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B a n d 176
Verfassung und
Verfassungsvertrag
Konstitutionelle Entwicklungsstufen
in den USA und der EU
Von
D u n c k e r & I l u m b l o t * Berlin
KARL-THEODOR FRHR. ZU GUTTENBERG
Verfassung und
Verfassungsvertrag
Schriften zum Internationalen Recht
Band 176
Verfassung und
Verfassungsvertrag
Konstitutionelle Entwicklungsstufen
in den USA und der EU
Von
Karl-Theodor Frhr. zu G u t t e n b e r g
ISSN 0720-7646
ISBN 978-3-428-12534-0
Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt
dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in sich. Manche kleine wie epochale
Erschütterung führt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht
der Nostalgie.
Scheinbar unberührt von alledem wähnte man bis zuletzt konstitutionelle Pro-
zesse. Trotz gelegentlich zweifelhafter Verfassung unserer Gesellschaften gab es
selten einen Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Verfassung.
Gleichwohl bildet auch diese Zäsur ein lebendiges wie traditionell paradoxes
Beispiel europäischer Verfassungsgeschichte, wonach in jeder noch so brachialen
Ablehnung immanent der Fortgang angelegt ist.
Augenblicken kann man schwer zu Dank verpflichtet sein, den sie gestaltenden
Persönlichkeiten jedoch umso mehr. Insbesondere wenn der be- und ergriffene
Moment dauerhafte Kräfte zu entfalten wusste.
Wie oft wurde der Kairos der Fertigstellung durch freiberufliche wie später
parlamentarische „Ablenkung" versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen
Faktums einer bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie
Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch
ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte.
A. Einleitung 15
Nachwort 403
Zusammenfassung 405
Anhänge 408
Literaturverzeichnis 416
Sachwortverzeichnis 465
. £ s wird ein Tag kommen, wo man jene beiden ungeheu-
ren Gruppen: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika
und die Vereinigten Staaten von Europa einander ge-
genüberstellt. sich die Hände über den Ozean hinüber
reichen wird [ . . . ) jene beiden unendlichen Gewalten:
die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes,
miteinander verbinden wird sehen." 1
Victor Hugo
A. Einleitung
1
V. Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Pariser Friedenskongresses (nach
der Proklamation der Zweiten Französischen Republik, wurde er 1849 in die verfassungs-
gebende Nationalversammlung gewählt), im Internet abrufbar unter http://www.e\amen-
europaeum.com/EEE/ EEE2003/24Ideen.htm.
2
„Amerika" und ..amerikanisch" beziehen sich nach allgemeinem Sprachgebrauch im
Folgenden auf die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Die Herkunft der Kontin-
entsbezeichnung war lange Zeit umstritten. Mittlerweile ist jedoch geklärt, dass die Na-
mensgebung auf zwei Deutsche zurückzuführen ist. Der deutsche Humanist M. Ringmann
begeisterte sich für den Entdecker und Seefahrer Vespucci. Der mit Ringmann befreundete
Kosmograph M. Waldseemiiller nahm dessen Vorschlag auf, Vespuccis Namen auf der
seiner ..Cosmographiae Introductio" beigegebenen Weltkarte von 1507 für den neuen und
erst vage umrissenen Erdteil zu verwenden. Ringmann hatte vorgeschlagen. Vespuccis
Vornamen Amerigo (der sich von Imre oder Emerich, dem zusammen mit dem Vater hei-
liggesprochenen Sohn des Ungarnkönigs Stephan I herleitet) entsprechend den Namen der
Kontinente der ..Alten Welt". Europa. Afrika, zu feminisieren und in dieser Form als „Ame-
rica" zu übernehmen. Andere Versionen, denen zufolge der Kontinent nach Amalrich, dem
Namen zweier Könige von Jerusalem im 12. Jahrhundert, oder nach der 1529 gegründeten
Stadt Maracaibo benannt worden sei. sind einwandfrei widerlegt. Vgl. F. Luubenberger,
Ringmann oder Waldseemüller? Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Na-
mens Amerika, in: Archiv für Wiss. Geographie, Bd. XIII. H. 3; A. Ronsin, Dicouverte et
bapteme de V Amerique, 2. Aufl. 1992.
16 A. Einleitung
Wie schwer ein solcher Verzicht fällt, wie nahe das Eigene und wie fern das
Gemeinsame erscheint, wenn man beides gegeneinander abzuwägen beginnt, zeigt
sich in aller Deutlichkeit in dem schwierigen Prozess der europäischen Einigung,
der so mühsam und zäh vonstatten geht und daher auch weiterhin so wenig Begeis-
terung zu erwecken vermag. Gerade angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint
es angebracht, sich mit einigen Argumenten und Grundfragen zu beschäftigen, mit
denen man damals, als es um die amerikanische Einigung ging, für und wider die
bundesstaatliche Lösung focht und zu ermitteln, welches Modell der Vermittlung
von Einheit und Vielfalt schließlich die Mehrheit überzeugte.
Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines
Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als „Europäischer
Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen
Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das Ergebnis
der europäischen Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung" be-
zeichnet wurde, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen
Bundesverfassung aufzuweisen.
Bereits seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(EGKS) haben die USA ein lebhaftes Interesse am europäischen Integrationspro-
zess gezeigt. Es ist für Europa auch heute bedeutsam zu wissen, welche Perzeption
die fortschreitende europäische Integration und das Projekt „europäische Verfas-
3
Vgl. M. Rosenfeld. T h e European Convention and Constitution Making in Philadelphia,
in: International Journal of Constitutional Law 1/2003, S. 373 ff.
17 A. Einleitung
Nicht selten werden die Vorstellungen über Europas zukünftige Rolle in der Welt
mit historischen Argumenten unterfüttert, etwa wenn auf die säkulare Tendenz
zu einer immer eigenständigeren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik
oder - im Gegenteil - auf die dauerhafte sicherheitspolitische Abhängigkeit Euro-
pas von den USA verwiesen wird. Unabhängig davon, wie berechtigt oder abwegig
historische Rekurse dieser Art tatsächlich sind, dürfte sich ein kurzer Rückblick
auf die jeweiligen Verfassunggebungsprozes.se und demzufolge auf einige Kapitel
aus dem Geschichtsbuch der amerikanisch-europäischen Beziehungen bei der
Erörterung von Grenzen und Möglichkeit der internationalen Rolle eines stärker
integrierten Europa als überaus hilfreich erweisen. Wie auch in anderen Politikfel-
dern. kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen, die Risiken
und Chancen bestimmter politischer Maßnahmen realitätsgerechter zu beurteilen,
Fehlperzeptionen zu erkennen und somit die verantwortlichen Akteure in die Lage
zu versetzen, angemessen auf neue Herausforderungen zu reagieren.
4
Mit ..transatlantisch" ist ausschließlich das Verhältnis zwischen Europa und den
Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten
jenseits und diesseits des Atlantiks.
?
So aber G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel
der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. im Internet unter
www.rewi.hu-berIin.deAVHI/deutsch/fce/fce402/burghardt.htm. S. 1.
18 A. Einleitung
v o r g e n o m m e n 6 u n d z u m T e i l i n s e i n e r B e r e c h t i g u n g v e r n e i n t 7 , z u m Teil e i n g e -
schränkt bejaht8.
6
Siehe allerdings aus jüngerer Zeit T. Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung.
Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003.
der allerdings zum einen den Ausgang des europäischen Verfassungskonvents noch nicht
berücksichtigen konnte, zum anderen eine weitgehende Beschränkung auf (wiewohl rechts-
vergleichende) Legitimationsaspekte vornehmen musste. Vgl. auch S. Hülscheid/. Europäi-
scher Konvent. Europäische Verfassung, nationale Parlamente, in: JöR 53 (2005). S. 429 ff.
7
Vgl. etwa S. Hobe. Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsge-
bung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1. 2003. S. I ff..
12.
8
W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, in: Inte-
gration. 2 / 2 0 0 2 . S. 83 ff.. 93.
9
Ähnlich auch D. Howard. Die G r u n d l e g u n g der amerikanischen Demokratie. Frank-
furt a. M. 2001.
10
Hierin ist einer der wesentlichen Unterschiede zur französischen Revolution zu
erkennen, die mit der klaren Vorstellung angetreten war. wie der Staat zu gestalten sei. um
das Ziel der bürgerlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Der Anspruch
der amerikanischen Revolution gestaltete sich da vergleichsweise gering.
B. Verfassungserweckung u n d
Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Entwicklungslinien
in den USA u n d d e r E u r o p ä i s c h e n Union
Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die
europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat
der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zu-
rückblicken. die andere fertigt sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach
klassischen Modellen noch ihre Kinderschuhe ohne dabei modische Entwicklun-
gen außer Acht zu lassen. Europa steht in vielerlei Hinsicht bereits auf festen
Füßen, die jedoch einer dauerhaften, resistenten Ummantelung bedürfen.
1
Vgl. unten III. und IV. sowie II.2.f)jj)(4)(a).
:
Auch im Sinne einer ..kulturellen Verfassungsvergleichung*', vgl. P. Häberle, Euro-
päische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 252 ff. unter Bezugnahme auf die ..Verfassungs-
vergleichung als ,fünfte 1 Auslegungsmethode" (vgl. dazu ders.. Grundrcchtsgeltung und
Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ 1989. S. 913 ff.).
Im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang könnte man nun versucht sein - auch
angesichts der bislang zu konstatierenden Verfassungsfortschritte - von „Verfassungserstar-
k u n g " zu sprechen. Eine erstarkende Verfassung wächst jedoch begrifflich zunächst aus
sich selbst. Dem Wort ..Erweckung" ist hingegen die äußere sanfte, zuweilen rüttelnde Hand
wesenseigen, weshalb dieser Begriff auch im Hinblick auf die schöpferischen Gedanken,
die die „Gründungsväter" und bis heute große Denker (aber auch gelegentlich allein die
Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile) dem Gebilde „Europa" zuteil werden lassen.
20 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bestätigt wurde sie mittels eines mehr und
mehr autarken amerikanischen Selbstbewusstseins. Ein Befinden, vor dem Europa
noch steht: Verfassungsbewusstsein und übergreifend europäisches Selbstbewusst-
sein. Was hierbei nun in welcher Reihenfolge einander bedingt, wird auch von
der Außendarstellung gegenüber den europäischen Bürgern abhängen. Eine der
Demokratie verpflichtete Verfassung entwickelt und bestätigt sich nicht zuletzt
durch die Bevölkerung.
A n w e n d u n g finden soll. Dies impliziert freilich, dass der Status der E r w e c k u n g nach
Ansicht des Verf. noch fortdauert.
4
Es würde freilich zu weit f u h r e n , spanische oder auch portugiesische Einflüsse auf
die großen Entdecker wie C. Columbus oder A. Vespucci zurückzuführen. Beide sahen nie
das heutige Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika: dies gelang wohl erst 1512 d e m
spanischen Governeur von Puerto Rico J. P. de Leon mit dem Betreten des heutigen Floridas.
Gleichwohl sind gegenwärtig durchaus spanische Wurzeln in den südlichen Staaten wie
Kalifornien, N e w Mexico. Texas oder Florida durch einen hohen hispanischen, lateiname-
rikanisch geprägten Bevölkerungsanteil spürbar, was kaum verwundert, nachdem Florida
erst 1819 von Spanien erworben. Texas und andere ehemals spanische oder mexikanische
Gebiete wie Kalifornien 1845 „einverleibt" wurden.
?
Die erste englische Niederlassung befand sich bemerkenswerterweise, 1577 von
F. Drake begründet, in Kalifornien (New Albion).
6
In Anlehnung an G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte. 2. Aufl. 1905.
S. 81 ff.; siehe auch ders.. A l l g e m e i n e Staatslehre. 3. Aufl. 1914 (Neudr. 1960). S. 4 1 8 ff.:
D.P.Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR I I I (1986), S . 2 3 0 f f . ;
G. Radbruch. Rechtsphilosophie. 3. Aufl. 1932 (Studienausg. 1999). S. 67 ff.: R. Zippelius,
Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. 1999, S. 344 ff.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 21
der lokalen Selbstverwaltung, das Recht auf ein Geschworenengericht und auf
„habeas corpus" bei Inhaftierung ein. 7
Die Rechtsordnungen begründeten sich zum einen auf dem tradierten englischen
gemeinen Recht (Common Law), auf den von der Krone gewährten verfassungs-
ähnlichen Kolonialcharten 8 , auf Gesetzgebungsakten der kolonialen Vertretungs-
körperschaften sowie den übergeordneten Gesetzen des Parlaments in London.
Ungeachtet dieses zweifellos vorherrschenden englischen Potentials, das sich
weiterhin durch die (Amts-)Sprache äußert, sollten aber auch weitere kulturelle
Wurzeln nicht außer Acht gelassen werden. Die Erschließung Nordamerikas stand
im Zeichen europäischer Großmachtrivalitäten, die sich durch die Bemühungen
der englischen Krone, den Vormachtanspruch gegen Spanien, die Niederlande 9
und bis 1763 gegen Frankreich zu behaupten, manifestieren lassen. Insbesondere
wird der französischen Gestaltungskraft oftmals ein allzu geringer Stellenwert
eingeräumt. 1 0 Frankreichs Einfluss, der freilich mit dem Pariser Frieden von 1763
spürbar geringer wurde, zeigt sich wie der weiterer europäischer Staaten (beispiels-
weise wird die Zahl der Deutschen 1775 auf 200 000 geschätzt) durch kulturelle
Grundsteine anderer Art: Neben ökonomischen Verlockungen bot Nordameri-
ka zahlreichen religiösen Dissidenten Zuflucht - Puritaner, Quäker. Hugenotten,
englische Katholiken. Eine auf der abendländischen Kultur basierende „Western
Civilization", die sich über den Atlantik spannt, findet ihren Ursprung im We-
sentlichen in europäischen Wurzeln, deren Hauptstämme von der griechischen
Philosophie und dem Christentum geformt wurden. Auch bedeutende Entfaltungen
Vgl. auch M. Berg. Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a - Teil II. Historische
und Politische Entwicklung, in: Staatslexikon. Sechster Band. 7. Aull 1992. S. 3 7 3 ff.:
K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959.
S.3.
h
Es gab drei Rechtstypen der Besiedlung, deren ursprüngliches System bis heute in
den einzelnen Bundesstaaten spürbar ist: die Kronkolonie (z. B. Virginia), Eigentümerko-
lonie (Maryland) und Freibriefkolonie (New Plymouth in Massachusetts, New Häven in
Connecticut): hierzu ausführlich K. Loewenstein (1959). S. 2 f.; W. Brugger, E i n f ü h r u n g in
das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001. S. 1.
9
Die Holländer k a u f t e n 1626 die Insel Manhattan f ü r 24 Dollar den Indianern ab
und gründeten dort N e w Amsterdam. Nachdem 1655 ein Versuch der Schweden, sich in
der Delaware-Bucht niederzulassen, abgewehrt werden konnte, musste sich freilich die
holländische Siedlung 1664 den Engländern ergeben. Die Siedlung erhielt den Namen New
York.
10
Während des 16. Jahrhunderts war die Erforschung des nordamerikanischen Kontin-
ents überwiegend den Franzosen vorbehalten, die sich im frühen 17. Jahrhundert schließlich
im Osten Kanadas niederließen und bis in den heutigen Mittleren Westen gelangten (bei-
spielhaft der französische Entdecker R.R.C. de La Salle 1 6 4 3 - 1 6 8 7 . der „patron saint"
von Chicago); erst 1699 wurde die französische Kolonie von Louisiana an d e r M ü n d u n g
des Mississippi gegründet. Siehe auch zur Kolonialperiode in der US-amerikanischen Ge-
schichte K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten.
1959. S. I ff.
22 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
der Musik und bildenden Kunst, der Philosophie, Literatur und der Wissenschaft
tragen eine unverkennbar europäische Kennzeichnung."
T. Jeffersons11 Zeit von 1784 bis 1789 als Gesandter in Paris darf zu den Mark-
steinen politischer Entwicklung in Amerika gezählt werden. Sein grundsätzlich
am englischen Recht, am antiken Republikanismus und am Individualismus der
Aufklärung ausgerichtetes Staatsdenken erfuhr durch den französischen Einfluss
und die geistige Unterstützung der französischen Revolution den Feinschliff. In
seine Präsidentschaft fällt schließlich auch der Louisiana Purchase, der Kauf des
ausgedehnten Louisiana-Gebiets von Frankreich (1803). Die Vertreter „seiner"
politischen Richtung vereinigten sich schließlich unter Jeffersons Führung zur Re-
publikanischen Partei (die spätere Demokratische Partei). Eine weitere kulturelle
Einfiussnahme von Jefferson sollte nicht vorenthalten werden: Bekanntlich betä-
tigte er sich auch als Architekt und orientierte sich bei seinen für die amerikanische
Architektur impulsgebenden Entwürfen an der Baukunst der spätrömischen An-
tike sowie den Werken A. Palladios. Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits
die Vielfalt des europäischen kulturellen Erbes in den Vereinigten Staaten.
" So gibt es ein schöpferisches Musikleben nach europäischem Vorbild seit etwa 1800.
Als frühester Komponist gilt der aus Mähren s t a m m e n d e A. P. Heinrich. Die Komponisten
der sog. „ N e u e n g l a n d s c h u l e " (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) wie J.K. Paine!H. Parker
und E. McDowell sahen ihre Vorbilder in J. Brahms und E. Grieg. Andere, wie D. G. Mason
und C A / . Loefßer, griffen später auf C. Debtissy und M. Ravel zurück: vgl. zur amerika-
nischen Musikgeschichte H.W. Hitcheock. Music in the United States, 2. Auflage 1974.
Die amerikanische Kunst w u r d e stets von Emigranten mitgeprägt - beispielhaft in der
Architektur W. Gropius/L Mies van der Rohe, in Malerei und Skulptur der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts M. Ernst IL. Moholy-Nagy oder N. Gabo. siehe umfassend M. Baigell,
A History in American Painting, 1971.
12
Siehe zu T. Jefferson das große Werk von D. Malone, Jefferson and his T i m e .
6 Bde. 1 9 4 8 - 1 9 8 1 sowie R.M. Johnstone, Jefferson and the Presidency, 1978.
n
Dies offenbart sich in j ü n g s t e r Zeit beispielsweise in Kroatien. Slowenien oder
in den baltischen L ä n d e r n , die nach d e m Bruch mit Jugoslawien bzw. der Sowjetunion
zum einen den mutigen Schritt zu einer neuen Verfassung wagten, dieser „westliche"
Maßstäbe verliehen, zum anderen aber einer verstärkten Brauchtumpflege nachgehen,
die sich gerade ihren Ursprüngen besinnt, vgl. zur neueren Verfassungsentwicklung
in Osteuropa T. Schweisfurth/R.AIIeweldt, Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteu-
ropa. in: G. Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 23
„We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are
endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that a m o n g these are Life,
Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are
instituted among M e n . deriving their just powers from the consent of the governed, - Thal
whenever any Form of Government b e c o m e s destruetive of these ends. it is the Right of
the People to alter or to abolish it. and to institute new Government, laying its foundation
on such principles and organizing its powers in such form, as to t h e m shall seem most
likely to effect their Safety and Happiness." 1 4
Auch die Verfassungen der Einzelstaaten 15 , die teilweise den Anregungen des
2. Kontinentalkongresses 16 1775/76 folgten, umfassten indes Grundrechtserklä-
rungen. die sich nicht nur an der Hinterlassenschaft Englands, sondern auch an
den damals aktuellen Leitlinien des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts
ausrichteten. Die europäische Aufklärung fand also in einigen ihrer Basis- und
17
N. Hinske, A u f k l ä r u n g , in: Staatslexikon. Bd. 1 , 7 . Aufl. 1992. S. 391 ff. klassifiziert
die tragenden Ideen der Aufklärung in ..Programm-. Kampf- und Basisideen".
18
K. Loewenstein (1959), S. 7. In Art. II der Konföderationsartikel heißt es: ..Each State
retains its sovereignty, f r e e d o m . and independence, and every Power. Jurisdiction and right.
which is not by this Confederation expressly delegated to the United States, in C o n g r e s s
assembled."
19
Siehe unten IV. 3. b).
20
Sie gehen damit sogar dem englichen „Instrument of Government" von O. Cromwell
aus dem Jahr 1653 vor.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 25
A u f d i e E i n z e l h e i t e n d e r a m e r i k a n i s c h e n R e v o l u t i o n ist a n d i e s e r S t e l l e n i c h t a u s -
schweifend einzugehen.22 B e w e g g r ü n d e und Resultat sollen j e d o c h nicht gänzlich
v e r s c h w i e g e n w e r d e n , n a c h d e m a u c h sie geistiger A u s g a n g s p u n k t der folgenden
V e r f a s s u n g s b e w e g u n g waren.23 Ein vergleichsweise trivialer Auslöser, d e r Ver-
such des britischen Parlaments, die Kolonien durch Zölle und Besteuerung an
den Kosten des S i e b e n j ä h r i g e n Krieges zu beteiligen, e n t f l a m m t e ab 1763 eine
21
Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung wird - in Analogie zur Französischen
Revolution - tatsächlich überwiegend als ..Amerikanische Revolution" bezeichnet. Zu-
mindest das Selbstverständnis der G r ü n d u n g s v ä t e r der Vereinigten Staaten ist damit aber
keineswegs getroffen. Ihnen ging es nicht um den Bau einer neuen Gesellschaft, nicht um
die Umwälzung bestehender Staats- und Machtverhältnisse, sondern - wie bereits anlässlich
des ersten Kontinentalkongresses 1774 in Philadelphia z u m Ausdruck gebracht - um die
Wiedereinsetzung in ihre alten Rechte vor 1763. um die Restauration der durch die englische
Krone unterbrochenen und missbrauchten Rechtstradition, vgl. auch U. Opolka, Politische
Erklärungen: Die Verfassungen der nordamerikanischen Staaten und der Französischen
Revolution, in: E. B r a u n / F . H e i n e / U . Opolka (Hrsg.). Politische Philosophie, 6. Aufl. 1998.
S. 183 f. Insbesondere hat aber bereits T. Paine. einer der publizistischen Wegbereiter so-
wohl der amerikanischen Unabhängigkeit w i e dann später d e r Französischen Revolution,
in seinem Werk diesen restaurativen Aspekt deutlich betont, auch wenn er einer der ersten
war. die das damalige amerikanische Geschehen als Revolution bezeichneten. So heißt es in
Paines berühmter Schrift ..Die Rechte des M e n s c h e n " aus den Jahren 1791/92. die Revolu-
tion in A m e r i k a sei ..eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von
Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die Wahrheit und die Existenz des M e n s c h e n
und die Moral mit politischer Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbindet", zitiert nach
einer Übersetzung von D.M. Forkel, hrsg. von T. Stemmler, 1973. S. 173. Bemerkenswert
in diesem Kontext ist auch eine rückblickende Ä u ß e r u n g von J. Adams in einem Brief
an T.Jefferson vom 24. August 1815: ..Die Revolution fand im Herzen des Volkes statt,
und diese wurde bewirkt von 1760 bis 1775 im Verlauf von 15 Jahren, bevor ein Tropfen
Blut in Lexington vergossen w u r d e " , vgl. J.Adams, in: L . J . C a p p o n (Hrsg.). T h e A d a m s -
Jefferson Letters. T h e Complete Correspondence between T. Jefferson and A. and J. Adams,
11. 1959. S . 4 5 5 . Speziell zum historisch-sozalwissenschaftlichen Aspekt der ..Revolution"
der Klassiker von H. Arendt. Über die Revolution. 1965 (engl. Originalausgabe 1963) sowie
K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. 3. Auflage 1973: C. Lindner, T h e o r i e
der Revolution. 1972: H. Wassmund. Revolutionstheorien. 1978: K. Lenk. T h e o r i e n der
Revolution, 2. Auflage 1982.
22
Detaillierte Darstellungen der . A m e r i c a n Revolution" finden sich bei C. Bonwick,
T h e A m e r i c a n Revolution. 1991: D. Higginbotham, T h e War of A m e r i c a n Independence.
1977: H.-C. Schröder. Die amerikanische Revolution. 1982: H. Dippel. Die amerikanische
Revolution 1 7 6 3 - 1 7 8 7 , 1985: S.E. Morison it. a.. T h e Growth of the A m e r i c a n Republic,
2 Bde.. 7. Auflage. 1980: F. Freidel (Hrsg.), Harvard G u i d e to A m e r i c a n History, 2 Bde..
C a m b r i d g e (Mass) 1974: A.M. Schlesinger, T h e Cycles of A m e r i c a n History, Boston
1986. Siehe auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten. 1959. S. 4 ff.
26 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Kontroverse zwischen den Kolonisten und der britischen Krone und führte - nach
der Eskalation in einen bewaffneten Konflikt - schließlich zur bereits erwähnten
Erklärung der Unabhängigkeit durch die ..dreizehn vereinigten Staaten von Ameri-
ka'" am 4. Juli 1776. 24 In der Präambel wird unter Berufung auf das Naturrecht die
Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie das Prinzip der Volkssouveränität
postuliert. Textlich kulminiert die Erklärung in der Verkündigung neuer staatlicher
Souveränität. Angesichts der Form und inhaltlichen Gewichtung könnte beinahe
von einer „Postambel" gesprochen werden, wenn es am Schluss heißt:
2?
Im transatlantischen Kontext bedeutsam die Dissertation von O. Vossler, Die amerika-
nischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an T h o m a s
Jefferson. 1929.
2
~ An der Erklärung waren folgende bisherigen Kolonien beteiligt: Connecticut. Dela-
ware. Georgia. Maryland, Massachusetts, New Hampshire, N e w Jersey, New York. North
Carolina. Pennsylvania. Rhode Island. South Carolina und Virginia. Umfassend zur Un-
abhängigkeitserklärung, ihrer Vorgeschichte und Tragweite J. R. Pole. T h e Decision of
American Independence. 1975. Eine heute ..klassisch" zu nennende Analyse der Erklärung
liefert C.L Becker; T h e Declaration of Independence. A Study in the History of Political
Ideas. 1922 (Neudr. i960).
25
Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of A m e r i c a n History. 1983,
S. 2 8 0 f.
26
Hierzu W. P Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfas-
sung und politische Ideen der amerikanischen Revolution. 1973: B. Bailyn, T h e Ideological
Origins of the A m e r i c a n Revolution. Neuausg. 1992.
2
Der theoretische Abschnitt der Unabhängigkeitserklärung wird emotional von der Ab-
rechnung mit dem englischen König George ///. überlagert. Dort wird das archaische Motiv
des Widerstands gegen einen Tyrannen a u f g e g r i f f e n . Insoweit steht die Erklärung durch-
aus in gewisser Rechtstradition der Monarchomachen. der Absetzung Philipps 11.1581.
der Hinrichtung Karls I. und der Bill of Rights von 1689. Diesen Aspekt heben auch
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 27
Wie auch J. Ellis in seinem Werk „Founding Brothers" in sechs Episoden über
die ersten Jahrzehnte des neuen Gemeinwesens beschreibt, reichte die Einig-
keit über Jeffersons Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zunächst nicht
über den Willen, das Joch der englischen Krone loszuwerden, hinaus. „The first
founding (1776) declared American independence; the second (1787), American
statehood". 3 0 In Bezug auf den ersten Schritt bestand Einigkeit; der zweite war
zwischen „Föderalisten" und Anhängern eines losen Staatenbundes höchst umstrit-
ten. Noch heute besteht bis in die Tätigkeitsfelder der Tagespolitik eine Spannung
zwischen den damals von Hamilton und Jefferson verkörperten Denkschulen. Der
Einfluss derjenigen, die in den USA auf den „State rights" bestehen, nimmt seit
den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu.
Der Vorabend nahm freilich einige Jahre in Anspruch. Er umfasste neben der Un-
abhängigkeitserklärung auch einzelstaatliche Verfassungsbemühungen, die teils
den Anregungen der Kontinentalkongresse folgten, sowie verschiedene Grund-
rechtserklärungen und die 1781 in Kraft getretenen (1777 formulierten) Articles
of Confederation als erste bedeutende Marksteine auf dem Wege zu einer dauer-
31
Jedoch wurde keineswegs überall der Anspruch auf Volkssouveränität festgehalten
und lediglich in Massachusetts erfolgte eine B e f r a g u n g des Souveräns zur Verfassung.
32
Z u m Verfassungsprinzip Gewaltenteilung siehe unten IV.3.c).
33
Art. II. Zitiert nach R.D.Rotunda u.a.. M o d e r n Constitutional Law, 6* ed. 2000.
Appendix B.
34
Dazu zählten die Hoheitsrechte im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und
der Verteidigung im Namen der souveränen Einzelstaaten.
35
Vgl. zu Einzelheiten K. Loe wen stein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der
Vereinigten Staaten. 1959. S. 7 f. Siehe auch W. Brugger, E i n f ü h r u n g in das öffentliche
Recht der U S A . 2. Auflage 2001, S. 2 f.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 29
fugnissen ließ nach d e m Wegfall der äußeren Bedrohung das Unvermögen zur
einheitlichen Willensbildung klar zu Tage treten, w a s sich äußerst negativ auf
die Handels- und Finanzpolitik niederschlug. Letztere musste nach der Einbuße
der durch das britische Merkantilsystem gesicherten Handelsbeziehungen neue
V e r b i n d u n g e n g e w i n n e n , in d e r a u s w ä r t i g e n Politik galt es V e r s t i m m u n g e n mit
England und Spanien geschlossen zu begegnen36 und zwischen den Staaten k a m es
zu förmlichen Handelskriegen aufgrund rigider Zollschranken und mangelhafter
Zusammenarbeit.
c) Der Verfassungskonvent37
36
Gerade der Kongress bewies seine gravierendsten Schwächen auf außenpolitischem
Gebiet. Großbritannien kam der im Frieden von Paris genannten Verpflichtung nicht nach,
seine Truppen aus dem Staatsgebiet der USA abzuziehen. Als J. Adams 1784 nach London
reiste, um der Großbritannien einen Handelsvertrag vorzuschlagen, musste er unverrichteter
Dinge zurückkehren, nachdem die Briten ihn mit der heiklen Frage konfrontiert hatten,
ob er eine Nation oder einen der 13 Staaten vertrete. Bei dem Versuch, mit Spanien
eine Klärung der Grenze zu Florida zu erzielen, war der Kongress e b e n s o erfolglos wie
bei der angemessenen Begleichung der e n o r m e n Kriegsschulden. Vgl. zu alledem auch
K. Loewenstein (1959), S. 7 f.
Auf die Details des Konvents. Verfahrensbesonderheiten, dessen Z u s a m m e n s e t z u n g
und Beratungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf g r u n d l e g e n d e Betrachtungen
verwiesen. Aus der deutschsprachigen Lit. ausführlich insbesondere J. Heideking. Die
Verfassung vor d e m Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen
Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1988: A. Adams fW. P. Adams (Hrsg.). Die A m e r i k a n i s c h e Re-
volution und die Verfassung: 1 7 5 4 - 1 7 9 1 . 1987. Z u d e m die historischen Darstellungen
von D.J. Haupt ly. A Convention of Delegates - the Creation of the Constitution. 1987:
D. G. Smith. T h e Convention and the Constitution. T h e Political Ideas of the Founding Fa-
thers. 1987; L W. Levy (Hrsg.). T h e Framing and Ratification of the Constitution. 1987;
J.D. Elazar. T h e A m e r i c a n Constitutional Tradition. 1988. Siehe auch C. Wolfe. On Un-
derstanding the Constitutional Convention of 1787. in: T h e Journal of Politics. 39 (1977).
S . 9 7 f f . ; C.C. Jillson. Constitution-Making: Alignment and Realignment in the Federal
Convention of 1787, in: T h e A m e r i c a n Political Science Review, 75 (1981), S. 598 ff.;
A.H. Kelly/W.A. Harbison/H. Beiz (Hrsg.), T h e A m e r i c a n Constitution - its Origins and
Development, 7th ed. 1991. Klassische Standardwerke sind weiterhin: N.C. Towle. Histo-
ry and analysis of the Constitution of the United States, 3^ ed. 1871. reprint 1987; C. van
Dören, T h e Great Rehearsel. T h e Story of the M a k i n g and Ratifying of the Constitution of
the United States, 1948.
38
Rhode Island war nicht vertreten. Einige radikale Republikaner wie P. Henry und
S. Adams waren freiwillig ferngeblieben. Das erleichterte es den ..Nationalists", sich gegen
die B e f ü r w o r t e r einzelstaatlicher Souveränität durchzusetzen. Die größten Differenzen in
den Beratungen, die unter Vorsitz von G. Washington bis Mitte September andauerten, wa-
ren das Verhältnis von Bundesregierung und Einzelstaaten, die Gewaltenteilung innerhalb
der Bundesregierung sowie die Interessenkonflikte zwischen Nord- und Südstaaten auf
30 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
der einen, kleinen und großen Einzelstaaten auf der anderen Seite, vgl. dazu J. Heideking,
Revolution. Verfassung und Nationalstaatsgründung, in: W . P . A d a m s u . a . (Hrsg.), Die
Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Bd. 1. S. 32 ff.. 43. Weitere bekannte Delegierte waren
A. Hamilton (New York), der 81-jährige B. Franklin und J. Wilson (beide Pennsylvania).
G. Mason (Virginia, den Jefferson, der selbst zu der Zeit als Gesandter in Paris weilte,
später ..the Cato of his country without the avarice of the R o m a n " nennen sollte) sowie
J. Dickinson (Delaware).
39
Vgl. J. Ellis. T h e Founding Brothers. T h e Revolutionary Generation. 2002.
4
" Vgl. zu der Diskussion um die Auswahl d e r ..Founders" neuerdings S. Cornell, T h e
Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1 7 8 8 - 1 8 2 8 ,
1999: zu den unterschiedlichen Aspekten der Meinungsbildung in der einzelstaatlichen
..public debate": B. McConville, These Daring Disturbers of the Public Peace: T h e Struggle
for Property and Power in Early N e w Jersey, 1999 sowie W. Holton, Forced Founders:
Indians. Debtors. Slaves, and the Making of the American Revolution in Virginia. 1999.
41
Z u r Person J. Madison und dessen Einfluss auf die Verfassungswerdung siehe die
bemerkenswerte Studie von J.N. Rakove. J a m e s M a d i s o n and the Creation of the A m e r i -
can Rcpublic, 1990: zu dessen späterer Präsidentschaft ( 1 8 0 9 - 1 8 1 7 ) R.A. Rutland. T h e
Presidency of J a m e s Madison, 1990.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 31
Auftrag des Konvents vor: die Konföderationsartikel sollten nicht revidiert, son-
dern durch den Beschluss einer neuen, nationalen Regierungsform ersetzt werden.
Madisons Vorstellungen basierten auf einem eigenen Entwurf, der als „Virginia-
Plan" bekannt werden sollte. 42 Er sah im Kern eine präsidiale Republik vor, die
auf einer strengen Gewaltenteilung durch ein Zweikammerparlament beruhte.
Anstoß an dem Entwurf nahmen allerdings die kleinen Staaten, da sich die
Sitzverteilung im Kongress nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundesstaates
richten sollte. Virginia hätte damit ein erhebliches Gewicht im Kongress gehabt.
An den Rand des Scheiterns brachte die Beratungen überdies der Interessenkon-
flikt zwischen dem kommerziell ausgerichteten Norden und dem auf Sklavenarbeit
angewiesenen, Agrarprodukte exportierenden Süden. Politische Protagonisten und
Gegenpole dieser Auseinandersetzung waren einerseits die „Nationalisten" - Be-
fürworter einer starken Zentralregierung (die sich entgegen dem heutigen Sprach-
gebrauch Federalists nannten) - und auf der anderen Seite die Anhänger der
Souveränität der Einzelstaaten sowie einer größtmöglichen Dezentralisierung der
Macht. Letztere wurden von ihren Widersachern geschickterweise mit dem Na-
men Antifederalists belegt, um das Negative und im Zweifel Unpatriotische ihres
Standpunktes hervorzuheben. Die Spannungen waren von einer Vermengung un-
auflöslich erscheinender materieller Interessen mit generellen Einwänden gegen
jegliche Machtkonzentration gekennzeichnet.
J
- Der Verfassungsdebatte lagen drei ..Plans" zugrunde. Der Vorschlag von New Jersey
(„New Jersey-Plan"), d e r e i n e Kollektivspitze vorsah, glich dabei in manchen Einzelheiten
der späteren Schweizer Verfassung von 1848 (siehe i.Ü. auch P. Widmer. Der Einfluss der
Schweiz auf die Amerikanische Verfassung von 1787, in: Schweizerische Zeitschrift für
Geschichte. 38 (1988), S. 359 ff.), der von Virginia hatte Ähnlichkeiten mit der späteren
Verfassung der dritten französischen Republik. Den dritten ..Plan" legte A. Hamilton vor;
darin wurde ein System bevorzugt, das d e m ..British G o v e r n m e n t " als laut Hamilton ..the
best in the world". frappierend ähnelte.
43
Aktualität erlangten diese Frage und die Argumente der früheren Auseinandersetzung
bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2 0 0 0 und der knappen (letztlich gerichtlichen)
Entscheidung für den Wahlsieger G. W. Bush.
44
Dazu ausführlicher unten IV. 3.b).
45
Für die Wahl zum Repräsentantenhaus, d e m einzigen Bundesorgan, das nach der
ursprünglichen Verfassung direkt gewählt werden musste. galt die Bestimmung, dass die
Qualifikationen für die W ä h l e r nicht höher angesetzt werden dürften als für das ..populäre"
Haus des jeweiligen Einzelstaates (Art. I §2 par 1 der Verfassung). Dem Kongress wurde
lediglich das Recht eingeräumt, die von den Einzelstaaten geregelten ..Zeiten. Orte und
32 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Essentiell für die Zustimmung der Südstaaten zur Verfassung war die Anerken-
nung der Institution der Sklaverei. Diese Akzeptanz wurde letztlich konkludent
in drei Klauseln deutlich. Nach Art. I § 2 par. 3 der Verfassung sollten bei der
Berechnung der Bevölkerungszahl im Hinblick auf die Zuteilung von Sitzen im
Repräsentantenhaus „other persons" (womit Sklaven gemeint waren) als Drei-
Fünftel-Personen gewertet werden. Weiterhin musste gemäß Art. IV § 2 par. 3
der Verfassung ein flüchtiger Sklave von den Behörden des Staates, in den er
geflüchtet war, an seinen Herrn ausgeliefert werden. Zudem durfte der Import von
Sklaven vom Kongress bis zum Jahre 1808 nicht verboten, jedoch ein Steuer von
nicht mehr als 10 Dollar auf jeden importierten Sklaven erhoben werden (Art. I
§ 9 par. 1 der Verfassung).
A r t " der Wahlen zu ändern (Art. I §4 par. 1 der Verfassung). Vgl. auch K.L. Shell. Die
Verfassung von 1787. in: W . P A d a m s u . a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika.
Bd. 1. 1990. S. 277 ff., 2 8 0 f.
46
Z u m Ideengehalt der Einzelstaatsverfassungen: W. P. Adams. Republikanische Verfas-
sung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen
Revolution. 1973. Siehe zu deren Einfiuss auf die Bundesverfassung auch H.G. Keller. Die
Quellen der amerikanischen Verfassung, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte
16 (1953), S. 107 ff.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 33
Die am 17. Sept. 1787 verabschiedete Verfassung spiegelte letztlich den mühse-
lig errungenen Kompromiss zwischen Interessenlagen wider, die sich in einem ma-
teriell ausgerichteten Nord-Süd-Konflikt und einem grundsätzlichen, weitgehend
ideellen Streit um etwaige Segnungen des Föderalismus oder eines ausgeprägten
Zentralismus offenbarten.
Der Verabschiedung sollte nach dem Willen der Delegierten die baldige Ratifi-
zierung folgen. Diese hätte sich bei Berücksichtigung der damaligen Rechtslage
schwierig gestaltet. Die Kongressordnung sah nämlich prinzipiell Einstimmigkeit
vor. welche angesichts der zahlreichen Kompromisse kaum zu erreichen schien.
So beschloss man. die Zustimmung zur Verfassung nicht dem Kongress in New
York, sondern eigens zu berufenden verfassunggebenden Versammlungen in den
einzelnen Staaten zu überlassen. 47 Überdies sollten nach Art. VII des Verfassungs-
entwurfs bereits neun von dreizehn Ja-Stimmen die übrigen Staaten binden. Diese
Taktik zahlte sich aus. denn am 2. Juli 1788 wurde durch die Zustimmung des
zehnten der dreizehn Gründungsstaaten die Verfassung ratifiziert. North Carolina
und Rhode Island zögerten mit der Ratifizierung noch bis zum 21. November
1789 beziehungsweise 29. Mai 1790. Auch in New York galt es Widerstände ge-
gen den Verfassungsentwurf zu brechen. 4 8 Wie unter einem Brennglas prallten
dort die herausragenden Vertreter von Federalists und Antifederalists aufeinander,
die in einer geistig-ideologischen Auseinandersetzung das gemeinsame Funda-
ment der Revolution in zwei Varianten des Republikanismus zu spalten wußten.
Beide Seiten versuchten mit einer Flut von Flugblättern, Zeitungsartikeln, Reden
und Pamphleten die öffentliche Meinung zu indoktrinieren. Die Antifederalists
befürworteten dabei die Idee einer überschaubaren Republik in einem lockeren
Staatenbund, ähnlich der Struktur, wie sie in den „Articles of Confederation""
vorgesehen war. 49
47
Gleichzeitig wurde, dem Beispiel aus Massachusetts folgend, allmählich das Volk
als eigentlicher Souverän ins Spiel gebracht.
4S
Hierzu ausführlich L.G. de Pauw, T h e Eleventh Pillar: N e w York and the Federal
Constitution. 1966: R. Brooks, Alexander Hamilton. Melanchton Smith and the Ratification
of the Constitution in New York, in: William and M a r y Quarterly 24 (1967), S. 339 ff.
49
Unter B e r u f u n g auf Montesquieu widersprachen die Antifederalists der Auffassung,
ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten könne problemlos als freiheitliche Repu-
blik geführt werden. Die neu geschaffenen Verfassungsorgane und Institutionen betrachtete
man als potentielle G e f a h r für die Bedürfnisse der Einzelstaaten und ihrer Bürger. Überdies
wurde der bis dahin fehlende Grundrechtekatalog beklagt. Vgl. zu den A r g u m e n t e n und
Vertretern dieser Bewegung insgesamt J. T. Main. T h e Antifederalists. Critics of the C o n -
stitution 1781 - 1 7 8 8 , 1961; C.M. Kenyon. M e n of Little Faith: T h e Antifederalists on the
Nature of Representative Government, in: William and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3 ff.
Neuerdings S. Cornell. T h e Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition
34 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Demgegenüber stand das Modell der Federalists, die für das Modell einer
..Bundesrepublik" mit einer effektiven Zentralgewalt sowie für eine Stärkung
und Expansion der Wirtschaft eintraten. Den theoretischen und intellektuellen
Unterbau hierzu lieferten A. Hamilton, J. Madison und J. Jay, die unter dem
gemeinsamen Pseudonym ..Publius" 85 Essays veröffentlichten, in denen sie die
Bedeutung und Vorteile der Verfassung hervorzuheben suchten. Diese heute unter
dem Titel „Federalist Papers" versammelten Schriften gelten zu Recht als eines
der wichtigsten Dokumente zur Staatstheorie und zählen zu den Klassikertexten
im Verfassungsleben 5 0 , vielleicht sogar in literarischer Hinsicht. 51
In deren Plädoyer für einen amerikanischen Bundesstaat lebt die damals ge-
führte Diskussion wieder auf und es sind prinzipielle Überlegungen über die
Probleme zu finden, die Einigungsprozesse von solcher Größenordnung aufwer-
fen. Zudem ist eine Stringenz der Argumentation zu erkennen, die verwundern
muss, wenn man die Entstehungsgeschichte der „Papers"bedenkt: Sie waren zu-
nächst schlicht eine Serie von Zeitungsartikeln, die etwa ein Jahr lang, nämlich
1787/88. in mehrtägigem Abstand in drei New Yorker Zeitungen erschienen, bevor
sie zusammengefaßt als Buch publiziert wurden. Der Anlass für diese eifrige Publi-
kationstätigkeit war, für die Ratifizierung der neuen, nunmehr bundesstaatlichen
Verfassung zu werben.
Obwohl die Anti-Federalisten unter dem Strich den Kampf um die Verfassung
verloren hatten, ging im Rahmen des erzielten Kompromisses ihre Idee vom
republikanischen Kleinstaat ebenso in das amerikanische Selbstverständnis ein
wie die einzelnen Prinzipien ihrer federalistischen Widersacher.
Der Verdienst der Federalist Papers lag weniger in deren tagespolitischem Erfolg
als in der ideenpolitischen Langzeitwirkung auf das politische Selbstverständnis
der amerikanischen Republik.
In ihrer Tragweite ist dabei die Verfassung Virginias vom 12./29. Juni 1776
kaum zu unterschätzen. Sie sollte die erste Verfassung sein, die den Schritt von
traditionellen konstitutionellen Denkmustern zur Verfassungs-Moderne insoweit
zu meistern vermochte, als sie erstmals Regeln der Staatsorganisation („Consti-
tution or Form of Government") mit einem Menschenrechtskatalog („Virginia
Bill of Rights" 5 2 ) verband. Die naturrechtliche Lehre von den unveräußerlichen
52
In Art. I der Erklärung heißt es: ..Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen
frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte ( . . . ] und zwar auf G e n u ß
des L e b e n s und d e r Freiheit und dazu die Möglichkeit. Eigentum zu erwerben und zu
besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."(zitiert nach der Über-
setzung von W. P Adams, im Internet unter http://chnm.gmu.edu/declaration/german.html).
Hinzu kamen unter a n d e r e m Gewährleistungen der Pressefreiheit ( Art. 12) und der freien
36 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
„We [ . . . ] do ordain. declare and establish the following Declaration of Rights and
Frame of Government, to be the Constitution of this c o m m o n w e a l t h . " 5 5
Die Staaten Virginia, New York und Massachusetts waren es dann auch, die
eine Annahme der Bundesverfassung von der Bedingung abhängig machten, dass
Grundrechte dauernde Berücksichtigung fänden. 5 6 So kam es schließlich, dass
vordergründig gegen England gerichtet und zunächst nicht zur unbeschränkten inneren
Umsetzung bestimmt. Überdies fand es nur in drei Grundrechtserklärungen Berücksichti-
gung. Vgl. hierzu W.P.Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die
Verfassungen und politischen Ideen der Amerikanischen Revolution. 1973.
Der Kongress verabschiedete am 25. September zunächst zwölf Verfassungszusätze
(.Amendments). von denen die Bundesstaaten letztlich zehn bestätigten. Einzelheiten zu den
A m e n d m e n t s unten ausführlich IV. 1. a) Zur Geschichte der amerikanischen ..Bill of Rights"
vgl. aus neuerer Zeit das sehr umstrittene Werk von L IV. Levy, Origins of the Bill of Rights.
1999. Die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Fortentwicklung
bespricht A. ReedAmar. T h e Bill of Rights: Creation and Reconstruction, 1998. Siehe auch
C.R. Smith. To form a more perfect union. T h e ratification of the Constitution and the Bill
of Rights, 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993.
58
Vgl. auch K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. 1984.
S. 65: W. Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999. S. 26.
Anders freilich W. Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in:
Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg. H e f t 3 / 1 9 9 4 . S. 22 ff.
60
Vgl. The Federalist No. 84 (Hamilton).
38 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Verfassung und die Bill of Rights erzeugten so eine Balance zwischen zwei
gegensätzlichen, aber grundlegenden Aspekten der amerikanischen Politik - der
Notwendigkeit einer starken, effizienten Zentralgewalt und der Maxime, die Rech-
te des Einzelnen zu schützen. Die beiden ersten politischen Parteien spalteten sich
entlang dieser Linien. Die Föderalisten bevorzugten einen starken Präsidenten und
eine Zentralregierung. Die Demokratischen Republikaner verteidigten die Rechte
der einzelnen Staaten, denn dies schien mehr regionale Kontrolle und Verantwor-
tung zu garantieren. Eine Auseinandersetzung, die der Konfliktsituation unter den
Delegierten des Verfassungskonvents gewissermaßen konsequent nachfolgte.
Der entstandene Verfassungsstaat auf der Grundlage des Dokuments von 1787
war zunächst von Geburtswehen begleitet, die beschwerlicher zu sein schienen als
die der abgelösten Konföderation. Insbesondere brach der reformierte Staat, der
sich eigentlich erst jetzt als in sich geschlossene Nation betrachten konnte, weit
deutlicher mit den politischen Strukturen der vorhergehenden Periode. Setzt man
einen Vergleich mit 1776 an. so lässt sich feststellen, dass damals die Kolonien
zwar den einschneidenden Schritt zur Unabhängigkeit getätigt hatten, allerdings
Verwaltung und Staats Verständnis lediglich Modifizierung erfahren durften. 1787
wurde hingegen ein erstes klares Bekenntnis zur Moderne des Staatswesens abge-
geben, indem die durch Generationen hindurch bewahrte Tradition der relativen
Selbständigkeit der Einzelterritorien durchbrochen und das Volk der Vereinigten
Staaten zum tatsächlichen, obersten Souverän berufen wurde.
Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste noch gültige schriftliche
Verfassung der Welt. 61 Bereits in den ersten drei Worten der Präambel 62 manifes-
tieren sich Herkunft, Fundament und Auftrag dieses Werkes. „We the People[... 1"
ist mehr als lediglich der Ausdruck des Demokratiegedankens, der freilich zu den
Säulen amerikanischen Verfassungsdenkens zu zählen ist. 63 Das Volk wird als
61
P r o f u n d e Darstellungen der amerikanischen Verfassungsordnung bieten etwa
R. IV. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change
and Relevance of S u p r e m e Court Decisions. 1992. S. 1 ff., 7 ff.: D.P. Currie, Die Verfas-
sung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988. S. II ff.; J.E. Nowak! R.D. Rotunda,
Constitutional Law. ö^ed. 2000. ch. 1,2,3.12.20: LH. Tribe, A m e r i c a n Constitutional Law.
3* ed. 2000.
62
Die Präambel der amerikanischen Verfassung wird beispielsweise umfassend er-
läutert von M. Adler! W.Gortnan, T h e A m e r i c a n Testament. 1975, S . 6 3 f f . Den Zweck.
Inhalt und Sinn von Präambeln in ihrer Verbindung mit Verfassungen erläutert rechtsver-
gleichend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 9 2 0 ff.;
vgl. auch ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J . L i s t l / H . Scham-
beck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und B e w ä h r u n g . Festschrift für J . B r o e r m a n n .
1982, S. 211 ff. Siehe auch B.Ackerman, We the People I: Foundations. 1991.
63
Z u m Demokratieprinzip ausführlicher unter IV.3.e).
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 39
64
So hat auch der U S - S u p r e m e Court bereits früh festgestellt, dass die Verfassung
ein Akt des Volkes und nicht von souveränen und unabhängigen Staaten geschaffen war,
vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat.) 316. 4 0 3 (1819): Chisholm v. Georgia.
2 U.S. (2 Dali.) 419.471 (1793); Martin v. Hunters Lessee, 14 U.S. (1 W h e a t . ) 304. 324
(1816).
65
Schon seit der Antike wurden mit dem Begriff der ..Verfassung" die unterschiedlichs-
ten Inhalte in Verbindung gebracht. Es herrschte insoweit Einigkeit als ein Staat, wolle
er nicht in Anarchie verfallen, sich an bestimmte Ordnungsvorstellungen halten müsse.
Freilich handelte es sich hierbei o f t m a l s lediglich um die Fixierung real vorhandener
Machtverhältnisse und obrigkeitlich gesetzter Ordnungen, die alleine auf dem Willen eines
Herrschers o d e r vertraglichen Absprachen beruhten. Es konnte weder von einer O r d n u n g
des gesamten Staatswesens noch von einer Einbeziehung übergeordneter, unabänderlicher
Prinzipien die Rede sein. Diesbezüglich war Verfassung alleine „institutio" und nicht „con-
stitutio", vgl. auch G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Auflage 1914 (Neudr. 1960).
S. 505, 521; K. Stern. Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur mo-
dernen Verfassung, in: G . M ü l l e r u . a . (Hrsg.). Staatsorganisation und Staatsfunktion im
Wandel, Festschrift für Kurl Eichenberger zum 60. Geburtstag. 1982, S. 197 ff.. 200. Z u m
Verfassungsbegriff unten ausführlich unter B . I I . 2 . f ) n n ) .
66
Eine A u s n a h m e bildet freilich etwa die Schweiz. Zu Volksabstimmungen siehe all-
gemein aus d e m deutschsprachigen Schrifttum H. Schneider. Volksabstimmung in der
rechtsstaatlichen Demokratie, in: O. B a c h o f / M . D r a t h / O . G ö n n e n w e i n / E . Walz (Hrsg.),
Gedächtnisschrift für Walter Jellinek. 1955, S. 155 ff.; K. Hernekamp, Formen und Ver-
fahren direkter Demokratie, 1979: J. Gebhardt. Direkt-demokratische Institutionen und
repräsentative Demokratie im Verfassungssstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1991.
B 2 3 . S. 1 6 f f . ; W.Schmitt Glaeser. Die Antwort gibt das Volk, in: P. B a d u r a / R . S c h o l z
(Hrsg.). Festschrift für Peter Lerche. 1993. S. 315 ff. Vgl. auch H. K. Heußner. Volksgesetz-
gebung in den USA und in Deutschland. 1994 sowie R. Grote. Direkte Demokratie in den
Staaten der Europäischen Union, in: Staats Wissenschaft und Staatspraxis, 1996. S. 317 ff.
67
Zu den Inhalten und Elementen des damaligen Souveränitätsverständnisses
C. Rossiter. T h e Political T h o u g h t of the A m e r i c a n Revolution, 1963, S. 170 ff., 185 ff.;
siehe auch J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat: Institutionen
und Prozesse eliedstaatlicher Interessenwahrune in den Vereinigten Staaten von Amerika.
1992. S. 26 m. w. N.
68
Vgl. K. Loewenstein (1959), S. 8 f.
40 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und steht die Souveränität des Volkes in der Folge im Mittelpunkt aller Betrach-
tung. A n w e n d u n g und Gestaltung der Verfassung. Bestätigt und gestärkt durch
die amerikanische Verfassungsgeschichte, begrenzt durch das Bewußtsein, nicht
der Mensch, sondern das Recht übe letztlich die Herrschaftsgewalt aus.
69
Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung
im Jahr 1990 insgesamt 248.709.873 Einwohner. Alle neueren Daten sind ein Ergebnis der
Fortschreibung der Statistik. Der Fortschreibung zufolge ist die Bevölkerung allein bis zum
1.7. 1998 auf 270 Mio. angestiegen.
70
So auch der Supreme Court in seinem berühmten Urteil McCulloch v. Maryland. 17
U.S. 316 (1819).
71
D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S.78.
Vgl. auch J. Annaheim (1992). S. 24.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 41
Geistes gerühmt 72 , wurde die Verfassung in den Vereinigten Staaten laut Fraenkel
mehr und mehr zum „Objekt eines irrationalen Staatskults" 73 .
7. Wendepunkte amerikanischer
Verfassungsgeschichte - Strukturierungsansätze
Bei aller mythischen Verklärung darf jedoch nicht vergessen werden, wie er-
bittert sich das Ringen um die Unionsverfassung gestaltete. Im übrigen bis in die
heutige Zeit: eine äußerlich überwiegend statisch anmutende Verfassung ist frei-
lich auch stetem Wandel unterzogen, selbst wenn sich dies lediglich in veränderten
Auslegungskriterien eines gewandelten gesellschaftlichen Umfelds und nicht oder
nur selten in textlichen Modifikationen äußern sollte. Die heute so unverrückbar
erscheinende amerikanische Verfassung war das Ergebnis zahlreicher Kompro-
misse, wobei der Gedanke des Kompromisses als konstitutives Strukturprinzip
oder als politische Lebensform 7 " das amerikanische Verfassungsdenken in erhebli-
chem Masse beeinflusst hat. 75 Insgesamt ist es kaum abwegig, der amerikanischen
Verfassungsentwicklung bei aller scheinbaren Unbeweglichkeit der Verfassung
gewisse Wendepunkte zuzuordnen, die ihrerseits Abbild einschneidender gesell-
schaftlicher, vielleicht kultureller V e r ä n d e r u n g e n w a r e n .
72
So bezeichnete W.E. Gladstone, in: T h e North American Review. Sept. 1878. S. 179
die Verfassung als ,,[...]the most w o n d e r f u l instrument ever Struck off at a given time by
the brain and purpose of m a n . " Vgl. auch E. S. Corwin. Sonic Lessons f r o m the Constitution
of 1787. in: R. Loss (ed.). C o r w i n on the Constitution. Vol. I 1981, S. 157 ff., 164 f.
73
E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 3. Aufl. 1976, S. 21. Siehe auch
C.M. Kiene. Zur E i n f ü h r u n g : Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8.
74
Diesen Terminus gebraucht, auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten.
R. Zippelius in seiner ..Allgemeinen Staatslehre", 13. Auflage 1999. S. 2 3 3 ff., 432.
75
Diese Vorstellung des Kompromisses bildet den Leitgedanken bei der Betrachtung
des amerikanischen ..Verfassungscharakters", vgl. unten B . I . 9 .
76
In diesem Z u s a m m e n h a n g von ..kulturellen Veränderungen" zu sprechen ist mit der
Gefahr der Widersprüchlichkeit verbunden. Eine Kultur schöpft ihre Wesensmerkmale aus
der Kraft immanenter Veränderung.
Die umfassendste Bibliographie der amerikanischen Verfassungsgeschichte stammt
von K.LHall, A Comprehensive Bibliography of A m e r i c a n Constitutional and Legal
History. 1 8 9 6 - 1 9 7 9 , 5 Vol. 1984. Siehe auch EM. McCarrick. U.S. Constitution: a Guide
to Information Sources. 1980: A. T. Mason. A m e r i c a n Constitutional Development. 1977;
S.M. Millen. A Selected Bibliography of American Constitutional History. 1975.
42 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
sowohl eine Begrenzung als auch eine Erklärung hinsichtlich ihrer Abhängig-
keit von „verfassungserstarkenden" Elementen. Letztere sind durchaus in einigen
verfassungsgeschichtlichen Wendepunkten zu sehen. Ob sie letztlich ihre Entspre-
chung in der kürzeren gemeineuropäischen Verfassungsentwicklung finden, wird
am Beispiel der europäischen Wendemarken aufzuzeigen sein. 78
Eine andere Einteilung nimmt J. Annaheim unter dem Aspekt der Entwick-
lung des amerikanischen Föderalismus vor. 80 Dieser Ansatz soll aufgrund der
bestimmenden Rolle des Föderalismus im amerikanischen Verfassungsdenken
Berücksichtigung finden. Demnach ist von der Gründungszeit bis zur Gegenwart
eine grobe Dreigliederung vorzunehmen, die sich zunächst an den Begriffen „dual
federalism" und .kooperative federalism" sowie abschließend etwas flach an der
„neueren Entwicklung" 8 1 ausrichtet. Der „dual federalism" erfährt noch eine ab-
gestufte Betrachtung, indem zwischen „Aufbau" ( 1 7 8 9 - 1 8 6 1 ) und „Bewährung"
( 1 8 6 1 - 1 9 3 3 ) unterschieden wird. Ähnlich wird der „cooperative federalism" in
„Grundlegung" ( 1 9 3 3 - 1 9 4 1 ) und „Ausdifferenzierung" ( 1 9 4 1 - 1 9 6 0 ) sowie
die „neuere Entwicklung" in „präsidentiellen Reformföderalismus" ( 1 9 6 0 - 1 9 8 0 )
und „Aufgabenreform der achtziger Jahre" gestaffelt. Eine vergleichbare Auf-
gliederung nach Entwicklungsstadien des amerikanischen Föderalismus nimmt
A. B. Gunlicks vor. 82
7S
H i e r / u unten B. II. und z u s a m m e n f a s s e n d unter B.V. 1.
79
K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten.
1959. S. 16.
80
Siehe J. Annaheim (1992), S. 38 ff.
81
Das neue Schlagwort in der amerikanischen Föderalismus-Debatte ist die sogenannte
„devolution revolution"; vgl. hierzu A.B. Gunlicks. Föderative Systeme im Vergleich: Die
USA und Deutschland, in: H . H . von A r n i m (Hrsg.). Föderalismus - hält er noch, was er
verspricht?: seine Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t , auch im Lichte ausländischer
Erfahrungen. 2000. S . 4 1 ff.. 55 ff.. J. Kincaid. De Facto Devolution and Urban Defunding:
The Priority of Persons over Places. in: 21 Journal of Urban Affairs (1999) no. 2. S. 135 ff.
82
Vgl. hierzu A.B. Gunlicks (2000), S . 4 1 ff. und ders., Prinzipien des amerikanischen
Föderalismus, in: P. K i r c h h o f / D . K o m m e r s (Hrsg.). Deutschland und sein Grundgesetz:
T h e m e n einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993. S . 9 9 f f .
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 43
D. P. Currie wagt in diesem Sinne einen anderen Blickwinkel auf die Entwick-
lung des amerikanischen Verfassungsrechts. S3 Demnach soll es in der Verfassungs-
geschichte der Vereinigten Staaten bislang sechs „große Wenden" gegeben haben:
„die erste umfaßte die Unabhängigkeitserklärung, den Revolutionskrieg, und die
erste Verfassung, die Articles of Confederation: die Gründung einer neuen Nation.
Die zweite war die Verstärkung des Bundes durch die Annahme der jetzigen
Verfassung im Jahre 1788 und ihre weite Auslegung durch den Supreme Court
während der Amtszeit des großen Chief Justice John Marshall. Die dritte war die
Begrenzung der Macht der Einzelstaaten durch die ,Civil War Amendments' nach
dem Bürgerkrieg, die vierte die richterliche Umwandlung des 14. Amendment
von einer Vorschrift zur Gleichbehandlung der Schwarzen in eine Waffe gegen
den Sozialstaat. Die fünfte war die Abschaffung der Schranken der Kompetenzen
der Staaten und des Bundes im wirtschaftlichen und sozialen Bereich während
der .New Deal" Revolution der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Seit der sechs-
ten Wende hat sich der Supreme Court immer stärker für die Durchsetzung der
Grundrechte, den Schutz der Minderheiten und die Integrität des demokratischen
Prozesses eingesetzt - wie Chief Justice H.F. Stone schon 1938 voraussagte." 8 4
Eine „siebte konservative Wende" erwägt Currie schließlich durch den Umstand,
dass seit 1969 vier republikanische Präsidenten zehn neue Richter zum Supreme
Court teils mit dem ausdrücklichen Ziel ernannt haben, eine konservative Wende
herbeizuführen. 8 5
Obgleich sich über die Auswahl der einzelnen „Wenden" trefflich streiten lie-
ße, zeigt Curries Ansatz, dass der amerikanischen Verfassung auch, aber nicht
ausschließlich durch die Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des
Föderalismus Gestalt verliehen wurde. Vielmehr wird eines deutlich: die Verfas-
sungsentwicklung wurde und wird im Wesentlichen durch die Entscheidungen
des Supreme Court angestoßen, in ihrer Linie bestätigt und gelegentlich neu aus-
gerichtet. Jedoch nicht ausnahmslos - insbesondere die politische Praxis sowie
der amerikanische Amendment-Process nach Art. V der Bundesverfassung darf
83
D.P. Currie. Neuere Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht, in: J Ö R
46 (1998). S. 511 ff.
84
D.P. Currie (1998), S. 511 f.
85
Vgl. D.P Currie (1998), S. 512, 524.. der im Ergebnis eine siebte Wende lediglich
angedeutet sehen will.
44 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
bei einer Bestandsaufnahme der Umbrüche einer Verfassung nicht außer Acht
bleiben. Insofern soll Currie bereits an dieser Stelle leise widersprochen werden.
B. Ackermann hat kürzlich die Diskussion bereichert, indem er drei „U.S. con-
stitutional regimes" benannte, die in ihrer Abfolge bedeutende „transformations"
hinzunehmen hatten. Sh Das erste „Regime" sei mit der Gründung der Union ge-
schaffen worden, das zweite in der Phase der „Reconstruction" und das dritte
während des „New Deal" entstanden. Diese Ansicht kann für sich beanspruchen,
im internationalen Kontext zeitliche Parallelen zu finden. Das erste „Regime"
ist Teil eines Rahmens, der sich Ende des 18. Jahrhunderts transatlantisch um
die Inhalte demokratischer Revolutionen und die Niederlegung von Menschen-
rechtskatalogen (Virginia 1776, Frankreich 1789) setzen lässt. 87 Die Periode der
„Reconstruction" ( 1 8 6 5 - 7 7 ) wird gerne mit den Ereignissen in Europa im Jahre
1848 verglichen 88 , wobei diesbezüglich nicht der zeitgleiche Moment, sondern
der Blick auf den Fortgang einer Generation ausschlaggebend sein soll. Für
diesen gewagten Blickwinkel spricht immerhin, dass die geistigen Grundlagen
beider Zeiträume unmittelbar nicht von Erfolg gekrönt waren, jedoch langfris-
tig substantielle Auswirkungen auf die Ideologie demokratischer Staatsführung
hatten. Zu der Verfassungskrise während der Zeit des „New Deal" lassen sich
durchaus Analogien zu den Entwicklungen etwa in Australien und Kanada zie-
hen, wo die ökonomischen Auswirkungen der Depression ähnlich wie in den
Vereinigten Staaten zu bemerkenswerten Innovationen in den Regierungs- und
Verwaltungsorganisationen führten. Überdies offenbarten die höchsten Gerichte
dieser Staaten ähnliche Argumentationsmuster in ihrem Widerstand gegen die
W i r t s c h a f t s m i s e r e . D i e Verfassungskrisen in Argentinien und Weimar führten
freilich bekanntlich zu anderen Ergebnissen.
Ein nüchterner Blick auf die historischen Grunddaten der amerikanischen Ver-
fassungsentwicklung und ihrer Bestätigung kann vielleicht einen Beitrag zur
Entwirrung des „Wendengeflechts" leisten. Die implizite Verknüpfung mit den
kulturellen Spiegelungen und Wirkungen einer lebenden sowie sich bewähren-
den Verfassung soll den sich stets erneuernden Bedeutungszusammenhang von
Tradition und Moderne auch in diesem Kontext sichtbar werden lassen.
86
B. Ackermann, We the People, Vol. 2: Transformations, 1998.
*' Siehe dazu das klassische Werk R. R. Palmers, Age of Democratic Revolutions,
2 Bde. 1959.
Vgl. nur M. Tushnet. T h e Possibilities of Comparative Constitutional Law. in: 108
Yale L a w Journal (1999). S. 1225 ff.
89
Vgl. M. Tushnet (1999), ebenda.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 45
8. Konstitutionelle Selbstfindung
und kulturelle Selbstverwirklichung
Die neue Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union bildeten das
„supreme law of the land", das Vorrang vor den einzelstaatlichen Verfassungen
90
In den m e h r als zweihundert Jahren der amerikanischen Verfassung, hat Deutschland
das Ende des Heiligen Römischen Reichs gesehen, den Rheinbund, den Deutschen Bund.
1848. später den Norddeutschen Bund, die Bismarck'sche Reichsverfassung von 1871. die
Weimarer Verfasssung. die Rechtlosigkeit und Willkürherrschaft des Dritten Reichs, die
Besatzungszeit, zwei Verfassungen d e r D D R und das Grundgesetz. Vgl. auch zu dieser
Gegenüberstellung G. Casper. Die Karlsruher Republik. Rede beim Staatsakt zur Feier
des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 28. S e p t e m b e r 2 0 0 1 in
Karlsruhe. http://www.bverfg.de/texte/deutsch/aktuell/Casper.html.
91
Vor der Landung des berühmten Segelschiffs am 21. 11. 1620 bei C a p e Cod schlössen
41 M ä n n e r aus den Reihen der Pilgerväter den Mayflower Compact, in d e m sie sich
zur A u f r i c h t u m g einer gesetzlichen O r d n u n g in der zu gründenden Siedlung Plymouth
verpflichteten.
92
Ähnlich K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten. 1959. S. VII. Frederick W. Turner III sagte 1971 in einem Vorwort zur Neuauflage
von C.A. Eastman IE. Eastman. Indian Boyhood. 1902: „Die Geschichte existiert f ü r uns
nicht bis und nur wenn wir sie ausgraben, interpretieren und zusammenstellen. Dann wird
die Vergangenheit lebendig, oder, akurater ausgedrückt, dann wird deutlich, w a s Geschichte
schon i m m e r gewesen ist - ein Teil der Gegenwart."
46 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und Gesetzen hatte. Dies ermöglichte der Zentralregierung die nötige coercive
power gegenüber den Einzelstaatsparlamenten, die Madison und Hamilton als
unabdingbar für die innere Stabilität der Union erachteten.
Die Väter der Verfassung orientierten sich aber nicht nur an der Gegenwart,
sondern auch an der Zukunft ihrer Nation. Sie waren sich bewußt, dass die Re-
gierungsstruktur auf die Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausge-
richtet sein musste. Artikel V der US-Verfassung gibt hierfür beredtes Zeugnis. 94
Trotzdem ist auch im Rahmen zeitgemäßer Interpretation darauf hinzuweisen, dass
hinter der heutigen Verfassung eben auch die Begriffe, Denkweisen, Hoffnungen
und Ängste der ursprünglich verfassunggebenden Generation des 18. Jahrhun-
derts stehen. 95 Insoweit ist die Verfassung aber Mahner an die Tradition wie im
ähnlichen Maße regulierende Barriere für allzu modernistische Bestrebungen.
93
Siehe P Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 1998.
S. 83.
w
H i e r / u ausführlich unter B.IV. l . a ) a a ) .
95
Ähnlich P. Hay, US-Amerikanisches Recht. M ü n c h e n 2000. S. 18 in Fn. 5.
96
Ähnlich auch D. Howard. Die G r u n d l e g u n g der amerikanischen Demokratie. Frank-
furt a . M . 2001.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 47
passung von Institutionen und politischen Prinzipien, die den Amerikanern aus
ihrer kolonialen Vergangenheit und den Verfassungen der neuestens unabhängigen
Einzelstaaten vertraut waren 97 und als Kompromiss zwischen widerstreitenden
Interessen und politischen Ideen.
So auch K.L Shell, Die Verfassung von 1787. in: W . P . A d a m s u . a . (Hrsg.), Die
Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Bd. 1, F r a n k f u r t / N e w York 1990. S. 2 7 7 f f , 277.
98
Derartige Erfahrungen fehlten entweder weitgehend wie in Lateinamerika und später
in A f r i k a oder sie waren nur wenige Jahrzehnte alt wie etwa in Indien 1947. Siehe die
Ansätze zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auch bezüglich des Staates in der
außereuropäischen Welt in W. Reinhard. Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende
Verfassungsgeschichte Europas von den A n f ä n g e n bis zur Gegenwart. 1999. S. 4 8 0 ff.
99
Vgl. zu dieser Bezeichnung R.Zippelius, Allgemeine Staatslehre. 13. Aufl. 1999.
S. 2 3 3 ff. m.w. N.
48 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
100
Vgl. statt vieler R. \V. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic
Inquiry into the Change and Relevance of S u p r e m e Court Decisions, Revised Edition, 1992.
S. 7 f. und den Titel der Textsammlung von S. K. Padover, T h e Living U.S. Constitution.
rev. ed. 1995. Vgl. auch die häufige Bezeichnung der Europäischen Menschenrechtskon-
vention ( E M R K ) als „living instrument".
101
So C.M. Klette. Zur E i n f ü h r u n g : Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS
1976. S. 8 ff.. 9.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 49
Auch insofern ist das gesamte System, abgesehen von den auf Wettbewerb ange-
legten Wahlen, am Konfliktregelungsmodell der konsensorientierten Kooperation
ausgerichtet. Zusammenarbeit, Verhandeln und Aushandeln bilden die Messlatte
des Umgangs.
102
Vgl. auch J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den E u G H . 1995, S . 7 5 ;
L L Joffe, English and A m e r i c a n Judges as Lawmakers, 1969. S. 69.
103 Vertiefend wird hierauf im Zuge des später folgenden ..transatlantischen Vergleichs"
eingegangen (vgl. unter B.1V.3. und B. V.).
50 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
hielten die Väter der amerikanischen Verfassung auch die Rechte der Minderheiten
für ständig bedroht und daher nicht nur die religiösen Freiheitsrechte der religiösen
Sekten, sondern auch die Eigentumsrechte der (eine dünne Oberschicht bildenden)
ökonomischen Elite für gefährdet. Nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der
Schutz der Minderheiten war das primäre Anliegen der ursprünglichen Verfassung
der USA. Der Rousseau sehe Gedanke eines a priori gültigen Gemeinwohls ist ihr
ebenso fern wie die Vorstellung, dass die Herrschaft des Gemeinwillens die Unter-
drückung der Privatinteressen erforderlich mache. Die Verfassung von 1787 geht
vielmehr von der Annahme aus, dass dem Gemeinwohl dann am besten gedient sei,
wenn allen Sonderinteressen der gleiche Schutz und die gleiche Chance gewährt
und gleichzeitig ausreichend Vorsorge getroffen werde, dass kein Einzelinteresse
einen dominierenden Einfiuss auszuüben in der Lage sei. Die Ablehnung einer
„direkten" Demokratie und die Bejahung der repräsentativen „Republik" wird
mit der Erwägung gerechtfertigt, dass mittels einer Repräsentativverfassung nicht
nur der Schutz, sondern auch der Ausdruck der Minderheitsinteressen ermöglicht
werde. 104
Bis in die Gegenwart hinein leben die Vereinigten Staaten von Amerika nach
dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind: der Bereitschaft, den Mitgliedern
der verschiedenen Gruppen, aus denen die heterogene amerikanische Nation
zusammengesetzt ist, eine freie Entfaltungsmöglichkeit und den Gruppen selber
ein freies Betätigungsrecht zu gewähren.
Europa als Gedanke, Gewissheit und Realität könnte, am Ende dieser Stufen-
leiter angelangt und auf dem Wege zur Tradition, zum Scheitelpunkt zwischen
Konservatismus 1(16 und Moderne werden, der weder die Option der Grad Wande-
rung noch die Gelegenheit der Verbindung jener Elemente auszuschließen vermag.
Beides bedarf einer stützenden Konstante, einer organisierten „Seilschaft", die in
Europäischen Institutionen wie in einer Europäischen Bevölkerung zu finden sein
dürfte. Jedoch nicht getrennt voneinander, sondern ihrerseits im gegenseitigen
Verständnis wie auch emotional verbunden. Gerade letzteres sollte vom Vorwurf
romantischer Verklärung geschieden und der Erkenntnis eines tatsächlichen Inte-
grationsdefizits zugeführt werden. Emotionale Bindungen sind der oftmals von
einem Subordinationsverhältnis geprägten Rechtswirklichkeit nicht unbedingt we-
senseigen. jedoch haben in verschiedensten Rechtskulturen nach einer gewissen
Bewährungszeit Verfassungen wie auch Verfassungsorgane eine bedeutsamere
Position im Bewusstsein der jeweiligen Öffentlichkeit eingenommen. 1 0 7
106
Der Konservatismus ist angesichts seines modernen Ursprungs (er wurde zur Zeit
der Französischen Revolution zum S a m m e l b e g r i f f für politische Strömungen und Ideen:
in England erscheint der Begriff erst 1830. als J. W. Croker die Tories als „conservative
p a r t y " bezeichnet) vom Traditionalismus oder vom sog. ..natürlichen Konservatismus"
zu unterscheiden (vgl. dazu ausführlich K. Mannheim. Konservatismus. Ein Beitrag zur
Soziologie des Wissens. 1927). Während der Traditionalismus die ..allgemein-menschliche
Eigenschaft" bezeichnet. ..dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf
Neuerungen eingehen", ist der Konservatismus ein erst in der M o d e r n e möglich gewordenes
Phänomen, das die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und die Spaltung der Ideenwelt
in Gegner und Befürworter des ..Fortschritts" voraussetzt, vgl. Mannheim, ebenda. Hier soll
der Konservatismus durch seine ambivalente Stellung zur M o d e r n e bestimmt werden; ein
lebensfähiger Konservatismus hat demzufolge sowohl die unversöhnliche Gegnerschaft zur
M o d e r n e als auch die kritiklose Anerkennung derselben zu meiden, vgl. auch H. Ottmann.
Konservatismus, in: Staatslexikon. Bd. 3, 7. Aufl. 1985, S. 636 ff.
107
Vgl. im weiteren Sinne auch R. Streinz, Europäische Integration durch Verfassungs-
recht. in: Villa Vigoni. Auf dem Weg zu einer europäischen Wissensgesellschaft, Heft VIII.
April 2004, S. 20 ff. und ders., European integration trough constitutional law, in: H.-
J. B l a n k e / S . Mangiameli (Hrsg,). Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 1 ff.
52 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der Frage der Einigung Europas verbun-
den ist, gab es Vorläufereiner Verfassungsdiskussion schon seit dem ausgehenden
Mittelalter. 109
Von daher fehlt an dieser Stelle eine eingehendere Betrachtung des Europamy-
thos' der Antike, der Europakonzeptionen des Mittelalters wie die von P. Dubois
und bildlicher Darstellungen wie Rembrandts „Raub der Europa". Gedanklich
einzufügen sind die Europa- und Friedenspläne von Erasmus von Rotterdam, die
Erwägungen Sullys im 17., des Abbe de Saint-Pierre im 18. oder von Saint-Simon
im frühen 19. Jahrhundert." 1 Auch würde „Die Christenheit und Europa" des
l !
" ' Zu den Begrifflichkeiten „Europäische G e m e i n s c h a f t e n " und „Europäische U n i o n "
und deren substantieller Unterfütterung Li. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften
zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: C . D . C l a s s e n u . a . (Hrsg.),
„In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber a m i c o r u m T h o m a s
O p p e r m a n n . 2001, S. 163 ff.
109
Ein guter Überblick findet sich bei R. Streinz!C. Ohler/C. Herrmann. Die neue
Verfassung für Europa. E i n f ü h r u n g mit Synopse. 2005, S. 1 ff. Siehe auch A. Schäfer
(Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende
Dokumente von 1930 bis 2 0 0 0 . 2 0 0 1 . Vgl. auch R. Streinz, Der europäische Verfassungspro-
zess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages
und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der A k a d e m i e für Politik und
Zeitgeschehen der Hanns-Seidcl-Stiftung, 2008. S. 6 f.
110
Siehe aber ausführlich beispielsweise W. Schmale, Geschichte Europas, 2002 sowie
M. Zuleeg. Ansätze zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, in: Z N R 1997.
S. 2 7 0 ff. Vgl. auch U. Everling, Unterwegs zur Europäischen Union. 2001: R.Schulze
(Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; H. Hattenhauer. Euro-
päische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004: H. Wehberg. Ideen und Projekte betreffend die
Vereinigten Staaten von Europa in den letzten hundert Jahren. 1984.
111
Man müsste Dantes Idee einer „Universalmonarchie" ebenso einbeziehen wie die
Gedanken von Podiebrad. Cruces, Comenius und W. Penn. Zu nennen wären freilich in
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 53
D i c h t e r s Novalis g r ö ß e r e B e a c h t u n g v e r d i e n e n , e b e n s o „ V o r d e n k e r " E u r o p a s w i e
C. F. von Schm idt - Ph i sei deck. G. Mazzini o d e r V. Hugo.
der Folge auch J. Bentheim, F. Gentz und selbst Napoleon Bonaparte (er schreibt 1816 auf
seiner Verbannungsinsel St. Helena in sein „ M e m o r i a l de Sainte Helene": „Eine meiner
Lieblingsideen war die Z u s a m m e n s c h m e l z u n g , die Vereinigung der Völker, die durch Re-
volution und Politik getrennt worden waren." Es sei vor allem sein Wunsch gewesen, eine
..association europeenne" zu verwirklichen; sie hätte dem Kontinent Wohlstand und Glück
gebracht, nicht zuletzt auch ein gleiches System in ganz Europa: ,.un code e u r o p e e n . une
cour de Cassation europeenne"). Vgl. auch die wichtigen Impulse von /. Kant (er betont in
seiner Schrift . Z u m ewigen F r i e d e n " (1795) die Notwendigkeit, einen Bund der Nationen
zu schaffen und e n t w i r f t ein ..Bundes-Europa"), G. F. Hegel und F.W. Schelling. Weiter-
gesponnen wurden diese Gedanken (von der Überlegenheit Europas) etwa von .4. Comte.
Siehe sodann auch die Schriften von J.K. Bluntschli, K.Frantz, aber auch K.Marx (er
teilte etwa die Überzeugung Hegels, dass Westeuropa der fortgeschrittenste und begabteste
Teil der Welt sei, also d e r einzige, der reif wäre, die Z u k u n f t der Menschen zu formen.
Marx begrüßte die freiheitlichen Bewegungen beispielsweise der durch das russische Joch
unterdrückten Polen als ..dialektische" Etappe zur Einigung Europas in einer klassenlosen
Gesellschaft. Freilich war er überzeugt, dass die europäische Einigung niemals vom libe-
ralen Bürgertum oder von Idealisten von der Art Mazzinis herbeigeführt werden könnte,
sondern nur durch das Proletariat). Schließlich sei noch auf J. Burckhardt und B. von
Suttner verwiesen.
112
Die „europäische" Verfassungsgeschichte mit zahlreichen Verfassungsentwürfen be-
trachtet vertiefend auch W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische
Bilanz. 2002.
113
W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. D o k u m e n t e
1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des
Europäischen Parlaments, 1986.
114
R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923.
54 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
verriet. Der Titel „Pan-Europa" stand für ein Programm mit weit reichenden
Zielen: die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents, die Schaffung
gemeinsamer Institutionen in einer gemeinsamen Kapitale, eine gemeinsame
Währung und Armee, schließlich die Verabschiedung einer Verfassung für die
Vereinigten Staaten von Europa.
„Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in
allen Völkern Europas schlummert", prophezeite Coudenhove-Kalergi im Vor-
wort 115 , und die europäische Integration wurde für den gerade 29-jährigen Ari-
stokraten zur Lebensaufgabe: „Durch Agitation in Wort und Schrift soll die
europäische Frage als die Lebensfrage von Millionen Menschen von der öffentli-
chen Meinung aller Völker aufgerollt werden, bis jeder Europäer sich gezwungen
sieht, zu ihr Stellung zu nehmen." 1 1 6
J. Habermas, und J. Derrida. Nach d e m Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom
31. Mai 2003, auch in: Blätter f ü r deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003)
S. 877 ff. hierüber nicht hinwegtäuschen kann), z u m anderen hinsichtlich des Informati-
onsdefizits in der Bevölkerung nahezu aller Mitgliedsstaaten, insgesamt in wesentlichen
Teilen d e r europäischen Öffentlichkeit aktueller denn je. wenigstens dringend geboten
erscheinen. Im Lichte der aktuellen Zurückhaltung europäischer Intellektueller innerhalb
der Verfassungsdebatte (ausgenommen juristischer Fachkreise) sowie in der Diskussion
um Gestalt und Z u k u n f t Europas schlechthin, sei beispielhaft - im R a h m e n eines für j e d e
Verfassungsentwicklung auch notwendigen geistesgeschichtlichen Rückblicks an einige
Beiträge nach dem ersten Weltkrieg erinnert. Im Frühjahr des Jahres 1919 erscheinen in
der renommierten L o n d o n e r Zeitschrift Athenäum zwei ..Letters from France", verfaßt
von d e m französischen Dichter P. Valery. Entscheidend geprägt sind diese beiden Briefe,
die Valery noch im selben Jahr als Essay unter dem Titel ..La crise de 1'esprit" im fran-
zösischen Original veröffentlicht.), von der E r f a h r u n g des erst wenige M o n a t e zuvor zu
Ende gegangenen Weltkrieges und von d e m klaren Bewußtsein, dass dieser Krieg einen
epochalen Einschnitt in d e r Geschichte Europas markiert (die Schrift ist abgedruckt in:
J. Hytier (Hrsg.), P. Valery. OEuvres. 1957. T. I. S. 9 8 8 ff). Valery begreift dabei die Kri-
se Europas nicht nur in ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Dimension.
Diese Krise Europas sei in erster Linie eine Krise des Geistes, j e n e s „esprit europeen",
der die eigentliche Essenz Europas a u s m a c h e und seine Zivilisation von allen anderen
unterscheide. Für den Cartesianer Valery ist dieser europäische Geist nichts anderes als
der Geist der W i s s e n s c h a f t , wie er sich auf d e m Kontinent seit der griechischen Antike
herausgebildet habe und wie er zu Beginn der Neuzeit von L da Vinci exemplarisch verkör-
pert wurde. Valery artikuliert in seiner Schrift in charakteristischer Weise ein ausgeprägtes
Bewußtsein von der Dekadenz Europas, wie es in vielfältiger Form auch bei anderen
europäischen Schriftstellern in den Jahren nach d e m Ende des 1. Weltkrieges zu finden
ist. Als ein Beispiel unter vielen anderen möglichen sei hier aus d e m deutschen Sprach-
raum nur H. v. Hofmannsthal mit seinem Essay des Jahres 1922 mit dem Titel „Blick auf
den geistigen Zustand E u r o p a s " angeführt (Der Text findet sich bei P.M. Lützeler (Hrsg.),
..Hoffnung Europa". Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994.
S. 258 ff.) Vergleichbare Belege für ein ausgeprägtes europäisches Krisenbewußtsein aber
finden sich auch bei O. Spengler in seinem „Untergang des A b e n d l a n d e s " ( 1 9 1 8 / 2 2 ) . bei
S. Zweig, vor allem in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines
Europäers." (postum 1944). in Spanien bei J. Ortega Y Gasset in seinem ..Aufstand der
M a s s e n " (1929) oder später in England bei -4. Toynbee in seiner Universalgeschichte „A
Study of History" ( 1 9 3 4 - 6 1 ) . Valerys Schrift „La crise de 1'esprit" kann als der erste
bedeutende Beitrag zu einer Debatte über Europa betrachtet werden, die in den zwanziger
Jahren auf d e m gesamten Kontinent, mit besonderer Intensität aber in Frankreich und
Deutschland g e f ü h r t worden ist. Europa wird in beiden Ländern z u m T h e m a einer kaum
zu zählenden Anzahl von Essays und Aufsätzen, ja sogar z u m Gegenstand von zumeist
allerdings eher zweitrangigen R o m a n e n . Novellen und Gedichten (einen Überblick mit
zahlreichen bibliographischen Angaben gibt P.M. Lützeler. Die Schriftsteller und Europa.
Von der Romantik bis zur Gegenwart. M ü n c h e n 1992. S. 272 ff. sowie V. Steinkamp. Die
Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach d e m Ersten Weltkrieg.
ZEI-Discussion paper. 1999.
118
Unterschiedlich sah man auch die Modalitäten der Finanzierung: Der Bund für
Europäische Cooperation konnte auf Subventionen der deutschen und französischen Re-
56 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
den Organisationen die Überzeugung, dass Paris und Berlin Schrittmacher einer
europäischen Annäherung sein mussten." 9
Doch Briands Auftritt kam zu spät. Deutlich lassen sich aus einem wenige Mo-
nate später nachgelegten Europa-Memorandum 1 : 2 die nationalen Interessen und
Ängste Frankreichs herauslesen, insbesondere die Sorge um die securite - um die
Sicherheit gegenüber einem inzwischen wieder unberechenbaren Nachbarn jen-
seits des Rheins. Das Memorandum fordert, die Zusammenarbeit der europäischen
Der Boden für außen- und europapolitische Bestrebungen der Vernunft wurde
damals immer rascher unterspült durch das Anschwellen radikaler und natio-
nalistischer Kräfte in Europa, begünstigt durch die unglücklichen politischen
Verhältnisse jener Jahre und die 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Mit der
Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war endgültig der
Weg zu einer nochmaligen gewaltsamen Explosion des Nationalismus beschritten.
Gleichwohl gab es in der Folge und während des zweiten Weltkrieges eindrucks-
volle sowie in vielen Bezügen zur Gegenwart immer noch - oder wieder - ak-
tuelle, grundlegenden Ideen und Pläne für eine Neuordnung Europas vor allem
in den Widerstandsbewegungen der von Hitlerdeutschland besetzten Länder (wie
auch in Deutschland selbst). Weitgehende Übereinstimmung im breiten Spek-
trum demokratischer Richtungen des antifaschistischen Widerstandes bestand in
der Forderung, dass der Aufbau Europas nach dem Kriege nicht die einfache
Wiederherstellung der alten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Strukturen der Vorkriegszeit bedeuten dürfe. Hierbei war die Zahl maßgeblicher
Stimmen des Widerstandes wie auch demokratischer Exilgruppen aus den von
Deutschland besetzten Ländern besonders groß, die anstelle des Systems der souve-
ränen Nationalstaaten, als dem institutionalisierten Egoismus und Gegeneinander
der europäischen Völker, die Organisation einer Friedens- und Solidargemein-
schaft Europas nach föderalistisch-bundesstaatlichen Prinzipien für notwendig
hielt. Damit sollten zugleich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa ge-
genüber totalitären Kräften gesichert und die für Wiederaufbau und Wohlstand
hinderlichen Zoll- und sonstigen Wirtschaftsschranken beseitigt werden. 1 2 3
123
Hierzu ausführlich und mit umfassenden Quellenmaterial W. Lipgens. Europa-Föde-
rationspläne der Widerstandsbewegungen 1 9 4 0 - 1 9 4 5 . 1968. Die Europaideen des Wider-
stands waren in nicht unerheblichen Teilen wohl auch eine Antwort auf die gegensätzlichen,
nämlich auf die Vorherrschaft Deutschlands gerichteten ..Europaideen*' des Nationalsozia-
Iismus, die vom Typ bisweilen mit den Europaplänen Napoleons verglichen werden.
58 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
„Es ist unmöglich, ein blühendes, demokratisches und friedliches Europa wieder aufzu-
bauen. wenn es bei der z u s a m m e n g e w ü r f e l t e n Existenz nationaler Staaten bleibt. [ . . . ]
Europa kann sich nur dann in Richtung auf wirtschaftlichen Fortschritt, Demokratie und
Frieden entwickeln, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und einem euro-
päischen Bundesstaat folgende Zuständigkeiten überantworten: die wirtschaftliche und
handelspolitische Organisation Europas, das alleinige Recht zu bewaffneten Streitkräften
und zur Intervention gegen jeden Versuch der Wiederherstellung autoritärer Regime,
die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, die Verwaltung der Kolonialgebiete, die
noch nicht bis zur Unabhängigkeit herangereift sind, die S c h a f f u n g einer europäischen
Staatsangehörigkeit, die neben die nationale Staatsangehörigkeit träte. Die europäische
Bundesregierung muss das Ergebnis nicht einer Wahl durch die Nationalstaaten, sondern
einer demokratischen und direkten B e s t i m m u n g durch die Völker Europas sein." 124
„Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten,
von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die
Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet
werden?" 1 2 6
124
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 2 4 4 ff.
125
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 56. Siehe aber auch das 1941 auf der italienischen
Verbannungsinsel Ventotene von den beiden Italienern A. Spinelli und E. Rossi berühmt
gewordene Manifest von Ventotene.
126
H.J. Graf von Moltke, Letzte Briefe aus dem G e f ä n g n i s Tegel, 10. Auflage 1965.
S. 2 0 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 59
Erwähnenswert ist auch der Verfassungsentwurf für die „United States of Europe",
der im Rahmen der Faneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde. 128
127
Der Entwurf fiel durchaus „schweizerisch" aus: er garantierte Gemeindeautonomie,
sah neben den Wahlen auch Abstimmungen zu Sachfragen vor und ging selbstverständlich
von einer föderalistischen Bundesstruktur aus. Zeittypisch erachtete man allerdings m e h r
..Staat" für nötig, als manche das heute wünschen (vgl. IV. Lipgens (1968). Text 22).
128
Texte mit kurzer E i n f ü h r u n g bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur
G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2 0 0 0 . 2 0 0 1 .
129
Vgl. vertiefend G. Brunn. Die europäische Einigung von 1945 bis heute. 2002; XI.-T.
Bitsch. Histoire de la construction europeenne de 1945 ä nos jours, 1999. Siehe auch
F. Knipping. Rom. 25. März 1957. Die Einigung Europas. 2004.
130
Das Treffen und den Text dokumentiert u . a . die Quelle unter http://www.jef-
niedersachsen.de/hertenstein.html.
131
Belgien. England. Frankreich. Griechenland. Holland. Italien. Liechtenstein. Polen.
Österreich. Schweiz. Spanien. Ungarn.
132
Am 17. 12. 1946 erfolgte dann der Z u s a m m e n s c h l u s s zur ..Union Europeenne des
Federalistes".
133
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001, II. 14.
60 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis 10. Mai 1948 veranstalteten
„Europa-Kongresses" erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine
neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der
„Europäischen Parlamentarier-Union" F. de Menthon erarbeitete im Juni 1948
einen Entwurf für eine Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente
in Interlaken (im September 1948), der erstmals eindeutige Regeln für die doppelte
Konstituierung (Völker und Staaten) einer europäischen Föderation enthielt. 136
Menthon umriss Organe der Föderation, wie z. B. ein Europäisches Parlament, das
sich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie
aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Da-
neben würden ein Exekutivrat und ein Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus
den Reihen des ersteren jeweils für ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt
werden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat. Die Föderation
sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NA-
TO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur
Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets und der „Vereinheitlichung der
Gesetzgebung der Mitgliedstaaten". Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten
Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föderation und
Mitgliedstaaten.
Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die Union Europäischer Fö-
deralisten einen Vorentwurf einer europäischen Verfassung, der am 1l.Novem-
134
Die Rede Churchills findet sich unter a n d e r e m bei W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jah-
re Ringen um die Europäische Verfassung. D o k u m e n t e 1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schriften
der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments. 1986.
S. 2 1 4 ff.
135
Es war die Zeit der großen H o f f n u n g e n und entsprechenden Ambitionen, über einen
Europäischen Verfassungsrat in einem Wurf und mit e i n e m Vorgriff auf eine ohnehin in
diese Richtung weisende Z u k u n f t ein Vereinigtes Europa herzustellen. Im März 1948 wurde
immerhin von 190 Abgeordneten des britischen Unterhauses und von 169 Abgeordneten
der französischen Nationalversammlung die E i n b e r u f u n g einer Europäischen Verfassungs-
gebenden V e r s a m m l u n g gefordert. Diese Initiative entsprach indessen nicht den realen
Möglichkeiten, die offensichtlich ein schrittweises Vorgehen in Etappen nötig machten.
136
Vgl. IV. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002.
S. 49 ff. "
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 61
ber 1948 verabschiedet wurde. 117 Der Entwurf eines einheitlichen europäischen
Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeits-
verlagerung. Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der
Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein Drei-Kammer-System
aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (bestimmt durch
nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen
Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation
also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei
Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte einen Kanzler
ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwurf enthielt eine
Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die
politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen. Gruppen von
Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Zwar betonte der Entwurf das Sub-
sidiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an einer klaren Abgrenzung der
Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaaten. Vorgesehen
war, dass sich einzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen
konnten.
Jenseits aller Kongresse und Manifeste war auch ein ansehnlicher Teil der poli-
tisch aktiven jüngeren Generation - vor allem in den früheren „Erbfeindländern"
137
Vgl. VV. Loth (2002). S. 55 ff.
138
Ein Abdruck dieses Verfassungsentwurfes findet sich u. a. bei P. C. Mayer-Tasch/
I.Contiades (Hrsg.), Die Verfassungen Europas. 1966. S . 6 3 I ff.; vgl. auch A. Schäfer
(Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende
D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001.11.20.
62 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Frankreich und Deutschland - in diesen Jahren von der Idee erfasst, die Europa
trennenden Schranken zu beseitigen und eine gemeinsame europäische Zukunft
aufzubauen. Gleichwohl artikulierten sich diesbezüglich Zurückhaltende und Ge-
genkräfte, die der Auffassung waren, das System der souveränen Nationalstaaten
könne nicht (oder noch nicht) aufgegeben oder eingeschränkt werden. Zu ihren
markantesten und einflussreichsten Vertretern zählte C. de Gaulle.139
139
Für Großbritannien hatte Churchill bereits in seiner Züricher Rede ein anderes
Argument geltend gemacht: Es könne die europäische Einigung von außen fördern, aber
selbst nicht daran teilnehmen, da es schon einer anderen Völkergemeinschaft angehöre,
dem britischen Commonwealth of Nations (vgl. W. Churchill, a. a. O.). Mit der tatsächlichen
Gestaltung Europas nach 1945 auf der Grundlage der alten nationalstaatlichen O r d n u n g
(die. zumindest äußerlich, auch von der Sowjetunion in ihrem Machtbereich nicht in Frage
gestellt wurde), war schließlich ein Faktum von eigenem Gewicht geschaffen, das mit
z u n e h m e n d e r Entfernung vom Kriege und w a c h s e n d e m Selbstbewusstsein der Staaten
nach d e m Wiederaufbau noch an Bedeutung gewann.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 63
uo
Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich nach ihrer G r ü n d u n g 1949 unter
ihrem ersten Bundeskanzler K. Adenauer ebenfalls f ü r den Weg der Westintegration und
der Beteiligung an der westlichen Verteidigung. Die sich damit bietende Chance zur gleich-
berechtigten A u f n a h m e in die europäische Staatengemeinschaft, zum wirtschaftlichen
Wiederaufbau und zur Sicherung der j u n g e n Demokratie gegenüber d e m K o m m u n i s m u s
wurde mehrheitlich auch als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands gese-
hen. Im GG wird neben d e m Bekenntnis zur Einheit und Freiheit Deutschlands der Wille
ausgedrückt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu d i e n e n " ( Präambel); in
Art. 24 Abs. 1 GG ist erstmals in einer deutschen Verfassung die Möglichkeit vorgesehen,
dass der Bund ..durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertra-
g e n " könne. ..Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger
kollektiver Sicherheit einordnen: er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheits-
rechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte O r d n u n g in Europa und zwischen den
Völkern der Welt herbeiführen und sichern", Art. 24 Abs. 2 GG. Andere Staaten Westeuro-
pas waren zu einer supranationalen Einigung zunächst nicht bereit oder in der Lage - sei es
wegen auferlegter oder selbst gewählter Neutralität wie bei Finnland. Österreich. Schweden
und der Schweiz, a u f g r u n d autoritärer Regime w i e in Spanien und Portugal oder aus ei-
ner historisch-politisch begründeten Zurückhaltung wie bei Großbritannien (insbesondere
durch seine Bindungen im weltweiten C o m m o n w e a l t h ) und den skandinavischen Staaten,
die im 1951 gegründeten Nordischen Rat eine engere Z u s a m m e n a r b e i t einleiteten.
64 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
141
Vgl. aus der umfangreichen Lit. zum Europarat K. Carstens, Das Recht des Euro-
parates, 1956: J.-L Burban, Le Conseil de l ' E u r o p e . 1985 (2eme ed. 1993); A. Gimbal,
Europarat in Bedrängnis. Notwendige Reformen und Konsequenzen, in: Internationale Poli-
tik 12/1997. S. 45 ff.; R. Streinz, Einführung: 50 Jahre Europarat, in: ders. (Hrsg.), 50 Jahre
Europarat. Der Beitrag des Europarates um Regionalismus, 2000. S. 17 ff.; M. Wittinger,
Der Europarat. Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte",
2005.
142
Hierzu beispielsweise G.C. Rodriguez Iglesias, Die Stellung der E M R K im Euro-
päischen Gemeinschaftsrecht, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen U m b r u c h und
Bewahrung. Festschrift für R . B e r n h a r d t . 1995. S. 1269 ff.: M. Hilf. Europäische Union
und Europäische Menschenrechtskonvention, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen
U m b r u c h und Bewahrung. S. 1193 ff.: C. Busse. Die Geltung der E M R K f ü r Rechtsakte
der EU, in: N J W 2000. S. 1074 ff.: H. Waldock. Die Wirksamkeit des Systems der E M R K .
in: E u G R Z 1979. S. 599 ff.
143
Vgl. etwa bereits K. Carstens, Die Errichtung des G e m e i n s a m e n Marktes in der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. A t o m g e m e i n s c h a f t und G e m e i n s c h a f t f ü r Kohle
und Stahl, in: Z a ö R V R 18 (1958), S . 4 5 9 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 65
144
Vgl. W. Weidenfeld. W i e Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union.
1991. S . 7 6 .
145
Hierzu die D o k u m e n t e in W. Lipgens. 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfas-
sung. Bonn 1986.
146
..Erklärung zur M o n t a n u n i o n " , 9. Mai 1950. in: W. Lipgens, 45 Jahre Ringen um
eine europäische Verfassung. Bonn 1986. Dok. 67, S. 293 f.
66 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
b e i t e t e . D i e s e n E n t w u r f l e g t e d i e V e r s a m m l u n g a m 9 . M ä r z 1 9 5 3 vor. E r w u r d e
v o m R a t d e r s e c h s A u ß e n m i n i s t e r d e r E G K S a m 10. M ä r z g e b i l l i g t .
147
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.23.b).
148
Die Unterteilung in Funktionen der Verfassung als Analyseraster ist in ihren Grund-
zügen C. Walten Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion,
in: DVB1 2000. S. I ff.. 5 f. entlehnt.
149
Indem sie die Macht d e m subjektiven Belieben ihrer Träger entzieht und sich auf
den Willen eines souveränen Volkes stützt, hat die Verfassung zunächst die Funktion.
M a c h t a u s ü b u n g zu legitimieren. Indem sie sich auf die Volkssouveränität als pouvoir
constituant beruft, schafft sie die Grundlage für die Ausübung von Hoheitsgewalt überhaupt:
Weil nur die Verfassung aus den vorrechtlichen Gegebenheiten der verfassungsgebenden
Gewalt der Gemeinschaft abgeleitet ist, muss sich jedes Organ. Gesetz und jeder Rechtsakt
auf die Verfassung z u r ü c k f ü h r e n lassen. Sie ist damit der M a ß s t a b allen rechtlichen und
politischen Handelns. Weil die Verfassung in der Hierarchie der Normen an oberster Stelle
steht, muss sie gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht verbindlich durchsetzbar sein. Diese
Durchsetzbarkeit kommt üblicherweise einem Verfassungsgericht zu. Es verfügt außerdem
über die sogenannte Kompetenzkompetenz, im Namen der verfassungsgebenden Gewalt
Unvollständigkeiten in der Verfassung durch neue Staatsaufgaben zu ergänzen, vgl. auch
C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. S. 268 ff., 272.
150
Die Verfassung legt die O r g a n i s a t i o n - und Verfahrensregeln fest, die eine den Legi-
timationsprinzipien k o n f o r m e H a n d h a b u n g der öffentlichen Gewalt garantieren. Deshalb
enthalten Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Hoheitsge-
walt. die Missbräuche verhüten sollen und so meist nach dem Prinzip der Gewaltenteilung
zwischen Exekutive. Legislative und Judikative die Kompetenzen d e r einzelnen Organe
verbindlich festlegen, vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995 (12),
S. 581 ff., 584. Der enge Z u s a m m e n h a n g von Organisations- und Legitimationsfunktion
zeigt sich besonders an der verfassungsmäßigen Rolle des Parlaments. Dieses soll im
Namen des souveränen Volkes die Regierung kontrollieren und ihr im äußersten Fall auch
das Vertrauen entziehen, d. h. sie absetzen können. Gleichzeitig initiiert das Parlament als
Repräsentant des Volkes die Gesetze und garantiert so die demokratische Mitgestaltung ge-
sellschaftlicher Prozesse. Damit wird das parlamentarische Gesetz das zentrale Instrument
der Herrschaftsausübung.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 67
die Aufnahme der E M R K als „integrierten Bestandteil" vor (Art. 3). Die Kompe-
tenzen der Gemeinschaft waren allerdings begrenzter als in den Verfassungsplänen
der Europabewegung. Der ..Rat der nationalen Minister", der dem Ministerrat der
Montanunion und EVG entsprechen sollte, konnte in zentrale Zuständigkeitsgebie-
te der Gemeinschaft eingreifen (Art. 104) Auch die Außenpolitik sollte lediglich
von der Gemeinschaft koordiniert werden, aber „durch einstimmigen Beschluß"
des Ministerrats (Art. 69).
Diese zögerlichen Formulierungen lassen eine Deutung auf den Wandel der
europapolitischen Interessen zu Ungunsten eines verfassungspolitischen Integrati-
onssprungs zu, welcher letztlich zum Scheitern des Ad-hoc-Entwurfs führte. Das
Ende der Koreakrise im Jahr 1953 nahm den Antrieb zur Gründung einer EVG
und EPG. Vor allem Frankreich erschien der Preis eines nationalen Souveräni-
tätsverlustes zugunsten einer europäischen Armee zu hoch. Der Verfassungsent-
wurf scheiterte zusammen mit der EVG in der französischen Nationalversammlung
(30. August 1954). Mit dem Entwurf wurde auch das Leitbild eines föderalen Bun-
desstaates ad acta gelegt, und die europäische Verfassungsdebatte ebbte zunächst
ab. Die Integrationsbemühungen verlagerten sich auf den wirtschaftlichen Be-
reich, in dem sich die verschiedenen Motive und Interessen der Mitgliedsstaaten
erfolgreicher bündeln ließen. Das Verfassungsmodell reduzierte sich auf eine rein
rhetorische Figur. Leitbilder wie „Vereinigte Staaten von Europa" 1 5 1 wirkten „wie
der Aufputz von Sonntagsreden" 1 5 2 .
151
Siehe aber T.R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New S u p e r p o w e r and the
End of American Supremacy. 2005.
152
H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfmalität: Föderation, Konföderati-
on - o d e r was sonst?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 171; siehe auch W. Weidenfeld.
Europäische Verfassung fiir Visionäre?, in: Integration. 1/1984. S. 33 ff.. S. 38.
153
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001, II.24.b).
154
Im Einzelnen z. B. W. Loth, E n t w ü r f e einer europäischen Verfassung. Eine histori-
sche Bilanz. 2002. 16 ff.
68 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
155
Vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 196.
156
Hierzu unten B . I V . 2 . f ) o o ) .
15
Gesammelt in den Veröffentlichungen des Institutsßir Staatslehre und Politik e. V. in
Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag. Bd. 2, 2. Halbband: Das Gutachtenverfah-
ren ( 3 0 . 7 . - 1 5 . 1 2 . 1952), 1953.
158
Nach der später ..Lehre" genannten These von der notwendigen ..strukturellen Kon-
gruenz und H o m o g e n i t ä t " durften gem. Art. 24 Abs. 1 GG deutsche Hoheitsrechte nur an
solche zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden, deren Struktur d e m staats-
rechtlichen. rechtsstaatlichen A u f b a u des nach dem GG verfassten bundesrepublikanischen
Staatswesens ..kongruent" ist. Die jüngste „Verfassungsdebatte" in der Europäischen Union
nahm dabei Überlegungen auf. die sich bereits 1952 im Zuge der Diskussion bezüglich der
Übertragung von Hoheitsrechten Deutschlands auf die geplante EVG entspannen (vgl. dazu
W. Hummer, Eine Verfassung für die Europäische Union - eine Sicht aus Österreich, in:
H. T i m m e r m a n n (Hrsg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer
grundsätzlichen und aktuellen Diskussion. 2001).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 69
Unter den Ideen der 60er- und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts ist neben den
Fouchet-Plänen (Februar 1961) 161 und dem Davignon-Bericht (1970) 162 sowie
dem Tindemans-Bericht (1975) 161 insbesondere der Entwurf von M. Imboden 164
159
So auch W. Hummer. „Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instru-
mente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungs-
konvent - Strategien und A r g u m e n t e , Sonderheft 1/2003. S. 53 ff.. 55.
1611
Vgl. etwa H.-J. Küsters. Die G r ü n d u n g der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
1982. S. 472 ff.; S. Griller/F. MaislingerlA. Reindl (Hrsg.), Fundamentale Rechtsgrundla-
gen einer EG-Mitgliedschaft. 1991, S. 2 3 6 ff.
161
Hierzu u. a. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Eu-
ropäische Union 2004. Bilanz und Perspektive. 2004, S. 7. 1962 waren die so genannten
Fouchet-Pläne grandios gescheitert, die gleichfalls eine engere politische Zusammenarbeit
und sogar eine g e m e i n s a m e Außen- und Sicherheitspolitik beabsichtigten. Trotz allem
wurde bereits ein Jahr darauf der Dcutsch-Französische-Freundschaftsvertrag unterzeich-
net. die Initialzündung für den so genannten (bis heute nicht unumstrittenen) ..Motor der
Integration".
162
Vgl. etwa S. Petkovic, Geschichte der politischen Integration in Europa - Teil 2
(von der E P Z zum Vertrag von Nizza), 2003, S. 6 f. im Internet: cdl.niedersachsen.de/blob
/images/C4786923_L20.pdf. Siehe übrigens aus den 70cr Jahren auch den Verfassungsent-
wurf von J. Dorren (1977). a b r u f b a r unter http://www.uni-trier.de/~ievr/eu_verfassungen
/dorren.htm.
16
' Vgl. W. Wessels, Europäische Union 1980. Fragen und Thesen im Hinblick auf
den Tindemans-Bericht zur Europäischen Union. 1975: Niedersächsischen Landeszentra-
le für politische Bildung (Hrsg.) (2004), S . 8 . Tindemans ..Bericht über die Europäische
70 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
hervorzuheben. Er hielt den „funktionalen" Ansatz der EWG, bei dem die Einheit
letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll,
für unzulänglich. In Anlehnung an die Verfassungen der USA, der Schweiz und
das deutsche Grundgesetz (GG) wollte Imboden versuchen, „den noch schwer
fassbaren konkreten funktionellen Inhalten ein festes politisches Gefäß zu ge-
ben." Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft „über situationsbedingte Erfolge
und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit sichern." 165 Er sah die
Organe ..Rat"(als Regierung), „Europäische Versammlung"-bestehend aus Abge-
ordnetenhaus (Volkswahl) und Senat (Länderkammer) - sowie einen Gerichtshof
vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 2 2 - 2 5 ist ausdrücklich
eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten
enthalten. 166
Seit Gründung der EWG (1958) standen Erfolge und Rückschläge im Eini-
gungsprozess in einem dynamischen Wechselspiel. Bereits 1968 war die Zolluni-
on verwirklicht. Mit dem vertragswidrigen Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen
wurde jedoch zwei Jahre vorher ein entscheidendes Instrument supranationaler
Politik außer Kraft gesetzt. Entscheidungen waren demzufolge nur noch auf dem
kleinsten gemeinsamen Nenner der Einstimmigkeit möglich.
U n i o n " empfahl eine durchaus föderale Gestaltung der Union, ein „Europa der Bürger",
deren Grundrechte zu schützen seien, die Stärkung der Sozial- und der Regionalpolitik,
erhöhten Verbraucher- und Umweltschutz. Die schrittweise Weiterentwicklung der Union
könne, wenn einzelne Staaten noch nicht zu weiterer Integration bereit seien, auch mit
verschiedenen Geschwindigkeiten verwirklicht werden. Die Vorschläge fanden Zustim-
mung, verschwanden aber in den Schubladen und wurden zum Teil erst viele Jahre später
umgesetzt.
164
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.26.
165
Zitat nach R. Streinz/C. Ohlerl C. Hertmann. Die neue Verfassung für Europa. Ein-
f ü h r u n g mit Synopse. 2005, S . 4 .
166
P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, 33 (Fn. 132) ordnet Imbo-
dens Entwurf als „Bauteil innerstaatliche[n) Europaverfassungsrecht[s]" ein.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 71
A. Peters charakterisiert den Verfassungsentwurf 1984 (wie auch den aus dem
Jahre 1994) als „in dem Sinne revolutionär", als er sich als normativ diskontinu-
ierlich zum geltenden Verfassungsrecht auffasste. 169 Festzuhalten ist, dass dieser
Entwurf ausschließlich eine Initiative des Europäischen Parlaments darstellt. Die
Regierungen hatten zur Ausarbeitung dieses Verfassungsentwurfs weder einen
Auftrag erteilt noch waren sie an den Verhandlungen über die Formulierungen des
Textes beteiligt. Das Europäische Parlament hat sich diesen Aufgaben vielmehr
mit dem selbst gesetzten Anspruch eigener Legitimation und unter Inanspruch-
167
Vgl. ABl. Nr. C 7 7 / 1 9 8 4 . S. 33, abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe f ü r die Europäische Union.
Texte und Materialien. Bd. 35 (2002). S. 3 ff.
16!>
Vgl. A. Spinelli. Das Verfassungsprojekt des Europäischen Parlaments, in:
J. Schwarze (Hrsg.). Eine Verfassung für Europa. Von der EG zur EU, 1984. S. 231 ff.. 242.
169
A. Peters. Elemente einer T h e o r i e der Verfassung Europas. 2001. S . 4 9 2 f .
72 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
Bezüglich der Politiken der Union wird in dem Verfassungsentwurf unter je-
weils enumerativer Benennung zwischen „ausschließlicher, konkurrierender und
potentieller Zuständigkeiten" unterschieden. Die Gewaltenteilung erscheint durch
die Differenzierung in supranationale, „gemeinsame Aktionen" und bloße „Zu-
sammenarbeit" gewährleistet (Art. 10). Auch berief man sich bekräftigend auf das
Subsidiaritätsprinzip. In die ausschließliche Zuständigkeit sollten etwa Bestim-
mungen über den Binnenmarkt und die Freizügigkeit sowie den Wettbewerb, in
die konkurrierende Zuständigkeit die Konjunktur- und Kreditpolitik, aber auch
weite Bereiche der Gesellschaftspolitik lallen. Hinsichtlich der internationalen
Beziehungen der Union sollte die Union teilweise durch gemeinsame Aktionen,
teilweise im Wege der Zusammenarbeit agieren können. Zentral ist die ausdrück-
liche Festlegung, dass im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union
allein die Institutionen der Union handlungsbefugt sein sollten. Im Falle der kon-
kurrierenden Zuständigkeit waren die Mitgliedsstaaten nur insoweit zur Handlung
befugt, als die Union nicht tätig geworden wäre.
170
Unter Begrenzungsfunktion ist in diesem Kontext (vgl. auch C. Walter, Die Folgen
der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVB1.2(XX). S. 1 ff. 5) zu
verstehen, dass die Verfassung neben ihrer Aufgabe. Herrschaft zu legitimieren und zu orga-
nisieren. die Rechte des Einzelnen vor der von der Mehrheit errichteten Herrschaft schützt.
Sie schreibt verbindliche G r u n d - und Bürgerrechte fest, die die Freiheit des Einzelnen
garantieren und bewahren sollen und die zu diesem Zweck nicht von einer Mehrheit wider-
rufbar sind. Dabei ist essentiell, dass wesentliche Grundrechte wie etwa die im Grundgesetz
festgelegte M e n s c h e n w ü r d e , Art. 1 1 G G . ein „ u n a u f g e b b a r e s Naturrecht" (vgl. IV. Rudzio.
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. 1996. S . 4 4 ) darstellen.
Diese von der Gesellschaft wechselseitig zuerkannten Rechte schützen somit die Minder-
heit v o r d e r ..Tyrannei der Mehrheit" und begrenzen andererseits die Freiheit des Einzelnen,
wenn er den in der Verfassung festgelegten G r u n d k o n s e n s der Gesellschaft gefährdet. Die
jeweilige Ausgestaltung der Grundrechte hängt stark von den Entstehungsbedingungen der
Verfassung selbst ab. Beispielsweise bekennen sich j e n e Verfassungen, welche nach Dik-
taturen entstanden sind, ausführlicher zum Demokratieprinzip und den Menschenrechten
(wie die deutsche, italienische, spanische und portugiesische) als andere (wie etwa die fran-
zösische). s. dazu A. Kimmel, Verfassungsrechtliche R a h m e n b e d i n g u n g e n : Grundrechte,
Staatszielbestimmungen und Verfassungsstrukturen, in: O . W . G a b r i e l / F . Brettschncider.
(Hrsg.). Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen. Prozesse. Inhalte. 1994. S . 2 3 f f . . 24.
1 1
Nahezu 20 Jahre später sollte der umgekehrte Weg beschritten werden, indem man
zuerst eine Grundrechte-Charta erarbeitete, um sich erst anschließend mit deren Einfügung
in eine Verfassung auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu unten B.II.2.f)ii)-
74 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
den ..Mitgliedsstaaten kaum noch Hoheitsgewalt bleibt". Hinter der Fassade der
gemäßigten Formulierungen, mit der nationale Empfindlichkeiten geschont wer-
den sollten, verbarg sich also nicht die Fortsetzung der alten Gemeinschaft, denn
organisatorisch wurde beim Nullpunkt angefangen. 1 7 2
Das am 17. Juni 1984 neu gewählte Europäische Parlament wurde in der dem
Verfassungsentwurf beigefügten Entschließung aufgefordert, alle geeigneten Kon-
takte und Treffen mit den nationalen Parlamenten zu organisieren und jede andere
dienliche Initiative zu ergreifen, um die Haltungen und Standpunkte der natio-
nalen Parlamente zu berücksichtigen. Dieses Verfahren war erforderlich, weil es
sich bei dem Vertragsentwurf ja gerade nicht um einen nach völkerrechtlichen
Grundsätzen von den Regierungen erarbeiteten Text handelte, der den Parlamenten
automatisch und zwingend zur Ratifizierung zugeleitet werden musste. 173
Offensichtlich hatte Spinelli die Strategie verfolgt, von der traditionellen Me-
thode des Völkerrechts abzuweichen. Bereits eine Zwei-Drittel-Mehrheit der EG-
Bevölkerung sollte den Vertrag ratifizieren können, während die Regierungen
lediglich das Datum des Inkrafttretens beschließen sollten (Art. 82). Dementspre-
chend befürchteten die Regierungen eine „natürliche Koalition der Parlamente
gegen die Exekutiven" 74.
172
Vgl. nur U. Everling. Zur Rechtsstruktur einer Europäischen Verfassung, in: Integra-
tion, 1/1984, S. 12 ff.. 13 sowie 23.
173
Die Diskussion, die zum Verfassungsentwurf geführt hatte, hat wesentlich dazu bei-
getragen. die Fronten zwischen denjenigen, die vertragsimmanente Reformen für vordring-
lich hielten und denjenigen, die auf einen vollständigen Neuansatz für die Fortentwicklung
der Integrationen eintraten, zu klären.
174
M. Garthe. Weichenstellung zur Europäischen Union? Der Verfassungsentwurf des
Europäischen Parlaments und sein Beitrag zur Ü b e r w i n d u n g der EG-Krise. 1989. S. 87.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 75
Trotz der letztlich fehlenden Umsetzung wirkt der Spinelli-Entwurf bis in die
heutige Zeit nach. 17 * Selbst wenn im Jahre 1986 mit der Einheitlichen Euro-
päischen Akte und dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 wichtige
175
G. Zellentin. Überstaatlichkeit statt Bürgernähe. in: Integration. 1/1984. S . 4 5 f f . .
S. 47.
176
Vgl. W. Wessels. Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundli-
nien und Optionen, in: W. W e i d e n f e l d / W . Wessels (Hrsg.), Wege zur Europäischen Union:
Vom Vertrag zur Verfassung?, 1986. S. 37 ff.. 50.
1
IV. Weidenfeld. Die Reformbilanz der Europäischen Gemeinschaft: B u n d e s r e p u b l i k
Europa" als Perspektive?, in: W. W e i d e n f e l d / W . Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen
Union: Vom Vertrag zur Verfassung?. Bonn. 1986. S. 28 ff.. 29.
178
Vgl. auch M. Fuchs/S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Re-
ferat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent, 2002. S. 21 ff..
32: „Noch heute ist der Enthusiasmus und die A u f b r u c h s t i m m u n g der Verfassungsväter für
denjenigen spürbar, der sich der Lektüre des Verfassungsentwurfs unterzieht. Der Entwurf
verfügt über den großen Vorteil, dass er aus einem G u s s und ohne Scheuklappen formuliert
ist. Schon daraus, aber auch aus d e m Entwurf des Europäischen Parlaments aus d e m Jahr
1994. konnte e n t n o m m e n werden, zu welchen integrationspolitischen Leistungen und zu
welchen konstitutionellen Taten parlamentarisch zusammengesetzte Gremien im Vergleich
zu exekutiv zusammengesetzten Organen in der Lage sind." Diese Erkenntnis sollte bei der
20 Jahre später stattfindenden Verfassungsdiskussion noch eine wesentliche Rolle spielen.
Denn die Erarbeitung der Grundrechte-Charta und die Vorbereitung der Regierungskon-
ferenz 2 0 0 4 durch einen mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent
ist auch aus der Einsicht entstanden, ein europäischeres, demokratischeres, transparenteres
und nicht zuletzt effizienteres Verfahren der Vertragsänderung bzw. -fortentwicklung zu
etablieren.
76 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Bevor die Debatte von 1994 ins Blickfeld rückt, verdient allerdings der auf
Eigeninitiative von F. Cromme entstandene Entwurf eines „Verfassungsvertrages
der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten" 181 Aufmerksamkeit. Er
179
Die E E A bereitete letztlich die Europäische Union vor. Eine Union wird bereits als
Ziel in der Präambel genannt. Einige wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge
bestanden in einer Verankerung der Europäischen Politischen Z u s a m m e n a r b e i t und des
Europäischen Rates, einer Ä n d e r u n g des Beschlussverfahrens des Rates für den Binnen-
markt. der E i n f ü h r u n g neue Aufgaben in den Bereichen Umweltschutz. Forschung und
Technologie. Allerdings wurden andere Ziele noch nicht erreicht: Auf das Einstimmigkeits-
prinzip wurde noch nicht vollständig verzichtet und die erweiterten Rechte des EP machten
dieses noch nicht zu einem ..klassischen" Parlament. Die zwölf damaligen Mitgliedstaaten
unterzeichneten die E E A 1986; am I.Juli 1987 trat sie in Kraft. (Abdruck bei A. Schäfer
(Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende
D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 200.11.30).
180
Eine eingehende und umfangreiche - auch empirische - Analyse liefert auch
A.Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union. Der Beitrag des
Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, 2002.
181
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000, 2 0 0 1 . 11.31. Vgl. für die
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 77
80er Jahre auch den Verfassungsentwurf von R. LusterlG. PfennigIF. Fugmann. Bundes-
staat Europäische Union. Ein Verfassungsentwurf. 1988.
182
Die zuweilen gezielte Instrumentalisierung von H o f f n u n g e n und Befürchtungen
spaltete die öffentliche Meinung. Frankreich befürchtete eine Übermacht des größeren
Deutschland, die Deutschen lehnten den drohenden Verlust der DM zugunsten eines E C U
ab, Großbritannien sträubte sich gegen eine g e m e i n s a m e Sozialpolitik. Spanien. Portugal
und Griechenland erwarteten m e h r Geld aus dem Kohäsionsfonds, D ä n e m a r k plante sich
von der g e m e i n s a m e n Außenpolitik fernzuhalten. Deutschland und die Benelux-Staaten
begrüßten allerdings den weiteren Schritt hin zu engerer Z u s a m m e n a r b e i t . Die Kontro-
versen spiegelten sich in drei Volksbefragungen wider. W ä h r e n d die Dänen erst nach
einigen Kompromissen in einer zweiten Abstimmung knapp mehrheitlich zustimmten und
auch Frankreichs Referendum mit hauchdünner Mehrheit positiv ausfiel, erreichte die
Mehrheit in Irland 69 Prozent. Vgl. insgesamt zum Maastrichter Vertrag aus der ausufern-
den Literatur: P.M. Huber. Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993; I. Pernice, Maastricht.
Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993). S . 4 4 9 f f : P. Lerche. Die Europäische
Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwi-
schen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, 1993. S. 131 ff.;
H.-J. Blanke. Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein schritt auf d e m Weg zu einem
europäischen Bundesstaat, in: D O V 1993. S. 4 1 2 ff.; Z u m ..Maastricht Urteil" des BVerfG:
R. Steinberger. Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichtes vom 12.Oktober 1993, in: U.Beyerlin u . a . (Hrsg.), Recht zwischen U m b r u c h
und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt. 1995. S. 1313 ff.; R. Streinz, Das Maastricht-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: E u Z W 1994. S. 329 ff.; V. Götz, Das Maastricht-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S. 1081 ff.
78 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Gründe für einen neuen Vertrag waren offensichtlich: Bereits in der Prä-
ambel des EGV von 1957 ist als Ziel angegeben, einen immer engeren Zusam-
menschluss der europäischen Völker zu schaffen. Mit der Einheitlichen Europäi-
schen Akte (1986) und der weitgehenden Vollendung des Binnenmarktes (1993)
waren erhebliche Fortschritte erreicht. Mit dem Zerfall des Ostblocks und der
Öffnung der Grenzen in Europa stellten sich neue Anforderungen an die Zwölfer-
gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewann die Gipfelkonferenz im Dezember
1991 in Maastricht entscheidende Bedeutung. Der nun gültige Vertragstext I s ' ruht
auf drei „Säulen", die hier nur kursorisch wiedergegeben werden sollen:
Die erste Säule umfasst den alten EGV und entwickelt ihn weiter. Statt von
„Wirtschaftsgemeinschaft" sollte nunmehr von einer „Europäischen Union" die
Rede sein. Zu den alten Bereichen Zollunion, Binnenmarkt, Agrarmarkt und
Handelspolitik traten neue Felder der Integration: eine Währungsunion, Verbrau-
cher- und Umweltschutz, Gesundheitswesen, Bildung und Sozialpolitik, wobei
die Zuständigkeiten der Europäischen Union in den einzelnen Politikbereichen
sehr unterschiedlich ausgestaltet waren. Dazu wurde eine „Unionsbürgerschaft" 1 8 4
eingeführt. Neu aufgenommen wurden die Verpflichtungen zu größerer Bürgernä-
he, zur Bildung eines Regionalausschusses sowie zur beschränkten Stärkung der
Rechte des Europäischen Parlaments.
Die zweite Säule bezieht sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier
lagen bereits Erfahrungen aus der Zusammenarbeit im Rahmen der „Europäischen
Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) vor. Der Vertragstext spricht zurückhaltend
davon, in Zukunft eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu
erarbeiten und zu entwickeln. Dabei sollten auch die vorhandenen Strukturen
der Westeuropäischen Union (WEU) genutzt werden. Entscheidungen sollten
einstimmig getroffen werden.
Die dritte Säule sieht eine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik vor.
nennt Stichworte wie Asyl- und Einwanderungsfragen, Kampf gegen Drogen und
Kriminalität und empfiehlt engere polizeiliche Zusammenarbeit. Dabei bleibt der
Einfiuss bei den Mitgliedstaaten. Die Regierungen erklärten sich aber dazu bereit,
sich gegenseitig abzusprechen und gemeinsame Regelungen zu suchen. Diese stark
183
Abdruck B G B l . Nr. 47 v.30. 12. 1992. S. 1254 ff.
184
Vgl. aus d e m Schrifttum P. Hiiberie. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft
und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische G e m e i n s c h a f t auf d e m Weg
zu einem Europa der Bürger?, in: D Ö V 1987. S. 221 f f ; später ders., Der Rechtsstatus der
Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber a m i c o r u m Jost Delbrück.
2005, S. 4 2 9 ff.; vgl. auch M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach d e m Vertrag über die
Europäische Union, in: D Ö V 1993. S. 749 f f : .4. Randelzhofer. Marktbürgerschaft - Uni-
onsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.),
Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995. S. 581 ff.; N. Kotalakidis, Von der nationalen
Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft, 2000.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 79
185
Vgl. ABl. Nr. C 6 1 / 1 9 9 4 . S. 155. abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe f ü r die Europäische Union.
Texte und Materialien. Bd. 35 (2002), S. 26 ff.
186
Z u m Regionalismus in Europa vgl. insbesondere P. Häberle, Europäische Verfas-
sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen.
80 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Als weitere Argumente für den Verfassungsbedarf der Union galten die durch
den Maastricht-Vertrag eingeführte Unionsbürgerschaft und die erforderliche Stär-
kung gemeinsamer Werte sowie die Bildung eines gemeinsamen europäischen
Bewusstseins. Schließlich strebte man an, bis Ende der 90er-Jahre endlich Auf-
schluss über die Finalität der Europäischen Union und ihren Teilnehmerkreis
zu erhalten. Die Verfassungsinitiative vom Februar 1994 hatte daher zum Ziel,
die zunehmend komplexen EG-Strukturen zu systematisieren, damit neue Impul-
se für den Fortgang der europäischen Integration gesetzt und ein einheitlicher
verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen werden konnten. 188
Im Wesentlichen sollte die „Verfassung" von 1994 die Ziele der Europäischen
Union präzisieren, die Effizienz. Transparenz und demokratische Ausrichtung
der Organe verbessern, die Entscheidungsverfahren vereinfachen und veranschau-
lichen bzw. eine stärkere demokratische Legitimierung des Entscheidungsverlah-
rens gewährleisten sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten
garantieren. Zu den wichtigsten Axiomen des Verfassungsentwurfs zählten dem-
zufolge u.a. die Einführung eines Zwei-Kammer-Systems (Parlament und Rat),
eines Gesetzgebungsverfahrens sowie die transparente Definition einer Rechts-
hierarchie. Darüber hinaus die Abschaffung von Einstimmigkeitsentscheidungen.
Im Hinblick auf die Begrenzungsfunktion hatte das Europäische Parlament bis
1994 auf dem Gebiet der Grund- bzw. Menschenrechte bereits so viele Vorar-
beiten geleistet, dass im Herman-Entwurf ein separater Menschenrechtekatalog
etabliert werden konnte. Weiter versah der Textentwurf den Unionsbürger mit
187
Vgl. nur die Beschlussempfehlung des Sonderausschusses ..Europäische Union
(Vertrag von Maastricht)", B T - D r u c k s . 12/3895. Der verwirrende und unverständliche
Vertragstext hatte nur mit Mühe die Nagelprobe der Referenden in Dänemark und Frankreich
bestanden.
188
Vgl. auch T. Läufer, Z u r künftigen Verfassung der Europäischen Union, in: Integra-
tion. 2 / 1 9 9 4 . S. 204 ff., 205.
II. E c k p u n k t e und G r u n d l a g e n d e r europäischen V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g 81
einer direkten Klagemöglichkeit vor dem EuGH (Art. 38). und der Verstoß eines
Mitgliedsstaates gegen Menschenrechte sollte von Rat und Parlament sanktio-
nierbar sein (Art. 44).
Wie im Entwurf von 1984 nahm die Legitimationsfunktion eine zentrale Stel-
lung ein. Die Legitimität der Legislative sollte durch eine echte Beteiligung der
gewählten Volksvertreter gewährleistet sein, und das Europäische Parlament als
Zweite Kammer eine gleichberechtigte Rolle neben dem Ministerrat erhalten
bzw. das Mitentscheidungsrecht auf alle Verfahren ausgeweitet werden (1984:
Art. 37; 1994: Art. 1 7 - 2 4 ) . Das Europäische Parlament sollte das Programm des
Kommissionspräsidenten billigen, sowie - ähnlich wie im Ad-hoc-Entwurf - ein
Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidenten aussprechen können (1984: Art. 29:
1994: Art. 22 III). Auch die Judikative sollte stärker demokratisch legitimiert
werden, indem die Richter des EuGH zur Hälfte vom Europäischen Parlament
ernannt werden sollten (1984: Art. 30, 1994: Art. 25). Im Gegensatz zu 1984
verstand sich das Europäische Parlament 1994 aber nicht als alleinige verfassungs-
gebende Versammlung, sondern betonte stärker die doppelte Legitimitätsgrund-
lage der Europäischen Union: laut der Entschließung zur Verfassung sollte ein
„Verfassungskonvent" aus nationalen und europäischen Parlamentsabgeordneten,
der Zivilgesellschaft und den Regierungsvertretern auf Grundlage des Entwurfs
eine endgültige Version ausarbeiten (Art. 2).
Mit seinen nur 47 Artikeln erweckte der Entwurf den Eindruck, wesentlich
gestrafft zu sein und damit allen Anforderungen an Transparenz und Klarheit
82 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
gerecht zu werden. In dieser Hinsicht stand der Verfassungsentwurf von 1994 der
Verfassung der Vereinigten Staaten am nächsten. Allerdings konnte die geringe
Anzahl von Artikeln nur durch den fast vollständigen Verzicht auf eine nähere
Kompetenzbeschreibung der Union sowie durch die Verschiebung des Katalogs
der Menschenrechte in den abschließenden Schlusstitel VIII erreicht werden. Die
Verweise auf den „gemeinsamen Besitzstand" der bisherigen Verträge standen
mit dem Gebot der Transparenz nur bedingt im Einklang.
Anders als 1984 verfügte das Europäische Parlament 1994 über keine eindeutige
Strategie zur Durchsetzung des Verfassungsentwurfs. Dies lag unter anderem
daran, dass der Entwurf auch in den eigenen Reihen umstritten war.
Am 10. Februar 1994 wies das Europäische Parlament mit einer Mehrheit von
155 Stimmen für die Entschließung bei 46 Stimmenthaltungen und 87 Gegenstim-
men (von insgesamt 518 Mitgliedern des Europäischen Parlaments) den bereits
zweiten Entwurf an den Institutionellen Ausschuss zurück, u. a. mit der Begrün-
dung. dass es kurz vor der Europawahl und der Auflösung des Parlaments nicht
ausreichend Zeit gebe, zu einer mehrheitsfähigen Fassung des Verfassungsent-
wurfs zu kommen. I S 9 Dabei enthielt der zweite Entwurf bereits weniger ehrgeizige
Ziele als ursprünglich festgelegt. Mit der Entschließung erging jedoch die Forde-
rung an das aus der vierten Direktwahl hervorgehende Parlament, diese Arbeiten
189
Zum Verlauf der Diskussion vgl. ausführlich: M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic, Ein-
leitung. in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-
Verfassungskonvent. 2002. S . 2 1 ff.. 3 6 f f . In seiner Sitzung am 2 . / 3 . D e z e m b e r l 9 9 3 hatte
der Institutionelle Ausschuss den ersten, so genannten Herntan-Entnurf einer Verfassung
a n g e n o m m e n . Die Behandlung des D o k u m e n t s erfolgte in der Plenarsitzung vom 9. Fe-
bruar 1994 und wurde angesichts der fehlenden Sachdebatte von einigen Abgeordneten als
Farce bezeichnet. Auch wenn sich die wichtigsten politischen Akteure im Europäischen Par-
lament an der Debatte beteiligten, so beschränkte sie sich dennoch (anders als die Debatte
um den Maastricht-Vertrag) auf einen relativ kleinen Zirkel von Fachleuten und Politikern.
In der kontrovers geführten Aussprache w u r d e zwar das Ziel, die Verfassungsgrundlagen
der Europäischen Union zu verdeutlichen, generell akzeptiert. Dennoch standen viele dem
Text eher skeptisch gegenüber. Die spürbare Zurückhaltung lag wohl vor allem daran, dass
der Entwurf weder d e m neuen Erwartungshorizont an die Wertentscheidungs- und Rege-
lungskraft einer europäischen Verfassung entgegenkam noch inhaltlich den aktuellen Stand
der politischen Diskussion widerspiegelte. Teilweise wurde bemängelt, d e m Entwurf fehle
es an einer schlüssigen Vision, die über die bestehenden Vertragsgrundlagen hinaus reiche.
Die Diskussion konzentrierte sich zu stark auf institutionelle Reformen und schwierig
zu lösende Legitimationsfragen. Der Entwurf wurde am 9. Februar g e m ä ß Art. 129 der
Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments an den Institutionellen Ausschuss zurück
überwiesen. Der Institutionelle Ausschuss prüfte seinen Entwurf erneut in seiner Sitzung
vom 9. Februar und beschloss, einen zweiten Entwurf vorzulegen. In der gleichen Sitzung
nahm er den entsprechenden Entschließungsantrag an und reichte den Text d e m Plenum
ein.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 83
Es wird gelegentlich übersehen, dass der Entwurf von 1994 nicht das Ziel hatte,
an die Stelle der bestehenden Verträge zu treten, sondern diesen einen Verfas-
sungsrahmen zu geben, der über seine Symbolkraft hinaus auch Erneuerungen
von großer Tragweite bringen sollte. 190 Mit seinem Text ist es dem Institutionel-
len Ausschuss gelungen, klar, kurz und prägnant darzulegen, wie die Befugnisse
der Europäischen Union aufgebaut und verteilt werden könnten, aber auch zu
beweisen, dass sich die Europäische Union in allgemein verständlicher Form orga-
nisieren ließe. Insgesamt stellte der noch nicht ausgereifte Entwurf durchaus eine
solide Ausgangsbasis für die Diskussion dar, die in den darauf folgenden Jahren,
insbesondere bei der Regierungskonferenz 1996, geführt werden sollte. Dennoch
zeigt das Schicksal des Entwurfs, dass die Mitgliedsstaaten noch nicht bereit
waren, sich auch nur ansatzweise die Verfassunggebung aus der Hand nehmen zu
lassen. Bemerkenswert ist allerdings, dass bereits in der Entschließung des Euro-
päischen Parlaments vom 10. Februar 1994 vorgeschlagen wurde, dass „vor der für
1996 vorgesehenen Regierungskonferenz ein europäischer Verfassungskonvent
aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitglieds-
staaten der Union zusammentritt, der auf der Grundlage eines im Europäischen
Parlament vorzulegenden Verfassungsentwurfs Leitlinien für die Verfassung der
Europäischen Union verabschiedet und dem Europäischen Parlament den Auftrag
zur Ausarbeitung eines endgültigen Entwurfs erteilt." 191
Es bleibt festzuhalten, dass die Verfassungsentwürfe von 1984 und 1994 nicht
folgenlos blieben, sondern im positiven, inspirierenden Sinne die Funktion „sym-
bolischer Politik" 192 erfüllten. R. Bieber bezeichnete die Verfassungsdebatte als
„integralen Bestandteil der institutionellen Dynamik" der europäischen Einigung:
190
Die beiden Entwürfe von 1984 und 1994 sahen explizit keine völlige N e u g r ü n d u n g
der EG bzw. EU vor. Die 1984 zu gründende ..Europäische U n i o n " sollte lediglich als Dach
für die E G . das Europäisches Wirtschaftssystem und E P Z gebildet werden. 1994 rückte
das Ziel in den Vordergrund, dem technokratischen Geflecht der weiter geltenden Verträge
einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, deren Ziele zu präzisieren und „Effizienz.
Transparenz und demokratische Ausrichtung zu verdeutlichen", sowie Menschenrechte
und Grundfreiheiten zu gewährleisten, vgl. F. Cramme. Der Verfassungsentwurf des Institu-
tionellen Ausschusses des europäischen Parlaments von 1994, in: Z f G 1995 (3), S. 256 ff.,
257.
191
Vgl. F. Cramme (1995). ebenda.
84 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
als Gegengewichte zur Politik der kleinen, pragmatischen Schritte dienten sie als
Orientierungs- und Kristallisationspunkt, an denen „die politischen und gesell-
schaftlichen Kräfte ihre Erwartungen und Befürchtungen ausrichten konnten". 1 9 3
192
Zu dieser Bezeichnung siehe auch G. Zellentin. Staatswerdung Europas? Politik-
wissenschaftliche Überlegungen nach Maastricht, in: R. Hrbek (Hrsg.). Der Vertrag von
Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse. Baden-Baden, 1993. S . 4 1 ff.. 48.
193
Vgl. bereits 1991 R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der
Europäischen G e m e i n s c h a f t , in: R. W i l d e n m a n n , (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optio-
nen für eine Europäische Union. Baden-Baden 1991. S. 393 f f . 403; vgl. auch W. Wessels.
Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundlinien und Optionen,
in: W. W e i d e n f e l d / W . Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur
Verfassung?, Bonn, 1986. S. 37 ff.. 66.
194
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Euro-
päischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.37.
195
Ausführt ich zum Vertrag von Amsterdam: M. Hilf IE. Packe, Der Vertrag von A m s -
terdam. in: N J W 1998. S. 705 ff.; U. Karpenstein. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der
Maastricht-Entscheidung des BVerfG. in: DVB1. 1998. S. 942 ff.; N.K. Riedel. Der Vertrag
von Amsterdam und die institutionelle Reform der Europäischen Union, in: BayVBl 1998.
S. 545 f f , : J . Hecker. Souveränitätswahrung durch Einstimmigkeit im Rat: Der Conseil Con-
stitutionnel zum Vertrag von Amsterdam, in: JZ 1998. S . 9 3 8 ff.: H.H. Ritpp. Ausschaltung
des Bundesverfassungsgerichts durch den A m s t e r d a m e r Vertrag?, in: JZ 1998. S. 2 1 3 ff.;
R. Streinz. Der Vertrag von Amsterdam, in: E u Z W 1998. S. 137 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 85
gesehen, als Mittel, der europäischen Einigung eine neue Vision zu geben und
damit auch die - damals von vielen bereits als erschöpft bezeichnete - Erörterung
der Ungewissheit ihrer Finalität zu beantworten 1 9 6 .
Schon nach dem Beschluss über die Währungsunion im Jahr 1998 hatten Juris-
ten und einzelne Politiker den Gedanke einer europäischen Verfassung verstärkt
aufgegriffen. 1 9 7 Mit der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union
bestätigte nun erstmals die Regierung eines Mitgliedsstaates diesen Gedanken.
Außenminister J. Fischer konstatierte am 12. Januar 1999 vor dem Europäischen
Parlament, dass sich nach Maastricht und Amsterdam die Frage nach einer euro-
päischen Verfassung viel eher stellen würde. Eine Diskussion über die Verfasstheit
Europas werde neue Impulse für die Integration bringen und wichtige Zukunftsfra-
gen klären. 19 * Auf ihrem Parteitag in Erfurt im April 1999 forderte die CDU einen
europäischen „Verfassungsvertrag" für ein „werteorientiertes, bürgernahes Euro-
pa". Am 3. Mai 1999 stellten der damalige CDU-Vorsitzende W. Schäuble und der
außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion K. Lamers in Anknüpfung an
ihr Papier von 1994 ein Strategiepapier zu einem „europäischen Verfassungsver-
trag" vor. 199 Auf Länderebene forderte der Ministerpräsident Baden-W r ürttembergs
E. Teufel eine „europäische Charta, einen europäischen Verfassungsvertrag". 2 0 0
Am 18. Oktober 1999 schlug ein Expertenkomitee unter der Ägide von R. von
Weizsäcker, dem ehemaligen belgischen Premierminister J.-L. Dehaene und dem
früheren britischen Minister Lord Simon of Highbury vor, die europäischen Ver-
träge zu teilen. Im ersten Teil würde der konstitutionelle Gehalt dargestellt, im
zweiten die detaillierten Bestimmungen aufgelistet. 201
196
Die wiederkehrende Diskussion um die Finalität Europas widerspiegeln exempla-
risch die Beiträge im S a m m e l b a n d von H. Marhold (Hrsg.), Die neue Europadebatte.
Leitbilder f ü r das Europa der Z u k u n f t . 2001; vgl. aber auch H.M. Enzensberger. Ach.
Europa!. 1990: E. Morin, Penser l ' E u r o p e . 1990: T.R. Reid. T h e United States Of Europe:
The New Superpower and the End of American Supremacy, 2005; J. Rißein. T h e European
Dream. 2004: A. Szczypiorski, Europa ist unterwegs. Essays und Reden. 1996.
197
Vgl. nur den wenig bekannten Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokrati-
scher Juristen. vgl. dazu Süddeutsche Zeitung. 10. August 1998. S. 4: „Wie w ä r ' s mit einem
Brüsseler Grundgesetz?".
198
Vgl. J. Fischer, Die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft. Rede vor
dem EP in Straßburg. 1999. a b r u f b a r unter www2.hu-berlin.de/linguapolis/ConsIV98-99
/ C o n s 9 8 - 9 9 . h t m . Bevor Fischer zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft erneut vor
dem Europäischen Parlament am 21. Juli 1999 an diese Formulierungen a n k n ü p f t e , hatte
das T h e m a bereits z u n e h m e n d e Bedeutung erlangt.
199
Vgl. den Beschluss des 12. Parteitages 1999 in Erfurt: „Europa muss man richtig
m a c h e n " sowie H'. Schäuble. K. Lamers. Europa braucht einen Verfassungsvertrag, in FAZ
vom 4 . 5 . 1999.
200 Ygj £ Teufel. Regierungserklärung: Die Einheit Europas - Chance und A u f g a b e
für Baden-Württemberg und Deutschland. 28. April 1999 (dazu auch J. Schwarze, Auf dem
Wege zu einer europäischen Verfassung - Wechselwirkungen zwischen europäischem und
nationalem Verfassungsrecht, in: DVB1 1999. S. 1677 ff.. 1679).
86 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
I m V o r f e l d v o n N i z z a ist d i e D i s k u s s i o n ü b e r e i n e e u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g d u r c h
verschiedene Diskussionsbeiträge und vorgelegte Verfassungsentwürfe erneut
angereichert worden. H e r v o r z u h e b e n sind im Wesentlichen die verschiedenen
B e i t r ä g e v o n B u n d e s p r ä s i d e n t J. Ran,102 f e r n e r d i e R e d e n v o n J. Fischer v o r d e r
H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t 2 0 3 , v o n J. Chirac v o r d e m D e u t s c h e n B u n d e s t a g 2 ;4
und von
205
T. Blair in W a r s c h a u E b e n s o zu n e n n e n s i n d d e r B e i t r a g v o n A. Kwasniewski206
u n d s c h l i e ß l i c h d e r g e m e i n s a m e A r t i k e l v o n G. Schröder u n d G. Amato207. F e r n e r
haben bis E n d e 2 0 0 0 verschiedene europäische Parteien Verfassungsentwürfe208
201
R.v. Weizsäcker!J.-L. Dehaene/L. Simon of Highbury, T h e Institutional Implica-
tions of Enlargement. Report to the European C o m m i s s i o n , 18. Oktober 1999. Dieser
Vorschlag löste eine Reihe von neuen Forderungen aus. Bundespräsident J. Ran sprach
sich für eine „föderale Verfassung E u r o p a s " („Die Quelle der Legitimität deutlich m a -
chen", in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999. S. 4) aus. Kommissionspräsident R. Prodi debattierte die
Zweiteilung der Verträge am 10. November 1999 mit d e m Europäischen Parlament, das der
Idee zustimmte. Inzwischen hatte sich im Europäischen Parlament unter d e m Vorsitz des
deutschen M d E P J. Leinen (SPD) ein Ausschuss „Europäische Verfassung" gebildet, der an
der Konstitutionalisierung der EU mitwirken und eine groß angelegte Verfassungsdebatte
in G a n g bringen sollte, vgl. European Parliament, Press Release: Founding of an Intergroup
„European Constitution". Straßburg. 16. September 1999.
202
J.Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: F A Z vom 4 . 1 1 . 1999:
der.v..Une Constitition pour l ' E u r o p e . in: Le M o n d e vom 4. 11. 1999: ders., W i r brauchen
eine europäische Verfassung, in: Die Welt vom 1 5 . 9 . 2 0 0 0 .
203
J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der euro-
päischen Integration. Rede v o r d e r Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt
u. a. in: integration 2000. S. 149 ff.
204
Abgedruckt in: IP. 8/2000. S. 126 ff.
205
T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. a b r u f b a r
unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.htmI.
206
A. Kwasniewski, Der Weg zur Politischen Union, in: FAZ vom 2. 12. 2000.
207
G. Schröder! G. Amato. Weil es uns Ernst ist mit der Z u k u n f t Europas, in: FAZ.
21.9.2000.
208
Lediglich beispielhaft und auf die ergänzende Darstellung P Häberles (Europäi-
sche Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 6 0 0 ff.: vgl. auch ders., Die Herausforderungen
des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer V e r f a s s u n g s - Z u k u n f t : 16 E n t w ü r f e
auf dem Prüfstand, in: D Ö V 11/2003. S. 4 2 9 ff.) verweisend: Entwurf der französischen
Neogaullisten ( R P R ) J. Toubon/A. Juppe. Constitution de l'Union Europeenne. Contribu-
tion ä une reflexion sur les institutions futures de l ' E u r o p e . vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 ( a b r u f b a r
u . a . unterwww.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf): Entwurf der französischen b'DF: „Pro-
jet pour une Constitution de l'Union E u r o p e e n n e " , O k t o b e r 2 0 0 0 (vgl. w w w . u d f - e u r o p e
.net/main/visu_doc.jsp?path=/notreprojet/projet_constitution..\html): Positionspapier der
CDU l CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag: „Europa vereinigen. C h a n c e n und Her-
ausforderungen der E U - E r w e i t e r u n g " ; Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und
Sicherheitspolitik vom 13. 11.2000, Nr. 39, sowie W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in:
FAZ vom 8 . 6 . 2 0 0 0 . Zu den Gründen, w a r u m von sozialdemokratischer bzw. sozialisti-
scher Seite bis dahin keine E n t w ü r f e vorlagen, vgl. H. de Bresson, France-AIlemagne:
difficiles relations entre PS et S P D . in: Le M o n d e vom 7 . 1 2 . 2 0 0 0 . Allenfalls kann^bis
zu diesem Zeitpunkt auf den Antwortbrief von H. Vedrine auf die Rede von J. Fischer
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 87
Auch die Kommission hatte eine europäische Forschungsgruppe 2 1 " mit der
Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt, dessen Inhalte schließlich den Vertrag
über die Gründung der Europäischen Union ersetzen sollten. Der im Mai 2000
vorgelegte Entwurf sah vor. die Substanz der bestehenden Verträge weitgehend
zu erhalten und nur zusammenzufassen bzw. neu zu gruppieren. Den Unions-
bürgern sollte das Primärrecht in vereinfachter und gestraffter Form zugänglich
gemacht werden. Der Vorschlag sah eine Zweiteilung vor, wobei der erste Teil
grundsätzliche Bestimmungen (d. h. eine „Staatsverfassung") und der zweite Teil
die Ausführungsregelungen enthielt. Die Kommission beabsichtigte, mit dem vor-
gelegten Basisvertrag 2 1 1 ein Symbol für die Einheit Europas und die Integration
zu schaffen, das - im Sinne einer „Verfassung" - mit einer noch auszuarbeitenden
Grundrechtecharta eine Einheit bilden sollte. Diesem Vorschlag zum Teil frappie-
rend ähnlich kürzte und vereinfachte die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik
den Basisvertrag und veröffentlichte (ebenfalls) im Mai 2000 ihren Entwurf eines
Grundvertrages für die Europäische Union. Der Text 212 entspricht in seinem einfa-
chen Aufbau eher der Forderung nach einem übersichtlichen und für den Bürger
verständlichen Grundsatzvertrag.
verwiesen werden, vgl. IP. 8/2000. S. 108 ff., bzw. auf das Streitgespräch zwischen Fischer
und J.-P. Chevenement, in: Die Zeit vom 2 1 . 6 . 2 0 0 0 . S. 13.
209
Vgl. dazu etwa Financial T i m e s vom 2 0 . / 2 I . I. 2001.
21
" Vorgelegt vom Europäischen Hochschulinstitut. Robert Schuman Centre for Advan-
ced Studies. Mai 2000.
211
Abgedruckt in Ausschuss fiir die Angelegenheiten der Europäischen Union ( Hrsg.),
Verfassungsentwürfe für die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002).
212
Abgedruckt ebenda.
213
Zitiert nach Die Welt. Herzog schlägt Volksabstimmung über EU-Verfassung vor.
in: Die Welt, 14. September 2000. S. 5.
88 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
214
Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsitzes,
vgl. europa.eu.int/council/off/conclu/june99/june99_de.htm.
Siehe Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsit-
zes, ebenda. Vgl. auch H. Däuhler-Gmelin, Schwerpunkte der Rechtspolitik in der neuen
Legislaturperiode, in: Z f R 3 / 1 9 9 9 . S. 79 ff.. 84.
216
Freilich gab es bereits verschiedene Expertengremien zur Ausarbeitung von Ver-
tragstexten. Neu war die gleichberechtigte Teilnahme von gewählten Volksvertretern, die
bis dato auf Beratung und auf nachträgliche Z u s t i m m u n g beschränkt waren. Erstmalig
sollten die Parlamente schon bei der Entstehung einer Vertragsänderung als Vermittler
demokratischer Legitimation und Multiplikatoren in die politische Mitverantwortung ge-
n o m m e n werden. Vgl. auch W. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen
zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001, S. 34 ff.
217
Z u d e m beauftragte der neue Kommissionspräsident R. Prodi am I. September 1999
eine Reflexionsgruppe, ein Gutachten über die institutionellen Auswirkungen der E U -
Osterweiterung zu erstellen, deren Verhandlungen nach dem Entschluss des Kölner Rates
bereits mit Beginn der Regierungskonferenz im Februar 2000 a u f g e n o m m e n werden sollten.
218
ABl. 1977 C 103/1
219
Abgedruckt in E u G R Z 1989. 205.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 89
220
Vgl. auch C.O. Lenz, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, in:
N J W 1997. S. 3289 f. m . w . N .
221
Die E M R K (mit Zusatzprotokollen) ist im Wesentlichen von allen Mitgliedstaaten
der EU ratifiziert worden und damit verbindlich: in Deutschland hat die E M R K wegen
Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (zur „ G e s e t z e s k r a f t "
vgl. Gesetze über die Konvention ( B G B l . 1952 II 685. 953)). Trotz des formell niederen
R a n g s der E M R K im Vergleich zum Grundgesetz ist heute in Rspr. und Lehre anerkannt,
dass bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklungsstand der E M R K zu
berücksichtigen sind. vgl. nur H. Dreier. vor Art. 1. in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommen-
tar. Bd. I (Art. I - 1 9 ) , 2. Aufl. 2004. Rdn. 22 m . w . N. auf die Rspr. des BVetfG: P Kirchhof \
Verfassungsrechtlicher und internationaler Schutz der Menschenrechte, Konkurrenz oder
Ergänzung?, in: E u G R Z 1994. S. 16 ff., 25f: E. Stäche. Die europäische Menschenrechts-
konvention und ihre Bedeutung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in:
JA 1996. S. 75 ff.. 81 m. w. N.; Sachs. VerfGH L K V 1 9 9 6 . 2 7 3 (275). Außerdem ist auch die
Rspr. der Europäischen Kommission für Menschenrechte ( E K M R ) und des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte ( E G M R ) zu beachten (BVerfG. N J W 1987. 24 (27);
Sachs. VerfGH (1996), ebenda). Zur streitigen Bindungswirkung von Urteilen des E G M R
für das BVerfG vgl. Art 53 E M R K und E u G H . E u G R Z 1997. 83ff („Kranzow"); BVerfGE
92.91, 108 (..Feuerwehrabgabe"); A. Bleckmann. Bundesverfassungsgericht versus Euro-
päischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: E u G R Z 1995, S. 387 ff.
222
Die „ G e m e i n s c h a f t s - G r u n d r e c h t e " ergeben sich teilweise (ausdrücklich) aus d e m
primären Gemeinschaftsrecht, teilweise aus (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrund-
sätzen im Range von primärem Gemeinschaftsrecht, vgl. u. a. EuGH Slg. 1969. 419 (425)
(..Stauder") - unter B e r u f u n g auf Art 164. 2 1 5 A b s . 2 E G V ; Slg. 1970. 1125 (..Handels-
gesellschaft"); Slg. 1974. 491 („Nold"). Abgeleitet werden diese „allgemeinen Rechts-
g r u n d s ä t z e " aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der .Mitgliedstaaten sowie
aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Menschenrechtsver-
trägen. speziell der E M R K in der Auslegung ihrer Organe, z . B . Entscheidungen der
E K M R o d e r des E G M R : vgl. Art. F Abs. 2 E U V (Erweiterung durch Amsterdamer Vertrag
vom 16.06. 1997). Siehe auch EuGH Slg. 1991 I. 2 9 2 5 (..Elliniki"); 1975. 1219 (1232)
(,.Rutiii"). Die materielle Kompetenz des E u G H zur Entwicklung d e r „ G e m e i n s c h a f t s -
grundrechte" ergibt sich aus Art. 164 EGV. Zur Bindungswirkung von Urteilen des E u G H
vgl. EuGH Slg. 1981. 1191 (1215); Slg. 1985, 7 1 9 (747) und statt vieler B. Beutler/Bie-
ber/ J. Pipkorn/J. Srreil, Die Europäische Union. 4. Auflage 1993. Rdnr. 7 . 3 . 3 . 7 . Z u m
EG-Grundrechtsschutz vgl. T. Jiirgensen! I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber
M a ß n a h m e n der Mitgliedstaaten, in: AöR 1996. S. 2 0 0 ff.; Übersicht bei J. Kokott. Der
Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: AöR 1996. S. 599 ff.
90 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Es ließen sich letztlich vier Argumente herauskristallisieren, die Charta als Teil
einer Verfassung von morgen rechtsverbindlich (und von j e d e m Einzelnen vor
dem EuGH einklagbar zu machen 2 2 3 ):
- Die wachsende Macht der EU-Organe in Brüssel sollte einer Kontrolle unter-
werfen werden, die es bislang nicht ausreichend gab.
- Die Komplexität der Verträge erzeugt ein Gefühl der Rechtsunsicherheit. Dem
einzelnen Bürger sollte das Gefühl genommen werden, dieser Macht hilf- und
schutzlos ausgeliefert zu sein.
- Die Defizite des bisher durch die Verträge und den EuGH gewährleisteten
Grundrechtsschutzes sollten beseitigt werden.
- Die deutlichere Darstellung bereits bestehender Rechte, um etwa den Beitritts-
kandidaten die Werte, wofür die Union stehe, klarer zu machen.
Der Konvent sollte schließlich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungs-
chefs, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 30 Mitgliedern der natio-
nalen Parlamente - zwei aus jedem Mitgliedstaat - sowie einem Beauftragten
des Präsidenten der Europäischen Kommission bestehen."" Von den nationalen
Parlamenten konnten nicht nur die Regierungsparteien, sondern - als stellver-
tretende Mitglieder - auch die jeweilige Opposition beteiligt werden. Jeweils
ein Vertreter des Europarats, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) und des Gerichtshofs der Europäischen Union sollte als Beobachter
teilnehmen. Einzelheiten seines Verfahrens und der Auslegung seines Mandats
223
Anerkanntermaßen gewährleistet die Rechtsprechung des E u G H in Luxemburg seit
Jahrzehnten weitgehenden Schutz gegen die Hoheitsgewalt der Union. Der Gerichtshof
prüft die Rechtsakte der Europäischen Union auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten,
wie sie in der E M R K gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungs-
überlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine G r u n d s ä t z e des Unionsrechts ergeben
(vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV). Selbst Rechtsakte der Mitgliedstaaten unterliegen dieser Prüfung,
soweit sie Unionsrecht anwenden und umsetzen. Dagegen bleiben die Mitgliedstaaten in
den rein nationalen Bereichen der Gesetzgebung nur ihren eigenen Grundrechtsregelungen
unterworfen. Darin lässt sich auch schon im geltenden Unionsrecht ein föderatives Element
erkennen. Das BVerfG hat ausdrücklich anerkannt, dass der E u G H einen d e m G r u n d -
gesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtschutz gewährleistet. Vgl. zu alledem
mit weiteren Nachweisen zu den relevanten Etscheidungen des E u G H und des BVerfG
Ar. Reich, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, in: Z R P 2000.
S. 375 ff. m.w. N. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: W ä h r e n d das Grund-
gesetz wie die meisten staatlichen Verfassungen die G r u n d r e c h t e detailliert regelt, findet
sich in Art. 6 E U V nur der Verweis auf die vorgenannten Rechtsquellen. Für den Bürger
ist dies wenig transparent und voraussehbar. zumal in d e m g e m e i n s a m e n Rechtsraum der
Union mehr als 27 verschiedene Rechtstraditionen z u s a m m e n w a c h s e n sollen.
" 4 Zu Verfahren. Arbeitsweise und Z u s a m m e n s e t z u n g dieses ..Konvents" vgl. W. Dix,
Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration
1/2001. S. 34 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 91
sollte das Gremium nach eigenem Ermessen entscheiden. Von diesem Vorgehen
versprach man sich eine ständige aktive Teilnahme des institutionellen Sachver-
standes und aller großen politischen Richtungen in den Mitgliedstaaten und auf
Unionsebene. Die Parlamente akzeptierten diese Einladung. Das Gremium einigte
sich in seiner konstituierenden Sitzung am 17. Dezember 1999 auf den früheren
Bundespräsidenten R. Herzog als Vorsitzenden und auf ein Arbeitsprogramm.
Auch über die Benennung als „Konvent" und über das Recht der stellvertretenden
Mitglieder, an den Beratungen teilzunehmen, entschied die Versammlung durch
Abstimmung selbst. Die europäischen und die nationalen Parlamentarier wählten
jeweils einen Sprecher in das Präsidium. Die gesellschaftlichen Gruppen und
die Öffentlichkeit wurden arbeitsteilig konsultiert: auf Unionsebene durch das
Präsidium des Konvents, auf nationaler Ebene durch Anhörungen der jeweiligen
Parlamente. Die Sitzungen des Konvents und seine Diskussionsgrundlagen waren
ständig öffentlich und über Medien und Internet zugänglich. Alle Interessierten
konnten sich direkt gegenüber dem Konvent oder mittelbar über seine Mitglieder
zu Worte melden. Das Beratungsverfahren des Konvents war parlamentarisch
geprägt: freie Debatte unabhängiger Persönlichkeiten nach strikten parlamentari-
schen Regeln, die sich der Konvent nach Bedarf selbst auferlegte. Bei aller Schärfe
der sachlichen Auseinandersetzung stand die Suche nach einem möglichst breiten
Konsens im Vordergrund. Abstimmungen über den Entwurf, die im Interesse eines
möglichst breit legitimierten Ergebnisses bis zuletzt vermieden werden konnten,
wären zwar möglich gewesen, jedoch hätte der Konvent die Modalitäten selber
festlegen müssen. Überdies hätte ein Ergebnis, das unter den Regierungsbeauftrag-
ten im Konvent streitig geblieben wäre, die Kontroverse in den Rat verlagert und
wegen der dort erforderlichen Einstimmigkeit den Erfolg des Konvents in Frage
gestellt. Andererseits mussten auch die Regierungsbeauftragten ein Höchstmaß
an Kompromissbereitschaft aufbringen, um isolierte Positionen im Rat und vor
allem auch gegenüber ihren eigenen Parlamenten zu vermeiden. Damit bestanden
auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten beste Voraussetzungen für eine breite
öffentliche Diskussion. Die Öffentlichkeit hatte es allerdings nicht leicht, dem
raschen Verhandlungsgang im Konvent und der teilweise erheblichen Weiterent-
wicklung der Vorentwürfe zu folgen. So brachte auch noch die letzte Verhandlung
am 26. September wesentliche Veränderungen und hat die fast einhellige Billigung
des Textes durch den Konvent erst ermöglicht.
225
Einen Überblick bieten N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die C h a r t a der Grundrechte.
2002: /. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVB1.2000.
92 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
zumal doch die Grundrechte in der Union und ihren Mitgliedstaaten umfassend
gewährleistet wären, stärkte für die Gegenansicht die Charta den Schutz der
Grundrechte, weil sie die gemeinsamen Grundrechte für alle Unionsbürger in
einer gemeinsamen Sprache klar und verständlich formuliert und damit Vertrauen
in die gemeinsame Rechtsordnung begründet hätte. Für Andere stellte die Charta
und vor allem das neue Konventsverfahren, in dem sie entstanden war, ein Modell
für künftige Vertragsänderungen dar. Sie erhofften sich eine grundlegende Reform
der Union unter breiter Mitwirkung der Parlamente und der Öffentlichkeit. Einige
sahen in der Charta sogar den ersten Schritt zu einer föderativen Verfassung der
Union.
Die Debatte über die gemeinsame Wertebasis der Europäischen Union erreichte
im ersten Halbjahr 2000 unter dem Vorzeichen der Wahl der rechtspopulistischen
FPÖ in Österreich ihren (unrühmlichen) Höhepunkt. Im Zusammenhang mit
den juristischen Problemen, auf welche die Sanktionen der Europäischen Union
gegen Österreich stießen, forderten viele Politiker geeignetere Mechanismen, bei
möglichen Verstößen gegen Grundrechte auch schon vorbeugend tätig zu werden.
Vor diesem Hintergrund verlagerte sich die Diskussion auf den Gehalt und die
Verbindlichkeit der Grundrechtscharta. Hier zeichneten sich zwei Positionen ab:
Die Minimalisten plädierten für die Unverbindlichkeit der Charta (dies forderten
vor allem die Briten und Skandinavier), die Beschränkung auf klassische Ab-
wehrrechte und gegen die Aufnahme sozialer Anspruchsrechte. Die konservativen
Parteien und Wirtschaftsverbände fürchteten, dass die Aufnahme dieser Rechte
zu einer Kompetenzausweitung der Europäischen Union führen könnte."" Für
den maximalistischen Ansatz, welcher neben einem umfassenderen Katalog vor
allem die Verbindlichkeit und Einklagbarkeit der Rechte als ersten Schritt zu
einer Verfassung einforderte, setzten sich Sozialdemokraten und die Grünen, das
Europäische Parlament und die Kommission ein. Auf dem Gipfel von Feira am
19. und 20. Juni 2000 entschloss der Europäische Rat sich dann aber - gegen den
Willen von Deutschland und Frankreich - unter dem Einfiuss der „Minimalisten"
für die Unverbindlichkeit der Charta.
S. 847 ff.; PJ. Tettingen Die Charta der G r u n d r e c h t e der EU. in: N J W 2001, S. 1010 ff.
Siehe auch J. Meyer. K o m m e n t a r zur Charta der G r u n d r e c h t e der Europäischen Union.
2. Aufl. 2005; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 634 ff. Vgl. auch
W. Dix, Eine europäische Charta der Grundrechte, in: Vertretung der Europäischen Kom-
mission. Berlin (Hrsg.). Europäische Gespräche. Berlin Heft 2/ 1999. S. 90 ff.; ders., Grund-
rechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001.
S. 34 ff.
226
Vgl. J. Meyer, Will Europa sein Modell o p f e r n ? Die EU-Grundrechtecharta belebt
die alte Debatte über die Notwendigkeit sozialer Rechte neu, in: Frankfurter Rundschau
vom 2 8 . 4 . 2 0 0 0 .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 93
227
Vgl. nur das Interview mit J. Delors in Le M o n d e vom 19. 1.2000.
228
Vgl. J.-L.Arnaud. Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich
bei E r ö f f n u n g der französischen Ratspräsidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10. Notre
Europe. G r o u p e m e n t d ' E t u d e s et de Recherches. Paris, Juli 2 0 0 0 . S. 3. Die C D U hielt an
ihrem Konzept des Verfassungsvertrages fest, was sie auf ihrem Parteitag im Jahre 2000 in
Essen deutlich machte, vgl. Essener Erklärung. Beschluss des 13. C D U - Parteitages, April
2000.
229
Vgl. I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: V V D S t R L 60
(2001), S. 148 ff.
94 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
230
Hätte man sich auf einen Streit um Verfassung und Staatlichkeit der Union eingelas-
sen. so wäre diese Einigung zu dieser Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit gefährdet gewesen,
so auch IV. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?,
in: Integration 1/2001. S. 3 4 f f , 36. Für Dix. ebenda, ist die ..Charta ein weiteres Beispiel,
dass sich die Union auch ohne B e r u f u n g auf staatsrechtlich geprägte Zielvorstellungen
pragmatisch und schrittweise weiterentwickeln kann. H i e r f ü r genügen ihr die schon immer
anerkannten funktionalen Grundsätze der Integration: die Handlungsfähigkeit der Organe,
die demokratische Legitimation, die Rechtsstaatlichkeit und die W a h r u n g der nationalen
Identität der Mitgliedstaaten."
231
Drei Tage vor d e m 50jährigen Jubiläum des S c h u m a n - P l a n s legte Fischer seine
..Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" als „Privatmann" dar. in der er
nicht nur ausdrücklich eine „Verfassung" bzw. einen ..Verfassungsvertrag" forderte, sondern
durchaus konkrete Inhalte und Realisierungschancen nannte, vgl. Fischer. Vom Staaten-
verbund zur Föderation. G e d a n k e n über die Finalität der europäischen Integration. Rede
vor der Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt u . a . in: Integration 2000.
S. 149 ff. Die Rede fand nicht nur innerhalb Deutschlands Zustimmung von den Regierungs-
und Oppositionsparteien (siehe u. a. die Darstellungen in der deutschen Tagespresse: etwa
Frankfurter Rundschau. 1 3 . 5 . 2 0 0 0 : „Mit der Schwerkraft zum Ziel"; Frankfurter Allge-
meine Zeitung. 13.5. 2000: Fischer greift nach dem europäischen Rettungsring"; sowie
Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2000: ..Schäuble lobt Fischers Europa-Idee"), sie provozierte
vor allem auf französischer Seite die unterschiedlichsten Reaktionen. Sowohl in der Sonder-
rolle der Ratspräsidentschaft als auch im Hinblick auf die .Kohabitation' wollte Frankreich
keine Spaltungen durch provokante Visionen hervorrufen und die für Nizza vorgesehenen
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 95
r e i c h e n d e n „ A n t w o r t " a u f d i e G e d a n k e n Fischers a u f g e r u f e n f ü h l t e n . M i t s e i n e r
R e d e vor d e m R e i c h s t a g a m 27. Juni 2 0 0 0 setzte e r sich ü b e r d i e K o h a b i t a t i o n
hinweg und bestätigte, in einigen Jahren w e r d e m a n über einen Text befinden,
den m a n d a n n als erste E u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g p r o k l a m i e r e n könne.232 Ä h n l i c h
a r g u m e n t i e r t e a m 6 . Juli d e r italienische S t a a t s p r ä s i d e n t C a r l o C i a m p i a n d e r
U n i v e r s i t ä t L e i p z i g . E s f o l g t e d e r b e l g i s c h e P r e m i e r m i n i s t e r G . Verhofstadt m i t
einer Rede vor d e m European Policy Center in Brüssel (21. S e p t e m b e r 2000).233
K u r z darauf legte Tony Blair vor der polnischen Börse seine Vision f ü r E u r o -
pa d a r und s p r a c h sich g e g e n e i n e V e r f a s s u n g a u s (6. O k t o b e r 2000).234 Zu den
G e g n e r n e i n e r V e r f a s s u n g z ä h l ( t ) e n n e b e n Blair d e r s p a n i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t
J.M. Aznar d i e ( s p ä t e r e r m o r d e t e ) s c h w e d i s c h e A u ß e n m i n i s t e r i n A. Lindh, s o w i e
eine Minderheit im Europäischen Parlament. Eine nicht unerkleckliche Anzahl
f r a n z ö s i s c h e r S p i t z e n p o l i t i k e r w i e d e r S o z i a l i s t J.-P. Chevenement, d e r d a m a l i g e
f r a n z ö s i s c h e I n n e n m i n i s t e r H . Vedrine u n d d e r e h e m a l i g e K o m m i s s i o n s p r ä s i d e n t
J . Delors s p r a c h e n s i c h z w a r f ü r g r u n d s ä t z l i c h e R e f o r m e n d e s S y s t e m s a u s , h a t t e n
aber bekanntlich gegen die deutschen Vorschläge einer Konstitutionalisierung
argumentiert.
institutionellen Reformen nicht gefährden, vgl. allgemein J.-L. Arnaud, Die Franzosen und
Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei E r ö f f n u n g der französischen Ratsprä-
sidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10, Notre Europe. G r o u p e m e n t d ' £ t u d e s et de
Recherches. Paris. Juli 2000. S. 3. Konservative wie sozialistische Parteien bekundeten in
der französischen Öffentlichkeit ihre Z u s t i m m u n g zu Fischers Konzept. Der Präsident der
konservativen UDF. F. Bayrou, legte - wie bereits erwähnt - mit dem grünen Europaabge-
ordneten D. Cohn-Bendit sogar einen eigenen Verfassungsentwurf vor (dazu J.-L. Arnaud.
ebenda), kurz darauf folgten die Neogaullisten A. Juppe und J. Toubon mit einem ausgear-
beiteten Konzept (..Constitution de TUnion Europeenne". 28. Juni 2000. a b r u f b a r u. a. unter
www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf). Dagegen mündete die skeptische Haltung des da-
maligen französischen Außenministers J.-P. Chevenement in ein offenes Streitgespräch mit
Fischer (dokumentiert in Die Zeit. Dossier. 7. Juni 2000). Nach d e m deutsch-französischen
Gipfel in Mainz, auf dem der französische Staatspräsident Chirac sich positiv zu Fischers
Visionen geäußert hatte, veröffentlichten der britische Premierminister T. Blair und der
spanische Staatschef J.M.Aznar am 13. Juni einen g e m e i n s a m e n Artikel in der Financial
Times und El Mundo, in dem sie sich ebenfalls skeptisch zu Fischers Rede äußerten und
ein gemeinsames Auftreten in der Wirtschaftspolitik signalisierten. Auch das Europäische
Parlament und die Kommission reagierten ambivalent. W ä h r e n d Kommissionspräsident
R. Prodi die Ideen der Rede begrüßte, befürchteten Kollegen, er wolle mit seinen Ver-
fassungsplänen die Kommission abschaffen: ähnliche Befürchtungen äußerten einzelne
Abgeordnete des Europäischen Parlaments (siehe Süddeutsche Zeitung, 16. Mai 2000. S. I:
..Prodi lobt Fischers Rede zu Europa"; sowie Süddeutsche Zeitung. 18. Mai 2 0 0 0 . S. 5:
..Beifall fürs G a n z e . Kritik am Detail").
232
J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. in: FAZ vom 28.6.
2000. S. 10 f.
233
G. Verhofstadt. A Vision for Europe, 21. September 2000. a b r u f b a r unter w w w
.theepc.be.
234
T. Blair, Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. a b r u f b a r
unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.html.
96 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mit dem Vertrag von Nizza 239 (Inkrafttreten am 1. Februar 2003) bereitete sich
die Union auf die Aufnahme der damaligen zwölf Beitrittskandidaten vor. Er sollte
somit die Integrationsfähigkeit während der kommenden Erweiterungsphasen
stärken. Der Vertrag enthält wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge
und des Unionsvertrags, vor allem die Größe der Kommission, die gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit,
die Stimmenwägung und Abstimmungsverfahren betreffend. Insgesamt sollten
Legitimität, Effizienz und Transparenz der Gemeinschaftsinstitutionen verbessert
werden. Indirekt war damit die Frage nach der politischen, d. h. der demokratischen
„Verfasstheit" der Union gestellt. 240 Oder anders formuliert: es ging (und geht
235
P. Lipponen, Speech at the College of Europe. Brügge. 10. November 2000. a b r u f b a r
unter www.vn.fi/english/speech/20001110e.htm.
236
J.Rau, Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000:
vgl. ders. Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999: Une
Constitition pour l ' E u r o p e , in: Le M o n d e vom 4. 11. 1999: ders.. W i r brauchen eine euro-
päische Verfassung, in: Die Welt vom 15.9. 2000.
237
So etwa der Bericht des konstitutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments
über die Konstitutionalisierung der Verträge vom 12. O k t o b e r 2000: sowie der Vorschlag
der Kommission zur Neuordnung der Verträge vom 14. Juli 2000.
238
Vgl. auch H. Wagner. Die Rechtsnatur der EU. Anmerkungen zu einer in Deutschland
stattfindenden Debatte, in: Z E u S 2006. S. 287 ff., insbesondere zu den kontraprodunktiven
Wirkungen der Rede J. Fischers.
239
Vgl. etwa die Aufsätze in: M. J o p p / B . L i p p e r t / H . Schneider (Hrsg.), D a s Vertrags-
werk von Nizza und die Z u k u n f t der Europäischen Union. 2001 sowie in: D . M e l i s s a s /
I. Pernice (Hrsg.), Perspectives of the Nice Treaty and the Intergovernmental C o n f e r e n c e
in 2004. 2001; K.H. Fischer. Der Vertrag von Nizza. 2001: R. Gnan. Der Vertrag von Niz-
za, in: BayVBl. 2001. S. 4 4 9 ff.; E. Brök. Die Ergebnisse von Nizza. Eine Sichtweise aus
dem Europäischen Parlament, in: Integration 1/2001, S . 8 6 f f . ; J. Schwarze. Europäische
Verfassungsperspektiven nach Nizza, in: N J W 2002. S. 9 9 3 ff.; T. Bender. Die verstärkte
Z u s a m m e n a r b e i t nach Nizza, in: ZaöRV 2001, S. 7 2 9 ff.; R. Streinz, (EG-)Verfassungs-
rechtliche Aspekte des Vertrages von Nizza, in: Z Ö R 58 (2003), S. 137 ff.; A. Hat je. Die
institutionelle Reform der Europäischen Union - der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand,
in: E u R 2001. S. 143 ff.: P. Schäfer, Der Vertrag von Nizza - seine Folgen für die Z u k u n f t
der Europäischen Union, in: BayVBl. 2001. S. 4 6 0 ff.: H.-G. Franzke. Das weitere Schicksal
des Vertrages von Nizza, in: Z R P 2001. S . 4 2 3 ff.
240
Vgl. U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?,
in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 97
Freilich traten weitere Elemente und Überlegungen hinzu, die letztendlich die
Auffassung manifestierten, dass die Zeit für die formale Konstitutionalisierung der
Europäischen Union überreif sei. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an
die Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen 2 4 2 , die zu einer politischen Auf-
241
Siehe zur EU-Osterweitcrung angesichts ausufernder Literatur die Bibliographie
im ..Dresdner Internetportal zur EU-Osterweiterung", a b r u f b a r unter dipo.tu-dresden.de/
browse.php?topic=Literature. Mit grundsätzlichen Erwägungen / / . Roggemann. Verfas-
sungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West. 1996.
S. 177 ff.: A. StölzlB. Wieser (Hrsg.), Verfassungsvergleichung in Mitteleuropa. 2000. Zu
den einzelnen osteuropäischen Staaten vgl. den Literaturhinweis bei P. Häberle. Europäi-
sche Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 217 Fn. 93. Vgl. zu den jüngsten Erweiterungs- und
Fortschritten der Länder des westlichen Balkans K.-T. zu Guttenberg. Vorsichtig in die
Unabhängigkeit, in: Die Welt vom 8. 10. 2005 sowie ders.. Eine Lösung für den Kosovo,
in: Berliner Zeitung vom 1 8 . 2 . 2 0 0 6 .
2 2
~ Dazu aus der neueren Lit.: M. Zuleeg, Der rechtliche Z u s a m m e n h a l t der EU. 2004.
S. 58 ff.; M. Nettesheim. Kompetenzen, in: A. von Bogdandy. Europäisches Verfassungs-
recht. 2003. S. 4 1 5 ff.; C. Triie. Das System der E U - K o m p e t e n z e n , in: ZaöRV 64 (2004).
S. 391 ff.; vgl. auch /. Pernice, Kompetenzregelung im Europäischen Verfassungsverbund,
in: JZ 2000. S. 8 6 6 ff.
98 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
wertung der Union führten, die Einführung einer Unionsbürgerschaft 2 4 1 und die
Herausbildung eines europäischen Bewusstseins sowie die an Resonanz gewinnen-
de Überzeugung, dass mit zunehmender Ausweitung des demokratischen Defizits
Vertragsänderungen nicht mehr wie bisher durchgeführt werden konnten. Das
Bewusstsein über die Notwendigkeit einer verfassungsgestaltenden und letztlich
verfassungsmäßigen „Generalüberholung" der Union sowie die Erkenntnis, die
Union sollte den Geboten von Transparenz, Effizienz und Demokratie wahrhaftig
genügen, reifte in den vergangenen Jahren über die Ebene einzelner Staats- und
Regierungschefs hinaus auch in der Wahrnehmung einer beträchtlichen Mehrheit
der Bürger in der Europäischen Union 244 .
Es ist müßig darüber zu debattieren, ob eine solche, mit aller Konsequenz geführ-
te Verfassungsdiskussion bereits zu Beginn der europäischen Einigung zu einer
Blockierung des Integrationsprozesses geführt hätte, noch bevor er richtig begon-
nen worden wäre. Gleichwohl war die schrittweise Integration in der Gründerphase
der europäischen Einigung, die oftmals so apostrophierte „Monnet-Methode" 2 4 5 ,
während dieses Abschnittes der europäischen Integration insgesamt die adäquate
Methode. Es wäre allerdings ein allzu offensichtliches Versäumnis, die in die-
sen evolutionären Entwicklungsschritten bereits enthaltenen verfassunggebenden
Elemente zu verschweigen 246 , weshalb in den vorangegangenen Kapiteln entspre-
24?
Siehe den 3. Bericht der Kommission Uber die Unionsbürgerschaft v. 7.9.2001
( K O M (2001) 506) sowie aus d e m S c h r i f t t u m P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Markt-
bürgerschaft und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische Gemeinschaft auf
dem Weg zu einem Europa der Bürger?, in: D Ö V 1987. S. 221 ff.; später ders., Der Rechts-
status der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber a m i c o r u m Jost
Delbrück. 2005. S . 4 2 9 ff.; vgl. auch M. Degen. Die Unionsbürgerschaft nach d e m Vertrag
über die Europäische Union, in: D Ö V 1993, S. 7 4 9 ff.; A. Randelzhofer, Marktbürger-
schaft - Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke
(Hrsg.). Gedächtnisschrift f ü r Eberhard"Grabitz, 1995. S . 5 8 1 ff.; Ar. Kotalakidis. Von der
nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. 2000.
244
Von der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung überzeugt zeigten sich 2002
nach der 56. Ausgabe des Eurobarometers 2 / 3 der Bevölkerung, vgl. Bulletin Quotidien
Europe Nr. 8 1 9 2 v. 1 5 . / 1 6 . 4 . 2 0 0 2 . S. 7 und Nr. 8 1 9 4 v. 1 8 . 4 . 2 0 0 2 . S. 6.
245
Ein Vorgehen, das die Union schrittweise, orientiert am jeweils Machbaren und ohne
die Beteiligten zu überfordern, fortentwickelt, aber umgekehrt auch zu derjenigen Unüber-
sichtlichkeit des Vertragswerks beigetragen hat. die zu einem weiteren ernst zu nehmenden
Argument für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion wurde. Vgl. zur sog. ..Monnet-
Methode ; " u. a. W. Wessels. Jean Monnet - Mensch und Methode. 2001.
246
Neben den grundlegenden E r w ä g u n g e n und in dieser Hinsicht Pionierwerken
PHäberles (vgl. nur ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 3 6 f f . ) hebt
diese verfassunggebenden E l e m e n t e etwa auch A. Peters. Elemente einer T h e o r i e der
Verfassung Europas. 2001 hervor, die Z ü g e einer ..Kontinuierlichen Verfassungsgebung"
konstatiert und eine „Konstitution durch Evolution" (S. 3 7 5 ff.) sowie eine ..Legitimati-
on durch B e w ä h r u n g " (S. 5 8 0 ff.) postuliert. Grundsätze, nach denen der Union bereits
heute unstreitig Verfassungsqualität zukommt; vgl. dazu lediglich noch /. Pemicef P.M. Hu-
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 99
chende Hinweise zu geben waren. Der zu Beginn des neuen Jahrhunderts dem spä-
teren Verfassungskonvent zugrunde liegende Diskussionsstand ist angesichts der
einzelnen und bereits wie im Folgenden angerissenen „verfassungshistorischen"
Stufen als bislang konkretestes und entsprechend erfolgversprechendes Szenario
zu erachten gewesen 247 (das vorübergehende Scheitern und Aussetzen des Verfas-
sungsvertrages im Dezember 2003 sowie des Vertrages von Lissabon läuft dieser
Beobachtung nicht entgegen - vielmehr hat sie durch die Intensivierung der inhalt-
lichen Auseinandersetzung eine Manifestierung erfahren). Insgesamt gestaltet sich
spätestens seit dem Vertrag von Nizza die Diskussion sehr viel politischer als zu-
vor und steht unter einem sehr viel größeren - nicht nur zeitlichen - (Erwartungs-)
Druck.
Diese vier Optionen sahen sich auch um die Jahrtausendwende mit Überlegun-
gen konfrontiert, die bereits in den vergangenen Jahrzehnten mit mehr oder minder
hoher Intensität in der Diskussion standen. So sollten redaktionelle Vereinfachun-
gen oder eine reine Fusion der vorhandenen Vertragstexte nicht ausreichen, um das
notwendige Maß an Vereinfachung und Transparenz zu schaffen. Verfassungsmo-
delle oder sogar eine damit verbundene „Neugründung" der Europäischen Union
hätten sich hingegen stets an der politischen Durchsetzbarkeit zu messen. Dies wür-
de grundsätzlich bedeuten, den notwendigen, eigenen Befindlichkeiten folgenden
Ratifikationsprozess bereits im Vorfeld im Auge zu behalten und den Mehrwert
gegenüber den bestehenden, in fünfzig Jahren ausgebildeten Vertragsgrundlagen
der „europäischen Bevölkerung" verständlich darzustellen.
Der Weg zum Verfassungsvertrag ist - ebenso wie das amerikanische Vor-
bild - neben allen verfassungsrechtlichen Aspekten - ein höchst politischer, wes-
halb dieser - gerade auch angesichts des Wechselspiels zwischen Politik und
Verfassungsrecht 2 4 9 - wenigstens in Ansätzen aufgezeichnet werden soll.
Die Diskussion, ob Europa tatsächlich einer Verfassung bedarf und was deren
Vor- und Nachteile sein könnten, wurde erschöpfend geführt. 2 5 0 Aus politischer
Sicht ist allerdings hervorzuheben, dass mit einem abgeschlossenen Verfassungge-
bungsprozess auch eine Manifestierung der „Politisierung" der Europäischen Uni-
on einherginge 2 5 1 und dass dadurch ihre Legitimität erhöht würde, entsprechend
249
Dazu auch unter B . I I . 2 . f ) j j ) ( 4 ) sowie unter B . I V . 2 . b ) c c ) ( 2 ) .
250
Die Lit. ist Legion : vgl. etwa D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in:
JZ 1995, S . 5 8 1 ff.; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht
sie eine?, in: EuR 2000, S. 311 ff.; T. Stein, Europas Verfassung, in: Festschrift Krau-
se. 2000. S. 233 ff.: G. Hirsch. Kein Staat, aber eine Verfassung, in: N J W 2 0 0 0 . S . 4 6 f . ;
P. Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien. 1999: W. Hertel, Suprantiona-
lität als Verfassungsprinzip. 1999. Siehe auch G. C. Rodriguez Iglesias, Z u r „Verfassung"
der Europäischen G e m e i n s c h a f t , in: E u G R Z 1996. S. 125 ff.; ders.. Gedanken zum Ent-
stehen einer Europäischen Rechtsordnung, in: N J W 1999. S. 1 ff.: /. Pernice. Die Dritte
Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996. S . 2 7 f f . ; T.Schilling, Die
Verfassung Europas, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996. S. 3 8 7 ff.; A. von
BogdandyIM. Nettesheim. Die Europäische Union: Ein eineheitlicher Verband mit eigener
Rechtsordnung, in: EuR 1996. S. 3 ff.; P.M. Huber. Differenzierte Integration und Flexibili-
tät als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, in: EuR 1996. S. 347 ff.: R. Hrbek
(Hrsg.). Die Reform der Europäischen Union. 1997; H. Heberlein. Regierungskonferenz
1996: Eine Neue Verfassung für die Europäische Union? (Tagungsbereicht), in: BayVBl.
1997. S . 7 8 f f . Vgl. auch 1. Pernice, Vertragsrevision oder Verfassunggebung?, in: F A Z
vom 7.7. 1999; J.H.H. Weiler, T h e Constitution of Europe. 1999. Siehe auch die Sammel-
bände von J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer euopäischen Verfassungsordnung,
2000; J. SchwarzeIP.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Verfassungsentwicklung. EuR
Beiheft 1, 2000; R. Herzog!S. Hobe (Hrsg.). Die europäische Union auf dem Weg zum ver-
fassten Staatenverbund: Perspektiven der europäischen Verfassungsordung, 2004: M. Jopp.
S. Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa - Analysen zur Konstitu-
tionalisierung der EU. 2005. Von manchen als ..klassisch" bezeichnet: P. Pescatore, Die
Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht - ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Per-
spektive des Europäischen Gerichtshofs, in: W.G. G r e w e / H . H. Rupp. H. Schneider (Hrsg.),
Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher. 1981. S. 319 ff.
251
Vgl. auch 5. Goulard. C. Lequesne, Une Constitution europeenne. si et seulement
si . . . , in: Politique etrangere, n° 2, 2001, S. 1 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 101
der Maßgabe, dass dort, wo (europäisches) Recht gilt und durch- bzw. umgesetzt
wird, auch der (verfassungsmäßige) Ursprung dieser Rechtsetzung offensichtlich
sein muss. 2 5 2 Zudem bedeutet die Realisierung der europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion einen qualitativen Integrationsschritt, der steter politischer Be-
gleitung bedarf. Und drittens ist zu betonen, dass eine europäische Verfassung der
Europäischen Union, die sich als Staaten-, aber auch als Bürgerunion versteht, den
europäischen Bürgern die Souveränität über den europäischen Integrationsprozess
zurückgeben würde.
Politisch sprach (und spricht) indes dagegen, dass die Diskussion über eine
Europäische Verfassung vor allem von den Gegnern einer tiefer gehenden Inte-
gration dazu genutzt werden konnte, indirekt, insbesondere über die Frage der
Kompetenzabgrenzung, eine versteckte Renationalisierungsdebatte zu führen. 2 5 '
An dieser Stelle soll nunmehr ein vertiefender Blick aus der politischen Praxis
die wissenschaftlichen Schilderungs- und Gestaltungsversuche ergänzen.
252
Vgl. J. Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung. 4. 11. 1999: ders.,Une Constitition pour l ' E u r o p e . in: Le M o n d e . 4. 11. 1999:
ders., W i r brauchen eine europäische Verfassung, in: Die Welt, 1 5 . 9 . 2 0 0 0 sowie A. von
Bogdandy, A B i r d ' s Eye View on the Science of European Law, in: European Law Journal.
Bd. 6. Nr. 3. S e p t e m b e r 2000. S. 208 ff., 2 1 5 ff.; vgl. auch die ..Mailänder Erklärung zur
Europäischen V e r f a s s u n g " von DGAP. ifri und ISPI. 28. 11. 2000, a b r u f b a r über: w w w
.dgap.org. Stichwort: „European Constitution Watch".
253
Siehe auch U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln f ü r den alten
Kontinent?, in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
254
A Constitution for the European Union, in: T h e Economist, 28. 1 0 . 2 0 0 0 . S. 22.
255
Der luxemburgische Premierminister J.-C.Juncker formulierte in der Financial
T i m e s Deutschland vom 16. 1.2001: „Die Regierungskonferenz 2 0 0 4 darf keine Abbau-
konferenz werden".
102 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
senschaft begleite diese Prozesse wie ein Chor in der griechischen Tragödie,
habe jedoch auf die Handlung kaum Einfluss. 256 Gleichwohl: Die Juristen haben
auch unter praktischen Aspekten fraglos am meisten beigetragen. Die Ökonomen
gelegentlich. Die Politikwissenschaft leidet darunter, dass sie eigentlich nicht
Wissenschaft von der Politik, sondern zunehmend Wissenschaft des modernen
Staates ist. Soweit ..Europa" (in klaren Grenzen) staatsähnlich ist, erwuchs und
erwächst freilich überaus konstruktive Begleitung.
256
D. Freiburghaus, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaf-
ten zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässlich
des 10 Jahre J u b i l ä u m s des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur
europäischen Integration. Nr. 66, 2003, S. 60 f., 60. Anders allerdings S. Volkmann-Schluck,
Die Debatte um eine europäische Verfassung. C A P - W o r k i n g Paper. 2001.
257
L Jospin. Rede zur „ Z u k u n f t des erweiterten Europas", 2 8 . 5 . 2 0 0 1 , a b r u f b a r unter
www.franco-allemand.coni/de/de-traite-jospineurope2001.htm.
258
K. Biedenkopf. Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Her-
ausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin. 4. De-
z e m b e r 2000. S . 3 .
259
H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderati-
on - oder was sonst?, in: Integration 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 171.
260
J. Fischer, Zukunftsfähigkeit und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor
der französischen Nationalversammlung, 20. Januar 1999, im Internet a b r u f b a r unter w w w
.auswaertigesamt.de/www/de/infoser\ , ice/download/pdf/reden/1999/r990120a.pdf.
261
J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. G e d a n k e n über die Finalität der
europäischen Integration, in: Integration 3 / 2 0 0 0 . S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In
welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?, 2001, S. 299 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 103
beantworten soll, „in welchem Europa wir leben wollen", und die zu „weiteren
Anstrengungen veranlasst und diese rechtfertigt" 262 .
262
So J. Chirac. Z u m zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2 0 0 0 in
der Semperoper in Dresden. 3. Oktober 2000. a b r u f b a r unter http://www.sachsen.de/de/bf
/reden_und Jnterviews/redenOO/10-C.htm.
263
T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau. 6. Oktober 2000. ebenda.
264
Vgl. dazu auch J.Janning, Leitbilder der europäischen Integration, in: W. Weidcn-
f e l d / W . Wessels (Hrs^.). Europa von A-Z. Taschenbuch der Europäischen Integration. 1997.
S. 2 5 3 ff., 258.
265
So P. C. Midler-Graff. Europäische Föderation als Revolutionskonzept im europäi-
schen Verfassungsraum?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 157 ff., 157.
26,%
J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. G e d a n k e n über die Finalität der
europäischen Integration, in: Integration 3 / 2 0 0 0 . S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In
welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?. 2 0 0 1 . S. 2 9 9 ff. Dieser
Logik folgend, fordert Fischer zunächst staatsähnliche M e r k m a l e f ü r diese Föderation:
..Ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetz-
gebende und exekutive Gewalt [ | ausüben". Im Laufe der Rede macht Fischer j e d o c h
deutlich, dass er mit ..Föderation" schließlich etwas anderes meint: ..Die bisherige Vorstel-
lung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten
und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein Konstrukt jenseits der gewachsenen
104 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
F i s c h e r s L e i t b i l d ist i n s e i n e r B e r l i n e r R e d e v o m I n t e r e s s e g e p r ä g t , d e n N a t i o -
nalstaat auch bei einer verstärkten Integration zu erhalten: „Die Nationalstaaten
w e r d e n fortexistieren und in der Föderation einen stärkeren R a n g haben als die
Bundesländer". Vor d i e s e m Hintergrund wird erklärbar, dass etwa Abgeordnete
d e s E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t s Fischer v o r w a r f e n , d a s v o n i h m e n t w o r f e n e E u r o p a
sei k e i n e F ö d e r a t i o n , s o n d e r n e i n e „ l o c k e r e K o n f ö d e r a t i o n v o n N a t i o n a l s t a a t e n
im Sinne von de Gaulle"267.
Fischer b e m ü h t e s i c h m i t s e i n e r u n o r t h o d o x e n V e r w e n d u n g d e s B e g r i f f s „ F ö -
deration" um ein vermittelndes Leitbild, das über „Entweder-Oder-Sichtweisen
hinausführt"268. Bereits im Januar 1999 hatte er darauf hingewiesen, es g e h e ihm
„ n i c h t d a r u m , e i n e n e u e F ö d e r a l i s m u s - D e b a t t e z u e n t f a c h e n . E u r o p a ist b e r e i t s
zu weit entwickelt, um sich in K a t e g o r i e n wie S t a a t e n b u n d und Bundesstaat ein-
politischen Realitäten". Statt dessen definiert Fischer den Föderationsbegriff jenseits der
althergebrachten B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n , die hinter jahrzehntelangen Auseinandersetzun-
gen um die Zielsetzung d e r Europapolitik standen, vgl. auch H. Schneider, Alternativen
der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - o d e r was sonst?, in: Integration
3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 172. Seine „Föderation der Nationalstaaten" beruht auf d e m Prinzip
der „Souveränitätsteilung" zwischen Mitgliedsstaaten und Europäischen Union nach d e m
Subsidiaritätsgrundsatz, die sich aus einer doppelten Legitimation ableitet: Eine Bürger-
kammer mit direkt gewählten Abgeordneten vertritt die Bürger direkt, eine Staatenkammer
wahrt die Interessen der Nationen. Damit diese Dualität gewährleistet bleibt, baut Fischer
„ U n i t a r i s i e r u n g s b r e m s e n " ein. die „bundesstaatlichen Tendenzen einen Riegel" vorschie-
ben sollen, z. B. mit einer klaren K o m p e t e n z a b g r e n z u n g zwischen Mitgliedsstaaten und
EU-Organen. Dabei tendierte er teilweise sogar zu einer stärkeren Intergouverncmentali-
sierung: Fischer konnte sich im Streitgespräch mit seinem französischen Amtskollegen
Chevenement (vgl. D I E ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff., 18), „sehr gut vorstellen, dass bestimm-
te Aufgaben wieder [auf die Nationalstaaten) rückübertragen werden". Die von Fischer
erwogene Alternative, den Ministerrat als „echte R e g i e r u n g " der Europäischen Union zu
etablieren, würde die Kommission allerdings zu einer bloßen administrativen Körperschaft
degradieren. Vgl. dazu die vergleichsweise intellektuell klare, wenngleich durchaus streit-
bare Replik auf Fischers „ H u m b o l d t - R e d e " von C. Leben. A Federation of Nation States
or a Federation of States?, in: C . J o e r g e s / Y . M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), What Kind
of Constitution for W h a t Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000. S. 100 ff.,
insb. 103: „ T h e C o m m i s s i o n would b e c o m e only an administrative b o d y " . Fischers ur-
sprüngliches Konzept des D o p p e l m a n d a t s in der ersten K a m m e r stellt in der Konsequenz
einen Rückschritt zu den Zeiten diu-, als das Europäische Parlament noch aus Delegierten
der Mitgliedsstaaten zusammengesetzt war. Des weiteren erwähnt Fischer entscheidende
föderationsqualifizierendc Merkmale nicht, wie etwa die Übertragung des Haushaltsrechts
auf die europäische Ebene (s. auch T.A. Börzel/T. Risse, W h o is afraid of a European
Federation? How to Constitutionalize a Multi-Level Governance System, in: C . J o e r g e s / Y .
M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.) (2000), S . 4 5 f f „ 48).
267
So beispielsweise in einem Vortrag J. Voggeniwber. Das Europäische Parlament
und die konstitutionellen Reformen der Europäischen Union. 2000. Bericht von M.O. Pähl
a b r u f b a r unter www.rewi.hu-berlin.de/WHI/english/fce/fce600/bericht-voggenhuber.htm.
268
Vgl. H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderati-
on - oder was sonst?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 173.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 105
zwängen zu lassen. Europa ist und bleibt eine Konstruktion sui generis" 2 6 9 . Im
Streitgespräch mit Chevenement erklärte Fischer, warum er dennoch den ideo-
logisch belasteten Begriff „Föderation" gewählt hatte: „Wir haben versucht, ein
neues deutsches Wort zu finden anstatt .Föderation'. Wenn man es übersetzt,
kommt [ . . . ] immer wieder federation oder federation heraus. Sodass wir am Ende
aufgegeben und gesagt haben: Wir müssen akzeptieren, dass dies das Wort ist". 270
Gleichwohl ist Fischer mit dieser Wortwahl seiner (wiederholten) Intention gerecht
geworden, zu provozieren. 271 Dass er aber nicht gänzlich hinter dem Begriff stand,
lässt sich anhand der Tatsache vermuten, dass Fischer seinen Verfassungsgedan-
ken zwar weiterhin an den Vorstellungen der „Souveränitätsteilung" ausrichtete,
das Leitbild der Föderation in seinen späteren Europareden und Stellungnahmen
aber nicht mehr nachhaltig verfolgt hat. 272
Trotz der begrifflichen Probleme haben einige weitere Politiker dieses Leitbild
aufgegriffen. Bundespräsident J. Rau wies darauf hin, dass eine „Föderation von
Nationalstaaten" das Gegenteil eines Superstaates bedeuten würde, und schon
gar nicht ein Europa „ä la Bundesrepublik Deutschland". 273 Der Bundespräsident
betonte, dass „die wirtschaftliche Globalisierung die Souveränität der National-
staaten gravierend aushöhlt". Die Föderation sei „darauf die Antwort, weil sie
Souveränität | . . . ) wiedergewinnt, die die einzelnen Staaten, auf sich allein gestellt,
im Zuge der Globalisierung, längst verloren haben". Eine föderale Verfassung
gebe „Europa eine Gestalt, wie wir sie uns für morgen wünschen können: ein Zu-
sammenschluss von Staaten, die einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinschaftlichen
Einrichtungen übertragen, damit sie durch gemeinsames Handeln Souveränität
zurückgewinnen können" 274 .
Auch auf französischer Seite ist das Konzept aufgegriffen worden, wo in ähnli-
cher Diktion L. Jospin für eine „Föderation von Nationalstaaten" plädierte. Wie
Fischer und Rau distanzierte sich der französische Premier von einer zentralis-
tischen Auslegung: „Dieses Wort ( . . . ) deckt in Wirklichkeit vielfältige Inhalte
ab". 275 Ein Gefüge, in dem die derzeitigen Staaten lediglich den Status eines
deutschen Bundeslandes erhielten, könne Frankreich nicht akzeptieren. Verstehe
man dagegen unter „Föderation" eine „schrittweise und kontrollierte Teilung von
Befugnissen und deren Übertragung auf die Union", stimme er dem Begriff „ohne
Wenn und Aber" zu. Der Terminus traf außerdem Jospins Vorstellung des konsti-
tutiven Spannungsfeldes der europäischen Integration: die Nationalstaaten seien
„Realität", die Föderation bleibe ein „Ideal". Damit „starke und lebendige Natio-
nen. die ihre Identität wahren wollen", bestehen bleiben, solle die Union J e d e n
Einzelnen stärker machen". Auch J. Delors, der einer Verfassung grundsätzlich
skeptisch gegenüber stand, verfolgte dieses Leitbild gleichfalls in der Annahme,
„dass die Nationalstaaten bleiben müssen" 2 7 6 .
Der Vorstellung eines „Europa der Nationen" lassen sich die Verfassungskonzep-
te von J. Chirac und A. Juppe mit J. Toiibon zuordnen. Im Gegensatz zu J. Fischer
benannte Chirac nicht explizit ein „typisches" Leitbild im Spannungsfeld von Fö-
deration oder Konföderation. Indem er auf seine damalige Rolle als Ratspräsident
und die Kohabitation Rücksicht nahm, wich er der von Fischer aufgeworfenen
Frage der Finalität aus und gab in seiner Berliner Rede „den Pragmatiker", um
nicht zu provozieren, sondern auszugleichen. 277 Dennoch lässt sich herauskristalli-
sieren, wie er Europa sehen wollte, nämlich als „Zusammenschluss von Nationen,
vgl. ders., Plädoyer für eine Europäische V e r f a s s u n g " Rede vor dem Europäischen Parla-
ment am 4. April 2001. S . 5 .
275
L Jospin. Rede zur ..Zukunft des erweiterten Europas", 2001. ebenda. S. 7.
276
Vgl. das Interview mit J. Delors in: Le M o n d e vom 19. Januar 2000.
277
Vgl. J. Chirac. Rede vor d e m Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. abgedruckt
in: FAZ vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f. Fischers Vorschlag sorgte auch in diesem Kontext für
nahezu reflexartige Abwehrreaktionen. So etwa des bereits benannten ..Souveränisten"
Chevenement auf das empfohlene Leitbild der Föderation: ..Weil Deutschland immer noch
die Nation diabolisiert. neigt es zur Flucht ins Postnationale und findet sich w i e d e r im
wehmütigen Traum einer Art von Föderation, die unterschiedliche Teile möglichst re-
gional z u s a m m e n h ä l t " . Chevenement sah den wichtigsten Bezugspunkt der Bürger in
der Nation und hielt deshalb den Begriff des ..Verfassungspatriotismus" für „oberfläch-
lich". Gleichzeitig verdächtigte er Fischers Verfassungskonzept als „verkappten deutschen
H e g e m o n i e a n s p r u c h " (zitiert nach K. »>. Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen
Verfassung, in: C . J o e r g e s / Y . M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), W h a t Kind of Constitution
for W h a t Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 2000. S . 6 1 ff.. 6 1 ) Einerseits
neige Deutschland dazu. ..die Nation zu verteufeln" (vgl. D I E ZEIT. 7. Juni 2 0 0 0 . S. 13),
andererseits habe Fischer aber genau verstanden, d a s s die Nation ein „unentbehrlicher
Rahmen der demokratischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g " sei. Hinter diesen . Z w e i d e u t i g k e i t e n "
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 107
K o n k r e t e r b e k a n n t e n s i c h Juppe u n d Toubon z u e i n e m L e i t b i l d d e r „ N a t i o n a l -
s t a a t e n u n d d e r B ü r g e r " . A l s e h e m a l i g e r P r e m i e r u n d V o r s i t z e n d e r v o n Chiracs
S a m m l u n g s b e w e g u n g R P R s t a n d Juppe d e m P r ä s i d e n t e n n i c h t n u r n a h e , s o n -
dern er hatte auch seinen V e r f a s s u n g s e n t w u r f im A u f t r a g desselben ausgearbeitet.
Zielsetzung des Verfassungsentwurfes war unter anderem, den Bürgern eine ernst-
z u n e h m e n d e S t i m m e zu verleihen und Rechte der Mitgliedsstaaten zu garantieren.
D e n Verfassern ging es mit der A b s c h a f f u n g der K o m m i s s i o n , der A u f w e r t u n g
witterte Chevenement offensichtlich den Versuch. Fischer wolle den anderen „ein Konzept
aufzwingen, das ihm entspricht, aber nicht uns". In diesem Kontext ist auch das Zitat zu ver-
stehen. Deutschland müsse sich „von den Entgleisungen des Nationalsozialismus" erholen.
Dass die Deutschen den anderen einen europäischen Bundesstaat nach deutschem Vorbild
überstülpen wollen, schien auch J. Delors anzudeuten, wenn er hinter der Diskussion um
eine Verfassung „eine Arglist" vermutete (so in seiner Rede bei einem Kolloquium der
Friedrich-Ebert-Stiftung. „Die Europäische Avantgarde" in Paris, 2001. S. 1). Obwohl er
die Position Chevenements ablehnte, meinte auch H. Vedrine: „ N i e m a n d kann behaupten,
eine .Patentlösung" für Europa zu haben". Er betonte wiederholt, die Antwort auf Her-
ausforderungen könne „nur das Ergebnis einer wirklichen, loyalen 1... 1 Diskussion s e i n "
(vgl. H. Vedrine. Schreiben an den deutschen Außenminister J. Fischer, vom 8. Juni 2000.
a b r u f b a r unter i g . c s . t u - b e r l i n . d e / o l d s t a t i c / w 2 0 0 1 / e u l / d o k u m e n t e / ) . Nicht allein, weil er
sich in der Position des Ratsvorsitzes zu diesem Zeitpunkt um kurzfristigere Ziele kümmern
musste. stand Vedrine der Verfassungsidee skeptisch gegenüber. Auch bei ihm rief das
Schlagwort „Föderation" Souveränitätsverlustängste hervor: „Wenn man die Direktwahl
des Präsidenten der Föderation, der deren Außen- und Sicherheitspolitik unter der Kontrolle
des Parlaments umzusetzen hätte, in E r w ä g u n g zieht, welche Zuständigkeiten verbleiben
dann dem Nationalstaat? J . . . 1 W i e lange gäbe es in Frankreich noch einen Präsidenten
I . . . ] und in Deutschland noch einen Bundeskanzler?" (vgl. Vedrine. ebenda). Auch T. Blair
sah in Fischers Konzept ein etatistisch geprägtes Leitbild, welches er dem konföderalen
Modell der britischen Konservativen gegenüberstellte: „Zwei Modelle wurden bis jetzt
vorgeschlagen: Europa als eine bloße Freihandelszone, und das klassische föderalistische
Modell, in dem Europa seinen Kommissionspräsidenten wählt und das Europäische Parla-
ment eine echte Legislative und Europas wichtigste demokratische Kontrollinstanz wird".
Europa dürfe aber nie ein „Superstaat" werden, denn die wichtigste Quelle demokratischer
Legitimität seien die direkt gewählten nationalen Parlamente und Regierungen: „Europa ist
ein Europa freier, unabhängiger souveräner Nationen, die frei wählen, ihre Souveränität in
ihrem eigenen Interesse und zum gemeinsamen Gut zusammenschließen" (vgl. ders. Speech
to the Polish Stock Exchange. 2000. S. 5 ff.) Außerdem sei es für die Briten a u f g r u n d ihrer
eigenen Verfassungstradition „einfacher zu verstehen", d a s s eine konstitutionelle Debatte
nicht unbedingt in e i n e m einzigen D o k u m e n t enden müsse, schon gar nicht bei einer so
„dynamischen und komplexen Einheit w i e der E U " . Auch für Blair war das von Fischer
vorgeschlagene „Gravitationszentrum" mit eigenen Institutionen nicht akzeptabel. Statt
eines „Superstaates" sah (und sieht) Blair Europa als „ S u p e r m a c h t " und „wirtschaftliches
K r a f t w e r k " (vgl. ders. (2000). S. 7).
278
J. Chirac, Rede z u m zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000.
S. auch ders.. Rede v o r d e m Deutschen Bundestag: „Unser Europa", 27. Juni 2000. wonach
die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker „auch in Z u k u n f t die Nationen darstellen"
würden.
108 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
W ä h r e n d Biedenkopf d i e A b s i c h t v e r f o l g t e , „ i n e i n e m P r o z e s s d e r R e g i o n a -
lisierung ( . . . ] die L ä n d e r auf Kosten der nationalen Parlamente über die Re-
gionalpolitik der E u r o p ä i s c h e n Union zu s t ä r k e n " 2 s l , hielt der g l ü c k l o s e nieder-
s ä c h s i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t S . Gabriel d e n E r h a l t d e s N a t i o n a l s t a a t e s f ü r e i n e
Vorraussetzung, „wirklich ernsthaft eine Revitalisierung des Föderalismus in
D e u t s c h l a n d d u r c h z u s e t z e n " 2 8 2 . D e s h a l b s a h Gabriel a u c h k e i n e n W i d e r s p r u c h
279
Siehe A. Juppe/J. Toubon, Constitution de 1'Union Europeenne. Contribution ä une
reflexion sur les institutions futures de l ' E u r o p e . vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . a b r u f b a r unter w w w
.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Chiracs Leitbild ist zwar moderater. doch erwähnt er
beispielsweise die Kommission auch nicht.
280
Vgl. K. Biedenkopf, Europa vor d e m Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und
Herausforderungen", Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin.
4. D e z e m b e r 2000.
281
So K. von Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/
Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), W h a t Kind of Constitution for W h a t Kind of Policy?
Responses to Joschka Fischer. 2000. S. 61 ff., 70.
282
S. Gabriel, Regierungserklärung am 21. Juni 2000 in Hannover, abrufbar unter w w w
.eiz-niedersachsen.de/uploads/media/ef-2000-1 .pdf.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 109
zwischen dem Erhalt der Nationalstaaten und der Stärkung der Regionen: Ein
„Verfassungsvertrag, der die Souveränitäts- und Kompetenzverteilung zwischen
Europa und den Nationalstaaten horizontal und vertikal regelt", sollte nämlich
gleichzeitig „den Regionen und Ländern Spielräume verschaffen, auf der Grund-
lage ihrer jeweiligen Verfassungen die Kompetenzen mit ihren Nationalstaaten zu
regeln".
Allen Konzepten der Bundesländer ist die zentrale Forderung nach einer verfas-
sungsmäßigen Kompetenzabgrenzung zwischen den Regionen und der Europäi-
schen Union gemeinsam, um der „Erosion regionaler Handlungsspielräume" 2 8 3
durch immer weitere Kompetenzerweiterung der europäischen Ebene entgegenzu-
wirken und diese wiederzugewinnen. So forderte im trivialen Duktus der rheinland-
pfälzische Ministerpräsident K. Beck: „Die Rechte der Bundesländer müssen in
die EU-Verfassung". 2 8 4
In diese Kategorie fallen jene Akteure, die in ihren Reden und Äußerungen
keinem fest definierten Muster folgten, aber mit einer Verfassung die Einbeziehung
der supranationalen Institutionen garantieren wollen. Dazu sind die Kommission,
das Europäische Parlament (bereits aufgrund der Heterogenität der immanenten
Ansätze), sowie G. Verhofstadt (bis 2005) und P. Lipponen als Vertreter kleinerer
Mitgliedsstaaten zu zählen. Auch C. Ciampi wollte sich nicht an „starre Schemata
gebunden fühlen". 2 8 5
283
So der damalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens W. Clement. Europa ge-
stalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza, Rede in Berlin.
12. Febr. 2001, a b r u f b a r unter w w w . p r e s s e a r c h i v . n r w . d e / 0 l _ t e x t d i e n s t / 1 2 _ r e d e n / 2 0 0 l
/mskr20010212_l.htm.
284
Interview mit K.Beck in der FAZ. 2 . J u l i 2 0 0 0 . S . 5 . Auch E.Stoiber sah den
Kernpunkt eines Verfassungsvertrags Europas in der Frage: „Welche Kompetenzen be-
halten die Nationen und Regionen?", vgl. ders., Rede am 13. November 1999 in München,
a b r u f b a r unter www.bayem.de/Presse-Info/Regierungserklaerun^en/pdf/reg_(K)0322.pdf
?PHPSESSID.
285
C. Ciampi. Rede anlässlich der Verleihung der E h r e n d o k t o r w ü r d e der Universi-
tät Leipzig. 6. Juli 2000. a b r u f b a r unter www.quirinale.it/ex_presidenti/Ciampi/Discorsi
/Discorso.asp?id=12718, mit dem weiteren Hinweis, dass „ [ . . . ] die Begriffe Bundesstaat.
Staatenbund oder Staatenverbund unterschiedliche Hypothesen (verkörpern], die in neuen,
kombinierten Formen allesamt brauchbar sind".
110 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
gezeigt. Nur einheitliches Handeln, welches auf dem institutionellen Dreieck der
Gemeinschaftsmethode beruhe, würde auch in Zukunft zu Ergebnissen führen. 2 8 6
Das Parlament verfolgte wohl eine ähnliche Absicht, als es ein Leitbild der „Uni-
on der Staaten und Bürger" benannte, die den Ministerrat und das Parlament als
wirklich gleichberechtigte Legislativen vorsehen sollte. 2 " Gleichzeitig betonten
die meisten der genannten Akteure, dass sie damit weder für die „Staatswerdung
Europas" noch etwa für einen „europäischen Superstaat" plädierten. 2 8 8 Einmal
mehr sollte der Hinweis folgen, die Europäische Union sei eine Rechtsordnung
sui generis.
(e) Zwischenfazit
286
R. Prodi, Rede vor d e m Europäischen Parlament am 17. Januar 2001. a b r u f b a r un-
ter europe.eu.int/comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/index_de.htm. Nach G. Verhofstadt.
Welche Z u k u n f t für welches Europa? Rede am 24. Juni 2001. a b r u f b a r unter www.europa-
digital.de/aktuell/dossier/reden/verhofstadt.shtml. könnten ..Transparenz. Effizienz. Legiti-
mität" nur mit der G e m e i n s c h a f t s m e t h o d e gewährleistet werden. ..Eine .starke Kommission*
müsse ihre Kraft aus einem .neuen Verhältnis mit den anderen Institutionen* schöpfen,
mit e i n e m Rat. der die Prioritäten d e r Union festlege und z u s a m m e n mit d e m Parlament
als Gesetzgeber fungiere (vgl. ders. A Vision of Europe. Rede vom 2 1 . 9 . 2 0 0 0 . a b r u f b a r
unter w w w . t h e e p c . b e / A b o u t _ T h e _ E P C / E P C _ D o c u m e n t s / C o m m u n i c a t i o n s _ D o c / 3 0 5 . a s p
?ID=305). Für P. Lipponen. Speech at the College of Europe. Brügge. 10. November 2000.
a b r u f b a r unter www.vn.fi/english/speech/20001110e.htm.. war die Kommission von „aus-
schlaggebender Bedeutung", damit in Z u k u n f t nicht mehr die größeren über die kleineren
Staaten dominieren könnten. Dies würde auch die Gleichberechtigung j e d e s Mitglieds im
Ministerrat nötig machen.
287
So im Bericht des Europäischen Parlaments zu der Konstitutionalisierung der
Verträge. 2000. S. 17.
288
Vgl. G. Verhofstadt. A Vision of Europe. Rede des belgischen Ministerpräsidenten
v. 2 1 . 9 . 2 0 0 0 . ebenda sowie K. Hänsch. Ziel und Z u k u n f t der Einigung Europas. Rede auf
der Landestagung der Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000. a b r u f b a r unter w w w . e u r o p a -
web.de/europa/01 lvkvjf/102LY7haensch.htm.
289
Vgl. umfassend auch 5. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Ver-
fassung, CAP-Working Paper. 2001. S. 30 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 111
Maßgeblich für diese Untersuchung ist die Feststellung, dass bisher alle politi-
schen Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte gescheitert sind, sich aber
gleichzeitig die juristische Auffassung durchsetzen konnte, der rechtliche Rahmen
der Europäischen Union habe sich bereits weitgehend zur Verfassung entwickelt.
Um diesen Widerspruch zu erklären, sind vier essentielle Funktionen und Merk-
male einer modernen Verfassung anzusetzen und auf den europäischen Kontext
zu übertragen, nämlich die Legitimationsfunktion (Berufung auf eine verfassungs-
gebende Gewalt und Garantie von Partizipationsrechten), Organisationsfunktion
(vertikale und horizontale Gewaltenteilung), Begrenzungsfunktion (individuelle
Bürger- und Menschenrechte) sowie die Integrations- und Identifikationsfunktion
(klare Festlegung von Normen und Werten).
Alle Beobachter und Politiker betonten während der Debatte um eine künftige
Verfassung, dass die Legitimationsquelle der Europäischen Union nicht allein
aus dem bisherigen Europäischen Parlament entspringen könne. J. Fischer griff
hier - wenn auch nicht explizit - die These auf. dass das Europäische Parlament
nie die Rolle der nationalen Parlamente übernehmen könne, denn ein „Faktum
der europäischen Realität sind ( . . . ) die unterschiedlichen politischen National-
kulturen und deren demokratische Öffentlichkeiten, getrennt zudem noch durch
die auffälligen Sprachgrenzen" 2 9 1 . Ähnlich argumentierte auch J. Chirac: Wegen
ihrer „politischen, kulturellen und sprachlichen Traditionen" würden „auch in
Zukunft die Nationen die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker darstellen". 292
Laut C. Ciampi sollte eine europäische Verfassung erforderlich sein, um zu „de-
290
K. v. Bewne. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C . J o e r g e s /
Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), W h a t Kind of Constitution for W h a t Kind of Policy?
Responses to Joschka Fischer. 20(X). S. 61 f f . 67.
291
J. Fischer. Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der
Europäischen Integration. Rede an der Humboldt-Universität Berlin. 12. Mai 20(X).
292
J. Chirac. Rede vor d e m Deutschen Bundestag am 27. Juni 20(X). in: FAZ Nr. 147
v. 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f.
112 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
monstrieren, dass die letztliche Quelle für die Legitimität der Institutionen der
Europäischen Union bei den Bürgern liegt", ohne dass sie dabei „die Identität
der einzelnen Nationen auslöscht". 29 - Eine europäische Verfassung sollte deshalb
die Souveränität der EU-Bürger auf beiden Ebenen, der europäischen wie der na-
tionalen. garantieren. Fischer folgerte daraus: „Ein europäisches Parlament muss
deswegen immer ein Doppeltes repräsentieren: Ein Europa der Nationalstaaten
und ein Europa der Bürger". 2 ^ Diese „Souveränitätsteilung" sollte sich in einem
Zwei-Kammer-System manifestieren, von dem eine Kammer die Bürger und die
andere die Staaten vertritt.
293
C. Ciampi, Rede anlässlich der Verleihung der E h r e n d o k t o r w ü r d e der Universität
Leipzig, 6. Juli 2000.
294
J. Fischer (2000).
295
Tatsächlich hatte J. Kau in den Namensartikeln in Le Monde und der FAZ schon
im November 1999 für dieses System plädiert, es fand aber nicht ein vergleichbares Echo:
vgl. FAZ. 4. November 1999. S. 8: ..Die Quelle der Legitimation deutlich m a c h e n " . Nach
Fischers ursprünglicher Auffassung sollten die Abgeordneten der ersten K a m m e r zunächst
..zugleich Mitglieder d e r Nationalparlamente" sein, denn nur so sei gewährleistet, dass
das EP die „unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten tatsächlich z u s a m m e n f ü h r t " ,
vgl. ders. In seiner H u m b o l d t - R e d e (2000). ebenda.
296
Da es zeitlich nicht möglich sei, gleichzeitig zwei M a n d a t e ..auch nur annähernd
sachgerecht a u s z u ü b e n " , f ü h r e ein solches Doppelmandat zu einer ..Schwächung des
Europäischen Parlaments und seiner Kontrollfunktion", vgl. dazu den Bericht über das Dis-
kussionsforum am Walter-Hallstein-Institut vom 22. Juni 2000 mit Johannes Voggenhuber.
M d E P und Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (Grüne): „Umfassen-
de Demokratisierung gefordert. Gegenposition zu Joschka Fischer aus d e m Europäischen
Parlament".
297
Dazu SZ. 7. Juli 2 0 0 0 . S. 8: „Rede vor d e m Europäischen Parlament in Straßburg:
Fischer fordert Entscheidungen über die Z u k u n f t der E U " . Das Redemanuskript des Aus-
wärtigen A m t e s entspricht der im Wesentlichen frei gehaltenen Rede nur in Grundzügen.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 113
Im Zuge von Nizza plädierten auch Regierungschefs verstärkt dafür, den Rat
und das Europäische Parlament zu den Kammern einer einzigen Legislative
zu entwickeln, wobei ein ständiger Rat als Beauftragter der Mitgliedsstaaten
fungieren sollte, und das Europäische Parlament als Vertreter der europäischen
V ö l k e r . E i n drittes Modell zielte darauf ab, die Partizipationsmöglichkeiten der
Bürger durch mehr Mitspracherechte der Regionen auszuweiten. 301
298
So beispielsweise J. Rau. der f ü r die gleichberechtigte Repräsentation mit einer
..gleichen Anzahl von S t i m m e n " in der zweiten K a m m e r warb (vgl. ders., Rede beim VIII
Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000).
299
Verfechter von mehr Supranationalität forderten ein Zwei-Kammer-System, in dem
das Europäische Parlament und d e r Ministerrat gleichberechtigt Gesetze erlassen könnte.
Teile des Europäischen Parlaments sahen vor, dass die „Komposition, das Funktionieren
und die Balance zwischen den Institutionen der U n i o n " die „doppelte Legitimität als
eine Union der Völker und eine Union der Staaten" reflektieren müsse, und zwar durch
den „Ministerrat und das Europäische Parlament" (Konstitutioneller Ausschuss: Bericht
über die Vorschläge des Europäischen Parlaments für die Regierungskonferenz. Dok. Nr.:
A 5 - 0 0 8 6 / 2 0 0 0 , 27. M ä r z 2000. S . 5 : ..An overall equilibrium must be Struck between
the small and large States [ . . . ] therefore [ . . . ] the constitutional principle that the Union
of Peoples is represented by the European Parliament and the Union of the States is
represented by the Council"). Zahlreiche Abgeordnete forderten in A n l e h n u n g an die
früheren Verfassungsentwürfe aus der Mitte des Europäischen Parlamentes ein „echtes
Z w e i - K a m m e r - S y s t e m " , in d e m „alle Gesetzgebung doppelt legitimiert sein muss: Durch
eine Mehrheit der gewichteten Stimmen der Mitgliedsstaaten im Rat und durch eine
Mehrheit im Parlament" (Vgl. dazu etwa die Rede von K. Hänsch auf der Landestagung der
Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000: sowie das Papier von W. Görlach/J. Leinen/R. Linkohr.
Europa als demokratischer Staat, in: H. Mahrhold. Die neue Europadebatte. 2001, S. 298 ff.).
Der konstitutionelle Ausschuss modifizierte diese Forderung, indem er die „Aufteilung in
zwei Gruppen von Rechtsakten" verlangte, „in denen das Parlament oder der Rat das letzte
Wort h a b e n " sollten (ebenda. S. 17).
100
Laut G. Verhofstadt sollte im Rat die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit
gefasst werden, und das Europäische Parlament ein generelles Mitentscheidungsrecht erhal-
114 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ten ( vgl. ders.. Rede in Göttweig am 24. Juni 2001, S. 9). Das gleiche Konzept schlug auch
J. Rau vor: ..Der Ministerrat soll zur S t a a t e n k a m m e r werden, in der j e d e r Staat, vertreten
durch seine Regierung, abstimmt". Das Europäische Paralment würde zur ..Bürgerkam-
m e r " werden. Beide K a m m e r n sollten ..gleichwertig und gleichberechtigt entscheiden"
(J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung. Rede vor dem Europäischen Parla-
ment am 4. April 2001. S. 5). Auch W. Clement forderte, dass das Europäische Parlament
..als Bürgerkammer in allen Bereichen mit d e m Rat gleichberechtigt entscheiden" sollte
(vgl. ders, Europa gestalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza.
12. Febr. 2001). Ahnlich argumentierte auch E.Stoiber, der beiden - Rat und Europäi-
schem Parlament - ein Initiativrecht zubilligte (ders., Reformen für Europas Z u k u n f t . Rede
in Berlin. 27. S e p t e m b e r 2000, a b r u f b a r unter w w w . b a y e r n . d e / B e r l i n / V e r a n s t a l t u n g e n
/ R e d e n a r c h i v / ? P H P S E S S l D = e b 0 6 8 7 5 d 9 0 a 3 4 0 f 2 d 3 8 d 4 9 7 6 ) . Am weitesten ging Bundes-
kanzler G. Schröder. Er plädierte nicht nur für den „Ausbau des Rates zu einer europäischen
S t a a t e n k a m m e r " und für die „weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes
mittels Ausweitung der Mitentscheidung", sondern forderte d a m a l s als einziger Regie-
rungschef die „volle Budgethoheit" für das Europäische Parlament (hier G. Schröder in
seiner Funktion als SPD-Parteichef, zitiert nach dem SPD-Leitantrag „Verantwortung
für Europa", 30. April 2001, S. 2). Überlegungen auf französischer Seite waren diesen
bundesstaatlichen Tendenzen entgegengesetzt. Die Neogaullisten A. Juppe und J. Toubon
verorteten Legitimität und Kompetenzkompetenz hauptsächlich bei den Nationalstaaten. In
ihrem Verfassungsentwurf vom Juni 2000 ist die „ C h a m b r e des Nations" der K a m m e r der
europäischen Abgeordneten deutlich übergeordnet, vgl. eingehender 5. Volkmann-Schluck,
Die Debatte um eine europäische Verfassung, C A P - W o r k i n g Paper. 2001. S. 34 ff.
301
So argumentierten etwa K. Biedenkopf in seiner Rolle als Ministerpräsident, sowie
die Regierungschefs der kleineren Staaten. W ä h r e n d vor allem in den bevölkerungsrei-
cheren Mitgliedsstaaten der Nationalstaat nur einen „geringen Bezug zur Bevölkerung"
herstellen würden, erlaube die „kleinere, überschaubare Einheit" der Region den Bür-
gern mehr Partizipationsmöglichkeiten. Die Regionen wären d e m n a c h „angesichts ihrer
besseren Vergleichbarkeit nach äußerer G r ö ß e und innerer Homogenität eine geeignetere
Basis staatlicher Repräsentanz in E u r o p a " als die „größeren, sehr verschiedenen Natio-
nalstaaten" (K. Biedenkopf. Europa vor d e m Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und
Herausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität Berlin.
4. D e z e m b e r 2000. S . 8 ) . Auch R Lipponen und G. Verhofstadt betonten die „wachsende
Bedeutung der Regionen" (P. Lipponen, Speech at the College of Europe in Brügge. 10. No-
vember 2000. S . 4 ; G. Verhofstadt. A Vision for Europe. Rede vor d e m European Policy
Center in Brüssel, 21. September 2000. S . 7 ) . Biedenkopf schlug sogar vor. dass die Zwei-
te K a m m e r überhaupt nicht die Nationalstaaten vertreten solle, sondern sich aus d e m
Ausschuss der Regionen entwickeln könnte (ebenda (2000)).
302
Vgl. aber aus der politikwissenschaftlichen Lit. mit zahlreichen Nachweisen
5. Volkmann-Schluck. Die Debatte um eine europäische Verfassung. C A P - W o r k i n g Pa-
per. 2001. S. 38 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 115
303
Aus der Lit. P.Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, S. 137 f..
4 0 6 ff.; M. Brenner. Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union.
1996. S. 157 ff.. R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur
Begrenzung der A u s ü b u n g von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus, Rechts-
bindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), G e m e i n s a m e s Verfassungsrecht in der
Europäischen Union. 1998. S. 99 ff.; P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen
und europäischen Organen, in: JZ 1998. S. 9 6 5 ff.: H.-D. Horn, Ü b e r den Grundsatz der
Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspek-
tive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel. Das amerikanische
Regierungssystem. 2. Aufl. 1962, S. 106. Siehe des weiteren M. Simm. Der Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Z u m ..institutionel-
len Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003, S. 217.
304
Vgl. unter B.II.2.0").
116 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein weiterer wichtiger Grund für die fehlende Akzeptanz der Europäischen
Union bleibt freilich - auch praekonstitutionell - die Undurchsichtigkeit der Ver-
träge. Zudem sind die „Wahrnehmungsmängel" der bereits in den EU-Verträgen
und durch die Rechtssprechung garantierten europäischen Grundrechte wohl auch
entscheidende Gründe für wachsende Unzufriedenheit, Desinteresse und „Euro-
Müdigkeit" der Bürger, die in den letzten Europawahlen in nahezu allen Mitglieds-
staaten in bisher kaum für möglich gehaltene Wahlverweigerung umgeschlagen
sind.
Das Problem hatte spätestens mit der Erweiterungswoge im Jahre 2(K)4 noch
an Dringlichkeit und Umfang zugenommen. Nachdem die Vergrößerung der
305
Kritisch zur „ W e r t e g e m e i n s c h a f t " R. Streinz, Der europäische Verfassungspro-
zess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages
und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der A k a d e m i e für Politik
und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung. 2008. S. 13 ff. Vgl. auch M. Herdegen. Die
Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Festschrift für
Rupert Scholz. 2007. S. 139 ff.
306
So Bundeskanzler G. Schröder in seiner Regierungserklärung vom 19. Januar 2001
(vgl. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 117
307
J. Fischer; Vom Staatenverbund zur Föderation- Gedanken über die Finalität der euro-
päischen Integration. Abdruck seiner Rede vor der Humboldt Universität Berlin (2000). Die
..für die Europapolitik unverzichtbare Akzeptanz" würde sich auch laut Fischer deshalb nur
dann einfinden, wenn der ..Zugang der Bürger zum Recht" verbessert wird (vgl. auch ders.,
Rede zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere, 28. Oktober 1999).
M8 D j e s e Ü b e r l e g u n g resultierte aus dem Bericht der ..Drei Weisen", den die Kom-
mission im Oktober 1999 in Auftrag gegeben hatte (vgl. European University Insti-
tute. A Basic Treaty for the European Union, 2 0 0 0 sowie Centrum für angewand-
te Politikforschung. Ein Grundvertrag f ü r die Europäische Union. 2000). Die Kom-
mission stieß deswegen die Diskussion um die ..Neugestaltung der vorhandenen Tex-
te"(vgl. die Rede von R. Prodi, Nizza - und danach. 29. November 2000. a b r u f b a r un-
ter www.europa.eu.int/rapid/start/cgi/guesten.ksh?p_action.gettxt=gt&doc=SPEECH/00
/ 4 7 5 % 7 C 0 % 7 C R A P I D & l g = D E ) bereits in der ersten Phase der Debatte an.
""' /. Pernice. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996.
S. 27 ff. Die von /. Pernice entwickelte Konzeption des Verfassungsverbunds hat inzwischen
hohen Bedeutungsgrad in der deutschen Debatte erlangt. Danach stehen Verfassung und
Rechtsordnung des Verbands ..Europäische Union" und der mitgliedstaatlichen Verbände in
einem so engen Verhältnis der gegenseitigen Verweisung, der gegenseitigen Anhängigkeil
und der Verflechtung, dass man die klassisch-völkerrechtliche Sichtweise (unabhängiger
Staat und internationaler Z u s a m m e n s c h l u s s ) überwinden müsse. Europäische Union und
Mitgliedstaaten sind danach rechtsnormativ in einer Weise z u s a m m e n g e w a c h s e n , dass
man sie als Bestandteile eines miteinander z u s a m m e n g e w a c h s e n e n Verbundes betrachten
müsse. Die zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bestehende Trennung werde durch
den Prozess des konstitutiven Z u s a m m e n Wachsens aufgehoben. E U - R e c h t s o r d n u n g und
118 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
einer Verfassung entfalten, weil die Bürger sich nicht als Träger des europäischen
Gemeinwesens verstehen. Die Verträge können also die Identifikations- und In-
tegrationsfunktion einer Verfassung kaum erfüllen. Die Komplexität führte aber
nicht nur zu mangelnder Akzeptanz und Entfremdung von der Europäischen Uni-
on. sondern auch zu Koordinationsproblemen im politischen System selbst, womit
auch die mangelhafte Organisationsfunktion der Verträge erneut angedeutet wäre.
Unter dem Strich trugen alle Defizite im Bereich der Legitimation, Organisation
und Begrenzung europäischer Macht zur mangelnden Identifizierung der Bürger
mit Brüssel bei. Dramatisch (und fälschlicherweise gerne gleichgesetzt mit dem
vorangegangenen Gedanken) war in der Folge auch der Identitätsverlust seitens
der Europäischen Union.
kes 310 ab und bieten dem Bürger nur unzureichende Möglichkeiten, die Politik
der Union demokratisch mitzugestalten. Erschwerend kommen die Sprachbarrie-
ren zwischen den Mitgliedsstaaten hinzu, die verhindern, dass eine europäische
Öffentlichkeit 3 " zustande kommt, die für das Funktionieren einer Verfassung
unerlässlich ist. Auch aus diesem Defizit lässt sich schließen, dass eine europäi-
sche Konstitution nicht die staatlichen Verfassungen ersetzen kann, weil sie nicht
gänzlich über die nötigen demokratischen Strukturen und Voraussetzungen, wie
sie üblicherweise vom Staat gewährleistet werden, verfügen würde.
310
Z u m ..Volksbegriff* aus der Lit: A. Augustin, D a s Volk der Europäischen Union. Zu
Inhalt und Kritik eines normativen Begriffs, 2()(X): vgl. P. Hüberle, Europäische Verfas-
sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 306 f.
311
Grundlegend P. Hüberle, „europäische Öffentlichkeit"?. 2001 zuvor schon in: Fest-
schrift Hangartner. 1998. S. 1007 ff.
312
Zitate nach R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der E G .
in: R. W i l d e n m a n n (Hrsg.): Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union.
1991. S. 393 ff.. 4 1 2 f.
120 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
In der Literatur ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass das Primärrecht
der Europäischen Union Verfassungsqualität 3 1 4 hat. dass aber unter Zugrundele-
gung eines substantiell angereicherten Verfassungsbegriffs Defizite bestehen.
313
/. Pernice. Der europäische Verfassungsverbund auf d e m W e g der Konsolidierung,
in: J ö R . Bd. 48 (2000). S. 205 ff., 210.
314
Grundsätzlich zur Frage eines konstitutionellen Europas: PHäberle, Europäi-
sche Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999; ders.. Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001: M. Zuleeg,
Die Vorzüge der europäischen Verfassung, in: Der Staat 41 (2002), S. 359 ff.: R. Scholz. We-
ge zur Europäischen Verfassung, in: ZG 2002. S. I ff.; A. von Bogdandy. Europäische Prinzi-
pienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. 2003. S. 149 ff.; I. Pernice. Die
Europäische Verfassung, in: Festschrift Steinberger, 2002. S. 1319 ff.: H.H. Rupp. Anmer-
kungen zu einer Europäischen Verfassung, in: JZ 2003, S. 18 ff.; E. Pache. Eine Verfassung
für Europa - Krönung oder Kollaps der Europäische Integration?, in: EuR 2002. S. 767 ff.
' 1 5 Vgl. dazu allgemein A. Riklin, Die Europäische G e m e i n s c h a f t im System der Staa-
tenverbindungen. 1972.
316
W. Hallsrein. Die Europäische G e m e i n s c h a f t , 1. Aufl. 1973, S . 4 9 : H. P.lpsen, Eu-
ropäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 197 ff., sieht in der G e m e i n s c h a f t einen Zweck-
verband und unterstreicht damit auch den Unterschied zur „Staatlichkeit als u m f a s s e n d e r
geistig-sozialer Wirklichkeit, potenziell unbeschränkter Kompetenzfülle von Gebiets- und
Personalhoheit". Zu \V. Hallstein: M. Kilian, Der Visionär, in: C . D . C l a s s e n u . a . (Hrsg.),
..In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber a m i c o r u m T h o m a s
O p p e r m a n n . 2001. S. 119 ff. Hallsteins Werke dürfen zu den Klassikern des gemeinschafts-
rechtlichen S c h r i f t t u m s gezählt werden, vgl. auch ders., Der unvollendete Bundesstaat.
Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. 1969. Zur Europäischen Union als ..Rechtsge-
m e i n s c h a f t " R. Streinz, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft. Rechtsstaatliche
Anforderungen an einen Staatenverbund, in: Festschrift für Detlev Merten. 2007. S. 395 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 121
317
E u G H Slg. 1986. 1339 (1365 f.).
318
Vgl. auch W. Hummer. ..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instru-
mente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungs-
konvent - Strategien und Argumente. Sonderheft 1/2003, S. 53 ff. 55 f.: umfassend bereits
VV. Meng, Das Recht der internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des
Völkerrechts. Zugleich eine Untersuchung zur Rechtsnatur des Rechts der Europäischen
G e m e i n s c h a f t e n , 1979.
319
Zur rechtlichen Natur der Europäischen Union sei noch ergänzt, dass die Union
zunächst auf mehreren, in der Art der Z u s a m m e n a r b e i t zwischen den Staaten abgestuften
Gemeinschaften basiert. Diese „drei Säulen E u r o p a s " umfassen die Europäischen Gemein-
schaften als erste Säule (Die Europäischen G e m e i n s c h a f t e n (die E G . die E G K S - im Jahr
2 0 0 2 in die Anwendungsbereiche des E G V überführt - sowie die Euratom) bilden seit
dem am 0 1 . 1 1 . 1 9 9 3 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht Untereinheiten der Euro-
päischen Union und wurden durch diesen Vertrag ergänzt um PJZ und GASP. vgl. etwa
M. Herdegen, Europarecht. 8. Aufl. 2006. S . 3 8 f . ) , die G e m e i n s a m e Außen- und Sicher-
heitspolitik ( G A S P ) als zweite Säule sowie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen (PJZ) als dritte Säule. W ä h r e n d es sich bei der zweiten und dritten Säule
um Strukturen mit rein intergouvernementaler Z u s a m m e n a r b e i t handelt, die teilweise auf
die Organe der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n zurückgreifen, bilden die Europäischen Ge-
meinschaften eine besondere Form völkerrechtlicher Verträge durch Ihren Charakter als
„supranationale Organisationen" und sind in ihrer rechtlichen Gestalt weltweit einzigartig
(so auch M. Heintzen, Vom Dickicht der Verträge zur europäischen Verfassung? Vortrag
vom 27. 11.2000 im Rahmen des Studienganges Journalisten-Weiterbildung der Freien Uni-
versität Berlin. www.fu-berlin.de/jura/netlaw/pubikationen/beitraege/ssOO-heintzen.html).
Wesentlich f ü r die B e g r ü n d u n g dieses supranationalen S t a a t e n z u s a m m e n s c h l u s s e s ist die
Übertragung von Teilen nationaler Hoheitsgewalt durch die Mitgliedstaaten auf die Europäi-
schen Gemeinschaften. Dadurch liegt sowohl legislative als auch judikative Entscheidungs-
und Regelungsgewalt gegenüber den Völkern dieser Staaten in den Händen der Europäi-
schen Gemeinschaftsorgane, die beispielsweise im Fall der Europäischen Kommission und
des E u G H auch unabhängig von nationaler Willensbildung tätig werden. Das Primärrecht
der Europäischen Union setzt sich z u s a m m e n aus d e m primären Gemeinschaftsrecht (das
durch die vertraglichen Grundlagen der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n gebildet wird) und
den Grundlagenverträgen der Europäischen Union, das Sekundärrecht besteht aus allen
Rechtsakten, die auf der G r u n d l a g e des Primärrechtes gesetzt werden und ebenfalls mit-
telbare als auch unmittelbare W i r k u n g a n n e h m e n können. Die sog. intergouvernementale
Z u s a m m e n a r b e i t wirkt insbesondere in den Bereichen der zweiten und dritten Säule der
Europäischen Union, in denen die Staaten auf d e r G r u n d l a g e völkerrechtlicher Verträge,
die j e d o c h auf das jeweilige nationale Recht nur mittelbaren Einfluss haben, kooperieren.
Nur die Europäischen G e m e i n s c h a f t e n sind sowohl im völkerrechtlichen Sinne als auch
im innerstaatlichen Rechtsverkehr im Rahmen der Kompetenzen der EG rechtsfähig. (Aus-
drücklich anerkannt in den drei Gründungsverträgen: Art. 281 und 282 EGV. Art. 6 E G K S
122 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
sowie Art. 184 und 185 Euratom). Die EU sollte dagegen bisher augenscheinlich keine auf
völkerrechtlicher Ebene rechtsfähige Organisation sein (vgl. M. Herdegen (2006). S . 6 5 ) .
320
T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 398 ff.
321
C. F. Ophüls, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassungen, in:
J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung 1. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft.
1965. S. 229 ff.
322
Vgl. H.P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs f ü r die Inte-
gration. in: J. Schwarze (Hrsg.). Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und
Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 29 ff. Siehe bereits ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht.
1972, S. 64. wo vom ..Inbegriff des P r i m ä r r e c h t s " als der ..materiellen Verfassung der
G e m e i n s c h a f t " die Rede ist.
323
Vgl. H.P. Ipsen. Fusionverfassung Europäische G e m e i n s c h a f t e n , 1969. S. 54.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 123
konstituieren sich die EU- und EG-Verträge eben auch nicht aus einem - beispiels-
weise revolutionären - Gründungsakt einer politischen Gemeinschaft, sondern
leiten sich aus dem Vertragsabschluss souveräner Staaten ab. Laut Art. 48 EUV
muss deshalb jede Änderung der EU-Verträge an den Anforderungen der nationa-
len Verfassungen gemessen und von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden,
und theoretisch können die Mitgliedsstaaten (in einer besonderen Ausdrucksform
jenes Attributes) als „Herren der Verträge" 324 die Mitgliedschaft wieder aufkün-
digen.
Was die EG- und EU-Verträge zunächst von internationalen Verträgen unter-
scheidet. ist der teilweise Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten durch die ver-
traglich festgelegte Errichtung einer supranationalen Behörde und eines Gerichts-
hofs. Die Kommission hat das alleinige Initiativrecht für Gesetze (Art. 211 EGV)
und kontrolliert die Implementierung dieser Gesetze auf nationaler Ebene. 325 Die
funktionale Ausweitung der Verträge auf immer neue Wirtschafts- und Politik-
bereiche und die damit verbundene Übertragung ursprünglich nationalstaatlicher
Kompetenzen auf die supranationale Ebene hat dazu geführt, dass die Verträge
wesentliche Funktionen übernommen haben, die im staatlichen Bereich von einer
Verfassung erwartet und erfüllt werden. In Bezug auf die Legitimationsfunktion
haben die Verträge dem ursprünglichen „Marktbürger" 3 2 6 im Integrationsprozess
immer mehr Partizipationsrechte gewährleistet. Dazu zählt seit 1979 das aktive
Wahlrecht zu den Direktwahlen des Europäischen Parlaments, was seit „Maas-
tricht" mit der Unionsbürgerschaft auch auf das aktive und passive Wahlrecht
bei Kommunalwahlen in j e d e m Mitgliedsstaat ausgeweitet wurde. Mit der Uni-
onsbürgerschaft erhielt der Einzelne auch das Recht, Eingaben und Beschwerden
an das Europäische Parlament zu richten. Dazu gibt es einen Bürgerbeauftrag-
324
Kritisch freilich P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 192. da
die Staaten „im EU-Europa ohnehin nicht m e h r .Herren der Verträge' sind." Im demokrati-
schen Europa könne es keine „ H e r r e n " geben. Die auf der würde des Menschen a u f b a u e n d e
..Bürgergemeinschaft E u r o p a s " m a c h e die Herrenideologie gegenstandlos (vgl. ebenda.
Fn. 21). P.Häberles Bezug zur ..Herrenideologie" erscheint j e d o c h ein wenig konstru-
iert - bei aller zugestanden unglücklichen Wortwahl.
Bei der G r ü n d u n g der Europäischen G e m e i n s c h a f t f ü r Kohle und Stahl ( E G K S ) im
Jahr 1950 eröffnete sich durch diesen Souveränitätsverzicht für Frankreich die Möglichkeit,
auf friedliche Weise den Kern des deutschen Wirtschaftspotentials zu kontrollieren, und
für den Kriegsverlierer Deutschland die gleichberechtigte A u f n a h m e in eine internatio-
nale Organisation. Ausgehend von diesem „kleinsten g e m e i n s a m e n N e n n e r " sollten die
Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, auf weiteren Gebieten „gemeinsame Lösungen zu
suchen", vgl. C. Giering. Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, 1997. S . 4 5 .
326
Zu diesem Begriff siehe auch S. Hobe. Die Unionsbürgerschaft nach d e m Vertrag
von Maastricht, in: Der Staat. Nr. 32 (1993). S. 2 4 5 ff.. 246.
124 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ten, der im Interesse der Bürger die Organe zu Stellungnahmen auffordern kann
(Art. 195 EGV). Gleichzeitig haben sich im Laufe der Integrationsgeschichte im-
mer mehr allgemein als „demokratisch" bezeichnete Rechtsgrundsätze entwickelt,
wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Rechtssicherheit.
327
Die Lit. zum ..Subsidiaritätsprinzip" ist uferlos. Vgl. etwa H. Lecheler, Das Subsidia-
ritätsprinzip - Strukturprinzip einer europäischen Union. 1993: P. Häberle, Das Prinzip der
Subsidiarität aus Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 118 (1994). S. 169 ff.:
A.Riklin/G. Batline r (Hrsg.). Subsidiarität. 1994: D.Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität
Europas. 1993.
328
Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staats-
angehörigkeit gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten"
(Art. 6. Abs. 3 EUV).
329
Die diesbezüglichen Ansätze des französischen Conseil Constitutionnel beleuch-
tet J. Dutheil de la Roche re, T h e French Conseil Constituionnel and the constitutional
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 125
richtsinstanz für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH als „Mark-
stein" rechtsschöpferischer Gerichtsbarkeit das Gemeinschaftsrecht von der völ-
kerrechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung
auf eine Verfassung entwickelt. 3 3 0
Der EuGH entschied bereits 1963 in der berühmten Rs. Van Gend & Loos, dass EG-
Recht anders als in internationalen Organisationen nicht nur für Staaten, sondern
auch unmittelbar für deren Bürger gilt, indem er den Bürgern die Möglichkeit gab.
Gemeinschaftsrecht vor ihren jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen. 1 ' 1 Die
nationalen Gerichte müssen demnach EG-Recht unabhängig von der jeweiligen
Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten anwenden. Mit der Ausweitung der Kla-
gemöglichkeit auf Einzelpersonen und Unternehmen ist der EuGH nicht mehr
nur ..Kontrollorgan der Staaten und der Gemeinschaftsorgane", sondern - wie ein
Verfassungsgericht - auch ein „Gralshüter" jener Rechte und Freiheiten der EG-
Bürger, die in den Vertragstexten begründet sind. 112 Den übergeordneten Charak-
ter des EG-Rechts vor nationalem Recht bestätigte der EuGH kurz darauf in der
Rs. Costa/ENEL:
„Mit d e r Übertragung von Hoheitsrechten [ . . . ] auf die G e m e i n s c h a f t [ . . . ] haben die
Mitgliedsstaaten ihre [ . . . ] Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper
geschaffen, der für sie und ihre Angehörigen verbindlich i s t . " 3 "
Ebenfalls in der Rs. Van Gend & Loos hatte sich der EuGH 1963 mit der Rechts-
natur der EWG und deren Gründungsvertrag auseinander zu setzen gehabt 335 und
dabei statuiert, dass der EWG-Vertrag „mehr ist als ein Abkommen, das nur wech-
selseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet"
sowie „dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt,
zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souve-
331
Vgl. E u G H . Rs. 2 6 / 6 2 . Van Gend & Loos. Slg. 1963, S. 1 ff.. 24.
332
So auch M.A. Dauses (1994). S. 215.
333
E u G H . Rs. 6 / 6 4 . C o s t a / E N E L , Slg. 1964. S. 1141 f f „ 1251.
334
Die Organe müssen d e m n a c h bei der Gesetzgebung, die Mitgliedsstaaten bei der
Umsetzung von EG-Recht diese Menschenrechte beachten. Auch ohne Grundrechtskatalog
gab es also genügend M e c h a n i s m e n , die sicherstellen, „dass die Organe und Mitglieds-
staaten die Grenzen der ihnen übertragenen öffentlichen Autorität nicht überschreiten" (so
U.K. Preuß. Auf der Suche nach Europas Verfassung, in: Transit 1999 (17). S. 154 ff.. 155).
335
Vgl. hierzu sowie zu den weiteren relevanten Ansätzen des E u G H W. Hummer.
..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode, in: Politische Studien. Sonderband
1/2003. S. 54 ff.. 57 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 127
..Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Über-
e i n k u n f t geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechts-
gemeinschaft dar." 541
336
E u G H . Rs. 2 6 / 6 2 , Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. I ff., 25.
337
E u G H . Rs. 6 / 6 4 . C o s t a / E N E L , Slg. 1964. S. 1141 ff.
338
E u G H . Gutachten 1/76 vom 26. April 1977, Stilllegungsfonds für die Binnenschiff-
fahrt.
Slg. 1977, S. 741 ff.
339
In der französischen Fassung: ..Charte constitutionnclle de base", vgl. insge-
samt E u G H . Rs. 2 9 4 / 8 3 . Parti'ecologiste ..Les Verts"/Europäisches Parlament. Slg. 1986.
S. 1339 ff.
340
E u G H . Rs. C - 2 / 8 8 . J.J. Zwartveld u . a . . Beschluss vom 13.Juli 1990. Slg. 1990.
S. 1-3365. Rdnr. 16.
341
E u G H . Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991, E W R . Slg. 1991 S. 6 0 7 9 ff.
128 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Schließlich sucht der EuGH in der Rs. Beate Weber wieder den Kontext zu seiner
Formulierung in der Rs. Zwartveld, indem er die Zulässigkeit einer Nichtigkeits-
klage damit begründet, dass „weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsor-
gane der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit
der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen'*. 342 Im Übrigen
stellte auch das EuG in der Rs. Martfnez fest, dass der Gründungsvertrag der EG
als „Verfassungsurkunde" der Gemeinschaft zu erachten ist. 341
Insgesamt lässt sich mit Blick auf die Leitentscheidungen des EuGH (insbeson-
dere 1963 und 1964) und angesichts der Parallelen zu den US-Entwicklungen von
einem „europäischen Marbury vs. Madison" 3 4 5 sprechen.
342
E u G H . Rs. C - 3 1 4 / 9 1 . Beate W e b e r / E u r o p ä i s c h e s Parlament. Slg. 1993. S. I-1093 ff..
Rdnr.8.
343
E u G . verb. Rs. T - 2 2 2 . 327 und 3 2 9 / 9 9 . Jean Claude M a r t f n e z u a / E u r o p ä i s c h e s
Parlament. Slg. 2001, S. 11-2823, Rdnr. 48.
344
So weist er zu d e m Vorbringen der deutschen Bundesregierung in der Rs. C-359/
92 - die der Kommission in Art. 9 der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie (1992)
eingeräumte B e f u g n i s stehe „in Widerspruch zu der Verteilung der Befugnisse zwischen
den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten" und gehe damit ..über die Befugnisse
hinaus, die in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland d e m Bund gegen-
über den Ländern z u s t ü n d e n " - darauf hin, ..dass die Vorschriften, die die Beziehungen
zwischen der G e m e i n s c h a f t und ihren Mitgliedstaaten betreffen, nicht die gleichen sind wie
diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander v e r b i n d e n " ( E u G H . Rs. C - 3 5 9 / 9 2 ,
Deutschland / R a t . Slg. 1994. S. 1-3681 ff., S. 1-3712, Rdnr.38). Auch der Generalanwalt
F.G.Jacobs weist in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache darauf hin. dass „mir
eine solche Analogie zur Verteilung der Befugnisse nach der deutschen Verfassung jedoch
neben d e r Sache zu liegen [scheint]" (vgl. die Schlussanträge des GA Jacobs in der Rs.
C - 3 5 9 / 9 2 (Fn. 34). S. 1-3694. Rdnr.39). Damit erkennen sowohl der E u G H als auch der Ge-
neralanwalt. dass die „vertikale Kompetenzverteilung" im Sinne einer (bloßen) „begrenzten
E i n z e l e r m ä c h t i g u n g " mit final ausgerichteten Organkompetenzen zwischen den Mitglied-
staaten der G e m e i n s c h a f t e n bzw. der Union mit der bundesrepublikanischen föderalen
Kompetenzverteilung nichts gemein hat. sondern anderen Gesetzmäßigkeiten - außerhalb
des Staatsrechts - folgt. Vgl. auch W. Hummer (2003), S. 57 f.
345
Zur zitierten Entscheidung des U S - S u p r e m e Courts unter B . I V . 2 b ) a a ) .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 129
346
Im Sinne eines „dualistischen Rechtsdenkens*'.
147
Einem sehr allgemeinen Ansatz folgend liegt der Unterschied zwischen Staatenbün-
den und Bundesstaaten grundsätzlich im A u s m a ß der Zentralisierung bzw. Dezentralisie-
rung der A u f g a b e n w a h r n e h m u n g , wobei die Grenzen aber fließend sind.
348 Ygj p f j s c i J e r D i e EU - eine a u t o n o m e Rechtsgemeinschaft? Gleichzeitig ein
..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Beitrag zur Problematik des d u a -
listischen Rechtsdenkens in der internationalen Jurisprudenz, in: W. H u m m e r (Hrsg.),
Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer
Völkerrechtler zu aktuellen Problemlagen. 2003. S. 3 ff.
149
Klassiker etwa G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen. 1882; J. L. Kunz,
Die Staatenverbindungen. 1929; H.Kelsen, General T h e o r y of Law and State, 1949;
R. Bindschedler; Rechtsfragen der europäischen Einigung. Ein Beitrag zu der Lehre von
den Staatenverbindungen, 1954.
350
Diese Beobachtung und Differenzierung stützt sich auf W. Hummer, „Verfassungs-
Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in:
Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente.
Sonderheft 1/2003. S. 53 ff. 56. Vgl. auch 5. Griller, Der ..Sui G e n e r i s - C h a r a k t e r " der EU
und die Konsequenzen für die Verfassungsoptionen. Ein Versuch der Entmythologisie-
rung des Verfassungsstreits, in: W. H u m m e r (Hrsg.). Paradigmenwechsel im Europarecht
zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Europarechtler zu aktuellen Problemla-
gen. 2()03. S. 23 ff.; siehe auch A. Riklin, Die Europäische G e m e i n s c h a f t im System der
Staatenverbindungen. 1972. S. 3 3 0 ff.
351
Vgl. auch S. Griller (2003), S. 26 ff.
130 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
- So habe sie bereits kein Staatsvolk, sondern gem. Art. 17 EGV nur Unionsbürger
und es existierten gem. Art. 189 EGV nur die „Völker der in der Gemeinschaft
zusammengeschlossenen Staaten", aber kein einheitliches europäisches Staats-
volk.
- Des Weiteren sei der Europäischen Union kein Staatsgebiet zuzuordnen, sondern
nur ein gem. Art. 299 EGV über die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaa-
ten umschriebener räumlicher Geltungsbereich ihres Gründungsvertrages.
- Zuletzt fehle ihr auch die Staatsgewalt, da das Gewaltmonopol nach wie vor bei
den Mitgliedstaaten liege.
352
Die folgenden völkerrechtlichen B e g r ü n d u n g s a n s ä t z e lehnen sich an W. Hummer,
..Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der
Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argu-
mente. Sonderheft 1/2003. S. 53 ff., 56 an.
353
Hierzu auch S. Griller, Ein Staat o h n e Volk? Z u r Z u k u n f t der Europäischen Union.
I E F Working Paper Nr. 21. 1996. S. 14: „Warum die Festlegung dieses Gebiets in der
.Staatsverfassung* nicht unter B e z u g n a h m e auf die räumliche A b g r e n z u n g seiner territo-
rialen Untergliederungen, etwa der Länder einer bundesstaatlichen Organisation, möglich
sein soll - etwa in Form von Art. 3 B-VG: . D a s Bundesgebiet umfasst die Gebiete der
Bundesländer' - bleibt unerfindlich".
354
Bezüglich der damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n , dogmatisch ebenfalls bestrittene Völ-
kerrechtssubjektivität der Europäischen Union unterscheidet W. Hummer (2003), ebenda,
zwischen einer ..Innensicht" im Sinne einer ..Autostereotypisierung" und einer ..Außen-
sicht" im Sinne einer ..Heterostereotypisierung". Im Inneren wachse ..der Union implizit vor
allem über den bereits durch sie selbst mehrfach erfolgten Vertragsschluss mit Drittstaaten
gem. Art. 24 E U V m e h r und m e h r Handlungsfähigkeit und damit (partielle) Rechtsper-
sönlichkeit im Völkerrecht zu. hinsichtlich des , A u ß e n a s p e k t e s ' muss ein in der Literatur
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 131
völlig vernachlässigtes Kriterium erwähnt werden, nämlich der Umstand, wie denn die
Staatengemeinschaft als solche die EU als „internationalen A k t e u r " sieht. Diese ..Heteros-
tereotypisierung" der EU als eigenständige Rechtsperson durch dritte Völkerrechtssubjekte
wird mit z u n e h m e n d e r Verdichtung der Außenbeziehungen der EU immer wahrscheinlicher
und würde die EU diesbezüglich „von a u ß e n " in Z u g z w a n g bringen, ihre Handlungs- und
damit auch Rechtsfähigkeit „nachzujustieren".
355
E u G H . Rs. 2 6 / 6 2 , Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. 1 ff.. 25.
356
Zitiert nach U. Di Fabio, Eine europäische Charta. Auf dem Weg zur Unionsverfas-
sung. in: JZ 2(KM), S. 7 3 7 ff.. 738.
357
Vgl. n u r A Blecknumn. Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 2001. S. 53 ff., 57:
D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion,
in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie.
1999: D. Thürer. Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in:
O. D u e u. a. (Hrsg.), Festschrift f ü r U. Everling, 1995, Band 2, S. 1561 ff.: M. Kaufmann.
Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle
des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften
und Staatspraxis 1992, S. 3 4 9 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die
Verwaltung 29 (1993), S . 4 4 9 ff.: H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische
Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.
358
Zur Frage der ..Verfassungsfähigkeit" der Union m.w. N. unter B . I I . 2 . f ) n n ) ( 2 ) ( c ) .
132 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
entfalten, weil die Bürger sich nicht als Mitträger des durch sie konstituierten
Gemeinwesens verstehen. 359
Hiergegen ließe sich anführen, dass ein Grundaxiom der europäischen Idee
gerade nicht die Homogenität eines Staatsvolks, sondern auf der Basis eines der
Pluralität verhafteten Europabildes das „Recht zum Anderssein", die „Garantie
für Vielfalt" und die „Selbstbestimmung des Individuums" die erforderlichen Prä-
missen bilden. Die Legitimität einer solchen primär funktionellen, heterogenen
Gemeinschaft erfolgt weniger durch eine politische Gesamtwillensbildung nach
parlamentarischem Muster, sondern durch die Bereitstellung verschiedener Betei-
ligungsmöglichkeiten auf den politischen Prozess wie Interessensgruppen, politi-
sche Parteien. EU-Organe, Bundesländer und jeweiligen nationalen Parlamente.
Da die supranationale Gemeinschaft gerade ihrer dem Nationalstaat gegenüber
höheren Problemlösefähigkeit wegen gegründet wurde, ist das wichtigste Legi-
timitätskriterium der Europäischen Union nicht wipM/-definiert, also z. B. durch
Wahlen, sondern ergibt sich aus ihrem Output, d. h. der Leistungsfähigkeit und Ef-
fektivität, Probleme zu lösen. Wichtig wäre es deshalb, die Union handlungsfähig
und Kanäle zur Interessensdurchsetzung nutzbar zu machen. Ziel einer europäi-
schen Verfassung wäre deshalb nicht, den Nationalstaat zu ersetzen, sondern das
359
Vgl. D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S . 5 8 1 ff.. 581.
Unter dieser Prämisse könnte selbst die Stärkung der legislativen Rechte des Europäischen
Parlaments dieses Defizit nicht verringern. Denn die Unionsbürger orientieren sich bei der
Wahl der Abgeordneten an Präferenzen, die sich ..sachlich in den nationalen nach w i e vor
segmentierten öffentlichen Meinungen widerspiegeln" (so C. Koenig, Ist die europäische
Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. S. 268 ff., 271).
360
D. Grimm (1995), S. 587. 591.
161
In die gleiche Richtung zielte auch das BVerfG in seiner „Maastricht"-Entscheidung
vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89. S. 155 ff.). Nur innerhalb der Mitgliedsstaaten könne
sich das „Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer
Willensbildung entfalten und artikulieren", um so dem. was es „relativ homogen - geistig,
sozial und politisch - v e r b i n d e t I . . . J rechtlichen Ausdruck zu geben".
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 133
Ein weiteres Defizit der Verträge ist bei der Organisationsfunktion zu sehen.
Zwar sind in Art. 7 und Art. 189 ff. EGV die Organe und Ausschüsse der Ge-
meinschaft, sowie deren Befugnisse und Aufgaben festgelegt. Ein wesentliches
Organisationsprinzip der Europäischen Union, die Subsidiarität, ist im Vertrag von
Maastricht sogar in die Präambel aufgenommen worden. Eine klare Abgrenzung
der Kompetenzen und Normenhierarchie legen die Verträge allerdings nicht fest.
Zwar wird die vorrangige Stellung des Vertragsrechts in Art. 10 EGV deutlich, laut
dem die Mitgliedsstaaten alle zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen beitragenden
Maßnahmen ergreifen müssen. Die Kompetenzen innerhalb der Europäischen
Union sind allerdings willkürlich aufgelistet (vgl. Art. 3 EGV) und stimmen nicht
mit der Systematik der Art. 2 3 - 1 8 8 EGV überein. Es wird weder klargestellt,
welche Normen Verfassungsrang haben und welche sich davon ableiten, noch
wird eine qualitative Unterscheidung der einzelnen Politiken vorgenommen. Es
bleibt unklar, in welchen Politiken die Union tatsächlich verantwortlich und ent-
scheidungsbefugt ist, welche Bereiche nur teilweise zur Union gehören oder nur
von dieser koordiniert werden und welche Politiken noch rein zwischenstaatlich
gemacht werden. 363
162
Vgl. I. Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidie-
rung. in: JöR 48 (2000), S. 205 ff. sowie die Aufsatzsammlung bei J. Schwarze (Hrsg.), Die
Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem
und europäischem Verfassungsrecht. 2000.
363
Vgl. zu alledem Centrum für angewandte Politikforschung, Ein Grundvertrag für die
Europäische Union. 2000. S. 13.
' 6 4 Art. 13 EGV: Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission und nach A n h ö r u n g
des Parlaments einstimmige Vorkehrungen treffen, um diese Diskriminierungen [ . . . ] zu
bekämpfen.
365
Hierzu G. De Bürca, Fundamental Rights and the Reach of EC-Law. in: Oxford
Journal of Legal Studies. 3 / 1 9 9 3 . S. 2 8 3 f f . 301.
134 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auslegung auch nicht lösen, da der Konvention nur Staaten beitreten können, und
die Europäische Union ist - wie der EuGH 1994 bestätigte - kein Staat.
Das markanteste Defizit der Verträge liegt allerdings bei der Integrations- und
Identifikationsfunktion. So sind die demokratischen Rechte des Bürgers nur schwer
in den Verträgen erkennbar, da sie in einem Jahrzehnte langen Prozess an ver-
schiedensten Stellen immer wieder eingefügt und ergänzt worden sind. Ähnliches
gilt für die vom EuGH entwickelte ungeschriebene Grundrechtsdoktrin, welche
selbst für Fachleute gelegentlich diffus erscheint. Zudem kommt erschwerend die
komplizierte Sprache des Rechts und die geringe Präsenz des EuGH im Bewusst-
sein der Bürger im Vergleich mit anderen EU-Institutionen hinzu. J.H.H. Weiler
spricht in diesem Zusammenhang von einem .,selfreferential legal universe". 3 6 6
Dem Einzelnen ist es bereits deshalb nicht möglich, seine vertraglich verbürgten
Rechte umfassend wahrzunehmen, weil er sie kaum erkennen kann.
Der Streit um die Verfassung der Europäischen Union erhält durch eine unver-
meidliche Nebenfolge der Integration, die in Europa zu erheblichen Teilen bereits
eingetreten ist, besonderes Gewicht: Zwangsläufig büßt die nationale Verfassung
einen Teil ihrer politischen Steuerungsfähigkeit ein, denn in ihrem territorialen
Wirkungskreis entfalten sich Kräfte, die nicht mehr ihrer Autorität unterworfen
sind; zudem wird ihre Autorität gegenüber den ihr unterstellten Akteuren durch ab-
weichende Vorgaben aus einer anderen Rechtsordnung punktuell durchbrochen. 1 * 7
Dieser ..graduelle Bedeutungsverlust der Verfassungen der Mitgliedstaaten" zeigt
sich insbesondere auf dem Gebiet der Grundrechte, aber auch bei materiellen
Verfassungsgrundsätzen und sogar bei nationalen Verfassungsspezifika. die als
solche nicht in einem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Union stehen. Durch
diese Entwicklung wird die Integrationsfunktion der Verfassungen beeinträchtigt,
auf die sich gerade der moderne Verfassungsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts gestützt hat. Um heute in dem um die Union erweiterten politischen
Gesamtsystem das sicherzustellen, was früher in den Mitgliedstaaten gegeben
war, müssen die nationalen Verfassungen durch ein Pendant auf der Ebene der
Union ergänzt werden, welches ihre Funktionsdefizite ausgleicht. Die derzeiti-
gen Gründungsverträge der Europäischen Union erfüllen diese Anforderungen
offensichtlich nicht.
366
J.H.H. Weiler. The Constitution of Europe. 1999. S. 190.
3*7 Ygi hier/u ausführlich T. Schmitz. Integration in der Supranationalen Union. 2001.
S. 3 7 4 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 135
Im ersten Halbjahr nach Nizza kristallisierte sich heraus, wie die Debatte über
die Zukunft der Europäsche Union und ihre Verfassung strukturiert werden sollte.
Die Ratspräsidentschaft übernahm mit Schweden im ersten Halbjahr 2001 ein
EU-kritischer ..Kleinstaat", der sich eher mit dem euroskeptischen Großbritan-
nien verbündet sah. die Verfassungsfrage stand nicht explizit auf der Agenda.
Dennoch förderte Schweden die „Debatte über die Zukunft Europas", in der es
einmal mehr um die bessere Verständlichkeit der Verträge und Strukturen der
Europäischen Union, das Gleichgewicht zwischen Mitgliedsstaaten und Union
sowie um die Stärkung des demokratischen Selbstverständnisses gehen sollte. Am
17.1.2001 stellte Kommissionspräsident R. Prodi einen dreistufigen Plan über die
Strukturierung der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union vor. 369 EU-
Kommissar M. Bamier konkretisierte diesen Plan in einer Rede in Brüssel und
bekannte sich ausdrücklich zu dem Wort „Verfassungsvertrag". 370 Am 9 . 3 . 2 0 0 1
eröffneten Kommissionspräsident Prodi, der Kommissar für institutionelle Fragen
Bamier und der schwedische Ministerpräsident G. Persson eine insgesamt breiter
angelegte und eingehendere Debatte, welche auch im Internet verstärkt geführt
werden sollte. 371
368
Hierzu etwa M. Kotzur, Ein nationaler Beitrag zur Europäischen Verfassungsdiskus-
sion: deutsche Erfahrungen im Post-Nizza-Prozess, in: P. H ä b e r l e / M . M o r l o k / W . Skouris
(Hrsg.). Festschrift Festschrift für D i m i t r i s T h . Tsatsos. Z u m 70. Geburtstag am 5. Mai 2003.
2003, S. 257 ff.; C. Do rau. Die Verfassungsfrage der EU - Möglichkeiten und Grenzen der
europäischen Verfassungsentwicklung nach Nizza. 2001; M. Stolleis. Europa nach Nizza.
Die historische Dimension, in: N J W 2002. S. 1022ff.: P.C. MiUler-Graff, Der Post-Nizza-
Prozess. Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung, in: Integration 2 / 2 0 0 1 .
S. 208 ff.
369
Vgl. R. Prodi. Rede vor d e m Europäischen Parlament am 17. 1.2001: „Es ist an der
Zeit, die Debatte über die Z u k u n f t Europas zu strukturieren", s. Protokolle der Sitzungen
des Europäischem Parlaments.
370
M. Bamier. Rede vor Vertretern der Region Aquitaine und Emilia-Romagna und des
Landes Hessen: ..Die Perspektiven der EU nach Nizza", Brüssel. 18. Januar 2001. a b r u f b a r
unter www.europe.eu.int/comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/indcx_de.htm.
136 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
E i n ..Rat d e r W e i s e n " d e r z w i s c h e n z e i t l i c h a u f R a t s e b e n e a l s A l t e r n a t i v e z u m
Konvent thematisiert w u r d e , genügte nach fester Ü b e r z e u g u n g vieler Fachaus-
schüsse nationaler Parlamente der Forderung nach mehr Demokratie und Trans-
parenz der M e i n u n g s - und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union
nicht.372
371
Vgl. Mitteilung von Ministerpräsident G.Persson anlässlich der Debatte über die
Z u k u n f t der Union. M ä r z 2001. Brüssel 2001; siehe dazu SZ. 9. M ä r z 2001, S . 2 , ..Die
EU tritt vor das Volk"; die Debatte im Internet unter: http://europa.eu.int/futurum.htm.
Auch die Regierungschefs setzten ihre Grundsatzreden kontinuierlich fort. Bei seiner Re-
gierungserklärung vor dem Bundestag zu den Ergebnissen von Nizza am 1 9 . 1 . 2 0 0 1 sagte
Bundeskanzler G. Schröder, dass in Nizza die T ü r zum neuen Europa aufgestoßen worden
sei. welches über eine verfassungsmäßige Grundlage verfügen werde (Regierungserklärung
vom 19. Januar 2001. vgl. die Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages). Diese
Vision wiederholte Schröder vor d e m Internationalen Bertelsmann Forum in Berlin (im
Rede-Manuskript ist zwar von ..Verfasstheit" die Rede. Seinen Wunsch nach einer europäi-
schen Verfassung äußerte er aber spontan, vgl. dazu SZ. 22. 1.2001. S. 1: „Wenn Schröders
Herz spricht"). Aufsehen und kritische Stimmen erntete ein Leitantrag der S P D vom April
2001. in dem Schröder in seiner Funktion als Parteichef seine Vorstellungen über die Aus-
gestaltung der europäischen Verfassung konkretisierte (SPD-Leitantrag ..Verantwortung
für Europa", 3 0 . 4 . 2 0 0 1 . Berlin 2001). Kurz zuvor erntete Bundespräsident J. Rau vor dem
Europäischen Parlament Beifall für sein bereits erwähntes ..Plädoyer für eine Europäische
Verfassung" (Rede am 4 . 4 . 2 0 0 1 . Straßburg). Am 2 8 . 5 . 2 0 0 1 hielt schließlich auch der
französische Ministerpräsident L. Jospin seine lang erwartete Grundsatzrede zur Z u k u n f t
Europas, in der er sich u. a. für eine europäische Verfassung aussprach (..Zur Z u k u n f t des
erweiterten Europa").
372
Die ablehnende Haltung des Ausschusses für Europäische Angelegenheiren des Deut-
schen Bundestages (Beschluss vom 4. April 2001 bzw. Bericht vom 6. J u l i 2 0 0 1 ) ist bei
\ f . Fuchs/ S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlich-
keitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent. 2002. S . 2 4 I ff. dokumentiert.
373
Trotz deutlicher Zurückhaltung des Gastgeberlandes Schweden sprachen sich im
Verlauf der Beratungen i m m e r m e h r Delegierte für ein konventsähnliches Verfahren in
Anlehnung an den Grundrechtekonvent aus. Nachhaltig unterstützt wurde die Bundestags-
delegation in ihrer Forderung nach einer Verfahrensreform von d e r COSAC-Delegation
der A s s e m b l e e Nationale und des französischen Senats sowie den Abgeordneten des Eu-
ropäischen Parlaments. Am Ende der zweitägigen Konferenz verabschiedete die C O S A C
einstimmig bei einer Stimmenthaltung einen Beitrag, in d e m die Einrichtung einer am
Vorbild Grundrechtekonvent orientierten Konferenz zur Vorbereitung der Regierungskon-
ferenz 2 0 0 4 gefordert wurde, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002), S . 6 3 I . Nach
dem ersten Schulterschluss mit den anderen mitgliedsstaatlichen Parlamenten blieb der
Europaausschuss des Bundestages in engem Kontakt mit der Bundesregierung über die
Frage der weiteren Verfahrensschritte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses. Am 4. Ju-
li 2001 fasste er mit den Stimmen aller Fraktionen einen weiteren Konventsbeschluss,
vgl. M. Fuchs!S. Hartleif / V. Popovic (2002), S. 245, in dem er unter anderem forderte, das
Mandat des Konvents zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 auf Vorschläge zur
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 137
zukünftigen Rolle der Organe der EU sowie ihr Verhältnis zueinander, zur Abgrenzung der
Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten, zur Verein-
fachung der Verträge, zur künftigen Rolle der nationalen Parlamente sowie zur Integration
der Europäischen Grundrechtecharta in die Verträge auszuweiten. Um den Ergebnissen
eines zweiten Konvents in der anschließenden Regierungskonferenz Gewicht zu verleihen,
betonte der Ausschuss die Bedeutung der Erarbeitung eines einzigen Ergebnisentwurfs mit
der Möglichkeit, in A u s n a h m e f ä l l e n bei kontroversen Meinungen alternative Optionen in
Form von Mehrheits- und Minderheitsvoten anzuzeigen. Mit diesem Beschluss. der nach
den geschäftsordnungsrechtlichen S o n d e r b e f u g n i s s e n des Europaausschusses stellvertre-
tend für den Deutschen Bundestag gefasst w urde, vgl. § 93a Abs. 4 G O - B T . sprach sich der
Bundestag klar für die Ausdehnung des Konventmandats auf die künftige Gewaltenteilung
zwischen den europäischen Institutionen aus. die in der Erklärung Nr. 23 zur Z u k u n f t der
EU von den Staats- und Regierungschefs als T h e m a der Zukunftsdebatte noch nicht explizit
genannt worden war.
374
Z u m Auftakt seiner Ratspräsidentschaft erklärte der belgische Premierminister
G. Verhofstadt. dass der Post-Nizza-Prozess in „die Konstitutionalisierung der U n i o n "
m ü n d e n müsse. Vgl. ders., Rede am 24. Juni. „Welche Z u k u n f t f ü r welches Europa?",
2001.
' ? So befasste sich der Deutsche Bundestag bereits in einer Sondersitzung des Eu-
ropaausschusses am 15. D e z e m b e r 2 0 0 0 (vgl. M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic (2002).
S. 49 ff.) mit der Initiative der Bundesregierung zum Anstoß der europaweiten Z u k u n f t s d e -
batte; die Abgeordneten machten mehrheitlich deutlich, dass die Ausgestaltung des Prozes-
ses zur Z u k u n f t der EU und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 einen neuen
Verfahrensansatz erfordere. Dabei wurde das Konventsmodell „als kreative, transparente
und unmittelbar demokratisch legitimierte Methode zur Vorbereitung der nächsten Vertrags-
revisionsverhandlungen". vgl. M. Fuchs usw. (2002). ebenda, angesehen. Die Bundestags-
abgeordneten stellten sich damit auf den gleichen Standpunkt, den auch das Europäische
138 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mit Blick auf den Stand der Konventsdiskussion im Rat wurde eine gemeinsame
Erklärung an den Europäischen Rat von Laeken verabschiedet 377 , in der sich die
Abgeordneten dafür aussprachen, das Mandat des Konvents auf die Vorlage eines
einzigen Textentwurfs für den neuen Grundvertrag der Europäischen Union zu
richten und Optionslösungen nur in unvermeidlichen Fällen zu formulieren. Beide
Parlamente vertraten die Überzeugung, dass das inhaltliche Mandat des Konvents
außerdem die Prüfung weiterer Integrationsschritte in den Bereichen der 2. und 3.
Säule umfassen müsse. Die bilaterale Parlamentsinitiative unterstützte damit vor-
behaltlos die gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der französischen
Regierung auf dem deutsch-französischen Gipfel von Nantes vom November 2001,
die ehrgeizige Initiativen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit wie die
Einsetzung einer europäischen Polizei zur Überwachung der EU-Außengrenzen,
die Stärkung von Europol mit dem Ziel einer integrierten Polizei zur Bekämpfung
von internationalem Terrorismus und organisierter Kriminalität, den Ausbau von
Eurojust, den Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft, die Perspektive einer
gemeinsamen europäischen Verteidigung und die Terrorismusbekämpfung als
Aufgabe der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefordert hatte.
Gleichzeitig lag den Parlamenten besonders an der Ausstattung des Konvents mit
einem weit gefassten und seine Autonomie wahrenden Mandat.
Parlament auf europäischer Ebene gegenüber den Staats- und Regierungschefs in seiner Be-
wertung zu Nizza einnahm, vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 561 ff. Mit dem Fortschreiten der
Ausschussberatungen und im Anschluss an eine öffentliche Anhörung zur Zukunftsdebatte
in der EU mit nationalen Verfassungsexperten fasste der Europaausschuss des Bundestages
im April 2001 zur Vorbereitung der XXIV. C O S A C , der gemeinsamen Konferenz der Euro-
paausschüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments einen von allen
Bundestagsfraktionen getragenen Beschluss, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002).
S. 241 ff., in dem er forderte, dass die Vorbereitungen zur Ausarbeitung einer Verfassung
im Rahmen des in Nizza beschlossenen Prozesses zur Z u k u n f t der Europäischen Union
verstärkt durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, einschließlich
der Parlamente der Beitrittsländer, w a h r g e n o m m e n werden müssten. Gleichzeitig regten
die Ausschussmitglieder an. dass zur Vorbereitung der für 2004 geplanten Regierungskon-
ferenz eine an den Konvent angelehnte Konferenz z u s a m m e n g e r u f e n werden sollte, um
Vorschläge für die Reform der EU zu erarbeiten. Damit hatte der Europaausschuss seine
Position zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2 0 0 4 frühzeitig festgelegt.
376
Im unmittelbaren Vorfeld des Europäischen Rats von Laeken trafen am 10. Dezem-
ber 2001 die beiden Europaausschüsse z u s a m m e n mit den Auswärtigen Ausschüssen und
unter Leitung der Parlamentspräsidenten W. Thierse und R. Forni in Paris erstmalig in der
Geschichte beider Parlamente zu einer gemeinsamen Sitzung z u s a m m e n .
377
Vgl. M. Fuchs IS. Hartleif IV. Popovic (2002), S. 263 f.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 139
Die Staats- und Regierungschefs haben mit der dem Vertrag von Nizza beige-
fügten Erklärung Nr. 23 378 zur Zukunft der Union dies unterstrichen, indem sie
unter anderem folgende Fragen formulierten, die es zu klären galt:
Neben der Forderung nach einer Vereinfachung und Neuorganisation des euro-
päischen Vertragswerks und der Integration der Grundrechtecharta in die Verträge
wurden konkrete Reformkomplexe wie die Wahl des Präsidenten der Europäi-
schen Kommission, die Frage der Beibehaltung der halbjährlichen Rotation des
EU-Ratsvorsitzes, die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen der europäi-
schen und der nationalstaatlichen Ebene, die Stärkung der Rolle der Europäischen
Union in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik. Zuwanderung. Kriminalitäts-
bekämpfung, und der Anstoß zu Veränderungen der Gesetzgebungsinstrumente
der Europäischen Union formuliert.
178
Dazu R. Wagenbauer, Zur Z u k u n f t der EU: Was bringt die Erklärung von Laeken?,
in: Z R P 2002. S. 94 f.
140 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mit der Erklärung von Laeken war ein tatsächlich zukunftsgerichteter Aus-
gangspunkt für die Diskussion über die Effizienz eines neuen Verfahrens zur
Vorbereitung künftiger Vertragsrevisionen gefunden.
In derZeit um die Erklärung von Laeken spitzte sich die (nicht neue) europäische
Debatte über die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union in entsprechen-
der Intensität zu. Eine nähere Betrachtung des Konventverfahrens und seiner
Zielsetzung erfordert die Klärung einer elementaren, gleichwohl inflationär abge-
handelten Vorfrage: von welchem Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis
ist innerhalb der heutigen Europäischen Union auszugehen? 3 8 0
Auch mit Blick auf die späteren Vergleiche mit der US-amerikanischen Verfas-
sungsordnung soll dieser Aspekt eingehender abgehandelt und durch einige, die
bisherige Debatte ergänzende Überlegungen angereichert werden. Zudem bedarf
es einer zielführenden Einordnung, um im Rahmen der späteren Betrachtung
379
Vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 245 ff.
380
Aus der unüberschaubaren Lit. insbesondere W. Hertel. Supranationalität als Ver-
fassungsprinzip. 1999: P. Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 32 ff..
69 ff.; C.Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. 2 6 8 ff.
Siehe auch D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, in: E u G R Z 1995. S. 287 ff.;
I. Pernice. Der Europäische Vervassungsvcrbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR
48 (2000), S. 205 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 141
Der Facettenreichtum einer Verfassung legt den Schluss nahe, ein Verfassungs-
verständnis gründe sich auf der geglückten gedanklichen Verbindung ihrer vielfäl-
tigen Elemente. Das Verfassungsverständnis kann nun mittels Begriffen bestimmt
werden, die ihrerseits allesamt einer „gemischten" 3 8 1 Definition innewohnen dürf-
ten. Nun geht es hier nicht um die Frage, was überhaupt Verfassung ist 382 , sondern
wie sich Verfassung in ihrem jeweiligen Umfeld darstellt. So unscharf zuweilen
zwischen Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis unterschieden wird 383 ,
so vordergründig unvereinbar (einige, wie C. Schmitt gegen R. Smend bestäti-
gen diese Einschätzung) scheinen sich gewisse Thesen gegenüberzustehen, die
eine Annäherung an das Verfassungsverständnis unternehmen. Wenn allerdings
das Verfassungsverständnis etwa als Grundlage eines Verständnisses von Verfas-
sungsgerichtsbarkeit und deren Methodik zu begreifen ist, das ersteres wiederum
ausgestaltet, so wird man sich nicht auf formale Gesichtspunkte beschränken
können.
Ähnliches gilt auch für den Verfassungsvergleich: es bietet sich ein ..gemischtes
Verfassungsverständnis" an, da eine Gegenüberstellung sich nicht lediglich am
Gestaltungswillen des Gesetzgebers (N. Achterberg)3*4, am jeweiligen Entschei-
dungsmoment (C. Schmitt)385 oder an der Akzentuierung planmäßigen, bewussten
381
Ein „gemischtes Verfassungsverständnis" betont P. Hiiberle. Verfassungslehre als
Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S . 3 9 7 , 399 ff.: ders., Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 187 ff. Ähnlich K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundes-
republik Deutschland. 20. Aufl. 1995. S . 3 f f „ der in A b g r e n z u n g zur Verfassungstheorie
für die Verfassungsrechtslehre auf einen vielseitig beeinflussten Verfassungsbegriff zu-
rückgreift und diesen wohl mit d e m Verfassungsverständnis gleichsetzt. Vgl. aber auch
P. Hiiberle z u m (erweiterten) Ansatz eines „gemischten, kulturwissenschaftlichen Verfas-
sungsverständnisses", ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 9 .
' s 2 Auch um dieser Problemstellung b e i z u k o m m e n wird allgemein auf ..Hilfsmittel"
zurückgegriffen, sei es dass auf die dem Begriff zugrundeliegenden Aufgaben und Zielset-
zung abgestellt wird. vgl. K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. 20. Aufl. 1995, S. 3. oder auf ihre Funktionen, vgl. etwa R. Smend. Staatsrecht-
liche Abhandlungen. 3. Aufl. 1994. S. 187 ff.. H. Heller. Staatslehre. 1934 (Neudr. 1963),
5. 249 ff.
383
Dass mehrere Begriffe zumeist erst ein Verständnis ausbilden können, beweist
sich bereits bei den Versuchen, sich sowohl einem Verfassungsverständnis als auch d e m
angestrebten Verfassungsbegriff mit m e h r oder weniger langatmigen Umschreibungen
anzunähern.
' s 4 Vgl. N. Achterberg. Die Verfassung als Sozialgestaltungsplan. in: ders. (Hrsg.), Recht
und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für H.U. Scupin. 1983. S. 2 9 3 ff.
385
Siehe C. Schmitt. Verfassungslehre. 8. Aufl. 1993. S. 23.
142 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Frage nach der Konstitutionalisierung der Europäischen Union hat ihren
Bezugspunkt in der Problematik des Gemeinwesens der Europäischen Union
in ihrer (gegenwärtigen) Verfasstheit. Derzeit ist die Europäische Union eine
„Komposition" aus drei Europäischen Gemeinschaften und zwei Formen der
Zusammenarbeit. Hinzu kommen gemeinsam verfasste Grundaufgaben und mate-
rielle (z. B. wirtschafts- und sozialpolitische) Ziele (Art. 2 EUV), ein einheitlicher,
institutioneller Rahmen (Art. 3 - 5 E U V ) sowie eine gemeinsame Grundwerteori-
entierung (Art. 6 - 7 EUV und Europäische Grundrechtecharta). Dies allerdings
386
Vgl. H. Heller (1934).
387
So gibt es Staaten - wie beispielsweise Großbritannien -, die durchaus eine Verfas-
sung im materiellen Sinne, jedoch keine Verfassungsurkunde besitzen, die die tragenden
Verfassungsgrundsätze z u s a m m e n f a ß t .
388
Vgl. H.Heller (1934); R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994.
S. 187 ff.
389
Siehe K. Loewenstein. Verfassungslehre. 3. Aufl. 1975. S. 127 ff.. H. Ehmke, Grenzen
der Verfassungsänderung, 1953.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 143
legt nahe, dass die Europäische Union, auch wenn sie als Gemeinwesen sui generis
ohne „Staatsqualität" gelten muss, grundsätzlich ein verfassungsbedürftiges Ge-
meinwesen darstellt. Als eigene Rechtspersönlichkeit 390 mit eigener legislativer 391 ,
administrativ-exekutiver 3 9 2 und judikativer Gewalt 3 9 3 übt die Europäische Union
kraft ihrer Organe letztlich (quasi-)staatliche Gewalt aus, wobei sie laut Art. 213
Abs. 2 EGV auf ein Gemeinschaftswohl verpflichtet ist. Juristisch könnte man
daraus ein „Verfassungserfordernis" für die Europäische Union ableiten bzw. die
Notwendigkeit, das politische Ziel, zu einer Gesamtverfassung von Gemeinschaf-
ten und Union zu kommen.
Erstens: gibt es den idealen Typus der Verfassung, den absoluten, platonistisch
konzipierten Begriff der Verfassung? Zweitens: selbst wenn die Konstitutionalisie-
rung Europas ein „Sonderweg" 3 9 5 ist, soll sie ein Sonderweg zur Normalität sein,
also die „Konstitutionalisierung" Europas seine „Normalisierung" bedeuten?
390
Vgl. die Texte von Art. 6 EGKSV, 281 f. EGV. 188 f. EAGV.
391
Siehe etwa die Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen im Sinne von Art. 249
Abs. 2 EGV.
392
Vgl. nur die B e f u g n i s zur Aufsicht über staatliche Beihilfen, zur A h n d u n g von
Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln etc.
393
Vgl. insb. Art. 220 ff. EGV.
394
Vgl. aber den Redebeitrag von O.Jouanjan, Stellungnahme, in: G . K r e i s (Hrsg.),
Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Ver-
fassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität
Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 12 ff.
395
So J.H.H. Weiler. Federalisme et constitutionnalisme: le S o n d e r w e g de 1'Europe.
in: R. Dehousse (Hrsg.). Une Constitution pour 1'Europe?, 2002. S. 151.
144 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
„In ihm findest Du alle die juristischen Begriffe, mit denen Du Dich auf Erden so
viel beschäftigt hast, wieder. Aber nicht in ihrer unvollkommenen Gestalt, in ihrer
Verunstaltung, die sie auf Erden durch Gesetzgeber und Praktiker erfahren haben,
sondern in ihrer vollendeten, fleckenlosen Reinheit und idealen Schönheit." 3 * 6
Das Heraklit'sche rcdvra pei entfaltet jedoch auch im Hinblick auf juristische
Grundbegriffe Geltungskraft. Bereits G. Jellinek hatte Anfang des 20. Jahrhun-
derts diese „im Fluss des historischen Geschehens" gesehen. 397 Auch angesichts
eines erforderlichen Schutzes gegen wissenschaftlich vertarnten Essentialismus
sollte alles in allem nicht von einem „idealen Wesen der Verfassung", sondern
höchstens von einem geschichtlichen Typus ausgegangen werden.
Das Flussprinzip gilt im Übrigen auch für die zweite Voraussetzung der Frage
nach der „echten" Verfassung, nämlich die angedachte „Normalisierung" Europas.
Zwar könnte man in der kongruenten Wandelbarkeit bereits einen Hinweis hierauf
erkennen. Die Europäische Union bleibt jedoch trotz unübersehbarer Parallelen zu
verfassungsschöpferischen Vorgängen in der (nationalstaatlichen) Verfassungsge-
schichte auch im Hinblick auf seine Konstitutionalisierung ein Ansatz sui generis.
Zudem ist „Normalisierung" in diesem Kontext und unabhängig vom Ergebnis
nicht lediglich mit „Verstaatlichung" gleichzusetzen. Schon die Erklärung von
Laeken vom 15. 12.2001 weist in diese Richtung. 398
In diesem Kontext ist festzuhalten, dass neben den genannten Gründen die
bisherige etatistische Ausrichtung europäischer Verfassunggebung schon deshalb
zum Scheitern verurteilt war. weil im Gegensatz zur gelegentlich idealisierten Ver-
fassunggebung nach dem Muster der französischen Revolution eine europäische
Verfassung kein Machtvakuum füllen soll, sondern im Gegenteil bereits vorhan-
denen staatlichen Macht- und Verfassungsstrukturen entgegentritt. So wurde der
Begriff „europäische Verfassung" lange Zeit auch tabuisiert, weil er reflexartige
Abwehrreaktionen vieler Mitgliedsstaaten hervorrief, da er in den Argumenta-
tionslinien auch die „Staatswerdung" Europas und damit Souveränitätsverluste
implizierte. So verblieben die Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte
weitgehend im Bereich der symbolischen Politik.
396
R. von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Neudruck. Darmstadt 1992.
S. 249 f.
397
Vgl. G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl.. 1914. S. 39.
398
Siehe den Text der Erklärung, u. a. abgedruckt in E u G R Z 2001, S. 662, wonach der
Bürger „ m e h r Ergebnisse, bessere Antworten auf konkrete Fragen (erwartet), nicht aber
einen europäischen Superstaat o d e r europäische Organe, die sich mit allem und j e d e m
befassen."
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 145
Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert manifestierten sich in zahlreichen
Staaten der Gedanke und die Forderung, ein Staat müsse eine Verfassung haben,
um die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und insbesondere Grundfreihei-
ten der Bürger zu sichern. In vielen Staaten entstanden politische Bewegungen
und teilweise innere Kämpfe um die Frage, ob der Staat eine Verfassung erhalten
oder ob es beim „verfassungslosen" Zustand verbleiben sollte. So ist die Idee der
geschriebenen Verfassung als Grundgesetz des „modernen" Staates eine Frucht
des ausgehenden 18. Jahrhunderts, als sich der Gedanke von der Notwendigkeit
die staatliche Herrschaft ordnender und begrenzender Normen sowie das Prinzip
der Kodifikation durchsetzte. 4<>1
399
Vgl. M. Nettesheim. EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Bericht
für die XX. F I D E - T a g u n g 2 0 0 2 . S. 10 ( a b r u f b a r unter w w w . f i d e 2 0 0 2 . o r g / r e p o r t s e u l a w
.htm).
400
Vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S. 581 ff., 582.
401
Vgl. K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 2 . A u f l a g e , 1984
B a n d l . S . 4 8 . Gleichwohl wird es als fraglich erachtet, ob es ausschließlich das sich in
dieser Zeit f o r m e n d e Ideengut der A u f k l ä r u n g , der Emanzipation der bürgerlichen G e -
sellschaft von religiösen Vorstellungen, o d e r das Gedankengut der Volkssouveränität, des
Liberalismus und der Demokratie gewesen sind, die Verfassungen hervorbrachten, o d e r ob
es nicht auch eine A n k n ü p f u n g an ältere, namentlich griechische o d e r römisch-rechtliche
sowie mittelalterliche Vorstellungen gewesen ist, vgl. auch instruktiv aus den S a m m e l -
werken P. Bachira, Verfassung, in: R. Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon.
Band II. 3. Auflage, 1987. Spalte 3738: D.Grimm. Verfassung, in: G ö r r e s Gesellschaft
(Hrsg.). Staatslexikon. Band 5. 7. Auflage. 1989 und 1995. S . 6 3 4 . W i e bereits oben be-
schrieben wurden diese auf S c h a f f u n g eines Verfassungsstaates abzielenden Bestrebungen
zuerst auf dem amerikanischen Kontinent in die politische Wirklichkeit umgesetzt, bevor
sich in Europa im Jahre 1791 Frankreich seine erste Verfassung schuf. W a s Deutschland
anbelangt, gaben sich in A n l e h n u n g an die französische Verfassung von 1814 zahlreiche
deutsche Staaten eine Verfassung, so Sachsen-Weimar-Eisenach (1816), dann Bayern und
Baden (1818), W ü r t t e m b e r g (1819). Im Jahre 1871 trat eine gesamtdeutsche Verfassung,
als staatsrechtliche Grundlage des neu geschaffenen deutschen Bundesstaates, in Kraft.
Den Anforderungen demokratischer Verfassunggebung genügte aber erst die Weimarer
Verfassung von 1919.
146 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
402
Vgl. P.Badura (1987), Spalte 3737 und M.Sachs, Grundgesetz. Kommentar.
3. Aufl. 2003, S. 51 ff. Beachtenswert sind die B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n der Verfassung von
G. Jellinek und C. Schmitt, die einen nicht unerheblichen Einfiuss auf die Verfassungsrechts-
lehre ausgeübt haben. Vgl. dazu K. Stern (1984). S. 51 ff. und W. Hertel. Supranationalität
als Verfassungsprinzip. 1998. S. 77 ff.
4l
" Vgl. etwa J. Schwarze. Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das
Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 109
404
Dazu T. Schmilz (2001), S. 415.
405
Vgl. J. Schwarze. Verfassungsentwicklung in der Europäischen G e m e i n s c h a f t , in:
J. S c h w a r z e / R . Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. 1. Aufl. 1984. S. 15 ff.. 17.
406
Vgl. nur./. Isensee. Staat und Verfassung, in: J. I s e n s e e / R Kirchhof, Handbuch des
Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. B a n d l . 1987, S . 6 4 4 .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 147
4117
Vgl. w i e d e r u m J. Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung.
Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. 2(XM). S. 115 ff.
408
Vgl. statt vieler etwa D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995.
S. 581 ff.; I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: Euro-
pean Constitution-Making Revisited?, in: 3 6 C M L R e v . 1999. S. 7 0 3 ff.; P. Hiiberle, G e -
meineuropäisches Verfassungsrecht, in: ders.. Europäische Rechtskultur. 1994. S . 3 3 f f . ;
E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat. Nation. Europa. Studi-
en zur Staatslehre. Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. 1999. S . 6 8 f f . ; T.Bruhaf
J.J.Hessel C.Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa? Erstes interdisziplinäres
. . S c h w a r z k o p f - K o l l o q u i u n f z u r Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, 2001;
J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Z u k u n f t der Demokratie, in: ders..
Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S . 9 1 ff.; ders., Braucht Europa
eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter G r i m m , in: D. G r i m m . Die Einbeziehung des
Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996. S. 185 ff.; G. Frankenberg, T h e Return of
Contract: Problems and Pitfalls of European Constitutionalism. in: 6 ELJ 2000. S. 257 ff.;
E.-U. Petersmann. Proposais for a Constitutional Theory and Constitutional Law of the EU.
in: 3 2 C M L R e v . 1995. S. 1123 ff.
409
Dazu unter B . I I . 2 . 0 q q ) ( D .
148 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
410
Vgl. aber grundlegend und zu den nachfolgend a u f g e f ü h r t e n Gesichtspunkten aus-
führlich T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 4 0 4 ff.
411
Der Verf. versteht in dieser Arbeit unter „Supranationaler U n i o n " eine von mehreren
Staaten zum Z w e c k e der Integration gegründete, auf ständige Fortentwicklung angelegte,
konzeptionell f ü r Aufgaben aller Art o f f e n e internationale Organisation, welche ihrer In-
tegrationsfunktion vor allem dadurch n a c h k o m m t , d a s s sie in erheblichen U m f a n g durch
Ausübung von Hoheitsgewalt in den Mitgliedstaaten selbst öffentliche Aufgaben wahr-
nimmt. vgl. auch die Definition von T. Schmitz (2001), S. 168. Die Europäische Union und
die Europäischen G e m e i n s c h a f t e n fallen somit hierunter.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 149
Union eingeräumt ist, dass letztlich nicht mehr von autonomer Aufgabenerfüllung
gesprochen werden kann.
Geboren und durchgesetzt in der Epoche der Nationalstaatlichkeit, ist die In-
stitution der Verfassung traditionell mit der Organisationsform des Staates ver-
bunden. Ihre Theorie wurde für den Staat entwickelt, die historischen Verfas-
sunggebungen, die als Referenz dienten, landen in den Staaten statt. Nach die-
sem vielfach als „klassisch" bestimmtem Verständnis werden die Funktionen und
Vorraussetzungen der Verfassung auf das Bild eines in sich geschlossenen, in völ-
liger Selbständigkeit handelnden Staates bezogen. 4 1 2 Auch C. Schmitt wählte in
seiner „Verfassungslehre" eine ähnliche, vergleichbar enge Formulierung, indem
er „Verfassung" (kontrastierend zum „Verfassungsgesetz") als Dezision über die
Form und Grundstruktur eines schon vorgegebenen Staates bezeichnete. 413 Dieses
auf die Heger sehe Staatsphilosophie zurückgehende 4 1 4 staatszentrierte Verständ-
nis von Verfassung lässt die Annahme, es existiere bereits eine europäische
Verfassung, ebenso wenig zu wie die Behauptung, die Europäische Union könne
sich in näherer Zukunft eine Verfassung zulegen.
Der Staatsbezug ist darauf zurückzuführen, dass lange Zeit nur der Staat als ter-
ritorial gebundene, allein zu allgemeinverbindlicher Entscheidung und zu zwangs-
weisem Vollzug legitimierte Einrichtung durch seine Souveränität, d . h . sein
ausschließliches Recht, über ein definiertes Gebiet einem Geltungs- und Anwen-
dungsbefehl konstitutiv zur Wirkung zu verhelfen, die Effektivität der Verfassung
garantieren konnte. 415 Bezeichnet man nun den souveränen Staat als Rechtsvoraus-
setzungsbegriff und die Konstituente, den „pouvoirconstituant", als nur aus diesem
Grund frei, besteht nach dem so genannten „normativen staatsbezogenen Verfas-
sungsbegriff* folglich eine Konnexität von souveränem Staat und Verfassung 4 1 6 ,
wenn nicht sogar eine wechselseitige korsettartige Verbindung.
412
Vgl. W. Wessels, Die europäischen Staaten und ihre Union - Staatsbilder in der
Diskussion, in: H. S c h n e i d e r / D . B i e h l / W . Wessels (Hrsg.), Föderale Union - Europas
Z u k u n f t ? , 1994. S. 51 ff.. 53.
413
C. Schmitt, Verfassungslehre. 1928. S. I lff sowie zur Differenzierung von Verfas-
sung und Verfassungsgesetz, ebenda S. 3: „ D a s Wort .Verfassung* muss auf die Verfassung
des Staates, d. h. der politischen Einheit eines Volkes beschränkt werden, wenn eine Ver-
ständigung möglich sein soll".
414
Für Hegel ist der Staat als „die Wirklichkeit der Sittlichen Idee" das „an und für sich
Vernüftige", vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821. S . 3 9 8 f .
( § § 2 5 7 ff.): Z u m modernen sittlichen Staat vgl. W. Pauly, Hegel und die Frage nach d e m
Staat, in: Der Staat 200(). S . 3 8 1 ff., vor allem 392 ff.. E.-W. Böckenförde, Der Staat als
sittlicher Staat. 1978.
415
Herleitung nach D. Nohlen/R.-O. Schtdtze. Lexikon der Politik. Band I: Politische
Theorie, 1995. S . 6 0 5 .
150 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auch hinsichtlich der europäischen Dimension wurde der Begriff der Verfas-
sung zunächst h e r k ö m m l i c h und ü b e r w i e g e n d auf den Staat b e z o g e n gedacht.417
In der K o n s e q u e n z k ö n n e nach dieser A u f f a s s u n g die Europäische Union keine
V e r f a s s u n g h a b e n , d e n n sie sei k e i n S t a a t . 4 1 8 D a sie a u c h k e i n V o l k i m t r a d i t i o n e l -
len S i n n e v o r z u w e i s e n h a b e , g e b e e s n o c h n i c h t e i n m a l e i n e v e r f a s s u n g s g e b e n d e
Gewalt. Dieser weiterhin von d e n früheren Richtern am Bundesverfassungsgericht
P. Kirchhof u n d D. Grimm v e r t r e t e n e n V o r s t e l l u n g h a t I. Pernice e i n e n „ p o s t n a -
t i o n a l e n " V e r f a s s u n g s b e g r i f f e n t g e g e n g e s t e l l t . 4 1 9 E r ist f u n k t i o n a l b e s t i m m t u n d
b e g r ü n d e t s i c h a u f d e m v o n P . Häherle f o r m u l i e r t e n G e d a n k e n , d a s s e s n i c h t m e h r
„ S t a a t " g e b e n k a n n , als d i e V e r f a s s u n g k o n s t i t u i e r t . 4 2 0 D e r S t a a t ist d e m z u f o l g e d e r
V e r f a s s u n g n i c h t v o r g e l a g e r t , w i r d v o n ihr n i c h t v o r a u s g e s e t z t , s o n d e r n d u r c h s i e
konstituiert. Mit d e m Wandel des Staates und seinen Funktionen wird nach dieser
A u f f a s s u n g das Bedürfnis nach e i n e m „offenen Verfassungsbegriff" evident.421
416
So D. Blumenwitz, Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien. Der
Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderheft I / 2 0 0 3 . S. 44 ff..
47 f.
41
Vgl. nur P. Kirchhof. Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundes-
republik Deutschland, in: J. Isensee (Hrsg.). Europa als politische Idee und als rechtliche
Form. 1993. S. 63 ff., 82.
4.8
In diesem Sinne auch U. di Fabio. Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich?
Die S p a n n u n g zwischen Unionsgewalt und Souveränität der Mitgliedstaaten ist kein Hin-
dernis für die Einheit Europius, in: F A Z v . 2 . 2 . 2 0 0 1 . S. 8. „ [ . . . ] d a s s es eine europäische
Verfassung im herkömmlichen Sinne staatlicher verfassungsgebender Gewalt nicht gibt,
wohl aber einen funktionellen Verfassungsvertrag, den m a n . um Missverständnisse auszu-
schließen. die Europäische Charta nennen könnte". Allerdings auch ders.. Eine europäische
Charta. Auf d e m Weg zu einer Unionsverfassung, in: JZ 2000. S. 7 3 7 ff., 7 3 9 . wonach
. . ! . . . ] wir uns längst im Strudel des Epochenwechsels befinden, der die Konnexität von sou-
veränem Staat und Verfassung auflöst", und es nicht m e h r erlaubt ist, ..auf der klassischen
Idee von der Verfassung als Ausdruck staatlicher Selbstherrschaft zu beharren".
4.9
/. Pernice. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, V V D S t R L 60
(2001), Z i f f . II. (i.E.); vgl. auch ders., Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier,
in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Europas Verfassung-
Eine O r d n u n g für die Z u k u n f t der Union. 2001, S. 18 ff., 20 f. Grundsätzlich J. Habermas.
Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S. 105 ff. sowie speziell zur
Entwicklung in der Europäischen Union D. H. Scheuing. Zur Europäisierung des deutschen
Verfassungsrechts, in: J. Drexl u. a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen
Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997. S. 87 ff.
420
Vgl. P. Haberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 6 2 0 : ders..
Europäische Verfassungslehre - Ein Projekt, in: ders.. Europäische Verfassungslehre in
Einzelstudien. 1999. S. 16. Ihm letztlich folgend: H. Hofmann. Von der Staatssoziologie
zur Soziologie der Verfassung?, in: JZ 1999. S. 1065 ff., 1066; vgl. auch K. Sobotta, Das
Prinzip Rechtsstaat. 1997. S. 30 ff.
421
Dies umfasst eine „ O f f e n h e i t " für die rechtliche Erfassung supra- und internationaler
Strukturen gleicher Ziel- und Zwecksetzung, vgl. /. Pernice, Die Europäische Verfassung.
Grundlagenpapier, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Euro-
pas Verfassung-Eine Ordnung für die Z u k u n f t der Union. 2001. S. 18 ff.. 20. Für einen vom
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 151
Die Debatte war in ihrem Kern letztlich eine um Folgeprobleme, die aller-
dings oftmals unbenannt blieben. Akzeptierte man nämlich die Möglichkeit einer
Verfassung für die Union, verknüpfte sich dies mit der Gefahr einer Verwäs-
serung des Verfassungsbegriffs und damit einer schleichenden Entwertung des
Konzepts der Verfassung. Verneinte man sie, drohte je nach den unmittelbar
daraus gezogenen Konsequenzen eine vorübergehende Stagnation der Integra-
tion mit anschließendem Zentralisierungsschub, ein unzureichend vorbereiteter
vorzeitiger Übergang in den „geo-regionalen Vereinigungs-Staat", eine allmäh-
liche Untergrabung der Herrschaft der Verfassung durch immer ausgedehntere
„verfassungsfreie Z o n e n " oder eine weitere Komplizierung der Supranationalen
Union durch eine erst noch einzuführende, in ihrer Wirkung schwer berechenbare
verfassungsähnliche Institution. 422 Nicht nur die Verfassungslehre sah und sieht
sich hierbei mit einer grundlegenden Weichenstellung konfrontiert, die man als
das „Verfassungsdilemma supranationaler Integrationsverbände" 4 2 3 umschreiben
kann.
Staat gelösten Verfassungsbegriff siehe auch G. Biaggini. Die Idee der Verfassung - Neu-
ausrichtung im Zeitalter der Globalisierung, in: Z S R 119 (2000), S. 4 4 5 ff.. 463.
422
So T. Schmilz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 388 ff.
423
T. Schmitz spricht ähnlich, jedoch in einem etwas zu weitgehendem Ansatz, vom
..Verfassungsdilemma der supranationalen Integration". Als Ausweg aus dem Verfassungs-
d i l e m m a schlägt ders. (2001), S. 393 ff., die ..vorsichtige Einbeziehung einzelner nichtstaat-
licher Organisationsformen in die Verfassungstheorie' - vor. Es müsse unterschieden werden
zwischen den gewöhnlichen nichtstaatlichen Verbänden, die aus vielfachen Gründen nicht
für eine Verfassung geeignet sind, und den wenigen herausragenden Typen, bei denen sich
a u f g r u n d einer besonderen Staatsähnlichkeit die Ü b e r n a h m e des Konzepts der Verfassung
trotz der damit verbundenen Probleme rechtfertigen lässt. Auf diese Weise lasse sich das
zentrale Anliegen der Verfassungstheorie, für eine verlässliche grobe O r d n u n g der politi-
schen Verhältnisse und eine Grundausrichtung und Mäßigung der öffentlichen Gewalt zu
sorgen, in das Zeitalter der relativierten und integrierten Staatlichkeit weitertragen, o h n e
dass dabei der Kern dieser Theorie, der G r u n d g e d a n k e der Bindung j e d e s Machtträgers
in einem Herrschaftsverband an übergeordnete rechtliche Vorgaben, verändert würde. Es
handelt sich nach Schmitz also um eine Fortschreibung, nicht Verfälschung. Es ist richtig:
Dieser Lösungsansatz erlaubt eine möglichst weitgehende Verfassungsgebundenheit öffent-
licher Gewalt auch unter den Bedingungen der Globalisierung und Georegionalisierung und
152 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Insgesamt stößt jedoch der enge Verfassungsbegriff (wie etwa bei C. Schmitt)
- nicht nur qua definitionein - rasch auf Grenzen, die der Wirklichkeit geschuldet
sind. Visionär im gewissen Sinne ist bereits der Ansatz P. Häberles. der - gleich-
wohl (aber eben nicht nur) mit Staatsbezug - einen ähnlich weiten Verfassungs-
begriff angelegt hat:
..Verfassung meint rechtliche G r u n d o r d n u n g von Staat und Gesellschaft, schließt also
die - verfasste - Gesellschaft ein. - freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen .
d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst (Verfassung ist nicht nur .Staats-'Verfassung)."* 2 4
„Verfassung" kann also auch in einem weiteren Sinne als rechtliche Grundord-
nung eines nichtstaatlichen Gemeinwesens, einer Rechtsgemeinschaft oder einer
supranationalen öffentlichen Gewalt verstanden werden. Demgemäß können die
Gründungsverträge internationaler Organisationen, die formal als multilaterale
völkerrechtliche Verträge erscheinen, Verfassungscharakter 426 haben.
(e) Fazit
Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt, die eine Verwendung eines
angereicherten, wenngleich nicht legitimistischen Verfassungsbegriffs als sinnvoll
erscheinen lässt. Es muss sich demnach um einen Verfassungsbegriff handeln,
der auf die Problematik zugeschnitten ist, die sich mit der Einbindung und Legiti-
mierung von Herrschaft im 21. Jahrhundert jenseits des Nationalstaates verbindet
(konkreter, aber abstrahierender normativer Verfassungsbegriff). 4 2 9
427
M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: Z E u S
5 (2002), S. 507 ff. Staatliches Recht genoss zwar vor d e m Hintergrund d e r staatlichen
Zwangsgewalt eine besonders prägnante Normativität: an seiner Seite stand aber i m m e r
auch Recht, hinter dem diese Gewalt nicht stand, das aber gleichwohl in seiner Existenz und
Wirksamkeit als Recht nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Insofern bedarf es eines
Hinweises, dass die Durchsetzung des Unionsrechts in den Händen d e r Mitgliedstaaten
liegt, nicht.
428
So etwa M. Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Be-
richt für die X X . FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter w w w . f i d e 2 0 0 2 . o r g
/reportseulaw.htm).
429
Z u m G a n z e n P. Craig, Constitutions. Constitutionalism and the European Union,
in: 7 ELJ 2001. S. 125 ff. Zur Begriffsbildung vgl. z u s a m m e n f a s s e n d etwa M. Nettesheim
(2002). mit zahlreichen Nachweisen sowie R. Bieber, Verfassungsfrage und institutionelle
Reform, in: T. Bruha u. a. (Hrsg.), Welche Verfassung f ü r Europa?. 2001, S. 111 ff.
154 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Von C(arlo) Schmid stammt das geflügelte Wort, es sei ganz leicht, eine eu-
ropäische Verfassung zu schreiben. Man brauche nur jeweils das Beste aus den
nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Richtig an dieser Aussage
ist. dass es in Demokratien allgemein gültige Wirkungsmechanismen gibt. Politi-
sche Verantwortlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung finden
sich auch in den verschiedenen instititutionellen Ausprägungen und Grundrechten
der EU-Mitgliedstaaten. Der Rekurs auf nationale Verfassungsvorverständnisse
erfordert Umsicht. Das Originäre an der Europäischen Union ist - wie bereits
aufgezeigt - ihr nichtstaatlicher Charakter, ihr ..Doppelcharakter als Staaten- und
Bürgerunion", wie er z. B. in einer Föderation von Nationalstaaten zum Ausdruck
käme. Nationalstaatliche Verfassungstraditionen sind infolgedessen nicht eins zu
eins übertragbar. Eine europäische Verfassung kann nur eine nicht-staatliche Ver-
fassung darstellen, die die nationalen Verfassungsordnungen ergänzt. Es gibt auch
430
Vgl. zu der Abgrenzung ..Verfassung" - „Verfassungsvertrag" unten B . I I . 2 . f ) q q ) ( l ) .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 155
Die italienische Verfassung (1947) wurde wie das Grundgesetz (GG) und die
späteren Verfassungen von Griechenland (1975), Portugal (1976) und Spanien
(1978) nach dem Ende eines diktatorischen Regimes ausgearbeitet. Ein vergleich-
barer Umstand prägt z. B. auch die polnische Verfassung von 1997. Den Schöpfern
der Verfassung der V. Französischen Republik ging es 1958 dagegen darum, einen
431
Vgl. aber J.H.H. Weiler, Der Staat „über alles". Demos. Telos und die Maastricht-
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR 44 (1996). S. 91 ff. (gemeinsam mit
A. Ballmann und F. Mayer).Aus der nationalstaatlichen Sphäre vertraute Baumuster kön-
nen beim Bürger eher ein G e f ü h l der Transparenz und Verständlichkeit vermitteln als eine
,.sui generis" - Konstruktion. Eine zu ausgeprägte Verwendung nationaler Verfassungs-
vorstellungen kann aber z u m .Missverständnis führen, dass über eine E U - V e r f a s s u n g eine
Staatlichkeit der Union angestrebt wird („Superstaat").
432
So gibt es bei den existierenden, nationalstaatlichen Z w e i k a m m e r - S y s t e m e n durch-
aus „ M o d e l l e " für echte supranationale zweite K a m m e r n , vgl. nur den deutschen Bundesrat
oder den US-Senat - und solche, die lediglich mit einer stärkeren Einbeziehung nationaler
Parlamentarier arbeiten: bei den Exekutivmodellen stehen sich z. B. das Modell eines par-
lamentarisch-verantwortlichen Regierungschefs und das einer direkt gewählten exekutiven
Spitze gegenüber. Vgl. allgemein sowie für die beidseitige Wechselwirkung auch W. Kluih,
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Gestalter und Adressaten des Integrations-
prozesses - Grundlagen und Problemaufriss, in: ders. (Hrsg.), Europäische Integration und
Verfassungsrecht. Eine Analyse der Einwirkungen der Europäischen Integration auf die
mitgliedstaatlichen Verfassungssysteme und ein Vergleich ihrer Reaktionsmodelle, 2007,
S. 9 ff.
433
Aus d e m Doppelcharakter der Staaten- und Bürgerunion folgt z. B. - dass anders als
in den meisten nationalen Verfassungen - in einem EU-Verfassungsvertrag ein „Staaten-
Legitimationsstrang" im Rat und ein „Unions-Legitimationsstrang" über das Europäische
Parlament und die Kommission notwendig ist.
156 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Betrachtet man nun die Strukturen der am Konvent beteiligten Staaten, so er-
gibt sich insgesamt ein eher heterogenes Bild. 435 Aus deutscher Sicht sind die
naheliegendsten Vergleichsparameter f ü r Verfassungen die des Grundgesetzes
von 1949 und der Nachkriegs-Länderverfassungen, wobei für die Struktur des
Grundgesetzes wie für die Verfassungen der Länder die Zusammenfassung der
Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde 4 3 6 und im Grundgesetz - kontrastie-
rend zur Struktur der Weimarer Verfassung - die Akzentuierung der (meisten 437 )
Grundrechte durch ihre „Position" an der Spitze der Verfassung, in einem Teil I
(„Die Grundrechte" - Art. I bis 19 GG) kennzeichnend sind. 438
Der deutschen Verfassungsstruktur ist die Italiens (Verfassung von 1947) nicht
unähnlich. Diametral unterschiedlich erweist sich hingegen die Verfassungsord-
nung Großbritanniens. Großbritannien verfügt mit der Magna Charta von 1215
434
Dies galt freilich i m m e r weniger in Frankreich (vgl. die Rede von Staatspräsident
J. Chirac vor dem Deutschen Bundestag vom 2 7 . 0 6 . 2 0 0 0 , in: FAZ vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f..
in der der Verfassungsbegriff zentral f ü r die B e s t i m m u n g der französischen Rolle in der
und durch die EU ist).
435
Zu diesem Ergebnis kommt auch F.C. Mayen Verfassungsstruktur und Verfassungs-
kohärenz - M e r k m a l e europäischen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 / 2 0 0 3 . S. 398 ff..
4 0 5 f.
436
Vgl. auch Art. 79 Abs. 1 G G .
437
Siehe aber die justiziellen Grundrechte in Art. 101 ff. G G .
438
Eine Besonderheit bildet die Einbeziehung der Art. 136 bis 141 der Weimarer Ver-
fassung in das Grundgesetz durch Verweis. Materiell besteht grundsätzlich eine Gleichran-
gigkeit der Grundgesetzbestimmungen, allerdings ergibt sich durch die ..Ewigkeitsklausel"
des Art. 79 Abs. 3 GG eine A b s t u f u n g in der Änderungsfestigkeit der Verfassungsartikel.
Insgesamt verwundert es nicht, dass aus deutscher Sicht die Struktur des Konventsentwurfs
eines Verfassungsvertrages vor allem unter zwei Aspekten Kritik fand: zum einen wegen
der Positionierung der Grundrechtecharta lediglich in Teil II des Entwurfs, z u m anderen
a u f g r u n d des unklaren Verhältnisses zwischen Teil I und insbesondere Teil III des Entwurfs.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 157
Die Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten lassen sich innerhalb der bei-
den „Pole" - einerseits Konzentrierung aller Verfassungsbestimmungen in einer
Urkunde, andererseits weitgehend ungeschriebene, nur in Einzelaspekten auf be-
stimmte Urkunden zurückgreifende Verfassung-ansiedeln. Am nächsten kommen
der ersteren Erscheinungsform mit übersichtlichen, einheitlichen Verfassungsur-
kunden die Verfassungen von Belgien (1831 r 4 0 , Luxemburg (1868), Griechenland
(1975) und Portugal (1976). Ebenso sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen
in Polen (Verfassung von 1997), der Slowakei (1992), Slowenien (1991), Li-
tauen (1992) und beim Konventsteilnehmer Bulgarien (1991) in einer Urkunde
zusammengeführt. In Zypern beanspruchte während des Konventsverfahrens die
Verfassung von 1960 nur für den griechischen Teil der Insel Geltung, weshalb zu
einem gewissen Grade von „ungeklärten Verfassungsverhältnissen" gesprochen
werden kann. 441
439
Sie stehen vielmehr auf derselben Rangstufe wie andere Parlamentsgesetze. D e m -
zufolge könnten durch entgegenstehende ..Statutes" Verfassungsrechte aufgehoben werden,
vgl. insgesamt auch P. Birkinshaw, Britischer Landesbericht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die
Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem
und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 208 ff.
440
Zur Vorbildfunktion der belgischen Verfassung allgemein H. Hauenhauer, Europäi-
sche Rechtsgeschichte. 1992. S. 5 6 5 ff. Die belgische Verfassung, die bis heute Bestand
hat. verbriefte die bedeutendsten Freiheitsrechte als geltendes Recht und stellte erstmals in
Europa die Staatsordnung auf eine demokratische Grundlage, ohne allerdings das Beste-
hen der Monarchie anzutasten, vgl. ebenso IV. Skouris, Die kontinentale(n) europäische(n)
Verfassungskultur(en), in: M . M o r l o k (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates. 2001.
S. 85 ff.. 90. Der Verfassungstext von 1831 war Vorbild für zahlreiche späteren europäi-
schen Verfassungsurkunden, insbesondere für die griechische Verfassung von 1864 (deren
Grundentscheidungen auch den Kern der heutigen griechischen Verfassung von 1975
bilden).
441
In der Türkei galt zu diesem Zeitpunkt noch die Verfassung von 1982 (die im Zuge
der EU-Beitrittsbemühungen grundlegende Ä n d e r u n g e n erfahren sollte). Eine Reihe von
kemalistischen Reformgesetzen bleiben allerdings gegen diese Verfassung abgeschirmt
(Art. 174 der türkischen Verfassung).
158 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
442
Davor bestand ein eigenes Verfassungsgesetz über Bürgerrechte von 1991. Diese
finden sich n u n m e h r im Schlusskapitel der Verfassung.
443
Die Verfassung von D ä n e m a r k (1953) wird etwa durch das ..Thronfolgegesetz"
ergänzt. In Irland sind alle Verträge, auf die sich die europäische Integration gründet,
explizit in den Wortlaut der derzeitigen Verfassung (Ausgangsfassung aus d e m Jahre
1937) a u f g e n o m m e n und damit gleichsam in das irische Verfassungsrecht einbezogen,
vgl. auch F.C. Mayer. Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz - M e r k m a l e europäi-
schen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 / 2 0 0 3 . S. 398 ff.. 404f: ..Damit genügt es nicht,
zur Ermittlung des geltenden irischen Verfassungsrechts den Verfassungstext von 1937
aufzuschlagen, vielmehr muss man auch das europäische Primärrecht heranziehen."
444
Neben der Verfassung (..Regeringsformen") aus d e m Jahre 1975, und dem ..Thron-
folgegesetz" sind dies Gesetze mit Verfassungsrang, die jeweils grundrechtliche Gewähr-
leistungen zur Pressefreiheit („Tryckfrihetsförordningen") und zur Meinungsfreiheit („Yt-
trandefrihetsgrundlagen") enthalten.
445
Demzufolge kann der Gesetzgeber unter denselben Voraussetzungen, wie sie für eine
förmliche Verfassungsänderung erforderlich sind. Gesetze verabschieden, die nicht mit der
Verfassung vereinbar sind. Der Unterschied zu einer Verfassungsänderung besteht darin,
dass die „Verfassungsausnahmegesetze" zwar in e i n e m qualifizierten Verfahren zustande
k o m m e n , j e d o c h durch ein einfaches Parlamentsgesetz z u r ü c k g e n o m m e n werden können
(allein in den Jahren 1919 bis 1995 ist in 8 6 9 Fällen ein Verfassungsausnahmegesetz
verabschiedet worden). In diesem Kontext ist beachtenswert, dass nach der Verfassung des
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 159
Auch in Österreich ist eine „Streuung" von Normen mit Verfassungsrang über
die gesamte Rechtsordnung zu beobachten. Obgleich mit dem Bundes-Verfas-
sungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929 (zurückgehend auf den großen
Verfassungsrechtler H. Kelsen) ein hervorgehobener und allgemein als „österrei-
chische Verfassung" identifizierter Text vorliegt, finden sich doch mehr als zwei-
hundert Verfassungsbestimmungen in über hundert Bundesgesetzen, die letztlich
alle - als „Bundesverfassungsgesetze" - im gleichen Rang stehen und mit dem Bun-
des* Verfassungsgesetz die eigentliche „Verfassung" bilden. Gewisse Parallelen zu
einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) im europäischen Kontext
sind nicht zu übersehen. In der Tschechischen Republik gilt die Verfassung von
1992. Diese bezieht neben weiteren „Verfassungsgesetzen" in ihrem Art. 3 eine
„Grundrechtecharta" (ebenfalls 1992) als Bestandteil der Verfassungsordnung mit
ein - bemerkenswert im Hinblick auf die europäische Struktur.
449
Vgl. etwa Art. 20 Abs. II G G : „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus."
450
A. Juppe und J. Toubon forderten d a h e r in ihrem Verfassungsentwurf vom
2 8 . 0 6 . 2 0 0 0 (ganz in der französischen Verfassungstradition) exekutive und legislative Tä-
tigkeiten klarer voneinander zu trennen, vgl. A. Juppe/J. Toubon. Constitution de l'Union
Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l'Europe, vom
2 8 . 6 . 2 0 0 0 . a b r u f b a r unter www.mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf. Ein anderer Mangel der
Gewaltenteilung zwischen europäischer Exekutive und europäischer Legislative könnte
darin zu sehen sein, dass das Europäische Parlament, z u n e h m e n d in die administrative
Umsetzung von Ratsbeschlüssen durch die Kommission (im Ausschuss- /..Komitologie"-
Verfahren) eingreifen möchte. Kritisch ist ebenfalls zu erwähnen, dass das Europäische
Parlament wiederholt den Anspruch erhebt, über sein Haushaltsrecht die exekutive G A S P
mitzugestalten.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 161
Im Allgemeinen ist die Stellung der Parlamente in den Mitgliedstaaten stark (ins-
besondere in Mitgliedstaaten und Beitrittsländern mit Diktaturerfahrung). Einzig
die Stellung der französischen Nationalversammlung, die noch nicht einmal über
volle Geschäftsordnungsautonomie verfügt, ist eher schwach. Korrespondierend
zu dieser Schwäche des Parlaments verfügt die französische Exekutive über ein
hohes Maß an autonomen Normsetzungskompetenzen. Die Demokratien in den
Mitgliedstaaten sind repräsentativ verfasste Demokratien. Das Element direkter
Demokratie tritt ergänzend hinzu.
451
Im Rahmen einer weiteren Ausbildung der EU-Exekutive stellt sich die Frage,
inwieweit diese aus einer Mehrheit im Europäischen Parlament hervorgehen sollte.
452
Siehe nur die Regelungen in D ä n e m a r k . Frankreich. Großbritannien. Irland. Finn-
land und Österreich. Aus der eigenen verfassungsrechtlichen Tradition heraus schlugen
A. Juppe und J. Toubon (2000) ein Gesetzesinitiativrecht für europäische Bürger vor. ebenso
die A n n a h m e oder das Außerkraftsetzen („referendum d ' a b r o g a t i o n " ) durch Bürgerrefe-
renden. So interessant dieser Vorschlag erscheint: grundsätzlich setzt er eine europäische
Öffentlichkeit voraus, die sich erst noch entwickeln muss.
451
Bislang gibt es in der Europäischen Union eine institutionelle Dreiecksbeziehung
zwischen Rat. Europäischen Parlament und Kommission. Die europäische Legislative wird
aus Rat und Europäischen Parlament gebildet, die europäische Exekutive aus Kommission
und Rat (mit einer dominierenden Rolle des letzteren in weiten Bereichen), die europäische
Judikative aus d e m E u G H . Wann i m m e r es um die E i n f ü h r u n g einer föderalen zweiten
E U - K a m m e r neben d e m Europäischen Parlament ging, war eine Bikameralisierung der
Europäischen Union gemeint, in der ein stärker repräsentatives Europäisches Parlament
162 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
mit europaw^it einheitlichen Wahlrecht die erste K a m m e r der EU bilden und der Rat sich
in Richtung einer Staatenkammer entwickeln sollte. Die Kommission wäre tendenziell zur
Exekutive geworden (einschließlich einer Aufgabe des Prinzips der nationalen Repräsenta-
tion dort). Zu entscheiden wäre in diesem Modell, ob die Vertreter in der S t a a t e n k a m m e r
ernannt oder direkt gewählt werden sollen (siehe die Beispiele Deutscher Bundesrat oder
US-Senat) bzw. ob und wie das d e m o g r a p h i s c h e Gewicht zum Tragen zu bringen wäre
(z. B. von drei bis sechs Stimmen w i e im Bundesrat oder je zwei Stimmen wie im US-Senat).
Bei dieser Bikameralisierung der Europäischen Union darf aber nicht übersehen werden,
dass auch die im Rat vertretenen mitgliedstaatlichen Regierungen durch ihren nationalen
Parlamente demokratisch legitimiert sind. Als solche haben sie einen demokratisch her-
geleiteten Anspruch, gestaltende Akteure im europäischen Organsystem zu sein. Insofern
erscheint es in einer ..Staaten- und Bürgerunion" problematisch, den Rat in eine rein nachge-
ordnete legislative zweite K a m m e r herabzustufen. Für viele Mitgliedstaaten stand deshalb
während des Konventsprozesses bei der etwaigen Einrichtung einer zweiten K a m m e r nicht
der Rat im Vordergrund, sondern die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente
(vgl. insofern die Vorschläge von Kommissar C. Patten und Premierminister T. Blair für die
Einrichtung einer zweiten P a r l a m e n t s - K a m m e r aus nationalen Parlamentsangehörigen, in
ihren Reden vom 26. 1 0 . 2 0 0 0 bzw. 06. 10.2000). Die französischen Vorschläge für eine aus
nationalen Parlamentariern beschickten zweiten Parlaments-Kammer dürften sich - neben
Souveränitätsvorbehalten - auch aus den schwachen parlamentarischen Kontrollmöglich-
keiten der Assemblee nationale in der Europapolitik erklären. Eine zweite K a m m e r würde
diese Kontrollrechte verbessern (während der deutsche Bundestag bereits nach Art. 2 3 G G
über breite Mitwirkungsmöglichkeiten verfügt). Juppe und Toubon (2000) schlugen vor
diesem Hintergrund ein Z w e i - K a m m e r - S y s t e m vor. mit e i n e m Europäischen Parlament
(dessen exklusive Gesetzgebungszuständigkeit allerdings durch die Tagesordnung der euro-
päischen Regierung bestimmt wird) sowie eine „ K a m m e r der Nationen" (aus Mitgliedern
der nationalen Parlamente). Die K a m m e r ist gedacht als Garant des Subsidiaritätsprinzips
und vitaler nationaler Interessen eines Mitgliedstaates.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 163
454
Die Stellung des US-Präsidenten ist insofern noch stärker, als er Regierungschef ist
und ebenfalls direkt - über Wahlmänner - gewählt wird.
455
Der schweizerische Wettbewerbsföderalismus ist insoweit nochmals eine Besonder-
heit. da er den Gliedstaaten z. B. auch a u t o n o m e Steuererhebungskompetenzen einräumt;
nach d e m US-Trennungsföderalismus umfassen dagegen die jeweils der Bundesebene zu-
gewiesene Sachkompetenz alle Funktionen: Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit.
456
Belastbare Bewertungen der ..Föderalismus-Reform I" sowie der laufenden ..Födera-
l i s m u s - K o m m i s s i o n " stehen noch aus.
164 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Begleitend zum seit Februar 2002 tagenden „Konvent zur Zukunft Europas"
erarbeiteten verschiedene Politiker und Juristen eine Vielzahl eingehender Verfas-
sungsentwürfe. 4 5 7
Zu nennen sind hierbei (P\ Häberle zitierend 458 und ergänzend) der „Budapes-
ter Entwurf für eine Europäische Verfassung" der Arbeitsgruppe an der Staats-
und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Budapester Eötvös-Loränd-Universität
vom Juni 2003 4 5 9 , der Entwurf von The Young Christian Democrats ofDenmark
(KFU) vom März 200346<>, der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juris-
tinnen und Juristen (ASJ) vom Februar 2003 4 6 ! sowie aus demselben Monat der
„Trierer Verfassungsentwurf für die Europäische Union" 462 .
457
17 dieser E n t w ü r f e werden von P Hüberle, Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 6 0 0 ff. ( vgl. auch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen
v o r d e n Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: D Ö V
11/2003. S . 4 2 9 ff.) vorgestellt und profund (gelegentlich streitbar - etwa d e r sog. ..Berli-
ner Entwurf* vom November 2 0 0 2 ) analysiert. Auf eine Darstellung dieser Ansätze wird
daher verzichtet, gleichwohl darauf verwiesen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl der
Entw ürfe einflussreiche Wegmarken für die Debatte zu setzen w ussten (bzw. noch w issen).
Einige Verfassungsentwürfe, die von P. Hüberle nicht a u f g e n o m m e n wurden, sind bereits
oben benannt worden. Vgl. auch T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäi-
schen Verfassungskonvent 2 0 0 2 / 2 0 0 3 . in: DVBI. 2003. S. 1 ff. J. Schwarze. Europäische
Verfassungsperspektiven nach Nizza, in N J W 2002. S. 9 9 3 ff.
458
P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 604 ff.
459
Vgl. www.cap.uni-muenchen.de/konvent/entwuerfe.htm.
460
Young Cristian Democrats Of Denmark (B. Langdahl. T.N. W. Pedersen). A Danish
Proposal on a European federal Constitution. 25. März 2003, a b r u f b a r unter http://kfu.dk
/rtf/108.pdf.
461
Der Entwurf: Verfassungsgrundsätze der Europäischen Union. 14. Februar 2003.
vgl. www.bundestag.de/internat/eu_konvent/verf_ent.html.
462
H. W. Maull. R. Kirt (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Trierer Verfassungsentw urf
für die Europäische Union. Ergebnis eines Projektseminars Trierer Studentinnen und
Studenten. 2003.
463
„The Constitution of the European Union" (Discussion Paper). 10. November 2002.
Text of the E P P Convention Group meeting in Frascati. abrufbar unter http://www.cap.uni-
muenchen.de/konvent/download/EPP-Constitution2.pdf.
464
„Die Verfassung der Europäischen U n i o n " (Diskussionspapier), überarbeitete Fas-
sung einschl. des 2. Teils. 2 7 . 0 1 . 2 0 0 3 . vgl. C O N V 6 1 6 / 0 3 vom 0 1 . 0 4 . 2 0 0 3 .
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 165
N e b e n d e m i n m a n c h e r l e i H i n s i c h t g e g l ü c k t e n E n t w u r f v o n F . Dehousse u n d
W. Coussens ( E u r o p e n P o l i c y C e n t e r ) 4 7 7 ist in m e s s b a r e n G r e n z e n b e a c h t e n s w e r t
auch d e r „First G r e e n D r a f t for a E u r o p e a n C o n s t i t u t i o n " d e r j u n g e n Grünen-Politi-
465
F. Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union. Entwurf und Begründung.
2. Aufl. 2003, S. 27 ff.
466
A b r u f b a r unter http://europa.eu.int/futurum/documents/offtext/const051202_en.pdf
467
A b r u f b a r unter http://www.eloser-spd.de/berliner_entwurf-verfassung_fuer_die_eu
.pdf.
468
Europa-Institut Freiburg e. V. ( Hrsg.). Freiburger Entwurf für einen europäischen
Verfassungsvertrag, 2002.
46
" R. Scholz, Entwurf einer Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für
den Verfassungskonvent der EU. in: Zeitschrift für Gesetzgebung. Vierteljahresschrift für
staatliche und k o m m u n a l e Rechtsetzung, 17. Jahrgang. Sonderheft 2002.
470
Vgl. C O N V 3 6 9 / 0 2 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00369d2
.pdf
471
A b r u f b a r unter http://www.joleinen.de/dokumente.html.
47:
..Draft Constitutional Treaty of the European Union and related d o c u m e n t s " ,
vgl. C O N V 3 4 5 / 0 2 R E V I sowie hUp://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00345-
rid2.pdf
473
„Progetto di Costituzione d e l l ' U n i o n e E u r o p e a " (ital.), ..Projet de Constitution de
f Union E u r o p e n n e " (franz.), vgl. C O N V 3 3 5 / 0 2 vom 10. Oktober 2002 sowie http://register
.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00335d2.pdf
474
„Constitution of the European U n i o n " (Discussion Paper) neuere Version zum
Entwurf vom 10. S e p t e m b e r 2002 ( a b r u f b a r unter http://www.weltpolitik.net/texte/policy
/verfassung/brok.pdf). vgl. C O N V 3 2 5 / 0 2 vom 8 . O k t o b e r 2 0 0 2 ( C O N T R I B I I I ) sowie
http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00325d2.pdf
475
„Eine Europäische Verfassung. Une Constitution Europenne", vgl. C O N V 3 1 7 /
02 vom 30. September 2002 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/003l7d2
.pdf
476
„A Model Constitution for a Federal Union of Europe", vgl. C O N V 2 3 4 / 0 2 vom
3. September 2002 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf7dc/02/cv00/00234d2.pdf:
477
Constitution of the European Union. 17. S e p t e m b e r 2 0 0 2 . vgl. http://www.cap.uni-
muenchen.de/konvent/download/EPC-DehousseCoussens.pdf.
166 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ker Seifen, Liihrmann und Nouripour (September 2002) 478 sowie „La Constitution
Europeene de Cluny" der Convention Europiene de Cluny (Juli 2002) 479 .
Der „EU-Konvent zur Zukunft Europas" wurde von den europäischen Staats-
und Regierungschefs am 14./15. Dezember 2001 beauftragt, „die wesentlichen
Fragen zu prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union
a u f w i r f t . " Dazu wurden in der benannten „Erklärung von Laeken" jene knapp
60 Fragen aufgelistet, mit denen sich der Konvent beschäftigen sollte. Praktisch
war damit der Auftrag für eine Generalrevision der Europäischen Union gegeben.
Der Konvent hat seine Arbeit so angelegt, dass praktisch das gesamte europäische
System auf den Prüfstand kam.
Zwar hatten die Mitglieder der Beitrittsstaaten kein Stimmrecht, doch wirkte
sich das in der Praxis mangels Abstimmungen nicht aus. Die stellvertretenden
Mitglieder waren im Status den Mitgliedern praktisch gleichgestellt. 481
478
Vgl. http://www.cap.uni-muenchen.de/konvent/download/Young_Greens.pdf.
479
Vgl. http://pictel.cluny.ensam.fr/Europe/textes/const_2001 .htm.
4S
" Aus der Lit: T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfas-
sungskonvent 2 0 0 2 / 2 0 0 3 , in: DVB1.2003. S. 1 ff.: F.C.Mayer. Macht und G e g e n m a c h t
in der Europäischen Verfassung. Z u r Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents, in:
ZaöRV 63 (2003). S. 59 ff.: I. Pernice. Eine neue K o m p e t e n z o r d n u n g für die Europäische
Union, in: P. H ä b e r l e / M . M o r l o k / W . Skouris (Hrsg.), Festschrift Festschrift für Dimitris
Th. Tsatsos. Z u m 70. Geburtstag am 5. Mai 2003. 2003. S . 4 7 7 ff.: 5. Magiern. Die Arbeit
des europäischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, in: D Ö V 2003. S. 578 ff.;
D. Tsatsos. Der Europäische Konvent, in: Festschrift für T. Fleiner. 2 0 0 3 . S. 7 4 9 ff. Siehe
insb. auch die Bibliographie des Verf. (2006).
481
Aus Deutschland gehörten zuletzt d e m Konvent an: Bundesminister J. Fischer (Grü-
ne), und Staatsminister H.M. Bury als Vertreter der Bundesregierung. Ministerpräsident
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 167
Der Konvent konnte freilich auf zahlreiche neue Vorschläge für eine Reform
bzw. Ersetzung der geltenden Verträge zurückgreifen. Die jeweiligen Vorarbeiten
spielten in der Konsequenz aber eine vergleichbar marginale Rolle.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Plenum und dem Präsidium bzw. seinem
Präsidenten gestaltete sich von Beginn an nicht reibungs- und konfliktfrei. 483 So
wurden etwa Arbeitsgruppen mit einer realistischen Zeitvorgabe erst auf Druck
des Plenums eingesetzt, ohne dass dabei tatsächlich plausible Strukturüberlegun-
gen erkennbar waren. Zu einem zentralen Punkt der Reform, den Institutionen,
hat es keine Arbeitsgruppe gegeben. Von Vielen wurde beklagt, dass die „Grund-
E. Teufel (CDU) und W. Gerhards (SPD), als Vertreter des Bundesrates, J. Meyer (SPD)
und P. AI mutier ( C D U ) als Vertreter des Bundestages. E. Brök ( C D U ) . K. Hansell (SPD),
S. Kaufmann ( P D S ) und J. Wuermeling ( C S U ) in der Delegation des Europäischen Parla-
ments.
482
Der zweite Konvent hat daraus zumindest vordergründig seine Konsequenzen gezo-
gen: Bereits vor der Eröffnungssitzung am 28. März 2002 fanden sowohl die ersten Treffen
der Institutionengruppen als auch Koordinierungssitzungen der ..politischen Familien"
statt.
483
Bereits der Auftakt der Konventsberatungen war in diesem Sinne misslungen. da das
Präsidium den Versuch u n t e r n o m m e n hatte, eine ausschließlich von ihm selbst entworfene,
sehr präsidiallastige G e s c h ä f t s o r d n u n g zur Grundlage der Konventsarbeit zu machen,
vgl. auch J. Meyer/S. Hölscheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents,
in: E u Z W 2003. S . 6 I 3 ff. Um die Verfassung zu entwerfen, wurden 27 Plenarsitzungen
zwischen dem 2 8 . 2 . 2 0 0 2 und dem 1 0 . 7 . 2 0 0 3 durchgeführt, in denen es 1802 Redebeiträge
gab. die als Folge der Beschränkung der Redezeit ..nur" 5 4 3 6 Minuten in Anspruch
g e n o m m e n haben. Das Präsidium hat 50mal getagt. Es gibt 848 Konventsdokumente: 5995
Änderungsanträge wurden gestellt. Elf Arbeitsgruppen gab es. die insgesamt 86 Sitzungen
durchgeführt haben: hinzu k o m m e n drei Arbeitskreise, die insgesamt z w ö l f m a l getagt
haben, vgl. C O N V 851 / 0 3 v. 18. 7 . 2 0 0 3 ; Agence Europe v. 1 0 . 7 . 2 0 0 3 : die letzte C O N V -
Nr. ist zwar 8 5 4 / 0 3 v. 2 9 . 7 . 2 0 0 3 , doch wurden gem. C O N V 8 3 5 / 0 3 v. 2 9 . 7 . 2 0 0 3 6 C O N V -
Nr. nicht vergeben.
168 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
484
J. Meyer!S. Höheheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in:
E u Z W 2003. S. 6 1 3 ff., 6 1 3 stellen zu Recht fest, dass dies ein „wichtiger G r u n d für manche
Ungereimtheiten der Verfassung" gewesen sei: „Theoretisch wäre es sinnvoll und möglich
gewesen, die Konventsarbeit weiter zu verlängern, praktisch nicht. Europa benötigt generell
Zeitdruck, um Fortschritte zu erzielen. Speziell für den Konvent als neuartigem parlamenta-
rischen Gremium war die Mitgliedersituation zu berücksichtigen, weil persönliche Kontakte
jenseits starrer Delegationsgrenzen, w i e sie Regierungskonferenzen kennen, eine große
Rolle gespielt haben. In den Konvent brachten lediglich 14 Mitglieder durchgängig ihre
Erfahrungen aus dem Grundrechtekonvent ein; von den ursprünglichen 105 Mitgliedern
waren am Schluss nur noch 69 vertreten, mehr als ein Drittel ist also ausgetauscht worden.
Eine Verlängerung hätte zwangsläufig eine weitere Fluktuation mit sich gebracht und das
Konventsgeflecht beeinträchtigt. A u ß e r d e m erschöpft sich die D y n a m i k und Produktions-
kapazität eines solchen G r e m i u m s zu einem bestimmten Zeitpunkt. E r f a h r u n g s g e m ä ß ist
er nach ca. zwei Jahren erreicht." Dies belegen auch die Prozesse der Verfassunggebung
in den 7 0 e r Jahren in Griechenland. Spanien und Portugal auf der Staatenebene, die Ver-
fassungskommissionen der fünf neuen Bundesländer auf der innerstaatlichen Ebene und
zuletzt der Grundrechtekonvent auf der europäischen Ebene.
4S?
Die deutschen Vertreter von „ R o t - G r ü n " hätten im Konvent eine maßgeblichere
Rolle spielen können. Das Potential Deutschlands als größtem Mitgliedstaat wurde bei aller
gebotenen Zurückhaltung auch angesichts gegebener Wirkkräfte nur bedingt genutzt. Einen
Akzent brachte zumindest die deutsch-französische Initiative im Frühjahr 2003 (wobei die
..Vertretungsregelung" Deutschlands d u r c h / Chirac zu den traurigen Kapiteln tatsächlicher
„Interessensvertretung" zu zählen ist). Die Auswechslung des Regierungsvertreters P. Glotz
durch Außenminister J. Fischer erfolgte zu spät. Z u d e m gehörte Fischer als Grüner keiner
der großen politischen G r u p p e n an. in der die Linien verabredet wurden.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 169
Eine grundsätzliche Überlegung: die Verfassung ist ein klassisches Mittel, die
Macht des Staates zu begrenzen. Sie kann aber auch dazu missbraucht werden, die
Machtfülle, die staatliche Institutionen angesammelt haben, ex post zu legitimieren
und weiter auszubauen. Der Europäische Verfassungskonvent hatte vorgeschlagen,
die Kompetenzen der Europäischen Union zu erweitern, anstatt sie zu beschränken.
Der Konvent wurde im Dezember 2001 vom Europäischen Rat eingesetzt, auch
weil der französische Präsident J. Chirac in Nizza offensichtlich eine weitere
Zentralisierung der Europäischen Union in wichtigen Punkten zu blockieren
vermocht hatte. Nicht zuletzt um ihn - auch in seinem eigenen Land - unter Druck
zu setzen" 86 , beschloss die Ratsmehrheit, auf öffentlichkeitswirksame Weise an
die Spitze des Verfassungskonvents einen bürgerlichen Politiker aus Frankreich
zu stellen, der als besonders zentralisierungsfreudig bekannt war.
Die offizielle Begründung lautete freilich anders: Der Konvent sollte erstmals
den Parlamenten - dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten - die
Möglichkeit geben, schon im Vorfeld einer Regierungskonferenz Einfluss auf die
Reformdiskussion zu nehmen. Tatsächlich besaßen die Europaparlamentarier (16)
und die nationalen Parlamentarier (30) im Konvent - allerdings nicht in seinem
Präsidium - zusammen eine Mehrheit der 66 Stimmen. Hierbei ist jedoch die
unterschiedliche Interessenlage zwischen den nationalen und europäischen Parla-
mentariern zu berücksichtigen, wenn es um die Zentralisierung Europas geht. Das
Kooperationspotential erschien zunächst eingeschränkt. Versucht man die verschie-
denen Gruppen des Konvents nach ihrem jeweiligen Zentralisierungsinteresse zu
ordnen, so standen die Vertreter der Kommission (2) und des Europaparlaments
(16) an der Spitze. Es folgten der Präsident, die beiden Vizepräsidenten Ama-
to und Dehaene (zusammen 3) sowie die Vertreter der nationalen Regierungen
(15). Für eine Mehrheit bedurfte es 34 der 66 Stimmen. Damit wurde deutlich:
Die Mehrheitskoalition, die einer stärkeren Zentralisierung grundsätzlich befür-
wortend gegenüberstand, besteht aus den Vertretern der Kommission und des
Europaparlaments, der Leitung des Konvents und 13 (von 15) Regierungsvertre-
tern (2+16+3+13=34). Der Repräsentant der französischen Regierung und die
486
Vgl. nur R. Vaubei Weshalb das Defizit an Demokratie bestehen bleibt, in: N Z Z am
Sonntag vom 1 6 . 2 . 2 0 0 3 .
170 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Interessant wird in diesem Gesamtzusammenhang und mit Blick auf den Ver-
fassungsvertrag bzw. den Vertrag von Lissabon die zukünftige Rechtsprechung
des EuGH sein. Zwar sollen die nationalen Parlamente die Möglichkeit erhalten,
im Vorfeld der EU-Gesetzgebung ihre Bedenken anzumelden und im Nachhin-
ein beim EuGH gegen Kompetenzüberschreitungen zu klagen. Jedoch ist bislang
4S
In diesem Kontext entwickelt der G e d a n k e eines R e f e r e n d u m s in der Regel be-
sondere Anreize, vgl. dazu A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas
Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003. S. Hol scheidt. /. Putz. Re-
ferenden in Europa, in: D Ö V 18 (2003), S. 737 ff.; K. Schmitt (Hrsg.), Herausforderungen
der repräsentativen Demokratie. 2003.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 171
488
Siehe nur G. G. Saner. Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Inte-
gration, 1988. Zur bisherigen Rolle des E u G H J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof
als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983: O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung
und Rechtsschutz nach A m s t e r d a m - Zu den neuen Zuständigkeiten des E u G H , in: A ö R
125 (2000). S. 3 8 6 ff.; P Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 4 7 8 ff.:
W. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc
Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfas-
sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998: P. Pernthaler. Die
Herrschaft der Richter im Recht o h n e Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestal-
tenden Funktionen des E u G H , in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A Wolf-Niedermaier..
Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997.
489
Eine A u s n a h m e bildet etwa das schweizerische Bundesgericht, da es nicht für
Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund zuständig ist.
490
Solche Vorschläge, w i e sie die ,.European Constitutional Group" (ECG) in einem
Entwurf f ü r eine europäische Verfassung im Sinne einer liberalen O r d n u n g 1993 vorge-
stellt hatte, stießen jedoch bei der Mehrheit des Verfassungskonvents auf wenig Widerhall.
Die ECG ist im Juni 2 0 0 2 in Berlin m e h r oder weniger neu lanciert worden, um das
Vorhaben des EU-Verfassungskonvents kritisch zu begleiten; Zielsetzung w a r u . a . so-
zusagen als Schatten-Konvent zu arbeiten, um bei der Veröffentlichung des offiziellen
Verfassungsentwurfs des EU-Konvents mit einem liberalen Gegenvorschlag a u f z u w a r t e n .
Die wiedererweckte ECG umfasste 18 Ö k o n o m e n und Rechtsexperten. Der Entwurf der
ECG war naturgemäß viel schlanker als die D o k u m e n t e des EU-Konvents, inhaltlich aber
radikaler. Die Autoren waren der Meinung, dass für eine wachsende Europäische Union in
gewissem minimalem A u s m a ß eine föderale Union nötig sei. um deren Funktionsfähigkeit
zu sichern. Gesucht wurden deshalb Spielregeln für eine demokratische, föderal aufgebaute
Europäische Union mit klarer Kompetenzaufteilung zwischen den verschiedenen Staats-
ebenen: Verfassungsregeln, die die Rechte der Bürger schützen, nicht - wie es eher E U -
Tradition ist - die Rechte von Staaten. Als Grundrechte sollten die in der Konvention von
1950 umschriebenen Freiheitsrechte gelten und nicht - w i e es der EU-Konvent letztlich
vorsah - die im D e z e m b e r 2 0 0 0 verkündete Grundrechte-Charta der Europäischen Union.
172 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der Konvent tagte öffentlich und alle D o k u m e n t e waren über das Internet
j e d e r m a n n zugänglich. Ziel war eine u m f a s s e n d e Debatte aller Bürgerinnen und
Bürger zur R e f o r m der Europäischen Union. D a z u w u r d e ein „ F o r u m " geschaffen,
d a s allen O r g a n i s a t i o n e n der Zivilgesellschaft o f f e n stand. Hier sind 1264 Beiträge
von Nichtregierungsorganisationen eingegangen, die beispielsweise im R a h m e n
einer A n h ö r u n g der Zivilgesellschaft am 2 5 . / 2 6 . Juni 2002 durch den Konvent
in die D e b a t t e eingeflossen sind. D e r Vorsitzende hat die M i t g l i e d s t a a t e n d a z u
aufgerufen, auch auf nationaler E b e n e Foren zur Bürgerbeteiligung einzurichten.
In einem „Jugendkonvent" wurde am 10. J u l i 2 0 0 2 d e r B e i t r a g v o n ü b e r 2 0 0
Jugendlichen gehört.
E i n e b r e i t e r e Ö f f e n t l i c h k e i t n a h m t r o t z d i e s e r B e m ü h u n g e n erst g e g e n E n d e d e s
M a n d a t s von den Arbeiten Notiz. Umfragen zufolge hatten z u m Schluss gerade
einmal die H ä l f t e der E U - B ü r g e r von d e m Konvent gehört. Dies, obwohl der
Verfassungstext gerade Übersichtlichkeit, Einfachheit und Bürgernähe vermitteln
sollte. U m f a s s e n d informiert w u r d e n allerdings die nationalen Parlamente durch
ihre Vertreter.491
Begründet wurde dies damit, dass die Charta zur verfassungsmäßigen Beschränkung der
Staatsgewalt ungeeignet sei, da sie neben Freiheitsrechten viele Stellen enthalte, aus denen
zahlreiche Schutz- und Umverteilungs-Versprechen ableitbar wären. Im ECG-Worschlag
w ird die zweite K a m m e r nicht aus dem Europäischen Rat gebildet; dieser bleibt näher bei
seiner heutigen Rolle. Die Zuständigkeit der europäischen Regierung beschränkt sich auf
Verteidigung. Außenpolitik. Außenhandelspolitik, die Gewährleistung des freien Verkehrs
von Waren. Dienstleistungen, Personen und Kapital innerhalb der Europäischen Union,
auf Wettbewerbspolitik sowie Umweltpolitik mit Blick auf EU- weite Umweltprobleme.
All dies soll nur an die oberste Ebene delegiert werden, wenn unter den Mitgliedstaaten
darüber Konsens herrscht und ein Referendum darüber die Volks- und Ländermehrheit
findet. Der Haushalt der europäischen Regierung muss über die Legislaturperiode hinweg
ausgeglichen sein. Die europäische Regierung wird durch eine speziell bezeichnete Steuer
finanziert, etwa durch eine proportionale indirekte Steuer. Steueränderungen sind nur bei
Zweidrittelmehrheit in beiden K a m m e r n und Z u s t i m m u n g des Volkes möglich. Für wichti-
ge G e s c h ä f t e gilt ein obligatorisches, für andere Vorlagen bei bestimmten Unterschriften-
Quoren ein fakultatives R e f e r e n d u m . Vorlagen bedürfen zur A n n a h m e einer Volks- und
Ländermehrheit. Jeder Staat hat das Recht, aus der Europäischen Union auszutreten, wobei
das Volk mit qualifizierter Mehrheit zustimmen muss und Verfahren mit Übergangszeiten
festzulegen sind. Schliesslich ist das Verfahren bei Entwurf und Verabschiedung einer
Verfassung von zentraler Bedeutung, zumal diese eine Art G r u n d k o n s e n s der EU-Bürger
darstellen sollte. Eine Verfassung nach d e m Geist der ECG müsste wohl d e m Volk vorgelegt
werden, und zwar in der ganzen Europäischen Union.
491
So haben etwa C D U / C S U - K o n v e n t s m i t g l i e d e r der Führungsspitze, den Europa-
politikern. Bundestagsabgeordneten und weiteren Mandatsträgern der Partei nach j e d e r
Plenartagung schriftlich Bericht erstattet.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 173
Der Verfassungstext ist zwar nicht gerade über Nacht, aber doch in der ver-
gleichsweise kurzen Zeitspanne von weniger als zwei Jahren entstanden. Gewiss,
auch Verfassungen von Staaten kamen zum Teil sehr schnell zustande. So bei-
spielsweise die gaullistische Verfassung der Fünften Republik in Frankreich. Sie
wurde 1958 unter der Leitung von \1. Debre in wenigen Monaten redigiert und in
Kraft gesetzt.
Alte Staatsverfassungen wie diejenige der Vereinigten Staaten von 1787 aber
waren meist Produkte langer, intensiver Diskussionsprozesse. In der Schweiz
nahm die Tagsatzung 1848 die neue Bundesverfassung zwar nach nur einigen
Wochen dauernden Kommissionsverhandlungen an. Sie griff - so der Kommen-
tar (des US-Schweizers) W. Rappard - zwar so lustlos zum neuen Text wie ein
ermüdeter Patient zum rettenden Medikament. Doch waren der Errichtung des
Bundesstaates von 1848 während fünfzig Jahren zum Teil erbitterte Auseinander-
setzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten. Liberalen und Konservativen
vorausgegangen. Der EU-Verfassungskonvent hat zügiger und diskreter gearbeitet
als die meisten staatlichen Verfassunggeber. Er war nicht umlagert von einem
nachrichtenbegierigen Publikum. Er produzierte definitiv keine „Federalist Pa-
pers", wenn man einmal von (verstreuten und eher unkohärenten) öffentlichen
Stellungnahmen aus den Federn von U. Eco, J. Habermas, J. Derrida, A. Mtischg
und anderen Intellektuellen absieht. Der Prozess vollzog sich - im Gegensatz
zu klassischen Fällen des staatlichen „constitution-making" - in einer gewissen
Abgeschiedenheit vom politischen und intellektuellen Leben.
492
So L. Kidmhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struk-
turentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.
174 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auf der Grundlage der ersten Diskussionen und der Ergebnisse der Arbeits-
gruppen erarbeitete das Präsidium im Oktober 2002 ein Rohgerüst für den Ver-
fassungsvertrag. Sodann wurden sukzessive Vertragsartikel für die diversen Teile
des Entwurfs vorgelegt. Nach Vorstellung dieser Artikel im Plenum konnten die
Mitglieder (und auch die Stellvertreter) binnen einer Woche schriftliche Ände-
rungsanträge zu den Texten einreichen (1. Lesung). Insgesamt wurden fast 8000
solcher Änderungsanträge gestellt. In der folgenden Plenartagung wurden die
Texte und die Änderungsanträge diskutiert.
Auf dieser Grundlage überarbeitete das Präsidium den Entwurf und legte eine
neue Fassung vor. Zu dieser konnten wiederum Änderungsanträge eingebracht
werden (2. Lesung). Nach einer erneuten Überarbeitung und Diskussion im Ple-
num (3. Lesung) wurden noch geringfügige Änderungen vorgenommen, bevor
man den Konsens feststellen konnte.
Dieses Verfahren räumte dem Präsidium des Konvents eine starke Stellung
ein. Es traf sich zu insgesamt 50 Sitzungen und unterbreitete dem Plenum 52
Arbeitspapiere. Kein einziger Text kam in den Verfassungsvertrag, der nicht zuvor
die Billigung des Präsidiums erhalten hatte. Dies war in dem Mandat des Gipfels
von Laeken angelegt, nach dem das Präsidium die Aufgabe der Ausarbeitung
der Texte hatte. Im Konvent konnte nicht abgestimmt werden, denn er war nicht
repräsentativ zusammengesetzt. Bei Abstimmungen hätte auf die Sensibilität von
einzelnen Mitgliedstaaten nicht Rücksicht genommen werden können. Wären
aber deren Vertreter regelmäßig überstimmt worden, hätte der Entwurf keinerlei
Chance gehabt, die Regierungskonferenz zu passieren.
In den Plenardebatten konnte sich das einzelne Mitglied in auf drei Minuten
beschränkten Wortbeiträgen zu den vorgegebenen Themen äußern. Nach einem
Block von fünf Redebeiträgen konnten Kurzreaktionen von einer Minute abgege-
ben werden.
493
Den Begriff ..europäische Öffentlichkeit" beleuchten und definieren P. Häberle,
Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6. S. 163 ff. mit zahlreichen Nachweisen; siehe
auch den S a m m e l b a n d von C. Franzius!U. K. Preuß (Hrsg.) Europäische Öffentlichkeit.
2004. Vgl. bereits P Häberle. Öffentlichkeit und Verfassung, in: Z I P 1969. S. 2 7 3 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 175
Nach der Übergabe des Entwurfs durch den Konvent im Juli 2003 begannen
im Oktober 2003 die Vorbereitungen zur Regierungskonferenz im Dezember. Die
Zeit der Vorverhandlungen zur endgültigen Verabschiedung war knapp bemes-
sen - ein Großteil der Verantwortung lag hierbei in den Händen der italienischen
Ratspräsidentschaft. Der Vorsitz selbst arbeitete darauf hin, die außen- und si-
cherheitspolitischen Kapitel des Entwurfs zu modifizieren und für alle anderen
Fragen differenzierte Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren. 495 Ein sehr kontro-
494
Die Beiträge sind auf der Web-Site des Konvents (http://europeanl-lconvention.eu
.int) zugänglich.
495
Vgl. A. Maurer, Aufschnüren oder D y n a m i s i e r e n ? C h a n c e n und Risiken der Regie-
rungskonferenz zum EU-Verfassungsvertrag, SWP-Aktuell Nr. 38. 2003. S. 1.
176 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Nicht alle Teilnehmer sahen diese Vereinbarung als verbindlich und konsensual
getroffen an.497
In der Praxis sollte sich zeigen, dass im Zweifelsfall nationale Interessen stärker
die Vorgehensweise der Konferenzteilnehmer bestimmten, als dieser edle Vorsatz.
496
Vgl. A. Maurer!S. Schunz, Auf d e m Weg zum Verfassungsvertrag. Der Entwurf einer
Europäischen Verfassung in der Regierungskonferenz. 2003. S. 3. Bezug zu.: A. Moravcsik.
Preferences and Power in the European C o m m u n i t y : A Liberal Interngovernmentalist
Approach, in: Journal of C o m m o n Market Studies, Nr 4. 1993.
497
Der „ E c o n o m i s t " äußerte sich hierzu wie folgt: „ T h e G e r m a n s , for instance. think
that so broad a c o n s e n s u s was reached in the Convention that any government wishing
to fiddle with the text must find an alternative broad c o n s e n s u s - which is unlikely",
vgl. Economist vom 04. 10.2003.
498
Darunter waren die Funktion und Flexibilität des durch den Konvent vorgeschlagenen
Legislativrates im Verhältnis zu den anderen Ratsformationen wie auch die Frage nach Sta-
tus und Rolle des künftigen Außenministers. Die Außenministerkonferenz kam hier überein.
dass kein eigenständiger Legislativrat gebildet werden sollte, vielmehr sollten die einzelnen
Fachräte immer dann als ein solcher zusammentreten, wenn sie ein Gesetzgebungsverfahren
durchführen und in diesem Z u s a m m e n h a n g öffentliche Beratungen stattfinden, vgl. Artikel
I - 24. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 0 6 . 0 8 . 2 0 0 4 .
C I G 8 7 / 0 4 . Zur näheren Definition der Rolle des künftigen Außenministers der EU verein-
barte man einen den anderen Kommissionsmitgliedern gleichberechtigten Status (Artikel
I - 28. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 0 6 . 0 8 . 2 0 0 4 .
C I G 8 7 / 0 4 ) . Gegenstände der Einigung waren die Klärung seines Stimmrechtes außer-
halb der Bereiche der G e m e i n s a m e n A u ß e n - und Sicherheitspolitik und die Frage, ob ein
Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Kommission auch eine Amtsniederlegung
des Außenministers zur Folge haben sollte (vgl. Artikel 1-25. Vermerk des Vorsitzes der
Ratspräsidentschaft an die Delegationen C I G 6 0 / 0 3 A D D 1).
499
Der italienische Vorsitz zielte auf die Diskussion achtzehn monatig wechselnder
Vorsitze. Neben der Dauer des Vorsitzes musste auch die Anzahl der Mitglieder inner-
halb einer Gruppenpräsidentschaft diskutiert werden: Laut italienischem Konscnpapier
C I G 6 0 / 0 3 A D D I sollten dies drei Staaten sein. Diese Regelung ging schließlich in den
Vertragstext ein. Die Alternative wäre gewesen, dass j e d e r Ministerrat in j e d e r seinerZu-
sammensetzungen den eigenen Vorsitz autonom wählt. Die Formulierung des Artikel 1-24
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 177
Der Verzicht auf einen Kommissar bedeutet für einen Mitgliedsstaat einen nicht
geringen Einflussverlust. Die Kommissare gelten als Mittler zwischen „Brüssel"
und ihren Herkunftsländern, daher möchte jeder Staat mit der Person des Kom-
missars über ein „symbolisches Vertretungsdispositiv" verfügen. Es wurde vorge-
zogen, eine Einigung in dieser Frage zunächst auf einen Folgegipfel zu vertagen,
da die kleinen Staaten ihr Interesse hier massiv geltend machten. Die Ablehnung
von Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich wegen ihres Verstoßes gegen
die Defizitkriterien verschlechterte das Klima zusätzlich. Beide Staaten stellten
sich einer im Konventsentwurf vorgesehenen Vergrößerung der Kompetenzen
der Kommission im Bereich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entgegen. Die
eigennützige Interessenlage beider Defizitsünder trug nicht gerade zu einer af-
fektfreien Diskussion bei. Diese Frage wurde ebenso wenig geklärt wie die der
Rechte des Europäischen Parlaments im Haushalt der Europäischen Union und die
Neustrukturierung der Parlamentssitze. Der Besetzungsmodus der Europäischen
Kommission war wie die folgenden Diskussionsgegenstände keiner der Gründe,
die unweigerlich zum Abbruch der Verhandlungen hätten führen müssen - da
aber aufgrund der großen Streitfrage um die Gestaltung der Mehrheitsverhältnisse
im Ministerrat ohnehin ein Scheitern absehbar war, bevorzugte man die Klärung
jener Fragen unter Sondierung durch die folgende irische Ratspräsidentschaft.
? 2
" Die E i n f ü h r u n g des A b s t i m m u n g s m o d u s der qualifizierten Mehrheit sollte in den
Politikfeldern Steuern, A u ß e n - und Sicherheitspolitik. Innen- und Justizpolitik wie auch
Sozialpolitik und Haushalt erfolgen. Die große Konfliktlinie bestand zwischen Großbri-
tannien. Irland. Tschechien. Malta und Slowenien einerseits - und den anderen Staaten
andererseits. Während erstere für Einstimmigkeit plädierten, hätten vor allem Deutschland.
Belgien und Niederlande gerne künftig in diesen Bereichen mit qualifizierter Mehrheit
abgestimmt. Großbritannien erwies sich in dieser Hinsicht als unbeirrbar in seiner Positi-
on: Die vergleichsweise niedrige Steuerquote sollte nicht durch H a r m o n i s i e r u n g s z w ä n g e
modifiziert werden müssen. Vor allem aber im Bereich der Außenpolitik gelten Kompetenz-
abtretungen an die supranationale Ebene als Souveränitätsverluste. Das von K. D. Putnam
(Diplomacy and Domestic Politics: T h e Logic of Two-Level-Games. In: International Or-
ganization. Nr. 3, 1988) umrissene Vcrhandlungsparadigma ließe sich auf diese Situation
anwenden: Die Kompromissbereitschaft und der Spielraum der Diskussionspartner sind in
dem vorliegenden Konfliktfall stark von ihrer europapolitischen Grundposition zur Integra-
tion abhängig. Im britischen Fall kann davon ausgegangen werden, dass Verhandlungshärte
nicht zur Erreichung von Zugeständnissen an den Tag gelegt wurde. Vielmehr lassen sich
von den ..roten Linien" abweichende Ergebnisse innenpolitisch nicht rechtfertigen. Die
..red lines" der britischen Regierung waren der Vorsatz, Mehrheitsentscheidungen in den
Feldern Steuer-. Sozial- und Außenpolitik zu verhindern, vgl. etwa T h e International Harald
Tribüne vom 13. 12.2003.
503
J.A. Emmanouilidis/T. Fischer, Die .Machtfrage europäisch beantworten. Die Ab-
stimmungsregeln von Nizza und Konvent im Vergleich. 2003.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 179
ab, sondern vielmehr auf die Verhinderung eines als Bedrohung empfundenen
„Übergewichts" der großen Staaten. Die deutsche und die französische Delega-
tion fühlten sich zu Unrecht angegriffen. Es sei ihnen um die Einführung eines
einfachen, transparenten und effizienten Abstimmungsverfahrens gegangen, das
Gestaltungsmöglichkeiten eröffne und keine Blockadehaltung konserviere. 5 0 4
Der gescheiterte EU-Gipfel vom Dezember 2003 ist in eine weitere Perspektive
zu rücken. So bemerkenswert die konsensuale Übereinstimmung im Verfassungs-
konvent gewesen war - am Ende stand keine formelle Abstimmung. Am Vorabend
der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union schien der
größte mögliche Absturz der Hoffnung auf eine Verstärkung des politischen
Charakters der Europäischen Union zu stehen. 505 Die Gründe für das Scheitern
des Gipfels vom Dezember 2003 waren - wie geschildert - mannigfach. Vor
allem mangelte es an einem „esprit europeenne" bei vielen der beteiligten Ak-
teure. Die Ursachen dafür ließen sich nicht auf die besonders kontroverse Frage
der Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat reduzieren. Machtfragen und
psychologische Verstimmungen hatten sich vermischt - Folge einer Kette von
Ereignissen und Tendenzen, die seit dem Gipfeltreffen des Jahres 2000 in Nizza
ruchbar geworden waren und spätestens im internen kalten Krieg des Westens
über die richtige Politik gegenüber der irakischen Diktatur und über die Weisheit
des amerikanischen Krieges gegen das Regime von S. Hussein eskalierten. Auch
in dieser Hinsicht wurde eine alte Erfahrung bestätigt: Wann immer die transat-
lantischen Beziehungen in einem schlechten Zustand sind, befindet sich auch der
Prozess der europäischen Einigung in einem schlechten Zustand.
Anders als im Dezember 2003 war es den Staats- und Regierungschefs jedoch
bei ihrem zweitägigen EU-Gipfeltreffen am 18. Juni 2004 in Brüssel gelungen, sich
auf einen Verfassungsvertrag für die Union zu einigen. Von vornherein stand dieser
Erfolg nicht fest. Allerdings w a r d e r Druck für eine Verständigung außerordentlich
groß. Zum einen wollten die Konferenzteilnehmer ihre Entscheidungsfähigkeit
nach der niedrigen Stimmbeteiligung an den Europawahlen und dem Vormarsch
der EU-kritischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten eindrücklich unter Beweis
stellen. Zum andern standen die Regierungsverantwortlichen im Wort, denn sie
hatten sich im März verpflichtet, bis Ende Juni die Beratungen über die EU-
etwa Fischer beide Begriffe benutzte. Dem Europäischen Parlament dagegen er-
schien „die Wahl des Ausdruckes ( . . . ] von zweitrangiger Bedeutung. Der Begriff
,Verfassung' bringt unser europäisches Engagement stärker zum Ausdruck" 5 0 9 .
Die Debatte um die (Richtigkeit der) Bezeichnung des Ergebnisses des Ver-
fassungskonvents 5 1 " ist auf den ersten Blick ein Scheingefecht. Wenn von einem
idealen und metahistorischen Begriff der Verfassung sowie von der traditionellen
Verbindung zwischen Staat und Verfassung - wie unten dargelegt 5 " - abgerückt
werden muss, wenn also die Entwicklung der Europäischen Union auf ihrem
„Sonderweg" zur Konstitutionalisierung ohne die gängigen Vorurteile, die der
Begriff „Verfassung" mit sich bringt, bewertet werden soll, dann ist immerhin
auch zu fragen, welche qualitative Änderung der ,.Verfassungs"-text für die Eu-
ropäische Union induzieren würde. Erst dann würde die Einführung des Wortes
„Verfassung" eine eigentliche Bedeutungskraft entwickeln und eine zielführende
Betrachtung, nämlich in welcher Beziehung die künftige Verfassung Europas
zur historischen Typologie der Verfassung steht, Sinn machen. Andernfalls könn-
te die Begrifflichkeit über einen verordneten Symbolcharakter nur schwerlich
hinausreichen.
509
Europäisches Parlament. Ausschuss für konstitutionelle Fragen: ..Bericht über die
Konstitutionalisierung der Verträge", 12. Oktober 20(X).
510
Dieser Frage widmet sich auch P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Auflage
2006. S. 6 4 7 f.
511
Vgl. unter B . I I . 2 . f ) n n ) ( 2 ) ( d ) .
512
So E.-W. Böckenförde, Staat. Verfassung. Demokratie. Studien zur Verfassungstheo-
rie und zum Verfassungsrecht. 1991. S. 36.
51
' Begriff und Methodik der ..Textstufenanalyse" beruhen auf P. Hüberle. Verfassungs-
lehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998. S. 342 ff. m.w. N.; zum „Textstufenparadigma"
im europäischen Kontext ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 f f .
182 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Nun könnte man dazu neigen, dass es sich vorliegend materiell um eine Verfas-
sung handelt, formell aber um einen Vertrag. Zumindest im Falle des Entwurfs
wird die Form des Vertrags gebraucht, um über die Verfassung zu entscheiden (in
der deutschen Sprachfassung heißt es „Vertrag über die Verfassung"). Durch die
Vertragsform wird die Verfassung letztlich gegründet (worauf die französischen
Fassung hin deutet: „Traite instituant la Constitution").
514
Bemerkenswert an diesem Satz ist zudem das seitens des Konvents formulierte
..Selbstlob durch Dritte".
515
Ein Umstand, der die „Lesbarkeit" des Gesamtwerkes - einer der wichtigen Aufträge
des Konvents nach der Erklärung von Laeken - nicht unbedingt fördert.
516
Ausführlich zum Änderungsverfahren unten B.IV.2.b).
517
Vgl. dazu C. Schmitt. Verfassungslehre. 7. Aufl., 1989. S. 374 f. Die vertragsmäßige
G r ü n d u n g des Deutschen Reichs 1 8 6 6 - 1 8 7 1 sollte auch bei d e m bayerischen Staats-
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 183
I n s g e s a m t ist m i t d e r A n e r k e n n u n g e i n e s A u s t r i t t s r e c h t s e i n e g e w i s s e S c h w ä -
chung der integrativen Symbolik verbunden, die m a n d e m Terminus „Verfassung"
beimisst.
rechtler M. von Seydel das Sezessionsrecht der Länder gewähren. Umgekehrt w u r d e das
vom sowjetischen Föderalismus immer formell anerkannte Austrittsrecht der a u t o n o m e n
Republiken schon von Lenin so interpretiert, dass seine Ausübung auf j e d e n Fall durch
die unwahrscheinliche Bewilligung d e r Union bedingt und folglich faktisch unmöglich
war (vgl. S.M. Mouskhely, Les contradictions du federalisme sovietique. in : Centre de
recherches sur l'URSS et les Pays de l'Est (Hrsg.), L ' U R S S : Droit, economie, sociologie,
politique, culture. t. 1. Paris 1962, S. 25.). Für eine Auslegung der Sowjetverfassung als
zwischenstaatlich abgeschlossenen Vertrag war schließlich kein Raum.
5,8
Im Konventsentwurf lautete Art. 1-9 Abs. II S. 1 noch: „Nach dem G r u n d s a t z der
begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten
tätig, die ihr von den Mitgliedstaaten in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr
niedergelegten Ziele zugewiesen werden." Die z u k u n f t s o f f e n e Formulierung bezüglich der
Zuständigkeiten, die der Union „zugewiesen werden", änderte sich bemerkenswerterweise
in eine engere Fassung (nunmehr: „zugewiesen haben").
519
Kursivsetzung erfolgte durch den Verf.
Dieses Prinzip wird in Art. l-5a im Kontext des Grundsatzes vom Vorrang des E U -
Rechts wiederholt: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung
der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor d e m Recht
der Mitgliedstaaten". Eine solche klare Begrenzung des dem EU-Recht z u k o m m e n d e n
Vorrangs steht im Übrigen der vom deutschen Bundesverfassungsgericht in seiner Maas-
tricht-Entscheidung behaupteten Prüfungskompetenz nicht entgegen, vgl. BVerfGE 89. 155:
„Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise
handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz
zugrundeliegt. nicht m e h r gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte
im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus
verfassungsrechtlichen G r ü n d e n gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland a n z u w e n d e n .
Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen
Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte
halten o d e r aus ihnen ausbrechen." M a n kann auch eine gewisse Zurückhaltung in den
vorgesehenen Garantien erkennen, die den Rückgriff auf die neu gestaltete Flexibilitäts-
klausel einrahmen (Art. 1-17). Damit soll die viel diskutierte G e f a h r einer durch diese
184 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auch im Hinblick auf die Ausgangslage des Konvents ist einer unreflektierten
Bezeichnung des Textes als „Verfassung" mit Skepsis zu begegnen. Der Konvent
tagte, wie bereits angedeutet, nicht in einer „revolutionären" Situation, die einen
Bruch mit dem bestehenden Recht oder eine Staatsgründung gestattet hätte. Er
sollte auf der Basis eines Mandats der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
sowie geltender internationaler Verträge arbeiten, die es zu ersetzen gilt, was
wiederum die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordert. Mehr als ein „Vertrag
über eine Verfassung für Europa" konnte daraus als Gesamtwerk nicht erwachsen.
Auch war es dem Konventspräsidium laut K. Hänsch durchaus bewusst, dass der
Begriff „Verfassungsvertrag" in der öffentlichen Diskussion zur „Verfassung"
verkürzt werden würde. 521
Verwirrung zwar formell fertig gestellt erscheint, aber faktisch nie diesen Status
erreichen wird? Redeten letztlich alle vom Gleichen, meinten jedoch Grundver-
schiedenes? Es wird stets Stimmen geben, denen das Verabschiedete entweder
des Guten zuviel oder zu wenig ist. Unausgesprochen oder lediglich schüchtern
erwähnt blieb bislang der Umstand, dass das Produkt gerade nicht für die Ewigkeit
gemacht und revidierbar ist, sondern prinzipiell gegen, vielleicht für die Zukunft
offensteht.
5:2
Z u m Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ausführlich unter B . I I . 2 . f ) n n ) .
523
Vgl. T. R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New Superpower and the End of
American Supremacy. 2005.
186 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nahezu allen Verfassungen, die man landläufig als historische Vorbilder heranzie-
hen könnte. Sie entsteht nicht nach einer historischen Katastrophe 525 , nach einem
verheerenden Krieg oder nach einer Revolution, sondern sie rekurriert auf das,
was ist und was die Nationen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen
bewahren und zukünftig leisten wollen. Die Aufgabe der eigenen Staatlichkeit
der Mitgliedsländer ist keine Bedingung zur Erreichung dieser Ziele (und kann
deshalb auch kein - und schon gar nicht das einzige - Kriterium für die Durch-
führung einer Volksabstimmung sein). Darüber hinaus: in seinem evolutionären
Charakter ist der Prozess der europäischen Integration einzigartig. Der nunmehr
vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung setzt hier keinesfalls einen
Endpunkt. Im Gegenteil: es ist abzusehen, dass sich die europäische Verfassung
in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit viel höherer Frequenz verändern
wird 526 als wir dies von anderen Verfassungen gewohnt sind.
Ein weiterer Punkt: auf den ersten Blick ist das Argument einleuchtend, dass die
politische Bereitschaft, sich auf eine Europäische Verfassung einzulassen, um so
größer wäre, je klarer und unzweifelhafter durch einen eindeutigen Kompetenzka-
talog festgelegt wäre, welche Kompetenzen die Europäische Union ausschließlich,
und welche sie in Form einer mit den Mitgliedstaaten geteilten (oder konkurrieren-
den) Kompetenz wahrnehmen soll. 527 Damit sollte einer bisher „schleichenden""
Kompetenzaushöhlung regionaler und nationaler Kompetenzen durch die Europäi-
sche Union vorgebeugt werden. Im deutsch-französischen Dialog über diese Frage
wurden zwischenzeitlich auch Teile des politischen Spektrums in Frankreich von
der Notwendigkeit eines Kompetenzkatalogs überzeugt. 5 2 8
Doch Überzeugung allein führt in dieser Frage bis heute nicht weiter. Ver-
schiedene Versuche, beispielsweise von deutschen Landesregierungen, eindeutige
Kompetenzabgrenzungskataloge zu entwickeln, sind bisher angesichts der imma-
nenten Komplexität wenig fruchtbar gewesen.
524
Z u m Verfassungsvertrag ist ein vollständiger K o m m e n t a r erschienen, nämlich
C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag. Hand-
kommentar, 2007.
5:5
Sofern man den Beginn des Verfassungsschöpfungsprozesses nicht bereits in den
50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehen will. Ein insgesamt abwegiger G e d a n k e ,
nachdem der aktuelle Konvent ein originärer Vorgang ist. der zwar auf den Gedanken sowie
einem Ensemble von Teilverfassungen (P. Hiiberle) und Errungenschaften des vergangenen
halben Jahrhunderts aufzubauen weiß, jedoch letztlich die gesamte Verfassungsgeschichte
zur Grundlage nehmen müsste.
526
Möglichkeiten und Wege der Verfassungsänderung werden unter B . I V . 2 . b ) aufge-
zeigt.
527
Siehe bereits W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8 . 6 . 2000.
528
Vgl. J.-P. Picaper. Le RPR et l ' U D F se rapprochent sur l ' E u r o p e . in: Le Figaro vom
15. 12.2000.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 187
Einige Worte zur Präambel des Verfassungsvertrages: Ist die fehlende Nen-
nung der Bürger in der Präambel nun ein rückschrittliches Element, die Abkehr
von mittlerweile gewohnten Verfassungselementen? Wohl nicht. Eher ist hierin
eine Aufforderung zur konkreten Ausgestaltung und Neubestimmung durch die
europäische Bevölkerung zu sehen. Die Akzentuierung der Repräsentativorgane
(Könige?) ist weniger Endstadium als Einleitung eines erwünschten Devolutiv-
effekts. Ein europäisches „We the People . . . " wird auf absehbare Zeit kaum am
Schluss einer evolutiven Stufenleiter stehen.
529
Vgl. auch U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten
Kontinent?, in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
530
Vgl. hierzu unter C.II.
531
Vgl. auch L Kühnhardt. Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung
der Strukturentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003. S . 6 f . : ..Dass den Verfassungs-
schöpfern Dank gebührt, ist wohl wahr. Aber was hat dieser Dank in der Präambel einer
Verfassung zu suchen, die nicht nur politischen Akteuren als Referenzpunkt dienen soll,
sondern die von Schülern und Studenten in ganz Europa studiert wird, um A u s k u n f t über
die Frage zu b e k o m m e n , was die politische Identität Europas bedeutet?"
532
Siehe aber L. Künhardt, ebenda.
188 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Es stellt sich freilich die Frage, ob Europa bereits reif ist, sich eine Verfassung zu
geben. In den einzelnen Staaten sind noch durchaus Mangelerscheinungen an der
erforderlichen politischen Substruktur, insbesondere an den Voraussetzungen für
eine echte politische Kommunikation auf europäischer Ebene zu beobachten. 5 "
Ein vordergründig trivialer Vorgang entwickelte sich nunmehr zur nahezu un-
überwindbar erscheinenden Hürde: der Verfassungsvertrag, der alle derzeitigen
europäischen Verträge durch einen einzigen Rechtsakt ersetzen sollte, konnte erst
in Kraft treten, wenn er von den Unterzeichnerstaaten angenommen beziehungs-
weise ratifiziert wurde. Der Ratifizierungsprozess sollte ursprünglich in allen
Mitgliedsstaaten bis November 2006 abgeschlossen sein.
533
Siehe zu dieser Argumentation auch D. Grimm. Die Verfassung und die Politik.
2001.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 189
Seit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 ist dies ein
Indikator dafür geworden, dass die europäische Integration auf die Identität ihrer
Mitgliedsstaaten zurückwirkt. Die Frage nach der konstitutionellen Legitimität
einer vertieften Integration stellt sich überhaupt nur dort, wo der nächste politische
Schritt tatsächlich eine Vertiefung des Integrationsprozesses bedeutet. 537
534
Vgl. Zu d e r Diskussion in den Niederlande A. Pijpers, Neue Nüchternheit und
kritische Öffentlichkeit - die Niederlande und die europäische Integration, in: integration
30/2(X)7. S. 4 4 9 ff. Vgl. auch S. Goulard. Europäische Paradoxien - ein K o m m e n t a r zur
Lage der EU. in: integration 3 0 / 2 0 0 7 . S. 503 ff.
535
Vgl. hierzu IKI Europa (Hrsg.), IRI Europe C o u n t r y Index on Citizenlawmaking.
A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 Euro-
pean States. 2 0 0 3 sowie 2004: S. Höl Scheidt 11. Putz, Referenden in Europa, in: D Ö V 18
(2003), S. 737 ff. sowie L LeDuc, T h e Politics of Direct Democracy. R e f e r e n d u m s in
Global Perspective. 2003, S. 2 0 f . ; A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum.
Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003: K. Schmitt (Hrsg.),
Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 2003.
536
In einem ..europäischen Verfassungsreferendum" müsste verfahrensmäßig der föde-
rale Aspekt z u m Tragen k o m m e n . Es d ü r f t e nicht nur auf die Z u s t i m m u n g der gesamten
europäischen Bürgerschaft a n k o m m e n , sondern es wäre auch die regionale Verteilung der
Z u s t i m m u n g zu berücksichtigen, um die Majorisierung von Bürgern kleiner .Mitgliedstaa-
ten (deren auch-nationale Identität zu respektieren ist) zu verhindern. Die bloß parallelen
nationalen, auf Europa bezogenen Referenden können diesen Minderheitenschutz nicht leis-
ten. Allerdings: ein gesamteuropäisches Referendum (gar mit dem geschilderten föderalen
Mechanismus) bleibt utopisch.
190 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Über den Ausgang der Referenda über den Verfassungsvertrag ließen sich
anfangs nur schwerlich klare Prognosen anstellen (was für das „französische Re-
ferendum" 2005 nur beschränkt galt), vor allem nicht mit Blick auf Länder mit
einer europaskeptischcn Grundströmung wie Großbritannien oder Dänemark, das
in den frühen neunziger Jahren schon einmal den Aufstand geprobt und zunächst
den Vertrag von Maastricht abgelehnt hatte. In den als integrationsfreundlich
geltenden Ländern wiederum bestand die berechtigte Gefahr, dass der Urnengang
für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert würde (Frankreich. Niederlande!).
Dies geschah bereits in Irland, wo im ersten Anlauf der Vertrag von Nizza ver-
worfen wurde. 5 ' 8 Schließlich sollte der weitere ..Abstimmungskampf" 4 um die EU-
Verfassung weiterhin maßgeblich von der „Türkei-Frage" beeinfiusst werden.
Die Debatte über die Ratifikationsprozedur war und ist in sich selbst ein Teil
des Diskurses zur europäischen Verfassung. Sie rückt Prognosen in das Licht
der Öffentlichkeit, die mit gewisser stereotypischer Kontinuität über die Haltung
einzelner Völker zum europäischen Einigungswerk gemacht werden. Der Prozess
der Ratifizierung einer europäischen Verfassung ist ebenso Teil der Formierung
einer europäischen Öffentlichkeit, wie die Erarbeitung des nun zur Abstimmung
stehenden Textes selbst es gewesen ist. 539
537
Vgl. L. Kühnhardt, Auf d e m Weg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus,
in: N Z Z , 16. Juli 2004: ..Wo dies der Fall ist, geht es um die Übertragung nationalstaatlicher
Souveränität auf die EU. Es ist nicht verwunderlich, dass in einer solchen Situation in
einigen Ländern der EU die R e f e r e n d u m s f r a g e virulent wurde - und bei der europäischen
Verfassung wieder virulent geworden ist. Andere Staaten votierten schon in früheren
Fällen - und auch jetzt w ieder - für die primäre Verantwortung ihrer frei gewählten und
dadurch entsprechend zur A b s t i m m u n g mandatierten Parlamente."
538
Die zweifachen Abstimmungen in Dänemark (1992 und 1993) und Irland (2001
und 2003) über den konstitutionellen Fortgang des Integrationsprozesses ragten bis zu den
„schwarzen T a g e n " in Frankreich und den Niederlande tatsächlich aus d e m Kontext der
Erfahrungen mit Referenden zu Fragen der europäischen Integration heraus: In beiden Fäl-
len hatte das Votum eines Mitgliedslandes Auswirkungen für alle anderen Mitgliedsländer
und ihren Integrationswillen. Dies war letztlich d e r - sowohl integrationstheoretisch wie
auch demokratietheoretisch nachvollziehbare - G r u n d , warum in beiden Fällen ein zweites
Referendum angesetzt wurde. Im Falle Dänemark geschah dies nach Konzessionen an die
dänischen Kritiker des Maastricht-Vertrages („opting out"-Klauseln). Im irischen Fall - bei
dem doppelten Votum d e r Iren zum Vertrag von Nizza - wurde das zweite Votum nach
einer Periode des Wartens angesetzt, verbunden mit deutlichen Worten von außen, dass ein
Land nicht die ganze Europäische Union zur Geisel nehmen dürfe. Im dänischen Fall wurde
die integrationspolitische Logik des erzielten K o m p r o m i s s e s kritisiert, im irischen Fall
die demokratietheoretische Logik des zweiten Referendums. In beiden Fällen obsiegte ein
gewisser Sinn für Pragmatismus, der in der Europäischen Union offenbar vor j e d e r Form
von Purismus immer dann obwaltet, wenn das Einigungswerk insgesamt in eine Sackgasse
zu geraten droht.
539
Vgl. L. Kühnhardt (2004).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 191
Nach dem Scheitern der Referenda in Frankreich und den Niederlanden sprachen
sich viele Politiker. Kommentatoren und Wissenschaftler für eine „Rettung" des
Vertrages aus, dessen baldiges Inkrafttreten realistischerweise unwahrscheinlich
war. Sowohl die französische wie die niederländische Regierung häten bei einer
zeitnahen neuen Abstimmung „politischen Selbstmord" begangen. Der Vorwurf
des Ignorierens des Wählerwillens wäre allenfalls dann überwindbar, wenn das
unbedingte Festhalten am Verfassungsvertrag innerhalb der Europäischen Union
eine breite Unterstützung fände. Diese ist bis heute weder auf EU-Ebene noch in
den Mitgliedstaaten auszumachen. Zudem war insbesondere in Großbritannien
und Irland ein klares „Ja" nicht zu erwarten. Folglich dachten Viele über mögliche
Alternativen nach.
Es wurde eine ganze Reihe von „Plan B-Optionen" diskutiert 540 : eine umfassende
Neuverhandlung, der „cherry-picking-Ansatz" (sog. Nizza-Plus), ein Zusatzvertrag
zum geltenden Vertrag von Nizza in der Form eines Verfassungsvertrages Ii gilt oder
eines Änderungsvertrages, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten mit den beiden
Optionen eines freiwilligen Austritts der Nichtratifizierer oder der Gründung einer
neuen Union, die Beibehaltung des primärrechtlichen Status quo sowie die erneute
Reform der europäischen Verträge in einigen Jahren im Sinne einer „Verfassung
II". Einige der Alternativvorschläge stellten keine reelle Option dar. Aber auch die
übrigen konnten nur ,jecond-best-Lösungen" anbieten, da sie stets mit gewissen
Einschränkungen oder Hindernissen verbunden sind. Welcher der diskutierten
540
Vgl. umfassend und m.w. N. B. Thalniaier. Nach den gescheiterten Referenden: Die
Z u k u n f t des Verfassungsvertrages, C.A.P.-Analyse, 2005: siehe auch C. Closa, Ratifying
the EU-Constitution: R e f e r e n d u m s and their Implications, 2 0 0 4 . Vgl. auch D. Gölerl
H. Marhold, Die Z u k u n f t der Verfassung - Überlegungen zum Beginn der Reflexionsphase,
in: integration 2 8 / 2 0 0 5 . S. 332 ff.: D. GölerlM. Jopp. Die europäische Verfassungskrise und
die Strategie des „langen A t e m s " , in: integration 2 9 / 2 0 0 6 . S. 91 ff.: B. Laffanll. Sudbury,
Zur Ratifizierungskrise des Verfassungsvertrages - drei politikwissenschaftliche Lesarten
und ihre Kritik, in: integration 2 9 / 2 0 0 6 . S. 271 ff.: D. Thym, Weiche Konstitutionalisie-
rung - Optionen der Umsetzung einzelner Reformschritte des Verfassungsvertrages o h n e
Vertragsänderung, in: integration 2 8 / 2 0 0 5 , S. 307 ff.
192 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Plan B-Optionen auch immer im Rahmen des Vertrages von Lissabon zum Tragen
käme, die Ratifikation sollte nur gestoppt werden, wenn eine klare Alternative
vorhanden ist. die ambitioniert genug ist, die EU-27 demokratischer und effizienter
zu gestalten. Der Ausgang der Referenden belegt ein „So geht es nicht weiter!".
Ein schlichtes Einstellen der Bemühungen um Reformen und ein Weitermachen
wie bisher kommen nicht in Betracht. Den Verfassungsvertrag bzw. nunmehr den
Vertrag von Lissabon zu ..begraben", ist daher keine tragfähige Option.
3. Drei Folgerungen
In der Absicht, abschließend die Geschichte Europas als Ganzes in den Blick zu
nehmen, ergeben sich aus dieser (limitierten) tour d'horizon einige Folgerungen,
die gleichzeitig einer weitergehenden interdisziplinären Bearbeitung bedürften.
Zum einen: Die Geschichte Europas ist in weiten Teilen ihre eigene Rezeptions-
geschichte. Die longue dürfe ist ein Zivilisationsprozess, der in hohem Maße aus
Diese Reflexionsphase wurde auf dem Gipfel Ende Juni 2006 n u n m e h r erneut
verlängert.
Die unbestrittene Legitimität des deutschen G G . das bekanntlich an diversen „Ge-
burtsmakeln" litt, illustriert diese These, vgl. zu alledem auch A Peters, Stellungnahme, in:
G. Kreis (Hrsg.). Der Beitrag der Wissenschaften zur künftigen Verfassung der EU. Inter-
disziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts
der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 24 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 193
Möglicherweise, das wäre das zweite Ergebnis, ließe sich das analytische Instru-
mentarium für eine Verfassungsgeschichte Europas verfeinern. Das oft genutzte
Begriffspaar Rationalisierung und Modernisierung als Leitfaden einer europäi-
schen Geschichte ist für sich alleine eine zu grobe und übrigens auch zu vieldeutige
Kategorisierung, um zur Beschreibung einer Langen Dauer der abendländischen
Zivilisation zu taugen. Hilfreicher als ein lineares Fortschrittsmodell wäre ei-
nes, das an j e d e m Zeitpunkt der Entwicklung auch die dazugehörige Reflexion
über diese Entwicklung einbezöge: welche historischen Weltbilder liefern den
W a h r n e h m u n g s - und Urteilsrahmen, innerhalb dessen sich die Entwicklungs-
schritte vollziehen? Welche kollektiven Erinnerungen, welche Vorbilder, welche
Mythen, welche Metaphern, welche rückwärtsgewandten Utopien bilden die „Fo-
lie", auf deren Hintergrund der Prozess der Zivilisation abläuft? Erst wenn der
Z u s a m m e n h a n g zwischen L o g o s und Mythos, zwischen Z u k u n f t s e n t w u r f und
Vergangenheitsbild hergestellt sein wird, kann m a n die lange Renaissance Euro-
pas, die Verwestlichung des Abendlandes angemessen beschreiben und damit der
Verfassungsgeschichte einen tatsächlich würdigen Rahmen ermöglichen.
543
B. Anderson, Imagined C o m m u n i t i e s . Reflections on the Origin and Spread of
Nationalism, 1983.
544
Namentlich Letzteres spricht übrigens gegen das Verfahren n a m h a f t e r Historiker, die
Antike aus der europäischen Geschichte auszugrenzen und Europa irgendwann zwischen
Spätantike und Hochmittelalter entstehen zu lassen, vgl. n u r / / . Pirenne, Geschichte Euro-
pas. Von der V ö l k e r w a n d e r u n g bis zur Reformation. 1956: D. Gerhard. Das Abendland
8 0 0 - 1 8 0 0 . U r s p r u n g und Gegenbild unserer Zeit. 1981; F. Heer. Europäische Geistesge-
schichte. 1953; A. Mirgeler, Revision der europäischen Geschichte. 1971. Tatsächlich reicht
die Antike als historisch wirkende Kraft bis in unserer Gegenwart, ist also auch Neueste
Geschichte, und zwar in erster Linie in Gestalt ihrer Verwandlungen, die sie im Laufe der
Zeit in den Köpfen und Herzen der Menschen durchgemacht hat.
194 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
545
Dazu etwa H. Steinberger,; 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung. 1987, S. I ff.,
23 f.; B.Pieroth, A m e r i k a n i s c h e r Verfassungsexport nach Deutschland, in: N J W 1989.
S. 1333 ff.
546
Vgl. D. Klippel. Der Einfluss der Physiokraten. in: Der Staat 1984. S. 205 ff.
547
Dazu umfassend W.Rees, Die Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte von
1789. 1912 (Neudr. 1968): S.-J. Samwer, Die französische Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte von 1789/91. 1970.
548
Diese Konstellation beschreibt O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrech-
te. in: R . S c h n u r (Hrsg.), Z u r Geschichte der Erklärung Menschenrechte und G r u n d f r e i -
heiten. 1964 (2. Aufl. 1974), S. 166 ff., S. 193 ff. Die amerikanischen Revolutionsideale in
ihrem Verhältnis zu den europäischen beschreibt ebenfalls O. Vossler in seiner gleichnami-
gen M o n o g r a p h i e (1929).
Zu den wechselseitigen Wirkungen der Französischen Revolution und d e r Ameri-
kanischen Revolution auf das Frankreich und A m e r i k a des ausgehenden 18. und frühen
19. Jahrhunderts vgl. J. Heuleking. Geschichte der USA. 2. Aufl. 1999. S. 79 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 195
5511
Vgl. M. Fromont. La justice «institutionelle dans la m o n d e . 1996. S. 15: R. Grote,
Rechtskreise im öffentlichen Recht, in: AöR 126 (2001), S. lOff, 49.
551
S.G. Calabresi, An Agenda for Constitutional Reform, in: W.N. E s k r i d g e / S . Levin-
son (Hrsg.), Constitutional Stupidities. Constitutional Tragedies, 1998. S . 2 2 .
552
Etwas nüchterner in der Betrachtung B. Acker man. T h e New Separation of Powers,
in: 113 Harvard L. Rev. (2000), S. 6 3 3 ff.
553
Tatsächlich gelang es mit der North West Ordinance 1787, das weitere Wachstum
der Nation verbindlich vorzuprogrammieren, eine gänzlich neuartige, rationale Planung
des politischen Prozesses.
196 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
554
Vgl. D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung, 1991.
555
Dazu weitergehend in U.K. Preuß (Hrsg.), Z u m Begriff der Verfassung, 1994.
556
Es entspricht der hier vorgeschlagenen Problemstellung, dass sowohl an die Resulta-
te der historisch und vergleichend ausgerichteten Forschungen zum Konstitutionalismus als
auch an die jeweilige nationale Verfassungsgeschichtsschreibung anzuknüpfen ist. Hierbei
liegt das Gewicht in der Regel auf der Behandlung des westlichen Konstitutionalismus.
Bezeichnend ist, dass der von K. Löwenstein in seiner Verfassungslehre (1959) konzipierte
historisch-vergleichende Ansatz erst in den vergangenen Jahrzehnten wiederaufgenommen
wurde. Ein G r u n d h i e r f ü r m a g darin zu sehen sein, dass der Strukturfunktionalismus
als dominante Richtung der „comparative politics" die Verfassungsfragen marginalisierte.
Die Arbeiten von J. Elster!R. Slagstat (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy. 1988.
D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung. 1991. U. K. Preuß (Hrsg.), Z u m Begriff der Verfas-
sung, 1994. J. Gebhardt! R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation.
1994. A. Kimmel (Hrsg.), Verfassungen als F u n d a m e n t und Instrument der Politik. 1995
und H. Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte. 1999. haben in unterschiedlicher
Perspektive die Bedeutung des Konstitutionellen für die m o d e r n e Staatlichkeit erneut the-
matisiert. Die Problemstellung der Hybridisierung und Indigenisierung konstitutioneller
Formen wurde erst in der neueren Forschung als ein eigenständiger Untersuchungsge-
genstand begriffen (K Meny (Hrsg.), Le Politiques du m i m e t i s m e institutionel, 1993;
W. Reinhard (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt, 1998). Hier ist insbesondere auf die regio-
nalspezifische verfassungsgeschichtliche Forschung zu islamischen (aus der Lit. M. Bayat.
T h e Constitutionalization of Power in Shia Iran, in: J. Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und
politische Kultur. 1999; dies., Iran's First Revolution, S h i ' i s m . and the Constitutional
Revolution. 1991: H.G.Ebert, Die Interdependenz von Staat. Verfassung und Islam im
Nahen und Mittleren Osten in der Gegenwart. 1991; A Schirazi, T h e Constitution of Iran.
1997) und ostasiatischen (K.J. Antoni, Der himmlische Herrscher und sein Staat. 1991;
W.Seifert. Verfassung und Politische Kultur am Bespiel der Meiji-Verfassung von 1889.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 197
in: J. Gebhardt (Hrsg.). Verfassung und politische Kultur. 1999. S. 139 ff.: M. Schmiegelow,
Democracy in Asia. 1997) Gesellschaften zu verweisen.
557
Von Y. Xteny (Hrsg.), Le Politiques du mimetisme institutionel - La greffe et le rejet.
1993 im Vorwort als „ m i m e t i s m e constitutionel" bezeichnet.
558
Während Hybridisierung für jeden Fall der Verfassungsübernahme charakteristisch
ist. gilt für den Fall eines gelungenen Konstitutionalisierungsprozesses. dass die mimeti-
sche Anverwandlung der institutionellen Form an die geschichtlich-kulturellen Vorgänge,
d. h. die Indigenisierung des Konstitutionalismus in einer politischen Kultur gebunden ist.
559
Z u s t i m m u n g verdient G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus
dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002.
abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die
europäische Verfassung im globalen Kontext, 2004, S . 4 1 ff., 4 1 , der hinsichtlich des
derzeitigen transatlantischen Verhältnisses feststellt: „Indessen gleicht das Verhältnis der
USA und der EU einer langjährigen partnerschaftlichen Beziehung, die beide Partner als so
selbstverständlich ansehen, dass sie sich über den Grad der Belastbarkeit beim Austragen
von Streitigkeiten keine Sorgen zu machen glauben. Das .taking for granted* aber ist ein
schleichendes Gift, das die soliden Grundlagen in Vergessenheit geraten lassen und den
Blick für die g e m e i n s a m e Bewältigung zukünftiger Aufgaben trüben k a n n . "
198 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein nüchterner Blick bleibt angebracht: Die Einigung Europas ist in erster Linie
eine Verantwortung und gestalterische „Hausaufgabe" der Europäer selbst. Gleich-
wohl ist die Haltung der Vereinigten Staaten - unterstützend, kritisch wohlwollend
begleitend oder skeptisch abwartend - stets auch ein Faktor der Beschleunigung
oder der Verzögerung gewesen. Die Reden W. Churchills in Fulton/Missouri
(1946)5*° und G \jars/,alls in Harvard (I947) 5 6 1 konnten inspirierende Wirkkraft
entfalten.
J.F. Kennedys Konzept der Partnerschaft von Gleichen, sein Einfluss auf Mac
Millans Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft 1961 und die frühe Be-
schäftigung amerikanischer Universitäten mit der Theorie und Praxis europäi-
scher Integration sind weitere Beispiele konstruktiven amerikanischen Interesses.
W. Hallstein hat diese Interaktion zwischen amerikanischem Interesse und not-
wendiger Erklärung komplexer europäischer Vorgänge prägend mitgestaltet. In
Teilen ungebrochen aktuell lesen sich Hallsteins Clayton-Vorlesungen mit dem
Titel ..Die Einheit Europas - Herausforderung und Hoffnung" im April 1962
in Boston 5 ' 0 oder die (selbst verfassten) Berichte über seine regelmäßigen Ge-
spräche mit Präsident Kennedy sowie seine Reden in Washington und New York
aus den Jahren 1961 - 6 3 5 6 3 . Ernst Haas hat schon Anfang der 50er Jahre an der
Universität Berkeley eine Vorlesung über die Rechtsnatur der EGKS eingerichtet.
Heute beherbergen mehr als 15 amerikanische Universitäten ein „European Union
Center", zahlreiche Institute und Forschungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt
„Europäische Union" wurden und werden etabliert.
560
A b r u f b a r unter www.nato.int/docu/speech/1946/s460305a_e.htm.
561
A b r u f b a r unter www.georgecmarshall.org/lt/speeches/marshall_plan.cfm.
562
W. Hallstein. United Europe: Challenge and Opportunity. T h e William L . C l a y t o n
Lectures on International E c o n o m i c affairs and Foreign Policy. 1962.
563
Die Reden sind a b r u f b a r unter www.ena.lu/europe/19571968-successes-crises
/indexEN.html.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 199
564
Die nachfolgenden Thesen stützen sich auf einen Vortrag des Verf. am 17. 11.2005
in Washington, zu dem eine vom Verf. in Auftrag gegebene Ausarbeitung der Wissen-
schaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 25. 10.2005) wesentliche Impulse
zu setzen wusste.
565
Zitiert nach B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und Europa. Die Rolle der USA bei der
europäischen Einigung, in: R . C . Meier-'Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke.
Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.
200 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die amerikanische Führung unterstützte daher alle Ansätze, die darauf abziel-
ten, die westeuropäischen Staaten zu einem der USA ebenbürtigen Verbund von
Staaten zusammenzuschließen, selbst auf die Gefahr hin, dass den Vereinigten
Staaten hieraus eines Tages ein potentieller Konkurrent erwachsen könne, der
international seine eigenen Ziele und Interessen verfolgen würde. In der poli-
tischen Praxis der ersten Nachkriegsjahre kam dieser neuen Ausrichtung der
amerikanischen Europapolitik zugute, dass eine Reihe von führenden westeuro-
päischen Staatsmännern der Wiederaufbauzeit wie R. Schunian, A. de Gasperi,
J.Monnet und K.Adenauer ebenfalls eine stärkere Einbindung ihrer Staaten in
übernationale westeuropäische Strukturen befürwortete. Die Übereinstimmung in
der grundsätzlichen Ausrichtung erleichterte die amerikanisch-westeuropäische
Zusammenarbeit in der Integrationspolitik sehr und zeitigte in den - angesichts
der Komplexität und Reichweite der Materie - überraschend zügig zum Abschluss
gebrachten Verhandlungen über die Verträge zur Errichtung der EGKS, der EVG
sowie der beide Organisationen überwölbenden EPG mit föderativer Struktur erste
konkrete Ergebnisse. 566
Interessen handelten. 567 Während aus europäischer Perspektive nur ein bestimmtes
Maß an supranationaler Integration und ein damit einhergehender Teilverzicht auf
Souveränitätsrechte das Überleben der Nationalstaaten und deren wirtschaftlichen
Wiederaufstieg garantieren sollten und überdies militärische Schutzinteressen
und die Aussicht auf ökonomische Hilfsleistungen eine enge Anlehnung an die
USA ratsam erscheinen ließen, sollte es für die Amerikaner schon bald nach
Kriegsende klar gewesen sein, dass sich ihre Hoffnungen auf eine friedliche
Nachkriegsordnung in Europa und anderen Teilen der Welt zerschlagen hätten. In
ihren strategischen Überlegungen für den heraufziehenden Kalten Krieg wiesen
die Amerikaner Europa die gewichtige Rolle eines starken und geeinten Partners
bei der Herstellung des globalen Gleichgewichts zwischen den beiden Militärblö-
cken zu. Voraussetzung hierfür war nach amerikanischer Überzeugung allerdings
die Errichtung eines Systems zwischenstaatlicher Strukturen in Westeuropa, das
den Ausbruch neuer europäischer Kriege wirksam unterband, deshalb vor al-
lem Deutschland als den größten Unruheherd der zurückliegenden Jahrzehnte
und voraussichtlich stärksten Machtfaktor der Zukunft wirksam einband sowie
die Grundlagen für eine positive Entwicklung der westeuropäischen Staaten in
wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht schuf. 568
567
Vgl. etwa K.K. Patel, Rezension zu G. Lundestad. T h e United States and Europe
since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlantic D r i f t . 2003, in: H-Soz-u-Kult.
21. 10.2004. S. 6. a b r u f b a r unter http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2004
-4-049.
568
Vgl. G. Lundestad, ..Empire" by Integration. T h e United States and European Integra-
tion 1 9 4 5 - 1 9 9 7 , 1998. S. 13 f.: K. K. Patel (2004): ähnlich auch B. Neuss, Der ..gütige Hege-
m o n " und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R . C . Meier-Wal-
s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff.,
155.
569
So der Titel einer M o n o g r a p h i e von B. Neuss, G e b u r t s h e l f e r Europas? Die Rolle
der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1 9 4 5 - 1 9 5 8 . 2000. Siehe
auch dies., Der „gütige H e g e m o n " und Europa. Die Rolle der U S A bei der europäischen
Einigung, in: R . C . M e i e r - W a l s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund
und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.
202 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nur einen Zugewinn an äußerer Sicherheit und damit eine Stärkung der amerika-
nischen Positionen in der Konfrontation der Blöcke, sondern eröffnete langfristig
auch die Aussicht, die gewaltigen Kosten, die die Wahrnehmung der weltpoliti-
schen Rolle der USA mit sich brachte, durch Lastenverteilung („bürden sharing")
mit den in Zukunft auch wirtschaftlich erstarkten europäischen Staaten zu sen-
ken. Ebenso dürften die US-Administrationen in ihren integrationspolitischen
Bemühungen für Westeuropa auch von der Hoffnung auf das Entstehen lukrativer
neuer Märkte in den zukünftig stärker verflochtenen Volkswirtschaften Europas
angetrieben und bestärkt worden sein. 57 " Dies ändert freilich nach Ansicht einer
Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern nichts an der Tatsache, dass
die sicherheitspolitischen Ziele in der amerikanischen Europapolitik gerade in
den ersten Nachkriegsjahren gegenüber den ökonomischen Erwägungen eindeutig
im Vordergrund gestanden haben und die Amerikaner für die Durchsetzung ihrer
Sicherheitsbedürfnisse sogar bereit waren, auch ökonomische Nachteile in Kauf
zu nehmen. 5 7 1
In diesem Kontext ist allerdings festzuhalten, dass die USA ihre Vorstellungen
keinesfalls eins zu eins durchsetzen konnten. Vielmehr zeigten sich die Europäer
durchaus in der Lage, amerikanische Vorhaben abzuändern und eigene Akzen-
te zu setzen, was sich unter anderem an der erfolgreichen Zurückweisung der
5
" Dazu etwa D. Krüger. Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftliche und politi-
sche Integration Westeuropas 1947 bis 1957, 2003, S. 17 f.
571
Vgl. K K Patel (2004), S. 7.
572
Siehe etwa noch J. Heideking, Die Vereinigten Staaten, der Marshall-Plan und
die A n f ä n g e der europäischen Integration, in: R. D i e t l / F . Knipping (Hrsg.). Begegnungen
zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg. 1999.
S. 17 ff.. 17 m.w. N.
573
G. Lundestad. T h e United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation"
to Transatlatic Drift. 2003. hebt diesen Aspekt wiederholt hervor.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 203
574
So z. B. bei der gescheiteren supranationalen Umorganisation der O E E C . der Errich-
tung der E G K S oder beim Scheitern von EVG und EPG. Siehe auch H. R. Hümmerich. Jeder
für sich und A m e r i k a gegen alle? Die Lastenteilung der N A T O am Beispiel des Temporary
Council Comittee 1949 bis 1 9 5 4 . 2 0 0 3 sowie B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und Europa.
Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. M e i e r - W a l s e r / B . Rill (Hrsg.),
Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 157 f., 159 ff.
575
G. Lundestad. „Empire" by Integration. T h e United States and European Integration
1 9 4 5 - 1 9 9 7 , 1998. S. 2 ff. sowie umfassend ders, The United States and Europe since 1945.
From ..Empire by Invitation" to Transatlatic Drift. 2003.
576
Insbesondere in Situationen, in denen einzelne europäische L ä n d e r sich in ihren
existenziellen Grundlagen bedroht sahen, wie dies etwa bei Frankreich angesichts der bei
Umsetzung der EVG-Pläne befürchteten militärischen Aufwertung der Bundesrepublik der
Fall war. kann auch noch so großer Druck der USA die betroffenen europäischen Staaten
nicht zum Einlenken bewegen, vgl. M.J. Hillenbrand, Die USA und die EG. S p a n n u n -
gen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hrsg.), A m e r i k a und Westeuropa.
Gegenwarts- und Z u k u n f t s p r o b l e m e , 1977. S. 288 ff., 2 8 8 . "
204 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Wie oben bereits dargestellt konnten nach langwierigen, aber letztlich erfolg-
reichen Verhandlungen im Frühjahr 1957 die EWG und die Euratom mit der
Ratifizierung der „Römischen Verträge" ins Leben gerufen werden. Während die
politische Bedeutung von Euratom insgesamt gering blieb und ihre integrationspo-
litischen Wirkungen bescheiden ausfielen, erwies sich die EWG als entscheidender
Kristallisationspunkt für alle weiteren europäischen Einigungsbestrebungen. 5 7 7
Etwa ein Jahrzehnt nach Beginn der Bestrebungen, die westeuropäischen Staaten
in supranationale Strukturen einzubinden und damit die politische, wirtschaftli-
che und militärische Integration Europas voranzutreiben, war mit amerikanischer
Unterstützung vor allem im wirtschaftlichen Bereich ein enges organisatorisches
Beziehungsgeflecht in Kontinentaleuropa entstanden, das in den beteiligten Staa-
ten neben einer gedeihlichen wirtschaftlichen und insgesamt stabilen inneren
Entwicklung auch das friedliche Zusammenleben beförderte. Die nun einset-
zende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und die wieder erlangte
577
Umfassend B. Neuss (2001) S. 163 f.; siehe auch R. Hrbek. Europa in der internatio-
nalen Politik, in: U. A l b r e c h t / H . Vogler (Hrsg.). Lexikon der internationalen Politik. 1997.
S. 131 ff., 133.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 205
578
J. F. Kennedv, T h e Goal of an Atlantic Partnership. Rede in Philadelphia am
4. Juli 1962, /.it. nach M.J. Hillenbrand (1977), S . 2 8 9 : vgl. auch E.-O. Czempiel/C.-
C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. E i n f ü h r u n g und D o k u m e n t e . 1989. S. 254.
579
J.F. Kennedy, ebenda.
Anlass zu Irritationen und Konflikten boten unter anderem der G e m e i n s a m e Markt,
vor allem die von Frankreich vorangetriebene Ausgestaltung des gemeinsamen Agrarmark-
tes, der mit seinen protektionistischen Praktiken amerikanischen Wirtschaftsinteressen
tendenziell zu schaden drohte; die durch den Übergang von der Strategie der „massiven
Vergeltung" zur Strategie der „flexiblen A n t w o r t " bei den Europäern ausgelöste Sorge
vor einer A u f w e i c h u n g des atomaren Schutzschilds der U S A f ü r Europa: der deutsch-
französische Freundschaftsvertrag von 1963, den de Gaulle im Sinne der europäischen
Führungspläne Frankreichs gegen die USA auszuspielen beabsichtigte: der - auf Betreiben
Frankreichs erfolgte - Ausschluss Großbritanniens aus dem G e m e i n s a m e n Markt; der - auf-
grund amerikanischer Bevorzugung Großbritanniens eingeleitete - atomare Alleingang
der Franzosen: der Rückzug Frankreichs aus der Verteidigungsorganisation der N A T O im
206 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Differenzen und Fehlschläge dieser Art verstärkten eine bereits Anfang der
sechziger Jahre unter amerikanischen Führungsgruppen spürbare ambivalente
Haltung gegenüber d e m europäischen Einigungsprozess: Einerseits gab es eine
breite Unterstützung für die europäischen Einigungsbemühungen, deren geopoliti-
sche Bedeutung nach wie vor unumstritten war. Auch erkannte die amerikanische
Wirtschaft die neuen ökonomischen Chancen der E W G und nutzte den durch
diese hergestellten größeren Markt für eine Steigerung ihrer Direktinvestitionen in
Europa (was dort Ängste vor „amerikanischer Ü b e r f r e m d u n g " auslöste). Anderer-
seits empfand man insbesondere die EWG-Agrarpolitik und die Bevorzugung des
Mittelmeerraums und Afrikas durch die E W G als Diskriminierung mit negativen
Auswirkungen auf den eigenen Export. Vor allem aber tat man sich jenseits des
Atlantiks schwer damit anzuerkennen, dass die aus der Einigung resultierende
machtpolitische Stärkung Europas zwangsläufig eine Relativierung, wenn nicht
sogar auf kurz oder lang eine Beendigung der amerikanischen Führungsrolle in
Europa zur Folge haben musste. Auch wenn der amerikanische Führungsanspruch
sich mit dem bereits von Kennedy propagierten Partnerschaftsmodell schwer ver-
einbaren ließ, konnten ihn die Amerikaner aber vor allem mit Verweis auf die
fehlende politische Einheit und großen militärtechnischen Defizite der Europäer
zumindest auf sicherheitspolitischem Gebiet weiterhin geltend machen.
März 1966: die Weigerung, sich in die Rüstungskontrollgespräche mit der Sowjetunion
einbinden zu lassen, vgl. hierzu W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten
im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Z u k u n f t , in: M. K a h l e r / W . Link
(Hrsg.). Europa nach der Z e i t e n w e n d e - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S . 4 9 f f . .
117, 120 sowie j ü n g s t /. Wallerstein. Die USA und Europa - 1945 bis heute, im Internet
unter: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/wallerstein.html.
581
Vgl. E.-O. Czetnpiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. E i n f ü h r u n g
und D o k u m e n t e , 1989. S. 256 f.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 207
Dies bedeutete nichts anderes, als dass die Administration der Vereinigten
Staaten zwar weiterhin das Ziel einer europäischen Vereinigung unterstützte, sich
aber von ihrer einstmaligen Rolle als Antreiber und Impulsgeber des europäischen
Integrationsprozesses nunmehr endgültig verabschiedet hatte. Stattdessen zogen
sie es vor, die innereuropäischen Entwicklungen nur noch indirekt über ihre
bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedsländern der Gemeinschaft
mehr zu begleiten als zu beeinflussen.
Die Wendung in der Europapolitik der USA war Ausfluss eines sich seit En-
de der sechziger Jahre abzeichnenden grundlegenden Richtungswechsels in der
amerikanischen Außenpolitik, der in hohem Maße ökonomisch motiviert war.
Während die US-Wirtschaft stagnierte bzw. in eine Rezession fiel, stiegen die
582
Siehe auch J. G. Giauque. Grand Designs and Visions of Unity. T h e Atlantic Powers
and the Reorganization of Western Europe. 1 9 5 8 - 1 9 6 3 , 2002.
583
R.M. Nixon. U.S. Foreign Policy for the 1970's. A New Strategy for Peace. Bericht
des Präsidenten an den Kongress. Washington 1970. zit. nach M.J. Hillenbrand. Die USA
und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hrsg.), A m e r i k a
und Westeuropa. Gegenwarts- und Z u k u n f t s p r o b l e m e . 1977. S. 288 ff.. 300.
208 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Kosten des weltpolitischen Engagements der USA ins Unermessliche. Die amerika-
nischen Militärausgaben im Ausland (insbesondere während des Vietnamkriegs),
umfangreiche Auslandshilfen sowie beträchtliche wirtschaftliche Investitionen der
Amerikaner in Europa hatten den US-Staatshaushalt arg strapaziert. Kapitalab-
flüsse ins Ausland und eine dramatische Abnahme der Goldreserven brachten
die amerikanische Währung zunehmend in Schwierigkeiten, was schließlich dazu
führte, dass die Regierung Nixon im August 1971 völlig überraschend die Gold-
bindung und Konvertibilität des Dollars aufhob (und damit das von den USA
etablierte Weltwährungssystem von Bretton Woods beendete). 5 8 4
5S4
Ausführlicher G. Lundestad, „ E m p i r e " by Integration. T h e United States and Euro-
pean Integration 1 9 4 5 - 1 9 9 7 . 1998, S . 9 6 f f . : W. Link. Historische Kontinuitäten und Dis-
kontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Z u k u n f t , in: M. K a h l e r /
W . L i n k (Hrsg.). Europa nach der Zeitenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995,
S. 49 ff., 122 f.: E.-O. CzempieUC.-C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. Einfüh-
rung und D o k u m e n t e , 1989. S. 257, 3 1 3 f.
?s5
Neben dem Bestreben, sich etwa durch währungspolitische Koordinierungsbemü-
hungen (europäische Währungsschlange, Block-Floating gegenüber d e m Dollar) von den
gravierenden Problemen der U S - W i r t s c h a f t abzukoppeln, zielten die europäischen E m a n -
zipationsversuche auch auf eine größere Eigenständigkeit des sich vereinigenden Europa
in der Weltpolitik - ohne allerdings die enge A n l e h n u n g an die westliche Vormacht in
Sicherheitsfragen sowie die feste Einbindung in die N A T O in Frage zu stellen (ohne poin-
tierte „ A u s b r u c h s v e r s u c h e " Frankreichs außer Acht zu lassen), vgl. auch W. Link (1995),
S. 123 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 209
europäische Außenpolitik" überaus suspekt war. 586 Nixon stufte die auf politische
Eigenständigkeit und Gleichberechtigung mit den USA zielenden Bestrebungen
der EPZ in seiner Chicagoer Rede von April I974 ? s 7 gar als „ganging up" der
Europäer gegen die Vereinigten Staaten ein und stellte angesichts der auch auf
anderen Feldern 588 sichtbar gewordenen Differenzen in aller Öffentlichkeit die
Bündnisfrage. Rigoros lehnte er eine weitere Kooperation auf sicherheitspoli-
tischem Gebiet für den Fall ab. dass die Europäer ihren wirtschaftlichen und
politischen Konfrontationskurs weiterhin fortsetzten. Statt den Europäern größere
politische Unabhängigkeit zuzugestehen, verfolgten die USA unter dem Eindruck
der geschilderten ökonomischen Probleme seit Anfang der siebziger Jahre das Ziel,
die Kosten für ihr weltpolitisches Engagement zu reduzieren, ohne international
an Einfluss zu verlieren und die hegemoniale Grundstruktur des transatlantischen
Bündnissystems aufzugeben. In diesem Sinne ist auch der Entwurf Kissingers
für eine Atlantik-Charta von 1973 zu verstehen, in der er eine Neuordnung der
transatlantischen Beziehungen vorschlug, in der die bisherige Aufgabenteilung
(globale Rolle der USA, regionale Zuständigkeiten der europäischen Staaten) zwar
grundsätzlich beibehalten, die Europäer aber als Gegenleistung für die amerika-
nische Sicherheitsgarantie wirtschaftliche Zugeständnisse machen und einen Teil
der gewaltigen militärischen Lasten übernehmen sollten.
Ein Schlüsselmoment ereignete sich auf der Konferenz auf Schloss Gymnich
bei Bonn im April 1974: dort sicherten die Europäer zu. dass die USA bei EPZ-Be-
schlussfassungen. die amerikanische Interessen berühren, zu konsultieren sind. Die
im Juni 1974 in Brüssel unterzeichnete „Atlantische Deklaration" verpflichtete die
europäischen Bündnispartner als Gegenleistung für die amerikanische Sicherheits-
5S6
Ein Umstand, den H. Kissinger n u n m e h r in persönlichen Gesprächen mit d e m Verf.
mehrfach dementiert hat.
587
Zitiert nach W. Link (1995). S. 124f; vgl auch B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und
Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. M e i e r - W a l s e r / B . Rill
(Hrsg.). Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff.. 165.
588
S o z . B. in der Diskussion über die als Folge der ersten Ölkrise notwendig gewordenen
Änderungen der energiepolitischen Strategie des Westens.
589
Dazu E.-O. Czempiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. E i n f ü h r u n g
und D o k u m e n t e , 1989. S. 257. 313.
210 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
590
Vgl. G e r m a n Chancellor Schmidt and French P r i m e Minister Chirac at the North
Atlantic Council Meeting in Brüssels. 1974 06 26 - F O T -. in: H . G . L e h m a n n (Hrsg.),
Deutschland-Dokumentation. 1. Januar 1 9 4 5 - 3 1 . Januar 2004. 2005.
591
Ihren sichtbarsten Ausdruck fand der Aufstieg Westeuropas als gleichberechtigter
Partner in der Weltwirtschaft in den seit 1975 jährlich tagenden Weltwirtschaftsgipfeln,
an denen neben den USA, Japan und Kanada auch die vier europäischen F ü h r u n g s m ä c h t e
(Frankreich. Großbritannien. Italien und Deutschland) teilnahmen.
592
Vgl. auch E. Forndran, Der NATO-Doppelbeschluß - oder: Die Diskussion über die
Nachrüstung, in: Gegenwartskunde 3 / 1 9 8 1 . S. 2 9 3 ff.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 211
Vorgehen angesichts der seit Ende der siebziger Jahre wieder einsetzenden Hoch-
rüstung der beiden Militärblöcke. Obwohl zwischen Westeuropäern und Ameri-
kanern Einigkeit darüber bestand, dass eine Verschiebung des militärischen und
machtpolitischen Gleichgewichts, das sich aus der massiven sowjetischen Aufrüs-
tung im eurostrategischen und interkontinentalen Bereich sowie der militärischen
Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ergab, nicht hingenommen werden
durfte, stritten die westlichen Verbündeten dies und jenseits des Atlantiks heftig
über die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen.
Die 1985 erfolgte Übernahme des Amts des Generalsekretärs der KPdSU durch
M. Gorbatschow und die von ihm eingeleitete Entspannungspolitik gegenüber dem
Westen hatte dann auch eine spürbare Klimaaufbesserung innerhalb des westlichen
Bündnisses zur Folge. In den nun einsetzenden Abrüstungsverhandlungen mit
den Warschauer-Pakt-Staaten griffen die Bündnispartner wieder verstärkt auf
kollektive Beratungs- und Entscheidungsmechanismen zurück. Auf dieser Basis
595
Eine wiederkehrende These des Altkanzlers; zuletzt H. Schmidt. Die Selbstbehaup-
tung Europas. 2002.
596
So auch G. Lundestad, T h e United States and Western Europe since 1945. From
..Empire" by Integration to Transatlantic Drift, 2003, S. 232.
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 213
Auch nach Ende des OstAVest-Konflikts setzte sich die bereits seit den sechziger
Jahren konstatierte ambivalente Haltung der USA gegenüber den europäischen
Integrationsbestrebungen weiter fort. Zwar haben die USA die Gleichberechtigung
der Europäischen Union auf wirtschaftlichem Gebiet grundsätzlich akzeptiert und
die gewachsene europäische Wirtschaftskraft für eigene ökonomische Interessen
zu nutzen gewusst, aber allzu häufig münden wirtschaftlicher Konkurrenzdruck
und Rivalitäten in politische Streitigkeiten, die sich etwa in politisch forcier-
ten Handelskriegen (Hähnchen- und Bananenkrieg, Genmais-Konflikt etc.) oder
Streitigkeiten über die Besetzung von Führungspositionen in Weltwirtschaftsin-
stitutionen äußern. 5 9 8
597
Hierzu mit d e m interessanten norwegischen Blickwinkel G. Lundestad (2003),
S. 228 ff.
598
Ausführlicher B. Neuss, Der ..gütige H e g e m o n " und Europa. Die Rolle der USA
bei der europäischen Einigung, in: R . C . M e i e r - W a l s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische
Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 165.
214 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
haben sie sich immer wieder darüber beklagt, dass die Europäer weder über
wirksame Entscheidungsmechanismen noch über die richtigen außenpolitischen
Instrumente verfügten, um zügig und konsequent auf internationale Krisen rea-
gieren zu können. Andererseits haben die USA in den internationalen Krisen der
jüngsten Vergangenheit den Europäern deutlich zu verstehen gegeben, dass sie im-
mer dann. wenn es ernst wird und ihre vitalen Interessen betroffen sind, sich nicht
das Heft aus der Hand nehmen lassen. Gerade die Administration von G. W. Bush
hat mehrfach deutlich gemacht, dass die amerikanische Supermacht allenfalls bei
Konflikten im regionalen Umfeld der Europäischen Union zur Kooperation bereit
ist, ansonsten aber einer aktiven Rolle der Europäischen Union (etwa jüngst die
„Kongo Mission EU FOR") eher reserviert, oftmals offen skeptisch gegenüber
steht.
Die EU-Staaten haben ihrerseits zunehmend deutlich gemacht, dass sie die
traditionelle Rollenverteilung im Bündnis, wonach die USA die großen Leitlinien
vorgeben und den Europäern lediglich unterstützende Funktionen, z. B. bei der
Finanzierung friedensstabilisierender Maßnahmen, zufallen, nicht mehr länger ge-
willt sind hinzunehmen. Trotz der traditionellen Reserviertheit der USA gegenüber
eigenständigen verteidigungspolitischen Vorstößen der Europäer, haben sie daher
in den neunziger Jahren verstärkt (und gelegentlich allzu brachial - Stichwort
„Pralinen Gipfer 2003) damit begonnen, ein eigenes geostrategisches Potenzial,
weniger durch Belebung und Ausweitung der WEU als durch den Auf- und Aus-
bau einer Gemeinsamen Europäischen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) und
insbesondere einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP),
aufzubauen. Auch für die internationale Entwicklung nach dem Ende der Block-
konfrontation gilt somit, dass die Differenzen mit den Vereinigten Staaten über
die Ausrichtung der Politik der westlichen Welt und die Erfahrung, (noch) nicht
über ein ausreichendes außen- und sicherheitspolitisches Instrumentarium zur
angemessenen und eigenständigen Bewältigung der wachsenden an Europa her-
angetragenen internationalem Aufgaben und Herausforderungen zu verfügen, die
Europäer zu verstärkten Integrationsanstrengungen und damit zur Stärkung ihres
eigenständigen Gewichts in der Welt angespornt haben. Temporär aufkeimende
Gegengewichtsphantasien haben sich zuletzt relativiert (insbesondere durch die
wachsende Schwäche der Regierung Chirac in Frankreich und durch die Abwahl
des deutschen Bundeskanzlers Schröder die beide als Haupttriebfedern einer
„neuen" transatlantischen Emanzipationsbewegung zu sehen sind). 599
599
Vgl zu alledem umfassend die Bundestagsreden des Verf. vom 5. 1 2 . 2 0 0 2 . vom
2 0 . 3 . 2 0 0 3 . vom 15. 1 0 . 2 0 0 3 . vom 23. 1 0 . 2 0 0 3 . vom 4 . 3 . 2 0 0 4 . v o m 2 5 . 3 . 2 0 0 4 . vom
2 7 . 5 . 2 0 0 4 . vom 17.6. 2004. vom 26. 11.2004. 17.3. 2005 sowie vom 2 7 . 5 . 2 0 0 5 (hierzu
die jeweiligen BT-Plenarprotokolle des Sitzungstages).
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 215
Kennzeichen dafür, dass die internationale Ordnung auch 15 Jahre nach Ende des
Kalten Krieges immer noch von bedeutenden Umwälzungsprozessen erfasst wird
und die Re-Definition von Positionen und Rollen in der internationalen Politik
immer noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Ein nicht unbeträchtlicher
Teil der politischen wie wissenschaftlichen Kontroversen (auf beiden Seiten des
Atlantiks!) befasst sich mit der Frage, welche Rolle ein sich vereinigendes Europa
zukünftig im internationalen Mächtekonzert spielen wird. Während eine Richtung
angesichts der großen Zukunftsaufgaben des 21. Jahrhunderts auch für ein stärker
integriertes und machtpolitisch gewichtigeres Europa keine Alternative zur engen
Anlehnung an das „amerikanische Empire" sieht, sprechen andere Positionen bis
heute einem vereinigten Europa das Potential zu, ein partnerschaftliches Verhält-
nis auf gleicher Augenhöhe zu den Vereinigten Staaten aufzubauen oder sich eben
als Gegengewicht oder Konkurrent zu der derzeit einzigen „Supermacht" 6 0 0 zu
etablieren.
Bislang war Amerika eine europäische Macht, nicht lediglich eine Macht in
Europa. Zukünftig wird dieser Umstand nur in dem Maße Geltung besitzen können,
wie Europa für die Vereinigten Staaten so unentbehrlich ist wie umgekehrt. 601 Die
Europäer bedürfen, solange sie, mit oder ohne Verfassung keine real tragfähige
Konstruktion (auch im militärischen Bereich) ausbilden, der USA unverändert
als Schutz- und Garantiemacht. Ebenso als Gleichgewichtsstifter, wenngleich die
Europäische Union zunehmend in diese Rolle selbst hineinzuwachsen scheint. 602
3. Europäische Einflusssphären im
amerikanischen Rechtsdenken - Schlaglichter
600
Die Entwicklungen Chinas und Indiens sind in diesem Kontext politisch wie wis-
senschaftlich a u f m e r k s a m e r zu begleiten.
601
Ähnlich auch M. Stürmer. Europas Sicherheitsarchitektur wankt, in: DIE WELT.
11. Dez. 2001. S. 8.
" i : Beispielhaft seien nur die Friedens- und Vermittlungsbemühungen unter „euro-
päischer F l a g g e " im Nahen Osten oder etwa in Bosnien-Herzegowina genannt. Gleich-
wohl ist es mittelfristig nicht ausgeschlossen, dass ein Verschieben der europäischen
(Gleich?-)Gewichte eintritt. G r u n d h i e r f ü r ist zum einen die neue weltpolitische Bedeu-
tung Russlands - u. a. wegen amerikanischer strategischer Bedürfnisse bei Raketenabwehr
( N M D ) , Proliferation und in Innerasien - zum anderen aber die europäische Energielage.
Diese wird umso unsicherer, je mehr sich der Nahe Osten in unvereinbaren Interessen und
Konflikten verzettelt. Sollten die Vereinigten Staaten in Reaktion auf weltpolitische Erfor-
dernisse und europäische Selbstmarginalisicrung einmal aufhören, tatsächlich europäische
Macht zu sein, ist auch in diesem Kontext die neue Rolle Russlands zu beachten, das sich
in einer solchen Situation Deutschland annähern könnte. Letzteres ließe Distanzierungen
von Paris und London befürchten.
216 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ableitbar ist dieses Fehlurteil auch aus einer gewissen Ambivalenz mit der
die amerikanischen Verfassungsväter die Schaffung ihrer Republik ins Werk setz-
ten. Sie gingen einerseits von weithin bekannten Ideen und Einrichtungen des
„abendländisch-europäischen Kulturkreises" aus. So nutzten sie sowohl exakte
Kenntnisse der politischen Philosophie seit den Tilgen der Antike oder der po-
litischen Aufklärungsliteratur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in
Europa sowie ihr Wissen über die Strukturen und Funktionsweisen des britischen
Regierungssystems, die mannigfaltig die politischen Ordnungsverhältnisse in den
amerikanischen Kolonien geprägt hatten. Man arbeitete mit politischen Begriffen,
die aus dem Fundus der Tradition stammten und die sie teilweise auch über den
Atlantik in die „Neue Welt" übernahmen. Gleichwohl nutzten sie all diese Kennt-
nisse. Vorgaben und Begriffiichkeiten nicht lediglich zur Imitation europäischer
Modelle, sondern kreativ zur Schaffung neuer, durchaus revolutionärer Institutio-
nen. An dieser Stelle sei nur - und undifferenziert hinsichtlich sprachlicher wie
inhaltlicher Unterschiede - auf den Föderalismus als amerikanische Erfindung im
Bereich des Staatsrechts erinnert.
Und selbst wo die Verfassungsväter Ideen und Einrichtungen aus Europa über-
nahmen (etwa den Gedanken der Repräsentation), gewannen diese in einer völlig
neuartigen Umgebung spezifisch amerikanische Charakteristika, die mit europäi-
schen Modellen kaum noch zu vergleichen waren. A. de Tocqiieville hat in seinem
klassischen Werk „Über die Demokratie in Amerika" (1835) an zahlreichen Bei-
spielen den Nachweis geführt, wie die eigentümliche „Ausgangslage" der „Neuen
Welt", wie ihre Glaubensbekenntnisse das Überkommene selbst dort veränderten,
wo man es zu bewahren suchte, wie etwa allein schon das „Dogma der Volks-
souveränität" und das Gleichheitsprinzip überkommene Herrschaftseinrichtungen
grundlegend veränderten. Der US-Historiker F.J. Turner meinte ähnliches, als er
um die Wende zum 20. Jahrhundert die offene Grenze, das Erlebnis der Weite
des Westens und die Erfahrung der Ungewißheit für die gesamte politisch-soziale
Entwicklung der USA (mit)verantwortlich machte:
„Vom Beginn der Besiedlung A m e r i k a s an hat die Region der Grenze ständig ihren
Einfluß auf die amerikanische Demokratie ausgeübt [ . . . ] Die amerikanische D e m o -
kratie ist im G r u n d e das Ergebnis der E r f a h r u n g e n des amerikanischen Volkes in der
Auseinandersetzung mit d e m Westen. Die westliche Demokratie fördert während der
ganzen früheren Zeit die Entstehung einer Gesellschaft, deren wichtigster Zug die Frei-
heit des Individuums zum Aufstieg im R a h m e n sozialer Mobilität und deren Ziel die
Freiheit und das Wohlergehen der Massen war. Diese Vorstellungen haben die gesamte
amerikanische Demokratie mit Lebenskraft erfüllt und sie in scharfen Gegensatz zu den
Demokratien der Geschichte gebracht und zu den modernen Bemühungen in Europa, ein
künstliches demokratisches Ordnungssystem mit Hilfe von Gesetzen zu errichten." 6 0 '
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 217
Allerdings: Lousiana übernahm kurz nach seiner Aufnahme in die Union Ge-
setzbücher nach französischem Vorbild, u.a. den Code Civil aus dem Jahre
1808. Erfolglos blieb dagegen ein Versuch deutschstämmiger Siedler 1794/95 in
Pennsylvania und Virginia, die Gesetze der Union auch in deutscher Sprache zu
veröffentlichen. 605
603
Zitiert nach der Website der US-Amerikanischen Botschaft in Deutschland, vgl. usa
.usembassy.de/etexts/gov/bpb/body_i_l99_l .html. Vgl. auch F.J. Turner. T h e Significance
of the Frontier in A m e r i c a n History. 1893 sowie ders. T h e Frontier in A m e r i c a n History.
1920.
" u Bei der Definition des parlamentarischen Regierungssystems k o m m t es nicht in
erster Linie darauf an. dass in dieser Herrschaftsordnung ein Parlament existiert, das ver-
fassungsmäßig festgelegte Befugnisse bei der politischen Willensbildung hat. Andernfalls
würde Verschiedenes zu einer künstlichen Einheit z u s a m m e n g e f ü g t - die Präsidialdemo-
kratie der USA ebenso wie das Direktorialsystem der Schweiz oder die parlamentarischen
Regierungsformen westeuropäischer Staaten.
605
Vgl. hierzu D. Blumenwitz, E i n f ü h r u n g in das anglo-amerikanische Recht. 6. Aufl.
München 1998. S.20 Fn. 32, mit Verweis auf American State Papers. Miscellaneous,
Washington D . C . 1834. I. S. 114. 222. N a c h d e m sich zwei Kongressausschüsse für den
Antrag ausgesprochen hatten, wurde er im P l e n u m mit 42 zu 41 S t i m m e n abgelehnt.
Laut Blumenwitz (1998). soll „die entscheidende S t i m m e der Speaker of the House, der
deutschstämmige F. A.C. Mühlenberg, abgegeben haben ( . . . ) . Dies w a r d e r A n l a ß für die
in Deutschland immer wieder hochgespielte Legende, Deutsch sei nur wegen des Votums
eines Deutschen nicht die Amtssprache der Vereinigten Staaten geworden."
218 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
drücklich als Säulen der Werteordnung, sie ziehen sich aber gleichzeitig (neben
anderen Axiomen) durch alle Bestimmungsversuche einer europäischen Rechts-
kultur. Vereinfacht ist unter Personalität zu verstehen, dass der Mensch als ein mit
Würde ausgestattes Einzelwesen zu sehen ist, das zunächst für sich verantwortlich
ist. Der Gedanke der Solidarität knüpft an das Verständnis des Menschen als Sozi-
alwesen an, das in der Gemeinschaft lebt und Verantwortung trägt für diejenigen,
die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Schließlich bedeutet Subsidiarität
in diesem Kontext, dass die jeweils kleinere Einheit selbstverantwortlich alle die
Herausforderungen erledigt, die sie selbst schultern kann und erst dann die nächst
größere zu Hilfe kommt. Um dieses Werte- und Gedankengerüst dem Reich der
Ideen zu entreißen, bedarf es jedoch der Verflechtung mit dem Recht. Auch im
21. Jahrhundert bleiben die Garanten des Rechts primär die Staaten. Sie allein
können, bevor nicht ein stabiles, insbesondere vom einzelnen Bürger anerkanntes
supranationales „Gebilde" etabliert ist, die latent drohende Gefahr einer Unter-
höhlung des legitimen und friedensstiftenden Gewaltmonopols abwenden. Sie
können dies umso besser, je mehr sie von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer
Bürger getragen werden. Ein Umstand im übrigen, der nicht anstrebenswertes Ziel
einer überstaatlichen Vereinigung sondern bereits Grundlage hierfür sein muss
und nirgends besser wachsen kann als aus den Staaten selbst heraus - von einem
Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen.
Die Vereinigten Staaten lieferten nach dem 11. September 2001 ein beeindru-
ckendes Beispiel für den Willen, mit großem Selbstbewusstsein die notwendigen
Aufgaben nach dem gewaltigen Schock gemeinsam zu erledigen. Auch im verein-
ten Europa haben die Nationalstaaten ihre Berechtigung nicht verloren. Sie sind im
Gegenteil gerade unentbehrlicher Bestandteil einer zu vermittelnden europäischen
Kultur. Im positiv gemäßigten, wohlverstandenen Patriotismus der europäischen
Nationen bündeln sich die gemeinsame Geschichte und Kultur unseres Kontinents.
Die nationale Prägung ist für die Menschen dabei sowohl stabiles Bindeglied zu
sich selbst wie zu den Nachbarländern (im wechselseitigen Verständnis) als auch
Teil ihrer unverwechselbaren Identität. Kulturelle Verwurzelung und nationale
Identität stehen dabei zur Weltoffenheit oder zu einem gemeineuropäischen Ver-
ständnis nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Europa erfährt seine Prägung durch
seine Nationen mit den ihnen eigenen Besonderheiten, aber Europa war auch
immer gekennzeichnet vom gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Dieser
ständige Prozess des Austausches - ohne Verlust der eigenen Identität - war nur
möglich, weil er in ein gesamteuropäisches Wertesystem eingebunden war.
Die europäischen Völker und Staaten sind sich auch nicht annähernd so fremd,
wie es die Vielfalt der Sprachen und die Unterschiede der Kulturen, des Alltags
und der sozialen Standards vermuten lassen. Sie haben eine seit dem frühen Mittel-
alter auf engem Raum und in ständiger Auseinandersetzung entwickelte (letztlich
gemeinsame) Geschichte, und zwar nicht lediglich eine Kriegsgeschichte, sondern
auch eine des ständigen Austauschs durch Handel, Migrationen, Missionierung
III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 219
und Kulturtransfer. Zum Kulturtransfer gehört auch die seit dem 12. Jahrhundert
sich ausbreitende Schulung professioneller Juristen am wiederentdeckten römi-
schen Recht sowie an dem für alle Lebensverhältnisse maßgeblichen Recht der
römischen Kirche. Die Einübung der Rechtssprache, der Grundfiguren rechtlicher
Ordnung und gewaltfreien Güteraustauschs, der differenzierten Verfahren und
der typischen Verfahrensfehler bedeuteten eine außerordentliche, im Alltag kaum
noch bewusste Zivilisationsleistung. Das Gleiche gilt für die Entwicklung des
neuzeitlichen Völkerrechts, das sich aus Theologie und Naturrecht. Gewohnheits-
recht und Doktrin langsam verfestigte und schrittweise positiviert wurde. Mit
anderen Worten: Eine künftige Verfassung Europas kann auf einem durch lange
Erfahrungen gesicherten Fundament aufbauen. 606
606
E b e n s o M. Stolleis, Europa nach Nizza. Die historische D i m e n s i o n , in: N J W 2002.
S. 1022 ff., 1023.
607
Es gibt bislang nur zaghafte Versuche, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen
der europäischen und der amerikanischen ..Rechtskultur" zu erarbeiten, vgl. allerdings
R. Zimmermann (Hrsg.). Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht. 1995;
ders., Roman Law, C o n t e m p o r a r y Law. European Law, 1991 mit Blick auf die römisch-
rechtliche Tradition.
608
So im Hinblick auf die europäische Verfassungsgeschichte auch M. Stolleis. Europa
nach Nizza. Die historische Dimension, in: N J W 2002. S. 1022 ff., 1023.
220 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
609
Das schließt Minderheitenschutz durch intelligente Verfahren ein. etwa durch
Garantien von Mandaten. Vetorechten. Wechsel im Vorsitz. A u s k l a m m e r u n g streitiger
T h e m e n und „ H e r u n t e r z o n e n " , F o r m e l k o m p r o m i s s e und „praktische Konkordanzen",
vgl. M. Stolleis (2002). S. 1023.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 221
61
" Diese Bezeichnung wird Präsident W. Wilson zugeschrieben: „ T h e S u p r e m e C o u r t
is a constitutional Convention in continuous session" (zitiert nach E.S. Corwin/J. Peltason.
Understanding the Constitution. 11. Aufl. 1988. S. 125: wiederkehrend auch in D. Kyvig,
Explicit and Authentic Acts: A m e n d i n g the U . S . C o n s t i t u t i o n . 1 7 7 6 - 1 9 9 5 , 1996; in der
deutschsprachigen Literatur bereits: W. Haller, S u p r e m e Court und Politik in den U S A .
Fragen der Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 1972, S. 12.
611
Vgl. nur P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 645.
222 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
612
Vgl. a u c h . K. Locwenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten
Staaten. 1959, S. 35.
613
Zur Geschichte der A m e n d m e n t s in großer Ausführlichkeit R. K. Newman (ed.), The
Constitution and its A m e n d m e n t s , 4 Vol., 1999. Den Bezug zum politikwissenschaftlichen
Ansatz arbeitet J. R Vile, T h e Constitutional A m e n d i n g Process in A m e r i c a n Political
T h o u g h t . 1992. heraus. Siehe auch die Q u e l l e n s a m m l u n g von ders.(cd.), T h e T h e o r y and
Practice of Constitutional C h a n g e in A m e r i c a : a Collection of Original Source Materials,
1993.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 223
Darüberhinaus wurde mit dem Instrument der Amendments ein Gerüst geschaf-
fen. das den so gegensätzlich erscheinenden, tatsächlich jedoch einander streng
bedingenden Säulen jeder Rechtsordnung - rechtliche Stabilität und notwendige
Anpassungsfähigkeit zum gesellschaftlich bedeutsamen Wechsel - die Balance
und Beständigkeit gab, die in der vorhergegangenen Geschichte oftmals erstrebt
und letztlich nie im erforderlichen Maße erreicht wurde. Was also bereits im
alten Testament im Buch Esther und beim Propheten Daniel angesichts der kaum
intendierten Auswirkungen unabänderlicher Gesetze von Medern und Persern
angedeutet worden war 615 , was schon Plutarch bezüglich des schnellen Wandels
der ursprünglich für hundert Jahre niedergelegten Gesetze Solons festgehalten
hatte 616 und was schließlich Zeitgenossen der amerikanischen Verfassungsväter in
philosophischen und politischen Schriften forderten 6 7 - die Liaison von Tradition
614
Vgl. T.Hobbes. Leviathan. 1651, chap. 26. P.Kirchhof greift diesen Gedanken
ebenfalls auf in ders., Die Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in Umbruchsituationen,
in: J.J. Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen.
1999. S. 31 ff.. 49.
615
Siehe das Buch Esther Kap. 1. 19; 2 ff. sowie Daniel. Kap. 6. 9.
616
Vgl. in englischer Übersetzung Plutarch. T h e Rise and Fall of Athens: Nine Greek
Lives. 1960. S. 67 ff.
617
Einen profunden Überblick über die amerikanischen Ansätze im 18. Jahrhundert gibt
J.R. Vile. Ideas of Legal Change: Precursors of the Constitutional A m e n d i n g Process. in: 9
Midsouth Pol. Sei. Journal (1988). S. 64 ff. Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch die
frühen Gedanken des Q u ä k e r s W. Penn, dessen Entwurf der Charter of Delaw are (1701)
unter dem Eindruck der Forderungen nach Religions- und Gewissensfreieit sowie angesichts
der banalen E r f a h r u n g von der Sterblichkeit der Menschen bereits einen „amending-
process" vorsah. Penn formulierte, dass .,no Act, L a w or Ordinance whatever" shall
„alter, change or diminish the Form or Effect of this Charter [ . . . ] without the Consent
of the Governor [ . . . ] and Six Parts of Seven of the Assembly I . . . ] . " Darüberhinaus
fand sich in der Charter eine Garantie, dass „the First Article of this Charter relating to
liberty of Conscience. and every Part and Clause therein I . . . ] shall be kept and remain.
without any Alteration, inviolably for ever", zitiert nach F. Thorpe. T h e Federal and
State Constitutions. Colonial Charters and O t h e r Organic L a w s of the States. Territories,
and Colonies Now or Heretofore Forming the United States of America, 1909. S . 5 6 0 .
In einigen der einzelstaatlichen Verfassungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung
geschaffen wurden, war die Möglichkeit zukünftiger Modifizierungen auf Änderungen der
staatsorganisatorischen Struktur beschränkt, wohingegen die meist separat verabschiedeten
„Bill of Rights" meist für unabänderlich erklärt wurden, vgl. R. Taylor. A N e w Look at
Article V and the Bill of Rights, in: 6 Ind. L. Rev. (1973). S. 6 9 9 ff.
224 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und Moderne, die Verbindung eines erhaltenden mit einem wandlungsfähigen Ele-
ment - fand mit der Möglichkeit der Verfassungsergänzung mittels Amendments
in Art. V der Verfassung von 1787 erstmalig Einzug in eine Rechtsordnung:
„ T h e Congress, whenever two thirds of both Houses shall deem it necessary. shall
propose A m e n d m e n t s to this Constitution, or. on the Application of the Legislatures of
two thirds of the several States, shall call a Convention for proposing A m e n d m e n t s , which.
in either C a s e , shall be valid to all Intents and Purposes. as Part of this Constitution,
whcn ratified by the Legislatures of three fourths of the several States, or by Conventions
in three fourths thereof. as the o n e or the other M o d e of Ratification may be proposed
by the C o n g r e s s : Provided that no A m e n d m e n t which may be made prior to the Year
One thousand eight hundred and eight shall in any M a n n e r affect the first and fourth
Clauses in the Ninth Section of the first Article; and that no State, without its Consent,
shall be deprived of its equal S u f f r a g e in the Senate."
So konnten noch die Anicles of Confederation nicht ohne die Zustimmung der
Legislaturen 6 1 " aller Einzelstaaten geändert werden - ein System, das sich nach
überwiegender Meinung als unpraktikables Mittel zu Stillstand und potentieller
Separation instrumentalisieren ließ 619 . Die Unzufriedenheit mit den Regelungen
der Anicles und die daraus zu ziehenden Konsequenzen brachte Madison im
Federalist No. 40 zum Ausdruck, als er das Vorhaben der Verfassungsväter auch
insoweit rechtfertigte,
„ [ . . . ] that. in all great changes of established governments, forms ought to give way
to substance, that a rigid adherence in such cases to the f o r m e r would render nominal
and nugatory the transcendent and precious right of the people to .abolish or alter their
6.8
Der Begriff „legislatures" in Artikel V bezeichnet „deliberative, representative
bodies of the type which in 1789 exercised the legislative power in the several States. It
does not comprehend the populär referendum which has subsequently b e c o m e a part of the
legislative process in many of the States, nor may a State validly condition ratification of a
proposed constitutional a m e n d m e n t on its approval by such a referendum", vgl. Das Urteil
des US-Supreme Court in Hawke v. Smith. 253 U.S. 221,231 (1920)sowie Leser v. Garnett,
2 5 8 U.S. 130. 137 (1922): „lt]he funetion of a State legislature in ratifying a proposed
a m e n d m e n t to the Federal Constitution, like the funetion of Congress in proposing the
a m e n d m e n t , is a federal funetion derived from the Federal Constitution: and it transcends
any limitations sought to be imposed by the people of a State."
6.9
Siehe Art. XIII der Articles of Confederation. Dazu VV. Solberg. T h e Federal C o n -
vention and the Formation of the Union of the American States. 1958. S. 51.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 225
governments as to them shall seem most likely to effect their safety and happiness,'
since it is impossible for the people spontaneously and universally to move in concert
toward their object; and it is therefore essential that such changes be instituted by s o m e
informed and unauthorized propositions, made by some patriotic and respectable Citizen
or n u m b e r of Citizens."
620
Obgleich alle Aufzeichnungen des Verfassungskonvents wiederholt Gegenstand in-
tensiver Untersuchungen im Hinblick auf Hintergründe des A m e n d m e n t - P r o z e s s e s waren,
hatte es innerhalb des Konvents kaum Diskussionen über die Notwendigkeit der neuen
Verfahrensform gegeben, vgl. S. Gaugush, Principles Governing the Interpretation of Exer-
cises of Article V Powers, in: 35 T h e Western Pol. Q. (1982), S. 213 ff. Der Delegierte Col.
Mason aus Virginia meinte etwa, d a s s A m e n d m e n t s vonnöten seien und es wäre ..better
to provide for t h e m . in an easy. regulär and Constitutional way than to trust chance and
violence", zitiert nach M. Farrand. T h e Records of the Federal Convention. Bd. 1. rev.ed.
1937 sowie 1966 (hier zitiert). S. 202.
621
Bei den Anti-Federalists war die B e f ü r c h t u n g , das A m e n d m e n t - V e r f a h r e n sei zu
schwierig (siehe die Kritik von P. Henry v o r d e m Ratifizierungskonvent in Virginia, zitiert
bei J. Ellion. T h e Debates in State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution.
Bd. 3 , 1 8 8 8 . S. 48 sowie die Einschätzung von W. Livingston, Federalism and Constitutional
Change. 1956, S. 242 ff.) eng mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwen-
dige A u f n a h m e und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor
der eigentlichen Verfassungsratifizierung bedürfte, vgl. E. P. Smith. T h e Movement Towards
a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. Jameson, Essays in the Constitutional
History of the United States in the Formative Period. 1 7 7 5 - 1 7 8 9 . 1889. S . 4 6 f f . Madison
freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und
versicherte die anschließende A u f n a h m e einer Bill of Rights. Die ..amending articles" ver-
teidigte er im übrigen als ein ..neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist
No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der
Funktion ..equally against that extreme facility. which would render the Constitution too
mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The
Federalist No. 43) zu wachen. Vgl. dazu auch J. R. Vile, A m e r i c a n Views of the Constitutio-
nal A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . ,
49 f.; P. Weher. M a d i s o n ' s Opposition to a Second Convention, in: 20 P O L I T Y (1988),
S. 498 ff.
226 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
622
Vgl. J.K. Vile (1991), S. 50. In Pennsylvania gab es für die „reviews"die Institution
eines „Council of C e n s o r s " ; d a z u S.P. Xleador, T h e Council of Censors, in 22 Penn-
sylv.Mag. of Hist.and Bio. (1898). S. 265 ff. Z u m A m e n d m e n t - P r o z e s s in den Einzelstaaten
bereits J. W. Garner. A m e n d m e n t of State Constitutions. 1907; sowie A. L Sturm. Methods
of State Constitutional Reform. 1954; M.L Kendrigan, Constitutional Revision in O t h e r
States. 1965.
623
Hierzu zählt kurioserweise auch das letzte, 27. A m e n d m e n t , das ursprünglich bereits
Bestandteil des d e m ersten Kongress 1791 zugegangenen Amendment-..Pakets" war. jedoch
erst im Jahre 1992 ratifiziert wurde.
624
Dies sind das 13.(1865), 1 4 . ( 1 8 6 8 ) u n d 15. A m e n d m e n t (1870). Siehe auch A.Avins,
T h e Reconstruction A m e n d m e n t s ' Debates. T h e Legislative History and C o n t e m p o r a r y
Debates in Congress on the 13th. 14th. and 15th A m e n d m e n t s , 1967. Zu den Schwierig-
keiten im Z u s a m m e n h a n g mit d e m 14. A m e n d m e n t J.E. Bond. No Easy Walk to Freedom.
Reconstruction and the Ratification of the Fourteenth A m e n d m e n t . 1997.
625
Das amerikanische Wahlrecht haben das 17. (1913), 19. (1920). 23. (1961). 24.
(1964) und 26. A m e n d m e n t (1971) sowie die ..Reconstruction A m e n d m e n t s " 14 (1868)
und 1 5 ( 1 8 7 0 ) zum Gegenstand.
626
Chisholm v. Georgia, 2 U.S. (2 Dali.) 419 (1793).
627
Pollock v. Farmers Loan & Trust Co., 157 U.S. 429 (1895).
628
Dred Scott v. Sandford 60 U.S. (19 How.) 393 (1857).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 227
damit das Urteil Oregon v. Mitchell™ obsolet machte. Die einzigen Amendments,
die nicht diesen Kategorien unterfallen - die sogenannten Prohibition Amend-
ments63°- bilden zudem das bislang einmalige Beispiel einer Aufhebung eines
Amendents durch ein weiteres Amendment.
629
Oregon v. Mitchell. 400 U.S. 112 (1971).
630
Das 18. (1919) und 21. (1933) A m e n d m e n t . Dazu W.D.Guthrie, Constitutional
Aspects of National Prohibition: a Review of the Antecedents of the Eighteenth A m e n d m e n t ,
the Objections to its Repeal. and the Advisability of its Modification. 1932.
631
Im Gegensatz etwa zum deutschen Grundgesetz, vgl. Art. 79 III GG. Das Problem der
..unabänderlichen Verfassungsnormen", wie beispielsweise die „Ewigkeit" der republikani-
schen Regierungsform in den Verfassungen der französischen dritten bis f ü n f t e n Republik
oder in der italienischen Verfassung, besteht also in dieser Form in den Vereinigten Staaten
nicht.
632
Vgl. die National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920) sowie Leser v. Garnett.
258 U.S. 1 3 0 ( 1 9 2 2 ) .
633
Innerhalb weniger Jahre haben etwa in den 1990er Jahren sechs vorgeschlagene
Verfassungsergänzungen ( u . a . einen ausgeglichenen Haushalt. W a h l k a m p f f i n a n z i e r u n g .
Religionsfreiheit. Verfahren zur Erhebung neuer Steuern, aber auch Flaggenentweihung
(„flag desecration") betreffend) das P l e n u m einer der beiden o d e r beider K a m m e r n des
228 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
aber weitgehend davon ausgegangen wird, dass die Unmittelbarkeit der Reaktion
(ein Wesensmerkmal von politisch gesteuertem Aktionismus) über die Momentauf-
nahme hinaus ihre Grenzen in der bisherigen Verfassungs-Ergänzungs-Tradition
finde dürfte. Zwar haben Bemühungen um die amerikanische Verfassunggebung
seit der Declaration of Independence nicht mehr Anlass zur Vermutung gegeben,
äußeren Einflussfaktoren geschuldet zu sein, gleichwohl ist nicht zuletzt aufgrund
des a m e r i k a n i s c h e n Verfassungsselbstverständnisses und -Patriotismus' gerade
dieser Umstand eher Hemmnis denn Antrieb für allzu extensive Amendment-
Absichten. 634 Jedoch gab es bereits vor dem 11. September 2001 - insbesondere
in der Parteienlandschaft - Tendenzen, das politische Klima zugunsten weiterer
Amendments zu verändern. So fanden Vorschläge, die Verfassung um ein „victim's
rights - amendment" 6 3 5 zu ergänzen ebenso politische Unterstützung wie Konzep-
te, die amerikanische Staatsbürgerschaft neu zu definieren oder die Erfordernisse
für zukünftige Amendments zu e r l e i c h t e r n . D i e Gründe für dieses neu erweckte
politische Amendment-Interesse sind vielfältig. Für manchen Republikaner spiel-
te gewiß der Umstand, seit mehreren Generationen erstmals wieder die Mehrheit
in beiden Häusern des Kongresses zu stellen, eine nicht unbedeutende Rolle.
Unter den Demokraten gibt es bis heute nicht wenige, die ihrer Frustration über
Kongresses erreicht. Dabei wurden zwei („balanced budged a m e n d m e n t " und ..flag dese-
cration a m e n d m e n t " ) vom Repräsentantenhaus verabschiedet, eine Version des ..balanced
budged a m e n d m e n t " verfehlte die erforderliche Senatsmehrheit zweimal jeweils nur um
eine Stimme, vgl. United States, Congress, Senate-Committee on the Judiciary, Subcommit-
tee on the Constitution, Balanced-Budget Amendment to the Constitution. Hearings before
the Subcommittee on the Constitution of the C o m m i t t e e on the Judiciary, United States
Senate, One Hundred Third Congress. second session. on S.J. Res. 41. February 15,16. and
17. 1994. 1995; United States Congress, Senate - Committee on the Judiciary, Balanced-
Budget A m e n d m e n t . Hearings before the Committee on the Judiciary, United States Senate.
One Hundred Fifth Congress. first session on S. J. Res. 1, a bill proprosing an a m e n d m e n t to
the Constitution of the United States to require a balanced budget. January 17 and 22, 1997,
1997. Zum „flag desecration amendment": United States, Congress, House - Committee
on the Judiciary. Subcommittee on the Constitution. Flag Desecration Amendment to the
Constitution. Hearing before the Subcommittee on the Constitution of the C o m m i t t e e on
the Judiciary, One Hundred Fourth Congress, first session. on H.J. Res. 79. May 24. 1995.
1995.
634
Freilich hatte der 11. September in den Vereinigten Staaten (wie in vielen Ländern
Europas) eine Flut von Gesetzgebungsinitiativen zur Folge, die insbesondere verschärfte
M a ß n a h m e n im Rahmen d e r inneren Sicherheit ermöglichen sollten, vgl. dazu n u r die
breite Berichterstattung etwa zum sog. ..Patriot Act".
635
Vgl. dazu die Stellungnahmen der Senatoren R. Feingold und P.J. Leahy vor d e m
Senate Judiciary Committee. Executive Business Meeting: „ T h e Victims' Rights A m e n d -
m e n t " (S.J. Res. 3) September 30. 1999. www.judiciary.senate.gov/93099rf.htm bzw. judi-
ciary.senate.gov/93099pl2.htm.
636
Allein im 106. Kongress wurden im Repräsentantenhaus bis D e z e m b e r 2001 f ü n f -
zig „proposals of an a m e n d m e n t " (vgl. die Auflistung im Einzelnen unter http://thomas
.loc.gov/cgil-lbin/quer\7L?cl06:71ist/cl06hj.lst:l), im Senat dreizehn solche Vorschläge
( h t t p : / / t h o m a s . l o c . g o v / c g i - b i n / q u e r y / L ? c l 0 6 : . / l i s t / c I 0 6 s j . I s t : 1) behandelt.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 229
Auch darf der Umstand, dass seit 1791 lediglich siebzehn eigentliche Verfas-
sungsergänzungen erfolgreich durchgeführt wurden, nicht den Blick auf die Flut
in den Kongress eingebrachter und letztlich gescheiterter Amendment-Vorschlä-
ge verschleiern. Der grundsätzlichen Bedeutung gescheiterter Empfehlungen zur
Verfassungsergänzung oder -änderung für die Verfassungsentwicklung wird an
späterer Stelle noch eingehender gedacht.
637
Siehe zu dieser Problematik D. Donnelly, Are Elections for Sale?, 2001. Ein inter-
essanter Vergleich zwischen amerikanischer und europäischer Methodik der W a h l k a m p f -
und Parteienfinanzierung wird im S a m m e l b a n d von A.B. Gunlicks (ed.), C a m p a i g n and
Party Finance in North A m e r i c a and Western Europe. 1993. angestellt.
638
Z u m Stellenwert der ..original m e a n i n g " bzw. des ..original intent" in der Ver-
fassungsinterpretation siehe einen der prominentesten Vertreter des sog. „originalism"
R.H. Bork. Tradition and Morality in Constitutional Law. in: W.F. M u r p h y / C . H . Pritchett
(eds.), Courts. Judges & Politics. An Introduction to the Judicial Process. 4. Aufl. 1986.
S. 6 3 5 ff.; ders.. Neutral Principles and S o m e First A m e n d m e n t Problems, in: 47 Indiana
Law Journal (1979), S. 1 ff.: ders.. T h e Tempting of America. T h e Political Seduction of
the Law. 1990.
639
Bereits im Verfassungskonvent von 1787 wurde die Ausgestaltung eines Änderungs-
verfahrens kontrovers diskutiert. Zunächst wurde erwogen, dass „provision ought to be
made for the a m e n d m e n t [of the Constitution] whensoever it shall seem necessary" - ohne
jegliche Beteiligung des Kongresses, vgl. M. Farrand, T h e Records of the Federal Conventi-
on of 1787. Bd. I,rev.ed. 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S. 2 2 . 2 0 2 f., 237; Bd. 2. S. 85. Auf
dieser Grundlage gestaltete die Detailkommission einen Absatz, der vorsah, dass der Kon-
gress auf Antrag von zwei Dritteln der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten
einen Konvent zur Änderung der Verfassung einzuberufen hätte, vgl. Farrand (1937), Bd. 1.
230 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
S. 188. was freilich zu heftigen Kontroversen führte. Z u m einen wurde die G e f a h r einer
subversiven D o m i n a n z von zwei Dritteln der Staaten über die Minderheit befürchtet, so
der Delegierte Gerry, siehe Farrand (1937). Bd. 1. S. 557 f. Andere prophezeiten, dass der
Kongress wohl als Erster ein A m e n d m e n t für notwendig erachten würde, eine Übertragung
der ..Verfahrenshoheit" auf die Einzelstaaten hingegen bedeuten könnte, dass lediglich
Veränderungen, die die Machtposition der Staaten festigen würden, begründete Aussicht
auf Erfolg hätten, vgl. das Votum Hamiltons bei Farrand (1937). S. 558. Schließlich wurde
der Vorschlag Madisons a n g e n o m m e n , der ein Amendment-Initiativrecht sowohl des Kon-
gresses als auch von den gesetzgebende Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten
vorsah.
640
Vgl. Hollingsworth v. Virginia. 3 Dali. (3 U.S.) 378 (1798). Den Gouverneuren
der Staaten steht ebensowenig ein Veto zu. Allerdings sind dem Präsidenten indirekte
Handhaben der Einflussnahme auf den Kongress gegeben, um gegebenenfalls gegen eine
Verfassungsergänzung einzuschreiten. Am Beispiel des sog. Bricker-Amendments, das die
außenpolitische Bewegungsfreiheit der Präsidialgewalt einschränken wollte, erläutert dies
K. Loewenstein Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959.
S. 41, 310 ff.
f>il
Siehe Annais of Congress, Bd. 1 (1789). S. 4 3 3 ff. Gleichzeitig war bei den Anti-
Federalists die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig, e n g mit der Auf-
fassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwendige B e i f ü g u n g und Garantie einer Bill
of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung
bedürfte, vgl. E. P. Smith. T h e Movement Towards a Second Constitutional Convention in
1788. in: J.F. J a m e s o n . Essays in the Constitutional History of the United States in the
Formative Period, 1 7 7 5 - 1 7 8 9 , 1889. S . 4 6 f f . Madison freilich vertröstete die Anhänger
dieser Idee auf den Zeitraum nach d e r Ratifizierung und versicherte die anschließende
A u f n a h m e einer Bill of Rights. Die ..amending articles" verteidigte er im übrigen als ein
„neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle
erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion „equally against that ex-
treme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty,
which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 4 3 ) zu wachen, vgl. auch
J.R. Vile. American Views of the Constitutional A m e n d i n ? Process: An Intellectual History
of Article V. in: 25 A J L H (1991). S . 4 4 ff.. 49 f.
M2
Vgl. Annais of Congress. Bd. I (1789). S. 717.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 231
M3
Ebenda S . 430.
644
Siehe National Prohibition Cases 253 U.S. 350. 3 8 6 (1920): „ T h e adoption by
both Houses of Congress. each by a two-thirds vote, of a joint resolution proposing an
a m e n d m e n t to the Constitution, sufficiently shows that the proposal was deemed necessary
by all w h o voted for it. An express declaration that they regarded it as necessary is not
essential. None of the resolutions whereby prior a m e n d m e n t s were proposed contained such
a declaration." Im selben Fall wurde im übrigen auch das bereits oben genannte Q u o r u m ,
wonach für das ..proposal" die Zweidrittelmehrheit der anwesenden Kongressmitglieder
ausreichend sein sollte, vom Supreme C o u r t festgestellt.
645
Art. 138 der Schweizer Bundesverfassung. Am 18. April 1999 kam in der Schweiz
eine zweite große Totalrevision nach 1874 zur A b s t i m m u n g und wurde trotz niedriger
Stimmbeteiligung (35.4%) deutlich a n g e n o m m e n . Die neue Verfassung trat am 1.1.2000
in Kraft. Ausschnitte der langen Diskussion um eine Totalrevision der Schweizer Ver-
fassung bieten etwa M. Imboden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in:
ders.. Staat und Recht, 1971. S. 2 1 9 ff.: L. Wildhaber, D a s Projekt einer Totalrevision der
schweizerischen Bundesverfassung, in: J ö R 26 (1977), S. 2 3 9 ff. ( z u m Bericht der Exper-
tenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung. 1977) und
B. Ehrenzeller, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Der gegenw ärtige
Stand des Vorhabens, in: ZaörV 47 (1987), S. 699 ff. N u n m e h r R.J. Schweizer Die erneu-
erte schweizerische Bundesverfassung, in: JöR 48 (2000), S. 2 6 3 ff. Den wichtigen Bezug
schweizerischer Verfassungsstrukturen zu Europa stellt P. Häberle, „Werkstatt Schweiz":
Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: ders.. Europäische Rechts-
kultur (1994). Taschenb. 1997, S. 355 ff. her.
646
Eine große Auswahl verschiedener Vorschläge findet sich bei D. Robinson (Hrsg.),
R e f o r m i n g American Government. T h e Bicentennial Papers of the C o m m i t t e e on the
Constitutional System. 1985. Für eine genauere Beschreibung und Analyse der einzel-
nen Vorschläge: J. R. Vile, Rewriting the United States Constitution. An Examination of
Proposais from Reconstruction to the Present, 1991.
232 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Da die Alternative des Konvents nie erfolgreich durchgeführt wurde, ist die-
se Methode mit etlichen rechtlichen Fragen behaftet. 6 4 8 Wann und wie ist ein
Verfassungskonvent einzuberufen? Müssen die Amendment-Anträge der erforder-
lichen Anzahl von Einzelstaaten identisch sein, inhaltlich das gleiche Amendment
erstreben oder lediglich eine ähnliche Angelegenheit betreffen? Kommt es bei
dem notwendigen Quorum auf ein gleichzeitiges Einreichen der Petitionen an
oder können diese gar über mehrere Jahre gestreckt werden? 64 '' Kann ein Konvent
nur auf die Beratung eines Amendments oder auf den materiellen Gehalt des
Amendments begrenzt werden? Diese Fragen sind eine bloße Facette des unüber-
schaubar erscheinenden Problemkataloges, der dem „constitutional Convention"
anhaftet. 6 5 0 In der amerikanischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre üben
wenige Themenkreise eine ähnlich - kontrovers diskutierte - Faszination aus
wie die Möglichkeit der Einberufung eines weiteren Verfassungskonvents, sei
es um das Dokument von 1787 einer Totalrevision zu unterziehen oder sei es
„nur" einzelner Amendments willen. Die Konvents-Alternative scheiterte einige
647
Vgl. zu diesem Streit mit einer Darstellung der unterschiedlichen Positio-
nen W.S. Livingston, Federalism and Constitutional Change, 1956. S . 2 1 8 : D.P.Lacyl
P.L. Martin. A m e n d i n g the Constitution: the Bottleneck in the Judiciary Comniittees, in: 9
Harvard Journal on Legislation ( 1 9 7 1 / 7 2 ) . S. 6 6 6 ff.. 671 f.; W.A. Platz. Article V of the
Federal Constitution, in: 3 T h e George Washington L. Rev. (1934), S. 17 ff., 24 f.
f>:8
Eine umfängliche Studie d e r „Convention m e t h o d " gibt C. BrickfieUl. Problems
Relating to a Federal Constitutional Convention. 85th Congress, Ist sess., 1957. Siehe
auch R. Caplan. Constitutional Brinksmanship. A m e n d i n g the Constitution by National
Convention, 1988.
,vi y
' Diese Frage ist nicht mit der Problemstellung zu verwechseln, wie lange ein vom
Kongress den Staatenlegislaturen zur Ratifikation überwiesener Vorschlag in Umlauf
bleiben kann oder soll, ehe er als überholt gelten kann. vgl. K. Loewenstein, Verfassungsrecht
und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 I .
650
Eine gründliche Analyse der einzelnen Fragestellungen mit einigen bemerkenswerten
Lösungsansätzen geben Brickfield (1957) und Caplan (1988). Siehe auch Federal Consti-
tutional Convention. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on Separation of
Powers. 90th Congress. Ist sess. (1967); W. Edel. A Constitutional Convention: Threat or
Challenge?, 1981: American Bar. Association (Hrsg.), A m e n d m e n t of the Constitution by
the Convention Method under Article V, 1974.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 233
Male nur knapp. So fehlte ein einziger Staat für die Einberufung eines Konvents,
nachdem der Senat die lang diskutierte Verabschiedung eines Amendments, das
die Direktwahl der Senatoren gestatten sollte, zugelassen hatte. 651 In den 60er
Jahren des 20. Jahrhunderts missglückte aufgrund nur eines fehlenden Staates
zur erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit der Versuch, ein Konvent zur Revision
der umstrittenen Supreme Court Entscheidungen zur Anpassung der Wahlbezir-
ke („reapportionment decisions") zu initiieren. 652 Zwei Staaten fehlten zu einer
erfolgreichen Petition für eine Begrenzung der Einkommenssteuerraten 6 5 3 sowie
für ein ..balanced budget amendment" 6 5 4 .
Unter dem Strich haben wohl zwei Fragestellungen die Debatten um einen Kon-
vent dominiert. Z u m einen wurde der Problematik einer etwaigen Begrenzung
der Verhandlungspunkte in einem Konvent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum
651
Dazu Brickfiekl (1957). S. 7, 89.
652
Vgl. G. Rees. T h e A m e n d m e n t Process and Limited Constitutional Conventions, in:
2 Benchmark (1986). S. 66 f.; Caplan (1988). S. 73 ff.
653
Vgl. Brickfield (1957), S. 8 f.. 89.
654
Gründliche Diskussionen zu diesem ..proposal" finden sich in: W. M o o r e / R . Penner.
The Constitution and the Budget. 1980; American Enterprise Institute. Proposais for a
Constitutional Convention to Require a Balanced Federal Budget, 1979. Siehe aber auch
W.T. Barker. A Status Report on the .Balanced B u d g e t ' Constitutional Convention, in:
20 T h e J. Marshall L. Rev. (1986). S. 29 ff., der viele der einzelnen Petitionen f ü r diesen
Konvent für rechtsunwirksam hält.
655
Siehe nur Caplan (1988): P. Weber. T h e Constitutional Convention: A Safe Political
Option, in: 3 T h e J. of L a w & Politics (1986), S . 5 1 ff.. J.T.Noonan, T h e Convention
Method of Constitutional A m e n d m e n t - Its Meaning. Usefulness and W i s d o m . in: 10 Pac.
L.J. (1979). S. 641 ff.
656
Vgl. etwa L. Kean. A constitutional Convention Would Threaten Rights We Have
Cherished for 200 Years. in: 4 Det.Col. of L. Rev. (1986), S. 1087 ff.; A. Sorenson. T h e
Quiet C a m p a i g n to Rewrite the Constitution, in: Sat. Rev. vom 15. Juli 1967, S. 17 ff.;
G. Gunther. Constitutional Brinkmanship. Stumbling Toward a Convention, in: 65 Amer.
Bar A s s o c . J . (1979). S. 1046 ff.
657
Freilich unternahmen einige, insbesondere der ehemalige Senator S. Ervin. den
Versuch, einen Gesetzentwurf zu formulieren mit d e m Vorsatz, den wissenschaftlichen
Spekulationen um die Einzelheiten eines ungenutzten Instruments ein Ende zu bereiten,
vgl. S. Ervin, Proposed Legislation to Implement the Convention Mechanism of A m e n d i n g
the Constitution, in: 66 Michigan L. Rev. (1968), S. 8 7 5 ff.; siehe auch ders., Proposed
Legislation on the Convention Method of A m e n d i n g the United States Constitution, in: 85
Harvard L. Rev. (1977), S. 1612 ff.
234 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
anderen stand immer wieder das Thema, welche Kontrolle entweder der Kongress
oder die Justiz über das Konventsverfahren ausüben könnten, im Vordergrund.
Die Option einer „limited constitutional Convention" untersuchte insbesondere
W. Dellinger, um schließlich festzustellen, dass eine inhaltliche Begrenzung des
Konvents abzulehnen und jede gliedstaatliche Petition, die auf eine solche Be-
grenzung abzielte demnach unwirksam sei. 658 Diese Position gründet auf der
Überzeugung, dem Kongress ebensowenig ein exklusives Vorschlagsrecht für
Amendments zu gewähren wie den Legislaturen der Einzelstaaten einzuräumen,
Amendments, die die gliedstaatlichen Befugnisse auf Kosten der Bundesregierung
ausweiten würden, vorzuschlagen und zu ratifizieren. 65 ' Würde nun einem von
beiden die Berechtigung zur Begrenzung zugebilligt, liefe man Gefahr die eben
genannten Grundsätze auszuhöhlen. Dies gelte dann auch entsprechend hinsicht-
lich einer Kontrollkompetenz des Kongresses über einzelne Punkte des Konvents.
Auf Widerstand stieß diese Auffassung unter anderem bei G. Rees, der es den
Gliedstaaten durchaus selbst überlassen will, inwieweit ein Konvent eine Begren-
zung erfährt. 6 6 0 Die einzelstaatlichen Befugnisse, Amendments vorzuschlagen
würden nach Artikel V zumindest „ungefähre" Parallelen zu den dort genannten
Kompetenzen des Kongresses aufweisen, dessen Aufgabe es im Wesentlichen sei,
„housekeeping rules" 661 zu erlassen, was zur Folge habe, dass der Konvent viele
seiner kennzeichnenden Angelegenheiten selbst zu erledigen habe und den Gerich-
ten allgemeine Aufsichtsfunktionen zugewiesen werden müssten. Sowohl Rees als
auch Dellinger koppelten also die Problemstellungen der Organkompetenz und der
Begrenzungsoption. Allerdings unter diametralen Prämissen. Während Dellinger
das gesamte Amendment-Verfahren als eine „series of formalities" beziehungs-
weise ein „set of formal rules rather than as the embodiment of vague policy
objectives" 662 einschätzt, stellt Rees den Gedanken des „contemporary consensus"
658
Siehe W. Dellinger, T h e Recurring Question of the .Limited* Constitutional C o n -
vention. in: 88 Yale L. Rev. (1979). S. 1623 ff. Eine ähnliche Sichtweise offenbart auch
C.L. Black. Amending the Constitution: A Letter to a C o n g r e s s m a n . in: 82 Yale L.J. (1972),
S. 189 ff. Eine Begrenzung des Verfassungskonvents auf lediglich ..stückweise Ä n d e r u n -
g e n " („piecemeal changes") schlägt A. Diamond. A Convention for Proposing A m e n d -
ments. T h e Constitution*s Other Method, in: 11 P U B L I U S (1981), S. 1113 ff. vor. Dagegen
J.R. Vile. Ann D i a m o n d on an Unlimited Constitutional Convention, in: 19 P U B L I U S
(1989), S. 177 ff. sowie ders.. A m e r i c a n Views of the Constitutional A m e n d i n g Process:
An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991). S . 4 4 f f „ 65.
659
Dellinger (1979), S. 1630.
660
Vgl. G. Rees. T h e A m e n d m e n t Process and Limited Constitutional Conventions, in:
2 Benchmark (1986). S. 66 ff. Obgleich sich auch Rees selbst nicht als B e f ü r w o r t e r eines
erneuten Verfassungskonvents sieht, vgl. ebenda. S. 80. so widerspricht er doch Dellinger
insoweit als er keinen Anlass erkennt, den Staaten lediglich die Wahl zwischen einem von
allen Fesseln befreiten oder eben keinem Konvent zu geben.
661
Ebenda S. 86.
662
Siehe W. Dellinger. T h e Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the A m e n -
ding Process. in. 97 Harvard L. Rev. (1983). S. 386 ff., 4 1 8 . 432.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 235
in den Vordergrund. Letzterer nimmt diesen Gedanken auch zum Maßstab eines
gerichtlichen Eingreifens in Amendment-Angelegenheiten, das er grundsätzlich
befürwortet. Für Dellinger kommt dagegen höchstens eine Justiziabilität der for-
mellen Kriterien durch die Gerichte in Betracht. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen,
da er zum einen nicht den konstruiert erscheinenden Weg über eine sehr weite Aus-
legung von Artikel V gehen muss und letztlich konsequenter in den Folgefragen
bezüglich der Stellung des Kongresses, der Gerichte und Einzelstaaten und deren
klarer Abgrenzung untereinander im gesamten Amendment-Verfahren ist. 663
Jahre später befanden sich die formelle und materielle Rechtsgültigkeit des
18. und 19. Amendments (das bundesweite Alkoholverbot sowie die Ausdeh-
663
Dazu zählen etwa die zahlreichen Streitpunkte bezüglich der Ratifikation (siehe
sogleich), die Dellinger durch seine stringente Haltung mit klaren Kompetenzabgrenzungen
bewältigt, vgl. ders. (1983), S . 4 1 9 f f . Kritisch allerdings LH. Tribe. A Constitution We
Are A m e n d i n g : In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983),
S. 4 3 3 ff. Siehe auch J.R. Vile. Judicial Review of the A m e n d i n g Process: the Dellinger-
Tribe Debate. in: 3 J. of Law & Politics (1986), S. 21 ff.
664
Vgl. M. Farrand. T h e Records of the Federal Convention of 1787. Bd. 1, Revised
Edition 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S . 6 3 0 .
665
Siehe 57 Cong. G l o b e 1 2 6 3 ( 1 8 6 1 ) .
666
Dazu ausführlich H. Arnes, T h e Proposed A m e n d m e n t s to the Constitution of the
United States Düring the First Century of Its History. H. Doc. 353, pt. 2. 54th Congress, 2d
sess., 1897. S. 363.
667
Vgl. 6 6 Cong. G l o b e 921, 1 4 2 4 - 1 4 2 5 , 1 4 4 4 - 1 4 4 7 , 1 4 8 3 - 1 4 8 8 ( 1 8 6 4 ) .
236 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nung des Wahlrechts auf Frauen) auf dem Prüfstand. In der Diskussion wurde
hinsichtlich der Reichweite der Amendments betont, dass ihr eigentlicher Anwen-
dungsbereich die Korrektur von Fehlern der ursprünglichen Verfassungsversion
sei und dass insbesondere nicht die Annahme zusätzlicher oder ergänzender Vor-
schriften von Art. V der Verfassung umfasst sei. 668 Zudem habe der Kongress
keine verfassungsmäßige Kompetenz, Amendments vorzuschlagen, welche die
Wahrnehmung souveräner Gewalt der Gliedstaaten oder deren Verzicht darauf
berühren würde. Gegen das 19. Amendment wurde unter anderem vorgebracht,
einem Gliedstaat, der das Amendment nicht ratifiziert habe, würde das Recht auf
„equal suffrage" im Senat vorenthalten/'" Die Berücksichtigung „überpositiver"
Grundsätze, die auch den Verfassungsgesetzgeber binden würden, ist dem ame-
rikanischen Rechtsdenken fremd. Diesbezügliche Gedankengänge wurden vom
Supreme Court als unerheblich eingestuft, die beiden Amendments entgegen aller
Einwände letztlich aufrechterhalten. 6 7 "
Die Ratifikation 671 erfordert laut Art. V S. 1 der Verfassung bei beiden Initia-
tiv-Modellen eine Mehrheit von drei Vierteln der einzelstaatlichen Legislaturen.
Allerdings steht es im freien Ermessen des Kongresses, im Anschluß an die
Wahrnehmung seines Initiativrechts die Ratifizierung entweder durch die ge-
setzgebenden Körperschaften der Staaten oder durch speziell von den Staaten
einzuberufende Verfassungskonvente vorzuschreiben. 672
668
Vgl. National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920).
669
Vgl. Leser v. Garnett. 258 U. S. 130 (1922).
670
Vgl. National Prohibition Cases und Leser v. Garnett, ebenda
61
Zur Ratifikation der G r ü n d u n g s v e r f a s s u n g und der Bill of Rights C.R.Smith. To
Form a More Perfect Union. T h e Ratification of the Constitution and the Bill of Rights.
1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993.
672
Die zweite Alternative wurde nur einmal, nämlich anlässlich des 21. A m e n d m e n t s
( A u f h e b e n der Prohibition) bemüht, da man sich hiervon eine raschere Umsetzung ver-
sprach.
671
In B l a c k ' s Law Dictionary wird „reasonable t i m e " definiert als „such length of
time as may fairly, properly, and reasonably be allowed or required, having regard to the
nature of the act or duty. or of the subject-matter. and to the attending circumstances",
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 237
jeweilige Amendment nach einer Ratifikationsfrist von sieben Jahren ungültig sein
sollte. In den früheren Vorschlägen war diesbezüglich nichts zu lesen; zwei „pro-
posals" aus dem Jahre 1789, die schließlich 18I0beziehungswei.se 1861 vorgelegt
wurden, gingen im Verfahren bereits an die Gliedstaaten, wurden jedoch nicht
ratifiziert. In seiner berühmten und heftig umstrittenen Entscheidung Coleman
v. Miller weigerte sich der Supreme Court darüber zu befinden, ob das den Staa-
ten 1924 vorgelegte „child labor amendment" 13 Jahre später ratifiziert werden
könnte. 67,1 Dies sei eine „political question" 6 7 5 , die der Kongress zu lösen habe,
wenn die erforderlichen Dreiviertel der Gliedstaaten dem Amendment-Vorschlag
zugestimmt hätten. Eine Fristsetzung seitens des Gerichtshofs komme daher nicht
in Betracht. 676
Bereits 1921 hatte der Supreme Court in Dillon v. Gloss das Recht des Kongres-
ses unterstrichen, zeitliche Begrenzungen für die einzelstaatlichen Ratifikationen
zu setzen. 677 Zudem deutete der Gerichtshof bereits an, dass deutlich zeitferne
„proposals" nicht länger einer Ratifikation zugänglich gemacht werden dürf-
ten. Obgleich der Supreme Court zugestand, der Wortlaut von Artikel V der
Bundesverfassung enthalte tatsächlich keinen Hinweis auf etwaige zeitliche Be-
schränkungen. so wies das Gericht doch nachdrücklich auf den Umstand hin, dass
ein funktionierender „amending process" als solcher das gewichtigste Argument
gegen eine grenzenlose Ausweitung des Ratifizierungsverfahrens liefere. 67 * Drei
logisch miteinander verknüpfte Gesichtspunkte sollten die Ansicht des Supreme
Court untermauern:
..First, proposal and ratification are not treated as unrelated acts but as succeeding steps
in a Single endeavor. the natural inference being that they are not to be widely separated
in time. Secondly. it is only when there is d e e m e d to be a necessity therefor that
a m e n d m e n t s are to be proposed. the reasonable implication being that when proposed
vgl. H.C.Black. B l a c k ' s Law Dictionary. 6 , h edition 1990. S. 1483 (vgl. auch die achte
Neuauflage von B.A. Garner (ed.). 2006). Den wahren Bezugspunkt dieser Definition hat
der S u p r e m e C o u r t in Twin Lick Oil Co. v.Marbury, 91 U . S . 5 8 7 . 591, 23 L . E d . 3 2 8
hergestellt, indem er feststellte: .Jiow long a .reasonable t i m e ' ought to be is not defined in
law, but is left to the discretion of the j u d g e s . "
674
Coleman v. Miller 307 U.S. 433 (1939).
675
Hierzu kursorisch unter B . I V . 2 . b ) c c ) ( 2 ) .
676
In Coleman v. Miller, e b e n d a , wurde auch der Frage nachgegangen, inwieweit ein
Staat, der bereits einmal einen Ergänzungsvorschlag abgelehnt hat, sich nachträglich anders
entscheiden und ihn doch annehmen kann. Der Supreme Court erklärte diese Konstellation
für zulässig mit der etwas seltsam a n m u t e n d e n Begründung, dass damit eine S t i m m e
mehr für das Z u s t a n d e k o m m e n der Dreiviertelmehrheit gegeben sei. Umgekehrt ist es
aber einem Staat, der ein ..proposal" bereits a n g e n o m m e n hat. nicht ermöglicht, diesen
wieder wirksam abzulehnen. Vgl. dazu auch kritisch K. Loewenstein. Verfassungsrecht und
Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 2 .
677
Dillon v. Gloss 256 U. S. 368 (1921).
678
Ebenda 374.
238 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Weiter führte das Gericht diese Lösung deshalb als die tragfähigste an, als sie
entgegen der anderen Ansicht nicht die Konsequenz jahrhundertelanger schwe-
bender „proposals" mit sich brächte. Vier Amendmentvorschläge, wozu die zwei
zu zählen wären, die im Jahre 1789 den Staaten zugeleitet wurden „are still pen-
ding and in a Situation where their ratification is some of the States many years
since by representatives of generations now largely forgotten may be effectively
supplemented in enough more States to make three-fourths by representatives of
the present or some future generation. To that view few would be able to subscribe,
and in our opinion it is quite untenable." 6 8 0
Was also dem Supreme Court 1921 ohne Gegenstimme untragbar („untenable")
erschien, erwies sich 1992 in Exekutive und Kongress als durchaus vertretbar.
Angesichts der Kampagne zum 27. Amendment zeigte sich auch, wie eng das
verfassungsrechtliche Instrument Verfassungsergänzung an die politische Wirk-
lichkeit gebunden ist. Die Korrelation zwischen Verfassungsrecht und Politik, die
die amerikanische Geschichte wechselvoll prägte, wird auch an diesem Beispiel
offenkundig. Inwieweit eim 27. Amendment noch von einer „reasonable time peri-
od" die Rede sein konnte, war heftig umstritten. 6 * 1 Das Office of Legal Counsel des
Justizdepartments legte damals dem Weißen Haus ein Memorandum vor, das die
wesentlichen Bezüge zur D/7/ö/i-Entscheidung des Supreme Courts herstellte. 682
Dabei wurden die drei oben genannten „considerations" des Gerichtshofs als nicht
überzeugend qualifiziert. So setze der Supreme Court zwar voraus, das Verfahren
müsse eher kurz denn ausgedehnt sein, da Vorschlag und Ratifikation als Schrit-
te in einem einzigen Verfahren zu sehen seien. Allerdings sage das Argument,
ein Amendment solle seine Notwendigkeit widerspiegeln gerade nichts über die
Länge des verfügbaren Zeitraums aus. Dies umso mehr als die Staaten, die erst
kürzlich ratifiziert hatten, offensichtlich von der Notwendigkeit des Amendments
ausgegangen wären. Auch deute der Umstand, dass ein Amendment das Resultat
679
Ebenda 374 f.
680
Ebenda.
f>sl
So schrieb beispielsweise LH. Tribe. T h e 27th A m e n d m e n t Joins the Constitution,
in: Wall Street Journal. 13. Mai 1992. S. A I 5 : ..Article V says an a m e n d m e n t .shall be valid
to all Intents and Purposes. as part of this Constitution' when .ratified' by three-fourths
of the states - not that it might face a veto for tardiness. Despite the Supreme C o u r t ' s
suggestion. no speedy ratification rule may be extracted f r o m Article V ' s text, strueture or
history."
682
Vgl. 16 Ops. of the O f f i c e of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 239
eines Konsenses sein sollte, nirgends auf eine Zeitgleichheit der Übereinstimmung
hin. 683 Schließlich wurde in besagtem Memorandum der Hinweis gewagt, die ein-
zig angebrachte Form der Auslegung von Art. V sei „ to provide a clear rule that is
capable of mechanical application, without any need to inquire into the timeliness
or substantive validity of the consensus achieved by means of the ratification
process. Accordingly, any interpretation that would introduce confusion must be
disfavored." 684 Dieser Ansicht ist unter Berufung auf eine enge Wortlautauslegung
der Verfassung grundsätzlich zuzustimmen. Artikel V enthält keinerlei Hinweis
auf etwaige Fristen, wohingegen die Verfassung an anderen Stellen sehr wohl
Fristsetzungen aufweist. 685
Die Verabschiedung des 27. Amendments wirft indessen die Frage auf, ob
einem Amendmentvorschlag eine „Ewigkeitsgarantie" innewohne. 686 Dies kann
jedoch höchstens für „proposals" gelten, die selbst nach vielen Jahren noch eine
tatsächliche Aktualität beinhalten. Freilich ist - mit Ausnahme von Regelungen,
die an eine Bedingung oder Frist gebundenen sind - den meisten Verfassungs-
vorschriften der Wille der jeweiligen „Verfassungsväter" zugrunde zu legen, die
Inhalte mögen auf Dauer Geltungskraft besitzen. Die Bemühungen um Flexibi-
lität im Wortlaut unterstreichen diese Bemühungen. Allerdings zeigt eben auch
gerade die amerikanische Bundesverfassung, dass selbst unbedingte Vorschriften
Ergänzungen und Veränderungen erfahren mussten. 687
683
Ebenda. S. 111 f.
684
Ebenda. S. 113.
685
Vgl. etwa Art. I §7 par. 2; Art. II § I par. 3 („immediately"); Art. II § 2 par. 3.
6S6 Ygl. dazu Congressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations
of Cases Decided by the S u p r e m e Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided
to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 S u p p l e m e n t : Cases Decided to
June 26. 1998. Senate D o c u m e n t No. 1 0 6 - 8 . S . 9 0 4 .
6S7
Es würde auch zu weit führen, das Z u s t a n d e k o m m e n des 27. A m e n d m e n t gleichzeitig
einen Präzedenzfall (und als solcher wird es in den unterschiedlichsten Z u s a m m e n h ä n g e n
gerne bezeichnet) für die etwaige Unwirksamkeit vom Kongress gesetzter Umsetzungsfris-
ten zu nennen - sei es mittels des Textes selbst o d e r a u f g r u n d der den Vorschlag begleitenden
Resolution. Bereits die in Artikel V der Verfassung vorgesehene hervorgehobene Stellung
des Kongresses während des A m e n d m e n t - V e r f a h r e n s legt eine solche Sichtweise nahe.
Die Problematik, ob nun der Kongress eine bereits gesetzte Ratifikationsfrist ohne Hinzu-
ziehung der Staaten, die bereits ratifiziert haben, verlängern darf, verwickelte schließlich
angesichts des vorgeschlagenen ..Equal Rights A m e n d m e n t " sowohl Kongress als auch
die Staaten und Gerichte in eine anhaltende Diskussion. B e f ü r w o r t e r und G e g n e r dieser
ausschießlichen B e f u g n i s des Kongresses zur Fristsetzung und etwaigen -Verlängerung
bemühten mit unterschiedlicher Stoßrichtung jeweils die ..political question doctrine", um
ihren Standpunkt zu untermauern, vgl. nur: Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hea-
rings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th C o n g r e s s , 2d
sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary
Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress. l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) .
240 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Will man sich einer Lösung dieses Problems annähern, so gilt es zunächst
festzustellen, dass der Kongress im Gegensatz zu den amerikanischen Gerichten
688
307 U.S. 4 3 3 . 4 4 8 . (1939): „Thus, the political departments of the Government dealt
with the effect of previous rejection and of attempted withdrawal and determined that both
were ineffectual in the presence of an actual ratification."
689
Nach den Widerrufen der Ratifikation des 14. A m e n d m e n t s seitens der Staaten Ohio
und N e w Jersey und insbesondere nach Ratifikation - durch neu eingesetzte Regierun-
gen - dreier Staaten (Georgia. North Carolina. South Carolina), die im Vorfeld bereits
die Ratifikation versagt hatten, entbrannte ein Streit sowohl über die Wirksamkeit der
W i d e r r u f e als auch der Gültigkeit einer Ratifikation nach bereits erfolgter Zurückweisung.
Der Kongress selbst stellte schließlich die Wirksamkeit der Ratifikation fest, indem er die
W i d e r r u f e O h i o s und New Jerseys schlicht überging. Erneut debattiert wurden diese Fra-
gen im Kontext des bereits genannten, vorgeschlagenen „Equal Rights A m e n d m e n t " , siehe
Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee
on the Constitution. 95th Congress, 2d sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension.
Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights.
95th Congress, l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Allerdings konnte angesichts des gescheiterten
..amendment-proposal" keine Klärung der Angelegenheit erzielt werden, vgl. dazu insge-
samt ausführlich Congtressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations
of Cases Decided by the S u p r e m e Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided
to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement: Cases Decided to
June 26. 1998. Senate Document No. 1 0 6 - 8 , S. 905. Siehe auch E.S. Corwin!M. L Ramsey,
T h e Constitutional Law of Constitutional A m e n d m e n t , in: 27 Notre D a m e Lawyer (1951),
S. 185 ff.. 201 ff.
690
Vgl. 16 Ops. of the O f f i c e of Legal Counsel (1992), S. 102 ff.. 125.
691
Ebenda. S. 121 ff. mit weiteren A r g u m e n t e n .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 241
nicht unter dem Diktat des Prinzips der „stare decisis" 692 handeln muss. Entschei-
dungen des Kongresses binden also keineswegs spätere Zusammensetzungen der
Kammern. Gleichwohl ist auch der Kongress aufgerufen, gewisse Grundregeln im
Umgang mit verfassungsrechtlichen Problemen einzuhalten. Die Beantwortung
von Fragen, die letztlich einer Verfassungsinterpretation bedürfen, aber gleichzei-
tig „political questions" darstellen, obliegt grundsätzlich zunächst den „politischen
Gewalten" Legislative und Exekutive. Allerdings werden beide per Eid an eine Ver-
fassung gebunden 6 9 3 , welche naturgemäß nicht immer die Klärung eines Problems
bereits inhaltlich liefern kann. Wenn aber die Verfassung die Entscheidung in einer
Sache etwa dem Kongress auferlegt und keinerlei Regelungen über das Zustande-
kommen dieser Entscheidungen zu erkennen gibt, so wird man annehmen dürfen,
dass der Kongress die Freiheit besitzt, autark zu beschließen und im Ergebnis
die Maßnahme „politisch" zu nennen, was wiederum die Einflussmöglichkeiten
der Gerichte beschneidet. 6 9 4 Auch wenn die Entscheidungen Dillon v. Gloss™5
und Coleman v. Miller696 nicht als Präzedenzfälle in dieser Gegebenheit erachtet
werden können, da ihnen ein anderer Sachverhalt zugrundelag. so lässt sich doch
auf einige grundsätzliche Erwägungen des Supreme Courts, beziehungsweise
einzelner Richter in Sondervoten zurückgreifen.
692
Eingehender zu diesem Prinzip aus der deutschsprachigen Lit. mit zahlreichen Nach-
weisen M. Leder. Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998
sowie G. Seyfarth. Die Ä n d e r u n g der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht,
1998. insb. Teil I. Siehe bereits H.A. Oliphanr, A Return to Stare Decisis. in: American Bar
Ass. Journal 1928, S . 7 1 ff.; R. Laim. Stare Decisis. T h e Fundamentals and the Significance
of Anglo-Saxon Case Law. 1947.
693
Siehe Artikel VI § 3 der Bundesverfassung.
694
Ähnlich Chief Justice Hughes in Coleman v. Miller, 307 U.S. 433, 4 5 0 ff. (1939),
der „no basis in either Constitution or Statute" fand, der Gerichtsbarkeit entsprechende
Eingriffsbefugnisse zuzusprechen. „Article V. speaking solely of ratification. contains no
Provision as to rejection." Hinsichtlich einer etwaigen Fristsetzungskompetenz des Supreme
Courts befand Hughes: „Where are to be found the criteria for such a judicial determination?
None are to be found in Constitution or Statute", vgl. ebenda 4 5 3 f. Siehe insgesamt zur
Fragestellung, inwieweit es sich hierbei um eine „political question" handelt L Henkin, Is
There a .Political Q u e s t i o n ' Doctrine?, in: 85 Yale L.J. (1976), S. 597 ff.
695
256 U.S. 368 (1921).
696
307 U.S. 4 3 3 (1939).
242 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
of the people's will" untergraben. Eine solche Sichtweise würde dem Kongress
gerade die „Handlungshoheit" hinsichtlich Erfolg und Scheitern einer Ratifikation
erhalten. 6 '' 7 Überdies unterstrich der Supreme Court in derselben Entscheidung,
Artikel V überlasse dem Kongress die Autorität „todeal with subsidiary matters of
detail as the public interest and changing conditions may require." 698 In Coleman
v. Miller vertiefte Chief Justice Hughes den Gedanken, indem er diese „matters of
detail" ausdrücklich dem Kompetenzbereich des Kongresses zuordnete und den
Gerichten diesbezüglich jegliche Zuständigkeit absprach. 6 9 9
Ferner lässt Artikel V. dessen Wortlaut lediglich die „Ratifikation" und dies-
bezüglich keine weitergehenden Optionen nennt, darauf schließen, dass ein Staat
nach dem Akt der Ratifikation keine weitere rechts wirksame Beurteilung mit der
Folge der Rücknahme der Ratifikation des Amendments vornehmen kann. Das
gelegentlich vorgetragene Argument, bereits Madison habe darauf hingewiesen,
ein Gliedstaat könne nicht bedingt ratifizieren, denn eine Annahme habe „in toto
and for ever" zu erfolgen 7 0 0 lässt sich dagegen kaum auf die Frage einer späteren
Rücknahme übertragen.
697
Nach der G e g e n a u f f a s s u n g musste diese Kompetenz auf einen „executive official"
(heute den sog. ..Archivist") übertragen werden, der bei Fragen etwa nach der Gültigkeit
eines W i d e r r u f s der Ratifikation w i e d e r u m das Justizdepartment konsultieren könnte.
Diese Konstruktion ist jedoch weder mit den vorgesehenen ministeriellen Funktionen des
..Archivist" zu vereinen noch leistet sie einen Beitrag zur Lösung einer ..political question",
über die letztlich erneut nur der Supreme Court entscheiden könnte, nachdem der Kongress
bei diesem Ansatz keinerlei Entscheidungsautorität besäße. Vgl. auch 16 Ops. of the Office
of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.. 116 ff.
698
Ebenda 375 f.
699
Coleman v. Miller 307 U.S. 433. 4 5 2 ff. (1939). Differenzierend in diesem Kontext
das Sondervotum von Justice Black, ebenda 4 5 6 . 4 5 8 . der sowohl den Kongress als auch
den Gerichtshof in gewissen Fragestellungen im Z u s a m m e n h a n g von Artikel V lur berufen
hält. Z u d e m forderte Black die Formulierung „reasonable t i m e " aus Dillon v. Gloss zu
verwerfen.
Hierauf wird u. a. in Congressional Research Center, Analysis and Interpretation.
Annotations of C a s e s Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition:
Cases Decided to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement:
Cases Decided to June 26, 1998. Senate D o c u m e n t No. 1 0 6 - 8 . S. 908, Bezug g e n o m m e n .
Im Wortlaut befand J. Madison. als in N e w York die Ratifizierung der Verfassung unter
der Bedingung einer Berücksichtigung gewisser A m e n d m e n t s diskutiert wurde: „ T h e
Constitution requires an adoption in toto and for ever. It has been so adopted by the other
States. An adoption for a limited time would be as defective as an adoption of some of the
articles only. In short any condition whatever must viciate the ratification", zitiert nach:
H. Syrett (Hrsg.). T h e Papers of Alexander Hamilton. Bd. 5. 1962, S. 184.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 243
701
Vgl. Act of April 20. 1818. See. 2, 3 Stat. 4 3 9 sowie Leser v. Garnett, 258 U.S. 130.
137(1922).
702
Siehe 65 Stat. 7 1 0 - 7 1 1 . See. 2: Reorg. Plan No. 20 of 1950. See. l ( c ) . 6 4 S t a t . 1272.
703
National Archives and Records Administration Act of 1984, 98 Stat. 2291, 1
U . S . C . See. 106b.
704
Dillon v. Gloss, 256 U.S. 368. 376 (1921).
705
User v. Garnett. 258 U.S. 130 (1922).
706
Vgl. Coleman v. Miller, 307 U. S. 4 3 3 (1939). Streitpunkt war die erfolgte Bestätigung
einer Ratifikationsresolution des Staates Kansas, die sieh aus dreierlei Gründen Angriffen
ausgesetzt sah: zum einen sei das A m e n d m e n t („child labor a m e n d m e n t " ) bereits ein-
mal zurückgewiesen worden: darüberhinaus sei für die Ratifikation ein „ u n r e a s o n a b l e "
Zeitraum, nämlich dreizehn Jahre verstrichen: zum dritten seien die Kompetenzen des
Vizegouverneurs im Ratifikationsverfahren überschritten worden, indem seine S t i m m e
als die entscheidende zugunsten der Ratifikation gewertet w u r d e . Ausführlich zu dieser
Entscheidung statt vieler H.H. Clark. C o l e m a n v. Miller: A m a j o r reduetion of the Juris-
diction of the Supreme C o u r t . 1942: R.F. Fairchild Cushman/B.S. Koukoutchos, C a s e s in
Constitutional Law. 9. Aufi. 1999. Ch. 11. Siehe aber auch bereits Fairchild v. Hughes, 258
U.S. 126 (1922), als der S u p r e m e C o u r t konstatierte, eine private Person könne nicht vor
244 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
unterstützt wurde. D i e Mehrheit urteilte, dass die Kläger - Mitglieder des Senats
von K a n s a s - j e d e n f a l l s ein ausreichendes Interesse geltend m a c h e n konnten, um
die Zuständigkeit der Bundesgerichte zu b e g r ü n d e n . Materiell ging es freilich wie
o b e n bereits a n g e d e u t e t stets um d i e Frage, i n w i e w e i t es sich bei den strittigen
P u n k t e n u m ..political q u e s t i o n s " h a n d e l e u n d , w e n n d i e s z u b e f ü r w o r t e n sei, o b
diese überhaupt G e g e n s t a n d richterlicher Kontrolle sein dürften.707 Letzten E n d e s
s t e h t Coleman v. Miller f ü r d i e E r k e n n t n i s , d a s s e i n i g e E n t s c h e i d u n g e n h i n s i c h t -
lich „ p r o p o s a l " u n d R a t i f i k a t i o n v o n A m e n d m e n t s a u s s c h l i e ß l i c h d e m K o n g r e s s
v o r b e h a l t e n s i n d - sei e s a n g e s i c h t s d e s k l a r e n W o r t l a u t s d e r w e s e n t l i c h e n B e s t i m -
m u n g ( A r t . V ) o d e r sei e s a u f g r u n d f e h l e n d e r E n t s c h e i d u n g s k r i t e r i e n s e i t e n s d e r
Gerichte, um abschließend und angemessen über A m e n d m e n t s zu befinden. Der
S u p r e m e C o u r t a k z e n t u i e r t e d i e s e n G e d a n k e n i n Baker v . Carrim, i n d e m e r s i c h
e r n e u t - a u c h u n t e r B e z u g n a h m e a u f Coleman v. Miller - d e r . . p o l i t i c a l q u e s t i o n
doctrine" annäherte:
den Bundesgerichten eine indirekte Entscheidung über die Gültigkeit und A n n a h m e eines
A m e n d m e n t s erstreiten.
707
Dazu neben den Sondervoten in Coleman v. Miller der bereits oben im Z u s a m m e n -
hang mit d e m Steit um Einzelfragen des Konvents erwähnte G. Rees. T h r o w i n g Away
the Key: T h e Unconstitutionality of the Equal Rights A m e n d m e n t Extension, in: 58 Texas
L. Rev." (1980). S. 8 7 5 ff.. 886 ff.: ders. C o m m e n t . Rescinding Ratification of Proposed Con-
stitutional A m e n d m e n t s . A Question for the Court, in: 37 La. L. Rev. (1977). S. 896ff. der
eine generelle Befugnis des Supreme Court zum J u d i c i a l review" befürwortet. Im Ergebnis
ähnlich, j e d o c h mit klaren Einschränkungen auf lediglich „formale Fragen" W. Dellinger.
T h e Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the A m e n d m e n t Process. in: 97
Harvard L.Rev. (1983), S. 3 8 6 f f . . 4 1 4 f f . Siehe weiterhin LH. Tribe. A Constitution We
Are A m e n d i n g : In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983),
S. 4 3 3 ff., 4 3 5 ff. Eine Vielzahl von Argumenten zu dieser T h e m a t i k findet sich auch in
den ..Hearings" zur Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Ju-
diciary S u b c o m m i t t e e on the Constitution. 95th Congress. 2d sess. (1978); Equal Rights
A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and
Constitutional Rights, 95th Congress. l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Z u d e m befassten sich zwei
gliedstaatliche Gerichte mit der Problematik, um zu d e m Schluß einer zumindest einge-
schränkten Justiziabilität zu k o m m e n . Dyerv. Blair. 390 F. Supp. 1291 ( D . C . N . D . III., 1975);
Idaho v. Freeman. 529 F. Supp. 1107 ( D . C . D . Idaho, 1981). aufgehoben und „remanded to
d i s m i s s " durch den Supreme Court. 4 5 9 U.S. 809 (1982).
708
Baker v. Carr. 369 U. S. 186. 2 1 4 (1962).
709
Ebenda.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 245
7I
" E b e n d a 2 1 7 : „a textually d e m o n s t r a b l e constitutional c o m m i t m e n t of the issue to
a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable
Standards for resolving it."
7.1
Siehe Powell v.McCormack, 395 U.S. 486 (1969); O'Brien v. Brown, 409 U.S. I
(1972); Gilligan v. Morgan,413 U.S. 1 (1973). Vgl. aber auch einschränkend Uhler v. AFL-
CIO. 468 U. S. 1310(1984) und das Sondervotum von Justice Powell in Goldwater v. Carter,
444 U.S. 996, 1001 (1979).
7.2
Siehe beispielsweise im Kontext des Bürgerkrieges die ..Amendments Proposed in
Congress by Senator John J. Crittenden. D e c e m b c r 18. 1860" bzw. ..Amendments Proposed
by the Peace C o n f e r e n c e . February 8 - 2 7 . 1861" (im Wortlaut abgedruckt bei PL Ford,
T h e Federalist. A c o m m e n t a r y on the Constitution of the United States by Alexander
Hamilton. J a m e s M a d i s o n and John Jay edited with notes, illustrative d o c u m e n t s and a
copious index by Paul Leicester Ford. 1898).
713
Die Ratifizierung des zunächst letzten, bereits geschilderten 27. A m e n d m e n t über-
raschte selbst Kenner des amerikanischen Verfassungslebens: das über 200-jährige Verfah-
ren trug unterdessen nicht wesentlich zur Prägung der amerikanischen Verfassungskultur
bei, vgl. dazu bereits vor der erfolgten Ratifikation S. Slavin, (ed.), T h e Equal Rights
A m e n d m e n t . T h e Politics and Process of Ratification of the 27th A m e n d m e n t to the
U.S. Constitution. Vol. 2. 1982.
714
Da diese sechs ..proposals" bislang in der deutschsprachigen Literatur nicht zu
finden sind (vgl. aber G.Anastaplo, T h e Constitution of 1787. 1989. S . 2 9 8 f . ) . werden
sie im Originaltext im A n h a n g abgebildet. Zu d e m prominenten, gescheiterten ..Equal
Rights A m e n d m e n t " vgl. M. Berry, W h y E R A Failed: Politics. W o m e n ' s Rights, and the
A m e n d i n g Process of the Constitution. 1986: J. Manbridge. Why we lost the E R A . 1986.
246 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
fiziert und gingen als die ersten zehn Amendments unter dem Begriff „Bill of
Rights" in die Bundesverfassung ein. Der zunächst vorgesehene Artikel II mündete
schließlich im schon mehrfach genannten 27. Amendment (1992).
7,5
So bereits T. Jefferson im Briefwechsel mit J. Madison, vgl. P.L. Ford (ed.), The
Works of T h o m a s Jefferson. Vol. 6. 1904 - 5 , S. 3 ff.
716
Marshall sah sogar breit angelegte Konstruktionen durch die Gerichtsbarkeit als
erstrebenswerte Alternative zu konstanten Textänderungen der Verfassung oder zu späteren
Verfassungskonventen, vgl. dazu mit Textbeispielen N. Cahn. An A m e r i c a n Contribution.
S u p r e m e Court and Supreme Law. 1954, S . 2 5 . Neben den A n m e r k u n g e n Marshalls zur
Rechtfertigung einer Stärkung der Gerichtsbarkeit in der bahnbrechenden Entscheidung
Marbttry v. Madison, 5 U.S. 137, 176 (1803) ist seine Charakterisierung von Artikel V der
Verfassung als „unwieldly and cumberous m a c h i n e r y " in Barron v. Baltimore, 7. Pet. 242.
150 (1833) bemerkenswert.
71
Siehe insbesondere W. Wilson, Congressional Government, in: A.S. Link (ed.), T h e
Papers of Woodrow Wilson. Vol. 4. 1968. S. 134 f., wo er die Rolle des Supreme Court für
eine Fortentwicklung der Verfassung prägnant hervorhebt.
718
C. Tiedeman. T h e Unwritten Constitution of the United States. 1890. S . 4 3 : ,,|the]
flesh and blood of the Constitution [are found] in the decisions of the courts and acts of
legislature. which are published and enacted in the enforcement of the w ritten Constitution."
Das Werk kann als ..Klassiker" amerikanischer Verfassungsliteratur bezeichnet werden.
19
Fundierte Einblicke in das Wechselspiel zwischen Artikel V und der Rolle der
Gerichtsbarkeit gibt B. Acker man. T h e Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93
Yale L.J. (1984)". S. 1013 ff.: ders.. Transformative Appointments. in: 101 Harvard L. Rev.
(1988), S. 1164 ff.
720
So beispielsweise in den Schriften von S.G. Fisher, der in ders.. T h e Trial of the
Constitution. 1972 (Neudruck der Ausgabe von 1862), S. 55 die berühmt gewordenen
rhetorischen Fragen stellte: „Why should they not be m a d e by Congress. if d c m a n d e d by
necessity, as they would be by an English Parliament? Should they be approved and ratified
by the people, what is the difference, whether their consent be expressed by a Legislature
or by a Convention which they have elected. or before or after the alteration be m a d e it
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 247
tieren - wie von 1804 bis 1865 und von 1870 bis 1913 -, während derer keine
Amendments in die Verfassung Einzug hielten. Wohingegen in Zeiten höchster
Amendment-Kreativität 7 2 1 diesbezüglich höchstens gedämpfte Kassandrarufe zu
vernehmen waren. 722
would still be the wishes of the same people carried into effect. If the people should be
dissatisfied, they can say so through another Congress. If they continue to be satisfied
after the alteration is tried, it would be thus established as a precedent to be engrafted on
the Constitution, as is the case in England." Weiter bekräftigte Fisher, „ | t | h e Constitution
belongs to the people of 1862, not to those of 1787", woraus er schließlich folgert: „|i]t
must and will be modified to suit the wishes of the former. by their representatives in
Congress, just as the English Constitution has been modified by Parliament". vgl. ebenda.
S . 9 6 f . Ähnlich später H. Croly, Progressive Dcmocracy. 1909. S. 130. der Artikel V als
..the most formidable legal obstacle in the path of progressive democratic fulfilment" zu
portraitieren wußte.
721
Eine Darstellung auffälliger ..amendment Clusters" bietet A. Grimes, D e m o c r a c y
and the A m e n d m e n t s to the Constitution. 1978. S. 157 f.
722
Bei J.R. Vile. A m e r i c a n Views of the Constitutional A m e n d i n g Process: An Intel-
lectual History of Article V, in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . . 67 f. findet sich eine historische
Zusammenstellung aller Bedenkenträger. die mit unterschiedlichen Argumenten Artikel V
der ..Büchse der P a n d o r a " gleichstellen.
723
Grundsätzlich zu ..Zeit und Verfassung": P. Hüberle, Zeit und Verfassung, in: Z I P 21
(1974), S. 111 ff., wiederabgedruckt in: R. D r e i e r / F . S c h w e g m a n n (Hrsg.). Probleme der
Verfassungsinterpretation. 1976. S. 293 ff. Siehe auch ders., Zeit und Verfassungskultur,
in: A. P e i s l / A . Möhler (Hrsg.), Die Zeit. 1983. S. 289 ff.
724
Vgl. erneut die Entscheidungen Dillon v.Gloss, 256 U . S . 3 6 8 , 376 (1921) und
Coleman v. Miller, 307 U.S. 433 (1939).
725
Wobei gelegentlich selbst eine neue Verfassung vorgeschlagen wurde, siehe nur den
Ansatz von R. G. Tugwell, T h e Emerging Constitution. 1974.
248 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
wollen. 726 Letztlich ist es aber auch gerade den „stabilen" Gegensätzlichkeiten in-
nerhalb der endlosen Diskussion zuzuschreiben, dass neben den bereits genannten
Gründen die Urfassung der amerikanischen Verfassung vergleichsweise unberührt
blieb. Die amerikanische Bundesverfassung entspringt einer emotional aufgela-
den Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts und sie lebt in der Aufrechterhaltung
emotionaler Bindungen zu ihr fort. Die genannten Konflikte allein im Amendment-
Verfahren leisten hierzu durch aus ihren Beitrag.
72l>
Vgl. dazu auch kritisch m . w . N J.R. Vile. American Views of the Constitutional
A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . ,
61 ff.
27
Einen Einblick in den A m e n d m c n t - P r o z e s s und dessen Konnexität zur amerikani-
schen politischen Realität gewährt R. Bernstein. A m e n d i n g A m e r i c a . 1993.
28
Es ist d a h e r durchaus schlüssig, dass die unter bundesstaatlicher Sichtweise beson-
ders wichtigen A m e n d m e n t s allesamt noch vor den sogenannten „New D e a l " - R e f o r m e n
a n g e n o m m e n wurden: so die „Bill of Rights", die Abschaffung der Sklaverei (13. Amend-
ment), das Recht auf „ d u e process" (14. A m e n d m e n t ) , die E i n f ü h r u n g einer Bundesein-
kommenssteuer (16. A m e n d m e n t ) und die Volkswahl der Senatoren (17. A m e n d m e n t ) ,
vgl. auch mit Betonung der gliedstaatlichen Aspekte J. Annaheim. Die Gliedstaaten im
amerikanischen Bundesstaat. 1992. S . 2 2 0 mit F n . 4 .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 249
ein Blick auf die „gebundene Verfassunggebung" in Europa auf, der sowohl die
Verträge als auch den Verfassungsvertrag und die jeweiligen Verfahrensschritte
umfassen soll.
Von Interesse ist zunächst die generelle Frage nach den Voraussetzungen der
Verfassunggebung in der Supranationalen Union. Dabei erscheint die Unterschei-
dung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt
in der Supranationalen Union nicht unproblematisch, insbesondere da ein völker-
rechtlicher Vertrag üblicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten,
auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen
Einschränkungen unterliegt. Jedoch erlaubt es das Recht der völkerrechtlichen
Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 4 0 1
WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten
oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist
die Unterscheidung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen; die vertragsändernde
ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt.
7:9
Vgl. auch I. Pernice. Grundlagenpapier. Die Europäische Verfassung, 16. Sinclair-
Haus-Gespräch. 1 1 . / 1 2 . Mai 2001. Wenn beispielsweise in Österreich der Beitritt zur Eu-
ropäischen Union als G e s a m t ä n d e r u n g der Bundesverfassung behandelt wurde (vgl. dazu
T. Oldinger. Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union. 1999). ver-
deutlicht dies, in welchem M a ß e allein die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf
nationaler Ebene materielle Verfassungsänderungen mit sich bringt, ohne dass dies im
Verfassungstext zum Ausdruck k o m m e n muss.
250 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, sei nach dem
Völkerrecht den Staaten vorbehalten. 7 '" Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist
die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluss als die Maßnahme,
welche die Verfassungsnormen entstehen lässt. ausschließlich ihnen zuzurechnen.
Demzufolge kann es eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i. S. d. demokra-
tischen Verfassungstheorie in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nach
dieser Darstellung nicht geben.
Beides würde freilich eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe legen,
bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluss durch begleitende Legitimitäts- und
Integrationskraft vermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird oder (aus heutiger
Sicht mit Blick auf den zunächst gescheiterten Verfassungsvertrag) worden wä-
re. Einen dieser Schritte könnte neben einem öffentlich hinreichend begleiteten
Konvent ein „duales Plebiszit" darstellen, in dem die Bürger gleichzeitig als Uni-
onsbürger über die Billigung der Unionsverfassung und als Staatsbürger über die
Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden. 731
Sie würden dabei als Angehörige zweier „Völker" im demokratietheoretischen
Sinne auftreten: des nationalen Staatsvolkes und eines „Unionsvolkes", das zwar
kein Staatsvolk ist, aber nach der hier vertretenen Auffassung als allgemeine po-
litische Gemeinschaft von Menschen wenigstens für seinen Herrschaftsverband
demokratische Legitimation vermitteln kann.
730
So T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. Das europäische Organi-
sationsmodell einer prozesshaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und
staatstheoretischen Implikationen. 2001, S. 4 3 2 ff.
731
T. Schmitz (2001), S. 4 4 0 ff. spricht mit ähnlicher Ausrichtung von einem ..Doppel-
r e f e r e n d u m " und schlägt weitere ..Schritte" w i e etwa eine ..vorbereitende Verfassungs-
v e r s a m m l u n g " deren notwendige Unterstützung „durch eine breite öffentliche Diskussion
durch flankierende M a ß n a h m e n zur Förderung einer unionsweiten öffentlichen Verfas-
s u n g s d i s k u s s i o n " gesichert würde. Solche Schritte ließen es z u d e m „sinnvoll erscheinen,
zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung zu schließen".
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 251
Fraglich war freilich, ob das Verfahren der Vertragsänderung für eine solche
öffentliche Debatte Raum lässt.
Die Abänderbarkeit der derzeitigen europäischen Verträge, die den Kern des
europäischen Primärrechts ausmachen 7 3 3 , durch explizite Vertragsänderung ist
in Art. 48 EUV geregelt. Danach kann die Regierung jedes Mitgliedstaates oder
732
So W. Dix. Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?,
in: Integration 1/2001. S. 34 ff.
733 Nicht weiter thematisiert wird im Folgenden die Kategorie des ungeschriebenen
Primärrechts.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 253
die Kommission dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die
Union beruht, vorlegen. Nach einem unionsinternen Verfahren, in das sowohl das
Europäische Parlament, die Kommission als auch der Rat einbezogen sind, werden
die geplanten Änderungen auf einer vom Präsidenten des Rates einzuberufenden
Regierungskonferenz von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten
beraten und beschlossen. Sie bedürfen, um endgültig in Kraft zu treten, der (völ-
kerrechtlichen) Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen
verfassungsrechtlichen Vorschriften. In Deutschland bemisst sich der Ratifizie-
rungsprozess nach Art. 23 GG.
Dieses Verfahren für die Weiterentwicklung der Union, die zunehmend supra-
nationale Hoheitsrechte der Gesetzgebung ausübt und nicht nur völkerrechtliche
Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten begründet, erwies sich als kaum ausrei-
chend. Vielmehr erforderte der Entwicklungsstand der Union neue Verfahren, die
eine stärkere Einbeziehung der Parlamente und der Öffentlichkeit schon während
Verhandlungen ermöglichen. Bereits den Regierungskonferenzen von Maastricht
und Amsterdam wurde der Vorwurf gemacht, ihre Ergebnisse seien ohne breite
politische Debatte und über die Köpfe der Parlamente und der Bevölkerung hinweg
zustande gekommen.
Änderungen des Primär rechts können jedoch auch außerhalb des Verfahrens
nach Art. 48 EUV erfolgen. Hier ist zunächst das in Art. 49 EUV geregelte Verfah-
ren des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu nennen, welches in Gestalt der jeweiligen
Beitrittsverträge neues bzw. geändertes Primärrecht zum Gegenstand hat. Auch
hier greift jedoch letztendlich der Ratifizierungsvorbehalt aller Mitgliedstaaten
nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften.
734
Dazu ausführlich H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), E U - K o m m e n t a r . 2000.
Art. 4 8 . Rn. 11, mit umfangreichen Nachweisen; vgl. auch eine Ausarbeitung der Wis-
senschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 24. 1 0 . 2 0 0 3 ) im Auftrag des
Verf.
254 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
735
Beispielhaft seien an dieser Stelle die folgenden Anwendungsgebiete dieses Verfah-
rens genannt: Art. 17 A b s . 1 E U V (Festlegung einer g e m e i n s a m e n Verteidigungspolitik):
Art. 42 E U V (Überführung von Teilen der bisherigen dritten Säule des E U V in den EG-Ver-
trag): Art. 190 Abs. 4 E G V (einheitliches Wahlverfahren f ü r das Europäische Parlament);
Art. 22 EGV (Begründung neuer Rechte im Rahmen der Unionsbürgerschaft).
736
H i e r / u zählen etwa die Bereiche: Art. 187 (Verfahren der Assoziierung); Art. 2 1 3
Abs. 1 (Änderung der Zahl der Kommissionsmitglieder); Art. 2 4 5 Abs. 2 ( Ä n d e r u n g der
Satzung des E u G H ) ; Art. 7 Abs. 3 E U V (Aussetzung des Stimmrechts bestimmter Mitglied-
Staaten); Art. 67 Abs. 2 (Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im
Bereich Justiz und Inneres). Vgl. zu den umfangreichen weiteren Anwendungsgebieten
dieses Verfahrens nur die Auflistung bei H.-H. Herrnfeld (2000). Art. 4 8 . Rn. 12.
H.-J. Cremen in: C . C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r zu EU-Vertrag und
EG-Vertrag. 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. R n . 4 , mit ausführlichen weiteren Nachweisen aus
dem Schrifttum.
738
In diesem Sinne m . w . N . C. Vedder/H.P. Folz, in: E. G r a b i t z / M . Hilf (Hrsg.), Das
Recht der Europäischen Union. Kommentar. 2 0 0 3 (Stand: 21. Erg.Lieferung), Art. 48.
Rn. 20. die diese Aussage auf eine angebliche völkerrechtliche Verpflichtung bzw. verfas-
sungsrechtliche Selbstbindung der Mitgliedstaaten stützen. Im Ergebnis ebenso, allerdings
mit abweichender B e g r ü n d u n g H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 8. der dies damit
begründet, dass die Strukturprinzipien als allen Mitgliedstaaten g e m e i n s a m e , ihrer Verfü-
gungsgewalt entzogene Grundsätze auch d e m Unionsvertrag bereits vorgegeben seien und
damit nicht erst durch diesen gewährt, sondern durch diesen lediglich anerkannt werden (in
diesem Sinne auch W. Meng, in: H. von der G r o e b e n / J . T h i e s i n g / C . D . Ehlermann (Hrsg.),
Kommentar zum E G V / E U V . 5. Aufl. 1999. Art. N. Rn. 59 0-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 255
739
E u G H . Rs. 4 3 / 7 5 . Slg. 1976. 4 5 5 . rn. 5 6 / 5 8 (Defrenne / Sabena); vgl. hierzu auch
H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48. Rn. 16.
740
Dazu ausführlich H.-J. Cremer, in: C. C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.). K o m m e n t a r zu
EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn 4 f. Anden; aber BVerfGE 68.
1 (82), das eine konkludente Vertragsänderung durch einen sonstigen Änderungsvertrag
für möglich hält. /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Aufl. 1994. Rn. 529 hält auch eine
nachträgliche Änderung durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht für denkbar.
741
In d i e s e m Sinne E u G H Rs. 6 8 / 8 6 . Slg. 1988. 855, Rn. 24 (Vereinigtes K ö n i g r e i c h /
Rat).
42
Diese völkerrechtlich wirksame Vorgehensweise kann aber zu e i n e m Konflikt mit
Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht führen. Vgl. zur hierzu geführten, wissenschaftlich kom-
plexen Debatte nur C. VedderfH.P. Folz, in: E . G r a b i t z / M . H i l f (Hrsg.). Das Recht der
Europäischen Union. Kommentar. 2 0 0 3 (Stand: 21. Erg.Lieferung). Art. 4 8 . R n . 4 6 f f . S o
auch etwa H.-J. Cremer, in: C. C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r zu EU-Vertrag
und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn. 5: differenzierend aber H.-H. Herrnfeld.
(2000). Art. 48. Rn. 16. d e r e i n e (unionsrechtliche) Bindung der Mitgliedstaaten annimmt,
das Verfahren des Art. 48 E U V zu respektieren. Die allgemeinen Regelungen des Völ-
kerrechts sollen d e m g e g e n ü b e r durch Art. 48 E U V verdrängt worden sein. Jedoch stehe
dieser unionsrechtlichen Selbstverpflichtung der .Mitgliedstaaten die in diesen verbliebene
völkerrechtliche Kompetenz gegenüber, sich durch eine gegenteilige Ü b e r e i n k u n f t von
dieser Selbstverpflichtung zu lösen.
256 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
dd) Verfassungsänderung n a c h d e m
Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren
Aber nur mit Hilfe einer klaren Trennung von fundamentalen und eher tech-
nischen Fragen der Verfassungsentwicklung kann europäische Verfassungskon-
tinuität mit dem lebendig sich weiterentwickelnden politischen Erfahrungs- und
Anforderungsprozess der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Nach
Art. IV-7 VerfV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) wird die Konventsme-
thode als Mechanismus häufiger Verfassungsänderungsdebatten eingeführt.
Bei technischen Änderungen kann der Rat mit einfacher Mehrheit beschließen,
den Konvent nicht einzuberufen, „wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs
der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist."
Die erste Stufe bilden nunmehr zwei „ordentliche" Verfahren zur Änderung des
Verfassungsvertrages gemäß Art. IV-443 VerfV. Dieses Verfahren beinhaltet zwei
Varianten, wobei in der ersten Variante „Konvent plus Regierungskonferenz" der
Präsident des Europäischen Rates einen Konvent einberufen muss, sollte der Eu-
ropäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission
mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschlie-
ßen. Dem Konvent ist es vorbehalten, die Änderungsentwürfe zu prüfen und im
„Konsensverfahren" eine Empfehlung für die nachfolgende Regierungskonferenz
abzugeben.
Auf der zweiten (übergeordneten) Stufe bestimmt Art. IV-444 VerfV die Re-
geln für ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren. Hierbei lassen sich zwei
„Reformfelder" ausmachen, um die Substanz des Verfassungsvertrages ohne not-
wendige Einberufung einer Regierungskonferenz oder eines Konvents zu ändern:
So kann der Europäische Rat zum einen in Bereichen, in denen der Rat nach den
Bestimmungen des Verfassungsvertrages einstimmig entscheiden muss, einstim-
mig eine Überführung in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit
beschließen. Und zum zweiten kann der Europäische Rat in den Bereichen, in
welchen er europäische Gesetze und Rahmengesetze nicht nach dem ordentlichen
Gesetzgebungs-, sondern nach „besonderen Gesetzgebungsverfahren" annimmt,
einstimmig beschließen, diese europäischen Gesetze oder Rahmengesetze in das
„ordentliche Gesetzgebungsverfahren" zu überführen.
7J3
Vgl. A. Maurer. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die neuen Handlungs-
ermächtigungen der Organe. SWP-Diskussionspapier, 2005.
258 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der Verfassungsvertrag sieht nunmehr auf einer dritten Stufe vor, dass gemäß
Art. IV-445 VerfV der Europäische Rat eine „Änderung aller oder eines Teils
der Bestimmungen von Teil III Titel III erlassen" kann. 745 Der entsprechende
Änderungsbeschluss des Europäischen Rates erfolgt einstimmig nach Anhörung
des Europäischen Parlaments und der Kommission. Die nationalen Parlamente
verfügen im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen nicht über ein Vetorecht.
Jedoch treten Vertragsänderungen erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im
Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Allerdings
beschränkt Art. IV-445 VerfV auch die Eingriffstiefe der jeweiligen Reformen,
weshalb die nach diesem Verfahren angenommenen Vertragsänderungen nicht
zu einer Ausdehnung der der Union übertragenen Zuständigkeiten führen dürfen.
Konsequenterweise ist hierzu letztlich wieder der Rückgriff auf das ordentliche
Vertragsänderungsverfahren vonnöten.
Die vierte Stufe beinhaltet gem. Art. 1-18 VerfV schließlich eine Bestätigung
der schon länger geltenden Flexibilitätsklausel zur einstimmigen Ergänzung be-
reits vertraglich sanktionierter Politiken. Sind im Verfassungsvertrag die zur
Erreichung eines bestimmten Ziels notwendigen Befugnisse nicht vorgesehen,
obgleich „ein tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Poli-
tikbereiche erforderlich" erscheint, dann kann der Rat einstimmig auf Vorschlag
der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Europäischen Parlaments
die geeigneten Maßnahmen erlassen. Eine Änderung des Verfassungsvertrags
gestattet Art. 1-18 VerfV hingegen nicht, sondern lediglich eine auf den Einzel-
fall begrenzte Präzisierung bzw. Befugniserweiterung der Union. Hieraus ergibt
sich die Voraussetzung, dass der Verfassungsvertrag ein entsprechend konkretes
Unionsziel bestimmt, das durch die spezifischen Kompetenznormen selbst nicht
744
Andererseits stellt die Passerelle als B e f u g n i s e r w e i t e r u n g des Europäischen Rates
einen Schritt dar. der die institutionelle Balance z w i s c h e n den Organen Parlament. Rat
und K o m m i s s i o n deutlich zugunsten des Rates bzw. des Europäischen Rates verändert.
In der Umsetzung von Art. IV-444 werden sich d a h e r wohl auch grundsätzlichere Fragen
der demokratischen Kontrolle des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden stellen,
vgl. auch A. Maurer (2005), S. 25.
745
Diese Formulierung bezieht alle internen Politiken der Union vom Binnenmarkt
über die Wirtschafts-, W ä h r u n g s - . Innen- und Justizpolitik bis hin zur Gesundheits- und
Bildungspolitik mit ein.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 259
gedeckt ist. Ausgenommen sind hiervon jedoch explizit Maßnahmen, die auf ei-
ne Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten
abzielen würden, obwohl die betroffene Vertragsbestimmung jedwede Harmonisie-
rung ausschließt. Demzufolge sind flexible Vertragsergänzungen ausgeschlossen,
die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der
Diskriminierungsbekämpfung, der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik, der
Gesundheitspolitik, der Forschungspolitik, der Kultur-, Bildung-, Ausbildungs-,
Jugend- und Sportpolitik, der Tourismuspolitik, sowie im Katastrophenschutz und
der Zusammenarbeit der Verwaltungen hinauslaufen würden. 7 4 6
Zuletzt benennt und etabliert der Verfassungsvertrag auf einer fünften Stufe so
genannte „Notbremsen" für die sekundärrechtliche Weiterentwicklung bestimm-
ter Politikfelder. So wird etwa im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs
für Maßnahmen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer festgehalten, dass ein
Mitgliedstaat im laufenden, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorbe-
halt geltend machen kann, wenn und weil der geplante Rechtsstaat „die Kosten
oder die Finanzstruktur seines sozialen Systems verletzen oder dessen finanzielles
Gleichgewicht beeinträchtigen" könnte (Art. III-136.2 VerfV). Auch im weiten
Bereich der Justiz- und Innenpolitik eröffnete erst eine solche, vom irischen Rats-
vorsitzenden vorgeschlagene Option den Weg für eine Konsenslinie zwischen
jenen Regierungen, die weitere Integrationsschritte zugunsten der strafrechtli-
chen Kooperation forderten, und denjenigen (vor allem Großbritannien), die sich
in Zurückhaltung übten. Im Kontext der sozialen Sicherheitspolitiken wird das
Entscheidungsverfahren nach einem Staatsvorbehalt zunächst angehalten. Der
Europäische Rat muss sich mit der Frage befassen und kann den geplanten Rechts-
akt entweder an den Rat zur Weiterbehandlung zurück überweisen oder aber
die Kommission um die Vorlage eines neuen Vorschlags ersuchen. Jeder Staat,
der ein europäisches Rahmengesetz als mit den grundlegenden Prinzipien seiner
Strafrechtsordnung für unvereinbar hält, verfügt im Bereich der Strafrechtszu-
sammenarbeit ebenfalls über ein suspensives Vetorecht, um das jeweils laufende
Ratsverfahren zu stoppen. 747 Sodann muss sich der Europäische Rat mit der Fra-
ge befassen und innerhalb einer Frist von vier Monaten entscheiden. Lässt sich
analog zu den Bestimmungen aus Art. III-136 VerfV keine Einigung erzielen,
kann automatisch eine verstärkte Zusammenarbeit eingeleitet werden, an der sich
mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligen muss (Art. III-270.4 VerfV).
Im Bereich der sozialen Sicherheit zeitigt die „Notbremse" wohl keine weiteren
Konsequenzen für die faktische Fortentwicklung der Integration. 74s Dahingegen
eröffnet das Vetoverfahren in der Strafrechtszusammenarbeit de facto eine Fort-
746
Dazu A Maurer (2005). S. 26.
747
Art. III-270.3 VerfV'.
748
Bei entsprechend extensiver Praxis würde Art. 136 VerfV wohl eher den ..Rückbau"
der Integration sanktionieren.
260 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
..In the Performance of assigned constitutional duties each branch of the Government
must initially interpret the Constitution, and the interpretation of its powers by any
branch is d u e great respect from the others." 7 4 9
Besser hätte der Supreme Court kaum seiner eigenen Rolle als auch der al-
ler Verfassungsorgane bei der zweiten „Alternative" der Einflussnahme auf die
Entwicklung der amerikanischen Bundesverfassung Ausdruck verleihen können.
Diese Funktion ist zunächst nur insoweit an eine gesetzliche Grundlage gebunden
als man letztere zum Gegenstand der Tätigkeit bestimmt. Gilt es nun eine ver-
fassungsrechtliche Frage zu beantworten, die sich nicht zweifelsfrei mittels der
Verfassung selbst lösen lässt, wird die Interpretation der Verfassung erforderlich.
749
United States v. Nixon. 4 1 8 U. S. 683. 7 0 3 (1974).
750
MeCulloch vs. Maryland 17 U.S. 3 1 6 (407). Der Richter hat innerhalb des Inter-
pretationsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten
Fall löst. H i e r f ü r steht ihm etwa in Deutschland eine gefestigte Methodik zur V e r f ü g u n g ,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 261
D e m g e m ä ß h a t s i c h d i e W i s s e n s c h a f t seit l a n g e m b e m ü h t , „ P r i n z i p i e n d e r V e r -
fassungsinterpretation" - so das T h e m a der Freiburger Tilgung der Vereinigung
Deutscher Staatsrechtslehrer von 1961 - h e r a u s z u a r b e i t e n , w i e ü b e r h a u p t ein
Großteil der jüngeren Arbeiten z u m T h e m a Auslegung der Verfassungsauslegung
g e w i d m e t sind.751 D a b e i wird e r s c h ö p f e n d die „ K o m p l e x i t ä t der Interpretationsauf-
g a b e " o d e r ihre „Unerschöpflichkeit", der sich j e d e E p o c h e unter ihren jeweiligen
B e d i n g u n g e n neu zu stellen hat, betont.
die mit den Stichworten „Wortlaut der N o r m " , „Wille des Gesetzgebers" und „Teleologie"
angedeutet sei, insbesondere durch die ..Rechtsvergleichung" anzureichern ist (P. Hiiberle).
Noch i m m e r gilt der klassische Ansatz von Savigny, wonach Auslegung ..die Rekonstruk-
tion des klaren o d e r unklaren G e d a n k e n s ist. der im Gesetz angesprochen wird, insofern
er aus dem Gesetz erkennbar ist." Die Aufgabe des Richters. Recht zu sprechen, verbietet
ihm grundsätzlich, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Dieses insbeson-
dere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung („deni de justi-
ce") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfalls fortzuentwickeln und
Lücken zu füllen, etwa durch Analogien. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst.
Scheint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, dass Richter, die d e m gesetzten
Recht unterworfen sind, zugleich die Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortzubilden
und d a m i t in gewissem Sinne selbst die N o r m e n zu schaffen, an die sie gebunden sind.
Diesen Zwiespalt brachte der Richter am U S - S u p r e m e C o u r t Hughes treffend auf den
Punkt: ..We. the j u d g e s , we are under the Constitution, but the Constitution is, what the
j u d g e s say, it i s " (zitiert nach en.thinkexist.com/quotation/we_are_under_a_constitutionl-
lbut_the_constitution/158023.html). Der Richter war - entgegen der Forderung von Mon-
tesquieu - in Europa niemals lediglich ..la bouche qui prononce les paroles de la loi"(der
Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb
die Kompetenz des Richters zur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis.
Anders im angelsächsischen Recht.
751
Vgl. insbesondere die umfangreiche Lit.-Darstellung bei P. Hiiberle. Europäische
Verfssungslehre. 4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 247 ff. mit den Fn. 165 ff. und dessen wichtige eigene
Analyse des Themenfeldes. Zu den ..Prinzipien der Verfassungsinterpretation" ders., eben-
da. S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. 20. Aufl. 1995 (Neudr. 1999). S. 1 9 f f . : R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.),
Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.
262 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein kurzes Wort zur verfassungskonformen Auslegung. 7 5 2 Sie ist ein ebenso
unentbehrliches und - in nicht ganz leicht zu definierenden Grenzen 7 5 3 - auch all-
gemein anerkanntes Instrument der Normerhaltung (wie etwa im amerikanischen
Rechtskreis bereits treffend von Justice Brandeis festgestellt wurde 7 5 4 ), birgt aber
durchaus auch die Gefahr von Funktionsverwischungen. Unrichtig ist es allerdings
anzunehmen, durch eine verfassungskonforme Auslegung würde der Handlungs-
spielraum des Gesetzgebers stärker als durch eine Kassation beschnitten. Erweist
sich unter mehreren möglichen eine bestimmte Auslegung einer Norm als verfas-
sungswidrig, bestehen aber neben der in diesem begrenzten Umfang aufrechterhal-
tenen Norm andere Möglichkeiten zur Regelung des ihren Gegenstand bildenden
Sachverhalts, so hindert den Gesetzgeber nichts, diesen Sachverhalt nach seinen
Vorstellungen neu zu gestalten: nur die eine - verfassungswidrige - Lösung bleibt
ihm verwehrt.
752
Dazu etwa K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. l . B d . .
2. Aufl. 1984. § 4 III 8 d. S. 135 ff.: K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-
republik Deutschland. 20. Aufl. 1995, Rdnr. 79 ff., jeweils m . w . N.
753
Vgl. auch BVerfGE 54. 277 (299 f.).
754
Justice Brandeis in seiner Dissenting Vote zu Ashwander v. Tennessee Valley Autho-
rity, 297 US 288. 346 ff.( 1936).
755
Eine „allgemeine H e r m e n e u t i k " als Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften
ist im 19. Jahrhundert insbesondere von F.D.E. Schleiermacher und IV. Dilthey entwickelt
worden, vgl. F. D.E. Schleiermacher, Hermeneutik (hrsg. von H. Kimmerle), 2. Aufl. 1974:
W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), G e s a m m e l t e Schriften.
Bd. 5 . 7 . Aufl. 1982; ders., Entwürfe zur Kritik der historischen V e r n u n f t . , in: ders. (Hrsg.),
G e s a m m e l t e Schriften. Bd. 7. 7. Aufl. 1979. Der Einfiuss beider reicht bis in die Gegenwart
(M. Heidegger. R. Bultmann. H.-G. Gadamer. E. Betti. G. Eheling). Die Differenz zwischen
Methodologie, d. h. als Kunstlehre von den Regeln der Auskegung (ars interpretanda und
Strukturtheorie als Lehre vom Z u s a m m e n h a n g zwischen Zeichen Bedeutung (signum et
res) spiegelt sich in der jüngeren Hermeneutikdebatte vor allem bei Gadamer und Betti. Die
lange Jahre g e f ü h r t e Kontroverse zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und geistes-
wissenschaftlicher Hermeneutik hat sich dagegen entschärft, nachdem auch die analytische
Wissenschaftstheorie das Problem des Sinnverstehens in ihre Überlegungen einbezieht. Die
Theorie der Interpretation (seit d e m 15. Jahrhundert nach dem griechischen ep|ir|V£D£lV
„ H e r m e n e u t i k " genannt) gab es bereit seit der Antike und im Mittelalter (vgl. auch zuletzt
J.Schröder. Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis
1850. in: Z N R 2002. S . 5 2 f f . ) und spielte eine gewichtige Rolle in der T h e o l o g i e (als
Lehre vom vierfachen Schriftsinn - sensus litteralis. allegoricus. moralis und anagogicus,
vgl. T. v.Aquin, S u m m a theologiae I, 1 q. 10 - die Idee eines „ A u s l e g u n g s k a n o n s " war
d e m n a c h früh geboren und im theologischen Kontext nicht wie vielfach behauptet erst
seit Schleiermacher diskussionswürdig). Beispiele späterer musikalischer Hermeneutik
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 263
bieten der Versuch einer Wiederbelebung der Affektenlehre durch H. Kreizschmar sowie
A. Scherings Deutung der Musik L. v. Beethovens.
756
K. Hesse. G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland.
20. Aufl. Neudr. 1999. S. 21.
757
Zur mangelnden Bewältigung der gesetzten Aufgabe in der deutschen Verfassungs-
wirklichkeit vgl. K. Hesse, ebenda.
758
So werden an Aufgaben genannt (zitiert nach einer A u f z ä h l u n g von P. Hiiberle.
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 228 Fn. 14): Gerechtigkeit. Bil-
ligkeit. Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis. Vernünftigkeit.
Praktikabilität. Sachgerechtigkeit. Rechtssicherheit. Berechenbarkeit. Transparenz. Kon-
sensfähigkeit. Methodenklarheit. Offenheit. Einheitsbildung, Harmonisierung, normative
Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale
Gleichheit, (gemeinwohl)gercchte („gute") öffentliche Ordnung.
759
Vgl. P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. A u f l a g e 1998. S. 227:
„Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen,
w a s kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinter-
pretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung
bieten."
264 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
g r o ß e n „ R e v o l u t i o n e n " d e s a u s g e h e n d e n 18. J a h r h u n d e r t s . S e i t d e m h a t d i e „ K o n -
s t i t u t i o n a l i s i e r u n g d e r H e r r s c h a f t " (D. Grimm™) in u n t e r s c h i e d l i c h e r G e s t a l t d e r
historisch-politischen Welt ihre P r ä g u n g verliehen und d a r ü b e r hinaus i m Z u g e
d e r G l o b a l i s i e r u n g der Politik und der A u s b r e i t u n g m a n c h e r A s p e k t e d e r Ver-
fassungslehre die nicht-westlichen Gesellschaften erfaßt. Seiner Grundidee nach
d r ü c k t s i c h i m m o d e r n e n B e g r i f f d e r V e r f a s s u n g d o r t , w o sie a l s „ O r d n u n g d e s Po-
l i t i s c h e n " (U.K. Preuß761) k o n z i p i e r t w i r d , d e r z e n t r a l e S i n n g e h a l t d e r p o l i t i s c h e n
Kultur aus. Unter diesem Aspekt k o m m t der m o d e r n e n Verfassung eine doppelte
F u n k t i o n z u : i h r e r s y m b o l i s c h e n F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d d e u t e t u n d n o r m i e r t sie
die O r d n u n g s g e h a l t e d e r politischen Kultur d e r G e s e l l s c h a f t . Ihrer instrumentellen
F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d l i e f e r t sie d a s S p i e l r e g e l w e r k f ü r d i e p o l i t i s c h e n P r o z e s s e
d e s p o l i t i s c h e n S y s t e m s . 7 6 2 A l s q u a s i - k a n o n i s c h e r T e x t s t e h t sie e i n m a l f ü r e i n e H e r -
meneutik der gesellschaftlichen Existenz mit e i n e m verbindlichkeitsfordernden
G e l t u n g s a n s p r u c h . Z u m a n d e r e n ist sie K r i s t a l l i s a t i o n s p u n k t f ü r e i n e n p e r m a n e n -
ten h e r m e n e u t i s c h e n P r o z e s s d e r A u s l e g u n g d e r d u r c h sie v e r b ü r g t e n P r i n z i p i e n
im M e d i u m der politischen D e u t u n g s k u l t u r der Gesellschaft. Ein weitreichender
wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungsherme-
n e u t i k ist v o r l ä u f i g n u r i n d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n u n d n e u e r d i n g s a u c h i n K a n a d a
a u f g e n o m m e n w o r d e n . 7 ' 1 Er bewegt sich „Toward a Constitutional H e r m e n e u t i c s "
760
Vgl. D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung. Frankfurt 1991.
761
Siehe den Titel des von U. K. Preuß herausgegebenen Sammelbandes ..Zum Begriff
der Verfassung. Die O r d n u n g des Politischen. 1994".
762
Eine ..Hermeneutik des Politischen" bewegt sich auf zwei E b e n e n . Analytisch ist
sie eine empirisch-hermeneutische Theorie. Sie analysiert die soziokulturellen O r d n u n g s -
gefüge auf die ihnen unterliegende Ordnungslogik hin und versteht das durch die Pluralität
von Ordnungs- und Symboltypen vermessene geschichtliche Feld menschlicher Selbstver-
ständigung und -aktualisierung als Manifestation des Politischen. In diesem solchermaßen
umrissenen Objektbereich der empirisch-hermeneutischen T h e o r i e spiegelt sich w i e d e r u m
der anthropologische Sachverhalt des Menschen als eines sich selbst interpretierenden
Wesens, als animal symbolicum. Dabei entspringen Ordnungsinterpretationen in einem
sehr grundsätzlichen Sinn der f u n d a m e n t a l e n menschlichen Existenzerfahrung. Insoweit
gehen in die Hermeneutik stets Realerfahrungen der historisch-sozialen Lage ein. Zweitens
bauen auf einer solchen Grundhermeneutik des Menschlichen eine Vielzahl von Deutungen
jeweils sozialer Kontexte auf, deren Ordnungszentrum eine hegemoniale Identitätsdeutung
des Menschlichen ist, die in peripheren Deutungen ausstrahlt. Drittens, das Specificum
einer solchen Hermeneutik des Politischen ist deren Verankerung in der Machtstruktur,
insofern sie Ausdruck des Ringens um das D e u t u n g s m o n o p o l f ü r die politische Kultur
(die „Wahrheit" der Gesellschaft), dessen Durchsetzung und Aufrechterhaltung ist. Das
M e d i u m der Hermeneutik des Politischen ist die politische Deutungskultur einer Gesell-
schaft. Die machtgestützte H e r m e n e u t i k des Politischen und deren Manifestation in der
politischen Ordnungslogik garantiert einerseits eine gewisse gesellschaftliche Stabilität,
andererseits ist sie stets der Herausforderung durch alternative Hermeneutiken ausgesetzt.
Das D e u t u n g s m o n o p o l der hegemonialen Hermeneutik ist niemals absolut, vgl. zu dieser
T h e m a t i k ausführlich J. Gebhardt, Verfassung und Politische Kultur in Deutschland, in:
ders. (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 265
( G . Leyh)76*, w i e sie s i c h i n d e r D e b a t t e z w i s c h e n t e x t i m m a n e n t a r g u m e n t i e r e n d e n
„interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" n i e d e r s c h l ä g t 6 ?
und in einen weiteren hermeneutischen Z u s a m m e n h a n g von „katholischen" und
„ p r o t e s t a n t i s c h e n " I n t e r p r e t a t i o n s s c h e m a t a erstellt wird76". In diesen n a t u r g e m ä ß
stets politisch a u f g e l a d e n e n D e b a t t e n zeichnet sich d a s P r o b l e m f e l d einer ver-
gleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik767 in den mit verfassungs-
richterlichem P r ü f u n g s r e c h t ausgestatteten Politien etwa der U S A , Deutschlands,
Kanadas. Australiens und Frankreichs ab. wobei in einigen Ländern in der Rechts-
a b e r a u c h P o l i t i k w i s s e n s c h a f t v o r d e r g r ü n d i g e i n I n t e r p r e t a t i o n s m o n o p o l d e r Ver-
fassungsgerichtsbarkeit behauptet wird. Insgesamt hat sich eine in sich kontroverse
Tradition der Verfassungshermeneutik herausgebildet, die auch unter modernen
kulturhermeneutischen768 Vorzeichen zu analysieren wäre.769
D i e s e r U n t e r s u c h u n g v o r g e l a g e r t ist j e d o c h d i e F r a g e , o b e s t a t s ä c h l i c h d i e I n -
haberschaft eines Interpretationsmonopols geben kann - einen interpretatorischen
770
Vgl. etwa H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungsrecht. Völkerrecht. 1971, S. 340.
771
Siehe P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. A u f l a g e 1998,
S. 2 2 8 ff., 229. Grundlegend ders.. Die o f f e n e Gesellschaft der Verfassungsinterpreten,
in: JZ 1975. S. 2 9 7 ff., auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage
1998, S. 155 ff.: vgl. auch ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess - ein
Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998. S. 121 ff.
772
Freilich im Wesentlichen nach dem hier so passenden Prinzip J. Pauls: „Unter einem
freundlichen Ausleger mein' ich den. welcher in einem fremden Buche seine eigne Meinung,
obwohl tief vergraben, entdeckt und mit seiner Wünschelrute erhebt", vgl. ders.. Politische
Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, 1817.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 267
interpretations of the Constitution, both to advance and defend their goals. Individua!
voters can also join in the interpretive process by taking the time before casting their
ballots to leam about and judge the validity of specific items on candidates' platforms." 7 '*
D a s z w e i t e E x e m p e l m a g u n g e w ö h n l i c h e r s c h e i n e n u n d d o c h ist e s A b b i l d
verfassungsinterpretatorischer Tätigkeit. Im Jahre 1936 wirkte die Mehrheit der
a m e r i k a n i s c h e n B e v ö l k e r u n g a l s „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t " als s i e e n t g e g e n m a s s i v e r
773
W. F. Murphy, Constitutional Interpretation as Constitutional Creation. 1 9 9 9 - 2 0 0 0
Harr)' Eckstein Lecture, Princeton 2000. www.democ.uci.edu/democ/papers/murphy.htm.
Siehe auch W. F. Murphy U.E. Fleming/S.A. Barber. A m e r i c a n Constitutional Interpreta-
tion. 21x1 ed., 1995, Part III: W.F.Murphy. W h o Shall Interpret the Constitution?, in: 48
Review of Politics, 1986, S . 4 0 1 ff.; ders., Constitutions, Constitutionalism. and D e m o c -
racy, in: D. G r e e n b e r g / S . N . K a t z / M . B . O l i v i e r o / S . C . Wheatley (eds.), Constitutionalism
and Democracy, 1993, S. U f f . jeweils mit weiteren Nachweisen. Entsprechend seines
Einsatzes für eine ..representative" und gegen eine ..constitutional d e m o c r a c y " Demokratie
tendiert etwa R.A. Dahl zu einer Interpretationsvorherrschaft der gewählten gesetzgeben-
den Körperschaft, die sich einer P r ü f u n g lediglich durch die Wahlen auszusetzen habe.
Ein richterliches Einschreiten wäre höchstens vertretbar, um einen reibungslosen Ablauf
der Wahlprozesse zu gewährleisten ..for an independent body to strike down laws that
seriously damage rights and interests that|,] while not external to the democratic process[,]
are demonstrably necessary to it would not seem to constitute a violation of the democratic
process.", vgl. ders., Democracy end Ist Critics, 1989. S. 191. Ähnlich M. Walzer. Philoso-
phy and Democracy, in: 9 Political T h e o r y (1981), S. 379 ff. 397: „The j u d g e s must hold
themselves as closely as they can to the decisions of the democratic assembly, enforcing
first of all the basic political rights that serve to sustain the character of the assembly and
protecting its m e m b e r s from discriminatory legislation. They are not to enforce rights
beyond these unless authorized to do so by a democratic decision." Eine solche Nähe der
Richterschaft zu politischen Entscheidungen erleichtert j e d o c h in der Regel die Rechtfer-
tigung jeglicher Interpretation der Verfassung, zu dieser Problematik umfassend J.H. Ely,
Democracy & Distrust, 1980.
774
A. Lincoln. First Inaugural Address, in: R.P. Basler (Hrsg.), T h e Collected Works of
A b r a h a m Lincoln. Vol. IV 1953, S. 262 f.
77?
Die folgenden vier Jahre Civil War und dessen Ergebnis straften Lincolns Interpre-
tation - wenngleich bis heute patriotisch bejubelt - im G r u n d e Lügen. Die Nation, die
letztlich aus diesem Konflikt e r w u c h s , wies auch erhebliche Unterschiede zu den (mehr
oder weniger) ..united states" vor dem Bürgerkrieg auf.
268 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Es ist also festzuhalten, dass zur Interpretation der Verfassung weder nur die
Verfassungsgerichtsbarkeit berufen noch dieser die ausschließliche Wirkkraft
einer Auslegung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtung führt zurück zu der For-
derung. Verfassungsinterpretation unter kulturhermeneutischen Vorzeichen zu
betreiben. Das Verfassungsgericht ist ebenso wenig repräsentatives Spiegelbild
einer gewachsenen Verfassungskultur wie der Verfassungstext selbst alleiniger Be-
zugspunkt verantwortlicher Interpretationstätigkeit sein kann. Das Zusammenspiel
unterschiedlichster Auslegungskräfte und -intentionen aller am Verfassungsleben
Beteiligten - ein „polyphones Konzert" der Verfassungsinterpreten - findet eine
gemeinsame Zielsetzung in der Harmonisierung der eigenen Wunschvorstellun-
gen mit den Realitäten der bestehenden Kultur und gibt letzterer damit stets eine
kleinere oder größere Neuausrichtung ihrer Prägung, je nachdem wer oder welche
Institution(en) an der Interpretation beteiligt sind.
776
Aus der überbordenden Literatur dazu etwa C. Tomuschat, Wege zur deutschen Ein-
heit. in: V V D S t R L 49 (1990), S. 39 ff.; das S a m m e l w e r k von K. Stern (Hrsg.), Deutsche
Wiedervereinigung, Bde., 1991; siehe auch L Michael. Die Wiedervereinigung und die
europäische Integration als Argumentationstopoi in der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts. Zur Bedeutung der Art. 23 S. 2 a. F. und 23 Abs. 1 S. I n. F. G G , in: AöR 124
(1999). S. 5 8 3 ff. Interessant ist diesbezüglich auch die Sichtweise aus dem amerikanischen
Rechtskreis, vgl. n u r P. Quint. T h e Constitutional Law of G e r m a n Unification. in: 50 M d .
L. Rev. (1991), S. 4 7 5 ff. und ders., T h e Imperfect Union: Constitutional Structures of
G e r m a n Unification. 1997.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 269
In den Vereinigten Staaten bringt vor allem der Supreme Court durch seine
ständige Auslegung sowohl einzelner Verfassungsbestimmungen wie der Ver-
fassung als Ganzes den Text der Verfassung in Übereinstimmung mit sozialen,
wirtschaftlichen und gegebenenfalls ethischen Zeitumständen. 7 7 8 Dies geschieht
auch unabhängig von Zeiten selbst verordneter politischer Zurückhaltung und
bedeutet in der Konsequenz bei aller Diskussion um die „political question doc-
trine" und „judicial restraint" ein stetes, mehr oder weniger sanftes Einwirken auf
politische Gegebenheiten. Auch wenn die Verfassungsinterpretation zweifellos
der zentrale Baustein kreativer Verfassunggebung ist, so gründet sich letztere in
den Vereinigten Staaten (wie auch anderswo) fraglos auf weiteren Faktoren. Zu
nennen ist etwa die immer wieder modifizierte Handhabung verfassungsmäßiger
Aufgaben durch oberste Verfassungsorgane wie Kongress und Präsident, aber
auch die Verfassungsfortbildung in der Tradition der englischen „Conventions"
durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten. wodurch neben
einer Ausfüllung der Lücken im knapp bemessenen Verfassungstext auch die
Verfassungsbestimmungen selbst einem steten Wandel unterzogen werden. 779
777
So P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Auflage 1998. S . 2 3 0 :
siehe auch ders.. Zeit und Verfassung, in: Z I P 21 (1974). S. 11 Iff. 118 ff."
778
Siehe hier/u und im folgenden auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfas-
sungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S. 36 f.
77
'' Als Beispiele der L ü c k e n a u s f ü l l u n g sollen z u m einen der Aufbau der Bundesge-
richtsbarkeit durch die „judiciary acts" dienen, da die Verfassung nur einen obersten
Gerichtshof vorschreibt und die S c h a f f u n g von untergeordneten Gerichten d e m Kongress
überlässt (Artikel III § 1 der Bundesverfassung); darüberhinaus die Organisationshoheit
für die S c h a f f u n g von Bundesbehörden, die allein d e m Kongress zusteht: oder die Nachfol-
geregelung. wenn sowohl Präsident als auch Vizepräsident an der A u s ü b u n g ihrer Ä m t e r
gehindert sind. Als ein bedeutendes Kapitel der Verfassunggebung durch den Kongress
erwiesen sich die verfassungsrechtlich zugewiesenen Bundeszuständigkeiten. Berühmtheit
erlangte dabei die Auslegung der sogenannten „ c o m m e r c e " - K l a u s e l (Artikel I § 8 par. 3
der Bundesverfassung) seitens des Kongresses. Diese Klausel unterstellt den Handel der
Bundeszuständigkeit, wobei der Kongress zu b e s t i m m e n hat. was letztlich unter Handel
zu verstehen ist. Jeweils mit Z u s t i m m u n g des Supreme C o u r t dehnte der Kongress über
Jahrzehnte den Begriff weit über die ursprüngliche enge Bedeutung des einfachen Wa-
270 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
renaustausches aus. Heute umfaßt er alles, was mit zwischenstaatlichem Handel auch im
entferntesten in Verbindung steht. Aus der in Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung
vorgesehenen eigentlichen Zuständigkeit zur K r e d i t a u f n a h m e (..borrowing m o n e y " ) lei-
tete der Kongress die Regelung des gesamten Geld-, Bank-, und Börsenwesens ab. Eine
Rechtsfigur, die später auch in den Europäischen G e m e i n s c h a f t e n eine gewichtige Rolle
spielen sollte, nahm in den Vereinigten Staaten mittels der unterstellten Vollmachten des
Kongresses ihren Anfang: die „implied powers". Aber auch d e m Präsidenten bzw. den zu-
ständigen Departments kommt in der Verfassunggebung durch Zuhilfenahme der ..implied
powers"-Regel o d e r durch die selbständige Auslegung von Verfassungsbestimmungen im
Rahmen der Amtsgeschäfte ein erhebliches Gewicht zu. Exemplarisch für die Verfassungs-
fortbildung durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und - g e w o h n h e i t e n seien genannt:
der heutige Gebrauch des Präsidialvetos (dazu bereits: G. F. Xfilton, T h e Use of Presidential
Powers 1 7 8 9 - 1 9 4 3 . 1944): die Rolle der Unterausschüsse im Kongress und der gewachsene
Einfluss politischer Parteien auf Verfassungsorgane und Verfassungsentwicklung.
780
P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aullage 1998. S. 226.
7sl
Zur Interpretation und insbeondere Verfassungsinterpretation (insb. durch den
E u G H ) im europäischen Kontext (P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 2 6 8 ff. spricht von einer „ o f f e n e n Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Euro-
pa"): C. Huck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen G e -
meinschaften. 1998: J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den E u G H . 1995;
J. Auweiler, Die A u s l e g u n g s m e t h o d e n des Gerichtshofs der Europäischen G e m e i n s c h a f -
ten. 1997; W. Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und
Rechtsetzung, in: O. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling. 1995. Band 1. S. 205 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 271
Dem Föderalismus ist auch der Ansatz geschuldet, dass der Zivil- und Straf-
rechtsbereich. von verfassungsmäßig festgelegten Ausnahmen abgesehen, der
Souveränität der Einzelstaaten unterliegt. Dies trägt zu j e n e m charakteristischen
Farbenreichtum der Rechtsauffassungen bei, der durch das angelsächsische Com-
mon Law noch begünstigt wird.
782
Aus der deutschspr. Lit: W. Haller. S u p r e m e Court und Politik in den U S A . 1972;
Ii. Maaßen. Der U S - S u p r e m e C o u r t im gewaltenteilenden amerikanischen Rechtssystem
( 1 7 8 7 - 1 9 7 2 ) , 1977; W. Brugger. Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten
von Amerika, in: JöR 42 (1994). S . 5 7 1 ff. Siehe auch (streitbar) M. Tushnet. Taking the
Constitution away from the Courts. 1999: A.S.Miller, T h e S u p r e m e Court. M y t h and
Reality. 1978; L. Tribe. Constitutional Choices. 1985: W H. Rehnquist, The Supreme Court.
How i't Was - H o w It Is, 1987.
783
H i e r / u ausführlich unter B . l V . 3 b ) a a ) .
784
Vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). Vgl. aus der deutschspr. Lit. auch
U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Po-
272 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
z u m e r s t e n M a l v i e r K r i t e r i e n , d i e i m L a u f e d e s 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t s e i n e n
Siegeszug durch die westlichen Rechtsordnungen antreten sollten785:
..That to secure these rights. Governments are instituted among M e n . deriving their just
powers f r o m the consent of the governed, - T h a t w h e n e v e r any Form of Government
b e c o m e s destructive of these ends. it is the Right of People to alter or to abolish it, and
to institute n e w G o v e r n m e n t , laying its foundation on such principles and organizing
sition der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000).
S. 397 ff.
7s5
Vgl. hierzu W. Brugger. Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto
Carola - Forschungsmagazin d e r Universität Heidelberg. Heft 3 / 1 9 9 4 . S . 2 2 f f „ 22. Im
deutschen GG finden sich diese Leitlinien in den Artikeln 1. 20. 92 und 93.
786
So W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten
Staaten von Amerika. 1987. S . 5 .
7S
Vor allen Arten von ..Hüterideologie" warnt P. Hiiberle. da entgegen der oft zitierten
These, der Staatspräsident oder das Verfassungsgericht seien ..Hüter" der Verfassung, der
Schutz derselben gerade allen Bürgern und allen Staatsorganen gleichermaßen anvertraut
sei. Z u m anderen sei die Verfassung „öffentlicher Prozess", was sich in der Bewahrung
von Vorhandenem nicht erschöpfe, vgl. ders.. Das Bundesverfassungsgericht als Muster
einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift
50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 311 ff., 316. M . E . birgt die Bezeichnung
des „ H ü t e n s " jenseits aller ideologischen Anklänge allerdings auch die Verpflichtung zur
Fortentwicklung, wenn man so will zur „Erziehung" in sich und darf daher nicht lediglich
als starres Bewahren verstanden werden, da ein verantwortungsvolles „Be-hüten" nur in der
Vermittlung einer Zukunftsperspektive aufgehen kann. Der gleichzeitige Hinweis auf den
„gleichberechtigten Hüter" nimmt darüberhinaus keinen am Verfassungsleben Beteiligten
aus. Hiiberle, e b e n d a , mit Verweis auf die Verfassungen der Ukraine und Burundis, ist
freilich zuzustimmen, dass es fehl geht, die Verfassungsgerichtsbarkeit als „authentischen"
Verfassungsinterpreten zu bezeichnen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 273
its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and
Happiness. [ . . . ] But when a long train of abuses and usurpations. pursuing invariably
the s a m e Object, evinces a design to reduce them undcr absolute Despotism. it is their
right. it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their
future security." 78 *
Die Betonung der ..new Guards". die gelegentlich fälschlich in deutscher Über-
setzung als „Regierung" im Sinne von „Government" gedeutet wurden 789 , eröffnen
die Kontrollmöglichkeiten einer eigenen, originären Gewalt, wie sie sich später in
der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit einstellen sollten.
Die Verfassung von 1789 behandelt die Funktionen des Supreme Courts ledig-
lich mit mageren Worten. Gemäß Artikel III § 1 wird die Judikative der Vereinigten
Staaten von einem obersten Gericht und denjenigen nachgeordneten Gerichten
ausgeübt, die der Kongress errichtet. Daneben bestehen in den Einzelstaaten voll-
ständige Gerichtssysteme. Artikel III §2 par. 1 der Bundesverfassung regelt die
Zuständigkeit der Bundesgerichte, Artikel III § 2 par. 2 schließlich die Aufga-
ben des Supreme Court, wonach dieser in erster Instanz („original jurisdiction")
nur in zwei Fällen zuständig ist, nämlich bei Beteiligung eines Mitgliedes des
diplomatischen Corps oder eines Bundesstaates am Verfahren, wohingegen er
als Rechtsmittelgericht („appellate jurisdiction") grundsätzlich alle Fälle, die den
788
Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of A m e r i c a n History, 1983,
S. 2 7 9 f. T. Fleiner-Gerster erkennt in seiner „Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1995,
S. 263 f." bereits diesen ursprünglichen gedanklichen Z u s a m m e n h a n g : die „u. a. von Locke
geprägte A u f f a s s u n g bildete auch die Grundlage für die Verwirklichung d e r Verfassungs-
gerichtsbarkeit".
789
So auch Fleiner-Gerster (1995). S. 264, allerdings mit richtigem Ergebnis.
790
Vgl. A. Hamilton im Federalist Nr. 78.
274 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Allerdings gab es bereits in den amerikanischen Kolonien und nach der Un-
abhängigkeit von England in Einzelstaaten Präzedenzfälle, in denen Gerichte
Gesetze, die gegen königliche „Charters" und später gegen die gliedstaatlichen
Verfassungen verstießen, außer Kraft gesetzt hatten. Schon zu dieser Zeit entbrann-
te die bis heute gelegentlich erbittert geführte Debatte über die diesbezügliche
gerichtliche Kompetenz, da das Gericht in der Auslegung einer „Charter" oder
Verfassung unvermeidlich und oft mit folgenschweren gesellschaftlichen Konse-
quenzen in die Rolle der Politik schlüpft.
Anfang des 19. Jahrhunderts befasste sich der Supreme Court in einigen grund-
legenden Entscheidungen mit der Reichweite seiner eigenen Zuständigkeiten wie
auch der anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Kongresses. 7 9 ' Unter der
Leitung von Chief Justice J. MarshalfM wurden bis heute tragende Weichen für
die künftige methodische Ausrichtung zur Konkretisierung der Bundesverfassung
gestellt. 795 Das tatsächlich einschneidendste Ereignis auf dem Entwicklungswege
des Supreme Court in seiner Eigenschaft als oberstes Verfassungsgericht zu ei-
791
Jedoch ist der Kongress ermächtigt, insoweit A u s n a h m e n zu erklären und das Ver-
fahren einer Regelung zu unterwerfen. Artikel III § 2 par. 2 S. 2 der Bundesverfassung. In
der Praxis kam es aber nicht zu nennenswerten Einschränkungen der Zuständigkeit des
Supreme Court, sondern in der Regel zu Festlegungen, in welchen Fällen eine Verpflichtung
des S u p r e m e Courts zur E n t s c h e i d u n g s a n n a h m e und in welchen Fällen ein Annahmeer-
messen besteht, vgl. C. Egerer. Verfassungsrechtsprechung des S u p r e m e C o u r t der USA:
die Wurzeln des Prinzips des „judicial r e v i e w " in M a r b u r y v. M a d i s o n . in: ZvglRWiss 88
(1989). S . 4 I 6 f f . . 417.
792
Das deutsche Recht etwa gestattet dies dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 I
Nr. 1. 2 . 4 a . 4 b und Art. 1001 G G .
Dazu umfänglich D.P. Currie, T h e Constitution in the S u p r e m e Court: T h e First
Hundred Years 1 7 8 9 - 1 8 8 8 . 1985. S. 61 ff.; siehe auch die einflussreichen Schriften von
E.S. Corwin: beispielsweise ders., T h e S u p r e m e Court and Unconstitutional Acts of Con-
gress. in: 4 Michigan L. Rev. (1906). S. 6 1 6 ff.; J e « . . T h e Establishment of Judicial Review.
In: 9 Michigan L. Rev. (1910). S. 102 ff. und in: 9 Michigan L. Rev. (1911), S. 2 8 3 ff.
794
In den Vereinigten Staaten ist es gängige Praxis, den S u p r e m e Court begrifflich
mit d e m jeweiligen Chief Justice zu identifizieren, insbesondere wenn es um die histo-
rische Einordnung ..bewegter" gerichtlicher Zeiten geht. Marbury v. Madison w u d e vom
sog. Marshall-Court entschieden, aktuell sprach man wegen des seit 1986 (und bis 2 0 0 6 )
amtierenden Chief Justice \V. Rehnquist vom Rehnquist-Courl.
795
Dazu u . a . F. Frankfurter. John Marshall and the Judicial Function, in: 69 Harvard
L. Rev. (1955), S. 217 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 275
796
Da der Fall auch im deutschsprachigen Schrifttum eine u m f ä n g l i c h e Darstellung
erfahren hat. soll er hier nur kursorisch veranschaulicht werden. In der Streitsache ging
es um die Zustellung der E r n e n n u n g s u r k u n d e an Marbury zum ,Justice of the Peace",
die ihm Madison auf A n o r d n u n g Jeffersons verweigert hatte. Der S u p r e m e C o u r t gab im
Rechtsstreit Marburys Begehren nicht statt, da j e n e r sich auf ein Gesetz berufen hatte,
das der S u p r e m e letztlich für unvereinbar mit der Verfassung erklärte. Damit reklamierte
der S u p r e m e C o u r t f ü r sich das benannte Recht. Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der
Verfassung zu überprüfen und im Falle ihrer Unvereinbarleit in concreto nicht a n z u w e n -
den. Die Verfassung sei höchstes Recht, d e m sich alles andere Recht unterzuordnen habe.
Die B e g r ü n d u n g aus der Feder J. Marshalls muss neben ihrer inhaltlichen Bedeutung zu
den wenigen Stücken weltweit gewichtiger Verfassungsliteratur gezählt werden. Vgl. zum
Urteil ausführlich etwa W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den
Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S. 5 ff.: ders.. E i n f ü h r u n g in das öffentliche Recht
der U S A . 2. A u f l a g e 2001, S. 7 ff.; C. Egerer (1989). S . 4 1 8 ff.: D.P. Currie, Die Verfas-
sung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S. 15 ff.; zur historischen Einordnung
vgl. G. Stourzh. Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: z u m Problem der
Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert. 1974. Aus der Flut der amerikanischen Litera-
tur: E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12 Michigan
L. Rev. (1914). S. 538 ff.: ders., John Marshall and the Constitution: A Chronicle of the
Supreme Court. 1921; C G. Haines. T h e American Doctrine of Judicial Supremacy. 2" 1 ed.
1959: R.L Clinton. M a r b u r y v. M a d i s o n and Judicial Review, 1989: aus jüngerer Zeit die
umstrittenen Monographien von P. W. Kahn, T h e Reign of Law: M a r b u r y v. Madison and
the Construction of A m e r i c a , 1997 sowie W.E. Nelson. M a r b u r y v. Madison: T h e Origins
and Legacy of Judicial Review. 2000. Siehe auch L.D. Kramer. Foreword: We the Court,
in: 115 Harvard L. Rev. (2001), S. 4 ff.
797
Die Kritik an diesem Urteil ist seither nie gänzlich verstummt. Bereits im Jahre 1803
gab es Initiativen auf Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren ( „ i m p e a c h m e n t " ) gegen
die Richter, die sich eine derartige Gewalt über die gesetzgebenden Organe anmaßten. Im
(Wahl-)Jahr 1912 empfahl Präsident T. Roosevelr. Entscheidungen des Supreme Court, mit
welchen ein gliedstaatliches Gesetz für nichtig erklärt wurde, einer Volksabstimmung zu
unterziehen, vgl. dazu K. Heller, Der S u p r e m e Court der Vereinigte Staaten von Amerika.
Probleme eines Höchstgerichts, in: E u G R Z 1985, S . 6 8 5 f f . , 686. Siehe auch W.W. van
Alstyne. A Critical Guide to M a r b u r y v. Madison, in: 1969 Duke L. J., S. 1 ff., 17 ff.
276 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der in der Gesetzesanwendung geschulte Richter war und ist nun dazu berufen,
als „gleichberechtigter Hüter der Verfassung" zu entscheiden, „what the law is" 799 ,
wobei letzteres sich aus der Bundesverfassung selbst ergibt, die als „supreme
law of the land" (Artikel VI § 2) absolute Wahrung ihres Vorrangs beansprucht.
Es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass erst die frühe „Suprematie" der
richterlichen Gewalt die tatsächliche ..Herrschaft der Verfassung" zu verbürgen
wußte. Die Ära unter Chief Justice J. Marshall wird gerne ein wenig pathetisch
betrachtet, der berühmte Vorsitzende auch schon gelegentlich als „zweiter Schöpfer
der Verfassung bezeichnet". Gleichwohl ist nicht abzustreiten, dass der Supreme
Court gerade in dieser Zeit durch richtungsweisende und schöpferische Ausübung
seines originären und ausgeweiteten Entscheidungsrechts seine Vorrangstellung
( J u d i c i a l supremacy") als Interpret und Gestalter der Verfassung begründete.
Nicht umsonst ist bis heute der Ausspruch „the Court will decide" gelebter
Maßstab amerikanischer Verfassungspolitik.
Dies widerspricht nicht der oben angestellten Betrachtung, der Supreme Court
sei lediglich gleichberechtigter Teil einer Verfassungsöffentlichkeit sowie einer
„offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Gleichwohl wird ein Idealzu-
stand gelegentlich von den Realitäten hierarchisch gegliederter Gesellschaftsfor-
men eingeholt. De facto hat sich der Supreme Court diese Stellung aber judiziell
„erarbeitet": und die vorhandenen Möglichkeiten, um die „Suprematie" etwa durch
nachgeordnete Verfassunggebung seitens der anderen Gewalten oder durch die
798
Insbesondere unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern ist der Begriff „judicial
s u p r e m a c y " von scharfen Debatten begleitet. Er wird zwar größtenteils zu Recht als Faktum
anerkannt, jedoch gerade im Hinblick auf die „checks and balances" zuweilen sehr kritisch
beurteilt. Gleichwohl scheint die A n n a h m e einer „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der
S u p r e m e Court doch lediglich zwischen 1 8 9 0 - 1 9 3 7 tatsächlich extensiv auf politischem
Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen
Inhalts z u r ü c k w i e s und vor allem in den ersten Jahren des Roosevelt'sehen N e w Deal
sozialreformerische Initiativen des Staates zur Ü b e r w i n d u n g der Weltwirtschaftskrise
blockierte.
799
J. Marshall in Marbury v. Madison, ebenda.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 277
800
Siehe oben B.IV. L a ) .
801
Unabhängig von der ..political questions doctrine" hat sich der Supreme Court auch
nicht gescheut, in Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gegen politische Organe zu
entscheiden. Unvergessen die Entscheidung U.S. v. Nixon, 4 1 8 U . S . 6 8 3 (1974). durch
die Präsident Nixon während der Watergate-Affäre zur Herausgabe von 64 Tonbändern
aufgefordert wurde.
802
Vgl. Marbury v. Madison. 5 U.S. 137 (1803).
803
Laut W. Brugger wird ..judicial review" - gerichtliche Ü b e r p r ü f u n g - in den Verei-
nigten Staaten üblicherweise im Sinn der ( V e r f a s s u n g s g e r i c h t ! i c h e n Kontrolle staatlicher
Akte anhand der Verfassung verstanden, vgl. ders., Grundrechte und Verfassungsgerichts-
barkeit in den Vereinigten Staaten. 1987, S. I F n . 2 .
804
Siehe E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12
Michigan L. Rev. (1914), S. 538 ff., 552.
278 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
tive majority, which is, in turn, powerless to affect the judicial decision" 805 . Der
Supreme Court ergriff anläßlich dreier weiterer Fälle früh die Gelegenheit, den
Grundsatz des „judicial review" auch auf die Einzelstaaten anzuwenden und dies-
bezüglich auszudehnen. 806 Schließlich wurde mit der Etablierung des „judicial
review" durch Marbury v. Madison ein weiterer, selten beachteter Gesichtspunkt
Verfassungsgericht!icher Einflussnahme ins Spiel gebracht. J. Marshalls Entschei-
dung war nämlich gleichzeitig mit einer ausgeklügelten politischen Strategie
unterlegt, um das richterliche Prüfungsrecht auch gegen etwaige populistische
Einwirkungen abzusichern. Diesen Zusammenhang erkennt auch B.-O. Bryde,
wenn er den „Einfluß, den ein Gericht [ . . . | gewinnt ( . . . | auch von seinem eige-
nen strategischen Verhalten" abhängig macht. 807 Eine offene Konfrontation mit
mächtigen politischen Akteuren könne es in einer noch ungeklärten Lage kaum
gewinnen. Zeige es hingegen zu viel Zurückhaltung, würde es Kredit verspielen
und als Kontrollorgan unbrauchbar. ..Die geniale Art und Weise, in der Marshall
in Marbury v. Madison die Grundlage für das richterliche Prüfungsrecht gelegt
hat, nämlich so, dass Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber
dem Machthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte,
ist bis heute das klassische Beispiel solcher richterlichen Verfassungspolitik." 808
Es ist Bryde zuzustimmen, dass alle erfolgreichen Verfassungsgerichte späterer
Epochen von diesem Beispiel profitiert haben.8(19
805
A. Bickel in seinem berühmten und umstrittenen Werk ..The Least Dangerous
Branch", 1962, S. 16. Das Zitat soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bi-
ckel dem zugrunde liegenden Urteil Marbury v. Madison und der Begründungsarbeit von
J. Marshall scharfe Kritik entgegenbringt, die sich nicht gegen die These von der Rang-
ordnung der Gesetze richtet, sondern gegen die scheinbar logische Schlußfolgerung, dass
Gerichte befugt seien, Gesetze für nichtig („void") zu erklären. Ein Konflikt zwischen
Verfassung und einfachem Gesetz könne ebensogut durch die Gesetzgebung selbst, den
Präsidenten und schließlich durch das Volk bei Wahlen gelöst werden, vgl. Bickel (1962),
S. 1 ff. Bickels Beanstandung kann allerdings nicht überzeugen, da seine Alternativen
nicht rechtlicher, sondern durchweg politischer Natur sind. Durch ein Infragestellen der
grundsätzlichen Möglichkeit einer rechtlichen Lösung des Konflikts, zieht man im selben
Atemzuge auch den Stufenbau der Rechtsordnung als logisches Grundprinzip in Zweifel.
806
Siehe Fletcherv. Peck 10 U.S. (6 Cranch) 87.3 L. Ed. 162 (\S\0),Martin v. Hunter's
Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304. 4 L. Ed.97 (1816); 19 U.S. (6 Wheat.) 264. 5 L. Ed. 257
(1821).
807
Vgl. B.-O. Bryde. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen,
in: J.J. Hesse/G. Folke Schuppert/K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und -politik in
Umbruchsituationen, 1999. S. 197 ff.. 199.
808
B.-O. Bryde, ebenda.
809
Zum Instrument des „judicial review" aus rechtsvergleichcnder Perspektive:
A. Brewer-Casrias, Judicial Review in Comparative Law. 1989.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 279
8.0
So P Häberle. D a s Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Ver-
fassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesver-
fassungsgericht. 2001, S. 311 ff., 313 f. In Europa begründeten dieses Konzept freilich
zunächst Österreich (1867 - auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes 1920 wie-
der aufgelebt, dazu wegweisend G. Jellinek. Ein Verfassungsgerichtshof f ü r Österreich.
1885) bzw. vertiefend die Ideen H. Kelsens (vgl. etwa ders.. Wesen und Entwicklung der
Staatsgerichtsbarkeit, in: V V D S t R L 5 (1929), S. 30 ff.
8.1
Siehe oben B. 1.7.
280 B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
Es ist höchst anerkennenswert, dass es dem Supreme Court in mehr als 200
Jahren bis heute gelungen ist, den Respekt vor der Rechtsprechung mit wenigen
Ausnahmen grundsätzlich zu wahren. Das mag banal klingen, ist jedoch ange-
sichts vehementer Gerichtsschelte in anderen Verfassungsstaaten (mit kürzerer
Verfassungsgeschichte) alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein wesentli-
cher Gesichtspunkt für die Begründung dieses Umstandes ist freilich der noch zu
diskutierende Schutz der Rechtsprechung vor Missbrauch für politische Zwecke 812
- und sei es nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Autorität der höchsten Ge-
richtsbarkeit ist nicht mit der anderer Verfassungsorgane, etwa des Parlaments oder
der Regierung, vergleichbar, die ihre Entscheidungen auch mit anderen Mitteln
(als ultima (ir)ratio sei nur an die Heranziehung des Heeres gedacht) gegebenen-
falls durchsetzen können. Sie beruht einzig und allein in der gesellschaftlichen
Anerkennung der Funktionen des obersten Gerichtes.
812
Dazu unten B.IV.2b)cc)(2).
813
Aus einer Rede von C. E. Hughes, 1907. zitiert nach N. Lockhart u. a., Constitutional
Law. Cases-Comments-Questions, 1986. S. 8.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 281
In die Amtszeit J. Marshalls (bis 1835) fielen jedoch auch die bis heute weg-
weisenden Fälle, die sich mit dem Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten
auseinandersetzten, die von einem Ringen um die Determinierung der Bundes-
kompetenzen und der Grenzziehung zu den Kompetenzen der Gliedstaaten ge-
prägt waren. Mit Martin v. Hunter's Lessee814 dehnte der Supreme Court seine
Entscheidungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten aus. Beide genann-
ten Entscheidungen sind deutliche Beispiele für das anfängliche Bemühen des
Supreme Courts, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Trägern der Staats-
gewalt zu bestimmen und letztlich zu festigen. In der Entscheidung McCulloch
v. Maryland aus dem Jahre 1819 wird die Tendenz des Supreme Courts deutlich,
die ursprünglich limitierten, in Artikel I § 8 der Bundesverfassung genannten
Gegenstände der Bundesgesetzgebung zu erweitern. 8 , 5 Der Supreme Court stellte
in der Begründung die in Artikel I § 8 aufgeführte „necessary and proper"-Klausel
mit dem Hinweis heraus, die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses trügen
gleichzeitig die Befugnis in sich, alle zu ihrer Umsetzung notwendigen und ange-
messenen Gesetze zu erlassen. Bedeutsam für die Entwicklung einer Methodik
der amerikanischen Verfassungsinterpretation wurden dabei die folgenden Worte
J. Marshalls:
..Let the end be legitimate, let it be within the scope of the Constitution, and all means
which are appropriate, which are plainly adapted to that end. which are not prohibited,
but consist with the letter and spirit of the Constitution, are constitutional." 8 1 6
Bis heute beansprucht diese Interpretation Geltung für die Beurteilung der
Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz. Die zunächst unaufhaltsam schei-
nende Expansion reglementierender Bundesgewalt gegenüber den Gliedstaaten
wird durch die Entscheidung Gibbons v. Ogden817 ausgelöst. Bereits damals stütz-
te sich der Supreme Court auf eine überaus extensive (und in der Zwischenzeit
völlig konturlose) Auslegung der ..interstate commerce-clause" in Art. I § 8 der
Bundesverfassung.
8.4
14 U.S. (I Wheat.) 304 (1816).
8.5
Vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U . S . (4 W h e a t . ) 3 1 6 (1819). Der S u p r e m e C o u r t
erklärte hierin die Besteuerung einer Bundesbank (Second Bank of the United States)
durch den Staat Maryland mit dem Ziel, deren Filiale in Maryland zu schließen, für
verfassungswidrig.
816
McCulloch v. Maryland, ebenda. S. 421.
8,7
22 U.S. (9 Wheat.) I (1824).
282 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
1857 traf der Oberste Gerichtshof mit Dred Scott v. Sandford81s eine Entschei-
dung, die ihm geballte, aus den Reihen der Nordstaaten wütende Entrüstung
entgegenbrachte und die einen nicht unerheblichen Beitrag zum später folgenden
Bürgerkrieg zu leisten wußte. Bis heute wird Dred Scott als eines der verheerends-
ten und juristisch selbstherrlichsten Urteile in der amerikanischen Verfassungs-
geschichte erachtet 819 , das als „prononcierteste Frühentscheidung des Supreme
Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem
der amerikanischen Gesellschaft [markiert] und [ . . . ] Zeugnis von einem Geburts-
fehler des amerikanischen Verfassungsstaates ab[legt]." 820 Der Fall hatte die Frage
zum Inhalt, ob ein Sklave durch den Aufenthalt in einem fremden Staat oder Terri-
torium seine Freiheit erlangt hätte. Namens der Mehrheit des Gerichts verkündete
Chief Justice Taney, selbst Sklavenhalter aus Maryland, dass Schwarze keine
Bürger der Vereinigten Staaten seien und folglich kein Klagerecht hätten. Sklaven
seien Eigentum, das dem besonderen Schutz der Verfassung unterliege, so dass
alle Gesetze, die den Bürger um sein verbrieftes Eigentumsrecht brächten, null und
nichtig seien. Das gelte für den Missouri-Kompromiss und implizit ebenso für den
Kompromiss von 1850 und das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854; denn selbst
eine Berufung auf die Volkssouveränität könne den übergeordneten Schutz des
Eigentums nicht außer Kraft setzen. Damit hatte Taney den Verfassungskonsens
im Sinne der Sklavenhalter pervertiert.
Dred Scott verstärkte einen bereits im Ansatz deutlich erkennbaren Riss, der
durch die gesamte amerikanische Gesellschaft, die Parteien, die Kirche, die Wirt-
schaft und die allgemeinen Wertvorstellungen ging. Die Ansichten über zivili-
siertes Verhalten, politische Kultur und ihre Grundwerte, ja über das, was Recht
und Unrecht war, fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der Boden für eine
gewaltsame Lösung war bereitet, es fehlte lediglich noch der Anlass, der sich
schließlich in der Präsidentenwahl A. Lincolns im Jahre 1860 finden lassen sollte.
818
60 U.S. (19 How.) 3 9 3 (1857).
819
Siehe nur LH. Tribe. A m e r i c a n Constitutional Law. 3"1 ed. 2000, S . 5 4 9 : „ [ . . . ]
infamous decision [ . . . ] often recalled for its politically disastrous dictum [ . . . ] " ; W. Wiecek
in: K. H a l l / J . W . E l y / J . B . G r o s s m a n / W . Wiecek (eds.), T h e Oxford c o m p a n i o n to the
Supreme C o u r t of the United States, 1992. S. 380: „ [ . . . ] the greatest disaster the S u p r e m e
Court has ever inflicted on the nation."
H2
" C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme
Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S . 2 4 mit einer breiten Darstelung der
Entscheidung und des Sachverhaltes, a. a. O.. S. 24 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 283
dass nach dem Bürgerkrieg die Verfassung um die schon benannten Amendments
13 und 14 ergänzt wurde, womit Dred Scott letztlich ad absurdum geführt wurde.
821
Als „reconstruction" wird die mit dem Ende des Bürgerkrieges beginnende und etwa
ein Jahrzehnt d a u e r n d e Periode des „ W i e d e r a u f b a u s " des amerikanischen Bundesstaates
bezeichnet, dessen Z u s a m m e n h a l t unter der Bedrohung einer Sezession der Südstaaten
stand. Die Phase fand ihre gesetzgeberische Unterlegung insbesondere mit den „reconstruc-
tion a m e n d m e n t s " ( 1 3 - 1 5 ) zur amerikanischen Verfassung und mit d e m „reconstruction
a c t " aus d e m Jahre 1867. Mit den A m e n d m e n t s wurde unter a n d e r e m die Sklaverei abge-
schafft. alle in den Vereinigten Staaten geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das
Wahlrecht ausgeweitet. Der gegen das präsidentielle Veto verabschiedete „reconstruction
act" verlieh den Südstaatenregierungen einen lediglich provisorischen Status und stellte sie
bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und D u r c h f ü h r u n g von Neuwahlen
unter militärische Kontrolle.
822
71 U . S . 4 7 5 (1867).
823
74 U.S. 5 0 6 (1869). In dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof als Rechtsmittel-
instanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu urteilen. Die Richter
entschlossen sich nach d e r mündlichen Verhandlung im M ä r z 1868 mehrheitlich für eine
Verzögerung der Entscheidung bis der Kongress die die Zuständigkeit des Gerichts begrün-
dende N o r m außer Kraft gesetzt hatte. Anschließend wies Chief Justice Chase die Klage
wegen fehlender Zuständigkeit des S u p r e m e Court ab.
824
Aus der deutschen Literatur J. Heideking, E i n f ü h r u n g in die amerikanische G e -
schichte. 1998, S. 68 f.
284 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Jede Interpretation der Verfassung ist aber in der Umkehrung auch abhängig
von gesellschaftlichen Bedingungen, die einem steten Wandel unterworfen sind.
Die Judikatur des Supreme Court bietet auch dafür zahlreiche Beispiele. So
interpretierte der Supreme Court bis 1954 die Verfassung der USA und das
darin verankerte Prinzip der Gleichheit aller Menschen so, dass die Tatsache der
Rassentrennung (Segregation) mit diesem Grundsatz vereinbar sei. 1954 urteilte
eben dieser Gerichtshof in seiner wegweisenden Entscheidung (Brown vs. Board
of Education*25), dass die Segregation der Verfassung widerspreche und deshalb
aufzuheben sei. Dieser einschneidende Wandel geschah mit Berufung auf die
Verfassung - aber ohne, dass sich diese geändert hätte. Geändert hatten sich
Gesellschaft und gesellschaftliches Bewusstsein. Um den politischen Wandel
zu verstehen, genügt es daher nicht, eine Verfassung zu lesen. Diese muss in
Verbindung mit realer Politik gebracht werden.
825
347 US 4 8 3 (1954).
826
Dazu eingehend und in einer allgemeinen Darstellung etwa H. Schulze-Fielirz,
Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz, in: J.J. H e s s e / G . F . S c h u p p e r t /
K. H a r m s (Hrsg.). Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. Zur
Rolle des Rechts in staatlichen Transformationsprozessen in Europa. 1999. S. 65 ff.. 66 ff.
827
Siehe auch P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbstän-
digen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre
Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 316 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 285
828
Freilich handelt es sich auch um eine deutsche Debatte: der zentrale Einwand, der
gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, insbesondere aber auch gegen die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erhoben wird, lautet, dass Politik im G e -
wand des Rechts betrieben werde, vgl. u. a. E. Bendd, Das Bundesverfassungsgericht im
Spannungsfeld von Recht und Politik, in: Z R P 1977, S. 1 ff.. 4. Die Problematik ergibt
sich aus den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes, das über Fragestellungen zu
entscheiden hat. die von erheblichen politischem Einschlag sind. Die richterliche Stel-
lung wird doppelt kritisiert, einmal im Z u s a m m e n h a n g mit den „ g e h e i m e n " Wahlen und
dem e n o r m e n politischen Einlluss durch die politische N o m i n i e r u n g und des weiteren
aus der politischen Entscheidungskraft d e r einzelnen Richter. Die Literatur versucht ei-
ne Trennung von Unparteilichkeit und Neutralität anzustellen und dabei wird klar, dass
die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zwar unparteiisch, aber nicht neutral bleiben
sollten (dazu M. Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, in: N J W
1976, S . 7 7 7 ff.). Dass ihre Entscheidungen durch die massive Beeinflussung im Zuge der
juristischen Argumentation an politischer Macht verlieren, wird sogar durch Misstrauens-
verfahren nachgewiesen (vgl. E u G H . E u G R Z 1976. S. 11; E u G H . E u G R Z 1983. S . 5 0 0 ) .
Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ge-
genüber anderen Verfassungsorganen wird auch in Deutschland o f t unter dem Stichwort
der political question doctrine geführt. Dabei werden die Möglichkeiten der A n w e n d u n g
dieses aus d e m amerikanischen Recht bekannten Prinzips analysiert, in Hinblick auf die
Ablehnung von Entscheidungen mit hohen politischen Werl durch das Bundesverfassungs-
gericht. Die überwiegende Literatur hält diese Doktrin für unvereinbar mit der Verfassung
der Bundesrepublik und lehnt ihre A n w e n d u n g durch das Bundesverfassungsgericht ab
(S. etwa C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supre-
me Court und des BVerfG. 1996. S. 230: K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und
Gesetzgebung. 1987, S. 175.; C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber,
2. Aufl., 1996. S. 151.; J. Bliiggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch
das Bundesverfassungsgericht. 1998. S. 177 ff.). Der Gedanke zur Entpolitisierung der
Entscheidungen wird jedoch prinzipiell nicht für abwegig gehalten. Dennoch sind es nur
wenige Stimmen in der Literatur, die eine Anwendung der Doktrin für möglich halten, ja
286 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Vereinigten Staaten als Ursprung der hier diskutierten Gestalt der Verfas-
sungsgerichtsbarkeit waren fast zwingend auch der Ausgangspunkt der verfas-
sungsrechtlichen Sensibilität für die sogenannte ..political question". 8 3 1
Mit dem Fall Luther v. Borden (1849) 832 hat der Supreme Court, um zunächst
der Entscheidung politischer Fragen auszuweichen, die Doktrin der „political
question" eingeführt. Der Grundgedanke dieser These ist darin zu sehen, sich
bei verfassungsrechtlich nicht eindeutig entscheidbaren Fällen nicht in den demo-
kratischen Prozess einzumischen. Vordergründig sollte die Rolle des Richters als
politisches Gegengewicht zur Exekutive und Legislative beschränkt werden. In
anderen Worten: weitreichende politische Reformen sollten durch den politischen
Gesetzgeber und nicht durch den Supreme Court eingeleitet werden. 833 So viel zur
Theorie.
Allerdings: Die Rolle des „stillen, aber lauernden Beobachters" kann durchaus
auch bereits eine politische Dimension in sich tragen.
In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lassen sich in der Rechtspre-
chung des Supreme Court zwei Phasen unterschiedlicher Kontrolle feststellen. 834
In der nach dem Präsidenten des obersten Gerichts benannten „Lochner-Ära" (etwa
zwischen 1905 und 1937) wurde das vorwiegend wirtschaftslenkende Gesetzes-
werk einer umfassenden Kontrolle unterzogen („strict scrutinity test"). Basierend
auf der Erwägung, solche Gesetze würden die Vertragsfreiheit und im besonderen
Maße das Eigentumsrecht beschränken, forderte der Supreme Court zu deren
Rechtfertigung substantiell gewichtige öffentliche Interessen, deren Vorliegen er
im einzelnen überprüfte. Annähernd 160 Gesetze hielten schließlich dieser Über-
prüfung nicht stand. Wohingegen sich der Gerichtshof in der sogenannten „Nach-
Lochner-Ära" nach 1937 spürbar zurücknahm und ein Gesetz regelmäßig nur
dann für verfassungswidrig erklärte, wenn es willkürlich, diskriminierend oder
nachweisbar ungeeignet zur Ereichung des Ziels war, das der Gesetzgeber frei
wählen konnte („rational basis test"). Aus dem erstgenannten Stadium der Recht-
sprechung ist eine dissenting opinion des Richters H. F. Stone bemerkenswert, der
1936 in der Blütezeit der sogenannten „New Deal"-Gesetzgebung, in der der
Supreme Court ein landwirtschaftliches Sanierungsprogramm des Präsidenten
Rosseveit für verfassungswidrig erklärt hatte, seine abweichende Meinung wie
folgt begründete:
832
4 8 US (7 How.) 1. 12 L. Ed. 581.
833
Siehe auch B. Kroll. Der S u p r e m e Court - das oberste Gericht der U S A . in: JuS
1987. S. 9 4 4 ff.. 947.
834
Dazu aus dem deutschen S c h r i f t t u m J. Wittmann, Self-restraint als Ausdruck der
Gewaltenteilung, in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat.
Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat. 1999. S. 109 ff., 110 ff. und vor allem W. Brugger.
Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987. S. 38 ff.
288 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
branches of the government is subject to judicial restraint. the only check upon our own
exercise of power is o u r own sense of self-restraint. For the removal of unwise laws from
the Statute books appeal lies, not to the courts. but to the ballot and to the processes of
democratic government."*"
835
United States v. Butler. 297 U.S. 1 (1936).
836
Das Oberste Gericht kann sich also weigern, dort Recht zu sprechen, wo es die
Verantwortung f ü r die Folgen seiner Entscheidung nicht übernehmen kann. Es erklärt dann
solche Fälle zu ..political questions". Als solche werden vor allem Rechtsstreitigkeiten mit
möglichen internationalen Implikationen betrachtet, etwa Konflikte im Bereich der auswär-
tigen Beziehungen (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen. Grenzstreitigkeiten.
Anerkennung von Staaten. Einreiseverweigerungen für Ausländer oder deren Ausweisung).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 289
Die Praxis des Supreme Courts, durch ständige Auslegung den Verfassungstext
veränderten äußeren Umständen anzupassen ist letztlich bedeutsamer als die
die gelegentlich spannungsgeladenere und im Ausland bis heute mehr beachtete
Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts, das jedoch in Wirklichkeit nur einen
kleinen Ausschnitt aus der fortlaufenden Interpretationstechnik der Verfassung
durch die amerikanische Gerichtsbarkeit darstellt. 8 ' 7
In den Vereinigten Staaten wird die Betrachtung von Problemkreisen der Ver-
fassungsgerichtsbarkeit gerne auf den Begriff der „counter-majoritarianism" re-
duziert. also auf das Problem der „gegen-Mehrheitlichkeit". Anders als etwa in
Deutschland oder Österreich dient letzteres vielen als eines der führenden Para-
digmen des amerikanischen Verfassungsrechts schlechthin. S3S Grundsätzlich ist
die Debatte über das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokra-
tie und Rechtsstaat umfangreich und kann hier nicht verfolgt werden. 839 Hierbei
wird bemängelt, dass meist auf lange Zeit gewählten und nur unzureichend oder
gar nicht verantwortlichen Richtern die Kompetenz erteilt wird. Gesetze eines
demokratisch legitimierten Parlaments zu annullieren. Gerichte würden auch
diesbezüglich Politik treiben, anstatt Recht zu sprechen. Befürworter wollen da-
gegen das demokratische Prinzip durch Theorien über die „Selbstbindung" der
Legislative und die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten retten" 0 . Für
837
So bereits K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinig-
ten Staaten. 1959. S . 3 6 .
s 58
Hierzu insbesondere A Bickel, T h e Least Dangerous Branch - T h e S u p r e m e Court
at the Bar of Politics, 1962. Es sind j e d o c h vermehrt Stimmen vernehmbar, die einer allzu
erhöhten Stellung dieses G e d a n k e n s kritisch gegenüberstehen, vgl. nur B.A.Ackerman,
T h e Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984), S. l()13ff.
S. 1016: „Hardly a year goes by without some learned professor a n n o u n c i n g that he has
discovered the final Solution to the countermajoritarian difficulty. or, even more darkly,
that the countermajoritarian difficulty is insolvable." Siehe auch E. Chemerinsky, T h e
S u p r e m e Court 1988 Term - Foreword: T h e Vanishing Constitution, in: 103 Harvard
L. Rev. (1989). S . 4 3 f f . ; ders., T h e Price of Asking the Wrong Question: An Essay on
Constitutional Scholarship and Judicial Review, in: 62 Texas L. Rev. (1984). S. 1207 ff.:
B. Friedman. Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993), S. 577 ff.;
jVf. V. Tushnet. Anti-Formalism in Recent Constitutional Theory, in: 83 Michigan L. Rev.
(1985), S. 1502 ff.; mit dem Versuch einer Umkehrung der Problematik („the majoritarian
difficulty") auch S. Croley, T h e Majoritarian Difficulty: Elective Judiciaries and the Rule
of Law. in: 62 T h e University of Chicago L. Rev. (1995), S. 689 ff.
839
Für die amerikanische Diskussion wohl am bekanntesten A. Bickel (1962) und
J.H. Ely, Democracy & Distrust. 1980; vgl. allgemein M. Cappelletti, T h e Judicial Process
in Comparative Perspective. 1989. S. 3 ff.; für das deutsche Recht ist die Auseinanderset-
zung in der Weimarer Republik zwischen C. Schmitt und H. Kelsen immer noch äußerst
beachtenswert.
840
Vgl. etwa U.K. Preuß, Umrisse einer neuen konstitutionellen Form des Politischen,
in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, erw. Neuausg. 1994. S. 123 ff.
290 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
jVf. Cappelletti drücken Verfassungen die Positivierung höherer Werte aus. und
Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Methode zur Durchsetzung dieser Werte 841 .
Dieser normative Streit muss an dieser Stelle nicht gelöst werden, unabhängig
davon, dass er wohl kaum plausibel auflösbar ist. 842 . Entscheidend ist, dass diese
Debatte - mit annähernd den gleichen Argumenten auf beiden Seiten - überall
dort auftreten wird, wo die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt wird und sich
gegenüber der Politik emanzipiert. Auf der einen Seite steht dabei typischerweise
die Ideologie der „Volkssouveränität", die verfassungsgerichtliche Beschränkun-
gen des Mehrheitswillens als „undemokratisch" verwirft. Auf der anderen Seite
offenbart sich der „Konstitutionalismus", welcher die Bindung der Politik an eine
Verfassung als Eigenwert begreift und den Mehrheitswillen diesen Bindungen
unterordnet. Der „Legalismus" steht wohl zwischen diesen Prinzipien. Er verweist
zwar auf die Herrschaft des Rechts über die Politik - und damit auf den „Rechts-
staat", ist aber weniger mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, als eher mit
dem gesetzgebenden Parlament verbunden.
1,41
M. Cappelletti (1989), S. 118. 120. Freilich ließe sich pragmatisch argumentieren,
dass es schlicht sinnvoll sei, eine Instanz zu schaffen, die auf juristischem Wege politische
Konflikte letztendlich entscheidet. Dies setzt aber voraus, dass man die Vorherrschaft des
Rechts anerkennt.
* 42 Einiges m a g d a f ü r sprechen, die Institution des Verfassungsgerichts als „Dritte
K a m m e r " des legislativen Prozesses zu begreifen (vgl. A. Stone, T h e Birth of Judicial
Politics in France. 1992. S. 209 ff.). W i e bereits der „ S c h ö p f e r " des europäischen Modells
der Verfassungsgerichtsbarkeit. H. Kelsen. festgestellt hat. wird ein Verfassungsgericht
unvermeidlich legislativ tätig.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 291
Die Idee und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit griff in Europa erst spät
Platz. Zwar gab es in Westeuropa Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen
Ländern einige Bestrebungen, die Gesetzgebung einer Verfassungsmäßigkeitsprü-
fung zu unterwerfen. Aber nur in Österreich gelang es 1920 unter dem Einfluss
des Staatsrechtlers H. Kelsens, ein wirklich aktives Verfassungsgericht in der
Verfassung zu verankern. Die Ausbreitung dieser Institution fand in Westeuropa
erst nach dem zweiten Weltkrieg statt. Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit kein
unabdingbares Element einer Demokratie ist, zeigen die vielen als demokratisch
verstandenen Staaten, die über diese Institution nicht verfügen, so wie etwa Eng-
land. Auch Frankreichs court constitutione! verfügt nicht über die Kompetenzen
z. B. des deutschen Verfassungsgerichts und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten
eine größere Rolle im politischen System erkämpfen können.
843
G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics. in: A m e r i c a n Journal of Political
Science, No'. 2, vol. 32, 1988. S. 369 ff.
844
Dazu etwa D. P. Kommers, T h e Supreme Court and the Constitution: T h e Continuing
Debate on Judicial Review, in: T h e Review of Politics. No. 3, vol. 47, 1985. S. 113 ff.
845
Hierzu beispielsweise das wichtige Werk von H. Levinson. Constitutional Faith.
1989.
846
Die Konzeption des Rechtsstaats war alles andere als eine universelle Idee, sondern
hat sich in einem ganz bestimmten sozio-politischen Umfeld entwickelt. Sie entstand in
292 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Deutschland aus d e m für die Restaurations/.eit nach den Unruhen von 1848 charakteristi-
schen Kompromiss z w i s c h e n Liberalismus und Konservatismus. Deswegen unterscheidet
sie sich historisch auch grundlegend von der Idee der ..Rule of Law". Die Ideologie der „Ru-
le of Law" entstand historisch in England unter dem Einfiuss einer starken Mittelklasse, die
das Parlament kontrollierte und einer relativ schwachen königlichen Bürokratie, während
die kontinentalen Rechtsstaatsprinzipien sich vor d e m Hintergrund von machtvollen und
zentralisierten Bürokratien entwickelten, dessen Türen die ..Bourgeoise" nicht niederrei-
ßen konnte, sondern an denen sie anklopfen musste, um Zugeständnisse zu erreichen. Der
..Rechtsstaat" e r w i e s sich flexibel genug, um im monarchisch-bürokratischen Kaiserreich
genau w i e der Weimarer Republik und der Bundesrepublik eine der tragenden Staatsprin-
zipien zu sein. Der Inhalt des Begriffs hat sich jedoch seit seinem ersten Gebrauch radikal
verändert, wenn man seine heutige Bedeutung im deutschen Staatsrecht, die auch demokra-
tische und sozialstaatliche Aspekte umfaßt mit der Vorstellung vergleicht, die seine frühen
Verfechter hatten. Ähnliches gilt für die „Rule of law". War diese Doktrin anfänglich vor
allem eine liberale Philosophie, hat in den USA unter ihrem Banner der S u p r e m e C o u r t
eine Rechtsprechung geschaffen, die den Staat auf die Durchsetzung von Bürgerrechten
v e r p f l i c h t e t - e i n e am A n f a n g des 19. Jahrhunderts undenkbare Entwicklung. Eine Minimal-
definition des „Rechtsstaats" könnte gleichwohl auch den Begriff „Rule of Law" umfassen.
Eine u m f a s s e n d e Bibliographie zum T h e m e n k o m p l e x „Rule of L a w " findet sich auf der
Website der Wellbank unter http:/Avwwl.worldbank.org/publicsector/legal/annotated.pdf.
847
Auch wenn der soziale Rückhalt hinreichen sollte, absichtliche Verfassungsverstöße
zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungs-
rechtliche Anforderungen ausschließen, vgl. auch D. Grimm. Verfassung, in: Staatslexikon,
hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft, 7. Aufl.. Bd. 5, 1989 und 1995. S. 6 3 4 ff.. 639.
848
Bei einem Scheitern dieser „vor-gerichtlichen W i r k u n g " ist es dann A u f g a b e eines
funktionierenden Verfassungsgerichts, die Verfassung dem politischen o d e r gesellschaftli-
chen Streit zu entziehen und ihrer in diesem Fall entscheidenden Funktion als Konsensbasis
widerstreitender Interessen wieder zuzuführen. D.Grimm (1989 und 1995) betont aber
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 293
853
Vgl. beispielsweise U. Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer u. a.
(Hrsg.), Gedächtnisschrift E.Grabitz, 1995, S . 5 7 f f . : ders.. Die Rolle des Europäischen
Gerichtshofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union. 1995. S. 256 ff.:
M.A. Dauses, Aufgabenteilung und judizieller Dialog zwischen den einzelstaatlichen
Gerichten und dem EuGH als Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens. in:
O . D u e u.a. (Hrsg.), Festschrift für U.Everling. 1995. Band 1, S . 2 2 3 f f . : C.Tomuschat,
Die Europäische Union unter der Aufsicht des. Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ
1993, 489 ff.. 494 f.: M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates
im Prozess der europäischen Integration - Bemerkungen zum Maastricht Urteil, in: DV-
Bl. 1994. S. 316 ff.. 323 f.: H. Gersdorf. Das Kooperationsverhältnis zwischen deutscher
Gerichtsbarkeit und EuGH, in: DVB1.1994. S. 674 ff.
854
Diese folgenden Elemente (und gegebenenfalls Prinzipien) sind teilweise an Ge-
danken von R. Lhoita, Paper zur gemeinsamen Tagung von DV'PW. ÖGPW und SVPW
am 8./9. Juni 2001 in Berlin zum Thema: ..Der Wandel föderativer Strukturen", Verfas-
sungsgerichte im Wandel föderativer Strukturen - eine institutionentheoretische Analyse
am Beispiel der BRD. der Schweiz und Österreichs. 2001. angelehnt. Lhoita bettet seine
Überlegungen freilich primär in eine Betrachtung bundesstaatlicher Besonderheiten ein.
855
Bei den als hochgradig politisch rezipierten Entscheidungen kann jedoch die Akzep-
tanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen rasch absinken. Dies hat etwa der Nachhall
zum Präsidentschaftsurteil ..Bush-Gore" in den Vereinigten Staaten (1998/99) oder in
Deutschland auf den „Kruzifix-Beschlusses" (BVerfGE 93,1) des BVerfG gezeigt. So-
weit eine unterlegene Prozesspartei scharfe Kritik übt. ist sie verständlich und meist auch
bald vergessen, (vgl. zur ..Richterschelte in Deutschand" etwa H.-J. Vogel. Videant Judi-
ces! Zur aktuellen Kritik am. Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978. S. 665 ff.). In
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 295
Auch die Selbstorganisation als die Fähigkeit einer Institution, interne Struktu-
ren herauszubilden, um ihre Ziele zu verwirklichen und mit ihrer Umwelt umzu-
gehen. gehört in den Reigen typischer, zumindest wünschenswerter Merkmale der
Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier ist auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Ver-
fassungsgerichte zu achten sowie auf die Art und Weise, wie das Selbstverständnis
der Gerichte in eine eher streitentscheidende (richtende) oder streitvermittelnde
(integrierende) Tätigkeit u n d / o d e r aktivistische bzw. zurückhaltende Spruchpra-
xis umgesetzt wird. 8 5 6 Daneben ist die Fähigkeit der Institution hervorzuheben,
ihr eigenes Arbeitsaufkommen selbst zu steuern und Prozeduren zu entwickeln
sowie Aufgaben schnell und effizient zu lösen. s 5 7
Unter den Begriff der verfassungsgerichtlichen Kongruenz soll der Grad ge-
fasst werden, in d e m intrainstitutionelle Beziehungen die sozialen Beziehungen
abbilden, die sie zu regeln beanspruchen. Hier wird man zweierlei zu berücksich-
tigen haben: Z u m einen richtersoziologische Aspekte, die sich darauf beziehen,
inwieweit sich die parteipolitische sowie bikamerale Mitbestimmung bei der
Richterwahl signifikant auf die Spruchpraxis der Verfassungsgerichte auswirken.
Allem Anschein nach ist dies (soweit hierzu überhaupt Daten vorliegen) weder in
jüngster Zeit indessen wird die Kritik anläßlich einiger Entscheidungen des Gerichts oder
seiner Kammern grundsätzlicher. E. IV. Böckenförde etwa hat die Gefahr des Übergangs
zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" bzw. „Verfassungs-Areopag" beschwo-
ren (siehe ders., Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 ff., 25),
B. Großfeld von „Götterdämmerung" geschrieben (ders., Götterdämmerung? Zur Stellung
des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995. S. 1719 ff.) andere haben den Autoritätsver-
lust des Gerichts beklagt. Politik. Publizistik und Volkesmeinung in Leserbriefen und De-
monstrationen reagierten nach den sog. ..Soldaten sind Mörder"-Entscheidungen (BVerfGE
86. 1 ff.: BVerfG. NJW 1994. 2943 ff.) und dem sog. Kruzifix-Beschluß des Ersten Senats
noch viel schärfer. Frühere Kritiken sprachen vom ..govemment of judges", von ..rich-
terlicher Zensur", von „richterlichem Veto" oder ähnlichen Charakterisierungen (siehe
m.w.N. die Zusammenstellung bei K.Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht
und Politik. 1980. S. 17).
856
So auch R. Lhotta (2001).
857
Hier geht es primär um Variablen wie die Zahl der Richter, der Senate, der Assis-
tenten. der Vorselektionsverfahren für Annahme/Ablehnung sowie Geschäftsordnungen,
mit denen die Verfassungsgerichte institutionell auf die anfallenden Aufgaben reagieren.
296 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Eine künftige Aufgabe der vergleichenden Forschung sollte es sein, die insti-
tutionellen M e r k m a l e und Variablen zur Ermittlung des Einflusses von Verfas-
sungsgerichten auch in ihren Unterschieden klarer herauszuarbeiten und besser
aufeinander abzustimmen, um die zweifellos weiter notwendige Analyse von Ent-
scheidungen der Verfassungsgerichte institutionentheoretisch rückzukoppeln und
auf diese Weise mehr über den faktischen Wirkungsgrad und die Rolle der Ver-
fassungsgerichte als maßgebliche Beteiligte am staatlichen und gesellschaftlichen
Wandel zu erfahren.
858
Einen hohen praktischen Stellenwert für seine Funktion als Rechtsmittelgericht
nehmen die die Appellationszuständigkeit begründenden N o r m e n von 28 U . S . C . Section
1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus) ein.
Nach einer erheblichen Beschränkung des als ..appeal" bezeichneten Rechtsbehelfs durch
den 1988 erlassenen Judicial Improvemems and Access to Justice Act. biden die sogenannten
„certiorari-Verfahren" den bei weitem größten Teil der z u m S u p r e m e Court k o m m e n d e n
Verfahren. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer ..petition for certiorari",
den Fall zur Entscheidung anzunehmen, vgl. hierzu auch C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen
in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts.
1996. S. 17 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 297
859
Die folgende Aufzählung ist - auch bezüglich inhaltlicher Komponenten - ange-
lehnt an eine Katalogisierung typischer Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit durch
P. Huberte, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 465 ff. Ob sich wenigstens ei-
nige dieser Elemente zu ..Prinzipien der Verfassungsgerichtsbarkeit" erheben ließen, sei
als (noch) offene Frage nur angedeutet.
860
Vgl. ausführlich zum Themenkreis der richterlichen Unabhängigkeit in den Verei-
nigten Staaten J. Zätzsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA
und Deutschland. 2000.
861
Im Kontext mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung steht es außer Zweifel, dass die
Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungs-
gerichte der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter
Gewalt ist. Dies belegt ein Blick auf die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von
Gesetzen seit Marbury v. Madison über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht auch
in Deutschland, der im übrigen nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. No-
vember 1925 (vgl. RGZ 111. 320) begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht
(zur Geschichte G. Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufl. 1919.
S. 736 ff.).
862
Siehe auch J. Herrmann. Die Unabhängigkeit des Richters?, in: Deutsche Richter-
zeitung 1982, S . 2 8 6 f f . Kürzlich H.J.Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre
Schranken, in: NJW 2001. S. 1089 ff. Bereits früh in rechtsvergleichender Perspektive
F. Decker. Die Unabhängigkeit der Richter. Ein Bericht über den Internationalen Richter-
Kongress in Rouen. in: Deutsche Richterzeitung 1953. Seite 158 ff. Da die richterliche
Unabhängigkeit die Gefahr mit sich bringt, dass ein einmal in ein bedeutendes Amt vorge-
298 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
rückter Richter dieses gegen die Demokratie missbrauchcn kann, gibt es in vielen Staaten
die Möglichkeit der Richteranklage.
863
P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6, S . 4 6 6 .
864
Vgl. W.J. Witteveen. T h e Symbolic Constitution, in: B. v. Roermund (Hrsg.), Consti-
tutional Review - Verfassungsgerichtsbarkeit - Constitutionele Toetsing: Theoretical and
Comparative Perspectives. 1993. S . 7 9 f f . , 79.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 299
865
Vgl. auch W.H. Rehnquist, The Supreme Court. How It Was - How It Is. 1987.
S. 235 ff.
866
Siehe auch K. Stern. Der Einfluß der Verfassungsgerichte auf die Gesetzgebung
in Bund und Ländern, in: H.H. Klein/H. Sendler/K. Stern (Hrsg.). Justiz und Politik im
demokratischen Rechtsstaat. Interne Studien der Konrad Adenauer Stiftung Nr. 119/1996.
1996.
867
Vgl. W. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobach-
tungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. S. 319 ff.
300 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
868
Siehe B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und D y n a m i k im Verfas-
sungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 1982, S. 162 ff.
869
Siehe P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 317.
s
" Heute ergehen nur noch wenige Entscheidungen des S u p r e m e C o u r t s einstimmig.
Stimmt ein Richter zwar mit d e m Ergebnis der von einer Mehrheit getragenen Entscheidung,
nicht aber mit deren B e g r ü n d u n g oder Herleitung überein. so verfasst er im Allgemeinen
eine ..concurring opinion", in der er seine Rechtsauffasung darlegt. Ist er mit dem tatsäch-
lichen Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine „dissenting o p i n i o n " o d e r / u n d
schließt sich der eines Kollegen an. C o n c u r r e n c e s und Dissents können sich auch nur
auf Teile einer Entscheidung beziehen. Beide stehen in der Tradition der aus der engli-
schen Gerichtspraxis s t a m m e n d e n „seriatim opinions". Vgl. zu Bedeutung, Praxis und
Geschichte der Sondervoten beim S u p r e m e C o u r t . K.-H. Millgramm, Separate Opinion
und Sondervotum in der Rechtsprechung des S u p r e m e Court of the United States und des
Bundesverfassungsgerichts, 1985. S . 5 9 f f .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 301
871
Z u m Vorrang der Verfassung u. a. allgemein R. Wald. Der Vorrang der Verfassung,
in: Der Staat 20 (1981), S. 4 8 5 ff.
872
Dazu auch E. W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit. Strukturfragen. Organi-
sation. Legitimation, in: N J W 1999. S . 9 f f . , 11 f.
873
Auf der Grundlage der Unterscheidung von ..pouvoir constituant" und ..pouvoirs
constitues".
874
Das Zitat findet sich bei G. Stonrzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichts-
barkeit: Z u m Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: ders.. Wege zur
Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen
Verfassungsstaates. 1989. S. 55 ff.. 64.
875
So P. Hiiberle. Die o f f e n e Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzei-
tung 1975. S. 297 ff.
876
E. IV. Böckenförde. Grundrcchtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: N J W 27
(1974). S. 1529 f.
302 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Priorität e r k e n n e n k a n n , d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n i n d e n n a c h 1990 g l ü c k l i c h
„ g e w e n d e t e n " Staaten r u n d u m das z e r f a l l e n e S o w j e t r e i c h o d e r auch i n S ü d a f r i k a
z u e r k a n n t wird. 8 7 7
877
In den Niederlanden wird hingegen der politische Test an der Verfassung eher poli-
tischen Institutionen (einschließlich dem ..politisch-rechtlichen Halbblut", dem Raad van
State) überlassen. Vgl. auch E. Blankenburg, Die Verfassungsbeschwerde - politisches
Instrument und Klagemauer von Bürgern. 1997. der darauf verweist, dass ,.|e|ine an sich
selbst gewöhnte Demokratie wie etwa die der Niederlande bislang an jegliche richterliche
Kontrolle der Gesetze an der Verfassung verzichten zu können |glaubt|: sie muss sich dann
gelegentlich von europäischen Richtern vorhalten lassen, dass ihre Institutionen nicht den
inzwischen normierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtsverwirkli-
chung entsprechen", siehe auch Benthem vs Staat der Nederlande, EGMR 23 Oktober 1985.
Grundsätzlich fand die französische Gerichtsbarkeit einen starken Widerhall in der euro-
päischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei ist in besonderem Maße die formale Prägung
durch gewisse Auslegungsmethoden und Stilelemente spürbar, vgl. dazu auch C. Back,
Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998),
S. 58 ff.. 101 ff.. I43ff: P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. JB1
2000. S. 691 ff.. 694 f. Obgleich diese anfänglich eher historisch ausgerichtet und klar vom
Vorrang und der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts, des Code Napoleon, beeinflusst
waren.
878
Beispielhaft das gesteigerte öffentliche Interesse in Deutschland, das durch sozial
relevante und kontroverse Entscheidungen und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes
geweckt wurde, vgl. hinsichtlich der gesteigerten Kritik am Bundesverfassungsgericht:
H.J. Vogel. Videant Judices! - Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht. DÖV
1978. S.665ff: R. Lamprecht. Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996: H.-
P. Schneider. Acht an die Macht! Das BVerfG als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus?,
in: NJW 1999. S. 1303 ff.
879
Dazu oben B.II.2.f)nn).
880
Auf eine eingehendere Darstellung des zweiten „europäischen Verfassungsgerichts",
dem EGMR. wird an dieser Stelle verzichtet, vgl. aber K. W Weidmann. Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof.
1985: R. Bernhardt. Europäische Menschengerichtsbarkeit, in: P.-C. Müller-Graff/H. Roth
(Hrsg.). Die Praxis des Richterberufs. 1999. S. 119 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 303
Schon bislang war das interne Gewaltengefüge der Europäischen Union durch
ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet. Bedingt durch diese Komplexität
sowie die z u n e h m e n d e Dynamik des europäischen Integrationsprozesses ist die
Bestimmung der angemessenen Rolle der dritten Gewalt in der Europäischen
Union mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als in staatlichen Herr-
schaftssystemen. Die dritte Gewalt wird in der Europäischen Union durch den
EuGH S ! i l sowie das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz (EuG) ausgeübt. D e m
Gerichtshof kommt nach den Gemeinschaftsverträgen eine starke Rolle als „Hüter
des Gemeinschaftsrechts" zu. In Ausführung dieser ihm übertragenen Aufgabe hat
der Gerichtshof über Jahrzehnte eine bestimmende Rolle im Integrationprozess
innegehabt. Insbesondere hat er wesentlich zum Ausbau der G e m e i n s c h a f t als
„Rechtsgemeinschaft" beigetragen.
Eine weitere wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs liegt in der Sicherung der
Einheit des Gemeinschaftsrechts. Auf diesem Gebiet hat der EuGH durch seine
Rechtsprechung die Entstehung eines hoch effizienten Systems zur Sicherung
!,sl
Aus der uferlosen Lit. zum EuGH: J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als
Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983; G.G. Saner, Der Europäische Gerichts-
hof als Förderer und Hüter der Integration. 1988; O. Dörr/ U. Mager, Rechtswahrung
und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR
125 (2000). S. 386 ff.; P. Häherle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 478 ff.;
\V. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc
Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfas-
sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas. 1998; P. Pernthaler. Die
Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestal-
tenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier,
Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997; G.Hirsch. Der EuGH
im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000.
S. 1817 ff.; M.P. Maduro, We the Court. The European Court of Justice and the European
economic Constitution. 1998.
304 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Nun geht der Aufgabenbereich des E u G H über den allgemeinen Bereich der
Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus, indem er - wie erwähnt - verwaltungsgericht-
liche Elemente, aber auch zivilrechtliche und zivilprozessuale Zuständigkeiten 8 "
852
Zivilprozessualer Art sind die Zuständigkeiten des E u G H nach dem Europäischen
Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen ( E u G V Ü )
von 1968. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche werden ausführlich von T. Oppermann,
Europarecht, 2. Aufl 1999. Rdnrn. 709 ff.. 372 ff. m. w. N. geschildert.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 305
..Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiziger Gedanke
vor: die Verfassungsstruktur der Gemeinschaft mit einem obersten Gericht zu krönen, das
im vollen Sinn des Wortes Verfassungsorgan war. einem Gericht wie der amerikanische
Supreme Court in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall, unter
dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in
der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann."" 5
883
So etwa T. Oppermann (1999). Rdnr. 382; II. Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssys-
tems der EU. in: ZRP 2000. S . 5 2 f f „ 56; U.Everling, Zur Funktion des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften als Verwaltungsgericht, in: B. Bender (Hrsg.), Rechts-
staat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker. 1993.
S. 293 ff., 294. nennt den EuGH „Universalgericht".
884
Von 1 9 5 2 - 1 9 5 7 war der EuGH zunächst Gerichtshof der EGKS. seit 1958 ist er
laut Art. 3 f. des Abkommens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaf-
ten vom 2 5 . 3 . 1 9 5 7 i.V.m. Art. 220 ff. EGV. 136 ff. EAGV. 31 ff. EGKSV gemeinsamer
Gerichtshof der drei Gemeinschaften.
885
W. Hallstein. Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 110.
886
Siehe hierzu J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und
Rechtsschutzinstanz. Einführung und Problemaufriß, in: ders. (Hrsg.), Der Europäische
Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983. S. 20 f.; J. Coppel/A.
O'Neill. The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: 29CMLRev. (1992),
S. 669 ff.; F. Jacobs. Is the Court of Justice of the European Communities a Constitutional
Court?, in: D. Curtin/D. O'Keeffe (eds.), Constitutional Adjucation in European Commu-
nity and National Law, Dublin 1992; J. H. H. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously"
Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, in: 32 CMLRev.
(1995). S. 51 ff. 59 ff.; J. Rinze. The Role of the European Court of Justice as Federal Consti-
tutional Court, in: Eur. Public Law 1999. S. 426 ff.: J. Schwarze, The Procedural Guarantees
in the Recent Case-law of the European Court of Justice, in: D. Curtin/T. Heukels (eds.),
Institutional Dynamics of European Integration. Essays in Honour of Henry G. Schermers.
Vol. II. Dordrecht 1994. S.487 ff.
306 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ss7
Mit Hilfe „transatlantischer Rechtsvergleichung" könnte der Versuch unternommen
werden, methodische Ansatzpunkte für eine „europäische" T h e o r i e der Verfassungsge-
richtsbarkeit erkennen zu lassen, wobei neben jeweils originären Merkmalen auch die
Übertragbarkeit gewisser traditioneller theoretischer, dogmatischer und organisatorischer
Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die europäische Wirklichkeit zu untersuchen
w äre. Basierend auf der theoretischen Diskussion ließe sich zudem die etwaige Möglichkeit
zur Adaption zukunftsfähiger institutioneller Charakteristika analysieren. Der E u G H selbst
hat 1999 ein Reflexionspapier veröffentlicht (www.curia.eu.int/de/pres/persp.htm), das die
Forderung nach institutionellen Reformen zum Inhalt hat. Dazu G. Hirsch. Dezentralisie-
rung des Gerichtssystems der Europäischen Union?, in: Z R P 2 0 0 0 . S. 57 ff., H. Rösler
(2000). S. 53 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 307
D e n g e n a n n t e n P r o b l e m k r e i s e n liegt d a b e i e i n e g e m e i n s a m e F r a g e s t e l l u n g z u -
g r u n d e , die w i e d e r u m s p i e g e l b i l d l i c h m o d e r n e u n d k o n s e r v a t i v e A n s a t z p u n k t e
z u reflektieren w e i ß : W i e w i r k t sich d e r E n t w i c k l u n g s g r a d e i n e r V e r f a s s u n g auf
d a s ( S e l b s t - ) V e r s t ä n d n i s von V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t a u s ? Höchstrichterliches
*** Ausführlich etwa F. C. Mayen Wer soll Hüter der Europäischen Verfassung sein?, in:
AöR 129 ( 2004). S. 411 ff. In diesem Kontext interessant: die dem Richteramt angemessene
Zurückhaltung schloß manches deutliche Wort in den Arbeiten etwa von G.C. Rodriguez
Iglesias zur Rolle und zum Selbstverständnis des Gerichtshofes dennoch nicht aus. So
schrieb er in einem Artikel über den Gerichtshof als Verfassungsgericht (vgl. ders.. Der
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht. 1992): ..Die Rol-
le des Gerichtshofes als sogenannter .Motor der Integration' soll nicht seiner Rolle als
.Hüter der Gemeinschaftsverfassung* gegenüber gestellt werden. Es handelt sich vielmehr
um einen Bestandteil seiner Rolle als Hüter der Gemeinschaftsverfassung". An anderer
Stelle kritisierte er in unmissverständlicher Weise das dem Maastricht-Vertrag beigefügte
sogenannte ..Barber-Protokoll". das der noch zu entscheidenden Auslegung eines Urteils
des Gerichtshofes vorzugreifen versuchte, als Eingriff seitens des Verfassungsgebers in die
auch in der Gemeinschaftsordnung herrschende Gewaltenteilung. Dass die mit aller gebote-
nen Zurückhaltung eines amtierenden Richters geäußerte Auffassung auch Wirkung haben
kann, mag man aufgrund der im Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Änderung des Art.
L d e s Unionsvertrages vermuten: In dem eben genannten Beitrag hatte Rodriguez Iglesias
seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass Art. F des Maastrichter Vertrages - der
Grundrechtsschutzartikel - zwar eine vertragliche und damit verfassungsrechtliche Bestä-
tigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes darstellt, Art. L des Maastrichter Vertrages
dem Gerichtshof die Rechtsprechungsbefugnis über Art. F aber vorenthielt. Die jetzige
Änderung von Art. L im Vertrag von Amsterdam übertrug dem EuGH ziemlich genau
jene Jurisdiktion hinsichtlich Art. F. die Rodriguez Iglesias damals als notwendig und
systemgerecht beschrieben hatte.
889
P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 258 ff. Siehe auch
K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Auflage
1995 (Neudr. 1999). S. 19 ff.: R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungs-
interpretation. 1976.
308 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
890
Dieser Zusammenhang wird unten in B.II, und V. illustriert.
891
Vgl. schon A. W. Green. Political Integration by Jurisprudence. The Work of the Court
of Justice of the European Communities in European Political Integration. 1969. Kap. VII:
..The court builds a system of Community law.'*. Zum Satz ..More Pow erful Than Intended"
vgl. den gleichlautenden Aufsatz in der Financial Times vom 22. August 1974. Siehe
auch K.J.Alter Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence.
A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: A.-M. Slaughter/A. Stone-
S w e e t / J . H . H . Weiler (Hrsg.). The European Court and National Courts. Doctrine and
Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998. S. 227 ff.. 227: W. Dänzer-Vanotti.
Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due/
M . L u t t e r / J . Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band 1, 1995, S.205ff;
K. Lenaerls, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians in the
European Community, in: Yearbook of European Law 12 (1992), S. 1 ff.
892
Vgl. J.H.H. Weiler Journey to an Unknown Destination. A Retrospective and
Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, in: Journal
of Common Market Studies 31 (1993), S . 4 1 7 f f . Zum Begriff ..Motor . . . " U. Everling,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 309
D i e Kritik a m E u G H n a h m i n d e n n e u n z i g e r J a h r e n zu. 8 9 5 D i e f r a n z ö s i s c h e N a -
tionalversammlung beklagte in einer Erklärung wortreich die ausgedehnte Kom-
p e t e n z a n m a ß u n g des E u G H . 8 9 6 N a h e z u zeitgleich legte d i e b r i t i s c h e R e g i e r u n g
ihr M e m o r a n d u m z u r s o g e n a n n t e n „ k o r r i g i e r e n d e n K o d i f i k a t i o n " e u r o p ä i s c h e n
Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union, in:
Europarecht 32 (1997). S. 398 ff., 398 f. Zur Bedeutung des EuGH als Motor der Integration
C.-D. Ehlermann, The European Communities, its Law and Lawyers. in: Common Market
Law Review 29 (1992). S. 213 ff., 218; G.F.Mancini. The Making of a Constitution for
Europe. in: Common Market Law Review 26 (1989), S. 595 ff.; M.LVolcansek. The
European Court of Justice. Supranational Policy-Making. in: West-European Politics 15
(1992). S. 109 ff.. 109.
893
So K. Bahlmann, Europäische Grundrechtsperspektiven, in: B. Börner u. a. (Hrsg.),
Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag. 1984.
S. 17 ff., 19.
894
J.H.H. Weiler. The Community System. The Dual Character of Supranationalism.
in: Yearbook of European Law (1981). S. 267 ff.; siehe auch ders., The Transfomation of
Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff. Demgegenüber hat H.Rasmussen
dem EuGH vorgeworfen, ohne demokratisches Mandat weit außerhalb der vertraglichen
Ermächtigung zu agieren und dabei die erkennbaren Absichten der Mitgliedstaaten igno-
riert. ja, deren Kompetenzen an sich gerissen zu haben, vgl. H. Rasmussen, On Law and
Policy in the European Court of Justice, 1986. Rasmussens Kritik ist auf fruchtbaren
Boden gefallen. Zeitgleich unternahmen die Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung der
Einheitlichen Europäischen Akte den Versuch, verlorenes Terrain gegenüber dem EuGH
zurückzugewinnen.
895
Aus der Lit. K.J.Alter. The European Court's Political Power. The Emergence of
an Authoritative International Court in the European Union, in: West European Politics
19 (1996), S. 458 ff., 462; dies.. Who Are the ..Masters of the Treaty"? European Go-
vernments and the European Court of Justice, in: International Organization 52 (1998),
S. 121 ff., 132 f.; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften. 1997. S. 1; U.Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randclzhofer/R. Scholz/
D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. 1995. S. 57 ff.. 73 f.; G. Roller.
Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entschei-
dungen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel der Umweltpolitik, in: AöR
123 (1998), S. 21 ff., 24; H.H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch
den Amsterdamer Vertrag?, in: JuristenZeitung 53 (1998). S. 213 ff.. 215: E. Schultz. Die
Legitimitätsprobleme des Europäischen Gerichtshofes und die Auswirkungen auf seine
institutionelle Autonomie, in: S. Pfahl/E. Schultz/C. Matthes/K. Seil (Hrsg.), Institutio-
nelle Herausforderungen im Neuen Europa. Legitimität, Wirkung und Anpassung, 1998.
S. 57 ff.; J.H.H. Weiler. The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991),
S. 2403 ff.; B. de Witte. Community Law and National Constitutional Values. in: Legal
Issues of European Integration (1991/92), S. Iff. 3.
896
Assemblee Nationale, Quelles reformes pour 1'Europe de demain?, Rapport
d'information no 1939, Paris 1996. S. 24.
310 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
897
M e m o r a n d u m des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom
23. Juli 1996. C O N F 3 8 8 3 / 9 6 . Anlage. Vgl. auch W. Hummer/W. Obwexer, Vom „Geset-
zesstaat zum Richterstaat" und wieder retour? Reflexionen über das britische M e m o r a n d u m
über der E u G H vom 23. 7. 1996 zur Frage der ..korrigierenden Kodifikation" von Richter-
recht des E u G H , in: E Z W (1997) 10, S. 2 9 5 ff.. 301 ff.
898
So etwa W. Schäuble, damal. Vorsitzender der C D U / C S U - B u n d e s t a g s f r a k t i o n , am
3. D e z e m b e r 1999 in der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel in
Helsinki (vgl. das Amtl. Protokoll des Tages).
899
Dazu etwa die Editorial Comments. Qiiis Custodiet the European Court of Justice?,
in: C o m m o n Market Law Review 30 (1993), S. 8 9 9 ff.
900
Interview in DIE Z E I T vom 22. Oktober 1998. ..In der Unterwelt der Ausschüsse",
S.9.
901
Vgl. Rs. C - 3 7 8 / 9 8 Deutschland v. Europäisches Parlament (2000). Urteil vom 5. Ok-
tober 2 0 0 0 über die RL 9 8 / 4 3 / E G (sog. Tabakwerbeverbot). Besondere A u f m e r k s a m k e i t
verdient die unter Rdnr. 83 ausgeführte Begründung: ..Diesen Artikel Ii. e. Art. 100a EGV]
dahin auszulegen, dass er d e m Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur
Regelung des Binnenmarktes gewähre, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genann-
ten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit d e m in Artikel 3b EG-Vertrag
niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der G e m e i n s c h a f t auf Einzelermächtigun-
gen b e r u h e n . " Das Gericht bezieht sich auf Art. 3b EG-Vertrag, um mit der begrenzten
Einzelermächtigung die Nichtzuständigkeit der G e m e i n s c h a f t festzustellen, als sei diese
erst mit diesem Artikel normiert worden. Dabei war diese seit j e h e r das vorwaltende
Organisationsprinzip der G e m e i n s c h a f t , vgl. auch BVerfGE 89. 155 (Maastricht-Entschei-
dung). Das war aber allem Anschein nach im Lauf der Jahre angesichts der Spruchpraxis
des E u G H unkenntlich geworden. Diese hatte in den Augen eines Beobachters nämlich
einen Zustand erreicht, dass „ { s p ä t e s t e n s mit Maastricht [ . . . ] die der Kompetenzstruktur
der G e m e i n s c h a f t schon bislang nicht gerecht werdende Postulierung eines ,Prinzips der
(begrenzten) Einzelermächtigung' der Vergangenheit a n g e h ö r e n " sollte (vgl. T. C. W. Bey-
er. Die E r m ä c h t i g u n g der Europäischen Union und ihrer G e m e i n s c h a f t e n , in: Der Staat
35 (1996). S. 189 ff.), obwohl diese Formel erst gerade in den Maastricht Vertrag aufge-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 311
Die Europäische Union hat zwar mit dem EuGH eine eigene Jurisdiktion, in
den jeder Mitgliedstaat einen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den
nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollisi-
onsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat. ist jeder nationale Richter
auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man die Anzahl der nationalen Gesetze, die
inzwischen unmittelbar oder mittelbar auf Europarecht beruhen, wird deutlich,
dass nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden,
häufig indirekt und ohne zu wissen, dass etwa eine nationale Regelung, die sie
anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt. Der Richter ist also
zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur dem
nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der autonomen Rechtsordnung der
Europäischen Union.
In einem entsprechenden Entwicklungsprozess hat sich auch die Rolle der Rich-
ter in Europa gewandelt: die nationale Gerichtsbarkeit wurde „europäisiert" und
in ein Kooperationsverhältnis zum EuGH gestellt. Sollte die Rechtsprechung ein
Spiegelbild der Gesellschaft sein - und sie ist es zumindest teilweise 903 -, dann
n o m m e n worden war. Es war also nicht allgemein abzusehen, dass sich ein Wandel in
der Auffassung des E u G H abzeichnete, dass das Prinzip durch den Maastricht-Vertrag
gestärkt wurde (vgl. auch BVerfGE 89, 155 (181)). Denn der E u G H könnte mit seiner
B e g r ü n d u n g deutlich machen wollen, dass er die Vertragsänderung von Maastricht zum
Anlass n i m m t , dem impliziten Wunsch der Politik zu entsprechen und das Subsidiaritäts-
prinzip z u m neuen Maßstab seiner Rechtsprechung zu machen, um somit vom „Prinzip der
Funktionssicherung" abzurücken, das die Rechtsprechung in der Vergangenheit dominiert
hatte.
902
G. Hirsch. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration,
in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. NF 49 (2001), S. 79 ff.. 88.
903
Zur Frage, ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht: Sieht man
als Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von J.J. Rousseau
312 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
kann sich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine
vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfah-
rungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat zahlreiche Facetten bekommen,
unterschiedliche Rahmen zumal. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus
vielen Ländern und Regionen zwischen Sizilien und dem Nordkap, zwischen den
überseeischen Gebieten Frankreichs und Sofia.
(1762) ..Der Gesellschaftsvertrag" den Staat konstituiert, so ist das Gesetz Spiegel des
volonte general. Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän
zu effektuieren und d e m leblosen Buchstaben des Gesetzes W i r k u n g in der Fülle der
Lebenssachverhalte zu geben. Dies führt nicht ohne Auslegung und Rechtsforlbildung zum
Erfolg. In diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen
Sinne und durchbricht damit in legitimer Weise die Gewaltenteilung. Die Auslegung und
Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in d e m der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser
Leitstern kann nicht kurzschlüssig die „vox p o p u l i " sein. Nicht Populismus ist Sache der
Richter, sondern Realisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft, verfaßt etwa in
..Grundgesetzen", aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter
nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des
Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren. In diesem Sinne hat die
Rechtsprechung Spiegel d e r Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft, wie sie sein
soll, nicht unbedingt der Gesellschaft, w i e sie ist. vgl. im weiteren Sinne auch U. Haltern.
Verfassungsgerichtsbarkei. Demokratie und Misstrauen. 1998.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 313
R e c h t s v e r g l e i c h e n d w i e r e c h t s g e s c h i c h t l i c h ist z w i s c h e n e i n e r f o r m e l l w i e i n -
s t i t u t i o n e l l e i g e n s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t , w i e sie d a s B u n d e s v e r f a s -
sungsgericht heute darstellt, und einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterschei-
den. die im R a h m e n der allgemeinen bzw. sonstigen Gerichtsbarkeiten angesiedelt
ist ( „ i m p l i z i t e V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t " ) . I n l e t z t e r e r H i n s i c h t ist b e i s p i e l s w e i s e
der Supreme Court der USA, aber auch etwa das Schweizerische Bundesgericht
zu nennen. Die deutsche Rechtsentwicklung tendierte dagegen schon früh zu einer
auch formell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, deren erste Wurzeln man
schon in der Rechtsprechung etwa des Reichskammergerichts entdecken kann.905
904
Siehe aber P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen
Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundes-
verfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 312 ff.: H.J. Faller. Zur Entwicklung der nationalen
Verfassungsgerichte in Europa, in: E u G R Z 1986. S . 4 2 ff.; A. Weber. Verfassungsgerichte
in anderen Ländern, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im
Schnittpunkt von Recht und Politik. 1995. S. 61 ff.; M. Fromont, La justice constitutionnelle
dans le m o n d e . 1996.
905
Vgl. etwa U. Scheuner. Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im
19. und 20. Jahrhundert, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundge-
setz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1,
1976. S. I ff. Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849. die dem
damals vorgesehenen ..Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den
Organstreit, bundesstaatliche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im
Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsbarkeit auf
Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 1871 kannte Vergleichbares dagegen
nicht. Im Kaiserreich von 1871 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichts-
barkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet. Die Weimarer Verfassung von 1919 schuf
dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche
Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Ver-
fassungsgericht verkörperte der Weimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser
Schritt gelang erst mit d e m BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre
nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung bekannte sich der deutsche
Verfassungsgeber n u n m e h r zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für
die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (Staatsgerichtsbarkeit im engeren
Sinne), sondern auch und namentlich f ü r den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz des
Bürgers (Verfassungsbeschwerde) zuständig ist. Gerade deshalb ist das BVerfG verfassungs-
historisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von
1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins Werk gesetzt wurde.
314 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Freilich: Mit gutem Grund sind Einwände gegen eine allzu freimütige Über-
nahme von Erkenntnissen zur amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der
Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es sich doch augenscheinlich um zwei
Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick wesentlich vonein-
906
Siehe d a / u auch R. Wahl. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001.
S. 1041 ff., 1046.
907
Siehe etwa K. Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske
u . a . (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik - Festschrift für Martin Kriele, 1997.
S. 411 ff.: Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht C. Gusy, Parlamentarischer Gesetz-
geber und Bundesverfassungsgericht. 1985: R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesver-
fassungsgericht und politischer F ü h r u n g . 1994: dazu kritisch U.R. Haltern. Book Review
of Richard Häußler. Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer
Führung, in: 7 EJIL (1996), S. 137 f.
908
Siehe nur das richtungsweisende Werk von B. Ackennan, We T h e People 1: Founda-
tions, 1991: vgl. auch P. W. Kahn. Legitimacy and History: Self-Government in A m e r i c a n
Constitutional Theory. 1992.
1X19
So auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkeit. D e m o k r a t i e und Mißtrauen. 1997.
S. 112 f.. der mit Verweis auf die Gedanken von H. Willke („Systemtheorie III: Steuerungs-
theorie", 1995 sowie „Ironie des Staates - Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer
Gesellschaft", 1992), den Grund der differierenden kontinentaleuropäischen Gesellschafts-
theorie darin sieht, dass diese seit Machiavelli durch eine außerordentliche Staatszentriert-
heit geprägt sei. worin der Politik eine herausgehobene Rolle zukomme, was schließlich zur
Folge habe, dass es in dieser Tradition nicht leicht sei, die Rolle der Gesellschaft selbst zu
erblicken und auch zu sehen, dass diese selbst Formvorstellungen entwickelt und realisiert
habe.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 315
ander unterscheiden. Auf der einen Seite die amerikanische Methode, die in der
Regel die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall hervorhebt. Dieser steht die
kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen
eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Die vordergründigen Unterschiede sind
jedoch de facto nicht so erheblich. H. Schiwek stellt mit Blick auf die nationalen
Verfassungsordnungen hierzu richtig fest, „in beiden Fällen soll eine im einzelnen
sehr allgemein gehaltene Verfassung für einen langen Zeitraum als Fundament
der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen." 910
Diese Einschätzung gilt etwa für den Europäischen Verfassungsvertrag angesichts
seines Umfangs und der Detailtreue nur begrenzt, wobei der Anspruch der langen
Gültigkeit durchaus gegeben ist.
Eine weitere Parallele ist hervorzuheben: Die Rolle des EuGH bei der Wei-
terentwicklung des Gemeinschaftsrechts kommt in ihrer historischen Bedeutung
derjenigen des Supreme Courts sehr nahe. Auch ist ein Erfahrungsaustausch zwi-
schen EuGH und Supreme Court inzwischen zur guten Gewohnheit geworden und
stellt eine wichtige Ergänzung des transatlantischen Dialogs dar.'" :
- Wahrung der Integrität der Verfassung und der politischen Existenz des Volkes
(C. Schmitt)
- Wahrung der Offenheit und Verfahrensgerechtigkeit des politischen Prozesses
(J.H.Ely)
- Aufrechterhaltung des diskursiven Prozesses von demokratischer Selbstherr-
schaft und Herrschaft des Gesetzes sowie in der
- Anerkennung der Personen als Freie und Gleiche und in der Währung der
Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Kommunikation (F. Michelman)
910
Vgl. H. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht: dargestellt am Beispiel der
Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerika-
nische Rcchtstheorie. 2000. S. 23.
411
Gelegentlich rekurriert der S u p r e m e Court vergleichend auf g e m e i n s a m e anglo-
amerikanische Rechtstraditionen, vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen P. Häberle, Euro-
päische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 7 4 Fn. 677: allgemeine rechtsvergleichende
Hinweise, mit denen der Supreme Court außerordentlich zurückhaltend arbeitet, finden sich
ebenda sowie bei M. Tushnet, T h e Possibilities of Comparative Constitutional Law, in: Yale
Law Journal. 108 (1999). S. I 2 2 5 f f , 1230 ff.; siehe auch W.H. Rehnquist, Verfassungsge-
richte - vergleichende Bemerkungen, in: P. K i r c h h o f / D . P . K o m m e r s (Hrsg.), Deutschland
und sein Grundgesetz. 1993, S . 4 5 4 . Kritisch gegenüber der ..Einbahnstraßenpraxis" des
S u p r e m e C o u r t s M.A. Glendon, Rights Talk. T h e Impoverishment of Political Discourse.
1 9 9 1 . S . 151.
316 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Gerichte als Hüter der Verfassung sind darüber hinaus Ausdruck sinnvoller Ar-
beitsteilung unter den Organen eines Staates wie der Supranationalen Union. Wie
bereits erwähnt darf Verfassungsgerichtsbarkeit dabei helfen. Verfassungsstabilität
zu sichern'' 1 4 . Sie soll aber auch unterschiedliche Wege zur Verfassungsentwick-
lung 915 ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.
Es darf außer Zweifel stehen, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit
vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte letztlich der neuralgische
Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies
912
Vgl.J. Habermas. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und
des demokratischen Rechtsstaats. 1992. S. 345 und den Hinweis auf eine Rekonstruktion
der „verschiedenartigen Argumente, die in den Rechtsetzungsprozess eingegangen sind und
den Legitimationsansprüchen des geltenden Rechts eine rationale G r u n d l a g e verschafft
haben. In juristischen Diskursen k o m m e n neben den rechtsimmanenten Gründen auch
moralische und ethische, empirische und pragmatische Gründe zum Zuge".
9,3
Vgl. O. Gerstenberg. Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer
pluralistischen Verfassungstheorie, 1997. S. 107: „ D a s Gericht stellt [ . . . 1 in Form von Ver-
fahrensordnungen eine Diskussionstruktur bereit, die die Parteien objektiv zu Teilnehmern
eines deliberativen Verfahrens macht. Materiale Konfliktlösungen werden in d e m M a ß e
möglich, wie es d e m Gericht gelingt, im M o d u s der Verfassungsauslegung den Hinter-
grund eines übergreifenden demokratischen Konsenses als gemeinsamen substanziellen
Referenzpunkt zu rekonstruieren, der es den Parteien erlaubt, den Konflikt in eigener Regie
zu lösen".
914
IV. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen
aus deutsch- amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. ST3I9 ff.
915
B.-O. Bryde. Verfassungsentwicklung. 1982. S. 162 ff.
916
Vgl. nur die Grundsatzreferate von K. Korinek/J. P. Müller/K. Schiaich zur Verfas-
sungsgerichtsbarkeit in: V V D S t R L Heft 39 (1981), S. 7 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 317
917
RGZ 111,320.
918
Zur Geschichte G. Mever-Anschütz. Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufage
1919. S. 7 3 6 ff.
919
Dies ist ihm in Deutschland durch Art. 20 Abs. 3 GG generell und durch Art. 1 Abs. 3
GG nochmals besonders für die Grundrechte aufgegeben.
920
Z u m Begriff vgl. nur P Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 645.
921
Ähnlich auch G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus d e m
Blickwinkel der U S A , Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002,
abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die
europäische Verfassung im globalen Kontext. 2004, S . 4 1 ff.. 45 f.
318 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Wie soll etwa die faire Repräsentation gewährleistet werden? Kann eine Balance
in der Vertretung der großen und kleinen Staaten geschaffen werden? Wie soll die
Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen ausgestaltet
werden? Wieviel Macht sollte der bundesstaatlichen Verwaltung Ubertragen wer-
den und welche Befugnisse soll die Europäische Union heute haben? Was kann die
Wertgrundlage für eine politische Einheit sein? Wie wichtig ist „Identität"? Gibt
es ein europäisches Pendant zu „life. liberty and the pursuit of happiness"? Es kann
im Rahmen dieser Untersuchung nicht auf alle Elemente eingegangen werden, die
zu Recht als tragende Säulen eines Verfassungsstaates bzw. einer Verfassungsge-
meinschaft gelten mögen. Die folgende Auswahl soll deutliche Unterschiede und
klare Gemeinsamkeiten benennen, paradigmatisch wie impulsgebend wirken und
demzufolge der Wissenschaft Raum für Ergänzungen eröffnen. 9 2 2
Einer der umstrittensten Punkte sowohl bei den Beratungen über die ameri-
kanische Verfassung wie auch während und nach „Nizza" war die Frage nach
der Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten in den jeweiligen Organen auf
Unionsebene. Wie bereits dargestellt wird die amerikanische Lösung noch heute
nicht ohne Pathos der „Great Compromise" 9 2 3 genannt und bedeutet eine „aurea
mediocritas" zwischen gleicher Repräsentation kleiner und großer Staaten - wie
im „New Jersey Plan" gefordert - und der rein proportionalen Repräsentation
der Staaten abhängig von der Bevölkerung - wie es der „Virginia-Plan" vorsah.
Durch die gleich starke Vertretung aller Staaten im Senat und die Wahl der Se-
natoren durch die Legislativen der Einzel Staaten 924 konnte die Zustimmung der
bevölkerungsärmeren Einzelstaaten zur neuen Verfassung gesichert werden.
Der Föderalismus wird in der US-Verfassung nur indirekt genannt. Das über-
rascht zunächst angesichts der herausragenden Bedeutung der Beziehung zwischen
922
So etwa f ü r einen gebotenen, aber angesichts der notwendigen Einbeziehung ein-
zelstaatlicher E l e m e n t e hier zu weitgehenden Vergleich zwischen ..europäischer Rechts-
staatlichkeit" und der (in zahlreichen Ziel- und Ausgangspunkten unterschiedlich entwi-
ckelten) ..Rule of L a w " (vgl. auch P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 395 ff.).
923 j ^ , . p r a g e > inwieweit Kompromissfähigkeit die amerikanische Verfassungswirklich-
keit beeinflusst, wird unter B.1.9 nachgegangen.
924
Die Wahl der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente wurde erst im Jahre
1913 mit dem 17. Verfassungsamendment durch allgemeine direkte Wahlen abgelöst.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 319
dem Bund und den Staaten. Die amerikanischen Verfassungsväter dürfen als
Erfinder bundesstaatlicher Ordnung heutiger Prägung gelten. Bereits im Unabhän-
gigkeitskrieg war die Bereitschaft der Einzelstaaten eher gering, der Union die
notwendigen Mittel und Kompetenzen zu überlassen, um notwendige politische
Entscheidungen fällen zu können. Nach dem Friedensschluß schwand sie gänzlich
dahin. Jeder Gedanke an eine unitarisch-zentralistische Lösung sollte sich schon
deshalb als allzu endlich erweisen, dachte doch keine der 13 ehemaligen Kolonien
ernstlich daran, die jüngst erkämpfte Souveränität wieder preiszugeben.
er lebte und zugleich der Souveränität des Bundes. 927 Die Kompetenzverteilung
zwischen Bund und Einzelstaaten wurde durch die Verfassung geregelt. Artikel I
§ 8 nennt die Zuständigkeitsbereiche des Bundeskongresses: Regelung der inneren
und äußeren Wirtschaftsbeziehungen (auch interstate commerce), Schaffung und
Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherstellung der Lan-
desverteidigung. Artikel III sieht ein Oberstes Bundesgericht vor und Artikel VI
bestimmt, dass die Verfassung und die auf sie folgenden Gesetze oberstes Gesetz
des Landes sind (supremacy clause). Bei den Staaten verblieb eine umfangreiche
police power: das Recht, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln.
Die föderative Ordnung der Verfassung dient allerdings nicht allein der verti-
kalen Gewaltenteilung, dem System der checks and balances, sondern sie ist ein
Ausdruck des pluralistischen Verständnisses der Federalists. Für sie war gerade
die „Großstaatlichkeit" eine wichtige Voraussetzung für den Schutz von Minder-
heiten und dem Recht Einzelner: So war die in einem großen Staat auftretende
Interessenvielfalt in Verbindung mit dem Repräsentativsystem eine Gewähr gegen
die Gefahren des Mehrheitsprinzips. Minderheiten sollten in einem Staat so stark
sein, dass sie nicht überhört werden konnten.
Auch aus solchen Überlegungen resultiert die in den USA hoch geschätzte
Individualität und kulturelle Identität der Einzelstaaten: Die Romantik der Schaf-
fung einer „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" - wie in der Bundesrepublik
Deutschland - spielt auch deswegen in den Vereinigten Staaten von Amerika keine
Rolle. Festzuhalten ist, dass die Verfassung die bundesstaatliche Struktur'' 2 * nicht
92
Dass im Grundsatz der „zweifachen Souveränität" freilich auch Konflikte zwischen
Bund und Staaten vorprogrammiert waren, hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts dras-
tisch verdeutlicht: Die Südstaaten rechtfertigten ihre Sezession mit dem Hinweis, die Union
habe die Souveränität der Einzelstaaten keinesfalls beseitigt und eben jetzt, im Jahre 1860/
61. demonstrierten die ..Konföderierten" ihre Unabhängigkeit im Akte der Trennung vom
bisherigen Staatsverband. Mit d e m Sieg des Nordens wurde künftigen Sezessionsbestre-
bungen ein Riegel vorgeschoben. Seither gilt der durch eine Entscheidung des S u p r e m e
Court aus dem Jahre 1869 ausdrücklich bestätigte Grundsatz, dass kein Einzelstaat das
Recht hat. aus der Union auszutreten.
928
Wird auch das politische System der USA als „ B u n d e s s t a a t " bezeichnet, beanspru-
chen doch die amerikanischen Einzelstaaten ein höheres M a ß an Eigenständigkeit, also eine
umfassendere Kompetenzfülle als etwa die Länder der Bundesrepublik Deutschland (auch
nach einer ..Föderalismusreform" im Jahre 2006). Der Begriff „Bundesstaat" beschreibt ein
politisches System, in dem Gesamtstaat und Gliedstaaten einander in der Weise zugeordnet
sind, dass sie z u m einen als eigenständige Entscheidungszentren wirken, z u m andern sich
wechselseitig beeinflussen, um das ..Gesamtinteresse" eines Volkes zu befördern. In der
Praxis ist diese Zuordnung vielfältig zu verwirklichen, kann das Schwergewicht der Macht
stärker beim Bund o d e r den Ländern angesiedelt sein. So beanspruchen die Einzelstaa-
ten der U S A ein höheres M a ß an Eigenständigkeit, eine umfassendere Kompetenzfülle
als die deutschen Länder unter dem Bonner Grundgesetz, weshalb die Übertragung der
Begrifflichkeit „ L a n d " auf amerikanische Verhältnisse nur mit einigem Vorbehalt möglich
ist.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 321
explizit beschreibt. Sie ergibt sich eher indirekt aus den oben erwähnten schrift-
lich niedergelegten Grundprinzipien, die bis heute keiner Änderung unterworfen
wurden. 9 2 9
Der Modus für die Präsidentschafts wählen enthält ebenfalls föderale Elemente,
„indem erstens jeder Staat so viele Elektorenstimmen erhält wie er Mitglieder im
Kongress hat und zweitens", wenn ein Präsidentschaftskandidat nicht die absolute
Mehrheit der Wahlmännerstimmen erhält, fällt die Entscheidung in die Zuständig-
keit des Repräsentantenhauses, wo eine Abstimmung in einzelstaatlichen Blöcken
zu erfolgen hat. Mit diesem Wahlsystem versuchten die Verfassungsväter die
Repräsentation und den Einfiuss der Gliedstaaten zu sichern.
929
Allerdings hat sich mit der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court das
Verhältnis von Bund und Einzelstaaten an die jeweiligen Gegebenheiten ü b e r die Jahre
angepasst. vgl. bereits unter B . I . 7 und B.IV.2.b).
930
Die Repräsentation der Gliedstaaten ist durch die Vertretungsschlüssel für die beiden
gesetzgebenden K a m m e r n festgelegt: Im Senat hat j e d e r Gliedstaat das gleiche Gewicht,
d. h. unabhängig von der Einwohnerzahl ist dort j e d e r Staat mit zwei Senatoren vertreten.
Diese insgesamt 100 Senatoren werden seit 1913 nach dem relativen Mehrheitswahlsystem
direkt von der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Im Gegensatz dazu werden die Ab-
geordneten des Repräsentantenhauses zwar auch in Form der Direktwahl, aber abhängig von
dem Bevölkerungsanteil j e d e s Einzelstaates gewählt. Dabei ist j e d e r Bundesstaat in so viele
Wahlkreise unterteilt, wie er g e m ä ß seiner Bevölkerungszahl Abgeordnete in das Repräsen-
tantenhaus entsenden darf. Die beiden K a m m e r n des Kongresses, der die gesetzgebende
Gewalt im politischen System der Vereinigten Staaten verkörpert, sind verfassungsrechtlich
gleichberechtigt und ..demokratisch" strukturiert, d. h. die Vertreter sind in den jeweiligen
Häusern gleichberechtigt und zu gleichen Teilen am Gesetzgebungsprozess beteiligt.
322 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Durch die genaue Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaa-
ten sahen die Verfassungsväter die Funktionsweise des Föderalismus gesichert.
Die Zuständigkeiten des Bundes sind, wie schon erwähnt, in Artikel I § 8 katalog-
artig aufgelistet. 931 Zudem hält das 10. Amendment ausdrücklich fest, dass alle
Zuständigkeiten, welche die Verfassung nicht an den Bund delegiert, bei den Ein-
zelstaaten oder den Bürgern verbleiben sollten. Somit hatten die Gliedstaaten zwar
eine „unbestrittene Domäne eigener Zuständigkeiten", doch war die Reichweite
der Bundeskompetenzen nicht eindeutig. 932
Aufgrund dieser Ambiguitäten fiel dem US-Supreme Court bis heute die Auf-
gabe zu. Streitigkeiten über die Aufgaben des Bundes zu schlichten. Aufgrund
der vielfach veränderten Rechtsprechung des Supreme Courts im Laufe der Ge-
schichte Amerikas und vor allem in Folge des „New Deals", entwickelte sich, der
noch im 19. Jahrhundert maßgebend gebliebene duale Föderalismus, der die Re-
gelung der meisten inneren Angelegenheiten unter der „police power", die fast alle
sozial- und wirtschaftspolitischen Bereiche umfaßte, den Einzelstaaten überließ,
zu einem kooperativen Föderalismus, der ein neues Verhältnis beider Ebenen zu
e i n a n d e r - d i e Einzelstaaten hatten lediglich die administrative Verantwortung für
die Ausführung nationaler Politik - umschreibt.
931
Sie umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche: Erhebung von Steuern. Zöllen und
Abgaben zur Erhaltung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung sowie für
das Allgemeinwohl: Regulierung des Außenhandels sowie des Handels zwischen den Staa-
ten: S c h a f f u n g eines einheitlichen Einbürgerungs- und Konkursrechtes: das Militärwesen.
932
So standen den verfassungsrechtlich eng formulierten Kompetenzzuweisungen nach
Politikfeldern unteranderem die general welfare clause (Präambel und Art. 1 § 8) und
die necessarx and proper clause (Art. I §8 par 18) die den Bund bemächtigte ..alle
zur A u s ü b u n g der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung
der Vereinigten Staaten, einem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf G r u n d
dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen",
entgegen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 323
An der Spitze der Staatsexekutiven stehen Governors, die von der jeweiligen
Staatsbevölkerung auf zwei bis vier Jahre direkt gewählt werden. Ihre Befugnisse
933
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterte die Reagan-Ad-
ministration im Zeichen des „new federalism" noch mit d e m ideologischen Ziel, die
Abhängigkeit der Einzelstaaten von Washington zu verringern. Als die Republikaner in
den Zwischenwahlen von 1994 erneut die Kontrolle über den Kongress erlangt hatten,
setzen sie die Reagan-Politik der Ü b e r t r a g u n g von Bundeszuständigkeiten (vor allem im
Wohlfahrts- und Gesundheitsbereich) auf die Einzelstaaten fort. Mit dem Hinweis, man
müsse das Washingtoner ..big g o v e r n m e n t " reduzieren und S o z i a l p r o g r a m m e näher bei
den Adressaten ansiedeln, planten sie den Einzelstaaten umfangreiche Garantien einzuräu-
men. die ihnen bei der D u r c h f ü h r u n g neu übertragener Aufgaben einen relativ großen
Verwendungsspielraum zubilligen. In der deutschen Debatte über eine Verankerung des
Konnexitätsprinzips auf Bundesebene im Rahmen der „Föderalismusreform" sind durchaus
Parallelen zu sehen.
934
Vgl. auch F. Greß. Wiedererstarken der Einzelstaaten, in: Das Parlament vom 10. Sep-
tember 1993.
324 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
spiegeln im verkleinerten Maße die des Präsidenten wider. 935 Sie verfügen in
den Einzelstaaten wie der Präsident auf der Bundesebene über das suspensive
Vetorecht. Mit dem jeweiligen Stellvertreter, der den Vorsitz im Senat des Staats-
kongresses führt, und einigen leitenden Beamten ist in gewissem Umfang die
Regierungsgewalt zu teilen.
Sowohl der Bund als auch die Staaten verfügen über ein eigenes Verwaltungssys-
tem. Mit der offiziellen Zustimmung des Supreme Courts hat sich heute eine Art
„Mischverwaltung", ein personelles Zusammenwirken als förmliche Beauftragung
der Bediensteten einer Ebene durch die andere Ebene, herausgebildet. So betraut
der Bund Fachkräfte der Einzelstaaten oder Gemeinden mit der Durchführung
bundesgesetzlich vorgeschriebener Inspektionen.
Vom Sonderfall Nebraska abgesehen, sind die Legislativen der Staaten wie
auf nationaler Ebene durchweg als Zweikammersysteme organisiert, mit Reprä-
sentantenhaus und Senat. Verfassungsvorschriften beschränken die Dauer der
Sitzungsperioden in drastischer Weise. Das Mandat der Abgeordneten ist in der
Regel auf zwei Jahre beschränkt. Bei der Amtsdauer der Senatoren liegt die Gren-
ze in zwölf Staaten bei zwei und in den restlichen 38 Staaten bei vier Jahren. In
der Regel sind sie vom Volkssouverän gewählt. Bis in die sechziger Jahre waren
die Möglichkeiten der Staatsparlamente, eine kontinuierliche Politik zu betreiben,
stark beschränkt, da lediglich alle zwei Jahre Sitzungen stattfanden. Trotz der Par-
lamentsreformen, die das politische Gewicht der Legislative stärkten, leiden sie
genau wie der Bundeskongress an derselben Fragmentierung - der Aufsplittung
in verschiedene, relativ autonome Ausschüsse und Unterausschüsse.
Eine ähnliche Situation lag auch zugrunde, als die Bundesrepublik Deutschland
nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Verschiedene Modelle wa-
935
Als Leiter der Exekutive unterliegen ihnen folgende Aufgabenfelder: der Vollzug der
Gesetze: das K o m m a n d o über die Nationalgarde: die E r n e n n u n g der Beamten des Landes
(wobei dies in manchen Ländern der Bestätigung durch den Staatssenat bedarf), und sie
stehen der Staatsverwaltung vor.
936
U m f a s s e n d mit föderalen Strukturen für die Europäische Union befassen sich bei-
spielsweise A. von Bogdandy. Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 325
ren für den deutschen Staat angedacht worden; am Schluss erschien ein föderales
Gebilde für die westlichen Alliierten und die Deutschen am vertrauenswürdigs-
ten. Allerdings mochten die Verfassungsväter des Grundgesetzes (GG) sich in
Herrenchiemsee nicht auf einen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild
verständigen. Das GG hat damit den Föderalismus europäischen Typs bereits
ziemlich klar vorbereitet: Institutionelle Verflechtungen gemäß dem Grundsatz
von Macht- und Einflussteilung anstelle der US-amerikanischen -trennung. 937
In der Theoriegeschichte des Föderalismus ist eine reiche Vielfalt von Varianten
entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass man sich in der
Frage, welchen Grad der Föderalisierung die Europäische Union bereits erreicht
hat, nicht einig ist. Während einige Beobachter bereits eine entwickelte Form des
Föderalismus attestieren 938 , sehen andere ihn erst auf dem Weg zur Föderation 939 .
Die Zurückhaltung, die im Umgang mit dem Föderalismusbegriff zu beobachten
ist. mag zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich während
des 19. Jahrhunderts eine Verengung auf die Form der Bundesstaatlichkeit voll-
zogen hat. Wer sich dieser Begriffstradition verpflichtet fühlt, wird sich jedenfalls
dann, wenn die damit einhergehenden Folgerungen (insbesondere: Souveränität
des Bundes) nicht gezogen werden sollen, im Umgang mit dem Föderalismus-
begriff Zurückhaltung a u f e r l e g e n . Z w i n g e n d ist diese Verengung aber nicht;
sie ist lediglich eine - wenn auch in den letzten zweihundert Jahren besonders
wichtige - Form des Föderalismus. Wagt man einen Blick auf die ideengeschicht-
lichen Wurzeln des Föderalismus, so geht es nicht um Souveränität, sondern um
Einheitssicherung und Vielfaltgewähr, um das freie und selbstbestimmte Zusam-
menwirken verschiedener, vertikal gestufter Verbände. Im Lichte eines solchen
Föderalismusbegriffs lassen sich gegen die Bezeichnung der Europäischen Union
als Föderation kaum Einwände erheben. Föderalismus ist damit ein politisches
Ordnungsprinzip, das darauf abzielt, die Existenz und Selbstständigkeit einer
Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in ein
höheres Ganzes zu verbinden.
940
So auch jVf. Netfesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten,
in: Z E u S 5 (2002), S. 507 ff.
941
Gleichlautend Af. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaa-
ten. in: Z E u S 5 ( 2002). S. 507 ff., der ebenda weiter konstatiert: ..Föderalistische Ordnungen
sind als mehrstufige politische Systeme zu begreifen, in denen an die Seite der politischen
Einheit der Glieder die politische Gesamtexistenz tritt. Föderalismus ist damit Bildung
eines G a n z e n unter gleichzeitiger Bewahrung der Freiheit der engeren territorialen und
personellen G e m e i n s c h a f t e n . Er dient der Selbstbehauptung d e r Eigenart und der Aner-
kennung des Eigenrechtes dieser Eigenart. Dies kann nur gelingen, wenn man - allen
Unterschieden zum Trotze - im Wertverständnis und in der Formulierung der Interessen
auf einen Grundkonsens aufbauen kann." Vgl. auch W. Kägi. in: Die Juristischen Fakultäten
der Schweizer Universitäten (Hrsg.), Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht.
Festgabe zur 100-Jahr-Feier der Bundesverfassung, 1948. S. 53.: „Freiheit ist dort, wo diese
Eigenart nicht durch Unitarismus und Zentralismus negiert, sondern durch Selbstgesetz-
gebung (Autonomie) und Selbstverwaltung der engeren G e m e i n s c h a f t e n respektiert und
beschützt wird. Diese föderalistische Freiheit ist die G r u n d b e d i n g u n g für die Einheit eines
vielgestaltigen Staatswesens."
942
Im „Vortitel" der spanischen Verfassung (1978) sind in Art. 2 die Unteilbarkeit
(„unteilbares Vaterland aller Spanier") und als Konnexgarantie „das Recht auf Autonomie
der Nationalitäten und Regionen" niedergelegt.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 327
Parallel dazu hat auch das Vereinigte Königreich unter dem Stichwort der
„Devolution" den Nationen (und Regionen) 1998 zu neuer politischer Macht
verholfen. 9 4 3 Auch bei der Regionalisierung Großbritanniens mussten die histo-
rischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Während Schottland. Wales und
Nordirland eigene Regionalparlamente und -regierungen erhalten haben, blie-
ben die englischen Regionen mehr oder weniger ohne Mitspracherechte. Aber
auch zwischen den drei Genannten sind die Unterschiede bemerkenswert: wäh-
rend Schottland selbst bei der Besteuerung Kompetenzen zuerkannt worden sind,
wurde für die nordirischen Einrichtungen eine weitgehende Abhängigkeit von
der Entwicklung des Friedensprozesses eingerichtet. Wales hat zwar eine eigene
„Versammlung", aber insgesamt weniger Kompetenzen. Obwohl die Devolution
als „Prozess" (R. Davies) bezeichnet wird 944 , ist mehr als fraglich, ob die engli-
schen Regionen jemals entsprechende Kompetenzen erhalten werden. Unabhängig
von der asymmetrischen Kompetenzverteilung, hat sich das Vereinigte Königreich
der „europäischen" Aufteilung nach Kompetenzarten angeschlossen, und auch die
zweite Kammer könnte sich zu einem Regionen-Gremium entwickeln, das dem
deutschen Bundesrat ähnlich ist.
Frankreich hat seit der 1982 verabschiedeten „Lois Deferre" eigene Erfahrungen
mit dem Regionalismus* 15 gemacht. Hier wurde indes ein symmetrisches Modell
angelegt, das den Regionen aber keine den beschriebenen Modellen vergleichbaren
Kompetenzen einräumt. Auch hat der französische Senat seine ursprüngliche Rolle
behalten.
In der Europäischen Union hingegen stellt sich die Frage der horizontalen
Gewaltenteilung weiterhin als äußerst komplex dar, sprich: eine klare, funktionale
Rollenzuweisung für die Institutionen der Europäischen Union im Sinne von
943
Dazu M. Mey, Regionalismus in Großbritannien - kulturwissenschaftlich betrachtet.
2003.
944
Vgl. zu dem Zitat von Davies sowie allgemein zur ..Devolution" im Vereinigten
Königreich Economic&Soeial Research Council (Hrsg.). Devolution Briefings, Devolution
is a process not a policy: the new governance of the English regions Briefing No. 18,
February 2005.
945
Z u m Rcgionalismus bereits F. Esterhauer (Hrsg.), Regionalismus, 1979; vgl. auch
F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa. 1990; A. Weber. Die
Bedeutung der Regionen für die Verfassungsstruktur der Europäischen Union, in: J. Ipsen
u . a . (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995. S . 6 8 1 ff.; M. Kot zur. Föderalisierung.
Regionalisierung und Kommunalisierung als Strukturprinzipien des europäischen Ver-
fassungsraums. in: JöR 50 (2002), S. 257 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre.
4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen: siehe auch ders., Kulturföderalismus
in Deutschland - Kultzrregionalismus in Europa, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003, S. 61 ff.
328 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Legislative und Exekutive. Derzeit ist das Europäische Parlament, wenn überhaupt,
ein nur unzureichender Gesetzgeber. Das vornehmste Recht aller Parlamente,
nämlich über den Haushalt zu befinden, steht ihm (allein) nicht zu. Das Prinzip der
Kodezision ist nur unzureichend entwickelt und erstreckt sich nicht einmal auf alle
Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.
Der Ministerrat teilt sich in eine legislative und eine exekutive Funktion zugleich,
was das institutionelle System der Europäischen Union vor allem intransparent
macht. Die Kommission hat zwar ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben und
implementiert die Ratsentscheidungen, übt aber im Wesentlichen keine exekutive
Gewalt aus, die einer politisch-parlamentarischen Kontrolle unterläge. Auf die in
ihrer Art spezifischen, institutionellen Strukturen der Europäischen Union, wie sie
historisch gewachsen sind, ist mithin das klassische Montesquieu sehe Prinzip der
Gewaltenteilung nicht anwendbar, und ein Teil des beklagten Legitimationsdefizits
der Europäischen Union ergibt sich aus dieser Tatsache.
Worin liegt nun die Konsequenz dieser kurzen Betrachtungen? Dass eine födera-
le Lösung den Interessen der meisten Mitgliedstaaten am ehesten entgegenkommt,
dürfte sicher sein: Denn der verfassungsrechtlich gesicherte Verbleib von Kompe-
tenzen auf der Ebene des Nationalstaates beugt einem wie auch immer gearteten
„europäischen Zentralismus" am ehesten vor. Allerdings wird gerade nach un-
terschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Staaten eine
„europäische"und wohl auch „asymmetrische" föderale Lösung am ehesten in Be-
tracht kommen. Begriffsschöpfungen wie „differenzierte Integration" 946 , „variable
Geometrie" 9 1 7 oder „Europa ä la carte" 918 deuten darauf seit längerem hin.
Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die politische Theorie eine Vielzahl
föderaler Typen mit je unterschiedlicher Prägung kennt, eröffnen sich allerdings
auch nicht unerhebliche Spielräume. Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den
Typ föderalistischer Verbundenheit, der Europäische Union und Mitgliedstaaten
ausmacht, näher zu kennzeichnen. Die in Deutschland vorherrschende Auffassung
ist in diesem Zusammenhang geneigt, den Integrationsverbund weiterhin als Aus-
prägung eines bündisch verfassten Zusammenschlusses anzusehen. Europäischer
Föderalismus lässt sich insofern mit Nettesheim als „konsoziativer Föderalismus"
treffend kennzeichnen 919 („Föderation von Staaten"). Zudem liegt die Befugnis zur
Verfassungsfortschreibung nach Art. 48 EGV weitgehend, allerdings schon nicht
946
Dazu m.w. N. H. Schneider, Die Z u k u n f t der differenzierten Integration in der
Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, in: integration 4 / 2 0 0 4 . S. 259 ff.
947
Vgl. etwa U. Rüge. Europa variable Geometrie. Die erweiterte Union braucht eine
Avantgarde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 3 / 2 0 0 3 , S . 3 I 4 f f .
948
Vgl. etwa F. Breuss/S. Griller (Hrsg.), Flexible Integration in Europa. Einheit oder
.Europa a la c a r t e ' ? , 1998.
W9
Vgl. M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in:
Z E u S 5 (2002), S . 5 0 7 f f . ; H.Schneider. Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderati-
on. Konföderation - oder was sonst?, in: 23 integration 2000. S. 171 ff. Anders als im
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 329
mehr ausschließlich in den Händen der Glieder; auch haben die Mitgliedstaaten
im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man
ist sich im übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem
Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU
normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren,
muss seine Form als ..Föderation von Bürgern und Staaten" erhalten. Einen Um-
schlag in die Form bundesstaatlichen Föderalismus gilt es, so die überwiegende
Auffassung, gegenwärtig zu verhindern. 950
Das Wort „Föderalismus" stellt generell seit jeher einen vom Verständnis
außerordentlich unterschiedlich interpretierten Begriff dar, der gerade auch im
Rahmen der europäischen Einigung immer wieder für Unruhe sorgt(e). Noch kurz
vor der Konferenz von Nizza wies der französische Außenminister darauf hin.
Frankreich wolle kein „föderales" Europa, während sein deutscher Kollege zuvor
große Vorteile in einer föderalen Struktur des zukünftigen Europas gesehen hatte.
Die Trennschärfe in der Einschätzung, ob lediglich unterschiedliche politische
Auffassungen oder begriffliche Missverständnisse gegeben sind, ist diesbezüglich
oftmals schwer herzustellen.
Die Vereinigten Staaten standen 1787 vor der Frage, die die Europäer heute
bewegt. Wie kann eine verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden, die für die
einzelnen Staaten ausreichend Raum für „nationale" Politik bestehen, gleichzeitig
aber ein nach außen handlungsfähiges Gebilde entstehen lässt? Die Philadelphia
Convention brachte - obwohl nur mit dem Mandat f ü r die Entwicklung einer
Freihandelszone versehen - eine Bundesverfassung auf den Weg, die auch in
dieser Hinsicht Grundsteine für ein Vorbild demokratischer Verfassungen legte.
Schon damals lagen jene, die den Bundesstaat bzw. „Staatenverbund" im weite-
ren Sinne in den Mittelpunkt stellen wollten, mit jenen im Streit, deren Anliegen
ein gesunder Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten war.
Der Blick auf die US-Verfassung kann den Europäern bei dieser Diskussion
aber hilfreich sein: In der US-amerikanischen Verfassung ist festgelegt, dass
nur ausdrücklich genannte Kompetenzen dem Bund zustehen, alle anderen den
Gliedstaaten. So heißt es im 10. Amendment: „The powers not delegated to
the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the states, are
reserved to the states respectively, or to the people." Damit ist das im Maastrichter
Vertrag festgeschriebene „Subsidiaritätsprinzip" 951 (Art. 5 EGV) im Grunde nichts
anderes als die (mildere) europäische Version des 10. Amendments. J. Madison und
A. Hamilton hatten bereits damals die mögliche Entwicklung eines zu mächtigen
Zentralstaats erkannt. Allerdings: Nur wenige Jahre später bei der Verabschiedung
des „Alien and Sedition Act" (1798), erwies sich der Grundsatz als wirkungslos.
Ein früher Hinweis auf die Wirkkräfte der Verfassungswirklichkeit — und ein
Umstand, der gelegentlich bei der innereuropäischen Diskussion Berücksichtigung
finden dürfte.
Gleichwohl haben die prinzipiellen Überlegungen, die vor über 200 Jahren in
Amerika angestellt wurden, ihre Bedeutung bei der Beantwortung dieser Frage
nicht verloren. Der sogenannte „duale Föderalismus" der USA hat sich in dieser
Zeit weiterentwickelt, aber er verteilt die Kompetenzen zwischen den staatlichen
Ebenen noch immer nach Politikfeldern. Er hat die Trennung auf der Legisla-
tivebene durch die Volkswahl der Mitglieder der zweiten Kammer, des Senats,
durchgehalten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Verabschiedung der US-
amerikanischen Verfassung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als alle Gliedstaaten sich
in einer strukturell sehr ähnlichen Situation befunden haben. Insofern hatten die
Vertreter in der Convention eine gemeinsame Ausgangsbasis bei der Verfassung-
gebung.
951
Dazu aus der Lit.: H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. 1993; P. Hiiberle. Das Prin-
zip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 119(1994).
S. 169 ff.: MZuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, in: Melanges en h o m m a g e
ä F. Schockweiler, 1999. S. 6 3 5 ff. Im Entwurf des VerfV wurde die Legaldefinition des
Subsidiaritätsprinzips präzisiert (Art. 1-9 Abs. 3).
952
Die A n w e n d u n g der deutschen Bedeutung des „ F ö d e r a l i s m u s " - B e g r i f f s auf das
politische System der Vereinigen Staaten ist grundsätzlich problematisch, obwohl die
amerikanischen Verfassungsväter sich selbst als „Federalists", die neu geschaffene Herr-
schaftsordnung als „federal s y s t e m " und die Zentralgewalt in Washington als „federal
government" bezeichneten. Denn wo das verfassungsrechtliche Denken der Deutschen mit
..Föderalismus" Autonomiebestrebungen der Länder verbindet, meinen A m e r i k a n e r Zentra-
lisierungstendenzen. wenn von federalism die Rede ist. Wo im deutschen Sprachgebrauch
der Begriff Föderalismus ein universales Gestaltungsprinzip meint, den Z u s a m m e n s c h l u ß
im gesellschaftlichen, staatlichen o d e r internationalen R a u m mit sehr verschiedenen Ord-
nungsstrukturen, erscheinen im amerikanischen Sprachbereich die Begriffe „Bundesstaat"
und „Föderalismus" fast identisch.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 331
aa) Vorbemerkung
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Maßstab für die politische Machtvertei-
lung. die Hemmung und Mäßigung der Macht 9 5 3 , aber auch für die sachgerechte
Zuteilung des Entscheidungsgegenstandes an das entscheidende Organ, für die
Konstituierung, Zuordnung und Balancierung von Hoheitsgewalten 9 5 4 . In ihrem
menschenrechtlichen Ursprung 9 5 5 handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbe-
ziehungen zwischen Bürger und Staat 956 : Die tatsächlichen Mächtigkeiten werden
auf eine freiheitsberechtigte Gesellschaft und einen freiheitsverpfiichteten Staat
aufgeteilt. Sodann gewinnt der Bürger der Staatsgewalt gegenüber Waffengleich-
heit durch die Einrichtung einer dritten Gewalt, die seine Rechte als rechtsge-
bundene. unabhängige Rechtsprechung gegenüber Gesetzgebung. Regierung und
Verwaltung durchsetzt.
953
Siehe zu dieser Definition nur das deutsche Bundesverfassungsgericht in BVerfGE
3. 225 (247); 34. 52 (59); 49. 89 (124). Z u m amerikanischen Verständnis aus der deutsch-
sprachigen Lit.: P.E. Quint. Gewaltenteilung und Verfassungsauslegung in den U S A . in:
D Ö V 1987. S. 568 ff.: D. P. Currie, Die Gewaltenteilung in den U S A . in: JA 1991. S. 261 ff.
Vgl. allgemein bereits D. Tsatsos. Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewalten-
teilung. 1968.
954
Vgl. allgemein K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. 20. Aufl. 1995. R n . 4 7 5 f f . , 482; E. Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in:
Handbuch des Staatsrechts. Bd. I. 1987. § 24 Rn. 50.
955
Vgl. auch Art. 16 d e r Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte (1789); Titel III
Art. 1 -5 der Französischen Verfassung von 1791.
956
Vgl. bereits R. Thoma. Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des
50-jährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. 1925, S. 183 ff., 187
Fn.4.
957
Vgl. umfassend P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und euro-
päischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), G r u n d f r a g e n d e r europäischen Verfassungsent-
wicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht. Band 4. Forum Constitution is
Europae - Band 1. 2000. S. 37 ff.
332 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
neben die horizontale auch eine vertikale Gewaltenteilung. Innerhalb des Demo-
kratieprinzips wirkt das Prinzip der Gewaltengliederung mäßigend und ordnend
insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen „Gewaltenmonismus"
beanspruchen kann, der vielmehr - wie jeder Gewalt - ein Kernbereich der Auf-
gaben vorbehalten ist, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung
und seinem Verfahren am besten erfüllen kann. 9 5 9 Hat die Verfassung vor allem
eine übermächtige Staatsgewalt in Grenzen zu weisen, bedeutet Gewaltenteilung
Hemmung und Mäßigung der Macht; das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol
findet in der Gewaltenteilung sein notwendiges Korrelat. 960 Steht die Verfassung
hingegen mehr vor der Aufgabe, innerhalb eines rechtlich hinreichend gebunde-
nen Verfassungsstaates Aufgaben und Organe je nach deren Zusammensetzung,
Funktion und Verfahrensweise so einander zuzuordnen, dass die staatlichen Ent-
scheidungen „möglichst richtig" getroffen werden, so wird die Gewaltenteilung
zum ordnungsstiftenden und ordnungsvertiefenden Prinzip. 961
958
K. Stern. Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Handbuch
des Staatsrechts, Bd. V, 1992. § 108 Rn. 38.
959
Vgl. P. Bodura, Die parlamentarische Demokratie, in: Handbuch des Staatsrechts.
Bd. 1. 1987, § 2 3 R n . 6 ; das Prinzip deutlicher dem Demokratieprinzip unterordnend £ . -
\V. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, daselbst. § 22 Rn. 87 ff. Siehe auch
BVerfGE 68. I (86).
960
E. Schmidt-Assmann (1987), § 24 Rn. 47.
961
Vgl. w i e d e r u m BVerfGE 68. I (86).
> 1
* Vgl. etwa D. Currie. Die Gewaltenteilung in den U S A , in: Juristische Arbeitsblätter
1991. S. 261 ff.
963
Dazu etwa G. Gunther. Constitutional Law. 11 * ed. 1985. S. 336.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 333
Diese Behauptung hält bei genauerer Betrachtung nur bedingt stand, allein
schon wegen Stellung und Rolle des US-Vizepräsidenten. 9 6 5 Den Vätern der US-
Verfassung ist es wohl eher um eine Institutionentrennung mit wechselseitig
teilnehmender Gewaltenausübung gegangen. 9 6 6 Das politische System der USA
beruht demnach also nicht so sehr auf der Gewaltenteilung im klassischen Sinn, als
vielmehr auf der Trennung der Staats- und Verfassungsorgane, also der politischen
Institutionen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident einerseits. Repräsentanten-
haus und Senat andererseits, zwar unabhängig voneinander amtieren, aber an
den Grundfunktionen der Staatsgewalt, der Gesetzgebung und Verwaltung, wech-
selseitig teilhaben und gemeinsam an deren Erfüllung mitwirken. Sichtbarsten
Ausdruck findet die Institutionentrennung zum einen in der Stellung des Präsi-
denten gegenüber beiden Häusern des Kongresses. 967 Sie tritt zum anderen in der
gleichfalls verfassungsmäßig festgelegten Legislaturperiode der beiden parlamen-
tarischen Häuser in Erscheinung, die vom Präsidenten auch dann nicht verkürzt
werden kann, wenn der Kongress schiere Obstruktionspolitik betreiben, das heißt,
die Arbeit der Exekutive in jeder Hinsicht blockieren würde. 9 6 s
964
E. Fraenkel hier/u umfassend in seinem mittlerweile klassischen Werk ..Das ameri-
kanische Regierungssystem", 3. Aufl. 1976.
965
Als Stellvertreter (bei Amtsunfähigkeit) und potentieller Nachfolger des Präsidenten
ist er Teil der Exekutive; als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen leiten und bei
Stimmengleichheit den Ausschlag zugunsten einer Entscheidung geben kann, gehört er
auch zur Legislative. Von strikter Gewaltentrennung lässt sich im Falle des Vizepräsidenten
gewiß nicht reden.
966
So in der Konsequenz auch R. Neustadl. Presidential Power & T h e Modern Presidents,
1990.
'*'7 Sie gründet sich auf die Volkswahl, auf den Umstand also, dass unter allen Wahlbe-
amten A m e r i k a s allein der Chef des Weißen Hauses sein Herrschaftsrecht aus der Wahl
durch die gesamte Bürgerschaft ableiten kann, und darauf, dass die Verfassung d e m Präsi-
denten eine Amtsperiode von vier Jahren zuweist, die auch von oppositionellen Mehrheiten
im Kongress nicht beschnitten werden kann.
968
Mit d e m Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine
äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der
Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von e n o r m e r Bedeutung ist und
eine wichtige Ergänzung d e r präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Z u s t i m m u n g s -
bedürftigkeit durch den Senat bei der E r n e n n u n g von Mitgliedern und hohen Beamten
334 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Amerikanische Politik ist stets von der Rivalität zwischen Kapitol und Weißem
Haus geprägt worden. Einer Rivalität, die nicht zuletzt der teils unscharfen ver-
fassungsrechtlichen Zuweisung oder Abgrenzung von Kompetenzen zuzurechnen
ist. Regierung und Parlament wurden und werden geradezu eingeladen, sich um
die Führung der Politik (im besonderen Maße der Außenpolitik) zu streiten. Der
Gang der amerikanischen Geschichte ist durch zyklische Wechsel zwischen der
Vorherrschaft einmal des Kapitols, dann wieder des Weißen Hauses gekennzeich-
net.
der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prä-
rogativen dar. Die Verfassung der USA gebietet g e m ä ß Artikel I, § 6. par 2 auch strikte
Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und (Parlaments-)Mandat.
969
Ein Umstand, der aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere
für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle
beansprucht.
970
Siehe Federalist, Artikel 47
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 335
971
Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative im U m -
feld des Vietnam-Krieges in den sechziger und siebziger Jahren belegen dies. Was die treaty
power anbelangt, das verfassungsrechtlich verbriefte Z u s t i m m u n g s r e c h t des Senats zu in-
ternationalen Verträgen, so hat die Exekutive im 20. Jahrhundert i m m e r wieder versucht,
den Senat dadurch zu unterlaufen, dass sie statt Verträgen (treaties) Regierungsabkommen
(executive agreements) geschlossen hat, die keiner Senatsmitwirkung bedürfen. Selbst
so folgenträchtige A b k o m m e n wie die von Jalta und Potsdam im Jahre 1945 sind d e m
Senat nicht zur A b s t i m m u n g vorgelegt worden. Auch in den folgenden Jahrzehnten haben
die Regierungen der USA zahlreiche militärische G e h e i m a b k o m m e n mit anderen Staaten
getroffen, von denen der Kongress zuweilen nichts gewußt hat.
972
Vgl. statt vieler R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzi-
pien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus,
Rechtsbindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), G e m e i n s a m e s Verfassungsrecht
in der Europäischen Union. 1998, S . 9 9 f f . : H.-D. Horn. Über den G r u n d s a t z der Gewal-
tenteilung in Deutschland und Europa, in: J ö R 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspektive
der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel, Das amerikanische Re-
gierungssystem. 2. Aufl. 1962. S. 106. Siehe des weiteren M. Sinwi. Der Gerichtshof der
Europäischen G e m e i n s c h a f t e n im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Z u m „institutionel-
len Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003. S. 217.
973
So etwa bereits K. Vogel. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes f ü r die
internationale Z u s a m m e n a r b e i t . 1964. S. 33 f.. 42 f. Siehe im europäischen Kontext auch
336 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Angelpunkt der klassischen Gewaltenteilung ist das Gesetz. Dieses wird inner-
halb der Europäischen Union vom Rat beschlossen und dort über die Parlamente
der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Würden nun die Mitgliedstaaten von
der Kontrolle dieser Rechtsetzung durch einen ausschließlichen Entscheidungsvor-
behalt der Europäischen Gemeinschaft ausgenommen, so wäre die demokratische
Legitimationsgrundlage geschwächt.
Aus unionsrechtlicher Sicht ruht die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 1 EUV,
aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die Europäische Gemeinschaft gemäß einem
allgemeinen Rechtsgrundsatz auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, als des-
sen Teil sich der Grundsatz der Gewaltenteilung auffassen lässt. Zwar meidet
der EuGH (noch) den Begriff der Gewaltenteilung. Er hat aber mit dem „insti-
tutionellen Gleichgewicht" ein dem Grundsatz der klassischen Gewaltenteilung
verwandtes Prinzip im Gemeinschaftsrecht entwickelt. Während das „institutio-
nelle Gleichgewicht" die horizontale Aufteilung von Funktionen und Macht zwi-
schen den Organen und Einrichtungen anspricht, greift das Subsidiaritätsprinzip
ein Element der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft und Mit-
gliedstaaten auf. Es liegt nahe, die auf gemeinschaftlicher Ebene aufgefundenen
gewaltenteilenden und -hemmenden Regelungen und das im Grundgesetz (GG)
verankerte Prinzip der Gewaltenteilung als einen einheitlichen Rechtssatz aufzu-
fassen. der sowohl die Gemeinschaftsrechtsordnung als auch die innerstaatliche
Rechtsordnung erfasst und umspannt. Es handelt sich nicht um ein gemeinschafts-
rechtliches Gewaltenteilungsprinzip auf der einen und um ein mitgliedstaatliches
978
BVerfGE ebenda.
979
Der Rechtsmaßstab dieser Kooperation weist d e m Europäischen Gerichtshof die
abschließende E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s über die Auslegung des Vertrages zu und sichert
durch den Gerichtshof eine möglichst einheitliche Auslegung und A n w e n d u n g des G e -
meinschaftsrechts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrages, vgl. B V e r f G E eben-
da. während die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte die Rechtsverantwortung für ihr
Europaverfassungsrecht und die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsan-
w e n d u n g s b e f e h l s tragen. So wird für das Verhältnis von Europäischer G e m e i n s c h a f t und
Mitgliedstaat ein G e w a l t e n m o n i s m u s auf der einen oder anderen Seite vermieden.
980
Vgl. U. Guerot, Eine Verfassung für Europa. Neue Regeln für den alten Kontinent?,
in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
338 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ihren Appell, die Union nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, begannen die
„Federalists" mit einem inhaltlichen wie nahezu literarischen Paukenschlag: Es
sei dem amerikanischen Volk vorbehalten, auf seinem Territorium eine Mensch-
heitsfrage zu entscheiden, nämlich die, ob „ [ . . . ) menschliche Gemeinschaften
wirklich dazu fähig [sindj, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage ver-
nünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten", oder ob sie „für
immer dazu verurteilt sind, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von
Zufall und Gewalt abhängig zu sein." 9 s : In Amerika stand erstmals das Expe-
riment einer großräumigen Republik an. die sich noch dazu nicht dem Zufall,
sondern dem erklärten Willen der Bevölkerung verdanken sollte. Das Modell vom
Gesellschaftsvertrag, mittels dessen sich die Bürger eine frei vereinbarte Ordnung
geben, hatte erstmals die Chance, Wirklichkeit zu werden.
Doch die „Federalists" beließen es nicht bei der Beschwörung der großen Idee,
sie bedienten mit ihrer Argumentation auch eine der verlässlichsten innermensch-
lichen Kräfte: die Selbstbezogenheit. Indem sie versprachen, dass sich gerade
durch das neue System das Eigeninteresse der Einzelstaaten und ihrer Bürger frei
entfalten könne, forderten sie kein fundamentales Umdenken, sondern empfahlen
ein neues Mittel für einen alten Zweck. So sind die Vorteile, die die Autoren
einer neu konsolidierten Union zuschrieben, auch unmittelbar evident, weil von
der Art, wie sie im Überlebenskampf zählen: Die Union der Staaten ermöglicht
wirtschaftlichen Wohlstand und eine effizientere Sicherheitspolitik.''" 4
983
Vgl. auch A und W.P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.). Hamilton. Alexander. Die
Federalist-Artikel. 1994. S. x x v i i f f . , x l i v f . sowie B. Zehnpfennig. Das Experiment einer
großräumigen Politik, in FAZ vom 27. 11.1997. S. 11.
,yS4
Zu den ö k o n o m i s c h e n Vorteilen zählt der Wegfall der Zollschranken, eine bessere
Erschließung von Ressourcen, das Auffangen von Angebots- und Nachfrageschwankungen
im gemeinsamen Markt und die Belebung des Außenhandels durch ein Warenangebot, das
a u f g r u n d der freien Rohstoff- und Warenzirkulation in der Union preislich und qualitativ
auch für andere Nationen attraktiv wird. W a s die Sicherheitspolitik angeht, so sahen die
..Federalists"in einer engen Union den Garanten für Frieden zwischen den Staaten wie auch
zwischen der Union und anderen Nationen: schon die g e m e i n s a m e Stärke sollte andere
davon abschrecken, nach d e m bewährten Prinzip des ..divide et i m p e r a " zu verfahren und
die Staaten gegeneinander auszuspielen. Bloße militärische Allianzen lehnten die Autoren
allerdings ab. Wer erst im Krisenfall als Einheit auftritt, hat vorher vielleicht politische
Fakten geschaffen, die dann ein g e m e i n s a m e s militärisches Vorgehen unmöglich machen,
vgl. hierzu A. und W. P Adams. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hamilton. Alexander. Die
Federalist-Artikel. 1994. S. xxvii ff. sowie M. Diamond. Democracy and T h e Federalist: A
Reconsideration of the Framers' Intent. in: A m e r i c a n Political Science Review 53 (1959).
S. 52 ff. In weiterem Kontext E.F. Miller, What Publius Says about Interests. in: Political
Science Reviewer 19 (1990). S. 11 ff.
340 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Das amerikanische Nationalgefühl ist zweifelsohne - und nicht erst seit dem
11. September 2001 („United we stand." „We are all Americans.") - eines der
stabilsten Bindeglieder innerhalb der Bevölkerung. Was die Menschen allgemein
primär eint, nämlich eine Bedrohung von außen, spielte auch zu Zeiten der
Verfassunggebung eine bedeutende Rolle. Schließlich hatten die Siedlerden Un-
abhängigkeitskrieg unter Einsatz ihres Lebens gewonnen. Ein weiteres einigendes
Element für das Identitätsgefühl war sprachlicher Natur, da sich trotz der Vielspra-
chigkeit der aus allen Teilen Europas kommenden Einwanderer Englisch als die
„lingua franca" durchsetzte. Schließlich verband die Siedler auch die Immensität
der gemeinsamen Aufgabe, den weiten Kontinent zu erschließen, sich die Chan-
cen nutzbar zu machen und die Gefahren zu überwinden. Gleichwohl wäre es
ein Mythos, anzunehmen, das amerikanische Volk sei gleichsam mit unteilbarer
Identität und Souveränitätsbewusstsein „geboren". 985
Europäern fehlt die gemeinsame Sprache. Die „finalite politique", das Ziel einer
Föderation von Nationalstaaten (zum Unterschied der „föderierten Nation" der
USA) ist begründet auf dem (nie gänzlich illusionsfreien) Motto der „Einheit in
Vielfalt". Trotzdem darf von einer „europäischen Identität" 986 gesprochen werden.
Letztere zu definieren ist zum ersten Mal in dem Dokument des Europäischen
Rates in Kopenhagen 1978, sodann mit der Einsetzung des Adonnino Ausschusses
in Fontainebleau 1984 versucht worden. Die Zielsetzung war freilich nicht, natio-
nalstaatliche Identitäten in einem europäischen „melting pot" zu verschmelzen.
Aber ebenso wie „life, liberty and the pursuit of happiness" (vgl. die Declaration
of Independence, 1776) das umfassende amerikanische Lebensprinzip wurde, sind
die Europäischen Gemeinschaften mit den Zielen Frieden, Wohlstand. Solidarität,
Freiheit, und der Absicht. Europa eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu geben,
ins Leben gerufen worden. 987
985
Siehe auch G. Burghordt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-
winkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2 0 0 2 . sowie
J. Ellis. Founding Brothers. T h e Revolutionär^ Generation. 2 0 0 2 . Ch. „Generations: .So-
vereignty did not reside with the federal government or the individual states; it resided with
T h e People. W h a t that meant was a n y o n e ' s guess, since there w a s no such thing at this
formative stage as an American .people 4 ; indeed. the primary purpose of the Constitution
w a s to provide the f r a m e w o r k to gather together the scattered strands of the population
into a more coherent collective worthy o f t h a t designation." Dem großen ..amerikanischen"
Europäer A. Einstein wird inflationär folgender Satz zugeschrieben: „America is not a State,
it is a continent. T h e A m e r i c a n s are not a people but the result of permanent immigration
which has not yet c o m e to an e n d . "
986
Vgl. H. Haarmann (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, 1995;
M.Schauer, Europäische Identität und demokratische Tradition. 1996: D.Scholz, Euro-
pa - vom M y t h o s zur Union. G e d a n k e n über die europäische Identität und die Aufgaben
Europas nach Maastricht II. 1 9 % . Vgl. auch E. Pache. Europäische und nationale Identität:
Integration durch Verfassungsrecht?, in: DVB1.2002. S. 1154ff: XV. Graf Vitzthum. Die
Identität Europas, in: EuR 2002. S. I ff.
987
Der europäische Verfassungskonvent stand letztlich auch in diesem Kontext vor
der Aufgabe. Europa den Bürgern näher zu bringen, die Identifizierung des Einzelnen
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 341
Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs
verleiten zur Annahme, hier sei europäische Identität raumgreifend und in den
Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Eine ähnliche Grundstimmung at-
met das jüngste Europa-Manifest des Philosophen J. Habermas™* Man orientiert
sich allerdings an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - gekoppelt
mit einem ungebrochenen Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates und
unverhohlener Skepsis gegenüber jenem des freien Marktes. Den alten Kontinent
als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich für Europa-Idealisten
geradezu auf. Diese Haltung wirft jedoch Fragen auf: Unterscheidet sich Europa
wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es sich durch diesen Gegensatz selber
charakterisieren und die viel gesuchte Identität finden kann - im „Alles-nur-nicht-
Amerikaner-Europäer"? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle
der Karikatur eines „Neoliberalismus" nach Wildwestmanier - in seiner gegen-
wärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv
genug, um identitätsstiftend sein zu können? Wrie stark ist denn eine europäi-
sche „Hochkultur", die gegen den Angriff des amerikanischen „Primitivismus"
durch protektionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den
Holocaust wirklich mehr „sensibilisiert" als ein Amerika, das während mehr als
200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten
bekämpft und besiegt und sich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer
der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige europäische Identitäts-
suche tendiert in eine Sackgasse zu münden. Das Misstrauen gegenüber Amerika
mag in einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und
findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren sowie
in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutsch-
französisches Direktorat für Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen.
Die Aufnahme der neuen Mitglieder hat die Union bereits in wichtigen Teilbe-
reichen belebt und sie aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Es wird für Frankreich
schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich
ebenfalls in einer neuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen
und Zweckbündnisse schließen wird. Großbritannien hat dies in der Irak-Krise
bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer Weltmacht Europa träumen,
die mit Amerika „auf gleicher Augenhöhe" stehen könnte, finden im Konvents-
entwurf wenig Konkretes. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip
Einstimmigkeit unterworfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit
gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär.
mit dem Einigungswerk zu erleichtern, den europäischen Bürger zum „stakeholder" der
g e m e i n s a m e n Z u k u n f t zu machen. Ein symbolträchtiger A n f a n g war mit europäischer
H y m n e . Flagge und dem Euro gelungen.
988
Vgl. J. Habermas (mit J. Derrula), Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas",
in: F A Z vom 31. Mai 2003. auch in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 7
(Juli 2003) S. 877 ff.
342 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Eine weitere Frage (die aufgrund ihrer vordergründigen Loslösung vom gemein-
schaftsrechtlichen Ansatz eher als Inkurs dient) im Kontext der unterschiedlichen
Grundverständnisse umfasst die jeweilige Betrachtung der „Nation".
Hierbei ist zunächst zu konstatieren, dass die Nation in Europa während etwa
zweihundert Jahren in gewisser und freilich höchst eingeschränkter Weise an die
Stelle der Religion getreten ist. Die - wie bereits erwähnt - im 17. Jahrhundert
der Staatlichkeit unterworfene Religion wurde als kriegsauslösendes Element ge-
bannt. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen,
sondern zwischen den Nationen statt, aber die kriegsrelevanten Mechanismen
waren durchaus vergleichbar. Die „Nation" war durch die Romantik ursprünglich
als ein eher kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die
als zu intellektuell empfundene Aufklärung. 9 9 2 Die romantischen Gegenwerte zur
Aufklärung fanden im kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag.
Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die fran-
''s,< Aus der Lit. zur ..nationalen Identität": A. Bleckmann. Die Wahrung der nationalen
Identität im Unionsvertrag, in: JZ 1997, S. 2 6 5 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale
Identität der Mitgliedstaaten, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.). Gedächt-
nisschrift für Eberhard Grabitz. 1995, S. 1 5 7 f f : U.Haltern. Europäischer Kulturkampf.
Zur Wahrung „nationaler Identität" im Unionsvertrag, in: Der Staat 37 (1998), S. 591 ff.;
K. Doehring, Die nationale „Identität" der Mitgliedstaaten der EU. in: O. Duc u. a. (Hrsg.),
Festschrift f ü r U. Everling. 1995, Band I. S. 2 6 3 ff.
990
Siehe P. Häberle, Verfassung als Kultur, in: JöR 49 (2001), S. 125 ff., 132.
991
So auch P. Häberle, ebenda.
992
Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus. von der Vernunft, vom
Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft w u r d e in der Romantik
die Emotion betont, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige. das
Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die G r u p p e .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 343
zösische Revolution nun aber einen identitätsstiftenden Rahmen. Der König, der
als staatliche Identifikationsfigur („L'Etat c'est moi") gedient hatte, war abgesetzt
worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation
in ein politisches umgewandelt, das nun plötzlich zur Bildung von „National-
staaten*' beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas (England,
Frankreich. Spanien) wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen
gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser
Form.
Die Verfassungsurkunde der USA enthält an keiner Stelle das Wort „demokra-
tisch", eine Unterlassung, die nicht zuletzt aus einer unterschiedlichen Nutzung
der Terminologie im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verstehen ist/">x
Laut E. Fraenkel verstand man zur Zeit der Schaffung der Verfassung unter dem
Wort „demokratisch" lediglich eine unmittelbare Demokratie, wie sie in antiken
w
Von überragend kultureller Bedeutung für die Etablierung des demokratischen
G e d a n k e n s ist neben aller wissenschaftlicher Ansätze bis heute die Lyrik W. Whitmans.
Sein in erweiterten Ausgaben erschienenes Haupwerk „Leaves of G r a s s " (erste Ausgabe
1855. Ausgabe letzter Hand 1891 - 9 2 ) feiert ausdrucksstark den freien Menschen und das
Ideal der amerikanischen Demokratie. W h i t m a n s Werk beeinflusste überdies die Lyrik
Europas, besonders des Expressionismus. Er selbst sah manche seine Wurzeln w i e d e r u m
dort, unter a n d e r e m bei Homer. Shakespeare und Goethe und im Pathos der italienischen
Oper. Hierzu D. Reynolds. Walt W h i t m a n s America. A Cultural Biography, Neuausg. 1996.
344 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Allerdings verbergen sich (auch) in den USA hinter dem Bekenntnis zur Demo-
kratie zuweilen widerstreitende politische (und in der Demokratietheorie inflatio-
när behandelte) Haltungen:
Eine plebiszitäre Vorstellung der Demokratie, die von der These ausgeht, dass
jede staatliche Hoheitstätigkeit einen Ausfluss eines einheitlichen nationalen „Ge-
meinwillens" darstellen und von ihm getragen werden solle, und eine pluralistische
Vorstellung der Demokratie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jede staatliche
Hoheitstätigkeit die Resultate aus dem Kräftespiel der verschiedenen Gruppen-
994
E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, i 9 6 0 . S . 3 9 f f . sowie //. Wasser;
Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Porträt einer Weltmacht. 2. Auflage 1982 unter
häufiger B e z u g n a h m e auf Fraenkel.
995
Nach der Konzeption der amerikanischen Verfassung kann das G e m e i n w o h l nur
durch das freie Z u s a m m e n s p i e l der Einzelinteressen erreicht werden. Hierzu sind Spiel-
regeln erforderlich, die - z u m Mindesten in der ersten Periode der amerikanischen Ver-
fassungsgeschichte - sehr viel stärker durch rechtsstaatliche und pluralistische als durch
demokratische Gedankengänge bestimmt waren.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 345
willen darstellen und von diesen gebilligt werden solle. Seit dem ausgehenden
18. Jahrhundert respektive seit den Tagen, in denen die „Federalist Papers" ver-
faßt wurden, haben in den USA diese beiden Anschauungen der Demokratie
wiederkehrend miteinander um die Vorherrschaft gerungen. Zuweilen hat dieses
Ringen zu einer Art „Arbeitsteilung" geführt und bewirkt, dass die Ideologie
der Demokratie auf der plebiszitären und die Soziologie der Demokratie auf der
pluralistischen Grundvorstellung vom Wesen der Demokratie aufgebaut war. 996
Die Frage, ob die Verfassung der USA eine republikanische oder eine demo-
kratische ist. beantwortet R.A. Dahl wie folgt: „Madison meint Demokratie, wenn
er repräsentativ, direkt oder indirekt durch das Volk gewählte, republikanische
Regierung sagt." 997
In Europa bedeutet übrigens „Politik" unter anderem, dass in den politischen In-
stanzen, insbesondere in den Parlamenten um die Gesetzgebung gestritten wird: die
so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staa-
ten wird um Rechte gestritten: der Staat schafft hierfür nur den äußeren Rahmen.
Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von
Macht direkt - horizontal - in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet,
und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründervätern
dieser Nation die Vorstellung eines „vernünftigen Gemeinwillens" fremd war, der
in Europa der Staatsbildung weitgehend zugrunde liegt. Die „founding fathers"
wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung
zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um
Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können,
den Staat zu stärken.
996
Vgl. zu alledem E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem, i 9 6 0 . S. 39 ff.
997
Vgl. R.A. Dahl. How Democratic Is the A m e r i c a n Constitution. 2002. S. 5. 161.
998
Vgl. auch G. Haller. Recht - D e m o k r a t i e - Politik. Z u m unterschiedlichen Verständ-
nis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks. Referat anlässlich der Tagung
..Die USA - Innenansichten einer W e l t m a c h t " , 7 . / 8 . Februar 2 0 0 3 an der Katholischen
A k a d e m i e in Bayern. M ü n c h e n , http://www.grethaller.ch/kaih-ak-muenchen.html.
346 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Zum einen: Der Inhalt einer Verfassung, ihr Entwicklungsstand bestimmt sich
auch nach der Intensität von Gestaltungswillen und -vermögen der sie umge-
benden oder schaffenden Organe K l 0 0 , insbesondere aber einer sie einfassenden
„demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit" 10 " 1 .
Zum Zweiten besteht der Kern des viel beklagten „europäischen Demokratiede-
fizits" indes darin, dass - bei wachsendem Anteil europäischen Rechts, das auf die
nationalstaatliche Ebene d u r c h g r e i f t - d i e in den Mitgliedstaaten geltenden Partizi-
pationschancen tendenziell entwertet werden. Die nationalen Parlamente sind nur
noch begrenzt zuständig für die Entscheidungen, denen die Bürgerdann unterwor-
fen sind; die nationalen Regierungen sind nur noch begrenzt zur Verantwortung zu
ziehen; die Rechte und Kompetenzen der Länder (in den Bundesstaaten unter den
Mitgliedstaaten) sind weder gegenüber „europäischem Z u g r i f f ' noch gegenüber
der jeweils eigenen Bundesebene gesichert.
999
Vgl. etwa A. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip. in: JZ 2001, S. 53 ff..
57: D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussi-
on. in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl tt. a. (Hrsg.). Europäische Demokra-
tie, 1999: D. Thürer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte,
in: O. Due u. a. (Hrsg.). Festschrift für U. Everling. 1995. Band 2. S. 1561 ff.: M. Kaufmann.
Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle
des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften
und Staatspraxis 1992, S. 3 4 9 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die
Verwaltung 29 (1993). S . 4 4 9 ff.; H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische
Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.; D. Murswiek. Maastricht und der pouvoir
constituant. in: Der Staat 32 (1993), S. 191 ff.
1000
Es stellt sich allerdings die Frage, welchem Organbegriff Institutionen zuzuordnen
sind, die eine Verfassung erst schaffen: Verfassungsorganc werden selbst in der Regel erst
durch eine Verfassung gebildet.
1001 p Hüberle sieht diese demokratische - pluralistische - Öffentlichkeit als Beteiligte
an Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Verfassungslehre als Kulturwissen-
schaft. 2. Aufl. 1998. S. 2 3 5 ff. und in: Verfassung als öffentlicher Prozess. 2. Aufl. 1996.
S. 198 ff.).
1002
Vgl. F. Scharpf. Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deut-
scher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift. 1985. S. 323 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 347
1003
Vgl. auch H. Abromeit, Ein M a ß für Demokratie? Europäische Demokratien im
Vergleich. Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. M ä r z 2001, 2001.
lom
Siehe aber Art. 2 3 0 EGV.
loos pQ,- // Abromeit, Ein M a ß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich.
Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. März 2 0 0 1 . 2 0 0 1 . gilt das in zweierlei
Hinsicht: „(1) Tiefe S e g m e n t i e r u n g der Gesellschaft legt .konsoziative' Entscheidungs-
strukturen an der Spitze nahe. In der Tat verfügt nach Ansicht etlicher Beobachter die EU
über alle wesentlichen M e r k m a l e einer konsoziationalen Politie. vom .power-sharing at
the t o p ' über das Prinzip der Proportionalität bis hin zur Autonomie der Segmente. Bei
348 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die europäische Demokratie ist vor allem die Aufgabe der Bürger und der
Politik in den Mitgliedsstaaten. Eine europaweite bzw. europäische Öffentlich-
keit - von Fachleuten. Wirtschaft und Verbänden abgesehen - gibt es bisher in
breiten Bürger- und Wählerschichten kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass sich
dies in absehbarer Zeit ändern wird - insbesondere angesichts der kommenden
Erweiterungen der Union. Ohne eine europäische Öffentlichkeit würde aber auch
eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments nicht vielmehr Demokratie
als lediglich formale Zurechnung erreichen.
Antwort war: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt" („A republic if you
can keep it"). Diese Aufgabe ist eine dauernde - auf beiden Seiten des Atlantiks.
Im Falle Amerikas hat es u. a. einen Bürgerkrieg gebraucht, und dann noch viele
Jahrzehnte, um eine integrierte Republik zu erreichen.
Geografisch zeigt sich der Schwerpunkt in den USA vor allem im Westen und
Mittleren Westen. 1008 Nationale Referenden sind in der amerikanischen Verfassung
nicht vorgesehen. Auf der Ebene der Bundesstaaten hat sich dagegen das Instru-
mentarium der Direkten Demokratie, bis hinab auf die lokale Ebene, weitgehend
durchgesetzt. In allen Bundesstaaten sind darüberhinaus auch Anordnungen von
Volksabstimmungen aufgrund von Behördenbeschlüssen möglich („legislative
referendum").
Auf der Landkarte zeigt sich kein eindeutiger geografischer Schwerpunkt der
Direkten Demokratie in Europa. Richtung Balkanländer und Osten mag vorder-
gründig eine zurückhaltendere Einstellung zur Direkten Demokratie herrschen.
Aber auch das ist kein durchgängiges Schema, da beispielsweise Lettland, die Slo-
wakei und Slowenien zu den Staaten mit gut ausgebauten direktdemokratischen
Rechten gehören.
ferenden vorgesehen? Im Ranking des Jahres 2 0 0 3 rangierte Liechtenstein aus der Sicht
des IR1 noch g e m e i n s a m mit der Schweiz in der ersten Kategorie, wurde aber a u f g r u n d
der Erfahrungen rund um die Volksabstimmung vom 16. März 2 0 0 3 zurückgestuft. (Den
Ausschlag für diese Zurückstufung d ü r f t e die herausragende Stellung des Staatsoberhaup-
tes geben, d e m es freigestellt ist. vom Volk beschlossene Vorlagen zu sanktionieren. Im
Zuge der Auseinandersetzung über die Verfassungsrevision drohte das Staatsoberhaupt
auch tatsächlich damit, die ihm nicht genehme Gegenvorlage im Falle einer Volksmehrheit
nicht zu sanktionieren.) Siehe zu alledem IRI Europe (Hrsg.). IRI Europe Country Index on
Citizenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices
of 32 European States. 2 0 0 3 sowie 2004.
10.0
In den D o p p e l d e k a d e n ist die Zahl der Volksabstimmungen von rund 50 (1901 -
1920) auf etwa 350 (1981 - 2 0 0 0 ) gestiegen.
10.1
Vgl. L LeDuc. T h e Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspec-
tive. 2003. S. 20 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 351
In Europa hat auch der Souveränitätsverzicht 1012 der Staaten die Überwindung
des moralischen Rasters von „gut und böse" ermöglicht. Wenn westeuropäische
Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig
nicht als „böse". Diese Kategorie ist definitiv überwunden. Ohne Souveränitäts-
verzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses
wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von „gut" und „böse". Dieser Zusam-
menhang ist wieder höchst aktuell geworden, indem die „Koalition der ,Willigen"
nämlich eine moralische Kategorie darstellt, die mit .gut und böse' operiert. 1 0 , 3
Dies hat aber unter anderem zur Folge, dass der Intensitätsgrad der Freund-
schaft mit den Vereinigten Staaten für nicht wenige gleichbedeutend ist mit dem
Intensitätsgrad der Akzeptanz durch die Staatengemeinschaft ganz allgemein. Aus
US-amerikanischer Sicht trifft dies zu. Aus europäischer Sicht ist es aber keines-
wegs richtig, im Gegenteil: gerade in der deutschen (politischen wie öffentlichen)
Diskussion geht man - zusammen mit zahlreichen Staaten in anderen Kontinen-
ten - davon aus, dass man sich zunehmend auf eine Völkerrechtsordnung einigen
wolle, auch indem man sich zunehmende Souveränitätsverzichte leisten würde.
Von Interesse ist nicht nur im Hinblick auf aktuelle Friktionsfelder im trans-
atlantischen Verhältnis die zentrale Bedeutung des Völkerrechts und des Souve-
ränitätsverzichtes, beides alte europäische Errungenschaften. Der Souveränitäts-
verzicht der Staaten zugunsten einer völkerrechtlichen Ordnung wurde in Europa
im Westfälischen Frieden 1648 begründet. Ein in seiner Wirkkraft ähnlich „glück-
licher globaler M o m e n t " ereignete sich in der zweiten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts: Erstmals findet ein Prozess statt, der zu einer bislang tragfähigen
" " 2 Vgl. bereits P. Hiiberle. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souve-
ränität. in: AöR 92 (1967), S. 259 ff. Siehe auch S. Oeter, Souveränität und Demokratie als
Problem in der Verfassungsordnung der EU. in: ZaöRV 55 (1995), S. 659 ff.
1013
Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ist das US-amerikanische Na-
tionalgefühl zutiefst getroffen worden. In der Folge betrachteten die Vereinigten Staaten
das in ihrer Nation verkörperte ..Gute" als so bedroht, dass alle anderen, universell gelten-
den Werte daneben zurücktraten, so auch die Menschenrechte von G e f a n g e n e n , die des
Terrorismus verdächtigt werden (Stichworte wie „ G u a n t a n a m o " und ..Abu G h r a i b " sollen
an dieser Stelle genügen).
352 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
1014
Vgl. zu den G r u n d f r a g e n des transatlantischen Verhältnisses (insb. mit Blick auf
den Konflikt um das iranische N u k l e a r p r o g r a m m ) K. T. zu Gutrenberg. Transatlantische
Festigkeit gegenüber Iran. Keine Alternative zur einheitlichen Verhandlungsstrategie, in:
N Z Z vom 1 4 . 9 . 2 0 0 5 , S. 5 sowie K.-T. zu Gurtenberg/R. Mützenich. Locken und Abschre-
cken. Nur g e m e i n s a m und mit einer Doppel-Strategie können Europa und die USA Iran zur
Aufgabe des A t o m p r o g r a m m s bewegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. 11.05, S. 2 und
zuletzt dies., Es ist an Teheran, den nächsten Schritt zu tun. Iran ist es im Atomstreit nicht
gelungen, die internationale G e m e i n s c h a f t zu spalten, in: Financial T i m e s Deutschland
vom 1 2 . 6 . 2 0 0 6 : z u d e m : K.-T. zu Guttenberg, Vertrauen statt Marktgeschrei, in: Bayern-
kurier vom 28. 1 . 2 0 0 6 : siehe auch die Bundestagsreden des Verf. vom 1 6 . 1 2 . 2 0 0 5 . vom
1 5 . 3 . 2 0 0 6 . vom 1 0 . 3 . 2 0 0 6 sowie vom 6 . 4 . 2 0 0 6 (BT-Plenarprotokolle des jeweiligen
Sitzungstages).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 353
Vereinigten Staaten nämlich eine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die
völkerrechtliche Ebene. Hinsichtlich des Souveränitätsverzichts ist eine klare
Analogie feststellbar:
Die Amerikaner entschieden sich dafür, diese Frage offen zu lassen, und in
jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Territorium Mitglied der Union werden kann.
1015
Durch die Abtretung aller einzelstaatlichen Landansprüche an den Kongress. die
rechtliche Vorbereitung weiterer Einzelstaatsgründungen (Northwest Ordinance) und den
Kauf Louisianas von Frankreich (1803) war die Voraussetzung für die Erschließung des
Westens geschaffen worden. Mit der Annexion von Texas (1845), d e m Kompromiss mit
England über Oregon und die nach dem Krieg mit Mexiko ( 1 8 4 6 - 4 8 ) v o r g e n o m m e n e
Angliederung Kaliforniens und N e w Mexikos war Mitte des 19. Jahrhunderts die konti-
nentale Expansion abgeschlossen. Dazu etwa das klassische Werk von S.E. Morison u. a.,
T h e G r o w t h of the A m e r i c a n Republic, 2 Bde.. 1930: vgl. auch A.M. Schlesinger, T h e
Cycles of A m e r i c a n History. 1986; historische Abrisse aus der deutschsprachigen Lit:
354 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
„Mythos des Westens" geniein hatte und die Bedeutung der „Frontier" für die
Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft gelegentlich überschätzt worden
ist, spielt sie für die „kollektive Identität" der Amerikaner bis heute eine wichtige
Rolle.
Auch wenn sich die „Erweiterung" der USA bis an den pazifischen Ozean zu-
gegebenermaßen durch den Zukauf bzw. die Einvernahme im Wesentlichen leerer
Territorien vollzogen hat: Der Akzeptanz der Grundwerte und Gesetze der Union
(etwa im Falle von Utah und Texas) kam dennoch zentrale Bedeutung zu. Hier darf
durchaus eine Parallele zu der von der Europäischen Union verlangten Erfüllung
der „Kopenhagener Kriterien" seitens der Beitrittskandidaten gesehen werden.
Damit stellt die Europäische Union ebenso wie die USA die Bedeutung gemein-
samer Werte, Rechtsnormen und Wirtschaftsverfassungen in den Mittelpunkt.
Insoweit sich die USA an ihr eigenes „Erweiterungskonzept" gehalten haben, ist
es ihnen gelungen, ganz unterschiedliche Territorien in ihr föderales System zu
integrieren. Die Geschichte der USA zeigt zwar, dass es vermessen ist zu glauben,
man könne aus einem notwendigerweise begrenzten historischen Blickwinkel
heraus die zukünftigen Grenzen eines politischen Gemeinwesens absehen und
festlegen, gleichwohl lässt sich aus diesem Argument im Umkehrschluss keine
eigene Erweiterungsdynamik festschreiben.
Wer Amerika begreifen will, bemerkte A. de Tocqueville, muss vor allem seine
politischen Einrichtungen verstehen. Weil aber die politischen Einrichtungen eines
Gemeinwesens nur soviel wert sind, wie der in ihnen vorhandene Geist, kann man
die Amerikaner nur begreifen, wenn man „die verschiedenen Meinungen, die
unter ihnen gelten und [... 1 die Gesamtheit der Ideen, aus denen sich die geistigen
Gewohnheiten bilden" 1 0 1 6 zu verstehen sucht.
Zudem: die USA haben mit d e m Präsidenten einen Akteur, der mit einer
Stimme spricht und über ein Entscheidungsinstrumentarium voll verfügt. Ent-
scheidungen herbeizuführen ist auf beiden Seiten des Atlantiks langwierig; bei
der A u s f ü h r u n g sind die USA indessen der Europäischen Union weit voraus. Dies
ergibt sich nicht zwingend aus der Verfassung selbst, nach der dem Präsidenten,
indirekt gewählt, kein umfassendes Machtmonopol zugedacht war, sondern ist
ein Ergebnis der Verfassungsentwicklung. Der Gedanke, ob Europa mit einer
vergleichbaren Exekutivspitze zu versehen sein könnte, ohne dass dabei die Fra-
ge der Direktlegitimation unbedingt im Vordergrund stehen müsste, bleibt auch
nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrages aktuell. Zweitens ist der
Kongress kein Parlament, das die Exekutive wählt und stützt, sondern ein eigenes
Machtzentrum, mit dem das Weiße Haus ständig verhandeln muss. 1017
"" Der amerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative
der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die g e m e i n s a m e
Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentan-
tenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt. Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das
Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht
für die Handelsgesetzgebung, was aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority,
insbesondere f ü r die Verhandlungen im R a h m e n der Doha Development Agenda eine
Schlüsselrolle darstellt. Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter dar-
über hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen
im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von e n o r m e r Bedeu-
tung ist (- der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses R. Lugar spielte eine
in der europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, gleichwohl höchst bedeutsame
Mittlerfunktion im europäischen Erweiterungs- und Annäherungsprozess -) und eine wich-
tige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zustimmungsbedürftigkeil
durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten der Administration
stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar.
i o i s Vgl. auch G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-
winkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. Die
in vielen Verfassungsstaaten eingerichteten Rechnungshöfe vergleicht H. Schulze-Fielitz,
Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, in: V V D S t R L 55 (1996). S. 231 ff.
356 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
schiedlichen Banknoten. Erst im Jahre 1914 wurden sie durch „Federal Reserve
Notes", den „einheitlichen" Dollar, ersetzt. Ebenso gibt es strukturelle Ähnlich-
keiten zwischen der Federal Reserve und dem EZB System: Das ..Board" besteht
aus sieben Mitgliedern (das EZB Direktorium aus sechs) und zwölf Vertretern
regionaler Distrikte (auch die EZB zählt gegenwärtig in ihrem Erweiterten Rat
zwölf stimmberechtigte nationale Zentralbankpräsidenten), wobei der Präsident
der „New York Fed" „geborener" Stellvertreter des „Fed Chairman" und perma-
nent stimmberechtigt ist, während durch ein Rotationsverfahren nur vier weitere
der zwölf regionalen Vertreter für jeweils ein Jahr ein volles Stimmrecht haben. Der
wesentliche Unterschied in diesem Kontext zwischen den Vereinigten Staaten und
der Europäischen Union ist allerdings verfassungsgeschichtlicher Natur: während
die monetären Zwänge erst 126 Jahre nach der Verfassungsgebung zur Gründung
des Zentralen Währungssystems der USA führten, hat sich die Europäische Union
eine „einheitliche" Währung und ein voll strukturiertes Zentralbanksystem zuge-
legt. bevor der Prozess der Verfassungsgebung im eigentlichen Sinne überhaupt
eingesetzt hat.
1019
Vgl. oben B . I I . 2 . 0 Ü ) .
1020
Siehe hier/u bereits ausführlich oben unter B . I . 4 . e ) .
1021
Die „Föderalisten" plädierten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte.
Hamilton. Madison und Jay vertraten in den Federalist Papers die Ansicht. Gerechtigkeit
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 357
Während der europäische Einigungsprozess die Union auf den Raum des gan-
zen Kontinents bis an die Grenzen Asiens und an den Nahen Osten auszudehnen
imstande scheint und die Europäer vor neue, nicht nur wirtschaftlich-soziale
sondern auch sicherheitspolitische Chancen und Risiken stellt, werden in der
Diskussion über die Zukunft Europas die Fragen nach den gemeinsamen Werten
und Zielen der europäischen Völker immer bedeutender. Bereits J. Monnet hatte
mit seiner Formel der „ever closer union" diese Richtung vorgegeben und damit
auf das amerikanischen Prinzip einer „ever stronger union" (J. Madison) eine
charakterisierende Antwort formuliert. Dass sich die Union von einer Wirtschafts-
zu einer Wertegemeinschaft mit weit mehr als nur wirtschaftspolitischen Aufga-
benstellungen entwickelt und entwickeln soll, ist breiter Konsens, geplant war
diese Entwicklung bei aller Legendenbildung nicht. Das vielfältige Mosaik aus
Institutionen und Verträgen auf dem europäischen Kontinent ist hierfür beredter
Ausdruck. Neben der Westbindung durch das transatlantische Verteidigungsbünd-
nis (NATO) sei hier nur auf die OSZE und vor allem den Europarat hingewiesen.
Letzterer, u. a. eingesetzt für Demokratie und Menschenrechte in Europa und mit
Mitgliedern weit über die europäische Union hinaus bis hin zu Russland, kann in
der Frage der Grund- und Menschenrechte mit der europäischen Union in einen
Konflikt geraten, sollte sich die Grundrechtecharta bzw. der Grundrechtekatalog
im Verfassungsvertrag negativ auf die Menschenrechtskonvention der Straßburger
Organisation auswirken. Welche Werte letztlich die Menschen in der Europäischen
Union verbinden sollen, wird noch Inhalt zahlreicher Debatten. Sicherlich prägen
Traditionen und Kulturgeschichte der Völker diese Werte entscheidend mit. Über
die Frage religiöser Werte entbrannte unlängst mit dem Aufnahmegesuch der Tür-
kei und dem Beginn der Beitrittsverhandlungen ein heftiger Streit zwischen den
Befürwortern einer christlichen und denen einer streng „überreligiösen Verortung"
der europäischen Union. 1 0 "
und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie
gesichert: grundrechtliche Abwehrrechte seien überllüssig, ja schädlich, ließen sie doch
den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich
erlaubt und müsse erst verboten werden. Z u d e m würde so abgelenkt von der letztlich
entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich
in demokratischer Selbstbestimmung äußere.
358 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
„Frieden, ihre Werte, das Wohlergehen ihrer Völker fordern" und letztlich
„nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschafts-
wachstums und sozialer Gerechtigkeit" 1023 . So definiert bereits Giscards Entwurf
die Ziele der europäischen Union. Vielleicht werden die aus der Nachhaltigkeit
abgeleiteten Prinzipien der Solidarität und Generationengerechtigkeit einmal die
europäische Antwort auf das amerikanische Axiom und Ziel „life, liberty and the
pursuit of happiness" (Articles of Confederation, 1776).
Mit Habermas ist zu fragen, ob dieser Wechsel des politischen Klimas nur einen
gesunden Realismus - als Ergebnis eines jahrzehntelangen Lernprozesses - aus-
drückt oder eher einen kontraproduktiven Kleinmut, wenn nicht gar schlichten
Defätismus. 1026
Freilich lässt sich unsere heutige europäische Situation kaum plausibel mit
jener der Federalists oder der Mitglieder der Assemblee nationale am Ende des
18. Jahrhunderts vergleichen oder eine klare Kohärenz herstellen. Damals waren
die Verfassungsväter in Philadelphia und die revolutionären Bürger von Paris
Initiatoren und Teilnehmer einer geradezu unerhörten, bislang nicht erfahrenen
Praxis.
1022
H i e r / u beispielsweise auch K.-T. zu Gullenberg, Turkey and the EU. We Need an
Option Short of Füll M e m b e r s h i p , in: European Affairs 6 (2005). S . 3 9 f f . ; ders.. O f f e r
Turkey a .Privileged Partnership" Instead. in: International Herald Tribüne vom 1 5 . 1 2 . 2 0 0 4 :
ders.. Privilegierte Partnerschaft. Jenseits von Entweder-oder: Eine Alternative z u m E U -
Beitritt der Türkei, in: Die Welt vom 3. 1.2004.
1023
C O N V 528/03.
1024
Vgl. auch J. Habermas. W a r u m braucht Europa eine Verfassung?, in: D I E Z E I T
vom 2 8 . 0 6 . 2 0 0 1 , S. 7.
1025
Anders aber T. R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New Superpower and the
End of American Supremacy, 2005.
1026
Siehe J. Habermas (2001).
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 359
Die These von L Kühnhardt, dass eines der Hauptmotive bei der europäischen
Verfassunggebung das Streben nach Unabhängigkeit gegenüber der USA sei, so
wie diese sich mit ihrer Verfassung 1787 endgültig von Großbritannien und Europa
emanzipieren wollten, lässt sich nur schwerlich als zulässige historische Analo-
gienbildung interpretieren. 102 Die sozialen, kulturellen, politischen Kontexte, in
die die beiden Konvente eingebettet waren bzw. sind, machen jedoch die gravie-
renden Unterschiede umso deutlicher: Während die „founding fathers" der USA
eine Verfassung für etwa drei Millionen Menschen schmiedeten und hierbei große
Handlungsfreiheiten genossen, wurde im EU-Konvent über eine Verfassung für
über 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger nachgedacht, von denen viele ganz
unterschiedlich Ideen darüber haben, wie die Verfassung Europas aussehen sollte.
Der EU-Verfassungskonvent war im Übrigen der erste Konvent des Internetzeital-
ters und unterschied sich schon von daher (im Hinblick auf teilweise ausufernde
Versuche der Einflussnahme über dieses Medium) ganz grundsätzlich von frühe-
ren Konventen. Der Vergleich der Verfassunggebungsprozesse bleibt dennoch ein
adäquates Mittel der Analyse des europäischen Verfassungsprozesses. Zwar steht
die systematische Erforschung verfassungsgeschichtlicher Vergleichserfahrungen
noch am Anfang, sie dürfte jedoch zukünftig gerade nach den Erfahrungswerten
im europäischen Verfassungsprozess zunehmend forschungsrelevant werden.
Der Europäische Konvent hat vom 28. Februar 2002 bis zum 18. Juli 2003 über
die zukünftige Gestalt der Europäischen Union beraten. Der Konvent basierte als
neuartiges, bislang nicht in den Europäischen Verträgen kodifiziertes Gremium
auf den Erfahrungen, die im Rahmen des ersten Konvents zur Ausarbeitung einer
Europäischen Grundrechtecharta gesammelt wurden. 1028
1027
L. Kühnhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struktu-
rentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.
1028
Vgl. zu Struktur und Arbeitsweise des Konvents auch J. Meyer!S. Hartleif, Die
Konventsidee, in: Zeitschrift f ü r Parlamentsfragen. 2 / 2 0 0 2 . S. 2 6 8 ff.: P. Zimmermann-
360 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
1033
So aber doch H.-G. Dederer ( 2003). S. 97 ff., vgl. zur d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e n
Funktionswandlung des Staates auch 5. Hobe (2003), S. 1 f.
362 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der Ausgangspunkt der Verfassungsreformer in den 80er Jahren des 18. Jahr-
hunderts ähnelte dem der Europäer heute. Die Zusatzartikel zu den „Articles
of Confederation" mussten durch die gesetzgebenden Gewalten der damals 13
Staaten einstimmig angenommen werden. Dies brachte zwei unüberwindliche
Hindernisse mit sich: zum einen die Maßgabe der Herstellung von Einstimmig-
keit. wodurch ein kleiner Staat wie Rhode Island die Möglichkeit erhielt, eine von
allen anderen Staaten gewünschte Reform zu torpedieren, und zum anderen die
unwahrscheinlich anmutende Vorstellung, dass die gesetzgebenden Gewalten der
Staaten sich einem Projekt anschließen würden, mit dem ihre eigene Machtposition
erheblich geschwächt würde.
1034
Vgl. H. Dippel. Das Zeitalter der Revolution (1763 - 1 7 8 9 ) , in: Geschichte der USA.
2001. S. 18 ff.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 363
Der gesamte Prozess von der ersten Sitzung des Verfassungskonvents in Anna-
polis im September 1786 bis zur Ratifizierung durch den 11. Staat, New York, im
Juli 1788 nahm weniger als zwei Jahre in Anspruch. Man könnte kritisch anmerken,
dass die Annahme der ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung den Prozess um
weitere drei Jahre verlängerte, aber in Wirklichkeit stellten die Bill of Rights - wie
oben bereits erwähnt - eher den Abschluss als einen wesentlichen Bestandteil des
Prozesses dar. In ihrer Gesamtheit bleibt die Klarheit. Schnelligkeit und Effizienz
dieser Pioniertat im Bereich der „Verfassungsschöpfung" beeindruckend.
1035
Diese wurde sogar seitens Rhode Islands und North Carolinas zugestanden - diese
beiden Staaten hatten die Verfassung zunächst abgelehnt und damit sogar kurzzeitig die
Union verlassen.
364 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
die Vereinigten Staaten, sich in seiner Verfassung auf das Erbe des christlichen
Abendlandes berufen darf. " ' 6
Die tiefere Ursache der Unterschiede zwischen dem reibungslosen Ablauf der
Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung in den 80er Jahren des 18. Jahr-
hunderts und der langwierigen Arbeit der Europäer heute aber ist letztlich in
der grundsätzlich vorhandenen Mehrdeutigkeit des europäischen Verfassungsver-
tragsentwurfs und allgemein des gegenwärtigen europäischen Konstitutionalismus
zu finden.
Durchaus schwer vorstellbar ist, wie die politische Identität des neuen Gebildes
„unter" dem Verfassungsvertrag aussehen soll. Kritiker behaupten, dass diese
neue politische Vision der Gemeinschaft chronisch elitär, bürokratisch und tech-
nokratisch ist und dass das im Entstehen begriffene neue Europa niemals in der
Lage sein wird, patriotische Gefühle unter den Bürgern zu wecken, deren Leben
es bestimmt. Der Verfassungsentwurf enthält nur marginale Aspekte, die diesen
Vorwurf entkräften könnten. 1037
Der Entwurf einer Verfassung für Europa käme wohl auch deshalb den Verfas-
sungsvätern Amerikas vertraut vor, weil er das Potential in sich trägt, die Fehler
der im November 1777 verfassten Artikel der Konföderation heraufzubeschwören.
1036
H i e r / u ausführlich unter C. II.
u
" Vielleicht sähe es anders aus, wenn die Mitgliedstaaten sich dazu entschlossen hät-
ten. einen allgemeinen Volksentscheid über die endgültige Version des Verfassungsvertrags
anzuberaumen, anstatt sich in einem bunten S a m m e l s u r i u m von Verfahren zu verheddern,
bei denen einige Staaten den Gesetzgeber entscheiden und andere eine Volksabstimmung
durchführen lassen wollen. Natürlich würde ein Verfahren ä la amerikanische Volkssouverä-
nität im Jahr 1787 erhebliche Probleme mit sich bringen (obwohl die meisten europäischen
Länder in dieser Beziehung wesentlich mehr E r f a h r u n g haben als d a m a l s die Vereinigten
Staaten), vgl. ausführlich A. Maurer!S. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas
Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 365
polizeilichen Aufgaben in ihrem Staat. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb
die Postzustellung die einzige Zuständigkeit des Bundes, von der die Amerikaner
normalerweise direkt etwas mitbekamen.
Der Verfassungsvertrag fällt also in vielerlei Hinsicht weit hinter den Zielset-
zungen zurück, die vor mehr als zwei Jahrhunderten in Philadelphia formuliert
wurden, und letztlich bleiben Verlauf und Eigenschaften der verfassungsmäßi-
gen Veränderungen in Europa das, was T.Jeffersons Nachfolger J. Madison die
„Geheimnisse der Z u k u n f t " nannte. Es wird sich zeigen, ob der verschlungene
Pfad und sich in die Länge ziehende Prozess des Entwurfs, der Verhandlung, der
Verabschiedung und Ratifizierung des fertigen Verfassungsvertrages letzten Endes
etwas anderes hervorbringen wird als den klaren und eindeutigen Beschluss, zu
dem die Beratungen der Amerikaner zwischen 1787 und 1791 gelangten. Wäh-
rend dieser Debatten musste man sich von der Vorstellung verabschieden, dass
Souveränität nur an Regierungen übertragen werden kann. Es erwies sich, dass
alle rechtmäßig eingesetzten Regierungen - d. h. die der Bundesstaaten und des
Bundes - ihre Daseinsberechtigung aus dem Willen des Volkes bezogen. Un-
abhängig von möglichen weiteren Zielen einer „europäischen Verfassung" wird
wohl der ursprüngliche Grundsatz der Volkssouveränität unangetastet bleiben.
Über diese und weitere Aspekte des historischen Vergleichs hinaus stellt sich
die Frage, ob das europäische Verfassungsprojekt auch Ursachen für die momen-
tan angespannten Beziehungen zwischen Europa und den USA deutlich machen
kann. Vor mehr als dreißig Jahren wurden auf amerikanischer Seite die ersten
Bestrebungen in Richtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Vor-
boten eines vereinigten Europa angesehen, das seinem Retter und Verbündeten
jenseits des Atlantik nacheifern würde. 1038 Heute darf man angesichts der Folgen
1038
Vgl. m.w. N. J. Rakove, Europe's Floundering Fathers. in: Foreign Policy, 138/2003.
S. 28 ff.: mit einigen (historisch) vergleichenden Gedanken R. R. Polmer. Das Zeitalter der
demokratischen Revolution. 1970.
366 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
des Krieges im Irak, der Abkühlung der Beziehungen zwischen den USA und
einiger europäischer Staaten sowie der Politik der Regierung G. W. Bush vielleicht
fragen, ob der Prozess der Entstehung einer Verfassung auf beiden Seiten des
Atlantik tatsächlich ein Beleg dafür ist, wie viel Amerikaner und Europäer ge-
meinsam haben oder eher dafür, wie umfangreich und beständig die Unterschiede
sind. Mancher historischen Betrachtung zufolge beseitigte einst die amerikanische
Föderation die Rivalitäten, die in Europa noch durch Krieg und Diplomatie im
Gleichgewicht der Mächte ausgefochten wurden. Es wäre nicht ohne Pikanterie,
wenn es den Europäern also in absehbarer Zeit gelänge, eine Verfassung für eine
Union zu schaffen, von der sich bis heute nicht wenige ein Gegengewicht zur
derzeit größten (benevolenten) „Hegemonialmacht" der Welt erhoffen.
Die Aufgabe der Konsolidierung der politischen Führung Europas ist heu-
te im Vergleich eine weitaus vielschichtigere als die Bestimmung, der sich die
Verfassungsväter Amerikas damals in Philadelphia gegenübersahen. Dies soll
keinesfalls die Erfolge des Jahres 1787 schmälern - weshalb eine Betrachtung
der jeweiligen Konventsmitglieder vermessen, aber gleichwohl bezeichnend ist:
Im Entstehungsprozess der amerikanischen Verfassung beeindruckt nicht nur die
große Ernsthaftigkeit, mit der ihre Verfasser sich dieser Aufgabe widmeten, son-
dern auch die bemerkenswert einfallsreiche und kritische Weise, in der sie ihre
profunde Kenntnis der Geschichte und politischen Philosophie mit ihren eigenen
Erfahrungen verknüpften. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen in den Augen
mancher um einen „zusammengewürfelten Haufen rustikaler Provinzler" 1039 han-
delte, die an der Peripherie der europäischen Welt lebten, lässt ihren Erfolg umso
erstaunlicher erscheinen.
1039
So J. Rakove. Europe* s Floundering Fathers. in: Foreign Policy. 138/2003. S. 28 ff..
31.
V. Zwei V e r f a s s u n g g e b u n g s p r o z e s s e : ein R e s ü m e e 367
Allerdings boten sich ihnen auch einige Vorteile, die ihnen die Arbeit an einer
Bundesverfassung erleichterten. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die
Tatsache, dass die Mitgliedstaaten der Union zu keinem Zeitpunkt souverän im
eigentlichen Wortsinn gewesen waren. Weder 1776 noch 1787 konnte man die
amerikanischen Bundesstaaten als unabhängige souveräne Staaten betrachten, im
Gegensatz etwa zu den Nationalstaaten des modernen Europa. Auch wenn sie
einige grundlegende Hoheitsrechte ausübten, darunter die Befugnis zur Verab-
schiedung von Gesetzen und Erhebung von Steuern, beanspruchten sie zu keinem
Zeitpunkt Souveränität im internationalen Sinn. Bereits zu Anfang der Revoluti-
onskrise im Jahr 1774 besaß der Kongress das Monopol über die Bereiche Krieg
und Diplomatie.
Diese Bezugnahme auf nationale Interessen und Identität lässt sich auch über
diese Staaten hinausreichend hinsichtlich zweier wichtiger Bestandteile des Ent-
wurfs eines Verfassungsvertrags für Europa verdeutlichen.
Erstens werden die Mitgliedstaaten ungeachtet der Schaffung des Amtes des
Außenministers der Europäischen Union, der gleichzeitig als einer der Vize-
präsidenten der Europäischen Kommission fungieren soll, kaum ihr Recht auf
Betreibung originärer Außenpolitik an die Europäische Union vollumfänglich
abgeben. Der Verfassungsentwurf ist an dieser Stelle sehr unklar, aber auch die
Überarbeitung des Entwurfs im Rahmen einer Regierungskonferenz der Mitglied-
368 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Staaten hat die Aussichten auf die Betreibung einer „europäischen Außenpolitik"
kaum verbessert. 1 0 4 0
Z u m Zweiten lohnt ein Blick auf das Dilemma, das durch das Verfassungsver-
trags-Verfahren an sich entstanden ist. Letztlich handelt es sich um Verhandlungen
zwischen Nationalstaaten und ihren Regierungen, für die als formale (und „pro-
jektgefährdende") Anforderung die Herstellung von Einstimmigkeit besteht. Der
Konvent zur Zukunft der Europäischen Union selbst hat eine der wichtigsten Kri-
terien der Amerikaner für die Herstellung der vollständigen Verfassungsmäßigkeit
einer Verfassung erfüllt. Er traf sich ursprünglich als unabhängiges Gremium, das
keine anderweitigen Zuständigkeiten oder Verpflichtungen hatte und theoretisch
frei und ohne Rücksichtnahme auf einengende politische Loyalitäten bestimmen
konnte, wie die politische Z u k u n f t am besten gestaltet werden sollte. Ab diesem
Zeitpunkt aber unterlag der weitere Prozess den Manipulationsversuchen der Re-
gierungen der Mitgliedstaaten, und die Rolle der europäischen Völker bei der
A n n a h m e der Verfassung versank zunächst in Ungewissheit.
1040
Vielleicht wäre eine solche Ä n d e r u n g möglich gewesen, wenn nicht der Krieg im
Irak die Arbeit des Konvents unterbrochen hätte. Dieses Ereignis erinnerte die Akteure
schmerzlich daran, w i e weit man noch vom Ideal einer g e m e i n s a m e n europäischen Au-
ßenpolitik entfernt ist. Die Vorstellung, dass Briten. Italiener. Spanier oder Polen sich
bereitwillig einer (damaligen) Außenpolitik anschließen würden, die den (damaligen) Ab-
sichten der Franzosen und Deutschen entsprochen hätte, erscheint auch f ü r z u k ü n f t i g
wechselnde Gestaltungen und Konstellationen vergleichbar abwegig.
1041
„Es gibt keine H o f f n u n g für Europa o h n e Integration." ( J . F. Dulles, M e m o of
Discussion at the 159 lh Meeting of the National Security Council. 13.8. 1953, in: FRUS
1 9 5 2 - 1 9 5 4 . Bd. VII. 1. S. 502.) Diese Einschätzung kursierte in den Administrationen der
amerikanischen Präsidenten Truman und Eisenhower von 1945 bis 1961. Erste Ansätze der
Europäer, das traditionelle System der Nationalstaaten zu überwinden, fanden nachhaltigen
positiven Widerhall in den Vereinigten Staaten.
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 369
Trotzdem: im Hinblick auf die Zukunft einer europäischen Verfassung mag man
sich der bisherigen Erfahrungen erinnern, um mit einer gewissen Gelassenheit
den nun anstehenden Ratifikationsprozess zu begleiten. Andere werden gerade
dadurch in ihrer demokratietheoretischen Skepsis gegenüber der Europäischen
Union gestärkt werden. Wichtiger noch ist zunächst einmal, dass es keinen De-
terminismus hinsichtlich des Ausgangs der anstehenden Ratifikationsvoten gibt,
der sich aus irgendeiner Tradition der politischen Kultur eines der 25 (bald 27)
Mitgliedsländer ableiten ließe. Und selbst wenn sich im ersten Anlauf die Ratifi-
kationshürde als zu hoch für die Realisierung der ersten europäischen Verfassung
erweisen sollte: Nach aller Erfahrung in und mit der Europäischen Union könnte
es am Ende immer noch den Weg des Umwegs geben, um zum Ziel zu gelan-
gen - wie so oft in der Vergangenheit, auch wenn alle Demokratiedogmatiker und
Integrationstheoretiker sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht fühlen mögen.
Europa ist eben insbesondere durch Krisen gewachsen und wieder und wieder
durch Krisen gestärkt sowie gewissermaßen bestätigt worden.
1042
Vgl. auch R.A. Dahl. How Democratic Is the American Constitution. 2002. S. 3.
370 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Mitglieder einer Gemeinschaft viel größer, als der kurzfristige Verlust an Macht
und Einfiuss auf Seiten der Stärkeren" 1043 . In der Frage der Grundrechte sind die
Europäer den Amerikanern im Zeitpunkt des Verfassunggebungsprozess voraus:
sie wurden bereits beschlossen.
1043
G. Burghardt. T h e Development of a European Constitution f r o m the US Point
of View. Berlin. Vorlesung vom 6. Juni 2 0 0 2 an der Humboldt-Universität Berlin, w w w
.eurunion.org/news/speeches/2002/020606gb.htm.
1044
G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus d e m Blickwinkel der
USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. S . 4 2 .
V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e 371
Ein weiterer Punkt: Der amerikanische Bürger konnte sich von Anfang an als
Subjekt in einem Prozess fühlen, der argumentativ begleitet wurde, Selbstbetrof-
fenheit erzeugte und daher auch von einer psychischen Dynamik getragen war. Der
europäische Bürger, mit argumentativen Begründungsversuchen für Entscheidun-
gen auf EU-Ebene nicht eben verwöhnt, empfindet wenig eigene Betroffenheit und
bringt daher auch nur ein geringes Engagement für einen Prozess auf. dem er sich
zunehmend als Objekt ausgesetzt sieht. Ein Mehr an öffentlicher Diskussion und
kompetenter Argumentation wäre hier sicher nützlich, zumal der Zusammenhang
zwischen Verfahren und Reaktion vielleicht doch anders ist als gemeinhin vermu-
tet: Möglicherweise wird nicht so wenig argumentiert, weil das Interesse so gering
ist, sondern das Interesse ist so gering, weil die Bürgersich nicht hinreichend ernst
genommen fühlen.
Demzufolge ist eine weitere Lehre aus den Erfahrungen des Jahres 1787 für
die heutigen Konstellationen, dass man für politische Ziele dieser Größenordnung
gewisse Wagnisse eingehen muss. Wenn eine wirkliche Verfassung der Völker
und Nationen das ist, was man dem Versprechen G. d'Estaings nach erreichen
will, wird eine Reihe ausgehandelter Verträge nicht ausreichen. Das Interesse der
Menschen am Europäischen Parlament ist marginal, wie der Wahlbeteiligung oder
der Berichterstattung über das Parlament in den Medien unschwer zu entnehmen
ist. Die Schaffung des Amtes eines ständigen Präsidenten des Rates und eines
europäischen Außenministers wird zweifellos erhebliche Auswirkungen auf die
Gestaltung der Politik und Koordinierung der Arbeit zwischen Rat, Kommission
und Parlament haben. 1045
Legitimität für die europäische Integration und für die Politik insgesamt er-
wächst aus Prozessen, aber mindestens ebenso stark aus der inneren Annahme der
inhaltlichen Ergebnisse des Konvents durch die Unionsbürger. Es ist demzufolge
unumgänglich, dass nunmehr, nach dem Abschluss der Beratungen des Verfas-
sungskonvents und im Rahmen des Ratifizierungsprozesses, eine europaweite
öffentliche Diskussion über die Chancen und Erfordernisse eines sich langsam
herausbildenden „europäischen Verfassungspatriotismus" beginnt. Die Vereinig-
1045
Aber die politischen Wirkkräfte dieser neuen Ä m t e r sind in ähnlicher Weise pro-
blematisch. Es geht letztlich um einen Präsidenten, der die durch den Rat miteinander
verbundenen Regierungen repräsentiert, aber nicht die Völker, die diese Regierungen
vertreten.
372 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
ten Staaten von Amerika können insoweit und in vernünftig gezogener Analogie
durchaus zum Vorbild erwachsen.
1046
Dahingegen darf mit der notwendigen Bescheidenheit durchaus von einem A u f -
keimen eines europäischen Pendants der „Federalist Papers" gesprochen werden. Die
zahlreichen Beiträge der letzten Jahre zur Z u k u n f t Europas, insbesondere die Schriften von
Pernice. Häberle o d e r auch die Vortragsreihe des „Forum Constitutionis Europae" könnten
mit einer (verbesserungswürdigen) Begleitung in der breiten europäischen Öffentlichkeit
ein entsprechendes Werk abgeben.
1047
Den Gedanken der Verknüpfung praktischer Absicht mit den europäischen Strö-
mungen der Geistesgeschichte betont auch W. Reinhard. Vom italienischen H u m a n i s m u s
bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. F r e n s k e / D . M e r t e n s / W . Reinhard/
K . R o s e n (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausg. 1996. S. 241 ff..
366.
1048
Lediglich J. H. H. Weiler dürfen zarte, der Selbstdarstellung nicht abgeneigte Geh-
versuche auf d e m steinigen Weg zu diesen Höhen attestiert werden, vgl. etwa d e r s . T h e
Constitution of Europe. 1999.
C. D e r Gottesbezug in den
Verfassungen E u r o p a s u n d d e r USA
I. Einleitung
1
Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Vortrag des Verf. in Wilton Park
im Mai 2(X)4. für den die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wich-
tige Grundlagenarbeit geleistet haben ( W D vom 3 . 5 . und 13.5.2004). Vgl. nunmehr
auch C. Mirabelli. The religious element in the Constitution for Europe. in: H.-J. Blanke/
S. Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 133 ff.
2
So z. B. Frankfurter Rundschau v. 13. 11.2002: ..Die Quelle der Wahrheit, der Gerech-
tigkeit. des Guten und des Schönen"; FAZ v. 16. 11.2002: „Gott in Europa": Süddeutsche
Zeitung v . 2 8 . 1 . 2 0 0 3 : ..Segen lässt auf sich warten"; Die Welt v. 30. 1.2003: ..Gottloses
Europa!", Schwäbische Zeitung v. 5 . 2 . 2 0 0 3 : ..Gott kommt bisher nicht vor" - ein Interview
mit J. Meyer. FAZ v. 8 . 2 . 2 0 0 3 : „Vatikan vermisst Bezug auf Gott in den Entwürfen", Bay-
ern Kurier v. 13.2.2003: „Europa streitet über Gott"; M. Wissmann. Ganz ohne Gott geht es
nicht, in: FAZ v. 11.4.2003: FAZ v. 5 . 6 . 2 0 0 3 : ..Kritik in der Union am Konventsentwurf';
W. Schäuble, Für die Würde der Welt, in: Der Tagesspiegel v. 18.6.2003.
1
Vgl. die Gemeinsame Stellungnahme des Vorsitzenden der deutschen Bischofskon-
ferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum
Konvent zur Zukunft Europas v. Mai 2002: Gemeinsame Stellungnahme des Kommissari-
ats der deutschen Bischöfe und des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche
in Deutschland anlässlich der Anhörung der Europaausschüsse des Deutschen Bundestages
und des Bundesrates zum Europäischen Verfassungskonvent am 2 6 . 6 . 2 0 0 2 : Mitteilung
des Präsidenten der Kommission der Bischofskonferenz der Europäischen Gemeinschaft
(COMECE), Agence Europe v. 1. 11.2002. S . 4 . Bischof J. Homeyer. Ja. der Gottesbezug
wird kommen, in: Rheinischer Merkur v. 1 5 . 5 . 2 0 0 3 . Pressemitteilung des Exekutivaus-
schusses der C O M E C E v. 19.6.2003: ..Reaktion auf den EU-Verfassungsentwurf
4
Kritik an einem exklusiven Hinweis auf das Christentum wurde z. B. vom Europäi-
schen Netz gegen des Rassismus (ENAR) geäußert. Agence Europe vom 14. 11.2002. Ahn-
374 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
1. Bisherige Regelungen
im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft
Das geltende primäre Gemeinschaftsrecht enthält keinen Bezug auf Gott oder
das Christentum. Spezielle Regelungen existieren dagegen zur Stellung der Kir-
chen und zu den Religionen in Europa, darunter insbesondere:
- Art. 13 EGV. der den Rat ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission und nach
Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrung zu
treffen, um Diskriminierungen unter anderem aufgrund der Religion oder der
Weltanschauung zu bekämpfen 7 ;
- das Gemeinschaftsgrundrecht der Religionsfreiheit als vom EuGH entwickelter
allgemeiner Rechtsgrundsatz 8 ,
- die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
zum Vertrag von Amsterdam (Erklärung Nr. 11), mit der die Europäische
Union sich verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen
sowie weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren
Rechtsvorschriften genießen, zu achten und nicht zu beeinträchtigen 9 .
a) Gottes bezug
Breiten Raum nahm die Frage eines expliziten Gottesbezugs während der Be-
ratungen des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta im Jahr 2000 ein 10 .
Aufgabe des vom Europäischen Rat in Köln eingesetzten Gremiums war die Zu-
sammenfassung der auf EU-Ebene geltenden „Freiheits- und Gleichheitsrechte,
wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
der Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des
Gemeinschaftsrechts ergeben.'" 1 Im Zuge der damit untrennbar verbundenen
7
Vgl. A Epiney, in: C . C a l l i e s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r z u m E U V und EGV.
2. Aufl., 2002, Art. 13 E G V Rn. I: G.Jochum, Der neue Art. 13 E G V oder ..political cor-
reetness" auf europäisch?, in: Z R P 1999, S. 2 8 0 ff.: S. Griller, Der Anwendungsbereich
der Grundrechtscharta, in: A. D u s c h a n e k / S . Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa - Die
Europäische Union nach Nizza, 2002. S. 147 ff.
8
Erstmalig anerkannt in: E u G H . Urteil vom 2 7 . 1 0 . 1 9 7 6 (Paris/Rat), Rs. 130/
75 - Slg. 1976. S. 1589: vgl. auch /. Pernice. Religionsrechtliche Aspekte im europäischen
Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1977. S. I I I ff.
'' Die Erklärung Nr. 11 ist nach Artikel 31 Abs. 2 des W i e n e r Ü b e r e i n k o m m e n s über
das Recht der Verträge verbindlich und bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu
beachten. Für das deutsche Recht ist die Erklärung vor allen mit Blick auf Artikel 4 Abs. 1
und 2 GG i. V. m. Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von Bedeutung, der
den Religionsgemeinschaften ein Organisations- und Selbstverwaltungsrecht zugesteht,
denn gemäß der Erklärung bleibt diese Regelung durch das Gemeinschaftsrecht unberührt.
10
Hierzu ausführlich J. Meyer!M. Engels. Die C h a r t a der Grundrechte der Europäi-
schen Union. Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), 2001. Vgl. auch
J. Henard. Ehre sei Gott . . . in der EU. Deutschland besteht darauf, in: Die Zeit vom
2 . 1 1 . 2000. S . 9 . Im weiteren Sinne W. Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit
als Gemeinschaftsgrundrecht, in: EuR 2000. S. 261 ff.
" Schlussfolgerung Europäischer Rat (Köln). Anhang IV: Beschluss des Europäischen
Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der EU, 4 . 6 . 1999.
376 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Wertedebatte diskutierte der Grundrechtskonvent die Frage eines Gottes- bzw. Re-
ligionsbezugs in der Präambel der Grundrechtecharta mit großer Intensität. Die
vom Präsidium unter der Leitung von R. Herzog vorgeschlagene Ausgangsfor-
mulierung des „kulturellen, humanistischen und religiösen Erbes" stellte sich
während der Beratungen des Grundrechtskonvents als nicht konsensfähig heraus.
Insbesondere die französische Regierung und die der Fraktion der Sozialistischen
Partei Europas (SPE) angehörenden Konventsdelegierten sprachen sich gegen eine
Bezugnahme aus, während die Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP)
den Hinweis auf das religiöse europäische Erbe nachdrücklich einforderten.
„In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union
auf die unteilbaren und universellen Werte der W ü r d e des M e n s c h e n , der Freiheit, der
Gleichheit und der Solidarität".
Über ihre Präambel hinaus enthält die Grundrechtecharta die folgenden spezi-
ellen Regelungen zu den Kirchen und Religionen in Europa:
12
Vgl etwa P. Beres, Die C h a r t a - Ein Kampf f ü r die Werte der Union, in: S.-
Y. K a u f m a n n (Hrsg.). Grundrechtscharta der Europäischen Union. 2001. S. 21 f.: H.M. Hei-
nig, Die Religionen, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, in: Zeitschrift für
evangelisches Kirchenrecht 2001. S . 4 4 0 f f „ 457; G. Robbers. Rcligionsrechtliche Gehalte
der Europäischen Grundrechtscharta, in: H.W. A r n d t / M . - E . G e i s / D . L o r e n z (Hrsg.), Kir-
che-Staat-Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag. 2001. S. 4 2 5 ff..
431.
377 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Allein drei der insgesamt 27 Plenartagungen des Konvents waren der Diskussion
über die Werte und Ziele der Europäischen Union gewidmet. 17 Da Konventspräsi-
dent Giscard d'Estaing sich trotz der Skepsis des Konvents die Formulierung der
Verfassungspräambel selbst vorbehielt und seine Erstfassung erst in der Endphase
der Beratungen präsentierte 18 , wurde die Kontroverse zum Gottesbezug zunächst
ohne konkrete Textvorlage des Präsidiums geführt.
13
Vgl. zur Kommentierung von Art. 10 E u G R C z. B. N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.),
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2003. Art. 10 Rn. 1; ebenso die neuen
Erläuterungen. C O N V 8 2 8 / 1 0 3 v. 1 8 . 7 . 2 0 0 3 .
14
Hierzu besteht mit Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll Nr. I ein E M R K - R e f e r e n z r e c h t .
vgl. auch N. Bernsdorff (2003), Art. 14 Rn. 21.
15
Vgl. S. Hölscheidt. in: J. Meyer (Hrsg.). Die Charta der Grundrechte der Europäischen
Union, 2003, Art. 21 Rn. 32.
16
Die Charta entfaltet bereits heute Ausw irkungen: Trotz ihrer rechtlichen Unverbind-
lichkeit haben mehrere Generalanwälte des E u G H in ihren Schlussanträgen auf sie Bezug
g e n o m m e n . Auch das EuG weist in einem Urteil auf Art. 41 Abs. 1 der Charta hin. Im
Einzelnen hierzu S. Hölscheidt JE. Mund, Religionen und Kirchen im europäischen Verfas-
sungsverbund. in: Europarecht. 2003, S. 1083 ff.
' Plenartagungen am Tl. 2., 18.3. und 2 6 . 3 . 2 0 0 3 . Die Wortprotokolle dieser Sitzungen
sind unter http://www.europarl.eu.int./europe2004/index/de.htm. abrufbar.
18
C O N V 7 2 2 / 0 3 v. 2 8 . 5 . 2003.
19
..The Constitution of the European Union" vom 10. 11.202. EPP-Convention Group
Meeting in Frascati, a b r u f b a r unter www.epp-ed.org.
20
..Religiöse B e z u g n a h m e im Verfassungsvertrag", C O N V 4 8 0 / 0 3 vom 31. 1.2003.
Mitunterzeichner waren u. a. die deutschen Konventsmitglieder M d E P E. Brök und Minister-
präsident E. Teufel sowie M d B P. Altmeier als stellvertretender Delegierter des Deutschen
Bundestages.
378 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
In der folgenden Plenarsitzung vom 4. bis 6. Juni 2003 wurde die Forderung
nach einem Bezug auf Gott, das jüdisch-christliche Erbe oder das Christentum
21
„Achtung der G r u n d s ä t z e der Religionsfreiheit unter religiösen Neutralität des Staa-
tes". C O N V 5 8 7 / 0 3 vom 2 6 . 2 . 2 0 0 3 .
22
Vgl. auch F A Z vom 16. 11.2002: „Gott in Europa", DIE W E L T v o m 3 0 . 1 . 2 0 0 3 :
„Gottloses Europa", DIE Z E I T vom 30. 1.2003: ..Zum Erfolg v e r d a m m t " .
379 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
a) Änderungsanträge
Als schriftliche Reaktion auf den von Giscard verfassten Präambeltext wurden
insgesamt 18 Änderungsanträge 2 3 zur Präambel eingebracht. Für den zweiten
Präambelabsatz wurden insbesondere folgende Textalternativen vorgeschlagen:
23
Eine Übersicht aller Ä n d e r u n g s a n t r ä g e ist unter http://europeanl-lconvention.eu.int
/amendments zusammengestellt. Die Anträge lagen dem Konvent lediglich in Originalspra-
che vor.
380 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
- v o n d e m V e r t r e t e r d e s B u n d e s r a t e s . M i n i s t e r p r ä s i d e n t E. Teufel:
, . [ . . . ] Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferung Euro-
pas. die - aus der griechischen und römischen Zivilisation sowie aus dem Gottesglauben
des Christentums und anderer Religionen hervorgegangen und erst durch das geistige
Streben ( . . . ]";
- v o m M d E P O. Duhamel u. a.:
„ ( . . . ] S'inspirant des Heritages culturels. et spirituels de l'Europe 1... I";
- v o m i r i s c h e n P a r l a m e n t s V e r t r e t e r P. de Rossa:
..Drawing inspiration f r o m the diverse religious, cultural and humanist inheritance of
Europe I . . . ] " ;
ergänzt. Nicht aufgenommen wurden ein expliziter Gottesbezug, ein Hinweis auf
das Christentum oder das (jüdisch-)christliche Erbe. Dieser Version stimmte der
Konvent im Zuge des politischen Gesamtkompromisses zu. 24
c) Bewertung
Aus dem Streit hervorgegangen ist ein durch und durch säkularer, laizistischer
Text, der angesichts der europäischen Realität möglicherweise zu Recht auf eine
„Invocatio Dei", eine Anrufung Gottes, verzichtet und sich stattdessen auf den
Geist der Antike, des Humanismus und der Aufklärung beruft. Nur beiläufig
wird auf das religiöse Erbe Europas verwiesen, ohne dass dabei die jüdische,
christliche und muslimische Tradition in irgendeiner Weise erwähnt wird. Von
religiöser Gegenwart ist überhaupt nicht die Rede. Über die Hintergründe dieser
Zurückhaltung lässt sich nur rätseln: Sorge um den laizistischen Staat, Rücksicht
gegenüber multireligiösen Gesellschaften oder schlicht Angst vor dem Erstarken
des Fundamentalismus? Ehrenwerte Gründe allesamt, die aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass hier ein Text vorliegt, der, obwohl er modern sein will,
seltsam unzeitgemäß wirkt; ein Text, der weder den eigenen Traditionen noch den
Erfordernissen der Gegenwart wirklich gerecht wird.
Europa, das alte wie das neue, verdankt sich nicht nur der griechischen Antike
und nicht nur der französischen Aufklärung, sondern ebenso sehr jenem Mittelalter,
in dem jüdische, christliche und muslimische Denker, allein oder gemeinsam,
über den Widerspruch von Glaube und Vernunft nachgedacht und damit jene
Aufklärung mit vorbereitet hatten, die bis heute als der große Widerpart des
Religiösen gilt.
24
Vgl. das Plenarprotokoll der Sitzung vom 12./ 13. Juni 2003, Fn. 17.
25
Siehe hierzu das D o k u m e n t der Regierungskonferenz C I G 6 0 / 0 3 A D D 2 v. 11.12.2003.
382 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Europa, das alte wie das neue, ist ein Kontinent, dessen Schicksal - im grau-
samsten wie im erhabensten Sinne - von Religion und Religionen bestimmt wurde
und es vielfach noch immer wird. Dies zu negieren oder zu verdrängen, heißt,
einer Geschichtsvergessenheit Vorschub zu leisten, die sich bis in die Zukunft
hinein rächt. Und schließlich ist auch Europa, das neue mehr noch als das alte,
Schauplatz jener Entwicklung, die man die „Rückkehr des Religiösen" nennt
und die gegenwärtig daran ist, die Gesellschaften, nicht nur die amerikanische,
nachhaltig zu verändern.
Von den derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen die Ver-
fassungen Dänemarks. Griechenlands, Irlands, der Bundesrepublik Deutschland 2 8
und im Falle Großbritanniens die Verfassungsprinzipien ausdrücklich einen Got-
26
Wie es etwa in der Präambel zur neuen Zürcher Kantonsverfassung heißt.
2
Möglicherweise vorausblickend bereits H. Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen,
1844: „ D i e Jungfrau Europa ist verlobt / Mit dem schönen Geniusse / Der Freiheit, sie
liegen einander im A r m . / Sie schwelgen im ersten Kusse. / Und fehlt der Pfaffensegen
dabei. Die Ehe wird gültig nicht minder - / Es lebe Bräutigam und Braut. / Und ihre
zukünftigen Kinder!"
28
Auf eine wörtliche Wiedergabe wird verzichtet. Siehe aber zum T h e m a Gottesklausel
in der Bundesrepublik Deutschland umfassend (insbesondere mit dem wichtigen Verhältnis
383 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
tesbezug auf. Teilweise wird der Gottesbezug nur indirekt deutlich, etwa wenn
auf eine bestimmte Konfession (Finnland: evangelisch-lutherische Kirche, Malta:
römisch-katholisch-apostolische Kirche) hingewiesen wird, die Bekräftigung ei-
nes Amtseides durch eine religiöse Beteuerung (Niederlande, Österreich) erfolgt
bzw. erfolgen kann oder durch die Nennung von Heiligen, die einen Staat maß-
gebend mitgeprägt haben (Slowakische Republik: Heilige Slawenapostel Cyrillus
und Methodius).
zwischen Präambel und Art. 1 Abs 1GG) P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissen-
schaft. 2. Aufl. 1998. S. 951 ff., ders.. „ G o t t " im Verfassungsstaat?, 1987 ( n u n m e h r in:
ders.. Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. S. 2 1 3 ff.) mit der
dort zitierten Kommentarliteratur. Vgl. auch E.L Behrendt. Gott im Grundgesetz. 1980:
D. Blumenwitz, Gott im Grundgesetz, in: E . L . Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christen-
tum. Bd. I, 1982. S. 127 ff.
29
Bemerkenswert ist im Kontext des Gottesbezuges auch das Beispiel der Schweiz.
Als man dort Mitte der neunziger Jahre eine Revision der Bundesverfassung in Angriff
nahm, gab ein Punkt besonders zu reden: sollte in der Präambel der N a m e Gottes angeru-
fen werden? Obwohl die Fronten nicht ganz eindeutig verliefen, hat sich schließlich das
Althergebrachte durchgesetzt. Mit der B e r u f u n g auf den „ N a m e n Gottes des Allmächti-
g e n " und die „Verantwortung gegenüber der S c h ö p f u n g " bekennt sich die Verfassung zu
einer Schweiz, die sich ihres religiösen Fundaments bewusst ist und sich als Teil j e n e r
S c h ö p f u n g versteht, wie sie die jüdisch-christliche Tradition beschreibt. Die Präambel der
schweizerischen Bundesverfassung geht, implizit zumindest, davon aus, dass es sich noch
i m m e r um den christlichen Gott handelt, obwohl die ethnisch-religiösen Verhältnisse des
Landes längst in eine andere Richtung weisen.
30
Verfassung vom 17. Februar 1994. zuletzt geändert am 17. D e z e m b e r 2002.
31
Vom 12. Juli 1991.
384 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
- Die Verfassung des Königreichs Dänemark 3 2 enthält in Kapitel VII, das die
„Verfassung der Volkskirche" durch Gesetz festlegt (§ 66), in § 67) den folgen-
den Wortlaut:
„Die Bürger haben das Recht, sich in G e m e i n s c h a f t e n zusammenzuschließen, um Gott
auf diese Weise zu dienen, die ihrer Ü b e r z e u g u n g entspricht: es darf j e d o c h nichts
gelehrt oder unternommen werden, was gegen die Sittlichkeit oder gegen die öffentliche
Ordnung verstößt."
Im Folgenden (§§ 69, 70) wird festgelegt, dass die Verhältnisse der von der
Volkskirche abweichenden Glaubensgemeinschaften näher durch Gesetz gere-
gelt werden. Ferner: niemand kann u. a. wegen seines Glaubens von bürgerlichen
oder politischen Rechten ausgeschlossen werden oder sich der Erfüllung der
allgemeinen Bürgerpflichten entziehen. 3 3
- Der Verfassung Estlands 34 ist, wie allen Verfassungen der Länder des Baltikums,
ein Gottesbezug unbekannt.
- Finnlands Grundgesetz 3 5 weist ebenfalls keinen Gottesbezug auf. Das 6. Kapitel
(§ 76) des Grundgesetzes weist jedoch auf die Organisation und Verwaltung
der evangelisch-lutherischen Kirche hin. die gesetzlich näher festgelegt sind.
- Die Verfassung der Republik Frankreich 36 kennt als „klassisches" Beispiel eines
laizistischen Staates keinerlei Gottesbezug.
- Die Verfassung der Republik Griechenland 3 7 wird mit folgenden Worten einge-
leitet:
„Im Namen der Heiligen Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit [ . . . J "
Der II. Abschnitt der Verfassung, der die Beziehungen zwischen Staat und
Kirche näher regelt, bestimmt in Artikel 3 Abs. 1:
„Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi.
Indem sie als Haupt unseren Herrn Jesus Christus anerkennt, bleibt die orthodoxe
Kirche Griechenlands in ihrem D o g m a mit der Großen Kirche in Konstantinopel und
j e d e r anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses unzertrennlich verbunden
und bewahrt wie j e n e unerschütterlich die heiligen apostolischen und die von den
Konzilen aufgestellten Kanones sowie die Heiligen Überlieferungen. Sie ist autokephal
12
Verfassung vom 5. Juni 1953.
33
Ähnlich die Regelung in Kap. VIII § 71 Abs. 1 der Verfassung:
34
Vom 28. Juli 1992:
35
Beschlossen am 1 I . J u n i 1999, in Kraft getreten am 11. März 2000.
36
Vom 4. Oktober 1958. zuletzt geändert am 24. S e p t e m b e r 2000.
37
Beschlossen von dem 5. Verfassungsändernden Parlament am 9 Juni 1975 und in
Kraft getreten am 11. Juni 1975, zuletzt geändert am 16. April 2001.
385 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
und wird geleitet von der Heiligen Synode der sich im A m t e befindlichen Bischöfe
und der aus deren Mitte hervorgehenden Dauernden Heiligen S y n o d e , die sich nach
den Bestimmungen der G r u n d o r d n u n g der Kirche zusammensetzt unter Beachtung der
Vorschriften [ . . . ] "
„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt und auf
die. als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten
ausgerichtet sein müssen, anerkennen
in Demut alle unseren Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn. Jesus Chris-
tus. der unseren Vätern durch Jahrhunderte der H e i m s u c h u n g hindurch beigestanden
hat [ . . . ] "
„In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig,
dass ich meine Pflichten als Mitglied des Staatsrates treu und gewissenhaft erfüllen
werde." 3 9
„In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig,
dass ich das A m t des obersten Richters (oder welches Amt es sein m a g ) gegenüber
j e d e r m a n n ordnungsgemäß und treu, nach bestem Wissen und Können, ohne Furcht oder
Begünstigung, Zuneigung oder Böswilligkeit ausüben will und dass ich die Verfassung
und die Gesetze einhalten will. Gott möge mich führen und mir bestehen."
A u c h h i e r s i e h t d i e V e r f a s s u n g e i n e „ n e u t r a l e " E r k l ä r u n g n i c h t vor. A r t . 4 0
A b s . 6 N r . I lit. a ) S a t z 3 b e s t i m m t , d a s s u . a . V e r ö f f e n t l i c h u n g e n o d e r Ä u ß e -
rungen gotteslästerlichen Inhalts Vergehen sind, die nach d e m Gesetz bestraft
werden.
38
Vom I.Juli 1937, zuletzt geändert am 7. November 2002.
39
Das deutsche GG sieht eine „ n e u t r a l e " Erklärung ohne die A n r u f u n g Gottes vor.
vgl. etwa Art. 56 Satz 2 G G .
386 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Art. 44 der Verfassung behandelt eingehend die Religion. Zitiert sei Abs. 1:
„Der Staat anerkennt, dass dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher
Verehrung gebührt. Er erweist seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die
Religion." Die Verfassung Irlands schließt letztlich mit den Worten: „Zur Ehre
Gottes und zum Ruhme Irlands."
- Die Verfassung der Republik Italien 40 enthält keinen Gottesbezug.
- Die Verfassung Lettlands 41 enthält, wie die Verfassungen seiner Nachbarstaaten,
keinen Gottesbezug.
- Die Verfassung der Republik Litauen 42 kennt, wie angedeutet, keinen Gottesbe-
zug. Allerdings ist in Art. 43 eingehend die Religionsfreiheit geregelt und das
Verhältnis zwischen Kirchen und Staat fest geschrieben.
- Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg 4 3 enthält ebenfalls keinen
Gottesbezug; das gilt auch für den Eid des Großherzogs bei der Thronbe-
steigung (Art. 5), der Mitglieder der Abgeordnetenkammer (Art. 57) und der
Zivilbeamten (Art. 110).
- Die Verfassung der Republik Malta 4 4 enthält keinen ausdrücklichen Gottesbe-
zug, betont jedoch in Kapitel I Abschnitt 2 Absatz 1. dass die Religion auf Malta
die römisch-katholisch-apostolische ist. deren Bischöfe hätten des Recht und
die Pflicht zu verkünden, welche Grundsätze der Glaubenslehre entsprechen
und welche damit unvereinbar sind (Abs. 2). Römisch-katholisch-apostolischer
Religionsunterricht ist an den Schulen verbindliches Fach (Abs. 3). Allerdings
sieht der Amtseid für den Präsidenten, den Premierminister, den Minister und
andere hohe Amtsträger eine Eidesformel vor, die fakultativ eine religiöse
Bekräftigung („So help me God") enthalten kann.
- Kein Gottesbezug findet sich in der Verfassung des Königreichs der Niederlan-
de 45 . Lediglich in den Zusatzartikeln der Verfassung, hier: Art. 44, ist der Eid
festgelegt, den der Regent abzulegen hat und der mit den Worten schließt: „So
wahr mir Gott, der Allmächtige helfe!". Erlaubt ist auch die Formel: „Das gelo-
be ich!". Dasselbe gilt für den Eid des Königs auf die Verfassung (Art. 53) und
das Gelöbnis des Vorsitzenden der Generalstaaten und von dessen Mitgliedern
(Art. 54).
- Das Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich 46 kennt keinen Gottes-
bezug. Lediglich Art. 62 Abs. 2 und Art. 70 Abs. 1 Satz 1 lassen eine religiöse
40
Vom 17. D e z e m b e r 1947, zuletzt geändert am 30. Mai 2003.
41
Vom 7. August 1992. zuletzt geändert am 30. April 2002.
42
Vom 25. Oktober 1992.
43
Vom 17. Oktober 1868. zuletzt geändert am 19. Dezember 2003.
44
Vom 13. D e z e m b e r 1974.
45
Vom 17. April 1983, zuletzt geändert am 10. Juli 1995.
46
Vom 10. November 1920. in der Fassung vom 7. D e z e m b e r 1929. zuletzt geändert am
28. Juni 2002.
387 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
47
Vom 2. April 1997.
48
Vom 2. April 1976. zuletzt geändert am 12. D e z e m b e r 2001.
49
Vom 21. November 1991.
50
Vom I . J a n u a r 1975. zuletzt geändert am 27. M ä r z 2 0 0 2 .
51
Vom 1. S e p t e m b e r 1992, zuletzt ergänzt vom 11. April 2002.
52
Vom 23. D e z e m b e r 1991.
53
Vom 29. D e z e m b e r 1978. zuletzt geändert am 27. August 1992.
54
Vom 16. D e z e m b e r 1992. zuletzt geändert und in Kraft getreten am 1. März 2004.
55
Vom 20. August 1949, in der Fassung vom 24. August 1990.
388 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
- In der Verfassung der Republik Kroatien* s findet sich keine Bezugnahme auf
Gott.
- Die Republik Türkei hat sich in der Präambel seiner Verfassung 5 9 nach fran-
zösischem Vorbild dem laizistischen Prinzip verschrieben. Dementsprechend
findet sich in der Verfassung kein Bezug zu Gott.
Abgesehen von den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg sowie des Landes
und Schleswig-Holstein beziehen sich alle Verfassungen der sog. „alten" Bun-
desländer auf Gott. In der Verfassung des Saarlandes findet sich ein direkter
Gottesbezug in den Erziehungszielen für die Jugend.
Von den Landesverfassungen der fünf „neuen" Länder, die sämtlich über eine
Präambel verfügen, beinhalten ausdrücklich nur Sachsen-Anhalt und Thüringen
eine Bezugnahme auf Gott, nämlich indem sie den Mitgliedern der Staatsregierung
die Anrufung Gottes ermöglichen.
- In einen „Vorspruch" enthält die Verfassung des Landes Baden-Württemberg 6 "
einen Gottesbezug. Der „Vorspruch" hat folgenden Wortlaut: 61
..Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, von d e m Willen
beseelt, die Freiheit und W ü r d e des Menschen zu sichern [ . . . ] "
56
Vom 16. August i960.
5
Hier beschränkt sich die Darstellung auf solche, die wenigstens Beitrittsverhandlun-
gen führen.
5S
Vom 21. D e z e m b e r 1990. zuletzt geändert am 23. April 2001.
59
Vom 13. S e p t e m b e r 1982, zuletzt geändert am 27. D e z e m b e r 2002.
60
Vom 11. November 1953 (GBl. S. 173), zuletzt geändert durch Gesetz vom
23. Mai 2 0 0 0 (GBl. S. 449).
61
Dazu im einzelnen W. Weinhold, Gott in der Verfassung - Studie zum Gottesbezug
in Präambeltexten d e r deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderver-
fassungen seit 1949. 2001. S . 4 0 ff.
389 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
In Art. 1 Abs. I, Halbsatz 2 beruft sich die Verfassung auf die „Erfüllung
des christlichen Sittengesetzes", Art. 3 Abs. 1 Satz 3 bestimmt, hinsichtlich der
Feiertage sei die christliche Überlieferung zu wahren. In Abschnitt II widmet die
Art. 3 bis 10 der Religion und den Religionsgemeinschaften. In Art. 12 Abs. 1
ist als Erziehungsziel u. a. angegeben, die Jugend „in der Ehrfurcht vor Gott,
im Geist der christlichen Nächstenliebe ( . . . ] " zu erziehen. Im Amtseid (Art. 48
Satz 2) ist die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" vorgesehen; sie
kann allerdings entfallen (Art. 48 Satz 3).
- Die Verfassung des Freistaates Bayern 62 führt ohne nähere Kennzeichnung
(z. B. Präambel u.ä.) zu Beginn aus:
..Angesichts des T r ü m m e r f e l d e s , zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung o h n e
Gott, ohne Gewissen 1... 1 geführt hat I . . .
Nach Art. 131 A b s . 2 BV gehört zu den obersten Bildungszielen u.a. die Ehr-
furcht vor Gott.
- Die Verfassungen der Länder Berlin 64 und Brandenburg 6 5 kennen keinen Got-
tesbezug.
- Auch die Stadtstaaten und Hansestädte Bremen und Hamburg 6 6 enthalten in
ihren Verfassungen keinen Gottesbezug.
- In der Verfassung des Landes Hessen 67 findet sich ebenfalls kein Gottesbezug. 6 8
Art. 56 Abs. 4 legt allerdings als eines der Erziehungsziele den selbständigen
und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit u. a. durch Ehrfurcht
und Nächstenliebe, also einen fundamentalen christlichen Wert, fest.
- Ebensowenig kennt die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern 6 ''
einen Gottesbezug. 7 0
62
Vom 8. Februar 1946 (GVB1. S. 333). in der Fassung der B e k a n n t m a c h u n g vom
15. D e z e m b e r 1998 (GVB1. S . 9 9 I ) .
63
Vgl. W. Weinhold (2001), S . 4 2 f f .
w
Vom 23. November 1995 (GVBI. S . 7 7 9 ) , zuletzt geändert durch Gesetz vom
3. April 1998 (GVBI. S. 82).
65
Vom 20. August 1992 (GVBI. S . 2 9 8 ) , zuletzt geändert durch G e s e t z vom 7. April
1999 (GVBI. S. 98).
66
Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 2 1 . O k t o b e r 1947 (GBl. S . 2 5 I ) ,
zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Februar 2 0 0 0 (GBl. S. 31); Hamburg: Verfassung
der Freien und Hansestadt H a m b u r g vom 6. Juni 1952 (GVBI. S. 117), zuletzt geändert
durch Gesetz vom 20. Juli 1996 (GVBI. S. 133).
67
Vom 1. D e z e m b e r 1946 (GVBI. S. 229). zuletzt ergänzt durch Gesetz vom
20. M ä r z 1991 (GVBI. S. 102).
68
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 57 f.
69
Vom 23. Mai 1993 (GVBI. S. 272). zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. April 2 0 0 0
(GVBI. S. 158).
70
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 94 ff.
390 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Art. 31 Satz I führt den Wortlaut des Amtseides für die Mitglieder der Landes-
regierung an. der keine religiöse Beteuerung vorsieht, allerdings in Satz 2 diese
Möglichkeit („So wahr mir Gott helfe") fakultativ vorsieht.
- In ihrer Präambel führt die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen 7 3 aus:
„In Verantwortung vor Gott und den Menschen, verbunden mit allen Deutschen, erfüllt
von d e m Willen, die Not der Gegenwart in gemeinschaftlicher Arbeit zu ü b e r w i n d e n ,
dem inneren und äußeren Frieden zu dienen. Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für
alle zu schaffen, haben sich die M ä n n e r und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen
diese Verfassung gegeben: 1... I" 74
Art. 7 Abs. 1 gibt aller Erziehungsziel u. a. „Ehrfurcht vor Gott" an. Der Amtseid
der Mitglieder der Landesregierung (Art. 53 Satz 1) kann mit der religiösen
Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" geleistet werden (Satz 2).
- Die Verfassung von Rheinland-Pfalz 7 5 beginnt in ihrem „Vorspruch" mit den
Worten:
„Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und aller
menschlichen G e m e i n s c h a f t . [ . . . ]" 76
Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung sieht die üblich religiöse
Bekräftigung vor (Art. 100 Abs. 1). allerdings ist die Benutzung der Eidesformel
frei gestellt (Art. 100 Abs. 2 i.V. m. Artikel 81 Abs. 3 Satz2).
- In der Verfassung des Saarlandes 77 findet sich eine Bezugnahme auf Gott nicht
zu Beginn (die Verfassung enthält keine Präambel), sondern in Art. 30. Danach
ist die Jugend u. a. in der Ehrfurcht vor Gott und im Geist der christlichen
Nächstenliebe zu erziehen. Für die Ablegung des Amtseides der Mitglieder
der Landesregierung ist die übliche religiöse Beteuerung vorgesehen, auf die
jedoch verzichtet werden kann.
71
Vom 19. Mai 1993 (GVB1. S. 107), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Novem-
ber 1997 ( G V B 1 . S . 4 8 0 ) .
72
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 58. 63 ff.
73
Vom 28. Juni 1950 ( G V - N W S. 127). zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Novem-
ber 1992 ( G V - N W S . 4 4 8 ) .
7i
Vgl. W. Weinhold (2001), S . 4 9 f f .
75
Vom 18. Mai 1947 (VOB1. S. 209). zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. M ä r z 2 0 0 0
(GVB1.S.65).
76
Dazu ausführlich W. Weinhold (2001), S . 4 4 f f .
77
Vom 15. D e z e m b e r 1947 (ABl. S. 1077). zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Au-
gust 1999 (ABl. S. 1318).
III. Gottesbezug und US-Verfassung 391
- Die Verfassung des Freistaates Sachsen 7 * sieht für die Mitglieder der Staatsre-
gierung vor, den Eid mit der bekannten religiösen Beteuerung zu bekräftigen.
Ein ausdrücklicher Gottesbezug findet sich in der Verfassung nicht, allerdings
bestimmt Art. 101 Abs. I als Erziehungsziel der Jugend u.a. die Erziehung zur
„Nächstenliebe", einem tragenden Wert der christlichen Glaubenslehre.
- In der Präambel der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt 7 9 finden sich
folgende Sätze:
..In freier Selbstbestimmung gibt sich das Volk von Sachsen-Anhalt diese Verfassung.
Dies geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verant-
wortung vor den M e n s c h e n I . . . ] " 8 0
Art. 66 Abs. 2 der Verfassung sieht vor. dem Amtseid der Mitglieder der Lan-
desregierung die religiöse Bekräftigung „So wahr mir Gott helfe" hinzuzufügen.
Der Amtseid kann auch ohne diese Bekräftigung geleistet werden.
- Die Verfassung Schleswig-Holsteins 8 1 wiederum weist keinen Gottesbezug auf.
- Hingegen weist die Verfassung des Freistaates Thüringen in ihrer Präambel
einen direkten Gottesbezug auf s 2 :
..In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums . . . gibt sich das Volk des Freistaa-
tes Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese
Verfassung f . . ] " .
Ein Blick in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika offenbart,
dass darin der Begriff „Gott" unmittelbar nicht enthalten ist. 83 Mittelbar lässt
sich dieser Bezug jedoch in Verbindung mit dem 1. Amendment der Verfassung
78
Vom 27. Mai 1992 (GVBI. S. 243).
79
Vom 16. Juli 1992 (GVBI. S . 6 0 0 ) .
80
Vgl. W. Weinhold (2001), S. 87 ff.
81
Vom 13. Juni 1990 (GVOB1. S. 393), eeändert durch Gesetz vom 27. September 1998
(GVOB1. S. 280).
10
Vgl. zu den Gottesklauseln in der Verfassung von T h ü r i n g e n auch P. Häberle. Die
Schlussphase der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, in: JöR 43 (1995),
S. 355 ff.
83
Vgl. auch eine im Auftrage des Verf. entwickelte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen
Dienste des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 2004. Wegen eines Gerichtsverfahrens in
A l a b a m a kam es in den vergangenen Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer (erneut)
hitzigen Kontroverse über den Einfiuss Gottes und der Religion auf staatliches Handeln.
R. Moore, ein Richter des obersten Gerichtshofs des Staates A l a b a m a , wurde von der
ACLU ( A m e r i c a n Civil Liberties Union) verklagt, nachdem er im Justizgebäude Montgo-
merys (Alabama) ein in Granit gehauenes M o n u m e n t der Zehn Gebote aufstellen ließ. Das
11. Bezirks-Berufungsgericht der Vereinigten Staaten in A l a b a m a entschied nach anony-
392 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
herleiten. Hierin ist zum einen das Verbot enthalten, ein Gesetz zu erlassen, das
eine Religion (als Staatsreligion) einrichtet, auf der anderen Seite untersagt die
Regelung, die freie Religionsausübung zu beeinträchtigen.
Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf die Aufschrift auf Münzen und Geld-
scheinen: „In God we trust" einerseits (wohl die kraftvollste Alternative, da der
„Alltagsgottesbezug" jegliche Nichtnennung in Texten zu überstrahlen weiß), an-
dererseits ist die amerikanische Flagge in fast jeder Kirche auffallend sichtbar
aufgestellt 8 5 , die Militärsee 1 sorge ist eingerichtet, die Benutzung der Heiligen
Schrift bei Eidesleistungen ist weithin üblich. 86 In zahlreichen weiteren Berei-
chen erscheinen Anspielungen auf Gott: So enthält beispielsweise der „Pledge of
Allegiance" die Worte „one nation under God". Dies könnte zumindest darauf hin-
deuten. dass die „wall of Separation" nicht ansatzweise so hoch ist, wie T. Jefferson,
der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident
der USA, mit der zitierten Formulierung offenbar angenommen hat.
Aber: Obgleich sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten also keine direkte
Erwähnung Gottes, eines Schöpfers oder einer höheren Macht findet, so eröffnet
die „Declaration of Independence" (1776) als erneut im besten Sinne grundlegende
Rechtsquelle den Bezug zu einem Schöpfer („Creator"):
mer Abstimmung, dass das M o n u m e n t entfernt werden müsse (diese Entscheidung wurde
i.Ü. nicht vom US-Repräsentantenhaus unterstützt. Dieses stimmte bei einer Abstimmung
mit 2 6 0 zu 161 Stimmen gegen eine Budgetierung jeglicher Z w a n g s m a ß n a h m e n im Zu-
s a m m e n h a n g mit den Z e h n Geboten). Eine von Richter Moore beim U S - S u p r e m e C o u r t
gegen diese Entscheidung eingelegte B e r u f u n g wurde nicht zur Entscheidung angenommen.
In e i n e m Verfahren in d e m es um die Worte „one nation u n d e r G o d " in der Pledge of
Allegiance geht, wurde j e d o c h die Zulässigkeit der Klage bejaht.
84
Vgl. nur die instruktive Darstellung von K. Ege, Staatstränke für die durstige Chris-
tenheit - die Regierung, die Gläubigen und die Toleranz, in: Freitag 15 vom 6. April 2001.
85
Vgl. E. Geldbach. Religion und Politik: Religious Liberty, in: K . M . Kodalle (Hrsg.),
Gott und Politik in USA - Über den Einfluss der Religion. 1988. S. 2 3 0 ff.. 240.
1,6
Dazu auch A. von Campenhausen. Der heutige Verfassungsstaat und die Religi-
on, in: J. L i s t l / D . Pirson (Hrsg.). Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik
Deutschland. Bd 1.2. grundlegend neu bearbeitete Auflage. 1994. S . 6 5 f.
III. Gottesbezug und US-Verfassung 393
" W e hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are
endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that a m o n g these are Life.
Liberty, and the pursuit of Happiness. [WJhenever any Form of G o v e r n m e n t b e c o m e s
destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it."
Zurück zum benannten 1. Amendment vom 15. Dezember 1791, in dessen ersten
Halbsatz die Religion angesprochen ist: „Congress shall make no law respecting
an establishment of religion. or prohibiting the free exercise thereof." 87
Der erste Halbsatz wurde über einen längeren Zeitraum als striktes Trennungs-
gebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Maßgeblich hat dazu die
Rechtsprechung des Supreme Court, beigetragen. In den letzten Jahren ist aller-
dings eine behutsame Änderung der Rechtsprechung zu beobachten, die nicht
mehr von einer strengen Trennung ausgeht. Maßgebend dazu beigetragen haben
die vielfältigen traditionsreichen Verschränkungen christlicher Religionsgemein-
schaften und Kirchen mit staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen.
87
Z u r Entwicklung und den Hintergründen des 1. A m e n d m e n t s zur US-Verfassung
siehe aus der deutschsprachigen Lit. E. Vollrath. Die Trennung von Staat und Kirche im
Verfassungsverständnis der USA. in: K . M . Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über
den Einfiuss des Religiösen. 1988. S. 216 ff.. 217 ff.
88
Vgl. E. Vollrath (1988), S. 216 f.
394 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Gestalt. In den südlichen Kolonien etwa war die Anglikanische Kirche Staatskir-
che 89 , sie war im Wortsinne „established". Die vier nördlichen Kolonien kannten
keine Form des „establishments", die übrigen Kolonien etablierten die christliche
Religion oder den Protestantismus im Allgemeinen.
Die Revolutionsära veränderte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche freilich
grundlegend. Der Begriff des Establishments war zunehmend mit der anglika-
nischen Kirche in Zusammenhang gebracht worden und wurde als Ausdruck
englischer Unterdrückung empfunden. Nachdem 1773 im Quebec Act die be-
stehenden Rechte des katholischen Klerus bestätigt worden waren, wuchs die
Abneigung gegen ein „establishment" weiter an.
Die Entwicklung in den einzelnen Staaten hin zu einer Trennung zwischen Staat
und Kirche vollzog sich unterschiedlich und zeigt ein uneinheitliches, zuweilen
verwirrendes Bild. 90 Auf einhellige Ablehnung stieß eine Staatskirche anglikani-
scher Prägung. Ebenso war auf Dauer die Erhebung von Abgaben zu Gunsten der
verschiedenen Kirchen selbst auf paritätischer Grundlage nicht beizubehalten.
Die Verflechtungen von Staat und Kirche (z. B. durch staatliche Kirchenftnan-
zierung in einigen Einzelstaaten) blieben sogar noch nach Inkrafttreten der „Bill of
Rights" bestehen, da diese als Adressaten die Bundesebene, nicht die Einzelstaa-
ten hatten. Richtete sich, wie oben erwähnt, das 1. Amendment zunächst gegen
den Zentralstaat, änderte sich die Rechtslage mit dem 14. Amendment von 1863.
89
Vgl. E. Voll nah (1988), S. 220.
90
Vgl. umfassend W. Heun, Die Trennung von Kirche und Staat in den Vereinigten
Staaten von A m e r i k a , in: K-H. K ä s t n e r / K . W . N ö r r / K . Schiaich (Hrs^.), Festschrift für
Martin Heckel. 1999 S. 341 ff.. 343 ff.
91
Dazu W. Heim (1999), S. 347 f.; E. Vollrath (1988), S. 216 f.
III. Gottesbezug und US-Verfassung 395
Die Rechtsprechung des obersten Bundesgerichts der USA ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie sich zwischen zwei gegenläufigen Positionen zur Auslegung
der Establishment- Klausel bewegt. Einerseits ist der so genannte „Trennungs-
ansatz" („Separation") hervorzuheben. Dieser verbietet eine Unterstützung von
Religionsgemeinschaften in jedweder Form, unabhängig davon, ob alle Gruppen
gleichermaßen begünstigt oder nur bestimmte Glaubensrichtungen bevorzugt wer-
den. Nach dieser „Trennungsrechtsprechung" ist Religion eine auf den privaten
Bereich beschränkte Erscheinung, die öffentliche oder gar staatliche Angelegen-
heiten nicht oder zumindest so wenig wie möglich beeinflussen sollte. Diese
Rechtsprechung lässt sich dahin gehend zusammenfassen, dass die genannte Klau-
sel „eine Trennungswand zwischen Kirche und Staat" darstellt.
Auf der anderen Seite sind die Vertreter der Einstellung zu nennen, die eine
Zusammenarbeit („accomodation") zwischen Staat und Religionsgemeinschaften
so lange und insoweit für zulässig erachten, als der Staat nicht eine bestimmte
Religionsgemeinschaft gegenüber anderen bevorzugt (sog. „accomodationists"
bzw. „nonpreferentialists"). Letztgenannte Richtung hat in den 80er Jahren des
9
~ Vgl. G. Klings, Von strikter Trennung zu wohlwollender Neutralität - Staat und Kirche
in den Vereinigten Staaten und die gewandelte Auslegung der religious clauses der US-
Verfassung. in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2000. S. 5 0 5 ff., 509 ff. mit Fn. 22.
Gegen die Einbeziehung der Einzelstaaten in die „establishment c l a u s e " ist eingewandt
worden, diese stelle kein Freiheitsrecht dar. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verbot des
„establishment" unzweifelhaft mit dem Freiheitsrecht der Religionsfreiheit z u s a m m e n h ä n g t ,
das sich gegen j e d e Einwirkung des Staates auf religiöse Freiheit richtet. Daneben war das
Verbot auch von einer eher säkular geprägten A u f f a s s u n g beeinflusst. der das Individuum
und auch den Staat vor religiösen Einflüssen schützen wollte; letztlich sieht diese Auf-
fassung sowohl den Staat durch eine Beeinflussung seitens der Kirche als auch diese durch
eine Einflussnahme des Staates gleichermaßen als gefährdet an. vgl. T.M.Gannon. Die
katholischen Bischöfe in der amerikanischen Politik der 80er Jahre, in: K . M . Kodalle
(Hrsg.). Gott und Politik in USA - Ü b e r den Einfluss des Religiösen. 1988. S. 155 ff..
167 ff.
396 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Nach der grundlegenden Entscheidung des Gerichts aus dem Jahr 1947 (soge-
nannte Everson- Entscheidung)94 beinhaltet die mehrfach erwähnte Establishment-
Klausel die strikte Trennung von Staat und Religions- bzw. Glaubensgemeinschaf-
ten und Kirchen, zum anderen untersagt sie zugleich aber auch eine Religions-
feindlichkeit des Staates. Die Spannung zwischen dem Recht auf freie Religions-
ausübung und dem Verbot der Errichtung einer Staatskirche versucht das Gericht
durch das verbindende Element der „wohlwollenden Neutralität" zu überbrücken.
Teilweise enthält die Rechtsprechung Elemente, die stärker den Trennungsgedan-
ken, dann wieder solche, die mehr die Offenheit gegenüber der Religion betonen.
Eine - alle Fälle befriedigende - Lösung ist bis heute nicht gefunden worden,
vielmehr werden die bestehenden rechtlichen Probleme an Hand des jeweils zu
entscheidenden Einzelfalls gelöst.
93
Ausführlich G. Krings (2000), S. 511 f. m. w. N.
94
Everson v. Board ofEducation (1947)U.S. Reports Bd. 330. S. I.
95
Dazu insbesondere G. Krings (2000), S. 515 ff., 5 2 3 ff.
96
Lemon v. Kurtzmann (1971) U.S. Reports Bd. 403. S . 6 0 2 .
III. Gottesbezug und US-Verfassung 397
Einen weiteren großen Bereich der erwähnten Klausel stellen die öffentli-
chen Subventionen für private religiöse Aktivitäten dar. aber auch hier ist keine
eindeutige Linie in der Rechtsprechung zu erkennen. So ist z. B. (religiöser) Er-
gänzungsunterricht außerhalb des Schulgeländes erlaubt 1 0 4 , aber innerhalb des
Geländes verboten 1 0 5 . 1997 ist der S u p r e m e Court jedoch von dieser Rechtspre-
chung in einem Einzelfall abgewichen. 1 0 f t Ferner: Der Staat d a r f e i n e r konfessionell
geführten Privatschule die Kosten f ü r die Durchführung staatlicher Prüfungen er-
statten, sofern die Prüfungsaufgaben nicht von Lehrern der Privatschule stammen.
Nicht beanstandet hat das oberste Bundesgericht auch die Förderung von Schulen
und Aktivitäten in Form von Steuerabzügen und Steuerbefreiungen. Keine klare
Rechtsprechung zur Establishment-Klausel ist auch im Bereich öffentlicher Sub-
ventionen für private religiöse Aktivitäten zu erkennen. Immerhin ist festzustellen,
dass sich das Gericht in vielen seinen Entscheidungen, so auch den beispielhaft
97
Engel v. Virale (1962) U.S. Reports Bd. 370. S. 421.
98
Abbington School District v. Schempp (1963) U.S. Reports Bd. 374. S. 203.
99
Wallace v. Jaffree (1985) U.S. Reports Bd. 472, S. 28.
100
Epperson v. Arkansas (1968) U.S. Reports Bd. 393. S. 97.
101
Marsh v. Camhers (1983) U.S. Reports Bd. 463. S. 783.
102
Lynch v. Donelly (1984) U.S. Reports B d . 4 6 5 , S . 6 6 8 . sowie County of Allegheny
v. A m e r i c a n Ciliv Liberties Union Greater Pittsburgh Chapter (1989) U.S. Reports Bd. 492.
S. 573.
103
Vgl. auch W. Heun (1999), 350 ff. sowie G. Krings (2000), S. 515 ff.
104
Zorach v. Clausa,i (1952) U.S. Reports Bd. 343. S. 306.
105
McCollum v. Board of Education (1948) U.S. Reports Bd. 333. S. 203.
106
Employment Division v. Smith (1990) U.S. Reports Bd. 494. S. 872.
398 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
angeführten, vom Trennungsprinzip leiten lässt. wonach „die Regierung ganz vom
Bereich der religiösen Unterweisung ausgeschlossen ist und Kirchen von staatli-
chen Angelegenheiten." Der „Lemon-Test", der dieses Ziel erreichen soll, wird in
widersprüchlicher Weise angewendet. Vor allem sind es die oben erwähnte zweite
und dritte Stufe, die offensichtlich einander so entgegengesetzt sind, dass sie kaum
zugleich verwirklicht werden können. In seiner Rechtsprechung berücksichtigt der
Supreme Court demzufolge auch Aspekte, die im „Lemon-Test" nicht vorkommen,
das Ergebnis aber entsprechend entscheidend beeinflussen. 107
Neben den für eine strikte Trennung zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft
maßgebenden Gründen, der Gefahr politischer Zerreißproben, der religiösen In-
doktrination durch den Staat sowie der Gefahr der Verwicklung des Staates in
religiöse Angelegenheiten oder einer Identifizierung des Staates mit einer be-
stimmten Glaubensrichtung, die gerade vermieden werden soll, sind es vor allen
Gesichtspunkte der Neutralität gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen, in-
dividuelle Gleichbehandlung sowie die Bedeutung des Allgemeinwohls, von der
sich das oberste Bundesgericht und die Gerichte der Gliedstaaten, wie immer
wieder betont wird, in ihrer Rechtsprechung leiten lassen; in der Rechtsprechung
wird dies allerdings nicht oder nur unzureichend deutlich. Hinzu kommt das
Dilemma, dass dem Staat auf Grund der Religionsfreiheit Einschränkungen der
freien Religionsausübung untersagt sind. Der Prüfungsmaßstab der Religionsaus-
übungsklausel war bis 1990 dreistufig aufgebaut, wurde jedoch entscheidend von
einer Abwägung zwischen den mit der Regelung verfolgten staatlichen Zwecken
und dem Individualinteresse an freier Religionsausübung beeinfiusst. In seiner
neuesten Rechtsprechung - etwa ab 1990 - hat der Supreme Court allerdings die
Abwägung und das Erfordernis eines überwiegenden staatlichen Interesses fallen
gelassen und akzeptiert nun eine Einschränkung der Religionsausübung, sofern
sie auf einem „gültigen und neutralem Gesetz von allgemeiner Anwendbarkeit"
beruht.
Allerdings haben sich die Schwerpunkte der Rechtsprechung durch die Beset-
zung vakanter Richtersteilen am Supreme Court mit konservativen Juristen unter
107
Zur Kritik am „Lemon-Test" ausführlich G. Krings (2000).
III. Gottesbezug und US-Verfassung 399
den Präsidenten Reagan und Bush „senior" wie „junior" insoweit verschoben, als
jetzt der Trennungsgedanke weniger stark betont, auf der anderen Seite aber die
Religionsfreiheit stärker eingeschränkt wird. Die grundlegenden Schwierigkeiten
werden damit allerdings auch nicht zufriedenstellend gelöst, zumindest so lange
nicht, wie das mehrfach erwähnte Spannungsverhältnis zwischen strikter Tren-
nung von Staat und Glaubensgemeinschaften einerseits und der Religionsfreiheit
andererseits anerkannt wird. 108
Neben Alabama (Verfassung von 1901 )109 gilt dies für Alaska (1956)"°, Ari-
zona (1911)'", Arkansas (1874)" 2 , California ( 1 8 7 9 ) C o l o r a d o (1876) 1 , 4 und
Connecticut (1818) l , s .
108
In der Wertung ähnlich W. Heun (1999). S. 355 ff.
109
„We the people of the State of A l a b a m a , invoking the favor and guidance of Almighty
God. do ordain and establish the following Constitution | . . . 1".
110
„We. the people of Alaska, grateful to G o d and to those w h o founded our nation
and pioneered this great land ( . . . ] " .
111
„We, the people of the State of Arizona, grateful to Almighty God for o u r liberties,
do ordain this Constitution 1...]".
112
„We, the people of the State of Arkansas, grateful to Almighty God for the privilege
of choosing our own form of government [ . . . J".
113
„We. the People of the State of California, grateful to Almiehty God for our freedom
[...]"•
114
„We, the people of C o l o r a d o , with profound reverence for the S u p r e m e Ruler of
Uni verse [ . . . ] " .
115
„The People of Connecticut, acknowledging with gratitude the good Providence of
God in permitting them to enjoy [ . . . 1".
1,6
„Through Divine Goodness all men have. by nature. the rights of worshipping and
serving their Creator according to the dictates of their consciences [ . . . ] " .
117
„We, the people of the State of Florida, grateful to Almighty G o d for o u r constitu-
tional liberty establish this Constitution 1... 1".
118
„We, the people of Georgia, relying upon protection and guidance of Almighty God.
do ordain and establish this Constitution [...1".
119
„We, the people of Hawaii, Grateful for Divine Guidance [ . . . ] establish this Consti-
tution."
400 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Eine „invocatio Dei" beinhalten zudem die Präambeln der Staaten Iowa
(1857)123, Kansas (1859)'24, Kentucky (I891)'25, Louisiana (I921)126, Maine
(1820)127, Maryland (1776),2S und Massachusetts (1780)129.
120
„We, the people of the State of Idaho, grateful to Almighty God for our freedom. to
secure its blessings [ . . . ]".
121
„We. the people of the State of Illinois, grateful to Almighty God for the civil,
political and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy and looking to
Hirn for a blessing on o u r endeavours."
122
„We. the People of the State of Indiana, grateful to Almighty God for the free
exercise of the right to chose our form of g o v e r n m e n t . "
123
„We, the People of the State of Iowa, grateful to the Supreme Being for the blessings
hitherto enjoyed. and feeling our dependence on Him for a continuation of these blessings
establish this Constitution."
124
„We. the people of Kansas, grateful to Almighty God for our civil and religious
Privileges establish this Constitution."
125
„We, the people of the C o m m o n w e a l t h of grateful to Almighty God for the civil,
political and religious liberties 1 . . . J " .
126
„We. the people of the State of Louisiana, grateful to Almighty God for the civil,
political and religious liberties we enjoy."
127
„We the People of Maine [ . . . 1 acknowledging with grateful hearts the goodness of
the Sovereign Ruler of the Universe in affording us an opportunity I . . . | and imploring His
aid and direction."
128
„We. the people of the State of Maryland, grateful to Almighty God for our civil and
religious liberty ( . . . 1 " .
129
„We I . . . ] the people of Massachusetts, acknowledging with grateful hearts. the
goodness of the Great Legislator of the Universe [ . . . ] in the course of His Providence. an
opportunity and devoutly imploring His direction [ . . . ] " .
130
„We. the people of the State of Michigan, grateful to Almighty God for the blessings
of f r e e d o m I . . . J establish this Constitution."
131
„We, the people of the State of Minnesota, grateful to God for o u r civil and religious
liberty, and desiring to perpetuate its blessings
132
„We. the people of Mississippi in Convention assembled. grateful to Almighty God.
and invoking His blessing on our work."
133
„We. the people of Missouri, with profound reverence for the Supreme Ruler of the
Universe, and grateful for His goodness I . . . 1 establish this Constitution [ . . . ] " .
134
„We, the people of Montana, grateful to Almighty G o d for the blessings of liberty
establish this Constitution ! . . . ] " .
135
„We. the people. grateful to Almightv God for our freedom. establish this Constitu-
tion."
III. Gottesbezug und US-Verfassung 401
(1868) 1 , 4 0 f N o r t h D a k o t a ( 1 8 8 9 ) M l , O h i o ( 1 8 5 2 ) 1 4 2 u n d O k l a h o m a ( 1 9 0 7 ) 1 4 3 . d a s d i e
„invocatio" allerdings nicht mit der Einleitungsformel „we, the p e o p l e " verbindet.
136
„We the people of the State of Nevada, grateful to Almighty God for o u r f r e e d o m
establish this Constitution [ . . . ] " .
137
„We. the people of the State of New Jersey, grateful to Almighty G o d for civil and
religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy. and looking to Hirn for a
blessing on our endeavors [ . . . ) " .
138
„We, the People of New Mexico, grateful to Almighty God for the blessings of
liberty [ . . . ] " .
139
„We, the people of the State of New York, grateful to Almighty God for our freedom.
in order to secure its blessings I . . . 1".
140
„We the people of the State of North Carolina, grateful to Almighty God. the Sover-
eign Ruler of Nations. for o u r civil, political. and religious liberties. and acknowledging
our dependence upon Him for the continuance of those [ . . . 1".
141
„We, the people of North Dakota, grateful to Almighty God for the blessings of civil
and religious liberty, do ordain [ . . . 1".
142
„We the people of the State of Ohio, grateful to Almighty God for our f r e e d o m . to
secure its blessings and to promote o u r c o m m o n [ . . . ] " .
143
„Invoking the guidance of Almighty G o d . in order to secure and perpetuate the
blessings of liberty [ . . . 1 establish this 1... J".
144
„We, the people of Pennsylvania, grateful to Almighty God for the blessings of civil
and religious liberty, and h u m b l y invoking His g u i d a n c e 1... |".
145
„We the People of the State of Rhode Island grateful to Almighty God for the civil
and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy, and looking to Him for
a blessing [ . . . ] " .
146
„We. the people of the State of South Carolina, grateful to God for o u r liberties, do
ordain and establish this Constitution."
147
„We. the people of South Dakota, grateful to Almighty God for our civil and religious
liberties ( . . . J establish this Constitution."
148
„We the People of the Republic of Texas, acknowledging, with gratitude. the grace
and beneficence of God 1... ]".
149
„Grateful to Almighty God for life and liberty, we establish this Constitution."
150
„We the People of the State of Washington grateful to the S u p r e m e Ruler of the
Universe for our liberties. do ordain this Constitution 1...]".
151
„We, the people of Wisconsin, grateful to Almighty God for our freedom. domestic
tranquility [ . . . ] " .
152
„We, the people of the State of Wyoming, grateful to God for o u r civil, political. and
religious liberties [ . . . J establish this Constitution [ . . . 1".
402 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA
Lediglich in vier Staaten ist der Gottesbezug nicht im Text einer Präambel
enthalten. In Oregon (1857) 155 und Virginia (1776)" 6 ist die jeweilige „Bill of
Rights" zu bemühen. In New Hampshire (1792) 157 und Tennessee (1796) 158 findet
sich der Gottesbezug „eingebettet" in die Verfassungsartikel.
153
„Whereas all government ought to ( ] enable the individuals w h o c o m p o s e it to
enjoy their natural rights, and other blessings which the Author of Existence has bestowed
on man [ . . . J".
154
..Since through Divine Providence we enjoy the blessings of civil, political and
religious liberty. we, the people of West Virginia, reaffirm o u r faith in and constant reliance
upon God [ . . . j".
155
Bill of Rights, Article I. Section 2: ..AU men shall be secure in the Natural right. to
worship Almighty God according to the dictates of their consciences."
156
Bill of Rights. X V I : „ | . . . | Religion, or the Duty which we owe o u r Creator [ . . . ]
can be directed only by Reason. and that it is the mutual duty of all to practice Christian
Forbearance. Love and Charity towards each other 1... J".
157
Part I. Art. I. See. V: „Every individual has a natural and unalienable right to worship
God according to the dictates of his own conscience."
1511
Art. XI. III: „That all men have a natural and indefeasible right to worship Almighty
God according to the dictates of their conscience I . . . J".
159
Zu dieser Frage ausführlich G. Robbers. Europäische Verfassung und Religion, in:
Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente.
Sonderheft I / 2 0 0 3 . S. 66 ff.. 67 f.
Nachwort
Gemeinsam bilden Europa und die USA die weltweit bedeutendste Einfluss-
sphäre von Demokratie, Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Dennoch sind USA
und Europa vornehmlich Mächte des Status quo, denen in erster Linie an der
Bewahrung ihrer eigenen Werte gelegen ist. Obgleich beide ein sich in hoher
Rasanz wandelndes Verständnis globaler Zusammenhänge federführend mitbe-
stimmen, steht einer Verwirklichung gemeinsamer Hoffnungen ein - trotz aller
gemeinsamen Wurzeln - durchaus unterschiedlicher Konservatismus entgegen,
der sich aus den eigenverantwortlich materialistischen Grundprägungen beider
Gesellschaften nährt. Das Spannungsfeld Konservatismus und Moderne auch
im transatlantischen Verhältnis anzuführen ist schon deswegen nicht reizlos als
auch die Koppelung beider Ausrichtungen zunehmend deutlich wird. Auch im
weiten Feld des in der Praxis erprobten Verfassungsverständnisses. Todesstrafe,
genmanipulierte Lebensmittel, aber auch die Notwendigkeit militärischer Inter-
ventionen lassen (bei allen benevolenten Hegemonialstrukturen) eine wachsende
gegenseitige Einflussnahme und in vielen Teilbereichen Abhängigkeit erkennen.
Ein Mischverhältnis aus Emanzipierung und Fügung. Freilich bleiben die latente
Amerikanisierung und deren fundamentale Ablehnung als dynamische Gegenpole
erhalten.
Beide - die Vereinigten Staaten und Europa - eint die Idee eines neuen, gewalt-
losen und positiv einzuschätzenden „Verfassungsimperialismus": die Grenzen des
Friedens, der Stabilität und der Demokratie nach Osteuropa und die restliche Welt
wenigstens in der Respektierung auszuweiten, ist eine Anforderung, die Europa
404 Nachwort
und die USA langfristig nur gemeinsam meistern können. Die ähnliche Interes-
senlage dies- und jenseits des Atlantiks kollidiert mit der Unterschiedlichkeit der
Gefühlslage. Beides ist Grundlage einer Kultur.
„Dass Verfassung sich überall bilde, wie sehr ist's zu wünschen!
Aber ihr Schwätzer verhelft uns zu Verfassungen nicht"
(J. W. v. Goethe! F. Schiller. Xenien)'
1
Vgl. E.Trunz (Hrsg.). „Der Patriot": „Dass usw.": Xenien. Goethes Werke. Bd. 1.
Hamburger Ausgabe. 1998. S . 2 1 6 .
Zusammenfassung
Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die
europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat
der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zu-
rückblicken, die andere fertigte sich angesichts der weitaus kürzeren Historie
nach klassischen Modellen ihren eigenen Typus ohne dabei jüngste und originäre
Entwicklungen außer Acht zu lassen.
IV. Ihre Festigung und Bestätigung fanden und finden der US-amerikanische
Verfassungsstaat sowie die europäische Verfassungsgemeinschaft im Besonderen
durch Verfassunggebung. Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien.
Drei Themenkomplexe, die ebenfalls einer transatlantisch vergleichenden Analyse
unterzogen werden.
Anhang 1
I. CDU und CSU begrüßen den Abschluss der Arbeiten des Konvents an den Teilen I
und II der geplanten EU-Verfassung.
Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die Weiterentwicklung der
Europäischen Integration und für eine bessere Wahrnehmung der berechtigten Interessen
von Bund. Ländern und Gemeinden. Er trägt in wichtigen Bereichen die Handschrift von
C D U und CSU und ihrer Vertreter im Konvent.
II. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass im Rahmen des Konvents Fortschritte bei der
Antwort auf die aktuelle Reformkrise der EU erzielt werden konnten:
- Erstmals ist es gelungen, eine klare Kompetenzordnung über die Zuständigkeiten der
Europäischen Union mit einer Einteilung und Auflistung der Kompetenzkategorien
festzulegen. Außerdem muss die Europäische Union dort, wo sie zuständig ist. die Prinzi-
pien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
beachten. Damit sind allgemeine Zielformulierungen nicht mehr kompetenzbegründend.
- Alle diese Festlegungen unterliegen einer Kontrolle durch die nationalen Parlamen-
te - und über ein Klagerecht beider Kammern der nationalen Parlamente - durch den
Europäischen Gerichtshof.
- Alle Teile des Verfassungsvertrags haben die gleiche Rechtsqualität.
- Durch den Verfassungsvertrag wird die EU stärker als bisher als Wertegemeinschaft
definiert.
- Die verbindliche Aufnahme der Grundrechte-Charta stärkt die Rechte der Bürgerinnen
und Bürger gegenüber den europäischen Institutionen.
- Die stärkere politische Anbindung der Kommission an das Europäische Parlament bei
der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Stärkung der Mitspracherechte des
Europäischen Parlaments machen die EU demokratischer.
- Die Einrichtung eines öffentlich tagenden Legislativrates und die - durch die Bestim-
mung von Kompetenzkategorien - übersichtlichere Aufgabenverteilung zwischen EU
und Mitgliedsstaaten verbessern die Transparenz Europas.
- Mit der Reduzierung der Größe der Kommission, der Schaffung eines Außenministers
und eines Präsidenten des Europäischen Rates und dem verstärkten Übergang zur
Mehrheitsentscheidung wird die EU handlungsfähiger.
- Zur Abgrenzung der Handlungsbefugnisse der EU wird das Subsidiaritätsprinzip ge-
stärkt und seine Durchsetzung durch die Schaffung eines Frühwarnsystems und eines
Klagerechts zugunsten der nationalen Parlamente verbessert.
Anhänge 409
- Bei wichtigen nationalen Politikfeldern (z. B. Bildung. Kultur) wird in der Verfassung
ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot verankert.
- Die Verfassung achtet erstmals rechtsverbindlich die regionale und k o m m u n a l e Selbst-
verwaltung sowie den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften.
- Durch die E i n f ü h r u n g d e r doppelten Mehrheit (Mehrheit der Staaten. 6 0 % der Be-
völkerung) werden die Bevölkerungsverhältnisse in der Europäischen Union besser
berücksichtigt und die Entscheidungsfähigkeit des Rates verbessert.
III. Auf der anderen Seite ist es nicht gelungen, die Kompetenzen auf europäischer
Ebene zurückzufuhren.
IV. Zu den Teilen III und IV des Verfassungsvertrags wird der Konvent seine Beratungen
in den nächsten Wochen abschließen. C D U und C S U sind sich einig, d a s s dabei folgende
g e m e i n s a m e Positionen vertreten werden:
- Die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für das M a ß der Einwanderung und den Zugang
z u m Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige soll festgeschrieben werden.Nötigenfalls
sind diese Bereiche in der Einstimmigkeit zu belassen.
- Die Binnenmarktklausel muss präzisiert und auf Maßnahmen beschränkt werden, welche
primär und unmittelbar die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum
Gegenstand haben.
- Z u r Erweiterung der Spielräume der Mitgliedsstaaten zur Gestaltung einer eigenstän-
digen Strukturpolitik soll das Wettbewerbsrecht dahingehend geändert werden, dass
Beihilfen generell mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, soweit sich die Handelsbe-
dingungen nicht in einer Weise verändern, die dem g e m e i n s a m e n Interesse „spürbar"
zuwider läuft.
410 Anhänge
Anhang 2
Die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union hohen
an diesem Wochenende den Entwurf eines Vertrages für eine europäische Verfassung
verabschiedet. Als völkerrechtlicher Vertrag bedarf er der Ratifizierung durch alle 25
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, um in Kraft treten zu können.
Dabei bestimmt sich die Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen Verfassungen
der einzelnen Mitgliedstaaten. In Deutschland bedeutet dies, d a s s Bundestag und Bun-
desrat dem Vertrag über eine europäische Verfassung mit einer jeweiligen 2 / 3 - M e h r h e i t
zustimmen müssen (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i V m Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes).
Die neue EU-Verfassung besteht im Kern aus einer Z u s a m m e n f a s s u n g des EU- und des
EG-Vertrages sowie der Grundrechtecharta. Dabei ist es gelungen, in Weiterentwicklung
der bisherigen Verträge erstmals eindeutige Kompetenzkategorien festzulegen. Allgemeine
Zielformulierungen sind ausdrücklich nicht kompetenzbegründend. A u ß e r d e m gilt in der
EU das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach sie nur dann handeln darf,
wenn es d a f ü r eine ausdrückliche Ermächtigung im Verfassungsvertrag gibt.
Die Verfassung ist in vier Teile gegliedert: Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen
der Europäischen Union. Dazu zählen u. a. die Ziele der EU, die Kompetenzkategorien.
Vorschriften zur A u s ü b u n g der Kompetenzen sowie grundsätzliche Festlegungen zu den
Organen und zu bestimmten Politikbereichen wie beispielsweise der G e m e i n s a m e n Außen-
und Sicherheitspolitik ( G A S P ) sowie Innen und Justiz. Daran schließt sich der zweite Teil
Anhänge 411
der Verfassung an. der die Grundrechtecharta beinhaltet. Diese war am 2. Oktober 2 0 0 0
vom Europäischen Rat in Nizza durch feierliche Erklärung a n g e n o m m e n worden, wird
jetzt durch Inkorporation in den Verfassungsvertrag verbindliches Recht. Der Teil drei
ist der eigentliche Kern der Verfassung, beschreibt er doch sehr detailliert die einzelnen
Politikbereiche, in denen die EU handeln darf (begrenzte Einzelermächtigungen). Teil vier
beinhaltet die Schlussbestimmungen.
Eine Präambel leitet die Verfassung ein. in der u. a. ein ausdrücklicher Verweis auf
das religiöse Erbe Europas aufgeführt ist (..Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und
humanistischen Erbe E u r o p a s , . . . " ) , aus dem sich als universelle Werte die unverletzlichen
und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Demokratie. Gleichheit. Freiheit und Rechts-
staatlichkeit entwickelt haben. Dies ist bereits ein großer Fortschritt gegenüber dem Status
quo. da bislang ein solcher Wertebezug in den europäischen Verträgen fehlt. W i r hätten
uns aber einen klaren Gottesbezug (invocatio dei) und einen Verweis auf die prägende
W i r k u n g des Christentums (christliches Erbe) gewünscht. Frankreich und Belgien haben
dies mit Verweis auf ihre strikte Trennung von Staat und Kirche abgelehnt.
Die Srinwiengewichtung im Rat war bis zuletzt der umstrittenste Punkt in den Verhandlun-
gen der Regierungskonferenz. Der Europäische Rat im D e z e m b e r letzten Jahres scheiterte
an dieser Frage, da Spanien und Polen dem im Konventsentwurf niedergelegten neuen
Prinzip der doppelten Mehrheit nicht folgen wollten. Sie sahen darin eine deutliche Ver-
schlechterung ihres Stimmengewichts im Rat gegenüber d e m bestehenden Nizza-Vertrag,
nach dem sie trotz erheblich geringerer Bevölkerungszahl fast ebenso viele Stimmen haben
wie die großen Mitgliedstaaten Deutschland. Großbritannien. Frankreich und Italien. Kern-
punkt der doppelten Mehrheit ist, dass es f ü r die A n n a h m e eines Kommissionsvorschlags
eine festgelegte Anzahl von Staaten geben muss, die einen bestimmten Bevölkerungsan-
teil. bezogen auf die Gesamtbevölkerung der E U . erreichen müssen. Der Konvent hatte
vorgesehen, dass 5 0 % der Staaten, die 6 0 % der Bevölkerung der EU repräsentieren, einem
Vorschlag zustimmen müssen. Die Regierungskonferenz hat sich dagegen auf folgende Ver-
teilung geeinigt - nicht zuletzt auch, um Spanien und Polen entgegenzukommen und damit
die Einigung auf die Verfassung möglich zu machen: 5 5 % der Mitgliedstaaten müssen
für einen Vorschlag stimmen, die zugleich 6 5 % der Gesamtbevölkerung der EU vertreten.
Zusätzlich muss die z u s t i m m e n d e Mehrheit mindestens 15 Mitgliedstaaten umfassen. In
einer EU mit 25 Mitgliedstaaten entspräche dies zwar einer geforderten Mehrheit von 6 0 %
der Staaten. Allerdings wird die EU bis zum voraussichtlichen Inkrafttreten der Verfassung
(2007) auch die Länder Bulgarien und Rumänien u m f a s s e n . Dann entsprächen die 15
für eine erforderliche Mehrheit notwendigen Länder in etwa 5 5 % . Darüber hinaus muss
eine blockierende Minderheit aus mindestens vier Staaten bestehen, damit nicht die drei
bevölkerungsreichsten Länder einen Mehrheitsbeschluss aufhalten können. Bei Mehrheits-
beschlüssen ohne Vorschlagsrecht der K o m m i s s i o n (z. B. in der Justiz- und Innenpolitik
oder in der G e m e i n s a m e n Außen- und Sicherheitspolitik) gelten höhere Schwellen für das
Erreichen der qualifizierten Mehrheit: hier müssen 7 2 % der Staaten mit z u s a m m e n 6 5 %
der EU-Bevölkerung zustimmen. Das jetzt verabschiedete Abstimmungsverfahren soll am
1. November 2009 in Kraft treten. Bis dahin gelten die Regeln des Vertrages von Nizza.
Zur Frage d e r Größe der Kommission liegt folgende Einigung vor: Bis 2 0 1 4 wird
der Kommission jeweils ein Staatsangehöriger aus j e d e m Mitgliedstaat angehören. Ab
2 0 1 4 wird die Zahl der K o m m i s s a r e reduziert. Ihre Zahl soll 2 / 3 der Mitgliedstaaten
412 Anhänge
Im letzten M o m e n t wurde in den ersten Teil der Verfassung doch noch die Preisstabilität
in den Zielkatalog der EU a u f g e n o m m e n , wie dies seit 1957 im EG-Vertrag i m m e r der Fall
gewesen war. Leider hatte der Konvent gegen unseren Willen diese Zielbestimmung fallen
gelassen. Nun allerdings ist die Preisstabilität in Art. 3 (..Ziele") ausdrücklich erwähnt.
Insbesondere auf Drängen Großbritanniens verbleiben wichtige Teile von einzelnen Po-
litikbereichen in der Einstimmigkeit. Dies gilt für die gesamte Bandbreite der Steuerpolitik
sowie im Grundsatz auch für den Bereich Innen und Justiz. Hier wird die Möglichkeit
einer ..Notbremse" eröffnet, wenn ein Mitgliedstaat Bedenken gegen den Entwurf eines
mit qualifizierter Mehrheit a n z u n e h m e n d e n R a h m e n g e s e t z e s hat. Das Recht festzulegen,
wie viele Drittstaatsangehörige z u m Zweck der A r b e i t s a u f n a h m e in einen Mitgliedstaat
einreisen dürfen, verbleibt in nationaler Zuständigkeit. Auch der Beschluss über die Eigen-
mittel der EU sowie die m e h r j ä h r i g e Finanzplanung bedürfen nach der neuen Verfassung
der Einstimmigkeit.
In der Verfassung findet sich erstmalig ein expliziter Verweis auf die NATO, der
sicherstellt, dass die Z u s a m m e n a r b e i t in den Verteidigungsfragen die Verpflichtungen im
Rahmen der N A T O nicht berührt und dass bei der Landesverteidigung die N A T O Vorrang
vor rein europäischen Verteidigungsanstrengungen hat. Die N A T O wird ausdrücklich als
das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz f ü r deren Verwirklichung
für die Staaten angesehen, die NATO-Mitglieder sind.
einer soliden Haushaltspolitik. Sie bekräftigen das Ziel, in guten Zeiten schrittweise einen
Haushaltsüberschuss zu erreichen, um in Zeiten des W i r t s c h a f t s a b s c h w u n g s über den
notwendigen Spielraum zu verfügen.
Schlussbewertung
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Verhandlungen von 25 Mitgliedstaaten unsere
Vorstellungen ü b e r den Inhalt des Verfassungsvertrages nicht in Reinform durchzusetzen
waren. Allerdings übertreffen die erzielten Fortschritte bei weitem die nicht befriedigend
geregelten Fragen. Für die C D U / C S U - B u n d e s t a g s f r a k t i o n ist es von großer Bedeutung,
im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Ratifizierungsverfahren die neuen Rechte des Bundestages
bei der Subsidiaritätskontrolle zu klären, die innerstaatlichen Abläufe hierfür zu regeln
und insgesamt die Beteiligung des Bundestages bei der europäischen Gesetzgebung zu
verbessern.
Anhang 3
1) Artikel I der 1789 vorgeschlagenen zwölf Amendment-Artikel, wovon Artikel III bis
XII die heute als „Bill of Rights" bekannte Grundrechterklärung bilden:
2) In der zweiten „Sitzung" des 11. Kongresses schlug der Kongress folgenden Amend-
ment-Artikel vor. der nicht die erforderliche Mehrheit der Einzelstaaten fand:
..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in
Congress assembled, two thirds of both houses concurring. That the following section be
submitted to the legislatures of the several states. which. when ratified by the legislatures
of three fourths of the states, shall be valid and binding. as a part of the Constitution of
the United States.
If any Citizen of the United States shall aeeept. claim. reeeive or retain any title of
nobility or honour. or shall. without the consent of Congress, aeeept and retain any
present. pension. office or e m o l u m e n t of any kind whatever, from any emperor. king.
prince or foreign power, such person shall cease to be a Citizen of the United States, and
shall be incapable of holding any office of trust or profit under them. or either of t h e m . "
414 Anhänge
..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America
in Congress assembled. Thal the following article be proposed to the Legislatures of the
several States as an a m e n d m e n t to the Constitution of the United States, which, when
ratified by three-fourths of said Legislatures, shall be valid. to all intents and purposes.
as part of the said Constitution, viz:
Article Thirteen
No a m e n d m e n t shall be made to the Constitution which will authorize or give to Congress
the power to abolish or interfere. within any State, with the domestic institutions thereof.
including that of persons held to labor or Service by the laws of said State."
Interessanterweise handelt es sich hierbei um das einzige „proposed". aber nicht rati-
fizierte A m e n d m e n t , das vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Diese Unterschrift wird
allerdings allgemein als unerheblich erachtet, nachdem die Verfassung bei einer Zweidrit-
telmehrheit im Kongress die Weitergabe an die Staaten zur Ratifizierung vorsieht.
4) In der ersten „ S i t z u n g " des 68. Kongresses wurde am 2. Juni 1926 ein A m e n d m e n t -
Vorschlag eingebracht, d e r sich gegen Kinderarbeit richtete. Obgleich Senat und ..Hou-
s e " (am 26. April 1926) mit der notwendigen Mehrheit durchlaufen wurden, ratifizierten
lediglich 28 Staaten folgenden Entwurf:
6) Schließlich schlug der 95. Kongress in seiner zweiten „Sitzung" am 22. August 1978
mit der erforderlichen Mehrheit (das ..House" wurde am 2. März 1978 passiert) ein Amend-
ment vor. das Wahlrechtsfragen für den District of C o l u m b i a z u m Inhalt hatte. Erneut
fehlte es innerhalb der siebenjährigen Frist an der erforderlichen Dreiviertelmehrheit der
Bundesstaaten. Der Amendmentvorschlag hatte folgenden Wortlaut:
Abromeit. H.: Ein Maß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich, Vortrag
am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. M ä r / 2 0 0 1 . 2001.
Achterberg. N.: Die Verfassung als Sozialgestaltungsplan. in: ders. (Hrsg.). Recht und Staat
im sozialen Wandel. Festschrift für H.U. Scupin. 1983. S. 293 ff.
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of Justice, in: International Organization 52 (1998), S. 121 ff.
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Sachwortverzeichnis
- als Abbilder einer Verfassungsergänzung Autonomie 138. 148. 163, 294. 321, 323,
222 326. 347
- als Spiegelung amerikanischer Kulturge- - institutionelle A. 294
schichte 222
- Interpretation von 243 Begrenzungsfunktion siehe Verfassungs-
funktionen
Amendment A^crfahren 229-243, 245-
248 Belgien 67, 113, 157, 161, 162. 220. 350.
383
American Revolution siehe amerikanische
Bill of Rights (1689) 2 0 . 3 7 . 1 5 7
Revolution
Bill of Rights (1789) 3 6 - 3 8 . 8 7 . 2 2 2 , 2 2 6 ,
amerikanische Bundesverfassung 16, 19.
227. 230, 246, 356. 363. 394
24.51,101,142,187, 195.222-225,239.
Bill of Rights of Virginia (1776) 35-36.
248. 271. 273. 280. 3 1 7 - 3 5 8 . 361. 362,
3 6 4 - 3 6 9 . 370. 3 9 1 - 3 9 9 194.402
- als dynamischer Evolutionsprozess 48 Binnenmarkt 32. 52. 54, 72, 78, 175. 204.
- a l s Vorbild 19.112,194.221
212
Bulgarien 157, 1 8 5 , 1 9 1 . 3 5 0 . 3 8 3
- Einflusspotentiale 194
Bund für Europäische Cooperation 54
- Flexibilität der 40.49,223
Bundesgesetzgebungskompetenz 281
amerikanische Rechtskultur 308
Bundesgewalt 32,281.323
amerikanische Revolution 26, 194, 197, Bundesrepublik Deutschland 63, 65, 67,
368. 372, 3 9 3 - 3 9 4 6 8 . 7 9 , 9 2 . 105, 108. 156. 161. 162. 170.
amerikanische Verfassung 177, 204. 209. 210, 213, 253. 265. 289.
siehe US-Verfassung 291, 296. 299. 320, 324. 336, 341, 350.
Antifederalists 31.33-35 354. 382. 388. 392. 4 0 3
Argentinien 44 Bundesstaat 16. 24. 28. 34. 45. 47. 49.
Articles of Confederation 24. 2 7 - 3 1 , 33, 5 7 , 6 2 . 6 5 . 104, 129, 171, 181. 195. 266.
43,46.224,317, 331,356.358.362,366. 3 1 8 - 3 3 1 . 346, 349. 356, 362, 365. 370
370 - europäischer B. 5 8 , 6 1 , 103
Atlantische Deklaration 209 Bundesstaatsprinzip 331
atlantische Rechtskultur 220 Bundesstaatsstreitigkeit 293
Aufklärung 2 1 - 2 4 . 194. 216. 342, 350, Bundesverfassungsgericht 150, 269. 296.
372, 378. 380. 381 3 1 3 , 3 1 4 , 348
466 Sach wort ver/cichnis
Bürgerkrieg 43. 226. 235. 282, 283. 349. - der Verfassungsinterpretation 269
355.357,367 Dezentralisierung 31, 163
Bürgerrechte 115. 124. 158. 194. 289 divided government 48
Drei-Elemente-Lehre 129
C h a r t a der G r u n d r e c h t e der Europäischen
Union siehe Europäische Grundrecht-
Effizienz 80. 96, 108, 163, 172, 178, 331
echarta
E G K S siehe Europäische G e m e i n s c h a f t für
checks and balances 275. 288. 320. 323.
Kohle und Stahl
332
E G M R siehe Europäischer Gerichtshof für
Christentum 21,374
Menschenrechte ( E G M R )
Civil War siehe Bürgerkrieg
Einheit in Vielfalt 16,340.370
C o d e Civil (1808) 217
Einheitliche Europäische Akte (1986)
coercive power 46
7 5 - 7 6 . 78. 1 8 9 . 2 1 2
C o m m o n Law 21. 1 5 7 , 2 7 1
Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse 320
Conseil Constitutionnel 269
Einmannexekutive 32
counter-majoritarianism 289
E M R K siehe Europäische Menschenrechts-
konvention ( E M R K )
Dänemark 75, 101, 116. 158. 161, 190.
England 20. 23, 29, 36. 40. 274. 291. 343
192, 349. 384
Ensemble von Teilverfassungen 159. 308.
Declaration des droits de T h o m m e et du
312, 342
citoyen 44
Entwurf einer europäischen Bundesverfas-
Declaration of Independence 17. 23, 25,
sung (1951) 61
27, 3 0 . 4 3 , 4 5 . 195. 228. 272. 340. 392
Erklärung von Laeken 138, 144. 166. 174
- Präambel 26
Erweiterungsdynamik 354
deliberative Politik 316
Establishment Clause 391-399
deliberative Verfassungspraxis 316
Estland 350.384
Demokratie 2 0 . 2 4 . 3 8 . 4 4 , 4 9 - 5 1 . 57. 96.
EU-Bürger siehe Unionsbürger
98. 136. 1 6 0 - 1 6 3 , 172, 216. 254. 266.
EuGH siehe Europäischer Gerichtshof
286, 289. 2 9 1 . 3 5 7 , 3 6 9 . 4 0 3
- direkte D. 349 (EuGH) 90.303
- egalitäre D. 219 Europa 41, 44. 51, 195. 197-221.
Europäische G e m e i n s c h a f t für Kohle und europäische Verfassung 17, 77, 86. 95.
Stahl ( E G K S ) 16. 64. 67. 198, 20() 100. 132. 144. 148, 154. 164, 180. 186.
europäische Gesprächskultur 188 306. 360, 365. 369
Europäische Verfassungsgerichte 304
Europäische Grundrechtecharta 87, 115,
Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit
139, 356. 357. 359, 375
141,305
europäische Ideale 111
Europäische Kommission 67, 72, 80. 87, Europäische Verteidigungsgemeinschaft
90. 92. 96. 107. 109. 113, 115, 123, 140. (EVG) 65,67,69,200
160. 166. 170. 177, 220, 251. 257, 258. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
307, 328. 347. 361, 366. 371, 375 (EWG) 67,120,204.206
Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Zentralbank ( E Z B ) 355
(EMRK) 64. 67. 73, 89. 94. 124. 126. europäischer D e m o s 155
133,376 Europäischer Gerichtshof ( E u G H ) 81. 90.
europäische Öffentlichkeit 94, 119, 139. 117, 120, 124. 170, 221, 254. 290. 294.
155, 174. 190. 348. 373 3 1 1 , 3 1 6 , 336. 347, 375
194. 216. 285. 297. 331, 334. 340. 369. Gliedstaatsverfassung 122
376,394 Gottesbezug 373-402
- status negativus, activus und positivus - in den bundesstaatlichen Verfassungen
20 der USA 402
Freiheitsbegriff 352 - in den (Teil)verfassungen der EU
Fundamental Orders o f Connecticut 24- 374-382
27 - in den Verfassungen der Beitrittskandi-
daten zur EU 388
G A S P siehe G e m e i n s a m e Außen- und Si- - in den Verfassungen der deutschen Bun-
cherheitspolitik ( G A S P ) desländer 388
G e m e i n s a m e Außen- und Sicherheitspolitik - in den Verfassungen d e r EU-Mitglied-
(GASP) 78.96.97,214 staaten 383-388
Gemeinschaft der Vereinigten Europäi- - in der Verfassung der Vereinigten Staaten
schen Staaten 76-77 von A m e r i k a 393-399
469 Sach wort ver/cichnis
375-377 funktionen
180. 181. 224. 253. 282. 317, 319. 369. kulturelle Selbstverw irklichung 45
Präambel 26, 38. 4 7 . 78, 124. 133, 158. Repräsentation 28. 152, 216. 3 1 7 - 3 1 8 .
182, 1 8 5 - 1 8 8 . 267, 373. 374. 3 7 6 - 3 8 2 , 321
383-391.399.40() Repräsentativsystem 320. 344
praktische Konkordanz 335 Repräsentativverfassung 50
Präsidialdemokratie 49.217.354 Republikanismus 22, 33, 342
Präsidialsystem 195 richterliches Prüfungsrecht 265, 278. 289.
Ratifikationskrise 188-192
Säulenmodell 79
Ratifizierung
Schottland 163,327
- der amerikanischen Bundesverfassung
3 3 - 3 5 . 362, 3 7 0 Schuman-Plan 65
Schweden 135, 158, 161, 192, 387
- der amerikanischen Bundesverfassung]
364 Schweiz 49, 70, 173,231, 313, 344. 349