S uhrkamp
I ;
2 3 4 5 6 - 10 09 08 07 06 05
Inhalt
V o rw o rt................................................................................................. 7
Norman Malcolm
Gedankenlose T ie re ............................................................................ 77
Stephen P. Stich
Haben Tiere Überzeugungen?................ 95
D onald Davidson
Rationale Lebew esen.......................... 117
John R. Searle
Der Geist der T ie r e ............................................................................ 132
Hans-Johann Glock
Begriffliche Probleme und das Problem des Begrifflichen . . . . 153
Ruth G. M illikan
Verschiedene Arten von zweckgerichtetem Verhalten ................... 201
F red Dretske
Minimale Rationalität................ 213
Jo elle Proust
Das intentionale T ie r ........................................................................... 223
D avid Papineau
Die Evolution des Zweck-Mittel-Denkens 244
John Dupre
Gespräche mit Affen. Reflexionen über
die wissenschaftliche Erforschung der Sprache .......................... 295
Kim Sterelny
Primatenwelten................................................................................... 357
IV. Bewusstsein
D aniel C. Dennett
Das Bewusstsein der Tiere: Was ist wichtig und warum? . . . . 389
D aisie Radner
Heterophänomenologie:
Wie wir etwas über die Vögel und die Bienen lernen................. 408
Bibliographie..................................................................... 427
H inweise zu den Autorinnen und Autoren ............................. 441
Textnachweise......................................... 444
In d e x .................................................................................................... 446
Vorwort
1 » ... keine Wahrheit erscheint mir offenkundiger, als dass Tiere, genauso wie der
Mensch, mit Denken und Vernunft ausgestattet sind. Die Gründe sind in diesem
Falle so offensichtlich, dass sie nicht einmal dem Dümmsten und Unwissendsten
entgehen.«
2 »Also haben die Tiere weder Intelligenz noch Seele, wie man es gewöhnlicherweise
versteht. Sie fressen ohne Vergnügen, sie schreien ohne Schmerz, sie wachsen, ohne
es zu wissen: sie ersehnen nichts, sie fürchten nichts, sie wissen nichts ...«
7
unter einem Geist überhaupt zu verstehen ist und unter welchen Be
dingungen wir bereit sind, einem Lebewesen einen Geist zuzuschrei
ben. Die in diesem Band versammelten Beiträge, die aus der analyti
schen Gegenwartsdebatte stammen, greifen diese zentralen Fragen
auf und erörtern sie in sprachphilosophischer, erkenntnistheoreti
scher und wissenschaftstheoretischer Perspektive. Sie verdeutlichen
auf exemplarische Weise, dass die Tiere einen Testfall für Theorien
des Geistes darstellen. Denn am Beispiel der Tiere zeigt sich, wie trag
fähig solche Theorien sind, welche Phänomene sie zu erklären vermö
gen und bis zu welchem Grad sie unseren unterschiedlichen Intui
tionen gerecht werden.
M it diesem Band wird zum ersten M al in deutscher Sprache eine
philosophische Debatte dokumentiert und weitergeführt, die im an
gelsächsischen und französischen Sprachraum schon seit geraumer
Zeit einen wichtigen Platz einnimmt. Durch die enge Verknüpfung
mit Forschungsdiskussionen in den empirischen Wissenschaften -
insbesondere in der kognitiven Ethologie, in der evolutionären An
thropologie und in der vergleichenden Psychologie - hat sie in den
letzten Jahren sogar noch an Bedeutung gewonnen. Die Aufsätze in
diesem Band sollen die wichtigsten Problemstellungen aufzeigen, Lö
sungsansätze vorstellen und unterschiedliche methodische Ansätze
verdeutlichen. Die ausführliche Einleitung verfolgt das Ziel, die ganze
Debatte systematisch und historisch einzuordnen, Entwicklungs
linien nachzuzeichnen, Verbindungen zur kognitiven Ethologie her
zustellen und einige Grundlagenprobleme zu diskutieren. Natürlich
sollen die Leserinnen und Leser innerhalb und außerhalb der Philo
sophie angeregt werden, die thematisierten Fragen aufzugreifen und
selbständig weiterzuverfolgen.
Der vorliegende Band wäre ohne die Unterstützung zahlreicher
Personen und Institutionen nicht zustande gekommen. Unser erster
Dank richtet sich an die Autorinnen und Autoren der Beiträge, die
von Anfang an großes Interesse an einem deutschen Sammelband
zeigten und uns großzügig die Übersetzungsrechte überließen. Auch
den Verlagen sind wir für die Erteilung der Übersetzungslizenzen
dankbar. Gabi Weber sind wir für die Mitarbeit an den Übersetzun
gen zu Dank verpflichtet, Sophia Pick für die sorgfältige Überarbei
tung und stilistische Vereinheitlichung sämtlicher Übersetzungen,
Floriana Müller, Stephan Schmid und Simone Ungerer für die Hilfe
bei Recherchen und letzten Überarbeitungen. Der Carl und M ax
Schneider-Stiftung danken wir für eine finanzielle Unterstützung der
Übersetzungsarbeit. Schließlich sei allen Teilnehmerinnen und Teil
nehmern an unserem Seminar »Der Geist der Tiere« an der Hum
boldt-Universität zu Berlin (Sommersemester 2004) für Hinweise
zu den Texten und anregende Diskussionen gedankt.
9
Dominik Perler und Markus Wild
Der Geist der Tiere - eine Einführung
io
wusstseins haben wir so etwas wie eine »Innenwelt« und unterschei
den uns von jenen Organismen, die nichts erleben und nichts fühlen.
Zweitens schreiben wir uns und unseren Mitmenschen auch einen
Geist zu, weil wir über intentionale Zustände verfügen, d. h. über Z u
stände, die sich auf etwas (Gegenstände, Ereignisse, Sachverhalte
usw.) beziehen. Dies gilt bereits für simple Wahrnehmungszustände;
denn wir sehen oder riechen nicht einfach, sondern wir sehen etwas,
z. B. das helle Licht oder dass das Licht heller wird, und riechen etwas,
z. B. den Rosenduft. Ebenso sind auch unsere Wünsche und Begier
den intentional. Im Gegensatz zu den Pflanzen verlangen wir tatsäch
lich etwas, z. B. Wasser, und wir wollen etwas, z. B. dass wir an die
frische Luft kommen. Die intentionalen Zustände befähigen uns
dazu, die Umwelt in einer bestimmten Perspektive zu erfassen und
unser Handeln entsprechend auszurichten. Wenn wir uns nämlich
wahrnehmend oder wünschend auf etwas beziehen, tun wir dies nicht
schlechthin, sondern unter einem gewissen Aspekt, und genau die
ser bestimmt unser Handeln. So sehen und wünschen wir nicht ein
fach Wasser, sondern Wasser als ein durstlöschendes Getränk; dies
veranlasst uns dazu, nach dem Wasser zu greifen, wenn wir durstig
sind. Darin unterscheiden wir uns wiederum von den Pflanzen, die
keinen perspektivischen, handlungsbestimmenden Zugang zur Welt
haben. Sie sehen und wünschen Wasser ja nicht als etwas Durst
löschendes, sondern sind einfach Prozessen der Hydration und De
hydration unterworfen.
Drittens halten wir es für selbstverständlich, Menschen einen Geist
zuzuschreiben, weil Menschen über eine Sprache verfügen. Darunter
ist nicht einfach eine Ansammlung von Lauten oder Buchstaben
zu verstehen, sondern ein System von konventionell festgesetzten
Zeichen, die eine Bedeutung haben, im Normalfall auf etwas Be
zug nehmen und in einem bestimmten Kontext zu bestimmten Zwe
cken verwendet werden. Dank der Sprache gelingt es uns, die Umwelt
zu beschreiben, in verschiedene Kategorien einzuteilen und uns mit
anderen über die Kategorisierung zu verständigen. Dies tun wir vor
allem, indem wir prädikative Aussagen über Dinge in unserer Um
welt bilden, etwa indem wir sagen: »Hier scheint helles Licht« oder
»In jener Ecke ist es dunkel«. Auch dadurch unterscheiden wir uns
in eklatanter Weise von den Pflanzen, die keine derartigen Aussagen
äußern und nichts kategorisieren können. Sie sind nicht in der Lage,
das Prädikat >Licht< zu bilden und auf die Lichtquelle anzuwenden,
ii
der sie sich entgegenstrecken. Noch viel weniger sind sie imstande,
dieses Prädikat von anderen Prädikaten, etwa von >Dunkelheit<, zu
unterscheiden. Und natürlich können sie auch nicht anderen mittei-
len, dass helles Licht scheint. Für sie gibt es zwar Licht als ein natür
liches Umweltphänomen, aber sie können es nicht als Licht beschrei
ben.
Viertens schließlich erachten wir die Zuschreibung eines Gei
stes bei Menschen für selbstverständlich, weil wir Menschen aus Be
obachtungen und Feststellungen korrekte Schlüsse ziehen können
und zu folgerichtigen Überlegungen fähig sind - oder allgemein aus
gedrückt: weil wir zu logischem Denken imstande sind. So können
wir etwa sagen: »Wenn Licht brennt, ist es hell; es brennt Licht; also
ist es hell.« Zur Anwendung eines solchen simplen Modus ponens
sind wir alle fähig, und zwar auch dann, wenn wir nie einen Logik
unterricht besucht und den entsprechenden Fachausdruck nie gelernt
haben. Wir verfügen nämlich über eine natürliche Fähigkeit, logische
Schlüsse zu ziehen. Auch darin unterscheiden wir uns von den Pflan
zen, die lediglich gemäß einem genetischen Programm ein bestimm
tes Verhalten zeigen, aber nie in Bezug auf ihr eigenes Verhalten oder
die Umweltbedingungen Schlüsse ziehen können.
Es fällt uns ziemlich leicht, Menschen von Pflanzen zu unterschei
den. Doch wie steht es mit den Tieren? Können wir auch ihnen einen
Geist zuschreiben? Oder sollten wir sie ähnlich wie die Pflanzen als
geistlose Lebewesen bezeichnen? Betrachtet man die bislang genann
ten Kriterien, muss man offensichtlich antworten, dass die Zuschrei
bung eines Geistes nur möglich ist, wenn wir den Tieren phänome
nales Bewusstsein, intentionale Zustände, Sprache und logisches
Denken zuschreiben können. Je nach Standpunkt könnte man for
dern, dass nur eines dieser Kriterien (Minimalforderung) oder alle
vier Kriterien (Maximalforderung) erfüllt sein müssen.1 Eine solche
Forderung wirft indessen eine Reihe von Problemen auf.
i Natürlich könnte man die einzelnen Kriterien auch miteinander verketten, etwa
indem man behauptet, dass nur Lebewesen mit Bewusstsein über intentionale Zu
stände verfügen oder dass umgekehrt nur intentionale Lebewesen auch ein Bewusst
sein haben können. Zudem lässt sich die Liste mit den Kriterien variieren, z. B.
indem man die Fähigkeit zu Emotionen hinzufügt oder die Fähigkeit zu logischem
Denken als eine höherstufige Fähigkeit, die nicht für jeden Geist erforderlich ist,
weglässt. Liier soll nicht das Ziel verfolgt werden, eine definitive Liste der Kriterien
zu erstellen. Es sollen nur die wichtigsten Kriterien genannt werden,, die in der ak
tuellen Tierdebatte immer wieder zitiert werden. Für weitere Kriterien vgl. J. Proust,
12
Das erste und schwierigste Problem ist methodologischer Art. Wie
können wir überhaupt feststellen, ob Tiere eines oder alle vier Kri
terien erfüllen? Nehmen wir einmal an, wir könnten uns darauf eini
gen, dass Tiere mindestens über phänomenales Bewusstsein verfügen
müssen. Wie könnten wir feststellen oder überprüfen, ob sie dieses
Bewusstsein haben? Offensichtlich können wir nur an uns selber
feststellen, wie es ist, ein bestimmtes Wahrnehmungs- oder Empfin-
dungserlebnis zu haben. Wir können aber nicht beschreiben, um
ein berühmtes Beispiel von Th. Nagel zu zitieren,2 wie es für eine Fle
dermaus ist, eine Fledermaus zu sein, oder genauer gesagt: wie es sich
für eine Fledermaus anfühlt, in einem bestimmten Wahrnehmungs
zustand zu sein und dadurch ein bestimmtes phänomenales Bewusst
sein zu haben. Aufgrund einer physiologischen und neurologischen
Analyse des Wahrnehmungsapparates von Fledermäusen können wir
höchstens Hypothesen darüber aufstellen, wie - aus unserer Sicht
betrachtet —Fledermäuse ein phänomenales Bewusstsein haben könn
ten. Aber damit gewinnen wir höchstens so etwas wie eine Außensicht
auf die Innenwelt der Fledermäuse. Die Innenwelt selbst ist uns prin
zipiell unzugänglich.
Dies ist ein grundsätzliches methodologisches Problem, das auf
eine kognitive Begrenztheit unsererseits verweist. Was auch immer
wir den Tieren zuschreiben, wir tun es immer aus unserer Sicht auf
grund unserer kognitiver Ressourcen, von denen wir nicht annehmen
dürfen, dass sie perfekt oder auch nur annähernd ausreichend sind.
Denn wer garantiert, dass die Tiere all das und nur das haben, was
wir an ihnen feststellen können? Oder wie M . Tye prägnant festhält:
>Wir sind Naturprodukte wie alle anderen Lebewesen auch. Die Welt
richtet sich genausowenig nach unseren kognitiven Begrenzungen wie
nach denen der einfacheren Lebewesen, um die es hier geht.«3 Wenn
Comment l ’esprit vient aux betes. Essai sur la representation, Paris: Gallimard 1997,
S. 7-19.
2 Th. Nagel, »What Is It Like to Be a Bat?«, in: id., Mortal Questions, Cambridge und
N ew York: Cambridge University Press 1979, S. 165-180 (dt. »Wie ist es, eine Fleder
maus zu sein?«, in: Analytische Philosophie des Geistes, hrsg. von P. Bieri, 2. Aufl.,
Weinheim: Athenäum 1993, S. 261-275).
3 M . Tye, »The Problem o f Simple Minds: Is There Anything It Is Like to Be a Honey
Bee?«, Philosophical Studies 88 (1997), S. 289 (wiederabgedruckt in: id., Conscious-
ness, Color and Content, Cambridge (Mass.): MIT Press 2000, S. 17 1 (dt. »Das Pro
blem primitiver Bewußtseinsformen: Haben Bienen Empfindungen?«, in: Bewußt-
13
wir also über Fledermäuse, Schimpansen und andere Tiere sprechen,
müssen wir uns immer bewusst sein, dass wir dies im Rahmen unserer
kognitiven Möglichkeiten tun.
Nun könnte man einwenden, dass es im Hinblick auf das phänome
nale Bewusstsein vielleicht eine kognitive Begrenzung gibt.4 Dies liegt
daran, dass es sich dabei um etwas handelt, was nur aus der Ersten-
Person-Perspektive erfasst und beschrieben werden kann. Betrachtet
man die anderen Kriterien, ergibt sich aber kein Problem, weil wir In
tentionalität, Sprache und Fähigkeit zu logischem Denken sehr wohl
aus der Dritten-Person-Perspektive beschreiben und gegebenenfalls
zuschreiben können.
Dieser Einwand zielt offensichtlich darauf ab, zwei Arten von Kri
terien zu unterscheiden: jene, die nur »von innen« (aus der Ersten-
Person-Perspektive) angewendet werden können, und jene, die »von
außen« (aus der Dritten-Person-Perspektive) anwendbar sind.5 Doch
ist es tatsächlich so einfach, Kriterien »von außen« anzuwenden?
Betrachten wir das Kriterium der Sprachfähigkeit. Empirische For
schungen mit Menschenaffen haben gezeigt, dass diese Tiere eine
Gebärdensprache (etwa »Ameslan«, die amerikanische Gebärdenspra
che ftir Gehörlose) bis zu einem gewissen Grad lernen können und
in der Lage sind, auf Fragen angemessen zu reagieren. Heißt dies, dass
sie tatsächlich über eine Sprache verfügen? Die Antwort auf diese
sein und Repräsentation, hrsg. von F. Esken und D. Heckmann, Paderborn: Mentis
1999, S. 91-92).
4 Freilich besteht diese Begrenzung dann nicht nur mit Bezug auf Tiere, sondern auch
hinsichtlich anderer Menschen. Denn wie können wir sicher sein, dass sie eine In
nenwelt haben, wenn uns diese Welt prinzipiell unzugänglich ist? Stellt man das Pro
blem in dieser Form, handelt es sich um ein generelles skeptisches Problem bezüg
lich des Fremdpsychischen. Die Tiere sind dann nur ein spezieller Anwendungsfall
dieses Problems. Streng genommen muss man sogar zwei skeptische Probleme unter
scheiden: (x) Können wir wissen, dass Tiere überhaupt einen Geist haben? (2) Kön
nen wir wissen, welche Art von Geist sie haben?
5 Diese Zweiteilung ist natürlich alles andere als selbstverständlich. Man könnte
einwenden, dass die ganze Rede von »innen« und »außen« irreführend ist und dass
auch das phänomenale Bewusstsein aus der Dritten-Person-Perspektive beschrie
ben werden kann. So plädiert M . Tye, »The Problem o f Simple Minds«, op. cit.,
dafür, dieses Bewusstsein als eine komplexe sensorische Repräsentation aufzufassen.
D. Dennett, »Das Bewusstsein der Tiere: Was ist wichtig und warum?« (in diesem
Band, S. 391-399), vertritt den Standpunkt, wir könnten auf der Grundlage physio
logischer und ethologischer Studien sehr wohl sagen, wie sich ein Wahrnehmungs
zustand für ein Tier »anfiihlt«.
14
Frage ist sehr umstritten.6 Einige Primatologen vertreten in der Tat die
Ansicht, dass Affen über eine genuine Sprache verfügen und damit
eines der Kriterien für Geistzuschreibung erfüllen. Andere behaupten,
die angebliche Sprachbeherrschung sei ein rein konditioniertes Ver
halten. Die Affen seien mithilfe bestimmter Anreize einfach dazu trai
niert worden, bestimmte Zeichen zu geben. Dieses Verhalten unter
scheide sich nicht wesentlich von jenem konditionierter Ratten, die
in bestimmten Situationen eine Taste drücken, um Nahrung zu erhal
ten. Wieder andere Forscher weisen daraufhin, dass die Affen nur ein
begrenztes Repertoire von Zeichen in immer gleicher Weise verwen
den, jedoch nicht in der Lage sind, die gegebenen Zeichen zu variieren
oder neu zu kombinieren. Angesichts dieser mangelnden Fähigkeit
zu kreativem Zeichengebrauch könne nicht von einer eigentlichen
Sprachbeherrschung gesprochen werden. Schließlich wenden einige
Forscher ein, das bloße Verwenden isolierter Zeichen stelle noch kei
nen Sprachgebrauch dar. Erst wenn ein Lebewesen fähig sei, eine syn
taktische Struktur zu erfassen, könne man ihm eine Sprache zuschrei
ben.
Bereits diese kurze (und natürlich unvollständige) Liste unterschied
licher Stellungnahmen verdeutlicht, dass hier ein grundsätzliches me
thodologisches Problem besteht. Selbst wenn es möglich ist, »von
außen« die Zeichenverwendung der Affen zu beobachten und zu
protokollieren, ist die Beobachtung immer interpretationsbedürftig.
Ob wir Schimpansen, Orang-Utans und anderen Primaten eine Spra
che zuschreiben oder nicht, hängt nicht einfach davon ab, welchen
Umgang mit Zeichen wir bei ihnen sehen, sondern wie wir diesen Um
gang im Lichte unserer eigenen Auffassung von Sprache und erfolg
reicher Sprachverwendung bewerten. Daher gilt auch hier: Wenn
wir den Tieren eine Sprache zuschreiben (oder nicht), tun wir dies
aus unserer Sicht mithilfe unserer kognitiven Ressourcen, mit denen
wir das beobachtbare Verhalten auswerten, und vor dem Ffintergrund
unserer theoretischen Annahmen darüber, was Sprache und erfolg
reiche Sprachverwendung ist. Es wäre vermessen zu glauben, es gebe
6 Vgl. J. Dupre, »Gespräche mit Affen. Reflexionen über die wissenschaftliche Er
forschung der Sprache« (in diesem Band, S. 295-322); S. Savage-Rumbaugh und
K. E. Brakke, »Animal Language: Methodological and Interpretive Issues«, in: Read-
ings in Animal Cognition, hrsg. von M . Bekoff und D. Jamieson, Cambridge (Mass.):
MIT Press 1996, S. 269-288;]. Proust, Les animaux,pensent-ils?, Paris: Bayard 2003,
S. 65-104.
15
so etwas wie interpretationsneutrale Beobachtungen und allgemein
akzeptierte Kriterien, die es uns erlauben, ein für alle M al festzustellen,
ob Tiere einen Geist haben.
Da wir Tiere immer aus unserer Sicht beobachten, besteht natür
lich die Gefahr, dass wir zu einem Anthropomorphismus neigen.
Wir beschreiben und evaluieren das Verhalten der Tiere so, wie wir
ähnliches Verhalten bei Menschen charakterisieren würden. Dies
hat zur Folge, dass wir Tieren gelegentlich auch dann einen Geist
zuschreiben, wenn eine solche Zuschreibung unangebracht ist oder
sogar den empirischen Evidenzen widerspricht. Ein konkretes Bei
spiel möge dies veranschaulichen. Ameisen zeigen ein Verhalten,
das auf den ersten Blick intelligent erscheint: Sie entfernen tote Art
genossen aus ihrer Kolonie und verhindern so die Ausbreitung von
Krankheiten. Heißt dies, dass sie ihre Artgenossen als tot erkennen?
Bedeutet dies sogar, dass Ameisen über einen rudimentären Begriff
von Tod verfügen und diesen auf die Artgenossen anwenden? Wir
mögen vielleicht versucht sein, ihr Verhalten mit Rekurs auf diskri-
minatorische intentionale Zustände (x als F erkennen) oder gar mit
Bezug auf Begriffsverwendung zu erklären, genau wie wir dies bei
Menschen tun. Doch dann tappen wir in die Falle des Anthropomor
phismus. Empirische Forschungen haben nämlich gezeigt, dass Amei
sen einfach auf eine bestimmte Säure reagieren.7 Bestreicht man le
bendige Artgenossen mit Ölsäure, schleppen sie diese ebenfalls weg.
Somit wäre es unangemessen, ihnen intentionale Zustände und damit
in dieser Hinsicht einen Geist zuzuschreiben. Das angeblich inten
tional gesteuerte und intelligente Verhalten stellt sich als ein Reiz-
Reaktions-Muster heraus. Ein Anthropomorphismus lässt sich nur
vermeiden, wenn man die Maxime befolgt, die der Psychologe und
Verhaltensforscher C. Lloyd-Morgan bereits 1894 formulierte: »In
keinem Fall sollten wir eine Handlung als das Resultat der Ausübung
eines höheren geistigen Vermögens interpretieren, wenn sie auch als
das Resultat eines Vermögens interpretiert werden kann, das in der
geistigen Skala weiter unten steht.«8 Diese methodologische Maxime
16
(auch »Morgans Kanon« genannt) ist freilich nicht so zu verstehen,
dass jede Handlung oder jedes Verhalten vollständig heruntergestuft
(oder »entgeistigt«) werden soll, sodass es nur noch mit Rekurs auf
ein Reiz-Reaktions-Muster erklärt wird. Es handelt sich hier nicht
um eine Maxime, die für einen behavioristischen Reduktionismus
plädiert. Denn erstens wird ja nicht festgehalten, dass die Handlung
a uf ein nicht-geistiges Vermögen zurückgeführt werden soll, sondern
a uf eines, das »in der geistigen Skala weiter unten steht«. Es geht
Lloyd-Morgan zunächst um eine Differenzierung innerhalb der geis
tigen Vermögen.9 Zweitens betont die Maxime, dass nur dann auf
eine niedrigere Stufe rekurriert werden sollte, wenn eine entspre
chende Handlungsinterpretation möglich ist. Dies lässt natürlich
die Möglichkeit offen, dass einige Handlungen nicht auf einer nied
rigeren Stufe interpretierbar sind. Oder anders ausgedrückt: Einige
Handlungen können gegebenenfalls nur als Ausdruck eines elabo-
rierten geistigen Vermögens interpretiert werden. Genau diese Hand
lungen gilt es zu bestimmen, ohne dass damit gleich einem Anthro
pomorphismus Vorschub geleistet wird.
Neben dieser allgemeinen methodologischen Schwierigkeit wirft
die Anwendung der Kriterien für die Zuschreibung eines Geistes noch
ein weiteres Problem auf. Worauf sollen die Kriterien überhaupt an
gewendet werden? Einfach auf die Tiere? Offensichtlich gibt es die
Tiere nicht als eine homogene Gruppe. Es lässt sich vielmehr eine
Bandbreite verschiedenster Lebewesen beobachten, die über ganz un
terschiedliche Fähigkeiten verfügen und Verhalten von unterschied
licher Komplexität zeigen. Man könnte eine Skala zeichnen, die von
den Pantoffeltierchen (einzellige Lebewesen, die sich auf Nahrung
zubewegen, ohne irgendeine Flexibilität oder Adaptionsfähigkeit im
Verhalten zu zeigen) über Insektenlarven, Ameisen und Bienen bis
zu Schimpansen und anderen hochentwickelten Säugetieren reicht.
Dabei handelt es sich freilich nicht um eine lineare Skala, wie seit
Ch. Darwins Arbeiten zur Evolutionstheorie bekannt ist, sondern
1894, S. 53. Zur Bedeutung dieser Maxime für die gegenwärtige Debatte vgl. G. Gra
ham, Philosophy ofM ind. An Introduction, Oxford: Blackwell 1993, S. 82 ff.
9 Genauer gesagt geht es ihm um eine Skala der höheren und niedrigeren geistigen Ver
mögen. Vgl. eine kritische Diskussion dieser Skala in E. Sober, »Morgan’s Canon«,
in: The Evolution ofM ind, hrsg. von D. D. Cummins und C. Allen, Oxford und New
York: Oxford University Press 1998, S. 224-242.
17
um einen Stammbaum mit zahlreichen Verästelungen.10 Lebewesen
weisen ein verzweigtes, baumartiges Verwandtschaftsmuster auf, ver
mutlich weil die Konkurrenz zwischen nahe verwandten Arten stärker
ist. Gegenwärtig existierende Tierspezies sind in evolutionären Ver
zweigungen aus früheren Spezies hervorgegangen, andere sind aus
gestorben. Wer die Frage stellt, ob man Tieren einen Geist zuschrei
ben kann, sollte immer präzisieren, auf welche Tierspezies er sich
im evolutionären Baum bezieht. Dies mag trivial erscheinen, erweist
sich bei näherer Betrachtung aber als ein zentraler Punkt. Philosophi
sche Debatten über Tiere gehen nämlich häufig von einer schemati
schen Dreiteilung der Natur aus: Pflanzen, Tiere und Menschen.11
Auch zu Beginn dieser Einleitung wurde wie selbstverständlich ange
nommen, dass sich die Tiere irgendwo zwischen den geistlosen Pflan
zen und den mit einem Geist ausgestatteten Menschen befinden. Die
Frage schien nur zu sein, welchem der beiden Pole sie eher zugeord
net werden sollten. Betrachtet man jedoch die Bandbreite von aktuel
len und ausgestorbenen Tierspezies, ist es fraglich, ob es überhaupt
eine genau definierte Mittelposition zwischen den Pflanzen und den
Menschen gibt. Ordnet man die Tiere gemäß ihren spezifischen Fä
higkeiten, scheinen einige in die Nähe der Pflanzen zu gehören (so
verfügen Pantoffeltierchen kaum über mehr Fähigkeiten als fleisch
fressende Pflanzen), andere hingegen in die Nähe der Menschen (so
ähneln Schimpansen, die zielgerichtete Handlungen ausführen, sozia
les Verhalten zeigen und Emotionen äußern, in verblüffender Weise
den Menschen). Daher sollte die Frage, ob Tieren ein Geist zuge
schrieben werden kann, mit Bezug auf konkrete Tierspezies - etwa
Schimpansen oder andere Primaten — gestellt werden. Hinsichtlich
der Vertreter dieser Spezies, nicht der Tiere schlechthin, gilt es zu prü
fen, ob wir ihnen phänomenales Bewusstsein, Intentionalität, Spra-
10 Vgl. Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten, Stuttgart: Reclam 1963, S. 165. Zur Be
deutung Darwins für gegenwärtige Theorien des Geistes vgl. K. Sterelny, »Darwi-
nian Concepts in the Philosophy o f Mind«, in: The Cambridge Companion to Dar
win, hrsg. von J. Hodge und G. Radwick, Cambridge und New York: Cambridge
University Press 2003, S. 288-309.
11 Gelegentlich wird diesen drei Stufen noch eine vierte, nämlich jene der »intelli
genten Automaten«, hinzugefügt, insbesondere wenn die Tierdebatte an die Dis
kussionen über künstliche Intelligenz angebunden wird. Vgl. dazu D. Dennett,
»Cognitive Ethology: Hunting for Bargains or a W ild Goose Chase«, in: id., Brain-
children. Essays on DesigningMinds, Cambridge (Mass.): MIT Press 1998, S. 307-
322.
18
che und vielleicht sogar logisches Denken zuschreiben können. Und
selbst innerhalb der Gruppe der hochentwickelten Säugetiere kann es
markante Unterschiede geben. C. Allen und M . Bekoff haben daher
zu Recht vorgeschlagen, nicht einfach von dem Geist zu sprechen,
sondern von »Arten von Geist«, die es für verschiedene Tierspezies,
aber auch für verschiedene Stufen innerhalb der evolutionären Ent
wicklung, zu bestimmen gilt.12
Nun könnte man einwenden, dass die Bestimmung der jeweiligen
»Art von Geist« in der Tat eine wichtige und spannende Aufgabe ist,
jedoch keine Aufgabe für die Philosophie. Fällt es nicht den empiri
schen Wissenschaften (insbesondere der Ethologie, der evolutionären
Anthropologie und der Kognitionspsychologie) zu, mittels konkreter
Feldforschungen und Laboruntersuchungen zu prüfen, ob einzelne
Tierspezies über jene Zustände und Fähigkeiten verfügen, die gemäß
den genannten Kriterien als »geistig« etikettiert werden können? So ist
es beispielsweise Aufgabe der Ethologen, experimentell zu überprü
fen, ob Schimpansen tatsächlich einen intentionalen Zugang zur Welt
haben und ihr Verhalten danach ausrichten, oder ob sie lediglich Reiz-
Reaktions-Muster zeigen. Ebenso ist es ihre Aufgabe, die Möglichkeit
eines Spracherwerbs bei solchen Tieren zu untersuchen. Die Frage, ob
hochentwickelte Säugetiere einen Geist haben oder nicht, ist doch
eine empirische Frage, die sich nur mithilfe empirischer Methoden
beantworten lässt. Wenn es hier überhaupt eine philosophische Auf
gabe gibt, so liegt sie im Bereich der praktischen Philosophie und stellt
sich angesichts der Resultate der empirischen Forschung. Angenom
men, diese Forschung zeigt, dass Tiere tatsächlich einen Geist haben.
Muss den Tieren dann in ethischer Hinsicht ein ähnlicher Status wie
den Menschen zugeschrieben werden? Sind Tiere (oder zumindest die
Vertreter einiger Tierspezies) dann auch als Personen mit Rechten
zu betrachten?13 Angenommen jedoch, die empirische Forschung
12 Vgl. C. Allen und M . Bekoff, Species ofM ind. The Philosophy and Biology ofCogni-
tive Ethology, Cambridge (Mass.): MIT Press 1997. Die Autoren warnen freilich da
vor, einige Tierspezies (etwa jene der Primaten) von vornherein als höherstufige
Arten zu betrachten und entsprechend das Augenmerk ausschließlich auf diese
höherstufigen »Arten von Geist« zu richten. Dies käme einem »Primatozentrismus«
(ibid., S. X-XI) gleich, der sich methodologisch kaum von einem Anthropozentris-
mus unterscheiden würde.
13 Vgl. P. Cavalieri und P. Singer, The Great Ape Project. Equality beyond Humanity,
New York: St. M artins Press 1993; D. Birnbacher, »Selbstbewusste Tiere und be
wusstseinsfähige Maschinen - Grenzgänge am Rand des Personenbegriffs«, in: Per-
19
belegt, dass Tiere keinen Geist haben. Sind Tiere dann als bloße Ob
jekte zu betrachten, oder ist ihnen trotzdem ein besonderer Status
zuzubilligen? Es scheint, als würden sich nur derartige Fragen als ge
nuin philosophische Fragen stellen, und zwar erst nachdem das Prob
lem einer Geistzuschreibung von den empirischen Wissenschaften
geklärt ist.
Wer so argumentiert, weist zu Recht darauf hin, dass es vermes
sen wäre, ungeachtet der empirischen Forschung Behauptungen über
Tiere aufzustellen. Wer als »Lehnstuhl-Philosoph« darüber sinniert,
ob Schimpansen und Delfine einen Geist haben, läuft Gefahr, von un
vollständigen oder gar falschen Beschreibungen des Verhaltens und
der spezifischen Fähigkeiten dieser Tiere auszugehen und einfach das
eigene empirische Ffalbwissen als Grundlage für nicht-empirische
Überlegungen zu wählen. Daher ist es fiir Philosophinnen und Philo
sophen unabdingbar, empirische Forschungen zur Kenntnis zu neh
men und somit den »Lehnstuhl« zu verlassen, um die Resultate, aber
auch die besonderen Fragestellungen und die Methoden der empiri
schen Wissenschaften in den Blick zu bekommen.14 Wie die aktuelle
Tierdebatte zeigt, ist dieses Bewusstsein für die Bedeutung der Empirie
zum Glück weitgehend vorhanden. In der kognitiven Ethologie, einer
noch jungen, interdisziplinär ausgerichteten Forschungsrichtung, ar
beiten Philosophen eng mit Vertreterinnen und Vertretern verschie
denster biologischer Disziplinen sowie der Entwicklungs- und der
Kognitionspsychologie zusammen.15
Doch welche Aufgabe stellt sich den Philosophinnen und Philo
sophen im Fächerverbund mit den empirischen Wissenschaften? Be
steht ihr Beitrag wirklich nur darin, die ethischen Konsequenzen,
die sich aus den empirischen Befunden ergeben, zu diskutieren und
zu evaluieren? Zweifellos ist eine sorgfältige Diskussion dieser Kon
sequenzen eine wichtige Aufgabe. Die Debatten in der Tierethik,
die sich seit den einflussreichen und öffentlich wirksamen Arbeiten
von P. Singer und T. Regan als eigenständige Teildisziplin der Ethik
20
entwickelt haben, verdeutlichen, dass Tiere in der praktischen Philo
sophie einen zentralen Platz einnehmend6 Doch auch in der theore
tischen Philosophie kommt den Tieren weit mehr als eine marginale
Bedeutung zu, auch wenn diese Bedeutung im deutschsprachigen
Raum bislang erst ansatzweise diskutiert worden ist. Wer über die
Frage nachdenkt, ob den Vertretern einiger Tierspezies ein Geist zu
geschrieben werden kann, muss nämlich über Grundbegriffe der
theoretischen Philosophie reflektieren, und zwar nicht erst nach einer
Auswertung der empirischen Befunde, sondern bereits während einer
solchen Auswertung. Wenn etwa gefragt wird, ob Schimpansen einen
intentionalen Zugang zur Welt haben und sprechen können, muss
geklärt werden, wie hier die Begriffe >Intentionalität< und >Sprachver-
mögen< zu verstehen sind und wie sie auf konkrete Fälle angewendet
werden können. So betrachtet stellt sich die Aufgabe einer Begriffs
klärung a posteriorr. A u f der Grundlage empirischer Befunde - nicht
unabhängig davon - ist zu fragen, welche Begriffe zur Auswertung die
ser Befunde angemessen sind.
Betrachten wir zunächst den Begriff der Intentionalität. Wozu
muss ein Lebewesen in der Lage sein, damit wir bereit sind, ihm inten
tionale Zustände zuzuschreiben? Diese Frage gewinnt an Schärfe,
wenn sie mit Bezug auf ein inzwischen berühmt gewordenes Experi
ment von D. Premack und G. W oodruff gestellt wird.,16 17 Diese beiden
Forscher stellten vor Sarah, einer Schimpansin, zwei Behälter in uner
reichbarer Distanz auf; der eine Behälter war mit Nahrung gefüllt, der
andere war leer. Um Nahrung zu bekommen, musste Sarah einem
Trainer einen der beiden Behälter zeigen. Nun waren zwei Trainer an
21
wesend, von denen der eine sich kooperativ verhielt. Wenn er von
Sarah auf den mit Nahrung gefüllten Behälter hingewiesen wurde,
brachte er ihn herbei und teilte die Nahrung mit ihr. Der andere Trai
ner verhielt sich konkurrierend. Wenn er auf den gefüllten Behälter
hingewiesen wurde, nahm er ihn an sich und verschwand. Was tat
nun Sarah nach einigen Trainingsstunden? Sie verwies den koopera
tiven Trainer auf den gefüllten Behälter, den konkurrierenden hinge
gen auf den leeren.
Wie lässt sich Sarahs Verhalten erklären? Können wir ihr intentio
nale Zustände zuschreiben? Dies hängt davon ab, wie wir den Begriff
der Intentionalität fassen und welche Bedingungen wir somit aufstel
len, damit etwas als ein intentionaler Zustand anerkannt wird. Man
könnte zunächst sehr restriktiv vorgehen und einen Zustand nur dann
als einen genuin intentionalen Zustand akzeptieren, wenn er nicht
(oder zumindest nicht ausschließlich) an ein bestimmtes Reiz-Reak-
tions-Schema gebunden ist. Da Sarah nicht von sich aus auf den ge
füllten oder den leeren Behälter zeigte, sondern nur dann, wenn ein
bestimmter Trainer anwesend war, liegt hier nicht mehr als ein simp
les Reiz-Reaktions-Schema vor. Je mehr ein bestimmter Reiz verstärkt
wird (Nahrungserhalt bei Sinneseindrücken von einem bestimmten
Trainer), desto mehr verstärkt sich die entsprechende Reaktion (Ver
weis auf den mit Nahrung gefüllten Behälter). Somit hätten wir hier
noch keinen intentionalen Zustand, sondern - um es mit D. Dennetts
Schema von den verschiedenen Intentionalitätsstufen zu beschrei
ben18 - lediglich die nullte Stufe. Sarahs Verhalten lässt sich bereits
auf dieser Stufe folgendermaßen erklären:
o. Stufe: Sarah erhält den Sinnesreiz S und antwortet darauf mit Re
aktion R.
Natürlich ist Sarah weit mehr als ein Automat. Als Lebewesen erhält
sie ja Sinnesreize und antwortet auf sie. Aber dies sind lediglich kau
sale Relationen, keine intentionalen. Sarah nimmt nur Reize auf; sie
22
richtet sich nicht kognitiv auf den kooperativen oder den konkurrie
renden Trainer und erkennt die beiden auch nicht als solche.
Man könnte aber auch die Auffassung vertreten, dass ein Lebe
wesen, das in einer bestimmten Situation gezielt Gegenstände be
stimmen und voneinander unterscheiden kann, durchaus intentio
nale Zustände hat. Da Sarah dazu in der Lage ist (sie kann ja sowohl
die beiden Behälter als auch die beiden Trainer voneinander unter
scheiden), könnte man ihr einen intentionalen Zustand erster Stufe
zuschreiben, und zwar sowohl einen kognitiven als auch einen voliti-
ven Zustand. Dies bedeutet:
Entscheidend ist dabei, dass Sarah auf dieser Stufe einen perspekti
vischen Zugang zu den Gegenständen in ihrer Umgebung hat. Sie
erkennt ja den einen Trainer als kooperativ, den anderen als konkur
rierend. Genau dadurch ist sie imstande, die beiden voneinander zu
unterscheiden und ihr Verhalten entsprechend auszurichten.
Nun könnte man einwenden, dass diese Zuschreibung simpler in
tentionaler Zustände noch nicht ausreicht, um Sarahs Verhalten zu
erklären. Sie bezieht sich nämlich nicht nur auf Gegenstände, sondern
auch auf die Meinung - also auf einen intentionalen Zustand - eines
anderen Lebewesens. Sie hat somit einen intentionalen Zustand zwei
ter Stufe. Dies heißt wiederum konkret:
Erklärt man Sarahs Verhalten auf diese Weise, geht man davon aus,
dass sie eine Täuschungsabsicht hat. Ja, man unterstellt ihr sogar mi
nimales logisches Denken. Denn eine Täuschungsabsicht ist nur
möglich, wenn folgende Maxime erfasst wird: »Wenn du x täuschen
willst, dann bringe in x eine falsche Meinung bezüglich y hervor.«
Die Anwendung dieser Maxime bestimmt das Verhalten.
Ist Sarahs Verhalten nun auf der nullten Stufe rein behavioristisch
23
zu erklären? Oder ist es auf der ersten Stufe als ein Ausdruck basa
ler intentionaler Zustände zu verstehen? Oder ist es auf der zweiten
Stufe als Ausdruck einer »Theorie des Geistes« —d. h. einer Meinung
oder Volition bezüglich der Meinung eines anderen - zu deuten? Wie
diese Fragen zu beantworten sind, ist äußerst umstritten. Hier sollen
nicht die verschiedenen Positionen in dieser Kontroverse dargestellt
und evaluiert werden.19 Entscheidend ist an dieser Stelle nur der
grundsätzliche methodologische Punkt: Wenn wir das Verhalten eines
Tieres beschreiben und erklären wollen, reicht es nicht aus, einfach
empirische Daten zu sammeln. W ir müssen diese Daten immer auch
auswerten und benötigen dazu bestimmte Begriffe, z. B. den Begriff
der Intentionalität. Welche Auswertung erfolgt, hängt wesentlich da
von ab, welchen Begriff wir zur Anwendung bringen und für angemes
sen halten. Die Frage, ob Sarah sich auf etwas bezieht, ist also letztlich
die Frage, mit welchem Begriff von »sich auf etwas beziehen« wir ope
rieren und wie wir diesen Begriff von alternativen kognitiven oder
nicht-kognitiven Begriffen abgrenzen. Dies ist natürlich eine prinzi
pielle Frage, die sich nicht nur mit Bezug auf Sarah oder andere Tiere
stellt. Sarahs Verhalten dient gleichsam als Testfall, um zu prüfen, wie
präzis und explanatorisch relevant unser Begriff ist.
Ähnliches gilt auch für einen weiteren Grundbegriff, nämlich je
nen der Sprache. Dies zeigt sich wiederum deutlich an einem konkre
ten Beispiel, das in der Forschung zur Affensprache immer wieder
diskutiert wird. D. L. Cheney und R. M . Seyfarth haben die Lautäuße
rungen von Grünen Meerkatzen (auch als Vervetaffen bekannt) un
tersucht und dabei festgestellt, dass einige dieser Äußerungen Infor
mationen über Raubfeinde wie Leoparden, Schlangen oder Adler
übermitteln.20 Sobald ein Raubfeind auftauchte, stieß eine Meerkatze
einen bestimmten Laut aus, worauf alle Artgenossen in der Gruppe
die Flucht ergriffen. Für jede Art von Raubfeind gab es einen spezifi-
19 Eine kritische Auswertung der empirischen Forschungsergebnisse, die in den zwan
zig Jahren nach dem Erscheinen von Premacks und Woodruffs einflussreichen
Arbeiten erzielt wurden, bietet C. M . Heyes, »Theory o f Mind in Nonhuman Pri
mates«, The Behavioral and Brain Sciences 21 (1998), S. io iri4 8 . Verschiedene
Standpunkte in philosophischer und psychologischer Sicht versammeln die Bei
träge in Theories o f Theories ofM ind, hrsg. von P. Carruthers und P. K. Smith, Cam
bridge und New York: Cambridge University Press 1996.
20 Vgl. D. L. Cheney und R. M . Seyfarth, How Monkeys See the World. Inside theM ind
ofAnother Species, Chicago: University o f Chicago Press 1990 (dt. Wie Affen die
Welt sehen. Das Denken einer anderen Art, München: Hanser 1994).
24
sehen Laut. Die beiden Forscher berichten auch, dass junge Meerkat
zen lernten, diese Laute zu imitieren und so zu verfeinern, dass sie der
Lautverwendung der Erwachsenen in der Gruppe entsprachen. Die
Erwachsenen ignorierten die Lautäußerung jedoch in den Fällen, in
denen das geortete Objekt kein Raubfeind war. Nahte tatsächlich
ein Raubfeind, wurde der Laut von einem Erwachsenen wiederholt.
Flaben wir es hier mit einer Form von Sprachverwendung zu tun?
Können wir sagen, dass sich die Meerkatzen mit ihren Lauten auf
Raubfeinde beziehen (referentielle Funktion), dass sie den Lauten
eine bestimmte Bedeutung geben (semantische Funktion), dass sie da
mit ihre Artgenossen warnen (pragmatische Funktion), dass die Jun
gen und Erwachsenen sich über die korrekte Verwendung verstän
digen (kommunikative Funktion)? Eine Beantwortung dieser Fragen
hängt nicht nur davon ab, wie man die einzelnen Lautäußerungen
beschreibt und in Relation zueinander setzt.21 Eine Antwort hängt
auch und sogar entscheidend davon ab, was man hier unter einer
Sprache versteht. Welche Bedingungen müssen von den Meerkatzen
erfüllt werden, dass wir bereit sind, ihnen tatsächlich eine Sprache
und nicht nur ein vokalisiertes Reiz-Reaktions-Muster zuzuschreiben?
A u f diese Frage ist natürlich eine Bandbreite von Antworten möglich,
und zwar je nach Sprachbegriff, der explizit oder implizit vorausgesetzt
wird. In dieser Bandbreite lassen sich zwei Extreme bestimmen.
A u f der einen Seite stehen jene, die eine evolutionäre Sicht auf die
Sprache wählen und vorschlagen, sowohl phylogenetisch als auch
ontogenetisch verschiedene Entwicklungsstufen der Sprache und
des Sprachvermögens zu unterscheiden. Man müsste dann zunächst
bei einer Vorstufe zur Sprache ansetzen, die —mit C. Allen und E. Sai-
del gesprochen - nur in der »mimetischen Referenz« besteht.22 Das
heißt: Ein Lebewesen äußert Signale, die dem Referenten ähnlich
sind und ein bestimmtes, dem Referenten entsprechendes Verhalten
auslösen sollen. A u f der nächsten Stufe wäre die »stellvertretende Re-
21 So kann man sich fragen, ob die Erwachsenen die Jungen sprachlich unterrichteten
und auch tatsächlich die Absicht hatten, sie zu unterrichten, oder ob bei den Jungen
nur ein Reiz-Reaktions-Muster vorlag. Vgl. dazu T. M. Caro und M. D. Hauser, »Is
There Teaching in Nonhuman Animais?«, Quarterly Review ofBiology 67 (1992),
S. 151-174, sowie die Beiträge zum Thema »Communication, Language, and Mea-
ning« in: The Cognitive Animal. Empirical and Theoretical Perspectives on Animal
Cognition, hrsg. von M. Bekoff, C. Allen, G. M . Burghardt, Cambridge (Mass.):
MIT Press 2002.
22 Vgl. »Die Evolution der Referenz« (in diesem Band, S. 323 ff.).
*5
ferenz« anzusiedeln: Ein Lebewesen gibt Signale, die dem Referenten
nicht ähnlich sind, aber ebenfalls ein bestimmtes, dem Referenten ent
sprechendes Verhalten auslösen sollen. Erst auf dieser Stufe wäre eine
erste Form von Sprache anzusiedeln, weil erst hier arbiträre Zeichen
verwendet werden. A u f einer nächsten Stufe wäre die »begriffliche Re
ferenz« anzusiedeln. Sie tritt auf, wenn mithilfe von Begriffen auf Re
ferenten verwiesen wird, ohne dass dadurch ein bestimmtes Verhalten
ausgelöst werden soll und ohne dass der Referent anwesend sein muss.
Man könnte nun noch weiter gehen und zusätzliche Stufen einfüh
ren, etwa eine Stufe, auf der nicht mehr eine referentielle, sondern
eine performative Funktion im Mittelpunkt steht. (Es wird ein be
stimmtes Signal verwendet, ohne dass auf irgendetwas verwiesen wer
den soll, allein mit der Absicht, beim Rezipienten eine bestimmte Wir
kung zu erzielen. Oder mit dem Signal wird auf etwas verwiesen und
gleichzeitig soll eine bestimmte Wirkung erzielt werden.) Welche und
wie viele Stufen es gibt, müsste natürlich ausgiebig diskutiert wer
den. Ebenso müsste untersucht werden, welche Lebewesen zu wel
chen Stufen fähig sind. Aber im Prinzip könnte man eine aufsteigende
Skala zeichnen, die von einer rudimentären Form von Sprache und
Sprachvermögen bis zu einer komplexen Form reicht. Würde man
so Vorgehen, könnte man den Meerkatzen sicherlich eine Sprache
zuschreiben, denn man findet bei ihnen nicht einfach eine mimeti
sche Referenz ,(ihre Rufe gleichen ja nicht den Geräuschen von Ad
lern oder Schlangen), sondern bereits eine stellvertretende Referenz:
Sie verwenden arbiträre Zeichen, die dem Referenten nicht gleichen.
Dass sie über keine Begriffe verfügen, zeigt nicht, dass sie keine Spra
che haben. Dies verdeutlicht nur, dass sie nicht zu begrifflicher Refe
renz fähig sind und somit nicht über eine hochentwickelte Form von
Sprache verfügen.
Die andere Extremposition in der Bandbreite der möglichen Ant
worten wird von all jenen eingenommen, die von Anfang an darauf
insistieren, dass nur Lebewesen, die über Überzeugungen und andere
propositionale Einstellungen verfügen, eine Sprache zugeschrieben
werden kann. Eine besonders elaborierte Version dieser Auffassung
vertritt D. Davidson.23 Seiner Ansicht nach reicht es nicht einmal
23 Vgl. in diesem Band, S. 117 -13 1, sowie D. Davidson, »Thought and Talk«, in: id.,
Essays on Truth and Interpretation, Oxford: Clarendon Press 1984, S. 15 5-170 (dt.
»Denken und Reden«, in: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp
1986, S. 224-246).
26
aus, einzelne Überzeugungen zu haben. Vielmehr muss ein Lebe
wesen, das denkt und spricht, ein ganzes Netz von Überzeugungen
haben, das mehr oder weniger kohärent ist. Davidson behauptet so
gar, dass jemand erst dann denken und sprechen kann, wenn er nicht
nur eigene Überzeugungen hat, sondern auch die Überzeugungen an
derer interpretieren kann. Wendet man diese Auffassung von Denken
und Sprechen, die im Kern holistisch und intersubjektivistisch ist, auf
Tiere - etwa auf die genannten Meerkatzen - an, wird sofort klar, dass
ihnen kein Denken und Sprechen zugeschrieben werden kann. Meer
katzen haben keine Überzeugungen im strengen Sinn (d. h. proposi-
tionale Einstellungen der Form »Ich glaube, dass ...«) und können
auch nicht die Überzeugungen anderer interpretieren. Dies zeigt sich
schon darin, dass sie nicht imstande sind, eine Überzeugung mit an
deren zu verbinden und in einem ganzen Netz von Überzeugungen
zu lokalisieren. So können sie nicht sagen (oder mittels nicht-vokaler
Zeichen irgendwie ausdrücken): »Ich glaube, dass ein Adler über mir
fliegt; also glaube ich auch, dass ein Raubfeind über mir fliegt.« Sie
sind höchstens zum Äußern von Signalen fähig. Dies ist keine Form
von Sprachbeherrschung, sondern lediglich Ausdruck einer teils an
geborenen, teils erworbenen Reaktion auf bestimmte Reize.
Die beiden Extrempositionen lassen sich natürlich ausführlicher
beschreiben, und es können zahlreiche Mittelpositionen genannt wer
den, die sich weder mit einer minimalen Form von Referenz begnügen
noch die maximale Forderung nach dem Verfügen über ein ganzes
Netz von Überzeugungen aufstellen. Hier sind jedoch nicht die De
tails der einzelnen Positionen von Interesse. Entscheidend ist viel
mehr das methodologische Grundproblem: Ob jemand den Tieren
eine Sprache zuschreibt, hängt davon ab, welchen Begriff von Spra
che er verwendet - bildlich gesprochen: wie tief oder hoch er die Mess
latte ansetzt, die ein Tier überwinden muss. Daher ist es unmöglich,
in einem ersten Schritt empirisch zu bestimmen, ob bestimmte Tiere
eine Sprache (und damit auch einen Geist) haben, um dann verschie
dene Formen von Sprache miteinander zu vergleichen und begriff
lich zu kategorisieren. Vielmehr muss die begriffliche Analyse von
Anfang an in die Auswertung der empirischen Daten einbezogen wer
den. Denn nur wenn man sich klar darüber wird, welchen Begriff von
Sprache man zur Anwendung bringt, lässt sich auch bestimmen, wel
ches Phänomen überhaupt in den Blick genommen und von anderen
Phänomenen abgegrenzt werden soll. Genau zu dieser Klärung ver-
27
hilft eine nähere Betrachtung der Tierbeispiele. Sie zwingt uns gleich
sam, unsere Begriffe zu analysieren, zu schärfen und gegebenenfalls
zu revidieren. Und das heißt natürlich: Sie veranlasst uns dazu, eine
genuin philosophische Aufgabe anzupacken.
Die Fragen, ob Tiere einen Geist haben und auf welcher Grundlage
wir ihnen überhaupt geistige Fähigkeiten und Zustände zuschreiben
können, sind so alt wie die westliche Philosophie. Sie wurden bereits
von antiken und mittelalterlichen Denkern aufgeworfen und ausführ
lich debattiert.24 Eine besondere Brisanz gewannen sie allerdings in
der frühen Neuzeit, als im Rahmen der »neuen Wissenschaft« zum
einen neue empirische Modelle zur Analyse des Tierverhaltens ent
worfen wurden (z. B. im Rahmen einer mechanistischen Physiologie),
zum anderen aber auch die kognitiven Grundbegriffe einer radikalen
Prüfung unterzogen wurden.25 Exemplarisch zeigt sich dieses inten
sive Interesse an den Tieren in P. Bayles Dictionnaire historique et
critique (Erstveröffentlichung 1697), in dem unter dem Stichwort
»Rorarius«26 die neueren Beiträge zur Tierdebatte dargestellt und kri
tisch diskutiert werden. Bayle zufolge sind die Tiere der Prüfstein
für sämtliche Theorien des Geistes, denn am Beispiel der Tiere zeigt
sich, ob diese Theorien den konkreten Phänomenen gerecht werden.
Freilich betont Bayle gleich zu Beginn seiner Abhandlung, dass er
die prominentesten Theorien für unzulänglich hält: »Die Fakten, wel
che die Fähigkeiten der Tiere betreffen, bringen die Anhänger des
24 Zur antiken Debatte vgl. R. Sorabji, Anim al Minds and Human Morals. The Ori-
gins ofthe Western Debate, Ithaca und New York: Cornell University Press 1993;
L ’a nimaldans l ’a ntiquite, hrsg. von B. Cassin und J. L. Labarriere, Paris: Vrin 1997;
Th. Gontier, Lhomme et Tanimal. La philosophie antique, Paris: Presses Univer-
sitaire de France 1999. Z u den mittelalterlichen Diskussionen vgl. D. Perler, »In-
tentionality and Action. Medieval Discussions on the Cognitive Capacities o f
Animais«, in: Intellect and Imagination in Medieval Philosophy, hrsg. von M. C.
Pacheco und J. F. Meirinhos, Turnhout: Brepols 2004 (kn. Druck).
25 Vgl. M. Wild, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neu
zeit bei Montaigne, Descartes und Hume (Diss. 2004, im Erscheinen).
26 H. Rorarius hatte 1654 die Schrift Quod animalia bruta ratione utantur melius ho-
mine (»Dass die Tiere die Vernunft besser gebrauchen als der Mensch«) publiziert,
die P. Bayle als Ausgangspunkt verwendete.
28
Descartes wie des Aristoteles gleichermaßen in Schwierigkeiten.«27
Angesichts dieser kritischen Einschätzung lohnt es sich, einen Blick
auf einige dieser Schwierigkeiten und die daraus entstehenden Kont
roversen zu werfen. In den frühneuzeitlichen Diskussionen wurden
nämlich zahlreiche inhaltliche und methodologische Probleme the
matisiert, die auch heute noch im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Daher sollen kurz zwei Hauptkontrahenten der frühneuzeitlichen
Tierdebatte vorgestellt werden - nicht um einen philosophiehistori
schen Überblick zu geben, sondern um die Fragestellungen und die
Argumentationsmuster zu benennen, die auch heute noch relevant
sind.28
Die frühneuzeitliche Tierdebatte wurde durch Michel de Mon
taigne (1533-1592) eröffnet, der in seiner »Apologie für Raimond Se-
bond« (.Essais II, 12) ausführlich die Frage erörtert, ob wir den Tieren
einen Geist zuschreiben können. Den Ausgangspunkt für Montaignes
Überlegungen bildet eine traditionelle Anthropologie, die eine klare
hierarchische Ordnung postuliert: Menschen sind als Abbild Gottes
den Tieren überlegen, selbst wenn Tiere ein scheinbar intelligentes
Verhalten an den Tag legen. Aufgrund der besonderen Stellung in
der Schöpfung kann man den Menschen prinzipiell kognitive Fähig
keiten zuschreiben, was im Falle der Tiere nicht möglich ist. Tieren
können nur Sinnesreize, Instinkte, Triebe und gegebenenfalls ein an
trainiertes Verhalten zugeschrieben werden. Gegen eine solche prinzi
pielle Unterscheidung wendet Montaigne ein: »Wir stehen weder hö
her noch tiefer als die übrigen Geschöpfe. [...] Es gibt Unterschiede,
es gibt Rangordnungen und Stufen, doch stets nur als Erscheinungs
formen der einen Natur.«29 In dieser Stellungnahme manifestiert sich
29
nicht nur die Zurückweisung einer hierarchisch konzipierten Schöp
fungslehre, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, sondern
eine grundsätzliche methodologische Kritik an impliziten Vorausset
zungen, die bei der Beschreibung von Tieren gemacht werden. Wenn
man von einem prinzipiellen Unterschied zwischen Menschen und j
Tieren ausgeht, wird das Tierverhalten von vornherein als defizitär be- |
trachtet und am Maßstab des menschlichen Verhaltens gemessen, (
Was auch immer Tiere tun, äußern oder lernen, ihr Verhalten kann I
dem menschlichen nicht ebenbürtig sein. Es kann ihm höchstens in
einigen Punkten ähneln, aber es kann nicht von gleicher Art sein
und auch nicht in gleicher Weise verursacht werden. M it dieser An- ;
nähme wird freilich das antizipiert, was ein detaillierter Vergleich
von Menschen und Tieren erst zeigen (oder gegebenenfalls auch wi
derlegen) sollte, nämlich dass wir zur Beschreibung und Erklärung
des Tierverhaltens nicht auf jene Kategorien zurückgreifen dürfen, j
die wir auf menschliches Verhalten anwenden. Oder zugespitzt ausge
drückt: Es wird von Anfang an eine radikale anthropologische Diffe
renz angenommen, die sämtliche Beobachtungen und Bewertungen
von Einzelfällen bestimmt. Die Fälle »bestätigen« nur das, was ohne
hin schon feststeht.
Gegen ein derart unzulässiges Vorgehen fordert Montaigne, dass
die These von einer radikalen Differenz aufgegeben werden muss.
Er geht von folgendem Grundsatz aus: »Ich behaupte also, um auf '
mein Thema zurückzukommen, dass es keinen vernünftigen Grund
gibt, zu meinen, die Tiere täten aus zwanghaftem Naturtrieb, was
wir aufgrund eigener Wahl und erworbner Kunstfertigkeit tun. Von
gleichen Ergebnissen müssen wir vielmehr auf gleiche Kräfte schlie
ßen und folglich zugeben, dass ebender Verstand und ebender Weg,
die unser Werken und Wirken bestimmen, im selben Maße auch
für sie bestimmend sind, wenn nicht in höherem.«30 Es gilt also der
Grundsatz, dass von gleichen Wirkungen auf gleiche Ursachen ge
schlossen werden muss, ohne dass von vornherein prinzipielle Unter
schiede angenommen werden dürfen. Konkret heißt dies: Sieht man
einen Menschen und einen Hund an einer Weggabelung stehen und
nach kurzem Zögern einen der drei Wege gehen, hat man zwei Er-
Textfassung: A = Fassung von 1580, B = Fassung von 1588, C = Exemplar von Bor
deaux, 1588-92.] (Dt. Essais, übers, von H. Stilett, Frankfurt/M.: Eichborn 1998,
S. 227.)
30 Essais II, 12, ed. Villey, S. 460 A (dt. S. 227).
30
klärungsmöglichkeiten.31 Entweder man sagt beim Menschen ebenso
wie beim Hund, dass sie den einen Weg gegangen sind, weil sie über
legt haben, welchen Weg sie gehen sollen, und weil sie sich für eine
der drei Optionen entschieden haben. Man schließt also in beiden Fäl
len von einem bestimmten Verhalten auf eine bestimmte kognitive
Ursache. Oder man sagt beim Menschen genau wie beim Hund, dass
sie den einen Weg gegangen sind, weil sie durch gewisse Reize oder
durch ein antrainiertes Verhaltensmuster dazu gebracht wurden. Man
schließt demnach in beiden Fällen auf eine nicht-kognitive Ursache.
Eine solche Erklärungsstrategie schließt freilich nicht aus, dass das
Verhalten von Menschen in einigen Situationen anders zu erklären ist
als jenes von Tieren. Montaigne räumt ja ein, dass es »Rangordnungen
und Stufen« innerhalb der einen Natur geben kann. Dies liegt aber
nur daran, dass das menschliche Verhalten gelegentlich komplexer
ist als jenes der Tiere, sodass auch auf eine komplexere Ursache rekur
riert werden muss. Der Grund besteht aber nicht darin, dass das Ver
halten von Menschen grundsätzlich anders zu erklären ist als jenes
von Tieren: Graduelle Unterschiede erlauben keine prinzipielle D i
chotomie. Montaigne weist allerdings darauf hin, dass das Verhalten
der Tiere gelegentlich komplexer ist als jenes von Menschen, sodass
bei den Tieren auf eine komplexere - vielleicht sogar auf eine kogni
tive - Ursache geschlossen werden muss. Dies veranschaulicht das
Beispiel des Chamäleons, das seine Farbe der Umgebung anpassen
kann - ein Verhalten, zu dem wir Menschen nicht in der Lage sind.
Aus dieser Beobachtung folgert Montaigne: »Solche Leistungen, die
wir bei den anderen Lebewesen beobachten und die größer sind als
unsre, beweisen daher, dass sie diesbezüglich eine uns überlegne Fä
higkeit haben, die uns verborgen bleibt - wie wahrscheinlich viele
andre Anlagen und Kräfte, die nicht einmal bis zu unserer Wahrneh
mung dringen.«32 Genauso wie den Tieren unsere kognitiven Fähig
keiten verborgen sind, können auch uns die kognitiven Fähigkeiten
des Chamäleons und anderer Tiere unbekannt sein. Unsere kognitive
Beschränktheit darf daher nicht der Grund sein, den Tieren prinzi
piell kognitive Fähigkeiten abzusprechen.
31 Montaigne erwähnt dieses klassische Beispiel, das bereits von hellenistischen Phi
losophen zitiert wurde. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte L. Floridi, »Scepticism
and Animal Rationality: the Fortune o f Chrysippus’ Dog in the History o f Western
Thought«, Archiv fü r Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 27-57.
32 Essais II, 12, ed. Villey, S. 469 A -C (dt. S. 232).
31
Aus heutiger Sicht könnte man nun einwenden, dass man beim Cha
mäleon keineswegs auf eine »überlegene Fähigkeit« schließen muss,
schon gar nicht auf eine kognitive Fähigkeit. Das Chamäleon erkennt
ja nicht die Farbe der Umgebung und entschließt sich nicht, seine
Farbe anzupassen. Der Farbwechsel ist ein rein biologischer Vorgang
der Anpassung, der mit Rekurs auf biochemische Prozesse und Um
weltbedingungen erklärt werden kann. Ein solcher Einwand würde
Montaignes Ffauptargument freilich verfehlen. Ihm geht es nicht da
rum, die inhaltliche These zu vertreten, dass die Farbanpassung des
Chamäleons eine kognitive Ursache haben muss. Welche Ursache vor
liegt, ist ihm (wie auch allen anderen Menschen des 16. Jh.) verborgen,
wie er offen eingesteht. Montaigne weist vielmehr auf einen metho
dologischen Punkt hin: Wenn man davon ausgeht, (a) dass man von
gleichen Wirkungen auf gleiche Ursachen schließen muss und (b) dass
komplexe Wirkungen komplexe Ursachen haben, dann muss man
diese beiden Grundsätze auch auf die Tiere anwenden. Es wäre unzu
lässig zu behaupten, dass Menschen komplexe Verhaltensweisen an
den Tag legen und daher auch über komplexe Ursachen - sprich: über
kognitive Prozesse - verfügen, Tiere hingegen nur biologischen Pro
zessen unterworfen sind. Wer methodisch korrekt Vorgehen will, muss
wiederum zugestehen, dass es nur zwei Erklärungsmöglichkeiten gibt.
Entweder man schließt bei den Menschen wie bei den Tieren von kom
plexen Verhaltensweisen auf komplexe nicht-kognitive Ursachen, oder
man schließt bei beiden auf kognitive Ursachen. Rekurriert man auf
unterschiedliche Ursachen, muss man dafür konkrete empirische An
haltspunkte haben, z. B. eine markante Differenz in der jeweiligen Ver
haltensweise.
Dies ist ein entscheidender Punkt, der auch in den heutigen Debat
ten nicht an Bedeutung eingebüßt hat und vor allem von kognitiven
Ethologen gegen die Vertreter einer prinzipiellen anthropologischen
Differenz ins Felde geführt wird. Wenn etwa behauptet wird (heute
natürlich ohne Verweis auf eine Hierarchie in der Schöpfung), dass
Menschen prinzipiell anders beschaffen sind als Tiere und dass des
halb nur menschliches Verhalten mit Verweis auf geistige Fähigkeiten
erklärt werden kann, lautet die Erwiderung ähnlich wie bei M on
taigne. So hält E. Saidel fest: »Es mag sein, dass Dinge, die sich von
einem menschlichen Geist stark unterscheiden, keine Geister sind,
aber wir sollten unsere Untersuchung bezüglich der Natur des Geis
tes von Tieren nicht mit einer solchen Annahme beginnen. Dies sollte
32
etwas sein, was wir als das Resultat unserer empirischen Arbeit ent
decken, nicht eine Rahmenbedingung, die wir von vornherein an
unsere Arbeit stellen.«33 Konkret heißt dies: Es mag sehr wohl sein,
dass Prozesse der Anpassung an die Umwelt bei Tieren ganz anders
zu erklären sind als bei Menschen, weil Tieren bestimmte kognitive
Fähigkeiten fehlen, über die wir verfügen. Aber ein solcher Mangel
darf nicht von Anfang an angenommen werden. Falls er tatsächlich
besteht, muss er mittels empirischer Studien gezeigt werden. Prima
facie darf kein prinzipieller Unterschied zwischen Menschen und
Tieren angenommen werden. Andernfalls »bestätigen« die Beobach
tungen nur das, was durch die These von der anthropologischen Dif
ferenz ohnehin von vornherein feststeht.
M it seiner Kritik an der These, dass sich Menschen prinzipiell von
Tieren unterscheiden, erreicht Montaigne ein zweifaches Ziel. Ei
nerseits »animalisiert« er die Menschen, indem er anhand konkreter
Beispiele aufzeigt, dass bestimmte Verhaltensweisen von Menschen
ebenso auf Instinkte, Triebe und Sinnesreize zurückgeführt werden
können wie jene von Tieren. Andererseits »humanisiert« er die Tiere,
indem er verdeutlicht, dass zur Erklärung komplexer Verhaltenswei
sen von Tieren ebenso kognitive Fähigkeiten in Anschlag gebracht
werden können wie zur Erklärung analoger Verhaltensweisen von
Menschen. Man könnte somit von einer Doppelstrategie sprechen,
die auf die Überwindung einer starren hierarchischen Ordnung
und auf die möglichst weitgehende Einebnung der Mensch-Tier-Dif-
ferenz abzielt. Montaigne wendet diese Doppelstrategie auf verschie
dene Bereiche an.34 Zwei davon spielen auch in der heutigen Debatte
noch eine wichtige Rolle.
Der erste Bereich betrifft das Sprachvermögen, das meistens den
Menschen, nicht aber den Tieren zugesprochen wird. Was veranlasst
uns zu dieser Asymmetrie? A u f den ersten Blick nur die Tatsache,
dass wir uns mit anderen Menschen unterhalten können, mit den
Tieren aber nicht. Dies ist aber kein ausreichender Grund, wie Mon
taigne sogleich einwendet: »Diese Unfähigkeit zur Kommunikation
zwischen ihnen und uns —warum sollte sie nicht ebenso unsere sein
33 E. Saidel, »Animal Minds, Human Minds«, in: The Cognitive Animal, op. cit.,
S. 54.
34 Für eine sorgfältige Analyse sämtlicher Bereiche vgl. Th. Gontier, De l ’homme ä
TanimaL Montaigne et Descartes ou lesparadoxes sur la nature des animaux, Paris:
Vrin 1998.
33
wie ihre? Es bleibt eine offne Frage, wessen Fehler es ist, dass wir uns
nicht verstehen, denn wir verstehen sie keineswegs besser als sie uns!
So können sie uns mit gleichem Recht für vernunftlose Tiere halten
wie wir sie.«35 Montaigne betont hier, dass wir nicht von vornherein
von einer Asymmetrie ausgehen dürfen, d. h. wir dürfen nicht anneh
men, dass wir Menschen über ein ausgeklügeltes Zeichensystem ver
fügen, das interpretierbar und somit auch verstehbar ist, die Tiere hin
gegen nicht. Aufgrund unserer eingeschränkten Perspektive können \
wir nur auf unser Zeichensystem und unsere Möglichkeiten der Inter
pretation verweisen. Ob andere Lebewesen ihre eigenen Zeichensys
teme haben, die auf ihre eigene Art interpretierbar sind, entzieht sich
unserem Wissen. Daher dürfen wir den Tieren nicht von vornherein
eine Sprache absprechen.
Nun wäre es allerdings unbefriedigend, wenn wir zwar einräumen I
würden, dass andere Lebewesen ihre eigenen Zeichensysteme haben, ?
gleichzeitig aber eingestehen müssten, dass wir über keine Möglich
keit verfugen,, diese Systeme zu erkennen, geschweige denn in unsere !
Sprache zu übersetzen. Damit wir überhaupt auf andere Zeichensys
teme verweisen und sie identifizieren können, brauchen wir gewisse
Anhaltspunkte, die es uns erlauben, diese fremden Systeme überhaupt
als Zeichensysteme bzw Sprachen zu bestimmen. Was wären solche l
Anhaltspunkte? In seiner Antwort auf diese Frage legt Montaigne |
die Grundlage fiir zahlreiche moderne Diskussionen über Tierspra- j
chen. Im Gegensatz zu traditionellen Sprachtheoretikern verweist er j
nämlich nicht auf die semantische und die syntaktische Dimension f
einer Sprache, sondern auf die pragmatische: » ... denn was ist Spre- [
chen anderes als die bei den Tieren zu beobachtende Fähigkeit, durch j
den Gebrauch ihrer Stimmen Jammer und Freude zu bekunden, sich s
gegenseitig zu Hilfe zu rufen und zum Liebesspiel zu locken?«36 Auch ,
wenn wir etwa im Falle der Vögel nicht in der Lage sind, den einzel- |
nen Zwitscherlauten eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben oder I
syntaktische Regeln zur Kombination der Laute zu bestimmen, kön
nen wir doch erkennen, dass die Laute in bestimmten Situationen zu
bestimmten Zwecken geäußert werden: Sie sollen ein bestimmtes Ver
halten verursachen und dadurch die Interaktion mit Vertretern der
eigenen Spezies oder anderer Spezies regeln. Dies verdeutlicht, dass |
die Zwitscherlaute weit mehr sind als Geräusche; sie sind Zeichen, |
35 Essais II, 12, ed. Villey, S. 453 A (dt. S. 224).
36 Essais II, 12, ed. Villey, S. 458 A (dt. S. 226).
34
die gezielt eingesetzt werden, um beim Empfänger eine bestimmte
Wirkung hervorzurufen.
Die Beispiele, die Montaigne anführt, mögen heute anekdotisch
anmuten.37 Entscheidend ist indessen nicht die Plausibilität der ein
zelnen Beispiele, sondern der allgemeine Erklärungsansatz. Sobald
Sprache in pragmatischer Hinsicht betrachtet wird, ist es durchaus
möglich, Tieren eine Sprache zuzuschreiben. Wir sehen nämlich, dass
bestimmte Lautäußerungen bestimmte Verhaltensweisen hervorrufen
und dass sie genau zu diesem Zweck eingesetzt werden. So können
wir fremde Zeichensysteme bestimmen, auch wenn wir nicht in der
Lage sind, sie vollständig in unsere Sprache zu übersetzen. Dies ist
ein Punkt, der auch von heutigen Forschern, die nach der Möglichkeit
von Tiersprachen fragen, betont wird. So hält J. Proust fest, dass es
unzulässig wäre, stets mit einem hoch angesetzten Sprachbegriff zu
operieren und von jedem sprachfähigen Lebewesen gleich das Be
herrschen einer Semantik und einer Syntax zu verlangen. A u f einer
basalen Ebene beginnt Sprache mit einer zielgerichteten Informa
tionsvermittlung, und auf dieser Ebene gilt: »Es gibt eine Kommuni
kation, sobald die erhaltene Information das Verhalten des Rezipien
ten bestim m t.. ,«38 Gelingt es einem Tier, mit gezielten Signalen in
einem anderen Tier ein bestimmtes Verhalten zu bewirken, kann
ihm eine gewisse (freilich nur basale) Form von Kommunikation
und damit auch eine gewisse Sprachbeherrschung zugesprochen wer
den.
Ein zweiter Bereich, in dem Montaigne versucht, die Mensch-Tier-
Differenz einzuebnen, umfasst das rationale Handeln. Gewöhnlich
gehen wir davon aus, dass Menschen bestimmte Handlungen ausfüh
ren, weil sie sich Ziele setzen und überlegen, mit welchen Mitteln sie
diese Ziele am besten erreichen können. Kurz gesagt: Wir schreiben
den Menschen Zweckrationalität zu. Warum sollten wir diese nicht
auch den Tieren zuschreiben? Montaigne veranschaulicht diese Frage
anhand eines Beispiels. Angenommen, ein Fuchs erreicht einen zuge
frorenen Fluss und wir beobachten, wie er sein Ohr zunächst dicht ans
35
Eis legt und dann stehen bleibt oder weiter geht. Sollten wir dann
nicht sagen, dass der Fuchs sich ein Ziel setzt (der Fluss soll überquert
werden) und dann prüft, ob ein bestimmtes Mittel (Überschreiten
der Eisdecke) zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt werden kann
oder nicht? Sollten wir nicht sogar annehmen, dass der Fuchs logische
Überlegungen anstellt, etwa indem er denkt, dass er die Eisdecke nur
überschreiten kann, wenn sie dick genug ist und sein Gewicht trägt?
Freilich lässt sich nicht eindeutig feststellen, was der Fuchs denkt.
Doch für Montaigne steht fest, dass wir das Fuchs verhalten nicht j
bloß mit Rekurs auf Sinneseindrücke erklären können: »Denn sein
Verhalten lediglich der Schärfe seines Gehörs und nicht auch seinem
logischen Denkvermögen zuzuschreiben, scheint mir völlig abwegig
und keiner Erwägung wert.«39
Auch hier könnte man einwenden, dass Montaigne einem Anthro
pomorphismus verfällt. Warum sollte der Fuchs Propositionen erfas
sen und sie gemäß logischen Regeln miteinander verknüpfen? Es
könnte ja sein, dass ein simples Reiz-Reaktions-Muster sein Verhal
ten bestimmt: Immer wenn er bestimmte auditive Wahrnehmungs
reize erhält (z. B. Geräusche von rauschendem Wasser), wird die Reak
tion des Stehenbleibens ausgelöst. Ein solcher Einwand ist natürlich
berechtigt und bedarf einer empirischen Prüfung. Doch auch hier
ist nicht die Überzeugungskraft des konkreten Beispiels entschei
dend.40 Wichtig ist vielmehr die Grundüberlegung, dass nicht von
vornherein eine kognitive Tätigkeit ausgeschlossen werden darf, nur
weil der Fuchs - im Gegensatz zu uns Menschen - keine solche Tätig
keit sprachlich manifestiert. Oder verkürzt ausgedrückt: Nur weil der
Fuchs nicht spricht, kann ihm noch nicht das Denken abgesprochen
werden.
Auch in diesem Punkt erweist sich Montaignes Ansatz als verblüf
fend aktuell. In der gegenwärtigen Debatte stellen nämlich verschie-
39 Essais II, 12, ed. Villey, S. 460 A (dt. S. 227).
40 Es ist grundsätzlich zu beachten, dass Montaigne keine Behauptungen über die
kognitiven Leistungen der Tiere aufstellt, sondern in Anlehnung an die Methode
der pyrrhonischen Skepsis nur bestimmte Meinungen (z. B. dass der Fuchs Über
legungen anstellt) anderen, bereits etablierten Meinungen gegenüberstellt und so
einen Zustand der Isosthenie, d. h. der Gleichwertigkeit von Meinungen, erreichen
will. Vgl. zu dieser Methode I. Maclean, M ontaignephilosophe, Paris: Presses Uni-
versitaires de France 1996, S. 48-51; F. Brahami, Le scepticisme de M ontaigne, Paris:
Presses Universitaires de France 1997; M . Wild, »Les deux pyrrhonismes de Mon
taigne«, Bulletin de la societe des amis de M ontaigne 19-20 (2000), S. 45-56.
36
dene Philosophen die nach dem »linguistic turn« dominierende These
von der Sprachabhängigkeit des Denkens in Frage. So bestreitet F.
Dretske mit Nachdruck die Ansicht, dass nur Lebewesen, die in
einem sozialen Kontext eine Sprache lernen und verwenden, auch
denken können. Genau wie Montaigne führt auch Dretske teils em
pirisch belegte, teils fiktive Beispiele von Tieren an, um zu verdeut
lichen, dass ein Lebewesen bereits aufgrund innerer Repräsentatio
nen, die Informationen über die Umwelt vermitteln, denken kann.
Diese Repräsentationen entstehen durch Kausalbeziehungen zu Ge
genständen in der Umwelt und dienen als »kognitive Karten« fiir
das Verhalten. Dretske hält fest: »Gedanken sind als Karten beschrie
ben worden, mit deren Hilfe wir navigieren. Ich mag diese Meta
pher. Karten sind Repräsentationen, und ihr Navigationsvermögen
ist die Rolle, die sie in der Festlegung eines Outputs spielen.«41 Wen
det man diese Aussage auf das Fuchsbeispiel an, heißt dies: A u f der
Grundlage der auditiven Eindrücke, die der Fuchs von der Eisdecke
und dem Wasser erhält, eignet er sich eine kognitive Karte vom Fluss
an - eine Karte, auf der einzelne Gegenstände und ihre Beziehun
gen zueinander eingezeichnet sind. Diese kognitive Karte bestimmt
unmittelbar das Verhalten des Fuchses, etwa sein Stehenbleiben oder
sein Weitergehen. So gesehen denkt der Fuchs, auch wenn er nicht im
stande ist, Begriffe im strengen Sinn (d. h. Prädikate) zu bilden und
logische Überlegungen sprachlich zu artikulieren.
Wie dieses Beispiel verdeutlicht, ist Montaignes Versuch, die
Mensch-Tier-Differenz möglichst weitgehend einzuebnen und das
Denken bereits auf einer vorsprachlichen Ebene anzusiedeln, nicht
einfach ein skurriles Projekt der frühen Neuzeit. In seinem methodi
schen Ansatz (wenn auch nicht in der Erklärung einzelner Beispiele)
ist es auch heute noch von systematischer Bedeutung. Freilich steht
ihm ebenfalls seit der frühen Neuzeit ein anderes Projekt gegenüber,
das die Differenz zwischen Mensch und Tier betont. Dieses Gegen
projekt ist vor allem durch Rene Descartes (1596-1650) bekannt ge
worden, der in seiner Metaphysik bekanntlich einen dualistischen
Ansatz wählte. Bereits dieser Ansatz impliziert eine prinzipielle und
nicht nur eine graduelle Unterscheidung von Mensch und Tier. Wenn
Menschen nämlich aus einem materiellen Körper und einer immate-
41 F. Dretske, »The Nature o f Thought«, in: id., Perception, Knowledge and Belief,
Cambridge und N ew York: Cambridge University Press 2000, S. 240. Vgl. auch
in diesem Band, S. 216 f.
37
riellen Seele bestehen, Tiere hingegen nur aus einem materiellen Kör
per, können Tiere und Menschen nicht gleich strukturiert sein, wie
ähnlich ihr Verhalten auch erscheinen mag. Vor allem können Tiere
keine Gedanken haben, denn Gedanken sind der cartesischen Meta
physik zufolge Akte und Zustände (sog. »Modi«) des immateriellen
Geistes.42 Was auch immer wir als Denken, Überlegen, Planen oder
kluges Handeln bei einem Tier auffassen, muss somit »entgeistigt«
und dem materiellen Körper zugeschrieben werden. Wenn man sich
der in Abschnitt i dargestellten Unterscheidung verschiedener Inten
tionalitätsstufen bedienen möchte, könnte man sagen, dass Descartes
die Zustände des Fuchses auf der nullten Stufe erklärt: Der Fuchs
zeigt nur ein Reiz-Reaktions-Muster, das in seinem Körper implemen
tiert ist. Montaigne hingegen erklärt diese Zustände auf der ersten
Stufe: Der Fuchs denkt an die Eisdecke und möchte sie überqueren.
Er überlegt, dass er sie nur überqueren kann, wenn sie dick genug
ist und sein Gewicht trägt. Eine solche Zuschreibung intentionaler
Zustände ist Descartes zufolge nur bei einem Lebewesen mit einem
immateriellen Geist möglich.
Nun könnte man den Eindruck gewinnen, dass Descartes’ nega
tives Verdikt einzig und allein in seiner dualistischen Metaphysik
begründet ist. Lehnt man diese Metaphysik ab, wie dies die meisten
Gegenwartsphilosophen fordern, entfällt auch die Begründungsba
sis, um Tieren geistige Zustände absprechen zu können.43 Bereits
die Überwindung des cartesischen Dualismus hat dann die Preisgabe
einer prinzipiellen Mensch-Tier-Differenz zur Folge. Ein genauer
Blick auf Descartes’ Schriften zeigt indessen, dass diese Differenz
nicht allein in der dualistischen Metaphysik begründet ist. Descartes
führt Argumente an, die ohne Rekurs auf die Dualismus-These zei
gen sollen, dass eine prinzipielle Mensch-Tier-Differenz besteht.44
42 Vgl. Principia I, 8-9 und 32 (AT V III-i, 7-8 und 17) (dt. D ie Prinzipien der Philoso
phie, übersetzt von A. Buchenau, Hamburg: Felix Meiner 1992, S. 3 und 11-12). Des
cartes’ Werke werden nach der Ausgabe der CEuvres de Descartes, hrsg. von Ch.
Adam und P. Tannery (= AT), »nouvelle presentation«, Paris: Vrin 1981 ff. zitiert.
43 Freilich könnte man auch umgekehrt argumentieren: Entfällt die dualistische Basis
zugunsten einer materialistischen Metaphysik, entfällt auch die Möglichkeit, den
Menschen geistige Zustände zuzusprechen. Menschen sind dann genauso physiolo
gische Maschinen wie die Tiere im Rahmen der cartesischen Metaphysik. Eine Zu
schreibung geistiger Zustände ist dann nur möglich, wenn die Möglichkeit mate
rieller geistiger Zustände eingeräumt wird.
44 Ob diese beiden Argumente tatsächlich von der Dualismus-These unabhängig
38
Er entwickelt diese Argumente, indem er zwei Tests einführt, um raf
finierte Maschinen, die wie Menschen aussehen und sich scheinbar
auch wie Menschen verhalten, von wirklichen Menschen zu unter
scheiden.45
Der erste Test bezieht sich auf das Sprachvermögem Raffinierte M a
schinen können zwar Laute äußern, sind aber nicht in der Lage, Wör
ter oder andere Zeichen zu verwenden, um anderen Gedanken mitzu
teilen. Will man herausfinden, ob ein sprechendes Wesen tatsächlich
ein Mensch ist, muss man nur testen, ob es Wörter so miteinander ver
bindet, dass es anderen etwas mitteilt. Der zweite Test betrifft das
Handlungsvermögen: Maschinen können keine intelligenten, der je
weiligen Situation angepassten Handlungen ausführen, sondern sind
auf bestimmte Bewegungsmuster festgelegt. Auch hier muss man nur
testen, ob ein Wesen sich einer neuen Situation anpassen kann, wenn
man herausfinden will, ob es ein Mensch oder eine Maschine ist. Be
merkenswert ist nun, dass Descartes die beiden Tests ausdrücklich auf
die Tiere anwendet: »Nun, durch diese zwei Mittel kann man auch
den Unterschied, den es zwischen den Menschen und den Tieren gibt,
erkennen. Denn es ist ein sehr bemerkenswerter Sachverhalt, dass es -
die Verrückten nicht ausgenommen —keine so stumpfsinnigen und
dummen Menschen gibt, die nicht fähig wären, verschiedene Worte
zusammenzustellen und daraus eine Rede zu bilden, durch die sie ihre
Gedanken verständlich machen; und dass es umgekehrt kein anderes
Tier gibt, das, so vollkommen und glücklich veranlagt es auch sein
mag, Ähnliches leistet. [...] Ein sehr bemerkenswerter Sachverhalt
ist auch, dass, obgleich es mehrere Tiere gibt, die in manchen ihrer
Handlungen mehr Geschicklichkeit bezeugen als wir, man dennoch
beobachtet, dass dieselben in vielen anderen überhaupt keine zeigen.
Das, was sie besser als wir machen, beweist also nicht, dass sie Geist
sind, ist unter Descartes-Exegeten freilich umstritten. Vgl. M . Dauier Wilson, »Ani
mal Ideas«, in: id., Ideas and Mechanism. Essays on Early M odern Philosophy;
Princeton: Princeton University Press 1999, S. 495-512; K. Morris, »Betes-ma-
chines«, in: Descartes’ N atural Philosophy, hrsg. von S. Gaukroger et al., London
und New York: Routledge 2000, S. 401-419; L. Newman, »Unmasking Descartes’s
Case for the Bete Machine Doctrine«, Canadian Jo urn al o f Philosophy 31 (2001),
S. 389-426.
45 Vgl. Discours de la methode V (AT VI, 56-57) (dt. Bericht über die Methode, übers,
von H. Ostwald, Stuttgart: Reclam 2001, S. 105); dazu ausführlich D. Perler, »Des
cartes über Fremdpsychisches«, A rchiv fü r Geschichte der Philosophie 77 (1995),
S. 42-62.
39
besitzen, denn dies angenommen, hätten sie mehr als irgendeiner von
uns und würden es in allen Dingen besser machen.«46 Wie für die M a
schinen gilt somit auch für die Tiere, dass sie sich von den Menschen
unterscheiden, weil sie weder über Sprach- noch über Handlungsver
mögen verfügen. Ja, die Tiere sind nichts anderes als lebendige M a
schinen (Descartes vergleicht sie mit aufgezogenen Uhren), die ge
mäß einem festgelegten Mechanismus funktionieren.
Die unmittelbare Anwendung der beiden Tests auf die Tiere ver
deutlicht, dass die berühmte »bete-machine«-These ein Bestandteil
der »corps-machine«-These ist.47 Da die Tiere Descartes zufolge die
beiden Tests nicht bestehen, sind sie für ihn nichts anderes als Kör
per-Maschinen: nach Naturgesetzen funktionierende Organismen,
die keine geistigen Zustände haben. Doch warum bestehen die Tiere
die Tests nicht? M it Bezug auf den ersten Test könnte man sogleich
einwenden, dass Tiere doch mit gezielt eingesetzten Signalen anderen
etwas mitteilen können. So können Grüne Meerkatzen ihre Artge
nossen vor einem herannahenden Raubfeind warnen. Sind dies nicht
Formen der Mitteilung, die weit über das mechanische Äußern von
Lauten hinausgehen? Auch Descartes’ negatives Fazit bezüglich des
zweiten Tests scheint nicht überzeugend zu sein. Können Tiere ihre
Handlungen nicht neuen Situationen anpassen und dadurch eine ge
wisse Lernfähigkeit an den Tag legen? So kann ein Schimpanse doch
lernen, welcher Trainer ihm einen mit Nahrung gefüllten Behälfer
bringt und welcher Trainer diesen Behälter für sich behält. Entspre
chend kann er seine Handlung der Situation anpassen, indem er
den kooperativen Trainer zum gefüllten Behälter führt, den konkur
rierenden hingegen nicht. Ist dies nicht eine intelligente, der Situation |
angepasste Handlung, die weit mehr darstellt als ein mechanisches
Bewegungsmuster?
Diese Einwände verdeutlichen, dass Descartes’ Tests direkt den
Kern jener Probleme berühren, die auch heute noch im Mittelpunkt
der Debatte stehen. Es stellt sich nämlich die Frage, welche Bedingun
gen ein Lebewesen erfüllen muss, damit ihm Sprach- und Handlungs
vermögen zugesprochen werden. Die gegenwärtigen Kontroversen
bezüglich dieser Frage zeigen, dass Descartes’ Standpunkt keineswegs
vollständig antiquiert ist, wie man zunächst vermuten könnte. Be- 1
46 Discours de la methode V (AT VI, 57-58) (dt. S. 107 und S. 109).
47 Vgl. dazu M . Wild, »Tiere als >bloße< Körper? Über ein Problem bei Descartes und
McDowell«, Studia Philosophica 62 (2003), S. 13 3-147.
40
trachten wir den ersten Test: Wenn Descartes den Tieren ein Sprach-
vermögen abspricht, so nicht, weil sie keine Zeichen oder Signale zur
Bezugnahme auf Dinge in ihrer Umgebung verwenden können; er
spricht ihnen nicht die Fähigkeit zur Referenz ab. Ebenso wenig leug
net er, dass Tiere ganz bestimmte Zeichen zu bestimmten Zwecken
einsetzen können, etwa zur Warnung vor Raubfeinden. Der Grund
für die mangelnde Sprachfähigkeit liegt seiner Ansicht nach darin,
dass sie nicht kreativ mit Sprache umgehen und genau dadurch be
weisen, dass sie nicht selbständig Gedanken bilden und anderen mit-
teilen. Sie sind zwar imstande, ein bestimmtes Repertoire von Signa
len zu verwenden. Doch sie greifen immer auf das gleiche Repertoire
zurück, das sie nicht variieren oder neu zusammenstellen können. An
ders verhält es sich bei den Menschen. Diese »erfinden für gewöhnlich
selbst irgendwelche Zeichen, durch die sie sich denjenigen verständ
lich machen, die mit ihnen Umgang pflegen .. .«48 A u f den Einwand,
dass Grüne Meerkatzen sehr wohl eine Signalsprache verwenden kön
nen, um ihren Artgenossen etwas mitzuteilen, würde Descartes somit
antworten, dass sie immer die gleichen Signale äußern, um vor Raub
feinden zu warnen. Und jede Grüne Meerkatze äußert die gleiche
Art von Signal; es gibt keine Erfindung eigener Signale und keine in
dividuelle Neukombination bereits verwendeter Signale.
Diese Kritik wird auch in heutigen Debatten immer wieder ge
äußert. So haben S. Savage-Rumbaugh und K. E. Brakke zahlreiche
Experimente, die mit Schimpansen, Bonobos und anderen Affen an
gestellt wurden, evaluiert und kritisch festgestellt, dass die getesteten
Tiere zwar Signale lernten und diese erfolgreich zur Bezugnahme
auf bestimmte Gegenstände verwendeten. Sie waren aber nicht in
der Lage, die einmal gelernten Signale neu zu kombinieren. Diese
Beobachtung hat die beiden Forscherinnen zu folgendem Schluss
gebracht: »Diese Daten legen nahe, dass nicht eine Tendenz zur Imi
tation oder ein Mangel an syntaktischer Kompetenz für die Tatsache
verantwortlich ist, dass Nim [sc. einer der untersuchten Affen] nicht
imstande ist, eine Sprache zu lernen, wie Terrace argumentiert. Die
Schwierigkeit liegt noch tiefer. Es stellt sich heraus, dass Nim unfähig
ist, unabhängig von der jeweiligen Ordnung wirklich neue Zwei-
Wort-Kombinationen zu bilden.«49 Kurz gesagt: Nim und andere
48 Discours de la methode V (AT VI, 58) (dt. S. 107).
49 S. Savage-Rumbaugh und K. E. Brakke, »Animal Language: Methodological and
Interpretive Issues«, in: Readings in A nim al Cognition, op cit., S. 282.
41
Affen sind unfähig, kreativ mit einem Repertoire von Signalen umzu
gehen. Aus diesem Grund sind Savage-Rumbaugh und Brakke heute -
genau wie Descartes im 17. Jh. - nicht bereit, diesen Tieren ein
Sprachvermögen zuzusprechen.
Die Kreativität spielt auch für den Test des Handlungsvermögens
eine entscheidende Rolle. Descartes spricht den Tieren ein gewisses
Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten nicht ab. So würde er nicht
bestreiten, dass ein Schimpanse sich gegenüber einem kooperativen j
Trainer anders verhalten kann als gegenüber einem konkurrierenden 1
Trainer. Entscheidend ist für ihn die Frage, ob der Schimpanse eine !
bestimmte Handlung frei wählt und gegebenenfalls variiert oder ob
er sie nur aufgrund eines Reiz-Reaktions-Musters ausführt, das in
seinem »Bauplan« festgelegt ist, ähnlich wie die Bewegung der Zeiger
im Mechanismus einer Uhr angelegt ist. Könnte der Schimpanse sich
etwa dazu entscheiden, den konkurrierenden Trainer plötzlich zum
Behälter mit Nahrung zu führen, nachdem er ihn zehnmal zum leeren
Behälter gelenkt hat? Oder ist der Schimpanse darauf festgelegt, auf
einen bestimmten Reiz immer mit dem Hinführen zum leeren Be- |
hälter zu reagieren? Allgemeiner gefragt: Ist das Verhalten eines Tiers
biologisch determiniert, oder wird es durch kognitive Zustände her- j
vorgebracht, die auch eine Variation erlauben?
Die Frage ist keineswegs endgültig entschieden, wie wiederum ein |
Blick auf die neuere ethologische Forschung zeigt. So ist ausgiebig dis
kutiert worden, ob Tiere (insbesondere bestimmte Vogelarten) ihr Ha
bitat wählen oder ob sie sich nur aufgrund eines genetisch festgelegten
Verhaltensmusters in ein Habitat begeben.50 Einige Forscher behaup
ten, Tiere würden ihr Habitat tatsächlich wählen, weil sie eine »kog
nitive Karte« von ihrer Umgebung anlegen können und mit dieser !
Karte die geeignete Umgebung aussuchen. Andere wenden dagegen
ein, selbst wenn eine solche Karte existiere, ermögliche sie keine freie
Wahl. Sie lege nämlich ein Tier darauf fest, immer die gleiche Art von
Habitat aufzusuchen; von einer Wahl könne nur bei einer Flexibilität
und Variabilität im Verhalten gesprochen werden. Damit wird natür
lich genau jener Punkt betont, den bereits Descartes in den Mittel
punkt seiner Überlegungen stellte: Ohne Flexibilität im Verhalten
gibt es kein Anzeichen für eine Wahl und damit auch kein Indiz für
einen kognitiven Zustand.
50 Vgl. M . L. Rosenzweig, »Do Animais Choose Habitats?«, in: Readings in A nim al
Cognition, op. cit., S. 185-199.
42
Wie dieses Beispiel verdeutlicht, ist Descartes5 Kritik an der These,
dass Tiere über kognitive Zustände verfügen, auch nach der Preisgabe
der dualistischen Metaphysik nicht verstummt. Im Gegenteil: Die kri
tische Evaluation empirischer Untersuchungen mit Affen, Vögeln und
anderen Lebewesen hat den beiden Tests, die Descartes zur Unter
scheidung von Menschen und Tieren anführte, wieder neues Gewicht
gegeben. Hinter diesen Tests verbirgt sich stets die Frage, ob Sprache
und Verhalten bei Tieren tatsächlich einen kognitiven Ursprung ha
ben oder ob sie auf ein Reiz-Reaktions-Muster zurückgeführt werden
können.
43
nen. Bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden Affenlaute als
unwillkürlich und indexikalisch betrachtet.51 Das heißt erstens: Die
Rufe entspringen einem unwillkürlichen, d. h. unflexiblen und ange
borenen Reflex. Der einzelne Affe muss hier nichts lernen oder sonst
eine kognitive Leistung erbringen. Diese Art von Rufen ist ihm ange
boren und mit bestimmten Reizen »fest verdrahtet«. Das heißt zwei
tens: Die Rufe geben nur Auskunft über einen affektiven Zustand des
Rufers. Es handelt sich um unmittelbare Äußerungen der inneren Er
regung. Sie beziehen sich also nicht auf äußere Objekte oder gar auf
Sachverhalte. Die neurophysiologische Basis dafür ist, dass Affenrufe
durch Reizungen im subkortikalen Bereich des Gehirns ausgelöst wer
den, vor allem in jenem Bereich, der für die affektiven Reaktionen
zuständig ist. Dazu könnte Descartes ohne Weiteres seine Zustim
mung geben.
Vor nicht einmal dreißig Jahren erschienen den Psychologen und |
Philosophen Fragen wie »Haben Tiere ein Bewusstsein?« oder »Den- j
ken Tiere?« ebenso abwegig wie unwissenschaftlich. Die damals vor- j
herrschende wissenschaftliche Psychologie, der Behaviorismus, ver- j
bat sich ja den Gebrauch mentaler Begriffe oder betrachtete diese [
Begriffe als Bezeichnungen für Verhaltensweisen oder für Dispositio
nen zu Verhaltensweisen. Es war verpönt, Behauptungen aufzustellen
wie »Die Taube glaubt, dass p «. Wenn man nun doch nicht umhin
kam, so zu sprechen, musste man stets darauf achten, mentale Be- j
griffe wie >glauben< als vage Bezeichnung für ein bestimmtes Verhak j
ten zu begreifen oder zumindest für die Disposition zu diesem Verhal-
ten. [
Betrachten wir ein konkretes Beispiel für eine solche Deutung men- (
taler Begriffe. Eine Taube hat in ihrem Käfig gelernt, dass ein Schna- j
beihieb auf einen roten Knopf Futter bringt. M it der Zeit lernt die |
Taube, wenn sie Futter möchte, diesen roten Knopf zu betätigen. Zeit
gleich mit dem Schnabelhieb blinkt eine Lampe a u f M it der Zeit wird
die Taube beim Blinken dieser Lampe auf Futter warten, ja ihre Schna- j
beihiebe auf den roten Knopf aufgrund des bloßen Blinkens des |
Lichts ausführen. Die »Überzeugung« der Taube nun, dass der Schna- j
beihieb auf den roten Knopf ihr Futter verschafft, ist nichts weiter als
die durch positive Verstärkung hervorgerufene Neigung oder Dispo
sition, diesen Knopf zu betätigen. Mentale Ursachen kommen hier
51 Vgl. dazu D. L. Cheney und R. M . Seyfarth, How Monkeys See the World, op. cit.,
S. 136-14 1.
44
nicht in Betracht. Weiter kann das Verhalten der Taube durch belie
bige Reize konditioniert werden, wie eben durch das Blinken einer
Lampe. Angeborene Verhaltensweisen kommen hier also ebenso we
nig in Betracht. Die ausschließliche Berücksichtigung des sichtba
ren Verhaltens bietet natürlich den Vorteil größerer Wissenschaftlich
keit, weil dieses Verhalten an sichtbaren, körperlichen Bewegungen
und mithilfe überprüfbarer Testverfahren ohne Rückgriff auf verbor
gene Variablen beschrieben werden kann. Ähnlich gehen wir im All
tag vor: Wir beziehen uns selbstverständlich auf das Verhalten, auch
auf das Sprechverhalten. Aber wir erklären Verhaltensweisen sowohl
bei Menschen als auch bei vielen Tieren durch das, was sie glauben
oder wünschen. Unsere Alltagspsychologie bezieht sich auf mentale
Ursachen für Verhalten. Der Behaviorist, so lässt sich einwenden, ver
wechselt Evidenzen für die Zuschreibung mentaler Zustände mit den
mentalen Zuständen selber.
Die Behavioristen stellten ihre Verhaltensexperimente mit Ratten
oder Tauben meist in künstlichen Umgebungen an, in so genann
ten Skinner-Käfigen, benannt nach dem Psychologen B. F. Skinner
(1904-1990). Das dort gezeigte Verhalten ist kein Fall eines »Trial-
and-Error«-Lernens. Die Taube in der Skinner Box versucht sich ja
nicht an zahlreichen Möglichkeiten, um ein bestimmtes Ziel zu er
reichen, sondern ein beliebiges Verhalten (das Picken auf den roten
Knopf) wird mit einer Belohnung versehen, die ein natürliches Be
dürfnis befriedigt, und wird dadurch verstärkt. Diese instrumenteile
Konditionierung formt das zukünftige Verhalten der Taube. Der be-
havioristische Ansatz lässt sich auf E. L. Thorndikes (1874-1949) Ge
setz der Wirkung {law o f effect) und das diesem Gesetz zugrunde
liegende Reiz-Reaktions-Modell zurückführen. Das Gesetz der Wir
kung bezieht sich auf das Lernen am Erfolg, das durch subjektive Be
friedigung verstärkt wird: Stets werden jene Verbindungen zwischen
Reizen und Reaktionen verstärkt, die in einem Lebewesen einen an
genehmen Effekt erzeugen.52 Die Grundlage ist das alte Assoziations-
52 »Of several responses made to the same Situation those which are accompanied
or closely followed by satisfaction to the animal will, other things being equal, be
more firmly connected with the Situation, so that, when it recurs, they will be more
likely to recur; those which are accompanied or closely followed by discomfort to
the animal will, other things being equal, have their Connections to the Situation
weakened, so that, when it recurs, they will be less likely to occur. The greater
the satisfaction or discomfort, the greater the strengthening or weakening o f the
45
modell des Geistes, das in der Psychologie des 18. und des 19. Jahrhun
derts gebräuchlich war.
Das paradigmatische Tier des Behaviorismus also ist die instrumen
teil konditionierte Tabula-rasa-Taube im Skinner-Käfig. Descartes
hätte auch hier prinzipiell seine Zustimmung geben können. (Freilich
hätte er sich der von den Behavioristen vorgenommenen Übertragung
derselben Erklärungsmuster auf menschliches Verhalten heftig wider
setzt.) Sowohl die behavioristische Verhaltenserklärung als auch die
oben erwähnte neurophysiologische Erklärung der Affenlaute entspre
chen Descartes’ Analyse des Verhaltens einer dressierten Elster, die
ihrer Herrin »Guten Tag!« sagt. Die Lautäußerung der Elster, so Des
cartes, sei ihr durch Konditionierung beigebracht worden. Mithin
handele es sich nicht um eine spontane Äußerung, sondern um ein
gezieltes Training. Die Elster hat auch gar nicht die Absicht, »Guten
Tag!« zu sagen. Sie vollzieht keinen Sprechakt. Was sie will, ist dasje
nige, womit sie abgerichtet wurde: Futter. Weiter bemerkt Descartes,
das Verhalten der Elster sei lediglich Ausdruck ihres inneren physio
logischen Zustands.53
Die beiden skizzierten quasi cartesianischen Erklärungsmodelle
liefern Null-Hypothesen bezüglich des Geistes der Tiere. Auch Den-
netts Stufenmodell intentionaler Zustände hält ja, wie wir gesehen
haben, eine solche Null-Hypothese (die Dennett bisweilen als »Spiel
verderber-Hypothese« bezeichnet) bereit. Solche Hypothesen müssen
im Prinzip möglich sein, und Behauptungen, dass Tiere über Bewusst
sein, Gedanken oder Überzeugungen verfügen, müssen sich gegen sol
che Null-Hypothesen bewähren. Etwas anderes ist es freilich, Fragen
nach dem Geist der Tiere von vornherein als unwissenschaftlich aus
zuklammern und gleichsam unter Naivitätsverdacht zu stellen oder
die Beweislast ganz auf die Seite derjenigen zu schieben, die bereit
sind, Tieren einen Geist zuzuschreiben.
Heute ist die Frage nach dem Geist der Tiere zurückgekehrt und
bond.« E. L. Thorndike, A nim al Intelligence, New York: Macmillan 19 11, S. 244.
Eine Lehrbuchfassung findet sich in D. McFarland, Biologie des Verhaltens. Evolu
tion, Physiologie, Psychobiologie (2. neubearbeitete Auflage), Heidelberg und Berlin:
Spektrum 1999, S. 287-288. Die Funktion dieses Gesetzes für F. Dretskes Theorie
der Indikatorfestlegung diskutiert J. Proust, Comment l ’esprit vient aux betes, op.
cit., S. 14 9 -156; vgl. auch D. Dennett, »Why the Law o f Effect W ill Not Go Away«,
in: id., Brainstorms. Philosophical Essays on M in d and Psychology, Cambridge
(Mass.): MIT Press 1978, S. 71-89.
53 Brief an Newcastle, 23. 11. 1646 (AT IV, 574-575).
46
neu erwacht. Das verdankt sich unter anderem dem so genannten cog-
nitive turn, der kognitiven Wende in der Psychologie und in der Lin
guistik, die zur Entstehung des weiten Felds der Kognitionswissen
schaften geführt hat. Diese Wende hat unterschiedliche Wurzeln.
O ft werden N . Chomskys Attacke gegen Skinners behavioristische
Sprachtheorie54 und seine Ausarbeitung einer Generativen Gramma
tik oder der Beginn der Computertechnologie und der Forschung zur
künstlichen Intelligenz an deren Anfang gesetzt.55 Es ist wichtig zu
beachten, dass beide Ursprünge von Bedeutung sind. M it dem Com
putermodell wird ein mögliches Modell für die Funktionsweise des
Geistes gewonnen. Das Computermodell wird zum einschlägigen
Bild für ein funktionalistisches Verständnis geistiger Prozesse als Ver
arbeitungsprozesse von kodierter Information.56 Chomsky legt, wie
Descartes in seinem Sprachtest, das Gewicht auf die Kreativität und
die relative Aneignungsgeschwindigkeit der Sprache. Unter anderem
schließt er daraus (gegen den Behaviorismus), dass gewisse gramma
tische Strukturen angeboren sein müssen. Chomskys Rückgriff auf
eingeborene Strukturen hat sich in den Kognitionswissenschaften
als fruchtbar erwiesen. Unter dem Stichwort der »Modularität« wird
die Idee einer angeborenen kognitiven Architektur des Geistes dis
kutiert. Die Grundidee besteht darin, dass der Geist nicht dank eines
generellen Mechanismus (etwa demjenigen der Assoziation oder des
Reiz-Reaktions-Musters) alle möglichen kognitiven Aufgaben zu be
wältigen vermag, sondern aus vielen autonomen, in sich geschlosse
nen, spezialisierten Systemen besteht, die für die kompetente und
schnelle Bewältigung spezialisierter Aufgaben zuständig sind, wie bei
spielsweise der visuellen Wahrnehmung, der Gesichterkennung oder
des Spracherwerbs.57
47
Neben den beiden genannten Elementen der kognitiven Wende,
dem Computermodell und der eingeborenen mentalen Architektur,
tritt als drittes Element die Wiederaufnahme von inneren mentalen
Zuständen zur Beschreibung und Erklärung des Verhaltens von Orga
nismen (und intelligenten Maschinen) hinzu. Mentale Begriffe wie
vor allem derjenige der mentalen Repräsentation, aber auch diejeni
gen des Plans, des Ziels, der bildlichen Vorstellung oder der Überzeu
gung, werden zentral in psychologischen Erklärungen.58 Die generelle
Arbeitshypothese der Kognitionswissenschaften kann so verstanden
werden, dass der Geist als ein teilweise eingeborenes Aggregat von Me
chanismen aufgefasst wird, der mentale Repräsentationen ähnlich wie
ein sehr komplexer Computer verarbeitet.59
Die kognitive Wende hatte natürlich auch Einfluss auf die Tier
psychologie.60 Das dyadische behavioristische Modell von Reiz und
Reaktion wird durch die Triade Input (externe Informationseinhei
ten), Operation (Informationsverarbeitungen) und Output (das sicht
bare Verhalten) abgelöst. Die paradigmatischen Tiere der kognitiven
Tierpsychologie sind nun Labor-Affen, die bestimmte, an trainierte
Aufgaben lösen. Man kann der Tierpsychologie aber den Vorwurf ma
chen, dass sie das mechanistische Modell des Behaviorismus ledig
lich durch ein neurologisches Computermodell ablöst, dass sie einen
Behaviorismus mit Computern darstellt. Der vom Behaviorismus
gleichsam eingeklammerte oder eliminierte Innenraum wird durch
die Operation, die Informationsverarbeitung, ersetzt. Solche Berech
nungsprozesse können aber, wie im Computer, ohne einen Funken
M in d: A n Essay on Faculty Psychology, Cambridge (Mass.): MIT Press 1983; id., »Pre-
cis o f The Modularity o f Mind», Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 1-42.
$8 Vgl. zur philosophischen Diskussion R. Schumacher: »Philosophische Theorien
mentaler Repräsentation«, in: Deutsche Zeitschrift fü r Philosophie 5 (1997),
S. 785-815; zur Diskussion in der Psychologie die Beiträge in M entale Repräsenta
tion, hrsg. von J. Engelkamp, T. Pechmann, Bern: Hans Huber 1993.
59 Eine umfassende, aber auch sehr umstrittene Darstellung des Geistes in dieser Per
spektive findet sich bei S. Pinker, How theM ind Works, New York: Norton 1997 (dt.
Wie das Denken im K o p f entsteht, München: Kindler 1998).
60 Vgl. die Übersichtsdarstellungen von H. Roitblat, »Animal Cognition«, in: A Com-
panion to Cognitive Science, op. cit., S. 114 -120; J. Vauclaire, A nim al Cognition,
Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 1996; S.J. Shettleworth, Cognition,
Evolution, and Behavior, New York und Oxford: Oxford University Press 1998;
C. D. L. Wynne, A nim al Cognition, London: Palgrave 2001. Eine geraffte Über
sicht bietet S. J. Shettleworth, »Animal Cognition and Animal Behavior«, A nim al
Behavior 61 (2001), S. 277-286.
48
Bewusstsein oder eine Spur Überlegung ablaufen. Die nun verwende
ten mentalen Ausdrücke sind zwar nicht mehr Platzhalter für Verhal
tensweisen und Dispositionen, aber sie sind in erster Linie explanato-
rische Platzhalter für neurologische Korrelate. Schließlich werden
auch hier Labor-Tiere lediglich künstlichen Aufgaben in einem künst
lichen Umfeld ausgesetzt. Es wird also nicht darauf geachtet, wie
Tiere in ihrer natürlichen Umwelt tätig sind und mit dieser interagie
ren.
Kritikpunkte dieser Art und die Fragen, wie es nun wirklich ist, ein
bestimmtes Tier zu sein, und was es nun wirklich ist, was Tiere den
ken, haben den Zoologen D. Griffin (1915-2003) in den 70-er Jahren
abseits der breiten Forschungsströme dazu geführt, die Frage nach
dem Bewusstsein von Tieren zu stellen.61 Für Griffin geht es darum,
ein Fenster zum Geist der Tiere hin zu öffnen (togeta window on their
minds). Der Untertitel von Griffins erstem Buch lautet: »Die evolu
tionäre Kontinuität des mentalen Erlebens.« Griffin nimmt damit
die These Darwins einer durch die Evolutionstheorie suggerierten
mentalen Kontinuität zwischen Mensch und Tier wieder auf. Dar
win hatte nämlich behauptet, dass es keinen fundamentalen Unter
schied zwischen dem Menschen und den höheren Tieren hinsichtlich
ihrer mentalen Vermögen gibt.62 Diese Kontinuitätsthese hatten be
reits Psychologen unmittelbar nach Darwin aufgenommen, darunter
am entschiedensten G. J. Romanes (1848-1894).63 Griffin interessiert
sich nun aber nicht nur für das Lernverhalten, für die Intelligenz, die
Kommunikation oder das Denken, sondern in erster Linie für die
schwierige Frage nach dem Bewusstsein anderer Tiere. Griffin ist näm
lich der experimentelle Entdecker der Echolokation bei Fledermäu
sen, der besonderen Fähigkeit dieser Tiere, sich in völliger Dunkelheit
49
mittels der Echos ihrer Ultraschallrufe zu orientieren. Erst aufgrund
der Forschungen Griffins hat Th. Nagel seinen bereits erwähnten A u f
satz »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« schreiben können. Nagels
Überlegungen wiederum haben Griffins Bemühungen herausgefor
dert, ein Fenster zum bewussten Erleben der Tiere hin zu öffnen.64
Ein solches Fenster kann es laut Nagel nicht geben, denn er zweifelt
ja daran, dass wir je werden wissen können, wie es ist, ein Individuum
einer anderen Spezies zu sein. Griffin glaubt, dass wir vor allem durch
zwei Fenster einen Blick auf das Bewusstsein der Tiere erhaschen kön
nen, nämlich durch die Untersuchung von komplexem, flexiblem und
neuartigem Verhalten bei Tieren und durch die (partizipative) Unter
suchung der Kommunikation zwischen den Tieren.65 In einem ge
wissen Sinne macht sich Griffin also für die Aufnahme der beiden
cartesischen Tests stark, getragen jedoch von der intuitiven Überzeu
gung, dass es phänomenal irgendwie sein muss, ein bestimmtes Tier
zu sein.
Griffin war es nun auch, der den Ausdruck >kognitive Ethologie<
prägte.66 Er bestimmte die Aufgabe der kognitiven Ethologie ganz all
gemein wie folgt:
Unsere Aufgabe ist es, die Speziesgrenze zu überschreiten und zu versuchen,
befriedigende Informationen darüber zu sammeln, was andere Spezies denken
und fühlen mögen. Diese kognitive Ethologie - eine Wissenschaft, die noch in
den Kinderschuhen steckt - sollte nicht durch den Neid au f die Computer
beengt werden, der einen großen Teil der derzeitigen kognitiven Psychologie
kennzeichnet.67
64 Auch die von D. Griffin organisierte Tagung in Berlin zeugt von der engen Zusam
menarbeit zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie, vgl. A nim al
M in d —Human M in d (Report o f the Dahlem Workshop on Animal Mind, Human
Mind, Berlin 1981, march 22-27), hrsg. von D. R. Griffin, Heidelberg und New
York: Springer 1982.
65 Griffins Versuch, das Thema des Bewusstseins in die wissenschaftliche Verhal
tensforschung einzubringen, wurde Gegenstand heftiger Kritik. Eine Übersicht
der Einwände geben M. Bekoff und C. Allen, »Cognitive Ethology: Slayers, Scep-
tics, and Proponents«, in: Anthropomorphism, Anecdotes, an d Anim ais, hrsg. von
R. W. Mitchell, N. S. Thompson und H. L. Miles, Albany: Suny Press 1997,
s. 313-334-
66 D. R. Griffin, »Prospects for a Cognitive Ethology«, Behavioral andBrain Sciences 4
(1978), S. 527-538.
67 D. R. Griffin, Wie Tiere denken. Ein Vorstoß ins Bewußtsein der Tiere, BLV Verlags
gesellschaft: München 1985, S. 22.
50
Es wird erkennbar, dass die einflussreiche Orientierung am Com
putermodell für Griffin wenig hilfreich erscheint bei der Frage nach
dem Bewusstsein anderer Tiere. Mittlerweile ist die kognitive Etho
logie ihren Kinderschuhen etwas entwachsen.68 Einer ihrer führenden
Vertreter, der Biologe M . Bekoff, definiert die kognitive Ethologie wie
folgt:
In dieser Definition wird sowohl die Initiative Griffins als auch die Re
habilitation mentalen Vokabulars durch die Kognitionswissenschaf
ten sichtbar. A u f Letzteres verweist ja auch der Name der Forschungs
richtung als einer kognitiven Ethologie. Der andere Teil des Namens
entlehnt sie der klassischen Ethologie, der Verhaltensforschung also,
die durch die Arbeiten von K. Lorenz (1903-1989) oder von N . Tin-
bergen (1907-1988) bekannt geworden ist.
Ebenso wie die Behavioristen und die Tierpsychologen halten sich
die Vertreter der klassischen Ethologie gegenüber Fragen des tieri
schen Bewusstsein oder des tierischen Denkens und Meinens zurück.
Tinbergen gibt sich aus Gründen der Wissenschaftlichkeit sehr reser
viert. Lorenz ist zwar mit Gefühlsausdrücken sehr freizügig, auf die
Frage aber, ob Tiere ein subjektives Erleben haben, antwortet er aus
weichend: »Wenn ich darauf antworten könnte, hätte ich das Leib-
Seele-Problem gelöst!«70 Die klassische Ethologie interessiert sich in
erster Linie für das Instinkt-Verhalten. Die Verhaltensforschung fragt
bei einem bestimmten Verhalten nach vier explanatorischeri Momen
ten, nämlich (i) nach den externen Umweltursachen, (ii) nach den
68 Dies bedeutet nicht, dass sie nicht vielfältiger Kritik ausgesetzt wäre, vgl. C. Heyes,
»Contrasting Approaches to the Legitimation o f Intentional Language within Com-
parative Psychology«, Behaviorism 15 (1987), S. 41-50; C. Heyes und A. Dickinson,
»The Intentionality o f Animal Action«, M in d and Language 5 (1990), S. 87-104;
J. Shettleworth, Cognition, Evolution, and Behavior, op. cit., Kap. 11
69 M . Bekoff, »Cognitive Ethology«, in: A Companion to Cognitive Science, op.
cit., S. 371-379: »Cognitive ethology is the comparative, evolutionary, and ecologi-
cal study o f nonhuman animal minds, including thought process, beliefs, rationa-
lity, Information processing, and consciousness.«
70 K. Lorenz, »Haben Tiere ein subjektives Erleben?«, in: id., Über tierisches und
menschliches Verhalten, Bd. II, München: Piper 1965, S. 617.
51
evolutionären Anpassungsvorteilen, die diese Verhaltensweise mit sich
bringt, (iii) nach der phylogenetischen und (iv) nach der ontogene-
tischen Entwicklung der Verhaltensweise. Man kann dies am besten
an einem Beispiel erklären, etwa am berühmten Beispiel der Prägung
von bestimmten Jungvögeln, vor allem von Enten und Gänsen. Was
ist Prägung? Das Erste, was Gänseküken sehen, wenn sie aus dem
Ei schlüpfen, ist normalerweise ein Elterntier. Gänseküken erkennen
dieses Elterntier aber nicht als Elterntier. Sie nehmen in dieser »sen
siblen Phase« einfach das erste bewegte Objekt als Elterntier an und
folgen ihm. Das ist die Prägung. Unter künstlichen Umständen kann
man das Elterntier auch durch einen bärtigen Verhaltensforscher er
setzen. Im Fall der Graugans Martina nämlich war Lorenz selbst Ziel
objekt des Prägeverhaltens. Martina widersetzte sich dann allen Versu
chen, einer echten Gans untergeschoben zu werden. Dieses Verhalten
ist nicht besonders intelligent. Es handelt sich vielmehr um einen an
geborenen, evolutionär selektionierten, instinktiven Mechanismus,
der aufgrund eines Schlüssel-Reizes (der in diesem Fall sehr vage
ist) ausgelöst wird. Hier kann man also die Ursache dieses spezifi
schen Verhaltens eruieren (ein Lebewesen in der Umgebung des
Nests), die adaptiven Vorteile erkennen (die Küken begeben sich so
fort unter den Schutz eines Elterntiers) und die ontogenetische Ent
wicklung beobachten (die Prägung erfolgt nur in einem bestimmten
Alter). Durch vergleichende Forschungen ergeben sich Hypothesen
bezüglich der Phylogenese. Anders als der Behaviorismus und die
Tierpsychologie betrachtet die klassische Ethologie Tiere nicht als
Verhaltens- oder Kognitionsorganismen, sondern vielmehr als durch
die Evolution geformte Wesen, die zum Schutz und zur Befriedigung
ihrer Triebe verschiedene instinktive Verhaltensmuster entwickelt ha
ben. Anders als der Behaviorismus und die Tierpsychologie beobach
ten die Ethologen das Verhalten der Tiere oft in der freien Wildbahn
und versuchen dabei möglichst einfache, nicht-invasive Experimente
anzustellen.
Die kognitive Ethologie teilt nun eine gewisse Vorliebe für Be
obachtungen von Tieren in ihrer natürlichen Umgebung und ebenso
die Vorliebe für nicht-invasive Experimente. Die paradigmatischen
Tiere der kognitiven Ethologie sind, wie für Lorenz oder Tinbergen,
freilebende soziale Tiere in ihrem natürlichen oder quasi-natürlichen
Habitat. Ebenso teilt die kognitive Ethologie die Überzeugung, dass
zu diesen ökologischen Gesichtspunkten evolutionäre hinzu kommen
müssen. Im Unterschied zur klassischen Ethologie jedoch interessiert
sich die kognitive Ethologie erstens nicht vorrangig für das Instinkt-
Verhalten und verwendet zweitens mentales Vokabular sowohl zur
Erklärung als auch zur Beschreibung und zur Interpretation des Ver
haltens von Tieren. Sie ergänzt die vier genannten Erklärungsprin-
zipen der klassischen Ethologie mithin um ein fünftes: den Geist
der Tiere.71
Z u den bekanntesten und interessantesten Forschungsbeiträgen
aus dem Bereich der kognitiven Ethologie gehören die schon mehr
fach erwähnten Arbeiten von R. S. Seyfarth und D. L. Cheney zu frei-
lebenden Grünen Meerkatzen. Auch Seyfarth und Cheney haben
sich, wie Griffin, Anregungen aus der Philosophie geholt. So fragen
sie zunächst im Sinne Nagels, wie es ist, ein Affe zu sein. Was sie dann
aber detailliert beschreiben, sind weniger subjektive Erlebnisse. Viel
mehr versuchen sie, die Verhaltensweisen einer anderen Art mentalis-
tisch zu beschreiben und zu erklären. Dabei greifen sie auf ein Ge
dankenexperiment des Philosophen Quine zurück und vergleichen
sich mit einem Sprachforscher, der sich in den Urwald begibt, um
die völlig unbekannte Sprache eines bislang unbekannten Stammes
zu studieren und zu übersetzen. Cheney und Seyfarth gehen davon
aus, dass die Alarmrufe der Meerkatzen auf eine begriffliche Fähig
keit schließen lassen. Meerkatzen unterscheiden Lebewesen ihrer
Umwelt von bloßen physikalischen Körpern. Weiterhin lernen sie,
einige Lebewesen als ernstzunehmende Feinde zu klassifizieren.72
Junge Meerkatzen reagieren beispielsweise mit dem Adlerruf auf fast
alles, was fliegt, sogar auf fallende Blätter. Erwachsene reagieren des
halb nicht auf Rufe junger Meerkatzen. M it der Zeit beginnen junge
Meerkatzen nur noch auf große Vögel zu reagieren. Erwachsene Meer
katzen schauen in die Luft und entdecken dort manchmal nur einen
ungefährlichen Geier und reagieren nicht. Erwachsene Meerkatzen
schließlich haben gelernt, nur noch auf große Adler, etwa Kampf
adler, zu reagieren. Meerkatzen lernen also, ihren Alarmrufen eine
bestimmte Referenz zu geben. Der Gehalt der Alarmrufe liegt nicht
7 1 Vgl. dazu M . Bekoff und D. Jamieson, »On Aims and Methods o f Cognitive Etho-
logy«, Philosophy o f Science Association 2 (1993), S. 110-124 . Auch hier handelt es
sich um die Zusammenarbeit zwischen einem Philosophen (Jamieson) und einem
Naturwissenschaftler (Bekoff).
72 Vgl. dazu das Schema bei D. L. Cheney und R. S. Seyfarth, How Monkeys See the
World, op. cit., S. 176.
53
von Anfang an fest, sondern wird durch zwei Komponenten festge
legt: erstens durch das soziale Umfeld, nämlich die Reaktion der er
wachsenen Meerkatzen; zweitens durch die spezifische Umwelt, denn
nicht in allen Gebieten müssen Meerkatzen vor gleichen Feinden auf
der Hut sein. In einer anderen Umwelt sind nicht Kampfadler, son
dern Kronenadler gemeint. Meerkatzen scheinen sich also intentio
nal auf Objekte ihrer Umwelt zu beziehen. Cheney und Seyfarth be
trachten Meerkatzen daher, angeregt durch den oben dargestellten
Vorschlag von Dennett, mindestens als intentionale Systeme erster
Stufe.73
Selbstverständlich ist die kognitive Ethologie der Kritik ausgesetzt.
Besonders drei methodologische Einwände sind zu erwähnen. Der
erste Kritikpunkt wurde bereits eingangs angesprochen, nämlich
der Anthropomorphismus. Zahlreiche kognitive Ethologen verhalten
sich dieser Kritik gegenüber offensiv. Wenn wir etwas über den Geist
der Tiere herausfinden wollen, müssen wir natürlich mit Analogie
schlüssen arbeiten. Ebenso wie wir das Verhalten anderer Menschen
mit mentalem Vokabular beschreiben, erklären und interpretieren,
können wir dies bei Tieren. Allerdings muss man sich dieser Über
tragung stets bewusst sein. Das heißt, dass der Anthropomorphismus
reflektiert sein muss. Vor allem dient die anthropomorphistische Ana
logie der Ausarbeitung von Verhaltenstests. M it der oben erwähnten
Maxime Morgans in der Hand kann dann überprüft werden, ob die
zugeschriebenen mentalen Zustände erklärungs- und beschreibungs
relevant sind oder nicht. Der Anthropomorphismus muss also kritisch
sein. Setzt man Anthropomorphismen reflektiert und kritisch ein,
dann sind sie nicht unwissenschaftlich, sondern dienen im Gegenteil
der wissenschaftlichen Erforschung des Geistes der Tiere.
Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die Vorliebe der kognitiven Etho
logie für Beobachtungen und Versuche in freier Wildbahn. Nur
schwer können dort die hohen Standards für wissenschaftliche Expe
rimente beachtet werden, insbesondere die Durchführung von Kon-
trollversuchen zur Ausschaltung alternativer Interpretationen. Einige
interessante Beobachtungen bleiben lediglich anekdotisch. Dieser
Vorwurf wird vor allem von Tierpsychölogen erhoben. Am Beispiel
73 D. Dennett, »Intentional Systems in Cognitive Ethology«, op. cit.; id., »The Inten
tional Stance in Theory and Practice«, in: M achiavellian Intelligence. Social Exper
tise and the Evolution ofln tellect in Monkeys, Apes, and Humans, hrsg. von R. W.
Byrne und A. Whiten, Oxford: Oxford University Press 1988, S. 180-202.
54
der Grünen Meerkatzen und ihrer Alarmrufe jedoch kann man sehr
schön sehen, wie wichtig die Beobachtung von Tierarten in ihrer na
türlichen Umwelt ist. Denn bei der Beobachtung gefangener Affen
in einem Labor hätte sich womöglich nicht einmal die Chance erge
ben, etwas über die Existenz dieser Alarmrufe herausfinden zu kön
nen.
Drittens schließlich ist das mentale Vokabular selber problema
tisch. An diesem Punkt wird wiederum der Kontakt zwischen der
kognitiven Ethologie und der Philosophie wichtig. Die Anwendungs
bedingungen mentaler Ausdrücke führen knifflige methodologische
Probleme mit sich: Wann können wir einem Wesen einen Geist zu
schreiben? Griffins Anspruch, es müsse ein Fenster zum Bewusst
sein der Tiere geöffnet werden, wurde teilweise zu Recht kritisiert,
weil er einen lediglich vagen und intuitiven Begriff von Bewusstsein
verwendete. Ebenso wurden seine Kriterien für Bewusstsein beanstan
det, denn komplexes Verhalten und Kommunikation scheinen von
sich aus noch keine hinreichenden Ableitungsgründe bereitzustellen.
Betrachten wir einen Aspekt dieses dritten Kritikpunktes genauer.
Es handelt sich um die Vagheit der Zuschreibung von Überzeugun
gen gegenüber Tieren. Verschiedene Philosophen haben behauptet,
dass wir Tieren keine Überzeugungen mit einem bestimmten Gehalt
zuschreiben können, weil wir über keine Mittel verfügen, den zu
geschriebenen Gehalt genauer zu bestimmen.74 Die Mittel, die uns
fehlen, sind die sprachlichen Äußerungen. Wir können sprachlosen
Lebewesen somit überhaupt keine bestimmten mentalen Gehalte zu
schreiben und ein nur unbestimmter Gehalt ist explanatorisch natür-
74 Vgl. zu diesen Argumenten die Texte von D. Davidson und S. Stich in diesem Band.
Stich hat sein Argument etwas modifiziert in From Folkpsychology to Cognitive Sci
ence, The Case Against Belief, Cambridge: MIT Press 1983, S. 104-106. Kritische
Stimmen zu Davidsons Argument finden sich bei J. Bishop, »More Thought on
Thought and Talk«, M in d 89 (1980), S. 1-16; R. Routley, »Alleged Problems in At-
tributing Beliefs and Intentionality to Animais«, Inquiry 24 (1981), S. 385-417;
P. Smith, »On Animal Beliefs«, The Southern Jo urn al o f Philosophy 20 (1982),
S. 503-512; R. Jeffrey, »Animal Interpretation«, in: Actions and Events. Perspectives
on the Philosophy o f D onald Davidson, hrsg. von E. LePore, B. P. McLaughlin, Ox
ford und New York: Basil Blackwell 1985, S. 481-487; A. Ward, »Davidson on At
tributions o f Belief to Animais«, Philosophia 18 (1988) S. 97-106; H.-J. Glock, »Ani-
mals, Thoughts and Concepts«, Synthese 123 (2000) S. 35-64; D. Beisecker, »Some
More Thoughts About Thought and Talk: Davidson and Fellows on Animal Be
lief«, Philosophy 77 (2002), S. 115-124.
55
lieh wenig erhellend. Der Philosoph C. Allen hat sich dieses Argu
ments angenommen.75 Der springende Punkt der kognitiven Etholo
gie ist ja dieser: Intentionales Vokabular, besonders der Begriff des
mentalen Gehalts, kann zur wissenschaftlichen Erklärung, Beschrei
bung und Vorhersage von Tierverhalten (innerhalb eines vergleichen
den, evolutionären Rahmens) dienen. Das Argument nun, dass wir
sprachlosen Tieren keine spezifischen mentalen Gehalte zuschreiben
können, ist offensichtlich direkt relevant für die kognitive Ethologie.
M it ihm wird das Projekt einer kognitiven Ethologie in Frage gestellt.
Formulieren wir das Argument etwas genauer aus und betrachten
wir Aliens Entgegnung:
1. Ein springender Punkt der kognitiven Ethologie ist, dass der Be
griff des mentalen Gehalts zur wissenschaftlichen Erklärung und
Vorhersage von Tierverhalten dienen kann.
2. Der Begriff des mentalen Gehalts ist nun aber ungeeignet für die
Vorhersage und Erklärung von Tierverhalten, denn (2a) solches
Verhalten kann mithilfe der Zuschreibung mentalen Gehalts nur
erklärt und vorausgesagt werden, wenn mentaler Gehalt bei Tieren
mit Bestimmtheit spezifiziert werden kann. (2b) Weil den Tieren
eine Sprache (oder zumindest eine hinreichend feinkörnige Form
der Kommunikation) fehlt, kann der mentale Gehalt bei ihnen
nicht mit Bestimmtheit spezifiziert werden.
3. Also sollte die kognitive Ethologie auf den explanatorischen und
prognostischen Gebrauch des Begriffs des mentalen Gehalts bei
Tieren verzichten.
Aliens Strategie besteht zunächst darin zu zeigen, dass für (2a) die An
sprüche an den explanatorischen und vor allem an den prognostischen
Wert von Gehaltzuschreibungen zu hoch angesetzt sind. Interessan
ter ist die Kritik an (2b). Denken wir an einen Hund, der glaubt, dass
eine von ihm gejagte Katze auf einen bestimmten Baum geflüchtet ist,
obwohl, wie wir Zuschauer wissen, die Katze dort gar nicht steckt.
56
Der Hund steht unter dem falschen Baum und bellt hinauf. Er glaubt
allem Anschein nach, die Katze befinde sich auf diesem Baum.76 Aber
können wir dem Hund tatsächlich die Überzeugung zuschreiben
»Der Hund glaubt, dass die Katze auf diesem Baum ist«? Glaubt
der Hund, wenn überhaupt etwas, genau dies? Das Argument lautet
nun, dass wir dem Hund keine bestimmte Überzeugung zuschreiben
können, weil uns der Hund nichts an die Hand gibt für eine solche
Zuschreibung. Dagegen sprechen jedoch einige Überlegungen.
Erstens ist es vielleicht so, dass wir den mentalen Gehalt mit unse
ren Mitteln nicht spezifizieren können. Der Hund hat mit Sicherheit
nicht unseren Begriff eines Baums oder unseren Begriff einer Katze.
Das bedeutet jedoch nicht, dass es prinzipiell unmöglich ist, den Ge
halt seiner Überzeugung zu spezifizieren. Vielleicht sind Hunde He-
donisten und sie denken an den Baum als dasjenige, wo im Schatten
geschlafen werden kann oder wo Knochen vergraben liegen, wo kon
stant bestimmte Gerüche anzutreffen sind oder wo sie nicht hinauf
kommen. Der Hundebegriff des Baums besteht aus einem anderen
Netz von Überzeugungen, die den Gehalt des Begriffs spezifizieren.
Zweitens sind wir auch nicht immer in der Lage, den Gehalt der
Überzeugungen unserer Mitmenschen zu spezifizieren. Denkt meine
Nachbarin auch, dass die Katze nicht auf dem Baum ist? Oder denkt
sie, dass Onkel Tobis Mimilein auf jenem Baum steckt, der nächste
Woche gefällt werden soll? Vielleicht denkt ihre kleine Tochter, dass
ein M iau auf einem Baum ist. Trotzdem sprechen wir ihnen weder
Gehalt noch Gedanken ab. Natürlich kann man hier zu Recht ein
wenden, dass wir unsere Nachbarin oder das Kind ja einfach fragen
können. Hier schließt eine dritte Überlegung an.
Natürlich können wir andere Personen oft nach dem Gehalt ihrer
Überzeugungen fragen und sie geben uns darüber oft kompetent Aus
kunft. Das ist aber lediglich eine Vereinfachungsbedingung, keine
Ermöglichungsbedingung dafür, dass ein Gedanke einen mentalen
Gehalt hat. Bei einem Tier müssen wir die Gehaltspezifikation teil
weise aus seinem Verhalten ablesen. Nun sind aber auch die aufgrund
von Verhalten zuschreibbaren Gehalte zunächst schlecht spezifiziert.
Ein Beispiel: Wenn ich jemandem einen Apfel und eine Birne hinhalte
und er den Apfel nimmt, zeigt er dann eine Präferenz für Äpfel oder
für runde Dinge oder für rote Dinge? Oder zeigt er eine Abneigung
76 Vgl. dazu den Text von N . Malcolm (in diesem Band, S. 86).
57
gegen Birnen oder gegen längliche Dinge oder gegen gelbe Dinge? Es
sieht so aus, als könnte man den Gehalt der Präferenz durch das
beobachtete Verhalten allein nicht bestimmen. Doch auch hier geht
es nicht um eine prinzipielle Unmöglichkeit. Vielmehr geht es dar
um, die Umwelt des betreffenden Lebewesens kennen zu lernen
und unsere Zuschreibungen zum Beispiel durch Versuchsanordnun
gen weiter zu spezifizieren. Ich biete ihm eine rote Birne und einen
roten Apfel, eine gelbe Birne und einen gelben Apfel usw. Dann kann
ich die Interpretation seiner Präferenzen einschränken und spezifi
zieren.
Zusammenfassend handelt es sich auch hier um die Infragestel
lung der Adäquatheit unserer Begriffe für den Gehalt bei Tieren,
um die Problematik eines doppelten Standards hinsichtlich der Ge
haltspezifikation bei Mensch und Tier, um die Möglichkeit anderer
Mittel der Spezifikation (wie das Verhalten) und schließlich um die
Verwechslung der Schwierigkeit mit der Unmöglichkeit der Gehalt
spezifikation. Der letzte Punkt besagt, und das ist natürlich eine phi
losophische These, dass das Zuschreiben eines mentalen Gehalts
nicht konstitutiv dafür ist, dass ein Lebewesen auch einen solchen Ge
halt hat. Das Sprechen einer Sprache erweitert zwar die Gehalte, die
wir überhaupt erfassen können, immens, und es verfeinert und er
leichtert die Spezifikation des Gehalts. Aber auch hier brauchen wir
nicht zwingend davon auszugehen, dass das Sprechen einer Sprache
konstitutiv dafür ist, dass ein Lebewesen auch einen solchen Gehalt
hat. Aus diesen Überlegungen folgt, dass das Projekt der kognitiven
Ethologie nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist.
Das Beispiel Aliens zeigt wiederum auf, dass die systematischen
Beziehungen zwischen der kognitiven Ethologie und der Philosophie
des Geistes sehr eng sein können.77 Wir haben bereits auf diesen
Zusammenhang zwischen den Arbeiten von D. Griffin und Th. Na
gel hingewiesen. Forscher und Forscherinnen im Bereich der kogniti
ven Ethologie werden durch Philosophen angeregt und erhalten von
ihnen argumentative Herausforderung und Unterstützung. Philoso
phen wiederum können ihr empiriearmes Handwerk mit reichhalti
58
gen, komplexen und interessanten Beispielen bereichern und ihre
Theorien entweder den Herausforderungen solcher Beispiele stellen
oder durch solche Beispiele bestätigen.
59
was die Meerkatzen über den R u f denken? Kurzum: Können be- j
stimmte Tiere ihre Artgenossen als Lebewesen mit einem Geist wahr
nehmen?
Unter Rückgriff auf einen wichtigen Aufsatz von D. Premack wird
häufig diskutiert, ob Schimpansen - die Diskussion dreht sich vorwie
gend um diese Spezies - eine »Theorie des Geistes« {theory o fm ind)
hätten, ob sie »Gedankenleser« (mindreaders ) seien, und nicht ledig
lich »Verhaltensleser«. Bereits im Zusammenhang mit dem Behavioris
mus wurde daraufhingewiesen, dass wir im Alltag wie selbstverständ
lich Verhaltensweisen sowohl bei Menschen als auch bei vielen Tieren
durch das, was sie glauben oder wünschen, erklären. Unsere Alltags
psychologie bezieht sich auf mentale Ursachen.79 Menschenkinder
lernen das Gedankenlesen schon sehr früh. Das zeigt ein einfaches
Experiment.80 Einem Kind wird folgende Geschichte erzählt: Sally
legt ihren Ball in einen Korb und verlässt das Zimmer. Anna versteckt
den Ball in einer Schachtel. Sally kommt zurück. Wo wird Sally den
Ball suchen? W ir denken, dass die Leserinnen und Leser nun denken,
dass Sally denkt, dass der Ball im Korb liegt. Das scheint kinderleicht
zu sein. Es ist jedoch nicht kinderleicht. Wenn wir die Geschichte
einem Kleinkind erzählen und fragen, wo Sally den Ball suchen wird,
antwortet es: In der Schachtel! Es berichtet, was es selbst denkt. Es
ist (noch) nicht in der Lage zu berichten, was Sally denkt. Es ist noch
kein Gedankenleser. Erst mit etwa 4 Jahren wird es das.81 Weil wir
Gedanken lesen, können wir zwei Dinge tun, nämlich Voraussagen ,
was jemand als nächstes tun wird (Sally geht zum Korb) und erklä
ren, warum jemand bestimmte Dinge tut (Sally wundert sich). Wir
79 Eine differenzierte Übersicht über diese Diskussion geben S. Stich und S. Nichols, :
»Folk Psychology«, in: The Blackw ell G uide to Philosophy ofM in d, hrsg. von T. A.
Warfield und S. Stich, Oxford: Basil Blackwell 2003, S. 235-255; vgl. ausführlicher
S. Nichols und S. Stich, M indreading. An Integrated Acount o f Pretence, Seif-
Awareness, and Understanding Other M inds, Oxford: Clarendon Press 2003.
80 Das folgende Beispiel ist eine einfache Variante einer sog. »false belief task«. Zur
Einführung dieser experimentellen Aufgabenstellung vgl. H. Wimmer und J. Per-
ner, »Beliefs about Beliefs. Representation and Constraining Function o f Wrong
Beliefs in Young Children’s Understanding o f Deception«, in: Cognition 13 (1983),
S. 103-128. Zur Kritik dieser Aufgabenstellung als Test für eine Theorie des Geistes j
vgl. jedoch P. Bloom und T. German, »Two Reasons to Abandon the False Belief {
Task as a Test o f Theory o f Mind«, in: Cognition 77 (2000), S. 25-31.
81 Vgl. J. Perner, Understanding the RepresentationalM ind, Cambridge (Mass.): MIT
Press 1991, S. 82 und 189.
60
machen uns also Gedanken über Gedanken. Ohne das könnten wir
ein Lebewesen nicht als etwas verstehen, das Wünsche oder Gedan
ken hat, könnten wir andere nicht erfolgreich belügen, nicht als We
sen mit einem Innenleben behandeln, uns nicht in ihre Haut verset
zen. W ir können uns natürlich nicht nur Metagedanken über andere
machen, sondern auch über uns.
Und Schimpansen? Gedankenlesen ist eine besondere kognitive
Fähigkeit. Sie scheint so besonders zu sein, dass einige Psychologen,
Philosophen und Anthropologen denken, dass sie uns von anderen
Tieren unterscheidet, insbesondere von unseren nächsten Verwand
ten.82 Insbesondere der Psychologe M . Tomasello hat die These vertre
ten, dass sich Menschen von Schimpansen (und mithin von anderen
Tieren) im Wesentlichen deshalb unterscheiden, weil sie Gedankenle
ser sind.83 Dies würde —mit Dennett gesprochen —bedeuten, dass
selbst Schimpansen keine intentionalen Systeme zweiter Stufe sind.
Tomasello hat darauf aufbauend die weitgehende These entwickelt,
dass diese meta-mentale Fähigkeit Grundlage fiir zwei spezifisch
menschliche Errungenschaften sein muss, nämlich für die Evolution
einer komplexen Kultur und eines komplexen Kommunikationssys
tems. Tomasellos These ist ein Beispiel für den komparativen Aspekt
der Verhaltensforschung. Denn Tomasello vergleicht ja offenbar die
kognitiven Fähigkeiten von Schimpansen und Menschen, um dar
aus den entscheidenden Unterschied herleiten zu können. Es bleibt
natürlich eine offene Frage, ob es den einen entscheidenden Unter
schied gibt. Denn die Möglichkeit besteht, dass eine ganze Gruppe
von Unterschieden existiert und dass diese Unterschiede nicht total,
sondern lediglich graduell sind. Hier bleibt somit die Frage offen,
ob man die anthropologische Differenz stark oder schwach ansetzen
soll. Im Allgemeinen neigen kognitive Ethologen dazu, die Unter
schiede schwach anzusetzen, oder sie versuchen dieser Frage nach
der anthropologischen Differenz aus dem Weg zu gehen, weil sie nach
ihrer Meinung die Sicht auf das kognitive Leben der unterschied
lichen Tierarten versperrt.
Allerdings sind viele Fragen in diesem Bereich noch offen. Umstrit
ten ist nicht nur, ob Primaten Gedankenleser sind oder nicht. Toma-
82 Vgl. J. Proust, Les animaux, pensent-ils?, op. cit., S. 105-160.
83 M . Tomasello, The C ultural Origins o f Human Cognition, Cambridge (Mass.): Har
vard University Press 1999 (dt. D ie kulturelle Entwicklung des menschlichen D en
kens. Z u r Evolution der Kognition, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002).
61
sello beispielsweise rückt in seinen jüngsten experimentellen Arbei
ten von seinem negativen Standpunkt ab.84 A. Whiten und R. Byrne
haben schon zuvor die These der sozialen Intelligenz portiert. Ihr zu
folge ist es ein evolutionärer Vorteil für Tiere, die in komplexen so
zialen Systemen leben, eine Fähigkeit zum Gedankenlesen zu ent
wickeln. Diese Fähigkeit zeige sich vor allem in der Imitation der
Verhaltensweisen und der taktischen Täuschung anderer Gruppen
mitglieder.85
Ebenso umstritten und noch viel grundlegender (und daher philo
sophisch interessanter) ist die Frage, was für eine Art von Fähigkeit das
Gedankenlesen überhaupt sein soll. Verfügen wir über so etwas wie
eine ausgebaute Theorie darüber, wie die Gedanken, Absichten, Wün
sche und Verhaltensweisen von anderen Personen und anderen Lebe
wesen kausal Zusammenhängen? Oder versetzen wir uns einfach in
der Art einer Simulation in die Haut einer anderen Person oder eines
anderen Lebewesens?86 Ist uns diese Fähigkeit wie ein mentales M o
dul gleichsam angeboren? Oder handelt es sich um eine mit der Sozia
lisation erworbene Fertigkeit?87 Was wäre ein gültiger Test dafür, ob
ein Lebewesen sich wirklich Gedanken über die Gedanken und nicht
über das Verhalten eines Artgenossen macht? Gibt es dafür überhaupt
einen gültigen Test oder handelt es sich nicht vielmehr um eine gra
duelle Fähigkeit?88 Diese Fragen werden sowohl in der Primatenfor
62
schung und in der Psychologie als auch in der Philosophie des Geistes
intensiv diskutiert.
Rufen wir uns die Definition der kognitiven Ethologie von M . Be-
k off in Erinnerung:
63
dologische Problem, wie etwas über das bewusste Erleben bei Tieren
empirisch in Erfahrung gebracht werden kann. Betrachten wir dazu
ein Beispiel, das diesmal nicht aus der Welt der Affen und Primaten
stammt. Aufregende Forschungen werden zurzeit vor allem an Corvi-
den (Krähenvögeln) angestellt. Das Beispiel illustriert, wie selbst
ingeniöse empirische Versuchsanordnungen bei der Frage nach dem
Bewusstsein ins Stocken geraten. Das bewusste Erleben, das phäno
menale Bewusstsein, wird in der Philosophie nicht umsonst als das
»harte Problem« in der Philosophie des Geistes bezeichnet: Seine Exis
tenz ist rätselhaft und es erweist sich als schwierig, empirisch an es
heranzugelangen.
Häher sammeln Vorräte, verstecken sie an Hunderten von Orten
und finden diese Verstecke auch zuverlässig wieder —im Unterschied
etwa zu Eichhörnchen. Bei wildlebenden Hähern wurde beobachtet,
dass diese Vögel eher Nüsse und Kerne als Würmer und Insekten
lagern und dass sie Würmer und Insekten eher suchen und verzeh
ren als Nüsse und Kerne.92 Diese an wildlebenden Hähern gemachte
Beobachtung lässt sie geeignet erscheinen, das Vorhandensein einer
bestimmten Form des Gedächtnisses an ihnen zu testen, nämlich
das episodische Gedächtnis. Zahlreiche Dinge, die wir wissen, haben
wir erlernt, und wir wissen um diese Dinge, weil wir sie im Gedächtnis
gespeichert haben. Aber wir wissen meistens nicht mehr, wann und
wo wir bestimmte Dinge in Erfahrung gebracht haben. So wissen
die meisten von uns bestimmt, dass Athen die Hauptstadt Griechen
lands ist, aber die wenigsten werden sich daran erinnern können,
wann und wo sie dies zum ersten M al in Erfahrung gebracht haben.
Wir haben hier ein Wissen einer bestimmten Tatsache. Demgegen
über können wir aber natürlich auch Erinnerungen an das Was, Wann
und Wo eines bestimmten Erlebnisses haben. W ir haben Wissen von
Eigenerlebnissen in der subjektiven Zeit, wenn wir uns beispielsweise
an den Tag erinnern, an dem wir zum ersten M al die Akropolis be
stiegen haben. Dies ist die episodische Erinnerung. Das damit verbun
dene, spezifische Bewusstsein nennt der Erfinder des Begriffs, der
Psychologe E. Tulving, »autonoetisches Bewusstsein«, ein Bewusst
sein, das wir beispielsweise kaum mit dem Wahrnehmungsbewusst-
hrsg. von C. Heyes und L. Huber, Cambridge (Mass.): MIT Press 2000, S. 253-271,
bestreiten, dass Tiere ein bewusstes Erleben haben.
92 N. Clayton et al., »Seasonal patterns o f food storing in the European jay (Garrulus
glandarius)«, Ibis 138 (1996), S. 250-255.
64
sein eines bestimmten Gegenstands vor unseren Augen verwechseln.
Eine Erinnerung »fühlt« sich anders an als eine Wahrnehmung. Dieses
»autonoetische Bewusstsein« ist natürlich ein besonderer Aspekt des
phänomenalen Bewusstseins. Zahlreiche Autoren halten das episodi
sche Gedächtnis aufgrund der erwähnten besonderen Eigenschaften
für spezifisch menschlich.93 N . Clayton et al. nun haben verschiedene
Versuche mit Hähern (genauer: mit Kalifornischen Buschhähern,
Aphelocoma californica) durchgeführt, auch um zu testen, ob das epi
sodische Gedächtnis tatsächlich ein spezifisch menschliches Vermö
gen ist.94 Haben Häher eine Erinnerung an das Was, das Wo und
das Wann? Die Resultate sind positiv.95 Es lohnt sich, diese innova
tiven Versuche genauer zu betrachten, denn erst vor dem Hintergrund
dieser Versuche wird sichtbar, wie hilflos die experimentelle Verhal
tensforschung vor dem Phänomen des Bewusstseins steht.
Die in einem Labor gehaltenen Häher werden in zwei Gruppen auf
geteilt, die wir Gruppe i und Gruppe 2 nennen wollen. Beide Grup
pen erhalten die Gelegenheit, Nüsse (N) und Würmer (W) in be
stimmten Geschirren zu verstecken, die Sand enthalten. Der Witz
der Auswahl dieser beiden Nahrungsmittel liegt in Folgendem: Häher
93 »Mit einer einzigen Ausnahme verläuft der Zeitpfeil geradlinig. [...] Der Zeitfluss
ist irreversibel. Die einzige Ausnahme stellt das menschliche Vermögen der Erinne
rung an vergangene Dinge dar. Wenn jemand daran denkt, was er gestern getan
hat, dann wird der Zeitpfeil zu einer Schlaufe umgebogen. [...] Das episodische
Gedächtnis ermöglicht die geistige Zeitreise durch die subjektive Zeit, von der
Vergangenheit in die Gegenwart, und erlaubt uns, durch das autonoetische Be
wusstsein, unsere vergangenen Erfahrungen wiederzuerleben.« E. Tulving, »Episo-
dic Memory: From Mind to Brain«, A nnual Review ofPsychology 53 (2002), S. 1-2
und 5.
94 N. S. Clayton und A. Dickinson, »What, where and when: Evidence for episodic-
like memory during cache recovery by scrub jays«, Nature 395 (1998), S. 272-274;
id., »Scrub jays (Aphelocoma coerulescens) remember when as well as where and
what food itmes they cached«, Jo urn al o f Comparative Psychology 113 (1999),
S. 403-416; D. P. Griffiths, A. Dickinson und N. S. Clayton, »Declarative and epi-
sodic memory: What can animals remember about their past?«, Trends in Cognitive
Science 3 (1999), S. 74-80; N. S. Clayton, D. P. Griffiths, A. Dickinson, »Declarative
and Episodic-like Memory in Animals: Personal Musings o f a Scrub Jay«, in: The
Evolution o f Cognition, hrsg. von C. Heyes und L. Huber, Cambridge (Mass.):
MIT Press 2000, S. 273-288; D. P. Griffiths und N. S. Clayton, »Testing episodic
memory in animals: a new approach«, Physiological Behaviour 73/5 (2001),
S. 755-762.
95 Einwände erheben T. Suddendorf und J. Busby, »Mental time travel in animals?«,
Trends in Cognitive Science 7 (2003), S. 391-396.
65
haben eine intrinsische Präferenz für die Würmer. Aber die Würmer
werden schneller ungenießbar als die Nüsse. Wie bei Lebensmitteln
läuft ihr Datum sozusagen ab. Nur die Häher der Gruppe i erhalten
aber die Gelegenheit zu lernen, dass die Würmer nach einer bestimm
ten Zeit (nämlich nach 124 Stunden) ungenießbar werden. Nach
4 Stunden sind die Würmer noch ganz schmackhaft. Wichtig ist
es zu beachten, dass, die Häher der Gruppe 2 auch nach insgesamt
124 Stunden nach wie vor eine Präferenz für die versteckten Würmer
an den Tag legen. Damit kann gezeigt werden, dass der Wechsel der
Gruppe 1 zu den Nüssen erlernt ist und nicht einer genetischen Prä
disposition entspringt. Während des Trainings bleiben die versteck
ten Nüsse und Würmer, wo sie versteckt worden sind. Für den Test
versuch selber werden die Nüsse und Würmer heimlich aus den
Geschirren entfernt, damit sich die Häher weder auf ihren Gesichts-
noch auf ihren Geruchssinn, sondern nur auf ihre Erinnerung verlas
sen können.
Im folgenden Schema werden der Gesamtversuch sowie die be
schriebene Vorbereitung der beiden Gruppen veranschaulicht.
66
Die beiden Gruppen werden zwei verschiedenen Versuchen unter
zogen. Im ersten Versuch (dem N-W-Versuch) verstecken die Häher
beider Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt t zuerst die Nüsse,
und zwar links im Geschirr, und 120 Stunden später erst die Würmer,
nämlich rechts im selben Geschirr. Wenn sie nur 4 Stunden nach der
letzten Aktion (d. i. 124 Stunden nach t) zurückkehren, um nach dem
versteckten Futter zu suchen, werden die Mitglieder beider Grup
pen nach den Würmern in der rechten Hälfte des Geschirrs suchen.
Interessant ist nun der zweite Versuch (der W-N-Versuch). Hier wird
lediglich die Reihenfolge der Futterart umgekehrt. Zuerst werden die
Würmer zum Zeitpunkt t im Geschirr links versteckt, erst 120 Stun
den später die Nüsse in der rechten Hälfte des Geschirrs. Nur 4 Stun
den darauf wird den Hähern die Rückkehr erlaubt. Die Mitglieder
der Gruppe 2 werden sich genau gleich wie im ersten Versuch ver
halten und ihrer Vorliebe für Würmer folgen. Aber die Mitglieder
der Gruppe 1 suchen zuerst in der rechten Hälfte des Geschirrs nach
den Nüssen! Das Resultat von Clayton et al. lautet, dass die Häher
(der Gruppe 1) etwas darüber wissen, was sie versteckt haben (näm
lich Würmer oder Nüsse), wo sie es versteckt haben (nämlich links
oder rechts im Geschirr) und wann sie es versteckt haben (nämlich
vor 4 Stunden oder vor 124 Stunden). Und zwar zeigt sich dies an
ihrem Verhalten. Dessen Grundlage bildet erstens eine intrinsische
Präferenz (sie mögen Würmer lieber als Nüsse), aber die Wahl der
Nüsse im zweiten Versuch erfolgt nicht aufgrund einer phylogeneti
schen, sondern aufgrund einer erlernten Disposition. Zweitens ver
halten sich die Häher aufgrund einer einzigen, spezifischen Erfahrung
in der Vergangenheit (nämlich dem Verstecken von Würmern bzw.
von Nüssen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimm
ten Ort). Häher haben also eine episodische Erinnerung an das Wann,
das Was und das Wo. Clayton und Co. sprechen bei Hähern von
einem Gedächtnis, das (im Minimum) »episodic4ike« ist. Der Grund
für die vorsichtige Formulierung eines Episoden.-ähnlichen Gedächt
nisses liegt darin, dass mit verhaltensspezifischen Tests zwar eruiert
werden kann, ob sich die Häher an das Was, das Wo und das Wann
erinnern, nicht aber, ob die Häher ein autonoetisches Bewusstsein
davon haben. Laut Tulving ist ja das autonoetische Bewusstsein, das
bewusste Erinnern individueller Eigenerlebnisse in subjektiver Zeit,
konstitutiv für das episodische Gedächtnis. Wie steht es damit bei
den Hähern?
67
Die große Lücke besteht darin, dass es keine Belege dafür gibt, dass die Vögel
automatisches Bewusstein zum A u fru f ihrer Erlebnisse in der Vergangenheit
verwenden. Dies ist bei Tieren wahrscheinlich nicht testbar, denn dieser Zu
stand äußert sich nicht in offenkundiger Weise im nicht-sprachlichen Verhal
ten. Dieser Z u g macht die »episodische« Erinnerung momentan zu einer ein
zigartig menschlichen Erscheinung, und das wird wahrscheinlich immer so
bleiben .96
68
5- Tiere als Prüfstein für Kognitionsmodelle
69
Z u Beginn dieser Einleitung haben wir auf die Tatsache hingewie
sen, dass es problematisch ist, den Tieren insgesamt eine Mittelposi
tion zwischen Menschen einerseits und Pflanzen andererseits zuzu-
weisen. Denn offensichtlich gibt es die Tiere nicht als eine homogene
Gruppe. Es lässt sich vielmehr eine Bandbreite verschiedenster Lebe- j
wesen beobachten, die über ganz unterschiedliche Fähigkeiten ver- I
fügen und Verhalten von unterschiedlicher Komplexität zeigen. Bei
zahlreichen Philosophen und Philosophinnen hat sich nicht zuletzt 1
aus diesem Grund die Methode des Entwurfs kognitiver Modelle
durchgesetzt. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der nicht zuerst ]
von den Unterschieden zwischen Mensch und Tier ausgeht, sondern
von den Gemeinsamkeiten zwischen den Lebewesen. Es wird zu- j
nächst danach gefragt, welche Vorstufen des Geistes es gibt, und dann,
welche sozusagen basalsten und simpelsten Geister wir in der Na- j
tur antreffen. D arauf aufbauend können nun verschiedene kognitive j
Modelle unterschieden werden, die ausgehend von Nullstufen und I
Vorfbrmen zu zunehmend ausdifferenzierteren und komplexeren geis
tigen Fertigkeiten und Vermögen fuhren. Der Gedanke einer Ent
wicklung kognitiver Modelle setzt also bottom-up bei den Minimal- |
bedingungen Für basale oder simple »Geisthaber« an und schafft eine
gestufte, vergleichende Ordnung kognitiver System e." R. Millikan
formuliert die grundlegende Idee der Methode kognitiver Modelle
wie folgt:
99 Zum Unterschied zwischen Bottom-up und Top-down auf diesem Gebiet vgl.
F. Dretske, »Two Conceptions o f Knowledge: Rational vs. Reliable Belief«, in:
id., Perception, Knowledge, and Belief. Selected Essays, Cambridge: Cambridge
University Press 2000, S. 80-93.
100 Vgl. in diesem Band, S. 212.
70
Millikan weist wie C. Allen (vgl. unten, S. 191) darauf hin, dass die
exakte Spezifikation des Gehalts von Gedanken (oder der intentiona
len Zustände) anderer Lebewesen (zum Beispiel in der natürlichen
Sprache des Englischen) nicht entscheidend ist. Vielmehr geht es
darum, herauszufinden, wie sich Lebewesen in ihrer physischen und
sozialen Umwelt tatsächlich zurechtfinden, um darauf aufbauend
testbare Modelle unterschiedlicher kognitiver Systeme zu entwerfen.
Im Hintergrund dieser Methode liegt die Einsicht, dass es keine Sache
des Alles-oder-Nichts ist, ob ein Lebewesen einen Geist hat. Verschie
dene Arten des Geistes - um mit Allen und Bekoff zu sprechen - sind
denkbar.101 Auch die französische Philosophin J. Proust arbeitet mit
der Methode kognitiver Modelle. Sie unterscheidet vier Stufen der Fä
higkeit bis hin zu mentalen Repräsentationen (wir erinnern uns, dass
dies ein zentraler Begriff der Kognitionswissenschaften ist). Mentale
Repräsentationen stellen einem Lebewesen Informationen seiner Um
welt zur Verhaltenssteuerung zur Verfügung. Ihre Grundfrage lautet:
Inwieweit ist ein System fähig, Informationen zu gebrauchen? Skiz
zieren wir kurz diese kognitiven Modelle.102
1. Die erste Stufe ist auch hier eine Nullstufe (ähnlich wie bei Den-
nett) des Informationsgebrauchs. Man kann den Thermostaten
als Modell nehmen. Der Thermostat nutzt Information über die
Temperatur seiner Umgebung, ohne jedoch etwas über die Tempe
ratur glauben oder wissen zu müssen. Er reagiert auf unflexible,
vorprogrammierte Art und Weise auf die Temperaturschwankun-
gen (und auf kaum sonst etwas) seiner Umgebung. Die Informa
tion selber spielt keine kausale Rolle in der Steuerung seines Ver
haltens.103
2. Nun folgt auf der zweiten Stufe ein erster tatsächlicher Grad der
Informationsnutzung. Hier kann ein Lebewesen Informationen
7i
auf verschiedenen Sinneskanälen empfangen und in einem kurz
lebigen Gedächtnis speichern. Es verfügt daher auch über eine mi
nimale, rein assoziative Lernfähigkeit und seine Reaktionen auf
bestimmte Reize sind nicht mehr unwillkürlich und invariant, so-
dass dieses Lebewesen auch die Reaktion für eine bestimmte Zeit
verzögern kann. Es entsteht eine Protorepräsentation, d. h., dass
ein innerer Zustand im Lebewesen mit einem äußeren Zustand ko-
variiert. Protorepräsentationen leiten in bescheidener Weise das
Verhalten eines Organismus. Laut Proust funktioniert beispiels
weise eine Schnecke auf diese A rt.104
3. Die dritte Stufe ist erreicht, wenn zur Protorepräsentation Kate
gorisierungen der Umwelt hinzutreten. Ereignisse und Dinge der
Umwelt werden in Kategorien eingeteilt und auf diese Kategorien
folgen unterschiedliche Reaktions- und Verhaltensweisen. So kön
nen beispielsweise Spinnen aufgrund der Vibrationen ihres Net
zes ihre Beute kategorisieren. Je nach Größe der Beute muss die
Spinne hinzueilen, um sie dingfest zu machen. Befinden sich meh
rere Beutestücke im Netz, so speichert die Spinne die Information
der jeweiligen Positionierung.
4. Erst auf der vierten Stufe erfolgt der Schritt von der Protoreprä
sentation zur mentalen Repräsentation. Die nutzbar gemachte In
formation ist nun speicherbar und kann auch auf andere Situa
tionen übertragen werden. Der Gehalt der Information löst sich
also aus der unmittelbaren Einbettung in den Zirkel von Wahr
nehmung und Verhalten. Als weitere Forderungen an mentale Re
präsentationen nennt Proust, dass ihr Gehalt wahr oder falsch ist
und dass aus ihnen eine Anzahl Folgerungen gezogen werden kön
nen. Als avanciertes Beispiel kann hier das Verhalten der Häher
herangezogen werden.
Der Entwurf kognitiver Modelle macht sich also sozusagen auf die
Suche nach den Entstehungsspuren des Geistes. Er interessiert sich
sowohl für Vorstufen des Geistes (etwa in Form der Protorepräsenta
tion) als auch für ausgebildete Stufen (etwa in Form der mentalen Re
präsentation). Dieser methodische Ansatz, der stark empirisch ausge
richtet ist, unterscheidet sich von jenem Ansatz, der den menschlichen
Geist von vornherein als etwas Einzigartiges auffasst und begrifflich
zu fassen versucht. Er zielt auf die bereits erwähnte Begriffsklärung
72
a posteriori ab: Vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen
sollen verschiedene Stufen des Geistes und damit auch verschiedene
Begriffe für kognitive Tätigkeiten unterschieden werden.
R. Brandom hat die beiden methodischen Ansätze treffend mit den
Stichwörtern >Assimilationismus< und >Differentialismus< benannt.105
Der Assimilationismus geht von den Gemeinsamkeiten zwischen Men
schen und Tieren aus und versucht die unterschiedlichen Arten von
Geist, die sich empirisch feststellen lassen, schrittweise zu differenzie
ren. So würden sich zuletzt auch die wichtigen Unterschiede zwi
schen uns Menschen und den anderen Lebewesen erkennen lassen.
Der Differentialismus hingegen geht von einem prinzipiellen Unter
schied zwischen Menschen und anderen Lebewesen aus. Dieser wird
meistens in der Sprache gesehen, aber auch im Gemeinschaftshandeln
oder in der Erschaffung einer Kultur. Im Gegensatz zwischen diesen
beiden methodischen Ansätzen manifestiert sich nicht zuletzt der
Grundlagenstreit um die sog. Naturalisierung des Geistes. Den Assi-
milationisten erscheint es nämlich durchaus einleuchtend, dass der
menschliche Geist sich evolutionär aus niedrigeren Stufen des Geis
tes heraus entwickelt haben muss, dass wir den menschlichen Geist
auf diesem Weg auch besser verstehen können und dass wir für die
Erklärung geistiger Eigenschaften auf Naturprozesse zurückgreifen
sollten, die sich auch bei Tieren finden. Die Differentialisten hin
gegen betonen, dass wir auf diesem Wege gerade die Eigenart des
menschlichen Geistes verkennen und dass es ein Fehlschluss wäre,
seine biologische Herkunft mit seiner Existenz in einem sozialisierten,
kulturellen und rationalen Wesen zu verwechseln. Hier, so scheint es,
weist die erste Methode einen Vorteil auf. Wenn der differentialisti-
sche Ansatz nämlich zur Folge hat, dass wir den Tieren einen Geist
absprechen müssen, gerät er unter einen Argumentationsdruck, der
nicht nur aus unserer intuitiven Alltagsansicht, sondern auch aus
den Ergebnissen der empirischen Forschung entsteht. Denn wie kön
nen wir das komplexe Verhalten der Tiere adäquat beschreiben und
erklären, wenn wir es nicht mehr mithilfe eines kognitiven Vokabulars
charakterisieren dürfen? Wie können wir es dann vermeiden, die
Tiere nur noch cartesianisch als lebendige Maschinen zu beschreiben?
Angesichts dieses Dilemmas ist es ratsam, nicht von vornherein eine
105 Vgl. R. Brandom, Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cam
bridge (Mass.): Harvard University Press 2000, S. 2-3 (dt. Begründen und Begrei
fen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001).
73
Kluft zwischen Tieren und Menschen aufzureißen und den Tieren I. Sprache und Überzeugungen
prinzipiell einen Geist abzusprechen. Die entscheidende Frage sollte
nicht lauten, ob Tiere einen Geist haben, sondern welche A rt von Geist
sie haben.
74
John R. Searle
Der Geist der Tiere
132
Wittgenstein Searle, Bewusstsein hat? Nun, warum ist er sich so si
cher, dass ich Bewusstsein habe? Ich glaube, dass ein Teil der richti
gen Antwort sowohl für Ludwig als auch fiir mich lautet, dass jede
andere Möglichkeit außer Frage steht. Beispielsweise kennen wir
uns nun schon ziemlich lange, sodass eigentlich kein Zweifel mög
lich ist.
Philosophisch betrachtet lautet die interessante Frage, weshalb uns
die Einsicht, dass solche Antworten die richtigen sind, in der Philo
sophie und den Naturwissenschaften solche Schwierigkeiten berei
tet. Ich werde später darauf zurückkommen. Jetzt möchte ich die
ursprüngliche Frage umkehren und fragen, warum so viele Denker
bestritten haben, was so offensichtlich scheint, nämlich dass viele
Tierarten außer unserer eigenen Bewusstsein, Intentionalität und Ge
dankenprozesse haben. Überlegen Sie einen Moment, wie kontrain
tuitiv solche Leugnungen sind: Ich kehre von der Arbeit nach Hause
zurück und Ludwig stürmt mir entgegen. Er springt auf und ab und
wedelt mit dem Schwanz. Ich bin sicher, dass er (a) Bewusstsein hat,
(b) sich meiner Anwesenheit bewusst ist (Intentionalität), und (c) dass
dieses Bewusstsein in ihm einen Zustand der Lust hervorruft (Ge
dankenprozess). W ie könnte irgendjemand (a), (b) oder (c) abstrei
ten? Wie sein Namensvetter vielleicht gesagt hätte: »So spielen wir
das Sprachspiel mit (dem Wort) >sicher<.« Ich möchte nun über einige
dieser Leugnungen nachdenken.
II
133
Die Frage wurde noch dringlicher, als man über die theologischen Im
plikationen einer möglichen philosophischen Antwort nachdachte.
Die Commonsense-Ansicht, höhere Tiere seien in genau demselben
Sinn bewusst wie Menschen, führt zum Ergebnis, dass jedes dieser
Tiere eine unsterbliche Seele besitzt. Dies deshalb, weil die cartesia-
nische Theorie der Natur des Geistigen und der Unterscheidung
zwischen dem Geistigen und dem Physischen impliziert, dass Be
wusstsein unzerstörbar ist. Jede geistige Substanz ist unteilbar und
währt deshalb ewig. Wenn Tiere aber Bewusstsein haben, dann folgt
daraus unmittelbar, dass sie unsterbliche Seelen haben, und das Le
ben nach dem Tod wird, gelinde gesagt, gehörig überbevölkert sein.
Schlimmer noch, sollte Bewusstsein sich weit die phylogenetische
Skala hinunter erstrecken, so könnte sich heraussteilen, dass das Le
ben nach dem Tod auch von einer sehr großen Anzahl Seelen von
Flöhen, Schnecken, Ameisen etc. bevölkert wäre. Dies ist eine unwill
kommene theologische Konsequenz dessen, was ein plausibler philo
sophischer Lehrsatz schien.
Ein weiteres Problem, das sich sogar für Theologen ergab, die nicht
Cartesianer waren, ist folgendes: Wenn Tiere Bewusstsein haben,
können sie leiden. Wenn sie jedoch leiden können, wie lässt sich ihr
Leiden dann unter der Voraussetzung rechtfertigen, dass sie nicht
der Erbsünde verfallen sind und wahrscheinlich keinen freien W il
len haben? Die Argumente, die verwendet wurden, um die Exis
tenz eines allmächtigen und wohltätigen Gottes mit einer leidenden
menschlichen Bevölkerung zu versöhnen, schienen auf Tiere nicht an
wendbar zu sein.
Heute halten wir diese Denkweisen zum Problem des Geistes der
Tiere für vollkommen unplausibel, und die Cartesianer lieferten eine
ebenso unplausible Lösung: Aus ihrer Sicht haben Tiere ganz ein
fach keinen Geist. Tiere sind bewusstlose Automaten, und obwohl
wir mit dem vom Auto überfahrenen Hund mitfühlen, ist unsere An
teilnahme unangebracht. Es ist nicht anders, als wäre ein Computer
überfahren worden.
Obwohl uns diese Sicht heute lächerlich erscheint, glaube ich, dass
sie eine unvermeidliche Konsequenz des restlichen cartesianischen
Systems ist. Wenn jeder Geist eine unsterbliche Seele ist, dann kön
nen nur Wesen, die eine unsterbliche Seele haben, einen Geist be
sitzen. Der natürliche Ausweg aus diesem Rätsel besteht darin, den
Dualismus aufzugeben, sowohl den Eigenschaftsdualismus als auch
i 34
den Substanzendualismus. Und wenn man den Dualismus aufgibt,
wenn man ihn wirklich aufgibt, so muss man auch den Materialis
mus, den Monismus, die Identitätsthese, den Behaviorismus, die To
ken-Identitätstheorien, den Funktionalismus, die Starke Künstliche
Intelligenz und all die anderen Auswüchse preisgeben, die der Dua
lismus im 19. und 20. Jahrhundert produziert hat. Wenn man sie rich
tig versteht, sind all diese absurden Sichtweisen Ausprägungen des
Dualismus.1
Was ergibt sich hinsichtlich des Geistes der Tiere, wenn man den
Dualismus von Grund auf aufgibt? Bevor ich diese Frage beantworte,
möchte ich über einige andere neuere Versuche nachdenken, die zei
gen sollen, dass Tiere bestimmte geistige Phänomene nicht haben.
III
135
Anatomisch gesehen sind die Ähnlichkeiten zu groß, als dass eine
solche Spekulation auch nur entfernt plausibel erscheinen könnte,
und bezüglich der Physiologie wissen wir, dass die Mechanismen,
die beim Menschen Intentionalität und Gedanken erzeugen, enge Pa
rallelen mit denjenigen anderer Tiere aufweisen. Menschen, Hunde
und Schimpansen nehmen Wahrnehmungsreize mit Hilfe visueller,
taktiler, auditorischer, olfaktorischer und anderer Sinnesrezeptoren
auf, sie alle senden die durch diese Stimuli erzeugten Signale ans Ge
hirn, wo sie verarbeitet werden, und die daraus hervorgehenden Ge
hirnprozesse verursachen schließlich motorische Outputs in Form
von intentionalen Handlungen, wie etwa sozialen Umgang mit an
deren Artgenossen, essen, spielen, kämpfen, sich fortpflanzen, Junge
aufziehen und versuchen, am Leben zu bleiben. Angesichts der neuro-
biologischen Kontinuität scheint die Annahme, dass nur Menschen
Intentionalität und Gedanken haben, außer Frage zu stehen.
Wenden wir uns jedoch den eigentlichen Argumenten gegen die
Möglichkeit des Denkens von Tieren zu. Die Form der Argumente
ist und muss dieselbe sein: Menschen erfüllen beim Denken eine
notwendige Bedingung, die Tiere weder erfüllen noch erfüllen kön
nen. Ausgehend davon, was wir über die Ähnlichkeiten und die Un
terschiede zwischen menschlichen und tierischen Fähigkeiten wissen,
ist der angeblich entscheidende Unterschied zwischen Menschen und
Tieren bei allen Argumenten, die ich kenne, derselbe: Der mensch
liche Besitz von Sprache macht menschliches Denken möglich, und
das Fehlen von Sprache bei Tieren macht tierisches Denken unmög
lich.
Auch die Cartesianer dachten, dass Sprache das entscheidende Un
terscheidungsmerkmal sei, das Menschen gegenüber Tieren auszeich
net. Aber sie meinten, die Bedeutung der Sprache sei epistemisch. Der
Besitz der Sprache war ein sicheres Zeichen dafür, dass Menschen
Bewusstsein haben; und ihr Fehlen ein sicheres Zeichen dafür, dass
Tiere es nicht haben. Diese Sicht schien mir schon immer sehr ver
blüffend. Weshalb sollte sprachliches Verhalten epistemisch wesent
lich für das Vorhandensein von Bewusstsein sein? Wir wissen vom
Menschen, dass Kinder Bewusstsein haben, lange bevor sie eine Spra
che sprechen können, und wir wissen, dass viele Menschen sich die
Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen, nie aneignen, bezweifeln des
wegen aber nicht, dass sie Bewusstsein haben.
Neuere Denker räumen ein, dass Tiere Bewusstsein haben, weisen
136
der Sprache aber eine irgendwie konstitutive Rolle in Bezug auf das
Denken zu, sodass Wesen ohne Sprache keine Gedanken haben kön
nen.
Die Hauptprämisse dieser Argumente ist also immer, dass Men
schen in einem Sinn Sprache haben, in dem Tiere keine Sprache ha
ben - soweit scheint mir diese Prämisse richtig zu sein. Sogar die
jenigen von uns, die den Schwänzeltanz der Bienen bereitwillig als
eine Sprache und die Errungenschaften der Schimpansen Washoe,
Lana und anderer als genuin sprachlich beschreiben würden, wür
den immer noch zugeben, dass solch symbolisierendes Verhalten un
gleich schwächer als irgendeine natürliche menschliche Sprache ist.
Räumen wir also ein, dass Menschen in einem wichtigen Sinn von
»Sprache« Sprache haben, aber, soweit wir wissen, keine andere Spe
zies. Was folgt daraus für den Geist? Nun, etwas folgt unmittelbar da
raus: Wenn es irgendwelche intentionalen Zustände gibt, deren Besitz
eine Sprache verlangt, so können Tiere diese Zustände nicht haben,
und a fo rtio ri können sie keine Gedankenprozesse haben, die diese
Zustände involvieren. Es gibt ganz eindeutig solche Zustände. Mein
Hund kann wollen, dass ich mit ihm spazieren gehe, aber er kann
nicht wollen, dass ich meine Einkommensteuererklärung für das
Steuerjahr 1993 rechtzeitig einreiche. Er kann herausgelassen werden
wollen, aber er kann nicht eine Dissertation über die Häufigkeit von
Pfeifferschem Drüsenfieber bei amerikanischen Studenten schreiben
wollen. Um diese letztere Art von Wünschen zu haben, müsste er
zumindest sprachliche Fähigkeiten besitzen, die ihm jedoch fehlen.
Gibt es ein Prinzip? Wie entscheiden wir, welche intentionalen Z u
stände Sprache verlangen und welche nicht? Ich glaube, es sind meh
rere Prinzipien beteiligt, und ich werde auf diese Frage später zurück
kommen. Im Moment möchte ich weiterhin den Argumenten gegen
die Möglichkeit jeglicher Intentionalität und jeglichen Gedankens
bei den sprachlich unterprivilegierten Tieren nachgehen. Das Argu
ment, dass es einige intentionale Zustände gibt, die Tiere nicht ha
ben können, zeigt nicht, dass sie keine intentionalen Zustände haben
können. Hier sind einige Argumente für die stärkere These.
Ein Argument lautet, dass wir, um einem System Überzeugungen
zuzuschreiben, eine Möglichkeit haben müssen, Fälle, in denen das
System wirklich glaubt, dass p , von Fällen zu unterscheiden, in denen
das System nur annimmt, dass p , vermutet, dass p , schätzt, dass p , ein
Gefühl hat, dass p , sicher ist, dass p , oder, wenn man alles ausgewogen
137
in Betracht zieht, zur Ansicht neigt, dass p ? Aber wir können diese
Unterscheidungen nicht für ein Wesen vornehmen, das diese für sich
selbst nicht machen kann, und ein Wesen kann die Unterscheidungen
nur fiir sich selbst machen, wenn es das relevante Vokabular besitzt.
Das Vokabular muss nicht dasselbe wie im Englischen oder genau
ins Englische übersetzbar sein, aber es muss irgendein Vokabular ge
ben, das die verschiedenen Arten intentionaler Zustände innerhalb
dieser Spannweite bezeichnet, andernfalls ist die Zuordnung der Z u
stände sinnlos.
Was sollen wir mit diesem Argument anfangen? Selbst wenn wir die
Prämisse zugestehen, dass solche Unterscheidungen einer Sprache
bedürfen, folgt daraus nicht, dass es uns möglich sein muss, fein ab
gestufte Unterscheidungen zu machen, bevor wir überhaupt irgend
welche Zuschreibungen intentionaler Zustände vornehmen können.
Diese Prämisse scheint sogar falsch. Ganz generelle psychologische
Verben wie >glauben< und >wünschen< werden oft in einer Art und
Weise benutzt, dass sie eine gewisse Lockerheit, eine Unbestimmtheit
in Bezug darauf zulassen, welche der Nebenformen der allgemeinen
Einstellung durch den Handelnden exemplifiziert werden. So kann
ich etwa glauben, dass es regnen wird, ohne dass ich selbst - ohne
darüber nachzudenken - sagen könnte, ob dies eine starke oder eine
schwache Überzeugung, eine Ahnung, eine Gewissheit oder eine Mut
maßung ist. Und selbst wenn ich diese Fragen beantworten kann,
wenn ich darüber nachdenke, so kann das Nachdenken selbst die
relevante Einstellung festlegen. Bevor ich darüber nachdachte, mag
es ganz einfach nichts gegeben haben, das faktisch darauf hinwies,
welche Art von Überzeugung es war; ich glaubte einfach, es würde
regnen. Deshalb schließe ich daraus: Die Tatsache, dass für Überzeu
gungen und Wünsche der Tiere keine fein abgestuften Unterschei
dungen gemacht werden können, zeigt nicht, dass Tiere keine Über
zeugungen und Wünsche haben.
Ein verwandtes Argument hat D. Davidson erwogen (ich bin mir
2 Dies war während meiner Studententage in Oxford in den 5oer-Jahren ein weit
verbreitetes Argument. Ich hörte es erstmals in Vorlesungen und Seminaren von
S. Hampshire. Ich weiß nicht, ob er es je publizierte. [A. d. Ü.: S. Hampshire ver
weist auf ein ähnliches Argument in: Thought and Action, London, 1959, S. 97;
vgl. T. A. Long, »Hampshire on Animais and Intentions«, M in d 72 (1963), S. 414-
416.]
138
nicht sicher, ob er es anerkennt).3 Die feinen Unterscheidungen, die
wir beim propositionalen Gehalt von Überzeugungen und Wünschen
machen, können für die angeblichen intentionalen Zuschreibungen
gegenüber Tieren nicht gemacht werden. Wir sagen, der Hund glau
be, sein Herrchen sei zu Hause. Aber glaubt er, Herr Schmid (der
sein Herrchen ist) sei zu Hause, oder der Bankdirektor (dasselbe Herr
chen) sei zu Hause? Ohne eine Antwort auf derlei Fragen können wir
dem Hund keine Überzeugungen zuschreiben.
Dieses Argument verläuft parallel zu einem bereits erwähnten. Ge
mäß jenem Argument gibt es keinen intentionalen Zustand ohne
eine bestimmte Tatsache, die seinem psychologischen Typ entspräche;
gemäß diesem Argument gibt es keinen intentionalen Zustand ohne
eine bestimmte Tatsache, die seinem propositionalen Gehalt entsprä
che. Das Argument unterliegt demselben Einwand wie das bereits
erwähnte. Die Prämisse scheint falsch. Selbst wenn wir annehmen,
dass es nichts gibt, das faktisch daraufhinweist, welche die korrekte
Übersetzung der mentalen Repräsentationen des Hundes in unser
Vokabular ist, zeigt dies alleine noch nicht, dass dem Hund jegliche
mentale Repräsentationen, Überzeugungen und Wünsche fehlen, die
wir zu übersetzen versuchen.
Davidson erwähnt dieses Argument nur beiläufig. Ein Argument,
das er mit größerem Ernst gegen die Existenz von Tiergedanken ins
Feld führt, ist das Folgende: Damit ein Tier einen Gedanken ha
ben kann, muss der Gedanke in einem Netz von Überzeugungen auf-
treten. Sein Bespiel lautet: Um zu denken, dass der Revolver geladen
ist, muss ich überzeugt sein, dass Revolver ein Waffentypus sind und
dass ein Revolver ein beständiges physisches Objekt ist. Damit man
einen Gedanken haben kann, müssen also Überzeugungen vorhan
den sein. Aber, und dies ist der entscheidende Schritt, um eine Über
zeugung zu haben, muss ein Geschöpf den Begriff der Überzeugung
haben. Weshalb? Weil man, um eine Überzeugung zu haben, wahre
von falschen Überzeugungen unterscheiden können muss. Aber der
Gegensatz zwischen dem Wahren und dem Falschen »kann nur im
Kontext der Interpretation« (von Sprache) auftreten.4 Die Vorstellung
einer wahren oder falschen Überzeugung hängt von der Vorstellung
3 D. Davidson, »Thought and Talk«, in: Truth and Interpretation, Oxford: Oxford
University Press 1984, S. 155-170 [dt. »Denken und Reden«, in: id., Wahrheit und
Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 224-246].
4 D. Davidson, op. cit., S. 170 [dt. S. 246].
139
von wahren und falschen Äußerungen ab, und diese Vorstellungen
können ohne eine gemeinsame Sprache nicht existieren. Deshalb kann
nur ein Geschöpf, das eine Sprache hat und sie interpretiert, Ge
danken haben. Die grundsätzliche Idee dieses Arguments ist anschei
nend diese: D a Wahrheit< ein metasprachliches semantisches Prädi
kat ist und da der Besitz von Überzeugungen die Fähigkeit erfordert,
zwischen wahren und falschen Überzeugungen unterscheiden zu kön
nen, folgt daraus anscheinend unmittelbar, dass der Besitz von Über
zeugungen metasprachliche semantische Prädikate verlangt, und dies
setzt offensichtlich Sprache voraus.
Dieses Argument ist nicht so klar, wie es sein könnte, und man
könnte gegen einige seiner Schritte Einwände erheben. Der Punkt,
auf den ich mich hier konzentrieren möchte, ist das, was ich für
den zentralen Kern des Argumentes halte: Um den Unterschied zwi
schen wahren und falschen Überzeugungen zu erkennen, bedarf es
eines sprachlich artikulierten Begriffs der Überzeugung.
Die Behauptung lautet, dass man nur innerhalb einer Sprache
korrekte von nicht korrekten Überzeugungen unterscheiden kann.
Ich bin mit der Voraussetzung für diese Forderung einverstanden:
Um einen intentionalen Zustand zu haben, muss man die Fähigkeit
besitzen, Bedingungen, die den intentionalen Zustand erfüllen, von
solchen zu unterscheiden, die ihn nicht erfüllen. Ich möchte diesen
Punkt sogar auf alle intentionalen Zustände ausdehnen und nicht
nur auf Überzeugungen beschränken. Allgemein muss man den Un
terschied zwischen erfüllten und unerfüllten intentionalen Zustän
den erkennen können, um intentionale Zustände zu haben. Ich sehe
jedoch keinen Grund zur Annahme, dass dies notwendigerweise einer
Sprache bedarf, und sogar die zwangloseste Beobachtung von Tie
ren legt nahe, dass sie typischerweise zwischen der Erfüllung und
der Frustration ihrer intentionalen Zustände unterscheiden, und zwar
ohne eine Sprache.
Wie funktioniert dies? Nun, die erste und wichtigste Sache ist
die, dass Überzeugungen und Wünsche nicht nur in ein Netz an
derer Überzeugungen und Wünsche eingebettet sind, sondern, was
noch wichtiger ist, in ein Netz von Wahrnehmungen und Handlun
gen, und diese sind die biologischen Grundformen der Intentiona
lität. Schon seit Beginn dieser Diskussion reden wir so, als ob Wahr
nehmung und Handlung keine Formen der Intentionalität wären;
sie sind es jedoch sehr wohl, und zwar die biologischen Grundformen.
140
Bezeichnenderweise legt Wahrnehmung bei Tieren wie bei Men
schen Überzeugungen fest, und gemeinsam mit Wünschen bestim
men Überzeugungen den Verlauf einer Handlung. Betrachten wir
aus dem Leben gegriffene Beispiele: Warum bellt mein Hund die
sen Baum hoch? Weil er glaubt, dass die Katze auf dem Baum ist,
und weil er sie erwischen will. Warum glaubt er, die Katze sei auf
dem Baum? Weil er sie hinaufrennen sah. Warum hört er nun auf,
den Baum hinaufzubellen, und fängt an, in Richtung des Nachbar
gartens zu rennen? Weil er nicht mehr glaubt, die Katze sei auf dem
Baum, sondern im Nachbargarten. Und warum hat er seine Über
zeugung korrigiert? Weil er gerade sah (und zweifellos roch), wie
die Katze in den Nachbargarten rannte; und sehen und riechen ist
glauben. Der allgemeine Punkt ist der, dass Tiere ihre Überzeugun
gen andauernd auf der Grundlage ihrer Wahrnehmungen korrigie
ren. Um diese Korrekturen zu machen, müssen sie in der Lage sein,
den Sachverhalt, in dem ihre Überzeugung erfüllt wird, von einem
Sachverhalt zu unterscheiden, in dem sie nicht erfüllt wird. Und
was für Überzeugungen gilt, gilt auch für Wünsche.
Warum aber müssen wir Überzeugungen und Wünsche überhaupt
»postulieren«? Warum können wir in solchen Fällen nicht einfach die
Existenz von Wahrnehmungen und Handlungen zugestehen? Die
Antwort ist die, dass das Verhalten ohne die Voraussetzung von Über
zeugungen und Wünschen unverständlich ist; weil das Tier z. B. sogar
dann den Baum hochbellt, wenn es die Katze nicht mehr sehen oder
riechen kann, und so die Überzeugung manifestiert, dass die Katze
auf dem Baum ist, selbst wenn es weder sehen noch riechen kann, dass
die Katze auf dem Baum ist. Und es zeigt ähnliche Verhaltensweisen,
die ein Verlangen nach Futter bekunden, selbst wenn es weder Futter
sieht, riecht noch frisst.
In solchen Fällen unterscheiden Tiere wahre von falschen Über
zeugungen, befriedigte von unbefriedigten Wünschen, ohne dass sie
die Begriffe von Wahrheit, Falschheit, Befriedigung oder noch nicht
einmal von Überzeugung und Wünschen haben. Und weshalb sollte
das irgendjemanden überraschen? Schließlich unterscheiden gewisse
Tiere beim Sehen zwischen roten und grünen Objekten, ohne die
Begriffe >Sicht<, >Farbe<, >rot< oder >grün< zu haben. Ich denke, viele
Menschen glauben, es sei etwas Besonderes an >wahr< und >falsch<,
weil sie annehmen, sie seien wesentliche semantische Prädikate in
einer Metasprache. Ausgehend von unserer Tarskischen Kinderstube
tendieren wir zum Glauben, die Verwendung von >wahr< und >falsch<
zur Charakterisierung von Überzeugungen müsse irgendwie von einer
fundamentaleren Verwendung abgeleitet werden, um beispielsweise
sprachliche Entitäten, Sätze und Feststellungen zu charakterisieren.
Und dann scheint uns, dass ein Geschöpf, wenn es zwischen wahren
und falschen Überzeugungen unterscheiden können sollte, erst eine
Objektsprache haben müsste, um der ursprünglichen metasprach
lichen Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit—nun durch
Ausdehnung auf etwas Nichtsprachliches angewandt - überhaupt
einen Halt zu geben.
Doch all dies ist falsch. >Wahr< und >falsch< sind in der Tat meta
sprachliche Prädikate, aber noch viel grundsätzlicher sind sie meta
intentionale Prädikate. Sie werden verwendet, um Erfolg und Ver
sagen von Repräsentationen im Erreichen von Übereinstimmung in
der Geist-auf-Welt-Ausrichtung einzuschätzen. Innerhalb dieser Aus
richtung sind Feststellungen und Sätze nur ein spezieller Fall. Es ist
ebenso wenig geheimnisvoll, dass ein Tier wenigstens manchmal
sagen kann, ob seine Überzeugung wahr oder falsch ist, wie dass
es sagen kann, ob sein Wunsch befriedigt oder frustriert wird. Weder
für Überzeugungen noch für Wünsche braucht das Tier eine Spra
che; vielmehr braucht es eine Einrichtung, um zu erkennen, ob die
Welt so ist, wie sie zu sein scheint (Überzeugung), und ob die Welt
so ist, wie es das Tier gerne hätte (Wunsch). Aber ein Tier braucht,
um wahre von falschen Überzeugungen zu unterscheiden, genauso
wenig eine Sprache, wie es sie braucht, um befriedigte von unbefrie
digten Wünschen zu unterscheiden. Denken wir etwa an das Beispiel
des Hundes, der die Katze jagt.
IV
Ich schließe daraus, dass die Argumente, die Tieren geistige Phäno
mene verwehren und von Descartes bis Davidson reichen, kraftlos
sind. Ich wende mich jetzt einer verbleibenden Frage zu: Wie unter
scheiden wir jene intentionalen Zustände, die eine Sprache verlan
gen und Tieren daher unmöglich sind, von jenen, die dies nicht
tun? Ich glaube, die beste Möglichkeit, diese Frage zu beantworten,
ist die, einige Kategorien intentionaler Zustände, die eine Sprache ver
langen, aufzuzählen, und die Gründe zu erklären, warum sie einer
142
Sprache bedürfen. Ich bezweifle, dass ich an alle gedacht habe, aber
hier sind erst einmal fünf.
1. Intentionale Zustände, die von Sprache handeln. Ein Wesen kann
beispielsweise nicht denken, dass »essen« ein transitives Verb ist,
oder sich fragen, wie es »Je n’aurais pas pu« ins Englische überset
zen soll, wenn es nicht die Fähigkeit besitzt, eine Sprache zu spre
chen.
2. Intentionale Zustände, die von Tatsachen handeln, für die Sprache
teilweise konstitutiv ist. Zum Beispiel kann ein Tier nicht denken,
dass das Ding, das es vor sich hat, eine Zwanzig-Dollar-Note ist,
oder dass der Mann, den es sieht, der Geschäftsführer des Philoso
phischen Instituts der Universität von Kalifornien ist, weil die re
präsentierten Tatsachen vom Menschen geschaffene Institutionen
wie Geld und Universitäten umfassen und der Sprache als ein kon
stitutives Element bedürfen.
3. Intentionale Zustände, die Tatsachen repräsentieren, die räumlich
und zeitlich so weit von der Erfahrung des Tieres entfernt sind,
dass sie ohne Sprache nicht darstellbar sind. Zum Beispiel könnte
mein Hund denken, dass ich jetzt gerade etwas Gutes esse, aber er
kann nicht denken, dass Napoleon etwas Gutes aß.
4. Intentionale Zustände, die komplexe Tatsachen repräsentieren, de
ren Komplexität ohne Sprache nicht dargestellt werden kann: Dies
ist eine sehr große Gruppe. So kann mein Hund einen herabfal
lenden Gegenstand fürchten, aber er kann nicht von der Existenz
des Gravitationsgesetzes überzeugt sein, obwohl der herabfallende
Gegenstand ein Beispiel dafür, darstellt. Er kann vielleicht ein paar
einfache konditionale Gedanken haben, aber er kann keine kon
junktivischen, kontrafaktischen Gedanken haben. Vielleicht kann
er denken: »Wenn er mir diesen Knochen gibt, werde ich diesen
fressen«, aber nicht: »Hätte er mir nur einen größeren Knochen ge
geben, der hätte mir besser geschmeckt!«
5. Intentionale Zustände, die Tatsachen darstellen, die durch den Prä
sentationsmodus in Bezug auf ein sprachliches System verortet wer
den. Mein Hund kann z. B. überzeugt sein, dass es hier jetzt warm
ist, aber er kann nicht überzeugt sein, dass der 30. April 1993 ein
warmer Tag ist, weil das System, das einen Tag als Datum repräsen
tiert, wesentlich sprachlich ist.
Zweifellos ließe sich diese Liste fortsetzen. Soweit zeigt sich, dass sich
die Gründe dafür, dass ein intentionaler Zustand für seine Existenz
143
eine Sprache wesentlich erfordert, zwei Klassen zuordnen lassen. Ent
weder hat der Zustand Erfüllungsbedingungen, die wesendich sprach
lich sind, oder der Repräsentationsmodus dieser Erfüllungsbedingun
gen ist wesentlich sprachlich. Oder meist beides. Eine dritte Art von
Grund bestünde darin, dass der Zustandstyp gerade für den Besitz
eines Zustandes dieses Typs einer Sprache bedarf. Ich habe Behaup
tungen gehört, nach denen es solche Zustandstypen gibt - Hoffnung
und Unmut wären vielleicht Beispiele - , aber ich habe nie ein überzeu
gendes Argument dafür gehört.
Ich kehre nun zur Frage zurück: Was sollten wir in einer vom Dualis
mus gereinigten Philosophie von geistigen Phänomenen bei Tieren
halten? Die Antwort ist eine Form dessen, was ich anderswo »biolo
gischen Naturalismus« genannt habe. Bewusstsein und andere For
men geistiger Phänomene sind biologische Vorgänge, die in mensch
lichen und bestimmten tierischen Gehirnen Vorkommen. Sie sind
genauso ein Teil der biologischen Naturgeschichte der Tiere wie die
Laktation, die Absonderung von Galle, die Mitose, Meiose, Wachs
tum und Verdauung. Wenn wir uns einmal daran erinnern, was wir
über das Gehirn wissen, und unsere dualistische Kinderstube verges
sen, ist der allgemeine Umriss für die Lösung des so genannten Leib-
Seele-Problems, ob für Mensch oder Tier, ziemlich einfach. Geis
tige Phänomene werden durch niederstufige neuronale Prozesse in
menschlichen und tierischen Gehirnen verursacht und sind selbst
höherstufige oder Makromerkmale dieser Gehirne. W ir wissen natür
lich noch nicht genau, wie dies funktioniert, wie die ziemlich spezifi
sche Neurobiologie menschlicher und tierischer Nervensysteme die
ganze enorme Vielfalt unseres geistigen Lebens verursacht. Aber da
raus, dass wir noch nicht wissen, wie dies funktioniert, folgt nicht,
dass wir nicht wissen, dass es funktioniert.
Ebenso wenig folgt aus der Tatsache, dass menschliche und tie
rische Gehirne Bewusstsein verursachen, dass nur menschliche und
tierische Gehirne dies tun könnten. Vielleicht könnte man mit Hilfe
irgendeiner künstlichen Einrichtung die Art von Bewusstsein erzeu
gen, die in uns und anderen Tieren existiert; vielleicht könnte man
es in Systemen erzeugen, die überhaupt nicht aus Molekülen auf der
144
Basis von Kohlenstoff bestehen. Und nach allem, was wir wissen, hat
sich Bewusstsein vielleicht auch bei Tieren in anderen Galaxien oder
in anderen Sonnensystemen innerhalb unserer eigenen, geschätzten
Galaxie entwickelt, die unsere lokale Besessenheit von Kohlenstoff,
Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff nicht kennen. Aber eines wis
sen wir mit Sicherheit: Jedes System, das Bewusstsein und andere
geistige Phänomene verursachen kann, muss dafür kausale Fähigkei
ten haben, die denen der minimalen biologischen Fähigkeiten von
Gehirnen, sowohl unserer eigenen menschlichen Gehirne sowie der
Gehirne anderer Tierarten, gleichkommen. Von der Tatsache, dass Ge
hirne dies kausal tun, darauf zu schließen, dass irgendein anderes Sys
tem, das es ebenso kausal tut, minimale kausale Kräfte haben muss,
die denen des Gehirns gleichkommen, ist eine triviale logische Konse
quenz. Falls dies trivial klingt - genau das soll es. Allerdings wird das
routinemäßig von einer wirren zeitgenössischen Philosophie des Geis
tes bestritten, die versucht, Bewusstsein als ein rein formales abstrak
tes Phänomen zu behandeln, das völlig unabhängig von irgendeiner
biologischen oder physikalischen Realität existiert. Zeitgenössische
Versionen dieser Sicht werden manchmal »Starke Künstliche Intel
ligenz« genannt.5 Sie sind Ausdruck von einem der Hauptlehrsätze
des traditionellen Dualismus, nämlich der Ansicht, dass die spezifi
sche Neurobiologie des Gehirns in Bezug auf den Geist von geringer
Wichtigkeit ist.
Bisher haben wir nicht die leiseste Ahnung davon, wie wir Bewusst
sein in einem anderen Medium künstlich herstellen können, weil wir
nicht genau wissen, wie es in unserem eigenen Gehirn erzeugt wird.
Einige unserer besten zeitgenössischen Theorien sagen uns, es sei eine
Sache variabler Quoten von Neuronenfeuerungen, die sich auf be
stimmte spezifische neuronale Architekturen beziehen. Aber was ge
nau an der merkwürdigen Elektrochemie der Neuronen, Synapsen,
Transmitter, Rezeptoren etc. ermöglicht es ihnen, Bewusstsein zu er
zeugen? Im Moment wissen wir es nicht. Deshalb sind die Aussichten
auf künstliches Bewusstsein extrem gering, obwohl die Existenz des
Bewusstseins in nicht menschlichen Gehirnen nicht ernsthaft ange-
zweifelt wird.
5 Vgl. J. R. Searle, »Minds, Brains and Programs«, Behavioral and Brain Sciences 3
(1980), S. 417-424 [dt. »Geist, Gehirn und Programme«, in: Kognitionswissenschaft.
Grundlagen, Probleme, Perspektiven, hrsg. von D. Münch, Frankfurt/M.: Suhrkamp
1992,8.225-252].
145
Und was ist nun mit den Spezialproblemen, die mit dem Geist des
Tiers zu tun haben? Bisher habe ich so gesprochen, als säßen Men
schen und Tiere im selben Boot, aber wie steht es mit den speziellen
Merkmalen des Geists der Tiere? Man kann die diesbezüglichen Pro
bleme grob in zwei Klassen einteilen, und es ist wichtig, sie auseinan
der zu halten: Erstens ontologische Probleme, die mit der Natur, dem
Charakter und den Kausalrelationen von geistigen Phänomenen des
Tiers zu tun haben: Wodurch werden sie verursacht und was verursa
chen sie wiederum selbst? Zweitens epistemologische Probleme, die
damit zu tun haben, wie wir etwas über geistige Zustände des Tiers
herausfinden, wie wir wissen, dass Tiere geistige Zustände haben,
und wie wir wissen, welche Tiere welche Arten geistiger Zustände
haben. Aus den bisher von mir geäußerten Ansichten folgt, dass es
über die Ontologie des geistigen Lebens der Tiere im Allgemeinen
und über das Bewusstsein der Tiere im Besonderen nicht viele in
teressante philosophische Fragen gibt. Die wichtigsten Fragen sind
hiervor allem Fragen für Tierpsycholog/innen, Biolog/innen und spe
ziell Neurobiolog/innen. Genauer gesagt: Wenn wir wissen, dass un
sere Gehirne Bewusstsein erzeugen, und deshalb wissen, dass jedes an
dere System, das Bewusstsein erzeugen kann, die relevanten kausalen
Kräfte haben muss, die denen unseres eigenen Gehirns entsprechen,
dann wird die Frage eine tatsächliche empirische Frage: Welche Arten
tierischer Gehirne können Bewusstsein erzeugen und aufrechterhal
ten?
In diesem Bereich werden Epistemologie und Ontologie allerdings
oft durcheinander gebracht. Der Turing-Test verleitet uns genau zu
dieser Verwechslung, weil der Behaviorismus, der hinter dem Test
steckt, zu Argumenten wie den folgenden führt: Wenn zwei Syste
me sich gleich verhalten, haben wir die gleiche Grundlage, dem einen
wie dem anderen geistige Zustände zuzuschreiben. Sowohl Schne
cken als auch Termiten etwa können scheinbar zielgerichtetes Verhal
ten an den Tag legen, welchen Sinn kann also die Behauptung ma
chen, Schnecken hätten Bewusstsein und Termiten nicht? Nun, da
zielgerichtetes Verhalten ein Merkmal von allen möglichen Artefak
ten wie beispielsweise Mausefallen und Infrarot-Raketen zu sein
scheint, warum sollen wir, wenn wir Schnecken und Termiten auf
grund von zielgerichtetem Verhalten Bewusstsein zuschreiben, dies
dann nicht auch für irgendein zielgerichtet erscheinendes System
tun, wie etwa für Mausefallen oder Infrarot-Raketen?
146
Wenn aber, wie ich behaupte, dieser Ansatz Epistemologie und On
tologie miteinander verwechselt, wie sollte man solche Fragen dann
richtig angehen? Wie etwa würden wir die Hypothese testen, dass
Schnecken Bewusstsein haben und Termiten nicht? Hier ist ein mög
licher Weg: Nehmen wir an, wir hätten eine Wissenschaft des Gehirns,
die es uns ermöglichte, die kausalen Grundlagen des Bewusstseins
beim Menschen schlüssig nachzuweisen. Nehmen wir an, wir würden
entdecken, dass bestimmte elektrochemische Sequenzen kausal not
wendig und hinreichend für menschliches Bewusstsein wären. Neh
men wir an, wir wüssten, dass Menschen, die diese Merkmale haben,
Bewusstsein hätten und Menschen ohne sie nicht. Nehmen wir an,
wir wüssten etwa von uns selbst, dass wir, wenn wir diese spezifischen
Merkmale mit Hilfe von Betäubungsmitteln ausschalteten, bewusst
los würden. W ir dürfen annehmen, dass dies ein extrem kompliziertes
elektrochemisches Phänomen ist, und ich werde, einer langen philo
sophischen Tradition folgend, seine Beschreibung einfach mit X Y Z
abkürzen. Nehmen wir an, das Vorhandensein der Merkmale X Y Z
im sonst normalen menschlichen Gehirn wäre kausal sowohl notwen
dig als auch hinreichend für Bewusstsein. Wenn wir nun X Y Z bei
Schnecken, aber nicht bei Termiten fänden, würde das nach einem
sehr starken empirischen Beleg dafür aussehen, dass Schnecken Be
wusstsein hätten und Termiten nicht. Wenn wir eine genügend reich
haltige Theorie hätten, sodass wir X Y Z als kausal sowohl notwendig
als auch hinreichend für Bewusstsein identifizieren könnten, so könn
ten wir die Hypothese für definitiv bewiesen betrachten (die üblichen
Vorbehalte bezüglich der prinzipiellen Falsifizierbarkeit jeder wissen
schaftlichen Hypothese natürlich nicht eingerechnet).
VI
Wenn die ontologischen Fragen vor allem eine Sache der Spezialisten
sind, wie steht es dann mit der Epistemologie? Wir finden hier eine
Menge Möglichkeiten, philosophische Verwirrungen aufzuklären.
Ich habe gesagt, dass wir im Gegensatz zu Descartes vollkommen
zuversichtlich sein können, dass höhere Tiere bewusst sind. Was aber
ist die Grundlage für unsere Zuversicht? Schließlich können wir M a
schinen erfinden, die sich auf bestimmten Gebieten genauso intel
ligent verhalten können wie Tiere, vielleicht sogar noch intelligenter,
147
und wir tendieren nicht dazu, diesen Maschinen Bewusstsein zuzu
schreiben. Wo liegt der Unterschied? Was sonst als biologischer Chau
vinismus würde uns dazu bringen, Tieren, nicht aber etwa Compu
tern, Bewusstsein zuzuschreiben?
Die Standardantwort war, dass wir von der Existenz des Fremd
psychischen bei Tieren in derselben Weise wie beim Menschen wis
sen: Wir schließen aus dem Verhalten des Menschen oder des Tieres,
dass er oder es Bewusstsein und andere geistige Phänomene hat. Da
das Verhalten anderer Menschen und Tiere meinem eigenen auf rele
vante Weise ähnlich ist, folgere ich daraus, dass sie bewusste Zustände
wie ich haben. Aus dieser Sicht müssten wir sagen, dass auch ein me
chanisches Tier Bewusstsein hätte, wenn wir eines aus Tinker-Toy-
Teilen* bauen könnten, das sich wie ein richtiges Tier verhielte.
Als Antwort darauf möchte ich sagen, dass ich diese Sicht für hoff
nungslos konfus halte und dass das Verhalten an und für sich schlicht
irrelevant ist. Selbst wenn wir uns auf verbales Verhalten beschrän
ken, wie Descartes es tat, ist der Hinweis wichtig, dass mein Autora
dio ein sehr viel intelligenteres verbales Verhalten nicht nur als jedes
Tier an den Tag legt, sondern sogar als jeder Mensch, den ich kenne.
Es liefert mir auf Anfrage Wettervorhersagen, Berichte über die letz
ten Neuigkeiten, Diskussionen der Börse sowie Country-Songs und
Rock’n’Roll-Musik, und es zeigt eine ganze Anzahl anderer Formen
von verbalem Verhalten, sogar einige, bei denen dasselbe Radio mit
vielen seiner verschiedenen Stimmen gleichzeitig spricht. Aber ich
glaube keine Sekunde lang, dass mein Radio Bewusstsein hat, und
ich zweifle nicht daran, dass mein Hund Bewusstsein hat. Der Grund
für die Unterscheidung ist der, dass ich eine Theorie habe. Ich habe
eine Theorie darüber, wie Radios funktionieren, und ich habe eine
Theorie darüber, wie Hunde funktionieren. M it »Theorie« meine
ich nichts Extravagantes, bloß so etwas wie eine Commonsense-Theo-
rie. Ich weiß, dass ein Radio eine Maschine ist, die dazu bestimmt ist,
die Musik und die Stimmen von weit entfernten Menschen so zu über
tragen, dass ich sie in meinem Wohnzimmer oder meinem Auto hören
kann. Ich weiß, dass mein Hund eine bestimmte innere kausale Struk
tur hat, die meiner eigenen auf relevante Weise ähnlich ist. Ich weiß,
dass mein Hund Augen, Ohren, Haut etc. hat und dass diese einen
Teil der kausalen Grundlagen seines geistigen Lebens bilden, genauso
* [A. d. Ü.: >Tinker Toy< ist ein Baukastensystem fiir Kinder, das Anfang des 20. Jh.s in
den USA erfunden und dort rasch populär wurde.]
148
wie ähnliche Strukturen einen Teil der kausalen Grundlagen meines
geistigen Lebens bilden. Indem ich diese Antwort gebe, versuche
ich nicht, »dem Skeptiker zu antworten« oder »das Problem des
Fremdpsychischen zu lösen«. Ich glaube, es gibt kein solches Problem,
und ich nehme den Skeptizismus nicht ernst. Vielmehr erkläre ich,
was tatsächlich und im richtigen Leben der Grund für unser vollkom
menes Vertrauen darin ist, dass Hunde Bewusstsein haben und
Radios nicht. Für sich selbst genommen ist das Verhalten irrelevant.
Verhalten ist für uns nur in dem Ausmaß interessant, in dem wir es
als Ausdruck einer ontologisch fundamentalen Kausalstruktur be
trachten. Das Prinzip, mit dessen Hilfe wir »das Problem des Fremd
psychischen für Tiere lösen«, ist nicht, dass intelligentes Verhalten ein
Beweis für Bewusstsein ist, sondern das Prinzip ist vielmehr folgen
des: Wenn das Tier eine kausal relevante Struktur besitzt, die unserer
eigenen ähnlich ist, dann produziert es wahrscheinlich ähnliche geis
tige Zustände als Reaktion auf ähnliche Stimuli. Das »Verhalten« ist
einfach der Beleg dafür, dass es so reagiert. Weiter nichts.
Entgegen der ganzen epistemologischen Tradition schlage ich vor,
dass die Grundlage, auf der unsere Gewissheit beruht, dass Tiere Be
wusstsein haben, nicht darin liegt, dass intelligentes Verhalten, das un
serem gleich oder ähnlich ist, der Beweis für Bewusstsein ist, sondern
vielmehr darin, dass gleiche oder ähnliche kausale Strukturen, die un
seren eigenen gleichen oder ähneln, die gleichen oder ähnliche Aus
wirkungen haben. Verhalten, sogar sprachliches Verhalten, ist nur re
levant, wenn wir bestimmte Annahmen über die Struktur treffen.
Deshalb schreiben wir Menschen und Tieren mit oder ohne Sprache
Bewusstsein zu, nicht aber Radios.
Aber sogar diese Behauptung scheint mir ein zu großes Zugeständ
nis zu sein. Fast unvermeidbar wird sie den Eindruck vermitteln, dass
ich tatsächlich an die Existenz eines Problems des Fremdpsychischen
glaube, dass es Prüfungen gibt, die ein System bestehen muss, um
einen Geist zu haben, und dass Hunde und Paviane die Prüfungen
bestehen und Computer sowie Stühle und Tische durchfallen. Ich
glaube, dies ist die falsche Art, diese Angelegenheiten zu betrachten,
und werde nun zu erklären versuchen, warum.
Der schlimmste Fehler, den wir vom Cartesianismus geerbt haben,
ist der Dualismus, zusammen mit seiner idealistischen, monistischen,
materialistischen, physikalistischen Nachkommenschaft. Der zweit
schlimmste Fehler aber war es, die Epistemologie ernst zu nehmen,
149
oder anders ausgedrückt, sie auf die falsche Weise ernst zu nehmen.
Descartes und die britischen Empiristen bis hin zu den Positivisten
und Behavioristen des 20. Jahrhunderts haben uns den Eindruck ver
mittelt, dass die Frage: »Woher bzw. wie weiß man das?« die funda
mentale Frage sei, deren Antwort die Beziehung zwischen uns als be
wussten Wesen und der Welt erklären würde. Die Vorstellung ist, dass
wir uns auf die eine oder andere Art immer in einer epistemischen
Haltung gegenüber der Welt befinden, in der wir aus Hinweisen ver
schiedenster Art unsere Schlüsse ziehen. W ir sind damit beschäftigt
zu folgern, dass die Sonne morgen aufgehen wird, dass andere Leute
Bewusstsein haben, dass Objekte fest sind, dass Begebenheiten in der
Vergangenheit wirklich geschahen etc. In diesem Fall lautet die Vor
stellung: Der Beleg, den wir dafür haben, dass andere Menschen Be
wusstsein haben, beruht auf ihrem Verhalten; und da wir in relevanter
Weise ähnliches Verhalten bei Hunden und Primaten beobachten,
können wir durchaus folgern, dass auch sie Bewusstsein haben. Im
Gegensatz zu dieser Tradition möchte ich sagen, dass die Epistemolo
gie in der Philosophie und im täglichen Leben von relativ geringem
Interesse ist. Sie hat ihre eigene kleine Interessensnische dort, wo
wir uns etwa auf solche Dinge konzentrieren, wie z. B. gewisse tradi
tionelle skeptische Argumente zu verstehen sind; unsere wesentlichen
Beziehungen zur Realität sind jedoch selten epistemologischer Natur.
Ich folgere genauso wenig, dass mein Hund Bewusstsein hat, wie ich,
wenn ich ein Zimmer betrete, folgere, dass die anwesenden Menschen
Bewusstsein haben. Ich reagiere einfach so auf sie, wie es angemessen
ist, auf bewusste Wesen zu reagieren. Ich behandle sie einfach als be
wusste Wesen, und das ist es dann auch schon. Nun sagt jemand: »Ja,
aber ignorieren Sie nicht die Möglichkeit, dass andere Menschen
unbewusste Zombies sein könnten, und der Hund, wie Descartes
meinte, eine geschickt konstruierte Maschine sein könnte, und dass
die Tische und Stühle, wer weiß, Bewusstsein haben könnten? Igno
rieren Sie diese Möglichkeiten nicht einfach?« Die Antwort lautet: Ja.
Ich ignoriere all diese Möglichkeiten einfach. Sie stehen außer Frage.
Ich nehme keine von ihnen ernst. Epistemologie ist in der Philosophie
des Geistes und in der Philosophie der Sprache von sehr geringem In
teresse aus dem einfachen Grund, dass in Bezug auf Geist und Spra
che sehr wenig von unserem Verhältnis zum fraglichen Phänomen
epistemisch ist. Die epistemische Haltung ist eine sehr spezielle Ein
stellung, die wir unter gewissen besonderen Umständen einnehmen.
150
Normalerweise spielt sie in unserem Umgang mit Menschen und
Tieren eine sehr kleine Rolle. Anders ausgedrückt: Es ist eigentlich
egal, wie ich weiß, dass mein Hund Bewusstsein hat, oder sogar, ob
ich »weiß« oder nicht »weiß«, dass er Bewusstsein hat. Tatsache ist,
dass er Bewusstsein hat, und dass Epistemologie auf diesem Gebiet
von dieser Tatsache ausgehen muss.
Es gibt tatsächlich Gründe für meine Gewissheit im Falle von Hun
den, Stühlen, Tischen, Pavianen und anderen Menschen, und ich
habe bereits versucht, einige dieser Gründe darzulegen, aber wichtig
ist, dass ich mir sicher bin. Wenn ich die Gründe für meine Sicherheit
darlege, versuche ich nicht, den philosophischen Skeptizismus zu be
antworten oder zu »beweisen«, dass Tiere einen Geist haben, Tische
und Stühle aber nicht.
Obwohl mir jedoch die allgemeine oder philosophisch skeptische
Form des »Problems des Fremdpsychischen bei Tieren« verworren
scheint, gibt es ziemlich spezifische Fragen zu spezifischen Mechanis
men, deren Antworten für den wissenschaftlichen Fortschritt auf die
sem Gebiet wesentlich sind. Wie ähnlich oder verschieden etwa sind
die visuellen Erlebnisse von Katzen und Menschen? Wir wissen da
rüber recht viel, weil wir das visuelle System der Katze ziemlich einge
hend untersucht haben, und wir haben einen zusätzlichen Anreiz für
die Beantwortung dieser Frage, weil wir wissen müssen, wie viel wir
von der Arbeit mit Katzen über das visuelle System des Menschen
lernen können. Ferner nehmen wir momentan an, dass bestimmte Vo
gelarten navigieren, indem sie das Magnetfeld der Erde aufspüren.
Und es stellt sich die Frage: Falls sie dies tun, tun sie es dann bewusst?
Und wenn ja, welches sind die Mechanismen für ein bewusstes Auf
spüren des Magnetismus? Ähnlich navigieren Fledermäuse, indem
sie in der Dunkelheit Schallwellen auf feste Objekte prallen lassen.
Wir würden nicht nur gerne wissen, wie sich das anfühlt, sondern
auch, welches die Mechanismen sind, die das bewusste Erlebnis, ma
terielle Objekte durch reflektierte Schallwellen auszumachen, hervor-
rufen. Die grundsätzlichste Frage ist folgende: Welches sind genau die
neurobiologischen Mechanismen, durch die Bewusstsein bei Tieren
und Menschen erzeugt und aufrechterhalten wird? Eine Antwort auf
diese Frage gäbe uns solide epistemische Grundlagen zur Klärung
des Problems, welche Tiere Bewusstsein haben und welche nicht.
Derlei epistemische Fragen scheinen mir bedeutungsvoll, wichtig,
und in der Tat entscheidend für wissenschaftlichen Fortschritt auf
diesen Gebieten. Aber beachten Sie, wie sehr sie sich vom traditio
nellen philosophischen Skeptizismus unterscheiden. Man kann sie be
antworten, indem man spezifische Arbeit zu spezifischen Mechanis
men unter Verwendung der besten verfügbaren Werkzeuge leistet.
Niemand hätte etwa im Voraus und nur auf der Basis philosophischer
Reflexion sagen können, dass sich die Verwendung von Positronen-
Emissions-Tomographie- (PET) und Computertomographie- (CAT)
Aufzeichnungen bei der Untersuchung des menschlichen und tie
rischen Geistes als entscheidend erweisen würden. Die Antwort auf
diese wirklich epistemischen Fragen ist immer dieselbe: Gebrauche
deinen Einfallsreichtum. Gebrauche jede Waffe, die du bekommen
kannst, und bleibe bei jeder Waffe, die funktioniert. M it dieser Art
von Epistemologie haben wir die besten Aussichten, sowohl den Geist
der Menschen als auch den der Tiere zu verstehen.
152
Hans-Johann Glock
Begriffliche Probleme und das Problem
des Begrifflichen
Begriffe spielen eine doppelte Rolle in diesem Aufsatz. Wie die meis
ten philosophisch interessanten Themen, so werfen auch die geisti
gen Fähigkeiten von Tieren Probleme auf, die spezifisch begrifflicher
Natur sind. Kann man nicht-menschlichen Tieren (von nun an ein
fach >Tiere<) einen Geist zuschreiben, und falls ja, welcher Art? Die
Antwort auf diese Frage hängt nicht nur von empirischen Beobach
tungen (gleich ob in der Natur oder im Labor) und Theorien ab,
sondern auch davon, wie man umstrittene Begriffe wie den des Geis
tes, des Denkens, des Verhaltens etc. versteht. Die philosophische Auf
gabe auf diesem Gebiet besteht nicht in der Sammlung neuer empi
rischer Daten über tierisches Verhalten, dessen neurophysiologische
Ursachen oder dessen evolutionäre Ursprünge, sondern in der Klä
rung dessen, was es heißt, geistige Eigenschaften zu besitzen, und un
ter welchen Umständen diese Eigenschaften einem Organismus zu
geschrieben werden können. Damit soll nicht behauptet werden, dass
man eine hieb- und stichfeste Definition dieser Eigenschaften be
nötigt, um in der Tierpsychologie bzw. kognitiven Ethologie mit
dem Entwurf empirischer Theorien beginnen zu können. Aber diese
Theoriebildung ist immer auf ein bestimmtes Vorverständnis ihres
Themenbereichs angewiesen. Deshalb muss sie begleitet werden von
Überlegungen zu den Begriffen, durch die dieser Themenbereich fest
gelegt wird, und auf die sich bestimmte Forschungsprojekte, Metho
den und Schlussfolgerungen stützen.1
Unter den umstrittenen Begriffen, die für das Thema tierischen
Denkens eine Rolle spielen, nimmt der Begriff eines Begriffes eine
wichtige Stellung ein. Begriffe stellen scheinbar ein Hindernis für
die Zuschreibung mentaler Eigenschaften und Fähigkeiten an Tiere
dar. Einerseits scheinen diese Eigenschaften den Besitz von Begrif
fen vorauszusetzen; andererseits scheint der Besitz von Begriffen je
doch eng an den Besitz von Sprache geknüpft und daher für Tiere un-
i Vgl. C. Allen und M . Bekoff, »Intentionality, Social Play and Definition«, in: Read-
ings in Anim al Psychology, hrsg. von M. Bekoff und D. Jamieson, Cambridge (Mass.):
MIT Press 1991, S. 236-237.
153
erreichbar zu sein. In diesem Aufsatz diskutiere ich sowohl begriffliche
Probleme auf dem Gebiet des Geistes der Tiere als auch das Problem
der Begriffe.
Zunächst werde ich das Thema einschränken auf Denken im Sinne
des Besitzes von so genannten propositionalen Einstellungen (Abs. i).
Dann präsentiere ich verschiedene Positionen zu diesem Thema und
optiere für eine gemäßigte Position, der zufolge Tiere Gedanken ein
facher Art haben können (Abs. 2). Auch lege ich dar, warum das Prob
lem aus der Perspektive der dritten Person anzugehen ist (Abs. 3). An
schließend setze ich mich mit denjenigen Einwänden gegen tierische
Gedanken auseinander, die mit Begriffen Zusammenhängen: Inten-
sionalität (Abs. 4), Begriffe als Bausteine von Gedanken (Abs. 5-6),
die normative Dimension von Begriffen (Abs. 7), ihre Rolle beim
Schließen (Abs. 8) und die holistische Idee, Gedanken müssten ein
komplexes Netzwerk bilden (Abs. 9). In meinem Fazit deute ich an,
dass Tiere nicht nur quantitativ weniger Gedanken haben können
als Menschen, sondern dass dieser Besitz auch qualitativ etwas ande
res bedeutet.
Besitzen zumindest einige Tiere einen Geist, der mit dem mensch
lichen vergleichbar ist? Die Frage birgt Probleme aus einer ganzen
Reihe von Disziplinen in sich, die von der Evolutionstheorie und Neu
rophysiologie über die Verhaltensforschung, Psychologie und Linguis
tik bis zur Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes reichen.
Außerdem hat sich der Einfluss moralischer Überlegungen als A b
lenkung erwiesen. Es ist natürlich völlig legitim, die Implikationen
zu diskutieren, welche die An- oder Abwesenheit geistiger Eigenschaf
ten bei Tieren auf deren Behandlung haben sollte, die Behandlung
durch Verhaltensforscher miteingeschlossen.2 Nicht legitim ist jedoch
die weitverbreitete Tendenz, Auffassungen des tierischen Geistes ein
fach aus vorgefertigten moralischen (oder unmoralischen) Überzeu
gungen abzuleiten.
Sobald wir die trüben Gewässer der angewandten Ethik hinter uns
lassen, ergeben sich neue Komplikationen. Der Begriff des Geistes ist
2 Vgl. M . Bekoff und D. Jamieson, »Reflective Ethology, Applied Philosophy, and the
Moral Status o f Animais«, Perspectives in Ethology 9 (1991), S. 1-47.
154
möglicherweise vage, mit Sicherheit jedoch weit. Um unserem Prob
lem auf den Leib zu rücken, müssen wir daher angeben, um welche
geistigen Phänomene und Fähigkeiten es gehen soll.
Zuerst sind kognitive Fähigkeiten, d. h. Fähigkeiten zur Gewin
nung von Wissen und Information, von konativen Fähigkeiten zu
unterscheiden, d. h. Fähigkeiten, etwas zu verlangen oder zu beab
sichtigen. Der populäre Ausdruck »Tierkognition« ist irreführend in
sofern er sich ausschließlich auf Erstere zu beziehen scheint, obwohl
sich ein beachtlicher Teil der Debatte ebenso sehr um die Wünsche
und Absichten von Tieren dreht wie um deren Überzeugungen. So
wohl kognitive als auch konative Zustände sind intentional, d. h. sie
haben einen bestimmten Gegenstand bzw. Inhalt. Man glaubt oder
weiß, dass etwas der Fall ist, wünscht, dass etwas der Fall sei, oder be
absichtigt, etwas zu tun. In Fällen, in denen dieser Inhalt durch einen
dass-Satz ausgedrückt wird, verwendet man allgemein den m. E. irre
führenden Ausdruck »propositionale Einstellungen«. Aber es gibt an
dere mentale Phänomene, die keinen derartigen Gegenstand oder
Inhalt haben, gleich ob propositional oder nicht. Das gilt nicht nur
für Empfindungen wie Schmerzen, sondern auch für relativ kom
plexe Phänomene wie Stimmungen. Ein Problem mit Begriffen wie
Erfahrung und Bewusstsein besteht darin, dass sie eine Vielfalt an
Phänomenen abdecken, die von einfachen Empfindungen über Wahr
nehmung zu ausgewachsenen Gedanken reichen. Es ist eine Sache, be
wusst zu sein in dem Sinn, dass man Schmerzen fühlen kann, was
einfach ein Kennzeichen von allen empfindungsfähigen Lebewesen
ist. Es ist eine andere Sache, seine Umgebung wahrnehmen zu kön
nen, und vielleicht noch eine andere Sache, Überzeugungen zu haben,
wonach das-und-das der Fall ist.
Ich nenne diese intentionalen Zustände Gedanken statt proposi
tionale Einstellungen und spreche vom Denken als dem Besitz von
Gedanken. Es ist zumindest unklar, ob es sich dabei um Relationen
zu Entitäten handelt, und selbst wenn, so wäre es doch schierer Dog
matismus, darauf zu bestehen, dass meine Bewunderung für Nelson
Mandela oder meine Absicht, das Matterhorn zu besteigen, letzten
Endes Einstellungen zu Propositionen sein müssen, anstatt zu Perso
nen bzw. Handlungen.
Das Vermögen, Gedanken zu haben, ist eine Voraussetzung für das
Vermögen zu schließen, für die Vernunft. Sowohl im theoretischen als
auch im praktischen Schließen bewegt man sich von einem oder meh
i55
reren Gedanken, den Prämissen, zu einem anderen Gedanken, der
Konklusion. Die Fälligkeit zum Schließen muss ihrerseits von Intel
ligenz unterschieden werden. Grob gesprochen ist Intelligenz das Ver
mögen, zuvor unbekannte Probleme auf flexible Weise zu lösen, d. h.,
ohne dass diese Lösungswege genetisch determiniert oder strikt kon
ditioniert wären.3 Intelligenz in diesem allgemeinen Sinn reicht von
der Problemlösung durch Versuch und Irrtum, wie bei den Kapuziner
affen in der Röhrenaufgabe, zu jener Art Ein- und Voraussicht, die
Schimpansen bei der Herstellung von Werkzeugen an den Tag legen.4
Selbst in letzterem Fall ist es jedoch eine offene Frage, ob Schlüsse
von Prämissen auf Konklusionen eine Rolle spielen (vgl. Abs. 8).
Ich werde mich hier auf Gedanken und Begriffe konzentrieren
und Themen wie Empfindung, Wahrnehmung, Intelligenz und Ver
nunft nur insofern miteinbeziehen, als sie für diese Hauptthemen von
Belang sind. Dass zumindest Wirbeltiere empfinden und wahrneh
men, sollte ebenso offenkundig sein, wie dass die höheren Wirbeltiere
in verschiedenen Graden zu intelligentem Verhalten befähigt sind.
Aber nur bei Gedanken gibt es prim a facie einen Grund anzuneh
men, Begriffe seien im Spiel.
Selbst das Gebiet des Denkens bei Tieren besteht aus verschie
denen Themenbereichen. Seit Descartes lautet der Haupteinwand
gegen die Zuschreibung von Gedanken und Begriffen an Tiere, dass
diese nicht über sprachliche Fähigkeiten verfügen. Aber neuere For
schungen in der kognitiven Verhaltensforschung legen nahe, dass
Schimpansen, Bonobos und vielleicht sogar Papageien elementare
sprachliche Fähigkeiten erwerben können.5 Anhänger Chomskys
haben dies insbesondere mit der Begründung abgelehnt, es fehlten
die für eine echte Sprache charakteristischen syntaktischen Fähigkei
ten.6 Eine Frage ist daher, ob es sprachbegabte Tiere gibt. Falls ja,
3 J. Dupre, Humans and Other Anim ais, Oxford: Oxford University Press 2002,
S. 226-227.
4 Vgl. M . Tomasello und J. Call, Prim ate Cognition, Oxford: Oxford University Press
1997, S. io - ii und Kap. 3.
5 S. Savage-Rumbaugh und R. Lewin, Kanzi, London: Doubleday 1994 [dt. Kanzi,
der sprechende Schimpanse, München: Droemer Knaur 1995]; S. Savage-Rumbaugh,
S. Shanker und T. Taylor, Apes, Language and the Human M ind, Oxford: Oxford
University Press 1998; I. Pepperberg, The A lex Studies, Cambridge (Mass.): Harvard
University Press 1999.
6 S. Pinker, The Language Instinct, Middlesex: Penguin 1994, Kap. 11 [dt. D er Sprach-
instinkt, München: Kindler 1996, Kap. .11].
15 6
dann sind einige einschlägige Argumente gegen tierische Gedanken
auf diese Fälle einfach nicht anwendbar.7
Die andere Frage, der ich mich hier ausschließlich widmen möchte,
lautet, ob nicht-sprachliche Geschöpfe Gedanken haben können. Das
schließt Zeichen benutzende Menschenaffen aus, bringt aber nicht
sprachbegabte Menschen mit ins Spiel. M it Ausnahme einiger Sei
tenblicke, beschränke ich mich jedoch auf nicht sprachbegabte Tiere,
u. a. deshalb, weil Menschen ohne Sprache Schwierigkeiten eigener
Art aufwerfen. Es ist z. B. unklar, ob unsere Zuschreibung von Gedan
ken an vorsprachliche Kinder nicht darauf beruht, dass wir deren spä
tere Sprachbegabung vorwegnehmen. Andererseits beziehe ich mich
nicht nur auf tatsächliches tierisches Verhalten, sondern auch Verhal
tensformen, die ein nicht sprachbegabtes Wesen an den Tag legen
könnte. Denn diese Möglichkeit ist für die philosophische Frage zent
ral, ob unsere geistigen Begriffe die Zuschreibung an nicht-sprach
liche Lebewesen von vornherein ausschließen.
Nun haben wir eine Frage, die Licht auf die Rolle von Begriffen für
das Denken der Tiere wirft, ohne zu allgemein zu sein: Können Tiere
ohne Sprache Gedanken haben? Bis zum Ende des letzten Jahrhun
derts herrschte die Annahme vor, eine bejahende Antwort müsse
auf Anthropomorphismus hinauslaufen, auf die illegitime Projektion
menschlicher Eigenschaften auf Tiere, deren Verhalten sich durch be-
havioristische Modelle von Reiz und Reaktion vollständig erklären
lässt. M it der »kognitiven Revolution« in der Psychologie jedoch
hat sich das Blatt gewendet. Kognitive Ethologen schreiben Tieren
immer komplexere Gedanken und geistige Fähigkeiten zu. Außer
dem wird die Philosophie des Geistes zunehmend vom Naturalismus
dominiert, der Vorstellung, die Philosophie könne keine eigenstän
digen, von den Einzelwissenschaften unabhängigen Beiträge leisten.
In einem solchen Klima liegt es nahe, das Problem des tierischen Den
kens den Bio Wissenschaften zu überlassen und anzunehmen, jegliche
Zweifel seien ein Relikt des Glaubens an die Ausnahmestellung des
Menschen, die mit der von der Evolutionstheorie und Neurophysio-
7 Vgl. A. Stephan, »Are Animais Capable o f Concepts?«, Erkenntnis 51 (1999),
S. 79-92, besonders S. 88-90.
157
logie entdeckten Kontinuität der Arten unvereinbar ist. Verschiedene
biologische Kontinuitätsprinzipien sollen zeigen, dass die geistigen
Unterschiede zwischen Mensch und Tier nur eine Frage des Grades
sein können. Der Versuch, hier qualitative Unterscheidungen zu tref
fen, erscheint dagegen als Ausdruck eines unwissenschaftlichen A n-
thropozentrismus.8
Der Kollektivvorwurf des Anthropozentrismus ist aber ebenso
diffus und unbegründet wie der des Anthropomorphismus. An der
empirischen Tatsache, dass es sowohl biologische (insbesondere ge
netische und neurophysiologische) Ähnlichkeiten als auch entwick
lungsgeschichtliche Kontinuitäten zwischen uns und bestimmten
nicht-sprachlichen Tieren gibt, ist nicht zu rütteln. Aber daraus folgt
nicht, dass deren Geistesleben dem unseren nahe kommt. Zum einen
wirft die Hypothese des »unterbrochenen Gleichgewichts«9 die Frage
auf, ob die biologische Evolution nicht auch echte Sprünge aufwei
sen kann. Aber selbst wenn gilt natura non fa cit saltus, besagt Konti
nuität entlang evolutionärer Stammbäume noch nichts über die geis
tigen Fähigkeiten der uns umgebenden Tierarten. Wahrscheinlich
teilten unsere unmittelbaren nicht-sprachlichen Vorfahren viele unse
rer anderen geistigen Fähigkeiten. Das garantiert jedoch nicht, dass
die uns biologisch am nächsten liegende bestehende Art uns auch geis
tig nahe steht, da diese unmittelbaren Vorfahren nämlich ausgestor
ben sind. Würden alle Wirbeltiere außer homo sapiens durch einen
ungezogenen Meteoriten ausgerottet, wäre es absurd zu folgern, dass
Tintenfische und Seesterne uns geistig nahe stehen müssen.10
Der Zufall will es, dass unsere nächsten lebenden Verwandten, die
Schimpansen, 98% unserer DNA teilen. Doch folgt daraus nicht, dass
sie uns geistig zu 98% gleichen. Denn kleine biochemische Unter
schiede im Genotypus können zu signifikanten Unterschieden im
Phenotypus führen. In der Tat gilt dies bereits auf der neurophysiolo-
gischen Ebene. Obwohl das Schimpansengehirn aus denselben Bau
158
steinen und nach demselben Prinzip organisiert ist wie das mensch
liche Gehirn, ist es selbst unter der Berücksichtigung des Körperge
wichts deutlich kleiner (durchschnittlich 400 ccm zu 1400 ccm).
Überhaupt ist leicht einzusehen, dass unser mentales Vokabular we
der genetische noch neurophysiologische Unterschiede erfasst, son
dern vielmehr Unterschiede in den Fähigkeiten zum Verhalten und
Wahrnehmen, d. h. Unterschiede, an denen w ir Menschen im alltäg
lichen Umgang mit Artgenossen und anderen Tieren interessiert sind.
Was das anbelangt, sind unsere mentalen Begriffe selbst anthropozent
risch; aber es ist deshalb nicht automatisch anthropozentrisch zu be
streiten, dass diese Begriffe auf nicht-sprachliche Lebewesen anwend
bar sind.11
Eliminative Materialisten haben dazu aufgefordert, dieses mentale
Vokabular durch einen auf der Neurophysiologie basierenden Jargon
zu ersetzen. Aber ganz gleich was für diesen Vorschlag sprechen mag,
er löst nicht das Problem, aus dem sich die Debatte über das tierische
Denken speist, nämlich ob es gerechtfertigt ist, unsere derzeitigen geis
tigen Begriffe auf Tiere anzuwenden.
Was diese Frage anbelangt, gibt es eine weite Bandbreite von Ant
worten. An dem einen Ende finden wir »Lingualisten« wie Descartes
und Davidson, die bestreiten, dass nicht-sprachliche Tiere Gedanken
haben können. Das entgegengesetzte, mentalistische Ende wird von
Empiristen wie Hume eingenommen. Ihnen zufolge unterscheiden
sich die Gedanken von Tieren nur graduell von denen der Menschen,
hauptsächlich aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen. Aus
tern denken nicht über Fahrräder nach, aber nur deshalb, weil sie
Fahrräder nicht wahrnehmen können. In gewissem Sinn gilt das auch
für diejenigen kognitiven Repräsentationalisten, die auch einfache
tierische Verhaltensweisen wie das Fangen eines Balls durch einen
Hund unter Verweis auf komplizierte Gedanken und Berechnungen
zu erklären suchen. Letztere sollen zwar in einer Sprache stattfinden,
doch handelt es sich um eine »Sprache des Geistes« und nicht um eine
öffentliche Sprache.
Außer diesen beiden Extremen gibt es aber auch noch eine ge
mäßigte Position, die von einer (einigen vielleicht ungewöhnlich er
scheinenden) Koalition von Wittgenstein und dem gesunden Men
schenverstand eingenommen wird. Sie besagt, dass Tiere Gedanken
159
einfacherA rt haben können, nämlich solche, die in ihrem nicht-sprach
lichen Verhalten ausgedrückt werden können.
Eine weitere Komplikation ergibt sich aus den verschiedenen Kom
ponenten des Begriffs eines Gedankens. Selbst wenn wir uns auf inten
tionale Zustände beschränken, müssen wir zwei Parameter unter
scheiden, nämlich die Art von Zustand auf der einen Seite, die Art
von Inhalt auf der anderen. Es ist eine Frage, welche intentionalen Ver
ben man auf Tiere anwenden kann, eine andere, welche dass-Sätze,
singulären Termini oder Infinitive diesen Verben folgen können. Was
den ersten Parameter anbelangt, kann man z. B. zugestehen, dass ein
Hund wissen, glauben oder sehen kann, dass p , aber gleichzeitig
bestreiten, dass er denken oder hoffen kann, dass p . Was den zwei
ten Parameter anbelangt, so hat Wittgenstein bekanntermaßen vor
geschlagen, ein Hund könne glauben, sein Herr sei an der Tür, aber
nicht, sein Herr werde übermorgen kommen.12
Schließlich herrscht Uneinigkeit darüber, welcher Status den Z u
schreibungen von Gedanken an Tiere zukommt. Man kann die Z u
schreibung bestimmter Gedanken an Vertreter bestimmter Arten
für empirisch falsch halten. Das tun z. B. Seyfarth and Cheney,13 wenn
sie aufgrund von Beobachtungen bestreiten, dass Grüne Meerkatzen
eine »Theorie des Geistes« haben, d. h. Überzeugungen über die Über
zeugungen ihrer Artgenossen.
Es ist aber nicht leicht einsichtig, wie man die Zuschreibung aller
Gedanken an alle Tierarten für empirisch falsch halten kann. Die meis
ten philosophischen Gegner des tierischen Denkens verfolgen jeden
falls einen anderen Kurs. Manche betrachten solche Zuschreibungen
nicht nur als falsch, sondern als nichtssagend, unsinnig, oder einen Ka
tegorienfehler. Wie gesagt, Meinungsverschiedenheiten über den Geist
der Tiere haben ihre Wurzeln oft nicht in den empirischen Daten, son
dern in unterschiedlichen begrifflichen und methodologischen Auf
fassungen. Falls der Begriff des Denkens so gestaltet ist, dass er die
Anwendung auf nicht-sprachliche Lebewesen einfach ausschließt, so
kann gar nichts als Beleg für das Vorliegen solchen Denkens gelten.
Heutzutage ist der harte Vorwurf der Unsinnigkeit unter analyti-
16 0
sehen Philosophen weniger verbreitet als früher. Aber selbst unter de
nen, die zugestehen, dass einige Gedankenzuschreibungen an Tiere
weder empirisch falsch noch begrifflich inkohärent sind, bestehen
einige darauf, dass solche Zuschreibungen figurativ, metaphorisch
oder sekundär sind. Ähnlich behauptet Rundle, solche Zuschreibun
gen liefen bei Tieren auf die bloße Beschreibung oder Umbeschrei
bung von Verhalten hinaus, während es sich bei Menschen um echte
Hypothesen handle, die durch das, was das Subjekt preiszugeben be
reit ist, bestätigt werden könnten. Im Endeffekt tendieren solche Po
sitionen dazu, die Behauptung, ein Tier glaube, dass p , als eine fagon
de p arier abzutun.
Letzteres ist die erklärte Ansicht Davidsons. Er beginnt seine Aus
führungen mit der folgenden Geschichte von Malcolm.
Nehmen wir einmal an, unser Hund jage die Nachbarskatze. Diese rast mit
Volldampf au f eine Eiche zu, schwenkt aber im letzten Moment plötzlich
ab und verschwindet au f einem nahen Ahorn. Der Hund sieht dieses Manöver
nicht und stellt sich, bei der Eiche angekommen, auf die Hinterbeine, kratzt
mit den Pfoten am Stamm, als wolle er hochklettern, und bellt aufgeregt zu
den Ästen hoch. Wir, die wir die Episode vom Fenster aus beobachten, sagen:
>Er denkt, die Katze sei diese Eiche hochgeklettert.<14
Laut Malcolm haben wir mit dieser Behauptung Recht, und Davidson
gesteht zu, dass dies zunächst plausibel erscheint. Dennoch kann ihm
zufolge Malcolms Hund streng genommen gar nichts glauben, da ihm
die Sprache fehlt.15
Ein unmittelbarer Einwand gegen Davidson lautet wie folgt: Die
Zuschreibung von Gedanken ist die einzige oder zumindest doch
die beste Erklärung vieler tierischer Verhaltensweisen.16 Laut David
son liefert dieser Gedankengang eine pragmatische Rechtfertigung
161
für solche Zuschreibungen, zeigt aber keineswegs, dass Tiere wirklich
Gedanken haben. Wenn wir Tieren Gedanken zuschreiben, tun wir
nur so, als ob sie fähig sind, aus Gründen (Überzeugungen und Wün
schen) zu handeln, genau wie man die Bewegungen einer Infrarot-
Rakete dadurch erklären mag, dass man ihr den Wunsch zuschreibt,
ein Flugzeug zu zerstören. A u f diese Weise
Ich werde für diese Position aus der Perspektive der dritten Person
argumentieren, d. h. ich werde mich nicht auf Phänomene beziehen -
ganz gleich ob mentale oder neurophysiologische - , die sich im Ver
halten prin zip iell nicht manifestieren und selbst dem Bewusstsein
des Subjektes für immer entzogen sein mögen. Für viele Zeitgenossen
beruht diese Perspektive allerdings auf einer Verwechslung der »onto
logischen« Frage, ob es tierische Gedanken gibt mit der »epistemolo-
gischen« Frage, welche Belege für solche Gedanken vorliegen. Aber
weder die ontologische Frage, ob es Dinge der Art X gibt, noch die
erkenntnistheoretische Frage, ob wir Dinge der Art X erkennen kön
nen, lassen sich sinnvoll stellen, solange die semantische Frage, was
unter >X< zu verstehen ist, nicht wenigstens im Ansatz geklärt ist. Es
ist nur dann sinnvoll zu behaupten oder zu bestreiten, eine Kreatur
a denke, dass/), wenn sich angeben lässt, worin das Denken dieses Ge
dankens besteht, im Unterschied etwa zum Denken, dass q. Und dies
geschieht eben dadurch, dass man angibt, in welchen Verhaltenswei
sen und -Fähigkeiten sich der Gedanke, dass p> ausdrücken kann.18
18 H. J. Glock, »Philosophy, Thought and Language«, in: ThoughtandLanguage, hrsg.
von J. Preston, Cambridge: Cambridge University Press, S. 151-169, besonders
S. 166-168.
16 3
Selbst wenn die »verifikationstranszendente« Zuschreibung von
Gedanken nicht streng genommen sinnlos ist, so wäre sie doch für
den Alltag und die Verhaltenswissenschaften nutzlos. Für Letztere
kommt es entscheidend darauf an, Methoden zur Feststellung nicht
sprachlicher Gedanken anzugeben.19 Die Perspektive der dritten Per
son läuft aber auch nicht auf Behaviorismus hinaus. Es ist Teil des
Begriffs des Denkens, dass es sich im Verhalten ausdrücken kann, aber
das heißt nicht, dass man das Fassen eines bestimmten Gedankens als
eine Disposition zu genau spezifizierbaren Verhaltensweisen definie
ren kann.20
Searle hat der Perspektive der dritten Person dennoch entschieden
widersprochen. Ihm zufolge ist »Verhalten ganz einfach irrelevant«
für die Zuschreibung geistiger Eigenschaften, da »mein Autoradio
ein sehr viel intelligenteres verbales Verhalten nicht nur als jedes Tier
an den Tag legt, sondern sogar als jeder Mensch, den ich kenne«.21 Ver
ließe man sich auf diese Passage, würde man Searle nicht um seinen
Umgang beneiden. Selbst wenn man die Produktion von Geräuschen
durch das Radio überhaupt als Verhalten klassifizieren könnte, wäre
dieses doch strohdumm. Das Radio fällt beim Turing-Test blamabel
durch. Sogar auf seine nicht-sprachliche Umgebung reagiert es nicht
in zielgerichteter und flexibler Weise, weswegen es auch inmitten eines
staubedingten Hupkonzertes die Worte ausstoßen kann: »Im Moment
herrscht hier Grabesstille.« Intelligent sind allenfalls die vom Radio
bloß übertragenen Äußerungen, wobei auch das sehr vom Sender ab
hängt.
Searle hat zugegebenermaßen eine Antwort auf die Frage, wie
sich die Zuschreibung von Gedanken ohne Bezug auf Verhalten
rechtfertigen lässt, nämlich durch Verweis auf neurophysiologische
Vorgänge. Falls die Neurowissenschaft zwingend zeigen könnte, dass
die »kausale Basis von Bewusstsein bei Menschen« in elektrochemi
schen Abfolgen X Y Z besteht, d. h. X Y Z für dieses Bewusstsein »kau
sal notwendig und hinreichend ist«, so wäre das Auftauchen X Y Z
bei Schnecken und seine Abwesenheit bei Termiten »ein sehr star
19 J. Dupre, Humans and Other Anim ais, op. cit., Kap. 10; J. L. Bermüdez, Thinking
without Words, op. cit.
20 D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford: Oxford University
Press 1984, S. 170 [dt. Wahrheit und Interpretation, S. 246]; id., »Rationale Lebe
wesen«, in diesem Band, S. 128 f.
21 J. Searle, »Der Geist der Tiere«, in diesem Band, S. 148.
16 4
ker empirischer Beleg, dass Schnecken Bewusstsein haben und Termi
ten nicht«.22
Das Problem mit diesem Encephalozentrismus ist jedoch, dass wir
nach der kausalen Basis von Bewusstsein überhaupt nur dann fr a
gen können, wenn wir das Phänomen des Bewusstseins unabhängig
von dieser Basis iden tifiziert haben. Darin drückt sich die bereits
erwähnte Unumgänglichkeit begrifflicher Fragen aus. Und aus der
ebenfalls erwähnten Funktion unserer mentalen Begriffe ergibt sich
deren Bindung an die Perspektive der dritten Person. Man kann
z. B; Überzeugungen nicht als rein private Zustände verstehen, völ
lig losgelöst von den Verhaltenserklärungen und -Vorhersagen, zu de
nen normale Sterbliche ohne neurophysiologische Instrumente in der
Lage sind.
Viele kognitive Verhaltensforscher bedienen sich ungeniert der Idee
der mentalen Repräsentation, die ihnen u. a. als Waffe gegen die beha-
vioristische Leugnung tierischer Gedanken dient. Aber im Gegensatz
zu einigen Philosophen23 bleibt die Postulierung dieser Repräsenta
tionen stets an die Erklärung von Verhalten geknüpft. Der Haupt
zweck der Terminologie besteht darin, daraufhinzuweisen, dass Tier
kognition über unmittelbare Sinneswahrnehmung hinausgeht.24 Die
umsichtigeren Vertreter der Zunft betonen außerdem, dass ihr Begriff
einer mentalen Repräsentation bescheiden ist und nicht die Unterstel
lung von »Bildern im Kopf« oder von Symbolen in einer »Sprache
des Denkens« beinhaltet.25
In den meisten Zusammenhängen kann die Rede von mentalen
Repräsentationen daher durch die Rede von höheren mentalen Fä
higkeiten (etwa das Erinnerungsvermögen oder die Fähigkeit mit Vor
aussicht zu planen) ersetzt werden. Wie wir sehen werden, bestehen
wichtige Unterschiede zwischen diesen Fähigkeiten und bloßen Ver
haltensdispositionen. Ob die kausale Erklärung dieser Fähigkeiten
darin besteht, dass im Gehirn physische Vorkommnisse der Symbole
einer Programmsprache auftauchen, wie Repräsentationalisten be
haupten, oder ob andere Faktoren im Spiel sind, wie z. B. die Konnek-
16 5
tivisten einwenden, ist eine andere Frage,26 die man aber offen lassen
sollte, wenn es um das Problem geht, ob Tiere Gedanken und Begriffe
haben.
Die Rede von Fähigkeiten anstatt von Repräsentationen vermei
det außerdem die Annahme, dass sich Menschen oder Tiere nicht
direkt durch die Ausübung ihrer mentalen Fähigkeiten auf die Welt
beziehen, sondern durch »innere« Stellvertreter. Dieser Perspektiven
wechsel ist m. E. besonders angebracht im Fall von Begriffen. Gemäß
der mentalistischen und physikalistischen Auffassung sind Begriffe
Repräsentationen, Episoden im Geist bzw. Gehirn von Individuen.
Diese Position ist jedoch unvereinbar mit der objektiven Natur von
Begriffen, also der Tatsache, dass sie von Individuen geteilt werden
können, die mentale Bilder bzw. neurale Reize nicht teilen können
und selbst Muster neuraler Reizungen nicht zu teilen brauchen?7
Die platonistische Gegenposition, der zufolge Begriffe abstrakte En
titäten sind, schneidet hier zwar besser ab, hat aber Schwierigkeiten
bei der Erklärung der Rolle, die Begriffe in unserem Denken und Han
deln spielen. Beide Unzulänglichkeiten werden m. E. von einer dritten
Position vermieden, die auf Aristoteles und Kant zurückgeht, und Be
griffe als Klassifikationsprinzipien oder -regeln behandelt, die man
am besten dadurch erläutert, dass man den Besitz von Begriffen über
den Besitz der Fähigkeit zur Klassifikation erklärt.28
16 6
In diesem Aufsatz möchte ich allerdings nur zeigen, dass selbst
aus einer nicht-repräsentationalistischen Perspektive der dritten Per
son die Beziehungen zwischen Denken und Begriffen keinen Lin
gualismus nahe legen, sondern die oben erläuterte Zwischenposi
tion.29
Ein Problem für die Zuschreibung von Gedanken an Tiere ist, dass
wir bei sprachlosen Subjekten keine feinen Unterscheidungen zwi
schen verschiedenen Gedanken treffen können, die sich im selben
nicht-sprachlichen Verhalten ausdrücken. Gedankenzuschreibungen
an Menschen schaffen intensionale Kontexte: wenn wir innerhalb
des Inhaltssatzes >dass p< Termini mit demselben Bezug füreinander
einsetzen, kann dies von einer wahren zu einer falschen Zuschreibung
führen (z. B. »Sarah glaubt, dass Brandt Deutscher war«, zu »Sarah
glaubt, dass Frahm Deutscher war«). Dagegen führt die Substitution
bezugsgleicher Termini im Fall von Tieren oft von Zuschreibungen,
die wir allgemein für wahr halten, zu solchen, die absurd oder unver
ständlich sind. Die Eiche, die die Katze hochkletterte, ist zufällig auch
der älteste Baum in Sichtweite und derselbe Baum, den die Katze bei
der letzten Verfolgung hochgeklettert ist. Aber kann Malcolms Hund
glauben, dass die Katze auf den ältesten Baum in Sichtweite geklettert
ist oder auf denselben Baum wie beim letzten Mal? Ähnlich mag ein
Hund wissen, dass sein Herr an der Tür ist. Aber weiß er auch, dass
der Bankpräsident an der Tür ist? Wir haben keinen echten Anhalts
punkt dafür, wie diese Frage zu entscheiden oder auch nur zu verste-
16 7
hen ist.30 Der Grund dafür ist, dass ein Hund weder glauben kann,
dass sein Herr der Bankpräsident ist, noch dass er es nicht ist.
Eine Replik auf diese Schwierigkeit besteht darin, den Ausdruck
>diese Eiche< in
i Der Hund denkt, dass die Katze diese Eiche hochgeklettert ist.
i ' Der Hund denkt mit Bezug auf diese Eiche, dass die Katze an ihr
hochgeklettert ist.
16 8
Es ist z. B. vorstellbar, dass der Hund auf eine Weise auf eine Per
son mit schweren Schritten reagiert, aber auf eine andere auf seinen
Herrn, da er nicht gemerkt hat, dass die Person mit den schweren
Schritten sein Herr ist. In diesem Fall kann er glauben, dass eine Per
son mit schweren Schritten an der Tür ist, ohne zu glauben, dass
sein Herr an der Tür ist (oder umgekehrt).
Allerdings kann man den Lingualisten zufolge dem Hund genauso
wenig den Begriff eines Baumes zuschreiben wie Überzeugungen
über Bäume. Der Hund könnte von einem Gegenstand nur dann glau
ben, es sei ein Baum, wenn er auch »zahlreiche allgemeine Überzeu
gungen von Bäumen« hat,
dass sie Dinge sind, die wachsen, dass sie Erde und Wasser brauchen, dass sie
Blätter oder Nadeln haben, dass sie brennen. Es gibt keine feststehende Liste
von Dingen, die jemand glauben muss, der einen B egriff von einem Baum
hat. Aber ohne viele allgemeine Überzeugungen gäbe es keinen Grund, um
eine Überzeugung als eine Überzeugung in Bezug au f einen Baum - noch viel
weniger in Bezug auf eine Eiche - zu identifizieren .32
17 0
sativobjekte fungieren, beziehen sie sich ebenso wenig auf echte Ge
genstände wie die Quantoren >alles< oder >nichts<.35 Demnach braucht
a um zu glauben, dass p , nicht in einer Relation zu einem irgendwie
gearteten Gegenstand zu stehen, die zugleich eine Relation zu dessen
Komponenten beinhaltet.
Das Bauklotz-Modell, wonach sich einfache Komponenten - Be
griffe - zu einem komplexen Ganzen - Gedanken - vereinigen, ist
keine Binsenwahrheit, sondern eine problematische Metapher. Was
Letzterer ihren Gehalt verschafft, ist die Tatsache, dass die sprach-
liehen Ausdrücke von Gedanken —nämlich Sätze - sprachliche Kom
ponenten haben —nämlich Wörter. Aber Lingualisten wie Dummett
und Davidson haben das Bauklotz-Modell für die sprachliche Ebene
abgelehnt. W ir konstruieren nicht einfach den Sinn von Sätzen aus
der vorgegebenen Bedeutung von Wörtern, da diese Bedeutung von
der Rolle dieser Wörter in Sätzen bestimmt wird. Aus diesem Grund
geht etwa Davidson menschliche Überzeugungen »holophrastisch«
an: W ir schreiben sprachlichen Wesen Überzeugungen aufgrund ih
rer Zustimmung zu ganzen Sätzen zu.36
Dummett und Davidson ignorieren, dass es für Tiere einen ana
logen, holodoxastischen Ansatz geben könnte, der bei der ganzen Über
zeugung ansetzt. Begriffe sind nicht die Bausteine von Gedanken,
sondern Abstraktionen von Gedanken, da, wie Kant feststellte, ihre
Funktion darin besteht, in Urteilen oder Gedanken verwendet zu
werden. Selbst wenn bei nicht-sprachlichen Wesen die Ebene der Be
griffe entfällt, so bleibt immer noch eine »Modifikation« bzw. Eigen
schaft des Subjekts: Ein Wesen kann dann Gedanken haben, wenn es
Dinge wissen oder sich irren kann, und wenn es bestimmte Absich
ten haben kann. Obwohl die Sätze, die wir bei der Zuschreibung
von Gedanken benutzen, sprachliche Komponenten aufweisen, basie
ren diese Zuschreibungen nicht auf der Zuschreibung von entspre
chenden psychischen Komponenten. Stattdessen basieren sie darauf,
dass das Subjekt bestimmte Wahrnehmungsfähigkeiten, Einstellun
gen und Emotionen aufweist. Diese werden sich bei Tieren natürlich
nicht in der Zustimmung zu Sätzen manifestieren. Aber sie manifes
tieren sich in Verhaltensweisen, Körperhaltungen und Gesichtsaus-
35 H .J. Glock, Quine and Davidson on Language, Thought and Reality, op. cit.,
S. 266-267.
36 D. Davidson, »Davidson, Donald«, op. cit., S. 231-236; id., »Seeing Through
Language«, in: Thought and Language, op. cit., S. 25.
drücken, die die höheren Lebewesen mit Menschen gemein haben.
Wenn wir sagen, Malcolms Hund glaube, die Katze sei die Eiche hoch
geklettert, dann tun wir dies nicht deshalb, weil wir dem Hund unter
stellen, er identifiziere und klassifiziere seine Umgebung in der Weise,
wie wir es durch die in unserer Zuschreibung auftauchenden singu
lären und generellen Termini tun (weshalb es ftir philosophische Zwe
cke tatsächlich genauer sein mag, (i) in der De-re-Manier von ( i')
wiederzugeben). Stattdessen stellen wir einfach die Reaktionen des
Hundes auf seine Umgebung fest. Wir betrachten diese Reaktionen
als gerichtet auf bestimmte Gegenstände, Lebewesen oder Ereignisse,
weil wir annehmen, dass Hunde bestimmte Wahrnehmungsfähigkei
ten und Absichten haben. Das sind Annahmen, die ihrerseits auf ru
dimentärem Wissen über das Leben von Hunden beruhen (was sie
erkennen können, was sie mögen und verabscheuen etc.).
Da das holodoxastische Modell auf dem Verhalten der Tiere gegen
über ihrer unmittelbaren Umgebung beruht, ist es auf einfache Über
zeugungen beschränkt, nämlich über Phänomene, die das Subjekt
wahrnehmen kann. Aber das genügt, um dem kategorischen »Keine
Gedanken ohne Begriffe« den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine
Schwierigkeit droht jedoch nach wie vor. Wenn man Tieren Gedan
ken aber keine Begriffe zubilligt, so fuhrt dies scheinbar zu einer
Inkongruenz zwischen der Zuschreibung von Gedanken an Tiere
und an sprachliche Wesen. Im zweiten Fall unterstellt die Zuschrei
bung ein Verständnis der entsprechenden Begriffe, im ersten aber
nicht. Dies kann dann zu der Vorstellung führen, intentionale Verben
wie >glauben< seien zweideutig, da sie sich sowohl auf ein holodoxas-
tisches, verhaltensgebundenes Phänomen wie Wahrnehmungserfah
rungen beziehen, als auch auf voll entwickelte, begrifflich struktu
rierte und sprachlich ausdrückbare Gedanken.
In diesem Sinne schlägt Malcolm vor, dass der Hund zwar »glau
ben« kann, die Katze sei die Eiche hochgeklettert, aber nicht den
entsprechenden »Gedanken haben« kann. Ähnlich meint Dummett,
dass Tiere bloße »Protogedanken« haben, die aus räumlichen Bildern
bestehen, während nur Menschen echte Gedanken aufweisen, die
aus Begriffen bestehen. Aber solche Unterscheidungen sind mit der
Zuschreibung ein und desselben Gedankens an Mensch und Tier un
vereinbar. Sie legen nahe, dass ein Satz wie >Sowohl Sarah als auch
der Hund glauben, dass p< zumindest auf eine Syllepsis hinauslau
fen, wie etwa »Sowohl die Prüfung als auch der Sessel waren schwer«.
172
Denn »Sarah glaubt, dass p « erweist sich als »Sarah hat den Gedan
ken, dass p «, während »Der Hund glaubt, dass p « sich als »Der Hund
hat den Protogedanken, dass p « entpuppt.
Meiner Ansicht nach kann man jedoch die wichtigen Unterschiede
zwischen begrifflichen und nicht-begrifflichen Subjekten anerken
nen, ohne dem Druck auf die Postulierung verschiedener Inhalte
und damit verschiedener mentaler Einstellungen nachzugeben. Eine
gewisse Disparität zwischen den Ausdrücken in einer Überzeugungs
zuschreibung und denen, die das Subjekt selbst verwenden könnte, ist
nämlich auch bei sprachlichen Subjekten gang und gäbe, ohne dass
sich daraus eine wesentliche Inkongruenz ergäbe. Im Allgemeinen
werden die Ausdrücke in der Zuschreibung nicht so sehr vom Subjekt
diktiert, sondern vom Sprecher und seiner Zuhörerschaft. So geht z. B.
(2) Sarah denkt, dass der Scharlatan, den du mir vorgestellt hast,
ihr gleich einen Keks gibt.
in Ordnung, ganz gleich, ob Sarah eine Erwachsene ist oder ein Kind,
dem der Begriff eines Scharlatans fehlt, oder ein Hund.37
Folglich ist es keineswegs offensichtlich, dass die Zuschreibung
von Gedanken jene von Begriffen voraussetzt. Dennoch bleibt die
Frage wichtig, ob Tiere Begriffe haben, und zwar aus zwei Grün
den. Wenn es um die Zuschreibung von Gedanken an Tiere geht, sind
einige Ausdrücke weniger angemessen als andere. Das deutet viel
leicht darauf hin, dass Tiere einige Begriffe haben können. Außer
dem, falls einige Tiere begriffliche Fähigkeiten aufweisen, verfehlt
das Argument von Begriffen auch dann sein Ziel, wenn die Annahme,
Gedanken verlangten Begriffe, sich als richtig erweist.
17 3
Eine gemäßigte Position wird z. B. von Kenny vertreten, der meint, dass
Tiere solche Begriffe haben können, die sich in nicht-sprachlichem
Verhalten niederschlagen können.38
Vertreter dieser Position müssen zugestehen, dass die Begriffe von
Tieren sich oft von denen unterscheiden, die wir verwenden, wenn
wir ihnen Gedanken zuschreiben. Die Unterscheidungen, auf denen
tierisches Verhalten beruht, brauchen weder extensional noch inten-
sional mit unseren sprachlichen Klassifikationen zusammenzufallen.
M ag sein, dass Hunde Katzen mit Hamstern in einen Topf werfen
oder schwarze Katzen von allen anderen unterscheiden. Und selbst
wenn sie genau die Klasse der Katzen herausgreifen, erkennen sie
sie vielleicht am Geruch statt visuell. Aber das wäre kein Grund,
ihnen Begriffe zu verweigern, die sich von den unseren unterschei
den. Wenn Savage-Rumbaughs Schimpansen Nahrungsmittel von
Werkzeugen unterscheiden, ist der verhaltenssteuernde Unterschied
scheinbar einfach der zwischen dem Essbaren und dem Ungenieß
baren.39
Demgemäß hängt es von der Verhaltensforschung ab, welche Be
griffe wir Tieren zuschreiben können, ohne dem Anthropomorphis
mus zu verfallen. Man schreibt Tieren Begriffe zu, indem man die
Parameter aufdeckt, die ihr diskriminatives Verhalten bestimmen.
Es ist wahrscheinlich, dass solche Untersuchungen zeigen werden,
dass unsere gewöhnlichen Zuschreibungen verbesserungsbedürftig
sind, aber nicht, dass sie lediglich eine nützliche Fiktion darstellen,
wie die Lingualisten behaupten.
Ob diese Kritik hieb- und stichfest ist, hängt natürlich davon ab,
wie man Begriffe und Begriffsbesitz auffasst. Selbst wenn wir uns die
sen Themen im Sinne von Abschnitt 3 nähern, bleiben wichtige Fra
gen offen, Einer Position gemäß besitzt a genau dann den Begriff
eines F> wenn es Dinge, die F sind, von allen anderen unterscheiden
kann.40 Diese Auffassung ist prim a facie plausibel und dient auch
jenen als Orientierungspunkt, die Begriffe für eine A rt mentaler Re
präsentationen halten. Sie impliziert eindeutig, dass Tiere Begriffe
17 4
haben können. Sowohl im Labor als auch in freier Wildbahn unter
scheiden Tiere nämlich eine Vielzahl von Farben, Geschmacksrich
tungen, Tönen, Formen, Materialien, Mengen, Lebewesen etc. Außer
dem sind viele dieser Unterscheidungen nicht angeboren, sondern er
l e r n t ."1
Davidson glaubt jedoch, dass dieser Ansatz einer reductio ad ab
surdum anheim fällt. »Wenn wir Schmetterlingen und Olivenbäumen
keine Begriffe zuschreiben wollen, sollten wir die bloße Fähigkeit,
zwischen rot und grün oder feucht und trocken zu unterscheiden,
nicht als den Besitz eines Begriffes werten, selbst dann nicht, wenn
dieses selektive Verhalten erlernt ist.«4 142 Es wäre in der Tat absurd,
Olivenbäume mit Begriffen ausstatten zu wollen. Aber diese Absur
dität folgt nicht aus der Auffassung, Begriffsbesitz bedeute die Fä
higkeit zur Unterscheidung. Olivenbäume unterscheiden nicht zwi
schen feuchtem und trockenem Untergrund, denn Unterscheidung
ist das Vorrecht von Lebewesen mit Empfindungsvermögen, d. h.
von Tieren. Die differenzielle Reaktion auf kausale Einflüsse ist ein
allgemeiner Zug physischer Phänomene und darf nicht mit einer
Unterscheidung verwechselt werden, weil Letztere sinnliche Wahr
nehmung voraussetzt.
Dennoch geben selbst die meisten Befürworter tierischer Begriffe
zu, dass begriffliche Erfassung mehr verlangt als Unterscheidung.43
Aber was? Darüber streiten sich die Gelehrten. Laut Allen und Hau
ser muss das Subjekt nicht nur »ein F erkennen« können, sondern
»etwas als F erkennen«. D. h., es kann Fs aufgrund mehr als einer
Eigenschaft von nicht-As unterscheiden, darunter auch solche Ei
genschaften, die nicht wahrnehmbar sind. Am besten sollten diese
Eigenschaften außerdem für Fs wesentlich anstatt akzidentell sein.
Deshalb besitzt ein Subjekt, das einen elektrischen Verteiler nur an
dessen Form erkennt, nicht den Begriff eines Verteilers.
Dieses Resultat ist aber bereits dadurch gesichert, dass ein solches
41 Z. B. M . Tomasello und J. Call, Prim ate Cognition,, op. cit., Kap. 4-5; R. Hernstein,
D. H. Loveland und C. Cable, »Natural Concepts in Pigeons«, Jo urn al o f Experi
m ental Psychology 2 (1976), S. 285-302.
42 D. Davidson, »Seeing Through Language«, op. cit., S. 25.
43 Z. B. C. Allen und M . Hauser, »Concept Attribution in Nonhuman Animais. Theo-
retical and Methodological Problems in Ascribing Complex Mental Processes«,
op. cit., S. 47-62; C. Allen, »Tierbegriffe neu betrachtet«, in diesem Band, S. 196;
A. Stephan, »Are Animais Capable o f Concepts?«, op. cit., S. 79-92.
175
Subjekt sowohl positive als auch negative Fehlklassifikationen bege
hen würde. Außerdem macht es dieser Vorschlag zumindest schwer,
zwischen konkreten und abstrakten Begriffen oder mehr oder weni
ger reichen Begriffen zu unterscheiden. Bei Farbbegriffen z. B. ist es
unplausibel auf die Beherrschung von mehreren Erkennungsmerk
malen zu bestehen, noch dazu wenn diese die Wahrnehmung über
steigen sollen. Es ist noch weniger plausibel anzunehmen, dass man
den Begriff eines Fs nur dann hat, wenn man Fs an den Merkmalen
erkennt, die wir für wesentlich halten.
Für Wesen, die zwischen wesentlichen und akzidentellen Merkma
len unterscheiden können, hängt der Begriff eines Fs allerdings von
den Merkmalen ab, die sie für wesentlich erachten. Die Unterschei
dung zwischen essentiell und akzidentell ist für Tiere offensichtlich
zu hoch. Doch sollte sie das nicht vom Besitz von Begriffen ausschlie
ßen, da auch viele Philosophen, besonders radikale Empiristen, ein bes
tenfalls dürftiges Verständnis dieser Unterscheidung besitzen. Die Un
terscheidung zwischen essentiellen und akzidentellen Eigenschaften
ist m. E. unabdingbar für ein akkurates Verständnis von Begriffen,
aber nicht für ihren Besitz.
Aus diesen Gründen bevorzuge ich eine andere Trennung von be
grifflicher Erfassung und Unterscheidung, nämlich eine, die die nor
m ative Dimension von Begriffen hervorhebt. Diese Idee geht auf
Wittgenstein zurück und wird von Davidson wie folgt auf den Punkt
gebracht: »Einen Begriff haben heißt, Gegenstände, Eigenschaften
Ereignisse oder Situationen zu klassifizieren« bzw. klassifizieren zu
können. Die Unterscheidung beruht dagegen auf bloßen »Disposi
tionen« und hat deshalb, »wie Wittgenstein betonte, keine normative
Gültigkeit«. Solche Dispositionen involvieren nicht die Fähigkeit
einen Fehler zu erkennen, und deshalb auch keine Erkenntnis des
Unterschiedes zwischen korrektem und inkorrektem Verhalten.44
Es ist zumindest teilweise das Fehlen solcher Klassifikation, das
uns zögern lässt, Schmetterlingen Begriffe zuzuschreiben. Es ist auch
richtig, dass die für solche Klassifikation notwendige Normativität
44 D. Davidson, »Seeing Through Language«, op. cit., S. 24-25; vgl. id., »Rationale
Lebewesen«, in diesem Band, S. 129 f.
17 6
voraussetzt, dass der Klassifizieret Fehler begehen und diese als sol
che erkennen kann. Um Dinge korrekt oder inkorrekt klassifizieren
zu können, braucht ein Lebewesen a nicht nur die Disposition im E in
klang m it einer Regel zu handeln - z. B. zum Anfliegen von roten an
statt von grünen Blütenblättern —sondern es muss einer Regelfolgen,
d. h. das Prinzip, welches Fs von nicht-As unterscheidet, muss Teil
von as Gründen für die Unterscheidung von Fs und nicht-As sein,
anstatt bloß eine Regularität darzustellen, mit der as selektives Verhal
ten übereinstimmt.
Wenn a Dinge klassifizieren kann in solche, die (ein) F sind, und
solche, die es nicht sind, muss es möglich sein, dass a einen Fehler be
geht, nämlich dadurch, dass a etwas für F hält, das es nicht ist, oder
etwas für nicht-A hält, das Aist. Aber a kann nur dann für einen Fehler
in der Anwendung der Regel zur Unterscheidung zwischen As und
nicht-As verantwortlich gemacht werden, wenn a im Prinzip selbst
erkennen kann, dass es die Regel verletzt hat. Nur dann kann a eine
Regel verletzen, der es zu folgen versucht, d. h. wider seine eigenen
Absichten handeln. Ansonsten weicht a nur von einer Erwartung oder
einer statistischen Norm ab. Es gibt natürlich Arten von Fehlern, die
nicht von dieser Möglichkeit abhängen, z. B. wenn sich a nicht evo
lutionstheoretisch optimal verhält. Aber ohne die Absicht, sich so zu
verhalten, kann a dadurch keine Regel verletzen oder falsch anwen
den. Ein Schmetterling, der nicht zwischen rot und grün unterschei
det, ist ungewöhnlich und reduziert dadurch seine biologischen Uber
lebenschancen, d. h. die Gelegenheit seine Gene weiterzugeben. Aber
er verletzt kein Prinzip, dem er zu folgen versucht. Die entscheidende
Frage ist jedoch, ob solch normatives Verhalten sprachlichen Wesen
Vorbehalten ist. Davidson glaubt dies, weil er das Verhalten von Tieren
und Kleinkindern für rein mechanisch hält, ohne einen prinzipiel
len Unterschied zur Infrarot-Rakete zuzugestehen.45 Richtig daran
45 D. Davidson, »Seeing Through Language«, op. cit., S. 25. In einem anderen Rah
men, nämlich dem Triangulationsargument, deutet Davidson außerdem folgenden
Gedankengang an. Erstens, a kann nur dann einen Fehler begehen, wenn a einen
Fehler als solchen erkennen kann. Zweitens, diese Einsicht ist nur dann möglich,
wenn a den Begriff eines Fehlers beherrscht. Drittens, der Begriff eines Fehlers setzt
Sprache voraus (»Rationale Lebewesen«, in diesem Band, S. 130 f.). Die erste Be
hauptung ist problematisch, insofern es um Fehler im Allgemeinen geht. A kann
durch sein Verhalten andeuten, dass es von einer Überzeugung, dass p zu einer
damit inkompatiblen Überzeugung, dass q übergegangen ist, ohne dass a unbe
dingt zu der Überzeugung gelangen muss, dass seine ursprüngliche Überzeugung
17 7
ist, dass nur absichtliche Unterscheidungen im einschlägigen Sinn
korrekt sein können, da nur absichtliches Verhalten dem Vorwurf aus
gesetzt sein kann, ein Klassifikationsprinzip falsch angewandt zu ha
ben. Es stimmt überdies, dass solches Verhalten fre iw illig sein muss,
in dem Sinn, dass das Subjekt auch anders hätte handeln können. Me
chanischem Verhalten - gleich ob konditioniert oder nicht - kann
man nicht vorwerfen, es verfehle eine Regel, weil grob gesprochen
das Sollen ein Können voraussetzt. Deshalb beruht die Klassifikation
nicht auf der Aktivierung einer bloßen Disposition, auf unterschied
liche externe Einflüsse unterschiedlich zu reagieren. Und zwar auch
dann nicht, wenn diese Einflüsse, wie im Falle der Tiere, Reize sind,
die von einem empfindenden Wesen wahrgenommen werden.
Man muss aber zwischen Dispositionen und Fähigkeiten unter
scheiden. Letztere werden nicht automatisch unter bestimmten Be
dingungen ausgeübt; vielmehr kann der Handelnde sie absichtlich
ausüben oder von dieser Ausübung absehen.46 Was eine Klassifikation
von bloßer Unterscheidung trennt, ist der Umstand, das sie die Aus
übung einer Fähigkeit ist.
Davidson liegt falsch mit seiner stillschweigenden Annahme, nicht
sprachliche Wesen könnten nur Dispositionen, aber keine Fähigkei
ten aufweisen. Ihr Verhalten ist nicht durchgängig erklärbar durch
Reize oder unmittelbare biologische Zwänge. Zumindest Kleinkinder
und Menschenaffen sind zu absichtlichem und freiwilligem Handeln
in der Lage. Sie können nämlich auf eine Handlung verzichten, ent-
falsch war. Malcolms Hund kann einen Fehler begehen und diesen korrigieren,
ganz einfach indem er durch sein Verhalten zu erkennen gibt, dass er erkannt hat,
dass die Katze auf dem Ahorn ist anstatt auf der Eiche. Die erste Behauptung leuch
tet allerdings ein, wenn es um die zur begrifflichen Klassifikation notwendigen Feh
ler geht. Hier muss a nicht nur von einer Überzeugung zur anderen übergehen,
sondern einen Fehler als solchen erkennen. Aber die zweite Behauptung ist proble
matisch. Es ist möglich, dass a nicht nur von p auf q übergehen, sondern auch mit
Überraschung oder Enttäuschung feststellt, dass nicht-/». In der Tat, a kann eine
Überzeugung korrigieren, z. B. indem es auf die Enttäuschung einer Erwartung
mit erneuter Beobachtung reagiert und daraufhin zu einer anderen Überzeugung
gelangt. In diesem Fall hat a einen Fehler als solchen erkannt, ohne den allgemeinen
Begriff eines Fehlers zu besitzen, einen Begriff, der nicht nur as augenblicklichen
Irrtum erfasst, sondern Fehler im Allgemeinen. Ein Schimpanse kann einsehen,
dass er es mit Termiten statt mit Ameisen zu tun hat, ohne deswegen einzusehen,
dass seine ursprüngliche Überzeugung unter denselben Begriff fällt, der auch alle
anderen Fehlklassifikationen abdeckt, z. B. die von Walen als Fischen.
4 6 A. J. P. Kenny, W ill, Freedom and Power, Oxford: Blackwell 1975.
17 8
weder indem sie ihr Ziel auf andere Weise verfolgen oder indem sie auf
dieses Ziel verzichten, zumindest zeitweilig.47
Aus demselben Grund können sie in einer bestimmten Situation
einen Unterschied entweder ernst nehmen oder unbeachtet lassen,
d.h. sie können Gegenstände von Typus F und G in der einen Situa
tion unterschiedlich behandeln, in der anderen Situation aber gleich.
Es wäre falsch, Schmetterlingen eine solche absichtliche Selektion zu
unterstellen. Aber es ist ebenso falsch, sie z. B. Schimpansen abzuspre
chen, da diese doch in der Lage sind, Werkzeuge auszuwählen oder
zu schaffen, und zwar selbst in räumlichem und zeitlichem Abstand
von ihrer Anwendung.48 Hier fällt die Frage ins Gewicht, ob eine Un
terscheidung erlernt ist. Ein unkonditionierter Reflex kann nicht
die Ausübung einer Fähigkeit sein, wohl aber ein erlerntes Verhalten,
sofern es kein automatischer, konditionierter Reflex ist, sondern sich
der jeweiligen Situation flexibel anpasst.
Selbst diese Überlegungen mögen nicht-sprachliche Begriffe auf
Kleinkinder, Menschenaffen und Delfine beschränken. Aber sie ma
chen den Besitz von Begriffen nicht einfach von der Sprache abhän
gig, sondern von selektiver Wahrnehmung und von einem Verhalten,
das vielfältig und flexibel genug ist, um als absichtlich zu gelten und
damit normativen Unterscheidungen unterworfen zu sein. Auch hier
kann der Lingualist nicht einfach antworten, dass der Anschein von
flexiblem absichtlichen Handeln bei Tieren trügt, ohne sich derselben
Herausforderung für menschliches Verhalten zu stellen.
Die Idee, dass Kognition bei Tieren von der Komplexität und der Fle
xibilität ihres Verhaltens abhängt, ist weit verbreitet.49 Auch David
sons Idee, die Fähigkeit Fehler zu erkennen und zu korrigieren unter
47 Vgl. J. Goodall, The Chimpanzees ofGom be. Patterns ofBehavior. Cambridge: Har
vard University Press 1986; E. W. Menzel, »A Group o f Chimpanzees in a i-acre
Field«, in: Behavior o f Nonhuman Prim ates, hrsg. von A. M. Schrier und F. Stollnitz,
New York: Academic Press 1974, S. 83-153; R. Byrne, The ThinkingApe, Oxford:
Oxford University Press 1995, Kap. 8-9.
48 R. Byrne, The ThinkingApe, op. cit., S. 150,187-189 und 225, Kap. 7; M. Tomasello
und J. Call, Prim ate Cognition, op. cit., S. 36 und 78.
49 M . Tomasello und J. Call, Prim ate Cognition, op. cit., S. 7-12; Dupre, op. cit.
17 9
scheide Klassifikation von Diskrimination, hat in jüngster Zeit An
klang gefunden.50 Der entscheidende Punkt aber (für den ich soeben
argumentiert habe) ist, dass diese beiden Ideen durch drei Anfor
derungen miteinander verknüpft sind: Klassifikation muss regelge
steuert sein, regelgesteuertes Verhalten muss intentional sein, und in
tentionales Verhalten muss flex ib el sein.
Aber diese Anforderungen könnten sich immer noch als verhäng
nisvoll für die Annahme tierischer Begriffe erweisen. Man kann näm
lich wie folgt argumentieren: Selbst wenn Tiere fre iw illig handeln
können, in dem Sinn, dass sie auch anders hätten handeln können,
und selbst wenn sie intentional handeln können, d. h. Zwecke ver
folgen, so sind sie doch unfähig zum intentionalen Handeln in ei
nem anspruchsvolleren Sinn, nämlich aus Gründen zu handeln. Wohl
erklären wir das Verhalten von Tieren mit Bezug auf Gründe, etwa
»Der Hund rennt auf die Eiche zu, w eil er die Katze fangen will«. Da
bei geben wir aber nur an, worin ihre Zwecke und Ziele bestehen,
nicht jedoch, wie sie geschlossen haben, d. h. mit welcher Begründung
sie so handeln. Denn, so jedenfalls Rundle,51 Letzteres würde vor
aussetzen, dass sie im Prinzip dazu in der Lage sein müssten, diese
Gründe gegebenenfalls auch anzugeben.
Falls das stimmt, kann man tierische Begriffe ausschließen, weil
tierische Vernunft ausgeschlossen ist. Tiere können zwar Unterschei
dungen zu einem bestimmten Zweck treffen (z. B. um eine Belohnung
zu kassieren), aber sie können nicht vernünftig schließen. Und selbst
wenn ihr selektives Verhalten freiwillig ist, folgen sie doch keinen Re
geln. Sie können Fs von nicht-Ts nicht aus dem G rund unterschei
den, dass Erstere bestimmte Merkmale besitzen.
Ist dieses Argument stichhaltig? Kann ein Wesen nur dann aus
Gründen handeln, wenn es diese auch sprachlich kommunizieren
kann? Denken wir an einen Schimpansen, der gelernt hat, bei der
Jagd auf Ameisen (Dorylus) und Termiten (Macrotermes) unterschied
liche Werkzeuge zu verwenden. Es ist plausibel, dass sein Grund da
für, die Werkzeuge an die Beute anzupassen, darin besteht, dass beide
bestimmte Eigenschaften aufweisen. Dieser Eindruck wird zusätz
lich dadurch verstärkt, dass Schimpansen nicht-sprachliche Verhal
tensformen aufweisen, die bei Menschen mit der Korrektur von Feh-
50 C. Allen, »Tierbegriffe neu betrachtet«, in diesem Band, S. 198 £; A. Stephan, »Are
Animais Capable o f Concepts?«, op. cit., S. 87.
51 B. Rundle, M in d in Action, op. cit., Kap. 4.
180
lern verknüpft sind, z. B. Zögern, Unmut, der Austausch eines Werk
zeuges durch ein anderes etc. Allgemeiner gesprochen, können zumin
dest Schimpansen scheinbar praktische Schlüsse ziehen, besonders
wenn sie Werkzeuge konstruieren und gebrauchen, ohne sich auf Ver
such und Irrtum zu verlassen.
Schließlich sollten wir auch noch die antike Geschichte des Jagd
hundes von Chrysippus bedenken.52 Bei der Verfolgung einer Beute,
deren Geruchsspur er verloren hat, gelangt dieser Hund an eine Kreu
zung; er schnüffelt nach links, schnüffelt gerade aus und folgt dann
dem Weg nach rechts - ohne zuvor zu schnüffeln. Es ist möglich,
dass im Falle von Hunden ein solches Verhalten nur antrainiert sein
könnte. Aber es gibt keinen Anlass zu bestreiten, dass eine intentio
nale Version dieses Verhaltens bei einem nicht-sprachlichen Wesen
kohärent denkbar ist. In diesem Fall wäre die beste Erklärung, dass
das Subjekt sich auf einen disjunktiven Schluss stützt (»p oder q oder
r; weder p noch q\ also r«). Man mag bereitwillig zugestehen, dass
das Subjekt nicht stillschweigend ein Schlussprinzip konsultiert. Aber
wie Ryle gelehrt hat, beruht selbst das intelligente Verhalten von Men
schen selten auf solchen expliziten Prozeduren.53
Bleibt nur ein Problem. Da die Möglichkeit fehlt, einen solchen im
pliziten Schluss sprachlich auszudrücken, müssen wir fragen, was im
tierischen Verhalten denn dem >also< des sprachlichen Schließens ent
spricht. A u f diese Frage gibt es für Hunde keine Antwort. Aber bei
Schimpansen gibt es ein wenngleich schwaches Analogon zum also.
Wenn sie mit bestimmten Aufgaben konfrontiert werden, werden
sie manchmal still, schneiden Grimassen und gestikulieren; u. a. krat
zen sie sich am Kopf, genau wie viele Menschen, die sich mit einem
Problem konfrontiert sehen. Folgt dieser Phase dann eine erneuerte
und erfolgreiche Aktivität, kann man von dem Punkt sprechen, an
dem der Groschen gefallen ist. Und selbst wenn dies bei Schimpansen
eine anthropomorphe Interpretation wäre, so können wir uns doch
leicht einen nicht-sprachlichen Hominoiden vorstellen, dessen Ge
sichtszüge und Gesten den unseren so nahe stehen, dass sie eine sol
che Beschreibung geradezu erzwingen.
Schließlich ist das Problemslösungsverhalten von Schimpansen be
züglich Kontext, Verlauf und Resultat dem unseren so nahe, dass man
52 R. Sorabji, A nim alM inds and Human M orals, London: Roudedge 1994, S. 26.
53 The Concept ofM ind, London: Hutchinson 1949, Kap. 2 [dt. D er B eg riffdes Geistes,
Stuttgart: Reclam 1969, Kap. 2].
181
auch ohne ein >also<, von einer Art instrumenteilen Schließens spre
chen kann. Es gibt also keinen zwingenden Grund für die Annahme,
dass Tiere keine Begriffe haben können. Selbst wenn man die M ög
lichkeit nicht-begrifflicher, holodoxastischer Gedanken ausschlie
ßen könnte, können Tiere dennoch Gedanken haben. Damit soll
nicht die Begriffsbildung zu einer »Zwischenstation zwischen bloßen
Dispositionen und Urteilen« erklärt werden, wie Davidson befürch
tet.54 Ein Schimpanse, der absichtlich zwischen Stöckchen und Mes
sern unterscheiden kann und daher auch die entsprechenden Begriffe
besitzt, kann auch glauben, dass er ein Stöckchen vor sich hat, oder
er kann sich ein Messer wünschen. M ir geht es vielmehr darum, dass
bislang kein Argument gegen die Möglichkeit nicht-sprachlicher Be
griffsbildung und damit nicht-sprachlicher begrifflicher Gedanken
vorliegt, oder gegen die Annahme, holodoxastische Überzeugungen
könnten eine Zwischenstation zwischen bloßen Dispositionen und
begrifflichen Urteilen darstellen.
9. Holismus
182
(A) (aQ p &c{p =$► q)) - => aG q
Aber (Ä) ist unvereinbar mit der Tatsache, dass viele Menschen die
Axiome der Euklidischen Geometrie akzeptieren, aber nicht alle
Theoreme, die aus ihnen folgen. Selbst
Jemand, der auch nicht ein einziges Theorem verstehen kann, hat
wohl kaum dieselben Gedanken bezüglich der Axiome wie ein M a
thematiker.
Das Problem mit (C) ist, dass Tiere zumindest einige Konsequen
zen ihrer einfachen Überzeugungen erfassen können. Wenn M al
colms Hund auch dann noch die Eiche anbellt, wenn wir ihn auf den
Ahorn hinweisen, so manifestiert er damit sowohl die Überzeugung,
die Katze sei auf der Eiche, als auch die Überzeugung, sie sei nicht
auf dem Ahorn. Allgemeiner gesprochen, Tiere können sich in ihrem
Verhalten nach dem richten, was aus ihren Wahrnehmungen folgt.
In manchen Passagen verlangt Davidson vom Subjekt jedoch, »eine
weitgehend korrekte Logik zu haben«. Dies bedeutet, dass a nicht
nur einige der Konsequenzen einer Überzeugung akzeptieren kön
nen muss, sondern auch, dass diese aus jener folgen. Also
18 3
(D) a G p 3q d p => q) & § a (G p => q)).
Gemäß einer Auffassung von (D) kommen einige Tiere über diese
Hürde. Sie können lernen, dass q aus p folgt, da sie bei der Bewäl
tigung praktischer Aufgaben beständig von p auf q schließen, etwa
in den oben erwähnten, instrumenteilen Schlüssen von Schimpansen.
Tiere können allerdings nicht zwischen empirischen und logischen
Konsequenzen unterscheiden. Es ist sinnlos zu fragen, ob der Hund
von Chrysippus aufgrund einer induktiven Verallgemeinerung (»Im
mer wenn p oder q und nicht-/), stellt es sich heraus, dass q«) oder auf
grund eines deduktiven Schlusses (»/> oder q; nicht p\ ergo q«) han
delt. Aber dasselbe gilt für viele Menschen. Wie ich bereits in meiner
Diskussion von Begriffen angedeutet habe, ignorieren bzw. bestreiten
empiristische Philosophen sogar den Unterschied zwischen logischen
bzw. wesentlichen und kontingenten bzw. akzidentellen Zusammen
hängen.
Der allgemeine holistische Einwand fällt somit durch. Davidson
behauptet nun zusätzlich, dass die spezifischen Begriffe, die in der Z u
schreibung sogar einfacher Überzeugungen auftauchen, allgemeine
Überzeugungen voraussetzen, die wir Tieren nicht zubilligen kön
nen.57 Seine Beispiele sind aber alles andere als überzeugend. Wer
insistiert, dass man nur dann glauben kann, die Katze sei die Eiche
hochgeklettert bzw. eine Wolke habe sich vor die Sonne geschoben,
wenn man zugleich weiß, dass Bäume brennbar sind bzw. Wolken
aus Wasserdampf bestehen, schränkt damit den Besitz der allermeis
ten Überzeugungen auf gebildete Zeitgenossen ein. Außerdem würde
folgen, dass jeder Unterschied in empirischen Überzeugungen (zu
mindest der allgemeinen Art) einem Begriffswandel gleichkommt,
was wiederum bedeuten würde, dass unterschiedliche wissenschaft
liche Theorien niemals von denselben Dinge handeln.58 Wie er selbst
unumwunden zugibt, hat Davidsons radikaler Holismus die para
doxe Konsequenz, dass die Ptolemäer nicht einfach glauben konn
ten, die Erde sei flach, da sie damit eine Überzeugung ablehnten,
die laut Davidson für unseren Begriff der Erde konstitutiv ist.
Das Scheitern dieser holistischen Einwände lässt aber offen, ob es
57 D. Davidson, »Rationale Lebewesen«, in diesem Band, S. 122; id., Inquiries into
Truth and Interpretation, op. cit., S. 168 und 200 [dt. Wahrheit und Interpretation,
S. 243 und S. 284].
58 J. Fodor und E. LePore, Holism. A Shopper’s Guide, Oxford: Blackwell 1992, Kap. 1.
184
nicht gemäßigtere holistische Prinzipien gibt, die z. B. ausschließen,
dass ein Wesen nur einen einzigen Gedanken hat. Diese Möglichkeit
ist schon deshalb fraglich, weil begriffliche Überzeugungen komple
xes und flexibles Verhalten und die Möglichkeit zum praktischen
Schließen voraussetzen. Beides ist jedoch mit dem Vorliegen eines ein
zigen Gedankens unvereinbar. Solche Überlegungen zeigen aber
nicht, dass das Netz, zu dem eine Überzeugung gehört, sich so weit
erstrecken muss wie dasjenige der anspruchsvollen Gedanken von
Menschen. Es gibt größere und kleinere Netze. Welche Art von Netz
notwendig ist, hängt von der Überzeugung und vom Subjekt ab. Aus
der Tatsache, dass Tiere unser Netz von Überzeugungen und unsere
Begriffe nicht teilen, folgt keineswegs, dass ihnen jegliche Überzeu
gungen oder Begriffe abgehen.59
io. Fazit
185
folge Tiere einfache Gedanken haben können. Aber sie spricht zugleich
für die Idee, dass der Besitz dieser Gedanken auf etwas Einfacheres hi
nausläuft als beim Menschen. Bei Tieren findet sich höchstens
ein Abklatsch an Intensionalität. Insofern unsere Zuschreibungen ho-
lodoxastisch sind, beschränken sie sich nicht nur auf Gedanken über
wahrnehmbare Phänomene in der unmittelbaren Umgebung, es feh
len ihnen auch die begrifflichen Verknüpfungen, die für den mensch
lichen Fall charakteristisch sind. Wir können aus der Tatasche, dass
der Hund glaubt, x1 sei F, nicht schließen, der Hund besitze den Be
griff eines Fs. Selbst wenn Tiere Begriffe haben können, sind diese
grob gesprochen beschränkt auf Wahrnehmungsbegriffe. Von den bei
den Kriterien, die wir normalerweise bei der Zuschreibung von Begrif
fen verwenden, können Tiere nur eines erfüllen. Sie können Klassifi
kationsprinzipien anwenden, aber diese nicht erklären. In der Tat,
diese Beschränkungen scheinen miteinander verknüpft. Ein Schim
panse kann zwischen seinem Wärter und anderen Menschen genauso
absichtsvoll unterscheiden wie zwischen roten und schwarzen Krab
beltieren. Aber wir zögern mit dem Begriff des Wärters eher als mit
dem von rot, da es hier so viel mehr zu erklären gibt. Dies wieder
um hängt mit dem Umstand zusammen, dass die Gedanken von
Tieren ein viel kleineres Netzwerk formen. Es fehlt das doxastische
Umfeld, dass bei sprachlichen Lebewesen zur Verfügung steht.
Folglich sind die Zuschreibungen von einfachen Gedanken an
Tiere weder intensional noch begrifflich, noch holistisch in der Art
und Weise, wie es Zuschreibungen an Menschen sind. Dieser Um
stand ist aber nicht mit der anthropomorphen Erklärung von Raketen
vergleichbar, sondern eher mit einem Beispiel, das Davidson einmal
in einer Diskussion erwähnt hat. Tieren Gedanken zuzuschreiben
ist so ähnlich, wie wenn man Zahlen nur dazu verwenden würde,
um die Mitglieder einer Fußballmannschaft zu unterscheiden. Diese
Zahlen stehen in komplexen Relationen numerischer Ordnung und
Differenz, welche aber in diesem Zusammenhang einfach ignoriert
werden. Hier kommt es einzig darauf an, dass jedem Spieler ein-ein-
deutig eine Nummer zugeordnet werden kann.
Diese Analogie ist erhellend. Gedankenzuschreibungen an Tiere
verwenden einen reichen Begriffsapparat auf einem Gebiet, auf dem
viele logische Beziehungen, die diesen Apparat kennzeichnen, ein
fach nicht einschlägig sind. Dennoch zerbricht die Analogie an einem
entscheidenden Punkt. Die Zuschreibung von Gedanken an Tiere
186
ist nicht einfach die eingeschränkte Anwendung einer reichhaltigen
Technik. Denn diese Technik dreht sich um einen Kern von Fällen,
in denen wir Lebewesen Überzeugungen, Wissen, Wünsche und Ab
sichten unterstellen, weil sie bestimmte Bedürfnisse haben, ihre Um
gebung wahrnehmen und handelnd auf sie Einfluss nehmen kön
nen. Dieses biologische Fundament des Denkens wird von Mensch
und Tier geteilt. Gleichzeitig gilt: Insofern wir uns von diesem Kern
bereich aus in Richtung begrifflicher Gedanken bewegen, bewegen
wir uns auch in Richtung sprachlicher Gedanken. Denn diejenigen
Merkmale, die nicht-sprachliche Lebewesen aufweisen müssen, um
begriffliche Gedanken zu haben (Intentionalität, Komplexität, Flexi
bilität), entsprechen genau den Merkmalen, über die Theoretiker von
Descartes bis Chomsky die Sprache von den einfacheren Kommu
nikationssystemen der Tiere unterschieden haben. In dieser Hinsicht
zumindest verleugnen unsere Überlegungen den Zusammenhang von
Denken und Sprechen also nicht, sondern bekräftigen ihn.
18 7
tigen Figur nicht unterscheidbar wäre.* Auch die gegenwärtigen Be
griffstheorien der Kognitionspsychologen befassen sich alle mit der
Art und Weise, in der Begriffe dazu dienen, die vielfältigen Wahrneh
mungen der Einzelerscheinungen miteinander zu vereinen.
Die enge Verbindung von Sprache und Begriffen beim Menschen
hat viele zur Meinung verführt, dass die Vorstellungen von Sprache
und Begriff nicht voneinander getrennt werden können. Diese enge
Verbindung lässt sich angesichts des vorliegenden Schemas dadurch
erklären, dass Sprachen eine Struktur mit sich bringen, die hinsicht
lich der unmittelbaren Wahrnehmung zahllose Abstufungen an Frei
heit aufweist. Sprachliche Repräsentation ist somit die Grundlage
für das feingliedrigste System begrifflicher Repräsentation, das wir
kennen. Es wäre aber ein Fehler zu glauben, dies sei die einzige zur
Verfügung stehende Grundlage für begriffliche Repräsentation. Es
ist sehr wohl möglich, dass andere Spezies ihre Erfahrungen auf eine
Weise strukturieren können, die über das bloße Zusammenstellen die
ser Erfahrungen in Aquivalenzklassen zwecks der Erzeugung von un
mittelbaren Reaktionen im Verhalten hinausgeht. Eine solche Fähig
keit enthält die Grundbausteine für ein Begriffsschema. Ich vertrete
somit die These, dass es für die Behauptung, sprachlose Lebewesen
verfügten über Begriffe, einen klaren Sinn gibt, und dass wir wissen,
wie wir diese Behauptung in eine empirisch gehaltvolle Frage umset-
zen können.
Aus dem Englischen übersetzt von Dom inik Perler
* [A. d. Ü.: Der Autor spielt hier auf die VT. Meditation an, in der Descartes festhält,
dass er ein Tausendeck rein geistig erfassen kann, obwohl er nicht in der Lage ist, sich
eine solche geometrische Figur bildhaft vorzustellen. Vgl. M editationes de prim a ph i-
losophia, in: CEuvres de Descartes, hrsg. von Ch. Adam und P. Tannery, Paris: Vrin
1983 = AT VII, 72.]
200
Ruth G. Millikan
Verschiedene Arten von zweckgerichtetem Verhalten
201
Dann beschreibe ich intentionale Zwecke und Kognitionen, unterbrei
te einen Vorschlag, worin sich menschliche Kognitionen von nicht
menschlichen unterscheiden könnten, und beschreibe einige For
men, die nicht-menschliche Kognitionen annehmen können.2
Unter einem »biologischen Zweck« oder einer »biologischen Funk
tion« (ich verwende diese beiden Ausdrücke als Synonyme) verstehe
ich eine Art von Zweck, den etwa der Herzschlag hat. Der Zweck
des Herzschlags besteht darin, das Blut zirkulieren zu lassen. Ähnlich
gilt: Der Zweck der Rötung Ihrer Haut bei Hitze besteht darin, die
Hitze von Ihrem Blut fernzuhalten. Der Zweck des Herausschleu-
derns der Zunge, das der Frosch zeigt, wenn die richtige Art von
Schatten über seine Retina hinweggeht, besteht darin, sich Fliegen
einzuverleiben. Ganz allgemein besteht der biologische Zweck eines
Verhaltens in allen vorteilhaften Wirkungen, die dieses Verhalten wäh
rend der Evolutionsgeschichte der Spezies oft genug gehabt hat, um
zu den jetzt vorhandenen Mechanismen in einer Spezies beizutra
gen, die dieses Verhalten hervorbringen. Grob gesagt: Biologische
Funktion ist historischer Überlebens wert.
Meine erste Aufgabe liegt darin, zunächst einmal zu klären, warum
man das Verhalten nicht untersuchen kann, ohne zumindest implizit
auf den biologischen Zweck des Verhaltens Bezug zu nehmen. Tat
sächlich kann man noch nicht einmal Verhaltensweisen als Gegen
stand der eigenen Untersuchung gleichsam keimfrei bestimmen -
auf eine Weise, die frei von Theorie wäre, frei von jeder Spekulation
über die biologische Funktion. Die Frage, welche Beobachtungen
als Daten für eine bestimmte Wissenschaft zählen, kann nie unabhän
gig von einer Theorie beantwortet werden. Dieser Punkt wird heut
zutage von besonnenen Wissenschaftlern und Wissenschaftstheoreti
kern allgemein anerkannt. Beispielsweise untersuchte die klassische
Chemie chemische Zusammensetzungen und nicht Lösungen oder
Mischungen. Aber was eine Zusammensetzung ist, was eine Lösung
oder was eine Mischung, das ist eine Frage, die durch eine Theorie
der Chemie festgelegt wird und keineswegs vor dem Bestehen einer
solchen Theorie entschieden wird. Wie manifestiert sich dieses allge
meine Prinzip in den Verhaltenswissenschaften? Gewähren Sie mir
für einen Moment Ihre Nachsicht, wenn ich das artspezifische Ver-
2 Umfassendere Erörterungen finden sich in meinem Buch Lartguage, Thought, and
Other Biological Categories, Cambridge und London: MIT Press 1984, und in White
Queen Psychology, op. cit., Kap. 3-9.
202
halten einer Philosophin an den Tag lege. Ich möchte etwas deutlich
machen, das so dicht vor unserer Nase liegt, dass wir dazu neigen, es
nicht wahrzunehmen. Wenn Sie es einmal wahrgenommen haben,
und wenn Sie dann feststellen, wie vertraut und offensichtlich es ist,
sobald darauf hingewiesen wird, und wie trivial es somit ist - dann
möchte ich Ihnen zeigen, dass es tatsächlich tiefgründig und gehalt
voll ist.
Die unsichtbare und doch offensichtliche Tatsache, auf die ich
Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, liegt darin, dass es eine unend
liche Zahl möglicher Beschreibungen gibt, die man für das Verhal
ten eines Lebewesens zu einem bestimmten Zeitpunkt geben kann.
Nur ganz wenige dieser Beschreibungen sind für die Verhaltenswis
senschaft: von Bedeutung. Das sind jene Beschreibungen, die auf ent
scheidende Weise mit einer Funktion verknüpft sind. Betrachten Sie
z. B. die verschiedenen Bewegungen, die ein Tier ausführt. Ein gro
ßer Teil der Verhaltensweisen von Tieren sind Bewegungen irgend
einer Art. Bewegungen können aber nur relational beschrieben wer
den. M it Bezug worauf beschreiben wir die Bewegungen eines Tiers?
Betrachten Sie Arnos, den Mäuserich auf meinem Küchenboden. Er
rennt in die entgegengesetzte Richtung der Katze, die auf ihn war
tet. M it derselben Bewegung rennt er zum Besen, der auf ihn wartet.
Er rennt auch zwischen einem schwarzen Quadrat auf dem Linoleum
und einem Tomatenfleck durch, in Richtung Küchenuhr und in
Richtung London, weg vom magnetischen Norden, dreizehn Mal
so schnell wie das zweite Pendel der Uhr schwingt, fünf Sekunden
nach meiner eigenen letzten wahrnehmbaren Bewegung, 0,05 Sekun
den nach dem letzten aufgeregten Zucken des Katzenschwanzes. Es
ist klar, dass diese Liste mit Beschreibungen von Arnos’ Rennen ins
Unendliche fortgesetzt werden könnte. Aber Moment - ist sein Ver
halten überhaupt ein Rennen? Vielleicht sollte Arnos’ Bewegung ein
fach als ein rhythmisches Schlagen der Pfoten beschrieben werden,
die Arnos durch den Raum tragen, genauso wie sie ihn Richtung Lon
don tragen.
Es ist auch nicht hilfreich, Arnos’ Bewegung in Beziehung zu sei
nem eigenen Körper zu setzen. Beobachten Sie Arnos, wie er gerade
blinzelt. Bedecken seine Augenlider in diesem Moment seine Augen?
Oder sind seine Wimpern in diesem Moment von seinen Augen
brauen abgelöst? Oder zeigen seine Wimpern in diesem Moment
auf den Bauchnabel? Oder zeigen sie auf die Zehen? Vielleicht ist
203
eine Rotation der Augenlider alles, was geschieht. Rotieren sie mit
einer Winkelgeschwindigkeit von 1000 Grad pro Sekunde? Oder ent
spricht die Frequenz drei Umdrehungen pro Mäuseherzschlag?
Bewegungen sind auch keineswegs etwas Besonderes, wenn man
die Unendlichkeit ihrer möglichen Beschreibungen betrachtet. Arnos
kann piepsende, schnatternde, niesende, hustende, würgende Geräu
sche von sich geben, oder er kann still sein —abgesehen davon, dass
er Atmungsgeräusche macht, wenn man genau zuhört, und kleine
schlagende Geräusche mit seinen Füßen (Angstsignale oder einfach
Fußgetapse?) und mit seinem Herzen. Welches von diesen Geräu
schen und welche Stille stellen einen Gegenstand für die Verhaltens
wissenschaft dar? Welche stellen keinen Gegenstand dar? Wie soll
ten die Geräusche beschrieben werden? Durch Tonhöhe, Tonfall,
Dauer, Periodizität, harmonische Struktur, rhythmische Struktur,
Amplitude, Wiederholungsmuster? Denken Sie an die Geräusche,
die ein Mensch macht. Einige davon, wie etwa Schreien und Lachen,
können relativ grob beschrieben werden. Andere, die Sprechgeräu
sche, müssen detailliert beschrieben werden, und zwar in Überein
stimmung mit Prinzipien, die so subtil sind, dass man sie noch gar
nicht vollkommen verstanden hat. Wieder andere - etwa die Geräu
sche, die beim Würgen oder Urinieren gemacht werden, Herzgeräu
sche und normalerweise auch Atmungsgeräusche - müssen über
haupt nicht beschrieben werden. Manchmal müssen Momente der
Stille beschrieben werden und manchmal nicht.
Was legt angesichts der unendlichen Zahl an möglichen Verhal
tensbeschreibungen die Beschreibungsformen fest, die für die Ver
haltenswissenschaft relevant sind? Welche Verhaltensweisen, welche
beschreibbaren Outputs sind - in Anführungszeichen - »wahre Ver-'
haltensweisen«, die den eigentlichen Gegenstand für Untersuchun
gen des Tierverhaltens darstellen?
Sucht man vielleicht nach wiederholten Verhaltenseinheiten, nach
wiederkehrenden Mustern? Dass Mäuse vor Katzen wegrennen, ist
beispielsweise ein wiederkehrendes Phänomen; dass sie zu einem Be
sen rennen, der auf sie wartet, ist keines. Dies kann aber nicht die Ant
wort sein. Das Herz macht nämlich mit einer wunderbaren Regelmä
ßigkeit Bumbum, jeder Lidschlag einer Maus ist ein momentanes
Ablösen der Wimpern von den Augenbrauen, jedes Auftreten des
Mäusefußes auf dem Boden macht ein winzigkleines Schlaggeräusch,
und Würgen ist unter den richtigen Reizbedingungen ein unverkenn
20 4
bares und zuverlässig wiederholbares Geräusch, und doch ist nichts
davon »Verhalten«. Ebenso ist es ein Fehler zu glauben, dass das, wo
nach wir suchen, jenes Verhalten ist, das unter Gesetze fällt. Die oben
genannten Verhaltensweisen fallen alle unter Gesetze, sogar unter un
gewöhnlich zuverlässige Gesetze. Schauen Sie sich den Kniereflex an,
der unter ein wunderbar zuverlässiges Gesetz fällt. Der Physiologe,
der nach Anhaltspunkten hinsichtlich der Körperkonstruktion sucht,
interessiert sich für Zuckungen des Knies. Wenn aber Zuckungen des
Knies für diejenigen, die Verhalten untersuchen, von Interesse sind,
liegt dies nicht daran, dass sie »Verhaltensweisen« sind, sondern nur
daran, dass sie verwendet werden können, um die Bedingungen zu
diagnostizieren oder Anhaltspunkte für die Mechanismen zu geben,
die fiir »wahre Verhaltensweisen« tatsächlich verantwortlich sind.
Nein. Was es ausmacht, dass dieser und nicht jener Output eines
Tiers ein Verhalten im eigendichen Sinn ist, oder dass ein so und nicht
anders beschriebener Output ein Verhalten im eigentlichen Sinn ist,
hat immer eine unmittelbare Relevanz für eine biologische Funktion.
Das Kniezucken ist nicht ein »Verhalten«, weil es keine Funktion hat
(soweit wir wissen). Es bewirkt nichts, das zum Überleben beigetra
gen hätte. Aus demselben Grund ist es unwahrscheinlich, dass Wür
gegeräusche »Verhaltensweisen« sind, ebenso wenig Geräusche des
Niesens und Flustens. Andererseits sind Niesen und Husten selbst
wahrscheinlich »Verhaltensweisen«; wahrscheinlich haben die Mecha
nismen, die Niesen und Husten hervorbringen, einen Überlebens
wert. M an beschreibt Blinzeln zutreffend als Bedecken der Augen
mit den Lidern, denn es bewirkt z. B., dass Sand ferngehalten wird,
während das Ablösen der Wimpern von den Augenbrauen und das
Hinzeigen der Wimpern in Richtung Zehen keine funktionalen Wir
kungen hat. Arnos’ Verhalten ist nicht einfach die rhythmische Be
wegung seiner Pfoten, sondern ein richtiggehendes Über-den-Bo-
den-Rennen, denn in der Vergangenheit hat das Rennen und nicht
einfach die rhythmische Pfotenbewegung von Arnos’ Vorfahren in
charakteristischer Weise zum Überleben beigetragen. Ähnlich gilt:
Was auch immer »in Arnos’ Geist« gewesen sein mag oder nicht, sein
»Verhalten« ist sicher ein Wegrennen vor der Katze; ebenso sicher ist
es kein Hinrennen zum Besen oder ein Rennen in Richtung London.
Die Wahrnehmungs- und Bewegungssysteme, die Arnos von seinen
Vorfahren geerbt hat und die für sein jetziges Rennen verantwortlich
sind, sind Systeme, die durch ihr Funktionieren manchmal bewirkt
20 5
haben, dass diese Vorfahren aus der Umgebung von Raubtieren flüch
ten konnten. Dies hat gewiss dazu beigetragen, dass sie sich vermeh
ren konnten. Dass diese Mechanismen die Annäherung an Besen oder
an große Städte bewirkten, hat sicherlich nicht dazu beigetragen.
Als »wahres Verhalten« zählt das, von dem man annimmt, dass es
in dieser Beschreibung einen biologischen Zweck hat. Dieser theo
retische Punkt gerät oft in den Hintergrund, weil es so sehr auf der
Hand liegt, welche Verhaltensweisen funktional sein müssen und wel
che nicht. So ist es beispielsweise offensichtlich, dass man Arnos als
»rennend« beschreiben muss, aber sicherlich nicht als »in Richtung
London rennend«. Das liegt tatsächlich so auf der Hand, dass die Ein
sicht, hier könnte vielleicht ein tiefgründiger theoretischer Punkt ver
borgen sein, schwierig ist. In anderen Fällen ist es jedoch angesichts
der vielen Dinge, die ein Tier tut, überhaupt nicht offensichtlich, wo
rin das »wahre Verhalten« liegt. C. Beer erzählt beispielsweise eine
komplizierte Geschichte, wie er sich darum bemühte herauszufin
den, in welchen Lautäußerungen und in welchem Gehabe von Lach
möwen denn nun die wahren Verhaltensweisen bestehen.3 Und man
muss sich wohl bewusst sein, dass jede Beschreibung, jede Klassifi
kation eines Verhaltens implizit auf einen bekannten oder unbekann
ten biologischen Zweck Bezug nimmt. Wenn man sich dessen nicht
bewusst ist, dass sogar auf dieser Ebene unweigerlich eine Theorie
im Spiel ist, wird man sicher mit größerer Wahrscheinlichkeit eine im
plizit schlechte Theorie —z. B. einen ungeprüften Anthropomorphis
mus —in die eigenen Beschreibungen des Verhaltens einschmuggeln.
Natürlich stützt sich ein unreflektierter Mensch, der gebeten wird,
das Verhalten einer anderen Spezies zu beschreiben, auf eine Projek
tion: Was würde ich tun, wenn ich so handelte?
Den Verhaltensweisen biologische Zwecke zuzuschreiben ist na
türlich nicht das Gleiche wie die Zuschreibung von Gedanken oder
Kognitionen. Eine Funktion des Blinzelns mag darin bestehen, Sand
fernzuhalten, aber weder das Auge noch das Tier als Ganzes muss
dieses Ziel kennen, um zu blinzeln. Ähnlich gilt: Nehmen wir an, dass
Sie meine funktionierende Blinzelreaktion konditionieren, indem Sie
diese durch Ihr Lächeln verstärken. Mein Blinzeln wird dann ein
3 Vgl. C. G. Beer, »Multiple Functions and Gull Displays«, in: Function and Evolution
in Behavior, hrsg. von G. Baerends und C. G. Beer, Oxford: Clarendon Press 1975,
S. 16-54; id., »Some Complexities in the Communication Behavior o f Gulls«, Annals
o f the New York Academy o f Sciences 280 (1976), S. 413-432.
206
neues biologisches Ziel erworben haben, wenn es Ihr Lächeln in Über
einstimmung mit der biologischen Anlage meiner Lernsysteme her
vorbringt. Vergleichen wir damit folgenden Fall: Von den Mecha
nismen, die die Pigmente in der Haut eines Chamäleons der Alten
Welt neu anordnen, kann man sagen, dass sie vom biologischen
Zweck, das Chamäleon braun aussehen zu lassen, zum biologischen
Zweck übergehen, es grün aussehen zu lassen, sobald sich das Chamä
leon von einer braunen zu einer grünen Oberfläche bewegt. Ähnlich
kann man vom biologischen Zweck einer konditionierten Reaktion
sagen, dass sie von den Umgebungsbedingungen abhängt, die diese
Reaktion hervorgebracht haben.4 Aber wenn mein Blinzeln Sie zum
Lächeln gebracht hat, und zwar als biologischer Zweck, werde ich die
sen Zweck nicht erkennen; ich werde nicht blinzeln, weil ich bewusst
oder unbewusst an diesen Zweck denke. Ein Lernprozess, der auf
dem Reiz/Reaktionsmuster beruht, bringt von sich aus keine Kog
nition hervor. Ob differenzierte Reaktionen nun erlernt sind oder
nicht: Sie sind keine Gedanken. Was sind dann erkannte Zwecke,
intentionale Zwecke? Wie unterscheiden sie sich von erlernten oder
nicht erlernten biologischen Zwecken?
Das Wort >intentional< wird von Philosophen verwendet, um auf
Dinge Bezug zu nehmen, die von anderen Dingen handeln; so han
deln z. B. der Satz >Paris ist schön< und ein Stadtplan von Paris beide
von Paris. Die Überzeugung, dass Paris schön ist, der Wunsch, Paris
zu besuchen, und die Absicht, Paris zu besuchen, handeln natür
lich auch von Paris. Alle diese Dinge manifestieren »Intentionalität«.
Äußere Dinge, die Intentionalität manifestieren, etwa Sätze, graphi
sche Darstellungen, Schaubilder, Karten, Straßenzeichen, Musikno
ten und darstellende Gemälde, werden »Repräsentationen« genannt.
Eine vorherrschende Theorie, der ich zustimme, schlägt vor, dass in
nere intentionale Dinge, etwa Überzeugungen, Hoffnungen, Wünsche
und Intentionen, in ähnlicher Weise Repräsentationen sind. Allgemei
ner ausgedrückt: Alle Kognitionen sind innere Repräsentationen -
d. h. innere Modelle im abstraktesten mathematischen Sinn - dessen,
wovon sie handeln.5 Der Unterschied zwischen rein biologischen
207
Zwecken und intentionalen Zwecken liegt darin, dass im zweiten Fall
die biologischen Zwecke des Lebewesens durch die Herstellung und
Verwendung von inneren Repräsentationen implementiert werden -
Repräsentationen von der Umwelt und/oder Repräsentationen von
den Zielen des Lebewesens. Menschliche Überzeugungen, Wunsche
und Intentionen lassen sich dadurch unterscheiden, dass sie - zumin
dest teilweise —in einem besonders verfeinerten System innerer Reprä
sentationen enthalten sind. A u f dieses System komme ich gleich noch
einmal zurück. Allerdings stützen sich Menschen zweifellos auch wei
terhin auf andere Kognitionsebenen, auf primitivere Formen der Re
präsentation.
Um Ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie abstrakt die
Modelle sein können, die Repräsentationen sind, möchte ich deutsche
Sätze als Modelle nennen. Signifikante Veränderungen in deutschen
Sätzen (meistens Veränderungen, die durch Substitution erfolgen) ent
sprechen den Veränderungen jener Dinge, von denen die Sätze han
deln; das Gebiet der wahren Sätze bildet das Gebiet der realen Welt
ab oder steht dazu in einer abstrakten isomorphen Relation. Für
diejenigen, die damit vertraut sind, sei folgendes Beispiel genannt:
Die Darstellung neuronaler Netze in Modellen ist zum größten Teil
eine Untersuchung sehr abstrakter Formen, die mentale Repräsenta
tionen möglicherweise annehmen. Das Lebewesen, das etwas erkennt,
ist dazu fähig, eine Vielzahl von alternativen inneren Modellen zu
konstruieren. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Zustände des
Nervensystems, die aufgrund von abstrakten Regeln der Übereinstim
mung dazu passen, woran das Lebewesen denkt. Diese abstrakten M o
delle, diese abstrakten mathematischen »Landkarten«, funktionieren
vielleicht als Karten für die Umwelt: Sie stellen Tatsachen aus der Welt
des Lebewesens in einem Modell dar. Oder sie können als Entwürfe
dienen, die die gewünschten Ergebnisse von Handlungen anzeigen,
oder als Pläne für bestimmte Handlungen.
Lassen Sie mich das anhand einer naheliegenden Analogie konkre
ter darstellen. Betrachten Sie für einen Moment den Tanz der Honig
biene. Veränderungen des Tanzes (z. B. eine Rotation auf der langen
Achse des Tanzes um so und so viele Grade) entsprechen Veränderun
gen des Repräsentierten (Veränderungen der repräsentierten Richtung
vom Nektar zum Bienenstock). Der Tanz ist eine abstrakte mathe
matische Karte, eine Repräsentation der Lokalisierung des Nektars.
Der biologische Zweck, der darin besteht, die Arbeiterinnen zur Be-
208
Schaffung des Nektars zu bringen, der von anderen Arbeiterinnen ge
sichtet wurde, wird durch die Zusammenarbeit zweier Systeme be
werkstelligt. Das erste System produziert Karten vom Ort, an dem sich
der Nektar befindet. Diese dienen als Entwürfe von konkreten biolo
gischen Zielen, die zu erfüllen sind, nämlich zu diesem oder jenem
Ort zu gelangen, an dem sich der Nektar befindet. Das zweite System
»liest« diese Entwürfe, d. h. reagiert in angemessener Weise auf sie, so-
dass die angestrebten biologischen Ziele erreicht werden. In diesem
Fall tanzen einige Bienen, während andere zuschauen. Die Repräsen
tationen befinden sich freilich nicht in den Bienen, sondern außerhalb
von ihnen. Die Tänze sind Repräsentationen, aber als solche nicht
kognitive Repräsentationen oder Kognitionen. Nehmen wir jedoch
an, die Mechanismen, die für das Herstellen eines Umweltmodells
verantwortlich sind, das Modell selbst und die Interpretationsmecha
nismen befänden sich alle innerhalb desselben Organismus. Dann
hätte man primitive Kognitionen - Gedanken (wenn auch nicht not
wendigerweise bewusste Gedanken) von der Beschaffenheit der Um
welt, von den zu erreichenden Zielen.
Einem Lebewesen intentionale Zwecke zuzuschreiben heißt, ihm
irgendein System innerer Repräsentation zuzuschreiben, eine M ög
lichkeit, um die Welt und die eigenen Ziele auf einer Karte einzuzeich
nen. Diese Einzeichnung dient als Mittel, um diese Ziele zu erreichen.
Der wirklich interessante Teil besteht jedoch darin, über die vielfäl
tigen Möglichkeiten und Wege nachzudenken, die die biologischen
Systeme bei der Anwendung der Prinzipien der Einzeichnung be
schreiten könnten. Beispielsweise gibt es eine Reihe sehr fundamen
taler Aspekte, in denen sich menschliche Überzeugungen und Wün
sche von Repräsentationen wie etwa dem Bienentanz unterscheiden
müssen (natürlich abgesehen davon, dass sich Bienentänze nicht in
nerhalb des Organismus befinden und somit keine Kognitionen dar
stellen). Drei dieser Unterschiede möchte ich jetzt nennen.6
Erstens gibt es bei den Bienentänzen keine Unterscheidung zwi
schen dem indikativen oder Tatsachen beschreibenden Modus und
dem imperativen oder Anweisungen gebenden Modus. Der Tanz
sagt den Arbeiterinnen, wo der Nektar ist (Tatsachen); ebenso sagt
er ihnen, wohin sie fliegen sollen (Anweisungen). Der Schritt von die
ser Art primitiver Repräsentation hin zu menschlichen Überzeugun-
6 Verschiedene andere entscheidende Unterschiede werden in White Queen Psychology,
Kap. 4, Abschnitt 5, aufgefiihrt.
209
gen und Intentionen ist riesig, denn er enthält die Trennung der indi
kativen von den imperativen Funktionen des Repräsentationssystems.
Repräsentationen, die nicht zwischen indikativem und imperativem
Modus unterscheiden, verknüpfen Sachverhalte direkt mit Handlun
gen - mit bestimmten Dingen, die angesichts dieser Tatsachen zu tun
sind. Menschliche Überzeugungen sind nicht direkt mit Handlun
gen verbunden. Wenn sie nicht mit geeigneten Wünschen kombiniert
werden, bringen menschliche Überzeugungen keine Handlung her
vor. Und menschliche Wünsche sind ebenso machtlos, wenn sie nicht
mit Überzeugungen darüber kombiniert werden, wie die Wünsche
zu erfüllen sind. Es gibt aber keinen Grund zur Annahme, dass die
Fähigkeit, reines Faktenwissen zu speichern - Wissen, das von allen
spezifisch geplanten Verwendungen abgekoppelt ist - oder explizite
Wünsche zu hegen, die von allen spezifischen Vorstellungen ihrer Er
füllungsmöglichkeiten abgekoppelt sind, ein Merkmal jedes erken
nenden Lebewesens ist. Viele hegen vielleicht nur undifferenzierte in
nere Repräsentationen.7
Zweitens: Da die indikativen und die imperativen Funktionen in
den inneren Repräsentationssystemen von Menschen getrennt sind,
müssen sie reintegriert werden, um Handlungen hervorzubringen.
Damit vollziehen Menschen praktisches Schlussfolgern: Sie kom
binieren Überzeugungen und Wünsche auf neuartige Weise, um zu
nächst Intentionen und dann Handlungen zu erzeugen. Auch kom
binieren Menschen Überzeugungen mit Überzeugungen, um neue
Überzeugungen zu erzeugen. Es könnte aber sein, dass andere Spezies
nicht über derartige inferentielle Fähigkeiten verfügen oder dass sie
diese in beschränkterem Maße haben.
Drittens: Das Repräsentationssystem, zu dem der Bienentanz ge
hört, enthält keine Negation. Es enthält nicht einmal widersprüchliche
Repräsentationen. Wenn zwei Bienen zur selben Zeit verschiedene
Tänze aufführen, stehen diese Tänze nicht in Konflikt zueinander,
denn es kann sehr wohl sein, dass an zwei verschiedenen Orten gleich
zeitig Nektar vorhanden ist. (Andererseits können die Bienen nicht
gleichzeitig zu zwei Orten fliegen.) Aber in einem Repräsentations
system ohne Negation können keine Widersprüche auftreten. Würde
den inneren Repräsentationen eines erkennenden Lebewesens die
Negation und somit die Möglichkeit zum Widerspruch fehlen, wäre
7 Vgl. meinen Aufsatz »Pushmi-pullyu Representations«, Philosophical Perspectives 9
(1995), S. 185-200.
210
dies äußerst signifikant. Wenn wir der philosophischen Tradition fol
gen, spielt das Gesetz der Widerspruchsfreiheit eine absolut zentrale
Rolle in Erwerb und Entwicklung all jener Begriffe, die nicht durch
Definition an eine bestimmte Bedeutung für eine Handlung gebun
den sind. Lebewesen, denen die Negation in ihren inneren Repräsen
tationssystemen fehlt, wären unfähig, neue Begriffe zu lernen, sofern
diese nicht direkt an eine Handlung gebunden sind. Alle ihre Begriffe
müssten entweder rein praktisch sein oder statisch, ererbt, angebo
ren. Zudem habe ich dargelegt, dass die Negation von einer Sub
jekt-Prädikat-Struktur abhängt, d. h. von einer propositionalen Struk
tur, und umgekehrt. Einfachere Repräsentationen drücken keinen
propositionalen Gehalt aus.8 Nicht einmal so raffinierte Repräsenta
tionen wie Karten, Schaubilder und Musiknoten enthalten Subjekte
und Prädikate. Lebewesen, die ausschließlich in Repräsentationen
ohne Subjekt-Prädikat-Struktur dächten, würden nicht propositional
denken.
Es wäre vollkommen unangemessen zu versuchen, die Inhalte der
Kognitionen von Lebewesen, die nicht zwischen dem indikativen
und dem imperativen Modus unterscheiden, oder die Inhalte der
Kognitionen ohne Subjekt-Prädikat-Struktur oder der Kognitionen
ohne Negationsmöglichkeit oder der Kognitionen, die nicht an Pro
zessen des Schlussfolgere oder der Informationsvermittlung teilha
ben, durch Übersetzung in deutsche Sätze oder durch Korrelation
mit eben solchen auszudrücken. Betrachten wir den »Fliegendetek
tor« im Sehnerv eines Frosches, um ein extremes Beispiel zu nehmen.
Man könnte ihn als etwas betrachten, das eine sehr elementare Art in
nerer Repräsentation hervorbringt. Das Feuern des Detektors zu einer
bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort verzeichnet die Prä
senz einer Fliege auf einer Karte zu einer bestimmten Zeit an einem
bestimmten Ort - zur selben Zeit und am selben Ort. Das Feuern
zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort repräsentiert eine
Fliege zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Oder sollten
wir etwa sagen, in Wirklichkeit sei das Feuern eine Befehlsrepräsen
tation, die dem Frosch sagt, er solle zu einer bestimmten Zeit und
an einem bestimmten Ort schnappen? Sagt es: »Hier ist jetzt eine
Fliege«? Oder sagt es: »Schnell, schnapp hier und jetzt«? In Wirklich
keit sagt das Feuern des Detektors dem Frosch (oder seinem Gehirn)
211
nichts von diesen Dingen. Um »Hier ist jetzt eine Fliege« zu sagen,
müsste es einer möglichen Repräsentation widersprechen, die sagt
»Hier ist jetzt nicht eine Fliege«, und ebenso anderen möglichen Re
präsentationen, die z. B. sagen: »Hier ist jetzt eine Biene« oder »Hier
ist jetzt eine Katze« oder »Dienstag um vier war hier ein Fisch«.
Was wirklich erforderlich ist, um die nicht-propositionale Kogni
tion von Tieren zu verstehen, ist nicht eine Übersetzung ins Deut
sche, sondern eine explizite Beschreibung der verschiedenen Reprä
sentationssysteme, die Tiere tatsächlich verwenden, und in welcher
Weise sie diese verwenden. Das letzte Ziel muss darin bestehen, M o
delle für die kognitiven Systeme einer jeden der verschiedenen Tier
spezies zu konstruieren und zu testen, so wie Humanpsychologen
jetzt damit beginnen, Modelle für menschliche Informationsprozesse
zu konstruieren und zu testen. Im Moment können wir allerdings
zum größten Teil nur spekulieren, welche verschiedenen Arten von
Repräsentationssystemen im Prinzip möglich sind und welche davon
tatsächlich von biologischen Systemen verwendet werden könnten.
Wir werden aber sicher in die Irre gehen, wenn wir nicht bedenken,
dass es zahlreiche Möglichkeiten zwischen dem propositionalen Den
ken des Menschen und dem Fehlen jeglichen Denkens gibt.
212
Fred Dretske
Minimale Rationalität
2 13
ten, muss es nicht durch den Gedanken, der es erklärt, rationalisiert
werden, und der Handelnde braucht seinen Weg zu diesem Ergebnis
nicht begründet zu haben.2 Nicht einmal unter idealen Bedingungen
muss das Verhalten zur generellen Überlebensfähigkeit eines Orga
nismus beitragen. Das Verhalten kann die Überlebensfähigkeit sogar
herabsetzen. Es kann das Ergebnis des Begründens, der Vernunft aber
entgegengesetzt sein.
Ein bekannter Witz illustriert ein Minimum an minimaler Ratio
nalität. Clyde sucht seinen Schlüsselbund in einer dunklen Nacht
unter einer Straßenlampe.
Wenn man davon ausgeht, dass Clyde das, was er tut, aus dem von
ihm angegebenen Grund tut, ist sein Verhalten minimal rational.
Der Gedanke (dass es hier heller ist) kontrolliert sein Verhalten. Clyde
ist dennoch irrational. Aufgrund der Wahrheit seiner Überzeugungen
besteht keine Chance, dass er seine Schlüssel hier findet, keine M ög
lichkeit, dass sein Verhalten sein Ziel erreichen kann. Obwohl der
Gedanke, dass es hier heller ist, sein Verhalten kontrolliert, rationali
siert dieser Gedanke sein Verhalten nicht. Er vergrößert, geschweige
denn maximiert, Clydes Nutzen nicht (Kacelniks ökonomischer Sinn
von Rationalität). Ganz im Gegenteil. Sein Verhalten ist kontrapro
duktiv, aber nichtsdestotrotz immer noch minimal rational. Es wird
von Gedanken kontrolliert. Was Clyde tut, lässt sich durch das erklä
ren, was er denkt.
2 Ich betrachte das Nachahmungsverhalten - zumindest einiges davon - der Art, die
R. Byrne (»Who Needs Rationality?«, in: RationalAnim ais, op. cit.) beschreibt, und
dasjenige von L. Hermans Großen Tümmlern (»Evidence for Rationality in Dol-
phins«, in: RationalAnim ais, op. cit.) als minimal rational. Wenn man das Verhalten,
das nachgeahmt wird, beobachtet, eine Repräsentation davon im Gedächtnis gespei
chert wird, und das Nachahmungsverhalten dann später von irgendeiner symboli
schen Geste oder einem Signal ausgelöst wird, wird das Verhalten durch einen Ge
danken in meinem Sinne erklärt.
2 14
Oder denken wir an das Beispiel, das S. Boysen in einer Diskussion
während der Konferenz* erwähnte. Jemand schnallt sich Sprengstoff
um, besteigt einen Bus und jagt sich und sechzig andere Menschen
in die Luft. Sein Grund? Man hatte ihm gesagt - und er glaubte
es —, dass die Tat der Sache dienlich sei (stellen Sie sich eine beliebige
Sache vor) und dass vierzig Jungfrauen ihn als himmlische Belohnung
erwarteten. Ist es vernünftig, dies zu tun? Ist es rational? Es steigert
bestimmt nicht die Überlebensfähigkeit. Ich nehme an, dass die meis
ten von uns finden, es sei ein Akt des Wahnsinns. Ist er minimal ratio
nal? Ja. Das Verhalten erklärt sich daraus, was der Terrorist glaubt und
will. Ob wir das Verhalten für vollkommen irrational halten oder
nicht, es wird von Gedanken kontrolliert. Das Verhalten ist zielge
richtet, wie sehr wir das Ziel auch ablehnen mögen.
Minimale Rationalität verlangt nicht Rationalität in irgendeinem
normativen Sinne des Begriffs. Sie oder ich müssen nicht denken,
dass das Verhalten V rational ist. Um minimal rational zu sein, muss
es nicht mit unserem Bild dessen übereinstimmen, was wir für sinn
voll oder das Beste halten. Dies ist in der Tat der Grund, warum ich
glaube, dass minimale Rationalität ein nützlicher Begriff ist, wenn
man sich über die Rationalität der Tiere Gedanken macht. Der Be
griff hält die Probleme des Normativen in Schach und klammert sie
aus, sodass wir untersuchen können, ob Tiere Dinge aus Gründen
tun, ganz abgesehen davon, ob wir glauben oder ob sonst jemand
glaubt, es seien gute Gründe. Warum sollte ein Schimpanse oder eine
Krähe tun müssen, was Sie und ich für rational halten, um genau das
selbe zu tun (nämlich etwas schlechthin aus Gründen tun), was Sie
und ich tun, wenn wir das tun, was wir für rational halten? Warum
kann das Verhalten eines Tieres nicht genauso wie unseres von Ge
danken kontrolliert werden, obwohl wir den Sinn oder Zweck (die
rationale Rechtfertigung) eines solchen Verhaltens nicht sehen? Wenn
wir die Rationalität der Tiere untersuchen, warum identifizieren wir
dann nicht erst minimale Rationalität bei Tieren und fragen dann -
nachdem wir sicher sind, dass das, was getan wird, überhaupt aus
Gründen getan wird —, ob die Gründe, aus denen etwas getan wird,
es zu etwas Vernünftigem machen? Machen die Gründe, die ein Ver
halten erklären, daraus auch etwas, was zu tun vernünftig ist? Aber
eins nach dem anderen.
* [A. d. Ü.: Workshop »Rational Animais?«: http://www.warwick.ac.uk/staff7 S. L. Hur-
ley/papers/r acsa.rtf]
215
Dasselbe Verfahren ist geeignet, um über den »Geist der Maschi
nen« nachzudenken. Statt dass wir sofort fragen, ob Computer klüger
sind als wir - ob etwa »Big Blue« (der Computer von IBM, der den
Weltmeister »schlägt«) ein besserer Schachspieler als Kasparov ist - ,
wollen wir zuerst fragen, ob das, was Maschinen zeigen, überhaupt
Intelligenz ist. Spielen sie überhaupt Schach? Wollen sie gewinnen?
Verfolgen sie Zwecke? Intentionen? Wird irgendetwas, das sie tun,
durch das erklärt, was sie wollen? Haben sie einen minimalen Geisti
Addieren und subtrahieren Taschenrechner? Oder addieren und
subtrahieren w ir m it Taschenrechnern genauso, wie wir Nägel mit
Hämmern einschlagen? Wenn Computer nicht einmal Schach spie
len, wenn sie in dieser Art von Aktivität nicht im Mindesten glaub
würdig sind, wie können sie darin dann besser oder schlechter sein
als wir?
Minimale Rationalität ist Voraussetzung für das Rationalitätsspiel.
Egal, wie gescheit Sie auch scheinen mögen: Wenn sich nichts da
von, was Sie tun, durch das, was Sie denken, erklären lässt, sind Sie
kein rationales Wesen. Sie sind ein Hochstapler. Jemand anderes —
wer oder was immer Sie entworfen hat - mag sehr gewieft sein (Mut
ter Natur?), aber nicht Sie. Man könnte genauso gut sagen, dass eine
Sprinkleranlage gescheit sei, weil sie das Feuer löscht, das sie sonst
zerstören würde. Wenn ich das täte — wenn ich ein Feuer löschen
würde, weil es mich bedroht - , wäre ich rational. Mein Verhalten ließe
sich erklären durch das, was ich denke. Aber das ist nicht der Grund,
weshalb eine Sprinkleranlage es tut. Sie hat keine minimale Rationa
lität. Und ich lege auch keine minimale Rationalität an den Tag, wenn
ich schwitze - und mich damit abkühle - , sobald meine Körpertem
peratur zu steigen beginnt. Dieses Verhalten wird nicht von Gedan
ken kontrolliert. Es mag klug sein, das zu tun, aber ich bin nicht klug,
weil ich es tue.
Was aber heißt es, von Gedanken gelenkt zu werden? Wie können
Gedanken Verhalten erklären? Ist es genug, wenn innere Repräsenta
tionen (Gedanken?) das Verhalten verursachen? Nein. Es gibt einen
Unterschied zwischen Folgendem: von einem Ereignis, das B be
deutet (repräsentiert), verursacht zu werden, oder durch die Tatsache
erklärt zu werden, dass es B bedeutet (repräsentiert). Dieser Unter
schied ist wichtig, um zu verstehen, unter welcher Voraussetzung
etwas als minimal rational gelten kann. Dieser Unterschied erklärt,
warum Maschinen und Pflanzen - und vielleicht sogar einige Tiere - ,
2 16
die genau dasselbe tun wie wir, nicht als rational Handelnde gelten
können.
Denken wir an einen gewöhnlichen Thermostat. Er schaltet die
Heizung ein und aus. Indem er dies tut, hält er den Raum in einer an
genehmen Temperatur. Dies ist typisches Thermostatverhalten. Wenn
wir dies täten, würde unser Verhalten als zweckgerichtet, als rational
betrachtet werden. Warum ist es ein bloßes Verhalten, keine rationale
Handlung, nicht einmal minimal rational, wenn der Thermostat es
tut? Weil das Verhalten des Thermostats nicht - im relevanten Sinn -
davon kontrolliert wird, was er über Temperatur »denkt« (repräsen
tiert). Was lenkt das Verhalten des Thermostats, wenn er die Heizung
einschaltet? Nun, die meisten Thermostaten enthalten einen Bimetall
streifen, der sowohl als Thermometer —das für die Raumtemperatur
steht oder diese repräsentiert —als auch als elektrischer Schalter funk
tioniert. Sein Grad der Krümmung repräsentiert die Raumtempera
tur. Wird es im Raum zu kalt, krümmt sich der Bimetallstreifen ent
sprechend und berührt einen verstellbaren elektrischen Kontakt. Das
schließt den Stromkreis zur Zentralheizung, und die Heizung wird
warm. Das Verhalten des Thermostaten —sein Ein- und Ausschalten
der Heizung - wird also durch ein internes Element kontrolliert,
durch den Metallstreifen, der die Temperatur repräsentiert. Der Ther
mostat »verspürt« gewissermaßen einen Temperaturabfall und rea
giert, indem er die Heizung einschaltet. Wenn wir die Tatsache ver
nachlässigen, dass durch diese Vorrichtung unsere Wünsche (nicht
diejenigen des Thermostaten) befriedigt werden, gleicht das Verhal
ten bemerkenswert einer minimal rationalen Handlung: Eine interne
Repräsentation der Temperatur (was wir vage als Wahrnehmung der
Temperatur interpretieren könnten) veranlasst die Vorrichtung, auf
angemessene Weise zu reagieren. Das Verhalten des Instruments wird
dadurch kontrolliert, was es bezüglich der Temperatur denkt (reprä
sentiert).
Wenn wir für einen Moment die Tatsache vernachlässigen, dass
die Temperaturrepräsentation des Thermostats nicht ganz das ist,
woran wir dachten, als wir von Gedanken (über Temperatur) spra
chen, die ein Verhalten erklären, gibt es immer noch einen wichti
gen Unterschied zwischen dem Verhalten des Thermostats und z. B.
unserem Verhalten, wenn wir die Heizung aufdrehen, sobald es kühl
wird. Unser Verhalten erklärt sich daraus, was wir über die Tempera
tur denken - nämlich, dass es kühl wird. Selbst wenn wir dem Ther
2 17
mostat »Gedanken« über Temperatur zugestehen, erklärt sich sein
Verhalten nicht dadurch, was er über Temperatur denkt. Das Verhal
ten des Thermostats wird wohl durch seine »Gedanken« über Tempe
ratur verursacht, aber nicht (wie bei uns) durch das erklärt, was der
Thermostat über Temperatur »denkt«. Warum? Um dies zu verstehen,
können wir uns überlegen, warum wir ein Mikrophon nicht als folg
sam betrachten, bloß weil es das tut, was wir ihm sagen, und oben
drein, w eil wir es ihm sagen.
Ich sage etwas in ein Mikrophon, nämlich: »Vibriere schnell!« Die
Membran des Mikrophons reagiert auf meinen Befehl mit schnellen
Vibrationen. Das Verhalten dieses Geräts wird durch die Frequenz
und die Amplitude der Geräusche bestimmt, die ich erzeuge. Diese
Geräusche haben eine Bedeutung. Sie bedeuten »Vibriere schnell!«.
Das Mikrophon führt also genau das aus, was ich ihm befehle. Trotz
dieser Tatsache und trotz der Tatsache, dass durch meinen Befehl,
schnell zu vibrieren, schnelle Vibrationen in ihm verursacht werden,
wird das Verhalten des Geräts nicht durch das gelenkt, was ich ihm
sage. Nicht was ich sage, ist für das Verhalten des Mikrophons rele
vant und kontrolliert es dadurch auch. Vielmehr sind es die Geräu
sche, die ich produziere, indem ich es sage.
Es existiert also ein Unterschied zwischen der Verursachung durch
ein Ereignis, das die Bedeutung B hat, und der Erklärung durch die
Tatsache, dass es die Bedeutung B hat. Dieser Unterschied ist wichtig,
um zu verstehen, unter welcher Voraussetzung etwas minimal ratio
nal ist. Denn sogar wenn ein Tier (ein Computer, ein Thermostat?)
Gedanken hat, und selbst wenn diese Gedanken das Tier dazu veran
lassen, etwas zu tun, so tut das Tier (der Computer, der Thermostat),
was es tut, vielleicht nicht deshalb, weil es das denkt, was es denkt.
Was das Lebewesen »denkt«, also der Gehalt oder die Bedeutung sei
ner Gedanken, kann kausal ziemlich irrelevant sein. Dies ist im Falle
des Thermostats besonders offensichtlich. Es ist der Grad der Krüm
mung des Metallstreifens, und nicht, was diese Krümmung über Tem
peratur aussagt, der erklärt, warum er den elektrischen Kreislauf zur j
Zentralheizung schließt - und so die Fleizung einschaltet.
Wenn wir erst einmal - und das sollten wir - zwischen einem mit
Bedeutung geladenen Ereignis, das Verhalten verursacht, und seiner
Bedeutung, die das Verhalten erklärt, unterscheiden und wenn wir
dann die Lenkung von Verhalten durch Gedanken mit Letzterem
identifizieren, so scheiden Maschinen sofort als minimal rational
218
Handelnde aus. Sie bringen eine Menge zustande, Dinge, die rational
wären, wenn Sie oder ich sie täten, aber die Maschine gilt deshalb
nicht als rational. Ihr Verhalten mag durch innere Repräsentationen
verursacht werden, aber es erklärt sich nicht (wie bei uns) durch die
Art, wie diese Repräsentationen etwas repräsentieren. Dasselbe gilt
für Pflanzen.
Eine Pflanze, die Scharlachrote Gilia (Aggregata Ipomopsis), wech
selt jeden Sommer Mitte Juli ihre Farbe von rot zu weiß. Das ist etwas,
das die Pflanze tut, eine Verhaltensweise der Pflanze. Eine Pflanze
hat weder Gedanken noch Wünsche, weder Absichten noch Pläne.
Aber sie tut gewisse Dinge, bisweilen sehr interessante Dinge, und Bo
taniker und Botanikerinnen sind an Erklärungen des Verhaltens von
Pflanzen interessiert. Warum tut die Scharlachrote Gilia so etwas? Wa
rum wechselt sie jedes Jahr Mitte Juli ihre Farbe von rot zu weiß? Eine
Erklärung (die die Botaniker geben, von denen ich das Beispiel habe)
lautet, dass die Pflanze das tut, um Bestäuber anzulocken.3 Z u Be
ginn der Blütezeit sind Kolibris die Hauptbestäuber, und diese wer
den stärker durch rote Blüten angezogen. In der späteren Blüteperiode
ziehen die Kolibris weg, und dann werden Schwärmer, die weiße Blü
ten bevorzugen, zu den wichtigsten Bestäubern. Gemäß Paige und
Whitman wechselt die Pflanze ihre Farbe, um diese jahreszeitlichen
Veränderungen den Umständen entsprechend auszunutzen. Durch
den Farbwechsel setzt sie mehr Früchte an, und deshalb tut sie das.
Wenn dies tatsächlich die korrekte Erklärung dafür ist, warum sie
die Farbe wechselt, ist die Pflanze vollkommen rational in Kacelniks
biologischem Sinne von Rationalität. Aber ist sie minimal rational?
Erklärt sich irgendetwas von dem, was sie tut, durch ihre inneren Re
präsentationen?
Damit die Pflanze den vollen Nutzen ziehen kann, muss dieses Ver
halten zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten. Für einen maxi
malen Vorteil muss es zu der Zeit auftreten, zu der die Kolibris weg
ziehen und die Schwärmer kommen. Es muss deshalb in der Pflanze
etwas geben, eine Art pflanzlicher Uhr oder pflanzlicher Kalender,
das sowohl angibt, wann die Zeit reif ist, und zugleich wie ein che
mischer »Schalter« funktioniert, der den für den Farbwechsel ver
antwortlichen Prozess in Gang setzt. Kausal gesprochen, spielt diese
pflanzliche Uhr genau dieselbe Rolle im Verhalten dieser Pflanze
3 K. N . Paige und T. G. Whitman, »Report o f Research Published in Science«, Scien
tific Am erican 252 (4), 74 (1985).
2 19
wie der Bimetallstreifen im Verhalten des Thermostats. Sie repräsen
tiert (je nachdem zutreffend oder unzutreffend) sowohl die äußeren
Bedingungen, unter denen das Verhalten (für einen maximalen Vor
teil) eintreten sollte, und löst auch die Ereignisse aus, die für das Ver
halten konstitutiv sind.
Diese Pflanzen können »übertölpelt« werden. Z u frühes warmes
Wetter und Trockenheit lassen die innere Uhr zu schnell laufen. An
fang Juni treten chemische Veränderungen auf, die sich normaler
weise nicht vor Juli einstellen, dem Monat, in dem die Kolibris weg
ziehen. D a Kolibris keine weißen Blüten mögen, ignorieren sie die
Pflanze. Die Schwärmer tauchen erst sechs Wochen später auf, sodass
. keine Bestäubung erfolgt. Die Pflanze büßt für ihre »Irrtümer«.
Wenn Verhalten durch derartige interne Repräsentationen hervor
gebracht wird, sind wir versucht, intentionales Vokabular zu verwen
den. Ich sprach davon, dass die Pflanze »übertölpelt« wird und »Irr-
tümern« unterliegt. Das machen wir bei Geräten und bei Pflanzen.
Auch Botaniker unterliegen dieser Versuchung, indem sie das Ver
halten der Pflanzen in zweckgerichteten Ausdrücken erklären: die
Pflanze wechselt ihre Farbe, so sagen sie, »um« Bestäuber anzulocken.
Dennoch finden wir ganz klar noch nicht so etwas wie eine Handlung
oder Absicht, nichts, das ein »um zu« rechtfertigen würde, nichts,
das als minimale Rationalität gelten könnte. Die interne Uhr dieser
Pflanzen mag bedeuten, dass es Juli ist, aber die Tatsache, dass sie
dies bedeutet, ist irrelevant dafür, warum sie die Farbe wechselt.
Um zu verstehen, ob - und falls ja, wie und warum - sich das Ver
halten von Tieren von demjenigen von Maschinen und Pflanzen un
terscheidet, und so als minimal rational gelten kann (und deshalb
möglicherweise als rational im umfassenden normativen Sinn des
Begriffs), wird es sich als nützlich erweisen, einen sehr einfachen Fall
von tierischem Lernen zu betrachten. Hier, so glaube ich, fängt die
Bedeutung zum ersten M al an, eine genuin explanatorische Rolle
im Tierverhalten zu spielen. Hier erscheint minimale Rationalität
zum ersten M al auf dem evolutionären Schauplatz.
Betrachten wir also einen einfachen Fall von erlerntem Verhalten.
Ein nach Futter suchender Vogel versucht, einen Monarch-Schmet
terling (Danausplexippus) zu verspeisen. Die Larve dieses Schmetter
lings ernährt sich von einer toxischen Form der Wolfsmilch. Solche
Schmetterlinge sind giftig und bringen Vögel zum Erbrechen. Nach
einer solch unschönen Begegnung meidet der Vogel Schmetterlinge,
220
die so aussehen wie derjenige, von dem ihm übel geworden ist. Am fol
genden Tag erblickt unser Vogel einen schmackhaften Eisvogel (Lim e-
nitis archippus), einen Schmetterling mit einem Erscheinungsbild, das
dem schädlichen Monarchen bemerkenswert ähnelt. Der Eisvogel
jedoch ist nicht giftig. Er hat seine Färbung als Schutz vor räuberischen
Vögeln entwickelt. Er imitiert das Erscheinungsbild des Monarchen,
sodass Vögel »denken«, dass er gleichfalls widerlich schmeckt, und
ihn meiden. Unser Vogel erblickt den Eisvogel und fliegt davon.
Eine vollkommen schmackhafte Mahlzeit wird von einem hungri
gen Vogel ignoriert. Warum? Warum hat der Vogel den Eisvogel nicht
gefressen?
Wir alle wissen - oder glauben zu wissen - warum, doch müssen
wir unsere Worte sorgfältig wählen. Wenn das von ihm erblickte In
sekt ein giftiger Monarch gewesen wäre, hätten wir sagen können,
dass der Vogel den Schmetterling als eines dieser widerlich schme
ckenden Insekten (wieder)erkannt und es verschmäht hat, weil er
nicht will, dass ihm abermals übel wird. Aber was er gesehen hat,
war kein widerlich schmeckendes Insekt. Keine Erkenntnis hat statt
gefunden. Es gab kein Wissen. Wir brauchen ein anderes Wort. Wie
nennen wir (Philosophen) einen Wahrnehmungszustand, der Er
kenntnis oder Wissen wäre, wenn er nur wahr wäre? Überzeugung!
Urteil! Gedanke! Der Vogel denkt (wie sich herausstellt, fälschlicher
weise), dass das Insekt schlecht schmeckt. Deshalb frisst er es nicht.
Der Gedanke lenkt also sein Verhalten.
Die Kausalstruktur des VogelVerhaltens ist derjenigen des Ther-
mostats und der Gilia bemerkenswert ähnlich. Der Vogel erblickt
den Schmetterling, unterscheidet ihn von anderen Objekten, und
nachdem der Vogel gelernt hat, kontrolliert dieser (im Vogel durch
den Eisvogel veranlasste) Wahrnehmungszustand das Verhalten. Die
ses Wahrnehmungselement im Vogel informiert den Vogel auf die
selbe Weise über die Anwesenheit eines M-artigen Insekts, wie etwas
im Thermostaten ihn über die zu niedere Temperatur informiert und
etwas in der Pflanze sie darüber informiert, dass es Juli ist. Es gibt also
etwas innerhalb des Vogels, das bedeutet, dass ein M-artiges Insekt
anwesend ist, und dieses Element funktioniert auf die gleiche Weise
als »Verhaltensschalter« (es löst ein Vermeidungsverhalten aus) wie
bedeutungstragende Elemente im Thermostaten und in der Pflanze
als Schalter fiir elektrische und chemische Aktivitäten.
Anders aber als beim Thermostaten und bei der Pflanze ist die Be
221
deutung der internen Repräsentation des Schmetterlings beim Vogel
für sein Verhalten direkt relevant. Wie beim Thermostaten und bei
der Pflanze hat diese Repräsentation (nennen wir sie R) eine Bedeu
tung, und sie spielt eine kausale Rolle, aber im Gegensatz zum Gerät
und zur Pflanze erklärt die Bedeutung ihre kausale Rolle. R verursacht
ein Vermeidungsverhalten. R wurde diese Aufgabe zugeteilt, weil R be
deutet, dass ein M-TyprSchmetterling anwesend ist, jene Sorte von
Objekten, die der Vogel nach seiner unerfreulichen Erfahrung lieber
meidet. Die kausale Geschichte sieht also so aus: ein R, das B bedeu
tet, verursacht ein Vermeidungsverhalten, weil es B bedeutet. Ein be
deutungstragender Zustand verursacht nicht nur ein Verhalten (das
traf auch beim Thermostaten und bei der Pflanze zu), seine Bedeu
tung erklärt auch, warum er es verursacht. Die Bedeutung ist also
explanatorisch relevant für die Frage, warum der Vogel sich so verhält,
wie er sich verhält.
Aber ist das Verhalten des Vogels wirklich zweckgerichtet? D enkt
der Vogel wirklich, dass der Schmetterling schlecht schmeckt, und
meidet er ihn aus diesem Grund? Ich weiß, dass ich lediglich dargelegt
habe, dass bei dieser Art Lernen ein interner Zustand, der etwas über
die externe Umwelt des Vogels aussagt, eine Rolle im darauf folgenden
Verhalten des Tiers spielt, weil er etwas bedeutet (Nicola Claytons
Beschreibung des Versteckverhaltens von Buschhähern, die durch ver
gangene Erfahrungen beeinflusst werden,4 ist ein noch dramatische
res Beispiel dieses Prozesses). Die Bedeutung dieses internen, ursäch
lichen Elements ist also genuin explanatorisch. Ich gebe zu, dass das
nicht hinreicht, um zu zeigen, dass ein Gedanke das angeeignete Ver
halten im relevanten (explanatorischen) Sinne lenkt, denn ich habe
nicht gezeigt, dass interne Zustände mit Bedeutungen dieser Art Ge
danken sind. Dennoch haben wir hier, wenn auch nicht einen Ge
danken selbst, einen plausiblen Vorläufer von Gedanken — eine in
terne Repräsentation, deren Bedeutung oder Gehalt erklärt, warum
sich das System, in dem sie auftritt, so und so verhält. Für mich klingt
das ausreichend nach Gedanken, um nicht darum feilschen zu müs
sen, was noch fehlt.
Aus dem Englischen übersetzt von Gabi Weber und M arkus W ild
222
Joelle Proust
Das intentionale Tier
1 F. de Waal, Le bon singe. Les bases naturelles de la morale, Paris: Fayard 1997, S. 91
[dt. D er gute A ffe. D er Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen
Tieren, München: Hanser 1997, S. 92; orig. GoodNatured. The Origins o f Right and
Wrong in Humans and Other Anim ais, Cambridge und London: Harvard University
Press 1996].
2 F. de Waal, op. cit., S. 100 [dt. op. cit., S. 100].
3 Vgl. D. Premackund A. J. Premack, L ’E sprit de Sarah, Paris: Fayard 1984. [TheM ind
o f an Ape, New York und London: Norton 1983.]
223
David Papineau
Die Evolution des Zweck-Mittel-Denkens
i. Einleitung
Als ich vor einigen Tagen aufwachte, gingen mir folgende Gedanken
durch den Kopf: »Ich muss mir die Haare schneiden lassen. Wenn ich
das heute morgen nicht als Erstes tue, werde ich in den nächsten zwei
Wochen keine Gelegenheit mehr dazu finden. Doch wenn ich zum
Frisör in meiner Straße gehe, wird er sich mit mir über Philosophie
unterhalten wollen. Besser also, ich gehe zu dem in Camden Town.
Die U-Bahn wird zwar sehr überfüllt sein. Allerdings ist schönes Wet
ter. Warum gehe ich nicht einfach zu Fuß dorthin? Das dauert nur
zwanzig Minuten. Ich ziehe also besser gleich diese Schuhe an, früh
stücke unverzüglich und mache mich auf den Weg nach Camden.«
Dies ist ein paradigmatischer Fall dessen, was ich Zweck-Mittel-
Denken nennen werde. In dieser Art des Denkens wägen wir die Fol
gen von unterschiedlichen Handlungsverläufen ab und wählen jenen
Verlauf, der sich für die Gesamtheit unserer Zwecke am besten eig
net. Ich gehe davon aus, dass es unumstritten ist, dass alle mensch
lichen Wesen zum Zweck-Mittel-Denken fähig sind und dass diese
Art des Denkens viele unserer Handlungen leitet. Ich gehe in der
Tat sogar davon aus, dass diese Fähigkeit zum Zweck-Mittel-Den
ken einen der wichtigsten Unterschiede —wenn nicht den wichtigs
ten Unterschied —zwischen Menschen und anderen Tieren darstellt.
Doch aus irgendwelchen Gründen ist dieses Thema aus der Mode
gekommen. Das Zweck-Mittel-Denken scheint von der theoretischen
Tagesordnung vieler verschwunden zu sein, von denen man eigent
lich erwarten würde, dass sie das größte Interesse daran haben müss
ten, nämlich diejenigen, die die menschliche Kognition in einem ver
gleichenden oder evolutionären Zusammenhang erforschen. Es gibt
heute eine ansehnliche Forschungsindustrie, die sich der Theorie
des Geistes, der Sprache und anderen für die menschliche Kognition
vermeintlich charakteristischen »Modulen« widmet. Aber das Zweck-
Mittel-Denken selbst wird unter den Teppich gekehrt als etwas, wor
über man in modischer theoretischer Gesellschaft nicht spricht.
M it diesem Aufsatz möchte ich ein Plädoyer für dieses etwas alt
modische Thema halten. Natürlich haben die Sprache, die Theorie
244
des Geistes und zweifellos noch andere Module eine bedeutende Rolle
in der menschlichen Evolution gespielt, aber ich denke, dass man gute
Argumente für die Bedeutung des Zweck-Mittel-Denkens Vorbrin
gen kann. Es handelt sich natürlich um eine knifflige Angelegenheit,
die genauen evolutionären Abhängigkeiten zwischen den verschie
denen kognitiven Vermögen zu verzeichnen, die dem Menschen ei
gentümlich sind. Die Bemerkungen, die ich zu diesem spezifischen
Thema gegen Ende des Aufsatzes anbringen werde, sind bestenfalls
abstrakt und spekulativ. Dann aber hoffe ich, Sie zumindest davon
überzeugt zu haben, dass das Zweck-Mittel-Denken ein wichtiges
und eigenständiges evolutionäres Thema darstellt.
Meine erste Aufgabe wird darin bestehen, deutlicher zu sagen, was
ich mit Zweck-Mittel-Denken meine. Wenn ich Sie davon überzeu
gen soll, dass das Zweck-Mittel-Denken für die menschliche Evolu
tion wichtig ist, dann ist an diesem Punkt offensichtlich Sorgfalt an
gebracht. Denn wenn wir den Maßstab zu niedrig ansetzen, wird
sich das Zweck-Mittel-Denken über das gesamte Tierreich vertei
len und keine eigentümlich menschliche Anpassungsleistung sein.
Schließlich verfügen beinahe alle Tiere über irgendwelche Möglich
keiten, um den momentanen Umständen und Bedürfnissen angemes
sene Verhaltensweisen auszuwählen. A u f der anderen Seite geht es je
doch nicht an, den Maßstab zu hoch anzusetzen, indem etwa Schrift
oder Rechenfähigkeit erforderlich wären. Denn dann hätten wir kei
nen Grund zur Annahme, dass das Zweck-Mittel-Denken etwas mit
der menschlichen Biologie zu tun hätte, wie wichtig es auch immer für
die Entwicklung einer höheren Zivilisation gewesen sein mag.
Entsprechend werde ich in den nächsten beiden Abschnitten da
rauf abzielen, ein spezifisches Verständnis des Zweck-Mittel-Den
kens zu bestimmen, das mit meinen Behauptungen bezüglich seiner
Bedeutung für die menschliche Evolution übereinstimmt. Anschlie
ßend werde ich versuchen, diese Behauptungen zu verteidigen.
Bevor wir fortfahren, lohnt es sich vielleicht doch, zu einem be
stimmten Einfluss Stellung zu nehmen, der die derzeitige theoretische
Mode vom Zweck-Mittel-Denken weggeführt hat. Wie ich vermute,
steht das Zweck-Mittel-Denken in den Köpfen vieler Zeitgenossen
als Antithese zur »Modularität«. Das ist so, weil das Zweck-Mittel-
Denken tendenziell mit jener Art von allgemeinem zweckgerichteten
Lernen und Problemlosen verknüpft wird, die von der traditionellen
Psychologie als Sitz der gesamten Tierintelligenz betrachtet wurde.
24 5
Enthusiastische Befürworter der Modularität verwerfen jedoch diese
alle Bereiche umfassende Vorstellung der Tierintelligenz und argu
mentieren dafür, dass alle wirklichen Fortschritte bezüglich der kog
nitiven Fähigkeiten - insbesondere der charakteristischen Merkmale
der menschlichen Psychologie - in zweckgerichtet gebauten »Modu
len« bestehen, die für gewisse intellektuelle Aufgaben selektiert wor
den sind.1 Also neigen enthusiastische Modularisten zur Ungeduld
gegenüber der Rede vom Zweck-Mittel-Denken, denn sie sehen darin
eine Rückkehr zu den schlechten alten Zeiten des allgemeinen zweck
gerichteten Lernens und Problemlösens.
Gleichwohl glaube ich nicht, dass das Zweck-Mittel-Denken der
Modularität auf diese Weise entgegengesetzt ist. Insofern es eine wohl
geformte Antithese zwischen traditionellen Allzweckmechanismen
und Modulen gibt, neige ich dazu, das Zweck-Mittel-Denken auf
der Seite der Module zu platzieren. Was seinen Gehalt betrifft, dürfte
das Zweck-Mittel-Denken zwar in dem Sinne alle Bereiche umfassen,
dass es keine Einschränkung bezüglich der Arten von Information
kennt, mit denen es arbeiten kann. Doch dasselbe könnte über unsere
sprachlichen Fähigkeiten gesagt werden, obwohl diese weithin als das
Paradigma für »modulare« Fähigkeiten betrachtet werden.
Darüber hinaus sollte das Zweck-Mittel-Denken, so wie ich es
verstehe, nicht als generelle Schnittstelle zwischen Wahrnehmungs-
Inputs und Verhaltens-Outputs gedacht werden, also nicht im Sinne
jenes nicht-modularen »Zentralsystems«, das J. Fodor in The M odu
lar ity o fM in d ursprünglich zwischen Wahrnehmung und Handlung
angesiedelt hat.2 Vielmehr betrachte ich das Zweck-Mittel-Denken
als Zusatz, der spät in der Evolution aufgetaucht ist, spezifischen Be
dürfnissen dient und sich bereits zuvor bestehenden Mechanismen
(welche auch immer das sein mögen) anlagert, um Wahrnehmung
und Handlung zu koordinieren.
Häufig reagieren Skeptiker auf die modularistische Metapher des
Geistes - der Geist als »Schweizer Taschenmesser« - , indem sie fra
gen, was denn darüber entscheide, welche Klinge bei welcher Gele
genheit verwendet werde. Das ist eine sehr verständliche Frage, und
246
einige meiner späteren Bemerkungen werden mögliche Antworten
aufzeigen. Doch das Zweck-Mittel-Denken selbst spielt diese Rolle
nicht. Es handelt sich vielmehr um einen spezialisierten Mechanis
mus, der durch unterschiedliche Prozesse aktiviert wird, und diese
koordinieren die verschiedenen Aspekte einer Kognition. Aus dieser
Perspektive ist das Zweck-Mittel-Denken einfach ein weiteres tolles
Werkzeug im Schweizer Taschenmesser und keine Meta-Vorrichtung,
die die ganze Sache koordiniert.
Die letzten Bemerkungen sind lediglich als Hinweis auf meine ge
samte Geschichte gedacht. Die Einzelheiten werden im Verlauf der
Erzählung eingefügt. Der erste Schritt besteht in einer detaillierteren
Erklärung dessen, was ich unter Zweck-Mittel-Denken verstehe. In
diesem Abschnitt werde ich diese Frage sozusagen »von unten nach
oben« angehen. Ich betrachte, wie das Verhalten von Lebewesen, de
nen jegliches Zweck-Mittel-Denken ganz klar fehlt, an die entspre
chenden Umstände angepasst sein kann. Dadurch hoffe ich, eine Be
deutung von Zweck-Mittel-Denken zu identifizieren, die interessante
Fragen über deren evolutionäre Entstehung ermöglicht. Die Strategie
wird letztlich darin bestehen, eine wichtige Bedeutung von Zweck-
Mittel-Denken zu isolieren, indem ich betrachte, was jenen Lebewe
sen fehlt, die ohne Zweck-Mittel-Denken zurechtkommen.
Ich werde abstrakt und in einzelnen Ebenen vorgehen und nur
ziemlich allgemeine Merkmale kognitiver Designs in Erwägung zie
hen. Ich werde mit einem möglichst einfachen Design beginnen,
um dann zu raffinierteren fortzuschreiten.
247
Einen Schritt weiter finden sich Lebewesen, die ihr Verhalten auf die
unmittelbaren Bedingungen B abstimmen und dadurch Energie für
jene Situationen sparen, in denen ihr Verhalten V Erfolge zeitigt. Bei
spielsweise bewegen sie ihre Mundwerkzeuge erst, wenn sie das Vor
handensein von Nahrung entdeckt haben. (In einem solchen Fall
können wir auch davon ausgehen, dass das Verhalten V durch die
Empfänglichkeit gegenüber Bedingungen »geformt« wird. Das sagen
hafte Fliegenfang-Verhalten des Frosches gehört hierhin. Nicht nur
lassen Frösche ihre Zungen zu einem bestimmten Zeitpunkt heraus
schnellen, dann nämlich, wenn die Umwelt Nahrung anbietet; sie las
sen ihre Zungen auch in eine bestimmte Richtung schnellen, in jene
Richtung nämlich, aus der die Nahrung sich ankündigt.)
248
sicherzustellen, dass meine repräsentierenden Beschreibungen in aus
drücklichen Spezifizierungen der kognitiven Designs gründen.
Um die Gefahr zu illustrieren, betrachte man die von mir soeben
eingeführte Unterscheidung zwischen Bs, die eine Empfänglichkeit
gegenüber »Bedingungen« der Umwelt bezeichnen, und Ts, die mo
mentane Bedürfnisse registrieren (und damit als verwandt mit »Wün
schen« oder - etwas vorsichtiger - mit »Trieben« betrachtet werden
können). Es mag ganz natürlich erscheinen, zwischen informierenden
Bs und motivierenden Ts auf diese Weise zu unterscheiden. Gleich
wohl wird dieser Gegensatz durch das, was ich bislang gesagt habe,
keineswegs gerechtfertigt. Denn schließlich treten B und T in der
schematischen Formulierung in der Überschrift zu diesem Unterab
schnitt einigermaßen symmetrisch auf: Wenn B und T, tue V. Bisher
haben wir keine Grundlage dafür gelegt, diese Zustände so zu behan
deln, als würden sie unterschiedliche Rollen in der Verhaltensregulie
rung spielen.
Da ich nun diesen Punkt angesprochen habe, möchte ich ihn für
einen Moment weiterverfolgen. Um das Problem schärfer fassen zu
können, will ich Folgendes festlegen: Sowohl Bs als auch Ts sollen
fortan als interne Zustände verstanden werden, die ein resultieren
des Verhalten V auslösen. (Es muss solche internen Zustände geben,
wenn distale Bedingungen und Bedürfnisse überhaupt Verhalten be
stimmen sollen.) A u f den ersten Blick gibt es scheinbar eine einleuch
tende Grundlage dafür, motivierende Ts von informierenden Bs zu
unterscheiden. Wenn beispielsweise ein T durch einen niedrigen Blut
zuckerspiegel ausgelöst wird, spielt es dann nicht eine distinkte mo
tivierende Rolle — im Gegensatz zu einem informierenden B, das
beispielsweise ein vorbeischwirrendes Insekt registriert? Ist T nicht
dazu nötig, das Tier zu aktivieren, im Gegensatz zu B, das lediglich
faktische Informationen liefert und ihm damit keinen motivieren
den »Schub« verabreicht? Aber dieser Gegensatz täuscht. B ist ebenso
nötig zur Aktivierung des Tiers; wie niedrig sein Blutzuckerspiegel
auch immer sein mag, das Tier wird seine Zunge nicht einmal her
ausstrecken, bevor es nichts zu fangen gibt. So weit bleibt alles sym
metrisch, und sowohl B als auch T sollten zugleich als motivierend
und als informierend betrachtet werden —in R. Millikans Terminolo
gie: als »pushm i-pullym -XxxstinAt.3 Beide können sowohl als impera-
3 R. Millikan, »Pushmi-pullyu Representations«, in: Philosophical Perspectives IX,
hrsg. von J. Tomberlin, Atascadero: Ridgeview Press 1996, S. 185-200.
249
tiv als auch als indikativ betrachtet werden. Sie sagen: »Tue V (wenn
der andere Zustand ebenfalls eingeschaltet ist)!« bzw. »Hier gibt’s
eine Gelegenheit, V zu tun (wenn der andere Zustand ebenfalls ein
geschaltet ist)«.
Eine tragfähige Einteilung in motivierende und informierende Z u
stände tritt erst dann auf, wenn es hinter den Bs und Ts eine zusätz
liche Struktur gibt. Ohne allzu sehr auf die Einzelheiten einzugehen,
möchte ich den Gedanken hier grob umreißen. Ein Zustand B ist eher
informierend als motivierend, wenn er nicht mehr an ein bestimmtes
Verhalten gekoppelt ist und stattdessen Information bereitstellt, die
durch viele verschiedene Verhaltensdispositionen verwendet werden
kann. Wir können von verhaltenskomplexen Lebewesen erwarten,
dass sie Sinneszustände ausbilden, die zuverlässig auf äußere Gegen
stände und Eigenschaften reagieren und zur Verfügung stehen, um
ein breites Band möglicher Aktivitäten auszulösen. Das wird insbe
sondere dann von Vorteil sein, wenn Lebewesen lernfähig sind (vgl.
Ebene 4). Wenn ein interner Zustand B nicht mehr einer spezifischen
Verhaltensroutine gewidmet ist, wird er keinen imperativen Gehalt
mehr haben und kann als rein informierend betrachtet werden.4
Motivierende Zustände können sich in der umgekehrten Richtung
spezialisieren. Auch hier sind Zustände nicht mehr an ein bestimmtes
Verhalten gekoppelt. Doch im Falle motivierender Zustände ist dies
nicht deshalb so, weil sie allgemein nutzbare Informationen bereit
stellen würden, sondern vielmehr deshalb, weil sie eine distinkte Rolle
übernehmen - nämlich zu signalisieren, dass gewisse Ergebnisse be
nötigt werden. Der Grund dafür, dass dadurch motivierende Zustän
de von spezifischen Verhaltensweisen losgelöst werden, besteht da
rin, dass verschiedene Verhaltensweisen in verschiedenen Umständen
zum Erreichen dieser Ergebnisse wirkungsvoll sind. Dass solche mo
tivierenden Ts vielleicht immer einen informierenden Gehalt haben
(etwa: der Blutzuckerspiegel ist niedrig), ist durchaus denkbar; aber
sie unterscheiden sich von rein informierenden Bs, wenn man davon
ausgeht, dass sie die spezielle Verantwortung für die Mobilisierung
von Verhaltensweisen tragen, die ein erforderliches Ergebnis erzie
len. Demgegenüber besitzen informierende Bs keine solchen Ergeb
nisse.
250
Ebene 3 —»Wähler« - Wenn B 1 und T 1, tue V 1,
WENN T 1 das dominierende Bedürfnis ist
Verfugen Lebewesen erst einmal über Zustände, deren Rolle darin be
steht, Bedürfnisse zu registrieren, dann besteht das Potential für eine
weitere Komplexitätsebene. Wenn B 1 und T 1 das Verhalten V 1 hervor-
rufen, B2 und T 2 aber ein damit unvereinbares Verhalten V 2, ist es von
Vorteil, einen Mechanismus zu haben, der über den Vorrang entschei
det. Offenbar ist dieses System eines, das T 1 irgendwie mit T 2 ver
gleicht und zwischen den Vs in Abhängigkeit davon auswählt, wel
ches Bedürfnis wichtiger ist. Es ist nicht schwierig, sich Mechanismen
vorzustellen, die Bedürfnisse entweder nach Qualität oder Quantität
ordnen.
251
Wasser), deren Erfüllung in der Regel notwendig und hinreichend
für die Reduktion der Triebe selbst ist. Lernmechanismen, durch
die diese Triebreduktionen zu einer Verstärkung führen, selektieren
dadurch Verhaltensweisen, die zur Erfüllung der Triebfunktion (d. h.
Nahrung oder Wasser zu bekommen) geeignet sind.
Dennoch ist es nicht einleuchtend, dass alle Triebe darauf angelegt
sind, Ergebnisse zu erzielen, die dann ihrerseits ganz selbstverständ
lich diese Triebe befriedigen. Ein Beispiel: Als Anzeichen einer Ge
fahr muss ein Lebewesen irgendetwas Ungewöhnliches in seiner Um
welt identifizieren können. Nehmen wir an, es existiere ein Trieb T
(Alarmbereitschaft oder Wachsamkeit), der das Bedürfnis registriert,
alles Ungewöhnliche zu identifizieren, und dessen Funktion darin
bestünde, das Lebewesen dazu zu bringen, solche Identifikationen
vorzunehmen. Nun wäre es sicher keine gute Idee, dass dieser Trieb
jedes M al befriedigt würde, wann immer es ihm gelänge, seine Funk
tion zu erfüllen. Denn wenn man etwas Ungewöhnliches bemerkt,
sollte man noch wachsamer und nicht weniger wachsam werden
(und umgekehrt sollte die Wachsamkeit nachlassen, wenn man nichts
Ungewöhnliches findet). Allgemeiner ausgedrückt: Es scheint kei
nen Grund zu geben, Triebe auszuschließen, die durch ihre eigene
Erfüllung aufrechterhalten oder sogar verstärkt werden. Doch wenn
es solche Triebe gibt, dann wird kein mit ihnen verknüpfter Lern
mechanismus dazu imstande sein, das Verschwinden des Triebs als
Quelle der Verstärkung zu verwenden, zumal dieses Verschwinden
kein guter Stellvertreter für die Erfüllung seiner Funktion ist. Viel
mehr muss der Lernmechanismus mithilfe eines anderen Anzeichens
so funktionieren, dass ein Verhalten ein wirksames Mittel für die
Erfüllung eines Triebes ist (z. B. wirklich etwas Ungewöhnliches zu
finden).
Ich bin mir nicht sicher, ob die Natur dem Tierreich tatsächlich
Lernmechanismen dieser Art vererbt hat oder ob alle wirklichen Lern
mechanismen von Tieren mit Triebreduktionen als Verstärkern funk
tionieren. Es stellt sich eine weitere Frage, wie auch immer die Ant
wort auf die vorhergehende ausfallen mag: Rührt alles Lernen bei
Tieren von einem einzigen Mechanismus her, der alle triebspezifi
schen Verstärker (Sättigung des Hungers, Löschen des Durstes, Wahr
nehmung von etwas Ungewöhnlichem) auf einen gemeinsamen Nen
ner reduziert (die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten etwa) ?
Oder gibt es eine bestimmte Anzahl von Lernmechanismen - einen
252
für jeden Trieb so dass jeder Mechanismus seinen eigenen Trieb mit
Verhaltensweisen in Abhängigkeit davon verknüpft, welche Verhal
tensweisen sich in der vergangenen Erfahrung als wirksam erwiesen
haben, um die spezifische Funktion dieses Triebs zu erfüllen? Die
zweite Option würde eine verfeinertere Verhaltenskontrolle erlauben.
Aber es handelt sich wiederum um eine empirische Frage, inwieweit
sich die Natur dieser Möglichkeit bedient hat.
An dieser Stelle schlage ich vor, die angefarigene Klassifikation kog
nitiver Strukturen abzubrechen. Wir verfügen über genügend Ebe
nen, um vorwärts zu kommen. Sie werden im nächsten Abschnitt
die Grundlage für eine erste Charakterisierung des Zweck-Mittel-
Denkens abgeben.
Doch bevor wir fortfahren, wird es sich lohnen, kurz innezuhal
ten und zu bemerken, dass sich bereits auf diesen Anfangsebenen
der Begriff des >Triebs< als erstaunlich facettenreich erwiesen hat. In
einem gewissen Sinn ist ein Trieb eine primitive Version des Wunsches.
Ich werde in Abschnitt 4.v ein wenig mehr über die im Wunsch hin
zukommenden Elemente sagen. Aber schon bevor wir zur verfeinerte-
ren Ebene der Wünsche gelangen, zeigen sich Triebe als etwas, das
über verwirrend viele Facetten verfügt. A u f der primitiven Ebene 1,
auf der sich bedürfnisregistrierende Triebe nicht wirklich von Z u
ständen unterscheiden, die Umweltbedingungen registrieren, signali
sieren Triebe einfach die momentane Angemessenheit bestimmter
Verhaltensweisen. Wenn Triebe auf der Ebene 2 erst einmal als Regis
trierungen weniger von Bedingungen als vielmehr von Bedürfnissen
unterscheidbar werden, dann erhalten sie die Funktion, Verhaltens
weisen auszulösen, die jene Bedürfnisse innerhalb der momentanen
Bedingungen befriedigen. Eine weitere, für die Ebene 3 charakteris
tische Rolle besteht darin, mit anderen Trieben zu konkurrieren,
wenn diese Triebe unvereinbare Verhaltensweisen hervorrufen. Man
beachte, dass die Rolle der Ebene 2 jene der Ebene 3 nicht zwingend
nach sich zieht: Wir können uns ein Lebewesen - wie Buridans Esel -
vorstellen, das zuverlässig funktioniert, wenn nur ein Trieb aktiv ist,
angesichts von mehreren Trieben aber wie gelähmt ist. Realistischer
ausgedrückt: W ir können uns Lebewesen vorstellen, die die Konkur
renz zwischen Trieben auf arbiträre, nicht-funktionale Art und Weise
lösen. A u f der Ebene 4 schließlich finden wir Triebe, die noch eine
weitere Rolle spielen; sie verstärken Verhaltensweisen, die zur Re
duktion von Trieben führen (was jedoch, wie gesagt, nur bei Trieben
253
funktioniert, deren Erfüllung natürlicherweise zu ihrer Auslöschung
führt). Wiederum ziehen die niederstufigeren Rollen nicht zwingend
die Rolle der Ebene 4 nach sich, denn die niederen Rollen können bei
Lebewesen vorhanden sein, die überhaupt nicht lernen.
A u f den ersten Blick kann der Begriff des Triebs als recht einfach
erscheinen. Aber es stellt sich heraus, dass er eine ganze Reihe von
Merkmalen beinhaltet, die voneinander getrennt werden können
und bei realen Tieren nicht immer zusammen angetroffen werden.5
3. Allgemeines Wissen
254
stände wie »Wenn A auftritt, dann wird auch B auftreten«. In Überein
stimmung damit und als eine erste Annäherung möchte ich nun fest
legen, dass unter Zweck-Mittel-Denken der Gebrauch dieser Art
von allgemeiner und handlungsleitender Information verstanden wer
den soll.6 Diese erste Definition des Zweck-Mittel-Denkens wird bald
einer signifikanten Verfeinerung und Einschränkung bedürfen, doch
sie genügt für den Anfang.
Man beachte, dass ich das Zweck-Mittel-Denken im Sinne des Ge
brauchs allgem einer handlungsleitender Information definiert habe
und nicht durch den Gebrauch irgendeiner Information. Denn sogar
einfache Lebewesen gebrauchen ganz klar bestimmte Informatio
nen über ihre Umstände, um ihr Verhalten zu leiten. Von der Ebene
i an aufwärts verfügen sie über Zustände, deren Funktion darin
liegt, bestimmte Merkmale ihrer Umwelt zu repräsentieren. Dennoch
repräsentiert kein einfacher Organismus explizit allgemeine Tatsa
chen. Es ist eine Sache, den Standort eines bestimmten Teichs, eines
Apfels oder Löwen repräsentieren zu können. Die Repräsentation,
dass in Teichen Wasser ist, dass Äpfel eine Nahrungsquelle oder Lö
wen schlecht für die Gesundheit sind, ist eine ganz andere Sache.
Dieser letzte Punkt bedeutet, dass wir die Frage danach, welche
Tiere über das Zweck-Mittel-Denken verfügen, nicht mit der viel
leicht eher vertrauten Frage gleichsetzen können, welche Tiere zu
denjenigen gezählt werden können, die Überzeugungen haben. Denn
die Frage dreht sich nicht darum, ob Tiere überhaupt die Fähigkeit
haben, Informationen explizit zu repräsentieren, sondern darum, ob
sie die Fähigkeit haben, allgemeine Information explizit zu reprä
sentieren. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass Tiere —gewiss
von der Ebene 2 an aufwärts - bestimmte Überzeugungen zu be
stimmten Umstände haben. Gemäß meiner Definition zeichnet sie
das aber nicht als Zweck-Mittel-Denker aus, vorausgesetzt, ihnen feh
len Überzeugungen zu allgemeinen Dingen.
Es gibt noch einen weiteren, eher allgemeinen Grund dafür, dass
ich meine Frage nach dem Zweck-Mittel-Denken nicht in den Be-
grifflichkeiten des Besitzes von Überzeugungen stellen möchte. Zahl
*55
reiche Philosophen, besonders D. Dennett,7 wählen einen »interpre-
tationistischen« Zugang für die Zuschreibung von Überzeugungen.
Dennett ist der Ansicht, dass die Zuweisung von Überzeugungen
der »intentionalen Einstellung« (intentional stance) - im Gegensatz
zur »Design-Einstellung« (,design stance) - verpflichtet ist und dass
solche Zuweisungen gerechtfertigt sind, wenn sie helfen, ein Verhal
ten verständlich zu machen - selbst wenn es nichts gibt, das mit der
zugewiesenen Überzeügung in den kausalen Funktionsweisen des Or
ganismus übereinstimmt. Aus dieser Perspektive können sogar sehr
einfache Lebewesen nicht nur Überzeugungen hinsichtlich bestimm
ter Umstände haben (hier ist ein Teich, ein Apfel, ein Löwe), sondern
zugleich auch allgemeine Überzeugungen (etwa, dass Teiche Wasser
enthalten). Man kann nämlich argumentieren, dass sogar, das Verhal
ten einfacher Lebewesen durch diese Überzeugung auf nützliche
Weise rationalisiert werden kann, auch wenn sich nichts bei diesen
Tieren findet, das diese Information explizit repräsentiert.
Glücklicherweise können wir diese weitgehend terminologische
Frage nach der Bedeutung von >Überzeugung< übergehen. Nehmen
wir an, ich gestehe Dennett um des Arguments willen zu, dass so
gar einfache Lebewesen allgemeine »Überzeugungen« in diesem
Sinn haben können. Daraus folgt in keiner Weise, dass sie über ein
Zweck-Mittel-Denken in meinem Sinn verfügen. Denn ich habe
das Zweck-Mittel-Denken nicht in den Begrifflichkeiten allgemei
ner »Überzeugungen« definiert, sondern in den Begrifflichkeiten
des Designs: als eine Sache des Gebrauchs allgemeiner Repräsenta
tionen, um Verhalten zu leiten. Was auch immer man über die Bedeu
tung von >Überzeugung< denken mag, es bleibt eine grundlegende
Frage übrig: Welche Lebewesen gebrauchen allgemeine Repräsenta
tionen tatsächlich auf diese Art und Weise? Im Folgenden möchte
ich Unklarheiten aus dem Weg gehen, indem ich die Rede von >Über-
zeugungen< auch weiterhin vermeide.
Einige Leser und Leserinnen werden sich an dieser Stelle fragen,
warum ich mir nach eigenem Ermessen so sicher bin, dass einfache
Lebewesen keine allgemeinen Repräsentationen gebrauchen, um ihr
Verhalten zu leiten. Sind nicht gerade allgemeine Repräsentationen
256
in einem gewissen Sinn in den Verhaltensdispositionen dieser Lebe
wesen verkörpert? Nehmen wir nur ein Tier, das dazu disponiert ist,
aus Teichen zu trinken, wenn es durstig ist, eben weil sich dies in
seiner individuellen Vergangenheit oder in der Vergangenheit seiner
Vorfahren als ein wirkungsvoller Weg erwiesen hat, um an Wasser
zu gelangen. In diesem Fall ist es anscheinend vernünftig zu sagen
(besonders für diejenigen, die, wie ich selbst, eine selektionistische
Sichtweise auf semantische Fragen bevorzugen), dass diese Disposi
tion - die das Verhalten des Tiers gewiss leitet —die Tatsache reprä
sentiert, dass das Trinken aus Teichen Wasser liefert. Schließlich hat
das Tier jetzt diese Disposition genau deshalb, weil dieses Verhalten
ebenjenes Ergebnis in der Vergangenheit erzielt hat. Dementspre
chend erfüllt diese Disposition ihre biologische Funktion genau des
halb, weil - wie in unserem Fall - Trinken Wasser liefert. Sollten
wir daher diese Disposition selbst nicht als Verkörperung der allgemei
nen Information betrachten, dass das Trinken aus Teichen Wasser lie
fert?
Gerade solche Gehaltszuschreibungen möchte ich nicht bestrei
ten. Ich lasse es gerne zu, dass diese Art von Disposition Informatio
nen über die allgemeine »Verknüpfung-von-Reaktion-mit-Resultat«
(B & T, V ^ R) verkörpert; sie ist dafür verantwortlich, dass die Dis
position überhaupt dauerhaft wirken konnte.
Wenn ich also dieses Zugeständnis mache, muss ich die Definition
des Zweck-Mittel-Denkens enger fassen, wenn es eine Art des Den
kens definieren soll, die für einfache Lebewesen nicht verfügbar ist.
In meiner Ausgangsdefinition des Zweck-Mittel-Denkens habe ich
mich auf die explizite Repräsentation allgemeiner Information be
zogen. Vielleicht kann ich etwas aus dieser Formulierung herausho
len und darlegen, dass allgemeine Informationen durch Flandlungs-
dispositionen nur im plizit, nicht explizit, repräsentiert werden. Wenn
das Zweck-Mittel-Denken explizite Repräsentationen spezifisch er
fordert und bloße Verhaltensdispositionen diesem Erfordernis nicht
nachkommen, dann folgt daraus nicht mehr, dass einfache Lebewe
sen automatisch als Zweck-Mittel-Denker gelten können.
Ein Weg zur Entfaltung dieses Gedankens bestünde in der These,
dass echte explizite Repräsentationen eine Art satzähnliches Vehikel,
einen artikulierten körperlichen Zustand, benötigen, dem wir einen
Gehalt zuschreiben können. A u f diese Weise wäre die Repräsenta
tion bestimmter Tatsachen —die ebenfalls bestimmte Modifikationen
257
sensorischer Prozessoren umfassen würde — bei einfachen Organis
men explizit. Aber die vermeintlichen, in Verhaltensdispositionen ver
packten Repräsentationen würden nach dieser Maßgabe ausschei-
den - so würde dieser Gedanke laufen denn solche Dispositionen
verfügen nicht über jene körperliche Greifbarkeit, die für vollkom
men explizite Repräsentationen erforderlich ist.
Ich denke jedoch nicht, dass dieser Gedankengang viel Substanz
hat. Denn schließlich müssen Verhaltensdispositionen irgendeine Art
physischer Verkörperung haben. Ein Tier, das dazu disponiert ist,
aus Teichen zu trinken, muss sich auf substantielle kausale Art und
Weise von einem Tier unterscheiden, das dies noch nicht gelernt
hat. Warum also lässt man diesen realen Unterschied - worin auch
immer er bestehen mag - nicht als Vehikel für den Gedanken »Aus
Teichen trinken liefert Wasser« fungieren? Darüber hinaus wird die
ses Vehikel - was auch immer es sein mag - für die Verhaltenserzeu
gung mit der Repräsentation von Bedürfnissen und Bedingungen an
gemessen interagieren. Das Tier wird nur aus dem Teich trinken,
wenn sich dieses Vehikel (von dem wir annehmen, dass es »Aus Tei
chen trinken liefert Wasser« repräsentiert) auf angemessene Weise
an die Zustände bindet, die das Bedürfnis nach Wasser bzw. die Ge
genwart des Teichs repräsentieren, und zwar gemäß dem klassischen
praktischen Syllogismus. Alles in allem also scheint es keinen Grund
dafür zu geben, eine Disposition nicht als vollkommen expliziten Re
präsentanten zu betrachten: Sie muss eine physische Verkörperung ha
ben, und darüber hinaus muss diese Verkörperung mit anderen, nicht
gegenläufigen Repräsentanten so Zusammenarbeiten, wie es ihrem
mutmaßlichen Gehalt angemessen ist.
Dennoch gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit, weshalb
es solchen mutmaßlichen dispositionsbezogenen Repräsentanten all
gemeiner Information nicht gelingt, hinreichend explizit zu sein. In
vertrauteren Fällen können allgemeine Repräsentationen so miteinan
der kombiniert werden, dass sie neue allgemeine Repräsentationen
liefern. Wir können »Täler enthalten Teiche« und »Teiche enthalten
Wasser« nehmen, um daraus »Täler enthalten Wasser« zu bilden. Bei
einfachen Lebewesen gibt es nichts, das so etwas gestatten würde.
Ihre Verhaltensdispositionen mögen allgemeine Informationen ver
körpern, doch sie verfügen über kein System, das diese einzelnen Teile
allgemeiner Information verarbeitet und neue allgemeine Informatio
nen hervorbringt. Wie im letzten Absatz dargestellt, interagieren diese
258
dispositionsbezogenen Repräsentanten höchstens mit einzelnen Infor
mationen (»Hier ist ein Teich«) und Trieben (»Wasser wird benötigt«),
um - wie im bekannten praktischen Syllogismus - bestimmte Verhal
tensweisen hervorzubringen.
Um den Punkt zu veranschaulichen, kann man sich ein einfaches
Lebewesen vorstellen, das in einer Verhaltensdisposition implizit über
eine Information der Art Diesen Baum schütteln bringt Früchte ver
fügt und in einer anderen implizit über eine Information wie Werfen
von Gegenständen in der Größe von Äpfeln vertreibt Bären. Handelt es
sich um ein einfaches Lebewesen, wird es keine Möglichkeit finden,
diese beiden so zusammenzufügen, dass es auf die kluge Idee verfällt:
Wenn ein B är in der Nähe umherschleicht und gerade keine Wurf
geschosse zur H and sind, kann man einen Baum schütteln. Natürlich
kann diese Information selbst in einer Disposition verkörpert werden,
wenn die natürliche Selektion oder das Lernen eine spezifische Dis
position dafür eingibt, Bäume zu schütteln und die dabei herabfallen
den Früchte zu werfen, wenn Bären in der Nähe sind. Doch der allge
meine Punkt trifft immer noch zu: Während der Organismus implizit
über unterschiedliche Stückchen allgemeiner Information in seinen
verschiedenen Verhaltensdispositionen verfügt, hat er jedoch noch im
mer kein System, diese zu kombinieren und zu gebrauchen, um da
raus den Wert von Verhaltensweisen abzuleiten, die nicht schon durch
seine kognitive Architektur gesteuert werden.
Dies stellt eine außerordentlich bedeutsame Einschränkung dar.
Denn das heißt, dass einfache Lebewesen niemals dazu imstande
sein werden, Verhaltensweisen auszuführen, die sie oder ihre Vorfah
ren nicht bereits erfolgreich in der Vergangenheit ausgeführt haben.
Es handelt sich dabei um Verhaltensweisen, die entweder im Verlaufe
der individuellen Ontogenese durch psychische Belohnung verstärkt
oder aufgrund ihres Reproduktionserfolgs in der Phylogenese der Vor
fahren selektiert worden sind. Die einzigen Teile allgemeiner Infor
mation, die in die praktischen Syllogismen einfacher Lebewesen ein-
gehen können, haben sozusagen die Form: »Bei B und T, V führt zu
R.« Dabei ist V ein zuvor schon ausgeführtes Verhalten (in B und T)
und R das Resultat, dessen Erfolg in der Vergangenheit ontogenetisch
oder phylogenetisch zur gegenwärtigen Disposition, V zu tun (ge
geben B und T), geführt hat. Es gibt für sie keine Möglichkeit, aus an
deren Einzelteilen allgemeiner Information abzuleiten, dass ein V zu
einem R in B und T führen wird und dementsprechend zu handeln.
259
Sie sind darauf beschränkt, nach Verknüpfungen der Form »B & T,
V —» R« zu handeln, die sie oder ihre Vorfahren selbst ausgeführt ha
ben.
Lassen Sie mich nun festhalten: Das Zweck-Mittel-Denken erfor
dert die explizite Repräsentation allgemeiner Information in dem spe
zifischen Sinn, dass diese Inform ation so verarbeitet werden kann., dass
sie neue Einzelteile allgem einer Inform ation liefert. Ob nun die Verhal
tensdispositionen einfacher Lebewesen einen expliziten allgemeinen
Gehalt in einem anderen Sinn tragen oder nicht, sie befriedigen dieses
Erfordernis nicht, denn einfache Lebewesen können ihre Verhaltens
dispositionen nicht so kombinieren, dass sie neue Dispositionen er
zeugen können. Deswegen können einfache Lebewesen keine neuar
tigen Handlungen ausführen. Tatsächlich habe ich nun das Zweck-
Mittel-Denken als die Fähigkeit definiert, neuartige Handlungen aus
zuführen. (Der hier erforderliche Begriff der Neuartigkeit verdient
weitere Diskussion. Ich werde in Abschnitt 4.1 darauf zurückkom
men.)
Ausgehend von dieser Definition befinden wir uns jetzt endlich
in der Lage, die Bedeutung des Zweck-Mittel-Denkens für die Evo
lution höherer Kognition betrachten zu können. Damit wir dieses
Thema genau in den Blick nehmen können, möchte ich die starke
Hypothese aufstellen, dass das Zweck-Mittel-Denken im soeben fest
gelegten Sinn eine biologische Anpassung ist, die menschlichen We
sen eigentümlich ist. Dieser Aufsatz wird sicher keine durchschla
gende Verteidigung dieser Hypothese leisten können, und tatsächlich
werden sich im weiteren Verlauf mehrere Modifikationen als not
wendig erweisen. Dennoch wird sie einen nützlichen Aufhänger für
die Diskussion abgeben.
Im Rest dieses Aufsatzes werde ich zwei Einwände gegen die Be
hauptung, das Zweck-Mittel-Denken sei eine fiir menschliche Wesen
eigentümliche biologische Anpassung, ins Auge fassen.
Erstens gibt es diejenigen, die denken, dass das Zweck-Mittel-Den
ken zu einfach und deshalb im Tierreich weit verbreitet sei. Dagegen
werde ich im nächsten Abschnitt argumentieren, dass nicht-mensch
liche Lebewesen auf viele verschiedene Arten und Weisen gewitzt
und raffiniert sind; aber es gibt keinen überzeugenden Grund dafür,
sie des Zweck-Mittel-Denkens im Besonderen für fähig zu halten.
Zweitens gibt es diejenigen, die denken, dass das Zweck-Mittel-
Denken zu schwierig und deshalb kein wesentlicher Bestandteil un
260
seres evolutionären Erbes sei. In dieser Sichtweise sind keine der
menschlichen Eigenschaften deswegen biologisch selektiert worden,
w eil sie das Zweck-Mittel-Denken gefördert haben. Eher handelt es
sich beim Zweck-Mittel-Denken einfach um eine nicht-biologische
Spandrille;8 sie ist aus anderen spezifischen Fähigkeiten hervorge
gangen, die die Evolution den Menschen vererbt hat. Dagegen werde
ich im übernächsten Abschnitt argumentieren, dass Standarderklä
rungen dieser Form nicht funktionieren und dass es jedenfalls allge
meine Gründe dafür gibt, weshalb das Gewicht des Zweck-Mittel-
Denkens nicht von einer Spandrille getragen werden kann.
4. Nicht-menschliches Raffinement
Ich vermute, dass viele Leser und Leserinnen, die die kognitive Re
volution in der Psychologie durchlebt haben, im Verlauf der Analyse
der beiden vorhergegangenen Abschnitte zunehmend ungeduldiger
geworden sind. Wissen wir denn heute nicht, dass die meisten Tiere
viel zu raffiniert, viel zu verfeinert sind, um in den Begrifflichkeiten
von simplen Verknüpfungen zwischen stimulierenden Bs, antreiben
den Ts und reaktiven Vs verstanden zu werden? A u f diese Weise ver
suchten die Ur-Behavioristen und ihre verschiedenen neo-behavio-
8 Vgl. S. J. Gould und R. C. Lewontin, »The Spandrels o f San Marco and the Panglos-
sian Paradigm. A Critique o f the Adaptationist Programme«, Proceedings ofthe Royal
Society o f London 205 (1979), S. 581-598. [A. d.Ü: >Spandrille< ist ursprünglich ein
Begriff aus der Architektur. Dort ist eine Spandrille ein meist auf einer Spitze stehen
des Zierdreieck (ein Zwickel) zwischen einem (Fenster-) Bogen und dessen recht
winkliger Einfassung. Gould und Lewontin haben diesen Begriff metaphorisch auf
die Evolutionstheorie angewendet. Wie es in der Bogenarchitektur nicht-funktio
nale Elemente (beispielsweise eben Spandrillen) als Nebenprodukt architektonisch
funktionaler Elemente (beispielsweise der Bogen) gibt, kann es im evolutionären
Bauplan von Organismen nicht-funktionale Elemente geben, die keine unmittelba
ren, adaptiven Funktionen haben und somit gleichfalls Nebenprodukte darstellen.
Dass es sich dabei um Nebenprodukte handelt, heißt jedoch keineswegs, dass sie
als solche nicht eine wichtige Funktion übernehmen können. Es handelt sich dann
aber nicht mehr um eine adaptive, biologische Funktion. Gould und Lewontin rich
ten diese Überlegungen gegen den Adaptionismus, der jedes Merkmal eines Organis
mus als adaptiv-funktional betrachtet: Ein Merkmal existiert, weil es diese und jene
Funktion erfüllt. Diese unter Evolutionstheoretikern verbreitete Haltung wird von
Gould und Lewontin als >Panglossianismus< bezeichnet. Vgl. dazu in diesem Band
die A. d. Ü. im Text von Dennett, S. 395.]
ristischen Nachfolger Tiere zu verstehen. Aber sicher begreifen wir
heutzutage (so der Gedankengang), dass Tiere sehr viel komplizierter
sind. Tiere sind mit einer großen Anzahl kognitiver Vorrichtungen ge
segnet, die sie dazu befähigen, mit ihrer Umwelt zurechtzukommen,
indem sie raffinierte Reaktionen auf die jeweiligen Umstände in Echt
zeit zustande bringen. Daraus ergibt sich, dass Tiere eine große An
zahl von Verhaltensweisen in ihrem Repertoire haben, die sich ganz
offensichtlich nicht auf behavioristischer Grundlage erklären lassen
und die ganz klar Grade der Verhaltenskontrolle zeigen, die für die
im letzten Abschnitt diskutierten simplen Geschöpfe unerreichbar
sind.
Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass nichts in meiner bisherigen
Analyse mich auf einen Behaviorismus gegenüber einfachen Lebe
wesen festlegt. Ich habe die Sache wohl in Ausdrücken von Bs, Ts
und Vs schematisiert, doch das allein überführt mich kaum des Den
kens in behavioristischen Kategorien. Schon ein kurzes Nachden
ken wird in der Tat deutlich machen, dass es eine Reihe von Wegen
gibt, auf denen meine einfachen Lebewesen die behavioristischen Ein
schränkungen hinter sich lassen können.
Der Behaviorismus ist der Ansicht, dass die Tiere alle Handlungs
dispositionen (alle »B, T -> V«-Verknüpfungen) durch allgemeine
Lernmechanismen aufnehmen, die im Bereich von Wahrnehmungs-
Inputs und Verhaltens-Outputs operieren. Nichts in meiner Analyse
einfacher Lebewesen legt mich auf eine derartige Pauschalansicht
hinsichtlich der Quellen von Input-Output-Verknüpfungen fest. Es
trifft zu, dass ich auf Ebene 4 die Möglichkeit des Lernens durch
instrumenteile Konditionierung zugelassen habe. Aber das bedeutet
nicht, dass einfache Tiere nicht auch strukturierte, »fest verdrah
tete« Input-Output-Verknüpfungen haben können, die nicht von
Lernprozessen herrühren. Schließlich müssen Input-Output-Ver
knüpfungen bei Lebewesen unterhalb der Ebene 4 »fest verdrahtet«
sein; und selbst auf Ebene 4 können neben erlernten auch »fest ver
drahtete« Verknüpfungen existieren. Darüber hinaus impliziert nichts
von dem, was ich über einfache Lebewesen gesagt habe, dass ins-
trumentelles Lernen auf Ebene 4 von »gehaltfreien« Mechanismen
herrühren muss, die gleichermaßen für die Verknüpfung aller mög
lichen Wahrnehmungs-Inputs mit allen möglichen Verhaltens-Out
puts zuständig sind. Instrumentelles Lernen kann stark beschränkt
sein, mit einem nur eingeschränkten Spielraum von Input-Output-
262
Kanälen, die der Formung durch individuelle Erfahrung zugänglich
sind.
Ähnliches trifft auf die Inputs und Outputs selbst zu. Der Behavio
rismus geht von minimal strukturierten Räumen sinnlicher Qualitä
ten als Inputs und von Verhaltensatomen als Outputs aus. Doch
nichts legt mich auf dieses streng empiristische Bild der Dinge fest.
Es trifft zu, dass ich im zweiten Abschnitt von einer gewissen Unter
scheidung zwischen Wahrnehmungs-Inputs und Verhaltens-Out
puts ausgegangen bin (und ich werde mich zu dieser Unterscheidung
in Abschnitt 4.1 äußern). Doch darüber hinaus habe ich nichts ge
sagt, das implizieren würde, dass Inputs und Outputs einfach oder
unstrukturiert sein müssen. Damit habe ich offen gelassen, ob einfa
che Lebewesen vielleicht hoch strukturierte, fest verdrahtete Input-
Vorrichtungen (Wahrnehmungs-»Module«, wenn man so will) und
stark strukturierte, fest verdrahtete Output-Vorrichtungen (Verhal-
tens-»Module«) haben.9
Um es zu wiederholen: Nichts in meiner Analyse legt mich auf
einen Behaviorismus gegenüber einfachen Lebewesen fest. Diese Klar
stellung wird nun aber bei einem eingeschworenen Kognitivisten
wahrscheinlich die entgegengesetzte Reaktion hervorrufen: »In Ord
nung - ich verstehe: Wenn Sie davon sprechen, dass nicht-mensch
liche Lebewesen >einfach< sind, meinen Sie nicht, dass sie behavio-
ristische Einfaltspinsel sind. Sie geben zu, dass sowohl deren Input-
und Output-Module als auch die Verknüpfungen dazwischen stark
strukturiert sein können. Doch warum bei diesem Zugeständnis
stehen bleiben? Warum den Tieren nicht ebenso das Zweck-Mittel-
Denken zugestehen? Wenn Sie zugestehen, dass sie die mentalen Res
sourcen für eine raffinierte Analyse sensorischer Reize und für eine
verfeinerte Verhaltenskontrolle haben, warum daran zweifeln, dass
9 Wenn ich im Folgenden von >Modulen< spreche, dann lediglich als stilistische Varian
te für >Mechanismus< oder >System<. Meiner Ansicht nach ist die technische Vorstel
lung eines >Moduls< ein theoretischer Wirrwarr. Fodor hat ursprünglich eine Reihe
notwendiger Bedingungen für Modularität festgelegt, aber er hat uns nicht gesagt,
wie wir die vielen interessanten Typen kognitiver Mechanismen nennen sollen,
die einige dieser Kriterien erfüllen, andere aber nicht. Darüber hinaus hat sich he
rausgestellt, dass einige dieser Kriterien selbst eine Anzahl verschiedenartiger und
unvereinbarer Anforderungen mit sich bringen: »fest verdrahtet« [hard-wired], »be
reichsspezifisch« [domain-specific] und »bezüglich der Information abgeschlossen«
[informationally encapsulated], haben sich unter diesem Aspekt als besonders pro
blematisch erwiesen.
263
sie nicht auch die besten Mittel für ihre Zwecke »ausknobeln« kön
nen? Denn schließlich liegt es auf der Hand, dass viele der spezialisier
ten Wahrnehmungs- und Verhaltenssysteme bei Tieren - wie etwa Ge
sichtswahrnehmung oder Orientierung — komplexer Berechnungen
bei der Repräsentationsverarbeitung bedürfen. Da es sich dabei offen
bar genau um jene Verarbeitungsprozesse handelt, die für das Zweck-
Mittel-Denken erforderlich sind, wäre es —gelinde gesagt —erstaun
lich, wenn die Evolution diese Verarbeitungsprozesse bei Tieren nicht
in den Dienst des Zweck-Mittel-Denkens gestellt hätte. Hat man es
erst einmal, ist das Zweck-Mittel-Denken offenbar ein sehr wirkungs
volles Werkzeug der Anpassung. Wenn die Materialien für einen sol
chen Zweck-Mittel-Denker sozusagen zur Hand sind, dann kön
nen wir mit Sicherheit erwarten, dass die Evolution sich ihrer just
zu diesem Zweck bedient hat.«
Dieser Gedankengang ist jedoch alles andere als überzeugend. Die
Evolution führt nur solche Merkmale herbei, die einen selektiven Vor
teil bereit stellen; und es ist nicht unmittelbar ersichtlich, welcher
selektive Vorteil den meisten Tieren aus einem dem Zweck-Mittel-
Denken gewidmeten Berechnungsprozessor - einer Art »Theorem-
Bestätiger« - erwachsen sollte.
Man beachte in diesem Zusammenhang, dass einfache Lebewesen,
wie ich sie mir denke, trotz fehlendem Zweck-Mittel-Denken mit
Sicherheit über eine breite Palette an raffinierten Verhaltensweisen
verfügen. Nichts hindert diese Geschöpfe daran, für die vertracktes
ten Merkmale ihrer Umwelt empfänglich zu sein und unter der An
leitung der dabei gewonnenen Informationen äußerst komplexen
Routinen nachzugehen. Ihre kognitiven Mechanismen können so
wohl in ihren Input- und Output-Modulen als auch in den dazwi
schen liegenden Verknüpfungen hoch strukturiert sein. Alles, was
ihnen fehlt, ist ein System mit dem Zweck, einzelne Teile allgemeiner
Information zusammenzusetzen, um daraus weitere allgemeine Fol
gerungen zu ziehen.
Es lohnt sich vielleicht zu betonen, dass Input- und Output-Sys
teme, wie ich sie mir vorstelle, tatsächlich sehr komplex sein können.
Ein von mir bislang noch nicht explizit formulierter Gedanke besteht
darin, dass das Lernen sowohl innerhalb als auch zwischen periphe
ren Wahrnehmungssystemen stattfinden kann. Somit kann es Wahr
nehmungssysteme mit der während der individuellen Entwicklung
erworbenen Fähigkeit geben, Tiere oder Pflanzen, Autos oder Flug
264
zeuge, individuelle Gesichter oder Gangarten, musikalische Kompo
sitionen oder das Fehlen einer Bauernfront im Abwehrzentrum zu
erkennen. Desgleichen kann es Verhaltenssysteme geben, die sich
die Fähigkeit aneignen, eine Vorhand zu spielen, mit Zehn zu multi
plizieren, belegte Brötchen zu schmieren, zur Arbeit zu fahren oder
sich zu entschuldigen.
Weitere Komplexitätsgrade sind möglich. A u f der Seite des Inputs
könnten einige Wahrnehmungssysteme Informationen von anderen
empfangen; andere könnten ihre Funde in Erinnerungsspeichern
ablegen. Das würde einer Information über bestimmte Umstände
auch über eine zeitliche Distanz hinweg erlauben, Flandlungen zu
lenken. A u f der Seite des Outputs könnte die Ausübung von Ver
haltensroutinen durch Informationsressourcen, die aus speziellen In
formationskanälen stammen, in Echtzeit gelenkt werden. Darüber
hinaus könnten Verhaltensroutinen miteinander verschränkt werden,
wobei kompliziertere aus einfachen Modulen entstünden.
Alle diese Raffinements bei einfachen Tieren untergraben den Ge
danken, dass es bereits seit dem Frühstadium der evolutionären Ge
schichte von einfachen Tieren einen starken Selektionsdruck zuguns
ten des Zweck-Mittel-Denkens gegeben haben muss. Warum sollten
sich einfache Tiere dem selektiven Nachteil der Konstruktion eines
kostspieligen »Theorem-Bestätigers« ausgesetzt haben, wenn sie be
reits dazu imstande waren, auf intelligente Art und Weise mit allen
möglichen Umständen, die ihnen in ihren Umwelten begegneten, zu
rechtzukommen ?
An dieser Stelle kann leicht ein neuer Vorbehalt gegenüber meiner
Argumentation entstehen. Wenn ich all das in die einfachen Lebe
wesen hineinpacke, besteht dann nicht die Gefahr, dass schon die
einfachen Lebewesen das Zweck-Mittel-Denken in dem von mir de
finierten Sinn praktizieren? Sie werden wohl kaum einen abschließen
den »Theorem-Bestätiger« —eine spezifische Vorrichtung, die satzarti
ge Prämissen aufnimmt und aus ihnen mittels einer mechanischen
Umsetzung des Prädikatenkalküls entsprechende Schlussfolgerungen
ableitet - in ihrem K opf herumtragen. Aber wenn man von dem Maß
an kognitiver Struktur ausgeht, das ich ihnen zugestehe: würden sie
meine Anforderungen an das Zweck-Mittel-Denken nicht in jedem
Fall und auch ohne eine solche Vorrichtung erfüllen?
Im Rest dieses Abschnitts werde ich fünf verschiedene Möglich
keiten betrachten, diese Herausforderung auszuformulieren, indem
ich verschiedene Arten kognitiven Raffinements untersuche, die sich
bei nicht-menschlicheti Lebewesen zweifellos finden. Ich sollte be
reits an dieser Stelle zugeben, dass einige dieser Erwägungen zu signi
fikanten Modifikationen meiner starken Hypothese über die nicht
menschliche Einfachheit führen werden. Doch selbst wenn die mir
verbleibende Position nicht exakt jener ursprünglich vorgebrachten
starken Hypothese entspricht, so läuft sie immer noch auf eine sub
stantielle Behauptung über die charakteristischen Fähigkeiten hinaus,
die Menschen zur Wahl ihrer Handlungen gebrauchen.
Der erste Gedanke, den ich in Erwägung ziehen möchte, ist folgender:
Die kombinierten Operationen von unterschiedlichen Elementen in
einfachen kognitiven Systemen laufen von selbst auf ein Zweck-Mit-
tel-Denken in dem von mir definierten Sinn hinaus. Das trifft insbe
sondere dann zu, wenn Input-Systeme (oder Output-Systeme) mit
Input-Output-Verknüpfungen kombiniert werden, um ein Verhalten
zu erzeugen.
Man erinnere sich, dass ich in Abschnitt 3 zugestanden habe, dass
es richtig sein kann, Verhaltensdispositionen als Verkörperungen allge
meiner Informationen zu betrachten. Wenn ein durstiges Tier dazu
disponiert ist, aus Teichen zu trinken, weil dies in seiner individuellen
Vergangenheit oder in der Vergangenheit seiner Vorfahren zur Was
seraufnahme geführt hat, dann habe ich mich damit einverstanden
erklärt, dass diese Disposition zu Recht so betrachtet werden kann,
dass sie die allgemeine Behauptung »Aus Teichen trinken liefert Was
ser« repräsentiert.
Nun beachte man jedoch, dass etwas Ähnliches über Dispositio
nen innerhalb von Wahrnehmungs-Input-Modulen gesagt werden
kann. Ein Beispiel: Ein Tier ist zum Urteil disponiert, dass sich ein
Teich vor ihm befindet, sobald es die retinale Reizung X empfängt.
Das ist ein Ergebnis der ontogenetischen oder phylogenetischen Se
lektion: In seiner individuellen Vergangenheit oder in der seiner Vor
fahren ergab sich genau dann ein verstärkendes Ergebnis, wenn das
Tier dieses Urteil unmittelbar nach einer solchen Reizung bildete. Soll
ich nun gleichfalls zugestehen, dass diese Wahrnehmungsdispositio
nen die allgemeine Behauptung repräsentiert, dass die Reizung X
ein Indikator für Teiche ist?
266
In der Tat, ich räume das gerne ein. Nun folgt jedoch anscheinend,
dass ein Tier das Zweck-Mittel-Denken in meinem Sinn immer dann
praktiziert, wenn zwei seiner Dispositionen eine dritte — aus ihnen
abgeleitete — konstituieren: »Wenn durstig, trinke beim Empfang
der Reizung X!« Denn auf der Ebene der Repräsentation läuft diese
Ableitung auf die Kombination der allgemeinen Behauptungen »Rei
zung X ist ein Indikator für Teiche« und »Aus Teichen trinken lie
fert Wasser« hinaus, die die weitere allgemeine Behauptung erzeugt
»Trinken nach der Reizung X liefert Wasser«.
Man beachte insbesondere, dass ein Tier diese abgeleitete Dispo
sition sehr wohl haben könnte, auch wenn auf die Reizung X plus
Trinken in seiner individuellen Vergangenheit oder in der seiner Vor
fahren niemals Wasser gefolgt wäre. Setzen wir voraus, dass X-Rei-
zungen bislang den Urteilen über Teiche und dass (verschiedene) Ur
teile über Teiche plus Trinken bislang dem Wasser vorausgegangen
wären: dann hätte die vergangene Erfahrung dem Tier sozusagen
die Prämissen gegeben, die zusammengenommen zur Ableitung der
hinsichtlich der Erfahrung neuartigen Schlussfolgerung führen, dass
auf die Reizung X plus Trinken dann Wasser folgt.
Etwas Ähnliches trifft auf Dispositionen zu, die sich innerhalb
von Verhaltens-Output-Modulen entwickeln. Nehmen wir an, ein
Tier hätte die Disposition, die spezifischen Bewegungen Y unter den
Umständen Z auszuführen, weil diese Handlung in seiner individuel
len Vergangenheit oder in der Vergangenheit seiner Vorfahren das
Trinken aus Teichen konstituiert hat. Wie zuvor könnte diese Dis
position so betrachtet werden, dass sie die Information verkörpert
»Unter den Umständen Z konstituieren bestimmte Bewegungen Y
das Trinken aus Teichen«. Nehmen wir weiter an, dass das Tier über
eine Input-Output-Disposition verfügt, die, wie zuvor, die allgemeine
Information »Aus Teichen trinken liefert Wasser« verkörpert. Wie
derum würde eine Kombination dieser beiden Einzelinformationen
die hinsichtlich der Erfahrung neuartige Schlussfolgerung liefern
»Unter den Umständen Y werden bestimmte Bewegungen Z Wasser
liefern«.
Meine Antwort auf diesen Gedankengang lautet: Obwohl diese
abgeleiteten Dispositionen in einem gewissen Sinn hinsichtlich der
Erfahrung neuartig sein können, verbleibt dennoch ein anderer Sinn
von >Neuartigkeit<, der sich Menschen, nicht aber einfachen Lebewe
sen eröffnet. Denn man beachte, dass in den soeben gegebenen Bei-
spielen kein Verhalten involviert ist, das aus der Perspektive der Wahr-
nehmungs- und Verhaltensklassifikationen des Lebewesens selbst neu
artig wäre. Denn schließlich gehen wir von einem Tier aus, dessen
Wahrnehmungssystem verschiedene Reizungen zusammen als >Teiche<
klassifiziert, wenn es Informationen an andere kognitive Systeme sen
det. A u f dieser Ebene also, der Ebene der Wahrnehmungsklassifikatio-
nen des Tieres, gibt es - ausgehend von Erfahrungen mit vorhergeh
enden, wasserliefernden Teichen —nichts Neues an der Tatsache, dass
ein weiterer Teich Wasser liefert. A u f der Seite des Outputs muss eine
Handlung ebenso wenig allein deswegen als neuartig betrachtet wer
den, weil sie mit einem einzelnen unterscheidbaren Bewegungsablauf
verbunden ist, bei dem es sich einfach um den einzelnen Fall eines
Verhaltenstyps handelt - wenn dieser Verhaltenstyp schon zuvor als
solcher durch die Kontrollmechanismen des Verhaltens ausgelöst wor
den ist.
Lassen Sie mich nun jene Neuartigkeit bestimmen, die für echtes
Zweck-Mittel-Denken erforderlich ist: Es handelt sich um Neuartig
keit relativ zur Struktur der Wahrnehmungs- und Verhaltens Systeme
eines Lebewesens. Echte Neuartigkeit erfordert neue Zuordnungen
innerhalb der einem Lebewesen eigenen Wahrnehmungs- und Verhal
tenstypologie.
Einige Leser und Leserinnen werden sich denken, dass dies der Ty
pologie eines Tiers allerhand zumutet. Das wirft weitreichende Fra
gen auf, doch im gegenwärtigen Zusammenhang möchte ich einfach
feststellen, dass wir uns auf die Realität solcher Typologien bereits in
einem frühen Stadium festgelegt haben. Sobald wir nämlich Lebe
wesen der Ebene 2 erreicht haben, Lebewesen mit spezialisierten In
formationssystemen also, haben wir ein Repertoire von Wahrneh
mungsurteilen unterstellt (wie »Hier ist ein Teich«), die ihre Identität
über die Interaktionen mit unterschiedlichen Trieben und Verhal
tensweisen hinweg beibehalten. Und mit den »Lernern« der Ebene 4,
wenn nicht schon vorher, haben wir ein Repertoire von Reaktionen
unterstellt (wie »nähere dich«, »weiche zurück«, »iss«, »trink«), die ihre
Identität - über den Anstoß durch unterschiedliche Triebe und Wahr
nehmungen hinweg — beibehalten. In Anbetracht dessen, dass ich
diese Klassifikationen früh eingeführt und darüber hinaus die M o
tive dafür skizziert habe, ist es kein besonderes zFA/wc-Manöver, sie
nun für die Charakterisierung der »Neuartigkeit« des Verhaltens zu
gebrauchen.
268
4. ii In Stellung gehen
269
sem Fall sollte diese Disposition nicht als etwas betrachtet werden,
das etwas anderes repräsentieren würde, als dass Fliegen bei Hunger
zu Nahrung fuhrt. Insbesondere wird damit nicht repräsentiert, dass
Fliegen zum Finden von Bäumen und dies wiederum zum Finden
von Obst führt. Es stimmt: Nur kraft der zusätzlichen Tatsachen in
Bezug auf diese Mittel trifft es zu, dass Fliegen zu Nahrung führt.
Wenn aber das Ziel des Fliegens, wie es durch die phylogenetische
oder ontogenetische Geschichte festgelegt worden ist, eher in der
Nahrungssuche liegt als in diesen intermediären Mitteln, dann gibt
es keinen Grund dafür, die Disposition so zu betrachten, als würde
sie irgendetwas über diese Mittel repräsentieren. (Das wäre so, als
würde man meine Überzeugung, dass Aspirin gegen Kopfschmerzen
hilft, als eine Repräsentation der Fakten chemischer Hirnreaktionen
betrachten, obwohl ich davon so gut wie nichts verstehe.)
Es erscheint womöglich willkürlich, das Fliegen als etwas zu be
trachten, das direkt auf Nahrung und nicht auf die intermediären
Mittel abzielt. Man bedenke aber Folgendes: Tiere werden hungrig,
wenn sie Nahrung brauchen, und die spezifische Funktion dieses
Triebs besteht dementsprechend darin, ein Verhalten hervorzurufen,
das zu Nahrung führt. Unter dieser Voraussetzung hängt die phylo
genetische oder ontogenetische Selektion des Fliegens bei Hunger
wesentlich davon ab, ob Fliegen zu Nahrung führt, und nicht, ob es
zu anderen Resultaten führt. (Schließlich wäre das Fliegen nicht se
lektiert worden, wenn es zu Obstbäumen, nicht aber zu Nahrung ge
führt hätte; doch es wäre selektiert worden, hätte es zu Nahrung,
wenn auch nicht auf dem Weg über Obstbäume, geführt.)
Es mag eine Schwierigkeit in der Annahme liegen, dass ein Verhal
ten (wie das Fliegen) durch einen Gewinn (Nahrung) selektiert wer
den kann, von dem es durch eine lange Kette intermediärer Mittel ge
trennt ist. Aber man beachte nur, wie sich solche Verhaltensweisen
durch Zuwachs entwickeln können. Wenn hungrige Vögel beim An
blick von Obst erst einmal zum Fressen disponiert sind, wird für hung
rige Vögel der Selektionsdruck geschaffen, sich zu nähern, sobald sie
Obstbäume sehen. Und wenn sie erst einmal dazu disponiert sind,
dann wird dies wiederum den Selektionsdruck schaffen, bei Hunger
zu fliegen. Durch genetische Selektion zwischen den Generationen
funktioniert ein solcher Prozess vielleicht besser als durch ontogene-
tisches Lernen. Denn ein ontogenetischer Lernmechanismus muss
das Verhalten irgendwie mit dem weit entfernten Gewinn verbinden.
270
Wenn die zeitliche Verzögerung zu groß ist, dürfte sich dies als schwie
rig erweisen. Im Gegensatz dazu ist dies unter dem Gesichtspunkt der
genetischen Selektion kein Problem: Das Verhalten wird selektiert,
solange Überleben und Fortpflanzung durch die Verbindung dieses
Verhaltens mit dem Gewinn zuverlässig beeinflusst wird - wie groß
die zeitliche Verzögerung auch sein mag.
4. m Intramodulares Zweck-Mittel-Denken
271
ständen jeweils die Routine des »Nachhausegehens« in Gang setzen;
das »Nachhausegehen« wiederum könnte eine Reaktion sein, die als
solche durch instrumentelles Lernen verstärkt oder gelöscht werden
kann.) Dieser ausschließende Gedankengang wird durch Folgendes
gestützt: Im Vergleich zum Zweck-M ittel-Denken ausgewachsener
Menschen, das mit so ziemlich jeder Art von Information arbeiten
kann, sind intramodulare, inferentielle Mechanismen wahrschein
lich stark gehaltspezifisch. Ein Orientierungssystem beispielsweise
beschäftigt sich nur mit räumlichen Informationen und wählt nur
räumliche Pfade als Mittel aus.
Selbst wenn wir aber andererseits annehmen, dass Routinen wie
das Nachhausegehen tatsächlich als primitive Verhaltenseinheiten
bei nicht-menschlichen Lebewesen funktionieren (und weiterhin
die Möglichkeit besteht, dass empirische Daten zeigen könnten, dass
dem nicht so ist), ist das anscheinend eine ziemlich armselige Grund
lage, um den Tieren das Zweck-Mittel-Denken abzusprechen. Wenn
Tiere verschiedene Stücke allgemeiner Information innerhalb der Sys
teme zusammenfügen, die ihre Verhaltensroutinen lenken, und da
durch herausfinden, was zu tun ist, dann ähnelt dies doch sicher jener
Verhaltensflexibilität, mit der ich mich in diesem Aufsatz befasse.
Schließlich sind solche Tiere fähig, bestimmte Verhaltensweisen zu
extrapolieren, die sich in der Vergangenheit als vorteilhaft erwiesen
haben, und zwar indem sie separate Stücke allgemeiner Information
zu Inferenzen kombinieren. Warum sollte man das herunterspielen,
nur weil es als Vorgang innerhalb von »Modulen« betrachtet wer
den kann und nicht zwischen ihnen? Und warum sollte es wiederum
wichtig sein, dass diese Inferenzen nur hinsichtlich spezifischer Ge
genstände funktionieren? Es ist ja nicht so, dass wir allen Ernstes hät
ten erwarten können, dass nicht-menschliche Tiere über denselben
weiten Bereich hinweg Inferenzen bilden wie Menschen.
Ich möchte davon absehen, diese wesentlich klassifikatorische
Frage weiterzuverfolgen. Im Rest dieses Aufsatzes werde ich damit
fortfahren, mich auf das Zweck-Mittel-Denken zu konzentrieren,
das allgemein zwischen Input- und Output-Systemen vermittelt und
dementsprechend keine eingebauten Beschränkungen hinsichtlich
der Arten des zu bewältigenden Gehalts kennt. Doch indem ich das
tue, möchte ich nicht suggerieren, dass es unwichtig ist, ähnliche in
ferentielle Fähigkeiten innerhalb von Verhaltensmodulen lokalisieren
zu können. Auch wenn der Schwerpunkt meines Aufsatzes woanders
272
liegt, ist dies eine wirklich bedeutsame und eigenständige Frage zur
Kognition bei Tieren.
Bevor wir diese Sache hinter uns lassen, möchte ich mich kurz über
die substantielle Frage auslassen, ob die Raumorientierung von Le
bewesen tatsächlich ein gehaltspezifisches, intramodulares Zweck-
Mittel-Denken involviert. Das ist keine ganz einfache Frage. Es ist
unbestritten, dass zahlreiche Tiere —darunter Vögel und Insekten -
nicht-egozentrische, räumliche Karten ihrer Umwelten und der Ziel
objekte ihres Verhaltens anlegen. Sie können sich selbst mithilfe von
Orientierungspunkten auf solchen Karten verorten und sich orien
tieren. Gleichwohl läuft das nicht notwendigerweise auf ein Zweck-
Mittel-Denken hinaus, wie ich es verstehe. Das hängt davon ab, wie
sie diese Karten bei der Erzeugung von Verhalten gebrauchen.
Vielleicht fuhrt ihr Gehirn einfach etwas aus, das dem Ziehen ei
ner geraden Linie von ihrer momentanen Position zu ihrem Ziel
objekt entspricht (vielleicht wiederholen sie bei der Annäherung an
ihr Zielobjekt diese Strategie, insbesondere nach Umwegen zur Um
gehung von Hindernissen). Das läuft keinesfalls auf so etwas wie
ein Zweck-Mittel-Denken hinaus, so wie ich es verstehe.
Anders wäre es freilich bei Lebewesen, die etwas Vergleichbares
mithilfe der Kognition ausführen: Sie verzeichnen einen kontinuier
lichen, alle Hindernisse vermeidenden Weg von ihrer Ausgangsposi
tion hin zu ihrem Zielobjekt und nehmen sich dann vor, diesem
Weg zu folgen. Das scheint nun deutlich als Zweck-Mittel-Denken
in meinem Sinn gelten zu können. Denn es entspräche der oben skiz
zierten Art und Weise, separate Einzelteile kausaler Information zu
kombinieren: »Wenn ich westwärts bis nach A und dann nordwärts
gehe, werde ich zum Futter gelangen.«
4. iv Klassische Konditionierung
273
wie zuvor auf B. (Man beachte, dass die klassische Konditionierung
kein Feedback durch vorhergehende »Belohnungen« enthält; erfor
derlich ist allein, dass zuvor gleichzeitig aktivierte Wahrnehmungs-
»Knoten« sich nun gegenseitig aktivieren.)
Hier haben wir eine weitere Kandidatin für das Zweck-Mittel-Den-
ken. Man stelle sich ein Lebewesen vor, das ursprünglich auf B (und
T) mit V reagiert und dann aufgrund der klassischen Konditionie
rung von A mit B nun ebenso auf einen Anlass A reagiert. Ich habe
mich zuvor damit einverstanden erklärt, die ursprüngliche Disposi
tion könne so verstanden werden, dass sie die Information »V bei B
(und T) verschafft R« repräsentiert (wobei R das relevante vorteil
hafte Resultat darstellt). Unter dieser Voraussetzung ist es natürlich,
wenn man die klassische Konditionierung wie folgt betrachtet: Sie
verschafft die Zusatzinformation »Alle As sind Bs«, die anschließend
mit der ursprünglichen Information so kombiniert wird, dass »V bei
A (und T) verschafft R« erzeugt wird.
Tatsächlich gibt es nichts, das die Wiederholung solcher Inferen
zen verhindern könnte. Ein Tier könnte erlernen: »Alle As sind Bs«
und dann — davon unabhängig — »Alle As sind Cs«; und als Folge
könnte es dazu disponiert sein, auf die Wahrnehmung von C so zu rea
gieren, wie es ursprünglich auf die Wahrnehmung von B reagiert hat.
Es handelt sich um eine empirische Frage, wie lang solche infe-
rentiellen Ketten in einem lebendigen Tier sind. Aber man darf an
nehmen, dass jeder Mechanismus, der die klassische Konditionierung
untermauert, solche Wiederholungen zulässt.
Fälle dieser Art können nicht wie in 4.1 durch den Hinweis beiseite
geschoben werden, dass sich die allgemeine Zusatzinformation inner-
halb des Wahrnehmungssystems befinde. Denn die neuen Einzelteile
allgemeiner Information, die mit den ursprünglichen Verhaltensdis
positionen kombiniert werden, sind nun in Verknüpfungen zwischen
den Outputs der Wahrnehmungssysteme verkörpert, und nicht in
Strukturen innerhalb solcher Systeme. (Es ist zu beachten, dass die
ser Punkt nichts mit irgendwelchen Vorgaben zur Identifizierung
von »Wahrnehmungsmodulen« zu tun hat. Wie auch immer wir uns
entscheiden, »Module« zu unterscheiden: Es wird ein allgemeiner,
assoziativer Lernmechanismus sein, der Verknüpfungen zwischen ih
nen herstellt.)
Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht, dass assoziatives Ler
nen auf diesem Weg zum Zweck-Mittel-Denken führt, wie es bis hier
274
her definiert worden ist. Es ist jedoch zu beachten, dass Lebewesen,
die zum Zweck-Mittel-Denken in diesem spezifischen Sinne fähig
sind, im Vergleich zu ausgewachsenen menschlichen Denkern kog
nitiv dennoch äußerst eingeschränkt sind. Sie können lediglich Infe
renzen über die Bedingungen ziehen, die eine Handlung angemessen
erscheinen lassen, nicht aber über die Konsequenzen, die Handlungen
haben können. Sie können allgemeine Informationen verwenden, um
herauszufinden, dass A eine ebenso gute Gelegenheit für V zum Errei
chen von R bietet wie B. Doch wenn es darauf ankommt herauszu
finden, wozu V überhaupt gut sein soll, dann fehlen die inferentiel-
len Fähigkeiten gänzlich. Sie bleiben bei Informationen der Form
»V wird R verschaffen« stecken, wobei V ein Stück aus ihrem Verhal
tensrepertoire ist und R jenes Resultat, das den Lebewesen die Dispo
sition zu V in der Vergangenheit beigebracht hat. Insbesondere haben
sie keine Denkfähigkeit der Form: »Vverschafft M« und »M verschafft
R« —also: »V verschafft R«.
Der Punkt liegt darin: das assoziative Lernen ermöglicht den Tie
ren herauszufinden, dass neue Bedingungen zu alten Verhaltensdispo
sitionen passen. Doch es kann keine neuen Verhaltensdispositionen
erzeugen. Wenn es auf Informationen ankommt, die - vom Verhalten
aus gesehen - sozusagen kausal vorwärts gerichtet sind, dann ist die
Verkörperung in Verhaltensdispositionen das einzige bislang verfüg
bare Repräsentationsmittel. Und der einzige Mechanismus zur Aus
bildung solcher Dispositionen ist nach wie vor die phylogenetische
oder die ontogenetische Selektion eines V, das in der Vergangenheit
zu R geführt hat. Bis hierher haben, wir noch keinen Weg zur Aneig
nung von Information der Form »V führt zu R« entdeckt - mit Aus
nahme des Weges, der direkt über eine derartige Selektion führt.
Sowohl Gopnik, Glymour und Sobel als auch Millikan haben diese
Einschränkung mit der Egozentrik des Kartographierens von Räu
men verglichen.12 Eine egozentrische Karte des Raums lokalisiert Ob
jekte allein durch ihre Relation zur eigenen Position und Orientierung
des Subjekts. Wie ich im vorhergehenden Abschnitt erwähnt habe,
lassen viele Tiere diese räumliche Egozentrik hinter sich und reprä
sentieren ihre räumliche Welt objektiv durch Karten, auf denen sie
12 A. Gopnik und C. Glymour, »Causal Maps and Bayes Nets: A Cognitive and a
Computational Account ofTheory-Formation«, in: The Cognitive Basis o f Science,
hrsg. von P. Carruthers, S. Stich und M. Siegal, Cambridge: Cambridge University
Press 2002, S. 117 -132 ; für Millikan, »Some Different Ways to Think«, op. cit.
275
selbst nur ein Punkt unter anderen sind. Gleichwohl können räumlich
objektive Lebewesen immer noch kausal egozentrisch sein. Das trifft
insbesondere auf die pavlovschen Lebewesen zu, mit denen wir uns
momentan befassen. Trotz ihrer Befähigung zur klassischen Konditio
nierung fehlt ihnen jeder Begriff eines objektiven »kausalen Raums«,
der viele objektiv interagierende Gegenstände enthält, unter denen
ihre Handlungen lediglich einen Sonderfall darstellen. Stattdessen
ist ihre gesamte kausale Information notwendigerweise von egozen
trischer Form. Ein Stück Verhalten V befindet sich auf der einen
und ein verstärkendes Resultat R auf der anderen Seite.
An dieser Stelle möchte ich den Einsatz für Zweck-Mittel-Denken
vollen Umfangs nochmals erhöhen, um dadurch einen gewissen Grad
an kausaler Nicht-Egozentrizität mit aufzunehmen. Ich fordere nun
mehr, dass das Zweck-Mittel-Denken nicht nur des Gebrauchs von
allgemeiner Information zur Ableitung neuer allgemeiner Schluss
folgerungen bedarf, sondern insbesondere, dass es einem Lebewesen
erlaubt, neue —und im Verhalten vorwärts gerichtete —kausale Tat
sachen der Form »V führt zu R« aus anderen kausalen Tatsachen ab
zuleiten. Von jetzt an gilt: Zweck-Mittel-Denken vollen Umfangs ver
wendet nicht-egozentrische kausale Tatsachen, um herauszufinden,
durch welche Verhaltensweisen welche neuartigen Ergebnisse hervor
gebracht werden können.
Jetzt, da die Sache einen klaren Fokus hat, stellt sich die Frage, ob es
bei nicht-menschlichen Lebewesen direkte Hinweise auf ein nicht
egozentrisches Gewahrsein kausaler Relationen gibt.
Die wenigen Studien, die diese Frage frontal angepackt haben, le
gen nahe, dass sogar Menschenaffen und andere Primaten eine nur
sehr eingeschränkte Fähigkeit zum Erfassen objektiver, kausaler Re
lationen haben. Während Menschenaffen den neuartigen Gebrauch
von Werkzeugen sicherlich erlernen können, repräsentieren sie kau
sale Relationen anscheinend nicht auf eine Art und Weise, dass sich
ein Zweck-Mittel-Denken ausbilden könnte. Es gibt keine direkten
Hinweise darauf, dass nicht-menschliche Primaten das Wissen, dass
eine Mittlerursache M ein Endresultat R hervorbringt, jemals mit
dem Wissen kombinieren, dass ein Verhalten V zu M führt, und dass
sie diese beiden Informationsstücke zusammennehmen, um »neu
276
artige Wege in der Hervorbringung der Mittlerursache und somit des
Endresultats zu gehen«.13
Gleichzeitig jedoch gibt es detaillierte, in der Tradition des Tierler
nens stehende Arbeiten - insbesondere von A. Dickinson und seinen
Mitarbeitern die nahe legen, dass Ratten exakt jene Art von Inferen
zen bilden, nach denen ich suche.14
Betrachten wir folgendes Experiment (es handelt sich zwar nur um
ein Experiment in einer Reihe zusammenhängender Ratten-Experi-
mente, aber es enthält die wesentlichen Punkte): Hungrige, aber nicht
durstige Ratten werden in einer Umwelt trainiert, in der sie durch
das Drücken eines Hebels Futterkügelchen und durch das Ziehen
einer Kette Zuckerlösung bekommen. Sowohl die Kügelchen als auch
die Zuckerlösung stillen den Hunger, doch wie es sich trifft, löscht
nur die Zuckerlösung den Durst. Man mache nun einige dieser Rat
ten durstig und überlasse ihnen die Wahl, den Hebel zu drücken oder
an der Kette zu ziehen. M it einer wichtigen Einschränkung, von der
gleich die Rede sein wird, werden die durstigen Ratten unverzüg
lich eine Präferenz für das Ziehen der Kette an den Tag legen.
Da während des Trainings nichts getan wurde, um das Ziehen der
Kette gegenüber dem Drücken des Hebels zu verstärken, stellt dieses
Experiment prim a facie Gründe für die Vermutung bereit, dass die
Ratten explizit die kausale Information speichern, dass das Ziehen
der Kette zur Zuckerlösung führt, was sie anschließend mit der Tat
sache kombinieren, dass die Lösung den Durst löscht, um daraus
die Schlussfolgerung abzuleiten, dass das Ziehen an der Kette den
Durst löschen wird.
Es mag den Anschein haben, als ob das Argument ein Schlupf
loch enthielte. Auch wenn die Ratten während der Trainingsphase
nicht durstig gewesen sind: Wäre ihr ohnehin geringer »Durst-Trieb«
nicht - mittels Ziehen der Kette - durch die Flüssigkeit noch weiter
reduziert worden, nicht aber —mittels Drücken des Hebels —durch
die Kügelchen? Wenn die Ratten über einen triebspezifischen Lern
mechanismus verfügen würden (vgl. dazu die Diskussion der Ebene
13 M. Tomasello und J. Call, Prim ate Cognition, Oxford: Oxford University Press
1997, S. 390; vgl. auch den Rest der Kapitel 3 und 12.
14 C. Heyes und A. Dickinson, »The Intentionality o f Animal Action«, M in d and
Language 5 (1990), S. 87-104; A. Dickinson und B. W. Balleine, »Causal Cognition
and Goal-Directed Action«, in: The Evolution o f Cognition, hrsg. von C. Heyes und
L. Huber, Cambridge (Mass.): MIT Press 2000, S. 185-204.
277
4), dann könnten sie sich auf dieser Basis eine präferentielle Disposi
tion für das Ziehen der Kette bei Durst angeeignet haben. (Die dahin
ter stehende Idee lautet: Gewisse Verhaltensweisen, hier das Ziehen
der Kette, heften sich an gewisse Triebe, hier Durst, nicht etwa, weil
sie sich in der Vergangenheit allgemein als lohnend herausgestellt hät
ten, sondern weil sie ganz spezifisch in der Vergangenheit den Durst
löschten.)
Dieser Geschichte widerspricht jedoch eine andere Tatsache hin- !
sichtlich des Experiments. Das ist der Zusatz, den ich oben erwähnt
habe. Die trainierten Ratten würden die Kette nicht ziehen, auch I
nicht, wenn sie durstig wären, wenn man ihnen nicht zuvor die Ge- i
legenheit geboten hätte, von der Zuckerlösung zu trinken, wenn sie \
durstig sind, um dabei zu entdecken, dass diese den Durst löscht. In
der gerade vorgeschlagenen Geschichte müsste diese zusätzliche Er- j
fahrung überflüssig sein, denn gemäß dieser Geschichte sollte das an- |
fangliche Training bereits im Ziehen der Kette, wenn durstig, bestehen. |
Es scheint somit unbestreitbar, dass die Ratten aus ihrem Training
irgendwie die Information ableiten, dass das Ziehen der Kette ganz
spezifisch zur Zuckerlösung fuhrt, auch wenn fiir sie der Unterschied !
zwischen der Zuckerlösung und den Futterkügelchen bis dahin noch j
keine motivierende Bedeutung hat. Später werden die Ratten sich
dann die zusätzliche Information aneignen, dass die Zuckerlösung
den Durst löscht. An diesem Punkt kombinieren die Ratten beide
Infbrmationsstücke und leiten daraus ab, dass das Ziehen der Kette, j
im Gegensatz zum Drücken des Hebels, ein Mittel zu Befriedigung I
des Dursts ist. Dabei eignen sie sich eine neuartige Verhaltensdisposi- j
tion an, eine Disposition, die selbst nie zuvor durch die Befriedigung
des Dursts verstärkt worden ist.
In dieser Beschreibung hätten die Ratten ganz klar ein Vermögen
zum nicht-egozentrischen kausalen Denken der von mir jetzt als voll
gültiges Zweck-Mittel-Denken geforderten A rt.15 Aber vielleicht gibt
278
es eine andere Sichtweise auf ihre kognitiven Leistungen, die sie weni
ger weit von einfachen Lebewesen entfernt. Nehmen wir Folgendes
an: Wir betrachten ihren Umgang mit der Zuckerlösung bei Durst
nicht so, als würde er ihnen tatsächlich die Information geben, dass
Zuckerlösung den Durst löscht, sondern vielmehr so, dass dieser Um
gang ihnen einen neuen, »erworbenen Trieb« nach Zuckerlösung bei
bringt.
In dieser Betrachtungsweise unterscheiden sich die Ratten nicht
allzu sehr von einfachen Lebewesen. Wir können das präferierte Ver
halten - an der Kette ziehen - als Ergebnis zweier Elemente betrach
ten: (a) eines Triebs, Zuckerlösung zu bekommen und (b) einer Ver
haltensdisposition zum Ziehen der Kette, um die Zuckerlösung zu
bekommen, wenn dieser Trieb aktiv ist. Die Ratten werden somit dazu
gebracht, gemäß jenem praktischen Syllogismus zu handeln, der auch
bei anderen Tieren am Werk ist. Vorausgesetzt, dass der »erworbene
Zuckerlösungs-Trieb« aktiv ist, wenn die Ratten Durst haben, werden
anhand dieses Erklärungsmodells dieselben Verhaltensvoraussagen ge
troffen wie mit dem Modell des Zweck-Mittel-Denkens.
Natürlich müssen wir immer noch anerkennen, dass sich diese
Ratten in entscheidenden Punkten von den bisher diskutierten ein
fachen Lebewesen unterscheiden. Am offensichtlichsten ist die Tat
sache, dass wir ihnen nun die Fähigkeit zum Erw erb neuer Triebe
zuschreiben, während man zuvor von allen Trieben angenommen
hatte, sie seien angeboren. Das ist in der Tat eine massive Ausweitung
der kognitiven Fähigkeiten. Da es anscheinend keinen Grund dafür
gibt, dass Ratten nicht über das Potential zum Erwerb von Trieben
für alle möglichen Umstände, die sie als solche erkennen können,
verfügen sollten, haben wir hier Folgendes: Wir haben uns von Lebe
wesen, deren Ziele auf ein paar wenige, grundlegende Ergebnisse be
schränkt sind, zu Lebewesen erhoben, die so gut wie alles als Ziel ins
Auge fassen können. Wenn wir eine scharfe Trennlinie zwischen »Trie
ben« und »Wünschen« ziehen wollen, dann ist dieser Ort so gut wie
jeder andere.
Flinzu kommt, und das dürfte sogar noch interessanter sein, dass
wir auch Folgendes anerkennen müssen: Ratten können die Disposi
tion erwerben, V zu tun (Ziehen der Kette), um R (Zuckerlösung) zu
bekommen, obwohl die Tatsache, dass V a u f diese Weise zu R fü h rt, zu
vor niemals einen Trieb befriedigt hat. Der von mir verfolgte Gedan
kengang besteht darin, dass die Information »V führt zu R« nirgends
279
verkörpert sein muss, außer in einer Disposition, V zu tun, wenn ein j
Trieb nach R aktiv ist. Gelinde gesagt ist es aber verblüffend, dass eine }
solche Disposition erworben werden kann, bevor eine interne Reprä- j
sentation von R den Status eines Triebs überhaupt erworben hat.16
Vor dem Hintergrund dieses letzten Punktes mag es scheinen, als
würde ich versuchen, auf einer äußerst dürftigen Grundlage eine Un
terscheidung zu treffen. Ich lasse es zu, dass die R-Produktivität von
V repräsentiert werden kann, auch wenn V noch gar nicht derart ver
drahtet ist, um durch einen Trieb nach R ausgelöst zu werden. Wird |
den Ratten damit nicht bereits die wesentliche kognitive Fähigkeit I
zugestanden, die zur Debatte steht? Gleichwohl besteht immer noch
eine entscheidende Einschränkung in der Tatsache, dass dieses kau
sale Wissen auf sozusagen »dispositionsfertige« Art und Weise ver
körpert sein muss. Bevor die Ratte einen auf R gerichteten Trieb
hat, vermag sie das Verhalten V bereits irgendwie mit einer internen
Repräsentation von R zu verknüpfen. Diese Verknüpfung könnte aber
280
nur einfach darin bestehen, dass die Ratte V tun würde, wenn ihre Re
präsentation von R einen »Trieb-ist-aktiv«-Status erwerben würde.
Wenn das zutrifft, dann leiden Ratten nach wie vor an einer Form
der kausalen Egozentrik. Die einzige für sie erreichbare kausale In
formation würde am vorderen Ende der Kausalrelation immer noch
ein Stück ihres eigenen Verhaltens V haben.
Wenn wir die Ratte so betrachten, bringt das den Vorteil einer Er
klärung mit sich, warum ihre Fähigkeiten zum Zweck-Mittel-Den-
ken so beschränkt sind, wie sie es nun einmal sind.17 Sicher sind
Dickinsons Ratten - auch im Sinne meiner Begrifflichkeiten - in
der Lage, auf neuartige Weise zu handeln. Indem sie ihr abgespei
chertes Wissen, dass V zu R führt, mit einem neu erworbenen Trieb
nach R kombinieren, werden sie zu Handlungen geleitet, die sie nie
mals zuvor ausgefiührt haben. Die produktive Kraft ihres gesamten
kognitiven Systems ist gleichwohl durch ihre Fähigkeit beschränkt,
neue Triebe zu erwerben, wenn ihre V —» R-Informätionen auf die
soeben vorgeschlagene Art in einer gleichsam »schlafenden Disposi
tion« abgespeichert sein müssen. Hier ist nicht der Ort, um über die
Einzelheiten der Mechanismen zum Erwerb neuer Triebe nachzu
denken (eine, wie ich finde, entscheidende Angelegenheit nicht nur
für das Verständnis von Ratten, sondern auch für das Verständnis
von Menschen). Doch wenn diese Mechanismen mithilfe einer Art
direkter Verknüpfung mit schon zuvor existierenden Trieben arbei
ten müssen, was durchaus plausibel ist, dann vermögen egozentrische
Ratten weit weniger Neuartigkeiten im Verhalten hervorzubringen als
Denkende, die V R-Informationen aus einer uneingeschränkten
Bandbreite von kausalen Verknüpfungen ableiten können.
1 7 Darüber hinaus wird uns dies auch gestatten, die oben erwähnten Begrenzungen
von Menschenaffen und anderen Primaten zu erklären. Primaten teilen vermutlich
alle bei Ratten anzutreffenden kognitiven Raffinements. Wenn wir den Ratten
Zweck-Mittel-Denken in vollem Umfang zugestehen würden, befänden wir uns
also etwas in der Klemme, wenn wir das vergleichsweise schlechte Abschneiden
der Primaten erklären müssten.
281
5. Zufälliges Denken
Alles in allem ist der vorhergehende Abschnitt eine Antwort auf den
Gedanken, dass das Zweck-Mittel-Denken viel zu einfach ist, um
eine eigentümlich menschliche Anpassung zu sein, und dass es des
halb im Tierreich weit verbreitet sein muss. Ich möchte mich nun
dem umgekehrten Gedanken zuwenden, dass das Zweck-Mittel-Den-
ken nämlich viel zu schwierig ist, um eine biologische Anpassung
zu sein, und deshalb für Menschen nur als Nebeneffekt anderer biolo
gischer Entwicklungen verfügbar geworden ist.
Aus dieser Sicht wäre das Zweck-Mittel-Denken mit Arithmetik
oder Musik vergleichbar. Besonders gute Leistungen in diesen Tätig
keiten könnten seit der Zeit ihrer Entstehung ebenfalls einen repro
duktiven Vorteil in dem Sinne gebracht haben, dass diese Meister viel
leicht durchschnittlich mehr Kinder gehabt hätten. Aber das macht :
sie nicht zu evolutionären Anpassungen. Sobald Arithmetik oder Mu
sik erst einmal in unserer Kultur aufgetaucht sind, ermöglichen uns ;
andere Fähigkeiten mit unabhängigen evolutionären Erklärungen,
ihr Auftauchen und ihre Erhaltung zu erläutern.18 Ohnehin ist viel
leicht seit dem Beginn dieser Praktiken zu wenig Zeit vergangen, da
mit Gene sie selektiv hätten bevorzugen können.
Nach diesem Modell beruht das Zweck-Mittel-Denken auf an
deren Fähigkeiten mit einem biologischen Zweck, hat aber selbst kei
nen solchen Zweck. In der durch Stephen Jay Gould und Richard
Lewontin berühmt gewordenen Terminologie würde es sich um eine
Spandrille handeln.19 Der Idee, dass es sich beim Zweck-Mittel-Den
ken um eine Spandrille handeln könnte, begegnet man vermutlich
öfter im Gespräch als in gedruckten Texten. Doch sie ist bei einer
überraschend großen Anzahl von Theoretikern beliebt - angefangen
bei Evolutionspsychologen, über Dennettianer bis hin zu neo-assozia-
tionistischen Experimentalisten.
1 8 Damit möchte ich nicht bestreiten, dass diese Erklärungen selbst durch biologische
Tatsachen gestützt werden können. Welche Praktiken durch »Kultur« erhalten wer
den, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Disposition uns durch die natürliche
Selektion vererbt wurde; vgl. D. Sperber, Explaining Culture, Oxford: Basil Black
well 1996.
19 Vgl. Fußnote 8.
282
5-1 Das Verstehen des Geistes
283
deren Überzeugungen und Wünsche zu, speisen diese als Ausgangs
bedingungen einer Menge von Annahmen über den Geist ein und
rechnen sich auf dieser Basis die besten Strategien aus, um mit dem
Verhalten anderer zurechtzukommen. Doch dabei handelt es sich
um nichts anderes als um einen Spezialfall des Zweck-Mittel-Den-
kens, das wir bislang betrachtet haben. Wiederum setzt die Geschich
te schlicht das zu Erklärende voraus.21 j
5.ii Sprache
284
ser Informationen noch nicht nach dem Zweck-Mittel-Denken. Es
könnte also sein, dass das Zweck-Mittel-Denken erst aufgetaucht
ist, nachdem unsere Vorfahren bereits eine relativ ausgeklügelte Spra
che zur Berichterstattung besonderer Tatsachen entwickelt hatten.
A u f dieser Grundlage entwickelte sich die Sprache vielleicht danach
biologisch weiter, um allgemeine Behauptungen zu verarbeiten und
zu berichten.
Das Problem besteht nun aber darin, dieses letzte Stück zu erklären.
Worin genau bestand der zusätzliche biologische Druck, der zu einer
Sprache führte, mit der allgemeine Informationen berichtet und ver
arbeitet werden konnten? Wenn die Antwort lautet, dass die Spra
che dieses Merkmal entwickelte, um das Zweck-Mittel-Denken zu
erleichtern, dann bedeutet dies, dass das Zweck-Mittel-Denken doch
keine Spandrille ist. Es könnte weitgehend von Sprache in dem Sinn
abhängig gewesen sein, dass seine Entstehung auf die Selektion der
ersten Sprachfähigkeiten warten musste. Aber falls gewisse Gene ge
zielt selektiert wurden, weil sie uns zum Zweck-Mittel-Denken ver-
halfen, wird es als eine eigenständige Anpassung gelten dürfen und
nicht als Spandrille.
Wenn die Antwort andererseits lautet, dass Sprache die Fähig
keit zur Repräsentation und Verarbeitung allgemeiner Informationen
aus einem unabhängigen Grund entwickelte, entstehen weitere Pro
bleme. W ir brauchen dann unmittelbar eine Erklärung dafür, war
um die Sprache überhaupt für den Bericht und die Verarbeitung all
gemeiner Behauptungen selektiert werden sollte, wenn nicht zur
Erleichterung des Zweck-Mittel-Denkens. Es gibt jedoch ein funda
mentaleres Problem. Wenn wir von der Annahme einer von den
Zielen des Zweck-Mittel-Denkens unabhängigen sprachlichen Verar
beitung allgemeiner Behauptungen ausgehen, dann benötigen wir
eine Geschichte davon, wie diese unabhängige Fähigkeit anschlie
ßend spandrillenartig zum Zweck-Mittel-Denken ausgebaut worden
ist. Nehmen wir an, dass unsere Vorfahren —aus vom Zweck-Mittel-
Denken ganz unabhängigen Gründen - zuerst die Fähigkeit erwor
ben haben, allgemeine Behauptungen zu formulieren und neuartige
Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen. A u f welche Weise führten
diese neuartigen theoretischen Schlussfolgerungen dann im einzel
nen zu Unterschieden in ihren praktischen Tätigkeiten?
Flier liegt der Punkt darin, dass das Zweck-Mittel-Denken eine Ver-
haltens-Y^onxxdhz ausüben muss. Abgesehen von Dispositionen, sich
285
auf bestimmte Weise zu verhalten, wenn dies durch Wahrnehmungen
oder konkurrierende Triebe ausgelöst wird, hat die in einfachen Tieren
vorgegebene kognitive Architektur jedoch schlicht nicht die M ög
lichkeiten zur Ausübung eines anderen Verhaltens. Irgendwie muss
die Fähigkeit zur Verarbeitung allgemeiner Repräsentationen dazu
imstande sein, dieser Menge von Dispositionen etwas hinzuzufügen
(entweder vorübergehend - »Wenn ich das nächste Mal einen Brief
kasten sehe, werfe ich diesen Brief ein« —oder dauerhaft —»Von jetzt
an esse ich anstatt Fleisch nur noch Fisch«). Eine Fähigkeit, aus all
gemeinen Behauptungen Schlussfolgerungen zu ziehen, und seien es
auch Schlussfolgerungen über Mittel zum Zweck, dürfte dies nicht
von selbst sicherstellen. Zusätzlich müssen die Outputs solcher Über
legungen in die Verhaltenskontrolle eindringen. Ohne dazu imstande
zu sein, unser Programm zur Verhaltenssteuerung auf diese Art zu
verändern, macht das Zweck-Mittel-Denken keinen Unterschied für
unser Tun.
286
Man beachte, dass dies noch kein Argument dafür ist, im mensch
lichen Hirn einen ganz separaten spezifischen Mechanismus für das
Zweck-Mittel-Denken zu vermuten. Ein solcher Mechanismus könn
te durchaus existieren, worauf ich gleich zurückkommen werde. Doch
das von mir soeben dargestellte Argument stützt nur die sehr viel
schwächere Schlussfolgerung, dass es irgendeinen biologischen Me
chanismus für das Zweck-Mittel-Denken geben muss. Das könnte
eine ganz unauffällige Sache sein; einige wenige genetische Verände
rungen etwa, die die Beeinflussung des Verhaltens seitens einer be
reits vorhandenen kognitiven Tätigkeit zulassen. Die einleuchtendste
Möglichkeit wäre die oben bereits vorgeschlagene: Die sprachliche
Fähigkeit zur Verarbeitung und Berichterstattung allgemeiner Infor
mationen hat sich aus unabhängigen Gründen entwickelt. Ist dies
einmal geschehen, erlauben weitere evolutionäre Schritte, dass ihre
Outputs das Verhalten beeinflussen.
In der Einleitung zu diesem Aufsatz habe ich gesagt, wenn ich wählen
müsste, würde ich das Zweck-Mittel-Denken eher auf der Seite der
»Module« als der kognitiven Allzweckmechanismen ansiedeln. Nun
bin ich besser in der Lage, die Stoßrichtung dieser Auffassung zu
erläutern. M it der Klassifikation des Zweck-Mittel-Denkens als M o
dul wollte ich nicht behaupten, dass es im Hirn einen Prozessor gibt,
der eigens für die Ausübung des Zweck-Mittel-Denkens gebaut ist.
Zwar wäre dies, wie ich soeben gesagt habe, durchaus möglich, aber
ich möchte nicht darauf beharren. Ich wollte vielmehr hervorhe
ben, dass das Zweck-Mittel-Denken ein kognitiver Mechanismus
ist, der unter bestimmten Umständen im Dienste bestimmter Bedürf
nisse aktiv wird. Es handelt sich nicht um ein Metasystem, das sämt
liche menschlichen Handlungen kontrolliert, indem es kontinuierlich
jene Verhaltens-Outputs auswählt, die am besten zu den momentanen
Wahrnehmungs-Inputs passen.
Es handelt sich um eine implizite Annahme vieler philosophischer
Überlegungen, dass alles menschliche Verhalten - abgesehen viel
leicht von den groben Reflexen —genau durch ein derartiges meta-sys-
temisches Zweck-Mittel-Denken ausgewählt wird. Das ist jedoch
nicht das Bild der Dinge, das sich in diesem Aufsatz ergibt. Ich sehe
keinen Grund, daran zu zweifeln, dass menschliches Verhalten in ers
287
ter Linie auf dieselbe Weise wie das Verhalten einfacher Lebewesen be
stimmt wird. Wir besitzen eine Menge feststehender Dispositionen,
die durch momentane Wahrnehmungsinformationen und konkur
rierende Triebe ausgelöst werden. Der einzige Unterschied besteht
darin, dass wir Menschen - jenseits von genetischer Vererbung und
Konditionierung - über eine zusätzliche Möglichkeit verfügen, um
diese Dispositionen richtig einzustellen. Manchmal nehmen wir uns
eine Auszeit, um das Für und Wider unterschiedlicher Optionen zu
erwägen, und finden heraus, dass der beste Weg — gegeben B und
T - R zu bekommen, darin besteht, V zu tun. Und dann werden unsere
feststehenden Dispositionen neu ausgerichtet, so dass wir beim nächs
ten M al dazu disponiert sind, V zu tun, wenn B und T sich einstellen.
Aus dieser Sicht der Dinge wäre es wahrscheinlich keine gute Sache
für das Zweck-Mittel-Denken, wenn es als Dauervermittler zwischen
Wahrnehmungs-Inputs und Verhaltens-Outputs aktiv sein müsste.
Das Zweck-Mittel-Denken nimmt Zeit in Anspruch, doch die Hand
lung kann nicht immer auf die Überlegung warten. Wenn wir jedes
M al innehielten und überprüften, ob wir wirklich das Beste tun, wäre
der Zeitpunkt zum Handeln normalerweise schon vorbei. Meistens
also erlauben wir unseren feststehenden Dispositionen einfach, dass
sie uns lenken. Aber manchmal, wenn die Dinge schwerer wiegen
und die Zeit nicht drängt, verzögern wir die Handlung und aktivie
ren an dessen Stelle unsere Fähigkeit zum Zweck-Mittel-Denken.
(Man kann sich dies wiederum selbst als eine feststehende Disposi
tion denken, die ausgelöst wird, wenn die Dinge schwerer wiegen
und die Zeit nicht drängt.) Nachdem das Zweck-Mittel-Denken
seine Arbeit erledigt hat, verändern wir unsere momentanen Disposi
tionen und lassen erneut zu, dass sie uns lenken.22
22 Man beachte, dass man gerade in dieses Modell, in dem das Zweck-Mittel-Denken
unsere Handlungsdispositionen »neu ausrichtet«, leicht Pläne integrieren kann,
d. h. komplizierte und zur Erreichung eines Ziels notwendige Handlungsabfolgen.
Dazu ist lediglich erforderlich, dass das Zweck-Mittel-Denken vielfältige Hand
lungsszenarien zu erzeugen vermag, die eine Verhaltensabfolge auslösen, wenn eine
Abfolge entsprechender Reize angetroffen wird. (Einige davon können auch ein
fach in der Vervollständigung vorhergehender Verhaltensweisen bestehen.)
28 8
5 -v Abschließende Spekulationen
23 Ich erachte es zugleich für unbestritten, dass das Zweck-Mittel-Denken eine he
rausragende Rolle in der nicht-biologischen Entwicklung der menschlichen Zivili
sation spielte, nachdem es erst einmal biologisch in Erscheinung getreten war.
24 Ich sollte vielleicht deutlich machen, dass mein Begriff von >Sprache< sowohl die
mentale Verarbeitung internalisierter Sätze einer öffentlichen Sprache als auch
die offene Äußerung dieser Sätze umfasst.
289
Stelle habe ich eine Sprache für besondere Tatsachen von einer Spra
che für allgemeine Tatsachen unterschieden. Vielleicht hat sich die
Sprache für besondere Tatsachen - wie an früherer Stelle eingeführt -
ganz und gar zu kommunikativen Zwecken entwickelt, während sich
die Sprache für allgemeine Tatsachen primär im Dienste des Zweck-
Mittel-Denkens entwickelt hat. Oder vielleicht hat sich die Spra
che für allgemeine Tatsachen unter dem ko-evolutionären Druck
des Zweck-Mittel-Denkens und der Kommunikation entwickelt.
Oder sonst etwas. Es fällt nicht schwer, sich weitere Möglichkeiten
auszudenken.
Alle diese Vorschläge nehmen auf die eine oder andere Weise an,
dass das Zweck-Mittel-Denken zusammen mit der Sprache aufge
treten ist. Das ist in der Tat eine attraktive Annahme. Denn zum einen
führt die kombinatorische Struktur der Sprache ganz natürlich zu
jener Art von Inferenz, die für das Zweck-Mittel-Denken zentral
ist. Darüber hinaus erklärt diese Annahme unmittelbar, weshalb das
Zweck-Mittel-Denken den Menschen Vorbehalten ist.
Dennoch sind Spekulationen interessant. Könnten sich einige For
men des Zweck-Mittel-Denkens ursprünglich nicht unabhängig von
der Sprache entwickelt haben? Eine naheliegende Hypothese könnte
lauten, dass sich das Zweck-Mittel-Denken in einem Anfangsstadium
die bildliche Vorstellungskraft zunutze gemacht hat. Unsere Vorfah
ren spielten zahlreiche Szenarien vor ihrem »geistigen Auge« durch
und machten sich dies für die Entscheidung zwischen alternativen
Handlungsabläufen zunutze.
Diese Verwendung der bildlichen Vorstellungskraft ist so vertraut,
dass sie in theoretischen Kontexten einfach vorausgesetzt wird. Doch
diese Vertrautheit ist trügerisch. Es gibt hier eine Menge theoretischer
Rätsel. Ist das Zweck-Mittel-Denken die primäre Funktion der bild
lichen Vorstellungskraft? Welche Beziehung unterhält diese »bildliche
Antizipation« zur Erinnerung? Ist die Verwendung der bildlichen Vor
stellungskraft für das Zweck-Mittel-Denken eine Verallgemeinerung
bereichsspezifischer Verwendungen wie etwa der räumlichen M ani
pulation von Gegenständen oder, wie zuvor schon besprochen, der
räumlichen Orientierung? Um auf ein zentrales. Thema dieses Ab
schnitts zurückzukommen - wie konnten die Ergebnisse des bild
lichen Vorstellens die Macht gewinnen, die bereits bestehenden Struk
turen der Handlungskontrolle zu beeinflussen?
Hier, als Antwort auf diesen letzten Punkt, eine weitere Hypothese:
290
Vielleicht war es ein entscheidender evolutionärer Schritt, als sich
unsere Vorfahren die Fähigkeit aneigneten, komplexe Handlungsab
folgen anderer zu imitieren. Dazu war es erforderlich, das Tun ihrer
Lehrer visuell zu repräsentieren, das erfolgreiche Ergebnis zu würdi
gen und dann diese bildliche Information in eine Handlung zu über
setzen. War dies erst einmal möglich, könnte es ein kleiner evolutionä
rer Schritt gewesen sein, eine vorgestellte visuelle Repräsentation des
eigenen voraussichtlich erfolgreichen Verhaltens in eine Handlung zu
übersetzen.
Wir haben genug Spekulationen, um weiterzumachen. Sie setzen
bereits das Programm für eine Reihe weiterer Aufsätze fest. Ich hoffe,
dass dieser Aufsatz zumindest zeigen konnte, dass das Zweck-Mit
tel-Denken ein Thema ist, das lohnenswert genug ist, um es weiterzu
verfolgen.
Aus dem Englischen übersetzt von M arkus W ild
291
John Dupre
Gespräche mit Affen
Reflexionen über die wissenschaftliche
Erforschung der Sprache
Ich danke R. Gagnier und D. Satz dafür, dass sie mich auf zahlreiche Unklarheiten in
einer früheren Fassung aufmerksam gemacht haben.
* [A. d. Ü.: Im Englischen wird zwischen >apes< und >monkeys< unterschieden. Der
erste Ausdruck bezieht sich auf die sog. Menschenaffen (Gorillas, Orang-Utans,
Schimpansen, Bonobos und Gibbons), der zweite auf alle anderen Affenarten der
Alten und der Neuen Welt. Zusammenfassend wird von >primates< gesprochen.
Sprachversuche werden nur mit Menschenaffen (sogar nur mit großen Menschenaf
fen, nicht mit Gibbons) durchgeführt. Deshalb wird im Folgenden einfach der Aus
druck >Affe< verwendet (und nicht ausdrücklich Menschenaffe<), wenn im engli
schen.Text >ape< steht.]
1 Für eine kurze Zusammenfassung vgl. A. Premack, Why Chimps Can Read, New
York: Plarper & Row 1976, Kap. 2.
2 B. Gardner und A. Gardner, »Two-Way Communication with an Infant Chimpan-
zee«, in: Behavior o f Non-Human Prim ates (Bd. IV), hrsg. von A. M. Schrier und
F. Stollnitz, New York: Academic Press 19 7 1, S. 117-183.
3 Die wirkliche Zahl mag höher liegen, vielleicht bei mehreren Hundert. Es werden
Kriterien von unterschiedlichem Grad an Strenge angewendet, um zu entscheiden,
ob das Tier bestimmte Zeichen wirklich beherrscht hat.
29 5
von anderen Schimpansen4 sowie ein Gorillapaar5 und ein Orang-
Utan6 in der Gebärdensprache unterrichtet worden. D. Premack,7
D. Rumbaugh8 und S. Savage-Rumbaugh9 haben dagegen eine ganz
andere Strategie verfolgt. Sie versuchten, Schimpansen vollkommen
künstliche symbolische Systeme beizubringen. Das bedeutet, dass
diese in einem ersten Schritt lernen mussten, Metallstücke in unter
schiedlichen Farben und Formen der Reihe nach auf eine Magnettafel j
zu legen, um dann in einem zweiten Schritt Tasten auf einer speziell
gestalteten Computertastatur zu drücken. Der Unterschied zwischen
der Gebärdensprache und anderen Forschungsansätzen wird weiter I
unten diskutiert.
Diese Forschung wirft zahlreiche interessante Fragen a u f Ich j
möchte die derzeitige Diskussion in drei Hauptkategorien einteilen, j
Zuerst möchte ich kurz betrachten, was diese verschiedenen Affen ]
wirklich zu tun gelernt haben. Zweitens möchte ich im Hauptteil die
ses Kapitels verschiedenen Einwänden nachgehen, die gegen die Be
hauptung erhoben wurden, diese Affen hätten genuin sprachliche Fä
higkeiten erworben. Diese Einwände verdeutlichen, in welcher Weise
die entsprechende Forschung wichtige methodologische Fragen zur
wissenschaftlichen Untersuchung der Sprache aufwirft. Schließlich
möchte ich einige der unterschiedlichen Ziele und Interessen betrach
ten, die diesem Forschungsprogramm und der Kritik daran zugrunde
liegen.
4 Vgl. R. Fouts, »Acquisition and Testing in Four Young Chimpanzees«, Science 180
(I973), S. 978-980; H. Terrace, N im , New York: Columbia University Press 1987.
5 F. Patterson und E. Linden, The Education ofKoko, New York: Holt, Rinehart und
Winston 1981.
6 H. L. Miles, »Apes and Language. The Search for Communicative Competence«, in:
Language in Prim ates, hrsg. von J. de Luce und H. T. Wilder, New York: Springer
1983.
7 »Teaching Language to an Ape«, Scientific Am erican 227 (1972), S. 92-99.
8 Language Learning by a Chimpanzee: The Lana Project, New York: Academic Press
1977. ■
9 Ape Language, New York: Columbia University Press 1986.
296
i. W as lernen A ffen?
Die Behauptung, dass Affen - wenn auch nur bis zu einem gewissen
Grad - eine Sprache beherrschen, hat eine riesige Kontroverse aus
gelöst. Ein Hauptpunkt in dieser Kontroverse betrifft die Frage, ob
Affen jemals irgendwelche syntaktischen Fähigkeiten erwerben.10 An
gesichts der weithin geteilten Idee von N . Chomsky, dass das Wesen
der Sprache in ihren unendlichen produktiven Kräften liegt, die in
der Syntax wurzeln, ist dieses Problem oft dahingehend interpretiert
worden, dass die Äußerungen11 von Menschenaffen nicht wirklich
sprachlich sind. Andererseits wird in der Debatte anscheinend weit
gehend eingeräumt, dass die Frage, was für die syntaktische Kompe
tenz denn erforderlich sei, vollkommen ungeklärt ist; ich möchte sie
hier übergehen.
Ziemlich klar ist, dass man Affen beibringen kann, ein ganz be
trächtliches Repertoire von Symbolen zu verwenden (das Gorillaweib
chen Koko, allem Anschein nach der Star auf diesem Gebiet, soll über
ein Vokabular von rund 150-600 Wörtern verfügen, je nach Strenge
der Kriterien, die angewendet werden12). Auch wenn dies etwas um
strittener ist, kann man zudem sagen, dass Affen gewisse Sprechakte
vollziehen können. Diese beiden Behauptungen werden hinreichend
durch eine Leistung veranschaulicht, bei der weitgehende Überein
stimmung darüber herrscht, dass Affen dazu in der Lage sind: etwas
zu verlangen. Meistens zeigt sich in den Äußerungen, die von sprach-
trainierten Affen berichtet werden, dass sie verschiedene Nahrungs
mittel und Getränke, Kitzeleien und andere bevorzugte Vergnügen
einfordern. Angesichts der Tatsache, dass diese Forderungen durch
die Verwendung von wesentlich arbiträren Symbolen (von Zeichen,
einer Auswahl von Tasten, die mit geometrischen Symbolen gekenn
zeichnet sind, usw.) erfolgen, scheint es klar, dass diese Affen Sym
bole verwenden können. Dagegen wird gelegentlich eingewandt, dass
10 Unter denjenigen, die syntaktische Fähigkeiten bei Affen infrage stellen, befindet
sich bemerkenswerterweise einer der führenden Forscher in diesem Gebiet, H. Ter-
race, N im , op. cit.
11 Ich verwende den Terminus >Äußerung< durchgehend, um auf die mutmaßlich
sprachlichen Produkte von Affen Bezug zu nehmen. Es liegt auf der Hand, dass
Affen nicht im strengen Sinn etwas »äußern«; aber diese Verwendung hat sich einge
bürgert.
12 F. Patterson und E. Linden, The Education ofKoko, op. cit., S. 84.
297
alles, was dabei geschehen ist, darin besteht, die Affen in einer kru
den Weise ä la Skinner so zu kpnditionieren, dass sie bestimmte
erwünschte Resultate hervorbringen. Dieser Ansicht nach tut ein
Affe, von dem man sagt, er gäbe das Zeichen >Gib mir eine Banane<,
im Wesentlichen das Gleiche wie eine Ratte, die zum Drücken eines
roten Schalters trainiert worden ist, um ein Nahrungskügelchen zu
erhalten.
Man könnte vielleicht erwidern, dass der Ratte tatsächlich bei
gebracht worden ist, dass Rot Kügelchen bedeutet und dass sie da
durch eine minimale semantische Kompetenz erworben hat. Doch
im Allgemeinen richtet sich der Kern der Kritik darauf, dass der Affe -
und a fo rtio ri die Ratte - nicht weiß, dass sein Zeichen - etwa >X<—
Banane bedeutet. Und sicherlich ist man nicht geneigt, dieses Wissen
der Ratte zuzuschreiben, wahrscheinlich weil es sparsamer erscheint,
der Ratte lediglich die kausale Überzeugung zuzuschreiben, dass das
Drücken des Schalters Nahrung bringt. Der Kritiker möchte das Glei
che über den Affen sagen: Das Zeichen >Gib mir eine Banane< zu
geben ist im Wesentlichen das Gleiche wie einen Baum zu schütteln,
damit Bananen herunterfallen. Wahrscheinlich sollte man nicht an
nehmen, die Zurückweisung dieser Kritik erfordere den Nachweis,
dass Affen explizit semantische Überzeugungen hätten, z. B. die Über
zeugung, dass >X< Banane bedeutet.. Die Beherrschung eines derarti
gen semantischen Aufstiegs würde sicherlich die meisten Kleinkinder
und viele Erwachsene von unseren Sprachgemeinschaften ausschlie
ßen; Sätze wie »>Banane« bedeutet Banane< sind ja ziemlich raffinierte
Bestandteile von philosophischen Spielereien. Es wäre viel vernünf
tiger zu fordern, dass man fähig sein muss, mit >X< mehr zu tun, als
lediglich ein Verlangen zu äußern, damit das Verwenden von >X< als
Symbol gilt (allerdings beachte man die berühmten Sprachspiele in
Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, §§ 1-7).
Diese Forderung scheint in der neueren Affensprachen-Forschung
ziemlich weitgehend berücksichtigt worden zu sein. Die Tatsache, 1
dass die Fähigkeit eines Affen, ein Symbol auf eine besondere Weise
zu verwenden, nicht zur Folge hat, dass er alle Fähigkeiten besitzt,
die wir natürlicherweise mit dem Wissen von der Bedeutung eines
gewöhnlichen Substantivs verbinden, ist durch einige Experimente
von Savage-Rumbaugh schön gezeigt worden.13 Beispielsweise kann
29 8
Affen beigebracht werden, Äußerungen zu produzieren, die für das
Fordern von verschiedenen verfügbaren Nahrungsmitteln geeignet
sind. Doch die Affen geben keinen Hinweis darauf, dass sie in an
gemessener Weise als Adressaten der gleichen Äußerungen antworten
können, z. B. indem sie den genannten Gegenstand aus einer Gruppe
von Gegenständen auswählen. (Eine ähnliche Trennung von sprach
licher Produktion und Rezeption ist auch in der Sprachentwicklung
von Kindern festgestellt worden.) Andererseits ist es ebenso klar, dass
dies nicht der typische Fall für trainierte Affen ist. In den oben er
wähnten Experimenten zeigten die Tiere - sobald sie die Fähigkeit er
worben hatten, bestimmte Äußerungen ebenso zu beantworten wie
selber zu produzieren — keine Schwierigkeit, diese Fertigkeit in Be
zug auf neu erworbene Zeichen zu verallgemeinern. Viel verblüffen
dere Illustrationen für den flexiblen Zeichengebrauch können aus
den Berichten der Forschungsarbeiten von Patterson gewonnen wer
den. Sie berichtet von Beschreibungen, die ihre Gorillas von gegen
wärtigen und vergangenen Ereignissen gemacht haben, sowie von
Witzen, Drohungen und Beleidigungen. Von Koko wird berichtet,
sie verwende Zeichen, wenn sie mit ihren Puppen spiele (obwohl sie
anscheinend verlegen ist, wenn sie dabei beobachtet wird), und dis
kutiere sogar über den Tod:
29 9
2. K ritik an der A ffensprach en-Forsch u ng
300
dass diese Gegenüberstellung den Schwerpunkt der verschiedenen Ex
perimente recht gut aufzeigt und dass sie auch dazu dient, die Haupt
linien der Kritik an diesen Experimenten voneinander zu unterschei
den.
Zwei prominente Kritiker der Affensprachen-Forschung, J. Umi-
ker-Sebeok und T. A. Sebeok, unterscheiden in nützlicher Weise drei
Hauptlinien einer solchen Kritik.15 Diese sind (i) ungenaue Beob
achtungen und/oder Aufzeichnungen des Affenverhaltens; (2) die
Überinterpretation des Affenverhaltens; (3) die unbeabsichtigte Ver
änderung des Verhaltens eines Tiers in Richtung der erwünschten
Resultate. Ich werde im Folgenden jeden dieser Kritikpunkte prüfen.
Vorwürfe bezüglich ungenauer Beobachtung und Aufzeichnung
richten sich insbesondere gegen die Forschung, die Gebärdensprache
verwendet. Beispielsweise zitiert D. Premack16 eine Studie von M . S.
Seidenberg und L. A. Petitto17 (Mitarbeiter von Terrace), die nahe legt,
dass die Bandaufzeichnungen von Washoes Verhalten und die von
den Gardners publizierten Berichte oft in signifikanter Weise nicht
übereinstimmen, wenn man sie vergleicht. Wenn z. B. von Washoe be
richtet wird, sie habe auf eine Frage mit den Zeichen für >du mir/
mich< geantwortet, war die wirkliche Antwort >du mir/mich du aus
mir<, wie man auf dem Videoband sah. Premack bemerkt, dass »die
Gardners anscheinend etwa Folgendes angenommen haben: Wenn
wir aus der durcheinander geratenen Nachricht des Affen extrahie
ren können, was der Affe zu sagen versucht, kann dies der Affe auch<.«
Diese Aussage mag zwar sicher sehr »unwissenschaftlich« klingen, aber
weiteres Nachdenken darüber führt vielleicht dazu, dass man sich Fra
gen stellt. Wenn das, was der Affe produziert, wirklich eine Art von
Sprache ist, sollten wir doch keineswegs überrascht sein, dass vom
Zuhörer wie üblich verlangt wird, ein gewisses Maß an Interpretation
für die kommunikative Interaktion aufzubringen. Wörtliche Trans
kriptionen von Gesprächen —sogar von Gesprächen zwischen sprach-
kompetenten menschlichen Erwachsenen - sehen typischerweise ganz
anders aus als die grammatikalisch korrekte Schriftsprache. Dies ver
anlasst uns aber nicht, daran zu zweifeln, dass eine erfolgreiche und
beabsichtigte Kommunikation stattfindet. Sogar bei den noch signi
15 »Questioning Apes«, in: Speaking ofApes, hrsg. von T. A. Sebeok und J. Umiker-
Sebeok, New York: Plenum 1980, S. 9.
16 Gavagai, Cambridge (Mass.): Bradford Books/MIT Press 1986, S. 32.
17 »Signing Behavior in Apes: A Critical Review«, Cognition 1 (1979), S. 177-215.
301
fikanter abweichenden Äußerungen von Kleinkindern glauben wir
bereitwillig, dass Eltern oft verstehen, was gesagt wird.
Zwei besondere Umstände verstärken das berechtigte Anliegen, in
diesen Fällen Nachsicht zu üben. Erstens wird oft festgestellt, dass
Affen — insbesondere Schimpansen - typischerweise auf einem ho
hen Niveau von Aktivität, ja von Aufregung operieren. Der repeti-
tive Sprachstil, der oft wörtlich transkribiert wird, scheint in hohem
Maße mit diesem Merkmal übereinzustimmen.18 Noch bedeutender
ist, dass die besonderen Charakteristika einer Gebärdensprache wie
»Ameslan« eine größere Subtilität bei der Interpretation eines Spre
chers erfordern, als dies in einer normalen englischen Konversation
der Fall ist.19 Es scheint, dass muttersprachliche Gebärdensprachler
eine Reihe von Flinweisen verwenden wie die Lokalisierung der Ge
bärde im Raum rund um den Körper, die Blickrichtung oder den
Gesichtsausdruck, um verschiedene syntaktische und andere Aspekte
einer Äußerung zu vermitteln, die auf ökonomische Weise nicht an
hand unabhängiger symbolischer Einheiten vermittelt werden kön
nen. Daher ist die Übersetzung von einer Gebärdensprache in eine
gesprochene Sprache an sich sogar noch viel komplexer als die von
einer gesprochenen Sprache in eine andere gesprochene Sprache. So
mit kann man die Behauptung, dass Personen, die über längere Zeit
mit Gebärdensprache verwendenden Affen gearbeitet haben, be
trächtliche und subtile Fähigkeiten zur Interpretation dessen erwer
ben können, was die Affen sagen, nicht schlichtweg aufgrund einer
naiven wörtlichen Interpretation abweisen.
Die bislang erwähnten Punkte machen nach und nach die Schwie
rigkeiten deutlich, die sich hinsichtlich der zweiten allgemeinen Linie
der Kritik stellen, nämlich dass das Verhalten der Affen im Lichte
der Erwartungen des Experimentierenden oft durch ein Wunschden-
302
ken überinterpretiert wird. Sie zeigen natürlich nicht, dass derartige
Interpretationen von Affenäußerungen in der Gebärdensprache tat
sächlich ein sicheres Fundament haben. Ich würde sicherlich meine
Kompetenzen überschreiten, wenn ich zu dieser Frage irgendein all
gemeines Urteil fällen würde. An dieser Stelle möchte ich aber die
Tatsache betonen, dass es anscheinend fundamentale Konflikte gibt
zwischen intrinsischen Merkmalen dieser Art von Forschung und
gemeinhin geteilten Idealen der wissenschaftlichen Forschung. Ganz
offensichtlich wird weithin angenommen, dass Daten, die vom For
scher eine Interpretation verlangen - gar eine umstrittene Interpre
tation - , wissenschaftlich inakzeptabel sind. Seit dem Niedergang
des klassischen Positivismus ist man sich natürlich allenthalben be
wusst, dass alle Daten bis zu einem gewissen Grad im Lichte eines
theoretischen Hintergrundes interpretiert werden - dieses Bewusst
sein ist sogar weitgehend für den Niedergang des Positivismus verant
wortlich. Beobachtungen und Beschreibungen von Elektronen, tek
tonischen Platten oder Plackordnungen können nicht unabhängig
von den theoretischen Kontexten existieren, in denen diesen Termini
eine Bedeutung gegeben wird. Trotz des Bewusstseins für diesen Sach
verhalt gibt es doch verschiedene Faktoren, die den Anspruch auf
Objektivität aufrechterhalten. Erstens: Der theoretische Hintergrund
kann zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt unumstritten sein.
So wird z. B. die Beobachtung eines Elektrons, das durch eine Ne
belkammer hindurchgeht, oft als eine paradigmatisch objektive Be
obachtung angesehen - trotz des gegenwärtigen Antirealismus in
der Wissenschaftstheorie. Zweitens: Die Reproduzierbarkeit wissen
schaftlicher Daten gilt als sehr wichtig. Ohne in irgendeiner Weise
die Rolle der Interpretation bei der Beschreibung von Daten zu
schmälern, kann man doch sagen, dass dies eine starke Form von In
tersubjektivität gewährleistet. Jeder Forscher - so nimmt man an -
kann bestätigen, dass eine bestimmte A rt von Experiment tatsäch
lich eine bestimmte Art von Resultat liefert.
Es ist klar, dass keine dieser Überlegungen zugunsten von Objek
tivitätsansprüchen sogleich auf die Forschung mit Affensprache an
gewendet werden kann. Die umstrittenen Interpretationen der Ge
bärdenzeichen von Affen erfordern die Annahme eines theoretischen
Hintergrundes, dem zufolge die Affen versuchen, etwas zu kommu
nizieren, wenn sie Gebärdenzeichen geben. Dies ist aber keineswegs
unumstritten - genau das wollen die Kritiker bestreiten. Aber es wäre
30 3
vollkommen unmöglich, die Möglichkeit zu untersuchen, ob Affen
etwas sagen, ohne dabei zumindest als Arbeitshypothese anzuneh
men, dass sie genau dies versuchen. Das Problem der Reproduzier
barkeit möchte ich weiter unten diskutieren. Es lohnt sich aber, hier
zu betonen, dass Reproduzierbarkeit in einer recht paradoxen Be
ziehung zu derartigen Untersuchungen steht. Verkürzt ausgedrückt
könnte man sagen: Je beeindruckender ein bestimmtes sprachliches
Verhalten ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es reproduziert wer
den kann. Genau dieser Gegensatz liegt dem Skeptizismus bezüglich
einer Affensprache zugrunde: A u f der einen Seite steht Sprache als
eine kreative und spontane Form von Verhalten, auf der anderen Seite
Sprache als eine Menge von stereotypen Tätigkeiten, die als etwas
verstanden werden können, das nicht mehr als eine kausale und se
mantisch unschuldige Manipulation der Umgebung ist. Definitions
gemäß lässt die zweite Art von Sprache, nicht aber die erste, voraussag
bare und zuverlässige Wiederholung zu.
Zusätzlich zu diesen anscheinend unüberwindbaren Hindernis
sen, die sich gewissen Konzeptionen einer akzeptablen objektiven
Datenproduktion in den Weg stellen, gibt es bei dieser Forschung
einen Aspekt, der wohl positiver - und anstößiger - subjektiv erschei
nen mag. Ideale von wissenschaftlicher Objektivität weisen dem un
voreingenommenen und emotionslosen Beobachter typischerweise
eine zentrale Rolle zu. Es ist aber klar und wird auch allgemein zuge
standen, dass eine Person, die einen beträchtlichen Teil ihres Lebens
der Arbeit mit einem hochintelligenten und interessanten Geschöpf
gewidmet hat, alles andere als unvoreingenommen und emotionslos
ist.20 Ein einleuchtendes Merkmal für diese affektive Bindung zwi
schen Forscher und Proband ist, dass der Forscher natürlich auf den
Erfolg seiner Probanden beim Spracherwerb bedacht ist-wahrschein
lich genauso, wie typisch menschliche Eltern darauf bedacht sind,
dass sie mit der Erziehung ihret Kinder Erfolg haben werden. Ein
emotionales Engagement fxxr ein bestimmtes Resultat eines Experi
ments ist aber den Konzeptionen von wissenschaftlicher Objektivi
tät ganz und gar ein Greuel. (Ob Wissenschaftler den Resultaten ihrer
Experimente typischerweise mit vollkommenem Desinteresse begeg
nen, ist wohl keine Frage, die man ernsthaft stellen kann. Angesichts
des Systems von Auszeichnungen in den wissenschaftlichen Berufs
304
gruppen würde Desinteresse wohl eine unglaubliche geistige Erha
benheit darstellen. Aber dies ist ein anderes Thema.)
Wie bei den anderen Aspekten von Objektivität kann man aller
dings auch hier den Verdacht hegen, dass die offenkundigen Nach
teile dieser Forschung unvermeidbar sind. Trotz allem ist es möglich,
dass der Affe —genau wie ein Menschenkind —nur dann lernen wird,
wenn ihm ein Mensch, zu dem er eine affektive Bindung spürt, zeigt,
dass ihm etwas am Lernen liegt. Ein Großteil des menschlichen Ler
nens wäre einer vollkommen unbeteiligten und »objektiven« Unter
suchung wohl nicht zugänglich. Zudem könnte es - um zu einem frü
heren Punkt zurückzukehren —sehr wohl der Fall sein, dass jemand,
der mit den Interessen und Eigentümlichkeiten eines Affen eng ver
traut ist, viel mehr Möglichkeiten hat, die sprachlichen Anstrengun
gen eines Affen zu verstehen, als ein emotionsloser und desinteressier
ter wissenschaftlicher Beobachter.21
Der allgemeine Tenor der bisherigen Diskussion kann folgender
maßen zusammengefasst werden: Was diese Kritik an der Forschung
mit Affensprache wirklich veranschaulicht, ist höchstwahrschein
lich ein sehr grundlegender Konflikt zwischen den Idealen der wissen
schaftlichen Forschung und gewissen Formen von Sprachforschung.
Für gewöhnlich wird Alltagssprache in einem sehr emotionalen Kon
text gelernt, und affektive Aspekte der Kommunikation, auch zwi
schen kompetenten Sprechern, können kaum vollkommen von den
aseptisch semantischen Aspekten abgetrennt werden. Überdies ist
Sprache ohne Interpretation eindeutig eine inkohärente Konzeption,
und zwar in einem Sinn, der die Erforschung von umstrittenen Kan
didaten für Sprache von vornherein dergestalt ausschließt, dass wis
senschaftlichen Konzeptionen von Interpretationsabwesenheit Ge
nüge getan wird. Vielleicht hätten wir eine bessere Vorstellung von
der Sprachfähigkeit von Affen, wenn die Forschung von Literatur
wissenschaftlern betrieben worden wäre.
Forschung, die künstliche Sprachen verwendet, ist in einem be
trächtlichen Ausmaß durch den Versuch motiviert, diese Abweichun
gen in der Methodologie der »Ameslan«-Forschung von den geltenden
Normen der wissenschaftlichen Forschung zu vermeiden. Sequenzen
21 H . L. Miles, »Apes and Language«, op. cit., S. 57, und andere haben die Vermutung
geäußert, dass die fehlende Erkenntnis der Wichtigkeit, eine Beziehung mit seinem
Schützling Nim herzustellen, für einige der negativen Resultate von H. Terrace
verantwordich sein mag.
30 5
von farbigen Formen oder von Anschlägen auf einer Computertasta
tur stellen im Gegensatz dazu »saubere« und unzweideutige Daten
dar. Ein anderer Vorteil dieses Ansatzes wird aus der vorherigen Dis
kussion ersichtlich. Ich habe oben bemerkt, dass eine Voraussetzung
für die Interpretation der interessanteren und reizvolleren Affenäuße
rungen in der Arbeitshypothese bestand, dass die Affen zu kommu
nizieren versuchten. Dies legt nahe, dass im Prozess der Interpretation
eine deutliche, wenn auch nicht notwendigerweise fatale Zirkularität
liegt. Es ist ein reizvolles Ziel, diese Hypothese in einem strengeren
analytischen Beweis zu verankern, nämlich dass Affen Symbole mit
kommunikativer Absicht verwenden können und dies tatsächlich
auch tun. Prim a facie kann eine solche Unterstützung tatsächlich an
hand der Forschung mit künstlicher Sprache gewonnen werden.
Die analytisch detaillierteste Studie zum Symbolerwerb bei Affen
ist wahrscheinlich die Forschungsarbeit von S. Savage-Rumbaugh.22
Das hervorstechende Merkmal dieser Forschung ist der Versuch, eine
Reihe von verschiedenen Möglichkeiten, wie ein Affe Symbole ver
wenden kann, auseinander zu nehmen und diese Möglichkeiten un
abhängig voneinander zu testen. Ein bemerkenswertes Ergebnis die
ser Arbeit ist die Beobachtung, dass Affen ohne besonderes Training
häufig nicht in der Lage sind, von einer Art der Symbolverwendung
in Bezug auf andere Symbolverwendungen zu verallgemeinern. Dies
veranlasst Savage-Rumbaugh zu Skepsis gegenüber der Frage, ob alle
Affen, die in den fraglichen Experimenten untersucht wurden, die
ganze Bandbreite von Fähigkeiten erworben haben. Offensichtlich
zeigt ihre Arbeit jedoch, dass Affen lernen können, Symbole zu ver
wenden und zu verstehen, auf abwesende Objekte Bezug zu nehmen,
spontane Kommentare zu machen und ihre beabsichtigten Hand
lungen anzukündigen. In einer besonders interessanten Versuchsreihe
wurde ein Affe aufgefordert, von einem anderen Affen Werkzeuge
(Schlüssel, Strohhalme, Magnete usw.) zu verlangen, die er brauchte,
um an Nahrung zu gelangen. Dabei bewies er die Fähigkeit, Spra
che zur Erleichterung kooperativer Unternehmungen zu verwenden.
Und Affen sind sogar imstande, sich gegenseitig Symbole beizubrin
gen. (Patterson und Linden berichten eingehend von einem amü
santen Versuch Michaels —einem Gorilla, der später zu ihren Experi
menten dazu kam - , einen seiner Trainer in der Verwendung eines
306
Zeichens zu unterrichten.23 Fouts berichtet von Washoes Versuchen,
einem adoptierten Schimpansenkind Zeichen der Gebärdensprache
beizubringen.24) Schließlich eignen sich einige Affen anscheinend
ein signifikantes Verständnis von gesprochenem Englisch an. Patter
son und Linden nehmen diese Fähigkeit auch für Koko in Anspruch.
M it Verweis auf negative Resultate mit ihren Hauptprobanden, den
Schimpansen Sherman und Austin, beurteilt Savage-Rumbaugh diese
Behauptung allerdings skeptisch. Jedoch berichtet Savage-Rumbaugh
von neueren Forschungen mit dem Zwergschimpansen {Panpaniscus)
Kanzi, wobei sie zeigt, dass dieser Affe eine Reihe von gesprochenen
Wörtern versteht.25 (Dieses ziemlich erstaunliche Tier erwarb offen
sichtlich signifikante sprachliche Fähigkeiten, einschließlich eines
partiellen Verständnisses von gesprochenem Englisch, ohne dass ein
gezieltes Training erfolgte. Savage-Rumbaugh vermutet, dass diese
seltene und wenig erforschte Spezies möglicherweise über eine er
heblich größere Sprachbegabung verfügt als der gemeine Schim
panse {Pan troglodytes). Pattersons gelegentliche Andeutungen, G o
rillas seien talentierter als der gemeine Schimpanse, können nicht
einfach zurückgewiesen werden. Und von Orang-Utans wird berich
tet, dass sie trotz ihres ruhigeren Temperaments bei verschiedenen
kognitiven Tests besser abschneiden als Schimpansen oder Gorillas.26
Die Vorliebe für bestimmte Spezies ist ein gelegentlich amüsanter Sub
text bei diesem Thema.)
Die Forschung von Savage-Rumbaugh ist reichverziert mit allen Or
den der respektablen wissenschaftlichen Forschung: Kontrollen ver
schiedener Art, »Doppelblind«-Experimente, sorgfältige statistische
Datenanalysen und unzweideutige Computeraufnahmen von Daten.
Die Belege scheinen auf eindrucksvolle Weise zu demonstrieren, dass
Affen kommunizieren können, wenn sie entsprechend angeleitet wer
den, und dass sie dies mit voller Absicht tun.
Diese wissenschaftlichen Tugenden haben indessen nicht genügt,
um die Kritiker zum Schweigen zu bringen. Dies führt mich zur drit
ten und vielleicht tiefgreifendsten Kritik an den Studien zur Affen
sprache, nämlich zum Problem der ungewollten Hinweise oder der
307
Manipulation eines Tiers zur Produktion des erwünschten Resultats.
Manchmal nennt man das auch »Kluger-Hans-Effekt« - nach dem
berühmten Pferd, das viele Leute davon überzeugte, dass es rechnen
könne. Wenn man Hans eine Rechenaufgabe gab, schlug er mit sei
nem H u f ein paar M al auf den Boden, je nach Lösung der Aufgabe.
Untersuchungen brachten dann zutage, dass Hans auf äußerst subtile
Hinweise seiner Befrager reagierte, mit denen diese anzeigten, dass
er lange genug aufgeschlagen hatte; so lernte er, am richtigen Punkt
aufzuhören. Allgemeiner ausgedrückt: Es ist bekannt, dass Tiertrai
ner äußerst subtile Methoden zur Beeinflussung und Kontrolle des
Verhaltens ihrer Schützlinge entwickeln können. Obwohl von den
Affensprachen-Forschern große Anstrengungen unternommen wür
den, um diese Möglichkeiten auszuschließen, ist es anscheinend sehr
schwierig, Experimente zu entwerfen, die jeden möglichen Kommu
nikationskanal außer jenem, der von den Forschern intendiert wird,
ausschalten. Bei fast allen derartigen Experimenten ist ein Forscher
mit dem Affen zusammen. Dies lässt sich tatsächlich kaum vermei
den. Umiker-Sebeok und Sebeok stellen fest, dass die Affen normaler
weise während der Tests nicht ruhig sitzen bleiben, und bemerken:
Die Experimentierenden müssen viel Zeit au f die Interaktion mit dem Tier
verwenden, nur um es ausreichend unter Kontrolle zu bringen, damit sie in
der Lage sind, die Tests durchzufiihren —nicht unbedingt das, was man ideale
experimentelle Bedingungen nennen würde. Wenn versteckte Hinweise selbst
dann wahrscheinlich sind, wenn ein Proband ruhig und aufmerksam dasitzt,
dann sind sie noch viel wahrscheinlicher unter den chaotischen Bedingungen,
die durch die natürliche Reaktion eines Affen au f derartige von Menschen
gemachte Regeln geschaffen werden .27
Es mag beklagenswert sein, dass Affen so wenig Hingabe für den Fort
schritt der Wissenschaft zeigen, doch die Weigerung, eine ganze Bat
terie von psychologischen Tests ruhig sitzend über sich ergehen zu
lassen, ist kaum ein Anzeichen für einen Mangel an Intelligenz.
Forscher versuchen oft, die Möglichkeit versteckter Hinweise durch
die Anwendung sog. Doppelblind-Strategien zu vermeiden. Bei die
sen Strategien unterscheidet sich der Beobachter der Affentätigkeit
von dem Experimentierenden, der die Aufgabe stellt, und dieser kennt
die korrekte Antwort nicht. Diese Strategie kann ihre eigenen Pro-
308
bleme hervorbringen, vor allem das Problem, dass die elaborierten und
künstlichen Prozeduren, die damit verbunden sind, den Affen wahr
scheinlich von einer Kooperation abhalten. Patterson berichtet, dass
sich Koko häufig weigerte, bei solchen Tests zu kooperieren, und dass
sie bei einer solchen Gelegenheit beispielsweise auf jede Frage die glei
che Antwort gab. Dies ist eine verblüffende Illustration für das Prob
lem, dass die Interpretation von einer vorgängigen Überzeugung ab
hängt. Für Patterson, die vollkommen überzeugt ist, dass Koko fähig
ist, die Aufgabe zu erfüllen (nämlich vertraute Gegenstände zu identi
fizieren), liegt es auf der Pfand, dass Koko ihren Widerwillen gegen
eine langweilige Tätigkeit ausdrückt. Umiker-Sebeok und Sebeok hin
gegen, für die Kokos Kompetenz äußerst fragwürdig ist, stellen skep
tisch die Frage, ob diese Sitzungen als Reihen mit falschen Antworten
in der Analyse des Experiments berücksichtigt wurden.
Selbst wenn die Affen kooperieren, wird der Skeptiker wahrschein
lich nicht überzeugt sein. Je komplexer die experimentelle Situation
wird - so scheint es fast - , desto mehr mögliche Kanäle für unbe
absichtigte Kommunikation werden geöffnet. Es fällt beispielsweise
nicht schwer, sich versteckte Hinweise vorzustellen, die der angeblich
blinde Beobachter vielleicht verwendet, um herauszubekommen, was
der Affe »meint« (etwa sein nicht-sprachliches Verhalten). Wie Umi
ker-Sebeok und Sebeok betonen, sind die Experimentierenden, die au
ßenstehenden Beobachter, die blinden Beobachter, die naiven Beob
achter usw. noch nicht einmal allt dramatis personae. Um harte und
objektive Daten (oder einen Pressebericht) zu produzieren, gibt es ge
wöhnlich eine Kamera oder einen Videorecorder, der bedient wird;
zweifellos wird der Bediener das Experiment oft gut genug verste
hen, um zu wissen, welche Reaktion erwartet wird, und um so eine
mögliche Quelle von versteckten Hinweisen für das Tier darzustellen.
Von zentraler Bedeutung für die Verbreitung dieser Zweifel ist
ein wichtiges methodologisches Problem: die Verpflichtung zu einer
sparsamen Erklärung.28 Ockhams Rasiermesser beschneidet die Be
hauptungen der Affenforscher angeblich in zwei Richtungen. Erstens:
Wenn es - wie oben ausgeführt — einen Kanal gibt, durch den ein
menschlicher Beobachter oder Teilnehmer den Affen zur korrekten
Antwort auf eine Frage oder zu einer angemessenen Äußerung ge
bracht haben könnte, dann wird angenommen, die Schlussfolgerung,
28 Ibid., S. 14-21.
30 9
dass genau dies passiert ist, sei sparsamer als die Schlussfolgerung, dass
der Affe die Fähigkeit gezeigt hat, seine Äußerung oder Antwort ohne
Hilfe zu produzieren. Zweitens: Ockhams Rasiermesser wird gemein
hin gegen die kreativeren und innovativeren Sprachverwendungen
von Affen in Anschlag gebracht. Diese Verwendungen, so wird nahe
gelegt, könnten auf sparsamere Weise dem Irrtum oder dem Zufall
zugeschrieben werden. Ein weithin zitiertes Beispiel ist Washoes Pro
duktion der Gebärdenzeichen Wasser Vogeh, als sie zum ersten Mal
mit einem Schwan konfrontiert wird. Die Kritiker bemerken dazu,
dass Washoe in dieser Situation sowohl Wasser als auch ein Vogel ge
zeigt wurde. Die Annahme, ihre Äußerung beruhe auf der imagina
tiven Synthese, sich auf den Schwan als einen Wasservogel zu bezie
hen, sei somit überflüssig, Etwas anders gelagert ist der Bericht von
Patterson, dass sich Koko in einer besonders verstockten Laune wei
gerte, das Zeichen für Trinken (Daumen in Richtung Mund mit ge
schlossener Faust) zu machen, das sie vorher Tausende Male gezeigt
hatte. Grinsend machte sie dann endlich das Zeichen, aber am Ohr
und nicht zum Mund. Patterson interpretierte dies als eine Übung
in Humor.29 Wie erwartet halten Kritiker dagegen,30 es sei plausibler,
dies als Fehler zu interpretieren.31
3 10
Es ist schwierig, bei bestimmten Disputen den Schiedsrichter zu
spielen. Doch ein Punkt sollte betont werden: Sparsamkeit ist kaum
ein objektives, theorieunabhängiges Konzept. Warum ist es sparsamer,
in einem Doppelblind-Versuch einen komplexen und versteckten
Kommunikationskanal anzunehmen, als davon auszugehen, dass der
Affe weiß, was er tut? Wenn man glaubt, dass der Affe tatsächlich zu
dem zur Debatte stehenden Verhalten fähig ist, ist die zweite Erklärung
sicherlich sparsamer. Ebenso gilt: In der Koko-Anekdote ist für Pat
terson, die sich sicher ist, dass Koko das Gebärdenzeichen >trinken<
geben könnte, wenn sie nur wollte, die Interpretation im Sinne eines
Witzes ganz natürlich. Der Skeptiker, der nicht geneigt ist, dem Affen
sprachliche Fähigkeiten zuzugestehen, wird zur Ansicht tendieren,
dass jede alternative Erklärung plausibler ist. Welche Interpretation
natürlich oder »sparsamer« ist, hängt in beiden Fällen sehr von der
vorgängigen Überzeugung ab. Natürlich wird man dagegen den Ein
wand erheben, dass die freundliche Annahme zirkulär ist, weil sie ge
nau das ist, was das Experiment nachweisen soll. Aber dies ist irrelevant
für die vorgängige Wahrscheinlichkeit, die man an die Frage knüpft,
ob die Affen über die untersuchte Fähigkeit verfügen oder nicht.
Ich sollte vielleicht sagen, dass im »Klugen-Hans-Phänomen« mehr
steckt, das von Interesse ist, als meine Diskussion vielleicht vermuten
lässt. Der entscheidende Punkt ist folgender: Unabhängig von den
strittigen Fragen zu den sprechenden Affen gibt es ein großes Maß
an Kommunikation, das zwischen Menschen und Tieren möglich
ist. Sebeok bemerkt, dass »die zoosemiotische Kommunikation, die
in beide Richtungen erfolgt, somit nicht das Thema ist. Eine Kom
munikation, die durch verbale Mittel zwischen Mensch und Tier er
folgt, ist jedoch eine andere Sache.«32 Sebeoks Einwände gegen die
Forschung mit Affensprache beruhen auf seiner Ansicht, dass »der
>Kluge-Hans-Effekt< alle möglichen zweistelligen Interaktionen prägt,
ja dass er sie in der Tat auf heimtückische Weise infiziert, ob sie nun
zwischen Personen oder zwischen Mensch und Tier erfolgen, wobei
egalgut und machte sich mit dem Zeichen Schlecht davon. - Man kann leicht sehen,
wie diese Anekdote dahingehend interpretiert wird, dass sie einer Reihe von Anfor
derungen an Wissenschaftlichkeit nicht genügt. Mein allgemeiner Punkt ist aber,
dass dies nicht ausreicht, um zu zeigen, dass es unzulässig ist, solche Berichte im
offensichtlichen Sinn zu verstehen.
32 T. A. Sebeok, »Looking in the Destination for what should have been Sought in the
Source«, in: Sebeok und Umiker-Sebeok, op. cit., S. 426.
auch die Interaktionen lebender Organismen mit einem Computer
nicht ausgenommen sind«.33 (Man fragt sich nur, warum dies »heim
tückisch« sein soll. Welche sprachliche Essenz soll idealerweise aus
dem nicht-sprachlichen Geräusch destilliert werden?) Er betont auch,
dass die Bandbreite nonverbaler Mittel in einer solchen Kommuni
kation bislang noch nicht ausreichend verstanden worden ist. Aber
während es durchaus möglich ist, dass viele Affensprachen-Forscher
in Bezug auf diese Kommunikationsmittel naiv sind, ist doch nur
schwerlich einzusehen, warum die Existenz solcher Mittel die künst
lich etablierten Kommunikationskanäle, von denen sie reden, in Zwei
fel ziehen sollte. Gerade das Gegenteil würde man annehmen. Daher
verstehe ich nicht, wie der »Kluge-Hans-Effekt« bei all dem, was da
ran an sich interessant sein mag, uns zu einer skeptischen Interpreta
tion der Berichte von Affenäußerungen drängen sollte.
Ein letzter Punkt zu den Einwänden, die auf dem »Klugen-Hans-
Effekt« beruhen, ist besonders wichtig. Wie für den »Klugen Hans«
selbst, so gilt auch für die Art von Tätigkeit, bei der versteckte Hin
weise am wahrscheinlichsten sind, dass es sich dabei um eine T ä
tigkeit handelt, bei der es in entscheidender Weise richtige oder fal
sche Antworten gibt. Es sind also vielleicht ironischerweise genau
die Experimente, die saubere unzweideutige Daten liefern, die für
diesen kritischen A ngriff besonders anfällig sind. Wenn der Affe da
gegen eine Äußerung produziert, die neu und unerwartet ist, kann
diese Art von Kritik anscheinend überhaupt nicht greifen. (Somit
bewegt sich der Kritiker in diesen Fällen auf einem ganz anderen Ter
rain - dort geht es darum, einen Zufall oder Irrtum zu vermuten.) Pat
tersons Bericht darüber, wie Koko mit ihren Puppen schwatzt, aber
sofort damit aufhört, sobald sie feststellt, dass sie beobachtet wird,
kann kaum so verstanden werden, dass der Experimentierende unbe
wusste Hinweise gibt. Andererseits wird dies als »anekdotisch« bei
seite geschoben —das Wort der Verdammnis schlechthin im Lexikon
der wissenschaftlichen Normen. Es wird auf Berichte angewendet, die
ganz offenkundig den Anforderungen an angemessene Kontrollen
und Reproduzierbarkeit nicht genügen (vgl. etwa den Dialog, der
in Anm. 31 zitiert wurde). Die Ironie besteht darin, dass genau die
voraussagbaren, reproduzierbaren Reaktionen, die diesen Anforde
rungen tatsächlich genügen, anfällig für den Verdacht auf versteckte
33 Ibid.
3 12
Hinweise sind. Es scheint somit, dass die Forschung mit Affenspra
che beidseitig auf den Hörnern eines methodischen Dilemmas auf
gespießt ist. Einerseits gilt: Je genauer das Tierverhalten kontrolliert
wird und je besser es voraussagbar ist, desto schwieriger wird es,
den Vorwurf der Manipulation — erfolge sie nun bewusst oder an
ders - zurückzuweisen. Andererseits gilt: Je mehr Freiheit dem Tier
gegeben wird und je spontaner und unkontrollierter seine Äußerun
gen sind, desto mehr sinken die Berichte über sein Verhalten in die
wissenschaftlichen Niederungen des »Anekdotischen« ab. Es ist je
doch auch eine optimistischere Interpretation möglich, nämlich dass
beide Formen der Forschung wechselseitig die Schlussfolgerung stüt
zen, dass sich Affen tatsächlich mit Absicht und oft erfolgreich an
den bescheidenen Leistungen sprachlicher Kommunikation beteili
gen. Sofern die methodologischen Zwänge die Möglichkeit, ein sol
ches Ergebnis zu erzielen, a p rio ri auszuschließen drohen, sollten wir
vielleicht eher die Methodologie infrage stellen.
Ich glaube, dass es tatsächlich wichtige Anhaltspunkte für einen
starken Zweifel gibt, ob bestimmte methodologische Normen, die
in der bisherigen Diskussion erwähnt wurden, für diese Art von For
schung angemessen sind. Die Koppelung von Objektivitätsvorstellun-
gen, von wiederholbaren vs. anekdotischen Ergebnissen und der Ab
lehnung affektiver oder »interpretierender« Beziehungen zwischen
dem Experimentierenden und dem Probanden: Alles dies gerät zur
Konzeption von der angemessenen Rolle des wissenschaftlichen For
schers - eine Konzeption, die H. Hediger, ein weiterer prominenter
Kritiker der Forschung mit Affensprache, treffend formuliert hat. He
diger schreibt: »Die ideale Bedingung für alle derartigen Experimente
wäre dann gegeben, wenn das Versuchstier vom Leiter des Experi
ments vollständig isoliert wäre.«34 Wenn aber - was sicherlich nicht
unvernünftig ist - das Ziel des »Leiters des Experiments« darin be
steht, mit dem Versuchstier zu kommunizieren, scheint dies eine
ernsthafte Einschränkung zu sein. Wenn man überdies annimmt, dass
sprachliche Kommunikation untrennbar mit einer Palette von Aus
drücken verknüpft ist, die über das Aneinanderreihen von Zeichen
hinausgeht - davon gehen auch Umiker-Sebeok und Sebeok aus, neh
me ich an, obwohl solche Ausdrücke zweifellos in die verbotene Ka
tegorie der »versteckten Hinweise« fallen - , dann ist die Forderung
34 H. Hediger, »Do You Speak Yerkish? The Newest Colloquial Language with Chim-
panzees«, in: T. A. Sebeok und J. Umiker-Sebeok, op. cit., S. 409.
3 13
nicht nur unmöglich, sondern in ihrer Motivation auch fehlgeleitet.
Wie ich angedeutet habe, kann die Schwierigkeit mit Blick auf ein
sehr allgemeines Bild von der Rolle des Wissenschaftlers verstan
den werden. Die Ideale von wissenschaftlicher Forschung, die ich
erörtert habe, setzen beständig das Bild eines aktiven (jedoch un
parteiischen) Beobachters voraus, der von einem passiven Untersu
chungsobjekt abgegrenzt wird. Was in den Studien zur Affensprache
aber ganz offensichtlich untersucht wird - wenn auch nicht aus
schließlich in der Forschung mit Gebärdensprache - , ist die Interak
tion zwischen zwei intelligenten Subjekten. Vielleicht denkt man,
die zur Debatte stehende Frage sei gerade, ob der Affe tatsächlich
ein intelligentes Subjekt ist oder eher ein passives Objekt, das me
chanisch, wenn auch auf komplexe Weise, auf einen Fluss von Inputs
reagiert. Ich möchte zum Schluss mehr zu diesem Thema sagen. Mein
Eindruck ist jedoch, dass Forscher, die sich mit Experimenten zur
Affensprache befassen, diese Frage aus guten Gründen nicht sehr
ernst nehmen.
3 14
verstehen. Sie fahren fort: »Damit Computer das angestrebte Niveau
technischer Verfeinerung erreichen können, wird eine beträchtliche
Finanzierung erforderlich sein, die sich aber rechtfertigen lässt. Geld
für schimärische Experimente mit sprachlosen, vermenschlichten Ge
schöpfen der Tiefe auszugeben, kommt aber der Verschleuderung
knapper Ressourcen gleich.«35 Wie sie dann sogleich festhalten, ist
auch das Halten von Affen teuer. Unter der Oberfläche einer wissen
schaftlichen Kontroverse lauert oft - vielleicht nicht überraschend -
wirtschaftlicher Wettbewerb in der Milliarden-Dollar-Welt der heu
tigen Wissenschaft.
Mein Interesse richtet sich hier aber eher auf die Fragen nach der
Natur von Affen und Menschen, die der offizielle Beweggrund für
diese Forschung sind. Es ist naheliegend, die Diskussion nun auf fol
gende Fragen aufzuteilen: Was kann uns diese Forschung über Affen
sagen? Und was kann sie uns über Menschen sagen?
In Hinsicht auf die Frage, ob sich die hier untersuchte Forschung als
produktive Methode zur Erforschung von Affen erweisen kann, neige
ich zu einem gewissen Skeptizismus. Wie Umiker-Sebeok und Sebeok
im obigen Zitat bemerken, ist der Prozess, dem diese Affen unter
worfen werden, ein Vorgang der Domestizierung oder gar der »Ver
menschlichung«. Es ist nicht ganz korrekt, diese Affen als »Haus
affen« zu bezeichnen, denn Domestizierung lässt sich am ehesten als
eine Koevolution von Menschen und einer anderen Spezies verste
hen, die über längere Zeit hinweg in einer symbiotischen Beziehung
leben; bloß »sozialisierte« Tiere sind etwas ganz anderes.36Aber weder
domestizierte noch sozialisierte Tiere liefern ein zuverlässiges Modell,
um Kenntnisse von der Natur ihrer freilebenden Verwandten zu ge
winnen, wenn man nicht sorgfältig auf die Auswirkungen achtet, die
diese Prozesse auf ihr Verhalten haben. Heutzutage mögen Hauskat
zen und Hunde hinreichend interessante quasi-natürliche Arten sein,
die es verdienen, für sich untersucht zu werden, und man kann ihre
Beziehung zu nicht domestizierten Artgenossen systematisch erfor
schen. Aber nichts davon lässt sich in plausibler Weise von einem so
3U
seltenen und exotischen Artefakt wie dem sprachtrainierten Affen
sagen. Was die Affen betrifft, sollten wir lieber den Beobachtungen
von Primatologen wie J. van Lawick-Goodall oder D. Fossey Beach
tung schenken, die der Erforschung dieser Geschöpfe in ihrer natür
lichen Umgebung Jahre ihres Lebens gewidmet haben. Es trifft zu,
dass die Mittel, mit denen Affen in der Wildnis kommunizieren, trotz
dieser ausgedehnten Beobachtungen in Dunkelheit gehüllt bleiben.
Zweifellos gibt es hier noch viel zu lernen. Recht detailliert ist das
ziemlich raffinierte System von Rufen beschrieben worden, das Grüne
Meerkatzen verwenden (vermutlich viel simplere Tiere als die Men
schenaffen), um verschiedene Arten von Raubtieren differenziert
zu identifizieren.37 Und dies ist nur eines aus einer großen Palette
tierischer Kommunikationssysteme, die man zumindest teilweise ver
steht. Ein weiterer Punkt, der die kommunikativen Fähigkeiten untrai
nierter Primaten gut illustriert, ist folgender: Ein wichtiges Kriterium
für beabsichtigte Kommunikation ist, wie schon häufig festgestellt j
wurde, die Möglichkeit zur täuschenden Kommunikation.38 In einem
hilfreichen Überblick hat D. Quiatt eine beeindruckende Spannbreite j
von Belegen zusammengestellt;39 sie zeigen, dass Menschenaffen und j
sogar gewöhnliche Affen sehr wohl dazu in der Lage sind. Es wäre also j
seltsam, wenn soziale Tiere, die so intelligent wie Schimpansen oder
Gorillas sind, nicht auch ziemlich raffinierte Kommunikationsmittel
verwenden würden. Aber abgesehen davon, dass dies die Suche nach
solchen Mitteln in gewissem Maße anregt, gibt es keinen Grund für
die Erwartung, dass die sprachlichen Leistungen hoch sozialisierter
Affen sehr viel mehr Licht in diese Fragestellung bringen. Die Tatsa
che, dass ein einzelner Schimpanse in den Weltraum geschossen wor
den ist, wird uns kaum helfen zu verstehen, wie Schimpansen es schaf
fen, sich von Baum zu Baum zu schwingen.
Oft - wenn nicht sogar immer - sind jedoch viel tiefergehende phi
losophische Interessen mit den positiven oder negativen Interpretatio
3 16
nen der Experimente mit Affensprache verknüpft. Häufig wird Des-
cartes herbeizitiert, um diese Experimente mit den langwierigen
und noch andauernden Debatten über das innere Leben der Tiere
zu verbinden. Ein durchgehendes Thema ist, dass die Forschung Licht
in das vermeintliche Problem des Innenlebens von Tieren (oder des
Fehlens eines solchen Innenlebens) bringen soll. Besonders relevant
für dieses Thema ist die cartesianische These, dass Sprache der einzige
zuverlässige Indikator für genuin geistige Prozesse sei. Ebenfalls rele
vant ist die Nebenthese, dass Verhalten im Allgemeinen in einem nur
kontingenten Verhältnis zu den grundlegenden geistigen Prozessen
stehe, von denen man eigentlich annehmen könnte, es reflektiere
sie. Aus bestimmten Gründen, die freilich wenig mit meiner Aus
wertung der Experimente mit Affensprache zu tun haben, glaube
ich zwar an keine dieser Thesen, aber dass sich beide Thesen bester
Gesundheit erfreuen, wird durch einen Großteil der Debatte über
diese Experimente belegt.
Terrace stellt Descartes’ Ansicht, dass Tiere nur »mechanische Le
bewesen« seien, Darwins Meinung gegenüber, dass Tiere sich an »For
men des Denkens« beteiligten, die »dem menschlichen Denken ho
molog sind«.40 Dann bemerkt er, dass »es bis vor kurzem nur eine
schmale konkrete Basis gegeben hat, um eine Wahl zwischen den
einander widersprechenden Positionen von Darwin und Descartes
zu treffen«. Er fährt fort, indem er die Studien zum Spracherwerb
bei Affen in ein entstehendes Corpus von Arbeiten zur kognitiven
Psychologie einordnet. Diese Arbeiten lassen die Waage der Belege
mehr und mehr zugunsten des Darwinschen Ansatzes ausschlagen.
D a Terrace die Studien zur Affensprache ausdrücklich in eine grö
ßere Gruppe von Arbeiten zur kognitiven Psychologie einschließt,
scheint die Frage nach dem Sprachtraining von besonderer Bedeu
tung zu sein. Wenn die Frage nämlich lautet, ob Tiere überhaupt
Gedanken haben, dann liegt der beste Weg, um dies herauszufinden,
vielleicht darin, dass man ihnen die Gelegenheit gibt, diese auszudrü
cken.
Obwohl viele Forscher, die die kognitiven Fähigkeiten von Tieren
untersuchen, sich genau wie Terrace ausdrücklich der cartesianischen
Konzeption von Tieren als »mechanischen Lebewesen« widersetzen,
ist es doch erstaunlich, dass sie mit dem größten Teil der übrigen car-
3 17
tesianischen Sichtweise in der Regel einverstanden sind. Sogar jene,
die die kognitiven Leistungen und Fähigkeiten von nicht-mensch
lichen Wesen am eifrigsten verteidigen, akzeptieren häufig die carte-
sianische Annahme, dass es prinzipiell unmöglich sei, das Denken
oder gar das Bewusstsein von Tieren zu beweisen, weil dies vom Ver
halten begrifflich unabhängig sei.41 Dieselbe Tendenz lässt sich in der
Forschung zur Affensprache leicht erkennen. Savage-Rumbaugh lei
tet ihre Forschung zum vielfältigen Symbolgebrauch von Affen damit
ein, dass sie die folgende Annahme früherer Forscher infrage stellt:
»Wenn ein Affe ein Symbol >korrekt< verwendet, hatte er offensichtlich
ein bestimmtes Bezugsobjekt im Sinn«, und somit hat er das Symbol
verwendet, um ein Objekt zu benennen.42 Zweifellos hat sie Recht,
wenn sie argumentiert, dass Benennen eine komplexe Aktivität sei,
aber anscheinend stellt sie das nicht infrage, was nach Descartes’ Auf
fassung die referentielle Verwendung eines Wortes konstituiert. Und
dadurch bleibt vollkommen im Dunkeln, auf welche Weise die Viel
falt referentieller Verwendungen für das Problem, was der Affe »offen
sichtlich im Sinn hat«, überhaupt relevant sein könnte.
Die Unhaltbarkeit dieser cartesianischen Voraussetzungen kann
hier nicht in angemessener Weise erörtert werden.43 Sie erfordern
eher einen philosophischen Exorzismus als empirische Forschung;
dies wird vielleicht dadurch klar, dass Wissenschaftler hinter vorge
haltener Hand oft zugeben, streng genommen könnten die erwünsch
ten Schlussfolgerungen zum Geist der Tiere von keinem Beleg er
härtet werden. Im Moment möchte ich mich auf die Beziehung der
Affensprachen-Forschung zu einigen zeitgenössischen philosophi-
3 18
sehen Ansichten konzentrieren, die damit verknüpft sind. Ich hoffe,
dass dies gleichzeitig ein Licht auf die Unangemessenheit der cartesia-
nischen Perspektive werfen wird.
Neuere philosophische Ansichten zum Verhältnis von Denken und
Sprache verleihen der Affensprachen-Forschung anscheinend eben
falls besondere Bedeutung. Im Gegensatz zu Descartes’ Ansicht, dass
Sprache ein zuverlässiges Symptom für etwas sei, das davon aber ziem
lich verschieden ist, nämlich Denken, behauptet Donald Davidson,
dass Sprache eine notwendige Bedingung für Denken sei.44 Auch
wenn die Argumente für und gegen diese Position hier wiederum
nicht gründlich untersucht werden können,45 eröffnet die Affenspra
chen-Forschung jedoch eine spannende Perspektive auf diese These.
Wenn Davidsons Position nämlich korrekt wäre, dann stände bei
der Kontroverse um die Affensprache nicht nur die Frage auf dem
Spiel, ob man Affen das Sprechen beibringen könnte, sondern viel
mehr, ob man ihnen das Denken beibringen könnte. Die Vorstellung,
dass die Affen, die von den Gardners und anderen trainiert wurden,
sich darin von ihren wilden oder untrainierten Artgenossen unter
scheiden, dass nur sie über rudimentäres Denken verfügen, ist sehr
viel unplausibler als die Vorstellung, ihnen sei einfach eine rudimen
täre Form menschlicher Sprache beigebracht worden; das zieht die
Annahme von der wesentlichen Gleichwertigkeit der beiden Ereig
nisse in Zweifel. Ein Grund dafür besteht darin, dass die kommuni
kativen Fähigkeiten sprachtrainierter Affen ganz klar ein Kontinuum
mit jenen von Tieren bilden, die sich außerhalb der Bildungselite be
finden. Dieser Punkt steht in Verbindung mit einem anderen, den ich
zuvor betont habe: Noch nicht einmal die menschliche Sprachkom
munikation ist der Art nach vollkommen verschieden von jenem Be
reich nonverbaler Kommunikation, der einen entscheidenden Teil
ihres Kontexts bildet.
Bescheidener erscheint auf den ersten Blick der Vorschlag von P.
44 Vgl. »Thought and Talk«, in: M in d and Language, hrsg. von S. Gutenplan, Oxford:
Oxford University Press 1975 [dt. »Denken und Reden«, in: id., Wahrheit und
Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 224-246]; »Ratiofial Animais«,
Dialectica 36 (1982), S. 318-327 [in diesem Band , S. 117 -131].
45 Davidsons Schlussfolgerungen bezüglich der Tiere werden kritisiert von R. Je ff
rey, »Animal Interpretation«, in: Actions and Events: Perspectives on the Philoso-
phy o f Donald Davidson, hrsg. von E. LePore und T. McLaughlin, Oxford: Black
well 1985, und in meinem Aufsatz »The Mental Lives o f Non-Human Animais«,
op. cit.
3 19
Carruthers;46 er meint, das Denken der Tiere könne nicht bewusst
sein, weil sie keine Sprache hätten. Ich sage, dass er »auf den ersten
Blick« bescheidener ist, denn diese Anregung ist faktisch eine par
tielle Wiederbelebung der absurden cartesianischen These, dass nicht
menschliche Lebewesen überhaupt kein Bewusstsein haben. Die Über
legungen, die im vorherigen Abschnitt gegen die Verwendung von
Sprache zur Verteidigung der Kommunikationsapartheid47 »Mensch
versus Tier« angeführt wurden, sind hier anscheinend in gleichem
Maße angebracht. Eine Betrachtung von Carruthers’ Beweggründen
für diese neo-cartesianische (oder vielleicht besser: neuro-cartesiani-
sche) Doktrin muss an einem anderen Ort stattfinden. Seine Diskus
sion wirft allerdings ein weiteres wichtiges Problem auf: Fragen nach
dem Bewusstsein der Tiere sind weit davon entfernt, einfach nur eine
abstruse philosophische Debatte in Gang zu bringen. Sie sind unmit
telbar relevant für eine ethische Problematik, die in jüngster Zeit zu
Recht in den Vordergrund der philosophischen Debatte gerückt ist.
Jüngst hat eine Reihe von Denkern vor allem die ethische Legitimität
der prim a facie abscheulichen Behandlung von Tieren in Tierfabri
ken und in der wissenschaftlichen Forschung infrage gestellt (von
»Freizeitbeschäftigungen« wie Jagen ganz zu schweigen). A u f Grund
lage der erwähnten These behauptet Carruthers, dass diese Prakti
ken nicht nur zulässig sind, insofern sie dem menschlichen Wohlerge
hen dienen, sondern sogar geboten.48 Wie ich hoffendich deutlich
gemacht habe, denke ich zwar nicht, dass das moralisch Abstoßen
de an dieser Schlussfolgerung in irgendeiner Weise vom Erfolg (oder
Misserfolg) der Tiersprachen-Projekte abhängt. Dennoch stellen die
se Projekte nützliche rhetorische Munition bereit. Wenn man nicht
die absurde Meinung vertritt, dass es zulässig (oder geboten) ist, jedes
Tier außer einem gebildeten Affen zu quälen, muss ein Verteidiger der
Position Carruthers die Apartheid in Bezug auf die menschliche Kom
munikation verteidigen —eine Meinung, der zufolge die Affensprache
auf der Tierseite des Grabens liegt. Ich hoffe, dass ich zumindest
einige Hindernisse für diese Strategie aufgezeigt habe.
Schließlich stellt sich die Frage, ob uns diese Forschung irgend-
320
etwas über uns selbst sagen kann. Diese Frage ist weitgehend schlicht
das Gegenstück zur vorhergehenden. Das heißt, die offizielle Moti
vation für die Forschung betrifft zum großen Teil die Frage, ob Men
schen in einem radikal diskontinuierlichen Verhältnis zum Rest des
Tierreichs stehen oder nicht. Und für die Verteidiger der Diskonti
nuität besteht die größte verbleibende Bastion in der Auffassung
von Sprache als etwas, das von jedem niederen Kommunikationssys
tem kategorisch verschieden ist. Auch hier glaube ich, dass diese Po
sition nicht dadurch zu widerlegen ist, dass man schaut, ob Affen
unsere Sprache lernen können, sondern vielmehr dadurch, dass man
erstens Untersuchungen über das komplexe und interessante Leben
von Tieren in ihrer natürlichen Umgebung anstellt, und dass man
zweitens die naiven Auffassungen von Sprache entlarvt, die diese Po
sition voraus setzt.
Die einflussreichste Sprachauffassung, die bei der Verteidigung der
These von der radikalen Diskontinuität gemeinhin in Anspruch ge
nommen wird, ist die von N . Chomsky,49 in der Sprache als ein einzig
artig menschliches kognitives Organ dargestellt wird. Doch selbst
wenn sich diese Ansicht (irgendwie) als wahr herausstellen sollte,
scheint dies für das hier zu diskutierende Problem irrelevant zu sein.
Denn das Problem betrifft wohl eher die Dinge, die Menschen tun
können, nicht die Organe, die sie vielleicht verwenden, um solche
Dinge zu tun. Ich gehe davon aus, dass die einzigen ernsthaften Kan
didaten für Fähigkeiten, mit denen Menschen durch ein Sprach-
organ auf einzigartige Weise ausgestattet werden könnten, Kommuni
kation und Denken sind. Aber es gibt viele Arten nicht-sprachlichen
Verhaltens, die Kommunikation ermöglichen, und viele nicht-sprach
liche Manifestationen von Denken.50 Wenn man argumentiert, die
Existenz eines speziellen Sprachorgans zeige, dass nur Menschen den
ken oder kommunizieren können, gliche dies der Argumentation,
dass nur Fische schwimmen können, weil nur sie auf einzigartige
Weise mit Schwimmblasen ausgestattet sind.
So glaube ich zu guter Letzt nicht, dass die Forschung zur Sprach-
fähigkeit von Affen - bei allem Charme, den sie zweifellos hat - uns
über uns selbst oder über Affen viel sagen kann, was wir nicht ebenso
gut auf vielen anderen Wegen lernen könnten. Sie bietet uns jedoch
die Gelegenheit zu einer Fülle von interessanten Beobachtungen in
49 Language andM ind, New York: Harcourt, Brace & World 1968.
50 Vgl. wiederum G. Ryle, op. cit.
321
Bezug auf die Reaktionen und Annahmen derjenigen, die sich in die
sem Forschungsgebiet betätigen oder es kritisieren. Und vielleicht ist
ja auch Charme eine nicht vollkommen zu vernachlässigende wissen
schaftliche Tugend.
322
Colin Allen und Eric Saidel
Die Evolution der Referenz
Vögel tun es, Bienen tun es und besonders gebildete Schimpansen tun
es.** Aber wie verhalten sich die nicht-menschlichen Fähigkeiten, es
zu tun, zu den scheinbar unendlichen menschlichen Möglichkeiten,
es zu tun? Wenn es sich bei der fraglichen Fähigkeit um jene zur Kom
munikation handelt, dann existiert kaum Übereinstimmung darüber,
was wir durch das Studium der Tierkommunikation über die mensch
liche Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation erfahren können.
Unter zahlreichen Linguisten, Psychologen und Philosophen besteht
eine große Skepsis darüber, was uns das Grunzen, Knurren, Pfeifen
und Heulen unserer behaarten und gefiederten Verwandten über
die menschliche Sprache sagen kann. Noch umstrittener ist die Bedeu-
* [A. d. Ü.: W. V. O. Quine, »Identity, Ostension, and Hypostasis«, in: id., Front a
Logical Point ofV iew , Cambridge und London: Harvard University Press 1953,
S. 77m »The unreflned, untutored mind / O f Homo javanensis / Could only treat
o f things concrete / And present to the senses.« Dieser Vierzeiler Quines steht in fol
gendem Zusammenhang: »Das Begriffsschema, mit dem wir aufwachsen, ist ein ek
lektisches Erbe, und die Kräfte, die seine Evolution seit den Tagen des Javamen
schen bedingt haben, sind Gegenstand von Vermutungen. Ausdrücke für physische
Gegenstände mussten seit den frühesten Sprachperioden eine zentrale Position ein
genommen haben, denn solche Gegenstände boten relativ feste Referenzpunkte für
die soziale Entwicklung der Sprache.« Der Homo javanensis, eigentlich Pithecan-
thropus erectus (aufrechtgehender Affenmensch), ist eine Ausprägung des Homo erec-
tus. Überreste des Javamenschen wurden 1891 vom holländischen Arzt E. Dubois
auf Java gefunden, der sich auf die Suche nach dem zuvor von Ch. Darwin und
vor allem von E. Haeckel postulierten fehlenden Glied —von Haeckel interessanter
weise Pithecanthropus alalus (sprachloser Affenmensch) genannt - zwischen Affe
und Homo sapiens gemacht hatte.]
c* [A. d. Ü.: Hier handelt es sich um eine beliebte philosophische Weise mit vielen Va
riationen eines Lieds von Cole Porter (L et’s do it), vgl. etwa J. Fodor: » ... (Vamp tili
ready). . . Oh: Birds do it / Bees do it / Even paramecia and fleas do it.«, J. Fodor,
»Why Paramecia Don’t Have Mental Representation«, Midwest Studies in Philoso-
phy 10 (1986), S. 3.]
323
gen haben, sie öffentlich zu machen, sei sie hier abschließend ange-
ftigt:
41 The well refined and tutored mind / O f homo sapiens is / Evolved to treat things
inconcrete / From moving references.
356
Kim Sterelny
Primatenwelten
357
Intelligenz eine Selektion nach dem Vermögen, Gedanken zu lesen,
denn die Handlungen anderer werden am besten durch die Repräsen
tation jener geistigen Zustände verfolgt, die diese Handlungen erzeu
gen.1 Im Fachjargon sind solche Lebewesen als »Gedankenleser« be
kannt, im Gegensatz zu niederen Verhaltenslesern, die lediglich fähig
sind, aktuelle und potentielle »Verhaltensweisen« anderer zu repräsen
tieren. Gedankenleser repräsentieren nicht nur, sie meta-repräsentie-
ren auch.
Vermutlich durch den Einfluss der Hypothese der sozialen Intelli
genz hat sich die Einschätzung weit verbreitet, dass sich der Übergang
vom Verhaltenslesen zum Gedankenlesen irgendwo innerhalb der
Evolution des Menschenaffenzweigs ereignet hat. Das Hauptgewicht
von Feld- und Laborstudien hat bislang darauf gelegen, nach Bele
gen für Gedankenlesen in dieser Gruppe zu forschen. Auch diesen
Untersuchungen möchte ich meine Aufmerksamkeit zuwenden. Es
ist jedoch wichtig, nicht der Meinung zu verfallen, Gedankenlesen
sei ein Ersatz für kognitive Verfeinerung im Allgemeinen. W ir sollten
der verlockenden Annahme widerstehen, dass jegliches Zeichen kog
nitiver Verfeinerung den Übergang zum Gedankenlesen signalisiert.
Verhaltensleser müssen nicht auf einfaches Lernen durch Verstärkung
eingeschränkt sein. Dickinson und Balleine behaupten, dass Ratten
die kausalen Beziehungen zwischen Handlungen und Ergebnissen
verstehen.2 Auch Nachahmung zeugt von kognitiver Verfeinerung.
Aber sie weist, trotz gegenteiliger Behauptungen,3 nicht auf das Ver
mögen hin, Gedanken zu lesen - so meine Argumentation.4 Es ist
1 Die zentrale Idee der Hypothese der sozialen Intelligenz stammt von N. Humphrey,
»The Social Function o f Intellect«, in: GrowingPoints in Ethology, hrsg. von P. P. G.
Bateson und R. A. Hinde, Cambridge: Cambridge University Press 1976, S. 303-317,
und A. Jolly, »Lemur Social Behavior and Primate Intelligence«, Science 153 (1966),
S. 591-606. Beide wurden wieder abgedruckt in Machiavellian Intelligence. Social
Expertise and the Evolution o f Intellect in Monkeys, Apes, and Humans, hrsg. von
R. W. Byrne und A. W. Whiten, Oxford: Clarendon Press 1988. Seit ihrer ersten
Formulierung wurde sie auf etwas andere Art und Weise durch Dunbar, Tomasello,
Byrne, Whiten und andere weiterentwickelt.
2 A. Dickinson und B. W. Balleine, »Causal Cognition and Goal-Directed Action«, in:
The Evolution o f Cognition, hrsg. von C. Heyes und L. Huber, Cambridge (Mass.):
MIT Press 2000, S. 185-204. [A. d. Ü.: Es handelt sich um den Sammelband, dem
auch K. Sterelnys Text entstammt.]
3 M . Tomasello, »Two Hypothesis About Primate Cognition«, in: C. Heyes und L.
Huber, op. cit., S. 165-184.
4 K. Sterelny, »Intentional Agency and the Metarepresentation Hypothesis«, in: id.,
358
möglich, (relativ) schlau zu sein und doch nicht meta-repräsentieren
zu können. Eine heterodoxe Behauptung dieses Aufsatzes besteht da
rin, dass es für ein Lebewesen trotz seiner (relativen) Einfachheit auch
möglich ist, meta-repräsentieren zu können.
In der Betrachtung des Übergangs vom Verhaltenslesen zum Ge
dankenlesen möchte ich mich auf die Idee verlassen, dass Repräsen
tationen Anpassungsvorteile mit sich bringen. Es ist deshalb wichtig,
eine Erklärung des angenommenen Nutzens meta-repräsentierender
Fähigkeiten zu entwickeln. Der offensichtlichste Nutzen besteht in
der erhöhten Fähigkeit, die Handlungen anderer sowohl in koopera
tiven als auch in kompetitiven Interaktionen vorwegnehmen zu kön
nen. In ihrem berühmten Aufsatz zur Evolution der Kommunika
tion nehmen Krebs und Dawkins an, dass dies der kritische Vorteil
des Gedankenlesens sei.5 Oft wird angenommen, dass das Gedanken
lesen nützlich sei, um Verhalten unter neuen Umständen vorwegzu
nehmen. So behauptet Tomasello zum Beispiel, dass
diese Art der Kognition Organismen befähigt, Probleme in besonders krea
tiver, flexibler und vorausschauender Weise zu lösen. So ermöglicht das inten-
tionale/kausale Verstehen einem Individuum in vielen Fällen, Ereignisse vor
auszusehen oder zu kontrollieren, auch wenn deren gewöhnliches Antezedens
nicht vorhanden ist - wenn es nämlich ein anderes Ereignis gibt, das dazu
dient, die auslösende Kraft in Gang zu setzen. So kann zum Beispiel ein In
dividuum eine neue Möglichkeit erfinden, um einen Konkurrenten abzulen
ken.6
In diesem Bild der Dinge erlernen Verhaltensleser spezifische Um-
welt-Reaktions-Regeln. Triffst du Fritz am Bananenbehälter, bleibe
ja auf Distanz, sonst beißt er dich. Diese Regeln, so lautet die Idee,
bieten einem Verhaltensleser keine Grundlage dafür, das Verhalten
eines Akteurs unter neuartigen Umständen vorauszusehen. Wie wird
sich Fritz wohl am Mangobehälter benehmen? In dieser Sichtweise
verfügt ein meta-repräsentierender Primat, wenn die Primaten-Um-
welten unvorhersehbarer werden, über eine soziale Orientierungsfä
higkeit, die einem nur verhaltenslesenden Primaten fehlt. Eine der
The Evolution o f Agency and Other Essays, Cambridge: Cambridge University Press
2001, S. 221-240.
5 J. R. Krebs und R. Dawkins, »Animal Signals, Mind-reading and Manipulation«, in:
BehaviouralEcology. An EvolutionaryApproach, hrsg. von J. R. Krebs und N. Davies,
Oxford: Blackwell Scientific 1984, S. 380-402.
6 M. Tomasello, »Two Hypothesis«, op. cit., S. 173.
359
empirischen Herausforderungen besteht nun darin, von dieser Sicht
weise unabhängige Belege für eine gesteigerte Heterogenität der Um
welt vorzulegen. Das ist nicht einfach, denn diese Heterogenität hängt
teilweise davon ab, wie Lebewesen ihre Umwelt kategorisieren. Wenn
ein Pavian seine Umwelt in konkreten, sinnlichen Begriffen charakte
risiert, dann wird er sich öfters in einer scheinbar neuartigen Umwelt
vorfinden. Sollte er mit abstrakteren Kategorien ausgerüstet sein, so
wird er sich weniger oft in neuartigen Umwelten befinden. Es gibt
noch weitere Probleme. Der Vorteil kommt nur sehr raffinierten Ge
dankenlesern zu. So dreht sich etwa Tomasellos Beispiel um etwas
Neues, das das Ziel des Akteurs unverändert lässt, die potentiellen
Mittel für dieses Ziel jedoch verändert. Neue Umwelten üben oft die
sen Einfluss auf die Überzeugungs- und Präferenzenstruktur eines
Akteurs aus. Doch nicht immer - etwas Neues kann auch die Präfe
renzen eines Akteurs verändern. Um also voraussehen zu können,
wie sich ein anderer Akteur in einer neuen Umwelt verhalten wird,
muss das gedankenlesende Tier wissen, ob eine Neuheit eine Neuord
nung der Präferenzen oder nur der instrumenteilen Überzeugungen
verursacht. Das ist schon ziemlich avanciertes Gedankenlesen.
Es gibt noch eine zweite Möglichkeit. Leser können von der Fä
higkeit profitieren, andere als Instrumente einzusetzen, die ihnen et
was über die Welt sagen. Sie machen sich Geist-Welt- und Verhal
ten-Welt-Relationen zunutze, um etwas über den aktuellen Zustand
der Welt herauszufinden, und weniger, um etwas über die zukünfti
gen Verhaltensweisen eines Akteurs herauszufinden. Dennett prägte
den Ausdruck »Informationsgradient«, um Gruppen zu beschreiben,
in denen sich Individuen beträchtlich darin unterscheiden, was sie
wissen.7 Ein Informationsgradient selektiert nach der Fähigkeit, an
dere als Informationsquellen für die Welt einzusetzen. Die Idee, an
dere als Informationsquellen zu gebrauchen, ist meistens im Kon
text des Phänomens der Nachahmung diskutiert worden. Aber andere
zum Einsatz zu bringen, muss kognitiv nicht so verfeinert sein wie
die Nachahmung. Andere können Informationsquellen dafür sein,
36 0
was in der Umwelt wichtig ist. Das Lesen der Motive anderer ist ein
plausibler Ausgangspunkt für den Einsatz anderer als Informations
speicher. Daher stammt das als »Reizsteigerung« bekannte Phäno
men in sozialen Lernprozessen: eine erhöhte Aufmerksamkeit für
die Interessen anderer.
Wenn es eine Selektion nach Gedankenlesern gegeben hat, dann
müssen sich Gedankenleser anders als Verhaltensleser verhalten, und
die Anpassungsvorteile des Gedankenlesens müssen im Verhalten
der Gedankenleser auffindbar sein. Darüber hinaus gilt: Ein Verhal
tensunterschied, der äußerst subtil ist, oder einer, der sich nur sehr
selten äußert, würde wahrscheinlich nicht genug Vorteile mit sich
bringen, um sich auszuzahlen. Das Vermögen des Gedankenlesens
ist wahrscheinlich recht kostspielig, zumindest wenn es eine Ausdeh
nung des Neokortex erforderlich macht. Also sollten die Verhaltens
unterschiede auffallen.8 Es gibt in der Primatologengemeinde eine
ganze Menge von Feld- und Laborarbeiten, welche (a) die Verhaltens
signatur des Gedankenlesens zu isolieren und (b) die Existenz die
ser Signatur bei nicht-menschlichen Primaten zu verifizieren oder
zu falsifizieren versuchen. Es wird wohl kaum einen verhaltensspe
zifischen Volltreffer geben, der die Existenz des Gedankenlesens be
weist. Wie Whiten und Dennett hervorheben, liegt der Unterschied
zwischen Verhaltens- und Gedankenlesen eher in einem umfassen
den Kompetenzmuster als in einer spezifischen Fähigkeit, die den Ge
dankenlesern, nicht aber den Verhaltenslesern, zur Verfügung stände.
Wir können nicht annehmen, dass es unzweideutige Anzeichen für
das Gedankenlesen gibt.
Im nächsten Abschnitt skizziere ich eine allgemeine Theorie der Re
präsentation und ihrer Funktion und wende diese auf eine Sichtweise
der Meta-Repräsentation von Primaten an. In den nachfolgenden Ab
schnitten möchte ich diese allgemeine Theorie für zwei Fallstudien
fruchtbar machen, bevor ich mit der »Moral der Geschieht5« schließe.
Die erste Fallstudie betrifft eine relativ grundlegende Eigenschaft des
Geistes eines anderen: seinen Fokus visueller Aufmerksamkeit. Die
zweite Fallstudie betrifft ein raffinierteres und, was das Verhalten
betrifft, weniger offensichtliches Merkmal: das Wissen eines anderen
Akteurs.
[E]in Lebewesen mit einer Theorie des Geistes glaubt, dass geistige Zustände
eine kausale Rolle in der Erzeugung von Verhalten spielen, und es leitet das
Vorhandensein geistiger Zustände bei anderen durch die Beobachtung ihrer
Erscheinung und ihres Verhaltens unter sich verändernden Umständen ab.10
362
wesen, Raubtiere, Beute, große gestreifte Katzen usw. Mein Tiger-Be
griff wird durch meine implizite Tiger-Theorie - meine kleine Tiger
kunde - bestimmt, die in diesem Netz von Inferenzen zum Ausdruck
kommt. Für diejenigen, die die inferentielle Rollen-Theorie als Be
deutungstheorie akzeptieren, ist es nur natürlich, den Besitz der Be
griffe >Uberzeugung<, >Präferenz< usw. mit der Aneignung von etwas
wie einer Alltagspsychologie gleichzusetzen, d. h. mit einem Ensemble
von Überzeugungen in Bezug auf die Verknüpfungen zwischen Über
zeugungen, Präferenzen, Absichten und Verhalten. In dieser Begriffs
theorie gilt: Einen Begriff von Überzeugung zu haben heißt, eine Über
zeugungs-Theorie zu beherrschen.
Nun ist diese Ansicht vom Besitz von Begriffen nicht zwingend.
Es gibt alternative Sichtweisen, in denen Begriffe nicht durch ihre Ver
knüpfungen im internen Haushalt des Geistes identifiziert werden,
sondern durch ihre Beziehungen zur Außenwelt. Wir wollen jetzt
kurz auf ein allgemeineres Problem ausweichen: Was heißt es für
ein Lebewesen, etwas zu repräsentieren? Ich habe an anderer Stelle
die These vertreten, dass ein Organismus ein Merkmal seiner Um
gebung dann repräsentiert —im Unterschied zu: lediglich darauf rea
giert —, wenn er dieses Merkmal seiner Umwelt mittels mehr als nur
einer Klasse proximaler Stimuli aufspüren \track] kann. Ein Lebe
wesen, das X repräsentiert, ist ein Lebewesen mit mehreren unab
hängigen Informationskanälen für das X-Merkmal seiner Umwelt.
Es spürt X mehrspurig auf.11 Betrachten wir ein gegensätzliches Bei
spiel. Gliederfüßer verfügen oft über wunderbar einfallsreiche M ög
lichkeiten, relevante Merkmale ihrer Umgebung zu registrieren [de-
tect\, aber sie sind oft von einem einzigen proximalen Reiz abhängig.
Das Hygieneverhalten von Ameisen und Bienen —sie entsorgen tote
Nestgefährtinnen — hängt von einem einzigen derartigen Reiz ab,
nämlich von der durch Zerfall erzeugten Ölsäure. Sie verfügen über
kein Äquivalent für jene Mechanismen der Wahrnehmungskonstanz,
die sie dazu befähigen würden, anhand verschiedener Kanäle zu ver
folgen, ob ihre Nestgefährtinnen noch leben. Die Kommunikation
36 3
in und auf einem Ameisenhaufen ist normalerweise von sehr spezi
fischen chemischen Signalen abhängig.
Wie die erfolgreiche Koordination in einem Ameisenhaufen oder
in einem Bienenstock zeigt, kann reizgebundenes Verhalten sehr effi
zient sein. Doch sind Kontrollsysteme, die auf spezifischen Reizen
basieren, in entscheidenden Hinsichten störanfällig. Ein Organis
mus, der seine Umwelt nur mittels eines einzigen, spezifischen Rei
zes registrieren kann, verfügt über eine sehr beschränkte Fähigkeit,
zur Kontrolle und Anpassung seines Verhaltens Feedback zum Ein
satz zu bringen, denn er verlässt sich auf Veränderungen dieses einen
Reizes. Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass Organismen,
deren Verhalten reizgebunden ist, über Fähigkeiten verfügen, die in
unterschiedlichen Umwelten funktionieren und stabil bleiben, denn
Umweltveränderungen werden das Input oftmals verzerren. Damit
Verhaltensweisen stabil sein können, ist die Fähigkeit erforderlich,
funktional relevante Merkmale einer Umwelt auf mehr als nur einem
Weg aufzuspüren.
Innerhalb der Unterscheidung zwischen reizgebundenen Organis
men und solchen, die ein gegebenes Merkmal ihrer Umwelt durch
mehrfache Reize aufspüren, müssen wir zwischen dem Einsatz mehr
facher Reize und deren Variationen einerseits und der Verallgemeine
rung eines einzigen Stimulus andererseits unterscheiden. Das liegt auf
der Hand, wenn Organismen ihre Umwelt anhand von unterschied
lichen Sinnen mehrspurig aufspüren. Ein Zebra, das den Grad der Ge
fährdung durch eine Hyäne aufgrund ihrer Haltung und ihrer Blick
richtung aufspürt, verwendet zwei Reize, nicht einen, auch wenn es
die Gesichtswahrnehmung für beide gebraucht. Der Unterschied
zwischen dem Einsatz zweier Reize und der Verallgemeinerung eines
Stimulus, der von einem einzigen Reiz ausgeht, ist wahrscheinlich
schwer zu definieren. Denn schließlich werden keine zwei Annähe
rungsversuche von Hyänen genau denselben Netzhautstimulus auf
das Zebra-Auge projizieren. Doch viele Einzelfälle sind deutlich ge
nug. Betrachten wir zum Beispiel das oft diskutierte Phänomen der
Selbsterkennung im Spiegel, die Fähigkeit von Schimpansen und an
deren Menschenaffen, ihr eigenes Abbild in einem Spiegel zu erken
nen. Heyes weist zu Recht darauf hin, dass Selbsterkennung im Spie
gel nicht den Besitz eines Begriffs des Selbst beweist.12 Sie hebt hervor,
364
dass Lebewesen, die sich durch Umwelten voller Objekte bewegen,
ihr Verhalten nach der Position ihres Körpers im Raum ausrichten
müssen. Dazu müssen sie über eine Art »Körper-Begriff« verfügen.
Sie benutzen Informationen über ihren Körper, um ihr Verhalten zu
kontrollieren. Selbsterkennung im Spiegel ist lediglich ein weniger ge
wöhnliches Beispiel desselben Phänomens. Es weist ebenso wenig auf
Selbstbewusstsein hin wie das Verhalten eines leichtfüßigen Elefanten
im Porzellanladen. Doch obwohl Selbsterkennung kein Beweis für
Selbstbewusstsein ist, verweist sie auf die Fähigkeit, körperliche Merk
male durch den Einsatz ungewöhnlicher Wahrnehmungs-Inputs auf
zuspüren. Also haben Lebewesen, die zur Selbsterkennung im Spiegel
fähig sind, keinen reizgebundenen Körper-Begriff. Ihr Körper-Begriff
ist eine reale Repräsentation ihres Körpers, denn sie können unge
wöhnliche Informationskanäle verwenden, um ihn den aktuellen Um
ständen anzupassen.
Wir sollten nun diese Unterscheidung zwischen Repräsentieren und
Registrieren einsetzen, um einen Zu griff auf die Repräsentationsfähig
keiten von Primaten zu bekommen. Im Allgemeinen passen Primaten
ihr Verhalten den psychologischen Zuständen anderer Primaten an.
Schimpansen reagieren zum Beispiel differenziert auf Schimpansen,
die sie motiviert angreifen wollen. Das heißt, dass sie oft jene Reize —
etwa Drohungen - erkennen, die einen bevorstehenden A ngriff sig
nalisieren. Ihr eigenes Verhalten ist Verhaltensweisen angepasst, die
durch bestimmte psychologische Zustände verursacht werden. Sie er
kennen und reagieren auf eine Reihe von Verhaltensweisen, die Hin
weise auf bestimmte psychologische Zustände geben, weil sie deren
Folgen sind. In diesem minimalen Sinn also können Primaten die
psychologischen Zustände von anderen Primaten aufspüren, ebenso
wie Ameisen die Eigenschaft »Nestgefährtin« verfolgen können. Sie
reagieren oft angemessen auf einen drohenden A ngriff aufgrund eines
Informationsflusses, der den Motivationszustand eines potentiellen
Angreifers betrifft, und auf diesem Wege reagieren sie schließlich auf
den Geist des reagierenden Primaten. Außerdem handeln sie in Über
einstimmung mit Verhaltensregeln, die eine angemessene Handlung
festlegen - angesichts des Zustands des anderen Akteurs. Dennoch
ist es eine Sache, geistige Zustände aufzuspüren; eine andere Sache
ist es, sie eher zu repräsentieren als nur aufzuspüren. Dazu müssen
(1994), S. 909-919; C. Heyes, »Self-Recognition in Primates. Further Reflections
Create a Hall o f Mirrors«, Anim al Behaviour 51 (1995), S. 1533-1541.
36 5
wir wissen, wie zum Beispiel Bonobos das Verhalten anderer Bonobos
kategorisieren. Nehmen wir Folgendes an:
An dieser Stelle können wir sagen, dass der Bonobo den geistigen Z u
stand eines anderen zumindest aufspürt, denn seine Reaktion kova-
riiert mit Wut. Sein Verhalten ist an dieses Merkmal seiner Umwelt
angepasst. Nun repräsentiert unser Bonobo aber die geistigen Z u
stände anderer vielmehr und spürt sie nicht bloß auf, wenn:
4. Es ist nicht nur so, dass a, b, c, d, e , . . . durch Wut erzeugt werden, son
dern der Bonobo reagiert auf dieselbe Art und Weise auf die meisten Ver
haltensweisen, die typischerweise durch Wut erzeugt werden.
Alles in allem also reagiert ein Primat auf einen geistigen Zustand
eines anderen, wenn er ihn aufspüren kann - das heißt, er reagiert
mit einiger Zuverlässigkeit unterschiedlich auf eine Abfolge von Ver
haltensweisen, die tatsächlich durch einen spezifischen geistigen Z u
stand verursacht werden, wie etwa Wut oder Furcht. Wenn, wie F. de
* [A. d. Ü.: Sterelny spielt hier auf die einzigartige sexuelle »Entspannungspolitik« der
Bonobos bei sozialen Konflikten an, vgl. F. de Waal, Peacemaking Among Primates,
Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1989 (dt. Wilde Diplomaten. Versöh
nung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen, München: Hanser 1991).]
3 66
Waal nahe legt, ein Bonobo wütendes Verhalten dadurch befriedet,
dass er Sex für Frieden eintauscht, dann spürt er Wut auf. Wir unter
suchen, ob es sich um die Aufspürung oder um die Repräsentation
von Wut handelt, indem wir die Stabilität des Aufspürens experimen
tell überprüfen. Insbesondere handelt es sich eher um Aufspüren als
um Repräsentieren, wenn diese Fähigkeit reizgebunden ist. Zugleich
können wir experimentell die Verfeinerung des Aufspürens untersu
chen, indem wir die Bandbreite der Reaktionen auf Wut testen. Passt
sich der Wut-Leser wütendem Verhalten in einer Umwelt anders an,
die zu einer anderen Äußerung dieses Verhaltens führt? Reagiert er an
ders, wenn sich die physische oder soziale Umwelt auf einschneidende
Art und Weise verändert? Reagiert er anders auf Wut, wenn er noch
andere geistige Zustände des Lebewesens erkennt? Oder lautet die
Verhaltensregel des »Wut-Verhaltens« einfach: »Weglaufen«? In die
sem Bild der Dinge zeichnen sich also zwei getrennte experimentelle
Untersuchungen ab. W ir untersuchen einerseits die Fähigkeit eines
Primaten, einen geistigen Zustand zu repräsentieren, indem wir die
Stabilität seiner Fähigkeit, diesen geistigen Zustand aufzuspüren, unter
suchen. Die Stabilität besteht in der Vielfalt beobachtbarer Reize, die
er zum Aufspüren einsetzt. Wir können andererseits aber auch seine
Reaktionsbandbreite a u f das Aufspüren untersuchen. Die Bandbreite
liegt in dem Ausmaß, in dem die Erwartung und die Reaktionen
des Aufspürers in Bezug auf das Verhalten eines Akteurs angemessen
durch das modifiziert werden, was der Aufspürer sonst noch bemerkt.
Wir können uns also die soziale Intelligenz eines Lebewesens so
denken, dass sie sich durch zwei Arten von Verhaltensregeln entwi
ckelt. Über Erkennungsregeln ist ein Gedankenleser mit einem auf
gespürten geistigen Zustand verknüpft. Nach den Erkennungsregeln
eines Lebewesens suchen wir, indem wir die Umwelt des Gedan
kenlesers so weit wie möglich festhalten, aber die Reize für einen
einzelnen, grundlegenden kognitiven Zustand variieren, um heraus
zufinden, ob der Gedankenleser dieselbe Reaktion auf diese unter
schiedlichen Reize zeigt. Ich habe dargelegt, dass ein Lebewesen
nur dann ein Gedankenleser ist, wenn es eine ganze Reihe von Erken
nungsregeln für einzelne geistige Zustände hat. Output-Regeln steu
ern die Reaktionen auf jene Zustände, die ein Gedankenleser aufspü
ren kann. W ir testen die Output-Regeln eines Lebewesens, indem wir
den für den Gedankenleser bestimmten Reiz festlegen, die Umwelt
variieren und die verschiedenen Reaktionen testen.
367
Ich habe an anderer Stelle dargelegt,* dass die Fähigkeit zur Reprä
sentation sich dann aus der Fähigkeit zum Aufspüren entwickelt,
wenn Organismen in einer Umwelt leben, die für sie in Bezug a u f In
form ation durchscheinend ist [inform ationally translucent environ-
ments\. Umwelten sind für einen Organismus in dem Maße durch
scheinend, in dem sich ökologisch relevante Merkmale seiner Umwelt
in komplexer, eins-zu-vielfacher Weise auf seine durch unmittelbare
Sinnesreizungen dargestellte Welt abbilden lassen. Wenn sich Futter,
Verstecke, Räuber, Partner zur Paarung, Freund und Feind in komple
xer Art und Weise nur anhand aufspürbarer physischer Signale abbil
den lassen, wird das Verhalten reizgebundener Organismen öfters fehl
schlagen. Ich muss die Informationsdurchlässigkeit als Faktor in die
Unterscheidung zwischen mehrspurigem und reizgebundenem Auf
spüren mit einberechnen. In einem minimalen Sinn ist ein Lebewe
sen, das zu konditionierter Assoziation fähig ist, auch dazu imstande,
ein Merkmal seiner Umgebung mehrspurig zu verfolgen. Der be
rühmte Hund Pavlovs lernte das Aufspüren von eintreffendem Futter
nicht einfach nur durch Sichtkontakt, sondern ebenso durch den
Klang einer Glocke. Doch hier handelt es sich nicht um die Form
mehrspurigen Aufspürens, die ich beschrieben habe. Denn wie seine
Reaktion zeigt, hat der Hund nicht die Fähigkeit, den Informations
fluss im einen Kanal dazu einzusetzen, um gleichzeitig die Zuverläs
sigkeit des anderen Kanals zu kontrollieren. Mehrspuriges Aufspüren,
das Organismen an das Problem der Durchlässigkeit anpasst, muss
eine Form der Integration oder der gegenseitigen Kontrolle der Ka
näle enthalten. Auch ist es wichtig, zwischen dem Gebrauch mehrfa
cher Reize und der Veränderung eines einzigen Reizes im Verlauf der
Zeit zu unterscheiden. Die Tatsache, dass ein Lebewesen im Verlauf
der Zeit eine Verformbarkeit in seinen Reaktionen gegenüber einem
Merkmal seiner Umwelt an den Tag legt, zeigt nicht, dass es dieses
Merkmal zu einem bestimmten Zeitpunkt mehrspurig aufspürt. Es
gibt also einen Unterschied zwischen: (i) einer gegebenen Handlung
zusätzliche Auslösereize hinzuzufügen;13 (2) einen neuen und kom
* [A. d. Ü.: K. Sterelny, The Evolution ofAgency, op. cit. Diese Thesen fiihrt Sterelny
weiter aus in Thought in a Hostile World. The Evolution o f Human Cognition, Lon
don: Blackwell Publishers 2003, S. 20-29.]
13 Zusätzliche Auslösereize können eine ihnen eigene funktionale Prägnanz aufweisen.
Es kann sehr wichtig sein, der Verhaltenskontrolle eine gewisse Redundanz hin-
zuzufiigen, um falsche Negative (falscher Fehlalarm etwa) zu vermeiden.
36 8
plexeren Auslösereiz durch Lernen zu entwickeln, der in einer Gestalt*
besteht, deren Elemente nicht einzeln hervortreten; und (3) fähig
zu sein, eine Anzahl unabhängiger, sich aber gegenseitig kontrollieren
der Informationskanäle einzusetzen. Nur (3) passt ein Lebewesen an
das Problem der Informationsdurchlässigkeit an.
Die Bedeutung der wechselseitigen Kontrolle zwischen den Ka
nälen steckt beispielsweise implizit in Whitens Erörterung von Täu
schung und deren Aufdeckung. Eine Täuschung kann durch eine
Kombination von Reizen aufgedeckt werden und damit durch den
Versuch von Gedankenlesern, Motive über unterschiedliche Reize
hinweg aufzuspüren.14 So kann etwa die bekannte Lebensgeschichte
eines Akteurs darauf hinweisen, dass sein tatsächliches Verhalten von
seinem angekündigten Verhalten abweichen wird. Grüne Meerkat
zen können lernen, dem unzuverlässigen Alarm ruf eines Artgenos
sen zu misstrauen. Ein deutlicheres Beispiel des Vorteils von wech
selseitiger Kontrolle zwischen den Kanälen hängt von der Tatsache
ab, dass eine Ankündigung »undicht« sein kann —vielsagende Reize
können die Information unterlaufen, die ein Tier ankündigt. De Waal
präsentiert einige hübsche, wenn auch anekdotische Belege von Schim
pansen, die versuchen, undichte Stellen zu stopfen; beispielsweise ver
suchen sie, bei Konfrontationen Angstsignale zu unterdrücken. Die
Umwelt kann ebenfalls »undicht« sein. Das heißt, dass ein Akteur
auf eine Art und Weise handeln kann, die, wie der Beobachter weiß,
in der aktuellen Umwelt unangemessen ist. Zum Beispiel kann er
sich so verhalten, als würde er etwas sehen; der andere Akteur weiß
jedoch, dass es nicht da ist.15
Aus meiner Sicht also ist Repräsentation an mehrspuriges Aufspü
ren im starken Sinne gebunden, und das mehrspurige Aufspüren ist
eine Anpassung an das Problem, das durch informationsdurchsch ei
nende Umwelten entsteht. Viele Versionen der Hypothese der sozia-
* [A. d. Ü.: Dt. im Original.]
14 A. Whiten, »When Does Smart Behavior-Reading Become Mind-Reading?«, in:
Theories o f Theories ofM ind, hrsg. von R Carruthers und R K. Smith, Oxford: Ox
ford University Press 1996, S. 277-292.
15 Es gibt eine saubere Untersuchung dieser Möglichkeit in Hausers Diskussion der
Futterrufe von Haushühnern. Männchen erzeugen weniger oft falsche Rufe, wenn
die Weibchen in der Nähe sind und sehen können, ob das Männchen Futter hat; vgl.
M . Hauser, »Minding the Behavior o f Deception«, in: Machiavellian Intelligence II.
Extensions and Evaluations, hrsg. von R. W. Byrne und A. Whiten, Cambridge:
Cambridge University Press 1997, S. 112-14 3.
369
len Intelligenz werden am besten als Argumente dafür betrachtet, dass
die sozialen Umwelten von Primaten - oder von bestimmten Prima
ten — informationsdurchscheinend sind. Diese Hypothesen implizie
ren, dass das Verhältnis zwischen Verhaltenshinweisen und innerem
Zustand oft komplex ist. Ein einzelner, von anderen isolierter Hinweis
ist nicht zuverlässig. Beispielsweise müssen Menschenaffen einige in
nere Zustände aufspüren, und sie können das nur dadurch, dass sie
diese repräsentieren. Sie müssen also die M ehrspurigkeit der Zeichen
für innere Zustände verwerten und nicht einen einzelnen proximalen
Ersatz. Wie Povinelli und Cant in ihren Ausführungen über Orang-
Utans gezeigt haben, ist die schiere Körpergröße der Menschenaffen
von Bedeutung, denn diese führt zu einem körperlichen Verhalten,
das weniger stereotyp ist.16 Für sich genommen heißt das, dass die
inneren Ursachen für diese Verhaltensweisen weniger leicht an den
Verhaltenshinweisen selbst ablesbar sind. Bewegt sich ein Lebewesen
in einer höchst stereotypen Weise durch seine Umwelt, dann kann
eine bestimmte Körperhaltung gut als angemessener Hinweis auf
Flucht oder auf A ngriff dienen. Ist die Bewegung jedoch nicht ste
reotyp und überschneiden sich funktional bestimmte Verhaltens
muster mit Verhaltensweisen, die durch motorische Muster bestimmt
sind, dann sind Verhaltenshinweise auf den jeweiligen Zustand der
Motivation weniger direkt erkennbar.
Die soziale und kognitive Komplexität der Primaten verschärft die
Probleme für den Beobachter. Wenn zum Beispiel Tömasello mit sei
ner Ansicht Recht hat, dass nur Primaten die Beziehungen zwischen
Dritten aufspüren und ihr Verhalten entsprechend anpassen,17 dann
ist das Verhalten von Primaten anhand eines einzigen Hinweises we
niger voraussagbar als das soziale Verhalten anderer Lebewesen. Je
größer die Anzahl von Faktoren ist, die zusammen das Verhalten eines
Akteurs bestimmen, desto mehr Verhaltensweisen müssen von einem
Beobachter zur Kenntnis genommen werden, wenn er dessen Hand
lungen Voraussagen möchte. Soziale Organisationen, in denen sich
die Gewichtungen verschieben — Organisationen also, die instabile
Mischungen kooperativer und kompetitiver Interaktionen darstel
len —, können das Problem der Voraussagbarkeit ebenso verschlim
mern. In einigen Affen-Gesellschaften wird der soziale Status durch
1 6 D. Povinelli und J. G. H. Cant, »Arboreal Clambering and the Evolution o f Self-
Conception«, Quarterly ofBiology 70 (1995), S. 393-421.
17 M. Tomasello, »Two Hypothesis«, op. cit.
370
die Mutter weitergegeben. Gibbon-Populationen können aus höchst
kooperativen Familien zusammengesetzt sein, die von einem mono
gamen Paar abstammen. In solchen Gesellschaften ist es vermutlich
im Interesse aller Beteiligten, das Verhaltenslesen so einfach wie mög
lich zu machen. Aber je dynamischer die Mischung aus Kooperation
und Wettbewerb wird, je wichtiger es wird, etwas zu verbergen und
andere zu täuschen, desto weniger transparent wird die Umwelt. In
dieser Sichtweise ist die schiere Größe einer Gruppe nicht signifikant.
Denn obwohl die Größe Anforderungen an das Gedächtnis stellt, ist
sie ein transparentes und kein durchlscheinendes Merkmal der Um
welt.
Die Hauptsache ist nicht, ob diese Plausibilitätsüberlegungen zu
treffen. Viel mehr geht es darum, ob dieses Bild der Repräsentation
zu einem empirisch haltbaren Ansatz für die Unterscheidung zwi
schen Verhaltenslesen und Gedankenlesen führt. In meinen hier dar
gelegten Vorschlägen stimme ich mit Whiten und Sober überein.18
Beide behandeln das Gedankenlesen als Postulat einer verborgenen Va
riablen, die das gegenwärtige und zukünftige Verhalten eines Lebe
wesens verbindet. Aber ihre Sichtweise beruht nicht auf der Unter
scheidung zwischen Aufspüren und Repräsentieren. Sie behaupten,
dass durch die Festlegung von Voraussagen in einer verborgenen Va
riablen der Vorteil entsteht, dass Effizienz kodifiziert wird. Es gibt
keine Verhaltensweisen, die nur von einem Akteur vorausgesagt wer
den können, der eine auf eine verborgene Variable gestützte Analyse
zur Anwendung bringt. Doch wenn die Anforderungen an die Voraus-
sagbarkeit für einen Akteur steigen, dann wird es effizienter sein, wenn
er Voraussagen aufgrund der Zuschreibung von Überzeugungen und
Motiven gegenüber anderen Akteuren macht. An dieser Stelle treffen
sich ihre und meine Vorschläge. Die Kodifizierung der Effizienz rührt
von der Tatsache her, dass es bestimmte offensichtliche Zeichen für
einen inneren geistigen Zustand gibt, und dass dieser innere Zustand
in unterschiedlichen Umwelten unterschiedliches Verhalten erzeugt.
Kann man den inneren Zustand aufspüren, dann braucht man nicht
jede einzelne Verbindung zwischen Stimulus und Verhalten aufzuspü
ren.
371
3. Eine Fallstudie: Visuelle Aufmerksamkeit und implizites
Wissen über Fremdpsychisches
Experimentelle Untersuchungen, die bei Menschenaffen nach einer
voll ausgeprägten »Theorie des Geistes« suchen, haben bestenfalls
mehrdeutige Resultate hervorgebracht. Eine Reaktion darauf besteht
darin, weniger ehrgeizige Ideen darüber zu entwickeln und zu über
prüfen, was Menschenaffen über Fremdpsychisches wissen. Ein wich
tiges Beispiel ist die Untersuchung der Frage, inwieweit Schimpansen
die visuelle Aufmerksamkeit anderer begreifen. Diese Untersuchung
ist wichtig, weil es sich scheinbar bei der Repräsentation von Auf
merksamkeit um kein sehr anspruchsvolles Problem handelt, denn
Aufmerksamkeit hat eine offenkundige Verhaltenssignatur. Dennoch
legen die experimentellen Resultate nahe, dass Schimpansen einen
überraschend beschränkten Z u griff auf die visuelle Aufmerksamkeit
haben. Insofern Schimpansen Dinge wie »verstecken« oder »sich anpir
schen« verstehen, müssen sie zumindest die Fähigkeit besitzen, die
visuelle Aufmerksamkeit anderer aufzuspüren. Sie können der Blick
richtung zu einem Objekt hin folgen.19 Doch Povinelli und Eddy
haben eine Reihe von Experimenten durchgeführt, die anscheinend
zeigen, dass die Fähigkeit zum Aufspüren visueller Aufmerksamkeit
reizgebunden ist und dass das Erfassen der Auswirkung dieser Auf
merksamkeit auf das Verhalten ebenso rudimentär ist. In diesen Expe
rimenten wurden Schimpansen zuerst darauf trainiert, ihre natürliche
Bettelgeste zu benutzen, um Futter von einem Trainer zu erbetteln,
indem sie sich entweder zur rechten oder zur linken Seite eines Ge
heges begaben (je nach Standort des Trainers) und dabei durch eine
Öffnung in einer durchsichtigen Wand bettelten. In diesen Versuchen
wurde zunächst allgemein die Aufmerksamkeit überprüft, indem Ex
perimente gemacht wurden, in denen ein Trainer Futter und ein an
derer wertlose Dinge anbot. Schimpansen verlangten ohne Weiteres
das Futter. Probedurchläufe wurden abwechselnd mit Standardver
suchen durchgeführt, um eine kontinuierliche Motivation für das
Verlangen nach Futter zu gewährleisten. Es scheint keinen Grund
zur Annahme zu geben, dass die Versuchsanordnung den Schimpan
sen irgendwelche besonderen Probleme bereitet hätte. In den Probe
durchläufen wurde den Schimpansen nun die Wahl überlassen, ent-
19 A. Whiten, »The Macchiavellian Mindreader«, in: Machiavellian Intelligence II,
op. cit., S. 164.
372
weder von einem Trainer Futter zu verlangen, der seine Aufmerksam
keit auf sie richtete, oder von einem anderen, der dies nicht tat. Es
wurde eine Reihe verschiedener »Aufmerksamkeits-Vernichter« ge
prüft. Unaufmerksame Trainer hatten entweder einen Eimer über
dem Kopf, verbundene Augen, saßen von den Tieren abgewandt da
oder hielten sich die Augen zu. In Fällen, in denen Ablenkungen
eine Schwierigkeit hätten darstellen können, wurden die aufmerk
samen Trainer mit »Ablenkern« versehen. Sie saßen mit Kübeln auf
den Schultern, mit verbundenen Mündern da und hielten sich die
Ohren zu.20
Das bemerkenswerte Resultat ist, dass die Schimpansen alle Auf
gaben nur zufällig lösten, mit Ausnahme derer, in denen einer von
zwei Trainern den Schimpansen entweder zu- oder abgewendet war.
Sogar das hing anscheinend von einem reichlich plumpen Reiz ab.
Denn die Ergebnisse fielen auf ein Zufallsniveau zurück, wenn die Ex
perimente so wiederholt wurden, dass beide Trainer von den Schim
pansen abgewandt dasaßen, der eine jedoch über die Schulter zu
rückblickte. Povinelli und Eddy überprüften, ob vielleicht zu viele
»Ablenker« vorhanden waren, die die Schimpansen überforderten,
obwohl das wirklich nur für Trainer mit Kübeln und Augenbinden
plausibel erscheint. Sie veränderten die Versuchsanordnung, damit
sich die Schimpansen erst einmal mit merkwürdig ausstaffierten
Trainern vertraut machen konnten, doch das änderte die wesent
lichen Resultate nicht. Schließlich lernten die Schimpansen, die auf
merksamen Trainer anzubetteln - doch anscheinend nur, weil sie
die Regel abgeleitet hatten, ihre Aufmerksamkeit dem Trainer mit
einem sichtbaren Gesicht zuzuwenden. Daher kehrten sie zum Z u
fallsverhalten zurück, sobald sie zwischen Trainern mit offenen und
mit geschlossenen Augen unterscheiden mussten. Der Nennwert
des experimentellen Ergebnisses lautet, dass Schimpansen entweder
visuelle Aufmerksamkeit aufspüren, aber nicht repräsentieren kön
nen oder dass sie nur über beschränkte Möglichkeiten verfügen, ihre
Repräsentationen der visuellen Aufmerksamkeit zum Aufspüren von
Verhalten einzusetzen; oder beides zusammen. Povinelli selbst inter
pretiert seine Experimente anscheinend so: Sie zeigen, dass die Schim
pansen die Verknüpfung »Aufmerksamkeit hin zu Verhalten« be
schränkt erfassen. Das bedeutet, dass sie rudimentäre Output-Regeln
20 D .J. Povinelli und T. J. Eddy, »What Young Chimpanzees Know About Seeing«,
Monographs ofthe Society fo r Research in Child Development 6i (1996), S. 1-152.
373
haben. Doch ebenso möglich ist es, dass ihr Problem in der Verknüp
fung »Erscheinung hin zur Aufmerksamkeit« liegt: Es ist eher so, dass
sie sich auf plumpe Aufmerksamkeitssignale verlassen, als dass sie die
Bedeutung der Aufmerksamkeit für das Verhalten überhaupt nicht
verstehen würden.
Meiner Ansicht nach sind die Resultate in Bezug auf Input und
Output zweideutig. Als ich von diesen Experimenten las, wollte ich
wissen, ob die Schimpansen Geräusche oder Gesten machten oder
auf andere Art Aufmerksamkeit zu erregen versuchten. Diese starren
Blickrichtungen sind im natürlichen Leben von Schimpansen be
stimmt sehr anomal. Das mag erklären, weshalb Schimpansen über
leben und dennoch in Bezug auf visuelle Aufmerksamkeit reizge
bunden sein können. Der Reiz »Ich sehe das Gesicht eines Akteurs«
genügt zum Aufspüren von Aufmerksamkeit, gerade weil die Blick
richtung nicht starr ist. Früher oder später, eher früher, wird man ge
sehen. Aufmerksamkeit könnte ein transparenter —kein durchschei
nender - Zug ihrer Welt sein und damit nichts, was anhand vieler
Reize verfolgt werden müsste. Selbst wenn dem so wäre, sind Schim
pansen vielleicht immer noch in der Lage, visuelle Aufmerksamkeit
einzusetzen und zu manipulieren.
Ich denke, dass es einige experimentelle Ergebnisse gibt, die die
Idee stützen, dass Schimpansen Aufmerksamkeit auf labile Weise
verfolgen, durch einen einfachen Reiz nämlich, und dass ihre Reak
tionsbandbreite dennoch nicht rudimentär ist. Wenn sie erst einmal
Aufmerksamkeit aufspüren, wissen sie, was sie damit anfangen sol
len. Insbesondere wissen sie, wie man sie erhält (und erlangt). Gomez
berichtet von einer Reihe von Experimenten in dieser Richtung.21
Von Povinellis Schimpansen wurde verlangt, dass sie zwischen auf
merksamen und unaufmerksamen Trainern wählen. Von Gomez’
Schimpansen wurde verlangt, Trainer auf sich aufmerksam zu ma
chen, also Aufmerksamkeit zu erregen. Die Trainer von Gomez hat
ten je nach Situation den Schimpansen den Rücken zugewandt, ihre
Augen geschlossen, starrten in eine Ecke des Geheges oder blickten
über den K opf des Schimpansen hinweg. Obwohl sie die Aufgabe
mit den geschlossenen Augen schwierig fanden, schnitten diese Schim
pansen viel besser ab als diejenigen von Povinelli.
21 J. C. Gomez, »Non-Human Primate Theories o f (Non-Human Primate) Minds.
Some Issues Concerning the Origin o f Mind-Reading«, in: Theories o f M ind,
op. cit., S. 330-343.
374
Gomez selbst interpretiert die Experimente mithilfe einer Unter
scheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen. Die intui
tive Idee besteht darin, dass implizite Informationen stärker als expli
zite Informationen kontextabhängig und vielleicht eher ein Wissen-
wie als ein Wissen-dass sind. Wissen wird umso expliziter, je mehr
es aus sehr spezifischen Kontexten und Handlungen herausgelöst wer
den kann. Er interpretiert seine Arbeit so, dass Schimpansen und G o
rillas, mögen sie auch kein explizites Wissen über das geistige Leben
anderer Primaten haben, doch ein implizites Wissen davon haben. Ins
besondere verfügen sie über ein Wissen-wie hinsichtlich geistiger Z u
stände, die sich im Verhalten manifestieren, wie etwa das Sehen.
Dennoch ist die Unterscheidung zwischen impliziter und explizi
ter Repräsentation eher ein Stellvertreter für eine Theorie der Reprä
sentation als selbst eine Theorie. Diese Fragestellungen werden em
pirisch handhabbar, wenn wir die Unterscheidung zwischen implizit
und explizit in die Unterscheidung zwischen der Stabilität des Auf-
spürens und der Reaktionsbandbreite überführen. Betrachten wir
zum Beispiel die Reaktionsbandbreite. Ich bezweifle, dass irgendein
Verhalten völlig unbedingt ist, denn der Motivationszustand eines
Gedankenlesers spielt normalerweise eine Rolle. Aber es kann Verhal
ten geben, das unabhängig davon ist, was der Akteur sonst noch von
seiner Umwelt repräsentiert. Also hängt die Reaktionsbandbreite
eines Gedankenlesers von Folgendem ab: (i) vom Spektrum der an
deren Merkmale des Akteurs, die der Gedankenleser verfolgt, und
(2) vom Ausmaß, in dem seine Reaktion nicht nur vom anderen Ak
teur, sondern auch vom Rest der Umwelt abhängig ist: die Auswir
kung von Anhängern der einen oder der anderen Partei, die physische
Geographie der Interaktion, der Wert einer Ressource (in Konflikt
situationen) und Ähnliches sind relevant für die Bandbreite des Out
puts. (3) Wie das Beispiel der visuellen Aufmerksamkeit zeigt, kann
die Bandbreite der Reaktion auch von der Fähigkeit abhängen, In
teraktionen zu initiieren. Kann ein Gedankenleser Aufmerksamkeit
in einem breiten Spektrum von Situationen und eher subtil erregen
(wie einige Anekdoten über »taktische Täuschungen« nahe legen)
oder nur plump, durch Berührung und Geschrei?
Wenn die Reaktion eines Lebewesens von Veränderungen in seiner
(nicht-sozialen) Umwelt abhängt, müssen wir darüber nachdenken,
wie ein Lebewesen seine Umwelt kategorisiert. Sind diese Kategorisie
rungen konkret und sinnlich, oder sind sie manchmal funktional und
375
abstrakt?22 In der Debatte darüber, wie Lebewesen ihre Umwelt wahr
nehmen, ist Kausalität - die kausale Verknüpfung zwischen Ereig
nissen - ein wichtiger Punkt. Rumbaugh und Hillix behaupten, dass
einige Primaten gewisse Kausalketten verständen.23 Dickinson und
seine Mitstreiter behaupten, dass sogar Ratten das schaffen würden.24
Dagegen behauptet Tomasello, dass ein wahres Verstehen von kau
salen Relationen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit Vorbehalten
sei.25
Die Unterscheidung zwischen der Stabilität des Aufspürens und
der Reaktionsbandbreite ist hilfreich, wenn man die hier vorhandenen
Meinungsverschiedenheiten wirklich auseinander halten will. Dickin
son und Balleine behaupten, dass Ratten Kausalität verständen. Rat
ten, so behaupten sie, handelten intentional, weil ihr Verhalten durch
eine Interaktion ihrer Präferenzen mit ihren instrumentellen Überzeu
gungen gelenkt werde. Diese instrumentellen Überzeugungen sind
kausale Überzeugungen. Dickinson und Balleine behaupten, Ratten
verständen die kausale Relation zwischen ihren Handlungen und
den daraus folgenden Ergebnissen, die sie erfahren. Dagegen behaup
tet Tomasello, dass nicht-menschliche Primaten die kausalen Rela
tionen zwischen Ereignissen in ihrer Umwelt nicht verständen. Es
scheint, falls Ratten nicht klüger sind als Affen, dass nicht beide Recht
haben können. Bei genauerer Analyse stellt sich heraus, dass sich
Dickinson und Balleine mit Erkennungsregeln befassen; Tomasello
hingegen konzentriert sich auf die Bandbreite der Reaktion. Dickin
son und Balleine befassen sich mit dem Aufspüren, also damit, welche
Beziehungen Ratten in ihrer Umwelt aufspüren können. Ihre expe
rimentelle Strategie besteht darin, die Ratten mit einem Spektrum
von Umwelten zu konfrontieren, in denen die Beziehung zwischen
A und B manchmal kausal, manchmal probabilistisch und manch
mal nur zufällig ist (so folgt B oft auf A, aber B folgt ebenso auf
22 Vgl. N. J. Mackintosh, »Abstraction and Discrimination«, The Evolution o f Cogni
tion, op. cit., S. 123-142; P. Bateson, »What Must Be Known in Order to Understand
Imprinting?«, in: The Evolution o f Cognition, op. cit., S. 85-102.
23 D. M. Rumbaugh, M . J. Beran, W. A. Hillix, »Cause-Effect Reasoning in Humans
and Animais«, in: The Evolution o f Cognition, op. cit., S. 221-238.
24 A. Dickinson und B. W. Balleine, op. cit.; A. Dickinson und D. Shanks, »Instrumen
tal Action and Causal Representation«, in: Causal Cognition. A Multidisciplinary
Debate, hrsg. von D. Sperber, D. Premack, A. J. Premack, Oxford: Clarendon Press
1996, S. 5-24.
25 M. Tomasello, »Two Hypotheses«, op. cit.
376
nicht-A). Sie benutzen ein einfaches Verhalten (die Bereitschaft der
Ratte zum Drücken eines Hebels), um zu überprüfen, ob die Rat
ten eine kausale Beziehung zwischen A und B aufspüren oder ob sie
irgendeine andere Beziehung verfolgen (beispielsweise eine zeitliche
Kontinuität), die sich mit der kausalen überschneidet. Sie befassen
sich nicht in erster Linie mit den Reizen, anhand derer die Ratten
die kausalen Verknüpfungen aufspüren. Noch weniger geht es ihnen
um den Nachweis, dass Ratten ihr Wissen flexibel - über eine be
schränkte Anzahl von Aufgaben hinweg - einsetzen können. Toma-
sellö hingegen befasst sich mit der Reaktionsbandbreite. Er weiß,
dass Primaten den Relationen zwischen verschiedenen Ereignissen
in ihrer Welt auf der Spur bleiben, doch er bezweifelt, dass sie kausale
Relationen verstehen, weil sie nicht viel mit ihrem Wissen anfangen
können. So zitiert er die Experimente von Visalberghi, die zeigen, dass
weder Menschenaffen noch gewöhnliche Affen dazu imstande sind,
ohne extensive Anwendung der Trial-und-Error-Methode ein ange
messenes Werkzeug für eine simple Objektmanipulation auszuwäh
len.
Zusammengefasst: Die Unterscheidung zwischen der Stabilität des
Aufspürens und der Reaktionsbandbreite ist ein nützliches analyti
sches Werkzeug bei der Prüfung der Debatten um die visuelle Auf
merksamkeit und vielen damit verbundenen Streitpunkten. Insbe
sondere hilft sie uns dabei, diese Debatten zu differenzieren. Es ist
eine wichtige Einsicht, dass es a p rio ri keinen Grund für die Erwar
tung gibt, dass die Merkmale des Gedankenlesens miteinander ver
knüpft sind. Das Aufspüren kann von der Reaktionsbandbreite ge
trennt werden: Ein Akteur kann die Bereitschaft zum Spielen anhand
eines einzigen Reizes aufspüren, dem Spiel-Gesicht, und dennoch
über ein reichhaltiges Ensemble von Verhaltensregeln in Bezug auf
die Folgen dieses Zustands verfügen. Soweit ich sehe, können auch
die unterschiedlichen Aspekte der Bandbreite unabhängig voneinan
der variieren. Es würde sich dann um eine interessante empirische
Entdeckung handeln, wenn man zeigen könnte, dass sie miteinander
verbunden sind. Ebenso wäre eine evolutionäre Hypothese oder eine
Entwicklungshypothese wichtig, die solche Verknüpfungen Vorher
sagen könnte.
377
4- Eine »Theorie des Geistes« nachweisen:
Was die Experimente zeigen
Ich habe darauf insistiert, dass die Fähigkeit zur Repräsentation von
Fremdpsychischem nicht an den Besitz einer Theorie über die Ver
knüpfungen zwischen Überzeugungen, Präferenzen und Verhalten ge
bunden ist. Weiter habe ich dargelegt, dass es Plausibilitätsüberlegun
gen gibt, die nahe legen, dass Primaten die geistigen Zustände anderer
repräsentieren, nicht einfach nur aufspüren. Doch die stärkere Be
hauptung - dass Primaten so etwas wie eine Theorie des Fremdpsychi
schen haben - ist selbst wichtig und interessant.
Was würde zeigen, dass ein Lebewesen so etwas wie eine Theorie
des Geistes hat? Whiten und Heyes haben mit der Idee gelieb-
äugelt, dass Rollentausch, Perspektivenübernahme und ähnliche
Experimente diagnostische Tests für eine Theorie des Geistes sein
könnten.26 In einer einfachen Form von Rollentausch-Experimenten
werden Schimpansen auf ein oder zwei Rollen trainiert. Entweder
müssen sie einem uninformierten Menschen einen Behälter mit Fut
ter zeigen, der es dann mit ihnen teilt, oder sie müssen Anweisun
gen von einem informierten Menschen entgegennehmen. Povinelli
berichtet, dass drei von vier Schimpansen ein Rollentauschverhalten
zeigen: Wurden sie auf die eine Rolle trainiert, konnten sie auch die
andere übernehmen. Whiten räumt ein, dass es Probleme mit diesen
Experimenten gäbe (denn vielleicht wurde das Erlernen der neuen
Rolle lediglich beschleunigt), aber er neigt zur Ansicht, dass es von
Gedankenlesen zeuge, wenn die Schimpansen einen Rollentausch
begreifen. Der Schimpanse kopiert nicht einfach nur das Verhalten
eines Akteurs, dessen Rolle er übernommen hat. Ein Rollentausch
ist nicht bloß eine verzögerte Nachahmung, zumindest dann nicht,
wenn Nachahmung nur die Nachahmung eines motorischen Musters
bedeutet.27
Heyes ist allen durchgeführten Experimenten gegenüber skeptisch,
die angeblich eine Theorie des Geistes bei Primaten aufzeigen. Aber
sie neigt dazu, bei den Rollentausch-Experimenten des ursprüng
lichen Aufsatzes von Premack und W oodruff Zugeständnisse zu ma
378
chen.28 In diesem Aufsatz berichteten Premack und Woodruff über die
Schimpansin Sarah; sie wählte Fotografien aus, welche Lösungen zu
einer Reihe von Problemen repräsentierten, die sich anderen Akteuren
stellten. Die Idee ist die folgende: Um diese Aufgabe zu lösen, muss
Sarah den Begriff eines Plans haben und anderen Akteuren Pläne zu
schreiben; sie muss das intendierte, finale Ziel einer Reihe von Hand
lungen identifizieren. Heyes hebt hervor, dass Sarahs Erfolge nicht
entscheidend sind, da jeder einzelne Fall »weg erklärt« werden kann.
Doch sie gesteht zu, dass es keine einheitliche Spielverderber-Hypo
these gibt, die Sarahs Leistungen insgesamt »weg erklären« würde.
Ich denke nicht, dass diese Experimente auf so etwas wie eine All
tagspsychologie hinweisen - selbst wenn man sie wiederholen würde,
um eine gewisse Künstlichkeit jener Art zu vermeiden, die Heyes
diskutiert. Stattdessen, denke ich, können sie durch Byrnes Idee ei
nes Verhaltensprogramms erklärt werden.29 In seiner Erörterung der
Nachahmung bei Gorillas behauptet er, es gäbe Belege dafür, dass
Menschenaffen nicht lernen, indem sie jeden Brocken motorischen
Verhaltens nachahmen, sondern durch die Erfassung eines Verhal
tensprogramms. Ein solches Programm leistet die Gesamtorgani
sation und den Ablauf von Handlungseinheiten, die zusammen eine
bestimmte Fertigkeit bilden. Gorillas beispielsweise verspeisen oft
Disteln und andere eher unangenehme Pflanzen. Daher müssen sie
ihr Futter zunächst ziemlich stark manuell bearbeiten, bevor sie es
verspeisen können. Diese Bearbeitung ist recht komplex und um
fasst eine Arbeitsteilung zwischen den beiden Händen, die sich wäh
rend der unterschiedlichen Bearbeitungsphasen verändert. Wenn nun
einige Fertigkeiten von Verhaltensprogrammen abhängen, dann dürf
te Nachahmung eher in einem Kopiervorgang dieses Programms als
von spezifischen motorischen Mustern liegen. Obwohl es eine Menge
anekdotischer Belege für Imitation bei Menschenaffen gibt, ist die
experimentelle Beweislage für Nachahmung verblüffend schmal.30
379
Wenn Menschenaffen jedoch zur Nachahmung fähig sind, dann ist
das beeindruckend, denn das zeigt die Befähigung eines Beobach
ters, ein Programm aus einem motorischen Verhalten zu extrahie
ren.
In einer persönlichen Mitteilung hat sich Heyes gegenüber der
Angemessenheit dieser erneuten Analyse äußerst zurückhaltend ge
zeigt, weil sie bezweifelt, dass der Begriffeines Verhaltensprogramms
im Einzelnen so bestimmt worden sei, dass er überprüfbar wäre. In
ihren Augen verfügt Byrne über kein Kriterium dafür, die Nach
ahmung eines Verhaltensprogramms von ungenauer oder teilweise
gespielter Imitation desselben zu unterscheiden. Er könne nicht zwi
schen einer Nachahmung auf der Ebene des Programms und einer
Nachahmung von detaillierten Verhaltenssequenzen, die nicht irrtums
frei ist, unterscheiden. Heyes’ Infragestellung ist angebracht. Den
noch gibt es zumindest prinzipiell eine empirische Unterscheidung
zwischen der Nachahmung auf der Ebene des Programms und einer
nur ungenauen Nachahmung.
Erstens: Würde soziales Lernen in der ungenauen Nachahmung
einer vollständigen Verhaltensroutine bestehen, dann würden wir
nicht erwarten, dass Irrtümer bei verschiedenen Subjekten dasselbe
Muster haben. Sie müssten zufällig auftreten. Das wäre nicht der Fall,
wenn soziales Lernen in der Nachahmung von Verhaltensprogram
men bestände. Verschiedene Subjekte dürften sich in den Kompo
nenten einer Fertigkeit, die sie in einem Verhaltensprogramm identi
fiziert haben, nicht voneinander unterscheiden. Wenn etwa Gorillas
eine Lernfähigkeit auf der Ebene eines Programms hätten und diese
Fähigkeit beispielsweise darin zeigten, dass sie von einem Modell
erlernen, wie man Artischocken verspeist, so würden wir erwarten,
dass verschiedene Subjekte dem Modell bei gleicher Aufgabe in den
selben Hinsichten glichen, da sie die Aufgabe auf dieselbe Art unter
teilen würden. Das würde nicht zutreffen, wenn die Irrtümer bloß
Nebengeräusche wären.
Zweitens: Die Nachahmung kann von anderen Arten sozialen
Lernens durch eine Versuchsanordnung unterschieden werden, in
der ein gegebenes Ergebnis auf mehr als einem Weg erreicht wer
den kann. Wenn die Zuschauer also eine Aufgabe erfüllen, indem
sie die Technik des M odells gebrauchen, dann haben wir Grund zur
Annahme, dass sie vom Modell nicht nur etwas über Ziele, son
dern auch etwas über Mittel lernen. Das ist als »Two-Action-Ttst« be
380
kannt.* Wenn wir einen Two-Action-Test mit einem zweiten verschrän
ken, können wir eine Nachahmung auf der Ebene des Programms
von nur ungenauer Nachahmung unterscheiden. W ir brauchen eine
Aufgabe der folgenden Art: (i) Sie soll eine Lösung mit mehr als nur
einem Verhaltensprogramm erlauben; das heißt, dass die Aufgabe
auf unterschiedliche Weise in Unteraufgaben zerlegt werden kann.
(2) Es muss verschiedene, aber gleichermaßen angemessene Arten
geben, die Unteraufgaben auszuführen. Jede Unteraufgabe ist also
selbst ein Two-Action-Tcst. Ein Beispiel: Ich finde heraus, dass Schim
pansen für eine Aufgabe manchmal eher ihre Füße als ihre Hände
gebrauchen. Nun sei angenommen, dass der Mime und das Modell
die gleiche Unterteilung der Gesamtaufgabe vornehmen, aber der
Mime verwendet eher die Füße als die Hände. D a Variationen in
den Einzelhandlungen nicht als Irrtümer oder Fehler gelten, würde
es sich hier eher um Programmnachahmung als um eine irrtumsge
leitete gespielte Imitation handeln. Bei der Programmnachahmung
gibt es keine Irrtümer. Der Schimpanse hat vom Modell die Zerle
gung der Aufgabe in Komponenten erlernt. W ir haben hier eine über
greifende Ähnlichkeit in ihrer Wahl der Mittel, aber keine Ähnlichkeit
der einzelnen körperlichen Bewegungen; auf der Ebene der Unterauf
gaben gibt es also keine Nachahmung.
Ich weiß nicht, ob die experimentellen Belege die Behauptung
stützen würden, dass Menschenaffen die Fähigkeit haben, Verhal
tensprogramme zu repräsentieren. Aber ich glaube, dass diese Idee
ausreichend gut definiert ist, um damit eine alternative Hypothese
gegenüber jenen Erklärungen ihrer avancierteren Verhaltensfähigkei
ten darzustellen, die auf eine Theorie des Geistes zurückgreifen.
Wenn Schimpansen beispielsweise einen Rollentausch vornehmen,
dann ist das eine beeindruckende kognitive Leistung. Sie verweist
auf die Fähigkeit, von den motorischen Details hin zu einem über
greifenden Handlungsprogramm zu abstrahieren. Es ist wie das Er
lernen von sozialen Rollen oder von Rollen in einem Spiel. Schimpan-
* [A. d. Ü.: Ein Two-Action-Test besteht in Folgendem: Es gibt die beiden Versuchs
gruppen 1 und 2. 1 beobachtet Handlung A und 2 beobachtet Handlung B. Dann
müssen 1 und 2 die beobachteten Handlungen selber ausführen. Wenn 1 die Hand
lung A und 2 die Handlung B ausführt, dann imitieren die Subjekte. Ein einfaches
Beispiel: Die i-Ratten sehen A: der Hebel wird nach links gedrückt (damit Futter
kommt). Die 2-Ratten sehen B: der Hebel wird nach rechts gedrückt (damit Futter
kommt).]
381
sen könnten dazu imstande sein, die Regeln des Geben-Teilen-Zei-
gen-Spiels zu lernen. Das ist ein weiteres Verhaltensprogramm. Sie
erkennen durch Trainingserfahrung, worin das Spiel und ihre Rolle
darin besteht. Wenn das soziale Verhalten von Schimpansen auf ver
schiedenartige und nicht stereotype Weise strukturiert ist, wäre es
nicht überraschend, wenn sie so etwas tun könnten. Sollten sich kol
lektives Jagen und schimpansische Kriegsführung als Bestandteil
ihres Standard-Repertoires herausstellen, wären das natürliche Bei
spiele koordinierter und nicht-stereotyper Handlungen, in denen ver
schiedene Spieler verschiedene Rollen, jedoch nicht immer dieselbe
Rolle spielen.
Heyes glaubt gewiss nicht, dass irgendeines der bislang durch
geführten Experimente überzeugend genug ist, um begründen zu
können, dass ein Primat Gedanken liest. Beispielsweise ist sie auch
der Meinung, dass die Spielverderber-Ergebnisse der Experimente
zur Aufmerksamkeitsüberwachung von Povinelli und Eddy die Idee
sehr in Frage stellen, Schimpansen verständen die Rolle der visuel
len Aufmerksamkeit für das Verhalten. Ihr Hauptpunkt ist aber, dass
das Experiment nicht überzeugend genug ist, um ein unumstößli
ches Ergebnis zu liefern. Das Experiment kann nicht bestätigen, dass
Schimpansen die Bedeutung dessen, was ein Akteur sieht, verstehen
im Hinblick auf das, was er tut. Sie meint, dass
einfache Techniken der Unterscheidung [...] uns sagen können, welche be
obachtbaren Reize Schimpansen einsetzen, wenn sie entscheiden, wen sie
um Futter angehen müssen, doch können sie uns nicht sagen, warum Schim
pansen diese Reize einsetzen.31
Man stelle sich vor, die Daten wären so klar und eindeutig gewesen,
wie sie nur hätten sein können. W ir hätten immer noch zwei Hypothe
sen übrig. Die eine besagt: Schimpansen wissen, dass man Futter von
Leuten mit sichtbaren Augen erbetteln soll, denn nur Leute mit sicht
baren Augen sehen dich. Die andere Hypothese besagt: Schimpansen
haben nur eine
Tendenz, Leute mit sichtbaren Augen anzubetteln, und selbst wenn sie wüss
ten, dass das Anbetteln von Leuten mit sichtbaren Augen mit größerer Wahr
scheinlichkeit belohnt wird, so erklären sie sich selbst dieses Zusammentref
fen nicht in Begriffen des Geistes oder au f irgendeine andere Art und Weise.32
31 C. Heyes, »Theory o f Mind in Nonhuman Primates«, op. cit., S. 108.
32 Ibid.
382
Das ist richtig. Doch es gibt ein analoges Problem für die von ihr selbst
vorgeschlagene Versuchsanordnung. Sie putzt nämlich das Experi
ment der »Wissenden/Vermutenden« von Povinelli nur ein bisschen
heraus. In Povinellis Experimenten zur »Perspektivenübernahme«
wurden Schimpansen daraufhin untersucht, ob sie die Verbindung
zwischen Wissen und Sehen begreifen. In der ersten Phase des Expe
riments befindet sich der Schimpanse in einem Raum mit zwei Ex
perimentatoren und verschiedenen Behältern. Einer der Experimenta
toren (der »Wissende«) versieht einen Behälter mit Futter, nachdem
der andere den Raum verlassen hat. Der abwesende Trainer (der »Ver
mutende«) kehrt zurück, und beide Trainer zeigen auf je einen Be
hälter. In Povinellis Experiment lernte die Hälfte der Schimpansen,
dem Rat des »Wissenden« zu folgen. Doch die kritische zweite Phase
dieses Experiments untersuchte die Stabilität dieses Ergebnisses: Fol
gen die Schimpansen auch dann der richtigen Empfehlung, wenn
der Rat des »Vermutenden« durch andere Mittel als durch das Verlas
sen des Raums offenkundig nutzlos gemacht wird - insbesondere
durch einen Sack über dem K opf —, während der Behälter mit Futter
versehen wird?33
Heyes zeigt auf, dass die ursprüngliche Versuchsanordnung nicht
spezifisch genug ist, um zu überprüfen, ob die Annahme der Empfeh
lung des »Wissenden« wirklich davon abhängt, dass die Verbindung
zwischen Sehen und Wissen verstanden worden ist. Doch sie glaubt,
dass es sich um die richtige Art von Experiment handelt, weil es uns
ermöglicht, unsere Aufmerksamkeit genau auf das zu richten, worauf
Schimpansen in einer Situation achten. Während der Trainingsphase
kovariieren ein kausaler Reiz und ein sinnlicher Reiz. Das Verlassen
des Raums ist der sinnliche Reiz, der mit dem kausalen Reiz kova-
riiert. Dieser liegt in der Unfähigkeit zu sehen, welcher der Behälter
mit Futter versehen worden ist. Der sinnliche Reiz des Im-Raum-
Bleibens kovariiert mit dem kausalen Reiz, der im Nicht-Sehen-Kön-
nen liegt, welcher der Behälter mit einem Köder versehen worden
ist. Bei den Probedurchläufen bleiben beide Trainer im Raum und
der »Vermutende« trägt einen Sack über dem Kopf. Nach der An
sicht von Heyes vermag diese Versuchsanordnung die Möglichkeit
eines Transfers auf der alleinigen Basis von sinnlichen Erfahrungs
werten nicht äuszuschließen. Vielleicht spürten die Schimpansen
33 D. J. Povinelli (et al.), »Inferences about Guessing and Knowing by Chimpanzees«,
Jo u rn al o f Comparative Psychology 104 (1990), S. 203-210.
383
nur den »sichtbaren Kopf« auf. In diesem Falle würden sie die Probe
durchläufe immer noch erfolgreich bestehen, aber nicht durch ein Ver
ständnis der Verbindung zwischen Wissen und Sehen. Heyes schlägt
deshalb eine Versuchsanordnung vor, bei der durchsichtiges und
undurchsichtiges Glas verwendet wird, um die Möglichkeit zu mini
mieren, dass die Schimpansen einen bloß sinnlichen Erfahrungswert
einsetzen, um dem Sehen auf der Spur zu bleiben.
Anhand der Versuchsanordnung von Heyes können wir herausfin
den, ob Schimpansen das Sehen eher repräsentieren als aufspüren. Ihre
Versuchsanordnung kann uns sagen, ob Schimpansen mehrspurige
Reize anwenden können, um die Merkmale des Nichtwissens und
des Wissens aufzuspüren. Aber das ist anscheinend nicht ihre Sorge.
Sie möchte nicht die Erkennungsregeln für das Sehen testen. Vielmehr
gilt ihr Interesse der Frage, ob und wie Schimpansen die kausale Bedeu
tung des Sehens verstehen. Doch das ist eine Angelegenheit der Reak
tionsbandbreite, der Output-Regeln also. Ich kann nicht erkennen,
inwiefern ihre Versuchsanordnung in dieser Hinsicht gegenüber derje
nigen von Povinelli einen Fortschritt darstellt. Keine Versuchsanord
nung untersucht die Reaktionsbandbreite des Aufspürens, den wei
ten Bereich der Fähigkeiten, aufgrund des Sehens zu handeln. Wenn
Schimpansen das Sehen erst einmal aufgespürt haben, müssen sie zur
erfolgreichen Bewältigung der Versuchsaufgaben nur recht einfache
voraussetzungslose Output-Regeln beherrschen. Sie repräsentieren
das Sehen, doch vielleicht ohne große Reaktionsbandbreite. In einem
von Premacks Experimenten beispielsweise entfernte eine Schimpan-
sin die Augenbinde, die einen Trainer daran hinderte, ihr zu einem Be
hälter zu folgen, den sie geöffnet haben wollte. Dazu muss sie aber nur
verstehen, dass es eine Verbindung gibt zwischen ungehinderter Blick
richtung und der Fähigkeit, ihr zu folgen. Sie muss nicht verstehen,
dass diese Verbindung durch einen verborgenen inneren Zustand ver
mittelt wird oder dass sie für alle möglichen weiteren Interaktionen
wichtig ist. Ebenso könnten Schimpansen bei diesen Versuchen Erfolg
haben, indem sie der Regel folgen »Bettle um Futter bei denen, die es
gesehen haben«, ohne eine Theorie über die inneren Ursachen des Ver
haltens oder eine Einschätzung der Rolle des Sehens in vielen anderen
Kontexten zu haben. Sie müssen nur den visuellen Kontakt verfolgen
und auf ihn reagieren. Obwohl also die Versuchsanordnung von Heyes
uns bei der Triangulation des Sehens helfen kann — des Sehens als
einem kritischen Reiz, den Schimpansen repräsentieren und gebrau
38 4
chen —, erkenne ich nicht, wie diese Versuchsanordnung eine kritische
Rolle bei der Identifizierung einer erkennbaren, wenn auch rudimen
tären Alltagspsychologie im Geiste der Schimpansen spielen könnte.
Nichts in diesem Argument spielt den Wert experimenteller Unter
suchungen der Schimpansen-Welt herunter. Der springende Punkt
liegt vielmehr darin, dass weitreichende Verhaltenskompetenzen sei
tens der Primaten nicht durch ein einzelnes Experim ent enthüllt wer
den. Darüber hinaus gibt es keine privilegierte Reaktionsbandbreite,
deren Einhaltung vernünftigerweise als Kriterium für den Besitz einer
Alltagspsychologie betrachtet werden könnte. Unsere Beweisführung
ist hier von der Art, wie sie von Whiten und Dennett empfohlen wird:
Je mehr Situationen und Umstände es gibt, in denen Schimpansen die
Relevanz der Blickrichtung einsetzen und anwenden können, desto
mehr kann gelten, dass sie die Blickrichtung als etwas verstehen,
das durch den Geist vermittelt ist. Ich verstehe diesen Punkt eher me
thodologisch und weniger metaphysisch. Wenn Fodor Recht hat,
dann gibt es so etwas wie eine einzigartige kognitive Architektur,
die für den Besitz einer Alltagspsychologie konstitutiv ist. Selbst wenn
das so ist, wird deren experimentelle Signatur verschwommen sein.
Ich denke, das Beste, was wir tun können, ist Folgendes: Ein Schim
panse hat eine Theorie des Geistes (i) je mehr geistige Zustände ande
rer er aufspüren kann; (2) je mehr davon er eher repräsentieren als auf
spüren kann; (3) je weitreichender seine Verhaltenskompetenzen in
Bezug auf die so aufgespürten Zustände sind. Aber das ist gut genug,
um weiterzukommen.
5. Zusammenfassung
385
Ich verwende diese Unterscheidung zwischen Repräsentieren und
Registrieren, um einen Zugriff auf die Fähigkeiten zur Repräsenta
tion bei Primaten zu bekommen. Ein Primat reagiert auf den geis
tigen Zustand eines anderen, wenn er einige durch einen geistigen
Zustand tatsächlich verursachte Verhaltensabfolgen aufspüren kann,
d. h., wenn er mit einiger Zuverlässigkeit gezielt reagiert. Wenn bei
spielsweise ein Bonobo Wutverhalten dadurch befriedet, dass er Sex
für Frieden eintauscht, spürt er Wut auf. Wir untersuchen nun, ob es
sich um das Registrieren von Wut oder um das Repräsentieren von
Wut handelt, indem wir experimentell die Stabilität des Aufspürens tes
ten. Zugleich können wir experimentell die Verfeinerung dieses Auf
spürens untersuchen, indem wir die Bandbreite der Reaktionen auf
die Wut testen. Passt sich der Wut-Leser wütendem Verhalten in einer
Umwelt anders an, die bewirkt, dass sich dieses Verhalten anders aus
drückt? Dieses Bild der Dinge bestimmt somit zwei voneinander
getrennte experimentelle Untersuchungen. Wir untersuchen die Fä
higkeit eines Primaten zur Repräsentation eines geistigen Zustandes,
indem wir die Stabilität seiner Fähigkeit testen, diesen geistigen Z u
stand aufzuspüren. Die Stabilität besteht in der Vielfalt der Beobach
tungsreize, die er zum Aufspüren geistiger Zustände einsetzt. Ebenso
können wir die Bandbreite seiner Reaktion auf das Aufspüren unter
suchen. Eine Reaktionsbandbreite ist das Ausmaß, in dem die Erwar
tungen eines Aufspürenden gegenüber dem Verhalten eines Akteurs
verändert werden; oder in dem Ausmaß, in dem seine angemessenen
Reaktionen auf eine angemessene Art und Weise durch die Umwelt
sowie durch weitere geistige Zustände, die der Gedankenleser auf
spürt, modifiziert werden.
Die soziale Intelligenz eines Lebewesens entwickelt sich anhand
zweier Arten von Verhaltensregeln. Erkennungsregeln verbinden einen
Gedankenleser mit aufgespürten geistigen Zuständen. Ein Lebewe
sen liest nur dann Gedanken, wenn es ein Arsenal von Erkennungs
regeln für einige geistige Zustände hat. Die Reaktionen auf jene
Zustände, die ein Gedankenleser aufspüren kann, werden von Out
put-Regeln geleitet. Wir untersuchen die Output-Regeln eines Lebe
wesens, indem wir die Reize für den Leser festlegen, die Umwelt ver
ändern und die verschiedenen Reaktionen testen.
386
IV. Bewusstsein
Daniel C. Dennett
Das Bewusstsein der Tiere: Was ist wichtig
und warum?
Haben Tiere ein Bewusstsein? So wie wir? Welche Spezies und war
um? Wie ist es, eine Fledermaus, eine Ratte, ein Geier oder ein Wal
zu sein?
Doch vielleicht wollen wir die Antworten auf diese Fragen gar
nicht wirklich wissen. Wir sollten den Wunsch nach Nichtwissen
nicht gering achten. Gibt es nicht eine Menge Dinge, die uns selbst
oder unsere Nächsten betreffen, die wir lieber nicht wissen möchten?
Ich für meinen Teil bin mir sicher, dass ich einige Anstrengungen auf
mich nehmen würde, um nicht alle Geheimnisse der Leute um mich
herum kennen zu müssen: wen sie abscheulich finden, wen sie insge
heim bewundern, welche Verbrechen und Dummheiten sie begangen
haben oder glauben, dass ich sie begangen hätte! Würde ich all dies
in Erfahrung bringen, wäre meine Gemütsruhe zerstört und meine
Einstellung gegenüber meinen Mitmenschen verkrüppelt. Vielleicht
hätte es auf unsere Beziehungen zu unseren tierischen Verwandten
eine ähnlich vergiftende Wirkung, wenn wir zu viel über sie erführen.
Wenn dem aber so ist, dann wollen wir es freimütig eingestehen und
das Thema fallen lassen, anstatt dem rührseligen Kurs weiter zu fol
gen, den zurzeit so viele einschlagen.
Das gegenwärtige Nachdenken über das Bewusstsein der Tiere ist
nämlich ein ziemliches Wirrwarr. Verdeckte und weniger verdeckte
Hintergedanken verzerren die Diskussion und behindern die For
schung. Wendet man sich der »Geschichte der Geschichte« dieser
Kontroversen zu, kann man eine Art komischer Erleichterung ge
winnen —wenn man für bittere Ironie zu haben ist. Ich bin nicht ge
rade bekannt für meine flammende Verteidigung von Rene Descartes,
aber ich stelle fest, dass ich doch mit einem ehrlichen Wissenschaft
ler sympathisieren muss, der offensichtlich das erste Opfer zügelloser
Fehldarstellungen von Extremisten der Tierrechtsbewegung wurde.
Tierrechtsaktivisten wie R Singer oder M . Midgley haben unlängst
zur Verbreitung des Mythos beigetragen, Descartes sei gerade auf-
gru n d seiner Ansicht, dass Tiere (im Gegensatz zu Menschen) bloße
Automaten seien, ein abgestumpfter Vivisecteur gewesen und dem
38 9
Leid der Tiere gegenüber gänzlich gleichgültig. Wie jedoch J. Leiber
in einer strengen Neuuntersuchung der dafür unterstellten Belege
betont hat: »Es gibt schlicht und einfach keine Zeile bei Descartes,
die nahe legt, dass er der Ansicht gewesen wäre, es stehe uns frei, Tiere
nach Belieben zu verprügeln, oder wir hätten die Freiheit, so etwas zu
tun, w eil ihr Verhalten mechanisch erklärt werden kann.«1 Darüber
hinaus war Montaigne —die bevorzugte Autorität der Ankläger von
Descartes, auf den sich auch Singer und Midgley unkritisch bezie
hen - ein leichtgläubiger Romantiker von atemberaubender Igno
ranz und nur darauf aus, noch die phantastischsten Märchen über
den Geist der Tiere beim Wort zu nehmen; und im Gegensatz zu Des
cartes war Montaigne nicht im Geringsten daran interessiert heraus-
zufinden, wie Tiere tatsächlich funktionieren.
Genau diese Haltung ist heute Gemeingut. Es gibt eine merkwür
dige Toleranz gegenüber ausgemachter Inkonsistenz und Obskuran
tismus und eine bizarre Einseitigkeit im Umgang mit Belegen für
den Geist der Tiere. E. Marshall Thomas hat ein Buch geschrieben,
Das geheime Leben der Hunde, das genaue Beobachtung und imagina
tionsstarke Hypothesenbildungen mit schierer Phantasie vermischt.2
In der allgemein wohlwollenden Rezeption dieses Buchs weist kaum
jemand darauf hin, dass es verantwortungslos von ihr ist, ihre poten
tiell wertvollen Beobachtungen durch gut gemeinte romantische Ver
kündigungen zu verunreinigen, für die sie keine haltbare Grundlage
haben kann. Wenn man an das Bewusstsein von Hunden glauben will,
so ist ihre Art der Poesie die Lizenz dafür. Wenn man etwas über das
Bewusstsein von Hunden wissen will, dann muss man sich eingeste
hen, dass sie zwar viele gute Fragen stellt, ihre Antworten aber nicht
vertrauenswürdig sind. Das heißt nicht, dass alle ihre Behauptungen
falsch wären, sondern dass sie als Antworten auf diese Fragen einfach
nicht genügen. Nicht, wenn wir die Antworten wirklich wissen wollen.
Vergebliche Liebesmüh’, werden einige sagen. Gewisse Fragen,
heißt es, seien für die Wissenschaft zurzeit nicht (und vielleicht nie)
zu beantworten. Der Deckmantel des Mysteriums fällt günstig ge
rade über diejenigen Streitpunkte, die Licht auf die Grundlagen un
serer moralischen Einstellungen gegenüber verschiedenen Tieren zu
1 J. Leiber, »Cartesian Linguistics?«, in: The Chomskian Turn, hrsg. von A. Kasher,
Cambridge (Mass.) und Oxford: Basil Blackwell 1991, S. 150-181.
2 E. Marshall Thomas, The H idden L ife o f Dogs, Boston: Hughton M ifflin 1993
[dt. Das geheime Leben der Hunde, Hamburg: Rowohlt 1995].
390
werfen versprechen (oder zu werfen drohen). Auch hier kann man
wiederum eine bemerkenswerte Asymmetrie erkennen. Wir verlan
gen nicht nach absoluter cartesianischer Gewissheit dafür, dass unsere
Mitmenschen ein Bewusstsein haben - wir verlangen nur, was zu
treffend als »moralische Gewissheit« bezeichnet wird. Können wir eine
moralische Gewissheit nicht auch hinsichtlich des Bewusstseins von
Tieren verlangen? Bislang habe ich noch kein Argument eines Philo
sophen oder einer Philosophin gesehen, das schlüssig zeigt, dass wir
auch mit Hilfe der Wissenschaften nicht in der Lage sind, Tatsachen
über den Geist der Tiere festzuhalten, die über denselben Grad an mo
ralischer Gewissheit verfügen, der uns im Falle unserer eigenen Artge
nossen befriedigt. Ob es nun also überzeugende Argumente für das
»prinzipielle« Mysterium des Bewusstseins gibt oder nicht (mich ha
ben die bislang vorgebrachten Argumente ganz und gar nicht über
zeugt) —sie führen auf Holzwege. Über das Bewusstsein von Tieren
können wir genug in Erfahrung bringen, um die Fragen in Bezug
auf unsere Verantwortung zu klären. Die moralische Frage nach den
Tieren ist wichtig, und aus genau diesem Grund darf es nicht gestat
tet sein, sowohl die empirische als auch die begriffliche Forschung
abzulenken, auf der eine gut unterrichtete Ethik aufgebaut werden
könnte.
Ein schlagendes Beispiel für den einseitigen Gebrauch von Bele
gen ist Th. Nagels berühmter Aufsatz »Wie ist es, eine Fledermaus
zu sein?«.3 Eine der rhetorischen Eigentümlichkeiten von Nagels Auf
satz besteht darin, dass er Fledermäuse auswählt und sich dann die
Mühe macht, einige der faszinierenden Tatsachen über Fledermäuse
und deren Echolokation anzuführen, vermutlich weil diese hart er
arbeiteten, aus der Perspektive der dritten Person gewonnenen wis
senschaftlichen Tatsachen uns etwas über das Bewusstsein von Fle
dermäusen sagen. Was sagen sie denn? In erster Linie stützen sie
unsere Überzeugung, dass Fledermäuse ein Bewusstsein haben. (Na
gel schrieb ja keinen Aufsatz mit dem Titel »Wie ist es, ein Back
stein zu sein?«.) Zweitens (und viel wichtiger) stützen sie seine Be
hauptung, dass das Bewusstsein von Fledermäusen sehr verschieden
von unserem Bewusstsein ist. Die rhetorische Eigentümlichkeit —
um nicht zu sagen: offene Inkonsistenz - seiner Darstellung der An-
3 Th. Nagel, »What is it Like to be a Bat?«, PhilosophicalReview 83 (1974), S. 435-450
[dt. »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in: Analytische Theorien des Selbstbewusst
seins, hrsg. von M. Frank, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 135-154].
gelegenheit kann in eine naheliegende Frage gefasst werden: Wenn
einige solcher Tatsachen etwas über das Bewusstsein von Fledermäu
sen darlegen können, könnten dann weitere Tatsachen dieser Art
nicht noch mehr sichtbar machen? Nagel hat sich ja bereits auf »objek
tive«, »vom Standpunkt der dritten Person durchgeführte«, wissen
schaftliche Nachforschungen verlassen, um die Hypothese aufzustel
len (oder sie zumindest auf vernünftige Weise glaubhaft zu machen),
dass Fledermäuse ein Bewusstsein haben, aber nicht ein Bewusstsein,
wie wir es haben. Warum sollten uns weitere solcher Tatsachen nicht
Auskunft darüber geben können, in genau welchen Hinsichten das
Bewusstsein von Fledermäusen nicht wie das unsrige ist - wobei sie
uns dann auch sagen würden, wie es ist, eine Fledermaus zu sein?
Was für eine Art von Tatsache ist das eigentlich, die nur für eine Seite
einer empirischen Frage ausschlaggebend ist?
Tatsächlich verlassen wir uns alle ohne Zögern auf Verhaltensbe
lege aus der Perspektive der dritten Person, um Hypothesen über das
Bewusstsein bei Tieren zu stützen oder zu verwerfen. Was sollte
schließlich sonst die Quelle unserer »vortheoretischen Intuitionen«
sein? Aber diese Intuitionen sind für sich genommen unzuverlässig
und bedürfen sehr der reflektierten Bewertung. Was sieht man bei
spielsweise im Verhalten einer fleischfressenden Pflanze, einer Amöbe
oder einer Qualle: »Empfindungsfähigkeit« oder »bloße diskrimina-
torische Reaktionsfähigkeit«? Was sieht man über die bloße diskri-
minatorische Reaktionsfähigkeit hinaus — eine Fähigkeit, die auch
viele Roboter zeigen - , wenn man in einer Kreatur Empfindungsfähig
keit sieht} Tatsächlich ist es lächerlich einfach, Menschen starke Intui
tionen nicht nur in Bezug auf Empfindungsfähigkeit, sondern auch in
Bezug auf ein ausgereiftes Bewusstsein (voll von Bosheit, Neugierde
oder Freundschaft) einzuflößen, indem man sie ziemlich simplen Ro
botern gegenüberstellt, die so gebaut sind, dass sie sich a u f vertraute,
säugetierartige Weise in säugetierartigen Geschwindigkeiten bewegen.
COG, ein erfreulich humanoider Roboter, der gerade am M IT ge
baut wird, hat Augen, Hände und Arme, die sich wie unsere be
wegen — flink, entspannt und gefällig.4 Sogar diejenigen unter uns,
die an diesem Projekt mitarbeiten und sich im Klaren darüber sind,
dass wir noch nicht einmal begonnen haben, die höherstufigen Pro
zesse zu programmieren, die COG vermutlich mit Bewusstsein aus-
4 Vgl. D. Dennett, »The Practical Requirements for Making a Conscious Robot«, Phi-
losophical Transactions o f the Royal Society o f London 348 (1994), S. 133-146.
392
statten könnten, haben das beinahe überwältigende Gefühl, sieh in
der Gegenwart eines anderen bewussten Beobachters zu befinden,
wenn COGs Augen einer Handbewegung folgen - nach wie vor blind
und ziemlich stupide. Wiederum plädiere ich für Symmetrie. Wenn
wir die zur Illusion verführende Macht dieser eleganten und lebens
nahen Bewegungen anerkennen, so müssen wir festhalten, dass es eine
nach wie vor offene Frage sein sollte, ob wir nicht auch von unserer
geliebten Katze, dem geliebten Hund oder dem edlen Elefanten ver
zaubert werden. Gefühle werden viel zu leicht hervorgerufen, um hier
ausschlaggebend sein zu können.
Wenn das Verhalten, beiläufig von Leichtgläubigen oder Großher
zigen beobachtet, ein trügerischer Orientierungswert ist, könnte dann
vielleicht die Zusammensetzung - Material und Struktur - einen
gewichtigen Einfluss haben? Die Geschichte bietet eine nützliche
Perspektive auf diese Frage an. Vor nicht allzu langer Zeit —in Des-
cartes’ Tagen — wurde die Hypothese, dass ein materielles Gehirn
von sich aus Bewusstsein aufrechterhalten könnte, als grotesk betrach
tet. Man konnte sich nur vorstellen, dass allein immaterielle Seelen
bewusst seien. Was damals unvorstellbar war, ist jetzt leicht vorstell
bar. Heute können wir uns nämlich leicht vorstellen, dass ein Gehirn,
ohne Unterstützung durch immaterielle Begleiter, ein hinlänglicher
Sitz für das Bewusstsein sein kann, auch wenn wir uns fragen, wie
das überhaupt möglich ist. Doch in den Augen der allermeisten ist
dies sicher eine M öglichkeit, und viele von uns denken, dass die Belege
für deren Wahrheit fast Gewissheit schaffen. Zum Beispiel würde
heutzutage kaum jemand denken,, die »Entdeckung«, dass Linkshän
der keinen immateriellen Geist, sondern nur Gehirne haben, würde
uns unmissverständlich zeigen, dass sie lediglich Zombies wären.
Unbeeindruckt von diesem Eingeständnis scheuen heute manche
Leute schon vor der bloßen Idee eines Silizium- oder anderen künst
lichen Bewusstseins zurück. Aber die Gründe für solche allgemeinen
Ansichten sind, gelinde gesagt, nicht sehr beeindruckend. Es sieht
mehr und mehr so aus, als müssten wir einfach darauf achten, was
gewisse Entitäten - in diesem Fall Tiere, aber auch Roboter und an
dere aus ungewöhnlichem Material hergestellte Dinge - tatsächlich
tun können, und dies als den tauglichsten Leitfaden in der Frage ge
brauchen, ob Tiere Bewusstsein haben, und wenn ja, warum und
wovon.
Ich habe einmal mit dem Gefühl der Faszination und, wie ich ge
393
stehen muss, mit Abscheu Hunderte von Geiern beobachtet, die sich
unter der heißen Sonne eines Junitages in Kenia an einem verwesen
den Elefantenkadaver gütlich taten. Ich fand den Gestank so über
wältigend, dass ich mir die Nase zuhalten und durch ein Halstuch
atmen musste, um ein Würgen zu verhindern; daher blieb ich die
ganze Zeit auf Distanz. Doch da waren diese Geier, die sich gegensei
tig gierig beiseite drängten und für die leckersten Bissen in den Ka
daver stiegen. (Ich werde Ihnen die haarsträubendsten Einzelheiten
ersparen.) Nun, ich bin ziemlich sicher und erwarte Ihre Zustim
mung: bei dieser Gelegenheit konnte ich einen ziemlich guten Beleg
dafür gewinnen, dass diese Geier meinen olfaktorischen Erfahrungs
raum nicht teilen. Wie ich später erfuhr, verlassen sich die Geier der
Alten Welt - im Unterschied zu ihren eher entfernten Verwandten in
der Neuen Welt - tatsächlich überhaupt nicht auf Geruchswahrneh
mung; sie benutzen ihren scharfen Gesichtssinn, um Aas auszuspä
hen. Die spezifischen ekelerregenden Ausdünstungen verfaulenden
Aases hingegen, die zusammen mit so treffend bezeichneten Am i
nen wie »Cadaverin« oder »Putreskin« auftreten,* sind Lockstoffe
für den Truthahngeier (Cathartes aurd) der Neuen Welt. Die Erklä
rung dafür lautet wohl, dass sich diese Vögel der Neuen Welt in einer
Umwelt entwickelt haben, in der sie nach Nahrung jagen mussten, die
unter einem Blätterdach verborgen war, was die Nützlichkeit des
Gesichtssinns verringerte und jene des Geruchssinns vergrößerte.
D. Houston hat Experimente durchgeführt, in denen er frische, reife
und stark gereifte Hühnerkadaver benutzte, versteckt und außer Sicht
weite in den Wäldern einer panameischen Insel, um das olfaktorische
Talent der Truthahngeier zu titrieren, d. h. einer chemischen Analyse
zur Bestimmung der olfaktorischen Reizbarkeit zu unterziehen.5 Wir
machen also Fortschritte! Wir wissen jetzt —mit moralischer Gewiss
heit - etwas über den Unterschied, wie es ist, ein afrikanischer Geier zu
sein, und wie es ist, ein mittelamerikanischer Truthahngeier zu sein.
Machen wir weiter so! Wie riecht ein verfaulter Hühnerkadaver
für einen Truthahngeier? A u f den ersten Blick liegt es anscheinend
auf der Hand, dass wir in diesem Fall das philosophische Problem
394
des Fremdpsychischen sicher beiseite lassen und zweifellos annehmen
dürfen, dass diese Geier ziemlich auf Aasgeruch stehen. Oder sollte
jemand unter den Anwesenden vermuten, dass Geier vielleicht hel
denhafte Märtyrer in der Welt der Aasfresser sind, die tapfer ihren Ekel
unterdrücken, während sie die ihnen zugewiesene Pflicht erfüllen?
Offensichtlich korrigieren wir hier eine Extrapolation von uns
selbst als Menschen durch eine weitere: Wir befreien unsere Zuschrei
bung von unserem eigenen Abscheu, indem wir die augenfällige Be
gierde, die sich im Verhalten der Geier zeigt, zur Kenntnis nehmen.
Wir legen eine solche Begierde an den Tag, wenn wir etwas mögen, also
müssen auch die Geier mögen, was sie tun und empfinden. W ir sor
gen uns ja auch nicht um die armen Robbenbabies auf ihrer Eis
scholle, ob sie sich ihre kleinen Flossen erkälten. Lägen w ir nackt
auf dem Eis im heulenden Wind, würden wir Höllenqualen erleiden.
Sie aber sind für die Kälte gemacht. Sie schlottern und sie winseln
nicht, und in der Tat zeigen sie das Benehmen von Tieren, die in ihrer
momentanen Lage gar nicht glücklicher sein könnten: Trautes Heim,
Glück allein!
»Moment!«, ruft der Philosoph aus, »Sie sind mit diesen Alltagszu
schreibungen entsetzlich liederlich umgegangen. W ir sollten uns
überlegen, was im Prinzip möglich ist. Ekel der Geier ist im Prinzip
möglich, nicht wahr? Sie wollen doch das an ihnen beobachtbare Ver
halten nicht zu einem Kriterium für Lust machen, oder? Sind Sie einer
dieser umnachteten Behavioristen? Die Annahme, dass es für Geier
keinen Sinn machen würde, sich vor der ihnen zugeteilten Ernährung
zu ekeln, ist doch nichts weiter als panglossianischer Optimismus.*
* [A. d. Ü.: >Panglossianismus< ist ein von S. J. Gould und R. Lewontin eingeführter
Ausdruck für den evolutionären Adaptionismus: Jedes Merkmal eines Lebewesens
wurde wegen des biologischen Vorteils dieses Merkmals selektiert. Dr. Pangloss ist
der optimistische Philosoph in Voltaires Roman C andide. In Dr. Pangloss verspottet
Voltaire den Optimismus des Philosophen Leibniz, der behauptet hatte, wir würden
in der besten aller möglichen Welten leben. Pangloss versucht das zu beweisen, in
dem er zeigt, dass alles in der Welt (Gutes wie Schlechtes) einen letztlich guten
Zweck verfolgt. In gewissem Sinne würden wir also gemäß dem Adaptionismus in
der besten aller möglichen Welten leben, die aber nicht Gott erschaffen hat, sondern
die Evolution. Dennett verteidigt diesen evolutionären Panglossismus in »Intentio
nale Systeme in der kognitiven Verhaltensforschung«, in: Kognitionswissenschaft:
Grundlagen, Probleme, Perspektiven, hrsg. von D. Münch, Frankfurt/M.: Suhrkamp
1992, S. 343-386 (vgl. dazu in diesem Band die Anmerkung im Text von D. Papineau,
S. 261).]
3 95
Vielleicht wurden Geier durch die Evolution fehlkonzipiert. Viel
leicht fanden sich die Vorfahren der Geier in einer Art evolutionä
rer Sackgasse. Sie verabscheuten den Geruch und Geschmack der ein
zigen in ihrer Nische noch verfügbaren Nahrung, hatten aber keine
andere Wahl, als ihren Abscheu zu überwinden und ihn hinunter
zuschlucken. Vielleicht haben sie seither ein stoisches Auftreten ent
wickelt, und was Sie als Begeisterung gedeutet haben, ist tatsächlich
schiere Verzweiflung!«
Einverstanden, entgegne ich. Mein schnelles Urteil war vermut
lich ein wenig zu voreilig. Verfolgen wir die Sache also weiter und
sehen wir, ob für die Alternativhypothese des Philosophen irgendwel
che stützenden Belege gefunden werden können. Folgendes ist eine
relevante Tatsache: Truthahngeier werden vom Geruch von ein oder
zwei Tage alten Kadavern angelockt, aber sie schenken älterer, noch
schärfer riechender Kost keine Beachtung. Man vermutet, dass die
toxische Dosis in solch fliegenübersäten Überresten sogar für die
Toxin-toleranten Geier zu hoch ist, sodass sie diese lieber den M a
den überlassen. Insekten, so nimmt man an, benutzen die Entstehung
der Zerfallsprodukte als Hinweis darauf, dass ein Kadaver ausrei
chend verfault ist, um einen passenden Ort für die Eiablage und da
mit für die Entwicklung der Maden abzugeben. Das lässt aber die ver
bleibende Frage, ob Truthahngeier den Geruch von Aas mittlerer
Reife wirklich mögen, immer noch offen. An diesem Punkt jedoch ver
siegt mein Wissen über die tatsächliche oder in Betracht gezogene
Geier-Forschung, sodass ich für den Moment einige frei erfundene
Möglichkeiten erwägen muss. Es wäre faszinierend, wenn man so
etwas wie einen unvollständig unterdrückten Würgreflex entdeckte,
der Bestandteil des gewöhnlichen Fressverhaltens der Geier wäre,
oder vielleicht Spuren gegeneinander arbeitender Annäherungs- und
Vermeidungs-Systeme, die in den Gehirnen der Geier aneinander he
rumzerrten. Eine Aktivität, so könnten wir uns ausmalen, die man in
den Gehirnen von Vögeln mit appetitlicheren Speiseplänen nicht fin
det. Entdeckungen dieser Art würden der erstaunlichen Hypothese
des Philosophen eine wirkliche Unterstützung bieten, aber selbstver
ständlich würde es sich nur um weitere »behavioristische« oder »funk
tionale« Belege handeln. Einmal mehr würde eine oberflächlich plau
sible, aber rückblickend betrachtet naive oder zu einfache Deutung
durch einen raffinierteren Gebrauch von verhaltensspezifischen Er
wägungen über den Haufen geworfen. Doch der Philosoph könnte
39 6
die Unterstützung durch die von mir ausgemalten Evidenzen kaum
akzeptieren, ohne zugleich einzugestehen, dass das Fehlen einer sol
chen Entdeckung gegen seine Alternative und fü r meine anfängliche
Deutung spräche.
Das könnte, ja, das darf überhaupt nur der Anfang einer langen
und schwierigen Untersuchung der möglichen funktionalen Deutun
gen von Ereignissen in den Nervensystemen der Geier sein. Aber wir
wollen die Jagd hier abbrechen. Denn ich stelle mir vor, dass unser
Philosoph nicht einverstanden ist und letztlich darauf besteht: selbst
wenn die eine oder andere Hypothese in Bezug auf die Komplexi
tät der Q€\£i-Reaktionen auf Aas erfolgreich bestätigt worden wäre,
könnte uns dennoch keine der nur aus der Perspektive der dritten Per
son durchgeführten Untersuchungen (»im Prinzip«) sagen, wie es für
einen Geier wirklich ist, Aas zu riechen. Das würde allerdings nicht
aufgrund irgendeines weiteren Arguments behauptet, sondern alleine
deshalb, weil das am Ende die »intuitive« Trumpfkarte ist, die routine
mäßig gespielt wird.
Was ich an dieser wohl bekannten Sackgasse empörend finde, ist
die Verbindung einer munteren Bewusstseinsbehauptung mit einem
ebenso sorglosen M angel an N eugier darauf, was diese Behauptung
wohl bedeuten und wie man sie untersuchen könnte. J. Leiber bietet
uns eine handliche Bewertungsskala an:
Montaigne ist in dieser Hinsicht sehr ökumenisch, indem er sowohl für Spin
nen als auch für Ameisen Bewusstsein reklamiert und sogar über unsere Pflich
ten gegenüber Bäumen und Pflanzen schreibt. Singer und Clarke stimmen
darin überein, dass sie Schwämmen Bewusstsein absprechen. Singer loka
lisiert die Trennlinie irgendwo zwischen Garnelen und Austern. Für jeman
den, der anderen harte Anklagen entgegenschmettert, kommt er beim Fall
von Insekten, Spinnen und Bakterien mit einer auffälligen Bequemlichkeit
ins Gleiten; denn diese fühlen, pace Montaigne, offenbar und bequemerweise
keine Schmerzen. Die unerschrockene M idgley hingegen scheint willens, über
die subjektiven Erfahrungen von Bandwürmern zu spekulieren. [...] Nagel
[...] scheint bei Flundern und Wespen einen Strich zu ziehen, obwohl er seit
Kurzem vom inneren Leben von Küchenschaben spricht.6
397
ßend sagt er: »In diesem Sinne kann Bewusstsein vermutlich bei allen
Säugetieren gefunden werden und wahrscheinlich auch bei allen Vö
geln, Reptilien und Amphibien.«7 Es ist das >Vermutlich< und das
Wahrscheinlich, auf die ich unsere Aufmerksamkeit lenken möchte.
Lockwood gibt keinen Hinweis darauf, wie er es anstellen würde,
diese Ausdrücke durch etwas Bestimmteres zu ersetzen. Ich verlange
keineswegs nach Gewissheit. Aber Vögel sind nicht nur wahrschein
lich Warmblüter, und Amphibien sind nicht nur vermutlich Lungen-
atmer. Nagel gesteht von Anfang an ein, nicht zu wissen - oder kein
Rezept für die Entdeckung zu haben - , wo man die Linie ziehen soll,
wenn wir die Skala der Komplexität (oder ist es die Skala der Knud-
deligkeit?) hinuntersteigen. Diese Verlegenheit wird von denjenigen
routiniert zur Seite gewischt, für die es klar auf der Hand liegt, dass
es irgendwie ist, eine Fledermaus oder ein Hund zu sein, ebenso
wie auf der Hand liegt, dass es nicht irgendwie ist, ein Backstein zu
sein, und dass es im M oment wenig hilft, sich darüber zu streiten,
ob es überhaupt irgendwie ist, ein Fisch oder eine Spinne zu sein.
Doch was bedeutet es, zu sagen, dass es irgendwie ist oder dass es
nicht irgendwie ist?
Es hat bislang als gutes philosophisches Benehmen gegolten, hier an
ein gegenseitiges Einvernehmen zu appellieren: Wir wissen, wovon
wir sprechen, auch wenn wir es noch nicht erklären können. Ich
möchte das in Frage stellen. Ich behaupte, dass diese routinierte me
thodische Annahme keine klare vortheoretische Bedeutung hat - trotz
ihrer unbestreitbaren »intuitiven« Anziehungskraft - und dass sie,
eben weil dem so ist, ideal dazu geeignet ist, die lähmende Rolle einer
»gemeinsamen« Intuition zu spielen, die die Lösung vor uns verbirgt.
Vielleicht gibt es in dieser Hinsicht wirklich einen gewaltigen Unter
schied zwischen uns und allen anderen Arten; vielleicht sollten wir
»radikale« Hypothesen in Erwägung ziehen. Lockwood sagt, dass
»wahrscheinlich« alle Vögel Bewusstsein haben, aber vielleicht sind
einige - oder sogar alle - so etwas wie Schlafwandler! Und wie steht
es mit dem Gedanken, dass es unbewusste Schmerzen geben könnte
(und dass die Schmerzen der Tiere, obwohl real und in der Tat mora
lisch wichtig, unbewusste Schmerzen wären) ? Vielleicht liegt ein ge
wisses Maß an großherziger Selbsttäuschung (was ich einmal das
»Beatrix-Potter-Syndrom« genannt habe) darin, wenn wir uns gegen
398
seitig freundlich versichern, dass »pace Descartes, Bewusstsein —so
verstanden —auf diesem Planeten nicht im Entferntesten das Mono
pol menschlicher Wesen ist«, wie Lockwood es formuliert.8 Wie kön
nen wir jedoch diese >Vielleichts< je erforschen? Wir könnten es in
konstruktiver und fundierter Weise tun, indem wir uns als Erstes eine
Theorie zurechtlegen, die sich ausschließlich auf das menschliche
Bewusstsein konzentriert — auf jene einzige Form also, bei der wir
keine >Vielleichts< und kein Wahrscheinlich dulden - und dann
schauen w ir, welche Merkmale dieses Ansatzes auf welche Tiere zutref
fen und warum. Es liegt eine Menge Arbeit vor uns, die ich mit ein
paar Beispielen veranschaulichen werde —Aufwärmübungen für die
anstehenden Aufgaben.
H. Melville stellt in Mohy D ick einige wunderbare Fragen dazu, wie
es ist, ein Pottwal zu sein. Die Augen des Wals befinden sich an den
gegenüberliegenden Seiten einer riesigen Masse: »der Vorderteil des
Pottwalkopfs«, so erzählt uns Melville auf erinnerungswürdige Weise,
»ist eine tote, blinde Mauer ohne ein einziges Organ oder einen emp
findlichen Vorsprung irgendwelcher Art«.9 Melville bemerkt: »So
muß der Wal auf der einen Seite ein selbständiges Bild und auf der
anderen Seite ein zweites sehen, während für ihn dazwischen Dunkel
heit und Leere herrscht.«10
Nun lehrt uns zwar die Erfahrung, daß wir mit einem Blicke eine unter
schiedslose Menge von Dingen erfassen können, daß es uns aber unmöglich
ist, zwei Gegenstände, seien sie groß oder klein, zu gleicher Zeit aufmerksam
und vollständig zu betrachten, selbst wenn sie nebeneinander liegen und sich
berühren. Wenn man nun die beiden Gegenstände voneinander trennt und
jeden einzelnen mit einem Kreis tiefen Dunkels umgibt, so wird, wenn man
seine Aufmerksamkeit auf den einen konzentriert, der andere zeitweise völ
lig aus unserem Bewußtsein ausgeschaltet werden. W ie ist das nun beim
Wal? Sicherlich müssen seine Augen gleichzeitig in Tätigkeit sein. Aber ist sein
Gehirn in der Lage, so viel mehr aufzufassen und genauer zu verarbeiten als
das des Menschen, daß er zur gleichen Zeit zwei verschiedene Bilder scharf
zu beobachten vermag, das eine au f der einen, das andere auf der genau ent
gegengesetzten Seite?11
8 Ibid.
9 H. Melville, Moby D ick oder D er Wal (übersetzt von R. Mummendey), München:
Winkler 1964, S. 415 (Kap. 76).
10 Ibid., S. 407 (Kap. 74).
11 Ibid., S. 408.
399
Melville vermutet weiter, dass die durch den Pottwal ausgeführten »au
ßerordentlich unentschlossenen Bewegungen«, während er »von drei
oder vier Booten angegriffen« wird, ihren »Grund in der hilflosen Ver
wirrung haben, in die sein Wille infolge der geteilten und entgegen
gesetzten Gesichtseindrücke gestürzt wird«.12
Könnten diese »außerordentlich unentschlossenen Bewegungen«
nicht vielmehr Versuche des Wales sein, mit den kreisenden Booten
in visuellem Köntakt zu bleiben? Viele Vögel, die ebenfalls unter Au
gen »leiden«, die sich auf den gegenüberliegenden Seiten ihres Kopfes
befinden, erreichen ein gewisses Maß an »binocularer« Tiefenschärfe,
indem sie ihre Köpfe hin und her wenden. Damit stellen sie ihrem
Gehirn zwei leicht verschiedene Ansichten zur Verfügung und gestat
ten es der relativen Bewegung der Parallaxe, ihnen annäherungsweise
dieselbe Tiefeninformation zu geben, die wir auf einen Blick durch
unsere beiden Augen mit ihren sich überschneidenden Sehfeldern
erhalten.
Wie immer es auch ist, ein Wal zu sein - Melville nimmt an, dass es
in einer Hinsicht dem menschlichen Bewusstsein ähnlich ist: Ein ein
zelner Kapitän sitzt am Steuer, ein »Ich« oder »Ego«, das entweder auf
übermenschliche Weise seinen Blick auf völlig unterschiedliche Sze
narien verteilt oder auf menschliche Weise zwischen zwei konkurrie
renden Szenarien hin und her springt. Aber könnten wir hier nicht viel
radikalere Entdeckungen erwarten? Wale sind nicht die einzigen
Tiere, deren Sehfelder sich wenig oder gar nicht überschneiden; Ka
ninchen sind ein weiteres Beispiel. Bei Kaninchen gibt es zwischen
den beiden Augen keinen Lerntransfer! Trainiert man ein Kanin
chen darauf, dass eine bestimmte Gestalt eine Gefahrenquelle dar
stellt, indem man die Darbietungen sorgfältig auf sein linkes Auge
beschränkt, so wird das Kaninchen kein »Wissen« in Bezug auf diesen
Umriss und weder Furcht noch Fluchtverhalten zeigen, wenn die be
drohliche Gestalt seinem rechten Auge präsentiert wird. Wenn wir fra
gen, wie es ist, dieses Kaninchen zu sein, so müssen wir anscheinend
unserer Frage zumindest den Zusatz dexter oder sinister anfügen, um
sie wohlgeformt zu stellen.
Nun wollen wir die weite Kluft überspringen, die unsere nahen Ver
wandten, den Wal und das Kaninchen, von einer viel entfernteren Ver
wandtschaft trennt, der Schlange. In einem eleganten Aufsatz zeigt
12 Ibid.
400
P. Gärdenfors auf, »warum Schlangen nicht an Mäuse denken kön
nen«:13
Es scheint, dass eine Schlange nicht über eine zentrale Repräsentation von
einer Maus verfügt, sondern sich lediglich auf transduzierte Informationen
verlässt. Die Schlange wendet au f eine Beute - wie eine Maus - drei verschie
dene sensorische Systeme an. Um die Maus mit den Giftzähnen zu schlagen,
benutzt die Schlange das visuelle System (oder die Wärmesensoren). Ist die
Maus geschlagen, stirbt sie normalerweise nicht sofort, sondern rennt noch
ein kleines Stück davon. Ist die Beute erst einmal geschlagen, benutzt die
Schlange ihren Geruchssinn, um die Maus zu lokalisieren. Das Suchverhalten
ist ausschließlich mit dieser Modalität verdrahtet. Selbst wenn die Maus di
rekt vor den Augen der Schlange stirbt, wird diese immer noch der Geruchs
spur der Maus folgen, um sie zu finden. Diese Unimodalität ist »besonders of
fensichtlich bei Schlangen wie Boas oder Pythons, die die Beute oftmals in den
W indungen des Körpers festhalten, wenn sie beispielsweise von einem Ast
herunterhängen. Trotz der Tatsache, dass die Schlange über ausreichend pro-
priozeptorische Informationen für die Lokalisierung der von ihr gehaltenen
Beute verfügen muss, sucht sie stochastisch nach ihr, rundherum, einzig mit
hilfe des olfaktorischen Sinnesorgans.«14 Nachdem die Maus lokalisiert wor
den ist, muss die Schlange schließlich ihren K o p f finden, um sie zu verschlin
gen. Das könnte offenbar mithilfe des Geruchs oder der Sicht getan werden,
aber dieser Vorgang kommt bei den Schlangen allein mit taktiler Information
aus. Somit wendet die Schlange drei getrennte Modalitäten an, um eine Maus
zu fangen und zu fressen.
Können wir von etwas sprechen, zu dem die Schlange selbst einen
»Zugang hat«, oder nur von etwas, zu dem ihre verschiedenen Teile
Zugang haben? Ist irgendetwas davon augenfällig hinreichend für Be
wusstsein? Die zugrunde gelegte Annahme, dass Nagels Wie-ist-es-
Frage überhaupt einen Sinn hat, wenn man sie auf Schlangen anwen
det, wird durch solche Möglichkeiten in Frage gestellt.
In Philosophie des menschlichen Bewußtseins15 habe ich ausführ
lich dargelegt, dass wir nicht mit der spezifischen Informationsverein
heitlichung geboren werden, die die wichtigste Voraussetzung unserer
401
Spielart von Bewusstsein darstellt. Sie ist kein Teil unserer angebore
nen »Verdrahtung«, sondern in überraschend großem Maß ein Arte
fakt unseres Eintauchens in die menschliche Kultur. Diese frühe Er
ziehung erzeugt in uns eine gutartige »Benutzer-Illusion«, die ich
das »Cartesianische Theater« nenne: die Illusion, es gäbe in unserem
Gehirn einen Ort, an dem sich das Theater abspielt, dem alle Wahr-
nehmungs-»Inputs« Zuströmen und aus dem alle »bewussten Absich
ten« zum Handeln und Sprechen fließen. Ich behaupte, dass andere
Arten - und neugeborene Menschen - von dieser Illusion des Car-
tesianischen Theaters einfach nicht befallen sind. Solange sich die
Organisation nicht formiert hat, gibt es da drinnen keinen Benutzer,
der zum Narren gehalten werden könnte. Ohne Zweifel ist das ein
radikaler Vorschlag. Es fällt vielen Denkern schwer, ihn ernst zu neh
men, schwer, ihn auch nur in Betracht zu ziehen. Lassen Sie mich dies
also wiederholen, da viele Kritiker die Möglichkeit außer Acht ge
lassen haben, dass ich es ernst meine (ein Versagen ihrer großzügigen
Loyalität gegenüber dem Prinzip der Nachsichtigkeit).
Um Bewusstsein zu haben - um jene Art von Ding zu sein, für die
es irgendwie ist, etwas zu sein - ist es notwendig, über eine bestimmte
Art von Informationsorganisation zu verfügen, die jenes Ding mit
einer ausreichenden Menge kognitiver Vermögen ausstattet (wie etwa
die Vermögen der Reflexion und der wiederholten Repräsentation).
Diese Art interner Organisation geht nicht automatisch mit der so
genannten Empfindungsfähigkeit einher. Es handelt sich nicht um
ein Geburtsrecht der Säugetiere, der Warmblüter oder der Wirbel
tiere; es handelt sich nicht einmal um ein Geburtsrecht menschlicher
Wesen. Es handelt sich um eine Organisation, die blitzschnell von
einer Spezies erlangt wird —der unseren —und von keiner sonst. Zwei
fellos bringen auch andere Arten eine ungefähr ähnliche Organisation
zustande, doch die Unterschiede sind so groß, dass die meisten der
spekulativen Übertragungen unserer Einbildungskraft von uns auf
sie keinen Sinn machen.
Meine Behauptung lautet nicht, dass anderen Spezies unsere Spiel
art des S^/^djewusstseins fehlt, wie Nagel und andere vermutet ha
ben.16 Ich behaupte, dass das, was der bloßen Reaktions- und Un
terscheidungsfähigkeit hinzugefügt werden muss, um überhaupt als
Bewusstsein gelten zu können, eine Organisation ist, die keineswegs
16 Th. Nagel, »What We Have in Mind When We Say We’re Thinking« (Review of
Consciousness Explained), Wall Street Journal, n . 07. 1991.
402
bei allen empfindungsfähigen Organismen zu finden ist. Diese Idee
ist von den meisten Denkern glatt von der Hand gewiesen worden.17
Nagel etwa hält sie für eine »bizarre Behauptung«, aus der »unplausib
lerweise folgt, dass Säuglinge keine bewussten Empfindungen haben
können, bevor sie lernen, Urteile,über sich selbst zu bilden«. Lock
wood ist gleichermaßen emphatisch: »Vergesst Kultur, vergesst Spra
che. Das Mysterium beginnt beim niedersten Organismus, der nicht
nur reagiert, wenn man ihn mit einer Nadel sticht, sondern tatsäch
lich etwas fühlt.«
In der Tat, dort beginnt das Geheimnis, wenn man darauf beharrt,
dort zu beginnen —mit der Annahme nämlich, dass man weiß, was
man mit dem Kontrast zwischen bloßer Reaktion und tatsächlichem
Fühlen meint. Und das Geheimnis wird offenbar niemals gelüftet,
wenn man dort beginnt.
In einem an Einsichten reichen Essay über Fledermäuse (und
darüber, ob es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein) unternimmt
K. Akins eine detaillierte Untersuchung der funktionalen Neurowis-
senschaft, die Nagel meidet.18 Sie zeigt, dass Nagel bestenfalls schlecht
beraten ist, wenn er annim mt, dass eine Fledermaus eine subjektive
Perspektive haben muss. Akins skizziert einige der vielen verschiede
nen Geschichten, die vom Gesichtspunkt der unterschiedlichen Sub-
403
Systeme aus erzählt werden können, aus denen sich das Nervensystem
einer Fledermaus zusammensetzt. Wenn man diese Details erzählt
bekommt, dann ist es verführerisch, sich die Frage zu stellen: »Und
wo im Gehirn wohnt die Fledermaus selbst?« Doch das ist im Fall
der Fledermaus eine noch zweifelhaftere Fragestellung als in unse
rem Fall. Man kann viele parallel verlaufende Geschichten über das
erzählen, was in Ihnen und was in mir abläuft. Was einer dieser Ge
schichten über uns immer und überall eine herausragende Stellung
gibt, ist schlicht Folgendes: Es handelt sich um die Geschichte, die Sie
oder ich auf Anfrage erzählen (um eine komplizierte Angelegenheit
sehr vereinfacht auszudrücken).
Wenn wir ein Wesen betrachten, das kein Erzähler ist - das keine
Sprache hat - , was geschieht dann mit der Annahme, dass eine seiner
Geschichten privilegiert ist? Die Hypothese, es gäbe eine solche
Geschichte, die uns sagte (wenn wir sie verstünden), wie es tatsäch
lich wäre, dieses Wesen zu sein, steht ohne einsichtige Grundlage
oder Motivation im Raum - außer einer fragwürdigen Tradition.
Wie wir verfügen Fledermäuse über eine ganze Menge relativ peri
pherer neuronaler Mechanismen, die jener »niederstufigen Verarbei
tung« dienen, von der normalerweise angenommen wird, dass sie in
uns ganz und gar unbewusst abläuft. Fledermäuse haben natürlich
keinen dem unseren analogen Mechanismus, der dazu dient, öffent
liche Protokolle über ihre momentanen subjektiven Umstände auszu
senden. Haben sie also ein anderes »höherstufiges« oder »zentrales«
System, das eine privilegierte Rolle spielt? Vielleicht haben sie es,
und vielleicht nicht. Vielleicht gibt es überhaupt keine Rolle, die eine
derartige höhere Stufe zu spielen hätte, keinen Platz für irgendein Sys
tem, um die Aufgabe auszuführen, bisher nur unbewusste neuronale
Prozesse in bewusste Prozesse zu erheben, eine Aufgabe, von der wir
im Übrigen nur eine ungenaue Vorstellung haben. Schließlich hat
selbst P. Singer keine Schwierigkeiten mit der Annahme, dass ein In
sekt auch ohne ein solches zentrales System seine Sache im G riff hat.
Es handelt sich um eine offene empirische Frage, oder eher um ein mo
mentan noch nicht ausgemaltes und komplexes Ensemble offener em
pirischer Fragen, was für »höhere Stufen« man bei welchen Spezies
und unter welchen Bedingungen finden soll.
Folgendes ist beispielsweise eine Möglichkeit, die man in Betracht
ziehen könnte: Der Fledermaus fehlt die Gehirnausstattung, um Ur
teile (in einer Sprache) auszudrücken, aber sie könnte nichtsdestotrotz
404
gezwungen sein, Urteile zu bilden (auf irgendeine unartikulierte Art
und Weise), um ihre sprachlosen Aktivitäten zu organisieren und zu
modulieren. Wir müssen uns dort nach dem privilegierten Gesichts
punkt der Fledermaus umsehen, wo auch immer sich diese unarti
kulierten, urteilsähnlichen Dinge ereignen mögen. Aber dies würde
genau das Postulat komplizierter Urteile auf den Plan bringen, dessen
Zuschreibung an Kleinkinder Nagel für so unplausibel befunden
hat. Wenn die Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewuss
tem mit etwas, das so komplex wie ein Urteil ist, nichts zu tun hat —
womit dann sonst?
Kehren wir zu unseren Geiern zurück. Betrachten wir folgende H y
pothese: Für einen Truthahngeier riecht ein verfaulender Hühnerka
daver genau so, wie gebratener Truthahn für mich riecht. Kann die
Wissenschaft auf diese Hypothese irgendein Licht werfen, das für
oder gegen sie spricht? Ja , sie kann diese Hypothese fast mühelos zu
rückweisen: Da sich wie gebratener Truthahn fü r mich riecht aus
ungeheuer vielen reaktiven Dispositionen, Erinnerungseffekten usw.
usf. zusammensetzt (und sich darin auch erschöpft), die im Prinzip
in meinem Gehirn und in meinem Verhalten nachweisbar sind, da vie
les davon völlig jenseits der Mechanismen im Gehirn irgendeines Gei
ers ist, ist es schlechterdings unmöglich, dass irgendetwas für einen
Geier so riechen könnte, wie gebratener Truthahn für mich riecht.
Wie riecht denn nun ein verfaulender Hühnerkadaver wirklich für
einen Truthahngeier? (Ganz genau?) Wie geduldig und wissbegierig
wollen Sie sein? Wir können die entsprechende Familie reaktiver Dis
positionen der Geier durch dieselben Methoden entdecken, die bei
mir funktionieren. Und während wir das tun, werden wir mehr und
mehr über die zweifelsohne höchst idiosynkratischen Beziehungen
erfahren, die ein Geier gegenüber einer Reihe von olfaktorischen Sti
muli ausbilden kann. Doch wir wissen bereits vieles, das wir nicht
erfahren werden. Wir werden niemals einen Geier finden, der durch
diese Reize dazu veranlasst wird, sich zu fragen, ob das Huhn heute
Abend nicht schon ein klein wenig zu lange im Kühlschrank ge
standen hat, wie dies ein Mensch tun kann. Ebenso werden wir keine
Witzeleien, elaborierte Assoziationsmuster und Proust’sche Reminis
zenzen finden. Liege ich hier angesichts der Forschung daneben? Ein
bisschen. Aber man beachte, um welche Art von Untersuchungen es
sich handelt. Es stellt sich heraus, dass wir dort landen, wo wir begon
nen haben: Wir analysieren Verhaltensmuster (externe und interne —
405
aber keine »privaten«) und bemühen uns im Lichte evolutionärer H y
pothesen über ihre ehemaligen und gegenwärtigen Funktionen um
ihre Deutung.
Die bloße Idee, es existiere eine Trennlinie zwischen jenen Ge
schöpfen, »für die es irgendwie ist, zu sein« und jenen, die bloße
»Automaten« sind, nimmt sich mehr und mehr wie ein Kunstprodukt
unserer traditionellen Vermutungen aus. Ich habe eine Vielfalt von
Gründen angeführt, die darauf schließen lassen, dass beim erwach
senen menschlichen Bewusstsein keine prinzipielle Möglichkeit zur
Unterscheidung besteht, wann oder ob die mythische Glühbirne
des Bewusstseins eingeschaltet ist (und diesen oder jenen Gegenstand
beleuchtet).19 Ich behaupte, dass das Bewusstsein —sogar in jenem
Fall, den wir am besten kennen, nämlich unserem eigenen - kein Phä
nomen des Alles-oder-Nichts, des Ein-oder-Aus ist. Wenn das zutrifft,
dann ist das Bewusstsein nicht die Art von Phänomen, wofür es die
meisten Teilnehmer an der Debatte über das Bewusstsein der Tiere
halten. Sich zu fragen, ob es »wahrscheinlich« ist, dass alle Säugetiere
es haben, nimmt sich mehr und mehr so aus, als würde man sich fra
gen, ob Vögel weise sind oder nicht und ob Reptilien Köpfchen haben
oder nicht: Hier wird ein Ausdruck aus der Alltagspsychologie über
strapaziert, der seine Nützlichkeit zusammen mit seinen scharfen
Rändern verloren hat.
Einige Denker bleiben durch solche Aussichten ungerührt. Sie sind
sich nach wie vor unerschütterlich sicher, dass Bewusstsein —»phäno
menales« Bewusstsein in N . Blocks Terminologie20 - ein Phänomen
ist, das entweder anwesend oder abwesend ist, so als ob einige Ereig
nisse im Gehirn im Dunkeln leuchteten und der Rest nicht.21 Wenn
406
man natürlich die Hypothese einfach nicht in Betracht ziehen will,
dass sich das Bewusstsein vielleicht nicht als eine Eigenschaft heraus
stellt, die das Universum in zwei Hälften scheidet, wird man .sich si
cher sein, dass ich das Bewusstsein ganz und gar übersehen haben
muss. Doch dann sollte man ebenso anerkennen, dass man das Ge
heimnis des Bewusstseins durch die Weigerung aufrechterhält, die
Belege für eine der vielversprechendsten Theorien dafür abzuwägen.
407