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54 Frühe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik

Es wird sich darum handeln, des Bildungsstoffes nicht von außen,


mit der Tendenz des Moralunterrichtes, Herr zu werden, son-
dern die Geschichte des Bildungsmaterials, des objektiven Gei-
stes selbst zu erfassen. In diesem Sinne muß man hoffen, daß
der Moralunterricht den übergang zu einem neuen Geschichts-
unterricht darstelle, in dem dann auch die Gegenwart ihre kul-
turhistorische Einordnung findet. .

»ERFAHRUNG«

Unseren Kampf um Verantwortlichkeit kämpfen wir mit einem


Maskierten. Die Maske des Erwachsenen heißt »Erfahrung«.
Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. Alles
hat dieser Erwachsene schon erlebt: Jugend, Ideale, Hoffnungen,
das Weib. Es war alles Illusion. - Oft sind wir eingeschüchtert
oder verbittert. Vielleicht hat er recht. Was sollen wir ihm er-
widern? Wir erfuhren noch nichts.
Aber wir wollen versuchen, die Maske zu heben. Was hat dieser
Erwachsene erfahren? Was will er uns beweisen? Vor allem
eins: auch er ist jung gewesen, auch er hat gewollt, was wir woll-
ten, auch er hat seinen Eltern nicht geglaubt, aber auch ihn hat
das Leben gelehrt, daß sie recht hatten. Dazu lächelt er überle-
gen: so wird es uns auch gehen - im voraus entwertet er die
Jahre, die wir leben, macht sie zur Zeit der süßen Jugendeseleien,
zum kindlichen Rausch vor der langen Nüchternheit des ernsten
Lebens. So die Wohlwollenden, Aufgeklärten. Andere Pädago-
gen kennen wir, deren Bitterkeit gönnt uns nicht einmal die
kurzen Jahre der »Jugend«; ernst und grausam wollen sie uns
schon jetzt in die Fron des Lebens stellen. Beide aber entwerten,
zerstören unsere Jahre. Und immer mehr befällt uns das Ge-
fühl: deine Jugend ist eine kurze Nacht nur (erfülle sie mit
Rausch!); dann kommt die große »Erfahrung«, Jahre der Kom-
promisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit. So ist das Leben.
Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie.
Ja! Das erfuhren sie, dieses Eine, niemals Anderes: die Sinn-
losigkeit des Lebens. Die Brutalität. Haben sie uns je schon zum
Großen ermutigt, zum Neuen, Zukünftigen? 0 nein, denn das
»Erfahrung« 55

kann man ja nicht erfahren. Aller Sinn, das Wahre, Gute, Schöne
ist in sich selbst gegründet; was soll uns da die Erfahrung? -
Und hier liegt das Geheimnis: weil er niemals zum Großen und
Sinnvollen emporblickt, darum wurde die Erfahrung zum Evan-
gelium des Philisters. Sie wird ihm die Botschaft von der Ge-
wöhnlichkeit des Lebens. Aber er begriff nie, daß es etwas An-
deres gibt als Erfahrung, daß es Werte gibt - unerfahrbare -,
denen wir dienen.
Warum also ist für den Philister das Leben trost- und sinnlos?
Weil er nur die Erfahrung kennt, nichts weiter. Weil er also
selbst trostverlassen und geistlos ist. Und weil er zu nichts ein
so innerliches Verhältnis hat, als zum Gemeinen, zum Ewig-
Gestrigen.
Wir kennen aber Andres, was keine Erfahrung uns gibt oder
nimmt: daß es Wahrheit gibt, auch wenn alles bisher Gedachte
Irrtum war. Oder: daß Treue gehalten werden soll, auch wenn
bisher niemand sie hielt. Solchen Willen kann uns Erfahrung
.nicht nehmen. Dennoch - in einem sollten die Altern Recht
behalten mit ihren müden Gesten und ihrer überlegenen Hoff-
nungslosigkeit? Was wir erfahren, das wird traurig sein und
nur im Unerfahrbaren werden wir Mut und Sinn gründen kön-
nen? Dann wäre der Geist frei. Aber stets und stets würde das
Leben ihn niederziehen; denn das Leben, die Summe der Erfah-
rungen, wäre trostlos.
Solche Fragen verstehen wir nun aber nicht mehr. Führen wir
denn noch das Leben derer, die den Geist nicht kennen? Deren
träges Ich vom Leben geworfen wird wie von Wellen an Klip-
pen? Nein. Jede unserer Erfahrungen hat ja nun Inhalt. Wir
selber aus unserm Geiste werden ihr Inhalt geben. - Der Ge-
dankenlose beruhigt sich beim Irrtum. »Du wirst die Wahrheit
nie finden«, ruft er dem Forscher zu, »ich hab's erlebt«. Für
den Forscher aber ist der Irrtum nur eine neue Hilfe zur Wahr-
heit (Spinoza). Sinnlos und geistverlassen ist die Erfahrung nur
für den Geistlosen. Schmerzlich vielleicht kann sie dem Streben-
den sein, aber kaum wird sie ihn verzweifeln lassen.
Jedenfalls niemals wird er dumpfig resignieren und vom Rhyth-
mus des Philisters sich einschläfern lassen. Denn der - das habt
ihr bemerkt - bejubelt nur jede neue Sinnlosigkeit. Er behielt
ja recht. Er vergewissert sich: es gibt wirklich keinen Geist.
Frühe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik

Niemand aber verlangt strammere Unterwürfigkeit, strengere


»Ehrfurcht« vor dem »Geist« als er. Denn würde er Kritik
üben - so müßte er ja mitschaffen. Das kann er nicht. Auch die
Erfahrung des Geistes noch, die er widerwillig macht, wird ihm
geistlos.
Sagen Sie
Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.
Nichts haßt der Philister mehr als die» Träume seiner Jugend«.
(Und Sentimentalität ist meist die Schutzfärbung dieses Hasses.)
Denn was in diesen Träumen ihm erschien, war die Stimme des
Geistes, die auch ihn einmal rief, wie jeden Menschen. Dessen ist
die Jugend ihm die ewig mahnende Erinnerung. Darum be-
kämpft er sie. Er erzählt ihr von jener grauen, übermächtigen
Erfahrung und lehrt deil Jüngling über sich selber lächeln. Zu-
mal da »Erleben« ohne Geist bequem ist, wenn auch heillos.
Nochmals: eine andere Erfahrung kennen wir. Sie kann geist-
feindlich sein und viele Blütenträume vernichten. Dennoch ist sie
das Schönste, Unberührbarste, Unmitteilbarste, denn nie kann
sie geistlos sein, wenn wir jung bleiben. Man erlebt immer nur
sich selber, so sagt Zarathustra am Ende seiner Wanderung. Der
Philister macht seine »Erfahrung«, es ist die ewig Eine der Geist-
losigkeit. Der Jüngling wird den Geist erleben, und je weniger
er Großes mühelos erreichen wird, desto mehr wird er überall
auf seiner Wanderung und in allen Menschen den Geist finden.
- Der Jüngling wird gütig sein als Mann. Der Philister ist into-
lerant.

GEDANKEN ÜBER GERHART HAUPTMANNS FESTSPIEL

I. Der »historische Sinn«


Noch ist die Menschheit nicht zum ständigen Bewußtsein ihres
historischen Daseins erwacht. Nur zuzeiten befiel Einzelne und
Völker die Erleuchtung, daß sie im Dienste einer unbekannten
Zukunft stünden, und es wäre wohl denkbar, solche Erleuch-

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