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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz

für die Philosophie der Mathematik


von D ar iu s Kor ia ko (Berlin)

Die „transzendentale Analytik“ ⫺ das erkenntnistheoretische Kern-


stück der Kritik der reinen Vernunft ⫺ enthält im Übergang von der
„Analytik der Begriffe“ zur „Analytik der Grundsätze“ zwei Text-
stücke, die wegen ihrer Dunkelheit berüchtigt sind: die „transzenden-
tale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ und das kurze Kapitel
„Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“. Doch wäh-
rend die transzendentale Deduktion bereits im sprachlichen Duktus die
Unzugänglichkeit des Inhalts kundgibt, ist dem Schematismuskapitel
auf den ersten Blick nicht anzusehen, dass es zu den umstrittensten
Abschnitten der ersten Kritik zählt. Denn dieses Textstück verzichtet
weitgehend auf jenes Arsenal kantischer Spezialtermini, das die Lektüre
der transzendentalen Deduktion zur esoterischen Übung macht. Um-
so erstaunlicher ist die Vielfalt der Deutungsversuche: das Spektrum
reicht von Positionen, die dem Schematismuskapitel jegliche tiefere
Relevanz absprechen (Adickes 1889, S. 171, Anm. 1, Curtius 1914,
S. 363⫺365, Warnock 1948), bis hin zu Auslegungen, die in diesem
Textstück das Zentrum der Philosophie Kants erblicken (Heidegger
1929, § 18, Daval 1951). Die vorliegende Studie setzt sich nicht zum
Ziel, das Desiderat einer Gesamtinterpretation des Schematismuskapi-
tels zu erfüllen; vielmehr soll die Frage nach der mathematikphiloso-
phischen Relevanz dieses Textes im Vordergrund stehen.

Obgleich das Schematismuskapitel primär dem Problem der Schemati-


sierung der Kategorien, also der Versinnlichung der reinen Verstandes-
begriffe gewidmet ist, so lassen sich bei näherer Betrachtung noch min-
destens zwei Subthemen entdecken, die das Beweisziel des Textes
gleichsam durchkreuzen: zum einen das generelle epistemologische Pro-
blem des Verhältnisses zwischen Begriff und Gegenstand (Stichwort:
Lockes „allgemeines Dreieck”), und zum anderen das spezielle Problem

Archiv f. Gesch. d. Philosophie 83. Bd., S. 286⫺307


쑔 Walter de Gruyter 2001
ISSN 0003-9101

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 287

der Inadäquatheit empirischer Gegenstände hinsichtlich mathemati-


scher Begriffe (Stichwort: Platons Problem der Mathematika).
Sieht man sich diese drei Punkte näher an, so wird klar, dass das
Schematismuskapitel bereits deshalb Verständnisschwierigkeiten berei-
ten muss, weil es drei Probleme behandelt, deren sachliche Zusammen-
gehörigkeit nicht unmittelbar evident ist. Hinzu kommt, dass das Pro-
blem der Schematisierung der Kategorien innerhalb der Systematik der
Kritik nicht leicht zu verorten ist: es ist schlicht unklar, worin dieses
Problem eigentlich bestehen soll. Zudem hängt die Interpretation des
Schematismuskapitels untrennbar mit derjenigen der transzendentalen
Deduktion zusammen: welche argumentative Rolle der letzteren zuge-
schrieben wird, bestimmt, was als Beweisziel des Schematismuskapitels
angesehen wird. Es ist daher kein Wunder, dass die Vielfalt der angebo-
tenen Interpretationen den Kantleser wohl eher ratlos zurücklässt, als
ihm hilfreich beizustehen.
Neuere Untersuchungen (Guyer 1987 und Carl 1989) haben hier in-
sofern zur Klärung beitragen können, als sie gezeigt haben, dass das
Problem des Schematismus für Kant erst relativ spät virulent geworden
ist. Es liegt also nahe zu vermuten, dass eine Rekapitulation der Vorge-
schichte dieses Kapitels auch dem inhaltlichen Verständnis dienlich ist.
Ich möchte daher zunächst kurz auf die Entwicklung des kantischen
Gedankens einer transzendentalen Deduktion der Kategorien eingehen.
Man weiß, dass Kant in der Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis
forma et principiis (1770) bereits über alle wesentlichen Elemente seiner späteren
Theorie von Raum und Zeit verfügte. Die Theorie der „sinnlichen“ Vorstellungen
war also zu diesem Zeitpunkt bereits voll entwickelt: sie stellen den Gegenstand dar,
wie er uns nach Maßgabe unserer kognitiven Ausstattung erscheinen muss. In Bezug
auf die „intellektuellen“ Vorstellungen verharrte Kant jedoch noch im dogmatischen
Schlummer: sie sollten den Gegenstand repräsentieren, wie er ist (vgl. De Mundi § 4).
Doch woher wissen wir, dass solche Begriffe, die weder in sinnlichen Vorstellungen
fundiert noch archetypischer Natur sein können, überhaupt legitim auf erfahrbare
Gegenstände appliziert werden dürfen? Kant resümiert dieses Dilemma im berühm-
ten Brief an Herz vom 21. Februar 1772 wie folgt:
Ich hatte gesagt, die sinnliche Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie sie erschei-
nen, die intellektuale, wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge
gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns affizieren, und
wenn solche intellektuale Vorstellungen auf unsrer innern Tätigkeit beruhen, wo-
her kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die
doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden […]?
Man kann die Idee einer transzendentalen Deduktion als Versuch einer systemati-
schen Beantwortung dieser Frage ansehen. Kants ursprüngliche Konzeption einer
solchen Deduktion sah vor, dass sowohl die Berechtigung des Gebrauchs von Kate-

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gorien auf Erscheinungen, als auch die Restriktion dieses Gebrauchs auf eben diese
aus einem Argument hervorgehen sollte, das wesentlich von einem substanzialonto-
logischen Ichbegriff Gebrauch macht. Dies geht aus handschriftlich überlieferten
Notizen hervor, die als „Duisburg’scher Nachlaß“ bekannt geworden sind. 1 Hier
konzentriert sich Kant allerdings noch ausschließlich auf die Kategorien der Rela-
tion; von einem Prinzip zur Auffindung aller reinen Verstandesbegriffe ist noch nicht
die Rede.
Kant begreift die Relationskategorien um 1775 als temporale Ordnungsprinzi-
pien; und der Grundgedanke seiner damaligen Konzeption besagt, dass Erscheinun-
gen nur dann solche eines Objektiven sein können, wenn sie gewisse weitergehende
Bedingungen erfüllen, die aus dem Wesen des Erkenntnissubjekts oder der „Apper-
zeption“ folgen. In diesem Zusammenhang gewinnt für Kant der Begriff der Regel
Signifikanz. So heißt es etwa: „Nur dadurch, dass das Verhältnis, was nach den
Bedingungen der Anschauung gesetzt wird, als nach einer Regel bestimmbar ange-
nommen wird, bezieht sich die Erscheinung auf ein obiect; sonst ist es nur eine innere
affection des Gemüths.“ (R 4677, AA 17.657) Kategorien sind genauer Regeln, allen
Erscheinungen eine „Stelle“ in der Ordnung der Zeit anzuweisen. Dies wird am Bei-
spiel der Kausalität wie folgt expliziert:
Wenn meine Vorstellung worauf folgt, so würde der Gegenstand derselben noch
nicht darauf folgen, wenn dessen Vorstellung nicht wodurch als eine Folge deter-
minirt wäre, welches niemals anders als nach einem allgemeinen Gesetze gesche-
hen kann. Oder es muss ein allgemein gesetze seyn, das alle folge durch etwas
vorhergehendes determinirt sey, sonst würde ich zu der folge der Vorstellungen
keine folge der Gegenstände setzen. (R 4675, AA 17.648)
Damit ist freilich noch nicht gezeigt, dass wir auch berechtigt sind, eine solche objek-
tive Ordnung in unseren Affektionen zu präsumieren. An dieser Stelle wird nun
Kants substanzialontologische Ichkonzeption aktiv; er geht nämlich von dem Ge-
danken aus, dass die Kategorien, verstanden als Regeln zur Konstitution einer objek-
tiven Zeitordnung, selbst schon konstitutiv sind für das, was er ,Apperzeption‘
nennt: „Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception
aufgenommen.“ (R 4676, AA 17.656) Oder: „Wir nehmen etwas nur wahr dadurch,
dass wir uns unsrer apprehension bewust seyn, folglich des Daseyns in unserm innern
Sinne […].“ (R 4681, AA 17.667) Die zeitlichen Relationen, die in den Relationskate-
gorien gedacht sind, werden begriffen als ebenso viele Relationen, die zwischen ei-
nem Subjekt und seinen Vorstellungen bestehen: 2

1 Man findet diese Notizen in Ak.-Ausg. Bd. 17, S. 643⫺673.


2 Auf dieser Grundlage skizziert Wolfgang Carl Kants damaliges Projekt einer
Kategoriendeduktion mit den Worten „[…] es geht ihm darum nachzuweisen,
dass die Funktionen der Apperzeption mit den Regeln, unter denen Wahrneh-
mungen stehen, sofern sie Vorstellungen von Objekten sind, so zusammenhän-
gen, dass Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, Vorstellungen
von Objekten sein müssen.“ (Carl 1989, S. 93)

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 289

Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufge-
nommen. Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir. […] Das Ich macht das Sub-
stratum zu einer Regel überhaupt aus, und die apprehension bezieht iede Erschei-
nung darauf. (AA 17.656)
Wie aus anderen, gleichlautenden Passagen hervorgeht, sind hier die Kategorien der
Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung explizit angesprochen. Weil also
dem Subjekt selbst eine gewisse zeitlogische Struktur vorgängig inhäriert, müssen
auch seine Wahrnehmungen in diese Struktur integrierbar sein; dann und nur dann
sind diese auch ,objektive‘ Wahrnehmungen, d. h. solche eines Gegenstands.
Wie aus diesen wenigen Zitaten bereits deutlich hervorgeht, war Kants Projekt
einer transzendentalen Deduktion um 1775 noch nicht soweit ausdifferenziert, dass
es zu einer Unterscheidung zwischen unschematisierten Kategorien, schematisierten
Kategorien und transzendentalen Grundsätzen gekommen wäre. Diese Unterschei-
dung wurde erst möglich (bzw. erforderlich), als Kant aufgrund der Entdeckung der
Paralogismen den substanzialontologischen Ichbegriff aufgeben musste. 3 Erst durch
die Einsicht in die Unhaltbarkeit dieser Konzeption war Kant genötigt, für den ihm
vorschwebenden Zusammenhang zwischen Objekterkenntnis und Selbstbewusstein
eine neue argumentative Grundlage zu finden. 4 Das bedeutet: Kant muss nun für
sein Projekt einer Bestimmung der Möglichkeit und Grenzen reiner Vernunfter-
kenntnis eine Basis finden, die nicht auf die zeitlichen Relationen rekurriert, wie sie
in schematisierten Kategorien formuliert sind.
Die neue Konzeption sieht vor, dass die Kategorien zunächst unabhängig von der
Frage nach ihrem epistemischen Gehalt als Begriffe der reinen Synthesis bestimmt
werden und aus einer entsprechenden Urteilstheorie zu gewinnen sind. Folgerichtig
argumentiert die transzendentale Deduktion (in beiden Versionen) mit einem Kate-
gorienbegriff, der die spezifisch zeitlogischen Gehalte der einzelnen Kategorien noch
unberücksichtigt lässt. Damit trägt Kant seiner ursprünglichen Einsicht Rechnung,
dass die Kategorien „[…] von Gegenständen nicht durch Prädikate der Anschauung
und der Sinnlichkeit, sondern des reinen Denkens a priori reden“ und sich folglich
„auf Gegenstände ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit allgemein beziehen […]“
(A 88/B 120). Die Notwendigkeit eines separaten Abschnitts über den transzendenta-
len Schematismus ist also eine Folge von Änderungen in Kants Konzeption des
Kernstücks der transzendentalen Analytik: weil die Kategorien zunächst unabhängig
von ihren zeitlogischen Gehalten deduziert werden, muss ihnen dieser Gehalt nach-
träglich zugewiesen werden, bevor das Argument der transzendentalen Analytik im

3 Carl (1989, S. 101) datiert diese Entdeckung auf 1780.


4 „Da die Einheit der Apperzeption ein Bewusstsein der Identität eines Subjekts
mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen ist, müssen die Regeln,
unter denen ihre Synthesis steht, von diesem Bewusstein her verständlich ge-
macht werden und können nicht mehr, wie 1775, durch Rekurs auf die ,realen‘
Relationen des als Substanz verstandenen Subjekts gewonnen werden, das als
,Träger‘ seiner Vorstellungen fungiert.“ (Carl 1989, S. 134)

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Grundsatzkapitel zum Abschluss kommen kann. 5 Kants neue Strategie, die auf dem
Dreischritt: Urteilsformen, Kategorien, Grundsätze beruht, lässt sich daher als der
Versuch verstehen, seinen erkenntnistheoretischen Grundgedanken nach der Entdek-
kung der Paralogismen durch Reduktion der Argumentationsvoraussetzungen zu
retten.

II

Für jeden Leser der Kritik der reinen Vernunft ist unübersehbar, dass
das Schematismuskapitel mehr zu bieten versucht, als nur einen Appen-
dix zur Kategoriendeduktion, der lediglich durch die oben skizzierte
interne Theorienkonstellation bedingt ist. So beginnt der Text mit der
folgenden Feststellung: „In allen Subsumtionen eines Gegenstandes un-
ter einen Begriff muss die Vorstellung des ersteren mit der letztern
gleichartig sein, d. i. der Begriff muss dasjenige enthalten, was in dem
darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird, denn das
bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe
enthalten.“ (B 176) Der transzendentale Schematismus wird hier also
eingeführt als Exemplifikation eines allgemeineren Phänomens, näm-
lich der Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff.
Doch Kant betont einige Zeilen später, dass nur in Bezug auf die
reinen Verstandesbegriffe von einem Subsumtionsproblem gesprochen
werden kann. Denn:
In allen anderen Wissenschaften, wo die Begriffe, durch die der Gegenstand allge-
mein gedacht wird, von denen, die diesen in concreto vorstellen, wie er gegeben
wird, nicht so unterschieden und heterogen sind, ist es unnötig, wegen der Anwen-
dung des ersteren auf den letzten besondere Erwähnung zu geben.
Die im ersten Satz des Kapitels angesprochene Homogenitätsforderung
ist also nur bei reinen Verstandesbegriffen nichttrivial; in allen anderen
Fällen ist die Unterscheidung zwischen schematisierten und nichtsche-
matisierten Begriffen nicht sinnvoll. Denn sowohl in den empirischen
Wissenschaften als auch in der Mathematik besteht zwischen der ,allge-
meinen‘ Vorstellung eines Gegenstandes und seiner Vorstellung ,in
concreto‘ jene ,Gleichartigkeit‘, die im Falle der Kategorien erst durch
ein philosophisches Argument gesichert werden muss. Das verdeutlicht

5 Auch Guyer hat das Schematismuskapitel als Folge von Kants Modifikation
seiner Konzeption einer transzendentalen Deduktion interpretiert (vgl. Guyer
1987, S. 157⫺163); doch da er nicht die Entdeckung der Paralogismen als Vor-
aussetzung dieser Modifikation erkennt, muss ihm der von Carl ermittelte Zu-
sammenhang verschlossen bleiben.

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 291

Kant im ersten Absatz des Kapitels mit dem folgenden Beispiel: „So
hat der empirische Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen
eines Zirkels Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren
gedacht wird, sich im letzteren anschauen lässt.“ (B 176) Hier ist wohl
gemeint, dass der Begriff der Rundung im Begriff des Tellers als Merk-
mal enthalten ist und daher in diesem nur ,gedacht‘ (und nicht ange-
schaut) wird: wir müssen zuerst eine Abstraktionsleistung erbringen,
bevor aus der empirischen Vorstellung des Tellers das Merkmal der
Rundung hervortritt. Jedoch: Es ist dasselbe Merkmal von Tellern, das
im einen Fall ,gedacht‘, im anderen ,angeschaut‘ wird. Die im Begriff
der Subsumtion gedachte Homogenitätsforderung ist also im Falle
sinnlicher Begriffe trivial erfüllt. Es ist daher aus Kants Sicht nicht
zweckmäßig, den Schematismus sinnlicher Begriffe eigens zu problema-
tisieren. Diese Identität des Merkmals liegt bei den Kategorien deshalb
nicht vor, weil das in ihnen ,gedachte‘ Merkmal (die Urteilsfunktion)
überhaupt keine unmittelbare Anweisung zur Versinnlichung enthält.
Darüber, wie dieser Gedanke der „Gleichartigkeit“ zwischen Anschauung und
Kategorie mit Inhalt gefüllt werden kann, besteht in der Literatur alles andere als
Konsens. 6 Dieses Problem kann hier jedoch übergangen werden, da diese Studie eine
andere Zielrichtung verfolgt. Festhalten möchte ich jedoch, dass Kant hier offen-
sichtlich einen Strohmann aufbaut. Denn auch die „Ungleichartigkeit“ der Katego-
rien mit unseren Anschauungen geht doch wohl nicht so weit, dass wir eines philoso-
phischen Arguments bedürften, das uns allererst zeigt, welche sinnlichen Gehalte den
einzelnen Kategorien zuzuweisen sind. Wir haben ja oben gesehen, dass der Gedanke
der Kategorien als zeitlogische Prinzipien sogar der Ursprungsort von Kants Idee
einer Kategoriendeduktion ist. Wenn die Kategorie der Kausalität überhaupt einen
sinnlichen Gehalt aufweist, dann sicher den einer „Sukzession des Mannigfaltigen,
insofern sie einer Regel unterworfen ist“ (B 183). Kant argumentiert nicht für die
von ihm vorgenommenen Schematisierungen, weil er sie für naheliegend hält. Wofür
er im Schematismuskapitel argumentiert, ist der philosophische Sinn des Schematis-
mus im Allgemeinen: was prädestiniert die Zeit zu ihrer Vermittlungsfunktion zwi-
schen Begriff und Anschauung? Was immer das Schematismuskapitel also bezweckt
⫺ es kann letztlich nicht mehr leisten, als mit mehr oder weniger großem Aufwand
den Kategorien jenen sinnlichen Gehalt zuzuweisen, der ihnen zu Beginn der trans-
zendentalen Analytik aus Gründen der Argumentationsstrategie genommen wurde. 7
Wir haben gesehen, dass Kant den Grundgedanken des Schematis-
mus auf eine Differenz zwischen Begriffen, „durch die der Gegenstand
allgemein gedacht wird, von denen, die diesen in concreto vorstellen“

6 Für eine sehr detaillierte Darlegung hierzu vgl. Lohmar 1991.


7 Freilich sind nicht alle kantischen Schematisierungen als evident anzusehen, etwa
im Falle der Modalkategorien. Vgl. hierzu Guyer 1998 S. 303.

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292 Darius Koriako

gründet. Offenbar rechnet Kant an dieser Stelle mit so etwas wie singu-
lären Begriffen, die sich direkt auf gegebene (empirische) Vorstellungen
beziehen. Es ist zweifelhaft, ob Kants Systematik eine solche Differen-
zierung erlaubt; denn wenn die einzelne empirische Vorstellung eines
Tellers eine begriffliche Vorstellung ist, dann fragt man sich, was eigent-
lich die Anschauung eines solchen Gegenstandes darstellen soll. Doch
ich möchte an dieser Stelle eine dringlichere Frage erörtern: was ist
eigentlich genau ein Schema? Kant definiert es als „die Vorstellung von
einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein
Bild zu verschaffen“ (B 179 f.). Die eigentliche Schwierigkeit besteht
nun darin, den präzisen systematischen Stellenwert dieser Konzeption
anzugeben: sind Schemata spezielle Begriffe, sind sie Anschauungen,
oder sind sie ein Drittes zwischen Begriff und Anschauung? Kants Aus-
sagen hierzu tragen nicht gerade zur Klärung bei; denn einerseits
schreibt er (B 179): „Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur
ein Produkt der Einbildungskraft […]“, während es andererseits doch
„vom Bilde zu unterscheiden“ sei. Weiter unten (B 180) lesen wir: „Das
Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existie-
ren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in
Ansehung reiner Gestalten im Raume.“ Diese Bestimmungen sind sehr
ungenau; was soll es z. B. heißen, dass das Schema eine Regel bedeutet?
Ist es eine Regel, dann versteht man zwar, warum es nur in Gedanken
existieren kann, aber man versteht nicht, wie es zugleich als ein Produkt
der Einbildungskraft bezeichnet werden kann. Ist es dagegen ein sol-
ches Produkt, dann kann es schwerlich Regelcharakter aufweisen, wo-
mit die Abgrenzung vom Bild problematisch wird.
Es ist zwar klar, was das Schema für Kant leisten soll (nämlich die
epistemische Vermittlung zwischen Begriff und Gegenstand); aber es ist
alles andere als klar, dass seine Intention auch konsistent durch genau
eine Entität erfüllt werden kann. 8 Das ist jedoch, so scheint mir, nicht
verwunderlich: denn hat man sich einmal darauf eingelassen, ein drittes
vermittelndes Element zwischen Anschauung und Begriff zu fordern,
dann ist man bereits in einem infiniten Regress gefangen; dieser Regress
kann nur im ersten Schritt gestoppt werden, indem man leugnet, dass
die Subsumtion eines Gegenstands unter einen Begriff irgendetwas an-
deres bedürfte als eben diese: den Begriff und den Gegenstand.

8 Auch die bisher angebotenen Interpretationen zeigen, dass Schemata entweder


,intellektualisiert‘ werden (und dann sind sie eben spezielle Begriffe ⫺ so bereits
Curtius 1914), oder sie werden als spezielle ⫺ eben schematische ⫺ Bilder begrif-
fen (hier denke ich besonders an Kaulbach 1965), je nachdem, welcher Aspekt
des Schematismusgedankens als entscheidend angesehen wird.

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 293

Nun haben wir aber gesehen, dass die Unterscheidung zwischen sche-
matisierten und unschematisierten Kategorien nur durch die Tektonik
des kantischen Arguments bedingt ist; es gibt also nicht Kategorien
einerseits und Schemata andererseits, sondern es gibt nur Kategorien.
Sieht man von den Bedingungen ihrer sinnlichen Realisation ab (und
das ist deshalb möglich, weil Kant sie als Funktionen der Synthesis in
unseren Urteilen einführt), dann hat man es mit „unschematisierten“
Kategorien zu tun. Solange also nur von Kategorien die Rede ist, wirft
die Einführung von Schemata keine nennenswerten Probleme auf: ein
Schema ist einfach eine sinnlich erfüllte Kategorie. Nicht die schemati-
sierten Kategorien sind philosophische Kunstgebilde, sondern die un-
schematisierten Kategorien.
Doch Kant belässt es nicht bei einem Schematismus reiner Verstan-
desbegriffe; auch für sinnliche Begriffe soll seine Theorie eine auf-
schlussreiche Explikation liefern. Man könnte nun auf die Idee verfal-
len, dass auch hier die Schemata keine eigenständige Schicht epistemi-
scher Entitäten bilden. Ob etwas „Begriff“ oder „Schema“ heißt, wäre
also schlicht eine Frage der Perspektive. So schreibt Guyer:
[…] the empirical concept dog is its own schema and is also homogeneous with
the object to be subsumed under it. Empirical concepts are rules or schemata
which tell us to predicate a certain title of a particular object, just in case certain
sensible properties indeterminately specified in the rule are actually, and of course
determinately, instantiated by that particular object. (Guyer 1987, S. 164)
Es wäre schön, wenn diese Interpretation richtig wäre; aber sie ist es
nicht. Denn, was immer empirische Begriffe für Kant sein mögen, sie
sind jedenfalls mehr als die Repräsentation eines einzigen anschau-
lichen Gehalts der jeweiligen Gegenstandsklasse (also der jeweiligen
räumlichen Konfiguration des Gegenstands). So dürfte der Begriff des
Tellers auch solche Merkmale enthalten wie „dient der Nahrungsauf-
nahme“, oder der des Hundes das Merkmal „ältestes Haustier“. Es ist
keineswegs unumstritten, dass derartige Merkmale eine solche „sche-
matische“ Repräsentation erlauben, wie sie von Guyer angenommen
wird ⫺ ganz zu schweigen von Begriffen wie „Geld“, deren anschau-
liches Korrelat sich wohl kaum dingfest machen lässt.
Berücksichtigt man die Tatsache, dass für Kant der Begriff „Hund“
sicher nicht nur mit einem einzigen Merkmal verknüpft ist (mit der
typischen räumlichen Erscheinung von Hunden), dann wird die Frage
nach dem Schema dieses Begriffs schier unergründlich. Gibt es für jedes
Merkmal ein Schema? Oder verbindet das Schema für „Hund“ die
Merkmale in holistischer Manier zur paradigmatischen Vorstellung ei-

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nes Hundes? Aber wie ist das mit den oben genannten Merkmalen mög-
lich? Was zählt in Kants Begriffstheorie überhaupt als ein Merkmal?
Ich werfe diese Fragen hier nicht auf, um sie zu beantworten, son-
dern um den Argumentationsgang dieser Untersuchung zu motivieren.
Am Anfang stand hier die Beobachtung, dass Kant im Schematismus-
kapitel drei heterogene Problemfelder miteinander verknüpft: das Pro-
blem des Realitätsbezugs der Kategorien, das so genannte Subsum-
tionsproblem, und schließlich das Problem des Realitätsbezugs der ma-
thematischen Begriffe. Es ist dieser letzte Punkt, wie ich im Folgenden
plausibel machen möchte, der die Unterscheidung zwischen Schema
und Bild überhaupt erst interessant macht. Dazu müssen wir uns nun
mit Kants Theorie der „reinen sinnlichen Begriffe“ beschäftigen.

III

Kant operiert im Schematismuskapitel mit einer eigentümlichen Be-


griffstrichotomie: zunächst trifft er eine Unterscheidung zwischen Ver-
standesbegriffen und sinnlichen Begriffen. In einem zweiten Schritt
wird den mathematischen Begriffen ein Sonderstatus eingeräumt: sie
gelten als „reine“ sinnliche Begriffe, weil sie sich auf jene Züge des
Empirischen beziehen, die sich ausschließlich in räumlichen bzw. zeitli-
chen Prädikaten fassen lassen. Farben, Gerüche und Klänge würden
also nach Kants Auffassung keine Schematisierung zulassen, da sie
keine „reinen“ Vorstellungen sind. Es ist also nicht schwer zu verstehen,
warum Kant glaubte, dass sowohl das Verfahren der Versinnlichung
der Kategorien, als auch die Vergegenwärtigung „reiner Gestalten im
Raume“ (B 180) unter das Konzept des Schematismus gebracht werden
kann: in beiden Fällen haben wir es mit der Versinnlichung apriorischer
Begriffe zu tun, die ein entsprechendes apriorisches Medium erfordern.
Doch wo bringen wir die empirischen Begriffe unter? Wir hatten ja
gesehen, dass gerade diese nur schwer mit der Idee des Schematismus
vereinbar sind. Ich möchte jetzt eine Interpretation vorschlagen, die
den Vorzug der Einfachheit mit dem einer (so hoffe ich) größtmög-
lichen Textnähe vereinbart. Die Schwierigkeit besteht darin, dass im
Falle der empirischen Begriffe eine Differenzierung zwischen schemati-
sierter und nichtschematisierter Repräsentation kaum sinnvoll er-
scheint. 9 Freilich hängt hier viel davon ab, wie man Kants Begriffstheo-

9 Über die bisher vorgeschlagenen Ansätze zu einer Lösung dieses Problems vgl.
die Übersicht in Dahlstrom 1981.

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 295

rie und seine Merkmalslehre interpretiert. Doch für die nachfolgenden


Überlegungen ist es nicht erforderlich, die Einzelheiten von Kants Be-
griffstheorie zu erörtern. Es genügt, wenn wir uns an der wohl am
wenigsten kontroversen Eigenschaft von Begriffen orientieren, nämlich
aus Merkmalen zusammengesetzt zu sein, die jeweils partielle Beschrei-
bungen der intendierten Gegenstandsklasse liefern. Ich möchte diese
einfachste Form einer Begriffstheorie als „Listentheorie des Begriffs“
bezeichnen: ein Begriff ist demnach nichts anderes als eine Liste von
Merkmalen.
Es ist wichtig zu verstehen, was diese rudimentäre Theorie nicht
festlegt. So brauchen wir nicht anzunehmen, dass jeder kompetente
Sprachbenutzer dieselbe Liste im Kopf hat, wenn er z. B. an Hunde
denkt; es genügt, wenn sie ihn zur Identifikation von Hunden in All-
tagssituationen befähigt. Desgleichen müssen wir nicht ausschließen,
dass solche Merkmalslisten durch Lernprozesse eine Erweiterung erfah-
ren; ja sie sind sogar prinzipiell unabschließbar. Es kann auch vorkom-
men, dass die aufgelisteten Merkmale teilweise voneinander abhängen;
so hängt etwa „ist ein Wirbeltier“ von „ist ein Säugetier“ analytisch ab.
Der Inhalt solcher Listen kann sich also auch dadurch verändern, dass
die auftretenden Begriffe ihrerseits neue Merkmale einbringen.
Aber solche Merkmalslisten sind nicht nur unabgeschlossen; sie sind
auch ungeordnet. Dies ist der entscheidende Punkt für die nachfolgen-
den Überlegungen. Denn hieraus folgt, dass es für jede Liste genau ein
Merkmal gibt, das nicht in ihr verzeichnet werden kann; und dies ist
die räumliche Gestalt des jeweiligen Gegenstandes. Warum ist das so?
Nun ⫺ es liegt in der Natur räumlicher Figuren, nur durch holistische
Repräsentation exponibel zu sein. Merkmalslisten erlauben aber nur
die Angabe von isolierten Zügen, wie „ist ein Fleischfresser“ oder „ver-
wendet Schwanzwedeln zum Zeichen der Freude“. Dies ist eine
schlichte Konsequenz der Tatsache, dass Begriffe nicht Bilder der Ge-
genstände sind, sondern allenfalls Aspekte von Gegenständen wieder-
geben.
Folgen wir Kants Beispiel und vereinfachen wir die Diskussion mit
Hilfe des Dreiecksbegriffs! Meine These besagt dann: die Form eines
Dreiecks ist keine Eigenschaft, die einem Gegenstand derart zuge-
schrieben werden kann, dass sie sich als Eintrag in seine Merkmalsliste
aufnehmen ließe. Denn es gibt kein solches Merkmal, das zur Identifi-
kation dieser Figur notwendig und hinreichend wäre. Nicht alles, was
drei Ecken hat, hat damit bereits die Form eines Dreiecks. 10 Und nicht

10 Das dürfte z. B. für jenen Hut gelten, von dem es im Lied heißt: „Mein Hut, der
hat drei Ecken …“.

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296 Darius Koriako

jedes Tripel aus drei Geraden bildet ein Dreieck; ein Dreieck ist die
Konfiguration, die entsteht, wenn die Punkte in geeigneter Weise mit-
einander verbunden werden.
Wie würden wir einer Person, die mit dem Dreiecksbegriff nicht ver-
traut ist, diesen Begriff vermitteln? Wir würden ein Dreieck beschreiben:
wähle eine beliebige Gerade, füge an einem ihrer Endpunkte eine wei-
tere Gerade in beliebigem Winkel an, und verbinde den ersten mit dem
letzten Punkt. Dies ist nur eine von vielen konstruktiv äquivalenten
Beschreibungen; auf die Details kommt es hier nicht an. Worauf es
ankommt, ist die Tatsache, dass diese Beschreibungen sowohl von be-
grifflicher Allgemeinheit sind (sie können von unbestimmt vielen Ge-
genständen erfüllt werden), als auch die Konkretion eines Bildes errei-
chen. Nur weil Schemata in diesem Sinne zwei scheinbar unvereinbare
Eigenschaften miteinander verbinden, ist auch ihr ontologischer Status
zwischen Begriff und Anschauung so schwer zu bestimmen.
Doch was ist der Grund für diese Doppelnatur schematischer Be-
schreibungen? Ganz einfach: diese schematischen Beschreibungen ge-
hen von der willkürlichen Wahl gewisser Anfangsbedingungen aus. Da-
mit ist ihre begriffliche Allgemeinheit gewährleistet. (Das Schema des
Dreiecks sagt nichts über die Seitenlängen oder die Größe der Winkel
aus.) Aber sie überlassen es dem epistemischen Subjekt, auf der Grund-
lage dieser Wahl die Erfülltheit gewisser Folgebedingungen zu kontrol-
lieren. Wie diese Bedingungen zu erfüllen sind, folgt freilich nicht mit
begrifflicher Notwendigkeit aus der schematischen Beschreibung, son-
dern dies muss in der jeweiligen, anschaulich gegebenen Situation
durch Konstruktion sichergestellt werden. (Je nachdem, wie ich den
Winkel zwischen den ersten beiden Dreiecksseiten wähle, bin ich für
die verbleibenden Winkel bereits festgelegt.) Obgleich also schemati-
sche Beschreibungen reiner Gestalten im Raume als begriffliche Be-
schreibungen verstanden werden müssen, sind sie doch qua Beschrei-
bung derart mit anschaulichem Gehalt erfüllt, dass sie die Konkretion
eines Bildes erlangen. Darum können wir uns ein Dreieck nicht anders
vorstellen als durch Konstruktion. Ein Schema zu realisieren, z. B. sich
ein Dreieck vorstellen, ⫺ das heißt nichts anderes, als „einem Begriff
sein Bild zu verschaffen“ (B 180).
Das gilt jedoch nicht für die empirischen Begriffe; hier besteht zwi-
schen den Merkmalen keine holistische Beziehung, die es erlaubt, auf-
grund der Wahl gewisser Anfangswerte die Art der Konkretion für die
übrigen festzulegen. Empirische Begriffe klassifizieren Gegenstände,
aber sie beschreiben sie nicht. Und genau deshalb können wir diese
Gegenstände nicht a priori konstruieren. (In der listenartigen Beschrei-

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 297

bung von Hunden gibt es einen Eintrag über das Haarkleid. Dieses
Merkmal kann ich variieren; aber was bedeutet es für die übrigen
Merkmale, wenn ich dieses als „langhaarig“ spezifiziere?) Die einzigen
Begriffe, die uns derart umfassende Informationen über Gegenstände
liefern, dass wir sogar apriorisches Wissen von ihnen gewinnen können,
sind jene Begriffe, die mit einer schematischen Beschreibung verbunden
sind. Und nur diese Begriffe erlauben es, sich ein Bild des jeweiligen
Gegenstands zu machen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass wir bei
diesen Begriffen notwendigerweise wissen müssen, wie die einzelnen
Aspekte der räumlichen Figur ineinander greifen: wer nicht weiß, dass
die Lage der Ecken eines Dreiecks auch die Lage seiner Seiten bestimmt
(oder die Länge einer Quadratseite die Länge der übrigen), von dem
kann man nicht sagen, dass er diese Begriffe wirklich beherrscht.
Solche „morphologische“ Begriffe (wie ich sie nennen möchte) erfor-
dern also ganz andere epistemische Kompetenzen als empirische Be-
griffe: es genügt nicht, den jeweiligen Begriff in seiner Listenform (dis-
kursiv) zu vergegenwärtigen, sondern wir können und müssen ihn kon-
struieren, d. h. intuitiv realisieren. Und wir können das genau deshalb,
weil wir wissen, wie die Wahl gewisser Anfangsbedingungen sich auf
die übrigen Bestimmungsstücke auswirkt: sind drei Punkte im Raum
gewählt, dann ist damit auch die Lage der Dreiecksseiten festgelegt. Ist
eine Gerade und ein rechter Winkel an einem Endpunkt bestimmt,
dann steht schon fest, wie die „Geschichte“ dieses Quadrats weiterge-
hen muss.
Bevor ich versuche, diese These aus einer anderen Perspektive weiterzuentwickeln,
möchte ich hier die Gelegenheit ergreifen, auf ein naheliegendes Missverständnis
hinzuweisen. Zu den oft zitierten Bemerkungen Kants zur Theorie der Mathematik
zählt der Satz aus der transzendentalen Deduktion (B 154): „Wir können uns keine
Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu
beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demsel-
ben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen […].“ Man erliegt leicht der
Versuchung, diesen Satz (und ähnliche) als Kommentar zur Theorie der mathemati-
schen Konstruktion zu lesen. Demnach wäre Kants Behauptung, mathematische Be-
griffe müssten konstruiert werden, dem Sinn nach teilidentisch mit dem, was in der
transzendentalen Deduktion am Beispiel der Linie angesprochen wird. Ich denke
nicht, dass diese Lesart sinnvoll ist. Will man den kantischen Konstruktionsbegriff
für die Philosophie der Mathematik reklamieren, dann sollte man ihn besser nicht
mit den Problemen der transzendentalen Deduktion belasten. Denn Kants oben zi-
tierte Bemerkung ist ⫺ um mit dem offensichtlichsten anzufangen ⫺ alles andere
als einleuchtend; ich jedenfalls kann das geforderte Linienziehen introspektiv nicht
nachvollziehen. Warum sollte es für die Konstitution mathematischer Gegenstände
entscheidend sein, dass wir sie temporal konstituieren müssen? Diese These erscheint

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298 Darius Koriako

mir nur sinnvoll vor dem Hintergrund der kantischen Synthesistheorie. Freilich:
wenn diese richtig ist, dann müssen wir räumliche Figuren ziehen, wenn wir sie er-
kennen wollen ⫺ sie sind dann nichts anderes als subjektiv konstituierte Erscheinun-
gen. Und es ist nicht erstaunlich, dass Kant ausgerechnet in der transzendentalen
Deduktion auf diesen Gedanken zurückkommt, wird doch hier die wichtige Unter-
scheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung aktiv. (Nur
die letztere bietet eine „Zusammenfassung des Mannigfaltigen“ in eine „anschauliche
Vorstellung“ und ist daher nicht ohne Einwirkung des Verstandes auf die Sinnlich-
keit via Kategorien zu haben; vgl. die Fußnote zu B 159).
Aber man sieht sofort, dass der theoretische Kontext dieses Linienziehens ein
vollkommen anderer ist als jener, in welchem der Schematismusgedanke beheimatet
ist: hier geht es um den epistemischen Status sinnlicher Begriffe, nicht um die (man
möchte fast sagen) metaphysischen Bedingungen raumzeitlicher Entitäten als sol-
cher. Darum ist Kants Appell an die Evidenz der Introspektion, wenn es um die
Konstitutionsbedingungen der sinnlichen Welt geht, ein Appell an die falsche In-
stanz. Berücksichtigt man das extrem hohe Reflexionsniveau der transzendentalen
Deduktion, dann kann es kein introspektives Argument geben, das hier eine zentrale
Rolle spielen könnte.
Ich plädiere daher dafür, die Theorie des Schematismus sinnlicher
Begriffe nicht mit den Problemen der kantischen Synthesistheorie zu
belasten. Diese Theorie ist zwar maßgeblich für das Konzept eines
transzendentalen Schematismus reiner Verstandesbegriffe; doch in der
Theorie des Schematismus sinnlicher Begriffe geht es, so scheint mir,
um ganz andere Dinge. Dies wird im Folgenden noch deutlicher werden.

IV

Die hier vorgeschlagene (Teil-)Interpretation des Schematismuskapitels


hat ⫺ wie jede philosophische Textinterpretation ⫺ ihre Stärken und
Schwächen. Einige ihrer offensichtlichsten Schwächen sind jedoch be-
absichtigt. Ich habe versucht zu zeigen, dass man der Idee eines Sche-
matismus reiner sinnlicher Begriffe Sinn verleihen kann, ohne sie an
Kants transzendentaler Synthesistheorie zurückzubinden. Hiermit ver-
folge ich das weitergehende Ziel, die Theorie des mathematischen Sche-
matismus in die gegenwärtige Debatte zur Philosophie der Mathematik
einzuführen. Dieses Vorgehen beruht auf der Vermutung, dass Kants
Theorie eines Schematismus sinnlicher Begriffe einen Wahrheitsgehalt
besitzt, dessen Potential sich unabhängig von Theoremen etwa der trans-
zendentalen Ästhetik aktualisieren lassen müsste.
Wer hierauf entgegnet, dass ein solcher Ansatz wohl kaum den Anspruch, eine
Kantinterpretation zu sein, erheben darf (z B. Michael Friedman in einer brieflichen
Mitteilung an den Autor), der übersieht zumindest die zwei folgenden Punkte: Er-

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 299

stens, dass das Schematismuskapitel alles andere ist als ein Lehrstück, das sich naht-
los und reibungsfrei in die Kritik der reinen Vernunft integrieren ließe. Es gibt keinen
Satz zwischen B 176 und B 187, der nicht in Widerspruch steht zu mindestens einer
anderen prominenten Äußerung Kants an anderer Stelle. 11 Und zweitens sollte man
nicht übersehen, dass Kant, der „Alleszermalmer“ (Mendelssohn), auch ein Allesbe-
wahrer war: Kant war stets bestrebt, überkommene Theoreme der Philosophie-
geschichte in seine Konzeption zu integrieren. Und in diesem Zusammenhang
muss man darauf verweisen, dass die Idee eines mathematischen Schematismus
keine Königsberger Erfindung ist; sie ist bei weitem älter. Schon Euklid verwendet
„Schema“ im Sinne von „geometrische Figur“; und auch Aristoteles verwendet den
Ausdruck in diesem Sinne (Met. 1002a21). Doch es blieb Proklus vorbehalten, eine
spekulative Metaphysik des Schematismus zu entwickeln: bei ihm gewinnt dieser
Ausdruck jene philosophisch überhöhte Bedeutung, die für die nachfolgende Be-
griffsgeschichte maßgeblich wurde. 12 Der Grundgedanke ist hier die Idee der sinnli-
chen Erscheinung des Unsinnlichen; und in dieser Bedeutung figuriert „Schema“
auch in Kants vorkritischen Schriften. 13

11 Für eine übersichtliche Zusammenfassung zahlreicher Konflikte dieser Art vgl.


Seel 1998. Man beachte auch, wie Kant „Schema“ im Methodenkapitel verwendet:
in B 742 ist der Ausdruck ganz untechnisch im Sinne von „geometrische Figur“ zu
verstehen; in B 746 entspricht die Verwendungsweise wohl eher dem des Schematis-
muskapitels, doch ist der ganze Passus fast unkonstruierbar. Der Konnex zwischen
der Theorie der mathematischen Konstruktion in B 740⫺766 und dem Schematis-
muskapitel ist von Kant nicht explizit hergestellt worden; es steht uns also frei, die-
sen Konnex so zu konstruieren, dass dabei möglichst wenig von kontroversen
Theoremen der Kritik der reinen Vernunft Gebrauch gemacht wird.
12 Die spekulative Mathematiktheorie des Proklos ist jetzt von M. Schmitz (1997)
ausführlich dargestellt worden.
13 Für weitere Einzelheiten über diese Verwendung von „Schematismus“ vgl. Kang
1985. In Kants Druckschriften wird „Schema“‘ erstmals in der Nova Dilucidatio
verwendet. Im dritten Abschnitt wird bewiesen, dass die Gemeinschaft der Sub-
stanzen nicht bereits durch ihr bloßes Dasein gegeben ist, sondern allererst durch
einen externen Grund, den göttlichen Verstand, gestiftet wird. Das hat wichtige
Konsequenzen für die Raumlehre Kants: der Raum, als die externe Relation
zwischen unabhängigen Substanzen, muss daher verstanden werden als das Sinn-
lichwerden dieser intersubstanziellen Relationen, die im Schema des göttlichen
Verstandes ihren eigentlichen Sitz haben. Bemerkenswert ist Kants Verwendung
von „Schema“ in De mundi …: hier wird der Gedanke der Versinnlichung eines
intelligiblen „Plans“ in § 4 auf den Raumbegriff appliziert. (Ähnlich § 13.) Die
Bemerkung in § 15 schließlich erinnert an den Gedanken der Nova Dilucida-
tio; jedoch ist hier nicht mehr der göttliche, sondern der menschliche Verstand
der Grund jener Schemata, als welche uns Raum und Zeit erscheinen. Übrigens
kennt auch Aristoteles diese Wortbedeutung; so spricht er in Met. 1029a4 von
der Gestalt (morphē) als „Schema der Idee“ (to schēma tēs ideas). Es lag nahe,
diesem Gedanken eines sinnlichen Schematismus eine theologische Funktion zu-
zuweisen; das geschieht bereits bei Paulus. Im Philipperbrief (2,7 ff.) wird uns
beispielsweise gesagt, Jesus sei in der Gestalt des Menschen erschienen (schēmati
hōs heuretheis anthropōs).

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300 Darius Koriako

Der Gedanke eines Schematismus mathematischer Begriffe ist also nicht neu; es
ist vielmehr die Idee eines Schematismus reiner Verstandesbegriffe, die als originale
Leistung Kants zu werten ist. Dass diese beiden Schematismen sich nicht bruchlos
in eine homogene Konzeption vereinen lassen, wird niemand überraschen. Indem
Kant seine Theorie des Schematismus reiner Verstandesbegriffe mit einer Theorie
des Schematismus sinnlicher Begriffe verknüpft, fügt er zwei im Grunde disparate
Theoriestücke zu einer prekären Einheit zusammen. Denn während der Schematis-
mus der Verstandesbegriffe dazu bestimmt ist, ein internes Problem der kantischen
Systemkonzeption zu lösen (also ein Problem, das sich außerhalb dieses Kontextes
vielleicht nicht einmal formulieren lässt), stellt die Idee eines mathematischen Sche-
matismus durchaus ein exportierbares Theoriestück dar ⫺ bietet sie doch eine Lö-
sung für Platons Problem der Idealität mathematischer Begriffe, eines Problems, das
auch heute noch Beachtung verdient. Es ist diese Beobachtung, die den vorliegenden
Interpretationsversuch rechtfertigt.
Liest man die Theorie des mathematischen Schematismus im Kon-
text einer Theorie reiner sinnlicher Begriffe, dann scheint sie auf eine
Theorie der holistischen Repräsentation morphologischer Begriffe hin-
auszulaufen: Nur die reinen sinnlichen Begriffe, als Begriffe „reiner Ge-
stalten im Raume“, erlauben einen holistischen Bezug zum jeweiligen
Gegenstand. Weiß man, wie die Beschreibung einer geschlossenen ebe-
nen Figur aus drei verschiedenen Geraden anschaulich umzusetzen ist,
dann weiß man auch (wenigstens prinzipiell), dass diese Figur drei Ek-
ken haben muss, dass die Seiten auch gleich lang sein können, dass
dann aber auch die Winkel gleich sein müssen ⫺ kurz: aus dieser Be-
schreibung folgt bereits die gesamte Elementargeometrie des Dreiecks.
Demgegenüber erlauben empirische Begriffe, weil sie nur einer Auflis-
tung relativ isolierter Merkmale gleichen, lediglich einen partiellen
oder fragmentarischen Bezug: Aus dem Zutreffen der Beschreibung
„x ist ein Säugetier“ kann ich zwar einige weitere Eigenschaften extra-
polieren (z. B. „x ist ein Wirbeltier“, „x kann seine Körpertemperatur
regulieren“), aber weder erlaubt dieser Begriff eine vollständige Aufzäh-
lung aller Gegenstandstypen, die von ihm erfasst werden, noch können
wir ohne empirische Mittel die Zusammenhänge zwischen den Merk-
malen vollständig bestimmen.
Für das Verhältnis zwischen empirischen Begriffen und ihren Sche-
mata bietet sich aufgrund dieses Resultats die folgende Lösung an: em-
pirische Begriffe besitzen Schemata, sofern sie reine sinnliche Aspekte
empirischer Gegenstände in holistischer Referenz bestimmen. Wenn
also empirische Begriffe „schematisierbar“ sind, dann sind sie es in ge-
nau dem gleichen Sinne wie mathematische Begriffe: wie der empirische
Begriff des Tellers auf den reinen geometrischen Begriff des Zirkels
„verweist“, so „verweist“ der Begriff des Hundes auf eine gewisse vier-

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 301

beinige Figur. 14 Es gibt keinen Grund, zwischen diesen Beispielen eine


Wesensdifferenz anzusetzen: hat der Tellerbegriff mit dem „reinen geo-
metrischen eines Zirkels Gleichartigkeit“, wie Kant schreibt, dann muss
dies auch für den Hundebegriff gelten. Dass in unserer Mathematik
dem Kreis eine prominente Rolle zukommt, nicht aber der Hundeform,
ist allenfalls von anthropologischem Interesse. Das Schema für „Hund“
ist also im selben Sinne ein Schema eines reinen sinnlichen Begriffs wie
das Schema für „Dreieck“ ⫺ nur ist es freilich komplizierter.
Im Lichte dieser Interpretation erweisen sich reine sinnliche Begriffe
als essenzieller Teil unserer empirischen Begriffe; denn nur jene, als
morphologische, vermitteln in letzter Instanz den Bezug zur Anschau-
ung. Aus Büchern lässt sich viel über Hunde lernen; doch wer nicht
weiß, wie diese aussehen (wer über keine schematische Beschreibung
verfügt), der wird sie nicht korrekt identifizieren können. Denn die
pure Auflistung von Merkmalen genügt nicht, um die Referenz von
„Hund“ auf raumzeitliche Entitäten eindeutig festzulegen; dazu bedarf
es einer holistischen Beschreibung der jeweiligen raumzeitlichen Ver-
laufsform.
Diese Lesart macht auch verständlich, weshalb Kant der Meinung
ist, dass wir uns mathematische Begriffe nicht anders vergegenwärtigen
können als durch Konstruktion. (Diese These ist, wie ich oben zu be-
denken gab, nicht identisch mit der These „Wir können uns keine Linie
denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen“, die auf den Aspekt der tem-
poralen Synthesis gemünzt ist.) Die Lösung ergibt sich aus der episte-
mischen Differenz zwischen reinen und unreinen sinnlichen Begriffen:
empirische Begriffe können lediglich Gegenstände klassifizieren, reine
sinnliche Begriffe dagegen beschreiben sie. Sich ein Quadrat vorzustel-
len (oder einen empirischen Gegenstand als quadratisch zu erkennen)
bedeutet nicht nur, die Erfülltheit gewisser einzelner begrifflich angeb-
barer Bedingungen zu erkennen, sondern es bedeutet, die fragliche Fi-
gur zu konstruieren. 15 Wir können ein Quadrat nicht anders als „in

14 Ich setze „verweist“ in Anführungszeichen, da auch Kants Ausdrucksweise, wenn


es um die genaue Angabe des Verhältnisses zwischen Schema und Begriff geht,
unbestimmt bleibt: unseren reinen sinnlichen Begriffen, so heißt es in B 180, lie-
gen Schemata „zum Grunde“; gleich darauf: „[…] jener [der empirische Begriff]
bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft“, und
dann: „Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel […]“. Diese Unbestimmtheit
im Ausdruck scheint auf eine Unsicherheit in der Sache zu verweisen.
15 Man beachte, dass hier von Kants Sprachgebrauch abgewichen wird: Kant
spricht generell von der Konstruktion des Begriffs, nicht von der Konstruktion
eines Gegenstands, der unter einen Begriff fällt.

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302 Darius Koriako

concreto“ vorstellen, weil ein Quadrat zu sein bedeutet, eine gewisse,


vollständig bestimmte anschauliche Gestalt zu sein. Und es ist wichtig
zu verstehen, dass es in der Natur des Begriffs liegt, konstruierbar zu
sein. Es sind nicht irgendwelche geheimnisvollen Eigenschaften von
Raum und Zeit, die erklären, warum wir nur räumliche und zeitliche
Aspekte empirischer Wahrnehmungen „schematisieren“ können, son-
dern dies ist einfach eine Folge dessen, wie wir uns auf diese Entitäten
beziehen.
Zu den offensichtlichsten Vorteilen dieser Interpretation zählt nicht
nur die Tatsache, dass sie das Problem des Schematismus empirischer Be-
griffe zum Verschwinden bringt; sie vermag darüber hinaus auch das
Rätsel des ontologischen Status von Schemata aufzulösen. Keineswegs
nämlich erfährt Kants epistemische Fundamentaldichotomie von An-
schauung und Begriff im Schematismuskapitel eine Erweiterung zur Tri-
chotomie von Anschauung, Schema, Begriff; vielmehr bleibt es bei einer
Dichotomie. Das Schematismuskapitel vollzieht hier lediglich eine Präzi-
sierung: es zeigt, dass Begriffe sich auf Anschauungen beziehen, sofern
sie über eine entsprechende reine sinnliche Komponente verfügen.
Damit klärt sich auch das Verhältnis der Termini Anschauung, Be-
griff, Schema zum Begriff des Bildes, der im Schematismuskapitel plötz-
lich Relevanz gewinnt (B 181). Die unbeantwortbare Frage, wie man
denn zwischen Begriff, Bild und Schema genau zu unterscheiden habe,
beantwortet sich selbst, wenn man berücksichtigt, dass nicht jeder em-
pirische Begriff mit einem Bild verknüpft ist. (Wir können uns ein Bild
von einer Münze machen, aber kein Bild vom Begriff des Geldes.) Be-
schreibe ich einen Hund, dann aktualisiere ich jene Komponente im
Hundebegriff, die eine schematische Beschreibung zulässt. Doch das
bedeutet nicht, dass Kant in eine Art Bildtheorie des Begriffs zurück-
fällt, da sich die begriffstypischen Merkmale („Fleischfresser“, „ältestes
Haustier“) nicht schematisieren lassen. Die Frage nach dem ontologi-
schen Status von Schemata beantwortet sich daher so einfach wie nahe-
liegend; es ist sinnlos, diese Frage zu stellen. Ein Schema ist ein Bild
unter einer Beschreibung ⫺ oder auch eine zum Bild konkreszierte Be-
schreibung. (Das „oder“ hat hier explikative Funktion.) Streng genom-
men „gibt“ es also keine Schemata.

Kants Theorie der Schematismus erweist sich in dieser Interpretation


als überraschend aktuell. Denn konstruiert man den Konnex zwischen
empirischen und konstruierbaren Begriffen derart, dass jedem Begriff

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 303

eines empirischen Gegenstands eine entsprechende schematisierbare


Komponente zugeordnet ist, die dem jeweiligen Bild des Gegenstands
korrespondiert, dann erschließt sich zwischen den epistemischen Kom-
petenzen eines durchschnittlichen Erkenntnissubjekts und den in der
Theorie der mathematischen Erkenntnis geforderten Kompetenzen ein
plausibler Zusammenhang. Denn nach der Theorie des Schematismus
müssen wir keine besondere mathematische Erkenntnisquelle postulie-
ren ⫺ mathematische Erkenntnis wächst in natürlicher Weise aus einer
Subkomponente empirischer Erkenntnis hervor. Denn wer Bilder be-
schreiben kann, der kann sie auch (prinzipiell) mathematisch traktie-
ren. Um die epistemische Funktion reiner sinnlicher Begriffe verständ-
lich zu machen, müssen wir also nicht auf eine entsprechende Theorie
reiner sinnlicher Gegenstände zurückgreifen; solche Gegenstände gibt
es nicht.
Bevor ich mein Argument weiterführe, hier ein Wort der Rechtfertigung für dieje-
nigen, die an dieser Stelle nicht mehr folgen wollen. Was diese Darstellung des Sche-
matismusgedankens von der kantischen unterscheidet, ist die Umkehrung der Per-
spektive: der Schematismus erscheint in meiner Auffassung nicht primär als ein Ver-
mögen, Bilder mathematischer Begriffe zu produzieren, sondern als ein Vermögen,
gegebene Bilder nach Begriffen zu beschreiben. Nur in der ersten Perspektive mag
der Schematismus als eine „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“
(B 180) erscheinen; denn nur aus dieser Perspektive drängt sich die Frage nach den
epistemischen Bedingungen solchen Produzierens auf ⫺ eine Frage, die letztlich (bei
Kant nicht anders als bei Proklus) in spekulative Tiefe versinkt. Kehrt man die kanti-
sche Perspektive jedoch um, dann ist der Schematismus ein durchaus verständliches
Vermögen. Und die Tatsache, dass unsere mathematischen Begriffe durch keinen
empirischen Gegenstand adäquat erfüllt werden können, spricht weniger gegen diese
Gegenstände als gegen unsere Begriffe: Der Begriff des Kreises z. B. (als der Begriff
einer geschlossenen Kurve, deren Punkte gleich weit von einem bestimmten Punkt
entfernt sind) kann durch keinen Teller adäquat instanziiert werden; aber nicht des-
halb, weil „Kreis“ ein reiner Begriff ist, sondern weil Teller (genauer: ihre Rundung)
zu viele Eigenschaften haben, die durch unsere Beschreibungen nicht adäquat erfass-
bar sind. Wir können die wirkliche Rundung eines Tellers nicht begrifflich adäquat
erfassen; der Begriff „Kreis“ ist hier hoffnungslos defizient. Nicht die Gegenstände
sind also inadäquat, sondern unsere Begriffe.
Was diese Theorie für die gegenwärtige Philosophie der Mathematik
interessant macht, ist die Tatsache, dass sie ohne das Postulat spezieller,
nur in „reiner Anschauung“ zugänglicher mathematischer Gegenstände
auskommt. Die Parallelisierung „empirische Begriffe beziehen sich auf
empirische Anschauungen, reine Begriffe auf reine Anschauungen“
kann also aufgegeben werden zugunsten einer „naturalisierten“ Vari-
ante: empirische Begriffe und reine sinnliche Begriffe beziehen sich auf

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304 Darius Koriako

empirische Anschauungen, nur je auf verschiedene Aspekte und in je


verschiedener Weise. 16 Um es deutlicher zu sagen: mathematische Er-
kenntnis in ihrer basalen Ausprägung lässt sich begreifen als eine Er-
kenntnis, in welcher wir über empirische Gegenstände räsonnieren,
doch so, dass dabei apriorische Resultate erlangt werden.
Dieses scheinbare Paradoxon löst sich auf, wenn man das Verhältnis
zwischen reinen sinnlichen Begriffen und deren Gegenständen genauer
betrachtet. Eine empirische Figur erlaubt nämlich die Subsumtion un-
ter eine Vielzahl reiner sinnlicher Begriffe. Und welche weitergehenden
Eigenschaften dieser Figur zugesprochen werden, hängt von der Wahl
dieser Begriffe ab. Natürlich können wir auch empirische Gegenstände
unter verschiedene Begriffe subsumieren, z. B. unter „Hund“, „Haus-
tier“, „Churchills Lieblingstier“. Aber diese Begriffsreihe enthält keine
inkompatiblen Merkmale. Demgegenüber erlaubt eine Figur wie 왕 eine
ganze Reihe von wechselseitig inkompatiblen Subsumtionen: „gleich-
seitiges Dreieck“, „rechtwinkliges Dreieck“, u. s. f. Wir können noch
einen Schritt weitergehen: eine empirische Figur erlaubt die Subsum-
tion unter reine Begriffe, die zu wechselseitig inkompatiblen Sprachen
gehören. Eine euklidische Figur beispielsweise, die aus einer gewissen
Zahl von (nichtüberschneidenden) Geraden und Kreisbögen besteht,
lässt sich auch in graphentheoretischen Termini beschreiben. Aber diese
Beschreibungen sind wesentlich inkompatibel: die eine verwendet die
Termini „Gerade“, „Kreisbogen“, die andere kennt diese Termini gar
nicht und spricht stattdessen von Ecken erster, zweiter … Ordnung.
Diese Inkompatibilität der Beschreibungssprachen hat zur Konse-
quenz, dass die Objekte, von denen die eine Beschreibung handelt, die
Einbettung in ein anderes Modell gestattet, derart, dass die resultie-
rende Figur keine entsprechende Beschreibung in der anderen Sprache
aufweist. Anders gesagt: ein und derselbe Gegenstand mag unter zwei

16 An dieser Stelle knüpfte ich an den Gedankengang von Koriako 2001 an. Gegen
vorschnelle Einwände gebe ich zu bedenken, dass Kant das Konzept einer reinen
Anschauung mit einer ganz bestimmten Absicht in die Analyse mathematischer
Erkenntnis einführt; sie soll bestimmte Merkmale dieser Erkenntnisart verständ-
lich machen, die nach Kants Auffassung sonst unerklärlich blieben. Denn mathe-
matische Erkenntnis ist sowohl synthetisch (sie bezieht sich in sachhaltiger Weise
auf die erscheinende Welt) als auch apriorisch (wir müssen nicht darauf warten,
dass uns die Welt passende Aspekte zur Verifikation unserer mathematischen
Sätze darbietet). Lässt sich zeigen, dass diese Explikation durch den Begriff einer
reinen Anschauung teils nicht geleistet wird, teils auf andere Weise erbracht wer-
den kann, dann können wir dieses Theoriestück fallen lassen. Wir haben aber
allen Grund zu vermuten, dass Kants Mathematiktheorie in keiner Weise dazu
geeignet ist, das Anwendungsproblem zu lösen. Dies habe ich in Koriako 1999,
§ 21 zu zeigen versucht.

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 305

verschiedenen Beschreibungssprachen dieselben Eigenschaften aufwei-


sen, aber dennoch können die beiden Reihen äquivalenter Beschreibun-
gen, die sich in diesem Gegenstand „kreuzen“, inkompatibel sein. Die
Anweisung „zeichnen Sie eine euklidische Figur von der und der
Art …“ mag also durchaus zum selben bildlichen Resultat führen wie
die Anweisung „zeichnen Sie einen Graphen von dieser und jener Be-
schaffenheit“. Dennoch sind die beschriebenen Objekte mathematisch
nicht identisch! 17
Doch was hat dies mit Kants Theorie der Mathematik zu tun? Ich
sehe hier den folgenden Zusammenhang. Kant bezeichnet die mathe-
matischen Begriffe als reine sinnliche Begriffe; und er behauptet, dass
diese Begriffe, weil sie konstruierbar sind, apriorische Erkenntnis er-
möglichen. Ich meine, die obige Diskussion hat zumindest rudimentär
gezeigt, warum nur konstruierbare (genauer: morphologische) Begriffe
apriorische Erkenntnis induzieren. Wir können z. B. den Satz über die
Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck, um Kants berühmtes Bei-
spiel aufzugreifen (KV B XI f.), aufgrund einer vorliegenden Figur
nachvollziehen, deren Seiten überhaupt nicht gleichschenklig sind.
Gleichgültig, wie wir uns mathematische Beweisgänge im Einzelnen
vorstellen ⫺ es dürfte wohl unkontrovers sein, dass (wie Kant selbst
bemerkt) die faktische Größe der Dreiecksseiten nicht in das mathema-
tische Argument eingeht. Apriorische Erkenntnis über reine sinnliche
Begriffe ist genau deshalb apriorische Erkenntnis, weil sie nicht auf die
faktischen Eigenschaften des jeweiligen Gegenstands rekurriert, son-
dern auf jene, die ihm unter einer Beschreibung zukommen. Wir haben
ja gesehen, dass diese Beschreibungen sogar inkompatible Zuschrei-
bungen induzieren können ⫺ was könnte deutlicher den eigentlichen
Sinn des Apriori im gegenwärtigen Kontext markieren? 18 In Umkeh-

17 Ein prominentes Beispiel: es gibt Figuren, deren euklidische Beschreibung iden-


tisch ist mit derjenigen in Termini der projektiven Geometrie. Nun geht aber in
der projektiven Geometrie jedes Theorem in ein „duales“ über, wenn man die
Ausdrücke „Punkt“ und „Gerade“ vertauscht. Man kann also ein und denselben
projektiven Sachverhalt auf zweierlei Weise darstellen; aber diese Darstellungen
sind in der euklidischen Geometrie ganz gewiss nicht äquivalent!
18 Auch Kant ist sich des gewissermaßen „willkürlichen“ Charakters mathemati-
scher Begriffe wohl bewusst; und er ist mit Lockes These vertraut, wonach nur
ethische und mathematische Begriffe demonstrative Erkenntnis erlauben, weil
diese Begriffe willkürlich definiert werden. Bereits in der Frühschrift Untersu-
chungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der
Moral verteidigt er die These, dass mathematische Beweise sich genau in diesem
Punkt von philosophischen Argumenten positiv unterscheiden. (Ich habe diese
Schrift an anderer Stelle ausführlich und besonders unter mathematikphiloso-
phischen Gesichtspunkten interpretiert; vgl. Koriako 1999, Teil 1. Zur These von

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306 Darius Koriako

rung einer weit verbreiteten Interpretation der kantischen Mathematik-


theorie (vgl. etwa Friedman 1985, Young 1984, 1991) bin ich daher
versucht zu sagen: Nicht die Tatsache, dass wir mathematisch-bildliches
Räsonnement in einen logischen Kalkül übersetzen können, ist das ei-
gentliche Wunder der Mathematik, sondern dass wir logisch gültige
Deduktionen in Bildern vollziehen können. 19

Literatur

Adickes, Erich: Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1889.
Butts, Robert E.: „Kant’s Schemata as Semantical Rules“, in: Lewis W. Beck (Hg.),
Kant Studies Today, La Salle/Illinois 1969.
Carl, Wolfgang, Der schweigende Kant, Göttingen 1989.
Curtius, Ernst R.: „Das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft“,
Kant-Studien 19/1914.
Dahlstrom, Daniel O.: „Thinking, Knowing, and Schematism“, Akten des 5. Int.
Kant-Kongresses 1981, Bonn 1981.
Daval, Roger: La métaphysique de Kant, Paris 1951.
Friedman, Michael: „Kant’s Theory of Geometry“, The Philosophical Review 94/
1985, in: ders., Kant and the Exact Sciences, Harvard 1992, sowie in: C. Posy
(Hg.) 1992.
Guyer, Paul: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987.
⫺: „The Postulates of Empirical Thinking in General and the Refutation of Ideal-
ism“, in: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Georg Mohr und
Marcus Willaschek, Berlin 1998.
Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt 1929.
Kang, Young Ahn: Schema and Symbol: A Study in Kant’s Doctrine of Schematism,
Amsterdam 1985.
Kaulbach, Friedrich: „Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des Kan-
tischen Denkens“, Studium Generale 18/1965, auch in: G. Prauss (Hg.), Kant: Zur
Deutung seiner Theorie vom Denken und Handeln, Köln 1973.
Koriako, Darius: Kants Philosophie der Mathematik: Grundlagen ⫺ Voraussetzungen
⫺ Probleme (⫽ Kant-Forschungen, hrsg. v. R. Brandt und W. Stark, Bd. 11), Ham-
burg 1999.

der Willkürlichkeit mathematischer Definitionen vgl. ebenda, § 12.) Und noch in


der transzendentalen Methodenlehre heißt es: „Also bleiben keine andere Be-
griffe übrig, die zum Definieren taugen, als solche, die eine willkürliche Synthesis
enthalten, welche a priori konstruiert werden kann, mithin hat nur die Mathema-
tik Definitionen.“ (B 757) Zur Frage, was hier „willkürlich“ bedeuten soll, vgl.
Koriako 1999, § 19 f.
19 Vgl. auch den Beitrag von Rainer Noske in diesem Heft (S. 324⫺328) [Anm.
Redaktion].

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Kants Schematismuslehre und ihre Relevanz 307

⫺: „Kants Theorie der Mathematik: Versuch einer Neubewertung“, Zeitschrift für


philosophische Forschung, 55/2001.
Leppäkoski, Markku: „The Transcendental Schemata“, Proceedings of the Eigth
Kant Congress, Memphis 1995, Bd. 1, Milwaukee: Marquette University Press
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