti-
tution or Form of Government") mit einem Menschenrechtskatalog („Virginia
Bill of Rights" 5 2 ) verband. Die naturrechtliche Lehre von den unveräußerlichen

52
In Art. I der Erklärung heißt es: ..Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen
frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte ( . . . ] und zwar auf G e n u ß
des L e b e n s und d e r Freiheit und dazu die Möglichkeit. Eigentum zu erwerben und zu
besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."(zitiert nach der Über-
setzung von W. P Adams, im Internet unter http://chnm.gmu.edu/declaration/german.html).
Hinzu kamen unter a n d e r e m Gewährleistungen der Pressefreiheit ( Art. 12) und der freien
36 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Menschenrechten und die Rechtsentwicklungen in England bildeten den geistigen


Unterbau, um die bedeutendsten Freiheiten als allgemeine Bürger- oder Menschen-
rechte in einem Grundrechtskatalog zu konzentrieren und als positives Gesetz
zu verkünden. 5 3 Es mag der damaligen Mentalität der Siedler, ihrem ausgepräg-
ten Unabhängigkeitssinn und deren gewachsenem Streben nach Glaubensfreiheit
zuzuschreiben sein, dass sich eine beispiellose Offenheit für zeitgenössische
Staatsphilosophie beobachten ließ, die schließlich in deren konkreter Umsetzung
mündete. Laut O. Vossler sieht der Amerikaner „im Mayflower Compact, in den
Covenants von Connecticut [ . . . 1 wirklich durch Vertrag Staaten entstehen, ihm ist
in allen diesen Punkten das Naturrecht gar nicht Theorie und Literatur, sondern
fassbare, sichtbare, lebendige Wirklichkeit." 5 4 Zwar steht die Menschenrechtser-
klärung von Virginia noch außerhalb, also formal getrennt von der „Constitution
or Form of Government". Jedoch sollte es nicht lange dauern, bis es zu der Ver-
schmelzung beider Bestandteile kam. In der Verfassung Pennsylvanias vom 28.9.
1776 wurde erstmals diese für das spätere Verfassungsverständnis wesentliche
Verbindung formuliert:

„We [ . . . ] do ordain. declare and establish the following Declaration of Rights and
Frame of Government, to be the Constitution of this c o m m o n w e a l t h . " 5 5

Die Staaten Virginia, New York und Massachusetts waren es dann auch, die
eine Annahme der Bundesverfassung von der Bedingung abhängig machten, dass
Grundrechte dauernde Berücksichtigung fänden. 5 6 So kam es schließlich, dass

Religionsausübung (Art. 16). Siehe zu den ersten amerikanischen Entwürfen von G r u n d -


rechtskatalogen bereits H. Hägermann, Die Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte
in den ersten amerikanischen Staatsverfassungen. 1910. Vgl. auch B. Schwanz. T h e Great
Rights of M a n k i n d . A History of the American Bill of Rights. 1977: R.A. Rutland. T h e
Birth of the Bill of Rights. 1 7 7 6 - 1 7 9 1 . 1955.
53
Bereits das Massachusetts Body of Liberties von 1641 enthielt ein detailliertes
Bekenntnis zu Individualrechten. In den General Fundamentals von New Plymouth aus dem
Jahre 1671 wurde die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Rechtsprechung, die Achtung
von Leib. Leben. Freiheit, g u t e m Namen und Besitztum sowie die Glaubens-, Gewissens-
und Kultusfrreiheit für unverletzlich erklärt, vgl. dazu R. Zippelius. Allgemeine Staatslehre.
13. Aufl. 1999. S. 329: J. Hatschek. Allgemeines Staatsrecht. Bd. II. 1909. S. 133 f.
5-1
O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrechte, in: R. Schnur (Hrsg.), Zur
Geschichte der Erklärung Menschenrechte und Grundfreiheiten. 1964 (2. Aufl. 1974).
S. 166 ff.. 180 f.
55
Vgl. ..The Constitution of Pennsylvania", zitiert nach S.E. Morison (Hrsg.), Sources
and D o c u m e n t s Illustrating the A m e r i c a n Revolution 1 7 6 4 - 1 7 8 8 , 2. Aufl. 1929, Neudr.
1953, S. 162 f.
56
Bis 1780 schufen lediglich sechs Staaten Grundrechtserklärungen (Virginia. Dela-
ware. Pennsylvania. Maryland. North Carolina, Massachusetts). Inhaltlich gab es hierbei
erhebliche Differenzen. So war die Frage nach dem konkreten Inhalt von „Freiheit" nicht
eindeutig im Sinne einer allgemeinen Übereinstimmung zu beantworten. Freiheit als politi-
sche Partizipation war nicht gleichmäßig verwirklicht; in fünf Staaten waren beispielsweise
nur Protestanten a m t s f ä h i g . Das Gleichheitsprinzip der Unabhängigkeitserklärung war
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 37

Herrschaftsordnung und Grundrechte in der westlichen Verfassungstradition seit


der Einbeziehung der Ten Amendments als „Bill of Rights" in die amerikanische
Verfassung im Jahre 1789 57 (ratifiziert 1791) eine untrennbare Einheit bilden und
nicht hinweg zu denkender Bestandteil moderner Verfassungen sind. 58

Selten wird darauf verwiesen, dass im Prozess der amerikanischen Verfassung-


gebung 1787/88 die Föderalisten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte
eintraten. 5 " Hamilton, Madison und Jay, betonten in den gemeinsam von ihnen
verfassten Federalist Papers, Gerechtigkeit und Freiheit seien ausreichend durch
Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche
Abwehrrechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck ent-
stehen. das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und
müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entschei-
denden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der
sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere: ..Hier müssen wir | . . . ] letzten
Endes das einzige solide Fundament für alle unsere Rechte suchen." 6 " Bekanntlich
konnten sich die Föderalisten mit diesem Ansatz nicht durchsetzen. Auf Druck
der Anti-Föderalisten wurde bald nach Verfassungsannahme ein Grundrechtska-
talog entworfen, die Bill of Rights, für die die amerikanische Verfassung berühmt
geworden ist.

Der „Vorabend" der Bundesverfassung nahm unter d e m Gesichtspunkt der


Verknüpfung dieser heute untrennbar erscheinenden Elemente also durchaus den
Zeitraum bis 1789 in Anspruch. Das Jahr 1791 mag als die „Morgendämmerung"
einer modernen Verfassung bezeichnet werden, die der englischen Tradition von
der Magna Charta 1215 über die Petition of Right 1627, die Habeas Corpus Act
1679 und die Bill of Rights 1689 folgend strukturell und inhaltlich schon ein Stück
in die Zukunft enteilt war.

vordergründig gegen England gerichtet und zunächst nicht zur unbeschränkten inneren
Umsetzung bestimmt. Überdies fand es nur in drei Grundrechtserklärungen Berücksichti-
gung. Vgl. hierzu W.P.Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die
Verfassungen und politischen Ideen der Amerikanischen Revolution. 1973.
Der Kongress verabschiedete am 25. September zunächst zwölf Verfassungszusätze
(.Amendments). von denen die Bundesstaaten letztlich zehn bestätigten. Einzelheiten zu den
A m e n d m e n t s unten ausführlich IV. 1. a) Zur Geschichte der amerikanischen ..Bill of Rights"
vgl. aus neuerer Zeit das sehr umstrittene Werk von L IV. Levy, Origins of the Bill of Rights.
1999. Die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Fortentwicklung
bespricht A. ReedAmar. T h e Bill of Rights: Creation and Reconstruction, 1998. Siehe auch
C.R. Smith. To form a more perfect union. T h e ratification of the Constitution and the Bill
of Rights, 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993.
58
Vgl. auch K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. 1984.
S. 65: W. Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999. S. 26.
Anders freilich W. Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in:
Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg. H e f t 3 / 1 9 9 4 . S. 22 ff.
60
Vgl. The Federalist No. 84 (Hamilton).
38 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Verfassung und die Bill of Rights erzeugten so eine Balance zwischen zwei
gegensätzlichen, aber grundlegenden Aspekten der amerikanischen Politik - der
Notwendigkeit einer starken, effizienten Zentralgewalt und der Maxime, die Rech-
te des Einzelnen zu schützen. Die beiden ersten politischen Parteien spalteten sich
entlang dieser Linien. Die Föderalisten bevorzugten einen starken Präsidenten und
eine Zentralregierung. Die Demokratischen Republikaner verteidigten die Rechte
der einzelnen Staaten, denn dies schien mehr regionale Kontrolle und Verantwor-
tung zu garantieren. Eine Auseinandersetzung, die der Konfliktsituation unter den
Delegierten des Verfassungskonvents gewissermaßen konsequent nachfolgte.

Der entstandene Verfassungsstaat auf der Grundlage des Dokuments von 1787
war zunächst von Geburtswehen begleitet, die beschwerlicher zu sein schienen als
die der abgelösten Konföderation. Insbesondere brach der reformierte Staat, der
sich eigentlich erst jetzt als in sich geschlossene Nation betrachten konnte, weit
deutlicher mit den politischen Strukturen der vorhergehenden Periode. Setzt man
einen Vergleich mit 1776 an. so lässt sich feststellen, dass damals die Kolonien
zwar den einschneidenden Schritt zur Unabhängigkeit getätigt hatten, allerdings
Verwaltung und Staats Verständnis lediglich Modifizierung erfahren durften. 1787
wurde hingegen ein erstes klares Bekenntnis zur Moderne des Staatswesens abge-
geben, indem die durch Generationen hindurch bewahrte Tradition der relativen
Selbständigkeit der Einzelterritorien durchbrochen und das Volk der Vereinigten
Staaten zum tatsächlichen, obersten Souverän berufen wurde.

5. „We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung

Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste noch gültige schriftliche
Verfassung der Welt. 61 Bereits in den ersten drei Worten der Präambel 62 manifes-
tieren sich Herkunft, Fundament und Auftrag dieses Werkes. „We the People[... 1"
ist mehr als lediglich der Ausdruck des Demokratiegedankens, der freilich zu den
Säulen amerikanischen Verfassungsdenkens zu zählen ist. 63 Das Volk wird als

61
P r o f u n d e Darstellungen der amerikanischen Verfassungsordnung bieten etwa
R. IV. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change
and Relevance of S u p r e m e Court Decisions. 1992. S. 1 ff., 7 ff.: D.P. Currie, Die Verfas-
sung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988. S. II ff.; J.E. Nowak! R.D. Rotunda,
Constitutional Law. ö^ed. 2000. ch. 1,2,3.12.20: LH. Tribe, A m e r i c a n Constitutional Law.
3* ed. 2000.
62
Die Präambel der amerikanischen Verfassung wird beispielsweise umfassend er-
läutert von M. Adler! W.Gortnan, T h e A m e r i c a n Testament. 1975, S . 6 3 f f . Den Zweck.
Inhalt und Sinn von Präambeln in ihrer Verbindung mit Verfassungen erläutert rechtsver-
gleichend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 9 2 0 ff.;
vgl. auch ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J . L i s t l / H . Scham-
beck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und B e w ä h r u n g . Festschrift für J . B r o e r m a n n .
1982, S. 211 ff. Siehe auch B.Ackerman, We the People I: Foundations. 1991.
63
Z u m Demokratieprinzip ausführlicher unter IV.3.e).
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 39

Träger der verfassunggebenden Gewalt festgeschrieben.64 Diese B e z u g n a h m e , die


i n d i e s e r F o r m e r s t m a l i g E i n z u g i n e i n e m o d e r n e V e r f a s s u n g hielt"5, i m p l i z i e r t
a b e r a u c h d i e B i l l i g u n g u n d P r ä g u n g d u r c h d i e B ü r g e r e i n e s L a n d e s , i n d i e s e m Fall
sogar den H i n w e i s auf die revolutionäre Vorgeschichte, und entfaltet schließlich
identitätsstiftende Wirkung. Gleichzeitig wird der Schaffende z u m Adressaten.
W o b e i d e r B e g r i f f d e s „ S c h a f f e n d e n " w e i t z u v e r s t e h e n ist: e i n e L e g i t i m a t i o n
durch eine Volksabstimmung gab es nämlich ebensowenig wie zu den meisten
folgenden Verfassungsentwürfen anderer Länder.66 Die Volkssouveränität fand
z w a r v o n B e g i n n a n i n d e r a m e r i k a n i s c h e n V e r f a s s u n g ihre t h e o r e t i s c h e V e r a n k e -
rung;67 sie entfaltete sich h i n g e g e n inhaltlich und in der W a h r n e h m u n g erst eine
G e n e r a t i o n später, da d i e Verfassungsväter keine D e m o k r a t e n im eigentlichen
Sinne waren. Sie zählten zu der konservativen Oberschicht, die von e i n e m tiefen
Misstrauen gegen jegliche Volksherrschaft gekennzeichnet war.68 D e n n o c h stand

64
So hat auch der U S - S u p r e m e Court bereits früh festgestellt, dass die Verfassung
ein Akt des Volkes und nicht von souveränen und unabhängigen Staaten geschaffen war,
vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat.) 316. 4 0 3 (1819): Chisholm v. Georgia.
2 U.S. (2 Dali.) 419.471 (1793); Martin v. Hunters Lessee, 14 U.S. (1 W h e a t . ) 304. 324
(1816).
65
Schon seit der Antike wurden mit dem Begriff der ..Verfassung" die unterschiedlichs-
ten Inhalte in Verbindung gebracht. Es herrschte insoweit Einigkeit als ein Staat, wolle
er nicht in Anarchie verfallen, sich an bestimmte Ordnungsvorstellungen halten müsse.
Freilich handelte es sich hierbei o f t m a l s lediglich um die Fixierung real vorhandener
Machtverhältnisse und obrigkeitlich gesetzter Ordnungen, die alleine auf dem Willen eines
Herrschers o d e r vertraglichen Absprachen beruhten. Es konnte weder von einer O r d n u n g
des gesamten Staatswesens noch von einer Einbeziehung übergeordneter, unabänderlicher
Prinzipien die Rede sein. Diesbezüglich war Verfassung alleine „institutio" und nicht „con-
stitutio", vgl. auch G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Auflage 1914 (Neudr. 1960).
S. 505, 521; K. Stern. Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur mo-
dernen Verfassung, in: G . M ü l l e r u . a . (Hrsg.). Staatsorganisation und Staatsfunktion im
Wandel, Festschrift für Kurl Eichenberger zum 60. Geburtstag. 1982, S. 197 ff.. 200. Z u m
Verfassungsbegriff unten ausführlich unter B . I I . 2 . f ) n n ) .
66
Eine A u s n a h m e bildet freilich etwa die Schweiz. Zu Volksabstimmungen siehe all-
gemein aus d e m deutschsprachigen Schrifttum H. Schneider. Volksabstimmung in der
rechtsstaatlichen Demokratie, in: O. B a c h o f / M . D r a t h / O . G ö n n e n w e i n / E . Walz (Hrsg.),
Gedächtnisschrift für Walter Jellinek. 1955, S. 155 ff.; K. Hernekamp, Formen und Ver-
fahren direkter Demokratie, 1979: J. Gebhardt. Direkt-demokratische Institutionen und
repräsentative Demokratie im Verfassungssstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1991.
B 2 3 . S. 1 6 f f . ; W.Schmitt Glaeser. Die Antwort gibt das Volk, in: P. B a d u r a / R . S c h o l z
(Hrsg.). Festschrift für Peter Lerche. 1993. S. 315 ff. Vgl. auch H. K. Heußner. Volksgesetz-
gebung in den USA und in Deutschland. 1994 sowie R. Grote. Direkte Demokratie in den
Staaten der Europäischen Union, in: Staats Wissenschaft und Staatspraxis, 1996. S. 317 ff.
67
Zu den Inhalten und Elementen des damaligen Souveränitätsverständnisses
C. Rossiter. T h e Political T h o u g h t of the A m e r i c a n Revolution, 1963, S. 170 ff., 185 ff.;
siehe auch J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat: Institutionen
und Prozesse eliedstaatlicher Interessenwahrune in den Vereinigten Staaten von Amerika.
1992. S. 26 m. w. N.
68
Vgl. K. Loewenstein (1959), S. 8 f.
40 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

und steht die Souveränität des Volkes in der Folge im Mittelpunkt aller Betrach-
tung. A n w e n d u n g und Gestaltung der Verfassung. Bestätigt und gestärkt durch
die amerikanische Verfassungsgeschichte, begrenzt durch das Bewußtsein, nicht
der Mensch, sondern das Recht übe letztlich die Herrschaftsgewalt aus.

6. Eine (ge)zeitenfeste Verfassung

Ursprünglich für einen Agrarstaat mit einer Gesamtbevölkerung von weniger


als vier Millionen Menschen konzipiert, gilt die Verfassung mittlerweile in einem
Staat, dessen Bevölkerung sich seit 1789 mehr als versechzigfacht hat 6 '' und der
selbstbewußt f ü r sich den Standort der Wiege des Fortschritts in Anspruch nimmt.
Tatsächlich entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer hochindustriali-
sierten, beherrschenden Weltmacht - und dies mit einer in ihren Kerngehalten
wenig revidierten Verfassung. Die Grundentscheidung der Verfassungsväter, nur
die fundamentalen Grundsätze durch die Verfassung selbst zu regeln 7 0 , hat sich
möglicherweise auch angesichts dieser Entwicklung bewährt.

Menschen. Institutionen. Organe und Machthaber mussten - vielleicht d u r f -


ten - sich mehr als zwei Jahrhunderte an einem nahezu unveränderten Verfassungs-
text o r i e n t i e r e n . Veränderungen des Wertebewußtseins, System Wechsel, außen-
und innenpolitische Neuordnungen fanden gerade nicht ihren Niederschlag in
gänzlich neuen Verfassungsentwürfen. Die Flexibilität eines konzentrierten, ge-
strafften Werkes ist demzufolge Ursache und Messlatte der Dauerhaftigkeit dieser
Verfassung, die lediglich 4400 Worte umfasst und damit die kürzeste aller geschrie-
benen Verfassungen ist. Im Zuge der Verfassungsbestätigung der vergangenen 200
Jahre hat sich in den Vereinigten Staaten von Amerika ein mitunter ritualisier-
ter Verfassungspatriotismus ausgebildet. Neben idealisierten Darstellungen des
Grundkonsenses von 1787 und der darauf beruhenden verfassungsrechtlichen
Grundentscheidungen des historischen Verfassungsgebers ist wohl auch dies auf
die Knappheit des Textes zurückzuführen. Nach Currie hat diese Entscheidung
„erheblich zur gesunden und weit verbreiteten Auffassung beigetragen, dass die
Verfassung ewige und heilige Vorschriften enthält, an denen man nicht ohne zwin-
genden Grund rütteln sollte. 7 1 " Auch in England als Wunderwerk menschlichen

69
Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung
im Jahr 1990 insgesamt 248.709.873 Einwohner. Alle neueren Daten sind ein Ergebnis der
Fortschreibung der Statistik. Der Fortschreibung zufolge ist die Bevölkerung allein bis zum
1.7. 1998 auf 270 Mio. angestiegen.
70
So auch der Supreme Court in seinem berühmten Urteil McCulloch v. Maryland. 17
U.S. 316 (1819).
71
D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S.78.
Vgl. auch J. Annaheim (1992). S. 24.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 41

Geistes gerühmt 72 , wurde die Verfassung in den Vereinigten Staaten laut Fraenkel
mehr und mehr zum „Objekt eines irrationalen Staatskults" 73 .

7. Wendepunkte amerikanischer
Verfassungsgeschichte - Strukturierungsansätze

Bei aller mythischen Verklärung darf jedoch nicht vergessen werden, wie er-
bittert sich das Ringen um die Unionsverfassung gestaltete. Im übrigen bis in die
heutige Zeit: eine äußerlich überwiegend statisch anmutende Verfassung ist frei-
lich auch stetem Wandel unterzogen, selbst wenn sich dies lediglich in veränderten
Auslegungskriterien eines gewandelten gesellschaftlichen Umfelds und nicht oder
nur selten in textlichen Modifikationen äußern sollte. Die heute so unverrückbar
erscheinende amerikanische Verfassung war das Ergebnis zahlreicher Kompro-
misse, wobei der Gedanke des Kompromisses als konstitutives Strukturprinzip
oder als politische Lebensform 7 " das amerikanische Verfassungsdenken in erhebli-
chem Masse beeinflusst hat. 75 Insgesamt ist es kaum abwegig, der amerikanischen
Verfassungsentwicklung bei aller scheinbaren Unbeweglichkeit der Verfassung
gewisse Wendepunkte zuzuordnen, die ihrerseits Abbild einschneidender gesell-
schaftlicher, vielleicht kultureller V e r ä n d e r u n g e n w a r e n .

Der Versuch, die amerikanische Verfassungsgeschichte einer Strukturierung zu


unterziehen wurde mehrmals unternommen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen,
die freilich differierenden Grundausrichtungen der jeweiligen Forschungsvorha-
ben entspringen. 7 Der vergleichende Blick auf die Verfassungsentwicklung Euro-
pas soll eine Auseinandersetzung mit den verfassungsbezogenen Wendepunkten
in den Vereinigten Staaten rechtfertigen. Verfassungsbestätigung erfährt damit

72
So bezeichnete W.E. Gladstone, in: T h e North American Review. Sept. 1878. S. 179
die Verfassung als ,,[...]the most w o n d e r f u l instrument ever Struck off at a given time by
the brain and purpose of m a n . " Vgl. auch E. S. Corwin. Sonic Lessons f r o m the Constitution
of 1787. in: R. Loss (ed.). C o r w i n on the Constitution. Vol. I 1981, S. 157 ff., 164 f.
73
E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 3. Aufl. 1976, S. 21. Siehe auch
C.M. Kiene. Zur E i n f ü h r u n g : Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8.
74
Diesen Terminus gebraucht, auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten.
R. Zippelius in seiner ..Allgemeinen Staatslehre", 13. Auflage 1999. S. 2 3 3 ff., 432.
75
Diese Vorstellung des Kompromisses bildet den Leitgedanken bei der Betrachtung
des amerikanischen ..Verfassungscharakters", vgl. unten B . I . 9 .
76
In diesem Z u s a m m e n h a n g von ..kulturellen Veränderungen" zu sprechen ist mit der
Gefahr der Widersprüchlichkeit verbunden. Eine Kultur schöpft ihre Wesensmerkmale aus
der Kraft immanenter Veränderung.
Die umfassendste Bibliographie der amerikanischen Verfassungsgeschichte stammt
von K.LHall, A Comprehensive Bibliography of A m e r i c a n Constitutional and Legal
History. 1 8 9 6 - 1 9 7 9 , 5 Vol. 1984. Siehe auch EM. McCarrick. U.S. Constitution: a Guide
to Information Sources. 1980: A. T. Mason. A m e r i c a n Constitutional Development. 1977;
S.M. Millen. A Selected Bibliography of American Constitutional History. 1975.
42 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

sowohl eine Begrenzung als auch eine Erklärung hinsichtlich ihrer Abhängig-
keit von „verfassungserstarkenden" Elementen. Letztere sind durchaus in einigen
verfassungsgeschichtlichen Wendepunkten zu sehen. Ob sie letztlich ihre Entspre-
chung in der kürzeren gemeineuropäischen Verfassungsentwicklung finden, wird
am Beispiel der europäischen Wendemarken aufzuzeigen sein. 78

Lassen sich nun allgemein verfassungsgeschichtliche Wenden konstruieren, die


sich in allen rückblickenden Betrachtungen moderner Verfassungen zwangsläu-
fig einstellen müssen, sobald eine gewisse gesellschaftspolitische, soziale oder
kulturelle Veränderung Platz gegriffen hat?
K. Loewenstein teilt die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten von
der Gründung der Union bis zu den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
in drei Abschnitte, wobei sich der erste von der Etablierung der Republik bis zur
Rekonstruktionsperiode nach Abschluss des Sezessionskrieges erstrecken sollte,
der zweite von diesem Zeitpunkt bis zur großen Depression 1929 reichte und
schließlich der dritte die Zeitspanne vom Roosevelt'sehen New Deal bis zur
Gegenwart umfasse. 7 9

Eine andere Einteilung nimmt J. Annaheim unter dem Aspekt der Entwick-
lung des amerikanischen Föderalismus vor. 80 Dieser Ansatz soll aufgrund der
bestimmenden Rolle des Föderalismus im amerikanischen Verfassungsdenken
Berücksichtigung finden. Demnach ist von der Gründungszeit bis zur Gegenwart
eine grobe Dreigliederung vorzunehmen, die sich zunächst an den Begriffen „dual
federalism" und .kooperative federalism" sowie abschließend etwas flach an der
„neueren Entwicklung" 8 1 ausrichtet. Der „dual federalism" erfährt noch eine ab-
gestufte Betrachtung, indem zwischen „Aufbau" ( 1 7 8 9 - 1 8 6 1 ) und „Bewährung"
( 1 8 6 1 - 1 9 3 3 ) unterschieden wird. Ähnlich wird der „cooperative federalism" in
„Grundlegung" ( 1 9 3 3 - 1 9 4 1 ) und „Ausdifferenzierung" ( 1 9 4 1 - 1 9 6 0 ) sowie
die „neuere Entwicklung" in „präsidentiellen Reformföderalismus" ( 1 9 6 0 - 1 9 8 0 )
und „Aufgabenreform der achtziger Jahre" gestaffelt. Eine vergleichbare Auf-
gliederung nach Entwicklungsstadien des amerikanischen Föderalismus nimmt
A. B. Gunlicks vor. 82

7S
H i e r / u unten B. II. und z u s a m m e n f a s s e n d unter B.V. 1.
79
K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten.
1959. S. 16.
80
Siehe J. Annaheim (1992), S. 38 ff.
81
Das neue Schlagwort in der amerikanischen Föderalismus-Debatte ist die sogenannte
„devolution revolution"; vgl. hierzu A.B. Gunlicks. Föderative Systeme im Vergleich: Die
USA und Deutschland, in: H . H . von A r n i m (Hrsg.). Föderalismus - hält er noch, was er
verspricht?: seine Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t , auch im Lichte ausländischer
Erfahrungen. 2000. S . 4 1 ff.. 55 ff.. J. Kincaid. De Facto Devolution and Urban Defunding:
The Priority of Persons over Places. in: 21 Journal of Urban Affairs (1999) no. 2. S. 135 ff.
82
Vgl. hierzu A.B. Gunlicks (2000), S . 4 1 ff. und ders., Prinzipien des amerikanischen
Föderalismus, in: P. K i r c h h o f / D . K o m m e r s (Hrsg.). Deutschland und sein Grundgesetz:
T h e m e n einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993. S . 9 9 f f .
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 43

Der Nachteil einer lediglich an den Erscheinungsformen des Föderalismus


orientierten, gegliederten Verfassungsgeschichte wird offensichtlich, wenn man
eine Einbeziehung des ersten Adressaten der Verfassung in diese Konstellationen
anstrebt. So gibt es verfassungsspezifische Wendemarken, welche die Bevölkerung,
letztlich die Gesellschaft tatsächlich aufzuwühlen und zu prägen vermochten, die
von anderer Qualität waren als solche, die sich nur am Zusammenspiel der Kräfte
des Bundes und der Einzelstaaten ausrichteten.

D. P. Currie wagt in diesem Sinne einen anderen Blickwinkel auf die Entwick-
lung des amerikanischen Verfassungsrechts. S3 Demnach soll es in der Verfassungs-
geschichte der Vereinigten Staaten bislang sechs „große Wenden" gegeben haben:
„die erste umfaßte die Unabhängigkeitserklärung, den Revolutionskrieg, und die
erste Verfassung, die Articles of Confederation: die Gründung einer neuen Nation.
Die zweite war die Verstärkung des Bundes durch die Annahme der jetzigen
Verfassung im Jahre 1788 und ihre weite Auslegung durch den Supreme Court
während der Amtszeit des großen Chief Justice John Marshall. Die dritte war die
Begrenzung der Macht der Einzelstaaten durch die ,Civil War Amendments' nach
dem Bürgerkrieg, die vierte die richterliche Umwandlung des 14. Amendment
von einer Vorschrift zur Gleichbehandlung der Schwarzen in eine Waffe gegen
den Sozialstaat. Die fünfte war die Abschaffung der Schranken der Kompetenzen
der Staaten und des Bundes im wirtschaftlichen und sozialen Bereich während
der .New Deal" Revolution der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Seit der sechs-
ten Wende hat sich der Supreme Court immer stärker für die Durchsetzung der
Grundrechte, den Schutz der Minderheiten und die Integrität des demokratischen
Prozesses eingesetzt - wie Chief Justice H.F. Stone schon 1938 voraussagte." 8 4
Eine „siebte konservative Wende" erwägt Currie schließlich durch den Umstand,
dass seit 1969 vier republikanische Präsidenten zehn neue Richter zum Supreme
Court teils mit dem ausdrücklichen Ziel ernannt haben, eine konservative Wende
herbeizuführen. 8 5

Obgleich sich über die Auswahl der einzelnen „Wenden" trefflich streiten lie-
ße, zeigt Curries Ansatz, dass der amerikanischen Verfassung auch, aber nicht
ausschließlich durch die Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des
Föderalismus Gestalt verliehen wurde. Vielmehr wird eines deutlich: die Verfas-
sungsentwicklung wurde und wird im Wesentlichen durch die Entscheidungen
des Supreme Court angestoßen, in ihrer Linie bestätigt und gelegentlich neu aus-
gerichtet. Jedoch nicht ausnahmslos - insbesondere die politische Praxis sowie
der amerikanische Amendment-Process nach Art. V der Bundesverfassung darf

83
D.P. Currie. Neuere Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht, in: J Ö R
46 (1998). S. 511 ff.
84
D.P. Currie (1998), S. 511 f.
85
Vgl. D.P Currie (1998), S. 512, 524.. der im Ergebnis eine siebte Wende lediglich
angedeutet sehen will.
44 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

bei einer Bestandsaufnahme der Umbrüche einer Verfassung nicht außer Acht
bleiben. Insofern soll Currie bereits an dieser Stelle leise widersprochen werden.

B. Ackermann hat kürzlich die Diskussion bereichert, indem er drei „U.S. con-
stitutional regimes" benannte, die in ihrer Abfolge bedeutende „transformations"
hinzunehmen hatten. Sh Das erste „Regime" sei mit der Gründung der Union ge-
schaffen worden, das zweite in der Phase der „Reconstruction" und das dritte
während des „New Deal" entstanden. Diese Ansicht kann für sich beanspruchen,
im internationalen Kontext zeitliche Parallelen zu finden. Das erste „Regime"
ist Teil eines Rahmens, der sich Ende des 18. Jahrhunderts transatlantisch um
die Inhalte demokratischer Revolutionen und die Niederlegung von Menschen-
rechtskatalogen (Virginia 1776, Frankreich 1789) setzen lässt. 87 Die Periode der
„Reconstruction" ( 1 8 6 5 - 7 7 ) wird gerne mit den Ereignissen in Europa im Jahre
1848 verglichen 88 , wobei diesbezüglich nicht der zeitgleiche Moment, sondern
der Blick auf den Fortgang einer Generation ausschlaggebend sein soll. Für
diesen gewagten Blickwinkel spricht immerhin, dass die geistigen Grundlagen
beider Zeiträume unmittelbar nicht von Erfolg gekrönt waren, jedoch langfris-
tig substantielle Auswirkungen auf die Ideologie demokratischer Staatsführung
hatten. Zu der Verfassungskrise während der Zeit des „New Deal" lassen sich
durchaus Analogien zu den Entwicklungen etwa in Australien und Kanada zie-
hen, wo die ökonomischen Auswirkungen der Depression ähnlich wie in den
Vereinigten Staaten zu bemerkenswerten Innovationen in den Regierungs- und
Verwaltungsorganisationen führten. Überdies offenbarten die höchsten Gerichte
dieser Staaten ähnliche Argumentationsmuster in ihrem Widerstand gegen die
W i r t s c h a f t s m i s e r e . D i e Verfassungskrisen in Argentinien und Weimar führten
freilich bekanntlich zu anderen Ergebnissen.

Ein nüchterner Blick auf die historischen Grunddaten der amerikanischen Ver-
fassungsentwicklung und ihrer Bestätigung kann vielleicht einen Beitrag zur
Entwirrung des „Wendengeflechts" leisten. Die implizite Verknüpfung mit den
kulturellen Spiegelungen und Wirkungen einer lebenden sowie sich bewähren-
den Verfassung soll den sich stets erneuernden Bedeutungszusammenhang von
Tradition und Moderne auch in diesem Kontext sichtbar werden lassen.

86
B. Ackermann, We the People, Vol. 2: Transformations, 1998.
*' Siehe dazu das klassische Werk R. R. Palmers, Age of Democratic Revolutions,
2 Bde. 1959.
Vgl. nur M. Tushnet. T h e Possibilities of Comparative Constitutional Law. in: 108
Yale L a w Journal (1999). S. 1225 ff.
89
Vgl. M. Tushnet (1999), ebenda.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 45

8. Konstitutionelle Selbstfindung
und kulturelle Selbstverwirklichung

Die amerikanische Verfassung hat. neben der Unabhängigkeitserklärung als das


wahrscheinlich wichtigste, definitorische Element der amerikanischen res publica,
im Laufe der eigenen, amerikanischen Geschichte kontinuierlich als Bezugspunkt
gedient. Etwas Analoges hat es beispielsweise in Deutschland nicht gegeben." 1

Greift man das oben angeführte Bild der verfassungshistorischen „Wenden"


wieder auf, so lassen sich die beschriebenen Schritte von den einzelstaatlichen
Verfassungen zu einer bundesstaatlich ausgerichteten, übergeordneten Verfassung
in der Gestalt von 1787 sowie die anschließend erfolgte Einbettung der Grund-
rechte als erste Wendepunkte markieren. Dabei soll die Wegstrecke konstitutio-
neller Selbstfindung vom Mayflower Compact91 bis zur Verfassung Virginias als
eigentlicher Ausgangspunkt dienen. Die kühne Feststellung der „konstitutionellen
Selbstfindung" geht Hand in Hand mit der kulturellen Selbstverwirklichung einer
Bevölkerung, die sich die Unabhängigkeit 1776 nicht nur auf dem Papier, sondern
im Herzen erstritten hatte. Amerikanische Kultur beginnt demzufolge nicht erst
mit der Declaration of Independence oder den letztlich erfolgreichen Bemühungen
um eine Verfassung. Sie findet vielmehr hierin ihre ersten Höhepunkte.

Die Asomnie amerikanischen Verfassungsdenkens und - l e b e n s über mehr als


zweihundert Jahre ist ebenso Zeugnis positiven Auslegungsgebarens wie gelegent-
liches Abbild eines herausgeforderten Aktionismus. Verfassungsgeschichte muss
in den Vereinigten Staaten als Verfassungsgegenwart angesehen werden. 92

Die neue Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union bildeten das
„supreme law of the land", das Vorrang vor den einzelstaatlichen Verfassungen

90
In den m e h r als zweihundert Jahren der amerikanischen Verfassung, hat Deutschland
das Ende des Heiligen Römischen Reichs gesehen, den Rheinbund, den Deutschen Bund.
1848. später den Norddeutschen Bund, die Bismarck'sche Reichsverfassung von 1871. die
Weimarer Verfasssung. die Rechtlosigkeit und Willkürherrschaft des Dritten Reichs, die
Besatzungszeit, zwei Verfassungen d e r D D R und das Grundgesetz. Vgl. auch zu dieser
Gegenüberstellung G. Casper. Die Karlsruher Republik. Rede beim Staatsakt zur Feier
des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 28. S e p t e m b e r 2 0 0 1 in
Karlsruhe. http://www.bverfg.de/texte/deutsch/aktuell/Casper.html.
91
Vor der Landung des berühmten Segelschiffs am 21. 11. 1620 bei C a p e Cod schlössen
41 M ä n n e r aus den Reihen der Pilgerväter den Mayflower Compact, in d e m sie sich
zur A u f r i c h t u m g einer gesetzlichen O r d n u n g in der zu gründenden Siedlung Plymouth
verpflichteten.
92
Ähnlich K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten. 1959. S. VII. Frederick W. Turner III sagte 1971 in einem Vorwort zur Neuauflage
von C.A. Eastman IE. Eastman. Indian Boyhood. 1902: „Die Geschichte existiert f ü r uns
nicht bis und nur wenn wir sie ausgraben, interpretieren und zusammenstellen. Dann wird
die Vergangenheit lebendig, oder, akurater ausgedrückt, dann wird deutlich, w a s Geschichte
schon i m m e r gewesen ist - ein Teil der Gegenwart."
46 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

und Gesetzen hatte. Dies ermöglichte der Zentralregierung die nötige coercive
power gegenüber den Einzelstaatsparlamenten, die Madison und Hamilton als
unabdingbar für die innere Stabilität der Union erachteten.

Auch P. Häberle93 verdeutlichte, in einer Verfassung seien nicht lediglich blan-


ker juristischer Text oder normatives „Regelwerk", „sondern auch Ausdruck eines
kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des
Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen" zu
sehen.

Die Väter der Verfassung orientierten sich aber nicht nur an der Gegenwart,
sondern auch an der Zukunft ihrer Nation. Sie waren sich bewußt, dass die Re-
gierungsstruktur auf die Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausge-
richtet sein musste. Artikel V der US-Verfassung gibt hierfür beredtes Zeugnis. 94
Trotzdem ist auch im Rahmen zeitgemäßer Interpretation darauf hinzuweisen, dass
hinter der heutigen Verfassung eben auch die Begriffe, Denkweisen, Hoffnungen
und Ängste der ursprünglich verfassunggebenden Generation des 18. Jahrhun-
derts stehen. 95 Insoweit ist die Verfassung aber Mahner an die Tradition wie im
ähnlichen Maße regulierende Barriere für allzu modernistische Bestrebungen.

Zusammenfassend wäre es also verwegen zu behaupten, die amerikanischen


Verfassungen nach 1776 faßten lediglich in Worte, wie man in Amerika glaubte,
dass die britische Verfassung hätte geraten müssen. In fortwährendem Rück-
griff auf ihre Wurzeln und Ursprünge erlangte die amerikanische Nation mit der
Verfassung neben einem Instrument der Selbstinterpretation eines der (kulturel-
len) Selbstverwirklichung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit dem
Inkrafttreten der Verfassung von 1787 zunächst ein grundsätzlich neuer Verfas-
sungsbegriff am Ende einer Entwicklung und am Anfang eines Siegeszuges eines
in sich wachsenden „Exportartikels" stand. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die ame-
rikanische Verfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat
der Erfahrung gefolgt ist, statt sie zum Ausfluss einer Idee zu machen, die die
Wirklichkeit umgestalten sollte. 96

Die amerikanische Verfassung ist Ausdruck der Selbstbestimmung und nationa-


len Einheit des Landes und verobjektivierte den Willen ihrer „founding fathers".
Sie kann in ihrer ursprünglichen Gestalt als Resultat einiger wesentlicher Ein-
flussfaktoren betrachtet werden: als Erwiderung der vorhersehbaren Schwächen
des amerikanischen Staatenbundes unter den Articles of Confederation; als An-

93
Siehe P Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 1998.
S. 83.
w
H i e r / u ausführlich unter B.IV. l . a ) a a ) .
95
Ähnlich P. Hay, US-Amerikanisches Recht. M ü n c h e n 2000. S. 18 in Fn. 5.
96
Ähnlich auch D. Howard. Die G r u n d l e g u n g der amerikanischen Demokratie. Frank-
furt a . M . 2001.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 47

passung von Institutionen und politischen Prinzipien, die den Amerikanern aus
ihrer kolonialen Vergangenheit und den Verfassungen der neuestens unabhängigen
Einzelstaaten vertraut waren 97 und als Kompromiss zwischen widerstreitenden
Interessen und politischen Ideen.

9. Der Kompromiss als Ankerpunkt


amerikanischen Verfassungsverständnisses

Die offensichtlichen Grundprobleme, etwa der Ausgleich zwischen Zentralge-


walt und Einzelstaaten wurde durch Kompromisse gelöst. So erlangte die neue
Bundesverfassung einen pragmatischen und vergleichsweise undoktrinären Cha-
rakter. Der philosophische Schwung der Unabhängigkeitserklärung von 1776 mag
verloren gegangen sein - die entsprechend nüchtern ausfallende Verfassungs-
Präambel legt hierfür bereits klares Zeugnis ab. Dennoch gewährt die Bundes-
verfassung erheblichen Spielraum zur Deutung und, im juristischen Sinne, zur
Auslegung.

Das nordamerikanische Verfassungsverständnis ist wesentlich durch die Vor-


stellung von Konsens geprägt. In der Praxis bewies sich diese Bewandtnis erstmals
anlässlich des Verfassungskonvents von 1787 in der bereits geschilderten Einigung
zwischen den kleineren Staaten und Madison hinsichtlich des Proporzes im Zwei-
kammersystem. Gleichwohl war die Gesellschaft der Vereinigten Staaten bereits
seit langem an die selbstverständliche Praxis einer bestimmten Art von Staatlich-
keit und Konsensherstellung gewöhnt. Kein anderes postkoloniales Staatswesen
sollte über diese Grundlage einer politisch geschulten Zivilgesellschaft verfügen. 98

Insgesamt ist die Perzeption vom „Kompromiss als politischer Lebensform" 9 9


ein Ankerpunkt des amerikanischen Verfassungsverständnisses. Individuelle Inter-
essen sollen auf der Basis persönlicher Entfaltungsfreiheit, Meinungs- und Glau-
bensfreiheit organisiert und auf den unterschiedlichen Ebenen des Bundesstaates
zur Durchsetzung ihrer Ziele in ein Konkurrenzverhältnis gebracht werden. Auf-
grund einer ausgeprägten „Partikularisierung" der Politik ergibt es sich nicht selten,
dass die Kompromisse kein ausbalanciertes Resultat berücksichtigenswerter Inter-
essen sind, sondern unter erheblichem - zuweilen unverhältnismäßigem - Einfluss
partikulärer Kräfte erwachsen oder scheitern.

So auch K.L Shell, Die Verfassung von 1787. in: W . P . A d a m s u . a . (Hrsg.), Die
Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Bd. 1, F r a n k f u r t / N e w York 1990. S. 2 7 7 f f , 277.
98
Derartige Erfahrungen fehlten entweder weitgehend wie in Lateinamerika und später
in A f r i k a oder sie waren nur wenige Jahrzehnte alt wie etwa in Indien 1947. Siehe die
Ansätze zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auch bezüglich des Staates in der
außereuropäischen Welt in W. Reinhard. Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende
Verfassungsgeschichte Europas von den A n f ä n g e n bis zur Gegenwart. 1999. S. 4 8 0 ff.
99
Vgl. zu dieser Bezeichnung R.Zippelius, Allgemeine Staatslehre. 13. Aufl. 1999.
S. 2 3 3 ff. m.w. N.
48 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der dauernde Zwang zu Koordination und Kompromiss erzeugt allerdings auch


Reibungsverluste und gefährdet nicht selten Klarheit und Kontinuität amerikani-
scher Politik. Die verfassungsrechtlich gewollte „Langsamkeit" der Politikprozes-
se in den USA ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig durch das Phänomen
des „divided government" verstärkt worden. Der Umstand, dass häufig der Präsi-
dent und die Kongressmehrheit nicht derselben Partei angehören, hat zusätzlich
Entscheidungsprozes.se gehemmt. In der zweiten Amtsperiode von G. W. Bush
offenbarte sich jedoch auch ein umgekehrtes Phänomen immanenter Schwächung,
nämlich bei klaren Mehrheiten der „Präsidentenpartei" in den beiden Häusern
des Kongresses. Auch wenn es paradox klingen mag, führt dies umso eher zu
Lähmungserscheinungen. Auf den zweiten Blick wird deutlich: das System der
„checks und balances" wird hiermit unelegant, aber effektiv ausgehebelt.

10. Eine dynamische Verfassung - „living Constitution' 4

Die amerikanische Verfassung wird weithin als „living Constitution" bezeichnet


und begriffen. 1 ' 10 Zwar könnte sie für den kontinental-europäischen Juristen ange-
sichts fehlender scharfer Kompetenzabgrenzungen sowie begrifflich schwammig
umrissener Tatbestände, die demzufolge kaum als Obersatz eines Subsumtions-
schlusses dienen können, als Aufruf zur Rechtsunsicherheit verstanden werden.
Ihre Kürze und inhaltliche Unbestimmtheit gereicht ihr hingegen zur Stärke. Es
liegt daher nahe, die Verfassung der Vereinigten Staaten eben nicht als dauerhaft
unberührbaren. in einem Flechtwerk von Kompetenznormen fassbaren Zustand,
sondern als dynamischen Evolutionsprozess zu begreifen. Letztere Annahme könn-
te die Schlußfolgerung nach sich ziehen, das amerikanische Verfassungsrecht habe
nie eine hohe Stufe dogmatischer Durchbildung erreicht. 101 Diese Feststellung ist
jedoch nur im Hinblick auf dogmatische Grundsätze nachzuvollziehen. die ihren
Ursprung in zuweilen engen Maßstäben (kontinental-)europäischen Rechtsden-
kens haben. Das amerikanische Faktum einer gewissen Scheu vor starren Be-
grifflichkeiten und abstrakten Systematisierungen bedeutet nicht die Abkehr von
jeglicher Dogmatik. Im Gegenteil, der Charakterzug der amerikanischen Verfas-
sung als „living Constitution" erfordert gerade eine dogmatische Einbettung, die in
über 200 Jahren erprobt und bestätigt wurde. Die Notwendigkeit ergibt sich bereits
aus der Gefahr der Konturlosigkeit höchsten, verbindlichen Rechts, verbunden mit
einem allzu offenen Spielraum richterlicher Interpretationstätigkeit.

100
Vgl. statt vieler R. \V. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic
Inquiry into the Change and Relevance of S u p r e m e Court Decisions, Revised Edition, 1992.
S. 7 f. und den Titel der Textsammlung von S. K. Padover, T h e Living U.S. Constitution.
rev. ed. 1995. Vgl. auch die häufige Bezeichnung der Europäischen Menschenrechtskon-
vention ( E M R K ) als „living instrument".
101
So C.M. Klette. Zur E i n f ü h r u n g : Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS
1976. S. 8 ff.. 9.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 49

Die amerikanische Verfassung soll die festen, abstrakten Grundbedingungen des


Staates festlegen und ist nicht - wie in der Schweiz über die Volksinitiative - auch
eine stete „Plattform der politischen Auseinandersetzung". Sie ist der Zusammen-
halt einer sonst sehr heterogenen Gesellschaft, und bildet so einen eigentlichen
„dignified part" des amerikanischen Staatsrechts (Verfassungspatriotismus), ohne
aber nur noch repräsentative Funktion zu haben.

Die grundsätzliche Flexibilität der amerikanischen Verfassung, ihre Beständig-


keit und Kürze können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechtsordnung
der USA einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität aufzuweisen hat. Viel-
leicht sind es gerade die genannten Charakteristika der Verfassung, die zu diesem
differenzierten Erscheinungsbild mit beizutragen wissen. Beispielsweise beinhal-
tet die Willensbildung zwischen Union und Bundesstaaten, zwischen den Bun-
desstaaten und innerhalb eines Bundesstaates sowie schließlich die Assoziation
dieser einzelnen Umstände ein vergleichbares Maß an Problemstellungen wie die
gegensätzlichen Interessen und weitgehend fehlende Homogenität zwischen den
Regionen und den Bundesstaaten." 0 Die Schwierigkeiten, die sich aus dem steten,
durch das Enteilen der Technik hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen
Wandel ergeben haben und werden, seien an dieser Stelle nur angedeutet.

11. Einige Grundgedanken und Strukturelemente


des amerikanischen Verfassungsstaates 103

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine präsidialdemokratische Repu-


blik mit bundesstaatlicher Verfassung. Sie verzichtet auf die Verantwortlichkeit
der Regierung gegenüber der vom Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaft,
um den ehernen Prinzipien Gewaltenteilung und gegenseitige Gewaltenhemmung
stärkere Geltung zu verleihen. Die Furcht vor einer allzu starken Machtkonzentra-
tion ebnete den Weg zu einer Bundesverfassung, deren Handhabe gegen jegliche
einseitige Machtposition ein vielverzweigtes System der Gewaltenteilung, Gewal-
tenverschränkung sowie föderativer Gewaltenbalance erfordert.

Auch insofern ist das gesamte System, abgesehen von den auf Wettbewerb ange-
legten Wahlen, am Konfliktregelungsmodell der konsensorientierten Kooperation
ausgerichtet. Zusammenarbeit, Verhandeln und Aushandeln bilden die Messlatte
des Umgangs.

Unter der Alleinherrschaft eines von einer demokratischen Mehrheit gewählten


Parlaments und einer von einem demokratischen Parlament abhängigen Regierung

102
Vgl. auch J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den E u G H . 1995, S . 7 5 ;
L L Joffe, English and A m e r i c a n Judges as Lawmakers, 1969. S. 69.
103 Vertiefend wird hierauf im Zuge des später folgenden ..transatlantischen Vergleichs"
eingegangen (vgl. unter B.1V.3. und B. V.).
50 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

hielten die Väter der amerikanischen Verfassung auch die Rechte der Minderheiten
für ständig bedroht und daher nicht nur die religiösen Freiheitsrechte der religiösen
Sekten, sondern auch die Eigentumsrechte der (eine dünne Oberschicht bildenden)
ökonomischen Elite für gefährdet. Nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der
Schutz der Minderheiten war das primäre Anliegen der ursprünglichen Verfassung
der USA. Der Rousseau sehe Gedanke eines a priori gültigen Gemeinwohls ist ihr
ebenso fern wie die Vorstellung, dass die Herrschaft des Gemeinwillens die Unter-
drückung der Privatinteressen erforderlich mache. Die Verfassung von 1787 geht
vielmehr von der Annahme aus, dass dem Gemeinwohl dann am besten gedient sei,
wenn allen Sonderinteressen der gleiche Schutz und die gleiche Chance gewährt
und gleichzeitig ausreichend Vorsorge getroffen werde, dass kein Einzelinteresse
einen dominierenden Einfiuss auszuüben in der Lage sei. Die Ablehnung einer
„direkten" Demokratie und die Bejahung der repräsentativen „Republik" wird
mit der Erwägung gerechtfertigt, dass mittels einer Repräsentativverfassung nicht
nur der Schutz, sondern auch der Ausdruck der Minderheitsinteressen ermöglicht
werde. 104

Bis in die Gegenwart hinein leben die Vereinigten Staaten von Amerika nach
dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind: der Bereitschaft, den Mitgliedern
der verschiedenen Gruppen, aus denen die heterogene amerikanische Nation
zusammengesetzt ist, eine freie Entfaltungsmöglichkeit und den Gruppen selber
ein freies Betätigungsrecht zu gewähren.

Nach E. Fraenkel garantiert das naturrechtlich legitimierte amerikanische Ver-


fassungsrecht nicht nur die Existenz dieser Gruppen, sondern legt auch die Spiel-
regeln fest, nach denen sie im Gesamtgefüge der nationalen Einheit zu operieren
berufen sind und normiert zugleich die Beschränkungen, die einer jeden dieser
Gruppen und der Gesamtheit auferlegt sind. 105 Beides sei zur Pflege des Gemein-
wohls einer Nation unerläßlich, die sich gerade deshalb als politische Einheit fühle,
weil die autonome Entwicklung der Partikulargruppen gewährleistet ist, aus der
sie sich zusammensetzt.

'" 4 Siehe aber auch E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S . 3 9 f . :


„Es wäre allzu einfach, den Drang und den Glauben nach einem einheitlichen .Gemeinwil-
len' lediglich als .falsches B e w u ß t s e i n ' abzutun: und es wäre allzu bequem, die Existenz
und die Betätigung der G r u p p e n w i l l e n lediglich als soziale Verfallserscheinungen abzu-
lehnen. Besteht doch die Gefahr, dass ohne den Glauben an das Vorhandensein eines
Gemeinwillens das G e m e i n w o h l gefährdet, wenn nicht gar beeinträchtigt wird, weil sich
sonst herausstellen mag. dass ein Gruppenkompromiss entweder unmöglich o d e r lediglich
unter einseitiger Berücksichtigung der Interessen der stärksten dieser Gruppen zu erreichen
ist. W i e denn andererseits die G e f a h r besteht, dass ohne die Gewährung eines freien Betäti-
gungsrechts die Minoritätsgruppen sich vernachlässigt, wenn nicht gar vergewaltigt fühlten,
und der amerikanischen Nation niemals hätten eingegliedert werden können bzw. ihr wieder
entfremdet worden wären." sowie ders., S. 343 ff.
105
E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S. 343 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 51

Es ist richtig: Der stärkste Integrationsfaktorder Vereinigten Staaten von Ameri-


ka ist die Anerkennung des pluralistischen Charakters der amerikanischen Nation.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen


Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses

Europa als Gedanke, Gewissheit und Realität könnte, am Ende dieser Stufen-
leiter angelangt und auf dem Wege zur Tradition, zum Scheitelpunkt zwischen
Konservatismus 1(16 und Moderne werden, der weder die Option der Grad Wande-
rung noch die Gelegenheit der Verbindung jener Elemente auszuschließen vermag.
Beides bedarf einer stützenden Konstante, einer organisierten „Seilschaft", die in
Europäischen Institutionen wie in einer Europäischen Bevölkerung zu finden sein
dürfte. Jedoch nicht getrennt voneinander, sondern ihrerseits im gegenseitigen
Verständnis wie auch emotional verbunden. Gerade letzteres sollte vom Vorwurf
romantischer Verklärung geschieden und der Erkenntnis eines tatsächlichen Inte-
grationsdefizits zugeführt werden. Emotionale Bindungen sind der oftmals von
einem Subordinationsverhältnis geprägten Rechtswirklichkeit nicht unbedingt we-
senseigen. jedoch haben in verschiedensten Rechtskulturen nach einer gewissen
Bewährungszeit Verfassungen wie auch Verfassungsorgane eine bedeutsamere
Position im Bewusstsein der jeweiligen Öffentlichkeit eingenommen. 1 0 7

106
Der Konservatismus ist angesichts seines modernen Ursprungs (er wurde zur Zeit
der Französischen Revolution zum S a m m e l b e g r i f f für politische Strömungen und Ideen:
in England erscheint der Begriff erst 1830. als J. W. Croker die Tories als „conservative
p a r t y " bezeichnet) vom Traditionalismus oder vom sog. ..natürlichen Konservatismus"
zu unterscheiden (vgl. dazu ausführlich K. Mannheim. Konservatismus. Ein Beitrag zur
Soziologie des Wissens. 1927). Während der Traditionalismus die ..allgemein-menschliche
Eigenschaft" bezeichnet. ..dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf
Neuerungen eingehen", ist der Konservatismus ein erst in der M o d e r n e möglich gewordenes
Phänomen, das die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und die Spaltung der Ideenwelt
in Gegner und Befürworter des ..Fortschritts" voraussetzt, vgl. Mannheim, ebenda. Hier soll
der Konservatismus durch seine ambivalente Stellung zur M o d e r n e bestimmt werden; ein
lebensfähiger Konservatismus hat demzufolge sowohl die unversöhnliche Gegnerschaft zur
M o d e r n e als auch die kritiklose Anerkennung derselben zu meiden, vgl. auch H. Ottmann.
Konservatismus, in: Staatslexikon. Bd. 3, 7. Aufl. 1985, S. 636 ff.
107
Vgl. im weiteren Sinne auch R. Streinz, Europäische Integration durch Verfassungs-
recht. in: Villa Vigoni. Auf dem Weg zu einer europäischen Wissensgesellschaft, Heft VIII.
April 2004, S. 20 ff. und ders., European integration trough constitutional law, in: H.-
J. B l a n k e / S . Mangiameli (Hrsg,). Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 1 ff.
52 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

1. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses

Die Debatte um die Verfasstheit der Europäischen Gemeinschaften bzw. der


Europäischen Union 108 ist so alt wie diese selbst. In ihr spiegelt sich von Anfang
an die Intention der Europäischen Gründerväter, mehr als lediglich ein loser
Zusammenschluss gleich gesinnter Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele
und auch mehr als nur ein Binnenmarkt zu sein.

Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der Frage der Einigung Europas verbun-
den ist, gab es Vorläufereiner Verfassungsdiskussion schon seit dem ausgehenden
Mittelalter. 109

Eine Verfassungsgeschichte Europas bedürfte freilich des Blickes bereits in


die Antike. Allerdings würde selbst die Beschränkung auf einzelne Wegmarken
europäischer Verfassungsgenese den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die
Dezimierung auf Aspekte, die ihren Ursprung im 20. Jahrhundert finden, ist daher
ein dürftiger Ansatz, jedoch gleichzeitig die Bändigung eines der Ausschwei-
fung gefährdeten Blickwinkels, der seinen Ausgangspunkt aber im Versuch des
Verständnisses einer Jahrtausende währenden Entwicklungslinie „europäischen
Denkens" zu finden sucht. 110

Von daher fehlt an dieser Stelle eine eingehendere Betrachtung des Europamy-
thos' der Antike, der Europakonzeptionen des Mittelalters wie die von P. Dubois
und bildlicher Darstellungen wie Rembrandts „Raub der Europa". Gedanklich
einzufügen sind die Europa- und Friedenspläne von Erasmus von Rotterdam, die
Erwägungen Sullys im 17., des Abbe de Saint-Pierre im 18. oder von Saint-Simon
im frühen 19. Jahrhundert." 1 Auch würde „Die Christenheit und Europa" des

l !
" ' Zu den Begrifflichkeiten „Europäische G e m e i n s c h a f t e n " und „Europäische U n i o n "
und deren substantieller Unterfütterung Li. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften
zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: C . D . C l a s s e n u . a . (Hrsg.),
„In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber a m i c o r u m T h o m a s
O p p e r m a n n . 2001, S. 163 ff.
109
Ein guter Überblick findet sich bei R. Streinz!C. Ohler/C. Herrmann. Die neue
Verfassung für Europa. E i n f ü h r u n g mit Synopse. 2005, S. 1 ff. Siehe auch A. Schäfer
(Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende
Dokumente von 1930 bis 2 0 0 0 . 2 0 0 1 . Vgl. auch R. Streinz, Der europäische Verfassungspro-
zess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages
und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der A k a d e m i e für Politik und
Zeitgeschehen der Hanns-Seidcl-Stiftung, 2008. S. 6 f.
110
Siehe aber ausführlich beispielsweise W. Schmale, Geschichte Europas, 2002 sowie
M. Zuleeg. Ansätze zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, in: Z N R 1997.
S. 2 7 0 ff. Vgl. auch U. Everling, Unterwegs zur Europäischen Union. 2001: R.Schulze
(Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; H. Hattenhauer. Euro-
päische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004: H. Wehberg. Ideen und Projekte betreffend die
Vereinigten Staaten von Europa in den letzten hundert Jahren. 1984.
111
Man müsste Dantes Idee einer „Universalmonarchie" ebenso einbeziehen wie die
Gedanken von Podiebrad. Cruces, Comenius und W. Penn. Zu nennen wären freilich in
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 53

D i c h t e r s Novalis g r ö ß e r e B e a c h t u n g v e r d i e n e n , e b e n s o „ V o r d e n k e r " E u r o p a s w i e
C. F. von Schm idt - Ph i sei deck. G. Mazzini o d e r V. Hugo.

2. Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses

a) Von Paneuropa zur Europa-Union (1923 -1944)

Der „Verfassungsprozess" der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n - bis hin zur Eu-


r o p ä i s c h e n U n i o n - ist v i e l s c h i c h t i g e r a l s o f t m a l s d a r g e s t e l l t " 2 ( - a l l e i n a u s d e r
Zeit 1 9 3 9 - 1 9 8 4 h a t W . Lipgens n a h e z u 150 Texte mit Verfassungsvorschlägen
13
vorgelegt - ) u n d soll i n dieser ( e i n g e g r e n z t e n ) U n t e r s u c h u n g s e i n e n A u s g a n g s -
punkt in der „Pan-Europa-Bewegung" des Grafen Coudenhove-Kalergi finden,
die freilich bereits in den 20er Jahren d e s vergangenen J a h r h u n d e r t s ihre G e b u r t s -
s t u n d e erlebte und d a m i t erheblich f r ü h e r als die G r ü n d u n g d e r E u r o p ä i s c h e n
G e m e i n s c h a f t e n a n z u s e t z e n ist.

B e r e i t s im N o v e m b e r 1 9 2 3 h a t t e R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. g e b o r e n 1894


i n T o k y o als S o h n e i n e s k . u . k . D i p l o m a t e n u n d e i n e r J a p a n e r i n , e i n s c h m a l e s B u c h
veröffentlicht1 u, in d e m er seine Neigung, in Erdteilen zu denken und die Welt nach
seinem persönlichen Ermessen zu formen, erstmals einer größeren Öffentlichkeit

der Folge auch J. Bentheim, F. Gentz und selbst Napoleon Bonaparte (er schreibt 1816 auf
seiner Verbannungsinsel St. Helena in sein „ M e m o r i a l de Sainte Helene": „Eine meiner
Lieblingsideen war die Z u s a m m e n s c h m e l z u n g , die Vereinigung der Völker, die durch Re-
volution und Politik getrennt worden waren." Es sei vor allem sein Wunsch gewesen, eine
..association europeenne" zu verwirklichen; sie hätte dem Kontinent Wohlstand und Glück
gebracht, nicht zuletzt auch ein gleiches System in ganz Europa: ,.un code e u r o p e e n . une
cour de Cassation europeenne"). Vgl. auch die wichtigen Impulse von /. Kant (er betont in
seiner Schrift . Z u m ewigen F r i e d e n " (1795) die Notwendigkeit, einen Bund der Nationen
zu schaffen und e n t w i r f t ein ..Bundes-Europa"), G. F. Hegel und F.W. Schelling. Weiter-
gesponnen wurden diese Gedanken (von der Überlegenheit Europas) etwa von .4. Comte.
Siehe sodann auch die Schriften von J.K. Bluntschli, K.Frantz, aber auch K.Marx (er
teilte etwa die Überzeugung Hegels, dass Westeuropa der fortgeschrittenste und begabteste
Teil der Welt sei, also d e r einzige, der reif wäre, die Z u k u n f t der Menschen zu formen.
Marx begrüßte die freiheitlichen Bewegungen beispielsweise der durch das russische Joch
unterdrückten Polen als ..dialektische" Etappe zur Einigung Europas in einer klassenlosen
Gesellschaft. Freilich war er überzeugt, dass die europäische Einigung niemals vom libe-
ralen Bürgertum oder von Idealisten von der Art Mazzinis herbeigeführt werden könnte,
sondern nur durch das Proletariat). Schließlich sei noch auf J. Burckhardt und B. von
Suttner verwiesen.
112
Die „europäische" Verfassungsgeschichte mit zahlreichen Verfassungsentwürfen be-
trachtet vertiefend auch W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische
Bilanz. 2002.
113
W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. D o k u m e n t e
1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des
Europäischen Parlaments, 1986.
114
R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923.
54 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

verriet. Der Titel „Pan-Europa" stand für ein Programm mit weit reichenden
Zielen: die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents, die Schaffung
gemeinsamer Institutionen in einer gemeinsamen Kapitale, eine gemeinsame
Währung und Armee, schließlich die Verabschiedung einer Verfassung für die
Vereinigten Staaten von Europa.

„Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in
allen Völkern Europas schlummert", prophezeite Coudenhove-Kalergi im Vor-
wort 115 , und die europäische Integration wurde für den gerade 29-jährigen Ari-
stokraten zur Lebensaufgabe: „Durch Agitation in Wort und Schrift soll die
europäische Frage als die Lebensfrage von Millionen Menschen von der öffentli-
chen Meinung aller Völker aufgerollt werden, bis jeder Europäer sich gezwungen
sieht, zu ihr Stellung zu nehmen." 1 1 6

Im Frühjahr 1924 gründete er in Wien die Paneuropa-Union 1 1 7 , eine - nach


heutigem Sprachgebrauch - Nichtregierungsorganisation, welche zunächst die
Öffentlichkeit mobilisieren sollte.

Unter maßgeblicher Beteiligung W. Heiles formierte sich indessen innerhalb


der Friedens- und Völkerbundbewegung eine Gegenströmung. Als Antwort auf
die Gründung der Paneuropa-Union hoben deutsche und französische Parlamen-
tarier im Frühling 1924 ein „Komitee für die Interessengemeinschaft der euro-
päischen Völker" aus der Taufe, später umbenannt in „Bund für Europäische
Cooperation". Ähnlich wie die Paneuropa-Union verstand sich das Komitee als
„pressure group" für Europa in den Parlamenten. Regierungskreisen und in der
politischen Publizistik. Grundlegend war dabei die Orientierung am Völkerbund,
der den institutionellen Rahmen für die europäische Integration darstellen sollte.
Im Unterschied zur Paneuropa-Union betrachteten die Mitglieder des Komitees
Großbritannien als einen Teil Europas, dessen Einbeziehung als elementar galt.
Ähnlich waren dagegen die langfristigen Ziele: eine weit reichende politische und
wirtschaftliche Integration der Staaten Europas, die ihren Abschluss in der Schaf-
fung supranationaler Institutionen, eines Binnenmarktes und einer gemeinsamen
Währung finden sollte. Damit standen sich seit 1924 zwei politische Organisa-
tionen gegenüber, die unterschiedliche Europa-Konzepte verfochten: europäische

'15 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923.


116
R.N. Graf Coudenhove-Kalergi, Paneuropa. 1923.
117
U m f a s s e n d zur Paneuropa-Union beispielsweise ihr langjähriger Präsident O. von
Habsburg. Die Paneuropäische Idee. Eine Vision wird Wirklichkeit. 1999: vgl. auch jüngst
A. Ziegerhofer-Prettenthaler. Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi
und die Pancuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren. 2(X)4. Als Gründer.
Präsident und C h e f p r o g r a m m a t i k e r der von ihm ins Leben gerufenen B e w e g u n g entwi-
ckelte Graf Coudenhove-Kalergi eine Strategie persönlicher Lobbyarbeit - im Dialog mit
Kanzlern und Königen. U n t e r n e h m e r n und Geistesgrößen. Formen der Kommunikation,
die heute z u m einen angesichts der ..europäischen L ä h m u n g " weiter Kreise der europäi-
schen Intellektualität (deren sporadisches und allzu spätes Eingreifen, wie etwa seitens
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 55

Integration innerhalb des Völkerbundes, unter Einbeziehung Großbritanniens und


der UdSSR - oder Paneuropa als kontinentaleuropäisches Bündnis mit losen
Verbindungen zur internationalen Staatengemeinschaft. 1 I S Gemeinsam war bei-

J. Habermas, und J. Derrida. Nach d e m Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom
31. Mai 2003, auch in: Blätter f ü r deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003)
S. 877 ff. hierüber nicht hinwegtäuschen kann), z u m anderen hinsichtlich des Informati-
onsdefizits in der Bevölkerung nahezu aller Mitgliedsstaaten, insgesamt in wesentlichen
Teilen d e r europäischen Öffentlichkeit aktueller denn je. wenigstens dringend geboten
erscheinen. Im Lichte der aktuellen Zurückhaltung europäischer Intellektueller innerhalb
der Verfassungsdebatte (ausgenommen juristischer Fachkreise) sowie in der Diskussion
um Gestalt und Z u k u n f t Europas schlechthin, sei beispielhaft - im R a h m e n eines für j e d e
Verfassungsentwicklung auch notwendigen geistesgeschichtlichen Rückblicks an einige
Beiträge nach dem ersten Weltkrieg erinnert. Im Frühjahr des Jahres 1919 erscheinen in
der renommierten L o n d o n e r Zeitschrift Athenäum zwei ..Letters from France", verfaßt
von d e m französischen Dichter P. Valery. Entscheidend geprägt sind diese beiden Briefe,
die Valery noch im selben Jahr als Essay unter dem Titel ..La crise de 1'esprit" im fran-
zösischen Original veröffentlicht.), von der E r f a h r u n g des erst wenige M o n a t e zuvor zu
Ende gegangenen Weltkrieges und von d e m klaren Bewußtsein, dass dieser Krieg einen
epochalen Einschnitt in d e r Geschichte Europas markiert (die Schrift ist abgedruckt in:
J. Hytier (Hrsg.), P. Valery. OEuvres. 1957. T. I. S. 9 8 8 ff). Valery begreift dabei die Kri-
se Europas nicht nur in ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Dimension.
Diese Krise Europas sei in erster Linie eine Krise des Geistes, j e n e s „esprit europeen",
der die eigentliche Essenz Europas a u s m a c h e und seine Zivilisation von allen anderen
unterscheide. Für den Cartesianer Valery ist dieser europäische Geist nichts anderes als
der Geist der W i s s e n s c h a f t , wie er sich auf d e m Kontinent seit der griechischen Antike
herausgebildet habe und wie er zu Beginn der Neuzeit von L da Vinci exemplarisch verkör-
pert wurde. Valery artikuliert in seiner Schrift in charakteristischer Weise ein ausgeprägtes
Bewußtsein von der Dekadenz Europas, wie es in vielfältiger Form auch bei anderen
europäischen Schriftstellern in den Jahren nach d e m Ende des 1. Weltkrieges zu finden
ist. Als ein Beispiel unter vielen anderen möglichen sei hier aus d e m deutschen Sprach-
raum nur H. v. Hofmannsthal mit seinem Essay des Jahres 1922 mit dem Titel „Blick auf
den geistigen Zustand E u r o p a s " angeführt (Der Text findet sich bei P.M. Lützeler (Hrsg.),
..Hoffnung Europa". Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994.
S. 258 ff.) Vergleichbare Belege für ein ausgeprägtes europäisches Krisenbewußtsein aber
finden sich auch bei O. Spengler in seinem „Untergang des A b e n d l a n d e s " ( 1 9 1 8 / 2 2 ) . bei
S. Zweig, vor allem in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines
Europäers." (postum 1944). in Spanien bei J. Ortega Y Gasset in seinem ..Aufstand der
M a s s e n " (1929) oder später in England bei -4. Toynbee in seiner Universalgeschichte „A
Study of History" ( 1 9 3 4 - 6 1 ) . Valerys Schrift „La crise de 1'esprit" kann als der erste
bedeutende Beitrag zu einer Debatte über Europa betrachtet werden, die in den zwanziger
Jahren auf d e m gesamten Kontinent, mit besonderer Intensität aber in Frankreich und
Deutschland g e f ü h r t worden ist. Europa wird in beiden Ländern z u m T h e m a einer kaum
zu zählenden Anzahl von Essays und Aufsätzen, ja sogar z u m Gegenstand von zumeist
allerdings eher zweitrangigen R o m a n e n . Novellen und Gedichten (einen Überblick mit
zahlreichen bibliographischen Angaben gibt P.M. Lützeler. Die Schriftsteller und Europa.
Von der Romantik bis zur Gegenwart. M ü n c h e n 1992. S. 272 ff. sowie V. Steinkamp. Die
Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach d e m Ersten Weltkrieg.
ZEI-Discussion paper. 1999.
118
Unterschiedlich sah man auch die Modalitäten der Finanzierung: Der Bund für
Europäische Cooperation konnte auf Subventionen der deutschen und französischen Re-
56 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

den Organisationen die Überzeugung, dass Paris und Berlin Schrittmacher einer
europäischen Annäherung sein mussten." 9

Wenig später glaubte sich Coudenhove-Kalergi indes am Ziel. Am 5. Septem-


ber 1929 schlug der französische Außenminister (und zeitweilige Ministerprä-
sident) A. Briand der Völkerbund-Versammlung in Genf vor, die europäischen
Staaten durch eine föderale Verbindung enger zusammenzuführen. Vorstellungen,
die - auch hinsichtlich einer wirtschaftlichen Einigung - vieles von dem vorberei-
teten, was nach 1945 geplant oder begonnen wurde. Sein deutscher Amtskollege
G. Stresemann lobte in einer Antwortrede die wirtschaftliche Seite der Idee, doch
er verhehlte nicht die Skepsis des Realpolitikers gegenüber der Aussicht auf eine
politische Integration Europas. 12 " Dennoch - Briands Initiative setzte das Thema
für einen Moment auf die Agenda der Weltpolitik. So geht aus einem Dossier
der französischen Botschaft in Washington hervor, dass in der amerikanischen
Öffentlichkeit der Europaplan Briands so ausführlich diskutiert wurde wie selten
ein Thema der europäischen Politik. 121

Doch Briands Auftritt kam zu spät. Deutlich lassen sich aus einem wenige Mo-
nate später nachgelegten Europa-Memorandum 1 : 2 die nationalen Interessen und
Ängste Frankreichs herauslesen, insbesondere die Sorge um die securite - um die
Sicherheit gegenüber einem inzwischen wieder unberechenbaren Nachbarn jen-
seits des Rheins. Das Memorandum fordert, die Zusammenarbeit der europäischen

gierungen zurückgreifen, die das Anliegen einer europäischen Verständigung unter d e m


Dach des Völkerbundes unterstützten. Dagegen suchte und fand Graf Coudenhove-Kalergi
finanzielle Unterstützung in e i n e m Kreis von U n t e r n e h m e r n und Bankiers, die sich unter
der Leitung R. Boschs zu einem Paneuropa-Förderkreis zusammenschlössen.
119
Die deutsch-französische Europa-Debatte hat - und das verleiht ihr eine zusätzliche
Dimension - ihren Ausgangspunkt in der nach dem ersten Weltkrieg zeitgleich in beiden
Ländern einsetzenden Diskussion über die Z u k u n f t der deutsch-französischen Beziehun-
gen. Beide T h e m e n k r e i s e sind natürlich nicht identisch, aber auch schon deshalb nicht
voneinander zu trennen, weil in der W a h r n e h m u n g sowohl der Franzosen w i e der Deut-
schen beide Länder a u f g r u n d ihrer Größe, ihrer zentralen Lage, ihrer Vergangenheit sowie
ihrer politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt ihrer kulturellen Bedeutung wegen
den eigentlichen Kern Europas bilden - eine Konzeption, die sich im übrigen schon im
frühen 19. Jahrhundert bei dem in Paris lebenden deutschen Schriftsteller L. Börne findet,
der von einem „ N u k l e u s - E u r o p a " spricht, und wenig später auch in V. Hugos Vision von
den „Vereinigten Staaten von E u r o p a " w i e d e r auftaucht und die bis in die Gegenwart
unter Berücksichtigung vielerlei berechtigter Kritik in der Vorstellung von einer ..deutsch-
französischen Achse" oder dem Bild von der deutsch-französischen Freundschaft als Motor
des europäischen Einigungsprozesses fortwirkt.
Die Debatte mit den Reden Briands und Stresemanns findet sich abgedruckt bei
W. Lipgens, Europäische Einigungsidee 1 9 2 3 - 1 9 3 0 und Briands Europaplan im Urteil der
deutschen Akten, in: HZ 203 (1966). S. 46 ff., 78 f., 80 ff.: vgl. auch C. Navari. T h e Origins
of the Briand Plan, in: Diplomacy and Statecraft 3,1 (1992). S . 7 4 f f .
121
Vgl. C. Navari (1992), S . 9 9 : vgl. im weiteren Kontext auch S. Kneeshaw, In Pursuit
of Peace: the American reaction to the Kellogg-Briand Pact. 1 9 2 8 - 2 9 , 1991.
122
Vgl. ausführlich W. Lipgens (1966). S. 82 f.; C. Navari (1992), S. 99 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 57

Staaten zu institutionalisieren, eine Europäische Konferenz auf Regierungsebene


einzurichten sowie einen Ständigen Politischen Ausschuss als europäisches Exe-
kutivinstrument. Überdies regt ein Zusatz an. die Grenzgarantien des Locarno-
Paktes auf die osteuropäischen Staaten auszudehnen. Ein solches Ost-Locarno
aber war der deutschen Außenpolitik nicht abzuringen, denn diese zielte trotz aller
Verständigungsbereitschaft langfristig darauf an, das Reich wieder als Großmacht
zu etablieren. So zeugt das Memorandum der französischen Regierung gleicherma-
ßen von Briands Glauben an die Gemeinschaft Europas wie von der Hilflosigkeit
einer Außenpolitik, die Deutschlands erneutem Griff nach der Weltmacht nur
noch wenig entgegenzusetzen vermochte.

Der Boden für außen- und europapolitische Bestrebungen der Vernunft wurde
damals immer rascher unterspült durch das Anschwellen radikaler und natio-
nalistischer Kräfte in Europa, begünstigt durch die unglücklichen politischen
Verhältnisse jener Jahre und die 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Mit der
Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war endgültig der
Weg zu einer nochmaligen gewaltsamen Explosion des Nationalismus beschritten.

Gleichwohl gab es in der Folge und während des zweiten Weltkrieges eindrucks-
volle sowie in vielen Bezügen zur Gegenwart immer noch - oder wieder - ak-
tuelle, grundlegenden Ideen und Pläne für eine Neuordnung Europas vor allem
in den Widerstandsbewegungen der von Hitlerdeutschland besetzten Länder (wie
auch in Deutschland selbst). Weitgehende Übereinstimmung im breiten Spek-
trum demokratischer Richtungen des antifaschistischen Widerstandes bestand in
der Forderung, dass der Aufbau Europas nach dem Kriege nicht die einfache
Wiederherstellung der alten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Strukturen der Vorkriegszeit bedeuten dürfe. Hierbei war die Zahl maßgeblicher
Stimmen des Widerstandes wie auch demokratischer Exilgruppen aus den von
Deutschland besetzten Ländern besonders groß, die anstelle des Systems der souve-
ränen Nationalstaaten, als dem institutionalisierten Egoismus und Gegeneinander
der europäischen Völker, die Organisation einer Friedens- und Solidargemein-
schaft Europas nach föderalistisch-bundesstaatlichen Prinzipien für notwendig
hielt. Damit sollten zugleich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa ge-
genüber totalitären Kräften gesichert und die für Wiederaufbau und Wohlstand
hinderlichen Zoll- und sonstigen Wirtschaftsschranken beseitigt werden. 1 2 3

So heißt es etwa in einer Erklärung von Vertretern wichtiger Widerstands-


bewegungen Frankreichs, die im Juni 1944 ein Französisches Komitee für die
europäische Föderation gründeten:

123
Hierzu ausführlich und mit umfassenden Quellenmaterial W. Lipgens. Europa-Föde-
rationspläne der Widerstandsbewegungen 1 9 4 0 - 1 9 4 5 . 1968. Die Europaideen des Wider-
stands waren in nicht unerheblichen Teilen wohl auch eine Antwort auf die gegensätzlichen,
nämlich auf die Vorherrschaft Deutschlands gerichteten ..Europaideen*' des Nationalsozia-
Iismus, die vom Typ bisweilen mit den Europaplänen Napoleons verglichen werden.
58 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Es ist unmöglich, ein blühendes, demokratisches und friedliches Europa wieder aufzu-
bauen. wenn es bei der z u s a m m e n g e w ü r f e l t e n Existenz nationaler Staaten bleibt. [ . . . ]
Europa kann sich nur dann in Richtung auf wirtschaftlichen Fortschritt, Demokratie und
Frieden entwickeln, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und einem euro-
päischen Bundesstaat folgende Zuständigkeiten überantworten: die wirtschaftliche und
handelspolitische Organisation Europas, das alleinige Recht zu bewaffneten Streitkräften
und zur Intervention gegen jeden Versuch der Wiederherstellung autoritärer Regime,
die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, die Verwaltung der Kolonialgebiete, die
noch nicht bis zur Unabhängigkeit herangereift sind, die S c h a f f u n g einer europäischen
Staatsangehörigkeit, die neben die nationale Staatsangehörigkeit träte. Die europäische
Bundesregierung muss das Ergebnis nicht einer Wahl durch die Nationalstaaten, sondern
einer demokratischen und direkten B e s t i m m u n g durch die Völker Europas sein." 124

Die Sozialistische Partei Italiens veröffentlichte 1942 aus d e m Untergrund


folgende Erklärung:

„Die G r u n d f o r d e r u n g hinsichtlich der zukünftigen O r d n u n g in Europa 1... | muss darin


gesehen werden, dass die bereits bestehende Einheit der europäischen Gesellschaft
durch politische Z u s a m m e n f a s s u n g sichergestellt werden muss. [ . . . ] Die europäische
Föderation darf keine in ihren Vollmachten eingeengte Union sein, der ständig von den
souveränen Staaten her G e f a h r droht." 1 2 5

B e m e r k e n s w e r t neben allzu vielen Unerwähnten auch der deutsche Wider-


s t a n d s k ä m p f e r H.J. Graf von Moltke, h i n g e r i c h t e t 1 9 4 5 in P l ö t z e n s e e , d e r 1942
an einen Freund in England schrieb:

„Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten,
von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die
Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet
werden?" 1 2 6

Unter den während der Kriegsjahre 1 9 3 9 - 1 9 4 5 formulierten Studien und M a -


nifesten befeinden sich auch einige V e r f a s s u n g s e n t w ü r f e . Zu ihnen zählten bei-
s p i e l s w e i s e A. Spinellis F l u g s c h r i f t „ G l i S t a t i U n i t i d ' E u r o p a e le v a r i e t e n d e n z e
p o l i t i c h e " v o m O k t o b e r 1941 u n d d e r A n s a t z d e r S e k t i o n Basel d e r s c h w e i z e r i -
s c h e n Europa-Union, d i e 1942 unter der n a m h a f t e n M i t w i r k u n g von W. Hoegner
u n d H . G . Ritzel m i t d e r A u s a r b e i t u n g e i n e r „ V e r f a s s u n g f ü r d i e V e r e i n i g t e n S t a a t e n
von E u r o p a " b e g o n n e n und bis 1944 zu d i e s e m Z w e c k 80 Sitzungen abgehalten
u n d , w i e W . Lipgens feststellt, e i n e n a u s g e r e i f t e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f m i t e t w a 9 0
Artikeln n a c h d e m b e k a n n t e n H a a g e r K o n g r e s s von 1948 veröffentlicht hatte.127

124
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 2 4 4 ff.
125
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 56. Siehe aber auch das 1941 auf der italienischen
Verbannungsinsel Ventotene von den beiden Italienern A. Spinelli und E. Rossi berühmt
gewordene Manifest von Ventotene.
126
H.J. Graf von Moltke, Letzte Briefe aus dem G e f ä n g n i s Tegel, 10. Auflage 1965.
S. 2 0 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 59

Erwähnenswert ist auch der Verfassungsentwurf für die „United States of Europe",
der im Rahmen der Faneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde. 128

b) Verfassungsentwürfe nach 1945129

aa) Hertensteiner Programm (1946)

Zahlreiche dieser und ähnlicher Vorstellungen fanden einen ersten gemeinsa-


men Niederschlag nach dem Kriege im historischen Treffen von Persönlichkeiten
des Widerstandes und europäischer Föderalisten vom 14.-21. September 1946 in
Bern und am Vierwaldstätter See. :;i " Dabei einigten sich Vertreter aus zwölf euro-
päischen Ländern 1 3 1 und den USA auf den Zusammensehluss aller europäischen
Einigungsbewegungen in einer „Aktion Europa-Union". 1 3 2 Das Aktionsprogramm
hatte zwölf Punkte, die sich zuvorderst mit dem Schutz der Menschenrechte be-
fassten und eine klare Ablehnung der faschistischen Ideologien und des nationalen
Protektionismus signalisierten. Sämtliche in diesem Dokument geforderten Punkte
(u. a. föderativer Charakter der Union, keine neue Weltmacht, gemeinschaftliches
Gericht zur Streitschlichtung, Anerkennung von Grund- und Freiheitsrechten,
Wahrung der nationalen Eigenarten) fanden sich später in den Gemeinschaftsver-
trägen bzw. im Unionsvertrag wieder. 133

bb) Entwurf einer föderalen Verfassung


der Vereinigten Staaten von Europa (1948)

Wenige Tage zuvor hatte W. Churchill in einer Aufsehen erregenden Rede in


Zürich dazu aufgerufen, einen „Europarat" als ersten Schritt zu den „Vereinigten

127
Der Entwurf fiel durchaus „schweizerisch" aus: er garantierte Gemeindeautonomie,
sah neben den Wahlen auch Abstimmungen zu Sachfragen vor und ging selbstverständlich
von einer föderalistischen Bundesstruktur aus. Zeittypisch erachtete man allerdings m e h r
..Staat" für nötig, als manche das heute wünschen (vgl. IV. Lipgens (1968). Text 22).
128
Texte mit kurzer E i n f ü h r u n g bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur
G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2 0 0 0 . 2 0 0 1 .
129
Vgl. vertiefend G. Brunn. Die europäische Einigung von 1945 bis heute. 2002; XI.-T.
Bitsch. Histoire de la construction europeenne de 1945 ä nos jours, 1999. Siehe auch
F. Knipping. Rom. 25. März 1957. Die Einigung Europas. 2004.
130
Das Treffen und den Text dokumentiert u . a . die Quelle unter http://www.jef-
niedersachsen.de/hertenstein.html.
131
Belgien. England. Frankreich. Griechenland. Holland. Italien. Liechtenstein. Polen.
Österreich. Schweiz. Spanien. Ungarn.
132
Am 17. 12. 1946 erfolgte dann der Z u s a m m e n s c h l u s s zur ..Union Europeenne des
Federalistes".
133
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001, II. 14.
60 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Staaten von Europa" zu bilden" 4 ; die Aussöhnung und Partnerschaft Deutschlands


und Frankreichs müsse hierfür die Grundlage bilden. Im Mai 1948 erneuerten
Politiker und Vertreter privater europäischer Verbände aus fast allen Staaten
Westeuropas den Appell für eine Einigung Europas und die Errichtung eines
„Europarates" auf ihrem Haager Kongress, aus dem einige Monate später die
Gründung der „Europäischen Bewegung" hervorging. 135

Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis 10. Mai 1948 veranstalteten
„Europa-Kongresses" erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine
neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der
„Europäischen Parlamentarier-Union" F. de Menthon erarbeitete im Juni 1948
einen Entwurf für eine Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente
in Interlaken (im September 1948), der erstmals eindeutige Regeln für die doppelte
Konstituierung (Völker und Staaten) einer europäischen Föderation enthielt. 136
Menthon umriss Organe der Föderation, wie z. B. ein Europäisches Parlament, das
sich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie
aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Da-
neben würden ein Exekutivrat und ein Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus
den Reihen des ersteren jeweils für ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt
werden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat. Die Föderation
sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NA-
TO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur
Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets und der „Vereinheitlichung der
Gesetzgebung der Mitgliedstaaten". Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten
Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föderation und
Mitgliedstaaten.

cc) Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948)

Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die Union Europäischer Fö-
deralisten einen Vorentwurf einer europäischen Verfassung, der am 1l.Novem-

134
Die Rede Churchills findet sich unter a n d e r e m bei W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jah-
re Ringen um die Europäische Verfassung. D o k u m e n t e 1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schriften
der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments. 1986.
S. 2 1 4 ff.
135
Es war die Zeit der großen H o f f n u n g e n und entsprechenden Ambitionen, über einen
Europäischen Verfassungsrat in einem Wurf und mit e i n e m Vorgriff auf eine ohnehin in
diese Richtung weisende Z u k u n f t ein Vereinigtes Europa herzustellen. Im März 1948 wurde
immerhin von 190 Abgeordneten des britischen Unterhauses und von 169 Abgeordneten
der französischen Nationalversammlung die E i n b e r u f u n g einer Europäischen Verfassungs-
gebenden V e r s a m m l u n g gefordert. Diese Initiative entsprach indessen nicht den realen
Möglichkeiten, die offensichtlich ein schrittweises Vorgehen in Etappen nötig machten.
136
Vgl. IV. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002.
S. 49 ff. "
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 61

ber 1948 verabschiedet wurde. 117 Der Entwurf eines einheitlichen europäischen
Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeits-
verlagerung. Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der
Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein Drei-Kammer-System
aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (bestimmt durch
nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen
Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation
also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei
Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte einen Kanzler
ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwurf enthielt eine
Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die
politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen. Gruppen von
Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Zwar betonte der Entwurf das Sub-
sidiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an einer klaren Abgrenzung der
Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaaten. Vorgesehen
war, dass sich einzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen
konnten.

dd) Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951)

72 Mitglieder der Beratenden Versammlung des Europarates fanden sich un-


ter dem Vorsitz des bereits oben benannten Präsidenten der Paneuropa Bewe-
gung Graf Coudenhove-Kalergi im Februar 1951 in Basel zusammen, um ein
„Verfassungskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" ins Leben zu ru-
fen. Diese Kommission formulierte im Mai desselben Jahres in Straßburg einen
sehr knappen (18 Artikel) Vor- und Rahmenentwurf einer europäischen Bundes-
verfassung (Grundsätze, Befugnisse, Bundesbehörden. Verfassungsrevisionen).
Hauptaugenmerk des Dokuments war der Bereich der Kompetenzen bzw. Kom-
petenzverteilung. Grundlage war das Subsidiaritätsprinzip. Die Mitgliedstaaten
sollten genau festgelegte Kompetenzen an den Bund übertragen. Als Bundesorgane
waren Bundesparlament und Senat (Legislative), Bundesregierung („Bundesrat")
und Bundesgericht vorgesehen. 138

c) Wege zum Europarat

Jenseits aller Kongresse und Manifeste war auch ein ansehnlicher Teil der poli-
tisch aktiven jüngeren Generation - vor allem in den früheren „Erbfeindländern"

137
Vgl. VV. Loth (2002). S. 55 ff.
138
Ein Abdruck dieses Verfassungsentwurfes findet sich u. a. bei P. C. Mayer-Tasch/
I.Contiades (Hrsg.), Die Verfassungen Europas. 1966. S . 6 3 I ff.; vgl. auch A. Schäfer
(Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende
D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001.11.20.
62 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Frankreich und Deutschland - in diesen Jahren von der Idee erfasst, die Europa
trennenden Schranken zu beseitigen und eine gemeinsame europäische Zukunft
aufzubauen. Gleichwohl artikulierten sich diesbezüglich Zurückhaltende und Ge-
genkräfte, die der Auffassung waren, das System der souveränen Nationalstaaten
könne nicht (oder noch nicht) aufgegeben oder eingeschränkt werden. Zu ihren
markantesten und einflussreichsten Vertretern zählte C. de Gaulle.139

Eine zusammenfassende Gegenüberstellung der grundsätzlichen Auffassun-


gen zur Zukunftsgestaltung Europas, wie sie die politischen Diskussionen und
Entscheidungen der Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft wesentlich bestimmten, ist hier nur stark vereinfacht möglich.
Bemerkenswert ist allerdings die Ähnlichkeit mancher Argumentationslinien zur
Verfassungsdiskussion der jüngsten, vergangenen Jahre. Die „Zeitlosigkeit" der
„europäischen Debatte" ist folglich gleichermaßen Ausdruck von stabilisierender
Stringenz und ermüdender Stagnation.

Den damaligen Befürwortern einer „Neuordnung Europas" zufolge war das


System der souveränen Nationalstaaten in Europa unfähig, zwischenstaatliche
Konflikte gewaltlos zu lösen und damit implizit den Frieden zu sichern: auch wäre
im „Schrebergartensystem" seiner Volkswirtschaften eine optimale Entfaltung der
Produktionsfaktoren und damit des Wohlstandes kaum zu ermöglichen gewesen:
schließlich stellte sich nicht nur angesichts der Erfahrungen der ersten Jahrhun-
derthälfte die Frage, wie die gemeinsamen Interessen Europas in der Weltpolitik
einschließlich seiner Verteidigung angemessen zu vertreten wären.

Konsequenterweise hätten diese Aufgaben in den Augen jener „Europäer" die


Schaffung einer über den Nationen stehenden („supranationalen") gemeinsamen
politischen Ordnung in Form eines föderalistischen Bundesstaates erfordert, zu
dessen Gunsten die Einzelstaaten auf Teile ihrer Entscheidungsbefugnisse hätten
verzichten müssen.

Demgegenüber wurde vertreten, Grundlage der politischen Identität der eu-


ropäischen Völker und des durch sie legitimierten staatlichen Handelns seien
nach wie vor die Nationalstaaten. Die zur Lösung der gemeinsamen europäischen
Probleme und Aufgaben erforderlichen Schritte könnten nur so weit reichen, wie
jeder beteiligte Staat aus eigener Entscheidung zu gehen bereit sei. Europäische

139
Für Großbritannien hatte Churchill bereits in seiner Züricher Rede ein anderes
Argument geltend gemacht: Es könne die europäische Einigung von außen fördern, aber
selbst nicht daran teilnehmen, da es schon einer anderen Völkergemeinschaft angehöre,
dem britischen Commonwealth of Nations (vgl. W. Churchill, a. a. O.). Mit der tatsächlichen
Gestaltung Europas nach 1945 auf der Grundlage der alten nationalstaatlichen O r d n u n g
(die. zumindest äußerlich, auch von der Sowjetunion in ihrem Machtbereich nicht in Frage
gestellt wurde), war schließlich ein Faktum von eigenem Gewicht geschaffen, das mit
z u n e h m e n d e r Entfernung vom Kriege und w a c h s e n d e m Selbstbewusstsein der Staaten
nach d e m Wiederaufbau noch an Bedeutung gewann.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 63

Zusammenarbeit sei somit - zumindest vorerst - nur möglich in den Formen


herkömmlicher internationaler Zusammenarbeit oder eines Staatenbundes der un-
abhängigen („souveränen") Einzelstaaten, nicht aber durch deren Unterordnung
unter Entscheidungen supranationaler Organe.

Die unterschiedlichen Vorstellungen in Europa über die Zukunftsgestaltung,


insbesondere den Grad der Einigung des Kontinents, waren mit Ende des Zweiten
Weltkrieges jedoch vielfältigen Einwirkungen der politischen Entwicklung unter-
worfen, in erster Linie dem beginnenden, bald alles überschattenden Ost-West-
Konflikt. Nach 1945 sah es trotz aller Einigungspläne für Europa zunächst so aus,
als werde sich am wiederhergestellten System der unabhängigen Nationalstaaten
kaum etwas ändern. Mit der Teilung Europas, das heißt der Eingliederung der
osteuropäischen Staaten und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in
den Machtbereich der UdSSR, ergaben sich jedoch bald völlig neue Interessen-
konstellationen und Impulse zur Einigung (nunmehr) Westeuropas. Sie waren
bestimmt vom Bedürfnis der USA und Westeuropas nach Sicherheit, wirtschaftli-
cher Stabilität und Eindämmung des Kommunismus. 1 ' 10

Vor dem Hintergrund des bestimmenden Einflusses der beiden Supermächte


über Europa war der erste Schritt zu einer von den Europäern selbst ausgehenden
organisierten Zusammenarbeit, zu der sich bald die Mehrzahl der westeuropäi-
schen Staaten bereit fand, geprägt vom Kompromiss. Der am 5. Mai 1949 von
zunächst zehn Staaten in Straßburg gegründete Europarat erhielt einerseits keine
supranationalen Befugnisse, wie vor allem die Europäische Bewegung es forderte.
Andererseits bedeutete er das Äußerste dessen, was die zurückhaltenderen Staaten
an Einigung akzeptieren konnten. Der Kompromiss spiegelt sich auch in Gestal-

uo
Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich nach ihrer G r ü n d u n g 1949 unter
ihrem ersten Bundeskanzler K. Adenauer ebenfalls f ü r den Weg der Westintegration und
der Beteiligung an der westlichen Verteidigung. Die sich damit bietende Chance zur gleich-
berechtigten A u f n a h m e in die europäische Staatengemeinschaft, zum wirtschaftlichen
Wiederaufbau und zur Sicherung der j u n g e n Demokratie gegenüber d e m K o m m u n i s m u s
wurde mehrheitlich auch als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands gese-
hen. Im GG wird neben d e m Bekenntnis zur Einheit und Freiheit Deutschlands der Wille
ausgedrückt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu d i e n e n " ( Präambel); in
Art. 24 Abs. 1 GG ist erstmals in einer deutschen Verfassung die Möglichkeit vorgesehen,
dass der Bund ..durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertra-
g e n " könne. ..Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger
kollektiver Sicherheit einordnen: er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheits-
rechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte O r d n u n g in Europa und zwischen den
Völkern der Welt herbeiführen und sichern", Art. 24 Abs. 2 GG. Andere Staaten Westeuro-
pas waren zu einer supranationalen Einigung zunächst nicht bereit oder in der Lage - sei es
wegen auferlegter oder selbst gewählter Neutralität wie bei Finnland. Österreich. Schweden
und der Schweiz, a u f g r u n d autoritärer Regime w i e in Spanien und Portugal oder aus ei-
ner historisch-politisch begründeten Zurückhaltung wie bei Großbritannien (insbesondere
durch seine Bindungen im weltweiten C o m m o n w e a l t h ) und den skandinavischen Staaten,
die im 1951 gegründeten Nordischen Rat eine engere Z u s a m m e n a r b e i t einleiteten.
64 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

tung. Zusammensetzung und Wirkkraft der wichtigsten Organe des Europarates


wider. 141

Auch wenn dem Europarat supranationale Entscheidungsbefugnisse fehlen,


sind seiner freiwilligen Zusammenarbeit nicht unbedeutende Erfolge zu verdan-
ken. Sie betreffen die Angleichung von Politik und Gesetzgebung der Mitglied-
staaten in Teilbereichen von Erziehung und Bildung. Rechtswesen. Sozialpolitik
und Umweltschutz, kulturelle Initiativen sowie nicht zuletzt die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK) 1 4 2 ; sie bietet die Möglichkeit, wegen Men-
schenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) in Straßburg Klage zu erheben. Eine verfassungsgeschichtliche Be-
trachtung Europas (wie der Europäischen Union) wäre ohne einen Blick auf die
Errungenschaften des Europarates unvollständig.

d) „Verfassungsentwürfe " ab 1952

aa) Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952)

1952 erschien eine unmittelbare politische Integration aufgrund zu großer


nationaler Gegensätze noch nicht möglich. Stattdessen unterzeichnete man am
18. April 1951 den - in erster Linie als enge wirtschaftliche Kooperation geschaf-
fenen - EGKS-Vertrag 143 und hoffte, dass dies „automatisch" auch die engere
politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit sich bringen würde. Dieser
Gedanke war auch in der Organisation der EGKS enthalten, die eine Versamm-
lung (d. h. ein Parlament), eine Hohe Behörde, den Gerichtshof und den Minis-
terrat vorsah. Bemerkenswert ist, dass Art. 21 EGKSV bereits eine Direktwahl
der Delegierten zur Versammlung benannte. Die gegenseitige Abhängigkeit und
Überwachung der Organe sollte eine rechtsstaatliche Legitimation gewährleisten.

141
Vgl. aus der umfangreichen Lit. zum Europarat K. Carstens, Das Recht des Euro-
parates, 1956: J.-L Burban, Le Conseil de l ' E u r o p e . 1985 (2eme ed. 1993); A. Gimbal,
Europarat in Bedrängnis. Notwendige Reformen und Konsequenzen, in: Internationale Poli-
tik 12/1997. S. 45 ff.; R. Streinz, Einführung: 50 Jahre Europarat, in: ders. (Hrsg.), 50 Jahre
Europarat. Der Beitrag des Europarates um Regionalismus, 2000. S. 17 ff.; M. Wittinger,
Der Europarat. Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte",
2005.
142
Hierzu beispielsweise G.C. Rodriguez Iglesias, Die Stellung der E M R K im Euro-
päischen Gemeinschaftsrecht, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen U m b r u c h und
Bewahrung. Festschrift für R . B e r n h a r d t . 1995. S. 1269 ff.: M. Hilf. Europäische Union
und Europäische Menschenrechtskonvention, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen
U m b r u c h und Bewahrung. S. 1193 ff.: C. Busse. Die Geltung der E M R K f ü r Rechtsakte
der EU, in: N J W 2000. S. 1074 ff.: H. Waldock. Die Wirksamkeit des Systems der E M R K .
in: E u G R Z 1979. S. 599 ff.
143
Vgl. etwa bereits K. Carstens, Die Errichtung des G e m e i n s a m e n Marktes in der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. A t o m g e m e i n s c h a f t und G e m e i n s c h a f t f ü r Kohle
und Stahl, in: Z a ö R V R 18 (1958), S . 4 5 9 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 65

Der EGKS-Vertrag kann als erste „Vertragsverfassung" bezeichnet werden, die


konkrete und wirksame Schritte in Richtung einer gemeinsamen politischen Union
einleitete. Er lief am 23. Juli 2002 aus.

bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen


Gemeinschaft - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EGKS (1953)

Kontrastierend zur „pragmatischen Integrationsmethode" ist die Verfassungs-


idee Teil eines permanenten Diskussionsprozesses über Reform und Gestaltung
der europäischen Einigung gewesen und rückte immer dann auf die Tagesordnung,
wenn die Integration in eine neue Phase trat oder in eine Krise geriet. 144 Der
erste politisch bedeutsame Entwurf für eine konstitutionelle Neugründung Euro-
pas entstand im Nachkriegseuropa 1953 im Zusammenhang mit den Plänen zur
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischen Politischen
Gemeinschaft (EPG). Dieser Ansatz ist auch in klarer Abgrenzung zu den Ver-
fassungsentwürfen der benannten Gruppen der Europabewegung während und
direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, deren Pläne meist die Umwandlung
Europas in einen föderalen Bundesstaat mit eigener Haushaltskompetenz, ge-
meinsamer Armee und weitreichenden legislativen und exekutiven Kompetenzen
implizierten. 145 Während sich 1950 die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass „Euro-
pa sich nicht mit einem Schlage" herstellen lassen könne, sondern mit der EGKS
nur eine „erste Etappe der europäischen Föderation" 146 auf wirtschaftlichem Ge-
biet zu verwirklichen war, gewann die Gründung einer umfassenden politischen
Gemeinschaft während des Koreakriegs und der damit verbundenen deutschen
Wiederbewaffnung erneut an Bedeutung. Analog zum Modell des Schuman-Plans
schlug Frankreich eine frühzeitige Einbindung Deutschlands in ein supranational
organisiertes europäisches Sicherheitssystem vor.

Letztlich beschlossen die sechs Außenminister der Montanunion auf Anre-


gung von J.Monnet (Präsident der Hohen Behörde der Montanunion) und P.-
H. Spaak (Vorsitzender der europäischen Beratenden Versammlung des Euro-
parates) eine aus den parlamentarischen Mitgliedern der EGKS und einigen
Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates zusammengesetzte
„ad hoc"-Versammlung zu beauftragen, einen Vertragsentwurf für eine Europäi-
sche Politische Gemeinschaft zu erarbeiten. Diese „verstärkte" Versammlung der
EGKS bildete einen Verfassungsausschuss, der einen Vertragsentwurf 1 4 7 ausar-

144
Vgl. W. Weidenfeld. W i e Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union.
1991. S . 7 6 .
145
Hierzu die D o k u m e n t e in W. Lipgens. 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfas-
sung. Bonn 1986.
146
..Erklärung zur M o n t a n u n i o n " , 9. Mai 1950. in: W. Lipgens, 45 Jahre Ringen um
eine europäische Verfassung. Bonn 1986. Dok. 67, S. 293 f.
66 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

b e i t e t e . D i e s e n E n t w u r f l e g t e d i e V e r s a m m l u n g a m 9 . M ä r z 1 9 5 3 vor. E r w u r d e
v o m R a t d e r s e c h s A u ß e n m i n i s t e r d e r E G K S a m 10. M ä r z g e b i l l i g t .

Z w a r w a r der „ A d - h o c - E n t w u r f " vorsichtiger formuliert als die Pläne der f ö -


deralistischen B e w e g u n g („Verfassung" oder ..Bundesstaat" tauchten als Begriffe
nicht auf), d o c h inhaltlich richtete sich der Plan weitgehend am Leitbild eines
europäischen Bundesstaates aus. Einige „Verfassungsfunktionen"148, wie die Legi-
timations149- und Organisationsfunktion150 der vorgelegten Konzeption gestalteten
sich ähnlich den E n t w ü r f e n der Europabewegung: eine demokratisch legitimierte,
föderale Organisationsstruktur mit einer weitgehend gleichberechtigten Völker-
u n d S t a a t e n k a m m e r ( S e n a t ) n a c h a m e r i k a n i s c h e m M o d e l l ( A r t . 1 1 u n d 16), w e l -
che auch die Hoheit über den Haushalt erhalten sollte (Art. 75). Z u d e m sollte
das Parlament den „Europäischen Exekutivrat" mit Präsident und Ministern kon-
trollieren (Art. 31). G e m e i n s c h a f t s r e c h t sollte V e r f a s s u n g s v o r r a n g g e g e n ü b e r den
M i t g l i e d s s t a a t e n e r h a l t e n ( A r t . 4 ) u n d e i n k l a g b a r bei e i n e m G e r i c h t s h o f sein
(Art. 3 8 - 4 9 ) . Der Entwurf verfügte über keinen Menschenrechtskatalog, sah aber

147
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.23.b).
148
Die Unterteilung in Funktionen der Verfassung als Analyseraster ist in ihren Grund-
zügen C. Walten Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion,
in: DVB1 2000. S. I ff.. 5 f. entlehnt.
149
Indem sie die Macht d e m subjektiven Belieben ihrer Träger entzieht und sich auf
den Willen eines souveränen Volkes stützt, hat die Verfassung zunächst die Funktion.
M a c h t a u s ü b u n g zu legitimieren. Indem sie sich auf die Volkssouveränität als pouvoir
constituant beruft, schafft sie die Grundlage für die Ausübung von Hoheitsgewalt überhaupt:
Weil nur die Verfassung aus den vorrechtlichen Gegebenheiten der verfassungsgebenden
Gewalt der Gemeinschaft abgeleitet ist, muss sich jedes Organ. Gesetz und jeder Rechtsakt
auf die Verfassung z u r ü c k f ü h r e n lassen. Sie ist damit der M a ß s t a b allen rechtlichen und
politischen Handelns. Weil die Verfassung in der Hierarchie der Normen an oberster Stelle
steht, muss sie gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht verbindlich durchsetzbar sein. Diese
Durchsetzbarkeit kommt üblicherweise einem Verfassungsgericht zu. Es verfügt außerdem
über die sogenannte Kompetenzkompetenz, im Namen der verfassungsgebenden Gewalt
Unvollständigkeiten in der Verfassung durch neue Staatsaufgaben zu ergänzen, vgl. auch
C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. S. 268 ff., 272.
150
Die Verfassung legt die O r g a n i s a t i o n - und Verfahrensregeln fest, die eine den Legi-
timationsprinzipien k o n f o r m e H a n d h a b u n g der öffentlichen Gewalt garantieren. Deshalb
enthalten Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Hoheitsge-
walt. die Missbräuche verhüten sollen und so meist nach dem Prinzip der Gewaltenteilung
zwischen Exekutive. Legislative und Judikative die Kompetenzen d e r einzelnen Organe
verbindlich festlegen, vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995 (12),
S. 581 ff., 584. Der enge Z u s a m m e n h a n g von Organisations- und Legitimationsfunktion
zeigt sich besonders an der verfassungsmäßigen Rolle des Parlaments. Dieses soll im
Namen des souveränen Volkes die Regierung kontrollieren und ihr im äußersten Fall auch
das Vertrauen entziehen, d. h. sie absetzen können. Gleichzeitig initiiert das Parlament als
Repräsentant des Volkes die Gesetze und garantiert so die demokratische Mitgestaltung ge-
sellschaftlicher Prozesse. Damit wird das parlamentarische Gesetz das zentrale Instrument
der Herrschaftsausübung.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 67

die Aufnahme der E M R K als „integrierten Bestandteil" vor (Art. 3). Die Kompe-
tenzen der Gemeinschaft waren allerdings begrenzter als in den Verfassungsplänen
der Europabewegung. Der ..Rat der nationalen Minister", der dem Ministerrat der
Montanunion und EVG entsprechen sollte, konnte in zentrale Zuständigkeitsgebie-
te der Gemeinschaft eingreifen (Art. 104) Auch die Außenpolitik sollte lediglich
von der Gemeinschaft koordiniert werden, aber „durch einstimmigen Beschluß"
des Ministerrats (Art. 69).

Diese zögerlichen Formulierungen lassen eine Deutung auf den Wandel der
europapolitischen Interessen zu Ungunsten eines verfassungspolitischen Integrati-
onssprungs zu, welcher letztlich zum Scheitern des Ad-hoc-Entwurfs führte. Das
Ende der Koreakrise im Jahr 1953 nahm den Antrieb zur Gründung einer EVG
und EPG. Vor allem Frankreich erschien der Preis eines nationalen Souveräni-
tätsverlustes zugunsten einer europäischen Armee zu hoch. Der Verfassungsent-
wurf scheiterte zusammen mit der EVG in der französischen Nationalversammlung
(30. August 1954). Mit dem Entwurf wurde auch das Leitbild eines föderalen Bun-
desstaates ad acta gelegt, und die europäische Verfassungsdebatte ebbte zunächst
ab. Die Integrationsbemühungen verlagerten sich auf den wirtschaftlichen Be-
reich, in dem sich die verschiedenen Motive und Interessen der Mitgliedsstaaten
erfolgreicher bündeln ließen. Das Verfassungsmodell reduzierte sich auf eine rein
rhetorische Figur. Leitbilder wie „Vereinigte Staaten von Europa" 1 5 1 wirkten „wie
der Aufputz von Sonntagsreden" 1 5 2 .

cc) Römische Verträge (1957)

Die von der Regierungskonferenzder sechs Gründungsstaaten (Belgien. Deutsch-


land. Frankreich. Italien. Luxemburg, Niederlande) unter dem Vorsitz von P.-H.
Spaak verfassten Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) betrafen - anders als bei der
EGKS - die gesamte Volkswirtschaft der Mitgliedstaaten. Die Römischen Ver-
träge 153 übernahmen im Wesentlichen die institutionelle Gestaltung der EGKS
und sahen einen Rat, eine Kommission und ein Parlament vor. Dabei war der
Rat zunächst praktisch als alleiniger Gesetzgeber der Gemeinschaft konzipiert. 154

151
Siehe aber T.R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New S u p e r p o w e r and the
End of American Supremacy. 2005.
152
H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfmalität: Föderation, Konföderati-
on - o d e r was sonst?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 171; siehe auch W. Weidenfeld.
Europäische Verfassung fiir Visionäre?, in: Integration. 1/1984. S. 33 ff.. S. 38.
153
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001, II.24.b).
154
Im Einzelnen z. B. W. Loth, E n t w ü r f e einer europäischen Verfassung. Eine histori-
sche Bilanz. 2002. 16 ff.
68 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Schon damals wurde daher ein Defizit an Handlungsfähigkeit (Einstimmigkeit im


Rat) und an parlamentarischer Kontrolle konstatiert.

e) Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre

Gerade angesichts der gelegentlich romantisierenden und den Vergleich zu den


USA suchenden Bezeichnung „Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften"
(bzw. überaus gewagt der „Europäischen Union") ist zu fragen, ob sich die Betei-
ligten in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts auch über die Ausgestaltung
der hoheitlichen öffentlichen Gewalt der Europäischen Gemeinschaften überhaupt
Gedanken gemacht haben bzw. machen mussten. Aufgrund der Qualifizierung der
Gemeinschaften als lediglich „funktionelle Zweckverbände wirtschaftlicher Inte-
gration" 155 . die vordergründig keine wie immer gearteten „verfassungsrechtlichen"
Probleme aufwerfen konnten -soll auch im Hinblick auf die „Verfassungsdebatte"
im Rahmen des „Europäischen Konvents" 156 dieser Fragestellung nachgegangen
werden. Tatsächlich haben sich die „europäischen Gründungsväter" sehr intensiv
mit der Thematik der Ausgestaltung und Strukturierung der hoheitlichen öffentli-
chen Verbandsgewalt beschäftigt, die sie den drei Europäischen Gemeinschaften
mitzugeben beabsichtigten. Sie fanden hierbei auch umfassende Unterstützung
durch die Lehre, wie die Fülle einschlägiger Gutachten belegt, die in der zweiten
Jahreshälfte 1952 von führenden deutschen Staatsrechtslehrern verfasst wurden. 157

Auslöser war die vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepu-


blik Deutschland auf die geplante EVG und Gegenstand der Auseinandersetzung
war die von H. Kraus erhobene Forderung nach „struktureller Kongruenz und Ho-
mogenität" der hoheitlichen, öffentlichen Verbandsgewalt der EVG im Verhältnis
zur Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten, im konkreten Fall jener der Bundesrepu-
blik. 158

155
Vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 196.
156
Hierzu unten B . I V . 2 . f ) o o ) .
15
Gesammelt in den Veröffentlichungen des Institutsßir Staatslehre und Politik e. V. in
Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag. Bd. 2, 2. Halbband: Das Gutachtenverfah-
ren ( 3 0 . 7 . - 1 5 . 1 2 . 1952), 1953.
158
Nach der später ..Lehre" genannten These von der notwendigen ..strukturellen Kon-
gruenz und H o m o g e n i t ä t " durften gem. Art. 24 Abs. 1 GG deutsche Hoheitsrechte nur an
solche zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden, deren Struktur d e m staats-
rechtlichen. rechtsstaatlichen A u f b a u des nach dem GG verfassten bundesrepublikanischen
Staatswesens ..kongruent" ist. Die jüngste „Verfassungsdebatte" in der Europäischen Union
nahm dabei Überlegungen auf. die sich bereits 1952 im Zuge der Diskussion bezüglich der
Übertragung von Hoheitsrechten Deutschlands auf die geplante EVG entspannen (vgl. dazu
W. Hummer, Eine Verfassung für die Europäische Union - eine Sicht aus Österreich, in:
H. T i m m e r m a n n (Hrsg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer
grundsätzlichen und aktuellen Diskussion. 2001).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 69

Der Ansatz von der notwendigen „strukturellen Kongruenz und Homogenität"


der Verbandsgewalt internationaler/supranationaler Organisationen im Allgemei-
nen und der EVG im Speziellen in Bezug auf die Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten
wusste sich - wie soeben beschrieben - aber nicht durchzusetzen.

Im Ergebnis erscheint es nicht vermessen, die Europäischen Gemeinschaften


konzeptionell als eine „inkongruente" und „inhomogene" Verbandsgewalt „sui
generis" zu bezeichnen - und zwar nicht nur ohne Gewaltenteilung, sondern sogar
„gewaltenfusionierend" (mit einem exekutiv rekrutierten Rat als Hauptlegisla-
tor), ohne Grundrechtskatalog, ohne vertikale Kompetenzverteilung, mit einem
Europäischen Parlament ohne Legislativbefugnisse etc. -. die sich bewusst vom
staatsrechtlichen Modell ihrer Mitgliedstaaten abhob. 1 -" Hervorzuheben ist, dass
die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften in keiner der Ratifika-
tionsdebatten in den sechs Gründungsstaaten verfassungsrechtlichen Bedenken
begegneten, und die parlamentarischen Genehmigungsverfahren mit großen Mehr-
heiten erfolgten. 160

f) Stationen zur Europäischen Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren

aa) Der Entwurf von Max Imboden (1963)

Unter den Ideen der 60er- und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts ist neben den
Fouchet-Plänen (Februar 1961) 161 und dem Davignon-Bericht (1970) 162 sowie
dem Tindemans-Bericht (1975) 161 insbesondere der Entwurf von M. Imboden 164

159
So auch W. Hummer. „Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instru-
mente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungs-
konvent - Strategien und A r g u m e n t e , Sonderheft 1/2003. S. 53 ff.. 55.
1611
Vgl. etwa H.-J. Küsters. Die G r ü n d u n g der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
1982. S. 472 ff.; S. Griller/F. MaislingerlA. Reindl (Hrsg.), Fundamentale Rechtsgrundla-
gen einer EG-Mitgliedschaft. 1991, S. 2 3 6 ff.
161
Hierzu u. a. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Eu-
ropäische Union 2004. Bilanz und Perspektive. 2004, S. 7. 1962 waren die so genannten
Fouchet-Pläne grandios gescheitert, die gleichfalls eine engere politische Zusammenarbeit
und sogar eine g e m e i n s a m e Außen- und Sicherheitspolitik beabsichtigten. Trotz allem
wurde bereits ein Jahr darauf der Dcutsch-Französische-Freundschaftsvertrag unterzeich-
net. die Initialzündung für den so genannten (bis heute nicht unumstrittenen) ..Motor der
Integration".
162
Vgl. etwa S. Petkovic, Geschichte der politischen Integration in Europa - Teil 2
(von der E P Z zum Vertrag von Nizza), 2003, S. 6 f. im Internet: cdl.niedersachsen.de/blob
/images/C4786923_L20.pdf. Siehe übrigens aus den 70cr Jahren auch den Verfassungsent-
wurf von J. Dorren (1977). a b r u f b a r unter http://www.uni-trier.de/~ievr/eu_verfassungen
/dorren.htm.
16
' Vgl. W. Wessels, Europäische Union 1980. Fragen und Thesen im Hinblick auf
den Tindemans-Bericht zur Europäischen Union. 1975: Niedersächsischen Landeszentra-
le für politische Bildung (Hrsg.) (2004), S . 8 . Tindemans ..Bericht über die Europäische
70 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

hervorzuheben. Er hielt den „funktionalen" Ansatz der EWG, bei dem die Einheit
letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll,
für unzulänglich. In Anlehnung an die Verfassungen der USA, der Schweiz und
das deutsche Grundgesetz (GG) wollte Imboden versuchen, „den noch schwer
fassbaren konkreten funktionellen Inhalten ein festes politisches Gefäß zu ge-
ben." Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft „über situationsbedingte Erfolge
und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit sichern." 165 Er sah die
Organe ..Rat"(als Regierung), „Europäische Versammlung"-bestehend aus Abge-
ordnetenhaus (Volkswahl) und Senat (Länderkammer) - sowie einen Gerichtshof
vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 2 2 - 2 5 ist ausdrücklich
eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten
enthalten. 166

Seit Gründung der EWG (1958) standen Erfolge und Rückschläge im Eini-
gungsprozess in einem dynamischen Wechselspiel. Bereits 1968 war die Zolluni-
on verwirklicht. Mit dem vertragswidrigen Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen
wurde jedoch zwei Jahre vorher ein entscheidendes Instrument supranationaler
Politik außer Kraft gesetzt. Entscheidungen waren demzufolge nur noch auf dem
kleinsten gemeinsamen Nenner der Einstimmigkeit möglich.

bb) Die Verfassungsdiskussion 1 9 8 4 -


Das Europäische Parlament als Akteur

<1) Ausgangspunkte der Debatte

Es zählt zu den bemerkenswerten, wenngleich verfassungstheoretisch stringen-


ten Begebenheiten, dass die ersten umfassenderen und inhaltlich kohärenteren
Verfassungsentwürfe parlamentarischen Ursprungs sind. Das trifft sowohl auf
den Verfassungsentwurf 1984 als auch auf den Verfassungsentwurf 1994 zu, die
jeweils vom Europäischen Parlament vorgelegt worden sind. Aufgrund offensicht-
licher Parallelen zum jüngsten Verfassungsvertrags-Entwurf soll die Darstellung
der Ansätze von 1984 und 1994 entsprechend umfassender ausfallen.

U n i o n " empfahl eine durchaus föderale Gestaltung der Union, ein „Europa der Bürger",
deren Grundrechte zu schützen seien, die Stärkung der Sozial- und der Regionalpolitik,
erhöhten Verbraucher- und Umweltschutz. Die schrittweise Weiterentwicklung der Union
könne, wenn einzelne Staaten noch nicht zu weiterer Integration bereit seien, auch mit
verschiedenen Geschwindigkeiten verwirklicht werden. Die Vorschläge fanden Zustim-
mung, verschwanden aber in den Schubladen und wurden zum Teil erst viele Jahre später
umgesetzt.
164
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.26.
165
Zitat nach R. Streinz/C. Ohlerl C. Hertmann. Die neue Verfassung für Europa. Ein-
f ü h r u n g mit Synopse. 2005, S . 4 .
166
P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, 33 (Fn. 132) ordnet Imbo-
dens Entwurf als „Bauteil innerstaatliche[n) Europaverfassungsrecht[s]" ein.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 71

Vergleichbare Initiativen innerhalb des Europäischen Parlaments gewannen be-


reits nach dessen erster Direktwahl im Jahre 1979 an Schubkraft. Einflussreiche
Kreise hielten es nach der ersten Direktwahl für eine historische Pflicht, als ers-
tes von den europäischen Bürgern direkt gewähltes Parlament einen Entwurf für
eine Union vorzulegen, der anschließend den Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung
vorgelegt werden sollte. Hervorzuheben ist vor allem der italienische Abgeord-
nete A. Spinelli, der vehement für diese Initiative kämpfte. Einen ersten Erfolg
und Höhepunkt konnte Spinelli mit dem Beschluss des Plenums des Europäi-
schen Parlaments vom 9. Juli 1981 erzielen, welcher vorsah, einen Institutionellen
Ausschuss im Europäischen Parlament einzurichten, der Vorschläge für die Ver-
wirklichung einer Europäischen Union erarbeiten sollte. Im September 1983 legte
der Institutionelle Ausschuss den Vorentwurf eines Vertrages vor. Unter Mitwir-
kung der so genannten Juristenkommission (vertreten durch die Professoren Hilf,
Jacobs, Jaque und Capotori) entstand schließlich ein endgültiger Entwurf, den
das Europäische Parlament am 14. Februar 1984 mit großer Mehrheit verabschie-
dete.' 6 7

(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments

Von anderen vorherigen und auch nachfolgenden Textentwürfen unterscheidet


sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984
sowohl hinsichtlich seiner Legitimation als auch in Bezug auf seine inhaltliche
Architektur und Geschlossenheit. Die Initiative des Europäischen Parlaments
war als Akt echter Verfassunggebung intendiert, der sich mit anderen bisherigen
Entwürfen nicht vergleichen ließ. Laut Spinelli verstand sich das erste direkt
gewählte Europäische Parlament als „verfassungsgebende Versammlung", die
den Unionsbürger legitim vertritt, gegenüber dem Ministerrat trotz zahlreicher
Initiativen aber weitgehend machtlos geblieben war.16*

A. Peters charakterisiert den Verfassungsentwurf 1984 (wie auch den aus dem
Jahre 1994) als „in dem Sinne revolutionär", als er sich als normativ diskontinu-
ierlich zum geltenden Verfassungsrecht auffasste. 169 Festzuhalten ist, dass dieser
Entwurf ausschließlich eine Initiative des Europäischen Parlaments darstellt. Die
Regierungen hatten zur Ausarbeitung dieses Verfassungsentwurfs weder einen
Auftrag erteilt noch waren sie an den Verhandlungen über die Formulierungen des
Textes beteiligt. Das Europäische Parlament hat sich diesen Aufgaben vielmehr
mit dem selbst gesetzten Anspruch eigener Legitimation und unter Inanspruch-

167
Vgl. ABl. Nr. C 7 7 / 1 9 8 4 . S. 33, abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe f ü r die Europäische Union.
Texte und Materialien. Bd. 35 (2002). S. 3 ff.
16!>
Vgl. A. Spinelli. Das Verfassungsprojekt des Europäischen Parlaments, in:
J. Schwarze (Hrsg.). Eine Verfassung für Europa. Von der EG zur EU, 1984. S. 231 ff.. 242.
169
A. Peters. Elemente einer T h e o r i e der Verfassung Europas. 2001. S . 4 9 2 f .
72 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g

nähme eines konstitutionellen Initiativrechts unterzogen. Insgesamt ein Vorgang,


der von einem beachtlichen parlamentarischen Selbstbewusstsein zeugte.

Der Verfassungsentwurf ist in vielerlei Hinsicht als bemerkenswert zu bezeich-


nen. Er legt zwei Aktionsweisen der Union fest, die im weiteren Sinne auch noch
heute deren Funktionieren zu bestimmen wissen: Einmal die vom Europäischen
Parlament so genannte gemeinsame Aktion und zum anderen die Zusammenarbeit.
Unter gemeinsamen Aktionen versteht der Verfassungsentwurf Rechtshandlungen,
die von den Institutionen der Union ausgehen und sich entweder an diese selbst, an
die Staaten oder an Einzelne richten, unter Zusammenarbeit werden die Verpflich-
tungen subsumiert, die die Mitgliedsstaaten im Rahmen des Europäischen Rates
eingehen. Ausdrücklich vorgesehen ist, dass Gegenstände, die bisher der Zusam-
menarbeit zwischen den Staaten unterliegen. Gegenstand gemeinsamer Aktionen
werden können, im Interesse der Erhaltung des europäischen Integrationsgrads
jedoch nicht umgekehrt.

Bezüglich der Politiken der Union wird in dem Verfassungsentwurf unter je-
weils enumerativer Benennung zwischen „ausschließlicher, konkurrierender und
potentieller Zuständigkeiten" unterschieden. Die Gewaltenteilung erscheint durch
die Differenzierung in supranationale, „gemeinsame Aktionen" und bloße „Zu-
sammenarbeit" gewährleistet (Art. 10). Auch berief man sich bekräftigend auf das
Subsidiaritätsprinzip. In die ausschließliche Zuständigkeit sollten etwa Bestim-
mungen über den Binnenmarkt und die Freizügigkeit sowie den Wettbewerb, in
die konkurrierende Zuständigkeit die Konjunktur- und Kreditpolitik, aber auch
weite Bereiche der Gesellschaftspolitik lallen. Hinsichtlich der internationalen
Beziehungen der Union sollte die Union teilweise durch gemeinsame Aktionen,
teilweise im Wege der Zusammenarbeit agieren können. Zentral ist die ausdrück-
liche Festlegung, dass im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union
allein die Institutionen der Union handlungsbefugt sein sollten. Im Falle der kon-
kurrierenden Zuständigkeit waren die Mitgliedsstaaten nur insoweit zur Handlung
befugt, als die Union nicht tätig geworden wäre.

Einen gewissen Innovationsgrad besitzen in dem Verfassungsentwurf vor allen


Dingen die Bestimmungen über die gesetzgebenden Organe und das Gesetz-
gebungsverfahren. Nach Art. 36 des Entwurfs sollten nämlich das Europäische
Parlament und der Rat der Union gemeinsam unter aktiver Beteiligung der Kom-
mission die Gesetzgebungsbefugnis ausüben. Unter bestimmten Voraussetzungen
wurde auch dem Europäischen Parlament Gesetzesinitiativrecht eingeräumt. Die
zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Beschlüsse sollten
von der Kommission erlassen werden, die sich dabei an die im Gesetz vorge-
sehenen Verfahren zu halten hatte. Neu war das Instrument der so genannten
Organgesetze, die den organisatorischen Aufbau und die Funktionsweise der Insti-
tutionen regeln sollten (Art. 34 II). Dieses Verfahren würde es der Union erlauben,
wichtige Modalitäten über das eigene Funktionieren selbst zu regeln, ohne auf
die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente angewiesen zu sein. Bezüglich
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 73

der Mehrheitserfordernisse ist festzuhalten, dass für Abstimmungen im Rat die


Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit, das heißt mit der Mehrheit der abgege-
benen gewogenen Stimmen ohne Berücksichtigung der Enthaltungen, die Regel
sein sollte.

Beachtlich ist, wie sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments zu


den Grundrechten verhielt. So sollte auch die Begrenzungsfunktion1" europäischer
Hoheitsgewalt gegenüber dem Unionsbürger mittels einer Verfassung erweitert
werden. Ausdrücklich erwähnt wurde in Art. 41 nur die Menschenwürde. Ansons-
ten verwies der Verfassungsentwurf auf die Grundrechte und Grundfreiheiten,
„die sich insbesondere aus den gemeinsamen Grundsätzen der Verfassungen der
Mitgliedsstaaten und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten ergeben". Der Entwurf sah jedoch neben dem Beitritt
der Union zur E M R K vor, dass innerhalb einer Frist von fünf Jahren die Union
nach dem in dem Entwurf vorgesehenen Vertragsänderungsverfahren „ihre eigene
Grundrechtserklärung" verabschieden solle. 171

Allerdings hatte der Entwurf angesichts der Organisationsfunktion auch Defi-


zite. Gerade die Kompetenzabgrenzung wurde als unzureichend kritisiert. Weder
war der rechtliche Status der Begriffe „Zusammenarbeit" noch der „gemeinsamen
Aktion" genau definiert, noch das Verfahren der „Europäisierung" einzelner Be-
reiche eindeutig festgelegt. Diese Fülle unscharfer Festlegungen schien so kaum
praktikabel. Kritiker vermuteten, Spinelli habe eine außerordentliche Ausweitung
der Kompetenzen auf die supranationale Ebene vorzunehmen gewollt, so dass

170
Unter Begrenzungsfunktion ist in diesem Kontext (vgl. auch C. Walter, Die Folgen
der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVB1.2(XX). S. 1 ff. 5) zu
verstehen, dass die Verfassung neben ihrer Aufgabe. Herrschaft zu legitimieren und zu orga-
nisieren. die Rechte des Einzelnen vor der von der Mehrheit errichteten Herrschaft schützt.
Sie schreibt verbindliche G r u n d - und Bürgerrechte fest, die die Freiheit des Einzelnen
garantieren und bewahren sollen und die zu diesem Zweck nicht von einer Mehrheit wider-
rufbar sind. Dabei ist essentiell, dass wesentliche Grundrechte wie etwa die im Grundgesetz
festgelegte M e n s c h e n w ü r d e , Art. 1 1 G G . ein „ u n a u f g e b b a r e s Naturrecht" (vgl. IV. Rudzio.
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. 1996. S . 4 4 ) darstellen.
Diese von der Gesellschaft wechselseitig zuerkannten Rechte schützen somit die Minder-
heit v o r d e r ..Tyrannei der Mehrheit" und begrenzen andererseits die Freiheit des Einzelnen,
wenn er den in der Verfassung festgelegten G r u n d k o n s e n s der Gesellschaft gefährdet. Die
jeweilige Ausgestaltung der Grundrechte hängt stark von den Entstehungsbedingungen der
Verfassung selbst ab. Beispielsweise bekennen sich j e n e Verfassungen, welche nach Dik-
taturen entstanden sind, ausführlicher zum Demokratieprinzip und den Menschenrechten
(wie die deutsche, italienische, spanische und portugiesische) als andere (wie etwa die fran-
zösische). s. dazu A. Kimmel, Verfassungsrechtliche R a h m e n b e d i n g u n g e n : Grundrechte,
Staatszielbestimmungen und Verfassungsstrukturen, in: O . W . G a b r i e l / F . Brettschncider.
(Hrsg.). Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen. Prozesse. Inhalte. 1994. S . 2 3 f f . . 24.
1 1
Nahezu 20 Jahre später sollte der umgekehrte Weg beschritten werden, indem man
zuerst eine Grundrechte-Charta erarbeitete, um sich erst anschließend mit deren Einfügung
in eine Verfassung auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu unten B.II.2.f)ii)-
74 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

den ..Mitgliedsstaaten kaum noch Hoheitsgewalt bleibt". Hinter der Fassade der
gemäßigten Formulierungen, mit der nationale Empfindlichkeiten geschont wer-
den sollten, verbarg sich also nicht die Fortsetzung der alten Gemeinschaft, denn
organisatorisch wurde beim Nullpunkt angefangen. 1 7 2

Insgesamt tritt in dem Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus


dem Jahr 1984jedoch der Verfassungscharakter des Vertrages sehr stark hervor. Er
ist als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens konstituiert, als Rahmenord-
nung politischer Einheitsbildung der Union, einer Ordnung, in der Hoheitsgewalt
begründet, begrenzt und zugeordnet, ihre Ausübung legitimiert und organisiert
wird. Der Vertrag beinhaltet schließlich einen umfassenden „Zielekatalog", unter-
streicht aber eben auch gleichzeitig den Grundsatz der Subsidiarität.

Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984


wurde vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen.

(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion

Das am 17. Juni 1984 neu gewählte Europäische Parlament wurde in der dem
Verfassungsentwurf beigefügten Entschließung aufgefordert, alle geeigneten Kon-
takte und Treffen mit den nationalen Parlamenten zu organisieren und jede andere
dienliche Initiative zu ergreifen, um die Haltungen und Standpunkte der natio-
nalen Parlamente zu berücksichtigen. Dieses Verfahren war erforderlich, weil es
sich bei dem Vertragsentwurf ja gerade nicht um einen nach völkerrechtlichen
Grundsätzen von den Regierungen erarbeiteten Text handelte, der den Parlamenten
automatisch und zwingend zur Ratifizierung zugeleitet werden musste. 173

Offensichtlich hatte Spinelli die Strategie verfolgt, von der traditionellen Me-
thode des Völkerrechts abzuweichen. Bereits eine Zwei-Drittel-Mehrheit der EG-
Bevölkerung sollte den Vertrag ratifizieren können, während die Regierungen
lediglich das Datum des Inkrafttretens beschließen sollten (Art. 82). Dementspre-
chend befürchteten die Regierungen eine „natürliche Koalition der Parlamente
gegen die Exekutiven" 74.

Letztlich waren jedoch die zentralistischen Tendenzen ausschlaggebend für das


Scheitern der Entwurfes. Sobald die Beteiligten nämlich den „Unterwerfungscha-
rakter der supranationalen Beschlüsse" erkannten hatten, rückte der erforderliche

172
Vgl. nur U. Everling. Zur Rechtsstruktur einer Europäischen Verfassung, in: Integra-
tion, 1/1984, S. 12 ff.. 13 sowie 23.
173
Die Diskussion, die zum Verfassungsentwurf geführt hatte, hat wesentlich dazu bei-
getragen. die Fronten zwischen denjenigen, die vertragsimmanente Reformen für vordring-
lich hielten und denjenigen, die auf einen vollständigen Neuansatz für die Fortentwicklung
der Integrationen eintraten, zu klären.
174
M. Garthe. Weichenstellung zur Europäischen Union? Der Verfassungsentwurf des
Europäischen Parlaments und sein Beitrag zur Ü b e r w i n d u n g der EG-Krise. 1989. S. 87.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 75

europäische Konsens in unerreichbare Ferne. 1 7 ' So lehnte etwa das dänische


Parlament die Spinelli-Initiative mit der Begründung ab. das Vetorecht und die
bisherige Kompetenzverteilung müsse erhalten bleiben. Ein wesentlicher Grund
für die Ablehnung war die Absicht, die Union mit einem eigenen Haushaltsrecht zu
versehen. Der deutsche Bundestag kritisierte den Entwurf wegen der „Tendenzen
zur Auszehrung national staatlicher Finanzautonomie". 1 7 6

Zudem: Das Ziel, staatliche Verfassungsstrukturen auf die europäische Ebene


zu übertragen, musste auch an der damals unüberbrückbar - heute banal - schei-
nenden Beobachtung scheitern, dass die Union bereits aus Staaten mit eigenen
Verfassungen besteht. So wurden die Verfassungsbestrebungen des Europäischen
Parlaments dem apostrophierten dualen Charakter der Gemeinschaft - suprana-
tional und intergouvernemental - nicht gerecht. Besonders deutlich wird dieses
Realisierungsdefizit eben an der (gescheiterten) Strategie des Europäischen Parla-
ments, die Exekutiven der Mitgliedsstaaten möglichst wenig mit einzubeziehen. 77

cc) Die Einheitliche Europäische Akte (1986)

Trotz der letztlich fehlenden Umsetzung wirkt der Spinelli-Entwurf bis in die
heutige Zeit nach. 17 * Selbst wenn im Jahre 1986 mit der Einheitlichen Euro-
päischen Akte und dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 wichtige

175
G. Zellentin. Überstaatlichkeit statt Bürgernähe. in: Integration. 1/1984. S . 4 5 f f . .
S. 47.
176
Vgl. W. Wessels. Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundli-
nien und Optionen, in: W. W e i d e n f e l d / W . Wessels (Hrsg.), Wege zur Europäischen Union:
Vom Vertrag zur Verfassung?, 1986. S. 37 ff.. 50.
1
IV. Weidenfeld. Die Reformbilanz der Europäischen Gemeinschaft: B u n d e s r e p u b l i k
Europa" als Perspektive?, in: W. W e i d e n f e l d / W . Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen
Union: Vom Vertrag zur Verfassung?. Bonn. 1986. S. 28 ff.. 29.
178
Vgl. auch M. Fuchs/S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Re-
ferat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent, 2002. S. 21 ff..
32: „Noch heute ist der Enthusiasmus und die A u f b r u c h s t i m m u n g der Verfassungsväter für
denjenigen spürbar, der sich der Lektüre des Verfassungsentwurfs unterzieht. Der Entwurf
verfügt über den großen Vorteil, dass er aus einem G u s s und ohne Scheuklappen formuliert
ist. Schon daraus, aber auch aus d e m Entwurf des Europäischen Parlaments aus d e m Jahr
1994. konnte e n t n o m m e n werden, zu welchen integrationspolitischen Leistungen und zu
welchen konstitutionellen Taten parlamentarisch zusammengesetzte Gremien im Vergleich
zu exekutiv zusammengesetzten Organen in der Lage sind." Diese Erkenntnis sollte bei der
20 Jahre später stattfindenden Verfassungsdiskussion noch eine wesentliche Rolle spielen.
Denn die Erarbeitung der Grundrechte-Charta und die Vorbereitung der Regierungskon-
ferenz 2 0 0 4 durch einen mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent
ist auch aus der Einsicht entstanden, ein europäischeres, demokratischeres, transparenteres
und nicht zuletzt effizienteres Verfahren der Vertragsänderung bzw. -fortentwicklung zu
etablieren.
76 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Vertragsfortentwicklungen, die immerhin zur Gründung der Europäischen Uni-


on führten, im Wege der herkömmlichen, schrittweisen und regierungsseitig zu
Stande gekommenen Vertragsergänzung erfolgt sind, kann doch nicht übersehen
werden, dass der Verfassungsentwurf den Prozess, der zur Unterzeichnung der
Einheitlichen Europäischen Akte geführt hatte, ins Rollen gebracht hat.

Die Einheitliche Europäische Akte hatte bekanntlich eine nennenswerte An-


zahl von Vorschlägen aus dem Spinelli-Entwurf übernommen (und etwa die
Stellung des Europäischen Parlaments durch die Einführung des Verfahrens der
Zusammenarbeit bei der Rechtsetzung deutlich verbessert). 1 7 9 Zudem hat der
Verfassungsentwurf - wie der Entwurf aus dem Jahre 1994 - die trivialen, aber
nicht minder bedeutsamen Funktionen erfüllt, den Staats- und Regierungschefs
wiederkehrend konstitutionelle Desiderata vor Augen zu führen und den Unions-
bürgern deutlich zu machen, dass die Konstitutionalisierung der Europäischen
Union und damit ihre zunehmende Demokratisierung und die Erhöhung ihrer
Legitimation und Transparenz grundsätzlich nicht am Parlament und seinen Mit-
gliedern scheitert und auf keinen Fall an den Parlamenten vorbei erfolgen kann. 180
Bis zur Umsetzung dieses ehrgeizigen Anspruches in die Wirklichkeit sollte es
jedoch noch ein langer und steiniger Weg sein - auch des Interessenabgleichs
zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Eine
bedeutungsvolle Etappe auf diesem Weg bildete die Verfassungsdiskussion des
Jahres 1994.

dd) Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der


Vereinigten Europäischen Staaten von F. C r a m m e (1987)

Bevor die Debatte von 1994 ins Blickfeld rückt, verdient allerdings der auf
Eigeninitiative von F. Cromme entstandene Entwurf eines „Verfassungsvertrages
der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten" 181 Aufmerksamkeit. Er

179
Die E E A bereitete letztlich die Europäische Union vor. Eine Union wird bereits als
Ziel in der Präambel genannt. Einige wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge
bestanden in einer Verankerung der Europäischen Politischen Z u s a m m e n a r b e i t und des
Europäischen Rates, einer Ä n d e r u n g des Beschlussverfahrens des Rates für den Binnen-
markt. der E i n f ü h r u n g neue Aufgaben in den Bereichen Umweltschutz. Forschung und
Technologie. Allerdings wurden andere Ziele noch nicht erreicht: Auf das Einstimmigkeits-
prinzip wurde noch nicht vollständig verzichtet und die erweiterten Rechte des EP machten
dieses noch nicht zu einem ..klassischen" Parlament. Die zwölf damaligen Mitgliedstaaten
unterzeichneten die E E A 1986; am I.Juli 1987 trat sie in Kraft. (Abdruck bei A. Schäfer
(Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende
D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 200.11.30).
180
Eine eingehende und umfangreiche - auch empirische - Analyse liefert auch
A.Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union. Der Beitrag des
Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, 2002.
181
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000, 2 0 0 1 . 11.31. Vgl. für die
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 77

basierte auf den bestehenden Gemeinschaftsverträgen, auf dem eben beschriebe-


nen Spinelli-Eniwuri (1984) und der Einheitlichen Europäischen Akte und legte
Schwerpunkte auf die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union
und den Mitgliedstaaten sowie auf eine präzise Festlegung der Kompetenzen
der Organe. Er erweiterte zwar die Befugnisse des Europäischen Parlaments (im
Vergleich z u m Stand der G e m e i n s c h a f t s Verträge von 1987) wesentlich, normier-
te aber trotzdem den Rat als zentrales und entscheidungswesentliches Gemein-
schaftsorgan. Die systematische Gliederung wurde für eine zukünftige Europäi-
sche Verfassung als vorbildlich gewertet.

ee) Der Vertrag von Maastricht (1992)

Am I . N o v e m b e r 1993 ist schließlich der in Maastricht geschlossene Vertrag


über die Europäische Union (vom 7 . 2 . 1 9 9 2 ) in Kraft getreten. Über die ursprüngli-
che Wirtschaftsgemeinschaft hinaus wollten die Mitgliedstaaten mit dieser neuen
Reformübereinkunft die Integration weiter vorantreiben. Kernpunkte sind die
angestrebte Währungsunion, der Einstieg in eine Gemeinsame Außen- und Si-
cherheitspolitik und die engere Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der
Innenpolitik. Die vorhergehenden Debatten lieferten ein Musterbeispiel „euro-
päischer Polyphonie", eine den „Federalist Papers" wenigstens nahe kommende
intellektuelle Begleitung war in der sich weitgehend spiegelbildlich erweisenden
wissenschaftlichen Diskussion nicht erkennbar. 1 "

80er Jahre auch den Verfassungsentwurf von R. LusterlG. PfennigIF. Fugmann. Bundes-
staat Europäische Union. Ein Verfassungsentwurf. 1988.
182
Die zuweilen gezielte Instrumentalisierung von H o f f n u n g e n und Befürchtungen
spaltete die öffentliche Meinung. Frankreich befürchtete eine Übermacht des größeren
Deutschland, die Deutschen lehnten den drohenden Verlust der DM zugunsten eines E C U
ab, Großbritannien sträubte sich gegen eine g e m e i n s a m e Sozialpolitik. Spanien. Portugal
und Griechenland erwarteten m e h r Geld aus dem Kohäsionsfonds, D ä n e m a r k plante sich
von der g e m e i n s a m e n Außenpolitik fernzuhalten. Deutschland und die Benelux-Staaten
begrüßten allerdings den weiteren Schritt hin zu engerer Z u s a m m e n a r b e i t . Die Kontro-
versen spiegelten sich in drei Volksbefragungen wider. W ä h r e n d die Dänen erst nach
einigen Kompromissen in einer zweiten Abstimmung knapp mehrheitlich zustimmten und
auch Frankreichs Referendum mit hauchdünner Mehrheit positiv ausfiel, erreichte die
Mehrheit in Irland 69 Prozent. Vgl. insgesamt zum Maastrichter Vertrag aus der ausufern-
den Literatur: P.M. Huber. Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993; I. Pernice, Maastricht.
Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993). S . 4 4 9 f f : P. Lerche. Die Europäische
Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwi-
schen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, 1993. S. 131 ff.;
H.-J. Blanke. Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein schritt auf d e m Weg zu einem
europäischen Bundesstaat, in: D O V 1993. S. 4 1 2 ff.; Z u m ..Maastricht Urteil" des BVerfG:
R. Steinberger. Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichtes vom 12.Oktober 1993, in: U.Beyerlin u . a . (Hrsg.), Recht zwischen U m b r u c h
und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt. 1995. S. 1313 ff.; R. Streinz, Das Maastricht-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: E u Z W 1994. S. 329 ff.; V. Götz, Das Maastricht-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S. 1081 ff.
78 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Gründe für einen neuen Vertrag waren offensichtlich: Bereits in der Prä-
ambel des EGV von 1957 ist als Ziel angegeben, einen immer engeren Zusam-
menschluss der europäischen Völker zu schaffen. Mit der Einheitlichen Europäi-
schen Akte (1986) und der weitgehenden Vollendung des Binnenmarktes (1993)
waren erhebliche Fortschritte erreicht. Mit dem Zerfall des Ostblocks und der
Öffnung der Grenzen in Europa stellten sich neue Anforderungen an die Zwölfer-
gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewann die Gipfelkonferenz im Dezember
1991 in Maastricht entscheidende Bedeutung. Der nun gültige Vertragstext I s ' ruht
auf drei „Säulen", die hier nur kursorisch wiedergegeben werden sollen:

Die erste Säule umfasst den alten EGV und entwickelt ihn weiter. Statt von
„Wirtschaftsgemeinschaft" sollte nunmehr von einer „Europäischen Union" die
Rede sein. Zu den alten Bereichen Zollunion, Binnenmarkt, Agrarmarkt und
Handelspolitik traten neue Felder der Integration: eine Währungsunion, Verbrau-
cher- und Umweltschutz, Gesundheitswesen, Bildung und Sozialpolitik, wobei
die Zuständigkeiten der Europäischen Union in den einzelnen Politikbereichen
sehr unterschiedlich ausgestaltet waren. Dazu wurde eine „Unionsbürgerschaft" 1 8 4
eingeführt. Neu aufgenommen wurden die Verpflichtungen zu größerer Bürgernä-
he, zur Bildung eines Regionalausschusses sowie zur beschränkten Stärkung der
Rechte des Europäischen Parlaments.

Die zweite Säule bezieht sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier
lagen bereits Erfahrungen aus der Zusammenarbeit im Rahmen der „Europäischen
Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) vor. Der Vertragstext spricht zurückhaltend
davon, in Zukunft eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu
erarbeiten und zu entwickeln. Dabei sollten auch die vorhandenen Strukturen
der Westeuropäischen Union (WEU) genutzt werden. Entscheidungen sollten
einstimmig getroffen werden.

Die dritte Säule sieht eine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik vor.
nennt Stichworte wie Asyl- und Einwanderungsfragen, Kampf gegen Drogen und
Kriminalität und empfiehlt engere polizeiliche Zusammenarbeit. Dabei bleibt der
Einfiuss bei den Mitgliedstaaten. Die Regierungen erklärten sich aber dazu bereit,
sich gegenseitig abzusprechen und gemeinsame Regelungen zu suchen. Diese stark

183
Abdruck B G B l . Nr. 47 v.30. 12. 1992. S. 1254 ff.
184
Vgl. aus d e m Schrifttum P. Hiiberie. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft
und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische G e m e i n s c h a f t auf d e m Weg
zu einem Europa der Bürger?, in: D Ö V 1987. S. 221 f f ; später ders., Der Rechtsstatus der
Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber a m i c o r u m Jost Delbrück.
2005, S. 4 2 9 ff.; vgl. auch M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach d e m Vertrag über die
Europäische Union, in: D Ö V 1993. S. 749 f f : .4. Randelzhofer. Marktbürgerschaft - Uni-
onsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.),
Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995. S. 581 ff.; N. Kotalakidis, Von der nationalen
Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, 2000.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 79

geraffte, aber für den gesamten - auch rechtsvergleichenden - Kontext notwendige


Zusammenfassung lässt kaum etwas ahnen von den überaus komplexen und (nicht
nur) für den Laien schwer verständlichen Vertragsformulierungen. Der Vertrag
brachte die Gründung der Europäischen Union - nicht als supranationale Konstruk-
tion mit eigener Rechtspersönlichkeit, sondern als völkerrechtliche Einrichtung,
der die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften angehören. Er wird durch das „Säu-
l e n m o d e i r veranschaulicht: Die erste, supranational geprägte Säule beinhaltet
die Gemeinschaftsverträge, während die zweite und dritte Säule völkerrechtlich
ausgerichtet sind.

f f ) Die Verfassungsdiskussion 1994 - der Herman-Bericht

(I) Ausgangspunkte der Debatte

Bereits im Hinblick auf die Regierungskonferenz zum Maastricht-Vertrag hatte


das Europäische Parlament mit den Entschließungen vom I I.Juli 1990 und vom
12. Dezember 1990 Leitlinien für einen Verfassungsentwurf vorgelegt. Dieser
wurde im federführenden institutionellen Ausschuss fortentwickelt, im Februar
1994 finalisiert und anschließend dem Plenum vorgelegt. 185 Dieser neuerliche
Entwurf einer europäischen Verfassung - benannt nach dem Berichterstatter des
Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, F. Hennan - war ge-
wissermaßen eine von vielen Antworten auf die Erkenntnis neuer Strukturen und
einer etwaigen Modernisierung Europas, die nach den Umbrüchen von 1989/1990,
den wahrhaft „europäischen Momenten", deutlich geworden war. Der Zusammen-
bruch der Sowjetunion und die Wiedervereinigung Deutschlands hatten innerhalb
der EG die gelegentlich im Stolpern begriffenen Schritte in Richtung auf eine
politische Union beschleunigt, jedoch noch nicht unbedingt stabilisiert. Bereits zu
dieser Zeit waren Wirtschaft und Politik in Europa immer stärker von der Globali-
sierung geprägt, gleichzeitig aber gewannen die Regionen Europas11"6 zunehmend
an Bedeutung. Während nationalistische Kämpfe den Balkan erschütterten, griffen
im Westen Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft um sich. Die Erweiterungs-
pläne der Union auf 16 oder mehr Mitgliedsstaaten und die damit verbundenen
Ängste offenbarten die Notwendigkeit eines institutionellen Umbaus der Union
im Hinblick auf ihre Organisation und ihre Entscheidungsverfahren. Auch der
offensichtliche Krisenzustand, in dem sich die europäische Wirtschaft, vor allem
nach dem Zusammenbruch des EWS, befand, zeigte, dass der Zeitpunkt gekom-
men war, das europäische Aufbauwerk erneut mit „Schwung" zu versehen. Doch
der Weg, der mit Maastricht beschritten wurde, stieß insbesondere in den Parla-

185
Vgl. ABl. Nr. C 6 1 / 1 9 9 4 . S. 155. abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe f ü r die Europäische Union.
Texte und Materialien. Bd. 35 (2002), S. 26 ff.
186
Z u m Regionalismus in Europa vgl. insbesondere P. Häberle, Europäische Verfas-
sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen.
80 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

menten nicht zuletzt aufgrund der übermäßigen Komplexität des Vertragswerkes


auf unverhohlene Skepsis. 187

Nach Maastricht sollte sich auch das Legitimationsproblem intensivieren. Die


Politik der Union betraf immer mehr Lebensbereiche unmittelbar, entzog sich aber
zunehmend der demokratischen Kontrolle, da Kompetenzen sich von den nationa-
len Parlamenten zur Kommission, Ausschüssen und den Exekutiven verlagerten.
Obgleich das Europäische Parlament mit dem Mitentscheidungsrecht in einigen
Bereichen gestärkt und bei der Einsetzung der Kommission ein Bestätigungsrecht
erhielt, blieben seine gestalterischen und kontrollierenden Kompetenzen eher ge-
ring. Die Angst vor einem Souveränitätsverlust spiegelte sich in den knappen
Referenden zur Ratifikation des Maastrichter Vertrages wider.

Als weitere Argumente für den Verfassungsbedarf der Union galten die durch
den Maastricht-Vertrag eingeführte Unionsbürgerschaft und die erforderliche Stär-
kung gemeinsamer Werte sowie die Bildung eines gemeinsamen europäischen
Bewusstseins. Schließlich strebte man an, bis Ende der 90er-Jahre endlich Auf-
schluss über die Finalität der Europäischen Union und ihren Teilnehmerkreis
zu erhalten. Die Verfassungsinitiative vom Februar 1994 hatte daher zum Ziel,
die zunehmend komplexen EG-Strukturen zu systematisieren, damit neue Impul-
se für den Fortgang der europäischen Integration gesetzt und ein einheitlicher
verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen werden konnten. 188

(2) Grundgedanken des Verfassungsentw urfs des Europäischen Parlaments

Im Wesentlichen sollte die „Verfassung" von 1994 die Ziele der Europäischen
Union präzisieren, die Effizienz. Transparenz und demokratische Ausrichtung
der Organe verbessern, die Entscheidungsverfahren vereinfachen und veranschau-
lichen bzw. eine stärkere demokratische Legitimierung des Entscheidungsverlah-
rens gewährleisten sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten
garantieren. Zu den wichtigsten Axiomen des Verfassungsentwurfs zählten dem-
zufolge u.a. die Einführung eines Zwei-Kammer-Systems (Parlament und Rat),
eines Gesetzgebungsverfahrens sowie die transparente Definition einer Rechts-
hierarchie. Darüber hinaus die Abschaffung von Einstimmigkeitsentscheidungen.
Im Hinblick auf die Begrenzungsfunktion hatte das Europäische Parlament bis
1994 auf dem Gebiet der Grund- bzw. Menschenrechte bereits so viele Vorar-
beiten geleistet, dass im Herman-Entwurf ein separater Menschenrechtekatalog
etabliert werden konnte. Weiter versah der Textentwurf den Unionsbürger mit

187
Vgl. nur die Beschlussempfehlung des Sonderausschusses ..Europäische Union
(Vertrag von Maastricht)", B T - D r u c k s . 12/3895. Der verwirrende und unverständliche
Vertragstext hatte nur mit Mühe die Nagelprobe der Referenden in Dänemark und Frankreich
bestanden.
188
Vgl. auch T. Läufer, Z u r künftigen Verfassung der Europäischen Union, in: Integra-
tion. 2 / 1 9 9 4 . S. 204 ff., 205.
II. E c k p u n k t e und G r u n d l a g e n d e r europäischen V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g 81

einer direkten Klagemöglichkeit vor dem EuGH (Art. 38). und der Verstoß eines
Mitgliedsstaates gegen Menschenrechte sollte von Rat und Parlament sanktio-
nierbar sein (Art. 44).

Wie im Entwurf von 1984 nahm die Legitimationsfunktion eine zentrale Stel-
lung ein. Die Legitimität der Legislative sollte durch eine echte Beteiligung der
gewählten Volksvertreter gewährleistet sein, und das Europäische Parlament als
Zweite Kammer eine gleichberechtigte Rolle neben dem Ministerrat erhalten
bzw. das Mitentscheidungsrecht auf alle Verfahren ausgeweitet werden (1984:
Art. 37; 1994: Art. 1 7 - 2 4 ) . Das Europäische Parlament sollte das Programm des
Kommissionspräsidenten billigen, sowie - ähnlich wie im Ad-hoc-Entwurf - ein
Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidenten aussprechen können (1984: Art. 29:
1994: Art. 22 III). Auch die Judikative sollte stärker demokratisch legitimiert
werden, indem die Richter des EuGH zur Hälfte vom Europäischen Parlament
ernannt werden sollten (1984: Art. 30, 1994: Art. 25). Im Gegensatz zu 1984
verstand sich das Europäische Parlament 1994 aber nicht als alleinige verfassungs-
gebende Versammlung, sondern betonte stärker die doppelte Legitimitätsgrund-
lage der Europäischen Union: laut der Entschließung zur Verfassung sollte ein
„Verfassungskonvent" aus nationalen und europäischen Parlamentsabgeordneten,
der Zivilgesellschaft und den Regierungsvertretern auf Grundlage des Entwurfs
eine endgültige Version ausarbeiten (Art. 2).

Der Verfassungsentwurf vermochte einerseits das bisherige EG-System mit einer


ganzen Reihe von Elementen anzureichern, die auf eine künftige Staatlichkeit der
Union wenigstens hinzudeuten wussten. Gleichzeitig sollte aber das politische
System der Union weiterhin auf der Grundlage föderaler Strukturen ausgebaut
werden, wie es in der Etablierung des Zwei-Kammer-Systems zum Ausdruck kam.

Allerdings wies der Verfassungsentwurf nicht unerhebliche Defizite auf. Bei-


spielhaft seien etwa das Fehlen einer klaren Aufteilung und Benennung der
Zuständigkeiten sowie unklare Integrationsziele genannt. Zu erheblichen Diskus-
sionen führte die geplante Aufnahme eines Rechts auf Arbeit oder auf Gründung
einer Familie in den Grundrechtekatalog. Ebenso das damals bereits erwogene
Prinzip der doppelten Mehrheit bei Abstimmungen im Ministerrat. Wie im Spinel-
li-Entwurf fehlte auch 1994 eine genauere Festlegung des Subsidiaritätsprinzips.
Die bisherige Aufteilung der Kompetenzen in gemeinschaftliche und intergouver-
nementale Bereiche blieb zwar bestehen, konnte aber durch das Verfahren der
Verfassungsänderung überwunden werden. Unklar blieb, wie eine Verfassungs-
änderung vor sich gehen sollte. Es erschien denkbar, dass gemäß Art. 31 ein
„Verfassungsgesetz" gemeint war, wonach lediglich eine Zweidrittelmehrheit im
Europäischen Parlament nötig wäre. Über die Kompetenzen in der Außen- und
Sicherheitspolitik sollte zudem schon nach fünf Jahren mit qualifizierter Mehrheit
im Rat entschieden werden (Art. 42).

Mit seinen nur 47 Artikeln erweckte der Entwurf den Eindruck, wesentlich
gestrafft zu sein und damit allen Anforderungen an Transparenz und Klarheit
82 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gerecht zu werden. In dieser Hinsicht stand der Verfassungsentwurf von 1994 der
Verfassung der Vereinigten Staaten am nächsten. Allerdings konnte die geringe
Anzahl von Artikeln nur durch den fast vollständigen Verzicht auf eine nähere
Kompetenzbeschreibung der Union sowie durch die Verschiebung des Katalogs
der Menschenrechte in den abschließenden Schlusstitel VIII erreicht werden. Die
Verweise auf den „gemeinsamen Besitzstand" der bisherigen Verträge standen
mit dem Gebot der Transparenz nur bedingt im Einklang.

(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion

Anders als 1984 verfügte das Europäische Parlament 1994 über keine eindeutige
Strategie zur Durchsetzung des Verfassungsentwurfs. Dies lag unter anderem
daran, dass der Entwurf auch in den eigenen Reihen umstritten war.

Am 10. Februar 1994 wies das Europäische Parlament mit einer Mehrheit von
155 Stimmen für die Entschließung bei 46 Stimmenthaltungen und 87 Gegenstim-
men (von insgesamt 518 Mitgliedern des Europäischen Parlaments) den bereits
zweiten Entwurf an den Institutionellen Ausschuss zurück, u. a. mit der Begrün-
dung. dass es kurz vor der Europawahl und der Auflösung des Parlaments nicht
ausreichend Zeit gebe, zu einer mehrheitsfähigen Fassung des Verfassungsent-
wurfs zu kommen. I S 9 Dabei enthielt der zweite Entwurf bereits weniger ehrgeizige
Ziele als ursprünglich festgelegt. Mit der Entschließung erging jedoch die Forde-
rung an das aus der vierten Direktwahl hervorgehende Parlament, diese Arbeiten

189
Zum Verlauf der Diskussion vgl. ausführlich: M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic, Ein-
leitung. in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-
Verfassungskonvent. 2002. S . 2 1 ff.. 3 6 f f . In seiner Sitzung am 2 . / 3 . D e z e m b e r l 9 9 3 hatte
der Institutionelle Ausschuss den ersten, so genannten Herntan-Entnurf einer Verfassung
a n g e n o m m e n . Die Behandlung des D o k u m e n t s erfolgte in der Plenarsitzung vom 9. Fe-
bruar 1994 und wurde angesichts der fehlenden Sachdebatte von einigen Abgeordneten als
Farce bezeichnet. Auch wenn sich die wichtigsten politischen Akteure im Europäischen Par-
lament an der Debatte beteiligten, so beschränkte sie sich dennoch (anders als die Debatte
um den Maastricht-Vertrag) auf einen relativ kleinen Zirkel von Fachleuten und Politikern.
In der kontrovers geführten Aussprache w u r d e zwar das Ziel, die Verfassungsgrundlagen
der Europäischen Union zu verdeutlichen, generell akzeptiert. Dennoch standen viele dem
Text eher skeptisch gegenüber. Die spürbare Zurückhaltung lag wohl vor allem daran, dass
der Entwurf weder d e m neuen Erwartungshorizont an die Wertentscheidungs- und Rege-
lungskraft einer europäischen Verfassung entgegenkam noch inhaltlich den aktuellen Stand
der politischen Diskussion widerspiegelte. Teilweise wurde bemängelt, d e m Entwurf fehle
es an einer schlüssigen Vision, die über die bestehenden Vertragsgrundlagen hinaus reiche.
Die Diskussion konzentrierte sich zu stark auf institutionelle Reformen und schwierig
zu lösende Legitimationsfragen. Der Entwurf wurde am 9. Februar g e m ä ß Art. 129 der
Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments an den Institutionellen Ausschuss zurück
überwiesen. Der Institutionelle Ausschuss prüfte seinen Entwurf erneut in seiner Sitzung
vom 9. Februar und beschloss, einen zweiten Entwurf vorzulegen. In der gleichen Sitzung
nahm er den entsprechenden Entschließungsantrag an und reichte den Text d e m Plenum
ein.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 83

zu einem Entwurf der Verfassung der Europäischen Union unter Berücksichtigung


der Beiträge der nationalen Parlamente und der Öffentlichkeit fortzusetzen. So
sollte eine breitere Basis für die Ausarbeitung einer Verfassung für die Europäische
Union vorgefunden werden, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Zugleich be-
auftragte das Europäische Parlament seinen Präsidenten, für die breitestmögliche
Verbreitung des Entwurfs zu sorgen. Damit war die öffentliche Auseinanderset-
zung angestoßen und ein Signal vom Europäischen Parlament gesetzt, auch wenn
es sich selbst noch nicht auf eine konkrete Verfassungsperspektive festgelegt hatte.

Es wird gelegentlich übersehen, dass der Entwurf von 1994 nicht das Ziel hatte,
an die Stelle der bestehenden Verträge zu treten, sondern diesen einen Verfas-
sungsrahmen zu geben, der über seine Symbolkraft hinaus auch Erneuerungen
von großer Tragweite bringen sollte. 190 Mit seinem Text ist es dem Institutionel-
len Ausschuss gelungen, klar, kurz und prägnant darzulegen, wie die Befugnisse
der Europäischen Union aufgebaut und verteilt werden könnten, aber auch zu
beweisen, dass sich die Europäische Union in allgemein verständlicher Form orga-
nisieren ließe. Insgesamt stellte der noch nicht ausgereifte Entwurf durchaus eine
solide Ausgangsbasis für die Diskussion dar, die in den darauf folgenden Jahren,
insbesondere bei der Regierungskonferenz 1996, geführt werden sollte. Dennoch
zeigt das Schicksal des Entwurfs, dass die Mitgliedsstaaten noch nicht bereit
waren, sich auch nur ansatzweise die Verfassunggebung aus der Hand nehmen zu
lassen. Bemerkenswert ist allerdings, dass bereits in der Entschließung des Euro-
päischen Parlaments vom 10. Februar 1994 vorgeschlagen wurde, dass „vor der für
1996 vorgesehenen Regierungskonferenz ein europäischer Verfassungskonvent
aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitglieds-
staaten der Union zusammentritt, der auf der Grundlage eines im Europäischen
Parlament vorzulegenden Verfassungsentwurfs Leitlinien für die Verfassung der
Europäischen Union verabschiedet und dem Europäischen Parlament den Auftrag
zur Ausarbeitung eines endgültigen Entwurfs erteilt." 191

Es bleibt festzuhalten, dass die Verfassungsentwürfe von 1984 und 1994 nicht
folgenlos blieben, sondern im positiven, inspirierenden Sinne die Funktion „sym-
bolischer Politik" 192 erfüllten. R. Bieber bezeichnete die Verfassungsdebatte als
„integralen Bestandteil der institutionellen Dynamik" der europäischen Einigung:

190
Die beiden Entwürfe von 1984 und 1994 sahen explizit keine völlige N e u g r ü n d u n g
der EG bzw. EU vor. Die 1984 zu gründende ..Europäische U n i o n " sollte lediglich als Dach
für die E G . das Europäisches Wirtschaftssystem und E P Z gebildet werden. 1994 rückte
das Ziel in den Vordergrund, dem technokratischen Geflecht der weiter geltenden Verträge
einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, deren Ziele zu präzisieren und „Effizienz.
Transparenz und demokratische Ausrichtung zu verdeutlichen", sowie Menschenrechte
und Grundfreiheiten zu gewährleisten, vgl. F. Cramme. Der Verfassungsentwurf des Institu-
tionellen Ausschusses des europäischen Parlaments von 1994, in: Z f G 1995 (3), S. 256 ff.,
257.
191
Vgl. F. Cramme (1995). ebenda.
84 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

als Gegengewichte zur Politik der kleinen, pragmatischen Schritte dienten sie als
Orientierungs- und Kristallisationspunkt, an denen „die politischen und gesell-
schaftlichen Kräfte ihre Erwartungen und Befürchtungen ausrichten konnten". 1 9 3

gg) Der Vertrag von Amsterdam (1997)

Eine weitere Revision der Gemeinschaftsverträge führte die stufenweise Inte-


gration der Unionsbürger nochmals voran. Der Amsterdamer Vertrag 194 wurde am
2. Oktober 1997 unterzeichnet und trat nach Abschluss der Ratifizierungsverfah-
ren in den Mitgliedstaaten am 1. Mai 1999 in Kraft. Eine wesentliche Neuerung
war die Verankerung des „Europas der mehreren Geschwindigkeiten", d. h. eine
Regelung über die Flexibilität der Union. Sie ermöglicht eine individuelle engere
Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten unter genannten Voraussetzungen und
unter Nutzung der gemeinschaftlichen Organe und Verfahren. 1 9 5

hh) Verfassungsbemühungen um die Jahrtausendwende

In der Konstitutionalisierungsdebatte um die Jahrtausendwende finden sich


viele der den bisherigen Entwürfen innewohnenden Argumentationslinien wieder.
Erneut versprach man sich von einer europäischen Verfassung die Lösung struk-
tureller und substanzieller Probleme wie die mangelnde Handlungsfähigkeit der
EU-Organe (insbesondere nach der Osterweiterung), die Kompetenzverteilung
zwischen EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten, das demokratische Defizit und
die fehlende Identifizierung des Bürgers mit Brüssel. Eine konstitutionelle Neu-
gründung wurde darüber hinaus als Antwort auf die Frage „quo vadis Europa?"

192
Zu dieser Bezeichnung siehe auch G. Zellentin. Staatswerdung Europas? Politik-
wissenschaftliche Überlegungen nach Maastricht, in: R. Hrbek (Hrsg.). Der Vertrag von
Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse. Baden-Baden, 1993. S . 4 1 ff.. 48.
193
Vgl. bereits 1991 R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der
Europäischen G e m e i n s c h a f t , in: R. W i l d e n m a n n , (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optio-
nen für eine Europäische Union. Baden-Baden 1991. S. 393 f f . 403; vgl. auch W. Wessels.
Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundlinien und Optionen,
in: W. W e i d e n f e l d / W . Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur
Verfassung?, Bonn, 1986. S. 37 ff.. 66.
194
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.37.
195
Ausführt ich zum Vertrag von Amsterdam: M. Hilf IE. Packe, Der Vertrag von A m s -
terdam. in: N J W 1998. S. 705 ff.; U. Karpenstein. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der
Maastricht-Entscheidung des BVerfG. in: DVB1. 1998. S. 942 ff.; N.K. Riedel. Der Vertrag
von Amsterdam und die institutionelle Reform der Europäischen Union, in: BayVBl 1998.
S. 545 f f , : J . Hecker. Souveränitätswahrung durch Einstimmigkeit im Rat: Der Conseil Con-
stitutionnel zum Vertrag von Amsterdam, in: JZ 1998. S . 9 3 8 ff.: H.H. Ritpp. Ausschaltung
des Bundesverfassungsgerichts durch den A m s t e r d a m e r Vertrag?, in: JZ 1998. S. 2 1 3 ff.;
R. Streinz. Der Vertrag von Amsterdam, in: E u Z W 1998. S. 137 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 85

gesehen, als Mittel, der europäischen Einigung eine neue Vision zu geben und
damit auch die - damals von vielen bereits als erschöpft bezeichnete - Erörterung
der Ungewissheit ihrer Finalität zu beantworten 1 9 6 .

Schon nach dem Beschluss über die Währungsunion im Jahr 1998 hatten Juris-
ten und einzelne Politiker den Gedanke einer europäischen Verfassung verstärkt
aufgegriffen. 1 9 7 Mit der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union
bestätigte nun erstmals die Regierung eines Mitgliedsstaates diesen Gedanken.
Außenminister J. Fischer konstatierte am 12. Januar 1999 vor dem Europäischen
Parlament, dass sich nach Maastricht und Amsterdam die Frage nach einer euro-
päischen Verfassung viel eher stellen würde. Eine Diskussion über die Verfasstheit
Europas werde neue Impulse für die Integration bringen und wichtige Zukunftsfra-
gen klären. 19 * Auf ihrem Parteitag in Erfurt im April 1999 forderte die CDU einen
europäischen „Verfassungsvertrag" für ein „werteorientiertes, bürgernahes Euro-
pa". Am 3. Mai 1999 stellten der damalige CDU-Vorsitzende W. Schäuble und der
außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion K. Lamers in Anknüpfung an
ihr Papier von 1994 ein Strategiepapier zu einem „europäischen Verfassungsver-
trag" vor. 199 Auf Länderebene forderte der Ministerpräsident Baden-W r ürttembergs
E. Teufel eine „europäische Charta, einen europäischen Verfassungsvertrag". 2 0 0

Am 18. Oktober 1999 schlug ein Expertenkomitee unter der Ägide von R. von
Weizsäcker, dem ehemaligen belgischen Premierminister J.-L. Dehaene und dem
früheren britischen Minister Lord Simon of Highbury vor, die europäischen Ver-
träge zu teilen. Im ersten Teil würde der konstitutionelle Gehalt dargestellt, im
zweiten die detaillierten Bestimmungen aufgelistet. 201

196
Die wiederkehrende Diskussion um die Finalität Europas widerspiegeln exempla-
risch die Beiträge im S a m m e l b a n d von H. Marhold (Hrsg.), Die neue Europadebatte.
Leitbilder f ü r das Europa der Z u k u n f t . 2001; vgl. aber auch H.M. Enzensberger. Ach.
Europa!. 1990: E. Morin, Penser l ' E u r o p e . 1990: T.R. Reid. T h e United States Of Europe:
The New Superpower and the End of American Supremacy, 2005; J. Rißein. T h e European
Dream. 2004: A. Szczypiorski, Europa ist unterwegs. Essays und Reden. 1996.
197
Vgl. nur den wenig bekannten Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokrati-
scher Juristen. vgl. dazu Süddeutsche Zeitung. 10. August 1998. S. 4: „Wie w ä r ' s mit einem
Brüsseler Grundgesetz?".
198
Vgl. J. Fischer, Die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft. Rede vor
dem EP in Straßburg. 1999. a b r u f b a r unter www2.hu-berlin.de/linguapolis/ConsIV98-99
/ C o n s 9 8 - 9 9 . h t m . Bevor Fischer zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft erneut vor
dem Europäischen Parlament am 21. Juli 1999 an diese Formulierungen a n k n ü p f t e , hatte
das T h e m a bereits z u n e h m e n d e Bedeutung erlangt.
199
Vgl. den Beschluss des 12. Parteitages 1999 in Erfurt: „Europa muss man richtig
m a c h e n " sowie H'. Schäuble. K. Lamers. Europa braucht einen Verfassungsvertrag, in FAZ
vom 4 . 5 . 1999.
200 Ygj £ Teufel. Regierungserklärung: Die Einheit Europas - Chance und A u f g a b e
für Baden-Württemberg und Deutschland. 28. April 1999 (dazu auch J. Schwarze, Auf dem
Wege zu einer europäischen Verfassung - Wechselwirkungen zwischen europäischem und
nationalem Verfassungsrecht, in: DVB1 1999. S. 1677 ff.. 1679).
86 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

I m V o r f e l d v o n N i z z a ist d i e D i s k u s s i o n ü b e r e i n e e u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g d u r c h
verschiedene Diskussionsbeiträge und vorgelegte Verfassungsentwürfe erneut
angereichert worden. H e r v o r z u h e b e n sind im Wesentlichen die verschiedenen
B e i t r ä g e v o n B u n d e s p r ä s i d e n t J. Ran,102 f e r n e r d i e R e d e n v o n J. Fischer v o r d e r
H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t 2 0 3 , v o n J. Chirac v o r d e m D e u t s c h e n B u n d e s t a g 2 ;4
und von
205
T. Blair in W a r s c h a u E b e n s o zu n e n n e n s i n d d e r B e i t r a g v o n A. Kwasniewski206
u n d s c h l i e ß l i c h d e r g e m e i n s a m e A r t i k e l v o n G. Schröder u n d G. Amato207. F e r n e r
haben bis E n d e 2 0 0 0 verschiedene europäische Parteien Verfassungsentwürfe208

201
R.v. Weizsäcker!J.-L. Dehaene/L. Simon of Highbury, T h e Institutional Implica-
tions of Enlargement. Report to the European C o m m i s s i o n , 18. Oktober 1999. Dieser
Vorschlag löste eine Reihe von neuen Forderungen aus. Bundespräsident J. Ran sprach
sich für eine „föderale Verfassung E u r o p a s " („Die Quelle der Legitimität deutlich m a -
chen", in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999. S. 4) aus. Kommissionspräsident R. Prodi debattierte die
Zweiteilung der Verträge am 10. November 1999 mit d e m Europäischen Parlament, das der
Idee zustimmte. Inzwischen hatte sich im Europäischen Parlament unter d e m Vorsitz des
deutschen M d E P J. Leinen (SPD) ein Ausschuss „Europäische Verfassung" gebildet, der an
der Konstitutionalisierung der EU mitwirken und eine groß angelegte Verfassungsdebatte
in G a n g bringen sollte, vgl. European Parliament, Press Release: Founding of an Intergroup
„European Constitution". Straßburg. 16. September 1999.
202
J.Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: F A Z vom 4 . 1 1 . 1999:
der.v..Une Constitition pour l ' E u r o p e . in: Le M o n d e vom 4. 11. 1999: ders., W i r brauchen
eine europäische Verfassung, in: Die Welt vom 1 5 . 9 . 2 0 0 0 .
203
J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der euro-
päischen Integration. Rede v o r d e r Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt
u. a. in: integration 2000. S. 149 ff.
204
Abgedruckt in: IP. 8/2000. S. 126 ff.
205
T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. a b r u f b a r
unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.htmI.
206
A. Kwasniewski, Der Weg zur Politischen Union, in: FAZ vom 2. 12. 2000.
207
G. Schröder! G. Amato. Weil es uns Ernst ist mit der Z u k u n f t Europas, in: FAZ.
21.9.2000.
208
Lediglich beispielhaft und auf die ergänzende Darstellung P Häberles (Europäi-
sche Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 6 0 0 ff.: vgl. auch ders., Die Herausforderungen
des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer V e r f a s s u n g s - Z u k u n f t : 16 E n t w ü r f e
auf dem Prüfstand, in: D Ö V 11/2003. S. 4 2 9 ff.) verweisend: Entwurf der französischen
Neogaullisten ( R P R ) J. Toubon/A. Juppe. Constitution de l'Union Europeenne. Contribu-
tion ä une reflexion sur les institutions futures de l ' E u r o p e . vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 ( a b r u f b a r
u . a . unterwww.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf): Entwurf der französischen b'DF: „Pro-
jet pour une Constitution de l'Union E u r o p e e n n e " , O k t o b e r 2 0 0 0 (vgl. w w w . u d f - e u r o p e
.net/main/visu_doc.jsp?path=/notreprojet/projet_constitution..\html): Positionspapier der
CDU l CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag: „Europa vereinigen. C h a n c e n und Her-
ausforderungen der E U - E r w e i t e r u n g " ; Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und
Sicherheitspolitik vom 13. 11.2000, Nr. 39, sowie W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in:
FAZ vom 8 . 6 . 2 0 0 0 . Zu den Gründen, w a r u m von sozialdemokratischer bzw. sozialisti-
scher Seite bis dahin keine E n t w ü r f e vorlagen, vgl. H. de Bresson, France-AIlemagne:
difficiles relations entre PS et S P D . in: Le M o n d e vom 7 . 1 2 . 2 0 0 0 . Allenfalls kann^bis
zu diesem Zeitpunkt auf den Antwortbrief von H. Vedrine auf die Rede von J. Fischer
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 87

oder zumindest Positionspapiere zur künftigen Entwicklung Europas vorgelegt.


Und auf einer Konferenz in Berlin im Januar 2001 hat Schröder den Appell für
eine europäische Verfassung prononciert wiederholt. 2 0 9

Auch die Kommission hatte eine europäische Forschungsgruppe 2 1 " mit der
Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt, dessen Inhalte schließlich den Vertrag
über die Gründung der Europäischen Union ersetzen sollten. Der im Mai 2000
vorgelegte Entwurf sah vor. die Substanz der bestehenden Verträge weitgehend
zu erhalten und nur zusammenzufassen bzw. neu zu gruppieren. Den Unions-
bürgern sollte das Primärrecht in vereinfachter und gestraffter Form zugänglich
gemacht werden. Der Vorschlag sah eine Zweiteilung vor, wobei der erste Teil
grundsätzliche Bestimmungen (d. h. eine „Staatsverfassung") und der zweite Teil
die Ausführungsregelungen enthielt. Die Kommission beabsichtigte, mit dem vor-
gelegten Basisvertrag 2 1 1 ein Symbol für die Einheit Europas und die Integration
zu schaffen, das - im Sinne einer „Verfassung" - mit einer noch auszuarbeitenden
Grundrechtecharta eine Einheit bilden sollte. Diesem Vorschlag zum Teil frappie-
rend ähnlich kürzte und vereinfachte die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik
den Basisvertrag und veröffentlichte (ebenfalls) im Mai 2000 ihren Entwurf eines
Grundvertrages für die Europäische Union. Der Text 212 entspricht in seinem einfa-
chen Aufbau eher der Forderung nach einem übersichtlichen und für den Bürger
verständlichen Grundsatzvertrag.

ii) Konstitutionelle „Morgendämmerung" in Europa - die Grundrechtecharta

Insgesamt verstand man es. mit kleinen, gleichwohl ausdruckstarken Schritten


aus dem Schatten inhaltsleerer Rhetorik herauszutreten. Die auf dem Gipfel von
Nizza im Dezember 2000 proklamierte Grundrechtecharta bezeichnete der Vor-
sitzende des Grundrechtskonvents R. Herzog als „einen Teil einer Verfassung von
morgen" 2 1 3 . Nicht nur deshalb bedarf es im Rahmen einer entstehungsgeschichtli-
chen Betrachtung europäischer Konstitutionalisierung einer kurzen Betrachtung
jener Grundrechtecharta. Auf die vorangegangene Betrachtung der amerikani-
schen Verfassungsgeschichte und die Bedeutung der ..Bill of Rights" sei an dieser
Stelle erinnert.

verwiesen werden, vgl. IP. 8/2000. S. 108 ff., bzw. auf das Streitgespräch zwischen Fischer
und J.-P. Chevenement, in: Die Zeit vom 2 1 . 6 . 2 0 0 0 . S. 13.
209
Vgl. dazu etwa Financial T i m e s vom 2 0 . / 2 I . I. 2001.
21
" Vorgelegt vom Europäischen Hochschulinstitut. Robert Schuman Centre for Advan-
ced Studies. Mai 2000.
211
Abgedruckt in Ausschuss fiir die Angelegenheiten der Europäischen Union ( Hrsg.),
Verfassungsentwürfe für die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002).
212
Abgedruckt ebenda.
213
Zitiert nach Die Welt. Herzog schlägt Volksabstimmung über EU-Verfassung vor.
in: Die Welt, 14. September 2000. S. 5.
88 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft beschloss der Europäische


Rat am 4. Juni 1999 in Köln, dass „im gegenwärtigen Entwicklungszustand der
Europäischen Union die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte in ei-
ner Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht werden sollten" 2 1 4 .
Der Beschluss sah vor, „auf der Grundlage der zahlreichen Vorarbeiten | . . . 1 der
EU-Kommission, des Europäischen Parlaments, sowie vieler f . . . ] wissenschaft-
licher und politischer Arbeitsgruppen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten | . . . ]
die heute schon geltenden Grundrechte |zu] systematisieren, in einem Dokument
zusammenzufassen und inhaltlich [zu] erweitern" 2 1 5 . Die Entscheidung zur Grund-
rechtscharta fiel unter dem Eindruck des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags
im Mai 1999: Der Vertrag institutionalisierte zwar neue Grundrechte und inten-
sivierte den Grundrechtsschutz, blieb aber ohne Systematisierung dieser Rechte.
Während der folgenden finnischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des
Jahres blieb die Grundrechtecharta auf der Agenda. Am 15. und 16. Oktober 1999
beschloss der Europäische Rat von Tampere die Zusammensetzung eines „Kon-
vents" 216 , welcher die Charta ausarbeiten sollte, und am 17. Dezember 1999 nahm
dieses Gremium aus Vertretern der nationalen Regierungen, der nationalen Par-
lamente, des Europäische Parlament und der Zivilgesellschaft unter Vorsitz von
R. Herzog seine Arbeit auf. 2 7

(1) Die Sachlage vordem Herzog-Konvent


Zum Zeitpunkt der Einsetzung des „Konvents" existierte noch kein eigener
Grundrechtskatalog der Europäischen Union bzw. der drei Gemeinschaften. Es
gab zwar Bestrebungen in dieser Hinsicht, etwa die gemeinsame Erklärung der
EG-Organe vom 05.04. 1977 218 , die Erklärung des Europäischen Parlaments über
Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.04.1989 2 1 '' und den Grundrechtsteil im

214
Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsitzes,
vgl. europa.eu.int/council/off/conclu/june99/june99_de.htm.
Siehe Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsit-
zes, ebenda. Vgl. auch H. Däuhler-Gmelin, Schwerpunkte der Rechtspolitik in der neuen
Legislaturperiode, in: Z f R 3 / 1 9 9 9 . S. 79 ff.. 84.
216
Freilich gab es bereits verschiedene Expertengremien zur Ausarbeitung von Ver-
tragstexten. Neu war die gleichberechtigte Teilnahme von gewählten Volksvertretern, die
bis dato auf Beratung und auf nachträgliche Z u s t i m m u n g beschränkt waren. Erstmalig
sollten die Parlamente schon bei der Entstehung einer Vertragsänderung als Vermittler
demokratischer Legitimation und Multiplikatoren in die politische Mitverantwortung ge-
n o m m e n werden. Vgl. auch W. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen
zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001, S. 34 ff.
217
Z u d e m beauftragte der neue Kommissionspräsident R. Prodi am I. September 1999
eine Reflexionsgruppe, ein Gutachten über die institutionellen Auswirkungen der E U -
Osterweiterung zu erstellen, deren Verhandlungen nach dem Entschluss des Kölner Rates
bereits mit Beginn der Regierungskonferenz im Februar 2000 a u f g e n o m m e n werden sollten.
218
ABl. 1977 C 103/1
219
Abgedruckt in E u G R Z 1989. 205.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 89

bereits oben benannten Verfassungsentwurf des Europäischen Parlamentes v o m


1 4 . 0 2 . 1 9 9 4 . " ° A u ß e r d e m ist a u f A r t . I A b s . 2 E U V h i n z u w e i s e n , w o n a c h „ d i e
U n i o n d i e G r u n d r e c h t e , w i e s i e i n d e r E M R K g e w ä h r l e i s t e t s i n d u n d w i e sie s i c h
a u s d e n g e m e i n s a m e n V e r f a s s u n g s ü b e r l i e f e r u n g e n d e r M i t g l i e d s t a a t e n als a l l g e -
m e i n e R e c h t s g r u n d s ä t z e ergeben", achtet. Vor der E u r o p ä i s c h e n G r u n d r e c h t e -
charta wurden europäische Grundrechte deshalb hauptsächlich aus den Rechten
der E M R K " 1 sowie aus den so genannten „Gemeinschaftsgrundrechten"222 ab-
geleitet.

220
Vgl. auch C.O. Lenz, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, in:
N J W 1997. S. 3289 f. m . w . N .
221
Die E M R K (mit Zusatzprotokollen) ist im Wesentlichen von allen Mitgliedstaaten
der EU ratifiziert worden und damit verbindlich: in Deutschland hat die E M R K wegen
Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (zur „ G e s e t z e s k r a f t "
vgl. Gesetze über die Konvention ( B G B l . 1952 II 685. 953)). Trotz des formell niederen
R a n g s der E M R K im Vergleich zum Grundgesetz ist heute in Rspr. und Lehre anerkannt,
dass bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklungsstand der E M R K zu
berücksichtigen sind. vgl. nur H. Dreier. vor Art. 1. in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommen-
tar. Bd. I (Art. I - 1 9 ) , 2. Aufl. 2004. Rdn. 22 m . w . N. auf die Rspr. des BVetfG: P Kirchhof \
Verfassungsrechtlicher und internationaler Schutz der Menschenrechte, Konkurrenz oder
Ergänzung?, in: E u G R Z 1994. S. 16 ff., 25f: E. Stäche. Die europäische Menschenrechts-
konvention und ihre Bedeutung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in:
JA 1996. S. 75 ff.. 81 m. w. N.; Sachs. VerfGH L K V 1 9 9 6 . 2 7 3 (275). Außerdem ist auch die
Rspr. der Europäischen Kommission für Menschenrechte ( E K M R ) und des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte ( E G M R ) zu beachten (BVerfG. N J W 1987. 24 (27);
Sachs. VerfGH (1996), ebenda). Zur streitigen Bindungswirkung von Urteilen des E G M R
für das BVerfG vgl. Art 53 E M R K und E u G H . E u G R Z 1997. 83ff („Kranzow"); BVerfGE
92.91, 108 (..Feuerwehrabgabe"); A. Bleckmann. Bundesverfassungsgericht versus Euro-
päischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: E u G R Z 1995, S. 387 ff.
222
Die „ G e m e i n s c h a f t s - G r u n d r e c h t e " ergeben sich teilweise (ausdrücklich) aus d e m
primären Gemeinschaftsrecht, teilweise aus (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrund-
sätzen im Range von primärem Gemeinschaftsrecht, vgl. u. a. EuGH Slg. 1969. 419 (425)
(..Stauder") - unter B e r u f u n g auf Art 164. 2 1 5 A b s . 2 E G V ; Slg. 1970. 1125 (..Handels-
gesellschaft"); Slg. 1974. 491 („Nold"). Abgeleitet werden diese „allgemeinen Rechts-
g r u n d s ä t z e " aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der .Mitgliedstaaten sowie
aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Menschenrechtsver-
trägen. speziell der E M R K in der Auslegung ihrer Organe, z . B . Entscheidungen der
E K M R o d e r des E G M R : vgl. Art. F Abs. 2 E U V (Erweiterung durch Amsterdamer Vertrag
vom 16.06. 1997). Siehe auch EuGH Slg. 1991 I. 2 9 2 5 (..Elliniki"); 1975. 1219 (1232)
(,.Rutiii"). Die materielle Kompetenz des E u G H zur Entwicklung d e r „ G e m e i n s c h a f t s -
grundrechte" ergibt sich aus Art. 164 EGV. Zur Bindungswirkung von Urteilen des E u G H
vgl. EuGH Slg. 1981. 1191 (1215); Slg. 1985, 7 1 9 (747) und statt vieler B. Beutler/Bie-
ber/ J. Pipkorn/J. Srreil, Die Europäische Union. 4. Auflage 1993. Rdnr. 7 . 3 . 3 . 7 . Z u m
EG-Grundrechtsschutz vgl. T. Jiirgensen! I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber
M a ß n a h m e n der Mitgliedstaaten, in: AöR 1996. S. 2 0 0 ff.; Übersicht bei J. Kokott. Der
Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: AöR 1996. S. 599 ff.
90 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Es ließen sich letztlich vier Argumente herauskristallisieren, die Charta als Teil
einer Verfassung von morgen rechtsverbindlich (und von j e d e m Einzelnen vor
dem EuGH einklagbar zu machen 2 2 3 ):

- Die wachsende Macht der EU-Organe in Brüssel sollte einer Kontrolle unter-
werfen werden, die es bislang nicht ausreichend gab.
- Die Komplexität der Verträge erzeugt ein Gefühl der Rechtsunsicherheit. Dem
einzelnen Bürger sollte das Gefühl genommen werden, dieser Macht hilf- und
schutzlos ausgeliefert zu sein.
- Die Defizite des bisher durch die Verträge und den EuGH gewährleisteten
Grundrechtsschutzes sollten beseitigt werden.
- Die deutlichere Darstellung bereits bestehender Rechte, um etwa den Beitritts-
kandidaten die Werte, wofür die Union stehe, klarer zu machen.

(2) Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents

Der Konvent sollte schließlich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungs-
chefs, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 30 Mitgliedern der natio-
nalen Parlamente - zwei aus jedem Mitgliedstaat - sowie einem Beauftragten
des Präsidenten der Europäischen Kommission bestehen."" Von den nationalen
Parlamenten konnten nicht nur die Regierungsparteien, sondern - als stellver-
tretende Mitglieder - auch die jeweilige Opposition beteiligt werden. Jeweils
ein Vertreter des Europarats, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) und des Gerichtshofs der Europäischen Union sollte als Beobachter
teilnehmen. Einzelheiten seines Verfahrens und der Auslegung seines Mandats

223
Anerkanntermaßen gewährleistet die Rechtsprechung des E u G H in Luxemburg seit
Jahrzehnten weitgehenden Schutz gegen die Hoheitsgewalt der Union. Der Gerichtshof
prüft die Rechtsakte der Europäischen Union auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten,
wie sie in der E M R K gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungs-
überlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine G r u n d s ä t z e des Unionsrechts ergeben
(vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV). Selbst Rechtsakte der Mitgliedstaaten unterliegen dieser Prüfung,
soweit sie Unionsrecht anwenden und umsetzen. Dagegen bleiben die Mitgliedstaaten in
den rein nationalen Bereichen der Gesetzgebung nur ihren eigenen Grundrechtsregelungen
unterworfen. Darin lässt sich auch schon im geltenden Unionsrecht ein föderatives Element
erkennen. Das BVerfG hat ausdrücklich anerkannt, dass der E u G H einen d e m G r u n d -
gesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtschutz gewährleistet. Vgl. zu alledem
mit weiteren Nachweisen zu den relevanten Etscheidungen des E u G H und des BVerfG
Ar. Reich, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, in: Z R P 2000.
S. 375 ff. m.w. N. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: W ä h r e n d das Grund-
gesetz wie die meisten staatlichen Verfassungen die G r u n d r e c h t e detailliert regelt, findet
sich in Art. 6 E U V nur der Verweis auf die vorgenannten Rechtsquellen. Für den Bürger
ist dies wenig transparent und voraussehbar. zumal in d e m g e m e i n s a m e n Rechtsraum der
Union mehr als 27 verschiedene Rechtstraditionen z u s a m m e n w a c h s e n sollen.
" 4 Zu Verfahren. Arbeitsweise und Z u s a m m e n s e t z u n g dieses ..Konvents" vgl. W. Dix,
Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration
1/2001. S. 34 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 91

sollte das Gremium nach eigenem Ermessen entscheiden. Von diesem Vorgehen
versprach man sich eine ständige aktive Teilnahme des institutionellen Sachver-
standes und aller großen politischen Richtungen in den Mitgliedstaaten und auf
Unionsebene. Die Parlamente akzeptierten diese Einladung. Das Gremium einigte
sich in seiner konstituierenden Sitzung am 17. Dezember 1999 auf den früheren
Bundespräsidenten R. Herzog als Vorsitzenden und auf ein Arbeitsprogramm.
Auch über die Benennung als „Konvent" und über das Recht der stellvertretenden
Mitglieder, an den Beratungen teilzunehmen, entschied die Versammlung durch
Abstimmung selbst. Die europäischen und die nationalen Parlamentarier wählten
jeweils einen Sprecher in das Präsidium. Die gesellschaftlichen Gruppen und
die Öffentlichkeit wurden arbeitsteilig konsultiert: auf Unionsebene durch das
Präsidium des Konvents, auf nationaler Ebene durch Anhörungen der jeweiligen
Parlamente. Die Sitzungen des Konvents und seine Diskussionsgrundlagen waren
ständig öffentlich und über Medien und Internet zugänglich. Alle Interessierten
konnten sich direkt gegenüber dem Konvent oder mittelbar über seine Mitglieder
zu Worte melden. Das Beratungsverfahren des Konvents war parlamentarisch
geprägt: freie Debatte unabhängiger Persönlichkeiten nach strikten parlamentari-
schen Regeln, die sich der Konvent nach Bedarf selbst auferlegte. Bei aller Schärfe
der sachlichen Auseinandersetzung stand die Suche nach einem möglichst breiten
Konsens im Vordergrund. Abstimmungen über den Entwurf, die im Interesse eines
möglichst breit legitimierten Ergebnisses bis zuletzt vermieden werden konnten,
wären zwar möglich gewesen, jedoch hätte der Konvent die Modalitäten selber
festlegen müssen. Überdies hätte ein Ergebnis, das unter den Regierungsbeauftrag-
ten im Konvent streitig geblieben wäre, die Kontroverse in den Rat verlagert und
wegen der dort erforderlichen Einstimmigkeit den Erfolg des Konvents in Frage
gestellt. Andererseits mussten auch die Regierungsbeauftragten ein Höchstmaß
an Kompromissbereitschaft aufbringen, um isolierte Positionen im Rat und vor
allem auch gegenüber ihren eigenen Parlamenten zu vermeiden. Damit bestanden
auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten beste Voraussetzungen für eine breite
öffentliche Diskussion. Die Öffentlichkeit hatte es allerdings nicht leicht, dem
raschen Verhandlungsgang im Konvent und der teilweise erheblichen Weiterent-
wicklung der Vorentwürfe zu folgen. So brachte auch noch die letzte Verhandlung
am 26. September wesentliche Veränderungen und hat die fast einhellige Billigung
des Textes durch den Konvent erst ermöglicht.

Anlässlich des Europäischen Rates in Nizza am 7. Dezember 2000 hatten die


Unionsorgane die erarbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union
feierlich proklamiert. Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde naturgemäß in
der wissenschaftlichen Literatur, durch die Medien und Politik unterschiedlich
bewertet. 225 Während manche nach der Notwendigkeit dieser Charta fragten.

225
Einen Überblick bieten N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die C h a r t a der Grundrechte.
2002: /. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVB1.2000.
92 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

zumal doch die Grundrechte in der Union und ihren Mitgliedstaaten umfassend
gewährleistet wären, stärkte für die Gegenansicht die Charta den Schutz der
Grundrechte, weil sie die gemeinsamen Grundrechte für alle Unionsbürger in
einer gemeinsamen Sprache klar und verständlich formuliert und damit Vertrauen
in die gemeinsame Rechtsordnung begründet hätte. Für Andere stellte die Charta
und vor allem das neue Konventsverfahren, in dem sie entstanden war, ein Modell
für künftige Vertragsänderungen dar. Sie erhofften sich eine grundlegende Reform
der Union unter breiter Mitwirkung der Parlamente und der Öffentlichkeit. Einige
sahen in der Charta sogar den ersten Schritt zu einer föderativen Verfassung der
Union.

Die Debatte über die gemeinsame Wertebasis der Europäischen Union erreichte
im ersten Halbjahr 2000 unter dem Vorzeichen der Wahl der rechtspopulistischen
FPÖ in Österreich ihren (unrühmlichen) Höhepunkt. Im Zusammenhang mit
den juristischen Problemen, auf welche die Sanktionen der Europäischen Union
gegen Österreich stießen, forderten viele Politiker geeignetere Mechanismen, bei
möglichen Verstößen gegen Grundrechte auch schon vorbeugend tätig zu werden.

Vor diesem Hintergrund verlagerte sich die Diskussion auf den Gehalt und die
Verbindlichkeit der Grundrechtscharta. Hier zeichneten sich zwei Positionen ab:
Die Minimalisten plädierten für die Unverbindlichkeit der Charta (dies forderten
vor allem die Briten und Skandinavier), die Beschränkung auf klassische Ab-
wehrrechte und gegen die Aufnahme sozialer Anspruchsrechte. Die konservativen
Parteien und Wirtschaftsverbände fürchteten, dass die Aufnahme dieser Rechte
zu einer Kompetenzausweitung der Europäischen Union führen könnte."" Für
den maximalistischen Ansatz, welcher neben einem umfassenderen Katalog vor
allem die Verbindlichkeit und Einklagbarkeit der Rechte als ersten Schritt zu
einer Verfassung einforderte, setzten sich Sozialdemokraten und die Grünen, das
Europäische Parlament und die Kommission ein. Auf dem Gipfel von Feira am
19. und 20. Juni 2000 entschloss der Europäische Rat sich dann aber - gegen den
Willen von Deutschland und Frankreich - unter dem Einfiuss der „Minimalisten"
für die Unverbindlichkeit der Charta.

In Frankreich wurde zeitgleich der Vorschlag des ehemaligen Kommissions-


präsidenten J. Delors vom 19. Januar 2000 diskutiert, eine Kerngruppe der sechs

S. 847 ff.; PJ. Tettingen Die Charta der G r u n d r e c h t e der EU. in: N J W 2001, S. 1010 ff.
Siehe auch J. Meyer. K o m m e n t a r zur Charta der G r u n d r e c h t e der Europäischen Union.
2. Aufl. 2005; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 634 ff. Vgl. auch
W. Dix, Eine europäische Charta der Grundrechte, in: Vertretung der Europäischen Kom-
mission. Berlin (Hrsg.). Europäische Gespräche. Berlin Heft 2/ 1999. S. 90 ff.; ders., Grund-
rechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001.
S. 34 ff.
226
Vgl. J. Meyer, Will Europa sein Modell o p f e r n ? Die EU-Grundrechtecharta belebt
die alte Debatte über die Notwendigkeit sozialer Rechte neu, in: Frankfurter Rundschau
vom 2 8 . 4 . 2 0 0 0 .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 93

Gründungsstaaten in der Integration schneller voranschreiten zu lassen, die durch


einen „Vertrag im Vertrag" - nicht einer Verfassung - eine „Föderation der
Nationalstaaten" bilden sollten." 7 Die ehemaligen Regierungschefs H. Schmidt
und - im Hinblick auf seine spätere Rolle nicht ohne Pikanterie - V. Giscard
d'Esiaing stimmten diesem Vorschlag z u . " 8

Die Proklamation der Grundrechtecharta ist im Rückblick, jedoch teilweise auch


im damaligen Verständnis lediglich als Vorstufe zur vertraglichen Regelung oder
Verfassung zu sehen. Sie war notwendig, weil in einigen Mitgliedstaaten weiter-
hin starke Vorbehalte gegen eine vertragliche Verankerung der Charta bestanden.
Grund hierfür war zumeist das Festhalten an einem Verfassungs- und Souveräni-
tätsverständnis, das die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta als weiteren Schritt
zu einem staatsähnlichen Zustand der Union ablehnte. Das rechtsstaatliche Gebot,
die Grundrechte als Beschränkung von Hoheitsrechten möglichst klar und verbind-
lich zu regeln, sollte sich letztlich als das stärkere Argument erweisen. Das gilt
in besonderem Maße für eine überstaatliche Gemeinschaft, die ihre zwangsläufig
größere Bürgerferne überwinden und um Vertrauen und Zustimmung ihrer Bürger
werben muss. Dennoch offenbarten sich auch in dieser Debatte die zu erwarten-
den Widerstände, die sich regelmäßig im europäischen Kontext an Begriffen wie
„Verfassung", „Föderation" und „Souveränität" heraus kristallisieren.

Freilich wurden zu diesem Zeitpunkt - trotz gelegentlich aufflammender Ten-


denzen Unionskompetenzen zu renationalisieren - der Union bereits zahlreiche
„souveräne" Hoheitsrechte übertragen, weshalb ihre Organe allein schon des-
halb zu einem gewissen Grade handlungsfähig, demokratisch und rechtsstaatlich
„verfasst" sein müssen 2 2 9 . Die Mitgliedstaaten haben sich vertraglich verpflichtet,
diesen „Acquis" zu erhalten und seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Dem-
zufolge hat bislang noch jede Vertragsänderung die gemeinschaftlichen Elemente
der Union weiterentwickelt. Als Korrektiv und Grenze dieser Entwicklung wurden
zugleich die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Grund-
satz der Subsidiarität zu fundamentalen Prinzipien der Union erhoben. Dabei gab
es immer schon die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern
einer Vertiefung der Union, zwischen „Integrationisten" und „Souveränisten", die
jedoch zumeist pragmatisch überbrückt werden konnten.

227
Vgl. nur das Interview mit J. Delors in Le M o n d e vom 19. 1.2000.
228
Vgl. J.-L.Arnaud. Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich
bei E r ö f f n u n g der französischen Ratspräsidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10. Notre
Europe. G r o u p e m e n t d ' E t u d e s et de Recherches. Paris, Juli 2 0 0 0 . S. 3. Die C D U hielt an
ihrem Konzept des Verfassungsvertrages fest, was sie auf ihrem Parteitag im Jahre 2000 in
Essen deutlich machte, vgl. Essener Erklärung. Beschluss des 13. C D U - Parteitages, April
2000.
229
Vgl. I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: V V D S t R L 60
(2001), S. 148 ff.
94 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der Grundrechtekonvent hat die Frage, ob ein Schritt zu einer quasi-staatli-


chen Verfassung der Union vollzogen worden wäre, bewusst offen gelassen. Sie
spielte für seine Aufgabe letztlich auch keine fundamentale Rolle. Entscheidend
war allein, wie die Union dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit ihres Handelns
am besten gerecht werden konnte. Die strikte Beschränkung auf dieses Ziel
ermöglichte schließlich auch die Einigung auf eine entsprechend umfassende
Grundrechtecharta und die Genesis eines Textes, der in Klarheit und Verständ-
lichkeit den Grundrechtskatalogen der staatlichen Verfassungen vergleichbar ist,
über die E M R K hinausgeht und für eine spätere Aufnahme in eine Verfassung
grundsätzlich geeignet war. 230

Im Ergebnis erwies sich aber insbesondere das Konventsverfahren als zukunfts-


tauglich.

jj) Mit „Humboldt" nach Nizza?

Mit der (mittlerweile vom Protagonisten selbst grundlegend revidierten) Rede


des deutschen Außenministers J. Fischer an der Berliner Humboldt-Universität am
12. Mai 2000 begann eine weitere Phase der Debatte, in der zahlreiche Spitzenpo-
litiker aus verschiedensten Mitgliedsstaaten dem Drang nachgaben, sich zu Wort
zu melden und individuelle Verfassungskonzepte der europäischen Öffentlichkeit
vorzustellen." ' Aus den Reihen der Staats- und Regierungsschefs eröffnete der
französische Staatspräsident J. Chirac den Reigen derer, die sich zu einer weiter

230
Hätte man sich auf einen Streit um Verfassung und Staatlichkeit der Union eingelas-
sen. so wäre diese Einigung zu dieser Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit gefährdet gewesen,
so auch IV. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?,
in: Integration 1/2001. S. 3 4 f f , 36. Für Dix. ebenda, ist die ..Charta ein weiteres Beispiel,
dass sich die Union auch ohne B e r u f u n g auf staatsrechtlich geprägte Zielvorstellungen
pragmatisch und schrittweise weiterentwickeln kann. H i e r f ü r genügen ihr die schon immer
anerkannten funktionalen Grundsätze der Integration: die Handlungsfähigkeit der Organe,
die demokratische Legitimation, die Rechtsstaatlichkeit und die W a h r u n g der nationalen
Identität der Mitgliedstaaten."
231
Drei Tage vor d e m 50jährigen Jubiläum des S c h u m a n - P l a n s legte Fischer seine
..Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" als „Privatmann" dar. in der er
nicht nur ausdrücklich eine „Verfassung" bzw. einen ..Verfassungsvertrag" forderte, sondern
durchaus konkrete Inhalte und Realisierungschancen nannte, vgl. Fischer. Vom Staaten-
verbund zur Föderation. G e d a n k e n über die Finalität der europäischen Integration. Rede
vor der Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt u . a . in: Integration 2000.
S. 149 ff. Die Rede fand nicht nur innerhalb Deutschlands Zustimmung von den Regierungs-
und Oppositionsparteien (siehe u. a. die Darstellungen in der deutschen Tagespresse: etwa
Frankfurter Rundschau. 1 3 . 5 . 2 0 0 0 : „Mit der Schwerkraft zum Ziel"; Frankfurter Allge-
meine Zeitung. 13.5. 2000: Fischer greift nach dem europäischen Rettungsring"; sowie
Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2000: ..Schäuble lobt Fischers Europa-Idee"), sie provozierte
vor allem auf französischer Seite die unterschiedlichsten Reaktionen. Sowohl in der Sonder-
rolle der Ratspräsidentschaft als auch im Hinblick auf die .Kohabitation' wollte Frankreich
keine Spaltungen durch provokante Visionen hervorrufen und die für Nizza vorgesehenen
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 95

r e i c h e n d e n „ A n t w o r t " a u f d i e G e d a n k e n Fischers a u f g e r u f e n f ü h l t e n . M i t s e i n e r
R e d e vor d e m R e i c h s t a g a m 27. Juni 2 0 0 0 setzte e r sich ü b e r d i e K o h a b i t a t i o n
hinweg und bestätigte, in einigen Jahren w e r d e m a n über einen Text befinden,
den m a n d a n n als erste E u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g p r o k l a m i e r e n könne.232 Ä h n l i c h
a r g u m e n t i e r t e a m 6 . Juli d e r italienische S t a a t s p r ä s i d e n t C a r l o C i a m p i a n d e r
U n i v e r s i t ä t L e i p z i g . E s f o l g t e d e r b e l g i s c h e P r e m i e r m i n i s t e r G . Verhofstadt m i t
einer Rede vor d e m European Policy Center in Brüssel (21. S e p t e m b e r 2000).233
K u r z darauf legte Tony Blair vor der polnischen Börse seine Vision f ü r E u r o -
pa d a r und s p r a c h sich g e g e n e i n e V e r f a s s u n g a u s (6. O k t o b e r 2000).234 Zu den
G e g n e r n e i n e r V e r f a s s u n g z ä h l ( t ) e n n e b e n Blair d e r s p a n i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t
J.M. Aznar d i e ( s p ä t e r e r m o r d e t e ) s c h w e d i s c h e A u ß e n m i n i s t e r i n A. Lindh, s o w i e
eine Minderheit im Europäischen Parlament. Eine nicht unerkleckliche Anzahl
f r a n z ö s i s c h e r S p i t z e n p o l i t i k e r w i e d e r S o z i a l i s t J.-P. Chevenement, d e r d a m a l i g e
f r a n z ö s i s c h e I n n e n m i n i s t e r H . Vedrine u n d d e r e h e m a l i g e K o m m i s s i o n s p r ä s i d e n t
J . Delors s p r a c h e n s i c h z w a r f ü r g r u n d s ä t z l i c h e R e f o r m e n d e s S y s t e m s a u s , h a t t e n
aber bekanntlich gegen die deutschen Vorschläge einer Konstitutionalisierung
argumentiert.

institutionellen Reformen nicht gefährden, vgl. allgemein J.-L. Arnaud, Die Franzosen und
Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei E r ö f f n u n g der französischen Ratsprä-
sidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10, Notre Europe. G r o u p e m e n t d ' £ t u d e s et de
Recherches. Paris. Juli 2000. S. 3. Konservative wie sozialistische Parteien bekundeten in
der französischen Öffentlichkeit ihre Z u s t i m m u n g zu Fischers Konzept. Der Präsident der
konservativen UDF. F. Bayrou, legte - wie bereits erwähnt - mit dem grünen Europaabge-
ordneten D. Cohn-Bendit sogar einen eigenen Verfassungsentwurf vor (dazu J.-L. Arnaud.
ebenda), kurz darauf folgten die Neogaullisten A. Juppe und J. Toubon mit einem ausgear-
beiteten Konzept (..Constitution de TUnion Europeenne". 28. Juni 2000. a b r u f b a r u. a. unter
www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf). Dagegen mündete die skeptische Haltung des da-
maligen französischen Außenministers J.-P. Chevenement in ein offenes Streitgespräch mit
Fischer (dokumentiert in Die Zeit. Dossier. 7. Juni 2000). Nach d e m deutsch-französischen
Gipfel in Mainz, auf dem der französische Staatspräsident Chirac sich positiv zu Fischers
Visionen geäußert hatte, veröffentlichten der britische Premierminister T. Blair und der
spanische Staatschef J.M.Aznar am 13. Juni einen g e m e i n s a m e n Artikel in der Financial
Times und El Mundo, in dem sie sich ebenfalls skeptisch zu Fischers Rede äußerten und
ein gemeinsames Auftreten in der Wirtschaftspolitik signalisierten. Auch das Europäische
Parlament und die Kommission reagierten ambivalent. W ä h r e n d Kommissionspräsident
R. Prodi die Ideen der Rede begrüßte, befürchteten Kollegen, er wolle mit seinen Ver-
fassungsplänen die Kommission abschaffen: ähnliche Befürchtungen äußerten einzelne
Abgeordnete des Europäischen Parlaments (siehe Süddeutsche Zeitung, 16. Mai 2000. S. I:
..Prodi lobt Fischers Rede zu Europa"; sowie Süddeutsche Zeitung. 18. Mai 2 0 0 0 . S. 5:
..Beifall fürs G a n z e . Kritik am Detail").
232
J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. in: FAZ vom 28.6.
2000. S. 10 f.
233
G. Verhofstadt. A Vision for Europe, 21. September 2000. a b r u f b a r unter w w w
.theepc.be.
234
T. Blair, Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. a b r u f b a r
unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.html.
96 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Wenig später folgten Reden des finnischen Premierministers P. Lipponen


(10. November 2000) 2 3 5 und - wie bereits oben erwähnt - von Bundespräsident
J. Rau, der sein konstitutionelles Konzept in Zeitungsartikeln und einer Rede
am 19. Oktober 2000 wiederholt vorstellte.2-1* Das Europäische Parlament und die
Kommission legten in diesem Zeitraum mehrere Stellungnahmen zur Verfassungs-
debatte vor. 237 Zahlreiche Anregungen und Stellungnahmen aus der Wissenschaft
begleiteten diesen Prozess. 238

Mit dem Vertrag von Nizza 239 (Inkrafttreten am 1. Februar 2003) bereitete sich
die Union auf die Aufnahme der damaligen zwölf Beitrittskandidaten vor. Er sollte
somit die Integrationsfähigkeit während der kommenden Erweiterungsphasen
stärken. Der Vertrag enthält wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge
und des Unionsvertrags, vor allem die Größe der Kommission, die gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit,
die Stimmenwägung und Abstimmungsverfahren betreffend. Insgesamt sollten
Legitimität, Effizienz und Transparenz der Gemeinschaftsinstitutionen verbessert
werden. Indirekt war damit die Frage nach der politischen, d. h. der demokratischen
„Verfasstheit" der Union gestellt. 240 Oder anders formuliert: es ging (und geht

235
P. Lipponen, Speech at the College of Europe. Brügge. 10. November 2000. a b r u f b a r
unter www.vn.fi/english/speech/20001110e.htm.
236
J.Rau, Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000:
vgl. ders. Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999: Une
Constitition pour l ' E u r o p e , in: Le M o n d e vom 4. 11. 1999: ders.. W i r brauchen eine euro-
päische Verfassung, in: Die Welt vom 15.9. 2000.
237
So etwa der Bericht des konstitutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments
über die Konstitutionalisierung der Verträge vom 12. O k t o b e r 2000: sowie der Vorschlag
der Kommission zur Neuordnung der Verträge vom 14. Juli 2000.
238
Vgl. auch H. Wagner. Die Rechtsnatur der EU. Anmerkungen zu einer in Deutschland
stattfindenden Debatte, in: Z E u S 2006. S. 287 ff., insbesondere zu den kontraprodunktiven
Wirkungen der Rede J. Fischers.
239
Vgl. etwa die Aufsätze in: M. J o p p / B . L i p p e r t / H . Schneider (Hrsg.), D a s Vertrags-
werk von Nizza und die Z u k u n f t der Europäischen Union. 2001 sowie in: D . M e l i s s a s /
I. Pernice (Hrsg.), Perspectives of the Nice Treaty and the Intergovernmental C o n f e r e n c e
in 2004. 2001; K.H. Fischer. Der Vertrag von Nizza. 2001: R. Gnan. Der Vertrag von Niz-
za, in: BayVBl. 2001. S. 4 4 9 ff.; E. Brök. Die Ergebnisse von Nizza. Eine Sichtweise aus
dem Europäischen Parlament, in: Integration 1/2001, S . 8 6 f f . ; J. Schwarze. Europäische
Verfassungsperspektiven nach Nizza, in: N J W 2002. S. 9 9 3 ff.; T. Bender. Die verstärkte
Z u s a m m e n a r b e i t nach Nizza, in: ZaöRV 2001, S. 7 2 9 ff.; R. Streinz, (EG-)Verfassungs-
rechtliche Aspekte des Vertrages von Nizza, in: Z Ö R 58 (2003), S. 137 ff.; A. Hat je. Die
institutionelle Reform der Europäischen Union - der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand,
in: E u R 2001. S. 143 ff.: P. Schäfer, Der Vertrag von Nizza - seine Folgen für die Z u k u n f t
der Europäischen Union, in: BayVBl. 2001. S. 4 6 0 ff.: H.-G. Franzke. Das weitere Schicksal
des Vertrages von Nizza, in: Z R P 2001. S . 4 2 3 ff.
240
Vgl. U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?,
in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 97

weiterhin) um die Frage der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung innerhalb


der Europäischen Union.

(1) Gründe für ein Debatten-Crescendo

Vor allem zwei politische Entwicklungen von historischem Ausmaß haben


die neuerliche Verfassungsdiskussion entfacht und befördert. Z u m einen die
„Wiedervereinigung Europas" als historische Aufgabe der Erweiterung der Eu-
ropäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas sowie Maltas und Zy-
perns. 241 Als zweites politisches, im besonderen Maße auch - ungelöstes - gesell-
schaftspolitisches Ereignis, das die gegenwärtige Verfassungsdiskussion in der
Europäischen Union entscheidend befördert hat. sticht der 11. September 2001
hervor. Neben zahlreichen anderen Konsequenzen hat dieses schreckliche Ereignis
maßgeblich die Einsicht gefördert, dass innerhalb der Europäischen Union eine
offensichtliche Diskrepanz nicht mehr länger hinnehmbar ist: nämlich einerseits
die Verantwortung einer Weltmacht, andererseits jedoch das evidente Unvermögen
auf Grund ihres institutionellen Geftiges - vor allem im Bereich der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Bereich der Zusammenarbeit Inneres
und Justiz - derzeit dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dieses Missverhält-
nis ist innerhalb einer „europäischen Grundsatzdebatte" kaum den „europäischen
Bürgern" zu vermitteln, es untergräbt auch und vor allem die Glaubwürdigkeit
und den eigenen Anspruch der Union und trägt damit im Ergebnis mit dazu bei,
die Entfernung - zuweilen Entfremdung - zwischen den Bürgern und der Union
zu vergrößern anstatt zu verringern.

Freilich traten weitere Elemente und Überlegungen hinzu, die letztendlich die
Auffassung manifestierten, dass die Zeit für die formale Konstitutionalisierung der
Europäischen Union überreif sei. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an
die Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen 2 4 2 , die zu einer politischen Auf-

241
Siehe zur EU-Osterweitcrung angesichts ausufernder Literatur die Bibliographie
im ..Dresdner Internetportal zur EU-Osterweiterung", a b r u f b a r unter dipo.tu-dresden.de/
browse.php?topic=Literature. Mit grundsätzlichen Erwägungen / / . Roggemann. Verfas-
sungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West. 1996.
S. 177 ff.: A. StölzlB. Wieser (Hrsg.), Verfassungsvergleichung in Mitteleuropa. 2000. Zu
den einzelnen osteuropäischen Staaten vgl. den Literaturhinweis bei P. Häberle. Europäi-
sche Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 217 Fn. 93. Vgl. zu den jüngsten Erweiterungs- und
Fortschritten der Länder des westlichen Balkans K.-T. zu Guttenberg. Vorsichtig in die
Unabhängigkeit, in: Die Welt vom 8. 10. 2005 sowie ders.. Eine Lösung für den Kosovo,
in: Berliner Zeitung vom 1 8 . 2 . 2 0 0 6 .
2 2
~ Dazu aus der neueren Lit.: M. Zuleeg, Der rechtliche Z u s a m m e n h a l t der EU. 2004.
S. 58 ff.; M. Nettesheim. Kompetenzen, in: A. von Bogdandy. Europäisches Verfassungs-
recht. 2003. S. 4 1 5 ff.; C. Triie. Das System der E U - K o m p e t e n z e n , in: ZaöRV 64 (2004).
S. 391 ff.; vgl. auch /. Pernice, Kompetenzregelung im Europäischen Verfassungsverbund,
in: JZ 2000. S. 8 6 6 ff.
98 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wertung der Union führten, die Einführung einer Unionsbürgerschaft 2 4 1 und die
Herausbildung eines europäischen Bewusstseins sowie die an Resonanz gewinnen-
de Überzeugung, dass mit zunehmender Ausweitung des demokratischen Defizits
Vertragsänderungen nicht mehr wie bisher durchgeführt werden konnten. Das
Bewusstsein über die Notwendigkeit einer verfassungsgestaltenden und letztlich
verfassungsmäßigen „Generalüberholung" der Union sowie die Erkenntnis, die
Union sollte den Geboten von Transparenz, Effizienz und Demokratie wahrhaftig
genügen, reifte in den vergangenen Jahren über die Ebene einzelner Staats- und
Regierungschefs hinaus auch in der Wahrnehmung einer beträchtlichen Mehrheit
der Bürger in der Europäischen Union 244 .

Es ist müßig darüber zu debattieren, ob eine solche, mit aller Konsequenz geführ-
te Verfassungsdiskussion bereits zu Beginn der europäischen Einigung zu einer
Blockierung des Integrationsprozesses geführt hätte, noch bevor er richtig begon-
nen worden wäre. Gleichwohl war die schrittweise Integration in der Gründerphase
der europäischen Einigung, die oftmals so apostrophierte „Monnet-Methode" 2 4 5 ,
während dieses Abschnittes der europäischen Integration insgesamt die adäquate
Methode. Es wäre allerdings ein allzu offensichtliches Versäumnis, die in die-
sen evolutionären Entwicklungsschritten bereits enthaltenen verfassunggebenden
Elemente zu verschweigen 246 , weshalb in den vorangegangenen Kapiteln entspre-

24?
Siehe den 3. Bericht der Kommission Uber die Unionsbürgerschaft v. 7.9.2001
( K O M (2001) 506) sowie aus d e m S c h r i f t t u m P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Markt-
bürgerschaft und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische Gemeinschaft auf
dem Weg zu einem Europa der Bürger?, in: D Ö V 1987. S. 221 ff.; später ders., Der Rechts-
status der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber a m i c o r u m Jost
Delbrück. 2005. S . 4 2 9 ff.; vgl. auch M. Degen. Die Unionsbürgerschaft nach d e m Vertrag
über die Europäische Union, in: D Ö V 1993, S. 7 4 9 ff.; A. Randelzhofer, Marktbürger-
schaft - Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke
(Hrsg.). Gedächtnisschrift f ü r Eberhard"Grabitz, 1995. S . 5 8 1 ff.; Ar. Kotalakidis. Von der
nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. 2000.
244
Von der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung überzeugt zeigten sich 2002
nach der 56. Ausgabe des Eurobarometers 2 / 3 der Bevölkerung, vgl. Bulletin Quotidien
Europe Nr. 8 1 9 2 v. 1 5 . / 1 6 . 4 . 2 0 0 2 . S. 7 und Nr. 8 1 9 4 v. 1 8 . 4 . 2 0 0 2 . S. 6.
245
Ein Vorgehen, das die Union schrittweise, orientiert am jeweils Machbaren und ohne
die Beteiligten zu überfordern, fortentwickelt, aber umgekehrt auch zu derjenigen Unüber-
sichtlichkeit des Vertragswerks beigetragen hat. die zu einem weiteren ernst zu nehmenden
Argument für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion wurde. Vgl. zur sog. ..Monnet-
Methode ; " u. a. W. Wessels. Jean Monnet - Mensch und Methode. 2001.
246
Neben den grundlegenden E r w ä g u n g e n und in dieser Hinsicht Pionierwerken
PHäberles (vgl. nur ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 3 6 f f . ) hebt
diese verfassunggebenden E l e m e n t e etwa auch A. Peters. Elemente einer T h e o r i e der
Verfassung Europas. 2001 hervor, die Z ü g e einer ..Kontinuierlichen Verfassungsgebung"
konstatiert und eine „Konstitution durch Evolution" (S. 3 7 5 ff.) sowie eine ..Legitimati-
on durch B e w ä h r u n g " (S. 5 8 0 ff.) postuliert. Grundsätze, nach denen der Union bereits
heute unstreitig Verfassungsqualität zukommt; vgl. dazu lediglich noch /. Pemicef P.M. Hu-
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 99

chende Hinweise zu geben waren. Der zu Beginn des neuen Jahrhunderts dem spä-
teren Verfassungskonvent zugrunde liegende Diskussionsstand ist angesichts der
einzelnen und bereits wie im Folgenden angerissenen „verfassungshistorischen"
Stufen als bislang konkretestes und entsprechend erfolgversprechendes Szenario
zu erachten gewesen 247 (das vorübergehende Scheitern und Aussetzen des Verfas-
sungsvertrages im Dezember 2003 sowie des Vertrages von Lissabon läuft dieser
Beobachtung nicht entgegen - vielmehr hat sie durch die Intensivierung der inhalt-
lichen Auseinandersetzung eine Manifestierung erfahren). Insgesamt gestaltet sich
spätestens seit dem Vertrag von Nizza die Diskussion sehr viel politischer als zu-
vor und steht unter einem sehr viel größeren - nicht nur zeitlichen - (Erwartungs-)
Druck.

Im Vorfeld der erneuten Verfassungsdebatte rückten vier qualitativ unterschied-


liche Herangehensweisen zur Reform der Vertragsstruktur ins Blickfeld:

- Redaktionelle Vereinfachungen, wie sie in Amsterdam 2 4 8 begonnen wurden.


- Fusionsmodelle, die die wichtigsten Verträge (EUV. EGV, EGKSV, EAGV)
in einem Vertrag zusammenführen und dabei weniger wichtige Bestandteile
z. B. Protokolle ausgliedern.
- Grundvertragsmodelle, die eine rechtsqualitative Zweiteilung in einen Kernver-
trag mit den konstitutionellen Bestandteilen der Gemeinschaftsverträge sowie
in einen oder mehrere Ausführungsteile vorsehen, deren Revision dann auch
unterschiedlich strengen Anforderungen genügen muss.
- Schließlich Verfassungsmodelle, die einen neuen Text generieren, der in der
Regel von einer verfassungsgebenden Institution (z. B. Konvent) erarbeitet
wird - wobei allerdings unterschiedliche Leitmotive zu unterschiedlichen Lö-
sungsmodellen führen.

Diese vier Optionen sahen sich auch um die Jahrtausendwende mit Überlegun-
gen konfrontiert, die bereits in den vergangenen Jahrzehnten mit mehr oder minder
hoher Intensität in der Diskussion standen. So sollten redaktionelle Vereinfachun-
gen oder eine reine Fusion der vorhandenen Vertragstexte nicht ausreichen, um das
notwendige Maß an Vereinfachung und Transparenz zu schaffen. Verfassungsmo-
delle oder sogar eine damit verbundene „Neugründung" der Europäischen Union

ber/G. Lübbe-Wolff /C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in:


VVDStRL 60 (20Ö1) und H. SteinbergerlE. Klein! D. Thürer. Der Verfassungsstaat als
Glied einer europäischen G e m e i n s c h a f t , in: V V D S t R L 50 (1991).
247
Zutreffend diesbezüglich auch J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung einer
europäischen Verfassungsordnung. 2000. S. 13, 182, ders., Europäische Verfassungsper-
spektiven nach Nizza, in: N J W 2 0 0 2 . S. 9 9 3 ff.; ein wenig zu skeptisch bezüglich des
politischen Willens für ..konstitutionalisierende europäische Verträge" : W. Graf Vitzthum.
Die Identität Europas, in: EuR 2002. S. 1 ff.. 16.
248
Im Einzelnen U. Karpenstein. Der Vertrag von A m s t e r d a m im Lichte der Maas-
trichtentscheidung des BVerfG. in: DVB1 1998, S. 9 4 2 ff.: R.Streinz, Der Vertrag von
Amsterdam, in: J U R A 1998. S. 57 ff.
100 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

hätten sich hingegen stets an der politischen Durchsetzbarkeit zu messen. Dies wür-
de grundsätzlich bedeuten, den notwendigen, eigenen Befindlichkeiten folgenden
Ratifikationsprozess bereits im Vorfeld im Auge zu behalten und den Mehrwert
gegenüber den bestehenden, in fünfzig Jahren ausgebildeten Vertragsgrundlagen
der „europäischen Bevölkerung" verständlich darzustellen.

(2) Die politische Dimension der Verfassungsdebatte

Der Weg zum Verfassungsvertrag ist - ebenso wie das amerikanische Vor-
bild - neben allen verfassungsrechtlichen Aspekten - ein höchst politischer, wes-
halb dieser - gerade auch angesichts des Wechselspiels zwischen Politik und
Verfassungsrecht 2 4 9 - wenigstens in Ansätzen aufgezeichnet werden soll.

Die Diskussion, ob Europa tatsächlich einer Verfassung bedarf und was deren
Vor- und Nachteile sein könnten, wurde erschöpfend geführt. 2 5 0 Aus politischer
Sicht ist allerdings hervorzuheben, dass mit einem abgeschlossenen Verfassungge-
bungsprozess auch eine Manifestierung der „Politisierung" der Europäischen Uni-
on einherginge 2 5 1 und dass dadurch ihre Legitimität erhöht würde, entsprechend

249
Dazu auch unter B . I I . 2 . f ) j j ) ( 4 ) sowie unter B . I V . 2 . b ) c c ) ( 2 ) .
250
Die Lit. ist Legion : vgl. etwa D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in:
JZ 1995, S . 5 8 1 ff.; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht
sie eine?, in: EuR 2000, S. 311 ff.; T. Stein, Europas Verfassung, in: Festschrift Krau-
se. 2000. S. 233 ff.: G. Hirsch. Kein Staat, aber eine Verfassung, in: N J W 2 0 0 0 . S . 4 6 f . ;
P. Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien. 1999: W. Hertel, Suprantiona-
lität als Verfassungsprinzip. 1999. Siehe auch G. C. Rodriguez Iglesias, Z u r „Verfassung"
der Europäischen G e m e i n s c h a f t , in: E u G R Z 1996. S. 125 ff.; ders.. Gedanken zum Ent-
stehen einer Europäischen Rechtsordnung, in: N J W 1999. S. 1 ff.: /. Pernice. Die Dritte
Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996. S . 2 7 f f . ; T.Schilling, Die
Verfassung Europas, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996. S. 3 8 7 ff.; A. von
BogdandyIM. Nettesheim. Die Europäische Union: Ein eineheitlicher Verband mit eigener
Rechtsordnung, in: EuR 1996. S. 3 ff.; P.M. Huber. Differenzierte Integration und Flexibili-
tät als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, in: EuR 1996. S. 347 ff.: R. Hrbek
(Hrsg.). Die Reform der Europäischen Union. 1997; H. Heberlein. Regierungskonferenz
1996: Eine Neue Verfassung für die Europäische Union? (Tagungsbereicht), in: BayVBl.
1997. S . 7 8 f f . Vgl. auch 1. Pernice, Vertragsrevision oder Verfassunggebung?, in: F A Z
vom 7.7. 1999; J.H.H. Weiler, T h e Constitution of Europe. 1999. Siehe auch die Sammel-
bände von J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer euopäischen Verfassungsordnung,
2000; J. SchwarzeIP.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Verfassungsentwicklung. EuR
Beiheft 1, 2000; R. Herzog!S. Hobe (Hrsg.). Die europäische Union auf dem Weg zum ver-
fassten Staatenverbund: Perspektiven der europäischen Verfassungsordung, 2004: M. Jopp.
S. Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa - Analysen zur Konstitu-
tionalisierung der EU. 2005. Von manchen als ..klassisch" bezeichnet: P. Pescatore, Die
Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht - ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Per-
spektive des Europäischen Gerichtshofs, in: W.G. G r e w e / H . H. Rupp. H. Schneider (Hrsg.),
Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher. 1981. S. 319 ff.
251
Vgl. auch 5. Goulard. C. Lequesne, Une Constitution europeenne. si et seulement
si . . . , in: Politique etrangere, n° 2, 2001, S. 1 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 101

der Maßgabe, dass dort, wo (europäisches) Recht gilt und durch- bzw. umgesetzt
wird, auch der (verfassungsmäßige) Ursprung dieser Rechtsetzung offensichtlich
sein muss. 2 5 2 Zudem bedeutet die Realisierung der europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion einen qualitativen Integrationsschritt, der steter politischer Be-
gleitung bedarf. Und drittens ist zu betonen, dass eine europäische Verfassung der
Europäischen Union, die sich als Staaten-, aber auch als Bürgerunion versteht, den
europäischen Bürgern die Souveränität über den europäischen Integrationsprozess
zurückgeben würde.

Denn eine europäische Verfassung bedeutet im Gegensatz zu den bestehen-


den Europäischen Verträgen insofern eine qualitative Veränderung bezüglich der
Legitimität, als dass eine Verfassung normalerweise Ausdruck von Volkssouve-
ränität und damit, in der besten Tradition von J. Bodin und T. Hobbes, Ausdruck
eines freien Volkswillen ist. 253 Idealiter würden nicht mehr seine Hoheit, der
König von Belgien, ihre Majestät, die Königin von Dänemark, noch der deutsche
Bundeskanzler oder der französische Staatspräsident dann ein Vertragsdokument
unterzeichnen, sondern die europäischen Bürger, ähnlich wie es in dem fiktiven
Verfassungsentwurf („We, the people of Europe . . . " ) , den der britische Econo-
mist veröffentlichte 2 5 4 , zum Ausdruck kam. Eine bewusst gesetzte Analogie zum
amerikanischen Verfassungstext.

Politisch sprach (und spricht) indes dagegen, dass die Diskussion über eine
Europäische Verfassung vor allem von den Gegnern einer tiefer gehenden Inte-
gration dazu genutzt werden konnte, indirekt, insbesondere über die Frage der
Kompetenzabgrenzung, eine versteckte Renationalisierungsdebatte zu führen. 2 5 '

An dieser Stelle soll nunmehr ein vertiefender Blick aus der politischen Praxis
die wissenschaftlichen Schilderungs- und Gestaltungsversuche ergänzen.

Manche (wissenschaftlichen) Protagonisten gehen in selten offener Selbstbe-


trachtung gar soweit, den Beitrag der Wissenschaft zur Verfassungsentwicklung
als eher gering einzuschätzen. D. Freiburghaus stellte lakonisch fest, die Wis-

252
Vgl. J. Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung. 4. 11. 1999: ders.,Une Constitition pour l ' E u r o p e . in: Le M o n d e . 4. 11. 1999:
ders., W i r brauchen eine europäische Verfassung, in: Die Welt, 1 5 . 9 . 2 0 0 0 sowie A. von
Bogdandy, A B i r d ' s Eye View on the Science of European Law, in: European Law Journal.
Bd. 6. Nr. 3. S e p t e m b e r 2000. S. 208 ff., 2 1 5 ff.; vgl. auch die ..Mailänder Erklärung zur
Europäischen V e r f a s s u n g " von DGAP. ifri und ISPI. 28. 11. 2000, a b r u f b a r über: w w w
.dgap.org. Stichwort: „European Constitution Watch".
253
Siehe auch U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln f ü r den alten
Kontinent?, in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
254
A Constitution for the European Union, in: T h e Economist, 28. 1 0 . 2 0 0 0 . S. 22.
255
Der luxemburgische Premierminister J.-C.Juncker formulierte in der Financial
T i m e s Deutschland vom 16. 1.2001: „Die Regierungskonferenz 2 0 0 4 darf keine Abbau-
konferenz werden".
102 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

senschaft begleite diese Prozesse wie ein Chor in der griechischen Tragödie,
habe jedoch auf die Handlung kaum Einfluss. 256 Gleichwohl: Die Juristen haben
auch unter praktischen Aspekten fraglos am meisten beigetragen. Die Ökonomen
gelegentlich. Die Politikwissenschaft leidet darunter, dass sie eigentlich nicht
Wissenschaft von der Politik, sondern zunehmend Wissenschaft des modernen
Staates ist. Soweit ..Europa" (in klaren Grenzen) staatsähnlich ist, erwuchs und
erwächst freilich überaus konstruktive Begleitung.

(3) Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Auseinandersetzung

Es überrascht kaum, dass unterschiedliche Vorstellungen über die endgültige


Gestalt Europas auch die politische Debatte prägten. Sie sollen in der Folge syste-
matisiert werden. Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass zuerst das Ziel
der Integration feststehen musste, an dem sich die verfassungsmäßige Organisation
europäischer Macht folglich ausrichten sollte. „Man kann ( . . . 1 keine institutionel-
le Architektur [ . . . ] vorschlagen, ohne zuvor über den politischen Sinn, den man
Europa zu verleihen wünscht, nachgedacht zu haben" (L. Jospin)2-'. Mit dersel-
ben Stoßrichtung äußerte sich auch K. Biedenkopf: „Man kann keine Verfassung
schaffen, ohne zu wissen, was verfasst werden soll". 258 Alle genannten Akteu-
re verfolgten letztlich die - banale - Absicht, einen „Klärungsprozess darüber
einzuleiten, wozu die Einigung Europas überhaupt gut ist" 259 .

Neben dem deutschen Außenminister J. Fischer der in einfachen Worten


betonte, die Integration sei jetzt „an einem Punkt angelangt, wo unsere Bürger
genauer wissen wollen, wohin die Reise geht und wie das Ziel aussieht" 260 und
deshalb eine Antwort auf die Frage „quo vadis Europa?" vonnöten sei 261 , stellten
andere politische Protagonisten die Frage nach einer europäischen Vision, welche

256
D. Freiburghaus, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaf-
ten zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässlich
des 10 Jahre J u b i l ä u m s des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur
europäischen Integration. Nr. 66, 2003, S. 60 f., 60. Anders allerdings S. Volkmann-Schluck,
Die Debatte um eine europäische Verfassung. C A P - W o r k i n g Paper. 2001.
257
L Jospin. Rede zur „ Z u k u n f t des erweiterten Europas", 2 8 . 5 . 2 0 0 1 , a b r u f b a r unter
www.franco-allemand.coni/de/de-traite-jospineurope2001.htm.
258
K. Biedenkopf. Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Her-
ausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin. 4. De-
z e m b e r 2000. S . 3 .
259
H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderati-
on - oder was sonst?, in: Integration 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 171.
260
J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor
der französischen Nationalversammlung, 20. Januar 1999, im Internet a b r u f b a r unter w w w
.auswaertigesamt.de/www/de/infoser\ , ice/download/pdf/reden/1999/r990120a.pdf.
261
J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. G e d a n k e n über die Finalität der
europäischen Integration, in: Integration 3 / 2 0 0 0 . S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In
welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?, 2001, S. 299 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 103

beantworten soll, „in welchem Europa wir leben wollen", und die zu „weiteren
Anstrengungen veranlasst und diese rechtfertigt" 262 .

Weitergehende Gedanken über die „Finalität" der europäischen Einigung mach-


ten sich auch die Verfassungsskeptiker wie etwa T. Blair: „Wenn wir uns nicht
zuerst die grundlegende Frage nach der Richtung stellen, welche Europa einschla-
gen soll, verirren wir uns im Dickicht des institutionellen Wandels." 2 6 3

Die Überlegungen zur endgültigen Gestalt Europas richteten die unterschiedli-


chen Akteure letztlich an differierenden Leitbildern aus. Leitbilder oder „europäi-
sche Ideale", die nicht nur die Erwartungen der Beteiligten an die Entwicklung der
Integration ausdrückten; sie sollten auch die Rolle der Institutionen im Prozess der
Gemeinschaftsbildung ausdrücken helfen und den Grad der Kohärenz des jeweils
erreichten Entwicklungsstandes mit den jeweiligen politischen Erwartungen der
Bürger widerspiegeln. 2 "

(a) Das Ideal einer „Föderation von Nationalstaaten"

Mit dem Leitbild einer „Föderation von Nationalstaaten" suchten u. a. J. Delors,


J. Fischer, J. Rau und L. Jospin einen Abgleich mit ihren Vorstellungen über
die Finalität der Integration. Der Begriff „Föderation" erscheint zunächst als
Tabubruch, denn er erweckt den Eindruck, als würde der aus der Europapolitik
verbannte Gedanke eines Europäischen Bundesstaates als Gegenstand politischer
Gestaltungsperspektiven wiederbelebt. 2 6 5 Tatsächlich zeigte sich Fischer der den
Begriff in seiner Humboldt-Rede aufwirft, inspiriert von der bundesstaatlichen
Rhetorik der Nachkriegszeit. Er bezieht sich auf die „Europäische Föderation, die
R. Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat" 266 .

262
So J. Chirac. Z u m zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2 0 0 0 in
der Semperoper in Dresden. 3. Oktober 2000. a b r u f b a r unter http://www.sachsen.de/de/bf
/reden_und Jnterviews/redenOO/10-C.htm.
263
T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau. 6. Oktober 2000. ebenda.
264
Vgl. dazu auch J.Janning, Leitbilder der europäischen Integration, in: W. Weidcn-
f e l d / W . Wessels (Hrs^.). Europa von A-Z. Taschenbuch der Europäischen Integration. 1997.
S. 2 5 3 ff., 258.
265
So P. C. Midler-Graff. Europäische Föderation als Revolutionskonzept im europäi-
schen Verfassungsraum?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 157 ff., 157.
26,%
J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. G e d a n k e n über die Finalität der
europäischen Integration, in: Integration 3 / 2 0 0 0 . S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In
welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?. 2 0 0 1 . S. 2 9 9 ff. Dieser
Logik folgend, fordert Fischer zunächst staatsähnliche M e r k m a l e f ü r diese Föderation:
..Ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetz-
gebende und exekutive Gewalt [ | ausüben". Im Laufe der Rede macht Fischer j e d o c h
deutlich, dass er mit ..Föderation" schließlich etwas anderes meint: ..Die bisherige Vorstel-
lung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten
und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein Konstrukt jenseits der gewachsenen
104 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

F i s c h e r s L e i t b i l d ist i n s e i n e r B e r l i n e r R e d e v o m I n t e r e s s e g e p r ä g t , d e n N a t i o -
nalstaat auch bei einer verstärkten Integration zu erhalten: „Die Nationalstaaten
w e r d e n fortexistieren und in der Föderation einen stärkeren R a n g haben als die
Bundesländer". Vor d i e s e m Hintergrund wird erklärbar, dass etwa Abgeordnete
d e s E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t s Fischer v o r w a r f e n , d a s v o n i h m e n t w o r f e n e E u r o p a
sei k e i n e F ö d e r a t i o n , s o n d e r n e i n e „ l o c k e r e K o n f ö d e r a t i o n v o n N a t i o n a l s t a a t e n
im Sinne von de Gaulle"267.

Fischer b e m ü h t e s i c h m i t s e i n e r u n o r t h o d o x e n V e r w e n d u n g d e s B e g r i f f s „ F ö -
deration" um ein vermittelndes Leitbild, das über „Entweder-Oder-Sichtweisen
hinausführt"268. Bereits im Januar 1999 hatte er darauf hingewiesen, es g e h e ihm
„ n i c h t d a r u m , e i n e n e u e F ö d e r a l i s m u s - D e b a t t e z u e n t f a c h e n . E u r o p a ist b e r e i t s
zu weit entwickelt, um sich in K a t e g o r i e n wie S t a a t e n b u n d und Bundesstaat ein-

politischen Realitäten". Statt dessen definiert Fischer den Föderationsbegriff jenseits der
althergebrachten B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n , die hinter jahrzehntelangen Auseinandersetzun-
gen um die Zielsetzung d e r Europapolitik standen, vgl. auch H. Schneider, Alternativen
der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - o d e r was sonst?, in: Integration
3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 172. Seine „Föderation der Nationalstaaten" beruht auf d e m Prinzip
der „Souveränitätsteilung" zwischen Mitgliedsstaaten und Europäischen Union nach d e m
Subsidiaritätsgrundsatz, die sich aus einer doppelten Legitimation ableitet: Eine Bürger-
kammer mit direkt gewählten Abgeordneten vertritt die Bürger direkt, eine Staatenkammer
wahrt die Interessen der Nationen. Damit diese Dualität gewährleistet bleibt, baut Fischer
„ U n i t a r i s i e r u n g s b r e m s e n " ein. die „bundesstaatlichen Tendenzen einen Riegel" vorschie-
ben sollen, z. B. mit einer klaren K o m p e t e n z a b g r e n z u n g zwischen Mitgliedsstaaten und
EU-Organen. Dabei tendierte er teilweise sogar zu einer stärkeren Intergouverncmentali-
sierung: Fischer konnte sich im Streitgespräch mit seinem französischen Amtskollegen
Chevenement (vgl. D I E ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff., 18), „sehr gut vorstellen, dass bestimm-
te Aufgaben wieder [auf die Nationalstaaten) rückübertragen werden". Die von Fischer
erwogene Alternative, den Ministerrat als „echte R e g i e r u n g " der Europäischen Union zu
etablieren, würde die Kommission allerdings zu einer bloßen administrativen Körperschaft
degradieren. Vgl. dazu die vergleichsweise intellektuell klare, wenngleich durchaus streit-
bare Replik auf Fischers „ H u m b o l d t - R e d e " von C. Leben. A Federation of Nation States
or a Federation of States?, in: C . J o e r g e s / Y . M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), What Kind
of Constitution for W h a t Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000. S. 100 ff.,
insb. 103: „ T h e C o m m i s s i o n would b e c o m e only an administrative b o d y " . Fischers ur-
sprüngliches Konzept des D o p p e l m a n d a t s in der ersten K a m m e r stellt in der Konsequenz
einen Rückschritt zu den Zeiten diu-, als das Europäische Parlament noch aus Delegierten
der Mitgliedsstaaten zusammengesetzt war. Des weiteren erwähnt Fischer entscheidende
föderationsqualifizierendc Merkmale nicht, wie etwa die Übertragung des Haushaltsrechts
auf die europäische Ebene (s. auch T.A. Börzel/T. Risse, W h o is afraid of a European
Federation? How to Constitutionalize a Multi-Level Governance System, in: C . J o e r g e s / Y .
M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.) (2000), S . 4 5 f f „ 48).
267
So beispielsweise in einem Vortrag J. Voggeniwber. Das Europäische Parlament
und die konstitutionellen Reformen der Europäischen Union. 2000. Bericht von M.O. Pähl
a b r u f b a r unter www.rewi.hu-berlin.de/WHI/english/fce/fce600/bericht-voggenhuber.htm.
268
Vgl. H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderati-
on - oder was sonst?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 173.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 105

zwängen zu lassen. Europa ist und bleibt eine Konstruktion sui generis" 2 6 9 . Im
Streitgespräch mit Chevenement erklärte Fischer, warum er dennoch den ideo-
logisch belasteten Begriff „Föderation" gewählt hatte: „Wir haben versucht, ein
neues deutsches Wort zu finden anstatt .Föderation'. Wenn man es übersetzt,
kommt [ . . . ] immer wieder federation oder federation heraus. Sodass wir am Ende
aufgegeben und gesagt haben: Wir müssen akzeptieren, dass dies das Wort ist". 270
Gleichwohl ist Fischer mit dieser Wortwahl seiner (wiederholten) Intention gerecht
geworden, zu provozieren. 271 Dass er aber nicht gänzlich hinter dem Begriff stand,
lässt sich anhand der Tatsache vermuten, dass Fischer seinen Verfassungsgedan-
ken zwar weiterhin an den Vorstellungen der „Souveränitätsteilung" ausrichtete,
das Leitbild der Föderation in seinen späteren Europareden und Stellungnahmen
aber nicht mehr nachhaltig verfolgt hat. 272

Trotz der begrifflichen Probleme haben einige weitere Politiker dieses Leitbild
aufgegriffen. Bundespräsident J. Rau wies darauf hin, dass eine „Föderation von
Nationalstaaten" das Gegenteil eines Superstaates bedeuten würde, und schon
gar nicht ein Europa „ä la Bundesrepublik Deutschland". 273 Der Bundespräsident
betonte, dass „die wirtschaftliche Globalisierung die Souveränität der National-
staaten gravierend aushöhlt". Die Föderation sei „darauf die Antwort, weil sie
Souveränität | . . . ) wiedergewinnt, die die einzelnen Staaten, auf sich allein gestellt,
im Zuge der Globalisierung, längst verloren haben". Eine föderale Verfassung
gebe „Europa eine Gestalt, wie wir sie uns für morgen wünschen können: ein Zu-
sammenschluss von Staaten, die einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinschaftlichen
Einrichtungen übertragen, damit sie durch gemeinsames Handeln Souveränität
zurückgewinnen können" 274 .

J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor


der französischen Nationalversammlung. 20. Januar 1999. Umfassend zum Föderalismus-
begriff in rechtsvergleichender Perspektive unten B.IV.3.b).
270
Siehe Die ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff.. S. 17 f.
271
Siehe auch das Interview mit Fischer in D I E Z E I T 20. Juli 2000. S . 3 . ..Europas
Werte": ..Dass meine Rede Anstoß erregen würde, davon ging ich aus. das sollte sie".
Zur d u r c h a u s kontraproduktiven Wirkung der Rede Fischers vgl. auch H. Wagner, Die
Rechtsnatur der EU. - A n m e r k u n g e n zu einer in Deutschland stattfindenden Debatte, in:
Z E u S 2006. S. 287 ff.. 2 8 8 ff.
272
In der Rede vor dem belgischen Parlament, in der Fischer seine Konzepte der
H u m b o l d t - R e d e noch einmal fast wortgetreu wiedergibt, ersetzt er das Wort ..Föderation"
durch ..Europa": „Wichtigster Ansatzpunkt muss eine klare Souveränitätsteilung zwischen
.Europa* und den Nationalstaaten sein"
273
Siehe J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung" Rede v o r d e m Europäischen
Parlament am 4. April 2001, S. 3.
274
J. Rau. Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin. 19. Oktober 2000. Wi-
dersprüchlich ist allerdings, dass Rau den Ministerrat in eine zweite K a m m e r neben einem
gleichberechtigten Europäischen Parlament umwandeln und das nationale Vetorecht aufge-
ben wollte und noch betonte, diese K a m m e r „wahre die Souveränität der Nationalstaaten",
106 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auch auf französischer Seite ist das Konzept aufgegriffen worden, wo in ähnli-
cher Diktion L. Jospin für eine „Föderation von Nationalstaaten" plädierte. Wie
Fischer und Rau distanzierte sich der französische Premier von einer zentralis-
tischen Auslegung: „Dieses Wort ( . . . ) deckt in Wirklichkeit vielfältige Inhalte
ab". 275 Ein Gefüge, in dem die derzeitigen Staaten lediglich den Status eines
deutschen Bundeslandes erhielten, könne Frankreich nicht akzeptieren. Verstehe
man dagegen unter „Föderation" eine „schrittweise und kontrollierte Teilung von
Befugnissen und deren Übertragung auf die Union", stimme er dem Begriff „ohne
Wenn und Aber" zu. Der Terminus traf außerdem Jospins Vorstellung des konsti-
tutiven Spannungsfeldes der europäischen Integration: die Nationalstaaten seien
„Realität", die Föderation bleibe ein „Ideal". Damit „starke und lebendige Natio-
nen. die ihre Identität wahren wollen", bestehen bleiben, solle die Union J e d e n
Einzelnen stärker machen". Auch J. Delors, der einer Verfassung grundsätzlich
skeptisch gegenüber stand, verfolgte dieses Leitbild gleichfalls in der Annahme,
„dass die Nationalstaaten bleiben müssen" 2 7 6 .

(b) Das Ideal eines „Europas der Nationen"

Der Vorstellung eines „Europa der Nationen" lassen sich die Verfassungskonzep-
te von J. Chirac und A. Juppe mit J. Toiibon zuordnen. Im Gegensatz zu J. Fischer
benannte Chirac nicht explizit ein „typisches" Leitbild im Spannungsfeld von Fö-
deration oder Konföderation. Indem er auf seine damalige Rolle als Ratspräsident
und die Kohabitation Rücksicht nahm, wich er der von Fischer aufgeworfenen
Frage der Finalität aus und gab in seiner Berliner Rede „den Pragmatiker", um
nicht zu provozieren, sondern auszugleichen. 277 Dennoch lässt sich herauskristalli-
sieren, wie er Europa sehen wollte, nämlich als „Zusammenschluss von Nationen,

vgl. ders., Plädoyer für eine Europäische V e r f a s s u n g " Rede vor dem Europäischen Parla-
ment am 4. April 2001. S . 5 .
275
L Jospin. Rede zur ..Zukunft des erweiterten Europas", 2001. ebenda. S. 7.
276
Vgl. das Interview mit J. Delors in: Le M o n d e vom 19. Januar 2000.
277
Vgl. J. Chirac. Rede vor d e m Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. abgedruckt
in: FAZ vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f. Fischers Vorschlag sorgte auch in diesem Kontext für
nahezu reflexartige Abwehrreaktionen. So etwa des bereits benannten ..Souveränisten"
Chevenement auf das empfohlene Leitbild der Föderation: ..Weil Deutschland immer noch
die Nation diabolisiert. neigt es zur Flucht ins Postnationale und findet sich w i e d e r im
wehmütigen Traum einer Art von Föderation, die unterschiedliche Teile möglichst re-
gional z u s a m m e n h ä l t " . Chevenement sah den wichtigsten Bezugspunkt der Bürger in
der Nation und hielt deshalb den Begriff des ..Verfassungspatriotismus" für „oberfläch-
lich". Gleichzeitig verdächtigte er Fischers Verfassungskonzept als „verkappten deutschen
H e g e m o n i e a n s p r u c h " (zitiert nach K. »>. Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen
Verfassung, in: C . J o e r g e s / Y . M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), W h a t Kind of Constitution
for W h a t Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 2000. S . 6 1 ff.. 6 1 ) Einerseits
neige Deutschland dazu. ..die Nation zu verteufeln" (vgl. D I E ZEIT. 7. Juni 2 0 0 0 . S. 13),
andererseits habe Fischer aber genau verstanden, d a s s die Nation ein „unentbehrlicher
Rahmen der demokratischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g " sei. Hinter diesen . Z w e i d e u t i g k e i t e n "
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 107

die j e w e i l s ihre Seele und Identität b e w a h r e n m ö c h t e n , a b e r b e s c h l o s s e n h a b e n ,


ihre Interessen und vor a l l e m ihre W e r t e g e m e i n s a m zu verteidigen"278.

K o n k r e t e r b e k a n n t e n s i c h Juppe u n d Toubon z u e i n e m L e i t b i l d d e r „ N a t i o n a l -
s t a a t e n u n d d e r B ü r g e r " . A l s e h e m a l i g e r P r e m i e r u n d V o r s i t z e n d e r v o n Chiracs
S a m m l u n g s b e w e g u n g R P R s t a n d Juppe d e m P r ä s i d e n t e n n i c h t n u r n a h e , s o n -
dern er hatte auch seinen V e r f a s s u n g s e n t w u r f im A u f t r a g desselben ausgearbeitet.
Zielsetzung des Verfassungsentwurfes war unter anderem, den Bürgern eine ernst-
z u n e h m e n d e S t i m m e zu verleihen und Rechte der Mitgliedsstaaten zu garantieren.
D e n Verfassern ging es mit der A b s c h a f f u n g der K o m m i s s i o n , der A u f w e r t u n g

witterte Chevenement offensichtlich den Versuch. Fischer wolle den anderen „ein Konzept
aufzwingen, das ihm entspricht, aber nicht uns". In diesem Kontext ist auch das Zitat zu ver-
stehen. Deutschland müsse sich „von den Entgleisungen des Nationalsozialismus" erholen.
Dass die Deutschen den anderen einen europäischen Bundesstaat nach deutschem Vorbild
überstülpen wollen, schien auch J. Delors anzudeuten, wenn er hinter der Diskussion um
eine Verfassung „eine Arglist" vermutete (so in seiner Rede bei einem Kolloquium der
Friedrich-Ebert-Stiftung. „Die Europäische Avantgarde" in Paris, 2001. S. 1). Obwohl er
die Position Chevenements ablehnte, meinte auch H. Vedrine: „ N i e m a n d kann behaupten,
eine .Patentlösung" für Europa zu haben". Er betonte wiederholt, die Antwort auf Her-
ausforderungen könne „nur das Ergebnis einer wirklichen, loyalen 1... 1 Diskussion s e i n "
(vgl. H. Vedrine. Schreiben an den deutschen Außenminister J. Fischer, vom 8. Juni 2000.
a b r u f b a r unter i g . c s . t u - b e r l i n . d e / o l d s t a t i c / w 2 0 0 1 / e u l / d o k u m e n t e / ) . Nicht allein, weil er
sich in der Position des Ratsvorsitzes zu diesem Zeitpunkt um kurzfristigere Ziele kümmern
musste. stand Vedrine der Verfassungsidee skeptisch gegenüber. Auch bei ihm rief das
Schlagwort „Föderation" Souveränitätsverlustängste hervor: „Wenn man die Direktwahl
des Präsidenten der Föderation, der deren Außen- und Sicherheitspolitik unter der Kontrolle
des Parlaments umzusetzen hätte, in E r w ä g u n g zieht, welche Zuständigkeiten verbleiben
dann dem Nationalstaat? J . . . 1 W i e lange gäbe es in Frankreich noch einen Präsidenten
I . . . ] und in Deutschland noch einen Bundeskanzler?" (vgl. Vedrine. ebenda). Auch T. Blair
sah in Fischers Konzept ein etatistisch geprägtes Leitbild, welches er dem konföderalen
Modell der britischen Konservativen gegenüberstellte: „Zwei Modelle wurden bis jetzt
vorgeschlagen: Europa als eine bloße Freihandelszone, und das klassische föderalistische
Modell, in dem Europa seinen Kommissionspräsidenten wählt und das Europäische Parla-
ment eine echte Legislative und Europas wichtigste demokratische Kontrollinstanz wird".
Europa dürfe aber nie ein „Superstaat" werden, denn die wichtigste Quelle demokratischer
Legitimität seien die direkt gewählten nationalen Parlamente und Regierungen: „Europa ist
ein Europa freier, unabhängiger souveräner Nationen, die frei wählen, ihre Souveränität in
ihrem eigenen Interesse und zum gemeinsamen Gut zusammenschließen" (vgl. ders. Speech
to the Polish Stock Exchange. 2000. S. 5 ff.) Außerdem sei es für die Briten a u f g r u n d ihrer
eigenen Verfassungstradition „einfacher zu verstehen", d a s s eine konstitutionelle Debatte
nicht unbedingt in e i n e m einzigen D o k u m e n t enden müsse, schon gar nicht bei einer so
„dynamischen und komplexen Einheit w i e der E U " . Auch für Blair war das von Fischer
vorgeschlagene „Gravitationszentrum" mit eigenen Institutionen nicht akzeptabel. Statt
eines „Superstaates" sah (und sieht) Blair Europa als „ S u p e r m a c h t " und „wirtschaftliches
K r a f t w e r k " (vgl. ders. (2000). S. 7).
278
J. Chirac, Rede z u m zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000.
S. auch ders.. Rede v o r d e m Deutschen Bundestag: „Unser Europa", 27. Juni 2000. wonach
die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker „auch in Z u k u n f t die Nationen darstellen"
würden.
108 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

des Rates, der Beschränkung europäischer Kompetenzen und der übergeordneten


Position der „ S t a a t e n k a m m e r " letztendlich um eine weitgehende Renationalisie-
279
rung.

(c) Das Ideal eines „Europas der R e g i o n e n "

N e b e n den deutschen B u n d e s l ä n d e r verfolgten gerade die Regierungschefs klei-


nerer Staaten das Leitbild eines „ E u r o p a der Regionen". Es gab freilich Differen-
z i e r u n g e n . S o s e t z t e s i c h d e r s ä c h s i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t K . Biedenkopf b e w u s s t
v o n Fischers „ F ö d e r a t i o n d e r N a t i o n a l s t a a t e n " als „ E n d p u n k t d e r I n t e g r a t i o n " a b .
Die vom A u ß e n m i n i s t e r geforderte Souveränitätsteilung zwischen Nationen und
E u r o p ä i s c h e r U n i o n sei „ i n s t a b i l " : D i e „ G r ö ß e n u n t e r s c h i e d e d e r M i t g l i e d s s t a a t e n
erlaubten keine d a u e r h a f t e Struktur", da „die Idee des Nationalstaates ( . . . ] mit
einer d e m o k r a t i s c h legitimierten Föderation [ . . . ) k a u m v e r e i n b a r " sei.280 Eine
„Föderation der Nationalstaaten" befördere die B e h a u p t u n g und Durchsetzung
nationaler Interessen und die Reaktivierung der Nationalstaaten im Falle von
Krisen". Bei „ F o r t d a u e r der N a t i o n a l s t a a t e n " seien der „Steigerung der V e r b u n d -
s i n t e n s i t ä t d a u e r h a f t G r e n z e n g e s e t z t " . Fischers F ö d e r a t i o n sei k e i n „ N e u b e g i n n ,
d e r es rechtfertigen w ü r d e , d u r c h eine e u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g ratifiziert zu wer-
den, weil sie die T e n d e n z einer durch die nationalen Exekutiven dominierten
R e g i e r u n g s f o r m " v e r s t ä r k e . E i n „ E u r o p a d e r R e g i o n e n " k ö n n t e , s o Biedenkopf
die D e m o k r a t i s i e r u n g und Effizienz e u r o p ä i s c h e r Politik besser gewährleisten.
„Grenzüberschreitende E u r o r e g i o n e n " erlaubten die Bildung „selbstverwalteter
Einheiten", die „als Keimzellen der Integration" M e n s c h e n auch „über nationale
Grenzen hinaus verbinden". Die D o m i n a n z größerer über die kleineren Mitglieds-
staaten würde so aufgehoben und die Union w ü r d e handlungsfähiger.

W ä h r e n d Biedenkopf d i e A b s i c h t v e r f o l g t e , „ i n e i n e m P r o z e s s d e r R e g i o n a -
lisierung ( . . . ] die L ä n d e r auf Kosten der nationalen Parlamente über die Re-
gionalpolitik der E u r o p ä i s c h e n Union zu s t ä r k e n " 2 s l , hielt der g l ü c k l o s e nieder-
s ä c h s i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t S . Gabriel d e n E r h a l t d e s N a t i o n a l s t a a t e s f ü r e i n e
Vorraussetzung, „wirklich ernsthaft eine Revitalisierung des Föderalismus in
D e u t s c h l a n d d u r c h z u s e t z e n " 2 8 2 . D e s h a l b s a h Gabriel a u c h k e i n e n W i d e r s p r u c h

279
Siehe A. Juppe/J. Toubon, Constitution de 1'Union Europeenne. Contribution ä une
reflexion sur les institutions futures de l ' E u r o p e . vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . a b r u f b a r unter w w w
.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Chiracs Leitbild ist zwar moderater. doch erwähnt er
beispielsweise die Kommission auch nicht.
280
Vgl. K. Biedenkopf, Europa vor d e m Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und
Herausforderungen", Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin.
4. D e z e m b e r 2000.
281
So K. von Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/
Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), W h a t Kind of Constitution for W h a t Kind of Policy?
Responses to Joschka Fischer. 2000. S. 61 ff., 70.
282
S. Gabriel, Regierungserklärung am 21. Juni 2000 in Hannover, abrufbar unter w w w
.eiz-niedersachsen.de/uploads/media/ef-2000-1 .pdf.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 109

zwischen dem Erhalt der Nationalstaaten und der Stärkung der Regionen: Ein
„Verfassungsvertrag, der die Souveränitäts- und Kompetenzverteilung zwischen
Europa und den Nationalstaaten horizontal und vertikal regelt", sollte nämlich
gleichzeitig „den Regionen und Ländern Spielräume verschaffen, auf der Grund-
lage ihrer jeweiligen Verfassungen die Kompetenzen mit ihren Nationalstaaten zu
regeln".

Allen Konzepten der Bundesländer ist die zentrale Forderung nach einer verfas-
sungsmäßigen Kompetenzabgrenzung zwischen den Regionen und der Europäi-
schen Union gemeinsam, um der „Erosion regionaler Handlungsspielräume" 2 8 3
durch immer weitere Kompetenzerweiterung der europäischen Ebene entgegenzu-
wirken und diese wiederzugewinnen. So forderte im trivialen Duktus der rheinland-
pfälzische Ministerpräsident K. Beck: „Die Rechte der Bundesländer müssen in
die EU-Verfassung". 2 8 4

(d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz

In diese Kategorie fallen jene Akteure, die in ihren Reden und Äußerungen
keinem fest definierten Muster folgten, aber mit einer Verfassung die Einbeziehung
der supranationalen Institutionen garantieren wollen. Dazu sind die Kommission,
das Europäische Parlament (bereits aufgrund der Heterogenität der immanenten
Ansätze), sowie G. Verhofstadt (bis 2005) und P. Lipponen als Vertreter kleinerer
Mitgliedsstaaten zu zählen. Auch C. Ciampi wollte sich nicht an „starre Schemata
gebunden fühlen". 2 8 5

Die Kommission. Lipponen und Verhofstadt richteten ihr Leitbild im Wesentli-


chen am Gemeinschaftsmodell aus. So zeigte sich Kommissionspräsident R. Prodi
fest davon überzeugt, dass die „Gemeinschaftsmethode" unter der Prämisse ihrer
„Rationalisierung, Vereinfachung und Erweiterung die Zukunft der Union" wä-
re. Der Gipfel von Nizza hätte die Schwächen der zwischenstaatlichen Methode

283
So der damalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens W. Clement. Europa ge-
stalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza, Rede in Berlin.
12. Febr. 2001, a b r u f b a r unter w w w . p r e s s e a r c h i v . n r w . d e / 0 l _ t e x t d i e n s t / 1 2 _ r e d e n / 2 0 0 l
/mskr20010212_l.htm.
284
Interview mit K.Beck in der FAZ. 2 . J u l i 2 0 0 0 . S . 5 . Auch E.Stoiber sah den
Kernpunkt eines Verfassungsvertrags Europas in der Frage: „Welche Kompetenzen be-
halten die Nationen und Regionen?", vgl. ders., Rede am 13. November 1999 in München,
a b r u f b a r unter www.bayem.de/Presse-Info/Regierungserklaerun^en/pdf/reg_(K)0322.pdf
?PHPSESSID.
285
C. Ciampi. Rede anlässlich der Verleihung der E h r e n d o k t o r w ü r d e der Universi-
tät Leipzig. 6. Juli 2000. a b r u f b a r unter www.quirinale.it/ex_presidenti/Ciampi/Discorsi
/Discorso.asp?id=12718, mit dem weiteren Hinweis, dass „ [ . . . ] die Begriffe Bundesstaat.
Staatenbund oder Staatenverbund unterschiedliche Hypothesen (verkörpern], die in neuen,
kombinierten Formen allesamt brauchbar sind".
110 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gezeigt. Nur einheitliches Handeln, welches auf dem institutionellen Dreieck der
Gemeinschaftsmethode beruhe, würde auch in Zukunft zu Ergebnissen führen. 2 8 6

Das Parlament verfolgte wohl eine ähnliche Absicht, als es ein Leitbild der „Uni-
on der Staaten und Bürger" benannte, die den Ministerrat und das Parlament als
wirklich gleichberechtigte Legislativen vorsehen sollte. 2 " Gleichzeitig betonten
die meisten der genannten Akteure, dass sie damit weder für die „Staatswerdung
Europas" noch etwa für einen „europäischen Superstaat" plädierten. 2 8 8 Einmal
mehr sollte der Hinweis folgen, die Europäische Union sei eine Rechtsordnung
sui generis.

(e) Zwischenfazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keiner der benannten Spitzenpoliti-


ker - unabhängig von seiner Meinung zur Konstitutionalisierung der Europäischen
Union - einen ,Superstaat Europa' errichten wollte. Zumal die vehementesten
Befürworter einer Verfassung wie Fischer oder Ran sich ausdrücklich von einem
Europa ä la Bundesrepublik distanzierten und mittels der Staatenkammer und
dem Kompetenzkatalog Zentralisierungshindernisse in ihr Konzept mit einbau-
ten bzw. sogar die Renationalisierung einzelner Politiken befürworteten. 2 " 9 Die
Bedeutung des Begriffs „Föderation" wurde vor diesem Hintergrund nicht mehr
ausschließlich von Verfassungsbefürwortern benutzt, sondern beispielsweise auch
von kritischen Stimmen wie J. Delors. Die Ablehnung des Verfassungsbegriffs ist

286
R. Prodi, Rede vor d e m Europäischen Parlament am 17. Januar 2001. a b r u f b a r un-
ter europe.eu.int/comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/index_de.htm. Nach G. Verhofstadt.
Welche Z u k u n f t für welches Europa? Rede am 24. Juni 2001. a b r u f b a r unter www.europa-
digital.de/aktuell/dossier/reden/verhofstadt.shtml. könnten ..Transparenz. Effizienz. Legiti-
mität" nur mit der G e m e i n s c h a f t s m e t h o d e gewährleistet werden. ..Eine .starke Kommission*
müsse ihre Kraft aus einem .neuen Verhältnis mit den anderen Institutionen* schöpfen,
mit e i n e m Rat. der die Prioritäten d e r Union festlege und z u s a m m e n mit d e m Parlament
als Gesetzgeber fungiere (vgl. ders. A Vision of Europe. Rede vom 2 1 . 9 . 2 0 0 0 . a b r u f b a r
unter w w w . t h e e p c . b e / A b o u t _ T h e _ E P C / E P C _ D o c u m e n t s / C o m m u n i c a t i o n s _ D o c / 3 0 5 . a s p
?ID=305). Für P. Lipponen. Speech at the College of Europe. Brügge. 10. November 2000.
a b r u f b a r unter www.vn.fi/english/speech/20001110e.htm.. war die Kommission von „aus-
schlaggebender Bedeutung", damit in Z u k u n f t nicht mehr die größeren über die kleineren
Staaten dominieren könnten. Dies würde auch die Gleichberechtigung j e d e s Mitglieds im
Ministerrat nötig machen.
287
So im Bericht des Europäischen Parlaments zu der Konstitutionalisierung der
Verträge. 2000. S. 17.
288
Vgl. G. Verhofstadt. A Vision of Europe. Rede des belgischen Ministerpräsidenten
v. 2 1 . 9 . 2 0 0 0 . ebenda sowie K. Hänsch. Ziel und Z u k u n f t der Einigung Europas. Rede auf
der Landestagung der Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000. a b r u f b a r unter w w w . e u r o p a -
web.de/europa/01 lvkvjf/102LY7haensch.htm.
289
Vgl. umfassend auch 5. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Ver-
fassung, CAP-Working Paper. 2001. S. 30 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 111

daher zum Teil durch „institutionalisierte Wirklichkeitskonstruktionen 4 ' 290 bedingt:


Gerade euroskeptische Regierungen verbanden mit den Begriffen „Verfassung"
und „Föderation" immer noch die althergebrachte Vorstellung eines europäi-
schen Superstaates. Andererseits forderten die meisten Verfassungsbefürworter
die Vertiefung der politischen Integration, während die Verfassungsskeptiker die
Europäische Union vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft sahen.

(4) Das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen


und politischer Diskussion

Maßgeblich für diese Untersuchung ist die Feststellung, dass bisher alle politi-
schen Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte gescheitert sind, sich aber
gleichzeitig die juristische Auffassung durchsetzen konnte, der rechtliche Rahmen
der Europäischen Union habe sich bereits weitgehend zur Verfassung entwickelt.
Um diesen Widerspruch zu erklären, sind vier essentielle Funktionen und Merk-
male einer modernen Verfassung anzusetzen und auf den europäischen Kontext
zu übertragen, nämlich die Legitimationsfunktion (Berufung auf eine verfassungs-
gebende Gewalt und Garantie von Partizipationsrechten), Organisationsfunktion
(vertikale und horizontale Gewaltenteilung), Begrenzungsfunktion (individuelle
Bürger- und Menschenrechte) sowie die Integrations- und Identifikationsfunktion
(klare Festlegung von Normen und Werten).

(a) Die Legitimationsfunktion als Gradmesser der (politischen)


Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vorbild?

Alle Beobachter und Politiker betonten während der Debatte um eine künftige
Verfassung, dass die Legitimationsquelle der Europäischen Union nicht allein
aus dem bisherigen Europäischen Parlament entspringen könne. J. Fischer griff
hier - wenn auch nicht explizit - die These auf. dass das Europäische Parlament
nie die Rolle der nationalen Parlamente übernehmen könne, denn ein „Faktum
der europäischen Realität sind ( . . . ) die unterschiedlichen politischen National-
kulturen und deren demokratische Öffentlichkeiten, getrennt zudem noch durch
die auffälligen Sprachgrenzen" 2 9 1 . Ähnlich argumentierte auch J. Chirac: Wegen
ihrer „politischen, kulturellen und sprachlichen Traditionen" würden „auch in
Zukunft die Nationen die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker darstellen". 292
Laut C. Ciampi sollte eine europäische Verfassung erforderlich sein, um zu „de-

290
K. v. Bewne. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C . J o e r g e s /
Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), W h a t Kind of Constitution for W h a t Kind of Policy?
Responses to Joschka Fischer. 20(X). S. 61 f f . 67.
291
J. Fischer. Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der
Europäischen Integration. Rede an der Humboldt-Universität Berlin. 12. Mai 20(X).
292
J. Chirac. Rede vor d e m Deutschen Bundestag am 27. Juni 20(X). in: FAZ Nr. 147
v. 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f.
112 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

monstrieren, dass die letztliche Quelle für die Legitimität der Institutionen der
Europäischen Union bei den Bürgern liegt", ohne dass sie dabei „die Identität
der einzelnen Nationen auslöscht". 29 - Eine europäische Verfassung sollte deshalb
die Souveränität der EU-Bürger auf beiden Ebenen, der europäischen wie der na-
tionalen. garantieren. Fischer folgerte daraus: „Ein europäisches Parlament muss
deswegen immer ein Doppeltes repräsentieren: Ein Europa der Nationalstaaten
und ein Europa der Bürger". 2 ^ Diese „Souveränitätsteilung" sollte sich in einem
Zwei-Kammer-System manifestieren, von dem eine Kammer die Bürger und die
andere die Staaten vertritt.

Das US-Vorbild des Kongresses schimmerte hierbei erst schüchtern hindurch.


Lediglich wenige Politiker - wie Ciampi, Lipponen und Chirac - erwähnten das
Zwei-Kammer-System indes nicht ausdrücklich. Andere Befürworter einer Ver-
fassung hatten ihre Ideen über die Zusammensetzung dieser beiden Kammern
im Laufe der Debatte wiederholt modifiziert. So auch J. Fischer der in seiner
Humboldt-Rede das Zwei-Kammer-System nach eigenen Angaben als erster aus
der politischen Szenerie auf die Agenda gebracht haben wollte 295 und diesen
institutionellen Ansatz gleichwohl bald zu relativieren wusste, nachdem dieser
Vorschlag auf heftige Kritik in vielen Fraktionen des Europäischen Parlaments
gestoßen war. Zahlreiche Abgeordnete warfen Fischer vor, er stelle die Eigen-
ständigkeit des Europäischen Parlaments in Frage. 2 '' 6 Dem entsprang schließlich
ein weiteres Konzept Fischers, welches er vor dem Europäischen Parlament am
6. Juli 2000 darstellte. Ähnlich wie in den USA sollten in der ersten Kammer
die direkt gewählten Europa-Abgeordneten sitzen, die Zweite Kammer dafür aus
Delegierten der nationalen Parlamente bestehen. : ' 7

293
C. Ciampi, Rede anlässlich der Verleihung der E h r e n d o k t o r w ü r d e der Universität
Leipzig, 6. Juli 2000.
294
J. Fischer (2000).
295
Tatsächlich hatte J. Kau in den Namensartikeln in Le Monde und der FAZ schon
im November 1999 für dieses System plädiert, es fand aber nicht ein vergleichbares Echo:
vgl. FAZ. 4. November 1999. S. 8: ..Die Quelle der Legitimation deutlich m a c h e n " . Nach
Fischers ursprünglicher Auffassung sollten die Abgeordneten der ersten K a m m e r zunächst
..zugleich Mitglieder d e r Nationalparlamente" sein, denn nur so sei gewährleistet, dass
das EP die „unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten tatsächlich z u s a m m e n f ü h r t " ,
vgl. ders. In seiner H u m b o l d t - R e d e (2000). ebenda.
296
Da es zeitlich nicht möglich sei, gleichzeitig zwei M a n d a t e ..auch nur annähernd
sachgerecht a u s z u ü b e n " , f ü h r e ein solches Doppelmandat zu einer ..Schwächung des
Europäischen Parlaments und seiner Kontrollfunktion", vgl. dazu den Bericht über das Dis-
kussionsforum am Walter-Hallstein-Institut vom 22. Juni 2000 mit Johannes Voggenhuber.
M d E P und Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (Grüne): „Umfassen-
de Demokratisierung gefordert. Gegenposition zu Joschka Fischer aus d e m Europäischen
Parlament".
297
Dazu SZ. 7. Juli 2 0 0 0 . S. 8: „Rede vor d e m Europäischen Parlament in Straßburg:
Fischer fordert Entscheidungen über die Z u k u n f t der E U " . Das Redemanuskript des Aus-
wärtigen A m t e s entspricht der im Wesentlichen frei gehaltenen Rede nur in Grundzügen.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 113

Hatte Fischer in seiner Humboldt-Rede noch zwei Alternativen zur Stimmen-


verteilung dieser „Staatenkammer" vorgeschlagen - das Senats- und Bundesrats-
modell - setzte sich ersteres in der Debatte durch. Auch Andere befürworteten in
späteren Reden das Senatmodell mit je zwei Abgeordneten pro Mitgliedsstaat. 298
Vor allem die kleineren Länder wie Belgien und Finnland warben aus offensicht-
lichen Gründen für das US-Modell. Die Kommission äußerte sich nicht explizit
zu diesem Modell, betonte aber mehrfach, die kleinen Staaten müssten gleichbe-
rechtigt mit den großen Staaten repräsentiert werden. Während Fischer wederein
konkretes Rollenverhältnis zwischen beiden Kammern definierte, noch deutlich
machte, ob die zweite Kammer den Ministerrat ersetzen würde, hatten sich die
Positionen zwischen den Verfassungsbefürwortern mittlerweile polarisiert: Am
einen Ende der Skala standen die Befürworter von mehr Supranationalität. Am
anderen Ende waren die Intergouvernamentalisten auszumachen, die dem Eu-
ropäischen Parlament nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Ministerrat
zuweisen wollten. Diese Vorschläge kamen vor allem von französischer Seite. 2 " 9

Im Zuge von Nizza plädierten auch Regierungschefs verstärkt dafür, den Rat
und das Europäische Parlament zu den Kammern einer einzigen Legislative
zu entwickeln, wobei ein ständiger Rat als Beauftragter der Mitgliedsstaaten
fungieren sollte, und das Europäische Parlament als Vertreter der europäischen
V ö l k e r . E i n drittes Modell zielte darauf ab, die Partizipationsmöglichkeiten der
Bürger durch mehr Mitspracherechte der Regionen auszuweiten. 301

298
So beispielsweise J. Rau. der f ü r die gleichberechtigte Repräsentation mit einer
..gleichen Anzahl von S t i m m e n " in der zweiten K a m m e r warb (vgl. ders., Rede beim VIII
Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000).
299
Verfechter von mehr Supranationalität forderten ein Zwei-Kammer-System, in dem
das Europäische Parlament und d e r Ministerrat gleichberechtigt Gesetze erlassen könnte.
Teile des Europäischen Parlaments sahen vor, dass die „Komposition, das Funktionieren
und die Balance zwischen den Institutionen der U n i o n " die „doppelte Legitimität als
eine Union der Völker und eine Union der Staaten" reflektieren müsse, und zwar durch
den „Ministerrat und das Europäische Parlament" (Konstitutioneller Ausschuss: Bericht
über die Vorschläge des Europäischen Parlaments für die Regierungskonferenz. Dok. Nr.:
A 5 - 0 0 8 6 / 2 0 0 0 , 27. M ä r z 2000. S . 5 : ..An overall equilibrium must be Struck between
the small and large States [ . . . ] therefore [ . . . ] the constitutional principle that the Union
of Peoples is represented by the European Parliament and the Union of the States is
represented by the Council"). Zahlreiche Abgeordnete forderten in A n l e h n u n g an die
früheren Verfassungsentwürfe aus der Mitte des Europäischen Parlamentes ein „echtes
Z w e i - K a m m e r - S y s t e m " , in d e m „alle Gesetzgebung doppelt legitimiert sein muss: Durch
eine Mehrheit der gewichteten Stimmen der Mitgliedsstaaten im Rat und durch eine
Mehrheit im Parlament" (Vgl. dazu etwa die Rede von K. Hänsch auf der Landestagung der
Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000: sowie das Papier von W. Görlach/J. Leinen/R. Linkohr.
Europa als demokratischer Staat, in: H. Mahrhold. Die neue Europadebatte. 2001, S. 298 ff.).
Der konstitutionelle Ausschuss modifizierte diese Forderung, indem er die „Aufteilung in
zwei Gruppen von Rechtsakten" verlangte, „in denen das Parlament oder der Rat das letzte
Wort h a b e n " sollten (ebenda. S. 17).
100
Laut G. Verhofstadt sollte im Rat die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit
gefasst werden, und das Europäische Parlament ein generelles Mitentscheidungsrecht erhal-
114 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

(b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Verfassungsdebatte

Die wissenschaftliche und politische Debatte um die Berücksichtigung der


Organisationsfunktion ist z w a r m i t Blick auf die W e c h s e l w i r k u n g e n dieses Prin-
zips e h e r dürr302, gleichwohl h a b e n sich zahlreiche Beiträge mit d e r Frage nach
horizontaler Gewaltenteilung zwischen den Institutionen, der vertikalen Gewal-
tenteilung, s o m i t a u c h b e z ü g l i c h d e r S t i c h w o r t e . . E u r o p ä i s c h e R e g i e r u n g " und
„Kompetenzkatalog" befasst.303

ten ( vgl. ders.. Rede in Göttweig am 24. Juni 2001, S. 9). Das gleiche Konzept schlug auch
J. Rau vor: ..Der Ministerrat soll zur S t a a t e n k a m m e r werden, in der j e d e r Staat, vertreten
durch seine Regierung, abstimmt". Das Europäische Paralment würde zur ..Bürgerkam-
m e r " werden. Beide K a m m e r n sollten ..gleichwertig und gleichberechtigt entscheiden"
(J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung. Rede vor dem Europäischen Parla-
ment am 4. April 2001. S. 5). Auch W. Clement forderte, dass das Europäische Parlament
..als Bürgerkammer in allen Bereichen mit d e m Rat gleichberechtigt entscheiden" sollte
(vgl. ders, Europa gestalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza.
12. Febr. 2001). Ahnlich argumentierte auch E.Stoiber, der beiden - Rat und Europäi-
schem Parlament - ein Initiativrecht zubilligte (ders., Reformen für Europas Z u k u n f t . Rede
in Berlin. 27. S e p t e m b e r 2000, a b r u f b a r unter w w w . b a y e r n . d e / B e r l i n / V e r a n s t a l t u n g e n
/ R e d e n a r c h i v / ? P H P S E S S l D = e b 0 6 8 7 5 d 9 0 a 3 4 0 f 2 d 3 8 d 4 9 7 6 ) . Am weitesten ging Bundes-
kanzler G. Schröder. Er plädierte nicht nur für den „Ausbau des Rates zu einer europäischen
S t a a t e n k a m m e r " und für die „weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes
mittels Ausweitung der Mitentscheidung", sondern forderte d a m a l s als einziger Regie-
rungschef die „volle Budgethoheit" für das Europäische Parlament (hier G. Schröder in
seiner Funktion als SPD-Parteichef, zitiert nach dem SPD-Leitantrag „Verantwortung
für Europa", 30. April 2001, S. 2). Überlegungen auf französischer Seite waren diesen
bundesstaatlichen Tendenzen entgegengesetzt. Die Neogaullisten A. Juppe und J. Toubon
verorteten Legitimität und Kompetenzkompetenz hauptsächlich bei den Nationalstaaten. In
ihrem Verfassungsentwurf vom Juni 2000 ist die „ C h a m b r e des Nations" der K a m m e r der
europäischen Abgeordneten deutlich übergeordnet, vgl. eingehender 5. Volkmann-Schluck,
Die Debatte um eine europäische Verfassung, C A P - W o r k i n g Paper. 2001. S. 34 ff.
301
So argumentierten etwa K. Biedenkopf in seiner Rolle als Ministerpräsident, sowie
die Regierungschefs der kleineren Staaten. W ä h r e n d vor allem in den bevölkerungsrei-
cheren Mitgliedsstaaten der Nationalstaat nur einen „geringen Bezug zur Bevölkerung"
herstellen würden, erlaube die „kleinere, überschaubare Einheit" der Region den Bür-
gern mehr Partizipationsmöglichkeiten. Die Regionen wären d e m n a c h „angesichts ihrer
besseren Vergleichbarkeit nach äußerer G r ö ß e und innerer Homogenität eine geeignetere
Basis staatlicher Repräsentanz in E u r o p a " als die „größeren, sehr verschiedenen Natio-
nalstaaten" (K. Biedenkopf. Europa vor d e m Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und
Herausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität Berlin.
4. D e z e m b e r 2000. S . 8 ) . Auch R Lipponen und G. Verhofstadt betonten die „wachsende
Bedeutung der Regionen" (P. Lipponen, Speech at the College of Europe in Brügge. 10. No-
vember 2000. S . 4 ; G. Verhofstadt. A Vision for Europe. Rede vor d e m European Policy
Center in Brüssel, 21. September 2000. S . 7 ) . Biedenkopf schlug sogar vor. dass die Zwei-
te K a m m e r überhaupt nicht die Nationalstaaten vertreten solle, sondern sich aus d e m
Ausschuss der Regionen entwickeln könnte (ebenda (2000)).
302
Vgl. aber aus der politikwissenschaftlichen Lit. mit zahlreichen Nachweisen
5. Volkmann-Schluck. Die Debatte um eine europäische Verfassung. C A P - W o r k i n g Pa-
per. 2001. S. 38 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 115

Die Forderung nach einer eindeutigeren Zuständigkeitsverteilung zwischen


Europäischer Union und Mitgliedsstaaten bzw. Regionen stand und steht bis
heute in zahlreichen Überlegungen an zentraler Stelle. Ein Kompetenzkatalog
stellte - neben der Grundrechtecharta - für viele die Konkretion des Verfas-
sungsgedankens dar. Mit einem Kompetenzkatalog sollte das Prinzip funktional
definierter Handlungsbefugnisse zugunsten rechtsgebietlich definierter Zuständig-
keiten überwunden werden. Statt der Vielzahl von Regelungen auf EU-Ebene als
Ergebnis der induktiven Vergemeinschaftung sollten bereits in Fischers Humboldt-
Rede die Kompetenzen nach dem Prinzip der horizontalen (zwischen den Institu-
tionen), besonders aber der vertikalen Gewaltenteilung zwischen EU-Ebene und
Mitgliedsstaaten geordnet werden.

Während die früheren Entwürfe des Europäischen Parlamentes darauf abzielten,


zunehmend mehr Macht auf die europäische Ebene zu übertragen, gestaltete sich
die Organisationsfunktion der Verfassungsentwürfe um die Jahrtausendwende
tatsächlich anders. Sowohl Befürworter als auch Gegner einer Verfassung waren
sich weitgehend einig, dass das Subsidiaritätsprinzip durch einen klaren Kom-
petenzkatalog gesichert werden sollte und der Übertragung von Kompetenzen
verfassungsmäßige Schranken entgegengesetzt werden müssten. So sollte die hori-
zontale Gewaltenteilung besser organisiert werden, indem die Kommission klarer
der Exekutive zugeordnet würde und der Ministerrat sich auf legislative Aufga-
ben konzentriert hätte. Die vertikale Gewaltenteilung, d. h. auf welcher Ebene
die unterschiedlichen Politikbereiche ausgeübt werden sollen, hing jedoch - wie
historisch erwartbar - von den Interessen der einzelnen Akteure ab.

Überlegungen zur verfassungsmäßigen Begrenzungsfunktion politischer Macht


gegenüber dem Einzelnen in Form von Menschen- und Bürgerrechten bildeten
neben der Frage der Kompetenzabgrenzung den zweiten Kernpunkt der Verfas-
sungsdiskussion. Nicht zufällig trieb demnach die auf dem Kölner Rat vom Juni
1999 beschlossene Ausarbeitung einer „Grundrechtecharta" 3 0 4 , welche die in den
Verträgen verstreuten Grundrechte sichtbar machen sollte, die Verfassungsdiskus-
sion in allen Mitgliedsstaaten an. Die meisten Akteure versprachen sich von dem

303
Aus der Lit. P.Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, S. 137 f..
4 0 6 ff.; M. Brenner. Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union.
1996. S. 157 ff.. R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur
Begrenzung der A u s ü b u n g von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus, Rechts-
bindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), G e m e i n s a m e s Verfassungsrecht in der
Europäischen Union. 1998. S. 99 ff.; P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen
und europäischen Organen, in: JZ 1998. S. 9 6 5 ff.: H.-D. Horn, Ü b e r den Grundsatz der
Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspek-
tive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel. Das amerikanische
Regierungssystem. 2. Aufl. 1962, S. 106. Siehe des weiteren M. Simm. Der Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Z u m ..institutionel-
len Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003, S. 217.
304
Vgl. unter B.II.2.0").
116 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Menschen- und Bürgerrechtskatalog auch eine Verbesserung der Akzeptanz der


Europäischen Union, weil jene als „Wertegemeinschaft" 3 0 5 identifizierbar würde.

(c) Integrations- und Identifikationsfunktion: Transparenz und Bürgernähe,


EU-Skepsiskultivierung

Alle diskutierten Verbesserungen im Bereich der Legitimations-, Begrenzungs-


und Organisationsfunktion sollten letztlich dazu beitragen, dass Europa kein „ab-
straktes Großprojekt mehr ist, das sich hinter verschlossenen Türen im fernen
Brüssel oder in den Köpfen einiger Technokraten abspielt" 306 . Zahlreiche Beiträge
zielten darauf ab. mittels der Verbürgung von mehr Bürgernähe durch Subsi-
diarität, der Personifizierung von EU-Politik durch die Wahl eines Präsidenten,
der klareren Nachvollziehbarkeit von Verantwortlichkeiten, sowie der Verständi-
gung über grundlegende und identitätsstiftende Werte des Zusammenlebens die
Identitätskrise zu beseitigen. Die mangelnde Identifizierung des Bürgers mit Brüs-
sel war (und ist) für nahezu alle Verfassungsbefürworter ein zentrales Problem:
Zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern besteht eine derart bemer-
kenswerte Kluft, die sich seit Maastricht nicht verringert hat. Als Indikatoren
dieser Identitätskrise nannten die Politiker die steigende Europa-Verdrossenheit
und die sinkende Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die
negativen dänischen und irischen Referenda zum Euro und zum Vertrag von Nizza
wurden als Folge einer Identitätskrise gewertet. Das spätere französische „Non"
und das niederländische „Nee" zum Verfassungsvertrag sind beredter Ausdruck
einer „EU-Skepsiskultivierung".

Ein weiterer wichtiger Grund für die fehlende Akzeptanz der Europäischen
Union bleibt freilich - auch praekonstitutionell - die Undurchsichtigkeit der Ver-
träge. Zudem sind die „Wahrnehmungsmängel" der bereits in den EU-Verträgen
und durch die Rechtssprechung garantierten europäischen Grundrechte wohl auch
entscheidende Gründe für wachsende Unzufriedenheit, Desinteresse und „Euro-
Müdigkeit" der Bürger, die in den letzten Europawahlen in nahezu allen Mitglieds-
staaten in bisher kaum für möglich gehaltene Wahlverweigerung umgeschlagen
sind.

Das Problem hatte spätestens mit der Erweiterungswoge im Jahre 2(K)4 noch
an Dringlichkeit und Umfang zugenommen. Nachdem die Vergrößerung der

305
Kritisch zur „ W e r t e g e m e i n s c h a f t " R. Streinz, Der europäische Verfassungspro-
zess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages
und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der A k a d e m i e für Politik
und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung. 2008. S. 13 ff. Vgl. auch M. Herdegen. Die
Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Festschrift für
Rupert Scholz. 2007. S. 139 ff.
306
So Bundeskanzler G. Schröder in seiner Regierungserklärung vom 19. Januar 2001
(vgl. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 117

Europäischen Union von 15 auf 27 (plus x) Mitglieder die Auflösung zuordnungs-


fähiger Verantwortlichkeiten noch verstärkt und somit potentiell zu europäischen
„Erosionsprozessen" führt, muss es auch aus diesem Grunde einen strukturellen
Neuanfang geben. Selbst J. Fischer warnte (sie!), dass die Erweiterung „bei den
Bürgern Sorgen und Ängste auslösen würde, unter anderem, weil die EU noch
undurchsichtiger und un verstehbarer" 3 0 7 würde.

Als vordergründig banalste (und in der Umsetzung offensichtlich unerreich-


bare) Lösung dafür, dass sich die Bürger wieder als Teilnehmer des europäi-
schen Gemeinwesens verstehen, galt deshalb die Vereinfachung der bestehenden
Verträge. Analog zu den Erfahrungen in der Bundesrepublik, aber eben auch
der Vereinigten Staaten von Amerika könnte sich auf diesem Wege ein euro-
päischer „Verfassungspatriotismus" entwickeln. Auch unter diesem Vorzeichen
stand die Forderung nach einer Zweiteilung der Verträge in Artikel mit kon-
stitutionellem Charakter (in einem Grundvertrag) und solche mit detaillierten
Ausführungsbestimmungen. 3 0 8

Selbst eine „europäische Verbundsverfassung" wäre dem Bürger nur schwer


vermittelbar, weil die konstitutionellen Garantien und Grundsätze in dem über
Jahrzehnte gewachsenen, immer komplexer gewordenen Vertragswerk und den
Urteilen des EuGH für den Bürger nicht erkennbar sind. Dem theoretisch nicht
reizlosen Ansatz eines „Verfassungsverbunds" (/. Pernice™) sind bereits damit
messbare Grenzen gesetzt. Damit können die Verträge nicht die integrative Kraft

307
J. Fischer; Vom Staatenverbund zur Föderation- Gedanken über die Finalität der euro-
päischen Integration. Abdruck seiner Rede vor der Humboldt Universität Berlin (2000). Die
..für die Europapolitik unverzichtbare Akzeptanz" würde sich auch laut Fischer deshalb nur
dann einfinden, wenn der ..Zugang der Bürger zum Recht" verbessert wird (vgl. auch ders.,
Rede zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere, 28. Oktober 1999).
M8 D j e s e Ü b e r l e g u n g resultierte aus dem Bericht der ..Drei Weisen", den die Kom-
mission im Oktober 1999 in Auftrag gegeben hatte (vgl. European University Insti-
tute. A Basic Treaty for the European Union, 2 0 0 0 sowie Centrum für angewand-
te Politikforschung. Ein Grundvertrag f ü r die Europäische Union. 2000). Die Kom-
mission stieß deswegen die Diskussion um die ..Neugestaltung der vorhandenen Tex-
te"(vgl. die Rede von R. Prodi, Nizza - und danach. 29. November 2000. a b r u f b a r un-
ter www.europa.eu.int/rapid/start/cgi/guesten.ksh?p_action.gettxt=gt&doc=SPEECH/00
/ 4 7 5 % 7 C 0 % 7 C R A P I D & l g = D E ) bereits in der ersten Phase der Debatte an.
""' /. Pernice. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996.
S. 27 ff. Die von /. Pernice entwickelte Konzeption des Verfassungsverbunds hat inzwischen
hohen Bedeutungsgrad in der deutschen Debatte erlangt. Danach stehen Verfassung und
Rechtsordnung des Verbands ..Europäische Union" und der mitgliedstaatlichen Verbände in
einem so engen Verhältnis der gegenseitigen Verweisung, der gegenseitigen Anhängigkeil
und der Verflechtung, dass man die klassisch-völkerrechtliche Sichtweise (unabhängiger
Staat und internationaler Z u s a m m e n s c h l u s s ) überwinden müsse. Europäische Union und
Mitgliedstaaten sind danach rechtsnormativ in einer Weise z u s a m m e n g e w a c h s e n , dass
man sie als Bestandteile eines miteinander z u s a m m e n g e w a c h s e n e n Verbundes betrachten
müsse. Die zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bestehende Trennung werde durch
den Prozess des konstitutiven Z u s a m m e n Wachsens aufgehoben. E U - R e c h t s o r d n u n g und
118 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

einer Verfassung entfalten, weil die Bürger sich nicht als Träger des europäischen
Gemeinwesens verstehen. Die Verträge können also die Identifikations- und In-
tegrationsfunktion einer Verfassung kaum erfüllen. Die Komplexität führte aber
nicht nur zu mangelnder Akzeptanz und Entfremdung von der Europäischen Uni-
on. sondern auch zu Koordinationsproblemen im politischen System selbst, womit
auch die mangelhafte Organisationsfunktion der Verträge erneut angedeutet wäre.

Unter dem Strich trugen alle Defizite im Bereich der Legitimation, Organisation
und Begrenzung europäischer Macht zur mangelnden Identifizierung der Bürger
mit Brüssel bei. Dramatisch (und fälschlicherweise gerne gleichgesetzt mit dem
vorangegangenen Gedanken) war in der Folge auch der Identitätsverlust seitens
der Europäischen Union.

kk) Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung

Insgesamt hat sich herausgestellt, dass das ursprünglich zwischenstaatlich kon-


zipierte europäische Recht der anfänglichen Wirtschaftsgemeinschaft im Laufe
des Integrationsprozesses immer mehr konstitutionelle Funktionsnormen entwi-
ckelt hat. So legitimieren die Verträge europäische Macht, indem sie dem Bürger
Wahlmöglichkeiten und Petitionsrechte einräumen. Die Verträge begrenzen Macht,
indem sie die individuellen Menschenrechte der EU-Bürger schützen. Es hat sich
gezeigt, dass diese Konstitutionalisierung maßgeblich vom EuGH forciert wurde,
welcher bereits in den sechziger Jahren europäischem Recht Vorrang vor natio-
nalem Recht zusprach und ein Garant individueller Rechte wurde, indem er dem
Einzelnen Klagemöglichkeiten gegen Vertragsverstöße durch die Mitgliedsstaaten
gab. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich geworden, dass die Verträge und die
EuGH-Rechtssprechung wesentliche Funktionen einer Verfassung nicht erfüllen
können, denn sie leiten sich nicht vom pouvoir constituant eines souveränen Vol-

nationale Rechtsordnung w ürden miteinander verschmolzen. Die Verflechtung hätte einen


Grad erreicht, der es konzeptionell nicht mehr sinnvoll erscheinen ließe, zwischen zwei
verschiedenen Rechtsordnungen zu unterscheiden (vgl. I. Pernice, Art. 23, in: H. Dreier
(Hrsg.), Grundgesetz Kommentar. 1998. Rdnr. 20). Die in der Vergangenheit i m m e r wie-
der a u f t a u c h e n d e n Konflikte zwischen d e m Geltungsanspruch beider Rechtsordnungen
wären damit hinfällig. Im Hinblick auf das Z u s a m m e n w a c h s e n der Verfassungen m ü s -
se auch von einer einheitlichen „Verfassung E u r o p a s " gesprochen werden, in der E U -
Verfassungsrecht und nationale Verfassungen aufgegangen seien. Dies m ü n d e t in ein Ver-
fassungsverständnis, in dessen Mittelpunkt die europäische Verfassungsgesamtheit steht,
in der die mitgliedstaatlichen Verfassungen und die unionale Verfassung als „Teilverfas-
s u n g e n " (P. Hüberle) aufgehen (..Mehrebenen Verfassungsverbund", vgl. nur I. Pernice,
Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making
Revisited?, in: 3 6 C M L R e v . 1999. S . 7 0 3 ff.). Im Übrigen steht nicht die Frage nach der
Souveränität bzw. nach d e m Ausnahmefall im Zentrum des Denkens von Pernice, sondern
der Regelfall der Kooperation, vgl. auch M. Nettesheim. EU-Recht und nationales Verfas-
sungsrecht, Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter
www.fide2002.org/reportseulaw.htm).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 119

kes 310 ab und bieten dem Bürger nur unzureichende Möglichkeiten, die Politik
der Union demokratisch mitzugestalten. Erschwerend kommen die Sprachbarrie-
ren zwischen den Mitgliedsstaaten hinzu, die verhindern, dass eine europäische
Öffentlichkeit 3 " zustande kommt, die für das Funktionieren einer Verfassung
unerlässlich ist. Auch aus diesem Defizit lässt sich schließen, dass eine europäi-
sche Konstitution nicht die staatlichen Verfassungen ersetzen kann, weil sie nicht
gänzlich über die nötigen demokratischen Strukturen und Voraussetzungen, wie
sie üblicherweise vom Staat gewährleistet werden, verfügen würde.

Die Verfassungspläne, die während der Integrationsgeschichte vom Europäi-


schen Parlament entworfen wurden, hatten zum Ziel, diese Defizite zu lösen und
die unübersichtlichen Verträge durch ein einzelnes, übersichtliches Dokument zu
ersetzen. Initiativen zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union entstan-
den immer dann, wenn eine innere Krise diese Probleme sichtbar machte oder
wenn die europäische Integration durch Einflüsse von außen sich qualitativ verän-
derte. So war der Entwurf der Ad-hoc-Versanunhmg eine Reaktion auf die Korea-
Krise und sollte den Übergang zu einer politischen Gemeinschaft markieren.
Ähnlich versuchte der Herman-Entwurf von 1994. ein neues Selbstverständnis
der Europäischen Union nach dem Ende des Kalten Krieges zu definieren. Die
beiden neueren Entwürfe des Europäischen Parlamentes von 1984 und 1994
entstanden, um die Handlungsfälligkeit der Europäischen Union auch nach ei-
ner Erweiterung ihrer Mitgliederzahl zu sichern. Der Entwurf des Parlamentes
von 1994 reagierte auf die Akzeptanzkrise nach dem Maastrichter Vertrag, der
zwar immer mehr politische Befugnisse auf die Gemeinschaft übertragen, dem
Bürger aber kaum Gestaltungsmöglichkeiten europäischer Politik gegeben hatte.
Obgleich die Akzeptanz- und Handlungsprobleme der Europäischen Union, die
sie zu lösen versuchten, sich im Laufe der Integration verschärften und spätestens
seit Maastricht auch zur gelegentlich offenen Verweigerung der Europäischen
Union (Wahlen!) umschlugen, waren die Verfassungsentwürfe des Europäischen
Parlamentes zum Scheitern verurteilt, da sie die besonderen Bedingungen einer
europäischen Konstitutionalisierung nicht genügend berücksichtigten.

Die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union stellt keinen „eindeutig


abgrenzbaren linearen" Prozess dar. sondern ein „mehrpoliges System", in dem
„zwischen den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft sowie zwischen den Orga-
nen der EG ein sich fortwährend neu definierendes Gleichgewicht gesucht wird". 312

310
Z u m ..Volksbegriff* aus der Lit: A. Augustin, D a s Volk der Europäischen Union. Zu
Inhalt und Kritik eines normativen Begriffs, 2()(X): vgl. P. Hüberle, Europäische Verfas-
sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 306 f.
311
Grundlegend P. Hüberle, „europäische Öffentlichkeit"?. 2001 zuvor schon in: Fest-
schrift Hangartner. 1998. S. 1007 ff.
312
Zitate nach R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der E G .
in: R. W i l d e n m a n n (Hrsg.): Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union.
1991. S. 393 ff.. 4 1 2 f.
120 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Laut I. Pernice ist eine „geschachtelt konstituierte europäische Gesamtordnung"


entstanden, die „ein einheitliches, föderal strukturiertes System bildet, in dem
die nationalen Verfassungen und das europäische Primärrecht Teilelemente eines
Europäischen Verfassungsverbundes bilden". 3 1 3

11) Die Verfassungsqualität der G e m e i n s c h a f t s Verträge

In der Literatur ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass das Primärrecht
der Europäischen Union Verfassungsqualität 3 1 4 hat. dass aber unter Zugrundele-
gung eines substantiell angereicherten Verfassungsbegriffs Defizite bestehen.

Die rechtsdogmatische Qualifikation der Europäischen Gemeinschaften berei-


tete hingegen schon zur Zeit ihrer Gründung erhebliche Schwierigkeiten. 3 1 5 Im
Zuge ihrer weiteren Entwicklung und Ausgestaltung zu einer politischen Union
und „Werte-Gemeinschaft" haben sich diese noch erheblich verstärkt.

Zwar charakterisierte schon W. Hallstein die EWG als „Rechtsgemeinschaft"


und nicht lediglich als ein Bündel völkervertraglicher Rechte und Pflichten der
verbundenen Staaten. 3 ' 6 Bemerkenswert äußerte sich auch der EuGH - bereits in
diesem Kontext - , der in seiner berühmten Les Verts-Entscheidung bestätigte,
„dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art
ist. dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle

313
/. Pernice. Der europäische Verfassungsverbund auf d e m W e g der Konsolidierung,
in: J ö R . Bd. 48 (2000). S. 205 ff., 210.
314
Grundsätzlich zur Frage eines konstitutionellen Europas: PHäberle, Europäi-
sche Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999; ders.. Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001: M. Zuleeg,
Die Vorzüge der europäischen Verfassung, in: Der Staat 41 (2002), S. 359 ff.: R. Scholz. We-
ge zur Europäischen Verfassung, in: ZG 2002. S. I ff.; A. von Bogdandy. Europäische Prinzi-
pienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. 2003. S. 149 ff.; I. Pernice. Die
Europäische Verfassung, in: Festschrift Steinberger, 2002. S. 1319 ff.: H.H. Rupp. Anmer-
kungen zu einer Europäischen Verfassung, in: JZ 2003, S. 18 ff.; E. Pache. Eine Verfassung
für Europa - Krönung oder Kollaps der Europäische Integration?, in: EuR 2002. S. 767 ff.
' 1 5 Vgl. dazu allgemein A. Riklin, Die Europäische G e m e i n s c h a f t im System der Staa-
tenverbindungen. 1972.
316
W. Hallsrein. Die Europäische G e m e i n s c h a f t , 1. Aufl. 1973, S . 4 9 : H. P.lpsen, Eu-
ropäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 197 ff., sieht in der G e m e i n s c h a f t einen Zweck-
verband und unterstreicht damit auch den Unterschied zur „Staatlichkeit als u m f a s s e n d e r
geistig-sozialer Wirklichkeit, potenziell unbeschränkter Kompetenzfülle von Gebiets- und
Personalhoheit". Zu \V. Hallstein: M. Kilian, Der Visionär, in: C . D . C l a s s e n u . a . (Hrsg.),
..In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber a m i c o r u m T h o m a s
O p p e r m a n n . 2001. S. 119 ff. Hallsteins Werke dürfen zu den Klassikern des gemeinschafts-
rechtlichen S c h r i f t t u m s gezählt werden, vgl. auch ders., Der unvollendete Bundesstaat.
Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. 1969. Zur Europäischen Union als ..Rechtsge-
m e i n s c h a f t " R. Streinz, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft. Rechtsstaatliche
Anforderungen an einen Staatenverbund, in: Festschrift für Detlev Merten. 2007. S. 395 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 121

darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsur-


kunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen". 3 1 7 Unentschieden blieb jedoch
die grundlegende Frage, ob die Gemeinschaften bzw. die Union (noch) mit dem
herkömmlichen begrifflichen Instrumentarium des Staatsrechts oder des Völker-
rechts qualifiziert werden können 3 1 8 oder ob sie sich einer solchen Einordnung
konzeptuell bereits entziehen. 3 1 9

317
E u G H Slg. 1986. 1339 (1365 f.).
318
Vgl. auch W. Hummer. ..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instru-
mente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungs-
konvent - Strategien und Argumente. Sonderheft 1/2003, S. 53 ff. 55 f.: umfassend bereits
VV. Meng, Das Recht der internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des
Völkerrechts. Zugleich eine Untersuchung zur Rechtsnatur des Rechts der Europäischen
G e m e i n s c h a f t e n , 1979.
319
Zur rechtlichen Natur der Europäischen Union sei noch ergänzt, dass die Union
zunächst auf mehreren, in der Art der Z u s a m m e n a r b e i t zwischen den Staaten abgestuften
Gemeinschaften basiert. Diese „drei Säulen E u r o p a s " umfassen die Europäischen Gemein-
schaften als erste Säule (Die Europäischen G e m e i n s c h a f t e n (die E G . die E G K S - im Jahr
2 0 0 2 in die Anwendungsbereiche des E G V überführt - sowie die Euratom) bilden seit
dem am 0 1 . 1 1 . 1 9 9 3 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht Untereinheiten der Euro-
päischen Union und wurden durch diesen Vertrag ergänzt um PJZ und GASP. vgl. etwa
M. Herdegen, Europarecht. 8. Aufl. 2006. S . 3 8 f . ) , die G e m e i n s a m e Außen- und Sicher-
heitspolitik ( G A S P ) als zweite Säule sowie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen (PJZ) als dritte Säule. W ä h r e n d es sich bei der zweiten und dritten Säule
um Strukturen mit rein intergouvernementaler Z u s a m m e n a r b e i t handelt, die teilweise auf
die Organe der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n zurückgreifen, bilden die Europäischen Ge-
meinschaften eine besondere Form völkerrechtlicher Verträge durch Ihren Charakter als
„supranationale Organisationen" und sind in ihrer rechtlichen Gestalt weltweit einzigartig
(so auch M. Heintzen, Vom Dickicht der Verträge zur europäischen Verfassung? Vortrag
vom 27. 11.2000 im Rahmen des Studienganges Journalisten-Weiterbildung der Freien Uni-
versität Berlin. www.fu-berlin.de/jura/netlaw/pubikationen/beitraege/ssOO-heintzen.html).
Wesentlich f ü r die B e g r ü n d u n g dieses supranationalen S t a a t e n z u s a m m e n s c h l u s s e s ist die
Übertragung von Teilen nationaler Hoheitsgewalt durch die Mitgliedstaaten auf die Europäi-
schen Gemeinschaften. Dadurch liegt sowohl legislative als auch judikative Entscheidungs-
und Regelungsgewalt gegenüber den Völkern dieser Staaten in den Händen der Europäi-
schen Gemeinschaftsorgane, die beispielsweise im Fall der Europäischen Kommission und
des E u G H auch unabhängig von nationaler Willensbildung tätig werden. Das Primärrecht
der Europäischen Union setzt sich z u s a m m e n aus d e m primären Gemeinschaftsrecht (das
durch die vertraglichen Grundlagen der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n gebildet wird) und
den Grundlagenverträgen der Europäischen Union, das Sekundärrecht besteht aus allen
Rechtsakten, die auf der G r u n d l a g e des Primärrechtes gesetzt werden und ebenfalls mit-
telbare als auch unmittelbare W i r k u n g a n n e h m e n können. Die sog. intergouvernementale
Z u s a m m e n a r b e i t wirkt insbesondere in den Bereichen der zweiten und dritten Säule der
Europäischen Union, in denen die Staaten auf d e r G r u n d l a g e völkerrechtlicher Verträge,
die j e d o c h auf das jeweilige nationale Recht nur mittelbaren Einfluss haben, kooperieren.
Nur die Europäischen G e m e i n s c h a f t e n sind sowohl im völkerrechtlichen Sinne als auch
im innerstaatlichen Rechtsverkehr im Rahmen der Kompetenzen der EG rechtsfähig. (Aus-
drücklich anerkannt in den drei Gründungsverträgen: Art. 281 und 282 EGV. Art. 6 E G K S
122 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

In die Verfassungstheorie lassen sich nichtstaatliche Verbände dadurch dogma-


tisch einbeziehen, dass man innerhalb eines weiter gefassten Verfassungsbegriffs
verschiedene Verfassungstypen unterscheidet. Bisher sind nach der Art des Ver-
bandes drei Verfassungstypen zu unterscheiden, nämlich die Staatsverfassung,
die bundesstaatliche Gliedstaatsverfassung und - ggf. - die Unionsverfassung.
T. Schmitz ist zuzustimmen , dass die essentiellen Lehren der Verfassungstheo-
rie auf alle Verfassungstypen anwendbar sind, während weitere Lehren nur für
bestimmte Verfassungstypen gelten und allenfalls nach umsichtiger Anpassung
auf andere übertragen werden können. 120 Die Einbeziehung staatsähnlicher Ver-
bände bedeutet demnach also keine vollständige Gleichstellung einer etwaigen
Unionsverfassung mit der eines Staates.

Unübersehbare Parallelen zwischen den Gründungsverträgen der Europäischen


Gemeinschaften und einer Verfassung haben im europarechtlichen Schrifttum
allerdings schon früh zu einer verfassungsrechtlichen Interpretation der Verträge
geführt. Bereits Ophüls verwies darauf, dass sie eine Grundordnung enthielten,
ein in sich geschlossenes System, das im Gemeinschaftsrecht ähnlich herrsche
wie die staatliche Verfassung im nationalen Bereich. 121 Hinsichtlich der teils
erst für spätere Zeitpunkte festgelegten Integrationsschritte sprach er von „Pla-
nungsverfassungen". Ipsen benannte sie später angesichts der bereits mehrfach
erfolgten Vertragsänderungen als „Wandelverfassungen". 322 In den achtziger Jah-
ren ging die Lehre zunehmend dazu über, die Verträge unter Hinweis auf ihre
zum Teil verfassungstypischen Regelungsinhalte und Funktionen als Verfassung
zu charakterisieren; dabei war durchaus an eine Verfassung i . S . d . normativen
Verfassungsbegriffs der Verfassungstheorie gedacht.

(I) Ausgewählte Verfassungsattribute

Die Verträge sind Verträge zwischen Mitgliedstaaten, welche sich ursprüng-


lich auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die damit verbundenen
Wirtschaftspolitiken beziehen (sollten). Als „Zweckverband" ist ihr Geltungsbe-
reich im Gegensatz zur Verfassung also nicht universal, sondern auf einzelne
Politikbereiche begrenzt. 3 2 3 Anders als eine Verfassung im „klassischen" Sinne

sowie Art. 184 und 185 Euratom). Die EU sollte dagegen bisher augenscheinlich keine auf
völkerrechtlicher Ebene rechtsfähige Organisation sein (vgl. M. Herdegen (2006). S . 6 5 ) .
320
T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 398 ff.
321
C. F. Ophüls, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassungen, in:
J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung 1. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft.
1965. S. 229 ff.
322
Vgl. H.P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs f ü r die Inte-
gration. in: J. Schwarze (Hrsg.). Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und
Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 29 ff. Siehe bereits ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht.
1972, S. 64. wo vom ..Inbegriff des P r i m ä r r e c h t s " als der ..materiellen Verfassung der
G e m e i n s c h a f t " die Rede ist.
323
Vgl. H.P. Ipsen. Fusionverfassung Europäische G e m e i n s c h a f t e n , 1969. S. 54.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 123

konstituieren sich die EU- und EG-Verträge eben auch nicht aus einem - beispiels-
weise revolutionären - Gründungsakt einer politischen Gemeinschaft, sondern
leiten sich aus dem Vertragsabschluss souveräner Staaten ab. Laut Art. 48 EUV
muss deshalb jede Änderung der EU-Verträge an den Anforderungen der nationa-
len Verfassungen gemessen und von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden,
und theoretisch können die Mitgliedsstaaten (in einer besonderen Ausdrucksform
jenes Attributes) als „Herren der Verträge" 324 die Mitgliedschaft wieder aufkün-
digen.

Gleichwohl existieren Merkmale, die den Verträgen partiell Verfassungsqualität


verleihen. Demzufolge sei mit einigen Stichpunkten und freilich unvollständig auf
einige Attribute hingewiesen.

Was die EG- und EU-Verträge zunächst von internationalen Verträgen unter-
scheidet. ist der teilweise Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten durch die ver-
traglich festgelegte Errichtung einer supranationalen Behörde und eines Gerichts-
hofs. Die Kommission hat das alleinige Initiativrecht für Gesetze (Art. 211 EGV)
und kontrolliert die Implementierung dieser Gesetze auf nationaler Ebene. 325 Die
funktionale Ausweitung der Verträge auf immer neue Wirtschafts- und Politik-
bereiche und die damit verbundene Übertragung ursprünglich nationalstaatlicher
Kompetenzen auf die supranationale Ebene hat dazu geführt, dass die Verträge
wesentliche Funktionen übernommen haben, die im staatlichen Bereich von einer
Verfassung erwartet und erfüllt werden. In Bezug auf die Legitimationsfunktion
haben die Verträge dem ursprünglichen „Marktbürger" 3 2 6 im Integrationsprozess
immer mehr Partizipationsrechte gewährleistet. Dazu zählt seit 1979 das aktive
Wahlrecht zu den Direktwahlen des Europäischen Parlaments, was seit „Maas-
tricht" mit der Unionsbürgerschaft auch auf das aktive und passive Wahlrecht
bei Kommunalwahlen in j e d e m Mitgliedsstaat ausgeweitet wurde. Mit der Uni-
onsbürgerschaft erhielt der Einzelne auch das Recht, Eingaben und Beschwerden
an das Europäische Parlament zu richten. Dazu gibt es einen Bürgerbeauftrag-

324
Kritisch freilich P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 192. da
die Staaten „im EU-Europa ohnehin nicht m e h r .Herren der Verträge' sind." Im demokrati-
schen Europa könne es keine „ H e r r e n " geben. Die auf der würde des Menschen a u f b a u e n d e
..Bürgergemeinschaft E u r o p a s " m a c h e die Herrenideologie gegenstandlos (vgl. ebenda.
Fn. 21). P.Häberles Bezug zur ..Herrenideologie" erscheint j e d o c h ein wenig konstru-
iert - bei aller zugestanden unglücklichen Wortwahl.
Bei der G r ü n d u n g der Europäischen G e m e i n s c h a f t f ü r Kohle und Stahl ( E G K S ) im
Jahr 1950 eröffnete sich durch diesen Souveränitätsverzicht für Frankreich die Möglichkeit,
auf friedliche Weise den Kern des deutschen Wirtschaftspotentials zu kontrollieren, und
für den Kriegsverlierer Deutschland die gleichberechtigte A u f n a h m e in eine internatio-
nale Organisation. Ausgehend von diesem „kleinsten g e m e i n s a m e n N e n n e r " sollten die
Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, auf weiteren Gebieten „gemeinsame Lösungen zu
suchen", vgl. C. Giering. Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, 1997. S . 4 5 .
326
Zu diesem Begriff siehe auch S. Hobe. Die Unionsbürgerschaft nach d e m Vertrag
von Maastricht, in: Der Staat. Nr. 32 (1993). S. 2 4 5 ff.. 246.
124 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ten, der im Interesse der Bürger die Organe zu Stellungnahmen auffordern kann
(Art. 195 EGV). Gleichzeitig haben sich im Laufe der Integrationsgeschichte im-
mer mehr allgemein als „demokratisch" bezeichnete Rechtsgrundsätze entwickelt,
wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Rechtssicherheit.

Die verfassungsmäßige Begrenzung von Hoheitsgewalt zum Schutz des Ein-


zelnen in Form von Grund- und Bürgerrechten ist im Prozess der schrittweisen
Vertragsänderungen ebenfalls ausgebaut worden. Laut Art. 6 E U V achtet die Uni-
on die Grundrechte, welche in der EMRK „gewährleistet sind" und die sich aus den
„gemeinsamen Verfassungen der Mitgliedsstaaten ergeben". Dazu gehören seit
„Amsterdam" auch der Schutz vor ..Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts,
der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion" oder „der Weltanschauung", ei-
ner „Behinderung", des „Alters" oder der „sexuellen Ausrichtung" (Art 13 EGV).
In Art. 136 EGV werden zudem grundsätzliche soziale Rechte bestimmt, sowie in
Art. 3 Abs. 2 EGV die „Gleichstellung von Männern und Frauen". Mit dem Ver-
trag von Nizza ist außerdem ein Frühwarnsystem eingebaut worden: Art. 7 E U V
wurde so geändert, dass der Ministerrat auch vorbeugend tätig werden kann, wenn
90 Prozent des Rates feststellen, dass die Gefahr einer schwerwiegenden Verlet-
zung grundlegender gemeinsamer Werte besteht. Der in Maastricht geschaffene
„status activus" der Unionsbürgerschaft soll dem Bürger durch Petitions- und Ap-
pellationsrechte ein gewisses „Nähe- und Akzeptanzverhältnis" zur Europäischen
Union ermöglichen und so zur Integration und Identifikation beitragen. Auch das
Subsidiaritätsprinzip 3 2 7 (Art. 5 EGV) soll garantieren, dass Entscheidungen „mög-
lichst bürgernah getroffen werden sollen" (Präambel EUV). 3 2 8 Gleichzeitig ist die
Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staatsangehörigkeit
gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" (Art. 6,
Abs. 3 EUV).

(2) Die Qualifikation der Verträge durch den EuGH -


ein „europäisches Marbury vs. Madison"

Die konstitutionellen Merkmale des bisherigen Gemeinschaftsrechts erschlie-


ßen sich nicht nur aus dem Wortlaut der Verträge, sondern auch aus höchstrich-
terlichen Leitentscheidungen. 3 2 9 In seiner Rolle als unabhängige permanente Ge-

327
Die Lit. zum ..Subsidiaritätsprinzip" ist uferlos. Vgl. etwa H. Lecheler, Das Subsidia-
ritätsprinzip - Strukturprinzip einer europäischen Union. 1993: P. Häberle, Das Prinzip der
Subsidiarität aus Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 118 (1994). S. 169 ff.:
A.Riklin/G. Batline r (Hrsg.). Subsidiarität. 1994: D.Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität
Europas. 1993.
328
Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staats-
angehörigkeit gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten"
(Art. 6. Abs. 3 EUV).
329
Die diesbezüglichen Ansätze des französischen Conseil Constitutionnel beleuch-
tet J. Dutheil de la Roche re, T h e French Conseil Constituionnel and the constitutional
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 125

richtsinstanz für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH als „Mark-
stein" rechtsschöpferischer Gerichtsbarkeit das Gemeinschaftsrecht von der völ-
kerrechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung
auf eine Verfassung entwickelt. 3 3 0

Dieser Konstitutionalisierungsprozess durch den EuGH ist gekennzeichnet


durch zwei Grundprinzipien: Die direkte Wirkung des EG-Rechts auf den Bürger
und der Vorrang der europäischen Rechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten.

development of the European Union, in: M. K l o e p f e r / I . Pernice (Hrsg.), Entwicklungs-


perspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam. 1999.
S . 4 3 f f . Das BVerfG hat verschiedentlich untechnisch von einer Gemeinschaftsverfassung
gesprochen, zur verfassungstheoretischen Einordnung der Verträge aber bislang nicht Stel-
lung g e n o m m e n . Gleichwohl ist (trotz inflationärer Literatur) in diesem Z u s a m m e n h a n g die
„Maastricht"-Entscheidung des BVerfG vom 12. Oktober 1993 zu nennen, in welchem das
BVerfG den Gründungsvertrag d e r Union sowie die Europäische Union selbst mit folgen-
den Worten qualifiziert: ..Der Vertrag begründet einen europäischen Staatenverbund, der
von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; er betrifft die
Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zugehörigkeit
zu einem europäischen Staat [ . . . ] . Der Unions-Vertrag begründet [ . . . J einen Staatenver-
bund zur Verwirklichung einer i m m e r engeren Union der - staatlich organisierten - Völker
Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat [ ]. Wohin ein
europäischer Integrationsprozess nach weiteren Vertragsänderungen letztlich fuhren soll,
mag in der Chiffre der .Europäischen U n i o n ' zwar im Anliegen einer weiteren Integration
angedeutet sein, bleibt im gemeinten Ziel letztlich jedoch o f f e n . Jedenfalls ist eine G r ü n -
dung ,Vereinigter Staaten von Europa', die der Staatswerdung der Vereinigten Staaten von
A m e r i k a vergleichbar wäre, derzeit nicht beabsichtigt" ( B V e r f G E 89. S. 155 ff. (Rdnr. 33.
51. 53). Damit verwirft das BVerfG nicht n u r ( f ü r den damaligen Integrationsstand) j e d -
weden Staatsbezug, sondern sieht auch für die weitere Ausgestaltung der G e m e i n s c h a f t e n
bzw. der Union - nicht einmal für die Verwirklichung der Wirtschafts- und W ä h r u n g s u -
nion - ..keinen in seinem Selbstlauf nicht m e h r steuerbaren , A u t o m a t i s m u s " ' (BVerfGE
ebenda. Rdnr. 88). der unter Umständen zu Formen föderaler Staatlichkeit führen könnte.
In der vom BVerfG gewählten Beschreibung der Europäischen Union als „Staatenverbund"
drückt sich allerdings die ganze Hilflosigkeit nicht nur der Doktrin, sondern auch der
höchstrichterlichen Judikatur mitgliedstaatlicher Gerichte aus. die hybride Rechtsnatur der
Europäischen Union auch nur einigermaßen exakt zu beschreiben. Der Begriff ..Staaten-
verbund" stellt in diesem Z u s a m m e n h a n g (und bis zur wegweisenden Ausgestaltung durch
/. Pernice, vgl. statt vieler Aufsätze ders.. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungs-
verbund. in: EuR 1996. S. 27 ff.) geradezu den Schulfall einer ..semantischen L e e r f o r m e l "
dar. täuscht er doch - allerdings nur auf der semantischen Ebene - einen (vermeintlichen)
Konsens in der (völkerrechtlichen) Lehre der Staatenverbindungen über die rechtliche
Qualität der Europäischen Union vor, der als solcher aber nicht existiert.
330
Vgl. auch M.A.Dauses, Die Rolle des E u G H als Verfassungsgericht der EU, in:
Integration. 4 / 1 9 9 4 . S. 215 ff.. 215. Zu ebendieser Rolle des E u G H als „Verfassungsgericht"
siehe bereits G. C. Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
als Verfassungsgericht, in: EuR 1992. S. 2 2 5 ff.; T. Hitzel-Cassagnes, Der Europäische
Gerichtshof: Ein europäisches .Verfassungsgericht'?, in: A P u Z . B. 5 2 - 5 3 / 2 0 0 0 . Siehe
auch F. G. Jacobs, A new Constitutional Role for the European Court of Justice in the next
decade?, in: M. K l o e p f e r / I . Pernice (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven der europäischen
Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam. Baden-Baden 1999. S. 56 ff.
126 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der EuGH entschied bereits 1963 in der berühmten Rs. Van Gend & Loos, dass EG-
Recht anders als in internationalen Organisationen nicht nur für Staaten, sondern
auch unmittelbar für deren Bürger gilt, indem er den Bürgern die Möglichkeit gab.
Gemeinschaftsrecht vor ihren jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen. 1 ' 1 Die
nationalen Gerichte müssen demnach EG-Recht unabhängig von der jeweiligen
Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten anwenden. Mit der Ausweitung der Kla-
gemöglichkeit auf Einzelpersonen und Unternehmen ist der EuGH nicht mehr
nur ..Kontrollorgan der Staaten und der Gemeinschaftsorgane", sondern - wie ein
Verfassungsgericht - auch ein „Gralshüter" jener Rechte und Freiheiten der EG-
Bürger, die in den Vertragstexten begründet sind. 112 Den übergeordneten Charak-
ter des EG-Rechts vor nationalem Recht bestätigte der EuGH kurz darauf in der
Rs. Costa/ENEL:
„Mit d e r Übertragung von Hoheitsrechten [ . . . ] auf die G e m e i n s c h a f t [ . . . ] haben die
Mitgliedsstaaten ihre [ . . . ] Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper
geschaffen, der für sie und ihre Angehörigen verbindlich i s t . " 3 "

Mit dieser Rechtssprechung wurde den Verträgen Vorrang vor nationalem


Recht verliehen, indem spezifischen europäischen Freiheiten des Einzelnen gegen
Eingriffe der Mitgliedsstaaten Schutz erwuchs. Um dieser verfassungsmäßigen
Begrenzungsfunktion von Hoheitsgewalt auch auf der Ebene der Europäischen
Union gerecht zu werden, integrierte der EuGH eine „Grundrechtsdoktrin" in seine
Rechtssprechung, welche über die im EWG-Vertrag vorgesehenen wirtschaftli-
chen Freiheiten und den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Nationalität
hinausreichte. Weil die Verträge selbst keinen Grundrechtskatalog besitzen, be-
rief sich der EuGH seit 1970 (Rs. Internationale Handelsgesellschaft) auf die
gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedsstaaten und der EMRK. 1 - 14

Ebenfalls in der Rs. Van Gend & Loos hatte sich der EuGH 1963 mit der Rechts-
natur der EWG und deren Gründungsvertrag auseinander zu setzen gehabt 335 und
dabei statuiert, dass der EWG-Vertrag „mehr ist als ein Abkommen, das nur wech-
selseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet"
sowie „dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt,
zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souve-

331
Vgl. E u G H . Rs. 2 6 / 6 2 . Van Gend & Loos. Slg. 1963, S. 1 ff.. 24.
332
So auch M.A. Dauses (1994). S. 215.
333
E u G H . Rs. 6 / 6 4 . C o s t a / E N E L , Slg. 1964. S. 1141 f f „ 1251.
334
Die Organe müssen d e m n a c h bei der Gesetzgebung, die Mitgliedsstaaten bei der
Umsetzung von EG-Recht diese Menschenrechte beachten. Auch ohne Grundrechtskatalog
gab es also genügend M e c h a n i s m e n , die sicherstellen, „dass die Organe und Mitglieds-
staaten die Grenzen der ihnen übertragenen öffentlichen Autorität nicht überschreiten" (so
U.K. Preuß. Auf der Suche nach Europas Verfassung, in: Transit 1999 (17). S. 154 ff.. 155).
335
Vgl. hierzu sowie zu den weiteren relevanten Ansätzen des E u G H W. Hummer.
..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode, in: Politische Studien. Sonderband
1/2003. S. 54 ff.. 57 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 127

riinitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte


nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind'*.336 Ein Jahr später
entwickelt der EuGH in der benannten Rs. Costa! EN EL diesen Gedanken der
Eigenständigkeit der Rechtsordnung der EWG weiter fort:

. Z u m Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag ei-


ne eigene Rechtsordnung geschaffen [ . . . J Denn durch die G r ü n d u n g einer G e m e i n s c h a f t
für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit,
mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschrän-
kung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Ü b e r t r a g u n g von Hoheitsrechten
der Mitgliedstaaten auf die G e m e i n s c h a f t herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist.
haben die Mitgliedstaaten, wenngleich auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souverä-
nitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen
und für sie selbst verbindlich i s t . " " '

Dieser von ihm selbst benannte völkerrechtliche Ursprung der Europäischen


Gemeinschaften hinderte den EuGH hingegen nicht, wiederholt deren Gründungs-
verträge als „Verfassungen" zu bezeichnen und damit (gewollt oder ungewollt)
eine staatsrechtliche Analogie zu ziehen. So bediente sich der EuGH erstmals der
Begrifflichkeit „Verfassung" - wenngleich zunächst noch in Form eines bloßen
obiter dictum - in seinem Gutachten I/7633*, wo er von der „inneren Verfas-
sung der Gemeinschaft" spricht, im Anschluß aber bereits pointiert in der Rs. Les
Verts, in der er den EWG-Vertrag explizit als „die Verfassungsurkunde der Ge-
meinschaft" bezeichnet. 339 Diese Formulierung nimmt der EuGH in der Folge
in der Rs. Zwartveld wieder auf und postuliert, dass weder die Mitgliedstaaten
noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, „ob ihre
Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem
Vertrag, stehen". 3 4 0 Im Gutachten 1/91 qualifiziert der EuGH den EWG-Vertrag
(kontrastierend zum EWR-Vertrag) wie folgt:

..Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Über-
e i n k u n f t geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechts-
gemeinschaft dar." 541

336
E u G H . Rs. 2 6 / 6 2 , Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. I ff., 25.
337
E u G H . Rs. 6 / 6 4 . C o s t a / E N E L , Slg. 1964. S. 1141 ff.
338
E u G H . Gutachten 1/76 vom 26. April 1977, Stilllegungsfonds für die Binnenschiff-
fahrt.
Slg. 1977, S. 741 ff.
339
In der französischen Fassung: ..Charte constitutionnclle de base", vgl. insge-
samt E u G H . Rs. 2 9 4 / 8 3 . Parti'ecologiste ..Les Verts"/Europäisches Parlament. Slg. 1986.
S. 1339 ff.
340
E u G H . Rs. C - 2 / 8 8 . J.J. Zwartveld u . a . . Beschluss vom 13.Juli 1990. Slg. 1990.
S. 1-3365. Rdnr. 16.
341
E u G H . Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991, E W R . Slg. 1991 S. 6 0 7 9 ff.
128 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Schließlich sucht der EuGH in der Rs. Beate Weber wieder den Kontext zu seiner
Formulierung in der Rs. Zwartveld, indem er die Zulässigkeit einer Nichtigkeits-
klage damit begründet, dass „weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsor-
gane der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit
der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen'*. 342 Im Übrigen
stellte auch das EuG in der Rs. Martfnez fest, dass der Gründungsvertrag der EG
als „Verfassungsurkunde" der Gemeinschaft zu erachten ist. 341

Im Ergebnis hat der EuGH die verfassungsrechtliche Sichtweise zunächst durch


seine kontinuierlich rechtsstaatlich-staatsanaloge und systembildende Rechtspre-
chung gefördert und schließlich mit der Entscheidung Les Verts von 1986 und
dem I.Gutachten zum EWR-Abkommen von 1991 übernommen, ohne sie aller-
dings näher zu begründen oder zu erläutern. Andererseits ist sich der EuGH aber
durchaus der Grenzen einer solchen staatsrechtlichen Analogie bewusst, vor allem
was einen eventuellen „föderalen" Charakter der vertikalen Kompetenzverteilung
zwischen den Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten betrifft. 3 4 4

Insgesamt lässt sich mit Blick auf die Leitentscheidungen des EuGH (insbeson-
dere 1963 und 1964) und angesichts der Parallelen zu den US-Entwicklungen von
einem „europäischen Marbury vs. Madison" 3 4 5 sprechen.

342
E u G H . Rs. C - 3 1 4 / 9 1 . Beate W e b e r / E u r o p ä i s c h e s Parlament. Slg. 1993. S. I-1093 ff..
Rdnr.8.
343
E u G . verb. Rs. T - 2 2 2 . 327 und 3 2 9 / 9 9 . Jean Claude M a r t f n e z u a / E u r o p ä i s c h e s
Parlament. Slg. 2001, S. 11-2823, Rdnr. 48.
344
So weist er zu d e m Vorbringen der deutschen Bundesregierung in der Rs. C-359/
92 - die der Kommission in Art. 9 der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie (1992)
eingeräumte B e f u g n i s stehe „in Widerspruch zu der Verteilung der Befugnisse zwischen
den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten" und gehe damit ..über die Befugnisse
hinaus, die in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland d e m Bund gegen-
über den Ländern z u s t ü n d e n " - darauf hin, ..dass die Vorschriften, die die Beziehungen
zwischen der G e m e i n s c h a f t und ihren Mitgliedstaaten betreffen, nicht die gleichen sind wie
diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander v e r b i n d e n " ( E u G H . Rs. C - 3 5 9 / 9 2 ,
Deutschland / R a t . Slg. 1994. S. 1-3681 ff., S. 1-3712, Rdnr.38). Auch der Generalanwalt
F.G.Jacobs weist in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache darauf hin. dass „mir
eine solche Analogie zur Verteilung der Befugnisse nach der deutschen Verfassung jedoch
neben d e r Sache zu liegen [scheint]" (vgl. die Schlussanträge des GA Jacobs in der Rs.
C - 3 5 9 / 9 2 (Fn. 34). S. 1-3694. Rdnr.39). Damit erkennen sowohl der E u G H als auch der Ge-
neralanwalt. dass die „vertikale Kompetenzverteilung" im Sinne einer (bloßen) „begrenzten
E i n z e l e r m ä c h t i g u n g " mit final ausgerichteten Organkompetenzen zwischen den Mitglied-
staaten der G e m e i n s c h a f t e n bzw. der Union mit der bundesrepublikanischen föderalen
Kompetenzverteilung nichts gemein hat. sondern anderen Gesetzmäßigkeiten - außerhalb
des Staatsrechts - folgt. Vgl. auch W. Hummer (2003), S. 57 f.
345
Zur zitierten Entscheidung des U S - S u p r e m e Courts unter B . I V . 2 b ) a a ) .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 129

(3) Völkerrechtliche Qualifikationen


Neuerdings wird der herrschenden Qualifikation' 4 6 einer zwischen den beiden
Polen eines völkerrechtlichen Staatenbundes bzw. eines staatsrechtlichen Bun-
desstaates 3 4 angesiedelten gegenwärtigen Hybridform als Gebilde „sui generis"
insoweit entgegengetreten, als dies nicht schlüssig die Existenz einer eigenen au-
tonomen Rechtsordnung im Sinne einer „lex contractus" 3 4 8 nach sich ziehen muss.
Vielmehr seien die Kategorien der Allgemeinen Staatslehre sowie der Lehre von
den völkerrechtlichen Staatenverbindungen 3 4 9 flexibel genug, um auch eine Ein-
ordnung der Europäischen Union nach herkömmlicher Terminologie vornehmen
zu können. 350

Selbst das Abgrenzungskriterium der „Kompetenz-Kompetenz" stellt keine


plausible Trennlinie dar. Denn völkerrechtlich ist die souveräne Selbstbestim-
mung, also die Unabhängigkeit von Dritten entscheidend, nicht aber, ob innerhalb
der Staatenverbindung die „Kompetenz-Kompetenz" bei der zentralen oder bei
den dezentralisierten Einheiten liegt. Letzteres ist wiederum maßgeblich für die
föderale Ausgestaltung und die Gewaltenbalance in diesem Verbund, nicht aber
für die Selbstständigkeit gegenüber Dritten, die aus völkerrechtlicher Sicht das
Kriterium für den Bestand einer „Staatsgewalt" darstellt. 351

Bezug nehmend auf die klassische „Drei-Elemente-Lehre" des Völkerrechts


für das Vorliegen eines souveränen Staates wird behauptet, dass der EU eben jene
drei Elemente fehlen würden:

346
Im Sinne eines „dualistischen Rechtsdenkens*'.
147
Einem sehr allgemeinen Ansatz folgend liegt der Unterschied zwischen Staatenbün-
den und Bundesstaaten grundsätzlich im A u s m a ß der Zentralisierung bzw. Dezentralisie-
rung der A u f g a b e n w a h r n e h m u n g , wobei die Grenzen aber fließend sind.
348 Ygj p f j s c i J e r D i e EU - eine a u t o n o m e Rechtsgemeinschaft? Gleichzeitig ein
..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Beitrag zur Problematik des d u a -
listischen Rechtsdenkens in der internationalen Jurisprudenz, in: W. H u m m e r (Hrsg.),
Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer
Völkerrechtler zu aktuellen Problemlagen. 2003. S. 3 ff.
149
Klassiker etwa G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen. 1882; J. L. Kunz,
Die Staatenverbindungen. 1929; H.Kelsen, General T h e o r y of Law and State, 1949;
R. Bindschedler; Rechtsfragen der europäischen Einigung. Ein Beitrag zu der Lehre von
den Staatenverbindungen, 1954.
350
Diese Beobachtung und Differenzierung stützt sich auf W. Hummer, „Verfassungs-
Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in:
Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente.
Sonderheft 1/2003. S. 53 ff. 56. Vgl. auch 5. Griller, Der ..Sui G e n e r i s - C h a r a k t e r " der EU
und die Konsequenzen für die Verfassungsoptionen. Ein Versuch der Entmythologisie-
rung des Verfassungsstreits, in: W. H u m m e r (Hrsg.). Paradigmenwechsel im Europarecht
zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Europarechtler zu aktuellen Problemla-
gen. 2()03. S. 23 ff.; siehe auch A. Riklin, Die Europäische G e m e i n s c h a f t im System der
Staatenverbindungen. 1972. S. 3 3 0 ff.
351
Vgl. auch S. Griller (2003), S. 26 ff.
130 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

- So habe sie bereits kein Staatsvolk, sondern gem. Art. 17 EGV nur Unionsbürger
und es existierten gem. Art. 189 EGV nur die „Völker der in der Gemeinschaft
zusammengeschlossenen Staaten", aber kein einheitliches europäisches Staats-
volk.
- Des Weiteren sei der Europäischen Union kein Staatsgebiet zuzuordnen, sondern
nur ein gem. Art. 299 EGV über die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaa-
ten umschriebener räumlicher Geltungsbereich ihres Gründungsvertrages.
- Zuletzt fehle ihr auch die Staatsgewalt, da das Gewaltmonopol nach wie vor bei
den Mitgliedstaaten liege.

Alle diese Einwände lassen jedoch nicht zwingende Argumentationslinien


erkennen. 352

Hinsichtlich der Existenz eines „europäischen Volkes" verlangt das Völkerrecht


kein homogenes Staatsvolk bzw. eine „subjektive Bekenntnisgemeinschaft" im
Sinne einer „Nation", sondern rekurriert auf die Bevölkerung als Anzahl sess-
hafter Menschen. Bezüglich des Staatsgebietes stellt das Völkerrecht nur auf
den Bestand eines gesicherten Raumes ab, auf dem das Staatsvolk seine Herr-
schaft ausüben kann. 353 Und betreffs der fehlenden Staatsgewalt wurde vorstehend
schon ausgeführt, dass es nur auf die souveräne Selbstregierung und rechtliche
Unabhängigkeit ankommen könne, nicht aber darauf, wie die Wahrnehmung der
Staatsgewalt in der Staatenverbindung intern aufgeteilt ist.

Im Wesentlichen ist die noch fehlende „Staatsqualität" des (völkerrechtlichen)


Staatenbundes Europäische Union auf den mangelnden Staatsgründungswillen
ihrer Mitgliedstaaten zurückzuführen und weniger auf die fehlende hinreichende
Staatsgewalt oder die in den Gründungsverträgen enthaltenen Garantien für die
einzelstaatliche Identität (Art. 6 Abs. 3 EUV) und Selbstständigkeit. 354

352
Die folgenden völkerrechtlichen B e g r ü n d u n g s a n s ä t z e lehnen sich an W. Hummer,
..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der
Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argu-
mente. Sonderheft 1/2003. S. 53 ff., 56 an.
353
Hierzu auch S. Griller, Ein Staat o h n e Volk? Z u r Z u k u n f t der Europäischen Union.
I E F Working Paper Nr. 21. 1996. S. 14: „Warum die Festlegung dieses Gebiets in der
.Staatsverfassung* nicht unter B e z u g n a h m e auf die räumliche A b g r e n z u n g seiner territo-
rialen Untergliederungen, etwa der Länder einer bundesstaatlichen Organisation, möglich
sein soll - etwa in Form von Art. 3 B-VG: . D a s Bundesgebiet umfasst die Gebiete der
Bundesländer' - bleibt unerfindlich".
354
Bezüglich der damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n , dogmatisch ebenfalls bestrittene Völ-
kerrechtssubjektivität der Europäischen Union unterscheidet W. Hummer (2003), ebenda,
zwischen einer ..Innensicht" im Sinne einer ..Autostereotypisierung" und einer ..Außen-
sicht" im Sinne einer ..Heterostereotypisierung". Im Inneren wachse ..der Union implizit vor
allem über den bereits durch sie selbst mehrfach erfolgten Vertragsschluss mit Drittstaaten
gem. Art. 24 E U V m e h r und m e h r Handlungsfähigkeit und damit (partielle) Rechtsper-
sönlichkeit im Völkerrecht zu. hinsichtlich des , A u ß e n a s p e k t e s ' muss ein in der Literatur
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 131

(4) Konstitutionelle Defizite der Verträge

Der „Komplementärverfassungscharakter" der Verträge birgt jedoch auch kon-


stitutionelle Mängel, von denen einige in der gebotenen Kürze dargestellt werden
sollen.

Unzureichend ist zunächst die Legitimationsfunktion der Verträge. Der EuGH


stützte seine Urteile wie zitiert auf die Annahme, dass die Gemeinschaft eine „neue
Rechtsordnung des Völkerrechts" darstellt, „zu deren Gunsten die Staaten | . . . )
ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben". 3 5 5 Aus einer engen, verfassungs-
theoretischen Perspektive ist dies nicht unproblematisch, da sich die Souveränität
der europäischen Rechtsordnung nicht auf den vorrechtlichen pouvoir constituant
einer politischen Gemeinschaft, sondern letztlich auf die Rechtssprechung eines
durch Verträge geschaffenen Gerichtshofes stützt. Auch das Europäische Parla-
ment als schwächstes Organ der Gemeinschaft kann wegen seiner mangelhaften
Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten nur unzureichend die konstitutionelle
Legitimationsfunktion übernehmen. Der Bürger bleibt durch seine rudimentären
Mitwirkungs- und Kontrollrechte eher ein „Zaungast des eigenen Schicksals", der
es schwer hat. die „neue Formation öffentlicher Gewalt zu verstehen und sich
selbst als Subjekt dieser Entwicklung zu erkennen". 3 5 6 Auf dieses vielbeklagte
Demokratiedefizit" 7 stützt sich die Meinung, die Europäische Union sei generell
nicht verfassungsfähig 3 5 8 , da der Bürger zwar immer mehr an die Hoheitsge-
walt der Gemeinschaft gebunden ist, seine demokratischen Mitwirkungsrechte
aber primär im jeweiligen Mitgliedsstaat ausübt. Demzufolge kann die materielle
„Verfassung" der Europäischen Union bereits ihre integrative Kraft nicht vollends

völlig vernachlässigtes Kriterium erwähnt werden, nämlich der Umstand, wie denn die
Staatengemeinschaft als solche die EU als „internationalen A k t e u r " sieht. Diese ..Heteros-
tereotypisierung" der EU als eigenständige Rechtsperson durch dritte Völkerrechtssubjekte
wird mit z u n e h m e n d e r Verdichtung der Außenbeziehungen der EU immer wahrscheinlicher
und würde die EU diesbezüglich „von a u ß e n " in Z u g z w a n g bringen, ihre Handlungs- und
damit auch Rechtsfähigkeit „nachzujustieren".
355
E u G H . Rs. 2 6 / 6 2 , Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. 1 ff.. 25.
356
Zitiert nach U. Di Fabio, Eine europäische Charta. Auf dem Weg zur Unionsverfas-
sung. in: JZ 2(KM), S. 7 3 7 ff.. 738.
357
Vgl. n u r A Blecknumn. Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 2001. S. 53 ff., 57:
D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion,
in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie.
1999: D. Thürer. Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in:
O. D u e u. a. (Hrsg.), Festschrift f ü r U. Everling, 1995, Band 2, S. 1561 ff.: M. Kaufmann.
Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle
des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften
und Staatspraxis 1992, S. 3 4 9 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die
Verwaltung 29 (1993), S . 4 4 9 ff.: H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische
Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.
358
Zur Frage der ..Verfassungsfähigkeit" der Union m.w. N. unter B . I I . 2 . f ) n n ) ( 2 ) ( c ) .
132 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

entfalten, weil die Bürger sich nicht als Mitträger des durch sie konstituierten
Gemeinwesens verstehen. 359

Als größtes Hemmnis der Bildung eines europäischen öffentlichen Raumes,


in dem die Bürger ihre Konflikte austragen könnten, bezeichnet unter Anderen
D. Grimm das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, durch das der öffentliche poli-
tische Diskurs an nationale Grenzen gebunden bleibe, während im europäischen
Raum abseits der Öffentlichkeit geführte Fach- und Interessensdiskurse domi-
nieren. 360 Deshalb könne der zum Funktionieren einer Verfassung unerlässliche
demokratische Willensbildungsprozess nicht zustande kommen. Eine konstitutio-
nelle Neugründung der Europäischen Union würde zwar den Organen die Fähigkeit
geben, neue Hoheitsbefugnisse zu schaffen. Da diese Kompetenz-Kompetenz aber
nicht von einer Art europäischem Staatsvolk legitimiert wäre, wäre die durch eine
europäische Verfassung vermittelte Legitimation nur eine „Scheinlegitimation". 361

Hiergegen ließe sich anführen, dass ein Grundaxiom der europäischen Idee
gerade nicht die Homogenität eines Staatsvolks, sondern auf der Basis eines der
Pluralität verhafteten Europabildes das „Recht zum Anderssein", die „Garantie
für Vielfalt" und die „Selbstbestimmung des Individuums" die erforderlichen Prä-
missen bilden. Die Legitimität einer solchen primär funktionellen, heterogenen
Gemeinschaft erfolgt weniger durch eine politische Gesamtwillensbildung nach
parlamentarischem Muster, sondern durch die Bereitstellung verschiedener Betei-
ligungsmöglichkeiten auf den politischen Prozess wie Interessensgruppen, politi-
sche Parteien. EU-Organe, Bundesländer und jeweiligen nationalen Parlamente.
Da die supranationale Gemeinschaft gerade ihrer dem Nationalstaat gegenüber
höheren Problemlösefähigkeit wegen gegründet wurde, ist das wichtigste Legi-
timitätskriterium der Europäischen Union nicht wipM/-definiert, also z. B. durch
Wahlen, sondern ergibt sich aus ihrem Output, d. h. der Leistungsfähigkeit und Ef-
fektivität, Probleme zu lösen. Wichtig wäre es deshalb, die Union handlungsfähig
und Kanäle zur Interessensdurchsetzung nutzbar zu machen. Ziel einer europäi-
schen Verfassung wäre deshalb nicht, den Nationalstaat zu ersetzen, sondern das

359
Vgl. D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S . 5 8 1 ff.. 581.
Unter dieser Prämisse könnte selbst die Stärkung der legislativen Rechte des Europäischen
Parlaments dieses Defizit nicht verringern. Denn die Unionsbürger orientieren sich bei der
Wahl der Abgeordneten an Präferenzen, die sich ..sachlich in den nationalen nach w i e vor
segmentierten öffentlichen Meinungen widerspiegeln" (so C. Koenig, Ist die europäische
Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. S. 268 ff., 271).
360
D. Grimm (1995), S. 587. 591.
161
In die gleiche Richtung zielte auch das BVerfG in seiner „Maastricht"-Entscheidung
vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89. S. 155 ff.). Nur innerhalb der Mitgliedsstaaten könne
sich das „Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer
Willensbildung entfalten und artikulieren", um so dem. was es „relativ homogen - geistig,
sozial und politisch - v e r b i n d e t I . . . J rechtlichen Ausdruck zu geben".
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 133

Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht und einer


auf verschiedenen Ebenen ruhenden geteilten Souveränität. 362

Ein weiteres Defizit der Verträge ist bei der Organisationsfunktion zu sehen.
Zwar sind in Art. 7 und Art. 189 ff. EGV die Organe und Ausschüsse der Ge-
meinschaft, sowie deren Befugnisse und Aufgaben festgelegt. Ein wesentliches
Organisationsprinzip der Europäischen Union, die Subsidiarität, ist im Vertrag von
Maastricht sogar in die Präambel aufgenommen worden. Eine klare Abgrenzung
der Kompetenzen und Normenhierarchie legen die Verträge allerdings nicht fest.
Zwar wird die vorrangige Stellung des Vertragsrechts in Art. 10 EGV deutlich, laut
dem die Mitgliedsstaaten alle zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen beitragenden
Maßnahmen ergreifen müssen. Die Kompetenzen innerhalb der Europäischen
Union sind allerdings willkürlich aufgelistet (vgl. Art. 3 EGV) und stimmen nicht
mit der Systematik der Art. 2 3 - 1 8 8 EGV überein. Es wird weder klargestellt,
welche Normen Verfassungsrang haben und welche sich davon ableiten, noch
wird eine qualitative Unterscheidung der einzelnen Politiken vorgenommen. Es
bleibt unklar, in welchen Politiken die Union tatsächlich verantwortlich und ent-
scheidungsbefugt ist, welche Bereiche nur teilweise zur Union gehören oder nur
von dieser koordiniert werden und welche Politiken noch rein zwischenstaatlich
gemacht werden. 363

Auch die tatsächliche Begrenzungsfunktion der in den Verträgen festgelegten


Grundrechte ist beschränkt. Vordem EuGH haben Einzelpersonen kein Klagerecht,
und erst seit Amsterdam gibt es einen sehr schwerfälligen Sanktionsmechanis-
mus. 364 Weil der EuGH sich in Bezug auf die Menschenrechte gerade nicht auf
die autonome Rechtsordnung der Europäischen Union, sondern auf die Verfas-
sungstraditionen der Mitgliedsstaaten beruft, kann es hier zu Konflikten mit die-
sen Grundrechtskatalogen kommen, denn die Verfassungen der Mitgliedsstaaten
verbürgen wegen ihrer kulturellen und geschichtlichen Entstehungsbedingungen
unterschiedliche Grundrechte. Würde der EuGH beispielsweise das in der irischen
Konstitution vorgesehene Abtreibungsverbot in seine Rechtssprechung mit ein-
beziehen. käme es zum Konflikt mit allen anderen Verfassungen. 3 6 5 Der Beitritt
der Europäischen Union zur E M R K kann dieses Problem formell und in enger

162
Vgl. I. Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidie-
rung. in: JöR 48 (2000), S. 205 ff. sowie die Aufsatzsammlung bei J. Schwarze (Hrsg.), Die
Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem
und europäischem Verfassungsrecht. 2000.
363
Vgl. zu alledem Centrum für angewandte Politikforschung, Ein Grundvertrag für die
Europäische Union. 2000. S. 13.
' 6 4 Art. 13 EGV: Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission und nach A n h ö r u n g
des Parlaments einstimmige Vorkehrungen treffen, um diese Diskriminierungen [ . . . ] zu
bekämpfen.
365
Hierzu G. De Bürca, Fundamental Rights and the Reach of EC-Law. in: Oxford
Journal of Legal Studies. 3 / 1 9 9 3 . S. 2 8 3 f f . 301.
134 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auslegung auch nicht lösen, da der Konvention nur Staaten beitreten können, und
die Europäische Union ist - wie der EuGH 1994 bestätigte - kein Staat.

Das markanteste Defizit der Verträge liegt allerdings bei der Integrations- und
Identifikationsfunktion. So sind die demokratischen Rechte des Bürgers nur schwer
in den Verträgen erkennbar, da sie in einem Jahrzehnte langen Prozess an ver-
schiedensten Stellen immer wieder eingefügt und ergänzt worden sind. Ähnliches
gilt für die vom EuGH entwickelte ungeschriebene Grundrechtsdoktrin, welche
selbst für Fachleute gelegentlich diffus erscheint. Zudem kommt erschwerend die
komplizierte Sprache des Rechts und die geringe Präsenz des EuGH im Bewusst-
sein der Bürger im Vergleich mit anderen EU-Institutionen hinzu. J.H.H. Weiler
spricht in diesem Zusammenhang von einem .,selfreferential legal universe". 3 6 6
Dem Einzelnen ist es bereits deshalb nicht möglich, seine vertraglich verbürgten
Rechte umfassend wahrzunehmen, weil er sie kaum erkennen kann.

Der Streit um die Verfassung der Europäischen Union erhält durch eine unver-
meidliche Nebenfolge der Integration, die in Europa zu erheblichen Teilen bereits
eingetreten ist, besonderes Gewicht: Zwangsläufig büßt die nationale Verfassung
einen Teil ihrer politischen Steuerungsfähigkeit ein, denn in ihrem territorialen
Wirkungskreis entfalten sich Kräfte, die nicht mehr ihrer Autorität unterworfen
sind; zudem wird ihre Autorität gegenüber den ihr unterstellten Akteuren durch ab-
weichende Vorgaben aus einer anderen Rechtsordnung punktuell durchbrochen. 1 * 7
Dieser ..graduelle Bedeutungsverlust der Verfassungen der Mitgliedstaaten" zeigt
sich insbesondere auf dem Gebiet der Grundrechte, aber auch bei materiellen
Verfassungsgrundsätzen und sogar bei nationalen Verfassungsspezifika. die als
solche nicht in einem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Union stehen. Durch
diese Entwicklung wird die Integrationsfunktion der Verfassungen beeinträchtigt,
auf die sich gerade der moderne Verfassungsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts gestützt hat. Um heute in dem um die Union erweiterten politischen
Gesamtsystem das sicherzustellen, was früher in den Mitgliedstaaten gegeben
war, müssen die nationalen Verfassungen durch ein Pendant auf der Ebene der
Union ergänzt werden, welches ihre Funktionsdefizite ausgleicht. Die derzeiti-
gen Gründungsverträge der Europäischen Union erfüllen diese Anforderungen
offensichtlich nicht.

366
J.H.H. Weiler. The Constitution of Europe. 1999. S. 190.
3*7 Ygi hier/u ausführlich T. Schmitz. Integration in der Supranationalen Union. 2001.
S. 3 7 4 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 135

mm) Aus der Nizzastarre zum Konvent

(1) Der Post-Nizza-Prozess™ - parlamentarische Einflusssphären

Im Lichte der wenig überzeugenden Reformergebnisse des Vertrags von Nizza


wurde wiederkehrend der Vorteil eines konventsähnlichen Verfahrens themati-
siert. Ein wesentliches Argument für die Forderung nach einer offenen und trans-
parenten Methode jenseits der nationalen Interessensgräben der Regierungskon-
ferenzen war dabei regelmäßig der Hinweis auf die positiven Erfahrungen mit
dem Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta, der in nur 18 Sitzungen
eines der modernsten Menschenrechtsdokumente und ein deutliches Bekenntnis
der Europäischen Union zum europäischen Grundrechte- und Wertemodell ent-
worfen hatte.

Im ersten Halbjahr nach Nizza kristallisierte sich heraus, wie die Debatte über
die Zukunft der Europäsche Union und ihre Verfassung strukturiert werden sollte.
Die Ratspräsidentschaft übernahm mit Schweden im ersten Halbjahr 2001 ein
EU-kritischer ..Kleinstaat", der sich eher mit dem euroskeptischen Großbritan-
nien verbündet sah. die Verfassungsfrage stand nicht explizit auf der Agenda.
Dennoch förderte Schweden die „Debatte über die Zukunft Europas", in der es
einmal mehr um die bessere Verständlichkeit der Verträge und Strukturen der
Europäischen Union, das Gleichgewicht zwischen Mitgliedsstaaten und Union
sowie um die Stärkung des demokratischen Selbstverständnisses gehen sollte. Am
17.1.2001 stellte Kommissionspräsident R. Prodi einen dreistufigen Plan über die
Strukturierung der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union vor. 369 EU-
Kommissar M. Bamier konkretisierte diesen Plan in einer Rede in Brüssel und
bekannte sich ausdrücklich zu dem Wort „Verfassungsvertrag". 370 Am 9 . 3 . 2 0 0 1
eröffneten Kommissionspräsident Prodi, der Kommissar für institutionelle Fragen
Bamier und der schwedische Ministerpräsident G. Persson eine insgesamt breiter
angelegte und eingehendere Debatte, welche auch im Internet verstärkt geführt
werden sollte. 371

368
Hierzu etwa M. Kotzur, Ein nationaler Beitrag zur Europäischen Verfassungsdiskus-
sion: deutsche Erfahrungen im Post-Nizza-Prozess, in: P. H ä b e r l e / M . M o r l o k / W . Skouris
(Hrsg.). Festschrift Festschrift für D i m i t r i s T h . Tsatsos. Z u m 70. Geburtstag am 5. Mai 2003.
2003, S. 257 ff.; C. Do rau. Die Verfassungsfrage der EU - Möglichkeiten und Grenzen der
europäischen Verfassungsentwicklung nach Nizza. 2001; M. Stolleis. Europa nach Nizza.
Die historische Dimension, in: N J W 2002. S. 1022ff.: P.C. MiUler-Graff, Der Post-Nizza-
Prozess. Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung, in: Integration 2 / 2 0 0 1 .
S. 208 ff.
369
Vgl. R. Prodi. Rede vor d e m Europäischen Parlament am 17. 1.2001: „Es ist an der
Zeit, die Debatte über die Z u k u n f t Europas zu strukturieren", s. Protokolle der Sitzungen
des Europäischem Parlaments.
370
M. Bamier. Rede vor Vertretern der Region Aquitaine und Emilia-Romagna und des
Landes Hessen: ..Die Perspektiven der EU nach Nizza", Brüssel. 18. Januar 2001. a b r u f b a r
unter www.europe.eu.int/comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/indcx_de.htm.
136 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

E i n ..Rat d e r W e i s e n " d e r z w i s c h e n z e i t l i c h a u f R a t s e b e n e a l s A l t e r n a t i v e z u m
Konvent thematisiert w u r d e , genügte nach fester Ü b e r z e u g u n g vieler Fachaus-
schüsse nationaler Parlamente der Forderung nach mehr Demokratie und Trans-
parenz der M e i n u n g s - und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union
nicht.372

Jedoch gelang es auf der XXIV. C O S A C am 2 1 . / 2 2 . 5 2001 in Stockholm, die


Unterstützung der Vertreter aller nationalen Parlamente für die neue M e t h o d e
zu gewinnen.373 Hinsichtlich der Z u s a m m e n s e t z u n g und Arbeitsweise des Gremi-

371
Vgl. Mitteilung von Ministerpräsident G.Persson anlässlich der Debatte über die
Z u k u n f t der Union. M ä r z 2001. Brüssel 2001; siehe dazu SZ. 9. M ä r z 2001, S . 2 , ..Die
EU tritt vor das Volk"; die Debatte im Internet unter: http://europa.eu.int/futurum.htm.
Auch die Regierungschefs setzten ihre Grundsatzreden kontinuierlich fort. Bei seiner Re-
gierungserklärung vor dem Bundestag zu den Ergebnissen von Nizza am 1 9 . 1 . 2 0 0 1 sagte
Bundeskanzler G. Schröder, dass in Nizza die T ü r zum neuen Europa aufgestoßen worden
sei. welches über eine verfassungsmäßige Grundlage verfügen werde (Regierungserklärung
vom 19. Januar 2001. vgl. die Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages). Diese
Vision wiederholte Schröder vor d e m Internationalen Bertelsmann Forum in Berlin (im
Rede-Manuskript ist zwar von ..Verfasstheit" die Rede. Seinen Wunsch nach einer europäi-
schen Verfassung äußerte er aber spontan, vgl. dazu SZ. 22. 1.2001. S. 1: „Wenn Schröders
Herz spricht"). Aufsehen und kritische Stimmen erntete ein Leitantrag der S P D vom April
2001. in dem Schröder in seiner Funktion als Parteichef seine Vorstellungen über die Aus-
gestaltung der europäischen Verfassung konkretisierte (SPD-Leitantrag ..Verantwortung
für Europa", 3 0 . 4 . 2 0 0 1 . Berlin 2001). Kurz zuvor erntete Bundespräsident J. Rau vor dem
Europäischen Parlament Beifall für sein bereits erwähntes ..Plädoyer für eine Europäische
Verfassung" (Rede am 4 . 4 . 2 0 0 1 . Straßburg). Am 2 8 . 5 . 2 0 0 1 hielt schließlich auch der
französische Ministerpräsident L. Jospin seine lang erwartete Grundsatzrede zur Z u k u n f t
Europas, in der er sich u. a. für eine europäische Verfassung aussprach (..Zur Z u k u n f t des
erweiterten Europa").
372
Die ablehnende Haltung des Ausschusses für Europäische Angelegenheiren des Deut-
schen Bundestages (Beschluss vom 4. April 2001 bzw. Bericht vom 6. J u l i 2 0 0 1 ) ist bei
\ f . Fuchs/ S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlich-
keitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent. 2002. S . 2 4 I ff. dokumentiert.
373
Trotz deutlicher Zurückhaltung des Gastgeberlandes Schweden sprachen sich im
Verlauf der Beratungen i m m e r m e h r Delegierte für ein konventsähnliches Verfahren in
Anlehnung an den Grundrechtekonvent aus. Nachhaltig unterstützt wurde die Bundestags-
delegation in ihrer Forderung nach einer Verfahrensreform von d e r COSAC-Delegation
der A s s e m b l e e Nationale und des französischen Senats sowie den Abgeordneten des Eu-
ropäischen Parlaments. Am Ende der zweitägigen Konferenz verabschiedete die C O S A C
einstimmig bei einer Stimmenthaltung einen Beitrag, in d e m die Einrichtung einer am
Vorbild Grundrechtekonvent orientierten Konferenz zur Vorbereitung der Regierungskon-
ferenz 2 0 0 4 gefordert wurde, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002), S . 6 3 I . Nach
dem ersten Schulterschluss mit den anderen mitgliedsstaatlichen Parlamenten blieb der
Europaausschuss des Bundestages in engem Kontakt mit der Bundesregierung über die
Frage der weiteren Verfahrensschritte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses. Am 4. Ju-
li 2001 fasste er mit den Stimmen aller Fraktionen einen weiteren Konventsbeschluss,
vgl. M. Fuchs!S. Hartleif / V. Popovic (2002), S. 245, in dem er unter anderem forderte, das
Mandat des Konvents zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 auf Vorschläge zur
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 137

u m s betonten die Delegationen die Notwendigkeit einer starken und frühzeitigen


parlamentarischen Beteiligung.

E b e n s o wie in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten g e w a n n die Diskussion


um den Post-Nizza-Prozess auch innerhalb des Rates immer deutlichere Kon-
turen. Insbesondere die belgische EU-Ratspräsidentschaft vertrat die Idee des
Konventmodells während des 2. Halbjahres 2001 mit großem Nachdruck.374 Im
O k t o b e r 2001 konnten im Allgemeinen Rat und beim informellen Treffen der
E U - A u ß e n m i n i s t e r in Genval auf belgische Initiative erste F e s t l e g u n g e n auf die
Konventmethode zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 erreicht werden.
Einig waren die Außenminister über die Z u s a m m e n s e t z u n g des zweiten Konvents
nach d e m Vorbild d e s G r u n d r e c h t e k o n v e n t s - und d a m i t über die starke p a r l a m e n -
tarische Komponente -. die gleichberechtigte Einbeziehung der Beitrittsländer
sowie den Beginn der Arbeiten unter der folgenden spanischen Ratspräsidentschaft
im 1. Halbjahr 2002. Weitere wichtige Verfahrensfragen wie der U m f a n g des Kon-
ventmandats, die Frage eines Gesamttextes oder einer O p t i o n s l ö s u n g sowie die
Einrichtung eines Präsidiums blieben allerdings mangels Konsens noch in der
D i s k u s s i o n . P a r a l l e l d a z u b e r i e t e n seit S e p t e m b e r 2 0 0 1 d i e E u r o p a a u s s c h ü s s e d e s
Deutschen Bundestages3 5
und der Assemblee Nationale über einen gemeinsamen
Text z u r Z u s a m m e n s e t z u n g u n d A r b e i t s w e i s e d e s n e u e n Konvents.376

zukünftigen Rolle der Organe der EU sowie ihr Verhältnis zueinander, zur Abgrenzung der
Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten, zur Verein-
fachung der Verträge, zur künftigen Rolle der nationalen Parlamente sowie zur Integration
der Europäischen Grundrechtecharta in die Verträge auszuweiten. Um den Ergebnissen
eines zweiten Konvents in der anschließenden Regierungskonferenz Gewicht zu verleihen,
betonte der Ausschuss die Bedeutung der Erarbeitung eines einzigen Ergebnisentwurfs mit
der Möglichkeit, in A u s n a h m e f ä l l e n bei kontroversen Meinungen alternative Optionen in
Form von Mehrheits- und Minderheitsvoten anzuzeigen. Mit diesem Beschluss. der nach
den geschäftsordnungsrechtlichen S o n d e r b e f u g n i s s e n des Europaausschusses stellvertre-
tend für den Deutschen Bundestag gefasst w urde, vgl. § 93a Abs. 4 G O - B T . sprach sich der
Bundestag klar für die Ausdehnung des Konventmandats auf die künftige Gewaltenteilung
zwischen den europäischen Institutionen aus. die in der Erklärung Nr. 23 zur Z u k u n f t der
EU von den Staats- und Regierungschefs als T h e m a der Zukunftsdebatte noch nicht explizit
genannt worden war.
374
Z u m Auftakt seiner Ratspräsidentschaft erklärte der belgische Premierminister
G. Verhofstadt. dass der Post-Nizza-Prozess in „die Konstitutionalisierung der U n i o n "
m ü n d e n müsse. Vgl. ders., Rede am 24. Juni. „Welche Z u k u n f t f ü r welches Europa?",
2001.
' ? So befasste sich der Deutsche Bundestag bereits in einer Sondersitzung des Eu-
ropaausschusses am 15. D e z e m b e r 2 0 0 0 (vgl. M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic (2002).
S. 49 ff.) mit der Initiative der Bundesregierung zum Anstoß der europaweiten Z u k u n f t s d e -
batte; die Abgeordneten machten mehrheitlich deutlich, dass die Ausgestaltung des Prozes-
ses zur Z u k u n f t der EU und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 einen neuen
Verfahrensansatz erfordere. Dabei wurde das Konventsmodell „als kreative, transparente
und unmittelbar demokratisch legitimierte Methode zur Vorbereitung der nächsten Vertrags-
revisionsverhandlungen". vgl. M. Fuchs usw. (2002). ebenda, angesehen. Die Bundestags-
abgeordneten stellten sich damit auf den gleichen Standpunkt, den auch das Europäische
138 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Mit Blick auf den Stand der Konventsdiskussion im Rat wurde eine gemeinsame
Erklärung an den Europäischen Rat von Laeken verabschiedet 377 , in der sich die
Abgeordneten dafür aussprachen, das Mandat des Konvents auf die Vorlage eines
einzigen Textentwurfs für den neuen Grundvertrag der Europäischen Union zu
richten und Optionslösungen nur in unvermeidlichen Fällen zu formulieren. Beide
Parlamente vertraten die Überzeugung, dass das inhaltliche Mandat des Konvents
außerdem die Prüfung weiterer Integrationsschritte in den Bereichen der 2. und 3.
Säule umfassen müsse. Die bilaterale Parlamentsinitiative unterstützte damit vor-
behaltlos die gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der französischen
Regierung auf dem deutsch-französischen Gipfel von Nantes vom November 2001,
die ehrgeizige Initiativen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit wie die
Einsetzung einer europäischen Polizei zur Überwachung der EU-Außengrenzen,
die Stärkung von Europol mit dem Ziel einer integrierten Polizei zur Bekämpfung
von internationalem Terrorismus und organisierter Kriminalität, den Ausbau von
Eurojust, den Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft, die Perspektive einer
gemeinsamen europäischen Verteidigung und die Terrorismusbekämpfung als
Aufgabe der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefordert hatte.
Gleichzeitig lag den Parlamenten besonders an der Ausstattung des Konvents mit
einem weit gefassten und seine Autonomie wahrenden Mandat.

Parlament auf europäischer Ebene gegenüber den Staats- und Regierungschefs in seiner Be-
wertung zu Nizza einnahm, vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 561 ff. Mit dem Fortschreiten der
Ausschussberatungen und im Anschluss an eine öffentliche Anhörung zur Zukunftsdebatte
in der EU mit nationalen Verfassungsexperten fasste der Europaausschuss des Bundestages
im April 2001 zur Vorbereitung der XXIV. C O S A C , der gemeinsamen Konferenz der Euro-
paausschüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments einen von allen
Bundestagsfraktionen getragenen Beschluss, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002).
S. 241 ff., in dem er forderte, dass die Vorbereitungen zur Ausarbeitung einer Verfassung
im Rahmen des in Nizza beschlossenen Prozesses zur Z u k u n f t der Europäischen Union
verstärkt durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, einschließlich
der Parlamente der Beitrittsländer, w a h r g e n o m m e n werden müssten. Gleichzeitig regten
die Ausschussmitglieder an. dass zur Vorbereitung der für 2004 geplanten Regierungskon-
ferenz eine an den Konvent angelehnte Konferenz z u s a m m e n g e r u f e n werden sollte, um
Vorschläge für die Reform der EU zu erarbeiten. Damit hatte der Europaausschuss seine
Position zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 frühzeitig festgelegt.
376
Im unmittelbaren Vorfeld des Europäischen Rats von Laeken trafen am 10. Dezem-
ber 2001 die beiden Europaausschüsse z u s a m m e n mit den Auswärtigen Ausschüssen und
unter Leitung der Parlamentspräsidenten W. Thierse und R. Forni in Paris erstmalig in der
Geschichte beider Parlamente zu einer gemeinsamen Sitzung z u s a m m e n .
377
Vgl. M. Fuchs IS. Hartleif IV. Popovic (2002), S. 263 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 139

(2) Die Erklärung von Laeken -


eine „stille Revolution" der Integrationsgeschichte

Die Staats- und Regierungschefs haben mit der dem Vertrag von Nizza beige-
fügten Erklärung Nr. 23 378 zur Zukunft der Union dies unterstrichen, indem sie
unter anderem folgende Fragen formulierten, die es zu klären galt:

- Zum einen wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Ab-


grenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mit-
gliedsstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann;
- sodann der Status der in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte der Eu-
ropäischen Union gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von
Köln;
- eine Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher
zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern:
- die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas.

Neben der Forderung nach einer Vereinfachung und Neuorganisation des euro-
päischen Vertragswerks und der Integration der Grundrechtecharta in die Verträge
wurden konkrete Reformkomplexe wie die Wahl des Präsidenten der Europäi-
schen Kommission, die Frage der Beibehaltung der halbjährlichen Rotation des
EU-Ratsvorsitzes, die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen der europäi-
schen und der nationalstaatlichen Ebene, die Stärkung der Rolle der Europäischen
Union in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik. Zuwanderung. Kriminalitäts-
bekämpfung, und der Anstoß zu Veränderungen der Gesetzgebungsinstrumente
der Europäischen Union formuliert.

Die der Einsetzung des Europäischen Konvents zugrunde liegende Entschei-


dung der EU-Staats- und Regierungschefs im belgischen Laeken, die Debatte über
die künftige Gestalt der Europäischen Union im Rahmen eines Konvents unter
maßgeblicher Beteiligung der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten und
des Europäischen Parlaments zu führen, wurde zu Recht als historischer Schritt
bezeichnet und verdiente sich angesichts der weitgehend zustimmenden Reaktio-
nen in großen Teilen der „europäischen Öffentlichkeit" den Begriff einer „stillen
Revolution" der europäischen Integrationsgeschichte.

Mit der Festlegung auf einen überwiegend aus Parlamentariern zusammenge-


setzten Konvent hatten die Staats- und Regierungschefs die Unzulänglichkeit der
„Methode Regierungskonferenz" für die gewünschte europaweite Zukunftsdebatte
erkannt. Gleichzeitig entsprach der Europäische Rat in Laeken dem begründeten
Ringen der Parlamente in der Europäischen Union um mehr und direkten Einfluss
bei der Fortentwicklung der Europäischen Verträge.

178
Dazu R. Wagenbauer, Zur Z u k u n f t der EU: Was bringt die Erklärung von Laeken?,
in: Z R P 2002. S. 94 f.
140 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Mit der Erklärung von Laeken war ein tatsächlich zukunftsgerichteter Aus-
gangspunkt für die Diskussion über die Effizienz eines neuen Verfahrens zur
Vorbereitung künftiger Vertragsrevisionen gefunden.

Die intensive Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen


Parlaments bildete schon relativ früh den gedanklichen Ausgangspunkt für den
Wunsch nach Einrichtung eines Konvents. So hatte etwa der Deutsche Bundes-
tag durch den Ausschuß für Europäische Angelegenheiten, der in Wahrnehmung
seiner verfassungsmäßigen Rechte gemäß Art. 45 GG i.V. m. § 9 3 a Abs 3 S a t z 2
G O - B T am 4. Juli 2001 einen entsprechenden plenarersetzenden Beschluß fass-
te 379 , unter Rückgriff auf das Konvents-Modell für die Vorbereitungsphase der
„Regierungskonferenz 2004" eine umfassende Einbeziehung der nationalen Par-
lamente sowie des Europäischen Parlaments gefordert. Bereits zuvor hatte der
Bundesrat in einer Entschließung zu den Verfahrensaspekten der „Erklärung zur
Zukunft der Europäischen Union" vom 11. Mai 2001 ein Gremium aus Vertretern
der nationalen Parlamente unter Einschluss eines Vertreters des Bundesrates, der
mitgliedstaatlichen Regierungen, der Organe in der Europäischen Union sowie von
Sachverständigen und Vertretern der Beitrittsländer gefordert. Das Europäische
Parlament hatte sich in einer Entschließung diesen Forderungen im Wesentlichen
angeschlossen. Auch die Kommission hatte sich bereits zu einem recht frühen Zeit-
punkt für ein Konventmodell unter Anlehnung an das im Rahmen der Erarbeitung
der Grundrechts-Charta praktizierte Prozedere ausgesprochen.

nn) Inkurs: Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis

In derZeit um die Erklärung von Laeken spitzte sich die (nicht neue) europäische
Debatte über die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union in entsprechen-
der Intensität zu. Eine nähere Betrachtung des Konventverfahrens und seiner
Zielsetzung erfordert die Klärung einer elementaren, gleichwohl inflationär abge-
handelten Vorfrage: von welchem Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis
ist innerhalb der heutigen Europäischen Union auszugehen? 3 8 0

Auch mit Blick auf die späteren Vergleiche mit der US-amerikanischen Verfas-
sungsordnung soll dieser Aspekt eingehender abgehandelt und durch einige, die
bisherige Debatte ergänzende Überlegungen angereichert werden. Zudem bedarf
es einer zielführenden Einordnung, um im Rahmen der späteren Betrachtung

379
Vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 245 ff.
380
Aus der unüberschaubaren Lit. insbesondere W. Hertel. Supranationalität als Ver-
fassungsprinzip. 1999: P. Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 32 ff..
69 ff.; C.Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. 2 6 8 ff.
Siehe auch D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, in: E u G R Z 1995. S. 287 ff.;
I. Pernice. Der Europäische Vervassungsvcrbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR
48 (2000), S. 205 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 141

des europäischen „Verfassungsänderungsverfahrens" oder einer „Europäischen


Verfassungsgerichtsbarkeit" gesicherte Grundlagen aufweisen zu können.

(1) Das Verfassungsverständnis - allgemeine Überlegungen

Der Facettenreichtum einer Verfassung legt den Schluss nahe, ein Verfassungs-
verständnis gründe sich auf der geglückten gedanklichen Verbindung ihrer vielfäl-
tigen Elemente. Das Verfassungsverständnis kann nun mittels Begriffen bestimmt
werden, die ihrerseits allesamt einer „gemischten" 3 8 1 Definition innewohnen dürf-
ten. Nun geht es hier nicht um die Frage, was überhaupt Verfassung ist 382 , sondern
wie sich Verfassung in ihrem jeweiligen Umfeld darstellt. So unscharf zuweilen
zwischen Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis unterschieden wird 383 ,
so vordergründig unvereinbar (einige, wie C. Schmitt gegen R. Smend bestäti-
gen diese Einschätzung) scheinen sich gewisse Thesen gegenüberzustehen, die
eine Annäherung an das Verfassungsverständnis unternehmen. Wenn allerdings
das Verfassungsverständnis etwa als Grundlage eines Verständnisses von Verfas-
sungsgerichtsbarkeit und deren Methodik zu begreifen ist, das ersteres wiederum
ausgestaltet, so wird man sich nicht auf formale Gesichtspunkte beschränken
können.

Ähnliches gilt auch für den Verfassungsvergleich: es bietet sich ein ..gemischtes
Verfassungsverständnis" an, da eine Gegenüberstellung sich nicht lediglich am
Gestaltungswillen des Gesetzgebers (N. Achterberg)3*4, am jeweiligen Entschei-
dungsmoment (C. Schmitt)385 oder an der Akzentuierung planmäßigen, bewussten

381
Ein „gemischtes Verfassungsverständnis" betont P. Hiiberle. Verfassungslehre als
Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S . 3 9 7 , 399 ff.: ders., Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 187 ff. Ähnlich K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundes-
republik Deutschland. 20. Aufl. 1995. S . 3 f f „ der in A b g r e n z u n g zur Verfassungstheorie
für die Verfassungsrechtslehre auf einen vielseitig beeinflussten Verfassungsbegriff zu-
rückgreift und diesen wohl mit d e m Verfassungsverständnis gleichsetzt. Vgl. aber auch
P. Hiiberle z u m (erweiterten) Ansatz eines „gemischten, kulturwissenschaftlichen Verfas-
sungsverständnisses", ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 9 .
' s 2 Auch um dieser Problemstellung b e i z u k o m m e n wird allgemein auf ..Hilfsmittel"
zurückgegriffen, sei es dass auf die dem Begriff zugrundeliegenden Aufgaben und Zielset-
zung abgestellt wird. vgl. K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. 20. Aufl. 1995, S. 3. oder auf ihre Funktionen, vgl. etwa R. Smend. Staatsrecht-
liche Abhandlungen. 3. Aufl. 1994. S. 187 ff.. H. Heller. Staatslehre. 1934 (Neudr. 1963),
5. 249 ff.
383
Dass mehrere Begriffe zumeist erst ein Verständnis ausbilden können, beweist
sich bereits bei den Versuchen, sich sowohl einem Verfassungsverständnis als auch d e m
angestrebten Verfassungsbegriff mit m e h r oder weniger langatmigen Umschreibungen
anzunähern.
' s 4 Vgl. N. Achterberg. Die Verfassung als Sozialgestaltungsplan. in: ders. (Hrsg.), Recht
und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für H.U. Scupin. 1983. S. 2 9 3 ff.
385
Siehe C. Schmitt. Verfassungslehre. 8. Aufl. 1993. S. 23.
142 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

organisierten Zusammenwirkens (H. Heller)38* orientieren muss. Einem umfassen-


den Vergleich ist ebenso wenig eine Verengung der Sichtweise auf den materiellen
oder formellen Sinn zuträglich , s wie eine Begriffsbestimmung durch die Betonung
einer „Hauptfunktion", sei es die Verfassung als grundlegende normative Ordnung
und Sinnorientierung, in deren fortlaufenden Vollzug sich die politische Gemein-
schaft „integriert" (R. Srnend, H. Heller)2** oder die intendierte Freiheitssicherung
durch Machtbeschränkung (//. Ehmke, K. Loewenstein)389. Die unterschiedlichen
Ansätze einer Begriffsbestimmung aus dem deutschen Sprachraum werfen so-
mit bereits ein vorauseilendes Licht auf die Schwierigkeiten, die im Rahmen der
Rechtsvergleichung zu erwarten wären. Gleichwohl wird auch diese Untersuchung
auf Versuche eingehen, die einen europäischen (bzw. im späteren Rechtsvergleich
den US-amerikanischen) Verfassungsbegriff zu prägen glauben, indes nur als
eine der Komponenten eines übergreifenden Verfassungsverständnisses. Nach-
dem dieses auch durch seine stete Fortentwicklung geformt wird, ist die hier
getätigte Auswahl bestimmender Faktoren unweigerlich fragmentarisch. Dennoch
soll unter Berücksichtigung der Bedeutung einzelner Verfassungsprinzipien und
der rechtskulturellen Perspektive für die jeweilige Ausprägung einer Verfassungs-
entwicklung dem Leitbild eines „gemischten Verfassungsverständnisses" gefolgt
werden.

Letztlich würde selbst ein befürwortetes einheitliches Verfassungsverständnis


der tatsächlichen Vielfalt einer mehr als zwei Jahrhunderte erprobten amerikani-
schen Verfassung und der Bandbreite eines Regelwerks, die den Anforderungen
eines vergleichsweise jungen Europas entspringt, kaum gerecht.

(2) Der „ europäische " Verfassungshegriff

Die Frage nach der Konstitutionalisierung der Europäischen Union hat ihren
Bezugspunkt in der Problematik des Gemeinwesens der Europäischen Union
in ihrer (gegenwärtigen) Verfasstheit. Derzeit ist die Europäische Union eine
„Komposition" aus drei Europäischen Gemeinschaften und zwei Formen der
Zusammenarbeit. Hinzu kommen gemeinsam verfasste Grundaufgaben und mate-
rielle (z. B. wirtschafts- und sozialpolitische) Ziele (Art. 2 EUV), ein einheitlicher,
institutioneller Rahmen (Art. 3 - 5 E U V ) sowie eine gemeinsame Grundwerteori-
entierung (Art. 6 - 7 EUV und Europäische Grundrechtecharta). Dies allerdings

386
Vgl. H. Heller (1934).
387
So gibt es Staaten - wie beispielsweise Großbritannien -, die durchaus eine Verfas-
sung im materiellen Sinne, jedoch keine Verfassungsurkunde besitzen, die die tragenden
Verfassungsgrundsätze z u s a m m e n f a ß t .
388
Vgl. H.Heller (1934); R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994.
S. 187 ff.
389
Siehe K. Loewenstein. Verfassungslehre. 3. Aufl. 1975. S. 127 ff.. H. Ehmke, Grenzen
der Verfassungsänderung, 1953.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 143

legt nahe, dass die Europäische Union, auch wenn sie als Gemeinwesen sui generis
ohne „Staatsqualität" gelten muss, grundsätzlich ein verfassungsbedürftiges Ge-
meinwesen darstellt. Als eigene Rechtspersönlichkeit 390 mit eigener legislativer 391 ,
administrativ-exekutiver 3 9 2 und judikativer Gewalt 3 9 3 übt die Europäische Union
kraft ihrer Organe letztlich (quasi-)staatliche Gewalt aus, wobei sie laut Art. 213
Abs. 2 EGV auf ein Gemeinschaftswohl verpflichtet ist. Juristisch könnte man
daraus ein „Verfassungserfordernis" für die Europäische Union ableiten bzw. die
Notwendigkeit, das politische Ziel, zu einer Gesamtverfassung von Gemeinschaf-
ten und Union zu kommen.

(a) Zwei Vorfragen

Bei allen Qualifizierungen der bisherigen europäischen Rechtsordnung rich-


tete sich eine breite Hoffnung auf eine „echte" Verfassung. Die Banalität der
Begrifflichkeit „echt" verschleiert jedoch die Klärung zweier Grundfragen, die
neben den weiteren (sogleich angerissenen) vielschichtigen Debatten - etwa um
die „Staatlichkeit" der Europäischen Union - oftmals unterzugehen drohen. 394

Erstens: gibt es den idealen Typus der Verfassung, den absoluten, platonistisch
konzipierten Begriff der Verfassung? Zweitens: selbst wenn die Konstitutionalisie-
rung Europas ein „Sonderweg" 3 9 5 ist, soll sie ein Sonderweg zur Normalität sein,
also die „Konstitutionalisierung" Europas seine „Normalisierung" bedeuten?

Hinsichtlich der ersten Fragestellung sind weiterhin latente Tendenzen einer


gewissen Art der „Begriffsjurisprudenz" zu beobachten, die sich jedoch nicht
offenbart, sondern oft unauffällig in den Diskurs hineinzugelangen vermag. Die
scheinbare Notwendigkeit stets fester Begrifflichkeiten bietet hierbei eine - wenn
auch gelegentlich schwankende - Plattform für Begriffsrealismus. Die juristischen
Begriffe müssten danach metahistorische Größe sein. Um mit R. von Ihering zu
sprechen, gäbe es einen „juristischen Begriffshimmel", wohin der inszenierte
Romanist nach seinem Tod endlich kommt:

390
Vgl. die Texte von Art. 6 EGKSV, 281 f. EGV. 188 f. EAGV.
391
Siehe etwa die Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen im Sinne von Art. 249
Abs. 2 EGV.
392
Vgl. nur die B e f u g n i s zur Aufsicht über staatliche Beihilfen, zur A h n d u n g von
Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln etc.
393
Vgl. insb. Art. 220 ff. EGV.
394
Vgl. aber den Redebeitrag von O.Jouanjan, Stellungnahme, in: G . K r e i s (Hrsg.),
Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Ver-
fassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität
Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 12 ff.
395
So J.H.H. Weiler. Federalisme et constitutionnalisme: le S o n d e r w e g de 1'Europe.
in: R. Dehousse (Hrsg.). Une Constitution pour 1'Europe?, 2002. S. 151.
144 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„In ihm findest Du alle die juristischen Begriffe, mit denen Du Dich auf Erden so
viel beschäftigt hast, wieder. Aber nicht in ihrer unvollkommenen Gestalt, in ihrer
Verunstaltung, die sie auf Erden durch Gesetzgeber und Praktiker erfahren haben,
sondern in ihrer vollendeten, fleckenlosen Reinheit und idealen Schönheit." 3 * 6

Das Heraklit'sche rcdvra pei entfaltet jedoch auch im Hinblick auf juristische
Grundbegriffe Geltungskraft. Bereits G. Jellinek hatte Anfang des 20. Jahrhun-
derts diese „im Fluss des historischen Geschehens" gesehen. 397 Auch angesichts
eines erforderlichen Schutzes gegen wissenschaftlich vertarnten Essentialismus
sollte alles in allem nicht von einem „idealen Wesen der Verfassung", sondern
höchstens von einem geschichtlichen Typus ausgegangen werden.

Das Flussprinzip gilt im Übrigen auch für die zweite Voraussetzung der Frage
nach der „echten" Verfassung, nämlich die angedachte „Normalisierung" Europas.
Zwar könnte man in der kongruenten Wandelbarkeit bereits einen Hinweis hierauf
erkennen. Die Europäische Union bleibt jedoch trotz unübersehbarer Parallelen zu
verfassungsschöpferischen Vorgängen in der (nationalstaatlichen) Verfassungsge-
schichte auch im Hinblick auf seine Konstitutionalisierung ein Ansatz sui generis.
Zudem ist „Normalisierung" in diesem Kontext und unabhängig vom Ergebnis
nicht lediglich mit „Verstaatlichung" gleichzusetzen. Schon die Erklärung von
Laeken vom 15. 12.2001 weist in diese Richtung. 398

In diesem Kontext ist festzuhalten, dass neben den genannten Gründen die
bisherige etatistische Ausrichtung europäischer Verfassunggebung schon deshalb
zum Scheitern verurteilt war. weil im Gegensatz zur gelegentlich idealisierten Ver-
fassunggebung nach dem Muster der französischen Revolution eine europäische
Verfassung kein Machtvakuum füllen soll, sondern im Gegenteil bereits vorhan-
denen staatlichen Macht- und Verfassungsstrukturen entgegentritt. So wurde der
Begriff „europäische Verfassung" lange Zeit auch tabuisiert, weil er reflexartige
Abwehrreaktionen vieler Mitgliedsstaaten hervorrief, da er in den Argumenta-
tionslinien auch die „Staatswerdung" Europas und damit Souveränitätsverluste
implizierte. So verblieben die Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte
weitgehend im Bereich der symbolischen Politik.

396
R. von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Neudruck. Darmstadt 1992.
S. 249 f.
397
Vgl. G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl.. 1914. S. 39.
398
Siehe den Text der Erklärung, u. a. abgedruckt in E u G R Z 2001, S. 662, wonach der
Bürger „ m e h r Ergebnisse, bessere Antworten auf konkrete Fragen (erwartet), nicht aber
einen europäischen Superstaat o d e r europäische Organe, die sich mit allem und j e d e m
befassen."
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 145

(b) Allgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbegriffes

Seine normative Bedeutung gewann der Verfassungsbegriff erst im 18. Jahrhun-


dert. 399 Vorher handelte es sich nicht um einen - im heutigen Sinne - normativen,
sondern um einen empirischen Begriff, in den Normen im Wesentlichen lediglich
als zustandsbestimmende Elemente eingingen. Wo das Wort „Verfassung" oder
ein fremdsprachliches Äquivalent normativ verwendet wurde, meinte es dagegen
bestimmte von Herrscher erlassene Gesetze, aber gerade nicht ein Gesetz, das die
Herrschaft selbst betreffen sollte. 400

Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert manifestierten sich in zahlreichen
Staaten der Gedanke und die Forderung, ein Staat müsse eine Verfassung haben,
um die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und insbesondere Grundfreihei-
ten der Bürger zu sichern. In vielen Staaten entstanden politische Bewegungen
und teilweise innere Kämpfe um die Frage, ob der Staat eine Verfassung erhalten
oder ob es beim „verfassungslosen" Zustand verbleiben sollte. So ist die Idee der
geschriebenen Verfassung als Grundgesetz des „modernen" Staates eine Frucht
des ausgehenden 18. Jahrhunderts, als sich der Gedanke von der Notwendigkeit
die staatliche Herrschaft ordnender und begrenzender Normen sowie das Prinzip
der Kodifikation durchsetzte. 4<>1

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Ausdruck „Verfassung" mit verschie-


denen Bedeutungen verbunden. 402 Über einige grundlegende Wesensmerkmale be-
steht jedoch Einigkeit. So wird der Begriff „Verfassung" zumeist als die rechtliche

399
Vgl. M. Nettesheim. EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Bericht
für die XX. F I D E - T a g u n g 2 0 0 2 . S. 10 ( a b r u f b a r unter w w w . f i d e 2 0 0 2 . o r g / r e p o r t s e u l a w
.htm).
400
Vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S. 581 ff., 582.
401
Vgl. K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 2 . A u f l a g e , 1984
B a n d l . S . 4 8 . Gleichwohl wird es als fraglich erachtet, ob es ausschließlich das sich in
dieser Zeit f o r m e n d e Ideengut der A u f k l ä r u n g , der Emanzipation der bürgerlichen G e -
sellschaft von religiösen Vorstellungen, o d e r das Gedankengut der Volkssouveränität, des
Liberalismus und der Demokratie gewesen sind, die Verfassungen hervorbrachten, o d e r ob
es nicht auch eine A n k n ü p f u n g an ältere, namentlich griechische o d e r römisch-rechtliche
sowie mittelalterliche Vorstellungen gewesen ist, vgl. auch instruktiv aus den S a m m e l -
werken P. Bachira, Verfassung, in: R. Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon.
Band II. 3. Auflage, 1987. Spalte 3738: D.Grimm. Verfassung, in: G ö r r e s Gesellschaft
(Hrsg.). Staatslexikon. Band 5. 7. Auflage. 1989 und 1995. S . 6 3 4 . W i e bereits oben be-
schrieben wurden diese auf S c h a f f u n g eines Verfassungsstaates abzielenden Bestrebungen
zuerst auf dem amerikanischen Kontinent in die politische Wirklichkeit umgesetzt, bevor
sich in Europa im Jahre 1791 Frankreich seine erste Verfassung schuf. W a s Deutschland
anbelangt, gaben sich in A n l e h n u n g an die französische Verfassung von 1814 zahlreiche
deutsche Staaten eine Verfassung, so Sachsen-Weimar-Eisenach (1816), dann Bayern und
Baden (1818), W ü r t t e m b e r g (1819). Im Jahre 1871 trat eine gesamtdeutsche Verfassung,
als staatsrechtliche Grundlage des neu geschaffenen deutschen Bundesstaates, in Kraft.
Den Anforderungen demokratischer Verfassunggebung genügte aber erst die Weimarer
Verfassung von 1919.
146 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Grundordnung des Gemeinwesens umschrieben. Auch besteht Übereinstimmung


darüber, dass in der Verfassung die Leitprinzipien für die Organisation des Staat-
verbundes und die Funktionsweise der Staatsgewalt und damit die wesentlichen
Entscheidungsstrukturen festgelegt werden. 4 0 3

Wie man die begrifflichen Voraussetzungen der Verfassung definiert, hängt


ebenso wie bei den Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit und vielen anderen
Fragen der Verfassungstheorie zu einem erklecklichen Teil von Wertungen ab.
Demzufolge lassen sich kaum zwingende Aussagen treffen, wie sie bei logischen
Fragestellungen möglich sind. An dieser Stelle soll sich auf diejenigen Merkmale
konzentriert werden, die für die Wirkung der „Verfassung als rechtliche Institu-
tion" 41 " erforderlich sind. Das sind im Wesentlichen formelle, aber auch einige
materielle Merkmale (da es eine Verfassung in einem nur formellen oder nur
materiellen Sinne faktisch nicht geben kann - auch deswegen ist vieles, was in
der europäischen Verfassungsdiskussion als „Verfassung" bezeichnet wird, nicht
wirklich als Verfassung i. S. d. Verfassungstheorie anzuerkennen).

Gleichwohl bleibt die Unterscheidung von Verfassung im formellen und mate-


riellen Sinne grundlegend. Dabei versucht der formelle Verfassungsbegriff eine
Antwort auf die Frage zu geben, welche äußerlichen Kriterien (Form, Bestands-
kraft, einheitliche Urkunde) eine Verfassung kennzeichnen, während der materi-
elle Verfassungsbegriff nach dem Regelungsgehalt eine Zuordnung bestimmter
Normen zum Verfassungsrecht vornimmt. Bedeutung und Inhalt beider Verfas-
sungsbegriffe sind in den Einzelheiten freilich sehr umstritten. 405 Nach verbreiteter
Meinung wird im formellen Sinne unter Verfassung das Verfassungsgesetz als das
„Grundgesetz" eines Staates verstanden, das besondere Formqualitäten kennzeich-
nen 406 : der höchste Rang innerhalb der staatlichen Normenhierarchie (Vorrang
der Verfassung), erschwerte Abänderbarkeit, erhöhte Bestandskraft. Die höchs-
te Norm der staatlichen Rechtsordnung, die allen anderen Normen die Regeln
der Erzeugung vorgibt und den Geltungsmaßstab bildet, ist die einzige Norm,
welche Zulässigkeit und Verfahren der eigenen Abänderbarkeit regelt. Sie lässt
sich auf keine Normenzeugungsregel zurückzuführen. Sie entspringt außerhalb

402
Vgl. P.Badura (1987), Spalte 3737 und M.Sachs, Grundgesetz. Kommentar.
3. Aufl. 2003, S. 51 ff. Beachtenswert sind die B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n der Verfassung von
G. Jellinek und C. Schmitt, die einen nicht unerheblichen Einfiuss auf die Verfassungsrechts-
lehre ausgeübt haben. Vgl. dazu K. Stern (1984). S. 51 ff. und W. Hertel. Supranationalität
als Verfassungsprinzip. 1998. S. 77 ff.
4l
" Vgl. etwa J. Schwarze. Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das
Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 109
404
Dazu T. Schmilz (2001), S. 415.
405
Vgl. J. Schwarze. Verfassungsentwicklung in der Europäischen G e m e i n s c h a f t , in:
J. S c h w a r z e / R . Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. 1. Aufl. 1984. S. 15 ff.. 17.
406
Vgl. nur./. Isensee. Staat und Verfassung, in: J. I s e n s e e / R Kirchhof, Handbuch des
Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. B a n d l . 1987, S . 6 4 4 .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 147

des Systems staatlich verfasster Legalität im Legitimitätsgrund der Staatlichkeit,


der, nach demokratischem Verständnis, im Willen des Volkes liegt. Verfassung
im materiellen Sinne ist dagegen die rechtliche Grundordnung des Staates. Sie
ist die rechtliche Substanz, auf der das Staatsgrundgesetz als die rechtliche Form
angelegt ist. Materien der Verfassung müssen über die des einfachen, disponiblen
Gesetzes durch ihre Bedeutung für die staatliche Einheit hinausreichen. Zur ma-
teriellen Verfassung gehören die Staatsform, Grundlagen der Staatsorganisation,
der Legitimationsursprung, die Machtverteilung durch die Kompetenzordnung,
das Recht der höchsten Staatsorgane sowie Ziele und Grenzen der Staatsform.
Als wesentliche Charakteristika der Verfassungsordnung eines modernen Staates
werden die Staatsorganisation, das Demokratieprinzip, die Rechtsstaatlichkeit und
der Schutz der Grundrechte betrachtet. 407

(c) Verfassungsfähigkeit und deren Voraussetzungen

Die zentrale Frage in der europäischen Verfassungsdiskussion war die, ob der


europäische Herrschafts- und Integrationsverband in seiner damaligen (und gegen-
wärtigen) Gestalt überhaupt eine Verfassung haben kann 408 , das heißt im Sinne der
Verfassungstheorie zu einer Verfassung fähig ist („Verfassungsfähigkeit"). Diese
Debatte hat sich auch nach dem Verfassungskonvent nicht gänzlich erschöpft.
Obgleich man annehmen könnte, dass mit dem schließlich vorgelegten Verfas-
sungsvertrag der Streit um die Verfassungsfähigkeit obsolet geworden ist, gewann
diese Diskussion beispielsweise bei der Qualifikation des Konventsentwurfs (Ver-
fassung, Vertrag bzw. Verfassungsvertrag 4 0 9 ) oder einer etwaigen („klassischen"
Verfassungs(?)-)Interpretation erneut Aktualität.

Über die Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit ist in der Verfassungstheo-


rie bisher keine tiefgreifende Diskussion geführt worden, weil der Begriff der

4117
Vgl. w i e d e r u m J. Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung.
Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. 2(XM). S. 115 ff.
408
Vgl. statt vieler etwa D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995.
S. 581 ff.; I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: Euro-
pean Constitution-Making Revisited?, in: 3 6 C M L R e v . 1999. S. 7 0 3 ff.; P. Hiiberle, G e -
meineuropäisches Verfassungsrecht, in: ders.. Europäische Rechtskultur. 1994. S . 3 3 f f . ;
E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat. Nation. Europa. Studi-
en zur Staatslehre. Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. 1999. S . 6 8 f f . ; T.Bruhaf
J.J.Hessel C.Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa? Erstes interdisziplinäres
. . S c h w a r z k o p f - K o l l o q u i u n f z u r Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, 2001;
J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Z u k u n f t der Demokratie, in: ders..
Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S . 9 1 ff.; ders., Braucht Europa
eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter G r i m m , in: D. G r i m m . Die Einbeziehung des
Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996. S. 185 ff.; G. Frankenberg, T h e Return of
Contract: Problems and Pitfalls of European Constitutionalism. in: 6 ELJ 2000. S. 257 ff.;
E.-U. Petersmann. Proposais for a Constitutional Theory and Constitutional Law of the EU.
in: 3 2 C M L R e v . 1995. S. 1123 ff.
409
Dazu unter B . I I . 2 . 0 q q ) ( D .
148 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Verfassungsfähigkeit" dort noch nicht entsprechend breit eingeführt ist. 410 Es


kann daher nur allgemein auf Sinn und Zweck der Verfassung und die unter die-
sem Gesichtspunkt wichtigen Eigenschaften des Staates abgestellt werden. Dabei
müssen das zentrale Anliegen und der Kerngedanke der Verfassungstheorie im
Mittelpunkt stehen. Primäre Voraussetzung ist, dass es sich um einen Verband,
eine Körperschaft handelt. Außerdem ist jede Verfassung auf einen einzigen, be-
stimmten Verband beschränkt, der allerdings auch ein Gesamtverband sein kann.
Eine „europäische Verfassung" im Wortsinne, die unmittelbar an das Territorium
anknüpft oder die rechtlich unverbundenen europäischen Verbände Europäische
Union, Europarat und O S Z E unter einer Ordnung vereint, erscheint also nicht
möglich. Weitere Voraussetzungen sind ein hoher Organisationsgrad und weitrei-
chende Kompetenzen, denn Verfassungen kommen nach der hier vertretenen Auf-
fassung nur für hoch entwickelte Verbände mit politischem Gewicht in Betracht.
Außerdem muss es sich um einen allgemeinen politischen Zusammenschluss
handeln, denn die Institution der Verfassung ist für die rechtliche Ordnung po-
litischer Gemeinschaften von Menschen und nicht als Steuerungsinstrument für
Zweckverbände entwickelt worden. Ferner bedarf es einer nicht unerheblichen
Autonomie bei der Aufgabenerfüllung, soll die Institution der Verfassung doch der
Selbstkontrolle selbständiger Machtapparate und nicht der Beaufsichtigung von Er-
füllungsgehilfen dienen. Zu dieser Autonomie gehört bei einem völkerrechtlichen
Verband auch eine Verselbständigung des politischen Willens gegenüber den
einzelnen Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen. Deswegen muss
zumindest ein erheblicher Teil der wesentlichen Entscheidungen unitarischen Or-
ganen überantwortet oder dem Mehrheitsprinzip unterstellt sein. Verstände man
den Luxemburger Kompromiss von 1966 als rechtlich bindend, müsste man da-
her die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaften bis in die späten
achtziger Jahre verneinen. Schließlich muss ein verfassungsfähiger Verband von
einer engen Verantwortungs- und Solidargemeinschaft getragen sein, die eine Par-
allele zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft erkennen lässt. denn die Funktion
einer Verfassung ist auch die eines grundlegenden rechtlichen Dokumentes, das
dem Bürger den Schutz und Beistand der Gemeinschaft garantiert. - Bei einer
Supranationalen Union 411 sind diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt. Im
Einzelfall kann die Verfassungsfähigkeit allerdings daran scheitern, dass den Re-
gierungen der Mitgliedstaaten eine so weitgehende Kontrolle über die Politik der

410
Vgl. aber grundlegend und zu den nachfolgend a u f g e f ü h r t e n Gesichtspunkten aus-
führlich T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 4 0 4 ff.
411
Der Verf. versteht in dieser Arbeit unter „Supranationaler U n i o n " eine von mehreren
Staaten zum Z w e c k e der Integration gegründete, auf ständige Fortentwicklung angelegte,
konzeptionell f ü r Aufgaben aller Art o f f e n e internationale Organisation, welche ihrer In-
tegrationsfunktion vor allem dadurch n a c h k o m m t , d a s s sie in erheblichen U m f a n g durch
Ausübung von Hoheitsgewalt in den Mitgliedstaaten selbst öffentliche Aufgaben wahr-
nimmt. vgl. auch die Definition von T. Schmitz (2001), S. 168. Die Europäische Union und
die Europäischen G e m e i n s c h a f t e n fallen somit hierunter.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 149

Union eingeräumt ist, dass letztlich nicht mehr von autonomer Aufgabenerfüllung
gesprochen werden kann.

(d) Staat und Verfassung im „wechselseitigen Korsett"?

Geboren und durchgesetzt in der Epoche der Nationalstaatlichkeit, ist die In-
stitution der Verfassung traditionell mit der Organisationsform des Staates ver-
bunden. Ihre Theorie wurde für den Staat entwickelt, die historischen Verfas-
sunggebungen, die als Referenz dienten, landen in den Staaten statt. Nach die-
sem vielfach als „klassisch" bestimmtem Verständnis werden die Funktionen und
Vorraussetzungen der Verfassung auf das Bild eines in sich geschlossenen, in völ-
liger Selbständigkeit handelnden Staates bezogen. 4 1 2 Auch C. Schmitt wählte in
seiner „Verfassungslehre" eine ähnliche, vergleichbar enge Formulierung, indem
er „Verfassung" (kontrastierend zum „Verfassungsgesetz") als Dezision über die
Form und Grundstruktur eines schon vorgegebenen Staates bezeichnete. 413 Dieses
auf die Heger sehe Staatsphilosophie zurückgehende 4 1 4 staatszentrierte Verständ-
nis von Verfassung lässt die Annahme, es existiere bereits eine europäische
Verfassung, ebenso wenig zu wie die Behauptung, die Europäische Union könne
sich in näherer Zukunft eine Verfassung zulegen.

Der Staatsbezug ist darauf zurückzuführen, dass lange Zeit nur der Staat als ter-
ritorial gebundene, allein zu allgemeinverbindlicher Entscheidung und zu zwangs-
weisem Vollzug legitimierte Einrichtung durch seine Souveränität, d . h . sein
ausschließliches Recht, über ein definiertes Gebiet einem Geltungs- und Anwen-
dungsbefehl konstitutiv zur Wirkung zu verhelfen, die Effektivität der Verfassung
garantieren konnte. 415 Bezeichnet man nun den souveränen Staat als Rechtsvoraus-
setzungsbegriff und die Konstituente, den „pouvoirconstituant", als nur aus diesem
Grund frei, besteht nach dem so genannten „normativen staatsbezogenen Verfas-
sungsbegriff* folglich eine Konnexität von souveränem Staat und Verfassung 4 1 6 ,
wenn nicht sogar eine wechselseitige korsettartige Verbindung.

412
Vgl. W. Wessels, Die europäischen Staaten und ihre Union - Staatsbilder in der
Diskussion, in: H. S c h n e i d e r / D . B i e h l / W . Wessels (Hrsg.), Föderale Union - Europas
Z u k u n f t ? , 1994. S. 51 ff.. 53.
413
C. Schmitt, Verfassungslehre. 1928. S. I lff sowie zur Differenzierung von Verfas-
sung und Verfassungsgesetz, ebenda S. 3: „ D a s Wort .Verfassung* muss auf die Verfassung
des Staates, d. h. der politischen Einheit eines Volkes beschränkt werden, wenn eine Ver-
ständigung möglich sein soll".
414
Für Hegel ist der Staat als „die Wirklichkeit der Sittlichen Idee" das „an und für sich
Vernüftige", vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821. S . 3 9 8 f .
( § § 2 5 7 ff.): Z u m modernen sittlichen Staat vgl. W. Pauly, Hegel und die Frage nach d e m
Staat, in: Der Staat 200(). S . 3 8 1 ff., vor allem 392 ff.. E.-W. Böckenförde, Der Staat als
sittlicher Staat. 1978.
415
Herleitung nach D. Nohlen/R.-O. Schtdtze. Lexikon der Politik. Band I: Politische
Theorie, 1995. S . 6 0 5 .
150 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auch hinsichtlich der europäischen Dimension wurde der Begriff der Verfas-
sung zunächst h e r k ö m m l i c h und ü b e r w i e g e n d auf den Staat b e z o g e n gedacht.417
In der K o n s e q u e n z k ö n n e nach dieser A u f f a s s u n g die Europäische Union keine
V e r f a s s u n g h a b e n , d e n n sie sei k e i n S t a a t . 4 1 8 D a sie a u c h k e i n V o l k i m t r a d i t i o n e l -
len S i n n e v o r z u w e i s e n h a b e , g e b e e s n o c h n i c h t e i n m a l e i n e v e r f a s s u n g s g e b e n d e
Gewalt. Dieser weiterhin von d e n früheren Richtern am Bundesverfassungsgericht
P. Kirchhof u n d D. Grimm v e r t r e t e n e n V o r s t e l l u n g h a t I. Pernice e i n e n „ p o s t n a -
t i o n a l e n " V e r f a s s u n g s b e g r i f f e n t g e g e n g e s t e l l t . 4 1 9 E r ist f u n k t i o n a l b e s t i m m t u n d
b e g r ü n d e t s i c h a u f d e m v o n P . Häherle f o r m u l i e r t e n G e d a n k e n , d a s s e s n i c h t m e h r
„ S t a a t " g e b e n k a n n , als d i e V e r f a s s u n g k o n s t i t u i e r t . 4 2 0 D e r S t a a t ist d e m z u f o l g e d e r
V e r f a s s u n g n i c h t v o r g e l a g e r t , w i r d v o n ihr n i c h t v o r a u s g e s e t z t , s o n d e r n d u r c h s i e
konstituiert. Mit d e m Wandel des Staates und seinen Funktionen wird nach dieser
A u f f a s s u n g das Bedürfnis nach e i n e m „offenen Verfassungsbegriff" evident.421

416
So D. Blumenwitz, Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien. Der
Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderheft I / 2 0 0 3 . S. 44 ff..
47 f.
41
Vgl. nur P. Kirchhof. Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundes-
republik Deutschland, in: J. Isensee (Hrsg.). Europa als politische Idee und als rechtliche
Form. 1993. S. 63 ff., 82.
4.8
In diesem Sinne auch U. di Fabio. Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich?
Die S p a n n u n g zwischen Unionsgewalt und Souveränität der Mitgliedstaaten ist kein Hin-
dernis für die Einheit Europius, in: F A Z v . 2 . 2 . 2 0 0 1 . S. 8. „ [ . . . ] d a s s es eine europäische
Verfassung im herkömmlichen Sinne staatlicher verfassungsgebender Gewalt nicht gibt,
wohl aber einen funktionellen Verfassungsvertrag, den m a n . um Missverständnisse auszu-
schließen. die Europäische Charta nennen könnte". Allerdings auch ders.. Eine europäische
Charta. Auf d e m Weg zu einer Unionsverfassung, in: JZ 2000. S. 7 3 7 ff., 7 3 9 . wonach
. . ! . . . ] wir uns längst im Strudel des Epochenwechsels befinden, der die Konnexität von sou-
veränem Staat und Verfassung auflöst", und es nicht m e h r erlaubt ist, ..auf der klassischen
Idee von der Verfassung als Ausdruck staatlicher Selbstherrschaft zu beharren".
4.9
/. Pernice. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, V V D S t R L 60
(2001), Z i f f . II. (i.E.); vgl. auch ders., Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier,
in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Europas Verfassung-
Eine O r d n u n g für die Z u k u n f t der Union. 2001, S. 18 ff., 20 f. Grundsätzlich J. Habermas.
Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S. 105 ff. sowie speziell zur
Entwicklung in der Europäischen Union D. H. Scheuing. Zur Europäisierung des deutschen
Verfassungsrechts, in: J. Drexl u. a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen
Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997. S. 87 ff.
420
Vgl. P. Haberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 6 2 0 : ders..
Europäische Verfassungslehre - Ein Projekt, in: ders.. Europäische Verfassungslehre in
Einzelstudien. 1999. S. 16. Ihm letztlich folgend: H. Hofmann. Von der Staatssoziologie
zur Soziologie der Verfassung?, in: JZ 1999. S. 1065 ff., 1066; vgl. auch K. Sobotta, Das
Prinzip Rechtsstaat. 1997. S. 30 ff.
421
Dies umfasst eine „ O f f e n h e i t " für die rechtliche Erfassung supra- und internationaler
Strukturen gleicher Ziel- und Zwecksetzung, vgl. /. Pernice, Die Europäische Verfassung.
Grundlagenpapier, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Euro-
pas Verfassung-Eine Ordnung für die Z u k u n f t der Union. 2001. S. 18 ff.. 20. Für einen vom
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 151

Mit der Supranationalen Union existiert nunmehr eine völkerrechtliche Or-


ganisationsform. die dem Staat nahe kommt, doch wird bis heute vielfach in
Zweifel gezogen, ob dies schon eine Übertragung der eigentlichen Verfassungs-
idee zulässt. Zwar bedarf die Union ebenso wie der Staat eines festen Rahmens,
der sie bei aller Entwicklungsoffenheit verlässlich in bestimmte Bahnen lenkt
und so die vom Verfassungsstaat bekannte Grundsicherheit schafft, doch bleibt
eine „Unionsverfassung" vordergründig sowohl in ihrer Legitimität als auch in
ihrer normativen Wirkung hinter der eines Staates zurück, da zum einen kei-
ne Zurückführbarkeit auf ein Staatsvolk, z u m anderen zunächst lediglich eine
„Komplementärverfassung", also kein umfassend normhierarchischer Vorrang
gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht gesehen werden könnte.

Die Debatte war in ihrem Kern letztlich eine um Folgeprobleme, die aller-
dings oftmals unbenannt blieben. Akzeptierte man nämlich die Möglichkeit einer
Verfassung für die Union, verknüpfte sich dies mit der Gefahr einer Verwäs-
serung des Verfassungsbegriffs und damit einer schleichenden Entwertung des
Konzepts der Verfassung. Verneinte man sie, drohte je nach den unmittelbar
daraus gezogenen Konsequenzen eine vorübergehende Stagnation der Integra-
tion mit anschließendem Zentralisierungsschub, ein unzureichend vorbereiteter
vorzeitiger Übergang in den „geo-regionalen Vereinigungs-Staat", eine allmäh-
liche Untergrabung der Herrschaft der Verfassung durch immer ausgedehntere
„verfassungsfreie Z o n e n " oder eine weitere Komplizierung der Supranationalen
Union durch eine erst noch einzuführende, in ihrer Wirkung schwer berechenbare
verfassungsähnliche Institution. 422 Nicht nur die Verfassungslehre sah und sieht
sich hierbei mit einer grundlegenden Weichenstellung konfrontiert, die man als
das „Verfassungsdilemma supranationaler Integrationsverbände" 4 2 3 umschreiben
kann.

Staat gelösten Verfassungsbegriff siehe auch G. Biaggini. Die Idee der Verfassung - Neu-
ausrichtung im Zeitalter der Globalisierung, in: Z S R 119 (2000), S. 4 4 5 ff.. 463.
422
So T. Schmilz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 388 ff.
423
T. Schmitz spricht ähnlich, jedoch in einem etwas zu weitgehendem Ansatz, vom
..Verfassungsdilemma der supranationalen Integration". Als Ausweg aus dem Verfassungs-
d i l e m m a schlägt ders. (2001), S. 393 ff., die ..vorsichtige Einbeziehung einzelner nichtstaat-
licher Organisationsformen in die Verfassungstheorie' - vor. Es müsse unterschieden werden
zwischen den gewöhnlichen nichtstaatlichen Verbänden, die aus vielfachen Gründen nicht
für eine Verfassung geeignet sind, und den wenigen herausragenden Typen, bei denen sich
a u f g r u n d einer besonderen Staatsähnlichkeit die Ü b e r n a h m e des Konzepts der Verfassung
trotz der damit verbundenen Probleme rechtfertigen lässt. Auf diese Weise lasse sich das
zentrale Anliegen der Verfassungstheorie, für eine verlässliche grobe O r d n u n g der politi-
schen Verhältnisse und eine Grundausrichtung und Mäßigung der öffentlichen Gewalt zu
sorgen, in das Zeitalter der relativierten und integrierten Staatlichkeit weitertragen, o h n e
dass dabei der Kern dieser Theorie, der G r u n d g e d a n k e der Bindung j e d e s Machtträgers
in einem Herrschaftsverband an übergeordnete rechtliche Vorgaben, verändert würde. Es
handelt sich nach Schmitz also um eine Fortschreibung, nicht Verfälschung. Es ist richtig:
Dieser Lösungsansatz erlaubt eine möglichst weitgehende Verfassungsgebundenheit öffent-
licher Gewalt auch unter den Bedingungen der Globalisierung und Georegionalisierung und
152 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Insgesamt stößt jedoch der enge Verfassungsbegriff (wie etwa bei C. Schmitt)
- nicht nur qua definitionein - rasch auf Grenzen, die der Wirklichkeit geschuldet
sind. Visionär im gewissen Sinne ist bereits der Ansatz P. Häberles. der - gleich-
wohl (aber eben nicht nur) mit Staatsbezug - einen ähnlich weiten Verfassungs-
begriff angelegt hat:
..Verfassung meint rechtliche G r u n d o r d n u n g von Staat und Gesellschaft, schließt also
die - verfasste - Gesellschaft ein. - freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen .
d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst (Verfassung ist nicht nur .Staats-'Verfassung)."* 2 4

Angesichts der ökonomischen und politischen Potenziale, die in einer Gesamt-


bevölkerung von mehr als 350 Millionen Menschen stecken und wenn es gelingen
sollte, diese über demokratische Repräsentation einheitlich zu artikulieren, werden
theoretische Einwände, einen „postnationalen Verfassungsbegriff" gebe es nicht,
für eine Verfassung brauche man ein „Staatsvolk", der Übergang vom Vertrag auf
die Verfassung sei verfrüht oder der Wechsel von der Legitimation durch die Staa-
ten (im Ministerrat) zur Legitimation durch ein echtes Parlament sei noch nicht
(oder nie) gangbar, kaum Widerhall finden. Diese Einwände artikulieren Sorgen
vor einem wachsenden Defizit an demokratischer Legitimation, manchmal aber
lediglich Irritationen, weil der gewohnte nationalstaatliche Verfassungsrahmen
und die damit verbundene Begriffiichkeit dahinschwinden. Ähnlich verhält es sich
mit der zögernden Formel „staatlicher Verbund" 425 . Die Politik der „Kernländer"
der Europäischen Union ist längst festgelegt; sie kann sich wegen der normativen
Kraft des Faktischen einem noch weiter verdichteten und rechtlich verfassten
Europa nicht mehr entziehen.

„Verfassung" kann also auch in einem weiteren Sinne als rechtliche Grundord-
nung eines nichtstaatlichen Gemeinwesens, einer Rechtsgemeinschaft oder einer
supranationalen öffentlichen Gewalt verstanden werden. Demgemäß können die
Gründungsverträge internationaler Organisationen, die formal als multilaterale
völkerrechtliche Verträge erscheinen, Verfassungscharakter 426 haben.

Der Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union als eines supranationalen


Herrschaftsgebildes eigener Art steht damit auf den ersten Blick zumindest begriff-
lich nichts entgegen.

berücksichtigt außerdem den Bedarf an vorstaatlichen Verfassungserfahrungen im multina-


tionalen Integrationsverband, auf die sich später bei der Erarbeitung einer Staatsverfassung
zurückgreifen lässt. Er vermeidet die negativen Folgen einer Integration ohne Verfassung,
vernachlässigt aber nicht die Gefahren, die mit einer Ö f f n u n g der Verfassungstheorie
einhergehen.
424
P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin 1998.
S. 118 f.
425
So das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 89. 155 11811.
426
Hierzu unter B.II.2.011).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 153

(e) Fazit

Im Zuge der Integration hat sich schließlich ein Hoheitsträger herausgebildet,


der Recht setzt, ohne Staat zu sein. Der überkommene, seit nunmehr dreihundert
Jahren gültige und nahezu zum Dogma erhobene Konnex von Staat und Recht,
von Staatsgewalt und Rechtsetzung wird hiermit relativiert, wenn nicht durch-
brochen. Regierungsgewalt und Rechtsetzung dürfen nunmehr als Erscheinungen
begriffen werden, die auch jenseits der Staatlichkeit erfolgen. Nettesheim ist zuzu-
stimmen, wenn die damit verbundenen Schwierigkeiten - entgegen gelegentlich
geäußerter Befürchtungen - nicht überzeichnet werden sollten: „Kategorien wie
Kompetenz. Zwang, Recht etc. lassen sich ohne Probleme auch außerhalb staat-
licher Kontexte denken. Das Völkerrecht bietet hierfür seit Herausbildung des
Konzepts der internationalen Organisation in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts genügend Beispiele. Insbesondere w a r d e r Rechtsbegriff zu keiner
Zeit ausschließlich auf den Staat bezogen." 4 2 7

Insbesondere die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft bedient sich nicht


eines eindeutigen Verfassungsbegriffs. Einige weisen zu Recht darauf hin. dass
je nach Erkenntnisinteresse, verfassungstheoretischem Standpunkt und norma-
tivem Anliegen man sich des Begriffs in deutlich unterschiedlicher Bedeutung
bedient. 428 Insofern könne es nicht verwundern, dass sich die Diskussion um Stand
und Entwicklung der europäischen Integration, um Richtung und Finalität des
Prozesses auch und zuerst auf begrifflicher Ebene abspielt(e).

Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt, die eine Verwendung eines
angereicherten, wenngleich nicht legitimistischen Verfassungsbegriffs als sinnvoll
erscheinen lässt. Es muss sich demnach um einen Verfassungsbegriff handeln,
der auf die Problematik zugeschnitten ist, die sich mit der Einbindung und Legiti-
mierung von Herrschaft im 21. Jahrhundert jenseits des Nationalstaates verbindet
(konkreter, aber abstrahierender normativer Verfassungsbegriff). 4 2 9

427
M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: Z E u S
5 (2002), S. 507 ff. Staatliches Recht genoss zwar vor d e m Hintergrund d e r staatlichen
Zwangsgewalt eine besonders prägnante Normativität: an seiner Seite stand aber i m m e r
auch Recht, hinter dem diese Gewalt nicht stand, das aber gleichwohl in seiner Existenz und
Wirksamkeit als Recht nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Insofern bedarf es eines
Hinweises, dass die Durchsetzung des Unionsrechts in den Händen d e r Mitgliedstaaten
liegt, nicht.
428
So etwa M. Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Be-
richt für die X X . FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter w w w . f i d e 2 0 0 2 . o r g
/reportseulaw.htm).
429
Z u m G a n z e n P. Craig, Constitutions. Constitutionalism and the European Union,
in: 7 ELJ 2001. S. 125 ff. Zur Begriffsbildung vgl. z u s a m m e n f a s s e n d etwa M. Nettesheim
(2002). mit zahlreichen Nachweisen sowie R. Bieber, Verfassungsfrage und institutionelle
Reform, in: T. Bruha u. a. (Hrsg.), Welche Verfassung f ü r Europa?. 2001, S. 111 ff.
154 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Ergänzend und die vorherigen Verfassungs-Prämissen aufgreifend wären für


eine „Unionsverfassung" zunächst als einzelne formelle Voraussetzungen zu nen-
nen:

- der durch normativen Gesamtakt erlassene Normenkomplex (was allerdings


eine allmähliche Verfassungsherausbildung und Verfassungsbegründung durch
richterliche Rechtsfortbildung ausschließen würde);
- die Schriftform; der Vorrang (mit der Konsequenz, dass die Unionsverfassung
nur in einem Verfassungsvertrag liegen kann 430 );
- die erschwerte Abänderbarkeit und schließlich
- die Selbstkennzeichnung als Verfassung.

Materielle Voraussetzungen einer „Unionsverfassung" wären etwa:

- die organisatorische Ausgestaltung der Union;


- die Bestimmung des Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten (bis hin zum Bereit-
stellen von Sanktionsinstrumenten für den Krisenfall, dass ein Mitgliedstaat
aus der Verfassungsordnung ausbricht);
- die Schaffung der verbandsbezogenen rechtlichen Voraussetzungen für die
Entstehung der supranationalen öffentlichen Gewalt und schließlich
- die politisch-philosophische Grundausrichtung der Union.

Im „Streit um die Verfassung der Europäischen Union" ging es allerdings nicht


nur um Begrifflichkeiten: Er dreht sich bis heute auch allgemein um die politische
und staatstheoretische Bedeutung des Primärrechts der Union auf der einen und
des nationalen Verfassungsrechts auf der anderen Seite, und damit auch um die
Bedeutung der Institutionen Union und Staat.

(3) Das Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern

Von C(arlo) Schmid stammt das geflügelte Wort, es sei ganz leicht, eine eu-
ropäische Verfassung zu schreiben. Man brauche nur jeweils das Beste aus den
nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Richtig an dieser Aussage
ist. dass es in Demokratien allgemein gültige Wirkungsmechanismen gibt. Politi-
sche Verantwortlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung finden
sich auch in den verschiedenen instititutionellen Ausprägungen und Grundrechten
der EU-Mitgliedstaaten. Der Rekurs auf nationale Verfassungsvorverständnisse
erfordert Umsicht. Das Originäre an der Europäischen Union ist - wie bereits
aufgezeigt - ihr nichtstaatlicher Charakter, ihr ..Doppelcharakter als Staaten- und
Bürgerunion", wie er z. B. in einer Föderation von Nationalstaaten zum Ausdruck
käme. Nationalstaatliche Verfassungstraditionen sind infolgedessen nicht eins zu
eins übertragbar. Eine europäische Verfassung kann nur eine nicht-staatliche Ver-
fassung darstellen, die die nationalen Verfassungsordnungen ergänzt. Es gibt auch

430
Vgl. zu der Abgrenzung ..Verfassung" - „Verfassungsvertrag" unten B . I I . 2 . f ) q q ) ( l ) .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 155

noch keinen komplementären europäischen Demos 4 1 1 und erst ansatzweise eine


komplementäre europäische Öffentlichkeit.

Eine Analyse nationaler Verfassungs-Vorverständnisse kann gerade auch im


Hinblick auf das Konventsergebnis dreierlei leisten:

- eine Hilfestellung zur Wahrnehmung der eingeflossenen „europageeigneten"


Strukturen und Institutionen; 412
- einen Beitrag zum besseren Verständnis vorheriger Verfassungsprojekte für
die Europäische Union - mit ihrer z. B. eher supranational-föderalen oder eher
intergouvernemental - souveränistischen Ausrichtung;
- eine Verdeutlichung der Grenzen für die Übertragung von nationalen Modellen
im Rahmen der europäischen Verfassunggebung. 4 3 3
Alle konstitutionellen Sonderwege, die in den alten (insbesondere in Großbri-
tannien), neuen und zukünftigen Mitgliedstaaten bestehen, verdeutlichen: Eine
Verfassung ist eine Existenzbedingung eines modernen demokratisch organisier-
ten Gemeinwesens. Sie kann dazu beitragen, eine historische Ausnahmesituation
zu bewältigen.

Die italienische Verfassung (1947) wurde wie das Grundgesetz (GG) und die
späteren Verfassungen von Griechenland (1975), Portugal (1976) und Spanien
(1978) nach dem Ende eines diktatorischen Regimes ausgearbeitet. Ein vergleich-
barer Umstand prägt z. B. auch die polnische Verfassung von 1997. Den Schöpfern
der Verfassung der V. Französischen Republik ging es 1958 dagegen darum, einen

431
Vgl. aber J.H.H. Weiler, Der Staat „über alles". Demos. Telos und die Maastricht-
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR 44 (1996). S. 91 ff. (gemeinsam mit
A. Ballmann und F. Mayer).Aus der nationalstaatlichen Sphäre vertraute Baumuster kön-
nen beim Bürger eher ein G e f ü h l der Transparenz und Verständlichkeit vermitteln als eine
,.sui generis" - Konstruktion. Eine zu ausgeprägte Verwendung nationaler Verfassungs-
vorstellungen kann aber z u m .Missverständnis führen, dass über eine E U - V e r f a s s u n g eine
Staatlichkeit der Union angestrebt wird („Superstaat").
432
So gibt es bei den existierenden, nationalstaatlichen Z w e i k a m m e r - S y s t e m e n durch-
aus „ M o d e l l e " für echte supranationale zweite K a m m e r n , vgl. nur den deutschen Bundesrat
oder den US-Senat - und solche, die lediglich mit einer stärkeren Einbeziehung nationaler
Parlamentarier arbeiten: bei den Exekutivmodellen stehen sich z. B. das Modell eines par-
lamentarisch-verantwortlichen Regierungschefs und das einer direkt gewählten exekutiven
Spitze gegenüber. Vgl. allgemein sowie für die beidseitige Wechselwirkung auch W. Kluih,
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Gestalter und Adressaten des Integrations-
prozesses - Grundlagen und Problemaufriss, in: ders. (Hrsg.), Europäische Integration und
Verfassungsrecht. Eine Analyse der Einwirkungen der Europäischen Integration auf die
mitgliedstaatlichen Verfassungssysteme und ein Vergleich ihrer Reaktionsmodelle, 2007,
S. 9 ff.
433
Aus d e m Doppelcharakter der Staaten- und Bürgerunion folgt z. B. - dass anders als
in den meisten nationalen Verfassungen - in einem EU-Verfassungsvertrag ein „Staaten-
Legitimationsstrang" im Rat und ein „Unions-Legitimationsstrang" über das Europäische
Parlament und die Kommission notwendig ist.
156 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ineffizienten Parlamentarismus zu überwinden und eine starke Exekutive zu schaf-


fen.

Das Grundgesetz (GG) hatte in der (alten) Bundesrepublik Deutschland einen


besonderen historischen Stellenwert. In einer geteilten Nation bot es die Mög-
lichkeit, über einen „Verfassungspatriotismus" einen Identifikationspunkt für den
verlorenen Nationalstaat zu bilden. Aus deutscher Perzeption hat dabei das Grund-
gesetz vor allem auch abwehrenden Charakter gegenüber Übergriffen des Staates.
Die Verfassungen anderer Mitgliedstaaten stehen nicht in gleichem Maße für
diesen positiv besetzten Abwehrgedanken. Während der europäischen Verfas-
sungsdebatte durfte man deshalb außerhalb von Deutschland nicht die gleichen
Konnotationen beim Begriff einer etwaigen EU-Verfassung erwarten. Vielmehr
überwogen (allerdings auch letztlich in Deutschland) die Befürchtungen einer
Staatswerdung Europas. 434

Betrachtet man nun die Strukturen der am Konvent beteiligten Staaten, so er-
gibt sich insgesamt ein eher heterogenes Bild. 435 Aus deutscher Sicht sind die
naheliegendsten Vergleichsparameter f ü r Verfassungen die des Grundgesetzes
von 1949 und der Nachkriegs-Länderverfassungen, wobei für die Struktur des
Grundgesetzes wie für die Verfassungen der Länder die Zusammenfassung der
Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde 4 3 6 und im Grundgesetz - kontrastie-
rend zur Struktur der Weimarer Verfassung - die Akzentuierung der (meisten 437 )
Grundrechte durch ihre „Position" an der Spitze der Verfassung, in einem Teil I
(„Die Grundrechte" - Art. I bis 19 GG) kennzeichnend sind. 438

Der deutschen Verfassungsstruktur ist die Italiens (Verfassung von 1947) nicht
unähnlich. Diametral unterschiedlich erweist sich hingegen die Verfassungsord-
nung Großbritanniens. Großbritannien verfügt mit der Magna Charta von 1215

434
Dies galt freilich i m m e r weniger in Frankreich (vgl. die Rede von Staatspräsident
J. Chirac vor dem Deutschen Bundestag vom 2 7 . 0 6 . 2 0 0 0 , in: FAZ vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f..
in der der Verfassungsbegriff zentral f ü r die B e s t i m m u n g der französischen Rolle in der
und durch die EU ist).
435
Zu diesem Ergebnis kommt auch F.C. Mayen Verfassungsstruktur und Verfassungs-
kohärenz - M e r k m a l e europäischen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 / 2 0 0 3 . S. 398 ff..
4 0 5 f.
436
Vgl. auch Art. 79 Abs. 1 G G .
437
Siehe aber die justiziellen Grundrechte in Art. 101 ff. G G .
438
Eine Besonderheit bildet die Einbeziehung der Art. 136 bis 141 der Weimarer Ver-
fassung in das Grundgesetz durch Verweis. Materiell besteht grundsätzlich eine Gleichran-
gigkeit der Grundgesetzbestimmungen, allerdings ergibt sich durch die ..Ewigkeitsklausel"
des Art. 79 Abs. 3 GG eine A b s t u f u n g in der Änderungsfestigkeit der Verfassungsartikel.
Insgesamt verwundert es nicht, dass aus deutscher Sicht die Struktur des Konventsentwurfs
eines Verfassungsvertrages vor allem unter zwei Aspekten Kritik fand: zum einen wegen
der Positionierung der Grundrechtecharta lediglich in Teil II des Entwurfs, z u m anderen
a u f g r u n d des unklaren Verhältnisses zwischen Teil I und insbesondere Teil III des Entwurfs.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 157

zwar über das vergleichsweise älteste geschriebene Verfassungsdokument, hat


aber bekanntlich kein einheitliches, geschriebenes Verfassungsrecht. Dieses setzt
sich zum einen aus kodifizierten Texten, wie eben der Magna Charta oder der
Bill of Rights von 1689 bis zum Human Rights Act (1998) zusammen, zum
anderen aber aus den nicht kodifizierten Grundsätzen des Common Law wie dem
Grundsatz der „Parliamentary Sovereignty". Bemerkenswert ist darüber hinaus,
dass die kodifizierten Rechte mit Verfassungsrang keine hervorgehobene Stellung
innerhalb des Rechtssystems einnehmen. 4 3 9

Die Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten lassen sich innerhalb der bei-
den „Pole" - einerseits Konzentrierung aller Verfassungsbestimmungen in einer
Urkunde, andererseits weitgehend ungeschriebene, nur in Einzelaspekten auf be-
stimmte Urkunden zurückgreifende Verfassung-ansiedeln. Am nächsten kommen
der ersteren Erscheinungsform mit übersichtlichen, einheitlichen Verfassungsur-
kunden die Verfassungen von Belgien (1831 r 4 0 , Luxemburg (1868), Griechenland
(1975) und Portugal (1976). Ebenso sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen
in Polen (Verfassung von 1997), der Slowakei (1992), Slowenien (1991), Li-
tauen (1992) und beim Konventsteilnehmer Bulgarien (1991) in einer Urkunde
zusammengeführt. In Zypern beanspruchte während des Konventsverfahrens die
Verfassung von 1960 nur für den griechischen Teil der Insel Geltung, weshalb zu
einem gewissen Grade von „ungeklärten Verfassungsverhältnissen" gesprochen
werden kann. 441

In manchen Verfassungsordnungen ist allerdings nicht unmittelbar erkennbar,


dass das als Verfassung apostrophierte Dokument nicht alle geltenden „Verfas-
sungsbestimmungen" widerspiegelt, ja wiedergibt. So finden sich etwa in der
Verfassungsurkunde Verweise auf frühere Normschichten oder auf ergänzende

439
Sie stehen vielmehr auf derselben Rangstufe wie andere Parlamentsgesetze. D e m -
zufolge könnten durch entgegenstehende ..Statutes" Verfassungsrechte aufgehoben werden,
vgl. insgesamt auch P. Birkinshaw, Britischer Landesbericht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die
Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem
und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 208 ff.
440
Zur Vorbildfunktion der belgischen Verfassung allgemein H. Hauenhauer, Europäi-
sche Rechtsgeschichte. 1992. S. 5 6 5 ff. Die belgische Verfassung, die bis heute Bestand
hat. verbriefte die bedeutendsten Freiheitsrechte als geltendes Recht und stellte erstmals in
Europa die Staatsordnung auf eine demokratische Grundlage, ohne allerdings das Beste-
hen der Monarchie anzutasten, vgl. ebenso IV. Skouris, Die kontinentale(n) europäische(n)
Verfassungskultur(en), in: M . M o r l o k (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates. 2001.
S. 85 ff.. 90. Der Verfassungstext von 1831 war Vorbild für zahlreiche späteren europäi-
schen Verfassungsurkunden, insbesondere für die griechische Verfassung von 1864 (deren
Grundentscheidungen auch den Kern der heutigen griechischen Verfassung von 1975
bilden).
441
In der Türkei galt zu diesem Zeitpunkt noch die Verfassung von 1982 (die im Zuge
der EU-Beitrittsbemühungen grundlegende Ä n d e r u n g e n erfahren sollte). Eine Reihe von
kemalistischen Reformgesetzen bleiben allerdings gegen diese Verfassung abgeschirmt
(Art. 174 der türkischen Verfassung).
158 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Normen. Beispielhaft ist hierbei Frankreich zu nennen, wo mit der Verfassung


der V.Republik von 1958 zwar eine einheitliche Verfassungsurkunde existiert;
jedoch verweist diese in ihrer Präambel auf die Präambel der Verfassung von
1946. die wiederum die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit
Verfassungsrang ausstattet. Daneben bestehen sogenannte „Lois organiques", die
die Verfassung weiter konkretisieren.

Eine vergleichbare Normenkategorie findet sich in Spanien zur Ausgestaltung


der Verfassung von 1978. In der Verfassung der Niederlande von 1983 stehen
Verweise auf einzelne Bestimmungen der Verfassung von 1972, die somit weiter
Geltungskraft entfalten. In Ungarn gilt die Verfassung von 1949. die 1989/90
umfassend revidiert wurde. Die Verfassung von Lettland lässt sich auf einen Text
aus dem Jahre 1922 zurückführen, der 1998 umfängliche Änderungen erfahren
durfte. 4 4 2 Wie die Beispiele von Irland und Dänemark zeigen, können verfassungs-
ergänzende Bestimmungen durchaus unterschiedlicher Natur sein. 443 Während in
Schweden vier „Grundgesetze" mit Verfassungsrang bestehen 4 4 4 , beruhte auch
die Verfassungsordnung Finnlands (gewissermaßen als Relikt aus den Zeiten der
Zugehörigkeit Finnlands zum schwedischen Königreich) bis in die jüngste Zeit
auf mehreren Verfassungsgesetzen mit Verfassungscharakter. Nach einer umfas-
senden Verfassungsreform wurde 1999 eine Verfassung für Finnland verkündet,
die im Jahre 2000 in Kraft trat. Eine Eigentümlichkeit des finnischen Verfas-
sungsrechts besteht allerdings dahingehend fort, als materielle Abweichungen von
der Verfassung durch „Verfassungsausnahmegesetze" zugelassen werden können
(Paragraph 73 (1) der finnischen Verfassung). 445 Die Verfassung von Malta ist

442
Davor bestand ein eigenes Verfassungsgesetz über Bürgerrechte von 1991. Diese
finden sich n u n m e h r im Schlusskapitel der Verfassung.
443
Die Verfassung von D ä n e m a r k (1953) wird etwa durch das ..Thronfolgegesetz"
ergänzt. In Irland sind alle Verträge, auf die sich die europäische Integration gründet,
explizit in den Wortlaut der derzeitigen Verfassung (Ausgangsfassung aus d e m Jahre
1937) a u f g e n o m m e n und damit gleichsam in das irische Verfassungsrecht einbezogen,
vgl. auch F.C. Mayer. Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz - M e r k m a l e europäi-
schen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 / 2 0 0 3 . S. 398 ff.. 404f: ..Damit genügt es nicht,
zur Ermittlung des geltenden irischen Verfassungsrechts den Verfassungstext von 1937
aufzuschlagen, vielmehr muss man auch das europäische Primärrecht heranziehen."
444
Neben der Verfassung (..Regeringsformen") aus d e m Jahre 1975, und dem ..Thron-
folgegesetz" sind dies Gesetze mit Verfassungsrang, die jeweils grundrechtliche Gewähr-
leistungen zur Pressefreiheit („Tryckfrihetsförordningen") und zur Meinungsfreiheit („Yt-
trandefrihetsgrundlagen") enthalten.
445
Demzufolge kann der Gesetzgeber unter denselben Voraussetzungen, wie sie für eine
förmliche Verfassungsänderung erforderlich sind. Gesetze verabschieden, die nicht mit der
Verfassung vereinbar sind. Der Unterschied zu einer Verfassungsänderung besteht darin,
dass die „Verfassungsausnahmegesetze" zwar in e i n e m qualifizierten Verfahren zustande
k o m m e n , j e d o c h durch ein einfaches Parlamentsgesetz z u r ü c k g e n o m m e n werden können
(allein in den Jahren 1919 bis 1995 ist in 8 6 9 Fällen ein Verfassungsausnahmegesetz
verabschiedet worden). In diesem Kontext ist beachtenswert, dass nach der Verfassung des
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 159

gekennzeichnet durch die Besonderheit, dass sie durch sogenannte „Schedules"


ergänzt wird.

Auch in Österreich ist eine „Streuung" von Normen mit Verfassungsrang über
die gesamte Rechtsordnung zu beobachten. Obgleich mit dem Bundes-Verfas-
sungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929 (zurückgehend auf den großen
Verfassungsrechtler H. Kelsen) ein hervorgehobener und allgemein als „österrei-
chische Verfassung" identifizierter Text vorliegt, finden sich doch mehr als zwei-
hundert Verfassungsbestimmungen in über hundert Bundesgesetzen, die letztlich
alle - als „Bundesverfassungsgesetze" - im gleichen Rang stehen und mit dem Bun-
des* Verfassungsgesetz die eigentliche „Verfassung" bilden. Gewisse Parallelen zu
einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) im europäischen Kontext
sind nicht zu übersehen. In der Tschechischen Republik gilt die Verfassung von
1992. Diese bezieht neben weiteren „Verfassungsgesetzen" in ihrem Art. 3 eine
„Grundrechtecharta" (ebenfalls 1992) als Bestandteil der Verfassungsordnung mit
ein - bemerkenswert im Hinblick auf die europäische Struktur.

(a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung

Hinsichtlich des originären Verfassunggebungsprozesses offenbarten zum Zeit-


punkt der Einberufung des Verfassungskonvents alle vierzehn (geschriebenen)
Verfassungen der Mitgliedstaaten - in der unterschiedlichsten Form - Anschau-
ungsmaterial für demokratische, legitimitätsstiftende Verfahren des Zustandekom-
mens.

Die „Verfassungsschöpfung" erfolgte teilweise durch ein „normales" Parlament,


häufiger aber durch eine eigens gewählte verfassunggebende Versammlung. Zu-
sätzlich ist das Instrument des Volksentscheids zu nennen oder sogar, wie 1958
in Frankreich, ein Referendum ohne vorherige parlamentarische Beratung und
Verabschiedung. Das Grundgesetz (GG) bildet insofern eine Ausnahme, als der
Parlamentarische Rat nicht direkt gewählt war, sondern sich aus Vertretern der
Landtage der westdeutschen Länder zusammensetzte. 4 4 6 Nach den Erfahrungen
des Europäischen Rates in Nizza lag es nahe, an nationale Erfahrungen der Ver-
fassunggebung anzuknüpfen. Fragen von derart grundsätzlicher Tragweite, wie
sie im Post-Nizza-Prozess (teilweise erneut) anstehen sollten 447 , ließen sich al-
leine durch das herkömmliche Verfahren der Regierungskonferenz kaum lösen.
Nach den positiven Erfahrungen bei der Ausarbeitung mit der Grundrechte-Charta
sprach deshalb viel dafür, diese mit der Konvent-Methode zu nutzen. 448

Konventsteilnehmers Rumäniens von 1991 mit Zweidrittelmehrheit verfassungswidrige


Gesetze bestätigt werden können (Art. 145 der Verfassung).
Die Ratifizierung erfolgte durch die - allerdings demokratisch gewählten - Landtage.
447
Vgl. unter B . I I . 2 f ) m m ) .
448
Hierzu umfassend unter B . I I . 2 f ) p p ) und B.V. I.
160 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

(b) Das Vorverständnis von Demokratie,


Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung

Hinsichtlich der Axiome Demokratie und Gewaltenteilung sowie bezüglich


„direkter Mitwirkungsrechte" offenbaren die Verfassungen aller Mitgliedstaaten
einheitliche Elemente: Alle begründen die Legitimation der Staatsgewalt im Wil-
len des Volkes, das sich in regelmäßig stattfindenden freien Wahlen äußert. Das
Volk, d. h. die Summe aller Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, ist der letzte
legitimatorische Ableitungspunkt für die politische Herrschaft. 4 4 9 Der „Staats-
Legitimationsstrang" bildet sich in den nationalen Arenen (nationalen Parlamen-
ten und nationaler Öffentlichkeit) und wird für den europäischen Kontext im
Rat formuliert. Er bleibt jedoch ein national-vermittelter Legitimationsstrang, der
mit fortschreitender Integration nicht ausreicht. Das Demokratieprinzip kommt
zwar in den Nationalstaaten ungeschmälert zur Geltung, aber den Nationalstaaten
schwinden die Entscheidungsbefugnisse. Diese wachsen auf europäischer Ebene
an. mit der Folge, dass sich auch dort ein immer stärkeres Bedürfnis nach einer
unmittelbaren, nicht von den Mitgliedstaaten abgeleiteten demokratischen Sub-
stanz ausgebildet hat. Für mehr Akzeptanz von Entscheidungen der Europäischen
Union bildet sich deshalb das Erfordernis eines „Unions-Legitimationsstrangs"
heraus, der besonders in den Organen Europäisches Parlament und Kommission
seinen Ausdruck zu finden hat.

In allen Verfassungen findet sich - bei unterschiedlichen Lösungen im Einzel-


nen - eine Aufteilung der exekutiven, legislativen und judikativen Funktionen
der Staatsgewalt auf verschiedene Organe, ebenso wie die Unabhängigkeit der
Justiz. Die gleichzeitige Exekutiv- und Legislativtätigkeit des Europäischen Rates
ist in dieser Hinsicht systemfremd (wenngleich in der „sui generis" Architektur
der Europäischen Union das klassische Montesquieu'sehe Prinzip der Gewalten-
teilung wahrscheinlich nicht streng anwendbar sein mag). 45 " Kennzeichnend für
den modernen europäischen Verfassungsstaat ist eine Interdependenz zwischen
Regierung und Parlament. Dabei sind die Regierungen dem Parlament politisch
verantwortlich. 451

449
Vgl. etwa Art. 20 Abs. II G G : „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus."
450
A. Juppe und J. Toubon forderten d a h e r in ihrem Verfassungsentwurf vom
2 8 . 0 6 . 2 0 0 0 (ganz in der französischen Verfassungstradition) exekutive und legislative Tä-
tigkeiten klarer voneinander zu trennen, vgl. A. Juppe/J. Toubon. Constitution de l'Union
Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l'Europe, vom
2 8 . 6 . 2 0 0 0 . a b r u f b a r unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Ein anderer Mangel der
Gewaltenteilung zwischen europäischer Exekutive und europäischer Legislative könnte
darin zu sehen sein, dass das Europäische Parlament, z u n e h m e n d in die administrative
Umsetzung von Ratsbeschlüssen durch die Kommission (im Ausschuss- /..Komitologie"-
Verfahren) eingreifen möchte. Kritisch ist ebenfalls zu erwähnen, dass das Europäische
Parlament wiederholt den Anspruch erhebt, über sein Haushaltsrecht die exekutive G A S P
mitzugestalten.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 161

Im Allgemeinen ist die Stellung der Parlamente in den Mitgliedstaaten stark (ins-
besondere in Mitgliedstaaten und Beitrittsländern mit Diktaturerfahrung). Einzig
die Stellung der französischen Nationalversammlung, die noch nicht einmal über
volle Geschäftsordnungsautonomie verfügt, ist eher schwach. Korrespondierend
zu dieser Schwäche des Parlaments verfügt die französische Exekutive über ein
hohes Maß an autonomen Normsetzungskompetenzen. Die Demokratien in den
Mitgliedstaaten sind repräsentativ verfasste Demokratien. Das Element direkter
Demokratie tritt ergänzend hinzu.

Direkte Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung - in Form von Volksbegehren


und Volkentscheiden - sind im mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht die Regel
(nicht aber in Deutschland, dessen Demokratie - auf Bundesebene - wohl die
repräsentativ ausgeprägteste in den Mitgliedstaaten ist). Bei Fragen des EU-Bei-
tritts, der Vertragsänderung oder der Euro-Einführung können diese Volksrechte
bekanntlich eine gewichtige Rolle spielen. 452

Die Mitgliedstaaten weisen unterschiedliche Erfahrungen auf, was den Wert


eines Zwei-Kammersystems für die Parlamentarisierung der Europäischen Uni-
on anbelangt (das britische Oberhaus ist beispielsweise relativ einllusslos und
auch nicht in indirekter Form demokratisch legitimiert). In Dänemark. Finnland.
Griechenland. Luxemburg, Portugal und Schweden besteht das Parlament nur
aus einer Kammer. Die anderen Staaten besitzen Zweite Kammern, die die Ge-
bietskörperschaften in den Mitgliedstaaten repräsentieren. In Frankreich vertreten
etwa die Abgesandten der Gebietskörperschaften im Senat das „tiefe Frankreich".
Diese zweiten Kammern weichen nach Struktur- und Kompetenzen erheblich
voneinander ab (der französische Senat verfügt in der Gesetzgebung nur über
ein suspensives Veto gegenüber der Nationalversammlung). Nur im Falle von
Deutschland. Belgien und Österreich spielen die zweiten Kammern eine traditio-
nelle föderale Rolle im Gesetzgebungsprozess. 4 5 3

451
Im Rahmen einer weiteren Ausbildung der EU-Exekutive stellt sich die Frage,
inwieweit diese aus einer Mehrheit im Europäischen Parlament hervorgehen sollte.
452
Siehe nur die Regelungen in D ä n e m a r k . Frankreich. Großbritannien. Irland. Finn-
land und Österreich. Aus der eigenen verfassungsrechtlichen Tradition heraus schlugen
A. Juppe und J. Toubon (2000) ein Gesetzesinitiativrecht für europäische Bürger vor. ebenso
die A n n a h m e oder das Außerkraftsetzen („referendum d ' a b r o g a t i o n " ) durch Bürgerrefe-
renden. So interessant dieser Vorschlag erscheint: grundsätzlich setzt er eine europäische
Öffentlichkeit voraus, die sich erst noch entwickeln muss.
451
Bislang gibt es in der Europäischen Union eine institutionelle Dreiecksbeziehung
zwischen Rat. Europäischen Parlament und Kommission. Die europäische Legislative wird
aus Rat und Europäischen Parlament gebildet, die europäische Exekutive aus Kommission
und Rat (mit einer dominierenden Rolle des letzteren in weiten Bereichen), die europäische
Judikative aus d e m E u G H . Wann i m m e r es um die E i n f ü h r u n g einer föderalen zweiten
E U - K a m m e r neben d e m Europäischen Parlament ging, war eine Bikameralisierung der
Europäischen Union gemeint, in der ein stärker repräsentatives Europäisches Parlament
162 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im H i n b l i c k auf die E x e k u t i v e e r ö f f n e n sich z w e i G r u n d m o d e l l e in d e n M i t g l i e d -


s t a a t e n . D e r N o r m a l f a l l ist e i n e p o l i t i s c h e R e g i e r u n g , d i e a u s d e n M a c h t r e l a t i o n e n
i m Parlament hervorgeht (etwa mit e i n e m B u n d e s k a n z l e r , e i n e m M i n i s t e r p r ä s i d e n -
ten o d e r e i n e m P r e m i e r m i n i s t e r m i t R i c h t l i n i e n k o m p e t e n z a n d e r S p i t z e ) . D i e s e
E x e k u t i v e ist g e g e n ü b e r d e m P a r l a m e n t v e r a n t w o r t l i c h . H i e r b e i ist d i e M ö g l i c h k e i t
des Misstrauensvotums zu erwähnen, wobei der Regierungschef in Deutschland.
S p a n i e n und Belgien b e s o n d e r s durch ein „konstruktives M i s s t r a u e n s v o t u m s " ge-
s c h ü t z t ist. D a n e b e n e x i s t i e r t d i e „ E i n r i c h t u n g " e i n e s r e p r ä s e n t a t i v e n S t a a t s o b e r -
hauptes mit begrenzten, e b e n überwiegend repräsentativen Befugnissen. A n d e r s
stellt sich die Situation in F r a n k r e i c h dar. H i e r besteht e i n e e x e k u t i v e D o p p e l -
spitze a u s Staatspräsident und Premierminister. Der P r e m i e r m i n i s t e r geht als
Regierungschef a u s d e m Parlament hervor und unterliegt dessen Misstrauens-
v o t u m . D i e s g i l t n i c h t f ü r d e n f r a n z ö s i s c h e n S t a a t s p r ä s i d e n t e n : e r ist z u g l e i c h
oberstes Repräsentations- und Exekutivorgan (insbesondere in der A u ß e n - und
S i c h e r h e i t s p o l i t i k , i n d e r e r ü b e r e i n e A r t R i c h t l i n i e n k o m p e t e n z v e r f ü g t ) . E r leitet
s e i n e A u t o r i t ä t a u s d e r D i r e k t w a h l d u r c h d i e B e v ö l k e r u n g a b u n d ist d a m i t a u s
französischer Sicht unmittelbar und souverän legitimiert wie das Parlament - und
deshalb diesem auch nicht verantwortlich. Ausfluss dieser besonderen direkten
L e g i t i m a t i o n ist d a s R e c h t , d i e N a t i o n a l v e r s a m m l u n g a u f z u l ö s e n . 4 5 4

mit europaw^it einheitlichen Wahlrecht die erste K a m m e r der EU bilden und der Rat sich
in Richtung einer Staatenkammer entwickeln sollte. Die Kommission wäre tendenziell zur
Exekutive geworden (einschließlich einer Aufgabe des Prinzips der nationalen Repräsenta-
tion dort). Zu entscheiden wäre in diesem Modell, ob die Vertreter in der S t a a t e n k a m m e r
ernannt oder direkt gewählt werden sollen (siehe die Beispiele Deutscher Bundesrat oder
US-Senat) bzw. ob und wie das d e m o g r a p h i s c h e Gewicht zum Tragen zu bringen wäre
(z. B. von drei bis sechs Stimmen w i e im Bundesrat oder je zwei Stimmen wie im US-Senat).
Bei dieser Bikameralisierung der Europäischen Union darf aber nicht übersehen werden,
dass auch die im Rat vertretenen mitgliedstaatlichen Regierungen durch ihren nationalen
Parlamente demokratisch legitimiert sind. Als solche haben sie einen demokratisch her-
geleiteten Anspruch, gestaltende Akteure im europäischen Organsystem zu sein. Insofern
erscheint es in einer ..Staaten- und Bürgerunion" problematisch, den Rat in eine rein nachge-
ordnete legislative zweite K a m m e r herabzustufen. Für viele Mitgliedstaaten stand deshalb
während des Konventsprozesses bei der etwaigen Einrichtung einer zweiten K a m m e r nicht
der Rat im Vordergrund, sondern die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente
(vgl. insofern die Vorschläge von Kommissar C. Patten und Premierminister T. Blair für die
Einrichtung einer zweiten P a r l a m e n t s - K a m m e r aus nationalen Parlamentsangehörigen, in
ihren Reden vom 26. 1 0 . 2 0 0 0 bzw. 06. 10.2000). Die französischen Vorschläge für eine aus
nationalen Parlamentariern beschickten zweiten Parlaments-Kammer dürften sich - neben
Souveränitätsvorbehalten - auch aus den schwachen parlamentarischen Kontrollmöglich-
keiten der Assemblee nationale in der Europapolitik erklären. Eine zweite K a m m e r würde
diese Kontrollrechte verbessern (während der deutsche Bundestag bereits nach Art. 2 3 G G
über breite Mitwirkungsmöglichkeiten verfügt). Juppe und Toubon (2000) schlugen vor
diesem Hintergrund ein Z w e i - K a m m e r - S y s t e m vor. mit e i n e m Europäischen Parlament
(dessen exklusive Gesetzgebungszuständigkeit allerdings durch die Tagesordnung der euro-
päischen Regierung bestimmt wird) sowie eine „ K a m m e r der Nationen" (aus Mitgliedern
der nationalen Parlamente). Die K a m m e r ist gedacht als Garant des Subsidiaritätsprinzips
und vitaler nationaler Interessen eines Mitgliedstaates.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 163

Effizienz (über starke Gemeinschaftsorgane mit Mehrheitsentscheidungen im


Rat) und demokratische Legitimation (über verstärkte parlamentarische Kontroll-
rechte) sind auch das Ergebnis einer nachvollziehbaren Aufgabenteilung zwischen
Union und Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten bringen hier sehr unterschiedliche
verfassungsrechtliche Vorerfahrungen ein. Wenn der Föderalismus eine politische
Organisationsform darstellt, in der jede staatliche oder regionale Ebene in einer
Reihe von Aufgabenbereichen endgültige Entscheidungen treffen kann, dann wird
man neben Deutschland und Österreich nur noch Belgien als einen föderalen
Staat bezeichnen können. 455 Im deutschen Verbund-Föderalismus fallen die Ge-
setzgebungszuständigkeiten grundsätzlich den Ländern zu. Der Bund nutzt seine
speziellen Gesetzgebungs-Kompetenzen allerdings so extensiv, dass für die Län-
der derzeit 456 „unter dem Strich" nur wenige Bereiche übrig bleiben. Der Bund
ist dabei allerdings fast immer auf eine Mehrheit im Bundesrat und auf eine
Umsetzung über die Verwaltungen der Länder angewiesen.

Die anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen kennen keine bundes-


staatlichen Strukturen (in der Verfassung der V. Republik Frankreichs gibt es
beispielsweise keine hierarchischen Kompetenzbestimmungen). Es lässt sich ledig-
lich eine allmähliche Entwicklung weg vom Unitarismus beobachten (allerdings
von oben nach unten und nicht von unten nach oben). Spanien hat 1978 - mit noch
offenem Ausgang - eine Dezentralisierung begonnen. Ähnliches gilt ansatzweise
für Polen. Italien hat durch die Einführung der Direktwahl des Präsidenten des
Regionalausschusses zwar die Legitimität der Regionen gestärkt, ihre Zuständig-
keiten und Finanzausstattung freilich nicht erweitert.

In Frankreich ist ein (schüchterner) Dezentralisierungsprozess eingeleitet, der


inzwischen aber - trotz aller Auflockerung des Einheitsstaates - ins Stocken gera-
ten ist (vgl. nur das „Problemfeld" Korsika). Dieser Prozess soll erklärtermaßen
nicht in einen Föderalismus münden. Großbritannien schließlich hat 1998 Gesetze
beschlossen, die Schottland, Wales und Nordirland eine - begrenzte - Regional-
autonomie geben sollen.

Insgesamt ist und war es beim Herangehen an die europäische Verfassungs-


debatte entscheidend, die nationalen Verfassungsvorverständnisse mitzuberück-
sichtigen. Die bislang vorliegenden Verfassungsentwürfe zeig(t)en, welche große
Rolle die nationalen Ausprägungen demokratischer Wirkungsprinzipien spielen.

454
Die Stellung des US-Präsidenten ist insofern noch stärker, als er Regierungschef ist
und ebenfalls direkt - über Wahlmänner - gewählt wird.
455
Der schweizerische Wettbewerbsföderalismus ist insoweit nochmals eine Besonder-
heit. da er den Gliedstaaten z. B. auch a u t o n o m e Steuererhebungskompetenzen einräumt;
nach d e m US-Trennungsföderalismus umfassen dagegen die jeweils der Bundesebene zu-
gewiesene Sachkompetenz alle Funktionen: Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit.
456
Belastbare Bewertungen der ..Föderalismus-Reform I" sowie der laufenden ..Födera-
l i s m u s - K o m m i s s i o n " stehen noch aus.
164 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

oo) Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte (Privat-)Entwürfe

Begleitend zum seit Februar 2002 tagenden „Konvent zur Zukunft Europas"
erarbeiteten verschiedene Politiker und Juristen eine Vielzahl eingehender Verfas-
sungsentwürfe. 4 5 7

Zu nennen sind hierbei (P\ Häberle zitierend 458 und ergänzend) der „Budapes-
ter Entwurf für eine Europäische Verfassung" der Arbeitsgruppe an der Staats-
und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Budapester Eötvös-Loränd-Universität
vom Juni 2003 4 5 9 , der Entwurf von The Young Christian Democrats ofDenmark
(KFU) vom März 200346<>, der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juris-
tinnen und Juristen (ASJ) vom Februar 2003 4 6 ! sowie aus demselben Monat der
„Trierer Verfassungsentwurf für die Europäische Union" 462 .

Weiterhin sollen in diesem Kontext hervorgehoben werden: Die EVP - Kon-


ventsgruppe und ihr Diskussionspapier vom November 2002 461 sowie die überar-
beitete Fassung vom Januar 2003 4 M ; der (überarbeitete) Entwurf eines „Verfas-
sungsvertrages der Europäischen Union" von F. Cromme465; der Vorentwurf des
VerfassungsVertrages von Kommissionspräsident R. Prodi (4.12.2002) 4 6 6 .

457
17 dieser E n t w ü r f e werden von P Hüberle, Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 6 0 0 ff. ( vgl. auch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen
v o r d e n Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: D Ö V
11/2003. S . 4 2 9 ff.) vorgestellt und profund (gelegentlich streitbar - etwa d e r sog. ..Berli-
ner Entwurf* vom November 2 0 0 2 ) analysiert. Auf eine Darstellung dieser Ansätze wird
daher verzichtet, gleichwohl darauf verwiesen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl der
Entw ürfe einflussreiche Wegmarken für die Debatte zu setzen w ussten (bzw. noch w issen).
Einige Verfassungsentwürfe, die von P. Hüberle nicht a u f g e n o m m e n wurden, sind bereits
oben benannt worden. Vgl. auch T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäi-
schen Verfassungskonvent 2 0 0 2 / 2 0 0 3 . in: DVBI. 2003. S. 1 ff. J. Schwarze. Europäische
Verfassungsperspektiven nach Nizza, in N J W 2002. S. 9 9 3 ff.
458
P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 604 ff.
459
Vgl. www.cap.uni-muenchen.de/konvent/entwuerfe.htm.
460
Young Cristian Democrats Of Denmark (B. Langdahl. T.N. W. Pedersen). A Danish
Proposal on a European federal Constitution. 25. März 2003, a b r u f b a r unter http://kfu.dk
/rtf/108.pdf.
461
Der Entwurf: Verfassungsgrundsätze der Europäischen Union. 14. Februar 2003.
vgl. www.bundestag.de/internat/eu_konvent/verf_ent.html.
462
H. W. Maull. R. Kirt (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Trierer Verfassungsentw urf
für die Europäische Union. Ergebnis eines Projektseminars Trierer Studentinnen und
Studenten. 2003.
463
„The Constitution of the European Union" (Discussion Paper). 10. November 2002.
Text of the E P P Convention Group meeting in Frascati. abrufbar unter http://www.cap.uni-
muenchen.de/konvent/download/EPP-Constitution2.pdf.
464
„Die Verfassung der Europäischen U n i o n " (Diskussionspapier), überarbeitete Fas-
sung einschl. des 2. Teils. 2 7 . 0 1 . 2 0 0 3 . vgl. C O N V 6 1 6 / 0 3 vom 0 1 . 0 4 . 2 0 0 3 .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 165

D e r „ B e r l i n e r E n t w u r f ' v o n G. Gloser u n d M. Roth ( N o v e m b e r 2 0 0 2 ) 4 6 7 u n d d e r


„ F r e i b u r g e r E n t w u r f ' d e s Europa-Instituts Freiburg e. V. ( N o v e m b e r 2 0 0 2 ) 4 6 s ver-
dienen ebenso eine Erwähnung wie der „Entwurf einer Neufassung des Vertrages
ü b e r d i e E u r o p ä i s c h e U n i o n f ü r d e n V e r f a s s u n g s k o n v e n t d e r E U " v o n R . Scholz
(2002)469, der Vorentwurf des Verfassungsvertrages vom Konventspräsidium (Ok-
tober 2002)470 und der Vorschlag einer „Verfassung der Europäischen U n i o n " an
d e n K o n v e n t v o n J. Leinen ( O k t o b e r 2 0 0 2 ) 4 7 1 .

Auf Widerhall stießen zudem der Entwurf von A. Dashwood, M. Dougan,


C. Hillion. A. Johnston u n d E. Spavent ( O k t o b e r 2 0 0 2 ) 4 7 2 s o w i e d i e A n s ä t z e d e r
K o n v e n t s m i t g l i e d e r E. O. Paciotti47\ E. Brök474, R. Badinter475 u n d A. Duff476.

N e b e n d e m i n m a n c h e r l e i H i n s i c h t g e g l ü c k t e n E n t w u r f v o n F . Dehousse u n d
W. Coussens ( E u r o p e n P o l i c y C e n t e r ) 4 7 7 ist in m e s s b a r e n G r e n z e n b e a c h t e n s w e r t
auch d e r „First G r e e n D r a f t for a E u r o p e a n C o n s t i t u t i o n " d e r j u n g e n Grünen-Politi-

465
F. Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union. Entwurf und Begründung.
2. Aufl. 2003, S. 27 ff.
466
A b r u f b a r unter http://europa.eu.int/futurum/documents/offtext/const051202_en.pdf
467
A b r u f b a r unter http://www.eloser-spd.de/berliner_entwurf-verfassung_fuer_die_eu
.pdf.
468
Europa-Institut Freiburg e. V. ( Hrsg.). Freiburger Entwurf für einen europäischen
Verfassungsvertrag, 2002.
46
" R. Scholz, Entwurf einer Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für
den Verfassungskonvent der EU. in: Zeitschrift für Gesetzgebung. Vierteljahresschrift für
staatliche und k o m m u n a l e Rechtsetzung, 17. Jahrgang. Sonderheft 2002.
470
Vgl. C O N V 3 6 9 / 0 2 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00369d2
.pdf
471
A b r u f b a r unter http://www.joleinen.de/dokumente.html.
47:
..Draft Constitutional Treaty of the European Union and related d o c u m e n t s " ,
vgl. C O N V 3 4 5 / 0 2 R E V I sowie hUp://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00345-
rid2.pdf
473
„Progetto di Costituzione d e l l ' U n i o n e E u r o p e a " (ital.), ..Projet de Constitution de
f Union E u r o p e n n e " (franz.), vgl. C O N V 3 3 5 / 0 2 vom 10. Oktober 2002 sowie http://register
.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00335d2.pdf
474
„Constitution of the European U n i o n " (Discussion Paper) neuere Version zum
Entwurf vom 10. S e p t e m b e r 2002 ( a b r u f b a r unter http://www.weltpolitik.net/texte/policy
/verfassung/brok.pdf). vgl. C O N V 3 2 5 / 0 2 vom 8 . O k t o b e r 2 0 0 2 ( C O N T R I B I I I ) sowie
http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00325d2.pdf
475
„Eine Europäische Verfassung. Une Constitution Europenne", vgl. C O N V 3 1 7 /
02 vom 30. September 2002 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/003l7d2
.pdf
476
„A Model Constitution for a Federal Union of Europe", vgl. C O N V 2 3 4 / 0 2 vom
3. September 2002 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf7dc/02/cv00/00234d2.pdf:
477
Constitution of the European Union. 17. S e p t e m b e r 2 0 0 2 . vgl. http://www.cap.uni-
muenchen.de/konvent/download/EPC-DehousseCoussens.pdf.
166 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ker Seifen, Liihrmann und Nouripour (September 2002) 478 sowie „La Constitution
Europeene de Cluny" der Convention Europiene de Cluny (Juli 2002) 479 .

pp) Der Europäische Konvent 480

(I) Auftrag und Zusammensetzung - das innovative Konventsmoment

Der „EU-Konvent zur Zukunft Europas" wurde von den europäischen Staats-
und Regierungschefs am 14./15. Dezember 2001 beauftragt, „die wesentlichen
Fragen zu prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union
a u f w i r f t . " Dazu wurden in der benannten „Erklärung von Laeken" jene knapp
60 Fragen aufgelistet, mit denen sich der Konvent beschäftigen sollte. Praktisch
war damit der Auftrag für eine Generalrevision der Europäischen Union gegeben.
Der Konvent hat seine Arbeit so angelegt, dass praktisch das gesamte europäische
System auf den Prüfstand kam.

Im Unterschied zu Regierungskonferenzen, die bisher die Verträge ausgear-


beitet hatten, setzte sich der Konvent nicht aus Diplomaten der Mitgliedstaaten
zusammen, sondern in erster Linie aus Parlamentariern. Darin lag das „inno-
vative M o m e n t " des EU-Konvents für die europäische Verfassunggebung. Der
Konvent versammelte 105 Mitglieder und die gleichen Zahl von Stellvertretern.
Auch Vertreter der Beitrittsstaaten nahmen teil. Neben dem Präsidenten und zwei
Vizepräsidenten bestand der Konvent aus

- 28 Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten,


- 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments,
- 56 Vertretern der nationalen Parlamente und
- zwei Vertretern der EU-Kommission.

Zwar hatten die Mitglieder der Beitrittsstaaten kein Stimmrecht, doch wirkte
sich das in der Praxis mangels Abstimmungen nicht aus. Die stellvertretenden
Mitglieder waren im Status den Mitgliedern praktisch gleichgestellt. 481

478
Vgl. http://www.cap.uni-muenchen.de/konvent/download/Young_Greens.pdf.
479
Vgl. http://pictel.cluny.ensam.fr/Europe/textes/const_2001 .htm.
4S
" Aus der Lit: T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfas-
sungskonvent 2 0 0 2 / 2 0 0 3 , in: DVB1.2003. S. 1 ff.: F.C.Mayer. Macht und G e g e n m a c h t
in der Europäischen Verfassung. Z u r Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents, in:
ZaöRV 63 (2003). S. 59 ff.: I. Pernice. Eine neue K o m p e t e n z o r d n u n g für die Europäische
Union, in: P. H ä b e r l e / M . M o r l o k / W . Skouris (Hrsg.), Festschrift Festschrift für Dimitris
Th. Tsatsos. Z u m 70. Geburtstag am 5. Mai 2003. 2003. S . 4 7 7 ff.: 5. Magiern. Die Arbeit
des europäischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, in: D Ö V 2003. S. 578 ff.;
D. Tsatsos. Der Europäische Konvent, in: Festschrift für T. Fleiner. 2 0 0 3 . S. 7 4 9 ff. Siehe
insb. auch die Bibliographie des Verf. (2006).
481
Aus Deutschland gehörten zuletzt d e m Konvent an: Bundesminister J. Fischer (Grü-
ne), und Staatsminister H.M. Bury als Vertreter der Bundesregierung. Ministerpräsident
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 167

Ein bedeutender Vorteil des Konventsverfahrens lag im Beginn der „Politisie-


rung" des europäischen Interessenausgleichs.

Grundsätzlich ist eine Abstimmung von 25 (plus x) nationalen Interessen nahe-


zu unmöglich. Unhabhängig von einer aktuellen Bewertung steht einem Konvent
dagegen grundsätzlich die Möglichkeit zur Interessenformulierung innerhalb der
vier Institutionengruppen und der „politischen Familien" offen. So erfolgte bei-
spielsweise zum Ende des Grundrechtekonvents der politische Interessenausgleich
nicht mehr entlang der nationalstaatlichen Linien, sondern zwischen den politi-
schen Gruppen. Die Zusammenkünfte der „politischen Familien" im Vorfeld der
Plenarsitzungen führten so schon beim ersten Konvent zu einer Abstimmung über
die nationalen Grenzen hinweg. 482

(2) Die Gestaltung der Konventsarbeit

Der Konvent konnte freilich auf zahlreiche neue Vorschläge für eine Reform
bzw. Ersetzung der geltenden Verträge zurückgreifen. Die jeweiligen Vorarbeiten
spielten in der Konsequenz aber eine vergleichbar marginale Rolle.

Die Zusammenarbeit zwischen dem Plenum und dem Präsidium bzw. seinem
Präsidenten gestaltete sich von Beginn an nicht reibungs- und konfliktfrei. 483 So
wurden etwa Arbeitsgruppen mit einer realistischen Zeitvorgabe erst auf Druck
des Plenums eingesetzt, ohne dass dabei tatsächlich plausible Strukturüberlegun-
gen erkennbar waren. Zu einem zentralen Punkt der Reform, den Institutionen,
hat es keine Arbeitsgruppe gegeben. Von Vielen wurde beklagt, dass die „Grund-

E. Teufel (CDU) und W. Gerhards (SPD), als Vertreter des Bundesrates, J. Meyer (SPD)
und P. AI mutier ( C D U ) als Vertreter des Bundestages. E. Brök ( C D U ) . K. Hansell (SPD),
S. Kaufmann ( P D S ) und J. Wuermeling ( C S U ) in der Delegation des Europäischen Parla-
ments.
482
Der zweite Konvent hat daraus zumindest vordergründig seine Konsequenzen gezo-
gen: Bereits vor der Eröffnungssitzung am 28. März 2002 fanden sowohl die ersten Treffen
der Institutionengruppen als auch Koordinierungssitzungen der ..politischen Familien"
statt.
483
Bereits der Auftakt der Konventsberatungen war in diesem Sinne misslungen. da das
Präsidium den Versuch u n t e r n o m m e n hatte, eine ausschließlich von ihm selbst entworfene,
sehr präsidiallastige G e s c h ä f t s o r d n u n g zur Grundlage der Konventsarbeit zu machen,
vgl. auch J. Meyer/S. Hölscheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents,
in: E u Z W 2003. S . 6 I 3 ff. Um die Verfassung zu entwerfen, wurden 27 Plenarsitzungen
zwischen dem 2 8 . 2 . 2 0 0 2 und dem 1 0 . 7 . 2 0 0 3 durchgeführt, in denen es 1802 Redebeiträge
gab. die als Folge der Beschränkung der Redezeit ..nur" 5 4 3 6 Minuten in Anspruch
g e n o m m e n haben. Das Präsidium hat 50mal getagt. Es gibt 848 Konventsdokumente: 5995
Änderungsanträge wurden gestellt. Elf Arbeitsgruppen gab es. die insgesamt 86 Sitzungen
durchgeführt haben: hinzu k o m m e n drei Arbeitskreise, die insgesamt z w ö l f m a l getagt
haben, vgl. C O N V 851 / 0 3 v. 18. 7 . 2 0 0 3 ; Agence Europe v. 1 0 . 7 . 2 0 0 3 : die letzte C O N V -
Nr. ist zwar 8 5 4 / 0 3 v. 2 9 . 7 . 2 0 0 3 , doch wurden gem. C O N V 8 3 5 / 0 3 v. 2 9 . 7 . 2 0 0 3 6 C O N V -
Nr. nicht vergeben.
168 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

r e c h t e c h a r t a " v o m P r ä s i d i u m als „ S t e i n b r u c h " g e n u t z t w o r d e n w ä r e , i n d e m e s


ihre N o r m e n in anderen Teilen d e r V e r f a s s u n g untergebracht und d a d u r c h u n n ö -
tigerweise h u n d e r t e von Ä n d e r u n g s a n t r ä g e n provoziert hätte. Ein allzu üblicher
Verfahrensfehler ließ sich ebenfalls nicht vermeiden: die anfänglich geführte
G e n e r a l d e b a t t e w a r viel z u l a n g w i e r i g , s o d a s s d e m Konvent g e g e n E n d e nicht
g e n ü g e n d Z e i t b l i e b , d e n u m f a n g r e i c h e n Teil III i n d e r g e b o t e n e n A u s f ü h r l i c h k e i t
zu erörtern.484

Der Konvent tagte im P l e n u m an 52 Sitzungstagen zwischen M ä r z 2 0 0 2 und


Juni 2003. Dies g a b Gelegenheit zu 1802 mündlichen Beiträgen. Arbeitsgruppen
wurden eingerichtet u.a. zu den T h e m e n Subsidiarität, nationale Parlamente,
Zuständigkeiten, Ordnungspolitik. Inneres und Justiz, Gesetzgebungsverfahren.
Außenbeziehungen und Verteidigungspolitik.

In d e m Konvent h a b e n sich d i e M i t g l i e d e r sowohl n a c h politischer Z u g e h ö r i g k e i t


w i e n a c h D e l e g a t i o n e n (z. B . E u r o p ä i s c h e s P a r l a m e n t o d e r n a t i o n a l e P a r l a m e n t e )
z u s a m m e n g e f u n d e n . I n d i e s e m R a h m e n f a n d e n j e w e i l s K o o r d i n i e r u n g e n statt.
Die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), umfasste etwa 40 Prozent der
Mitglieder, die der Sozialisten 30 Prozent. Die E V P - G r u p p e hatte in vielen Punkten
aufgrund (damalig) weitgehender Homogenität eine Führungsrolle übernommen
bis hin zur Vorlage des bereits e r w ä h n t e n kompletten Verfassungsentwurfs.4S?

484
J. Meyer!S. Höheheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in:
E u Z W 2003. S. 6 1 3 ff., 6 1 3 stellen zu Recht fest, dass dies ein „wichtiger G r u n d für manche
Ungereimtheiten der Verfassung" gewesen sei: „Theoretisch wäre es sinnvoll und möglich
gewesen, die Konventsarbeit weiter zu verlängern, praktisch nicht. Europa benötigt generell
Zeitdruck, um Fortschritte zu erzielen. Speziell für den Konvent als neuartigem parlamenta-
rischen Gremium war die Mitgliedersituation zu berücksichtigen, weil persönliche Kontakte
jenseits starrer Delegationsgrenzen, w i e sie Regierungskonferenzen kennen, eine große
Rolle gespielt haben. In den Konvent brachten lediglich 14 Mitglieder durchgängig ihre
Erfahrungen aus dem Grundrechtekonvent ein; von den ursprünglichen 105 Mitgliedern
waren am Schluss nur noch 69 vertreten, mehr als ein Drittel ist also ausgetauscht worden.
Eine Verlängerung hätte zwangsläufig eine weitere Fluktuation mit sich gebracht und das
Konventsgeflecht beeinträchtigt. A u ß e r d e m erschöpft sich die D y n a m i k und Produktions-
kapazität eines solchen G r e m i u m s zu einem bestimmten Zeitpunkt. E r f a h r u n g s g e m ä ß ist
er nach ca. zwei Jahren erreicht." Dies belegen auch die Prozesse der Verfassunggebung
in den 7 0 e r Jahren in Griechenland. Spanien und Portugal auf der Staatenebene, die Ver-
fassungskommissionen der fünf neuen Bundesländer auf der innerstaatlichen Ebene und
zuletzt der Grundrechtekonvent auf der europäischen Ebene.
4S?
Die deutschen Vertreter von „ R o t - G r ü n " hätten im Konvent eine maßgeblichere
Rolle spielen können. Das Potential Deutschlands als größtem Mitgliedstaat wurde bei aller
gebotenen Zurückhaltung auch angesichts gegebener Wirkkräfte nur bedingt genutzt. Einen
Akzent brachte zumindest die deutsch-französische Initiative im Frühjahr 2003 (wobei die
..Vertretungsregelung" Deutschlands d u r c h / Chirac zu den traurigen Kapiteln tatsächlicher
„Interessensvertretung" zu zählen ist). Die Auswechslung des Regierungsvertreters P. Glotz
durch Außenminister J. Fischer erfolgte zu spät. Z u d e m gehörte Fischer als Grüner keiner
der großen politischen G r u p p e n an. in der die Linien verabredet wurden.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 169

Der Konvent wurde „gesteuert" durch den Präsidenten V. Giscardd'Esiaing, das


Präsidium und das Generalsekretariat. Der Präsident war zunächst auf viele Vorbe-
halte der Mitglieder gestoßen. Er hat jedoch den Konvent laut Aussagen zahlreicher
Mitglieder durch eine weitsichtige, pragmatische und konziliante Amtsführung
überzeugen können. Seine Autorität hat in der Schlussphase gelitten durch das
Beharren auf Vorschlägen, die das Plenum mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte.

(3) Inkurs: Der Konvent als Zentralisierungsplattform?

Eine grundsätzliche Überlegung: die Verfassung ist ein klassisches Mittel, die
Macht des Staates zu begrenzen. Sie kann aber auch dazu missbraucht werden, die
Machtfülle, die staatliche Institutionen angesammelt haben, ex post zu legitimieren
und weiter auszubauen. Der Europäische Verfassungskonvent hatte vorgeschlagen,
die Kompetenzen der Europäischen Union zu erweitern, anstatt sie zu beschränken.

Der Konvent wurde im Dezember 2001 vom Europäischen Rat eingesetzt, auch
weil der französische Präsident J. Chirac in Nizza offensichtlich eine weitere
Zentralisierung der Europäischen Union in wichtigen Punkten zu blockieren
vermocht hatte. Nicht zuletzt um ihn - auch in seinem eigenen Land - unter Druck
zu setzen" 86 , beschloss die Ratsmehrheit, auf öffentlichkeitswirksame Weise an
die Spitze des Verfassungskonvents einen bürgerlichen Politiker aus Frankreich
zu stellen, der als besonders zentralisierungsfreudig bekannt war.

Die offizielle Begründung lautete freilich anders: Der Konvent sollte erstmals
den Parlamenten - dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten - die
Möglichkeit geben, schon im Vorfeld einer Regierungskonferenz Einfluss auf die
Reformdiskussion zu nehmen. Tatsächlich besaßen die Europaparlamentarier (16)
und die nationalen Parlamentarier (30) im Konvent - allerdings nicht in seinem
Präsidium - zusammen eine Mehrheit der 66 Stimmen. Hierbei ist jedoch die
unterschiedliche Interessenlage zwischen den nationalen und europäischen Parla-
mentariern zu berücksichtigen, wenn es um die Zentralisierung Europas geht. Das
Kooperationspotential erschien zunächst eingeschränkt. Versucht man die verschie-
denen Gruppen des Konvents nach ihrem jeweiligen Zentralisierungsinteresse zu
ordnen, so standen die Vertreter der Kommission (2) und des Europaparlaments
(16) an der Spitze. Es folgten der Präsident, die beiden Vizepräsidenten Ama-
to und Dehaene (zusammen 3) sowie die Vertreter der nationalen Regierungen
(15). Für eine Mehrheit bedurfte es 34 der 66 Stimmen. Damit wurde deutlich:
Die Mehrheitskoalition, die einer stärkeren Zentralisierung grundsätzlich befür-
wortend gegenüberstand, besteht aus den Vertretern der Kommission und des
Europaparlaments, der Leitung des Konvents und 13 (von 15) Regierungsvertre-
tern (2+16+3+13=34). Der Repräsentant der französischen Regierung und die

486
Vgl. nur R. Vaubei Weshalb das Defizit an Demokratie bestehen bleibt, in: N Z Z am
Sonntag vom 1 6 . 2 . 2 0 0 3 .
170 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nationalen Parlamentarier konnten beliebig überstimmt werden. Im zwölfköpfigen


Präsidium gestaltete sich dies noch leichter.

Dem Präsidium gehörten - in der Rangfolge ihrer vordergründigen Zentrali-


sierungsneigung - j e zwei Vertreter der Kommission und des Europaparlaments,
die dreiköpfige Konventsleitung, drei Vertreter der Regierungen und zwei nationa-
le Parlamentarier an. Den Ausschlag gab daher weitgehend die Konventsleitung.
Zehn Mitglieder des Konvents kritisierten den Zentralisierungskurs. Diese Gruppe
war nicht im Präsidium vertreten.

Nunmehr in Fortführung der oben angestellten grundsätzlichen Überlegung:


Die Zusammensetzung des Konvents könnte gegen die klassischen Maxime der
Verfassungstheorie verstoßen haben, wonach Verfassungsregeln nicht von denen
aufgestellt werden dürfen, die sie später einhalten sollen. Andernfalls bestünde
die Gefahr, dass sich die Verfassunggeber mehr Macht einräumen, als für das
Gemeinwesen „gut" ist. Demzufolge hatte beispielsweise die erste französische
Verfassunggebende Versammlung (Assemblee Constituante) in der Verfassung
von 1791 ihren Mitgliedern verboten, für das daraufhin zu wählende Parlament
(Assemblee Legislative) zu kandidieren. 487 Tatsächlich haben die europäischen In-
stitutionen den benannten verfassungstheoretischen Grundsatz bereits früher miss-
achtet. So war der erste Präsident der Kommission mit W. Hallstein der Mann, der
den EWG-Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt hatte. Unter
Berücksichtigung dieser Erwägungen hätte der Europäische Verfassungskonvent
im Grunde nur aus Mitgliedern der nationalen Parlamente bestehen dürfen, denen
für die Zukunft alle Ämter in den EU-Institutionen verwehrt worden wären. Dann
hätte der Verfassungskonvent auch ganz an die Stelle der Regierungskonferenz
treten können. Alle Änderungen der Verträge wären vom Konvent ausgehandelt
und dann den Parlamenten der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorgelegt worden.
Das wäre bereits insoweit vorzugswürdig gewesen, als die Regierungen oft allein
deshalb an der Zentralisierung interessiert sind, um sich der extensiven parlamen-
tarischen Kontrolle zu entziehen. Die Parlamentarier der Mitgliedstaaten haben
jedoch kein Interesse an ihrer eigenen Entmachtung, und auch ein internationales
Regulierungskartell hat für sie wenig Wert.

Interessant wird in diesem Gesamtzusammenhang und mit Blick auf den Ver-
fassungsvertrag bzw. den Vertrag von Lissabon die zukünftige Rechtsprechung
des EuGH sein. Zwar sollen die nationalen Parlamente die Möglichkeit erhalten,
im Vorfeld der EU-Gesetzgebung ihre Bedenken anzumelden und im Nachhin-
ein beim EuGH gegen Kompetenzüberschreitungen zu klagen. Jedoch ist bislang

4S
In diesem Kontext entwickelt der G e d a n k e eines R e f e r e n d u m s in der Regel be-
sondere Anreize, vgl. dazu A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas
Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003. S. Hol scheidt. /. Putz. Re-
ferenden in Europa, in: D Ö V 18 (2003), S. 737 ff.; K. Schmitt (Hrsg.), Herausforderungen
der repräsentativen Demokratie. 2003.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 171

nicht erkennbar, w e s h a l b der E u G H d a s Zentralisierungsinteresse der anderen


e u r o p ä i s c h e n Institutionen nicht teilen sollte. Je m e h r K o m p e t e n z e n die E u r o p ä i -
sche Union erhält, desto w i r k u n g s m ä c h t i g e r sind die Fälle, die die europäischen
Richter zu e n t s c h e i d e n haben. Es w ü r d e zu weit f ü h r e n zu postulieren, d a s s sich
insbesondere d e s h a l b der E u G H in der Vergangenheit als „ M o t o r der Integration"
b e t ä t i g t h ä t t e 4 8 S . A l l e r d i n g s ist i n e i n e r v e r g l e i c h e n d e n B e t r a c h t u n g d e r G e s c h i c h t e
unterschiedlicher Bundesstaaten festzustellen, dass die Verfassungsgerichte k a u m
gegen Z e n t r a l i s i e r u n g s t e n d e n z e n v o r z u g e h e n tendierten und diese nicht selten
durch ihre R e c h t s p r e c h u n g verstärkten.489 D e m z u f o l g e und a u f g r u n d d e r b e k l a g -
ten C h a n c e n l o s i g k e i t d e r n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e v o r d e m E u G H w u r d e b e r e i t s i n
den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wiederholt die Forderung a u f g e -
stellt, d i e n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e ü b e r e i n e z w e i t e K a m m e r d e s E u r o p a p a r l a m e n t s
oder direkt an der europäischen G e s e t z g e b u n g zu beteiligen. Auch w u r d e erwogen,
d e m E u G H z u m i n d e s t ein „Subsidiaritätsgericht" an die Seite zu stellen, das aus
Vertretern der höchsten nationalen Gerichte bestünde und ausschließlich über
Kompetenzstreitigkeiten zu entscheiden hätte.490

488
Siehe nur G. G. Saner. Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Inte-
gration, 1988. Zur bisherigen Rolle des E u G H J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof
als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983: O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung
und Rechtsschutz nach A m s t e r d a m - Zu den neuen Zuständigkeiten des E u G H , in: A ö R
125 (2000). S. 3 8 6 ff.; P Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 4 7 8 ff.:
W. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc
Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfas-
sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998: P. Pernthaler. Die
Herrschaft der Richter im Recht o h n e Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestal-
tenden Funktionen des E u G H , in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A Wolf-Niedermaier..
Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997.
489
Eine A u s n a h m e bildet etwa das schweizerische Bundesgericht, da es nicht für
Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund zuständig ist.
490
Solche Vorschläge, w i e sie die ,.European Constitutional Group" (ECG) in einem
Entwurf f ü r eine europäische Verfassung im Sinne einer liberalen O r d n u n g 1993 vorge-
stellt hatte, stießen jedoch bei der Mehrheit des Verfassungskonvents auf wenig Widerhall.
Die ECG ist im Juni 2 0 0 2 in Berlin m e h r oder weniger neu lanciert worden, um das
Vorhaben des EU-Verfassungskonvents kritisch zu begleiten; Zielsetzung w a r u . a . so-
zusagen als Schatten-Konvent zu arbeiten, um bei der Veröffentlichung des offiziellen
Verfassungsentwurfs des EU-Konvents mit einem liberalen Gegenvorschlag a u f z u w a r t e n .
Die wiedererweckte ECG umfasste 18 Ö k o n o m e n und Rechtsexperten. Der Entwurf der
ECG war naturgemäß viel schlanker als die D o k u m e n t e des EU-Konvents, inhaltlich aber
radikaler. Die Autoren waren der Meinung, dass für eine wachsende Europäische Union in
gewissem minimalem A u s m a ß eine föderale Union nötig sei. um deren Funktionsfähigkeit
zu sichern. Gesucht wurden deshalb Spielregeln für eine demokratische, föderal aufgebaute
Europäische Union mit klarer Kompetenzaufteilung zwischen den verschiedenen Staats-
ebenen: Verfassungsregeln, die die Rechte der Bürger schützen, nicht - wie es eher E U -
Tradition ist - die Rechte von Staaten. Als Grundrechte sollten die in der Konvention von
1950 umschriebenen Freiheitsrechte gelten und nicht - w i e es der EU-Konvent letztlich
vorsah - die im D e z e m b e r 2 0 0 0 verkündete Grundrechte-Charta der Europäischen Union.
172 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

(4) Zeitgemäße Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit?

Der Konvent tagte öffentlich und alle D o k u m e n t e waren über das Internet
j e d e r m a n n zugänglich. Ziel war eine u m f a s s e n d e Debatte aller Bürgerinnen und
Bürger zur R e f o r m der Europäischen Union. D a z u w u r d e ein „ F o r u m " geschaffen,
d a s allen O r g a n i s a t i o n e n der Zivilgesellschaft o f f e n stand. Hier sind 1264 Beiträge
von Nichtregierungsorganisationen eingegangen, die beispielsweise im R a h m e n
einer A n h ö r u n g der Zivilgesellschaft am 2 5 . / 2 6 . Juni 2002 durch den Konvent
in die D e b a t t e eingeflossen sind. D e r Vorsitzende hat die M i t g l i e d s t a a t e n d a z u
aufgerufen, auch auf nationaler E b e n e Foren zur Bürgerbeteiligung einzurichten.
In einem „Jugendkonvent" wurde am 10. J u l i 2 0 0 2 d e r B e i t r a g v o n ü b e r 2 0 0
Jugendlichen gehört.

E i n e b r e i t e r e Ö f f e n t l i c h k e i t n a h m t r o t z d i e s e r B e m ü h u n g e n erst g e g e n E n d e d e s
M a n d a t s von den Arbeiten Notiz. Umfragen zufolge hatten z u m Schluss gerade
einmal die H ä l f t e der E U - B ü r g e r von d e m Konvent gehört. Dies, obwohl der
Verfassungstext gerade Übersichtlichkeit, Einfachheit und Bürgernähe vermitteln
sollte. U m f a s s e n d informiert w u r d e n allerdings die nationalen Parlamente durch
ihre Vertreter.491

Die K e r n t h e m e n , mit denen der Konvent sich zu befassen hatte - Transparenz,


D e m o k r a t i e , Effizienz und Effektivität politischer E n t s c h e i d u n g s v e r f a h r e n - sind
w e s e n s m ä ß i g weitgehend identisch mit j e n e n , die auch im nationalen Kontext

Begründet wurde dies damit, dass die Charta zur verfassungsmäßigen Beschränkung der
Staatsgewalt ungeeignet sei, da sie neben Freiheitsrechten viele Stellen enthalte, aus denen
zahlreiche Schutz- und Umverteilungs-Versprechen ableitbar wären. Im ECG-Worschlag
w ird die zweite K a m m e r nicht aus dem Europäischen Rat gebildet; dieser bleibt näher bei
seiner heutigen Rolle. Die Zuständigkeit der europäischen Regierung beschränkt sich auf
Verteidigung. Außenpolitik. Außenhandelspolitik, die Gewährleistung des freien Verkehrs
von Waren. Dienstleistungen, Personen und Kapital innerhalb der Europäischen Union,
auf Wettbewerbspolitik sowie Umweltpolitik mit Blick auf EU- weite Umweltprobleme.
All dies soll nur an die oberste Ebene delegiert werden, wenn unter den Mitgliedstaaten
darüber Konsens herrscht und ein Referendum darüber die Volks- und Ländermehrheit
findet. Der Haushalt der europäischen Regierung muss über die Legislaturperiode hinweg
ausgeglichen sein. Die europäische Regierung wird durch eine speziell bezeichnete Steuer
finanziert, etwa durch eine proportionale indirekte Steuer. Steueränderungen sind nur bei
Zweidrittelmehrheit in beiden K a m m e r n und Z u s t i m m u n g des Volkes möglich. Für wichti-
ge G e s c h ä f t e gilt ein obligatorisches, für andere Vorlagen bei bestimmten Unterschriften-
Quoren ein fakultatives R e f e r e n d u m . Vorlagen bedürfen zur A n n a h m e einer Volks- und
Ländermehrheit. Jeder Staat hat das Recht, aus der Europäischen Union auszutreten, wobei
das Volk mit qualifizierter Mehrheit zustimmen muss und Verfahren mit Übergangszeiten
festzulegen sind. Schliesslich ist das Verfahren bei Entwurf und Verabschiedung einer
Verfassung von zentraler Bedeutung, zumal diese eine Art G r u n d k o n s e n s der EU-Bürger
darstellen sollte. Eine Verfassung nach d e m Geist der ECG müsste wohl d e m Volk vorgelegt
werden, und zwar in der ganzen Europäischen Union.
491
So haben etwa C D U / C S U - K o n v e n t s m i t g l i e d e r der Führungsspitze, den Europa-
politikern. Bundestagsabgeordneten und weiteren Mandatsträgern der Partei nach j e d e r
Plenartagung schriftlich Bericht erstattet.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 173

vieler EU-Länder bestehen, während die EU-Kandidatenländer in der zurück-


liegenden Dekade einem intensiven Reformprozess unter diesen Perspektiven
unterzogen wurden: gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass sie dadurch
besser auf die Europäische Union vorbereitet sind und waren als manches bisherige
EU-Mitglied auf die gemeinsame europäische Zukunft.

Der Verfassungstext ist zwar nicht gerade über Nacht, aber doch in der ver-
gleichsweise kurzen Zeitspanne von weniger als zwei Jahren entstanden. Gewiss,
auch Verfassungen von Staaten kamen zum Teil sehr schnell zustande. So bei-
spielsweise die gaullistische Verfassung der Fünften Republik in Frankreich. Sie
wurde 1958 unter der Leitung von \1. Debre in wenigen Monaten redigiert und in
Kraft gesetzt.

Alte Staatsverfassungen wie diejenige der Vereinigten Staaten von 1787 aber
waren meist Produkte langer, intensiver Diskussionsprozesse. In der Schweiz
nahm die Tagsatzung 1848 die neue Bundesverfassung zwar nach nur einigen
Wochen dauernden Kommissionsverhandlungen an. Sie griff - so der Kommen-
tar (des US-Schweizers) W. Rappard - zwar so lustlos zum neuen Text wie ein
ermüdeter Patient zum rettenden Medikament. Doch waren der Errichtung des
Bundesstaates von 1848 während fünfzig Jahren zum Teil erbitterte Auseinander-
setzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten. Liberalen und Konservativen
vorausgegangen. Der EU-Verfassungskonvent hat zügiger und diskreter gearbeitet
als die meisten staatlichen Verfassunggeber. Er war nicht umlagert von einem
nachrichtenbegierigen Publikum. Er produzierte definitiv keine „Federalist Pa-
pers", wenn man einmal von (verstreuten und eher unkohärenten) öffentlichen
Stellungnahmen aus den Federn von U. Eco, J. Habermas, J. Derrida, A. Mtischg
und anderen Intellektuellen absieht. Der Prozess vollzog sich - im Gegensatz
zu klassischen Fällen des staatlichen „constitution-making" - in einer gewissen
Abgeschiedenheit vom politischen und intellektuellen Leben.

Trotzdem war niemals zuvor in der Verfassungsgeschichte ein Verfassung-


gebungsprozess im Angebot so öffentlich, demokratisch und transparent. Ein
entscheidender Unterschied zur „Geheimniskrämerei von Philadelphia oder Her-
renchiemsee" 4 9 2 . Es wird allerdings abzuwarten und manche Analyse bestritten
sein, bevor eine klare Festellung gewagt werden kann, ob das allgemeine Inter-
esse wenigstens an den Ergebnissen des Konvents und seinen Folgen höher war
als bei Verfassungsprozessen früherer Zeiten. Verfassungsfragen sind oftmals
prozeduraler Natur und interessieren daher neben den naturgemäß Betroffenen
und Beteiligten in den Institutionen regelmäßig Minderheiten. Es ist demzufolge
ein bedauernswerter Umstand, dass die europäische Verfassungsdebatte am Ende
wieder auf eine Institutionendebatte reduziert wurde, gerade in dem Augenblick.

492
So L. Kidmhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struk-
turentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.
174 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wo sie in das Blickfeld der Medien gelangte. Es wäre beispielsweise zielführender


gewesen, unter Beteiligung einer tatsächlich einbezogenen europäischen Öffent-
lichkeit 491 darüber zu streiten, warum die Charta der Grundrechte nicht an eine
prominentere Stelle in der Verfassung gesetzt wurde, denn sie weiß eine hervor-
gehobene Facette politischer Identität zu verkörpern, die aus der Europäischen
Union neben der Staatenunion auch eine Union der Unionsbürger macht.

(5) Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des einzelnen Mitglieds

Auf der Grundlage der ersten Diskussionen und der Ergebnisse der Arbeits-
gruppen erarbeitete das Präsidium im Oktober 2002 ein Rohgerüst für den Ver-
fassungsvertrag. Sodann wurden sukzessive Vertragsartikel für die diversen Teile
des Entwurfs vorgelegt. Nach Vorstellung dieser Artikel im Plenum konnten die
Mitglieder (und auch die Stellvertreter) binnen einer Woche schriftliche Ände-
rungsanträge zu den Texten einreichen (1. Lesung). Insgesamt wurden fast 8000
solcher Änderungsanträge gestellt. In der folgenden Plenartagung wurden die
Texte und die Änderungsanträge diskutiert.

Auf dieser Grundlage überarbeitete das Präsidium den Entwurf und legte eine
neue Fassung vor. Zu dieser konnten wiederum Änderungsanträge eingebracht
werden (2. Lesung). Nach einer erneuten Überarbeitung und Diskussion im Ple-
num (3. Lesung) wurden noch geringfügige Änderungen vorgenommen, bevor
man den Konsens feststellen konnte.

Dieses Verfahren räumte dem Präsidium des Konvents eine starke Stellung
ein. Es traf sich zu insgesamt 50 Sitzungen und unterbreitete dem Plenum 52
Arbeitspapiere. Kein einziger Text kam in den Verfassungsvertrag, der nicht zuvor
die Billigung des Präsidiums erhalten hatte. Dies war in dem Mandat des Gipfels
von Laeken angelegt, nach dem das Präsidium die Aufgabe der Ausarbeitung
der Texte hatte. Im Konvent konnte nicht abgestimmt werden, denn er war nicht
repräsentativ zusammengesetzt. Bei Abstimmungen hätte auf die Sensibilität von
einzelnen Mitgliedstaaten nicht Rücksicht genommen werden können. Wären
aber deren Vertreter regelmäßig überstimmt worden, hätte der Entwurf keinerlei
Chance gehabt, die Regierungskonferenz zu passieren.

In den Plenardebatten konnte sich das einzelne Mitglied in auf drei Minuten
beschränkten Wortbeiträgen zu den vorgegebenen Themen äußern. Nach einem
Block von fünf Redebeiträgen konnten Kurzreaktionen von einer Minute abgege-
ben werden.

493
Den Begriff ..europäische Öffentlichkeit" beleuchten und definieren P. Häberle,
Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6. S. 163 ff. mit zahlreichen Nachweisen; siehe
auch den S a m m e l b a n d von C. Franzius!U. K. Preuß (Hrsg.) Europäische Öffentlichkeit.
2004. Vgl. bereits P Häberle. Öffentlichkeit und Verfassung, in: Z I P 1969. S. 2 7 3 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 175

Die Beratungen in den Arbeitsgruppen waren wesentlich ergebnisorientierter.


Sie tagten nur während eines kurzen Zeitraums von zwei oder drei Monaten
und hatten das Ziel, Orientierungen zu Einzelthemen wie etwa den ergänzenden
Zuständigkeiten oder der Verteidigungspolitik zu erarbeiten. Da sich die Präsenz
der Mitglieder hier meistens auf ein Dutzend beschränkte, war eine intensive und
produktive Diskussion der einzelnen Themen möglich. Die meisten Reformansätze
in dem Vertrag beruhen auf Vorarbeiten in den Arbeitsgruppen.

Darüber hinaus konnten die Mitglieder wie eben erwähnt Änderungsanträge


und „schriftliche Beiträge" einbringen. 1159 solcher Beiträge sind zum Plenum
und zu den Arbeitsgruppen eingegangen. 4 **

(6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abstimmung(sprobleme)


im Europäischen Rat

Allerorten entwickelten sich in der Schlussphase der Arbeit des Konvents


überbordende Plattformen für europafreundliche Schriften und Reden. Vielfach
wurden der Wert und das Ziel einer Balance zwischen den Institutionen der Euro-
päischen Union angerufen. Gleichwohl aber war an vielen Orten auf subtile Weise
eine wachsende Stimmung gegen Europa zu spüren. Man hatte nicht selten den
Eindruck, dass Europa dort geschwächt werden sollte, wo es funktioniert (Bin-
nenmarkt), und dass es dort trotz aller Rhetorik schwach bleiben könnte, wo die
Bürger eindeutig und ausweislich aller demoskopischen Befunde „mehr Europa"
wünschen (Außen-, Justiz-, Innenpolitik). In Nizza waren die Vetokapazitäten
zwischen den Staaten gefestigt worden, bis am Ende die Einsicht Platz griff, dass
das System insgesamt nicht mehr funktionieren würde. Nicht selten entstand in
der Schlussphase des Konvents der Eindruck, als sollten dieses Mal die Veto-
kapazitäten gegenüber den gemeinschaftsbildenden Prozessen und Institutionen
gestärkt werden. Erneut - wie im Umfeld von Nizza - wurde intensiver über
Kompromissspielräume bei den Institutionenfragen als über Maßstäbe. Ziele und
Folgen des Verfassungsprozesses debattiert.

Nach der Übergabe des Entwurfs durch den Konvent im Juli 2003 begannen
im Oktober 2003 die Vorbereitungen zur Regierungskonferenz im Dezember. Die
Zeit der Vorverhandlungen zur endgültigen Verabschiedung war knapp bemes-
sen - ein Großteil der Verantwortung lag hierbei in den Händen der italienischen
Ratspräsidentschaft. Der Vorsitz selbst arbeitete darauf hin, die außen- und si-
cherheitspolitischen Kapitel des Entwurfs zu modifizieren und für alle anderen
Fragen differenzierte Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren. 495 Ein sehr kontro-

494
Die Beiträge sind auf der Web-Site des Konvents (http://europeanl-lconvention.eu
.int) zugänglich.
495
Vgl. A. Maurer, Aufschnüren oder D y n a m i s i e r e n ? C h a n c e n und Risiken der Regie-
rungskonferenz zum EU-Verfassungsvertrag, SWP-Aktuell Nr. 38. 2003. S. 1.
176 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

verser Verhandlungsverlauf war zu erwarten. Z u r Effizienzsteigerung hatte man


eine Vorgehensweise festgelegt: Stellte ein Mitgliedsstaat eine partielle Regelung,
einen einzelnen Punkt des G e s a m t k o n s e n s u s in Frage, trug er die Verantwortung
f ü r d a s F i n d e n e i n e s n e u e n K o n s e n s u s . A . Maurer s i e h t h i e r i n e i n e n F o r t s c h r i t t
zum herkömmlichen „ B a r g a i n i n g " n a c h d e r T h e o r i e A . Moravcsiks.4%

Nicht alle Teilnehmer sahen diese Vereinbarung als verbindlich und konsensual
getroffen an.497

In der Praxis sollte sich zeigen, dass im Zweifelsfall nationale Interessen stärker
die Vorgehensweise der Konferenzteilnehmer bestimmten, als dieser edle Vorsatz.

Auf verschiedenen Foren der Regierungskonferenz, darunter der Außenminis-


terkonferenz in Neapel E n d e November, hatten sich bereits einige institutionelle
Fragen in der Vorbereitungsphase des Abschlussgipfels klären lassen.498 Bei den
Diskussionen um den turnusmäßigen Wechsel des Vorsitzes im Ministerrat wurde
als endgültige Lösung die „gleichberechtigte Rotation" im Vertrag festgehal-
ten - e i n e p r ä z i s e A u s g e s t a l t u n g s o l l t e z u e i n e m s p ä t e r e n Z e i t p u n k t e r f o l g e n . 4 9 9

496
Vgl. A. Maurer!S. Schunz, Auf d e m Weg zum Verfassungsvertrag. Der Entwurf einer
Europäischen Verfassung in der Regierungskonferenz. 2003. S. 3. Bezug zu.: A. Moravcsik.
Preferences and Power in the European C o m m u n i t y : A Liberal Interngovernmentalist
Approach, in: Journal of C o m m o n Market Studies, Nr 4. 1993.
497
Der „ E c o n o m i s t " äußerte sich hierzu wie folgt: „ T h e G e r m a n s , for instance. think
that so broad a c o n s e n s u s was reached in the Convention that any government wishing
to fiddle with the text must find an alternative broad c o n s e n s u s - which is unlikely",
vgl. Economist vom 04. 10.2003.
498
Darunter waren die Funktion und Flexibilität des durch den Konvent vorgeschlagenen
Legislativrates im Verhältnis zu den anderen Ratsformationen wie auch die Frage nach Sta-
tus und Rolle des künftigen Außenministers. Die Außenministerkonferenz kam hier überein.
dass kein eigenständiger Legislativrat gebildet werden sollte, vielmehr sollten die einzelnen
Fachräte immer dann als ein solcher zusammentreten, wenn sie ein Gesetzgebungsverfahren
durchführen und in diesem Z u s a m m e n h a n g öffentliche Beratungen stattfinden, vgl. Artikel
I - 24. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 0 6 . 0 8 . 2 0 0 4 .
C I G 8 7 / 0 4 . Zur näheren Definition der Rolle des künftigen Außenministers der EU verein-
barte man einen den anderen Kommissionsmitgliedern gleichberechtigten Status (Artikel
I - 28. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 0 6 . 0 8 . 2 0 0 4 .
C I G 8 7 / 0 4 ) . Gegenstände der Einigung waren die Klärung seines Stimmrechtes außer-
halb der Bereiche der G e m e i n s a m e n A u ß e n - und Sicherheitspolitik und die Frage, ob ein
Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Kommission auch eine Amtsniederlegung
des Außenministers zur Folge haben sollte (vgl. Artikel 1-25. Vermerk des Vorsitzes der
Ratspräsidentschaft an die Delegationen C I G 6 0 / 0 3 A D D 1).
499
Der italienische Vorsitz zielte auf die Diskussion achtzehn monatig wechselnder
Vorsitze. Neben der Dauer des Vorsitzes musste auch die Anzahl der Mitglieder inner-
halb einer Gruppenpräsidentschaft diskutiert werden: Laut italienischem Konscnpapier
C I G 6 0 / 0 3 A D D I sollten dies drei Staaten sein. Diese Regelung ging schließlich in den
Vertragstext ein. Die Alternative wäre gewesen, dass j e d e r Ministerrat in j e d e r seinerZu-
sammensetzungen den eigenen Vorsitz autonom wählt. Die Formulierung des Artikel 1-24
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 177

Am 24. November 2003 verständigten sich schließlich die EU-Botschafter der


25 Mitgliedsstaaten über die Neuordnung der Ratspräsidentschaft: In einem Turnus
von 18 Monaten sollte im Regelfall ein jeweils größerer EU-Staat gemeinsam mit
einem kleineren bisherigen Mitgliedsstaat sowie mit einem „neuen" Mitglied die
Teampräsidentschaft stellen. Gleichwohl: in den meisten Auseinandersetzungen
standen sich die sechs Gründungsstaaten und die kleineren Mitgliedsstaaten,
darunter die Beitrittsstaaten, gegenüber.

Die Zusammensetzung und Beschlussfassung der Europäischen Kommission


war bereits im Konvent Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen. 500 Die
Kommission sollte laut Konventsentwurf ab dem 1. November 2009 nur noch 15
stimmberechtigte Kommissare („innerer Kreis") umfassen, die nach einem System
der gleichberechtigten Rotation ausgewählt würden. Neben dem Präsidenten und
dem Vizepräsidenten sollten weitere 13 Kommissare („äußerer Kreis") vertreten
sein. Der Kommissionspräsident würde einen Kommissar aus einer Dreier-Liste
jedes Mitgliedsstaats wählen. 501

Der Verzicht auf einen Kommissar bedeutet für einen Mitgliedsstaat einen nicht
geringen Einflussverlust. Die Kommissare gelten als Mittler zwischen „Brüssel"
und ihren Herkunftsländern, daher möchte jeder Staat mit der Person des Kom-
missars über ein „symbolisches Vertretungsdispositiv" verfügen. Es wurde vorge-
zogen, eine Einigung in dieser Frage zunächst auf einen Folgegipfel zu vertagen,
da die kleinen Staaten ihr Interesse hier massiv geltend machten. Die Ablehnung
von Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich wegen ihres Verstoßes gegen
die Defizitkriterien verschlechterte das Klima zusätzlich. Beide Staaten stellten
sich einer im Konventsentwurf vorgesehenen Vergrößerung der Kompetenzen
der Kommission im Bereich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entgegen. Die
eigennützige Interessenlage beider Defizitsünder trug nicht gerade zu einer af-
fektfreien Diskussion bei. Diese Frage wurde ebenso wenig geklärt wie die der
Rechte des Europäischen Parlaments im Haushalt der Europäischen Union und die
Neustrukturierung der Parlamentssitze. Der Besetzungsmodus der Europäischen
Kommission war wie die folgenden Diskussionsgegenstände keiner der Gründe,
die unweigerlich zum Abbruch der Verhandlungen hätten führen müssen - da
aber aufgrund der großen Streitfrage um die Gestaltung der Mehrheitsverhältnisse
im Ministerrat ohnehin ein Scheitern absehbar war, bevorzugte man die Klärung
jener Fragen unter Sondierung durch die folgende irische Ratspräsidentschaft.

in der endgültigen Fassung ermöglicht eine Ä n d e r u n g des M o d u s durch das im Vergleich


zur Verfassungsänderung einfachere Verfahren des Europäischen Beschlusses.
5<M)
Die kleinen Staaten wollten auch weiterhin einen eigenen stimmberechtigten K o m -
missar stellen, während Großbritannien und die Gründungsstaaten für eine Verkleinerung
der Kommission eintraten.
501
Vgl. Artikel 25. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung
vom 1 8 . 0 7 . 2 0 0 3 . C O N V 8 5 0 / 0 3 .
178 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zur Verbesse-


rung der Handlungsfähigkeit und Effizienz war bereits auf den letzten Regierungs-
konferenzen vorrangiges Ziel gewesen. Da die Einführung eines Mehrheitsvotums
regelmäßig national als Abtretung souveräner Kompetenzen wahrgenommen wird,
wohnte diesem Thema hohes Konfliktpotential innerhalb der Mitgliedsstaaten in-
ne. Einige Staaten waren nicht bereit, ihre Vetomöglichkeit in für sie sensiblen
Bereichen aufzugeben. 5 0 2

Die Konventsregelung für die Gewichtung der Stimmen im Ministerrat stellte


die Streitfrage dar. die letztlich eine Einigung unmöglich machte. Die Formu-
lierung von Artikel 24 des Konventsentwurfs wollte dem Doppelcharakter der
Europäischen Union als „Union der Staaten" und „Union der Bürger" Rechnung
tragen. Der Abstimmungsmodus berücksichtigte im Vergleich zur Stimmengewich-
tung im Vertrag von Nizza 5 '" die tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisse. Laut
Konventsentwurf sollten zum Zustandekommen einer qualifizierten Mehrheit 50
Prozent der Stimmen der Mitgliedsstaaten repräsentiert werden und gleichzeitig
hätten 60 Prozent der Bevölkerungszahl darin vertreten sein müssen. Die relative
Gestaltungsmacht bevölkerungsreicher Staaten wie Deutschland gegenüber den
anderen großen Staaten im Rat wäre begünstigt worden. Polen und Spanien lehnten
dies als Herabstufung ihrer im Nizza-Vertrag entstandenen Sperrminorität ab. Die
Regierungen Polens und Spaniens argumentierten, dass sie auf diese Weise Mehr-
heitsbeschlüsse nicht mehr blockieren und folglich von den bevölkerungsreichsten
Staaten der Europäischen Union dominiert werden könnten. Der Einsatz der Ver-
handlungspartner zielte hier folglich nicht auf direkten eigenen Machtzuwachs

? 2
" Die E i n f ü h r u n g des A b s t i m m u n g s m o d u s der qualifizierten Mehrheit sollte in den
Politikfeldern Steuern, A u ß e n - und Sicherheitspolitik. Innen- und Justizpolitik wie auch
Sozialpolitik und Haushalt erfolgen. Die große Konfliktlinie bestand zwischen Großbri-
tannien. Irland. Tschechien. Malta und Slowenien einerseits - und den anderen Staaten
andererseits. Während erstere für Einstimmigkeit plädierten, hätten vor allem Deutschland.
Belgien und Niederlande gerne künftig in diesen Bereichen mit qualifizierter Mehrheit
abgestimmt. Großbritannien erwies sich in dieser Hinsicht als unbeirrbar in seiner Positi-
on: Die vergleichsweise niedrige Steuerquote sollte nicht durch H a r m o n i s i e r u n g s z w ä n g e
modifiziert werden müssen. Vor allem aber im Bereich der Außenpolitik gelten Kompetenz-
abtretungen an die supranationale Ebene als Souveränitätsverluste. Das von K. D. Putnam
(Diplomacy and Domestic Politics: T h e Logic of Two-Level-Games. In: International Or-
ganization. Nr. 3, 1988) umrissene Vcrhandlungsparadigma ließe sich auf diese Situation
anwenden: Die Kompromissbereitschaft und der Spielraum der Diskussionspartner sind in
dem vorliegenden Konfliktfall stark von ihrer europapolitischen Grundposition zur Integra-
tion abhängig. Im britischen Fall kann davon ausgegangen werden, dass Verhandlungshärte
nicht zur Erreichung von Zugeständnissen an den Tag gelegt wurde. Vielmehr lassen sich
von den ..roten Linien" abweichende Ergebnisse innenpolitisch nicht rechtfertigen. Die
..red lines" der britischen Regierung waren der Vorsatz, Mehrheitsentscheidungen in den
Feldern Steuer-. Sozial- und Außenpolitik zu verhindern, vgl. etwa T h e International Harald
Tribüne vom 13. 12.2003.
503
J.A. Emmanouilidis/T. Fischer, Die .Machtfrage europäisch beantworten. Die Ab-
stimmungsregeln von Nizza und Konvent im Vergleich. 2003.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 179

ab, sondern vielmehr auf die Verhinderung eines als Bedrohung empfundenen
„Übergewichts" der großen Staaten. Die deutsche und die französische Delega-
tion fühlten sich zu Unrecht angegriffen. Es sei ihnen um die Einführung eines
einfachen, transparenten und effizienten Abstimmungsverfahrens gegangen, das
Gestaltungsmöglichkeiten eröffne und keine Blockadehaltung konserviere. 5 0 4

Da sich die Diskussion zunehmend im Kreise drehte, versuchte die Ratsprä-


sidentschaft im „Beichtstuhlverfahren", also bilateralen Einzelgesprächen, die
Fronten aufzuweichen. In Ermangelung weiterer Verhandlungsmasse verkündete
der italienische Premierminister schließlich den Abbruch der Verhandlungen.

Der gescheiterte EU-Gipfel vom Dezember 2003 ist in eine weitere Perspektive
zu rücken. So bemerkenswert die konsensuale Übereinstimmung im Verfassungs-
konvent gewesen war - am Ende stand keine formelle Abstimmung. Am Vorabend
der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union schien der
größte mögliche Absturz der Hoffnung auf eine Verstärkung des politischen
Charakters der Europäischen Union zu stehen. 505 Die Gründe für das Scheitern
des Gipfels vom Dezember 2003 waren - wie geschildert - mannigfach. Vor
allem mangelte es an einem „esprit europeenne" bei vielen der beteiligten Ak-
teure. Die Ursachen dafür ließen sich nicht auf die besonders kontroverse Frage
der Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat reduzieren. Machtfragen und
psychologische Verstimmungen hatten sich vermischt - Folge einer Kette von
Ereignissen und Tendenzen, die seit dem Gipfeltreffen des Jahres 2000 in Nizza
ruchbar geworden waren und spätestens im internen kalten Krieg des Westens
über die richtige Politik gegenüber der irakischen Diktatur und über die Weisheit
des amerikanischen Krieges gegen das Regime von S. Hussein eskalierten. Auch
in dieser Hinsicht wurde eine alte Erfahrung bestätigt: Wann immer die transat-
lantischen Beziehungen in einem schlechten Zustand sind, befindet sich auch der
Prozess der europäischen Einigung in einem schlechten Zustand.

Anders als im Dezember 2003 war es den Staats- und Regierungschefs jedoch
bei ihrem zweitägigen EU-Gipfeltreffen am 18. Juni 2004 in Brüssel gelungen, sich
auf einen Verfassungsvertrag für die Union zu einigen. Von vornherein stand dieser
Erfolg nicht fest. Allerdings w a r d e r Druck für eine Verständigung außerordentlich
groß. Zum einen wollten die Konferenzteilnehmer ihre Entscheidungsfähigkeit
nach der niedrigen Stimmbeteiligung an den Europawahlen und dem Vormarsch
der EU-kritischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten eindrücklich unter Beweis
stellen. Zum andern standen die Regierungsverantwortlichen im Wort, denn sie
hatten sich im März verpflichtet, bis Ende Juni die Beratungen über die EU-

•' u Vgl. Regierungserklärung von Bundesaußenminister J. Fischer z u m Europäischen


Rat v o r d e m Deutschen Bundestag am 1 1 . 1 2 . 2 0 0 3 , abrufbar unter www.auswaertiges-amt
.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=5179.
505
Vgl. L. Kühnhardt. Auf d e m Weg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus,
in: N Z Z . 16. Juli 2004.
180 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Vertrags-Reform abzuschließen. Noch bedeutsamer war wohl die zielstrebige und


effiziente Verhandlungsführung der irischen EU-Präsidentschaft, die es in allen
Phasen der Debatte verstanden hatte, scheinbar unüberbrückbare Differenzen mit
kreativen Kompromissvorschlägen zu überwinden.

qq) Einige Gedanken zum Ergebnis des Verfassungskonvents

Eine umfassendere Bewertung des Verfassungsvertrages befindet sich im An-


hang 506 , weshalb an dieser Stelle lediglich einige beifolgende (und gegebenenfalls
von der „Parteilinie** abweichende) Gedanken sowie „wertende Bruchstücke" die
bunte Fassade der Kommentierungen ergänzen sollen.

(I) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder Verfassungsven rag?

Bei der Verwendung des Begriffs „Verfassung" waren im Debattenverlauf um


die Jahrhundertwende auch unter den politischen Akteuren einige zurückhaltender
als andere. Während J. Fischer in seiner Humboldt-Rede ganze zehn mal auf eine
„Verfassung**- bzw. einen „Verfassungsvertrag" Bezug nimmt, taucht der Aus-
druck in J. Chiracs Rede vor dem Deutschen Bundestag (2000) nur einmal auf,
und dann auch sehr vage: „Nach diesen Arbeiten, die sicherlich einige Jahre in
Anspruch nehmen werden, hätten zunächst die Regierungen und dann die Völker
über einen Text zu befinden, den wir dann als erste .Europäische Verfassung'
proklamieren könnten" 507 . Auch Bundeskanzler G. Schröder sprach zunächst von
einer „verfassungsmäßigen Grundlage" oder „Verfasstheit" und erst später von
„Verfassung". 508 Nahezu alle politischen Protagonisten betonten unterdessen den
Verlaufcharaktereines „Konstitutionalisierungsprozesses". Zudem war auffallend,
dass manche Akteure, so die Kommission und die C D U / C S U , fast ausschließ-
lich von einem „Verfassungsvertrag" bzw. „Grundvertrag" sprachen, während

"" Bewertungen (unter Mitarbeit des Verf.) der C S U - L a n d e s g r u p p e sowie der C D U /


C S U Fraktion im Deutschen Bundestag. Eine tiefergehender Bericht sowie eine entspre-
chende Bewertung (die unter d e m Namen des damaligen Staatsministers R. Bockler der
bayerischen Staatsregierung vorgelegt wurde) des ersten E n t w u r f e s vom Juli 2003. fin-
det sich unter www.bayern.de/.../content/stk/allgemein/ergebnisse_eu_konvent_030911
. p d f ? P H P S E S S l D = e b ( ) 6 8 7 5 d 9 0 a 3 4 0 f 2 d 3 8 d 4 9 7 6 " Vgl. z u d e m zu den Inhalten des Verfas-
sungsvertrages die Bibliographie des Verf. (2006): dazu die bei P. Hiiberle. Europäische
Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 661 f.. 666 ff. angegebene Lit. Vgl. zur Genesis auch die
Aufsätze in H.-J. Blanke/S. Mangianieli (Hrsg.), Governing Europe under a Consitution.
T h e Hard Road from the European Treaties to a European Constitutional Treaty, 2006.
507
J. Chirac. Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2 0 0 0 . in: FAZ vom
2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f.
508
So im Redemanuskript beim Internationalen B e r t e l s m a n n - F o r u m 2001: „ D a s ent-
grenzte Europa**. 19. Januar. 2001, mit G. Amato in der FAZ. 2 1 . 9 . 2 0 0 0 : „Weil es uns ernst
ist mit der Z u k u n f t Europas", sowie in der Regierungserklärung zu Nizza, 19. Januar 2001
(vgl. das entsprechende Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundestages).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 181

etwa Fischer beide Begriffe benutzte. Dem Europäischen Parlament dagegen er-
schien „die Wahl des Ausdruckes ( . . . ] von zweitrangiger Bedeutung. Der Begriff
,Verfassung' bringt unser europäisches Engagement stärker zum Ausdruck" 5 0 9 .

Die Debatte um die (Richtigkeit der) Bezeichnung des Ergebnisses des Ver-
fassungskonvents 5 1 " ist auf den ersten Blick ein Scheingefecht. Wenn von einem
idealen und metahistorischen Begriff der Verfassung sowie von der traditionellen
Verbindung zwischen Staat und Verfassung - wie unten dargelegt 5 " - abgerückt
werden muss, wenn also die Entwicklung der Europäischen Union auf ihrem
„Sonderweg" zur Konstitutionalisierung ohne die gängigen Vorurteile, die der
Begriff „Verfassung" mit sich bringt, bewertet werden soll, dann ist immerhin
auch zu fragen, welche qualitative Änderung der ,.Verfassungs"-text für die Eu-
ropäische Union induzieren würde. Erst dann würde die Einführung des Wortes
„Verfassung" eine eigentliche Bedeutungskraft entwickeln und eine zielführende
Betrachtung, nämlich in welcher Beziehung die künftige Verfassung Europas
zur historischen Typologie der Verfassung steht, Sinn machen. Andernfalls könn-
te die Begrifflichkeit über einen verordneten Symbolcharakter nur schwerlich
hinausreichen.

Ein „Verfassungsvertrag" hat aus theoretischer Perspektive grundsätzlich eine


schwächere Bedeutung als eine Verfassung. Er leitet sich nicht allein von der
Volkssouveränität ab, sondern stellt in der Regel eine Vereinbarung zwischen selb-
ständigen Staaten zur Begründung und Ausgestaltung einer bundesstaatlichen oder
bundesstaatsähnlichen Einheit dar. Wird innerhalb eines Staates ein Verfassungs-
vertrag abgeschlossen, ist meist von einer Abmachung zwischen der Exekutive und
Volk auszugehen. Im 19. Jahrhundert sollte dieser konstitutionelle Kompromiss
die Souveränitätsfrage überflüssig machen, da keine von beiden konstituierenden
Gewalten im Konfliktfall das letzte Wort hatte. 5 ' 2 Der Terminus „Grundvertrag"
ist im Übrigen noch enger gefasst und bezieht sich nur auf die Bündelung der
Artikel der Verträge, die bereits Verfassungscharakter tragen.

Gleichwohl soll als unverzichtbare interpretatorische Grundlage im Rahmen


einer „Textstufenanalyse" 5 1 3 zunächst der eigentliche, vorliegende Text selbst
einer Prüfung unterzogen werden. Das Wort „Verfassung" findet sich bereits in der

509
Europäisches Parlament. Ausschuss für konstitutionelle Fragen: ..Bericht über die
Konstitutionalisierung der Verträge", 12. Oktober 20(X).
510
Dieser Frage widmet sich auch P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Auflage
2006. S. 6 4 7 f.
511
Vgl. unter B . I I . 2 . f ) n n ) ( 2 ) ( d ) .
512
So E.-W. Böckenförde, Staat. Verfassung. Demokratie. Studien zur Verfassungstheo-
rie und zum Verfassungsrecht. 1991. S. 36.
51
' Begriff und Methodik der ..Textstufenanalyse" beruhen auf P. Hüberle. Verfassungs-
lehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998. S. 342 ff. m.w. N.; zum „Textstufenparadigma"
im europäischen Kontext ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 f f .
182 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Präambel, wonach den „Hohen Vertragsparteien" eine „dankende Anerkennung


der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents" dafür zugeschrieben
wird, dass diese Mitglieder „diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und
Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben". 5 1 4 In den drei ersten Teilen
bezeichnet sich der Text ausnahmslos mit dem Wort „Verfassung". Dagegen ist
im 4. Teil (Schlussbestimmungen) nur noch die Rede von einem „Vertrag" („le
traite instituant la Constitution" in der französischen Fassung), dem „Vertrag
über die Verfassung". Dies mag sich unter anderem daraus erklären, dass die
Schlussbestimmungen formelle Fragen behandeln. Eine gewisse vertragsrechtliche
Form des Textes zeigt sich auch dadurch, dass er mit mehreren Protokollen
versehen ist. 515

Nun könnte man dazu neigen, dass es sich vorliegend materiell um eine Verfas-
sung handelt, formell aber um einen Vertrag. Zumindest im Falle des Entwurfs
wird die Form des Vertrags gebraucht, um über die Verfassung zu entscheiden (in
der deutschen Sprachfassung heißt es „Vertrag über die Verfassung"). Durch die
Vertragsform wird die Verfassung letztlich gegründet (worauf die französischen
Fassung hin deutet: „Traite instituant la Constitution").

Offensichtlich wird aber auch ein „Vertragsmoment" in diesem Sinne fort-


dauern. was sich mit Art. IV-6 des Textes bestätigen lässt. In der Bestimmung
wird das im Art. 48 EUV vorgeschriebene und vereinheitlichte Verfahren der Ver-
tragsänderung modifiziert. An dieser Stelle 516 sei lediglich die Notwendigkeit der
Ratifizierung jeder Änderung durch alle Staaten nach ihren eigenen nationalen
Verfassungsbestimmungen benannt, was zur Folge hat. dass der die Verfassung
gründende Vertrag also auch formell ein Vertrag bleibt. Der IV. Teil des Textes
untermauert schließlich diese These.

Im Ergebnis erweist sich die europäische Integration als weiterhin zwischen-


staatlich gegründet. Diese in der „Verfassung" zu lesende Zwischenstaatlichkeit
der Europäischen Union wird durch das in Art. 1-59 niedergelegte Recht auf „frei-
willigen Austritt aus der Union" noch verstärkt. Sezessionsrecht war stets der
neuralgische Punkt, an den die Interpretation föderaler Verfassungsordnungen
angestoßen ist. Mit Blick auf die amerikanische Verfassungsgeschichte sei nur an
Calhorni und seine „States Rights"-Doktrin erinnert, womit er die Stellung der
Südstaaten vor dem Sezessionskrieg begründete. 517

514
Bemerkenswert an diesem Satz ist zudem das seitens des Konvents formulierte
..Selbstlob durch Dritte".
515
Ein Umstand, der die „Lesbarkeit" des Gesamtwerkes - einer der wichtigen Aufträge
des Konvents nach der Erklärung von Laeken - nicht unbedingt fördert.
516
Ausführlich zum Änderungsverfahren unten B.IV.2.b).
517
Vgl. dazu C. Schmitt. Verfassungslehre. 7. Aufl., 1989. S. 374 f. Die vertragsmäßige
G r ü n d u n g des Deutschen Reichs 1 8 6 6 - 1 8 7 1 sollte auch bei d e m bayerischen Staats-
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 183

I n s g e s a m t ist m i t d e r A n e r k e n n u n g e i n e s A u s t r i t t s r e c h t s e i n e g e w i s s e S c h w ä -
chung der integrativen Symbolik verbunden, die m a n d e m Terminus „Verfassung"
beimisst.

Eine weitere A k z e n t u i e r u n g erfährt der derivative Charakter der EU-Zuständig-


k e i t e n i n d e r F o r m u l i e r u n g v o n A r t . 1-9, a u c h i m L i c h t e v o n A r t . 5 E G V . I n L e t z -
t e r e m ist d a s s o g e n a n n t e P r i n z i p d e r E i n z e l e r m ä c h t i g u n g w i e f o l g t a u s f o r m u l i e r t :
„ D i e G e m e i n s c h a f t w i r d i n n e r h a l b d e r G r e n z e n d e r ihr i n d i e s e m V e r t r a g z u g e w i e -
s e n e n B e f u g n i s s e u n d g e s e t z t e n Z i e l e t ä t i g . " A r t . 1-9 A b s . 2 l a u t e t ( m i t t l e r w e i l e 5 1 8 ) :
„Nach d e m G r u n d s a t z der begrenzten E i n z e l e r m ä c h t i g u n g wird die Union inner-
h a l b d e r G r e n z e n d e r Z u s t ä n d i g k e i t e n t ä t i g , d i e i h r die Mitgliedstaaten519 i n d e r
V e r f a s s u n g z u r V e r w i r k l i c h u n g d e r i n ihr n i e d e r g e l e g t e n Z i e l e z u g e w i e s e n h a b e n .
Alle der Union nicht in der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten verbleiben
bei den Mitgliedstaaten." H i e r m i t wird o f f e n k u n d i g , dass die Verfassung keine
originäre Macht, s o n d e r n eine begrenzte Zahl an Zuständigkeiten gestaltet, die
von den Staaten zugewiesen s i n d / 1 1

rechtler M. von Seydel das Sezessionsrecht der Länder gewähren. Umgekehrt w u r d e das
vom sowjetischen Föderalismus immer formell anerkannte Austrittsrecht der a u t o n o m e n
Republiken schon von Lenin so interpretiert, dass seine Ausübung auf j e d e n Fall durch
die unwahrscheinliche Bewilligung d e r Union bedingt und folglich faktisch unmöglich
war (vgl. S.M. Mouskhely, Les contradictions du federalisme sovietique. in : Centre de
recherches sur l'URSS et les Pays de l'Est (Hrsg.), L ' U R S S : Droit, economie, sociologie,
politique, culture. t. 1. Paris 1962, S. 25.). Für eine Auslegung der Sowjetverfassung als
zwischenstaatlich abgeschlossenen Vertrag war schließlich kein Raum.
5,8
Im Konventsentwurf lautete Art. 1-9 Abs. II S. 1 noch: „Nach dem G r u n d s a t z der
begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten
tätig, die ihr von den Mitgliedstaaten in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr
niedergelegten Ziele zugewiesen werden." Die z u k u n f t s o f f e n e Formulierung bezüglich der
Zuständigkeiten, die der Union „zugewiesen werden", änderte sich bemerkenswerterweise
in eine engere Fassung (nunmehr: „zugewiesen haben").
519
Kursivsetzung erfolgte durch den Verf.
Dieses Prinzip wird in Art. l-5a im Kontext des Grundsatzes vom Vorrang des E U -
Rechts wiederholt: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung
der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor d e m Recht
der Mitgliedstaaten". Eine solche klare Begrenzung des dem EU-Recht z u k o m m e n d e n
Vorrangs steht im Übrigen der vom deutschen Bundesverfassungsgericht in seiner Maas-
tricht-Entscheidung behaupteten Prüfungskompetenz nicht entgegen, vgl. BVerfGE 89. 155:
„Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise
handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz
zugrundeliegt. nicht m e h r gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte
im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus
verfassungsrechtlichen G r ü n d e n gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland a n z u w e n d e n .
Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen
Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte
halten o d e r aus ihnen ausbrechen." M a n kann auch eine gewisse Zurückhaltung in den
vorgesehenen Garantien erkennen, die den Rückgriff auf die neu gestaltete Flexibilitäts-
klausel einrahmen (Art. 1-17). Damit soll die viel diskutierte G e f a h r einer durch diese
184 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auch im Hinblick auf die Ausgangslage des Konvents ist einer unreflektierten
Bezeichnung des Textes als „Verfassung" mit Skepsis zu begegnen. Der Konvent
tagte, wie bereits angedeutet, nicht in einer „revolutionären" Situation, die einen
Bruch mit dem bestehenden Recht oder eine Staatsgründung gestattet hätte. Er
sollte auf der Basis eines Mandats der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
sowie geltender internationaler Verträge arbeiten, die es zu ersetzen gilt, was
wiederum die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordert. Mehr als ein „Vertrag
über eine Verfassung für Europa" konnte daraus als Gesamtwerk nicht erwachsen.
Auch war es dem Konventspräsidium laut K. Hänsch durchaus bewusst, dass der
Begriff „Verfassungsvertrag" in der öffentlichen Diskussion zur „Verfassung"
verkürzt werden würde. 521

Ein Text mit lediglich (wenngleich zahlreichen) verfassungscharakteristischen


Bestandteilen ist ebenso nur partiell „Verfassung", wie die bisherigen „Verträge"
entgegen ihrer Benennung und angesichts unbestreitbarer Verfassungselemente
nur zu einem (wenngleich großen) Teil „Verträge" im engeren Sinne sind.

Die Diskussion um die Bezeichnung des Konventstextes spiegelt im Ergebnis


eine mittlerweile „typisch" zu nennende, europäische Debatte wider. Auch hier
mit unterschiedlichen Traditionshintergründen, unterschiedlichen Verfassungsver-
ständnissen und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Ist das Verfassungsprojekt
ein Turm zu Babel, der wegen seiner überrissenen Dimension und der Sprach-

Flexibilität ins System möglicherweise einfliessenden Kompetenz-Kompetenz der Euro-


päischen Union abgewandt werden. Nach wie vor wird die Geltung und die A n w e n d u n g
von Europarecht in Deutschland „von dem Rechtsanwendungsbefehl des (zur Ratifizierung
der .Verfassung* verabschiedeten) Zustimmungsgesetzes" abhängen. Die Bezeichnung des
Vertrags als „Verfassung" kann an dieser vom Bundesverfassungsgericht in seiner Maas-
tricht-Entscheidung ausgesprochenen Behauptung nichts ändern. Interessant ist in diesem
Z u s a m m e n h a n g auch der Blick nach Frankreich. In Art. 55 der nationalen Verfassung
heißt es: „Die o r d n u n g s g e m ä ß ratifizierten oder genehmigten Verträge oder A b k o m m e n
erlangen mit ihrer Veröffentlichung höhere Rechtskraft als die Gesetze, vorausgesetzt, dass
die A b k o m m e n oder Verträge von den Vertragspartnern angewandt werden" (Übersetzung
des Verf.). Nach der französischen Rechtsprechung ist diese B e s t i m m u n g der Geltungs-
grund des primären sowie des sekundären EG Rechts in der nationalen Rechtsordnung.
Die ratifizierte EU-Verfassung könnte auch diesen Weg zur nationalen Rechtsordnung über
den Art. 55 der französischen Verfassung n e h m e n . Damit ist aber auch ein Vorbehalt zum
Vorrangsanspruch des EU-Rechts verbunden: nach der höchstrichterlichcn Rechtsprechung
in Frankreich gilt diese „höhere Rechtskraft" der internationalen Verträge den Verfas-
sungsbestimmungen gegenüber nicht (vgl. Conseil d ' E t a t , 30. Oktober 1998. M Sarron,
iVf. Levacher et autres, Les G r a n d s Arrets de la Jurisprudcnce Administrative, 13. Aufl..
2001, Nr. 113 ; C o u r de Cassation. 2. Juni 2000. Mademoiselle Fraisse, 2000. S. 865. Anm.
Mathieu et Verpeaux). Anders gesagt: über den Weg des Art. 55 der französischen Verfas-
sung wird eine Unions-Verfassung aus d e r französischen nationalen Perspektive nie vor
der nationalen Verfassung Vorrang haben, sondern umgekehrt. Diese Tatsache ließe sich
auch durch das Wort „Verfassung" nicht korrigieren.
521
Vgl. K. Hänsch, Der Konvent - unkonventionell, in: Integration 4 / 2 0 0 3 , S. 331 ff.,
334.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 185

Verwirrung zwar formell fertig gestellt erscheint, aber faktisch nie diesen Status
erreichen wird? Redeten letztlich alle vom Gleichen, meinten jedoch Grundver-
schiedenes? Es wird stets Stimmen geben, denen das Verabschiedete entweder
des Guten zuviel oder zu wenig ist. Unausgesprochen oder lediglich schüchtern
erwähnt blieb bislang der Umstand, dass das Produkt gerade nicht für die Ewigkeit
gemacht und revidierbar ist, sondern prinzipiell gegen, vielleicht für die Zukunft
offensteht.

Die unterschiedlichen Vorstellungen können, vereinfachend und zusammenfas-


send. drei Ausgangsverständnissen 5 " zugeordnet werden. Zum einen das (natio-
nal) staatszentrierte Verfassungsverständnis, das der Europäischen Gemeinschaft
grundsätzlich die Verfassungsfähigkeit abspricht. Daneben ein lediglich formales
Verfassungsverständnis, das mit einem einheitlichen, kohärenten und einprägsa-
men Dokument zufrieden ist. Zum dritten ein funktionelles Verfassungsverständnis
(als insgesamt problemadäquatestes), das sich nicht in der Frage verliert, ob mit
der Organisation der Dinge zugleich eine wie immer geartete Staatlichkeit entstehe
oder diese voraussetze. Es ergänzt vielmehr in einem Mehrebenen-Modell die
nationalen Verfassungen um eine supranationale ..Hausordnung" - unabhängig
von den Ansichten um die Beschaffenheit des „Hauses Europa". Welche Be-
zeichnung man dem Papier schließlich gibt, ist dann von sekundärer Bedeutung.
Das Mischwort „Verfassungsvertrag" dürfte auch unter diesem Blickwinkel die
angemessene Konsenslösung sein.

(2) Inhaltliche Anmerkungen. Präambel und Leitmotto",


Plädoyer für eine ,.Europäische Gesprächskultur"

Obgleich Beethoven mit - von vielen als „Europa-Hymne" apostrophierter -


„Freude schöner Götterfunken" bemüht wurde, zur Entflammung europäischer
Herzen genügt das Dokument nicht. Die „Finalität" der Union - ob Vereinigte
Staaten von Europa 5 2 3 oder etwas anderes „sui generis" - bleibt auf der Grundlage
des Textes unbeantwortet. Immerhin sind Fortschritte gemacht worden, solche,
die das eher lamentable Ergebnis des Gipfeltreffens von Nizza hinter sich lassen.
Mehr war realistischerweise nicht zu erwarten. Die „Vertiefung" der Europäischen
Union entwickelt sich weiter auf ihre traditionelle Weise, langsam, mühsam,
Schritt für Schritt, unsicher über das Ziel, während die „Erweiterung" weiterhin
(und bei aller politischen Ermüdung etwa angesichts des in mancherlei Hinsicht
ernüchternden Beitritts Rumäniens und Bulgariens) große Sprünge macht.

Die Verfassung(svertrag)surkunde 5 2 4 unterscheidet sich freilich erheblich von


früheren Verträgen der Europäischen Union und in vielerlei Hinsicht auch von

5:2
Z u m Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ausführlich unter B . I I . 2 . f ) n n ) .
523
Vgl. T. R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New Superpower and the End of
American Supremacy. 2005.
186 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nahezu allen Verfassungen, die man landläufig als historische Vorbilder heranzie-
hen könnte. Sie entsteht nicht nach einer historischen Katastrophe 525 , nach einem
verheerenden Krieg oder nach einer Revolution, sondern sie rekurriert auf das,
was ist und was die Nationen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen
bewahren und zukünftig leisten wollen. Die Aufgabe der eigenen Staatlichkeit
der Mitgliedsländer ist keine Bedingung zur Erreichung dieser Ziele (und kann
deshalb auch kein - und schon gar nicht das einzige - Kriterium für die Durch-
führung einer Volksabstimmung sein). Darüber hinaus: in seinem evolutionären
Charakter ist der Prozess der europäischen Integration einzigartig. Der nunmehr
vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung setzt hier keinesfalls einen
Endpunkt. Im Gegenteil: es ist abzusehen, dass sich die europäische Verfassung
in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit viel höherer Frequenz verändern
wird 526 als wir dies von anderen Verfassungen gewohnt sind.

Ein weiterer Punkt: auf den ersten Blick ist das Argument einleuchtend, dass die
politische Bereitschaft, sich auf eine Europäische Verfassung einzulassen, um so
größer wäre, je klarer und unzweifelhafter durch einen eindeutigen Kompetenzka-
talog festgelegt wäre, welche Kompetenzen die Europäische Union ausschließlich,
und welche sie in Form einer mit den Mitgliedstaaten geteilten (oder konkurrieren-
den) Kompetenz wahrnehmen soll. 527 Damit sollte einer bisher „schleichenden""
Kompetenzaushöhlung regionaler und nationaler Kompetenzen durch die Europäi-
sche Union vorgebeugt werden. Im deutsch-französischen Dialog über diese Frage
wurden zwischenzeitlich auch Teile des politischen Spektrums in Frankreich von
der Notwendigkeit eines Kompetenzkatalogs überzeugt. 5 2 8

Doch Überzeugung allein führt in dieser Frage bis heute nicht weiter. Ver-
schiedene Versuche, beispielsweise von deutschen Landesregierungen, eindeutige
Kompetenzabgrenzungskataloge zu entwickeln, sind bisher angesichts der imma-
nenten Komplexität wenig fruchtbar gewesen.

Eine optimierte Organisation der „geteilten" Kompetenzen zwischen europäi-


schen und nationalen Behörden bleibt unabhängig von den Regelungen, die im

524
Z u m Verfassungsvertrag ist ein vollständiger K o m m e n t a r erschienen, nämlich
C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag. Hand-
kommentar, 2007.
5:5
Sofern man den Beginn des Verfassungsschöpfungsprozesses nicht bereits in den
50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehen will. Ein insgesamt abwegiger G e d a n k e ,
nachdem der aktuelle Konvent ein originärer Vorgang ist. der zwar auf den Gedanken sowie
einem Ensemble von Teilverfassungen (P. Hiiberle) und Errungenschaften des vergangenen
halben Jahrhunderts aufzubauen weiß, jedoch letztlich die gesamte Verfassungsgeschichte
zur Grundlage nehmen müsste.
526
Möglichkeiten und Wege der Verfassungsänderung werden unter B . I V . 2 . b ) aufge-
zeigt.
527
Siehe bereits W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8 . 6 . 2000.
528
Vgl. J.-P. Picaper. Le RPR et l ' U D F se rapprochent sur l ' E u r o p e . in: Le Figaro vom
15. 12.2000.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 187

Verfassungsvertrag gefunden wurden ein wichtiges Thema. Erforderlich ist im


Wesentlichen eine klare Vereinbarung von Grundsätzen und Instrumenten für
die Wahrnehmung politischer Verantwortung und für die Mitgestaltungsmöglich-
keiten von nationalen (und subnationalen) Einheiten in der Europa-Politik. Die
Gefahr aber lag und liegt stets darin, den Kompetenzkatalog dazu zu nutzen, ver-
loren geglaubte Kompetenzen zurück zu gewinnen bzw. noch vorhandene „gegen
Europa"' zu verteidigen, und dies relativ unabhängig von der eigentlich wichtigen
Frage, wo die politische Verantwortung themenbezogen am geeignetsten ausgeübt
würde. 529

Einige Worte zur Präambel des Verfassungsvertrages: Ist die fehlende Nen-
nung der Bürger in der Präambel nun ein rückschrittliches Element, die Abkehr
von mittlerweile gewohnten Verfassungselementen? Wohl nicht. Eher ist hierin
eine Aufforderung zur konkreten Ausgestaltung und Neubestimmung durch die
europäische Bevölkerung zu sehen. Die Akzentuierung der Repräsentativorgane
(Könige?) ist weniger Endstadium als Einleitung eines erwünschten Devolutiv-
effekts. Ein europäisches „We the People . . . " wird auf absehbare Zeit kaum am
Schluss einer evolutiven Stufenleiter stehen.

Die Präambel ist im Vergleich zu manch anderen Verfassungstexten wenig ein-


drucksvoll ausgefallen. Nicht nur erscheint der Bezug zum religiösen und geistigen
Erbe Europas dürr 530 , wenngleich die Diskussion über die fortwirkende Bedeutung
des religiösen Erbes für die europäische Identität bemerkenswert lebendig und
substantiell gewesen ist. Auch die formulierten „Ziele der europäischen Einigung"
werden eher in trockener Sprache, entsprechend dem Kommunique-Stil von EU-
Gipfeltreffen abgehandelt.

Was der Dank an die „Verfassungsschöpfer" in einer Präambel zu suchen meint,


bleibt das - uneitlen Erwägungen wohl nicht gänzlich ferne - (Er-)Schöpfungsrät-
sel der Konventsmitglieder. 531 Der Präambeltext bewegt sich auffällig fern allen
(auch literarischen) Schwunges sowie des gerne belächelten Pathos und Zielori-
entierung der amerikanischen Verfassung. In der Konsequenz einen Verzicht auf
die Präambel zu erwägen und den Verfassungstext stattdessen unmittelbar mit der
Evokation der Grundrechte in der Europäischen Union beginnen zu lassen, würde
freilich zu weit führen. 532

529
Vgl. auch U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten
Kontinent?, in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
530
Vgl. hierzu unter C.II.
531
Vgl. auch L Kühnhardt. Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung
der Strukturentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003. S . 6 f . : ..Dass den Verfassungs-
schöpfern Dank gebührt, ist wohl wahr. Aber was hat dieser Dank in der Präambel einer
Verfassung zu suchen, die nicht nur politischen Akteuren als Referenzpunkt dienen soll,
sondern die von Schülern und Studenten in ganz Europa studiert wird, um A u s k u n f t über
die Frage zu b e k o m m e n , was die politische Identität Europas bedeutet?"
532
Siehe aber L. Künhardt, ebenda.
188 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Gelungen ist allerdings das Motto, das Konventspräsident Giscard d'Estaing in


letzter Minute für den Text der Präambel einbrachte: „In Vielfalt geeint" (es wird
in Artikel IV-1 VerfV: ..Die Symbole der Union" wiederholt). Diese Floskel besitzt
durchaus Chancen, zum (wenngleich stets zu überprüfenden und höchstens im Hin-
blick auf eine erfolgreiche Implementierung des Verfassungsvertrages geltenden)
Leitmotto der Europäischen Union auf Jahre und Jahrzehnte hinweg zu werden.
Der Verfasser dieser Zeilen erhebt den bislang vereinzelten und schüchternen Ruf,
die Devise „In Vielfalt geeint" eines Tages - in lateinischer Fassung - auch auf
den EURO-Geldscheinen lesen können, zur Forderung. Als das neue Deutsche
Reich am 9 . 7 . 1873 ein Münzgesetz erließ und dort erklärte „An die Stelle der in
Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung . . . " war
einer der wichtigsten Punkte der „inneren Reichsgründung" erreicht. Zumindes-
tens in der Perzeption der Bevölkerung kann die Etablierung einer Währung - wie
auch der Verzicht - den „Verfassungsbestätigungsprozess" begleiten. Allein das
„ D o g m a " der Integration, deren zentrale Stellung innerhalb der Verfassungsde-
batte lassen angesichts der integritätsstiftenden Wirkung einer W ä h r u n g diese
Beobachtung umso evidenter erscheinen. Weshalb sollte man also nicht auch die
Währung als „Transporteur" von Kernbotschaften nutzen? Das Beispiel der USA
(„In God We Trust" - auf allen Geldscheinen) ist diesbezüglich wegweisend.

Es stellt sich freilich die Frage, ob Europa bereits reif ist, sich eine Verfassung zu
geben. In den einzelnen Staaten sind noch durchaus Mangelerscheinungen an der
erforderlichen politischen Substruktur, insbesondere an den Voraussetzungen für
eine echte politische Kommunikation auf europäischer Ebene zu beobachten. 5 "

Um die Kommunikationshemmnisse zu überwinden, gilt es im besonderen


Maße, die „Europäische Gesprächskultur" nachhaltig zu fördern. Die vordergrün-
digen Barrieren der Vielsprachigkeit und gelegentlich diametraler Interessen in
nahezu allen Politikbereichen müssen dabei weniger als unüberwindbare Begren-
zung denn vielmehr als Sprungbrett zu einem ehrlichen interkulturellen Dialog mit
dem Ziel einer auf gemeinsamen Werten basierenden Verfassungsgemeinschaft
empfunden werden.

rr) Elemente einer Ratifikationskrise

Ein vordergründig trivialer Vorgang entwickelte sich nunmehr zur nahezu un-
überwindbar erscheinenden Hürde: der Verfassungsvertrag, der alle derzeitigen
europäischen Verträge durch einen einzigen Rechtsakt ersetzen sollte, konnte erst
in Kraft treten, wenn er von den Unterzeichnerstaaten angenommen beziehungs-
weise ratifiziert wurde. Der Ratifizierungsprozess sollte ursprünglich in allen
Mitgliedsstaaten bis November 2006 abgeschlossen sein.

533
Siehe zu dieser Argumentation auch D. Grimm. Die Verfassung und die Politik.
2001.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 189

Zunächst gab es lediglich differierende Annahmeverfahren und einige Unklar-


heiten zu konstatieren: während in zehn Mitgliedsstaaten die Ratifizierung per
Referendum stattfinden sollte, konnten in weiteren zwölf Ländern grundsätzlich
die nationalen Parlamente die Verfassung ratifizieren. Iii drei Mitgliedsstaaten
stand die Methode der Annahme noch nicht fest. Darüber hinaus traf der Verfas-
sungsvertrag in zahlreichen Ländern weiterhin auf Widerstand und Ablehnung
in Gesellschaft und Politik. Dies kulminierte schließlich in den ablehnenden
Referenda in Frankreich und den Niederlande. 5 3 4

Referenda zu Fragen der europäischen Integration sind freilich kein Novum. 5 3 5


Unterschieden werden muss dabei zwischen verschiedenen Typen: bindende und
nichtbindende Referenda; Referenda, die von Regierungen, und solche, die von
der jeweiligen Opposition eingebracht worden sind; Referenda mit Wirkung auf
das Land, das das Referendum durchführt, und Referenda mit Wirkung auf den
EU-Prozess insgesamt. 5 3 6 Bisher haben über 40 Referenda über Aspekte der
Weiterentwicklung der europäischen Integration stattgefunden. Einige betrafen
die Frage des Beitritts - oder der Fortsetzung der Mitgliedschaft - eines Landes
zum europäischen Einigungsprozess in seiner jeweiligen Form oder zur verstärkten
bilateralen Kooperation mit der Europäischen Union. Ein Referendum entschied
über den Beitritt anderer Länder. Eine Reihe von Referenda wurde über Aspekte
der konstitutionellen Vertiefung der europäischen Integration abgehalten.

Seit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 ist dies ein
Indikator dafür geworden, dass die europäische Integration auf die Identität ihrer
Mitgliedsstaaten zurückwirkt. Die Frage nach der konstitutionellen Legitimität
einer vertieften Integration stellt sich überhaupt nur dort, wo der nächste politische
Schritt tatsächlich eine Vertiefung des Integrationsprozesses bedeutet. 537

534
Vgl. Zu d e r Diskussion in den Niederlande A. Pijpers, Neue Nüchternheit und
kritische Öffentlichkeit - die Niederlande und die europäische Integration, in: integration
30/2(X)7. S. 4 4 9 ff. Vgl. auch S. Goulard. Europäische Paradoxien - ein K o m m e n t a r zur
Lage der EU. in: integration 3 0 / 2 0 0 7 . S. 503 ff.
535
Vgl. hierzu IKI Europa (Hrsg.), IRI Europe C o u n t r y Index on Citizenlawmaking.
A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 Euro-
pean States. 2 0 0 3 sowie 2004: S. Höl Scheidt 11. Putz, Referenden in Europa, in: D Ö V 18
(2003), S. 737 ff. sowie L LeDuc, T h e Politics of Direct Democracy. R e f e r e n d u m s in
Global Perspective. 2003, S. 2 0 f . ; A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum.
Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003: K. Schmitt (Hrsg.),
Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 2003.
536
In einem ..europäischen Verfassungsreferendum" müsste verfahrensmäßig der föde-
rale Aspekt z u m Tragen k o m m e n . Es d ü r f t e nicht nur auf die Z u s t i m m u n g der gesamten
europäischen Bürgerschaft a n k o m m e n , sondern es wäre auch die regionale Verteilung der
Z u s t i m m u n g zu berücksichtigen, um die Majorisierung von Bürgern kleiner .Mitgliedstaa-
ten (deren auch-nationale Identität zu respektieren ist) zu verhindern. Die bloß parallelen
nationalen, auf Europa bezogenen Referenden können diesen Minderheitenschutz nicht leis-
ten. Allerdings: ein gesamteuropäisches Referendum (gar mit dem geschilderten föderalen
Mechanismus) bleibt utopisch.
190 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Über den Ausgang der Referenda über den Verfassungsvertrag ließen sich
anfangs nur schwerlich klare Prognosen anstellen (was für das „französische Re-
ferendum" 2005 nur beschränkt galt), vor allem nicht mit Blick auf Länder mit
einer europaskeptischcn Grundströmung wie Großbritannien oder Dänemark, das
in den frühen neunziger Jahren schon einmal den Aufstand geprobt und zunächst
den Vertrag von Maastricht abgelehnt hatte. In den als integrationsfreundlich
geltenden Ländern wiederum bestand die berechtigte Gefahr, dass der Urnengang
für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert würde (Frankreich. Niederlande!).
Dies geschah bereits in Irland, wo im ersten Anlauf der Vertrag von Nizza ver-
worfen wurde. 5 ' 8 Schließlich sollte der weitere ..Abstimmungskampf" 4 um die EU-
Verfassung weiterhin maßgeblich von der „Türkei-Frage" beeinfiusst werden.

Die Debatte über die Ratifikationsprozedur war und ist in sich selbst ein Teil
des Diskurses zur europäischen Verfassung. Sie rückt Prognosen in das Licht
der Öffentlichkeit, die mit gewisser stereotypischer Kontinuität über die Haltung
einzelner Völker zum europäischen Einigungswerk gemacht werden. Der Prozess
der Ratifizierung einer europäischen Verfassung ist ebenso Teil der Formierung
einer europäischen Öffentlichkeit, wie die Erarbeitung des nun zur Abstimmung
stehenden Textes selbst es gewesen ist. 539

Die Architekten des EU-Verfassungsvertrags haben mögliche Pannen beim


Ratifizierungsprozess nicht wirklich bedacht. Was in einem solchen Fall konkret

537
Vgl. L. Kühnhardt, Auf d e m Weg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus,
in: N Z Z , 16. Juli 2004: ..Wo dies der Fall ist, geht es um die Übertragung nationalstaatlicher
Souveränität auf die EU. Es ist nicht verwunderlich, dass in einer solchen Situation in
einigen Ländern der EU die R e f e r e n d u m s f r a g e virulent wurde - und bei der europäischen
Verfassung wieder virulent geworden ist. Andere Staaten votierten schon in früheren
Fällen - und auch jetzt w ieder - für die primäre Verantwortung ihrer frei gewählten und
dadurch entsprechend zur A b s t i m m u n g mandatierten Parlamente."
538
Die zweifachen Abstimmungen in Dänemark (1992 und 1993) und Irland (2001
und 2003) über den konstitutionellen Fortgang des Integrationsprozesses ragten bis zu den
„schwarzen T a g e n " in Frankreich und den Niederlande tatsächlich aus d e m Kontext der
Erfahrungen mit Referenden zu Fragen der europäischen Integration heraus: In beiden Fäl-
len hatte das Votum eines Mitgliedslandes Auswirkungen für alle anderen Mitgliedsländer
und ihren Integrationswillen. Dies war letztlich d e r - sowohl integrationstheoretisch wie
auch demokratietheoretisch nachvollziehbare - G r u n d , warum in beiden Fällen ein zweites
Referendum angesetzt wurde. Im Falle Dänemark geschah dies nach Konzessionen an die
dänischen Kritiker des Maastricht-Vertrages („opting out"-Klauseln). Im irischen Fall - bei
dem doppelten Votum d e r Iren zum Vertrag von Nizza - wurde das zweite Votum nach
einer Periode des Wartens angesetzt, verbunden mit deutlichen Worten von außen, dass ein
Land nicht die ganze Europäische Union zur Geisel nehmen dürfe. Im dänischen Fall wurde
die integrationspolitische Logik des erzielten K o m p r o m i s s e s kritisiert, im irischen Fall
die demokratietheoretische Logik des zweiten Referendums. In beiden Fällen obsiegte ein
gewisser Sinn für Pragmatismus, der in der Europäischen Union offenbar vor j e d e r Form
von Purismus immer dann obwaltet, wenn das Einigungswerk insgesamt in eine Sackgasse
zu geraten droht.
539
Vgl. L. Kühnhardt (2004).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 191

geschehen sollte, stand gänzlich offen. Entschieden (und mittlerweile revidiert)


war lediglich, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei „Schwierigkeiten"
in einem oder mehreren Mitgliedstaaten und unter der Voraussetzung, dass zwei
Jahre nach Unterzeichnung, also im Oktober 2006, mindestens 80 Prozent der
L ä n d e r d e n Verfassungsvertrag ratifiziert haben, der „Frage" annehmen würden.
Fazit: Der Europäischen Union stand eine Zitterpartie bezüglich ihrer Verfassung
bevor, bestenfalls keine Periode integrationspolitischer Wirrnis und Konfusion
(was angesichts des Beginns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (sowie mit
Kroatien) am 3. Oktober 2005, der Debatte um Rumänien und Bulgarien sowie
der Perspektive des restlichen westlichen Balkans („Thessaloniki goals") eher
illusionär sein sollte).

Nach dem Scheitern der Referenda in Frankreich und den Niederlanden sprachen
sich viele Politiker. Kommentatoren und Wissenschaftler für eine „Rettung" des
Vertrages aus, dessen baldiges Inkrafttreten realistischerweise unwahrscheinlich
war. Sowohl die französische wie die niederländische Regierung häten bei einer
zeitnahen neuen Abstimmung „politischen Selbstmord" begangen. Der Vorwurf
des Ignorierens des Wählerwillens wäre allenfalls dann überwindbar, wenn das
unbedingte Festhalten am Verfassungsvertrag innerhalb der Europäischen Union
eine breite Unterstützung fände. Diese ist bis heute weder auf EU-Ebene noch in
den Mitgliedstaaten auszumachen. Zudem war insbesondere in Großbritannien
und Irland ein klares „Ja" nicht zu erwarten. Folglich dachten Viele über mögliche
Alternativen nach.

Es wurde eine ganze Reihe von „Plan B-Optionen" diskutiert 540 : eine umfassende
Neuverhandlung, der „cherry-picking-Ansatz" (sog. Nizza-Plus), ein Zusatzvertrag
zum geltenden Vertrag von Nizza in der Form eines Verfassungsvertrages Ii gilt oder
eines Änderungsvertrages, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten mit den beiden
Optionen eines freiwilligen Austritts der Nichtratifizierer oder der Gründung einer
neuen Union, die Beibehaltung des primärrechtlichen Status quo sowie die erneute
Reform der europäischen Verträge in einigen Jahren im Sinne einer „Verfassung
II". Einige der Alternativvorschläge stellten keine reelle Option dar. Aber auch die
übrigen konnten nur ,jecond-best-Lösungen" anbieten, da sie stets mit gewissen
Einschränkungen oder Hindernissen verbunden sind. Welcher der diskutierten

540
Vgl. umfassend und m.w. N. B. Thalniaier. Nach den gescheiterten Referenden: Die
Z u k u n f t des Verfassungsvertrages, C.A.P.-Analyse, 2005: siehe auch C. Closa, Ratifying
the EU-Constitution: R e f e r e n d u m s and their Implications, 2 0 0 4 . Vgl. auch D. Gölerl
H. Marhold, Die Z u k u n f t der Verfassung - Überlegungen zum Beginn der Reflexionsphase,
in: integration 2 8 / 2 0 0 5 . S. 332 ff.: D. GölerlM. Jopp. Die europäische Verfassungskrise und
die Strategie des „langen A t e m s " , in: integration 2 9 / 2 0 0 6 . S. 91 ff.: B. Laffanll. Sudbury,
Zur Ratifizierungskrise des Verfassungsvertrages - drei politikwissenschaftliche Lesarten
und ihre Kritik, in: integration 2 9 / 2 0 0 6 . S. 271 ff.: D. Thym, Weiche Konstitutionalisie-
rung - Optionen der Umsetzung einzelner Reformschritte des Verfassungsvertrages o h n e
Vertragsänderung, in: integration 2 8 / 2 0 0 5 , S. 307 ff.
192 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Plan B-Optionen auch immer im Rahmen des Vertrages von Lissabon zum Tragen
käme, die Ratifikation sollte nur gestoppt werden, wenn eine klare Alternative
vorhanden ist. die ambitioniert genug ist, die EU-27 demokratischer und effizienter
zu gestalten. Der Ausgang der Referenden belegt ein „So geht es nicht weiter!".
Ein schlichtes Einstellen der Bemühungen um Reformen und ein Weitermachen
wie bisher kommen nicht in Betracht. Den Verfassungsvertrag bzw. nunmehr den
Vertrag von Lissabon zu ..begraben", ist daher keine tragfähige Option.

Die Staats- und Regierungschefs hatten schließlich auf dem EU-Gipfel am


16./17. Juni 2005 in Brüssel beschlossen, bis zum Ende der österreichischen
Ratspräsidentschaft im Juni 2006 eine ..Phase der Reflexion" im Prozess der
Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa einzulegen. 541 Die
Fortsetzung des Ratifikationsprozesses wurde dadurch nicht Frage gestellt, zeit-
lich ist er aber zunächst bis Mitte 2007 verlängert worden. Infolgedessen hatten
Großbritannien. Portugal, Polen, die Tschechische Republik, Dänemark, Irland.
Schweden und Finnland ihre nationalen Ratifikationsverfahren auf unbestimmte
Zeit ausgesetzt.

Schließlich ein grundsätzlicher Gedanke: Ein einmaliger, punktueller Akt kann


eine Verfassung ohnehin nicht legitimieren. Denn dieser bezieht sich immer nur
auf den Status quo. Wenn sich Verfassungsinhalte nicht bewähren oder wenn
sich die Umstände ändern, dann bringt die vergangene einmalige Zustimmung
letztlich nichts. Für die nachfolgenden Generationen, die unter dieser Verfassung
leben müssen, hat dieser Akt - wenn es auf die Zustimmung der Bürger an-
kommen soll - ohnehin keine Legitimationswirkung. Ein Umstand, der bereits
Ende des 18. Jahrhunderts von Republikanern und Jakobinern erkannt worden
ist. Demzufolge wird eine Verfassung weniger durch die Art und Weise ihrer
„Erzeugung" legitimiert als über ihre - nur ex post feststellbaren - Leistungen
und kontinuierliche Akzeptanz. 542

3. Drei Folgerungen

In der Absicht, abschließend die Geschichte Europas als Ganzes in den Blick zu
nehmen, ergeben sich aus dieser (limitierten) tour d'horizon einige Folgerungen,
die gleichzeitig einer weitergehenden interdisziplinären Bearbeitung bedürften.

Zum einen: Die Geschichte Europas ist in weiten Teilen ihre eigene Rezeptions-
geschichte. Die longue dürfe ist ein Zivilisationsprozess, der in hohem Maße aus

Diese Reflexionsphase wurde auf dem Gipfel Ende Juni 2006 n u n m e h r erneut
verlängert.
Die unbestrittene Legitimität des deutschen G G . das bekanntlich an diversen „Ge-
burtsmakeln" litt, illustriert diese These, vgl. zu alledem auch A Peters, Stellungnahme, in:
G. Kreis (Hrsg.). Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Inter-
disziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts
der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 24 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 193

Traditionswahrnehmungen gespeist wird. Für Europa gilt, was B. Anderson über


die Nationen gesagt hat: Es ist eine „imagined Community", besteht also, wenn es
besteht, vor allem in den Köpfen der Menschen. 5 4 3

Möglicherweise, das wäre das zweite Ergebnis, ließe sich das analytische Instru-
mentarium für eine Verfassungsgeschichte Europas verfeinern. Das oft genutzte
Begriffspaar Rationalisierung und Modernisierung als Leitfaden einer europäi-
schen Geschichte ist für sich alleine eine zu grobe und übrigens auch zu vieldeutige
Kategorisierung, um zur Beschreibung einer Langen Dauer der abendländischen
Zivilisation zu taugen. Hilfreicher als ein lineares Fortschrittsmodell wäre ei-
nes, das an j e d e m Zeitpunkt der Entwicklung auch die dazugehörige Reflexion
über diese Entwicklung einbezöge: welche historischen Weltbilder liefern den
W a h r n e h m u n g s - und Urteilsrahmen, innerhalb dessen sich die Entwicklungs-
schritte vollziehen? Welche kollektiven Erinnerungen, welche Vorbilder, welche
Mythen, welche Metaphern, welche rückwärtsgewandten Utopien bilden die „Fo-
lie", auf deren Hintergrund der Prozess der Zivilisation abläuft? Erst wenn der
Z u s a m m e n h a n g zwischen L o g o s und Mythos, zwischen Z u k u n f t s e n t w u r f und
Vergangenheitsbild hergestellt sein wird, kann m a n die lange Renaissance Euro-
pas, die Verwestlichung des Abendlandes angemessen beschreiben und damit der
Verfassungsgeschichte einen tatsächlich würdigen Rahmen ermöglichen.

Im übrigen wird - drittens und letztens - ersichtlich, dass es nicht ausreicht,


einzelne Epochen der europäischen Geschichte jeweils f ü r sich zu betrachten
und zu analysieren. In jeden Zeitpunkt ist die ganze europäische Vorgeschichte
mit eingeschlossen und m u s s jeweils mitgedacht werden, und z w a r zugleich auf
zwei Ebenen: Als Realgeschichte wie als mythisch vermittelte Vergangenheits-
wahrnehmung, als welche sich Geschichte in dauernder Verwandlung ständig
wiederholt. 5 4 4 Der tiefste Grund für den Aufstieg wie auch für die G e f ä h r d u n g
Europas liegt vielleicht in dieser immerwährenden Suche nach der verlorenen, der
geahnten und erhofften ciureci aetas.

543
B. Anderson, Imagined C o m m u n i t i e s . Reflections on the Origin and Spread of
Nationalism, 1983.
544
Namentlich Letzteres spricht übrigens gegen das Verfahren n a m h a f t e r Historiker, die
Antike aus der europäischen Geschichte auszugrenzen und Europa irgendwann zwischen
Spätantike und Hochmittelalter entstehen zu lassen, vgl. n u r / / . Pirenne, Geschichte Euro-
pas. Von der V ö l k e r w a n d e r u n g bis zur Reformation. 1956: D. Gerhard. Das Abendland
8 0 0 - 1 8 0 0 . U r s p r u n g und Gegenbild unserer Zeit. 1981; F. Heer. Europäische Geistesge-
schichte. 1953; A. Mirgeler, Revision der europäischen Geschichte. 1971. Tatsächlich reicht
die Antike als historisch wirkende Kraft bis in unserer Gegenwart, ist also auch Neueste
Geschichte, und zwar in erster Linie in Gestalt ihrer Verwandlungen, die sie im Laufe der
Zeit in den Köpfen und Herzen der Menschen durchgemacht hat.
194 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

III. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung


und des Verfassungsverständnisses auf europäische
Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge

Amerikanische Verfassungsprinzipien und -elemente waren in den vergangenen,


annähernd zweieinhalb Jahrhunderten einer weitreichenden Rezeption in Europa
unterworfen. 5 4 5

Durch Rousseau waren im vorrevolutionären Frankreich demokratische Ide-


en lebendig geworden. Die Physiokraten erhoben die Forderung nach Freiheit
wirtschaftlicher Betätigung und Niederhaltung staatlicher Einmischung. 5 4 6 Zeit-
gleich war in Amerika die Verbriefung solcher Freiheiten in Grundrechtskatalogen
nur eine Kodifizierung von bereits weitgehend geltenden Grundsätzen in der da-
maligen Verfassungswirklichkeit. Das revolutionäre Frankreich stand angesichts
der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor einer gänzlich unterschiedli-
chen politischen wie verfassungsrechtlichen Situation. 547 Lafayette wurde jedoch
maßgeblich durch die Bill of Rights of Virginia angeregt, in der französischen
Constituante den Antrag für eine Erklärung der Menschenrechte zu erlassen. Und
wieder führt die Spur zu Jefferson, der angesichts seiner Mitwirkung an dem
eingebrachten Entwurf 5 4 8 tatsächlich zum Grenzgänger zweier Verfassungswelten
wurde und wohl als der eigentliche ..Pionier transatlantischer Verfassungsrezepti-
on*' bezeichnet werden muss.

In Frankreich betonte man im kosmopolitischen Geist der Aufklärung die Ge-


meinsamkeiten zwischen den beiden „Revolutionen". Die amerikanischen Verfas-
sungen erschienen in französischen Übersetzungen und Lafayette verehrte seinem
Freund Washington in einer symbolischen Geste den Schlüssel der Bastille. 549

545
Dazu etwa H. Steinberger,; 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung. 1987, S. I ff.,
23 f.; B.Pieroth, A m e r i k a n i s c h e r Verfassungsexport nach Deutschland, in: N J W 1989.
S. 1333 ff.
546
Vgl. D. Klippel. Der Einfluss der Physiokraten. in: Der Staat 1984. S. 205 ff.
547
Dazu umfassend W.Rees, Die Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte von
1789. 1912 (Neudr. 1968): S.-J. Samwer, Die französische Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte von 1789/91. 1970.
548
Diese Konstellation beschreibt O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrech-
te. in: R . S c h n u r (Hrsg.), Z u r Geschichte der Erklärung Menschenrechte und G r u n d f r e i -
heiten. 1964 (2. Aufl. 1974), S. 166 ff., S. 193 ff. Die amerikanischen Revolutionsideale in
ihrem Verhältnis zu den europäischen beschreibt ebenfalls O. Vossler in seiner gleichnami-
gen M o n o g r a p h i e (1929).
Zu den wechselseitigen Wirkungen der Französischen Revolution und d e r Ameri-
kanischen Revolution auf das Frankreich und A m e r i k a des ausgehenden 18. und frühen
19. Jahrhunderts vgl. J. Heuleking. Geschichte der USA. 2. Aufl. 1999. S. 79 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 195

Insbesondere das US-amerikanische Prinzip der Verfassungskontrolle ist im Eu-


ropa des 19. Jahrhunderts stellenweise rezipiert worden. Portugal, Griechenland
und Norwegen übernahmen sogar die Grundzüge des amerikanischen Vorbilds. 550
Das Präsidialsystem hat - in Konkurrenz zum System mit Premierminister - welt-
weite Verbreitung gefunden. Ebenso die Verfassungsgerichtsbarkeit.
,,[T|he Federalist Constitution has proved to be a brilliant success. which unitary nation
states and parliamentary democracies all over the world would do well to copy. I give it
most of the credit for the fact that ours is the wealthiest, most technologically advanced.
and most socially just society in human history. not to mention the fact that we have with
ease become a military superpower. 1... | T h e rest of the world is quite rightly impressed
with us. and it is thus no accident that the United States of A m e r i c a has b e c o m e the
biggest Single exporter of public law in the history of humankind. Almost wherever
one looks. written constitutions. federalism. Separation of powers, bills of rights, and
judicial review are on the ascendancy all over the world right now - and for a good
reason. T h e y work better than any of the alternatives that have been tried."" 1

Die triumphalen und schwerlich bescheiden zu nennenden Zeilen Calabresis


sind beredtes Zeugnis für ein amerikanisches Selbstverständnis, dass neben al-
ler gelegentlichen Hybris doch in einem tatsächlich fruchtbaren „Verfassungs-
Nährboden" wurzelt. 552

Freilich: Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die amerikanische Bun-


desverfassung von 1787 zählen zu den wichtigsten Innovationen für den westlichen
Staatsbildungsprozess überhaupt. Uralte Gegenseitigkeitsprinzipien fanden auf
der Grundlage allgemeiner Volkssouveränität eine Transformation in modernes
Selbstbestimmungsrecht. Eine Nation gründete sich mittels einer Verfassungs-
urkunde erstmalig selbst, einer Verfassung, die wie oben kursorisch ausgeführt
auch inhaltlich innovativ war - eigentlich weniger durch die Verankerung der
Gewaltenteilung als in der Errichtung eines Bundesstaates mit klar aufgeteilter
Souveränität. 553

Die - regelmäßig in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixier-


te - Verfassung ist konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwe-
sens. Der moderne Konstitutionalismus wiederum erwächst den großen Revolu-
tionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In vielerlei Gestalt hat die „Konstitutio-

5511
Vgl. M. Fromont. La justice «institutionelle dans la m o n d e . 1996. S. 15: R. Grote,
Rechtskreise im öffentlichen Recht, in: AöR 126 (2001), S. lOff, 49.
551
S.G. Calabresi, An Agenda for Constitutional Reform, in: W.N. E s k r i d g e / S . Levin-
son (Hrsg.), Constitutional Stupidities. Constitutional Tragedies, 1998. S . 2 2 .
552
Etwas nüchterner in der Betrachtung B. Acker man. T h e New Separation of Powers,
in: 113 Harvard L. Rev. (2000), S. 6 3 3 ff.
553
Tatsächlich gelang es mit der North West Ordinance 1787, das weitere Wachstum
der Nation verbindlich vorzuprogrammieren, eine gänzlich neuartige, rationale Planung
des politischen Prozesses.
196 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nalisierung der Herrschaft" (D. Grimm)**4 seither die historisch-politische Welt


geprägt und darüber hinaus im Zuge der Globalisierung der Politik die nicht-
westlichen Gesellschaften erfasst. Dort, wo seiner Grundidee nach der moderne
Begriff der Verfassung als „Ordnung des Politischen" 5 5 5 konzipiert wird, wird
gleichzeitig ein zentraler Sinngehalt der politischen Kultur ausgedrückt.

In diesem Kontext entspringt der modernen Verfassung eine Mehrfachfunktion:


zum einen deutet sie ihrer symbolischen Funktion entsprechend die Ordnungsge-
halte der politischen Kultur der Gesellschaft und normiert dieselben. Gemäß ihrer
instrumentellen Funktion liefert sie zudem das (Spiel-)Regelwerk für die politi-
schen Prozesse des politischen Systems. Als „quasi-kanonischer Text" steht sie
einmal für eine Hermeneutik der gesellschaftlichen Existenz mit einem Verbind-
lichkeit fordernden Geltungsanspruch. Z u m anderen ist sie Anker- und Kristalli-
sationspunkt für einen permanenten hermeneutischen Prozess der Interpretation
der durch sie verbürgten Prinzipien im Medium der politischen Deutungskultur
der Gesellschaft. Wo ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit
zukommt, hat sich eine in sich stets kontroverse Tradition der Verfassungsherme-
neutik herausgebildet, die unter modernen kulturhermeneutischen Vorzeichen zu
analysieren ist bzw. wäre. 556

554
Vgl. D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung, 1991.
555
Dazu weitergehend in U.K. Preuß (Hrsg.), Z u m Begriff der Verfassung, 1994.
556
Es entspricht der hier vorgeschlagenen Problemstellung, dass sowohl an die Resulta-
te der historisch und vergleichend ausgerichteten Forschungen zum Konstitutionalismus als
auch an die jeweilige nationale Verfassungsgeschichtsschreibung anzuknüpfen ist. Hierbei
liegt das Gewicht in der Regel auf der Behandlung des westlichen Konstitutionalismus.
Bezeichnend ist, dass der von K. Löwenstein in seiner Verfassungslehre (1959) konzipierte
historisch-vergleichende Ansatz erst in den vergangenen Jahrzehnten wiederaufgenommen
wurde. Ein G r u n d h i e r f ü r m a g darin zu sehen sein, dass der Strukturfunktionalismus
als dominante Richtung der „comparative politics" die Verfassungsfragen marginalisierte.
Die Arbeiten von J. Elster!R. Slagstat (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy. 1988.
D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung. 1991. U. K. Preuß (Hrsg.), Z u m Begriff der Verfas-
sung, 1994. J. Gebhardt! R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation.
1994. A. Kimmel (Hrsg.), Verfassungen als F u n d a m e n t und Instrument der Politik. 1995
und H. Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte. 1999. haben in unterschiedlicher
Perspektive die Bedeutung des Konstitutionellen für die m o d e r n e Staatlichkeit erneut the-
matisiert. Die Problemstellung der Hybridisierung und Indigenisierung konstitutioneller
Formen wurde erst in der neueren Forschung als ein eigenständiger Untersuchungsge-
genstand begriffen (K Meny (Hrsg.), Le Politiques du m i m e t i s m e institutionel, 1993;
W. Reinhard (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt, 1998). Hier ist insbesondere auf die regio-
nalspezifische verfassungsgeschichtliche Forschung zu islamischen (aus der Lit. M. Bayat.
T h e Constitutionalization of Power in Shia Iran, in: J. Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und
politische Kultur. 1999; dies., Iran's First Revolution, S h i ' i s m . and the Constitutional
Revolution. 1991: H.G.Ebert, Die Interdependenz von Staat. Verfassung und Islam im
Nahen und Mittleren Osten in der Gegenwart. 1991; A Schirazi, T h e Constitution of Iran.
1997) und ostasiatischen (K.J. Antoni, Der himmlische Herrscher und sein Staat. 1991;
W.Seifert. Verfassung und Politische Kultur am Bespiel der Meiji-Verfassung von 1889.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 197

Der in der amerikanischen Revolution formulierte Katalog konstitutioneller


Ordnungsprinzipien wurde schon im Verlauf des „westlichen" Konstitutionalisie-
rungsprozesses jeweils unterschiedlichen historisch-politischen Formensprachen
unterworfen, woraus durch Verschmelzung von Eigenem und Fremdem eine Viel-
falt der Verfassungskulturen resultierte. Letztlich ein dynamischer Prozess der
Übernahme, Umformung. Anpassung und Umdeutung konstitutioneller Paradig-
mata.' 5 Diese verschmolzenen, hybriden Formen des institutionellen Mimetismus
erwiesen sich durchaus als exemplarisch für Staaten Lateinamerikas, Afrikas und
Osteuropas. 558 Im Iran, in Japan und der Türkei bedienten sich unterschiedliche
Reformbewegungen aus dem Fundus des westlichen Konstitutionalismus, um
indigene politische Ausprägungen der gesellschaftlichen Existenz zu entwickeln.

Die Rezeption des Konstitutionalismus in den „nicht-westlichen" Zivilisationen


resultierte im Wesentlichen jedoch nicht in einer Modernisierung durch Verwest-
lichung, sondern in einer Entfaltung pluraler Formen der Modernität, in denen
die jeweiligen eigenen historischen Traditionen oftmals in der Begegnung mit
westlichen konstitutionellen Formen eine indigenisierte konstitutionelle Politik
generierten, die in den Strukturen analog, aber nicht identisch zu bzw. mit dem
westlichen Modell sind.

1. Die Vereinigten Staaten von Amerika - ein


Faktor des europäischen Einigungsprozesses

Es wäre trotz aller (regelmäßig wiederkehrender) Friktionsfelder falsch, die


historisch fördernde Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess wegzudis-
kutieren und die strategische wie gesellschaftliche Bedeutung eines gut funktio-
nierenden, transatlantisch partnerschaftlichen Verhältnisses zu unterschätzen. 559

in: J. Gebhardt (Hrsg.). Verfassung und politische Kultur. 1999. S. 139 ff.: M. Schmiegelow,
Democracy in Asia. 1997) Gesellschaften zu verweisen.
557
Von Y. Xteny (Hrsg.), Le Politiques du mimetisme institutionel - La greffe et le rejet.
1993 im Vorwort als „ m i m e t i s m e constitutionel" bezeichnet.
558
Während Hybridisierung für jeden Fall der Verfassungsübernahme charakteristisch
ist. gilt für den Fall eines gelungenen Konstitutionalisierungsprozesses. dass die mimeti-
sche Anverwandlung der institutionellen Form an die geschichtlich-kulturellen Vorgänge,
d. h. die Indigenisierung des Konstitutionalismus in einer politischen Kultur gebunden ist.
559
Z u s t i m m u n g verdient G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus
dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002.
abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die
europäische Verfassung im globalen Kontext, 2004, S . 4 1 ff., 4 1 , der hinsichtlich des
derzeitigen transatlantischen Verhältnisses feststellt: „Indessen gleicht das Verhältnis der
USA und der EU einer langjährigen partnerschaftlichen Beziehung, die beide Partner als so
selbstverständlich ansehen, dass sie sich über den Grad der Belastbarkeit beim Austragen
von Streitigkeiten keine Sorgen zu machen glauben. Das .taking for granted* aber ist ein
schleichendes Gift, das die soliden Grundlagen in Vergessenheit geraten lassen und den
Blick für die g e m e i n s a m e Bewältigung zukünftiger Aufgaben trüben k a n n . "
198 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Ein nüchterner Blick bleibt angebracht: Die Einigung Europas ist in erster Linie
eine Verantwortung und gestalterische „Hausaufgabe" der Europäer selbst. Gleich-
wohl ist die Haltung der Vereinigten Staaten - unterstützend, kritisch wohlwollend
begleitend oder skeptisch abwartend - stets auch ein Faktor der Beschleunigung
oder der Verzögerung gewesen. Die Reden W. Churchills in Fulton/Missouri
(1946)5*° und G \jars/,alls in Harvard (I947) 5 6 1 konnten inspirierende Wirkkraft
entfalten.

Persönliche Bindungen mit „transatlantisch prägender Dimension" fristen in


der rechts- und politikwissenschaftlichen Betrachtung ein eher kümmerliches Da-
sein. Umso erstaunlicher, da etwa jeder grenzüberschreitende, „rechtskulturelle"
Ansatz auf personalisierte Bindeglieder, zumal „Transporteure" angewiesen sein
müsste. Beispielhaft darf angeführt werden, dass drei amerikanische Nachkriegs-
präsidenten. Truman. Eisenhower und Kennedy, mit J. Monnet in persönlicher
Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbunden waren. G. Ball war J. Monnets
engster amerikanischer Berater.

J.F. Kennedys Konzept der Partnerschaft von Gleichen, sein Einfluss auf Mac
Millans Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft 1961 und die frühe Be-
schäftigung amerikanischer Universitäten mit der Theorie und Praxis europäi-
scher Integration sind weitere Beispiele konstruktiven amerikanischen Interesses.
W. Hallstein hat diese Interaktion zwischen amerikanischem Interesse und not-
wendiger Erklärung komplexer europäischer Vorgänge prägend mitgestaltet. In
Teilen ungebrochen aktuell lesen sich Hallsteins Clayton-Vorlesungen mit dem
Titel ..Die Einheit Europas - Herausforderung und Hoffnung" im April 1962
in Boston 5 ' 0 oder die (selbst verfassten) Berichte über seine regelmäßigen Ge-
spräche mit Präsident Kennedy sowie seine Reden in Washington und New York
aus den Jahren 1961 - 6 3 5 6 3 . Ernst Haas hat schon Anfang der 50er Jahre an der
Universität Berkeley eine Vorlesung über die Rechtsnatur der EGKS eingerichtet.
Heute beherbergen mehr als 15 amerikanische Universitäten ein „European Union
Center", zahlreiche Institute und Forschungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt
„Europäische Union" wurden und werden etabliert.

560
A b r u f b a r unter www.nato.int/docu/speech/1946/s460305a_e.htm.
561
A b r u f b a r unter www.georgecmarshall.org/lt/speeches/marshall_plan.cfm.
562
W. Hallstein. United Europe: Challenge and Opportunity. T h e William L . C l a y t o n
Lectures on International E c o n o m i c affairs and Foreign Policy. 1962.
563
Die Reden sind a b r u f b a r unter www.ena.lu/europe/19571968-successes-crises
/indexEN.html.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 199

2. Die konkrete Rolle der USA ini europäischen Einigungspro zess 5W

Es wird im Folgenden darum gehen, die grundlegende Unterstützung der USA


für den Prozess der supranationalen Integration Europas in den verschiedenen
Phasen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch genauer nachzuzeichnen.
Dabei wird zu zeigen sein, dass es sich um eine Unterstützung handelte, die in
Abhängigkeit von den jeweils dominanten Motiven und Interessenlagen sowie
den spezifischen Kontexten und Problemen unterschiedlich intensiv ausfallen und
verschiedenartige Ausprägungen annehmen konnte.

a) Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten Weltkrieg?

Bereits unmittelbar nach Kriegsende setzte das amerikanische Engagement


für den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten (West-) Europa ein. Dabei stan-
den zunächst die „Notwendigkeiten der Nachkriegszeit" im Vordergrund. Seinen
sichtbarsten Ausdruck fand das europapolitische Engagement der USA in der
Verabschiedung des so genannten „Marshallplans" durch den US-Kongress im
Jahre 1948. Bekanntlich hat dieses nach dem amerikanischen Außenminister
G. Marshall benannte Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) mit seinen
materiellen und finanziellen Hilfen und Dienstleistungen erheblich zum Wie-
deraufbau der europäischen Länder nach 1945 beigetragen. Auch wenn dem
Marshallplan die primäre Zielsetzung zugrunde gelegen hat. die materiellen Nöte
der vom Krieg geschundenen Bevölkerung zu lindern und langfristig den ökono-
mischen Wiederaufstieg der westeuropäischen Staaten zu fundieren, war bereits
dieses frühe europapolitische Engagement der USA auch mit der Absicht ver-
knüpft, die politische, wirtschaftliche und militärische Integration Westeuropas
zu befördern. Die 1953 vom amerikanischen Außenminister J. F. Duttes v o r d e m
National Security Council vorgetragene These, „There was no hope for Europe
without integration" 565 , lag bis in die sechziger Jahre als eine Art Leitmotiv der
Europapolitik aller amerikanischen Nachkriegs-Administrationen zugrunde. Die
Hintergründe und Motive dieser gegenüber der Vorkriegszeit grundlegend ver-
änderten handlungsleitenden Grundmaxime der amerikanischen Europapolitik
waren vielfältig. Ohne Frage hat die destruktive und destabilisierende Wirkung
der von permanenten, gefährlichen Krisen erschütterten zwischenstaatlichen Be-
ziehungen der europäischen Nationalstaaten in der Vorkriegszeit, die schließlich

564
Die nachfolgenden Thesen stützen sich auf einen Vortrag des Verf. am 17. 11.2005
in Washington, zu dem eine vom Verf. in Auftrag gegebene Ausarbeitung der Wissen-
schaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 25. 10.2005) wesentliche Impulse
zu setzen wusste.
565
Zitiert nach B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und Europa. Die Rolle der USA bei der
europäischen Einigung, in: R . C . Meier-'Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke.
Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.
200 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mündeten, bei den außenpolitischen


Eliten in Washington eine gründliche Revision der tradierten Denkmuster und
Handlungsstrategien hervorgerufen. Nur eine Abkehr von der herkömmlichen
Nationalstaatspolitik und eine weit reichende supranationale Integration der eu-
ropäischen Staaten bei einem mehr oder weniger großen Verzicht auf nationale
Souveränitätsrechte konnte nach einer in den maßgeblichen amerikanischen Füh-
rungskreisen weithin verbreiteten Überzeugung eine stabile friedliche sowie eine
politisch wie ökonomisch gedeihliche Entwicklung garantieren. Dagegen sah man
bei einer Restauration des traditionellen europäischen Nationalstaatensystems das
Wiederaufleben schwerer internationaler Krisen und kriegerischer Auseinander-
setzungen als geradezu unvermeidlich an.

Die amerikanische Führung unterstützte daher alle Ansätze, die darauf abziel-
ten, die westeuropäischen Staaten zu einem der USA ebenbürtigen Verbund von
Staaten zusammenzuschließen, selbst auf die Gefahr hin, dass den Vereinigten
Staaten hieraus eines Tages ein potentieller Konkurrent erwachsen könne, der
international seine eigenen Ziele und Interessen verfolgen würde. In der poli-
tischen Praxis der ersten Nachkriegsjahre kam dieser neuen Ausrichtung der
amerikanischen Europapolitik zugute, dass eine Reihe von führenden westeuro-
päischen Staatsmännern der Wiederaufbauzeit wie R. Schunian, A. de Gasperi,
J.Monnet und K.Adenauer ebenfalls eine stärkere Einbindung ihrer Staaten in
übernationale westeuropäische Strukturen befürwortete. Die Übereinstimmung in
der grundsätzlichen Ausrichtung erleichterte die amerikanisch-westeuropäische
Zusammenarbeit in der Integrationspolitik sehr und zeitigte in den - angesichts
der Komplexität und Reichweite der Materie - überraschend zügig zum Abschluss
gebrachten Verhandlungen über die Verträge zur Errichtung der EGKS, der EVG
sowie der beide Organisationen überwölbenden EPG mit föderativer Struktur erste
konkrete Ergebnisse. 566

In Abgrenzung zur älteren idealistischen Sicht der Integrationsgeschichtsschrei-


bung wird in der jüngeren Forschung allerdings geltend gemacht, dass die Grün-
dungsväter Europas auf beiden Seiten des Atlantiks nicht (oder zumindest nicht
allein) aus visionärer Einsicht das bisherige nationalstaatliche Paradigma zurück-
drängten sowie gänzlich selbstlos und ohne handfeste ökonomische und nationale

W ä h r e n d die 1952 beschlossene EVG e b e n s o w i e das EPG-Projekt 1954 definitiv


scheiterte, erwies sich die von den Beneluxstaaten. Frankreich. Italien und Deutschland im
April 1951 begründete E K G S als erster entscheidender Schritt im europäischen Integrati-
onsprozess und kann als „Keimzelle" der späteren Europäischen G e m e i n s c h a f t betrachtet
werden, vgl. auch R. Hrbek. Europa in der internationalen Politik, in: U. A l b r e c h t / / / . Vogler
(Hrsg.), Lexikon d e r internationalen Politik. 1997. S. 131 ff.. 132 f.; im größeren Kontext
XI. J. Hillenbrand. Die U S A und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. K a i s e r / H . -
P. Schwarz (Hrsg.), A m e r i k a und Westeuropa. Gegenwarts- und Z u k u n f t s p r o b l e m e . 1977.
S. 288 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 201

Interessen handelten. 567 Während aus europäischer Perspektive nur ein bestimmtes
Maß an supranationaler Integration und ein damit einhergehender Teilverzicht auf
Souveränitätsrechte das Überleben der Nationalstaaten und deren wirtschaftlichen
Wiederaufstieg garantieren sollten und überdies militärische Schutzinteressen
und die Aussicht auf ökonomische Hilfsleistungen eine enge Anlehnung an die
USA ratsam erscheinen ließen, sollte es für die Amerikaner schon bald nach
Kriegsende klar gewesen sein, dass sich ihre Hoffnungen auf eine friedliche
Nachkriegsordnung in Europa und anderen Teilen der Welt zerschlagen hätten. In
ihren strategischen Überlegungen für den heraufziehenden Kalten Krieg wiesen
die Amerikaner Europa die gewichtige Rolle eines starken und geeinten Partners
bei der Herstellung des globalen Gleichgewichts zwischen den beiden Militärblö-
cken zu. Voraussetzung hierfür war nach amerikanischer Überzeugung allerdings
die Errichtung eines Systems zwischenstaatlicher Strukturen in Westeuropa, das
den Ausbruch neuer europäischer Kriege wirksam unterband, deshalb vor al-
lem Deutschland als den größten Unruheherd der zurückliegenden Jahrzehnte
und voraussichtlich stärksten Machtfaktor der Zukunft wirksam einband sowie
die Grundlagen für eine positive Entwicklung der westeuropäischen Staaten in
wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht schuf. 568

Selbst wenn das amerikanische Interesse an einer europäischen Einigung somit


primär sicherheitspolitisch begründet war, bleibt dennoch anzuerkennen, dass die
amerikanischen Regierungen unter H. Truman und D. Eisenhower mit der Ein-
flussnahme auf Verhandlungen und der Ausübung von Druck als Antreiber und
Vermittler im europäischen Einigungsprozess gewirkt haben, ohne den suprana-
tionale Integration keineswegs so schnell und in dieser Form vorangeschritten
wäre. Insofern lässt sich durchaus mit einer gewissen Berechtigung konstatieren,
dass die USA tatsächlich als „Geburtshelfer Europas" 5 6 9 gewirkt haben. Diesem
Befund widerspricht nicht, dass die USA mit ihrem auf Integration ausgerichteten
Europakurs durchaus eigene politische Interessen verfolgten. Denn eine Stabili-
sierung und wachsende Integration der westeuropäischen Staaten versprach nicht

567
Vgl. etwa K.K. Patel, Rezension zu G. Lundestad. T h e United States and Europe
since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlantic D r i f t . 2003, in: H-Soz-u-Kult.
21. 10.2004. S. 6. a b r u f b a r unter http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2004
-4-049.
568
Vgl. G. Lundestad, ..Empire" by Integration. T h e United States and European Integra-
tion 1 9 4 5 - 1 9 9 7 , 1998. S. 13 f.: K. K. Patel (2004): ähnlich auch B. Neuss, Der ..gütige Hege-
m o n " und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R . C . Meier-Wal-
s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff.,
155.
569
So der Titel einer M o n o g r a p h i e von B. Neuss, G e b u r t s h e l f e r Europas? Die Rolle
der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1 9 4 5 - 1 9 5 8 . 2000. Siehe
auch dies., Der „gütige H e g e m o n " und Europa. Die Rolle der U S A bei der europäischen
Einigung, in: R . C . M e i e r - W a l s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund
und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.
202 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nur einen Zugewinn an äußerer Sicherheit und damit eine Stärkung der amerika-
nischen Positionen in der Konfrontation der Blöcke, sondern eröffnete langfristig
auch die Aussicht, die gewaltigen Kosten, die die Wahrnehmung der weltpoliti-
schen Rolle der USA mit sich brachte, durch Lastenverteilung („bürden sharing")
mit den in Zukunft auch wirtschaftlich erstarkten europäischen Staaten zu sen-
ken. Ebenso dürften die US-Administrationen in ihren integrationspolitischen
Bemühungen für Westeuropa auch von der Hoffnung auf das Entstehen lukrativer
neuer Märkte in den zukünftig stärker verflochtenen Volkswirtschaften Europas
angetrieben und bestärkt worden sein. 57 " Dies ändert freilich nach Ansicht einer
Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern nichts an der Tatsache, dass
die sicherheitspolitischen Ziele in der amerikanischen Europapolitik gerade in
den ersten Nachkriegsjahren gegenüber den ökonomischen Erwägungen eindeutig
im Vordergrund gestanden haben und die Amerikaner für die Durchsetzung ihrer
Sicherheitsbedürfnisse sogar bereit waren, auch ökonomische Nachteile in Kauf
zu nehmen. 5 7 1

Im Gegensatz zu älteren Forschungspositionen, die dem europapolitischen Enga-


gement der Amerikaner hauptsächlich ökonomischen Eigennutz und hegemoniale
Absichten bei nur geringem Interesse an einem föderalen Europa unterstellten 572 ,
besteht nach neuerer Ansicht weitgehend Konsens darüber, dass die Europäer die
amerikanische Einflussnahme nicht nur mehr oder weniger zustimmend akzeptiert
haben, sondern die Vereinigten Staaten nachgerade aufgefordert haben, sich an
der Lösung der innereuropäischen Probleme zu beteiligen. Nach einer inzwischen
weithin akzeptierten These suchten die westeuropäischen Staaten nach dem Krieg
die enge Anlehnung an die Vereinigten Staaten, da sie sich alleine weder im Stande
sahen, ihre zerstörten Volkswirtschaften wieder aufzubauen, noch sich gegen die
äußere Bedrohung vor allem durch die sowjetischen Expansionsgelüste in Europa
zur Wehr zu setzen, noch die Einflüsse und Machtansprüche der kommunistischen
Parteien in ihren eigenen durch den Krieg sozial zerrütteten und wirtschaftlich
schwachen Staaten zurückzudrängen. 5 7 3

In diesem Kontext ist allerdings festzuhalten, dass die USA ihre Vorstellungen
keinesfalls eins zu eins durchsetzen konnten. Vielmehr zeigten sich die Europäer
durchaus in der Lage, amerikanische Vorhaben abzuändern und eigene Akzen-
te zu setzen, was sich unter anderem an der erfolgreichen Zurückweisung der

5
" Dazu etwa D. Krüger. Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftliche und politi-
sche Integration Westeuropas 1947 bis 1957, 2003, S. 17 f.
571
Vgl. K K Patel (2004), S. 7.
572
Siehe etwa noch J. Heideking, Die Vereinigten Staaten, der Marshall-Plan und
die A n f ä n g e der europäischen Integration, in: R. D i e t l / F . Knipping (Hrsg.). Begegnungen
zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg. 1999.
S. 17 ff.. 17 m.w. N.
573
G. Lundestad. T h e United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation"
to Transatlatic Drift. 2003. hebt diesen Aspekt wiederholt hervor.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 203

immer wieder vorgetragenen amerikanischen Forderungen nach größeren Rüs-


tungsanstrengungen seitens der Europäer, aber auch an der Einflussnahme vor
allem Frankreichs und Großbritanniens auf die integrationspolitischen Vorstel-
lungen Washingtons belegen lässt. 574 Vor diesem Hintergrund charakterisiert
G. Lundestad die Position der USA in Westeuropa als „empire by invitation",
womit er zum Ausdruck bringt, dass die amerikanische Einflussnahme auf West-
europa keineswegs gegen den Widerstand der betroffenen Länder erfolgte, sondern
im Gegenteil vielfach auf deren erklärten Wunsch hin zustande kam. Dabei ver-
steht Lundestad „empire" in Abgrenzung zu älteren Formen direkter Herrschaft
wertneutral als hierarchisches System mit einem Zentrum, das auch und vor allem
mit Hilfe seiner integrationspolitischen Bemühungen seine Einflusssphäre auf
eine Reihe unabhängiger Staaten ausdehnt. 5 7 5

Das insgesamt einigende Bekenntnis zu demokratischen und rechtsstaatlichen


Prinzipien setzt der Einflussnahme seitens der amerikanischen Vormacht freilich
messbare Grenzen und lässt Kritik und Gegenvorschläge der abhängigen Staa-
ten nicht von vorneherein aussichtslos erscheinen. 5 7 6 Bei allem Einsatz für eine
stärkere Integration der europäischen Staaten in den fünfziger Jahren war die
amerikanische Politik nicht frei von Brüchen und Widersprüchen. Hatten die USA
zunächst noch von den Europäern initiierte supranationale Initiativen unterstützt,
als die Europäer sich bereits zurückgezogen hatten, ließen seit etwa 1954 auch
die Amerikaner in ihren Integrationsbemühungen nach und konzentrierten sich
mehr auf ihr Verhältnis zu Großbritannien und zur NATO. Überhaupt scheint die
NATO, nachdem sie sich als leistungsfähiges und erfolgreiches Instrument zur
Lösung der inneren und äußeren Sicherheitsprobleme erwiesen hatte, die Westeu-
ropäer der Notwendigkeit enthoben zu haben, gegenüber der Herausforderung des
Ostblocks eine politisch voll integrierte Gemeinschaft aufzubauen. Die transat-
lantische Einbindung garantierte größtmögliche Sicherheit (wenngleich auch eine
allzu eingeschränkte Sicht- und Empfindungslage) und machte einen weiteren

574
So z. B. bei der gescheiteren supranationalen Umorganisation der O E E C . der Errich-
tung der E G K S oder beim Scheitern von EVG und EPG. Siehe auch H. R. Hümmerich. Jeder
für sich und A m e r i k a gegen alle? Die Lastenteilung der N A T O am Beispiel des Temporary
Council Comittee 1949 bis 1 9 5 4 . 2 0 0 3 sowie B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und Europa.
Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. M e i e r - W a l s e r / B . Rill (Hrsg.),
Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 157 f., 159 ff.
575
G. Lundestad. „Empire" by Integration. T h e United States and European Integration
1 9 4 5 - 1 9 9 7 , 1998. S. 2 ff. sowie umfassend ders, The United States and Europe since 1945.
From ..Empire by Invitation" to Transatlatic Drift. 2003.
576
Insbesondere in Situationen, in denen einzelne europäische L ä n d e r sich in ihren
existenziellen Grundlagen bedroht sahen, wie dies etwa bei Frankreich angesichts der bei
Umsetzung der EVG-Pläne befürchteten militärischen Aufwertung der Bundesrepublik der
Fall war. kann auch noch so großer Druck der USA die betroffenen europäischen Staaten
nicht zum Einlenken bewegen, vgl. M.J. Hillenbrand, Die USA und die EG. S p a n n u n -
gen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hrsg.), A m e r i k a und Westeuropa.
Gegenwarts- und Z u k u n f t s p r o b l e m e , 1977. S. 288 ff., 2 8 8 . "
204 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Souveränitätsverzicht der auf ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit bedachten


westeuropäischen Staaten zugunsten eines stärker integrierten, föderalen Europas
(vordergründig) überflüssig.

Angesichts der Verlagerung der europapolitischen Anstrengungen der Ameri-


kaner kann es kaum verwundern, dass auch die beiden gegen Ende der fünfziger
Jahre ausgehandelten und für den weiteren europäischen Einigungsprozess be-
sonders erfolgreichen Projekte, die Euratom und die EWG auf rein europäischen
Initiativen basierten und hinsichtlich ihrer Realisierungschancen von Washington
äußerst skeptisch beurteilt wurden. Gleichwohl unterstützte die amerikanische
Regierung auf Drängen der Europäer beide Projekte und vermittelte hinter den
Kulissen zwischen den Verhandlungspartnern, da sie zu der Überzeugung gelangt
war, dass die zu erwartenden Vorteile - unter anderem das Erreichen einer weiteren
europäischen Integrationsstufe. Sicherung der Energieversorgung. Kontrolle der
militärisch orientierten Atomforschung. Vertiefung der Anbindung Deutschlands
an den Westen. Schaffung eines großen europäischen Binnenmarkts (mit neuen
Marktchancen auch für die amerikanische Wirtschaft) - die befürchteten Nachteile
vor allem für die amerikanische Wirtschaft (durch Subventionen oder Schutzzölle
im Agrarbereich sowie Erhöhung des Konkurrenzdrucks und Exporteinbußen für
die amerikanische Industrie) unter allgemein- wie sicherheitspolitischen Gesichts-
punkten rechtfertigten.

Wie oben bereits dargestellt konnten nach langwierigen, aber letztlich erfolg-
reichen Verhandlungen im Frühjahr 1957 die EWG und die Euratom mit der
Ratifizierung der „Römischen Verträge" ins Leben gerufen werden. Während die
politische Bedeutung von Euratom insgesamt gering blieb und ihre integrationspo-
litischen Wirkungen bescheiden ausfielen, erwies sich die EWG als entscheidender
Kristallisationspunkt für alle weiteren europäischen Einigungsbestrebungen. 5 7 7

b) Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten


Spannungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz

Etwa ein Jahrzehnt nach Beginn der Bestrebungen, die westeuropäischen Staaten
in supranationale Strukturen einzubinden und damit die politische, wirtschaftli-
che und militärische Integration Europas voranzutreiben, war mit amerikanischer
Unterstützung vor allem im wirtschaftlichen Bereich ein enges organisatorisches
Beziehungsgeflecht in Kontinentaleuropa entstanden, das in den beteiligten Staa-
ten neben einer gedeihlichen wirtschaftlichen und insgesamt stabilen inneren
Entwicklung auch das friedliche Zusammenleben beförderte. Die nun einset-
zende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und die wieder erlangte

577
Umfassend B. Neuss (2001) S. 163 f.; siehe auch R. Hrbek. Europa in der internatio-
nalen Politik, in: U. A l b r e c h t / H . Vogler (Hrsg.). Lexikon der internationalen Politik. 1997.
S. 131 ff., 133.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 205

wirtschaftliche Stärke und politisch-gesellschaftliche Stabilität der europäischen


Staaten hatte auch Auswirkungen auf die europäische Rolle der USA und die trans-
atlantischen Beziehungen. Auch wenn die USA die grundlegenden Leitlinien ihrer
Europapolitik nicht veränderten und nach wie vor fördernd in den europäischen
Einigungsprozess eingriffen, entwickelten sich nun mehr und mehr Frankreich
und Deutschland zum eigentlichen Motor der europäischen Einigung.

Trotz eines zunehmend selbstbewussten Auftretens der europäischen Staaten


verstanden sich die USA weiterhin als Förderer der europäischen Einigung, mehr
noch: in ihren strategischen Konzepten wiesen sie Europa eine zentrale Rolle zu.
In dem von der /fe/i/t^dy-Administration entwickelten „Grand Design" für die
transatlantische Gemeinschaft sollte ein ökonomisch, militärisch und politisch
starkes und geeintes Europa eine tragende Rolle als zweite gleichberechtigte
Säule neben der amerikanischen einnehmen. 5 7 8 In seiner weithin beachteten Rede
vom 4. Juli 1962 in Philadelphia, in der er das neue NATO-Konzept vorstellte,
bekannte sich J. F. Kennedy daher auch ausdrücklich zur europäischen Integration:
..Die Vereinigten Staaten sehen auf dieses große neue Unterfangen mit Hoffnung
und Bewunderung. Wir betrachten ein starkes und vereintes Europa nicht als
Rivalen, sondern als Partner. Seinen Fortschritt zu unterstützen, war siebzehn
Jahre lang das Hauptanliegen unserer Außenpolitik." 579

Trotz allem: jenseits derartiger langfristiger strategischer Überlegungen nahm


im politischen Alltag die Zahl der Differenzen und Konflikte zwischen Amerika-
nern und Europäern zu. Insbesondere die französische Regierung unter Präsident
de Gaulle forderte mit seinen Versuchen, autonome, von den amerikanischen He-
gemonialinteressen unabhängige europäische Strukturen und mit den USA eine
gleichberechtigte und gleichgewichtige Partnerschaft aufzubauen (Konzept einer
europäischen dritten Kraft), die amerikanische Führungsrolle in Europa ein ums
andere Mal heraus. 5S0 Ein Umstand, der bis heute durchzuscheinen, gelegentlich
Platz zu greifen vermag.

578
J. F. Kennedv, T h e Goal of an Atlantic Partnership. Rede in Philadelphia am
4. Juli 1962, /.it. nach M.J. Hillenbrand (1977), S . 2 8 9 : vgl. auch E.-O. Czempiel/C.-
C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. E i n f ü h r u n g und D o k u m e n t e . 1989. S. 254.
579
J.F. Kennedy, ebenda.
Anlass zu Irritationen und Konflikten boten unter anderem der G e m e i n s a m e Markt,
vor allem die von Frankreich vorangetriebene Ausgestaltung des gemeinsamen Agrarmark-
tes, der mit seinen protektionistischen Praktiken amerikanischen Wirtschaftsinteressen
tendenziell zu schaden drohte; die durch den Übergang von der Strategie der „massiven
Vergeltung" zur Strategie der „flexiblen A n t w o r t " bei den Europäern ausgelöste Sorge
vor einer A u f w e i c h u n g des atomaren Schutzschilds der U S A f ü r Europa: der deutsch-
französische Freundschaftsvertrag von 1963, den de Gaulle im Sinne der europäischen
Führungspläne Frankreichs gegen die USA auszuspielen beabsichtigte: der - auf Betreiben
Frankreichs erfolgte - Ausschluss Großbritanniens aus dem G e m e i n s a m e n Markt; der - auf-
grund amerikanischer Bevorzugung Großbritanniens eingeleitete - atomare Alleingang
der Franzosen: der Rückzug Frankreichs aus der Verteidigungsorganisation der N A T O im
206 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auf wirtschaftlichem Gebiet war der amerikanischen Einflussnahme in Europa


nur bedingt Erfolg beschieden. So gelang es den USA, durch Gründung der O E C D
die aufstrebende EWG in den größeren Z u s a m m e n h a n g der (westlichen) Industrie-
staaten z u m Zwecke der Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Kooperation
bei der Auslandshilfe einzubetten. Auch war es noch unter der Kennedy-Adminis-
tration gelungen, Zoll Vereinbarungen mit der E W G auf den Weg zu bringen und
durch S e n k u n g der Zölle auf Industrieprodukte eine erhebliche Liberalisierung
des Handels zwischen den Industriestaaten herzustellen. Dagegen scheiterte der
amerikanische Plan, durch Errichtung einer europäischen Freihandelszone mit
der EWG, Großbritannien und dem Commonwealth eine kontinentaleuropäische
Blockbildung zu verhindern. 5 8 1

Differenzen und Fehlschläge dieser Art verstärkten eine bereits Anfang der
sechziger Jahre unter amerikanischen Führungsgruppen spürbare ambivalente
Haltung gegenüber d e m europäischen Einigungsprozess: Einerseits gab es eine
breite Unterstützung für die europäischen Einigungsbemühungen, deren geopoliti-
sche Bedeutung nach wie vor unumstritten war. Auch erkannte die amerikanische
Wirtschaft die neuen ökonomischen Chancen der E W G und nutzte den durch
diese hergestellten größeren Markt für eine Steigerung ihrer Direktinvestitionen in
Europa (was dort Ängste vor „amerikanischer Ü b e r f r e m d u n g " auslöste). Anderer-
seits empfand man insbesondere die EWG-Agrarpolitik und die Bevorzugung des
Mittelmeerraums und Afrikas durch die E W G als Diskriminierung mit negativen
Auswirkungen auf den eigenen Export. Vor allem aber tat man sich jenseits des
Atlantiks schwer damit anzuerkennen, dass die aus der Einigung resultierende
machtpolitische Stärkung Europas zwangsläufig eine Relativierung, wenn nicht
sogar auf kurz oder lang eine Beendigung der amerikanischen Führungsrolle in
Europa zur Folge haben musste. Auch wenn der amerikanische Führungsanspruch
sich mit dem bereits von Kennedy propagierten Partnerschaftsmodell schwer ver-
einbaren ließ, konnten ihn die Amerikaner aber vor allem mit Verweis auf die
fehlende politische Einheit und großen militärtechnischen Defizite der Europäer
zumindest auf sicherheitspolitischem Gebiet weiterhin geltend machen.

März 1966: die Weigerung, sich in die Rüstungskontrollgespräche mit der Sowjetunion
einbinden zu lassen, vgl. hierzu W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten
im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Z u k u n f t , in: M. K a h l e r / W . Link
(Hrsg.). Europa nach der Z e i t e n w e n d e - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S . 4 9 f f . .
117, 120 sowie j ü n g s t /. Wallerstein. Die USA und Europa - 1945 bis heute, im Internet
unter: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/wallerstein.html.
581
Vgl. E.-O. Czetnpiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. E i n f ü h r u n g
und D o k u m e n t e , 1989. S. 256 f.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 207

c) Die 70er Jahre: Das Abfedern von


transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern

Nachdem sich bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts


andeutete, dass die Amerikaner auf europapolitische Misserfolge, Ausweitung
des transatlantischen Konfliktpotentials und wachsenden Gestaltungswillen der
zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Europäer mit nachlassendem Interesse
an der europäischen Integration reagierten 582 , scheint sich diese Haltung in der
Europapolitik in den siebziger Jahren weiter verfestigt zu haben; zumindest zeich-
nete sich damals der europapolitische Kurs der USA durch wachsende Distanz
gegenüber den europäischen Partnern und ihren Integrationsbemühungen sowie
durch eine insgesamt veränderte weltpolitische Prioritätensetzung aus. Dass dieser
Kurswechsel auch einen Reflex auf die bisherigen Misserfolge in der Europapoli-
tik darstellte, lässt sich an der Kongressrede Präsident Nixons vom Februar 1970
ablesen, in der er die Grundlinien seines neuen Ansatzes in der Europapolitik
vorstellte:

..Die Struktur Europas [ . . . ] ist grundsätzlich die A u f g a b e der Europäer. W i r können


Europa nicht vereinigen, und wir glauben nicht, dass es nur einen Weg zu diesem
Ziel gibt. Wenn die Vereinigten Staaten sich in früheren Regierungsperioden zum
eifrigen Anwalt machten, dann schadete dies mehr dem Fortschritt, als es ihm half.
Wir glauben, dass w i r den Prozess der europäischen Einigung nicht nur durch unsere
Rolle in der Nordatlantischen Allianz und durch unsere Beziehungen zu europäischen
Institutionen unterstützen können, sondern ebenso durch unsere bilateralen Beziehung zu
den verschiedenen Staaten Europas. Für die weitere Z u k u n f t werden diese Beziehungen
die wesentlichen transatlantischen Bindungen darstellen f . . . ) " 5 "

Dies bedeutete nichts anderes, als dass die Administration der Vereinigten
Staaten zwar weiterhin das Ziel einer europäischen Vereinigung unterstützte, sich
aber von ihrer einstmaligen Rolle als Antreiber und Impulsgeber des europäischen
Integrationsprozesses nunmehr endgültig verabschiedet hatte. Stattdessen zogen
sie es vor, die innereuropäischen Entwicklungen nur noch indirekt über ihre
bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedsländern der Gemeinschaft
mehr zu begleiten als zu beeinflussen.

Die Wendung in der Europapolitik der USA war Ausfluss eines sich seit En-
de der sechziger Jahre abzeichnenden grundlegenden Richtungswechsels in der
amerikanischen Außenpolitik, der in hohem Maße ökonomisch motiviert war.
Während die US-Wirtschaft stagnierte bzw. in eine Rezession fiel, stiegen die

582
Siehe auch J. G. Giauque. Grand Designs and Visions of Unity. T h e Atlantic Powers
and the Reorganization of Western Europe. 1 9 5 8 - 1 9 6 3 , 2002.
583
R.M. Nixon. U.S. Foreign Policy for the 1970's. A New Strategy for Peace. Bericht
des Präsidenten an den Kongress. Washington 1970. zit. nach M.J. Hillenbrand. Die USA
und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hrsg.), A m e r i k a
und Westeuropa. Gegenwarts- und Z u k u n f t s p r o b l e m e . 1977. S. 288 ff.. 300.
208 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Kosten des weltpolitischen Engagements der USA ins Unermessliche. Die amerika-
nischen Militärausgaben im Ausland (insbesondere während des Vietnamkriegs),
umfangreiche Auslandshilfen sowie beträchtliche wirtschaftliche Investitionen der
Amerikaner in Europa hatten den US-Staatshaushalt arg strapaziert. Kapitalab-
flüsse ins Ausland und eine dramatische Abnahme der Goldreserven brachten
die amerikanische Währung zunehmend in Schwierigkeiten, was schließlich dazu
führte, dass die Regierung Nixon im August 1971 völlig überraschend die Gold-
bindung und Konvertibilität des Dollars aufhob (und damit das von den USA
etablierte Weltwährungssystem von Bretton Woods beendete). 5 8 4

Ausbildungen dieser Art signalisierten augenfällig, dass sich zumindest im wirt-


schaftlichen Bereich die überragende Position der USA zu relativieren begann.
Auch wenn die dominante Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten weiterhin
unangetastet blieb, war nicht mehr zu übersehen, dass die westeuropäischen Staa-
ten wirtschaftlich inzwischen weit fortgeschritten sich im Aufholprozess befanden
und sich anschickten, das globale wirtschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern.
Vor allem die Staaten der Europäischen Gemeinschaft entwickelten ein der US-
Wirtschaft nahezu ebenbürtiges Wirtschaftspotential. Es war deshalb wenig ver-
wunderlich. dass die Europäer nun versuchten, die neu gewonnene wirtschaftliche
Stärke dazu zu nutzten, ihre Unabhängigkeit gegenüber der „hegemonialen Füh-
rungsmacht" jenseits des Atlantiks auszuweiten. 5 8 5

Erwartungsgemäß reagierte die US-Administration auf derartige Bestrebungen


äußerst verstört. Dies lässt sich unter anderem an den Reaktionen der amerikani-
schen Regierung auf das Streben der EG-Mitglieder nach Harmonisierung ihrer
Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ)
erkennen. So hatte der von diesem Vorhaben eher verunsicherte US-Außenmi-
nister H. Kissinger zwar stets eine stärkere außenpolitische Zusammenarbeit der
Europäer eingefordert und bei diesen moniert, dass er nicht wisse, welche „Te-
lefonnummer" er in Europa bei einer Verständigung im Krisenfall anrufen solle,
andererseits machte er aber keinen Hehl daraus, dass ihm eine „freischwimmende

5S4
Ausführlicher G. Lundestad, „ E m p i r e " by Integration. T h e United States and Euro-
pean Integration 1 9 4 5 - 1 9 9 7 . 1998, S . 9 6 f f . : W. Link. Historische Kontinuitäten und Dis-
kontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Z u k u n f t , in: M. K a h l e r /
W . L i n k (Hrsg.). Europa nach der Zeitenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995,
S. 49 ff., 122 f.: E.-O. CzempieUC.-C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. Einfüh-
rung und D o k u m e n t e , 1989. S. 257, 3 1 3 f.
?s5
Neben dem Bestreben, sich etwa durch währungspolitische Koordinierungsbemü-
hungen (europäische Währungsschlange, Block-Floating gegenüber d e m Dollar) von den
gravierenden Problemen der U S - W i r t s c h a f t abzukoppeln, zielten die europäischen E m a n -
zipationsversuche auch auf eine größere Eigenständigkeit des sich vereinigenden Europa
in der Weltpolitik - ohne allerdings die enge A n l e h n u n g an die westliche Vormacht in
Sicherheitsfragen sowie die feste Einbindung in die N A T O in Frage zu stellen (ohne poin-
tierte „ A u s b r u c h s v e r s u c h e " Frankreichs außer Acht zu lassen), vgl. auch W. Link (1995),
S. 123 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 209

europäische Außenpolitik" überaus suspekt war. 586 Nixon stufte die auf politische
Eigenständigkeit und Gleichberechtigung mit den USA zielenden Bestrebungen
der EPZ in seiner Chicagoer Rede von April I974 ? s 7 gar als „ganging up" der
Europäer gegen die Vereinigten Staaten ein und stellte angesichts der auch auf
anderen Feldern 588 sichtbar gewordenen Differenzen in aller Öffentlichkeit die
Bündnisfrage. Rigoros lehnte er eine weitere Kooperation auf sicherheitspoli-
tischem Gebiet für den Fall ab. dass die Europäer ihren wirtschaftlichen und
politischen Konfrontationskurs weiterhin fortsetzten. Statt den Europäern größere
politische Unabhängigkeit zuzugestehen, verfolgten die USA unter dem Eindruck
der geschilderten ökonomischen Probleme seit Anfang der siebziger Jahre das Ziel,
die Kosten für ihr weltpolitisches Engagement zu reduzieren, ohne international
an Einfluss zu verlieren und die hegemoniale Grundstruktur des transatlantischen
Bündnissystems aufzugeben. In diesem Sinne ist auch der Entwurf Kissingers
für eine Atlantik-Charta von 1973 zu verstehen, in der er eine Neuordnung der
transatlantischen Beziehungen vorschlug, in der die bisherige Aufgabenteilung
(globale Rolle der USA, regionale Zuständigkeiten der europäischen Staaten) zwar
grundsätzlich beibehalten, die Europäer aber als Gegenleistung für die amerika-
nische Sicherheitsgarantie wirtschaftliche Zugeständnisse machen und einen Teil
der gewaltigen militärischen Lasten übernehmen sollten.

Die amerikanische Strategie, die sicherheitspolitische Abhängigkeit der euro-


päischen Staaten von der westlichen Schutzmacht gegen die wirtschaftlichen und
politischen Eigenständigkeitsbestrebungen der Europäer auszuspielen, erwies sich
schließlich als erfolgreich - nicht zuletzt auch deshalb, weil die im Zuge der Ent-
spannungspolitik forcierten bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen
die Gefahr einer Durchlöcherung des amerikanischen Schutzschilds für Europa
heraufzubeschwören drohten. Auf Vermittlung der Bundesrepublik Deutschland,
die als Frontstaat im Kalten Krieg existenziell auf den militärischen Schutz der
USA angewiesen war, lenkten die Europäer schließlich ein.

Ein Schlüsselmoment ereignete sich auf der Konferenz auf Schloss Gymnich
bei Bonn im April 1974: dort sicherten die Europäer zu. dass die USA bei EPZ-Be-
schlussfassungen. die amerikanische Interessen berühren, zu konsultieren sind. Die
im Juni 1974 in Brüssel unterzeichnete „Atlantische Deklaration" verpflichtete die
europäischen Bündnispartner als Gegenleistung für die amerikanische Sicherheits-

5S6
Ein Umstand, den H. Kissinger n u n m e h r in persönlichen Gesprächen mit d e m Verf.
mehrfach dementiert hat.
587
Zitiert nach W. Link (1995). S. 124f; vgl auch B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und
Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. M e i e r - W a l s e r / B . Rill
(Hrsg.). Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff.. 165.
588
S o z . B. in der Diskussion über die als Folge der ersten Ölkrise notwendig gewordenen
Änderungen der energiepolitischen Strategie des Westens.
589
Dazu E.-O. Czempiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. E i n f ü h r u n g
und D o k u m e n t e , 1989. S. 257. 313.
210 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

garantie zur Übernahme eines angemessenen Anteils an den Verteidigungslasten.


Zudem verständigten sich die NATO-Partner darauf, die „Sicherheitsbeziehungen
durch harmonische Beziehungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet"
zu stärken. 590

Obgleich es den Amerikanern somit aufgrund ihres in der Blockkonfrontation


nicht zu kompensierenden militärischen Potentials gelungen war. die geopoliti-
schen Eigenständigkeitsbestrebungen der europäischen Staaten einzulangen und
machtstrategisch ihre hegemoniale Vorherrschaft im Atlantischen Bündnis weiter-
hin zu behaupten, entwickelte sich dank der organisatorischen Ausweitung und
institutionellen Verfestigung der europäischen Wirtschaftmacht in der EG eine
Dynamik, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Westeu-
ropa im Sinne einer weitgehend gleichrangigen Partnerschaft umformte. 5 9 1 Auch
die währungspolitischen Koordinierungsbestrebungen der europäischen Staaten,
die 1978/79 mit der Errichtung eines Europäischen Währungssystems ihren vor-
läufigen Höhepunkt erreichten, widerspiegelten deren Bestreben, die Rahmenbe-
dingungen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung autonom zu gestalten. Dass das
Wirtschaftspotential des nunmehr zur „ökonomischen Supermacht" aufgestiege-
nen Westeuropa auf kurz oder lang auch das weltpolitische Gewicht der Europäer
stärken musste, ließ sich schon gegen Ende der siebziger Jahre absehen. So gab
es in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auch von amerikanischer Seite verstärk-
te Bemühungen, die europäischen Partner in wichtigen internationalen Fragen
zu konsultieren und mit ihnen bei der Lösung anstehender Probleme zu koope-
rieren. Die damit verbundene zunehmende Anerkennung des machtpolitischen
Gewichts Westeuropas durch die USA ließ sich unter anderem an der relativ
unabhängigen europäischen Rolle während der KSZE-Verhandlungen seit Ende
der siebziger Jahre sowie an der gemeinsam von den USA und den drei europäi-
schen Führungsmächten Großbritannien, Frankreich und Deutschland getroffenen
Grundsatzentscheidung über den NATO-Doppelbeschluss im Januar 1979 erken-

d) Die 80er Jahre: Konflikt und Kooperation

Die wesentliche Prägung des transatlantischen Verhältnisses zu Beginn der


achtziger Jahre erwuchs aus den Auseinandersetzungen um ein angemessenes

590
Vgl. G e r m a n Chancellor Schmidt and French P r i m e Minister Chirac at the North
Atlantic Council Meeting in Brüssels. 1974 06 26 - F O T -. in: H . G . L e h m a n n (Hrsg.),
Deutschland-Dokumentation. 1. Januar 1 9 4 5 - 3 1 . Januar 2004. 2005.
591
Ihren sichtbarsten Ausdruck fand der Aufstieg Westeuropas als gleichberechtigter
Partner in der Weltwirtschaft in den seit 1975 jährlich tagenden Weltwirtschaftsgipfeln,
an denen neben den USA, Japan und Kanada auch die vier europäischen F ü h r u n g s m ä c h t e
(Frankreich. Großbritannien. Italien und Deutschland) teilnahmen.
592
Vgl. auch E. Forndran, Der NATO-Doppelbeschluß - oder: Die Diskussion über die
Nachrüstung, in: Gegenwartskunde 3 / 1 9 8 1 . S. 2 9 3 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 211

Vorgehen angesichts der seit Ende der siebziger Jahre wieder einsetzenden Hoch-
rüstung der beiden Militärblöcke. Obwohl zwischen Westeuropäern und Ameri-
kanern Einigkeit darüber bestand, dass eine Verschiebung des militärischen und
machtpolitischen Gleichgewichts, das sich aus der massiven sowjetischen Aufrüs-
tung im eurostrategischen und interkontinentalen Bereich sowie der militärischen
Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ergab, nicht hingenommen werden
durfte, stritten die westlichen Verbündeten dies und jenseits des Atlantiks heftig
über die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen.

Während die westeuropäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik, an


der Entspannungspolitik festhalten wollten, zogen die Vereinigten Staaten einen
strikten Konfrontationskurs vor, der auch Sanktionen gegen die Staaten des War-
schauer Paktes nicht ausschloss. Auch befürchteten die Europäer erneut, dass die
in dieser Phase aufgenommenen bilateralen Abrüstungsverhandlungen zwischen
der Sowjetunion und den USA eine Durchlöcherung des amerikanischen Schutz-
schildes für Europa zum Ergebnis hätten. 591 Die Amerikaner begriffen vor allem in
der Amtszeit von Präsident R. Reagan die Notwendigkeit, die militärische Stärke
des Westens wiederherzustellen, als Chance, anstelle des eben erst eingeführten
kooperativen Führungsstils ihre frühere hegemoniale Vormachtstellung in der
Allianz wiederherzustellen und ihre transatlantischen Partner zur Gefolgschaft
und stärkeren Beteiligung an den sicherheitspolitischen Kosten zu verpflichten. 594

Die Europäer reagierten auf die neuerlichen hegemonialen und unilateralen


Neigungen der Amerikaner mit einer Intensivierung und Ausweitung der westeu-
ropäischen Kooperation und eigenständigen Initiativen gegenüber dem Ostblock.
Ihre Bemühungen, die während der Entspannungspolitik der siebziger Jahre auf-
gebauten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zum Osten fortzuführen und die
rüstungspolitischen Konflikte mit dem Warschauer Pakt durch Kompromisslösun-
gen auf dem Verhandlungsweg zu lösen, widersprachen zwar der amerikanischen
Kon fron tat ions- und Sanktionsstrategie (und stießen daher ein ums andere Mal auf
den energischen Widerspruch der USA). Die transatlantischen Gegensätze und
Rivalitäten in diesen wie in anderen Fragen bestärkten aber in Europa die Einsicht,
dass die europäischen Interessen nur durch ein einiges und starkes Europa wirk-

Vgl. m.w. N. W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlan-


tischen Verhältnis - Folgerungen für die Z u k u n f t , in: M. K a h l e r / W . Link (Hrsg.). Europa
nach der Zeitenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S. 49 ff., 132 f.
594
Unter anderem drohten sie ihren europäischen Bündnispartnern für den Fall, dass
diese nicht ihr konventionelles Verteidigungspotential deutlich stärkten (was den sofortigen
Rückgriff auf die nukleare Option im Verteidigungsfall unnötig machen sollte), eine
drastische Reduzierung der amerikanischen T r u p p e n in Europa an. Auch die von den
A m e r i k a n e r n vorgelegten neuen Konzepte für einen auf Europa beschränkten Krieg mit
konventionellen und nuklearen W a f f e n widersprachen angesichts der damit verbundenen
riesigen Zerstörungen (vor allem in der Bundesrepublik) den existenziellen Interessen der
europäischen Verbündeten, vgl. ausführlich W. Link (1995), S. 135 f.
212 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

sam vertreten werden können, und forcierten somit die integrationspolitischen


Bemühungen der westeuropäischen Staaten. In Anlehnung an die von H. Schmidt
formulierte Devise „Europa muss sich selbst behaupten" 5 9 5 , revitalisierten die
Europäer auf verteidigungspolitischem Gebiet die W E U , bekundeten mit der Un-
terzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte den Willen, bis 1993 einen
einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen (was bei den Amerikanern sogleich Be-
fürchtungen vor einer sich abschottenden „Festung Europa" heraufbeschwor), und
weiteten die deutsch-französischen Kooperation im militärischen Bereich aus,
was auf erhebliches Misstrauen in Washington stieß. Auch ihre Anstrengungen.
Westeuropa wirtschafts- und währungspolitisch von den negativen Auswirkungen
der Reagan sehen Wirtschaftspolitik abzukoppeln, bestätigten die bereits in den
siebziger Jahren erkennbare Tatsache, dass die Fortschritte bei der europäischen In-
tegration weniger von den Konsultationen und der Zusammenarbeit mit den USA
bewirkt wurden als vielmehr von den Reaktionen der Europäer auf Gegensätze
und Konflikte mit der Vormacht des transatlantischen Bündnisses. 5 9 6

Allerdings: das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa


war auch in den achtziger Jahren nicht lediglich von Gegensätzen und Streit be-
stimmt. So erfolgte etwa die Stationierung der Mittelstreckenraketen (Pershing
II, Marschflugkörper) in Westeuropa zu Beginn des Jahrzehnts mit einhelliger
Zustimmung der europäischen Regierungen (jedoch gegen den Widerstand großer
Teile der Bevölkerung in den europäischen Staaten), da hiermit eine Abkoppelung
der interkontinentalen von der europäischen Abschreckung wirksam unterbunden
wurde. Insgesamt war es der atlantischen Allianz mit der Nachrüstung gelun-
gen, ihre militärstrategische Handlungsfälligkeit unter Beweis zu stellen und ihr
machtpolitisches Gewicht zu stärken. Überhaupt ist festzustellen, dass die Kon-
fliktbereitschaft gegenüber den Amerikanern unter den europäischen Regierungen
sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Insbesondere die deutsche Regierung unter
Bundeskanzler H. Kohl und Außenminister H.-D. Genscher hatte an ihrer un-
unumstößlichen Loyalität zur NATO und zu den Vereinigten Staaten nie einen
Zweifel aufkommen lassen und war deshalb als Vermittler und Balancefaktor bei
Streitigkeiten innerhalb der Allianz geradezu prädestiniert.

Die 1985 erfolgte Übernahme des Amts des Generalsekretärs der KPdSU durch
M. Gorbatschow und die von ihm eingeleitete Entspannungspolitik gegenüber dem
Westen hatte dann auch eine spürbare Klimaaufbesserung innerhalb des westlichen
Bündnisses zur Folge. In den nun einsetzenden Abrüstungsverhandlungen mit
den Warschauer-Pakt-Staaten griffen die Bündnispartner wieder verstärkt auf
kollektive Beratungs- und Entscheidungsmechanismen zurück. Auf dieser Basis

595
Eine wiederkehrende These des Altkanzlers; zuletzt H. Schmidt. Die Selbstbehaup-
tung Europas. 2002.
596
So auch G. Lundestad, T h e United States and Western Europe since 1945. From
..Empire" by Integration to Transatlantic Drift, 2003, S. 232.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 213

gelang es im Rahmen der KSZE-Verhandlungen, den Osten durch Abbau seiner


überlegenen konventionellen Streitkräfte zur Aufgabe seiner Invasionsfähigkeit zu
bewegen und die Grundlagen für eine gesamteuropäische Friedensordnung nach
dem Ende des Ost-West-Konflikts zu schaffen.

Zudem schuf das einheitliche Auftreten der transatlantischen Allianz im Umfeld


der Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem
annus mirabilis (Häberle) mit dem Fall der Mauer, insbesondere die (mit Ein-
verständnis der Bundesrepublik) gegenüber der Sowjetunion letztlich erfolgreich
erhobenen Forderung nach einer unbedingten Einbindung eines wiedervereinigten
Deutschlands in das westliche Bündnis (als wirksamer Schutz vor möglichen deut-
schen Sonderwegen oder einer kontinentalen deutsch-russischen Blockbildung)
eine der wesentlichen Voraussetzungen für die internationale Zustimmung zur
Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990. 597

e) Die Folgejahre nach 1989/90 sowie ein Ausblick

Auch nach Ende des OstAVest-Konflikts setzte sich die bereits seit den sechziger
Jahren konstatierte ambivalente Haltung der USA gegenüber den europäischen
Integrationsbestrebungen weiter fort. Zwar haben die USA die Gleichberechtigung
der Europäischen Union auf wirtschaftlichem Gebiet grundsätzlich akzeptiert und
die gewachsene europäische Wirtschaftskraft für eigene ökonomische Interessen
zu nutzen gewusst, aber allzu häufig münden wirtschaftlicher Konkurrenzdruck
und Rivalitäten in politische Streitigkeiten, die sich etwa in politisch forcier-
ten Handelskriegen (Hähnchen- und Bananenkrieg, Genmais-Konflikt etc.) oder
Streitigkeiten über die Besetzung von Führungspositionen in Weltwirtschaftsin-
stitutionen äußern. 5 9 8

Im Bereich der internationalen Politik haben die globalen Entwicklungen seit


1990 gezeigt, dass der transatlantischen Gemeinschaft bei der internationalen
Konfliktregulierung und Aufrechterhaltung einer stabilen internationalen Ord-
nung nach wie vor eine gewichtige Rolle zukommt und dass für eine angemessene
Funktionswahrnehmung dieser internationalen Rolle das machtpolitische Gewicht
der Europäer noch stärker anwachsen muss. Die Ansicht wird auch von den Ame-
rikanern geteilt, die deshalb bei den Europäern stets geeignete Maßnahmen zur
effektiveren Wahrnehmung ihrer internationalen Aufgaben und Verpflichtungen
angemahnt haben. Gerade weil die USA angesichts der neuen weltpolitischen
Herausforderungen auf einen starken handlungsfähigen Partner angewiesen sind.

597
Hierzu mit d e m interessanten norwegischen Blickwinkel G. Lundestad (2003),
S. 228 ff.
598
Ausführlicher B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und Europa. Die Rolle der USA
bei der europäischen Einigung, in: R . C . M e i e r - W a l s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische
Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 165.
214 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

haben sie sich immer wieder darüber beklagt, dass die Europäer weder über
wirksame Entscheidungsmechanismen noch über die richtigen außenpolitischen
Instrumente verfügten, um zügig und konsequent auf internationale Krisen rea-
gieren zu können. Andererseits haben die USA in den internationalen Krisen der
jüngsten Vergangenheit den Europäern deutlich zu verstehen gegeben, dass sie im-
mer dann. wenn es ernst wird und ihre vitalen Interessen betroffen sind, sich nicht
das Heft aus der Hand nehmen lassen. Gerade die Administration von G. W. Bush
hat mehrfach deutlich gemacht, dass die amerikanische Supermacht allenfalls bei
Konflikten im regionalen Umfeld der Europäischen Union zur Kooperation bereit
ist, ansonsten aber einer aktiven Rolle der Europäischen Union (etwa jüngst die
„Kongo Mission EU FOR") eher reserviert, oftmals offen skeptisch gegenüber
steht.

Die EU-Staaten haben ihrerseits zunehmend deutlich gemacht, dass sie die
traditionelle Rollenverteilung im Bündnis, wonach die USA die großen Leitlinien
vorgeben und den Europäern lediglich unterstützende Funktionen, z. B. bei der
Finanzierung friedensstabilisierender Maßnahmen, zufallen, nicht mehr länger ge-
willt sind hinzunehmen. Trotz der traditionellen Reserviertheit der USA gegenüber
eigenständigen verteidigungspolitischen Vorstößen der Europäer, haben sie daher
in den neunziger Jahren verstärkt (und gelegentlich allzu brachial - Stichwort
„Pralinen Gipfer 2003) damit begonnen, ein eigenes geostrategisches Potenzial,
weniger durch Belebung und Ausweitung der WEU als durch den Auf- und Aus-
bau einer Gemeinsamen Europäischen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) und
insbesondere einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP),
aufzubauen. Auch für die internationale Entwicklung nach dem Ende der Block-
konfrontation gilt somit, dass die Differenzen mit den Vereinigten Staaten über
die Ausrichtung der Politik der westlichen Welt und die Erfahrung, (noch) nicht
über ein ausreichendes außen- und sicherheitspolitisches Instrumentarium zur
angemessenen und eigenständigen Bewältigung der wachsenden an Europa her-
angetragenen internationalem Aufgaben und Herausforderungen zu verfügen, die
Europäer zu verstärkten Integrationsanstrengungen und damit zur Stärkung ihres
eigenständigen Gewichts in der Welt angespornt haben. Temporär aufkeimende
Gegengewichtsphantasien haben sich zuletzt relativiert (insbesondere durch die
wachsende Schwäche der Regierung Chirac in Frankreich und durch die Abwahl
des deutschen Bundeskanzlers Schröder die beide als Haupttriebfedern einer
„neuen" transatlantischen Emanzipationsbewegung zu sehen sind). 599

Die immer häufiger und immer offener zu Tage tretenden Auseinandersetzun-


gen und Brüche in den transatlantischen Beziehungen sind unter anderem auch

599
Vgl zu alledem umfassend die Bundestagsreden des Verf. vom 5. 1 2 . 2 0 0 2 . vom
2 0 . 3 . 2 0 0 3 . vom 15. 1 0 . 2 0 0 3 . vom 23. 1 0 . 2 0 0 3 . vom 4 . 3 . 2 0 0 4 . v o m 2 5 . 3 . 2 0 0 4 . vom
2 7 . 5 . 2 0 0 4 . vom 17.6. 2004. vom 26. 11.2004. 17.3. 2005 sowie vom 2 7 . 5 . 2 0 0 5 (hierzu
die jeweiligen BT-Plenarprotokolle des Sitzungstages).
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 215

Kennzeichen dafür, dass die internationale Ordnung auch 15 Jahre nach Ende des
Kalten Krieges immer noch von bedeutenden Umwälzungsprozessen erfasst wird
und die Re-Definition von Positionen und Rollen in der internationalen Politik
immer noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Ein nicht unbeträchtlicher
Teil der politischen wie wissenschaftlichen Kontroversen (auf beiden Seiten des
Atlantiks!) befasst sich mit der Frage, welche Rolle ein sich vereinigendes Europa
zukünftig im internationalen Mächtekonzert spielen wird. Während eine Richtung
angesichts der großen Zukunftsaufgaben des 21. Jahrhunderts auch für ein stärker
integriertes und machtpolitisch gewichtigeres Europa keine Alternative zur engen
Anlehnung an das „amerikanische Empire" sieht, sprechen andere Positionen bis
heute einem vereinigten Europa das Potential zu, ein partnerschaftliches Verhält-
nis auf gleicher Augenhöhe zu den Vereinigten Staaten aufzubauen oder sich eben
als Gegengewicht oder Konkurrent zu der derzeit einzigen „Supermacht" 6 0 0 zu
etablieren.

Bislang war Amerika eine europäische Macht, nicht lediglich eine Macht in
Europa. Zukünftig wird dieser Umstand nur in dem Maße Geltung besitzen können,
wie Europa für die Vereinigten Staaten so unentbehrlich ist wie umgekehrt. 601 Die
Europäer bedürfen, solange sie, mit oder ohne Verfassung keine real tragfähige
Konstruktion (auch im militärischen Bereich) ausbilden, der USA unverändert
als Schutz- und Garantiemacht. Ebenso als Gleichgewichtsstifter, wenngleich die
Europäische Union zunehmend in diese Rolle selbst hineinzuwachsen scheint. 602

3. Europäische Einflusssphären im
amerikanischen Rechtsdenken - Schlaglichter

Eine wesentliche Ursache des Verkennens politischer wie rechtlicher Realitäten


der USA liegt eventuell darin, dass sich Europäer wiederkehrend von vorder-

600
Die Entwicklungen Chinas und Indiens sind in diesem Kontext politisch wie wis-
senschaftlich a u f m e r k s a m e r zu begleiten.
601
Ähnlich auch M. Stürmer. Europas Sicherheitsarchitektur wankt, in: DIE WELT.
11. Dez. 2001. S. 8.
" i : Beispielhaft seien nur die Friedens- und Vermittlungsbemühungen unter „euro-
päischer F l a g g e " im Nahen Osten oder etwa in Bosnien-Herzegowina genannt. Gleich-
wohl ist es mittelfristig nicht ausgeschlossen, dass ein Verschieben der europäischen
(Gleich?-)Gewichte eintritt. G r u n d h i e r f ü r ist zum einen die neue weltpolitische Bedeu-
tung Russlands - u. a. wegen amerikanischer strategischer Bedürfnisse bei Raketenabwehr
( N M D ) , Proliferation und in Innerasien - zum anderen aber die europäische Energielage.
Diese wird umso unsicherer, je mehr sich der Nahe Osten in unvereinbaren Interessen und
Konflikten verzettelt. Sollten die Vereinigten Staaten in Reaktion auf weltpolitische Erfor-
dernisse und europäische Selbstmarginalisicrung einmal aufhören, tatsächlich europäische
Macht zu sein, ist auch in diesem Kontext die neue Rolle Russlands zu beachten, das sich
in einer solchen Situation Deutschland annähern könnte. Letzteres ließe Distanzierungen
von Paris und London befürchten.
216 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gründigen Identitäten und formalen Parallelen der Herrschaftssysteme diesseits


und jenseits des Atlantiks täuschen lassen. Sie neigen dazu, Varianten desselben
Herrschaftsmodus zu identifizieren, wo tatsächlich Struktur- und Funktionsunter-
schiede der politischen Institutionenordnungen vorhanden sind.

Ableitbar ist dieses Fehlurteil auch aus einer gewissen Ambivalenz mit der
die amerikanischen Verfassungsväter die Schaffung ihrer Republik ins Werk setz-
ten. Sie gingen einerseits von weithin bekannten Ideen und Einrichtungen des
„abendländisch-europäischen Kulturkreises" aus. So nutzten sie sowohl exakte
Kenntnisse der politischen Philosophie seit den Tilgen der Antike oder der po-
litischen Aufklärungsliteratur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in
Europa sowie ihr Wissen über die Strukturen und Funktionsweisen des britischen
Regierungssystems, die mannigfaltig die politischen Ordnungsverhältnisse in den
amerikanischen Kolonien geprägt hatten. Man arbeitete mit politischen Begriffen,
die aus dem Fundus der Tradition stammten und die sie teilweise auch über den
Atlantik in die „Neue Welt" übernahmen. Gleichwohl nutzten sie all diese Kennt-
nisse. Vorgaben und Begriffiichkeiten nicht lediglich zur Imitation europäischer
Modelle, sondern kreativ zur Schaffung neuer, durchaus revolutionärer Institutio-
nen. An dieser Stelle sei nur - und undifferenziert hinsichtlich sprachlicher wie
inhaltlicher Unterschiede - auf den Föderalismus als amerikanische Erfindung im
Bereich des Staatsrechts erinnert.

Und selbst wo die Verfassungsväter Ideen und Einrichtungen aus Europa über-
nahmen (etwa den Gedanken der Repräsentation), gewannen diese in einer völlig
neuartigen Umgebung spezifisch amerikanische Charakteristika, die mit europäi-
schen Modellen kaum noch zu vergleichen waren. A. de Tocqiieville hat in seinem
klassischen Werk „Über die Demokratie in Amerika" (1835) an zahlreichen Bei-
spielen den Nachweis geführt, wie die eigentümliche „Ausgangslage" der „Neuen
Welt", wie ihre Glaubensbekenntnisse das Überkommene selbst dort veränderten,
wo man es zu bewahren suchte, wie etwa allein schon das „Dogma der Volks-
souveränität" und das Gleichheitsprinzip überkommene Herrschaftseinrichtungen
grundlegend veränderten. Der US-Historiker F.J. Turner meinte ähnliches, als er
um die Wende zum 20. Jahrhundert die offene Grenze, das Erlebnis der Weite
des Westens und die Erfahrung der Ungewißheit für die gesamte politisch-soziale
Entwicklung der USA (mit)verantwortlich machte:

„Vom Beginn der Besiedlung A m e r i k a s an hat die Region der Grenze ständig ihren
Einfluß auf die amerikanische Demokratie ausgeübt [ . . . ] Die amerikanische D e m o -
kratie ist im G r u n d e das Ergebnis der E r f a h r u n g e n des amerikanischen Volkes in der
Auseinandersetzung mit d e m Westen. Die westliche Demokratie fördert während der
ganzen früheren Zeit die Entstehung einer Gesellschaft, deren wichtigster Zug die Frei-
heit des Individuums zum Aufstieg im R a h m e n sozialer Mobilität und deren Ziel die
Freiheit und das Wohlergehen der Massen war. Diese Vorstellungen haben die gesamte
amerikanische Demokratie mit Lebenskraft erfüllt und sie in scharfen Gegensatz zu den
Demokratien der Geschichte gebracht und zu den modernen Bemühungen in Europa, ein
künstliches demokratisches Ordnungssystem mit Hilfe von Gesetzen zu errichten." 6 0 '
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 217

Viele Europäer haben die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Herrschafts-


systems missverstanden, da sie ihm, von vordergründigen Parallelen der Regie-
rungsweisen diesseits und jenseits des Atlantiks getäuscht, mit Vorstellungen
und Begriffen begegneten, die ihren eigenen Verfassungsordnungen entstamm-
ten. Die Strukturprinzipien der parlamentarischen Regierungssysteme europäisch-
deutscher Prägung unterscheiden sich allerdings erheblich von jenen der amerika-
nischen Präsidialdemokratie.

Unabhängig davon, dass in diesen politischen Systemen Parlamente an den staat-


lichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben, trennt sie doch
vieles 61 ": im Rahmen der polity. der Institutionen. Strukturen und konstitutiven
Normen ebenso wie im Bereich derpolitics, wie im anglo-amerikanischen Rechts-
und Kulturkreis die politischen Prozesse umschrieben werden. Diese Unterschiede
schlagen sich notwendigerweise auch in der Sphäre der policy, bei der Planung
und Durchführung konkreter politischer Gestaltungsaufgaben, nieder.

Allerdings: Lousiana übernahm kurz nach seiner Aufnahme in die Union Ge-
setzbücher nach französischem Vorbild, u.a. den Code Civil aus dem Jahre
1808. Erfolglos blieb dagegen ein Versuch deutschstämmiger Siedler 1794/95 in
Pennsylvania und Virginia, die Gesetze der Union auch in deutscher Sprache zu
veröffentlichen. 605

4. Inkurs: Teilaspekte einer Europäischen


Rechtskultur, Europaverständnis

Europas Werteordnung ist im Besonderen von drei Grundgedanken bestimmt:


Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Diese drei Faktoren verstehen sich aus-

603
Zitiert nach der Website der US-Amerikanischen Botschaft in Deutschland, vgl. usa
.usembassy.de/etexts/gov/bpb/body_i_l99_l .html. Vgl. auch F.J. Turner. T h e Significance
of the Frontier in A m e r i c a n History. 1893 sowie ders. T h e Frontier in A m e r i c a n History.
1920.
" u Bei der Definition des parlamentarischen Regierungssystems k o m m t es nicht in
erster Linie darauf an. dass in dieser Herrschaftsordnung ein Parlament existiert, das ver-
fassungsmäßig festgelegte Befugnisse bei der politischen Willensbildung hat. Andernfalls
würde Verschiedenes zu einer künstlichen Einheit z u s a m m e n g e f ü g t - die Präsidialdemo-
kratie der USA ebenso wie das Direktorialsystem der Schweiz oder die parlamentarischen
Regierungsformen westeuropäischer Staaten.
605
Vgl. hierzu D. Blumenwitz, E i n f ü h r u n g in das anglo-amerikanische Recht. 6. Aufl.
München 1998. S.20 Fn. 32, mit Verweis auf American State Papers. Miscellaneous,
Washington D . C . 1834. I. S. 114. 222. N a c h d e m sich zwei Kongressausschüsse für den
Antrag ausgesprochen hatten, wurde er im P l e n u m mit 42 zu 41 S t i m m e n abgelehnt.
Laut Blumenwitz (1998). soll „die entscheidende S t i m m e der Speaker of the House, der
deutschstämmige F. A.C. Mühlenberg, abgegeben haben ( . . . ) . Dies w a r d e r A n l a ß für die
in Deutschland immer wieder hochgespielte Legende, Deutsch sei nur wegen des Votums
eines Deutschen nicht die Amtssprache der Vereinigten Staaten geworden."
218 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g

drücklich als Säulen der Werteordnung, sie ziehen sich aber gleichzeitig (neben
anderen Axiomen) durch alle Bestimmungsversuche einer europäischen Rechts-
kultur. Vereinfacht ist unter Personalität zu verstehen, dass der Mensch als ein mit
Würde ausgestattes Einzelwesen zu sehen ist, das zunächst für sich verantwortlich
ist. Der Gedanke der Solidarität knüpft an das Verständnis des Menschen als Sozi-
alwesen an, das in der Gemeinschaft lebt und Verantwortung trägt für diejenigen,
die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Schließlich bedeutet Subsidiarität
in diesem Kontext, dass die jeweils kleinere Einheit selbstverantwortlich alle die
Herausforderungen erledigt, die sie selbst schultern kann und erst dann die nächst
größere zu Hilfe kommt. Um dieses Werte- und Gedankengerüst dem Reich der
Ideen zu entreißen, bedarf es jedoch der Verflechtung mit dem Recht. Auch im
21. Jahrhundert bleiben die Garanten des Rechts primär die Staaten. Sie allein
können, bevor nicht ein stabiles, insbesondere vom einzelnen Bürger anerkanntes
supranationales „Gebilde" etabliert ist, die latent drohende Gefahr einer Unter-
höhlung des legitimen und friedensstiftenden Gewaltmonopols abwenden. Sie
können dies umso besser, je mehr sie von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer
Bürger getragen werden. Ein Umstand im übrigen, der nicht anstrebenswertes Ziel
einer überstaatlichen Vereinigung sondern bereits Grundlage hierfür sein muss
und nirgends besser wachsen kann als aus den Staaten selbst heraus - von einem
Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen.

Die Vereinigten Staaten lieferten nach dem 11. September 2001 ein beeindru-
ckendes Beispiel für den Willen, mit großem Selbstbewusstsein die notwendigen
Aufgaben nach dem gewaltigen Schock gemeinsam zu erledigen. Auch im verein-
ten Europa haben die Nationalstaaten ihre Berechtigung nicht verloren. Sie sind im
Gegenteil gerade unentbehrlicher Bestandteil einer zu vermittelnden europäischen
Kultur. Im positiv gemäßigten, wohlverstandenen Patriotismus der europäischen
Nationen bündeln sich die gemeinsame Geschichte und Kultur unseres Kontinents.
Die nationale Prägung ist für die Menschen dabei sowohl stabiles Bindeglied zu
sich selbst wie zu den Nachbarländern (im wechselseitigen Verständnis) als auch
Teil ihrer unverwechselbaren Identität. Kulturelle Verwurzelung und nationale
Identität stehen dabei zur Weltoffenheit oder zu einem gemeineuropäischen Ver-
ständnis nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Europa erfährt seine Prägung durch
seine Nationen mit den ihnen eigenen Besonderheiten, aber Europa war auch
immer gekennzeichnet vom gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Dieser
ständige Prozess des Austausches - ohne Verlust der eigenen Identität - war nur
möglich, weil er in ein gesamteuropäisches Wertesystem eingebunden war.

Die europäischen Völker und Staaten sind sich auch nicht annähernd so fremd,
wie es die Vielfalt der Sprachen und die Unterschiede der Kulturen, des Alltags
und der sozialen Standards vermuten lassen. Sie haben eine seit dem frühen Mittel-
alter auf engem Raum und in ständiger Auseinandersetzung entwickelte (letztlich
gemeinsame) Geschichte, und zwar nicht lediglich eine Kriegsgeschichte, sondern
auch eine des ständigen Austauschs durch Handel, Migrationen, Missionierung
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 219

und Kulturtransfer. Zum Kulturtransfer gehört auch die seit dem 12. Jahrhundert
sich ausbreitende Schulung professioneller Juristen am wiederentdeckten römi-
schen Recht sowie an dem für alle Lebensverhältnisse maßgeblichen Recht der
römischen Kirche. Die Einübung der Rechtssprache, der Grundfiguren rechtlicher
Ordnung und gewaltfreien Güteraustauschs, der differenzierten Verfahren und
der typischen Verfahrensfehler bedeuteten eine außerordentliche, im Alltag kaum
noch bewusste Zivilisationsleistung. Das Gleiche gilt für die Entwicklung des
neuzeitlichen Völkerrechts, das sich aus Theologie und Naturrecht. Gewohnheits-
recht und Doktrin langsam verfestigte und schrittweise positiviert wurde. Mit
anderen Worten: Eine künftige Verfassung Europas kann auf einem durch lange
Erfahrungen gesicherten Fundament aufbauen. 606

5. Ein historisch gewachsenes


„transatlantisches Verfassungsfundament"

Insgesamt ist ein transatlantisches „Verfassungsfundament" zu konstatieren.


Dieses besteht zunächst aus internalisierten Sätzen einer vielfach gemeinsamen,
in den Anfängen noch europäischen Rechtskultur. 607 Es gibt nicht nur positives Ver-
fassungsrecht. sondern auch unübersehbare historische Prinzipien. Diese besagen
zum einen, dass die regierende Macht bei ihren Handlungen fundamentalen Be-
schränkungen unterliegt. Sie hat sich ihnen anfangs durch Eide und Verträge, dann
durch Fundamentalgesetze, Bills of Rights, Constitutions-Akte und schließlich
durch jeweils moderne Verfassungen unterworfen. Zum anderen sind Verfassungs-
gerichte geschaffen worden, die diese Beschränkungen kontrollieren.Mit anderen
Worten: Die Idee der Bindung der Staatsgewalt an Grundrechte und die effektive
Kontrolle durch gerichtsförmige Verfassungsorgane oder funktionale Äquivalente
gehören heute zum Standard. Zudem erkennen die Staaten Grundprinzipien des
Rechtsstaats an. also die Bindung an demokratisch zu Stande gekommene Nor-
men. faires Verfahren und ausgebauten Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte,
Verhältnismäßigkeit von Anlass und Eingriff. 608

Im 19. und 20. Jahrhundert ist die „egalitäre Demokratie" hinzugekommen.


Es entstanden Sicherungen der politischen Partizipation aller mündigen Bürge-
rinnen und Bürger, Verfahren der politischen und staatlichen Willensbildung,

606
E b e n s o M. Stolleis, Europa nach Nizza. Die historische D i m e n s i o n , in: N J W 2002.
S. 1022 ff., 1023.
607
Es gibt bislang nur zaghafte Versuche, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen
der europäischen und der amerikanischen ..Rechtskultur" zu erarbeiten, vgl. allerdings
R. Zimmermann (Hrsg.). Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht. 1995;
ders., Roman Law, C o n t e m p o r a r y Law. European Law, 1991 mit Blick auf die römisch-
rechtliche Tradition.
608
So im Hinblick auf die europäische Verfassungsgeschichte auch M. Stolleis. Europa
nach Nizza. Die historische Dimension, in: N J W 2002. S. 1022 ff., 1023.
220 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

einschließlich der Anerkennung von Parteien. So differierend die Reaktionen auf


das mittelalterliche Postulat „quod omnes tangit ab omnibus approbetur" auch
ausfallen mögen, es gibt auch hierfür „Leitsätze", die in der transatlantischen
Verfassungsgeschichte der letzten zweihundert Jahre eingeübt worden sind: Jeder
gesunde Erwachsene soll ohne Ansehung von Rang und Stand eine periodisch
wiederkehrende Chance der politischen Mitbestimmung haben, und zwar durch
allgemeine, freie, gleiche und geheime Abstimmung nach Mehrheitsprinzip, sei
es über die Sachfrage selbst, sei es über die Wahl von Repräsentanten. 609

Die institutionellen Arrangements, die den so ermittelten Volkswillen in einen


annähernd handlungsfähigen Regierungswillen überführen, sind überaus vielfäl-
tig, folgen jedoch weitgehend einem Grundmuster: Parteien als „Agenturen" zur
Bündelung des Volkswillens, die Regierung als Exekutivorgan des Mehrheitswil-
lens, die Opposition als politischer Gegner, das Parlament als Beschlussorgan und
politische „Schaubühne". Unterschiedlich ist auf beiden Seiten des Atlantiks frei-
lich das Verständnis von der Notwendigkeit einer Trennung von Staatsoberhaupt
und Regierungschef. Wie eingespielt diese allgemeine Funktionsteilung mittler-
weile auch auf europäischer Ebene ist, offenbaren bei aller Dringlichkeit einer
neuen Gewichtsverteilung die dort gebildeten Organe (Parlament, Kommission,
Ministerrat, Gerichte).

Zu den kraft historischer Langzeiterfahrung internalisierten Sätzen atlantischer


Rechtskultur gehört nicht nur die vertikale Funktionsteilung, sondern auch die
horizontale Ausgliederung von Aufgaben zur selbst verantwortlichen Erledigung.
Dies hat seinen Ausgangs- (oder End-)punkt bei den Kommunen, gewinnt aber
seine größte Bedeutung auf der mittleren Ebene semiautonomer „Teilstaaten", die
zwar wesentliche Aufgaben dem Zentralstaat überlassen, aber doch im Bereich
ihrer Kompetenzen als „Staaten" auftreten, mögen sie im europäischen „Gewand"
Provinzen (Belgien. Niederlande), Regionen (Italien) oder Länder heißen. Gewiss
sind die englischen Grafschaften, die französischen Departements und „Regio-
nen", die spanischen Comunidades Autönomas. die schwedischen Provinzen (län),
die ungarischen Komitate und die polnischen Wojewodschaften keine „Länder" im
Sinne der deutschen oder „Staaten" (states) gemäß der amerikanischen Tradition.
Was aber alle verbindet, ist der letztlich banale Grundgedanke, dass in größeren
Staaten nicht alle Fragen am grünen Tisch in der Hauptstadt entschieden werden
können. Für regionale, kulturelle, sprachliche oder ethnische Besonderheiten muss
es Legitimationsstrukturen vor Ort geben, die sich in überschaubaren Einheiten
aufbauen lassen. Das hat den geschichtlich unzählige Male bestätigten Vorteil,
dass diejenigen Politiken, die traditional geformte Räume, spezifische Mentali-

609
Das schließt Minderheitenschutz durch intelligente Verfahren ein. etwa durch
Garantien von Mandaten. Vetorechten. Wechsel im Vorsitz. A u s k l a m m e r u n g streitiger
T h e m e n und „ H e r u n t e r z o n e n " , F o r m e l k o m p r o m i s s e und „praktische Konkordanzen",
vgl. M. Stolleis (2002). S. 1023.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 221

täten. Bedürfnisse von ganzen „Landschaften", konfessionelle oder sprachliche


Besonderheiten den Betroffenen zur eigenverantwortlichen Regelung überlassen,
letztlich die effektiveren sind. So haben sich in den letzten Jahrzehnten auch alte
europäische Zentralstaaten zu einer gewissen Diversifizierung ihrer Verwaltung
bereitgefunden.

IV. Die Bestätigung und Festigung des


Verfassungsstaates (USA) bzw. der Verfassungsgeineinschaft (EU)
durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation
und Verfassungsprinzipien

Das Unterfangen einer (verkürzten) historischen Betrachtung der amerikani-


schen und europäischen Verfassungsentwicklung erlaubt (und erfordert) die Her-
vorhebung dreier Standpunkte, die mit unterschiedlichem Blickwinkel, aber einem
Zielpunkt, der sich unter den Begriff „amerikanische bzw. europäische Verfas-
sungskultur" fassen lässt, die Verfassungsgeschichte zu prägen wußten. Zum
einen sind im Kontext der amerikanischen Verfassunggebung die Amendments
als Zeugnis eines sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen, gleichwohl
fortentwickelnden kulturellen Umfelds zu nennen. Vollzogener Wandel und Fort-
entwicklung sind in diesem Kontext nicht gleichzusetzen; vielmehr ist die stete
Wandlungsfähigkeit erst Voraussetzung einer blühenden Kultur. Mit Blick auf
die Europäische Union sind die Instrumente zur Änderung der Verträge sowie
des Verfassungsvertrages näher zu betrachten. Als zweite Säule der Verfassungge-
bung und Standpunkt im obigen Sinne lässt sich als eigentlicher Impulsgeber und
Kontrolleur amerikanischer Verfassungswerdung der US-Supreme Court als „stän-
diger Verfassungskonvent" 61 " und bedeutsamster Verfassungsinterpret ausmachen,
auf europäischer Ebene ist die diesbezügliche Rolle des EuGH in einzelnen Punk-
ten zu prüfen. Beide Gerichte nehmen gleichzeitig eine bedeutende Rolle für
Entfaltung und Fortgang der jeweils verankerten Verfassungsprinzipien ein, die
drittens als Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA)
und einer Verfassungsgemeinschaft 6 " (Europäische Union) in einer Auswahl ei-
nem Vergleich unterzogen werden. Zwischen Amendments, Gerichtshöfen und
Verfassungsprinzipien findet sich schließlich eine höhere Schnittmenge, als dies
die Verfassungstexte zunächst erahnen lassen.

61
" Diese Bezeichnung wird Präsident W. Wilson zugeschrieben: „ T h e S u p r e m e C o u r t
is a constitutional Convention in continuous session" (zitiert nach E.S. Corwin/J. Peltason.
Understanding the Constitution. 11. Aufl. 1988. S. 125: wiederkehrend auch in D. Kyvig,
Explicit and Authentic Acts: A m e n d i n g the U . S . C o n s t i t u t i o n . 1 7 7 6 - 1 9 9 5 , 1996; in der
deutschsprachigen Literatur bereits: W. Haller, S u p r e m e Court und Politik in den U S A .
Fragen der Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 1972, S. 12.
611
Vgl. nur P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 645.
222 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

1. Gebundene Verfassunggebung - Wege zur


Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung

a) USA: Die Amendments als Abbilder einer


Verfassungsergänzung - Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte

Die Gründungsväter schufen bewusst eine Verfassung, die schwer zu verändern,


revidieren oder ergänzen sein sollte. Im festen Glauben an eine eherne Verfas-
sungsstruktur. die ihrerseits den verankerten und sich entwickelnden Prinzipien
den gebührenden Respekt sichern würde, gingen sie von einem lediglich begrenz-
ten Spielraum für Änderungen aus. J. Madison unterstrich dieses Bewußtsein
in The Federalist No.49, indem er die Verfassung nur anlässlich „certain great
and extraordinary ocassions" irgendwelcher Modifikationen unterwerfen wollte.
Tatsächlich vereinten seit der Verfassungsratifikation in mehr als zweihundert
Jahren lediglich 27 vorgeschlagene Amendments die erforderlichen Mehrheiten
im Kongress und den Staaten auf sich, wobei den ersten zehn Amendments, der
Bill of Rights, insoweit ein Sonderstatus einzuräumen ist, als sie als untrenn-
barer Bestandteil der Gründungsverfassung gesehen werden müssen und deren
Aufnahme von Anfang an vorgesehen war. 612

Die Amendments sind das Abbild unmittelbarer Verfassunggebung in Amerika,


ihrer mehr als 200-jährigen Verfassungsgeschichte 613 und lassen sich am ehes-
ten als „Verfassungsergänzung" begreifen. Der Terminus „Verfassungsergänzung"
ist angesichts des Umstandes, dass die Urfassung der amerikanischen Bundes-
verfassung bislang keine Wortlaut-Änderungen, sondern vielmehr textliche Er-
weiterungen erfuhr, sachgerechter als der inflationär gebrauchte Begriff der
„Verfassungsänderung". Freilich wurden mit Hilfe der Amendments Anwendungs-
bereiche einzelner Artikel geändert, die Gültigkeit einzelner Bestimmungen ge-
gebenenfalls aufgehoben. Trotzdem wirkt in einer Gesamtschau jede Änderung
letztlich solange ergänzend bis es tatsächlich zu einer Totalrevision kommt.

Die amerikanische Verfassung bleibt angesichts des Festhaltens an ihren Be-


stimmungen damit Spiegelung ihrer Kulturgeschichte - im Gegensatz zu vielen
anderen Verfassungen, die das Ringen um eine Fortentwicklung angesichts des
revidierten Textes selten erkennen lassen. T. Hobbes sah bereits den Akt der Ver-

612
Vgl. a u c h . K. Locwenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten. 1959, S. 35.
613
Zur Geschichte der A m e n d m e n t s in großer Ausführlichkeit R. K. Newman (ed.), The
Constitution and its A m e n d m e n t s , 4 Vol., 1999. Den Bezug zum politikwissenschaftlichen
Ansatz arbeitet J. R Vile, T h e Constitutional A m e n d i n g Process in A m e r i c a n Political
T h o u g h t . 1992. heraus. Siehe auch die Q u e l l e n s a m m l u n g von ders.(cd.), T h e T h e o r y and
Practice of Constitutional C h a n g e in A m e r i c a : a Collection of Original Source Materials,
1993.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 223

fassunggebung in Kulturstaaten eher als einen Akt der Verfassungweitergebung. 6 1 4


Diese These wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika auch in formeller
Hinsicht erfüllt.

aa) Artikel V der Bundesverfassung -


ein Faktor der Stabilität und Flexibilität

Darüberhinaus wurde mit dem Instrument der Amendments ein Gerüst geschaf-
fen. das den so gegensätzlich erscheinenden, tatsächlich jedoch einander streng
bedingenden Säulen jeder Rechtsordnung - rechtliche Stabilität und notwendige
Anpassungsfähigkeit zum gesellschaftlich bedeutsamen Wechsel - die Balance
und Beständigkeit gab, die in der vorhergegangenen Geschichte oftmals erstrebt
und letztlich nie im erforderlichen Maße erreicht wurde. Was also bereits im
alten Testament im Buch Esther und beim Propheten Daniel angesichts der kaum
intendierten Auswirkungen unabänderlicher Gesetze von Medern und Persern
angedeutet worden war 615 , was schon Plutarch bezüglich des schnellen Wandels
der ursprünglich für hundert Jahre niedergelegten Gesetze Solons festgehalten
hatte 616 und was schließlich Zeitgenossen der amerikanischen Verfassungsväter in
philosophischen und politischen Schriften forderten 6 7 - die Liaison von Tradition

614
Vgl. T.Hobbes. Leviathan. 1651, chap. 26. P.Kirchhof greift diesen Gedanken
ebenfalls auf in ders., Die Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in Umbruchsituationen,
in: J.J. Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen.
1999. S. 31 ff.. 49.
615
Siehe das Buch Esther Kap. 1. 19; 2 ff. sowie Daniel. Kap. 6. 9.
616
Vgl. in englischer Übersetzung Plutarch. T h e Rise and Fall of Athens: Nine Greek
Lives. 1960. S. 67 ff.
617
Einen profunden Überblick über die amerikanischen Ansätze im 18. Jahrhundert gibt
J.R. Vile. Ideas of Legal Change: Precursors of the Constitutional A m e n d i n g Process. in: 9
Midsouth Pol. Sei. Journal (1988). S. 64 ff. Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch die
frühen Gedanken des Q u ä k e r s W. Penn, dessen Entwurf der Charter of Delaw are (1701)
unter dem Eindruck der Forderungen nach Religions- und Gewissensfreieit sowie angesichts
der banalen E r f a h r u n g von der Sterblichkeit der Menschen bereits einen „amending-
process" vorsah. Penn formulierte, dass .,no Act, L a w or Ordinance whatever" shall
„alter, change or diminish the Form or Effect of this Charter [ . . . ] without the Consent
of the Governor [ . . . ] and Six Parts of Seven of the Assembly I . . . ] . " Darüberhinaus
fand sich in der Charter eine Garantie, dass „the First Article of this Charter relating to
liberty of Conscience. and every Part and Clause therein I . . . ] shall be kept and remain.
without any Alteration, inviolably for ever", zitiert nach F. Thorpe. T h e Federal and
State Constitutions. Colonial Charters and O t h e r Organic L a w s of the States. Territories,
and Colonies Now or Heretofore Forming the United States of America, 1909. S . 5 6 0 .
In einigen der einzelstaatlichen Verfassungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung
geschaffen wurden, war die Möglichkeit zukünftiger Modifizierungen auf Änderungen der
staatsorganisatorischen Struktur beschränkt, wohingegen die meist separat verabschiedeten
„Bill of Rights" meist für unabänderlich erklärt wurden, vgl. R. Taylor. A N e w Look at
Article V and the Bill of Rights, in: 6 Ind. L. Rev. (1973). S. 6 9 9 ff.
224 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

und Moderne, die Verbindung eines erhaltenden mit einem wandlungsfähigen Ele-
ment - fand mit der Möglichkeit der Verfassungsergänzung mittels Amendments
in Art. V der Verfassung von 1787 erstmalig Einzug in eine Rechtsordnung:
„ T h e Congress, whenever two thirds of both Houses shall deem it necessary. shall
propose A m e n d m e n t s to this Constitution, or. on the Application of the Legislatures of
two thirds of the several States, shall call a Convention for proposing A m e n d m e n t s , which.
in either C a s e , shall be valid to all Intents and Purposes. as Part of this Constitution,
whcn ratified by the Legislatures of three fourths of the several States, or by Conventions
in three fourths thereof. as the o n e or the other M o d e of Ratification may be proposed
by the C o n g r e s s : Provided that no A m e n d m e n t which may be made prior to the Year
One thousand eight hundred and eight shall in any M a n n e r affect the first and fourth
Clauses in the Ninth Section of the first Article; and that no State, without its Consent,
shall be deprived of its equal S u f f r a g e in the Senate."

Über dem Verfassungskonvent von Philadelphia schwebte - wie erwähnt - ste-


tig der Geist des Kompromisses. Hinsichtlich der Amendmentregelung wurde der
Wille zur „aurea medioeritas" schließlich exemplarisch umgesetzt, indem man
einen Mittelweg fand zwischen einer „fließenden", leicht zu ändernden Verfas-
sung. die beispielsweise keinerlei Schutz vor unerwünschtem politischen Wandel
geboten hätte, und einer allzu rigiden Ordnung ohne jegliche Möglichkeit zur gele-
gentlich notwendigen Neuorientierung. Art. V übernahm hierbei eine bedeutsame
Rolle.

So konnten noch die Anicles of Confederation nicht ohne die Zustimmung der
Legislaturen 6 1 " aller Einzelstaaten geändert werden - ein System, das sich nach
überwiegender Meinung als unpraktikables Mittel zu Stillstand und potentieller
Separation instrumentalisieren ließ 619 . Die Unzufriedenheit mit den Regelungen
der Anicles und die daraus zu ziehenden Konsequenzen brachte Madison im
Federalist No. 40 zum Ausdruck, als er das Vorhaben der Verfassungsväter auch
insoweit rechtfertigte,
„ [ . . . ] that. in all great changes of established governments, forms ought to give way
to substance, that a rigid adherence in such cases to the f o r m e r would render nominal
and nugatory the transcendent and precious right of the people to .abolish or alter their

6.8
Der Begriff „legislatures" in Artikel V bezeichnet „deliberative, representative
bodies of the type which in 1789 exercised the legislative power in the several States. It
does not comprehend the populär referendum which has subsequently b e c o m e a part of the
legislative process in many of the States, nor may a State validly condition ratification of a
proposed constitutional a m e n d m e n t on its approval by such a referendum", vgl. Das Urteil
des US-Supreme Court in Hawke v. Smith. 253 U.S. 221,231 (1920)sowie Leser v. Garnett,
2 5 8 U.S. 130. 137 (1922): „lt]he funetion of a State legislature in ratifying a proposed
a m e n d m e n t to the Federal Constitution, like the funetion of Congress in proposing the
a m e n d m e n t , is a federal funetion derived from the Federal Constitution: and it transcends
any limitations sought to be imposed by the people of a State."
6.9
Siehe Art. XIII der Articles of Confederation. Dazu VV. Solberg. T h e Federal C o n -
vention and the Formation of the Union of the American States. 1958. S. 51.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 225

governments as to them shall seem most likely to effect their safety and happiness,'
since it is impossible for the people spontaneously and universally to move in concert
toward their object; and it is therefore essential that such changes be instituted by s o m e
informed and unauthorized propositions, made by some patriotic and respectable Citizen
or n u m b e r of Citizens."

N a c h d e m sich das Prinzip der Einstimmigkeit also als u n t a u g l i c h e s Mittel für


den u n u m g ä n g l i c h e n Wandel erwiesen hatte, brachten die Verfassungsväter eine
neuartige Alternative auf d e n Weg.62" Verglichen m i t d e n Articles of Confedera-
tion s t e h t A r t . V f ü r e i n h ö h e r e s M a ß a n F l e x i b i l i t ä t , d a e r z w a r h o h e H ü r d e n
im A m e n d m e n t p r o z e s s vorschreibt621, gleichwohl j e d o c h (unterschiedliche) Mehr-
heiten i m V e r f a h r e n g e n ü g e n lässt. N a c h d e m die rechtlichen Z w ä n g e g e g e n ü b e r
d e n e n d e r Articles v e r g l e i c h s w e i s e g e l o c k e r t w a r e n , g l a u b t e n n u n e i n i g e K o n v e n t s -
mitglieder. die gegebenen „legal constraints" seien durch eine selbst auferlegte
Zurückhaltung („self-restraint") zu ergänzen. Andere forderten in regelmäßigen
Abständen Überprüfungen der Verfassung („periodically scheduled reviews").
Freilich erfolglos auf B u n d e s e b e n e - wobei j e d o c h nicht verschwiegen werden
soll, dass diese Idee i m m e r h i n in einige einzelstaatliche Verfassungen inkorporiert
wurde.622

620
Obgleich alle Aufzeichnungen des Verfassungskonvents wiederholt Gegenstand in-
tensiver Untersuchungen im Hinblick auf Hintergründe des A m e n d m e n t - P r o z e s s e s waren,
hatte es innerhalb des Konvents kaum Diskussionen über die Notwendigkeit der neuen
Verfahrensform gegeben, vgl. S. Gaugush, Principles Governing the Interpretation of Exer-
cises of Article V Powers, in: 35 T h e Western Pol. Q. (1982), S. 213 ff. Der Delegierte Col.
Mason aus Virginia meinte etwa, d a s s A m e n d m e n t s vonnöten seien und es wäre ..better
to provide for t h e m . in an easy. regulär and Constitutional way than to trust chance and
violence", zitiert nach M. Farrand. T h e Records of the Federal Convention. Bd. 1. rev.ed.
1937 sowie 1966 (hier zitiert). S. 202.
621
Bei den Anti-Federalists war die B e f ü r c h t u n g , das A m e n d m e n t - V e r f a h r e n sei zu
schwierig (siehe die Kritik von P. Henry v o r d e m Ratifizierungskonvent in Virginia, zitiert
bei J. Ellion. T h e Debates in State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution.
Bd. 3 , 1 8 8 8 . S. 48 sowie die Einschätzung von W. Livingston, Federalism and Constitutional
Change. 1956, S. 242 ff.) eng mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwen-
dige A u f n a h m e und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor
der eigentlichen Verfassungsratifizierung bedürfte, vgl. E. P. Smith. T h e Movement Towards
a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. Jameson, Essays in the Constitutional
History of the United States in the Formative Period. 1 7 7 5 - 1 7 8 9 . 1889. S . 4 6 f f . Madison
freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und
versicherte die anschließende A u f n a h m e einer Bill of Rights. Die ..amending articles" ver-
teidigte er im übrigen als ein ..neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist
No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der
Funktion ..equally against that extreme facility. which would render the Constitution too
mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The
Federalist No. 43) zu wachen. Vgl. dazu auch J. R. Vile, A m e r i c a n Views of the Constitutio-
nal A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . ,
49 f.; P. Weher. M a d i s o n ' s Opposition to a Second Convention, in: 20 P O L I T Y (1988),
S. 498 ff.
226 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

bb) „Self-Restraint" in der Verfassunggebung

Insgesamt gedieh, besser glückte die Selbstverpflichtung zum „self-restraint"


in den ersten zwei Jahrhunderten nach dem Gründungsakt. Obwohl in diesem
Zeitraum mehr als 11.000 Amendment-Vorschläge für die Verfassung in den
Kongress eingebracht wurden, vereinten lediglich 33 die erforderlichen Kongress-
mehrheiten auf sich, wovon letztlich nur die benannten 27 auch von den Staaten
ratifiziert wurden. Die nach allgemeiner Ansicht bedeutsamsten Amendments,
etwa die Hälfte, entstammen zwei bahnbrechenden Perioden amerikanischer Ge-
schichte - dem Zeitraum der Verfassungschöpfung 6 2 3 , die 1791 ihre Vollendung
mit der Bill of Rights gefunden hatte, sowie der umwälzenden Phase des Bür-
gerkrieges. die Ausschlag für die sogenannten ..Reconstruction Amendments" 6 2 4
geben sollte. Daneben bleiben lediglich dreizehn „sonstige" Amendments der
Verfassung, die größtenteils dazu dienten, entweder das Wahlrecht auszuweiten 6 2 5
oder die Amtszeit des Präsidenten zu regulieren. Vier Amendments blieb es vor-
behalten. höchstrichterliche Entscheidungen de facto aufzuheben. So verbietet
das 11. Amendment (1798) entgegen der Entscheidung Chisholm v. Georgia626
Klagen von Bürgern eines Einzelstaates gegen einen anderen Einzelstaat. Mit dem
16. Amendment (1913) wurde im Widerspruch zu Pollock v. Farmers Loan &
Trust Co.'-2' die Einkommenssteuer ermöglicht. Das 14. Amendment (1868) aus
der Reconstruction-Ära ermöglicht allen in den USA geborenen oder eingebür-
gerten Personen die amerikanische Staatsbürgerschaft und setzte sich damit über
Dred Scott v. Sandfordb28 ebenso klar hinweg wie das 26. Amendment aus dem
Jahre 1971 eine Beschränkung des Wahlrechts von Personen über achtzehn und

622
Vgl. J.K. Vile (1991), S. 50. In Pennsylvania gab es für die „reviews"die Institution
eines „Council of C e n s o r s " ; d a z u S.P. Xleador, T h e Council of Censors, in 22 Penn-
sylv.Mag. of Hist.and Bio. (1898). S. 265 ff. Z u m A m e n d m e n t - P r o z e s s in den Einzelstaaten
bereits J. W. Garner. A m e n d m e n t of State Constitutions. 1907; sowie A. L Sturm. Methods
of State Constitutional Reform. 1954; M.L Kendrigan, Constitutional Revision in O t h e r
States. 1965.
623
Hierzu zählt kurioserweise auch das letzte, 27. A m e n d m e n t , das ursprünglich bereits
Bestandteil des d e m ersten Kongress 1791 zugegangenen Amendment-..Pakets" war. jedoch
erst im Jahre 1992 ratifiziert wurde.
624
Dies sind das 13.(1865), 1 4 . ( 1 8 6 8 ) u n d 15. A m e n d m e n t (1870). Siehe auch A.Avins,
T h e Reconstruction A m e n d m e n t s ' Debates. T h e Legislative History and C o n t e m p o r a r y
Debates in Congress on the 13th. 14th. and 15th A m e n d m e n t s , 1967. Zu den Schwierig-
keiten im Z u s a m m e n h a n g mit d e m 14. A m e n d m e n t J.E. Bond. No Easy Walk to Freedom.
Reconstruction and the Ratification of the Fourteenth A m e n d m e n t . 1997.
625
Das amerikanische Wahlrecht haben das 17. (1913), 19. (1920). 23. (1961). 24.
(1964) und 26. A m e n d m e n t (1971) sowie die ..Reconstruction A m e n d m e n t s " 14 (1868)
und 1 5 ( 1 8 7 0 ) zum Gegenstand.
626
Chisholm v. Georgia, 2 U.S. (2 Dali.) 419 (1793).
627
Pollock v. Farmers Loan & Trust Co., 157 U.S. 429 (1895).
628
Dred Scott v. Sandford 60 U.S. (19 How.) 393 (1857).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 227

damit das Urteil Oregon v. Mitchell™ obsolet machte. Die einzigen Amendments,
die nicht diesen Kategorien unterfallen - die sogenannten Prohibition Amend-
ments63°- bilden zudem das bislang einmalige Beispiel einer Aufhebung eines
Amendents durch ein weiteres Amendment.

In der amerikanischen Verfassung gibt es lediglich eine Vorschrift, die nicht


geändert werden darf' 3 1 , nämlich laut Art. V letzter Halbsatz die Bestimmung,
die jedem Staat das gleiche Stimmrecht im Senat gewährt. Tatsächlich wurde mit
Erlaubnis des beeinrächtigten Staates diese Regelung mit dem 17. Amendment
(1913) schließlich auch dahingehend geändert, dass nicht mehr wie ursprüng-
lich in Artikel I § 3 par. 1 der Verfassung vorgesehen die Staatsparlamente ihre
Senatoren ernennen sollten, sondern das Volk diese in Direktwahl zu bestim-
men hätte. Die grundsätzliche Änderungsbefugnis unterstrich der Supreme Court
ausdrücklich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. 6 3 2 Vor allem aber die er-
forderliche Beteiligung der Einzelstaaten stellte sich in der Vergangenheit als
schwer zu überwindendes Hindernis gegen häufige und übereilte Ergänzungen
des Verfassungstextes dar.

In den letzten Jahren waren jedoch im Hinblick auf Amendment-Bemühungen


Anzeichen eines weniger strengen „self-restraint"-Bewußtseins zu beobachten.
Obgleich seit 1971 kein neu vorgeschlagenes Amendment (das 27. aus dem Jahre
1992 hatte man. wie bereits erwähnt, schon im Zuge der Inkorporierung der Bill
of Rights initiiert) mehr angenommen wurde, ergab sich ein plötzlicher Anstieg
vorgeschlagener Ergänzungen, die den Verfahrensweg bereits ungewöhnlich weit
beschritten haben und die. sollten sie in Kraft treten, für fundamentale Prinzipien
wie das Recht der freien Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit, den strafrecht-
lichen Schutz der Bill of Rights und die Methodik, auf die der Kongress für die
Zuweisung von Mitteln zurückgreift, einschneidende Veränderungen zur Folge
hätten. 633 Darüber hinaus ist im Zuge der terroristischen Anschläge vom 11. Sep-
tember 2001 eine Potenzierung von Amendment-Vorhaben zu erkennen, wobei

629
Oregon v. Mitchell. 400 U.S. 112 (1971).
630
Das 18. (1919) und 21. (1933) A m e n d m e n t . Dazu W.D.Guthrie, Constitutional
Aspects of National Prohibition: a Review of the Antecedents of the Eighteenth A m e n d m e n t ,
the Objections to its Repeal. and the Advisability of its Modification. 1932.
631
Im Gegensatz etwa zum deutschen Grundgesetz, vgl. Art. 79 III GG. Das Problem der
..unabänderlichen Verfassungsnormen", wie beispielsweise die „Ewigkeit" der republikani-
schen Regierungsform in den Verfassungen der französischen dritten bis f ü n f t e n Republik
oder in der italienischen Verfassung, besteht also in dieser Form in den Vereinigten Staaten
nicht.
632
Vgl. die National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920) sowie Leser v. Garnett.
258 U.S. 1 3 0 ( 1 9 2 2 ) .
633
Innerhalb weniger Jahre haben etwa in den 1990er Jahren sechs vorgeschlagene
Verfassungsergänzungen ( u . a . einen ausgeglichenen Haushalt. W a h l k a m p f f i n a n z i e r u n g .
Religionsfreiheit. Verfahren zur Erhebung neuer Steuern, aber auch Flaggenentweihung
(„flag desecration") betreffend) das P l e n u m einer der beiden o d e r beider K a m m e r n des
228 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

aber weitgehend davon ausgegangen wird, dass die Unmittelbarkeit der Reaktion
(ein Wesensmerkmal von politisch gesteuertem Aktionismus) über die Momentauf-
nahme hinaus ihre Grenzen in der bisherigen Verfassungs-Ergänzungs-Tradition
finde dürfte. Zwar haben Bemühungen um die amerikanische Verfassunggebung
seit der Declaration of Independence nicht mehr Anlass zur Vermutung gegeben,
äußeren Einflussfaktoren geschuldet zu sein, gleichwohl ist nicht zuletzt aufgrund
des a m e r i k a n i s c h e n Verfassungsselbstverständnisses und -Patriotismus' gerade
dieser Umstand eher Hemmnis denn Antrieb für allzu extensive Amendment-
Absichten. 634 Jedoch gab es bereits vor dem 11. September 2001 - insbesondere
in der Parteienlandschaft - Tendenzen, das politische Klima zugunsten weiterer
Amendments zu verändern. So fanden Vorschläge, die Verfassung um ein „victim's
rights - amendment" 6 3 5 zu ergänzen ebenso politische Unterstützung wie Konzep-
te, die amerikanische Staatsbürgerschaft neu zu definieren oder die Erfordernisse
für zukünftige Amendments zu e r l e i c h t e r n . D i e Gründe für dieses neu erweckte
politische Amendment-Interesse sind vielfältig. Für manchen Republikaner spiel-
te gewiß der Umstand, seit mehreren Generationen erstmals wieder die Mehrheit
in beiden Häusern des Kongresses zu stellen, eine nicht unbedeutende Rolle.
Unter den Demokraten gibt es bis heute nicht wenige, die ihrer Frustration über

Kongresses erreicht. Dabei wurden zwei („balanced budged a m e n d m e n t " und ..flag dese-
cration a m e n d m e n t " ) vom Repräsentantenhaus verabschiedet, eine Version des ..balanced
budged a m e n d m e n t " verfehlte die erforderliche Senatsmehrheit zweimal jeweils nur um
eine Stimme, vgl. United States, Congress, Senate-Committee on the Judiciary, Subcommit-
tee on the Constitution, Balanced-Budget Amendment to the Constitution. Hearings before
the Subcommittee on the Constitution of the C o m m i t t e e on the Judiciary, United States
Senate, One Hundred Third Congress. second session. on S.J. Res. 41. February 15,16. and
17. 1994. 1995; United States Congress, Senate - Committee on the Judiciary, Balanced-
Budget A m e n d m e n t . Hearings before the Committee on the Judiciary, United States Senate.
One Hundred Fifth Congress. first session on S. J. Res. 1, a bill proprosing an a m e n d m e n t to
the Constitution of the United States to require a balanced budget. January 17 and 22, 1997,
1997. Zum „flag desecration amendment": United States, Congress, House - Committee
on the Judiciary. Subcommittee on the Constitution. Flag Desecration Amendment to the
Constitution. Hearing before the Subcommittee on the Constitution of the C o m m i t t e e on
the Judiciary, One Hundred Fourth Congress, first session. on H.J. Res. 79. May 24. 1995.
1995.
634
Freilich hatte der 11. September in den Vereinigten Staaten (wie in vielen Ländern
Europas) eine Flut von Gesetzgebungsinitiativen zur Folge, die insbesondere verschärfte
M a ß n a h m e n im Rahmen d e r inneren Sicherheit ermöglichen sollten, vgl. dazu n u r die
breite Berichterstattung etwa zum sog. ..Patriot Act".
635
Vgl. dazu die Stellungnahmen der Senatoren R. Feingold und P.J. Leahy vor d e m
Senate Judiciary Committee. Executive Business Meeting: „ T h e Victims' Rights A m e n d -
m e n t " (S.J. Res. 3) September 30. 1999. www.judiciary.senate.gov/93099rf.htm bzw. judi-
ciary.senate.gov/93099pl2.htm.
636
Allein im 106. Kongress wurden im Repräsentantenhaus bis D e z e m b e r 2001 f ü n f -
zig „proposals of an a m e n d m e n t " (vgl. die Auflistung im Einzelnen unter http://thomas
.loc.gov/cgil-lbin/quer\7L?cl06:71ist/cl06hj.lst:l), im Senat dreizehn solche Vorschläge
( h t t p : / / t h o m a s . l o c . g o v / c g i - b i n / q u e r y / L ? c l 0 6 : . / l i s t / c I 0 6 s j . I s t : 1) behandelt.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 229

ein in ihren Augen durch umfangreiche Walkampfspenden korrumpiertes System


mit einer Änderung des Verhältnisses „between money and speech" Ausdruck
verleihen wollen. 637 Insbesondere sind aber parteiübergreifend Bestrebungen aus-
zumachen, die auf eine Beschränkung des höchstrichterlichen ,judicial activism"
und eine Rückbesinnung auf den ursprünglich in der Verfassung vorgesehenen
Amendment-Prozess abzielen. Letzteres geschieht vorwiegend unter Berufung auf
die sogenannte „original meaning" des Verfassungsdokuments. 6 , s Die Fülle der
eingebrachten Amendment-Vorschläge sollte allerdings nicht darüber hinwegse-
hen lassen, dass der überwiegende Teil der intendierten Verfassungsergänzungen
Problemstellungen betrifft, die richtigerweise Gegenstand der „normalen" Gesetz-
gebung sein müssten.

Auch darf der Umstand, dass seit 1791 lediglich siebzehn eigentliche Verfas-
sungsergänzungen erfolgreich durchgeführt wurden, nicht den Blick auf die Flut
in den Kongress eingebrachter und letztlich gescheiterter Amendment-Vorschlä-
ge verschleiern. Der grundsätzlichen Bedeutung gescheiterter Empfehlungen zur
Verfassungsergänzung oder -änderung für die Verfassungsentwicklung wird an
späterer Stelle noch eingehender gedacht.

cc) Initiative und Ratifikation - das Verfahren

(1) Das Modell „congressionalproposal" - der Regelfall

Das Verfessungsergänzungsverfahren teilt sich in zwei Abschnitte: der Initiative


(„proposal") folgt die Ratifikation, wobei die Initiative entweder vom Kongress
oder den Staaten eingeleitet werden kann. 6 3 9 Ersteres erfordert einen gemeinsamen
Beschluss ( J o i n t resolution") von Senat und Repräsentantenhaus mit Zweidrittel-

637
Siehe zu dieser Problematik D. Donnelly, Are Elections for Sale?, 2001. Ein inter-
essanter Vergleich zwischen amerikanischer und europäischer Methodik der W a h l k a m p f -
und Parteienfinanzierung wird im S a m m e l b a n d von A.B. Gunlicks (ed.), C a m p a i g n and
Party Finance in North A m e r i c a and Western Europe. 1993. angestellt.
638
Z u m Stellenwert der ..original m e a n i n g " bzw. des ..original intent" in der Ver-
fassungsinterpretation siehe einen der prominentesten Vertreter des sog. „originalism"
R.H. Bork. Tradition and Morality in Constitutional Law. in: W.F. M u r p h y / C . H . Pritchett
(eds.), Courts. Judges & Politics. An Introduction to the Judicial Process. 4. Aufl. 1986.
S. 6 3 5 ff.; ders.. Neutral Principles and S o m e First A m e n d m e n t Problems, in: 47 Indiana
Law Journal (1979), S. 1 ff.: ders.. T h e Tempting of America. T h e Political Seduction of
the Law. 1990.
639
Bereits im Verfassungskonvent von 1787 wurde die Ausgestaltung eines Änderungs-
verfahrens kontrovers diskutiert. Zunächst wurde erwogen, dass „provision ought to be
made for the a m e n d m e n t [of the Constitution] whensoever it shall seem necessary" - ohne
jegliche Beteiligung des Kongresses, vgl. M. Farrand, T h e Records of the Federal Conventi-
on of 1787. Bd. I,rev.ed. 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S. 2 2 . 2 0 2 f., 237; Bd. 2. S. 85. Auf
dieser Grundlage gestaltete die Detailkommission einen Absatz, der vorsah, dass der Kon-
gress auf Antrag von zwei Dritteln der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten
einen Konvent zur Änderung der Verfassung einzuberufen hätte, vgl. Farrand (1937), Bd. 1.
230 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

mehrhcit. In den bislang eingebrachten dreiundreißig Verfassungsergänzungsini-


tiativen w u r d e in allen Fällen auf die g e n a n n t e Alternative d e s V e r f a h r e n s ü b e r
den Kongress zurückgegriffen. Da das „proposal of an A m e n d m e n t " nicht als G e -
s e t z g e b u n g s a k t e i n z u s t u f e n ist, b e s i t z t d e r a m e r i k a n i s c h e P r ä s i d e n t g e g e n ü b e r d e r
J o i n t r e s o l u t i o n " d e s K o n g r e s s e s w e d e r e i n V e t o r e c h t n o c h ist s e i n e Z u s t i m m u n g
erforderlich.640

Bislang haben sich hinsichtlich dieses Initiativrechtes nur vereinzelt verfas-


s u n g s r e c h t l i c h e P r o b l e m e e r g e b e n . A l s e t w a Madison d e m R e p r ä s e n t a n t e n h a u s
d e n V o r s c h l a g z u r A u f n a h m e e i n e s G r u n d r e c h t e k a t a l o g e s . d e m l e t z t l i c h d i e Bill o f
Rights entsprang, unterbreitete, beabsichtigte er eigentlich eine Inkorporation der
entsprechenden B e s t i m m u n g e n in den Verfassungstext.f>il D a s Repräsentanten-
h a u s entschied sich d a h i n g e g e n b e k a n n t l i c h f ü r die bis h e u t e praktizierte M e t h o d e .
Ergänzungen in F o r m zusätzlicher Artikel vorzuschlagen.642 Schlicht ignoriert wur-
de dabei eine Empfehlung, zunächst beide K a m m e r n des Kongresses beschließen

S. 188. was freilich zu heftigen Kontroversen führte. Z u m einen wurde die G e f a h r einer
subversiven D o m i n a n z von zwei Dritteln der Staaten über die Minderheit befürchtet, so
der Delegierte Gerry, siehe Farrand (1937). Bd. 1. S. 557 f. Andere prophezeiten, dass der
Kongress wohl als Erster ein A m e n d m e n t für notwendig erachten würde, eine Übertragung
der ..Verfahrenshoheit" auf die Einzelstaaten hingegen bedeuten könnte, dass lediglich
Veränderungen, die die Machtposition der Staaten festigen würden, begründete Aussicht
auf Erfolg hätten, vgl. das Votum Hamiltons bei Farrand (1937). S. 558. Schließlich wurde
der Vorschlag Madisons a n g e n o m m e n , der ein Amendment-Initiativrecht sowohl des Kon-
gresses als auch von den gesetzgebende Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten
vorsah.
640
Vgl. Hollingsworth v. Virginia. 3 Dali. (3 U.S.) 378 (1798). Den Gouverneuren
der Staaten steht ebensowenig ein Veto zu. Allerdings sind dem Präsidenten indirekte
Handhaben der Einflussnahme auf den Kongress gegeben, um gegebenenfalls gegen eine
Verfassungsergänzung einzuschreiten. Am Beispiel des sog. Bricker-Amendments, das die
außenpolitische Bewegungsfreiheit der Präsidialgewalt einschränken wollte, erläutert dies
K. Loewenstein Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959.
S. 41, 310 ff.
f>il
Siehe Annais of Congress, Bd. 1 (1789). S. 4 3 3 ff. Gleichzeitig war bei den Anti-
Federalists die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig, e n g mit der Auf-
fassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwendige B e i f ü g u n g und Garantie einer Bill
of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung
bedürfte, vgl. E. P. Smith. T h e Movement Towards a Second Constitutional Convention in
1788. in: J.F. J a m e s o n . Essays in the Constitutional History of the United States in the
Formative Period, 1 7 7 5 - 1 7 8 9 , 1889. S . 4 6 f f . Madison freilich vertröstete die Anhänger
dieser Idee auf den Zeitraum nach d e r Ratifizierung und versicherte die anschließende
A u f n a h m e einer Bill of Rights. Die ..amending articles" verteidigte er im übrigen als ein
„neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle
erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion „equally against that ex-
treme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty,
which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 4 3 ) zu wachen, vgl. auch
J.R. Vile. American Views of the Constitutional A m e n d i n ? Process: An Intellectual History
of Article V. in: 25 A J L H (1991). S . 4 4 ff.. 49 f.
M2
Vgl. Annais of Congress. Bd. I (1789). S. 717.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 231

zu lassen, ob A m e n d m e n t s überhaupt notwendig („necessary") seien, bevor de-


taillierte Vorschläge in Betracht g e z o g e n würden.64- D e r S u p r e m e C o u r t entschied
s c h l i e ß l i c h i n d e n National Prohibition Cases, d a s s d i e z w e i Kammern des Kon-
gresses durch den Vorschlag eines A m e n d m e n t s konkludent die Notwendigkeit
einer Revision z u m Ausdruck brächten.644

(2) Das Modell „constitutional Convention " - Option zur Totalrevision?

Das zweite v e r f a s s u n g s m ä ß i g vorgesehene Modell, der „constitutional Conven-


tion" w u r d e bislang noch nicht erfolgreich b e m ü h t . Hierbei m ü s s e n zwei Drittel
d e r G e s e t z g e b u n g s k ö r p e r s c h a f t e n aller Einzelstaaten die E i n b e r u f u n g eines Ver-
fassungskonvents beschließen, d e r d a n n die Freiheit besäße, alle erdenklichen
Ergänzungen sowie de facto Änderungen der Verfassung vorzunehmen. Selbst
die A n n a h m e einer gänzlich neuen Verfassumg wäre im R a h m e n des Möglichen.
Eine solche Totalrevision, w i e sie beispielsweise in der S c h w e i z e r V e r f a s s u n g
vorgesehen ist"5, w u r d e in der Vergangenheit m e h r f a c h vorgeschlagen."" Die
B u n d e s v e r f a s s u n g unterscheidet nicht ausdrücklich z w i s c h e n Teil- und G e s a m t ä n -
derungen der Verfassung, sondern spricht in Art. V lediglich von „ A m e n d m e n t s

M3
Ebenda S . 430.
644
Siehe National Prohibition Cases 253 U.S. 350. 3 8 6 (1920): „ T h e adoption by
both Houses of Congress. each by a two-thirds vote, of a joint resolution proposing an
a m e n d m e n t to the Constitution, sufficiently shows that the proposal was deemed necessary
by all w h o voted for it. An express declaration that they regarded it as necessary is not
essential. None of the resolutions whereby prior a m e n d m e n t s were proposed contained such
a declaration." Im selben Fall wurde im übrigen auch das bereits oben genannte Q u o r u m ,
wonach für das ..proposal" die Zweidrittelmehrheit der anwesenden Kongressmitglieder
ausreichend sein sollte, vom Supreme C o u r t festgestellt.
645
Art. 138 der Schweizer Bundesverfassung. Am 18. April 1999 kam in der Schweiz
eine zweite große Totalrevision nach 1874 zur A b s t i m m u n g und wurde trotz niedriger
Stimmbeteiligung (35.4%) deutlich a n g e n o m m e n . Die neue Verfassung trat am 1.1.2000
in Kraft. Ausschnitte der langen Diskussion um eine Totalrevision der Schweizer Ver-
fassung bieten etwa M. Imboden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in:
ders.. Staat und Recht, 1971. S. 2 1 9 ff.: L. Wildhaber, D a s Projekt einer Totalrevision der
schweizerischen Bundesverfassung, in: J ö R 26 (1977), S. 2 3 9 ff. ( z u m Bericht der Exper-
tenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung. 1977) und
B. Ehrenzeller, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Der gegenw ärtige
Stand des Vorhabens, in: ZaörV 47 (1987), S. 699 ff. N u n m e h r R.J. Schweizer Die erneu-
erte schweizerische Bundesverfassung, in: JöR 48 (2000), S. 2 6 3 ff. Den wichtigen Bezug
schweizerischer Verfassungsstrukturen zu Europa stellt P. Häberle, „Werkstatt Schweiz":
Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: ders.. Europäische Rechts-
kultur (1994). Taschenb. 1997, S. 355 ff. her.
646
Eine große Auswahl verschiedener Vorschläge findet sich bei D. Robinson (Hrsg.),
R e f o r m i n g American Government. T h e Bicentennial Papers of the C o m m i t t e e on the
Constitutional System. 1985. Für eine genauere Beschreibung und Analyse der einzel-
nen Vorschläge: J. R. Vile, Rewriting the United States Constitution. An Examination of
Proposais from Reconstruction to the Present, 1991.
232 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

to this Constitution". Soweit die Verfassungsrechtslehre gleichwohl an diese Un-


terscheidung anknüpft, gehen die Meinungen darüber auseinander, welches Organ
die Obliegenheit einer Totalrevision wahrzunehmen befugt ist. Nach einer entste-
hungszeitlich argumentierenden Richtung ist der Kongress ausschließlich ermäch-
tigt. Teiländerungen der Verfassung vorzuschlagen, während das Unternehmen
einer Totalrevision von dem als Pouvoir constituant eingesetzten Verfassungs-
konvent durchzuführen ist. 647 Im Unterschied dazu lehnt eine verbreitete, das
„geltungszeitliche" Auslegungselement betonende Auffassung solche organspezi-
fischen Kompetenzzuweisungen ab und räumt Kongress und Verfassungskonvent
gleichermaßen die Befugnis zur Vornahme von Total- und Teilrevision ein.

Da die Alternative des Konvents nie erfolgreich durchgeführt wurde, ist die-
se Methode mit etlichen rechtlichen Fragen behaftet. 6 4 8 Wann und wie ist ein
Verfassungskonvent einzuberufen? Müssen die Amendment-Anträge der erforder-
lichen Anzahl von Einzelstaaten identisch sein, inhaltlich das gleiche Amendment
erstreben oder lediglich eine ähnliche Angelegenheit betreffen? Kommt es bei
dem notwendigen Quorum auf ein gleichzeitiges Einreichen der Petitionen an
oder können diese gar über mehrere Jahre gestreckt werden? 64 '' Kann ein Konvent
nur auf die Beratung eines Amendments oder auf den materiellen Gehalt des
Amendments begrenzt werden? Diese Fragen sind eine bloße Facette des unüber-
schaubar erscheinenden Problemkataloges, der dem „constitutional Convention"
anhaftet. 6 5 0 In der amerikanischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre üben
wenige Themenkreise eine ähnlich - kontrovers diskutierte - Faszination aus
wie die Möglichkeit der Einberufung eines weiteren Verfassungskonvents, sei
es um das Dokument von 1787 einer Totalrevision zu unterziehen oder sei es
„nur" einzelner Amendments willen. Die Konvents-Alternative scheiterte einige

647
Vgl. zu diesem Streit mit einer Darstellung der unterschiedlichen Positio-
nen W.S. Livingston, Federalism and Constitutional Change, 1956. S . 2 1 8 : D.P.Lacyl
P.L. Martin. A m e n d i n g the Constitution: the Bottleneck in the Judiciary Comniittees, in: 9
Harvard Journal on Legislation ( 1 9 7 1 / 7 2 ) . S. 6 6 6 ff.. 671 f.; W.A. Platz. Article V of the
Federal Constitution, in: 3 T h e George Washington L. Rev. (1934), S. 17 ff., 24 f.
f>:8
Eine umfängliche Studie d e r „Convention m e t h o d " gibt C. BrickfieUl. Problems
Relating to a Federal Constitutional Convention. 85th Congress, Ist sess., 1957. Siehe
auch R. Caplan. Constitutional Brinksmanship. A m e n d i n g the Constitution by National
Convention, 1988.
,vi y
' Diese Frage ist nicht mit der Problemstellung zu verwechseln, wie lange ein vom
Kongress den Staatenlegislaturen zur Ratifikation überwiesener Vorschlag in Umlauf
bleiben kann oder soll, ehe er als überholt gelten kann. vgl. K. Loewenstein, Verfassungsrecht
und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 I .
650
Eine gründliche Analyse der einzelnen Fragestellungen mit einigen bemerkenswerten
Lösungsansätzen geben Brickfield (1957) und Caplan (1988). Siehe auch Federal Consti-
tutional Convention. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on Separation of
Powers. 90th Congress. Ist sess. (1967); W. Edel. A Constitutional Convention: Threat or
Challenge?, 1981: American Bar. Association (Hrsg.), A m e n d m e n t of the Constitution by
the Convention Method under Article V, 1974.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 233

Male nur knapp. So fehlte ein einziger Staat für die Einberufung eines Konvents,
nachdem der Senat die lang diskutierte Verabschiedung eines Amendments, das
die Direktwahl der Senatoren gestatten sollte, zugelassen hatte. 651 In den 60er
Jahren des 20. Jahrhunderts missglückte aufgrund nur eines fehlenden Staates
zur erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit der Versuch, ein Konvent zur Revision
der umstrittenen Supreme Court Entscheidungen zur Anpassung der Wahlbezir-
ke („reapportionment decisions") zu initiieren. 652 Zwei Staaten fehlten zu einer
erfolgreichen Petition für eine Begrenzung der Einkommenssteuerraten 6 5 3 sowie
für ein ..balanced budget amendment" 6 5 4 .

Während in der amerikanischen Verfassungslehre einige die Auffassung vertre-


ten, zahlreiche Sicherungshebel würden einen Konvent als risikolose politische
Option erscheinen lassen 655 , setzen andere in zuweilen dramatischen Worten eher
warnende Akzente 6 5 6 . Letztere verweisen unter anderem auf den Umstand, dass
bislang nicht einmal ein Gesetz zur Regelung eines solchen Konvents verabschie-
det wurde. 657

Unter dem Strich haben wohl zwei Fragestellungen die Debatten um einen Kon-
vent dominiert. Z u m einen wurde der Problematik einer etwaigen Begrenzung
der Verhandlungspunkte in einem Konvent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum

651
Dazu Brickfiekl (1957). S. 7, 89.
652
Vgl. G. Rees. T h e A m e n d m e n t Process and Limited Constitutional Conventions, in:
2 Benchmark (1986). S. 66 f.; Caplan (1988). S. 73 ff.
653
Vgl. Brickfield (1957), S. 8 f.. 89.
654
Gründliche Diskussionen zu diesem ..proposal" finden sich in: W. M o o r e / R . Penner.
The Constitution and the Budget. 1980; American Enterprise Institute. Proposais for a
Constitutional Convention to Require a Balanced Federal Budget, 1979. Siehe aber auch
W.T. Barker. A Status Report on the .Balanced B u d g e t ' Constitutional Convention, in:
20 T h e J. Marshall L. Rev. (1986). S. 29 ff., der viele der einzelnen Petitionen f ü r diesen
Konvent für rechtsunwirksam hält.
655
Siehe nur Caplan (1988): P. Weber. T h e Constitutional Convention: A Safe Political
Option, in: 3 T h e J. of L a w & Politics (1986), S . 5 1 ff.. J.T.Noonan, T h e Convention
Method of Constitutional A m e n d m e n t - Its Meaning. Usefulness and W i s d o m . in: 10 Pac.
L.J. (1979). S. 641 ff.
656
Vgl. etwa L. Kean. A constitutional Convention Would Threaten Rights We Have
Cherished for 200 Years. in: 4 Det.Col. of L. Rev. (1986), S. 1087 ff.; A. Sorenson. T h e
Quiet C a m p a i g n to Rewrite the Constitution, in: Sat. Rev. vom 15. Juli 1967, S. 17 ff.;
G. Gunther. Constitutional Brinkmanship. Stumbling Toward a Convention, in: 65 Amer.
Bar A s s o c . J . (1979). S. 1046 ff.
657
Freilich unternahmen einige, insbesondere der ehemalige Senator S. Ervin. den
Versuch, einen Gesetzentwurf zu formulieren mit d e m Vorsatz, den wissenschaftlichen
Spekulationen um die Einzelheiten eines ungenutzten Instruments ein Ende zu bereiten,
vgl. S. Ervin, Proposed Legislation to Implement the Convention Mechanism of A m e n d i n g
the Constitution, in: 66 Michigan L. Rev. (1968), S. 8 7 5 ff.; siehe auch ders., Proposed
Legislation on the Convention Method of A m e n d i n g the United States Constitution, in: 85
Harvard L. Rev. (1977), S. 1612 ff.
234 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

anderen stand immer wieder das Thema, welche Kontrolle entweder der Kongress
oder die Justiz über das Konventsverfahren ausüben könnten, im Vordergrund.
Die Option einer „limited constitutional Convention" untersuchte insbesondere
W. Dellinger, um schließlich festzustellen, dass eine inhaltliche Begrenzung des
Konvents abzulehnen und jede gliedstaatliche Petition, die auf eine solche Be-
grenzung abzielte demnach unwirksam sei. 658 Diese Position gründet auf der
Überzeugung, dem Kongress ebensowenig ein exklusives Vorschlagsrecht für
Amendments zu gewähren wie den Legislaturen der Einzelstaaten einzuräumen,
Amendments, die die gliedstaatlichen Befugnisse auf Kosten der Bundesregierung
ausweiten würden, vorzuschlagen und zu ratifizieren. 65 ' Würde nun einem von
beiden die Berechtigung zur Begrenzung zugebilligt, liefe man Gefahr die eben
genannten Grundsätze auszuhöhlen. Dies gelte dann auch entsprechend hinsicht-
lich einer Kontrollkompetenz des Kongresses über einzelne Punkte des Konvents.
Auf Widerstand stieß diese Auffassung unter anderem bei G. Rees, der es den
Gliedstaaten durchaus selbst überlassen will, inwieweit ein Konvent eine Begren-
zung erfährt. 6 6 0 Die einzelstaatlichen Befugnisse, Amendments vorzuschlagen
würden nach Artikel V zumindest „ungefähre" Parallelen zu den dort genannten
Kompetenzen des Kongresses aufweisen, dessen Aufgabe es im Wesentlichen sei,
„housekeeping rules" 661 zu erlassen, was zur Folge habe, dass der Konvent viele
seiner kennzeichnenden Angelegenheiten selbst zu erledigen habe und den Gerich-
ten allgemeine Aufsichtsfunktionen zugewiesen werden müssten. Sowohl Rees als
auch Dellinger koppelten also die Problemstellungen der Organkompetenz und der
Begrenzungsoption. Allerdings unter diametralen Prämissen. Während Dellinger
das gesamte Amendment-Verfahren als eine „series of formalities" beziehungs-
weise ein „set of formal rules rather than as the embodiment of vague policy
objectives" 662 einschätzt, stellt Rees den Gedanken des „contemporary consensus"

658
Siehe W. Dellinger, T h e Recurring Question of the .Limited* Constitutional C o n -
vention. in: 88 Yale L. Rev. (1979). S. 1623 ff. Eine ähnliche Sichtweise offenbart auch
C.L. Black. Amending the Constitution: A Letter to a C o n g r e s s m a n . in: 82 Yale L.J. (1972),
S. 189 ff. Eine Begrenzung des Verfassungskonvents auf lediglich ..stückweise Ä n d e r u n -
g e n " („piecemeal changes") schlägt A. Diamond. A Convention for Proposing A m e n d -
ments. T h e Constitution*s Other Method, in: 11 P U B L I U S (1981), S. 1113 ff. vor. Dagegen
J.R. Vile. Ann D i a m o n d on an Unlimited Constitutional Convention, in: 19 P U B L I U S
(1989), S. 177 ff. sowie ders.. A m e r i c a n Views of the Constitutional A m e n d i n g Process:
An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991). S . 4 4 f f „ 65.
659
Dellinger (1979), S. 1630.
660
Vgl. G. Rees. T h e A m e n d m e n t Process and Limited Constitutional Conventions, in:
2 Benchmark (1986). S. 66 ff. Obgleich sich auch Rees selbst nicht als B e f ü r w o r t e r eines
erneuten Verfassungskonvents sieht, vgl. ebenda. S. 80. so widerspricht er doch Dellinger
insoweit als er keinen Anlass erkennt, den Staaten lediglich die Wahl zwischen einem von
allen Fesseln befreiten oder eben keinem Konvent zu geben.
661
Ebenda S. 86.
662
Siehe W. Dellinger. T h e Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the A m e n -
ding Process. in. 97 Harvard L. Rev. (1983). S. 386 ff., 4 1 8 . 432.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 235

in den Vordergrund. Letzterer nimmt diesen Gedanken auch zum Maßstab eines
gerichtlichen Eingreifens in Amendment-Angelegenheiten, das er grundsätzlich
befürwortet. Für Dellinger kommt dagegen höchstens eine Justiziabilität der for-
mellen Kriterien durch die Gerichte in Betracht. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen,
da er zum einen nicht den konstruiert erscheinenden Weg über eine sehr weite Aus-
legung von Artikel V gehen muss und letztlich konsequenter in den Folgefragen
bezüglich der Stellung des Kongresses, der Gerichte und Einzelstaaten und deren
klarer Abgrenzung untereinander im gesamten Amendment-Verfahren ist. 663

(3) Versuche zur Begrenzung von „amending power"

Obgleich die beiden vorgesehenen Methoden der Verfassungsergänzung einer


weitreichenden, bundesweiten Einbeziehung der Regionen und Einzelstaaten be-
dürfen. um die erforderlichen qualifizierten Mehrheiten zu erlangen, mangelte
es in der Vergangenheit nicht an Versuchen, die vorgebenen Barrieren noch zu
verschärfen. Bereits dem Verfassungskonvent von 1787 wurde der letztlich ge-
scheiterte Vorschlag unterbreitet, Art. V um die Klausel ,.no State shall without its
consent be affected in its internal policy" zu ergänzen. 6 " Ein weiterer Anlauf, die
„amending power" einer verstärkten Begrenzung auszusetzen wurde 1861 unter-
nommen, als der Kongress den Staaten nahelegte, alle zukünftigen Amendments
zu blockieren, die den Kongress autorisieren würden, „to interfere, within any
State, with the domestic institutions thereof f...]" 6 6 5 . Nachdem bereits drei Staa-
ten einen diesbezüglichen Entwurf ratifiziert hatten, beendete der Ausbruch des
amerikanischen Bürgerkriegs vorzeitig den Fortgang dieses Vorhabens. 666 Wenig
später versuchten einige Kongressmitglieder vergeblich die Verabschiedung des
13. Amendments (Verbot der Sklaverei) zu verhindern, indem sie d a r a u f h i n w i e -
sen. dass der „amending process" nicht für eine derart große Veränderung innerer
Angelegenheiten der Einzelstaaten missbraucht werden dürfte. 6 6 7

Jahre später befanden sich die formelle und materielle Rechtsgültigkeit des
18. und 19. Amendments (das bundesweite Alkoholverbot sowie die Ausdeh-

663
Dazu zählen etwa die zahlreichen Streitpunkte bezüglich der Ratifikation (siehe
sogleich), die Dellinger durch seine stringente Haltung mit klaren Kompetenzabgrenzungen
bewältigt, vgl. ders. (1983), S . 4 1 9 f f . Kritisch allerdings LH. Tribe. A Constitution We
Are A m e n d i n g : In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983),
S. 4 3 3 ff. Siehe auch J.R. Vile. Judicial Review of the A m e n d i n g Process: the Dellinger-
Tribe Debate. in: 3 J. of Law & Politics (1986), S. 21 ff.
664
Vgl. M. Farrand. T h e Records of the Federal Convention of 1787. Bd. 1, Revised
Edition 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S . 6 3 0 .
665
Siehe 57 Cong. G l o b e 1 2 6 3 ( 1 8 6 1 ) .
666
Dazu ausführlich H. Arnes, T h e Proposed A m e n d m e n t s to the Constitution of the
United States Düring the First Century of Its History. H. Doc. 353, pt. 2. 54th Congress, 2d
sess., 1897. S. 363.
667
Vgl. 6 6 Cong. G l o b e 921, 1 4 2 4 - 1 4 2 5 , 1 4 4 4 - 1 4 4 7 , 1 4 8 3 - 1 4 8 8 ( 1 8 6 4 ) .
236 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nung des Wahlrechts auf Frauen) auf dem Prüfstand. In der Diskussion wurde
hinsichtlich der Reichweite der Amendments betont, dass ihr eigentlicher Anwen-
dungsbereich die Korrektur von Fehlern der ursprünglichen Verfassungsversion
sei und dass insbesondere nicht die Annahme zusätzlicher oder ergänzender Vor-
schriften von Art. V der Verfassung umfasst sei. 668 Zudem habe der Kongress
keine verfassungsmäßige Kompetenz, Amendments vorzuschlagen, welche die
Wahrnehmung souveräner Gewalt der Gliedstaaten oder deren Verzicht darauf
berühren würde. Gegen das 19. Amendment wurde unter anderem vorgebracht,
einem Gliedstaat, der das Amendment nicht ratifiziert habe, würde das Recht auf
„equal suffrage" im Senat vorenthalten/'" Die Berücksichtigung „überpositiver"
Grundsätze, die auch den Verfassungsgesetzgeber binden würden, ist dem ame-
rikanischen Rechtsdenken fremd. Diesbezügliche Gedankengänge wurden vom
Supreme Court als unerheblich eingestuft, die beiden Amendments entgegen aller
Einwände letztlich aufrechterhalten. 6 7 "

(4) Rcitifikationserfordernisse und Problemlagen -


das Kuriosum 27. Amendment

Die Ratifikation 671 erfordert laut Art. V S. 1 der Verfassung bei beiden Initia-
tiv-Modellen eine Mehrheit von drei Vierteln der einzelstaatlichen Legislaturen.
Allerdings steht es im freien Ermessen des Kongresses, im Anschluß an die
Wahrnehmung seines Initiativrechts die Ratifizierung entweder durch die ge-
setzgebenden Körperschaften der Staaten oder durch speziell von den Staaten
einzuberufende Verfassungskonvente vorzuschreiben. 672

Zur großen Überraschung der amerikanischen Bevölkerung wurde 1992 das


bereits erwähnte 27. Amendment ratifiziert. 203 Jahre nach seinem „proposal".
Dies warf freilich die Frage nach der erlaubten zeitlichen Anhängigkeit eines
Amendments auf. Grundsätzlich wurde dem Kongress das Recht zugestanden,
mit dem „amendment-proposal" ein angemessenes („reasonable") Zeitlimit zu
verbinden. 6 7 1 Seit dem 18. und mit der Ausnahme des 19. Amendments hatte der
Kongress allen Ergänzungsvorschlägen eine Formulierung beigefügt, wonach das

668
Vgl. National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920).
669
Vgl. Leser v. Garnett. 258 U. S. 130 (1922).
670
Vgl. National Prohibition Cases und Leser v. Garnett, ebenda
61
Zur Ratifikation der G r ü n d u n g s v e r f a s s u n g und der Bill of Rights C.R.Smith. To
Form a More Perfect Union. T h e Ratification of the Constitution and the Bill of Rights.
1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993.
672
Die zweite Alternative wurde nur einmal, nämlich anlässlich des 21. A m e n d m e n t s
( A u f h e b e n der Prohibition) bemüht, da man sich hiervon eine raschere Umsetzung ver-
sprach.
671
In B l a c k ' s Law Dictionary wird „reasonable t i m e " definiert als „such length of
time as may fairly, properly, and reasonably be allowed or required, having regard to the
nature of the act or duty. or of the subject-matter. and to the attending circumstances",
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 237

jeweilige Amendment nach einer Ratifikationsfrist von sieben Jahren ungültig sein
sollte. In den früheren Vorschlägen war diesbezüglich nichts zu lesen; zwei „pro-
posals" aus dem Jahre 1789, die schließlich 18I0beziehungswei.se 1861 vorgelegt
wurden, gingen im Verfahren bereits an die Gliedstaaten, wurden jedoch nicht
ratifiziert. In seiner berühmten und heftig umstrittenen Entscheidung Coleman
v. Miller weigerte sich der Supreme Court darüber zu befinden, ob das den Staa-
ten 1924 vorgelegte „child labor amendment" 13 Jahre später ratifiziert werden
könnte. 67,1 Dies sei eine „political question" 6 7 5 , die der Kongress zu lösen habe,
wenn die erforderlichen Dreiviertel der Gliedstaaten dem Amendment-Vorschlag
zugestimmt hätten. Eine Fristsetzung seitens des Gerichtshofs komme daher nicht
in Betracht. 676

Bereits 1921 hatte der Supreme Court in Dillon v. Gloss das Recht des Kongres-
ses unterstrichen, zeitliche Begrenzungen für die einzelstaatlichen Ratifikationen
zu setzen. 677 Zudem deutete der Gerichtshof bereits an, dass deutlich zeitferne
„proposals" nicht länger einer Ratifikation zugänglich gemacht werden dürf-
ten. Obgleich der Supreme Court zugestand, der Wortlaut von Artikel V der
Bundesverfassung enthalte tatsächlich keinen Hinweis auf etwaige zeitliche Be-
schränkungen. so wies das Gericht doch nachdrücklich auf den Umstand hin, dass
ein funktionierender „amending process" als solcher das gewichtigste Argument
gegen eine grenzenlose Ausweitung des Ratifizierungsverfahrens liefere. 67 * Drei
logisch miteinander verknüpfte Gesichtspunkte sollten die Ansicht des Supreme
Court untermauern:

..First, proposal and ratification are not treated as unrelated acts but as succeeding steps
in a Single endeavor. the natural inference being that they are not to be widely separated
in time. Secondly. it is only when there is d e e m e d to be a necessity therefor that
a m e n d m e n t s are to be proposed. the reasonable implication being that when proposed

vgl. H.C.Black. B l a c k ' s Law Dictionary. 6 , h edition 1990. S. 1483 (vgl. auch die achte
Neuauflage von B.A. Garner (ed.). 2006). Den wahren Bezugspunkt dieser Definition hat
der S u p r e m e C o u r t in Twin Lick Oil Co. v.Marbury, 91 U . S . 5 8 7 . 591, 23 L . E d . 3 2 8
hergestellt, indem er feststellte: .Jiow long a .reasonable t i m e ' ought to be is not defined in
law, but is left to the discretion of the j u d g e s . "
674
Coleman v. Miller 307 U.S. 433 (1939).
675
Hierzu kursorisch unter B . I V . 2 . b ) c c ) ( 2 ) .
676
In Coleman v. Miller, e b e n d a , wurde auch der Frage nachgegangen, inwieweit ein
Staat, der bereits einmal einen Ergänzungsvorschlag abgelehnt hat, sich nachträglich anders
entscheiden und ihn doch annehmen kann. Der Supreme Court erklärte diese Konstellation
für zulässig mit der etwas seltsam a n m u t e n d e n Begründung, dass damit eine S t i m m e
mehr für das Z u s t a n d e k o m m e n der Dreiviertelmehrheit gegeben sei. Umgekehrt ist es
aber einem Staat, der ein ..proposal" bereits a n g e n o m m e n hat. nicht ermöglicht, diesen
wieder wirksam abzulehnen. Vgl. dazu auch kritisch K. Loewenstein. Verfassungsrecht und
Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 2 .
677
Dillon v. Gloss 256 U. S. 368 (1921).
678
Ebenda 374.
238 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

they are to be considered and disposed of presently. Thindly, as ratification is but


the expression of the approbation of the people and is to be effective when had in
three-fourths of the States, there is a fair implication that that it must be sufftciently
contemporaneous in that n u m b e r of States to reflect the will of the people in all sections
at relatively the same period. which of course ratification scattered through a long series
of years would not do." 6TO

Weiter führte das Gericht diese Lösung deshalb als die tragfähigste an, als sie
entgegen der anderen Ansicht nicht die Konsequenz jahrhundertelanger schwe-
bender „proposals" mit sich brächte. Vier Amendmentvorschläge, wozu die zwei
zu zählen wären, die im Jahre 1789 den Staaten zugeleitet wurden „are still pen-
ding and in a Situation where their ratification is some of the States many years
since by representatives of generations now largely forgotten may be effectively
supplemented in enough more States to make three-fourths by representatives of
the present or some future generation. To that view few would be able to subscribe,
and in our opinion it is quite untenable." 6 8 0

Was also dem Supreme Court 1921 ohne Gegenstimme untragbar („untenable")
erschien, erwies sich 1992 in Exekutive und Kongress als durchaus vertretbar.
Angesichts der Kampagne zum 27. Amendment zeigte sich auch, wie eng das
verfassungsrechtliche Instrument Verfassungsergänzung an die politische Wirk-
lichkeit gebunden ist. Die Korrelation zwischen Verfassungsrecht und Politik, die
die amerikanische Geschichte wechselvoll prägte, wird auch an diesem Beispiel
offenkundig. Inwieweit eim 27. Amendment noch von einer „reasonable time peri-
od" die Rede sein konnte, war heftig umstritten. 6 * 1 Das Office of Legal Counsel des
Justizdepartments legte damals dem Weißen Haus ein Memorandum vor, das die
wesentlichen Bezüge zur D/7/ö/i-Entscheidung des Supreme Courts herstellte. 682
Dabei wurden die drei oben genannten „considerations" des Gerichtshofs als nicht
überzeugend qualifiziert. So setze der Supreme Court zwar voraus, das Verfahren
müsse eher kurz denn ausgedehnt sein, da Vorschlag und Ratifikation als Schrit-
te in einem einzigen Verfahren zu sehen seien. Allerdings sage das Argument,
ein Amendment solle seine Notwendigkeit widerspiegeln gerade nichts über die
Länge des verfügbaren Zeitraums aus. Dies umso mehr als die Staaten, die erst
kürzlich ratifiziert hatten, offensichtlich von der Notwendigkeit des Amendments
ausgegangen wären. Auch deute der Umstand, dass ein Amendment das Resultat

679
Ebenda 374 f.
680
Ebenda.
f>sl
So schrieb beispielsweise LH. Tribe. T h e 27th A m e n d m e n t Joins the Constitution,
in: Wall Street Journal. 13. Mai 1992. S. A I 5 : ..Article V says an a m e n d m e n t .shall be valid
to all Intents and Purposes. as part of this Constitution' when .ratified' by three-fourths
of the states - not that it might face a veto for tardiness. Despite the Supreme C o u r t ' s
suggestion. no speedy ratification rule may be extracted f r o m Article V ' s text, strueture or
history."
682
Vgl. 16 Ops. of the O f f i c e of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 239

eines Konsenses sein sollte, nirgends auf eine Zeitgleichheit der Übereinstimmung
hin. 683 Schließlich wurde in besagtem Memorandum der Hinweis gewagt, die ein-
zig angebrachte Form der Auslegung von Art. V sei „ to provide a clear rule that is
capable of mechanical application, without any need to inquire into the timeliness
or substantive validity of the consensus achieved by means of the ratification
process. Accordingly, any interpretation that would introduce confusion must be
disfavored." 684 Dieser Ansicht ist unter Berufung auf eine enge Wortlautauslegung
der Verfassung grundsätzlich zuzustimmen. Artikel V enthält keinerlei Hinweis
auf etwaige Fristen, wohingegen die Verfassung an anderen Stellen sehr wohl
Fristsetzungen aufweist. 685

Die Verabschiedung des 27. Amendments wirft indessen die Frage auf, ob
einem Amendmentvorschlag eine „Ewigkeitsgarantie" innewohne. 686 Dies kann
jedoch höchstens für „proposals" gelten, die selbst nach vielen Jahren noch eine
tatsächliche Aktualität beinhalten. Freilich ist - mit Ausnahme von Regelungen,
die an eine Bedingung oder Frist gebundenen sind - den meisten Verfassungs-
vorschriften der Wille der jeweiligen „Verfassungsväter" zugrunde zu legen, die
Inhalte mögen auf Dauer Geltungskraft besitzen. Die Bemühungen um Flexibi-
lität im Wortlaut unterstreichen diese Bemühungen. Allerdings zeigt eben auch
gerade die amerikanische Bundesverfassung, dass selbst unbedingte Vorschriften
Ergänzungen und Veränderungen erfahren mussten. 687

683
Ebenda. S. 111 f.
684
Ebenda. S. 113.
685
Vgl. etwa Art. I §7 par. 2; Art. II § I par. 3 („immediately"); Art. II § 2 par. 3.
6S6 Ygl. dazu Congressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations
of Cases Decided by the S u p r e m e Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided
to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 S u p p l e m e n t : Cases Decided to
June 26. 1998. Senate D o c u m e n t No. 1 0 6 - 8 . S . 9 0 4 .
6S7
Es würde auch zu weit führen, das Z u s t a n d e k o m m e n des 27. A m e n d m e n t gleichzeitig
einen Präzedenzfall (und als solcher wird es in den unterschiedlichsten Z u s a m m e n h ä n g e n
gerne bezeichnet) für die etwaige Unwirksamkeit vom Kongress gesetzter Umsetzungsfris-
ten zu nennen - sei es mittels des Textes selbst o d e r a u f g r u n d der den Vorschlag begleitenden
Resolution. Bereits die in Artikel V der Verfassung vorgesehene hervorgehobene Stellung
des Kongresses während des A m e n d m e n t - V e r f a h r e n s legt eine solche Sichtweise nahe.
Die Problematik, ob nun der Kongress eine bereits gesetzte Ratifikationsfrist ohne Hinzu-
ziehung der Staaten, die bereits ratifiziert haben, verlängern darf, verwickelte schließlich
angesichts des vorgeschlagenen ..Equal Rights A m e n d m e n t " sowohl Kongress als auch
die Staaten und Gerichte in eine anhaltende Diskussion. B e f ü r w o r t e r und G e g n e r dieser
ausschießlichen B e f u g n i s des Kongresses zur Fristsetzung und etwaigen -Verlängerung
bemühten mit unterschiedlicher Stoßrichtung jeweils die ..political question doctrine", um
ihren Standpunkt zu untermauern, vgl. nur: Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hea-
rings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th C o n g r e s s , 2d
sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary
Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress. l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) .
240 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im Kontext des Ratifikationsverfahrens stellte sich wiederkehrend die Frage, ob


ein Staat, der bereits ratifiziert hat. diesen Schritt wieder mit der Folge rückgängig
machen kann, dass der Kongress diesen Staat nicht der erforderlichen Mehrheit zu-
rechnen darf. Insgesamt legt die bisherige Praxis den Schluss der Unwirksamkeit
eines solchen Vorgehens einzelner Staaten nahe. Andeutungen des Supreme Court
in Coleman v. Miller688 und die Maßnahmen des Kongresses bei der Ratifikati-
on des 14. Amendments 6 8 9 stützen diese Einschätzung. Ebenso könnte insoweit
von einer ausschließlichen Kompetenz des Kongresses ausgegangen werden. Es
handelt sich letzlich um eine „political question", die, wenn überhaupt, lediglich
einer eingeschränkten Justiziabilität zugänglich ist. Eine andere Ansicht in dieser
Angelegenheit vertrat das Office of Legal Counsel des Justizdepartments erneut
im Verfahren des 27. Amendments. Die Coleman-Entscheidung wurde als nicht
bindend, das Vorgehen des Kongresses bezüglich des 14. Amendments als „ab-
erration" bezeichnet. 6 '" Als Begründung wurde unter anderem vorgebracht, der
Kongress werde durch Artikel V der Verfassung nur zum Vorschlag eines Amend-
ments und zu Empfehlungen bezüglich der „Mode of Ratification" ermächtigt.
Zudem sei eine derartige Ausdehnung der Befugnisse des Kongresses schwer
mit d e m G r u n d g e d a n k e n der „Separation of p o w e r s " und des Föderalismus zu
vereinbaren. 691

Will man sich einer Lösung dieses Problems annähern, so gilt es zunächst
festzustellen, dass der Kongress im Gegensatz zu den amerikanischen Gerichten

688
307 U.S. 4 3 3 . 4 4 8 . (1939): „Thus, the political departments of the Government dealt
with the effect of previous rejection and of attempted withdrawal and determined that both
were ineffectual in the presence of an actual ratification."
689
Nach den Widerrufen der Ratifikation des 14. A m e n d m e n t s seitens der Staaten Ohio
und N e w Jersey und insbesondere nach Ratifikation - durch neu eingesetzte Regierun-
gen - dreier Staaten (Georgia. North Carolina. South Carolina), die im Vorfeld bereits
die Ratifikation versagt hatten, entbrannte ein Streit sowohl über die Wirksamkeit der
W i d e r r u f e als auch der Gültigkeit einer Ratifikation nach bereits erfolgter Zurückweisung.
Der Kongress selbst stellte schließlich die Wirksamkeit der Ratifikation fest, indem er die
W i d e r r u f e O h i o s und New Jerseys schlicht überging. Erneut debattiert wurden diese Fra-
gen im Kontext des bereits genannten, vorgeschlagenen „Equal Rights A m e n d m e n t " , siehe
Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee
on the Constitution. 95th Congress, 2d sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension.
Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights.
95th Congress, l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Allerdings konnte angesichts des gescheiterten
..amendment-proposal" keine Klärung der Angelegenheit erzielt werden, vgl. dazu insge-
samt ausführlich Congtressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations
of Cases Decided by the S u p r e m e Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided
to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement: Cases Decided to
June 26. 1998. Senate Document No. 1 0 6 - 8 , S. 905. Siehe auch E.S. Corwin!M. L Ramsey,
T h e Constitutional Law of Constitutional A m e n d m e n t , in: 27 Notre D a m e Lawyer (1951),
S. 185 ff.. 201 ff.
690
Vgl. 16 Ops. of the O f f i c e of Legal Counsel (1992), S. 102 ff.. 125.
691
Ebenda. S. 121 ff. mit weiteren A r g u m e n t e n .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 241

nicht unter dem Diktat des Prinzips der „stare decisis" 692 handeln muss. Entschei-
dungen des Kongresses binden also keineswegs spätere Zusammensetzungen der
Kammern. Gleichwohl ist auch der Kongress aufgerufen, gewisse Grundregeln im
Umgang mit verfassungsrechtlichen Problemen einzuhalten. Die Beantwortung
von Fragen, die letztlich einer Verfassungsinterpretation bedürfen, aber gleichzei-
tig „political questions" darstellen, obliegt grundsätzlich zunächst den „politischen
Gewalten" Legislative und Exekutive. Allerdings werden beide per Eid an eine Ver-
fassung gebunden 6 9 3 , welche naturgemäß nicht immer die Klärung eines Problems
bereits inhaltlich liefern kann. Wenn aber die Verfassung die Entscheidung in einer
Sache etwa dem Kongress auferlegt und keinerlei Regelungen über das Zustande-
kommen dieser Entscheidungen zu erkennen gibt, so wird man annehmen dürfen,
dass der Kongress die Freiheit besitzt, autark zu beschließen und im Ergebnis
die Maßnahme „politisch" zu nennen, was wiederum die Einflussmöglichkeiten
der Gerichte beschneidet. 6 9 4 Auch wenn die Entscheidungen Dillon v. Gloss™5
und Coleman v. Miller696 nicht als Präzedenzfälle in dieser Gegebenheit erachtet
werden können, da ihnen ein anderer Sachverhalt zugrundelag. so lässt sich doch
auf einige grundsätzliche Erwägungen des Supreme Courts, beziehungsweise
einzelner Richter in Sondervoten zurückgreifen.

Die Einlassungen des Gerichts, wie lange ein Amendment-Vorschlag „rea-


sonably" schweben dürfe bevor er unwirksam würde, sind auch auf die Frage
einer späteren Ratifikationsrücknahme übertragbar. Dazu zählen insbesondere
die oben genannten drei Schritte der Begründung, die der Supreme Court in
Dillon v. Gloss angestellt hatte. Indes muss eine Bezugnahme auf diese Entschei-
dung nicht bedeuten, dass der Kongress einen Widerruf der Ratifikation nicht
auch - stillschweigend - hinnehmen könnte, wenn er etwa zu der Einsicht ge-
langte, der Widerruf würde nicht die erforderliche „contemporaneous expression

692
Eingehender zu diesem Prinzip aus der deutschsprachigen Lit. mit zahlreichen Nach-
weisen M. Leder. Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998
sowie G. Seyfarth. Die Ä n d e r u n g der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht,
1998. insb. Teil I. Siehe bereits H.A. Oliphanr, A Return to Stare Decisis. in: American Bar
Ass. Journal 1928, S . 7 1 ff.; R. Laim. Stare Decisis. T h e Fundamentals and the Significance
of Anglo-Saxon Case Law. 1947.
693
Siehe Artikel VI § 3 der Bundesverfassung.
694
Ähnlich Chief Justice Hughes in Coleman v. Miller, 307 U.S. 433, 4 5 0 ff. (1939),
der „no basis in either Constitution or Statute" fand, der Gerichtsbarkeit entsprechende
Eingriffsbefugnisse zuzusprechen. „Article V. speaking solely of ratification. contains no
Provision as to rejection." Hinsichtlich einer etwaigen Fristsetzungskompetenz des Supreme
Courts befand Hughes: „Where are to be found the criteria for such a judicial determination?
None are to be found in Constitution or Statute", vgl. ebenda 4 5 3 f. Siehe insgesamt zur
Fragestellung, inwieweit es sich hierbei um eine „political question" handelt L Henkin, Is
There a .Political Q u e s t i o n ' Doctrine?, in: 85 Yale L.J. (1976), S. 597 ff.
695
256 U.S. 368 (1921).
696
307 U.S. 4 3 3 (1939).
242 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

of the people's will" untergraben. Eine solche Sichtweise würde dem Kongress
gerade die „Handlungshoheit" hinsichtlich Erfolg und Scheitern einer Ratifikation
erhalten. 6 '' 7 Überdies unterstrich der Supreme Court in derselben Entscheidung,
Artikel V überlasse dem Kongress die Autorität „todeal with subsidiary matters of
detail as the public interest and changing conditions may require." 698 In Coleman
v. Miller vertiefte Chief Justice Hughes den Gedanken, indem er diese „matters of
detail" ausdrücklich dem Kompetenzbereich des Kongresses zuordnete und den
Gerichten diesbezüglich jegliche Zuständigkeit absprach. 6 9 9

Ferner lässt Artikel V. dessen Wortlaut lediglich die „Ratifikation" und dies-
bezüglich keine weitergehenden Optionen nennt, darauf schließen, dass ein Staat
nach dem Akt der Ratifikation keine weitere rechts wirksame Beurteilung mit der
Folge der Rücknahme der Ratifikation des Amendments vornehmen kann. Das
gelegentlich vorgetragene Argument, bereits Madison habe darauf hingewiesen,
ein Gliedstaat könne nicht bedingt ratifizieren, denn eine Annahme habe „in toto
and for ever" zu erfolgen 7 0 0 lässt sich dagegen kaum auf die Frage einer späteren
Rücknahme übertragen.

(5) Beendigung des Amendment-Verfahrens

Das Amendment-Verfahren endete früher mit der offiziellen Unterrichtung des


von dem Amendment betroffenen Ministers durch die einzelstaatliche Legisla-

697
Nach der G e g e n a u f f a s s u n g musste diese Kompetenz auf einen „executive official"
(heute den sog. ..Archivist") übertragen werden, der bei Fragen etwa nach der Gültigkeit
eines W i d e r r u f s der Ratifikation w i e d e r u m das Justizdepartment konsultieren könnte.
Diese Konstruktion ist jedoch weder mit den vorgesehenen ministeriellen Funktionen des
..Archivist" zu vereinen noch leistet sie einen Beitrag zur Lösung einer ..political question",
über die letztlich erneut nur der Supreme Court entscheiden könnte, nachdem der Kongress
bei diesem Ansatz keinerlei Entscheidungsautorität besäße. Vgl. auch 16 Ops. of the Office
of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.. 116 ff.
698
Ebenda 375 f.
699
Coleman v. Miller 307 U.S. 433. 4 5 2 ff. (1939). Differenzierend in diesem Kontext
das Sondervotum von Justice Black, ebenda 4 5 6 . 4 5 8 . der sowohl den Kongress als auch
den Gerichtshof in gewissen Fragestellungen im Z u s a m m e n h a n g von Artikel V lur berufen
hält. Z u d e m forderte Black die Formulierung „reasonable t i m e " aus Dillon v. Gloss zu
verwerfen.
Hierauf wird u. a. in Congressional Research Center, Analysis and Interpretation.
Annotations of C a s e s Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition:
Cases Decided to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement:
Cases Decided to June 26, 1998. Senate D o c u m e n t No. 1 0 6 - 8 . S. 908, Bezug g e n o m m e n .
Im Wortlaut befand J. Madison. als in N e w York die Ratifizierung der Verfassung unter
der Bedingung einer Berücksichtigung gewisser A m e n d m e n t s diskutiert wurde: „ T h e
Constitution requires an adoption in toto and for ever. It has been so adopted by the other
States. An adoption for a limited time would be as defective as an adoption of some of the
articles only. In short any condition whatever must viciate the ratification", zitiert nach:
H. Syrett (Hrsg.). T h e Papers of Alexander Hamilton. Bd. 5. 1962, S. 184.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 243

turen. die bestätigten („authenticate"), dass sie das vorgeschlagene Amendment


ordnungsgemäß ratifiziert hatten. So bindend dieses Amendment für den Minister
war, so endgültig war dessen Bestätigung durch Verkündung („proclamation")
für die Gerichte sowohl im Hinblick auf etwaige folgende Einwände als auch
angesichts der vermuteten Richtigkeit des legislativen Ratifikationsverfahrens. 701
Diese ministerielle Aufgabe war sodann auf einen Funktionär, den sogenannten
Administrator of General Services10' übertragen worden, bevor man zuletzt den
Archivist of the United States für zuständig erklärte 703 . In der Entscheidung Dillon
v. Gloss erklärte der Supreme Court, dass das 18. Amendment mit dem Zeit-
punkt der Ratifikation des (damals für die erforderliche Mehrheit entscheidenden)
36. Staates in Kraft getreten sei und nicht erst mit dem Datum der Proklamation
des Ministers. 704 Auf die deckungsgleiche heutige Verkündung durch den Archivist
ist diese Regelung zweifellos entsprechend anwendbar.

dd) Möglichkeit der Interpretation von Amendments

Inwieweit Artikel V der Bundesverfassung tatsächlich richterlicher Auslegung


zugänglich ist, gehört wie bereits mehrfach erwähnt zu den umstrittendsten Fra-
gen im Kontext des Amendment-Verfahrens. Vor 1939 erklärte sich der Supreme
Court (trotz der Erkenntnis von der Endgültigkeit einer Ratifikation nach der
offiziellen Bekanntmachung durch die jeweiligen Gliedstaaten 705 ) bei einigen Ein-
sprüchen gegen die Gültigkeit von Amendments zwar für zuständig, ließ jedoch
alle Begehren an der Begründetheit scheitern. Die in vielerlei Hinsicht unbefriedi-
gende Entscheidung Coleman v. Miller bedeutete schließlich einen Wendepunkt
in der Haltung des Gerichtshofs, 7 0 6 der nicht weniger als vier unterschiedliche
Meinungen in seinen Reihen vereinte, wovon keine von mehr als vier Richtern

701
Vgl. Act of April 20. 1818. See. 2, 3 Stat. 4 3 9 sowie Leser v. Garnett, 258 U.S. 130.
137(1922).
702
Siehe 65 Stat. 7 1 0 - 7 1 1 . See. 2: Reorg. Plan No. 20 of 1950. See. l ( c ) . 6 4 S t a t . 1272.
703
National Archives and Records Administration Act of 1984, 98 Stat. 2291, 1
U . S . C . See. 106b.
704
Dillon v. Gloss, 256 U.S. 368. 376 (1921).
705
User v. Garnett. 258 U.S. 130 (1922).
706
Vgl. Coleman v. Miller, 307 U. S. 4 3 3 (1939). Streitpunkt war die erfolgte Bestätigung
einer Ratifikationsresolution des Staates Kansas, die sieh aus dreierlei Gründen Angriffen
ausgesetzt sah: zum einen sei das A m e n d m e n t („child labor a m e n d m e n t " ) bereits ein-
mal zurückgewiesen worden: darüberhinaus sei für die Ratifikation ein „ u n r e a s o n a b l e "
Zeitraum, nämlich dreizehn Jahre verstrichen: zum dritten seien die Kompetenzen des
Vizegouverneurs im Ratifikationsverfahren überschritten worden, indem seine S t i m m e
als die entscheidende zugunsten der Ratifikation gewertet w u r d e . Ausführlich zu dieser
Entscheidung statt vieler H.H. Clark. C o l e m a n v. Miller: A m a j o r reduetion of the Juris-
diction of the Supreme C o u r t . 1942: R.F. Fairchild Cushman/B.S. Koukoutchos, C a s e s in
Constitutional Law. 9. Aufi. 1999. Ch. 11. Siehe aber auch bereits Fairchild v. Hughes, 258
U.S. 126 (1922), als der S u p r e m e C o u r t konstatierte, eine private Person könne nicht vor
244 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

unterstützt wurde. D i e Mehrheit urteilte, dass die Kläger - Mitglieder des Senats
von K a n s a s - j e d e n f a l l s ein ausreichendes Interesse geltend m a c h e n konnten, um
die Zuständigkeit der Bundesgerichte zu b e g r ü n d e n . Materiell ging es freilich wie
o b e n bereits a n g e d e u t e t stets um d i e Frage, i n w i e w e i t es sich bei den strittigen
P u n k t e n u m ..political q u e s t i o n s " h a n d e l e u n d , w e n n d i e s z u b e f ü r w o r t e n sei, o b
diese überhaupt G e g e n s t a n d richterlicher Kontrolle sein dürften.707 Letzten E n d e s
s t e h t Coleman v. Miller f ü r d i e E r k e n n t n i s , d a s s e i n i g e E n t s c h e i d u n g e n h i n s i c h t -
lich „ p r o p o s a l " u n d R a t i f i k a t i o n v o n A m e n d m e n t s a u s s c h l i e ß l i c h d e m K o n g r e s s
v o r b e h a l t e n s i n d - sei e s a n g e s i c h t s d e s k l a r e n W o r t l a u t s d e r w e s e n t l i c h e n B e s t i m -
m u n g ( A r t . V ) o d e r sei e s a u f g r u n d f e h l e n d e r E n t s c h e i d u n g s k r i t e r i e n s e i t e n s d e r
Gerichte, um abschließend und angemessen über A m e n d m e n t s zu befinden. Der
S u p r e m e C o u r t a k z e n t u i e r t e d i e s e n G e d a n k e n i n Baker v . Carrim, i n d e m e r s i c h
e r n e u t - a u c h u n t e r B e z u g n a h m e a u f Coleman v. Miller - d e r . . p o l i t i c a l q u e s t i o n
doctrine" annäherte:

„ ( C o l e m a n ] held that the questions of how long a proposed a m e n d m e n t to the Federal


Constitution remained open to ratification. and what effect a prior rejection had on a
subsequent ratification, were committed tocongressional resolution and involved criteria
of decision that necessarily escaped the judicial grasp."™'

Beide g e n a n n t e n A s p e k t e h o b d e r Gerichtshof erneut als „political q u e s t i o n s "


hervor.710 Eine Überzeugung, die in späteren Entscheidungen bestätigt werden
sollte.7"

den Bundesgerichten eine indirekte Entscheidung über die Gültigkeit und A n n a h m e eines
A m e n d m e n t s erstreiten.
707
Dazu neben den Sondervoten in Coleman v. Miller der bereits oben im Z u s a m m e n -
hang mit d e m Steit um Einzelfragen des Konvents erwähnte G. Rees. T h r o w i n g Away
the Key: T h e Unconstitutionality of the Equal Rights A m e n d m e n t Extension, in: 58 Texas
L. Rev." (1980). S. 8 7 5 ff.. 886 ff.: ders. C o m m e n t . Rescinding Ratification of Proposed Con-
stitutional A m e n d m e n t s . A Question for the Court, in: 37 La. L. Rev. (1977). S. 896ff. der
eine generelle Befugnis des Supreme Court zum J u d i c i a l review" befürwortet. Im Ergebnis
ähnlich, j e d o c h mit klaren Einschränkungen auf lediglich „formale Fragen" W. Dellinger.
T h e Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the A m e n d m e n t Process. in: 97
Harvard L.Rev. (1983), S. 3 8 6 f f . . 4 1 4 f f . Siehe weiterhin LH. Tribe. A Constitution We
Are A m e n d i n g : In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983),
S. 4 3 3 ff., 4 3 5 ff. Eine Vielzahl von Argumenten zu dieser T h e m a t i k findet sich auch in
den ..Hearings" zur Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Ju-
diciary S u b c o m m i t t e e on the Constitution. 95th Congress. 2d sess. (1978); Equal Rights
A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and
Constitutional Rights, 95th Congress. l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Z u d e m befassten sich zwei
gliedstaatliche Gerichte mit der Problematik, um zu d e m Schluß einer zumindest einge-
schränkten Justiziabilität zu k o m m e n . Dyerv. Blair. 390 F. Supp. 1291 ( D . C . N . D . III., 1975);
Idaho v. Freeman. 529 F. Supp. 1107 ( D . C . D . Idaho, 1981). aufgehoben und „remanded to
d i s m i s s " durch den Supreme Court. 4 5 9 U.S. 809 (1982).
708
Baker v. Carr. 369 U. S. 186. 2 1 4 (1962).
709
Ebenda.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 245

ee) Die generellen Wirkkräfte des Amendment-Verfahrens

Auch nicht ratifizierte Vorschläge für eine Verfassungsänderung oder -ergän-


zung können eine Verfassungskultur prägen. Dieser Aspekt gerät allzu leicht
in Vergessenheit. Dabei scheint sich zunächst eine unterschiedliche Betrach-
tungsweise aufzudrängen, je nachdem wie weit ein Amendment-Vorschlag im
Verfahren fortgeschritten ist. Allerdings kann dieser Gesichtspunkt nicht derart
pauschal bewertet werden, da auch (bereits im Kongress) gescheiterte „propo-
sals" durchaus zu hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit geführt haben 7 2 und
andere fast unbemerkt zuletzt sogar ratifiziert wurden 7 1 3 . Allein die Diskussion
einer etwaigen Verfassungsergänzung - oder Verfassungsänderung außerhalb der
Vereinigten Staaten - leistet mehr als lediglich einen Beitrag zur Fortentwick-
lung eines gewachsenen Verfassungsverständnisses; sie ist Ausdruck. Bestandteil
und - insbesondere wenn sie öffentlich ausgetragen wird - Mittlerin einer lebendi-
gen Verfassungskultur. Gleichzeitig werden unverzichtbare Fundamente für j e d e
erfolgreiche Verfassunggebung errichtet. Das Ausschlußprinzip wird somit zwar
an der Verfassung ausgerichtet, jedoch nicht an ihr vollzogen.

Neben den 27 durch die erforderliche Dreiviertelmehrheit der Staaten ratifizier-


ten Amendments wurden den Staaten sechs weitere Vorschläge zur Entscheidung
vorgelegt, die jedoch nie ratifiziert wurden. 7 1 4 Von den zwölf vorgeschlagenen
Amendment-Artikeln aus dem Jahre 1789 wurden die Artikel III bis XII rati-

7I
" E b e n d a 2 1 7 : „a textually d e m o n s t r a b l e constitutional c o m m i t m e n t of the issue to
a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable
Standards for resolving it."
7.1
Siehe Powell v.McCormack, 395 U.S. 486 (1969); O'Brien v. Brown, 409 U.S. I
(1972); Gilligan v. Morgan,413 U.S. 1 (1973). Vgl. aber auch einschränkend Uhler v. AFL-
CIO. 468 U. S. 1310(1984) und das Sondervotum von Justice Powell in Goldwater v. Carter,
444 U.S. 996, 1001 (1979).
7.2
Siehe beispielsweise im Kontext des Bürgerkrieges die ..Amendments Proposed in
Congress by Senator John J. Crittenden. D e c e m b c r 18. 1860" bzw. ..Amendments Proposed
by the Peace C o n f e r e n c e . February 8 - 2 7 . 1861" (im Wortlaut abgedruckt bei PL Ford,
T h e Federalist. A c o m m e n t a r y on the Constitution of the United States by Alexander
Hamilton. J a m e s M a d i s o n and John Jay edited with notes, illustrative d o c u m e n t s and a
copious index by Paul Leicester Ford. 1898).
713
Die Ratifizierung des zunächst letzten, bereits geschilderten 27. A m e n d m e n t über-
raschte selbst Kenner des amerikanischen Verfassungslebens: das über 200-jährige Verfah-
ren trug unterdessen nicht wesentlich zur Prägung der amerikanischen Verfassungskultur
bei, vgl. dazu bereits vor der erfolgten Ratifikation S. Slavin, (ed.), T h e Equal Rights
A m e n d m e n t . T h e Politics and Process of Ratification of the 27th A m e n d m e n t to the
U.S. Constitution. Vol. 2. 1982.
714
Da diese sechs ..proposals" bislang in der deutschsprachigen Literatur nicht zu
finden sind (vgl. aber G.Anastaplo, T h e Constitution of 1787. 1989. S . 2 9 8 f . ) . werden
sie im Originaltext im A n h a n g abgebildet. Zu d e m prominenten, gescheiterten ..Equal
Rights A m e n d m e n t " vgl. M. Berry, W h y E R A Failed: Politics. W o m e n ' s Rights, and the
A m e n d i n g Process of the Constitution. 1986: J. Manbridge. Why we lost the E R A . 1986.
246 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

fiziert und gingen als die ersten zehn Amendments unter dem Begriff „Bill of
Rights" in die Bundesverfassung ein. Der zunächst vorgesehene Artikel II mündete
schließlich im schon mehrfach genannten 27. Amendment (1992).

Obgleich die Option einer formalen Verfassungsergänzung mittels des Amend-


ment-Prozesses nie grundsätzlich in Frage gestellt wurde, tauchten doch in der
amerikanischen Verfassungsgeschichte, wie an den obigen Beispielen illustriert,
wiederkehrend Spannungen und heftige Kontroversen über Einzelheiten und Leit-
gedanken des Amendmentverfahrens auf. Einigen Problemstellungen ist aller-
dings eine gewisse Konstanz, auch in der unerbittlichen Haltung der konträr
vertretenen Positionen nicht abzusprechen. Zu nennen ist etwa der Grundkonflikt
zwischen dem Bedürfnis nach einem formalen Verfahren nach Artikel V. das be-
reits T. Jefferson pointierte 715 , und dem Favorisieren einer Verfassungsanpassung
durch eine starke Gerichtsbarkeit, was wiederum Äußerungen von Chief Justi-
ce J. Marshall1* und später W. Wilson717 oder C. Tiedeman7!K deutlich werden
lassen. 719

Periodisch traten offen kundgetane Sorgen um die eigentliche Angemessenheit


und die anti-demokratischen Wesenszüge des Amendment-Prozesses zutage. 720
Naturgemäß waren diese Bedenken stets am Ende langer Zeitspannen zu konsta-

7,5
So bereits T. Jefferson im Briefwechsel mit J. Madison, vgl. P.L. Ford (ed.), The
Works of T h o m a s Jefferson. Vol. 6. 1904 - 5 , S. 3 ff.
716
Marshall sah sogar breit angelegte Konstruktionen durch die Gerichtsbarkeit als
erstrebenswerte Alternative zu konstanten Textänderungen der Verfassung oder zu späteren
Verfassungskonventen, vgl. dazu mit Textbeispielen N. Cahn. An A m e r i c a n Contribution.
S u p r e m e Court and Supreme Law. 1954, S . 2 5 . Neben den A n m e r k u n g e n Marshalls zur
Rechtfertigung einer Stärkung der Gerichtsbarkeit in der bahnbrechenden Entscheidung
Marbttry v. Madison, 5 U.S. 137, 176 (1803) ist seine Charakterisierung von Artikel V der
Verfassung als „unwieldly and cumberous m a c h i n e r y " in Barron v. Baltimore, 7. Pet. 242.
150 (1833) bemerkenswert.
71
Siehe insbesondere W. Wilson, Congressional Government, in: A.S. Link (ed.), T h e
Papers of Woodrow Wilson. Vol. 4. 1968. S. 134 f., wo er die Rolle des Supreme Court für
eine Fortentwicklung der Verfassung prägnant hervorhebt.
718
C. Tiedeman. T h e Unwritten Constitution of the United States. 1890. S . 4 3 : ,,|the]
flesh and blood of the Constitution [are found] in the decisions of the courts and acts of
legislature. which are published and enacted in the enforcement of the w ritten Constitution."
Das Werk kann als ..Klassiker" amerikanischer Verfassungsliteratur bezeichnet werden.
19
Fundierte Einblicke in das Wechselspiel zwischen Artikel V und der Rolle der
Gerichtsbarkeit gibt B. Acker man. T h e Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93
Yale L.J. (1984)". S. 1013 ff.: ders.. Transformative Appointments. in: 101 Harvard L. Rev.
(1988), S. 1164 ff.
720
So beispielsweise in den Schriften von S.G. Fisher, der in ders.. T h e Trial of the
Constitution. 1972 (Neudruck der Ausgabe von 1862), S. 55 die berühmt gewordenen
rhetorischen Fragen stellte: „Why should they not be m a d e by Congress. if d c m a n d e d by
necessity, as they would be by an English Parliament? Should they be approved and ratified
by the people, what is the difference, whether their consent be expressed by a Legislature
or by a Convention which they have elected. or before or after the alteration be m a d e it
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 247

tieren - wie von 1804 bis 1865 und von 1870 bis 1913 -, während derer keine
Amendments in die Verfassung Einzug hielten. Wohingegen in Zeiten höchster
Amendment-Kreativität 7 2 1 diesbezüglich höchstens gedämpfte Kassandrarufe zu
vernehmen waren. 722

Die Rechtsfragen im Zusammenhang mit der formalen, gebundenen Verfassung-


gebung in den Vereinigten Staaten legen einige Grundsätze des amerikanischen
Verfassungsverständnisses offen. Einerseits bestimmen Gerichtshof und Kongress
letztlich das „Uhrwerk" der Verfassung. Zeit und Verfassung findet in ihrer inne-
ren Bedingtheit eine Kontrolle. 723 Der Gerichtshof hat trotz der selbst auferlegten
Zurückhaltung allein schon in der Begründung derselben gewichtige Argumen-
te für gewisse zeitliche Regelungen und Fristen getroffen. 7 : 4 Weiterhin ist die
unbestrittene Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber der
grundsätzlichen Option. Verfassungsergänzungen im Zuge eines formalen Verlah-
rens durchzuführen, eindrucksvolles Zeugnis ihres tief verwurzelten Engagements
um einen funktionierenden „Konstitutionalismus". Dabei entspricht es einer ver-
breiteten Ansicht, tiefgreifende Regierungsprobleme seien gegebenenfalls durch
eine Revision der Verfassung zu lösen. 725 Derlei Bestrebungen stehen in einem
steten Spannungsfeld zu den ebenso „geistreichen" Empfehlungen „moderner Ma-
disons", die einen Verschleiß des Amendment-Instruments befürchten und daher
gewisse verfassungsrechtliche Fragen ohne Rückgriff auf die Verfassung lösen

would still be the wishes of the same people carried into effect. If the people should be
dissatisfied, they can say so through another Congress. If they continue to be satisfied
after the alteration is tried, it would be thus established as a precedent to be engrafted on
the Constitution, as is the case in England." Weiter bekräftigte Fisher, „ | t | h e Constitution
belongs to the people of 1862, not to those of 1787", woraus er schließlich folgert: „|i]t
must and will be modified to suit the wishes of the former. by their representatives in
Congress, just as the English Constitution has been modified by Parliament". vgl. ebenda.
S . 9 6 f . Ähnlich später H. Croly, Progressive Dcmocracy. 1909. S. 130. der Artikel V als
..the most formidable legal obstacle in the path of progressive democratic fulfilment" zu
portraitieren wußte.
721
Eine Darstellung auffälliger ..amendment Clusters" bietet A. Grimes, D e m o c r a c y
and the A m e n d m e n t s to the Constitution. 1978. S. 157 f.
722
Bei J.R. Vile. A m e r i c a n Views of the Constitutional A m e n d i n g Process: An Intel-
lectual History of Article V, in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . . 67 f. findet sich eine historische
Zusammenstellung aller Bedenkenträger. die mit unterschiedlichen Argumenten Artikel V
der ..Büchse der P a n d o r a " gleichstellen.
723
Grundsätzlich zu ..Zeit und Verfassung": P. Hüberle, Zeit und Verfassung, in: Z I P 21
(1974), S. 111 ff., wiederabgedruckt in: R. D r e i e r / F . S c h w e g m a n n (Hrsg.). Probleme der
Verfassungsinterpretation. 1976. S. 293 ff. Siehe auch ders., Zeit und Verfassungskultur,
in: A. P e i s l / A . Möhler (Hrsg.), Die Zeit. 1983. S. 289 ff.
724
Vgl. erneut die Entscheidungen Dillon v.Gloss, 256 U . S . 3 6 8 , 376 (1921) und
Coleman v. Miller, 307 U.S. 433 (1939).
725
Wobei gelegentlich selbst eine neue Verfassung vorgeschlagen wurde, siehe nur den
Ansatz von R. G. Tugwell, T h e Emerging Constitution. 1974.
248 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wollen. 726 Letztlich ist es aber auch gerade den „stabilen" Gegensätzlichkeiten in-
nerhalb der endlosen Diskussion zuzuschreiben, dass neben den bereits genannten
Gründen die Urfassung der amerikanischen Verfassung vergleichsweise unberührt
blieb. Die amerikanische Bundesverfassung entspringt einer emotional aufgela-
den Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts und sie lebt in der Aufrechterhaltung
emotionaler Bindungen zu ihr fort. Die genannten Konflikte allein im Amendment-
Verfahren leisten hierzu durch aus ihren Beitrag.

Trotz fundamentaler Umwälzungen innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte


im gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen und politischen Um-
feld 27 erscheint das parallele „Wachstum" der amerikanischen Verfassung um
zehn plus siebzehn Amendments nur auf den ersten Blick dürr. Die beispielhafte
Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Verfassung hat neben der Möglichkeit
der formalen Verfassungsergänzung also weitere Gründe. Die wesentlichen Ver-
änderungen - und eben nicht lediglich Ergänzungen - sind demzufolge auch auf
anderen Wegen als dem der gebundenen Verfassunggebung durchgesetzt worden.

Die Geschichte der amerikanischen Revisionspraxis zeichnet sich insgesamt


und in föderativer Hinsicht durch zwei Merkmale aus: Formell wie gesehen
dadurch, dass bislang alle Verfassungsergänzungen auf Vorlagen des Kongresses
beruhten, die Gliedstaaten ihr Recht auf Einberufung eines Verfassungskonvents
somit noch nie durchgesetzt haben, und materiell schließlich dadurch, dass die
im 20. Jahrhundert gewachsenen Kompetenzverlagerungen auf den Bund weniger
eine Folge förmlicher Anpassungen des Verfassungstextes, sondern vielmehr
Ergebnis richterlicher Verfassungsinterpretation sind. 72 "

b) Europäische Union: von der Vertragsänderung


zur Verfassungs(Vertragsänderung

Aus der verfassungshistorischen Betrachtung der heutigen Europäischen Union


ergaben sich bereits unterschiedliche Entwicklungsschritte, die verfassungsschöp-
fenden wie verfassungsändernden Charakter hatten. Es drängt sich daher auch

72l>
Vgl. dazu auch kritisch m . w . N J.R. Vile. American Views of the Constitutional
A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . ,
61 ff.
27
Einen Einblick in den A m e n d m c n t - P r o z e s s und dessen Konnexität zur amerikani-
schen politischen Realität gewährt R. Bernstein. A m e n d i n g A m e r i c a . 1993.
28
Es ist d a h e r durchaus schlüssig, dass die unter bundesstaatlicher Sichtweise beson-
ders wichtigen A m e n d m e n t s allesamt noch vor den sogenannten „New D e a l " - R e f o r m e n
a n g e n o m m e n wurden: so die „Bill of Rights", die Abschaffung der Sklaverei (13. Amend-
ment), das Recht auf „ d u e process" (14. A m e n d m e n t ) , die E i n f ü h r u n g einer Bundesein-
kommenssteuer (16. A m e n d m e n t ) und die Volkswahl der Senatoren (17. A m e n d m e n t ) ,
vgl. auch mit Betonung der gliedstaatlichen Aspekte J. Annaheim. Die Gliedstaaten im
amerikanischen Bundesstaat. 1992. S . 2 2 0 mit F n . 4 .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 249

ein Blick auf die „gebundene Verfassunggebung" in Europa auf, der sowohl die
Verträge als auch den Verfassungsvertrag und die jeweiligen Verfahrensschritte
umfassen soll.

aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union

Von Interesse ist zunächst die generelle Frage nach den Voraussetzungen der
Verfassunggebung in der Supranationalen Union. Dabei erscheint die Unterschei-
dung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt
in der Supranationalen Union nicht unproblematisch, insbesondere da ein völker-
rechtlicher Vertrag üblicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten,
auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen
Einschränkungen unterliegt. Jedoch erlaubt es das Recht der völkerrechtlichen
Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 4 0 1
WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten
oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist
die Unterscheidung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen; die vertragsändernde
ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt.

Im Übrigen: jede Vertragsänderung bewirkt zugleich eine materielle Verfas-


sungsänderung auf nationaler Ebene, ohne dass der Text etwa des Grundgesetzes
(GG) geändert würde: Art.23 Abs. 1 GG verweist konsequent auf Art.79 Abs. 2
und 3, nicht aber auf Absatz 1, in dem für jede Grundgesetzänderung eine aus-
drückliche Änderung des Textes vorgeschrieben wird. 729

In der Supranationalen Union bestimmt sich bereits der Verfassunggeber an-


ders als im Staat und die Institution der Verfassung ist zunächst nicht auf einen
bestimmten Anwenderkreis festgelegt. Verfassunggeber im weiten Sinne ist, wem
es gelingt. Normen zu erlassen, die sich innerhalb des von ihnen betroffenen
Herrschaftsverbandes mit der Autorität einer Verfassung im normativen Sinne
durchsetzen. Im Staat soll das beispielsweise das Volk, es kann aber auch grund-
sätzlich ein anderer Machtträger sein.

Nach T. Schmitz, ist in der Supranationalen Union hingegen die verfassungge-


bende Gewalt bei den Mitgliedstaaten fixiert, denn die Verfassung könne als die
höchstrangige Rechtsquelle in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nur
in einem als Verfassung ausgestalteten Gründungsvertrag (Verfassungsvertrag)

7:9
Vgl. auch I. Pernice. Grundlagenpapier. Die Europäische Verfassung, 16. Sinclair-
Haus-Gespräch. 1 1 . / 1 2 . Mai 2001. Wenn beispielsweise in Österreich der Beitritt zur Eu-
ropäischen Union als G e s a m t ä n d e r u n g der Bundesverfassung behandelt wurde (vgl. dazu
T. Oldinger. Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union. 1999). ver-
deutlicht dies, in welchem M a ß e allein die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf
nationaler Ebene materielle Verfassungsänderungen mit sich bringt, ohne dass dies im
Verfassungstext zum Ausdruck k o m m e n muss.
250 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, sei nach dem
Völkerrecht den Staaten vorbehalten. 7 '" Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist
die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluss als die Maßnahme,
welche die Verfassungsnormen entstehen lässt. ausschließlich ihnen zuzurechnen.
Demzufolge kann es eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i. S. d. demokra-
tischen Verfassungstheorie in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nach
dieser Darstellung nicht geben.

Dieser Ansatz bedarf allerdings einer wichtigen Ergänzung: Eine Ausblendung


bzw. Nicht- Einbeziehung des Volkes in das Verfahren der Verfassunggebung ist
damit keineswegs verbunden. Im Lichte der demokratischen Verfassungstheorie
muss die Unionsverfassung in ihrer Legitimität der vom Volk gegebenen Verfas-
sung wenigstens weitmöglichst angenähert werden. Aus Sicht der Allgemeinen
Staatslehre kommt es zudem auf eine entsprechend weit gehende Integrationskraft
der Unionsverfassung an, um die Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer bereits
beeinträchtigten Integrationsfunktion effektiv zu ergänzen.

Beides würde freilich eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe legen,
bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluss durch begleitende Legitimitäts- und
Integrationskraft vermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird oder (aus heutiger
Sicht mit Blick auf den zunächst gescheiterten Verfassungsvertrag) worden wä-
re. Einen dieser Schritte könnte neben einem öffentlich hinreichend begleiteten
Konvent ein „duales Plebiszit" darstellen, in dem die Bürger gleichzeitig als Uni-
onsbürger über die Billigung der Unionsverfassung und als Staatsbürger über die
Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden. 731
Sie würden dabei als Angehörige zweier „Völker" im demokratietheoretischen
Sinne auftreten: des nationalen Staatsvolkes und eines „Unionsvolkes", das zwar
kein Staatsvolk ist, aber nach der hier vertretenen Auffassung als allgemeine po-
litische Gemeinschaft von Menschen wenigstens für seinen Herrschaftsverband
demokratische Legitimation vermitteln kann.

730
So T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. Das europäische Organi-
sationsmodell einer prozesshaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und
staatstheoretischen Implikationen. 2001, S. 4 3 2 ff.
731
T. Schmitz (2001), S. 4 4 0 ff. spricht mit ähnlicher Ausrichtung von einem ..Doppel-
r e f e r e n d u m " und schlägt weitere ..Schritte" w i e etwa eine ..vorbereitende Verfassungs-
v e r s a m m l u n g " deren notwendige Unterstützung „durch eine breite öffentliche Diskussion
durch flankierende M a ß n a h m e n zur Förderung einer unionsweiten öffentlichen Verfas-
s u n g s d i s k u s s i o n " gesichert würde. Solche Schritte ließen es z u d e m „sinnvoll erscheinen,
zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung zu schließen".
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 251

bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen


Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts

Die europäische Rechtsetzung ist das Spiegelbild der institutionellen Ordnung


der Europäischen Union. Die Organisationsstruktur der Union kann (noch) nicht
als in sich geschlossenes institutionelles System verstanden werden. Das Bild einer
supranationalen Gemeinschaftsebene, die der nationalen Ebene übergeordnet
ist und auf diese durch ein-seitige Hoheitsakte einwirkt, blendet die in nicht
unwesentlichen Teilbereichen weiterhin dominierende nationale Ebene aus und
ist eher zu ersetzen durch das Bild eines interdependent-kooperativen Systems.

Europäische Rechtsetzung wird durch die Kooperation der Mitgliedstaaten


mit den Organen der Europäischen Union geprägt. Diese Zusammenarbeit be-
stimmt alle Phasen des umfassend zu verstehenden Normgebungsprozesses: Ne-
ben der vorlegislatorischen Politikformulierung sowie der Umsetzungs- bzw. An-
wendungskontrolle im nachlegislatorischen Stadium bestimmt sie vor allem die
Entscheidungsfindung in der legislatorischen Phase und die Normpräzisierung
im Rahmen der Komitologie („tertiäre Rechtsetzung"). Damit wird nicht nur
das Primärrecht, sondern auch das Sekundärrecht durch die Regierungen der
Mitgliedstaaten geprägt. Die überstaatliche Kooperation entspricht den Erforder-
nissen des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes der Europäischen Union. Die
ursprünglichen Vorgaben des EG-Vertrags zur Durchsetzung der Gemeinschafts-
ziele waren vorrangig auf eine Beseitigung der Behinderungen innerhalb des Ge-
meinsamen Marktes gerichtet. Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungstands
werden weitere Integrationsfortschritte vor allem durch eine aktive Ausweitung
gemeinschaftlicher Politikbereiche erreicht. Auf diesen Tätigkeitsfeldern gibt es
entsprechend und mittlerweile fast traditionell stärkere Beharrungstendenzen der
Mitgliedstaaten.

Mit einer schrittweisen Reduzierung der Legislativfunktion der Kommission


nimmt das Gemeinschaftssystem Abschied von der ursprünglichen Konzeption
einer spezifischen, auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses ausgerichte-
ten Funktionenteilung zwischen Parlament. Rat und Kommission und entwickelt
sich zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung mit einem Zweikammer-
system. Die Einbußen der Kommission verringern die Durchsetzungsmöglichkeit
genuiner Gemeinschaftsinteressen und ermöglichen eine verstärkte Einflussnah-
me seitens der nationalen Exekutiven auf die Organe der Gemeinschaft. An die
Stelle des Gemeinschaftsinteresses treten die koordinierten nationalen Partikular-
interessen. Eine Rückbesinnung auf die tradierte gemeinschaftsspezifische Funk-
tionenteilung ist angesichts gefestigter Verfahrenspraktiken weder normativ noch
faktisch gangbar. In Einklang mit der konstatierten Verfassungsentwicklung und
-praxis steht nur eine Lösung, welche die Interpretation des Primärrechts auf der
Grundlage der tatsächlichen Entwicklung fortschreibt. Das Gemeinschaftssystem
ist durch weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments und Ausrichtung auf
eine ebenenübergreifende Kooperation fortzuschreiben.
252 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Dieses Ergebnis entspricht dem dynamischen Charakter des Unionsrechts. Noch


stärker als die nationalen Verfassungen sind die Verfahrensregeln der Europäischen
Union ständigem Wandel unterworfen. Ihre Ausgestaltung wird durch die vertrags-
ändernde und vertragsergänzende Verfassungsentwicklung im Zuge der Vertrags-
revisionen sowie durch die verfassungsimmanenten Formen einer gestaltenden
Fortbildung fortlaufend verändert. Die Entwicklung zu einer Gewaltenteilung natio-
nalstaatlicher Prägung wird begleitet von dem erkennbar zunehmenden politischen
Druck seitens der Mitgliedstaaten, die europäischen Rechtsetzungsverfahren in
Analogie zu den vertrauten Paradigmata nationaler Normgebungsverfahren auszu-
gestalten. Gleichzeitig sind die Regierungen und die nationalen Interessenverbände
bestrebt, die europäische Rechtsetzung intergouvernemental, also auf unmittelba-
re Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, auszurichten. Trotz der durch
zunehmende Kompetenzübertragung auf die Union herbeigeführten zentripetalen
Entwicklung bleiben die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben
auf europäischer Ebene die zentralen Akteure. Angesichts kooperativer Steue-
rungsmechanismen haben ihre Regierungen verstärkt Mitwirkungsmöglichkeiten
bei der Gestaltung öffentlicher Aufgaben zurückgewonnen. Unvereinbar mit dem
derzeitigen Integrationsverlauf erscheint deshalb eine Sichtweise, nach der die Mit-
gliedstaaten im Zuge der weiteren Integration künftig in einer neuen „staatlichen
Einheit" aufgehen oder von ihr überlagert werden. Das kooperative europäische
Regelungssystem hebt den Nationalstaat nicht auf, sondern stärkt ihn letztlich.

Mit zunehmender (und eigentlich wünschenswerter) Vertiefungsdebatte der


Union wurde es schwieriger, die noch bestehenden Defizite in der Verwirklichung
der funktionalen Grundsätze zu überwinden. Ursache waren die in vergleichbarem
Maße wachsenden Befürchtungen, die Mitgliedstaaten könnten dabei zuviel von
ihrer Souveränität und Identität einbüßen. Solche Befürchtungen manifestierten
sich auch in den Exekutiven der Mitgliedstaaten. Abhilfe verspricht bis heute des-
halb wohl nur eine breite öffentliche Debatte unter Einbeziehung der Parlamente
und aller gesellschaftlichen Gruppierungen. 7 ' :

cc) Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge

Fraglich war freilich, ob das Verfahren der Vertragsänderung für eine solche
öffentliche Debatte Raum lässt.

Die Abänderbarkeit der derzeitigen europäischen Verträge, die den Kern des
europäischen Primärrechts ausmachen 7 3 3 , durch explizite Vertragsänderung ist
in Art. 48 EUV geregelt. Danach kann die Regierung jedes Mitgliedstaates oder

732
So W. Dix. Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?,
in: Integration 1/2001. S. 34 ff.
733 Nicht weiter thematisiert wird im Folgenden die Kategorie des ungeschriebenen
Primärrechts.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 253

die Kommission dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die
Union beruht, vorlegen. Nach einem unionsinternen Verfahren, in das sowohl das
Europäische Parlament, die Kommission als auch der Rat einbezogen sind, werden
die geplanten Änderungen auf einer vom Präsidenten des Rates einzuberufenden
Regierungskonferenz von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten
beraten und beschlossen. Sie bedürfen, um endgültig in Kraft zu treten, der (völ-
kerrechtlichen) Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen
verfassungsrechtlichen Vorschriften. In Deutschland bemisst sich der Ratifizie-
rungsprozess nach Art. 23 GG.

Dieses Verfahren sichert zwar den Regierungen größtmögliche Handlungs-


freiheit für die Aushandlung der Vertragsänderungen. Andererseits begünstigt
es eine Fortschreibung des vertraglichen Acquis, die sich möglichst eng an den
bisherigen Texten orientiert, schon um die spätere Zustimmung in den Parla-
menten und Volksabstimmungen nicht zu gefährden. Auch deshalb haben sich
die vertraglichen Grundlagen der Union zu einem sehr komplexen Gebilde von
Kompromisslösungen entwickelt.

Dieses Verfahren für die Weiterentwicklung der Union, die zunehmend supra-
nationale Hoheitsrechte der Gesetzgebung ausübt und nicht nur völkerrechtliche
Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten begründet, erwies sich als kaum ausrei-
chend. Vielmehr erforderte der Entwicklungsstand der Union neue Verfahren, die
eine stärkere Einbeziehung der Parlamente und der Öffentlichkeit schon während
Verhandlungen ermöglichen. Bereits den Regierungskonferenzen von Maastricht
und Amsterdam wurde der Vorwurf gemacht, ihre Ergebnisse seien ohne breite
politische Debatte und über die Köpfe der Parlamente und der Bevölkerung hinweg
zustande gekommen.

Änderungen des Primär rechts können jedoch auch außerhalb des Verfahrens
nach Art. 48 EUV erfolgen. Hier ist zunächst das in Art. 49 EUV geregelte Verfah-
ren des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu nennen, welches in Gestalt der jeweiligen
Beitrittsverträge neues bzw. geändertes Primärrecht zum Gegenstand hat. Auch
hier greift jedoch letztendlich der Ratifizierungsvorbehalt aller Mitgliedstaaten
nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften.

Daneben bestehen jedoch weitere Mechanismen der Änderung von Primär-


recht außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV. In diesem Zusammenhang ist
zwischen „vereinfachten" und „autonomen" Verfahren der Vertragsänderung zu
unterscheiden. 734 Das sog. „vereinfachte" Verfahren unterscheidet sich von dem in
Art. 48 EUV vorgesehenen regulären Vertragsänderungsverfahren dadurch, dass

734
Dazu ausführlich H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), E U - K o m m e n t a r . 2000.
Art. 4 8 . Rn. 11, mit umfangreichen Nachweisen; vgl. auch eine Ausarbeitung der Wis-
senschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 24. 1 0 . 2 0 0 3 ) im Auftrag des
Verf.
254 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

an Stelle einer Regierungskonferenz Vertragsänderungen durch den Rat mit ein-


stimmigem Votum vorgenommen werden. Ein mitgliedstaatliches Ratifizierungs-
erfordernis nach den jeweiligen Vorgaben der nationalen Verfassungen besteht
jedoch auch im Rahmen dieses Verfahrens. 735 Demgegenüber fehlt es an diesem
Ratifizierungserfordernis im Rahmen des „autonomen" Vertragsänderungsverfah-
rens, das eine - in der Regel vom Rat einstimmig auszuübende - Vertragsände-
rungsbefugnis der EU-Organe, zumeist für technische Anpassungen, vorsieht. 736

Das EU-Recht kennt hinsichtlich der gemäß Art. 48 EU-Vertrag vorzunehmen-


den Abänderung von Primärrecht keine vergleichbaren inhaltlichen Schranken,
wie sie etwa für den deutschen (Verfassungs-)Gesetzgeber bzgl. der Abände-
rungsmöglichkeiten des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegt sind. 737
Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Verträge frei,
ohne inhaltliche Begrenzung jede Art von Änderungen oder Ergänzungen der Ver-
träge, auf denen die Union beruht, vorzunehmen. Gleichwohl wird im Schrifttum
der Standpunkt vertreten, es gebe einen (ungeschriebenen) änderungsfesten Kern
des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts. Dazu werden etwa die in der Union zu-
grunde liegenden Strukturprinzipien des Bekenntnisses zu den Menschenrechten
und zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit gezählt. 738 Nicht hierzu zählt aber etwa
der bereits erreichte Stand der Integration.

Eine „Umgehung" der genannten ausdrücklichen Vertragsänderungsverfahren


durch implizite Vertragsänderungen hält der EuGH nach ständiger Rechtspre-

735
Beispielhaft seien an dieser Stelle die folgenden Anwendungsgebiete dieses Verfah-
rens genannt: Art. 17 A b s . 1 E U V (Festlegung einer g e m e i n s a m e n Verteidigungspolitik):
Art. 42 E U V (Überführung von Teilen der bisherigen dritten Säule des E U V in den EG-Ver-
trag): Art. 190 Abs. 4 E G V (einheitliches Wahlverfahren f ü r das Europäische Parlament);
Art. 22 EGV (Begründung neuer Rechte im Rahmen der Unionsbürgerschaft).
736
H i e r / u zählen etwa die Bereiche: Art. 187 (Verfahren der Assoziierung); Art. 2 1 3
Abs. 1 (Änderung der Zahl der Kommissionsmitglieder); Art. 2 4 5 Abs. 2 ( Ä n d e r u n g der
Satzung des E u G H ) ; Art. 7 Abs. 3 E U V (Aussetzung des Stimmrechts bestimmter Mitglied-
Staaten); Art. 67 Abs. 2 (Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im
Bereich Justiz und Inneres). Vgl. zu den umfangreichen weiteren Anwendungsgebieten
dieses Verfahrens nur die Auflistung bei H.-H. Herrnfeld (2000). Art. 4 8 . Rn. 12.
H.-J. Cremen in: C . C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r zu EU-Vertrag und
EG-Vertrag. 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. R n . 4 , mit ausführlichen weiteren Nachweisen aus
dem Schrifttum.
738
In diesem Sinne m . w . N . C. Vedder/H.P. Folz, in: E. G r a b i t z / M . Hilf (Hrsg.), Das
Recht der Europäischen Union. Kommentar. 2 0 0 3 (Stand: 21. Erg.Lieferung), Art. 48.
Rn. 20. die diese Aussage auf eine angebliche völkerrechtliche Verpflichtung bzw. verfas-
sungsrechtliche Selbstbindung der Mitgliedstaaten stützen. Im Ergebnis ebenso, allerdings
mit abweichender B e g r ü n d u n g H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 8. der dies damit
begründet, dass die Strukturprinzipien als allen Mitgliedstaaten g e m e i n s a m e , ihrer Verfü-
gungsgewalt entzogene Grundsätze auch d e m Unionsvertrag bereits vorgegeben seien und
damit nicht erst durch diesen gewährt, sondern durch diesen lediglich anerkannt werden (in
diesem Sinne auch W. Meng, in: H. von der G r o e b e n / J . T h i e s i n g / C . D . Ehlermann (Hrsg.),
Kommentar zum E G V / E U V . 5. Aufl. 1999. Art. N. Rn. 59 0-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 255

chung für ausgeschlossen. Danach seien Änderungen der Verträge grundsätzlich


nur im Wege der vertraglich vorgesehenen Änderungsverfahren möglich. 7 * 9 Nach
dieser Auffassung ist eine implizite Änderung der Verträge, etwa durch konklu-
denten. gleichzeitig mit einem Organakt von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen
Änderungsvertrag oder durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht, selbst bei einem
Einverständnis aller Mitgliedstaaten nicht möglich. 740 Daneben kommt auch eine
implizite Abänderung von Vertrags Vorschriften durch bloßes Organhandeln, wie
etwa durch eine schlichte Praxis des Rates nicht in Betracht. 741

Demgegenüber soll nach überwiegender Auffassung im wissenschaftlichen


Schrifttum die ausdrückliche Änderung bzw. Aufhebung von Primärrecht durch
die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des allgemeinen Völkerrechts grundsätzlich
auch außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV möglich sein. 742 Diese Befugnis
der Mitgliedstaaten folgt aus ihrer Eigenschaft als „Herren der Verträge" und
der Tatsache, dass das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht nach wie vor auf den
zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen beruht.
Aufgrund der grundsätzlichen Gleichrangigkeit aller Akte des Völkerrechts wäre
demzufolge eine Abänderbarkeit dieser Verträge auf die dargestellte Art und Wei-
se grundsätzlich möglich. Gleichwohl greifen auch bei derartigen, außerhalb von
Art. 48 EUV erfolgenden Änderungen von Primärrecht die verfassungsrechtlichen
Ratifizierungsanforderungen an den jeweiligen völkerrechtlichen Änderungsakt,
so dass sich an der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnis der nationalen Parla-
mente in diesem Fall nichts ändern würde.

739
E u G H . Rs. 4 3 / 7 5 . Slg. 1976. 4 5 5 . rn. 5 6 / 5 8 (Defrenne / Sabena); vgl. hierzu auch
H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48. Rn. 16.
740
Dazu ausführlich H.-J. Cremer, in: C. C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.). K o m m e n t a r zu
EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn 4 f. Anden; aber BVerfGE 68.
1 (82), das eine konkludente Vertragsänderung durch einen sonstigen Änderungsvertrag
für möglich hält. /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Aufl. 1994. Rn. 529 hält auch eine
nachträgliche Änderung durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht für denkbar.
741
In d i e s e m Sinne E u G H Rs. 6 8 / 8 6 . Slg. 1988. 855, Rn. 24 (Vereinigtes K ö n i g r e i c h /
Rat).
42
Diese völkerrechtlich wirksame Vorgehensweise kann aber zu e i n e m Konflikt mit
Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht führen. Vgl. zur hierzu geführten, wissenschaftlich kom-
plexen Debatte nur C. VedderfH.P. Folz, in: E . G r a b i t z / M . H i l f (Hrsg.). Das Recht der
Europäischen Union. Kommentar. 2 0 0 3 (Stand: 21. Erg.Lieferung). Art. 4 8 . R n . 4 6 f f . S o
auch etwa H.-J. Cremer, in: C. C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r zu EU-Vertrag
und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn. 5: differenzierend aber H.-H. Herrnfeld.
(2000). Art. 48. Rn. 16. d e r e i n e (unionsrechtliche) Bindung der Mitgliedstaaten annimmt,
das Verfahren des Art. 48 E U V zu respektieren. Die allgemeinen Regelungen des Völ-
kerrechts sollen d e m g e g e n ü b e r durch Art. 48 E U V verdrängt worden sein. Jedoch stehe
dieser unionsrechtlichen Selbstverpflichtung der .Mitgliedstaaten die in diesen verbliebene
völkerrechtliche Kompetenz gegenüber, sich durch eine gegenteilige Ü b e r e i n k u n f t von
dieser Selbstverpflichtung zu lösen.
256 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g

Zusammenfassend kann deshalb festgehalten werden, dass alle bisherigen, ex-


pliziten oder impliziten Verfahren der Änderung von Vertragsprimärrecht, sieht
man einmal von den beim Verfahren der „autonomen" Vertragsänderung gelten-
den Besonderheiten ab. durch ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis
flankiert werden.

dd) Verfassungsänderung n a c h d e m
Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren

Ein Schlüssel dafür, ob eine europäische Verfassung auf Dauer handlungsstei-


gernd sein wird, liegt in dem Mechanismus, der für künftige Verfassungsände-
rungen gefunden wird. Verfassungsergänzungen werden unvermeidlich sein und
sind fraglos Ausdruck einer gewissen Normalität. Hierfür werden aber in Zukunft
nicht mehr einstimmige Totalrevisionen erforderlich sein. Verfassungsergänzun-
gen und Verfassungsänderungen im Sinne amerikanischer Amendments könnten
im Prinzip mit qualifizierter Mehrheit möglich werden. Die Ausnahmetatbestände,
bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist, sind selbstredend.

Aber nur mit Hilfe einer klaren Trennung von fundamentalen und eher tech-
nischen Fragen der Verfassungsentwicklung kann europäische Verfassungskon-
tinuität mit dem lebendig sich weiterentwickelnden politischen Erfahrungs- und
Anforderungsprozess der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Nach
Art. IV-7 VerfV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) wird die Konventsme-
thode als Mechanismus häufiger Verfassungsänderungsdebatten eingeführt.

Bei technischen Änderungen kann der Rat mit einfacher Mehrheit beschließen,
den Konvent nicht einzuberufen, „wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs
der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist."

Obschon am Ende wiederum eine Regierungskonferenz stehen soll, „um die an


dem Vertrag wahrzunehmenden Änderungen zu vereinbaren", ist der vorgesehe-
ne Modus für Verfassungsergänzungen eine bedeutende Stärkung des föderalen
Unionsprinzips, sofern der Europäische Rat am Ende im Normalfall mit quali-
fizierter Mehrheit entscheiden kann. Jedenfalls darf Zwang zur Einstimmigkeit
bei künftigen Verfassungsergänzungen nicht die faktische Unveränderbarkeit der
Verfassung in einer Europäischen Union mit 27 oder mehr Staaten bedeuten, so
als müsste dem derzeit möglichen Verfassungsergebnis eine Ewigkeitsgarantie
gewährt werden.

(I) Das FünfstufenmodeII des Verfassungsvertrages


Durch den Verfassungsvertrag wird eine fünfgliedrige Verfahrenskette zur Ände-
rung und Anpassung des gesamten Vertrages sowie einzelner verfahrensrechtlicher
und substantieller Aspekte normiert: 7 4 3
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 257

Die erste Stufe bilden nunmehr zwei „ordentliche" Verfahren zur Änderung des
Verfassungsvertrages gemäß Art. IV-443 VerfV. Dieses Verfahren beinhaltet zwei
Varianten, wobei in der ersten Variante „Konvent plus Regierungskonferenz" der
Präsident des Europäischen Rates einen Konvent einberufen muss, sollte der Eu-
ropäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission
mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschlie-
ßen. Dem Konvent ist es vorbehalten, die Änderungsentwürfe zu prüfen und im
„Konsensverfahren" eine Empfehlung für die nachfolgende Regierungskonferenz
abzugeben.

In der zweiten Variante ..Regierungskonferenz ohne Konvent" kann der Euro-


päische Rat jedoch mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen
Parlaments beschließen, auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten, wenn
das Konventsverfahren aufgrund „des Umfangs der geplanten Änderungen nicht
gerechtfertigt ist". Für den Fall, dass die Zustimmung des Europäischen Parla-
ments hierzu vorliegt, wird auf der Grundlage eines Mandats des Europäischen
Rates eine Regierungskonferenz zur Prüfung und zu etwaigen Änderungen des
Vertrages einberufen. Verweigert hingegen das Parlament die Zustimmung, hat
die Regierungskonferenz auf der Grundlage der dann im Konsensverfahren von
einem Konvent angenommenen Empfehlungen zu arbeiten.

Auf der zweiten (übergeordneten) Stufe bestimmt Art. IV-444 VerfV die Re-
geln für ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren. Hierbei lassen sich zwei
„Reformfelder" ausmachen, um die Substanz des Verfassungsvertrages ohne not-
wendige Einberufung einer Regierungskonferenz oder eines Konvents zu ändern:
So kann der Europäische Rat zum einen in Bereichen, in denen der Rat nach den
Bestimmungen des Verfassungsvertrages einstimmig entscheiden muss, einstim-
mig eine Überführung in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit
beschließen. Und zum zweiten kann der Europäische Rat in den Bereichen, in
welchen er europäische Gesetze und Rahmengesetze nicht nach dem ordentlichen
Gesetzgebungs-, sondern nach „besonderen Gesetzgebungsverfahren" annimmt,
einstimmig beschließen, diese europäischen Gesetze oder Rahmengesetze in das
„ordentliche Gesetzgebungsverfahren" zu überführen.

Beide genannten Beschlüsse unterliegen freilich der Zustimmung des Europäi-


schen Parlaments sowie einem Vorbehaltsrecht der jeweiligen nationalen Parla-
mente. Das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren scheitert, wenn auch nur ein
einziges nationales Parlament innerhalb von sechs Monaten nach Übermittlung
einer entsprechenden Vertragsänderungsinitiative sein Veto einlegt. Allerdings
entfällt im Gegenzug die Verpflichtung zur Ratifikation der Vertragsänderungsbe-
schlüsse.

7J3
Vgl. A. Maurer. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die neuen Handlungs-
ermächtigungen der Organe. SWP-Diskussionspapier, 2005.
258 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Art. IV-444 VerfV findet seine weitgehende Entsprechung in der Passerelle


innerhalb der ehemaligen, durch den Maastrichter Vertrag festgelegten Justiz-
und Innenpolitik (Art. 42 EUV): Durch dieses Verfahren wird die Möglichkeit
eröffnet, über einen längerfristigen Zeitraum auch diejenigen Politikfelder und
Bereiche in die qualifizierte Mehrheit zu übertragen, bei denen es im Konvent
bzw. in der Regierungskonferenz (zum Teil erwartbar) nicht gelungen ist. Durch
die Einstimmigkeit der Übergangsentscheidung behält somit jeder Staat die Ent-
scheidungshoheit über diesen signifikanten Schritt. 744

Der Verfassungsvertrag sieht nunmehr auf einer dritten Stufe vor, dass gemäß
Art. IV-445 VerfV der Europäische Rat eine „Änderung aller oder eines Teils
der Bestimmungen von Teil III Titel III erlassen" kann. 745 Der entsprechende
Änderungsbeschluss des Europäischen Rates erfolgt einstimmig nach Anhörung
des Europäischen Parlaments und der Kommission. Die nationalen Parlamente
verfügen im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen nicht über ein Vetorecht.
Jedoch treten Vertragsänderungen erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im
Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Allerdings
beschränkt Art. IV-445 VerfV auch die Eingriffstiefe der jeweiligen Reformen,
weshalb die nach diesem Verfahren angenommenen Vertragsänderungen nicht
zu einer Ausdehnung der der Union übertragenen Zuständigkeiten führen dürfen.
Konsequenterweise ist hierzu letztlich wieder der Rückgriff auf das ordentliche
Vertragsänderungsverfahren vonnöten.

Die vierte Stufe beinhaltet gem. Art. 1-18 VerfV schließlich eine Bestätigung
der schon länger geltenden Flexibilitätsklausel zur einstimmigen Ergänzung be-
reits vertraglich sanktionierter Politiken. Sind im Verfassungsvertrag die zur
Erreichung eines bestimmten Ziels notwendigen Befugnisse nicht vorgesehen,
obgleich „ein tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Poli-
tikbereiche erforderlich" erscheint, dann kann der Rat einstimmig auf Vorschlag
der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Europäischen Parlaments
die geeigneten Maßnahmen erlassen. Eine Änderung des Verfassungsvertrags
gestattet Art. 1-18 VerfV hingegen nicht, sondern lediglich eine auf den Einzel-
fall begrenzte Präzisierung bzw. Befugniserweiterung der Union. Hieraus ergibt
sich die Voraussetzung, dass der Verfassungsvertrag ein entsprechend konkretes
Unionsziel bestimmt, das durch die spezifischen Kompetenznormen selbst nicht

744
Andererseits stellt die Passerelle als B e f u g n i s e r w e i t e r u n g des Europäischen Rates
einen Schritt dar. der die institutionelle Balance z w i s c h e n den Organen Parlament. Rat
und K o m m i s s i o n deutlich zugunsten des Rates bzw. des Europäischen Rates verändert.
In der Umsetzung von Art. IV-444 werden sich d a h e r wohl auch grundsätzlichere Fragen
der demokratischen Kontrolle des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden stellen,
vgl. auch A. Maurer (2005), S. 25.
745
Diese Formulierung bezieht alle internen Politiken der Union vom Binnenmarkt
über die Wirtschafts-, W ä h r u n g s - . Innen- und Justizpolitik bis hin zur Gesundheits- und
Bildungspolitik mit ein.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 259

gedeckt ist. Ausgenommen sind hiervon jedoch explizit Maßnahmen, die auf ei-
ne Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten
abzielen würden, obwohl die betroffene Vertragsbestimmung jedwede Harmonisie-
rung ausschließt. Demzufolge sind flexible Vertragsergänzungen ausgeschlossen,
die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der
Diskriminierungsbekämpfung, der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik, der
Gesundheitspolitik, der Forschungspolitik, der Kultur-, Bildung-, Ausbildungs-,
Jugend- und Sportpolitik, der Tourismuspolitik, sowie im Katastrophenschutz und
der Zusammenarbeit der Verwaltungen hinauslaufen würden. 7 4 6

Zuletzt benennt und etabliert der Verfassungsvertrag auf einer fünften Stufe so
genannte „Notbremsen" für die sekundärrechtliche Weiterentwicklung bestimm-
ter Politikfelder. So wird etwa im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs
für Maßnahmen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer festgehalten, dass ein
Mitgliedstaat im laufenden, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorbe-
halt geltend machen kann, wenn und weil der geplante Rechtsstaat „die Kosten
oder die Finanzstruktur seines sozialen Systems verletzen oder dessen finanzielles
Gleichgewicht beeinträchtigen" könnte (Art. III-136.2 VerfV). Auch im weiten
Bereich der Justiz- und Innenpolitik eröffnete erst eine solche, vom irischen Rats-
vorsitzenden vorgeschlagene Option den Weg für eine Konsenslinie zwischen
jenen Regierungen, die weitere Integrationsschritte zugunsten der strafrechtli-
chen Kooperation forderten, und denjenigen (vor allem Großbritannien), die sich
in Zurückhaltung übten. Im Kontext der sozialen Sicherheitspolitiken wird das
Entscheidungsverfahren nach einem Staatsvorbehalt zunächst angehalten. Der
Europäische Rat muss sich mit der Frage befassen und kann den geplanten Rechts-
akt entweder an den Rat zur Weiterbehandlung zurück überweisen oder aber
die Kommission um die Vorlage eines neuen Vorschlags ersuchen. Jeder Staat,
der ein europäisches Rahmengesetz als mit den grundlegenden Prinzipien seiner
Strafrechtsordnung für unvereinbar hält, verfügt im Bereich der Strafrechtszu-
sammenarbeit ebenfalls über ein suspensives Vetorecht, um das jeweils laufende
Ratsverfahren zu stoppen. 747 Sodann muss sich der Europäische Rat mit der Fra-
ge befassen und innerhalb einer Frist von vier Monaten entscheiden. Lässt sich
analog zu den Bestimmungen aus Art. III-136 VerfV keine Einigung erzielen,
kann automatisch eine verstärkte Zusammenarbeit eingeleitet werden, an der sich
mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligen muss (Art. III-270.4 VerfV).
Im Bereich der sozialen Sicherheit zeitigt die „Notbremse" wohl keine weiteren
Konsequenzen für die faktische Fortentwicklung der Integration. 74s Dahingegen
eröffnet das Vetoverfahren in der Strafrechtszusammenarbeit de facto eine Fort-

746
Dazu A Maurer (2005). S. 26.
747
Art. III-270.3 VerfV'.
748
Bei entsprechend extensiver Praxis würde Art. 136 VerfV wohl eher den ..Rückbau"
der Integration sanktionieren.
260 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

entwicklung dieses Politikfelds unterhalb der Schwelle der Vertragsreform. Mit


Blick auf beide „Notbremsen" mag sich die Unbestimmtheit des Verfahrenszeit-
punkts als problematisch erweisen. So wird es sich gegebenenfalls nur im Rahmen
eines Interinstitutionellen Abkommens zwischen Europäischem Parlament und
Rat klären lassen, ob Staaten die „Notbremse" in jeder Phase des Gesetzgebungs-
verfahrens oder nur in einer bestimmten Phase der ratsinternen Vorabstimmung
ziehen dürfen.

(2) Gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung betreffend


einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung

Der Europäische Rat entscheidet nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages


künftig ohne Ratifikationserfordernis, ob für einen Politikbereich zur Mehrheits-
entscheidung übergegangen wird. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat
müssen nur unterrichtet werden. Damit wird die Stellung von Deutschem Bundes-
tag und Bundesrat erheblich geschwächt, da das in Art. 23 GG bei Hoheitsübertra-
gungen vorgesehene 2/3-Erfordernis entfällt. Die Parlamente und insbesondere
die Opposition werden dadurch nicht unerheblich geschwächt. Dies ist besonders
problematisch, wenn die sich aus der betroffenen Rechtsgrundlage ergebenden
Kompetenzen nicht klar abgegrenzt sind.

2. Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation,


insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte

..In the Performance of assigned constitutional duties each branch of the Government
must initially interpret the Constitution, and the interpretation of its powers by any
branch is d u e great respect from the others." 7 4 9

Besser hätte der Supreme Court kaum seiner eigenen Rolle als auch der al-
ler Verfassungsorgane bei der zweiten „Alternative" der Einflussnahme auf die
Entwicklung der amerikanischen Bundesverfassung Ausdruck verleihen können.
Diese Funktion ist zunächst nur insoweit an eine gesetzliche Grundlage gebunden
als man letztere zum Gegenstand der Tätigkeit bestimmt. Gilt es nun eine ver-
fassungsrechtliche Frage zu beantworten, die sich nicht zweifelsfrei mittels der
Verfassung selbst lösen lässt, wird die Interpretation der Verfassung erforderlich.

Die spezifische „Gestimmtheit des Verfassungsrechts" (K. Stern) führt zu Be-


sonderheiten bei der Interpretation. „We must never forget that it is a Constitution
we are expounding", hat der Supreme Court der USA bereits 1819 dekretiert. 750

749
United States v. Nixon. 4 1 8 U. S. 683. 7 0 3 (1974).
750
MeCulloch vs. Maryland 17 U.S. 3 1 6 (407). Der Richter hat innerhalb des Inter-
pretationsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten
Fall löst. H i e r f ü r steht ihm etwa in Deutschland eine gefestigte Methodik zur V e r f ü g u n g ,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 261

D e m g e m ä ß h a t s i c h d i e W i s s e n s c h a f t seit l a n g e m b e m ü h t , „ P r i n z i p i e n d e r V e r -
fassungsinterpretation" - so das T h e m a der Freiburger Tilgung der Vereinigung
Deutscher Staatsrechtslehrer von 1961 - h e r a u s z u a r b e i t e n , w i e ü b e r h a u p t ein
Großteil der jüngeren Arbeiten z u m T h e m a Auslegung der Verfassungsauslegung
g e w i d m e t sind.751 D a b e i wird e r s c h ö p f e n d die „ K o m p l e x i t ä t der Interpretationsauf-
g a b e " o d e r ihre „Unerschöpflichkeit", der sich j e d e E p o c h e unter ihren jeweiligen
B e d i n g u n g e n neu zu stellen hat, betont.

U n z w e i f e l h a f t führt vor allem die Rechtsbildung zu S p a n n u n g e n , zuweilen


auch zu Konflikten, zwischen den nach der Gewalten- und Funktionenordnung
der Verfassung zur generellen Rechtserzeugung berufenen Parlamenten und den
Verfassungsgerichten.

Vielfach wird etwa die Besorgnis zu zunehmender Nebenordnung und Annä-


herung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung betont.
D a h i n t e r steht eine d e m a n g e l s ä c h s i s c h e n Rechtskreis vertraute T e n d e n z . G e s e t z e s -
recht und Richterrecht z u n e h m e n d als sich wechselseitig ergänzende, arbeitsteilige
Modalitäten im Rechtsfindungsprozess zu sehen.

die mit den Stichworten „Wortlaut der N o r m " , „Wille des Gesetzgebers" und „Teleologie"
angedeutet sei, insbesondere durch die ..Rechtsvergleichung" anzureichern ist (P. Hiiberle).
Noch i m m e r gilt der klassische Ansatz von Savigny, wonach Auslegung ..die Rekonstruk-
tion des klaren o d e r unklaren G e d a n k e n s ist. der im Gesetz angesprochen wird, insofern
er aus dem Gesetz erkennbar ist." Die Aufgabe des Richters. Recht zu sprechen, verbietet
ihm grundsätzlich, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Dieses insbeson-
dere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung („deni de justi-
ce") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfalls fortzuentwickeln und
Lücken zu füllen, etwa durch Analogien. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst.
Scheint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, dass Richter, die d e m gesetzten
Recht unterworfen sind, zugleich die Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortzubilden
und d a m i t in gewissem Sinne selbst die N o r m e n zu schaffen, an die sie gebunden sind.
Diesen Zwiespalt brachte der Richter am U S - S u p r e m e C o u r t Hughes treffend auf den
Punkt: ..We. the j u d g e s , we are under the Constitution, but the Constitution is, what the
j u d g e s say, it i s " (zitiert nach en.thinkexist.com/quotation/we_are_under_a_constitutionl-
lbut_the_constitution/158023.html). Der Richter war - entgegen der Forderung von Mon-
tesquieu - in Europa niemals lediglich ..la bouche qui prononce les paroles de la loi"(der
Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb
die Kompetenz des Richters zur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis.
Anders im angelsächsischen Recht.
751
Vgl. insbesondere die umfangreiche Lit.-Darstellung bei P. Hiiberle. Europäische
Verfssungslehre. 4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 247 ff. mit den Fn. 165 ff. und dessen wichtige eigene
Analyse des Themenfeldes. Zu den ..Prinzipien der Verfassungsinterpretation" ders., eben-
da. S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. 20. Aufl. 1995 (Neudr. 1999). S. 1 9 f f . : R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.),
Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.
262 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Ein kurzes Wort zur verfassungskonformen Auslegung. 7 5 2 Sie ist ein ebenso
unentbehrliches und - in nicht ganz leicht zu definierenden Grenzen 7 5 3 - auch all-
gemein anerkanntes Instrument der Normerhaltung (wie etwa im amerikanischen
Rechtskreis bereits treffend von Justice Brandeis festgestellt wurde 7 5 4 ), birgt aber
durchaus auch die Gefahr von Funktionsverwischungen. Unrichtig ist es allerdings
anzunehmen, durch eine verfassungskonforme Auslegung würde der Handlungs-
spielraum des Gesetzgebers stärker als durch eine Kassation beschnitten. Erweist
sich unter mehreren möglichen eine bestimmte Auslegung einer Norm als verfas-
sungswidrig, bestehen aber neben der in diesem begrenzten Umfang aufrechterhal-
tenen Norm andere Möglichkeiten zur Regelung des ihren Gegenstand bildenden
Sachverhalts, so hindert den Gesetzgeber nichts, diesen Sachverhalt nach seinen
Vorstellungen neu zu gestalten: nur die eine - verfassungswidrige - Lösung bleibt
ihm verwehrt.

a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsinterpretation

Die juristische Hermeneutik teilt grundsätzlich die Probleme der allgemeinen


Hermeneutik 7 5 5 , die vor allem in der Frage kulminieren, ob das Sinnverstehen
ein rational kontrollierbares, intersubjektiv prüfbares Verfahren ist. K. Hesse sieht

752
Dazu etwa K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. l . B d . .
2. Aufl. 1984. § 4 III 8 d. S. 135 ff.: K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-
republik Deutschland. 20. Aufl. 1995, Rdnr. 79 ff., jeweils m . w . N.
753
Vgl. auch BVerfGE 54. 277 (299 f.).
754
Justice Brandeis in seiner Dissenting Vote zu Ashwander v. Tennessee Valley Autho-
rity, 297 US 288. 346 ff.( 1936).
755
Eine „allgemeine H e r m e n e u t i k " als Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften
ist im 19. Jahrhundert insbesondere von F.D.E. Schleiermacher und IV. Dilthey entwickelt
worden, vgl. F. D.E. Schleiermacher, Hermeneutik (hrsg. von H. Kimmerle), 2. Aufl. 1974:
W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), G e s a m m e l t e Schriften.
Bd. 5 . 7 . Aufl. 1982; ders., Entwürfe zur Kritik der historischen V e r n u n f t . , in: ders. (Hrsg.),
G e s a m m e l t e Schriften. Bd. 7. 7. Aufl. 1979. Der Einfiuss beider reicht bis in die Gegenwart
(M. Heidegger. R. Bultmann. H.-G. Gadamer. E. Betti. G. Eheling). Die Differenz zwischen
Methodologie, d. h. als Kunstlehre von den Regeln der Auskegung (ars interpretanda und
Strukturtheorie als Lehre vom Z u s a m m e n h a n g zwischen Zeichen Bedeutung (signum et
res) spiegelt sich in der jüngeren Hermeneutikdebatte vor allem bei Gadamer und Betti. Die
lange Jahre g e f ü h r t e Kontroverse zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und geistes-
wissenschaftlicher Hermeneutik hat sich dagegen entschärft, nachdem auch die analytische
Wissenschaftstheorie das Problem des Sinnverstehens in ihre Überlegungen einbezieht. Die
Theorie der Interpretation (seit d e m 15. Jahrhundert nach dem griechischen ep|ir|V£D£lV
„ H e r m e n e u t i k " genannt) gab es bereit seit der Antike und im Mittelalter (vgl. auch zuletzt
J.Schröder. Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis
1850. in: Z N R 2002. S . 5 2 f f . ) und spielte eine gewichtige Rolle in der T h e o l o g i e (als
Lehre vom vierfachen Schriftsinn - sensus litteralis. allegoricus. moralis und anagogicus,
vgl. T. v.Aquin, S u m m a theologiae I, 1 q. 10 - die Idee eines „ A u s l e g u n g s k a n o n s " war
d e m n a c h früh geboren und im theologischen Kontext nicht wie vielfach behauptet erst
seit Schleiermacher diskussionswürdig). Beispiele späterer musikalischer Hermeneutik
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 263

demgemäß idealtypisch die Aufgabe der Verfassungs-Interpretation zutreffend


darin, „das verfassungsmäßig »richtige4 Ergebnis in einem rationalen und kon-
trollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar
zu begründen und auf diese Weise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu
schaffen - nicht etwa nur. um der Entscheidung willen zu entscheiden. 4 ' 756 Eine
Einschätzung, die „transatlantisch" Geltung beanspruchen kann, wenngleich ihrer
Umsetzung kaum nachgekommen wird. 757 Die Suche nach den Aufgaben und
Zielen der Verfassungsinterpretation mündet oftmals zwangsläufig in einer Kata-
logisierung von Schlagworten 5S. die nicht falsch sein müssen, denen jedoch in der
Regel das verbindende Element, eine Ummantelung der begrifflichen Nacktheit
fehlt. Dabei könnte möglicherweise ein kulturwissenschaftlicher Ansatz einen
Rahmen bilden, um differierend anmutende Zielsetzungen und Aufgabenstellun-
gen ebenso einer übergeordneten Sichtweise unterzuordnen wie dies im Kontext
verschiedener methodischer Ansätze bereits vorgenommen wird 759 . Unter dem
Strich ist dabei eher eine fruchtbare Ergänzung und weitere Auskleidung des
Kulturbegriffes zu erwarten als ein ungeordnetes Nebeneinander wirrer Termini
unter einer vagen Bezeichnung.

Eine Betrachtung der möglichen Interpretations-,.Objekte" legt die Vielfalt


juristischer Hermeneutik offen. Grundsätzlich finden sich so viele Arten der
Interpretation wie es Rechtsquellen gibt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung
steht in erster Linie die Verfassung als „Quelle interpretatorischer Tätigkeit" und
die obersten Gerichte der Vereinigten Staaten bzw. der Europäischen Union re-
spektive der Europäischen Gemeinschaften. Wie am Beispiel der Vereinigten
Staaten bereits illustriert ist die - in der Regel in einem fundamentalen Verfas-
sungsgesetz rechtlich fixierte - Verfassung konstitutives Merkmal des modernen
politischen Gemeinwesens. Der moderne Konstitutionalismus entspringt u. a. den

bieten der Versuch einer Wiederbelebung der Affektenlehre durch H. Kreizschmar sowie
A. Scherings Deutung der Musik L. v. Beethovens.
756
K. Hesse. G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland.
20. Aufl. Neudr. 1999. S. 21.
757
Zur mangelnden Bewältigung der gesetzten Aufgabe in der deutschen Verfassungs-
wirklichkeit vgl. K. Hesse, ebenda.
758
So werden an Aufgaben genannt (zitiert nach einer A u f z ä h l u n g von P. Hiiberle.
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 228 Fn. 14): Gerechtigkeit. Bil-
ligkeit. Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis. Vernünftigkeit.
Praktikabilität. Sachgerechtigkeit. Rechtssicherheit. Berechenbarkeit. Transparenz. Kon-
sensfähigkeit. Methodenklarheit. Offenheit. Einheitsbildung, Harmonisierung, normative
Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale
Gleichheit, (gemeinwohl)gercchte („gute") öffentliche Ordnung.
759
Vgl. P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. A u f l a g e 1998. S. 227:
„Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen,
w a s kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinter-
pretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung
bieten."
264 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

g r o ß e n „ R e v o l u t i o n e n " d e s a u s g e h e n d e n 18. J a h r h u n d e r t s . S e i t d e m h a t d i e „ K o n -
s t i t u t i o n a l i s i e r u n g d e r H e r r s c h a f t " (D. Grimm™) in u n t e r s c h i e d l i c h e r G e s t a l t d e r
historisch-politischen Welt ihre P r ä g u n g verliehen und d a r ü b e r hinaus i m Z u g e
d e r G l o b a l i s i e r u n g der Politik und der A u s b r e i t u n g m a n c h e r A s p e k t e d e r Ver-
fassungslehre die nicht-westlichen Gesellschaften erfaßt. Seiner Grundidee nach
d r ü c k t s i c h i m m o d e r n e n B e g r i f f d e r V e r f a s s u n g d o r t , w o sie a l s „ O r d n u n g d e s Po-
l i t i s c h e n " (U.K. Preuß761) k o n z i p i e r t w i r d , d e r z e n t r a l e S i n n g e h a l t d e r p o l i t i s c h e n
Kultur aus. Unter diesem Aspekt k o m m t der m o d e r n e n Verfassung eine doppelte
F u n k t i o n z u : i h r e r s y m b o l i s c h e n F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d d e u t e t u n d n o r m i e r t sie
die O r d n u n g s g e h a l t e d e r politischen Kultur d e r G e s e l l s c h a f t . Ihrer instrumentellen
F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d l i e f e r t sie d a s S p i e l r e g e l w e r k f ü r d i e p o l i t i s c h e n P r o z e s s e
d e s p o l i t i s c h e n S y s t e m s . 7 6 2 A l s q u a s i - k a n o n i s c h e r T e x t s t e h t sie e i n m a l f ü r e i n e H e r -
meneutik der gesellschaftlichen Existenz mit e i n e m verbindlichkeitsfordernden
G e l t u n g s a n s p r u c h . Z u m a n d e r e n ist sie K r i s t a l l i s a t i o n s p u n k t f ü r e i n e n p e r m a n e n -
ten h e r m e n e u t i s c h e n P r o z e s s d e r A u s l e g u n g d e r d u r c h sie v e r b ü r g t e n P r i n z i p i e n
im M e d i u m der politischen D e u t u n g s k u l t u r der Gesellschaft. Ein weitreichender
wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungsherme-
n e u t i k ist v o r l ä u f i g n u r i n d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n u n d n e u e r d i n g s a u c h i n K a n a d a
a u f g e n o m m e n w o r d e n . 7 ' 1 Er bewegt sich „Toward a Constitutional H e r m e n e u t i c s "

760
Vgl. D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung. Frankfurt 1991.
761
Siehe den Titel des von U. K. Preuß herausgegebenen Sammelbandes ..Zum Begriff
der Verfassung. Die O r d n u n g des Politischen. 1994".
762
Eine ..Hermeneutik des Politischen" bewegt sich auf zwei E b e n e n . Analytisch ist
sie eine empirisch-hermeneutische Theorie. Sie analysiert die soziokulturellen O r d n u n g s -
gefüge auf die ihnen unterliegende Ordnungslogik hin und versteht das durch die Pluralität
von Ordnungs- und Symboltypen vermessene geschichtliche Feld menschlicher Selbstver-
ständigung und -aktualisierung als Manifestation des Politischen. In diesem solchermaßen
umrissenen Objektbereich der empirisch-hermeneutischen T h e o r i e spiegelt sich w i e d e r u m
der anthropologische Sachverhalt des Menschen als eines sich selbst interpretierenden
Wesens, als animal symbolicum. Dabei entspringen Ordnungsinterpretationen in einem
sehr grundsätzlichen Sinn der f u n d a m e n t a l e n menschlichen Existenzerfahrung. Insoweit
gehen in die Hermeneutik stets Realerfahrungen der historisch-sozialen Lage ein. Zweitens
bauen auf einer solchen Grundhermeneutik des Menschlichen eine Vielzahl von Deutungen
jeweils sozialer Kontexte auf, deren Ordnungszentrum eine hegemoniale Identitätsdeutung
des Menschlichen ist, die in peripheren Deutungen ausstrahlt. Drittens, das Specificum
einer solchen Hermeneutik des Politischen ist deren Verankerung in der Machtstruktur,
insofern sie Ausdruck des Ringens um das D e u t u n g s m o n o p o l f ü r die politische Kultur
(die „Wahrheit" der Gesellschaft), dessen Durchsetzung und Aufrechterhaltung ist. Das
M e d i u m der Hermeneutik des Politischen ist die politische Deutungskultur einer Gesell-
schaft. Die machtgestützte H e r m e n e u t i k des Politischen und deren Manifestation in der
politischen Ordnungslogik garantiert einerseits eine gewisse gesellschaftliche Stabilität,
andererseits ist sie stets der Herausforderung durch alternative Hermeneutiken ausgesetzt.
Das D e u t u n g s m o n o p o l der hegemonialen Hermeneutik ist niemals absolut, vgl. zu dieser
T h e m a t i k ausführlich J. Gebhardt, Verfassung und Politische Kultur in Deutschland, in:
ders. (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 265

( G . Leyh)76*, w i e sie s i c h i n d e r D e b a t t e z w i s c h e n t e x t i m m a n e n t a r g u m e n t i e r e n d e n
„interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" n i e d e r s c h l ä g t 6 ?
und in einen weiteren hermeneutischen Z u s a m m e n h a n g von „katholischen" und
„ p r o t e s t a n t i s c h e n " I n t e r p r e t a t i o n s s c h e m a t a erstellt wird76". In diesen n a t u r g e m ä ß
stets politisch a u f g e l a d e n e n D e b a t t e n zeichnet sich d a s P r o b l e m f e l d einer ver-
gleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik767 in den mit verfassungs-
richterlichem P r ü f u n g s r e c h t ausgestatteten Politien etwa der U S A , Deutschlands,
Kanadas. Australiens und Frankreichs ab. wobei in einigen Ländern in der Rechts-
a b e r a u c h P o l i t i k w i s s e n s c h a f t v o r d e r g r ü n d i g e i n I n t e r p r e t a t i o n s m o n o p o l d e r Ver-
fassungsgerichtsbarkeit behauptet wird. Insgesamt hat sich eine in sich kontroverse
Tradition der Verfassungshermeneutik herausgebildet, die auch unter modernen
kulturhermeneutischen768 Vorzeichen zu analysieren wäre.769

D i e s e r U n t e r s u c h u n g v o r g e l a g e r t ist j e d o c h d i e F r a g e , o b e s t a t s ä c h l i c h d i e I n -
haberschaft eines Interpretationsmonopols geben kann - einen interpretatorischen

Siehe H. Beiz, Constitutional and Legal History in the 1980s: Reflections on A m e -


rican Constitutionalism. in: 4 Benchmark (1988), S. 243 ff.; M.A. Graber. W h y Interpret?
Political Justification and American Constitutionalism. in: 56 T h e Review of Politics (1994).
S. 4 1 5 ff. Zur amerikanischen Verfassungskuhur aus d e m deutschen Schrifttum J. Gebhardt.
Verfassungspatriotismus. Anmerkungen zur symbolischen Funktion der Verfassung in den
USA. in: A k a d e m i e für politische Bildung (Hrsg.). Z u m Staatsverständnis der Gegenwart.
1987.
764
G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics, in: 32 American Journal of Political
Science (1988), No. 2, S. 369 ff.
765 Yg| p Kommers. T h e Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate
on Judicial Review, in: 47 T h e Review of Politics (1985). No. 3, S. 113 ff.
766
Dazu H. Levinson, Constitutional Faith. 1989.
6
Hierzu gibt es Ansätze bei J. Gebhardt/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie,
Verfassung und Nation. 1994 und im G e s a m t w e r k P. Häberles. Bedeutsam vor allem das
Werk von D.N. MacCormick/R. S. Summers. Interpreting Statutes: a Comparative Study.
1991.
768
Es grenzt an eine Tautologie, von „Kulturhermeneutik" zu sprechen, da Hermeneutik
i m m e r mit „ K u l t u r " zu tun hat: zum einen sind ihre Gegenstände zweifellos Erzeugnisse
kultureller Praxis, anfangs vor allem religiöse, juristisch-politische und philosophische
Texte. Zweitens stellen hermeneutische B e m ü h u n g e n ihrerseits ein kulturelles P h ä n o m e n
dar. oft direkt in kulturelle Reflexivität einmündend. Drittens zielt Hermeneutik stets
auf kulturelle Praxis, auf die Herstellung eines Z u s a m m e n h a n g s zwischen verschiedenen,
meist auch räumlich und zeitlich getrennten kulturellen Dokumenten sowie zwischen deren
Verfassern. Z u m Begriff der „ K u l t u r " sehr detailliert P. Häberle, Verfassungslehre als
Kulturwissenschaft. 2. Auflage 1998. S. 2ff; ders.. Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat.
1980. S. 13 ff.; ders.. Vom Kulturstaat z u m Kulturverfassungsrecht, in: ders., Kulturstaat-
lichkeit und Kulturverfassungsrecht. 1982. S. I, 27 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen
weiterführender Literatur.
769
Diese Forderung erhebt auch J. Gebhardt, Verfassungspatriotismus (1987). Im vol-
lausgebildeten Konstitutionalismus wird gebetsmühlenartig die Frage des verfassungs-
gerichtlichen Interpretationsmonopols behandelt, so wie es sich scheinbar in den USA
herausgebildet haben soll.
266 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Alleinanspruch über Verfassungsbestimmungen, die wegen ihres besonderen Cha-


rakters nicht allein durch „schlichte" juristische Interpretation etwa im Sinne des
Savignyschen Kanons zu erschließen sind, die aufgrund der normativen, materia-
len und funktionalen Besonderheiten des Verfassungsrechts einen „ K u n s t g r i f f '
erforderlich machen, der in der deutschen Verfassungslehre weithin als „Kon-
kretisierung" bezeichnet wird. 770 Einer solchen Konkretisierung bedarf es im
Verfassungsstaat namentlich bei den fundamentalen Staatsstrukturprinzipien, wie
Demokratie, sozialer Rechtsstaat. Bundesstaat und Gewaltenteilung, bei nahezu
allen Grundrechten, schließlich bei Staatszielbestimmungen.

Rechtsvergleichend lässt sich dieser Gedanke auch auf andere Verfassungsstaa-


ten übertragen, wobei die Konkretisierungsaufgabe für das Verfassungsrecht zu-
nächst auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer Letztentscheidungsfunktion
„fokussiert" scheint.

Also doch insgesamt ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbar-


keit? Mitnichten, selbst wenn man einer Letztentscheidungsfunktion monopol-
ähnliche Strukturen nur schwer absprechen kann. Gleichwohl wird die richterli-
che Entscheidung durch vorhergehende Interpretationen anderer Teilnehmer am
„Verfassungsleben" wesentlich mitbeeinflusst. P. Häberle spricht zu Recht von ei-
ner „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" und bezieht in die Prozesse
der Verfassungsinterpretation „potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Poten-
zen. alle Bürger und Gruppen" ein. T ; : Häberles Gedanke wird in den Vereinigten
Staaten zwar bislang (noch) nicht unverhohlen rezipiert, findet jedoch zunehmend
theoretische Entsprechungen. :: So formuliert etwa W. Murphy treffend:

„A final definitional matter is important, especially for A m e r i c a n s w h o o f t e n a s s u m e


that j u d g e s have a monopoly on constitutional interpretation. In fact, however, even
in a constitutional d e m o e r a e y with a constitutional text and judicial review. all public
officials sometimes interpret - and properly if not always conrectly so - the Constitution.
Not only j u d g e s but also legislators interpret when they resolve constitutional doubts
for or against a bill as do executive officials when they decide they can, or cannot.
consistently with their oaths of office carry out a particular Public policy. Even police
officers engage in constitutional interpretation when they decide they can or cannnot
arrest a n d / o r search a suspect. Moreover, leaders of interest groups frequently o f f e r

770
Vgl. etwa H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungsrecht. Völkerrecht. 1971, S. 340.
771
Siehe P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. A u f l a g e 1998,
S. 2 2 8 ff., 229. Grundlegend ders.. Die o f f e n e Gesellschaft der Verfassungsinterpreten,
in: JZ 1975. S. 2 9 7 ff., auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage
1998, S. 155 ff.: vgl. auch ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess - ein
Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998. S. 121 ff.
772
Freilich im Wesentlichen nach dem hier so passenden Prinzip J. Pauls: „Unter einem
freundlichen Ausleger mein' ich den. welcher in einem fremden Buche seine eigne Meinung,
obwohl tief vergraben, entdeckt und mit seiner Wünschelrute erhebt", vgl. ders.. Politische
Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, 1817.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 267

interpretations of the Constitution, both to advance and defend their goals. Individua!
voters can also join in the interpretive process by taking the time before casting their
ballots to leam about and judge the validity of specific items on candidates' platforms." 7 '*

Einige Beispiele außergerichtlicher Verfassungsinterpretation sollen die Gel-


t u n g s k r a f t d i e s e r A u s s a g e d i e s s e i t s u n d j e n s e i t s d e s A t l a n t i k s u n t e r s t r e i c h e n . 1861
s e t z t e A . Lincoln e i n e n M a r k s t e i n i n t e r p r e t a t o r i s c h e r T ä t i g k e i t a u ß e r h a l b d e s o b e r s -
ten G e r i c h t s h o f s als e r f e s t s t e l l t e : „ I h o l d , t h a t i n c o n t e m p l a t i o n o f u n i v e r s a l l a w .
and of the Constitution, the U n i o n of these States is perpetual."774 Diese A u s l e g u n g
war freilich nicht vollends abwegig, allerdings zu j e n e r Zeit weder offensichtlich
n o c h u n b e d i n g t a l l e r o r t s p o p u l ä r . D a d a s V e r f a s s u n g s d o k u m e n t Lincolns S ä t z e
textlich nicht explizit zu stützen w u ß t e , soll e r n e u t die P r ä a m b e l d e r V e r f a s s u n g in
E r i n n e r u n g g e r u f e n w e r d e n , i n d e r e s u n t e r a n d e r e m h e i ß t „ j . . . ]in O r d e r t o f o r m a
m o r e p e r f e c t U n i o n | . . . ] " . E s ist a l s o w e d e r v o n e i n e r a l l e i n „ p e r f e c t " g e s c h w e i g e
denn von einer „perpetual Union" die Rede.77'

D a s z w e i t e E x e m p e l m a g u n g e w ö h n l i c h e r s c h e i n e n u n d d o c h ist e s A b b i l d
verfassungsinterpretatorischer Tätigkeit. Im Jahre 1936 wirkte die Mehrheit der
a m e r i k a n i s c h e n B e v ö l k e r u n g a l s „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t " als s i e e n t g e g e n m a s s i v e r

773
W. F. Murphy, Constitutional Interpretation as Constitutional Creation. 1 9 9 9 - 2 0 0 0
Harr)' Eckstein Lecture, Princeton 2000. www.democ.uci.edu/democ/papers/murphy.htm.
Siehe auch W. F. Murphy U.E. Fleming/S.A. Barber. A m e r i c a n Constitutional Interpreta-
tion. 21x1 ed., 1995, Part III: W.F.Murphy. W h o Shall Interpret the Constitution?, in: 48
Review of Politics, 1986, S . 4 0 1 ff.; ders., Constitutions, Constitutionalism. and D e m o c -
racy, in: D. G r e e n b e r g / S . N . K a t z / M . B . O l i v i e r o / S . C . Wheatley (eds.), Constitutionalism
and Democracy, 1993, S. U f f . jeweils mit weiteren Nachweisen. Entsprechend seines
Einsatzes für eine ..representative" und gegen eine ..constitutional d e m o c r a c y " Demokratie
tendiert etwa R.A. Dahl zu einer Interpretationsvorherrschaft der gewählten gesetzgeben-
den Körperschaft, die sich einer P r ü f u n g lediglich durch die Wahlen auszusetzen habe.
Ein richterliches Einschreiten wäre höchstens vertretbar, um einen reibungslosen Ablauf
der Wahlprozesse zu gewährleisten ..for an independent body to strike down laws that
seriously damage rights and interests that|,] while not external to the democratic process[,]
are demonstrably necessary to it would not seem to constitute a violation of the democratic
process.", vgl. ders., Democracy end Ist Critics, 1989. S. 191. Ähnlich M. Walzer. Philoso-
phy and Democracy, in: 9 Political T h e o r y (1981), S. 379 ff. 397: „The j u d g e s must hold
themselves as closely as they can to the decisions of the democratic assembly, enforcing
first of all the basic political rights that serve to sustain the character of the assembly and
protecting its m e m b e r s from discriminatory legislation. They are not to enforce rights
beyond these unless authorized to do so by a democratic decision." Eine solche Nähe der
Richterschaft zu politischen Entscheidungen erleichtert j e d o c h in der Regel die Rechtfer-
tigung jeglicher Interpretation der Verfassung, zu dieser Problematik umfassend J.H. Ely,
Democracy & Distrust, 1980.
774
A. Lincoln. First Inaugural Address, in: R.P. Basler (Hrsg.), T h e Collected Works of
A b r a h a m Lincoln. Vol. IV 1953, S. 262 f.
77?
Die folgenden vier Jahre Civil War und dessen Ergebnis straften Lincolns Interpre-
tation - wenngleich bis heute patriotisch bejubelt - im G r u n d e Lügen. Die Nation, die
letztlich aus diesem Konflikt e r w u c h s , wies auch erhebliche Unterschiede zu den (mehr
oder weniger) ..united states" vor dem Bürgerkrieg auf.
268 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

höchstrichterlicher Ablehnung der „New Dear*-Gesetzgebung dem amtierenden


Präsidenten F.D. Roosevelt mit einem Erdrutschsieg bei den Wahlen (46 von 48
Staaten Zustimmung) erneut ins Amt verhalf.

Auch H. Kohls entschlossener Griff nach dem Stundenzeiger historischer Zei-


tenwenden im Jahre 1990 muss als bedeutender Beitrag zur Interpretation einer
Verfassung erachtet werden. Die Entscheidung, die Wiedervereinigung und Auf-
nahme neuer Bundesländer unter die damalige Fassung von Artikel 23 GG zu
legen, war ein interpretatorischer Vorgang, der es allen Beteiligten ermöglichte,
annähernd ohne richterliche „Beaufsichtigung" die Bedingungen der Wiederver-
einigung zu verhandeln. Zudem blieb das Grundgesetz mit lediglich kleineren
Modifikationen auch die Verfassung der vereinten Nation. Die zunächst plausi-
bler erscheinende Interpretationsalternative, nämlich Artikel 146 GG a. F., hätte
eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung erfordert, die schließlich die
Bedingungen für die Wiedervereinigung enthalten hätte. 76

Es ist also festzuhalten, dass zur Interpretation der Verfassung weder nur die
Verfassungsgerichtsbarkeit berufen noch dieser die ausschließliche Wirkkraft
einer Auslegung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtung führt zurück zu der For-
derung. Verfassungsinterpretation unter kulturhermeneutischen Vorzeichen zu
betreiben. Das Verfassungsgericht ist ebenso wenig repräsentatives Spiegelbild
einer gewachsenen Verfassungskultur wie der Verfassungstext selbst alleiniger Be-
zugspunkt verantwortlicher Interpretationstätigkeit sein kann. Das Zusammenspiel
unterschiedlichster Auslegungskräfte und -intentionen aller am Verfassungsleben
Beteiligten - ein „polyphones Konzert" der Verfassungsinterpreten - findet eine
gemeinsame Zielsetzung in der Harmonisierung der eigenen Wunschvorstellun-
gen mit den Realitäten der bestehenden Kultur und gibt letzterer damit stets eine
kleinere oder größere Neuausrichtung ihrer Prägung, je nachdem wer oder welche
Institution(en) an der Interpretation beteiligt sind.

Dennoch werden westliche Konstitutionalismen und - d e m Prinzip des institutio-


nellen Mimetismus folgend - auch ansatzweise nicht-westliche Verfassungsstaaten
nun zunehmend von einer Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und
gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungs-
kultur gekennzeichnet, was der vorangegangenen These der „offenen Gesellschaft
der Verfassungsinterpreten" nicht widerspricht, allerdings Zeugnis einer differie-

776
Aus der überbordenden Literatur dazu etwa C. Tomuschat, Wege zur deutschen Ein-
heit. in: V V D S t R L 49 (1990), S. 39 ff.; das S a m m e l w e r k von K. Stern (Hrsg.), Deutsche
Wiedervereinigung, Bde., 1991; siehe auch L Michael. Die Wiedervereinigung und die
europäische Integration als Argumentationstopoi in der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts. Zur Bedeutung der Art. 23 S. 2 a. F. und 23 Abs. 1 S. I n. F. G G , in: AöR 124
(1999). S. 5 8 3 ff. Interessant ist diesbezüglich auch die Sichtweise aus dem amerikanischen
Rechtskreis, vgl. n u r P. Quint. T h e Constitutional Law of G e r m a n Unification. in: 50 M d .
L. Rev. (1991), S. 4 7 5 ff. und ders., T h e Imperfect Union: Constitutional Structures of
G e r m a n Unification. 1997.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 269

renden Gewichtung unter den Verfassungsinterpreten ist. Die freilich unscharfe


Kategorisierung in das Verfassungsleben mitformende „Prae-interpreten" und
die letztliche Verantwortung tragende „Final-interpreten" (wie etwa US-Supreme
Court, Bundesverfassungsgericht oder der französische Conseil Constitutionnel)
soll eine kaum bestrittene Realität akzentuieren, die durchaus mit der Bezeich-
nung „Demokratisierung der Verfassungsinterpretation" 7 7 7 belegt werden kann.
Dass „Post-Interpreten" (beispielsweise die Verfassungslehre aber auch jeder
„Verfassungsanwender") selbst wieder gleichzeitig „Prae-Interpreten" sind, lässt
ein Kuriosum offenkundig werden: Die Gestaltung und Fortentwicklung von
Verfassungskultur basiert auf einem „Kreislauf" der Verfassungsinterpreten.

In den Vereinigten Staaten bringt vor allem der Supreme Court durch seine
ständige Auslegung sowohl einzelner Verfassungsbestimmungen wie der Ver-
fassung als Ganzes den Text der Verfassung in Übereinstimmung mit sozialen,
wirtschaftlichen und gegebenenfalls ethischen Zeitumständen. 7 7 8 Dies geschieht
auch unabhängig von Zeiten selbst verordneter politischer Zurückhaltung und
bedeutet in der Konsequenz bei aller Diskussion um die „political question doc-
trine" und „judicial restraint" ein stetes, mehr oder weniger sanftes Einwirken auf
politische Gegebenheiten. Auch wenn die Verfassungsinterpretation zweifellos
der zentrale Baustein kreativer Verfassunggebung ist, so gründet sich letztere in
den Vereinigten Staaten (wie auch anderswo) fraglos auf weiteren Faktoren. Zu
nennen ist etwa die immer wieder modifizierte Handhabung verfassungsmäßiger
Aufgaben durch oberste Verfassungsorgane wie Kongress und Präsident, aber
auch die Verfassungsfortbildung in der Tradition der englischen „Conventions"
durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten. wodurch neben
einer Ausfüllung der Lücken im knapp bemessenen Verfassungstext auch die
Verfassungsbestimmungen selbst einem steten Wandel unterzogen werden. 779

777
So P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Auflage 1998. S . 2 3 0 :
siehe auch ders.. Zeit und Verfassung, in: Z I P 21 (1974). S. 11 Iff. 118 ff."
778
Siehe hier/u und im folgenden auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfas-
sungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S. 36 f.
77
'' Als Beispiele der L ü c k e n a u s f ü l l u n g sollen z u m einen der Aufbau der Bundesge-
richtsbarkeit durch die „judiciary acts" dienen, da die Verfassung nur einen obersten
Gerichtshof vorschreibt und die S c h a f f u n g von untergeordneten Gerichten d e m Kongress
überlässt (Artikel III § 1 der Bundesverfassung); darüberhinaus die Organisationshoheit
für die S c h a f f u n g von Bundesbehörden, die allein d e m Kongress zusteht: oder die Nachfol-
geregelung. wenn sowohl Präsident als auch Vizepräsident an der A u s ü b u n g ihrer Ä m t e r
gehindert sind. Als ein bedeutendes Kapitel der Verfassunggebung durch den Kongress
erwiesen sich die verfassungsrechtlich zugewiesenen Bundeszuständigkeiten. Berühmtheit
erlangte dabei die Auslegung der sogenannten „ c o m m e r c e " - K l a u s e l (Artikel I § 8 par. 3
der Bundesverfassung) seitens des Kongresses. Diese Klausel unterstellt den Handel der
Bundeszuständigkeit, wobei der Kongress zu b e s t i m m e n hat. was letztlich unter Handel
zu verstehen ist. Jeweils mit Z u s t i m m u n g des Supreme C o u r t dehnte der Kongress über
Jahrzehnte den Begriff weit über die ursprüngliche enge Bedeutung des einfachen Wa-
270 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die folgende Betrachtung einzelner Gesichtspunkte der (richterlichen) Verfas-


sungsinterpretation in den Vereinigten Staaten und später in der Europäischen
Union versucht dem hohen Anspruch einer Berücksichtigung kultureller Prämissen
zu folgen und legt seinen Schwerpunkt auf eine Untersuchung kreativer Verfas-
sunggebung durch die obersten Gerichtshöfe. Diese Einführung sollte sich nur auf
einen Anriss der genannten Vorfragen nach den Verfassungsinterpreten und der
Beziehung von Verfassungsinterpretation zur Verfassungs-Kultur beschränken.

Laut P. Höberle „färbt" kultureller Wandel die Verfassungsinterpretation. 7 8 0


Diese Aussage lässt sich aufgrund des oben Gesagten freilich auch insoweit
umdrehen als Verfassungsinterpretation seit jeher den kulturellen Wandel zu
„färben", jedenfalls zu beeinflussen verstanden hat.

Das symbiotische Verhältnis von Verfassungsinterpretation und Verfassungge-


bung gilt letztlich auch für die europäische Ebene. Das oben aufgezeigte Verfas-
sungsverständnis und der zugrunde zu legende „europäische Verfassungsbegriff'
lassen demzufolge die Übertragung einer Vielzahl der vorgenannten Überlegungen
auf die europäische Rangstufe zu ( - mit Ausnahme der gänzlich „staatsfixierten"
Aspekte). 7 8 1

renaustausches aus. Heute umfaßt er alles, was mit zwischenstaatlichem Handel auch im
entferntesten in Verbindung steht. Aus der in Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung
vorgesehenen eigentlichen Zuständigkeit zur K r e d i t a u f n a h m e (..borrowing m o n e y " ) lei-
tete der Kongress die Regelung des gesamten Geld-, Bank-, und Börsenwesens ab. Eine
Rechtsfigur, die später auch in den Europäischen G e m e i n s c h a f t e n eine gewichtige Rolle
spielen sollte, nahm in den Vereinigten Staaten mittels der unterstellten Vollmachten des
Kongresses ihren Anfang: die „implied powers". Aber auch d e m Präsidenten bzw. den zu-
ständigen Departments kommt in der Verfassunggebung durch Zuhilfenahme der ..implied
powers"-Regel o d e r durch die selbständige Auslegung von Verfassungsbestimmungen im
Rahmen der Amtsgeschäfte ein erhebliches Gewicht zu. Exemplarisch für die Verfassungs-
fortbildung durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und - g e w o h n h e i t e n seien genannt:
der heutige Gebrauch des Präsidialvetos (dazu bereits: G. F. Xfilton, T h e Use of Presidential
Powers 1 7 8 9 - 1 9 4 3 . 1944): die Rolle der Unterausschüsse im Kongress und der gewachsene
Einfluss politischer Parteien auf Verfassungsorgane und Verfassungsentwicklung.
780
P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aullage 1998. S. 226.
7sl
Zur Interpretation und insbeondere Verfassungsinterpretation (insb. durch den
E u G H ) im europäischen Kontext (P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 2 6 8 ff. spricht von einer „ o f f e n e n Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Euro-
pa"): C. Huck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen G e -
meinschaften. 1998: J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den E u G H . 1995;
J. Auweiler, Die A u s l e g u n g s m e t h o d e n des Gerichtshofs der Europäischen G e m e i n s c h a f -
ten. 1997; W. Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und
Rechtsetzung, in: O. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling. 1995. Band 1. S. 205 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 271

b) Der US-Supreme Court als ständiger


Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit

Die amerikanische Verfassung ist oberflächlich zunächst lediglich eine Darstel-


lungsform allgemeiner Prinzipien, aus denen sich wiederum im einzelnen Gesetze
und Kodifizierungen herausgebildet haben. Der Erfolg dieses Dokuments, der
sich im Besonderen durch den Erhalt der Fundamente amerikanischer Regierungs-
strukturen bestätigt sieht, gründet sich vornehmlich auf dem Umstand, dass es im
Anschluss an die Gründergeneration nachfolgenden Besetzungen von Kongress
und Supreme C o u r t 7 " ermöglicht wurde, die Verfassung zu interpretieren oder
sie gegebenenfalls den Anforderungen wechselnder Zeiten anzupassen.

Der amerikanische Föderalismus 7 8 3 hat in Verbindung mit angelsächsischen


Traditionen ein Rechtswesen geschaffen, das sich unter anderem durch zwei verti-
kale Gerichtssysteme auszeichnet- die Bundesjudikative als dreistufige Pyramide
mit Distriktgerichten, Appellationsinstanzen und dem Supreme Court einerseits,
das gleichfalls mehrstufige Gerichtswesen der Einzelstaaten andererseits.

Dem Föderalismus ist auch der Ansatz geschuldet, dass der Zivil- und Straf-
rechtsbereich. von verfassungsmäßig festgelegten Ausnahmen abgesehen, der
Souveränität der Einzelstaaten unterliegt. Dies trägt zu j e n e m charakteristischen
Farbenreichtum der Rechtsauffassungen bei, der durch das angelsächsische Com-
mon Law noch begünstigt wird.

aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - Marbury vs. Madison

Heute erscheint selbstverständlich, dass im Rahmen „moderner Staatlichkeit"


die Bindung der Staatsgewalt an die Prinzipien Gewaltenteilung. Grundrechte
der Bürger gegen den Staat und demokratische Mitwirkungsrechte durch die
Gerichte, letztlich durch ein Verfassungsgericht, überprüft wird. So eindeutig
war diese Fundierung des modernen demokratischen Rechtsstaats aber nicht, als
der Supreme Court der Vereinigten Staaten 1803 den Rechtsstreit Marbury vs.
Madison zu entscheiden hatte. 7SJ In diesem Fall entwarf der U.S. Supreme Court

782
Aus der deutschspr. Lit: W. Haller. S u p r e m e Court und Politik in den U S A . 1972;
Ii. Maaßen. Der U S - S u p r e m e C o u r t im gewaltenteilenden amerikanischen Rechtssystem
( 1 7 8 7 - 1 9 7 2 ) , 1977; W. Brugger. Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten
von Amerika, in: JöR 42 (1994). S . 5 7 1 ff. Siehe auch (streitbar) M. Tushnet. Taking the
Constitution away from the Courts. 1999: A.S.Miller, T h e S u p r e m e Court. M y t h and
Reality. 1978; L. Tribe. Constitutional Choices. 1985: W H. Rehnquist, The Supreme Court.
How i't Was - H o w It Is, 1987.
783
H i e r / u ausführlich unter B . l V . 3 b ) a a ) .
784
Vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). Vgl. aus der deutschspr. Lit. auch
U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Po-
272 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

z u m e r s t e n M a l v i e r K r i t e r i e n , d i e i m L a u f e d e s 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t s e i n e n
Siegeszug durch die westlichen Rechtsordnungen antreten sollten785:

- V e r f a s s u n g e n sollten schriftlich formuliert sein, um m e h r Rechtssicherheit zu


verbürgen als G e m e i n s c h a f t e n , deren politische E n t s c h e i d u n g s m e c h a n i s m e n
auf Tradition und Ü b u n g beruhen.
- Die V e r f a s s u n g hat Vorrang g e g e n ü b e r Legislative, Exekutive und Judikative.
- E s ist A u f g a b e d e r G e r i c h t e , u n d l e t z t l i c h d e s h ö c h s t e n G e r i c h t s , d i e s e V e r f a s -
sungsbindung zu überprüfen.
- Verstößt ein Akt von Exekutive oder auch Legislative gegen die Verfassung,
kann das höchste Gericht die Verfassungswidrigkeit aussprechen.

D e r G e b u r t s o r t , die W i e g e d e r Verfassungsgerichtsbarkeit liegt in d e n Ver-


einigten Staaten von A m e r i k a , ihre G e b u r t s s t u n d e , die „Inthronisation"786 als
„ g l e i c h b e r e c h t i g t e r H ü t e r u n d F o r m g e b e r " d e r V e r f a s s u n g 7 8 7 a l s o i n d e r viel z i t i e r -
ten E n t s c h e i d u n g Marbury v . Madison. Bevor m a n sich j e d o c h dieser z u w e n d e t ,
sollte erneut ein Blick auf die U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä r u n g von 1776 gewagt und
dort ein gerne übersehener erster „ Z e u g u n g s a k t " für die spätere Verwirklichung
verfassungsgerichtlicher Kontrolle in Augenschein g e n o m m e n w e r d e n . Er findet
s i c h n a c h d e r A u f z ä h l u n g d e r u n a b ä n d e r l i c h e n R e c h t e i m e r s t e n Teil d e r E r k l ä r u n g :

..That to secure these rights. Governments are instituted among M e n . deriving their just
powers f r o m the consent of the governed, - T h a t w h e n e v e r any Form of Government
b e c o m e s destructive of these ends. it is the Right of People to alter or to abolish it, and
to institute n e w G o v e r n m e n t , laying its foundation on such principles and organizing

sition der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000).
S. 397 ff.
7s5
Vgl. hierzu W. Brugger. Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto
Carola - Forschungsmagazin d e r Universität Heidelberg. Heft 3 / 1 9 9 4 . S . 2 2 f f „ 22. Im
deutschen GG finden sich diese Leitlinien in den Artikeln 1. 20. 92 und 93.
786
So W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten
Staaten von Amerika. 1987. S . 5 .
7S
Vor allen Arten von ..Hüterideologie" warnt P. Hiiberle. da entgegen der oft zitierten
These, der Staatspräsident oder das Verfassungsgericht seien ..Hüter" der Verfassung, der
Schutz derselben gerade allen Bürgern und allen Staatsorganen gleichermaßen anvertraut
sei. Z u m anderen sei die Verfassung „öffentlicher Prozess", was sich in der Bewahrung
von Vorhandenem nicht erschöpfe, vgl. ders.. Das Bundesverfassungsgericht als Muster
einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift
50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 311 ff., 316. M . E . birgt die Bezeichnung
des „ H ü t e n s " jenseits aller ideologischen Anklänge allerdings auch die Verpflichtung zur
Fortentwicklung, wenn man so will zur „Erziehung" in sich und darf daher nicht lediglich
als starres Bewahren verstanden werden, da ein verantwortungsvolles „Be-hüten" nur in der
Vermittlung einer Zukunftsperspektive aufgehen kann. Der gleichzeitige Hinweis auf den
„gleichberechtigten Hüter" nimmt darüberhinaus keinen am Verfassungsleben Beteiligten
aus. Hiiberle, e b e n d a , mit Verweis auf die Verfassungen der Ukraine und Burundis, ist
freilich zuzustimmen, dass es fehl geht, die Verfassungsgerichtsbarkeit als „authentischen"
Verfassungsinterpreten zu bezeichnen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 273

its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and
Happiness. [ . . . ] But when a long train of abuses and usurpations. pursuing invariably
the s a m e Object, evinces a design to reduce them undcr absolute Despotism. it is their
right. it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their
future security." 78 *

Die Betonung der ..new Guards". die gelegentlich fälschlich in deutscher Über-
setzung als „Regierung" im Sinne von „Government" gedeutet wurden 789 , eröffnen
die Kontrollmöglichkeiten einer eigenen, originären Gewalt, wie sie sich später in
der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit einstellen sollten.

Ferner hat A. Hamilton im Federalist bereits ein Wesensmerkmal der künftigen


Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben, als er das Spannungsverhältnis von der
gelegentlichen Rolle des Gerichts als politischer Entscheidungsträger zum Prinzip
der demokratischen Volkssouveränität offenlegte, da die Richter - wenn auch
(indirekt) durch politisch legitimierte Organe in ihr Amt berufen - für ihre Ent-
scheidungen „dem Volk" nicht direkt verantwortlich sind. Hamilton bemühte sich
nun, diesen Widerspruch durch eine eher metaphysische denn empirische Deutung
des „Volkswillens" zu zerstreuen, indem er die Verfassung als seine dauerhafte
Artikulation und den Supreme Court als dessen Sprachrohr dem wankelmütigen,
lediglich temporär durch Wahlen ausgedrückten Volkswillen gegenüberstellte. 7 " 0
Im selben Artikel des Federalist betonte er außerdem die Existenz einer Rang-
ordnung von Gesetzen und wies darauf hin. dass es ein logisch unausweichliches
Prinzip der Rechtsprechung sei, einen Widerspruch zwischen Gesetzen, die auf
verschiedener Stufe stehen, durch Bevorzugung des höherrangigen Gesetzes zu
lösen.

Die Verfassung von 1789 behandelt die Funktionen des Supreme Courts ledig-
lich mit mageren Worten. Gemäß Artikel III § 1 wird die Judikative der Vereinigten
Staaten von einem obersten Gericht und denjenigen nachgeordneten Gerichten
ausgeübt, die der Kongress errichtet. Daneben bestehen in den Einzelstaaten voll-
ständige Gerichtssysteme. Artikel III §2 par. 1 der Bundesverfassung regelt die
Zuständigkeit der Bundesgerichte, Artikel III § 2 par. 2 schließlich die Aufga-
ben des Supreme Court, wonach dieser in erster Instanz („original jurisdiction")
nur in zwei Fällen zuständig ist, nämlich bei Beteiligung eines Mitgliedes des
diplomatischen Corps oder eines Bundesstaates am Verfahren, wohingegen er
als Rechtsmittelgericht („appellate jurisdiction") grundsätzlich alle Fälle, die den

788
Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of A m e r i c a n History, 1983,
S. 2 7 9 f. T. Fleiner-Gerster erkennt in seiner „Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1995,
S. 263 f." bereits diesen ursprünglichen gedanklichen Z u s a m m e n h a n g : die „u. a. von Locke
geprägte A u f f a s s u n g bildete auch die Grundlage für die Verwirklichung d e r Verfassungs-
gerichtsbarkeit".
789
So auch Fleiner-Gerster (1995). S. 264, allerdings mit richtigem Ergebnis.
790
Vgl. A. Hamilton im Federalist Nr. 78.
274 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Bundesgerichten zugewiesen sind, in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht über-


prüfen kann. 791 Vergeblich sucht man hingegen eine ausdrückliche Regelung, die
den Supreme Court ermächtigen würde, über die Auslegung der Verfassung und
die Vereinbarkeit von nachrangigem Recht mit der Verfassung zu entscheiden. 7 " 2
Die Funktion der Normenkontrolle als Überprüfung von Gesetzgebung und exe-
kutivem Handeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist dem Supreme Court in der
Verfassung nicht explizit zugewiesen.

Allerdings gab es bereits in den amerikanischen Kolonien und nach der Un-
abhängigkeit von England in Einzelstaaten Präzedenzfälle, in denen Gerichte
Gesetze, die gegen königliche „Charters" und später gegen die gliedstaatlichen
Verfassungen verstießen, außer Kraft gesetzt hatten. Schon zu dieser Zeit entbrann-
te die bis heute gelegentlich erbittert geführte Debatte über die diesbezügliche
gerichtliche Kompetenz, da das Gericht in der Auslegung einer „Charter" oder
Verfassung unvermeidlich und oft mit folgenschweren gesellschaftlichen Konse-
quenzen in die Rolle der Politik schlüpft.

Anfang des 19. Jahrhunderts befasste sich der Supreme Court in einigen grund-
legenden Entscheidungen mit der Reichweite seiner eigenen Zuständigkeiten wie
auch der anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Kongresses. 7 9 ' Unter der
Leitung von Chief Justice J. MarshalfM wurden bis heute tragende Weichen für
die künftige methodische Ausrichtung zur Konkretisierung der Bundesverfassung
gestellt. 795 Das tatsächlich einschneidendste Ereignis auf dem Entwicklungswege
des Supreme Court in seiner Eigenschaft als oberstes Verfassungsgericht zu ei-

791
Jedoch ist der Kongress ermächtigt, insoweit A u s n a h m e n zu erklären und das Ver-
fahren einer Regelung zu unterwerfen. Artikel III § 2 par. 2 S. 2 der Bundesverfassung. In
der Praxis kam es aber nicht zu nennenswerten Einschränkungen der Zuständigkeit des
Supreme Court, sondern in der Regel zu Festlegungen, in welchen Fällen eine Verpflichtung
des S u p r e m e Courts zur E n t s c h e i d u n g s a n n a h m e und in welchen Fällen ein Annahmeer-
messen besteht, vgl. C. Egerer. Verfassungsrechtsprechung des S u p r e m e C o u r t der USA:
die Wurzeln des Prinzips des „judicial r e v i e w " in M a r b u r y v. M a d i s o n . in: ZvglRWiss 88
(1989). S . 4 I 6 f f . . 417.
792
Das deutsche Recht etwa gestattet dies dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 I
Nr. 1. 2 . 4 a . 4 b und Art. 1001 G G .
Dazu umfänglich D.P. Currie, T h e Constitution in the S u p r e m e Court: T h e First
Hundred Years 1 7 8 9 - 1 8 8 8 . 1985. S. 61 ff.; siehe auch die einflussreichen Schriften von
E.S. Corwin: beispielsweise ders., T h e S u p r e m e Court and Unconstitutional Acts of Con-
gress. in: 4 Michigan L. Rev. (1906). S. 6 1 6 ff.; J e « . . T h e Establishment of Judicial Review.
In: 9 Michigan L. Rev. (1910). S. 102 ff. und in: 9 Michigan L. Rev. (1911), S. 2 8 3 ff.
794
In den Vereinigten Staaten ist es gängige Praxis, den S u p r e m e Court begrifflich
mit d e m jeweiligen Chief Justice zu identifizieren, insbesondere wenn es um die histo-
rische Einordnung ..bewegter" gerichtlicher Zeiten geht. Marbury v. Madison w u d e vom
sog. Marshall-Court entschieden, aktuell sprach man wegen des seit 1986 (und bis 2 0 0 6 )
amtierenden Chief Justice \V. Rehnquist vom Rehnquist-Courl.
795
Dazu u . a . F. Frankfurter. John Marshall and the Judicial Function, in: 69 Harvard
L. Rev. (1955), S. 217 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 275

n e m zentralen Organ der Integration und nationalen Vereinheitlichung war aber


eben seine u n t e r J. Marshall getroffene Entscheidung in Marbury v. Madison.
in welcher das Gericht für sich in A n s p r u c h nahm, ein Gesetz des Kongres-
ses - den „Judiciary A c t " von 1789 - für verfassungswidrig zu erklären, weil
der Kongress darin d e m S u p r e m e Court A u f g a b e n zugewiesen hatte, die ihm
von der Verfassung ausdrücklich nicht zustanden.796 Mit dieser Entscheidung
m a c h t e sich der S u p r e m e C o u r t de facto selbst zu e i n e m Verfassungsgerichts-
hof u n d d a m i t zur - gerichtlich - h ö c h s t e n Autorität in V e r f a s s u n g s f r a g e n . 7 9 7
Diese Entscheidung war g e w i s s e r m a ß e n a u c h eine Reaktion auf das B e d ü r f n i s
nach einem dritten, zunächst nicht offen an der Macht beteiligten Staatsorgan,
das der zu dieser Zeit besonders im D u a l i s m u s von Kongress und Präsident, der
föderalen Struktur und den Grundrechten angelegte „ Z w a n g " zu M ä ß i g u n g und
Ausgleich zu erfordern schien. Um das Prinzip der „checks and balances" zu
sichern, ü b e r w a c h t der S u p r e m e C o u r t also die B e a c h t u n g der v e r f a s s u n g s m ä ß i -

796
Da der Fall auch im deutschsprachigen Schrifttum eine u m f ä n g l i c h e Darstellung
erfahren hat. soll er hier nur kursorisch veranschaulicht werden. In der Streitsache ging
es um die Zustellung der E r n e n n u n g s u r k u n d e an Marbury zum ,Justice of the Peace",
die ihm Madison auf A n o r d n u n g Jeffersons verweigert hatte. Der S u p r e m e C o u r t gab im
Rechtsstreit Marburys Begehren nicht statt, da j e n e r sich auf ein Gesetz berufen hatte,
das der S u p r e m e letztlich für unvereinbar mit der Verfassung erklärte. Damit reklamierte
der S u p r e m e C o u r t f ü r sich das benannte Recht. Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der
Verfassung zu überprüfen und im Falle ihrer Unvereinbarleit in concreto nicht a n z u w e n -
den. Die Verfassung sei höchstes Recht, d e m sich alles andere Recht unterzuordnen habe.
Die B e g r ü n d u n g aus der Feder J. Marshalls muss neben ihrer inhaltlichen Bedeutung zu
den wenigen Stücken weltweit gewichtiger Verfassungsliteratur gezählt werden. Vgl. zum
Urteil ausführlich etwa W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den
Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S. 5 ff.: ders.. E i n f ü h r u n g in das öffentliche Recht
der U S A . 2. A u f l a g e 2001, S. 7 ff.; C. Egerer (1989). S . 4 1 8 ff.: D.P. Currie, Die Verfas-
sung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S. 15 ff.; zur historischen Einordnung
vgl. G. Stourzh. Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: z u m Problem der
Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert. 1974. Aus der Flut der amerikanischen Litera-
tur: E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12 Michigan
L. Rev. (1914). S. 538 ff.: ders., John Marshall and the Constitution: A Chronicle of the
Supreme Court. 1921; C G. Haines. T h e American Doctrine of Judicial Supremacy. 2" 1 ed.
1959: R.L Clinton. M a r b u r y v. M a d i s o n and Judicial Review, 1989: aus jüngerer Zeit die
umstrittenen Monographien von P. W. Kahn, T h e Reign of Law: M a r b u r y v. Madison and
the Construction of A m e r i c a , 1997 sowie W.E. Nelson. M a r b u r y v. Madison: T h e Origins
and Legacy of Judicial Review. 2000. Siehe auch L.D. Kramer. Foreword: We the Court,
in: 115 Harvard L. Rev. (2001), S. 4 ff.
797
Die Kritik an diesem Urteil ist seither nie gänzlich verstummt. Bereits im Jahre 1803
gab es Initiativen auf Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren ( „ i m p e a c h m e n t " ) gegen
die Richter, die sich eine derartige Gewalt über die gesetzgebenden Organe anmaßten. Im
(Wahl-)Jahr 1912 empfahl Präsident T. Roosevelr. Entscheidungen des Supreme Court, mit
welchen ein gliedstaatliches Gesetz für nichtig erklärt wurde, einer Volksabstimmung zu
unterziehen, vgl. dazu K. Heller, Der S u p r e m e Court der Vereinigte Staaten von Amerika.
Probleme eines Höchstgerichts, in: E u G R Z 1985, S . 6 8 5 f f . , 686. Siehe auch W.W. van
Alstyne. A Critical Guide to M a r b u r y v. Madison, in: 1969 Duke L. J., S. 1 ff., 17 ff.
276 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gen Funktionsverteilung zwischen Kongress und Präsident, entscheidet Konflikte


zwischen Bund und Gliedstaaten oder mehreren Gliedstaaten und garantiert in
letzter Instanz den Freiheitsbereich des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt.
Diese Bereiche des Verfassungsrechts waren justiziabel geworden, nachdem über
die Kernsubstanz, die Grundprinzipien der Verfassung seit Verabschiedung der
Bundesverfassung in der politischen Überzeugung der amerikanischen Bevöl-
kerung, letztlich der gesamten „Verfassungsöffentlichkeit" ein weitgehender, oft
bedingungsloser Grundkonsens geherrscht hatte. Demzufolge kann die amerikani-
sche ,judicial supremacy" 7 9 8 - als bislang fassbares „Endstadium" vorgenannter
Entwicklung - in hohem Maße der philosophischen und verfassungspolitischen
Homogenität des Landes zugeschrieben werden.

Der in der Gesetzesanwendung geschulte Richter war und ist nun dazu berufen,
als „gleichberechtigter Hüter der Verfassung" zu entscheiden, „what the law is" 799 ,
wobei letzteres sich aus der Bundesverfassung selbst ergibt, die als „supreme
law of the land" (Artikel VI § 2) absolute Wahrung ihres Vorrangs beansprucht.
Es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass erst die frühe „Suprematie" der
richterlichen Gewalt die tatsächliche ..Herrschaft der Verfassung" zu verbürgen
wußte. Die Ära unter Chief Justice J. Marshall wird gerne ein wenig pathetisch
betrachtet, der berühmte Vorsitzende auch schon gelegentlich als „zweiter Schöpfer
der Verfassung bezeichnet". Gleichwohl ist nicht abzustreiten, dass der Supreme
Court gerade in dieser Zeit durch richtungsweisende und schöpferische Ausübung
seines originären und ausgeweiteten Entscheidungsrechts seine Vorrangstellung
( J u d i c i a l supremacy") als Interpret und Gestalter der Verfassung begründete.
Nicht umsonst ist bis heute der Ausspruch „the Court will decide" gelebter
Maßstab amerikanischer Verfassungspolitik.

Dies widerspricht nicht der oben angestellten Betrachtung, der Supreme Court
sei lediglich gleichberechtigter Teil einer Verfassungsöffentlichkeit sowie einer
„offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Gleichwohl wird ein Idealzu-
stand gelegentlich von den Realitäten hierarchisch gegliederter Gesellschaftsfor-
men eingeholt. De facto hat sich der Supreme Court diese Stellung aber judiziell
„erarbeitet": und die vorhandenen Möglichkeiten, um die „Suprematie" etwa durch
nachgeordnete Verfassunggebung seitens der anderen Gewalten oder durch die

798
Insbesondere unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern ist der Begriff „judicial
s u p r e m a c y " von scharfen Debatten begleitet. Er wird zwar größtenteils zu Recht als Faktum
anerkannt, jedoch gerade im Hinblick auf die „checks and balances" zuweilen sehr kritisch
beurteilt. Gleichwohl scheint die A n n a h m e einer „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der
S u p r e m e Court doch lediglich zwischen 1 8 9 0 - 1 9 3 7 tatsächlich extensiv auf politischem
Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen
Inhalts z u r ü c k w i e s und vor allem in den ersten Jahren des Roosevelt'sehen N e w Deal
sozialreformerische Initiativen des Staates zur Ü b e r w i n d u n g der Weltwirtschaftskrise
blockierte.
799
J. Marshall in Marbury v. Madison, ebenda.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 277

Bevölkerung (constitutional Convention) zu entwerten, wurden in den Vereinigten


Staaten höchst selten oder im Falle des Konvents noch nie ergriffen. Im Kontext
des Amendment-Verfahrens wurde bereits angesprochen, dass es lediglich vier
A m e n d m e n t s bedurfte, um höchstrichterliche Entscheidungen aufzuheben. 8150 Dies
erscheint angesichts der geringen Anzahl an A m e n d m e n t s zunächst viel, ist bei
einer Betrachtung der Flut verfassungserheblicher Entscheidungen des Supreme
Courts jedoch wiederum verschwindend gering.

bb) Anmerkungen z u m Wesen des J u d i c i a l review"

Der S u p r e m e Court muss demzufolge auch zu den markantesten Faktoren des


amerikanischen Verfassungs(fort)lebens gezählt werden. Dabei entpuppte sich das
Instrument des „judicial review", die Machtposition gegenüber Hoheitsakten der
Exekutive 8 0 1 sowie - praeter Constitutionen! - der Legislative des Bundes 8 0 2 und
der Einzelstaaten, als elementarer Bestandteil amerikanischer Verfassunggebung.
Wras ist aber nun das Wesen des J u d i c i a l review"? 8 0 3 Nach E.S. Corwin enthält
das Konzept des „judicial review" drei Feststellungen: z u m einen, dass die Verfas-
sung im Verhältnis zu allem sonstigen Recht höherrangig sei; zweitens, dass die
rechtsprechende Gewalt die Zuständigkeit zur Auslegung der Verfassung und zu
deren Anwendung auf Rechtstreitigkeiten umfasse; schließlich die Erkenntnis, die
Auslegungen des Gerichts seien geltendes Recht und bindend auch für die anderen
Gewalten. 8 0 4 Dadurch erlangt das Mittel des „judicial review" noch eine weitere
Dimension. Während nämlich die rechtsschöpferischen Akte und Bemühungen
nachgeordneter Gerichte von den zuständigen Legislativen durch einfaches Gesetz
beseitigt werden können, beinhaltet J u d i c i a l review" die Befugnis, die Verfassung
gerade in wesentlichen Fragestellungen gegen den Willen der parlamentarischen
Mehrheit auszulegen und diese Interpretationen auch durchzusetzen. So betonte
auch A. Bickel, J u d i c i a l review" sei „f ...1 the power to apply and construe the
Constitution in matters of the greatest moment, against the wishes of legisla-

800
Siehe oben B.IV. L a ) .
801
Unabhängig von der ..political questions doctrine" hat sich der Supreme Court auch
nicht gescheut, in Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gegen politische Organe zu
entscheiden. Unvergessen die Entscheidung U.S. v. Nixon, 4 1 8 U . S . 6 8 3 (1974). durch
die Präsident Nixon während der Watergate-Affäre zur Herausgabe von 64 Tonbändern
aufgefordert wurde.
802
Vgl. Marbury v. Madison. 5 U.S. 137 (1803).
803
Laut W. Brugger wird ..judicial review" - gerichtliche Ü b e r p r ü f u n g - in den Verei-
nigten Staaten üblicherweise im Sinn der ( V e r f a s s u n g s g e r i c h t ! i c h e n Kontrolle staatlicher
Akte anhand der Verfassung verstanden, vgl. ders., Grundrechte und Verfassungsgerichts-
barkeit in den Vereinigten Staaten. 1987, S. I F n . 2 .
804
Siehe E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12
Michigan L. Rev. (1914), S. 538 ff., 552.
278 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g

tive majority, which is, in turn, powerless to affect the judicial decision" 805 . Der
Supreme Court ergriff anläßlich dreier weiterer Fälle früh die Gelegenheit, den
Grundsatz des „judicial review" auch auf die Einzelstaaten anzuwenden und dies-
bezüglich auszudehnen. 806 Schließlich wurde mit der Etablierung des „judicial
review" durch Marbury v. Madison ein weiterer, selten beachteter Gesichtspunkt
Verfassungsgericht!icher Einflussnahme ins Spiel gebracht. J. Marshalls Entschei-
dung war nämlich gleichzeitig mit einer ausgeklügelten politischen Strategie
unterlegt, um das richterliche Prüfungsrecht auch gegen etwaige populistische
Einwirkungen abzusichern. Diesen Zusammenhang erkennt auch B.-O. Bryde,
wenn er den „Einfluß, den ein Gericht [ . . . | gewinnt ( . . . | auch von seinem eige-
nen strategischen Verhalten" abhängig macht. 807 Eine offene Konfrontation mit
mächtigen politischen Akteuren könne es in einer noch ungeklärten Lage kaum
gewinnen. Zeige es hingegen zu viel Zurückhaltung, würde es Kredit verspielen
und als Kontrollorgan unbrauchbar. ..Die geniale Art und Weise, in der Marshall
in Marbury v. Madison die Grundlage für das richterliche Prüfungsrecht gelegt
hat, nämlich so, dass Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber
dem Machthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte,
ist bis heute das klassische Beispiel solcher richterlichen Verfassungspolitik." 808
Es ist Bryde zuzustimmen, dass alle erfolgreichen Verfassungsgerichte späterer
Epochen von diesem Beispiel profitiert haben.8(19

Marbury v. Madison „zementierte" den Gedanken der selbständigen Verfas-


sungsgerichtsbarkeit, die begrifflich eine „unabhängige, gegenüber anderen
Staats-, bzw. Verfassungsorganen verselbständigte Institution mit bestimmten
Kompetenzen bzw. Funktionen" 810 voraussetzt.

805
A. Bickel in seinem berühmten und umstrittenen Werk ..The Least Dangerous
Branch", 1962, S. 16. Das Zitat soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bi-
ckel dem zugrunde liegenden Urteil Marbury v. Madison und der Begründungsarbeit von
J. Marshall scharfe Kritik entgegenbringt, die sich nicht gegen die These von der Rang-
ordnung der Gesetze richtet, sondern gegen die scheinbar logische Schlußfolgerung, dass
Gerichte befugt seien, Gesetze für nichtig („void") zu erklären. Ein Konflikt zwischen
Verfassung und einfachem Gesetz könne ebensogut durch die Gesetzgebung selbst, den
Präsidenten und schließlich durch das Volk bei Wahlen gelöst werden, vgl. Bickel (1962),
S. 1 ff. Bickels Beanstandung kann allerdings nicht überzeugen, da seine Alternativen
nicht rechtlicher, sondern durchweg politischer Natur sind. Durch ein Infragestellen der
grundsätzlichen Möglichkeit einer rechtlichen Lösung des Konflikts, zieht man im selben
Atemzuge auch den Stufenbau der Rechtsordnung als logisches Grundprinzip in Zweifel.
806
Siehe Fletcherv. Peck 10 U.S. (6 Cranch) 87.3 L. Ed. 162 (\S\0),Martin v. Hunter's
Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304. 4 L. Ed.97 (1816); 19 U.S. (6 Wheat.) 264. 5 L. Ed. 257
(1821).
807
Vgl. B.-O. Bryde. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen,
in: J.J. Hesse/G. Folke Schuppert/K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und -politik in
Umbruchsituationen, 1999. S. 197 ff.. 199.
808
B.-O. Bryde, ebenda.
809
Zum Instrument des „judicial review" aus rechtsvergleichcnder Perspektive:
A. Brewer-Casrias, Judicial Review in Comparative Law. 1989.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 279

cc) Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von


Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels

Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Amerika hatten von Beginn


an auch Modifikationen in der durch den Supreme Court geprägten, spürbaren
Struktur und Wirkung der amerikanischen Verfassung zur Folge. Der Gerichtshof
bekleidete dabei unterschiedliche Rollen - von einem eher ruhigen, begleiten-
den Auftreten, über ein forderndes, vorantreibendes Verhalten bis zu gelegentlich
hemmenden Aktionen gegenüber gesellschaftlichen Strukturveränderungen. Das
Wirken des Supreme Court kann dabei in drei größere Phasen unterteilt werden,
die sich im selben Atemzuge durch jeweils grundlegende Richtungen richterlicher
Verfassungsinterpretation auszeichnen. Damit soll auch der Versuch einer Antwort
auf das oben beschriebene Problem des „Wendengeflechts" gegeben werden. s "
Freilich ließen sich die strukturellen Neuerungen in immer kleinere, kürzere Ab-
schnitte unterteilen ohne unbedingt die Berechtigung bedeutender Perioden zu
verlieren. Gleichwohl birgt eine solche Unter-Gliederung stets die Gefahr einer
banalen Aufzählung schlichter historischer Daten, mit allen Verästelungen und
etwaigen Sackgassen, deren Beitrag zu den großen Linien gesellschaftlicher Ent-
wicklungen möglicherweise lediglich marginal ist. Ohne den im einzelnen sicher
notwendigen Blick auf ausgewählte wichtige Abschnitte zu verlieren, die dieser
gröberen Einteilung untergeordnet sind, soll lediglich eine Auswahl vorgenommen
werden.

(1) Momentaufnahmen einer Verfassungsgerichtshistorie

Im Anschluss an 1789 bildete der alles überlagernde Gedanken einer „Stär-


kung der Union" eine erste Phase. Daran knüpfte sich der Zeitraum, der den
Schutz des „laissez-faire"-Systems und privatwirtschaftlicher Interessen gegen
staatliche Interventionen zum wesensbildenden Merkmal hatte, bevor in einem
dritten bis heute reichenden Abschnitt ein verstärkter Schutz individueller Rechte
und die Herstellung von Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückte. Betrachtet
man darüberhinaus die beiden Begriffe,Zentralisierung" und „Demokratisierung"
nicht grundsätzlich als unvereinbar und als in der Kombination widersprüchlich,
sondern eher zueinander in einem dialektischen Bezug und Spannungsververhält-
nis stehend, so lassen sich diese als langfristige Entwicklungskonstanten (nicht

8.0
So P Häberle. D a s Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Ver-
fassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesver-
fassungsgericht. 2001, S. 311 ff., 313 f. In Europa begründeten dieses Konzept freilich
zunächst Österreich (1867 - auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes 1920 wie-
der aufgelebt, dazu wegweisend G. Jellinek. Ein Verfassungsgerichtshof f ü r Österreich.
1885) bzw. vertiefend die Ideen H. Kelsens (vgl. etwa ders.. Wesen und Entwicklung der
Staatsgerichtsbarkeit, in: V V D S t R L 5 (1929), S. 30 ff.
8.1
Siehe oben B. 1.7.
280 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g

ohne gelegentliche Gegenbewegungen) konstatieren. Hierbei ist in einer ersten


oberflächlichen Definition unter „Zentralisierung" im Wesentlichen die Stärkung
der Stellung der Bundesorgane gegenüber den Einzelstaaten zu verstehen. Die
„Demokratisierung" bezieht sich in diesem Kontext primär auf die amerikani-
sche Bundesverfassung und muss im Zusammenspiel mit der ebenso erfolgten
„Liberalisierung" derselben gesehen werden.

Es ist höchst anerkennenswert, dass es dem Supreme Court in mehr als 200
Jahren bis heute gelungen ist, den Respekt vor der Rechtsprechung mit wenigen
Ausnahmen grundsätzlich zu wahren. Das mag banal klingen, ist jedoch ange-
sichts vehementer Gerichtsschelte in anderen Verfassungsstaaten (mit kürzerer
Verfassungsgeschichte) alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein wesentli-
cher Gesichtspunkt für die Begründung dieses Umstandes ist freilich der noch zu
diskutierende Schutz der Rechtsprechung vor Missbrauch für politische Zwecke 812
- und sei es nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Autorität der höchsten Ge-
richtsbarkeit ist nicht mit der anderer Verfassungsorgane, etwa des Parlaments oder
der Regierung, vergleichbar, die ihre Entscheidungen auch mit anderen Mitteln
(als ultima (ir)ratio sei nur an die Heranziehung des Heeres gedacht) gegebenen-
falls durchsetzen können. Sie beruht einzig und allein in der gesellschaftlichen
Anerkennung der Funktionen des obersten Gerichtes.

Seine Stellung als letzte und damit allgemein verbindliche Interpretationsin-


stanz für die Verfassung, eine Position die auf Marbury v. Madison beruht, hat
es dem Supreme Court ermöglicht, in praktisch alle Lebensbereiche einzuwir-
ken. Ein Umstand, den der Gerichtshof in seiner bewegten Geschichte gründlich
(aus)genutzt hat. Unter den amerikanischen Verfassungsorganen wirkt er einzig
unmittelbar sowohl auf Bundesrecht wie auch auf die den Gliedstaaten vorbe-
haltenen Bereiche der Rechtsetzung ein. Nachdem der nahezu ehern entwickelte
Grundsatz des ,judicial review" im Zusammenspiel und in annähernder Kon-
gruenz mit dem Begriff der J u d i c i a l supremaey" letztlich dazu führt, dass die
Entscheidungen des Gerichts ausschließich in dem schwerfälligen Amendment-
Verlahren außer Kraft gesetzt werden können, hat sich der Supreme Court eine
Stellung von einzigartigem Einfiuss auf gesellschaftliche wie politische Verhält-
nisse geschaffen. C.E. Hughes wußte diese Gegebenheit mit leicht resignativem
Unterton zu kommentieren: „We are under a Constitution, but the Constitution is
what the judges say it is." 813

Wie bereits dargestellt ermöglichte es Marbury v. Madison dem Supreme Court.


Gesetze und Verwaltungsakte von gliedstaatlichen Parlamenten. Kongress und
Regierungen anhand konkreter Rechtsstreitigkeiten zu überprüfen und gegebenen-

812
Dazu unten B.IV.2b)cc)(2).
813
Aus einer Rede von C. E. Hughes, 1907. zitiert nach N. Lockhart u. a., Constitutional
Law. Cases-Comments-Questions, 1986. S. 8.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 281

falls für verfassungswidrig zu erklären. Hiervon machte der oberste Gerichtshof


anfangs über lange Jahr nur in begrenztem Ausmaße Gebrauch, um die Befugnisse
von Bundesregierung und Gliedstaaten gegeneinander abzugrenzen und um das
Privateigentum vor unangemessenen Eingriffen der Einzelstaaten als auch des
Bundes zu schützen.

In die Amtszeit J. Marshalls (bis 1835) fielen jedoch auch die bis heute weg-
weisenden Fälle, die sich mit dem Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten
auseinandersetzten, die von einem Ringen um die Determinierung der Bundes-
kompetenzen und der Grenzziehung zu den Kompetenzen der Gliedstaaten ge-
prägt waren. Mit Martin v. Hunter's Lessee814 dehnte der Supreme Court seine
Entscheidungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten aus. Beide genann-
ten Entscheidungen sind deutliche Beispiele für das anfängliche Bemühen des
Supreme Courts, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Trägern der Staats-
gewalt zu bestimmen und letztlich zu festigen. In der Entscheidung McCulloch
v. Maryland aus dem Jahre 1819 wird die Tendenz des Supreme Courts deutlich,
die ursprünglich limitierten, in Artikel I § 8 der Bundesverfassung genannten
Gegenstände der Bundesgesetzgebung zu erweitern. 8 , 5 Der Supreme Court stellte
in der Begründung die in Artikel I § 8 aufgeführte „necessary and proper"-Klausel
mit dem Hinweis heraus, die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses trügen
gleichzeitig die Befugnis in sich, alle zu ihrer Umsetzung notwendigen und ange-
messenen Gesetze zu erlassen. Bedeutsam für die Entwicklung einer Methodik
der amerikanischen Verfassungsinterpretation wurden dabei die folgenden Worte
J. Marshalls:

..Let the end be legitimate, let it be within the scope of the Constitution, and all means
which are appropriate, which are plainly adapted to that end. which are not prohibited,
but consist with the letter and spirit of the Constitution, are constitutional." 8 1 6

Bis heute beansprucht diese Interpretation Geltung für die Beurteilung der
Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz. Die zunächst unaufhaltsam schei-
nende Expansion reglementierender Bundesgewalt gegenüber den Gliedstaaten
wird durch die Entscheidung Gibbons v. Ogden817 ausgelöst. Bereits damals stütz-
te sich der Supreme Court auf eine überaus extensive (und in der Zwischenzeit
völlig konturlose) Auslegung der ..interstate commerce-clause" in Art. I § 8 der
Bundesverfassung.

8.4
14 U.S. (I Wheat.) 304 (1816).
8.5
Vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U . S . (4 W h e a t . ) 3 1 6 (1819). Der S u p r e m e C o u r t
erklärte hierin die Besteuerung einer Bundesbank (Second Bank of the United States)
durch den Staat Maryland mit dem Ziel, deren Filiale in Maryland zu schließen, für
verfassungswidrig.
816
McCulloch v. Maryland, ebenda. S. 421.
8,7
22 U.S. (9 Wheat.) I (1824).
282 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

1857 traf der Oberste Gerichtshof mit Dred Scott v. Sandford81s eine Entschei-
dung, die ihm geballte, aus den Reihen der Nordstaaten wütende Entrüstung
entgegenbrachte und die einen nicht unerheblichen Beitrag zum später folgenden
Bürgerkrieg zu leisten wußte. Bis heute wird Dred Scott als eines der verheerends-
ten und juristisch selbstherrlichsten Urteile in der amerikanischen Verfassungs-
geschichte erachtet 819 , das als „prononcierteste Frühentscheidung des Supreme
Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem
der amerikanischen Gesellschaft [markiert] und [ . . . ] Zeugnis von einem Geburts-
fehler des amerikanischen Verfassungsstaates ab[legt]." 820 Der Fall hatte die Frage
zum Inhalt, ob ein Sklave durch den Aufenthalt in einem fremden Staat oder Terri-
torium seine Freiheit erlangt hätte. Namens der Mehrheit des Gerichts verkündete
Chief Justice Taney, selbst Sklavenhalter aus Maryland, dass Schwarze keine
Bürger der Vereinigten Staaten seien und folglich kein Klagerecht hätten. Sklaven
seien Eigentum, das dem besonderen Schutz der Verfassung unterliege, so dass
alle Gesetze, die den Bürger um sein verbrieftes Eigentumsrecht brächten, null und
nichtig seien. Das gelte für den Missouri-Kompromiss und implizit ebenso für den
Kompromiss von 1850 und das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854; denn selbst
eine Berufung auf die Volkssouveränität könne den übergeordneten Schutz des
Eigentums nicht außer Kraft setzen. Damit hatte Taney den Verfassungskonsens
im Sinne der Sklavenhalter pervertiert.

Dred Scott verstärkte einen bereits im Ansatz deutlich erkennbaren Riss, der
durch die gesamte amerikanische Gesellschaft, die Parteien, die Kirche, die Wirt-
schaft und die allgemeinen Wertvorstellungen ging. Die Ansichten über zivili-
siertes Verhalten, politische Kultur und ihre Grundwerte, ja über das, was Recht
und Unrecht war, fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der Boden für eine
gewaltsame Lösung war bereitet, es fehlte lediglich noch der Anlass, der sich
schließlich in der Präsidentenwahl A. Lincolns im Jahre 1860 finden lassen sollte.

Verfassungsgerichten wohnt also, wie bereits dieses Beispiel anschaulich dar-


legt, neben ihrer Einordnung als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Be-
stätigung gesellschaftlichen Wandels auch stets die latente Gefahr inne. Auslöser
gesellschaftlicher Brüche oder wenigstens „Wenden" im bereits genannten Sinne
zu sein. Andererseits ist es auch der Dred Sow-Entscheidung mit zuzuschreiben.

818
60 U.S. (19 How.) 3 9 3 (1857).
819
Siehe nur LH. Tribe. A m e r i c a n Constitutional Law. 3"1 ed. 2000, S . 5 4 9 : „ [ . . . ]
infamous decision [ . . . ] often recalled for its politically disastrous dictum [ . . . ] " ; W. Wiecek
in: K. H a l l / J . W . E l y / J . B . G r o s s m a n / W . Wiecek (eds.), T h e Oxford c o m p a n i o n to the
Supreme C o u r t of the United States, 1992. S. 380: „ [ . . . ] the greatest disaster the S u p r e m e
Court has ever inflicted on the nation."
H2
" C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme
Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S . 2 4 mit einer breiten Darstelung der
Entscheidung und des Sachverhaltes, a. a. O.. S. 24 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 283

dass nach dem Bürgerkrieg die Verfassung um die schon benannten Amendments
13 und 14 ergänzt wurde, womit Dred Scott letztlich ad absurdum geführt wurde.

Das zweifellos beschädigte Vertrauen in die Rechtsprechung des Supreme Court


konnte dieserdurch gezielt eingesetzte Zurückhaltung in einigen prekären Entschei-
dung während der „reconstruction era" genannten Phase wieder verbessern. 821 So
wies der Gerichtshof in Mississippi v. Johnson*" einstimmig das Klagebegehren,
dem Präsidenten die Anwendung des ..reconstruction act" zu untersagen, mit der
Feststellung zurück, das Gericht könne den Präsidenten nicht an einer Anwen-
dung eines angeblich verfassungswidrigen Gesetzes hindern. Eine vergleichbare
Zurückhaltung offenbarte der Supreme Court in Ex parte McCardle82\

Allerdings begann der Supreme Court im 20. Jahrhundert immer deutlicher,


im Besonderen durch seine Entscheidungen in Grundrechtsfragen, die Verfassung
und das politische System fortzuentwickeln und den Alltag der Bürger zunehmend
mitzubestimmen. 8 2 4 Hierunter fiel anfangs vor allem die relativ weite Auslegung
der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die ihre Verankerung im ersten
Amendment findet und die nunmehr nicht nur gegen Einschränkungsversuche der
Bundesregierung sondern auch der Gliedstaaten behauptet wurde. Es folgten das
Verbot der Rassentrennung und der Diskriminierung von Minderheiten auf der
Grundlage des 14. Amendments sowie die Garantie eines fairen Prozesses für den
Angeklagten, die tief in das gesamte Polizei und Justizwesen eingriff. Erwähnung
verdient auch das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht auf eine
Privatsphäre, gegen das beispielsweise die von Einzelstaaten angeordneten Verbote
von Verhütungsmitteln und Abtreibungen verstießen.

821
Als „reconstruction" wird die mit dem Ende des Bürgerkrieges beginnende und etwa
ein Jahrzehnt d a u e r n d e Periode des „ W i e d e r a u f b a u s " des amerikanischen Bundesstaates
bezeichnet, dessen Z u s a m m e n h a l t unter der Bedrohung einer Sezession der Südstaaten
stand. Die Phase fand ihre gesetzgeberische Unterlegung insbesondere mit den „reconstruc-
tion a m e n d m e n t s " ( 1 3 - 1 5 ) zur amerikanischen Verfassung und mit d e m „reconstruction
a c t " aus d e m Jahre 1867. Mit den A m e n d m e n t s wurde unter a n d e r e m die Sklaverei abge-
schafft. alle in den Vereinigten Staaten geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das
Wahlrecht ausgeweitet. Der gegen das präsidentielle Veto verabschiedete „reconstruction
act" verlieh den Südstaatenregierungen einen lediglich provisorischen Status und stellte sie
bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und D u r c h f ü h r u n g von Neuwahlen
unter militärische Kontrolle.
822
71 U . S . 4 7 5 (1867).
823
74 U.S. 5 0 6 (1869). In dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof als Rechtsmittel-
instanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu urteilen. Die Richter
entschlossen sich nach d e r mündlichen Verhandlung im M ä r z 1868 mehrheitlich für eine
Verzögerung der Entscheidung bis der Kongress die die Zuständigkeit des Gerichts begrün-
dende N o r m außer Kraft gesetzt hatte. Anschließend wies Chief Justice Chase die Klage
wegen fehlender Zuständigkeit des S u p r e m e Court ab.
824
Aus der deutschen Literatur J. Heideking, E i n f ü h r u n g in die amerikanische G e -
schichte. 1998, S. 68 f.
284 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Jede Interpretation der Verfassung ist aber in der Umkehrung auch abhängig
von gesellschaftlichen Bedingungen, die einem steten Wandel unterworfen sind.
Die Judikatur des Supreme Court bietet auch dafür zahlreiche Beispiele. So
interpretierte der Supreme Court bis 1954 die Verfassung der USA und das
darin verankerte Prinzip der Gleichheit aller Menschen so, dass die Tatsache der
Rassentrennung (Segregation) mit diesem Grundsatz vereinbar sei. 1954 urteilte
eben dieser Gerichtshof in seiner wegweisenden Entscheidung (Brown vs. Board
of Education*25), dass die Segregation der Verfassung widerspreche und deshalb
aufzuheben sei. Dieser einschneidende Wandel geschah mit Berufung auf die
Verfassung - aber ohne, dass sich diese geändert hätte. Geändert hatten sich
Gesellschaft und gesellschaftliches Bewusstsein. Um den politischen Wandel
zu verstehen, genügt es daher nicht, eine Verfassung zu lesen. Diese muss in
Verbindung mit realer Politik gebracht werden.

Im übrigen können sich im Zusammenhang der Rolle der Verfassungsgerichts-


barkeit im Prozess des gesellschaftlichen Wandels durchaus Ähnlichkeiten, wenn
nicht sogar Überschneidungen zu den Funktionen der Verfassung" 6 ergeben.
Wagt man den Schritt von der „Funktion" zur „Aufgabe", so fallen der Ver-
fassungsgerichtsbarkeit einige „.Aufgaben" zu, die im Verfassungskontext als
„Funktionen" zu betrachten sind. Wieso sollte man der Verfassungsgerichtsbar-
keit also nicht auch die Aufgabe der ..Bestandssicherung für Verfassungsnormen
als ranghöchste Normen", eine „Schutzaufgabe durch Machtbegrenzung" oder
eine „Integrationsaufgabe" zuweisen? Andere „Funktionen" der Verfassung las-
sen sich wohl schwieriger direkt in eine „Aufgabe" übertragen (etwa die der als
„rechtliche Grundordnung" oder die „programmatische Funktion - Verfassung
als ,Verhaltensentwurf"' und die „Legitimationsfunktion"). Es soll jedoch an die
oben bereits genannten „typischen Elemente selbständiger Verfassungsgerichts-
barkeit" 827 und „Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit" erinnert werden.
Dort fand sich unter Berufung auf P. Häberle der Begriff der „rationalen Recht-
sprechungstätigkeit", wobei es nach diesem dabei auch um eine „Tätigkeit im
Dienste der .Bewährung' nicht bloßer .Bewahrung' der Verfassung" geht. Diesem
Aspekt könnte auch eine Zuordnung der drei letzten genannten Verfassungsfunk-
tionen unterworfen werden. Wenn man nämlich Verfassungsgerichtsbarkeit unter
dem Lichte des „Bewährens der Verfassung" betrachtet, so muss das oberste
Rechtsprechungsorgan (auch unter gelegentlichem ..Bewahren") zwangsläufig ein
„Bewähren" aller Verfassungsfunktionen gewährleisten.

825
347 US 4 8 3 (1954).
826
Dazu eingehend und in einer allgemeinen Darstellung etwa H. Schulze-Fielirz,
Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz, in: J.J. H e s s e / G . F . S c h u p p e r t /
K. H a r m s (Hrsg.). Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. Zur
Rolle des Rechts in staatlichen Transformationsprozessen in Europa. 1999. S. 65 ff.. 66 ff.
827
Siehe auch P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbstän-
digen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre
Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 316 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 285

Ein deutliches Beispiel, d a s s z w a r t r e n n s c h a r f bei einer D a r s t e l l u n g d e r Prinzipi-


en und Funktionen der einzelnen Teilbereiche (wie „Verfassung", „Verfassungsge-
r i c h t s b a r k e i t " o d e r „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n " ) v o r z u g e h e n ist, g l e i c h w o h l j e d o c h
mit einer R ü c k b e s i n n u n g auf die inneren Abhängigkeiten dieser Bereiche auch
die Ü b e r s c h n e i d u n g e n , gelegentlich die K o n g r u e n z gewisser A x i o m e im Blick zu
behalten sind.

(2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik -


Anmerkungen zur ,.political question doctrine"

N a c h d e m nahezu j e d e r gesellschaftliche Konflikt als Freiheits- und Gleich-


heitsproblem formuliert werden kann, darf die Frage aufgeworfen werden, ob
Verfassungsgerichte in j e d e m dieser Konflikte d a s letzte Wort haben sollen, selbst
w e n n d i e V e r f a s s u n g n u r ein vages Prinzip von Persönlichkeitsentfaltung und
G l e i c h b e h a n d l u n g vorgibt, über d a s die Verfassungsrichter g e n a u s o unterschied-
liche Ansichten vertreten wie Bürger und Politiker? Die herrschende, gleichwohl
heftig b e k ä m p f t e Meinung828 in den U S A bejaht diese Frage. D a s Spannungsfeld

828
Freilich handelt es sich auch um eine deutsche Debatte: der zentrale Einwand, der
gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, insbesondere aber auch gegen die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erhoben wird, lautet, dass Politik im G e -
wand des Rechts betrieben werde, vgl. u. a. E. Bendd, Das Bundesverfassungsgericht im
Spannungsfeld von Recht und Politik, in: Z R P 1977, S. 1 ff.. 4. Die Problematik ergibt
sich aus den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes, das über Fragestellungen zu
entscheiden hat. die von erheblichen politischem Einschlag sind. Die richterliche Stel-
lung wird doppelt kritisiert, einmal im Z u s a m m e n h a n g mit den „ g e h e i m e n " Wahlen und
dem e n o r m e n politischen Einlluss durch die politische N o m i n i e r u n g und des weiteren
aus der politischen Entscheidungskraft d e r einzelnen Richter. Die Literatur versucht ei-
ne Trennung von Unparteilichkeit und Neutralität anzustellen und dabei wird klar, dass
die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zwar unparteiisch, aber nicht neutral bleiben
sollten (dazu M. Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, in: N J W
1976, S . 7 7 7 ff.). Dass ihre Entscheidungen durch die massive Beeinflussung im Zuge der
juristischen Argumentation an politischer Macht verlieren, wird sogar durch Misstrauens-
verfahren nachgewiesen (vgl. E u G H . E u G R Z 1976. S. 11; E u G H . E u G R Z 1983. S . 5 0 0 ) .
Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ge-
genüber anderen Verfassungsorganen wird auch in Deutschland o f t unter dem Stichwort
der political question doctrine geführt. Dabei werden die Möglichkeiten der A n w e n d u n g
dieses aus d e m amerikanischen Recht bekannten Prinzips analysiert, in Hinblick auf die
Ablehnung von Entscheidungen mit hohen politischen Werl durch das Bundesverfassungs-
gericht. Die überwiegende Literatur hält diese Doktrin für unvereinbar mit der Verfassung
der Bundesrepublik und lehnt ihre A n w e n d u n g durch das Bundesverfassungsgericht ab
(S. etwa C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supre-
me Court und des BVerfG. 1996. S. 230: K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und
Gesetzgebung. 1987, S. 175.; C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber,
2. Aufl., 1996. S. 151.; J. Bliiggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch
das Bundesverfassungsgericht. 1998. S. 177 ff.). Der Gedanke zur Entpolitisierung der
Entscheidungen wird jedoch prinzipiell nicht für abwegig gehalten. Dennoch sind es nur
wenige Stimmen in der Literatur, die eine Anwendung der Doktrin für möglich halten, ja
286 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

zum Prinzip demokratischer Selbstbestimmung ist aber unübersehbar, ruft man


sich drei Stufen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in Erinnerung: (1) die Si-
cherung verfassungstextlich spezifizierter Grundrechte gegen legislative Eingriffe,
(2) die Sicherung, vielleicht sogar Optimierung der Fairneß des demokratischen
Prozesses, und (3) die inhaltliche Kontrolle aller Ergebnisse des politischen Prozes-
ses über die Berufung auch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitspostulate. 8 2 9
Gerade hinsichtlich des dritten Punktes droht, wenigstens bei ausufernder Inan-
spruchnahme der Prüfungskompetenzen, die Ersetzung der legislativen Prioritäten
durch eine Herrschaft der Richter. Will man gleichzeitig die Kompetenzen des
demokratischen politischen Prozesses sichern und starken und insgesamt in die-
sem Bereich mehr Qualität fordern, so ist die Debatte über die Beschneidung
verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenzen letztlich unvermeidlich.

Allgemein und freilich simplifiziert beruht der Legitimitätsanspruch der Ge-


richte auf ihrer Fähigkeit, Kontroversen solchermaßen in rechtliche Argumente zu
übersetzen, dass sie entscheidbar sind, ohne dem Verlierer noch eine Chance der
Unterstützung für die Fortsetzung des Streits zu g e b e n . " 0 Lässt ein Urteil mehrere
Varianten der Auslegung zu. gerät das Gericht konsequenterweise selbst in den
Streit. Nicht nur in den Vereinigten Staaten lösen Entscheidungen zunehmend
symbolische Kreuzzüge aus, anstatt politische Diskussionen beizulegen. Diese
Tendenz des Gerichts, seine Rechtsprechung bis in politische Maßnahmen hinein-
reichen zu lassen, und zudem die Verfassung als fortwährende Weiterentwicklung
immer neu zu interpretieren, bringt sie selbst in die politische Diskussion. Sie
gefährdet damit zwei Erfolgskriterien, die über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit
des Verfassungsgerichts entscheiden : zum einen, inwieweit den Entscheidungen
Folge geleistet wird, sondern auch inwieweit diese andere Entscheidungsarenen
determinieren. Daran gemessen erreichen manche Verfassungsgerichte bereits die
Grenzen der Akzeptanzbereitschaft innerhalb der jeweiligen Rechtskultur.

Die Vereinigten Staaten als Ursprung der hier diskutierten Gestalt der Verfas-
sungsgerichtsbarkeit waren fast zwingend auch der Ausgangspunkt der verfas-
sungsrechtlichen Sensibilität für die sogenannte ..political question". 8 3 1

sogar dessen A n w e n d u n g durch das Bundesverfassungsgericht schon als vorhanden anse-


hen (so K. Dolzer. Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und
durch politische Verfassungsorgane. 1982. S . 2 9 f f . am Bsp. von E u G R Z 1983. 57 (70)).
829
Vgl. auch \V. Brüggen Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto
Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg, Heft 3 / 1 9 9 4 . S. 22ff, 23.
830
Vgl. auch N. Lahmann, Legitimation durch Verfahren. 1969.
831
Hierzu insbesondere F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die
Political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court.
1965. Vgl. auch den Überblick bei H. Ltuifer. Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer
Prozess. 1968. S. I ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 287

Mit dem Fall Luther v. Borden (1849) 832 hat der Supreme Court, um zunächst
der Entscheidung politischer Fragen auszuweichen, die Doktrin der „political
question" eingeführt. Der Grundgedanke dieser These ist darin zu sehen, sich
bei verfassungsrechtlich nicht eindeutig entscheidbaren Fällen nicht in den demo-
kratischen Prozess einzumischen. Vordergründig sollte die Rolle des Richters als
politisches Gegengewicht zur Exekutive und Legislative beschränkt werden. In
anderen Worten: weitreichende politische Reformen sollten durch den politischen
Gesetzgeber und nicht durch den Supreme Court eingeleitet werden. 833 So viel zur
Theorie.

Allerdings: Die Rolle des „stillen, aber lauernden Beobachters" kann durchaus
auch bereits eine politische Dimension in sich tragen.

In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lassen sich in der Rechtspre-
chung des Supreme Court zwei Phasen unterschiedlicher Kontrolle feststellen. 834
In der nach dem Präsidenten des obersten Gerichts benannten „Lochner-Ära" (etwa
zwischen 1905 und 1937) wurde das vorwiegend wirtschaftslenkende Gesetzes-
werk einer umfassenden Kontrolle unterzogen („strict scrutinity test"). Basierend
auf der Erwägung, solche Gesetze würden die Vertragsfreiheit und im besonderen
Maße das Eigentumsrecht beschränken, forderte der Supreme Court zu deren
Rechtfertigung substantiell gewichtige öffentliche Interessen, deren Vorliegen er
im einzelnen überprüfte. Annähernd 160 Gesetze hielten schließlich dieser Über-
prüfung nicht stand. Wohingegen sich der Gerichtshof in der sogenannten „Nach-
Lochner-Ära" nach 1937 spürbar zurücknahm und ein Gesetz regelmäßig nur
dann für verfassungswidrig erklärte, wenn es willkürlich, diskriminierend oder
nachweisbar ungeeignet zur Ereichung des Ziels war, das der Gesetzgeber frei
wählen konnte („rational basis test"). Aus dem erstgenannten Stadium der Recht-
sprechung ist eine dissenting opinion des Richters H. F. Stone bemerkenswert, der
1936 in der Blütezeit der sogenannten „New Deal"-Gesetzgebung, in der der
Supreme Court ein landwirtschaftliches Sanierungsprogramm des Präsidenten
Rosseveit für verfassungswidrig erklärt hatte, seine abweichende Meinung wie
folgt begründete:

..The power of courts to declare a Statute unconstitutional is subject to two guiding


principles of decision which ought never to be absent from judicial consciousness. One
is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom.
T h e other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative

832
4 8 US (7 How.) 1. 12 L. Ed. 581.
833
Siehe auch B. Kroll. Der S u p r e m e Court - das oberste Gericht der U S A . in: JuS
1987. S. 9 4 4 ff.. 947.
834
Dazu aus dem deutschen S c h r i f t t u m J. Wittmann, Self-restraint als Ausdruck der
Gewaltenteilung, in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat.
Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat. 1999. S. 109 ff., 110 ff. und vor allem W. Brugger.
Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987. S. 38 ff.
288 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

branches of the government is subject to judicial restraint. the only check upon our own
exercise of power is o u r own sense of self-restraint. For the removal of unwise laws from
the Statute books appeal lies, not to the courts. but to the ballot and to the processes of
democratic government."*"

Soweit ersichtlich taucht an dieser Stelle der Begriff „self-restraint" im Zusam-


menhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erstmalig auf. Im Wesentlichen geht
es bei der Beantwortung der Frage, ob nun eine „political question" vorliege stets
um die selben Problemkreise: Handelt es sich um eine Rechtsfrage, was ist also
justiziabel, und was eine „political question"? Im Ergebnis lässt sich dabei keine
stringente Rechtsprechung des Supreme Court erkennen. Studiert man die Fülle
der Entscheidungen des Supreme Court zur political-question-Theorie, so lässt
sich eine klare Linie schwerlich feststellen; sie wird äußerst flexibel gehandhabt.
Nur zählt es zum Geheimnis des Supreme Court festzulegen, wann er eine political-
question annimmt und wann nicht.

Manche Sozialwissenschaftler haben zuweilen von einer richterlichen Vorherr-


schaft im amerikanischen Herrschaftsprozess gesprochen. Bei näherer Betrach-
tung der geschichtlichen Entwicklung der USA erscheint jedoch etwa der Begriff
„Judiziokratie" übertrieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen
1 8 9 0 - 1 9 3 7 extensiver auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder
Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts zurückwies und vor allem
in den ersten Jahren des Rooseveltschen New Deal sozialreformerische Initiativen
des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte. Ansonsten aber
hat sich das Oberste Bundesgericht in vergleichsweise nüchterner Einschätzung
etwaiger Friktionsfelder und potentieller Ansehensverluste politischen Ausein-
andersetzungen eher entzogen und sich bevorzugt für unzuständig erklärt als in
öffentliche Konflikte eingemischt. 836 Alles in allem hat aber die mehr als zweihun-
dertjährige Rechtsprechung dem Obersten Gericht soviel Autorität eingetragen,
dass es längst zum respektierten Partner im Geflecht der checks and balances, der
politischen Willensbildung und Machtausübung geworden ist. Demoskopische
Erhebungen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder belegt,
dass das Ansehen der Institution Supreme Court in der Bevölkerung viel größer
ist als dasjenige der Präsidentschaft, vom Kongress ganz zu schweigen.

835
United States v. Butler. 297 U.S. 1 (1936).
836
Das Oberste Gericht kann sich also weigern, dort Recht zu sprechen, wo es die
Verantwortung f ü r die Folgen seiner Entscheidung nicht übernehmen kann. Es erklärt dann
solche Fälle zu ..political questions". Als solche werden vor allem Rechtsstreitigkeiten mit
möglichen internationalen Implikationen betrachtet, etwa Konflikte im Bereich der auswär-
tigen Beziehungen (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen. Grenzstreitigkeiten.
Anerkennung von Staaten. Einreiseverweigerungen für Ausländer oder deren Ausweisung).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 289

(3) Iiikurs: „counter-majoritarianism"

Die Praxis des Supreme Courts, durch ständige Auslegung den Verfassungstext
veränderten äußeren Umständen anzupassen ist letztlich bedeutsamer als die
die gelegentlich spannungsgeladenere und im Ausland bis heute mehr beachtete
Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts, das jedoch in Wirklichkeit nur einen
kleinen Ausschnitt aus der fortlaufenden Interpretationstechnik der Verfassung
durch die amerikanische Gerichtsbarkeit darstellt. 8 ' 7

In den Vereinigten Staaten wird die Betrachtung von Problemkreisen der Ver-
fassungsgerichtsbarkeit gerne auf den Begriff der „counter-majoritarianism" re-
duziert. also auf das Problem der „gegen-Mehrheitlichkeit". Anders als etwa in
Deutschland oder Österreich dient letzteres vielen als eines der führenden Para-
digmen des amerikanischen Verfassungsrechts schlechthin. S3S Grundsätzlich ist
die Debatte über das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokra-
tie und Rechtsstaat umfangreich und kann hier nicht verfolgt werden. 839 Hierbei
wird bemängelt, dass meist auf lange Zeit gewählten und nur unzureichend oder
gar nicht verantwortlichen Richtern die Kompetenz erteilt wird. Gesetze eines
demokratisch legitimierten Parlaments zu annullieren. Gerichte würden auch
diesbezüglich Politik treiben, anstatt Recht zu sprechen. Befürworter wollen da-
gegen das demokratische Prinzip durch Theorien über die „Selbstbindung" der
Legislative und die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten retten" 0 . Für

837
So bereits K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinig-
ten Staaten. 1959. S . 3 6 .
s 58
Hierzu insbesondere A Bickel, T h e Least Dangerous Branch - T h e S u p r e m e Court
at the Bar of Politics, 1962. Es sind j e d o c h vermehrt Stimmen vernehmbar, die einer allzu
erhöhten Stellung dieses G e d a n k e n s kritisch gegenüberstehen, vgl. nur B.A.Ackerman,
T h e Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984), S. l()13ff.
S. 1016: „Hardly a year goes by without some learned professor a n n o u n c i n g that he has
discovered the final Solution to the countermajoritarian difficulty. or, even more darkly,
that the countermajoritarian difficulty is insolvable." Siehe auch E. Chemerinsky, T h e
S u p r e m e Court 1988 Term - Foreword: T h e Vanishing Constitution, in: 103 Harvard
L. Rev. (1989). S . 4 3 f f . ; ders., T h e Price of Asking the Wrong Question: An Essay on
Constitutional Scholarship and Judicial Review, in: 62 Texas L. Rev. (1984). S. 1207 ff.:
B. Friedman. Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993), S. 577 ff.;
jVf. V. Tushnet. Anti-Formalism in Recent Constitutional Theory, in: 83 Michigan L. Rev.
(1985), S. 1502 ff.; mit dem Versuch einer Umkehrung der Problematik („the majoritarian
difficulty") auch S. Croley, T h e Majoritarian Difficulty: Elective Judiciaries and the Rule
of Law. in: 62 T h e University of Chicago L. Rev. (1995), S. 689 ff.
839
Für die amerikanische Diskussion wohl am bekanntesten A. Bickel (1962) und
J.H. Ely, Democracy & Distrust. 1980; vgl. allgemein M. Cappelletti, T h e Judicial Process
in Comparative Perspective. 1989. S. 3 ff.; für das deutsche Recht ist die Auseinanderset-
zung in der Weimarer Republik zwischen C. Schmitt und H. Kelsen immer noch äußerst
beachtenswert.
840
Vgl. etwa U.K. Preuß, Umrisse einer neuen konstitutionellen Form des Politischen,
in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, erw. Neuausg. 1994. S. 123 ff.
290 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

jVf. Cappelletti drücken Verfassungen die Positivierung höherer Werte aus. und
Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Methode zur Durchsetzung dieser Werte 841 .

Dieser normative Streit muss an dieser Stelle nicht gelöst werden, unabhängig
davon, dass er wohl kaum plausibel auflösbar ist. 842 . Entscheidend ist, dass diese
Debatte - mit annähernd den gleichen Argumenten auf beiden Seiten - überall
dort auftreten wird, wo die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt wird und sich
gegenüber der Politik emanzipiert. Auf der einen Seite steht dabei typischerweise
die Ideologie der „Volkssouveränität", die verfassungsgerichtliche Beschränkun-
gen des Mehrheitswillens als „undemokratisch" verwirft. Auf der anderen Seite
offenbart sich der „Konstitutionalismus", welcher die Bindung der Politik an eine
Verfassung als Eigenwert begreift und den Mehrheitswillen diesen Bindungen
unterordnet. Der „Legalismus" steht wohl zwischen diesen Prinzipien. Er verweist
zwar auf die Herrschaft des Rechts über die Politik - und damit auf den „Rechts-
staat", ist aber weniger mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, als eher mit
dem gesetzgebenden Parlament verbunden.

c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der


Verfassungsgerichts barkeit - Richtwerte für den EuGH?

Gerade im Hinblick auf eine Überprüfung der verfassungsgerichtlichen Ele-


mente des EuGH sollen auch übergreifend kennzeichnende Funktionen und Kom-
petenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit wenigstens angerissen werden, wobei
bereits hier festgestellt werden darf, dass es bei den Kompetenzen und Funktionen
durchaus zu Verschränkungen kommen kann, was auf dem Umstand beruht, dass
beide unmittelbar einander zu bedingen wissen. Wie anders sollte beispielsweise
die Funktion der Wahrung der Gewaltenbalance ohne die Kompetenz über Or-
ganstreitigkeiten aufrecht zu erhalten sein? Oder eine wirkungsvolle, evolutive
Grundrechtssicherung ohne wenigstens eine dem Verfassungsbeschwerdeverfah-
ren ähnliche Kompetenz herstellbar sein?

1,41
M. Cappelletti (1989), S. 118. 120. Freilich ließe sich pragmatisch argumentieren,
dass es schlicht sinnvoll sei, eine Instanz zu schaffen, die auf juristischem Wege politische
Konflikte letztendlich entscheidet. Dies setzt aber voraus, dass man die Vorherrschaft des
Rechts anerkennt.
* 42 Einiges m a g d a f ü r sprechen, die Institution des Verfassungsgerichts als „Dritte
K a m m e r " des legislativen Prozesses zu begreifen (vgl. A. Stone, T h e Birth of Judicial
Politics in France. 1992. S. 209 ff.). W i e bereits der „ S c h ö p f e r " des europäischen Modells
der Verfassungsgerichtsbarkeit. H. Kelsen. festgestellt hat. wird ein Verfassungsgericht
unvermeidlich legislativ tätig.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 291

aa) Verfassungsgerichtlichc Interpretationspotentiale im


Verfassungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten

Im vollausgebildeten Konstitutionalismus stellt sich zudem die Frage des Verfas-


sungsgericht! ichen Interpretationsmonopols, so wie es sich in den USA herausge-
bildet hat. Diese Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtge-
sellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur prägt
zunehmend „westliche", auch ansatzweise „nicht-westliche" Verfassungsstaaten.
Ein wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungs-
hermeneutik ist umfassend und jenseits schüchterener Debatten vorläufig nur in
den USA in Gang gekommen. Er bewegt sich „Toward a Constitutional Herme-
neutics" 841 , wie sie sich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden
„interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" niederschlägt 8 4 4
und in einen weiteren Zusammenhang von „katholischen" und „protestantischen"
Interpretationsschemata erstellt wird 845 . Diese stets politisch aufgeladenen Diskur-
se offenbaren die grundsätzliche Notwendigkeit einer vergleichend untersuchen-
den Verfassungshermeneutik in den mit verfassungs-richterlichem Prüfungsrecht
ausgestatteten Politien der USA. Deutschlands, Kanadas, Australiens und Frank-
reichs.

Die Idee und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit griff in Europa erst spät
Platz. Zwar gab es in Westeuropa Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen
Ländern einige Bestrebungen, die Gesetzgebung einer Verfassungsmäßigkeitsprü-
fung zu unterwerfen. Aber nur in Österreich gelang es 1920 unter dem Einfluss
des Staatsrechtlers H. Kelsens, ein wirklich aktives Verfassungsgericht in der
Verfassung zu verankern. Die Ausbreitung dieser Institution fand in Westeuropa
erst nach dem zweiten Weltkrieg statt. Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit kein
unabdingbares Element einer Demokratie ist, zeigen die vielen als demokratisch
verstandenen Staaten, die über diese Institution nicht verfügen, so wie etwa Eng-
land. Auch Frankreichs court constitutione! verfügt nicht über die Kompetenzen
z. B. des deutschen Verfassungsgerichts und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten
eine größere Rolle im politischen System erkämpfen können.

Mit Vorsicht ist eine Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit in die histori-


sche Entwicklung des ..Rechtsstaats" oder der „Rule of L a w " zu behandeln, wie
das deutsche und das englische Beispiel zeigen. 846

843
G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics. in: A m e r i c a n Journal of Political
Science, No'. 2, vol. 32, 1988. S. 369 ff.
844
Dazu etwa D. P. Kommers, T h e Supreme Court and the Constitution: T h e Continuing
Debate on Judicial Review, in: T h e Review of Politics. No. 3, vol. 47, 1985. S. 113 ff.
845
Hierzu beispielsweise das wichtige Werk von H. Levinson. Constitutional Faith.
1989.
846
Die Konzeption des Rechtsstaats war alles andere als eine universelle Idee, sondern
hat sich in einem ganz bestimmten sozio-politischen Umfeld entwickelt. Sie entstand in
292 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t findet weltweit zur D u r c h s e t z u n g ihrer jeweili-


gen V e r f a s s u n g i m m e r weitere Verbreitung und trägt d a m i t in den e n t s p r e c h e n d e n
Ländern implizit zur Festigung oder A u s f o r m u n g gewisser gesellschaftlicher
Strukturen bei. Z u r Verwirklichung der normativen A n f o r d e r u n g e n und zur Er-
haltung des verfassungsrechtlichen K o n s e n s e s leisten Verfassungsgerichte e i n e n
wesentlichen Beitrag. Die Verfassung wäre o h n e die Verfassungsgerichtsbarkeit
lediglich auf ihren sozialen, g e s e l l s c h a f t l i c h e n Rückhalt verwiesen.847 Um aber ei-
ne in Konfliktfällen drohende Aufzehrung des verfassungsrechtlichen Konsenses
z u v e r m e i d e n , ist d i e E i n r i c h t u n g d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t n a h e z u u n v e r -
z i c h t b a r . V e f a s s u n g s g e r i c h t e n ist g r u n d s ä t z l i c h d i e M ö g l i c h k e i t g e g e b e n , e i n e n
von politischen und H a n d l u n g s z w ä n g e n sowie M a c h t e r h a l t u n g s i n t e r e s s e n ver-
gleichsweise u n a b h ä n g i g e n Blick auf die Verfassung zu werfen. Politisch wie
gesellschaftlich b e d e u t s a m und g e g e b e n e n f a l l s w i r k u n g s v o l l e r als die konkrete
Gerichtsentscheidung kann dabei die generelle Existenz der gerichtlichen Kontrol-
le bereits im Vorfeld einer „ d r o h e n d e n " Auseinandersetzung mit anschließender
Entscheidung in einer Streitsache sein, da Beteiligte w i e politische Instanzen
g e z w u n g e n sein k ö n n e n , die V e r f a s s u n g s f r a g e bereits verhältnismäßig früh und
u n a b h ä n g i g zu stellen.848

Deutschland aus d e m für die Restaurations/.eit nach den Unruhen von 1848 charakteristi-
schen Kompromiss z w i s c h e n Liberalismus und Konservatismus. Deswegen unterscheidet
sie sich historisch auch grundlegend von der Idee der ..Rule of Law". Die Ideologie der „Ru-
le of Law" entstand historisch in England unter dem Einfiuss einer starken Mittelklasse, die
das Parlament kontrollierte und einer relativ schwachen königlichen Bürokratie, während
die kontinentalen Rechtsstaatsprinzipien sich vor d e m Hintergrund von machtvollen und
zentralisierten Bürokratien entwickelten, dessen Türen die ..Bourgeoise" nicht niederrei-
ßen konnte, sondern an denen sie anklopfen musste, um Zugeständnisse zu erreichen. Der
..Rechtsstaat" e r w i e s sich flexibel genug, um im monarchisch-bürokratischen Kaiserreich
genau w i e der Weimarer Republik und der Bundesrepublik eine der tragenden Staatsprin-
zipien zu sein. Der Inhalt des Begriffs hat sich jedoch seit seinem ersten Gebrauch radikal
verändert, wenn man seine heutige Bedeutung im deutschen Staatsrecht, die auch demokra-
tische und sozialstaatliche Aspekte umfaßt mit der Vorstellung vergleicht, die seine frühen
Verfechter hatten. Ähnliches gilt für die „Rule of law". War diese Doktrin anfänglich vor
allem eine liberale Philosophie, hat in den USA unter ihrem Banner der S u p r e m e C o u r t
eine Rechtsprechung geschaffen, die den Staat auf die Durchsetzung von Bürgerrechten
v e r p f l i c h t e t - e i n e am A n f a n g des 19. Jahrhunderts undenkbare Entwicklung. Eine Minimal-
definition des „Rechtsstaats" könnte gleichwohl auch den Begriff „Rule of Law" umfassen.
Eine u m f a s s e n d e Bibliographie zum T h e m e n k o m p l e x „Rule of L a w " findet sich auf der
Website der Wellbank unter http:/Avwwl.worldbank.org/publicsector/legal/annotated.pdf.
847
Auch wenn der soziale Rückhalt hinreichen sollte, absichtliche Verfassungsverstöße
zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungs-
rechtliche Anforderungen ausschließen, vgl. auch D. Grimm. Verfassung, in: Staatslexikon,
hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft, 7. Aufl.. Bd. 5, 1989 und 1995. S. 6 3 4 ff.. 639.
848
Bei einem Scheitern dieser „vor-gerichtlichen W i r k u n g " ist es dann A u f g a b e eines
funktionierenden Verfassungsgerichts, die Verfassung dem politischen o d e r gesellschaftli-
chen Streit zu entziehen und ihrer in diesem Fall entscheidenden Funktion als Konsensbasis
widerstreitender Interessen wieder zuzuführen. D.Grimm (1989 und 1995) betont aber
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 293

Mit dem Argument, auch Verfassungsgerichte seien gesellschaftlich oder öf-


fentlich verantwortlich, wird teilweise in der Politik- und Rechtslehre der Versuch
angestellt, eine der Politik äquivalente Verantwortlichkeit der Verfassungsge-
richtsbarkeit zu formulieren. 8 4 9 Dieser Gedanke verdient Unterstützung, da er alle
Beteiligten der Verfassungsöffentlichkeit daran erinnert, was „Verfassung" neben
allen anderen Definitionen noch ist: ein Leitfaden für Verantwortungsübernahme,
ein Dokument zur Regelung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Dabei sollte
im verfassungsgerichtlichen Kontext allerdings eine Differenzierung von indivi-
dueller Verantwortlichkeit der Richter und institutioneller Verantwortlichkeit des
Gerichts vorgenommen werden. 8 5 0

Selbstverständlich sind zu den verfassungsgerichtlichen Kompetenzen neben


den beiden bereits genannten die konkrete und abstrakte, die vorbeugende und
auch gegebenenfalls völkerrechtliche Normenkontrolle, unterschiedliche Verfas-
sungsschutzverfahren sowie in föderalen Ordnungen Bundesstaatsstreitigkeiten
zu zählen. Wahlprüfungsverfahren und Gutachtenkompetenzen sollen nicht uner-
wähnt bleiben, wenngleich für den berechtigten Status eines Gerichts als Verfas-
sungsgericht insgesamt nicht alle Kompetenzen gegeben sein müssen. Allerdings
ist ein Mindestmaß an verfassungsgerichtlichen Funktionen zu fordern, die von der
Grundrechtssicherung über den Schutz maßgeblicher Verfassungsprinzipien (wie
Demokratie. Rechtsstaatlichkeit, Vorrang der Verfassung 8 5 1 , Gewaltenbalance im
Kontext mit der Trennung der Staatsgewalten) bis zur Sicherung des Pluralismus
und implizit d e m Minderheitenschutz zu reichen haben. 8 5 2 Für die europäischen,
einzelstaatlichen Verfassungsgerichte ist das Aufrechterhalten einer kooperativen

zutreffend, dass ,.|d]ie Bereitschaft, Machtfragen durch Gerichte schlichten zu lassen, I . . . ]


freilich soziale und kulturelle Wurzeln [hat], die keineswegs überall, wo eine Verfassung
besteht, gegeben sind. Fehlen sie. werden Verfassungsgerichte mit den Machthabern kurz-
geschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Beide Male ist der Schaden für die
Verfassung größer als beim völligen Verzicht auf Verfassungsgerichtsbarkeit."
849
Siehe etwa M. Cappelleiti, Who Watches the Watchmen?, in: ders., The Judicial
Process in Comparative Perspective, 1989. S. 57 ff.. 79 ff.: dazu auch U. Haltern. Verfas-
sungsgerichtsbarkeit. Demokratie und Mißtrauen. 1998. S. 200 f.
850
Siehe auch B. Friedman, Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev.
(1993). S. 577 ff.
851
Über die Verfassungsgerichtsbarkeit als ..Instrument zur Sicherung des Vorrangs der
Verfassung" sehr instruktiv C. Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbar-
keit. in: C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa. Teilband
I: Berichte. 1986. S. 11 ff. Zu den antiken Grundlagen auch des Prinzips des Vorrangs
der Verfassung vgl. bereits E.S. Corwin, The ..Higher Law". Background of American
Constitutional Law, in: 42 Harvard L. Rev. (1928), S. 149ff. 153 ff.
852
Vgl. auch die Aufzählung bei P. Hiiberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster
einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift
50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 311 ff., S. 319. der noch die „friedliche Ein-
ordnung des nationalen Verfassungsstaates in regionale Verantwortungsgemeinschaften"
unter dem Stichwort der „Völkerrechtsfreundlichkeit" und „die behutsame, buchstäblich
so verstandene .Fortschreibung - der Verfassung" nennt.
294 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

B e z i e h u n g z u m E u G H m i t e i n z u b e z i e h e n ( o h n e dabei n ä h e r auf den v o m B V e r f G


geprägten Begriff des „Kooperationsverhältnisses" eingehen zu müssen).853

D a n e b e n lässt sich a n w e i t e r e n V a r i a b l e n , die d e n g e n a n n t e n E l e m e n t e n e i n e r


s e l b s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t h i n z u g e f ü g t w e r d e n sollen, d e r Institu-
t i o n a l i s i e r u n g s g r a d von V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n m e s s e n 8 5 4

D a b e i ist z u n ä c h s t d i e Autonomie zu n e n n e n , als Fälligkeit von Institutionen,


u n a b h ä n g i g e E n t s c h e i d u n g e n zu t r e f f e n u n d u m z u s e t z e n . Je w e n i g e r sie dabei in
A b h ä n g i g k e i t z u a n d e r e n I n s t i t u t i o n e n s t e h e n , d e s t o h ö h e r d e r Institutionalisie-
r u n g s g r a d . Trotz ihres R a n g e s als V e r f a s s u n g s o r g a n sind die V e r f a s s u n g s g e r i c h t e
nicht in d e r L a g e , ihre E n t s c h e i d u n g e n selbst d u r c h z u s e t z e n , s o n d e r n h ä n g e n
d a b e i v o n d e r A k z e p t a n z ihrer J u d i k a t e bei d e n A d r e s s a t e n a b . b z w . von deren
B e r e i t s c h a f t , ü b e r h a u p t e i n e j u d i z i e l l e K o n f l i k t b e i l e g u n g zu w ä h l e n und nicht in
andere Formen der Konfliktbewältigung auszuweichen. Diesbezüglich wird man
d e m S u p r e m e C o u r t d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n e i n e n h o h e n G r a d a n institutionel-
ler A u t o n o m i e z u b i l l i g e n k ö n n e n . Prinzipiell d ü r f t e a b e r d e r A u t o n o m i e g r a d i m
B e r e i c h d e r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g w e s e n t l i c h h ö h e r als i m B e r e i c h d e r U m s e t -
z u n g sein, w a s d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t e w i e d e r u m d u r c h s p e z i e l l e F o r m e n w i e
A p e l l e n t s c h e i d u n g e n , v e r f a s s u n g s k o n f o r m e A u s l e g u n g o d e r a u c h Fristsetzungen
zu kompensieren suchen.855

853
Vgl. beispielsweise U. Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer u. a.
(Hrsg.), Gedächtnisschrift E.Grabitz, 1995, S . 5 7 f f . : ders.. Die Rolle des Europäischen
Gerichtshofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union. 1995. S. 256 ff.:
M.A. Dauses, Aufgabenteilung und judizieller Dialog zwischen den einzelstaatlichen
Gerichten und dem EuGH als Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens. in:
O . D u e u.a. (Hrsg.), Festschrift für U.Everling. 1995. Band 1, S . 2 2 3 f f . : C.Tomuschat,
Die Europäische Union unter der Aufsicht des. Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ
1993, 489 ff.. 494 f.: M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates
im Prozess der europäischen Integration - Bemerkungen zum Maastricht Urteil, in: DV-
Bl. 1994. S. 316 ff.. 323 f.: H. Gersdorf. Das Kooperationsverhältnis zwischen deutscher
Gerichtsbarkeit und EuGH, in: DVB1.1994. S. 674 ff.
854
Diese folgenden Elemente (und gegebenenfalls Prinzipien) sind teilweise an Ge-
danken von R. Lhoita, Paper zur gemeinsamen Tagung von DV'PW. ÖGPW und SVPW
am 8./9. Juni 2001 in Berlin zum Thema: ..Der Wandel föderativer Strukturen", Verfas-
sungsgerichte im Wandel föderativer Strukturen - eine institutionentheoretische Analyse
am Beispiel der BRD. der Schweiz und Österreichs. 2001. angelehnt. Lhoita bettet seine
Überlegungen freilich primär in eine Betrachtung bundesstaatlicher Besonderheiten ein.
855
Bei den als hochgradig politisch rezipierten Entscheidungen kann jedoch die Akzep-
tanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen rasch absinken. Dies hat etwa der Nachhall
zum Präsidentschaftsurteil ..Bush-Gore" in den Vereinigten Staaten (1998/99) oder in
Deutschland auf den „Kruzifix-Beschlusses" (BVerfGE 93,1) des BVerfG gezeigt. So-
weit eine unterlegene Prozesspartei scharfe Kritik übt. ist sie verständlich und meist auch
bald vergessen, (vgl. zur ..Richterschelte in Deutschand" etwa H.-J. Vogel. Videant Judi-
ces! Zur aktuellen Kritik am. Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978. S. 665 ff.). In
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 295

Als weiterer Aspekt ist die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit von Verfas-


sungsgerichten hervorzuheben, womit die Möglichkeit von Institutionen gemeint
ist, sich an Veränderungen ihres Kontextes, Adressatenkreises und institutionellen
Umfeldes anzupassen und diesen (aktiv oder lediglich durch vorbildhaftes Wirken)
zu beeinflussen. Ein vergleichender Blick zeigt allerdings, dass die Verfassungs-
gerichte im U m g a n g mit den Kompetenzkatalogen der jeweiligen Verfassungen
einen eher restriktiven, gelegentlich dem Bild der Stagnation nicht fernen Kurs
verfolgen, der im deutschsprachigen Raum in der sog. „Versteinerungstheorie"
gipfelt.

Auch die Selbstorganisation als die Fähigkeit einer Institution, interne Struktu-
ren herauszubilden, um ihre Ziele zu verwirklichen und mit ihrer Umwelt umzu-
gehen. gehört in den Reigen typischer, zumindest wünschenswerter Merkmale der
Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier ist auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Ver-
fassungsgerichte zu achten sowie auf die Art und Weise, wie das Selbstverständnis
der Gerichte in eine eher streitentscheidende (richtende) oder streitvermittelnde
(integrierende) Tätigkeit u n d / o d e r aktivistische bzw. zurückhaltende Spruchpra-
xis umgesetzt wird. 8 5 6 Daneben ist die Fähigkeit der Institution hervorzuheben,
ihr eigenes Arbeitsaufkommen selbst zu steuern und Prozeduren zu entwickeln
sowie Aufgaben schnell und effizient zu lösen. s 5 7

Unter den Begriff der verfassungsgerichtlichen Kongruenz soll der Grad ge-
fasst werden, in d e m intrainstitutionelle Beziehungen die sozialen Beziehungen
abbilden, die sie zu regeln beanspruchen. Hier wird man zweierlei zu berücksich-
tigen haben: Z u m einen richtersoziologische Aspekte, die sich darauf beziehen,
inwieweit sich die parteipolitische sowie bikamerale Mitbestimmung bei der
Richterwahl signifikant auf die Spruchpraxis der Verfassungsgerichte auswirken.
Allem Anschein nach ist dies (soweit hierzu überhaupt Daten vorliegen) weder in

jüngster Zeit indessen wird die Kritik anläßlich einiger Entscheidungen des Gerichts oder
seiner Kammern grundsätzlicher. E. IV. Böckenförde etwa hat die Gefahr des Übergangs
zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" bzw. „Verfassungs-Areopag" beschwo-
ren (siehe ders., Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 ff., 25),
B. Großfeld von „Götterdämmerung" geschrieben (ders., Götterdämmerung? Zur Stellung
des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995. S. 1719 ff.) andere haben den Autoritätsver-
lust des Gerichts beklagt. Politik. Publizistik und Volkesmeinung in Leserbriefen und De-
monstrationen reagierten nach den sog. ..Soldaten sind Mörder"-Entscheidungen (BVerfGE
86. 1 ff.: BVerfG. NJW 1994. 2943 ff.) und dem sog. Kruzifix-Beschluß des Ersten Senats
noch viel schärfer. Frühere Kritiken sprachen vom ..govemment of judges", von ..rich-
terlicher Zensur", von „richterlichem Veto" oder ähnlichen Charakterisierungen (siehe
m.w.N. die Zusammenstellung bei K.Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht
und Politik. 1980. S. 17).
856
So auch R. Lhotta (2001).
857
Hier geht es primär um Variablen wie die Zahl der Richter, der Senate, der Assis-
tenten. der Vorselektionsverfahren für Annahme/Ablehnung sowie Geschäftsordnungen,
mit denen die Verfassungsgerichte institutionell auf die anfallenden Aufgaben reagieren.
296 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

den USA noch in den mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten europäi-


schen Staaten erschöpfend nachweisbar. Z u m anderen, inwieweit es nicht gerade
die hochgradig konsensual und parteipolitisch sowie konkordanzdemokratisch
geprägten Richterwahlverfahren sind, aus denen Verfassungsgerichte durchaus
ihre Autorität und A k z e p t a n z ableiten können. Dies bedeutet im Umkehrschluss,
dass Durchbrechungen des Konsensprinzips bei der Richterbestellung auch zu si-
gnifikanten Autoritätseinbußen sowie zu legitimitätsschwächenden Diskussionen
um die Politisierung der Richter führen können - ein sowohl in Deutschland als
auch in Österreich wohlbekanntes Phänomen.

Der Supreme Court ist im Gegensatz etwa zum deutschen Bundesverfassungs-


gericht kein genuiner Verfassungsgerichtshof, der nur über Verfassungsrecht zu
entscheiden hätte. Angelegt und von den Verfassungsvätern angedacht war er
zunächst als reines Rechtsmittelgericht, sowohl gegenüber Rechtsstreitigkeiten,
die vor den Bundesgerichten ausgetragen werden, wie auch gegenüber bestimm-
ten Streitsachen, die ihren Ausgang vor den Einzelstaatsgerichten nehmen. 8 5 8
Die bereits benannte, in der Bundesverfassung vorgesehene erstinstanzliche Z u -
ständigkeit fällt dagegen kaum nennenswert ins Gewicht. Wollte man nun eine
Gewichtung der oben aufgezählten verfassungsgerichtlichen Kompetenzen vor-
nehmen, so müßte die Befugnis zur inzidenten Normenkonrolle schon eine her-
ausgehobene Stellung erhalten. Allein diese bedeutsame verfassungsgerichtliche
Komponente gestattet es, den Supreme Court seit Marbury v. Madison primär als
Verfassungsgericht anzusehen.

Eine künftige Aufgabe der vergleichenden Forschung sollte es sein, die insti-
tutionellen M e r k m a l e und Variablen zur Ermittlung des Einflusses von Verfas-
sungsgerichten auch in ihren Unterschieden klarer herauszuarbeiten und besser
aufeinander abzustimmen, um die zweifellos weiter notwendige Analyse von Ent-
scheidungen der Verfassungsgerichte institutionentheoretisch rückzukoppeln und
auf diese Weise mehr über den faktischen Wirkungsgrad und die Rolle der Ver-
fassungsgerichte als maßgebliche Beteiligte am staatlichen und gesellschaftlichen
Wandel zu erfahren.

858
Einen hohen praktischen Stellenwert für seine Funktion als Rechtsmittelgericht
nehmen die die Appellationszuständigkeit begründenden N o r m e n von 28 U . S . C . Section
1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus) ein.
Nach einer erheblichen Beschränkung des als ..appeal" bezeichneten Rechtsbehelfs durch
den 1988 erlassenen Judicial Improvemems and Access to Justice Act. biden die sogenannten
„certiorari-Verfahren" den bei weitem größten Teil der z u m S u p r e m e Court k o m m e n d e n
Verfahren. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer ..petition for certiorari",
den Fall zur Entscheidung anzunehmen, vgl. hierzu auch C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen
in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts.
1996. S. 17 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 297

bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit

Darüber hinaus steht der amerikanische Supreme Court exemplarisch und


pionierhaft für eine Anzahl charakteristischer Komponenten selbständiger Verfas-
sungsgerichtsbarkeit. S S 9 Dazu zählt zum einen die Verfassungsorganqualität mit
ihrer notwendigen textlichen Verankerung in der Verfassung (Art. III der ameri-
kanischen Bundesverfassung, wo eine Auflistung entscheidender Kompetenzen
des S u p r e m e Courts zu finden ist). Die unabdingbare Garantie richterlicher Un-
abhängigkeit ist dabei von besonderer Bedeutung. 8 6 0 Sie wird u m s o wichtiger, je
weniger die beiden anderen Staatsgewalten, die Gesetzgebung und die Verwaltung,
voneinander getrennt sind: Die politischen Parteien beherrschen Parlament und
Regierung. „Beherrschen" sie auch (ganz oder teilweise) die Medien, zeigt es sich
noch deutlicher: Die Richter haben einen (relativ) staatsfreien Lebensbereich im
Sinne des Gewaltenteilungsprinzips zu sichern. 8 6 1 Es geht um Freiheitssicherung
durch einen von der politischen Macht (möglichst) abgeschirmten Richter, um
Schutz vor der staatlichen Willkür. Das erfordert nicht nur eine formelle (kein
Gericht darf zugleich Verwaltungsbehörde sein), sondern vor allem auch eine ma-
terielle, sachliche Gewaltenteilung: so sollte ein ausreichender Kernbereich des
Privat- und Strafrechts den Richtern zur Entscheidung zugewiesen sein. Es wird
naturgemäß vereinzelt Fehlurteile geben. Die Entscheidungsqualität richterlicher
Urteile ist aber durch die Unabhängigkeitsgarantie strukturell eine andere als jene
der Verwaltungsbehörden. 8 6 2

859
Die folgende Aufzählung ist - auch bezüglich inhaltlicher Komponenten - ange-
lehnt an eine Katalogisierung typischer Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit durch
P. Huberte, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 465 ff. Ob sich wenigstens ei-
nige dieser Elemente zu ..Prinzipien der Verfassungsgerichtsbarkeit" erheben ließen, sei
als (noch) offene Frage nur angedeutet.
860
Vgl. ausführlich zum Themenkreis der richterlichen Unabhängigkeit in den Verei-
nigten Staaten J. Zätzsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA
und Deutschland. 2000.
861
Im Kontext mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung steht es außer Zweifel, dass die
Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungs-
gerichte der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter
Gewalt ist. Dies belegt ein Blick auf die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von
Gesetzen seit Marbury v. Madison über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht auch
in Deutschland, der im übrigen nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. No-
vember 1925 (vgl. RGZ 111. 320) begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht
(zur Geschichte G. Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufl. 1919.
S. 736 ff.).
862
Siehe auch J. Herrmann. Die Unabhängigkeit des Richters?, in: Deutsche Richter-
zeitung 1982, S . 2 8 6 f f . Kürzlich H.J.Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre
Schranken, in: NJW 2001. S. 1089 ff. Bereits früh in rechtsvergleichender Perspektive
F. Decker. Die Unabhängigkeit der Richter. Ein Bericht über den Internationalen Richter-
Kongress in Rouen. in: Deutsche Richterzeitung 1953. Seite 158 ff. Da die richterliche
Unabhängigkeit die Gefahr mit sich bringt, dass ein einmal in ein bedeutendes Amt vorge-
298 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der Forderung nach einer unabhängigen Rechtsprechungstätigkeit steht die


nach einer rationalen Entscheidungsfindung nahe. P. Häberle betont zu Recht,
Verfassungsrechtsprechung sei nicht ..Politik". 863 Sie zeichne sich vielmehr durch
in ihren Methoden rational nachprüfbare, oft schöpferische „ A n w e n d u n g " von
„Gesetz und Recht" aus. Allerdings ist Verfassungsrecht nach seinem Gegenstand
und seiner Zielsetzung nicht nur beiläufig, sondern wesentlich auf die Materie des
„Politischen" bezogen und wird auch in gewisser Hinsicht von daher bestimmt.
Verfassungsrechtliche Streitigkeiten können durch ihre Nähe zum Spannungsfeld,
das den Begriff der „politischen M a c h t " umgibt, nicht von diesem abgetrennt
werden. Hieraus ergibt sich auch kein Konflikt zu der Aussage Häberles, da diese
Streitfragen ja nicht deswegen weniger oder keine „rechtliche Streitigkeiten" sind.
Vielmehr bleibt der Grundsatz bestehen, diese einzig und allein nach rechtlichen
Grundsätzen zu entscheiden. Es ist daher umso eher ein Wesensmerkmal von Ver-
fassungsgerichtsbarkeit, gerade nicht ein von politischen Aspekten abgetrennter
Komplex zu sein. Durch Anwendung und Interpretation des Verfassungsrechts
wenden Verfassungsgerichte ein Rechtsgebiet an, das Politik und deren imma-
nenten Prozess näher zu bestimmen, nötigenfalls zu gestalten, aber eben auch zu
begrenzen weiß. Verfassungsgerichtsbarkeit hat damit notwendig eine politische
Dimension, wenn sie ihre Aufgabe sachlich und ihrer Verantwortung entsprechend
wahrnehmen will.

Demzufolge sei als weiteres - der rationalen Rechtsprechungstätigkeit entwick-


lungslogisch folgendes - Merkmal selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit das
Spannungsfeldbewußtsein der höchsten Gerichte hervorgehoben.

Ebenso ein Charakteristikum selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit ist die


demokratische Legitimation des Verfassungsgerichts. Grundsätzlich darf bei al-
ler Richtigkeit gewisser „Legitimationsketten vom Volk zu den Staatsorganen"
(U. Scheuner, P. Häberle) nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass in der
Regel ein vom Volk nicht direkt legitimiertes G r e m i u m von Richtern eine Parla-
mentsentscheidung der gewählten Volksvertreter außer Kraft zu setzen vermag.
Vernünftige Einwände hinsichtlich dieses „undemokratischen" Vorgehens werden
schon gerne mit dem Beschwörung des Verfassungsdokuments und der Bezug-
nahme auf die darin enthaltenen Grundsätze der Staatlichkeit weggewischt. 8 6 4

Der Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation ist im Hinblick auf sei-


ne tatsächliche Befolgung seit den Anfängen heftig umstritten, jedoch nicht zu
verwechseln mit der ebenso hitzig geführten Debatte, inwieweit Verfassungsge-

rückter Richter dieses gegen die Demokratie missbrauchcn kann, gibt es in vielen Staaten
die Möglichkeit der Richteranklage.
863
P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6, S . 4 6 6 .
864
Vgl. W.J. Witteveen. T h e Symbolic Constitution, in: B. v. Roermund (Hrsg.), Consti-
tutional Review - Verfassungsgerichtsbarkeit - Constitutionele Toetsing: Theoretical and
Comparative Perspectives. 1993. S . 7 9 f f . , 79.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 299

richtsbarkeit per se „demokratisch" ist. Bei der Legitimationsfrage geht es darum,


ob sich Verfassungsgerichtsbarkeit in einer logischen, im „crescendo" einander
bedingenden Abfolge legitimierender Elemente vom Volk zu sich selbst als Staats-
organ wiederfindet. In den Vereinigten Staaten ist dies klarer gewährleistet als etwa
in Deutschland (Ernennung durch Wahlmänner aus den Fraktionen des Bundes-
tags, § 6 BVerfGG ). Die neun Richter des Supreme Court werden vom Präsidenten
der Vereinigten Staaten nominiert (Art. II §2 par. 2 der Bundesverfassung), der
Senat muss sie bestätigen, wobei regelmäßig eine öffentliche Anhörung der Kan-
didaten stattfindet. 8 6 5 Der Chief Justice wird vom Präsidenten alleine ernannt.
Weshalb also ist die „Legitimationskette" in den Vereinigten Staaten klarer? Die
Bundesverfassung sieht für die Wahl des Präsidenten eigentlich eine indirekte
Wahl durch ein vom Volk gewähltes Wahlpersonenkollegium (electoral College)
vor (vgl. das 12. A m e n d m e n t ) . In der politischen Realität ist die Stimmabgabe
durch dieses Kollegium jedoch zur reinen Formsache geworden, da nach der Volks-
wahl der Wahlpersonen die zukünftigen Amtsinhaber praktisch bereits feststehen,
obwohl die Wahlpersonen in ihrer Stimmabgabe durch das gliedstaatliche Recht
nur selten gebunden werden.

Aber auch ein anderer Ausgangspunkt, ein gedankliches „decrescendo", lässt


sich für die Legitimation verfassungsgerichtlicher Tätigkeit finden. Sucht man
nämlich nach der Rechtfertigung für den Verfassungsgericht!ich geprägten Verfas-
sungsstaat, so ist sie zunächst darin zu erblicken, dass die Verfassung als oberste
Norm die Ausübung aller Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die
Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpreta-
tion und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden
Gewalt gelegt wird. d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten
Institution und nicht eines genuin politischen Organs. 8 6 6 Ist keine Verfassungsge-
richtsbarkeit vorhanden, so entscheidet zwangsläufig allein der Gesetzgeber, ob er
sich im Rahmen der Verfassung hält oder nicht, weil es kein Organ über ihm gibt,
das Verfassungsschranken überwacht. Die Verfassungsmäßigkeitsprüfung würde
allein bei ihm selbst ruhen. Dies aber ist solange bedenklich, als alle parlamen-
tarischen Kontrollmechanismen durch Mehrheitsbeschlüsse überwindbar sind.
Verfassungsgerichtsbarkeit soll dabei helfen, Verfassungsstabilität zu sichern, 8 6 7
aber auch wie bereits mehrfach angedeutet Wege zur Verfassungsentwicklung 8 6 8
ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.

865
Vgl. auch W.H. Rehnquist, The Supreme Court. How It Was - How It Is. 1987.
S. 235 ff.
866
Siehe auch K. Stern. Der Einfluß der Verfassungsgerichte auf die Gesetzgebung
in Bund und Ländern, in: H.H. Klein/H. Sendler/K. Stern (Hrsg.). Justiz und Politik im
demokratischen Rechtsstaat. Interne Studien der Konrad Adenauer Stiftung Nr. 119/1996.
1996.
867
Vgl. W. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobach-
tungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. S. 319 ff.
300 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Das Prinzip Öffentlichkeit nennt P. Häberle zu Recht „tragendes Organisati-


onsprinzip für Status und Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit" 8 6 9 . Hierzu
tragen etwa neben der zu fordernden öffentlichen Entscheidungsverkündung ge-
rade in den Vereinigten Staaten auch die o f t m a l s mitveröffentlichten - und die
Diskussion in der Wissenschaft wie in der Bevölkerung bereichernden - Sonder-
voten einzelner Richter bei. 87 " Lediglich die Verkündung eines Urteils mit einer
knappen B e m e r k u n g zu den Mehrheitsverhältnissen innerhalb eines G r e m i u m s
kann nicht genügen, um insbesondere bei höchstrichterlichen Entscheidungen
das Öffentlichkeitserfordernis zu wahren. Die Tragweite einer solchen Entschei-
dung reicht gewöhnlich über die unmittelbar am Verfahren Beteiligten hinaus, der
Gerichtssaal kann selbst bei „öffentlicher Verhandlung" nicht als notwendiger Mul-
tiplikator einer kontroversen Entscheidungsfindung dienen, die nur allzu oft die
Befindlichkeiten unterschiedlicher Rechtsverständnisse auch in der Bevölkerung
wiederspiegelt.

Die der Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnende, einzigartige Interpretations-


macht, ergibt sich - soviel an dieser Stelle - insbesondere aus der Verknüpfung von
drei Eigentümlichkeiten: nämlich dem Prinzip des „Vorrangs der Verfassung", der
letztverbindlichen Interpretationszuständigkeit und dem Fehlen eines allgemein
akzeptierten Kanons der Interpretationsmethoden. Die Frage des „Letztentschei-
dungsrechts". wurde bereits im Vorfeld von 1787 in den Gründungsstaaten der
Vereinigten Staaten diskutiert und soll im Zuge einer Betrachtung ausgewählter
spezifischer Eigenheiten der amerikanischen Entwicklung der Verfassungsge-
richtsbarkeit und ihrer Ausstrahlungswirkung nicht unerwähnt bleiben. Diese
Fragestellung hängt eng mit der Problematik z u s a m m e n , wie sich die Idee einer
Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat überhaupt begründen lässt.
W i e kann man also ein Letztentscheidungsrecht der Gerichtsbarkeit in staatlichen
Ordnungen, die zumindestens auf dem Papier die Staatsgewalt dem „Volke" oder
den „people" überlassen, rechtfertigen? Die Verfassung, die das Volk (als die
Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Landes) in der Regel über Kom-

868
Siehe B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und D y n a m i k im Verfas-
sungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 1982, S. 162 ff.
869
Siehe P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 317.
s
" Heute ergehen nur noch wenige Entscheidungen des S u p r e m e C o u r t s einstimmig.
Stimmt ein Richter zwar mit d e m Ergebnis der von einer Mehrheit getragenen Entscheidung,
nicht aber mit deren B e g r ü n d u n g oder Herleitung überein. so verfasst er im Allgemeinen
eine ..concurring opinion", in der er seine Rechtsauffasung darlegt. Ist er mit dem tatsäch-
lichen Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine „dissenting o p i n i o n " o d e r / u n d
schließt sich der eines Kollegen an. C o n c u r r e n c e s und Dissents können sich auch nur
auf Teile einer Entscheidung beziehen. Beide stehen in der Tradition der aus der engli-
schen Gerichtspraxis s t a m m e n d e n „seriatim opinions". Vgl. zu Bedeutung, Praxis und
Geschichte der Sondervoten beim S u p r e m e C o u r t . K.-H. Millgramm, Separate Opinion
und Sondervotum in der Rechtsprechung des S u p r e m e Court of the United States und des
Bundesverfassungsgerichts, 1985. S . 5 9 f f .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 301

petenzen, Verfahren und Begrenzungen staatlicher Gewaltausübung (jedenfalls


m i t e n t s c h e i d e n lässt, erfährt ihren besonderen Rang und Vorrang s 1 aus der
Vorgabe als normative Grundlage und verbindlicher Rahmen eben durch das Volk.
Eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist demzufolge zunächst
die des unabhängigen Moderators, aber insbesondere Bewahrers des Ranges und
der Funktionen der Verfassung mit dem Auftrag den in ihr verbrieften Rechten und
Verfahren Geltung zu verschaffen. 8 7 2 Darin geht schlussendlich auch ein Wesens-
merkmal der Gewaltenteilung a u f . D e r „Vorabend" der Bundesverfassung in den
Vereinigten Staaten bot dabei bereits eine beachtliche Begründungsarbeit: im Jah-
re 1783 weist der Jurist J. Iredell aus North-Carolina auf eine Republik hin. „where
the law is superior to any or all individuals, and the Constitution superior even
to the Legislature, and of which the judges are the guardians and protectors.' <s74
Und A. Hamilton rechtfertigt im bereits benannten Federalist-Artikel Nr. 78 die
weite Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem demokratischen An-
satz: „Wenn man leugne, dass Gesetze, die der Verfassung widersprechen, nichtig
seien, behaupte man. dass die Repräsentanten des Volkes über dem Volk selber,
das die Verfassung beschlossen hat, stünden."

d) Der EuGH als Verfassungsgericht. Verfassungsrechtsprechung

Die Verfassungsrechtsprechung wird gelegentlich als eine „offene Gesellschaft"


dargestellt" 75 , die sich nicht wie die anderer Rechtsbereiche z u m rechtsdogmati-
schen Interpretationsmonopol eigne. „Lapidarformeln" hat Böckenförde - wohl im
Bewusstsein, sich selbst dem Vorwurf des lapidaren Vorgehens auszusetzen - die
Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes wie auch anderer rechtstaatlicher
Verfassungen genannt, „die aus sich selbst heraus inhaltlicher Eindeutigkeiten
weitgehend entbehren" 8 7 6 . Daher prägen oft erst die Interpretationen der Gerichte
ihre (immanent stets gegebene) Bedeutung. In neu gebildeten Staaten weisen sie
der Institutionalisierung von Recht und Politik die Richtung, wie man an der

871
Z u m Vorrang der Verfassung u. a. allgemein R. Wald. Der Vorrang der Verfassung,
in: Der Staat 20 (1981), S. 4 8 5 ff.
872
Dazu auch E. W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit. Strukturfragen. Organi-
sation. Legitimation, in: N J W 1999. S . 9 f f . , 11 f.
873
Auf der Grundlage der Unterscheidung von ..pouvoir constituant" und ..pouvoirs
constitues".
874
Das Zitat findet sich bei G. Stonrzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichts-
barkeit: Z u m Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: ders.. Wege zur
Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen
Verfassungsstaates. 1989. S. 55 ff.. 64.
875
So P. Hiiberle. Die o f f e n e Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzei-
tung 1975. S. 297 ff.
876
E. IV. Böckenförde. Grundrcchtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: N J W 27
(1974). S. 1529 f.
302 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Priorität e r k e n n e n k a n n , d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n i n d e n n a c h 1990 g l ü c k l i c h
„ g e w e n d e t e n " Staaten r u n d u m das z e r f a l l e n e S o w j e t r e i c h o d e r auch i n S ü d a f r i k a
z u e r k a n n t wird. 8 7 7

D e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n k o m m t hierbei e i n e b e s o n d e r e Rolle zu, n a c h d e m


ihre E n t s c h e i d u n g e n , g e w i s s nicht o h n e Z u t u n einer veränderten M e d i e n l a n d s c h a f t ,
z u n e h m e n d zu p o l a r i s i e r e n , die a l l g e m e i n e D i s k u s s i o n s b e r e i t s c h a f t zu b e r e i c h e r n
wissen* 7 8 . D a b e i v e r u r s a c h t d e r E u G H , a u ß e r bei d e n u n m i t t e l b a r a m V e r f a h r e n
Beteiligten, n o c h w e i t a u s g e r i n g e r e E m p f i n d u n g e n als d i e h ö c h s t e n G e r i c h t e
e i n i g e r S t a a t e n , w a s auch mit einer d o r t g e w a c h s e n e n V e r f a s s u n g s - I d e n t i f i k a t i o n
und - S e n s i b i l i t ä t z u s a m m e n h ä n g e n m a g . S o sehr sich W i s s e n s c h a f t und Politik
u m e i n e n e u r o p ä i s c h e n V e r f a s s u n g s b e g r i f f m ü h ( t ) e n 8 7 9 , s o b e t r ä c h t l i c h ist d e r
B e d a r f e i n e r w e i t e r g e h e n d e n , w a h r n e h m b a r e n K o n t u r i e r u n g des E u G H ( a u c h )
als V e r f a s s u n g s g e r i c h t 8 8 0 , u m seine B e s t i m m u n g als V e r s i c h e r u n g und T r i e b f e d e r
E u r o p a s zu a k z e n t u i e r e n . Ein erster, stabilisierender B a u s t e i n d e r B r ü c k e z w i s c h e n
e u r o p ä i s c h e m Bürger u n d e u r o p ä i s c h e n Institutionen w ä r e mit einer B e t o n u n g d e r
Verfassungsgericht!ichen E l e m e n t e d e r e u r o p ä i s c h e n G e r i c h t s b a r k e i t gesetzt.

877
In den Niederlanden wird hingegen der politische Test an der Verfassung eher poli-
tischen Institutionen (einschließlich dem ..politisch-rechtlichen Halbblut", dem Raad van
State) überlassen. Vgl. auch E. Blankenburg, Die Verfassungsbeschwerde - politisches
Instrument und Klagemauer von Bürgern. 1997. der darauf verweist, dass ,.|e|ine an sich
selbst gewöhnte Demokratie wie etwa die der Niederlande bislang an jegliche richterliche
Kontrolle der Gesetze an der Verfassung verzichten zu können |glaubt|: sie muss sich dann
gelegentlich von europäischen Richtern vorhalten lassen, dass ihre Institutionen nicht den
inzwischen normierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtsverwirkli-
chung entsprechen", siehe auch Benthem vs Staat der Nederlande, EGMR 23 Oktober 1985.
Grundsätzlich fand die französische Gerichtsbarkeit einen starken Widerhall in der euro-
päischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei ist in besonderem Maße die formale Prägung
durch gewisse Auslegungsmethoden und Stilelemente spürbar, vgl. dazu auch C. Back,
Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998),
S. 58 ff.. 101 ff.. I43ff: P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. JB1
2000. S. 691 ff.. 694 f. Obgleich diese anfänglich eher historisch ausgerichtet und klar vom
Vorrang und der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts, des Code Napoleon, beeinflusst
waren.
878
Beispielhaft das gesteigerte öffentliche Interesse in Deutschland, das durch sozial
relevante und kontroverse Entscheidungen und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes
geweckt wurde, vgl. hinsichtlich der gesteigerten Kritik am Bundesverfassungsgericht:
H.J. Vogel. Videant Judices! - Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht. DÖV
1978. S.665ff: R. Lamprecht. Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996: H.-
P. Schneider. Acht an die Macht! Das BVerfG als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus?,
in: NJW 1999. S. 1303 ff.
879
Dazu oben B.II.2.f)nn).
880
Auf eine eingehendere Darstellung des zweiten „europäischen Verfassungsgerichts",
dem EGMR. wird an dieser Stelle verzichtet, vgl. aber K. W Weidmann. Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof.
1985: R. Bernhardt. Europäische Menschengerichtsbarkeit, in: P.-C. Müller-Graff/H. Roth
(Hrsg.). Die Praxis des Richterberufs. 1999. S. 119 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 303

Schon bislang war das interne Gewaltengefüge der Europäischen Union durch
ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet. Bedingt durch diese Komplexität
sowie die z u n e h m e n d e Dynamik des europäischen Integrationsprozesses ist die
Bestimmung der angemessenen Rolle der dritten Gewalt in der Europäischen
Union mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als in staatlichen Herr-
schaftssystemen. Die dritte Gewalt wird in der Europäischen Union durch den
EuGH S ! i l sowie das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz (EuG) ausgeübt. D e m
Gerichtshof kommt nach den Gemeinschaftsverträgen eine starke Rolle als „Hüter
des Gemeinschaftsrechts" zu. In Ausführung dieser ihm übertragenen Aufgabe hat
der Gerichtshof über Jahrzehnte eine bestimmende Rolle im Integrationprozess
innegehabt. Insbesondere hat er wesentlich zum Ausbau der G e m e i n s c h a f t als
„Rechtsgemeinschaft" beigetragen.

aa) Das Rollengeflecht des E u G H

Trotz der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Funktionen der Gerichtsbar-


keit in staatlichen Ordnungen und in der Europäischen Union ist die Rolle des
E u G H jedoch auch von vielen Besonderheiten gekennzeichnet. Diese ergeben
sich insbesondere aus der besonderen Fragilität des föderalen Gleichgewichts
in der Europäischen Union, das stets besonders im Blickfeld des Gerichtshofs
steht. Der Gerichtshof muss hier die Rolle eines Schiedsrichters zwischen der
Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten einnehmen. Dieser Funktion kommt nach
wie vor eine hohe Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des föderalen G e f ü g e s
der Europäischen Union zu. Das Erfordernis föderaler Unparteilichkeit kann al-
lerdings auch in Widerspruch zur Rolle des EuGH bei der Fortentwicklung des
Gemeinschaftsrechts treten.

Eine weitere wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs liegt in der Sicherung der
Einheit des Gemeinschaftsrechts. Auf diesem Gebiet hat der EuGH durch seine
Rechtsprechung die Entstehung eines hoch effizienten Systems zur Sicherung

!,sl
Aus der uferlosen Lit. zum EuGH: J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als
Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983; G.G. Saner, Der Europäische Gerichts-
hof als Förderer und Hüter der Integration. 1988; O. Dörr/ U. Mager, Rechtswahrung
und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR
125 (2000). S. 386 ff.; P. Häherle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 478 ff.;
\V. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc
Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfas-
sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas. 1998; P. Pernthaler. Die
Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestal-
tenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier,
Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997; G.Hirsch. Der EuGH
im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000.
S. 1817 ff.; M.P. Maduro, We the Court. The European Court of Justice and the European
economic Constitution. 1998.
304 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts gefördert.


Gerade dieses System ist allerdings stets in seinen Funktionsvoraussetzungen
durch die gleichzeitigen Prozesse von Vertiefung und Erweiterung gefährdet.
Durch etwaige (weitere) Reformen darf jedoch der Grundsatz der einheitlichen
Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts im gesamten Vertragsgebiet
nicht gefährdet werden.

Dem E u G H obliegt zudem die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts in


der Europäischen Union. Das institutionelle Gleichgewicht ist mit dem Prozess
der Demokratisierung der Union und der damit verbundenen Bedeutungszunahme
des Europäischen Parlaments noch komplexer geworden. Der EuGH hat auf diesen
Wandel mit seiner Rechtsprechung sensibel reagiert. Es ist zu erwarten, dass die
Wahrung der institutionellen Balance als Aufgabe des Gerichtshofs in Z u k u n f t
noch an Bedeutung gewinnen wird. Dem Gerichtshof ist der Schutz der Rechte des
Einzelnen gegenüber den Organen der G e m e i n s c h a f t anvertraut. Diese Aufgabe
wird mit der z u n e h m e n d e n Vertiefung der Integration und ihrem Vordringen in
grundrechtsrelevante Bereiche noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausarbeitung
eines eigenständigen Grundrechtskatalogs könnte auch eine Stärkung des EuGH
bedeuten. Fraglich ist allerdings, ob auch die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten
für Individualrechtssschutz ausreichend sind. Dies ist insbesondere außerhalb
des Anwendungsbereichs der G e m e i n s c h a f t s Verträge problematisch. Lange Zeit
wurde die Förderung des Integrationsprozesses als eine wesentliche vom EuGH
wahrgenommene Funktion angesehen. Es ist jedoch durchaus fraglich, ob der
Gerichtshof heute noch vorrangig als ..Motor der Integration" angesehen werden
kann. Zwar gehört die Fortentwicklung der Rechtsordnung seit jeher zur Aufgabe
der Rechtsprechung in gewaltenteiligen Systemen. Diese Aufgabe steht jedoch
unter d e m Vorbehalt der Wahrung der Verantwortungsspielräume der anderen
Gewalten. Mit der zunehmenden Demokratisierung und Politisierung des Eu-
ropäischen Integrationsprozesses haben sich hier auch die Spielräume für den
Gerichtshof verengt. Vom Motor der Integration wird der EuGH vorrangig z u m
Hüter der Rechtsgemeinschaft.

Einige Verfassungsgerichte in Mitgliedstaaten der Europäischen Union könn-


ten bereits für sich in Anspruch nehmen, „Europäische Verfassungsgerichte" zu
sein - den Vertragszielen und dem großen Ziel einer tatsächlich europäischen
G e m e i n s c h a f t verpflichtet und damit gelegentlich einem europäischen Verfas-
sungsrecht näher als vielleicht der EuGH selbst erscheint.

Nun geht der Aufgabenbereich des E u G H über den allgemeinen Bereich der
Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus, indem er - wie erwähnt - verwaltungsgericht-
liche Elemente, aber auch zivilrechtliche und zivilprozessuale Zuständigkeiten 8 "

852
Zivilprozessualer Art sind die Zuständigkeiten des E u G H nach dem Europäischen
Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen ( E u G V Ü )
von 1968. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche werden ausführlich von T. Oppermann,
Europarecht, 2. Aufl 1999. Rdnrn. 709 ff.. 372 ff. m. w. N. geschildert.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 305

auf sich vereint. M a n c h e s p r e c h e n a n g e s i c h t s d i e s e r M u l t i f u n k t i o n a l i t ä t b e r e i t s


v o m E u G H a l s „ S u p r e m e C o u r t " E u r o p a s 8 8 3 . Freilich w u r d e d i e s e r B e g r i f f i m
e u r o p ä i s c h e n Z u s a m m e n h a n g bereits sehr f r ü h g e p r ä g t : W. Hallstein hat 1970 im
R ü c k b l i c k auf d i e G r u n d l e g u n g des E u G H s s 4 illustriert:

..Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiziger Gedanke
vor: die Verfassungsstruktur der Gemeinschaft mit einem obersten Gericht zu krönen, das
im vollen Sinn des Wortes Verfassungsorgan war. einem Gericht wie der amerikanische
Supreme Court in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall, unter
dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in
der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann."" 5

Lässt sich Hallsteins E h r g e i z in h e u t i g e r B e t r a c h t u n g n a c h a r i s t o t e l i s c h e r U n -


t e r s c h e i d u n g als u n m ä ß i g o d e r m a ß v o l l u n d v e r n ü n f t i g e i n o r d n e n ? G a b o d e r gibt
es tatsächlich übergreifende Entwicklungstendenzen des E u G H z u m „Supreme
C o u r t " E u r o p a s o d e r verlässt d e r E u G H bereits a b g e t r e t e n e P f a d e hin z u e i n e m
„ V e r f a s s u n g s g e r i c h t e i g e n e r N a t u r " ? A u f h e l l u n g k ö n n t e ein aktueller Vergleich
mit g e n a n n t e m U S - a m e r i k a n i s c h e n S u p r e m e C o u r t b r i n g e n , i n s b e s o n d e r e und
g e r a d e i m H i n b l i c k auf e i n e v e r f a s s u n g s g e r i c h t l i c h e M e t h o d i k d e s E u G H . Die
Fragestellung, welche Elemente einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit
überhaupt innewohnen (müssten) und worauf diese weniger theoretisch-dogma-
tisch als institutionell b e r u h e n (sollten), w a r bereits im u n t e r s c h i e d l i c h e n Kontext
G e g e n s t a n d m a n c h e r r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n U n t e r s u c h u n g 8 " 6 . J e d o c h sind i m
g e m e i n s c h a f t s r e c h t l i c h e n Z u s a m m e n h a n g b i s l a n g k a u m A n s ä t z e e r k e n n b a r , in-

883
So etwa T. Oppermann (1999). Rdnr. 382; II. Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssys-
tems der EU. in: ZRP 2000. S . 5 2 f f „ 56; U.Everling, Zur Funktion des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften als Verwaltungsgericht, in: B. Bender (Hrsg.), Rechts-
staat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker. 1993.
S. 293 ff., 294. nennt den EuGH „Universalgericht".
884
Von 1 9 5 2 - 1 9 5 7 war der EuGH zunächst Gerichtshof der EGKS. seit 1958 ist er
laut Art. 3 f. des Abkommens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaf-
ten vom 2 5 . 3 . 1 9 5 7 i.V.m. Art. 220 ff. EGV. 136 ff. EAGV. 31 ff. EGKSV gemeinsamer
Gerichtshof der drei Gemeinschaften.
885
W. Hallstein. Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 110.
886
Siehe hierzu J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und
Rechtsschutzinstanz. Einführung und Problemaufriß, in: ders. (Hrsg.), Der Europäische
Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983. S. 20 f.; J. Coppel/A.
O'Neill. The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: 29CMLRev. (1992),
S. 669 ff.; F. Jacobs. Is the Court of Justice of the European Communities a Constitutional
Court?, in: D. Curtin/D. O'Keeffe (eds.), Constitutional Adjucation in European Commu-
nity and National Law, Dublin 1992; J. H. H. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously"
Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, in: 32 CMLRev.
(1995). S. 51 ff. 59 ff.; J. Rinze. The Role of the European Court of Justice as Federal Consti-
tutional Court, in: Eur. Public Law 1999. S. 426 ff.: J. Schwarze, The Procedural Guarantees
in the Recent Case-law of the European Court of Justice, in: D. Curtin/T. Heukels (eds.),
Institutional Dynamics of European Integration. Essays in Honour of Henry G. Schermers.
Vol. II. Dordrecht 1994. S.487 ff.
306 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wieweit gerade die amerikanische Verfassungstheorie im Rahmen struktureller


Gemeinsamkeiten und trotz bestehender Unterschiede Anhaltspunkte für ein sta-
biles Modell europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit bieten könnte oder bereits
geboten hat.

Die amerikanische Fasson der Verfassungsgerichtsbarkeit kann einem frucht-


baren Rechtsvergleich dienen, soweit sich die Erfahrungen einer konstruktiven
Rezeption zuführen lassen. Angesichts des Vorbildcharakters der amerikanischen
Verfassung für eine Vielzahl europäischer Verfassungen liegt für die Europäische
Union neben einem Vergleich des jeweiligen Verfassungsverständnisses eben auch
eine Gegenüberstellung der höchsten Gerichte nahe. 8 8 7

Eine Gegenüberstellung beider Gerichtshöfe sollte aber den oben angeführten


Grundgedanken der Verflechtung von „Konservative", im Sinne des lateinischen
conservare, und „ M o d e r n e " z u m Inhalt und zur Leitlinie haben. Verfassungs-
gerichte können über die allgemeinen, offensichtlichen Funktionen hinaus zwei
Bestimmungen erfahren, deren Existenz unbestritten, deren Wahrnehmbarkeit in
der Öffentlichkeit hingegen begrenzt ist: die Verknüpfung des Schöpferischen mit
d e m Element des Bewahrens, nur vordergründig ein Paradoxon, tatsächlich aber
verschmolzen durch das belastungsfähige Band der inneren Bedingtheit. Auch
hier treffen sich Konservative und Moderne. Eine diesbezügliche Betrachtung der
Methodik hat folglich den Blickwinkel methodischer Instrumente einzubeziehen,
die diesen gedanklichen „Treffpunkt" mit Leben erfüllen. Hallstein selbst deutet
mit besagtem Zitat bereits Sockel und Artefakt im Gesamtkunstwerk gelungener
Verfassungsgerichtsbarkeit an: Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung.
Die erhaltenden und innovativen Komponenten höchstrichterlichen Handelns fin-
den gerade hierin ihren Niederschlag. Die zunehmend energischer vorgebrachte
Feststellung, der E u G H sei (auch) ein europäisches Verfassungsgericht, kann eben
bereits mittels einer Analyse seiner verfassungsgerichtlichen Methodik bekräftigt
werden.

Im Übrigen ergeben sich aus dem Verfassungsvertrag unmittelbar k a u m Ver-


änderungen f ü r die Rolle des EuGH als (einem der) Hüter der europäischen
Verfassung. s s s Dies gilt auch f ü r das von der Debatte um eine Grundrechtsbe-

ss7
Mit Hilfe „transatlantischer Rechtsvergleichung" könnte der Versuch unternommen
werden, methodische Ansatzpunkte für eine „europäische" T h e o r i e der Verfassungsge-
richtsbarkeit erkennen zu lassen, wobei neben jeweils originären Merkmalen auch die
Übertragbarkeit gewisser traditioneller theoretischer, dogmatischer und organisatorischer
Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die europäische Wirklichkeit zu untersuchen
w äre. Basierend auf der theoretischen Diskussion ließe sich zudem die etwaige Möglichkeit
zur Adaption zukunftsfähiger institutioneller Charakteristika analysieren. Der E u G H selbst
hat 1999 ein Reflexionspapier veröffentlicht (www.curia.eu.int/de/pres/persp.htm), das die
Forderung nach institutionellen Reformen zum Inhalt hat. Dazu G. Hirsch. Dezentralisie-
rung des Gerichtssystems der Europäischen Union?, in: Z R P 2 0 0 0 . S. 57 ff., H. Rösler
(2000). S. 53 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 307

s c h w e r d e übrig g e b l i e b e n e M e h r an I n d i v i d u a l r e c h t s s c h u t z in A r t . III-365 VerfV.


Positiv d ü r f t e n sich d i e A u f h e b u n g d e r S ä u l e n s t r u k t u r u n d die A n g l e i c h u n g d e r
R e c h t s f o r m e n a u s w i r k e n , die j u s t i z f r e i e R ä u m e i n s g e s a m t v e r r i n g e r n w e r d e n .

O f f e n ist i n d e s s e n , w i e V e r ä n d e r u n g e n im institutionellen G e f ü g e , d i e die Rolle


d e r K o m m i s s i o n s c h w ä c h e n , auf d e n E u G H r ü c k w i r k e n . D i e V e r s c h i e b u n g e n i m
institutionellen G e f ü g e sind in ihren F o l g e n d e r z e i t n o c h nicht p r o g n o s t i z i e r b a r .
D i e s h ä n g t nicht nur d a m i t z u s a m m e n , d a s s die E n t s c h e i d u n g e n d e r R e g i e r u n g s -
k o n f e r e n z ü b e r d a s institutionelle S y s t e m i n ihren F o l g e n nicht o h n e w e i t e r e s
ü b e r s c h a u b a r sind.

Die e u r o p ä i s c h e w i e die a m e r i k a n i s c h e V e r f a s s u n g s l e h r e b e r u f t sich g e m e i n h i n


auf P r i n z i p i e n i n n e r h a l b m e t h o d i s c h e r u n d d o g m a t i s c h e r U n t e r s u c h u n g e n , seien
es Verfassungsprinzipien, Prinzipien der Verfassungsinterpretation"9 oder mögli-
c h e r w e i s e e i n m a l solche d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t . P r i n z i p i e n d i e n e n dabei
d e r U m m a n t e l u n g e i n e s G e d a n k e n g e r ü s t e s , z u w e i l e n auch d e s s e n Statik.

D e n g e n a n n t e n P r o b l e m k r e i s e n liegt d a b e i e i n e g e m e i n s a m e F r a g e s t e l l u n g z u -
g r u n d e , die w i e d e r u m s p i e g e l b i l d l i c h m o d e r n e u n d k o n s e r v a t i v e A n s a t z p u n k t e
z u reflektieren w e i ß : W i e w i r k t sich d e r E n t w i c k l u n g s g r a d e i n e r V e r f a s s u n g auf
d a s ( S e l b s t - ) V e r s t ä n d n i s von V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t a u s ? Höchstrichterliches

*** Ausführlich etwa F. C. Mayen Wer soll Hüter der Europäischen Verfassung sein?, in:
AöR 129 ( 2004). S. 411 ff. In diesem Kontext interessant: die dem Richteramt angemessene
Zurückhaltung schloß manches deutliche Wort in den Arbeiten etwa von G.C. Rodriguez
Iglesias zur Rolle und zum Selbstverständnis des Gerichtshofes dennoch nicht aus. So
schrieb er in einem Artikel über den Gerichtshof als Verfassungsgericht (vgl. ders.. Der
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht. 1992): ..Die Rol-
le des Gerichtshofes als sogenannter .Motor der Integration' soll nicht seiner Rolle als
.Hüter der Gemeinschaftsverfassung* gegenüber gestellt werden. Es handelt sich vielmehr
um einen Bestandteil seiner Rolle als Hüter der Gemeinschaftsverfassung". An anderer
Stelle kritisierte er in unmissverständlicher Weise das dem Maastricht-Vertrag beigefügte
sogenannte ..Barber-Protokoll". das der noch zu entscheidenden Auslegung eines Urteils
des Gerichtshofes vorzugreifen versuchte, als Eingriff seitens des Verfassungsgebers in die
auch in der Gemeinschaftsordnung herrschende Gewaltenteilung. Dass die mit aller gebote-
nen Zurückhaltung eines amtierenden Richters geäußerte Auffassung auch Wirkung haben
kann, mag man aufgrund der im Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Änderung des Art.
L d e s Unionsvertrages vermuten: In dem eben genannten Beitrag hatte Rodriguez Iglesias
seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass Art. F des Maastrichter Vertrages - der
Grundrechtsschutzartikel - zwar eine vertragliche und damit verfassungsrechtliche Bestä-
tigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes darstellt, Art. L des Maastrichter Vertrages
dem Gerichtshof die Rechtsprechungsbefugnis über Art. F aber vorenthielt. Die jetzige
Änderung von Art. L im Vertrag von Amsterdam übertrug dem EuGH ziemlich genau
jene Jurisdiktion hinsichtlich Art. F. die Rodriguez Iglesias damals als notwendig und
systemgerecht beschrieben hatte.
889
P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 258 ff. Siehe auch
K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Auflage
1995 (Neudr. 1999). S. 19 ff.: R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungs-
interpretation. 1976.
308 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auftreten kann durchaus unterschiedliche Ausprägungen zur Folge haben Je nach-


dem ob es sich aktiv an einer Entwicklung oder einer Fort-Entwicklung beteiligt.
Der U S - S u p r e m e Court hat mit zahlreichen Entscheidungen die Möglichkeit vor
Augen geführt. Schaffenskraft mit Erhaltungswillen in Einklang gebracht zu ha-
ben. 8 9 " Im europäischen Kontext ist diesbezüglich auch dem Entwicklungsstand
einer europäischen Verfassung Rechnung zu tragen. Fernerhin hat in diese Überle-
gungen der G e d a n k e einzufließen, ob Verfassungsgerichtsbarkeit selbst gänzlich
ohne Verfassung im hergebrachten Sinne existieren könnte, was angesichts der Ver-
tragsstruktur der Europäischen Union bzw. Gemeinschaften (aber auch aufgrund
eines „Ensembles von Teilverfassungen* 4 (P. Häberle)]) nahe liegen könnte.

Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von A m e r i k a und in


Europa. Während allein eine weitgehend unabhängige Rechtsprechung der obers-
ten Gerichte bereits tragendes Fundament abendländischer und amerikanischer
Rechtskultur ist, befindet sich die Europäische Union also noch scheinbar im
verfassungsgerichtlichen Konsolidierungsprozess. Wenigstens unter d e m Blick-
winkel eines gewohnten, einzelstaatlich geprägten Verständnisses von Verfassung
und Verfassungsgerichtsbarkeit. Legt aber nicht gerade die Einzigartigkeit gemei-
neuropäischer Rechts- und Verfassungskultur wie auch ihre praktische Umsetzung
eine differenzierte, optimistischere Betrachtung nahe?

bb) Der E u G H als „Motor der europäischen Integration"?

Die Rechtsprechung des E u G H erwies sich letztlich als „ m o r e powerful than


intended". 8 9 1 Aufgrund seiner „expansiven" Rolle geriet er zunehmend unter den
Zwang der Rechtfertigung. Für viele (gleichwohl nicht unumstritten) ist der EuGH
ein „Motor der europäischen Integration" (U. Everling), der antreibt, nicht aber
seine Richtung bestimmt. 8 9 2 Wird vor diesem Hintergrund die „ever closer union"

890
Dieser Zusammenhang wird unten in B.II, und V. illustriert.
891
Vgl. schon A. W. Green. Political Integration by Jurisprudence. The Work of the Court
of Justice of the European Communities in European Political Integration. 1969. Kap. VII:
..The court builds a system of Community law.'*. Zum Satz ..More Pow erful Than Intended"
vgl. den gleichlautenden Aufsatz in der Financial Times vom 22. August 1974. Siehe
auch K.J.Alter Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence.
A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: A.-M. Slaughter/A. Stone-
S w e e t / J . H . H . Weiler (Hrsg.). The European Court and National Courts. Doctrine and
Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998. S. 227 ff.. 227: W. Dänzer-Vanotti.
Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due/
M . L u t t e r / J . Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band 1, 1995, S.205ff;
K. Lenaerls, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians in the
European Community, in: Yearbook of European Law 12 (1992), S. 1 ff.
892
Vgl. J.H.H. Weiler Journey to an Unknown Destination. A Retrospective and
Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, in: Journal
of Common Market Studies 31 (1993), S . 4 1 7 f f . Zum Begriff ..Motor . . . " U. Everling,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 309

a l s b e g r ü ß e n s w e r t e r a c h t e t , fällt die B e u r t e i l u n g d e r richterlichen T ä t i g k e i t e n t -


s p r e c h e n d g ü n s t i g aus. In d i e s e m Fall gilt d i e n o r m s c h ö p f e n d e R e c h t s p r e c h u n g
nicht lediglich a l s U s u r p a t i o n p o l i t i s c h e r V o r r e c h t e , s o n d e r n als „ b e s o n d e r e s
Verdienst" 8 9 3 u n d als A u s g a n g s p u n k t f ü r e i n e n „ n o r m a t i v e s u p r a n a t i o n a l i s m " 894

D i e Kritik a m E u G H n a h m i n d e n n e u n z i g e r J a h r e n zu. 8 9 5 D i e f r a n z ö s i s c h e N a -
tionalversammlung beklagte in einer Erklärung wortreich die ausgedehnte Kom-
p e t e n z a n m a ß u n g des E u G H . 8 9 6 N a h e z u zeitgleich legte d i e b r i t i s c h e R e g i e r u n g
ihr M e m o r a n d u m z u r s o g e n a n n t e n „ k o r r i g i e r e n d e n K o d i f i k a t i o n " e u r o p ä i s c h e n

Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union, in:
Europarecht 32 (1997). S. 398 ff., 398 f. Zur Bedeutung des EuGH als Motor der Integration
C.-D. Ehlermann, The European Communities, its Law and Lawyers. in: Common Market
Law Review 29 (1992). S. 213 ff., 218; G.F.Mancini. The Making of a Constitution for
Europe. in: Common Market Law Review 26 (1989), S. 595 ff.; M.LVolcansek. The
European Court of Justice. Supranational Policy-Making. in: West-European Politics 15
(1992). S. 109 ff.. 109.
893
So K. Bahlmann, Europäische Grundrechtsperspektiven, in: B. Börner u. a. (Hrsg.),
Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag. 1984.
S. 17 ff., 19.
894
J.H.H. Weiler. The Community System. The Dual Character of Supranationalism.
in: Yearbook of European Law (1981). S. 267 ff.; siehe auch ders., The Transfomation of
Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff. Demgegenüber hat H.Rasmussen
dem EuGH vorgeworfen, ohne demokratisches Mandat weit außerhalb der vertraglichen
Ermächtigung zu agieren und dabei die erkennbaren Absichten der Mitgliedstaaten igno-
riert. ja, deren Kompetenzen an sich gerissen zu haben, vgl. H. Rasmussen, On Law and
Policy in the European Court of Justice, 1986. Rasmussens Kritik ist auf fruchtbaren
Boden gefallen. Zeitgleich unternahmen die Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung der
Einheitlichen Europäischen Akte den Versuch, verlorenes Terrain gegenüber dem EuGH
zurückzugewinnen.
895
Aus der Lit. K.J.Alter. The European Court's Political Power. The Emergence of
an Authoritative International Court in the European Union, in: West European Politics
19 (1996), S. 458 ff., 462; dies.. Who Are the ..Masters of the Treaty"? European Go-
vernments and the European Court of Justice, in: International Organization 52 (1998),
S. 121 ff., 132 f.; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften. 1997. S. 1; U.Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randclzhofer/R. Scholz/
D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. 1995. S. 57 ff.. 73 f.; G. Roller.
Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entschei-
dungen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel der Umweltpolitik, in: AöR
123 (1998), S. 21 ff., 24; H.H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch
den Amsterdamer Vertrag?, in: JuristenZeitung 53 (1998). S. 213 ff.. 215: E. Schultz. Die
Legitimitätsprobleme des Europäischen Gerichtshofes und die Auswirkungen auf seine
institutionelle Autonomie, in: S. Pfahl/E. Schultz/C. Matthes/K. Seil (Hrsg.), Institutio-
nelle Herausforderungen im Neuen Europa. Legitimität, Wirkung und Anpassung, 1998.
S. 57 ff.; J.H.H. Weiler. The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991),
S. 2403 ff.; B. de Witte. Community Law and National Constitutional Values. in: Legal
Issues of European Integration (1991/92), S. Iff. 3.
896
Assemblee Nationale, Quelles reformes pour 1'Europe de demain?, Rapport
d'information no 1939, Paris 1996. S. 24.
310 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

R e c h t s vor. D a s V e r e i n i g t e K ö n i g r e i c h strebte an. U r t e i l e d e s E u G H d u r c h die


h e i m i s c h e G e s e t z g e b u n g z u k o r r i g i e r e n , w e n n sie z u w e i t r e i c h e n d e r s c h i e n e n . * " 7
D e r E u G H zog das Misstrauen der Mitgliedstaaten vor allem d e s w e g e n auf sich ,
weil er nicht als Hüter d e r nach d e m Prinzip der begrenzten E i n z e l e r m ä c h t i g u n g
k o n s t r u i e r t e n K o m p e t e n z o r d n u n g d e r G e m e i n s c h a f t e r s c h i e n , n i c h t als . . n e u t r a l e r
Richter", sondern als das „Integrationsorgan der Europäischen Union".89* Die
Z u s i c h e r u n g d e s G e r i c h t s h o f s , er sei sein eigener W ä c h t e r 8 9 9 , f a n d in der Recht-
s p r e c h u n g k e i n e B e s t ä t i g u n g . S e l b s t J. H. H. Weiler, b e i l e i b e k e i n K r i t i k e r d e r
europäischen Integration (wenngleich auch selten das Florett diplomatischer Dif-
ferenzierung führend), merkte kritisch an: „ D e r Gerichtshof n i m m t seine Rolle
a l s S c h u t z m a n n i n E u r o p a n i c h t w a h r . E r sagt n i c h t n e i n z u r U n i o n , w e n n sie i h r e
Kompetenzen überschreitet."900

Nicht zuletzt durch diese Kritik in seiner Selbstgewissheit erschüttert, urteilte


d e r E u G H a m 5 . O k t o b e r 2 0 0 0 erstmals, d a s s die G e m e i n s c h a f t jenseits ihrer
Ermächtigung agiert habe.901

897
M e m o r a n d u m des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom
23. Juli 1996. C O N F 3 8 8 3 / 9 6 . Anlage. Vgl. auch W. Hummer/W. Obwexer, Vom „Geset-
zesstaat zum Richterstaat" und wieder retour? Reflexionen über das britische M e m o r a n d u m
über der E u G H vom 23. 7. 1996 zur Frage der ..korrigierenden Kodifikation" von Richter-
recht des E u G H , in: E Z W (1997) 10, S. 2 9 5 ff.. 301 ff.
898
So etwa W. Schäuble, damal. Vorsitzender der C D U / C S U - B u n d e s t a g s f r a k t i o n , am
3. D e z e m b e r 1999 in der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel in
Helsinki (vgl. das Amtl. Protokoll des Tages).
899
Dazu etwa die Editorial Comments. Qiiis Custodiet the European Court of Justice?,
in: C o m m o n Market Law Review 30 (1993), S. 8 9 9 ff.
900
Interview in DIE Z E I T vom 22. Oktober 1998. ..In der Unterwelt der Ausschüsse",
S.9.
901
Vgl. Rs. C - 3 7 8 / 9 8 Deutschland v. Europäisches Parlament (2000). Urteil vom 5. Ok-
tober 2 0 0 0 über die RL 9 8 / 4 3 / E G (sog. Tabakwerbeverbot). Besondere A u f m e r k s a m k e i t
verdient die unter Rdnr. 83 ausgeführte Begründung: ..Diesen Artikel Ii. e. Art. 100a EGV]
dahin auszulegen, dass er d e m Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur
Regelung des Binnenmarktes gewähre, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genann-
ten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit d e m in Artikel 3b EG-Vertrag
niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der G e m e i n s c h a f t auf Einzelermächtigun-
gen b e r u h e n . " Das Gericht bezieht sich auf Art. 3b EG-Vertrag, um mit der begrenzten
Einzelermächtigung die Nichtzuständigkeit der G e m e i n s c h a f t festzustellen, als sei diese
erst mit diesem Artikel normiert worden. Dabei war diese seit j e h e r das vorwaltende
Organisationsprinzip der G e m e i n s c h a f t , vgl. auch BVerfGE 89. 155 (Maastricht-Entschei-
dung). Das war aber allem Anschein nach im Lauf der Jahre angesichts der Spruchpraxis
des E u G H unkenntlich geworden. Diese hatte in den Augen eines Beobachters nämlich
einen Zustand erreicht, dass „ { s p ä t e s t e n s mit Maastricht [ . . . ] die der Kompetenzstruktur
der G e m e i n s c h a f t schon bislang nicht gerecht werdende Postulierung eines ,Prinzips der
(begrenzten) Einzelermächtigung' der Vergangenheit a n g e h ö r e n " sollte (vgl. T. C. W. Bey-
er. Die E r m ä c h t i g u n g der Europäischen Union und ihrer G e m e i n s c h a f t e n , in: Der Staat
35 (1996). S. 189 ff.), obwohl diese Formel erst gerade in den Maastricht Vertrag aufge-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 311

Insgesamt bediente sich der EuGH zur Funktionssicherung der Gemeinschaft


einer Rechtsprechung, die homogenisierend auf die mitgliedstaatlichen Rechts-
ordnungen wirkte. Dabei ließ er Nützlichkeits- den Vorrang vor Legitimitätser-
wägungen. Nach Einschätzung des früheren Richters am EuGH, G. Hirsch, hatte
der EuGH in der Zwischenzeit „auf berechtigte Kritik an einzelnen Urteilen rea-
giert"* 12 und eine kooperativere Haltung eingenommen. Dass der Gleichklang
zwischen den Organen der Europäischen Union wegen des Mangels an harmoni-
sierten Regelungen verloren gehen könnte, erachtet der EuGH zunehmend als ein
politisches Problem, auf das er hinweist, das er aber nicht mehr korrigiert.

cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild einer offenen Gesellschaft

Die Europäische Union hat zwar mit dem EuGH eine eigene Jurisdiktion, in
den jeder Mitgliedstaat einen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den
nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollisi-
onsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat. ist jeder nationale Richter
auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man die Anzahl der nationalen Gesetze, die
inzwischen unmittelbar oder mittelbar auf Europarecht beruhen, wird deutlich,
dass nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden,
häufig indirekt und ohne zu wissen, dass etwa eine nationale Regelung, die sie
anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt. Der Richter ist also
zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur dem
nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der autonomen Rechtsordnung der
Europäischen Union.

Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung als Spiegelbild einer geschlossenen,


national homogenen Gesellschaft diskutiert werden kann, sind mithin vergangen.

In einem entsprechenden Entwicklungsprozess hat sich auch die Rolle der Rich-
ter in Europa gewandelt: die nationale Gerichtsbarkeit wurde „europäisiert" und
in ein Kooperationsverhältnis zum EuGH gestellt. Sollte die Rechtsprechung ein
Spiegelbild der Gesellschaft sein - und sie ist es zumindest teilweise 903 -, dann

n o m m e n worden war. Es war also nicht allgemein abzusehen, dass sich ein Wandel in
der Auffassung des E u G H abzeichnete, dass das Prinzip durch den Maastricht-Vertrag
gestärkt wurde (vgl. auch BVerfGE 89, 155 (181)). Denn der E u G H könnte mit seiner
B e g r ü n d u n g deutlich machen wollen, dass er die Vertragsänderung von Maastricht zum
Anlass n i m m t , dem impliziten Wunsch der Politik zu entsprechen und das Subsidiaritäts-
prinzip z u m neuen Maßstab seiner Rechtsprechung zu machen, um somit vom „Prinzip der
Funktionssicherung" abzurücken, das die Rechtsprechung in der Vergangenheit dominiert
hatte.
902
G. Hirsch. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration,
in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. NF 49 (2001), S. 79 ff.. 88.
903
Zur Frage, ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht: Sieht man
als Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von J.J. Rousseau
312 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

kann sich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine
vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfah-
rungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat zahlreiche Facetten bekommen,
unterschiedliche Rahmen zumal. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus
vielen Ländern und Regionen zwischen Sizilien und dem Nordkap, zwischen den
überseeischen Gebieten Frankreichs und Sofia.

e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen


Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung

Die Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit heutiger Prägung


und der unmittelbare Gegenstand verfassungsgerichtlicher Auslegung legen den
Schluss nahe. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung seien unauflöslich mit-
einander verbunden. Bedarf es also eines „Mindestmaßes" an Verfassung, um
überhaupt verfassungsgerichtlich tätig zu werden oder kann eine Verfassung auch
erst durch eine verfassungsgerichtliche Tätigkeit an einem Text oder Rechtsgebil-
de, das den Anforderungen an eine „Verfassung" noch nicht gerecht zu werden
vermag, erwachsen? In anderen Worten: Gibt es Verfassungsgerichtsbarkeit ohne
Verfassung oder ist letztere zwingende Voraussetzung für verfassungsgericht-
liches Tätigwerden? Das amerikanische Beispiel steht zweifellos für den Aus-
gangsfall: einer bestehenden Verfassung mit einer darin (erstmals) festgelegten
Verfassungsgerichtsbarkeit. Im europäischen Kontext darf festgestellt werde, das
ein „Verfassungsgericht" im weiteren Sinne (EuGH) zunächst „lediglich" einem
„Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) „diente" und erst künftig einem
Verfassungsvertrag unterworfen wäre. Zwangsläufige Parallelität zwischen Verfas-
sungsgericht und Verfassung ist demzufolge nicht zu konstatieren, gleichwohl ein
notwendiges Maß an gleichzeitig auftretenden „Kernelementen" einer Verfassung
und der Verfassungsgerichtsbarkeit.

(1762) ..Der Gesellschaftsvertrag" den Staat konstituiert, so ist das Gesetz Spiegel des
volonte general. Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän
zu effektuieren und d e m leblosen Buchstaben des Gesetzes W i r k u n g in der Fülle der
Lebenssachverhalte zu geben. Dies führt nicht ohne Auslegung und Rechtsforlbildung zum
Erfolg. In diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen
Sinne und durchbricht damit in legitimer Weise die Gewaltenteilung. Die Auslegung und
Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in d e m der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser
Leitstern kann nicht kurzschlüssig die „vox p o p u l i " sein. Nicht Populismus ist Sache der
Richter, sondern Realisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft, verfaßt etwa in
..Grundgesetzen", aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter
nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des
Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren. In diesem Sinne hat die
Rechtsprechung Spiegel d e r Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft, wie sie sein
soll, nicht unbedingt der Gesellschaft, w i e sie ist. vgl. im weiteren Sinne auch U. Haltern.
Verfassungsgerichtsbarkei. Demokratie und Misstrauen. 1998.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 313

f) Vergleichende Aspekte der


Verfassungsgerichtsbarkeit - Kongruenz der Aufgaben

Der G e d a n k e einer vergleichenden Lehre von der Verfassungsgerichtsbarkeit


fand bislang n u r recht z a g h a f t e A n n ä h e r u n g . 9 0 1

R e c h t s v e r g l e i c h e n d w i e r e c h t s g e s c h i c h t l i c h ist z w i s c h e n e i n e r f o r m e l l w i e i n -
s t i t u t i o n e l l e i g e n s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t , w i e sie d a s B u n d e s v e r f a s -
sungsgericht heute darstellt, und einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterschei-
den. die im R a h m e n der allgemeinen bzw. sonstigen Gerichtsbarkeiten angesiedelt
ist ( „ i m p l i z i t e V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t " ) . I n l e t z t e r e r H i n s i c h t ist b e i s p i e l s w e i s e
der Supreme Court der USA, aber auch etwa das Schweizerische Bundesgericht
zu nennen. Die deutsche Rechtsentwicklung tendierte dagegen schon früh zu einer
auch formell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, deren erste Wurzeln man
schon in der Rechtsprechung etwa des Reichskammergerichts entdecken kann.905

In einer komparativen Betrachtung lassen sich auch unterschiedliche Archety-


pen etablierter Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Einfiuss auf die Rechtspre-
c h u n g u n d S t r u k t u r d e s E u G H f e s t s t e l l e n . A u s g e p r ä g t ist d a b e i d e r W i d e r h a l l
französischer Gerichtsbarkeit.

904
Siehe aber P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen
Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundes-
verfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 312 ff.: H.J. Faller. Zur Entwicklung der nationalen
Verfassungsgerichte in Europa, in: E u G R Z 1986. S . 4 2 ff.; A. Weber. Verfassungsgerichte
in anderen Ländern, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im
Schnittpunkt von Recht und Politik. 1995. S. 61 ff.; M. Fromont, La justice constitutionnelle
dans le m o n d e . 1996.
905
Vgl. etwa U. Scheuner. Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im
19. und 20. Jahrhundert, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundge-
setz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1,
1976. S. I ff. Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849. die dem
damals vorgesehenen ..Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den
Organstreit, bundesstaatliche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im
Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsbarkeit auf
Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 1871 kannte Vergleichbares dagegen
nicht. Im Kaiserreich von 1871 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichts-
barkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet. Die Weimarer Verfassung von 1919 schuf
dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche
Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Ver-
fassungsgericht verkörperte der Weimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser
Schritt gelang erst mit d e m BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre
nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung bekannte sich der deutsche
Verfassungsgeber n u n m e h r zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für
die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (Staatsgerichtsbarkeit im engeren
Sinne), sondern auch und namentlich f ü r den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz des
Bürgers (Verfassungsbeschwerde) zuständig ist. Gerade deshalb ist das BVerfG verfassungs-
historisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von
1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins Werk gesetzt wurde.
314 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Anders als das Bundesverfassungsgericht Deutschlands, das durch seine in-


stitutionelle Verselbständigung gekennzeichnet ist, sind dem EuGH ähnlich wie
dem US-Supreme Court Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit neben anderen
Zuständigkeiten zugewiesen. Der EuGH und der Supreme Court der Vereinigten
Staaten sind damit Beispiele für die in die Gerichtsbarkeit eingeordnete Verfas-
sungsgerichtsbarkeit. 91)6

Während in der kontinentaleuropäischen Wissenschaft Arbeiten über die Stel-


lung der Verfassungsgerichtsbarkeit vielfach auf die Abgrenzung gegenüber dem
parlamentarischen Körperschaften und den jeweiligen Regierungen beschränkt
werden 91 " - eine Beobachtung, die sich hinsichtlich einer entsprechenden Einord-
nung des EuGH überwiegend bestätigt - geht der amerikanische Verfassungsdis-
kurs gänzlich andere Wege 908 , indem er nicht der Gefahr einer Überschätzung des
Politischen ausgesetzt ist. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der
anglo-amerikanischen Verfassungstradition der Staat als Gegenstand, ja Zentrum
gesellschaftstheoretischer Auseinandersetzung vorübergehend annähernd verloren
gegangen war. Heute zahlt sich dieser Umstand insoweit aus. als in der amerikani-
schen Verfassungswirklichkeit und Wahrnehmung derselben der Beitrag anderer
sozialer Systeme sowie die Rolle des Individuums einen vergleichbar höheren
Stellenwert einnehmen. 9 0 9

Freilich: Mit gutem Grund sind Einwände gegen eine allzu freimütige Über-
nahme von Erkenntnissen zur amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der
Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es sich doch augenscheinlich um zwei
Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick wesentlich vonein-

906
Siehe d a / u auch R. Wahl. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001.
S. 1041 ff., 1046.
907
Siehe etwa K. Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske
u . a . (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik - Festschrift für Martin Kriele, 1997.
S. 411 ff.: Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht C. Gusy, Parlamentarischer Gesetz-
geber und Bundesverfassungsgericht. 1985: R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesver-
fassungsgericht und politischer F ü h r u n g . 1994: dazu kritisch U.R. Haltern. Book Review
of Richard Häußler. Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer
Führung, in: 7 EJIL (1996), S. 137 f.
908
Siehe nur das richtungsweisende Werk von B. Ackennan, We T h e People 1: Founda-
tions, 1991: vgl. auch P. W. Kahn. Legitimacy and History: Self-Government in A m e r i c a n
Constitutional Theory. 1992.
1X19
So auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkeit. D e m o k r a t i e und Mißtrauen. 1997.
S. 112 f.. der mit Verweis auf die Gedanken von H. Willke („Systemtheorie III: Steuerungs-
theorie", 1995 sowie „Ironie des Staates - Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer
Gesellschaft", 1992), den Grund der differierenden kontinentaleuropäischen Gesellschafts-
theorie darin sieht, dass diese seit Machiavelli durch eine außerordentliche Staatszentriert-
heit geprägt sei. worin der Politik eine herausgehobene Rolle zukomme, was schließlich zur
Folge habe, dass es in dieser Tradition nicht leicht sei, die Rolle der Gesellschaft selbst zu
erblicken und auch zu sehen, dass diese selbst Formvorstellungen entwickelt und realisiert
habe.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 315

ander unterscheiden. Auf der einen Seite die amerikanische Methode, die in der
Regel die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall hervorhebt. Dieser steht die
kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen
eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Die vordergründigen Unterschiede sind
jedoch de facto nicht so erheblich. H. Schiwek stellt mit Blick auf die nationalen
Verfassungsordnungen hierzu richtig fest, „in beiden Fällen soll eine im einzelnen
sehr allgemein gehaltene Verfassung für einen langen Zeitraum als Fundament
der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen." 910
Diese Einschätzung gilt etwa für den Europäischen Verfassungsvertrag angesichts
seines Umfangs und der Detailtreue nur begrenzt, wobei der Anspruch der langen
Gültigkeit durchaus gegeben ist.

Eine weitere Parallele ist hervorzuheben: Die Rolle des EuGH bei der Wei-
terentwicklung des Gemeinschaftsrechts kommt in ihrer historischen Bedeutung
derjenigen des Supreme Courts sehr nahe. Auch ist ein Erfahrungsaustausch zwi-
schen EuGH und Supreme Court inzwischen zur guten Gewohnheit geworden und
stellt eine wichtige Ergänzung des transatlantischen Dialogs dar.'" :

In einer kursorischen Aufzählung und in Ergänzung zu den obigen Feststel-


lungen lassen sich auch bei den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit auf
beiden Seiten des Atlantiks (und auch auf EU-Ebene mit Ausnahme des „Volks-
Bezuges") durchaus einige Parallelen erkennen. So bei der

- Wahrung der Integrität der Verfassung und der politischen Existenz des Volkes
(C. Schmitt)
- Wahrung der Offenheit und Verfahrensgerechtigkeit des politischen Prozesses
(J.H.Ely)
- Aufrechterhaltung des diskursiven Prozesses von demokratischer Selbstherr-
schaft und Herrschaft des Gesetzes sowie in der
- Anerkennung der Personen als Freie und Gleiche und in der Währung der
Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Kommunikation (F. Michelman)

910
Vgl. H. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht: dargestellt am Beispiel der
Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerika-
nische Rcchtstheorie. 2000. S. 23.
411
Gelegentlich rekurriert der S u p r e m e Court vergleichend auf g e m e i n s a m e anglo-
amerikanische Rechtstraditionen, vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen P. Häberle, Euro-
päische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 7 4 Fn. 677: allgemeine rechtsvergleichende
Hinweise, mit denen der Supreme Court außerordentlich zurückhaltend arbeitet, finden sich
ebenda sowie bei M. Tushnet, T h e Possibilities of Comparative Constitutional Law, in: Yale
Law Journal. 108 (1999). S. I 2 2 5 f f , 1230 ff.; siehe auch W.H. Rehnquist, Verfassungsge-
richte - vergleichende Bemerkungen, in: P. K i r c h h o f / D . P . K o m m e r s (Hrsg.), Deutschland
und sein Grundgesetz. 1993, S . 4 5 4 . Kritisch gegenüber der ..Einbahnstraßenpraxis" des
S u p r e m e C o u r t s M.A. Glendon, Rights Talk. T h e Impoverishment of Political Discourse.
1 9 9 1 . S . 151.
316 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

- Ermöglichung „deliberativer Politik" (J. Habermas?12


- Bezugnahme auf einen „Reparaturmechanismus einer deliberativen Verfas-
sungspraxis" (O. Gerstenberg)91*

Gerichte als Hüter der Verfassung sind darüber hinaus Ausdruck sinnvoller Ar-
beitsteilung unter den Organen eines Staates wie der Supranationalen Union. Wie
bereits erwähnt darf Verfassungsgerichtsbarkeit dabei helfen. Verfassungsstabilität
zu sichern'' 1 4 . Sie soll aber auch unterschiedliche Wege zur Verfassungsentwick-
lung 915 ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.

Eine solche Verteilung der Funktionen folgt klaren Prinzipien, da sie d e m


Gewaltenteilungsprinzip als einem organisatorischen Grundprinzip des modernen
freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsstaates wie einer
Supranationalen Union, die diesen Maximen verpflichtet ist, entspricht. 9 1 6

Fragt man nach der Rechtfertigung für den verfassungsgerichtlich gepräg-


ten Verfassungsstaat, so ist sie - nach weitgehend „transatlantischem Verständ-
nis" - darin zu sehen, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller
(„Über"-)Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur
staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und
Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt
gelegt wird, d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution
und nicht eines genuin politischen Organs.

Es darf außer Zweifel stehen, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit
vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte letztlich der neuralgische
Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies

912
Vgl.J. Habermas. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und
des demokratischen Rechtsstaats. 1992. S. 345 und den Hinweis auf eine Rekonstruktion
der „verschiedenartigen Argumente, die in den Rechtsetzungsprozess eingegangen sind und
den Legitimationsansprüchen des geltenden Rechts eine rationale G r u n d l a g e verschafft
haben. In juristischen Diskursen k o m m e n neben den rechtsimmanenten Gründen auch
moralische und ethische, empirische und pragmatische Gründe zum Zuge".
9,3
Vgl. O. Gerstenberg. Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer
pluralistischen Verfassungstheorie, 1997. S. 107: „ D a s Gericht stellt [ . . . 1 in Form von Ver-
fahrensordnungen eine Diskussionstruktur bereit, die die Parteien objektiv zu Teilnehmern
eines deliberativen Verfahrens macht. Materiale Konfliktlösungen werden in d e m M a ß e
möglich, wie es d e m Gericht gelingt, im M o d u s der Verfassungsauslegung den Hinter-
grund eines übergreifenden demokratischen Konsenses als gemeinsamen substanziellen
Referenzpunkt zu rekonstruieren, der es den Parteien erlaubt, den Konflikt in eigener Regie
zu lösen".
914
IV. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen
aus deutsch- amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. ST3I9 ff.
915
B.-O. Bryde. Verfassungsentwicklung. 1982. S. 162 ff.
916
Vgl. nur die Grundsatzreferate von K. Korinek/J. P. Müller/K. Schiaich zur Verfas-
sungsgerichtsbarkeit in: V V D S t R L Heft 39 (1981), S. 7 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 317

belegt die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit der


Supreme Court-Entscheidung Marbury vs. Madison (1803) über den Kampf um
das richterliche Prüfungsrecht in Deutschland, der nicht erst mit der Reichsge-
richtsentscheidung vom 4. November 1925917 begann, sondern weit in das 19. Jahr-
hundert hineinreicht 918 , bis zur fest etablierten Normenkontrolle bei zahlreichen
Verfassungsgerichten in der Gegenwart. Dieser Entwicklungsprozess kann hier
nicht nachgezeichnet werden. Nur soviel sei betont: Seit die Verfassungsgerichte
Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen dürfen und müssen, gibt es
keinen Parlamentsabsolutismus mehr. Der Gesetzgeber hat vielmehr größte Auf-
merksamkeit auf die Beachtung der Verfassungsmäßigkeit seines Handelns zu
legen. 919

3. Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates


(USA) und einer Verfassungsgemeinschaft 920 (Europäische Union)

Obgleich die beiden Verfassungsdebatten mittlerweile mehr als 215 Jahre


trennen, fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die meisten wichtigen Fragen
nicht völlig neu sind, sondern sich im Laufe der Geschichte wiederholt gestellt
haben. Die Vereinigten Staaten fanden sich in der frühesten Phase ihrer Geschichte
vielen Problemstellungen bezüglich Verfassungstheorie und -praxis gegenüber,
die Parallelen mit der heutigen Diskussion über die Zukunft der Europäischen
Union aufweisen.

Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Konvent von Philadelphia und


dem europäischen Verfassungskonvent ist in der Unzufriedenheit mit der jeweili-
gen Ausgangslage zu sehen: die Unzulänglichkeit der Konföderationsartikel von
1776 dort, die mangelnde Tragfähigkeit der im Vertrag von Nizza im Dezember
2000 erzielten Kompromisse hier.

Der geschilderte Unmut widerspiegelte sich in manchen ungelösten Fragen-


komplexen. die einige interessante, zeitlich ungebundene transatlantische Paralle-
len - wenigstens in der Ausgangskonstellation - aufzuweisen vermögen 921 :

917
RGZ 111,320.
918
Zur Geschichte G. Mever-Anschütz. Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufage
1919. S. 7 3 6 ff.
919
Dies ist ihm in Deutschland durch Art. 20 Abs. 3 GG generell und durch Art. 1 Abs. 3
GG nochmals besonders für die Grundrechte aufgegeben.
920
Z u m Begriff vgl. nur P Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 645.
921
Ähnlich auch G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus d e m
Blickwinkel der U S A , Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002,
abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die
europäische Verfassung im globalen Kontext. 2004, S . 4 1 ff.. 45 f.
318 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Wie soll etwa die faire Repräsentation gewährleistet werden? Kann eine Balance
in der Vertretung der großen und kleinen Staaten geschaffen werden? Wie soll die
Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen ausgestaltet
werden? Wieviel Macht sollte der bundesstaatlichen Verwaltung Ubertragen wer-
den und welche Befugnisse soll die Europäische Union heute haben? Was kann die
Wertgrundlage für eine politische Einheit sein? Wie wichtig ist „Identität"? Gibt
es ein europäisches Pendant zu „life. liberty and the pursuit of happiness"? Es kann
im Rahmen dieser Untersuchung nicht auf alle Elemente eingegangen werden, die
zu Recht als tragende Säulen eines Verfassungsstaates bzw. einer Verfassungsge-
meinschaft gelten mögen. Die folgende Auswahl soll deutliche Unterschiede und
klare Gemeinsamkeiten benennen, paradigmatisch wie impulsgebend wirken und
demzufolge der Wissenschaft Raum für Ergänzungen eröffnen. 9 2 2

a) Konzeptionen der Repräsentation - die


Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten

Einer der umstrittensten Punkte sowohl bei den Beratungen über die ameri-
kanische Verfassung wie auch während und nach „Nizza" war die Frage nach
der Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten in den jeweiligen Organen auf
Unionsebene. Wie bereits dargestellt wird die amerikanische Lösung noch heute
nicht ohne Pathos der „Great Compromise" 9 2 3 genannt und bedeutet eine „aurea
mediocritas" zwischen gleicher Repräsentation kleiner und großer Staaten - wie
im „New Jersey Plan" gefordert - und der rein proportionalen Repräsentation
der Staaten abhängig von der Bevölkerung - wie es der „Virginia-Plan" vorsah.
Durch die gleich starke Vertretung aller Staaten im Senat und die Wahl der Se-
natoren durch die Legislativen der Einzel Staaten 924 konnte die Zustimmung der
bevölkerungsärmeren Einzelstaaten zur neuen Verfassung gesichert werden.

b) Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten

aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus

Der Föderalismus wird in der US-Verfassung nur indirekt genannt. Das über-
rascht zunächst angesichts der herausragenden Bedeutung der Beziehung zwischen

922
So etwa f ü r einen gebotenen, aber angesichts der notwendigen Einbeziehung ein-
zelstaatlicher E l e m e n t e hier zu weitgehenden Vergleich zwischen ..europäischer Rechts-
staatlichkeit" und der (in zahlreichen Ziel- und Ausgangspunkten unterschiedlich entwi-
ckelten) ..Rule of L a w " (vgl. auch P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 395 ff.).
923 j ^ , . p r a g e > inwieweit Kompromissfähigkeit die amerikanische Verfassungswirklich-
keit beeinflusst, wird unter B.1.9 nachgegangen.
924
Die Wahl der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente wurde erst im Jahre
1913 mit dem 17. Verfassungsamendment durch allgemeine direkte Wahlen abgelöst.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 319

dem Bund und den Staaten. Die amerikanischen Verfassungsväter dürfen als
Erfinder bundesstaatlicher Ordnung heutiger Prägung gelten. Bereits im Unabhän-
gigkeitskrieg war die Bereitschaft der Einzelstaaten eher gering, der Union die
notwendigen Mittel und Kompetenzen zu überlassen, um notwendige politische
Entscheidungen fällen zu können. Nach dem Friedensschluß schwand sie gänzlich
dahin. Jeder Gedanke an eine unitarisch-zentralistische Lösung sollte sich schon
deshalb als allzu endlich erweisen, dachte doch keine der 13 ehemaligen Kolonien
ernstlich daran, die jüngst erkämpfte Souveränität wieder preiszugeben.

In kontroversen Diskussionen und hart umkämpften Kompromissen entstand


auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia ein neuer zukunftsweisender Föde-
ralismus, den die Verfassung so umriß:

- Die Einzelstaaten sollten sich wenigstens partiell zur „vollkommeneren Union"


(more perfect union) integrieren, das heißt, der Zentralgewalt eine Anzahl genau
festgelegter Aufgaben und Kompetenzen zuerkennen,
- alle weiteren Befugnisse und Funktionen würden pauschal bei den Ländern
verbleiben,
- die unmittelbare Ausübung staatlicher Gewalt auf beiden Ebenen sollte durch
voneinander unabhängige, jeweils in sich durchorganisierte exekutive, legislati-
ve und judikative Instanzen gesichert werden,
- der Vorrang der Bundes- vor der Einzelstaatshoheit war innerhalb der definierten
Zuständigkeiten - Verteidigung. Regelung des Binnen- und Außenhandels - zu
gewährleisten. 926
Alles in allem ist der endgültige Verfassungsentwurf des Konvents von Phil-
adelphia von Kompromissen geprägt, die für die Vereinigten Staaten eine neue
Form der politischen Organisation vorsahen: weder eine nationale, noch eine
staatenbündische Verfassung war geschaffen worden, sondern eine Verbindung
beider Formen. Die Verfassungsväter erkannten darin vor allem die Möglich-
keit, die staatliche Gewalt zu verteilen, um somit einer willkürlichen Herrschaft
entgegenzutreten.

Wegweisend war die verfassungsrechtliche Neuheit einer doppelten Souverä-


nität, welcher der Staatsbürger unterstellt wurde - der des Einzelstaates, in dem

Z u m organisatorischen Grundmodell ausführlich J. Annaheim. Die Gliedstaaten im


amerikanischen Bundesstaat. 1992. Siehe auch T. Lundmark, Die Bedeutung der Gliedstaa-
ten im amerikanischen Verfassungssystem, in: D Ö V 1992. S. 4 1 7 ff.
926
Die Federalist Papers lieferten die ideologische Begründung für das neue politische
System: nicht bloß sollte es den Erhalt der frisch errungenen nationalen Einheit nach
innen und außen sichern: vielmehr w ü r d e d e r Föderalismus eine wichtige Rolle bei d e m
Bemühen spielen, das Prinzip der ..checks and balances" zu verwirklichen. Eine Verfassung,
so J. Madison (siehe insbesondere die Artikel 18 ff. sowie 41 ff.), welche die Ausübung
öffentlicher Gewalt z w i s c h e n Bund und Einzelstaaten teile, banne die G e f a h r staatlicher
Allmacht, sichere die Vielgestaltigkeit des politischen und gesellschaftlichen L e b e n s in
den USA.
320 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

er lebte und zugleich der Souveränität des Bundes. 927 Die Kompetenzverteilung
zwischen Bund und Einzelstaaten wurde durch die Verfassung geregelt. Artikel I
§ 8 nennt die Zuständigkeitsbereiche des Bundeskongresses: Regelung der inneren
und äußeren Wirtschaftsbeziehungen (auch interstate commerce), Schaffung und
Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherstellung der Lan-
desverteidigung. Artikel III sieht ein Oberstes Bundesgericht vor und Artikel VI
bestimmt, dass die Verfassung und die auf sie folgenden Gesetze oberstes Gesetz
des Landes sind (supremacy clause). Bei den Staaten verblieb eine umfangreiche
police power: das Recht, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln.

Die föderative Ordnung der Verfassung dient allerdings nicht allein der verti-
kalen Gewaltenteilung, dem System der checks and balances, sondern sie ist ein
Ausdruck des pluralistischen Verständnisses der Federalists. Für sie war gerade
die „Großstaatlichkeit" eine wichtige Voraussetzung für den Schutz von Minder-
heiten und dem Recht Einzelner: So war die in einem großen Staat auftretende
Interessenvielfalt in Verbindung mit dem Repräsentativsystem eine Gewähr gegen
die Gefahren des Mehrheitsprinzips. Minderheiten sollten in einem Staat so stark
sein, dass sie nicht überhört werden konnten.

Auch aus solchen Überlegungen resultiert die in den USA hoch geschätzte
Individualität und kulturelle Identität der Einzelstaaten: Die Romantik der Schaf-
fung einer „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" - wie in der Bundesrepublik
Deutschland - spielt auch deswegen in den Vereinigten Staaten von Amerika keine
Rolle. Festzuhalten ist, dass die Verfassung die bundesstaatliche Struktur'' 2 * nicht

92
Dass im Grundsatz der „zweifachen Souveränität" freilich auch Konflikte zwischen
Bund und Staaten vorprogrammiert waren, hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts dras-
tisch verdeutlicht: Die Südstaaten rechtfertigten ihre Sezession mit dem Hinweis, die Union
habe die Souveränität der Einzelstaaten keinesfalls beseitigt und eben jetzt, im Jahre 1860/
61. demonstrierten die ..Konföderierten" ihre Unabhängigkeit im Akte der Trennung vom
bisherigen Staatsverband. Mit d e m Sieg des Nordens wurde künftigen Sezessionsbestre-
bungen ein Riegel vorgeschoben. Seither gilt der durch eine Entscheidung des S u p r e m e
Court aus dem Jahre 1869 ausdrücklich bestätigte Grundsatz, dass kein Einzelstaat das
Recht hat. aus der Union auszutreten.
928
Wird auch das politische System der USA als „ B u n d e s s t a a t " bezeichnet, beanspru-
chen doch die amerikanischen Einzelstaaten ein höheres M a ß an Eigenständigkeit, also eine
umfassendere Kompetenzfülle als etwa die Länder der Bundesrepublik Deutschland (auch
nach einer ..Föderalismusreform" im Jahre 2006). Der Begriff „Bundesstaat" beschreibt ein
politisches System, in dem Gesamtstaat und Gliedstaaten einander in der Weise zugeordnet
sind, dass sie z u m einen als eigenständige Entscheidungszentren wirken, z u m andern sich
wechselseitig beeinflussen, um das ..Gesamtinteresse" eines Volkes zu befördern. In der
Praxis ist diese Zuordnung vielfältig zu verwirklichen, kann das Schwergewicht der Macht
stärker beim Bund o d e r den Ländern angesiedelt sein. So beanspruchen die Einzelstaa-
ten der U S A ein höheres M a ß an Eigenständigkeit, eine umfassendere Kompetenzfülle
als die deutschen Länder unter dem Bonner Grundgesetz, weshalb die Übertragung der
Begrifflichkeit „ L a n d " auf amerikanische Verhältnisse nur mit einigem Vorbehalt möglich
ist.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 321

explizit beschreibt. Sie ergibt sich eher indirekt aus den oben erwähnten schrift-
lich niedergelegten Grundprinzipien, die bis heute keiner Änderung unterworfen
wurden. 9 2 9

(1) Charakter eines Bundesstaates

Den bundesstaatlichen Charakter des amerikanischen Gemeinwesens veran-


schaulichen auch der Name und die Flagge der USA. Verfassungswirklichkeit,
die sich in kulturellen Errungenschaften, in Bildern und Sprache niederschlägt.
Fünfzig Gliedstaaten mit jeweils eigenen Verfassungen und der das Gebiet der
Bundeshauptstadt Washington umgreifende District of Columbia bilden derzeit
den amerikanischen Bundesstaat. Fünfzig Verfassungen kanalisieren den Herr-
schaftsprozess in diesen Staaten, darunter die freilich vielfach ergänzte von Massa-
chusetts aus dem Jahre 1780. Sie bekennen sich durchweg zu den „amerikanischen"
Grundüberzeugungen des „limited government", der Volkssouveränität und indi-
vidueller Bürger- bzw. Menschenrechte, was aber die bunte Vielfalt der jeweiligen
Institutionenordnungen und Rechtsgestaltungen nicht ausschließt.

Zusätzlich erhält die amerikanische Verfassung ihren föderalen Charakter durch


das Wahlverfahren der nationalen Ämter, das die Repräsentation der Einzelstaaten
auf nationaler Ebene gewährleistet und ihnen hinsichtlich des Verfahrens eine
fundamentale Autonomie überlässt. 930

Der Modus für die Präsidentschafts wählen enthält ebenfalls föderale Elemente,
„indem erstens jeder Staat so viele Elektorenstimmen erhält wie er Mitglieder im
Kongress hat und zweitens", wenn ein Präsidentschaftskandidat nicht die absolute
Mehrheit der Wahlmännerstimmen erhält, fällt die Entscheidung in die Zuständig-
keit des Repräsentantenhauses, wo eine Abstimmung in einzelstaatlichen Blöcken
zu erfolgen hat. Mit diesem Wahlsystem versuchten die Verfassungsväter die
Repräsentation und den Einfiuss der Gliedstaaten zu sichern.

929
Allerdings hat sich mit der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court das
Verhältnis von Bund und Einzelstaaten an die jeweiligen Gegebenheiten ü b e r die Jahre
angepasst. vgl. bereits unter B . I . 7 und B.IV.2.b).
930
Die Repräsentation der Gliedstaaten ist durch die Vertretungsschlüssel für die beiden
gesetzgebenden K a m m e r n festgelegt: Im Senat hat j e d e r Gliedstaat das gleiche Gewicht,
d. h. unabhängig von der Einwohnerzahl ist dort j e d e r Staat mit zwei Senatoren vertreten.
Diese insgesamt 100 Senatoren werden seit 1913 nach dem relativen Mehrheitswahlsystem
direkt von der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Im Gegensatz dazu werden die Ab-
geordneten des Repräsentantenhauses zwar auch in Form der Direktwahl, aber abhängig von
dem Bevölkerungsanteil j e d e s Einzelstaates gewählt. Dabei ist j e d e r Bundesstaat in so viele
Wahlkreise unterteilt, wie er g e m ä ß seiner Bevölkerungszahl Abgeordnete in das Repräsen-
tantenhaus entsenden darf. Die beiden K a m m e r n des Kongresses, der die gesetzgebende
Gewalt im politischen System der Vereinigten Staaten verkörpert, sind verfassungsrechtlich
gleichberechtigt und ..demokratisch" strukturiert, d. h. die Vertreter sind in den jeweiligen
Häusern gleichberechtigt und zu gleichen Teilen am Gesetzgebungsprozess beteiligt.
322 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im Gegensatz zu dem streng repräsentativen Charakter der Bundesverfassung


kennen 24 Staaten eine Form der Volksinitiative, und mit Ausnahme Alabamas
haben alle Staaten die Möglichkeit von Referenden in ihrer Verfassung verankert.

(2) Funktionsweise des US-Föderalismus

Durch die genaue Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaa-
ten sahen die Verfassungsväter die Funktionsweise des Föderalismus gesichert.
Die Zuständigkeiten des Bundes sind, wie schon erwähnt, in Artikel I § 8 katalog-
artig aufgelistet. 931 Zudem hält das 10. Amendment ausdrücklich fest, dass alle
Zuständigkeiten, welche die Verfassung nicht an den Bund delegiert, bei den Ein-
zelstaaten oder den Bürgern verbleiben sollten. Somit hatten die Gliedstaaten zwar
eine „unbestrittene Domäne eigener Zuständigkeiten", doch war die Reichweite
der Bundeskompetenzen nicht eindeutig. 932

Aufgrund dieser Ambiguitäten fiel dem US-Supreme Court bis heute die Auf-
gabe zu. Streitigkeiten über die Aufgaben des Bundes zu schlichten. Aufgrund
der vielfach veränderten Rechtsprechung des Supreme Courts im Laufe der Ge-
schichte Amerikas und vor allem in Folge des „New Deals", entwickelte sich, der
noch im 19. Jahrhundert maßgebend gebliebene duale Föderalismus, der die Re-
gelung der meisten inneren Angelegenheiten unter der „police power", die fast alle
sozial- und wirtschaftspolitischen Bereiche umfaßte, den Einzelstaaten überließ,
zu einem kooperativen Föderalismus, der ein neues Verhältnis beider Ebenen zu
e i n a n d e r - d i e Einzelstaaten hatten lediglich die administrative Verantwortung für
die Ausführung nationaler Politik - umschreibt.

Der kooperative Föderalismus setzt auf Koordination und Zusammenarbeit


statt auf strikte Trennung und Rivalität. Schwächen der Leistungsfähigkeit von
Einzelstaaten und Kommunen im Zeitalter des Sozialstaates haben diese Entwick-
lung stärker befördert als das Machtstreben des Bundesstaates in Washington.
Ohne finanzielle Bundeszuschüsse („grants in aid") können heute die Einzelstaa-
ten und Kommunen weder das ihrer Souveränität unterstehende Wohlfahrts- und
Gesundheitswesen, noch das breite Feld von Erziehung und Ausbildung sinnvoll
bewältigen (Analogien etwa zum deutschen System sind unübersehbar). Damit

931
Sie umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche: Erhebung von Steuern. Zöllen und
Abgaben zur Erhaltung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung sowie für
das Allgemeinwohl: Regulierung des Außenhandels sowie des Handels zwischen den Staa-
ten: S c h a f f u n g eines einheitlichen Einbürgerungs- und Konkursrechtes: das Militärwesen.
932
So standen den verfassungsrechtlich eng formulierten Kompetenzzuweisungen nach
Politikfeldern unteranderem die general welfare clause (Präambel und Art. 1 § 8) und
die necessarx and proper clause (Art. I §8 par 18) die den Bund bemächtigte ..alle
zur A u s ü b u n g der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung
der Vereinigten Staaten, einem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf G r u n d
dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen",
entgegen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 323

aber haben Rahmenvorschriften des Bundes zur Vereinheitlichung der einzelstaat-


lichen Gesetzgebung, Aufsichtsrechte der Bundesbehörden über die Verwendung
der Subventionen, Amts-, Personal-, Sach- und Informationshilfen zwischen Ver-
waltungsorganen der verschiedenen Ebenen Eingang in die verfassungspolitische
Wirklichkeit der USA gefunden. 9 3 3

(3) Inkurs: Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebene


Nach wie vor spielen die Einzelstaaten eine gewichtige Rolle im politischen
Prozess Amerikas. 9 3 4 Die genannten Deregulierungen haben ihren Entscheidungs-
spielraum erweitert; sie haben sich darüber hinaus durch Steuererhöhungen neue
Mittel verschafft, um eigenständige Politik betreiben zu können. Antiquierte Ver-
fassungen sind in vielen Staaten ergänzt oder ersetzt worden, um die Institutionen
und politischen Verfahrensweisen zu modernisieren und zu verbessern. Ihre Au-
tonomie und politische Individualität gelten als feste Bestandteile der politischen
Kultur des Landes. Und wo das „vertikale Gewaltenteilungsprinzip", die strikte
Trennung also der Kompetenzen des Bundesstaates und der Einzelstaaten, im
Zeichen der Kooperation an Bedeutung verliert, gewinnt die Mitwirkung am
Entscheidungsprozess der Bundesgewalt durch die Einzelstaaten zusätzliches Ge-
wicht. Ihr kommt die oben beschriebene Art der Willensbildung im US-Kongress
ebenso entgegen wie die spezifische Zuordnung von Exekutive und Legislative
oder die dezentralisierte Struktur des amerikanischen Parteiwesens.

Letztlich kanalisieren fünfzig Verfassungen, die den Grundprinzipien der checks


and balances und der Separation of powers Theorien folgen, den politischen
Machtprozess der Gliedstaaten. Man kann grundsätzlich von einem Abbild der
Bundesinstitutionen auf der einzelstaatlichen Ebene sprechen, was aber eine
gewisse Variantenvielfalt im Detail der Rechtsgestaltung und Institutionenordnung
nicht ausschließt.

An der Spitze der Staatsexekutiven stehen Governors, die von der jeweiligen
Staatsbevölkerung auf zwei bis vier Jahre direkt gewählt werden. Ihre Befugnisse

933
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterte die Reagan-Ad-
ministration im Zeichen des „new federalism" noch mit d e m ideologischen Ziel, die
Abhängigkeit der Einzelstaaten von Washington zu verringern. Als die Republikaner in
den Zwischenwahlen von 1994 erneut die Kontrolle über den Kongress erlangt hatten,
setzen sie die Reagan-Politik der Ü b e r t r a g u n g von Bundeszuständigkeiten (vor allem im
Wohlfahrts- und Gesundheitsbereich) auf die Einzelstaaten fort. Mit dem Hinweis, man
müsse das Washingtoner ..big g o v e r n m e n t " reduzieren und S o z i a l p r o g r a m m e näher bei
den Adressaten ansiedeln, planten sie den Einzelstaaten umfangreiche Garantien einzuräu-
men. die ihnen bei der D u r c h f ü h r u n g neu übertragener Aufgaben einen relativ großen
Verwendungsspielraum zubilligen. In der deutschen Debatte über eine Verankerung des
Konnexitätsprinzips auf Bundesebene im Rahmen der „Föderalismusreform" sind durchaus
Parallelen zu sehen.
934
Vgl. auch F. Greß. Wiedererstarken der Einzelstaaten, in: Das Parlament vom 10. Sep-
tember 1993.
324 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

spiegeln im verkleinerten Maße die des Präsidenten wider. 935 Sie verfügen in
den Einzelstaaten wie der Präsident auf der Bundesebene über das suspensive
Vetorecht. Mit dem jeweiligen Stellvertreter, der den Vorsitz im Senat des Staats-
kongresses führt, und einigen leitenden Beamten ist in gewissem Umfang die
Regierungsgewalt zu teilen.

Sowohl der Bund als auch die Staaten verfügen über ein eigenes Verwaltungssys-
tem. Mit der offiziellen Zustimmung des Supreme Courts hat sich heute eine Art
„Mischverwaltung", ein personelles Zusammenwirken als förmliche Beauftragung
der Bediensteten einer Ebene durch die andere Ebene, herausgebildet. So betraut
der Bund Fachkräfte der Einzelstaaten oder Gemeinden mit der Durchführung
bundesgesetzlich vorgeschriebener Inspektionen.

Vom Sonderfall Nebraska abgesehen, sind die Legislativen der Staaten wie
auf nationaler Ebene durchweg als Zweikammersysteme organisiert, mit Reprä-
sentantenhaus und Senat. Verfassungsvorschriften beschränken die Dauer der
Sitzungsperioden in drastischer Weise. Das Mandat der Abgeordneten ist in der
Regel auf zwei Jahre beschränkt. Bei der Amtsdauer der Senatoren liegt die Gren-
ze in zwölf Staaten bei zwei und in den restlichen 38 Staaten bei vier Jahren. In
der Regel sind sie vom Volkssouverän gewählt. Bis in die sechziger Jahre waren
die Möglichkeiten der Staatsparlamente, eine kontinuierliche Politik zu betreiben,
stark beschränkt, da lediglich alle zwei Jahre Sitzungen stattfanden. Trotz der Par-
lamentsreformen, die das politische Gewicht der Legislative stärkten, leiden sie
genau wie der Bundeskongress an derselben Fragmentierung - der Aufsplittung
in verschiedene, relativ autonome Ausschüsse und Unterausschüsse.

Insgesamt ist der „amerikanische Bürger" eingebettet in eine ausgeprägte ge-


sellschaftliche Dimension des Föderalismus und Lokalismus, die im Laufe der
weiteren Entwicklung durch die flächenmäßige Ausdehnung und den hohen Grad
an gesellschaftlicher Segmentierung und politischer Fragmentierung verstärkt
wurde. Bis heute ist die politische Kultur der USA geprägt durch regionale und
einzelstaatliche Besonderheiten, die trotz aller vereinheitlichenden Tendenzen das
amerikanische kulturelle, wirtschaftliche und politische Mosaik auszeichnen.

bb) Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte 936

Eine ähnliche Situation lag auch zugrunde, als die Bundesrepublik Deutschland
nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Verschiedene Modelle wa-

935
Als Leiter der Exekutive unterliegen ihnen folgende Aufgabenfelder: der Vollzug der
Gesetze: das K o m m a n d o über die Nationalgarde: die E r n e n n u n g der Beamten des Landes
(wobei dies in manchen Ländern der Bestätigung durch den Staatssenat bedarf), und sie
stehen der Staatsverwaltung vor.
936
U m f a s s e n d mit föderalen Strukturen für die Europäische Union befassen sich bei-
spielsweise A. von Bogdandy. Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 325

ren für den deutschen Staat angedacht worden; am Schluss erschien ein föderales
Gebilde für die westlichen Alliierten und die Deutschen am vertrauenswürdigs-
ten. Allerdings mochten die Verfassungsväter des Grundgesetzes (GG) sich in
Herrenchiemsee nicht auf einen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild
verständigen. Das GG hat damit den Föderalismus europäischen Typs bereits
ziemlich klar vorbereitet: Institutionelle Verflechtungen gemäß dem Grundsatz
von Macht- und Einflussteilung anstelle der US-amerikanischen -trennung. 937

In der Theoriegeschichte des Föderalismus ist eine reiche Vielfalt von Varianten
entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass man sich in der
Frage, welchen Grad der Föderalisierung die Europäische Union bereits erreicht
hat, nicht einig ist. Während einige Beobachter bereits eine entwickelte Form des
Föderalismus attestieren 938 , sehen andere ihn erst auf dem Weg zur Föderation 939 .
Die Zurückhaltung, die im Umgang mit dem Föderalismusbegriff zu beobachten
ist. mag zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich während
des 19. Jahrhunderts eine Verengung auf die Form der Bundesstaatlichkeit voll-
zogen hat. Wer sich dieser Begriffstradition verpflichtet fühlt, wird sich jedenfalls
dann, wenn die damit einhergehenden Folgerungen (insbesondere: Souveränität
des Bundes) nicht gezogen werden sollen, im Umgang mit dem Föderalismus-
begriff Zurückhaltung a u f e r l e g e n . Z w i n g e n d ist diese Verengung aber nicht;
sie ist lediglich eine - wenn auch in den letzten zweihundert Jahren besonders

neuen Herrschaftsform. 1999: P.M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht,


in: V V D S t R L 60 (2001), S. 194 ff.. 240.
937
Der deutsche Bundesrat wird von den Landesregierungen bestückt und zwingt die
Länder damit zur Z u s a m m e n a r b e i t und zur Z u s t i m m u n g bei bundesstaatlichen Aufgaben
(..kooperativer Föderalismus"). Der ..unitarische Bundesstaat" (K. Hesse, vgl. ders., Der
unitarische Bundesstaat. 1962) unterscheidet nach Kompetenzarten: er hat es aber dennoch
geschafft, das Paradoxon der sogenannten „ G e m e i n s c h a f t s a u f g a b e n " in die Verfassung
zu integrieren. Allerdings befanden sich auch die deutschen Länder in der ..Stunde Null"
auf einer g e m e i n s a m e n Ausgangsbasis, wodurch eine einheitliche Einteilung der Länder
in der Verfassung erleichtert wurde. Insofern war die Einteilung der Stimmrechte pro
Bundesstaat und die Einordnung der Staatsaufgaben in Bundes- und Landeskompetenzen
nur in der Sache umstritten. Vgl. auch H. BiÜcklP. Lerche. Föderalismus als nationales und
internationales Ordnungsprinzip, in: V V D S t R L 21 (1964). S. I ff.. 83. Z u m Bundesstaat als
Rechtsbegriff siehe bereits H. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff. 1928: vgl. auch
jVf. Usreri. Theorie des Bundesstaates, 1964 sowie U. Scheuner. Struktur und A u f g a b e
des Bundesstaates in der Gegenwart, in: D Ö V 1962, S . 6 4 1 ff. Zu einer „gemischten"
Bundesstaatstheorie bereits P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 4 2 8
m. w. N.
938
Vgl. etwa M. Cappelletri/M. Seccombe/J.H.H. Weiler. General Introduction. in:
dies. (Hrsg.), Integration through Law, Vol 1. Book 1 S . 4 ; K. Heckel. Der Föderalismus
als Prinzip überstaatlicher G e m e i n s c h a f t b i l d u n g . 1998: W.Hertel. Supranationalität als
Verfassungsprinzip. 1999:/\. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit
und Idee einer neuen Herrschaftsform. 1999.
939
So etwa J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität
der europäischen Integration. 23 integration 2000. S. 149.
326 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wichtige - Form des Föderalismus. Wagt man einen Blick auf die ideengeschicht-
lichen Wurzeln des Föderalismus, so geht es nicht um Souveränität, sondern um
Einheitssicherung und Vielfaltgewähr, um das freie und selbstbestimmte Zusam-
menwirken verschiedener, vertikal gestufter Verbände. Im Lichte eines solchen
Föderalismusbegriffs lassen sich gegen die Bezeichnung der Europäischen Union
als Föderation kaum Einwände erheben. Föderalismus ist damit ein politisches
Ordnungsprinzip, das darauf abzielt, die Existenz und Selbstständigkeit einer
Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in ein
höheres Ganzes zu verbinden.

Die europäische Einigungsbewegung und die damit entstandene Regionalpo-


litik der Europäischen Gemeinschaften hat durchaus mitbewirkt, dass auch an-
dere europäische Staaten zu einer Diversifizierung ihrer territorialen Gliederung
gefunden haben. So entwickelte Spanien 1978 nach der Franco-Diktatur eine
Staatsordnung, die auf ganz besondere „Sensibilitäten" in bestimmten Regionen
Rücksicht nehmen musste. Die zweite Kammer, der „Senado" ist sowohl Par-
lamentskammer als auch „ K a m m e r der territorialen Repräsentation". Auch die
spanische Verfassung unterscheidet nach Kompetenzarten, allerdings werden den
autonomen Regionen keine Kompetenztitel zugesprochen. 942 Die Zuständigkeiten
der Regionen reichen daher nur soweit, wie es die Autonomiestatute der jewei-
ligen Region zuerkennen. Damit wird ein spezifisches Merkmal des spanischen
Regionalstaates deutlich: Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat
und den einzelnen Regionen ist asymmetrisch. Manche Regionen verfügen über
deutlich mehr Kompetenzen als andere. Dies ist vor allem der Tatsache geschul-
det, dass der spanische Staat nach der Ablösung von Franco sich zwar in einer

940
So auch jVf. Netfesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten,
in: Z E u S 5 (2002), S. 507 ff.
941
Gleichlautend Af. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaa-
ten. in: Z E u S 5 ( 2002). S. 507 ff., der ebenda weiter konstatiert: ..Föderalistische Ordnungen
sind als mehrstufige politische Systeme zu begreifen, in denen an die Seite der politischen
Einheit der Glieder die politische Gesamtexistenz tritt. Föderalismus ist damit Bildung
eines G a n z e n unter gleichzeitiger Bewahrung der Freiheit der engeren territorialen und
personellen G e m e i n s c h a f t e n . Er dient der Selbstbehauptung d e r Eigenart und der Aner-
kennung des Eigenrechtes dieser Eigenart. Dies kann nur gelingen, wenn man - allen
Unterschieden zum Trotze - im Wertverständnis und in der Formulierung der Interessen
auf einen Grundkonsens aufbauen kann." Vgl. auch W. Kägi. in: Die Juristischen Fakultäten
der Schweizer Universitäten (Hrsg.), Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht.
Festgabe zur 100-Jahr-Feier der Bundesverfassung, 1948. S. 53.: „Freiheit ist dort, wo diese
Eigenart nicht durch Unitarismus und Zentralismus negiert, sondern durch Selbstgesetz-
gebung (Autonomie) und Selbstverwaltung der engeren G e m e i n s c h a f t e n respektiert und
beschützt wird. Diese föderalistische Freiheit ist die G r u n d b e d i n g u n g für die Einheit eines
vielgestaltigen Staatswesens."
942
Im „Vortitel" der spanischen Verfassung (1978) sind in Art. 2 die Unteilbarkeit
(„unteilbares Vaterland aller Spanier") und als Konnexgarantie „das Recht auf Autonomie
der Nationalitäten und Regionen" niedergelegt.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 327

grundlegenden Umbruchsphase, nicht aber in einer der Bundesrepublik ähnli-


chen „Stunde Null" befand. Die Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung war
demzufolge differierend.

Parallel dazu hat auch das Vereinigte Königreich unter dem Stichwort der
„Devolution" den Nationen (und Regionen) 1998 zu neuer politischer Macht
verholfen. 9 4 3 Auch bei der Regionalisierung Großbritanniens mussten die histo-
rischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Während Schottland. Wales und
Nordirland eigene Regionalparlamente und -regierungen erhalten haben, blie-
ben die englischen Regionen mehr oder weniger ohne Mitspracherechte. Aber
auch zwischen den drei Genannten sind die Unterschiede bemerkenswert: wäh-
rend Schottland selbst bei der Besteuerung Kompetenzen zuerkannt worden sind,
wurde für die nordirischen Einrichtungen eine weitgehende Abhängigkeit von
der Entwicklung des Friedensprozesses eingerichtet. Wales hat zwar eine eigene
„Versammlung", aber insgesamt weniger Kompetenzen. Obwohl die Devolution
als „Prozess" (R. Davies) bezeichnet wird 944 , ist mehr als fraglich, ob die engli-
schen Regionen jemals entsprechende Kompetenzen erhalten werden. Unabhängig
von der asymmetrischen Kompetenzverteilung, hat sich das Vereinigte Königreich
der „europäischen" Aufteilung nach Kompetenzarten angeschlossen, und auch die
zweite Kammer könnte sich zu einem Regionen-Gremium entwickeln, das dem
deutschen Bundesrat ähnlich ist.

Frankreich hat seit der 1982 verabschiedeten „Lois Deferre" eigene Erfahrungen
mit dem Regionalismus* 15 gemacht. Hier wurde indes ein symmetrisches Modell
angelegt, das den Regionen aber keine den beschriebenen Modellen vergleichbaren
Kompetenzen einräumt. Auch hat der französische Senat seine ursprüngliche Rolle
behalten.

In der Europäischen Union hingegen stellt sich die Frage der horizontalen
Gewaltenteilung weiterhin als äußerst komplex dar, sprich: eine klare, funktionale
Rollenzuweisung für die Institutionen der Europäischen Union im Sinne von

943
Dazu M. Mey, Regionalismus in Großbritannien - kulturwissenschaftlich betrachtet.
2003.
944
Vgl. zu dem Zitat von Davies sowie allgemein zur ..Devolution" im Vereinigten
Königreich Economic&Soeial Research Council (Hrsg.). Devolution Briefings, Devolution
is a process not a policy: the new governance of the English regions Briefing No. 18,
February 2005.
945
Z u m Rcgionalismus bereits F. Esterhauer (Hrsg.), Regionalismus, 1979; vgl. auch
F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa. 1990; A. Weber. Die
Bedeutung der Regionen für die Verfassungsstruktur der Europäischen Union, in: J. Ipsen
u . a . (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995. S . 6 8 1 ff.; M. Kot zur. Föderalisierung.
Regionalisierung und Kommunalisierung als Strukturprinzipien des europäischen Ver-
fassungsraums. in: JöR 50 (2002), S. 257 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen: siehe auch ders., Kulturföderalismus
in Deutschland - Kultzrregionalismus in Europa, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003, S. 61 ff.
328 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Legislative und Exekutive. Derzeit ist das Europäische Parlament, wenn überhaupt,
ein nur unzureichender Gesetzgeber. Das vornehmste Recht aller Parlamente,
nämlich über den Haushalt zu befinden, steht ihm (allein) nicht zu. Das Prinzip der
Kodezision ist nur unzureichend entwickelt und erstreckt sich nicht einmal auf alle
Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.
Der Ministerrat teilt sich in eine legislative und eine exekutive Funktion zugleich,
was das institutionelle System der Europäischen Union vor allem intransparent
macht. Die Kommission hat zwar ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben und
implementiert die Ratsentscheidungen, übt aber im Wesentlichen keine exekutive
Gewalt aus, die einer politisch-parlamentarischen Kontrolle unterläge. Auf die in
ihrer Art spezifischen, institutionellen Strukturen der Europäischen Union, wie sie
historisch gewachsen sind, ist mithin das klassische Montesquieu sehe Prinzip der
Gewaltenteilung nicht anwendbar, und ein Teil des beklagten Legitimationsdefizits
der Europäischen Union ergibt sich aus dieser Tatsache.

Worin liegt nun die Konsequenz dieser kurzen Betrachtungen? Dass eine födera-
le Lösung den Interessen der meisten Mitgliedstaaten am ehesten entgegenkommt,
dürfte sicher sein: Denn der verfassungsrechtlich gesicherte Verbleib von Kompe-
tenzen auf der Ebene des Nationalstaates beugt einem wie auch immer gearteten
„europäischen Zentralismus" am ehesten vor. Allerdings wird gerade nach un-
terschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Staaten eine
„europäische"und wohl auch „asymmetrische" föderale Lösung am ehesten in Be-
tracht kommen. Begriffsschöpfungen wie „differenzierte Integration" 946 , „variable
Geometrie" 9 1 7 oder „Europa ä la carte" 918 deuten darauf seit längerem hin.

Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die politische Theorie eine Vielzahl
föderaler Typen mit je unterschiedlicher Prägung kennt, eröffnen sich allerdings
auch nicht unerhebliche Spielräume. Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den
Typ föderalistischer Verbundenheit, der Europäische Union und Mitgliedstaaten
ausmacht, näher zu kennzeichnen. Die in Deutschland vorherrschende Auffassung
ist in diesem Zusammenhang geneigt, den Integrationsverbund weiterhin als Aus-
prägung eines bündisch verfassten Zusammenschlusses anzusehen. Europäischer
Föderalismus lässt sich insofern mit Nettesheim als „konsoziativer Föderalismus"
treffend kennzeichnen 919 („Föderation von Staaten"). Zudem liegt die Befugnis zur
Verfassungsfortschreibung nach Art. 48 EGV weitgehend, allerdings schon nicht

946
Dazu m.w. N. H. Schneider, Die Z u k u n f t der differenzierten Integration in der
Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, in: integration 4 / 2 0 0 4 . S. 259 ff.
947
Vgl. etwa U. Rüge. Europa variable Geometrie. Die erweiterte Union braucht eine
Avantgarde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 3 / 2 0 0 3 , S . 3 I 4 f f .
948
Vgl. etwa F. Breuss/S. Griller (Hrsg.), Flexible Integration in Europa. Einheit oder
.Europa a la c a r t e ' ? , 1998.
W9
Vgl. M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in:
Z E u S 5 (2002), S . 5 0 7 f f . ; H.Schneider. Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderati-
on. Konföderation - oder was sonst?, in: 23 integration 2000. S. 171 ff. Anders als im
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 329

mehr ausschließlich in den Händen der Glieder; auch haben die Mitgliedstaaten
im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man
ist sich im übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem
Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU
normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren,
muss seine Form als ..Föderation von Bürgern und Staaten" erhalten. Einen Um-
schlag in die Form bundesstaatlichen Föderalismus gilt es, so die überwiegende
Auffassung, gegenwärtig zu verhindern. 950

cc) Ergänzungen aus vergleichender Sicht

Das Wort „Föderalismus" stellt generell seit jeher einen vom Verständnis
außerordentlich unterschiedlich interpretierten Begriff dar, der gerade auch im
Rahmen der europäischen Einigung immer wieder für Unruhe sorgt(e). Noch kurz
vor der Konferenz von Nizza wies der französische Außenminister darauf hin.
Frankreich wolle kein „föderales" Europa, während sein deutscher Kollege zuvor
große Vorteile in einer föderalen Struktur des zukünftigen Europas gesehen hatte.
Die Trennschärfe in der Einschätzung, ob lediglich unterschiedliche politische
Auffassungen oder begriffliche Missverständnisse gegeben sind, ist diesbezüglich
oftmals schwer herzustellen.

Die Vereinigten Staaten standen 1787 vor der Frage, die die Europäer heute
bewegt. Wie kann eine verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden, die für die
einzelnen Staaten ausreichend Raum für „nationale" Politik bestehen, gleichzeitig
aber ein nach außen handlungsfähiges Gebilde entstehen lässt? Die Philadelphia
Convention brachte - obwohl nur mit dem Mandat f ü r die Entwicklung einer
Freihandelszone versehen - eine Bundesverfassung auf den Weg, die auch in
dieser Hinsicht Grundsteine für ein Vorbild demokratischer Verfassungen legte.

Schon damals lagen jene, die den Bundesstaat bzw. „Staatenverbund" im weite-
ren Sinne in den Mittelpunkt stellen wollten, mit jenen im Streit, deren Anliegen
ein gesunder Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten war.

Der Blick auf die US-Verfassung kann den Europäern bei dieser Diskussion
aber hilfreich sein: In der US-amerikanischen Verfassung ist festgelegt, dass
nur ausdrücklich genannte Kompetenzen dem Bund zustehen, alle anderen den
Gliedstaaten. So heißt es im 10. Amendment: „The powers not delegated to

..bundesstaatlichen Föderalismus" fließt die verfassunggebende Gewalt der Glieder in der


konsoziativen Föderation nicht aus der Verfassung des übergreifenden Verbands (hier: der
Europäischen Union); anders als im ..bundesstaatlichen F ö d e r a l i s m u s " haben die Glieder
auch ihre Souveränität bewahrt.
950
Siehe nur die Beiträge von: I. Pernice/ P.M. Huber IG. Lübbe-Wolff IC. G raben war-
te r. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: 60 V V D S t R L 2001, S. 1 4 8 / 1 9 4 /
246/290 m.w.N.
330 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the states, are
reserved to the states respectively, or to the people." Damit ist das im Maastrichter
Vertrag festgeschriebene „Subsidiaritätsprinzip" 951 (Art. 5 EGV) im Grunde nichts
anderes als die (mildere) europäische Version des 10. Amendments. J. Madison und
A. Hamilton hatten bereits damals die mögliche Entwicklung eines zu mächtigen
Zentralstaats erkannt. Allerdings: Nur wenige Jahre später bei der Verabschiedung
des „Alien and Sedition Act" (1798), erwies sich der Grundsatz als wirkungslos.
Ein früher Hinweis auf die Wirkkräfte der Verfassungswirklichkeit — und ein
Umstand, der gelegentlich bei der innereuropäischen Diskussion Berücksichtigung
finden dürfte.

In einer weiteren Frage offenbaren sich Ähnlichkeiten zwischen dem Amerika


des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem heutigen Europa, nämlich im (nur auf
den ersten Blick paradoxen) Grundsatz nach außen mit einer Stimme zu sprechen,
im Innern aber von seiner Vielfältigkeit zu leben. Der Begriff des „Föderalismus"
taugt im Rahmen dieser Debatte nur begrenzt, da sich die begrifflichen Gegensätze
bis heute erhalten haben. 952

Gleichwohl haben die prinzipiellen Überlegungen, die vor über 200 Jahren in
Amerika angestellt wurden, ihre Bedeutung bei der Beantwortung dieser Frage
nicht verloren. Der sogenannte „duale Föderalismus" der USA hat sich in dieser
Zeit weiterentwickelt, aber er verteilt die Kompetenzen zwischen den staatlichen
Ebenen noch immer nach Politikfeldern. Er hat die Trennung auf der Legisla-
tivebene durch die Volkswahl der Mitglieder der zweiten Kammer, des Senats,
durchgehalten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Verabschiedung der US-
amerikanischen Verfassung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als alle Gliedstaaten sich
in einer strukturell sehr ähnlichen Situation befunden haben. Insofern hatten die
Vertreter in der Convention eine gemeinsame Ausgangsbasis bei der Verfassung-
gebung.

951
Dazu aus der Lit.: H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. 1993; P. Hiiberle. Das Prin-
zip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 119(1994).
S. 169 ff.: MZuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, in: Melanges en h o m m a g e
ä F. Schockweiler, 1999. S. 6 3 5 ff. Im Entwurf des VerfV wurde die Legaldefinition des
Subsidiaritätsprinzips präzisiert (Art. 1-9 Abs. 3).
952
Die A n w e n d u n g der deutschen Bedeutung des „ F ö d e r a l i s m u s " - B e g r i f f s auf das
politische System der Vereinigen Staaten ist grundsätzlich problematisch, obwohl die
amerikanischen Verfassungsväter sich selbst als „Federalists", die neu geschaffene Herr-
schaftsordnung als „federal s y s t e m " und die Zentralgewalt in Washington als „federal
government" bezeichneten. Denn wo das verfassungsrechtliche Denken der Deutschen mit
..Föderalismus" Autonomiebestrebungen der Länder verbindet, meinen A m e r i k a n e r Zentra-
lisierungstendenzen. wenn von federalism die Rede ist. Wo im deutschen Sprachgebrauch
der Begriff Föderalismus ein universales Gestaltungsprinzip meint, den Z u s a m m e n s c h l u ß
im gesellschaftlichen, staatlichen o d e r internationalen R a u m mit sehr verschiedenen Ord-
nungsstrukturen, erscheinen im amerikanischen Sprachbereich die Begriffe „Bundesstaat"
und „Föderalismus" fast identisch.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 331

Schließlich: Die wichtigste Konsequenz der Amerikaner aus der Ineffizienz


der Unionsorgane unter den Konföderationsartikeln war die deutliche Stärkung
der bundesstaatlichen Ebene. Eine Beobachtung, die für die Europäische Union
lediglich dünne, wenn nicht marginale Parallelen eröffnet.

c) Das Prinzip der Gew altenteilung

aa) Vorbemerkung

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Maßstab für die politische Machtvertei-
lung. die Hemmung und Mäßigung der Macht 9 5 3 , aber auch für die sachgerechte
Zuteilung des Entscheidungsgegenstandes an das entscheidende Organ, für die
Konstituierung, Zuordnung und Balancierung von Hoheitsgewalten 9 5 4 . In ihrem
menschenrechtlichen Ursprung 9 5 5 handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbe-
ziehungen zwischen Bürger und Staat 956 : Die tatsächlichen Mächtigkeiten werden
auf eine freiheitsberechtigte Gesellschaft und einen freiheitsverpfiichteten Staat
aufgeteilt. Sodann gewinnt der Bürger der Staatsgewalt gegenüber Waffengleich-
heit durch die Einrichtung einer dritten Gewalt, die seine Rechte als rechtsge-
bundene. unabhängige Rechtsprechung gegenüber Gesetzgebung. Regierung und
Verwaltung durchsetzt.

In konkreteren Verfassungsgedanken findet das Prinzip der Gewaltenteilung je-


weils seine Ausprägung 9 5 7 : Die Gewaltenteilung zum Schutz der Menschenrechte
mäßigt und begrenzt Staatsgewalt im Dienst der Individualrechte und nimmt dabei
die Entwicklung der Grundrechte von der bloßen Abwehr der Staatsall macht hin
zum positiven Leistungsrecht auf. 95s Das Bundesstaatsprinzip, das den Rechtsstaat
weniger von der Staatsgewalt und mehr vom Staatsgebiet her organisiert, stellt

953
Siehe zu dieser Definition nur das deutsche Bundesverfassungsgericht in BVerfGE
3. 225 (247); 34. 52 (59); 49. 89 (124). Z u m amerikanischen Verständnis aus der deutsch-
sprachigen Lit.: P.E. Quint. Gewaltenteilung und Verfassungsauslegung in den U S A . in:
D Ö V 1987. S. 568 ff.: D. P. Currie, Die Gewaltenteilung in den U S A . in: JA 1991. S. 261 ff.
Vgl. allgemein bereits D. Tsatsos. Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewalten-
teilung. 1968.
954
Vgl. allgemein K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. 20. Aufl. 1995. R n . 4 7 5 f f . , 482; E. Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in:
Handbuch des Staatsrechts. Bd. I. 1987. § 24 Rn. 50.
955
Vgl. auch Art. 16 d e r Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte (1789); Titel III
Art. 1 -5 der Französischen Verfassung von 1791.
956
Vgl. bereits R. Thoma. Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des
50-jährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. 1925, S. 183 ff., 187
Fn.4.
957
Vgl. umfassend P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und euro-
päischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), G r u n d f r a g e n d e r europäischen Verfassungsent-
wicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht. Band 4. Forum Constitution is
Europae - Band 1. 2000. S. 37 ff.
332 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

neben die horizontale auch eine vertikale Gewaltenteilung. Innerhalb des Demo-
kratieprinzips wirkt das Prinzip der Gewaltengliederung mäßigend und ordnend
insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen „Gewaltenmonismus"
beanspruchen kann, der vielmehr - wie jeder Gewalt - ein Kernbereich der Auf-
gaben vorbehalten ist, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung
und seinem Verfahren am besten erfüllen kann. 9 5 9 Hat die Verfassung vor allem
eine übermächtige Staatsgewalt in Grenzen zu weisen, bedeutet Gewaltenteilung
Hemmung und Mäßigung der Macht; das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol
findet in der Gewaltenteilung sein notwendiges Korrelat. 960 Steht die Verfassung
hingegen mehr vor der Aufgabe, innerhalb eines rechtlich hinreichend gebunde-
nen Verfassungsstaates Aufgaben und Organe je nach deren Zusammensetzung,
Funktion und Verfahrensweise so einander zuzuordnen, dass die staatlichen Ent-
scheidungen „möglichst richtig" getroffen werden, so wird die Gewaltenteilung
zum ordnungsstiftenden und ordnungsvertiefenden Prinzip. 961

bb) Die Ausgestaltung in den USA

In der amerikanischen Verfassung ist das Prinzip der Gewaltenteilung („Separa-


tion of powers") als zentrales Element hervorzuheben. 9 6 2 Artikel I der Verfassung
gewährt dem Kongress die Gesetzgebungskompetenz. Artikel II beschreibt eher
diffus die Exekutivgewalt des gewählten Präsidenten und Artikel III legt wie be-
reits geschildert die Judikativfunktion des Supreme Court, der Einzelstaatsgerichte
und der unteren Bundesgerichte, die im einzelnen vom Kongress bestimmt wer-
den, fest. Schließlich normiert Artikel IV das gewaltenteilige Verhältnis zwischen
Bund und Gliedstaaten.

Ebenso wichtig wie die grundlegende Teilung der Staatsgewalten in Legislative.


Exekutive und Judikative ist aber in der Theorie auch die gegenseitige Kontrolle
dieser drei Kräfte („checks and balances"). So wird die Gesetzgebung durch zwei
Häuser des Kongresses vollzogen, da die Verfassungsväter die erheblichste Gefahr
im potentiellen Gewaltmissbrauch sahen. 963

958
K. Stern. Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Handbuch
des Staatsrechts, Bd. V, 1992. § 108 Rn. 38.
959
Vgl. P. Bodura, Die parlamentarische Demokratie, in: Handbuch des Staatsrechts.
Bd. 1. 1987, § 2 3 R n . 6 ; das Prinzip deutlicher dem Demokratieprinzip unterordnend £ . -
\V. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, daselbst. § 22 Rn. 87 ff. Siehe auch
BVerfGE 68. I (86).
960
E. Schmidt-Assmann (1987), § 24 Rn. 47.
961
Vgl. w i e d e r u m BVerfGE 68. I (86).
> 1
* Vgl. etwa D. Currie. Die Gewaltenteilung in den U S A , in: Juristische Arbeitsblätter
1991. S. 261 ff.
963
Dazu etwa G. Gunther. Constitutional Law. 11 * ed. 1985. S. 336.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 333

Die amerikanische Herrschaftsordnung zeichnet sich folglich nach Meinung


vieler Beobachter auf den ersten Blick durch die strikte Verwirklichung des
klassischen Gewaltenteilungsprinzips von Exekutive und Legislative aus. Die
politischen Theorien eines J. Locke und C. de Montesquieu scheinen auf dem
Boden der Neuen Welt stärker beherzigt worden zu sein als in Europa, oder,
wie dies E. Fraenkel beschrieben hat, die Amerikaner haben die „wesentlichen
Merkmale der englischen Verfassung, wie sie aus der .Glorreichen Revolution
von 1688/89' hervorgegangen waren, reiner erhalten." 9 6 4

Diese Behauptung hält bei genauerer Betrachtung nur bedingt stand, allein
schon wegen Stellung und Rolle des US-Vizepräsidenten. 9 6 5 Den Vätern der US-
Verfassung ist es wohl eher um eine Institutionentrennung mit wechselseitig
teilnehmender Gewaltenausübung gegangen. 9 6 6 Das politische System der USA
beruht demnach also nicht so sehr auf der Gewaltenteilung im klassischen Sinn, als
vielmehr auf der Trennung der Staats- und Verfassungsorgane, also der politischen
Institutionen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident einerseits. Repräsentanten-
haus und Senat andererseits, zwar unabhängig voneinander amtieren, aber an
den Grundfunktionen der Staatsgewalt, der Gesetzgebung und Verwaltung, wech-
selseitig teilhaben und gemeinsam an deren Erfüllung mitwirken. Sichtbarsten
Ausdruck findet die Institutionentrennung zum einen in der Stellung des Präsi-
denten gegenüber beiden Häusern des Kongresses. 967 Sie tritt zum anderen in der
gleichfalls verfassungsmäßig festgelegten Legislaturperiode der beiden parlamen-
tarischen Häuser in Erscheinung, die vom Präsidenten auch dann nicht verkürzt
werden kann, wenn der Kongress schiere Obstruktionspolitik betreiben, das heißt,
die Arbeit der Exekutive in jeder Hinsicht blockieren würde. 9 6 s

964
E. Fraenkel hier/u umfassend in seinem mittlerweile klassischen Werk ..Das ameri-
kanische Regierungssystem", 3. Aufl. 1976.
965
Als Stellvertreter (bei Amtsunfähigkeit) und potentieller Nachfolger des Präsidenten
ist er Teil der Exekutive; als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen leiten und bei
Stimmengleichheit den Ausschlag zugunsten einer Entscheidung geben kann, gehört er
auch zur Legislative. Von strikter Gewaltentrennung lässt sich im Falle des Vizepräsidenten
gewiß nicht reden.
966
So in der Konsequenz auch R. Neustadl. Presidential Power & T h e Modern Presidents,
1990.
'*'7 Sie gründet sich auf die Volkswahl, auf den Umstand also, dass unter allen Wahlbe-
amten A m e r i k a s allein der Chef des Weißen Hauses sein Herrschaftsrecht aus der Wahl
durch die gesamte Bürgerschaft ableiten kann, und darauf, dass die Verfassung d e m Präsi-
denten eine Amtsperiode von vier Jahren zuweist, die auch von oppositionellen Mehrheiten
im Kongress nicht beschnitten werden kann.
968
Mit d e m Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine
äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der
Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von e n o r m e r Bedeutung ist und
eine wichtige Ergänzung d e r präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Z u s t i m m u n g s -
bedürftigkeit durch den Senat bei der E r n e n n u n g von Mitgliedern und hohen Beamten
334 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

In einem bemerkenswert scharfen Bruch mit überkommenen Vorstellungen


formulierten die Verfasser der „Federalist Papers" die Einsicht, dass - im Gegen-
satz zu einer Monarchie - in der Republik nicht die Exekutive der dominierende
Machtarm sein müsse, sondern die Legislative. Der amerikanische Kongress gilt
heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der Welt. Das bedeutende Vor-
recht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem
Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht
nur das alleinige Recht gibt, Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget
aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht
für die Handelsgesetzgebung. 969

Die amerikanischen Verfassungsväter haben die Gefahren erkannt, die einer


strikten Anwendung der Gewaltentrennungslehre innewohnen. So kann die exklu-
sive Betrauung jeweils eines Staatsorgans mit bestimmten Aufgaben die Ausübung
unkontrollierter Herrschaft fördern, die strikte Isolierung der Gewalten vonein-
ander die Lähmung des politischen Willensbildungs- und Herrschaftsprozesses
befördern. Die Montesquieusche Lehre ist deshalb von den Gründervätern so inter-
pretiert und in Verfassungsvorschriften umgewandelt worden, dass Blockierungen
des politischen Prozesses bzw. überzogene Machtansprüche einer Gewalt zwar
immer wieder auftauchten, aber stets wieder gezügelt werden konnten.

J. Madison bemerkte dazu: „Wenn Montesquieu sagt, es kann keine Freiheit


geben, wo gesetzgebende und vollziehende Gewalt in ein und derselben Person
oder in ein und derselben Körperschaft vereinigt sind, oder, wo die richterliche
Gewalt nicht von der gesetzgebenden und von der vollziehenden Gewalt getrennt
ist, so meint er damit keineswegs, dass die drei Zweige der Regierung untereinan-
der auf ihre spezifische Tätigkeit nicht ein gewisses Maß von Einfluss ausüben
oder einander nicht wechselseitig kontrollieren sollten." 970

Amerikanische Politik ist stets von der Rivalität zwischen Kapitol und Weißem
Haus geprägt worden. Einer Rivalität, die nicht zuletzt der teils unscharfen ver-
fassungsrechtlichen Zuweisung oder Abgrenzung von Kompetenzen zuzurechnen
ist. Regierung und Parlament wurden und werden geradezu eingeladen, sich um
die Führung der Politik (im besonderen Maße der Außenpolitik) zu streiten. Der
Gang der amerikanischen Geschichte ist durch zyklische Wechsel zwischen der
Vorherrschaft einmal des Kapitols, dann wieder des Weißen Hauses gekennzeich-
net.

der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prä-
rogativen dar. Die Verfassung der USA gebietet g e m ä ß Artikel I, § 6. par 2 auch strikte
Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und (Parlaments-)Mandat.
969
Ein Umstand, der aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere
für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle
beansprucht.
970
Siehe Federalist, Artikel 47
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 335

Bereits in den Gründerjahren entzündeten sich Konflikte zwischen den Ge-


walten bei der Umsetzung außenpolitisch relevanter Verfassungsnormen in die
Regierungspraxis. Sie haben sich bis in die Gegenwart im Kompetenzstreit um
Rechte im Bereich der Kriegführung (war power) und Befugnisse hinsichtlich des
Eingehens internationaler Vertrags Verpflichtungen (treaty power) fortgesetzt." T|

cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union 9 7 2

Der europarechtliche Gedanke einer Duldung verwobener. nebeneinander gel-


tender Rechtsordnungen scheint dem Verfassungsrecht zunächst fremd. Eine Ver-
fassung sucht die verschiedenen Rechtsquellen in einem Geltungssystem derart zu
ordnen, dass regelmäßig nur einer der - potentiell kollidierenden - Rechtssätze gilt.
Sie unterscheidet zwischen der verfassunggebenden und der verfassten Gewalt,
um jede Revolution durch staatliche Organe als Verfassungsbruch zu entlarven.
Sie hebt die verfassunggebende von der verfassungsändernden Gewalt ausdrück-
lich ab, um die Kontinuität der Verfassungsentwicklung in Inhalt und Verfahren
zu gewährleisten. Sie ordnet die verschiedenen Gesetze in einem Rangverhältnis
und deren Aussagen nach Spezialität und Priorität. Die Verfassung duldet tradi-
tionell keine gleichrangigen, konkurrierenden Normen. „Schonender Ausgleich"
und „praktische Konkordanz" harmonieren innerhalb des Verfassungsrechts, nicht
zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht oder Verfassung und Vertragsrecht.

Gleichwohl: das moderne Verfassungsrecht anerkennt mittlerweile eine „offene


Staatlichkeit" 973 , die den Staat zur Völkerrechtsfreundlichkeit und zur Mitwirkung

971
Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative im U m -
feld des Vietnam-Krieges in den sechziger und siebziger Jahren belegen dies. Was die treaty
power anbelangt, das verfassungsrechtlich verbriefte Z u s t i m m u n g s r e c h t des Senats zu in-
ternationalen Verträgen, so hat die Exekutive im 20. Jahrhundert i m m e r wieder versucht,
den Senat dadurch zu unterlaufen, dass sie statt Verträgen (treaties) Regierungsabkommen
(executive agreements) geschlossen hat, die keiner Senatsmitwirkung bedürfen. Selbst
so folgenträchtige A b k o m m e n wie die von Jalta und Potsdam im Jahre 1945 sind d e m
Senat nicht zur A b s t i m m u n g vorgelegt worden. Auch in den folgenden Jahrzehnten haben
die Regierungen der USA zahlreiche militärische G e h e i m a b k o m m e n mit anderen Staaten
getroffen, von denen der Kongress zuweilen nichts gewußt hat.
972
Vgl. statt vieler R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzi-
pien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus,
Rechtsbindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), G e m e i n s a m e s Verfassungsrecht
in der Europäischen Union. 1998, S . 9 9 f f . : H.-D. Horn. Über den G r u n d s a t z der Gewal-
tenteilung in Deutschland und Europa, in: J ö R 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspektive
der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel, Das amerikanische Re-
gierungssystem. 2. Aufl. 1962. S. 106. Siehe des weiteren M. Sinwi. Der Gerichtshof der
Europäischen G e m e i n s c h a f t e n im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Z u m „institutionel-
len Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003. S. 217.
973
So etwa bereits K. Vogel. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes f ü r die
internationale Z u s a m m e n a r b e i t . 1964. S. 33 f.. 42 f. Siehe im europäischen Kontext auch
336 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

an der Europäischen Union verpflichtet 974 . In Deutschland beauftragt Art. 23 GG


die staatlichen Organe, diese offene Staatlichkeit des Grundgesetzes in Richtung
auf die europäische Integration nachhaltig fortzuentwickeln. 9 7 5 Diese Offenheit
für die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt in Deutschland durch europäische Or-
gane hat zur Folge, dass neben die staatliche Gewalt eine europäische Gewalt
tritt, die ihre Legitimation, ihre Untergliederung und Mäßigung nicht nur im
Binnenbereich des deutschen Verfassungsrechts findet. Vielmehr entsteht eine
zur Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen berechtigte europäische Gewalt, de-
ren Ziele und Handlungsweisen konträr zu denen des einzelnen Mitgliedstaates
stehen können. Dementsprechend gehören Rechtskonflikte zwischen der Gemein-
schaft und einem Mitgliedstaat zum europäischen Rechtsalltag. Nicht zuletzt
deshalb steht die europäische Rechtsgemeinschaft vor der Aufgabe, diese Gewal-
ten einander zuzuordnen, aufeinander abzustimmen und auf ein gemeinsames
Maß auszurichten.

Der klassische Gedanke der Gewaltenteilung findet einen neuen Anwendungs-


bereich.

Angelpunkt der klassischen Gewaltenteilung ist das Gesetz. Dieses wird inner-
halb der Europäischen Union vom Rat beschlossen und dort über die Parlamente
der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Würden nun die Mitgliedstaaten von
der Kontrolle dieser Rechtsetzung durch einen ausschließlichen Entscheidungsvor-
behalt der Europäischen Gemeinschaft ausgenommen, so wäre die demokratische
Legitimationsgrundlage geschwächt.

Allerdings sind die Gemeinschaftsorgane ihrerseits funktionenteilend organi-


siert und haben im EuGH ein Gericht, das allen Maßstäben eines Rechtspre-
chungsorgans genügt. 976 Dieses Gericht ist funktionell mit der Gerichtsbarkeit
der Mitgliedstaaten verschränkt und teilweise funktional in die mitgliedstaatliche
Gerichtsbarkeit eingegliedert. 977 Die mitgliedstaatliche Rechtsordnung und die
Gemeinschaftsrechtsordnung stehen ebenso wie die mitgliedstaatliche und die
gemeinschaftsrechtliche Gerichtsbarkeit „nicht unvermittelt und isoliert neben-
einander", sondern sind „in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander

P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in:


I. Pernice (Hrsg.), G r u n d f r a g e n der europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe
Europäisches Verfassungsrecht, Band 4. Forum Constitutionis Europae - Band I, 2000.
S. 37 ff.
974
Vgl. P. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze. Handbuch des Staatsrechts VII.
1992. § 160 Rn. 16.
9 5
Vgl. dazu K.-P. Sommermann, Staatsziel ..Europäische Union", in: D Ö V 1994.
S. 5 9 6 ff.; C.Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfas-
sungsgerichts, in: E u G R Z 1993, S. 4 8 9 ff.. 4 9 3 .
976
Vgl. nur BVerfGE 73, 339 ( 3 6 7 ff.) - Solange II.
977
Vgl. insbesondere Art. 234 EGV. sowie BVerfGE 73, 339 (368).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 337

verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet" 9 7 8 . Damit ist der Auf-


trag der Gewaltenzuordnung, Gewaltenbalancierung und Gewaltenkooperation
definiert. 979

In der vertikalen Gewaltenteilung steht die Abgrenzung der Kompetenzen


zwischen der Europäischen Union von denjenigen der Mitgliedstaaten bzw. subna-
tionalen Einheiten im Vordergrund: bei der horizontalen Gewaltenteilung handelt
es sich um die funktionale Rollen der EU-Institutionen, d. h. um die Frage, welche
Institution ist das legislative, welche das exekutive Organ und wie stehen die
Organe zueinander.

Grob gesagt geht es um den „politischen Überbau", dessen klare Ausgestaltung


den latenten und immer heftiger werdenden Vorwurf des Legitimationsdefizits
der Europäischen Union entkräften soll. Ein erster Schritt hierzu war sicherlich
die Verabschiedung der „Europäischen Grundrechtscharta", der jedoch nicht als
ausreichend erachtet werden kann. 980

Aus unionsrechtlicher Sicht ruht die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 1 EUV,
aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die Europäische Gemeinschaft gemäß einem
allgemeinen Rechtsgrundsatz auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, als des-
sen Teil sich der Grundsatz der Gewaltenteilung auffassen lässt. Zwar meidet
der EuGH (noch) den Begriff der Gewaltenteilung. Er hat aber mit dem „insti-
tutionellen Gleichgewicht" ein dem Grundsatz der klassischen Gewaltenteilung
verwandtes Prinzip im Gemeinschaftsrecht entwickelt. Während das „institutio-
nelle Gleichgewicht" die horizontale Aufteilung von Funktionen und Macht zwi-
schen den Organen und Einrichtungen anspricht, greift das Subsidiaritätsprinzip
ein Element der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft und Mit-
gliedstaaten auf. Es liegt nahe, die auf gemeinschaftlicher Ebene aufgefundenen
gewaltenteilenden und -hemmenden Regelungen und das im Grundgesetz (GG)
verankerte Prinzip der Gewaltenteilung als einen einheitlichen Rechtssatz aufzu-
fassen. der sowohl die Gemeinschaftsrechtsordnung als auch die innerstaatliche
Rechtsordnung erfasst und umspannt. Es handelt sich nicht um ein gemeinschafts-
rechtliches Gewaltenteilungsprinzip auf der einen und um ein mitgliedstaatliches

978
BVerfGE ebenda.
979
Der Rechtsmaßstab dieser Kooperation weist d e m Europäischen Gerichtshof die
abschließende E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s über die Auslegung des Vertrages zu und sichert
durch den Gerichtshof eine möglichst einheitliche Auslegung und A n w e n d u n g des G e -
meinschaftsrechts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrages, vgl. B V e r f G E eben-
da. während die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte die Rechtsverantwortung für ihr
Europaverfassungsrecht und die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsan-
w e n d u n g s b e f e h l s tragen. So wird für das Verhältnis von Europäischer G e m e i n s c h a f t und
Mitgliedstaat ein G e w a l t e n m o n i s m u s auf der einen oder anderen Seite vermieden.
980
Vgl. U. Guerot, Eine Verfassung für Europa. Neue Regeln für den alten Kontinent?,
in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
338 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Gewaltenteilungsprinzip auf der anderen Seite, sondern um einen übergreifenden


gemeineuropäischen Rechtssatz.

Die Trennung zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und „autonomer" Ge-


meinschaftsrechtsordnung wird damit zumindest partiell überwunden. Die auf
Gewalten- und Funktionentrennung zielenden Regelungen des Gemeinschafts-
rechts und des innerstaatlichen Rechts sind Ausdruck eines rechtsordnungsüber-
greifenden Grundsatzes der Gewaltenteilung. 9 8 1

d) Identität und der Begriff der Nation

Ihren Appell, die Union nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, begannen die
„Federalists" mit einem inhaltlichen wie nahezu literarischen Paukenschlag: Es
sei dem amerikanischen Volk vorbehalten, auf seinem Territorium eine Mensch-
heitsfrage zu entscheiden, nämlich die, ob „ [ . . . ) menschliche Gemeinschaften
wirklich dazu fähig [sindj, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage ver-
nünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten", oder ob sie „für
immer dazu verurteilt sind, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von
Zufall und Gewalt abhängig zu sein." 9 s : In Amerika stand erstmals das Expe-
riment einer großräumigen Republik an. die sich noch dazu nicht dem Zufall,
sondern dem erklärten Willen der Bevölkerung verdanken sollte. Das Modell vom
Gesellschaftsvertrag, mittels dessen sich die Bürger eine frei vereinbarte Ordnung
geben, hatte erstmals die Chance, Wirklichkeit zu werden.

' , s l Die rechtsordnungsübergreifende Natur insbesondere des Grundsatzes der Gewal-


tenteilung erweist sich nicht zuletzt im vertikal gewaltenteilenden Subsidiaritätsprinzip. das
auch eine Gewaltenbalance zwischen europäischen und staatlichen Organen schaffen will.
Es weist über die jeweilige Rechtsordnung hinaus und setzt notwendigerweise die Existenz
einer vorrangig und einer subsidiär zur Rechtsetzung berufenen Ebene voraus. Neben
dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der den Grundsatz der Gewaltenteilung einschließt,
findet m a n bei einem Abgleich von Art. 6 Abs. 1 E U V und etwa Art. 23 Abs. 1 Satz I GG
das Demokratieprinzip und die G r u n d - und Menschenrechte, deren Beachtung wechsel-
seitig von der jeweils anderen Rechtsordnung eingefordert wird. Das Demokratieprinzip,
das Rechtsstaatsprinzip sowie die G r u n d - und Menschenrechte sind ebenfalls rechtsord-
nungsübergreifende Rechtssätze, vgl. zum Rechtsstaatsprinzip auf dessen vergleichende
Darstellung etwa mit der US-amerikanischen ..Rule of L a w " in dieser Arbeit verzichtet wer-
den muss, insb. P. Hüberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff. m. w. N.;
vgl. allgemein aus der Lit. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. 1986; ders., Der Rechtsstaat,
in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II. 2001.
S. 379 ff.; K.Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. 1997; E.Sarcevic, Der Rechtsstaat. 1996.
Zur europäischen Ebene bereits E.-W. Fuss. Z u r Rechtsstaatlichkeit der Europäischen G e -
meinschaften. in: D Ö V 1964. S. 577 ff.: vgl. auch D. Buchwald, Zur Rechtsstaatlichkeit der
Europäischen Union, in: Der Staat 37 (1998). S. 189 ff.; J. Schwarze. Rechtsstaatliche Grun-
dätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
in: Festschrift für G . C . Rodriguez Iglesias, 2003. S. 147 ff.
982
Vgl. T h e Federalist, I. Artikel (Hamilton).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 339

Indem die „Federalists" auf diesen Sachverhalt hinwiesen, appellierten sie an


den amerikanischen Bürgerstolz. Damit hatten sie der Diskussion von vornherein
eine Richtung gegeben, die kleinliches Kalkül geradezu verbot. Es ging nicht nur
um das vordergründige Selbsterhaltungsinteresse, sondern darüber hinaus um eine
Entscheidung von weltgeschichtlicher Dimension. Wie immer das Ergebnis dieser
Entscheidung zu beurteilen ist - wer sich an einem Geschehen beteiligt weiß, mit
dem ein Meilenstein in der Geschichte gesetzt wird, dem ist damit ein Motiv gege-
ben, über den bloßen Augenblick, über das eigene kleine Leben hinaus zu denken.
Mag man auch solchen Stolz auf das Mitwirken im Weltgeschehen als eine nur
etwas subtilere Form der Befriedigung des Eigeninteresses deuten - auf jeden Fall
verkörpert sich darin ein wenig mehr als die Sorge um das bloße Alltagsgeschäft,
und dieses „Mehr" ist es wohl auch, das Begeisterung zu wecken vermag. 1 "'
Große Ideen mobilisieren gelegentlich auch große Emotionen, und auf diese ist
man bei der Durchsetzung von über den Tag hinausweisenden Zielvorstellungen
nicht weniger angewiesen als auf einen klaren, nüchternen Verstand.

Doch die „Federalists" beließen es nicht bei der Beschwörung der großen Idee,
sie bedienten mit ihrer Argumentation auch eine der verlässlichsten innermensch-
lichen Kräfte: die Selbstbezogenheit. Indem sie versprachen, dass sich gerade
durch das neue System das Eigeninteresse der Einzelstaaten und ihrer Bürger frei
entfalten könne, forderten sie kein fundamentales Umdenken, sondern empfahlen
ein neues Mittel für einen alten Zweck. So sind die Vorteile, die die Autoren
einer neu konsolidierten Union zuschrieben, auch unmittelbar evident, weil von
der Art, wie sie im Überlebenskampf zählen: Die Union der Staaten ermöglicht
wirtschaftlichen Wohlstand und eine effizientere Sicherheitspolitik.''" 4

983
Vgl. auch A und W.P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.). Hamilton. Alexander. Die
Federalist-Artikel. 1994. S. x x v i i f f . , x l i v f . sowie B. Zehnpfennig. Das Experiment einer
großräumigen Politik, in FAZ vom 27. 11.1997. S. 11.
,yS4
Zu den ö k o n o m i s c h e n Vorteilen zählt der Wegfall der Zollschranken, eine bessere
Erschließung von Ressourcen, das Auffangen von Angebots- und Nachfrageschwankungen
im gemeinsamen Markt und die Belebung des Außenhandels durch ein Warenangebot, das
a u f g r u n d der freien Rohstoff- und Warenzirkulation in der Union preislich und qualitativ
auch für andere Nationen attraktiv wird. W a s die Sicherheitspolitik angeht, so sahen die
..Federalists"in einer engen Union den Garanten für Frieden zwischen den Staaten wie auch
zwischen der Union und anderen Nationen: schon die g e m e i n s a m e Stärke sollte andere
davon abschrecken, nach d e m bewährten Prinzip des ..divide et i m p e r a " zu verfahren und
die Staaten gegeneinander auszuspielen. Bloße militärische Allianzen lehnten die Autoren
allerdings ab. Wer erst im Krisenfall als Einheit auftritt, hat vorher vielleicht politische
Fakten geschaffen, die dann ein g e m e i n s a m e s militärisches Vorgehen unmöglich machen,
vgl. hierzu A. und W. P Adams. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hamilton. Alexander. Die
Federalist-Artikel. 1994. S. xxvii ff. sowie M. Diamond. Democracy and T h e Federalist: A
Reconsideration of the Framers' Intent. in: A m e r i c a n Political Science Review 53 (1959).
S. 52 ff. In weiterem Kontext E.F. Miller, What Publius Says about Interests. in: Political
Science Reviewer 19 (1990). S. 11 ff.
340 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Das amerikanische Nationalgefühl ist zweifelsohne - und nicht erst seit dem
11. September 2001 („United we stand." „We are all Americans.") - eines der
stabilsten Bindeglieder innerhalb der Bevölkerung. Was die Menschen allgemein
primär eint, nämlich eine Bedrohung von außen, spielte auch zu Zeiten der
Verfassunggebung eine bedeutende Rolle. Schließlich hatten die Siedlerden Un-
abhängigkeitskrieg unter Einsatz ihres Lebens gewonnen. Ein weiteres einigendes
Element für das Identitätsgefühl war sprachlicher Natur, da sich trotz der Vielspra-
chigkeit der aus allen Teilen Europas kommenden Einwanderer Englisch als die
„lingua franca" durchsetzte. Schließlich verband die Siedler auch die Immensität
der gemeinsamen Aufgabe, den weiten Kontinent zu erschließen, sich die Chan-
cen nutzbar zu machen und die Gefahren zu überwinden. Gleichwohl wäre es
ein Mythos, anzunehmen, das amerikanische Volk sei gleichsam mit unteilbarer
Identität und Souveränitätsbewusstsein „geboren". 985

Europäern fehlt die gemeinsame Sprache. Die „finalite politique", das Ziel einer
Föderation von Nationalstaaten (zum Unterschied der „föderierten Nation" der
USA) ist begründet auf dem (nie gänzlich illusionsfreien) Motto der „Einheit in
Vielfalt". Trotzdem darf von einer „europäischen Identität" 986 gesprochen werden.
Letztere zu definieren ist zum ersten Mal in dem Dokument des Europäischen
Rates in Kopenhagen 1978, sodann mit der Einsetzung des Adonnino Ausschusses
in Fontainebleau 1984 versucht worden. Die Zielsetzung war freilich nicht, natio-
nalstaatliche Identitäten in einem europäischen „melting pot" zu verschmelzen.
Aber ebenso wie „life, liberty and the pursuit of happiness" (vgl. die Declaration
of Independence, 1776) das umfassende amerikanische Lebensprinzip wurde, sind
die Europäischen Gemeinschaften mit den Zielen Frieden, Wohlstand. Solidarität,
Freiheit, und der Absicht. Europa eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu geben,
ins Leben gerufen worden. 987

985
Siehe auch G. Burghordt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-
winkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2 0 0 2 . sowie
J. Ellis. Founding Brothers. T h e Revolutionär^ Generation. 2 0 0 2 . Ch. „Generations: .So-
vereignty did not reside with the federal government or the individual states; it resided with
T h e People. W h a t that meant was a n y o n e ' s guess, since there w a s no such thing at this
formative stage as an American .people 4 ; indeed. the primary purpose of the Constitution
w a s to provide the f r a m e w o r k to gather together the scattered strands of the population
into a more coherent collective worthy o f t h a t designation." Dem großen ..amerikanischen"
Europäer A. Einstein wird inflationär folgender Satz zugeschrieben: „America is not a State,
it is a continent. T h e A m e r i c a n s are not a people but the result of permanent immigration
which has not yet c o m e to an e n d . "
986
Vgl. H. Haarmann (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, 1995;
M.Schauer, Europäische Identität und demokratische Tradition. 1996: D.Scholz, Euro-
pa - vom M y t h o s zur Union. G e d a n k e n über die europäische Identität und die Aufgaben
Europas nach Maastricht II. 1 9 % . Vgl. auch E. Pache. Europäische und nationale Identität:
Integration durch Verfassungsrecht?, in: DVB1.2002. S. 1154ff: XV. Graf Vitzthum. Die
Identität Europas, in: EuR 2002. S. I ff.
987
Der europäische Verfassungskonvent stand letztlich auch in diesem Kontext vor
der Aufgabe. Europa den Bürgern näher zu bringen, die Identifizierung des Einzelnen
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 341

Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs
verleiten zur Annahme, hier sei europäische Identität raumgreifend und in den
Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Eine ähnliche Grundstimmung at-
met das jüngste Europa-Manifest des Philosophen J. Habermas™* Man orientiert
sich allerdings an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - gekoppelt
mit einem ungebrochenen Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates und
unverhohlener Skepsis gegenüber jenem des freien Marktes. Den alten Kontinent
als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich für Europa-Idealisten
geradezu auf. Diese Haltung wirft jedoch Fragen auf: Unterscheidet sich Europa
wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es sich durch diesen Gegensatz selber
charakterisieren und die viel gesuchte Identität finden kann - im „Alles-nur-nicht-
Amerikaner-Europäer"? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle
der Karikatur eines „Neoliberalismus" nach Wildwestmanier - in seiner gegen-
wärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv
genug, um identitätsstiftend sein zu können? Wrie stark ist denn eine europäi-
sche „Hochkultur", die gegen den Angriff des amerikanischen „Primitivismus"
durch protektionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den
Holocaust wirklich mehr „sensibilisiert" als ein Amerika, das während mehr als
200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten
bekämpft und besiegt und sich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer
der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige europäische Identitäts-
suche tendiert in eine Sackgasse zu münden. Das Misstrauen gegenüber Amerika
mag in einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und
findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren sowie
in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutsch-
französisches Direktorat für Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen.

Die Aufnahme der neuen Mitglieder hat die Union bereits in wichtigen Teilbe-
reichen belebt und sie aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Es wird für Frankreich
schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich
ebenfalls in einer neuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen
und Zweckbündnisse schließen wird. Großbritannien hat dies in der Irak-Krise
bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer Weltmacht Europa träumen,
die mit Amerika „auf gleicher Augenhöhe" stehen könnte, finden im Konvents-
entwurf wenig Konkretes. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip
Einstimmigkeit unterworfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit
gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär.

mit dem Einigungswerk zu erleichtern, den europäischen Bürger zum „stakeholder" der
g e m e i n s a m e n Z u k u n f t zu machen. Ein symbolträchtiger A n f a n g war mit europäischer
H y m n e . Flagge und dem Euro gelungen.
988
Vgl. J. Habermas (mit J. Derrula), Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas",
in: F A Z vom 31. Mai 2003. auch in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 7
(Juli 2003) S. 877 ff.
342 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Mitgliedstaaten sind in ihren Verfassungswerten, den gemeinsamen Verfas-


sungsüberlieferungen und der jeweiligen nationalen Identität 989 zuweilen ausge-
prägter typisch europäisch als die Europäische Union, die sich unter dem mehr oder
weniger sanften Diktat der Wirtschaftsgemeinschaft eher am Globalen ausrichtet.
P. Häberle sieht in „Europa i. e. S. der Europäischen Union bzw. der Römischen
Verträge (1957) sowie der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997),
f . . . 1 durchaus schon ein Ensemble von Teilverfassungen" verwirklicht, wobei eine
„VollVerfassung" im Sinne des klassischen Verfassungsstaates schon daran schei-
tere, dass Europa kein „Staat" sei. 990 Gleichwohl ist im gemeinschaftsrechtlichen
Kontext der Verfassungsbegriff - wie oben dargestellt - von seinem traditionellen
Staatsbezug zu lösen'" 1 und einer neuen Wirklichkeiten gewachsenen Definiti-
on zuzuführen. Ein Erwachsen in eine erneute „Verfassungsmoderne" auf den
Fundamenten, unter der „Elternschaft" europäischer Verfassungsleitbilder, aber
insbesondere auch im Bewusstsein amerikanischer Verfassungsgestaltung. Ein
identitätsstiftendes Moment erscheint diesbezüglich nicht ausgeschlossen.

Eine weitere Frage (die aufgrund ihrer vordergründigen Loslösung vom gemein-
schaftsrechtlichen Ansatz eher als Inkurs dient) im Kontext der unterschiedlichen
Grundverständnisse umfasst die jeweilige Betrachtung der „Nation".

Hierbei ist zunächst zu konstatieren, dass die Nation in Europa während etwa
zweihundert Jahren in gewisser und freilich höchst eingeschränkter Weise an die
Stelle der Religion getreten ist. Die - wie bereits erwähnt - im 17. Jahrhundert
der Staatlichkeit unterworfene Religion wurde als kriegsauslösendes Element ge-
bannt. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen,
sondern zwischen den Nationen statt, aber die kriegsrelevanten Mechanismen
waren durchaus vergleichbar. Die „Nation" war durch die Romantik ursprünglich
als ein eher kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die
als zu intellektuell empfundene Aufklärung. 9 9 2 Die romantischen Gegenwerte zur
Aufklärung fanden im kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag.
Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die fran-

''s,< Aus der Lit. zur ..nationalen Identität": A. Bleckmann. Die Wahrung der nationalen
Identität im Unionsvertrag, in: JZ 1997, S. 2 6 5 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale
Identität der Mitgliedstaaten, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.). Gedächt-
nisschrift für Eberhard Grabitz. 1995, S. 1 5 7 f f : U.Haltern. Europäischer Kulturkampf.
Zur Wahrung „nationaler Identität" im Unionsvertrag, in: Der Staat 37 (1998), S. 591 ff.;
K. Doehring, Die nationale „Identität" der Mitgliedstaaten der EU. in: O. Duc u. a. (Hrsg.),
Festschrift f ü r U. Everling. 1995, Band I. S. 2 6 3 ff.
990
Siehe P. Häberle, Verfassung als Kultur, in: JöR 49 (2001), S. 125 ff., 132.
991
So auch P. Häberle, ebenda.
992
Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus. von der Vernunft, vom
Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft w u r d e in der Romantik
die Emotion betont, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige. das
Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die G r u p p e .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 343

zösische Revolution nun aber einen identitätsstiftenden Rahmen. Der König, der
als staatliche Identifikationsfigur („L'Etat c'est moi") gedient hatte, war abgesetzt
worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation
in ein politisches umgewandelt, das nun plötzlich zur Bildung von „National-
staaten*' beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas (England,
Frankreich. Spanien) wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen
gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser
Form.

Etwas gänzlich konträres ereignete sich in Amerika: formal wurde freilich


ein Nationalstaat gegründet. Angesichts des umgekehrten Verhältnisses zwischen
Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle allerdings nicht im
staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unter-
schied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und
vor allem in moralischen Kategorien manifestieren.

Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische


Nation begründet sich weitgehend religiös und moralisch. Im Verständnis der Ver-
einigten Staaten spielte das „Gute", für das diese Nation steht, von allem Anfang
an eine zentrale und religiös begründete Rolle. In diesem Zusammenhang erweist
es sich als banale Konsequenz: Wenn es das „Gute" gibt, muss es aber auch das
„Böse" geben. Nach außen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten
identifiziert, und dies auch schon lange bevor die „Achse des Bösen" erfunden
worden ist. Nach innen werden „böse" Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche
Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum „Guten". Hier liegt ein
weiterer Grund für die Inkompatibilität von „existentieller Zugehörigkeit" nach
europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität.

e) Das Demokratieprinzip - Anmerkungen

Die Verfassungsurkunde der USA enthält an keiner Stelle das Wort „demokra-
tisch", eine Unterlassung, die nicht zuletzt aus einer unterschiedlichen Nutzung
der Terminologie im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verstehen ist/">x

Laut E. Fraenkel verstand man zur Zeit der Schaffung der Verfassung unter dem
Wort „demokratisch" lediglich eine unmittelbare Demokratie, wie sie in antiken

w
Von überragend kultureller Bedeutung für die Etablierung des demokratischen
G e d a n k e n s ist neben aller wissenschaftlicher Ansätze bis heute die Lyrik W. Whitmans.
Sein in erweiterten Ausgaben erschienenes Haupwerk „Leaves of G r a s s " (erste Ausgabe
1855. Ausgabe letzter Hand 1891 - 9 2 ) feiert ausdrucksstark den freien Menschen und das
Ideal der amerikanischen Demokratie. W h i t m a n s Werk beeinflusste überdies die Lyrik
Europas, besonders des Expressionismus. Er selbst sah manche seine Wurzeln w i e d e r u m
dort, unter a n d e r e m bei Homer. Shakespeare und Goethe und im Pathos der italienischen
Oper. Hierzu D. Reynolds. Walt W h i t m a n s America. A Cultural Biography, Neuausg. 1996.
344 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Stadtstaaten bestanden hatte und in einzelnen Schweizer Kantonen existierte. 994


Eine auf dem Repräsentativsystem aufgebaute, das Prinzip der Volkssouveränität
zum Mindesten theoretisch respektierende Verfassungsform nannte man ..Repu-
blik". Nur unter Berücksichtigung dieses Sprachgebrauchs ist es voll verständlich,
warum bei der Beratung und Ratifizierung der Verfassung mit solchem Nachdruck
darauf hingewiesen wurde, dass die USA zwar ein „republikanisches", aber kein
„demokratisches" Staatswesen darstellen sollten. 995

Das demokratische Element im Prozess der politischen Willensbildung der


USA wird durch die Tatsache gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu Kontinental-
europa die demokratischen Kräfte sich nicht gegen monarchische, aristokratische,
bürokratische und militärische Kräfte durchzusetzen, sondern ausschließlich mit
der Opposition einer sich in ihren Eigentumsrechten bedroht fühlenden wirtschaft-
lichen Elite zu rechnen hatten. Zudem war der letztliche Sieg der demokratischen
Kräfte nicht durch theoretisch abgeleitete Vorstellungen eines „Gesamtwillens"
beeinfiusst, der die Geltendmachung von Partikularinteressen grundsätzlich aus-
schließt. sondern als eine Erscheinungsform der Wahrnehmung der individuellen
Interessen der sozial nicht differenzierten Siedler des neuerschlossenen Grenz-
raums („frontier") in Erscheinung trat.

Die schrittweise Demokratisierung des amerikanischen Regierungssystems hat


dessen rechtsstaatlichen und pluralistischen Charakter nicht beeinträchtigt (- eine
Erkenntnis, die im Lichte aktueller amerikanischer Außenpolitik und darin strate-
gisch verankerter „Demokratisierungs-Missionen" auch spiegelbildlich Aktualität
beanspruchen könnte). Ebensowenig wie die Doktrinen Rousseaus den ursprüng-
lichen Verfassungstext bestimmt haben, konnten die Theorien der Französischen
Revolution die Fortentwicklung der Verfassungsordnung maßgeblich leiten.

Allerdings verbergen sich (auch) in den USA hinter dem Bekenntnis zur Demo-
kratie zuweilen widerstreitende politische (und in der Demokratietheorie inflatio-
när behandelte) Haltungen:

Eine plebiszitäre Vorstellung der Demokratie, die von der These ausgeht, dass
jede staatliche Hoheitstätigkeit einen Ausfluss eines einheitlichen nationalen „Ge-
meinwillens" darstellen und von ihm getragen werden solle, und eine pluralistische
Vorstellung der Demokratie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jede staatliche
Hoheitstätigkeit die Resultate aus dem Kräftespiel der verschiedenen Gruppen-

994
E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, i 9 6 0 . S . 3 9 f f . sowie //. Wasser;
Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Porträt einer Weltmacht. 2. Auflage 1982 unter
häufiger B e z u g n a h m e auf Fraenkel.
995
Nach der Konzeption der amerikanischen Verfassung kann das G e m e i n w o h l nur
durch das freie Z u s a m m e n s p i e l der Einzelinteressen erreicht werden. Hierzu sind Spiel-
regeln erforderlich, die - z u m Mindesten in der ersten Periode der amerikanischen Ver-
fassungsgeschichte - sehr viel stärker durch rechtsstaatliche und pluralistische als durch
demokratische Gedankengänge bestimmt waren.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 345

willen darstellen und von diesen gebilligt werden solle. Seit dem ausgehenden
18. Jahrhundert respektive seit den Tagen, in denen die „Federalist Papers" ver-
faßt wurden, haben in den USA diese beiden Anschauungen der Demokratie
wiederkehrend miteinander um die Vorherrschaft gerungen. Zuweilen hat dieses
Ringen zu einer Art „Arbeitsteilung" geführt und bewirkt, dass die Ideologie
der Demokratie auf der plebiszitären und die Soziologie der Demokratie auf der
pluralistischen Grundvorstellung vom Wesen der Demokratie aufgebaut war. 996

Die Frage, ob die Verfassung der USA eine republikanische oder eine demo-
kratische ist. beantwortet R.A. Dahl wie folgt: „Madison meint Demokratie, wenn
er repräsentativ, direkt oder indirekt durch das Volk gewählte, republikanische
Regierung sagt." 997

In Europa besteht „demokratische Identität" in der Wahl der Parlamente, zu der


man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner
erleben demokratische Identität weniger in diesem Bereich als darin, Rechte zu
haben, auf die man sich jederzeit gerne zu berufen vermag, und die man als
Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen
kann. Demzufolge erhalten Recht und Justiz in den Vereinigten Staaten eine
gänzlich andere Funktion als in Europa, nämlich letztlich eine in weiten Teilen
politische. 998

In Europa bedeutet übrigens „Politik" unter anderem, dass in den politischen In-
stanzen, insbesondere in den Parlamenten um die Gesetzgebung gestritten wird: die
so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staa-
ten wird um Rechte gestritten: der Staat schafft hierfür nur den äußeren Rahmen.
Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von
Macht direkt - horizontal - in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet,
und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründervätern
dieser Nation die Vorstellung eines „vernünftigen Gemeinwillens" fremd war, der
in Europa der Staatsbildung weitgehend zugrunde liegt. Die „founding fathers"
wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung
zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um
Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können,
den Staat zu stärken.

Die Frage nach den Erscheinungsformen des Demokratieprinzips in der Eu-


ropäischen Union wird oftmals mittels der Benennung der Defizite beantwortet.

996
Vgl. zu alledem E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem, i 9 6 0 . S. 39 ff.
997
Vgl. R.A. Dahl. How Democratic Is the A m e r i c a n Constitution. 2002. S. 5. 161.
998
Vgl. auch G. Haller. Recht - D e m o k r a t i e - Politik. Z u m unterschiedlichen Verständ-
nis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks. Referat anlässlich der Tagung
..Die USA - Innenansichten einer W e l t m a c h t " , 7 . / 8 . Februar 2 0 0 3 an der Katholischen
A k a d e m i e in Bayern. M ü n c h e n , http://www.grethaller.ch/kaih-ak-muenchen.html.
346 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar 9 9 9 , weshalb lediglich einige


Schlaglichter geworfen werden sollen.

Zum einen: Der Inhalt einer Verfassung, ihr Entwicklungsstand bestimmt sich
auch nach der Intensität von Gestaltungswillen und -vermögen der sie umge-
benden oder schaffenden Organe K l 0 0 , insbesondere aber einer sie einfassenden
„demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit" 10 " 1 .

Die nationalstaatlichen Regierungen, die auch die Verfassungsentwicklung der


Europäischen Union unter ihrer Kontrolle haben, sträuben sich weitgehend gegen
eine Verminderung ihres Einflusses. 1002 Solange der Union jedoch eine eigenstän-
dige demokratische Legitimation fehlt, könnte der Einfluss der Regierungen auch
aus normativen Gründen nicht rasch zurückgedrängt werden. Ohne europäische
Medien, europäische Parteien und eine europäische öffentliche Meinung lässt sich
das europäische Demokratiedefizit auch nicht durch bloße Verfassungsreformen
abbauen.

Zum Zweiten besteht der Kern des viel beklagten „europäischen Demokratiede-
fizits" indes darin, dass - bei wachsendem Anteil europäischen Rechts, das auf die
nationalstaatliche Ebene d u r c h g r e i f t - d i e in den Mitgliedstaaten geltenden Partizi-
pationschancen tendenziell entwertet werden. Die nationalen Parlamente sind nur
noch begrenzt zuständig für die Entscheidungen, denen die Bürgerdann unterwor-
fen sind; die nationalen Regierungen sind nur noch begrenzt zur Verantwortung zu
ziehen; die Rechte und Kompetenzen der Länder (in den Bundesstaaten unter den
Mitgliedstaaten) sind weder gegenüber „europäischem Z u g r i f f ' noch gegenüber
der jeweils eigenen Bundesebene gesichert.

999
Vgl. etwa A. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip. in: JZ 2001, S. 53 ff..
57: D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussi-
on. in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl tt. a. (Hrsg.). Europäische Demokra-
tie, 1999: D. Thürer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte,
in: O. Due u. a. (Hrsg.). Festschrift für U. Everling. 1995. Band 2. S. 1561 ff.: M. Kaufmann.
Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle
des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften
und Staatspraxis 1992, S. 3 4 9 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die
Verwaltung 29 (1993). S . 4 4 9 ff.; H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische
Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.; D. Murswiek. Maastricht und der pouvoir
constituant. in: Der Staat 32 (1993), S. 191 ff.
1000
Es stellt sich allerdings die Frage, welchem Organbegriff Institutionen zuzuordnen
sind, die eine Verfassung erst schaffen: Verfassungsorganc werden selbst in der Regel erst
durch eine Verfassung gebildet.
1001 p Hüberle sieht diese demokratische - pluralistische - Öffentlichkeit als Beteiligte
an Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Verfassungslehre als Kulturwissen-
schaft. 2. Aufl. 1998. S. 2 3 5 ff. und in: Verfassung als öffentlicher Prozess. 2. Aufl. 1996.
S. 198 ff.).
1002
Vgl. F. Scharpf. Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deut-
scher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift. 1985. S. 323 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 347

Zur Evaluation"" 3 : auf europäischer Ebene sind die Beteiligungsmöglichkeiten


der Bürger vom Umfang betrachtet mager und angesichts ihrer Relevanz dürftig.
Auf Sachentscheidungen ist den Bürgern keinerlei Einfluss eingeräumt; unter per-
sonellen Gesichtspunkten entsprechen die gewährten Möglichkeiten kaum dem
Kriterium der „meaningful elections". Auch der Differenzierungsgrad der Beteili-
gungsmöglichkeiten ist gering. Es findet keine Differenzierung nach Stadien des
Entscheidungsprozesses statt; hinsichtlich der Entscheidungsebenen ist eher ein
Minus zu konstatieren, da die europäische Ebene die Chancen effektiver Betei-
ligung auf mitgliedstaatlicher Ebene verringert. Nur nach Sektoren gibt es eine
gewisse Differenzierung, wenn auch nur informell: Über Anhörungen und den
Zugang zu europäischen Politiknetzwerken gelingt es sektoralen Eliten, aber auch
NGOs durchaus, den europäischen Entscheidungsprozess - ggf. sogar im Stadium
des agenda-setting - zu beeinflussen. Zudem ist das Kriterium der Kontestier-
barkeit nur marginal erfüllt. Der EuGH kann zwar gegen die Mitgliedstaaten
angerufen werden, kaum jedoch gegen europäische Entscheidungen. 1(104

Die Mitgliedstaaten bleiben abseits der EU-Regelungsbereiche weitgehend auto-


nom. Mangels vertraglicher Kompetenzabgrenzung sind ihre Autonomiebereiche
indessen nicht „gesichert"; auch verringert sich die Schutzwirkung mitglied-
staatlicher Autonomiegarantien gegenüber ihren Untereinheiten. Dagegen werden
individuelle Autonomieansprüche gegenüber mitgliedstaatlicher Politik durch De-
regulierung sowie dank des Wirkens des EuGH tendenziell gestärkt.

Über das nationalstaatliche Veto sowie das Bemühen der Kommission um


Einbeziehung organisierter Interessen ist die Inklusivität des europäischen Ent-
scheidungssystems vergleichsweise hoch. Allerdings verfügen Bürger(-gruppen)
und Interessenten über keine zuverlässige (einklagbare) Möglichkeit, Inklusion
zu erlangen. Das Kriterium der „politischen Gleichheit" (ob nun wünschenswert
oder nicht) ist definitiv nicht erfüllt. Weder im Europäischen Parlament noch
(vermittelt) im Rat sind die europäischen „Völker" mit gleichem Stimmrecht
vertreten.

Auch hinsichtlich der Angemessenheit des Entscheidungssystems für die Ge-


sellschaftsstruktur sind Defizite zu vermelden: Das System berücksichtigt die
große Heterogenität und mehrdimensionale Segmentierung nur unzureichend. 1 0 0 5

1003
Vgl. auch H. Abromeit, Ein M a ß für Demokratie? Europäische Demokratien im
Vergleich. Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. M ä r z 2001, 2001.
lom
Siehe aber Art. 2 3 0 EGV.
loos pQ,- // Abromeit, Ein M a ß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich.
Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. März 2 0 0 1 . 2 0 0 1 . gilt das in zweierlei
Hinsicht: „(1) Tiefe S e g m e n t i e r u n g der Gesellschaft legt .konsoziative' Entscheidungs-
strukturen an der Spitze nahe. In der Tat verfügt nach Ansicht etlicher Beobachter die EU
über alle wesentlichen M e r k m a l e einer konsoziationalen Politie. vom .power-sharing at
the t o p ' über das Prinzip der Proportionalität bis hin zur Autonomie der Segmente. Bei
348 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die bisherigen Demokratisierungsversuche laufen weitgehend auf Parlamenta-


risierung (und damit den Abbau der konsoziativen Elemente hinaus, setzen sie
doch majoritäre an die Stelle von Konsenspolitik). Mehrheitsentscheidungen im
Entscheidungszentrum werden aber weder der Heterogenität der Gesellschaft noch
der Mehrdimensionalität der Segmentierung noch gar der „variablen Geometrie"
europäischer Politik gerecht.

Die europäische Demokratie ist vor allem die Aufgabe der Bürger und der
Politik in den Mitgliedsstaaten. Eine europaweite bzw. europäische Öffentlich-
keit - von Fachleuten. Wirtschaft und Verbänden abgesehen - gibt es bisher in
breiten Bürger- und Wählerschichten kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass sich
dies in absehbarer Zeit ändern wird - insbesondere angesichts der kommenden
Erweiterungen der Union. Ohne eine europäische Öffentlichkeit würde aber auch
eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments nicht vielmehr Demokratie
als lediglich formale Zurechnung erreichen.

Die Charakterisierung des Demokratiedilemmas der Europäischen Union als


Demokratiedefizit legt es nahe, das Defizit durch eine Stärkung des Europäischen
Parlaments zu reduzieren. Weniger formal erscheint es, weiterhin darauf abzustel-
len, dass in den Öffentlichkeiten der Mitgliedsstaaten und in ihren Parlamenten
europäische Probleme und Fragen immer und transparent auf der Tagesordnung
stehen, um die „Rückkoppelung" europäischer Politik an die Volksvertretungen
der Mitgliedsstaaten zu gewähren.

Das wohltuende Bestehen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts


auf „lebendiger Demokratie" 1 0 0 6 in den Mitgliedsstaaten ist wahrscheinlich noch
auf lange Zeit wichtiger für Europa als Straßburg oder rechtliche Dispute über
Kompetenzvorschriften in Luxemburg. Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele
Demokratien pluralistischer, offener, sachlicher, weniger hierarchisch, fairer ge-
worden. Von der Fortdauer dieser nationalstaatlichen Veränderungen hängt unsere
Zukunft ab.

Am Ende des Verfassungskonvents von Philadelphia im Jahne 1787 wurde


laut einer inflationär zitierten Anekdote B. Franklin von einer Mrs. Pawel gefragt:
„Was haben wir denn nun, Doktor, eine Republik oder eine Monarchie?" Franklins

g e n a u e r e m Hinsehen hapert es aber nicht nur an der Proportionalität; es fehlt vielmehr


ein entscheidender Aspekt des Konsoziationaüsmus. nämlich die systematische Einbezie-
hung auch, wenn nicht gar vor allem der mc/iMerritorialen Gesellschaftssegmente. Das
europäische Elitenkartell ist eindimensional territorial und damit . f ö d e r a t i v ' : Machttei-
lung. Proportionalität und Autonomie gelten nur f ü r die Mitglied.v/««/en: Eliten aus den
übrigen S e g m e n t e n sind nicht einbezogen, verfügen über keine Einspruchsrechte, setzen
ihre Ansprüche am besten durch Liaison mit der einen oder anderen Regierung durch.
(2) Der europäische K o n s o z i a t i o n a ü s m u s ist einseitig .bürokratisch' und gilt vor allem
angelsächsischen Beobachtern als größtes Demokratisierungshindernis."
1006
..Maastricht-Entscheidung" ( B V e r f G E 89. 155).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 349

Antwort war: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt" („A republic if you
can keep it"). Diese Aufgabe ist eine dauernde - auf beiden Seiten des Atlantiks.
Im Falle Amerikas hat es u. a. einen Bürgerkrieg gebraucht, und dann noch viele
Jahrzehnte, um eine integrierte Republik zu erreichen.

f) Inkurs: Verbreitung direkt demokratischer Elemente

Als prominentes Beispiel mit weit zurückreichender Tradition der Direktde-


mokratie dürfen die amerikanischen Bundesstaaten angesehen werden, in denen
teilweise seit der Gründungszeit direktdemokratische Mitbestimmungsformen
praktiziert werden. Sie gelten daher wie die Schweiz als Pioniere der Direkten
Demokratie."® 7

Geografisch zeigt sich der Schwerpunkt in den USA vor allem im Westen und
Mittleren Westen. 1008 Nationale Referenden sind in der amerikanischen Verfassung
nicht vorgesehen. Auf der Ebene der Bundesstaaten hat sich dagegen das Instru-
mentarium der Direkten Demokratie, bis hinab auf die lokale Ebene, weitgehend
durchgesetzt. In allen Bundesstaaten sind darüberhinaus auch Anordnungen von
Volksabstimmungen aufgrund von Behördenbeschlüssen möglich („legislative
referendum").

In einer aktuellen Bewertung europäischer Staaten rangiert die Schweiz an


oberster Stelle, Liechtenstein folgt gemeinsam mit Italien. Slowenien und Lettland
in der zweiten Kategorie. 10119 Eine weitere Gruppe bilden Irland. Dänemark und
Litauen, bevor in einer nächsten, niedrigeren Stufe die Slowakei, die Niederlande,

loo- g j k t zahlreiche Studien und Untersuchungen zur Direkten Demokratie in den


amerikanischen Bundesstaaten, vgl. etwa R.J. Ellis, Democratic Delusions. T h e Initiative
Process in A m e r i c a , 2002; L LeDuc, T h e Politics of Direct Democracy. Referendums in
Global Perspective. 2003: L. LeDuc!R.G. Nieini!R Norris (Hrsg.), C o m p a r i n g Democra-
cies. Elections and Voting in Global Perspective. 1996: S.L. Piott. Giving Voters a Voice.
The Origins of the Initiative and Referendum in America. 2003: J. F. Zimmerman, T h e Re-
ferendum. T h e People Decide Public Policy, 2001: C. Stelzenmüller, Direkte Demokratie in
den Vereinigten Staaten von Amerika. 1994: LJ. Sabato!H.R. Ernst!B.A. Larson (Hrsg.),
Dangerous D e m o c r a c y ? T h e battle over ballot initiative in A m e r i c a . 2001; vgl auch den
Überblick zu direktdemokratischen Institutionen in den Gliedstaaten bei S. Xtöckli. Direkte
Demokratie in den USA. in: JöR 44 (1996). S. 565 ff.
loos z w j s c h c n 1904 und 2002 n a h m e n O r e g o n mit 3 2 5 A b s t i m m u n g e n . Californien
(279). C o l o r a d o (183), North Dakota (168) und Arizona (154) die Spitzenposition nach
Zahl an Volksabstimmungen auf Bundesstaatenebene ein. vgl. D.M. Waters, Initiative and
Referendum A l m a n a c , 2003.
ioo<? p a s initiative&Referendum Institut in A m s t e r d a m hat die 15 EU-Mitgliedsstaa-
ten. die (damals) 13 Beitrittskandidaten sowie die vier E F T A - L ä n d e r Island. Norwegen.
Liechtenstein und die Schweiz hinsichtlich ihrer direktdemokratischen Qualitäten bewertet
und rangiert. Als Qualifikationskriterien wurden die folgenden drei festgelegt: Existieren
direktdemokratische Verfahren auf nationaler E b e n e ? Können solche Verfahren vom Volk
lanciert werden, etwa in Form von Initiativen und Referenden? Sind obligatorische Rc-
350 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Frankreich. Spanien, Österreich und Portugal zu finden sind. Nach Großbritannien.


Finnland, Estland und Belgien folgt erst Deutschland in einer Kategorie mit
Island, Griechenland und der Tschechischen Republik. Die Schlusslichter sind
nach Rumänien, Bulgarien und Malta letztlich Zypern und die Türkei.

Auf der Landkarte zeigt sich kein eindeutiger geografischer Schwerpunkt der
Direkten Demokratie in Europa. Richtung Balkanländer und Osten mag vorder-
gründig eine zurückhaltendere Einstellung zur Direkten Demokratie herrschen.
Aber auch das ist kein durchgängiges Schema, da beispielsweise Lettland, die Slo-
wakei und Slowenien zu den Staaten mit gut ausgebauten direktdemokratischen
Rechten gehören.

Insgesamt kann im 20. Jahrhundert eine kontinuierliche Zunahme der direktde-


mokratischen Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene festgestellt werden. 1 0 , 0
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits wurden in vielen Staaten im Verlaufe
des 20. Jahrhunderts die Rechtsgrundlagen für direkte Volksbeteiligung geschaf-
fen. 1011 Andererseits wurde aber auch in Staaten, die dieses Recht bereits kannten,
vermehrt davon Gebrauch gemacht. Gerade in Europa haben die staatlichen Neu-
ordnungen im früheren Einflussbereich der Sowjetunion zu einer hohen Zahl von
Abstimmungen über neue Verfassungen geführt. Eine zweite Abstimmungswelle
ist schließlich mit dem europäischen Integrationsprozess verbunden, indem vor al-
lem über den Beitritt zur Europäischen Union und über verschiedene europäische
Verträge und insbesondere über die Einführung des Euro abgestimmt wurde. Der
Europäische Verfassungsvertrag hat(te) bekanntlich weitere Volksabstimmungen
auf nationaler Ebene zur Folge.

g) Das Verhältnis zwischen Recht und ..Moral", Souveränitätsverzicht

Nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg verdeutlichte aber


erneut, wie unterschiedlich Europa und die Vereinigten Staaten das Verhältnis
zwischen Recht und Moral handhaben. Die Aufklärung hat im europäischen

ferenden vorgesehen? Im Ranking des Jahres 2 0 0 3 rangierte Liechtenstein aus der Sicht
des IR1 noch g e m e i n s a m mit der Schweiz in der ersten Kategorie, wurde aber a u f g r u n d
der Erfahrungen rund um die Volksabstimmung vom 16. März 2 0 0 3 zurückgestuft. (Den
Ausschlag für diese Zurückstufung d ü r f t e die herausragende Stellung des Staatsoberhaup-
tes geben, d e m es freigestellt ist. vom Volk beschlossene Vorlagen zu sanktionieren. Im
Zuge der Auseinandersetzung über die Verfassungsrevision drohte das Staatsoberhaupt
auch tatsächlich damit, die ihm nicht genehme Gegenvorlage im Falle einer Volksmehrheit
nicht zu sanktionieren.) Siehe zu alledem IRI Europe (Hrsg.). IRI Europe Country Index on
Citizenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices
of 32 European States. 2 0 0 3 sowie 2004.
10.0
In den D o p p e l d e k a d e n ist die Zahl der Volksabstimmungen von rund 50 (1901 -
1920) auf etwa 350 (1981 - 2 0 0 0 ) gestiegen.
10.1
Vgl. L LeDuc. T h e Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspec-
tive. 2003. S. 20 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 351

Rechtsdenken Recht und Moral getrennt. Die politische Auseinandersetzung über


die Gesetzgebung stellt zwar verschiedene Moralvorstellungen gegeneinander, und
diese werden in der Regel ausdiskutiert. Das daraus hervorgehende Recht ist jedoch
moralisch neutral. Auch der Straftäter hat seine Würde, er ist nicht moralisch
verwerflich, sondern nur rechtlich strafbar. Weltweit ist dieser aufklärerische
Gedanke in den Menschenrechten umgesetzt worden. Das US-amerikanische
Rechtsdenken scheidet demgegenüber Recht und Moral weit weniger extensiv.
US-amerikanische Straftäter gelten als „moralisch schlecht." das US-Strafrecht
kennt im Gegensatz zu Europa auch deutlich den Rachegedanken.

In Europa hat auch der Souveränitätsverzicht 1012 der Staaten die Überwindung
des moralischen Rasters von „gut und böse" ermöglicht. Wenn westeuropäische
Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig
nicht als „böse". Diese Kategorie ist definitiv überwunden. Ohne Souveränitäts-
verzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses
wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von „gut" und „böse". Dieser Zusam-
menhang ist wieder höchst aktuell geworden, indem die „Koalition der ,Willigen"
nämlich eine moralische Kategorie darstellt, die mit .gut und böse' operiert. 1 0 , 3

Dies hat aber unter anderem zur Folge, dass der Intensitätsgrad der Freund-
schaft mit den Vereinigten Staaten für nicht wenige gleichbedeutend ist mit dem
Intensitätsgrad der Akzeptanz durch die Staatengemeinschaft ganz allgemein. Aus
US-amerikanischer Sicht trifft dies zu. Aus europäischer Sicht ist es aber keines-
wegs richtig, im Gegenteil: gerade in der deutschen (politischen wie öffentlichen)
Diskussion geht man - zusammen mit zahlreichen Staaten in anderen Kontinen-
ten - davon aus, dass man sich zunehmend auf eine Völkerrechtsordnung einigen
wolle, auch indem man sich zunehmende Souveränitätsverzichte leisten würde.

Von Interesse ist nicht nur im Hinblick auf aktuelle Friktionsfelder im trans-
atlantischen Verhältnis die zentrale Bedeutung des Völkerrechts und des Souve-
ränitätsverzichtes, beides alte europäische Errungenschaften. Der Souveränitäts-
verzicht der Staaten zugunsten einer völkerrechtlichen Ordnung wurde in Europa
im Westfälischen Frieden 1648 begründet. Ein in seiner Wirkkraft ähnlich „glück-
licher globaler M o m e n t " ereignete sich in der zweiten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts: Erstmals findet ein Prozess statt, der zu einer bislang tragfähigen

" " 2 Vgl. bereits P. Hiiberle. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souve-
ränität. in: AöR 92 (1967), S. 259 ff. Siehe auch S. Oeter, Souveränität und Demokratie als
Problem in der Verfassungsordnung der EU. in: ZaöRV 55 (1995), S. 659 ff.
1013
Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ist das US-amerikanische Na-
tionalgefühl zutiefst getroffen worden. In der Folge betrachteten die Vereinigten Staaten
das in ihrer Nation verkörperte ..Gute" als so bedroht, dass alle anderen, universell gelten-
den Werte daneben zurücktraten, so auch die Menschenrechte von G e f a n g e n e n , die des
Terrorismus verdächtigt werden (Stichworte wie „ G u a n t a n a m o " und ..Abu G h r a i b " sollen
an dieser Stelle genügen).
352 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Friedensordnung führt, und zwar aufgrund des Souveränitätsverzichtes von Staa-


ten, und nicht - wie vormals etabliert - als Resultat von Kriegen, etwa mittels
Anordnungen der siegreichen Kriegspartei(en). Die Unterordnung der Macht un-
ter das Recht hat sich in der Europäischen Union zum ersten Mal institutionalisiert
und bildet letztlich das Fundament der europäischen Integration.

Manche heutige transatlantische Auseinandersetzung fand vergleichbar bereits


während des Kalten Krieges statt, aber es war öffentlich weniger sichtbar, da
sich die USA relativ „europäisch" zu verhalten wussten. Differenzen innerhalb
der „westlichen Staatengemeinschaft" galt es weitgehend zu vermeiden. Seit
1989/90 ist jedoch in Washington ein Paradigmenwechsel festzustellen. Seit dem
ersten Golf-Krieg wird die Liste der völkerrechtlichen Verträge immer länger, bei
welchen die USA Abstinenz üben. Die Vereinigten Staaten sind offensichtlich
immer weniger bereit, einen Souveränitätsverzicht zugunsten des Völkerrechtes
zu leisten und sich in eine weltweite Ordnung einzugliedern. Der europäische Weg,
die Macht ins Recht einzubinden, wird von den USA spiegelbildlich, gleichwohl
retrograd begangen. 1014

Für Europäer ist der erste, ursprüngliche und individuelle Souveränitätsverzicht


zugunsten des Staates etwas so Selbstverständliches, dass dieser Gedanke im
Bewusstsein meist nicht einmal mehr als eine eigene Kategorie existiert. An
dieser Stelle greift erneut der Begriff der staatspolitischcn Identität der Europäer.
Es ist dieser Kernpunkt der europäischen Ideengeschichte, den Generationen von
Auswanderern in die Neue Welt im Namen einer „neuen Freiheit" ablehnten, um
von nun an dieselbe Fragestellung aus einem Blickwinkel anzugehen, der sich
nahezu diametral vom europäischen unterscheidet. In Europa erreicht man Freiheit
und Sicherheit durch den ursprünglichen und individuellen Souveränitätsverzicht
zugunsten der Staatlichkeit. In den Vereinigten Staaten geht man von einem
anderen Freiheitsbegriff aus: man erstrebt die Freiheit von dieser Staatlichkeit.

Auch in aktuellen (außen)politischen Fragen geraten die beiden transatlantisch


unterschiedlichen Freiheitskonzepte in Konflikt, ohne dabei einer gewissen Lo-
gik zu entbehren. Mit dem Konzept der „Koalition der Willigen" erheben die

1014
Vgl. zu den G r u n d f r a g e n des transatlantischen Verhältnisses (insb. mit Blick auf
den Konflikt um das iranische N u k l e a r p r o g r a m m ) K. T. zu Gutrenberg. Transatlantische
Festigkeit gegenüber Iran. Keine Alternative zur einheitlichen Verhandlungsstrategie, in:
N Z Z vom 1 4 . 9 . 2 0 0 5 , S. 5 sowie K.-T. zu Gurtenberg/R. Mützenich. Locken und Abschre-
cken. Nur g e m e i n s a m und mit einer Doppel-Strategie können Europa und die USA Iran zur
Aufgabe des A t o m p r o g r a m m s bewegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. 11.05, S. 2 und
zuletzt dies., Es ist an Teheran, den nächsten Schritt zu tun. Iran ist es im Atomstreit nicht
gelungen, die internationale G e m e i n s c h a f t zu spalten, in: Financial T i m e s Deutschland
vom 1 2 . 6 . 2 0 0 6 : z u d e m : K.-T. zu Guttenberg, Vertrauen statt Marktgeschrei, in: Bayern-
kurier vom 28. 1 . 2 0 0 6 : siehe auch die Bundestagsreden des Verf. vom 1 6 . 1 2 . 2 0 0 5 . vom
1 5 . 3 . 2 0 0 6 . vom 1 0 . 3 . 2 0 0 6 sowie vom 6 . 4 . 2 0 0 6 (BT-Plenarprotokolle des jeweiligen
Sitzungstages).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 353

Vereinigten Staaten nämlich eine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die
völkerrechtliche Ebene. Hinsichtlich des Souveränitätsverzichts ist eine klare
Analogie feststellbar:

Nachdem die amerikanische Interpretation von „Freiwilligkeit" im individuel-


len Bereich bedeutet, dass sich das Individuum keinen rechtlichen, und somit für
alle gleichermaßen geltenden Vorgaben unterziehen will (um nicht auf seine sou-
veräne „Ur-Freiheit" zugunsten einer gemeinsamen Rechtsordnung zu verzichten,
wollen sich offensichtlich auch die Vereinigten Staaten in Zukunft offenbar keinen
Vorabsprachen mit ihren Alliierten mehr unterziehen (da sie uneingeschränkte
und absolute Souveränität beanspruchen und wenig Bereitschaft zeigen, auch nur
den geringsten Verzicht auf diese Souveränität einzugehen). „Freiwilligkeit" nach
amerikanischem Muster ist der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsver-
zicht, genau so wie die Freiwilligkeit im Sinne der „Koalition der Willigen" nach
US-amerikanischer Vorstellung der Gegenbegriff zum Souveränitätsverzicht der
Staaten darstellt.

h) Finalität - die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung

Die im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union lebhaft,


zuweilen unmäßig geführte Diskussion über die „Grenzen Europas" und die
Finalität der Europäischen Union bietet ebenfalls Anlass zu einem Blick auf den
amerikanischen Umgang mit vergleichbaren Fragestellungen. So wie heute nicht
klar ist, wo die Europäische Union ihre geographischen Grenzen finden wird, war
auch zum Zeitpunkt der amerikanischen Verfassunggebung nicht absehbar, wie
groß der amerikanische Staat eines Tages werden könnte.

Die Amerikaner entschieden sich dafür, diese Frage offen zu lassen, und in
jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Territorium Mitglied der Union werden kann.

Die Expansion auf dem nordamerikanischen Kontinent zählt zu den wichtigsten


Determinanten der US-Geschichte. Zwei Aspekte dieses Prozesses griffen inein-
ander: die Sicherung der eigenen Vorherrschaft gegen europäische Kolonialmäch-
te (Monroe-Doktrin, 1823) und das ständige Verschieben der Siedlungsgrenze
(„frontier") nach Westen. 1 0 , 5 Auch wenn das Leben der Siedler nur wenig mit dem

1015
Durch die Abtretung aller einzelstaatlichen Landansprüche an den Kongress. die
rechtliche Vorbereitung weiterer Einzelstaatsgründungen (Northwest Ordinance) und den
Kauf Louisianas von Frankreich (1803) war die Voraussetzung für die Erschließung des
Westens geschaffen worden. Mit der Annexion von Texas (1845), d e m Kompromiss mit
England über Oregon und die nach dem Krieg mit Mexiko ( 1 8 4 6 - 4 8 ) v o r g e n o m m e n e
Angliederung Kaliforniens und N e w Mexikos war Mitte des 19. Jahrhunderts die konti-
nentale Expansion abgeschlossen. Dazu etwa das klassische Werk von S.E. Morison u. a.,
T h e G r o w t h of the A m e r i c a n Republic, 2 Bde.. 1930: vgl. auch A.M. Schlesinger, T h e
Cycles of A m e r i c a n History. 1986; historische Abrisse aus der deutschsprachigen Lit:
354 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Mythos des Westens" geniein hatte und die Bedeutung der „Frontier" für die
Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft gelegentlich überschätzt worden
ist, spielt sie für die „kollektive Identität" der Amerikaner bis heute eine wichtige
Rolle.

Auch wenn sich die „Erweiterung" der USA bis an den pazifischen Ozean zu-
gegebenermaßen durch den Zukauf bzw. die Einvernahme im Wesentlichen leerer
Territorien vollzogen hat: Der Akzeptanz der Grundwerte und Gesetze der Union
(etwa im Falle von Utah und Texas) kam dennoch zentrale Bedeutung zu. Hier darf
durchaus eine Parallele zu der von der Europäischen Union verlangten Erfüllung
der „Kopenhagener Kriterien" seitens der Beitrittskandidaten gesehen werden.
Damit stellt die Europäische Union ebenso wie die USA die Bedeutung gemein-
samer Werte, Rechtsnormen und Wirtschaftsverfassungen in den Mittelpunkt.
Insoweit sich die USA an ihr eigenes „Erweiterungskonzept" gehalten haben, ist
es ihnen gelungen, ganz unterschiedliche Territorien in ihr föderales System zu
integrieren. Die Geschichte der USA zeigt zwar, dass es vermessen ist zu glauben,
man könne aus einem notwendigerweise begrenzten historischen Blickwinkel
heraus die zukünftigen Grenzen eines politischen Gemeinwesens absehen und
festlegen, gleichwohl lässt sich aus diesem Argument im Umkehrschluss keine
eigene Erweiterungsdynamik festschreiben.

i) Ausgewählte institutionelle Aspekte

Wer Amerika begreifen will, bemerkte A. de Tocqueville, muss vor allem seine
politischen Einrichtungen verstehen. Weil aber die politischen Einrichtungen eines
Gemeinwesens nur soviel wert sind, wie der in ihnen vorhandene Geist, kann man
die Amerikaner nur begreifen, wenn man „die verschiedenen Meinungen, die
unter ihnen gelten und [... 1 die Gesamtheit der Ideen, aus denen sich die geistigen
Gewohnheiten bilden" 1 0 1 6 zu verstehen sucht.

Die amerikanische Präsidialdemokratie unterscheidet sich in vielfältiger Hin-


sicht von der in Europa, zumal in Deutschland vertrauten parlamentarischen Regie-
rungsweise. Sie setzt auf Institutionentrennung, also auf die Unvereinbarkeit von
(Regierungs-)Amt und parlamentarischem Mandat, wo hingegen im parlamenta-
rischen Herrschaftssystem die Institutionen personell und funktional miteinander
verzahnt sind. Mitglieder der Regierung normalerweise auch ein Mandat inneha-
ben und Regierung wie Parlament wechselseitig unter bestimmten verfassungs-
rechtlichen Voraussetzungen ihren Sturz bewerkstelligen bzw. eine Auflösungsor-
der erwirken können. Das amerikanische System setzt dagegen auf Koordination
der getrennt organisierten Institutionen im politischen Willensbildungs- und Ent-

H.R. Guggisberg. Geschichte der U S A . 2. Aufl. 1988; P. Lösche. A m e r i k a in Perspektive.


Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten. 1989.
11116
A. de Toqueville. Über die Demokratie in A m e r i k a , Neuauflage 1976. S. 332.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 355

scheidungsprozess. Solche „ f o r m a l e n " Gegensätzlichkeiten zeitigen politische


Konsequenzen: Die Vereinigten Staaten kennen im Allgemeinen weder Regie-
rungskrisen im europäischen Sinne noch den bei uns häufig beklagten Prozess der
Entmachtung des Parlaments durch den Exekutivapparat, weisen also insgesamt
ein hohes M a ß an politischer Stabilität auf.

Zudem: die USA haben mit d e m Präsidenten einen Akteur, der mit einer
Stimme spricht und über ein Entscheidungsinstrumentarium voll verfügt. Ent-
scheidungen herbeizuführen ist auf beiden Seiten des Atlantiks langwierig; bei
der A u s f ü h r u n g sind die USA indessen der Europäischen Union weit voraus. Dies
ergibt sich nicht zwingend aus der Verfassung selbst, nach der dem Präsidenten,
indirekt gewählt, kein umfassendes Machtmonopol zugedacht war, sondern ist
ein Ergebnis der Verfassungsentwicklung. Der Gedanke, ob Europa mit einer
vergleichbaren Exekutivspitze zu versehen sein könnte, ohne dass dabei die Fra-
ge der Direktlegitimation unbedingt im Vordergrund stehen müsste, bleibt auch
nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrages aktuell. Zweitens ist der
Kongress kein Parlament, das die Exekutive wählt und stützt, sondern ein eigenes
Machtzentrum, mit dem das Weiße Haus ständig verhandeln muss. 1017

Ein interessanter transatlantischer Vergleich offenbart sich im Bereich institu-


tioneller Fortentwicklungen. Als Beispiel dürfen hierbei das erst 1913 durch den
Federal Reserve Act errichtete Federal Reserve System und das Europäische Zen-
tralhank (EZB) - System dienen. 1 0 1 8 Die heute mit globaler Wirkkraft versehene
W ä h r u n g „Dollar" ist nicht, um mit R. Scliuman zu sprechen, „auf einen Schlag"
entstanden. Z w a r hatten die USA seit der Gründung eine „gemeinsame" Währung.
Selbige bestand jedoch noch bis Ende des Bürgerkriegs aus etwa 10.000 unter-

"" Der amerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative
der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die g e m e i n s a m e
Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentan-
tenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt. Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das
Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht
für die Handelsgesetzgebung, was aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority,
insbesondere f ü r die Verhandlungen im R a h m e n der Doha Development Agenda eine
Schlüsselrolle darstellt. Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter dar-
über hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen
im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von e n o r m e r Bedeu-
tung ist (- der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses R. Lugar spielte eine
in der europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, gleichwohl höchst bedeutsame
Mittlerfunktion im europäischen Erweiterungs- und Annäherungsprozess -) und eine wich-
tige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zustimmungsbedürftigkeil
durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten der Administration
stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar.
i o i s Vgl. auch G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-
winkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. Die
in vielen Verfassungsstaaten eingerichteten Rechnungshöfe vergleicht H. Schulze-Fielitz,
Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, in: V V D S t R L 55 (1996). S. 231 ff.
356 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

schiedlichen Banknoten. Erst im Jahre 1914 wurden sie durch „Federal Reserve
Notes", den „einheitlichen" Dollar, ersetzt. Ebenso gibt es strukturelle Ähnlich-
keiten zwischen der Federal Reserve und dem EZB System: Das ..Board" besteht
aus sieben Mitgliedern (das EZB Direktorium aus sechs) und zwölf Vertretern
regionaler Distrikte (auch die EZB zählt gegenwärtig in ihrem Erweiterten Rat
zwölf stimmberechtigte nationale Zentralbankpräsidenten), wobei der Präsident
der „New York Fed" „geborener" Stellvertreter des „Fed Chairman" und perma-
nent stimmberechtigt ist, während durch ein Rotationsverfahren nur vier weitere
der zwölf regionalen Vertreter für jeweils ein Jahr ein volles Stimmrecht haben. Der
wesentliche Unterschied in diesem Kontext zwischen den Vereinigten Staaten und
der Europäischen Union ist allerdings verfassungsgeschichtlicher Natur: während
die monetären Zwänge erst 126 Jahre nach der Verfassungsgebung zur Gründung
des Zentralen Währungssystems der USA führten, hat sich die Europäische Union
eine „einheitliche" Währung und ein voll strukturiertes Zentralbanksystem zuge-
legt. bevor der Prozess der Verfassungsgebung im eigentlichen Sinne überhaupt
eingesetzt hat.

j) Europäische Grundrechtecharta - Bill of Rights

Der Diskussionsprozess um die Europäische Grundrechtecharta 1 " 1 9 verdeut-


licht bemerkenswerte Parallelen zu der amerikanischen Grundrechtsdebatte im
18. Jahrhundert 1020 - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen hinsichtlich der Rei-
henfolge von Verfassung zu übergreifendem Grundrechtekatalog. Der europäische
Grundrechtskatalog ist im Gegensatz zur „Bill of Rights" des Jahres 1789 und
etwa auch des 13. Verfassungszusatzes von 1865 (Abschaffung der Sklaverei)
inhaltlich schon vor einer „europäischen Verfassung" einvernehmlich beschlossen
worden.

Auch in Europa polarisierten die Begriffe „Föderation" und „Verfassung" diese


gegensätzlichen Zielvorstellungen wie seinerzeit - mutatis mutandis - den Konflikt
zwischen „Föderalisten" und „Antiföderalisten" in der Entstehungsgeschichte der
Vereinigten Staaten. So sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass es im
Verfassungskonvent von 1787 gerade auch um den Übergang von dem noch locke-
ren vertraglichen Staatenbund von 1781, der sich allerdings auch schon „United
States of America" nannte, zu einem relativ stark zentralisierten Bundesstaat ging,
von den „Articles of Confederation and Permanent Union of the States . . . " zur
noch lückenhaften „Constitution for the United States of America". Der Konvent
von 1787 war noch der Auffassung, die Individualrechte seien ausreichend durch
die einzelstaatlichen Verfassungen gewährleistet. 1021 Vervollständigt wurde diese

1019
Vgl. oben B . I I . 2 . 0 Ü ) .
1020
Siehe hier/u bereits ausführlich oben unter B . I . 4 . e ) .
1021
Die „Föderalisten" plädierten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte.
Hamilton. Madison und Jay vertraten in den Federalist Papers die Ansicht. Gerechtigkeit
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 357

föderative Unionsverfassung zunächst schrittweise bis 1804 - insbesondere mit


der „Bill of Rights" - und endgültig erst nach dem Bürgerkrieg mit den bürger-
rechtlichen „Amendments" 13 bis 15 (1865 bis 1870). Erst dann waren nicht nur
die Unionsregierung sondern auch die einzelstaatlichen Regierungen an die Bill
of Rights gebunden.

k) Wertegemeinschaft Europa und USA -


„ever closer union " und „ ever stronger union"

Während der europäische Einigungsprozess die Union auf den Raum des gan-
zen Kontinents bis an die Grenzen Asiens und an den Nahen Osten auszudehnen
imstande scheint und die Europäer vor neue, nicht nur wirtschaftlich-soziale
sondern auch sicherheitspolitische Chancen und Risiken stellt, werden in der
Diskussion über die Zukunft Europas die Fragen nach den gemeinsamen Werten
und Zielen der europäischen Völker immer bedeutender. Bereits J. Monnet hatte
mit seiner Formel der „ever closer union" diese Richtung vorgegeben und damit
auf das amerikanischen Prinzip einer „ever stronger union" (J. Madison) eine
charakterisierende Antwort formuliert. Dass sich die Union von einer Wirtschafts-
zu einer Wertegemeinschaft mit weit mehr als nur wirtschaftspolitischen Aufga-
benstellungen entwickelt und entwickeln soll, ist breiter Konsens, geplant war
diese Entwicklung bei aller Legendenbildung nicht. Das vielfältige Mosaik aus
Institutionen und Verträgen auf dem europäischen Kontinent ist hierfür beredter
Ausdruck. Neben der Westbindung durch das transatlantische Verteidigungsbünd-
nis (NATO) sei hier nur auf die OSZE und vor allem den Europarat hingewiesen.
Letzterer, u. a. eingesetzt für Demokratie und Menschenrechte in Europa und mit
Mitgliedern weit über die europäische Union hinaus bis hin zu Russland, kann in
der Frage der Grund- und Menschenrechte mit der europäischen Union in einen
Konflikt geraten, sollte sich die Grundrechtecharta bzw. der Grundrechtekatalog
im Verfassungsvertrag negativ auf die Menschenrechtskonvention der Straßburger
Organisation auswirken. Welche Werte letztlich die Menschen in der Europäischen
Union verbinden sollen, wird noch Inhalt zahlreicher Debatten. Sicherlich prägen
Traditionen und Kulturgeschichte der Völker diese Werte entscheidend mit. Über
die Frage religiöser Werte entbrannte unlängst mit dem Aufnahmegesuch der Tür-
kei und dem Beginn der Beitrittsverhandlungen ein heftiger Streit zwischen den
Befürwortern einer christlichen und denen einer streng „überreligiösen Verortung"
der europäischen Union. 1 0 "

und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie
gesichert: grundrechtliche Abwehrrechte seien überllüssig, ja schädlich, ließen sie doch
den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich
erlaubt und müsse erst verboten werden. Z u d e m würde so abgelenkt von der letztlich
entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich
in demokratischer Selbstbestimmung äußere.
358 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Frieden, ihre Werte, das Wohlergehen ihrer Völker fordern" und letztlich
„nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschafts-
wachstums und sozialer Gerechtigkeit" 1023 . So definiert bereits Giscards Entwurf
die Ziele der europäischen Union. Vielleicht werden die aus der Nachhaltigkeit
abgeleiteten Prinzipien der Solidarität und Generationengerechtigkeit einmal die
europäische Antwort auf das amerikanische Axiom und Ziel „life, liberty and the
pursuit of happiness" (Articles of Confederation, 1776).

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e

Es besteht eine merkwürdige Divergenz zwischen den Erwartungen und Forde-


rungen jener „Europäer der ersten Stunde", die sich unmittelbar nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges für die politische Einigung Europas eingesetzt und das
Projekt entworfen haben, und denen, die heute vor der Aufgabe stehen, das auf den
Weg gebrachte Projekt fortzusetzen. Auffallend ist nicht nur das „Decrescendo"
der rhetorischen Stimmlagen, sondern auch der Kontrast in den Zielsetzungen. 1024
Während die „erste europakreative Nachkriegsgeneration" die „Vereinigten Staa-
ten von Europa" im Munde führten und den Vergleich mit den USA nicht scheuten,
hat sich die gegenwärtige Diskussion von solchen Vorbildern weitgehend gelöst 1 " 25 .
Selbst der Terminus „Föderalismus" gilt manchen als anstößig.

Mit Habermas ist zu fragen, ob dieser Wechsel des politischen Klimas nur einen
gesunden Realismus - als Ergebnis eines jahrzehntelangen Lernprozesses - aus-
drückt oder eher einen kontraproduktiven Kleinmut, wenn nicht gar schlichten
Defätismus. 1026

Freilich lässt sich unsere heutige europäische Situation kaum plausibel mit
jener der Federalists oder der Mitglieder der Assemblee nationale am Ende des
18. Jahrhunderts vergleichen oder eine klare Kohärenz herstellen. Damals waren
die Verfassungsväter in Philadelphia und die revolutionären Bürger von Paris
Initiatoren und Teilnehmer einer geradezu unerhörten, bislang nicht erfahrenen
Praxis.

1022
H i e r / u beispielsweise auch K.-T. zu Gullenberg, Turkey and the EU. We Need an
Option Short of Füll M e m b e r s h i p , in: European Affairs 6 (2005). S . 3 9 f f . ; ders.. O f f e r
Turkey a .Privileged Partnership" Instead. in: International Herald Tribüne vom 1 5 . 1 2 . 2 0 0 4 :
ders.. Privilegierte Partnerschaft. Jenseits von Entweder-oder: Eine Alternative z u m E U -
Beitritt der Türkei, in: Die Welt vom 3. 1.2004.
1023
C O N V 528/03.
1024
Vgl. auch J. Habermas. W a r u m braucht Europa eine Verfassung?, in: D I E Z E I T
vom 2 8 . 0 6 . 2 0 0 1 , S. 7.
1025
Anders aber T. R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New Superpower and the
End of American Supremacy, 2005.
1026
Siehe J. Habermas (2001).
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 359

Die These von L Kühnhardt, dass eines der Hauptmotive bei der europäischen
Verfassunggebung das Streben nach Unabhängigkeit gegenüber der USA sei, so
wie diese sich mit ihrer Verfassung 1787 endgültig von Großbritannien und Europa
emanzipieren wollten, lässt sich nur schwerlich als zulässige historische Analo-
gienbildung interpretieren. 102 Die sozialen, kulturellen, politischen Kontexte, in
die die beiden Konvente eingebettet waren bzw. sind, machen jedoch die gravie-
renden Unterschiede umso deutlicher: Während die „founding fathers" der USA
eine Verfassung für etwa drei Millionen Menschen schmiedeten und hierbei große
Handlungsfreiheiten genossen, wurde im EU-Konvent über eine Verfassung für
über 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger nachgedacht, von denen viele ganz
unterschiedlich Ideen darüber haben, wie die Verfassung Europas aussehen sollte.
Der EU-Verfassungskonvent war im Übrigen der erste Konvent des Internetzeital-
ters und unterschied sich schon von daher (im Hinblick auf teilweise ausufernde
Versuche der Einflussnahme über dieses Medium) ganz grundsätzlich von frühe-
ren Konventen. Der Vergleich der Verfassunggebungsprozesse bleibt dennoch ein
adäquates Mittel der Analyse des europäischen Verfassungsprozesses. Zwar steht
die systematische Erforschung verfassungsgeschichtlicher Vergleichserfahrungen
noch am Anfang, sie dürfte jedoch zukünftig gerade nach den Erfahrungswerten
im europäischen Verfassungsprozess zunehmend forschungsrelevant werden.

Von den konföderierten Postkolonialstaaten mit ihrer gemeinsamen Geschichte


unterscheiden sich die Nationen Europas mit ihren unterschiedlichen Traditionen.
Kulturen und Wertvorstellungen, den vielfältigen Landessprachen und den his-
torisch gewachsenen, verfassten Demokratien. Dennoch eint beide Prozesse die
Unzufriedenheit mit der Ausgangslage: die existierenden Institutionen erwiesen
und erweisen sich für kommende Aufgaben als zunehmend handlungsunfähig. So
scheitert die Europäische Union wie schon damals die Konföderation beispiels-
weise in der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (wie etwa im
Fall der Irakkrise, in der die Europäischen Union - unter bemerkenswerter Mit-
hilfe des deutschen Bundeskanzlers - keine gemeinsame diplomatische Strategie
entwickeln konnte).

1. Vergleichende Anmerkungen zum Konventsverfahren

Der Europäische Konvent hat vom 28. Februar 2002 bis zum 18. Juli 2003 über
die zukünftige Gestalt der Europäischen Union beraten. Der Konvent basierte als
neuartiges, bislang nicht in den Europäischen Verträgen kodifiziertes Gremium
auf den Erfahrungen, die im Rahmen des ersten Konvents zur Ausarbeitung einer
Europäischen Grundrechtecharta gesammelt wurden. 1028

1027
L. Kühnhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struktu-
rentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.
1028
Vgl. zu Struktur und Arbeitsweise des Konvents auch J. Meyer!S. Hartleif, Die
Konventsidee, in: Zeitschrift f ü r Parlamentsfragen. 2 / 2 0 0 2 . S. 2 6 8 ff.: P. Zimmermann-
360 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im Schrifttum wird der Europäische Konvent auch als ein „parlamentarisiertes


Vorbereitungsgremium" für die derzeit laufende Regierungskonferenz charakteri-
siert. Dementsprechend handelt es sich beim Konvent weder nach seiner Zusam-
mensetzung noch nach seinem Mandat um eine „souveräne" verfassungsgebende
Versammlung im herkömmlichen Sinne. 1029 Vielmehr basiert die nunmehr zum
zweiten Mal angewandte Konventsmethode auf dem Wunsch der Mehrheit der
maßgeblichen Akteure auf europäischer Ebene, bisherige, oftmals als intranspa-
rent e m p f u n d e n e Entscheidungsmechanismen bei den in der Vergangenheit vor-
genommenen Änderungen der Europäischen Verträge, wie sie bei den bisherigen,
gemäß Art. 48 EUV zur Vertragsänderung ermächtigten Regierungskonferenzen
zu beobachten waren, zu überwinden und gleichzeitig den Aspekt einer stärkeren
Betonung der Bürgerbeteiligung hervorzuheben. Verfahrenstechnisch handelt es
sich vor diesem Hintergrund um ein Gremium, das - anders als eine verfassungge-
bende Versammlung im klassischen Sinne - lediglich Vorschläge zur Neufassung
der bisherigen europäischen Verträge unterbreiten sollte. Die Letztentscheidung
obliegt gemäß Art. 48 EUV nach wie vor der Konferenz der Regierungen der
Mitgliedstaaten und den mit der Ratifizierung betrauten mitgliedstaatlichen Parla-
menten (bzw. über ein Referendum der jeweiligen Bevölkerung).

Nicht nur in verfahrenstechnischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht be-


stehen deutliche Unterschiede zwischen Europäischem Konvent und verfassung-
gebender Versammlung im herkömmlichen Sinne. So ist nicht die Neuschaffung
einer (europäischen) Verfassung Aufgabe des Europäischen Konvents gewesen,
sondern es ging um die „Weiterentwicklung des europäischen konstitutionellen
Korsetts" 1030 . Gleichwohl gibt es auch Stimmen im Schrifttum, die auch in dem
Konventsverfahren und dem hieraus resultierenden Arbeitsergebnis Anhaltspunkte
für einen verfassunggebenden Prozess erblicken, der in eine staatliche Konstitutio-
nalisierung Europas münden könnte. I 0 M Dabei besteht - wie bereits dargestellt 1 0 3 2 -
zumindest im juristischen wissenschaftlichen Schrifttum weitgehend Einigkeit dar-
über, dass auch der - zum jetzigen Zeitpunkt absehbaren - künftigen Europäischen
Union keine Staatsqualität zukommen wird. Demgemäß handelt es sich bei der
jetzt vorliegenden „Europäischen Verfassung" nach fast einhelliger Auffassung
um keine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne, sondern nach Überzeugung der

Steinhart, Der Konvent: Die neue E U - M e t h o d e , in: Bürgerschaftliches Engagement und


Zivilgesellschaft. 2001. S . 6 5 ff.
1029
Vgl. etwa T. Oppermann. Eine Verfassung für die Europäische Union, in: DVB1.
2003. S. 1165 ff.
1030
S. Hohe. Bedingungen. Verfahren und C h a n c e n europäischer Verfassungsgebung:
Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1 . 2 0 0 3 , S. 1 ff., 15.
1031 D a z u etwa H.-G. Dederer, Die Konstitutionalisierung Europas, in: Zeitschrift für
Gesetzgebung. 2 / 2 0 0 3 , S. 97 ff. Weitergehend W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine
innovative Integrationsmethode, in: Integration, 2 / 2 0 2 (2002), S. 83 ff., 91 f.
1032
Vgl. oben unter B . I I . 2 . f ) n n ) ( 2 ) ( d ) .
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 361

Verfechter eines erweiterten Verfassungsbegriffs um ein Vertragsdokument eige-


ner Art, welches - wie schon die bisherigen Verträge! - die Verfasstheit eines
supranationalen Gebildes mit von den Mitgliedstaaten abgeleiteter, auf den Bür-
ger direkt einwirkender (supranationaler) Hoheitsgewalt zum Gegenstand hat und
damit allenfalls in materieller Hinsicht eine „Verfassung" darstellen kann. 1 0 "

Der nun vorliegende Verfassungsfbzw. Grundlagen-)vertrag als solcher stellt


in diesem Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union lediglich eine
(von bereits vielen vollzogenen) Etappe(n) dar und bildet damit weder Beginn
noch Endpunkt dieser Entwicklung. Er unterscheidet sich deshalb auch funktionell
von herkömmlichen Staatsverfassungen wie etwa der amerikanischen Bundesver-
fassung. die jeweils mit ihrer Schaffung durch ein verfassunggebendes Gremium
eine eigene, auf Vollständigkeit angelegte nationalstaatliche Verfassungsordnung
„per Federstrich" in Kraft setzten. Während eine Staatenverfassung daneben ein
staatliches Gemeinwesen auf der Grundlage des pouvoir constitutum, des Volkes,
schafft, begründet der Verfassungsvertrag ausdrücklich eine „zwischenstaatliche
Europäische Union der Bürger und der Staaten".

Dieser zentrale funktionelle Unterschied zwischen „EU-Verfassung" und Staats-


verfassung kann auch nicht dadurch überdeckt werden, dass es - ebenso wie
zwischen dem deutschen Grundgesetz (GG) und dem Verfassungsvertrag - zwi-
schen beiden Dokumenten vielfältige „materielle Schnittmengen" wie etwa einen
Grundrechtskatalog, bestimmte Staats- bzw. Unionsziele oder aber bestimmte insti-
tutionelle Bestimmungen gibt. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang
immer die genannten funktionellen Unterschiede zwischen einem Staatswesen auf
der einen und der supranationalen, zwischenstaatlichen Organisation auf der ande-
ren Seite, denen insbesondere die entsprechenden institutionellen Bestimmungen
stets Rechnung zu tragen haben. So ergibt sich etwa aus dem supranationalen,
zwischenstaatlichen Charakter der Europäischen Union das besondere, durch
das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts geprägte europäische Institutio-
nengefüge, bestehend aus Europäischer Kommission, Rat. Europäischem Rat und
Europäischem Parlament, welches auf nationaler Ebene weltweit keinerlei Pendant
findet.

Schon aus diesen Besonderheiten des vom Europäischen Konvent vorgelegten


Dokuments wird die strukturelle Andersartigkeit auch dieses Gremiums im Ver-
gleich zu verfassungsgebenden Versammlungen, wie sie etwa der Konvent um
Philadelphia darstellte, deutlich. Auch wenn mit dem künftigen Vertrag über eine
Verfassung für Europa der Prozess der Konstitutionalisierung der Europäischen
Verträge vorangetrieben wird, ist dieser Prozess nicht mit der Verfassunggebung
für einen Nationalstaat gleichzusetzen und mit der Arbeit des Konvents auch nicht
abgeschlossen.

1033
So aber doch H.-G. Dederer ( 2003). S. 97 ff., vgl. zur d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e n
Funktionswandlung des Staates auch 5. Hobe (2003), S. 1 f.
362 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Eine derartige nationalstaatliche Konstitutionalisierung der bis dahin nur lose


verbundenen amerikanischen Staaten war demgegenüber Aufgabe des Konvents
von Philadelphia. Der Verfassungskonvent von Philadelphia bereitete im Jahre
1787 die amerikanische Bundesverfassung, vor. Die 55 Delegierten waren Ent-
sandte der lediglich in der durch einen Bundesvertrag begründeten Konföderation
von 1777 miteinander verbundenen amerikanischen Staaten. Obwohl zunächst
nur zu dem Zwecke zusammen gerufen, Vorschläge zur Verbesserung der Konfö-
derationsartikel des Bundesvertrags auszuarbeiten (hier besteht wenigstens eine
„Initialanalogie"), entwarfen sie eine Bundesverfassung für die künftigen Ver-
einigten Staaten. 1034 Mit Inkrafttreten dieser Verfassung wurde aus einem losen
Staatenbund ein neuer Bundesstaat, der - wie beschrieben - u. a. auf den Prinzipi-
en der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität beruht. Die Bundesverfassung
trat nach ihrer Ratifizierung durch alle Einzelstaaten im Jahre 1788 in Kraft und
begründete damit völkerrechtlich einen neuen Staat.

Der Ausgangspunkt der Verfassungsreformer in den 80er Jahren des 18. Jahr-
hunderts ähnelte dem der Europäer heute. Die Zusatzartikel zu den „Articles
of Confederation" mussten durch die gesetzgebenden Gewalten der damals 13
Staaten einstimmig angenommen werden. Dies brachte zwei unüberwindliche
Hindernisse mit sich: zum einen die Maßgabe der Herstellung von Einstimmig-
keit. wodurch ein kleiner Staat wie Rhode Island die Möglichkeit erhielt, eine von
allen anderen Staaten gewünschte Reform zu torpedieren, und zum anderen die
unwahrscheinlich anmutende Vorstellung, dass die gesetzgebenden Gewalten der
Staaten sich einem Projekt anschließen würden, mit dem ihre eigene Machtposition
erheblich geschwächt würde.

Die Verfassungsväter ersannen einen theoretisch wirksamen und zugleich poli-


tisch nützlichen Ausweg aus diesem Dilemma. Die in den Artikeln der Konföde-
ration enthaltene Einstimmigkeitsklausel sollte verschwinden. Der Staat Rhode
Island hatte sich sogar „geweigert", überhaupt eine Delegation nach Philadelphia
zu entsenden, sodass es letztlich absurd erschien, das Gelingen des Reformprojekts
vom Veto dieses Staates abhängig zu machen. Durch die Aufgabe des Prinzips
der Einstimmigkeit war es nun auch leichter möglich, auf die Bedingung der
Annahme der Verfassung durch die Legislativen der Staaten zu verzichten. Statt
dessen bat der Verfassungskonvent diese lediglich, jeweils einen Konvent zur
Ratifizierung der Verfassung wählen zu lassen - bestimmte Gremien, die, so die
Argumentation, das Volk unmittelbarer repräsentierten als die Legislative und so
die Verfassung der Vereinigten Staaten als Ausdruck der Souveränität des Volkes
verankern würden. Um die Entscheidung über die Verfassung eindeutig ausfallen
zu lassen, durften diese Gremien nur über die gesamte Verfassung abstimmen,
nicht über einzelne Artikel oder Bestimmungen. Natürlich durften sie auch Än-

1034
Vgl. H. Dippel. Das Zeitalter der Revolution (1763 - 1 7 8 9 ) , in: Geschichte der USA.
2001. S. 18 ff.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 363

derungsvorschlüge einbringen. Die Föderalisten aber kämpften hartnäckig und


erfolgreich dafür, dass seitens der einzelnen Staaten nicht die vorherige Annahme
dieser Änderungsvorschläge zur Bedingung für die Annahme der Verfassung an
sich gemacht wurde. Dieses Verfahren brachte zwei große Vorteile mit sich. Zum
einen kam so eine vollkommen eindeutige Entscheidung zu Stande, was dem Pro-
zess der Verfassungsgestaltung weitreichende Rechtmäßigkeit verlieh. 1035 Zum
zweiten bekräftigte der direkte Bezug auf die Souveränität des Volkes nachdrück-
lich, dass es sich bei der Verfassung tatsächlich um das „Supreme Law of the
Land" handelte - durch bloße Zustimmung des Kongresses und der Legislativen
der Staaten hätte dies nicht erreicht werden können.

Der gesamte Prozess von der ersten Sitzung des Verfassungskonvents in Anna-
polis im September 1786 bis zur Ratifizierung durch den 11. Staat, New York, im
Juli 1788 nahm weniger als zwei Jahre in Anspruch. Man könnte kritisch anmerken,
dass die Annahme der ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung den Prozess um
weitere drei Jahre verlängerte, aber in Wirklichkeit stellten die Bill of Rights - wie
oben bereits erwähnt - eher den Abschluss als einen wesentlichen Bestandteil des
Prozesses dar. In ihrer Gesamtheit bleibt die Klarheit. Schnelligkeit und Effizienz
dieser Pioniertat im Bereich der „Verfassungsschöpfung" beeindruckend.

Man vergleiche dies wiederum mit dem wesentlich weitschweifigeren, langwie-


rigen, auf Verhandlungen beruhenden und öffentlichen Charakter der Beratungen
in Europa. Fraglos ist dabei zu berücksichtigen, dass es wesentlich schwieriger ist,
die Interessen und Sorgen so vieler verschiedener Nationalstaaten und Vertreter
von über 400 Millionen Menschen unter einen Hut zu bringen.

Andere Unterschiede sind indes nicht weniger hervorstechend. Der amerika-


nische Verfassungskonvent traf sich geheim und hinter verschlossenen Türen.
Selbst nach der frühen Abreise einer Handvoll Delegierter, die abweichender
Meinung waren und den sich anbahnenden Verfassungscoup leicht hätten zu Fall
bringen können, drang nichts von den Verhandlungen nach außen. Der Konvent
für die Zukunft Europas hingegen stand nicht nur unter regelmäßiger Beobach-
tung der Medien und veröffentlichte auf seiner Webseite verschiedene Entwürfe
und Protokolle, sondern arbeitete auch aktiv mit einer großen Zahl verschiedener
nichtstaatlicher Organisationen und höchst aktiver Interessengruppen zusammen.
Dies zeigt einen modernen Pluralismus, der weit über alle „expansiven" Gedan-
ken J. Madisons hinausreicht. Der Einfluss dieser Vereinigungen ist allzu deutlich
in der Liste der sozialen Rechte und (in Teilen) wohlmeinenden Leerformeln
über die Ideale Europas zu erkennen, die der Verfassungsentwurf enthält. Hinzu
kommt die Debatte über die Frage, ob ein Europa, das wesentlich säkularer ist als

1035
Diese wurde sogar seitens Rhode Islands und North Carolinas zugestanden - diese
beiden Staaten hatten die Verfassung zunächst abgelehnt und damit sogar kurzzeitig die
Union verlassen.
364 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

die Vereinigten Staaten, sich in seiner Verfassung auf das Erbe des christlichen
Abendlandes berufen darf. " ' 6

Die tiefere Ursache der Unterschiede zwischen dem reibungslosen Ablauf der
Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung in den 80er Jahren des 18. Jahr-
hunderts und der langwierigen Arbeit der Europäer heute aber ist letztlich in
der grundsätzlich vorhandenen Mehrdeutigkeit des europäischen Verfassungsver-
tragsentwurfs und allgemein des gegenwärtigen europäischen Konstitutionalismus
zu finden.

Durchaus schwer vorstellbar ist, wie die politische Identität des neuen Gebildes
„unter" dem Verfassungsvertrag aussehen soll. Kritiker behaupten, dass diese
neue politische Vision der Gemeinschaft chronisch elitär, bürokratisch und tech-
nokratisch ist und dass das im Entstehen begriffene neue Europa niemals in der
Lage sein wird, patriotische Gefühle unter den Bürgern zu wecken, deren Leben
es bestimmt. Der Verfassungsentwurf enthält nur marginale Aspekte, die diesen
Vorwurf entkräften könnten. 1037

2. Vergleichende Anmerkungen zu den Konventsergebnissen

Der Entwurf einer Verfassung für Europa käme wohl auch deshalb den Verfas-
sungsvätern Amerikas vertraut vor, weil er das Potential in sich trägt, die Fehler
der im November 1777 verfassten Artikel der Konföderation heraufzubeschwören.

In einem „transatlantischen Vergleich" bewegt sich der Verfassungsvertrags-


entwurf irgendwo zwischen den 1776/77 formulierten Articles of Confederation
und der ein Jahrzehnt später verabschiedeten Bundesverfassung der Vereinigten
Staaten. So hat die Europäische Union keine Steuerkompetenzen, ebenso wenig
wie damals der Kontinentalkongress nach den Artikeln der Konföderation. Die
Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich der Wirtschafts- und Sozial-
politik hingegen reichen weit über das hinaus, was die Amerikaner in den 70er
Jahren des 18. Jahrhunderts und wohl auch nach Ratifizierung der Verfassung der
Vereinigten Staaten für möglich hielten. So behielten die amerikanischen Bun-
desstaaten nach den Artikeln der Konföderation die volle Souveränität über die

1036
H i e r / u ausführlich unter C. II.
u
" Vielleicht sähe es anders aus, wenn die Mitgliedstaaten sich dazu entschlossen hät-
ten. einen allgemeinen Volksentscheid über die endgültige Version des Verfassungsvertrags
anzuberaumen, anstatt sich in einem bunten S a m m e l s u r i u m von Verfahren zu verheddern,
bei denen einige Staaten den Gesetzgeber entscheiden und andere eine Volksabstimmung
durchführen lassen wollen. Natürlich würde ein Verfahren ä la amerikanische Volkssouverä-
nität im Jahr 1787 erhebliche Probleme mit sich bringen (obwohl die meisten europäischen
Länder in dieser Beziehung wesentlich mehr E r f a h r u n g haben als d a m a l s die Vereinigten
Staaten), vgl. ausführlich A. Maurer!S. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas
Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 365

polizeilichen Aufgaben in ihrem Staat. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb
die Postzustellung die einzige Zuständigkeit des Bundes, von der die Amerikaner
normalerweise direkt etwas mitbekamen.

Trotzdem besaß der Kontinentalkongress reale Kompetenzen in Bezug auf


Krieg und Diplomatie, die klassischen Merkmale echter Souveränität. Der euro-
päische Verfassungsvertragsentwurf hingegen beschränkt sich darauf, das neue
Amt eines europäischen Außenministers zu schaffen, ohne die Möglichkeiten der
Mitgliedstaaten, ihre eigene und unabhängige Außenpolitik weiter zu betreiben,
in irgendeiner Weise einzuschränken. Die Bewegung zur Reform der Artikel der
Konföderation Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts war unter anderem des-
halb entstanden, weil der Kongresses sich als unfähig erwies, seine Aufgaben im
Bereich der nationalen Sicherheit zu erfüllen, die eindeutig in seine Zuständigkeit
fielen. Es erscheint weiterhin schwer vorstellbar, dass die einzelnen Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union sich einer Bewegung anschließen, deren Ziel die
Zentralisierung solcher Kompetenzen in der Union ist. da die europäischen Na-
tionalstaaten sich vielfach ihrer (singulären) Rolle auf der weltpolitischen Bühne
bewusst sind (Großbritannien und Frankreich dürfen als Beispiel genügen).

Der Verfassungsvertrag fällt also in vielerlei Hinsicht weit hinter den Zielset-
zungen zurück, die vor mehr als zwei Jahrhunderten in Philadelphia formuliert
wurden, und letztlich bleiben Verlauf und Eigenschaften der verfassungsmäßi-
gen Veränderungen in Europa das, was T.Jeffersons Nachfolger J. Madison die
„Geheimnisse der Z u k u n f t " nannte. Es wird sich zeigen, ob der verschlungene
Pfad und sich in die Länge ziehende Prozess des Entwurfs, der Verhandlung, der
Verabschiedung und Ratifizierung des fertigen Verfassungsvertrages letzten Endes
etwas anderes hervorbringen wird als den klaren und eindeutigen Beschluss, zu
dem die Beratungen der Amerikaner zwischen 1787 und 1791 gelangten. Wäh-
rend dieser Debatten musste man sich von der Vorstellung verabschieden, dass
Souveränität nur an Regierungen übertragen werden kann. Es erwies sich, dass
alle rechtmäßig eingesetzten Regierungen - d. h. die der Bundesstaaten und des
Bundes - ihre Daseinsberechtigung aus dem Willen des Volkes bezogen. Un-
abhängig von möglichen weiteren Zielen einer „europäischen Verfassung" wird
wohl der ursprüngliche Grundsatz der Volkssouveränität unangetastet bleiben.

Über diese und weitere Aspekte des historischen Vergleichs hinaus stellt sich
die Frage, ob das europäische Verfassungsprojekt auch Ursachen für die momen-
tan angespannten Beziehungen zwischen Europa und den USA deutlich machen
kann. Vor mehr als dreißig Jahren wurden auf amerikanischer Seite die ersten
Bestrebungen in Richtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Vor-
boten eines vereinigten Europa angesehen, das seinem Retter und Verbündeten
jenseits des Atlantik nacheifern würde. 1038 Heute darf man angesichts der Folgen

1038
Vgl. m.w. N. J. Rakove, Europe's Floundering Fathers. in: Foreign Policy, 138/2003.
S. 28 ff.: mit einigen (historisch) vergleichenden Gedanken R. R. Polmer. Das Zeitalter der
demokratischen Revolution. 1970.
366 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

des Krieges im Irak, der Abkühlung der Beziehungen zwischen den USA und
einiger europäischer Staaten sowie der Politik der Regierung G. W. Bush vielleicht
fragen, ob der Prozess der Entstehung einer Verfassung auf beiden Seiten des
Atlantik tatsächlich ein Beleg dafür ist, wie viel Amerikaner und Europäer ge-
meinsam haben oder eher dafür, wie umfangreich und beständig die Unterschiede
sind. Mancher historischen Betrachtung zufolge beseitigte einst die amerikanische
Föderation die Rivalitäten, die in Europa noch durch Krieg und Diplomatie im
Gleichgewicht der Mächte ausgefochten wurden. Es wäre nicht ohne Pikanterie,
wenn es den Europäern also in absehbarer Zeit gelänge, eine Verfassung für eine
Union zu schaffen, von der sich bis heute nicht wenige ein Gegengewicht zur
derzeit größten (benevolenten) „Hegemonialmacht" der Welt erhoffen.

Im Vergleich zu den in Artikel I § 8 der US-Verfassung enthaltenen genauen


Festlegung der Machtbefugnisse des Kongresses erscheint die Vorstellung von
vage definierten ..Kompetenzen" dürftig. Gleichwohl können die ..Föderalisten"
Europas mit Recht anfuhren, dass der europäische Verfassungsentwurf die im
Rahmen der derzeitigen Vertragswerke bestehenden Unklarheiten bezüglich der
Zuständigkeiten der Europäischen Union deutlich verringert. Darüber hinaus er-
weitert die Verfassung die Bereiche, innerhalb derer die Kommission und der Rat
Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen können, und reduziert die Mög-
lichkeiten einzelner Staaten, ihr Veto gegen bestimmte Handlungen einzulegen.
Indessen verbleibt ein wesentliches Merkmal der Souveränität - die Gestaltung
des Steuersystems - im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, ebenso wie
die Umsetzung der nicht enden wollenden Flut an Verordnungen aus Brüssel den
Mitgliedstaaten obliegt. In diesem Sinne scheint der Entwurf einer Verfassung
für Europa den „Articles of Confederation" ähnlicher als der amerikanischen
Verfassung von 1787.

Die Aufgabe der Konsolidierung der politischen Führung Europas ist heu-
te im Vergleich eine weitaus vielschichtigere als die Bestimmung, der sich die
Verfassungsväter Amerikas damals in Philadelphia gegenübersahen. Dies soll
keinesfalls die Erfolge des Jahres 1787 schmälern - weshalb eine Betrachtung
der jeweiligen Konventsmitglieder vermessen, aber gleichwohl bezeichnend ist:
Im Entstehungsprozess der amerikanischen Verfassung beeindruckt nicht nur die
große Ernsthaftigkeit, mit der ihre Verfasser sich dieser Aufgabe widmeten, son-
dern auch die bemerkenswert einfallsreiche und kritische Weise, in der sie ihre
profunde Kenntnis der Geschichte und politischen Philosophie mit ihren eigenen
Erfahrungen verknüpften. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen in den Augen
mancher um einen „zusammengewürfelten Haufen rustikaler Provinzler" 1039 han-
delte, die an der Peripherie der europäischen Welt lebten, lässt ihren Erfolg umso
erstaunlicher erscheinen.

1039
So J. Rakove. Europe* s Floundering Fathers. in: Foreign Policy. 138/2003. S. 28 ff..
31.
V. Zwei V e r f a s s u n g g e b u n g s p r o z e s s e : ein R e s ü m e e 367

Allerdings boten sich ihnen auch einige Vorteile, die ihnen die Arbeit an einer
Bundesverfassung erleichterten. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die
Tatsache, dass die Mitgliedstaaten der Union zu keinem Zeitpunkt souverän im
eigentlichen Wortsinn gewesen waren. Weder 1776 noch 1787 konnte man die
amerikanischen Bundesstaaten als unabhängige souveräne Staaten betrachten, im
Gegensatz etwa zu den Nationalstaaten des modernen Europa. Auch wenn sie
einige grundlegende Hoheitsrechte ausübten, darunter die Befugnis zur Verab-
schiedung von Gesetzen und Erhebung von Steuern, beanspruchten sie zu keinem
Zeitpunkt Souveränität im internationalen Sinn. Bereits zu Anfang der Revoluti-
onskrise im Jahr 1774 besaß der Kongress das Monopol über die Bereiche Krieg
und Diplomatie.

So war auch die für den „romantisch-raubgierigen" Nationalismus im Europa


des 19. und 20. Jahrhunderts so typische Hinwendung zum Nationalstaatsgedan-
ken in den amerikanischen Staaten weitgehend unbekannt. Der Gegensatz zu
Europa könnte an dieser Stelle kaum größer sein. Alle Mitgliedstaaten der Eu-
ropäischen Union sind Nationalstaaten, die politische Souveränität ausüben und
deren Völker selbstbewusst ihre eigene Geschichte bewahren. In vielen dieser Län-
der könnte ihr im Vergleich mit den Vereinigten Staaten relativ neuer Status als
Selbstverwaltungseinheiten (ein Umstand, an den allzu selten erinnert wird) den
Widerstand gegen die Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an die Brüsseler
Bürokratie und in vielerlei Hinsicht „ferne" Abgeordnete des Europäischen Par-
laments eher verstärken als abschwächen. Jeder europäische Nationalstaat pflegt
eigene außenpolitische Beziehungen, und jedem dieser Staaten sind die Folgen
bewusst, die entstehen können, wenn die Wahrung der eigenen Interessen nicht
länger in gewohnter Weise möglich ist. Zudem sind die europäischen Völker
Erben einer Geschichte, die ein so hohes Maß an Leidenschaften und Erinne-
rungen birgt, dass das noch am ehesten heranzuziehende Gegenbeispiel in den
Vereinigten Staaten dagegen völlig verblasst: nämlich die Bewahrung des Erbes
der Südstaaten, welches sich typischerweise in der Zurschaustellung von Flaggen
und Devotionalien der Konföderierten sowie in der eigentümlichen Weigerung
äußert, anzuerkennen, dass es im amerikanischen Bürgerkrieg zuvörderst um die
Abschaffung der Sklaverei ging.

Diese Bezugnahme auf nationale Interessen und Identität lässt sich auch über
diese Staaten hinausreichend hinsichtlich zweier wichtiger Bestandteile des Ent-
wurfs eines Verfassungsvertrags für Europa verdeutlichen.

Erstens werden die Mitgliedstaaten ungeachtet der Schaffung des Amtes des
Außenministers der Europäischen Union, der gleichzeitig als einer der Vize-
präsidenten der Europäischen Kommission fungieren soll, kaum ihr Recht auf
Betreibung originärer Außenpolitik an die Europäische Union vollumfänglich
abgeben. Der Verfassungsentwurf ist an dieser Stelle sehr unklar, aber auch die
Überarbeitung des Entwurfs im Rahmen einer Regierungskonferenz der Mitglied-
368 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Staaten hat die Aussichten auf die Betreibung einer „europäischen Außenpolitik"
kaum verbessert. 1 0 4 0

Z u m Zweiten lohnt ein Blick auf das Dilemma, das durch das Verfassungsver-
trags-Verfahren an sich entstanden ist. Letztlich handelt es sich um Verhandlungen
zwischen Nationalstaaten und ihren Regierungen, für die als formale (und „pro-
jektgefährdende") Anforderung die Herstellung von Einstimmigkeit besteht. Der
Konvent zur Zukunft der Europäischen Union selbst hat eine der wichtigsten Kri-
terien der Amerikaner für die Herstellung der vollständigen Verfassungsmäßigkeit
einer Verfassung erfüllt. Er traf sich ursprünglich als unabhängiges Gremium, das
keine anderweitigen Zuständigkeiten oder Verpflichtungen hatte und theoretisch
frei und ohne Rücksichtnahme auf einengende politische Loyalitäten bestimmen
konnte, wie die politische Z u k u n f t am besten gestaltet werden sollte. Ab diesem
Zeitpunkt aber unterlag der weitere Prozess den Manipulationsversuchen der Re-
gierungen der Mitgliedstaaten, und die Rolle der europäischen Völker bei der
A n n a h m e der Verfassung versank zunächst in Ungewissheit.

Die Unterschiede zwischen der revolutionären Situation der Amerikaner im


18. Jahrhundert und der Situation, der sich Europa heute gegenüber sieht, sind
grundsätzlicher Natur. Die amerikanische Verfassungsbewegung war in ihren
Ursprüngen und Zielen durch und durch revolutionär: revolutionär in ihrer Zurück-
weisung des britischen Autoritätsanspruchs im Jahr 1776. revolutionär in ihrer
Bereitschaft zur S c h a f f u n g republikanischer Regierungen in den einzelnen Staaten
und selbst dann noch bewusst revolutionär, als die Verfassungsväter versuchten,
die Lehren, die sie aus der Unabhängigkeit gezogen hatten, auf das Problem der
Bildung einer nationalen Regierung zu übertragen. Die Begeisterung der Europäer
für die Revolution im eigentlichen Sinne war gewissermaßen mit dem „annus mi-
rabilis" 1989 vorüber, genau zweihundert Jahre nach ihrer Geburt in Paris. Z u d e m
hat das Projekt der europäischen Integration 1 " 11 stets den Eindruck vermittelt, eher
die Koordination unter den Staaten verbessern denn die eigentliche politische
Integration erreichen zu wollen. Der rhetorische Reiz, der hinter der Tatsache
steckt, dass man diesen neuen Schritt im Integrationsprozess als „Verfassung"

1040
Vielleicht wäre eine solche Ä n d e r u n g möglich gewesen, wenn nicht der Krieg im
Irak die Arbeit des Konvents unterbrochen hätte. Dieses Ereignis erinnerte die Akteure
schmerzlich daran, w i e weit man noch vom Ideal einer g e m e i n s a m e n europäischen Au-
ßenpolitik entfernt ist. Die Vorstellung, dass Briten. Italiener. Spanier oder Polen sich
bereitwillig einer (damaligen) Außenpolitik anschließen würden, die den (damaligen) Ab-
sichten der Franzosen und Deutschen entsprochen hätte, erscheint auch f ü r z u k ü n f t i g
wechselnde Gestaltungen und Konstellationen vergleichbar abwegig.
1041
„Es gibt keine H o f f n u n g für Europa o h n e Integration." ( J . F. Dulles, M e m o of
Discussion at the 159 lh Meeting of the National Security Council. 13.8. 1953, in: FRUS
1 9 5 2 - 1 9 5 4 . Bd. VII. 1. S. 502.) Diese Einschätzung kursierte in den Administrationen der
amerikanischen Präsidenten Truman und Eisenhower von 1945 bis 1961. Erste Ansätze der
Europäer, das traditionelle System der Nationalstaaten zu überwinden, fanden nachhaltigen
positiven Widerhall in den Vereinigten Staaten.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 369

bezeichnet, hat ihren eigentlich graduellen Charakter nur abzuschwächen, aber


nicht zu ändern vermocht.

Trotzdem: im Hinblick auf die Zukunft einer europäischen Verfassung mag man
sich der bisherigen Erfahrungen erinnern, um mit einer gewissen Gelassenheit
den nun anstehenden Ratifikationsprozess zu begleiten. Andere werden gerade
dadurch in ihrer demokratietheoretischen Skepsis gegenüber der Europäischen
Union gestärkt werden. Wichtiger noch ist zunächst einmal, dass es keinen De-
terminismus hinsichtlich des Ausgangs der anstehenden Ratifikationsvoten gibt,
der sich aus irgendeiner Tradition der politischen Kultur eines der 25 (bald 27)
Mitgliedsländer ableiten ließe. Und selbst wenn sich im ersten Anlauf die Ratifi-
kationshürde als zu hoch für die Realisierung der ersten europäischen Verfassung
erweisen sollte: Nach aller Erfahrung in und mit der Europäischen Union könnte
es am Ende immer noch den Weg des Umwegs geben, um zum Ziel zu gelan-
gen - wie so oft in der Vergangenheit, auch wenn alle Demokratiedogmatiker und
Integrationstheoretiker sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht fühlen mögen.
Europa ist eben insbesondere durch Krisen gewachsen und wieder und wieder
durch Krisen gestärkt sowie gewissermaßen bestätigt worden.

3. Lehren für die Europäische Union aus dem


Vergleich der Verfassunggebungsprozesse

Eine wichtige Lehre aus dem Vergleich beider Verfassunggebunsprozesse ist,


nicht von der Verfassung als absoluter und einziger Quelle einer stabilen De-
mokratie bzw. einer stabilen Ordnung der verfassten Einheit auszugehen. Das
in der jeweiligen Verfassungswirklichkeit demokratisch verfasster Länder gege-
bene Verhältnis von Markt. Parlamentarismus, Sozialstaatlichkeit und den darin
enthaltenen Chancen zu einer lebendigen Demokratie ist vielmehr von Faktoren
abhängig, die über bloße Verfahrensregeln hinausweisen: von der politischen Kul-
tur. der Öffentlichkeit und von dem Bedürfnis der Bürger, in Freiheit und Frieden
leben zu wollen. 1042 Auf der anderen Seite sollte in aller Trivialität die Geschichte
der US-Verfassung und ihre Popularität nach noch 215 Jahren den Europäern Mut
machen, visionär zu sein und in der Verfassungsdiskussion langfristig zu denken.

Dazu gehört neben Geduld Kompromissfähigkeit. Die langfristige Dynamik


einer Verfassung (auch eines Verfassungsvertrages) sollte nicht unterschätzt wer-
den: können Ziele heute nicht erreicht werden, so muss das nicht das Ende eines
großen Verfassungs- und Integrationskonzeptes bedeuten. Nichts spricht dagegen,
dass die Verfassung Europas zu einem späteren Zeitpunkt noch verändert wird und
verändert werden kann. Im Einzelnen sei an den „Great Compromise" erinnert:
oft ist der „langfristige Nutzen eines Kompromisses zugunsten der schwächeren

1042
Vgl. auch R.A. Dahl. How Democratic Is the American Constitution. 2002. S. 3.
370 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Mitglieder einer Gemeinschaft viel größer, als der kurzfristige Verlust an Macht
und Einfiuss auf Seiten der Stärkeren" 1043 . In der Frage der Grundrechte sind die
Europäer den Amerikanern im Zeitpunkt des Verfassunggebungsprozess voraus:
sie wurden bereits beschlossen.

Eine weitere Ursache für die Verankerung der US-Verfassung im Bewusstsein


der Öffentlichkeit war die andauernde Rezeption des Verfassunggebungprozes-
ses, beginnend mit der öffentlichen Diskussion der Verfassungsfrage durch die
Federalists. Dies sollte europäische Verantwortungsträger animieren noch stärker
in die Öffentlichkeit zu treten als dies etwa en gros durch die Konventsmitglieder
geschah und für ein höheres Maß an Transparenz aller europäischen Institutio-
nen einzutreten. Im Hinblick auf die EU-Erweiterung sollte zudem gewährleistet
werden, dass sich aufgrund der Größe der Union nicht die Perspektivlosigkeit
eines 2-Parteiensystems einstellt, wie es in den USA der Fall war. Die Gefahr ist
allerdings evident, dass viele der Parteien, die heute im Europäischen Parlament
tätig sind, durch die Vielfalt ihrer Werte und Programmatiken zu regionalen Split-
tergruppen degradiert werden und langfristig an Bedeutung verlieren. Gerade hier
zeigt sich letztlich die Tragfähigkeit des Modells der europäischen „Einheit in
Vielfalt". Zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit und des dynamischen Motors
Europas mit seinem komplexen Institutionengefüge sollte Europa mit einem lernen-
den Blick über den Atlantik an der Verbesserung seiner Implementationsprozesse
arbeiten, also seine Fähigkeit verbessern. Entscheidungen schnell durchzuführen,
insbesondere mit Nachdruck die Herstellung außen- und sicherheitspolitischer
Handlungsfähigkeit (entsprechend eines der Leitmotive der Federalist Papers)
betreiben.

Die Einberufung des Verfassungskonvents von Philadelphia am 21. Febru-


ar 1787 hatte nicht etwa die Ausarbeitung einer die Konföderationsartikel er-
setzenden neuen Verfassung zum Gegenstand, sondern beschrieb das Mandat
einschränkend als „for the sole and express purpose of revising the Articles of
Confederation". Erst die außerordentliche Qualität der „Founding Fathers" und
die Bereitschaft zum historischen Kompromiss ermöglichten die Einigung auf
eine bundesstaatliche Verfassung. Dank der „Popularisierung" der föderalen Prin-
zipien in den „Federalist Papers" nach Abschluss des Konvents erwies sie sich als
ratifizierungsfähig. Wie beschrieben hing diese Ratifizierung in elf Staaten teil-
weise an einem seidenen Faden, während zwei Staaten (Rhode Island und North
Carolina) erst später, nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung hinzutraten.
G. Burghardt fragt zu Recht: „Sollten sich unsere Verfassungsväter von dieser
Ratifizierungsformel inspirieren lassen?" 1044

1043
G. Burghardt. T h e Development of a European Constitution f r o m the US Point
of View. Berlin. Vorlesung vom 6. Juni 2 0 0 2 an der Humboldt-Universität Berlin, w w w
.eurunion.org/news/speeches/2002/020606gb.htm.
1044
G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus d e m Blickwinkel der
USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. S . 4 2 .
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 371

Gedankliche Parallelen sind zahlreich, wenngleich nicht immer kohärent. So


ist es mehr die Einsicht in die nationale Unvollkommenheit, die die Zustim-
mung zum Projekt Europa befördert, als wahre Überzeugung. Einer der hierfür
bestimmenden Auslöser lässt sich allerdings nicht mit den Zuständen des vorkon-
stitutionellen Amerika vergleichen - nämlich die überbordenden Komplexität und
Unüberschaubarkeit der real existierenden Europäischen Union.

Ein weiterer Punkt: Der amerikanische Bürger konnte sich von Anfang an als
Subjekt in einem Prozess fühlen, der argumentativ begleitet wurde, Selbstbetrof-
fenheit erzeugte und daher auch von einer psychischen Dynamik getragen war. Der
europäische Bürger, mit argumentativen Begründungsversuchen für Entscheidun-
gen auf EU-Ebene nicht eben verwöhnt, empfindet wenig eigene Betroffenheit und
bringt daher auch nur ein geringes Engagement für einen Prozess auf. dem er sich
zunehmend als Objekt ausgesetzt sieht. Ein Mehr an öffentlicher Diskussion und
kompetenter Argumentation wäre hier sicher nützlich, zumal der Zusammenhang
zwischen Verfahren und Reaktion vielleicht doch anders ist als gemeinhin vermu-
tet: Möglicherweise wird nicht so wenig argumentiert, weil das Interesse so gering
ist, sondern das Interesse ist so gering, weil die Bürgersich nicht hinreichend ernst
genommen fühlen.

Demzufolge ist eine weitere Lehre aus den Erfahrungen des Jahres 1787 für
die heutigen Konstellationen, dass man für politische Ziele dieser Größenordnung
gewisse Wagnisse eingehen muss. Wenn eine wirkliche Verfassung der Völker
und Nationen das ist, was man dem Versprechen G. d'Estaings nach erreichen
will, wird eine Reihe ausgehandelter Verträge nicht ausreichen. Das Interesse der
Menschen am Europäischen Parlament ist marginal, wie der Wahlbeteiligung oder
der Berichterstattung über das Parlament in den Medien unschwer zu entnehmen
ist. Die Schaffung des Amtes eines ständigen Präsidenten des Rates und eines
europäischen Außenministers wird zweifellos erhebliche Auswirkungen auf die
Gestaltung der Politik und Koordinierung der Arbeit zwischen Rat, Kommission
und Parlament haben. 1045

Legitimität für die europäische Integration und für die Politik insgesamt er-
wächst aus Prozessen, aber mindestens ebenso stark aus der inneren Annahme der
inhaltlichen Ergebnisse des Konvents durch die Unionsbürger. Es ist demzufolge
unumgänglich, dass nunmehr, nach dem Abschluss der Beratungen des Verfas-
sungskonvents und im Rahmen des Ratifizierungsprozesses, eine europaweite
öffentliche Diskussion über die Chancen und Erfordernisse eines sich langsam
herausbildenden „europäischen Verfassungspatriotismus" beginnt. Die Vereinig-

1045
Aber die politischen Wirkkräfte dieser neuen Ä m t e r sind in ähnlicher Weise pro-
blematisch. Es geht letztlich um einen Präsidenten, der die durch den Rat miteinander
verbundenen Regierungen repräsentiert, aber nicht die Völker, die diese Regierungen
vertreten.
372 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ten Staaten von Amerika können insoweit und in vernünftig gezogener Analogie
durchaus zum Vorbild erwachsen.

Die amerikanische „Revolution" hat keine herausragenden philosophischen


Entwürfe hervorgebracht. 1046 Ihre Bedeutung für die Verfassungsgeschichte und
die Geschichte der politischen Ideen liegt in der gelungenen Synthese europäi-
scher Denkmodelle mit der politischen Praxis. Einer Synthese unterschiedlicher
Schattierungen des europäischen Denkens, insbesondere der Aufklärung sowie
der englischen politischen Tradition unter den eigentümlichen Bedingungen der
amerikanischen Umgebung, die dem Einzelnen eine höhere Möglichkeit zur Selbst-
bestimmung und Selbstentfaltung eingeräumt haben als diejenigen Europas. 1017
Die Lehren herausragender Vertreter der europäischen Aufklärung und des Na-
turrechts diente im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits der Beschreibung der
amerikanischen Realität, wohingegen es im zeitgleichen Europa weitgehend den
Charakter eines normativen Postulats behielt.

Alexis de Tocqueville hat trotz aller kurz skizzierten Schwierigkeiten bereits


1833 die ungeheure Kraft und Dynamik der „Demokratie in Amerika" beschrie-
ben. Europa, vielleicht die transatlantische Gemeinschaft wartet heute, mehr als
50 Jahre nach Beginn des europäischen Einigungsprozesses, immer noch auf
den „amerikanischen de Tocqueville". Möglicherweise wird ein solcher erst aus
einem tragfähigen Ergebnis des jüngsten europäischen Verfassungsprozesses die
erforderliche Inspiration schöpfen."" 8

1046
Dahingegen darf mit der notwendigen Bescheidenheit durchaus von einem A u f -
keimen eines europäischen Pendants der „Federalist Papers" gesprochen werden. Die
zahlreichen Beiträge der letzten Jahre zur Z u k u n f t Europas, insbesondere die Schriften von
Pernice. Häberle o d e r auch die Vortragsreihe des „Forum Constitutionis Europae" könnten
mit einer (verbesserungswürdigen) Begleitung in der breiten europäischen Öffentlichkeit
ein entsprechendes Werk abgeben.
1047
Den Gedanken der Verknüpfung praktischer Absicht mit den europäischen Strö-
mungen der Geistesgeschichte betont auch W. Reinhard. Vom italienischen H u m a n i s m u s
bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. F r e n s k e / D . M e r t e n s / W . Reinhard/
K . R o s e n (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausg. 1996. S. 241 ff..
366.
1048
Lediglich J. H. H. Weiler dürfen zarte, der Selbstdarstellung nicht abgeneigte Geh-
versuche auf d e m steinigen Weg zu diesen Höhen attestiert werden, vgl. etwa d e r s . T h e
Constitution of Europe. 1999.
C. D e r Gottesbezug in den
Verfassungen E u r o p a s u n d d e r USA

I. Einleitung

Wenige T h e m e n haben während der Beratungen des Europäischen Konvents


eine so breite europäische Öffentlichkeit erreicht wie die Frage des Gottesbezugs
i n d e r P r ä a m b e l d e s „Vertrages ü b e r e i n e V e r f a s s u n g f ü r E u r o p a " . 1 W i e s c h o n i m
ersten Konvent zur Erarbeitung der „ C h a r t a der G r u n d r e c h t e der Europäischen
U n i o n " rief d i e k o n t r o v e r s e u n d l a n g w i e r i g e D i s k u s s i o n ü b e r d i e W e r t e b a s i s d e r
Europäischen Union im Konvent unter der Leitung des ehemaligen französischen
Staatspräsident V.Giscard d'Estaing vielfältige Reaktionen der politisch Betei-
ligten, der M e d i e n 2 , der nationalen und europäischen Kirchenverbände' und der
europäischen Zivilgesellschaft4 hervor.

1
Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Vortrag des Verf. in Wilton Park
im Mai 2(X)4. für den die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wich-
tige Grundlagenarbeit geleistet haben ( W D vom 3 . 5 . und 13.5.2004). Vgl. nunmehr
auch C. Mirabelli. The religious element in the Constitution for Europe. in: H.-J. Blanke/
S. Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 133 ff.
2
So z. B. Frankfurter Rundschau v. 13. 11.2002: ..Die Quelle der Wahrheit, der Gerech-
tigkeit. des Guten und des Schönen"; FAZ v. 16. 11.2002: „Gott in Europa": Süddeutsche
Zeitung v . 2 8 . 1 . 2 0 0 3 : ..Segen lässt auf sich warten"; Die Welt v. 30. 1.2003: ..Gottloses
Europa!", Schwäbische Zeitung v. 5 . 2 . 2 0 0 3 : ..Gott kommt bisher nicht vor" - ein Interview
mit J. Meyer. FAZ v. 8 . 2 . 2 0 0 3 : „Vatikan vermisst Bezug auf Gott in den Entwürfen", Bay-
ern Kurier v. 13.2.2003: „Europa streitet über Gott"; M. Wissmann. Ganz ohne Gott geht es
nicht, in: FAZ v. 11.4.2003: FAZ v. 5 . 6 . 2 0 0 3 : ..Kritik in der Union am Konventsentwurf';
W. Schäuble, Für die Würde der Welt, in: Der Tagesspiegel v. 18.6.2003.
1
Vgl. die Gemeinsame Stellungnahme des Vorsitzenden der deutschen Bischofskon-
ferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum
Konvent zur Zukunft Europas v. Mai 2002: Gemeinsame Stellungnahme des Kommissari-
ats der deutschen Bischöfe und des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche
in Deutschland anlässlich der Anhörung der Europaausschüsse des Deutschen Bundestages
und des Bundesrates zum Europäischen Verfassungskonvent am 2 6 . 6 . 2 0 0 2 : Mitteilung
des Präsidenten der Kommission der Bischofskonferenz der Europäischen Gemeinschaft
(COMECE), Agence Europe v. 1. 11.2002. S . 4 . Bischof J. Homeyer. Ja. der Gottesbezug
wird kommen, in: Rheinischer Merkur v. 1 5 . 5 . 2 0 0 3 . Pressemitteilung des Exekutivaus-
schusses der C O M E C E v. 19.6.2003: ..Reaktion auf den EU-Verfassungsentwurf
4
Kritik an einem exklusiven Hinweis auf das Christentum wurde z. B. vom Europäi-
schen Netz gegen des Rassismus (ENAR) geäußert. Agence Europe vom 14. 11.2002. Ahn-
374 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Erwähnenswert erscheint eine Einschätzung P. Hüberies: „Soweit textlich vor-


handen, repräsentieren Verfassungspräambeln (oder sonstige Verfassungsklau-
seln) mit Gottesbezügen keineswegs eine ,überwundene', anachronitische, »aty-
pische' Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Ver-
fassungsstaates." 5 Auch aus diesem Grunde erscheint eine rechtsvergleichende
Betrachtung im Rahmen zweier Verfassungshistorien nahezu geboten.

Im Folgenden wird sowohl die Debatte um die „invocatio Dei" im Verfas-


sungsvertrag eine nähere Untersuchung erfahren als auch ein vergleichender Blick
in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft sich schließlich mit einer
Darstellung der Gottesbezüge der jeweiligen Einzelstaaten auf beiden Seiten des
Atlantiks sowie mit einer Betrachtung etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen
der deutschen Bundesländer. 6

II. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas

Ausgangspunkt soll der (umstrittene) zweite Absatz der Präambel des am


18. Juli 2003 vorgeschlagenen Verfassungsvertragstextes sein:
„Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas,
deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die die zentrale Stellung des
Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit seiner Rechte sowie vom
Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".

1. Bisherige Regelungen
im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft

Das geltende primäre Gemeinschaftsrecht enthält keinen Bezug auf Gott oder
das Christentum. Spezielle Regelungen existieren dagegen zur Stellung der Kir-
chen und zu den Religionen in Europa, darunter insbesondere:

lieh äußerten sich der Humanistische Verband Deutschlands ( H V D . w w w . h u m a n i s m u s . d e )


und European Humanist Federation (EHF. w w w . h u m a n i s m . b e ) . Eine spezielle A n h ö r u n g
zum T h e m a „Wertegemeinschaft: Die Rolle der Kirchen in der Europäischen Union" führte
der Europaausschuss des Landes Schleswig-Holstein am 23.8.20()2 durch. Die Bundestags-
fraktion Bündnis 9 0 / D i e G r ü n e n veranstaltete a m 1 . / 2 . 2 . 2 0 0 3 eine Tagung zum T h e m a
„Der Status der Religionsgemeinschaften im künftigen Europa". Vgl. auch M.H. Weninger,
Europa o h n e G o t t ? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen. Kirchen
und Weltanschauungsgemeinschaften, 2007.
?
P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 276.
6
Siehe auch bereits P. Häberle, „ G o t t " im Verfassungsstaat?, 1987 ( n u n m e h r in: ders..
Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. S. 2 1 3 ff.) sowie ders.,
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998. S. 951 ff. mit der dort zitierten
Kommentarlit.
375 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- Art. 13 EGV. der den Rat ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission und nach
Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrung zu
treffen, um Diskriminierungen unter anderem aufgrund der Religion oder der
Weltanschauung zu bekämpfen 7 ;
- das Gemeinschaftsgrundrecht der Religionsfreiheit als vom EuGH entwickelter
allgemeiner Rechtsgrundsatz 8 ,
- die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
zum Vertrag von Amsterdam (Erklärung Nr. 11), mit der die Europäische
Union sich verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen
sowie weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren
Rechtsvorschriften genießen, zu achten und nicht zu beeinträchtigen 9 .

2. Die Europäische Grundrechtecharta

a) Gottes bezug

Breiten Raum nahm die Frage eines expliziten Gottesbezugs während der Be-
ratungen des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta im Jahr 2000 ein 10 .
Aufgabe des vom Europäischen Rat in Köln eingesetzten Gremiums war die Zu-
sammenfassung der auf EU-Ebene geltenden „Freiheits- und Gleichheitsrechte,
wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
der Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des
Gemeinschaftsrechts ergeben.'" 1 Im Zuge der damit untrennbar verbundenen

7
Vgl. A Epiney, in: C . C a l l i e s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r z u m E U V und EGV.
2. Aufl., 2002, Art. 13 E G V Rn. I: G.Jochum, Der neue Art. 13 E G V oder ..political cor-
reetness" auf europäisch?, in: Z R P 1999, S. 2 8 0 ff.: S. Griller, Der Anwendungsbereich
der Grundrechtscharta, in: A. D u s c h a n e k / S . Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa - Die
Europäische Union nach Nizza, 2002. S. 147 ff.
8
Erstmalig anerkannt in: E u G H . Urteil vom 2 7 . 1 0 . 1 9 7 6 (Paris/Rat), Rs. 130/
75 - Slg. 1976. S. 1589: vgl. auch /. Pernice. Religionsrechtliche Aspekte im europäischen
Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1977. S. I I I ff.
'' Die Erklärung Nr. 11 ist nach Artikel 31 Abs. 2 des W i e n e r Ü b e r e i n k o m m e n s über
das Recht der Verträge verbindlich und bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu
beachten. Für das deutsche Recht ist die Erklärung vor allen mit Blick auf Artikel 4 Abs. 1
und 2 GG i. V. m. Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von Bedeutung, der
den Religionsgemeinschaften ein Organisations- und Selbstverwaltungsrecht zugesteht,
denn gemäß der Erklärung bleibt diese Regelung durch das Gemeinschaftsrecht unberührt.
10
Hierzu ausführlich J. Meyer!M. Engels. Die C h a r t a der Grundrechte der Europäi-
schen Union. Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), 2001. Vgl. auch
J. Henard. Ehre sei Gott . . . in der EU. Deutschland besteht darauf, in: Die Zeit vom
2 . 1 1 . 2000. S . 9 . Im weiteren Sinne W. Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit
als Gemeinschaftsgrundrecht, in: EuR 2000. S. 261 ff.
" Schlussfolgerung Europäischer Rat (Köln). Anhang IV: Beschluss des Europäischen
Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der EU, 4 . 6 . 1999.
376 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Wertedebatte diskutierte der Grundrechtskonvent die Frage eines Gottes- bzw. Re-
ligionsbezugs in der Präambel der Grundrechtecharta mit großer Intensität. Die
vom Präsidium unter der Leitung von R. Herzog vorgeschlagene Ausgangsfor-
mulierung des „kulturellen, humanistischen und religiösen Erbes" stellte sich
während der Beratungen des Grundrechtskonvents als nicht konsensfähig heraus.
Insbesondere die französische Regierung und die der Fraktion der Sozialistischen
Partei Europas (SPE) angehörenden Konventsdelegierten sprachen sich gegen eine
Bezugnahme aus, während die Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP)
den Hinweis auf das religiöse europäische Erbe nachdrücklich einforderten.

Im Ergebnis blieb die politische Auseinandersetzung über den Religionsbezug


im ersten Konvent ungelöst. Die letztendlich verabschiedete und in Nizza feierlich
proklamierte Charta beginnt mit einer aus sechs Absätzen bestehenden Präambel.
Im zweiten Absatz der deutschen Sprachfassung heißt es:

„In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union
auf die unteilbaren und universellen Werte der W ü r d e des M e n s c h e n , der Freiheit, der
Gleichheit und der Solidarität".

Dieser explizite Religionsbezug ist eine Besonderheit der deutschen Überset-


zung und fehlt in den übrigen Sprachfassungen der Charta. Beispielsweise ist
in der französischen Version der Chartapräambel statt dessen die Formulierung
„patrimoine spirituel et moral" gewählt worden. Ebenso spricht die englische Fas-
sung vom „spiritual and moral heritage". Die deutsche Übersetzung der Begriffe
„spirituel" bzw. „spiritual" mit „religiös" muss wohl als Versuch gewertet werden,
in der schwierigen Endphase der Chartaberatungen die divergierenden Positio-
nen zu überbrücken. Die Sonderstellung der deutschen Fassung hat entsprechend
intensive Kommentierungen provoziert 12 , wenn auch alle Sprachfassungen der
Charta gleichermaßen Gültigkeit haben.

b) Kirchen und Religionen

Über ihre Präambel hinaus enthält die Grundrechtecharta die folgenden spezi-
ellen Regelungen zu den Kirchen und Religionen in Europa:

- die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Art. 10 Abs. 1 EuGRC, der


der Regelung des Art. 9 Abs. 1 EMRK entspricht 13 ,
- das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Art. 14 Abs. 3 EuGRC 1 4 ;

12
Vgl etwa P. Beres, Die C h a r t a - Ein Kampf f ü r die Werte der Union, in: S.-
Y. K a u f m a n n (Hrsg.). Grundrechtscharta der Europäischen Union. 2001. S. 21 f.: H.M. Hei-
nig, Die Religionen, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, in: Zeitschrift für
evangelisches Kirchenrecht 2001. S . 4 4 0 f f „ 457; G. Robbers. Rcligionsrechtliche Gehalte
der Europäischen Grundrechtscharta, in: H.W. A r n d t / M . - E . G e i s / D . L o r e n z (Hrsg.), Kir-
che-Staat-Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag. 2001. S. 4 2 5 ff..
431.
377 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- das Verbot der Diskriminierung aufgrund Religion oder Weltanschauung in


Art. 21 Abs. 1 EuGRC, der sich an Art. 13 EGV und Art. 14 EMRK anlehnt 15 ,
- die Pflicht zur Achtung der Vielfalt der Religionen nach Art. 22 EuGRC.

Im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents ist die EU-Grundrechte-


charta mit ihren Bestimmungen als Teil II aufgenommen und wird bei Annahme
durch die Regierungskonferenz und Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten rechts-
verbindliches und einklagbares Primärrecht werden. 16

3. Der Entwurf des Europäischen Konvents

Allein drei der insgesamt 27 Plenartagungen des Konvents waren der Diskussion
über die Werte und Ziele der Europäischen Union gewidmet. 17 Da Konventspräsi-
dent Giscard d'Estaing sich trotz der Skepsis des Konvents die Formulierung der
Verfassungspräambel selbst vorbehielt und seine Erstfassung erst in der Endphase
der Beratungen präsentierte 18 , wurde die Kontroverse zum Gottesbezug zunächst
ohne konkrete Textvorlage des Präsidiums geführt.

Bereits im November 2()02 hatte die EVP einen kompletten Verfassungsent-


wurf erarbeitet. 1 ' Im Einklang mit diesem Entwurf brachte J. Wiirmeling, stell-
vertretender Konventsdelegierter des Europäischen Parlaments, im Januar 2003
den Vorschlag in den Konvent ein. an zwei Stellen der Verfassung einen Gottes-
bzw. Religionsbezug aufzunehmen 2 0 : Zum einen sollte der Hinweis auf das geistig-
religiöse Erbe Europas Eingang in die Präambel finden, zum zweiten sollte an spä-

13
Vgl. zur Kommentierung von Art. 10 E u G R C z. B. N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.),
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2003. Art. 10 Rn. 1; ebenso die neuen
Erläuterungen. C O N V 8 2 8 / 1 0 3 v. 1 8 . 7 . 2 0 0 3 .
14
Hierzu besteht mit Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll Nr. I ein E M R K - R e f e r e n z r e c h t .
vgl. auch N. Bernsdorff (2003), Art. 14 Rn. 21.
15
Vgl. S. Hölscheidt. in: J. Meyer (Hrsg.). Die Charta der Grundrechte der Europäischen
Union, 2003, Art. 21 Rn. 32.
16
Die Charta entfaltet bereits heute Ausw irkungen: Trotz ihrer rechtlichen Unverbind-
lichkeit haben mehrere Generalanwälte des E u G H in ihren Schlussanträgen auf sie Bezug
g e n o m m e n . Auch das EuG weist in einem Urteil auf Art. 41 Abs. 1 der Charta hin. Im
Einzelnen hierzu S. Hölscheidt JE. Mund, Religionen und Kirchen im europäischen Verfas-
sungsverbund. in: Europarecht. 2003, S. 1083 ff.
' Plenartagungen am Tl. 2., 18.3. und 2 6 . 3 . 2 0 0 3 . Die Wortprotokolle dieser Sitzungen
sind unter http://www.europarl.eu.int./europe2004/index/de.htm. abrufbar.
18
C O N V 7 2 2 / 0 3 v. 2 8 . 5 . 2003.
19
..The Constitution of the European Union" vom 10. 11.202. EPP-Convention Group
Meeting in Frascati, a b r u f b a r unter www.epp-ed.org.
20
..Religiöse B e z u g n a h m e im Verfassungsvertrag", C O N V 4 8 0 / 0 3 vom 31. 1.2003.
Mitunterzeichner waren u. a. die deutschen Konventsmitglieder M d E P E. Brök und Minister-
präsident E. Teufel sowie M d B P. Altmeier als stellvertretender Delegierter des Deutschen
Bundestages.
378 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

terer Stelle in Anlehnung an die polnische Verfassung die folgende Formulierung


ausgenommen werden:
„Die Werte der Europäischen Union umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die an
Gott als die Quelle der Wahrheit. Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben,
als auch derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte
aus anderen Quellen ableiten".

Im Februar 2003 reichten daraufhin drei Konventsmitglieder eine von 163


Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterzeichnete Entschließung ein, in der
die Delegierten forderten, dass die europäische Verfassung keinen direkten oder
indirekten Hinweis auf eine bestimmte Religion oder einen bestimmten Glauben
enthalten dürfe. 21 Ebenso kritisch äußerten sich die Delegierten Frankreichs und
zahlreiche Mitglieder der SPE-Gruppe im Konvent.

Vor dem Hintergrund der gespaltenen Haltung des Konventsplenums legte


Giscard d'Estaing im Mai den folgenden Vorschlag für Absatz 2 der Verfassungs-
präambel vor:
„Schöpfend aus d e m kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Euro-
pas. die - aus griechischer und römischer Zivilisation hervorgegangen und erst durch das
geistige Streben, von dem Europa durchdrungen war und das noch heute in seinem Erbe
fortlebt, und dann durch die Philosophie der Aufklärung geprägt - die zentrale Stellung
des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit
seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".

Obgleich der ehemalige französische Staatspräsident seine ablehnende Haltung


gegenüber einer ausdrücklichen Anrufung Gottes in der Verfassungspräambel im
Konvent und auch bei einer Privataudienz mit Papst Johannes Paul II. im Oktober
2 0 0 2 " deutlich gemacht hatte, rief dieser Textvorschlag im Konvent Überraschung
und den erklärten Widerstand der Gruppe der Befürworter eines Gottesbezuges
hervor. Besonders der Hinweis auf die griechische und römische Zivilisation in
Verbindung mit dem Zeitalter der Aufklärung wurde von zahlreichen Delegierten
als historisch verkürzt und unausgewogen kritisiert. In der Plenarsitzung des Kon-
vents am 30./31. Mai 2003 betonte MdEP A. Tajani, dass die jüdisch-christlichen
Wurzeln eine historische Tatsache seien, die Europa maßgeblich geprägt hätten.
Die polnische Parlamentsdelegierte M. Fogler brachte ihre Unzufriedenheit über
den Entwurf der Präambel zum Ausdruck und forderte ebenfalls die Aufnahme
eines Verweises auf das jüdisch-christliche Erbe.

In der folgenden Plenarsitzung vom 4. bis 6. Juni 2003 wurde die Forderung
nach einem Bezug auf Gott, das jüdisch-christliche Erbe oder das Christentum

21
„Achtung der G r u n d s ä t z e der Religionsfreiheit unter religiösen Neutralität des Staa-
tes". C O N V 5 8 7 / 0 3 vom 2 6 . 2 . 2 0 0 3 .
22
Vgl. auch F A Z vom 16. 11.2002: „Gott in Europa", DIE W E L T v o m 3 0 . 1 . 2 0 0 3 :
„Gottloses Europa", DIE Z E I T vom 30. 1.2003: ..Zum Erfolg v e r d a m m t " .
379 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

mit Nachdruck erhoben. MdEP E. Brök und Ministerpräsident E. Teufel erklärten,


dass die griechische und römische Zivilisation nicht ohne den Glauben an Gott
und andere Religionen aufgezählt werden könne. Der Delegierte des polnischen
Parlaments, E. Wittbrodt, hob hervor, dass das Christentum einer der wichtigs-
ten Einflüsse in der europäischen Geschichte sei. Sowenig das Christentum die
Rechte anderer verletze, dürfe eine dogmatische Säkularisierung die Rechte die
Religion verletzen. Der italienische Regierungsvertreter F. Speroni unterstrich den
entscheidenden Beitrag des Christentums zu Europa. Der Delegierte der irischen
Regierung, D. Roche, forderte den Konvent dazu auf, die christliche Tradition
Europas nicht zu übersehen.

Gleichzeitig lehnten zahlreiche Mitglieder die Erwähnung des Christentums


in der Präambel ab. MdEP O. Duhamel kritisierte die Versuche, das Christentum
oder die christlichen Wurzeln in die Präambel einzubeziehen. Jeder, der mehr als
die Erwähnung der religiösen Überlieferungen verlange, übersehe, dass es vielen
Delegierten bereits schwer falle, die vom Präsidium vorgelegte Formulierung zu
akzeptieren. Auch M d E P A. van Lancker lehnte einen Bezug auf das Christentum
strikt ab. Der spanische Parlamentsdelegierte J. Boreil Fontelles erklärte, die
Balance der von Giscard vorgelegten Formulierung zwischen säkularen und
religiösen Werten sei das Äußerste, was der Konvent erreichen könne.

a) Änderungsanträge

Als schriftliche Reaktion auf den von Giscard verfassten Präambeltext wurden
insgesamt 18 Änderungsanträge 2 3 zur Präambel eingebracht. Für den zweiten
Präambelabsatz wurden insbesondere folgende Textalternativen vorgeschlagen:

- von MdEP E. Brök für die EVP-Gruppe:


..Drawing inspiration f r o m the cultural. religious and humanist inheritance of Europe.
which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual
and for example judco-christian impulse always present in its heritage and later by the
philosophical currents of the Enlightenment. has e m b e d d e d within the life of society
its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable
rights, and of respect for law. and the respect for conscience and belief | . . . 1",

- von der polnischen Regierungsvertreterin D. Hühner.


„ | . . . ] which. nourished first by the civilisations of G r e e c e and Rome. characterised by
spiritual. notably Christian impulse always present in its heritage | ...1";

- von den polnischen Parlamentsvertretern E. Wittbrodt und M. Fogler:

23
Eine Übersicht aller Ä n d e r u n g s a n t r ä g e ist unter http://europeanl-lconvention.eu.int
/amendments zusammengestellt. Die Anträge lagen dem Konvent lediglich in Originalspra-
che vor.
380 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

„ | . . . ] which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome, characterised by


spiritual impulse always present in its heritage, and by the philosophical currents of the
Christianity. the Renaissance and the Enlightenment ( . . . ]
Believing that reunited Europe will ever base on f u n d a m e n t a l values, as tolerance and
human dignity, which are the values of those w h o believe in God as the source of truth.
justice, good and beauty. and of those w h o do not share such a belief, but respect these
universal values arising from other sources [ . . . ]";

- v o n d e n m a l t e s i s c h e n D e l e g i e r t e n P. SeraciuoInglott, M. Frendo u n d J. Inguanes:


„ | . . . ] which, nourished first by the civilisations of G r e e c e and Rome. characterised by
spiritual impulse always present in its heritage. notably Judaeo-Christian. and later by
the philosophical currents of the Renaissance and the Enlightenment. has e m b e d d e d
within the life of society its pereeption of the central role of the h u m a n person and its
inviolable and inalienable rights, and of respect for law, f r e e d o m of conscience and
belief in G o d " ;

- von MdEP./. Wiirmeling u.a.:


..Drawing inspiration f r o m the cultural. judeo-christian and humanist inheritance of
Europe. which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by
spiritual impulse always present in its heritage and later by the philosophical currents of
the Enlightenment. has e m b e d d e d within the life of society its pereeption of the central
role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law.
respecting conscience and belief in G o d " ;

- v o n d e m V e r t r e t e r d e s B u n d e s r a t e s . M i n i s t e r p r ä s i d e n t E. Teufel:
, . [ . . . ] Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferung Euro-
pas. die - aus der griechischen und römischen Zivilisation sowie aus dem Gottesglauben
des Christentums und anderer Religionen hervorgegangen und erst durch das geistige
Streben ( . . . ]";

- v o m stellvertretenden Delegierten der französischen Nationalversammlung


J. Fl och :
„[ ] S'inspirant des Heritages culturels, religieux. laics et humanistes de l ' E u r o p e
1-.]";

- v o m M d E P O. Duhamel u. a.:
„ ( . . . ] S'inspirant des Heritages culturels. et spirituels de l'Europe 1... I";

- v o m i r i s c h e n P a r l a m e n t s V e r t r e t e r P. de Rossa:
..Drawing inspiration f r o m the diverse religious, cultural and humanist inheritance of
Europe I . . . ] " ;

Auf der Grundlage dieses Stimmungsbildes wurde dem Konventsplenum in


d e r P l e n a r s i t z u n g a m 1 2 . / 1 3 . Juni 2 0 0 3 eine überarbeitete P r ä a m b e l v e r s i o n vor-
gelegt. Darin verzichtete das Präsidium auf die E r w ä h n u n g der griechischen und
römischen Zivilisation sowie den Bezug zur A u f k l ä r u n g . Der Hinweis auf die
kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas wurde beibe-
halten und durch den Zusatz „deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind"
381 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

ergänzt. Nicht aufgenommen wurden ein expliziter Gottesbezug, ein Hinweis auf
das Christentum oder das (jüdisch-)christliche Erbe. Dieser Version stimmte der
Konvent im Zuge des politischen Gesamtkompromisses zu. 24

b) Die Beratungen der Regierungskonferenz

In der im Oktober 2003 eröffneten Regierungskonferenz wurde die Frage des


Gottesbezugs erneut aufgegriffen. Beim Treffen der EU-Außenminister am 28./
29. 11.2003 in Neapel war die Frage der Präambel und insbesondere des Bezugs
auf die christlichen Wurzeln Europas Gegenstand eingehender Beratungen. Ein
Konsens konnte dabei nicht erzielt werden. Zur Vorbereitung des Europäischen
Rates in Brüssel am 12./13. Dezember 2003 schlussfolgerte die italienische EU-
Ratpräsidentschaft deswegen, dass „einige Delegationen es nach wie vor für
wichtig hielten, dass in der Präambel auf die christlichen Werte Bezug genommen
wird" während „die übrigen Delegationen der Ansicht waren, dass der Text
des Konvents den unterschiedlichen Anliegen in ausgewogener Weise Rechnung
trage". 25

c) Bewertung

Aus dem Streit hervorgegangen ist ein durch und durch säkularer, laizistischer
Text, der angesichts der europäischen Realität möglicherweise zu Recht auf eine
„Invocatio Dei", eine Anrufung Gottes, verzichtet und sich stattdessen auf den
Geist der Antike, des Humanismus und der Aufklärung beruft. Nur beiläufig
wird auf das religiöse Erbe Europas verwiesen, ohne dass dabei die jüdische,
christliche und muslimische Tradition in irgendeiner Weise erwähnt wird. Von
religiöser Gegenwart ist überhaupt nicht die Rede. Über die Hintergründe dieser
Zurückhaltung lässt sich nur rätseln: Sorge um den laizistischen Staat, Rücksicht
gegenüber multireligiösen Gesellschaften oder schlicht Angst vor dem Erstarken
des Fundamentalismus? Ehrenwerte Gründe allesamt, die aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass hier ein Text vorliegt, der, obwohl er modern sein will,
seltsam unzeitgemäß wirkt; ein Text, der weder den eigenen Traditionen noch den
Erfordernissen der Gegenwart wirklich gerecht wird.

Europa, das alte wie das neue, verdankt sich nicht nur der griechischen Antike
und nicht nur der französischen Aufklärung, sondern ebenso sehr jenem Mittelalter,
in dem jüdische, christliche und muslimische Denker, allein oder gemeinsam,
über den Widerspruch von Glaube und Vernunft nachgedacht und damit jene
Aufklärung mit vorbereitet hatten, die bis heute als der große Widerpart des
Religiösen gilt.

24
Vgl. das Plenarprotokoll der Sitzung vom 12./ 13. Juni 2003, Fn. 17.
25
Siehe hierzu das D o k u m e n t der Regierungskonferenz C I G 6 0 / 0 3 A D D 2 v. 11.12.2003.
382 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Europa, das alte wie das neue, ist ein Kontinent, dessen Schicksal - im grau-
samsten wie im erhabensten Sinne - von Religion und Religionen bestimmt wurde
und es vielfach noch immer wird. Dies zu negieren oder zu verdrängen, heißt,
einer Geschichtsvergessenheit Vorschub zu leisten, die sich bis in die Zukunft
hinein rächt. Und schließlich ist auch Europa, das neue mehr noch als das alte,
Schauplatz jener Entwicklung, die man die „Rückkehr des Religiösen" nennt
und die gegenwärtig daran ist, die Gesellschaften, nicht nur die amerikanische,
nachhaltig zu verändern.

Von alledem kann in einem Verfassungstext selbstverständlich nicht ausdrück-


lich die Rede sein. Durch den weitgehenden Verzicht auf religiöse Referenz
erweckt diese europäische Präambel indes den Verdacht, dass man sich der Be-
deutung der Religionen als konstituierender Elemente auch des neuen Europas
entweder nicht bewusst ist oder sie willentlich unterschlägt. Damit geht etwas ganz
Wesentliches verloren. Religion, sei es nun als Suche nach einer neuen Spiritua-
lität oder als Flucht in fundamentalistische Gewissheiten, hat seit einigen Jahren
enormen Auftrieb. Die Aufklärung und die mit ihr einhergehende Entzauberung
der Welt sind an Grenzen gestoßen, die Bedürfnisse der Menschen nach dem
Unbegreiflichen, dem Göttlichen neu erwacht. Unter dem Eindruck der rasanten
technologischen Entwicklung hat sich das Bewusstsein sowohl für „die Grenzen
menschlicher Macht" 2 6 als auch für die Notwendigkeit umfassender Orientierung
geschärft. Ethisch-religiöse Positionen sind in den existenziellen Debatten der
Gegenwart gefragter denn je. Wer dies, willentlich oder nicht, übersieht, vernach-
lässigt nicht nur menschliche Grundbedürfnisse, sondern schafft ein Vakuum, in
dem Fundamentalismen aller Art gegenüber dem Humanismus und der Aufklä-
rung ein leichtes Spiel haben. Nur beiläufig wird in der EU-Verfassung auf das
religiöse Erbe Europas verwiesen. Von einer religiösen Gegenwart ist gar nicht
erst die Rede. 27

4. D e r Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und B e i t r i t t s k a n d i d a t e n )


d e r E u r o p ä i s c h e n Union sowie in den d e u t s c h e n B u n d e s l ä n d e r n

Von den derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen die Ver-
fassungen Dänemarks. Griechenlands, Irlands, der Bundesrepublik Deutschland 2 8
und im Falle Großbritanniens die Verfassungsprinzipien ausdrücklich einen Got-

26
Wie es etwa in der Präambel zur neuen Zürcher Kantonsverfassung heißt.
2
Möglicherweise vorausblickend bereits H. Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen,
1844: „ D i e Jungfrau Europa ist verlobt / Mit dem schönen Geniusse / Der Freiheit, sie
liegen einander im A r m . / Sie schwelgen im ersten Kusse. / Und fehlt der Pfaffensegen
dabei. Die Ehe wird gültig nicht minder - / Es lebe Bräutigam und Braut. / Und ihre
zukünftigen Kinder!"
28
Auf eine wörtliche Wiedergabe wird verzichtet. Siehe aber zum T h e m a Gottesklausel
in der Bundesrepublik Deutschland umfassend (insbesondere mit dem wichtigen Verhältnis
383 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

tesbezug auf. Teilweise wird der Gottesbezug nur indirekt deutlich, etwa wenn
auf eine bestimmte Konfession (Finnland: evangelisch-lutherische Kirche, Malta:
römisch-katholisch-apostolische Kirche) hingewiesen wird, die Bekräftigung ei-
nes Amtseides durch eine religiöse Beteuerung (Niederlande, Österreich) erfolgt
bzw. erfolgen kann oder durch die Nennung von Heiligen, die einen Staat maß-
gebend mitgeprägt haben (Slowakische Republik: Heilige Slawenapostel Cyrillus
und Methodius).

Die Verfassungen der Beitrittskandidaten bzw. zuletzt beigetretenen Staaten zur


Europäischen Union enthalten teilweise nur konkludent einen Gottesbezug, durch
die Möglichkeit der Anrufung Gottes bei Ableistung des Amtseides (Rumänien).
Die Türkei weist in der Präambel ihrer Verfassung auf das Prinzip des Laizismus
(strikte Trennung von Staat und Religion) hin und beinhaltet folglich keinen
Gottesbezug. 2 9

a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der


Mitgliedstaaten der Europäischen Union

- In der „Koordinierten Verfassung Belgiens" 3 0 findet sich kein Gottesbezug.


Auch der Eid. den der König bei der Thronbesteigung ablegt, enthält keine
religiöse Beteuerung (Art. 80 Abs. 2).
- Die Verfassung der Republik Bulgarien 31 kennt keinen Gottesbezug. In Art. 13
(Religionsfreiheit) wird in Abs. 3 lediglich erwähnt, dass die traditionelle Reli-
gion in Bulgarien das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis ist.

zwischen Präambel und Art. 1 Abs 1GG) P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissen-
schaft. 2. Aufl. 1998. S. 951 ff., ders.. „ G o t t " im Verfassungsstaat?, 1987 ( n u n m e h r in:
ders.. Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. S. 2 1 3 ff.) mit der
dort zitierten Kommentarliteratur. Vgl. auch E.L Behrendt. Gott im Grundgesetz. 1980:
D. Blumenwitz, Gott im Grundgesetz, in: E . L . Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christen-
tum. Bd. I, 1982. S. 127 ff.
29
Bemerkenswert ist im Kontext des Gottesbezuges auch das Beispiel der Schweiz.
Als man dort Mitte der neunziger Jahre eine Revision der Bundesverfassung in Angriff
nahm, gab ein Punkt besonders zu reden: sollte in der Präambel der N a m e Gottes angeru-
fen werden? Obwohl die Fronten nicht ganz eindeutig verliefen, hat sich schließlich das
Althergebrachte durchgesetzt. Mit der B e r u f u n g auf den „ N a m e n Gottes des Allmächti-
g e n " und die „Verantwortung gegenüber der S c h ö p f u n g " bekennt sich die Verfassung zu
einer Schweiz, die sich ihres religiösen Fundaments bewusst ist und sich als Teil j e n e r
S c h ö p f u n g versteht, wie sie die jüdisch-christliche Tradition beschreibt. Die Präambel der
schweizerischen Bundesverfassung geht, implizit zumindest, davon aus, dass es sich noch
i m m e r um den christlichen Gott handelt, obwohl die ethnisch-religiösen Verhältnisse des
Landes längst in eine andere Richtung weisen.
30
Verfassung vom 17. Februar 1994. zuletzt geändert am 17. D e z e m b e r 2002.
31
Vom 12. Juli 1991.
384 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- Die Verfassung des Königreichs Dänemark 3 2 enthält in Kapitel VII, das die
„Verfassung der Volkskirche" durch Gesetz festlegt (§ 66), in § 67) den folgen-
den Wortlaut:
„Die Bürger haben das Recht, sich in G e m e i n s c h a f t e n zusammenzuschließen, um Gott
auf diese Weise zu dienen, die ihrer Ü b e r z e u g u n g entspricht: es darf j e d o c h nichts
gelehrt oder unternommen werden, was gegen die Sittlichkeit oder gegen die öffentliche
Ordnung verstößt."

§ 6 8 bestimmt, dass niemand verpflichtet ist, persönlich Beiträge zu einer


anderen als der von ihm selbst befolgten Art der Gottesverehrung zu leisten.

Im Folgenden (§§ 69, 70) wird festgelegt, dass die Verhältnisse der von der
Volkskirche abweichenden Glaubensgemeinschaften näher durch Gesetz gere-
gelt werden. Ferner: niemand kann u. a. wegen seines Glaubens von bürgerlichen
oder politischen Rechten ausgeschlossen werden oder sich der Erfüllung der
allgemeinen Bürgerpflichten entziehen. 3 3

- Der Verfassung Estlands 34 ist, wie allen Verfassungen der Länder des Baltikums,
ein Gottesbezug unbekannt.
- Finnlands Grundgesetz 3 5 weist ebenfalls keinen Gottesbezug auf. Das 6. Kapitel
(§ 76) des Grundgesetzes weist jedoch auf die Organisation und Verwaltung
der evangelisch-lutherischen Kirche hin. die gesetzlich näher festgelegt sind.
- Die Verfassung der Republik Frankreich 36 kennt als „klassisches" Beispiel eines
laizistischen Staates keinerlei Gottesbezug.
- Die Verfassung der Republik Griechenland 3 7 wird mit folgenden Worten einge-
leitet:
„Im Namen der Heiligen Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit [ . . . J "

Der II. Abschnitt der Verfassung, der die Beziehungen zwischen Staat und
Kirche näher regelt, bestimmt in Artikel 3 Abs. 1:
„Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi.
Indem sie als Haupt unseren Herrn Jesus Christus anerkennt, bleibt die orthodoxe
Kirche Griechenlands in ihrem D o g m a mit der Großen Kirche in Konstantinopel und
j e d e r anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses unzertrennlich verbunden
und bewahrt wie j e n e unerschütterlich die heiligen apostolischen und die von den
Konzilen aufgestellten Kanones sowie die Heiligen Überlieferungen. Sie ist autokephal

12
Verfassung vom 5. Juni 1953.
33
Ähnlich die Regelung in Kap. VIII § 71 Abs. 1 der Verfassung:
34
Vom 28. Juli 1992:
35
Beschlossen am 1 I . J u n i 1999, in Kraft getreten am 11. März 2000.
36
Vom 4. Oktober 1958. zuletzt geändert am 24. S e p t e m b e r 2000.
37
Beschlossen von dem 5. Verfassungsändernden Parlament am 9 Juni 1975 und in
Kraft getreten am 11. Juni 1975, zuletzt geändert am 16. April 2001.
385 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

und wird geleitet von der Heiligen Synode der sich im A m t e befindlichen Bischöfe
und der aus deren Mitte hervorgehenden Dauernden Heiligen S y n o d e , die sich nach
den Bestimmungen der G r u n d o r d n u n g der Kirche zusammensetzt unter Beachtung der
Vorschriften [ . . . ] "

Art. 13 der Verfassung Griechenlands enthält den Grundsatz der Religions-


freiheit und das Verbot des Proselytismus (= A b w e r b u n g eines orthodoxen
G l ä u b i g e n f ü r e i n e a n d e r e K o n f e s s i o n ) . A r t . 105 f ü h r t ins E i n z e l n e g e h e n d e
Bestimmungen über den Heiligen Berg Athos auf.
- B e d e u t s a m i m R a h m e n d e r A u f g a b e n s t e l l u n g ist d i e P r ä a m b e l d e r V e r f a s s u n g
der Republik Irland.38 Sie hat folgenden Wortlaut:

„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt und auf
die. als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten
ausgerichtet sein müssen, anerkennen

Wir. das Volk von Irland.

in Demut alle unseren Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn. Jesus Chris-
tus. der unseren Vätern durch Jahrhunderte der H e i m s u c h u n g hindurch beigestanden
hat [ . . . ] "

Art. 31 A b s . 4 d e r V e r f a s s u n g b e s t i m m t , d a s s j e d e s Mitglied d e s Staatsrates bei


d e s s e n e r s t e r S i t z u n g , a n d e r e s t e i l n i m m t , f o l g e n d e E r k l ä r u n g a b g i b t u n d sie
unterzeichnet:

„In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig,
dass ich meine Pflichten als Mitglied des Staatsrates treu und gewissenhaft erfüllen
werde." 3 9

Art. 34 A b s . 5 Nr. 1 und 2 b e s t i m m t , dass j e d e r nach d e r V e r f a s s u n g e r n a n n t e


Richter folgende Erklärung mündlich und schriftlich in Gegenwart des Präsi-
denten und der Richter der obersten Gerichte a b z u g e b e n hat:

„In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig,
dass ich das A m t des obersten Richters (oder welches Amt es sein m a g ) gegenüber
j e d e r m a n n ordnungsgemäß und treu, nach bestem Wissen und Können, ohne Furcht oder
Begünstigung, Zuneigung oder Böswilligkeit ausüben will und dass ich die Verfassung
und die Gesetze einhalten will. Gott möge mich führen und mir bestehen."

A u c h h i e r s i e h t d i e V e r f a s s u n g e i n e „ n e u t r a l e " E r k l ä r u n g n i c h t vor. A r t . 4 0
A b s . 6 N r . I lit. a ) S a t z 3 b e s t i m m t , d a s s u . a . V e r ö f f e n t l i c h u n g e n o d e r Ä u ß e -
rungen gotteslästerlichen Inhalts Vergehen sind, die nach d e m Gesetz bestraft
werden.

38
Vom I.Juli 1937, zuletzt geändert am 7. November 2002.
39
Das deutsche GG sieht eine „ n e u t r a l e " Erklärung ohne die A n r u f u n g Gottes vor.
vgl. etwa Art. 56 Satz 2 G G .
386 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Art. 44 der Verfassung behandelt eingehend die Religion. Zitiert sei Abs. 1:
„Der Staat anerkennt, dass dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher
Verehrung gebührt. Er erweist seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die
Religion." Die Verfassung Irlands schließt letztlich mit den Worten: „Zur Ehre
Gottes und zum Ruhme Irlands."
- Die Verfassung der Republik Italien 40 enthält keinen Gottesbezug.
- Die Verfassung Lettlands 41 enthält, wie die Verfassungen seiner Nachbarstaaten,
keinen Gottesbezug.
- Die Verfassung der Republik Litauen 42 kennt, wie angedeutet, keinen Gottesbe-
zug. Allerdings ist in Art. 43 eingehend die Religionsfreiheit geregelt und das
Verhältnis zwischen Kirchen und Staat fest geschrieben.
- Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg 4 3 enthält ebenfalls keinen
Gottesbezug; das gilt auch für den Eid des Großherzogs bei der Thronbe-
steigung (Art. 5), der Mitglieder der Abgeordnetenkammer (Art. 57) und der
Zivilbeamten (Art. 110).
- Die Verfassung der Republik Malta 4 4 enthält keinen ausdrücklichen Gottesbe-
zug, betont jedoch in Kapitel I Abschnitt 2 Absatz 1. dass die Religion auf Malta
die römisch-katholisch-apostolische ist. deren Bischöfe hätten des Recht und
die Pflicht zu verkünden, welche Grundsätze der Glaubenslehre entsprechen
und welche damit unvereinbar sind (Abs. 2). Römisch-katholisch-apostolischer
Religionsunterricht ist an den Schulen verbindliches Fach (Abs. 3). Allerdings
sieht der Amtseid für den Präsidenten, den Premierminister, den Minister und
andere hohe Amtsträger eine Eidesformel vor, die fakultativ eine religiöse
Bekräftigung („So help me God") enthalten kann.
- Kein Gottesbezug findet sich in der Verfassung des Königreichs der Niederlan-
de 45 . Lediglich in den Zusatzartikeln der Verfassung, hier: Art. 44, ist der Eid
festgelegt, den der Regent abzulegen hat und der mit den Worten schließt: „So
wahr mir Gott, der Allmächtige helfe!". Erlaubt ist auch die Formel: „Das gelo-
be ich!". Dasselbe gilt für den Eid des Königs auf die Verfassung (Art. 53) und
das Gelöbnis des Vorsitzenden der Generalstaaten und von dessen Mitgliedern
(Art. 54).
- Das Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich 46 kennt keinen Gottes-
bezug. Lediglich Art. 62 Abs. 2 und Art. 70 Abs. 1 Satz 1 lassen eine religiöse

40
Vom 17. D e z e m b e r 1947, zuletzt geändert am 30. Mai 2003.
41
Vom 7. August 1992. zuletzt geändert am 30. April 2002.
42
Vom 25. Oktober 1992.
43
Vom 17. Oktober 1868. zuletzt geändert am 19. Dezember 2003.
44
Vom 13. D e z e m b e r 1974.
45
Vom 17. April 1983, zuletzt geändert am 10. Juli 1995.
46
Vom 10. November 1920. in der Fassung vom 7. D e z e m b e r 1929. zuletzt geändert am
28. Juni 2002.
387 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Beteuerung für das Gelöbnis des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und


der Mitglieder der Bundesregierung zu.
- Die Verfassung der Republik Polen 47 hat einen Kompromiss gefunden, indem in
der Präambel alternativ entweder auf Gott oder andere Instanzen bzw. universale
Werte Bezug genommen wird.
- Das gleiche wie für die Verfassung Polens gilt für die Verfassung der Republik
Portugal" 8 : Sie enthält keinen Gottesbezug.
- Auch in der Verfassung der Republik Rumänien 4 9 findet sich kein Gottesbezug.
Allerdings hat der zum Präsidenten gewählte Kandidat in gemeinsamer Sitzung
von Abgeordnetenkammer und Senat seinen Amtseid abzugeben, der mit den
Worten endet: „So wahr mir Gott helfe!". Ein Absehen von dieser religiösen
Beteuerung sieht die Verfassung (Art. 82 Abs. 2) nicht vor. Dasselbe gilt für
den Amtseid des Premierministers, der Minister und der anderen Mitglieder
der Regierung (Art. 103 Abs. 1 i.V. m. Art. 82 Abs 2).
- Der Text der Verfassung des Königreichs Schweden 5 0 weist ebenfalls keinen
Gottesbezug auf. Die Staatskirche wurde durch das verfassungsändernde Gesetz
Nr. 1998:1700 abgeschafft.
- Die Verfassung der Slowakischen Republik 51 erwähnt zwar in der Präambel
u. a. das „geistige Erbe der Heiligen Cyrillus und Methodius", der Slawenapostel,
sieht aber im Übrigen von einem Gottesbezug ab.
- Die Verfassung der Slowenischen Republik 52 enthält keinen Gottesbezug.
- Auch in der Verfassung des Königreichs Spanien 5 3 findet sich kein Gottesbezug.
- Ein Gottesbezug findet sich ebenfalls nicht in der Verfassung der Tschechischen
Republik 54 .
- Ebenso ist in der provisorischen Verfassung der Republik Ungarn 5 5 kein Got-
tesbezug enthalten.
- Das Vereinigte Königreich (Großbritannien) besitzt als einziges EU-Mitglied
keine Verfassungsurkunde. Dieser Umstand hat dazu geführt, fälschlicherweise
anzunehmen, Großbritannien habe keine geschriebene Verfassung. Allerdings
ist die britische Verfassung nur teilweise schriftlich fixiert: die Verfassungstexte
sind nicht in einem einzelnen Dokument niedergelegt, sie sind im Laufe der

47
Vom 2. April 1997.
48
Vom 2. April 1976. zuletzt geändert am 12. D e z e m b e r 2001.
49
Vom 21. November 1991.
50
Vom I . J a n u a r 1975. zuletzt geändert am 27. M ä r z 2 0 0 2 .
51
Vom 1. S e p t e m b e r 1992, zuletzt ergänzt vom 11. April 2002.
52
Vom 23. D e z e m b e r 1991.
53
Vom 29. D e z e m b e r 1978. zuletzt geändert am 27. August 1992.
54
Vom 16. D e z e m b e r 1992. zuletzt geändert und in Kraft getreten am 1. März 2004.
55
Vom 20. August 1949, in der Fassung vom 24. August 1990.
388 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Jahrhunderte vielmehr gewachsen. So enthält etwa die Magna Charta Liberta-


tum (1215) mehrfach ausdrückliche Bezugnahmen auf Gott (etwa Einleitung
und Nr. 1).
- Die Republik Zypern enthält in ihrer Verfassung 5 6 keinen Gottesbezug. Sie
macht allerdings z. B. in Art. 2 Abs. 1 und 3, Unterabsatz 4, umfangreiche Aus-
führungen zu den beiden religiösen Gruppen („religious groups"): griechisch-
orthodoxe und türkisch-moslemische Bürger.

b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der


Beitrittskandidaten zur Europäischen Union57

- In der Verfassung der Republik Kroatien* s findet sich keine Bezugnahme auf
Gott.
- Die Republik Türkei hat sich in der Präambel seiner Verfassung 5 9 nach fran-
zösischem Vorbild dem laizistischen Prinzip verschrieben. Dementsprechend
findet sich in der Verfassung kein Bezug zu Gott.

c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der


16 Länder der Bundesrepublik Deutschland

Abgesehen von den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg sowie des Landes
und Schleswig-Holstein beziehen sich alle Verfassungen der sog. „alten" Bun-
desländer auf Gott. In der Verfassung des Saarlandes findet sich ein direkter
Gottesbezug in den Erziehungszielen für die Jugend.

Von den Landesverfassungen der fünf „neuen" Länder, die sämtlich über eine
Präambel verfügen, beinhalten ausdrücklich nur Sachsen-Anhalt und Thüringen
eine Bezugnahme auf Gott, nämlich indem sie den Mitgliedern der Staatsregierung
die Anrufung Gottes ermöglichen.
- In einen „Vorspruch" enthält die Verfassung des Landes Baden-Württemberg 6 "
einen Gottesbezug. Der „Vorspruch" hat folgenden Wortlaut: 61
..Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, von d e m Willen
beseelt, die Freiheit und W ü r d e des Menschen zu sichern [ . . . ] "

56
Vom 16. August i960.
5
Hier beschränkt sich die Darstellung auf solche, die wenigstens Beitrittsverhandlun-
gen führen.
5S
Vom 21. D e z e m b e r 1990. zuletzt geändert am 23. April 2001.
59
Vom 13. S e p t e m b e r 1982, zuletzt geändert am 27. D e z e m b e r 2002.
60
Vom 11. November 1953 (GBl. S. 173), zuletzt geändert durch Gesetz vom
23. Mai 2 0 0 0 (GBl. S. 449).
61
Dazu im einzelnen W. Weinhold, Gott in der Verfassung - Studie zum Gottesbezug
in Präambeltexten d e r deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderver-
fassungen seit 1949. 2001. S . 4 0 ff.
389 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

In Art. 1 Abs. I, Halbsatz 2 beruft sich die Verfassung auf die „Erfüllung
des christlichen Sittengesetzes", Art. 3 Abs. 1 Satz 3 bestimmt, hinsichtlich der
Feiertage sei die christliche Überlieferung zu wahren. In Abschnitt II widmet die
Art. 3 bis 10 der Religion und den Religionsgemeinschaften. In Art. 12 Abs. 1
ist als Erziehungsziel u. a. angegeben, die Jugend „in der Ehrfurcht vor Gott,
im Geist der christlichen Nächstenliebe ( . . . ] " zu erziehen. Im Amtseid (Art. 48
Satz 2) ist die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" vorgesehen; sie
kann allerdings entfallen (Art. 48 Satz 3).
- Die Verfassung des Freistaates Bayern 62 führt ohne nähere Kennzeichnung
(z. B. Präambel u.ä.) zu Beginn aus:
..Angesichts des T r ü m m e r f e l d e s , zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung o h n e
Gott, ohne Gewissen 1... 1 geführt hat I . . .

Nach Art. 131 A b s . 2 BV gehört zu den obersten Bildungszielen u.a. die Ehr-
furcht vor Gott.
- Die Verfassungen der Länder Berlin 64 und Brandenburg 6 5 kennen keinen Got-
tesbezug.
- Auch die Stadtstaaten und Hansestädte Bremen und Hamburg 6 6 enthalten in
ihren Verfassungen keinen Gottesbezug.
- In der Verfassung des Landes Hessen 67 findet sich ebenfalls kein Gottesbezug. 6 8
Art. 56 Abs. 4 legt allerdings als eines der Erziehungsziele den selbständigen
und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit u. a. durch Ehrfurcht
und Nächstenliebe, also einen fundamentalen christlichen Wert, fest.
- Ebensowenig kennt die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern 6 ''
einen Gottesbezug. 7 0

62
Vom 8. Februar 1946 (GVB1. S. 333). in der Fassung der B e k a n n t m a c h u n g vom
15. D e z e m b e r 1998 (GVB1. S . 9 9 I ) .
63
Vgl. W. Weinhold (2001), S . 4 2 f f .
w
Vom 23. November 1995 (GVBI. S . 7 7 9 ) , zuletzt geändert durch Gesetz vom
3. April 1998 (GVBI. S. 82).
65
Vom 20. August 1992 (GVBI. S . 2 9 8 ) , zuletzt geändert durch G e s e t z vom 7. April
1999 (GVBI. S. 98).
66
Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 2 1 . O k t o b e r 1947 (GBl. S . 2 5 I ) ,
zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Februar 2 0 0 0 (GBl. S. 31); Hamburg: Verfassung
der Freien und Hansestadt H a m b u r g vom 6. Juni 1952 (GVBI. S. 117), zuletzt geändert
durch Gesetz vom 20. Juli 1996 (GVBI. S. 133).
67
Vom 1. D e z e m b e r 1946 (GVBI. S. 229). zuletzt ergänzt durch Gesetz vom
20. M ä r z 1991 (GVBI. S. 102).
68
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 57 f.
69
Vom 23. Mai 1993 (GVBI. S. 272). zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. April 2 0 0 0
(GVBI. S. 158).
70
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 94 ff.
390 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- Die Niedersächsische Verfassung 71 enthält in der Präambel folgenden Wortlaut:


„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk
von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben \ . . . ]" 7 ;

Art. 31 Satz I führt den Wortlaut des Amtseides für die Mitglieder der Landes-
regierung an. der keine religiöse Beteuerung vorsieht, allerdings in Satz 2 diese
Möglichkeit („So wahr mir Gott helfe") fakultativ vorsieht.
- In ihrer Präambel führt die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen 7 3 aus:
„In Verantwortung vor Gott und den Menschen, verbunden mit allen Deutschen, erfüllt
von d e m Willen, die Not der Gegenwart in gemeinschaftlicher Arbeit zu ü b e r w i n d e n ,
dem inneren und äußeren Frieden zu dienen. Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für
alle zu schaffen, haben sich die M ä n n e r und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen
diese Verfassung gegeben: 1... I" 74

Art. 7 Abs. 1 gibt aller Erziehungsziel u. a. „Ehrfurcht vor Gott" an. Der Amtseid
der Mitglieder der Landesregierung (Art. 53 Satz 1) kann mit der religiösen
Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" geleistet werden (Satz 2).
- Die Verfassung von Rheinland-Pfalz 7 5 beginnt in ihrem „Vorspruch" mit den
Worten:
„Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und aller
menschlichen G e m e i n s c h a f t . [ . . . ]" 76

Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung sieht die üblich religiöse
Bekräftigung vor (Art. 100 Abs. 1). allerdings ist die Benutzung der Eidesformel
frei gestellt (Art. 100 Abs. 2 i.V. m. Artikel 81 Abs. 3 Satz2).
- In der Verfassung des Saarlandes 77 findet sich eine Bezugnahme auf Gott nicht
zu Beginn (die Verfassung enthält keine Präambel), sondern in Art. 30. Danach
ist die Jugend u. a. in der Ehrfurcht vor Gott und im Geist der christlichen
Nächstenliebe zu erziehen. Für die Ablegung des Amtseides der Mitglieder
der Landesregierung ist die übliche religiöse Beteuerung vorgesehen, auf die
jedoch verzichtet werden kann.

71
Vom 19. Mai 1993 (GVB1. S. 107), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Novem-
ber 1997 ( G V B 1 . S . 4 8 0 ) .
72
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 58. 63 ff.
73
Vom 28. Juni 1950 ( G V - N W S. 127). zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Novem-
ber 1992 ( G V - N W S . 4 4 8 ) .
7i
Vgl. W. Weinhold (2001), S . 4 9 f f .
75
Vom 18. Mai 1947 (VOB1. S. 209). zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. M ä r z 2 0 0 0
(GVB1.S.65).
76
Dazu ausführlich W. Weinhold (2001), S . 4 4 f f .
77
Vom 15. D e z e m b e r 1947 (ABl. S. 1077). zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Au-
gust 1999 (ABl. S. 1318).
III. Gottesbezug und US-Verfassung 391

- Die Verfassung des Freistaates Sachsen 7 * sieht für die Mitglieder der Staatsre-
gierung vor, den Eid mit der bekannten religiösen Beteuerung zu bekräftigen.
Ein ausdrücklicher Gottesbezug findet sich in der Verfassung nicht, allerdings
bestimmt Art. 101 Abs. I als Erziehungsziel der Jugend u.a. die Erziehung zur
„Nächstenliebe", einem tragenden Wert der christlichen Glaubenslehre.
- In der Präambel der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt 7 9 finden sich
folgende Sätze:
..In freier Selbstbestimmung gibt sich das Volk von Sachsen-Anhalt diese Verfassung.
Dies geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verant-
wortung vor den M e n s c h e n I . . . ] " 8 0

Art. 66 Abs. 2 der Verfassung sieht vor. dem Amtseid der Mitglieder der Lan-
desregierung die religiöse Bekräftigung „So wahr mir Gott helfe" hinzuzufügen.
Der Amtseid kann auch ohne diese Bekräftigung geleistet werden.
- Die Verfassung Schleswig-Holsteins 8 1 wiederum weist keinen Gottesbezug auf.
- Hingegen weist die Verfassung des Freistaates Thüringen in ihrer Präambel
einen direkten Gottesbezug auf s 2 :
..In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums . . . gibt sich das Volk des Freistaa-
tes Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese
Verfassung f . . ] " .

III. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung


des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion

Ein Blick in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika offenbart,
dass darin der Begriff „Gott" unmittelbar nicht enthalten ist. 83 Mittelbar lässt
sich dieser Bezug jedoch in Verbindung mit dem 1. Amendment der Verfassung

78
Vom 27. Mai 1992 (GVBI. S. 243).
79
Vom 16. Juli 1992 (GVBI. S . 6 0 0 ) .
80
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 87 ff.
81
Vom 13. Juni 1990 (GVOB1. S. 393), eeändert durch Gesetz vom 27. September 1998
(GVOB1. S. 280).
10
Vgl. zu den Gottesklauseln in der Verfassung von T h ü r i n g e n auch P. Häberle. Die
Schlussphase der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, in: JöR 43 (1995),
S. 355 ff.
83
Vgl. auch eine im Auftrage des Verf. entwickelte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen
Dienste des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 2004. Wegen eines Gerichtsverfahrens in
A l a b a m a kam es in den vergangenen Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer (erneut)
hitzigen Kontroverse über den Einfiuss Gottes und der Religion auf staatliches Handeln.
R. Moore, ein Richter des obersten Gerichtshofs des Staates A l a b a m a , wurde von der
ACLU ( A m e r i c a n Civil Liberties Union) verklagt, nachdem er im Justizgebäude Montgo-
merys (Alabama) ein in Granit gehauenes M o n u m e n t der Zehn Gebote aufstellen ließ. Das
11. Bezirks-Berufungsgericht der Vereinigten Staaten in A l a b a m a entschied nach anony-
392 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

herleiten. Hierin ist zum einen das Verbot enthalten, ein Gesetz zu erlassen, das
eine Religion (als Staatsreligion) einrichtet, auf der anderen Seite untersagt die
Regelung, die freie Religionsausübung zu beeinträchtigen.

Im Verlauf der Verfassungsgeschichte der USA wurde das I. Amendment,


dessen zwei Bestandteile in ihrem gegenseitigen Verhältnis bislang nicht zufrieden
stellend geklärt werden konnte, über einen längeren Zeitraum hinaus als striktes
Trennungsgebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Entscheidend zu
dieser Auslegung hat die Rechtsprechung des Supreme Court beigetragen. Seit
geraumer Zeit deutet sich allerdings ein Wandel an. der von strikter Trennung
zu „wohlwollender" Neutralität tendiert. Insgesamt ist aber festzustellen, dass
die Rechtsprechung uneinheitlich und schwankend ist. Diese für einen deutschen
Beobachter paradoxe Erscheinung ist insofern überraschend, als in den USA im
Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland religiöse Anschauungen im politischen
Bereich überall gegenwärtig sind." 4

Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf die Aufschrift auf Münzen und Geld-
scheinen: „In God we trust" einerseits (wohl die kraftvollste Alternative, da der
„Alltagsgottesbezug" jegliche Nichtnennung in Texten zu überstrahlen weiß), an-
dererseits ist die amerikanische Flagge in fast jeder Kirche auffallend sichtbar
aufgestellt 8 5 , die Militärsee 1 sorge ist eingerichtet, die Benutzung der Heiligen
Schrift bei Eidesleistungen ist weithin üblich. 86 In zahlreichen weiteren Berei-
chen erscheinen Anspielungen auf Gott: So enthält beispielsweise der „Pledge of
Allegiance" die Worte „one nation under God". Dies könnte zumindest darauf hin-
deuten. dass die „wall of Separation" nicht ansatzweise so hoch ist, wie T. Jefferson,
der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident
der USA, mit der zitierten Formulierung offenbar angenommen hat.

Aber: Obgleich sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten also keine direkte
Erwähnung Gottes, eines Schöpfers oder einer höheren Macht findet, so eröffnet
die „Declaration of Independence" (1776) als erneut im besten Sinne grundlegende
Rechtsquelle den Bezug zu einem Schöpfer („Creator"):

mer Abstimmung, dass das M o n u m e n t entfernt werden müsse (diese Entscheidung wurde
i.Ü. nicht vom US-Repräsentantenhaus unterstützt. Dieses stimmte bei einer Abstimmung
mit 2 6 0 zu 161 Stimmen gegen eine Budgetierung jeglicher Z w a n g s m a ß n a h m e n im Zu-
s a m m e n h a n g mit den Z e h n Geboten). Eine von Richter Moore beim U S - S u p r e m e C o u r t
gegen diese Entscheidung eingelegte B e r u f u n g wurde nicht zur Entscheidung angenommen.
In e i n e m Verfahren in d e m es um die Worte „one nation u n d e r G o d " in der Pledge of
Allegiance geht, wurde j e d o c h die Zulässigkeit der Klage bejaht.
84
Vgl. nur die instruktive Darstellung von K. Ege, Staatstränke für die durstige Chris-
tenheit - die Regierung, die Gläubigen und die Toleranz, in: Freitag 15 vom 6. April 2001.
85
Vgl. E. Geldbach. Religion und Politik: Religious Liberty, in: K . M . Kodalle (Hrsg.),
Gott und Politik in USA - Über den Einfluss der Religion. 1988. S. 2 3 0 ff.. 240.
1,6
Dazu auch A. von Campenhausen. Der heutige Verfassungsstaat und die Religi-
on, in: J. L i s t l / D . Pirson (Hrsg.). Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik
Deutschland. Bd 1.2. grundlegend neu bearbeitete Auflage. 1994. S . 6 5 f.
III. Gottesbezug und US-Verfassung 393

" W e hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are
endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that a m o n g these are Life.
Liberty, and the pursuit of Happiness. [WJhenever any Form of G o v e r n m e n t b e c o m e s
destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it."

1. Die Frage nach einem „Gottesbezug 44 in der


Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika

Zurück zum benannten 1. Amendment vom 15. Dezember 1791, in dessen ersten
Halbsatz die Religion angesprochen ist: „Congress shall make no law respecting
an establishment of religion. or prohibiting the free exercise thereof." 87

Die genannte Verfassungsbestimmung besteht aus zwei deutlich sich voneinan-


der abhebenden Bestandteilen, der „establishment clause" einerseits und der „free
exercise clause" andererseits, deren gegenseitiges Verhältnis unklar und umstrit-
ten ist; beide Bestandteile des Zusatzartikels sind auch in ihrer Interpretation seit
langem heftig in Rechtsprechung und Literatur umkämpft.

Der erste Halbsatz wurde über einen längeren Zeitraum als striktes Trennungs-
gebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Maßgeblich hat dazu die
Rechtsprechung des Supreme Court, beigetragen. In den letzten Jahren ist aller-
dings eine behutsame Änderung der Rechtsprechung zu beobachten, die nicht
mehr von einer strengen Trennung ausgeht. Maßgebend dazu beigetragen haben
die vielfältigen traditionsreichen Verschränkungen christlicher Religionsgemein-
schaften und Kirchen mit staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen.

a) Entstehung und Entwicklung der „Establishment Clause"

Um die Entstehung und Entwicklung der „establishment clause" richtig zu


erfassen, darf nicht unbeachtet bleiben, dass diese in ihrer Entstehungszeit (1789/
91) kein Bild rechtlicher und tatsächlicher Realitäten wiedergab, vielmehr war
sie ein Durchbruch zu mehr staatlicher Toleranz in Glaubensfragen, wie sie
sich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet hatte. Das Grundrecht auf freie
Religionsausübung bestand bereits in den Verfassungen aller Neuenglandstaaten,
allerdings gab es in keiner Verfassung der 13 ursprünglichen Einzelstaaten eine
Norm, die die Trennung von Staat und Kirche beinhaltet hätte. 88

Am Vorabend der amerikanischen Revolution gegen das englische Mutterland


bestanden in den meisten Kolonien „establishments of religion" in verschiedener

87
Z u r Entwicklung und den Hintergründen des 1. A m e n d m e n t s zur US-Verfassung
siehe aus der deutschsprachigen Lit. E. Vollrath. Die Trennung von Staat und Kirche im
Verfassungsverständnis der USA. in: K . M . Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über
den Einfiuss des Religiösen. 1988. S. 216 ff.. 217 ff.
88
Vgl. E. Vollrath (1988), S. 216 f.
394 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Gestalt. In den südlichen Kolonien etwa war die Anglikanische Kirche Staatskir-
che 89 , sie war im Wortsinne „established". Die vier nördlichen Kolonien kannten
keine Form des „establishments", die übrigen Kolonien etablierten die christliche
Religion oder den Protestantismus im Allgemeinen.

Die Revolutionsära veränderte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche freilich
grundlegend. Der Begriff des Establishments war zunehmend mit der anglika-
nischen Kirche in Zusammenhang gebracht worden und wurde als Ausdruck
englischer Unterdrückung empfunden. Nachdem 1773 im Quebec Act die be-
stehenden Rechte des katholischen Klerus bestätigt worden waren, wuchs die
Abneigung gegen ein „establishment" weiter an.

Die Entwicklung in den einzelnen Staaten hin zu einer Trennung zwischen Staat
und Kirche vollzog sich unterschiedlich und zeigt ein uneinheitliches, zuweilen
verwirrendes Bild. 90 Auf einhellige Ablehnung stieß eine Staatskirche anglikani-
scher Prägung. Ebenso war auf Dauer die Erhebung von Abgaben zu Gunsten der
verschiedenen Kirchen selbst auf paritätischer Grundlage nicht beizubehalten.

Ferner ist kein einheitlicher Sprachgebrauch und kein übereinstimmendes Ver-


ständnis davon festzustellen, was „establishment" letztlich besagen will. Es kann
sich auch kein Anhaltspunkt aus der zunächst vorgesehenen Formulierung des
Verbots einer „national religion" wie auch aus dem unbestimmten Artikel „an"
(sc. establishment of religion) für das Gebot der Errichtung einer einzigen Staats-
kirche gewinnen lassen. Immerhin lässt sich das „establishment"als eine klare
Trennung der Sphären Staat und Kirche deuten, wenn auch nicht im Sinn einer
derart strikten Trennung, wie sie der oberste Gerichtshof judizierte. 91

Die Verflechtungen von Staat und Kirche (z. B. durch staatliche Kirchenftnan-
zierung in einigen Einzelstaaten) blieben sogar noch nach Inkrafttreten der „Bill of
Rights" bestehen, da diese als Adressaten die Bundesebene, nicht die Einzelstaa-
ten hatten. Richtete sich, wie oben erwähnt, das 1. Amendment zunächst gegen
den Zentralstaat, änderte sich die Rechtslage mit dem 14. Amendment von 1863.

Dieses Amendment inkorporierte nach überwiegender Auffassung und der


Rechtsprechung des obersten Gerichts zur „due process clause" Mitte des 20. Jahr-
hundert die meisten Regelungen der „Bill of Rights", darunter auch die „establis-
hment clause". Die Freiheitsgarantie der „due process clause" stellt nicht nur eine
subjektiv- rechtliche umfassende rechtstaatliche Garantie verfahrensrechtlicher,
sondern auch materiellrechtlicher Prägung dar. Mit der „due process clause" er-
reichten die Freiheitsrechte der ersten zehn Amendments, darunter die subjektiv-

89
Vgl. E. Voll nah (1988), S. 220.
90
Vgl. umfassend W. Heun, Die Trennung von Kirche und Staat in den Vereinigten
Staaten von A m e r i k a , in: K-H. K ä s t n e r / K . W . N ö r r / K . Schiaich (Hrs^.), Festschrift für
Martin Heckel. 1999 S. 341 ff.. 343 ff.
91
Dazu W. Heim (1999), S. 347 f.; E. Vollrath (1988), S. 216 f.
III. Gottesbezug und US-Verfassung 395

rechtliche Religionsfreiheit des erwähnten Amendments, die Gliedstaaten der


USA. Als Ausprägung der „due process clause" werden alle jene Teile der „Bill of
Rights" verstanden und auf die Gliedstaaten mit Hilfe dieser Klausel übergeleitet,
denen nach der Rechtsprechung des Supreme Courts eine grundlegende Bedeu-
tung für das der Bundesverfassung unterliegende Freiheitskonzept der „ordered
liberty" zukommt. 9 2

b) Inhalt und Reichweite der „Establishment Clause"


nach der Rechtsprechung des Supreme Court

aa) Die Vertreter einer Trennung und einer Zusammenarbeit


zwischen Staat und Religionsgemeinschaften

Die Rechtsprechung des obersten Bundesgerichts der USA ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie sich zwischen zwei gegenläufigen Positionen zur Auslegung
der Establishment- Klausel bewegt. Einerseits ist der so genannte „Trennungs-
ansatz" („Separation") hervorzuheben. Dieser verbietet eine Unterstützung von
Religionsgemeinschaften in jedweder Form, unabhängig davon, ob alle Gruppen
gleichermaßen begünstigt oder nur bestimmte Glaubensrichtungen bevorzugt wer-
den. Nach dieser „Trennungsrechtsprechung" ist Religion eine auf den privaten
Bereich beschränkte Erscheinung, die öffentliche oder gar staatliche Angelegen-
heiten nicht oder zumindest so wenig wie möglich beeinflussen sollte. Diese
Rechtsprechung lässt sich dahin gehend zusammenfassen, dass die genannte Klau-
sel „eine Trennungswand zwischen Kirche und Staat" darstellt.

Auf der anderen Seite sind die Vertreter der Einstellung zu nennen, die eine
Zusammenarbeit („accomodation") zwischen Staat und Religionsgemeinschaften
so lange und insoweit für zulässig erachten, als der Staat nicht eine bestimmte
Religionsgemeinschaft gegenüber anderen bevorzugt (sog. „accomodationists"
bzw. „nonpreferentialists"). Letztgenannte Richtung hat in den 80er Jahren des

9
~ Vgl. G. Klings, Von strikter Trennung zu wohlwollender Neutralität - Staat und Kirche
in den Vereinigten Staaten und die gewandelte Auslegung der religious clauses der US-
Verfassung. in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2000. S. 5 0 5 ff., 509 ff. mit Fn. 22.
Gegen die Einbeziehung der Einzelstaaten in die „establishment c l a u s e " ist eingewandt
worden, diese stelle kein Freiheitsrecht dar. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verbot des
„establishment" unzweifelhaft mit dem Freiheitsrecht der Religionsfreiheit z u s a m m e n h ä n g t ,
das sich gegen j e d e Einwirkung des Staates auf religiöse Freiheit richtet. Daneben war das
Verbot auch von einer eher säkular geprägten A u f f a s s u n g beeinflusst. der das Individuum
und auch den Staat vor religiösen Einflüssen schützen wollte; letztlich sieht diese Auf-
fassung sowohl den Staat durch eine Beeinflussung seitens der Kirche als auch diese durch
eine Einflussnahme des Staates gleichermaßen als gefährdet an. vgl. T.M.Gannon. Die
katholischen Bischöfe in der amerikanischen Politik der 80er Jahre, in: K . M . Kodalle
(Hrsg.). Gott und Politik in USA - Ü b e r den Einfluss des Religiösen. 1988. S. 155 ff..
167 ff.
396 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

vergangenen Jahrhunderts Unterstützung von Verfassungshistorikern erhalten, die


zweierlei Aspekte herausgearbeitet haben 93 :
- Die Verfassungsväter der USA haben in der Establishment-Klausel nur die
Gründung einer Staatskirche und die Begünstigung von Bewerbern bestimmter
Konfessionen bei der Besetzung öffentlicher Ämter verbieten wollen.
- Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, die Establishment-Klausel habe
nur untersagen wollen, die zur Zeit der Verfassunggebung bestehenden staats-
kirchenrechtlichen Gegebenheiten der Gliedstaaten zu beeinträchtigen.

bb) Zusammenfassender Überblick über


die Rechtsprechung des Supreme Court

Nach der grundlegenden Entscheidung des Gerichts aus dem Jahr 1947 (soge-
nannte Everson- Entscheidung)94 beinhaltet die mehrfach erwähnte Establishment-
Klausel die strikte Trennung von Staat und Religions- bzw. Glaubensgemeinschaf-
ten und Kirchen, zum anderen untersagt sie zugleich aber auch eine Religions-
feindlichkeit des Staates. Die Spannung zwischen dem Recht auf freie Religions-
ausübung und dem Verbot der Errichtung einer Staatskirche versucht das Gericht
durch das verbindende Element der „wohlwollenden Neutralität" zu überbrücken.
Teilweise enthält die Rechtsprechung Elemente, die stärker den Trennungsgedan-
ken, dann wieder solche, die mehr die Offenheit gegenüber der Religion betonen.
Eine - alle Fälle befriedigende - Lösung ist bis heute nicht gefunden worden,
vielmehr werden die bestehenden rechtlichen Probleme an Hand des jeweils zu
entscheidenden Einzelfalls gelöst.

Prüfungsmaßstab der Establishment-Klausel durch den Supreme Court ist der


bekannte, aber zugleich auch problematische „Lemon - Test" 95 . Dieser enthält
drei Elemente und verlangt: 96
- Mit staatlichem Handeln darf nur ein säkularer Zweck verfolgt werden (subjek-
tives oder finales Kriterium),
- das Staatshandeln darf primär weder in der Förderung noch in der Beeinträch-
tigung der Religion bestehen (objektives, ergebnisoffenes Kriterium),
- aus einem Tätigwerden des Staates darf sich keine übermäßige Verflechtung von
Staat und Religionsgemeinschaften ergeben (objektives, handlungsbezogenes
Kriterium).
Festzustellen ist, dass auch der „Lemon-Test" zu keiner klaren, eindeutigen
Rechtsprechung geführt hat. Besonders einschneidend wirkt sich die Interpretation
der Establishment-Klausel im Bereich der öffentlichen Erziehung aus.

93
Ausführlich G. Krings (2000), S. 511 f. m. w. N.
94
Everson v. Board ofEducation (1947)U.S. Reports Bd. 330. S. I.
95
Dazu insbesondere G. Krings (2000), S. 515 ff., 5 2 3 ff.
96
Lemon v. Kurtzmann (1971) U.S. Reports Bd. 403. S . 6 0 2 .
III. Gottesbezug und US-Verfassung 397

Jede Form der Hinnahme religiöser Ausdrucksformeln (Schulgebet 9 7 , Lesen der


Heiligen Schrift 9 ' 1 etc.) wie auch staatlicher Unterstützung wird als unvereinbar
mit der genannten Klausel angesehen. Ferner wurden vom S u p r e m e Court ein
Moment der Stille zum individuellen Beten' 19 , das Anbringen des Dekalogs in Klas-
senzimmern als Verletzung der genannten Klausel angesehen. Dasselbe Verbot gilt
etwa für die gesetzliche Unterbindung der Evolutionslehre Darwins 1(10 einerseits,
andererseits ist der Unterricht in (streng) biblischer Abstammungslehre verboten.
Ebenso hat das Gericht bestimmte Freizeiten im Rahmen der regulären Unter-
richtszeit zur Ermöglichung des Religionsunterrichts als Verletzung der Klausel
angesehen. Offenbar ist diese missverständliche Rechtsprechung darauf zurückzu-
führen. dass Kinder im besonderen M a ß für religiöse Einflüsse empfänglich sind
und diese Einflussnahme verhindert werden soll. Die staatliche Ermöglichung
religiöser Ausdrucksformeln haben staatliche Stellen dagegen - letztlich aus his-
torischen G r ü n d e n - nicht beanstandet. Dasselbe gilt z. B. für das Gebet vor der
E r ö f f n u n g von Parlamentssitzungen in den Einzelstaaten 1 0 1 , die Ausstellung von
Krippen als Teil einer öffentlich städtischen Weihnachtsdarstellung 1 0 2 . Dagegen
wurde das Zeigen religiöser S y m b o l e in Gerichtsgebäuden verboten. 1 " 3

Einen weiteren großen Bereich der erwähnten Klausel stellen die öffentli-
chen Subventionen für private religiöse Aktivitäten dar. aber auch hier ist keine
eindeutige Linie in der Rechtsprechung zu erkennen. So ist z. B. (religiöser) Er-
gänzungsunterricht außerhalb des Schulgeländes erlaubt 1 0 4 , aber innerhalb des
Geländes verboten 1 0 5 . 1997 ist der S u p r e m e Court jedoch von dieser Rechtspre-
chung in einem Einzelfall abgewichen. 1 0 f t Ferner: Der Staat d a r f e i n e r konfessionell
geführten Privatschule die Kosten f ü r die Durchführung staatlicher Prüfungen er-
statten, sofern die Prüfungsaufgaben nicht von Lehrern der Privatschule stammen.
Nicht beanstandet hat das oberste Bundesgericht auch die Förderung von Schulen
und Aktivitäten in Form von Steuerabzügen und Steuerbefreiungen. Keine klare
Rechtsprechung zur Establishment-Klausel ist auch im Bereich öffentlicher Sub-
ventionen für private religiöse Aktivitäten zu erkennen. Immerhin ist festzustellen,
dass sich das Gericht in vielen seinen Entscheidungen, so auch den beispielhaft

97
Engel v. Virale (1962) U.S. Reports Bd. 370. S. 421.
98
Abbington School District v. Schempp (1963) U.S. Reports Bd. 374. S. 203.
99
Wallace v. Jaffree (1985) U.S. Reports Bd. 472, S. 28.
100
Epperson v. Arkansas (1968) U.S. Reports Bd. 393. S. 97.
101
Marsh v. Camhers (1983) U.S. Reports Bd. 463. S. 783.
102
Lynch v. Donelly (1984) U.S. Reports B d . 4 6 5 , S . 6 6 8 . sowie County of Allegheny
v. A m e r i c a n Ciliv Liberties Union Greater Pittsburgh Chapter (1989) U.S. Reports Bd. 492.
S. 573.
103
Vgl. auch W. Heun (1999), 350 ff. sowie G. Krings (2000), S. 515 ff.
104
Zorach v. Clausa,i (1952) U.S. Reports Bd. 343. S. 306.
105
McCollum v. Board of Education (1948) U.S. Reports Bd. 333. S. 203.
106
Employment Division v. Smith (1990) U.S. Reports Bd. 494. S. 872.
398 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

angeführten, vom Trennungsprinzip leiten lässt. wonach „die Regierung ganz vom
Bereich der religiösen Unterweisung ausgeschlossen ist und Kirchen von staatli-
chen Angelegenheiten." Der „Lemon-Test", der dieses Ziel erreichen soll, wird in
widersprüchlicher Weise angewendet. Vor allem sind es die oben erwähnte zweite
und dritte Stufe, die offensichtlich einander so entgegengesetzt sind, dass sie kaum
zugleich verwirklicht werden können. In seiner Rechtsprechung berücksichtigt der
Supreme Court demzufolge auch Aspekte, die im „Lemon-Test" nicht vorkommen,
das Ergebnis aber entsprechend entscheidend beeinflussen. 107

Neben den für eine strikte Trennung zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft
maßgebenden Gründen, der Gefahr politischer Zerreißproben, der religiösen In-
doktrination durch den Staat sowie der Gefahr der Verwicklung des Staates in
religiöse Angelegenheiten oder einer Identifizierung des Staates mit einer be-
stimmten Glaubensrichtung, die gerade vermieden werden soll, sind es vor allen
Gesichtspunkte der Neutralität gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen, in-
dividuelle Gleichbehandlung sowie die Bedeutung des Allgemeinwohls, von der
sich das oberste Bundesgericht und die Gerichte der Gliedstaaten, wie immer
wieder betont wird, in ihrer Rechtsprechung leiten lassen; in der Rechtsprechung
wird dies allerdings nicht oder nur unzureichend deutlich. Hinzu kommt das
Dilemma, dass dem Staat auf Grund der Religionsfreiheit Einschränkungen der
freien Religionsausübung untersagt sind. Der Prüfungsmaßstab der Religionsaus-
übungsklausel war bis 1990 dreistufig aufgebaut, wurde jedoch entscheidend von
einer Abwägung zwischen den mit der Regelung verfolgten staatlichen Zwecken
und dem Individualinteresse an freier Religionsausübung beeinfiusst. In seiner
neuesten Rechtsprechung - etwa ab 1990 - hat der Supreme Court allerdings die
Abwägung und das Erfordernis eines überwiegenden staatlichen Interesses fallen
gelassen und akzeptiert nun eine Einschränkung der Religionsausübung, sofern
sie auf einem „gültigen und neutralem Gesetz von allgemeiner Anwendbarkeit"
beruht.

Vorschläge für eine Lösung der Spannung zwischen der Establishment-Klausel


und der freien Religionsausübung waren in der Vergangenheit nicht in Überein-
stimmung zu bringen: daran hat sich auch in der Gegenwart nichts Wesentliches
geändert. Überwiegend tendieren derartige Vorschläge dahin, je nach der Fall-
gestaltung entweder zu einem Vorrang der Trennungskonzeption (im Sinn des
„Lemon-Tests") oder zum Vorrang der Religionsfreiheit zu gelangen. Allerdings
ist nicht festzustellen, dass die Rechtsprechung bisher eindeutig einer der beiden
Alternativen zuneigt. Keine allgemeine Zustimmung haben auch die bisherigen
Versuche gefunden, die erwähnten Widersprüche des „Lemon-Tests" aufzulösen.

Allerdings haben sich die Schwerpunkte der Rechtsprechung durch die Beset-
zung vakanter Richtersteilen am Supreme Court mit konservativen Juristen unter

107
Zur Kritik am „Lemon-Test" ausführlich G. Krings (2000).
III. Gottesbezug und US-Verfassung 399

den Präsidenten Reagan und Bush „senior" wie „junior" insoweit verschoben, als
jetzt der Trennungsgedanke weniger stark betont, auf der anderen Seite aber die
Religionsfreiheit stärker eingeschränkt wird. Die grundlegenden Schwierigkeiten
werden damit allerdings auch nicht zufriedenstellend gelöst, zumindest so lange
nicht, wie das mehrfach erwähnte Spannungsverhältnis zwischen strikter Tren-
nung von Staat und Glaubensgemeinschaften einerseits und der Religionsfreiheit
andererseits anerkannt wird. 108

2. Gottesbezug in den bundesstaatlichen Verfassungen

Bemerkenswerterweise nimmt jede Verfassung der einzelnen US-amerikani-


schen Bundesstaaten, im Gegensatz zur Verfassung der USA. ausdrücklich Bezug
auf Gott. In den meisten bundesstaatlichen Verfassungen findet sich ein Gottesbe-
zug bereits in der Präambel.

Neben Alabama (Verfassung von 1901 )109 gilt dies für Alaska (1956)"°, Ari-
zona (1911)'", Arkansas (1874)" 2 , California ( 1 8 7 9 ) C o l o r a d o (1876) 1 , 4 und
Connecticut (1818) l , s .

Ebenso für Delaware ( I 8 9 7 ) " 6 , Florida (1885)" 7 , Georgia (1777)" 8 , Hawaii


(1959) 119 , Idaho (1889) 12°, Illinois (1870)' 2 ' und Indiana (185l) 1 2 2 .

108
In der Wertung ähnlich W. Heun (1999). S. 355 ff.
109
„We the people of the State of A l a b a m a , invoking the favor and guidance of Almighty
God. do ordain and establish the following Constitution | . . . 1".
110
„We. the people of Alaska, grateful to G o d and to those w h o founded our nation
and pioneered this great land ( . . . ] " .
111
„We, the people of the State of Arizona, grateful to Almighty God for o u r liberties,
do ordain this Constitution 1...]".
112
„We, the people of the State of Arkansas, grateful to Almighty God for the privilege
of choosing our own form of government [ . . . J".
113
„We. the People of the State of California, grateful to Almiehty God for our freedom
[...]"•
114
„We, the people of C o l o r a d o , with profound reverence for the S u p r e m e Ruler of
Uni verse [ . . . ] " .
115
„The People of Connecticut, acknowledging with gratitude the good Providence of
God in permitting them to enjoy [ . . . 1".
1,6
„Through Divine Goodness all men have. by nature. the rights of worshipping and
serving their Creator according to the dictates of their consciences [ . . . ] " .
117
„We, the people of the State of Florida, grateful to Almighty G o d for o u r constitu-
tional liberty establish this Constitution 1... 1".
118
„We, the people of Georgia, relying upon protection and guidance of Almighty God.
do ordain and establish this Constitution [...1".
119
„We, the people of Hawaii, Grateful for Divine Guidance [ . . . ] establish this Consti-
tution."
400 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Eine „invocatio Dei" beinhalten zudem die Präambeln der Staaten Iowa
(1857)123, Kansas (1859)'24, Kentucky (I891)'25, Louisiana (I921)126, Maine
(1820)127, Maryland (1776),2S und Massachusetts (1780)129.

Auch in Michigan (1908)130, Minnesota ( 1 8 5 7 ) m , Mississippi (1890)'32. Miss-


ouri (1845)'33, M o n t a n a (1889)134 und N e b r a s k a (1875)135 weisen jeweils die
Präambeln Gottesbezüge auf.

Parallelen zeigen sich in den P r ä a m b e l n der Verfassungen von N e v a d a (I864)136,


N e w Jersey (1844)137, N e w M e x i c o ( 1 9 1 l ) 1 3 8 , N e w York (1846)139, N o r t h C a r o l i n a

120
„We, the people of the State of Idaho, grateful to Almighty God for our freedom. to
secure its blessings [ . . . ]".
121
„We. the people of the State of Illinois, grateful to Almighty God for the civil,
political and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy and looking to
Hirn for a blessing on o u r endeavours."
122
„We. the People of the State of Indiana, grateful to Almighty God for the free
exercise of the right to chose our form of g o v e r n m e n t . "
123
„We, the People of the State of Iowa, grateful to the Supreme Being for the blessings
hitherto enjoyed. and feeling our dependence on Him for a continuation of these blessings
establish this Constitution."
124
„We. the people of Kansas, grateful to Almighty God for our civil and religious
Privileges establish this Constitution."
125
„We, the people of the C o m m o n w e a l t h of grateful to Almighty God for the civil,
political and religious liberties 1 . . . J " .
126
„We. the people of the State of Louisiana, grateful to Almighty God for the civil,
political and religious liberties we enjoy."
127
„We the People of Maine [ . . . 1 acknowledging with grateful hearts the goodness of
the Sovereign Ruler of the Universe in affording us an opportunity I . . . | and imploring His
aid and direction."
128
„We. the people of the State of Maryland, grateful to Almighty God for our civil and
religious liberty ( . . . 1 " .
129
„We I . . . ] the people of Massachusetts, acknowledging with grateful hearts. the
goodness of the Great Legislator of the Universe [ . . . ] in the course of His Providence. an
opportunity and devoutly imploring His direction [ . . . ] " .
130
„We. the people of the State of Michigan, grateful to Almighty God for the blessings
of f r e e d o m I . . . J establish this Constitution."
131
„We, the people of the State of Minnesota, grateful to God for o u r civil and religious
liberty, and desiring to perpetuate its blessings
132
„We. the people of Mississippi in Convention assembled. grateful to Almighty God.
and invoking His blessing on our work."
133
„We. the people of Missouri, with profound reverence for the Supreme Ruler of the
Universe, and grateful for His goodness I . . . 1 establish this Constitution [ . . . ] " .
134
„We, the people of Montana, grateful to Almighty G o d for the blessings of liberty
establish this Constitution ! . . . ] " .
135
„We. the people. grateful to Almightv God for our freedom. establish this Constitu-
tion."
III. Gottesbezug und US-Verfassung 401

(1868) 1 , 4 0 f N o r t h D a k o t a ( 1 8 8 9 ) M l , O h i o ( 1 8 5 2 ) 1 4 2 u n d O k l a h o m a ( 1 9 0 7 ) 1 4 3 . d a s d i e
„invocatio" allerdings nicht mit der Einleitungsformel „we, the p e o p l e " verbindet.

Schließlich erscheinen Gottesbezüge in den Präambeln der Staaten Pennsyl-


vania (1776)144, R h o d e Island (1842)'45, South Carolina ( 1 7 7 8 ) U 6 , South Dako-
ta (1889)147, Texas (1845)148, Utah (1896)149, Washington (1889)150, Wisconsin
(1848)151 und W y o m i n g (1890)'52.

Inhaltlich wie sprachlich b e m e r k e n s w e r t sind die Präambeltexte von V e r m o n t


( 1 7 7 7 ) ' » und West Virginia (1872)1S4.

136
„We the people of the State of Nevada, grateful to Almighty God for o u r f r e e d o m
establish this Constitution [ . . . ] " .
137
„We. the people of the State of New Jersey, grateful to Almighty G o d for civil and
religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy. and looking to Hirn for a
blessing on our endeavors [ . . . ) " .
138
„We, the People of New Mexico, grateful to Almighty God for the blessings of
liberty [ . . . ] " .
139
„We, the people of the State of New York, grateful to Almighty God for our freedom.
in order to secure its blessings I . . . 1".
140
„We the people of the State of North Carolina, grateful to Almighty God. the Sover-
eign Ruler of Nations. for o u r civil, political. and religious liberties. and acknowledging
our dependence upon Him for the continuance of those [ . . . 1".
141
„We, the people of North Dakota, grateful to Almighty God for the blessings of civil
and religious liberty, do ordain [ . . . 1".
142
„We the people of the State of Ohio, grateful to Almighty God for our f r e e d o m . to
secure its blessings and to promote o u r c o m m o n [ . . . ] " .
143
„Invoking the guidance of Almighty G o d . in order to secure and perpetuate the
blessings of liberty [ . . . 1 establish this 1... J".
144
„We, the people of Pennsylvania, grateful to Almighty God for the blessings of civil
and religious liberty, and h u m b l y invoking His g u i d a n c e 1... |".
145
„We the People of the State of Rhode Island grateful to Almighty God for the civil
and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy, and looking to Him for
a blessing [ . . . ] " .
146
„We. the people of the State of South Carolina, grateful to God for o u r liberties, do
ordain and establish this Constitution."
147
„We. the people of South Dakota, grateful to Almighty God for our civil and religious
liberties ( . . . J establish this Constitution."
148
„We the People of the Republic of Texas, acknowledging, with gratitude. the grace
and beneficence of God 1... ]".
149
„Grateful to Almighty God for life and liberty, we establish this Constitution."
150
„We the People of the State of Washington grateful to the S u p r e m e Ruler of the
Universe for our liberties. do ordain this Constitution 1...]".
151
„We, the people of Wisconsin, grateful to Almighty God for our freedom. domestic
tranquility [ . . . ] " .
152
„We, the people of the State of Wyoming, grateful to God for o u r civil, political. and
religious liberties [ . . . J establish this Constitution [ . . . 1".
402 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Lediglich in vier Staaten ist der Gottesbezug nicht im Text einer Präambel
enthalten. In Oregon (1857) 155 und Virginia (1776)" 6 ist die jeweilige „Bill of
Rights" zu bemühen. In New Hampshire (1792) 157 und Tennessee (1796) 158 findet
sich der Gottesbezug „eingebettet" in die Verfassungsartikel.

IV. D a s U S - M o d e l l ein Vorbild f ü r E u r o p a ?

Kann das US-amerikanische Modell des „wall of Separation" zwischen Staat


und Religionsgemeinschaften Vorbild für Europa sein? 159 Die Vielzahl der Religio-
nen und Weltanschauungen ist ein Integrationsproblem auch in Europa. Das mag
auch für Europa zunächst nahe legen, strikte Trennung zu suchen. Aber die Dok-
trin der „wall of Separation" lässt sich nicht durchhalten, das zeigt gerade auch die
heterogene Rechtslage in den Vereinigten Staaten. Vielfältig ist die Mauer durch-
brochen. Wo sie hält, drängt sich bisweilen der Verdacht der Diskriminierung des
Religiösen auf. wenn etwa weltlich geführte Privatschulen staatlich gefördert wer-
den, religiös geführte aber nicht. Das amerikanische Modell lebt zudem von einer
sozialen Intensität der Religion, die sich in Europa kaum (noch) findet. Manchmal
wird dennoch das amerikanische Religionsrecht als Modell für Europa empfohlen.
Amerika steht für strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und
für strikte Gleichheit aller Religionsgemeinschaften auf einem „Marktplatz der
Religionen". Keiner Religionsgemeinschaft darf der Staat, selbstverständlich auch
nicht in Europa, den Zugang zu angemessener Religionsausübung versperren. Die
Auseinandersetzung der kommenden Jahre wird die religionsrechtliche Gleichheit
zu einem Hauptgegenstand haben. Diese Auseinandersetzung kommt wesentlich
aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Religionsrechtliche Gleichheit verlangt
aber nach mehr als bloß dem freien Marktplatz der Religionen.

153
„Whereas all government ought to ( ] enable the individuals w h o c o m p o s e it to
enjoy their natural rights, and other blessings which the Author of Existence has bestowed
on man [ . . . J".
154
..Since through Divine Providence we enjoy the blessings of civil, political and
religious liberty. we, the people of West Virginia, reaffirm o u r faith in and constant reliance
upon God [ . . . j".
155
Bill of Rights, Article I. Section 2: ..AU men shall be secure in the Natural right. to
worship Almighty God according to the dictates of their consciences."
156
Bill of Rights. X V I : „ | . . . | Religion, or the Duty which we owe o u r Creator [ . . . ]
can be directed only by Reason. and that it is the mutual duty of all to practice Christian
Forbearance. Love and Charity towards each other 1... J".
157
Part I. Art. I. See. V: „Every individual has a natural and unalienable right to worship
God according to the dictates of his own conscience."
1511
Art. XI. III: „That all men have a natural and indefeasible right to worship Almighty
God according to the dictates of their conscience I . . . J".
159
Zu dieser Frage ausführlich G. Robbers. Europäische Verfassung und Religion, in:
Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente.
Sonderheft I / 2 0 0 3 . S. 66 ff.. 67 f.
Nachwort

Gemeinsam bilden Europa und die USA die weltweit bedeutendste Einfluss-
sphäre von Demokratie, Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Dennoch sind USA
und Europa vornehmlich Mächte des Status quo, denen in erster Linie an der
Bewahrung ihrer eigenen Werte gelegen ist. Obgleich beide ein sich in hoher
Rasanz wandelndes Verständnis globaler Zusammenhänge federführend mitbe-
stimmen, steht einer Verwirklichung gemeinsamer Hoffnungen ein - trotz aller
gemeinsamen Wurzeln - durchaus unterschiedlicher Konservatismus entgegen,
der sich aus den eigenverantwortlich materialistischen Grundprägungen beider
Gesellschaften nährt. Das Spannungsfeld Konservatismus und Moderne auch
im transatlantischen Verhältnis anzuführen ist schon deswegen nicht reizlos als
auch die Koppelung beider Ausrichtungen zunehmend deutlich wird. Auch im
weiten Feld des in der Praxis erprobten Verfassungsverständnisses. Todesstrafe,
genmanipulierte Lebensmittel, aber auch die Notwendigkeit militärischer Inter-
ventionen lassen (bei allen benevolenten Hegemonialstrukturen) eine wachsende
gegenseitige Einflussnahme und in vielen Teilbereichen Abhängigkeit erkennen.
Ein Mischverhältnis aus Emanzipierung und Fügung. Freilich bleiben die latente
Amerikanisierung und deren fundamentale Ablehnung als dynamische Gegenpole
erhalten.

Kulturell lassen sich jedoch auch Tendenzen der Entfremdung ausmachen. Je


mehr sich Europa und die Vereinigten Staaten gesellschaftlich, politisch, letztlich
in der Verfassungswirklichkeit gleichen, desto lauter werden die Stimmen der
Ablehnung eines Assimilierungsprozesses. Die Europäer, insbesondere die Ein-
zelstaaten sträuben sich gegen eine Strömung, die sie als fremden Eingriff fremder
Ideen in ihre traditionelle Identität betrachten. Illustrativ steht hierfür Frankreich,
das durch gesellschaftspolitische Einzelmaßnahmen Druck ausübt, um die so ver-
standene kulturelle Einzigartigkeit des Landes zu bewahren. In Deutschland wird
die neue Distanz auf einer anderen Ebene sichtbar. Das Selbstbewusstsein, auf
internationaler Ebene ohne die betonte Fessel der Vergangenheit als Streitschlich-
ter Profil zu gewinnen - etwa im nahen Osten (ein Einfluss über den Frankreich
beispielsweise nicht mehr verfügt) -, zeugt von einem ausgeprägten Willen zur
Emanzipation.

Beide - die Vereinigten Staaten und Europa - eint die Idee eines neuen, gewalt-
losen und positiv einzuschätzenden „Verfassungsimperialismus": die Grenzen des
Friedens, der Stabilität und der Demokratie nach Osteuropa und die restliche Welt
wenigstens in der Respektierung auszuweiten, ist eine Anforderung, die Europa
404 Nachwort

und die USA langfristig nur gemeinsam meistern können. Die ähnliche Interes-
senlage dies- und jenseits des Atlantiks kollidiert mit der Unterschiedlichkeit der
Gefühlslage. Beides ist Grundlage einer Kultur.
„Dass Verfassung sich überall bilde, wie sehr ist's zu wünschen!
Aber ihr Schwätzer verhelft uns zu Verfassungen nicht"
(J. W. v. Goethe! F. Schiller. Xenien)'

1
Vgl. E.Trunz (Hrsg.). „Der Patriot": „Dass usw.": Xenien. Goethes Werke. Bd. 1.
Hamburger Ausgabe. 1998. S . 2 1 6 .
Zusammenfassung

A. Am 18. Juni 2(X)4 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben.


Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich auf den
Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein
Rückblick darf sich demzufolge keineswegs auf die Debatte der letzten Jahre
beschränken.

Bezeichnenderweise schien zunächst nur in den USA Vertrauen in das neue


Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien
wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadel-
phia verglichen. Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des
Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als
..Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der
amerikanischen Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch
das nun vorliegende Ergebnis der Konventsberatungen, das landläufig als „EU-
Verfassung" bezeichnet wird, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur
amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen.

Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerika-


nische Verfassung als Vorbild. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher
auch unter dem Aspekt der pluralistischen Beeinflussung der gemeineuropäischen
Verfassungsbemühungen fast geboten.

Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die
europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat
der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zu-
rückblicken, die andere fertigte sich angesichts der weitaus kürzeren Historie
nach klassischen Modellen ihren eigenen Typus ohne dabei jüngste und originäre
Entwicklungen außer Acht zu lassen.

B. Zielsetzung und Schwerpunkt der Arbeit ist eine vergleichende Untersuchung


der konstitutionellen Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union.

Unter Zugrundelegung des Begriffspaares „Verfassungserweckung" und „Ver-


fassungsbestätigung" werden zunächst Eckpunkte und Grundlagen der jeweiligen
Verfassungsgeschichte dargelegt und das US-amerikanische wie das „europäische"
Verfassungsverständnis beleuchtet.

I. Die Erörterung der amerikanischen Verfassungsgeschichte beginnt mit ei-


nem Hinweis auf Erscheinungsformen des europäischen kulturellen Einflusses,
406 Zusammenfassung

um u.a. über die „Fundmental Orders of Connecticut", den partiellen Eman-


zipationsschritt der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „Articles of
Confederation" zum Verfassungskonvent, der Ratifizierungsdiskussion und der
Debatte zwischen Federalists und Antifederalists zu gelangen. Die Schilderung
einiger Axiome amerikanischen Verfassungsverständnisses korrespondiert mit
einer Strukturierung der weiteren Verfassungsgeschichte der USA. in deren Ver-
lauf sich das gesamte Ausmaß „konstitutioneller Selbstfindung" und „kultureller
Selbstverwirklichung" widerspiegelt.

II. Die umfängliche Darlegung der europäischen Verfassungsentwicklung reicht


von der Gründung der Paneuropa-Bewegung in den 20er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts bis zur (andauernden) Ratifikationskrise im Zuge des seit Ende 2003
vorliegenden Europäischen Verfassungsvertrages. Neben einer chronologischen
Aufstellung und inhaltlichen Beurteilung einer Vielzahl von Verfassungsentwür-
fen wird zum einen den Ansätzen aus der Mitte des Europäischen Parlaments
(1984 und 1994) sowie dem ersten „Konvent" zur Grundrechtecharta breiterer
Raum gegeben. Die juristische Betrachtung wird durch die Leitbilder und „euro-
päischen Ideale" in der politischen Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende
ergänzt, um letztlich auch das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und
jüngster politischer Diskussion näher zu begründen. Bevor sich abschließend der
Arbeitsweise und den Ergebnissen des Europäischen Verfassungskonvents ange-
nommen wird, versucht die Arbeit in einem denknotwendigem Zwischenschritt
die vielfach gestellten und beantworteten Fragen nach der Verfassungsqualität
der Gemeinschaftsverträge sowie nach einem „europäischen Verfassungsverständ-
nis und -begriff* zusammenfassend zu erläutern und durch einige Überlegungen
anzureichern.

III. Aus den frühen europäischen Wurzeln amerikanischen Rechtsdenkens so-


wie aus der Betrachtung des Einflusses der amerikanischen Verfassung und des
dortigen Verfassungsverständnisses auf heutige europäische Rechtskultur(en) lässt
sich im Ergebnis das Erwachsen eines „transatlantischen Verfassungsfundamen-
tes" konstatieren.

IV. Ihre Festigung und Bestätigung fanden und finden der US-amerikanische
Verfassungsstaat sowie die europäische Verfassungsgemeinschaft im Besonderen
durch Verfassunggebung. Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien.
Drei Themenkomplexe, die ebenfalls einer transatlantisch vergleichenden Analyse
unterzogen werden.

Die Arbeit unterscheidet zwischen „gebundener" und „kreativer" Verfassungge-


bung, wobei unter der ersten Alternative die kodifizierten Wege zur Verfassungs-
ergänzung und -änderung zu verstehen sind. Während aus US-amerikanischer
Perspektive die Verfassungs-,Amendments" als „Abbilder einer Verfassungser-
gänzung" und „Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte" eine tiefgehende Un-
tersuchung erfahren, werden mit Blick auf die Europäische Union unterschiedliche
Zusammenfassung 407

gemeinschaftsrechtliche Elemente und Verfahrensmodelle zur Vertrags- bzw. Ver-


fassungs(Vertragsänderung aufgezeichnet.

Die Begrifflichkeit „kreative Verfassunggebung" zielt auf die verschiedenarti-


gen Optionen der Verfassungsinterpretation ab. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts
der Arbeit steht hierbei eine komparative Erörterung der Rolle der jeweiligen
obersten Gerichte. Die „Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit" ist freilich in den
Vereinigten Staaten anzusiedeln. Allerdings lässt sich in Anlehnung an die Geburts-
stunde der Verfassungsgerichtsbarkeit auch von einem „europäischen Marbury
vs. Madison" sprechen. Dem US-Supreme Court als „ständigen Verfassungskon-
vent" und „erheblichen Faktor von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen
Wandels" wird der Europäische Gerichtshof als „Verfassungsgericht" und in sei-
ner (Verfassungs-)Rechtsprechung als „Spiegelbild einer offenen Gesellschaft"
gegenübergestellt.

Schließlich werden Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen


Verfassungsstaates und der europäischen Verfassungsgemeinschaft miteinander
verglichen. Beispielhaft zu nennen sind die Erörterung der Kompetenzverteilung
zwischen Union und Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks, die jeweilige
Ausgestaltung des Prinzips der Gewaltenteilung, die Begrifflichkeiten „Identität"
und „Nation" sowie das Demokratieprinzip in der respektiven Vorstellung.

V. Vergleichende Anmerkungen zu den jeweiligen Konventsverfahren und Kon-


ventsergebnissen (amerikanische Bundesverfassung von 1789 und Europäischer
Verfassungsvertrag von 2 0 0 3 / 4 ) beschließen mit der Frage nach den Lehren für
die Europäische Union resümierend die umfassende Analyse zweier Verfassung-
gebungsprozesse.

C. Hohe emotionale Wogen während des europäischen Verfassungskonvents


schlug die Debatte um die Formulierung eines Gottesbezugs. Neben einer näheren
Untersuchung der Diskussion um die „invocatio Dei" im Verfassungsvertrag wird
auch hier ein vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies
verknüpft sich mit einer Darstellung der Gottesbezüge in den Verfassungen der
jeweiligen Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks und (ergänzend) mit einer
Betrachtung der Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat
und Religion sowie etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen der deutschen
Bundesländer.

Im Anhang finden sich Bewertungen und Positionen der C D U / C S U - B u n d e s -


tagsfraktion zu den Beratungen des Europäischen Verfassungskonvents sowie zum
Entwurf des Verfassungsvertrages. Zudem werden die Amendment-Vorschläge
zur amerikanischen Verfassung dokumentiert, die den Kongress passierten J e d o c h
nicht von den Staaten ratifiziert wurden.
Anhänge

Anhang 1

Genieinsame Positionen von CDU und CSU


zum Stand der Beratungen des EU-'Verfassung?-Vertrages
20. Juni 2003

I. CDU und CSU begrüßen den Abschluss der Arbeiten des Konvents an den Teilen I
und II der geplanten EU-Verfassung.
Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die Weiterentwicklung der
Europäischen Integration und für eine bessere Wahrnehmung der berechtigten Interessen
von Bund. Ländern und Gemeinden. Er trägt in wichtigen Bereichen die Handschrift von
C D U und CSU und ihrer Vertreter im Konvent.

II. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass im Rahmen des Konvents Fortschritte bei der
Antwort auf die aktuelle Reformkrise der EU erzielt werden konnten:

- Erstmals ist es gelungen, eine klare Kompetenzordnung über die Zuständigkeiten der
Europäischen Union mit einer Einteilung und Auflistung der Kompetenzkategorien
festzulegen. Außerdem muss die Europäische Union dort, wo sie zuständig ist. die Prinzi-
pien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
beachten. Damit sind allgemeine Zielformulierungen nicht mehr kompetenzbegründend.
- Alle diese Festlegungen unterliegen einer Kontrolle durch die nationalen Parlamen-
te - und über ein Klagerecht beider Kammern der nationalen Parlamente - durch den
Europäischen Gerichtshof.
- Alle Teile des Verfassungsvertrags haben die gleiche Rechtsqualität.
- Durch den Verfassungsvertrag wird die EU stärker als bisher als Wertegemeinschaft
definiert.
- Die verbindliche Aufnahme der Grundrechte-Charta stärkt die Rechte der Bürgerinnen
und Bürger gegenüber den europäischen Institutionen.
- Die stärkere politische Anbindung der Kommission an das Europäische Parlament bei
der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Stärkung der Mitspracherechte des
Europäischen Parlaments machen die EU demokratischer.
- Die Einrichtung eines öffentlich tagenden Legislativrates und die - durch die Bestim-
mung von Kompetenzkategorien - übersichtlichere Aufgabenverteilung zwischen EU
und Mitgliedsstaaten verbessern die Transparenz Europas.
- Mit der Reduzierung der Größe der Kommission, der Schaffung eines Außenministers
und eines Präsidenten des Europäischen Rates und dem verstärkten Übergang zur
Mehrheitsentscheidung wird die EU handlungsfähiger.
- Zur Abgrenzung der Handlungsbefugnisse der EU wird das Subsidiaritätsprinzip ge-
stärkt und seine Durchsetzung durch die Schaffung eines Frühwarnsystems und eines
Klagerechts zugunsten der nationalen Parlamente verbessert.
Anhänge 409

- Bei wichtigen nationalen Politikfeldern (z. B. Bildung. Kultur) wird in der Verfassung
ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot verankert.
- Die Verfassung achtet erstmals rechtsverbindlich die regionale und k o m m u n a l e Selbst-
verwaltung sowie den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften.
- Durch die E i n f ü h r u n g d e r doppelten Mehrheit (Mehrheit der Staaten. 6 0 % der Be-
völkerung) werden die Bevölkerungsverhältnisse in der Europäischen Union besser
berücksichtigt und die Entscheidungsfähigkeit des Rates verbessert.

III. Auf der anderen Seite ist es nicht gelungen, die Kompetenzen auf europäischer
Ebene zurückzufuhren.

- Die allgemeinen und speziellen Koordinierungszuständigkeiten der EU in der Wirt-


schafts- und Sozialpolitik sind in Teil I ungenau formuliert. Art. 1-14 sollte präziser
gefasst werden. Es m u s s verhindert werden, dass es zu einer zentralen Steuerung der
Wirtschaftpolitik kommt. Entscheidend ist jedoch, d a s s die einschlägigen Einzeler-
mächtigungen in Teil III maßgeblich sind, die praktisch unverändert d e m derzeitigen
EG-Vertrag entsprechen.
- Bei den Eigenmitteln müssen nicht nur die finanziellen Obergrenzen, sondern auch das
Verhältnis der Eigenmittelquellen zueinander (z. B. der Anteil der Mehrwertsteuer oder
der BSP-Quelle an den Eigenmitteln) der Einstimmigkeit unterliegen, um die finanziellen
Risiken für Deutschland zu begrenzen.
- Beim Klagerecht der nationalen Parlamente gehen wir davon aus. dass dieses Recht auch
die Rüge von Verletzungen der Kompetenzordnung umfasst.
- Es muss nötigenfalls im Verhältnis zwischen Bund und Ländern sichergestellt werden,
dass sich das Recht der Länder, bei Betroffenheit ihrer Zuständigkeiten Deutschland im
Ministerrat zu vertreten, nicht nur auf den Legislativrat beschränkt.
- Der Europäische Rat kann in Fällen, in denen der Verfassungsvertrag Einstimmigkeit
vorsieht, durch einstimmigen Beschluss zur Mehrheitsentscheidung übergehen, wobei
die nationalen Parlamente davon lediglich unterrichtet werden. Nachdem spätere ge-
meinschaftsautonome Änderungen des Vertrags f ü r die nationalen Parlamente bei ihrer
Z u s t i m m u n g voraussehbar sein m ü s s e n (BVerfG). ist innerstaatlich bei der Ratifizie-
rung sicherzustellen, dass die Bundesregierung ihre Z u s t i m m u n g von der vorherigen
Z u s t i m m u n g des Parlaments abhängig macht.

IV. Zu den Teilen III und IV des Verfassungsvertrags wird der Konvent seine Beratungen
in den nächsten Wochen abschließen. C D U und C S U sind sich einig, d a s s dabei folgende
g e m e i n s a m e Positionen vertreten werden:

- Die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für das M a ß der Einwanderung und den Zugang
z u m Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige soll festgeschrieben werden.Nötigenfalls
sind diese Bereiche in der Einstimmigkeit zu belassen.
- Die Binnenmarktklausel muss präzisiert und auf Maßnahmen beschränkt werden, welche
primär und unmittelbar die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum
Gegenstand haben.
- Z u r Erweiterung der Spielräume der Mitgliedsstaaten zur Gestaltung einer eigenstän-
digen Strukturpolitik soll das Wettbewerbsrecht dahingehend geändert werden, dass
Beihilfen generell mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, soweit sich die Handelsbe-
dingungen nicht in einer Weise verändern, die dem g e m e i n s a m e n Interesse „spürbar"
zuwider läuft.
410 Anhänge

- In den sozialpolitischen Bestimmungen muss klargestellt werden, dass die Zuständigkeit


der Mitgliedsstaaten f ü r die Organisation. Finanzierung und Leistungen der sozialen
Sicherungssysteme sowie ihre umfassende Zuständigkeit für die Sozialhilfe zu wahren
ist.
- In der Energiepolitik sollte es bei der bisherigen binnenmarktbezogenen Zuständigkeit
bleiben.
- Eine neue Zuständigkeit der EU für die Bestimmung der Ausgestaltung von Leistungen
der Daseinsvorsorge sollte nicht in den Vertrag a u f g e n o m m e n werden.
- Die Querschnittsbestimmung in Artikel III-O soll so präzisiert werden, dass eine Umge-
hung der Regelung in Artikel 1-3 Abs. 5 des Vertrages ausgeschlossen ist. Allgemein ist
darauf zu achten, dass nicht auch über die Bestimmung in III-O die o f f e n e Methode der
Koordinierung verankert wird.
- Bei Ä n d e r u n g e n der Verfassung ist bei Kompetenzbegründungen und - ä n d e r u n g e n am
Prinzip der Einstimmigkeit und der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten festzuhalten.

V. Nach Vorlage des Gesamtentwurfs werden C D U und C S U eine endgültige Bewertung


vornehmen und das weitere Vorgehen in Bezug auf die Regierungskonferenz festlegen.

Anhang 2

Bewertung der CDU/CSU-Fraktion


vom 19. Juni 2004
„Vertrag über die EU-Verfassung"
Ergebnisse der Regierungskonferenz vom 17./18. Juni 2004

Die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union hohen
an diesem Wochenende den Entwurf eines Vertrages für eine europäische Verfassung
verabschiedet. Als völkerrechtlicher Vertrag bedarf er der Ratifizierung durch alle 25
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, um in Kraft treten zu können.
Dabei bestimmt sich die Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen Verfassungen
der einzelnen Mitgliedstaaten. In Deutschland bedeutet dies, d a s s Bundestag und Bun-
desrat dem Vertrag über eine europäische Verfassung mit einer jeweiligen 2 / 3 - M e h r h e i t
zustimmen müssen (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i V m Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes).

Die neue EU-Verfassung besteht im Kern aus einer Z u s a m m e n f a s s u n g des EU- und des
EG-Vertrages sowie der Grundrechtecharta. Dabei ist es gelungen, in Weiterentwicklung
der bisherigen Verträge erstmals eindeutige Kompetenzkategorien festzulegen. Allgemeine
Zielformulierungen sind ausdrücklich nicht kompetenzbegründend. A u ß e r d e m gilt in der
EU das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach sie nur dann handeln darf,
wenn es d a f ü r eine ausdrückliche Ermächtigung im Verfassungsvertrag gibt.

Die Verfassung ist in vier Teile gegliedert: Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen
der Europäischen Union. Dazu zählen u. a. die Ziele der EU, die Kompetenzkategorien.
Vorschriften zur A u s ü b u n g der Kompetenzen sowie grundsätzliche Festlegungen zu den
Organen und zu bestimmten Politikbereichen wie beispielsweise der G e m e i n s a m e n Außen-
und Sicherheitspolitik ( G A S P ) sowie Innen und Justiz. Daran schließt sich der zweite Teil
Anhänge 411

der Verfassung an. der die Grundrechtecharta beinhaltet. Diese war am 2. Oktober 2 0 0 0
vom Europäischen Rat in Nizza durch feierliche Erklärung a n g e n o m m e n worden, wird
jetzt durch Inkorporation in den Verfassungsvertrag verbindliches Recht. Der Teil drei
ist der eigentliche Kern der Verfassung, beschreibt er doch sehr detailliert die einzelnen
Politikbereiche, in denen die EU handeln darf (begrenzte Einzelermächtigungen). Teil vier
beinhaltet die Schlussbestimmungen.

Eine Präambel leitet die Verfassung ein. in der u. a. ein ausdrücklicher Verweis auf
das religiöse Erbe Europas aufgeführt ist (..Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und
humanistischen Erbe E u r o p a s , . . . " ) , aus dem sich als universelle Werte die unverletzlichen
und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Demokratie. Gleichheit. Freiheit und Rechts-
staatlichkeit entwickelt haben. Dies ist bereits ein großer Fortschritt gegenüber dem Status
quo. da bislang ein solcher Wertebezug in den europäischen Verträgen fehlt. W i r hätten
uns aber einen klaren Gottesbezug (invocatio dei) und einen Verweis auf die prägende
W i r k u n g des Christentums (christliches Erbe) gewünscht. Frankreich und Belgien haben
dies mit Verweis auf ihre strikte Trennung von Staat und Kirche abgelehnt.

Die Srinwiengewichtung im Rat war bis zuletzt der umstrittenste Punkt in den Verhandlun-
gen der Regierungskonferenz. Der Europäische Rat im D e z e m b e r letzten Jahres scheiterte
an dieser Frage, da Spanien und Polen dem im Konventsentwurf niedergelegten neuen
Prinzip der doppelten Mehrheit nicht folgen wollten. Sie sahen darin eine deutliche Ver-
schlechterung ihres Stimmengewichts im Rat gegenüber d e m bestehenden Nizza-Vertrag,
nach dem sie trotz erheblich geringerer Bevölkerungszahl fast ebenso viele Stimmen haben
wie die großen Mitgliedstaaten Deutschland. Großbritannien. Frankreich und Italien. Kern-
punkt der doppelten Mehrheit ist, dass es f ü r die A n n a h m e eines Kommissionsvorschlags
eine festgelegte Anzahl von Staaten geben muss, die einen bestimmten Bevölkerungsan-
teil. bezogen auf die Gesamtbevölkerung der E U . erreichen müssen. Der Konvent hatte
vorgesehen, dass 5 0 % der Staaten, die 6 0 % der Bevölkerung der EU repräsentieren, einem
Vorschlag zustimmen müssen. Die Regierungskonferenz hat sich dagegen auf folgende Ver-
teilung geeinigt - nicht zuletzt auch, um Spanien und Polen entgegenzukommen und damit
die Einigung auf die Verfassung möglich zu machen: 5 5 % der Mitgliedstaaten müssen
für einen Vorschlag stimmen, die zugleich 6 5 % der Gesamtbevölkerung der EU vertreten.
Zusätzlich muss die z u s t i m m e n d e Mehrheit mindestens 15 Mitgliedstaaten umfassen. In
einer EU mit 25 Mitgliedstaaten entspräche dies zwar einer geforderten Mehrheit von 6 0 %
der Staaten. Allerdings wird die EU bis zum voraussichtlichen Inkrafttreten der Verfassung
(2007) auch die Länder Bulgarien und Rumänien u m f a s s e n . Dann entsprächen die 15
für eine erforderliche Mehrheit notwendigen Länder in etwa 5 5 % . Darüber hinaus muss
eine blockierende Minderheit aus mindestens vier Staaten bestehen, damit nicht die drei
bevölkerungsreichsten Länder einen Mehrheitsbeschluss aufhalten können. Bei Mehrheits-
beschlüssen ohne Vorschlagsrecht der K o m m i s s i o n (z. B. in der Justiz- und Innenpolitik
oder in der G e m e i n s a m e n Außen- und Sicherheitspolitik) gelten höhere Schwellen für das
Erreichen der qualifizierten Mehrheit: hier müssen 7 2 % der Staaten mit z u s a m m e n 6 5 %
der EU-Bevölkerung zustimmen. Das jetzt verabschiedete Abstimmungsverfahren soll am
1. November 2009 in Kraft treten. Bis dahin gelten die Regeln des Vertrages von Nizza.

Zur Frage d e r Größe der Kommission liegt folgende Einigung vor: Bis 2 0 1 4 wird
der Kommission jeweils ein Staatsangehöriger aus j e d e m Mitgliedstaat angehören. Ab
2 0 1 4 wird die Zahl der K o m m i s s a r e reduziert. Ihre Zahl soll 2 / 3 der Mitgliedstaaten
412 Anhänge

entsprechen - einschließlich Kommissionspräsident und Außenminister. Dabei wird ein


System strikt gleichberechtigter Rotation angewandt.

Als E n t g e g e n k o m m e n an kleinere EU-Staaten wird die Mindestzahl der Abgeordneten


im Europäischen Parlament (EP) auf sechs erhöht. Gleichzeitig wird die Höchstzahl an
Abgeordneten pro Mitgliedstaat von 99 auf 96 Abgeordnete gesenkt. Deutschland (als
einziges Land, das diese Höchstzahl erreicht) muss damit drei Sitze abgeben. Die Zahl der
EP-Abgeordneten steigt von jetzt 732 auf 750.

Im letzten M o m e n t wurde in den ersten Teil der Verfassung doch noch die Preisstabilität
in den Zielkatalog der EU a u f g e n o m m e n , wie dies seit 1957 im EG-Vertrag i m m e r der Fall
gewesen war. Leider hatte der Konvent gegen unseren Willen diese Zielbestimmung fallen
gelassen. Nun allerdings ist die Preisstabilität in Art. 3 (..Ziele") ausdrücklich erwähnt.

Insbesondere auf Drängen Großbritanniens verbleiben wichtige Teile von einzelnen Po-
litikbereichen in der Einstimmigkeit. Dies gilt für die gesamte Bandbreite der Steuerpolitik
sowie im Grundsatz auch für den Bereich Innen und Justiz. Hier wird die Möglichkeit
einer ..Notbremse" eröffnet, wenn ein Mitgliedstaat Bedenken gegen den Entwurf eines
mit qualifizierter Mehrheit a n z u n e h m e n d e n R a h m e n g e s e t z e s hat. Das Recht festzulegen,
wie viele Drittstaatsangehörige z u m Zweck der A r b e i t s a u f n a h m e in einen Mitgliedstaat
einreisen dürfen, verbleibt in nationaler Zuständigkeit. Auch der Beschluss über die Eigen-
mittel der EU sowie die m e h r j ä h r i g e Finanzplanung bedürfen nach der neuen Verfassung
der Einstimmigkeit.

Im Bereich der G e m e i n s a m e n Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU durch die


S c h a f f u n g des A m t e s eines .Außenministers, an Handlungsfähigkeit und Effizienz ge-
w i n n e n . Der Außenminister führt den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten,
eine Rotation im Vorsitz findet also hier nicht statt. Dem Außenminister untersteht ein
Europäischer Auswärtiger Dienst, für dessen Einrichtung die Vorbereitungen bereits ab
Unterzeichnung des Verfassungsvertrages beginnen werden. Der Außenminister der EU ist
gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission.

In der Verfassung findet sich erstmalig ein expliziter Verweis auf die NATO, der
sicherstellt, dass die Z u s a m m e n a r b e i t in den Verteidigungsfragen die Verpflichtungen im
Rahmen der N A T O nicht berührt und dass bei der Landesverteidigung die N A T O Vorrang
vor rein europäischen Verteidigungsanstrengungen hat. Die N A T O wird ausdrücklich als
das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz f ü r deren Verwirklichung
für die Staaten angesehen, die NATO-Mitglieder sind.

Z u m Stabilitätspakt: Die Kompetenzen der EU-Kommission gegenüber Mitgliedstaaten,


die die 3%-Defizitgrenze überschreiten, werden entgegen dem Konventsentwurf auf den
Status q u o zurückgeführt. So werden von der Kommission als notwendig erachtete M a ß -
nahmen zur Defizitrückführung auch weiterhin nur als ..Empfehlungen" qualifiziert mit der
Folge, dass diese einfacher zu ändern und zurückzuweisen sind als dies bei einem - wie
vom Konvent ursprünglich vorgeschlagenen - formellen Vorschlag der Kommission der
Fall gewesen wäre. Begründet wird dies damit, dass die Wirtschaftspolitik auch weiterhin
in der nationalen Kompetenz verbleibe, so dass ein formelles Vorschlagsrecht d e r Kom-
mission systemwidrig wäre. Die Staats- und Regierungschefs haben zudem eine Erklärung
zum Stabilitäts- und Wachstumspakt a n g e n o m m e n , die der Verfassung beigefügt wird.
Darin bekennen sie sich erneut zu den Bestimmungen des Paktes und zu dem Erfordernis
Anhänge 413

einer soliden Haushaltspolitik. Sie bekräftigen das Ziel, in guten Zeiten schrittweise einen
Haushaltsüberschuss zu erreichen, um in Zeiten des W i r t s c h a f t s a b s c h w u n g s über den
notwendigen Spielraum zu verfügen.

Schlussbewertung

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Verhandlungen von 25 Mitgliedstaaten unsere
Vorstellungen ü b e r den Inhalt des Verfassungsvertrages nicht in Reinform durchzusetzen
waren. Allerdings übertreffen die erzielten Fortschritte bei weitem die nicht befriedigend
geregelten Fragen. Für die C D U / C S U - B u n d e s t a g s f r a k t i o n ist es von großer Bedeutung,
im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Ratifizierungsverfahren die neuen Rechte des Bundestages
bei der Subsidiaritätskontrolle zu klären, die innerstaatlichen Abläufe hierfür zu regeln
und insgesamt die Beteiligung des Bundestages bei der europäischen Gesetzgebung zu
verbessern.

Anhang 3

Amendment-Vorschläge, die den Kongress passierten,


jedoch nicht von den Staaten ratifiziert wurden

1) Artikel I der 1789 vorgeschlagenen zwölf Amendment-Artikel, wovon Artikel III bis
XII die heute als „Bill of Rights" bekannte Grundrechterklärung bilden:

„Article the first


A f t e r the first enumeration required by the first article of the Constitution, there shall
be one Representative for every thirty thousand. until the n u m b e r shall a m o u n t to one
hundred. after which the proportion shall be so regulated by Congress. that there shall
be not less than one hundred Representatives, nor less than one Representative for every
forty thousand persons, until the number of Representatives shall amount to two hundred:
after which the proportion shall be so regulated by Congress. that there shall not be
less than two hundred Representatives. nor more than one Representative for every fifty
thousand persons."

2) In der zweiten „Sitzung" des 11. Kongresses schlug der Kongress folgenden Amend-
ment-Artikel vor. der nicht die erforderliche Mehrheit der Einzelstaaten fand:

..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in
Congress assembled, two thirds of both houses concurring. That the following section be
submitted to the legislatures of the several states. which. when ratified by the legislatures
of three fourths of the states, shall be valid and binding. as a part of the Constitution of
the United States.
If any Citizen of the United States shall aeeept. claim. reeeive or retain any title of
nobility or honour. or shall. without the consent of Congress, aeeept and retain any
present. pension. office or e m o l u m e n t of any kind whatever, from any emperor. king.
prince or foreign power, such person shall cease to be a Citizen of the United States, and
shall be incapable of holding any office of trust or profit under them. or either of t h e m . "
414 Anhänge

3) Das folgende A m e n d m e n t , dessen Bezugspunkt die Sklaverei bildete, wurde in der


zweiten „session" des 36. Kongresses am 2. M ä r z 1861 vorgeschlagen, nachdem es den
Senat und vorher das Repräsentantenhaus (am 28. Februar 1861) passiert hatte:

..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America
in Congress assembled. Thal the following article be proposed to the Legislatures of the
several States as an a m e n d m e n t to the Constitution of the United States, which, when
ratified by three-fourths of said Legislatures, shall be valid. to all intents and purposes.
as part of the said Constitution, viz:
Article Thirteen
No a m e n d m e n t shall be made to the Constitution which will authorize or give to Congress
the power to abolish or interfere. within any State, with the domestic institutions thereof.
including that of persons held to labor or Service by the laws of said State."

Interessanterweise handelt es sich hierbei um das einzige „proposed". aber nicht rati-
fizierte A m e n d m e n t , das vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Diese Unterschrift wird
allerdings allgemein als unerheblich erachtet, nachdem die Verfassung bei einer Zweidrit-
telmehrheit im Kongress die Weitergabe an die Staaten zur Ratifizierung vorsieht.

4) In der ersten „ S i t z u n g " des 68. Kongresses wurde am 2. Juni 1926 ein A m e n d m e n t -
Vorschlag eingebracht, d e r sich gegen Kinderarbeit richtete. Obgleich Senat und ..Hou-
s e " (am 26. April 1926) mit der notwendigen Mehrheit durchlaufen wurden, ratifizierten
lediglich 28 Staaten folgenden Entwurf:

. J o i n t Resolution Proposing an A m e n d m e n t to the Constitution of the United States.


Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of A m e r i c a in
C o n g r e s s assembled (two-thirds of each House concurring therein). T h a t the following
article is proposed as an a m e n d m e n t to the Constitution of the United States, which,
when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States, shall be valid to
all intents and purposes as a part of the Constitution:
Article-.
Section I.
T h e Congress shall have power to limit, regulate, and prohibit the labor of persons under
eighteen years of age.
Section 2.
T h e power of the several States is unimpaired by this article except that the operation of
State laws shall be suspended to the extent necessary to give effect to legislation enacted
by the C o n g r e s s . "

5) Ein A m e n d m e n t , das die Gleichberechtigungsfragen zwischen M a n n und Frau zum


Inhalt hatte wurde in der zweiten „session" des 92. Kongresses am 22. März 1972 vor-
geschlagen. Trotz der erforderlichen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus (12
Oktober 1971) und trotz einer Verlängerung der siebenjährigen Ratifikationsfrist bis zum
30. Juni 1982 in der zweiten „session" des 95. Kongresses, fand das nachfolgend zitierte
A m e n d m e n t am Stichtag nicht die erforderliche Dreiviertelmehrheit:

. J o i n t Resolution Proposing an A m e n d m e n t to the Constitution of the United States


Relative to Equal Rights for M e n and W o m e n .
Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of A m e r i c a in
C o n g r e s s assembled (two-thirds of each House concurring therein). T h a t the following
Anhänge 415

article is proposed as an a m e n d m e n t to the Constitution of the United States, which


shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the
legislatures of three-fourths of the several States within seven years f r o m the date of its
Submission by the Congress:
Article-
Section 1.
Equality of rights under the law shall not be denied or abridged by the United States or
by any State on account of sex.
Section 2.
T h e Congress shall have the power to enforce, by appropriate legislation. the provisions
of this article.
Section 3.
This a m e n d m e n t shall take effect two years after the date of ratification."

6) Schließlich schlug der 95. Kongress in seiner zweiten „Sitzung" am 22. August 1978
mit der erforderlichen Mehrheit (das ..House" wurde am 2. März 1978 passiert) ein Amend-
ment vor. das Wahlrechtsfragen für den District of C o l u m b i a z u m Inhalt hatte. Erneut
fehlte es innerhalb der siebenjährigen Frist an der erforderlichen Dreiviertelmehrheit der
Bundesstaaten. Der Amendmentvorschlag hatte folgenden Wortlaut:

, J o i n t Resolution Proposing an A m e n d m e n t to the Constitution To Provide for Repre-


sentation of the District of C o l u m b i a in the Congress.
Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of A m e r i c a in
C o n g r e s s assembled (two-thirds of each House concurring therein), That the following
article is proposed as an a m e n d m e n t to the Constitution of the United States, which
shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the
legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its
Submission by the Congress:
Article-
Section I.
For purposes of representation in the Congress. election of the President and Vice Presi-
dent. and article V of this Constitution, the District constituting the seat of government
of the United States shall be treated as though it were a State.
Section 2.
T h e exercise of the rights and powers conferred under this article shall be by the people
of the District constituting the seat of government. and as shall be provided by the
Congress.
Section 3.
T h e twenty-third article of a m e n d m e n t to the Constitution of the United States is hereby
repealed.
Section 4.
T h i s article shall be inoperative, unless it shall have been ratified as an a m e n d m e n t to
the Constitution by the legislatures of three-fourths of the several States within seven
years f r o m the date of its Submission."
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Sachwortverzeichnis

Abhängigkeil Auslegung 43, 47. 232, 235, 239.


- zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit 2 4 3 - 2 4 4 . 261, 264, 268. 274, 277, 283.
und Verfassung 312 286. 2 8 9 . 3 0 4 , 3 1 2
Ad-hoc-Entwurf 65 - 6 7 . 81, 119 - verfassungskonforme A. 262. 294
Amendments 37, 44, 222. 256. 277, 280 Australien 44.265.291

- als Abbilder einer Verfassungsergänzung Autonomie 138. 148. 163, 294. 321, 323,
222 326. 347
- als Spiegelung amerikanischer Kulturge- - institutionelle A. 294
schichte 222
- Interpretation von 243 Begrenzungsfunktion siehe Verfassungs-
funktionen
Amendment A^crfahren 229-243, 245-
248 Belgien 67, 113, 157, 161, 162. 220. 350.
383
American Revolution siehe amerikanische
Bill of Rights (1689) 2 0 . 3 7 . 1 5 7
Revolution
Bill of Rights (1789) 3 6 - 3 8 . 8 7 . 2 2 2 , 2 2 6 ,
amerikanische Bundesverfassung 16, 19.
227. 230, 246, 356. 363. 394
24.51,101,142,187, 195.222-225,239.
Bill of Rights of Virginia (1776) 35-36.
248. 271. 273. 280. 3 1 7 - 3 5 8 . 361. 362,
3 6 4 - 3 6 9 . 370. 3 9 1 - 3 9 9 194.402

- als dynamischer Evolutionsprozess 48 Binnenmarkt 32. 52. 54, 72, 78, 175. 204.

- a l s Vorbild 19.112,194.221
212
Bulgarien 157, 1 8 5 , 1 9 1 . 3 5 0 . 3 8 3
- Einflusspotentiale 194
Bund für Europäische Cooperation 54
- Flexibilität der 40.49,223
Bundesgesetzgebungskompetenz 281
amerikanische Rechtskultur 308
Bundesgewalt 32,281.323
amerikanische Revolution 26, 194, 197, Bundesrepublik Deutschland 63, 65, 67,
368. 372, 3 9 3 - 3 9 4 6 8 . 7 9 , 9 2 . 105, 108. 156. 161. 162. 170.
amerikanische Verfassung 177, 204. 209. 210, 213, 253. 265. 289.
siehe US-Verfassung 291, 296. 299. 320, 324. 336, 341, 350.
Antifederalists 31.33-35 354. 382. 388. 392. 4 0 3
Argentinien 44 Bundesstaat 16. 24. 28. 34. 45. 47. 49.
Articles of Confederation 24. 2 7 - 3 1 , 33, 5 7 , 6 2 . 6 5 . 104, 129, 171, 181. 195. 266.
43,46.224,317, 331,356.358.362,366. 3 1 8 - 3 3 1 . 346, 349. 356, 362, 365. 370
370 - europäischer B. 5 8 , 6 1 , 103
Atlantische Deklaration 209 Bundesstaatsprinzip 331
atlantische Rechtskultur 220 Bundesstaatsstreitigkeit 293
Aufklärung 2 1 - 2 4 . 194. 216. 342, 350, Bundesverfassungsgericht 150, 269. 296.
372, 378. 380. 381 3 1 3 , 3 1 4 , 348
466 Sach wort ver/cichnis

Bürgerkrieg 43. 226. 235. 282, 283. 349. - der Verfassungsinterpretation 269
355.357,367 Dezentralisierung 31, 163
Bürgerrechte 115. 124. 158. 194. 289 divided government 48
Drei-Elemente-Lehre 129
C h a r t a der G r u n d r e c h t e der Europäischen
Union siehe Europäische Grundrecht-
Effizienz 80. 96, 108, 163, 172, 178, 331
echarta
E G K S siehe Europäische G e m e i n s c h a f t für
checks and balances 275. 288. 320. 323.
Kohle und Stahl
332
E G M R siehe Europäischer Gerichtshof für
Christentum 21,374
Menschenrechte ( E G M R )
Civil War siehe Bürgerkrieg
Einheit in Vielfalt 16,340.370
C o d e Civil (1808) 217
Einheitliche Europäische Akte (1986)
coercive power 46
7 5 - 7 6 . 78. 1 8 9 . 2 1 2
C o m m o n Law 21. 1 5 7 , 2 7 1
Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse 320
Conseil Constitutionnel 269
Einmannexekutive 32
counter-majoritarianism 289
E M R K siehe Europäische Menschenrechts-
konvention ( E M R K )
Dänemark 75, 101, 116. 158. 161, 190.
England 20. 23, 29, 36. 40. 274. 291. 343
192, 349. 384
Ensemble von Teilverfassungen 159. 308.
Declaration des droits de T h o m m e et du
312, 342
citoyen 44
Entwurf einer europäischen Bundesverfas-
Declaration of Independence 17. 23, 25,
sung (1951) 61
27, 3 0 . 4 3 , 4 5 . 195. 228. 272. 340. 392
Erklärung von Laeken 138, 144. 166. 174
- Präambel 26
Erweiterungsdynamik 354
deliberative Politik 316
Establishment Clause 391-399
deliberative Verfassungspraxis 316
Estland 350.384
Demokratie 2 0 . 2 4 . 3 8 . 4 4 , 4 9 - 5 1 . 57. 96.
EU-Bürger siehe Unionsbürger
98. 136. 1 6 0 - 1 6 3 , 172, 216. 254. 266.
EuGH siehe Europäischer Gerichtshof
286, 289. 2 9 1 . 3 5 7 , 3 6 9 . 4 0 3
- direkte D. 349 (EuGH) 90.303
- egalitäre D. 219 Europa 41, 44. 51, 195. 197-221.

- repräsentative D. 37 2 4 8 - 2 6 0 . 291, 305. 308. 3 0 8 - 3 1 2 , 329.


Demokratiedefizit 8 4 . 9 8 , 119. 131, 134. 3 4 0 - 3 4 3 . 345, 350, 355. 374. 377, 381
152, 343 Europa a la carte 328
Demokratieprinzip 147. 203, 289. 332, Europa der Nationen 106
343-349 Europa der Regionen 108
demokratische Legitimation 80, 81, 152, Europa der zwei Geschwindigkeiten 191
154. 159. 163. 250. 298. 336. 3 4 3 - 3 4 9 Europäische Atomgemeinschaft (EAG)
demokratische Selbstherrschaft 315 67, 2 0 4
demokratische Verfassungstheorie 250 Europäische G e m e i n s c h a f t 185. 198. 208.
Demokratisierung 76, 108. 279. 304. 344. 337, 374
348 Europäische Gemeinschaften 6 8 - 6 9 . 120.
- der Union 304 127. 142, 148. 326. 340
467 Sach wort ver/cichnis

Europäische G e m e i n s c h a f t für Kohle und europäische Verfassung 17, 77, 86. 95.
Stahl ( E G K S ) 16. 64. 67. 198, 20() 100. 132. 144. 148, 154. 164, 180. 186.
europäische Gesprächskultur 188 306. 360, 365. 369
Europäische Verfassungsgerichte 304
Europäische Grundrechtecharta 87, 115,
Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit
139, 356. 357. 359, 375
141,305
europäische Ideale 111
Europäische Kommission 67, 72, 80. 87, Europäische Verteidigungsgemeinschaft
90. 92. 96. 107. 109. 113, 115, 123, 140. (EVG) 65,67,69,200

160. 166. 170. 177, 220, 251. 257, 258. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
307, 328. 347. 361, 366. 371, 375 (EWG) 67,120,204.206
Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Zentralbank ( E Z B ) 355
(EMRK) 64. 67. 73, 89. 94. 124. 126. europäischer D e m o s 155
133,376 Europäischer Gerichtshof ( E u G H ) 81. 90.
europäische Öffentlichkeit 94, 119, 139. 117, 120, 124. 170, 221, 254. 290. 294.
155, 174. 190. 348. 373 3 1 1 , 3 1 6 , 336. 347, 375

Europäische Parlamentarier-Union 60 - als Hüter der europäischen Verfassung


Europäische Politische G e m e i n s c h a f t 306

(EPG) 65.67,200 - als Hüter des Gemeinschaftsrechts 303

Europäische Politische Zusammenarbeit - als Motor der europäischen Integration


171.304.308
(EPZ) 78.208.209
Europäische Sicherheits- und Verteidi- - als Verfassungsgericht 301
Europäischer Gerichtshof für Menschen-
gungspolitik ( E S V P ) 214
rechte ( E G M R ) 64.90
europäische Rechtsetzung 251
europäische Rechtsgemeinschaft 120.127. Europäischer Konvent 16, 68. 99. 1 3 5 -
140. 147. 159. 164. 1 6 6 - 1 8 0 . 181, 184.
303. 304. 336
317, 3 5 9 . 3 5 9 - 3 7 2 , 3 7 3 - 3 7 5 , 3 7 7 - 3 8 2
europäische Rechtskultur 194, 2 1 7
europäischer Verfassungsverbund 117-
Europäische Union 7 6 - 8 4 . 8 7 - 1 2 4 . 130.
118. 120
1 3 1 - 1 4 0 . 1 4 2 - 1 4 4 . 148. 1 5 0 - 1 5 4 . 165.
europäisches Denken 52, 372
1 7 0 - 1 9 3 , 198. 215, 221. 2 4 8 - 2 6 0 . 306.
Europäisches Parlament 60, 69, 7 0 - 7 5 .
3 1 1 , 3 1 7 - 3 5 8 . 3 5 8 - 3 7 2 , 375
7 6 , 7 8 . 8 0 - 8 4 . 88. 90. 95. 104, 109. 111.
- als Rechtsordnung sui generis 110, 129.
113, 119. 123. 131, 139. 160, 166. 169.
143,160
1 7 7 , 1 8 1 , 2 5 1 , 253, 257 - 260. 304, 328,
- Doppelcharakter als Staaten- und Bürger-
347, 348, 361, 367, 370, 371, 3 7 5 - 3 8 1
union 154
Europäisches Währungssystem 210
- Leitmottoder 185-188 Europarat 5 9 . 6 0 . 6 1 - 6 4 , 6 5 . 9 0 . 148. 357
- Politisierung der 100-118.304 Europarecht 122.311,335
- Staatsqualität der 130.360 Europa-Union 53-59
- supranationaler Charakter der 132, 152, Europaverständnis 217-219
155,251,361 ever closer union 308. 3 5 7 - 3 5 8
- Verfassungsfähigkeit der 140 ever stronger union 357

- Vertiefung der 185.252,304 EVG siehe Europäische Verteidigungsge-


meinschaft (EVG)
europäische Verbundsverfassung 117
468 Sach wort ver/cichnis

EWG siehe Europäische Wirtschaftsge- Gemeinschaftsgrundrechte 89. 375


meinschaft ( E W G ) Gemeinschaftskompetenzen 97
EWG-Vertrag 126, 170 Gemeinschaftsmethode 109
EWR-Vertrag 127 Gemeinschaftsmodell 109
EZB siehe Europäische Zentralbank (EZB) Gemeinschaftsrecht 66. 122, 124. 254.
255. 3 0 3 , 3 1 5 , 3 3 6 . 374, 375
Federal Reserve 355-356 - Auslegung des G. 304
Federalist Papers 3 3 - 3 5 , 37, 77, 173. 334. Gemeinschaftsverträge 59. 77. 79. 84. 96.
345, 370 99. 303. 304
Federalists 31 - 3 5 . 320. 338. 358. 3 7 0 - Verfassungsqualität der G. 131
Finalität 80. 85, 103, 106. 153, 185. Gemeinschaftsziele 251
353-354 Generationengerechtigkeit 358
Finnland 113,158,161,192.350.383,384
Gesellschaftsordnung 389
Föderalismus 31, 33, 42, 104. 108, 163.
Gesellschaftsvertrag 23. 338
216.240. 271,318-331,358
Gewaltenbalance 129, 290, 293. 337
- cooperative federalism 42, 322
- föderative G. 49
- dual federalism 42, 322
Gewaltenkooperation 337
- konsoziativer F. 328
Gewaltenmonismus 332
Föderalismusbegriff 325
Gewaltenteilung 24, 28. 31. 3 7 . 4 9 . 6 1 . 6 9 .
Föderation 58, 60. 65. 93, 110. 325, 326.
7 2 , 9 7 , 154. 160. 1 9 5 . 2 5 1 , 2 5 2 . 2 6 6 . 2 7 1 .
328. 340. 356
297. 301, 316. 328. 3 3 1 - 3 3 8 . 362
- von Nationalstaaten 103.154
- horizontale G. 1 1 1 . 1 1 4 , 3 2 7
Frankreich 21. 26. 44. 56. 57, 60. 65. 67,
- rechtsordnungsübergreifender Grund-
92. 106. 158, 159. 161, 162, 163, 173,
satz d e r G . 338
177. 186. 189. 194. 203. 205. 210. 214.
- vertikale G. 111, 114. 320. 323, 332.
265. 291, 327. 329. 341, 343, 350. 365.
337
378.384.403
Gewaltenverschränkung 49
französische Revolution 22. 144. 343. 344
Gewaltenzuordnung 337
freie Religionsausübung 392-399
Freiheit 26. 28. 36, 37. 47. 59. 126. 142, Gleichheitsprinzip 26. 216. 284. 286. 375

194. 216. 285. 297. 331, 334. 340. 369. Gliedstaatsverfassung 122
376,394 Gottesbezug 373-402
- status negativus, activus und positivus - in den bundesstaatlichen Verfassungen
20 der USA 402
Freiheitsbegriff 352 - in den (Teil)verfassungen der EU
Fundamental Orders o f Connecticut 24- 374-382
27 - in den Verfassungen der Beitrittskandi-
daten zur EU 388
G A S P siehe G e m e i n s a m e Außen- und Si- - in den Verfassungen der deutschen Bun-
cherheitspolitik ( G A S P ) desländer 388
G e m e i n s a m e Außen- und Sicherheitspolitik - in den Verfassungen d e r EU-Mitglied-
(GASP) 78.96.97,214 staaten 383-388
Gemeinschaft der Vereinigten Europäi- - in der Verfassung der Vereinigten Staaten
schen Staaten 76-77 von A m e r i k a 393-399
469 Sach wort ver/cichnis

Great C o m p r o m i s e 27, 31, 318. 369 institutionelle Verflechtung 325


Grenzen Europas siehe auch Finalität institutionelles Gleichgewicht 304. 337,
Griechenland 21, 155, 157, 161, 1 9 5 , 3 5 0 . 361
3 8 1 , 3 8 2 , 384 Institutionentrennung 333, 354
Großbritannien 54, 155, 156. 163, 190. Integration 54, 65. 68. 77. 84. 87. 93. 98.
191, 203. 206. 210. 259. 327, 341, 350. 102. 116, 119. 124, 134. 1 5 1 - 1 5 4 . 160.
359. 365. 382. 387 171, 182. 186. 188, 198. 1 9 9 . 2 5 2 . 254.
Grundgesetz 145. 146. 158 259. 275, 304. 336. 352, 368. 371
Grundgesetz (GG) 70. 155. 156, 1 5 9 . 2 4 9 . - der E u G H als M o t o r der europäischen I.
254. 268. 301. 325, 336. 337. 361 308
Grundrechte 23, 27, 35, 3 6 , 4 3 , 4 5 , 61. 69. - differenzierte I. 328
70. 73, 81, 8 7 - 9 4 . 115, 124. 126, 133, - europäische I. 16. 54. 72, 80. 98. 111
134, 139. 147. 154. 156, 174. 1 8 7 , 2 1 9 .
- in den USA 51
230. 266, 271, 283, 286, 290. 301. 304.
- politische I. 64
331, 3 5 6 - 3 5 7 . 361, 370. 3 7 5 - 3 8 2 , 393
Integrationsdefizit 51
Grundrechtecharta siehe auch Europäische
Integrationsfähigkeit 96
Grundrechtecharta
Grundrechtekonvent 87-94. 137. 167, Integrationsfunktion siehe Verfassungs-

375-377 funktionen

Grundrechtsbeschwerdc 307 Integralionsmethode 65

Grundvertrag 87. 99. 117, 138, 180 Integralionsprozess 368


- europäischer I. 98, 101, 118. 189. 204,
H a a g e r Kongress 58. 60 207. 303, 304. 350
habeas c o r p u s 21 Integrität
Habeas C o r p u s Act (1679) 37 - des demokratischen Prozesses 43
Hegemonialinteressen 205. 209, 211, 341. Integrität der Verfassung 315
366 Intergouvernementalität 7 5 , 8 1 , 113, 155,
Herman-Entwurf(1994) 7 9 - 8 4 . 119 252
Hermeneutik 196. 262, 264, 291, siehe Interpretation 48.122, 147,196.243-244.
auch Verfassungshermeneutik 251, 263, 266. 277. 291, 299. 315. 316,

H u m a n Rights Act (1998) 157 393


Interpretation siehe auch Verfassungsinter-
Humanismus 381,382
pretation

Identifikationsfunktion siehe Verfassungs- Intcrpretationsmacht 300


Interpretationsmethoden 300
funktionen
Interpretationsmonopol 196. 265. 291.
Identität 39, 62, 93, 106, 112, 116, 118,
301
124, 130. 174. 187. 189. 216. 218, 252,
318. 3 3 8 . 3 5 2 . 3 6 7 , 4 0 3 invocatio Dei 3 7 3 - 3 9 1 , 3 9 9 - 4 0 2 . siehe
- demokratische I. 345 auch Gottesbezug
- kollektive I. 354 Iran 197
- kulturelle I. 320 Irland 158, 190. 192. 3 4 9 , 3 7 9 . 382. 385
- politische 1. 364 Island 350
Identitätskrise 116 Italien 5 8 . 6 7 . 9 5 , 155, 156. 163. 175. 220.
Individualität 320. 3 2 3 349. 379. 3 8 1 . 3 8 6
470 Sach wort ver/cichnis

Japan I97 Konsens 26, 2 7 . 4 7 , 75. 91. 176. 239, 276.


judicial activism 229 292. 348
judicial restraint 269 - am Vorabend der Bundesverfassung 27.
judicial review 195, 2 7 7 - 2 7 8 . 280 40
judicial supremacy 276. 280 Konsensprinzip 296
jüdisch-christliches Erbe 378,381 Konsensverfahren 257
Konservatismus 51.403
Konstitutionalisierung 53, 76. 87, 95. 97.
Kanada 44,264,291
110, 118. 119. 125. 142, 143. 181, 196.
Koalition der Willigen 352
197. 264. 360. 361
Kolonialcharten 21
Konstitutionalismus 195, 197. 247. 263.
Kolonialgebiete 58
Kolonialmächte 353 290.364
konstitutionelle M o d e r n e 30
Kommission 61, siehe auch Europäische
konstitutionelle Selbstfindung 45-47
Kommission
Kontinentalkongress 23, 27, 3 6 5
Kompetenzabgrenzung 48. 61, 73, 101.
Kontrollkompetenz 234
109. 115, 133, 186. 334, 337. 347
Konvent
Kompetenzausweitung 92
Kompetenzen 32, 43. 48. 60. 65. 73. 77. - zur Ä n d e r u n g des Europäischen Verfas-
80. 108. 115, 123, 148, 161. 169. 171. sungsvertrages 257
177. 186. 232. 234. 240, 260. 278. 281. - zur Totalrevision bzw. Ä n d e r u n g der US-
286. 2 9 0 - 3 0 1 . 310. 346. 364. 366 Verfassung 231
Kompetenzkatalog 110. 114, 115. 186 Konvent von Philadelphia 16. 2 9 - 3 3 ,
Kompetenz-Kompetenz 129. 132 38, 4 7 , 224, 235, 317, 319. 348, 356,
Kompetenzordnung 147. 310 359-372
Kompetenzstreitigkeiten 171 Konventsmethode 256
Kompetenzüberschreitung 170 Konventsverfahren 140, 166. 257, 3 5 9 -
Kompetenzübertragung 252 364
Kompetenzverlagerung 248 Kooperationsverhältnis 294. 311
Kompetenzverteilung 61. 69. 75. 77. 81. Kroatien 191,388
Kultur 19. 1 8 6 , 2 1 8 . 221. 2 6 3 , 3 5 9 . 4 0 4
84. 109. 128. 1 6 0 - 1 6 3 . 3 1 8 . 3 1 8 - 3 3 1
- politische K. 196. 264. 323. 369
Komplementärverfassung 131. 151
Kompromiss 31, 33, 35. 4 1 . 4 7 , 63, 175. - wechselseitige Impulse 20

180. 181. 224. 253. 282. 317, 319. 369. kulturelle Selbstverw irklichung 45

370. 381 kulturelle Veränderung 41


kultureller Wandel 270
- als Ankerpunkt amerikanischen Verfas-
kulturelles Erbe 46. 376
sungsverständnisses 47-48
Kulturtransfer 219
- als konstitutives Strukturprinzip 41
- als politische L e b e n s f o r m 41
Konföderation 15, 38, 359. 362. 364 Legalismus 290
Konföderationsartikel siehe auch Articles Legitimation 3 9 . 6 4 . 7 1 , 7 6 , 132. 152, 160.
of Confederation 24 299
Kongress 28. 31. 35. 48, 112, 199. 222. Legitimationsdefizit 80. 118. 328. 337
269. 271. 273, 275. 280, 332, 334. 355. Legitimationsfunktion siehe Verfassungs-
3 6 3 , 3 6 6 . 367 funktionen
471 Sach wort ver/cichnis

Lettland 158.349.386 Normenkontrolle 274. 293, 317


Letztentscheidungsrecht 266. 300 North Atlantic Treaty Organisation (NATO)
Liechtenstein 349 60. 203. 2 0 5 . 2 1 0 . 2 1 2 , 357
limited government 321 Norwegen 195
Litauen 157.349.386
Locarno-Pakt 57 O E C D siehe Organisation for E c o n o m i c
Lokalismus 324 Co-operation and Development ( O E C D )
Luxemburg 67.157,161,386 o f f e n e Gesellschaft 266. 276. 301, 311 -
312
M a g n a Charta 37,156.388 o f f e n e Staatlichkeit 335
Malta 97.158,350,383.386 Öffentlichkeit 5 1 . 9 4 . 119. 139, 155, 160.
Marbury vs. Madison 271 - 2 7 7 , 2 7 8 . 280. 174. 190. 300. 346. 348. 369, 373
296.317 Organisation for Economic Co-operation
- europäisches M. 128
and Development ( O E C D ) 206
Marshallplan 199
Organisation für Sicherheit und Z u s a m m e n -
Mayflower Compact 36, 45
arbeit in Europa ( O S Z E ) 148, 357
Mehrheitsprinzip 148. 220, 3 2 0
Organisationsfunktion siehe Verfassungs-
Menschenrechte 20. 35. 59. 64. 80, 111.
funktionen
118. 133, 254. 3 2 1 , 3 3 1 , 3 5 1 , 3 5 7
original meaning 30. 229
Minderheitenschutz 43, 50. 283. 293. 320
Österreich 92. 159. 161. 163. 289. 291.
Mischverwaltung 324
296. 350. 3 8 1 . 3 8 6
Misstrauensvotum 81. 162
O S Z E siehe Organisation für Sicherheit und
- konstruktives M. 162
Z u s a m m e n a r b e i t in Europa ( O S Z E )
Monnet-Methode 98
Pan-Europa-Bewegung 53-59,61
Nation 15. 38. 50. 195. 3 4 2 - 3 4 3 Parlamentarismus 156.369
nationale Interessen 108, 167, 176. 201. Parlamentsabsolutismus 317
367 Partikularisierung 47
Nationalismus 57, 367
Personalität 217
Nationalstaat 5 7 , 6 2 , 103, 107, 108, 132,
Petition o f R i g h t ( 1627) 37
149. 160. 200. 218. 252. 328. 340. 343.
Philadelphia Convention siehe Konvent von
367
Philadelphia
N A T O siehe North Atlantic Treaty Organi-
Pluralismus 15. 1 9 , 5 1 . 2 9 3 , 3 2 0 , 3 4 4 . 363
sation (NATO)
NATO-Doppelbeschluss 210 pluralistische Öffentlichkeit 346
Naturrecht 23. 26. 35. 50. 219. 372 Polen 157.163,178.192.387
necessary and proper clause 32. 281 political question doctrine 237, 2 4 0 . 244,
New Deal 4 2 - 4 4 . 268. 287. 322 269. 2 8 5 - 2 8 8
New England Confederation 25 politische Verantwortlichkeit 154
Niederlande 2 1 . 2 6 . 6 7 , 1 5 8 . 1 8 9 . 191.220. Portugal 155, 157, 161. 1 9 2 , 1 9 5 . 3 5 0 . 3 8 7
349, 383, 386 Post-Nizza-Prozess 135 - 1 3 8 , 159
Nordirland 163,327 pouvoir constituant 118, 131, 1 4 9 , 2 3 2 .
normative supranationalism 309 361
472 Sach wort ver/cichnis

Präambel 26, 38. 4 7 . 78, 124. 133, 158. Repräsentation 28. 152, 216. 3 1 7 - 3 1 8 .
182, 1 8 5 - 1 8 8 . 267, 373. 374. 3 7 6 - 3 8 2 , 321
383-391.399.40() Repräsentativsystem 320. 344
praktische Konkordanz 335 Repräsentativverfassung 50
Präsidialdemokratie 49.217.354 Republikanismus 22, 33, 342
Präsidialsystem 195 richterliches Prüfungsrecht 265, 278. 289.

Prinzipien der Verfassungsinterpretation 291,317

261,307 Richterrecht 261

pursuit of happiness 23,318.340.358.393 Richtlinienkompetenz 162


Römische Verträge 6 7 - 6 8 , 204. 342
Rule of Law 291
Ratifikation 35, 69. 80, 100. 1 8 8 - 1 9 2 .
2 3 6 - 2 4 2 . 243, 244, 257. 260. 369 Rumänien 185. 191, 350. 383, 387

Ratifikationskrise 188-192
Säulenmodell 79
Ratifizierung
Schottland 163,327
- der amerikanischen Bundesverfassung
3 3 - 3 5 . 362, 3 7 0 Schuman-Plan 65
Schweden 135, 158, 161, 192, 387
- der amerikanischen Bundesverfassung]
364 Schweiz 49, 70, 173,231, 313, 344. 349

- des Europäischen Verfassungsvertrages Selbstbestimmungsrecht 195

182, 188. 250. 252, 360. 371. 377 self-restraint 226-229.288

- von A m e n d m e n t s 229 Sklaverei 32, 235. 282, 356. 367


Slowakei 157,349.383.387
rationale Rechtsprechungstätigkeit 284.
298 Slowenien 157.349.387
Solidarität 217.340.358.376
Recht und Moral 350
Souveränität 15. 2 3 . 2 6 . 2 8 . 3 1 . 6 7 . 80. 93.
Rechtskultur 51.142.286
Rechtsprechung 20. 128. 170. 273. 280. 105. 112. 123. 127. 130. 131. 144. 149.
181, 195. 200. 204, 252, 271. 319. 325.
283, 287. 304. 308. 3 0 8 - 3 1 1 . 313. 322,
340. 3 5 0 - 3 5 3 , 3 6 2 - 3 6 9
331,392. 396-399
-doppeltes. 319
- als Spiegelbild einer offenen Gesell-
- we the people 38
schaft 301
Souveränitätsteilung 105, 108
Rechtssicherheit 124,272
Souveränitätsverzicht 350-353
Rechtsstaat 20, 219. 271, 289. 291, 331
Sowjetunion siehe U d S S R
- sozialer R. 266
Spanien 21. 26, 29. 155, 158, 162, 163,
Rechtsstaatlichkeit 57.94. 147.293,337
178. 220. 326, 343, 350, 387
Referendum 80. 116. 159. 1 8 8 - 1 9 2 . 322, Spinelli-Entwurf 70-75,77,81
349, 360 Sprache 21,92,132,218.340
Regionalautonomie 163 Staatenbund 24. 27. 3 3 , 4 6 . 63, 104. 129.
Reichskammergericht 313 356. 362
Religion 26. 124. 186. 342, 343, 374. Staatenunion 174
3 7 6 - 3 8 2 . 3 8 3 - 3 8 8 . 389. 3 9 1 - 3 9 9 . 4 0 2 Staatenverbund 329
Religionsbezug 376 staatlicher Verbund 152
Religionsfreiheit 227, 283. 375 Staatsgebiet 130.331
473 Sach wort ver/cichnis

Staatsgewalt 24. 68. 129, 130. 145, 153. UdSSR 55.63,79.211.213,350


160. 219. 271. 276. 293. 299. 300. 316. Umweltschutz 64. 78
331,332, 333 Unabhängigkeitserklärung siehe Declarati-
Staatsorganisation 147 on o f I n d e p e n d e n c e
- Regeln der S. 35 Ungarn 158.387
Staatsphilosophie 27,36.149 Union Europäischer Föderalisten 60
Staatsrecht 49,121.216.232 Unionsbürger 71, 73, 76. 80. 84. 92. 112.
Staatsreligion 392
118. 172. 174, 250. 371
Staatsvolk 130,132,151, 152.250
Unionsbürgerschaft 78. 80. 98
Staatszielbestimmungen 266
Unionsverfassung 41, 122, 151. 250. 357
Subsidiarität 218
- formelle Voraussetzungen 154
Subsidiaritätsprinzip 61. 72, 81. 93, 115.
- materielle Voraussetzungen 154
124, 139. 330. 337
Unionsvertrag 59. 96
Südafrika 302
Unionsvolk 250
Superstaat Europa 105.110
United States of Europe siehe auch Verei-
supranationale Befugnisse 64 nigte Staaten von Europa
supranationale Institutionen 54. 109 USA 1 6 - 5 1 , 59. 63. 68. 70. 112, 188,
supranationale Integration 199-204 1 9 7 - 2 1 7 , 2 2 1 - 2 4 8 , 265, 284. 2 8 5 - 2 9 0 .
supranationale Integrationsverbände 151 291-301.317-372, 391-404
supranationale Organisationen 69 - als Geburtshelfer Europas 201
Supranationale Union 148. 151, 249. 316 US-Kongress siehe Kongress
Supranationalität 62, 72, 75, 79. 113, 123. U S - S u p r e m e Court 4 3 , 221, 2 2 7 - 2 4 8 .
1 8 5 . 2 1 8 . 253. 361 260. 269, 2 7 1 - 2 9 0 . 294. 2 9 6 - 3 0 1 , 305.
S u p r e m e Court siehe U S - S u p r e m e Court 308. 313, 314, 322, 332, 391 - 3 9 9
supreme law of the land 45. 276 - als ständiger Verfassungskonvent 221,
suspensives Vetorecht 161. 259, 3 2 4 271

Teilrevision 232 Verantwortungs- und Solidargemeinschaft


Teilverfassungen 159. 308. 312, 342 148
Textstufenanalyse 181 Verbraucherschutz 78
Totalrevision 222, 231. 232, 256 Verbund-Föderalismus 163
transatlantische Verfassungsrezeption 194 Vereinigte Staaten von A m e r i k a siehe USA
transatlantischer Dialog 315 Vereinigte Staaten von Europa 54. 59. 61.
transatlantisches Verfassungsfundament 67, 185, 358
219-221 Verfahrensgerechtigkeit 315
transatlantisches Verhältnis 17. 179. 197, Verfasstheit der Union 52, 85, 96, 142,
199-215. 351-353.403 180. 361
Transparenz 76, 80, 81, 96. 98. 116, 136, Verfassung 404
172,370 - einzelstaatliche V. 27. 3 2 . 4 5 . 225. 323,
Trennung von Staat und Religion 383, 356.402
391-399.402 Verfassungen der Einzelstaaten 23-29.
Tschechische Republik 159. 192. 350. 387 399-402
Türkei 190. 197. 350. 357, 383, 388 verfassunggebende Gewalt 39, 249
474 Sach wort ver/cichnis

Verfassunggebung 71, 83, 144, 149, - Begrenzungsfunktion 73, 80. I I I , 114,


2 2 1 - 3 1 7 . 327. 3 5 8 - 3 7 2 126, 133
- amerikanische V. 221,353 - Identifikationsfunktion 111, 1 1 6 - 1 1 8 ,
- europäische V. 155 134
- g e b u n d e n e V. 222 -Integrationsfunktion 116-118. 134,
- kreative V. 260-317 250
- Legitimationsfunktion 66, 81, I I I . 116,
- nationale Erfahrungswerte 159
123. 1 3 1 . 2 8 4
Verfassunggebung in der Supranationalen
- Organisationsfunktion 6 6 , 7 3 , 111. 114,
Union 249
118. 133
Verfassunggebungsprozess 17, 100. 173.
Verfassungsgemeinschaft 188. 221
358-364. 369-372 - Strukturelemente der V. 317
Verfassungsänderung 28. 81, 2 2 2 - 2 6 0 . Verfassungsgerichtsbarkeit 141, 195. 260,
299.316 268. 2 7 1 . 2 8 4 - 3 1 7
Verfassungsänderungsverfahren 81. 141 - Funktionen der V. 284.290-301
Verfassungsbegriff 46. 120. 122. 1 4 0 - - Geburtsstunde der V. 271
163.342 - Interpretationsmonopol der V. 196,265
- erweiterter V. 361 - Kompetenzen der V. 290-301
- europäischer V. 142. 270. 302 - Prinzipien der V. 307
- formeller V. 146 - selbständige V. 278.284.297-301
- materieller V. 146 - vergleichende Lehre von der V. 313
- normativer V. 122. 145. 153 Verfassungsgeschichte 144. 1 7 3 , 3 7 2
- normativer staatsbezogener V. 149 - amerikanische V. 20,182,222.246.392
- o f f e n e r V. 150 - europäische V. 16. 51
- postnationaler V. 150,152 - transatlantische V. 220
Verfassungsbestätigung 19, 40. 41, 188 Verfassungshermeneutik 196. 264, 291
Verfassungsdilemma 151 Verfassungsimperialismus 403
Verfassungsdynamik 369 Verfassungsinterpretation 30. 241, 248.
Verfassungsentwicklung 1 9 . 2 0 . 4 1 . 4 2 , 5 1 . 260-317
142, 2 2 1 . 2 5 2 . 256. 2 9 9 . 3 1 6 . 355 Verfassungsinterpreten 268
- als linearer Prozess 119 - Kreislauf der V. 269
- als mehrpoliges System 119 - offene Gesellschaft der V. 266.268.276
- Kontinuität der V. 335 Verfassungskontrolle 195
Verfassungsentwurf des Europäischen Par- Verfassungskonvent siehe Europäischer
laments (1984) 70-75.76 Konvent od. Konvent von Philadelphia
Verfassungsentwurf des Europäischen Par- Verfassungskultur 19. 197. 221. 245. 268.
laments (1994) 89 270. 2 9 1 . 3 0 8
Verfassungsergänzung 222.229. 238.245. Verfassungslehre 151. 264. 269
246.256 - amerikanische V. 233, 307
Verfassungserweckung 19 - deutsche V. 266
Verfassungsfähigkeit 140. 152. 185
- europäische V. 307
- Voraussetzungen der V. 146. 147 Verfassungsleitbilder 342
Verfassungsfunktionen 66. 1 1 1 - 1 1 8 . 284 Verfassungsmoderne 342
475 Sach wort ver/cichnis

Verfassungsorgane 5 1 . 2 1 9 , 2 6 9 , 2 8 0 . 305. Vertrag von A m s t e r d a m 84. 88. 99. 124.


333 133, 342, 375
Verfassungsorganqualität 297 Vertrag von Lissabon 192
Verfassungspatriotismus 156 Vertrag von Maastricht 75. 7 7 - 7 9 . 8 0 . 85.
- amerikanischer V. 40.49 119. 123. 133, 190. 258. 330. 342
- europäischer V. 117, 371 Vertrag von Nizza 96. 99. 116. 124. 135.
Verfassungsprinzipien 18. 28. 142, 194. 175. 178. 190. 1 9 1 . 3 1 7
222, 293, 307. 382 Völkerrecht 26. 74. 79. 121, 125, 126,
Verfassungsschöpfung 159. 3 6 3 1 2 9 - 1 3 0 . 148. 151. 1 5 3 , 2 1 9 . 249. 250.
Verfassungsstaat 18. 134. 151. 1 6 0 . 2 2 1 . 253, 255. 351
266, 2 9 9 . 3 1 6 , 374 Völkerrechtsfreundlichkeit 335
Volksbegehren 161
- amerikanischer V. 49
Volksentscheid 34. 159. 161
- Entstehung des V. 24-38
Volkssouveränität 2 4 . 2 6 . 2 8 . 3 9 . 1 0 1 . 181.
- Grundgedanken und Strukturelemente
195, 216. 273, 282, 290. 321, 344. 362.
desV. 317
365
- verfassungsgerichtliche Interpretations-
potentiale im V. 291 Wahlprüfungsverfahren 293
Verfassungstheorie 122, 146, 147, 170. Wahlrecht 31,123,226,236
250.317 Währung 54, 188. 208. 210. 355
- amerikanische V. 306 Währungsunion 77, 85
Verfassungstypen 122 Wales 163,327
Verfassungsverständnis 36. 1 4 0 - 1 6 3 , 1 8 4 . Wandelverfassung 122
245, 270. 3 0 6 . 4 0 3 Wertegemeinschaft 116
- amerikanisches V. 47, 194. 247 - zwischen Europa und USA 357
- einheitliches V. 142 Western Civilization 21
- europäisches V. 51 Westeuropäische Union ( W E U ) 78. 212.
- formales V. 185 214
- funktionelles V. 185 W E U siehe Westeuropäische Union ( W E U )
- gemischtes V. 141, 142 Widerstandsbewegungen 57-59
- staatszentriertes V. 185 Wiedervereinigung 79. 213, 268
- übergreifendes V. 142 Wiedervereinigung Europas 97
Verfassungsvertrag 16. 70. 76. 85. 99. Wirtschafts- und W ä h r u n g s u n i o n 101
100. 109, 116. 135, 147. 154, 164. 170.
174, 179. 1 8 0 - 1 9 2 , 2 2 1 , 2 4 9 - 2 6 0 , 3 0 6 , Zentralbanksystem 356
312. 315, 350, 355. 357. 361. 364. 372, Zentralisierung HO, 151, 1 6 9 - 1 7 1 . 279.
374-382 356. 365
Verfassungsvorrang 66. 146. 2 9 3 Zentralismus 33. 74. 106. 319. 328
Verfassungs-Vorverständnis 154-163 Zivilgesellschaft 47. 81. 88. 172, 3 7 3
Verfassungswirklichkeit 194. 314, 321. Zivilisationsprozess 192
330, 3 6 9 . 4 0 3 Zollunion 70.78
Verhältnismäßigkeitsprinzip 124. 219 Zweikammerlegislative 32
Vernunftrecht 23 Zweikammersystem 28. 47. 251. 324
Versteinerungstheorie 295 Zypern 97.157.350.388

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