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»ERFAHRUNG«
kann man ja nicht erfahren. Aller Sinn, das Wahre, Gute, Schöne
ist in sich selbst gegründet; was soll uns da die Erfahrung? -
Und hier liegt das Geheimnis: weil er niemals zum Großen und
Sinnvollen emporblickt, darum wurde die Erfahrung zum Evan-
gelium des Philisters. Sie wird ihm die Botschaft von der Ge-
wöhnlichkeit des Lebens. Aber er begriff nie, daß es etwas An-
deres gibt als Erfahrung, daß es Werte gibt - unerfahrbare -,
denen wir dienen.
Warum also ist für den Philister das Leben trost- und sinnlos?
Weil er nur die Erfahrung kennt, nichts weiter. Weil er also
selbst trostverlassen und geistlos ist. Und weil er zu nichts ein
so innerliches Verhältnis hat, als zum Gemeinen, zum Ewig-
Gestrigen.
Wir kennen aber Andres, was keine Erfahrung uns gibt oder
nimmt: daß es Wahrheit gibt, auch wenn alles bisher Gedachte
Irrtum war. Oder: daß Treue gehalten werden soll, auch wenn
bisher niemand sie hielt. Solchen Willen kann uns Erfahrung
.nicht nehmen. Dennoch - in einem sollten die Altern Recht
behalten mit ihren müden Gesten und ihrer überlegenen Hoff-
nungslosigkeit? Was wir erfahren, das wird traurig sein und
nur im Unerfahrbaren werden wir Mut und Sinn gründen kön-
nen? Dann wäre der Geist frei. Aber stets und stets würde das
Leben ihn niederziehen; denn das Leben, die Summe der Erfah-
rungen, wäre trostlos.
Solche Fragen verstehen wir nun aber nicht mehr. Führen wir
denn noch das Leben derer, die den Geist nicht kennen? Deren
träges Ich vom Leben geworfen wird wie von Wellen an Klip-
pen? Nein. Jede unserer Erfahrungen hat ja nun Inhalt. Wir
selber aus unserm Geiste werden ihr Inhalt geben. - Der Ge-
dankenlose beruhigt sich beim Irrtum. »Du wirst die Wahrheit
nie finden«, ruft er dem Forscher zu, »ich hab's erlebt«. Für
den Forscher aber ist der Irrtum nur eine neue Hilfe zur Wahr-
heit (Spinoza). Sinnlos und geistverlassen ist die Erfahrung nur
für den Geistlosen. Schmerzlich vielleicht kann sie dem Streben-
den sein, aber kaum wird sie ihn verzweifeln lassen.
Jedenfalls niemals wird er dumpfig resignieren und vom Rhyth-
mus des Philisters sich einschläfern lassen. Denn der - das habt
ihr bemerkt - bejubelt nur jede neue Sinnlosigkeit. Er behielt
ja recht. Er vergewissert sich: es gibt wirklich keinen Geist.
Frühe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik