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I. Zu W esen un d E n t w i c k l u n g der V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t :
Im politischen System von modernen Rechtsstaaten kommt der Verfassungsge
richtsbarkeit - auf einen sehr einfachen Nenner gebracht - die Aufgabe zu, die ge
schriebene Verfassung zu garantieren, insbesondere die Tätigkeit der staatlichen Or
gane innerhalb des durch die Verfassung gezogenen Rahmens zu halten. Sie steht
daher vor allem zu Regierung und Parlament in einem besonderen Spannungsfeld;
beide ~ als von dieser Verfassungskontrolle vorrangig betroffene Institutionen - sind
daher bestrebt, möglichst großen Einfluss auf die Auswahl der Verfassungsrichter zu
gewinnen').
Form und Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die damit verbunde
ne Tätigkeit werden von der in der historischen Entwicklung^) jeweils herrschenden
Staatsauffassung bestimmt. Eine Ausgestaltung in reinster Form, durch die Konzentra
tion aller Verfahren, welche die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten,
bei einem besonderen von der übrigen staatlichen Gerichtsorganisation separierten
Verfassungsorgan, ist in Österreich erst auf republikanisch-demokratischer Grundla
ge ins Leben gerufen worden. Ihr Kem wurzelt aber in der Verfassungstradition der
konstitutionellen Monarchie. •
Die Idee, zur Sicherung des Rechtsstaates auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts
eine eigene Gerichtsbarkeit einzurichten, ist in der österreichischen Monarchie schon
in der Periode des Frühkonstitutionalismus 1848/49Ö mit der in Aussicht genom
menen Schaffung eines Reichsgerichts^ auf dem Weg zum Durchbruch gewesen. Die
Verw'irklichimg hat ~ nach dem vorläufigen Ende des Konstitutionalismus seit 1852
- aber erst die auf Initiative des Reichsrats im Dezember 1867 erlassene konstitutio
nelle Verfassung angebahnt. Das Parlament hat dadurch nicht nufah der Konkretisie-
rung der Veifassungsgerichtsbarkeit durch ihre Institutionalisierung in einem Reichs
gericht einen maßgeblichen Anteil genommen, sondern wegen der Mitwirkung bei der
Ernennung der Verfassungsrichter auch eine weitreichende Einflussnahme auf dessen
Zusammensetzung behalten.
II. D as R e i c h s g e r i c h t der V e rf a s s u n g von 1867;
A) Wesen lind Kompetenzen:
Die Initiative zur Ausarbeitung dieser Verfassung ist vom Abgeordnetenhaus des
Reichsrats ausgegangen. In Bezug auf die Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbar
keit ist man dort im Verfassungsausschuss bewusst zu den Reichsgerichts-Konzepten
der Verfassungstradition des Frühkonstitutionalismus von 1848/49 zurückgekehrt^).
Bedingt durch den Ablauf der Verfassungsarbeiten, die bereits im Juli 1867 zur Ein
richtung eines Staatsgerichtshofs zur Handhabung der Mmisterverantvmrtlichkeit ge-
fülirt habend, ist dieses für das konstitutionelle Staatsrecht wesentliche Instrument
zur Sicherung der Verfassung der Kompetenz des Reichsgerichts entzogen worden’).
Nachdem auch die Schaffung eines Verwaltungsgerichtshofs in Aussicht genommen
worden war, wurde im Verfassungsausschuss, um die Zahl der geplanten Höchstge
richte aus ökonomischen Erwägungen nicht noch weiter zu vermehren, vereinzelt
- freilich erfolglos - angeregt, die Funktion des Staatsgerichtshofs dem Reichsge
richt zuzuweisciri). Darüber hinaus wurde vom Verfassungsausschuss auch jegliche
Willi Geiger (Tübingen 1974), 827ff., besonders 827, und 840ff.; R u d o l f Hoke,
Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der deutschen
Staatsgericht.sbarkeit, in: C h r i s t i a n S t a r c k / K l a u s St ern (Hgg.), Landesverfas-
sungsgericlrsbarkeit, 2 Bände (Tübingen 1976), I, 25ff., 56-60; U lr ic h Scheu-
ne r. Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhun
dert, in; C h r i s t i a n S t a r c k (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 2
Bände (Tübingen 1976), I, Iff., besonders 22ff., 28-33; G e r h a r d R o b b e r s , Die
historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Juristische Schulung 30
(1990), 257ff., 261.
^) Die Gesetzgebung Österreichs, erläutert aus den Reichsrats-Verhandlungen, 2
Bände (Wien 1868), hier I; B a r b a r a H a id er , Die Protokolle des Verfassungsaus
schusses des Reichsrates vom Jahre 1867 (Wien 1997), 105, 192. - Bestätigt durch
den vom Subcomite des Verfassungsausschusses bestellen Referenten, Abgeordne
ter Sturm, der zum Konzept des Entwurfs für den geplanten Grandrechtskatalog lapi
dar bemerkte: „Alles 1849!“; vergleiche auch den Bericht der juridischen Kommissi
on des Herrenhauses, wo konstatiert wurde, dass „fast alle Bestimmungen, zum Teile
wortgetreu, in der Verfassung ... 1849 aufgenommen waren“; Gesetzgebung, 409f.
Ö L e h n e (o. Anm. 3), 668; L u d w i g A d a m o v i c h , Zur Judikatur des Ver-
fassimgsgenchtshofes, (österreichische) Zeitschrift für öffentliches Recht 4 (1925),
422f.; G u s : a v S e id le r, Minister, B. Ministerverantwurtlichkeit, E r n s t M isc h-
l e r / J o s e f U l b r i c h (Hgg.), Österreichisches Staatswörterbuch, 4 Bände (2. Aufl.
Wien 1905-1909), III (1909), 612ff.; F r a n z H a u k e , Die Lehre von der Minister
verantwortlichkeit (Wien 1880); F r i e d r i c h Tez ner , Die rechtliche Stellung des
österreichischen Gesamtministeriums, Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche
Recht der Gegenwart 22 (1895), 251; Flaider (o. Anm. 5), 98ff.
'') Seine 24 Mitglieder waren zur Hälfte von den beiden Kammern des Reichs
rats durch Wahl zu bestimmen - die Wahlen waren bereits im Oktober 1867 erfolgt:
StenProtAR Fv730,3. Oktober 1867,720f.; StcnProtHH, IV /10,15. Oktober 1867,140.
^) H a i d e r (o. Anm, 5), 115, 206ff
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Kontrolle und damit Beschränkung der gesetzgebenden Gewalt durch die richterliche
Gewalt abgelehnri). Das Reichgericht konnte daher - ohne Kompetenz zur Normen
kontrolle - nicht als „Regulator des ganzen verfassungsmäßigen Organismus“**®) an
gesehen werden. Gefahren, die der Verfassung vom Gesetzgeber drohten, wurden aber
auch kaum gesehen. Der Wirkungskreis des Reichsgerichts ist im Übrigen auf jene
Aufgaben konzentriert”) geblieben, die ihm ohne wesentliche Beschränkung der rich
terlichen und exekutiven Gewalt eingeräumt werden konnten*^). Es war für die Ent
scheidung von Kompetenzkonflikten*^) zwischen Justiz und Verwaltung’^ sowie von
Organstreitigkeiten z\^dschen staatlicher Hoheits- und der Selbstv'erwaltung der Länder
zuständig. Neben dieser schiedsgerichtlichen Funktion war es außerdem dazu berufen,
der Staatsgerichtshof - auch politische. Das Reichsgericht als „Schlußstein“ des neu
en Verfassungsorganismus^^) war als der „Hort der in der Verfassung gewährleisteten
politischen Rechte“ gedacht und als Garant der „wirklichen Trennung der Verwaltung
von der Justiz“ vorgesehen.
Aus dieser Charakterisierung e ^ ä r t sich auch die parlamentarische Mitwirkung
bei der Auswahl der Richter des Reichsgerichts. Sie sollte zur Verstärkung der Unab
hängigkeit seiner Erkenntnisse beitragerf^), aber dem Reichsgericht auch das Attribut
eines „Volksgerichts“ verleihet“*). Der Bestellungsmodus ist überdies noch durch die
Absicht des Parlaments motiviert gewesen, den Einfluss der Regierung auf die Ver
fassungsgerichtsbarkeit zu beschränken. Zum Teil hat sich damit auch die Erwartung
verbunden, dass sich aufgrund der parlamentarischen Vorschläge eine Verteilung der
Richterstellen auf möglichst alle Länder und juristischen Berufe einstellen werde. Das
Reichsgericht sollte dadurch - wie der Referent der vom Justizministerium zur Vor-
bereitimg des Organisationsgesetzes für das Reichsgericht eingesetzten Kommission
es ausdrückte - eine Einrichtung nach Art der Kronjuristen Englands-^) darstellen: Es
sollte ein Kollegium von unabhängigen und intelligenten Männern sein, getragen vom
Vertrauen aller Stände des Reiches. In der Debatte im Herrenhaus wurde herausgestri
chen, dass der Kaiser zwar grundsätzlich an die Vorschläge des Parlaments gebunden
sei, diese aber auch zurückweisen und neue Vorschläge fordern dürfe; umstritten war
überdies, ob er auch einen Nichtvorgeschlagenen ernennen durfte^^).
Die Ernennung auf Lebenszeit und das Qualifikationserfordemis der „Sachkun-
digkeit“ sollte seine Funktion als unabhängiges, unparteiisches und seiner hohen und
schwierigen Aufgabe gewachsenes Richterkollegium sicherstellen. Die Angehörigen
des Reichsgerichtes sind nicht wie andere Richter einer Disziplinargewalt unterwor
fen worden, eine Amtsenthebung konnte lediglich gemäß allgemeinem Strafrecht bei
Verurteilung und damit verbundener Folge des Verlusts eines öffentlichen Amtes ein-
tretetf ^). Das Erfordernis von Sachkunde sollte nicht nur allgemeine Rechtskenntnisse
einschließen, sondern auch spezielle Gesetzeskenntnisse, außerdem „Geschäftsge
wandtheit“, also praktische Erfahrung, und wissenschaftliche Bildung^®).
Infolge der übereilten parlamentarischen Ausarbeitung der Staatsgrandgesetze im
Dezember 1867 konnten nicht alle Fragen zur Wirksamkeit des Reichsgerichts er
schöpfend geregelt werden. Die nähere Bestimmung über die Organisation, das Ver
fahren sowie den Vollzug der Entscheidungen und Verfügungen des Reichsgerichts
ist gemäß Reichsgerichts-Staatsgrundgesetz (Art. 6) einem besonderen Gesetz zur
Ausführung Vorbehalten worden, das Mitte April 1869^’) geschaffen wurde^“). Bei
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nur zu Sitzungen nach den Erfordernissen des Geschäftsanfalls nach Wien kommen;
auswärtige Mitglieder konnten daher ihre bisherigen Berufsstellungen fortführen” ).
Zu jeder Sitzung waren alle Mitglieder zu laden; im Falle der Verhinderung von Mit
gliedern mussten die Ersatzmänner nach der Reihenfolge ihrer Ernennung einberufen
werden. Der Präsident wurde im Falle seiner Verhinderung von seinem Stellvertreter
vertreten. Zur Schöpfung eines Erkenntnisses war ein Präsenzquorum von wenigstens
acht Stimmführern neben dem Vorsitzenden, dem Präsidenten oder seinem Stellver
treter, erforderlich^®).
C. P a rla m en ta risch e N om ination u n d kaiserliche E rnennung:
Nach der Kundmachxmg des Organisationsgesetzes kam es im Mai 1869 zur ers
ten Besetzung des Reichsgerichts. Der Präsident und sein Stellvertreter wurden wie
vorgesehen vom Kaiser allein ernannt” ). Bei der Ernennung der zwölf Mitglieder
und vier Ersatzmänner hatte er sich an den dazu vom Reichsrat, je zur Hälfte vom
Abgeordneten- und vom Herrenhaus erstatteten Vorschlägen, zu orientieren. Über die
se Besetzungsvorschläge wurde im Abgeordnetenhaus jeweils ohne vorhergehende
Zuweisung an einen bestimmten Ausschuss abgestimmt. Der Abstimmung am 13. Mai
1869 ging allerdings eine vertrauliche Vorbesprechung der Klubobmänner voraus, in
der eine Vereinbarung über die Besetzungsvorschläge und das bei der Abstimmung
zugrunde liegende Verfahren getroffen wmrde'’®)- 1™ Herrenhaus war die vereinigte
juridisch-politische Kommission mit der Vorbereitung der Abstimmung betraut. Es ist
bei der ersten Abstimmung am Nachmittag des 13. Mai 1869 aber zu einer Abstim
mungspanne gekommen, so dass die Abstimmung in einer Sondersitzung am Abend
wiederholt werden musste'^’).
Nicht alle dem Kaiser präsentierten Kandidaten haben in den beiden Häusern eine
einhellige Zustimmung gefunden und der Kaiser hat bei der am 9. Juni 1869'^^) er
folgten ersten Ernennung auch nicht immer auf jene Kandidaten gegriffen, denen die
meisten Stimmen zugefallen waren: Bei sechs von den acht der vom Herrenhaus be
schlossenen Dreier-Vorschläge (Tema) hat er sich etwa für Anton Hye“*^), den späteren
langjährigen Referenten des Reichsgerichts, sowie für Josef linger^), dessen späteren
ger hatte bloß zwei Stimmen weniger als der vor ihm Gereihte; ferner ebenfalls mit
weniger Stimmen als andere Nominierte als Mitglied ernannt Ferdinand Julius Que-
sar, als Ersatzmänner Ludwig Holzgethan und Thaddäus Merkl.
“*^) StenProtAH, IV/201, 13. Mai 1869, 6235f.; ferner auch - trotz weniger Stim
men als andere Nominierte - ernannt: Johann Kiechl (Oberlandesgerichtsrat Inns
bruck) und Josef Suppen (Advokat aus Laibach, er hatte sogar 67 (!) Stimmen weni
ger als die beiden anderen Vorgeschlagenen erhalten).
‘*®) Zum Folgenden siehe unten den Anhang: Organisation des Reichsgerichts
1869-1918.
“*’) Zwei Mitglieder sind nach ihrem infolge der Übernahme von politischen Funk
tionen erfolgten Ausscheiden aus dem Reichsgericht abermals zu Mitgliedern ernannt
worden: Leo Pininski und Hermann Loebl; Pininski war zunächst auf Vorschlag des
Abgeordnetenhauses (StenProtAH, XI/258, 26. Februar 1894, 12404) von 1894 bis
1898 Mitglied des Reichsgerichts, danach wurde er zum Statthalter in Galizien er
nannt, schied aus dem Reichsgericht aus und wurde nach Beendigung dieser Funkti
on (1903) auf Vorschlag des Herrenhauses (StenProtHH, XVIII/5, 23. Juli 1907, 51)
1907 neuerlich zum Verfassungsrichter ernannt; Loebl wurde zweimal (1896-1898
und 1898-1907) auf Vorschlag des Herrenhauses zum Mitglied des Reichsgerichts
ernannt (StenProtHH, XI/73, 11. März 1896, 912; ebd. XIV/2, 5. April 1898, 20), er
war dazwischen Landesminister für Galizien.
'***) Alphabetisch gereiht: Apfaltrem (Mitglied -> Stellvertreter des Präsidenten),
Aull (Ersatzmann -> Mitglied), Beraatzik (Ersatzmann -> Mitglied), Czoemig (Er
satzmann -> Mitglied), Cz>’’hlarz (Ersatzmann -> Mitglied), Exner (Ersatzmann A
Mitglied), Feistmanlel (Ersatzmann A Mitglied), Grabmayr (Stellvertreter des Prä
sidenten A Präsident), Habietinek (Mitglied A Stellvertreter des Präsidenten), Haßl-
wanter (Ersatzmann A Mitglied), IGall (Ersatzmann A Mitglied), Loebl (Ersatzmann
A Mitglied), Menzel (Ersatzmann A Mitglied), Ott Emil (Mitglied A Stellvertre
ter des Präsidenten), Pattai (Ersatzmann A Mitglied), Pininski (zweimal Mitglied),
Pursclika (Ersatzmann A Mitglied), Randa (Mitglied A Stellvertreter des Präsiden
ten), Scharfen (Ersatzmann A Mitglied), Stöger (Ersatzmann A Mitglied), Lfnger
(Mitglied A Präsident).
’Ü Von den zwölf auf Vorschlag des Abgeordnetenhauses ernannten Ersatzmän
nern sind je zwei von diesem bzw. vom Herrenhaus zu Mitgliedern vorgeschlagen
w'orden; von den 19 auf Vorschlag des Herrenhauses ernannten Ersatzmännern sind
acht vom Flerrenhaus und einer vom Abgeordnetenhaus auch zu Mitgliedern vorge
schlagen worden.
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zum Präsidenten aufgerückt, ferner ist einer der Stellvertreter zum Präsidenten berufen
worden, ohne davor jemals Mitglied oder Ersatzmann gewesen zu sein. Das Parlament
hat - von den Präsidialflmktionen abgesehen - durch die seinen beiden Häusern einge
räumten Vorschlagsrechte auf die Besetzung aller übrigen Richterstellen, also auf die
Ernennung von mehr als 75 Verfassungsrichtem, am Reichsgericht einen mittelbaren
Einfluss nehmen können.
Im Herrenhaus ist mit der Vorbereitung der entsprechenden Vorschläge für die
Abstimmungen im Plenum immer die juridisch-politische Kommission befasst ge
wesen^®). Im Abgeordnetenhaus sind bloß vertrauliche Vorbesprechungen der Klub-
obmärmer vorausgegangen, ein Umstand, der auch Kritik^’) hervorgerufen hat, weil
dadurch Abgeordneten, die keinem der größeren Klubs angehört haben, jede Möglich
keit genommen wurde, sich mit anderen Abgeordneten zu besprechen, um allenfalls
eine andere Liste aufzustellen. Deshalb konnten sie - außer durch Nichtzustimmrmg
zu den Vorschlägen der größeren Klubs - auf die Zusammensetzung der Kandidaten
listen keinen Einfluss nehmen.
Der Kaiser hat sich hei seinen Emeimungen stets an die Vorschläge des Reichsrates
gehalten; er hat aber zunächst nicht immer den in den jeweiligen Dreiervorschlägen
mit den meisten Stimmen an erster Stelle gereihten Kandidaten ernannt“ ). Eine Ab
stufung innerhalb des Dreien'orschlages ist gesetzlich auch nicht vorgesehen gewe
sen, so dass von einer Parität aller drei zur Ernennung durch den Kaiser nominierten
Kandidaten ausgegangen werden konnte. Dass die Reihenfolge der Nominierten als
ein Kriterium für eine Lokalisierung angesehen werden konnte, ist ursprünglich in
keinem der beiden Häuser des Reichsrates vertreten worden. Im Herrenhaus wurden
anlässlich der Abstimmung über die Nominierungsvorschläge für die erste Besetzung
des Reichsgerichts allerdings Bedenken dahingehend geäußert, dass eine Reihung
„gegenüber der Krone eine Pression“ bedeuten würde und es „für die Krone peinlich“
sein könnte, „nicht den ersten zu nehmen“” ). Dessen ungeachtet hat sich die Auffas
sung, dass die Reihung der Nominierten als eine Lokalisierung anzusehen war, aber
allmählich - gleichsam als ein iisvs p ra e te r, werm nicht sogar contra leg e n f^) - ein
gebürgert: und zwar im Herrenhaus schon um 1875” ), und damit wesentlich früher als
im Abgeordnetenhaus, wo die Übung, die Kandidaten in den Emennungsvorschlägen
p r im o , secu n d o und tertio loco zu reihen, regelmäßig erst seit etwa. 1890^®) za beob
achten ist.
Im Abgeordnetenhaus haben zwar schon die ersten NominienmgsVorschläge im
Mai 1869 keine Stimmeneinhelligkeit geflmden, mit der Festlegrmg einer Reihung
wurde es aber schwieriger, die erforderlichen Mehrheiten zu finden^’)- Bedingt durch
die Einführung der Volkswahl seit 1873 kam es auch zu einer stärkeren Gliederung
des Abgeordnetenhauses^*) in Klubs, so dass eine Mehrheit für den an erster Stelle
gereihten Kandidaten nur bei einer entsprechenden Stärke der Partei, welche diesen
Kandidaten nominiert hat, erzielt werden konnte^’)- Kandidaten, die von anderen Par-
teigruppierangen erst an zweiter oder gar an dritter Stelle vorgeschlagen worden sind,
hatten daher - außer bei Ablehmmg der Ernennung durch die oder den Vorgereihten
- keine Aussicht, vom Kaiser emarmt zu werden. Anlässe für Nachwahlen sind freilich
selten geblieben, nur einmal ist es im Abgeordnetenhaus notwendig geworden, einen
zweiten Wahlgang vorzunehmen, nachdem im ersten Wahlgang nur ein Kandidat die
erforderliche Mehrheit erhalten hatte®®)-
Der Kaiser hat sich jedenfalls in der Folge immer an die Reihung der beiden Fläu-
ser des Reichsrates gehalten®’). Nur zweimal, nämlich 1873 und 1901, musste vom
Abgeordnetenhaus die Erstattung eines neuen Dreiervorschlags für die Besetzung ei
ner Reichsgerichtsstelle angefordert werden: im ersten Fall, weil keiner der zunächst
Vorgeschlagenen die für die Funktion als Ersatzmann erforderliche Verlegung des
ständigen Wohnsitzes nach Wien auf sich nehmen wollte®’^); im zweiten Fall, weil
der Vorschlag des Abgeordnetenliauses infolge der Schließung der laufenden Sessi
on und anschließender Auflösung des Reichsrates seine Rechts Wirksamkeit verloren
hatte®*)-
*®) StenProtAH, X/170, 27. Mai 1887, 6258 (Nomination eines Mitglieds zur Er
nennung am Reichsgericht); StenProtAH, XIII/384, 25. Mai 1895, 19105 (Nominati
on eines Ersatzmannes zur Ernennung am Reichsgericht).
” ) H u g e l m a n n (o. Anni. 55), 325 Anm. 3.
Ebd., 323ff
*®) Einhelligkeit im Abgeordnetenhaus wurde fallweise erzielt; Teilweise bei
den Abstimmungen über die Dreiervorschläge für die erste Ernennung: StenPro
tAH, IV/201, 13. Mai 1869, 6235f.; ferner ebd. XI/258, 26. Februar 1894, 12404;
ebd. XVF14, 16. November 1899, 842; ebd. XVH/276, 2. Mai 1904, 24937; ebd.
XVII/305, 27. Juni 1905, 30535; ebd. XVHF34, 19. November 1907, 2631f.; ebd.
XIX/117, 13. November 1912, 5856. - Im Herrenhaus wmrde bei den Abstimmun
gen über die ersten Emennungsvorschläge 1869 niemand einstimmig gewählt; ein
stimmige Ergebnisse zeigen: StenProtHH VIIF18, 25. April 1874, 201; ebd. 1X129,
19. Februar 1881, 329; ferner sind alle w^eiteren bis 1898 entweder „einhellig“ oder
„einstimmig“ erfolgt; ab 1898 fehlen die Stimmenergebnisse, seit 1905 (StenProtHH,
XVII/48, 5. Mai 1905, 995) sind fast nur mehr Ergebnisse „mit absoluter Mehrheit“
festzustellen.
“ ) StenProtAH, VlIl/204 und 205, 11. und 14. November 1876, 7001 und 7005f.
H u g e l m a n n (o. Anm. 55), 324f. - Bei der ersten Emeimung sind aber die
Fälle, in denen der Kaiser auch auf den Kandidaten mit der geringsten Stiramenzahl
zurückgegriffen hat, nicht selten gewesen; Siehe oben bei Anm. 45.
®) StenProtAH, VII/65, 3. März 1873, 12941'.; ebd. VII/82, 31. März. 1873, 1710
(Mitteilung des Ministeqrräsidenten über die Notwendigkeit der Erstattung eines neu
en Dreiervorschlags).
®) StenProtAH, XVI/43, 12. März 1900, 2908; der Vorschlag hat danach infolge
Schließung der Session am 8. Juni und anschließender Auflösung des Reichsrats am
7. September seine Wirksamkeit verloren; ebd. XVI/Chronik, 1288.
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mentarischen Funktionen gestanden. Von den übrigen, auf Vorschlag der beiden Häu
ser des Reichsrates ernannten Inhabern der insgesamt 90 Mitglieder- und Ersatzmän
nerstellen sind von 1869 bis 1918 etwa zwei Drittel in parlamentarischen Funktionen
zu finden; davon fast zwei Drittel im Herrenhaus und fast ein Drittel im Abgeordne
tenhaus^'*) und die übrigen, gut zwei Zehntel, in Landtagen, zumeist zugleich neben
einer Funktion im Reichsraf’). Unter den Mitgliedern ist der Anteil der Parlamentarier
mit etwa drei Viertel wesentlich höher gewesen, als unter den Ersatzmännern mit bloß
knapp einem Drittel.
Politische Verbindungen von Angehörigen des Reichsgerichts haben sich auch
durch andere politische Funktionen und Staatsämter ergeben. Sie sind auf allen Ebe
nen des Staates feststellbar. So sind fünf Verfassungsrichter aus dem Bereich der kom
munalen Selbstverwaltung gekommen’®) und weitere fünf aus der Landesselbstverwal
tung’®). Darüber hinaus können 17 Richter des Reichsgerichts als Träger von höheren
nek, Steinbach, Randa, Schönborn, Grabmayr und Emil Ott waren sämtlich Mitglie
der des Herrenhauses; Schönborn war früher auch Abgeordneter zum Landtag Böh
mens und im Abgeordnetenhaus, Grabmayr früher Abgeordneter zum Landtag Tirols
und Mitglied der Herrenhaus-Delegation der Gesamtmonarchie und Ott früher Abge
ordneter zum Landtag von Böhmen.
’^) Von den ständigen Mitgliedern des Reichsgerichts gehörten dem Herren
haus des Reichsrats an: Apfaltrem, Badeni, Chorins^, Czartoiy^ski (zeitweise Präsi
dent), Czyhlarz (auch Abgeordneter im Landtag Böhmen), Exner, Giuliani, Habieti-
nek, Haslmayr, Hye, Koemer, Lienbacher (auch Abgeordneter im Landtag Salzburg),
Lobkowicz, Loebl, Maaßen (auch Abgeordneter im Landtag Steiermark), Madeyski
Stanislaus, Pattai (auch Abgeordneter im Landtag Niederösterreich), Pfaff, Pininski,
Randa, Resti-Ferrari, Scharschmid Max, Srom, Starzynski, Stöger, Unger (auch Ab
geordneter im Landtag Niederösterreich und Böhmen), Windischgraetz (zeitweise
auch Präsident des Herrenhauses); dem Abgeordnetenhaus: Hartig (auch Abgeordne
ter im Landtag Böhmen), Jaworski (auch Abgeordneter im Land^ Galizien), Koer-
ner (auch Abgeordneter im Landtag Böhmen), Madeyski Stanislaus (auch Abgeord-
neter im Landtag Galizien), Palffy (auch Abgeordneter im Landtag Böhmen), Pattai
(zeitweise Präsident), Pininski (auch AbgeordneteL im,Landtag Galizien), Schar
schmid Max (auch Abgeordneter im" Landtag Böhmen), Srom,'‘Stär2y'nsE (auch Ab-
geordneter im Landtag Galizien), Suppan, Sylvester (Obmann der DemscHeiTVoIks-
partei), Zacek (zeitw'eise Vizepräsident; auch Abgeordneter im Landtag Mähren),
Ziemialkowski (zeitweise Vizepräsident; auch Abgeordneter im L antog Galizien so
wie im Reichstag von 1848/49), Zyblikiewicz (auch Abgeordneter tm X ^d täg T jilb
'zieh3r’’’V onB en31 Ersatzmännern gehörterTdem HenFnEäüsan: ExherTHaßlwanter,
Pace, Scharschmid Franz, Stöger; dem Abgeordnetenhaus: Pattai (auch Abgeordne
ter zum Landtag Niederösterreich) und Oftier (auch Abgeordneter zum Landtag Nie
derösterreich); Landtagen gehörten außerdem an: Czyhlarz (Böhmen), Grübl (Nie
derösterreich), Wolffhardt (Steiermark).
” ) Von den Verfassungsrichtem gehörten Landtagen an: Jaworski, Madeyski
Stanislaus, Zyblikiewicz, Pininski, Starzynski und Ziemialkowski (alle Galizien);
Czy'hlarz, Hartig, Koemer, Palffy, Scharschmid Max und Unger (Bölunen); Grübl.
Pattai und Unger (Niederösterreich); Maaßen und Wolffhardt (Steiermark); Zacek
(Mähren); Lienbacher (Salzburg); Kiechl (Tirol); Esser (Oberösterreich, auch Ob-
marm des Chiistlichsozialen Vereins).
’*) Drei waren zur Zeit ihrer Ernennung zu Verfassungsrichtem Bürgermeister:
Ziemialkowski (Lemberg), Rudolf Ott (Brünn) und Suppan (Laibach); zw-ei w^eite-
'TWwlireirvörTlu-er Berufung an das Reichsgericht Bürgemieister: Zyblikiewicz (Kra-
kan) und Grübl (Wien).
’’) Zwei waren zur Zeit ihrer Ernennung zu Verfassungsrichtem Landeshaupt
männer: Srom und Zacek (beide Mähren); Lienbacher war Mitglied des Landesaus-
С. Neschwara, Österreichs Reichsgericht nach 1869 323