Sie sind auf Seite 1von 19

Universität Bonn

Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft


Abteilung Musikwissenschaft/Sound Studies
WS 2020/2021
Modul: Soundscapes/Hörräume
Seminar: Musikalische Soundscapes 1800-1900
Dozent/in: M.A. Matan Entin

Zur Thematisierung der Natur in


musikalischen Soundscapes
von Claude Debussy

vorgelegt von:
Marvin-John Halog
Zweifach BA
Musikwissenschaft/Sound Studies,
Medienwissenschaft
11. Semester
Matrikelnrummer: 2846179
Bonner Talweg 60
53113 Bonn
marvjohnhalog@gmail.com
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung..........................................................................................................................1

2 Musikalische Klanglandschaft........................................................................................3

2.1 Klassische Reproduktion.......................................................................................4

2.2 Romantische Imagination......................................................................................5

2.3 Ideale Soundscapes...............................................................................................6

3 Pastorale...........................................................................................................................8

3.1 Herkunft und Entwicklung......................................................................................8

3.2 Debussy und pastorale Natur................................................................................9

4 Der Topos des Natürlichen...........................................................................................10

4.1 Prinzip Impressionismus......................................................................................10

4.2 Imaginative Transformation..................................................................................11

5 Fazit.................................................................................................................................13

6 Quellenverzeichnis........................................................................................................15

6.1 Literatur................................................................................................................15

6.2 Onlinequellen.......................................................................................................16
1 Einleitung

Claude Achille Debussy ist einer der bedeutsamsten Komponisten des


späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bei der Betrachtung
musikalischer Werke dieser Zeit bildet sein Schaffen eine ganz eigene
Brücke zwischen spät-romantischen Werken und Kompositionen der
Moderne. So bringt er den in Frankreich entsprungenen
impressionistischen Zeitgeist in neuer musikalischer Form auf einzigartige
Weise zu Tage. Als Hauptvertreter eines musikalischen Impressionismus
entwickelt er seine Musik mit ganz eigener Tonsprache und befreit sich
darin von traditioneller Form und klassischer Kompositionstechnik. Seine
Werke decken ein breites Spektrum musikalischer Gattungen ab. In
zahlreichen Stücken für Soloinstrument, Kammermusik, Orchester, Chor,
sowie in Klavierliedern und Bühnenwerken hat er seine Auffassung
musikalischen Potenzials verwirklicht und ausformuliert. 1
Seine journalistischen Arbeit als Musikkritiker hat er zeitweise unter dem
Pseudonym Monsieur Croche veröffentlicht. Durch diese erdachte Figur
diskutiert Debussy musikalische Ereignisse, Kompositionen und
Komponisten in direkter und oft unverblümter Weise. Die zahlreichen
Artikel dieser Figur in verschiedenen Zeitschriften sowie Debussys
Interviews und Korrespondenzen mit zeitgenössischen Kritikern und
Künstlern liefern einen besonderen Einblick in sein Denken über Musik
und Kunst im kleineren wie größeren Zusammenhang. 2
In Debussys Schaffen finden sich zahlreiche Hinweise und Ansätze zu
seiner besonderen Naturverbundenheit. Betrachtet man zu Beginn seine
Werke, ist zu erkennen, dass diese häufig mit Begrifflichkeiten aus der

1 Kobisch, Thomas, Debussy, MGG Online ,https://www.mgg-online.com/article?


id=mgg03481&v=1.0&rs=id-3d7f8dfe-741f-d012-3595-
e24e4ef8e180&q=impressionismus, (abgerufen am 15.10.2020)
2 Claude Debussy, Sämtliche Schriften und Interviews zur Musik, Dithingen: Reclam,
2010, S. 3-8
1
Natur und Umwelt betitelt sind. Beispielsweise hat eines seiner großen
Orchesterwerke die kunstvollen Titel:

La Mer (Das Meer)


I. De l’aube à midi sur la mer (von Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer)
II. Jeux de vagues (Spiel der Wellen)

III. Dialogue du vent et de la mer (Dialog zwischen Wind und Meer)3

Eines seiner berühmtesten Klavierstücke ist der dritte Satz aus der Suite
Bergamesque (Bergamo Suite) mit dem Titel Claire De Lune (Mondlicht).4
Zu diesen zählen in einer weiter zu fassenden Betrachtung auch Stücke
wie der erste Satz Pastorale seiner Sonate für Flöte, Harfe und Viola, oder
Syrinx für Soloflöte. Neben solchen äußerlichen Hinweisen finden sich
jedoch auch in vielen seiner Schriften eindeutige Aussagen und
Anmerkungen, die seine auffallende Naturverbundenheit vertiefen. Einen
gezielten Einstieg in den thematischen Kern dieser Arbeit soll das folgende
Zitat von Claude Debussy aus seinem Artikel in der Gil Blas vom 19.
Januar 1903 liefern. Über die Musik im Freien schreibt er:

„(Es kommt dabei nicht auf die Arbeit ‚im Groben‘ an, sondern im Großen
übersteigerte Klangwirkungen zu wiederholen und das Echo damit zu
langweilen, darum geht es nicht.) Man muß vielmehr die großen
Klangwirkungen dazu benutzen, den Traum von Harmonie in der Seele
der Menge zu vertiefen. Ein geheimnisvolles Ineinanderweben der
wehenden Lüfte, des Säuselns der Blätter, des Blumendufts vollzöge sich,
und die Musik könnte alle diese Elemente zu einer vollkommen
natürlichen Einheit binden, daß es schiene, als hätte sie an jedem von
ihnen teil. Und die guten, stillen Bäume würden die Pfeifen einer
Weltorgel bilden; an ihren Ästen hingen Kinder zuhauf, denen man die
hübschen Tanzlieder von einst beibrächte statt der albernen Schlager, die

3 Dömling, Wolfgang, Claude Debussy, La Mer, München: Wilhelm Fink Verlag, 1976,
S. 3
4 (Claire de Lune ist häufig in moderner Popkultur als Filmmusik wiedezufinden)
2
an ihre Stelle getreten sind und heute die Gärten und Städte
verunzieren.“5
So scheint es die Natur selbst, in ihrer klingenden, duftenden und sinnlich
erfahrbaren Gesamtheit zu sein, die für Debussy als grundsätzliche
Bedingung der musikalischen Kunst zu gelten hat. Indem die alles
umgebende Natur den kreativen Ursprung für das künstlerische Wesen
liefert, sowohl im Künstler/der Künstlerin als auch im Werk selbst, vermag
die aus ihr hervorgebrachte Musik es alle teilhabenden Elemente zu
einem großen ganzen zusammen zu fügen.
In einer solchen Idealvorstellung des Kunstwerks soll die Natur für
Debussy maßgebliche und treibende Kraft sein. Somit sollte sie einem
Werk nicht nur als inspirierender Funke inhärent sein, sondern gleichzeitig
als eine die Aufführung umschließende Bühne berücksichtigt werden.
Somit hätte die Musik das Vermögen auch die Zuhörer in die Gesamtheit
solch eines klingenden Kunstwerks einzufügen und das sinnlich
Erfahrbare vollkommen zu machen.
Nun stellt sich aber die Frage, in welcher Weise diese Auffassung, diese
Naturgebundenheit, sowie der Wunsch nach natürlicher Einheit von Musik
und Natur sich in Debussys Schaffen widerspiegelt? Gibt es einen
Fingerzeig seinerseits inwieweit seine Musik als Orientierung scheinbar
programmatischer Titel aufgefasst werden soll? Oder kann einer an der
Oberfläche zu vermutenden Nachahmung natürlicher Soundscapes auch
ein tiefer liegender Topos des Natürlichen zugesprochen werden?

2 Musikalische Klanglandschaft

Zur Beantwortung der oben genannten Fragen soll hier zunächst der
Begriff der Naturverbundenheit behandelt werden. In welcher Weise sich
eine solche Verbundenheit für Komponisten/innen im einzelnen ausprägt
ist sicherlich in höchstem Maße subjektiv. Allerdings kann durch den Blick
auf eine musikalische Thematik eine Betrachtung der Klänge der Natur

5 Debussy, Claude, Sämtliche Schriften und Interviews zur Musik, S. 79


3
hervorgehoben werden; genauer der auditiv erfahrbaren Klangräume der
Natur. Dementsprechend soll hier der Terminus und das Themenfeld der
Soundscapes angewendet werden. Er gilt als Kernbegriff der von
Raymond Murray Schafer Ende der 60er Jahre begründeten
interdisziplinären Klangforschung. Der Zweig der Soundscapes analysiert
dabei das Verhältnis zwischen Menschen und den sich wandelnden
Klängen ihrer Umwelt. Die Zusammenhänge von den dichten Klangwelten
urbaner Räume zu den hochauflösenden Panoramen ländlicher Wildnis
werden dabei fragmentiert und kategorisiert. 6 Im Transfer zu
musikalischen Soundscapes werden nun solche Kompositionen
behandelt, die sich der künstlerischen Reproduktion bzw. Imagination
dieser Räume bedienen.7

2.1 Klassische Reproduktion

Schafer erklärt die Verbindung von Soundscapes, also (natürlichen)


Klangräumen, und musikalischen Werken in einer historischen
Entwicklung der Landschaftsnachahmung. 8 Er nennt hier als Beispiel die
zeitgenössischen Kompositionen von Haydn, Händel und Vivaldi. Ihre
Kompositionen mit Natur- oder Landschaftsthematik sind ein
musikalisches Äquivalent zur präromantischen Landschaftsmalerei. Die
Werke dieser Landschaftsmalerei wurden auch als „Schaufenster in die
Natur“9 verstanden. Sie zeigen die Deutung einer besonderen Art der
künstlerischen Ausrichtung auf. So wie eine Landschaft in ausladenden
und detailreichen Gemälden festgehalten wurde, sollten auch
verschiedene Kompositionen dieser Zeit die natürlichen Klangräume
musikalisch reproduzieren. Die Hauptfunktion liegt hierbei also in einer
6 Schafer, R. Murray. Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am
Main: Athenäum: 1988: S. 13.

7 Schafer, R. Murray, Die Ordnung der Klänge, Eine Kulturgeschichte des Hörens,
Frankfurt am Main: Schott, 2010, S. 187
8 Ebd.
9 Ebd.
4
realistischen und detailgetreuen Darstellung der natürlichen Welt;
allgemeiner gefasst in einer neutralen Reproduktion objektiv
verständlicher Sinneserfahrung.
Die hintergründige Entwicklung zu dieser Landschaftsnachahmung
schreibt Schafer der historisch verfolgbaren Ausbreitung und Abgrenzung
urbaner Räume zu. Mit diesem urbanen Anschwellen der industrialisierten
Gesellschaften geht gleichzeitig auch eine drastische Veränderung der
Klanglandschaft einher. Die Stadt wird immer größer, enger und lauter
während aus den Fabriken ihr unaufhörlicher Produktionslärm in die
Umwelt schallt. Eine Folge ist die sich darin manifestierende Sehnsucht
nach offener Landschaft und unberührter Natur. Die Suche nach dem
ländlichen Idyll und der Ruhe prägt sich somit einem künstlerischen
Ausdruck dieser Zeit ein. Das Einweben natürlicher Soundscapes in die
Komposition geschah also auch aus einer Motivation heraus, die Natur in
nicht natürliche bzw. die Natur verdrängende Umgebungen einkehren zu
lassen.
Solche Werke in musikalischer oder bildender Kunst entstehen dabei
innerhalb des künstlerischen Mediums. Auf Leinwand oder im Musikstück
lassen sich natürlich in gewissem Maße die individuellen Stile von
Komposition und Malerei feststellen. Aber dabei wird der individuelle Blick
des Künstlers/der Künstlerin durch einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit
für die Rezeption überschattet. Der Anspruch auf Reproduktion der
tatsächlichen Realität überwiegt hier jedoch.10

2.2 Romantische Imagination

Dem gegenüber positioniert Schafer die Kompositionen der Romantik.


Eine reproduzierende Darstellung der Umwelt wird dabei durch den
Künstler/die Künstlerin beeinflusst. In der Technik einer sogenannten
Anverwandlung werden Natur und Landschaften durch Persönlichkeiten
und Stimmungen der Schaffenden beeinflusst. Emotionale Einfärbung und

10 Ebd. S.185
5
Vermenschlichung der Natur kehren in die Werke ein. Als Beispiel nennt
Schafer die Liederzyklen von Franz Schubert und Robert Schumann. „Die
Naturereignisse werden Künstlerisch geformt, sodass sie den Stimmungen
des Künstlers entsprechen oder sich mit ihnen ironisch messen.“ 11
Demnach liegt der Fokus nicht mehr nur auf der bloßen Reproduktion,
oder wie Schafer umschreibt, dem künstlerischen Protokollieren der Natur.
Vielmehr werden die eigenen Gefühlswelten auf die Vorlagen der
natürlichen Umgebung projiziert. Die Naturereignisse und
Umweltphänomene dienen nunmehr selbst als Medium, als zu Grunde
liegende Leinwand, auf deren Basis das Kunstwerk mit emotionaler
Färbung und Vermenschlichung gestaltet wird.
Insgesamt können Natur-thematische Kompositionen nun also in einem
historischen Spektrum von allgemeingültiger Kopie zu individueller
Vorstellung von Klangräumen eingeordnet werden. So lässt sich auch der
Begriff der Naturverbundenheit einem kontinuierlichen Spektrum
künstlerischer Intention zuordnen. Die künstlerische Darstellung der
Außenwelt wird erweitert durch den von innen nach außen gekehrten
Ausdruck der eigenen emotionalen Welt.

2.3 Ideale Soundscapes

Auf Basis dieser Entwicklung musikalischer Soundscapes sollen hier kurz


zwei weitere Kategorisierungen musikalischer Kreation zur thematischen
Vernetzung erwähnt werden. Die Unterteilung in absolute Musik und
Programmmusik markiert einen schon lange geführten Diskurs über
Wertgehalt, Bedeutung und Berechtigung von Musik im Verständnis eines
Kunstbegriffs und der zugehörigen Rezeptionswirkung. So sei jenes
Kunstwerk absolute Musik, dessen „Wesen […] nicht in der Wirkung
besteht, die es evoziert, nicht im Gegenstand, etwa im Affekt, den es
imitiert, und nicht in der Empfindung, die ein Künstler darin fühlbar macht,
sondern [darin] daß es sich – von all dem – allein als Kunstobjekt durch

11 Ebd. S 187
6
sich selbst legitimiert“.12 Dahingegen liegen der programmatischen Musik
eben solche Gegenstände, Affekte und Empfindungen zu Grunde; also ein
„außermusikalisches Sujet, auf das der Komponist in der Regel selbst
hinweißt, […] [und das] die musikalische Konzeption bestimmt oder
zumindest beeinflußt [...].“13
Nun ließe sich im Komplex musikalischer Soundscapes die Kategorie
absoluter Musik leicht ausklammern. Aufgrund der zuvor diskutierten
Induktion der Naturthematik scheint dies zunächst sinnvoll. Absolute Musik
wird hier eben besonders durch das Fehlen solcher induzierter Bedeutung
und außermusikalischer Legitimation charakterisiert. Dagegen erklärt
Schafer, dass absolute Musik selbst „ideale Soundscapes“ 14 forme. Das
bedeutet, dass im größeren Zusammenhang Musik selbst auch als
eigenes Element historischer Klanglandschaften verstanden werden kann.
Dementsprechend ordnet er Programmmusik als Imitation der
zeitgenössischen Klangräume ein. Die historische Klanglandschaft wird
also nicht nur in der Musik wiedergegeben, sondern im Umkehrschluss
ebenfalls auch selbst durch diese beeinflusst und geformt. Musik ist somit
eine „zuverlässige Aufzeichnung vergangener Laute“ 15; die Laute
eigentlicher musikalischer Ereignisse deren Aufzeichnung beispielsweise
in Form überlieferter Notation auch als Rezeptur zur Reproduktion einer
historischen Soundscape verstanden werden kann. Für Debussy war
Musik jedoch „a living, organic art, which only truly existed in performance
rather than on paper [...]“.16 Zudem formuliert er in dem auf Seite zwei
zitierten Artikel seine Sehnsucht nach einer Revolution kompositorischer
12 Seidel, Wilhelm, Absolute Musik, MGG Online, https://www.mgg-online.com/article?
id=mgg15042&v=1.0&rs=id-6fb231e7-06ca-5d7b-b09f-950874ac6088&q=absolute
%20musik (abgerufen am 020.10.2020)
13 Altenburg, Detlef, Programmusik, MGG Online, https://www.mgg-online.com/article?
id=mgg15930&v=1.0&rs=id-8584ece6-69e3-ffdd-1f3f-4eaf0837b036, (abgerufen am
20.10.2020)
14 Schafer, Die Ordnung der Klänge S. 184
15 Ebd.
16 Potter, Caroline, Debussy and Nature, The Cambridge Companion to Debussy,
Cambridge: Cambridge University Press, 2003, S. 138
7
Ausrichtung sowie den Wunsch nach Erneuerung musikalischer
Aufführungspraxis; als Ende der Abgewandtheit und Abschottung der
Musik von Natur und Umwelt - ein für ihn untragbarer Umstand, der mit
einem allgemein konservativen Stillstand und Festhalten an der
klassischen Form einhergehe. Wie Caroline Potter treffend formuliert
bedeutet Debussys Ablehnung dessen „(...) in fact a rejection of formalism,
as this formalism, represents a distancing from the ideal forms of
Nature.“17

3 Pastorale

3.1 Herkunft und Entwicklung

Klassische Topoi wie der Jagd-, Schlachten- oder Hirtentopos sind seit
Jahrhunderten in kompositorischer Orientierung zu finden. Dabei wird
einer Komposition eine feste thematische Ausrichtung zugeordnet. Eine
solche Thematik verknüpft das Werk in ihrer Verwendung mit lange
tradierten feststehenden Bedeutungen und wird dabei durch sogenannte
„Signifiers“18 markiert. Dies sind feststehende kompositorische Mittel, die
sich beispielsweise auf die Instrumentierung oder die Taktart beziehen.
Der Hirtentopos hat für die vorliegende Betrachtung Natur-thematischer
Komposition eine besondere Rolle.
Im Beispiel dieses sogenannten pastoralen Topos kann die Herkunft
bereits auf die Schriften der Antike zurückgeführt werden. Theocrit und
Vergil haben in ihren Werken, beispielsweise dem Hirtengedicht, die
Legenden und Geschichten eines vergangen Idylls beschrieben. Diese
frühesten Pastoralisten besangen das antike Landschaftsparadies, in
welchem solche mythische Wesen wie Nymphen, Satyren und Hirtengötter
dem lustvollen und genüsslichen Leben in der idyllischen Freiheit des

17 Potter, Caroline, Debussy and Nature, S. 138


18 Raymond, Monelle, The Musical Topic, Hunt, Military and Pastoral, Bloomington:
Indiana University Press, 2006, S. 20 f.
8
paradisischen Arkadiens frönen.19 In den darauf folgenden Jahrhunderten
entwickelte sich diese Thematik über die verschiedenen Epochen der
Kunst und Literatur hinweg zu einer traditionellen Thematik und wurde in
unterschiedlichsten Ausprägungen verwendet.
Das sehnsüchtige Bild des vergangenen „goldenen Zeitalters“ 20, wie es
beispielsweise auch in Ovids malerischen wie ambivalenten
Methamorphosen bezeichnet und ausformuliert wird, erblüht zum Sinnbild
der idealisierten ländlichen Schönheit; es dient zur künstlerischen
Charakterisierung der fernen unberührten Natur im harmonischen
Einklang mit ihren Lebewesen.21

3.2 Debussy und pastorale Natur

Claude Debussy zeigt in seinen Werken wie Syrinx, Trois Nocturnes


(erster Satz) Pastorale oder Prélude à l' Après-Midi d' un Faune (Vorspiel
zum Nachmittag eines Fauns) eine deutliche pastorale Ausrichtung.
Monelle Raymond erklärt dazu aber: „Debussy had to discover new ways
of evoking erotic innocence. Curi-ously, [...] the composer had to respond
to a new nostalgia, the feeling that pastoralism was itself a sign of an old
and lost world.“22 Dieses scheinbare Paradox erotischer Unschuld und
neuer Wege zu alter Nostalgie lässt sich in diesen Kompositionen wieder
finden. Raymond erklärt beispielsweise seine stilistische Art der Imitation
einer antiken Panflöte in Syrinx, einem Solostück für Querflöte. Die hier zu
hörenden verspielten Arpeggios gleichen der seitlichen Bewegung über
die aufgereihten Holzblasrohre hinweg. Dieses Instrument ist in der
pastoralen Thematik als typische Darstellung des arkadischen Satyrs bzw.
Fauns zu finden; in ähnlicher Weise als Signifiers in Prélude à l' Après-

19 Raymond, Monelle, The Musical Topic, S. 220


20 Parry, Hugh, Ovids Metharmorphosis: Violence in a pastoral Landscape, Transactions
and Proceedings of the American Philological Association, vol. 95, 1964, S. 269
21 Parry, Hugh, Ovids Metharmorphosis: Violence in a pastoral Landscape, S. 270
22 Rymond, Monelle, The Musical Topic S.264.
9
Midi d' un Faune zu hören.23 Allerdings ist die musikalische Ausführung für
die Instrumente dieser und anderer Kompositionen Debussys eine weitaus
Neuere. Insgesamt bietet die Verwendung des pastoralen Topos für
Debussy eine direkte Möglichkeit um sein Streben zur naturgewandten
Einheit auszudrücken. Durch die Verknüpfung des vollkommenen Idylls,
des unberührten Einklangs der Natur in seiner Musik erreicht er somit
einen direkten inhaltlichen Wegweiser hin zu seinem erwünschten
musikalischen Ideal.

4 Der Topos des Natürlichen

4.1 Prinzip Impressionismus

Ein impressionistische Prinzip, welches erstmals 1880 mit der Musik


Debussys verknüpft wird, bedingt eine neue Art der Wahrnehmung
künstlerischer Werke. So soll der Hörer impressionistischer Musik in
seiner Haltung einen Mittelweg finden zwischen lockerer und
konzentrierter Aufmerksamkeit, vergleichbar mit einem alltäglichen
natürlichen Dabeisein.24 Dementsprechend unterliegt natürlich zunächst
auch die Musik zu Zeiten des französischen Impressionismus einer neuen
Ausrichtung. Die Suche von Wahrheit in Realität und Natur zur
Wiedergabe im künstlerischen Werk spielt eine zentrale Rolle. Dies geht
mit dem impressionistischen Verständnis einher, dass dem eigentlich
Sichtbaren oder Hörbaren der Welt noch weitere Ebenen bzw.
Dimensionen des Erfahrbaren inhärent sind. Diese befinden sich im
Bereich des Unsichtbaren, Mystischen und Immateriellen. Sie entfalten
sich nicht im Greifbaren oder Bewussten, sondern im sinnlichen Fühlen
und unbewussten Wahrnehmen. In diesem Verständnis findet sich auch

23 Ebd.
24 Kobisch, Thomas, Impressionismus, MGG Online, https://www.mgg-
online.com/article?id=mgg15493&v=1.0&rs=id-0b5a5f5a-92cf-6427-a54f-
c78e45c431ad, (abgerufen am 18.10.2020)
10
die impressionistische Musik wieder. Ihre Werke erwägen nicht die bloße
Reproduktion der Realität oder ihre Anverwandlung durch das Selbst. „Die
Realität wird zu Gunsten der Erhaltung wahrer Aspekte ihrer (eigentlichen)
Form beraubt.“25 Diese Formveränderung zur Annäherung der Realität, zur
Darstellung realer Wahrheit, zielt somit auf den Aspekt des eigentlich
natürlichen Wahrnehmens ab. Sowohl die Komposition als auch ihre
Rezeption soll sich im Raum des Unbeschwerten abspielen. Wie ein
Topos des Natürlichen erklärt sich dies mit einer einerseits direkten
Zugänglichkeit jedoch andererseits mit mystischer Unantastbarkeit.

4.2 Imaginative Transformation

“For Debussy, the logic of art, which every artist seeks by definition, is
something whose connection to nature — if it has one — must always
remain invisible, mysterious, intangible.” 26 So legt Debussy diesen
paradigmatischen Grundsatz für die Musik fest. Dieser Grundsatz lässt
sich als Philosophie seiner Komposition wiedererkennen. Setzt man sein
zuvor erwähntes Werk La Mer in diesen Zusammenhang, so erkennt man,
dass es weit tiefgründigere unvorhergesehene Substanz enthält. Das
scheinbar programmatische Gerüst einer Meeresdarstellung weicht dem
Momentum der Kreation, der imaginativen Transformation. Das
Ineinanderfließen sich jagender und überschwemmender Motivik erweckt
die Wahrnehmung einer eigenen Welt. Nicht Reproduktion von Debussys
Wahrnehmung des Meeres findet hier statt, sondern die eigene
unkontrollierte und unterbewusste Imagination einer neuen maritimen Welt
wird angeregt; die Transformation der Musik in eine Soundscape der
gleichgestellten Repräsentation der Natur.

25 Ebd. S.3
26 Dayan, Peter, On Nature, Music, and Meaning in Debussy's Writing, 19th-Century
Music, Vol. 28, Nr. 3, California: University of California Press, 2005, S. 217
11
„Certainly, the impression was there, the sea gave Debussy his starting
point, or at least whathever, at the time, felt to be his starting point. But as
he makes music, the sea must recede to the point where we cannot judge
the music by the accuracy of its representation.”27

Wolfgang Dömling erklärt zudem im Anschluss an seine ausführliche


musikalische Analyse von La Mer:

„Nicht zuletzt die untergeordnete Rolle von ausgeprägten Themen, das


Emportauchen nicht präzis begrenzter, stets wandelbarer Gestalten aus
dem Klang als dem primären Element, nicht zuletzt der hohe Anteil des A-
thematischen ist es, was Eindruck erweckt, in Debussys Musik töne die
Natur direkt, ohne Umwege gedanklicher Vorstellungen.“28

Die Dynamik der Wahrnehmung der Natur ist für Debussy eine Analogie
zum Prozess musikalischer Kreation. Diese wechselseitige Äquivalenz
ermöglicht es durch spezifische Merkmale der Realität hindurchzuschauen
und die unbeschreibliche Gesamtheit dahinter zu verspüren; die
Übertragung von Sinn über die artikulierte Bedeutung hinaus in eine ideale
Einheit.29 Debussy selbst bezeichnet dies mit „mouvement total de la
nature“30 (die totale Bewegung der Natur). „He drew a parallel between the
freedom of nature and an idealised free music, based on an imaginative
transformation of nature.“31

27 Dayan, Peter, On Nature, Music, and Meaning in Debussy's Writing, S. 218


28 Dömling, Wolfgang, Claude Debussy, La Mer, München: Wilhelm Fink Verlag, 1976,
S. 25
29 Vgl. Dayan, Peter, On Nature, Music, and Meaning in Debussy's Writing, S.218
30 Ebd.
31 Ebd.
12
5 Fazit

Zur Frage der Naturverbundenheit in Debussys Schaffen lässt sich nun


folgendes sagen: Obwohl sich ein Paradoxon zwischen Debussys
offengelegter Abneigung programmatischer Sujets und seiner
augenscheinlichen Verwendung selbiger erkennen lässt, muss dies in
einem differenzierten Zusammenhang bewertet werden. Nicht die
Induktion von Sinnhaftem durch das Verwenden außermusikalischer
Sujets erfüllt hier sein Wirken, sondern die vorangestellte Akzeptanz des
Unbegreifbaren. Damit ist gemeint, dass der Wahrnehmung von Debussys
Musik eine Art Obliegenheit mitgegeben ist. Nämlich der Blick über die
Worte und Assoziationen dieser Werke hinaus. Dieser Blick geht damit
einher, dass die Musik von Erweiterung oder Reduplikation eben dieser
Worte der Sujets zu befreien ist. Sie steht aber nicht alleine, im Sinne
absoluter Musik von der Welt gelöst und ihrer selbst-reflexiven
Legitimation zu eigen, sondern ist der Welt sehr wohl zugehörig ist; dies
aber gleich einem eigenen Phänomen der Natur. Die von Debussy als
schönste aller Lügen bezeichnete Kunst kreiert die besondere Beziehung
zur Natur erst in der Musik. Das geheimnisvolle Kontinuum, welches nicht
in plakativer Programmatik oder Reproduktion des Offensichtlichen,
sondern erst in der Wahrnehmung selbst erblüht. So ist eben auch die
Betrachtung musikalischer Soundscapes für Debussys Musik in höchstem
Maße ambivalent. Der vorliegenden Begrifflichkeit nach ist natürlich
zunächst jede Art der aufführbaren Musik Teil ihrer sie umgebenden
Soundscapes. Betrachtet man jedoch Debussys Verständnis von Natur
und Musik selbst so ist zu Erkennen, dass diese Verknüpfung in keiner
Weise reale Soundscapes erwirken oder kreieren soll. Vielmehr vertritt er
die Ansicht, dass Musik aufgrund unvergleichbarer Befähigung, ähnlich
der Natur, den zu Grunde liegenden Funken zur transformativen
Imagination eigener Welten entfachen soll. Somit wäre das Verständnis
beispielsweise auch imaginierter Soundscapes in der Auffassung
debussyscher Naturverbundenheit obsolet. Peter Dayan erklärt:
13
“Music for Debussy should not enable us to formulate an opinion; it should
not evoke in our minds any realistic tableau; it should merely make us
think we have dreamed of a place that (unlike the sea) does not and
cannot exist.”32

Dieser Aussage folgend ist eine abschließende (persönliche) Erkenntnis


aus dieser Arbeit, eine weitere und tiefgründigere Sezierung der Musik von
Claude Debussy beispielsweise durch genauere musikalische Analyse
vorerst zurückzustellen. Da eine solche wissenschaftliche
Auseinandersetzung ein analytisches Anhören seiner Musik und die
Untersuchung topologischer Sinnhaftigkeit erfordert, ist die durch Debussy
vertretene ideale Grundhaltung zu seinen Werken nicht möglich gewesen.
Seine Werke sollen somit zukünftig, eingedenk der hier erlernten
Grundhaltung, erneut angehört werden; in der Erwartung, dass dadurch
ein entsprechendes und angepasstes Forschungsinteresse inspiriert wird.

32 Dayan, Peter, On Nature, Music, and Meaning in Debussy's Writing, S. 218


14
6 Quellenverzeichnis

6.1 Literatur

Claude Debussy, Sämtliche Schriften und Interviews zur Musik, Dithingen: Reclam, 2010,

Dayan, Peter, On Nature, Music, and Meaning in Debussy's Writing, 19th-Century Music,
Vol. 28, Nr. 3, California: University of California Press, 2005

Dömling, Wolfgang, Claude Debussy, La Mer, München: Wilhelm Fink Verlag, 1976

Parry, Hugh, Ovids Metharmorphosis: Violence in a pastoral Landscape, Transactions


and Proceedings of the American Philological Association, vol. 95, 1964

Potter, Caroline, Debussy and nature. In S. Trezise (Ed.), The Cambridge Companion to
Debussy, Cambridge: Cambridge University Press, 2003

Raymond, Monelle, The Musical Topic, Hunt, Military and Pastoral, Bloomington: Indiana
University Press, 2006

Schafer, R. Murray, Die Ordnung der Klänge, Eine Kulturgeschichte des Hörens,
Frankfurt am Main: Schott, 2010

Schafer, R. Murray. Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am
Main: Athenäum, 1988

15
6.2 Onlinequellen

Altenburg, Detlef, Programmusik, MGG Online, https://www.mgg-online.com/article?


id=mgg15930&v=1.0&rs=id-8584ece6-69e3-ffdd-1f3f-4eaf0837b036, (abgerufen am
05.10.2020)

Kobisch, Thomas, Debussy, MGG Online ,https://www.mgg-online.com/article?


id=mgg03481&v=1.0&rs=id-3d7f8dfe-741f-d012-3595-
e24e4ef8e180&q=impressionismus, (abgerufen am 15.10.2020)

Kobisch, Thomas, Impressionismus MGG Online, https://www.mgg-online.com/article?


id=mgg15493&v=1.0&rs=id-0b5a5f5a-92cf-6427-a54f-c78e45c431ad, (abgerufen am
18.10.2020)

Seidel, Wilhelm, Absolute Musik, MGG Online, https://www.mgg-online.com/article?


id=mgg15042&v=1.0&rs=id-6fb231e7-06ca-5d7b-b09f-950874ac6088&q=absolute
%20musik (abgerufen am 05.10.2020)

16
Erklärung zur selbstständigen Anfertigung:

Ich versichere hiermit, dass die Hausarbeit mit dem Titel „Zur
Thematisierung der Natur in musikalischen Soundscapes von Claude
Debussy“ von mir selbst und ohne jede unerlaubte Hilfe angefertigt wurde,
dass sie noch an keiner anderen Hochschule zur Prüfung vorgelegen hat
und dass sie weder ganz noch in Auszügen veröffentlicht worden ist. Die
Stellen der Arbeit – einschließlich Tabellen, Karten, Abbildungen usw. –,
die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen sind,
habe ich in jedem einzelnen Fall kenntlich gemacht.

______________________________________
22.10.2020
Datum, Unterschrift

17

Das könnte Ihnen auch gefallen