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Der letzte Weihnachtsbaum

von: Yustyna Koval

Das Alter wird dadurch gekennzeichnet, dass


Kindheitserinnerungen so lebendig erscheinen, als ob nicht so viele
Jahrzehnte vergangen wären, wobei die Erinnerungen an das, was
vor einem Monat, einer Woche oder sogar vor einem Tag passiert
ist, so vage und uninteressant sind. Sogar jetzt möchte ich darüber
schreiben, was früher war, da der Bericht darüber, was ich heute
zum Frühstück gegessen habe, finde ich allzu langweilig. Ich weiß
wahrscheinlich nicht, wie man Tagebücher richtig führen soll.

Niemand fragt mich nach meiner Kindheit, obwohl ich gerne


darüber sprechen würde. Aber wenn du unter sechzig bist, dein
ganzes Gesicht mit Falten bedeckt ist, und bei jedem Schritt
knirschen deine Gelenke wie ein altes Parkett, aus irgendeinem
Grund können sich die Leute nicht vorstellen, dass man einmal
auch ein Kind mit roten Wangen und leuchtenden Augen war und
liebevolle Eltern hatte, die nachts sein Kind auf die Stirn küssten.

Was Sie über meine Kindheit wissen müssten, ist das, dass die sehr
glücklich war. In meiner Familie herrschte echte Liebe, die mit dem
besonderen Zauber gefüllt war, wenn Weihnachten in unser Haus
kam. Mit welcher Freude hängte ich mit meinem Vater auf
unseren Weihnachtsbaum gläserne Zwerge, die in ihren
hocherhobenen Armen einen Hammer hielten und zu deren Füßen
Glocken hingen, und ein silbern gekleideter Engel, der in bestimmten Abständen seine Lippen voneinander
hob und „Frieden“ flüsterte, während meine Mutter die köstlichsten Spekulationen in der ganzen Stadt
gebacken hat!

Ich liebte meinen Vater sehr und fühlte mich auch geliebt. Niemand wusste so viele
Weihnachtsgeschichten wie er. Und sie waren so interessant, dass wenn er sie mir am Bett erzählte, konnte
ich nicht einmal an Schlaf denken, also musste ich so tun, als wäre ich eingeschlafen, damit mein Vater sich
selbst ausruhen konnte. Und jedes Jahr den Weihnachtsbaum zu schmücken, ist zu unserer besonderen
Tradition geworden, die ich mit besonderer Verantwortung behandelt habe, weil ich wusste, dass es von
mir abhänge, wie magisch Weihnachten dieses Jahr sein wird. Vater und ich hatten ein Geheimnis: Er nahm
mein Wort, dass ich mich um die gläsernen Zwerge und unseren silbern gekleideten Engel kümmern und
jedes Jahr den Weihnachtsbaum mit ihnen schmücken werde, auch wenn er nicht mehr da ist.

Ich verstand nicht ganz, was er mit "nicht mehr da ist" meinte, weil es mir so schien, als könnte
mein Vater mich nicht verlassen, da er mich so sehr liebte! Aber es verging nicht so viel Zeit, bis mir klar
wurde, dass die Leute dich verlassen können, auch wenn sie dich sehr lieben.

Es war der Winter 1910. Die Straßen waren mit weichem weißem Schnee bedeckt,
Weihnachtslieder und Glocken läuteten überall und die Straßen flackerten mit hellen Lichtern. Eines Tages
kehrte mein Vater mit einem sehr kränklichen Aussehen von der Arbeit zurück. Dann entschieden meine
Mutter und ich, dass es eine gewöhnliche Erkältung war, also legten wir ihn ins Bett, bedeckten ihn mit
vielen Decken und fütterten mit heißer Hühnerbrühe (weil jeder weiß, dass es eine universelle Medizin ist!).
Mehrere Tage lang waren wir ständig an seinem Bett, bereit, jeden seinen Wunsch zu erfüllen, ignorierten
seine Zusicherungen, dass wir uns nicht so viele Sorgen machen sollten, da er sehr bald wieder gesund und
munter werde. Das Wichtigste ist, damit er sich bis dahin nicht in ein launisches Fräulein verwandelt, da das
eine echte Katastrophe wäre! Aber Tag für Tag verging und es ging ihm nicht besser.
Der Weihnachtstag ist gekommen. Und ich bereitete mich darauf vor, zum ersten Mal das zu tun,
was ich noch nie getan hatte: den Weihnachtsbaum allein zu schmücken. Aus dem Abstellschrank holte ich
eine riesige Schachtel mit kleinen Spielsachen und Engelhaar heraus und begann, die Zweige unseres
schönen Weihnachtsbaumes sorgfältig behängen. Ich war so konzentriert, dass ich nicht einmal bemerkte,
als Vater ins Zimmer kam: Er war zum ersten Mal seit seiner Krankheit auf seinen beiden Füßen. Ich war so
glücklich, dass ich einen Porzellanzwerg, den ich gerade in meinen Händen hielt, beinahe fallen ließ.

Es war das schönste Weihnachtsfest, an das ich mich erinnern kann. Mama, Papa, ich, unsere
engsten Verwandten und Freunde saßen am Tisch, aßen Leckereien, scherzten, erzählten Geschichten,
sangen Lieder. Papa hustete von Zeit zu Zeit, aber wir übertönten die allgemeine Sorge mit noch lauterem
Lachen und noch erstaunlicheren Geschichten.

Und im Wohnzimmer stand ein wunderschöner Weihnachtsbaum. Es leuchtete, sang mit


Dutzenden von Glocken und der Engel ganz oben flüsterte: "Frieden... Frieden".

Dies war der letzte Weihnachtsbaum, den mein Vater und ich gemeinsam geschmückt haben.

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