SCHELLING-FORSCHUNG
Peter Neumann
Zeit im Übergang
zu Geschichte
Schellings Lehre von den Weltaltern
und die Frage nach der Zeit bei Kant
Der Autor:
Peter Neumann, geb. 1987, Studium der Philosophie, Wirtschaftswis-
senschaften und Politikwissenschaft in Jena und Kopenhagen. Von
2013–2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität
Jena, wo er mit der vorliegenden Studie 2017 promoviert wurde; seit
2019 Forschung und Lehre an der Universität Oldenburg.
Peter Neumann
Zeit im Übergang zu Geschichte
BEITRÄGE ZUR 8
SCHELLING-FORSCHUNG
Herausgegeben von
Zeit im Übergang
zu Geschichte
Schellings Lehre
von den Weltaltern und
die Frage nach der Zeit
bei Kant
VII
Inhalt
IX
Inhalt
X
Inhalt
XI
Einleitung: Transzendentale Einheit der Zeit
und geschichtliche Pluralität der Zeiten.
Ein Konfliktfall um 1800
Wirft man daraufhin einen Blick in die Critik der reinen Vernunft,
wird schlagartig klar, in welche Opposition Schelling sich mit seiner
Kritik am »Kantianismus« tatsächlich begibt. Die Zeit, so heißt es bei
Kant, sei zwar durchaus »etwas Wirkliches«, nämlich die »wirkliche
Form der innern Anschauung«; gerade deswegen könne sie eines aber
mit Sicherheit nicht sein: eine Bestimmung, die vom Objekt ausgeht:
»Sie [die Zeit, P. N.] ist also wirklich nicht als Objekt, sondern als die
Vorstellungsart meiner selbst als Objekts anzusehen« (KrV, A 37/
B 54). Es muss also schon eine besondere Bewandtnis haben, wenn
ein Nachkantianer wie Schelling drei Jahrzehnte nach dem Erschei-
nen der Vernunftkritik offen von einem »Fehler des Kantianismus in
Bezug auf die Zeit« spricht und die Statuten der transzendentalen
Ästhetik auf eine derartige Weise depraviert. Kein Wort mehr von
1
Einleitung
1. Problemaufriss
2
Problemaufriss
nicht der erste Autor, der in der Schwellenzeit ›um 1800‹ Zeit auf
diese Weise relationiert, pluralisiert und individualisiert und damit
den Fokus auf die geschichtliche Erfahrung einer irreduziblen Viel-
heit verschiedener Zeiten und Zeitordnungen lenkt. 5
Es war Johann Gottfried Herder, der in seiner Metakritik zur Kri-
tik der reinen Vernunft von 1799 bereits einen ähnlichen Vorstoß
gewagt hatte. Seinerseits in Auseinandersetzung mit den Grundlagen
der transzendentalen Ästhetik Kants begriffen, statuiert Herder, dass
»jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich« habe: »dies
bestehet, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge der Welt
haben dasselbe Maß der Zeit« (FA 8, 360). Die in kritischer Absicht
verwandte, wenn auch in konzeptioneller Hinsicht durchaus ver-
schiedene Positionierung Herders zeigt an, dass Schellings Invektive
gegen den »Kantianismus« weniger unerwartet kommt, als es auf den
ersten Blick scheint. Was zunächst bloß an eine der vielen Volten
erinnert, die Schelling im Laufe seiner philosophischen Entwicklung
vollzogen hat – Volten, die ihm das nicht immer schmeichelhafte
Prädikat eingetragen haben, ein echter ›Proteus der Philosophie‹ zu
sein –, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als geradezu exem-
plarischer Fall eines komplexen Erfahrungswandels, der sich an der
Schwelle zum 19. Jahrhundert vollzieht und seit Arthur Oncken
Lovejoy mit dem Begriff der Verzeitlichung (temporalizing) ver-
schlagwortet wird. 6 Zu den einschneidenden, zeitmodalisierenden Er-
fahrungen um 1800 gehören – hier bloß stichwortartig – die Erfah-
rung eines beschleunigten sozialen Wandels, eines tiefgreifenden
gesellschaftlichen Umbruchs und eines umfassenden wissenschaft-
lichen Aufbruchs. 7 Zeit wird im Zuge dieses komplexen Erfahrungs-
wandels auf einmal anders erfahren. Die Gegenwart, in der man lebt,
scheint sich auf irreversible Weise verändert zu haben: Dasjenige
nämlich, was sich verändert hat, ist die Struktur der Veränderung
selbst. Es ist nicht der bloße Bruch, die Differenz, welche die Erfah-
rung von Zeit und Gegenwart um 1800 so fundamental anders macht.
Unumkehrbar an der erfahrenen Veränderung ist, dass sich die Ver-
änderung permanent vollzieht, dass sie als radikale Diskontinuität ins
Denken und in die Lebenswirklichkeit eindringt. Die Zeit der Gegen-
wart steht nicht mehr bruchlos zur Verfügung: Sie gibt sich über-
5
Vgl. Gamper/Hühn 2014.
6 Vgl. Lovejoy 1936.
7
Vgl. Koselleck 1989; Luhmann 1975; Oesterle 2002; Oesterle 1985.
3
Einleitung
12 Unter einem ›Zeitregime‹ lässt sich mit Aleida Assmann ein »Komplex kultureller
4
Problemaufriss
lings und Herders beträfe dies vor allem die Praxis des Handelns und Erzählens, also
das personale Zeit- und Geschichtsdenken (Assmann 2013, 19).
13 Selbst Fichte gelangt in seinem Spätwerk zu der Einsicht, dass sich das »Zeitleben«
in einzelne Momente des wirklichen Lebens aufspalte: »Es giebt nicht eine einzige
Zeit, sondern es giebt Zeiten, und Zeitordnungen über Zeitordnungen und in Zeit-
ordnungen« (GA I,8, 75).
14
Vgl. Jordheim 2011.
5
Einleitung
15
Prauss 2015, 13.
16 Sandkaulen 2004a, 35.
17
Sandkaulen 2011, 272a.
6
Problemaufriss
eine Form der Zeitpraxis, die nicht mehr die klassische Frage stellt,
was Zeit denn nun ›eigentlich‹ sei, sondern im ureigensten Interesse
praktischen Handelns und seiner geschichtlichen Aneignung fragt:
»[W]as ist gewesen? und was wird sein?« (WA III 1, 191).
Als besonders vielversprechend stellt sich Schellings Zeitdenken
also in dem Maße heraus, wie es im Versuch einer spekulativen
Grundlegung der Zeit auf reale Zeiterfahrungen bezogen bleibt:
Schelling liefert zwar eine spekulative Analyse der Zeitentstehung,
stößt dabei aber auf eine zeiterzeugende Kraft, welche die abstrakte
Frage nach dem Ursprung der Zeit in die konkrete Frage nach dem
praktischen Umgang mit ihr transformiert. Die Bestimmung des Be-
griffs der Zeit erfolgt über die Praxis der Zeit selbst, kann auch nur
von dorther, in den gewordenen Strukturen praktischer Selbstver-
hältnisse wiederum geschichtlich erschlossen werden. Es ist die ge-
schichtliche Erfahrung, die bei Schelling jeder begrifflichen Bestim-
mung von Zeit zuvorkommt, ein unvordenkliches Geschehen, das
von Kants nach dem Vorbild der Mathematik und der reinen Natur-
wissenschaften entworfene Zeitlehre so wenig berührt wird, dass
man meinen könnte, es spiele für das Selbst- und Weltverständnis
des Menschen, um das es schließlich auch ihm gehen muss, gar keine
Rolle. Dabei prägen gerade geschichtliche Entscheidungen, seien sie
individuell oder kollektiv, sei es im Urteils- oder im Handlungsvoll-
zug, unsere eigene Daseinserfahrung, und zwar einerseits als Erfah-
rungen der Freiheit, andererseits aber auch als Erfahrungen des Un-
gewissen, Neuen, oft sogar Schrecklichen. 18 Urteilen und Handeln
sind, um es mit Hannah Arendt zu sagen, die Tätigkeiten, in denen
Menschen auf verschiedene Weise die »personale Einzigartigkeit
ihres Wesens« zum Vorschein bringen. 19 Und es sind gerade Erzäh-
lungen und keine Deduktionen, in denen das zeitlich entzweite Davor
und Danach, der geschichtliche Lebenszusammenhang, die uns zu-
stoßende und (un-)bewältigte Erfahrung dargestellt werden kann. 20
Schelling stellt nun gerade diese geschichtlich hervorgetretene, im
Zwiespalt von Alt und Neu sich formierende, von Diskontinuitäten
durchzogene Erfahrung ins Zentrum seiner Zeitanalyse: Die Zeit prä-
zu narratologischen Ansätzen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auf, wie man
sie beispielhaft bei so unterschiedlichen Autoren wie Agamben, Benjamin, Blumen-
berg, Ricœur und Rorty findet. Vgl. jüngst dazu auch Hutter 2017.
7
Einleitung
21
Vgl. Bergson 1889.
8
Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen
die Zeit zu realisierende Erzählung. 22 Als Kategorie ist Zeit nicht al-
lein der Theoretischen Philosophie zuzuordnen; sie gehört gleicher-
maßen in den Bereich der Praktischen Philosophie. Zeitverhältnisse
sind praktische Verhältnisse geschichtlich-personaler Art. Flucht-
punkt der vorliegenden Überlegungen bildet darum die Konzeption
einer personalen Eigenzeit, deren Umrisse es in den Weltaltern im
Ausgang von exemplarischen Erfahrungen geschichtlicher Diskon-
tinuität als Kategorie einer handlungs- und erzählungsbasierten Ge-
schichtszeit erstmals herauszuarbeiten gilt.
Der erste Teil der Studie ist dem vielschichtigen und keineswegs
immer stringenten Begründungsgang einer kritischen Grundlegung
der Zeit bei Kant gewidmet. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis
von Form der Anschauung und formaler Anschauung als die unbe-
antwortete Frage danach, wie die Einheit der Anschauung transzen-
dental zu denken sei. Kant behauptet zwar in der transzendentalen
Ästhetik, die Zeit sei nichts anderes als die Form des inneren Sinns,
unweigerlich wirft das aber die Frage auf, ob sie damit auch schon die
wirkliche Form der sinnlichen Anschauung ist. Was verbürgt, anders
gesagt, die objektive Gültigkeit der Zeit in Ansehung der Erschei-
nung, die Übereinstimmung der formalen Einheit der Anschauung
als Form des inneren Sinns mit der transzendentalen Einheit der Ap-
perzeption? Der erste Teil der Studie möchte zeigen, dass Kant mit
der Lehre von der formalen Anschauung in der transzendentalen Lo-
gik gerade versucht hat, eine Antwort auf diese Frage zu geben, eine
Antwort, die dergestalt aber zugleich ins Problemzentrum der kriti-
schen Philosophie hineinführt, insofern sie die Frage nach der von
Kant ansonsten so strikt aufrecht erhaltenen kategorialen Unter-
scheidung von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand
berührt. Sind die Anschauungsformen von Raum und Zeit in der
transzendentalen Ästhetik noch a priori gegeben, weist Kant sie in
der dafür einschlägigen Fußnote in § 26 als Gegenstände einer ihre
formale Einheit begründenden transzendentalen Synthesis des Ver-
standes aus. Können Raum und Zeit dieser Lehre zufolge dann aber
überhaupt noch a priori gegeben sein oder sind nicht vielmehr – samt
22
Vgl. Gadamer 1986; Hammer 2011; Schmidt-Biggemann 2018.
9
Einleitung
wesen ist, spricht sich in einem Brief an seinen Verleger Perthes aus, in dem es heißt:
»Wie mächtig hat er [Jacobi, P. N.] zum voraus in Alles eingegriffen, was unserem
Zeitalter indeß wichtig geworden ist; ebendeßwegen glaube ich, daß Er – der Erste,
der dieß alles so gewaltig anregte, auch der Letzte seyn wird, der das entstandne Chaos
wieder ordnet« (F. W. J. Schelling an F. Perthes, 3. Juli 1798, AA III,1, 172). Vgl. dazu
auch Schick 2013.
10
Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen
erhält, dass es sich Jacobi zufolge um ein Problem handelt, das theo-
retisch überhaupt nicht gelöst werden kann: Zeit ist unhintergehbar,
präsent nur in Form des Handlungsvollzugs. Hier aber zeigt sich aus
Sicht der vorliegenden Studie die Möglichkeit, Licht in Schellings
allzu oft bloß als dunkel verschrieener ›Genealogie der Zeit‹ zu brin-
gen. Denn wenn im transzendentalen Idealismus und darüber hinaus
ungeklärt bleibt, ob und auf welche Weise ein Anfang der Zeit über-
haupt zu denken ist, dann scheint eine ›Genealogie der Zeit‹, welche
die Frage nach dem Ursprung der Zeit suspendiert, indem sie die Zeit
immer schon aus ihren geschichtlich-praktischen Bezügen zu ande-
ren Zeiten begreift, sich geradezu als Antwort auf das transzendental-
philosophische Problem des Anfangs zu verstehen, wie es auch Jacobi
angestachelt durch Spinoza bei Kant gesehen hat. Im Ausgang vom
transzendentalen Ansatz Kants lässt sich der genealogische Ansatz
Schellings also genau in dem Maße in den Blick nehmen, wie man
dessen Kritik am formalen Charakter der Zeit mit der Kritik an der
Anfangslosigkeit transzendentalphilosophischen Systemdenkens ver-
bindet. Die ›Zeit‹-Kritik, die Schelling vorbringt, ist – hierin aufs
Engste derjenigen Jacobis verwandt – Systemkritik in nuce.
Auf Grundlage der im ersten Teil herausgearbeiteten Probleme
gilt es im zweiten Teil der Studie, Schellings ›Genealogie der Zeit‹
argumentativ zu rekonstruieren. Leitend für die Rekonstruktion ist
das Motiv der Verkehrung: Kants kritische Zeitlehre, die mit dem
Anspruch auftrat, radikale Wende der Metaphysik zu sein, wird von
Schelling seinerseits gewendet. Die Zeit ist nicht bloß in den Subjek-
ten vorhanden, sie wird vielmehr erst durch die zeitigende Freiheit
der Subjekte hervorgebracht. Sind Zeit und Subjektivität aber gleich-
ursprüngliche Prinzipien, dann muss, was sich dergestalt als Verkeh-
rung ihres Verhältnisses beschreiben lässt, sich auch auf der nächst
höheren Abstaktionsebene, dem Verhältnis von Ewigkeit und Zeit,
niederschlagen. Und genau das ist der Fall: Schelling stellt in den
Weltaltern der Ewigkeit die Zeit als eigenständiges Prinzip gegen-
über. Die Zeit ist nicht länger von der Ewigkeit als Zeit gesetzt, wie
man es von den klassischen Zeitphilosophien von Platon bis zum frü-
hen Schelling erwartet. Das Verhältnis stellt sich geradezu umge-
kehrt dar: Die Ewigkeit existiert nicht von selbst, sie existiert nur
durch den Vollzug von Zeit hindurch. Dementsprechend stellt die
Zeit auch keine Privation der Ewigkeit dar. Sie ist vielmehr als eine
Provokation derselben zu verstehen. Denn in dem Maße, wie die Zeit
der Ewigkeit als ein selbstständiges Prinzip gegenübertritt, ist bereits
11
Einleitung
in der Ewigkeit eine ›Zeit‹ gesetzt; eine Zeit vor aller Zeit, eine vor-
geschichtliche Zeit, die erst dann zur realen, geschichtlichen Zeit
wird, wenn sie durch einen Akt der Scheidung in ihre Perioden aus-
einandergetrieben wird und als Gegenwart im polaren Spannungsfeld
von Vergangenheit und Zukunft erscheint.
Ob und auf welche Weise Schelling mit einer so verstandenen po-
sitiven Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit auf metho-
discher Ebene einen Ansatz zur Lösung des von Jacobi aufgeworfenen
Problems bereitstellt, wird am Ende des zweiten Teils der Studie zu
diskutieren sein. 26 Zu fragen ist vor allem danach, ob es sich bei den
Weltalter-Fragmenten tatsächlich um die »Geburtsstunde des histori-
schen Bewußtseins« handelt, wie Wolfgang Wieland betont, oder ob
mit Axel Hutter nicht vielmehr davon auszugehen ist, dass das von
Wieland anvisierte Projekt einer radikalen Geschichtlichkeit durch
die ständige Überblendung von Individual- und Universalgeschichte
in den Weltalter-Fragmenten nicht auf halber Strecke steckenbleibt. 27
Auch wenn Hutter betont, dass Schelling bereits in den Weltaltern
die für seine spätere Philosophie maßgebliche Grundüberzeugung ge-
wonnen habe, dass der eigentliche Gegenstand der Philosophie Ereig-
nis- oder Geschehenscharakter besitze, wird gegen ihn festzuhalten
sein, dass sich die Rede von der geschichtlichen Existenz des Men-
schen durchaus auch in der Weltalterphilosophie verteidigen lässt;
Wielands Ansatz wird dahingehend zu modifizieren sein, dass sich
die Zeitanalyse, die Schelling vorlegt, methodisch in noch sehr viel
stärkerem Maße von der geschichtlich-konkreten Zeitpraxis her-
schreiben lässt; die Frage nach der Verfasstheit der Zeit bliebe ohne
die Erfahrung geschichtlicher Negativität, des Hineingehaltenseins in
26 Unerörtert muss die Frage bleiben, ob und auf welche Weise das Weltalter-Projekt
in der Spätphilosophie fortgesetzt wird. Grundsätzlich plädiert die vorliegende Arbeit
mit Aldo Lanfranconi für eine Entdramatisierung der Rede vom ›Scheitern‹. Frucht-
barer für eine Weltalter-Lektüre ist es, die wiederholten ›Umkehrungen‹ in Schellings
Denken auf ihre inneren Aporien hin zu befragen. Zur Rezeptionsgeschichte des
›Scheitern‹-Theorems in der Schelling-Forschung nach 1945 vgl. Lanfranconi 1992
sowie ders. 1996. Interessanterweise führt Lanfranconi in diesem Zusammenhang
auch ein Zitat von Schelling selbst an, das die Unabgeschlossenheit des Werkes the-
matisiert und so versucht, ihr eine systematische Pointe zu geben: »Der ein Werk, das
in seiner Seele lag, vom ersten verschlossenen Keim bis zur vollkommnen Gestalt
ausgebildet, der im Kampf mit einer unbezwinglich scheinenden Natur dennoch zur
Klarheit gelangt, der etwa mag urtheilen. Leute ohne geistige Erfahrung können hier
nichts richten« (WA I, 102).
27
Wieland 1956, 9; Hutter 1996, 121.
12
Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen
28
Vgl. Henrich 2011, 111.
29 Vgl. Adolphi 2004, 360.
30
Vgl. Sandbothe 2004.
13
Einleitung
auch nur einen Modus der Zeiterfahrung kennt, und zwar den der
gemessenen, gezählten Zeit, erhebt Schelling die Frage nach der
Gleichzeitigkeit von »verschiedenen Zeiten« (SW VIII, 302), also die
Frage nach der Pluralität geschichtlicher Zeiten zum Problem der Be-
stimmung dessen, was Zeit ist. Blickt Kant nach den Bedingungen der
Möglichkeit einer objektiven, kontinuierlichen Vorstellungsabfolge,
problematisiert Schelling die Ermöglichungsbedingungen einer per-
sonalen, von realen Diskontinuitäten durchzogenen Temporalität un-
seres Daseins. 31 Exemplarisch ist dieser Konflikt in genau dem Maße,
wie an einer besonderen, hier historischen Konstellation ein all-
gemeines, für die Moderne entscheidendes und bis heute unabgegol-
tenes Problem sichtbar wird, die Frage nach der Einheit der Zeit in der
irreduziblen Vielfalt ihrer verschiedenen Zeitformen. 32 Schelling ver-
schärft diesen Konflikt sogar noch einmal, indem er radikal mit der
für die klassische Zeitphilosophie einschlägigen Vorstellung bricht,
die Zeit könne ihrem Wesen nach überhaupt nur eine einzige – sin-
guläre – Zeit sein, in der das Dasein bloß vorkommt, nicht aber in der
es sich als Dasein respektive als Person unter anderen Personen über-
haupt erst geschichtlich herausbildet. Zeit steht für Schelling von je-
her im Plural ›Zeiten‹: ein Grund, warum es neben Herder gerade der
sonst so ›sperrige‹ Schelling ist, der in der neueren Zeit- und Moder-
neforschung mit großem Interesse zur Kenntnis genommen wird. 33
Was in diesem für die Moderne exemplarischen ›Zeit‹-Konflikt genau
unter einer ›linearen‹ und einer ›dimensionierten Zeit‹ zu verstehen
ist, und wie sich beide Zeitformen zueinander verhalten, und vor
allem: wie Schelling die Zeit überhaupt als Ganze in den Plural setzt,
diese und andere Fragen werden unter Rückgriff auf die Ergebnisse
des ersten und zweiten Teils im dritten Teil der Studie zu explizieren
sein. 34
31
Die thematische Nähe zu Heideggers Interpretation der Frage nach der Zeit liegt
auf der Hand, soll aber in der vorliegenden Studie nur randständig verfolgt werden.
Zur Konstellation ›Heidegger–Schelling‹ (unter zusätzlicher Berücksichtigung Jaco-
bis) vgl. insbesondere Sommer 2015, Gadamer 1987b, Iber 1998.
32 Vgl. Brüggemann 2015; Schneider/Brüggemann 2011.
34 Es ist erstaunlich, dass es sich hierbei nach wie vor um ein Desiderat der Schelling-
Forschung handelt. Vgl. dazu Sollberger 1996, 318: »Eine nähere Untersuchung zur
Zeitkonzeption Schellings hätte zu zeigen, in welcher Weise aus Schellings enger Ver-
knüpfung der Zeit mit Entschiedenheit, Geschichte und Positivität, lagezeitliche
Bestimmungen und Zeitmessungen letztlich in modalzeitlichen Bestimmungen be-
gründet sind«. Ob es sich um ein Fundierungsverhältnis von lagezeitlichen und mo-
14
Inhaltsaufriss und methodische Vorbemerkungen
dalzeitlichen Bestimmungen handelt, wie Sollberger hier vorschlägt, oder ob nicht der
konflikttheoretische Ansatz jedes Begründungsverhältnis von vornherein unterläuft,
wird im Gang der Studie eingehender zu prüfen sein.
15
Einleitung
3. Textgrundlage
Schellings Werk Die Weltalter ist ein Fragment, und zwar in doppel-
ter Hinsicht. Fragment sind die Weltalter nicht nur, weil sie un-
vollendet geblieben sind. Fragment sind sie auch deshalb, weil der
gesamte Umfang des Konvuluts bis heute nicht bekannt ist. Von ur-
sprünglich mindestens zwölf Entwürfen gibt es heute noch drei er-
haltene Fassungen: Die Weltalter von 1811, 1813 und 1814/15. Letz-
tere Fassung wurde von Schellings Sohn Karl Friedrich August in den
Band VIII der Sämtlichen Werke aufgenommen. Die Fassungen von
1811 und 1813 wurden 1946 von Manfred Schröter veröffentlicht
und stammen aus dem im Zweiten Weltkrieg bei einem Bomben-
angriff zerstörten Münchner Nachlass. Klaus Grotsch hat 2002 zu-
dem in Form einer Vorausedition Manuskripte aus dem Berliner
Nachlass herausgegeben. Die aus der Zeit zwischen 1810 und 1820/
21 stammenden Manuskripte zu den Weltaltern bilden den wohl um-
fangreichsten Teil des noch erhaltenen Nachlasses; vieles ist noch
nicht ediert. Die Ausgangsbedingungen für eine historisch-systema-
tische Rekonstruktion sind demnach denkbar schlecht, und dennoch
soll der Versuch gewagt werden, anhand derjenigen Texte, die zur
Verfügung stehen, Schellings genealogischen Ansatz Profil zu verlei-
hen. Die Untersuchung wird sich dabei hauptsächlich auf die erste
Fassung von 1811 konzentrieren: In keinem anderen Weltalter-Ent-
wurf verankert Schelling die Zeit so ›tief‹ im Absoluten wie hier, in
keinem anderen Fragment wird die menschliche Zeiterfahrung me-
thodisch so reflektiert ins Zentrum der Zeitanalyse gestellt. Auch
Christian Iber hält in diesem Sinne fest, dass Schelling in keinem
anderen Weltalter-Druck so weit gehe, »zur Begründung der Ge-
schichtlichkeit des Absoluten wenigstens der Möglichkeit nach ›im
Ewigen schon eine innre Zeit‹ anzunehmen«. 35 Dass die »Genealogie
der Zeit« in den beiden anderen Drucken fehlt, heißt nicht, dass
Schelling von der genealogischen Methode Abstand genommen hat.
Weit gefehlt: Andere mit der ›Genealogie der Zeit‹ in enger Verbin-
dung stehende Konzepte wie der ›Organismus der Zeiten‹ oder die
›Scheidung von sich selbst‹ ziehen sich durch alle drei Entwürfe hin-
durch, abgesehen davon, dass das Genealogie-Kapitel ohnehin nur
diejenigen Momente der Geschichte aufgreift, deren Etappen, Stadien
35
Iber 1994, 209
16
Textgrundlage
17
Einleitung
42
Philippson 1994, 47.
18
Textgrundlage
19
Einleitung
20
Textgrundlage
21
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit.
Kants transzendentale Zeitlehre
1
Mesch 2001, 181.
23
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
24
Kants kritische Grundlegung der Zeit
Für diese auf den ersten Blick in der Tat ungewöhnliche Heran-
gehensweise spricht umso mehr, dass Friedrich Heinrich Jacobi, auf
dessen Vernunft- und ›Zeit‹-Kritik im Anschluss an die Ausführung
zu Kant ebenfalls einzugehen sein wird, in seiner Schrift Ueber das
Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen
von 1802 ausgerechnet auf die Lehre von der formalen Anschauung
zu sprechen kommt. Für Jacobi drückt sich gerade hier, in der Intel-
lektualisierung der Anschauungsformen, das »Grundgebrechen« der
Vernunftkritik Kants aus, »den Idealismus durch Empirismus, den
Empirismus durch Idealismus wieder gut zu machen« (JW 2,1, 269).
Gelingt es gleichsam durch Jacobis Kritik hindurch auf das zugrunde-
liegende Problem zu stoßen, besteht auch die begründete Hoffnung,
von hier aus zu zeigen, dass noch Schellings Invektive gegen den
»Kantianismus« in den Weltaltern im Grunde eine versteckte Aus-
einandersetzung mit der Lehre von der formalen Anschauung Kants
darstellt.
25
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
26
Kants kritische Grundlegung der Zeit
27
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
5 Vgl. dazu die Stelle, auf die sich Fußnote § 26 im Text bezieht: »Aber Raum und Zeit
sind nicht bloß Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst
(die ein Mannigfaltiges in sich enthalten) also mit der Bestimmung der Einheit dieses
Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt (siehe transz. Ästhet.)« (KrV, B 160). Es
ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Kant hier auf die transzenden-
tale Ästhetik verweist, ohne dabei näher auf den systematischen Zusammenhang mit
ihr einzugehen.
28
Kants kritische Grundlegung der Zeit
6
Grund zur Korrektur an der transzendentalen Ästhetik erkennt hingegen Dörflin-
ger 2010. Dörflinger spricht in Bezug auf § 26 von einer »zweiten Zentralstelle« der
Raum- und Zeitlehre. Es sei der Punkt, an dem die »zunächst getroffene eindeutige
Zuordnung der Raumvorstellung im Ganzen zur Rezeptivität der Sinnlichkeit auf-
gegeben wird und mindestens wichtige Aspekte dieser Vorstellung nun der anderen,
der spontanen Erkenntnisquelle zugeschlagen werden« (Dörflinger 2010, 65). In ge-
nau diesem Sinne meint Dörflinger auch einen verborgenen Widerstreit zwischen
transzendentaler Logik und transzendentaler Ästhetik bei Kant ausmachen zu kön-
nen, den er operational dadurch zu fassen versucht, indem er das Verhältnis von dis-
kreter Zeitanschauung und kontinuierlicher Zeiterstreckung in der Vernunftkritik
problematisiert. Die Frage, die ihn hierbei leitet, ist, wie sich die Vorstellung zeitlicher
Erstreckung mit der Unmittelbarkeit der Vorstellungsart ›Anschauung‹ vertragen
mag, wie also die diskrete Zeit der anschaulichen Vorstellung mit der kontinuierlichen
Zeit als Abfolge verschiedener Vorstellungsinhalte im inneren Sinn überhaupt über-
einkommen können soll. Ob es sich hierbei jedoch tatsächlich um einen handfesten
Widerstreit oder nicht vielmehr um eine Perspektivenverschiebung handelt, wird im
weiteren Verlauf der vorliegenden Studie zu prüfen sein. Die Korrekturthese, die
Dörflinger vertritt, ist indes so neu nicht. Schon Paul Natorp erkannte in der trans-
zendentalen Logik eine ›Berichtigung der Aufstellung der transzendentalen Ästhetik‹,
die er von Kant darin verwirklicht sieht, dass nun auch das Mannigfaltige der An-
schauung nicht im Voraus, sondern erst durch die Synthesis ›gegeben‹ werde. Bei
Natorp 1910, 276, heißt es: »So begreift es sich, daß Zeit und Raum, so sehr immer
auf die Existenz bezogen, dennoch nichts enthalten als reine Relationen ohne voraus
gegebene Relata; die Relata werden erst gesetzt durch die Relation und fallen daher
weg, sobald die Relation wegfällt. Eben damit beweist sich die Setzung dieser Relatio-
nen als schlechthin ursprünglich, primitiv, wie es in den bekannten Argumenten Kant
vom Raume und der Zeit ausgeführt wird. Als ursprünglich aber können sie ihren
Ursprung nur im Denken suchen; es gibt keinen anderen«.
29
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
7 Insofern unterschreitet die Diskussion, ob man es bei der Anschauung mit einer
konzeptuellen oder nicht-konzeptuellen Vorstellungsart zu tun habe, von jeher das
Reflexionsniveau der kritischen Philosophie. Kants Überlegungen zielen auf die
Struktur eines Sowohl-Als-Auch statt eines Entweder-Oder. Das heißt: Kant ist para-
doxerweise in dem Maße Konzeptualist, wie es ihm erlaubt, Non-Konzeptualist zu
bleiben et vice versa. Die Konzeptualismus-Nonkonzeptualismus-Debatte führt not-
wendig in ein Dilemma, aus dem sie sich nicht zu befreien weiß, weil sie immer nur
wieder den Blick auf die kantische Lösung verstellen kann, die im Text angelegt ist.
Dennis Schulting hat jüngst auf dieses interpretative, ganz und gar unfruchtbare Di-
lemma hingewiesen, indem er die beiden Lesarten mit dem eigentlichen Anliegen der
Vernunftkritik konfrontiert hat, eine Passage, die hier ausführlich zitiert werden soll,
weil sie die Ziellosigkeit der Debatte, die um Kants angeblichen Non-/Konzeptualis-
mus kreist, auf den Punkt bringt: »[E]ntweder (a) der ›kantianische‹ Nonkonzeptua-
lismus ist wahr, und es gibt unabhängig vom Verstand objektiv gültige Anschau-
ungen, was dann aber im Widerstreit mit Kants Hauptanliegen stünde, nämlich zu
beweisen, dass alle objektiv gültigen Anschauungen dem Verstandesvermögen unter-
liegen; […] oder aber (b) der ›kantianische‹ Konzeptualismus hat Recht, weil sich die
Bereiche der Sinnlichkeit bzw. des Verstandes genau überschneiden und es daher kei-
ne Kluft […] gibt, was aber Kants Zugeständnis widerspricht, wonach es Anschau-
ungen ohne die Funktionen des Verstandes oder Kategorien geben kann. Dieses Di-
lemma rührt meines Erachtens aber nicht von einem inhärenten, tiefen Konflikt in
30
Kants kritische Grundlegung der Zeit
der ›Transzendentalen Deduktion‹ her, sondern ist die unmittelbare Folge eines von
außen herangetragenen, wesentlich kantfremden konzeptuellen Schemas, das von
vornherein quer zu Kants Anliegen steht« (Schulting 2015, 579 f.).
8 Luckner 1994, 68.
9
Dies scheint auch die Position von Longuenesse zu sein, die dafür argumentiert,
dass Kant die Synthesis der Vorstellungseinheiten von Raum und Zeit in der trans-
zendentalen Ästhetik weder thematisieren konnte noch darlegen brauchte: »In the
Transcendental Aesthetic, Kant could not mention the ›affection by the understand-
ing‹, nor did he need to mention it. […] Kant did not need to mention it because what
is important in the Aesthetic is to show that space and time are originally intuitions
(›singular and immediate representations‹) and not concepts (›universal and reflected
representations‹), that they are sensible (a form or mode of ordering according to
which we receive ›inner’ and ›outer‹ impressions) and not intellectual (a function by
which we produce concepts)« (Longuenesse 2005, 66 f.). Anstatt wie Dörflinger von
›Korrekturen‹ zu sprechen, plädiert Longuenesse daher auch für den Begriff des ›re-
reading‹ bzw. den einer ›added explanation‹.
31
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
32
Kants kritische Grundlegung der Zeit
taucht das von Schelling markierte Problem einer höheren Form der
Synthesis auf, dass die Einheit der Anschauung eine Synthesis vo-
raussetzt, die nicht dem Vermögen der Sinnlichkeit, sondern dem
des Verstandes angehört. Wie ist das nun aber zu verstehen, wenn
die so synoptisierte Einheit nicht hinterrücks ihren Charakter als
sinnliche Anschauung verlieren soll? Hebt das fundamentum in
subjectum nicht die kategoriale Unterscheidung von Verstand und
Sinnlichkeit in dem Maße auf, wie sie die Formen der Sinnlichkeit
›intellektualisiert‹? Kant scheint jedenfalls mit der kreuzweisen Ver-
schränkung von transzendentaler Logik und transzendentaler Ästhe-
tik kein Problem zu haben, wenn er in der Fußnote ausführt:
Diese Einheit [die Einheit der Anschauung von Raum und Zeit, P. N.]
hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu be-
merken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Syn-
thesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe
von Raum und Zeit zuerst möglichen werden, voraussetzt. Denn da
durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder
die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit
dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit, und nicht zum
Begriffe des Verstandes (§ 24). (KrV, B 160 f.)
Versucht man sich von der hier angesprochenen Synthesis einen Be-
griff zu machen, so kann es hilfreich sein, dem letzten Hinweis zu
folgen, den Kant an dieser Stelle gibt. Denn mit dem Zusatz »(§ 24.)«
verweist Kant auf einen Paragraphen der Critik der reinen Vernunft,
der auf einen ganz analogen konzeptuellen Missstand reagiert. Ge-
meint ist das Kapitel über die transzendentale Einbildungskraft. Mit
der transzendentalen Einbildungskraft, der »synthesis speciosa«
(KrV, B 151), führt Kant in § 24 ein Vermögen ein, das Sinnlichkeit
und Verstand gerade in dem Maße aufeinander beziehen soll, wie es –
nach verschiedenen Einstellungen betrachtet – bald diesem, bald je-
nem Erkenntnisstamm zuzurechen ist. Im Vollzug der transzenden-
talen Einbildungskraft sollen sich Sinnlichkeit und Verstand als zwei
Momente ein und derselben Tätigkeit herausstellen, die analytisch
voneinander zu unterscheiden bleiben. Wie lässt sich aber Rolle und
Funktion der transzendentalen Einbildungskraft auf der Folie der hier
skizzierten Problemlage, der Frage nach den Einheiten von Raum und
Zeit, argumentativ rekonstruieren, und wie lässt sich dadurch Auf-
schluss über den fraglichen Begriff der Synposis bei Kant gewinnen?
Kant bestimmt die Einbildungskraft in der Critik der reinen Ver-
nunft als das Vermögen, »einen Gegenstand auch ohne dessen Ge-
33
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
10 Vgl. dazu auch Heidegger 1929, 169. Auch Heidegger interpretiert die Einbil-
dungskraft als Vermögen der Zeiterzeugung: »Das reine Einbilden aber, das reines
heißt, weil es sich sein Gebilde von sich aus bildet, muß als in sich zeitbezogenes
gerade die Zeit allererst bilden. […] Die Zeit als reine Anschauung ist in einem das
bildende Anschauen eines Angeschauten. Dies erst gibt den vollen Begriff der Zeit«.
Heidegger geht allerdings zu weit, wenn er daraufhin die transzendentale Synthesis
der Einbildungskraft mit der synthetischen Einheit der Apperzeption schlechthin in
Eins setzt, obwohl Kant in der Critik der reinen Vernunft bloß davon spricht, dass
erstere letzterer gemäß sein müsse, worauf zurückzukommen sein wird: »Die Zeit
und das ›ich denke‹ stehen sich nicht mehr unvereinbar gegenüber, sind dasselbe. Kant
hat durch den Radikalismus, mit dem er bei seiner Grundlegung der Metaphysik zum
erstenmal sowohl die Zeit je für sich als auch das ›ich denke‹ je für sich transzendental
auslegte, beide in ihre ursprüngliche Selbigkeit zusammengebracht – ohne diese frei-
lich als solche selbst ausdrücklich zu sehen« (185).
34
Kants kritische Grundlegung der Zeit
35
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
36
Kants kritische Grundlegung der Zeit
was sie bestimmt, nicht die Gegenstände selbst sind, sondern die For-
men, unter denen sie uns erscheinen.
An diesem Punkt der argumentativen Rekonstruktion ergibt sich
der entscheidende Einsatzpunkt für das eingangs gestellte Problem,
wie die Formen der Anschauung eine Synthesis voraussetzen kön-
nen, die nicht dem Vermögen der Sinnlichkeit, sondern dem des Ver-
standes angehört, ohne der so erzeugten Einheit hinterrücks ihren
Charakter als Form der sinnlichen Anschauung zu nehmen. Versteht
man unter jener Synopsis die Synthesis der transzendentalen Einbil-
dungskraft, nämlich als Vermögen, »die Sinnlichkeit a priori zu be-
stimmen«, dann gehört die ausgeübte Synthesis selbst zwar dem Be-
griffsvermögen des Verstandes an, aber dasjenige, was da bestimmt
wurde, die Form der Anschauung, zählt zum Vermögen der Sinnlich-
keit. Dies bedeutet, dass das anschaulich Gegebene von der transzen-
dentalen Einbildungskraft dergestalt zusammengefasst wird, dass es
uns als Mannigfaltiges in den bestimmten Formen von Raum und
Zeit gegeben ist. So gesehen mögen die Begriffe von Raum und Zeit
durch jene »Zusammenfassung des Mannigfaltigen« zwar »zuerst
möglich« werden. Sie werden aber nicht etwa als Begriffe »möglich«,
sondern in Übereinstimmung mit den Statuten der transzendentalen
Ästhetik als Anschauungen »zuerst gegeben« (KrV, B 160). Um den
fraglichen apriorischen Gegebenheitscharakter der Anschauung von
Raum und Zeit zu bewahren, bedarf es in konzeptioneller Hinsicht
einer besonderen Form der Synthesis, und zwar einer solchen, die,
wenn sie auch nicht den Sinnen angehört, von Seiten der so synthe-
tisierten Einheit sinnlich bleibt. Die formale Anschauung muss mit
anderen Worten nicht allein die Zusammenfassung des Mannigfalti-
gen als zusammenfassende Tätigkeit, sondern auch die Einheit der
Anschauung als gegebenes Produkt sein: zusammenfassende Tätig-
keit, insofern es um die Subjektivität der Formen der Anschauung,
das Für-uns, gegebenes Produkt, insofern es um das Gegebensein des
Mannigfaltigen der Anschaung überhaupt, das Außer-uns, geht. In
diesem letzteren Sinne urteilt auch Longuenesse, dass die Anschau-
ungsformen von Raum und Zeit in dem Maße sinnlich bleiben, »in
which things are given to us, and not intellectual, the manner in
which we think things«. 15
15
Longuenesse 2000, 216. Um sich gegen den Vorwurf einer Intellektualisierung der
Formen der Sinnlichkeit im Gefolge von Kant zu verteidigen, betont Longuenesse an
anderer Stelle noch einmal explizit, dass das der Sinnlichkeit Gegebene zwar durch die
37
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
Spontaneität ›geformt‹ würde, aber nicht als solches ›erzeugt‹: »In my account, it then
appears that space and time, as described in the Transcendental Aesthetic, certainly
belong to sensibily, but to a sensibility affected (and not generated, a point about
which my position differs from that of Fichte!) by spontaneity, that is, by the under-
standing« (Longuenesse 2005, 66).
16 Michel 2003, 185.
17
Longuenesse 2000, 221. In der jüngeren Forschung hat sich zu der These, die figür-
liche Einbildungskraft würde Raum und Zeit ›erzeugen‹, eine breite Diskussion ent-
wickelt. Vgl. dazu etwa Pippin 1997. Miriam Wildenauer führt einen Großteil der
daraufhin begonnenen Diskussion auf die systematische Verwechslung der Konzepte
von Unterscheidung und Trennung zurück: »As far as I can see in all those reactions a
conflation of the non-seperation thesis with the non-distinction thesis of intuition
and concept is at work« (Wildenauer 2004, 88). Zu behaupten, Raum und Zeit würden
durch die transzendentale Einbildungskraft generiert werden, bedeute noch lange
nicht, die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand aufzuheben, sondern viel-
mehr ihre Unverbundenheit in der Trennung zu überwinden: »But, surely, two items
that cannot be seperated can still be distinguished«. Vgl. dazu die unmittelbare Re-
aktion von Pippin 2005.
38
Kants kritische Grundlegung der Zeit
39
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
selbst nur unter der Bedingung möglich, dass wir uns ein Bild von der
Bestimmung der Zeit respektive des Raum machen können. Damit
das Mannigfaltige ein Mannigfaltiges für uns sein kann, muss auch
die Synthesis, die es in eine anschauliche Einheit zusammenfasst,
eine Synthesis für uns sein. Eine solche Synthesis nennt Kant in der
ersten Auflage der Critik der reinen Vernunft die »Synthesis der Ap-
prehension«: »Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen
des Raumes, noch der Zeit a priori haben können: da diese nur durch
die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer
ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können« (KrV,
A 99). Dass Kant in diesem Zusammenhang explizit von einer Erzeu-
gung von Raum und Zeit spricht, ist bemerkenswert. Nichts weniger
als das schwebt im Grunde auch Schelling vor, wenn er in den Welt-
alter-Fragmenten die Genealogie eines »Zeit-Erzeugungs-Prozeß«
(WA I, 146) zu liefern verspricht. Hier ist es zwar noch nicht an der
Zeit, um dem Topos der Zeiterzeugung auf den Grund zu gehen. Die
offenkundige Parallele aber kann als weiterer Hinweis dafür gelten,
dass Schellings Invektive gegen den »Kantianismus« in der Tat als
eine verdeckte Auseinandersetzung mit dem kantischen Problem der
formalen Anschauung gelesen werden kann. Was nun die Synthesis
der Apprehension angeht, verweist Kant in der transzendentalen Äs-
thetik darauf, dass man sich von der Zeit überhaupt kein Bild machen
könne, zumindest nicht in dem Sinne, dass die Zeit ein äußerlicher
Gegenstand sei. Allerdings habe man die Möglichkeit, diesen Mangel
durch eine Analogie zu ersetzen, und zwar durch eine »ins Unend-
liche fortgehende Linie« (KrV, B 50). In der transzendentalen Logik
nimmt Kant diesbezüglich wieder einen Perspektivenwechsel vor und
ergänzt die Analogie um einen entscheidenden Zusatz. Es handele
sich, so heißt es nun, um das Bild einer Linie, »so fern wir sie ziehen,
ohne welche Darstellungsart wir die Einheit ihrer Abmessung gar
nicht erkennen könnten« (KrV, B 156). Die Betonung liegt an dieser
Stelle auf dem Vollzug des Ziehens selbst. Die Linie selbst stellt noch
nicht das Bild der Zeit dar, dies wäre ja vielmehr als eine Vergegen-
ständlichung ihrer selbst zu verstehen, sie muss von uns als Linie
gezogen werden. Zur Verzeitlichung der Einbildungskraft gehört,
wie Hartmut und Gernot Böhme festhalten, »ein inneres Mitmachen,
ein Nachzeichnen«: die »Sinnlickeit ist niemals bloß rezeptiv«. 20 Was
aber genau macht die geometrische Form der Linie für Kant nun zu
20
Böhme/Böhme 1983, 314.
40
Kants kritische Grundlegung der Zeit
»Denn allein durch eine Intention, kurz durch sich selbst als Selbstverhältnis einer
Selbstverwirklichung vermögen Sie zu so etwas wie einem Anderen Ihrer selbst ur-
sprünglich überhaupt zu kommen, nämlich auch als Fremdverhältnis einer Fremdver-
wirklichung sich für sich selbst als solche ein Subjekt auch ein Objekt zu verwirk-
lichen« (235).
24
Vgl. Prauss 1990, 390.
41
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
42
Kants kritische Grundlegung der Zeit
27
Prauss 2015, 21.
43
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
die Punktbewegung als Repräsentantin für die nach und nach im in-
neren Sinn bewußt werdende und darin sukzessive Verbindungs-
handlung selbst zurück«; das Spezifische der Ausdehnung der Zeit
besteht also offenbar darin, dass sie bloß als stetige Bewegung des
Punktes zur Anschauung gelangt: »In diesem Sinne repräsentiert die
Punktbewegung die Zeit als Form oder Weise, in der die Mannigfal-
tigkeit der Vorstellungen und die daran ausgeübte Verbindungstätig-
keit des Verstandes im inneren Sinn bewußt wird«. 28 Das heißt aller-
dings nicht, wie nun wiederum Prauss zu bedenken gibt, dass die Zeit
in Wahrheit »nulldimensional« sei. 29 Gegen Prauss ist festzuhalten,
dass, auch wenn die Zeit nur als sich bewegender, nulldimensionaler
Punkt zu denken ist, dies nur scheinbar gegen ihre Eindimensionalität
spricht. Eindimensionalität und Nulldimensionalität sind im Vollzug
der Einbildungskraft vielmehr aufeinander bezogen. Der Punkt fällt
sozusagen zwar immer wieder ›hinter sich selbst‹ zurück, weil er sich
selbst kontinuierlich vorweg ist, er ›wächst‹ aber eben auch immer
wieder kontinuierlich zu einer eindimensionalen Linie heran.
Ein systematisches Problem, das sich hieran anschließt, lässt sich
folgendermaßen formulieren: Wenn die Formen der Anschauung von
Raum und Zeit nur unter der Bedingung möglich sind, dass sie im
Vollzug der transzendentalen Einbildungskraft entstehen, dann be-
deutet von der subjektiven Realität der Zeit bei Kant zu sprechen, im
Grunde von einer zeitlichen Gegenwart auszugehen, die auf den Mo-
ment des aktualen Vollzugs beschränkt bleibt, ausdehnungslos, ja
immer schon im Übergang begriffen. Zeit erscheint – und hierin wür-
de sich die kantische Zeitlehre kaum von der klassisch aristotelischen
Zeittheorie des in sich gespannten Jetztpunktes oder der augusti-
nischen Lehre der distentio animi unterscheiden – als nunc praete-
riens, als permanente Selbstaufhebung der zeitlichen Gegenwart, als
Zeit im Übergang zum Nichtsein. 30 Die Zeit erschiene als etwas, das,
wie Hans Michael Baumgartner kritisch einwendet, in sich selber eine
»Tendenz zum Nichtsein (tendentia ad non esse) bzw. zur Selbstauf-
hebung« besitzt. 31 An dieser Stelle wird deutlich, dass noch ein mo-
derner Philosoph wie Kant ein uraltes philosophische Erbe antritt,
insofern die Nähe der Zeit zum alles durchwirkenden Verstand zu-
44
Kants kritische Grundlegung der Zeit
45
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
nicht bloß eine Vorstellung des Subjekts oder sogar nur ein Imagina-
rium ist, sondern auch als etwas Reales bestimmt werden bzw. in-
wiefern die Zeitvorstellung objektive Gültigkeit besitzen kann«. 34
Erst wenn auch auf diese Frage eine Antwort gefunden ist, wird man
mit Kant berechtigterweise davon ausgehen können, dass es sich bei
der Zeit um die wirkliche Form der inneren Anschauung handelt. Auf
dem gegenwärtigen Stand der Rekonstruktion wäre es immer noch
möglich, Raum und Zeit, wiewohl sinnlich grundiert, für imaginierte
Vorstellungseinheiten zu halten. Raum und Zeit dürfen aber keine
bloßen Imaginaria sein, ihnen muss eine äußere, empirische An-
schauung korrespondieren können. Zu zeigen ist mithin, dass die
subjektive Grundlegung der Zeit gleichermaßen der Ausgangspunkt
für die Bestimmung der Zeitlichkeit der Objektwelt ist, dass also der
Verstand sich nicht nur von einer Sphäre der Objektwelt verschieden
weiß, sondern auch in der Erkenntnis jener Objektwelt zugleich sei-
ner selbst bewusst wird.
34
Michel 2003, 192.
46
Kants kritische Grundlegung der Zeit
47
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
37
Baum 1986, 141.
48
Kants kritische Grundlegung der Zeit
Grundlegung der Zeit in den Blick. Der Grund, Raum und Zeit selbst
zum Gegenstand einer Vorstellung zu machen, besteht für Kant in
dem Erweis, das noch das Gegebensein des Mannigfaltigen für uns
der synthetischen Einheit der Apperzeption unterliegt, jener Einheit,
von der es heißt, sie sei der »höchste Punkt« (KrV, B 134) der Trans-
zendentalphilosophie. Denn allein dadurch, dass sie dieser höchsten
Form der Synthesis entspricht, kann dasjenige, was uns durch die
Sinne gegeben ist, auch zu einem möglichen Gegenstand der Er-
kenntnis werden. Die Bestimmung der Sinnlichkeit durch die trans-
zendentale Einbildungskraft setzt also voraus, dass sie zugleich der-
jenigen Einheit korrespondiert, die eine Anwendung der reinen
Verstandesbegriffe auf das sinnlich gegebene Mannigfaltige ermög-
licht. Denn es sind ja die reinen Verstandesbegriffe, die uns einerseits
ein »Bewusstsein der Bestimmung« (KrV, B 154) der Form der Sinn-
lichkeit durch die Handlung der transzendentalen Einbildungskraft
ermöglichen, wie es andererseits auch nur die Erscheinungen in
Raum und Zeit sind, in Bezug auf welche die Kategorien Bedeutung
haben. Die erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit
muss schon unter der Bedingung stehen, »zugleich der Grund aller
übrigen« (KrV, B 152) Anwendungen des Verstandes zu sein. Die
synthetische Einheit der Anschauung muss schon derjenigen synthe-
tischen Einheit entsprechen, die ›später‹ durch die Kategorien gedacht
wird, denn nur dadurch dass sie ihr gemäß ist, werden die Kategorien
in ihrem Gebrauch auf die empirischen Bedingungen von Raum und
Zeit beschränkt, die ihnen allein objektive Gültigkeit verschaffen
können. Die Frage, ob Raum und Zeit objektive Gültigkeit in An-
sehung der Erscheinungen haben, ist in dieser Hinsicht gleichbedeu-
tend mit der Frage, welche die transzendentale Deduktion im Kern zu
beantworten versucht, ob nämlich die Formen unserer sinnlichen
Anschauung so beschaffen sind, dass sie den kategorialen Formen
unseres Denkens von jeher gemäß sind.
Der vorgelegten Interpretation zufolge kann also festgehalten
werden: Die Synthesis der Einbildungskraft, durch die das Mannig-
faltige der sinnlichen Anschauung in eine Vorstellungseinheit zu-
sammengefasst wird, bringt dann und nur dann die spezifisch
menschlichen Vorstellungseinheiten von Raum und Zeit hervor,
wenn sie zugleich der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß
ist, aus denen sich auch die Kategorien speisen. Die Begründung der
objektiven Gültigkeit der Zeit in Ansehung der Erscheinung beruht
auf dem Erweis ihrer Zugehörigkeit zur Einheit der Vorstellung des
49
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
›Ich denke‹. Denn dann und nur dann ist die subjektive Begründung
der Zeit zugleich der Ausgang für die Bestimmung der zeitlichen
Gegenwart der Objektwelt. Der Vollzug der transzendentalen Ein-
bildungskraft leistet aber gerade nicht weniger als dies: Sie bildet die
formale Einheit des denkenden Ichs in die Gegebenheitsweise der
sinnlichen Anschauung. Die Anschauungseinheiten von Raum und
Zeit sind zwar als entia imaginaria aufzufassen, aber gerade nur weil
sie imaginäre Gegenstände im Mitvollzug eines denkenden Ichs sind,
das sich in ihnen sukzessiv darstellen kann, können sie zugleich auch
durch die Kategorien gedacht werden. Auf diese Weise sind Anschau-
ung und Begriff bei Kant vermittelt: eben durch die Lehre von der
formalen Anschauung. Eine Kant-Interpretation, welche die Dualität
von Anschauung und Begriff hingegen »bloß fixiert«, wie Wilhelm
Metz zu bedenken gibt, ohne auch nur in Rechnung zu stellen, »dass
der Kantsche Gedankengang gerade die ursprüngliche Vermittlung
von Verstand und Anschauung ans Licht bringt«, muss eine solche
Lesart freilich »unverständlich« bleiben. 38 Auf diese Weise vermag
es die kritische Philosophie zu zeigen, »daß Raum und Zeit diejenige
synthetische Einheit vor und unabhängig von allen Begriffen schon
an sich haben, die in der transzendentalen Ästhetik erörtert und die
nach dem § 20 durch die Kategorien gedacht wird«. 39 Anders formu-
liert: Der Gegenstand wird »bereits in der Anschauung so gegeben,
dass er einer möglichen Rezeption durch den Begriff gemäß ist«. 40
Dass diese Form der Vermittlung, ungeachtet dessen, ob man sie
im kantischen Sinne für gelungen hält, letztendlich problematisch
bleibt, leuchtet allerdings schlagartig ein. Die transzendentale Ideali-
tät der Zeit ist zwar ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes
Kriterium für ihre empirische Realität: Die Formen der Anschau-
ungen sind den Formen des Verstandes nur gemäß; sie sind keines-
falls in einem anspruchsvollen Sinne mit ihnen identisch. Insofern ist
es auch kein Wunder, dass insbesondere die nachkantische Philoso-
phie an der kantischen Raum- und Zeitlehre Anstoß genommen hat.
Anstatt aber hier die idealistischen Ansätze einer möglichen Deduk-
tion der Zeit zu verfolgen – das zu tun, käme einem eigenen Projekt
gleich –, gilt es im Anschluss an die eingangs geschilderte Problem-
situation, sich der Vernunftkritik Jacobis zuzuwenden, dem »Groß-
38
Metz 1994, 74.
39 Baum 1986 16.
40
Böhme 1974, 262 f.
50
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
41Angezeigt ist mit der ›Deduktion der Zeit‹ gleichwohl ein Forschungsdesiderat.
Vgl. Metz 1994, Horstmann 1989, Gent 1954.
51
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
52
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
voraussezen« (AA I,2, 72), war schon die Rede gewesen; sein Anlie-
gen ist es, Raum und Zeit aus eben jener höheren Form der Synthesis
als »Formen der Endlichkeit überhaupt« abzuleiten und nicht nur als
»Formen der menschlichen Anschauung«, wie Kant es in seinem »Ac-
comodationssystem« (AA I,2, 139) getan hat. Hegel dagegen reagiert
in ganz anderer Weise auf das Problem der Grundlegung der An-
schauungsformen: Er geht sogar direkt auf das erkenntnistheoreti-
sche Problem der formalen Anschauung ein. Verwunderlich oder
nicht, aber es ist gerade Hegel, der diesen für die Vernunftkritik Kants
ohne Zweifel problematischen Gedanken bereitwillig aufgreift. Hegel
würdigt in Glauben und Wissen ausdrücklich die Lehre von der for-
malen Anschauung, weil sie seinem Verständnis nach ein spekulati-
ves Element in sich trägt. Es handle sich hierbei um einen der »vor-
trefflichen Puncte, dessen, was Kant über die Sinnlichkeit und
Apriorität sagt« (GuW, GW 4, 364). Dass Raum und Zeit nicht bloß
Formen der Anschauung, sondern auch in formaler Hinsicht An-
schauungen seien, diesen Gedanken Kants könne man, so Hegel,
»nicht anders als vortrefflich und einen seiner reinsten und tiefsten
nennen« (GuW, GW 4, 364). Hegel kommt in Glauben und Wissen
auch deshalb auf die ›formale Anschauung‹ zu sprechen, weil es gera-
de sein Antipode Jacobi ist, der die ›Zwitterstellung‹ von Raum und
Zeit, Formen der Anschauung und Anschauungen zugleich zu sein,
als symptomatisch für die »Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst«
(JW 2,1, 269) erkennt. Jacobi gibt in seiner 1802 erschienenen Schrift
Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande
zu bringen unmissverständlich zu verstehen, dass sich gerade in der
Lehre von der formalen Anschauung, der Intellektualisierung von
Sinnlichkeit, das »Grundgebrechen« der Vernunftkritik Kants aus-
spreche, »den Idealismus durch Empirismus, den Empirismus durch
Idealismus wieder gut zu machen« (JW 2,1, 269). Eine Kritik, die
Hegel so entschieden wie polemisch ablehnt: In Jacobis Position kom-
me nur die oberflächliche Reaktion der Reflexionsphilosophie auf das
spekulative Denken zum Vorschein. Bei aller Kritik, die Hegel gegen
die kritische Transzendentalphilosophie vorbringt, ist es nun also
Kant, der gegenüber »Jacobi’s Instinct gegen das vernünftige Er-
kennen« (GuW, GW 4, 364) verteidigt und wieder ins Recht gesetzt
werden soll.
So verstanden, und ohne hier im Detail auf den Streit zwischen
Hegel und Jacobi einzugehen, liegt in der zunächst vielleicht un-
scheinbaren, von einigen Kant-Interpreten sogar sträflich vernachläs-
53
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
54
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
nung von Subjekt und Objekt mit einer Theorie objektiven Wissens
vereinbaren könne. Kants Antwort auf den Humeschen Skeptizis-
mus, wonach synthetische Urteile a priori dadurch möglich seien,
dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten, hält Jaco-
bi aus dem Grund für widersprüchlich, weil das Objekt der äußeren
Anschauung hier zu einem »problematische[n] Etwas« werde, dem
das Subjekt zwar einerseits »nicht beykommen«, das es andererseits
aber auch nicht »liegen und blos auf sich beruhen« lassen kann: »Es
[das Subjekt, P. N.] kann nicht aufhören, sich in Beziehung auf das
Object […] zu beschäftigen, ohne daß es selbst aufhöre zu seyn«
(JW 2,1, 268). Weitab also davon, gegen Hume und dessen Skeptizis-
mus die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori erwiesen zu haben,
hätte Kant das Erkenntnissubjekt auf ein »problematisches Etwas«
hin geöffnet: ein Objekt, das möglich und notwendig sein, für uns
aber ein »offenbares Nichts« (JW 2,1, 268) bleiben soll. 46
Mit dieser Zurückweisung der ›Kopernikanischen Revolution‹
steigt Jacobi in seine Kritizismusschrift ein, sie soll ein Indiz für das
»Grundgebrechen« (JW 2,1, 269) der kritischen Philosophie als sol-
cher sein. Als symptomatisch für dieses »Grundgebrechen«, der »Un-
einigkeit des Systemes mit sich selbst« (JW 2,1, 269), erweist sich
Jacobi zufolge nicht zuletzt auch Kants Sinnlichkeitslehre, und hier
vor allem die Auffassung, Raum und Zeit seien nicht bloß Formen der
Anschauung, sondern auch formale Anschauungen, also selbst Ge-
genstand einer ›vorbegrifflichen‹ Vorstellung. Raum und Zeit, so
heißt es bei Jacobi gegen Kant gerichtet, seien »nach den ausdrück-
lichen Behauptungen der Vernunftkritik bloße Formen der äußern
sinnlichen Anschauung«, und könnten »vermöge dieser Formnatur
nie Gegenstände werden«, und dennoch seien »diese nämlichen nicht
objective Formen der Anschauung, Raum und Zeit, nach andern
Aeusserungen auch Gegenstände, nicht bloße Formen der Anschau-
ung, sondern Anschauungen selbst« (JW 2,1, 270). Worauf Jacobis
insistierende Kritik hinausläuft, ist klar, und sollte bereits durch die
im kantischen Kontext geäußerten Bedenken deutlich geworden sein.
Wenn Kant der Auffassung ist, Raum und Zeit nicht als nur Formen
der Anschauung, sondern auch als Gegenstände einer spezifischen
Art von Vorstellung behandeln zu können, die er als ›Synthesis‹ be-
zeichnet, so ist nicht auszuschließen, dass damit auch mutatis mutan-
dis die Fundamente seiner eigenen Vernunftkritik, die kategoriale
46
Vgl. dazu Metz 2004.
55
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
56
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
57
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
47 Für Jacobi stellt sich das Problem einer creatio ex nihilo allerdings nicht nur von-
seiten des Objekts, also der Frage, wie Etwas aus Nichts entstehen kann. Auch die
Vorstellung eines »immerwährenden Daseins des eigentlichen Subjekts an den Er-
scheinungen« (KrV, A 185/B 228) lässt Jacobi zufolge darauf schließen, dass Kant
unter der Hand eine Konzeption der creatio ex nihilo in seiner Vernunftkritik mit-
führt. Wie gegensätzlich, ja geradezu in sich verkehrt, die Ansichten Kants und Jaco-
bis hierbei ausfallen, lässt sich leicht daran erkennen, dass für Kant das ›unvergäng-
liche Dasein‹ des Subjekts gerade eine Folge aus dem Grundsatz a nihilo nihil fit ist
und diesem nicht, wie Jacobis Analyse feststellt, zuwiderläuft.
58
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
48 Sandkaulen 2002, 364. Neben Sandkaulen macht auch Müller-Lauter 1975 geltend,
dass sich Jacobis Nihilismus-Vorwurf gegen den transzendentalen Idealismus auf den
ganzen Bereich existenzieller Unerträglichkeit erstrecke und nicht bloß methodisch
auf das Verfahren einer epistemologischen Destruktion zu beschränken sei.
49
Hindrichs 2006, 121 f.
59
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
einer »würklichen Folge der Dinge«, ein Begriff, der Jacobi zufolge
notorisch mit dem »Werden eines Begriffes« (JW 2,1, 50) verwechselt
wird und damit überhaupt nicht die konzeptuelle Sprengkraft entfal-
tet, die er in sich enthält.
Was Jacobis Einwand in diesem Zusammenhang genau besagt,
wird dann deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Jacobi –
zumindest versuchsweise – annimmt, es könnte tatsächlich so etwas
wie eine ›reine Zeit‹ und einen ›reinen Raum‹ geben: eine »reine nicht
successive, aller Erfahrung vorhergehende Zeit; jene Zeit, welche die
Einheit aller Zeit und ihr Substrat ist« (JW 2,1, 301), ganz im kanti-
schen Sinne. Angenommen also, es gäbe eine reine Zeit und einen
reinen Raum nach kantischem Vorbild, die Frage, die sich dann aber
umso drastischer stellen würde, wäre, wie ein sich Veränderndes, wie
Bewegung überhaupt in die Zeit komme: »So saget denn, wie es zu-
geht, daß in diesem unbeweglichen unendlichen Meere sich Wellen
der Zeit erheben und bilden?« (JW 2,1, 302) Um etwas als real suk-
zessierend bestimmen zu können, kann das zu Bestimmende nicht
selbst zur Funktion der Bestimmung gehören, so muss man Jacobis
ozeanische Dialektik zwischen ›unendlichem Meer‹ und ›endlichen
Wellen‹ an dieser Stelle verstehen. Das ›unendliche Meer‹ kann die
›endlichen Wellen‹ bloß um den Preis ihrer eigenen Endlichkeit in
seinen allumfassenden Begriff aufheben. Im Begriff des Meeres sind
die Wellen als Wellen zugleich zunichte gemacht, sie kommen darin
als Besonderes nicht mehr vor: »Ich bemerke blos, daß diese Wellen,
als etwas der unbeweglichen Natur jenes Meeres Entgegengesetztes,
nicht als zugleich mit ihm gegeben denkbar sind« (JW 2,1, 302). Dass
die reale Sukzession als Wellenbewegung nicht als zugleich mit der
synthetischen Einheit als unbeweglicher Meerestotalität gegeben sein
kann, ihr vielmehr unvermittelt gegenübersteht, liegt Jacobi zufolge
daran, dass der Begriff der realen Sukzession eine »bestimmende Ver-
endlichung« (JW 2,1, 303) erfordert, eine »Verendlichung«, die vom
transzendentalen Begriff einer unendlich sich ausdehnenden Zeit als
Substrat aller Zeitbestimmungen von vornherein ausgeschlossen
ist. 50 Gegen die Theorie einer reinen, aller Erfahrung vorhergehenden
respektive aller Erfahrung subjektiv zugrundeliegenden, kantischen
Zeit heißt es bei Jacobi:
50
Vgl. Koch 2013, 76.
60
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
Ja wenn wir es noch dazu versuchten, damit nicht unversucht bliebe, die
unendliche leere Zeit durch den unendlichen leeren Raum strömen zu
lassen: so kämen uns auch dadurch schlechterdings noch keine Zeiten in
die Zeit; noch keine Zeit-bestimmungen, noch kein Mannichfaltiges der
Zeit; mit einem Wort, noch gar nichts von allem dem, was ihr mit der
Zeit und durch sie a apriori zu besitzen vorgebt. (JW 2,1, 303)
Mit diesem Einwand trifft Jacobi nun aber tatsächlich einen Punkt,
der sich, wie Wilhelm Metz sagt, nicht »kantimmanent« auflösen
lässt. 51 Ihn aufzulösen, hieße, den höchsten Punkt der Transzenden-
talphilosophie gleichsam zum ›tiefsten‹ zu machen, bzw. wie Jacobi
gesagt hatte, eine »reine Antithesis« zu erklären. Kant hätte Jacobi
zufolge zu zeigen, wie das reine Mannigfaltige noch vor jeder Syn-
thesis gegeben sein kann, um im Anschluss von der transzendentalen
Einbildungskraft überhaupt synthetisiert werden zu können. Hierbei
handelt es sich aber um ein Problem, das mit Blick auf die Endlichkeit
des menschlichen Verstandes von Seiten des Kritizismus als Schein-
problem zurückgewiesen werden kann, insofern es als metaphysi-
sches Realitätsproblem ohnehin nicht argumentativ einzuholen ist. 52
Kant räumt dementsprechend in § 21 der Critik der reinen Vernunft
auch unumwunden ein, von einer ursprünglich »noch vor der Syn-
thesis des Verstandes, und unabhängig von ihr« gegebenen Mannig-
faltigkeit »doch nicht« (KrV, B 145) abstrahieren zu können. Dass uns
Mannigfaltiges überhaupt gegeben ist, liege an der »Eigentümlichkeit
unseres Verstandes« (KrV, B 145), und zwar diskursiv zu verfahren
und nicht intuitiv. Und deshalb handelt es sich, so lässt sich einräu-
men, bei dem von Jacobi angestoßenen metaphysischen Realitätspro-
blem auch nicht um ein »Kernproblem« der kritischen Philosophie
Kants im engeren Sinne. 53 Wollte man die kantische Philosophie an
dieser Stelle verteidigen, müsste man vielmehr sagen, dass in der Zu-
rückweisung dieses Problem ihre eigentliche Pointe besteht: »Denn,
wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschauete […], so
würden die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar
keine Bedeutung haben« (KrV, B 145). Die Möglichkeit einer »Selbst-
gebärung unseres Verstandes (samt der Vernunft)« gegen den Skep-
tizismus Humes zu behaupten, muss für Kant demzufolge auch gar
nicht bedeuten, dass der Verstand die Gegenstände seiner Vorstellun-
51
Metz 2004, 3.
52 Vgl. Gabriel 2004, 152 f.
53
Pluder 2013, 150.
61
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
54
Baum 1986, 22.
62
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
63
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
der vornehmlich gegen Schelling gerichteten Schrift Von den göttlichen Dingen und
ihrer Offenbarung von Jacobi später einmal als den »Erbfehler« (KFSA 8, 441) der
spekulativen Vernunft bezeichnet hat. Dieser »Erbfehler« bestehe darin, die Vernunft
ausschließlich in sich selbst zu begründen zu wollen: »Die Vernunft an und für sich
bringt es nicht weiter als bis zu einem leblosen Es, dem Ist des Verfassers […], oder
dem ewig sich selbst wiederholenden Ich bin Ich. Kein wahrhaftes Du, wie der Ver-
fasser es sucht, kann sie ohne andere Hilfe jemals zustande bringen« (KFSA 8, 450 f.).
64
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
58Vgl. dazu Koch 2013, 122: »Worauf es Jacobi unphilosophisch also ankommt, ist
[…] die Gleichheit und Instantaneität der zwei dem ›natürlichen Menschen‹ gegebene
Gewißheiten zu bewahren, die Systemphilosophien im Versuch, sie noch auseinander
zu begründen, auf nur eine reduzieren: der Gewissheit ›ich bin, und es sind Dinge
außer mir‹«. Vgl. dazu auch Zöller 1998, 21.
65
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
66
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
67
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
59 Das ganze Zitat ist zu polemisch, um es hier unerwähnt zu lassen: »Wenn unsere
Sinne uns gar nichts von den Beschaffenheiten der Dinge lehren; nichts von ihren
gegenseitigen Verhältnissen und Beziehungen; ja nicht einmal, daß sie ausser uns
(im transcendentalen Verstande) würklich vorhanden sind: und wenn unser Versand
sich blos auf eine solche gar nichts von den Dingen selbst darstellende, objektiv plat-
terdings leere Sinnlichkeit bezieht, um durchaus subjectiven Anschauungen, nach
durchaus subjectiven Regeln, durchaus subjective Formen zu verschaffen: so weiß
ich nicht, was ich an einer solchen Sinnlichkeit und einem solchen Versande habe,
als daß ich damit lebe; aber im Grunde nicht anders wie eine Auster damit lebe«.
60 Dafür spricht schon, dass Schelling dem Vermögen der Einbildungskraft von seinen
68
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
61
Derselbe strategischen Zug lässt auch in Fichtes Wissenschaftslehre beobachten.
Auch seine Version des transzendentalen Idealismus beruht auf der zentralen An-
nahme eines unhintergehbaren selbstbewussten Ichs. Aus diesem Grund verwirft
auch er wie Schelling die allzu leidige Frage: »Was war ich wohl, ehe ich zum Selbst-
bewußtseyn kam?«. Seine Antwort auf die Frage nach dem allerersten Anfang lautet:
»Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewusst, mit hinzu
zu denken; man kann von seinem Selbstbewußtseyn nie abstrahieren: mithin sind alle
Fragen von der obigen Art nicht zu beanworten; denn sie sind, wenn man sich selbst
wohl versteht, nicht aufzuwerfen« (GA I,2, 260). Man muss nicht eigens betonen,
dass Fichte sich damit dieselben Probleme, mithin Aporien einhandelt wie Schelling.
69
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
»Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus, und
auf ein Entgegengesetztes zu gehen« (AA I,3, 60). Die Ausgangslage
ist – auch wenn Schelling anderes behauptet – zunächst nicht ver-
gleichbar; am Grundproblem transzendentaler Zeitanschauung än-
dert dies nichts. Vielmehr stellt sich die Frage nach dem Absoluten
und seiner Realität im System des transscendentalen Idealismus un-
ter verschärften Bedingungen, weil hier das »Ich selbst« die Zeit ist,
und zwar »in Thätigkeit gedacht« (AA I,9,1, 164). Schelling abstra-
hiert – im Gegensatz zu Kant – noch einmal von allen räumlichen
Bestimmungen und fasst die »reine Zeit« spekulativ in ihrer »völ-
ligen Unabhängigkeit vom Raum« auf. Damit aber werden alle Phä-
nomene der äußeren Anschauung, mithin alle Stadien und Epochen
der sogenannten Geschichte des Selbstbewusstseins zu verschiedenen
Reihen eines sich sukzessiv evolvierenden, ewigen Prinzips. Die Fra-
ge, die sich hierbei stellt, ist freilich, wie unter diesen Bedingungen
das »Ruhende, Permanente« (AA I,7, 82) – kurz: das Beharrliche im
Wechsel – überhaupt noch zu erklären ist. Es ist dies eine Frage, die
Schelling schon in seinen naturphilosophischen Schriften als das
»Hauptproblem« jeden Naturphilosophie benannt hatte: »Die Natur-
philosophie hat nicht das Produktive der Natur zu erklären […]. Zu
erklären hat sie das Permanente« (SW III, 289).
Und eben hier liegt der bereits angesprochene ›Hohlraum‹ der
transzendentalen Zeitanschauung, denn dieser Hohlraum wird –
ähnlich dem einer Welle – einerseits von ihr erzeugt und mitgetra-
gen, ohne dass die dabei entstehende Bewegung andererseits jemals –
gleich einer Welle, die sich eigentlich im Brechen vollendet – kolla-
bieren würde. Das Problem des Permanenten, das Problem von An-
fang und Ende, wird durch die im System des transscendentalen Idea-
lismus instanziierte absolute Synthesis also tatsächlich nur auf eine
höhere Ebene verschoben, anstatt in seiner aporetischen Struktur von
Schelling erkannt. Und gerade weil auch Hegel in Glauben und Wis-
sen die Idee einer absoluten Synthesis gegen Jacobis ›Ketzereien‹ ver-
teidigt, wie zu Anfang des zweiten Kapitels gezeigt wurde, lässt sich
notieren, dass überhaupt erst mit Schellings Weltalter-Fragmenten
ein Problembewusstsein für Jacobis Einwand und das Zeitproblem
des transzendentalen Idealismus entsteht. 62 Die Weltalter kann man
geradezu als Versuch verstehen, sich aus der von Jacobi markierten
Aporie apriorischer Zeitbestimmung zu befreien.
62
Vgl. dazu Sandkaulen 2000, 144.
70
Das Zeitproblem des transzendentalen Idealismus
71
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
in Wirklichkeit »so gewiß« sein soll wie die Ewigkeit selbst, und ob
eine Antwort auf diese Frage im strengen Sinne überhaupt denkbar
ist, oder ob sie nicht vielmehr im Medium der geschichtlichen Praxis
immer wieder gegeben werden müsste.
72
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
73
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
74
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
losophie geht es, wie Susanna Kahlefeld festhält, »nicht mehr darum
die erscheinende Wirklichkeit zu ›durchschauen‹, sondern sie gene-
tisch zu begreifen«. 67 Endliche Subjektivität ist für Schelling ihrem
Wesen nach bedingt: bedingt durch die Zeit und die Dinge, die sie
gleichsam mit der Zeit zusammen hervorbringt: »Das wahre Subject
des Menschen ist das Subject der Bewegung und Erzeugung der Din-
ge und das Spiel davon ist in seinem materiellen Bewußtsein« (Schel-
ling 1827/28, 66). Endliche Subjektivität setzt ihr eigenes Geworden-
sein voraus, das ihr als unvordenkliches Fundament geschichtlich im
Rücken liegt. Im Unterschied zur Transzendentalphilosophie kanti-
scher und fichtescher Provenienz will Schelling, mit anderen Worten,
den »von diesen jeweils als unhintergehbar beanspruchten, für alles
weitere angeblich fundamentalen Ausgangspunkt alles Wissen- und
Erkennenkönnens, aber auch allen sinnvoll und frei Handelnkönnens,
noch einmal genetisieren«. 68 Hieß es im System des transscendenta-
len Idealismus noch, das Selbstbewusstsein sei der »lichte Punkt im
ganzen System des Wissens, der aber nur vorwärts, nicht rückwärts
leuchtet« (AA I,9,1, 47), so ließe sich in Anlehnung an diese meta-
phorische Explikation die Verschiebung des Zeitproblems in den
Weltaltern auf folgende Weise eintragen: Wenn das Selbstbewusst-
sein Schelling zufolge der »lichte Punkt« im System ist, der nur »vor-
wärts« leuchtet, dann gilt es unter genealogischen Aspekten die Spur
des Kometenschweifs zu erhellen, den dieser beständig hinter sich
herzieht. Und diese Spur führt – so paradox es klingen mag – über
die Vergangenheit in die Zukunft hinein; sie versteht sich von dort-
her. Das Gewordensein der Subjekte liegt ihnen als Immer-noch-Wer-
den voraus.
Mit Blick auf Jacobi heißt das aber, dass Schelling nach der »ur-
eigenste[n] Voraussetzung« fragt, die den aus seiner Sicht »abstrak-
ten Dualismus« von Glauben und Wissen bei Jacobi trägt. 69 Ein Dua-
lismus, von dem Jacobi sagt, dass seine ganze Vernunftkritik darauf
beruht. 70 Ein Dualismus, der Schelling zufolge aber die Frage nach
dem ›wirklichen‹, dem geschichtlichen Anfang bereits im Keim er-
70 Vgl. dazu F. H. Jacobi an J. F. Fries, 17. November 1810: »Alles beruht bei mir auf
75
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
Schellings Vorliebe für das Problem des Anfangs ist bekannt. Ebenso
berühmt wie berüchtigt sind aber auch die Volten, die sein Denken,
angefangen von den ersten Schriften, immer wieder genommen hat.
71 Vgl. dazu auch Gabriel 2006, 16: »Insofern gibt Schelling das Axiom des Idealismus
von der Einheit von Denken und Sein nicht auf, sondern bestimmt es lediglich neu,
indem er versucht, einem Primat des Seines im dynamischen Gefüge von Sein und
Denken so zu begründen, daß das Sein selbst in seiner Einheit mit dem Denken nicht
gänzlich aufgeht«.
72
Buchheim 1997, XIX.
76
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
73 Nur insofern ist das absolute Ich ja auch das Unbedingte: »Das Ich sezt sich selbst
schlechthin und alle Realität in sich. Es sezt alles als reine Idenität, d. h. alles gleich mit
sich selbst. Die materiale Urform des Ichs ist demnach die Einheit seines Sezens,
insofern es alles sich gleich sezt. Das absolute Ich geht niemals aus sich heraus«
(AA I,2, 146).
74 Eine praktische Verschiebung, die schon am Ende der Ichschrift aufleuchtet: »Was
für das absolute Ich absolute Zusammenstimmung ist, ist für das endliche hervor-
gebrachte, und das Princip der Einheit, das für jenes konstitutives Princip immanenter
Einheit ist, ist für dieses nur regulatives Princip objectiver Einheit, die zur immanen-
ten werden soll. Also soll auch das endliche Ich streben, in der Welt das hervorzubrin-
gen, was im Unendlichen Wirklich ist, und der höchste Beruf des Menschen ist –
Einheit der Zweke in der Welt zum Mechanism, Mechanism aber zur Einheit der
Zweke zu machen« (AA I,2, 175).
77
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
Eine konzeptionelle Verschiebung, wie sie sich auch noch in der Neu-
en Deduction des Naturrechts von 1796/97 abzeichnet: »Strebe daher,
um ein Wesen zu werden, absolut-frei zu sein, strebe, jede heterono-
mische Macht deiner Autonomie zu unterwerfen, strebe durch Frei-
heit deine Freiheit zur absoluten, unbeschränkbaren Macht zu er-
weitern« (AA I,3, 139 f.). 75 Aber schon in der Darstellung meines
Systems der Philosophie von 1801 heißt es wieder, als würde Schel-
ling im Grunde wieder zur Position der frühen Ichschrift zurück-
kehren, der Grundirrtum aller bisherigen Philosophie habe in der
Annahme bestanden, die absolute Identität sei überhaupt aus sich
herausgegangen. »Wahre Philosophie«, so Schelling, bestehe in dem
Erweis, »daß die absolute Identität (das Unendliche), nicht aus sich
selbst herausgegangen seye« (AA I,10, 121), ein Satz, welcher bisher
nur von Spinoza erkannt worden sei.
Seit der Freiheitsschrift, spätestens aber mit den Weltalter-Frag-
menten rückt eine andere, die Blickrichtung gleichsam umkehrende
Frage ins Zentrum der Überlegungen Schellings. Es ist die Frage nach
der ›positiven‹ Wirklichkeit des Endlichen, die Schelling zunehmend
umtreibt und die auf radikale Weise mit der Systemgestalt eines
›ästhetischen Idealismus‹ bricht. Schelling appliziert die Frage nach
dem metaphysischen Anfang der Zeit auf die Frage nach dem positi-
ven Grund des Seienden. Das metaphysische Problem des Anfangs, so
lässt sich an dieser Stelle notieren, stellt für Schelling gar nichts an-
deres dar als die Frage nach dem Ursprung des realen Prinzips. 76 Es ist
die Frage nach der Möglichkeit des Positiven im Negativen, die Schel-
ling aus der Deckung seiner Identitäts- und Kunstphilosophie heraus-
lockt und in die Position einer unhintergehbaren Geschichlichkeit des
Anfangs hineintreibt. Es handelt sich hierbei um eine Frage, die
Schelling in den Briefen von 1795 noch als »schlechthin unbeant-
wortlich« ausgegeben, als »Räthsel der Welt« strikt von sich zurück-
gewiesen hatte. Denn offenbar setzt doch jede Antwort auf die Frage,
warum es das »Gebiet der Erfahrung« überhaupt gibt, schon das »Da-
seyn einer Erfahrungswelt« (AA I,3, 79) als je geschichtlich voraus. In
der Weltalterphilosophie wird die Frage nach dem Anfang aber gerade
75 Die ›Erweiterung‹ zur absoluten Freiheit ist als eine ›Vernichtung‹ der endlichen,
eigenen Freiheit zu verstehen: »Anders ausgedrückt war jene Forderung keine andre
als diese: Vernichte dich selbst durch die absolute Causalität, oder: verhalte dich
schlechthin leidend gegen die absolute Causalität!« (AA I,3, 85).
76
Vgl. Müller-Lüneschloß 2012, 172.
78
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
79
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
80
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
82
van Zantwijk 2000b, 260.
83 Vgl. dazu nur die Vorrede des ersten Bandes der 1809 herausgegebenen Philoso-
phischen Schriften: »Indessen sind die dem neunten Briefe enthaltenen Bemerkungen
über das Verschwinden aller Gegensätze widerstreitender Principien im Absoluten die
deutlichen Keime späterer und mehr positiver Ansichten« (zit. nach SW I/1, 283). Wo
aber Schelling genau die »deutlichen Keime« seiner späteren, mehr positiven Ansicht
vermutet, will auch nach gezielter Lektüre der Philosophischen Briefe nicht einleuch-
ten. Betont wird von Schelling bloß die durchgehende Negativität der einzelnen Sys-
teme, nicht ihre Verkehrung: »Wer über Idealismus und Realismus, die beiden wider-
sprechendsten theoretischen Systeme, nachgedacht hat, fand von selbst, daß beide nur
in der Annäherung zum Absoluten statt finden konnten, daß sie aber beide im Abso-
luten vereinigt, d. h. als widersprechende Systeme aufhören müssen« (AA I,3, 100).
81
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
84
Iber 1994, 4.
85 Wieland 1975, 251.
86
Vgl. Peetz, 85.
82
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
83
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
89
Schmidt-Biggemann 2014, 20.
84
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
90 Gadamer hat den Zusammenhang von Zeitpraxis und Selbsterfahrung einmal wie
folgt expliziert: »In jeder Phase begleitet uns ein Bewußtsein unserer Eigenzeit durch
die Jahre, und wahrlich nicht als das Gezählte einer Bewegung, das deren Dauer mißt,
eher als eine Horizonterfahrung, in der sich der Horizont unmerklich, aber unauf-
höhrlich verschiebt« (Gadamer 1987c, 155 f.).
85
Erster Teil: Die reine Absenz der Zeit
So gesehen blickt man mit Schelling einerseits auf die Anfänge der
nachkantischen Philosophie zurück, andererseits spürt man bereits in
der Art und Weise, wie Schelling die Fragestellung der kritischen Phi-
losophie von innen heraus radikalisiert, dass das nachmetaphysische
Denken in Gestalt von Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche sei-
ne Schatten vorauswirft. 91 Zu tiefgreifend ist die im eigentlichen Sin-
ne kantische Frage nach einem tragfähigen Grund der Philosophie
mit der existenzialistischen Frage nach dem Dasein des Menschen
im Ganzen verbunden. Schelling ist der erste Autor, der das Problem
der Geschichte und der Existenz dergestalt in den Problemhorizont
der klassischen deutschen Philosophie einträgt. Vorsichtig ließe sich
mit Tilo Wesche behaupten, dass gerade hier – an der Nahtstelle zwi-
schen idealistischer und nachidealistischer Philosophie – eine innere
Dynamik zu Tage tritt, die in grundlegender Weise die Philosophie als
Disziplin überhaupt kennzeichnet: »Diese baut auf dem Widerspruch
zwischen Erkenntnis und der Wirklichkeit des Menschen auf, die sich
in Erkenntnis nicht auflösen lässt«. 92 In dem Maße wie Schelling also
die Fragestellungen des idealistischen Denkens von innen heraus ra-
dikalisiert und die neuzeitliche Subjektivität mit ihrem je geschicht-
lichen Gewordensein konfrontiert, bereitet er zugleich den Boden für
jene nachmetaphysischen Autoren, die in vergleichbarer Weise die
Ohnmacht der bloßen Vernunft konstatieren im Angesicht des unver-
rückbaren ›Dass‹ einer positiven Wirklichkeit menschlicher Freiheit.
Regelrecht spürbar werden die Ansätze zu einer so folgenreichen phi-
losophie- wie kulturgeschichtlichen Transformation jedenfalls dann,
wenn Schelling mit der ihm eigenen schweren Dramatik zu verstehen
gibt, dass gerade er, der Mensch, ihn zur »letzten verzweiflungsvollen
Frage« treibe: »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?«
(SW VIII, 7). Die geschichtliche Verschiebung des Problembewusst-
91
Zu dieser Einschätzung gelangt auch Heidegger in seiner Vorlesung von 1936 über
die Freiheitsschrift: »Schelling ist der eigentlich schöpferische und am weitesten aus-
greifende Denker dieses ganzen Zeitalters der deutschen Philosophie. Er ist das so
sehr, daß der den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstel-
lung hinaustreibt« (Heidegger 1936, 4). Bemerkenswert ist nicht zuletzt auch, wie
Heidegger im Anschluss an diese Beurteilung das ›Scheitern‹ der Freiheitsschrift im
Ganzen deutet. Heidegger sagt ausdrücklich, dass das »große Scheitern« Schellings
»kein Versagen und nichts Negatives« im eigentlichen Sinne gewesen wäre. Im Ge-
genteil: »Das ist das Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetter-
leuchten eines neuen Anfangs« (Heidegger 1936, 4). Zur vielschichtigen Konstella-
tion Heidegger–Schelling vgl. Sommer 2006.
92
Wesche 2003, 17. Vgl. dazu auch Asmuth 2012.
86
Übergang zum ›historischen Idealismus‹
93
Vgl. dazu Schulz 1955, 17 ff.
87
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs.
Schellings genealogische Zeitlehre
1
Vgl. von Weizsäcker 1964b, 31.
2 Vgl. dazu auch Reckermann 2011.
3
Hogrebe 1989, 20.
89
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
4 Sandkaulen 2009, 9. Zur Genealogie als Form der Vernunftkritik vgl. auch Hin-
drichs 2009.
90
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
bildung einer Sache aus den Faktoren, Prozessen und Phasen ihrer
Geschichte«. 5
Mit dem genealogischen Verfahren greift Schelling auf eine Denk-
form zurück, die bis an den Anfang der Philosophie und des Denkens
– die Archaik – zurückreicht. Schelling ist, das hat Michael Theunis-
sen immer wieder betont, unter allen archaisierenden Vernunftkriti-
kern der Moderne der einzige, der bis auf Hesiod zurückgeht. 6 Der
Sache nach enthält das wohl bekannteste Werk des ursprünglichen
Ackerbauers und Schafhirten Hesiod, die Theogonie, eine wesentliche
Problemstellung, die auch die Weltalterphilosophie im Kern betrifft:
ob und auf welche Weise eine Philosophie des Absoluten mit einer
Philosophie des Gewordenseins in Übereinstimmung zu bringen ist. 7
Was Hesiods Theogonie als die Entstehung der natürlichen Welt und
göttlichen Mächte aus den beiden Prinzipien Chaos und Gaia be-
schreibt, das geschieht in Schellings ›Genealogie der Zeit‹ im Aus-
gang von einer auf dem Boden der kritischen Philosophie gewachse-
nen Konzeption menschlicher Freiheit. Nichtsdestoweniger wächst
aber auch bei Schelling der Dualität der Prinzipien, der Dialektik von
Grund und Abgrund eine besondere Rolle zu: Der Anfang geht nicht
aus einer Unterscheidung durch Verbindung hervor, sondern – wie
bei so vielen Schöpfungsmythen – einer aus Verbindung durch Tren-
nung, und trägt für die so miteinander Verbundenen immer schon
den Stempel der Vorzeitigkeit an sich. 8 Sowenig wie Hesiods Theo-
gonie problematisieren Schellings Weltalter damit das Werden als
solches, auch nicht das Werden des Werdens, sondern das Geworden-
sein des Werdens. Sie kommen darin auch mit dem kritisch-genea-
logischen Denken Nietzsches überein, dass am historischen Anfang
der Dinge nicht »die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs,
sondern die Unstimmigkeit des Anderen«, des bereits Gewordenen
liegt. 9 Anders als bei Nietzsche aber deckt die genealogische Methode
bei Schelling nicht die Geschichte der Irrtümer, Täuschungen und
Erfindungen auf, um in dekonstruktiver Absicht die Chimäre des Ur-
Saar 2007.
91
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
sprungs zu vertreiben; sie ist, mit anderen Worten, nicht dazu da, um
die Offenheit des Anderen kurzerhand in Vielheit und Heterogenität
zu zerstreuen. Im Gegenteil: Die genealogische Methode Schellings
deckt die Geschichte der Irrtümer, Täuschungen und Erfindungen auf
als eine kritische Erinnerung daran, dass dem Menschen ein Prinzip
zugestanden werden muss, das »außer und über der Welt« (WA I, 4)
ist, und dass dergestalt in die Tiefe der Zeit selbst, in die Vergangen-
heit, bis in den kosmogonischen Anfang zurückverweist, um nichts,
was sich jemals ereignet hat, und sei es auch für die gegenwärtige Zeit
noch so unbedeutend, aus dem Blick zu verlieren. In ihrer finalen
appellativen Forderung, sich die Geschichte um willen einer offenen
Zukunft nicht ›äußerlich‹ werden zulassen, kommt die ›Genealogie
der Zeit‹ Schellings deshalb mit der kritischen Geschichtsbetrachtung
Walter Benjamins überein, die den Sinn für das Weggeworfene, All-
tägliche, Vernachlässigte zu bewahren sucht: Geschichte speist sich
von jeher aus dem Nichtrealisierten, dem Unabgegoltenen, dem un-
einholbaren Rest. 10
Der Verweis auf Hesiod und die Theogonie ist indessen auch des-
halb so entscheidend, weil er die Frage aufwirft, von wessen Genealo-
gie nun eigentlich die Rede ist, wenn von einer ›genealogischen Zeit‹
die Rede ist. Vorderhand klar zu sein, scheint dies keineswegs. Grund-
sätzlich kommen bei Schelling drei Adressaten in Frage: das Absolute
bzw. Gott, das menschliche Bewusstsein oder aber der Geist als die
vermittelte und noch immer vermittelnde Einheit zwischen beiden.
Und in der Tat sind es alle drei, die sich Schelling zufolge sukzessiv,
in der Geschichte entfalten sollen. Jedem ist sein ›Weltalter‹ beschie-
den: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, so sieht es nicht zuletzt die
Einteilung des Werks in seine drei Bücher vor. Allerdings zeigt sich
gleich eingangs der genealogischen Herleitung, dass die Frage nach
der Zeit methodisch von der Gegenwart aus gedacht wird, also vom
Gewordensein der menschlichen Zeiterfahrung. Von ihr nimmt
Schellings spekulative Zeitanalyse ihren methodologischen Ausgang.
Aus der Mitte der Gegenwart heraus soll sich im Ganzen der Zeit-
analyse ein organisches Geflecht aus der Erfahrungsgeschichte des
Menschen, der Strukturgeschichte des Absoluten und einer Heils-
geschichte des Geistes entfalten. Die begrifflich-spekulative Bestim-
mung der Zeit wird, mit anderen Worten, von Anfang an in eine
92
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
11
Heißt es im ersten und dritten Weltalter-Entwurf »Mitwissenschaft« (WA I, 4;
SW VIII, 200), mit einem ›t‹, taucht in der zweiten Fassung »Mitt-Wissenschaft«
(WA II, 112) mit zwei ›t‹: Die ›Mitwissenschaft‹, so soll durch die Anspielung auf die
Mitte als Zentrum suggeriert werden, ist zugleich eine Wissenschaft von und aus
eben jener ›Mitte‹, in die sich der Mensch geschichtlich gestellt sieht: die Gegenwart.
Die menschliche Gegenwart, das ist für Schelling die ›Mitte‹ zwischen einer vorwelt-
lichen Vergangenheit und einer nachweltlichen Zukunft. Während Shestakova 2000,
80 f., in ihrer Deutung auf den griechischen Ursprung des Wortes συνείδησις ver-
weist, geht Sollberger 1996, 318, auf den lateinischen Ursprung con-scientia zurück.
Erstere versteht das ›Mitwissen‹ im Sinne eines ›Miterlebens‹, letzterer im Sinne
eines ›Wissen von etwas‹. Mit Blick auf die Rolle der Erfahrung bei Schelling ist das
›Miterleben‹ zentral.
93
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
12
Vgl. van Zantwijk 2000a, 291.
94
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
95
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
13 Wieland 1956, 29 f. Die Figur des Selbstentzugs nimmt auch eine prominente Stelle
bei Max Scheler ein, der auf analoge Weise das Phänomen der Selbsterfahrung aus der
»Unerfülltheit eines Triebhungers« hervorgehen sieht (Scheler 1928, 219). Bei Schel-
ling wiederum lässt sich darin ein anthropologisch gewendeter Wille zur Selbsterhal-
tung erkennen, das suum esse conservare Spinozas. Vgl. dazu auch Schmidt-Bigge-
mann 1998, 729.
96
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
97
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
16
Augustinus 1993, 251 (Bekenntnisse, XI, 14).
17 Hofmannsthal 1986, 40.
18
Ebd.
98
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
19
Vgl. dazu auch AA II,8, 96: »Gott hat dieselben zwei Principien in sich, die wir in
uns haben«.
20
Hennigfeld 2002, 15.
99
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
(SW II, 362) bestimmt worden. Das »Wesen des Absoluten«, so hieß
es, könne von dieser »Lust« nicht verschieden gedacht werden. Denn
recht verstanden, sei es nichts anderes als dieses »sich-selber-Wol-
len«, und zwar ein Sich-selber-Wollen »auf unendliche Weise«: »Das
Absolute ist aber nicht allein Wollen seiner selbst, sondern ein Wol-
len auf unendliche Weise, also in allen Formen, Graden und Potenzen
von Realität« (SW II, 362). Nicht anders stellt sich nun auch die An-
fangssituation in den Weltaltern dar: Würde aller Widerspruch auf-
gehoben, gäbe es mithin nichts als die »urerste lautere Wesenheit«,
dann wäre die Ewigkeit, wie Schelling sich ausdrückt, »nichts denn
ein bodenloser Abgrund« (WA I, 76). Da der Widerspruch aber ›real‹
ist und sich in einer zur Liebe gesteigerten unendlichen Lust Aus-
druck verschafft, muss auch die lautere Ewigkeit in eine – wenn auch
für sich selbst noch unbewusste – Offenbarungsspannung treten.
Und eben hier gelangt man wieder zur Unterscheidung zurück, mit
der Schelling seine ›Genealogie der Zeit‹ eröffnet hatte: zur Unter-
scheidung zwischen einer ›lauteren Ewigkeit‹, die schlechterdings
»über aller Zeit« ist, und einer realen, wirkenden Ewigkeit, in der
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bereits »verborgener Weise
als Eins gesetzt« (WA I, 75) sind.
›Lust‹ und ›Liebe‹ stehen auf dieser Stufe der Genealogie struktu-
rell für eine Form der Empfänglichkeit, in der sich ein vom ersten
Prinzip unabhängiges zweites Prinzip erzeugen kann: eine Hervor-
bringung, die sich letztendlich aber nur auf »unbegreifliche Weise«
(WA II, 137) vollziehen, eine ›Ent-scheidung‹ zwischen beiden stiften
kann. 21 Die Genealogie – und das unterscheidet sie in methodologi-
scher Hinsicht von dem Verfahren der Deduktion – erweist sich be-
reits in ihrem Anfang als Heterogonie, als die Erzeugung eines Ande-
res. 22 Und weil das so ist, weil es also »keinen Uebergang« (WA I, 77)
von der einen Form der Ewigkeit zur anderen gibt, obwohl sie ihrem
Wesen nach nichtsdestoweniger ›Eins‹ sind, könnte man in Bezug auf
die temporalen Bestimmungen der realen, wirkenden Ewigkeit, das
21 Vgl. dazu auch WA I, 139: »Wer uns entgegenhält, daß wir die Herkunft der Welt
durch lauter Wunder erklären, der sagt eben damit das Rechte. Glaubt denn irgend-
wer, daß die Welt ohne ein Wunder, ja ohne eine Reihe von Wundern habe entsprin-
gen können?« Auf den methodischen Status des Wunders wird im methodologischen
Exkurs zur Anfangsproblematik in Hesiods Theogonie zurückzukommen sein. Zum
Problemzusammenhang von Empfänglichkeit, Duplizität und Scheidung vgl. auch
Angehrn 1992.
22
Vgl. dazu Ortland u. a. 1992, 15.
100
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
Ineins der drei Zeitdimensionen, von einer Zeit der Latenz spre-
chen, 23 die sich – nach Analogie des Willens – zwischen einem »Wille,
der nichts will« und einem, »der Etwas will« (WA I, 77) herausbildet.
Anstatt nämlich sich zu offenbaren, versucht der ›Wille, der nichts
will‹ wieder in sich zurückzukehren. Die lautere Ewigkeit, so heißt
es an anderer Stelle, »setzt nichts außer sich hinaus oder stößt etwas
von sich ab, sondern im Gegentheil sie zieht sich etwas an oder zu«;
und weiter: »die That ist nicht ein sich Offenbaren u. gleichsam bloß
Machen, sondern im Gegentheil ein sich Bedecken, sich Verhüllen des
zuvor nackten u. bloßen Willen« (Schelling 2002, 176 f.). Und so ist es
gerade dieses »bewußtlose[…] Suchen«, wodurch sich in der Ewigkeit
ein zweiter, ein »selbstständiger Wille« (WA II, 137) erzeugt, eben
der ›Wille, der Etwas will‹. Zwischen Erstem und Zweiten bildet sich
eine temporale Sukzession, auch wenn sich dieses sukzessive Ord-
nungsgefüge hier noch nicht als Zeit, als ›reale‹ Gegenwart aus-
spricht. Der Drang, »sich selbst zu finden und zu genießen« (WA II,
137), geschieht und kann auch nur auf eine unvordenkliche Weise
geschehen; der Vollzug selbst bleibt dabei im Dunkeln, woraus er aber
wiederum seinen inneren Antrieb generiert, der ihn noch tiefer in
sein Suchen hineintreibt. Unter einer Latenzzeit lässt sich mit Schel-
ling also ein Seins- bzw. Willensverhältnis verstehen, das sich zwi-
schen einem aktualen, zur Präsenz gebrachten Gegensatz und einem
potenziell noch immer vorhandenen, sich prinzipiell aber entziehen-
den Gegensatz aufspannt, der sich auf diese Weise weiter multipli-
ziert. Das ›Verborgensein‹ der Zeit unterscheidet sich darin vom
ihrem bloßen ›Enthaltensein‹ im Absoluten, dass die Zeit hier nicht
nur in potentia existiert, nicht nur möglich ist, sondern immer schon
bezogen ist auf eine ›entschiedene‹ Gegenwart, die es noch nicht oder
schon nicht mehr gibt. Die Zeit der Latenz bildet mit Thomas Khura-
na gesprochen eine »Zone der Zeitigung, in der Vergangenheit und
Zukunft koexistieren und sich affizieren«. 24 Die Zeit, wie sie sich in
ihre geschichtlichen Dimensionen auseinanderlegt, ist in der Ewigkeit
23 Vgl. dazu auch Frank 1992, 324. Frank spricht in diesem Zusammenhang allerdings
fälschlicherweise von einer »virtuellen Zeitlichkeit«. Im Unterschied zum Virtuellen
bzw. Möglichen ist das Latente selbst kein logisches Implikat von seinem Entgegen-
gesetzten, dem Aktuellen bzw. Wirklichen. Das Latente liegt dem Aktualen vielmehr
– wie hier bei Schelling deutlich wird – auf anderer, praktischer Ebene zugrunde.
24
Khurana 1993, 146.
101
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
25 Der im Grunde erst durch die Psychoanalyse Freuds geprägte Begriff der Latenz
kommt in den Weltaltern sogar vor: Schelling verwendet ihn, um auf den Zustand des
anfänglichen Eingeschlossenseins hinzuweisen. So gelange der ›wirkende Wille‹ an-
fangs zwar noch nicht zur äußeren Wirkung, sei aber gleichwohl als »Leidendes, Ein-
geschlossenes, Latentes« (WA I, 22) bereits vorhanden. Es zeigen sich hier in der Tat
große Übereinstimmungen mit Freud, für den der Begriff der Latenz eine Verzöge-
rung in der Ausprägung eines Entwicklungsmerkmals bezeichnet. Interessanterweise
hat Freud dabei aber nicht nur die libidinöse Entwicklung des einzelnen Menschen im
Blick gehabt, sondern verwendet den Begriff auch zur Bezeichnung universal-
geschichtlicher, insbesondere religionsgeschichtlicher Prozesse. Neben Odo Marquard
hat sich vor allem Axel Hutter der strukturellen Affinität zwischen Schelling und
Freud angenommen und ist den subkutanen Verbindungen nachgegangen. Vgl. dazu
insbesondere Hutter 1994a.
102
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
26
Fuhrmans 1954, 301.
103
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
beschreibt er sie auf der nächsten Stufe der Genealogie als die Koprä-
senz existenziell Gleichartiger. Schon 1809 hatte es in der Freiheits-
schrift geheißen, dass darin das »Geheimniß der Liebe« verborgen
liege, dass sie solche zu verbinden wisse, »deren jedes für sich seyn
könnte und doch nichts ist und nicht seyn kann ohne das andere«
(AA I,17, 172). 27 Die Liebe drückt in diesem Fall eine Relation zweier
Kräfte, Prinzipien, Willen aus, die zwar ohne einander nicht existie-
ren könnten und auch nicht würden, zwischen denen es aber dennoch
keinen Übergang gibt; ihre Abhängigkeit auf der einen Seite hebt ihre
Selbstständigkeit auf der anderen Seite nicht auf, eben das macht sie
zu existenziell gleichwertigen Prinzipien. 28 Einerseits stehen sie zwar
in einer notwendigen Verbindung zueinander, andererseits sind sie
aber nicht auseinander ableitbar. Sie sind »der Existenz nach« (WA I,
18), wie Schelling sich ausdrückt, aufeinander bezogen und das be-
deutet: der Existenz nach gleichursprünglich.
Das besondere an dieser Zweiheit in der Einheit ist nun, und da-
rauf kommt es Schelling mit Blick auf die »Geschichte der Entwick-
lung des Urwesens« (WA I, 10) und der vorliegenden Untersuchung
mit Blick auf die Vergeschichtlichungsthese an, dass sie als ein tem-
porales Selbstverhältnis interpretiert werden kann, und zwar als
eines solches, das, auch wenn es selbst noch nicht in der Zeit ist,
gleichsam latent bereits wirksam ist. Der ontologischen Latenz kor-
respondiert eine zeitlogische Latenz. Das Ewige enthält schon eine
»innre Zeit«, wenn auch nur der Möglichkeit nach: »denn Zeit ent-
steht unmittelbar durch Differenziirung der in ihm nicht bloß als
Eins, sondern als äquipollent gesetzten Kräfte« (WA I, 77). Von dieser
Zeit heißt es zwar, dass sie »keine bleibende, geordnete Zeit«, sondern
27 Auf diese besondere Struktur der Liebe kommt Schelling schon in den Aphorismen
zur Einleitung in die Naturphilosophie von 1806 zu sprechen: »Dies ist das Geheimnis
der ewigen Liebe, daß, was für sich absolut sein möchte, dennoch es für sich keinen
Raub achtet, es für sich zu sein, sondern es nur in und mit dem andern ist. Wäre nicht
jedes ein Ganzes, sondern nur Teil eines Ganzen, so wäre nicht Liebe: darum aber ist
Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist und nicht sein kann, ohne das
andere« (SW VII, 174).
28 Entscheidend ist also, dass sich die Bestimmung dessen, was Liebe ist, im Prozess
der Scheidung selbst verändert. Schon Wieland 1956, 84, weist daraufhin, dass es im
Grunde drei Bedeutungen von ›Liebe‹ bei Schelling gibt: (1) Liebe als In-sich-versun-
ken-sein der reinen Lauterkeit, (2) Liebe als unendliche Lust sich selbst zu offenbaren
und (3) Liebe als Sich-aus-sich-heraussetzen. Welche Form die Liebe jeweils an-
nimmt, lässt sich nur aus dem spezifischen, genealogischen Zusammenhang heraus
rekonstruieren.
104
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
29
Vgl. dazu auch eine Passage aus der Philosophie der Offenbarung: »Diese vorzeit-
105
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
liche Ewigkeit, die für sich selbst noch nicht Zeit ist, wird durch die Schöpfung als
Vergangenheit, und demnach als eine Zeit gesetzt. Denn mit der Schöpfung fängt eine
neue Zeit an (ein neuer Aeon), welche neue Zeit nun Gegenwart ist, und so können
wir sagen, daß mit der Schöpfung überhaupt erst Zeit gesetzt ist; denn Zeit ist erst
gesetzt, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt ist. Es gibt keine Zeit,
solang keine Vergangenheit gesetzt ist. Die einzig mögliche Art, sich einen Anfang
der Zeit zu setzen, was von großer Wichtigkeit, ist eben, daß etwas, was zuvor Nicht-
zeit war, als Zeit, demnach als Vergangenheit gesetzt wird« (SW XIV, 109).
30
Man mag sich hier an Goethes ›zarte Empirie‹ erinnert fühlen. Wie weit der wir-
kungsgeschichtliche Einfluss trägt, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Schelling
steht während der Arbeit an den Weltaltern in fortlaufendem Kontakt mit Goethe.
Schelling berichtet Goethe 1814 etwa von einem Werk, »über dem ich lange gebrütet,
des ersten, von dem ich wünsche, Sie möchten es dem ganzen Zusammenhang nach
lesen und durchdenken« (F. W. J. Schelling an J. W. v. Goethe, 2. November 1814,
Mandelkow 1969, 158). Schelling ist schon allein deshalb im Bund mit Goethe, weil
er in der Streitsache mit Jacobi nach Alliierten sucht. Goethe aber bleibt, auch wenn er
sich auf die Seite Schellings schlägt, skeptisch ihm gegenüber, was sich nicht zuletzt
an der verhinderten Wiederberufung 1816 nach Jena zeigt. Zugespitzt formuliert er-
greift Goethe weniger Partei für Schelling als gegen Jacobi, lässt sich in seinem Ant-
wortbrief aber gleichwohl nichts anmerken: Mit Sehnsucht erwarte er das ihm ange-
kündigte Werk: »Ich bin geneigter als jemals die Regionen zu besuchen, worin Sie als
in Ihrer Heimath wohnen« (J. W. v. Goethe an F. W. J. Schelling, 16. Januar 1815, Plitt
II, 349). In Bezug auf den Streit zwischen Schelling und Jacobi ist von Pauline Gotter
das Wort überliefert, Goethe habe seinen, Schellings, ›Gott‹ zwar nicht begriffen, aber
Jacobis ›Gott‹ müsse doch ein »kläglicher Gott« (P. Gotter an F. W. J. Schelling,
4. April 1812, FA II,2, 43) sein, weil er in der Natur der sichtbaren Welt nicht zur
Anschauung kommen könne.
106
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
diesem Stadium der Wonne und Eintracht wie schon zuvor in der
lauteren Ewigkeit zu einer Form der ›gleichgültigen‹ Einheit kommt.
Allerdings unterscheidet sich diese spezifische Form der existenziel-
len Gleichgültigkeit von der Form der lauteren Gleichgültigkeit da-
durch, dass sie gleichgültig ist in Bezug auf etwas, das Existierende,
wohingegen die lautere Gleichgültigkeit bloß gleichgültig gegen sich
selbst war. Die »existentielle Gleichheit« (WA I, 26) ist, mit anderen
Worten, eine wirkliche Indifferenz, die ›lautere Gleichheit‹ bloß eine
absolute Indifferenz. Der anfängliche Dualismus entpuppt sich als ein
›interner Dualismus‹: intern deshalb, weil es eine übergreifende
Struktur gibt, eine Einheit der Einheit und des Gegensatzes, die im
Gegensatz zur Identitätsphilosophie aber nicht mehr der Ursprung,
sondern vielmehr der Anfang, und zwar nicht einzuholender, abso-
luter Anfang jenes ›zartesten Dualismus‹. Und diese Struktur be-
zeichnet Schelling als »ersten wirkenden Willen« (WA I, 22).
Allerdings fragt sich mit Blick auf die ›Genealogie der Zeit‹, wie
lange ein solches ›Spiel‹ der ungetrübten Eintracht und Wonne auf-
rechterhalten werden kann. Noch immer ist die lautere Ewigkeit das
eigentlich Existierende: »Sie [die Lauterkeit, P. N.] freut sich also
wohl eine Weile ihres fühlenden und sich selbst fühlbar gewordenen
Lebens […]; bald aber empfindet sie nur inniger und schärfer – durch
den Widerspruch mit dem Gegensatz, in den sie versetzt ist – die
Einheit ihres eigenen Wesens« (WA I, 34). Und die Frage, um die
das gesamte Weltalter-Projekt kreist, ist im Grunde, wie die Offen-
barungsspannung, die im Vorwärtsgedrängtwerden und im Zurück-
drängen der lauteren Ewigkeit entsteht, aufgehoben werden kann,
ohne zugleich die existenzielle Gleichheit, die in den latent tempora-
len Bestimmungen manifest geworden ist, aufzuheben. Ist es mög-
lich, so ließe sich auch fragen, zwei einander so entgegengesetzte For-
derungen miteinander zu vereinbaren: »die Zweyheit soll seyn, und
die Einheit nichtsdestoweniger bestehen« (WA I, 55)? Im Zustand des
spielerischen Gleichgewichts ist zumindest an kein bleibendes Sein,
keine geordnete Zeit zu denken, an nichts Beständiges, keine wirk-
liche Sukzession. Ein »Umtrieb« macht sich vielmehr rege, eine bis
ins Kleinste gehende »rotatorische[…] Bewegung«, ein Taumel, die
»erste Form und Offenbarung des eigenen gesonderten Lebens«
(WA I, 38). Aber das »Objektive« bleibt, wie Schelling festhält, »be-
ständig, so zu sagen, auf dem Sprung ins Aeußerliche, ohne dahin
wirklich gelangen zu können« (WA I, 39). Es bedarf, wie schon ange-
kündigt, einer endgültigen ›Scheidung‹, um jenes »wie wahnsinnig in
107
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
sich selbst laufende Rad der anfänglichen Geburt und die darinn wir-
kenden furchtbaren Kräfte des Umtriebs« zu mäßigen. Ein wirklicher
Anfang kann nach Schelling nur dadurch gesetzt werden, dass der
Widerspruch als Widerspruch zweier Selbstständiger gesetzt wird.
Erst durch den konsequenten Rückgang auf den ›Urwiderspruch‹ –
Identität und Dualität –, dadurch dass in jedem der Entgegengesetz-
ten die Einheit wieder von neuem erzeugt wird – »denn ein jedes
Seyendes verlangt nicht bloß innerlich zu sein, sondern das, was es
ist, auch wieder, nämlich äußerlich zu sein« (WA I, 26) – entstehen
Zeit und geschichtliche Gegenwart, dadurch dass der Urwiderspruch
von neuem erzeugt und damit zugleich in seiner ersten, noch ganz im
Verborgenen gebliebenen Gestalt als Vergangenheit gesetzt wird.
(4) Zweite Scheidung: Solange aber der Widerspruch nur verzeit-
licht, noch nicht aber vergeschichtlicht, der Anfang noch nicht ge-
macht ist, steigen, wie Schelling nun ausholt, »mächtige, gewaltige
und, weil durch die Einheit nicht gemäßigte, ungeheure Geburten«
(WA I, 40) auf, die das Ewige »alle Schrecknisse seines eigenen We-
sens« (WA I, 41) empfinden lassen, »besinnungslose, rasende Tänze«,
wie er nun selber fast schon im Furor schreibt, »begleitet von dem
Getöse einer rauhen, theils betäubenden theils zerreißenden Musik«
(WA I, 43). Schellings mitunter dramatische Metaphorik ist wohl be-
gründet: Die Gemütszustände zeigen an, dass die der spekulativen
Zeitanalyse zur Seite gestellten menschlichen Zeiterfahrungen den
genealogischen Stufen entsprechend ihre Gestalt verändern: nach
dem Widerspruch, der Lust, der Liebe und der Wonne ist es dieses
Mal das Gefühl der »Angst« (WA I, 41), das das Verhältnis der Ent-
gegengesetzten in konkreter Weise zur Anschauung bringen soll:
»Nicht mehr in jenem Zustand der Innigkeit oder des Hellsehens,
[…] brütet das in diesem Widerstreit existierende Wesen wie in
schweren, aus der Vergangenheit aufsteigenden Träumen«. Eine
Angst, die sich bei Schelling bis zum »Wahnsinn« steigert, weil sie
den unauflösbaren Gegensatz im Ewigen nur umso stärker hervor-
treibt. Ja, der »Wahnsinn« ist in der Genealogie überhaupt der »letzte
Zustand des höchsten inneren Streits und Widerspruchs« (WA I, 42),
da er in seinem an Besinnungslosigkeit grenzenden Taumel schon
wieder der ›Begeisterung‹ gleichkommt, dem antiken ενθουσιασμός,
der wie schon im platonischen Ion die Teilhabe an einer die Gegen-
sätze überwölbenden, höheren, gleichsam verborgenen Notwendig-
keit bedeutet: Der furor poeticus, die ποιητική μανία ist das dialogi-
sche Zugleich von Trunkenheit und Nüchternheit, von »tanzende[m]
108
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
109
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
34 Vgl. dazu auch Hennigfeld 1991, 47, der diese Zeitverhältniss skizziert: »Die un-
terschiedlichen Einstellungen des Menschen zur Zeit manifestieren sich in unter-
schiedlichen Stimmungen und Gefühlen: Die Sehnsucht kann sich nicht von der Ver-
gangenheit lösen; dem Sehnsüchtigen fehlt die Entschiedenheit zum Handeln. Die
Lust ist ganz auf die Gegenwart gerichtet und empfindet schmerzlich das Nicht-mehr
und Noch-nicht. Die Liebe ist der Zukunft geöffnet; der Liebende fühlt sich frei von
der Macht der Zeit«.
35 Vgl. dazu auch Müller-Wille 2005.
36
Vgl. dazu auch SW VIII, 314: »Der Entschluß, der in irgend einem Akt einen wah-
ren Anfang machen soll, darf nicht vors Bewußtseyn gebracht, zurückgerufen wer-
den, welches mit Recht schon so viel bedeutet als zurückgenommen werden«.
110
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
nem ›wirklichen‹ Anfang weiß, tritt durch die zweite Scheidung nun
eine sukzessierende Zeit hervor, weil duch sie ein Vergangenes als
Vergangenes gesetzt wird. War anfangs gesagt worden, dass in der
realen, wirkenden Ewigkeit bereits die Dimension von Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft latent vorhanden sind, so bewirkt die
zweite Scheidung nun, dass die Zeitdimensionen aus der bloßen Si-
multanität heraustreten, und manifest werden als Perioden des Seins.
Im Akt der Scheidung verwandelt sich die latente – noch nicht als
Vergangenheit gesetzte – Vergangenheit, in eine manifest reale – als
Vergangenheit gesetzte – Vergangenheit. 37
Hier erst ist für Schelling ein ›wirklicher‹ Anfang gefunden: Die
Zeit differenziert sich in ihre drei geschichtlichen Dimensionen Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Eine Scheidung, die in dem
Maße die dialektische Struktur von Subjekt und Objekt von jeher
übersteigt, wie gerade umgekehrt solche Verhältnisse erst durch die
Scheidung des Subjekts von sich selbst als einer Vergeschichtlichung
der Zeit möglich werden: »Das Ereignis eröffnet sich selbst seinen
Raum und seine Zeit«. 38 Vor der ›realen‹ Scheidung geht alles, wie
Schelling sagt, »vor dem Auge des Ewigen vorüber, und er sah wie
in einem Blick oder Gesicht die ganze Stufenleiter künftiger Bildun-
gen« (SW VIII, 280). Mit der Scheidung aber erwachen die »Bilder
und Gesichte«, die bisher nurmehr wie »Träume oder Visionen«
(SW VIII, 281) in der Seele vorübergewandert waren, zu einem eige-
nen, selbstständigen Leben. Sie treten in die Zeit, und zwar in dem
Moment, in dem die Ewigkeit im Von-sich-lassen die Zeit in sich
überwindet und dergestalt eine von ihr unabhängige Gegenwart er-
zeugt. Die lautere Ewigkeit enthält noch nicht von sich aus die Bedin-
gungen möglicher Erfahrung; dass es Erfahrung gibt, muss ihr zu-
stoßen. Erst indem sich der Anfang dergestalt ereignet, »wird es [das
schon Vorausgesetzte, P. N.] aus dem Unvordenklichen und Unsag-
baren des Indifferenten zur differenten Realität«. 39 Erfahrung ist im
eigentlichen Sinne das, »was sich ereignet«. 40
111
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
es schlechterdings unvordenklich, einmalig und unberechenbar ist – das ist die Dia-
lektik des Anfangs«.
41 Schmidt-Biggemann 2014, 24. Hogrebe 2006, 297, schließt hier seine Theorie der
»unbedingten Kreativität« an, die deshalb ›unbedingt‹ heißt, weil sie nicht bloß ab-
bildende Variationen eines bereits Gesehenen hervorbringt, sondern ein genuin Neu-
es schafft, »das es so noch nie gab«. Die Frage der Kreativität wird damit auf das engste
mit der ontologischen Frage verbunden, warum überhaupt etwas sei und nicht viel-
mehr nichts. Dementsprechend radikal sind auch die Konsequenzen, die Hogrebe aus
seiner im Anschluss an Schellings Weltalterphilosophie entwickelten Theorie der
Kreativität zieht: »Das heißt, daß dieselbe Energie, die unsere Kreativität freisetzt,
gerade die ist, die eine Implosion des Bewußtseins bewirken kann« (Hogrebe 2006,
303).
42
Vgl. Kahlefeld 1998, 116.
112
Schellings geschichtliche Offenlegung der Zeit
43
Schmidt-Biggemann 2014, 32.
113
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
114
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
(WA I, 59) auf die Zeit. Indem die Ewigkeit aber in die Vergangenheit
zurücktritt, verhält sie sich gegen die Zeit als Sein, so wie die Zeit sich
umgekehrt ihr gegenüber als Seiendes verhält. Im Setzen der Vergan-
genheit als Vergangenheit erscheint die Ewigkeit in der Gegenwart.
Richtigerweise müsste man daher auch sagen, und die Spätphiloso-
phie steht hier Pate: »Eines hilft dem andern, das zu sein, was es ist«
(Schelling 1831/32, 55). Hatte sich die ›Genealogie der Zeit‹ in ihrem
Anfang als Heterogonie erwiesen, so zeigt sie sich in ihrem Ende, das
immer wiederkehrender Anfang ist, als Chronogonie und Kosmogo-
nie. Die Verzeitlichung der Zeit vor aller Zeit resultiert in einem ge-
schichtlichen Vorgang der Zeitigung: Ewigkeit und Zeit treten in ein
diskontinuierliches Verhältnis des Vorher und Nachher. Sie sind wie
Äonen, die getrennt und verbunden zugleich sind. Wie αἰών und χρό-
νος bei Schelling strukturell zusammenhängen und welche Folgen
das für die Struktur geschichtlicher Gegenwart selbst hat, soll im Fol-
genden mit Blick auf eine der wirkmächtigsten Genealogien heraus-
gearbeitet werden: die hesiodeische Theogonie. Im Zentrum soll dabei
die Konstellation als eine spezifisch genealogische Denkfigur stehen.
5. Methodologischer Exkurs:
Zur offenen Form der Genealogie
47
Hesiod, Theogonie, v. 13.
115
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
116
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
52
Hesiod, Theogonie, v. 13.
53 Ebd.
54
Theunissen 1992, 15.
117
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
55 Dass Schelling hier so nahtlos vom antiken Topos der Götterentstehung in den
christlichen Topos der Offenbarung übergeht, mag auf den ersten Blick überraschen.
Auf methodischer Ebene spiegelt sich darin aber, wie Wolfgang Wieland erkennt, die
›denkende Aneignung‹ einer Problematik wieder, ein Vorgehen, das wirkungs-
geschichtliche Verkürzungen bei Schelling auf eine Traditionslinie von vornherein
als aussichtslos erscheinen lassen. Schelling geht die Probleme grundsätzlich im An-
gesicht der gesamten philosophischen Tradition an und versucht sie von dortaus zu
durchdringen. Vgl. dazu Wieland 1956, 23.
56 Angehrn 2009, 27.
57 Hampe 2014, 29. Folgt man Hampes jüngster Unterscheidung zwischen einer dok-
118
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
fänglichen besteht, anders gesagt, darin, »dass das Erste nur als das
Zweite gedacht werden kann und dass es als radikal Erstes in diesem
Prozess zugleich verdeckt wird«. 58 Schelling spricht in der Philoso-
phie der Offenbarung in diesem Zusammenhang davon, dass es in
der ›vorweltlichen‹ Zeit keine Struktur des propositionalen ›Als‹ ge-
ben könne. Denn, so heißt es, »jedes als solches Gesetzwerden setzt
eine Reflexion – ein Reflektirtwerden –, also schon ein Contrarium
voraus« (SW XIV, 106), ein »Contrarium«, das im Falle der lauteren
Ewigkeit eine ›unlautere‹ Zeitlichkeit wäre, deren Zustandekommen
man doch allererst zu erklären hätte und die deshalb nur als Wunder
erschlossen und erzählerisch vergegenwärtigt werden kann. Das
allem Denken zuvorkommende Sein ist das »von allem Setzen schon
voraus Gesetze, das ehe wir uns bedenken oder uns dessen versehen
schon da ist u. den Ort der Unbedingtheit eingenommen hat« (WA III
4, 214). Mit anderen Worten: Die Scheidung, von dem aus die Zeit
ihren Anfang nimmt, bleibt ein blinder Fleck in der Konfliktgeschich-
te des Kosmos, »konstitutiv für das Sehen, ohne diesem zugänglich zu
sein«; sie wird aber im Modus des Erzählens in den genealogischen
Theorierahmen eingebettet. 59
Unter seinen Zeitgenossen ist Schelling freilich nicht der erste, der
mit der These aufwartet, das Hervorgehen der Welt sei nur durch
›lauter Wunder‹ zu erklären. 60 Schon Herder hatte in den Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit notiert, dass der Zeit- und
Weltentstehung ein sagenhafter Offenbarungscharakter beigegeben
wäre: »Wer zum erstenmal das Wunder der Schöpfung eines leben-
digen Wesens sähe: wie würde er staunen« (FA 6, 270). Von einer
solchen wirksamen »lebendige[n], organische[n] Kraft« lässt sich
nur sagen: »[I]ch weiß nicht, woher sie gekommen, noch was sie in
ihrem Innern sei, aber daß sie da sei, daß sie lebe, daß sie organische
Teile sich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe
ich, das ist unleugbar« (FA 6, 271). »Unleugbar«, so darf man wohl
sagen, und doch nicht zu erklären: In diesem strukturellen Dilemma
befinden sich auch Herders geschichtsphilosophischer Entwurf, in
einer Zeit zumal, in der – aufgeklärt, rational – nichts mehr verhasst
Schelling das ›System des Wissens‹ allerdings wieder gegen die Besonderheit der ein-
zelnen Erscheinungen setzt, da durchziehen auch behauptende, doktrinäre Elemente
seine Philosophie; das gilt nicht zuletzt für die Weltalter.
58
Schmidt-Biggemann 2014, 14.
59 Angehrn 2009, 27.
60
Vgl. dazu auch Willer 2005.
119
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
61
Vgl. dazu auch AA I,17, 131: »Ohne dieß vorausgehende Dunkel giebt es keine
Realität der Kreatur; Finsternis ist ihr nothwendiges Erbtheil. Gott allein – Er selbst
der Existirende – wohnt im reinen Licht, denn er allein ist von sich selbst. Der Eigen-
dünkel des Menschen sträubt sich gegen diesen Ursprung aus dem Grunde, und sucht
sogar sittliche Sittten dagegen auf. Dennoch wüßten wir nichts, das den Menschen
mehr antreiebn könnte, aus allen Kräften nach dem Licht zu streben, als das Bewußt-
seyn der tiefen Nacht, aus der er an Dasein gehoben wurde«.
62 Was für die Denkfigur des Wunders gilt, gilt gleichermaßen für die Einbettung der
120
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
Und genau aus diesem Grund und in diesem Sinne fällt Schelling
auch nicht hinter die Errungenschaften der kritischen Transzenden-
talphilosophie Kants zurück, sondern versucht deren unausgespro-
chenen Voraussetzungen methodisch Rechnung zu tragen. Die fun-
damentale Aporie, in die sich eine apriorische Theorie des zeitlichen
Anfangs verstrickt, ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass die Be-
dingung der Möglichkeit, dass sich überhaupt etwas erklären lässt,
dasjenige ist, das sich nicht mehr theoretisch erklären lässt, sondern
nur noch praktisch unter Beweis gestellt werden kann. Genau dieser
Gedanke ist es, den Schelling mit seiner Rede vom Wunder verfolgt
und der auch bei Hesiod in der Anfangsproblematik zweier Ge-
schlechter von Beginn an durchscheint. Die genealogische Operation
endet nicht in dem Erweis, dass die Welt und die sie prägenden Ele-
mente a priori identisch mit dem ersten Akt der Entzweiung sind. 63
Sie endet vielmehr in der Einsicht in die Unterhintergehbarkeit des
zeitlichen Anfangs, ein Anfang, dem retrospektiv nur die Qualität
eines Wunders attestiert und der auch nur im Mythos als Anschau-
ungsform einer ›vorgeschichtlichen‹ Zeit erschlossen werden kann. 64
Das damit verbundene Staunen, das überhaupt etwas ist und nicht
vielmehr nichts, aus dem bei Schelling der Rückgriff auf die Figur
des Wunders erfolgt, verdankt sich genau besehen also einer gel-
tungstheoretischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit
von Erfahrung überhaupt. Seiner Form nach ist es mit dem plato-
nischen Erstaunen vergleichbar, dessen temporaler Modus die Plötz-
logie in einem sehr viel weiteren Sinne, wenn er bereits das Deduktionsverfahren der
Vernunftkritik als genealogische Operation beurteilt: »Der Rechtfertigungsakt ihrer
›transzendentalen Deduktion‹ besteht in einer genealogischen Operation: gerechtfer-
tigt d. h. ›transzendental deduziert‹ ist die Welt und sind ihre prägenden und apriori-
schen Elemente genau in dem Maße, in dem sie nachgewiesen werden können als
›identisch‹ mit dem Akt des Selbstbewußtsein d. h. als zugehörig zum Vollzug Ich
und als Vollzug dieser Zugehörigkeit«. Umgekehrt stellt Marquard damit aber die
spezifischen Problemlösungsansatzkontinuitäten zwischen Kant und Schelling unter
Beweis.
64 Philippson 1994, 47. Vgl. dazu auch Angehrn 1992, 176: »Der Mythos ist Ur-
sprungsdenken nicht als Versenkung in den Anfang, sondern indem er von diesem
her sowohl die Genese der Gestalt wie die Herausbildung der Ordnung vergegenwär-
tigt. Der Übergang vom Ursprung über die Gestalt zur Ordnung bedeutet eine Stei-
gerung der Festigkeit wie der Transparenz des Weltverständnisses«.
121
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
65 Vgl. dazu auch Leinkauf 1998, 15, der in jenem platonischen Erstaunen, das die
Weltalter durchzieht, schon das Ekstasis-Verständnis der späteren Erlanger Vorlesun-
gen erkennen will: »Ekstasis ist, wie zuvor auch in etwas schwächerem Sinne die
intellektuelle Anschauung, wesentliche Tat, die Schellingsche Tathandlung«.
66 Zu den wenigen, die sich aus philosophischer Perspektive mit Hesiod beschäftigt
haben, gehört Michael Theunissen. Der Beitrag, auf den im Folgenden Bezug genom-
men wird, ist in der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag erschienen. Davon abge-
sehen spricht Theunissen 1992, 21, mit Blick auf die Eingangspassagen der Theogonie
selber von einer ›Konstellation‹. Neben Theunissen ist auch Karen Gloy hervorzuhe-
ben. Auch sie urteilt, dass die Göttergenealogie nur unzureichend verstanden würde,
begriffe man sie als Götterchronologie: »Das adäquate mythische Verständnis verlagt
jedoch eine andere Interpretation nicht im Sinne einer Chronologie und sukzessiven
reihentheoretischen Abzählung und damit einer Abbildung des Urbildes bzw. einer
Abbildung der Abbildung des Urbildes usw. im Sinne einer zunehmenden Abschat-
tung, sondern im Sinne einer ewigen Wiederkehr des Gleichen« (Gloy 2006, 110).
122
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
voran qualifiziert durch die »relative Nähe von anderen, die ihm als
Geschwister zugeordnet werden«. 67 Demzufolge genüge es auch
nicht, die Ahnen zu kennen und diese in chronologischer Reihenfolge
aufzuzählen, um zu wissen, was es mit dem Wesen einer einzelnen
Gestalt auf sich habe, die Konstellation, in der sie stehe, sei entschei-
dend: »Nur unter Berücksichtigung der Konstellation, in der ein gött-
licher Herrscher jeweils steht, kann der für die Theogonie zentrale
Mythos von der Sukzession der Götterkönige Uranos, Kronos und
Zeus verständlich werden«. 68
Welche Vorzüge ein konstellativer, die jeweilige Situation berück-
sichtigender Ansatz gegenüber einem methodisch rein deduktiven
Vorgehen besitzt, lässt sich mit Blick auf die Theogonie in aller Kürze
verdeutlichen: So erscheinen während der Herrschaft des Kronos die
Götter immer wieder in anderen Gestalten, ein Zustand der Ungeord-
netheit, welcher der hesiodeischen Erzählung zufolge nicht eher ein
Ende findet, als bis einer kommt, der die Herrschaft des Kronos in
einem ›letzten‹ Moment überwindet. Gemeint ist natürlich kein an-
derer als der Göttervater Zeus höchstpersönlich. Bis Zeus aber seine
Herrschaft errichtet, befindet sich alles, wie es im Übrigen auch
Schelling heißt, in einer »kronischen Verwirrung« (SW XII, 662):
Gestalten entstehen, Gestalten vergehen, liegen im Streit miteinan-
der: Hesiods Theogonie präsentiert sich geradezu als eine Konflikt-
geschichte des Kosmos. 69 Und es ist nicht klar, wie man dieser kro-
nischen Verwirrung jemals Herr werden sollte, wenn man das
ungeordnete Verhältnis der Götter untereinander strukturell als De-
duktion aus einem ersten Ursprung versteht. Die Entwicklung voll-
zieht sich situationsgebunden, ist von jeher konfliktbeladen:
Denn wer z. B. sieht, wie Hera in manchen aus jener dunkeln Zeit sich
herschreibenden Erinnerungen als eins mit Persephone erscheint – auch
Polykletes gab ihr den Granatapfell, das Zeichen der Persephone, in die
Hand –, wie selbst die hohe Athene nach Creuzers sorgfältiger Zusam-
menstellungen mit fast allen früheren weiblichen Gottheiten sich ver-
wandt und verwechselt zeigt, der sieht wohl, daß auch die Namen-
gebung und Unterscheidung, welcher zufolge ein jeder Name nur Einer
bestimmten Gottheit zukam, die Sache dieses letzten Moments [die
Machtübernahme Zeus, P. N.] war. (SW XII, 662)
67
Ortland u. a. 1992, 22.
68 Ortland u. a. 1992, 23.
69
Zur Methode der Konfliktgeschichte vgl. Hühn 2018b.
123
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Diese und andere ›Situationen‹ sind es, die das Konzept der Konstel-
lation zu einer spezifisch genealogischen Denkfigur machen. Die
Pointe, auf die Schelling hinauswill, ist nämlich, dass die Götterwelt
nicht erst durch Zeus entsteht, sondern bereits vor Zeus da ist, »nur
eingeschlossen in jene dunkle Geburtsstätte des noch immer auf sei-
ner Einzigkeit und Unauflöslichkeit bestehenden realen Gottes«
(SW XII, 661). Ist die Götterwelt aber auch bereits vor Zeus da, latent
anwesend in ›vorgeschichtlicher‹ Zeit, so werden die Götter doch erst
mit der Machtübernahme des Zeus in Freiheit gesetzt, bekommen sie
erst durch ihn eine genealogisch bestimmte Gestalt, ein ihnen allein
zugehörendes Amt. Zeus erhebt sie in den Rang »geschichtlicher We-
sen« (SW XII, 661), die sie von jeher zwar schon waren, als die sie sich
aber noch nicht zu erkennen geben konnten, Zeus selbst eingeschlos-
sen. Auch er wird erst zu dem, der er im Grunde bereits von Anfang
war, durch den geschichtlichen Vollzug seines Herrschaftsantritts auf
dem Olymp. Die Denkfigur der Konstellation speist sich also im We-
sentlichen aus der Überzeugung, dass der Begriff einer Sache nicht
ein für alle Mal feststeht, sondern aus der je spezifischen Situation
heraus zu erschließen ist, in der sich dieses oder jenes Ding ›gegen-
wärtig‹ befindet. Dass ein Wesen aber in und aus unterschiedlichen
Situationen heraus zu verstehen ist, zeigt an, »daß es sich entzieht,
daß es immer noch anders zu bestimmen sein wird als in der gerade
gegebenen Beziehung«. 70 Alle theogonischen Verhältnisse erweisen
sich in dieser Hinsicht als zeitliche Verhältnisse im tiefengeschicht-
lichen Sinne: Die Götter sind »nicht etwa erst abstract und außer
diesen geschichtlichen Verhältnissen vorhanden«, im Gegenteil:
»[A]ls mythologische sind sie ihrer Natur nach, also von Anfang an
geschichtliche Wesen«, wie Schelling sagt. Nur muss ihr vollständi-
ger Begriff geschichtlich erst noch entfaltet werden: »Der vollständi-
ge Begriff der Mythologie ist daher nicht bloße Götterlehre zu seyn,
sondern Göttergeschichte, oder wie die Griechen das natürlich allein
hervorhebend sagen, Theogonie« (SW XI, 7). Um an dieser Stelle
Ernst Cassirer heranzuziehen, der in seiner Philosophie der symboli-
schen Formen auf Schellings Philosophie der Mythologie Bezug
nimmt: »Durch seine Geschichte erst wird der Gott konstituiert –
wird er aus der Fülle der unpersönlichen Naturgewalten herausge-
hoben und ihnen als ein eigenes Wesen gegenübergestellt«. 71
124
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
rer: »Der echte Mythos beginnt erst dort, wo nicht nur die Anschauung des Univer-
sums und seiner einzelnen Teile und Kräfte sich zu bestimmten Bildern, zu den Ge-
stalten von Dämonen und Göttern formt, sondern wo diesen Gestalten ein Hervor-
gehen, ein Werden, ein Leben in der Zeit zugesprochen wird. Erst dort, wo es nicht bei
der ruhenden Betrachtung des Göttlichen bleibt, sondern wo das Göttliche sein Dasein
und seine Natur in der Zeit expliziert, wo von der Göttergestalt zur Göttergeschichte
und zur Göttererzählung fortgeschritten wird, haben wir es mit ›Mythen‹ in der en-
geren und spezifischen Bedeutung des Wortes zu tun«.
72
Vgl. dazu Benjamin 1928, 213. Benjamins Begriff der Konstellation schließt hier
unmittelbar an die Überlegung zum situativ-konstellativen Denken bei Schelling an:
»Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das
besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze« (Benjamin 1928,
214).
73 In den Aufzeichnungen und Materialien zu Benjamins Fragment gebliebenen Pas-
sagen-Werk heißt es: »Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist
am Platz. Doch Wahrheit ist nicht […] nur eine zeitliche Funktion des Erkennens
sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt,
gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als
eine Idee« (Benjamin 1927/40, 578).
74
Ortland u. a. 1992, 23.
125
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
75 Iber 1994, 376. In der Tat hat auch Adornos Konstellationsbegriff mit der konstel-
lativen Denkform, die offenbar Schellings ›Genealogie der Zeit‹ zugrunde liegt, Ent-
scheidendes gemeinsam. Was Adorno und Schelling teilen, ist die von Iber heraus-
gestellte philosophische Intention, »durch den Begriff hindurch auf das
Nichtbegriffliche, Begriffslose, Einzelne, Besondere etc.« (S. 363) zu gehen. Das Ein-
zelne aber zeigt sich, und das ist bei Adorno nicht anders als bei Schelling, auch wenn
Iber dies an dieser Stelle nicht eigens ausführt, in seiner »ihn umgreifenden Geschich-
te«, die gewissermaßen die Ermöglichungsbedingung für die Beschreibung der dem
Objekt »immanente[n] Geschichte« (S. 376) bildet. Vgl. Adorno 1975, 163–168.
76 Vgl. dazu auch Coello 2011, 148. Coello macht in Bezug auf Schelling deutlich, dass
das Problem des Zugangs zur Zeit gerade als das Problem des Übergangs zu reformu-
lieren ist: Zeit sei nicht schon als solche bei Schelling thematisch, sondern komme
überhaupt erst als »Sinn des Übergangs selbst« in den Blick.
126
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
Die Epoche der vorgeschichtlichen Zeit ist das Zeitalter Kronos’, des
jüngsten Sohns Gaias, der seinen Vater Uranos entmannt, und aus
Angst nun selber entmannt und entmachtet zu werden, seine Kinder
nach der Geburt verschlingt. Wirft man einen Blick in die Theogonie,
dann heißt es: »All diese Kinder verschlang der riesige Kronos, sowie
jedes aus dem heiligen Schoß zu den Knien der Mutter hervorkam,
wollte er doch, daß kein anderer der herrlichen Uranosenkel die Kö-
nigsmacht bei den Unsterblichen erlangte«. 78 In den Weltaltern
nimmt Schelling auf diesen Mythos Bezug, und er tut dies, indem er
ihn auf sein implizites Temporalitätsverständnis hin befragt. So wird
das ewige Verschlingen der Neugeborenen bei Schelling zum ewigen
Suchen und Nichtfindenkönnen des Anfangs, mit anderen Worten,
zum Sinnbild der vorgeschichtlichen Zeit: »Aber zuvörderst ist diese
Zeit keine bleibende, geordnete Zeit, sondern in jedem Augenblick
durch neue Contraction, durch Simultaneität bezwungen […], muß
sie dieselben Geburten, die sie so eben gezeugt, wieder verschlingen«
(WA I, 77). So wie also Kronos seine Kinder – bereits im Moment der
Geburt – verschlingt, um seine Herrschaft zu schützen, so hat auch
die ›innere Zeit‹ die Form eines »unabläßig in sich selbst laufenden
Rads der Geburt« (WA I, 77), von nichts beherrscht als sich selbst,
eine im wahrsten Sinne des Wortes ›chaotische‹ Zeit, ohne Maß,
Form und Gestalt. Erhellend in diesem Zusammenhang sind auch
die Ausführungen, die Schelling in der Philosophie der Mythologie
zu Kronos gibt: Hier gibt er ausdrücklich zu verstehen, dass es sich bei
77
Es wird zu den Aufgaben der späteren Philosophie der Mythologie gehören, den
Übergang von der ›vorgeschichtlichen‹ zur ›geschichtlichen Zeit‹ als die allgemeine
Geschichte der Göttervorstellungen der verschiedenen Völker zu erzählen: »Die My-
thologien der verschiedenen Völker sind daher selbst nur Momente der allgemeinen
Mythologie, d. h. Momente des allgemeinen, Mythologie erzeugenden Prozesses, und
werden nur als solche betrachtet. Diese verschiedenen Momente des theogonischen,
Mythologie erzeugenden Processes an den successiven Mythologien der Völker nach-
zuweisen, dieß ist, wie wir schon wissen, der eigentliche Gegenstand einer Philoso-
phie der Mythologie« (SW XIII, 381).
78
Hesiod, Theogonie, v. 39.
127
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
128
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
wahrsten Sinne des Wortes alles auf Messers Schneide steht. Auch
die bei Hesiod wiederholten Epitheta bringen diese strukturelle Am-
bivalenz zum Ausdruck: Mal wird Kronos als ›groß‹, dann wird er
wieder als ›krummsinnig‹ beschrieben. Kronos, so scheint es, tritt
immer in doppelter Gestalt in Erscheinung, und dieser Dualismus ist
in solcher Schärfe ausgeprägt, dass man Kronos geradezu als einen
Gott der Gegensätze bezeichnen kann: Auf der einen Seite ist er der
»Vater der Götter und Menschen«, auf der anderen Seite aber ist er
der »Kinderfresser, der rohes Fleisch Fressende, der Alles-Verschlin-
ger, der sämtliche Götter in sich hineintrinkt und von den Barbaren
Menschenopfer verlangt«. 79
Schelling interpretiert diese Doppelaspektivität in den Weltaltern
konsequent zeitlich: Schon das Epitheton αγκυλομήτης, ›krummsin-
nig‹, also ›in sich gekrümmt‹, deutet seiner Ansicht nach auf einen
Zustand der Innerlichkeit hin, der zwar äußerlich stumm erscheint,
als der einer Selbstbezüglichkeit aber durchaus ein Zeitverhältnis
miteinschließt: Kronos sei nicht der »noch überhaupt nicht offenbare
Gott«, im Gegenteil: Er sei der »schon äußerliche Gott«, ja sogar der,
welcher darauf sinne, »sich in der Äußerlichkeit zu behaupten und die
Anmuthung der Geistigkeit abzuweisen« (SW XII, 289). Spätestens
mit dem Kampf der Titanen, der Τιτανομαχία, dringe die Theogonie
dann aber auf eine ›Entscheidung‹, auf einen Entschluss in dieser von
unausgesprochenen Gegensätzen durchdrungenen Zeit: »Unend-
liches Tosen erhob sich vom schrecklichen Kampf, machtvolle Taten
waren zu sehen, und die Schlacht neigte sich zur Entscheidung«. 80
Deutlich wird so, dass auch die Titanen bei Schelling wie bei Hesiod
noch ein Geschlecht bezeichnen, »in denen das reale, also wilde, hef-
tige Princip, wiewohl schon ins Geistige erhoben, doch noch immer
unüberwunden fortdauert« (SW XII, 618). Und eben weil das reale
Prinzip hier noch »unüberwunden fortdauert«, handelt es sich auch
noch bei dieser Zeit um eine »schlechthin vorgeschichtliche Zeit«,
eine Zeit also, in der das Ende wie der Anfang und der Anfang wie
das Ende ist, eine Art von Ewigkeit, »weil sie selbst nicht eine Folge
von Zeiten, sondern nur Eine Zeit ist, die nicht in sich eine wirkliche
Zeit, d. h. eine Folge von Zeiten ist, sondern nur relativ gegen die ihr
folgende zur Zeit (nämlich zur Vergangenheit) wird« (SW XI, 182). 81
79
Klibansky/Parnofsky/Saxl 1992, 211 f.
80 Hesiod, Theogonie, vv. 709–711.
81
Schellings Überlegungen zur ›vorgeschichtlichen Zeit‹ lehnen sich an Leibniz’
129
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Erst mit Zeus, dem jüngsten Sohn Kronos’, auf Anraten Gaias und
Uranos’ von Kronos’ Frau Rhea auf Kreta versteckt, beginnt das
»Reich der Form« (WA I, 69), erst mit ihm wird die »im Ewigen ver-
borgne Zeit ausgesprochen und geoffenbart« (WA I, 77). Erst mit
Zeus, so lässt sich festhalten, beginnt eine ›neue‹ Zeit, wird ein epo-
chaler Schnitt in das Kontinuum der chronischen Zeit gesetzt und die
Gegenwart von der Vergangenheit geschieden. 82
War die Zeit bis in die Kronos-Herrschaft hinein nichts anderes als
ein »unablässiges Rad gewesen, eine nie stillstehende rotatorische
Bewegung, in der keine Unterscheidung ist« (SW VIII, 229), mit an-
deren Worten, ein heraklitisches Fließen, bei dem nichts an Ort und
Stelle bleibt, eine eintönig in und um sich selber kreisende Zeit, 83 so
setzt die Herrschaft des Zeus der ewig gebährenden, ewig verschlin-
genden Zeit jetzt ein Ende. Zeus verbannt Chaos und Nacht in den
Untergrund der Erde. Was darauf folgt, ist eine Zeit der metrischen
Ordnung oder – allgemeiner gesagt – eine Zeit des Maßes. Die my-
thisch-zyklische Vorzeit ist eine Zeit, die sich im Grunde noch gar
nicht auf ihre eigene Struktur hin befragen kann. Erst die metrische,
teilende Zeit kann sich auf ihre eigene Struktur hin durchleuchten. 84
Der Kronos-Mythos drückt dergestalt, wie Karen Gloy festhält, »den
Sieg und die Herrschaft der teilenden, metrischen Zeit über die zy-
Konzeption der petites perceptions an. Diese zeichnen sich in temporaler Hinsicht
dadurch aus, dass sie – wenn auch noch unabgehoben – bereits das Ganze der Zeit in
sich enthalten: Die Gegenwart geht mit der Zukunft schwanger und ist mit Vergan-
genheit beladen. Dort wie hier fehlen jeweils Unterscheidungsmerkmale, um die Suk-
zession der Vorstellungen in eine hinreichend deutliche Vorstellung der Sukzession
zu überführen.
82 Der Schnitt, den Zeus dergestalt setzt, findet sich auch in der Etymologie des Wor-
tes ›Zeit‹ wieder, die hier nach den Überlegungen von Baumgartner 1994, 190, zitiert
werden soll: »Das deutsche Wort ›Zeit‹ kommt vom althochdeutschen ›zit‹ mit der
indogermanischen Wurzel ›di‹, und bedeutet ursprünglich ›teilen‹, ›zerschneiden‹.
Analog verhält es sich mit dem lateinischen Wort ›tempus‹, das sich etymologisch
von griechich ›themnein‹, ›abschneiden‹, herleitet. Man könnte also aufgrund einer
ersten, etyomologisch orientierten Interpretation sagen: Zeit bezeichnet so etwas wie
einen Schnitt in ein Kontinuum, so daß die Rede von Abschnitten in der Zeit eigent-
lich eine Verdopplung des Ausdrucks ›Zeit‹ bedeutet«.
83 Zur absoluten Metapher der rotatorischen Zeit vgl. Achim Hölter 1995.
84 Vgl. dazu auch Angehrn 1992, 172: »Das formlose Chaos enthält alles der Potenz
nach: Darin liegt seine grenzenlose Mächtigkeit wie seine bloße Potentialität; For-
mung ist Entmächtigung des Gestaltlos-Unheimlichen wie Gewinnung eines festen
Bodens und Stabilisierung des eigenen Seins«.
130
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
klische Zeit aus«. 85 Während sich auf der ersten Stufe des Weltalter-
mythos eine Götterwelt in zeitlosem Sein ausbreitet, das aus Dauer
entbehrenden, distinkten Momenten besteht, erfolgt das Werden der
Zeusherrschaft, wie auch Philippson festhält, »in einer kontinuierlich
ablaufenden Zeit, deren Dauer nach dem Umlauf der Gestirne meß-
bar ist und gemessen wird«. 86 Aber wohlgemerkt: Es handelt sich um
eine metrische Zeit, die aus einer untergründig immer noch wirk-
samen unbeherrschten, chaotischen und maßlosen Zeit hervorgegan-
gen ist, und die sich immer noch zu bewähren hat, dies aber aufgrund
ihres chronologischen Charakters nur in der Weise tun kann, dass sie
gegen ihre Herkunft aus der chronischen Zeit, der rotatorischen Be-
wegung ebenso wie der seligen Eintracht, anarbeitet. Ist die chro-
nische Zeit die Zeit, die über anderes verfügt, nicht zuletzt über Kro-
nos selbst, so ist die chronologische Zeit die Zeit, über die von Zeus
verfügt wird und selbst verfügt. Nicht von ungefähr bedeutet das
griechische Wort für ›Anfang‹ άρχή als Verbum άρχειν auch ›herr-
schen‹. Die Zeit ist ein Gerichtsprozess, der alles, was geschieht, in
seiner Wahrheit ans Licht bringen wird. Und es fragt sich, ob es sich
hierbei tatsächlich um eine – im antiken Verständnis – gerechte Herr-
schaft handelt, eine Herrschaft der δίκη. Oder ob nicht vielmehr die
Herrschaft der geordneten Zeit durch den sie leitenden monopolisie-
renden Anspruch in eine – modern gedacht – anmaßende respektive
maßlose Herrschaft umschlägt. Die chronologische Zeit wäre dann
im Begriff, ihre eigene Geschichtlichkeit zu vedrängen; sie drohte
zur eindimensionalen, bloß verfügten Zeit zu werden. Und diese Ten-
denz ist unbestreitbar vorhanden: Einerseits gibt Zeus zwar den chao-
tischen, regellosen Gestalten eine stabile, regelmäßige Form: »In der
andern Beziehung aber, da die Zeiten des Saturns als die Zeiten hoher
Glückseligkeit betrachtet wurden, mußte dem Realismus der grie-
chischen Religion zufolge diese Verdrängung als Gewaltthat vor-
gestellt und beklagt werden« (WA I, 69).
Die ›Gewalt‹, die hier von Seiten des ›Realismus‹ beklagt wird,
zeigt sich schon in der brutalen Weise von Zeus’ Machtübernahme:
In der theogonischen Erzählung ist von drei hundertarmigen Riesen
die Rede, Briareos, Gyges und Kottos, die sogenannten Hekatonchei-
ren, die, von Zeus aus dem Erobos freigelassen, aus der Tiefe aufstei-
gen und die titanischen Mächte, die sich im Bund mit Kronos befin-
131
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
den, besiegen und in den Tartaros einsperren, sie also dorthin zurück-
drängen, wo noch nicht einmal die von Hades bewachte Unterwelt
beginnt. Jede Form der Aktualisierung der Zeit geht so verstanden
mit ihrer Verdrängung einher, der gewaltsame Eingriff soll verhin-
dern, dass die unausgeschöpfte Potenziale der Zeit jemals wieder an
die Oberfläche gelangen. Welche Gestalt aber eine solche Zeit per-
manenter Verdrängung annimmt, hatte sich schon bei der argumen-
tativen Analyse der transzendentalen Zeitlehre Kants gezeigt: Es ist
der ›fließende Punkt der Gegenwart‹, der weder eine vorgegebene
Linie nachzeichnet noch eine selbstgezeichnete Linie hinterlässt: Ver-
gangenheit und Zukunft sind allein mitgegenwärtig in der Form des
spurlosen Übergangs, in einer zeitlichen Gegenwart, die sich auf der
permanenten Schwelle zum Nichtsein bewegt. Es ist im Grunde ge-
nau dieser Standpunkt, auf den Schelling mit seiner Zeit-›Kritik‹ ab-
zielt, die dadurch zugleich zur Analyse der eigenen geschichtlichen
Gegenwart wird. Das heißt, diejenige Zeit, von der Schelling sagt,
dass sie als weltliche Zeit auf die vorweltliche, chronische Zeit folgt,
ist gerade nicht die Zeit einer auf die Zukunft hin offenen Gegenwart,
sondern die Zeit eines auf das unmittelbare Präsens fixierten chrono-
logischen Denkens, das die Dinge um sich herum beherrscht und da-
durch seine eigene Geschichtlichkeit in Form linearen Denkens per-
manent zu verdrängen sucht. Zeus’ Macht ist, mit anderen Worten,
eine Macht, »die sich im ständigen Niederhalten der im Grunde noch
wirksamen Urgewalten bewähren muss«. 87 Immer noch droht die
einmal errichtete Ordnung zurück ins Chaos zu stürzen. Bei Schel-
ling, für den gerade diese latent immer noch spürbare Unentschie-
denheit den Motor der Vergeschichtlichung zeitlicher Gegenwart dar-
stellt, heißt es hier:
Nicht in dem Verstande sicher, wie es die Menge glaubt, ist der geord-
nete Zustand der Welt; zwar sicher genug, solange die ewige Liebe nicht
stirbt und die herrschende obwaltende Macht ist, aber nicht so sicher, als
wäre er durch blinde Nothwendigkeit, oder wie gemeynt wird, durch
ewige Naturgesetze. (WA, 217)
Tritt man für einen Moment von der Überblendung Hesiods und
Schellings zurück, so lässt sich erkennen, dass gerade im Rückgriff
auf den Kronos-Mythos Schelling versucht, die Unsicherheit der ge-
schichtlichen Verhältnisse seiner eigenen Zeit, der Moderne, offen-
87
Theunissen 1994, 49. Vgl. dazu auch Fränkel 1962, 108 f.
132
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
88 Vgl. dazu auch Hutter 1996. Hutters Deutung von Schellings Spätwerk als einer
Kritik der natürlichen Vernunft schlägt den Bogen von der mythologischen Ur-
geschichte theogoner Vernunft zu den Pathologien neuzeitlich moderner Rationalität.
»Jetzt läßt sich sagen, dass die Verdrängung des Geschichtlichen die geschichtliche
Verfassung des neuzeitlichen Bewußtsein als solchen, seine ›Natur‹ darstellt. Eine
solche Naturalisierung schlägt aber den Bogen vom Neuen der Neuzeit zurück zum
Ältesten: zum mythologischen Bewußtsein. Schelling nutzt diese Korrespondenz für
die Architektur seiner Spätphilosophie, indem er das mythologische Bewußtsein in
systematischer Hinsicht von der Neuzeit her, die Negativität des neuzeitlichen Be-
wußtseins in geschichtlicher Hinsicht jedoch von der Mythologie her darstellt« (Hut-
ter 1996, 371).
89 Als Befreiung von der natürlichen Zeit lässt sich der Kronos-Mythos auch aus der
Perspektive Hegels rekonstruieren. Auch bei Hegel treten, wie Winter 2015, 154 ff.,
gezeigt hat, mit der Überwindung der in Kronos personifizierten Herrschaft der Zeit
überhaupt erst die Grundbedingungen von Geschichte hervor. Der Bruch mit der kro-
nischen Herrschaft der Zeit bezeichnet auch hier den Übergang von der natürlichen
Zeit zur geschichtlichen Zeit, ein Übergang, der, weil er sich nie ganz vollzieht, be-
ständig vom Subjekt auszutragen ist.
133
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
tergrund der Formlosigkeit und gegen sie«. 90 Oder wie es dann bei
Schelling in der Freiheitsschrift heißt:
Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt,
wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer
liegt noch im Grunde das Regellose, also könnte es einmal wieder durch-
brechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ur-
sprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung
gebracht worden. (AA I,17, 131)
Der Übergang von der anfangslosen, Gestalten gleichermaßen her-
vorbringenden wie verschlingenden Zeit zur geordneten, sukzessie-
renden Zeit bringt auf diese Weise zwei Zeitverhältnisse hervor.
Einerseits entsteht mit dem Übergang von der ungeordneten Zeit
zur geordneten Zeit die chronologisch linear verlaufende Zeit der Ge-
genwart, andererseits bleibt aber auch in der so verfassten Linearzeit
etwas von den ungeordneten Verhältnissen der chronischen Vorzeit
erhalten. Der Weltaufbau zeige deutlich genug, so Schelling, dass die
Gegenwart einer inneren geistigen Potenz folge, ebenso unverkenn-
bar sei aber auch der Anteil einer realen Potenz, »der Miteinfluß eines
vernunftlosen Princips, das nur beschränkt, nicht völlig überwältigt
werden konnte« (SW VIII, 328). Die Spannung, die vormals zwischen
der lauteren Ewigkeit und der realen, wirkenden Ewigkeit bestanden
hatte, verlagert sich in die metrische Zeit hinein und kehrt als Span-
nung zwischen einer äußeren Zeit als Form unserer Vorstellungen
und einer inneren Zeit, als Gewordensein und Werden der Dinge
selbst wieder. Das unerhört Neue an Schellings Zeittheorie ist also,
dass Ewigkeit und Zeit, weil sie von Beginn an als eigenständige Prin-
zipien auftreten, die in einem dialogischen Verhältnis stehen, noch in
der chronologisch linearen Zeit der Gegenwart im unmittelbaren
Rapport zueinander stehen. Die Zeit in der Ewigkeit kehrt – in sich
verkehrt – als Ewigkeit in der Zeit wieder. Als Zeit fundierende Tie-
fendimension ist sie die Basis, auf der die zur monochromen Ewigkeit
geronnene metrische Zeit wieder in die ›wahre‹, äonische Ewigkeit
zurückfinden kann. Mit anderen Worten: Ewigkeit und Zeit stehen
bei Schelling dort in Spannung, wo Schöpfung, Offenbarung sich er-
eignet, Freiheit sich realisiert. 91 Und deshalb darf auch die relative
Ruhe des gegenwärtigen Weltalters nicht darüber hinwegtäuschen,
90
Angehrn 1992, 168.
91Schon die Theorie der intelligiblen Tat in der Freiheitsschrift erwägt in diesem
Sinne die Möglichkeit einer ›realen‹ Vermittlung von Ewigkeit und Zeit: »Die That,
134
Methodologischer Exkurs: Zur offenen Form der Genealogie
dass das Dasein anfänglich »aus Dunkel an’s Licht« (AA I,17, 131)
gehoben wurde. Ja, in Wirklichkeit ist »[a]lles, was wir am heutigen
Sein sehen, vor allem am Lebendigen, […] erst das Ergebnis einer
späteren, harmloseren Zeit«. 92
In dieser Radikalität hat keiner vor Schelling das Verhältnis von
Ewigkeit und Zeit gedacht. Damit die Ewigkeit sein kann, muss die
Zeit als das Andere ihrer selbst bereits in ihr sein: »Der Ewigkeit tritt
also die Zeit als ein selbständiges Principium entgegen« (WA III 5,
229). Und nur weil die Zeit dergestalt in ihr ist, ist das Ewige auch
nicht als das ganz Andere der Zeit zu verstehen, sondern muss als
deren geschichtliche Tiefendimension angesehen werden. Schellings
zeittheoretische Einsicht lautet also, dass die Zeit, verstanden als la-
tente Zeitlichkeit, als eine Zeit vor aller Zeit, eine zur Ewigkeit äqui-
pollente Kraft ist, und dass der daraus resultierende Konflikt zugleich
die Gelingensbedingung ist, unter der die Ewigkeit in der Zeit er-
scheinen kann. Bedeutet die Kategorie des Zeitlichen für die klassi-
sche Metaphysik in erster Linie das Nichtige, weil bloß Veränderliche,
so steht sie für Schelling von Anfang an in einer kaum überschauba-
ren Fülle an unterschiedlichsten geschichtlich-sinnstiftenden Kon-
stellationen zur Ewigkeit. 93 ›Nichtig‹ wäre für Schelling gerade eine
Weltzeit, die bloß »in der Unveränderlichkeit einer steten, zirkelhaf-
ten Wiederholung« verharrt. 94 Schelling bricht mit der für die klassi-
sche Zeitphilosophie so unverzichtbaren Annahme, dass die Zeit von
der Ewigkeit gesetzt ist und – als homogene, kontinuierliche, unend-
liche Zeit – bloß eine Privation derselben darstellt. In den Weltaltern,
so ist zu notieren, verhält es sich nun geradezu verkehrt: »daß in
diesem Sinn, nicht wie insgeheim gedacht wird, die Zeit von der
Ewigkeit gesetzt, sondern umgekehrt die Ewigkeit ein Kind der Zeit
ist« (WA III 5, 229 f.).
wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt wird ist, gehört selbst nicht der Zeit, son-
dern der Ewigkeit an« (AA I,17, 153). Vgl. dazu auch Hennigfeld 2015.
92
Fuhrmans 1954, 374.
93 Vgl. dazu auch Frank 1992, 324: »Die Unauffälligkeit, mit der Schelling sein Theo-
rem einer virtuellen Zeitlichkeit des Absoluten selbst einführt, kann über die eminen-
te wirkungsgeschichtliche Bedeutung dieses Gedankens nicht hinwegtäuschen. Erst-
mals in der Geschichte der neueren Philosophie – sieht man von Friedrich Schlegel
einmal ab – wird die dialektische einige Subjekt-Objektivität, die mit einem anderen
Ausdruck als die ›Einheit der Einheit und des Gegensatzes‹ bestimmt wurde – aus
Zeitstrukturen abgeleitet. […] Das bedeutet nichts Geringers, als das Zeit und Denken
als ausdehnungsgleich unterstellt werden«.
94
Hutter 2004a, 264.
135
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
6. Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
95
Vgl. Koselleck 1984, 656.
136
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
96
Frank/Kurz 1977, 75. Vgl. dazu auch Danneberg 2010.
97 Nicht ganz unerheblich ist, dass Schelling auf die Reflexionsfigur der Umkehrung
in Zusammenhang mit dem bekannten Diktum Jacobis zu sprechen kommt, wonach
die Aufgabe der Philosophie darin bestehe, »Daseyn zu enthüllen und zu offenbaren«
(AA I,2, 77). Inwiefern hier nicht aber gerade ein Missverständnis Schellings vorliegt,
wäre eigens zu prüfen. Jacobis ›Daseyn‹ und Schellings ›Seyn‹ sind ihrer Struktur
nach grundverschieden und deshalb auch terminologisch strikt voneinander zu unter-
scheiden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Jacobi mit seiner an Spinoza geschulten
und auf Kant applizierten Vernunftkritik bereits in der Jenaer Frühphilosophie als
maßgeblicher Stichwortgeber in Erscheinung tritt.
137
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Mit der ›ersten Revolution‹ ist zweifelsohne die Revolution der kan-
tischen Vernunftkritik gemeint. Kant selbst spricht von ihr als einer
›Revolution‹, weil sie auf dem Gebiet der Metaphysik nachholt, was
durch die »Revolution der Denkart« (KrV, B XII) auf dem Gebiet der
Physik längst zum wissenschaftlichen Standard gehört. Genau wie
man dort habe begreifen müssen, »daß die Vernunft nur das einsieht,
was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt« (KrV, B XIII), geht
es auf dem Gebiet der Philosophie nun darum, ebenso einzusehen,
dass auch wir »von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir
selbst in sie legen« (KrV, B XVIII). Die Antwort, die Kant mit seiner
Vernunftkritik auf die empiristische Skepsis Humes zu geben ver-
sucht, lautet dementsprechend, dass sich die Gegenstände nach unse-
rer Erkenntnis richten und nicht umgekehrt.
Obgleich Schelling nun durchaus diese erste, von Kant auf das
Gebiet der Metaphysik getragene ›Revolution der Denkart‹ begrüßt,
ja: sie in seinem späteren Nachruf auf Kant sogar als »Befreiungs-
prozeß« würdigt, als einen »nothwendige[n] Uebergang von den ›dor-
nigen Pfaden der Speculation‹ zu den fruchtbaren Gefilden der Erfah-
rung« (SW VI, 6), so scheint sie ihm dennoch nicht weit genug zu
gehen. Das Problem, das Schelling erkennt, und das fortan unter
dem Topos von ›Prämissen und Resultaten‹ unter den Nachkantia-
nern insgesamt Schule macht, besteht dabei – kurz gesagt – in folgen-
dem Dilemma: Wenn es stimmt, dass sich die Gegenstände nach un-
serer Erkenntnis richten, wie Kant gesagt hatte, dann ist der Bereich
der möglichen Gegenstände unserer Erkenntnis eo ipso auf diejenige
Objekte beschränkt, die den Formen unseres Erkenntnisvermögens
entsprechen. Wenn aber die Gegenstände möglicher Erkenntnis sich
nach den Formen unserer Erkenntnis richten, dann ist ausgeschlos-
138
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
sen, dass die Formen selbst noch einmal zu einem Gegenstand der
Erkenntnis werden können. Können die Formen unseres Erkenntnis-
vermögen selbst aber nicht noch einmal zu einem Gegenstand der
Erkenntnis werden, dann lässt sich von ihnen eigentlich nur in einem
›uneigentlichen‹ Sinne sprechen: Ein einigendes Prinzip lässt sich von
ihnen nicht aufstellen: »So sind zwar die Kategorien nach der Tafel
der Funktionen des Urtheilens, diese selbst aber nach gar keinem
Princip, angeordnet. Betrachtet man die Sache genauer, so findet sich,
daß die im Urteilen enthaltene Synthesis zugleich mit der durch die
Kategorien ausgedrükten nur eine abgeleitete ist« (AA I,2, 72).
Obwohl also unsere Erkenntnis in einem definierten Gegenstands-
bereichs operieren kann und »von einem Objekt zum andern« fort-
schreitet, so lässt sich das Kerndilemma der kantischen Vernunftkri-
tik mit Schelling ausformulieren, fehlt es an einem die Formen
unserer Erkenntnis selbst noch einmal schlechthin begründenden
Prinzip. Die Grenzlinien der kritischen Philosophie sind bloß innere
Grenzlinien, sodass der »menschliche Geist«, wiewohl er von »einem
Objekt zum andern« fortschreitet, auch nur begrenzt – für sich –
Rechenschaft über seinen eigenen Geltungsgrund abzulegen vermag.
Ein »Fortgang« über diese Grenze hinaus würde eine erneute ›Um-
kehrung‹ erfordern, und es scheint, als wolle Schelling durch die oben
angezeigte »gänzliche Umkehrung der Principien möglichen Philoso-
phie« auf eben diesen für unser Wissen konstitutiven Geltungsgrund
hinaus. 98 Die ›Revolution der Denkart‹ treibt die Gegenrevolution aus
sich hervor, mit der entscheidenden Pointe, das sich die Gegenrevolu-
tion in diesem Fall als kontinuierliches, insofern nur folgerichtiges
Fortsetzungsprogramm der einmal begonnenen, kantischen Revolu-
tion versteht. Worauf Schellings Überlegung dabei konzeptionell hi-
nauslaufen, lässt sich durch den Begriff des Unbedingten markieren,
dessen Eigenheit in der Ichschrift wie folgt erläutert wird:
Die philosophische Bildung der Sprachen, die vorzüglich noch an den
ursprünglichen sichtbar wird, ist ein wahrhaftes durch den Mechanis-
mus des menschlichen Geistes gewirktes Wunder. So ist unser bisher
unabsichtlich gebrauchtes Wort Bedingen nebst den abgeleiteten in der
That ein vortreffliches Wort, von dem man sagen kann, daß es beynahe
98Vgl. dazu schon die Formschrift: »Woher jene Unterscheidung analytischer und
synthetischer Urtheile? Wo das Prinzip, aus dem die einzelnen Formen des Denkens
abgeleitet sind, die er [Kant, P. N.] ohne alle Rückweisung auf ein höheres Princip
aufstellt. Diese Fragen blieben immer noch unbeantwortet« (AA I,1, 289).
139
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
140
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
unbedingt ist […], denn es ist blos durch seine Unbedingtheit, blos
dadurch, daß es schlechterdings nicht zum Ding werden kann«
(AA I,2, 103). Mag der Dissens zu Fichte auch erst in der Zeit zwi-
schen 1800 und 1801 wirklich, und das heißt: öffentlich hervortreten,
so ist er in systematischer Hinsicht bereits von Anfang an vorhanden
und macht sich durch eine konsequente Transzendierung des Sub-
jekt-Objekt-Verhältnisses bemerkbar, wie man es bei Kant und Fichte
findet. 101 Deshalb spricht Schelling auch nicht mehr von der Subjek-
tivität des Wissens, sondern, wie es schon die Erweiterung des Titels
der Ichschrift ankündigt, von einem Unbedingten im Wissen. 102 In-
dem Schelling dergestalt aber, nämlich durch den aufgehobenen Ge-
gensatz im Wissen, »alles theoretische zernichtet«, und dem Unbe-
dingten »gar kein Objekt« entgegensetzt, »denn dadurch hörte es auf,
absolut zu seyn«, verfolgt er mit seiner Philosophie des Unbedingten
einen im Vergleich zur Vernunftkritik Kants und Wissenschaftslehre
Fichtes gänzlich neuen und originären Ansatz. 103
101
Vgl. dazu auch die Bemerkung Schellings in der Darlegung des wahren Verhält-
nisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre: »Es war nämlich
allerdings eine Zeit, in welcher ich selbst Herrn Fichte nicht ganz zu verstehen glaub-
te, obgleich er dieß selbst meinte und in allewege rühmte; es war die Zeit, wo ich etwas
Höheres und Tieferes in seiner Lehre suchte, als ich doch in der That finden konnte«
(SW VIII, 23). Dass Schelling hier angibt, »etwas Höheres und Tieferes« in Fichtes
Wissenschaftslehre gesucht zu haben, verweist geradezu auf die Transzendierung
jeder Form von Subjektivität.
102 Dass Schelling von Anfang an eigene Wege beschritten hat, spiegelt sich auch in
der Einschätzung von Zeitgenossen wider wie etwa derjenigen Friedrich Schlegels.
Schlegel notiert in seinen Philosophischen Fragmenten von 1796: »Das Ende der
prakt. Philosophie hnicht bloß der prakt. Philosophie, sondern auch der ächten (phi-
losophischen) Praxis selbsti – Ende alles Nicht-Ichs und Wiederherstellung des abso-
luten Ichs in seiner höchsten Identität d. h. als Inbegriffs aller Realität. – Vortreff-
lich!« (KFSA 18, 512).
103 F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel, 4. Februar 1795, AA III,1, 23. Trotz der hier
veranschlagten Differenz steht natürlich weiterhin zur Disposition, welche Rolle die
Wissenschaftslehre Fichtes bei der Herausbildung der Frühphilosophie Schellings ge-
spielt hat. In der Forschung werden hierzu gänzlich gegensätzliche Auffassung ver-
treten. Ist Görland 1973, 7 f., der Auffassung, dass bei Schelling kein »Durchbrechen
der Fichteschen Philosophie zum Eigenen hin festzustellen« sei, vielmehr ein »Wei-
tertreiben des sich in Fichte verwickelt haben Eigenen«, sieht es Fuhrmans 1954, 32,
gerade als Schellings »erste große philosophische Leistung« an, dass dieser – immer
tiefer in die Welt gezogen – Fichtes Philosophie der Subjektivität »durchbrach«. Sand-
kaulen 1990, 39, spricht in vergleichbarer Weise von einer »jede Subjektivitätsdimen-
sion im Sinne Kants oder Fichtes sprengende[n] Ontologie«. Ob man angesichts des-
sen noch einem »verkehrte[n] Hineingeraten« Schellings in die Wissenschaftslehre
Fichtes sprechen kann, wie es Görland am selben Ort vorschlägt, scheint daher zwei-
141
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
felhaft. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Schelling sich überhaupt je im Fahrwasser
Fichtes befunden hat. Fichte fungiert, so scheint es, als Katalysator für Ideen, die
Schelling gefasst hat, noch ehe er sich dem Studium Wissenschaftslehre ausgiebig
widmen konnte. So gibt Schelling noch 1796, zwei Jahre nach dem Erscheinen der
Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre in einem Brief gegenüber Niethammer
zu verstehen, den praktischen Teil derselben nicht gelesen haben. Dennoch glaube er,
Schelling, »den Geist derselben im Allgemeinen gefaßt zu haben, wenn ich auch mit
dem Detail und dem Buchstaben der Wissenschaftslehre bis jetzt sehr wenig bekannt
bin« (F. W. J. Schelling an F. I. Niethammer, 22. Januar 1796, AA III,1, 40).
104
Pieper 1977, 551 f.
142
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
einmal: »Es ist alles Seyn und außer ihm ist kein Seyn« (SW VII, 6).
In Anbetracht dieser allemal ironisch zu verstehenden Fürsprache
wird ersichtlich, dass Schelling auch schon ›vordem‹ an einer Struk-
turtheorie des Absoluten gearbeitet hat, die in dem Maße über die
Ichphilosophie Fichtes hinausgeht, wie sie auf die Aufhebung aller
noch im Bewusstsein vorhandenen Subjekt-Objekt-Verhältnisse
zielt. 105 Kommt eine so verstandene ›Abkehr‹ vom Idealismus kriti-
scher Provenienz aber nicht einer ›Rückkehr‹ auf vorkritisches Ter-
rain gleich?
Die Meinungen gehen hierzu in der Idealismus-Forschung aus-
einander, sie an dieser Stelle zu diskutieren, würde den Rahmen der
vorliegenden Untersuchung sprengen. Ausschlaggebend im vor-
liegenden Kontext scheint zu sein, dass Schelling offenbar nicht
versucht, die klassische Metaphysik in ihrer überholten Form wieder-
herzustellen. Nichts soll verloren sein, »was seit Kant für echte Wis-
senschaft gewonnen wurde« (Schelling 1841/42, 95), darauf beharrt
Schelling noch in der Philosophie der Offenbarung von 1841/42. Und
man sollte sich davor hüten, dieses Bekenntnis auf die leichte Schulter
zu nehmen und es für ein bloßes Lippenbekenntnis zu halten. Schel-
lings Verhältnis zu Kant lässt sich am besten aus der Perspektive einer
agonalen Erhellung rekonstruieren: Kritik an Kant bedeutet für ihn
immer zugleich auch Anerkennung dessen, was Kant für den begriff-
lichen Fortschritt in der Philosophie geleistet hat. Kants in eine »Kri-
sis« gekommene Philosophie gilt Schelling als notwendiges Stadium
im Entwicklungsprozess der Vernunft; der »Meinung, als könnte ir-
gend etwas aufgestellt werden, das sich ganz vom Zusammenhange
mit Kant losreiße«, sei, so betont Schelling weiter, »aufs bestimmtes-
te« (SW XIV, 32) zu widersprechen. Dies gilt es unbedingt im Auge zu
behalten, wenn man sich in problemgeschichtlicher Perspektive dem
Spannungsverhältnis zwischen Schelling und Kant nähert.
105 Vgl. dazu auch Sandkaulen 1990, 22: »Schelling war somit zu keinem Zeitpunkt
nur und ausschließlich Fichteaner, auch in der Formschrift nicht, obwohl sie das An-
liegen Fichtes absolut teilt. Ihr anderer Zugriff auf dasselbe Thema läßt ungewollt
Platz für eine ontologische Argumentation, die mit der Ichschrift einsetzt«. Für Sand-
kaulens Interpretation spricht hier nicht zuletzt auch die zeitliche Nähe zwischen der
Veröffentlichung der einen und der Arbeit an der anderen Schrift. Schelling schließt
die Formschrift am 9. September 1794 ab; am 6. Januar des darauffolgenden Jahres ist
im Brief an Hegel schon von einer »Ethik à la Spinoza« (F. W. J. Schelling an G. W. F.
Hegel, 6. Januar 1795, AA III,1, 17) die Rede, womit sich die Wende von der kritischen
Philosophie kantischem Vorbilds zur spekulativen Ontologie nach spinozanischem
Vorbild endgültig ankündigt.
143
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
›Abfall‹ betonen, sind älteren Jahrgangs. Hier hat die Forschung zweifelsohne inzwi-
schen viel zum Verständnis der Philosophie Schellings beigetragen.
109 Gleichwohl lässt sich bei Schelling von einer intensiven Rezeption und Transfor-
mation vorkritischer Philosophie ausgehen. Exemplarisch sei hier neben dem Spino-
144
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
zismus nur der Neuplatonismus genannt. Gerade die Erhebung des endlichen zum
absoluten Ich spiegelt, wie Beierwaltes 2001, 188 f., gezeigt hat, eine nicht zu leug-
nende Affinität zum Grundgedanken Plotins wieder: »daß Erkenntnis und damit den-
kender Besitz des eigenen, wahren Selbst nur durch die Selbst-Transformation des
dianoetischen Denkens der Seele und der damit gegebenen Formen der Vielheit (auch
der Zeit) in den Selbst-Stand des zeitfreien, absoluten Geistes erreicht werden kann«.
110 Vgl. dazu auch Asmuth 2006. Asmuth deutet die »Inversion der Inversion« als
eine »Rückwendung zu Platon« (110). So sehr man sich diesem Vorschlag auch an-
schließen möchte, über den systematischen Hintergrund, vor dem sich die angespro-
chene ›Rückwendung‹ zu Platon vollzieht, sagt dieser Befund nichts aus. Hier gilt es
sich noch einmal daran zu erinnern, dass Schelling auf die Figur der Umkehrung im
Zusammenhang mit Jacobis Rede zu sprechen kommt, Aufgabe der Philosophie sei es,
»Daseyn zu enthüllen und zu offenbaren« (AA I,2, 77). Hat man aber einmal die Folie
der Vernunftkritik Jacobis aufgelegt, so gerät noch eine andere Position in den Blick,
vermittels der die besagte »Rückwendung zu Platon« ohne Zweifel erfolgt: Es sind die
durch Jacobi 1785 veröffentlichten Spinozabriefe, die die Spinozanische Lehre von der
All-Einheit in den frühidealistischen Diskussionsraum einspeisen und auf Seiten
Schellings die Hoffnung begründen, man könne durch die Intergration der philoso-
phische Methode Spinozas leisten, was die Vernunftkritik Kants bisher noch nicht zu
leisten vermochte. Schellings Rede von einer ersten und zweiten Revolution muss
dementsprechend mit der Ankündigung der Ichschrift ineinandergeblendet werden,
als ein »Gegenstük zu Spinoza’s Ethik« (AA I,2, 80) aufzutreten, um nicht die ent-
wicklungsgeschichtliche und systematische Pointe der Frühphilosophie aus dem Blick
zu verlieren.
145
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
nichts als sich selbst bedingt ist und demzufolge auch die Zeitlichkeit
des Erscheinenden sub specie Spinozae immer schon in sich begreift,
sie »unter der Form der Unwandelbarkeit« (AA I,3 87) zugleich als
›Nichtiges‹ setzt. Ein Dilemma, das sich idealistisch nicht auflösen
lässt.
Hier ist nun auch der entscheidende Punkt gekommen, um den
Blickrichtungswechsel zu thematisieren, der sich bei Schelling in der
Weltalterphilosophie Bahn bricht: Spinozas Substanzontologie und
ihr atemporales Verhältnis zur Zeitlichkeit des Daseins markieren
den entscheidenden Hinweis, mit dem die Kritik, die Schelling gegen
Kant und nicht zuletzt gegen sich selbst, gegen seine eigene frühere
Position vorbringt, ins rechte Licht gesetzt werden kann. Denn wenn
es stimmt, dass das absolute Ich nur in einer intellektualen Anschau-
ung bestimmbar ist, die Form der intellektualen Anschauung aber die
»Form der Unwandelbarkeit« ist, dann geht, was sich dergestalt als
idealistische Selbstbehauptung formiert, mit einer eliminierenden
Abkehr von der vorphilosophischen Lebenswelt einher – eine Hypo-
thek, welche die Metaphysik seit jeher zu schultern hat. 111 Oder aber
um es an dieser Stelle mit Peter L. Oesterreich zu sagen: »Der radika-
le Exodus aus der Lebenswelt ist hier die Kehrseite der Selbstbehaup-
tung idealistischer Philosophie«. 112 Und dieser Befund, so nahtlos er
sich in die Tradition der Metaphysik-Kritik einreiht, mag durchaus
überraschen, hatte Schelling die zweite ›Revolution‹ doch in der Ich-
schrift als eine der Welt und dem Leben zugewandte ›Umkehr der
Denkart‹ angekündigt: Was sich bisher im »Eigenthum der Schule«
befunden habe, müsse »in’s Leben selbst übergehen« (AA I,2, 76), so
hatte Schelling die Leitlinien seines im Grunde ethischen Vorhabens
in der Vorrede pointiert umrissen. Angezeigt ist damit aber umso
mehr, worauf es Schelling in systematischer Hinsicht eigentlich an-
kommt, und was es demzufolge auch von seinen späteren, neu anset-
zenden Systementwürfen entschieden einzuholen gilt. In den Welt-
altern nun zeigt sich, dass, will man an diesem Vorhaben noch länger
festhalten, eine weitere ›Umkehrung‹ vonnöten ist, und zwar die be-
reits angesprochene Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit.
Nur sie kann die Zeitlichkeit des Daseins so in den Blick bringen, dass
sie dabei nicht wieder aus unserer vorphilosophischen Lebenswelt
›entfernt‹ werden muss.
146
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
Bevor sich in den Weltaltern ein neues Verständnis von Zeit und
Ewigkeit bei Schelling durchzusetzen beginnt, setzt sich die Tendenz,
die sich in der frühen Ichphilosophie abgezeichnet hatte, in der da-
rauffolgenden Naturphilosophie und Identitätsphilosophie in unver-
minderter Weise fort. Die maßgebliche Methode, die dabei auf die
Agenda tritt, ist die philosophische Konstruktion: »Construction
überhaupt«, so heißt es in einem von Schelling und Hegel gemeinsam
verfassten Text, ist »Darstellung des Realen im Idealen, des Besonde-
ren im schlechthin Allgemeinen, der Idee« (SW V, 325). Die Aufgabe
der philosophischen Konstruktion besteht darin, das Besondere als
spezifische Erscheinungsform des Absoluten zur Darstellung zu brin-
gen. »Konstruktion«, so hält es Paul Ziche fest, ist die »Transzendie-
rung des Einzeldinges hin auf einen allgemeinen Kontext, in dem es
enthalten ist, innerhalb dessen es bestimmt wird, ohne aber daraus
ableitbar zu sein«. 113 Der Hinweis indes, dass die Einzeldinge nicht
aus dem allgemeinen Kontext ableitbar sein sollen, gleichwohl sie
wesenhaft in ihn hineingehören, ist von entscheidender Bedeutung,
lenkt er doch an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf den eigentlich
wunden Punkt innerhalb der methodologischen Überlegungen Schel-
lings. Denn obwohl die Einzeldinge nicht aus dem allgemeinen Kon-
text ableitbar sein sollen, verlieren sie ihre Eigenständigkeit, sobald
sie konstruiert sind, und können rückblickend nur noch als ›Mangel-
erscheinungen‹ des Absoluten aufgefasst werden, als bloße Derivate.
Das gilt gerade auch für Raum und Zeit: Raum und Zeit werden im
System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie ins-
besondere von 1804 als »Privation der besonderen Dinge von der Sei-
te der Totalität« (SW VI, 275) begriffen und damit, wenn auch nicht
als ableitbare, so am Ende doch als mangelhafte, derivative Erschei-
nungen verstanden. Sowie die Identität in die Differenz eingebildet
ist, wird die Zeit »dem Ganzen unterworfen« und »verliert« als Folge
dessen »ihr eigenes Leben« (SW VI, 223).
Ein methodisches Moment, das in diesem Zusammenhang auf-
fallend häufig bei Schelling zur Sprache kommt, ist das Moment
der »Vernichtung« beziehungsweise das des »Vernichtetwerdens«
113 Ziche 2015, 140 f. Zum Problem der Konstruktion als philosophischer Methode
147
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
(SW I/6, 220). Das Besondere soll durch die Einbildung der absoluten
Identität in die Differenz als ein Besonderes ›vernichtet‹ werden,
denn nur wenn es auf diese Weise ›vernichtet‹ wird, kann der Ur-
sprungs des besonderen Lebens aus dem allgemeinen Leben für den
so Philosophierenden durchsichtig werden. 114 Die Zeit, so heißt es in
geradezu exemplarischer Weise, sei die »Vernichtung des besonderen
Lebens als eines besonderen«: »[E]s [das besondere Leben, P. N.] ent-
steht nur in der Zeit, es ist nicht an sich selbst, sondern nur, sofern
ihm der unendliche Begriff des All eingebildet, und sofern es durch
diesen Begriff gesetzt [ist], nicht weiter« (SW VI, 220). Mit anderen
Worten: Das je individuelle Individuum, inklusive seines in irredu-
zibler Individualität verstrickten Zeitlebens spielt überhaupt nur in-
sofern für die philosophische Methode der Konstruktion eine Rolle,
als in ihm und durch es hindurch ein Universelles, Ewiges zur Dar-
stellung kommt; im Entstehen und Vergehen der Dinge schaut das
All nur sein »eigenes unendliches Leben« an, wie Schelling sagt; un-
abhängig vom »unendlichen Begriff des Alls« (SW VI, 220) sind die
endlichen Dinge allerdings ›nichts‹. 115
Ein Motiv, das sich hinter der Vernichtung des Besonderen als
eines Besonderen verbirgt, lässt sich mit Blick auf den schon eingangs
skizzierten historischen Erfahrungswandel um 1800 formulieren.
Der radikale Bruch im Zeitengefüge bringt nicht nur die Unsicherheit
mit sich, was in Zukunft werden soll, wo doch schon in der Gegen-
wart alles ungewiss geworden ist; dem Bruch eingeschrieben ist auch
die Gefahr der Vereinzelung, die überall dort spürbar hervortritt, wo
die historische Plattentektonik generationsübergreifende Verständi-
gungszusammenhänge aufkündigt, überlieferte Traditionen auf-
bricht und für immun gehaltene Überzeugungssysteme von einen
auf den anderen Tag zu Fall bringt. Die Zeit um 1800, so liest man
etwa in Schellings Nachruf auf Kant, gilt seinen kritischen Beobach-
114
Bereits Kant bindet das Moment der Vernichtung in die Bewegung der praktischen
Dialektik ein. So heißt es in der berühmt-berüchtigten Stelle am Ende der Critik der
practischen Vernunft, dass auch nur dadurch, dass der ›bestirnte Himmel über mir‹
meine eigene »Wichtigkeit« ›vernichtet‹, mir durch das ›moralische Gesetz in mir‹ ein
»von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben« (KpV, 162) zuteil werden kann.
Schellings Identitätsphilosophie bewegt sich ganz in dieser Tradition, der Dialektik
von Demut und Selbstbehauptung. In analoger Weise findet sich auch bei Friedrich
Schlegel eine ›Apotheose der Vernichtung‹: »In der Begeisterung des Vernichtens of-
fenbart sich zuerst der Sinn göttlicher Schöpfung« (KFSA 2, 269).
115
Zu diesem Problemzusammenhang vgl. Sandkaulen 2012a.
148
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
149
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
erhoben werden soll, da stellt sich noch im selben Atemzug die Frage
nach einem unwiderruflichen Recht der Besonderheit des Besonderen
ein. 118 Deshalb ist auch gegen die Interpretation der Vernichtung des
Besonderen als einer Transzendierung des Einzelnen, eines »Durch-
sichtig-Werden auf das Ganze oder die Einheit hin«, der unverhohlen
destruktive Charakter der Identitätsphilosophie hervorgehoben und
scharf kritisiert worden. 119 Allen voran Adorno erkennt in dem Theo-
rem eines rein um seiner selbst willen sich Offenbarenden, eines uni-
versalgeschichtlichen Vorrangs des Kollektivinteresses die Gefahr der
Verherrlichung einer am Ende gewaltsam gegen den Einzelnen sich
kehrenden Instanz. Dem bloßen Selbstzweck sei, »im unerbittlich in-
tegern Mangel an Rücksicht auf den andern«, auch Inhumanität nicht
fremd. 120 Im Gefolge Adornos stellen auch Jürgen Habermas und
Peter Szondi eine dergestalt aus der »Nivellierung der Endlichkeit
des Endlichen« hervorgegangene Identität radikal in Frage. 121 Sie gäbe
das Individuum in seiner je individuellen Form verloren. Wo man
aber wie Adorno, Habermas und Szondi den Wert des Endlichen als
eines irreduziblen Endlichen und ineins damit die Verschiedenheit des
Verschiedenen einklagt gegen eine Form der Identität, die immer
schon darauf aus ist, jegliche Form von Individualität sub specie ae-
ternitatis zu ›vernichten‹, da ist auch der berühmt-berüchtigte Ein-
spruch Hegels aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes nicht
weit, der – gleichsam stilprägend für alle nachfolgende Idealismuskri-
tik – besagt, dass es sich bei einem derart »leblosen Schema« um die
»Nacht« handelt würde, »worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe
schwarz sind« (Phän., GW 9, 17). 122 Hegels Einspruch kam, daran darf
118 Vgl. dazu auch Schmidt-Biggemann 2015, 146: »In diesem Sinne ist alle Philoso-
phie tragisch: Wenn sie urteilt und erkennt, versündigt sie sich an der Eigenheit des
Objekts, sie zwingt das Objekt, sich zu offenbaren, zu veröffentlichen«.
119 Thomas Leinkauf 1998, 41 f. Leinkauf stützt sich in seiner Interpretation vor allem
auf die folgenden Passage aus der Abhandlung Über das Verhältnis des Realen und
Idealen in der Natur, die der Schrift Von der Weltseele beigegeben worden war: »Alle
Verwirklichung in der Natur beruht auf eben dieser Vernichtung, diesem Durchsich-
tig-Werden des Verbundenen, als des Verbundenen, für das Band« (SW II, 367). Das
Problem, die Verwirklichung des Idealen als Vernichtung des Realen zu denken, bleibt
gleichwohl.
120 Adorno 1969, 105.
121
Habermas 1954, 188 f., Szondi 1974, 222–237. Zur Stichhaltigkeit der Kritik vgl.
Leinkauf 1998, 250 f., Fn. 4.
122
Vgl. dazu auch Marquard 1977.
150
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
151
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
sehr bemüht hatte, wird abgelöst von einem Identitätsbegriff, der die
›wirkliche‹ Dualität gerade nicht ausschließt. 123 Fast scheint es, als
würden Ewigkeit und Zeit bei Schelling in einen Dialog miteinander
treten, in einen »geheime[n] Verkehr, in welchem zwey Wesen sind,
ein fragendes und ein antwortendes, ein wissendes oder vielmehr das
die Wissenschaft selber ist, und ein unwissendes nach Klarheit rin-
gendes« (WA I, 5). 124 Lässt sich eine so verstandene Zeitdialogik bei
Schelling weiter explizieren? Nach welchem Modell hat man sich den
»geheime[n] Verkehr«, den andauernden Wechsel von Frage und
Antwort, das sokratische Gespräch zwischen Wissendem und Unwis-
sendem vorzustellen?
Ganz und gar unproblematisch scheint die Vorstellung eines Zeit-
dialogs nicht zu sein, handelt es sich doch um ein erheblich paradoxes
Unterfangen, wenn Schelling das Unbedingte von vornherein mit
einem Dualismus ›infiziert‹ sieht. Das Dilemma dabei, so lässt sich
unschwer erkennen, besteht darin, dass das Unbedingte, die reine
Lauterkeit, sich auf diese Weise zwar als Unbedingtes, als Lauteres
offenbaren kann, um aber weiterhin unbedingt und lauter sein zu
können, von dieser Dualität zugleich freigesprochen werden muss.
Christian Iber urteilt deshalb ganz richtig, wenn er sagt, Schelling
habe in den Weltalterentwürfen das Problem, um jeden Preis einen
Dualismus im Absoluten zu vermeiden, obgleich ihm durchaus be-
123 In dieser ›wirklichen‹ Dualität, die in die Leere der absoluten Identität einbricht,
152
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
125
Iber 1994, 219.
153
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
zwischen μη ον und ουκ ον Bezug, also auf die Differenz zwischen einem Nichtseien-
den, das in relativer Abhängigkeit zu einem Seienden existiert, und einem Nichtsei-
enden, das nicht ist. Der absoluten Priorität des Grundes kommt hierbei der Status des
μη ον zu: Er ist nicht nichts, sondern in seiner relativen Abhängigkeit zum Seienden
ist er selbst ›etwas‹. Vgl. dazu auch die entsprechende Passage aus der Philosophie der
Mythologie: »Eine Beraubung also ist mit dem bloßen Subjekt gesetzt; Beraubung
154
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
dem Begriff nach vorausgeht, das folgt in einer anderen der Tat
nach. 129 In Rekurs auf das Verhältnis von Idealismus und Realismus,
das vor diesem Hintergrund ebenfalls in den Weltaltern verhandelt
wird, unterstreicht Schelling sogar, dass der Realismus »auf das
höhere Alter gesehen« den Vorzug genieße gegenüber dem Idealis-
mus. Wer die Priorität des Realismus nicht anerkenne, der wolle die
Entwicklung ohne vorausgegangene Entwicklung, »die Frucht und
die aus ihr werdende Blüthe ohne die harte Bedeckung, die sie ver-
schließt« (WA I, 49). Manfred Frank ist zuzustimmen, wenn er in
diesem Sinne urteilt, dass Schelling mit der Aspektunterscheidung
von Superiorität und Priorität das Selbstgenügsamkeitsaxiom der
klassischen idealistischen Metaphysik von Beginn an von realisti-
scher Seite unterminieren würde. Aus einer reinen, ideellen Selbst-
genügsamkeit kann nichts Wirkliches, keine menschliche Freiheit
hervorgehen: »The ideal requires something additional in order to
ground it, and this is said to be the entitate prius«. 130
In Rückgriff auf die methodologischen Überlegungen zur Kon-
stellation als genealogischer Denkform ist es möglich, in Bezug auf
Superiorität und Priorität von einem »Verhältnis gebundener Hete-
rogenität« zu sprechen. 131 Keines der beiden Prinzipien kann als Ur-
sprung des anderen gelten: Beide Willen sind gleichanfänglich. Und
doch hängen wiederum beide Prinzipien so eng miteinander zusam-
men, dass sie einander fordern und erforderlich machen, eine Kon-
stellation, so ließe sich notieren, die in dem Maße notwendig wird,
wie sie sich freiwillig einstellt. 132 Die methodologische Unterschei-
aber ist keine unbedingte Verneinung, und schließt im Gegentheil immmer eine Be-
jahung nur anderer Art in sich, wie wir dieß, wenn Zeit dazu ist, umständlicher zeigen
werden; nicht Seyn (me enai) ist nicht Nichtseyn (ouk enai), denn die griechische
Sprache hat den Vortheil, die contradictorische und die bloß conträre Verneinung jede
durch eigene Partikel ausdrücken zu können. Die bloße Beraubung des Seyns schließt
seynkönnen nicht aus. Reines können, und als dieses mögen wir das bloße Subjekt
bestimmen, ist nicht Nichtseyn« (SW XI, 288 f.).
129
Die Frage, ob Schelling mit der Superiorität oder mit der Priorität beginne, hat
Christian Iber dazu veranlasst, einen Unterschied zwischen dem ersten und dem drit-
ten Weltalter-Entwurf zu vermerken: Während der erste Druck mit der Superiorität
beginne, fange der dritte mit der Priorität an. Vgl. Iber 1994, 214 ff.
130 Frank 2009, 30.
132 Schelling weist wiederholt darauf hin, dass die Freiwilligkeit der Selbstoffen-
barung Gottes nicht mit der Freiheit der Wahl verwechselt werden dürfe. Das Gegen-
teil sei der Fall: Freiwillig sei eine Wahl gerade dann, wenn sie mit absoluter Notwen-
digkeit geschehe: »Denn von einer Handlung der absoluten Freiheit läßt sich kein
155
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
weiterer Grund angeben; sie ist so, weil sie so ist, d. h. sie ist schlechthin und insofern
notwendig« (AA II,8, 86 f.). Wer wähle, der wisse nicht, was er will, und würde aus
diesem Grund in Wahrheit auch gar nicht wollen. Gott zu erlauben, die beste aller
möglichen Welten zu wählen, hieße für Schelling, ihm gleichsam den »geringsten
Grad der Freiheit« zu lassen. Ebenso ist es um den Charakter der menschlichen Indi-
viduen bestellt: »Niemand wird behaupten, daß sich ein Mensch seinen Charakter
gewählt habe; er ist insofern kein Werk der Freiheit im gewöhnlichen Sinne – und
doch imputabel« (AA II,8, 88). Die Freiheit der Nicht-Wahl und die Zuschreibbarkeit
einer Handlung fallen also zusammen.
133 Schellings Kritik an Spinoza fußt in hohem Maße auf dieser Unterscheidung. In
den Stuttgarter Privatvorlesungen heißt es: »Spinoza hat zwar absolute Identität von
Principien, aber diese Principien sind in völliger Unthätigkeit gegeneinander, sie thun
einander nichts – wirken nicht aufeinander – sind; es kommt zwischen ihnen weder
zum lebendigen Gegensatz noch zur lebendigen Dualisierung« (AA II,8, 114).
134 Die Dialogik, die Schelling in den Weltlaltern als eine Metaphysik des Willens
156
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
135 Vgl. dazu auch WA IV 2, 247: »Dieser Ausdruck [die Ewigkeit offenbare sich als
Zeit selbst, P. N.] wird nur verständlich durch jene Umkehrung, da das Ewige die erst
gegen einander gekehrten Seiten seines Wesens öffnet oder auseinander setzt, um
sich aus der blinden u. bewußtlosen Einheit in die freye u. bewußte zu verklären«.
157
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
136
Vgl. dazu auch Lehmann 2012, 23.
158
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
wart garantiert«, 137 und dass gerade diese Wirksamkeit zu einer Plu-
ralisierung der Zeit im Sinne ihrer geschichtlichen Ausdifferenzie-
rung in verschiedene Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte
beiträgt. Was also hier auf metaphorischer Ebene zunächst als mit-
laufende Differenz von vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit
bezeichnet wurde, lässt sich auf begrifflicher Ebene als reflexive Ver-
geschichtlichung der Zeit selbst ausbuchstabieren, ein Entzug für das
Denken, der in der Konsequenz zu einer Pluralisierung der Zeiten
und Zeitordnungen führt. Der von Schelling projektierte ›wirkliche‹
Anfang lässt sich in diesem Sinne als eine Vergeschichtlichung des
Absoluten verstehen, wobei Vergeschichtlichung hier sowohl als
Verzeitlichung wie Verräumlichung der Zeit zu denken ist: Verzeit-
lichung insofern, als durch die Verkehrung der Ordnung von Ewig-
keit und Zeit die Zeit als solche überhaupt erst entsteht, nämlich als
Geschichte; Verräumlichung insofern, als mit der Entstehung der Zeit
auch überhaupt erst eine Welt entsteht, nämlich als Gegenwart. 138
Auch bei Schelling gibt es also analog zu Kant eine Theorie der Ver-
zeitlichung der Zeit als einer Theorie der Verräumlichung derselben,
nur setzt die Verräumlichung sich hier nicht mehr wie bei jenem oder
noch beim früheren Schelling in den Konstruktionsraum der Geo-
metrie fort, sondern spannt von jeher den Handlungs- und Wirklich-
keitsraum der Geschichte auf. Während für das Konzept der trans-
zendentalen Einheit der Zeit derjenige Raum das ursprüngliche Maß
ist, »den ein gleichförmig bewegter Körper in ihr durchläuft«
(AA I,9,1 166), ist für das Konzept einer Pluralität geschichtlicher
Zeiten derjenige Raum das ursprüngliche Maß, der durch den Urteils-
und Handlungsvollzug überhaupt erst aufgespannt wird. Der Voll-
zugsraum der Geschichte, so lässt sich mit Schelling festhalten, be-
steht dabei im fortlaufenden »polarischen Auseinanderhalten«
(WA I, 75) von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Voll-
zugsraum der Geschichte ist sowenig wie der Konstruktionsraum
der Geometrie eine unabhängige Größe für sich, im Unterschied zu
letzterem ist er aber die Form der Konstellierung ganz verschiedener
Räume und Zeiten, und zwar anwesender als auch abwesender. 139
159
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
143 Vgl. dazu auch Hölscher 1999. Hölscher macht darauf aufmerksam, dass Vergan-
genheit, Gegenwart und Zukunft bei Augustinus wie bei späteren Autoren niemals
als Zeiträume auftauchen, sondern immer nur als einzelne Dinge bzw. Ereignisse, die
in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegen sollen.
160
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
nichts: »Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne,
und anderswo finde ich sie nicht«. 144
Blickt man nun von Augustinus’ präsentistischer Zeitkonzeption
auf Schellings genealogische Zeitkonzeption zurück, sollten die Un-
terschiede klar hervorgetreten sein: Schelling bringt die Gegenwart
zu sich selbst auf Distanz. Bei dem zeitlichen Anfang, um den es
Schelling geht, handelt es sich um einen Anfang, der ›gleich anfangs‹
vergangen sein muss, um der Anfang der »Entwicklung eines leben-
digen, wirklichen Wesens« sein zu können. Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft erscheinen deshalb nicht als »bloße Abmessungen
der Zeit«, sondern als »drey wirkliche voneinander verschiedene Zei-
ten« (WA III 1, 188), die durch den Handlungsvollzug hervorgebracht
worden sind. Es findet, wie Schelling sich ausdrückt, eine »Anstufung
oder Steigerung« (WA III 5, 223) zwischen ihnen statt, das heißt: eine
Entwicklung, ein Fortschreiten, das es innerhalb der augustinischen
Seelenkonzeption nicht geben kann. Ohne hier schon zu weit in den
dritten Teil der vorliegenden Untersuchung vorstoßen zu wollen, so
lässt sich gleichwohl bereits festhalten, dass Schelling eine Zeitlich-
keit des Daseins beschreibt, deren temporale Struktur sich weder mit-
hilfe einer objektiven Zeitreihe noch mithilfe einer bloß subjektiven
Zeitfolge erfassen lässt, sondern nur vermittels einer ›wirklichen‹,
weil unumkehrbaren Aufeinanderfolge von Zeiten. Und eben weil
die Folge der Zeiten hier unumkehrbar, und in diesem Sinne einmalig
und unwiederholbar ist, kann die ›genealogische Zeit‹ Schellings als
eine »sinnreiche Zeit« bezeichnet werden. 145 ›Sinnreich‹ in der dop-
pelten Bedeutung des Wortes: zum einen als Zeit, die nicht allein der
Bestimmbarkeit einer numinosen intellektuellen Anschauung unter-
liegt, um Bezug auf den frühen Schelling zu nehmen, sondern immer
zugleich auch sinnlich erfahren werden kann und muss, und im Voll-
zug personalen Handelns, im Auseinandertreiben der im Anfang
noch ungeschiedenen Zeitperioden, de facto von Personen auch er-
fahren wird; zum anderen als Zeit, die als geschichtliche Wirklichkeit
144 Augustinus 1993, 259 (Bekenntnisse, XI, 20). Vgl. dazu auch Peetz 1995, 241, der
allerdings zu kurz greift, wenn er die Eigenzeitlichkeit der Dinge bei Schelling mit der
monadischen Struktur der Seelensubstanz bei Leibniz in Verbindung bringt und sie
als eine »monadische Eigenzeit des Einzeldings« bezeichnet. Zwar weiß Leibniz
durchaus von einer ›unendlichen Vielheit von Zeiten‹, aber nur innerhalb der Mona-
de. Man ginge fehl, diese ›Vielheit‹ als eine Pluralität geschichtlicher Zeiten im Schel-
ling’schen Sinne zu interpretieren.
145
Schmidt-Biggemann 2014, 77.
161
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
146
Vgl. dazu auch Hutter 2002.
147 Vgl. Derrida 1967.
148
Zum systematischen Zusammenhang von Urteils- und Zeittheorie in Schellings
Weltaltern vgl. Gabriel 2014.
149 Es wäre mehr als lohnenswert, dieser Wahlverwandtschaft an einer anderen Stelle
weiter nachzugehen. Vgl. dazu etwa Schülein 2016, der allerdings die Brücke von
Derrida zu Hegel schlägt. Gabriel 2006, 10, weist in seiner Dissertationsschrift auf
eine Stelle aus Derridas L’écriture et la differance hin, in der dieser direkt Bezug auf
Schellings Darstellung des philosophischen Empirismus von 1836 nimmt und an-
merkt, Schelling sei dort bereits sehr weit in die richtige Richtung der »altérité de
l’être« gegangen. Schwab 2015 hat die grundlegende Affinität zwischen Derrida und
Schelling im Umweg über Heidegger und der Figur des Ungrundes dargelegt. Schwab
162
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
kommt dabei zum Ergebnis, dass die explizite Rezeption Schellings in Derridas letz-
tem Seminar von 2001/02 Das Tier und der Souverän vor allem via Deleuze erfolgt.
150 Vgl. dazu auch Müller-Lüneschloß 2012, 158 f. Müller-Lüneschloß spricht in die-
sem Zusammenhang zwar von einer »Historisierung der Potenzen«, die es ermög-
liche, die Offenbarung des Absoluten als einen dezidiert geschichtlichen Prozess zu
denken: »Die Konsequenz davon ist die Explikation des Absoluten in die Geschichte
und als Geschichte, welche sich nach drei unterschiedlichen Perioden (Potenzen des
Absoluten) vollzieht«. Indem sie die Perioden aber hier nur als »Potenzen des Abso-
luten« versteht, übersieht sie dabei, dass die Vergeschichtlichung des Absoluten in
eine tiefe Aporie des Systems selbst hineinführt.
151 Vgl. Hutter 2004a, 262.
152 Was hier so ganz ›eigentlich‹ an Heideggers Unterscheidung von ›eigentlicher‹ und
163
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
hen; sondern in diesem Werden ›ist‹ alles ›gleichzeitig‹; gleichzeitig aber bedeutet hier
nicht, daß die Vergangenheit und die Zukunft ihr Wesen aufgeben und zur reinen
Gegenwart ›über‹gehen, im Gegenteil: Die ursprüngliche Gleichzeitigkeit besteht da-
rin, daß Gewesensein und Künftigsein sich behaupten und gleichursprünglich mit
dem Gegenwärtigsein als die Wesensfülle der Zeit selbst ineinander schlagen« (Hei-
degger 1936, 136). Was Heideggers Ausführungen noch einmal in aller Deutlichkeit
zeigen, ist die spezifische Dialogizität der Zeiten: Vergangenheit und Zukunft (in der
Terminologie Heideggers: »Gewesensein« und »Künftigsein«) bestehen einerseits
zwar mit der Gegenwart zusammen, sind andererseits aber von ihr getrennt, dadurch,
dass die ›ewige Zeit‹, um ›entschiedene Gegenwart‹ sein zu können, sich von sich
selbst als Gegenwart, die nur um sich selber kreist, losreißen muss. Die Scheidung
der ›ewigen Zeit‹ von sich fällt, anders gesagt, mit der Erzeugung der Zeiten zusam-
men. Zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, wie Schelling ver-
merkt, ein »vollkommenes Wechsel-Verhältnis« (WA I, 72). Vgl. dazu auch Schelling
1841/42, 160: »Wer einer Zukunft entgegen geht, tut wohl, wenn er erst mit der Ver-
gangenheit abschließt«.
153
Vgl. dazu auch eine Stelle aus dem dritten Weltalter–Druck, wo Schelling sagt,
dass die Scheidung den »Wille[n] des Geistes« aus der Gegenwart im Sinne einer
›kommenden Zeit‹ verdrängt habe: »Sie [die Scheidung, P. N.] setzt diese [die Willen,
164
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
P. N.] als nicht seyend, darum eben keineswegs als nichtseyend, sondern als zukünftig
und als solche allerdings auch als (nur im Verborgenen) seyend« (SW VIII, 315).
154
Vgl. dazu auch Knatz 1999. Knatz spricht in diesem Zusammenhang von einer
»Geschichtlichkeit in doppelter Hinsicht«, die er wie folgt beschreibt: »Der Existenz
der Welt geht eine vorzeitliche Geschichte des Absoluten voraus, die allerdings nicht
als chronologische Folge, sondern als Bewegungsprozeß verläuft; zugleich ist die Bin-
nenstruktur des Absoluten nur konstruierbar, wenn es gelingt, in der empirischen
Geschichte jene Fragmente der höheren Geschichte des Absoluten zu finden, welche
einzig der äußeren Geschichte ihren Sinn und Zusammenhang gewähren« (284). Für
Schelling geht es demzufolge um beide Aspekte: um die Möglichkeitsbedingungen
der Geschichte in Gott und Gottes in der Geschichte.
155
Vgl. Koselleck 2015a, 19: »›Zeitschichten‹ verweisen auf geologische Formationen,
die verschieden weit und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der
sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindigkeiten verändert und von-
einander abgehoben haben. Wir verwenden also eine Metapher, die erst seit dem acht-
zehnten Jahrhundert sagbar geworden ist, nachdem die alte statische Naturkunde, die
›historia naturalis‹, verzeitlicht und damit historisiert worden war. Die Rücküber-
tragung in die menschliche, die politische oder soziale Geschichte […] erlaubt es, ver-
schiedene zeitliche Ebenen analytisch zu trennen, auf denen sich die Personen be-
wegen, Ereignisse abwickeln oder deren längerwährende Voraussetzungen erfragt
werden«.
165
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
gangs; ihre Mitgegenwart drückt sich vielmehr in der Form einer ver-
tikalen Schichtung aus: die Vergangenheit ist anwesend im Modus
der Latenz, die Zukunft im Modus der Tendenz. Für die Vergeschicht-
lichung des Absoluten kommt es in dieser Vertikalisierung der Zeit
darauf an, was in noch ungeschiedener Latenz bereits vorhanden ist,
in epochale Aktualität zu überführen bzw. als Gabe und Aufgabe ver-
standen: jene »unsichtbare und in der Gegenwart verborgne Einheit«
(WA I, 67) soll sein. Schelling gibt in den Stuttgarter Privatvorlesun-
gen von 1810 auch einen Hinweis darauf, wie das Verhältnis von La-
tenz und Tendenz, Verborgensein und Aktualisierung, hier genau zu
verstehen ist. Es heißt dort, dass die anfängliche Verschlossenheit des
Absoluten als ein Verborgensein der Gegensätze zu verstehen sei. Das
Verborgensein unterscheidet sich darin vom bzw. erschließt eine Seite
am Verschlossensein, als man verborgen dasjenige bezeichnet, was
nicht bloß in potentia existiert, sondern schon bezogen auf den ge-
genwärtigen Zustand gedacht wird; es existiert in absentia. Latenz
bezeichnet also den Zustand, der sich zwischen einem schon aktualen,
zur Präsenz gebrachten Gegensatz und einem potenziell noch immer
vorhandenen, aber absenten Gegensatz aufspannt; Tendenz im Unter-
schied dazu den Drang, etwas zur Präsenz gebracht zu haben, was sich
in der Präsenz zugleich wieder entzieht und in die Latenz absinkt. In
den Privatvorlesungen entspricht diesem Zustand des Aufgespannt-
seins der Begriff einer Natur, die sich in einem »keimlichen Zustand«
(AA II,8, 110) befindet.
Kommt man von hier aus auf die Weltalter zurück, so lässt sich
festhalten: Was die geschichtliche Auslegung des Absoluten forciert,
ist eine permanente Aktualisierung dessen, was an Gegensätzen ver-
borgener Weise schon im Ewigen selbst vorhanden ist. Nur so kann
sich als Gegensatz zeigen und auf höherer Stufe individuieren, was
als chaotische Kraft ewig im Grunde bliebe. Die Ewigkeit ist für
Schelling in dem Maße selbst in die Zeit eingelassen, wie sie durch
die Zeit hindurch aktualisiert wird und sich dabei als deren fundie-
rende geschichtliche Tiefendimension erweist. Dass dabei geschicht-
liche Regressionen nicht ausgeschlossen werden können, versteht
sich von selbst. Während das reale Prinzip im Ewigen zwar durch
das ideale Prinzip überwunden werden kann, sodass dieses sich jenem
unterzuordnen hat, so ist und bleibt das reale Prinzip im idealen Prin-
zip aber als dessen eigener Geschichte immer noch so präsent, dass
jenes noch nicht sein kann, was es seinem Begriff nach – tendenziell –
doch sein soll. Das aus dem Nichtsein ins Sein gehobene Seiende
166
Nachkantische ›Zeit‹-Revolutionen
droht quasi durch die Verkehrung der Ordnung von Ewigkeit und
Zeit wieder ins Nichtsein, in die anfängliche Verschlossenheit zurück-
zusinken, solange die Zeit nicht in einem fortwährenden Akt der
Scheidung dimensional auseinandergetrieben wird. Nur das stetige
Setzen temporaler Differenz ermöglicht es den Gegensätzen, aus der
anhaltenden Absenz in die Präsenz überzugehen, und diese höher-
stufige Differenzierung ist es, aus der sich, wenn man so will, eine
»historische[…] Phänomenologie des Absoluten« ableiten lässt. 156
Zeit ist für Schelling in der Tat nur ›real‹ als eine Pluralität geschicht-
licher Zeiten, weil sie nur als Zeitpluralität ein erfülltes Gewordensein
sein kann, eine Forderung indes, die mit dem Modell einer ins Unend-
liche fortgehenden Linie bei Kant schlechthin unverträglich ist. 157
Aufgabe des nun folgenden Kapitels soll es sein, das dialogische
Verhältnis von Gewordensein und Immer-Noch-Werden genauer zu
untersuchen. Wie es scheint, deutet sich nämlich im Immer-Noch-
Werden eine dritte Verkehrung an: eine Rückkehr, die die Verkeh-
rung der Ordnung von Ewigkeit und Zeit durch die Geschichte hin-
durch ihrerseits wieder zu ›verkehren‹ sucht, sodass über der Tendenz
zur Ausdifferenzierung der Zeit in ihre einzelnen, geschichtlichen
Perioden die Perspektive einer – entgeschichtlichten – Einheit auf-
scheint, ohne welche – ein Problem, das sich anderenfalls zwangsläu-
fig stellen würde – »die ganze Geschichte nur ein Chaos voll Unbe-
greiflichkeiten« (WA I, 82) bliebe. 158 Die Frage, die sich vor dem
Hintergrund dieser Problematik stellt, ist, auf welche Weise die Ewig-
167
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
keit in der Zeit ist und sich durch die Geschichte hindurch vollzieht.
Hierbei wird sich zeigen, dass Schelling im Grunde zwei Formen von
Zukunft unterscheidet: eine proto-logische, die bisher als geschicht-
liche Tiefendimension der Zeit bezeichnet wurde, und eine eschato-
logische, von der Schelling sagt, dass sie als eine Zeit, »die nicht mehr
zukünftig wäre« (WA I, 81), auch einer ganz anderen Zeitordnung als
der menschlichen angehören würde. Um die damit verbundenen Pro-
bleme aufzuspüren, aber auch um überhaupt erst einmal die Entwick-
lungslogik eines so vergeschichtlichten Absoluten freizulegen, ist da-
bei ein Blick auf dasjenige Modell zu werfen, mit dem Schelling in
den Weltaltern operiert und versucht, die dynamische Einheit von
Zeit und Geschichte in den Griff zu bekommen: das Figur des Orga-
nismus.
159
Vgl. Frank 1991, 152.
168
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
160 In der Theorie der Offenbarung als einer Theorie der Verköperung durch die
Kunst zeigt sich, wie Jähnig 1969, 13 f. betont, Schellings Einsicht in die »Aporien
der Philosophie als Wissenschaft«. Aktual ist Schellings Kunstphilosophie für Jähnig
dann auch in dem Sinne, wie sie versucht, »das Bestehende nicht zu bestätigen, son-
dern zu ergänzen«: eine sich dergestalt abzeichnende »unzeitgemäße Aktualität«.
169
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
det nicht nur die Deduktion des Kunstprodukts, sondern auch die Be-
stimmung der Philosophie als eines Systems ihren Abschluss, das an
den Punkt zurückgekehrt ist, von dem es ursprünglich seinen Anfang
genommen hat:
Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph
nur subjectiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objectiv
zu machen, gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß daraus zu
ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der
Wissenschaft von der Poësie gebohren, und genährt worden ist, und mit
ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch die der Vollkommen-
heit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel ein-
zelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen, von
welchem sie ausgegangen waren. (AA I,9,1, 329)
Die Rolle, die Schelling der Kunst im System des transscendentalen
Idealismus zuweist, bleibt für lange Zeit unangetastet. Auch im Aka-
demievortrag Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur
von 1807 taucht die Objektivierungsfunktion wieder auf, nunmehr
unter dem Stichwort der Verkörperung. Der ›Körper der Kunst‹, so
ließe sich an die Überlegungen zur Rolle der Kunst aus dem System
des transscendentalen Idealismus anschließen, genießt gegenüber
dem ›Gedanken der Philosophie‹ den Vorzug, dass »Zweifeln, die
sonst gegen Behauptungen einer über das gemeine Maß erhabenen
Vollkommenheit laut werden, die Ausführung begegnet, indem das,
was in der Idee nicht begriffen worden wäre, in dieser Region als ver-
körpert vor die Augen tritt« (SW VII, 292). 161 Kunst vermag nach
Schelling Ideen in dem Maße zu verkörpern, wie das, was an einer
Idee nicht begriffen worden wäre, und zwar wie sie sich für uns in
der sinnlichen Gegenwart darstellt, durch sie in einem realen Gegen-
stand zur Anschauung kommt. 162 Schellings organologischer Ansatz
der Kunst lässt sich im Ausgang von dieser kurzen Skizze systemati-
sieren: Philosophie ist auf Medien der Selbstvergegenwärtigung an-
161 Schelling wendet sich damit explizit gegen Winkelmann, dessen Ästhetik er ein-
170
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
gewiesen, und die Kunst ist ein solches Medium. Der ›Organismus
der Kunst‹ lässt uns die »Wunder unseres eigenen Geistes weit un-
mittelbarer als die Natur erkennen« (SW V, 357 f.), so heißt es bei
Schelling in der Philosophie der Kunst. Aber genau hierin – nicht in
der Kunst, sondern in der Art und Weise, wie Erkenntnis als eine Art
von unmittelbarer Selbstvergegenwärtigung gedacht wird – besteht
auch das strukturelle Problem, gerade wenn man die Kunstphiloso-
phie unter zeitphilosophischen Aspekten betrachtet.
Unterzieht man die unbewusste Tätigkeit ästhetischen Produzie-
rens einer temporalen Interpretation, so stellt sich die ästhetische
Anschauung als zeitliches Grenzphänomen dar. Die grundlegende Fi-
gur, auf die man hierbei stößt, ist die der Aufhebung der Zeit in der
Zeit, und zwar in der Gestalt des Augenblicks. 163 Denn nur in dem
Maße, wie die ästhetische Produktion die philosophische Reflexion
gleichsam in einem Augenblick überwindet, kann das Ewige, die Frei-
heit selbst auch in der Zeit erscheinen, der Widerspruch von Freiheit
und Notwendigkeit buchstäblich ›gelöst‹ werden. Selbstgegenwart, so
sieht es die Theorie der ästhetischen Anschauung vor, ist nur von der
zeitlichen Grenze des Augenblicks, der kleinsten metaphysischen
Einheit der Zeit, her möglich, in ihm löst die unbewusste Tätigkeit
der ästhetischen Produktion die zeitliche Anspannung der philoso-
phischen Reflexion und verweist sie an ein zeitentbundenes, über-
greifendes Ganzes. Liest man Schellings Theorie der ästhetischen An-
schauung auf diese Weise, so lässt sich, was im Grunde für eine
Philosophie der Kunst spricht, gleichermaßen gegen sie wenden. Ist
die Kunst »ebendeßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm
das Allerheiligste öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereini-
gung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Ge-
schichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im
Denken, ewig sich fliehen muß« (AA I,9,1, 328), dann greift sie eben-
deswegen gewissermaßen auch zu kurz, weil sie »Natur und Ge-
schichte«, »Leben und Handeln« immer nur wieder von der zeitlichen
Grenze des Augenblicks her, bloß transitorisch, nicht aber in ihrem je
eigenen, unvorhersehbaren, ja auch unumkehrbaren Geschehen zu
erfassen vermag. Das Absolute bleibt von der geschichtlichen Dyna-
163 Vgl. dazu Janke 1967. Die Figur einer Aufhebung der Zeit in der Zeit führt auch
171
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
mik der Dinge selbst unberührt. 164 Und so lässt sich der »Organismus
der Kunst« – und das ist der Punkt, auf den es im Folgenden ankommt
– seiner Struktur nach als ein »geschichtsfreies Refugium« verste-
hen. 165 Die These, auf die es nun ankommt, lautet, dass Schelling
seinen organologischen Ansatz in dem Maße modifizieren musste,
wie ›Natur und Geschichte‹, ›Leben und Handeln‹ ihre eigene, sich
durch die Zeit hindurch überhaupt erst evolvierende Gegenwart he-
rausbilden, eine Gegenwart, die sich nur um den Preis ihrer ›Vernich-
tung‹ in die zeitlose Gegenwart der ästhetischen Anschauung auf-
lösen lässt.
Bringt man nun die Organismuskonzeption der Weltalterphiloso-
phie in Sichtweite wird deutlich: Im Gegensatz zum ›geschichtsfreien
Refugium‹ des ›Organismus der Kunst‹ lässt sich der ›Organismus
der Zeiten‹ nur als geschichtsgebundene Praxis menschlicher Freiheit
verstehen. Als eine Praxis, der eine Vermittlung von Ewigkeit und
Zeit nur dadurch gelingt, dass sie die Dinge nicht von der zeitlichen
Grenze des Augenblicks her versteht, sondern sie aus der zeitlichen
Mitte des Werdens heraus begreift, mit anderen Worten, die struktu-
rell genau an dem Punkt zu verorten ist, an dem Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft prozessual auseinandergetrieben werden. Als
›organisch‹ ist die Zeit bei Schelling in einem durch und durch leben-
digen Sinne zu verstehen: als temporale Differenz, die mit fortschrei-
tendem Differenzierungsgrad sich als ›reale‹ Zeit, als geschichtliche
Gegenwart zu erkennen gibt. Hatte Jacobi Kant vorgeworfen, die Zeit
aus dem reinen Nichts zu erzeugen, und damit die Vorstellung einer
creatio ex nihilo unter der Hand in seine kritische Philosophie ein-
zuführen, so hält Schelling am Konzept der Erzeugung fest, verkehrt
diese aber in eine creatio continua, in die er zugleich die Figur einer
radikalen Diskontinuität einträgt. Der Anfang der Zeit, so hatte sich
in der ›Genealogie der Zeit‹ herausgestellt, kann nicht aufhören, An-
fang zu sein: »diese Zeugung ist keine vorübergehende, die einmal
geschehen aufhörte, sondern eine ewige und stets geschehende Zeu-
gung« (WA I, 141). Und obschon die Scheidung ein »vorzeitlicher
164 Auch in Friedrich Schlegels Konzeption der Transzendentalpoesie findet sich bei
aller Tendenz zur Verzeitlichung von Selbst und Welt der Zug einer Entgegenwärti-
gung, der Auflösung von Gegenwart: »Wenn […] mit der Beharrlichkeit und Starr-
heit auch das Reich der Gegenwart aufgelöst, Vergangenheit und Zukunft verbunden,
und so alle Zeit zur Ewigkeit verklärt sein wird, dann ist die Zeit vollendet« (KFSA 12,
446).
165
Dietzsch 1975, 1475.
172
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
Akt« (WA I, 142) ist, so vollzieht sich doch mit jeder »geschehende[n]
Zeugung« auch das Ewige in der Zeit, nämlich durch sie hindurch:
»So hat also auch das göttliche Leben […] wie alles Leben seine Zeiten
und Perioden« (WA I, 151).
Wenn aber dergestalt jedem Anfang die Ewigkeit als Ganzes der
Zeit immer schon zugrunde liegt, dann lässt sich das Verhältnis der
drei Zeitdimensionen zueinander in der Tat als ein organisches Ver-
hältnis verstehen. Und nichts anderes ist bei Schelling dann auch mit
dem Konzept des Organismus der Zeiten gemeint. Will sagen: Jede
Zeit enthält im Grunde immer schon die »ganze Zeit« (WA I, 148),
»denn sie unterscheidet sich von ihrer vorhergehenden nur dadurch,
daß sie zum Theil als vergangen setzt, was diese als gegenwärtig, und
zum Theil als gegenwärtig, was jene noch als zukünftig setzte« (WA
I, 148); für die ihr folgende Zeit gilt dasselbe. Und da, wie es kurze
Zeit später heißt, »ein solches Verhältnis des Einzelnen zu einem
Ganzen, bey welchem jenes zu seiner Wirklichkeit dieses schon als
vorhanden in der Idee voraussetzt, allgemein als ein organisches be-
trachtet. Also ist die Zeit im Ganzen und Großen organisch« (WA I,
148 f.). 166 Und hier ist noch einmal der Punkt bezeichnet, an dem sich
das Weltalter-Projekt so radikal von der Kunstphilosophie unter-
scheidet: Die Selbstauslegung des Absoluten kann nicht mehr im Au-
genblicksmedium der ästhetischen Anschauung erfolgen: Sie ereignet
sich vielmehr im Medium einer prinzipiell offenen, sich organisch
herausbildenden Geschichte: »So ist ein ewiger Wechsel von Ent-
stehen und Vergehen, bis die ganze, alles befassende, der Ewigkeit
gleiche, Zeit in einem Wesen entwickelt worden, welches auf der
höchsten Stufe der Entfaltung notwendig geschieht« (WA I, 159). 167
Hier aber treten zugleich die Schwierigkeiten des organologischen
Denkens auf den Plan. Denn der letzte Gedanke, der zu dem auch
noch den Schluss der ›Genealogie der Zeit‹ bildet, zeigt an, dass sich
166
Dasselbe gilt auch für die Bestimmungen des Raumes, den Schelling in den Welt-
altern ansonsten vernachlässigt und auch nur in einem kurzen Abschnitt erwähnt:
»Uebrigens gelten von der Natur des Raums ganz dieselben Bestimmungen, die oben
von der Natur der Zeit gegeben worden; z. B. daß die Dinge nicht im Raum, sondern
der Raum in den Dingen, ihre maßgebende Kraft ist, daß jeder mögliche Raum der
ganze, und der Raum daher im Großen wie im Kleinen ebenfalls organisch ist« (WA I,
86). Hier hätte man sich von Schelling nähere Ausführungen darüber gewünscht, von
welchem ›Raum‹ nun eigentlich beim ›organischen Raum‹ die Rede ist. Zu Schellings
Kritik am kantischen Raum-Begriff vgl. Buchheim 2015.
167
Vgl. Theunissen 1975, 188.
173
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
174
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
7.2. Entgeschichtlichungstendenzen
175
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
176
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
Griechen ihre Götter geschenkt. Nach Schelling beweist dieser Satz gerade dadurch
seine Richtigkeit, dass Homer und Hesiod beginnen, mythologische Göttervorstel-
lungen in Göttergeschichten zu transformieren: »Die Befreiung, die dem Bewusstsein
durch die Scheidung der Göttervorstellungen zu Theil wurde, gab den Hellenen auch
erst Dichter, und umgekehrt, nur erst die Zeit, welche ihnen Dichter gab, brachte auch
die vollkommen entfalteten Göttergeschichten mit sich« (SW XI, 18 f.). Vgl. dazu
auch Hutter 1996, 324, der verdeutlichen kann, dass und auf welche Art Geschichte
hier überhaupt erst hervorgebracht werden muss: »Das Subjekt des ›Machens‹ ist
demnach nicht der Dichter, der nach Herodot den Griechen die Theogonie ›machte‹,
sondern das geschichtliche Geschehen, von dem sich die Dichtung erfaßt und getragen
zeigt. Die Dichtung ist also weit davon entfernt, eine Gestalt des Geistes darzustellen,
von der aus das Wesen der Mythologie begriffen werden könnte. Vielmehr entsteht
›Dichtung‹ überhaupt erst an jenem geschichtlichen Wendepunkt, wo sich die unbe-
dingte Geltung der Mythologie lockert und dem Ende zuneigt«.
177
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
171
Vgl. dazu auch Knatz 1999, 172.
178
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
Finale der Zeit selbst. Schelling verweist auf diese Form der Ewigkeit
in Gestalt der Nachweltlichkeit: ›Nachweltlich‹ wird die Zeit zu dem,
was sie ihrem Begriff nach ›vorweltlich‹ immer schon gewesen ist.
Sobald diese ›nachweltliche Zeit‹ erreicht ist, tritt die »tragende Ver-
gangenheit« in ihre vollen Rechte und setzt das bis hierhin Entfaltete,
ohne es wiederum zu scheiden, als Eins, mit anderen Worten, sie
bringt die »Simultaneität zwischen allem Gewordenen« hervor (WA
I, 87). Die Ewigkeit, von der Schelling hier spricht, ist also in der Tat
nicht mehr als geschichtliche Tiefendimension der Zeit zu verstehen.
Denn was die Simultaneität zwischen allem Gewordenen hervor-
bringt, kann nicht mehr im Bezug zur Zeit stehen: Es kann nur die
Ewigkeit als das ganz Andere der Zeit sein. Dieses ganz Andere ist die
Ewigkeit dadurch, dass sie als universales Eschaton den Gang der Zei-
ten leitet, ohne dabei selbst geschichtlich zu sein. Ihre Wirkung ist
nicht die einer Zeiteröffnung, sondern die einer Zeitschließung. In
der späteren Einleitung in die Philosophie der Offenbarung heißt es
über diese Form der übergeschichtlichen Ewigkeit:
Die wesentliche Ewigkeit (Gegensatz: die aktuelle) aber kann nie ein
Glied der Zeit werden, weil sie durch die Zeit gar nicht berührt wird,
sondern von der Zeit unangerührt durch die Zeit selbst hindurch unbe-
weglich bleibt und besteht. Zu der wesentlichen Ewigkeit, welche lautere
Einheit ist, verhält sich die Spannung der Potenzen und was mit dieser
gesetzt ist als etwas nur zu ihr Hinzukommendes, als etwas Accessori-
sches, das zu ihr (der wesentlichen Ewigkeit) ebensowenig nothwendig
ist, als sie aufhebt, denn sie [die wesentliche Ewigkeit] wirkt durch die
Spannung hindurch; diese ändert an der Ewigkeit selbst nichts, sie ist
also in Bezug auf diese etwas Gleichgültiges und daher Zufälliges, sie
ist also das naturâ nicht-Ewige, naturâ suâ Zeitliche. (SW XIII, 308)
Interpretiert man den ›Organismus der Zeiten‹ auf diese Weise, so
verflüchtigt sich, was ursprünglich als Genealogie angelegt war, zu
einer bloßen Strukturgeschichte. Was anfangs als »Zeit-Erzeugungs-
Prozeß« (WA I, 80) angekündigt war, entpuppt sich am Ende wieder
als ›Zeitvernichtungsmechanismus‹, als Beschreibung der ewigen Ge-
setzmäßigkeiten des Seins, nach denen Weltentstehung identisch ist
mit Weltauflösung. 172 Indem auch die Zukunft irgendwann ihre Zu-
172 Vgl. dazu auch Gloy 2008a, 19. Gloy setzt sich nicht mit Schelling, sondern mit
Heraklit auseinander. Dennoch könnte, was Gloy über das Problematik der Welten-
stehung und Weltauflösung bei Heraklit sagt, durchaus auch an die Adresse von
Schelling gerichtet sein. Denn ebensowenig wie für Heraklit scheint für Schelling
der Begriff der realen Sukzession auf konzeptioneller Ebene realiter einholbar zu sein.
179
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
In beiden Fällen liegt der Begriff eines zäsuralen, uneinholbaren Anfangs der Zeit von
Beginn an quer zur Vorstellung eines geordneten Kosmos: »Nicht eine sukzessive,
seriell abzählbare Phasenfolge des Weltgeschehens ist gemeint, sondern die Gleich-
ursprünglichkeit von Entstehen und Vergehen, die Konstanz des Austauschprozesses
(Stoffwechsels) im Rahmen eines sich immer gleichbleibenden Kosmos« (20).
173 Oesterreich 1984, 139.
174 Vgl. dazu auch Loer 1974, 217: »Nicht mehr das Absolute also bewirkt erst zeit-
liche Wirklichkeit, sondern die Folge der Zeiten wird verabsolutiert, Geschichte selbst
wird zum absolutum; Philosophie der Geschichte und Strukturtheorie des Absoluten
fallen ineins, weil die Geschichte das Absolute ist«.
175
Theunissen 1991b, 315.
180
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
176 Vgl. dazu Lanfranconi 1992, der dieses Dilemma von der späteren Philosophie der
Offenbarung her als Ausdruck einer ›göttlichen Ironie‹ verstanden wissen möchte:
»Die Scheidung oder Krisis der Philosophie selbst ist letztlich nur dazu da, damit
durch sie die Einheit (der Philosophie) sich wiederhole« (238). Vgl. dazu auch WA I,
82: »Eine jede Periode stellt in sich die ganze Zeit vor; denn auch sie fängt wieder von
einem Zustand größerer oder geringerer Ungeschiedenheit an, so daß sie beziehungs-
weise auf die letzten Zeiten der vorhergegangenen Periode zurückzugehen scheint;
indeß sie im Ganzen wirklich fortschreitet«.
177 Was Schelling mit ›Geist‹ meint, ist nicht das ins Geistige erhobene und damit dem
Sein noch entgegengesetzte Seiende. Als ›Geist‹ bezeichnet Schelling hier vielmehr
diejenige Einheit, die auch noch der Einheit der Differenz von Seiendem und Sein
vorgelagert ist: »der Geist an sich oder der absolute Geist« (WA I, 67). Analog dazu
handelt es sich auch bei der vermeinten Zukunft nicht um die Zukunft eines Einzel-
181
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
nen, sondern um die Zukunft eines einzelnen Individuums als eines vollständigen
Gattungswesens.
178 Wieland 1956, 88.
179
Oesterreich 1984, 139.
182
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
180
Wieland 1956, 83.
183
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Zeit. Von den Musen erhält Hesiod die Gabe, die es ihm erlaubt, die
beengenden Schranken der eigenen Existenz zu verlassen, in ein geis-
tiges Reich aufzusteigen, weit über der eigenen, gegenwärtigen
Zeit, 181 und wie die Musen zu künden von dem »was ist, was sein wird
und was war«, zugleich erhält er aber auch die Aufgabe, dies zu tun:
»Sie geboten mir auch, das Geschlecht der ewigen, seligen Götter zu
preisen, sie selbst aber allezeit zuerst und zuletzt zu besingen. […]
Auf also!» 182 Bei Schelling ist es auf einmal der »Prophet«, der den
wunderlichen »Zusammenhang der Zeiten durchschaut«, indem er
die Sprache – »vom Geiste Gottes getrieben« (WA I, 83) – von einem
ganz Anderen her erfährt. Oder wie es dann wiederum bei Hesiod
heißt: »So sprachen die beredten Töchter des großen Zeus, brachen
den herrlichen Zweig eines üppig grünenden Lorbeers, schenkten ihn
mir als Stab und hauchten mir göttlichen Sand ein, damit ich Künfti-
ges und Vergangenes rühme«. 183 Hier wie dort wird die geschichtliche
Zeit von der Anschauung der ›ewigen Zeit‹ umgriffen. Der Zeitge-
nealoge tritt gewissermaßen aus seiner eigenen Erzählung heraus,
indem er durch sein prophetisches Sprechen beweist, dass die ge-
schichtlichen Zeiten, von denen er kündet, bereits Realität geworden
sind, die Zukunft – aus prophetischer Sicht – immer schon vollzogen
und nicht nur als Tendenz vorhanden ist, die Vergangenheit – in
Wahrheit – nie vergangen und erst recht nicht in die Latenz herab-
gesunken ist. Unter dem Eindruck einer solchen glossalischen An-
schauung degeneriert die genealogische Herkunftsgeschichte der Zeit
zur logogenetischen Strukturgeschichte. Auf die Tendenz zur radika-
len Vergeschichtlichung folgt die Tendenz zur radikalen Ent-
geschichtlichung in der Weltalterphilosophie. Keine Tendenz ohne
Gegentendenz, so sieht es im Grunde ja auch das Grundgesetz des
Schelling’schen Denkens vor, die polare Struktur seines ›verkehrten‹
Real-Idealismus. Nur fehlt an dieser Stelle die entschiedene Perspek-
tivierung des endlichen, menschlichen Standpunktes, vielleicht auch
die Ironie eines Friedrich Schlegel, der ja seinerseits bekanntlich be-
hauptet hatte, der Historiker sei ein »rückwärts gekehrter Prophet«
(KFSA 2, 176), damit aber gerade dazu aufgefordert hatte, die Ge-
181 Vgl. dazu auch Fränkel 1962, der das ›geistige Reich der Sprache und Poesie‹ als
183
Ebd.
184
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
185
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Ding, die jede Person in sich selbst hat, weil es diese Zeit praktisch aus
sich hervorbringt, verloren. Wie soll etwas, so lautet hier der ent-
scheidende Einwand, das aus geschichtstheologischen Gründen »nie
aufhören wird zu Stande zu kommen«, jemals zu Stande gekommen
sein? Wie kann etwas, das aus eschatologischen Gründen ewig vor
sich geht, jemals geschehen sein?
Ist es das erklärte Ziel der Weltalterlehre Schellings eine Wissen-
schaft von der »Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens«
(WA I, 3) zu sein, dann muss sie auch den Begriff der realen Sukzes-
sion der Zeit einholen können. Die nun präsentierte glossalische An-
schauung einer Zukunft, die nicht mehr zukünftig wäre, widerspricht
diesem Anliegen aber in dem Maße, wie »die Zeitepochen in der einen
großen Zeit des göttlichen Lebens aufeinander bezogen werden« und
die Zeit aus der personalen Mitte der Geschichte, in die sie gehört,
entfernt wird. 186 Schelling zieht sich damit noch jene Kritik auf den
Hals, die Kierkegaard in Anbetracht der Hegel’schen Geschichtsphi-
losophie aus der Position einer in der Sphäre des Religiösen verwur-
zelten Existenzphilosophie heraus äußert: »Man hat das Menschsein
abgeschafft, und jeder Spekulant verwechselt sich mit der Mensch-
heit, wodurch er etwas unendlich Großes wird und zugleich gar
nichts«. 187 Die Spekulation kann für Kierkegaard nicht die Lösung
des Problems sein. Die Spekulation lässt das Problem des Einzelnen
und seiner geschichtlichen Eigenzeit erst gar nicht aufkommen, und
wenn dann muss die einzelne Zeit als einzelne wieder getilgt werden.
Sie macht vergessen, was es heißt, »Mensch zu sein«, und zwar nicht,
was es heißt, »Mensch überhaupt zu sein«, sondern was es heißt,
»daß du und ich und er, daß wir jeder für sich Menschen sind«. 188
Schelling, so zeigt sich, bleibt bei aller Emphase für den Gedanken
186 Lawrence 1989, 171. Renate Lachmann hat am Beispiel der russisschen Literatur-
strömung des Alkmeismus gezeigt, wie der ungeordnete Pluralismus, das Heraustre-
ten aus der teilbaren, messbaren Zeit zur Mythopoesie, zu einem Sprechen in unbe-
kannter Sprache werden kann, das zwar das Chaos zulässt, aber die Plötzlichkeit des
Übergangs, den Riss in jedem geschichtlichen Neuanfang zuletzt wieder zudeckt.
Lachmann führt Ossip Mandelstams Das Wort und die Kultur von 1921 an, wo es
über die ›Zungenrede‹ heißt: »Gegenwärtig gibt es so etwas wie Glossalalie. In heiliger
Ekstase sprechen die Dichter in der Sprache aller Zeiten, aller Kulturen. […] Alles ist
zugänglich: alle Labyrinthe, alle Verließe, alle Geheimgänge. Das Wort ist nicht sie-
benrohrige, sondern tausendohrige Schalmei geworden, die vom Atem aller Jahrhun-
derte belebt wird« (Lachmann 2007, 135 f.).
187 Kierkegaard 1957, 117.
188
Kierkegaard 1957, 113. Zur Problematik des Einzelnen im Kontext der Existenz-
186
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
191
Schulz 1981, 23.
187
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Eine Bestimmung lautet: »Geschichtliche
Philosophie ist die, welche die Welt aus einem wirklichen Vorgang erklärt. Geschicht-
liche Philosophie ist diejenige, welche die Welt aus Freiheit, Wille und Tat und dem-
nach nicht aus einer bloss logischen Emanation irgendeines Princips erklärt« (Schel-
ling 1832/33, 84).
195
Vgl. dazu auch Wieland 1956, 93.
188
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
189
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
196 Auf darstellungstheoretischer Ebene spiegelt sich diese Kritik auch in der Philoso-
phie der Mythologie wieder, in der die mythopoetische Vorstellung der Weltalter, es
könne »die Wahrheit wieder zur Fabel und die Fabel zur Wahrheit« (WA I, 4) werden,
von Schelling selbst als eine zwar notwendige, aber angesichts der Wirklichkeit zu
überwindene Ansicht dargestellt wird: »Wer dächte sich nicht gern ein, wenn nicht
jetzt noch auf fernen Eilanden, doch in der Urzeit zu findendes Menschengeschlecht,
dem eine geistige Fata Morgana die ganze Wirklichkeit ins Reich der Fabel gehoben
hätte?« Und fährt Schelling fort: »Jedenfalls enthält die Ansicht eine Vorstellung,
durch die jeder hindurchgeht, wenn auch keiner bei ihr verweilt« (SW XI, 14).
190
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
Wo aber ein wirkliches Vor und Nach stattfindet, da findet auch eine
wirkliche Zeit statt« (Schelling 1832/33, 87). 197
Mit dieser Einsicht, so lässt sich nun aber im Rückblick der pro-
blemgeschichtlichen Aufarbeitung des ersten Teils der Untersuchung
festhalten, wiederholt Schelling nur noch einmal diejenige Kritik, die
Jacobi schon gegen Kant und gegen die Metaphysik Spinozas vor-
gebracht hatte. Eine Philosophie, die mit Systemanspruch auftritt, so
lautete die Kritik Jacobis, kann nur um den Preis einer vollständigen
›Vernichtung‹ der zeitlichen Wirklichkeit der Erkenntnis von Objek-
ten sein. Ja, Systemphilosophie scheitere geradezu daran, »das wirk-
liche Daseyn einer succeßiven, aus einzelnen endlichen Dingen, wel-
che sich die Reihe hinab einander hervorbringen und vertilgen,
bestehenden Welt« (JW 1,1, 257) zu erklären. Das Kernproblem dabei
besteht Jacobi zufolge darin, dass die Reflexion, ob sie es wolle oder
nicht, im Systemzusammenhang auf den »ungereimte[n] Begriff
einer ewigen Zeit« (JW 1,1, 257) geführt werde. 198 »Ungereimt« sei
der Begriff deshalb, weil die damit verbundene Konzeption eines ewi-
gen Anfangs schlechthin unverträglich mit der geschichtlichen Praxis
menschlicher Freiheit wäre. Reale Freiheit gehorche einer anderen
Logik als der von Allgemeinheit und Notwendigkeit, nämlich der ur-
sächlichen Handelns. Der Vorwurf gegen das Systemdenken lautet,
dass es die Logik des Grundes mit der Logik der Ursache vermischt.
Während die Logik des Grundes ein idealisches, bloß logisches Ver-
hältnis ausdrückt, beruht die Logik der Ursache auf einem realen,
zeitlichen Verhältnis. Im Begriff der ewigen Zeit, so Jacobi, komme
es allerdings zu einer Vermischung von Grund- und Ursachenlogik in
dem Maße, wie einerseits auf der zeitlichen Realität des Geworden-
seins bestanden, andererseits an der logischen Geschlossenheit der
zeitlichen Relationen festgehalten werde. In diesem Fall, so ließe sich
Jacobis fundamentaler Einwand hier zur Geltung bringen, »erlaubt
man sich den einen [Begriff] für den andern zu setzen und anzuwen-
den, und bringt glücklich heraus, daß die Dinge entstehen können,
ohne daß sie entstehen; sich verändern, ohne sich zu verändern; vor
197 Vgl. dazu auch Schelling 1832/33, 80: »Durch diejenigen Systeme, in denen ei-
gentlich nichts geschieht, in denen man also auch nichts erfährt, kann zwar unser
Denken ausgedehnt werden – wiewohl auch dies nur scheinbar; aber unser Wissen,
was wir eigentlich Wissen nennen, wird keineswegs erweitert. Man begnügt sich mit
jenen Systemen, um sich über die schmerzliche Unwissenheit zu zerstreuen. Sie sind
Surrogate, Behelfsmittel«.
198
Zu diesem Problemzusammenhang vgl. auch Sandkaulen 2012b.
191
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
und nach einander sein, ohne vor und nach einander zu sein« (JW 1,1,
283). Was Jacobi ursprünglich gegen Kant und Spinoza vorbringt,
ließe sich, so ist unschwer zu erkennen, auch mühelos gegen Schel-
ling wenden, indem dieser ebenso wenig wie jener ein »gewordenes
Werden der einzelnen Dinge« (JW 1,1, 252) zu denken vermag.
Grundlogik und Ursachenlogik müssen kategorial auseinandergehal-
ten werden, weil das Verhältnis von Grund und Folge ohne Bezug auf
Zeit und Zeitlichkeit zu denken ist, während das Verhältnis zwischen
Ursache und Wirkung einen zeitlichen Unterschied, eine Dauer, in
sich einschließt. 199 Und dass weder Spinoza noch Kant noch Schelling
das Problem des Gewordenseins und Immer-noch-Werdens zu lösen
vermögen, liegt für Jacobi in der Sache selbst begründet: Ebenso wie
beim »ursprünglichen Synthesirens« handelt es sich um ein Problem,
das »überhaupt nicht gelöst werden kann« (JW 2,1, 271).
Angesichts dieser Kritik von Jacobi muss es umso mehr über-
raschen, dass Schelling in der Denkmalsschrift von 1812 die Ver-
mischung von Grund und Ursache sogar zugibt und dennoch behaup-
tet, das Absolute müsse »sowohl Grund als Ursache« (SW VIII, 71)
sein, also genau in die Falle hineintappt: Grund müsse es sein, inso-
fern das Absolute Grund von sich selbst sei, Ursache, insofern es et-
was im Absoluten geben müsse, das sich zur wirksamen Basis macht,
auf der er sich selbst offenbaren könne. Es ist müßig zu fragen, ob
Schelling den von Jacobi klar umrissenen Problemzusammenhang
nicht durchschaut hat bzw. nicht durchschauen wollte. Die Zielrich-
tung einer genuin geschichtlichen Philosophie ist erkennbar, allein es
fehlt die Einsicht in die grundlegende Aporie eines solchen Unterneh-
mens. Schellings Weltalter-Projekt muss deshalb aus denselben
Gründen scheitern, an denen die Metaphysik generell scheitert. Denn
der Zeitbegriff, der im Rahmen einer Metaphysik jeglicher Form kon-
zipiert wird, kann in letzter Instanz immer nur wieder ein »nicht-
gewordenes, Anfang- und Endloses Werden« bedeuten, »ein wahr-
haft wirkliches Entstehen und Vergehen derselben [die Zeit, P. N.],
obgleich nur in einem ewigen, in sich selbst kreisenden, Flusse«
(JW 1,1, 252). Mit anderen Worten: Auf ontologischer Ebene gibt es
bei Schelling ebensowenig wie bei Spinoza einen Grund, »das in
höchstem Maße lebendige Wesen Gottes anders denn als die Einheit
einer anonymen absoluten Potenz zu denken, die sich als solche –
199
Vgl. Sommer 2015, 374.
192
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
193
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
194
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
blem des personalen Zeitvollzugs. Die Zeit, in der wir als handelnde
Wesen begriffen sind, ist selbst nur aus der Logik ursächlichen Han-
delns heraus zu verstehen, aus einer Vollzugspraxis, die sich zwar
immer schon im Konflikt mit der Zeit befindet, aber erst aus dieser
Mitte heraus ihre spezifische Eigenzeitlichkeit entwickelt. Mit dieser
fundamentalen Kritik, so zeigt sich ex negativo, ist bei Jacobi zugleich
ein tiefsitzendes Interesse an der personalen Zeitpraxis selbst ver-
bunden: Zeit ist conditio humana. 204
Ist dieser Punkt aber einmal scharf gestellt, so ist es auch weit-
gehend unerheblich, ob Jacobi sich im Streit um die göttlichen Dinge
auf die Freiheitsschrift bezieht oder sich wie in der Schrift Von den
göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung maßgeblich auf die Aka-
demierede von 1807 und die Abhandlung Philosophie und Religion
von 1804 beruft. 205 Am Grundproblem hat sich – trotz aller Korrek-
turen und Umkehrungen, die Schelling ab 1806 vornimmt – nichts
geändert. Und so kann im Grunde noch gegen die Weltalterphiloso-
phie jener Vorwurf erhoben werden, den Jacobi im unmittelbaren
Anschluss an Schellings Akademierede gegen dieselbe in einem Brief
an Jakob Friedrich Fries vorbringt. 206 Und diese Kritik besagt in sys-
tematischer Hinsicht, dass es – statt einer Pluralität geschichtlicher
Zeiten – bei Schelling im Grunde wieder nur das dieses eine »unzeit-
liche Leben« gebe könnte, aus dem nichts und wieder nichts entstehe:
Es gibt nur eine Qualität, das Leben als solches. Alle anderen Qualitäten
oder Eigenschaften sind nur verschiedene Quantitäten oder Einschrän-
kungen dieser einen Qualität, welche zugleich die Substanz und das
ganze Wesen ist. Der Mensch hat mehr davon als der Mistkäfer, hat aber
in sich nichts Besseres und Höheres. Alles was lebt, lebt nur eines und
dasselbe Leben. Die Totalität aber, das All, die Natur, käuet, wie ein altes
195
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Weib, von Ewigkeit zu Ewigkeit nur mit leerem Maule, macht und ver-
treibt sich die Zeit. (Henke 1867, 312)
Was Jacobi hier so wortgewaltig und drastisch einfordert, bildet die
Blaupause für die Kritik, die Schellings Weltalterlehre im 20. Jahr-
hundert erfahren hat. Es beschreibt aufs Genaueste die »Zwiespältig-
keit in Schellings Denken«, von der Jürgen Habermas in seiner Dis-
sertation spricht: »Der geschichtliche Gott ist zwar geschichtlich, aber
kein Gott, und der ewige Gott ist zwar ein Gott, aber nicht geschicht-
lich«. 207 Zwar unterliege Gott als das Absolute einer Geschichte, in-
sofern es einer Trias aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft be-
dürfe, um sich als Gott, als Absolutes zu realisieren. Zwischen Gott
als dem Absoluten und Gott als dem sich Offenbarenden bestehe in-
sofern eine unvermeidliche, nur durch Geschichte zu überbrückende,
ontologische Differenz. Gleichwohl, so wendet Habermas ein, handle
es sich bei dieser Geschichte wiederum nur um eine Geschichte, die
von jeher zur Willensstruktur des Absoluten dazugehöre. »Es ist«, so
hebt bezeichnenderweise auch Schelling an, »ein großer und notwen-
diger Gedanke daß alles Geschehen Ein Geschehen ist, daß alles was
ist u. sich begibt nur zu Einer großen Bewegung gehört […] – Gott«
(WA 226). Auch Axel Hutter sieht die Inkonsequenz des genealogi-
schen Ansatzes des Weltalterunternehmens in der »transmundanen
Bedeutung des Geschichtlichen«. 208 Was im Begriff des »Systems der
Zeiten« als Steigerung und Höhepunkt der Weltalterphilosophie vor-
geführt werde, erweise sich bei näherem Hinsehen als »Verarmung
des Begriffs des Geschichtlichen« und damit als »nachträgliche Ent-
geschichtlichung des geschichtlichen Ansatzes«. Der Begriff verliere
buchstäblich jeden konkreten Inhalt, wenn die innerweltlichen Peri-
oden der Gegenwart mit der weltlichen Gegenwart als solcher schlicht
in eins gesetzt würden: »Schelling begibt sich jeder Möglichkeit,
mehr über die Vergangenheit und Zukunft zu sagen, als daß sie eben
vor und nach der Welt liegt«. 209 Von den Weltaltern als einer »radikal
historischen Philosophie« zu sprechen, wie Peter L. Oesterreich es
vorschlägt, führt deswegen zu weit. 210 Deren zugegebenermaßen »ra-
dikal geschichtliche Intention« wird ja vielmehr durch die Vor-
stellung eines Systems, das die Zeiten untereinander ordnet, radikal
196
Geschichtliche Zeit und ›ewige Zeit‹
197
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
doch die dialektische Vernunft den Sieg davontrage. 215 In genau die-
sem Sinne ist auch dem Bedenken Aldo Lanfranconis stattzugeben, ob
man angesichts der von Schelling konstruierten höheren Geschichte
des Absoluten überhaupt von einem geschichtlichen Ansatz im enge-
ren Sinne sprechen könne, oder ob man angesichts dessen nicht eher
für das »Ungeschichtliche ihrer Problemstellung« votieren müsste. 216
Ist Schellings Lehre von den Weltaltern deshalb einfach fallen zu las-
sen? Oder lässt sie sich noch in einer anderen Hinsicht für eine kriti-
sche Reflexion von Zeit und Geschichte nutzbar machen?
Eines dürfte nach all diesen Einwänden klar geworden sein: Schel-
lings Lehre von den Weltaltern ist gerade keine genuin geschichtliche
Philosophie, wenn man die Aufeinanderfolge der Zeiten nach dem
Modell eines nach außen hin geschlossenen organischen Systems in-
terpretiert. Und überraschenderweise räumt Schelling dies sogar
selbst ein: Noch in der testamentarischen Verfügung seines hand-
schriftlichen, von den Söhnen verwalteten Nachlasses hält Schelling
ausdrücklich fest, dass das »Werk: die Weltalter […] nicht, wie so
Viele gemeint, ein geschichtlich-philosophisches sein sollte, sondern
auf die χρόνους αἰωνίους sich bezog«, also auf die ›ewigen Zeiten‹ des
Kosmos seit Anbeginn. 217 Ist eine genuin geschichtliche Philosophie
zu konzipieren also niemals das Anliegen von Schelling gewesen? Sei
es, wie es sei: Die Ansätze, Zeit im Ausgang von einer durch und
durch geschichtlichen Erfahrung zu denken, sind in den Weltaltern
215
Baumgartner 1981, 175. Dennoch vertritt Baumgartner die These, dass Schellings
Philosophie »von Anfang an und in ihrem Kern als Philosophie des Absoluten zu-
gleich Geschichtsphilosophie« (ebd.) sei. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt
auch Schulz 1981, 33: »Schelling weiß um die Negativität und die Unvernünftigkeit
des Seins. Aber er vermeint, im Vertrauen auf die Methode der dialektischen Trinität
die Negativität als untergeordnete Bestimmung in seinem System aufheben zu kön-
nen. Am Ende zeigt die Vernunft eindeutig ihre Macht«. Zweifel an einer solcher
These meldet Habermas an: Schelling sei »weder Historiker noch Geschichtsphilo-
soph im engeren Sinne«, sondern höchstens »Historiker des Absoluten« (Habermas
1954, 1).
216 Lanfranconi 1992, 89.
217
Die testamentarische Verfügung ist abgedruckt in Fuhrmans 1960, 14.
198
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
218
Wieland 1971.
219Stellvertretend sei hier auf Schellings Timaios–Kommentar verwiesen. Vgl. dazu
Buchner 1994.
199
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
αἰών und χρόνος nicht auf der Ebene der in den vorangegangenen
Kapiteln rekonstruierten höheren Geschichte betrachtet wird, nicht
also auf der Ebene der absoluten Zeit, sondern auf der Ebene der
Lebenszeit, also auf der Ebene der geschichtlichen Wirklichkeit
menschlicher Praxis in ihrer prekären Verfasstheit und temporalen
Dramatik. 220 Zwar hält Schelling daran fest, dass das Weltalter der
Gegenwart, ob es gleich »das uns nächstliegende betrifft, in anderer
Hinsicht die größten Schwierigkeiten« bereitet, und auch nur inso-
fern für die gesamte Weltalter-Spekulation in Betracht komme, als es
»hier bloß um Entwicklung des Systems der Zeiten im ganzen zu
thun ist« (WA III 1, 194). Das bedeutet allerdings nicht, dass sich
nicht im Ausgang von Schellings genealogischem Ansatz ein kriti-
sches Potenzial freilegen und entsprechend seiner ursprünglichen In-
tention geltend machen lässt, das ungeachtet der letztendlichen Ein-
bettung in den systemischen Zusammenhang originäre Einsichten in
den Problemzusammenhang von Zeit und Geschichte, und damit in
das, was das griechische Wort αἰών seinem ursprünglichen Wortsinn
nach sagt, bereithält. Zu beachten ist, dass Schelling zwar dafür argu-
mentiert, dass jede einzelne Zeit, und also auch die Gegenwart selbst,
die Zeit bereits als Ganzes voraussetzt. Von der ›ganzen Zeit‹ aber
heißt es, dass sie dann »sein würde«, »wenn sie nicht mehr zukünftig
wäre« (WA I, 81): Konjunktiv. Schelling ist sich bei aller systemi-
schen Spekulation der Beschränktheit der menschlichen Zeit durch-
aus bewusst; das zeigt sich nicht zuletzt an den im ersten Weltalter-
Entwurf so prononciert herausgestellten vielgestaltigen Zeitkonflik-
ten, in denen sich die menschliche Erfahrung von jeher befindet.
Lassen sich die χρόνοι αἰωνίοι so gesehen aber ohnehin nur per
analogiam durch eine analogische Übertragung von mikro- auf ma-
krokosmische Verhältnisse rekonstruieren, dann spricht im Grunde
auch nichts dagegen, sie zunächst einmal im Mikrokosmos der
menschlichen Zeiterfahrung zu belassen. Als tiefengeschichtliche Di-
mensionen der Gegenwart wären die χρόνους αἰωνίους gleichsam als
die schon genannten Zeitschichten zu verstehen, welche sich in dem
Maße dimensional überlagern, wie sie als Lebenszeiten aufeinander
220 Knatz 1999, 21, unterscheidet drei Ebenen, auf denen Schelling das Problem des
200
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
folgen und sich dabei aufeinander beziehen. Die Ewigkeit wäre dann
nicht mehr als das ganz Andere der Zeit, sondern als ihre geschicht-
liche Tiefendimension zu verstehen. Und genau hierin wäre dann
auch das kritische Potenzial einer so transformierten Weltalterlehre
zu suchen: Sie würde, indem sie in der geschichtlichen Tiefe der Ge-
genwart auf eine Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten und Zeitord-
nungen verweist, als ein Korrektiv fungieren gegenüber einer entper-
sonalisierten, von Sinn- und Entscheidungsfülle entleerten ›Jetztzeit‹,
die nichts als die Linearität des Fortschritts kennt.
Behandelt man die χρόνους αἰωνίους als tiefengeschichtliche Di-
mensionen der Gegenwart, dann kann die Verkehrung der verkehrten
Ordnung von Ewigkeit und Zeit nur auf je individuelle, personale
Weise erfolgen. Es obliegt der je personalen Entscheidung, sich als
Mensch zum ›Mitwisser der Schöpfung‹ zu machen. Nicht allein das
Absolute muss sich ›entscheiden‹, nicht allein das ist die Hauptpro-
blematik der Weltalter. Auch der Mensch muss sich ›entscheiden‹: Er
muss sich entscheiden, »das eine oder das andere ganz zu seyn«
(SW VIII, 312), er muss versuchen, in der geschichtlichen Gegenwart
jene verborgenen Sinndimensionen freizulegen, welche erweisen,
dass auch seine zunächst ganz persönliche Geschichte an einer höhe-
ren Geschichte partizipiert. Was die Person dabei als ihre eigene, ihr
zugemessene Identität erkennt, ist somit freilich auf die Vernunft
bezogen, sie versteht sich von dorther. Verwirklicht wird sie aber wie-
derum nur im Vollzug selbst, abseits der je zu vollziehenden Ent-
scheidung, deren gekommener Zeitpunkt sich bloß im καιρός zeigt,
ist sie für die Person – transzendentalphilosophisch gesprochen – ›so-
viel als nichts‹. Mit anderen Worten: »So liegt das wirkliche Ereignis
für den Menschen nicht in der Vernunft, vielmehr im Ergreifen des
Kairos, seines Daseins, des Augenblicks seiner Existenz«. 221 Der Sinn
des Gegenwärtigen kann auf diese Weise selbst nur wieder in der
Sphäre der endlichen, menschlichen Lebenszeit aufgesucht werden,
im καιρός, dem sinn- und bedeutungsüberschießenden Zeitmoment.
Versteht man Schellings Weltalterlehre aus dieser Perspektive,
dann führt die so ominöse Zeit- und Welterzeugungslehre gerade
nicht aus der Gegenwart heraus: Sie erschließt das Absolute vielmehr
in der geschichtlichen Gegenwart und verwirklicht es auf dem Boden
je eigener Personalität im einzelnen Moment des καιρός. 222 Für die
201
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
Oft genug überwiegt bei Schelling die ernüchterte Einsicht in die Ne-
gativität des gegenwärtigen Zeitalters: »[D]ie selige Zukunft, da die
Vielheit in die Einheit wiederkehrt, das Band der Zeiten mit der Ewig-
Hermeneutik zeit- und geschichtstheoretisch nicht gedeckt sieht: »Die große Frage
ist, was den Willen des Geistes zur Setzung der Offenbarungsgeschichte, durch die
der Geist ja auch selbst geschichtlich wird, prinzipiiert. Das Problem ist, daß diese
Frage am Ende nur über die selbst wieder vom absoluten Geist prinzipiierte Zeiterfah-
rung des menschlichen Geistes erschlossen werden kann. […] Was Schelling zu zei-
gen hätte, wäre die Möglichkeit von Akten der Zeitempfindung, die sich dem Strom
des sukzessiven Zeitbewußtseins entziehen. Denn erst mit dem Aufweis dieser Mög-
lichkeit wäre überhaupt die Analogie der menschlichen Zeiterfahrung mit der Zeit-
Setzung des Geistes zu Ende geführt«. Die These, die die vorliegende Studie im drit-
ten Teil zu entfalten versucht, ist, dass Schelling diese Analogie sehr wohl einzuholen
weiß, und zwar dann, wenn man die Scheidung als eine Theorie entschiedener Gegen-
wart ausbuchstabiert.
202
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
keit offenbar wird, steht in weiter Ferne« (WA III 1, 189). Mit ande-
ren Worten: Die Konstruktion der höheren Geschichte erfolgt bei
Schelling aus einer »Kritik der Negativität des gegenwärtigen Zeit-
alters«. 223 Zwar gibt es, wie die Einwände zur methodischen Durch-
führung der Weltalterlehre gezeigt haben, bei Schelling immer
wieder die Tendenz zur Entgeschichtlichung, und das heißt: zur
Ineinssetzung von individueller Erfahrung und höherer Geschichte;
die doppelte Kehrtwende wäre in diesem Sinne in keiner anderen
Hinsicht als der einer Selbstoffenbarung des Absoluten im Modus
der geschichtlichen Aufhebung der in ihm und durch ihn gesetzten
Weltalterzeiten zu verstehen. Besieht man sich die Erfahrung der
menschlichen Freiheit in der Zeit aber einmal genauer an, dann zeigt
sich, dass sie in sich durch eine beständige Doppelbewegung gekenn-
zeichnet ist, eine geschichtliche Doppelerfahrung, die sich der höhe-
ren Geschichte des Absoluten nicht so ohne Weiteres einverleiben
lässt, weil sie die Negativität der Gegenwart vielmehr verstärkt. Was
den Standpunkt der Gegenwart auszeichnet, ist die Erfahrung zwi-
schen den Zeiten zu leben. 224 Es gibt einen Weg von der höheren
Geschichte zur geschichtlichen Wirklichkeit selbst, und zwar dann,
wenn man die Erfahrung geschichtlicher Dis-/Kontinuität metho-
disch ins Zentrum stellt. Hier würde sich Schellings ›Zeit‹-Kritik ge-
rade nicht mehr als Systemkritik im binnenidealistischen Sinne prä-
sentieren, sondern als Gegenwartskritik in nuce.
203
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
225 Vgl. dazu auch Unger 2015, 162: »Sein unendlicher Anspruch führt ihn in einen
endlosen Verweisungszusammenhang, der sich selbst nicht als Ganzes zu fassen be-
kommt und daher auch nicht überwinden kann; ihm kann keine endliche Gegenwart
genügen, daher hat er auch keine Gegenwart im endlichen Dasein«.
226 Man kann darin mit Jantzen 2002, XI, eine moderne Reformulierung der antiken
204
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
die ihrer inneren Form nach ›unentschieden‹ bleiben muss. 227 In die-
ser Mitte wächst in ihm ein Zustand der Angst, weil er dabei weder so
richtig aus noch ein weiß: »Nicht aus, denn es [das Bewusstsein, P. N.]
kann sich völlig dem blinden Seyn und der Äußerlichkeit überlassen,
weil es den Anmuthungen des andern, des relativ geistigen Gottes
nicht ganz widerstehen kann; nicht ein, denn es kann von dem Seyn,
mit dem es selbst und zugleich Gott mit ihm verwachsen ist, nicht
lassen, außer unter den schmerzlichen Empfindungen« (SW XII,
298). Ein Schicksal, das, wie Hartmut Rosenau notiert, Würde und
Tragik zugleich ist in dem Maße, wie die »Freiheit des sich selbst
entfalten Könnens« zwar ungeheuer produktiv machen kann, aber
niemals aus der »ins Maßlose ausgreifenden Unbestimmtheit und
damit Unwirklichkeit der Freiheit bloßer Selbstbezüglichkeit« he-
rauskommt. 228
Wo aber, und an diesem Befund schließt sich die entscheidende
Frage nach dem gegenwartskritischen Potenzial der Weltalterlehre
an, die verlorengegangene Einheit nicht wiedergefunden werden
und Gott schon gar nicht mehr als Garant für die ursprüngliche Ein-
heit gelten kann, da sind Prekarität und Temporalität Begleitumstän-
de einer Zeit, die sich nicht von sich selbst befreien und in ein Ver-
hältnis zu sich selbst, das heißt: zu ihrem eigenen ›Zeitkern‹ treten
können; es sind Umstände einer Zeit, die sich beständig auf der
›Schwelle‹ befinden und dabei weder so richtig vor der Schwelle ste-
henbleiben, das heißt: in die Vergangenheit zurückkehren, noch so
richtig über die Schwelle hinaustreten, das heißt: in die Zukunft vor-
dringen können. 229 Auch Hegels Philosophie legt von dieser Schwel-
lensituation, der Unsicherheit und Gefahr der nachrevolutionären,
napoleonischen Zeit, ein beredtes Zeugnis ab. Die Entzweiung mit
sich und der geschichtlich überlieferten Tradition ist für ihn die
Grundverfassung der modernen Zeit. »Von dem Leiden an ihr geht
seine Philosophie aus; in der Entzweiung entspringt ihr Bedürfnis«,
die Schwelle als Schlüsselmetapher bei dem schon ins Spiel gebrachten Derrida. Vgl.
dazu Saul 1999. Zur Schwellenmetaphorik gesellt sich bei Schelling noch die Meta-
phorik des Schleiers: Den »Schleyer« (WA III 1, 187) des Urwesens, so zitiert Schel-
ling die alte Isis-Legende, habe noch kein Sterblicher aufgehoben. Inwiefern es sich
bei ›Schwelle‹ und ›Schleier‹ um komplementäre Gegenfiguren handeln könnte, be-
leuchten Assmann/Assmann 1997.
205
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
233
Koselleck 1989, 336.
206
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
selbst keine philosophische Theorie für den Begriff der Sattelzeit, die
Verwandtschaft mit Schellings Konzeption einer Pluralität geschicht-
licher Zeiten ist aber kaum zu übersehen, auch und vor allem deshalb,
weil Schelling die ›Zwischenzeit‹ sowenig wie Koselleck als Epochen-
begriff, sondern als geschichtlichen Erfahrungsbegriff versteht, wobei
die ›Schwelle‹ sich hier in topologisch umgekehrter Richtung viel-
mehr als Hiatus herausstellt, als unüberwindbare Kluft, als Erfah-
rung eines tiefgreifenden historischen Umbruchs. Schelling kommt
immer wieder auf diese Umbruchserfahrung zu sprechen, in der das
Neue sich ankündigt, aber hinter den Erwartungen eines wirklich
Neuen noch zurückbleibt: »Unleugbar geht ein großes Sehnen durch
die Zeit. – Das Alte ist vergangen und kann, wie es war, nicht wieder
hergestellt werden! Aber sollen wir darum jenen neuerungssüchtigen
Reden nachgehen« (Schelling 1841/42, 97). 234 Die unauflösbare Dia-
lektik der geschichtlichen Doppelerfahrung besteht Schelling zufolge
darin, dass die menschliche Vernunft eine unwiderrufliche Depoten-
zierung erfährt, eine Abwertung ihrer für uneingeschränkt gültig ge-
haltenen Macht, die in der Umkehr aber den Blick auf ein Selbst frei-
gibt, das sich zu dieser Negativitätserfahrung verhalten muss, woraus
natürlich die Frage ensteht, wie sie das tut, welche Mittel und Wege
ihr in dieser ›Zwischenzeit‹ zur Verfügung stehen. Eine erste Antwort
darauf könnte lauten, dass sie am Ende überhaupt nur in der Weise
auf die unwiderrufliche Depotenzierung ihrer selbst reagieren kann,
indem sie noch radikaler sich vergeschichtlicht als zuvor, indem sie
selbst sich in ein noch radikal endliches Verhältnis zu sich selber
bringt, eine Bewegung, die allerdings ebenso gut umschlagen kann,
in jene Neuerungssucht, ja jene Aktualitätsvergessenheit, die Schel-
ling an den ›neuen‹ Zeiten gerade kritisieren möchte.
Man könnte im Anschluss an die Depotenzierungsfigur im Dop-
pelgeschehen der Freiheit versucht sein, Schellings Zeitphilosophie
geschichtstheologisch zu deuten. Die erste, christologische ›Umkehr‹,
die Zuwendung oder Herablassung Gottes, geschieht und kann nur
geschehen im Hinblick auf eine zweite, soteriologische ›Umkehr‹,
der ›Rückkehr‹ des Menschen zu Gott. Eine ›Rückkehr‹, die christlich
nur als Erlösung durch die göttliche Gnade zu denken wäre und die
›Einkehr‹ in eine Zeit bedeutete, in der »zwischen der Welt des Ge-
234
Auch für die Destruktion der naturalen Chronologie, die Deutung der Geschichte
als Konflikt, ja für die grundlegende Pluralität verschiedener Zeiten hätte Koselleck
bei Schelling Anleihen machen können. Vgl. dazu Koselleck 2015b, 302 ff.
207
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
dankens und der Welt der Wirklichkeit kein Unterschied mehr seyn«
wird: »Es wird Eine Welt seyn, und der Friede des goldenen Zeitalters
zuerst in der einträchtigen Verbindung aller Wissenschaften sich ver-
künden« (WA II, 118). 235 Schellings Weltalterphilosophie wäre dieser
Lesart zufolge nicht zuerst deshalb christlich zu nennen, weil sie die
Geschichte des Absoluten als die Geschichte eines sich offenbarenden
Gottes erzählt, sondern weil der christliche Philosoph, der Schelling
zweifellos ist, einerseits um das Gewordensein der Welt weiß, ande-
rerseits aber auch um die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, das
Verlangen nach einer Befreiung von der in sich verkehrten Freiheit,
die sich partout nicht wieder zurechtrücken lassen will. 236 Eine Er-
lösung, die dem Menschen aber nicht hier, in dieser Welt, zuteil wer-
den, sondern nur von einem ganz Anderen her widerfährt, das seiner
Verfügungsgewalt nicht untersteht: eine christliche Utopie. 237 Willig-
te man in diese Interpretation ein, so würde das Hier und Jetzt der
geschichtlichen Gegenwart sich jedoch wieder auflösen, die Zwi-
schenzeitlichkeit der Zeit der Gegenwart, sie würde blass im Ange-
sicht der eschatologischen Erwartung einer kommenden Zeit, einer
»großen und langdauernden Entwicklung«, wie sie die Spätphiloso-
phie dann auch tatsächlich in Gestalt einer »philosophische[n] Reli-
gion« (SW XI, 255) projektiert. 238 Es wäre das Warten auf eine letzte
Krisis, die Hoffnung auf eine Wende der Zeit, das Versprechen einer
›absoluten Epochenerfahrung‹, denn »für das, was zukünftig ist, ist in
unserer bisherigen Erfahrung nichts Analoges, […] und so gibt es
235 Vgl. dazu eine Passage aus der Philosophie der Mythologie, deren Anzeige auch
für die Weltalter in Anspruch genommen werden kann: »Der Idealismus gehört ganz
der neuen Welt an, und braucht es kleinen Hehl zu haben, daß ihm das Christenthum
die zuvor verschlossene Pforte aufgethan. […] Das Christenthum hat uns von dieser
Welt befreit, daß wir sie nicht mehr ansehen als etwas uns unbedingt Entgegenste-
hendes und wovon keine Erlösung wäre, daß sie uns nicht mehr ein Seyn, sondern nur
ein Zustand ist« (SW XI, 467). Vgl. dazu auch die christologische Interpretation der
Weltalterphilosophie von Fuhrmans 1954.
236
Vgl. dazu Rosenau 1985.
237 Vgl. dazu Simon 2014, 212 ff.
238 Iber 1999, 249, weist auf den paradoxen Befund hin, dass gerade durch die Tendenz
der späten Schriften, allein in der Offenbarung die Frage nach dem Sinn und Grund
der Welt beantwortet zu finden, die Intention der Spätphilosophie, die Negativität der
Welt zu überwinden und die Vernunft vom mythischen Zwang zu befreien, in ihr
radikales Gegenteil verkehrt werde: »Angetreten mit der Intention, die Vernunft
durch ihre Entlastung in Richtung auf Religion aus der mundanen Negativität zu sich
zu befreien, vollendet sich die Spätphilosophie in der Selbstaufhebung der philosophi-
schen Vernunft in Religion«.
208
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
auch im Gebiet der Zeiten Entfernungen, die wir zwar bemessen, de-
ren Begebenheiten wir aber nicht sehen können« (Schelling 1841/42,
602). 239 Was immer auch an geschichtsphilosophischen Impulsen von
den Weltaltern ausging, die geschichtliche Entwicklung, die sie be-
schreiben, verliefe am Leitfaden eines Prinzips, durch welches ge-
schichtliche Ereignisse auf einen letzten Sinn bezogen würden.
Man kann aber auch versucht sein, und damit soll eine alternative
Lesart vorgeschlagen werden, die Ohnmachtserfahrung der Tren-
nung von Gott ›positiv‹ zu deuten, ganz im Schelling’schen Sinne
einer Freiheit von Gott. Dies wäre zwar immer noch eine einigerma-
ßen gesättigte christliche Lesart, zugegeben, ohne diese geht es bei
Schelling meist auch gar nicht, aber immerhin wäre es keine, die aus
einer religiösen Einstellung heraus auf eine wie auch immer zu pro-
jektierende Erlösung setzt und die menschliche Geschichte aus einer
von außen hereinbrechenden Theonomie begreift, die alles am Ende
richtete. Es wäre zunächst nichts anderes als der Versuch, in einer
profanisierten, sinnentleerten Welt die geschichtsanthropologische
Frage nach der Stellung des Menschen in seiner eigenen Gegenwart
zu stellen. 240 Die Freiheit des Menschen von Gott wäre dabei nicht
absolut zu verstehen. Zwar impliziert die Freiheit von Gott zunächst
eine Absolutsetzung der menschlichen Freiheit, gleichzeitig bleibt sie
aber, und zwar weil sie aus der Erfahrung der Trennung von Gott
hervorgegangen ist, relativ auf diesen. Der menschliche Wille hat
eine vom Absoluten selbst »unabhängige Wurzel«, »kraft deren er
zu beidem fähig ist, sich in Liebe ihm zu, oder in Verschlossenheit
von ihm abzuwenden«, gerade dadurch steht er aber auch in einem
»freien und unmittelbaren Bezug zu Gott« (SW VIII, 82). In diesem
Sinne kann eine anthropologische Lektüre der Weltalter auch nicht
209
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
241 Vgl. dazu Marquard 1973, 227, der diese beiden Bestandteile – Hinwendung zur
Lebenswelt und geschichtsphilosophische Skepsis – in begriffsgeschichtlicher Hin-
sicht gerade als grundlegend für die Anthropologie ausweist und Schelling neben
Kant einen herausragenden Platz in der Herausbildung dieser Problemstellung ein-
räumt. Gleichwohl, so betont Marquard, habe Schelling keine ausgearbeitete Anthro-
pologie aufzuweisen, vielmehr bleibe er weitgehend dem theologisch inspirierten
Identitätsdenken verhaftet.
242
Vgl. dazu Hennigfeld 1991, 49.
210
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
Zeit ist in erster Linie menschliche Zeit. Letztlich hängt bei Schelling
alles von dieser Blickrichtungsverschiebung ab: Durch sie erst wird
eine Differenz im Absoluten gesetzt, bekommt die menschliche Le-
benszeit einen gegenüber der Zeit Gottes eigenen Vollzugsbereich.
Ontotheologie und Anthropologie treten so in ein Verhältnis wech-
selseitiger Abhängigkeit, wobei ersteres zwar durchaus die geltungs-
theoretische Grundlage für letzteres abgibt, letzteres aber im Grunde
die eigentliche Vollzugsbasis bildet, durch die ersteres überhaupt in
den Blick kommt. Auch hier greift wieder die Dialogik von Superio-
rität und Priorität, sodass sich kein eindeutiges Primat des einen oder
anderen ausmachen lässt. Die Theogonie, die Schelling beschreibt, ist
immer schon Anthropogonie et vice versa. 243 Auch Markus Gabriel
gelangt in diesem Sinne zu dem Urteil, dass Anthropologie und On-
totheologie aufeinander verwiesen, ohne daß sich eindeutig sagen lie-
ße, wo Schelling ansetze, da er weder eine rein ontotheologische Be-
gründung der Anthropologie noch eine rein anthropologische
Begründung der Ontotheologie vorlege: »Mensch und Sein sind zwei
Ansichten ein und desselben Problems«. 244 Aus eben diesem Grund
darf die Zeitlichkeit der menschlichen Erfahrung nicht entgeschicht-
licht werden.
Die universelle Zwischenstellung des Menschen taucht bei Schel-
ling im Grunde schon in der Freiheitsschrift auf, und zwar in der
Dialektik zwischen Universalwillen und Eigenwillen, die Schelling
nach dem Modell von Zentrum und Peripherie konzipiert. Der Eigen-
wille hat Schelling zufolge die Besonderheit an sich, dass er sich vom
(moralischen) Zentrum lossagen und in die (moralische) Peripherie
streben kann; er kann streben, »das, was er nur in der Identität mit
dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein« (AA I,17, 135).
Jene Einheit, die in Gott unauflöslich ist, wird im Eigenwillen des
Menschen auf einmal ›löslich‹. Der Eigenwille, so sagt Schelling,
strebt danach, »den Grund über die Ursache zu erheben, den Geist,
den er nur für das Centrum erhalten, außer demselben und gegen die
Kreatur zu gebrauchen, woraus Zurüttung in ihm selbst und außer
ihm folgt« (AA I,17, 136). 245 Im Unterschied zu Gott bleibt der
243
Vgl. dazu Hogrebe 2007.
244 Gabriel 2006, 35.
245
Zur Denkfigur der positiven Verkehrtheit vgl. Oesterreich 1995.
211
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
paradoxerweise führt der Anthropomorphismus bei Schelling gerade dazu, einen An-
thropozentrismus in Gestalt eines gelebten Präsentismus zu überwinden. Der An-
thropomorphismus eröffnet den Blick auf eine andere Zeit als die, in welcher der
Mensch ›zunächst und zumeist‹ lebt. Vgl. dazu insbesondere Oesterreich 2002, 27;
Hennigfeld 1991, 49. Hennigfeld widerspricht sogar ausdrücklich der einschlägigen
Interpretation von Michael Theunissen, in zwei Hinsichten: Zum einen schränkt er
den anthropologischen Ansatz nicht nur auf die Freiheitsschrift ein, was im Angesicht
der Analytik menschlicher Zeiterfahrung in den Weltaltern geradezu geboten er-
scheint; zum anderen bestreitet er auch, dass Schelling seinen anthropologischen An-
satz unter Verweis auf die Absolutsetzung der menschlichen Freiheit letztlich wieder
preisgebe. Zur Kritik an Theunissen vgl. auch van Zantwijk 2000a, 169–177. Zum
anthropologischen Ansatz vgl. Theunissen 1965, 174 f.
212
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
247 Eine solche ›impliziten‹ Anthropologie aus den Schriften des mittleren heraus-
213
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
anders wäre auch gar nicht zu verstehen, dass bereits das Absolute in
sich differenziert ist:
Wer die Zeit auch nur nimmt, wie sie sich darstellt, fühlt in ihr einen
Widerstreit zweyer Principien; eines das vorwärts strebt, zur Entwick-
lung treibt und eines anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung wider-
strebenden. Leistete dieses andere nicht Widerstand, so wäre keine Zeit,
weil die Entwicklung im Nu, ohne Absatz und Folge geschähe; würde
aber aber auch nicht dieses andere beständig von dem ersten überwun-
den, so wäre absolute Ruhe, Tod, Stillstand und darum wieder keine
Zeit. Denken wir uns nun aber diese beyden Principien in einem und
demselben Wesen gleichwirkend, so haben wir sogleich den Wider-
spruch fertig. Sie sind aber nothwendig zu denken in allem was ist, ja
im Seyn selber. (WA II, 122)
Gesteht man dem individualgeschichtlichen Zeitdenken eine Berech-
tigung zu, dann ist der Punkt gekommen, an dem es zu fragen gilt, ob
Schellings Weltalterlehre nicht in dem Maße fruchtbar gemacht wer-
den kann, wie sie auf diese Positionalität – die Freiheit von der Natur
und von Gott – im Begriff der Person methodisch zu reflektieren
sucht. Der Einzelne als eine geschichtliche Person steht im wahrsten
Sinne des Wortes an einem »Scheidepunkt«, an einem Punkt also, an
dem er immer wieder »aus seiner Unentschiedenheit heraustreten«
muss, um jemand zu sein, um nicht zu sagen: »dieser und kein ande-
rer« (AA I,17, 156). 249 Die menschliche Freiheit führt so gesehen
nicht aus der Gegenwart heraus in eine Zeit, die über aller Zeit wäre,
sie führt vielmehr in die Gegenwart hinein, und zwar in eine Zeit der
Gegenwart, die von den Personen, die sie handelnd hervorbringen,
zwar durchaus als »precär und temporär« (AA II,8, 146) erfahren
wird, in der es für den Einzelnen aber auf einmal auch möglich wird,
»der Gattung vorauszueilen und das Höchste für sich zum voraus zu
nehmen«, was auch immer dabei das »Schicksal der Gattung auf der
Erde seyn möge« (AA II,8, 154). Und er, der Einzelne, tut dies, indem
er qua eigenzeitlicher Person, die er ist, in der geschichtlichen Tiefe
auf die Dimension eines universalen Lebenszusammenhangs stößt,
der mit der oberflächlich herrschenden Struktur in ihrer selbst zum
Mythos geronnenen Form bricht, sodass die Gegenwart verglichen
mit anderen, früheren Epochen durchaus im Fortschritt begriffen
sein kann, wie die folgende Stelle aus der dritten Weltalter-Fassung
belegt:
249
Vgl. Sandkaulen 2004a, 50.
214
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
Nothwendig ist, so oft das Leben in eine neue Epoche tritt, daß es wieder
einen Anfang mache, wo denn unvermeidlich ist, daß dieser Anfang
oder diese erste Stufe der neuen Epoche gegen die letzte und höchste
der vorhergegangenen als ein Rückschritt erscheine: Potenz mit Potenz
verglichen steht die folgende tiefer als die vorhergehende, weil diese in
ihrer Zeit nothwendig eine höhere Potenz als jene in der ihren; aber Zeit
mit Zeit, Epoche mit Epoche verglichen steht jene entschieden höher.
Solche scheinbare Rückgänge sind also in der Geschichte des Lebens
nothwendig. (SW VIII, 313)
Wie man sieht, geht es Schelling im Wesentlichen darum, dass indi-
viduelle Zeit und höhere Geschichte im personalen Handeln auf wun-
derbare Weise ineinander greifen. Es gilt, »daß die tiefsten und in-
nersten Vorgänge des menschlichen Lebens dieselben sind mit denen
des allgemeinen Lebens« (Schelling 2002, 167). Aber es ist keines-
wegs so, dass sich Schellings Begriff von Zeit und Geschichte aus-
schließlich am Begriff der Offenbarung Gottes als einer »Seinswer-
dung seiner Fülle« orientiert. 250 Vielmehr zeigen die Überlegungen
zur universellen Zwischenstellung des Menschen und seiner ge-
schichtlichen Positionalität als Person an, dass der »Geschichte des
Lebens« von jeher Grenzen gesetzt sind, Grenzen, durch die sie eine
gegenüber der höheren Geschichte eigene Zeit bekommt, eine Zeit,
die man im Fluchtpunkt der vorliegenden Untersuchung als persona-
le Eigenzeit bezeichnen könnte. Die Zeit der Person erwächst dabei,
wie Hans Michael Baumgartner in unverkennbarem Anschluss an
Schelling deutlich macht, aus der »Erfahrung des Sich-entscheiden-
Müssens und des faktischen Sich-Entscheidens«. 251 Und diese Erfah-
rung bringt für den Menschen als sittliche Person eine Perspektive
der Bedeutsamkeit von Vergangenem und Zukünftigen mit sich, die
jenseits der Geschichte des Absoluten verbleibt, weil sie sich diesseits,
in der Gegenwart selbst verortet. Die in sich verkehrte Gegenwart
kann der Mensch nicht aufheben, und zwar deshalb nicht, weil er
selbst nichts anderes als das Anarbeiten gegen die ›Verkehrung‹ ist.
Und es spricht vorderhand nichts dagegen, warum man eine so ver-
standene ›verkehrte‹ Gegenwart nicht auch diesseits ihrer letztzeit-
lichen, nur eschatologisch zu denkenden Erfüllung belassen sollte. 252
215
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
logischen Zeitdenken Theunissens heißt es bei Henrich, der im Übrigen bereit ist, die
Tiefenanalyse der Zeit als kritisches Instrument von Theunissen zu übernehmen: »Ich
denke, daß doch alles dafür spricht, die Bahn des Zeitdenkens nicht so zu fixieren, daß
den Menschen angesonnen werden muß, ihr gesamtes Dasein in eine Zukunftserwar-
tung zu konzentrieren, deren Erfüllung ein Leben nach dem Tode voraussetzt und die
schon deshalb für sie niemals schlechthin gewiß werden kann. Die Erwartung könnte
beruhigter aus einer Gegenwart des Lebens und der in ihr gelegenen Gewißheit her-
vorgehen, die auch von Erfahrungen bestimmt ist, welche nicht in einer letzten Ana-
lyse vor dem Bild wahrhafter Erfüllung als eitel und nur notbeladen abzuwerten sind«
(ders. 2002, 39).
253
Auf welche Weise Wiederholungsstrukturen als Voraussetzung für Einmaligkeit
zu gelten haben et vice versa, hat Koselleck in seinen Studien zur Historik immer
wieder unterstrichen Vgl. dazu ders. 2006.
216
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
254 Vgl. dazu Hutter 2003, 120 f.: »Menschliche Freiheit ist somit wesentlich eine
fen durchhält und schon im Frühesten Conzeptblatt auftaucht: »Das Vergangene wird
gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte
wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt« (WA III
1, 189). Auch das dem Frühesten Conzeptblatt vorangestellte Motiv der verschleier-
ten Isis im Tempel zu Sais verweist auf die spezifische Positionalität des Menschen,
seine Zeitgebundenheit und die damit einhergehende Unergründlichkeit des Absolu-
ten als eines ›Systems von Zeiten‹.
217
Zweiter Teil: Konstellationen des Umbruchs
218
Der ›Zeitkern‹ der Weltalterlehre
man auch hier, in diesem Fall, feststellen können, dass Schellings Kri-
tik an Kants Zeitlehre eine systematisch nicht zu unterschätzende
Pointe aufweist: Sie kritisiert die Entgeschichtlichungstendenz erfah-
rungsunabhängiger Zeitspekulation, um den personalen ›Zeitkern‹
herauszuschälen, der in jeder Erfahrung verborgen liegt. Schellings
personales Zeit- und Geschichtsdenken beinhaltet in dieser Hinsicht
die konzeptionellen Voreinstellungen für eine Theorie geschichtlicher
Zeiten.
219
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt.
Schellings Theorie geschichtlicher Zeiten
1 Vgl. dazu auch Hutter 1996, 307 ff., der den Begriff der Zäsur als zentrale Kategorie
eines nicht-apriorischen Begreifens von Geschichte ausweist.
221
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
ßen und die ›Geschichte des Lebens‹ periodisierbar machen. Vor dem
Hintergrund der im zweiten Teil skizzierten spezifischen Positionali-
tät der menschlichen Freiheit kann so deutlich werden, dass Zeitver-
hältnisse immer auch praktisch sich herausbildende Selbstverhältnis-
se sind, und dass diese umgekehrt auch nur von dorther in den
Grenzen ihrer jeweiligen sich geschichtlich vollziehenden Eigenzeit
erschlossen werden können.
9. Zeitphilosophische Verschiebungen
2
Vgl. Mesch 2003; Düsing 1980; Sandbothe 2004; Gadamer 1987b; Husserl 1928;
McTaggart 1908.
3
Vgl. Heidegger 1927; Bergson 1889; Blumenberg 1986.
222
Zeitphilosophische Verschiebungen
einher, indem eine Zeitform jeweils den Vorzug erhält, weil sie als
›wirkliche‹, ›eigentliche‹, ›objektive‹ Zeit eine höhere Geltung für sich
beanspruchen können soll. Das bedeutet aber, dass die moderne Zeit-
philosophie, selbst da, wo sie versucht, Zeit radikal vom Subjekt aus
zu denken, noch immer dem Gedanken an eine ursprüngliche, ge-
schichtsenthobene Zeitlichkeit folgt.
Kants Zeittheorie liefert das beste Beispiel: Während Platon, Plo-
tin und Augustinus entlang der Urbild-Abbild-Theorie noch an der
grundsätzlichen Andersartigkeit von Zeitordnungen festhalten, wes-
halb sie die Einheit der Zeit nur metaphysisch begründen können,
verschränkt Kant die Form der inneren und äußeren Anschauung so
konsequent miteinander, dass der Einheitsgrund der Zeit im Begriff
einer objektiv gültigen Zeiterfahrung aufgeht: ›Real‹ kann nach Kant
nur die Zeit genannt werden, deren Bezug auf den inneren Sinn des
Subjekts sich zugleich einem Bezug auf den äußeren Sinn der Objekt-
welt verdankt, deren Form der Raum ist. Dass die transzendentale
Idealität der Zeit deren empirische Realität bedeutet, heißt es im vor-
liegenden Kontext nicht anderes, als dass ein qualitativ erfülltes, vom
subjektiven Vollzug selbst abhängiges Zeitganzes zu einer quantifi-
zierbaren, vom Subjekt ablösbaren Zeitgröße transformiert wird.
›Subjektiv‹ kann die Zeit nur noch in diesem Sinne eines transzen-
dentalen Grenzbegriffs sein, eine spezifische Erfahrungsqualität hat
sie nicht. Kants Begriff der Zeitreihe, in dem die Überlegungen zur
Verzeitlichung des Denkens zusammenlaufen, ist Ausdruck der Su-
che nach einer Einheit der Zeit, die das Problem einer historisch ver-
lorengegangenen Zeiteinheit im Begriff eines entzeitlichten, arretier-
ten Relationsgefüges aufhebt. Was immer die Zeit an Dynamiken
durchläuft, ›real‹ ist sie nur als Zeitreihe. Aber nicht nur Kant, auch
Bergson folgt einer solchen Zeitmonopolisierung und steht – als einer
der schärfsten Kritiker Kants im 20. Jahrhundert – damit jenem nä-
her, als man gemeinhin denkt. Auch Bergson versucht die Differenz
zwischen ›innerer‹ und ›äußerer Zeit‹ durch eine negative Grenzzie-
hung zu begründen. Während Kant versucht, die Metaphysik vom
bloßen Herumtappen zu befreien, indem er die Realität der Zeit auf
die Welt der Erscheinungen begrenzt, versucht Bergson den Men-
schen vom Zeitregime der Naturwissenschaft, insbesondere der Psy-
chophysik, zu befreien, indem er die Realität der Zeit auf den Bereich
der menschlichen Freiheit beschränkt. ›Real‹ ist die Zeit nur als Dauer
des in sich geschlossenen Handlungsvollzugs. Bergson und Kant affi-
mieren jeweils eine ganz spezifische Form der Zeiterfahrung, die
223
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
4
Husserl 1928, 5.
5 Adam 1994, 508.
6
Schütz 1982, 224.
224
Zeitphilosophische Verschiebungen
7
Vgl. Landwehr 2016 284.
8Theunissen 1991b, 301. Vgl. dazu auch Gloy 2006, 117: »Die Zeit ist hier [bei den
Antiken, P. N.] noch kein abstraktes, offenes, quantifizierbares Schema oder Medium,
225
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
in das hinein sich die Lebenskraft ergießt, sondern die einmalige, konkrete, an ihren
Ursprung gebunden Lebenszeit«.
9
Vgl. dazu auch Picht 1958.
226
Zeitphilosophische Verschiebungen
10
Vgl. dazu auch Adolphi 1992.
227
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
228
Zeitphilosophische Verschiebungen
Was sich hier in der zitierten Passage, »im eigenen Thun und Las-
sen«, ankündigt, ist der Begriff einer Zeit im Vollzug, die ›einmalig‹
und ›unwiederholbar‹ ist, und insofern auch keine Form unseres Be-
wusstseins darstellt, sondern von Personen erfahren werden kann,
und im Vollzug unseres eigenen Urteilens und Handelns auch de
facto von uns erfahren wird. 11 Während es für die ›abstrakte Zeit‹
Kants gleichgültig sein mag, was in ihr geschieht, »ob die Sonne auf-
oder untergeht, ob ein Mensch geboren wird oder stirbt«, ist es für die
›personale Zeit‹ Schellings gerade entscheidend, was in ihr geschieht,
und was sich durch sie hindurch ereignet. Es ist und kann gerade
nicht gleichgültig sein, »ob Caesar nun den Rubikon überschreitet
oder nicht«; mit dieser Handlung beginnt »etwas Neues«. 12 Ein der-
artig vollzogenes ›Neues‹ ist im Ansatz einer ›abstrakten Zeit‹, einem
transzendentalen Konzept möglicher Erfahrung überhaupt, aber von
vornherein verspielt. 13 Während die ›abstrakte Zeit‹ Kants unemp-
findlich bleiben muss gegenüber den einzelnen Gliedern, die sie als
Zeitreihe miteinander verbindet, ist das besondere am personalen Ge-
schehen, dass qua freier Handlung ›Neues‹ hervortreten kann. 14
Was Schelling dergestalt an der Zeittheorie Kants kritisiert, lässt
sich mit einem wahlverwandten Wort Goethes als das »ungeheure
[…] Recht« (FA I,8, 353) der Gegenwart auf den Begriff bringen. 15
Zeit, die auf die Weise ins Blickfeld rückt, ist Gegenwart als ein jeg-
zeit als ›lineare‹ respektive ›abstrakte Zeit‹ dieselbe kompatibel mache mit »beliebi-
gem Geschehen an den einzelnen Zeitpunkten«, sodass »die Zeit selbst überhaupt
nichts mehr darüber sagt, was geschieht« (111).
14 Vgl. Theunissen 1991b, 307.
15
Vgl. dazu auch van Thadden 2010.
229
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
19 Seel 2003, 41. Solche ›Ereignis-Risse‹ in der geschichtlichen Zeit können für Seel
sowohl individueller als auch kollektiver Natur sein: »Wenn ein junger Mensch, wie
man so sagt, die Liebe kennenlernt, so ist das gewiß ein Ereignis, und ein weltbewe-
gendes dazu, aber es ist nur eines für sie oder ihn. Kulturelle Ereignisse hingegen sind
nicht individuell inkommensurable Vorgänge, sondern sie sind es in einem kollekti-
ven Maßbstab. Mit ihnen verändert sich nicht bloß meine oder deine Einschätzung
dessen, was wirklich und möglich ist, sondern die einer beliebig großen Gemeinschaft
von Akteuren« (ebd.).
230
Zeitphilosophische Verschiebungen
20 Angezeigt ist damit zugleich ein Forschungsdesiderat. Eine Untersuchung, die For-
men von Diskontinuität präzise auffächert und dabei Denkfiguren wie ›Umbruch‹,
›Unterbrechung‹, ›Zäsur‹, ›plötzliches Ereignis‹, ›unvermittelte Begebenheit‹, ›Geis-
tesgegenwart‹, ›Latenz‹, ›Nachträglichkeit‹ und ›Zeitsprung‹ gleichermaßen ana-
lytisch freilegt wie wahlverwandtschaftlich aufeinander bezieht, steht weiterhin aus.
231
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
von Früher und Später noch auf das bloß subjektive Verfließen von
Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem beschränkt. Die aus
der analytischen Philosophie bekannte und mit McTaggart klassisch
gewordene Unterscheidung zwischen A-Reihe und B-Reihe greift im
Hinblick auf die Pluriformität geschichtlicher Zeiten zu kurz. 21
McTaggart unterscheidet, so ist von Seiten Schellings einzuwenden,
nur Positionen in der Zeit, gleichsam Zeitpunkte, nicht aber Positio-
nen, die durch die Zeit hindurch überhaupt erst als Zeiträume erzeugt
werden. Eine von vornherein eingeschränkte Betrachtungsweise der
Zeit, die auch noch die gegenwärtige analytische Zeitphilosophie
durchzieht, wenn die sich im Anschluss an McTaggart in ein »tensed
camp« und ein »tenseless camp of philosophy« aufspaltet, die Pointe
des temporalizing, den Akt der Verzeitlichung selbst, aber gerade da-
durch übersieht. 22 Schelling hingegen betont, dass der Zusammen-
hang zweier Begebenheiten oder Ereignisse durch ein »wirkliches Ge-
schehen« vermittelt sein muss; eine Positionszuweisung, die sich auf
eine zugrundeliegende kontinuierliche Zeit bezieht, in der Ereignisse
bloß zeitlich zueinander in Beziehung gesetzt werden, sei es A- oder
B-theoretisch, reicht nicht aus. Das für Schelling so wesentliche Mo-
ment geschichtlicher Erfahrung, und zwar als Person vor Entschei-
dungen gestellt zu sein, in denen es gilt, wie Hans Michael Baumgart-
21 Vgl. McTaggart 1993, 67 f.: »Die Positionen in der Zeit unterscheiden sich – so wie
die Zeit uns prima facie erscheint – in zwei Hinsichten. Jede Position ist früher als
einige und später als einige der anderen Positionen. Und jede Position ist entweder
vergangen, gegenwärtig oder zukünftig. […] Der Kürze halber werde ich die Reihe
der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangen-
heit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weit
entfernten Zukunft verlaufen, als ›A-Reihe‹ bezeichnen. Die Reihe der Positionen, die
von früher bis später verlaufen, werde ich ›B-Reihe‹ nennen«.
22 Mellor 1981, 4. Das gilt im Übrigen auch für den Versuch Peter Bieris, zur Erklä-
rung der für unsere Selbstbeschreibung notwendigen A-Reihe auf die B-Reihe zu-
rückzugreifen, eine Relation, die immer schon gegeben sein müsse und aus keinem
anderen Grund als diesem den Status realer Zeit bekommen könne. Abgesehen davon,
dass schon die Zurückführung der A- auf die B-Reihe problematisch ist – es ist
schlicht und einfach nicht richtig, dass Ereignisse ›früher‹ und ›später‹ sein müssen,
ehe sie ›vergangen‹, ›gegenwärtig‹ und ›zukünftig‹ sein können, womöglich liegt hier
eine Verwechselung von Früher–Später und Davor–Danach vor –, übersieht Bieris
Ansatz, dass Personen nicht nur in der Zeit sind, sondern diese Zeit selbst mithervor-
bringen. Was als Zeit vorausgesetzt werden muss, ist lediglich die ungeformte, noch
ungeschiedene Zeit, die uns aber ganz in unterschiedlicher Weise entgegentreten
kann: als schlechte Kontinuität, die uns gefangen hält, als Ereignis, das uns ereilt, als
Krise, die wir durchleben. Vgl. dazu Bieri 1972.
232
Zeitphilosophische Verschiebungen
ner sagt, »sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen und eventuell
neu zu gestalten, Weichen zu stellen, Verantwortung zu überneh-
men«, anders gesagt: »mitten in der Zeit« (SW IX, 218) sein Leben
neu zu beginnen, dieses für Schelling so wesentliche Moment be-
ansprucht die Geltung einer nicht bloß relativen, sondern reell unter-
schiedenen Zeit, eine Zeit, die Diskontinuitätserfahrungen zulässt. 23
Und eine solche Zeit, »[e]in solcher Zusammenhang läßt sich also
nicht denken ohne ein wirkliches Vor und Nach« (Schelling 1832/
33, 87).
Von einer derart durch epochale Zäsuren gezeichneten geschicht-
lichen Zeit, in der sich die Frage nach der zeitlichen Struktur ge-
schichtlicher Selbstverhältnisse stellt, kann im McTaggartschen
Schema von A- und B-Reihe nicht die Rede sein. Indem diese die
Zeitrelationen gewohnheitsmäßig immer schon auf eine ihnen zu-
grundeliegende Zeit bezieht, macht sie die Ablösung der Zeithorizon-
te voneinander unmöglich. Das Subjekt bleibt im kontinuierlichen
Fluss der Zeit, obwohl die reale Erfahrung der Zeit nachweislich ge-
schichtliche Erfahrungen miteinschließt, Erfahrungen der eigenen
Epochalität und Geschichtlichkeit. Hans-Georg Gadamer notiert
etwa, dass die Erfahrung, dass etwas anders geworden, dass alles Alte
alt und etwas Neues da sei, die Erfahrung eines Übergangs sei, »der
nicht etwa Kontinuität garantiert, sondern im Gegenteil Diskontinui-
tät aufweist und die Begegnung mit der Wirklichkeit der Geschichte
darstellt«. 24 ›Epochenerfahrung‹, so heißt es an einer anderen Stelle
bei Gadamer, ist ein »Anhalten des stetigen Flusses der Zeit, und leis-
tet die Konstitution eines ›Zeitraums‹ des Gleichzeitigen oder Zeit-
genössischen«. 25 Schelling Zeitanalyse zielt auf eine derartige zeit-
anhaltende Epochenerfahrung: Aus dieser Erfahrung geht hervor,
»dass keine Gegenwart möglich ist, als die auf einer entschiedenen
Vergangenheit ruht, und keine Vergangenheit, als die einer Gegen-
wart als Überwundenes zu Grund liegt« (SW VIII, 259). 26 Dergestalt
26 Vgl. dazu auch Hutter 1996, 308: »Es ist nur sinnvoll, von Vor- und Nachgeschichte
zu sprechen, wenn eine Zäsur vorliegt, die beide voneinander scheidet; und umge-
kehrt ist eine wirkliche Zäsur nur dort anzunehmen, wo die quantitative Differenz
des Früheren und Späteren zum qualitativen Sprung zwischen Vorher und Nachher
wird«.
233
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
27
Vgl. dazu auch Große 2006, 107.
28 Otto 1982, 64.
29
Anders hingegen Sollberger 1996, 318.
234
Zeitphilosophische Verschiebungen
30 Insofern unterscheidet sich die Pluralität geschichtlicher Zeiten von der Pluralität
im Diskurs über die Zeit. Theunissen 1991a, 39, stellt die »Pluralisierung der Zeit,
ihre Aufspaltung in Zeiten« als eine der wesentlichen Tendenzen des sich von der
Metaphysik emanzipierenden Denkens der Moderne heraus, hat dabei aber die Plura-
lität verschiedener Zeitkonzeptionen vor Augen, etwa die Unterscheidung zwischen
subjektiv-immanenter und objektiv-transzendenter Zeit bei Husserl oder ursprüng-
licher und vulgärer Zeit bei Heidegger. Bei Schelling kommt es, so ist zu notieren, zu
einer Pluralisierung der Zeit selbst, nicht nur der Formen, derer wir uns bedienen, um
die Zeit, in der wir leben, begrifflich zu erfassen. Die Realität der Zeit selbst steht im
Plural. Auf diese Form der Zeitpluralität kommt Theunissen 1991b allerdings im Auf-
satz »Zeit des Lebens« zu sprechen, in dem er den Wahrheitsgehalt der antiken Un-
terscheidung zwischen aion und chronos unter den Bedingungen der Moderne zu-
rückzugewinnen versucht und hierzu eine »Weltzeit« von einer »Lebenszeit«
unterscheidet: »Sie [diese beiden Zeiten, P. N.] sind nicht mehr bloß unterschiedliche
Ordnungen der einen Zeit, sondern erscheinen als verschiedene Zeiten« (303).
31 Vgl. dazu Theunissen 2000, 10.
32
Vgl. dazu auch Uhl 2003, 68.
235
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
236
Zeitphilosophische Verschiebungen
35 Zur Kritik am Mythos einer reinen, von aller Geschichtlichkeit entbundenen, bloß
in sich selbst versunkenen Dauer vgl. Horkheimer 1934.
36
Brandt 2007, 14.
37 Brandt 2007, 243.
38
Brandt 2007, 242.
237
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
39 Gabriel 2014, 41. Vgl. dazu auch ders. 2006, 31: »Schellings Projekt ist wie später
dasjenige Heideggers gegen das szientistische Weltbild gerichtet, dessen Objektivi-
tätsbegriff tendenziell inkompatibel mit der Existenz von Beobachtern ist, deren Be-
obachtung ohne das Existenzial der Bedeutsamkeit nicht verständlich gemacht werden
kann«.
238
Zeitphilosophische Verschiebungen
44
Gabriel 2006, 31.
239
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
45
Horstmann 1995, 55 f.
240
Zeitphilosophische Verschiebungen
241
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
der Schule« (WA III 5, 224) schulde, sodass sich auch hier die wech-
selseitige Verschränkung von wissenschaftlicher und menschlich-all-
täglicher Zeitauffassung bei Schelling zeigt. 47 Wer aber, so Schelling,
das ›niedere Prinzip‹ leugne, »der läugnet die Realität an sich und
heißt mit Recht (in der gemeinen Bedeutung des Worts): Idealist«
(WA I, 51).
Schelling, so wird deutlich, wendet sich mit seinem personalen
Zeit- und Geschichtsdenken ausdrücklich gegen eine Philosophie des
noumenalen Maßes: »Ein metaphysisch hinaufgeschraubter Gott
taugt weder für unsern Kopf noch für unser Herz« (AA II,8, 86).
Mit anderen Worten: Es mag zwar einen ›metaphysisch hinauf-
geschraubten Gott‹ geben, solange wir ihn aber nicht in einen Bezug
zu unserer menschlichen Lebenswelt bringen können, ihn mithin
personalisieren, ändert ein solcher Gott nichts an unserem Selbst-
vertsändnis als eines durch und durch geschichtlichen Wesens. Schel-
ling geht es darum, das Problem der temporalen Qualität unserer
Erfahrung diesseits der Trennung von sinnlicher und intelligibler
Welt zu verhandeln. Ein Anliegen, das er mit seinen Zeitgenossen
um 1800 teilt. Zusammen mit Autoren wie Herder, Goethe, Schiller,
Novalis und Friedrich Schlegel macht sich Schelling auf den Weg zu
einer »integrativen Welt- und Selbstdeutung«, die eben nicht allein
im Rekurs auf ein vereinseitigendes mathematisch-naturwissen-
schaftliches Denken zu gewinnen ist. 48 Der Philosophie kommt so
verstanden die Aufgabe zu, die Übereinstimmung von Welt und
Selbst methodisch aufzuweisen, allerdings nicht in einer erst noch
zu erwartenden, intelligiblen Welt, sondern in den je konkreten Ge-
stalten der diesseitigen, sinnlichen Welt, in den phänomenalen Ge-
stalten von Natur und Geschichte. Worauf sie dabei zuletzt stößt –
und das ist eine Besonderheit Schellings – ist der Konflikt, in dem sich
verschiedene Zeiten und Zeitordnungen von jeher befinden, ein Wi-
derstreit, der die Zeit der Geschichte offenhält.
Die Gefahr, die von der systematischen Ausklammerung von Ge-
schichte und Geschichtlichkeit ausgeht, zeigt sich nicht erst seit dem
technologischen, alles und jeden verfügbar machenden 20. Jahrhun-
47 Der Zuwendung zu Welt und Leben korrespondiert die These, die Rie Shibuya in
ihrer Dissertation entfaltet, dass nämlich der unmittelbare Anstoß zur neuen Bestim-
mung des Individualitätsbegriffs die Rezensionsarbeit eines pädagogischen Werks
von Niethammer gewesen sei. Vgl. dazu Shibuya 2005, 18 f.
48
Stolzenberg 2000, 60.
242
Zeitphilosophische Verschiebungen
52
von Weizsäcker 1994, 540.
243
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
244
Zeitphilosophische Verschiebungen
Als eine sehr krasse, für das 18. Jahrhundert absolut einschlägige Er-
fahrung wäre hierbei das Erdbeben von Lissabon 1755 zu nennen.
Dass die Zeit auch abseits ihrer Bestimmung als objektiv gültige
Zeiterfahrung eine fundamentale Bedeutung für das menschliche
Selbst- und Weltverständnis hat, lässt sich an einer Reihe von ein-
schneidenden Erfahrungen im menschlichen Leben darstellen. Das
gilt noch für die Erfahrungen, die den Menschen in seiner bloßen
Passivität, seiner physischen Unterlegenheit, seiner sinnlichen Ohn-
macht treffen. Das Erdbeben von Lissabon ist eine solche für die
Erfahrungsgeschichte des 18. Jahrhunderts einschneidende Erfah-
rung. Und schon die Bezeichnung dieses Ereignisses als Naturkata-
strophe zeigt an, dass hier nicht nur über ein Naturereignis als ursa-
chenrelationale Erscheinung in der Welt geurteilt wird; wir sehen
uns gleichermaßen aufgefordert, ihm eine Bedeutung zu geben, wie
καταστροφή seinem griechischen Wortursprung nach ja auch ›Um-
wendung‹ heißt, eine ›Umwendung‹, die, je nachdem wie stark man
selbst in Ereignisse wie dieses verwickelt und von ihnen betroffen ist,
zum Teil radikale Folgen haben kann. Dasselbe Naturereignis, das als
ursachenrelationale Erscheinung in der Welt erklärt werden könnte,
fordert uns zugleich heraus, nach spezifischen Sinnhorizonten zu su-
chen, in denen eine solche radikale Umwendung den sicher geglaub-
ten Bestand der Erfahrungswelt nicht völlig auf den Kopf stellt.
Nicht von ungefähr taucht in Zusammenhang mit Naturkatastro-
phen vorzugsweise die Frage nach dem Schicksal respektive einer
höheren Macht auf, die den Lauf der Dinge bestimmt und als tragen-
der Grund einer solchen καταστροφή in Erscheinung treten kann.
Es ist, kurz gesagt, die Frage nach dem Sinn, die beide Erscheinungs-
weisen so radikal voneinander scheidet: Hier eine Welt, die als Rela-
tionsgefüge von Ursache und Wirkung ohne Sinnhorizont aus-
kommt, dort eine Welt, die erst mit Sinn gefüllt werden muss, um
von uns als Welt verstanden werden zu können. 58
Zu welcher Wirkmächtigkeit die Frage nach dem Sinn sich aus-
wachsen kann, davon gibt die Art und Weise, wie das Erdbeben von
Lissabon 1755 philosophisch, literarisch und künstlerisch reflektiert
58
Vgl. dazu auch Angehrn 2009, 23.
245
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
die symbolische Vermittlung Hühn zufolge bestimmte Ereignisse bzw. Objekte als
›eminente Fälle‹, als Repräsentanten vieler anderer Fälle aus, die in einer spezifisch
geschichtlichen Konstellation eine ›gewisse Totalität‹ in sich schließen. Als Goethe
1797 nach langer Zeit wieder in seine Geburtsstadt Frankfurt gekommen sei, habe er
er die Stadt stark verändert, zum Teil zerstört vorgefunden; der Roßmarkt und das
Haus des Großvaters Textor würden von Goethe zu seiner eigenen Überraschung als
›symbolisch‹ beschrieben: »The symbolic approach helps to envisage the partial events
as ›eminent cases‹ in a historical configuration, events which stand for themselves
while at the same time referring to each other in the way of a metonymic symbolism.
No partial event can claim absolute meaning, but each has a specific meaning«.
246
Zeitphilosophische Verschiebungen
63
Zu diesem Problemkomplex vgl. auch Hoheisel 2013.
247
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
248
Zeitphilosophische Verschiebungen
insgesamt ist. Auf eine solche Philosophie des ›Trotz dessen‹ wird im
nächsten Kapitel ausführlich zu sprechen kommen sein.
Kant muss den Erfahrungsbereich personaler Zeitpraxis verfehlen.
Er muss ihn in dem Maße verfehlen, wie der transzendentale Grenz-
begriff einer möglicher Erfahrung überhaupt vor der »faktisch ge-
schichtliche[n] Einzelerfahrung« halt macht, weil diese nur »mit der
Angabe des Geltungsgrundes für eben diese Erfahrung, nicht aber
mit der Angabe eines Geltungsgrundes für alle mögliche Erfahrung
gerechtfertigt werden kann«. 66 Während Kant den Versuch unter-
nimmt, die Gegenstände zu bestimmen, wie sie uns in Raum und Zeit
erscheinen, verfolgt Schelling das Anliegen, die Genese der einzelnen
Phänomene und der Zusammenhänge, in denen sie sich zeigen, auf-
zudecken. Dies beginnt schon auf der untersten Ebene, beim Indivi-
duum selbst: »Schon die Eigenheiten einer ausgezeichneten mensch-
lichen Individualität sind uns oft unbegreiflich, bis wir die besonde-
ren Umstände erfahren, unter welchen sie geworden ist und sich
gebildet hat« (WA I, 12). Niemand, so Schelling, könne sich rühmen,
die Persönlichkeit eines Menschen durch die »blose Vernunft« zu er-
kennen; die Erkenntnis des Menschen, dessen, was ein Individuum
vor allen anderen Individuen auszeichnet, setze immer »etwas Ge-
gebenes, Thatsächliches, Geschehenes« voraus, wodurch auch die Er-
kenntnis »concreter, reeller und empirischer werde« (Schelling 1827/
28, 59). Oder könnte man etwa, wie Schelling an anderer Stelle fragt,
»wenn vom Geringsten der Gegenwart die Rede ist, ein Glied der
großen Vergangenheit herausnehmen, ohne daß jenes sofort unmög-
lich würde«; wäre es möglich »aus einem Menschen wie durch einen
chemischen Prozeß zu extrahieren, was Vergangenheit und Gegen-
wart zu ihm beitragen, was bliebe übrig, als der bloße leere Titel eines
Selbstes oder Ichs, mit dem er wenig, oder richtiger zu reden, gar
nichts ausrichten würde« (SW XIII, 136)? Der Gedanke, den Schel-
ling mit seiner Kritik an Kant verfolgt, ist, dass die Geltungsgründe
unseres Urteilens und Handelns einer rationalen Genese unterliegen,
deren normative Maßstäbe es sukzessive allererst aufzudecken gilt,
um von diesem Standpunkt aus wiederum in die Lage versetzt zu
werden, auf der Höhe der Zeit zu urteilen und zu handeln. Immer
gelte es, »von dem was wirklich Anfang ist«, also dem »an sich Un-
vordenklichen u. Ersten durch Mittelglieder«, »bis zu dem was wirk-
lich das Ende ist« fortzuschreiten: »Alles was nicht auf diese Weise
66
Otto 1982, 52
249
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
67 Vgl. dazu Schellings Aufsatz von 1798 Über die Frage, ob eine Philosophie der
Erfahrung, insbesondere ob eine Philosophie der Geschichte möglich sei (AA I,4,
183–190) sowie die aufschlussreichen Ausführungen von Bach 2011 zur Genese von
Schellings Projekt einer Philosophie der Geschichte im Ausgang von Herder. Schon
Herder hatte in seinem Reisejournal von 1769 notiert: »Welch große Geschichte, um
die Literatur zu studieren, in ihren Ursprüngen, in ihrer Fortpflanzung, in ihrer Re-
volution, bis jetzt! Alsdenn aus den Sitten Amerikas, Afrikas und einer neuen süd-
lichen Welt, besser als ihre, den Zustand der künftigen Literatur und Weltgeschichte
zu weissagen! Welch ein Newton gehört zu diesem Werk! Wo ist der erste Punkt«
(FA 9,2, 18).
68
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1109b23. Vgl. dagegen Kant: »Man kann also
zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit
richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen« (KrV, A 293/B 350).
69 In analoger Weise unterstreicht auch Gadamer die Bedeutung der aristotelischen
250
Zeitphilosophische Verschiebungen
die Zäsur, P. N.], die keine Philosophie erklären kann, in der keine wahre Succession
ist, die bloße logische Verhältnisse kennte, und in der eine bloß simulierte Succession
ist, die im letzten Gedanken sich wieder aufhebt«.
251
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
73 Schelling unterstreicht diese Umkehrung auch noch einmal in Bezug auf die Un-
terscheidung zwischen einer negativen, bloß bei sich bleibenden Philosophie und
einem positiven Denken: »Alles ursprüngliche Denken bezieht sich immer auf einen
wirklichen Gegenstand. Gegenstand und Wirklichkeit ist im Grunde ein und dasselbe
Wort: der Gegenstand der Philosophie ist immer ein solcher, dem ich, was er in sich
schliesst, gleichsam erst abgewinnen muss. Dieses ringende Denken nenne ich das
positive Denken« (Schelling 1832/33, 94).
252
Zeitphilosophische Verschiebungen
ling in Anspielung auf das Buch Kohelet sagt. 74 Die Gegenwart ten-
diert mit anderen Worten dazu, ihre faktische Geschichtlichkeit zu
verdrängen und sich einem selbst auferlegten und insofern auch
selbst verschuldeten Naturzwang zu unterwerfen. Sie »remythologi-
siert«, wie Michael Theunissen im Anschluss an Schelling sagt, die
Vernunft, indem sie »im Reich der Freiheit selbst den Naturzwang
erneuert«. 75 Für Schelling handelt es sich bei der ›äußeren Zeit‹ in
dem Maße um das »Scheinbild einer abstrakten Zeit« (WA I, 144),
um einen Mythos, wie ein solches ›Scheinbild‹ darüber hinwegtäu-
schen soll, dass auch diese, unsere, die weltliche Zeit sich immer
schon in Gefüge von Zeiten befindet, und daher gar nicht so statisch
aufzufassen ist, wie es auf den ersten, routinierten Blick scheint. Dass
Aufklärung auf ihrem Höhepunkt in Mythologie zurückschlägt, ist
bekanntlich eine der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung von
Horkheimer und Adorno; in Schellings Weltalterlehre wird sie avant
la lettre ausbuchstabiert, und zwar als Theorie einer ›in sich verkehr-
ten‹ Zeit.
Worauf Schelling mit seiner Kritik, dass kein Ding eine ›äußre
Zeit‹ habe, sondern jedes nur seine ›innere‹, ihm eigene Zeit, hinaus-
will, ist, dass, obwohl es ›gegenwärtig‹ so scheinen mag, als habe es
nie eine andere Zeit gegeben und als könne es auch nie eine andere
Zeit geben als die ›gegenwärtige‹, weltliche Zeit, diese Zeit selbst nur
das Produkt eines geschichtlichen Ausdifferenzierungsprozesses ist,
selbst nur ein Glied in einem größeren Zusammenhang von Zeiten
und insofern selbst eine geschichtlich gewordene Zeit darstellt. Schel-
lings ›Zeit‹-Kritik ist nicht bloß Systemkritik; sie ist Zeit-Kritik in
sensu eminenti. Sie ist Gegenwartskritik in dem Maße, wie sie die
antike Tradition der χρόνων αἰωνίων aufgreift und in eine kritische
Erinnerung an die grundsätzliche Offenheit der Zeit transformiert.
Auch da, wo es so scheint, als gäbe es nichts als Naturzwang, nur
Monokratie, ist für Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken
eine grundsätzliche Alterität mitgegenwärtig: »Es kommt also haupt-
sächlich darauf zu zeigen, dass und wie die Zeit dieser Welt, von wel-
cher ganz richtig gesagt wird, dass sie nicht über die Welt hinausgeht,
nicht die Zeit schlechthin, nicht die einzige und ganze sei« (Schelling
1832/33, 88).
74
Vgl. Koh 1,9: »Was geschehen ist, wird wieder geschehen,/ was man getan hat, wird
man wieder tun:/ Es gibt nichts Neues unter der Sonne«.
75
Theunissen 1994, 47.
253
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
76 Gloy 2006, 118. Eine ›Vermischung‹, so ist allerdings einzuräumen, die nur im
Timaios (37d) auftritt, im Parmenides (151e–152e) ist die zyklische Zeit in Rein-
gestalt, ohne Konfudierung mit der Linearzeit, enthalten.
77
Demandt 1978, 247.
254
Zeitphilosophische Verschiebungen
stand, von dem wir nicht wollen können, dass er ist, wie er ist, und
dass er andauert: »Sich befangen, fremd und unbehaust zu finden, das
ist für Schelling die erste Erfahrung des erwachenden Bewußtseins,
welt- wie individualgeschichtlich«. 78
Gegen diese ›Gefangenschaft‹, diese um sich greifende Chronolo-
gisierung ursprünglich lebensrhythmischer Vorgänge versucht
Schelling sich mit dem Verweis auf eine »wahre Vergangenheit«
und eine »wahre Zukunft« (Schelling 1832/33, 89) philosophisch zu
verteidigen, das heißt, durch eine kritische Erinnerung daran, dass in
die Zeit selbst eine tiefengeschichtlich wirksame Ewigkeit eingelassen
ist, die das Gewordensein und Immer-Noch-Werden von Zeit und
Welt zum Ausdruck bringt. 79 Denn die »Täuschung«, also die Vor-
stellung, es könne tatsächlich nur eine Zeit geben, in der die Dinge
sind, nicht aber auch eine Zeit, die in den Dingen selbst ist, insofern
diese sich selbsttätig entwickeln und dadurch eine neue, und zwar
ihnen gemäße Zeit hervorbringen, lässt sich den Weltaltern zufolge
»leicht auflösen« (WA I, 78). Die Pointe der Auflösung besteht dabei
im Folgenden: Dass in der ›gegenwärtigen‹, weltlichen Zeit nichts
Neues unter der Sonne geschieht, möchte im Grunde auch Schelling
sagen, nur ist bei ihm damit die kritische Erinnerung daran gemeint,
»es sey nur von der durch die Sonne bestimmten d. i. weltlichen Zeit
die Rede« (WA III 1, 188), nicht aber von der Zeit, die über der Zeit ist
und dafür sorgt, dass die Zeit der Gegenwart andere Zeit außer sich
voraussetzt. Sollte »irgend ein Ding durch den hohen Grad seiner
Ungeschiedenheit ohne lebendige innre Zeit scheinen, so unterliegt
es wenigsten keiner außer sich« (WA I, 78). Die polare Opposition
von Außen und Innen wird im selben Moment unterwandert, in
dem sie von Schelling aufgestellt wird. Es gibt vom Weltkörper hinab
bis zu den organischen Gewächsen gar keine andere als die lebendige
Zeit der Subjekte, »ob sie gleich in den hier genannten entfalteter,
78
Adolphi 1993, 353.
79 Schelling schildert diese Befangenheit sehr drastisch: »Was wir also insgeheim die
›Welt‹ nennen, ist eigentlich nur eine Zeit, in der weder eine wahre Vergangenheit
noch eine wahre Zukunft ist. Denn es wiederholt sich in ihr nur, was geschehen ist.
Wir können also die gegenwärtige Welt betrachten als eine Zeit, die in einem bestän-
digen, aber eitlen Bestreben begriffen ist, die wahre Zukunft hervorzubringen, oder
eine Zeit, die nicht als Gegenwart bestehen kann, die bestimmt ist, zur Vergangenheit
zu werden. Aber auch das vermag sie nicht; sie setzt immer nur wieder sich selbst.
Denn einer solchen Zeit bleibt nichts übrig, als sich selbst unablässig wieder zu setzen.
Die ganze Welt wird gleichsam in jedem Moment negiert« (Schelling 1832/33, 89).
255
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
ausgesprochener ist als in den andern«: »[K]ein Ding hat eine äußre
Zeit, sondern jedes nur eine innre, eigne, ihm eingeborne und in-
wohnende Zeit« (WA I, 78).
Dass sich eine ›Täuschung‹ derartig ›leicht auflösen‹ lässt, sagt
allerdings noch nichts darüber aus, wie unnachgiebig, ja ›gewalttätig‹
sich diese zunächst und zumeist Raum verschafft. »Die Meisten
aber«, so wendet Schelling – resignierend – ein, »möchten, wo nur
die That entscheidet, alles mit friedlichen Allgemeinbegriffen schlich-
ten, und eine Geschichte, in der wie in der Wirklichkeit Scenen des
Krieges und des Friedens, Schmerz und Lust, Gefahr u. Errettung
wechseln als eine bloße Folge von Gedanken vorstellen« (Schelling
2002, 167). Schelling übt seine Zeitkritik aus dem Bewusstsein he-
raus, dass die Tendenz der Gegenwart bei aller Gegentendenz immer
wieder zur gewaltsamen Beherrschung der Zeit zurückkehrt. 80 Man
berufe sich zwar auf die Ewigkeit der Vernunft und ihre Ansprüche,
aber eine Genealogie der Gegenwart könne zeigen, »dass die Vernunft
nur die Gewalt der allgemeinen Spannung des gegenwärtigen Zustan-
des der Dinge ist«: »In dieser Spannung sind auch wir begriffen, wir
andern Wesen« (Schelling 1832/33, 90). Im Gefolge der alltäglichen
Routine kann es so immer wieder zu einer schlechten Kontinuierung
der Zeit kommen, als ob es im Umgang mit der Zeit für uns tatsächlich
unmöglich wäre, von selbst einen Anfang zu setzen, ein Dilemma
wider besseren Wissens: »Denn daß der Begriff einer unendlichen
Zeit ein ungereimter Begriff sey, davon ist jeder leicht zu überführen;
und dennoch kommt der menschliche Verstand immer wieder dahin,
so lange nicht seine Wurzel ausgerissen worden« (WA I, 79).
Hier also, bei der kritischen Erinnerung an den praktischen Um-
gang mit Zeit und die Notwendigkeit ihrer geschichtlichen Aneig-
nung, ergibt sich die Möglichkeit, Schellings hochspekulatives Welt-
alter-Projekt auf bisher ungenutzte Potentiale für die moderne
80
Vgl. dazu auch Hutter 1996, 373: »Die moderne Vernunft ist demnach von einer
›unbewußten‹ Parteinahme für das ›Abstrakte‹ beherrscht, die zugleich – und das ist
erst die entscheidende Wendung – eine Wendung gegen die konkrete Wirklichkeit
ist«. Eine Passage aus Schellings Spätphilosophie, die Hutter in diesem Kontext zi-
tiert, macht die Wirklichkeitsverkehrung sehr plastisch: »Während unsere Zeit auf der
einen Seite sich von allem Positiven, Bedingten, Gegebenen abwendet, gleichsam als
wäre es möglich, die Welt ganz von vorne anzufangen und neu hervorzubringen, ist
nicht zu leugnen, daß sie von der anderen Seite eine sehr lebhafte Richtung auf die
Wirklichkeit zeigt, wie aus dem Bestreben erhellt, eben jene allgemeinen und abs-
trakten Vorstellungen womöglich der Wirklichkeit aufzudringen« (SW XIII, 178).
256
Zeitphilosophische Verschiebungen
81
Vgl. dazu auch Hutters Deutung der Spätphilosophie als einer anamnetischen Kri-
tik des modernen Bewusstseins: »Die Verdrängung der praktisch-geschichtlichen Di-
mension aus der heutigen Rationalität führt nicht nur zu einer Beschränkung und
fortschreitenden praktischen Ohnmacht der modernen Vernunft, sondern im Gegen-
zug zu einer Ermächtigung von nunmehr ›irrational‹ auftretenden, praktischen Impe-
rativen« (Hutter 1996, 383).
82 Kracauer 2009, 158. Auch Benjamin 1942, 701, unterstreicht die frappante Ver-
257
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Kants Zugriff auf das Problem der Geschichte ist geprägt von einem
methodologischen Antagonismus. Es ist der Konflikt zwischen Indi-
viduum und Gattung, der die Geschichte zum Erfahrungsfeld des
Prekären und Temporären macht und Konsolidierungsmaßnahmen
auf den Plan ruft, welche die Geschichte trotz dessen, trotz der ge-
schichtlichen Kontingenzerfahrungen, die es gibt, desjenigen, »was
an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt«
(AA 8, 17) als einen regelmäßigen, sprich: vernünftigen, zweckmäßi-
gen Gang erscheinen lassen. So findet sich bekanntlich in der Idee zu
einer Philosophie in weltbürgerlicher Absicht von 1784 der Begriff
von einem verborgenen Plan der Natur, der methodisch den Leitfaden
für eine Geschichtsbetrachtung in vernünftig-kritischer Absicht ab-
geben soll: Auch wenn es so scheinen mag, dass der Mensch keine
vernünftigen eigenen Absichten verfolgt, so sagt dieser in der Natur
verborgene Plan, ist doch, auch und vor allem im Angesicht der nicht
mehr zurückzunehmenden geschichtlichen Bewegung der europäi-
schen Aufklärung, ein Fortschritt im widersinnigen Gang der
die ständige Gegenwart der Ewigkeit noch der Grund des Zeitbegriffs Kants ist, und
dass in einer so gedachten Unendlichkeit es überhaupt keine Geschichte geben kann,
schon gar keine von Personen.
258
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
85
Vgl. Baumgartner 1996.
259
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
des Menschen zu erreichen gilt, bewährt sich, auch wenn sich dieser
Zweck bis auf einzelne, wenige Ausnahme überhaupt nicht in der
Geschichte zeigt, geschweige denn sich ebendort erfüllt. Die ge-
schichtliche Zeit des Einzelnen wird in eine Zeit der Geduld trans-
formiert. Die Zeit der Geduld wird zu einem Medium von Lebens-
wirklichkeit in dem Maße, wie allein die geduldige Vernunft den
verborgenen Plan der Natur einsieht und das Chaos der geschicht-
lichen Wirklichkeit, die augenscheinliche Regellosigkeit der Welt an-
hand dieses Leitfadens überprüft. 86
Auf diese Weise begegnet man bei Kant der Struktur einer Ge-
schichtszeit, welche die historische Einmaligkeit einer je spezifischen
Person, einer je spezifischen geschichtlichen Epoche a fortiori in den
Verlauf einer naturteleologisch fundierten Universalgeschichte stellt,
die persönliche Eigenheiten, die sich geschichtlich herausbilden, radi-
kal nivelliert. Die kantische Philosophie ist ihrem Ansatz nach eine
»Philosophie der einsamen und geschichtslosen Subjektivität, der zu-
nächst nichts gegeben ist als ihr eigenes Denken«, gibt Stephan Otto
zu Bedenken. 87 Kant verfehlt, so lässt sich auch mit Martin Seel kon-
statieren, die »spezifische Zeitlichkeit des menschlichen Lebens« in
dem Maße, wie er die menschliche Lebensführung in letzter Instanz
an Fixpunkten ausrichtet, »von denen jederzeit deutlich ist, daß sie im
endlichen Leben unerreichbar bleiben müssen«. 88 Verteidiger Kants
mögen an dieser Stelle einwenden, dass genau das ihre Stärke sei,
für ein personales Zeit- und Geschichtsdenken, wie es Schelling in
den Weltaltern entwickelt, für ein Denken geschichtlicher Dis-/Kon-
tinuität ist es zu wenig. Was sich im Ausgang von Schellings genea-
logischem Ansatz an der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht kritisieren lässt, ist die Tendenz, das phi-
losophisch Unbequeme – die Kategorie des geschichtlich Einzelnen –
auszublenden. Sie, also die gegenwärtige, idealistische Philosophie, so
sagt Schelling, wolle »das Unbequeme ganz hinwegschaffen, das Un-
verständliche völlig in Verstand auflösen« (SW VIII, 212); auch Kant
versuche, »das Geschichtliche gänzlich verschwinden zu lassen«
(Schelling 1841/42, 18). 89
89
Umgekehrt bezeichnet der zweifellos von Schelling beeinflusste Franz Rosenzweig
260
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
gut einhundert Jahre später gerade die Philosophie als eine idealistische, die »das
Einzelne aus der Welt schafft«, das Ungeheure, nämlich den Tod, verbannt in »die
eine und allgemeine Nacht des Nichts« (Rosenzweig 1921, 4).
261
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
262
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
263
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
man ›die ganze Rührung von ihrer Größe‹ empfinden will« (97). Das Geschichtszei-
chen, so Kittsteiner, stelle sich somit als ein Verhältnis »zwischen einem aus räum-
licher Distanz betrachteten Ereignis und einem von ihm ausgelösten Gefühl für die
moralische Anlage der Menschscheit«.
95
Gadamer 1986, 137.
264
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
erst entschließen muss, auch wenn die Gefahr in vielen Fällen »eben
nicht so groß ist«, »allein ein Beispiel von der Art macht doch schüch-
tern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab«
(AA 8, 35 f.). Aufklärung, so könnte man mit Kant sagen, ist ein ris-
kantes Unternehmen: Erst aus dem persönlichen Einsatz, seinen ei-
genen Standpunkt im Notfall gegen Widerstände verteidigen zu müs-
sen, entsteht jener gesellschaftliche Umgang intellektueller Reibung
und Stimulanz, der auf der anderen Seite die Begeisterung hervor-
ruft, die Kräfte wie den des Enthusiasmus freisetzt.
Rainer Enskat hat in diesem Zusammenhang die besondere Be-
deutung der Urteilskraft für das kantische Aufklärungsprojekt he-
rausgestellt. Nicht das Vermögen des Verstandes oder der Sinnlich-
keit, das Vermögen der Urteilskraft sei »das wichtigste kognitive
Organ und Medium der Aufklärung«. 96 Sie überführe die Aufklä-
rung in einen Vollzug des Aufklärens, sodass der Erfolg immer nur
relativ auf je konkrete Umstände und Situationen zu bemessen sei,
nicht aber in Bezug auf einen abstrakt bemessenen wissenschaftli-
chen Fortschritt, wie er durch die Naturwissenschaften propagiert
werde. Unter dem Namen der Urteilskraft hat man es Enskat zufolge
mit der »kognitiven Kompetenz zu tun, der von alters her die diag-
nostische Erfassung und Durchdringung des Hier und Jetzt zu-
geschrieben wird – also sowohl dessen, was hier und jetzt der Fall ist,
wie auch dessen, was hier und jetzt der Fall sein sollte«. 97 Dem Modell
einer »Aufklärung durch Wissenschaft« stellt Enskat das Modell
einer »Aufklärung der Urteilskraft« entgegen. 98 Und schon die For-
mulierung zeigt hierbei an, dass die Aufklärung der Urteilskraft nicht
allein eine Aufklärung durch Urteilskraft ist, sondern dass es hier
vielmehr die systematische Pointe der Doppeldeutigkeit von geniti-
vus objectivus und genitivus subjectivus zu beachten gilt: Die Auf-
klärung, die von der Urteilskraft geleistet wird, klärt diese immer
auch zugleich über ihren eigenen Vollzug auf: Aufklärung der Ur-
teilskraft ist gleichermaßen Aufklärung über die Urteilskraft. 99 Mit
anderen Worten: Urteilskraft ist ein genuin prozessuales und damit
nicht zuletzt vergeschichtlichendes Vermögen: Sie reflektiert auf auf-
klärerische Prozesse und bildet sich selbst in diesen Prozessen des
265
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Aufklärens heraus. Ein Umstand, der sie einerseits vor der wissen-
schaftlichen Erklärung auszeichnet, die im Zentrum des szientisti-
schen Aufklärungsmodells steht, schließlich kann diese nur statisch
operieren, ein Umstand, der sie andererseits in echte Bedrängnis
bringt, muss sie doch ständig von neuem ihre diagnostische Kraft
unter Beweis stellen und dabei sowohl das Allgemeine als auch das
Einzelne ständig im Blick behalten. »Sie muß ihre Umsicht, ihre Vor-
sicht und ihre Rücksicht immer wieder von neuem auf die ständig
wechselnden Umstände der konkreten Situation konzentrieren, in de-
nen sie sich vorfindet«, wie Enskat sagt, sie kann die Situation, in der
sie sich jeweils vorfindet, aber auch umgekehrt nur dann in aufgeklär-
ter Weise diagnostizieren, »wenn sie sich auch an Bedingungen ihrer
Aufklärung zu orientieren versucht, die dem Hier und Jetzt aller
möglichen Lebensituationen und Situationswechsel ganz und gar
enthoben sind«. 100
Enskat trifft damit einen wesentlichen Punkt der Überlegungen
Kants. Auch dieser klagt das Recht einer jeweiligen geschichtlichen
Gegenwart gegenüber einer falsch verstandenen Aufklärung ein, die
eine »ehrwürdige Classis« dazu antreibt, auf kurz oder lang als »Vor-
münder des Volkes« aufzutreten und womöglich noch durch »oberste
Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensbeschlüsse«
(AA 8, 39) bestätigt. Dies, meint Kant, wäre ein »Verbrechen wider
die menschliche Natur«, weshalb die »Nachkommen« jederzeit dazu
berechtigt wären, »jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter
Weise genommen zu verwerfen« (AA 8, 39). Jedes »Zeitalter«, so
lässt sich Kant hier verstehen, hat damit aufs Neue zu prüfen, »ob
ein Volk sich wohl selbst ein solches Gesetz auferlegen könnte«
(AA 8, 39). Kein »Zeitalter« dürfe für sich in Anspruch nehmen, »das
folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden
muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu
erweitern, von Irrthümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklä-
rung weiter zu schreiten« (AA 8, 39). 101 Und nirgendwo hat Kant der
Forderung nach einer Gegenwart, über die noch nicht entschieden ist,
266
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
weil diese vielmehr erst noch über sich selbst als Gegenwart zu ent-
scheiden hat, so stark Ausdruck verliehen wie in den berühmt-be-
rüchtigten Worten aus der Einleitung in die Critik der reinen Ver-
nunft, mit denen Kant kurzerhand seine eigene Philosophie zum
bestimmten und bestimmenden Zentrum der Gegenwart macht:
»Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles
unterwerfen muß« (KrV, A XI). 102 »Unverstellte Achtung« wird die
Vernunft nach dieser Maßgabe nur den Angelegenheiten zu teil wer-
den lassen, die »ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten kön-
nen« (KrV, A XI). Von einer »gereiften Urteilskraft des Zeitalters«
(KrV, A XI) ist in diesem Zusammenhang auch die Rede: Als ›reif‹
erweist sich die Urteilskraft in dem Maße, wie sie sich im Urteilsvoll-
zug ihrer geschichtlichen Situiertheit und Vorläufigkeit bewusst
bleibt, ohne in den Verstrickungen des Einzelnen den Blick für das
Allgemeine zu verlieren.
Es besteht chronischer Aufklärungsbedarf. Noch wichtiger als die
Aufklärung selbst ist Enskat zufolge die Fähigkeit, »Aufklärung
immer wieder von neuem zu erwerben«. 103 Kants ›Universal-
geschichte‹ wäre so verstanden weder Faktum noch Totalität. Viel-
mehr würde sie sich als ein Modell beschreiben lassen, mit Hilfe des-
sen sich konkrete Prozesse der Universalisierung mikrologisch
beschreiben und makroperspektivisch einordnen lassen: als unter-
schiedliche Geschichtsverläufe, sprich: historische Zeiten, in einer
auf Universalisierung angelegten Geschichte. 104 Die zweifellos in Ver-
ruf gekommene Universalgeschichte würde in diesem Sinne geradezu
als spätmodernes Projekt begriffen werden können, als ein »Genera-
tionen übergreifende[r] Interaktionszusammenhang«, wie etwa Jo-
hannes Rohbeck im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie als einer
Zukunftsethik vorschlägt. 105 Um das aber leisten zu können, wird
von Kant – noch einmal mit Blick auf die Überlegungen zur Rolle
der Öffentlichkeit und Publizität – nicht weniger gefordert als indivi-
105 Rohbeck 2013, 9. Rohbeck hat sich in unverkennbarem Anschluss an Kants Pro-
267
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
106
Rohbeck 2013, 62.
268
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
269
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
natur gilt es im Folgenden auf ihre temporale Struktur und ihr gegen-
wartskritisches Potenzial hin zu befragen.
109Vgl. Zum Projekt einer solchen Genealogie auch Schelling 1832/33, 85: »Eine ver-
hältnismässige untergeordnete Wissenschaft ist die Naturgeschichte der Erde. Hier
sind offenbar verschiedene Zeiten aufeinander gefolgt. Wir sehen also in der Natur
nirgends den Anfang. In einem solchen Ganzen ist nichts einzeln, nichts für sich
genommen werden. Alles ist nur Werk der Zeit. Jedes Ding ist nur der Zeiger eines
grossen Ziffernblattes am grossen Uhrwerk der Natur. Und sollte es mit der Welt
anders beschaffen sein?« Unglücklicherweise wählt Schelling hier eine mechanizisti-
sche Metapher, um einen im Grunde organischen Prozess zu beschreiben.
270
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
271
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
112
Vgl. Oesterle 1985, 17.
113 Oesterle 1985, 18.
114
Osterkamp 1995, 159.
272
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation
einen wesentlichen, unwidersprechlichen Einfluss« (NA 14, 371) hat.
»Umwege, Digressionen, Exkurse gibt es nicht«: 115 Die Geschichte
verläuft auch bei Schiller linear und lässt wie bei Kant eine durch-
gängige, sich an ein Ideal approximativ annähernde Steigerung er-
kennen. Von der »heutige[n] Gestalt« mit ihren »bürgerlichen Vor-
teilen« wird im Sinne universalgeschichtlicher Vervollkommnung
analogisch auf die Vergangenheit und auf die Zukunft geschlossen. 116
Die »universalhistorische Instrumentalisierung des Geschichtlichen«
tritt bei Schiller auch und vor allem dann zu Tage, wenn der Histori-
ker, allein fokussiert auf die europäische Aufklärung, auf die »rohen
Volkerstämme« blickt und befindet, dass sie »wie Kinder verschiede-
nen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Bei-
spiel ihm in Erfahrung bringen, was er selbst vormals gewesen« (NA
364). 117 Universalgeschichte, so wird hier in besonders drastischer
Weise deutlich, ist Interpretation der Geschichte gemäß eines Prin-
zips, durch welches geschichtliche Ereignisse und Abläufe vereinigt
und auf eine letztgültige Bedeutung gerichtet werden. 118 Eine Inter-
pretation der Geschichte, die vor dem Hintergrund der realgeschicht-
lichen Totalitäts- und Ohnmachtserfahrungen des 20. Jahrhunderts
zwangsläufig Verdacht erregen muss. Gerade die Vereinigung ge-
115 Koopmann 1995, 63. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Versuch,
dass Koopmann aus diesem Befund heraus der gegenläufigen Tendenz nachgeht und
prüft, in welcher Weise Schiller sich auch auf das geschichtlich Negative bezogen hat.
Insbesondere beim ›ästhetischen‹ Schiller lasse sich erkennen, »daß die Moderne nicht
mehr in ihrer Gloriole, sondern vielmehr in ihrer Miserabilität gesehen wird, in ihrer
Zerrissenheit und Zerspaltenheit, in ihrer zerstörerischen Widersprüchlichkeit und in
ihrer für den Menschen wie für die Kultur gleichermaßen tödlichen Gegensätzlich-
keit« (68). Auch Hofmann 2003, 87, erkennt, angestoßen durch die Revolutionserfah-
rungen und die Herausbildung einer ästhetischen Theorie, bei Schiller »Zweifel an
einer Kohärenz des Geschichtsverlaufs und an der Vorbildlichkeit der Zustände seiner
Gegenwart«. Zu beachten bei der hier diagnostizierten Gegentendenz bleibt aber: Die
Zweifel an den Errungenschaften der eigenen Gegenwart gehen bei Schiller noch
nicht mit einer radikalen Wende zum geschichtlich Einzelnen einher. Vielmehr bringt
die Wendung zur poetischen Wahrheit der Geschichte beim ›ästhetischen‹ Schiller
wiederum »die Gattung und nicht das sich so leicht verlierende Individuum« (NA 25,
154) in den Blick. Der unverkennbaren Vielseitigkeit des Schillerschen Zeit- und Ge-
schichtsdenken widmen sich in ausführlicher Weise der Sammelband von Hühn/
Oschmann/Schnyder 2017.
116
Vgl. dazu auch Voßkamp 2004, 34 f.
117 Marquard 1987b, 71.
118
Vgl. dazu auch Löwith 1953.
273
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
schichtlich ganz heterogener Ereignisse und Abläufe ist es, von Schil-
ler immer wieder als ›Veredelungsprozess‹ der Menschheit beschrie-
ben, die wie im Fall der angeblich ›rohen Völkerstämme‹ vielmehr
umgekehrt zur Vereitelung des Blicks auf die eigene Gegenwart
führt, indem sie Alternativen im Geschichtlichen ausblendet und ins-
besondere gegenläufige historische Pfade als irrelevant zur Seite
drängt. 119
Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken folgt einem
anderen Modell: Kants ›verborgener Plan der Natur‹ wie Schillers
›Universalgeschichte‹ existieren für Schelling nur solange als hand-
lungsleitendes Narrativ, wie sie selbst aktualisiert werden, das heißt,
solange Personen nicht aufhören, freie Handlungen zu vollziehen
und sich ihre eigenen, nie ganz zu ergründenden Geschichten er-
innernd zu erzählen. Geschichte vollzieht sich nicht hinter dem Rü-
cken der Subjekte, sie geht nicht in der Vorstellung einer progressiv
ins Unendliche fortschreitenden Linie auf. Geschichtliche Prozesse,
Handlungen wie Erzählungen, sind vielmehr »Prozesse der Syste-
mindividualisierung«, um hier einen Gedanken von Hermann Lübbe
aufzugreifen, »durch die Systeme unter analogen einzigartig und un-
verwechselbar, also identifizierbar werden«. 120 Vor dem Kollektivsin-
gular ›Geschichte‹ behält der Individualplural ›Geschichten‹ sein
Recht, richtiger wäre es sogar zu sagen: Kollektivsingular und Indivi-
dualplural liegen im ständigen Konflikt miteinander, was umgekehrt
aber nicht bedeutet, einem methodologischen Partikularismus das
Wort zu reden, ein Punkt, auf den zurückzukommen sein wird, wenn
es um das Problem Polychronie und der Frage nach der Synchronisie-
rung verschiedener Zeiten geht.
Entscheidend bleibt festzuhalten: Schellings personales Zeit- und
Geschichtsdenken spricht sich für die irreduzible Pluralität geschicht-
licher Zeiten aus. 121 Zwar ist es durchaus richtig mit Koselleck zu
sagen, dass es durch den Zusammenschluss vieler Geschichten zu
Theorien des kulturellen Gedächtnisses. Vgl. dazu Assmann 2010, 15 f.: »Der abstrak-
ten Synthese einer Geschichte im Singular stehen heute die vielen unterschiedlichen
und z. T. einander widerstreitenden Gedächtnisse gegenüber, die ihr Recht auf gesell-
schaftliche Anerkennung geltend machen. Niemand wird leugnen, daß dieses Ge-
dächtnis mit ihren je eigenen Erfahrungen und Ansprüchen zu einem umkämpften,
vitalen Teil der Gegenwartskultur geworden sind«.
274
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
schließlich zu dem Ergebnis, dass eine Historik, also eine Theorie der historischen
Zeit, sich nur, wenn überhaupt, über eine »Theorie der geschichtlichen Zeiten« fun-
dieren lässt; ohne diese müsste sich eine als ubiquitär angelegte Historie ins Uferlose
verlieren.
125
Hutter 1994a, 534.
275
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
und Helle kennt«. 126 Und auch Michael Theunissen betont, dass Welt
und Gegenwart Schellings ›positiven‹ Ansatz zufolge im tieferen Sin-
ne geschichtlich verfasst seien, und diese Geschichte »ereignet sich als
ein zur Stunde noch unabgeschlossener Prozeß, als das aktuell pro-
zessierende Weltgeschehen, das in die Weit offener Zukunft hinaus-
läuft«. 127 Die Offenheit, die damit verbunden ist, gilt umso mehr für
eine Zeit, die nicht nur »Enthusiasm« der öffentlichen Teilnehmung
an der Revolution erfahren hat, sondern auch die Enttäuschung über
die Greueltaten des Terreur, das Elend, den »reine[n] Schrecken des
Negativen« (Phän., TWA 3, 432), wie Hegel in der Phänomenologie
des Geistes sagt. Überhaupt bekommt der ›Schrecken‹ eine neue Qua-
lität im Bild einer Zeit, die in eine tiefe κρίσις geraten ist und zu-
sehends in sich zerfällt. An die Stelle des allgemeinen Lobs auf die
eigene Gegenwart und das Aufklärungszeitalter tritt der Blick auf
eine Moderne, die mit sich im Konflikt liegt, in der, was erreicht wor-
den ist, sich ins Gegenteil zu verkehren droht, eine Konfliktuösität
von agonalem Charakter.
276
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
scheint, dann können wir nicht zweifeln, daß die Gottheit über einer
Welt von Schrecken throne« (SW VIII, 268).
War die Welt vormals ›vernünftig‹ strukturiert, bekommt sie nun
den ›negativen‹ Anstrich eines »Schauplatzes«, auf dem sich »Scenen
des Kriegs u. Friedens, Schmerz u. Lust, Gefahr u. Errettung« (WA III
4, 211) ereignen. 128 Ebenso wie bei Hegel wird die Welt bei Schelling –
trotz aller ›enthusiastischen‹ Begeisterung für das, was mit der Fran-
zösischen Revolution in die Geschichte gekommen ist – auf die
»Schlachtbank« (WdL, TWA 12, 35) der Geschichte geschickt. Der
»wahre Grundstoff alles Lebens und Daseyns«, so muss man bei
Schelling lesen, sei das »Schreckliche« (SW VIII, 339). Wo vormals
die Schauspielmetaphorik in bester platonischer Tradition auf die
Aufgabe der Philosophie verwiesen hatte, Darstellung der »höchsten
Ideen« zu sein – Platon spricht von ›Gliederpuppen‹, welche die Göt-
ter sich gebildet hätten, »sei es bloß zu ihrem Spielzeug, sei es zu
einem ernsteren Zwecke« – 129, wird sie von Schelling nun eingesetzt,
um das Augenmerk auf die negative, teils unvorstellbare Wirklichkeit
der Geschichte selbst zu lenken, in welcher wir Menschen »theils Zu-
schauer, theils mithandelnde und mitleidende Theile« (WA II, 149)
sind. 130 Dasein befindet sich in fortwährender ›Gefahr‹. Es trägt den
Stempel der Negativität, von dem es sich nicht zu befreien weiß, weil
es diese Negativtät selbst in sich selbst trägt. Zeit bedeutet jetzt nicht
mehr ›Mangel des Absoluten‹, als Gegenwart bedeutet sie Faktizität,
Kontingenz, »Nuneinmalsosein« 131. Insbesondere dem späten Schel-
ling gilt seine eigene Zeit als eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist –
»The time is out of joint«, möchte man mit Shakespeare sagen –, als
eine Zeit also, »die mit ihrer Vergangenheit und Geschichte zerfallen,
den Durchbruch in eine andere Zeit, in die wahre Zukunft nicht fin-
den kann« (SW XIII, 12), als eine Zeit, die schon gar nicht erwarten
128 Der Tenor der Negativität setzt sich in der späteren positiven Philosophie fort. Vgl.
dazu Schelling 1832/33, 99 f.: »Die Welt sieht nach alles weniger aus als nach einem
Erzeugnis reiner Vernunft. Sie enthält eine überwiegende Masse an von Unvernunft,
sodass man beinahe sagen könnte, das Rationale sei nur das Accidens«.
129 Platon, Nomoi, 644d.
130 Vgl. dazu auch Tilliette 1981, 196: »Der sonnenhafte Glanz der Philosophie der
Idenität oder der All-Eins-Lehre, eine Metaphysik des Lichtes, die ihren bedeutend-
sten Ausdruck in der Würzbürger Vorlesung und in den Aphorismen, die aus ihr
entnommen worden sind, gefunden hat, ist nur die Tagesseite eines Systems, das
implizit in die Schätze der Nacht eingeweiht ist«.
131
Rosenzweig 1921, 13.
277
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Die Kunst greift zu kurz: Sie hatte ihre Zeit. Um einen realen Begriff
vom Dasein zu haben, bedarf es nicht eines Vermögens einer ästheti-
schen Anschauung, keiner Theorie der ästhetischen Erziehung, wie
sie etwa auch von Schiller entworfen worden war. Um einen »wirk-
lichen Menschen« zu haben, so sagt Schelling, »müssen wir ihn be-
trachten, inwiefern beide Prinzipien [Freiheit und Notwendigkeit,
P. N.] in ihm wirklich im Gegensatz, im Kampfe begriffen sind«
(AA II,8, 76). Nur in diesem »Kampf« kann die aus den Fugen gera-
tene Zeit wieder zurechtgerückt, in ihre geschichtlichen Dimensionen
auseinandergetrieben, mit anderen Worten: in die für sie vorgesehe-
nen Angeln gehoben werden. Wäre kein »wahrer Unterschied der
Zeiten, ginge die nämliche Zeit, welche die gegenwärtige ist, in’s Un-
bestimmte fort«, und so bliebe auch die Welt nichts als eine »in’s
Endlose auslaufende Kette von Ursachen u. Wirkungen« (WA III 5,
223), ja der reale Begriff der menschlichen Freiheit wäre selbst un-
möglich: »Aber dieser Ungedanke sollte mit dem mechanischen Sys-
tem, dem allein er angehört, billig zugleich verschwunden sein«
(WA II, 119). So gesehen liegt in der Agonie, in dieser von Schelling
immer wieder angesichts seiner eigenen Zeit diagnostizierten κρίσις
gerade die Realisierbarkeitsbedingung der ›entschiedenen Gegen-
wart‹, wie ja auch die verfluchte, in ›Schicksalstücken zerfallene Zeit‹
Shakespeares begleitet wird von der Einsicht Hamlets: »That ever I
was born to set it right!«. Auch hier lässt sich der kritische Impuls des
personalen Zeit- und Geschichtsdenkens Schellings wieder beobach-
ten: das Offenhalten der Zeit gegen ihre notorische Verdrängnis, die
Entschiedenheit gegen ihre notorische Indifferenz.
Schellings Überlegungen zur ›entschiedenen Gegenwart‹ ziehen
278
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
sich durch alle drei Weltalter-Entwürfe hindurch. 132 Hier soll aus-
nahmsweise die zweite Fassung im Vordergrund stehen, weil sie die
›entschiedene Gegenwart‹ gleich zu Beginn des ersten Buchs beim
Namen nennt und am präzisesten in ihrer strukturellen Dynamik
beschreibt:
Vergangenheit – ein hoher Begriff, Allen gemein und nur Wenigen ver-
standen. Die Meisten wissen von keiner, als der, welche sich in jedem
Augenblick durch eben diesen vergrößert, selbst noch wird, nicht ist.
Ohne entschiedene Gegenwart gibt es keine; wie viele erfreuen sich
einer solchen. (WA II, 119)
Schelling beginnt seine Überlegungen zur ›entschiedenen Gegen-
wart‹ mit der gegenwärtigen Signatur der Unentschiedenheit, die
aus einer nicht vorhandenen Differenz zwischen den drei Zeitdimen-
sionen resultiert. Die Pointe dabei ist, dass sich die zuletzt notierte
Wendung »wie viele erfreuen sich einer solchen« sowohl auf die Ge-
genwart als auch auf die Vergangenheit beziehen kann. Beide sind
noch ›ungeschieden‹ und beide können erst durch die Entschiedenheit
hindurch die temporale Kontur erhalten, die sie als Zeitdimensionen
auszeichnet. Die Vergangenheit ist eben das, was gewesen ist und sich
nicht mehr umkehren lässt, die Gegenwart das, was jetzt, akut, zur
Entscheidung steht, und auch die Zukunft kann nur das werden, was
sie ist, Offenheit, durch den Akt der Zeitigung hindurch. Die Wirk-
lichkeit zeichnet ein anderes Bild: Menschen gibt es, und hier wird
Schelling ganz plastisch, die beständig in der Vergangenheit leben,
nicht aus ihr herauskommen, »[d]ie nicht fortwollen, indeß alles vor-
wärts geht«, und die, »weil sie doch mit fortmüssen, Lobredner ohn-
mächtige der Vergangenheiten, kraftlose Schelter der gegenwärtigen
Zeit« (WA III 3, 201) werden. »Wohlthätig und förderlich«, heißt es,
sei dagegen das Bewußtsein, »etwas wie man sagt hinter sich ge-
bracht, d. h. als Vergangenheit gesetzt zu haben« (WA II, 119). Nur
unter dieser Voraussetzung, der Bedingung also, dass der Mensch
etwas als Vergangenheit ›hinter sich‹ bringt, kann er umgekehrt wie-
132 Die Formulierungen aus den beiden anderen Weltalter–Entwürfen lauten: »Wie
wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Scheidung, von sich
selbst entstandene, Gegenwart, gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Vergangen-
heit nicht entgegegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr
heraus, lebt beständig in ihr« (WA I, 11), sowie: »Der Mensch, der nicht sich selbst
überwunden, hat keine Vergangenheit, oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt
beständig in ihr« (SW VIII, 259).
279
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
der daran gehen, etwas in der Gegenwart als Zukunft vor sich zu
bringen. Die Gegenwart ist eben das, was nicht bloß ›jetzt‹ ist, nicht
bloß ›da‹ ist im Sinne eines Vorhandenen, sondern was ›jetzt‹ ist in
Bezug auf vergangene und zukünftige Zeiten, die ihren Zeitgestal-
tungsspielraum ausmachen. Mit anderen Worten: Nur unter der Be-
dingung, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in praktischer
Hinsicht geschieden werden, ist der Mensch nach Schelling über-
haupt in der Lage, in ein Verhältnis zu sich als geschichtliche Existenz
zu treten: »Nur der Mensch, der die Kraft hat, sich über sich selbst zu
erheben, ist fähig, eine wahre Vergangenheit sich zu erschaffen;
ebendieser genießt auch allein eine wahre Gegenwart, wie er allein
einer eigentlichen Zukunft entgegensieht« (WA II, 119). 133
Schellings Überlegungen zur ›entschiedenen Gegenwart‹ folgen
dem Muster der ›Genealogie der Zeit‹. Der Widerstreit, der vormals
zwischen lauterer Ewigkeit und realer, wirkender Ewigkeit bestanden
hatte, ›ungeschieden‹, wie sie im Absoluten waren, verlagert sich nun
in die krisengeschüttelte Zeit der Gegenwart hinein und kehrt als
Spannung zwischen einer unentschiedenen Gegenwart und einer auf
Entscheidung hin drängenden Zukunft wieder, die aus der Tiefe der
Vergangenheit kommend in der Gegenwart aufzuleuchten beginnt.
Lässt man die ontologischen Bestimmungen in diesem Zusammen-
hang einmal beiseite, so wird deutlich, worauf es Schelling mit der
Analogie zwischen der ›vorzeitigen Zeit‹ des Absoluten und der ›un-
entschiedenen Gegenwart‹ des Menschen ankommt: Im Grunde ist
die ›unentschiedene Gegenwart‹ genau wie die ›ewige Zeit‹ Ausdruck
eines Suchens und Nichtfindenkönnens des Anfangs, ein »bodenloser
Abgrund«, »da kein Maß anwendbar, kein Ziel und keine Zeit be-
stimmbar« (WA I, 76) ist. Eine zweite Scheidung wird nötig, die
dasjenige, was in der ›ewigen Zeit‹ respektive der ›unentschiedenen
Gegenwart‹ bloß »coexistirend oder simultan« ist, in eine zeitlich-
periodische Ordnung überführt. Und dies kann nur dadurch gesche-
hen, dass der bestehende Widerspruch, die Unentschiedenheit, in
einem Moment der Entscheidung als vergangen gesetzt und hier-
druch wieder in einem Anderen, jetzt gegenwärtig gewordenen und
133 Zur Rolle der Zukunft vgl. auch Schelling 1832/33, 85: »Die vollendete Wissen-
schaft begreift also auch die Zukunft, nicht bloss Vergangenheit und Gegenwart. In-
dem die Gegenwart bereits den Keim der Zukunft in sich trägt, ist sie nicht erkennbar
ohne die Zukunft. In diesem weiten Sinne nenne ich Wissenschaft diejenige, welche
Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft in sich begreift«.
280
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
281
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
der Zeit wie von vorn beginnen zu können« (Schelling 1820/21, 20).
Zukunft, das sind auch die vielen kleinen Entscheidungen, die per-
manent getroffen werden und den Zeitgestaltungsspielraum ›Gegen-
wart‹ abstecken. Bleibt man also auf der Ebene der geschichtlichen
Gegenwart, dann kommt die Zukunft als eine immer nur wieder ent-
scheidbare Zukunft, nicht aber als alles entscheidende, die geschicht-
liche Zeit selbst wieder aufhebende Zukünftigkeit, in den Blick. 134 Die
Geschichte desjenigen Wesen, das über aller Zeit ist, und die Ge-
schichte derjenigen Wesen, die nicht aus der Zeit herauskommen,
weil sie gleichsam in der Zeit gefangen sind, lassen zwar Analogie-
schlüsse untereinander zu, befinden sich aber nicht in einer Art von
prästabilierter Harmonie. Schelling favorisiert vielmehr ein Konflikt-
modell, eine »Ataxie der Kräfte« (AA I,17, 140), eine Konzeption prä-
stabilierter Disharmonie. Was sich in der je zu vollziehenden Ent-
scheidung zeigt, ist nicht eine gänzlich andere, sondern eine »in der
Gegenwart schon präsente, in Zeichen lesbare Zukünftigkeit«. 135
Im Anschluss an Dieter Sturmas Überlegungen zum Verhältnis
von Person und Zeit könnte man versucht sein, Schellings personales
Zeit- und Geschichtsdenken in metaphysisch abgeschwächter Form
als »Zeitneutralität« zu deuten, das heißt, als »praktischer Ausdruck
des Bewußtseins vernünftiger Individuen, daß sie als zeitlich aus-
gedehnte Personen in der Zeit ihr Leben zu führen haben«: 136 »Per-
sonen führen ihr Leben in der Gegenwart für die Zukunft mit dem
Verständnis der Vergangenheit, das heißt, sie können ungeachtet der
Vielzahl von Störungen der Balance ihrer Zeitverhältnisse den eige-
nen Handlungen gegenüber einen zeitneutralen Standpunkt einneh-
men«. 137 In den Weltaltern wird ein solcher zeitneutraler Standpunkt
zwar, wie kritisch angemerkt wurde, in zum Teil metaphysisch star-
ker Form präsentiert, als eine »absolute« oder auch »letzte Zeit«
(WA I, 81). Jene »letzte Zeit« ist für Schelling aber nicht realiter, son-
dern nur als regulative Idee vorhanden: »denn wäre diese in ihr [die je
134 Insofern wäre Wieland 1956, 79, zu widersprechen, der bezweifelt, dass Schelling
136 Sturma 1992, 144. Sturma entwickelt das Konzept der Zeitneutralität praktischer
282
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
von einem »handlungstheoretischen Zeitpfeil«. Einerseits sei die Zeit durch die Hand-
lung auf die Zukunft ausgerichtet, andererseits gehe die Last der Vergangenheit aber
auch auf vermittelte Weise in den auf die Zukunft ausgerichteten Korrekturprozess
ein: »In Entscheidungs- und Handlungssitutationen versuchen sich Personen aus der
Vergangenheit kommend auf zukünfige Ereignisse einzustellen« (141). Ein Vor-
schlag, der sich nicht zuletzt für die präsentierten Überlegungen zur personalen Ei-
genzeit fruchtbar machen lässt.
283
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Gegenwart‹ ist, dass durch den Vollzug der Entscheidung die anfäng-
liche Ungeschiedenheit nicht restlos in Entschiedenheit aufgehoben,
sondern bloß als vergangen gesetzt und damit als ›entscheidbare Zu-
kunft‹ projektiert werden kann. 141 Zwar gibt es von Seiten Schellings,
wie kritisch eingewendet wurde, den obsessiven Versuch, ein ›System
der Zeiten‹ zu konstruieren, die Grenzen eines solchen systemphi-
losophischen Unterfangens treten aber spätestens dann bei Schelling
deutlich zutage, wenn es bescheidenermaßen heißt, dass der »tief ver-
borgen liegende und bis ins kleinste gehende Organismus« (WA II,
122) bloß ›geahndet‹ und nicht konstruiert werden kann. Hinter einer
solchen epistemologischen Beschränkung verbirgt sich, was Schelling
bereits in der Freiheitsschrift in ontologischer Hinsicht als »die un-
ergreifliche Basis der Realität« bezeichnet hatte, der »nie aufgehende
Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand
auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt« (AA I,17, 131). Im
Gegensatz zu Gott, so Schelling, bekomme der Mensch die Be-
dingung seiner Existenz »nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen
darnach strebt« (AA I,17, 164). Ein »Rest«, der, so verstanden, eine
maßgebliche Perspektive auf den Phänomenzusammenhang ›ent-
schiedene Gegenwart‹ freilegt: Was eine ›entschiedene Gegenwart‹
sein kann, lässt sich immer nur wieder vor dem Hintergrund dessen
erläutert, worin sich eine Person bzw. ein Kollektiv zunächst und zu-
meist befindet, um hier auf eine Strukturformel existenzialer Art von
Heidegger zurückzugreifen. Und das ist der Zustand der Unentschie-
denheit, desjenigen, was Heidegger existenzialontologisch als die
»abgeschliffene Durchschnittlichkeit« des alltäglichen Miteinander-
seins geltend macht. 142 Mit der ›entschiedenen Gegenwart‹ ist also
die Vorstellung von einer geschichtlichen Zeit verbunden, die, wenn
sie aus dem Zustand der Geräuschlosigkeit und Unempfindlichkeit
des alltäglichen Miteinanderseins heraustritt, sich nur in Konflikten
141
Damit leuchtet in der Weltalterphilosophie schon etwas von jener Denkform auf,
die für Schellings spätere Konzeption der positiven Philosophie zentral werden wird.
Sollberger 1996, 389, der die positive Philosophie insgesamt als eine philosophische
Such- und Rätselbewegung interpretiert, umreißt diese Denkform wie folgt: »Die
systematische Offenheit gegenüber Andersartigkeit und Fremdheit im Denken kann
als das wesentliche Charakteristikum metaphysischen Denkens nach Schelling gelten:
Metaphysisches Denken ist inventives, nie abgeschlossenes, sondern je und je neu
ansetzendes, geschichtlich-diagnostisches Umgehen mit fremden, rätselhaftem und
möglicherweise nie gänzlich begreifbarem Sein«.
142
Heidegger 1924, 27.
284
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
aussprechen und, indem sie dergestalt erst allmählich, nie aber ganz
zu sich kommt, sich grundsätzlich auch ›verfehlen‹ oder auf längere,
unbestimmte Zeit auf einer gewissen Stufe verharren, womöglich
›steckenbleiben‹ kann, wie eine Passage aus der ersten Weltalter-Fas-
sung plastisch zu vergegenwärtigen weiß:
Lange Zeitalter hindurch fühlen ganze Völker sich unwohl und doch
kraftlos, ihr Schicksal zu ändern, in eine bessere Zeit durchzubrechen.
Was hindert sie, wenn die Zeit für den Menschen nur eine innere Form
ist, die selbstgesetzte Schranke aufzuheben und so wie mit einem Zau-
berschlag in die glücklichere Zeit durchzudringen. Was erhält Jahrhun-
derte hindurch, trotz aller gegenwirkenden Belehrung, gewisse Ansich-
ten, Meynungen oder Maximen selbst nach den verderblichsten Folgen
bey Ansehen, da nichts leichter scheinen sollte, als durch Erfahrungen
gewitzigt sie zu ändern. (WA I, 83)
Wie ›verkehrt‹ eine Gegenwart in sich sein kann, lässt sich – in aller
Kürze – auch an einem Beispiel zeigen. Diese Abkürzung wird hier
nicht deshalb eingeschlagen, um sich der Interpretation des Schel-
ling-Textes zu entledigen. Es gibt einen sachlichen Grund dafür, und
dieser besagt, dass es bei Schelling nicht um irgendwelche Subjekte
geht, sondern um konkrete in Handlungszusammenhänge und ge-
sellschaftlich-soziale Konflikte verstrickte Personen. Was läge da also
näher, als sich das Handeln einer solchen konkreten, in Geschichten
verstrickten Person, die sich in Konflikt mit sich und ihrer eigenen
Gegenwart weiß, literarisch vor Augen zu führen. Dies soll im Fol-
genden geschehen. Als literarische Vergegenwärtigungsgrundlage
soll dabei ein Drama aus Schellings eigener Zeit dienen: Maria Stuart
von Friedrich Schiller, in Weimar zur Uraufführung gekommen am
14. Juni 1800; wobei der Fokus nicht auf Maria Stuart, der entmach-
teten Königin, sondern auf der machthabenden Königin Elisabeth I.
liegen soll.
Elisabeth I., Königin von England, steht vor einer Entscheidung: Ma-
ria Stuart, Königin von Schottland, ist wegen des Verdachts auf Bei-
hilfe bei der Ermordung ihres Gatten nach England geflohen; nun
erwartet sie dort die Hinrichtung, weil Elisabeth I. sie nach ihrer An-
kunft gefangen nehmen ließ, zu stark war die Furcht um die eigene
285
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Krone. Bald zwanzig Jahre lebt Maria nun schon im Kerker, das Urteil
ist gefällt, allein es muss vollzogen werden. Zum jungen Mortimer,
der Maria Stuart nie aufgeben hat, sagt Elisabeth:
Ach, Sir! Ich glaubte mich am Ziele schon
Zu sehn und bin nicht weiter als am Anfang.
Ich wollte die Gesetze handeln lassen,
Die eigne Hand vom Blute rein behalten.
Das Urteil ist gesprochen. Was gewinn ich?
Es muss vollzogen werden, Mortimer!
Und ich muss die Vollziehung anbefehlen. (NA 9, 60)
Elisabeth kann sich nicht entscheiden: Einerseits drängt das Volk auf
den Vollzug des Todesurteils, andererseits fürchtet sie um ihren Ruf
und sieht sich unfähig, es wirklich zu vollstrecken. Sie bestellt ihre
Berater ein, und einer dieser Berater ist Talbot, und was Talbot, Graf
von Shrewsbury, sagt, ist nicht nur ein Plädoyer für die Gnade, son-
dern eine ziemlich genaue Analyse der Situation, in der Elisabeth sich
gegenwärtig befindet:
Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe,
England ist nicht die Welt, dein Parlament
Nicht der Verein der menschlichen Geschlechter.
Dies heut’ge England ist das künft’ge nicht,
Wie’s das vergangne nicht mehr ist – Wie sich
Die Neigung anders wendet, also steigt
Und fällt des Urtheils wandelbare Woge.
Sag nicht, du müssest der Nothwendigkeit
Gehorchen und dem Dringen deines Volks.
Sobald du willst, in jedem Augenblick
Kannst du erproben, daß dein Wille frei ist.
Versuch’s! Erkläre, daß du Blut verabscheust,
Der Schwester Leben willst gerettet sehn,
Zeig denen, die dir anders rathen wollen,
Die Wahrheit deines königlichen Zorns –
Schnell wirst du die Notwendigkeit verschwinden
Und Recht in Unrecht sich verwandeln sehn.
Du selbst mußt richten, du allein. Du kannst dich
Auf dieses unstet schwanke Rohr nicht lehnen.
Der eignen Milde folge du getrost.
Nicht Strenge legte Gott ins weiche Herz
Des Weibes – Und die Stifter dieses Reichs,
Die auch dem Weib die Herrscherzügel gaben,
Sie zeigten an, daß Strenge nicht die Tugend
Der Könige soll seyn in diesem Lande. (NA 9, 58)
286
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
Vieles von dem, was Talbot hier anspricht, betrifft die Konzeption der
›entschiedenen Gegenwart‹ im Kern. Zunächst ist da die Unentschie-
denheit, in der die Gegenwart befangen liegt. Eine Unentschieden-
heit, die sich nicht nur auf der personalen Ebene abzeichnet, sondern
ein ganzes Land und eine ganze Zeit betrifft: »Dies heutge England ist
das künftge nicht, / Wies das vergangne nicht mehr ist«. Der ausblei-
bende Vollzug des Todesurteils steht pars pro toto: Elisabeths zöger-
liches Verhalten spiegelt eine Tendenz der Zeit selbst wieder, wie sich
diese Tendenz umgekehrt gerade in ihr und durch ihr zögerliches Ver-
halten hindurch ausspricht: »Wie sich / Die Neigung anders wendet,
also steigt / Und fällt des Urteils wandelbare Woge«. Talbot weist
Elisabeth auf die einzige Möglichkeit hin, diesen Zustand der Latenz
zu durchbrechen. Sie muss, um ihrer eigenen Gegenwart nicht hilflos
gegenüber zu stehen, auf Distanz zu ihrer eigenen Zeit gehen, sie
muss sich losreißen können, ein Akt, der jeder Zeit vollzogen werden
kann: »Sag nicht, du müssest der Notwendigkeit / Gehorchen und
dem Dringen deines Volks. / Sobald du willst, in jedem Augenblick /
Kannst du erproben, daß dein Wille frei ist. / Versuch’s!«. Jenes von
Talbot hier abschließend lancierte »Versuch’s!« ist aber gerade der
Widerstand, der sich Elisabeth auf personaler Ebene entgegengestellt:
eine dialektisch in sich verschlungene Handlung, die auf der einen
Seite »Zorn« hervortreibt, »königlichen Zorn«, gegen jene, die Mari-
as Hinrichtung befürworten, auf der anderen Seite aber auch, und
zwar auf dieser Basis, »Milde«, eine Verbindung in ein höheres, gött-
liches Reich. Immer muss »in der Offenbarung des Ewigen Macht,
Gewalt und Strenge vorausgehen, bis im sanften Wehen der Liebe
erst er selbst als Er Selbst erscheinen kann« (SW VIII, 311), dies ist
die Weise, in der Schelling die eigentümliche Dialektik von Zorn und
Liebe handlungstheoretisch auf den Begriff bringt. Der wirkliche An-
fang kann nur von »absoluter Freiheit« (WA I, 75) kommen, die den
Menschen aus dem Widerstreit befreit, in dem sie ihn als Konflikt
vergangen sein lässt. Und so sieht auch Elisabeth, die alle Macht auf
sich vereint, sich zuletzt auf sich selbst zurückgeworfen: »Du selbst
mußt richten, du allein«. Bekannt ist, wie das Drama endet. Und eben
dies scheint auch eine wesentliche Pointe von Schellings Konzeption
der ›entschiedenen Gegenwart‹ zu sein: das Gezogenwerden von der
Zeit, das Sich-nicht-entscheiden-Können, die »Kraft« (WA II, 119),
die am Ende dazu erforderlich ist, sich in ein wirkliches Verhältnis zu
sich selbst und damit zu seiner eigenen geschichtlichen Gegenwart zu
setzen.
287
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
143 Der Begriff des dialektischen Negativismus ist von Theunissen 1991d mit Blick auf
288
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
145
Döblin 1989, 185, 187.
289
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
tern vorgegebene Größe, und wenn ja: wer definiert es, oder bildet es
sich als Zeitmaß überhaupt erst im Prozess der Synchronisierung he-
raus? Mit anderen Worten: Ist das Zeitmaß eine atemporale Größe
oder besitzt es selber eine temporale Qualität?
Zunächst: Die Realität der Zeit präsentiert sich uns in der Zeit des
gelebten Lebens immer schon als Schnittpunkt verschiedener Zeiten.
Einerseits ragen andere, sowohl frühere wie zukünftige Zeiten in die
Gegenwart hinein, andererseits gibt sich aber auch schon die Gegen-
wart als ein heterogenes Feld personaler Zeitaneignung und Zeit-
umbildung zu erkennen, die sich von Mal zu Mal verändern. 146 Zeit
und Gegenwart sind pluritemporal strukturiert, wie Achim Land-
wehr notiert. 147 Unter Pluritemporalität, also der ›Vielzeitigkeit‹, ver-
steht Landwehr dabei die Tatsache, dass »Kulturen, soziale Gruppen,
Objekte, Ereignisse«, also im Grunde alles, was uns in der alltäglichen
Erfahrung begegnet, »zumindest potentiell dazu in der Lage sind, ei-
gene Zeitformen auszubilden, die sich von anderen Zeitformen teil
erheblich unterscheiden können«. Pluritemporalität bezeichne den
methodischen Zweifel an der irreführenden Idee, wir hätten es nur
mit einer einzigen Form der Zeit zu tun, die mit der Zeit der Uhren
und Kalender zur Deckung zu bringen wäre. Gesellschaften lebten
aber nicht im »Kokon eines monolithischen Zeitregimes«, kennten
also nicht nur eine singuläre Form der Gleichzeitigkeit, sondern pfle-
gen zahlreiche, parallel zueinander bestehende Zeitformen, existieren
also in einer »Welt der Gleichzeitigkeiten«. 148 Hat man aber einmal
die Folie einer irreduziblen Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten als
Basisaxiom jeder Gegenwartsanalyse aufgelegt, ein Theorem, das im
Übrigen nicht deckungsgleich mit der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen ist, worauf Landwehr explizit hinweist, dann ist konzeptio-
nell gar nicht mehr so leicht festzustellen, »wie sich viele Personen
auf eine Zeit, wie sie sich zu verschiedenen Zeiten auf dieselbe Welt
Nassehi spricht von einer »Gesellschaft der Gegenwarten«, deren Struktur er wie
folgt umreißt: »Es ist dies eine Gesellschaft, die sicherlich dadurch am deutlichsten
charakterisiert werden kann, dass sie radikal auf die Gleichzeitigkeit ihrer System-
prozesse verwiesen ist – eine Gleichzeitigkeit, die einen hierarchischen oder kausalen
Wirkungszusammenhang ausschließt«. Zu diesem praxissoziologischen Ansatz der
Zeit vgl. auch ders. 2008.
290
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
149
Kreuzer/Mohr 2007, VII. Landwehrs Kritik bezieht sich auf die unausgesprochene
normative Dimension dieser ›Ungleichzeitigkeit‹: »Was Bestimmungen von Ungleich-
zeitigkeit generell verdächtig macht, ist die Tatsache, dass sie immer eine Norm pos-
tulieren müssen, ein Jetzt, eine Gegenwart, ein hic et nunc, das als Messlatte für alle
anderen Zeithorizonte und -konzeptionen gilt. Ungleichzeitigkeit festzustellen, be-
deutet jemandem den Vorwurf zu machen, er befinde sich zwar im Hier, aber nicht
im Jetzt. Aber welche Zeit soll das sein?« (ders. 2012, 15). Landwehr schlägt vor,
anstelle dessen von einer pluralen Gleichzeitigkeit auszugehen. Womit man es zu
tun habe, sei eine Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten, »ohne dabei allerdings ent-
scheiden zu wollen, wer oder was repräsentativ für diese Gegenwart ist oder von ihr
abweicht« (28).
150
Kreuzer/Moor 2007, VII. Vgl. dazu auch Schmidt 2013.
291
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
151 Vgl. Knatz/Sandkühler 1994, 16. Vgl. dazu auch Jaeschke 1990.
152 Zum Verhältnis von Philosophie und Politik bei Schelling vgl. Sandkühler 1968.
153 Schulz 1981, 24.
155 Ernst Blochs Faschismusstudie Erbschaft dieser Zeit beschreibt gerade einen sol-
chen Fall von Vergangenheitsseligkeit: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es
nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht
mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je
292
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere
Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach; leicht geht oder träumt es
sich hier in ältere zurück« (Bloch 1935, 104).
156 Assmann, 2013, untersucht, in welcher Weise das Zeitregime der Moderne in
293
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
294
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
Auf diese Weise wird deutlich, wie sich die Zeiten im ›entschiede-
nen‹ Umgang mit ihr voneinander abheben, als Zeitperioden aus-
einandertreten, in der Trennung aber zugleich aufeinander bezogen
bleiben, indem sie dergestalt überhaupt erst den Blick auf sich als
Zeiten freigeben. Nur in diesem Sinne ist es für Schelling möglich,
dass sich mehrere Personen, und zwar als geschichtliche Existenzen,
auf ein und dieselbe Zeit beziehen und dabei doch ganz unterschied-
lichen Zeiten angehören können. Der Riss ist gleichsam der Ort, an
dem die personale Vermittlung pluraler Zeitregime gelingen kann.
Erst von hier aus, dem Bruch, wird überhaupt kommunizierbar und
verhandelbar, wie man sich zur Vergangenheit und Zukunft verhält
und wie man durch die Öse der Zeitmitte Gegenwart gestalten kann.
Der synchronisierende Vergleich von Zeiten ist bei Schelling somit
nur als »Gegenstand einer gemeinsam geteilten Zeit interpersonaler
Verständigung« möglich. 159 Die Zeiten müssen in ein ›Gespräch‹, ein
Interaktionsverhältnis miteinander treten und gegeneinander be-
haupten, was sie selbst sind. Der Dialog, in dem sich Zeiten befinden,
verläuft also keinesfalls problemlos, er ist konfliktbeladen in dem Ma-
ße, wie überhaupt erst im interpersonalen Zwischenraum die Zeiten
ihre jeweiliges Zeitprofil erhalten, sodass auch erst hier, in der ge-
meinsam geteilten Gegenwart, im permanenten Herstellen und Ver-
schieben von »Chronoferenzen« eine nicht-reduktive Synchronisie-
rung verschiedener Eigenzeiten gelingen kann. 160 Erst durch die
Einsicht, »daß außer ihm andere Wesen sind, die ebenfalls eine Zeit
in sich selber haben« (WA I, 79), eröffnet sich für den Menschen die
Möglichkeit, die verschiedenen Zeiten, die sein Leben durchziehen, in
eine Vermittlungsspannung zu bringen.
Schelling realisiert damit, was Dieter Sturma im Anschluss an Ul-
rich Pothast die Einheitsarbeit der Person um willen ihrer praktischen
ist, zeigt Schelling in seinem Nachruf an: »Er [Kant, P. N.] macht gerade die Grenze
zweier Epochen in der Philosophie, der einen, die er auf immer geendigt, der andern,
die er mit weiser Beschränkung auf seinen, bloß kritischen, Zweck negativ vorbereitet
hat« (SW VI, 9). Mit Blick auf Schelling wird dadurch nicht zuletzt deutlich, dass
seine eigenen philosophischen Arbeiten, insofern sie diese eine bloß negative Grenz-
ziehung überwinden wollen, von jeher ins Spannungsfeld älterer Offenbarungstexte
und kantischer Metaphysikkritik fallen, und damit in spezifischer Weise eine Gegen-
wartszeit als Übergangszeit markieren. Vgl. dazu auch Gawoll: 1994.
159 Gamper/Hühn 2014, 31.
160
Landwehr 2016, 150. Landwehr versteht unter dem Begriff der Chronoferenz eine
Untergattung von Relationierungen, »mit denen Bezüge zwischen anwesenden und
abwesenden Zeiten errichtet werden« (ebd.).
295
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
165 Vgl. dazu auch Schulz 1972, 599. Schulz entwickelt den Gedanken einer ge-
296
›Zeit‹-Konflikte: Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
168
Breidbach 2011, 11.
297
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
ist es auch, der Assmann 2013, 276, dazu bringt, entgegen eines massiven, alarmisti-
schen Unbehagens im Rahmen einer Theorie des kulturellen Gedächtnisses die Zeit-
stufen wieder in einen organischen Rapport miteinander zu setzen, sie konstruktivis-
tisch zu ›verschränken‹. Vergangenheit, so Assmann, entstehe nur in dem Maße, »wie
sie von einer Gegenwart, die ja allein und ausschließlich die Dimension menschlichen
Wahrnehmens, Handelns, Denkens und Bewertens ist, immer wieder fokussiert, the-
matisiert und umgebaut wird«.
170 Es läge nicht fern, Schellings Metaphysik der Zeit- und Weltentstehung in Ver-
bindung mit Goethes Lehre von der immer schaffenden Tätigkeit zu bringen. Der
›Tüchtigkeit‹ kommt bei Schelling gerade jene Bedeutung für das Selbst- und Welt-
verständnis zu, welche die ›immer schaffende Tätigkeit‹ bei Goethe hat: Sie erzeugt
eine in unterschiedlichen Phänomenzusammenhängen sich aussprechende Selbst-
erkenntnis, die dadurch zugleich über die beiden Pole von Selbst und Welt, Idealität
und Realität hinausweist: »Werden wir«, so heißt es in Wilhelm Meisters Lehrjahren,
»durchs praktische doch unseres eigenen Daseins erst recht gewiß; warum sollten wir
uns nicht auch auf eben dem Wege von jenem Wesen überzeugen können, das uns zu
allem Guten die Hand reicht« (FA I,9, 792). In der Philosophie der Offenbarung be-
zieht sich Schelling, was die Entschiedenheit solcher Tätigkeit angeht, sogar direkt auf
Goethe: »Der Mensch haftet nicht an sich. Johannes Müller schreibt: Ich bin nur
glücklich, wenn ich produziere. Goethe: Ich denke nur, wenn ich produziere. Im Pro-
duzieren ist der Mensch nicht mit sich selbst, sondern mit etwas außer sich beschäf-
tigt, und darum eben ist Gott der große Selige (Pindar)« (Schelling 1841/42, 176).
171
Vgl. Nietzsche 2012.
298
Eigenzeiten der Moderne
172 Vgl. dazu auch Cassirer 1928, 228 f.: »Die geschichtliche Zeit ist dann wesentlich
ethische Zeit: Zeit der ›reinen Zukunft‹; alles Geschehen ist gewissermaßen hinauf-
gehoben in die Dimension der Zukunft – Auch das Vergangene muß ständig neu
gesehen, neu gestaltet, neu geboren werden aus dem Blick auf die Zukunft heraus –
Jeder Zukunftsgedanke verändert die geschichtliche Gegenwart wie die geschichtliche
Vergangenheit«.
173
Gamper/Hühn 2014, 24 f.
174 Vgl. dazu auch eine Passage aus der Darstellung des philosophischen Empirismus:
»Die wahre Tatsache ist jederzeit etwas Innerliches. Die Tatsache einer gewonnenen
299
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Schlacht z. B. sind nicht die einzelnen Angriffe, Kanonenschüsse usw., oder was sonst
von der Sache bloß äußerlich wahrgenommen werden kann. Die wahre, die eigent-
liche Tatsache ist nur im Geiste des Feldherrn« (SW X, 227). Vgl. dazu auch Bensus-
san 2015, 139.
175 Einen Versuch, die eigentümliche Struktur praktischer Vollzüge mit der Grund-
aus der Philosophie der Offenbarung. Schelling bezieht sich hier ausdrücklich auf
Schiller, auch wenn er von dessen Idee des Weltgerichts dezidiert Abstand nimmt:
»Die Geschichte ist die unwiderstehlichste Autorität: ich möchte nicht sagen, wie
Schiller ›sie ist Weltgericht‹ – wohl aber ›ihre Urteile sind Gottes Urteile.‹ […] Der
unwiderstehliche Gang der Geschichte läßt uns keine Zeit zu elegischen Betrachtun-
gen. Er fordert von uns allen eine klare Erkenntnis dessen, was ist und eine durch-
gängig gegründete Einsicht in das, was sein wird« (Schelling 1831/32, 697).
300
Eigenzeiten der Moderne
180 Rosa 2016, 523 f. Nicht von ungefähr kommt Rosa in diesem Zusammenhang auch
auf Schiller zu sprechen: Dieser habe wie kein anderer Dichter die »Resonanzlosigkeit
des modernen Weltverhältnisses« herausgearbeitet.
181
Vgl. Schües 2014, 305.
301
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
chen, so lässt sich mit Armin Nassehi hinzufügen, verkehrt sich die
lebensentlastende Funktion von sozialen Routinen zu einer existenz-
bedrohenden, zeitentleerten Form: Aus der »qualitativen Zeit als in-
tegrativem Faktor«, der die Gesellschaft in der Zeitdimension auch
sachlich zusammenhalte, werde die »quantitative Zeit als abstrakte
Messegröße«, deren Sychronisierungsfunktion darin bestehe, dass
die Zeigerstellung oder der Zahlenwert auf einer Uhr die einzige tem-
porale Reziprozität werde, die noch denkbar sei. 182
Die Pointe einer so verstandenen Rationalisierung der Zeit der
Moderne ist, dass die personale Zeit des Einzelnen von der ordnenden
Zeit des gesellschaftlichen Raums bis zur Unkenntlichkeit überformt
wird, sodass jede Form eines Unterschieds verschwindet. Die wech-
selseitige Durchdringung von personaler, sozialer, kultureller und
ökonomischer Zeit gerinnt zu einer einzigen, der ›mechanischen‹
Zeit, die ihren emblematischen Ausdruck in dem in einem fulminan-
ten Tempo, einem schwindelerregenden Stakkato arbeitenden Charly
Chaplin in Modern Times gefunden hat. Noch da, wo die Arbeits-
schicht zu Ende ist, die Feierabendglocke läutet, zucken die Hände
vom Arbeiter Chaplin im Rhythmus weiter, als wären sie immer noch
am Fließband und würden Schrauben in die Gewinde drehen. Die
Herrschaft, die die Zeit über ihn und uns ausübt, ist, mit anderen
Worten, eine stille, beharrliche Herrschaft, und das Fließband ist nur
der exemplarische Ort eines habitualisierten, im Grunde schon gar
nicht mehr vorhandenen Umgangs mit Zeit. Zwar hat auch das Fließ-
band seine Zeit, genauso wie man sagen könnte, dass auch das wis-
senschaftliche Labor – ein anderer exemplarischer Ort des modernen
Zeitregimes – seine »eigene Zeitstruktur« herausbildet, nur handelt
es sich bei dieser Zeit um eine Form der Zeit, deren Zeitmaß dem
Synchronisierungsprozess schon vorgelagert ist und somit selbst
nicht zur Disposition steht. 183 Beginn und Ende, Abfahrt und An-
kunft sind nicht verhandelbar. Ein Zug, der vor der fahrplanmäßigen
Zeit abfährt, ein Fließband, das die benötigten Teile zu früh anliefert –
das sind die schlimmsten Albträume der Moderne. 184 Deshalb gilt für
das Labor nicht weniger als für das Fließband, dass ihr Zeitbedarf sich
ausschließlich nach der »Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und kontinu-
182
Nassehi 2003, 136 f.
183 Nowotny 1989, 81.
184
Vgl. dazu Bauman 2003, Rosa 2005.
302
Eigenzeiten der Moderne
ierliche[n] Präsenz« richtet. 185 Je stetiger der Zeitbedarf ist, desto um-
fassender fällt die Detemporalisierung aus.
Reckwitz’, Rosas und Nassehis Analysen sprechen eine klare Spra-
che: Zunächst und zumeist finden Personen ihre Zeitimperative in
abstractum vor, in geronnener, ubiquitär verfügbarer, ihnen selbst
wesentlich entzogener Form. Die ubiquitär verfügbare Zeit sickert in
die Lebenswelt ein und wird zu der Zeit, über die schließlich nicht
mehr verfügt wird, sondern die selbst über Personen verfügt. Aus
der Zeit, die so und so lange dauert, wird die Zeit, die exakt so und
so getaktet ist bzw. so und so knapp bemessen. Ludger Schwarte
spricht in diesem Zusammenhang auch von spezifischen ›Zeitarchi-
tekturen‹. Die Einrichtung der Welt in Serien aus Flächen und Linien
zurechtgeschnittener Körper erzeugte die Evidenz einer homogenen,
kontinuierlichen und diskreten Zeitreihe, über der die eigene Zeit-
autonomie zwangsläufig verlorengehen müsse: »[N]icht die Eigen-
zeit, sondern die soziale Ordnung als solche zählt«. 186 Personen aber
sind und bleiben, und hier lassen nun Gegenstrategien mobilisieren,
zeitsensible Wesen: Sie sind empfindsam – und in vielen Fällen sogar
äußerst ›verletzlich‹ – gegenüber normierenden Zeitregimen, die bloß
eine, und zwar eine domininierende Zeitnorm proklamieren. 187 Gera-
de deshalb mache, wie Wolfram Hogrebe festhält, geschichtliches
Wissen in umgekehrter Weise unsere Gegenwartswahrnehmung,
wenn auch noch nicht normativ kompetent, so doch zumindest nor-
mativ sensibel: »So wie der Lebenserfahrene mehr und schneller
›sieht‹ als der Unerfahrene, schärft geschichtliches Wissen eben un-
sere normative Sensibilität«. 188 Und deshalb hat in wieder umgekehr-
ter Weise die Verdrängung von Zeit und Geschichte unabsehbare Fol-
gen für die Konstitution, Organisation und Koordination des
sozialen, kulturellen und politischen Gemeinwesens, wie auch ein
wiederholter Blick auf Schiller und dessen Auseinandersetzung mit
den Eigenzeiten der Moderne in den Briefen Über die ästhetische
Erziehung zeigt. Die konkrete Gefahr, die von einem entpoietisierten
[es]«. Technisierung, so Weber, arbeite daraufhin, »das Gehäuse jener Hörigkeit der
Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fella-
chen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden« (ders.
1921/22, 320).
188
Hogrebe 2006, 16.
303
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
Umgang mit der Zeit ausgeht, steht Schiller klar vor Augen, wenn er
mit Blick auf den ›abstrakten‹ Staat und die strikte Trennung von
Genuss und Arbeit, Mittel und Zweck konstatiert: »Und so wird denn
allmählig das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakte
des Ganzen sein dürftiges Daseyn friste, und ewig bleibt der Staat
seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet« (NA 20,
324). 189
Auch Schelling diagnostiziert dahingehend eine Entfremdungs-
tendenz der Moderne. Diese bestehe darin, wie er nicht müde wird
in den Weltaltern zu betonen, dass vorhandene Zeitkonflikte ent-
weder ganz geleugnet und im Vorhinein – präventiv – unschädlich
gemacht werden. Wer die Zeit bloß als einen mechanischen Zusam-
menhang, eine »sanfte Stetigkeit« verstehe, die Gegenwart »im Bild
eines Zeitflusses« (WA I, 80) zu erfassen versuche, der habe die Mög-
lichkeiten, die sich ihm sich in der Gegenwart bieten und vor allem
die Verantwortung, die sich ihm dort aufdränge, bereits im Ansatz
verspielt: »In unsern aber, von jenem Urgefühl der Menschheit so
sehr und immer mehr entfremdeten, Zeiten«, heißt es bei Schelling,
»hat sich die Empfindung jener Zweyheit fast mehr durch die Ver-
suche, sie hinwegzuschaffen und auf irgend eine Weise zu läugnen,
als durch wirkliches Anerkennen und Begreifen ausgedrückt« (WA I,
50). Schelling geht es in dieser Hinsicht darum, die temporalen
Strukturen freizulegen, die unter der Oberfläche des Zeitregimes der
Moderne verborgen liegen. Bewegt man sich in der Sphäre des prak-
tischen Handelns, der geschichtlichen Gewordenheit der Dinge, muss
ein Zeitbegriff gelten, welcher der personalen Freiheit der Akteure
korrespondieren kann. Personale Eigenzeit vollzieht sich immer nur
im Bruch von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und dieser
verschiebt sich mit jeder Handlung fortlaufend. 190 In Abwandlung
der bekannten Fragestellung aus dem Ältesten Systemprogramm
des deutschen Idealismus kann und muss aus Sicht der Weltalterlehre
189 Vgl. dazu auch Gabriel 2006, 419: »Dort, wo die menschliche Identität ins Wanken
kommt und auch noch das letzte Residuum der neuzeitlichen Personalität, nämlich
die staatlichen und sozialen Institutionen zu einer unbegreiflichen Macht werden, wie
im literarischen Werk Franz Kafkas, zeigt sich vielleicht genau dasjenige, was der
späte Schelling als den negativen Grund des Ganzen denkt«.
190 Vgl. dazu auch Sturma 1992, 135: »Personales Leben verlangt von seinen Sub-
jekten, daß sie im Verlauf ihres Lebens prinzipiell immer in der Lage sein müssen,
das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart sowie das von Gegenwart und Zu-
kunft in praktischer Hinsicht interpretieren zu können«.
304
Eigenzeiten der Moderne
die Frage gestellt werden: Wie muss eine Welt temporal beschaffen
sein, damit menschliche, und das heißt in diesem Fall: situations- und
konstellationsgebundene Freiheit in ihr möglich ist? Schellings Diag-
nose einer mit sich selbst entfremdeten, einer ›die Empfindung der
Zweiheit‹ nivellierenden Gegenwart liest sich wie ein Vorspiel zu
den gesellschaftstheoretischen Analysen des 20. und frühen 21. Jahr-
hunderts, die ihrerseits wie Nachspiele zu den realgeschichtlichen
Totalitäts- und Ohnmachtserfahrungen des letzten Säkulums er-
klingen. 191
Schelling beweist mit seinen Überlegungen zur temporalen Tie-
fenstruktur praktischen Handelns ein ausgesprochenes Gespür für
die Geschichtszeitkategorien des Auf-, Ab- und Umbruchs. Weitab
davon, die lineare Zeitauffassung als solche zurückzuweisen, geht es
Schelling dabei vielmehr darum, ihren jeweiligen Geltungsbereich
einzuschränken, und zwar in Bezug auf das Praktische. Gegen den
Vorwurf, das für die gesellschaftliche Lebenspraxis maßgebliche Mo-
dell der messbaren, metrischen Zeit werde in den Weltaltern jeder
Berechtigung beraubt, weiß sich Schelling zu verteidigen. Schelling
will der linearen Zeit keineswegs ihre Gültigkeit absprechen. Ihr Gel-
tungsbereich soll lediglich auf die »Vergleichung und Messung ver-
schiedener Zeiten« (WA I, 79) eingeschränkt werden. 192 Und auch
wenn Oliver Florig konstatiert, dass schwer zu sehen sei, wie die ihr
entgegenzusetzende, wie also die »organische Ordnung der Geschich-
te mit dem von Schelling nach 1811 offensichtlich verteidigten Ge-
danken, wonach die empirische Welt gefallen und durch Sukzessivität
und schlechte, d. h. nicht organische, sondern empirische Notwendig-
keit gekennzeichnet ist, zusammenpaßt«, kann darauf verwiesen wer-
den, dass auch die lineare Zeit der organischen Ordnung der Ge-
schichte solange nicht widerspricht, wie man darunter zwar ›eine
gewisse allgemeine Zeit‹ versteht, diese ihre »empirische Notwendig-
191
Zur negativistischen Entfremdungskritik Schellings, auch in ihrer späteren exis-
tenzphilosophischen Ausprägung bei Kierkegaard vgl. Hühn 2004.
192 Schellings pluridimensionales Zeit- und Geschichtsdenken kommt damit einem
305
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
keit« aber gerade nicht wiederum für ›die Zeit schlechthin‹ hält, son-
dern für eine Zeit, die uns in Ermangelung ihrer Durchdringung mit
anderer Zeit bloß ›äußerlich‹ scheint, im handlungstheoretischen
Sinne aber pluridimensional aufgespannt werden kann. 193
Hebt man also die Frage nach dem geschichtlichen und praktischen
Umgang mit der Zeit hervor, dann ergeben sich die Konturen eines
konfliktuösen Spannungsgefüges, zu dem die Konzeptionen der Ge-
schichtslosigkeit, Berechenbarkeit und Zeitvergessenheit genauso ge-
hören wie die der Geschichtlichkeit, des unberechenbaren Geschehen
und der Zeitsensibilität. Nichts würde dem Charakter der organi-
schen Geschichtszeit mehr widersprechen als die abstrakte Ent-
gegensetzung von ›mechanischer‹ und ›organischer Zeit‹. Die bloße
Gegenüberstellung bliebe gerade jenem Muster verhaftet, gegen das
Schelling sich mit seiner Zeittheorie zu wenden versucht; es wäre – in
der Entweder-Oder-Option – wieder als eine Konzession an das der
chronologischen Zeit verpflichtete ›verständige‹ Denken zu verste-
hen. Sie würde die Gegenwart wieder nur nach dem beurteilen, »was
sie für sie ist und nicht nach dem, was sie für das Urwesen« (WA IV 2,
248) ist. Mit dem Gegensatz von organischer Geschichtszeit und me-
chanischer Linearzeit verhält es sich wie mit dem Gegensatz von
positiver und negativer Philosophie, den Schelling seiner Spätphi-
losophie zugrunde legt. Auch dort weist Schelling von Anfang an
daraufhin, dass die positive die negative Philosophie nicht widerlegt,
und zwar deshalb nicht, weil sie diese gar nicht zu widerlegen brau-
che. Das »positive System« lasse das negative vielmehr als »Mangel«
erscheinen: »Seine Absicht und Wirkung inbezug auf das negative
System ist, dieses als ein mangelhaftes erscheinen zu lassen, keines-
wegs als ein falsches darzustellen« (Schelling 1832/33, 101). 194
Nicht also schon die lineare Zeit stellt das Problem dar. Hinter
Schellings Kritik verbirgt sich vielmehr die zeitdiagnostische Be-
obachtung, die lineare Zeit habe eine Tendenz die Geltung anderer
Zeiten und Zeitordnungen zu verdrängen. Es ist die Habitualisierung
beziehungsweise – kultursoziologisch gesprochen – die Transkultura-
tion zur Linearzeit, einer alles begreifenden, das ›wirkliche‹ Leben
von sich ausschließenden mechanistischen Weltauffassung, die
306
Eigenzeiten der Moderne
198 Umgekehrt legt diese Analogie natürlich auch offen, dass es sich beim positiven
307
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
199
Vgl. dazu auch die Diagnose von Poser 1993, 17. »So leben wir zwischen Echtzeit
und Endzeit, Totzeit und Tatzeit, Zeittakt und Zeitgefühl, Raumzeit und Reisezeit –
kaum mehr aber zwischen Zeit und Ewigkeit«. Jene Dimension der Ewigkeit unter den
negativen Bedingungen der Moderne zurückzugewinnen, dieses Ziel könnte man als
eine maßgebliche Stoßrichtung der Kant-Kritik Schellings bezeichnen.
200 Das Verhältnis von Technik und Zeit jenseits vereinseitigender Kritik des tech-
202 Diesem Befund entspricht, was Norbert Elias in seiner Schrift Über die Zeit aus
308
Eigenzeiten der Moderne
309
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
310
Eigenzeiten der Moderne
206 Wie weit die Kluft zwischen beiden Ansätzen in der Tat sein kann, zeigt sich nicht
ersten Korintherbrief schildert Paulus die Situation des Menschen in Beziehung auf
die Erkenntnis wie folgt: »Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug
wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann war, tat ich ab, was
kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber
von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenn ich’s stückweise; dann aber werde ich er-
kennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese
drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen« (1. Kor. 13,12).
311
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
312
Eigenzeiten der Moderne
Wer aber versucht auf der Höhe seiner eigenen Gegenwart zu den-
ken und zu handeln, der erprobt im Grunde, was es heißt, ein Zeit-
genosse zu sein. Der Begriff der Zeitgenossenschaft kommt bei
Schelling selbst nicht vor, noch nicht, möchte man hinzufügen,
gleichwohl lassen sich die Umrisse zu einem damit verbundenen
Problembewusstsein in den Weltaltern bereits ausmachen: Das Pro-
blem der Zeitgenossenschaft scheint bei Schelling in der genealogi-
schen Frage nach der ›Mitwissenschaft der Schöpfung‹ auf. Zur Er-
innerung: Die ›Mitwissenschaft der Schöpfung‹ galt Schelling als ein
erfahrungsgesättigtes, »aus der Quelle der Dinge geschöpft[es]«
(WA I, 4) Wissen von den Prinzipien des Anfangs. Überträgt man
die Frage nach dem Anfang nun auf die Frage nach der immer wieder
zu gewinnenden personalen Zukunft im Spannungsgefüge polychro-
naler Zeitverläufe, dann erweist sich das aus der Theosophie stam-
mende Konzept der Mitwissenschaft in einem ganz modernen Sinne
als eine Form der ›Mitzeitigkeit‹ oder als eine von der jeweiligen
geschichtlichen Gegenwart aufgegebene Zeitgenossenschaft. Die tie-
fengeschichtlichen Rezeptionsfluchten und systematischen Transfor-
mationsleistungen sind enorm, ohne Frage: Aber die durchgängige
Erfahrungsabhängigkeit unseres Urteils- und Handlungsvollzuges,
die sich im Begriff der Mitwissenschaft konzentriert, spiegelt genau
die geschichtliche Indexikalität von Zeitgenossenschaft wider. Und es
versteht sich von selbst, dass eine solche Form der Zeitgenossen-
schaft über das bloße Teilen von gemeinsamer Zeit hinausgeht: Zeit-
genossenschaft in diesem anspruchsvollen, emphatischen Sinne ist
ein praktisches Selbst- und Weltverhältnis, das sich geschichtlich he-
rausbildet und in der Geschichte durch die Praxis sich zu bewähren
hat. Wie aber ist eine solche Zeitgenossenschaft praktisch zu erlan-
gen? Wie denkt und handelt man auf der Höhe der Zeit? Oder muss
man sich gar von der Vorstellung, es könnte überhaupt eine Höhe
der Zeit geben, verabschieden, zugunsten verschiedener Zeitver-
läufe?
Bei Giorgio Agamben, der sich dieser hochkomplexen und im
Rahmen der vorliegenden Arbeit auch nur ansatzweise zu beantwor-
tenden Frage zugewendet hat, heißt es diesbezüglich: »Der Gegen-
wart zeitgenössisch, ihr wahrhaft zugehörig ist derjenige, der weder
vollkommen in ihr aufgeht noch sich ihren Erfordernissen anzupas-
sen versucht.« Und weiter: »Insofern ist er unzeitgemäß; aber eben-
diese Abweichung, dieser Anachronismus erlauben es ihm, seine Zeit
313
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
314
Eigenzeiten der Moderne
Treppenwitz der Geschichte, dass das letzte Bild, das es von Schelling
gibt, selbst zur Ikone einer Zeitenwende geworden ist, und zwar nicht
nur deshalb, weil in seinem, Schellings, Blick das »ganze Dunkel einer
unbelichteten Vorzeit« liegt, 214 sondern weil es die Praxis des Foto-
grafierens selbst ist, jene gegenüber der Portraitmalerei so ganz an-
dere Technik, die diesen für uns so rätselhaften und geheimnisvollen,
der Gegenwart entrückten, ja nahezu unwirklichen, aus der Tiefe der
Geschichte aufsteigenden Blick erzeugt. 215
Die Frage nach der Möglichkeit personaler Zukunft inmitten einer
Polychronalität der Moderne zeigt, dass für Schelling nicht der Ver-
stand, die Spekulation oder das System Maßstab und Medium des
Urteilens und Handelns sind, sondern dass das ›Leben‹ selbst in sei-
nen geschichtlichen Gestalten seinen Maßstab hervorbringt. Alle An-
sichten, so formuliert es Schelling in einem Brief an seinen Verleger
Johann Friedrich Cotta, seien in den Weltaltern bis zu dem Punkt
geführt, »wo sie schlechterdings in’s Leben eingreifen müssen«. 216
Diesen betont lebensorientierenden Impuls teilt Schelling mit Auto-
ren wie Herder, Novalis oder Friedrich Schlegel. Schelling beginnt
aber – und das räumt auch den Weltalter-Entwürfen in der Entwick-
lungsgeschichte der nachkantischen Philosophie einen so besonderen
Stellenwert ein – die notwendigen theoretisch-konzeptionellen Kon-
sequenzen aus den unauflösbaren Aporien der idealistischen System-
philosophie zu ziehen. Schon die Frühphilosophie wusste sich mit
dem Unterschied zwischen ›Schule‹ und ›Leben‹ der geschichtlichen
Wirklichkeit verbunden. Was aber aus dem Ansatz der Frühphiloso-
phie folgt, ist, dass sich die Philosophie nur über einen Umweg, und
zwar über den von ›Form‹, ›Objektivation‹ und ›Geist‹ des ›Lebens‹ zu
versichern vermag. 217 Leben kommt hier nur als »lebendige[s] Werk
des menschlichen Geistes« (AA I,2, 76) in den Blick, nicht aber als
realer Begriff des menschlichen Daseins, der er immer schon im ge-
schichtlich-praktischen Vollzug von Personen ist. Die Weltalter- und
Spätphilosophie wird von der Überzeugung getragen, dass die Dyna-
mik des menschlichen Geistes sich nicht an der »bloße[n] Folge und
Entwicklung eigener Begriffe und Gedanken« (WA I, 3) bemisst, son-
315
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
218 Auch Iber 1999, 236, der in seiner Habilitationsschrift die Theorie des Absoluten
seit der Freiheitsschrift und den Weltaltern mit Blick auf die ihnen zugrundeliegen-
den und von Schelling nie wirklich in den Griff bekommenen Aporien durchaus kri-
tisch beurteilt, gibt in seinen Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus zu
Bedenken, man dürfe ungeachtet dessen nicht die »produktiven Potentiale des Dua-
lismus in Schellings Theorie des Absoluten« übersehen.
219 Theunissen 2000, 7.
220 ›Zeitleben‹ ist ein Begriff, den ich an dieser Stelle von Fichte übernehme. Erstaun-
licherweise hat sich Fichte in seiner Erlanger Vorlesung von 1805 Ueber das Wesen
der Gelehrten ganz ähnlich wie Schelling zu einer Pluralität verschiedener Zeiten und
Zeitordnungen bekannt. Allerdings hat Fichte diesen Gedanken in seiner Spätphiloso-
phie nirgends weiterverfolgt, geschweige denn ausgearbeitet. Was den sachlichen Ge-
halt des ›Zeitlebens‹ angeht, sind die Parallelen zu Schelling indes frappierend: »Das
Zeitleben tritt nicht bloss in einzelnen Momenten, sondern es tritt auch in ganzen
gleichartigen Massen ein in die Zeit, welche gleichartigen Massen nun eben es sind,
die wiederum in einzelne Momente des wirklichen Lebens sich spalten. Es giebt nicht
eine einzige Zeit, sondern es giebt Zeiten, und Zeitordnungen über Zeitordnungen
und in Zeitordnungen. So ist z. B. das gesammte gegenwärtige irdische Leben der
menschlichen Gattung eine solche gleichartige Masse, welche mit Einem Male ganz
eingetreten ist in die Zeit, und allgegenwärtig ganz und ungetheilt da ist – für den
tieferen Sinn, lediglich für die sinnliche Erscheinung noch ablaufend in der Welt-
316
Eigenzeiten der Moderne
In den Weltaltern erklärt Schelling, dass nur derjenige über den Pro-
zess des Lebens wird urteilen können, der ihn selber praktisch erfah-
ren hat, das heißt: erlebt mit all seinen geschichtlichen Auf-, Ab- und
Umbrüchen. Der Prozess der Entwicklung darf Schelling zufolge
nicht bloß durchdacht, er muss durchlebt und im Durchleben immer
wieder neu ›entschieden‹ werden: »Selbst theoretisch ihn mitmachen
ist nicht genug. Wer den Prozess alles Lebens nicht praktisch erfah-
ren, wird ihn nie begreifen« (WA I, 102). Die Totalität des Seins be-
zieht Schelling zufolge erst aus der »geistige[n] Erfahrung« (WA I,
102) eines gelebten Lebens ihre Geltung, weil sie erst von dort her
geschichtlich erschlossen und praktisch zur Entfaltung gebracht wer-
den kann. Das gilt umso mehr für eine Zeit, die anfängt, sich von
überkommenden Strukturen zu emanzipieren, ja mit ihnen schon ge-
brochen hat und sich dadurch zusehends selbst fragwürdig geworden
ist. Schelling setzt, mit anderen Worten, bei der Zeit der mensch-
lichen Praxis an, und man kann diesen geschichtlichen Ansatz gegen
die These Theunissens verteidigen, Schelling lasse die derivierte Ab-
solutheit des Menschen durch die Absolutsetzung menschlicher Frei-
heit wieder verschwinden. 221 Erstaunlicherweise entwirft Schelling
vor dem Hintergrund der Umbruchserfahrungen seiner eigenen Zeit
sogar eine transzendentale Anthropologie der geschichtlichen Ge-
genwart, indem er spezifische Erfahrungen der Dis-/Kontinuität
zum Ausgangspunkt seiner Zeitanalyse macht und in der Folge da-
rauf beharrt, dass ein Leben »durchkämpft sein will«, um überhaupt
als ›Leben‹ angesprochen und in seinen vielfältigen Gestalten und
Epochen erkannt zu werden. Erst im Medium des geschichtlichen
Bruchs tritt Zeit als personale Zeit hervor, nur dort wird es möglich,
uns selbst und andere Personen als immer schon in der Zeit befind-
geschichte. Die allgemeinen Gesetze und Regeln dieser gleichartigen Massen des Le-
bens lassen sich, nachdem dieselben Massen nun eingetreten sind in die Zeit, wohl
begreifen, und, für den ganzen Ablauf dieser Massen im Voraus einsehen und ver-
frühen, indess die Objecte, d. h. die Hemmungen und Störungen des Lebens, über
welche hinweg diese Massen ablaufen, lediglich der unmittelbaren Erfahrung zugäng-
lich sind« (GA I,8, 75).
221 Zumal Theunissen sich gar nicht der Frage zuwendet, inwiefern auch die Welt-
alter-Entwürfe anthropologisch ansetzen, sondern sich auf den positiven Gehalt sei-
ner Thesen beschränkt, wonach die Freiheitsschrift eine genuin anthropologische
Ausrichtung besitze. Vgl. dazu Theunissen 1965.
317
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
liche, auf die Zeit angewiesene und sich die Zeit aneignende Wesen in
den Blick zu bekommen.
Schellings ›entschiedene Gegenwart‹ ist dabei als Zeitgenossen-
schaft im emphatischen Sinne Agambens zu verstehen: als Bruchstel-
le und Begegnungsort der Zeiten. 222 Und nirgendwo anders als an
diesen Bruchstellen wird auch sichtbar, dass Schellings personales
Zeit- und Geschichtsdenken sich geradezu in eine konfliktuöse Theo-
rie der Zeit übersetzen lässt. Die Zeiten, die sich dort – im geschicht-
lichen Umbruch – begegnen, spiegeln immer auch bestimmte Zeit-
vorstellungen und -einstellung wieder: Im Umbruch begegnen sich
die Zeiten unmittelbar als konfligierende Zeiten und werden auf diese
Weise doch – geschichtlich bzw. dialogisch – miteinander in Be-
ziehung gesetzt. Der Prozess des Lebens, so stellt sich die Sachlage
dar, erfordert die Organisation ganz verschiedener Zeiten und Zeit-
ordnungen und ihre Koordination gelingt – paradox genug – gerade
dann, wenn man – um Umfang und Grenze der jeweils anderen Zeit-
vorstellung und -einstellung wissend – im geschichtlich-praktischen
Vollzug die Zeiten gegeneinander abhebt. Als konfliktuös würde sich
Schellings personales Zeit- und Geschichtsdenken gerade in dem
Maße erweisen, wie es die Frage nach der Einheit der Zeit in Richtung
auf die Frage nach dem geschichtlich-praktisch überhaupt erst aus-
zutragenden Konflikt verschiebt, in dem sich verschiedene Zeiten
und Zeitordnungen von jeher befinden. 223
Man begegnet in diesem Zusammenhang einer bekannten Theo-
riefigur Schellings: Gesucht wird der Vereinigungspunkt der Syste-
me, die Einheit von Theorie und Praxis, Erkennen und Handeln, Na-
tur und Freiheit. Dass es einen solchen geben muss, daran hat sich seit
der Frühphilosophie nichts geändert. Schon in den Briefen hatte es
diesbezüglich geheißen, dass, wenn es schon kein einzig mögliches
System geben könne, es zumindest für die »verschiedne Systeme«,
ein »gemeinschaftliches Gebiet für sie alle« (AA I,3, 59) geben müsse.
Nur scheint es nun, dass sich nicht die bloße Vernunft, sondern das
Leben selbst, das Leben mit seinen ihm eingeschriebenen Zäsuren als
jenes »gemeinschaftliche[…] Gebiet« herausstellt, auf dem die ver-
318
Eigenzeiten der Moderne
224 Vgl. dazu auch Schelling 1832/33, 69: »Was jeder von der Philosophie zu erwarten
berechtigt ist, ist eine Wissenschaft, die dem Leben gewachsen ist, eben darum, weit
entfernt vor der ungeheuren Realität des Lebens zu erblassen, mit der fortschreiten-
den Lebenserfahrung selbst nur an Stärke und Kraft gewinnt«.
319
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
ändert. Das besondere mit Blick auf die mittlere Weltalter-Phase ist
aber, dass Schelling nun weder beim Alpha noch beim Omega, das
heißt: weder beim Anfang noch beim Ende ›anfängt‹, sondern gerade
fordert, Alpha und Omega aus der Mitte der zeitlichen Praxis immer
wieder neu hervorzubringen, immer wieder neu in Bezug auf das
Leben zu organisieren.
Hat man diese Position aber einmal eingenommen, dann beginnt
Gegenwart geschichtlich zu werden und sich aus der Präsenz eines
Dauer verbürgenden Zeitkontinuums zu befreien: Sie differenziert
sich auf personaler wie auf historischer Ebene in eine geschichtliche
Folge von Zeiten und wird von hier aus in den Formen ihrer zeit-
lichen Praxis kritisierbar. Die bloß ›äußere‹ Zeit erscheint so als eine
›Folge der Zeiten‹, als eine je spezifische Abfolge von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, und die Gegenwart, in der wir leben, ver-
weist so immer schon auf eine Abfolge verschiedenster Zeiten, auf
eine Pluritemporalität, die bei allen Synchronisierungsbestrebungen,
die es auf ein monotemporales Zeitmaß abgesehen haben, um willen
der personalen Freiheit in sich pluridimensional strukturiert bleibt.
Bei Schelling beginnt, was für die Hegel zentral werden wird, dass
Philosophie im Kern Erkenntnis geschichtlicher Gegenwart ist. 225
Jede Person ist das Subjekt seiner eigenen Zeit: urteilend und han-
delnd bringt sie diese Zeit hervor, und trägt dadurch auf ihre Weise
(Mit-)Verantwortung für das, was in dieser Zeit geschieht oder aber
gerade nicht geschieht und damit unter Umständen für eine längere
Zeit ausbleibt, obwohl es vielleicht gerade ›jetzt‹ an der Zeit gewesen
wäre. 226 War die ›Zeit‹-Kritik für Kant im Wesentlichen Kritik an der
objektiven Gegebenheit von Raum und Zeit und galt sie für Jacobi im
Kern als Kritik des systemischen Philosophierens selbst, dann ist sie
für Schelling Gegenwartskritik in nuce. Personen tragen Verantwor-
tung für ihre Urteile und Handlungen und müssen sich den Folgen
dieser, ihrer – womöglich auch unterlassenen – Urteile und Handlun-
gen stellen. 227 Und so befinden sich die verschiedenen Zeiten und
tus, zum Beispiel Unrecht zu tun oder zügellos zu sein, mit einer gewissen Freiwil-
ligkeit einhergeht, sodass von einer Zurechenbarkeit der Entscheidung durchaus die
Rede sein kann: »Aber, daß man ein solcher geworden ist, ist man selber schuld, indem
320
Eigenzeiten der Moderne
man sich gehen läßt; und daß man ungerecht und zügellos ist, ist man selber schuld,
der eine dadurch, daß er fortgesetzt Unrecht begeht, der andere dadurch, daß er da-
durch, daß er in Trinkgelagen und ähnlichen Dingen seine Zeit hinbringt. Denn die
Akte, die man in einer bestimmten Richtung ausübt, machen einen zu einem solchen,
wie man ist« (ders.: Nikomachische Ethik, 1114 a 3).
228 Gabriel 2013, 48.
229
Vgl. Schapp 1953.
230 Vgl. Breidbach 2011, 99.
231
Arendt 1960, 178.
321
Dritter Teil: Gegenwart im Konflikt
322
Schluss: Schellings Lehre von den Weltaltern
und die Frage nach der Zeit bei Kant.
Ausblicke auf einen exemplarischen ›Zeit‹-
Konflikt der Moderne
Wenn man danach fragt, ob die Zeit ›real‹ sei, so will man traditionel-
ler Weise wissen, ob die Zeit auch etwas ist, was unabhängig von
unserem Bewusstsein von ihr existiert. Kant hatte diese Frage mit
›nein‹ beantwortet und damit den Grundstein zur reflexiven Verzeit-
lichung der Zeit um 1800 gelegt. Zeit ist nach den Maßstäben der
Vernunftkritik an die subjektive Struktur des menschlichen Bewusst-
seins gebunden, genauer: an das Vermögen der Einbildungskraft, die
Anschauung der Zeit als Denkvollzug, als eine ins Unendliche gehen-
de Linie vorzustellen, und genau aus diesem Grund und nur in dieser
Hinsicht ist die Zeit als ›real‹ zu bezeichnen. Schelling kritisiert diese
Ansicht der Zeit in den Weltaltern mit weitreichenden Folgen: Seiner
Ansicht nach handelt es sich bei der Konzeption einer Linearzeit bloß
um eine abstrakte Subjektivierung der Zeit, nicht aber um eine, die
auch geschichtlichen Erfahrungen des menschlichen Daseins Rech-
nung trägt. »[A]lle Zeit ist subjektiv« (AA II,8, 91), in diesem Punkt
weiß sich Schelling einig mit Kant, nur geht ihm dessen Ansatz nicht
weit genug. Im Unterschied zu Kant behauptet Schelling, dass die
Zeit nicht deshalb ›subjektiv‹ ist, weil sie eine Form unserer Vorstel-
lungen ist – eine solche Zeit wäre nur formal –, sondern weil Zeit
überhaupt erst dadurch in die Zeit kommt, indem Personen sich ent-
schließen zu urteilen und zu handeln. Dass kein Ding eine ›äußre
Zeit‹ habe, heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass
die Veräußerlichung der Zeit zu einer quantitativ skalierbaren Einheit
gerade die Möglichkeit zur Verinnerlichung ihrer eigenen Geschichte
verdrängt, sei sie vergangen oder aber erst zukünftig. Bei Schelling
erweitert sich die bei Kant angelegte und durchgeführte reflexive Ver-
zeitlichung der Zeit zu einer radikalen Verzeitlichung aller Lebens-
bereiche, die auch die Erfahrungen geschichtlicher Dis-/Kontinuität
in sich einschließt.
Schellings ›allgemeine Subjektivität der Zeit‹ ist im Kern ge-
schichtlich fundiert und auf den personalen Vollzug von Zeit bezo-
323
Schluss
324
Schluss
325
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
a) Schelling:
327
Literaturverzeichnis
b) Kant:
c) Jacobi:
d) Fichte:
e) Hegel:
328
Primärliteratur
f) Goethe:
g) Schiller:
h) Schlegel:
i) Herder:
j) Weitere Quellen:
329
Literaturverzeichnis
330
Primärliteratur
331
Literaturverzeichnis
2. Forschungsliteratur
332
Forschungsliteratur