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gorien auf Erscheinungen, als auch die Restriktion dieses Gebrauchs auf eben diese
aus einem Argument hervorgehen sollte, das wesentlich von einem substanzialonto-
logischen Ichbegriff Gebrauch macht. Dies geht aus handschriftlich überlieferten
Notizen hervor, die als „Duisburg’scher Nachlaß“ bekannt geworden sind. 1 Hier
konzentriert sich Kant allerdings noch ausschließlich auf die Kategorien der Rela-
tion; von einem Prinzip zur Auffindung aller reinen Verstandesbegriffe ist noch nicht
die Rede.
Kant begreift die Relationskategorien um 1775 als temporale Ordnungsprinzi-
pien; und der Grundgedanke seiner damaligen Konzeption besagt, dass Erscheinun-
gen nur dann solche eines Objektiven sein können, wenn sie gewisse weitergehende
Bedingungen erfüllen, die aus dem Wesen des Erkenntnissubjekts oder der „Apper-
zeption“ folgen. In diesem Zusammenhang gewinnt für Kant der Begriff der Regel
Signifikanz. So heißt es etwa: „Nur dadurch, dass das Verhältnis, was nach den
Bedingungen der Anschauung gesetzt wird, als nach einer Regel bestimmbar ange-
nommen wird, bezieht sich die Erscheinung auf ein obiect; sonst ist es nur eine innere
affection des Gemüths.“ (R 4677, AA 17.657) Kategorien sind genauer Regeln, allen
Erscheinungen eine „Stelle“ in der Ordnung der Zeit anzuweisen. Dies wird am Bei-
spiel der Kausalität wie folgt expliziert:
Wenn meine Vorstellung worauf folgt, so würde der Gegenstand derselben noch
nicht darauf folgen, wenn dessen Vorstellung nicht wodurch als eine Folge deter-
minirt wäre, welches niemals anders als nach einem allgemeinen Gesetze gesche-
hen kann. Oder es muss ein allgemein gesetze seyn, das alle folge durch etwas
vorhergehendes determinirt sey, sonst würde ich zu der folge der Vorstellungen
keine folge der Gegenstände setzen. (R 4675, AA 17.648)
Damit ist freilich noch nicht gezeigt, dass wir auch berechtigt sind, eine solche objek-
tive Ordnung in unseren Affektionen zu präsumieren. An dieser Stelle wird nun
Kants substanzialontologische Ichkonzeption aktiv; er geht nämlich von dem Ge-
danken aus, dass die Kategorien, verstanden als Regeln zur Konstitution einer objek-
tiven Zeitordnung, selbst schon konstitutiv sind für das, was er ,Apperzeption‘
nennt: „Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception
aufgenommen.“ (R 4676, AA 17.656) Oder: „Wir nehmen etwas nur wahr dadurch,
dass wir uns unsrer apprehension bewust seyn, folglich des Daseyns in unserm innern
Sinne […].“ (R 4681, AA 17.667) Die zeitlichen Relationen, die in den Relationskate-
gorien gedacht sind, werden begriffen als ebenso viele Relationen, die zwischen ei-
nem Subjekt und seinen Vorstellungen bestehen: 2
Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufge-
nommen. Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir. […] Das Ich macht das Sub-
stratum zu einer Regel überhaupt aus, und die apprehension bezieht iede Erschei-
nung darauf. (AA 17.656)
Wie aus anderen, gleichlautenden Passagen hervorgeht, sind hier die Kategorien der
Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung explizit angesprochen. Weil also
dem Subjekt selbst eine gewisse zeitlogische Struktur vorgängig inhäriert, müssen
auch seine Wahrnehmungen in diese Struktur integrierbar sein; dann und nur dann
sind diese auch ,objektive‘ Wahrnehmungen, d. h. solche eines Gegenstands.
Wie aus diesen wenigen Zitaten bereits deutlich hervorgeht, war Kants Projekt
einer transzendentalen Deduktion um 1775 noch nicht soweit ausdifferenziert, dass
es zu einer Unterscheidung zwischen unschematisierten Kategorien, schematisierten
Kategorien und transzendentalen Grundsätzen gekommen wäre. Diese Unterschei-
dung wurde erst möglich (bzw. erforderlich), als Kant aufgrund der Entdeckung der
Paralogismen den substanzialontologischen Ichbegriff aufgeben musste. 3 Erst durch
die Einsicht in die Unhaltbarkeit dieser Konzeption war Kant genötigt, für den ihm
vorschwebenden Zusammenhang zwischen Objekterkenntnis und Selbstbewusstein
eine neue argumentative Grundlage zu finden. 4 Das bedeutet: Kant muss nun für
sein Projekt einer Bestimmung der Möglichkeit und Grenzen reiner Vernunfter-
kenntnis eine Basis finden, die nicht auf die zeitlichen Relationen rekurriert, wie sie
in schematisierten Kategorien formuliert sind.
Die neue Konzeption sieht vor, dass die Kategorien zunächst unabhängig von der
Frage nach ihrem epistemischen Gehalt als Begriffe der reinen Synthesis bestimmt
werden und aus einer entsprechenden Urteilstheorie zu gewinnen sind. Folgerichtig
argumentiert die transzendentale Deduktion (in beiden Versionen) mit einem Kate-
gorienbegriff, der die spezifisch zeitlogischen Gehalte der einzelnen Kategorien noch
unberücksichtigt lässt. Damit trägt Kant seiner ursprünglichen Einsicht Rechnung,
dass die Kategorien „[…] von Gegenständen nicht durch Prädikate der Anschauung
und der Sinnlichkeit, sondern des reinen Denkens a priori reden“ und sich folglich
„auf Gegenstände ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit allgemein beziehen […]“
(A 88/B 120). Die Notwendigkeit eines separaten Abschnitts über den transzendenta-
len Schematismus ist also eine Folge von Änderungen in Kants Konzeption des
Kernstücks der transzendentalen Analytik: weil die Kategorien zunächst unabhängig
von ihren zeitlogischen Gehalten deduziert werden, muss ihnen dieser Gehalt nach-
träglich zugewiesen werden, bevor das Argument der transzendentalen Analytik im
Grundsatzkapitel zum Abschluss kommen kann. 5 Kants neue Strategie, die auf dem
Dreischritt: Urteilsformen, Kategorien, Grundsätze beruht, lässt sich daher als der
Versuch verstehen, seinen erkenntnistheoretischen Grundgedanken nach der Entdek-
kung der Paralogismen durch Reduktion der Argumentationsvoraussetzungen zu
retten.
II
Für jeden Leser der Kritik der reinen Vernunft ist unübersehbar, dass
das Schematismuskapitel mehr zu bieten versucht, als nur einen Appen-
dix zur Kategoriendeduktion, der lediglich durch die oben skizzierte
interne Theorienkonstellation bedingt ist. So beginnt der Text mit der
folgenden Feststellung: „In allen Subsumtionen eines Gegenstandes un-
ter einen Begriff muss die Vorstellung des ersteren mit der letztern
gleichartig sein, d. i. der Begriff muss dasjenige enthalten, was in dem
darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird, denn das
bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe
enthalten.“ (B 176) Der transzendentale Schematismus wird hier also
eingeführt als Exemplifikation eines allgemeineren Phänomens, näm-
lich der Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff.
Doch Kant betont einige Zeilen später, dass nur in Bezug auf die
reinen Verstandesbegriffe von einem Subsumtionsproblem gesprochen
werden kann. Denn:
In allen anderen Wissenschaften, wo die Begriffe, durch die der Gegenstand allge-
mein gedacht wird, von denen, die diesen in concreto vorstellen, wie er gegeben
wird, nicht so unterschieden und heterogen sind, ist es unnötig, wegen der Anwen-
dung des ersteren auf den letzten besondere Erwähnung zu geben.
Die im ersten Satz des Kapitels angesprochene Homogenitätsforderung
ist also nur bei reinen Verstandesbegriffen nichttrivial; in allen anderen
Fällen ist die Unterscheidung zwischen schematisierten und nichtsche-
matisierten Begriffen nicht sinnvoll. Denn sowohl in den empirischen
Wissenschaften als auch in der Mathematik besteht zwischen der ,allge-
meinen‘ Vorstellung eines Gegenstandes und seiner Vorstellung ,in
concreto‘ jene ,Gleichartigkeit‘, die im Falle der Kategorien erst durch
ein philosophisches Argument gesichert werden muss. Das verdeutlicht
5 Auch Guyer hat das Schematismuskapitel als Folge von Kants Modifikation
seiner Konzeption einer transzendentalen Deduktion interpretiert (vgl. Guyer
1987, S. 157⫺163); doch da er nicht die Entdeckung der Paralogismen als Vor-
aussetzung dieser Modifikation erkennt, muss ihm der von Carl ermittelte Zu-
sammenhang verschlossen bleiben.
Kant im ersten Absatz des Kapitels mit dem folgenden Beispiel: „So
hat der empirische Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen
eines Zirkels Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren
gedacht wird, sich im letzteren anschauen lässt.“ (B 176) Hier ist wohl
gemeint, dass der Begriff der Rundung im Begriff des Tellers als Merk-
mal enthalten ist und daher in diesem nur ,gedacht‘ (und nicht ange-
schaut) wird: wir müssen zuerst eine Abstraktionsleistung erbringen,
bevor aus der empirischen Vorstellung des Tellers das Merkmal der
Rundung hervortritt. Jedoch: Es ist dasselbe Merkmal von Tellern, das
im einen Fall ,gedacht‘, im anderen ,angeschaut‘ wird. Die im Begriff
der Subsumtion gedachte Homogenitätsforderung ist also im Falle
sinnlicher Begriffe trivial erfüllt. Es ist daher aus Kants Sicht nicht
zweckmäßig, den Schematismus sinnlicher Begriffe eigens zu problema-
tisieren. Diese Identität des Merkmals liegt bei den Kategorien deshalb
nicht vor, weil das in ihnen ,gedachte‘ Merkmal (die Urteilsfunktion)
überhaupt keine unmittelbare Anweisung zur Versinnlichung enthält.
Darüber, wie dieser Gedanke der „Gleichartigkeit“ zwischen Anschauung und
Kategorie mit Inhalt gefüllt werden kann, besteht in der Literatur alles andere als
Konsens. 6 Dieses Problem kann hier jedoch übergangen werden, da diese Studie eine
andere Zielrichtung verfolgt. Festhalten möchte ich jedoch, dass Kant hier offen-
sichtlich einen Strohmann aufbaut. Denn auch die „Ungleichartigkeit“ der Katego-
rien mit unseren Anschauungen geht doch wohl nicht so weit, dass wir eines philoso-
phischen Arguments bedürften, das uns allererst zeigt, welche sinnlichen Gehalte den
einzelnen Kategorien zuzuweisen sind. Wir haben ja oben gesehen, dass der Gedanke
der Kategorien als zeitlogische Prinzipien sogar der Ursprungsort von Kants Idee
einer Kategoriendeduktion ist. Wenn die Kategorie der Kausalität überhaupt einen
sinnlichen Gehalt aufweist, dann sicher den einer „Sukzession des Mannigfaltigen,
insofern sie einer Regel unterworfen ist“ (B 183). Kant argumentiert nicht für die
von ihm vorgenommenen Schematisierungen, weil er sie für naheliegend hält. Wofür
er im Schematismuskapitel argumentiert, ist der philosophische Sinn des Schematis-
mus im Allgemeinen: was prädestiniert die Zeit zu ihrer Vermittlungsfunktion zwi-
schen Begriff und Anschauung? Was immer das Schematismuskapitel also bezweckt
⫺ es kann letztlich nicht mehr leisten, als mit mehr oder weniger großem Aufwand
den Kategorien jenen sinnlichen Gehalt zuzuweisen, der ihnen zu Beginn der trans-
zendentalen Analytik aus Gründen der Argumentationsstrategie genommen wurde. 7
Wir haben gesehen, dass Kant den Grundgedanken des Schematis-
mus auf eine Differenz zwischen Begriffen, „durch die der Gegenstand
allgemein gedacht wird, von denen, die diesen in concreto vorstellen“
gründet. Offenbar rechnet Kant an dieser Stelle mit so etwas wie singu-
lären Begriffen, die sich direkt auf gegebene (empirische) Vorstellungen
beziehen. Es ist zweifelhaft, ob Kants Systematik eine solche Differen-
zierung erlaubt; denn wenn die einzelne empirische Vorstellung eines
Tellers eine begriffliche Vorstellung ist, dann fragt man sich, was eigent-
lich die Anschauung eines solchen Gegenstandes darstellen soll. Doch
ich möchte an dieser Stelle eine dringlichere Frage erörtern: was ist
eigentlich genau ein Schema? Kant definiert es als „die Vorstellung von
einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein
Bild zu verschaffen“ (B 179 f.). Die eigentliche Schwierigkeit besteht
nun darin, den präzisen systematischen Stellenwert dieser Konzeption
anzugeben: sind Schemata spezielle Begriffe, sind sie Anschauungen,
oder sind sie ein Drittes zwischen Begriff und Anschauung? Kants Aus-
sagen hierzu tragen nicht gerade zur Klärung bei; denn einerseits
schreibt er (B 179): „Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur
ein Produkt der Einbildungskraft […]“, während es andererseits doch
„vom Bilde zu unterscheiden“ sei. Weiter unten (B 180) lesen wir: „Das
Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existie-
ren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in
Ansehung reiner Gestalten im Raume.“ Diese Bestimmungen sind sehr
ungenau; was soll es z. B. heißen, dass das Schema eine Regel bedeutet?
Ist es eine Regel, dann versteht man zwar, warum es nur in Gedanken
existieren kann, aber man versteht nicht, wie es zugleich als ein Produkt
der Einbildungskraft bezeichnet werden kann. Ist es dagegen ein sol-
ches Produkt, dann kann es schwerlich Regelcharakter aufweisen, wo-
mit die Abgrenzung vom Bild problematisch wird.
Es ist zwar klar, was das Schema für Kant leisten soll (nämlich die
epistemische Vermittlung zwischen Begriff und Gegenstand); aber es ist
alles andere als klar, dass seine Intention auch konsistent durch genau
eine Entität erfüllt werden kann. 8 Das ist jedoch, so scheint mir, nicht
verwunderlich: denn hat man sich einmal darauf eingelassen, ein drittes
vermittelndes Element zwischen Anschauung und Begriff zu fordern,
dann ist man bereits in einem infiniten Regress gefangen; dieser Regress
kann nur im ersten Schritt gestoppt werden, indem man leugnet, dass
die Subsumtion eines Gegenstands unter einen Begriff irgendetwas an-
deres bedürfte als eben diese: den Begriff und den Gegenstand.
Nun haben wir aber gesehen, dass die Unterscheidung zwischen sche-
matisierten und unschematisierten Kategorien nur durch die Tektonik
des kantischen Arguments bedingt ist; es gibt also nicht Kategorien
einerseits und Schemata andererseits, sondern es gibt nur Kategorien.
Sieht man von den Bedingungen ihrer sinnlichen Realisation ab (und
das ist deshalb möglich, weil Kant sie als Funktionen der Synthesis in
unseren Urteilen einführt), dann hat man es mit „unschematisierten“
Kategorien zu tun. Solange also nur von Kategorien die Rede ist, wirft
die Einführung von Schemata keine nennenswerten Probleme auf: ein
Schema ist einfach eine sinnlich erfüllte Kategorie. Nicht die schemati-
sierten Kategorien sind philosophische Kunstgebilde, sondern die un-
schematisierten Kategorien.
Doch Kant belässt es nicht bei einem Schematismus reiner Verstan-
desbegriffe; auch für sinnliche Begriffe soll seine Theorie eine auf-
schlussreiche Explikation liefern. Man könnte nun auf die Idee verfal-
len, dass auch hier die Schemata keine eigenständige Schicht epistemi-
scher Entitäten bilden. Ob etwas „Begriff“ oder „Schema“ heißt, wäre
also schlicht eine Frage der Perspektive. So schreibt Guyer:
[…] the empirical concept dog is its own schema and is also homogeneous with
the object to be subsumed under it. Empirical concepts are rules or schemata
which tell us to predicate a certain title of a particular object, just in case certain
sensible properties indeterminately specified in the rule are actually, and of course
determinately, instantiated by that particular object. (Guyer 1987, S. 164)
Es wäre schön, wenn diese Interpretation richtig wäre; aber sie ist es
nicht. Denn, was immer empirische Begriffe für Kant sein mögen, sie
sind jedenfalls mehr als die Repräsentation eines einzigen anschau-
lichen Gehalts der jeweiligen Gegenstandsklasse (also der jeweiligen
räumlichen Konfiguration des Gegenstands). So dürfte der Begriff des
Tellers auch solche Merkmale enthalten wie „dient der Nahrungsauf-
nahme“, oder der des Hundes das Merkmal „ältestes Haustier“. Es ist
keineswegs unumstritten, dass derartige Merkmale eine solche „sche-
matische“ Repräsentation erlauben, wie sie von Guyer angenommen
wird ⫺ ganz zu schweigen von Begriffen wie „Geld“, deren anschau-
liches Korrelat sich wohl kaum dingfest machen lässt.
Berücksichtigt man die Tatsache, dass für Kant der Begriff „Hund“
sicher nicht nur mit einem einzigen Merkmal verknüpft ist (mit der
typischen räumlichen Erscheinung von Hunden), dann wird die Frage
nach dem Schema dieses Begriffs schier unergründlich. Gibt es für jedes
Merkmal ein Schema? Oder verbindet das Schema für „Hund“ die
Merkmale in holistischer Manier zur paradigmatischen Vorstellung ei-
nes Hundes? Aber wie ist das mit den oben genannten Merkmalen mög-
lich? Was zählt in Kants Begriffstheorie überhaupt als ein Merkmal?
Ich werfe diese Fragen hier nicht auf, um sie zu beantworten, son-
dern um den Argumentationsgang dieser Untersuchung zu motivieren.
Am Anfang stand hier die Beobachtung, dass Kant im Schematismus-
kapitel drei heterogene Problemfelder miteinander verknüpft: das Pro-
blem des Realitätsbezugs der Kategorien, das so genannte Subsum-
tionsproblem, und schließlich das Problem des Realitätsbezugs der ma-
thematischen Begriffe. Es ist dieser letzte Punkt, wie ich im Folgenden
plausibel machen möchte, der die Unterscheidung zwischen Schema
und Bild überhaupt erst interessant macht. Dazu müssen wir uns nun
mit Kants Theorie der „reinen sinnlichen Begriffe“ beschäftigen.
III
9 Über die bisher vorgeschlagenen Ansätze zu einer Lösung dieses Problems vgl.
die Übersicht in Dahlstrom 1981.
10 Das dürfte z. B. für jenen Hut gelten, von dem es im Lied heißt: „Mein Hut, der
hat drei Ecken …“.
jedes Tripel aus drei Geraden bildet ein Dreieck; ein Dreieck ist die
Konfiguration, die entsteht, wenn die Punkte in geeigneter Weise mit-
einander verbunden werden.
Wie würden wir einer Person, die mit dem Dreiecksbegriff nicht ver-
traut ist, diesen Begriff vermitteln? Wir würden ein Dreieck beschreiben:
wähle eine beliebige Gerade, füge an einem ihrer Endpunkte eine wei-
tere Gerade in beliebigem Winkel an, und verbinde den ersten mit dem
letzten Punkt. Dies ist nur eine von vielen konstruktiv äquivalenten
Beschreibungen; auf die Details kommt es hier nicht an. Worauf es
ankommt, ist die Tatsache, dass diese Beschreibungen sowohl von be-
grifflicher Allgemeinheit sind (sie können von unbestimmt vielen Ge-
genständen erfüllt werden), als auch die Konkretion eines Bildes errei-
chen. Nur weil Schemata in diesem Sinne zwei scheinbar unvereinbare
Eigenschaften miteinander verbinden, ist auch ihr ontologischer Status
zwischen Begriff und Anschauung so schwer zu bestimmen.
Doch was ist der Grund für diese Doppelnatur schematischer Be-
schreibungen? Ganz einfach: diese schematischen Beschreibungen ge-
hen von der willkürlichen Wahl gewisser Anfangsbedingungen aus. Da-
mit ist ihre begriffliche Allgemeinheit gewährleistet. (Das Schema des
Dreiecks sagt nichts über die Seitenlängen oder die Größe der Winkel
aus.) Aber sie überlassen es dem epistemischen Subjekt, auf der Grund-
lage dieser Wahl die Erfülltheit gewisser Folgebedingungen zu kontrol-
lieren. Wie diese Bedingungen zu erfüllen sind, folgt freilich nicht mit
begrifflicher Notwendigkeit aus der schematischen Beschreibung, son-
dern dies muss in der jeweiligen, anschaulich gegebenen Situation
durch Konstruktion sichergestellt werden. (Je nachdem, wie ich den
Winkel zwischen den ersten beiden Dreiecksseiten wähle, bin ich für
die verbleibenden Winkel bereits festgelegt.) Obgleich also schemati-
sche Beschreibungen reiner Gestalten im Raume als begriffliche Be-
schreibungen verstanden werden müssen, sind sie doch qua Beschrei-
bung derart mit anschaulichem Gehalt erfüllt, dass sie die Konkretion
eines Bildes erlangen. Darum können wir uns ein Dreieck nicht anders
vorstellen als durch Konstruktion. Ein Schema zu realisieren, z. B. sich
ein Dreieck vorstellen, ⫺ das heißt nichts anderes, als „einem Begriff
sein Bild zu verschaffen“ (B 180).
Das gilt jedoch nicht für die empirischen Begriffe; hier besteht zwi-
schen den Merkmalen keine holistische Beziehung, die es erlaubt, auf-
grund der Wahl gewisser Anfangswerte die Art der Konkretion für die
übrigen festzulegen. Empirische Begriffe klassifizieren Gegenstände,
aber sie beschreiben sie nicht. Und genau deshalb können wir diese
Gegenstände nicht a priori konstruieren. (In der listenartigen Beschrei-
bung von Hunden gibt es einen Eintrag über das Haarkleid. Dieses
Merkmal kann ich variieren; aber was bedeutet es für die übrigen
Merkmale, wenn ich dieses als „langhaarig“ spezifiziere?) Die einzigen
Begriffe, die uns derart umfassende Informationen über Gegenstände
liefern, dass wir sogar apriorisches Wissen von ihnen gewinnen können,
sind jene Begriffe, die mit einer schematischen Beschreibung verbunden
sind. Und nur diese Begriffe erlauben es, sich ein Bild des jeweiligen
Gegenstands zu machen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass wir bei
diesen Begriffen notwendigerweise wissen müssen, wie die einzelnen
Aspekte der räumlichen Figur ineinander greifen: wer nicht weiß, dass
die Lage der Ecken eines Dreiecks auch die Lage seiner Seiten bestimmt
(oder die Länge einer Quadratseite die Länge der übrigen), von dem
kann man nicht sagen, dass er diese Begriffe wirklich beherrscht.
Solche „morphologische“ Begriffe (wie ich sie nennen möchte) erfor-
dern also ganz andere epistemische Kompetenzen als empirische Be-
griffe: es genügt nicht, den jeweiligen Begriff in seiner Listenform (dis-
kursiv) zu vergegenwärtigen, sondern wir können und müssen ihn kon-
struieren, d. h. intuitiv realisieren. Und wir können das genau deshalb,
weil wir wissen, wie die Wahl gewisser Anfangsbedingungen sich auf
die übrigen Bestimmungsstücke auswirkt: sind drei Punkte im Raum
gewählt, dann ist damit auch die Lage der Dreiecksseiten festgelegt. Ist
eine Gerade und ein rechter Winkel an einem Endpunkt bestimmt,
dann steht schon fest, wie die „Geschichte“ dieses Quadrats weiterge-
hen muss.
Bevor ich versuche, diese These aus einer anderen Perspektive weiterzuentwickeln,
möchte ich hier die Gelegenheit ergreifen, auf ein naheliegendes Missverständnis
hinzuweisen. Zu den oft zitierten Bemerkungen Kants zur Theorie der Mathematik
zählt der Satz aus der transzendentalen Deduktion (B 154): „Wir können uns keine
Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu
beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demsel-
ben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen […].“ Man erliegt leicht der
Versuchung, diesen Satz (und ähnliche) als Kommentar zur Theorie der mathemati-
schen Konstruktion zu lesen. Demnach wäre Kants Behauptung, mathematische Be-
griffe müssten konstruiert werden, dem Sinn nach teilidentisch mit dem, was in der
transzendentalen Deduktion am Beispiel der Linie angesprochen wird. Ich denke
nicht, dass diese Lesart sinnvoll ist. Will man den kantischen Konstruktionsbegriff
für die Philosophie der Mathematik reklamieren, dann sollte man ihn besser nicht
mit den Problemen der transzendentalen Deduktion belasten. Denn Kants oben zi-
tierte Bemerkung ist ⫺ um mit dem offensichtlichsten anzufangen ⫺ alles andere
als einleuchtend; ich jedenfalls kann das geforderte Linienziehen introspektiv nicht
nachvollziehen. Warum sollte es für die Konstitution mathematischer Gegenstände
entscheidend sein, dass wir sie temporal konstituieren müssen? Diese These erscheint
mir nur sinnvoll vor dem Hintergrund der kantischen Synthesistheorie. Freilich:
wenn diese richtig ist, dann müssen wir räumliche Figuren ziehen, wenn wir sie er-
kennen wollen ⫺ sie sind dann nichts anderes als subjektiv konstituierte Erscheinun-
gen. Und es ist nicht erstaunlich, dass Kant ausgerechnet in der transzendentalen
Deduktion auf diesen Gedanken zurückkommt, wird doch hier die wichtige Unter-
scheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung aktiv. (Nur
die letztere bietet eine „Zusammenfassung des Mannigfaltigen“ in eine „anschauliche
Vorstellung“ und ist daher nicht ohne Einwirkung des Verstandes auf die Sinnlich-
keit via Kategorien zu haben; vgl. die Fußnote zu B 159).
Aber man sieht sofort, dass der theoretische Kontext dieses Linienziehens ein
vollkommen anderer ist als jener, in welchem der Schematismusgedanke beheimatet
ist: hier geht es um den epistemischen Status sinnlicher Begriffe, nicht um die (man
möchte fast sagen) metaphysischen Bedingungen raumzeitlicher Entitäten als sol-
cher. Darum ist Kants Appell an die Evidenz der Introspektion, wenn es um die
Konstitutionsbedingungen der sinnlichen Welt geht, ein Appell an die falsche In-
stanz. Berücksichtigt man das extrem hohe Reflexionsniveau der transzendentalen
Deduktion, dann kann es kein introspektives Argument geben, das hier eine zentrale
Rolle spielen könnte.
Ich plädiere daher dafür, die Theorie des Schematismus sinnlicher
Begriffe nicht mit den Problemen der kantischen Synthesistheorie zu
belasten. Diese Theorie ist zwar maßgeblich für das Konzept eines
transzendentalen Schematismus reiner Verstandesbegriffe; doch in der
Theorie des Schematismus sinnlicher Begriffe geht es, so scheint mir,
um ganz andere Dinge. Dies wird im Folgenden noch deutlicher werden.
IV
stens, dass das Schematismuskapitel alles andere ist als ein Lehrstück, das sich naht-
los und reibungsfrei in die Kritik der reinen Vernunft integrieren ließe. Es gibt keinen
Satz zwischen B 176 und B 187, der nicht in Widerspruch steht zu mindestens einer
anderen prominenten Äußerung Kants an anderer Stelle. 11 Und zweitens sollte man
nicht übersehen, dass Kant, der „Alleszermalmer“ (Mendelssohn), auch ein Allesbe-
wahrer war: Kant war stets bestrebt, überkommene Theoreme der Philosophie-
geschichte in seine Konzeption zu integrieren. Und in diesem Zusammenhang
muss man darauf verweisen, dass die Idee eines mathematischen Schematismus
keine Königsberger Erfindung ist; sie ist bei weitem älter. Schon Euklid verwendet
„Schema“ im Sinne von „geometrische Figur“; und auch Aristoteles verwendet den
Ausdruck in diesem Sinne (Met. 1002a21). Doch es blieb Proklus vorbehalten, eine
spekulative Metaphysik des Schematismus zu entwickeln: bei ihm gewinnt dieser
Ausdruck jene philosophisch überhöhte Bedeutung, die für die nachfolgende Be-
griffsgeschichte maßgeblich wurde. 12 Der Grundgedanke ist hier die Idee der sinnli-
chen Erscheinung des Unsinnlichen; und in dieser Bedeutung figuriert „Schema“
auch in Kants vorkritischen Schriften. 13
Der Gedanke eines Schematismus mathematischer Begriffe ist also nicht neu; es
ist vielmehr die Idee eines Schematismus reiner Verstandesbegriffe, die als originale
Leistung Kants zu werten ist. Dass diese beiden Schematismen sich nicht bruchlos
in eine homogene Konzeption vereinen lassen, wird niemand überraschen. Indem
Kant seine Theorie des Schematismus reiner Verstandesbegriffe mit einer Theorie
des Schematismus sinnlicher Begriffe verknüpft, fügt er zwei im Grunde disparate
Theoriestücke zu einer prekären Einheit zusammen. Denn während der Schematis-
mus der Verstandesbegriffe dazu bestimmt ist, ein internes Problem der kantischen
Systemkonzeption zu lösen (also ein Problem, das sich außerhalb dieses Kontextes
vielleicht nicht einmal formulieren lässt), stellt die Idee eines mathematischen Sche-
matismus durchaus ein exportierbares Theoriestück dar ⫺ bietet sie doch eine Lö-
sung für Platons Problem der Idealität mathematischer Begriffe, eines Problems, das
auch heute noch Beachtung verdient. Es ist diese Beobachtung, die den vorliegenden
Interpretationsversuch rechtfertigt.
Liest man die Theorie des mathematischen Schematismus im Kon-
text einer Theorie reiner sinnlicher Begriffe, dann scheint sie auf eine
Theorie der holistischen Repräsentation morphologischer Begriffe hin-
auszulaufen: Nur die reinen sinnlichen Begriffe, als Begriffe „reiner Ge-
stalten im Raume“, erlauben einen holistischen Bezug zum jeweiligen
Gegenstand. Weiß man, wie die Beschreibung einer geschlossenen ebe-
nen Figur aus drei verschiedenen Geraden anschaulich umzusetzen ist,
dann weiß man auch (wenigstens prinzipiell), dass diese Figur drei Ek-
ken haben muss, dass die Seiten auch gleich lang sein können, dass
dann aber auch die Winkel gleich sein müssen ⫺ kurz: aus dieser Be-
schreibung folgt bereits die gesamte Elementargeometrie des Dreiecks.
Demgegenüber erlauben empirische Begriffe, weil sie nur einer Auflis-
tung relativ isolierter Merkmale gleichen, lediglich einen partiellen
oder fragmentarischen Bezug: Aus dem Zutreffen der Beschreibung
„x ist ein Säugetier“ kann ich zwar einige weitere Eigenschaften extra-
polieren (z. B. „x ist ein Wirbeltier“, „x kann seine Körpertemperatur
regulieren“), aber weder erlaubt dieser Begriff eine vollständige Aufzäh-
lung aller Gegenstandstypen, die von ihm erfasst werden, noch können
wir ohne empirische Mittel die Zusammenhänge zwischen den Merk-
malen vollständig bestimmen.
Für das Verhältnis zwischen empirischen Begriffen und ihren Sche-
mata bietet sich aufgrund dieses Resultats die folgende Lösung an: em-
pirische Begriffe besitzen Schemata, sofern sie reine sinnliche Aspekte
empirischer Gegenstände in holistischer Referenz bestimmen. Wenn
also empirische Begriffe „schematisierbar“ sind, dann sind sie es in ge-
nau dem gleichen Sinne wie mathematische Begriffe: wie der empirische
Begriff des Tellers auf den reinen geometrischen Begriff des Zirkels
„verweist“, so „verweist“ der Begriff des Hundes auf eine gewisse vier-
16 An dieser Stelle knüpfte ich an den Gedankengang von Koriako 2001 an. Gegen
vorschnelle Einwände gebe ich zu bedenken, dass Kant das Konzept einer reinen
Anschauung mit einer ganz bestimmten Absicht in die Analyse mathematischer
Erkenntnis einführt; sie soll bestimmte Merkmale dieser Erkenntnisart verständ-
lich machen, die nach Kants Auffassung sonst unerklärlich blieben. Denn mathe-
matische Erkenntnis ist sowohl synthetisch (sie bezieht sich in sachhaltiger Weise
auf die erscheinende Welt) als auch apriorisch (wir müssen nicht darauf warten,
dass uns die Welt passende Aspekte zur Verifikation unserer mathematischen
Sätze darbietet). Lässt sich zeigen, dass diese Explikation durch den Begriff einer
reinen Anschauung teils nicht geleistet wird, teils auf andere Weise erbracht wer-
den kann, dann können wir dieses Theoriestück fallen lassen. Wir haben aber
allen Grund zu vermuten, dass Kants Mathematiktheorie in keiner Weise dazu
geeignet ist, das Anwendungsproblem zu lösen. Dies habe ich in Koriako 1999,
§ 21 zu zeigen versucht.
Literatur
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Amsterdam 1985.
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Koriako, Darius: Kants Philosophie der Mathematik: Grundlagen ⫺ Voraussetzungen
⫺ Probleme (⫽ Kant-Forschungen, hrsg. v. R. Brandt und W. Stark, Bd. 11), Ham-
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