https://archive.org/details/alexanderklugeOOOOIewa
Autorenbücher 19
Herausgegeben von
Alexander Kluge
Tr©si$ Unjv«4’$i$y
Verlag C.H.Beck
Verlag edition text + kritik
* i ff * {'MD / Sj / /
Die ,Autorenbücher‘ sind eine Gemeinschaftsproduktion
der Verlage C. H. Beck und edidon text + kritik
Für Evelyn
Lewandowski, Rainer:
Alexander Kluge / Rainer Lewandowski. - München:
Beck; [München]: Verlag Edition Text u. Kritik, 1980.
(Autorenbücher; 19)
ISBN 3 406 07439 1
I. Biografisches . 7
III. ,Lebensläufe“ . 26
IV. .Schlachtbeschreibung“ . 40
XVII. Anhang
1. Anmerkungen. 176
2. Bibliografie. 184
5
a) Werke von Alexander Kluge. 184
b) Materialien . 186
3. Filmografie. 188
a) Filmtexte . 188
b) Filme. 188
c) Materialien . 193
d) Zu einzelnen Filmen. 193
I. Biografisches
7
vor allem den Luftangriff auf Halberstadt vom 8. April 1945 in
Heft 2 seiner .Neuen Geschichten“ und in Heft 4 die Errichtung
des Lagers Langenstein, eines Außenlagers des KZs Buchen¬
wald. Am 1. Juni 1944 nahm die SS das Lager .in Betrieb“. Die
darin eingesperrten Häftlinge hatten ein unterirdisches Stollen¬
system auszuheben, in dem die Waffenproduktion, geschützt
vor Luftangriffen, weitergehen sollte. „Insgesamt kamen von
Juni 1944 bis zur Zerschlagung der faschistischen Diktatur ca.
7500 Häftlinge ums Leben, davon wurden ca. 1000 im Krema¬
torium Quedlinburg verbrannt, 4000 liegen in fünf Massengrä¬
bern auf dem KZ-Gelände.“2
Auch wegen der Flugzeugwerke Junkers, einer kriegswichti¬
gen Produktionsstätte, war Halberstadt Ziel der Luftangriffe
der Alliierten. Der Bombenangriff vom 8. April 1945, einen
Monat vor Kriegsende, zerstörte die Stadt zu 82 Prozent.
„Halberstadt zählte zu den am umfangreichsten zerstörten
Städten Deutschlands.“3 Auch Kluges Elternhaus wurde bei
dem Angriff vernichtet. „Die Form des Einschlags einer
Sprengbombe ist einprägsam . . . Ich war dabei, als am 8. April
1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug.“3
Ein Jahr nach Kriegsende verließ Alexander Kluge Halber¬
stadt und lebte seitdem bei seiner Mutter in West-Berlin. Die
Ehe der Eltern war inzwischen geschieden, die Mutter hatte
einen Juristen geheiratet. 1949 machte Kluge am Charlotten¬
burger Gymnasium Abitur. Im gleichen Jahr nahm er das Stu¬
dium der Rechtswissenschaften in Marburg, später in Frankfurt
auf. Kluge studierte als zweites Fach Geschichte und nebenher
Kirchenmusik.
Nach der ersten juristischen Staatsprüfung im Jahre 1953 ar¬
beitete Kluge, neben seiner Promotion, zeitweise als Referen¬
dar in der Praxis des Anwalts Hellmut Becker, eines engagier¬
ten Bildungspolitikers, und im Kuratorium der Johann-Wolf-
gang-Goethe-Universität in Frankfurt. Hier lernte er Theo¬
dor W. Adorno kennen, dessen Lehre und Theorie großen Ein¬
fluß auf ihn gewannen. Alexander Kluge promovierte am
12. 12. 1956 in Marburg mit einer Arbeit über die Entwicklung
8
der Selbstverwaltungsorgane und -prinzipien der Universitä¬
ten. Die Dissertation wurde seine erste Veröffentlichung. 1958
erschien sie im Verlag Vittorio Klostermann, der 1961 auch
Kluges zweite Publikation, an der Hellmut Becker entschei¬
dend mitarbeitete, herausgab: Das Buch .Kulturpolitik und
Ausgabenkontrolle1 behandelt den beschränkenden Einfluß der
staatlichen Kontrollinstanz der Rechnungshöfe auf die Entfal¬
tungsmöglichkeiten engagierter Kulturpolitik.
Bis hierher scheint der Weg Kluges der eines Juristen zu sein.
Tatsächlich versuchte er damals aber schon lange, „aus der
Juristerei wieder herauszukommen“, wie er in einem Interview
der Zeitschrift ,Filmkritik‘ im September 1966 rückblickend
formulierte. Sein wirkliches Interesse zielte auf eine produktive
Tätigkeit, zielte auf den Film, auf die Literatur.
Kluges erster unmittelbarer, wenn auch nicht sehr intensiver
Kontakt zur Filmproduktion kam durch Vermittlung Theodor
W. Adornos zustande. Um die Jahreswende 1958/59 durfte
Kluge in Berlin bei der Produktion des Films von Fritz Lang
,Das indische Grabmal* als Volontär Zusehen. „Das hat mich
dann nicht sehr beeindruckt. ... Ich habe dann ... in der Kan¬
tine Geschichten geschrieben, daraus wurden die Lebens¬
läufe“4, Kluges erste literarische Veröffentlichung, die aber erst
1962 erschien. Sie begründete seinen literarischen Rang.
Nach dem wenig erfolgreichen Volontariat schrieb Kluge
gemeinsam mit Peter Schamoni das Treatment zu seinem er¬
sten Film, .Brutalität in Stein*. Dieser Kurzfilm, 1960 gedreht,
erhielt im Jahr darauf bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen
einen der sechs Hauptpreise. Das war der Beginn der Filmpro¬
duktion Kluges. Der Durchbruch gelang, nach drei weiteren
Kurzfilmen, erst 5 Jahre später, 1966 mit seinem ersten abend¬
füllenden Spielfilm .Abschied von gestern*. Aber zuvor war
noch zähe filmpolitische Arbeit zu leisten. Die sogenannten
Jungfilmer*, wie der Filmnachwuchs allgemein, waren um
1960 von der etablierten Filmbranche nahezu völlig ausge¬
schlossen, nicht nur finanziell, sondern, was die Themen der
Filme betraf, auch politisch. Die etablierte Branche, ,Papas
9
Kino“, drehte hauptsächlich Heimat-, Liebes- und Schlager¬
filme. Wegen der Qualität dieser Streifen, selbst der damalige
CDU-Bundesinnenminister Höcherl nannte sie „seichteste(r)
Unterhaltung und Schnulzen“5, und durch die zunehmende
Konkurrenz des Fernsehens, das bereits seit November 1954 als
Deutsches Fernsehen ein Gemeinschaftsprogramm aller Lan¬
desrundfunkanstalten sendete, geriet die deutsche Filmbranche
in eine ernste Krise. Im Januar 1962 brach die Ufa-Film-Hansa
zusammen, die bis dahin als einer der solidesten Filmkonzeme
Deutschlands galt. Die deutsche Filmwirtschaft geriet ins Wan¬
ken, die Banken als Kreditgeber wurden mißtrauisch, die staat¬
lichen Instanzen waren sich nicht klar, ob sie „wieder einmal,
den Bankrotteuren aus dem Schlamassel helfen sollten“6.
Enno Patalas, Gründer und Redakteur der damals renom¬
miertesten deutschen Filmzeitschrift ,Filmkritik‘, deutete die
Lage so: „Die Situation war seit dem Kriege nie so prekär für
die deutsche Filmwirtschaft. Das heißt: Sie war noch nie so
günstig für einen geistigen und künstlerischen Neubeginn im
deutschen Film.“7
Diese Umbruchsituation zu nutzen, um einen Neuanfang des
deutschen Films zu setzen, versuchte eine Gruppe von Kurz¬
filmregisseuren, die sich auf den 8. Westdeutschen Kurzfilmta¬
gen in Oberhausen zusammenfanden. Zu ihnen zählte neben
Hans-Jürgen Pohland, Rob Houwer, Edgar Reitz, Peter Scha-
moni, Herbert Vesely auch Alexander Kluge. Insgesamt waren
es 26 Kurzfilmregisseure, die auf einer Pressekonferenz am
28. Februar 1962 das „Oberhausener Manifest“ vorstellten.
Die Oberhausener forderten die Gründung einer deutschen
Filmakademie, die die Ausbildung des Filmnachwuchses ge¬
währleisten sollte, und die Errichtung einer zentralen deutschen
Cinemathek mit Spielstätten in den wichtigsten Städten, um
eine umfassende Filmbildung zu ermöglichen. Darüber hinaus
machte die Gruppe einen Vorschlag, wie die deutsche Filmin¬
dustrie wirtschaftlich und künstlerisch zu sanieren sei: Ihre Mit¬
glieder erklärten sich bereit, für fünf Millionen Mark zehn
Spielfilme herzustellen, deren wirtschaftliches Risiko sie ge-
10
meinsam in einer Stiftung Junger deutscher Film* tragen woll¬
ten. Dieser Vorschlag trug den Regisseuren zunächst nur den
Namen Jungfilmer“ ein. Auch ein Hearing, das der Vorsit¬
zende des Bundestagsausschusses für Kulturpolitik und Publi¬
zistik am 14. und 15. Mai 1962 veranstaltete und auf dem die
Positionen der Filmwirtschaft und der Jungfilmer vorgestellt
und diskutiert wurden, blieb ohne Ergebnis. Sprecher der
Oberhausener Gruppe war Alexander Kluge. Enno Patalas
schrieb über dieses Hearing: „Der Film hat das Ressort ge¬
wechselt: nicht mehr die Wirtschaftsministerien und -aus-
schüsse sind für ihn in erster Linie zuständig, sondern die mit
Kultur befaßten; Filmpolitik wird Kulturpolitik. Das läßt für
die Zukunft hoffen.“8 Die Forderungen der Oberhausener er¬
füllten sich aber nur zögernd und schrittweise. Ein erster Erfolg
war 1962 die Gründung der Filmabteilung an der Hochschule
für Gestaltung in Ulm, deren Leiter Edgar Reitz und Alexan¬
der Kluge wurden.
Im Rahmen der Arbeit in der Filmabteilung entstand nach
einem Kurzfilm über die Entwicklung des Lehrerstandes, .Leh¬
rer im Wandel“ (1963), der Kurzfilm .Porträt einer Bewährung“
(1964), der die Geschichte eines Polizisten erzählt, der sich un¬
ter allen Regimen bewährt. Außerdem arbeitete Kluge an dem
Buch für einen Kurzfilm von Günter Lemmel mit (.Protokoll
einer Revolution“, 1963) und schrieb den Text zu einem film¬
technischen Experiment von Edgar Reitz .Unendliche Fahrt -
aber begrenzt“. Dieser Versuch einer .Varia-Vision“ wurde auf
der Internationalen Verkehrsausstellung in München im Juni
1965 uraufgeführt. Auf 36 Leinwänden liefen simultan 36 Film¬
schleifen ab, die nach einiger Zeit auf ihren gemeinsamen An¬
fang zurückgingen und wieder von vorn begannen. Während
dieser Zeit in Ulm verfaßte Kluge seine ersten theoretischen
Aufsätze zum Thema Film: ,Die Utopie Film“ (1964), worin er
ein Programm der Filmbildung vorschlägt, und .Wort und
Bild“ (1965; Ko-Autoren: Edgar Reitz und Wilfried E. Reinke),
einen Aufsatz, in dem er sich über die Ausdrucksmittel des
Films äußerte und die Grundstruktur seines filmischen Kon-
11
struktionsprinzips entwickelte. In diesen Jahren der praktischen
und theoretischen Arbeit am Ulmer Institut war das Drehbuch
zu Kluges erstem Spielfilm .Abschied von gestern“ längst ge¬
schrieben. Nach der ersten Ablehnung seitens der Drehbuch¬
kommission erhielt es dann in einer zweiten Fassung eine Auto¬
renprämie von 10000 DM. Später wurde daraus eine Produ¬
zentenprämie von 200000 DM. Nach der Gründung eines Ku¬
ratoriums Junger Deutscher Film 1965 - Ergebnis dreijähriger
zäher filmpolitischer Bemühungen dessen Einrichtung die
Oberhausener schon 1962 gefordert hatten, erhielt Kluge aus
dem Fond des Kuratoriums (Starthilfe des Bundes 5 Millionen
Mark) weitere 100000 DM. Damit konnte er als Produzent
über seine bereits 1963 gegründete Produktionsgesellschaft
Kairos-Film9 seinen ersten abendfüllenden Spielfilm drehen,
der ihn 1966 einer breiten Öffentlichkeit als Filmemacher vor¬
stellte.
Alexander Kluge war zu dieser Zeit kein Unbekannter mehr.
Seine Kurzfilme, die bis heute zum Teil keinen Verleiher ge¬
funden haben, da für Kurzfilme kaum ein Markt besteht, hatten
ihn im Rahmen der Oberhausener Kurzfilmtage den Cineasten
als Filmemacher bekannt gemacht, allgemein galt Kluge aber
als Literat. Schon 1962 hatte er, mit großem Erfolg bei den
Literaturkritikern, seine .Lebensläufe“ herausgegeben, zwei
Jahre später folgte .Schlachtbeschreibung“, ein Buch über den
Untergang der 6. Armee im Kessel von Stalingrad. Für die
.Lebensläufe“ erhielt er 1962 den Berliner Kunstpreis-Junge Ge¬
neration, für die .Schlachtbeschreibung“ 1966 den Bayerischen
Staatspreis für Literatur. Kluge las zweimal auf Tagungen der
Gruppe 47, 1962 in Berlin und 1964 in Sigtuna/Schweden.
Die Chronologie des Auftretens in der Öffentlichkeit hat den
Anschein erweckt, Kluge sei primär Schriftsteller und er sei
später „Von der Literatur zum Film“10 gewechselt. Tatsächlich
wollte Kluge schon immer Filme machen, das war aber auf¬
grund der politischen und wirtschaftlichen Situation des Films
in der Bundesrepublik zu Beginn der 60er Jahre nicht möglich.
So mußte er seine filmischen Interessen und Energien zunächst
12
auf die Literatur konzentrieren, aber auch auf die Filmpolitik,
um sich auf gremien- und kulturpolitischem Wege seinem ei¬
gentlichen Ziel zu nähern.11 Als Kluge 1965 nach der Gründung
des Kuratoriums Junger Deutscher Film die Möglichkeit be¬
kam, den ersten Spielfilm zu drehen, hat er diese Chance kon¬
sequent zu nutzen gewußt. Er drehte bis 1973 6 Kurzfilme und
3 Langfilme (siehe Filmographie). Erst als seine Filme (,Die
Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos*, 1967; ,Der große Ver¬
hau*, 1969/70; .Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte*,
1971) ihr Publikum nicht mehr fanden, kehrte er auch zur lite¬
rarischen Arbeit zurück. 1973 stellte Kluge seinen dritten Prosa¬
band .Lernprozesse mit tödlichem Ausgang* vor. Im selben
Jahr übernahm er eine Honorarprofessur an der Johann-Wolf-
gang-Goethe-Universität in Frankfurt.
Davor 1971/72 entstand der Titel .Öffentlichkeit und Erfah¬
rung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proleta¬
rischer Öffentlichkeit*, eine gesellschaftstheoretische Publika¬
tion, die Kluge in Zusammenarbeit mit Oskar Negt, Professor
für Soziologie an der Universität Hannover, ebenfalls Adorno-
Schüler, 1972 herausbrachte.
Seither ist Kluge in allen drei Bereichen - Film, Literatur,
Gesellschaftstheorie - tätig.
Kluge, wie viele der Jungfilmer der Oberhausener Gruppe,
war mit der neuen gesellschaftlichen Situation der Studenten¬
bewegung, dem versuchten sozialen und ideologischen Um¬
bruch, trotz aller Sympathie, nicht fertiggeworden. In einem
Interview mit Ulrich Gregor berichtet er über die Schlüsseler¬
lebnisse aus der Zeit der beginnenden Studentenbewegung.
„Der Film (,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos*, R. L.)
resultierte einfach aus einer Frustration über die Berliner Film¬
festspiele und über die Trennung von Reitz, der, erschreckt
durch die faulen Eier, die damals von den Akademiestudenten
auf Patalas und uns geworfen wurden, sich von Ulm und mir
trennte.“12 Vor allem aber die Reaktion auf den diese Frustra¬
tion umsetzenden Film ,Die Artisten in der Zirkuskuppel: rat¬
los*, der die Lage der Kunst und der Künstler im Kapitalismus
13
abstrakt reflektiert, trieb Kluge weiter in die soziale und ästhe¬
tische Isolation. In dem Interview mit Ulrich Gregor beschreibt
er seine damalige Haltung: . anschließend bin ich aus Mün¬
chen weggezogen, nach Ulm. Dort war eine Gruppe, die hat
überlegt: was können wir denn jetzt darstellen? In der Abge¬
schlossenheit des Ulmer Labors kam die Science-Fiction-Idee
auf. An sich eine Art Realitätsflucht.
Es war nicht die Überlegung, daß man mit diesen Formen, diesem
Genre eher ans Publikum kommen könnte?
Das war es bestimmt nicht, denn damals haben wir an Publi¬
kum überhaupt nicht gedacht, sondern an Themen, daran, wie
man Themen konsequenter machen kann, und der luftleerste
Raum ist offenbar die Science-Fiction, weil man sich dort frei
bewegen kann, unabhängig von jeder Gesellschaft, und meint,
man sei der Utopie am nächsten. Das ist nun überhaupt nicht
wahr.“13
Nach der Science-fiction-Phase („Ich habe auch literarische
Wiedergutmachung für die Filme geübt, indem ich .Lernpro¬
zesse mit tödlichem Ausgang1 geschrieben habe“14) wendet sich
Kluge auf allen drei Arbeitsgebieten nachdrücklich der bundes¬
republikanischen Wirklichkeit zu. Er wird ein scharfer Beob¬
achter und Kritiker ihrer sozialen Bedingungen, so wie er es in
seinen ersten Arbeiten über die Situation des Dritten Reiches
und den Übergang in die Gesellschaft der Bundesrepublik ge¬
wesen war.
II. Poetisches Prinzip und literarischer Stil
15
verrät den Zweifel der Schreibenden daran, daß man mit tradi¬
tionellen Mitteln der Prosa die gesellschaftlichen Verhältnisse
überhaupt noch beschreiben könnte. Dieser Zweifel ist gekop¬
pelt mit der Erfahrung des Ersten und des Zweiten Weltkrie¬
ges, in denen das Maß an psychischem und physischem Leid
die gewohnte Dimension gesprengt hat, nicht nur individuell,
sondern kollektiv. Eine neue Qualität der menschlichen Bezie¬
hungen wird offenbar, auf der einen Seite das Gefühl der Un¬
terlegenheit gegenüber einer übermächtigen Maschinerie, die
den Willen des einzelnen nicht nur ignoriert, sondern austreibt,
ihn zum Objekt des verwalteten Grauens macht, auf der ande¬
ren Seite das Gefühl der Anonymität, der Bedeutungslosigkeit
des Individuums. Die Erfahrungen der Kriege können nicht
ohne Folgen für den Zusammenhang von Literatur und Gesell¬
schaft bleiben, bedenkt man, daß die Literatur ihren Be¬
zugspunkt bis zum Ersten Weltkrieg primär im Individuum
hatte. Soziale Konflikte wurden am Individuum erzählt.
„Seit 1914 war etwas sichtbar geworden, nur scheinbar jäh,
nur scheinbar noch im Rahmen eines konventionellen Krieges,
was sich doch genau fortsetzte bis nach Auschwitz und Hiro-
schima. Hinter der technischen Kriegsmaschinerie ließen sich
Täter nicht mehr fixieren. Zerrissen war der beruhigende Kau¬
salnexus von Tat und Schuld und Sühne, der dem Individuum
seine Würde verlieh, von dem so viel Literatur so lange gezehrt
hatte. .. . Täter und Opfer stehen sich nicht mehr gegenüber.
In dieser neuen, anonymen Situation versagen die letzten, die
tief im Instinkt eingeübten Hemmungen. Deshalb und in die¬
sem Sinn ist die neue Lage unmenschlich. Eine herkömmliche
Literatur, eingerichtet nur für Individuen und ihre Konflikte,
konnte sie nicht mehr beschreiben, nicht nach dem Ersten
Weltkrieg, nicht nach dem Zweiten.“18 Baumgart analysiert in
dieser Passage, daß der traditionellen Ästhetik in dem Moment
der Boden entzogen wird, in dem das bürgerliche Individuum
gestaltlos, anonym wird und in der von ihm mitproduzierten
Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse
versinkt. Ein literarischer Held kann von nun an nur noch exi-
16
stieren in ästhetischen Werken, die diese gesellschaftliche Ver¬
änderung ignorieren, die also anachronistisch, ,irreal“, unreali¬
stisch und in diesem Sinne trivial sind. Realistische Literatur,
die „zeitadäquat“19 ist, muß auf dieser veränderten Ausgangs¬
lage aufbauen.
Warum aber, stellt sich die Frage, kann nicht auch das tradi¬
tionelle Erzählen die veränderte Lage aufarbeiten? - Traditio¬
nelles Erzählen als ästhetisches und fiktives Arrangement der
Realität, noch dazu, wenn es sich konzentriert auf ein Indivi¬
duum, fügt Geschehendes überschaubar zusammen, ordnet
Handlungen und Motive, beschreibt Stimmungen und Gedan¬
ken der Protagonisten, nimmt den sich einfühlenden Leser in
sich auf, entzieht ihm die Distanz, macht damit Zusammen¬
hänge, von denen es vorgibt, sie seien real, die es tatsächlich
aber erst erfunden hat, faßbar, gibt ihnen Sinn, Kausalität, er¬
laubt ästhetischen Genuß selbst am Grauen. So wird eine Äs¬
thetik, die diesem Prinzip des Ordnens auf einer gesellschaftli¬
chen Entwicklungsstufe, deren grundlegendes Moment eben
gerade die Undurchschaubarkeit, die Anonymität, die Auflö¬
sung des Individuums in der Masse ist, weiterhin folgt, zum
Hohn.
Eine Möglichkeit, der veränderten sozialen Situation erzähle¬
risch gerecht zu werden, ist das Ausstellen des Erzählvorgan¬
ges, der Hinweis im Erzählten, daß es sich um Fiktives, eben
um Erzähltes handelt.20 Damit tritt die Figur des Erzählers di¬
rekt in den literarischen Produktions- und Rezeptionsprozeß.
Dieses Verfahren wird häufig genutzt. Eine andere Möglichkeit
ist die völlige Rücknahme des Erzählers, seine Eliminierung,
indem ,die Sache selbst“ berichtet, das Dokument, das Proto¬
koll.
Diesem Prinzip versucht die Prosa Alexander Kluges zu fol¬
gen: Fiktion in der Ausdrucksform des Dokumentarischen,
Fiktion in der Ausdrucksform des Protokollarischen. Indem
der Erzähler zurücktritt hinter Dokument und Protokoll - wo¬
bei sich Kluge als Jurist auch juristischer Sprach- und Proto¬
kollmuster bedient, deren Erstarrtheit erschreckt - entsteht der
17
Eindruck, der Vorgang arrangiere sich von selbst, aus seiner
eigenen zwingenden Logik heraus. „Wie ein Sammler und Ar¬
rangeur sieht der Erzähler nun aus. Was er herstellt, ist nicht
mehr Handlung, sondern Collage aus Tatsachen und
Aspekten.“21
Die affektive Distanz zum Erzählten wird durch diese Tech¬
nik sehr groß, der Leser wird Betrachter, Beobachter. Das übli¬
che „Erzählen als Recherche“22, als Suche nach Zusammen¬
hang und Motiv, wird ersetzt durch das .Lesen als Recherche*.
Die eigene Aktivität, der Einsatz von Phantasie, den Kluge
vom Leser verlangt, ist in der Tat unüblich groß, für viele so
groß, daß sie sich seinen Texten verweigern.
Wollte man Kluges poetisches Prinzip allein auf Dokument
und Protokoll reduzieren, so griffe man zu kurz. Man sieht
damit zwar einen zentralen Aspekt, erfaßt aber bei weitem
nicht das Ganze. Vor allem kann damit der literarische Stil
Kluges nicht beschrieben werden, allenfalls ein Moment seiner
literarischen Produktionsweise. Die Dokumente und Proto¬
kollauszüge, die Kluge in seine Geschichten einarbeitet, sind
nur zum Teil authentisch, vieles ist Fiktion, das heißt, herge¬
stelltes Dokument, in Sprache und Inhalt dem Ablauf der Ge¬
schichte untergeordnet. Der Eindruck, den Kluge hervorruft,
,die Sache selbst* sei am Zuge, einen Erzähler gebe es nicht, ist
demnach falsch. Tatsächlich ist gerade dort der Erzähler am
stärksten am Werk, wo man ihn am wenigsten vermutet. Das
hat mehrere Ursachen. Das Dokument als solches hat keine
eigene spezifische Ausdrucksform. Was Dokument wird, be¬
stimmen weder Sprache noch Stil, das bestimmt die geschicht¬
liche Situation, also ein außerliterarisches Kriterium. Außer¬
dem ist jedes Dokument irgendwann einmal von einem Sub¬
jekt, wenn man so will, von einem Erzähler, geschrieben wor¬
den. Das gleiche gilt in ähnlicher Weise für das Protokoll. Auch
hier gibt es einen Verfasser, bei stenografischen Protokollen
sind es diejenigen, die protokolliert werden. Beide Formen
können also das, was man von ihnen verlangt, gar nicht leisten,
nämlich jenen Grad von Objektivität, von Authentizität zu er-
18
bringen, bei dem wirklich ,die Sache selbst' zu sprechen be¬
ginnt. Ein Erzähler ist also notwendig, auch wenn er hinter
seinem Arrangement völlig verschwindet. Welche Beziehung
hat nun solch ein unsichtbarer Erzähler zu seinen Lesern?
Der Erzähler als Arrangeur dominiert über den Leser mehr
als ein Erzähler, der sich als solcher zu erkennen gibt, der dem
Rezipienten die Möglichkeit gibt, sich ihm und seiner Fiktion
entgegenzustellen, sie abzulehnen. Gegenüber einer Fiktion im
Gewände des Faktischen ist der Leser machtlos. Dieser Zustand
wird auch dort nur graduell, nicht prinzipiell anders, wo ein
Dokument oder Protokoll tatsächliches Dokument oder reales
Protokoll ist. Im Gegenteil, es tritt, da eine Unterscheidung
zwischen authentischem Dokument und fiktivem nicht zu er¬
kennen ist, eine Vermengung beider Ebenen ein. „Zumindest
läßt sich ihm keine Authentizität mehr garantieren, die über
jene eines fiktionalen Teiltextes hinausginge.“23 Damit wird die
Grenze zwischen Fiktion und Realität aufgehoben, es entsteht
ein ästhetischer Raum. Der Leser wird der Situation ausgesetzt,
für sich selbst entscheiden zu müssen, was er für authentisch,
was er für fiktiv nimmt. Dieser permanente Entscheidungs¬
zwang kann ihn einerseits überfordern, verwirren, kann ihm
die Lust am Genuß, die Lust am Weiterlesen nehmen. Anderer¬
seits besteht hierin auch der Reiz der Lektüre von Kluge-Tex-
ten. Sie zwingt den Rezipienten, stets zu prüfen, was er noch
für möglich, für ,real‘ hält, ein Prozeß, der ihm zeigt, wie weit
er schon in das Normengeflecht seiner Gesellschaftsform ver¬
strickt ist, wie weit er sich noch daraus lösen kann. Das ist eine
Form, in der die Lektüre der Texte Kluges Ideologiekritik im¬
pliziert.
Darüber hinaus: Bedenkt man, daß Dokument und Protokoll
ihrem Wesen nach viel weniger authentisch-objektiv sind, als
sie zu sein scheinen, selbst wenn sie auf Reales zurückgehen,
muß man zugestehen, daß sie in ihrer Realitätssicht begrenzt
sind. Demgegenüber muß eine Ballung von Dokument und
Protokoll, durchsetzt mit fiktiven Textstellen, den Bericht je¬
des Augenzeugen an Authentizität übertreffen. „Kunstver-
19
stand, wenn er wirklich realistisch, das heißt ,zeitadäquat‘ ar¬
beitet, leistet mehr als Empirie.“24
Die literarische Arbeit Kluges besteht nun gerade nicht, wie
es zunächst schien, allein darin, Dokumente, Protokolle und
anderes Material als ,die Sache selbst“ zu arrangieren, vielmehr
ist sein Ziel die fiktive Authentizität, die in jeder Phase erst zu
produzieren ist. Und genau das Herstellen solcher komplexen
literarischen Gefüge ist das poetische Prinzip der Texte Alexan¬
der Kluges.
Wie nun stellt er solche Gefüge her?
Das geschieht sicherlich einmal durch die Montage von rea¬
lem Dokument und Protokoll mit fiktivem Dokument und
Protokoll, durch Kombination von Berichten, von Zitaten aus
anderen literarischen oder theoretischen Texten, von fiktiven
Zitaten, von richtigen Detailinformationen, von falschen, von
Gutachten, Bewerbungsunterlagen, Geburtsdaten, Ausbil¬
dungsgängen, Lebensläufen, von Briefen, von Geschichten und
Versen, von Auszügen aus wissenschaftlichen Arbeiten, die
seine Figuren gerade schreiben, von Stellungnahmen verschie¬
dener Interessenvertreter, von physikalischen Formeln und Be¬
rechnungen, von Tagebuchauszügen, von Fußnoten, von Mo¬
nologen, von Interviews, von Dialogen, die entweder in wört¬
licher Rede oder als Resümee in knappster indirekter Rede ein¬
gesetzt werden, von Redebericht, Beschreibung, Zustandsbe¬
richt. Später, 1973, in .Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“
fügt Kluge ein weiteres Ausdruckselement hinzu: das Bild, als
Skizze, Stadtplan, Landkarte, Familienfoto, Grafik, Noten¬
blatt, das durch Augenschein u.a. auch Authentizität fingieren
soll.
Gebilde, aus solch unterschiedlichen Bestandteilen montiert,
halten nicht von selbst zusammen. Das sie verbindende Ele¬
ment ist die einfachste Bauform des Erzählens, ist der epische
Bericht. Und hier liegt das Besondere von Kluges literarischem
Stil.
„Bericht von Vorgängen hat den weitesten Spielraum zwi¬
schen Einlässigkeit und straffer Zusammenfassung großer Zeit-
20
räume. Allgemein rafft der Erzähler aus größerem Abstand die
Vorgänge stärker, und sein Vortrag tendiert, selbst bis in die
indirekte Rede hinein, mehr zur Feststellung als zur tatsächli¬
chen Illusionierung der realen Vorgänge.“25 Der Bericht kann
verkürzt werden „bis zum Berichterstatterstil“, der „Haupter¬
eignisse eines Zeitraumes gedrängt“ darbietet, - im nüchternen
„Sachbericht des Chronisten.“26
Der epische Bericht ist die grundlegende Bauform des Erzäh¬
lens überhaupt. Wie Lämmert ausführt, bietet er den weitesten
Spielraum, ein Detail ausladend vorzuführen, was bei Kluge so
gut wie nie geschieht, oder aber über große Zeiträume ver¬
streute Ereignisse konzentriert zu reihen. Diese Möglichkeit
des epischen Berichtes wendet Kluge hauptsächlich an. Er kon¬
struiert keine Handlungen, er berichtet Abläufe. Ferner bietet
der sachliche Bericht die Möglichkeit, Abstand zu diesen
Abläufen zu bewahren, den Rezipienten auf Distanz zu halten,
kühl, nüchtern, unaffektiv. Einfühlung, die die Kritikfähigkeit
aufhebt, kann nicht stattfinden. Der Erzähler und der Leser
bleiben außerhalb des Geschehens, sind Beobachter. Das Er¬
zählte wird nicht einer ästhetischen Illusionierung anheimgege¬
ben, auf dieses Mittel verzichtet Kluge - auch in seinen Fil¬
men- völlig, das Erzählte erstarrt zur Feststellung, die Be¬
schreibung zum Zustandsbericht.
Es gibt bei Kluge weder detaillierte Personenbeschreibungen
- er begnügt sich mit Hinweisen auf Augen, Mund, Hände
oder ein besonders auffallendes Merkmal, nie sehen wir den
ganzen Menschen -, noch gibt es Beschreibungen der Land¬
schaften und Städte, in denen sich die Personen bewegen, es sei
denn, diese wären Gegenstand der Geschichte (z.B. Halber¬
stadt in Heft 2 der , Neuen Geschichten* oder die Zerstörung
des Planeten Erde in den .Lernprozessen*). Die teilweise großen
Strecken, die die Figuren in den Geschichten zurücklegen, in
der traditionellen Erzählung willkommene Gelegenheit zur ab-
und ausschweifenden Reise- und Stadtbeschreibung, werden
reduziert auf Stationen. ,,.. . also floh das Mädchen weiter nach
Wiesbaden. Von Wiesbaden, wo sie Ruhe fand, nach Karlsruhe,
21
wo sie verfolgt wurde, nach Kassel, wo sie nicht verfolgt
wurde, von dort nach Frankfurt. Sie wurde aufgegriffen und
(.. .) nach Hannover auf Transport gebracht, sie aber floh nach
Mainz.“ (Anita G., Lebensläufe, Ffm. 1964, S. 69)
Ebenso wie die räumliche Bewegung ist die zeitliche Dimen¬
sion stark verdichtet, ein Erzählprinzip, das den Eindruck ra¬
scher Abläufe wesentlich unterstützt. Neben der Raffung der
erzählten Zeit gibt es aber auch Passagen, in denen die erzählte
Zeit mit der Erzählzeit gleichzieht. Es sind dies Interviews,
zum Teil Dialoge. Dieser Wechsel des Zeitrhythmus treibt ein
retardierendes Moment in den sonst raschen Ablauf, führt ein
Moment ästhetischer Spannung ein; Aufmerksamkeit entsteht.
Vorherrschend ist jedoch das Komprimieren der Zeit. Durch
dieses starke Raffen der erzählten Zeit entsteht aber nicht nur
der Eindruck raschen Voranschreitens, das Zusammenhang,
Sinn suggeriert, es entstehen auf die gleiche Weise auch
Sprünge, Brüche und Lücken im Erzählfluß. So hat es manch¬
mal den Anschein, als fehle etwas, die Geschichte vollziehe
einen Sprung, sei eigentlich noch nicht zu Ende erzählt, noch
im Stadium des Entwurfs, die eigentliche Ausarbeitung folge
später. Dieser Eindruck ist in gewisser Hinsicht nicht ganz
falsch. Kluge verzichtet in seinen Geschichten auf jede Redun¬
danz, auf jeden Schnörkel, auf jedes von seinen Zielen ablen¬
kende erzählerische Mittel. Seine Texte sind in der knappsten
Form erzählt, die möglich ist, ohne Vorausdeutung, ohne
Rückblende - kommt sie vor, verweist sie auf verschiedene
Geschichten, z.B. in ,Abbau eines Verbrechens durch Koope¬
ration“ und in ,Allewichs Diamanten“, wo die Vorgeschichte
nachgereicht wird (Lebensläufe, Anwesenheitsliste für eine Be¬
erdigung) -, ohne ausschmückende Beschreibungen, ohne
lange verharrende Erörterungen, ohne verzögernde Reflexio¬
nen, sie werden zu Feststellungen, ohne allwissende Charakte¬
ristiken.
Mit der Verwendung des Interviews nähert sich die Text¬
struktur teilweise szenischer Darstellung an, es gibt manchmal
sogar Regie- bzw. Gestenanweisungen („Zeigt wieviel“;
22
„Zum zweiten Beamten, der nichts sagt“, in: Korti, Lebens¬
läufe, S. 125).
„Bericht und Darstellung als die eigentlichen Mittel der Vor¬
gangs-Darbietung sind für das Erzählen schlechthin unerläßli¬
che, die übrigen dagegen abweichende und als solche freilich
auch integrierende Erzählweisen.“27 Kluges Prosa beschränkt
sich auf diese beiden schlechthin unerläßlichen Erzählmittel.
Sein literarischer Stil ist der Verzicht auf absichtsvoll schmük-
kendes, sinnstiftendes Erzählen, ist eine Ästhetik des Kargen,
des nur Notwendigen. So scheint es bisweilen, Kluge bliebe bei
der ,story1, beim schlichten Berichten des Geschehensablaufes,
bei der ,Geschichte“ stehen, seine Texte erreichten oft nicht das
Stadium des ,plots“, der .Fabel“, wären Entwürfe. So einfach
jedoch sind Kluges Geschichten nicht aufgebaut. Der Charak¬
ter des vorläufigen Entwurfs ist nicht Ausdruck stilistischen
Unvermögens. Seine Art, Rhythmus, Dynamik, ästhetische
Spannung zu erzeugen, ist eine andere als die der traditionellen
Erzählweise, ist für viele ungewohnt. Seine Mittel sind das
oben beschriebene Changieren zwischen Fiktion und Doku¬
ment und der Wechsel der Perspektive, des jeweiligen Interes¬
ses am Gegenstand. So werden ein Phänomen, eine Person, ein
Zusammenhang jeweils von mehreren Seiten, unter verschie¬
denen Aspekten, meist fein säuberlich durch Zwischenüber¬
schriften getrennt, umkreist. Interesse am Gegenstand und äs¬
thetische Spannung entstehen so mehr durch die Vielfalt inhalt¬
licher Aspekte als durch formal-technische. Auf diese Weise
gelingt es Kluge mit einfachen Mitteln, Wirkungen herzustel¬
len, die den Leser trotz aller Distanz eher zu aktivieren und
gedanklich zu bewegen vermögen als manche traditionelle, auf
Einfühlung zielende Erzählung.
Kluge nennt seine Texte gern Geschichten (.Neue Geschich¬
ten. Hefte 1-18“). Dieser Begriff ist doppeldeutig. Einmal
meint er die allgemeinste Grundlage des Erzählens, die Ge¬
schichte (story), zum anderen ist zugleich die historische Di¬
mension mitgedacht. „Der Erzähler schreibt nicht nur eine Ge¬
schichte, sondern auch Geschichte.“28 Jedes menschliche Han-
23
dein und Denken, übergreifendes Thema aller Geschichten
Kluges, ist geschichtliches Handeln und Denken, nicht nur,
wenn es in der Vergangenheit stattfindet, auch in Gegenwart
und Zukunft. Dabei stellt Kluge die menschlichen Verhaltens¬
weisen nicht nur faktisch dar, real, sondern er arbeitet deren
Grund heraus, in dem mehr steckt als gewohnte Faktizität,
nämlich ungewohnte Möglichkeit, Fiktion. Jürgen Peters, Be¬
griffe von Emst Bloch aufgreifend, bestimmt diese Methode
Klugescher Prosa in seinem Aufsatz über Leseerfahrungen mit
Texten Kluges. „Gegenwart als Schnittpunkt von Vergange¬
nem und Zukunft. Gegenwart wird beschrieben unter dem
Aspekt des Real-Möglichen. Das Nicht-Mehr unter dem
Aspekt des Noch-Nicht wird hier jeweils immer wieder neu
einsetzend ausgefabelt, es geht hier um literarische Experi¬
mente, die mit soziologischer Phantasie durchgespielt
werden.“29
Peters bezieht seine These vornehmlich auf die .Lernprozesse
mit tödlichem Ausgang“ und hier vor allem auf die Science¬
fiktion-Passage. Das ist sicher richtig, denn hier wird der „aus¬
fabelnde“ Zug der Geschichten Kluges besonders evident.
Auch wird er von nun an fester Bestandteil seiner literarischen
Praxis. Aber die „ausfabelnde“ Tendenz, das Mögliche aus
einer gesellschaftlichen Situation herauszudenken, ist bereits
angelegt in den ersten Arbeiten Kluges, in den .Lebensläufen“.
Wenn Kriminalrat Scheliha 1945 „in dem allgemeinen Durch¬
einander“ des Krieges, des Mordens um ihn herum, versucht,
einen einzelnen fliehenden „Mörder aus den zahllosen Men¬
schen, die sich in verschiedenen Richtungen bewegten, heraus¬
zufinden“ (Hinscheiden einer Haltung: Kriminalrat Scheliha,
Lebensläufe, S. 24), dann formuliert sich in ihm nur die letzte
mögliche Konsequenz einer unbedingt pflichtbewußten Hal¬
tung. - Literatur als Probehandeln also.
„Mit seiner Methode, das Mögliche auszufabeln, steht der
Schriftsteller Kluge durchaus in einer literarischen Tradition,
der Tradition der Aufklärungsliteratur.“30 - Kluge als Aufklä¬
rer und Moralist also. Geschichten mit erzieherischer Absicht.
24
Diese Absicht zu verwirklichen, kehrt Kluge aber nicht zu einer
Tradition literarischer Praxis zurück, die erzählend im Sinne
von ordnend, sinngebend einen Läuterungsprozeß über die
Einfühlung anstrebt. Seine Prosa arbeitet zeitadäquat, reali¬
stisch, stellt Disparates disparat aus, ideologisch Verdrehtes
ideologisch verdreht: als wahres falsches Bewußtsein, hält den
Leser in urteilsfähiger Distanz, gibt ihm die Möglichkeit, in
den Brüchen der Geschichte seine eigene Erfahrung, seine ei¬
gene Phantasie zu aktivieren. Eine neue Variante der Aufklä¬
rung: Lesen als Recherche.
III. .Lebensläufe*
26
Kriminalrat Scheliha ist es die Tradition des bürgerlichen Mo¬
ral- und Rechtsbegriffs Kants, bei Fräulein von Posa ist es die
Geschichte des Niederganges einer adligen Familie, bei
E. Schincke und Schwebkowski (,Ein Berufswechsel“) die Tra¬
dition des Lehrerstandes und der Pädagogik, bei Korti die der
deutschen Justiz und Rechtsgeschichte.
Wie sehen nun einige dieser Lebensläufe aus?
Greifen wir die Geschichte von .Oberleutnant Boulanger“
heraus. Professor A. Hirt, Ordinarius an der Reichsuniversität
Straßburg, meldet, das ist authentisch, im Februar 1942 den
Bedarf an Schädeln jüdisch-bolschewistischer Kommissare für
eine Sammlung an, um die Forschungen über anatomische Ei¬
genarten der jüdischen Rasse weiterführen zu können.
Oberleutnant Rudolf Boulanger, eine nicht authentische Fi¬
gur, wird beauftragt, die Schädel der in Frage kommenden
Menschen mit einem Sonderkommando an der Ostfront un¬
versehrt vom Rumpf zu trennen und in Konservierungsflüssig¬
keit eingelegt nach Straßburg zu senden.
Boulanger, er stammt wie Korti aus Flörsheim/Main, ist
1942 34 Jahre alt. Er ist mittelgroß, sein Gesicht olivfarben, die
Augenlider unbehaart. Mehr erfährt der Leser über sein Äuße¬
res nicht.
Boulanger wollte als Kind Wasserbauingenieur werden, stu¬
diert dann aber Medizin, scheitert an der Staatsprüfung,
kommt zum Militär und übernimmt das Sonderkommando.
Eine Gefahrenzulage von RM 2,65 steht ihm für jeden Fronttag
zu, außerdem lockt ihn die Möglichkeit, später doch noch in
der Forschung und Lehre tätig sein zu können.
Seinen anfänglichen Abscheu vor dieser Tätigkeit (,,B’s Ge¬
danke: Du darfst jetzt nicht zum Trinker werden“; Lebens¬
läufe, S. 12) bekämpft er mit der Lektüre philosophischer
Werke. Sein Geist wird beruhigt. Nach einem Aufenthalt im
Lazarett Wiesbaden-Land 1943/44 schwinden seine Hoffnun¬
gen auf Beförderung und auf Übernahme in die Forschung.
Den Januar 1945 verbringt er in Wien. Als die Russen die Stadt
erobern, schlägt sich Boulanger zu den Amerikanern durch,
27
wo er sich ergibt. Nach dem Kriege, das erfährt der Leser aus
einem Gespräch, nimmt Boulanger erneut das Medizinstudium
auf, überwirft sich aber mit der Institutsleitung, versucht dar¬
aufhin, sich selbständig zu machen als Kaufmann in der Tuch¬
branche, kommt aber in Zahlungsschwierigkeiten und wird zu
drei Jahren Gefängnis verurteilt. „Der Gefängnisgeistliche be¬
trachtete es als eine Sühne für meine Vergehen im Krieg.“
(Lebensläufe, S. 17)
1961 wird Boulanger, er arbeitet jetzt bei Köln als Packer in
einer Papiermühle, von der Presse aufgespürt. Einem Korre¬
spondenten des Blattes .L’Humanite“ gibt er ein Interview.
„Auf die Frage nach seiner jetzigen Überzeugung sagte er, er
sei Marxist. Was er tue? Man könne nichts tun.“ (Lebensläufe,
S. 16)
Sicher ist Boulanger kein Marxist. Es ist mehr eine Schutzbe¬
hauptung, um sich so weit wie möglich vom Nationalsozialis¬
mus, von seiner Vergangenheit also, zu distanzieren. Eine Ver¬
drängungsleistung nach vom, wenn man so will. Dem ent¬
spricht auch die .unmarxistische1 Ansicht, man könne nichts
tun. Seine Tätigkeit im Krieg begreift er als einen „Versuch der
Aktivität in seinem Leben, dem jetzt Inaktivität gegenüber¬
stehe“ (Lebensläufe, S. 19). Mitgerissen vom Sog einer ver¬
meintlich neuen Zeit hatte Boulanger, zuvor eine gescheiterte
bürgerliche Existenz, es gewagt, aktiv zu sein, sich in den
Dienst einer Sache und einer Idee zu stellen. Diesem, wie sich
nach der Endniederlage zeigte, Fehlverhalten setzt er jetzt die
verstörte Haltung des .Ohne mich1, Passivität, gegenüber.
In der Passivität findet Verdrängung statt, steckt das Selbst¬
mitleid der angeblich Verführten. .Nichts tun“ ist keine Sühne,
ja nicht einmal die Bereitschaft, in Zukunft ähnliche historische
Katastrophen wie das Dritte Reich zu verhindern:
„Vorsicht
Die Übernahme einer ähnlichen oder verwandten Tätigkeit
werde er in Zukunft ablehnen. Er wäre äußerst vorsichtig. Und
wenn es andere tun und er zusähe? Auch darauf erstrecke sich
28
die Vorsicht. Wahrscheinlich werde er nichts tun und
abwarten.“ (Lebensläufe, S. 18)
29
Da sind z.B. die Schwierigkeiten mit dem Menschlichen in
der rationalistisch organisierten kapitalistischen Gesellschaft:
30
„Ein Premierleutnant v. Posa verhinderte bei der ersten Be¬
lagerung von Mainz unter den Augen seines Kurfürsten die
Abschlachtung eines Zivilisten im Dorf Bretzenheim. Ein Mit¬
glied der pommerschen Linie v. Posa lief 1793 zu den französi¬
schen Revolutionstruppen über und wurde nach der Besetzung
von Paris 1815 füsiliert. J. H. v. Kirchheim, Vizepräsident des
Oberlandesgerichts in Ratibor von 1836-1851 (seine Mutter
eine Posa) hob 1848 den Haftbefehl gegen den Grafen Reichen¬
bach auf.“ (Lebensläufe, S. 33)
31
Nach Momentaufnahmen von der Vorbereitung der Veran¬
staltung und den nüchternen Stellungnahmen eines leitenden
Beamten der Wach- und Schließgesellschaft („Für uns aber
kommt es darauf an, in Anpassung und Widerstand unser Sy¬
stem der Bewachung und Abschließung zu vervollkommnen
und trotz Personalmangels für einen ausreichenden Schutz zu
sorgen.“ Lebensläufe, S. 84), eines leitenden Lebensmittelche¬
mikers des Gewerbeaufsichtsamtes („Einige scheinen sich ein¬
zubilden, man könnte auf solchen Festen alle die Ware einset-
zen, die man im praktischen Leben sonst nicht los wird. Da
haben sich die Herren aber gründlich geirrt. In der Regel lassen
wir bis zu 40% Anzeigen herausgehen bei Festen dieser Grö¬
ßenordnung, ..Lebensläufe, S. 85), eines Vertreters der Fi¬
nanzverwaltung („Das Leben besteht für uns aus Lernen, Ler¬
nen und Lernen. Wieviel muß ein Finanzbeamter wissen, um
eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können!“ Lebens¬
läufe, S. 86) und eines Vertreters der Polizeiaufsicht („Was
heißt Fest? Wir verstehen darunter jede vergnügungssteuerliche
Veranstaltung, bei der die Zahlenden mitwirken dürfen . ..
Wir haben eine Polizei aus dem 18. Jh., Formen des Vergnü¬
gens aus dem 19. Jh. und Festteilnehmer aus dem 20. Jh. Daraus
ergeben sich zweifellos Konflikte.“ Lebensläufe, S. 86) wird
über die Versuche der Festleitung berichtet, das Fest durch
Festbetreuer in Gang zu bringen. Deren Versuche, diszipli¬
nierte Stimmung zu organisieren, schlagen fehl, da sie den ins¬
geheimen Wünschen der Festteilnehmer widersprechen.
32
Dürften sich doch alle ausziehen, ach, die antiken Bettlaken
abtun, die Straßenanzüge aufknöpfen oder wenigstens Nazilie¬
der brüllen (was verboten ist). Statt dessen: die großen Bierglä¬
ser pflichtgemäß austrinken.“ (Lebensläufe, S. 87)
33
Feste, einst kollektiver Ausdruck von Friede und Freude, mög¬
lich sind, in der Feste nur in straffer Organisation veranstaltet
werden, muß die Gefühlskälte und Kontaktlosigkeit unter den
Menschen schon zur Gewohnheit erstarrt haben lassen.
Solche sensiblen Einblicke in das ideologische Geflecht der
gegenwärtigen Sozialstruktur sind eine Form der Ideologiekri¬
tik, die Kluges Geschichten enthalten. Er leistet diese Kritik
aber nicht analytisch, sondern läßt sie in den Verhaltensweisen
der Personen aufscheinen. Er erzählt sie - wie die traditionelle
Ästhetik - am Individuum, an dem Punkt, wo sich Gesellschaft
subjektiv manifestiert. Hier hegt das besondere Interesse seiner
Prosa.
Es gibt einen gesellschaftlichen Bereich, für den der Konflikt
zwischen Individuum und Gesellschaft konstitutiv ist, in dem
er aber nicht gelöst, sondern nur regulativ verwaltet wird: die
Justiz. In ihrem Apparat klaffen Anspruch und Wirklichkeit
ständig auseinander, ein Ort gesellschaftlicher Widersprüche,
ein ergiebiges Thema für Alexander Kluge, den ausgebildeten
Juristen.
In seinen Texten gibt es viele Geschichten aus dem Bereich
der Rechtsprechung. Hier sind auch die Grenzen zwischen Au¬
thentizität und Fiktion nicht mehr auszumachen. Viele ,Fälle“
kennt Kluge aus seiner eigenen Erfahrung aus Studium, Prak¬
tika und Referendariat. So auch den ,Fall“ Anita G., den er,
verändert gegenüber der Geschichte, als Grundlage für seinen
ersten Spielfilm .Abschied von gestern“ nahm.
Eine Art Generalabrechnung mit der Justiz, was die Ge¬
schichte der Rechtsprechung, ihre innere Struktur und die Be¬
ziehung zwischen verwaltetem Recht und Menschlichkeit an¬
belangt, unternimmt Kluge in dem Lebenslauf ,Korti“, in der
Neubearbeitung nennt er ihn scheinbar zynisch ,Ein Volksdie¬
ner“. Korti ist eine wichtige Figur im Werk Kluges. Außer in
diesem Lebenslauf taucht er auch in den beiden ersten Spielfil¬
men auf, wenn auch nicht mit der Figur der .Lebensläufe“ völ¬
lig identisch.
Zur Justiz („Diese Justiz war nie bestimmt, der Gerechtigkeit
34
zu dienen.“ Lebensläufe, S. 155) gehört, daß sie repräsentativ
auftritt, als Verkörperung der Gerechtigkeit. Sie residiert in
einem „Monumentalbau, begonnen 1935 .. . 1945 vom ehema¬
ligen Wehrbezirkskommando übernommen. . . . große(n) ge¬
wölbte^) Säle, Dienstzimmer und Wandelgänge . . .“ (Lebens¬
läufe, S. 119). Trotz dieser Repräsentativität ist der Präsident
des Gerichts nicht mit dem Bau zufrieden. Er empfindet das
Gebäude als nicht „dem Gedanken der Rechtsprechung ange¬
paßt, die nicht in kellerartigen Gebäuden angesiedelt sein
sollte“. (Lebensläufe, S. 119)
Kluge stellt die Justiz und Korti als ihren Repräsentanten in
einer Vielzahl kleiner Einzelabschnitte als Geflecht verschieden¬
ster Bezüge und Abhängigkeiten dar. Da gibt es die persönli¬
chen Beziehungen zwischen den Richtern, die die Rechtspre¬
chung auch von ihren privaten Bedürfnissen abhängig machen:
„Um 12 Uhr war die Geduld Kortis zu Ende. Die draußen seit
Stunden wartenden Rechtsuchenden, die Korti hörten, erschra¬
ken. Innerhalb einer Viertelstunde waren auch ihre Angelegen¬
heiten geregelt. So kam Korti noch um halb eins zum gemein¬
samen Mittagessen der Richterschaft in die Kantine.“ (Lebens¬
läufe, S. 121)
Einen Kollegen, Landgerichtsrat Dr. Glaube, der „gewisser¬
maßen das Recht vom Kopf auf die Füße stellen möchte“
(S. 137), d.h. aus dem reinen Verwaltungsmechanismus zu lö¬
sen versucht, vernichten sie. Glaube engagiert sich für eine
Insassin der Landesheilanstalt über das gewohnte Maß hinaus,
indem er sie schließlich adoptiert, um ihr Recht zu verschaffen.
Nach Gerüchten, Glaube unterhalte zu dem Mädchen uner¬
laubte Beziehungen, wird er vor dem Disziplinarausschuß ver¬
hört. Vorsitzender ist Amtsgerichtsrat Korti. Anschließend be¬
geht Glaube einen Selbstmordversuch, das Mädchen wird wie¬
der in die Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen.
Kortis Lebenslauf ist, wie die Bewerbung Manfred
Schmidts, in der Ich-Form erzählt. Er wird am 3. 9. 1909 in
Flörsheim geboren. Nach Schulbesuch und Studium absolviert
er den Referendardienst und ein Ertüchtigungslager. Im Kriege
35
ist er als Kriegsgerichtsrat in Kroatien tätig. Er meldet sich
nach einiger Zeit an die Front.
„Der Einzelne ist auch hier ein Teilchen eines großen Betrie¬
bes, im Krieg einer Heeresgruppe oder einer Division, im Frie¬
den ein Glied der Justizverwaltung. Ich glaube nicht, daß es
einen praktischen Unterschied macht, wenn einer sich trotz¬
dem als selbständiger Geist fühlt.“ (Lebensläufe, S. 145/146)
36
ungebrochen, gehalten hat. So bringt Körti die Tradition seiner
offiziellen Funktion in Einklang mit seiner subjektiven Weit¬
sicht. Von dieser ideologischen Basis aus kann er sich, da er
Widersprüche nicht sehen kann, als selbständiger Geist fühlen.
37
heitsliste für eine Beerdigung“. Kluge geißelt in dieser Ge¬
schichte die eingeschliffenen Formen der Familientrauerfeiern,
die schließlich doch nur zu einem Eß- und Trinkgelage ausar¬
ten. Die Angehörigen haben sich nichts zu sagen, sie heben im
Grunde nur sich selbst. Gedankenlose Floskeln, Höflichkeits¬
formeln, die die Feindseligkeiten überdecken, Trinksprüche
durchziehen die Unterhaltung. Der Tod des Menschen wird
von den Überlebenden als Störung empfunden, als nicht ge¬
plante Unterbrechung des Alltags. Die Geschichte endet des¬
halb auch mit der Aufzählung dessen, was die Trauergäste
versäumen, während sie der Beerdigung beiwohnen müssen.
38
Es gibt überdies ein Merkmal der Struktur der .Lebensläufe*,
das entschieden gegen den Vorwurf der Fixierung auf Einzel¬
schicksale spricht, nämlich die facettenartige Verschachtelung
verschiedenster Sehweisen des jeweiligen Gegenstands. In diese
Auffächerung sind vielfach auch die Perspektiven verschiede¬
ner Personen eingeschlossen, vor allem aber wird das Indivi¬
duum in seinen gesellschaftlichen, kollektiven Zusammenhang
eingebettet. So enthält z.B. der Lebenslauf ,Korti‘ nicht nur
den Kortis, sondern auch die seiner Richterkollegen und einiger
Personen, die in den juristischen Beispielen und Fällen auftau¬
chen. Es sind etwa 40 Personen in diesem Lebenslauf, von
denen der Leser eine Vorstellung bekommt. Korti ist also in ein
soziales Gefüge eingeflochten, seine Individualität entsteht nur
aus der Beziehung zu seinen Mitmenschen.
Ähnlich verfährt Kluge auch in den anderen Lebensläufen.
Addiert man alle Personen, von denen der Leser mehr erfährt
als den Namen, von denen charakteristische Details aus ihrem
Leben berichtet, deren Beziehungen zur Titelfigur beschrieben
werden, von denen es sogar eigene Lebensläufe gibt, so erhält
man die stattliche Summe von 141 Personen. In ihr soziales
Geflecht sind die wenigen Hauptpersonen eingebunden. Sie be¬
sitzen deutlich eine kollektiv vermittelte Identität, sind gesell¬
schaftlich verfaßte Individuen. Kluge geht also über einen idea¬
listischen Individualitätsbegriff hinaus, indem er ihn als gesell¬
schaftlich vermittelt definiert. Damit überwindet er ihn, behält
ihn aber zugleich auch bei.
In seiner zweiten literarischen Veröffentlichung, in der
.Schlachtbeschreibung*, geht Kluge einen Schritt weiter. Hier
versucht er, jede Individualität aufzuheben; die Fakten haben
das Wort.
IV. ,Schlachtbeschreibung1
40
stein zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe ernannt. Man-
stein wollte Hitler überreden, die Heeresgruppe A, die im Kau¬
kasus versuchte, die russischen Ölquellen zu erobern, zur Ver¬
teidigung von Stalingrad zurückzurufen. Hitler lehnte ab. Ein
Ausbruch aus dem Kessel, der zu diesem Zeitpunkt noch mög¬
lich schien, wurde nicht versucht, da Generaloberst Paulus
glaubte, Manstein hätte dazu keinen klaren Befehl gegeben.
Während der Belagerung des Kessels waren inzwischen von
den 250000 Soldaten, die die 6. Armee umfaßte, 100000 gefal¬
len, verhungert, da die Versorgung aus der Luft nicht funktio¬
nierte, oder in Gefangenschaft geraten. Am 10. Januar 1943
begann der letzte massive russische Ansturm. Nach 6 Tagen
war der Kessel nur noch halb so groß, am 24. Januar war er
bereits in einen Nord- und einen Südkessel gespalten. An die¬
sem Tage gab es das erste Kapitulationsangebot von sowjeti¬
scher Seite. Paulus bat um Erlaubnis, kapitulieren zu dürfen.
Hitler funkte zurück: „Verbiete Kapitulation. Die Armee hält
ihre Position bis zum letzten Soldaten und zur letzten Patrone
und leistet durch ihr heldenhaftes Aushalten einen unvergeßli¬
chen Beitrag zum Aufbau der Abwehrfront und zur Rettung
des Abendlandes.“32
Dennoch: am 2. Februar kapitulierte der Nordkessel, 91000
Soldaten kamen in Gefangenschaft. Nur 5000 von ihnen kehr¬
ten später nach Deutschland zurück. „Erst am 3. Februar mel¬
det der Wehrmachtsbericht, was geschehen ist. Erstmals wird
der Bericht eingeleitet von dumpfem Trommelwirbel, beendet
mit dem 2. Satz aus Beethovens Fünfter Symphonie. Vier Tage
Nationaltrauer werden angeordnet. Theater, Kinos und Ver¬
gnügungsstätten bleiben für diese Zeit geschlossen. Der zweite
Weltkrieg hat seinen Wendepunkt erreicht. Für Deutschland
geht es nun abwärts, nur selten noch von trügerischen Höhe¬
punkten unterbrochen.“33 Am 18. Februar 1943 verkündete
dann Josef Goebbels im Berliner Sportpalast den .totalen
Krieg1.
Alexander Kluge schreibt im Vorwort zur Erstausgabe:
„Das Buch beschreibt den organisatorischen Aufbau eines Un-
41
glücks.“ (Schlachtbeschreibung, Olten u. Freiburg i.B. 1964,
S. 7) Im Untertitel der Neuausgabe von 1978 ist dieser Ge¬
danke, der in der 1968er Bearbeitung gestrichen ist, beibehal¬
ten. In ihm drückt sich bereits die Zwiespältigkeit des ganzen
Buches aus. Einerseits zielt die Beschreibung einer organisier¬
ten Struktur auf einen objektiven Sachverhalt hin, andererseits
enthält der Begriff des Unglücks eine subjektive, das Leiden
bezeichnende Komponente. Er beschreibt, wie das Ereignis im
allgemeinen Bewußtsein empfunden werden sollte: als Un¬
glück, als Schicksal. Die Ursachen dieses Schicksals nachzu¬
zeichnen und dabei zu zeigen, daß es keines war, ist das Ziel
Kluges in seiner ,Schlachtbeschreibung‘. Das Zentrum des Un¬
glücks, Stalingrad, wird - wie immer bei Kluge - unter ver¬
schiedenen Aspekten betrachtet, die zusammen erst einen Ge¬
samteindruck vermitteln. Kluge montiert zu diesem Zweck
fast ausschließlich Dokumente, die er in verschiedenen Archi¬
ven sammelte, Berichte von Rückkehrern und andere privat
zur Verfügung gestellte Akten.
Am Anfang steht der Rechenschaftsbericht der Wehrmacht,
d.h. ein Rechtfertigungsversuch, aus dem der Ablauf der Er¬
eignisse rekonstruiert werden kann. Kluge gibt also keine rein
faktische Chronik des Geschehens, sondern er dokumentiert
Berichte darüber, Berichte, die ein bestimmtes Interesse haben,
d.h. subjektiv gefärbt sind. Der Rechenschaftsbericht umfaßt
die Zeit vom 10. November 1942, also 10 Tage vor Beginn der
russischen Gegenoffensive, bis einen Tag nach der Kapitula¬
tion.
42
Der Rechenschaftsbericht der Wehrmacht, das ist auch seine
Aufgabe, vermittelt kein reales Bild von den Greueln im Stalin-
grader Kessel, er kaschiert sie unter der Ideologie des Helden¬
tums und lehnt sich damit an die Propaganda des Dritten Rei¬
ches an. Kluge bietet dem Leser hier also eine einseitig ideologi-
sierte Sicht auf die Ereignisse an, also keine Fakten, sondern
eine mit Rechtfertigungsinteresse geschriebene Darstellung.
Der Leser, zum Richter aufgerufen, wird zur Stellungnahme
gezwungen, er kann aber wegen der teilweise emotionslosen
Sachlichkeit und der teilweise deutlichen Schönfärberei der Do¬
kumente deren Sichtweise nicht akzeptieren (es sei denn, er
entpuppe sich als Nationalsozialist). - Hier wird das literarische
Prinzip der ,Schlachtbeschreibung‘ sichtbar. Der Erzähler tritt
zwar hinter Fakten und Dokumenten zurück, aber er verwen¬
det nur bestimmtes, ausgewähltes Material und legt Partei¬
nahme nahe. So ist er doch wieder gegenwärtig.
Die Behandlung der Ereignisse in der Presse, der zweite
große Abschnitt des Buches, geht noch einen Schritt weiter in
diese Richtung. Dokumentiert werden zwar nicht die heroisie¬
renden Berichte der Nazi-Zeitungen selber, sondern die Richt¬
linien, die Tagesparolen, die der Reichspressechef Dr. Otto
Dietrich, im Buch nicht namentlich genannt, zur Gleichschal¬
tung der Berichterstattung herausgab. So läßt Kluge die orga¬
nisatorischen Eingriffe in das Bewußtsein der deutschen Bevöl¬
kerung sichtbar werden. Die Tagesparolen des Reichspresse¬
chefs werden vom 23. November 1942, als der Kessel von Sta¬
lingrad geschlossen war, bis neun Tage nach der Kapitulation
verfolgt.
Die Berichte über den Verbleib der in Stalingrad eingeschlos¬
senen Soldaten werden vom 10. Februar an im Lokalteil
versteckt, am 11. Februar wird eine Broschüre über den unnö¬
tigen Heldenkampf in Stalingrad angekündigt, danach ist das
Thema für die Presse tabu. Das war es schon einmal gewesen:
vom 22. Dezember 1942 bis zum 5. Januar 1943 bekam die
deutsche Bevölkerung ,Weihnachtsferien‘ in Sachen Stalingrad
verordnet.
43
„Sonnabend, 23. Januar 1943:
V.I.-Nr. 21/43 (Ergänzung)
I. Tagesparole des Reichspressechefs:
I. Das große und ergreifende Heldenopfer, das die bei Stalin¬
grad eingeschlossenen Truppen der deutschen Nation darbringen,
wird im Zusammenhang mit der unmittelbar bevorstehenden
Arbeitspflicht für Frauen und apderen durchgreifenden Orga¬
nisationsmaßnahmen für die totale Kriegsführung die morali¬
sche Antriebskraft zu einer wahrhaft heroischen Haltung des
ganzen deutschen Volkes und zum Ausgangspunkt eines neuen
Abschnittes des deutschen Siegeswillen und der Erhebung aller
Kräfte werden. Der deutschen Presse fällt hierbei die besondere
publizistische Aufgabe zu, durch ergreifende Schilderung der
einzigartigen Opferbereitschaft der Helden von Stalingrad auch
den letzten Volksgenossen aufzurütteln, damit er sich einreiht
in die große Front des entschlossenen Widerstands und Sieges¬
willens.“ (Schlachtbeschreibung, S. 41/42)
44
für die Landser, über ,Stellungsbau im Winter1, über .Tarnung
im Winter“, über .Schutz gegen Kälte und Schnee1. In dem
Abschnitt ,Wie wurde das Desaster praktisch angefaßt?1 sind
Berichte und Stellungnahmen verschiedener Offiziere und Sol¬
daten sowie Dialoge und Interviews über Notwendigkeit und
Sinnlosigkeit der Kesselschlacht vereinigt, in denen offensicht¬
lich der Erzähler Betroffene fragt. Das Kapitel .Wunden1 be¬
richtet über die ärztliche Versorgung und die Operationsmög¬
lichkeiten der praktizierenden Lazarettärzte.
,,F(rage)
Haben Sie in dem Lazarett in Stalingrad, in das Sie zur Aushilfe
kamen, noch operiert?
A(ntwort)
Nein, überhaupt nicht. Ich kam mir da überflüssig vor, denn
ich konnte gar nichts machen. Das einzige war, den Verwunde¬
ten gut zuzureden.“ (Schlachtbeschreibung, S. 138)
45
sches Spiel, das schlecht ausgeht, da einige Sachzwänge nicht
genügend berücksichtigt werden konnten. Daran ist nicht zu¬
letzt Hitlers mangelhafte Sachkenntnis beteiligt, die von Über¬
empfindlichkeiten und Verschwörervorstellungen noch zusätz¬
lich geschwächt wird.
,,Hi.s Überzeugung: alle Generäle lügen, alle Generäle sind
treulos, alle Generäle sind gegen den Nationalsozialismus, alle
Generäle sind Reaktionäre.“ (Schlachtbeschreibung, S. 289)
Die Kategorie der Schuld Hitlers erscheint angesichts des
Ausmaßes des Desasters überflüssig, willkürlich, inadäquat,
vor allem, wenn sie dazu dient, der Verstrickung in den wirkli¬
chen Schuldzusammenhang auszuweichen.
„Nachträgliche Lokalisierung der Verantwortung bei Hi.
Hi. nahm freiwillig [dem GFM v. Ma.(nstein) gegenüber, des¬
sen Belehrungen er dadurch abkürzte] die Verantwortung bzw.
Schuld für das Unglück von Stalingrad auf sich. Zugleich
zeigte er damit, wie wenig es auf die Frage der Schuld ankam,
wenn schon einmal das Unglück passiert war. Vielmehr taugte
Verantwortung nur als Instrument, solches Unglück zu verhin¬
dern. Kaum kam es bei dieser Größenordnung noch auf indivi¬
duelle Schuld an, es sei denn, sie konnte aus erzieherischen
Zwecken bei untergebenen Stellen gesucht werden.“ (Schlacht¬
beschreibung, S. 290)
Der Anhang der ,Schlachtbeschreibung1 enthält taktische
Spiele für die Nachwuchsschulung, Schulungsaufgaben und hi¬
storische Kriegspläne, an denen geübt werden kann, das Indivi¬
duum im Zuge des Verschiebens ganzer Divisionen zu überse¬
hen. Diese Anonymität der Menschen in Zeiten größter Not,
die ein Abwenden vom Leiden, sein Verleugnen erlaubt, ist
bezeichnend für den Zustand einer Gesellschaft, die solche Un¬
glücke produziert.
Die Abwehr des Leids, die Tendenz, mit Metaphern vom
konkreten Gegenstand abzurücken, kehrt auch in der .Sprache
der höheren Führung1 wieder, die sich mit Redewendungen
und schönfärbenden Begriffen vom Grauen zu entfernen sucht,
46
bemüht ist, es sprachlich und ideell handhabbar zu machen.
Diesem Zweck dient auch die , Formenwelt1, die im letzten
Abschnitt des Buches beschrieben wird. Im Auseinanderklaffen
von traditionellen Formen und aktuellem Inhalt werden die
ideologischen Widersprüche in der Organisation, die zum De¬
saster führten, bis in ihre Mikrostruktur deutlich:
47
noch an wenigen Stellen wird die gesellschaftliche Verfaßtheit,
die Existenz von Individuen als Kristallisationspunkt der Ge¬
schichte erkennbar. Das Material der .Schlachtbeschreibung“
bleibt bei seinem Materialwert, das kontrapunktische Span¬
nungsfeld der Fiktion, auf dem sich der Leser bisher abarbeiten
mußte, fehlt. So entsteht das abstrakte Modell eines Unglücks.
Der Symbolcharakter der Wende, des Niedergangs, den Stalin¬
grad für die Kriegsgeneration besitzt, wird schließlich nur ver¬
festigt.
Die Taschenbuchausgabe von 1968 versucht, diesen Modell¬
charakter zu mindern, indem neben einigen Stellen im Text vor
allem das Vorwort (,,Die Ursachen liegen 30 Tage oder 300
Jahre zurück“; Schlachtbeschreibung, S. 7) gestrichen wird.
Die Neuausgabe von 1978 hingegen läßt sich bewußt wieder
auf den Parabel Charakter der Erstausgabe ein. Der Text ist stark
gekürzt, in vielen Teilen umgestellt, das erste Kapitel ist nun
das letzte, vor allem aber sind in diesem Band alle Geschichten
vereinigt, die in irgendeiner Weise auf Stalingrad Bezug neh¬
men. Das reicht von Auszügen aus .Lernprozesse mit tödli¬
chem Ausgang“ (Stalingrad als Ausgangspunkt der späteren
Raumpioniere Zwicki, Boltzmann und von Ungern-Stern-
berg) und den .Neuen Geschichten“ bis hin zu Motiven aus den
Filmen .Deutschland im Herbst“ und ,Die Patriotin“. Auch das
gesellschaftstheoretische Problem, das Kluge beschäftigt, die
politische Ökonomie der Arbeitskraft, findet hier Eingang.
Auf diese Weise behält Kluge zwar den aufklärerischen Ge¬
danken bei, Stalingrad sei ein wichtiger Angelpunkt der weite¬
ren gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands, aber er
nimmt ihm das Abstrakte, er stellt konkrete Verlängerungen
und Bezüge her: Stalingrad nicht mehr als selbständiges Fak¬
tum, als Selbstzweck, sondern eingebettet in die historischen
und ideologischen Dimensionen des Davor und des Danach.
Außerdem revidiert er einen zentralen Punkt gegenüber der
Erstausgabe. Hatte er dort noch gefragt „Was wußte Hi.?, . ..
Hätten die Generäle bis Weihnachten anders geführt als Hi.?“
(S. 375), so hebt er diese konventionellen strategischen Fragen
48
der Stalingraddarstellungen, die orientiert sind an einem ideali¬
stischen Geschichtsbegriff der großen Herrscher und Führer,
auf und läßt hier die Geschichtslehrerin Gabi Teichert gerade in
diesem Punkt einen materialistischen Geschichtsbegriff entwik-
keln.
49
V. Literatur oder Film?
Das filmische Konstruktionsprinzip
Die Alternative ,Literatur oder Fjlm' stellt sich für Kluge nicht.
Seine literarische Tätigkeit begann zwar, wenn man so will, als
Ersatzhandlung für die mangelnde Gelegenheit, Filme zu ma¬
chen. Über die .Lebensläufe' sagte er: „Die Geschichten wur¬
den zunächst als Film konzipiert. Wenn man sie genau ansieht,
kann man die .Schnitte' feststellen. Das literarische Prinzip der
Lebensläufe ist ein filmisches Prinzip.“36 Sehr früh aber stand für
ihn fest, daß sich beide Medien nicht alternativ gegenüberste¬
hen, sondern, wie schon Gottfried Just feststellt, einander er¬
gänzen. „Film und Literatur lösen sich nicht ab, sondern ergän¬
zen, dienen einander.“37 Beide Medien haben mit Sprache und
Begriffen zu tun, wenn auch auf unterschiedliche Weise, beide
benutzen das Mittel der Montage, letztlich haben beide sogar
mit Bildern zu tun, die Literatur imaginiert abstrakte, der Film
bildet konkrete ab.38
Die Aussage Kluges, die Geschichten seien zuerst als Film
konzipiert worden, ist wichtig für seinen literarischen Stil, aber
auch für den seiner Filme. Die Geschichten waren demnach
zunächst als Material gedacht für ein späteres Drehbuch, für
einen späteren Film. Sie waren unfertig. Vorstufe für ein ande¬
res Produkt. Auch daraus resultiert ihr Entwurfcharakter.39
Wenn sich für Kluge auch die Alternative .Literatur oder
Film' nicht stellt, so sieht er doch Unterschiede in den Aus¬
drucksqualitäten der beiden Medien, die es thematisch entspre¬
chend unterschiedlich zu nutzen gilt. Im allgemeinen ist der
Film, als Medium, in dem verschiedene Künste vereint sind,
vielfältiger. Sprache, d.h. Literatur ist stärker traditionsge¬
bunden:
50
bestimmt, während ich bei den Bildern eigentlich lediglich ein¬
geengt bin durch das, was sich die Zuschauer vorstellen
können.“40
„Ich glaube, das ist der Kern: Der Film stellt sich im Kopf
51
des Zuschauers zusammen, und er ist nicht ein Kunstwerk, das
auf der Leinwand für sich lebt. Der Film muß deswegen mit
den Assoziationen arbeiten, die, soweit sie berechenbar, soweit
sie vorstellbar sind, vom Autor im Zuschauer ausgelöst
werden.“41
52
Films und den geführten Assoziationen des Zuschauers sollen
im Rezipienten einen Lernprozeß auslösen.
Der kommt nun aber meist nicht zustande. Der Zuschauer
scheint dem Assoziationsstrom, der keiner stringenten Hand¬
lungsführung verpflichtet ist, nicht folgen zu wollen. Er ver¬
weigert sich, er wird gegenüber der Fülle der ineinander ver¬
schachtelten Einzelinformationen, Aspekte und Teilstränge,
ratlos. Der Grad der Ratlosigkeit variiert in den einzelnen Fil¬
men Kluges; dementsprechend verschieden ist auch ihr Publi¬
kumserfolg.
Woraus resultiert diese Ratlosigkeit?
Zum einen sind die Filme Kluges ungewohnt, sie wirken
gegenüber der üblichen Rezeptionsform von Filmen fremd.
Diese Fremdheit erschwert den Zugang zu ihnen, die Bereit¬
schaft, sich auf sie einzulassen. Die Rezeptionserwartung der
Zuschauer ist ja nicht für jeden Film individuell zu setzen, viel¬
mehr ist sie geprägt von der gesamten Filmerfahrung des Rezi¬
pienten und von der als verbindlich anerkannten Struktur des
Genres, dem ein Film zugeordnet wird. Diese historisch und
gesellschaftlich gewachsene Erwartungshaltung steht dem
Konstruktionsprinzip der Filme Kluges wie ein Bollwerk ver¬
härteter Erfahrungen gegenüber.
Das filmische Konstruktionsprinzip Kluges weist starke
Ähnlichkeiten und Parallelen zu seinem poetischen Prinzip auf.
Auch hier soll der Rezipient durch das Spektrum vieler Einzel¬
aspekte einen vielfältigen Eindruck einer Person, eines Sachver¬
halts, eines Ablaufs bekommen, auch hier soll ihn die Span¬
nung zwischen Dokumentation und Fiktion zu eigener, klären¬
der Aktivität anregen. Im Film stößt dieses Verfahren aber an
eine im Medium begründete Grenze. Die Sprache, Medium der
Literatur, besitzt einen ausgewogenen, in ihrer langen Tradi¬
tion begründeten Grad zwischen Konkretion und Abstraktion,
der der Phantasie des Lesers - der noch dazu seinem eigenen
Zeitrhythmus folgen darf - Gelegenheit bietet, langsam Aktivi¬
tät, Initiative zu entwickeln. Dabei ermöglicht gerade die vor¬
handene Tendenz der Sprache zur Abstraktion dem Lesenden,
53
seine eigene Erfahrung an der literarisch vorgegebenen anzula-
gem, d.h. die Brüche und Sprünge in den Geschichten mit
seiner Erfahrung anzureichern, die Abstraktion der Begriffe zu
konkretisieren. Dieser Vorgang ist im Film auf zweierlei Weise
erschwert. Zum einen kann der Rezipient im Kino seinen eige¬
nen Zeitrhythmus nicht ungebrochen mit dem des konstant
ablaufenden Films koordinieren.’ Es kommt zu Ungleichzeitig¬
keiten, die das Verhältnis der Assoziation im Film zu der im
Kopf des Zuschauers stören. Zum anderen ist der Film konkre¬
ter als die Sprache, der Rezipient findet tendenziell nicht die
Offenheit der Begriffe, an denen er seine Phantasie, seine Er¬
fahrung ankristallisieren könnte. So muß der Film versuchen,
„durch Eingriffe in die Wirklichkeit, Brechung der an sich
konkreten Information“44 zu erreichen. Wie aber kann die
Konkretheit der optischen Information gebrochen werden?
54
Die Filme Kluges sind nicht nur aus ihren einzelnen Momen¬
ten, die dann Schlüsselcharakter bekommen, zu verstehen, son¬
dern auch aus ihrer Gesamtmontage, also nicht nur chronolo¬
gisch, sie können vielmehr auch von hinten her nach individu¬
ellen Gesichtspunkten neu aufgereiht werden.
Dieses nach Willkür aussehende Prinzip weist dem Zu¬
schauer jedoch im Grunde die entscheidene Rolle zu. Es behan¬
delt ihn nämlich als „mündigen Menschen“46, ganz im Gegen¬
satz zu der Erwartung, die der unkritische Kommerzfilm sei¬
nem Zuschauer entgegenbringt und aufzwingt. Um die Hal¬
tung zu beschreiben, die er seinen Rezipienten abverlangt,
greift Kluge auf Thesen Walter Benjamins zurück: „Aufmerk¬
samkeit ohne Anspannung; der Zuschauer ist zerstreut.“47 Es
ist die Brechtsche Haltung des rauchend Beobachtens.
Um dem filmischen Konstruktionsprinzip Kluges vollends
den Eindruck von Willkürlichkeit zu nehmen, sei darauf hinge¬
wiesen, daß die Punkte, an denen der Zuschauer aktiv seine
Phantasie, sein Bedürfnis in den Film integrieren soll, durch die
Montage erst möglich gemacht werden müssen. So ist Kluges
Verwendung der Montage eine andere als die seit ihrer Entdek-
kung übliche. „Kluges Assoziationsmontagen stellen keine
Ideen her wie (manchmal) die von Eisenstein; vielmehr lösen
sie fixe Vorstellungen . .. auf.“48 Die Montage dient also nicht
zur Herstellung einer geordneten, faßbaren Übersicht, zur In¬
terpretation letztlich, sondern sie stellt die Lücken bereit, in die
die Assoziationen und die Phantasie des Zuschauers eindringen
können.
Dem Erfolg dieses Verfahrens steht jedoch das mögliche Ab¬
blocken des Zuschauers gerade durch die notwendige Massie¬
rung und Facettierung der Konkretion in eine Fülle von Einzel¬
aspekten entgegen. Diese Gefahr ist auch Kluge bewußt. Er
versucht, ihr durch eine Verbindung des Films mit dem offene¬
ren, abstrakteren Wort zu entgehen.
55
dig klischierenden Appell an die Phantasie des Lesers darstellen,
und während literarische Leerbegriffe ... zu adäquatem Aus¬
druck nötig sein können, fälscht der Film, wenn er typisiert,
die Wirklichkeit, da er immer nur den Schluß von etwas Kon¬
kretem auf ein allgemeines Klischee zuläßt, niemals aber ein
allgemeines Bild von beliebig viel Konkretem geben kann. Es
ist die Frage, ob der Film sich im Einzelfall durch Verbindung
mit dem Wort aus dieser Zwickmühle herausretten kann. Dies
geht wahrscheinlich nur dann, wenn man mit den Mitteln des
Wortes über Dinge spricht, die im Bildteil des Films selbst
nicht Vorkommen.“49
56
länglichkeit der Rechtsprechung. Zu dem Lied sieht man Bil¬
der von Menschen, die die Grabstätte von Baader, Ensslin und
Raspe verlassen.
,,Im musikalischen Arrangement seiner Filme gibt sich Alex¬
ander Kluge zu erkennen als ein Filmemacher, bei dem der
Hauptakzent seiner Kreativität auf der Kombinatorik liegt. Der
Kontext aus Bild, Text und Musik mit der Fülle an Assoziatio¬
nen und Verweisen sowie dem permanenten Einsatz von Ver¬
klammerungen weist ihn aus als einen Regisseur, dessen techni¬
sches Instrument Nummer Eins weniger die Kamera zu sein
scheint als der Schneidetisch.“54
Kluge ist sich darüber im klaren, daß seine Art der Filmmon¬
tage bei Kritik und Zuschauer auf Widerstand stoßen kann,
mißverständlich, wenn nicht sogar unverständlich wirkt. Den¬
noch glaubt er, den eingeschlagenen Weg nicht verlassen zu
dürfen, wenn auf Dauer die bestehende Kinostruktur verändert
werden soll. So versteht er seine Filme als Entwürfe für alterna¬
tive Genres, die - auf lange Sicht - die Wahmehmungskräfte
des Zuschauers, auf die der Filmemacher angewiesen ist, aus
der Umklammerung durch den fesselnd plausibel scheinenden
Illusionsfilm zu lösen und anders zu organisieren vermögen.
Ein entscheidendes Konstruktionsprinzip dieser alternativen
Genres ist - analog zur Literatur - ihr labiles Verhältnis zwi¬
schen Dokument und Fiktion, zwischen Dokumentarfilm und
Spielfilm. Die Filme Kluges sind eine Mischung aus diesen
beiden „Urzellen“ des Films („Lumiere beobachtet einfach
Vorgänge .. . Melies erzählt erfundene Geschichten“)55. Inter¬
esse für beide Formen ist auch beim Zuschauer zu vermuten:
eines am Dokumentarfilm, an der Beobachtung und Erklärung
der Realität, die sich ihm aber auf diesem Stand der histori¬
schen, sozialen und ökonomischen Entwicklung ins Unent¬
wirrbare entzieht, und ein Interesse am Spielfilm, der mit seiner
stringenten, auf wenige Personen reduzierten Spiel-Handlung
die Faßbarkeit, der sich die Realität entzieht, einholt. In Kluges
Filmen finden sich dann auch Elemente von Spielhandlung, die
aber zerschnitten wird von ungestellten Aufnahmen (Doku-
57
ment), die aber ihrerseits gleichwohl nicht weniger subjektiv
sind, denn Beobachtung ohne Subjekt ist blind. So besteht auch
hier - wie in der Literatur - keine Alternative zwischen beiden
Formen, sondern eine kontrapunktische Beziehung. Das Do¬
kument selbst, also der Dokumentarfilm kann, da die „Kamera
ja gerade nicht-kritisch (und insofern radikal) aufnimmt“56,
letztlich über eine Oberflächenabbildung (Konkretion) nicht
hinauskommen.
Das Dilemma beim Umgang mit den Filmen Kluges hat Rolf
Dörrlamm schon in seinem Beitrag über Kluges ersten Spiel¬
film .Abschied von gestern' treffend beschrieben. „DieGestal-
58
tung ist daher in der Theorie leichter zu rechtfertigen, als im
Augenblick der Ansicht des Films zu würdigen.“59 Dieses Di¬
lemma hat sich bis heute fortgesetzt. Kluge steht mit der konse¬
quenten Anwendung seines filmischen Konzepts nach wie vor
ziemlich allein. Es gibt keine nennenswerten Versuche anderer
Autor-Regisseure, die in seinen Fußstapfen weitergehen. Ge¬
rade der in letzter Zeit so erfolgreiche deutsche Film nimmt
zum Teil deutlich Prinzipien des klassischen Illusionskinos in
sich auf.
VI. .Abschied von gestern*
60
in der Pichota versucht, Anita die Keuner-Geschichte .Mensch
und Entwurf“ zu erklären, die sie aber mißversteht. So werden
Sensibilität des Teams und Spontaneität Vorbedingungen für
die filmische Arbeit. Verständigungen, die den Arbeitsprozeß
betreffen, bleiben dann manchmal im Endprodukt - Kluge ver¬
wendet nur Originalton - erhalten. („Manfred Peickert: War
eingeschifft und bin nach . . . ich sag’ eben, einfach eine Stadt -
nach Sydney gekommen.“61) Diese Arbeitsweise Kluges ent¬
spricht auch seiner Vorliebe, Gesprächsszenen improvisieren zu
lassen. Die Atmosphäre der Arbeitssituation kann so produktiv
genutzt werden und Ergebnisse erbringen, die bei bloßer Um¬
setzung zuvor erdachter Szenen verloren gingen. Um die Pro¬
duktivität des Arbeitsprozesses selbst weiter steigern zu kön¬
nen, arbeitet Kluge gern mit Laiendarstellern, deren Reaktio¬
nen wesentlich stärker von der Situation abhängen als die routi¬
nierter Berufsschauspieler.
61
böser Schlacht schleich ich heut nacht so bang’, 1977), oder aus
dem verbleibenden Filmmaterial einer Spielfilmproduktion,
das nicht in den Film eingegangen ist, einen Kurzfilm montiert.
(,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos' - ,Die unbezähm¬
bare Leni Peickert').
, Abschied von gestern' erzählt einen Ausschnitt aus dem Le¬
ben einer jungen Frau, Anita G\ (Grün) - 1958, in diesem Jahr
spielt der Film, ist sie 21 Jahre -, die ohne eine feste gesell¬
schaftliche Einbindung aufgewachsen ist und nun versucht, mit
den Resten ihrer Traditionen und Weltvorstellungen einen sie
tragenden Sinn- und Lebenszusammenhang zu finden. Dabei
versucht sie, Abschied von gestern zu nehmen, aber die Ver¬
gangenheit holt sie in den Formen der bestehenden Gesellschaft
immer wieder ein. Der Film beobachtet Anita G. bei ihrem
Bestreben, mit der Gesellschaft der Bundesrepublik zurechtzu¬
kommen. Er rollt ihre Versuche aber nicht in zwingender Kon¬
tinuität auf, vielmehr gliedert er sich um verschiedene themati¬
sche Zentren, die allein durch die Figur der Anita G. und deren
Wunsch nach Hilfe und Geborgenheit zusammengehalten
werden.
Der Film beginnt mit einem Titel: „Uns trennt von gestern
kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“ (Abschied von
gestern, S. 7.)63, also nichts, was nicht überwunden werden
könnte, sondern etwas, was aufzuarbeiten möglich ist. Und
genau dies ist der Wunsch der Anita G. Nach dem Titel er¬
scheint ihr Gesicht in Großaufnahme. Sie liest: „Moment! ,Hat
er von der Mutter die Tochter getrennt! Hat er von der Tochter
die Mutter getrennt? Hat er einen Gefangenen nicht freigelas¬
sen? Einen Gefangenen nicht gelöst? Hat er einen Eingekerker¬
ten das Licht nicht schauen lassen? Hat er bei einem Gefangenen
.fange ihn!' gesagt'?“ (S. 7)
Anita G. stellt fragend unklare Bezüge her. Das kennzeichnet
ihre Situation. Sie ist eingekreist von der ihr unklaren gesell¬
schaftlichen Bewegung um sie herum. Anita stammt aus einer
jüdischen Familie. Sie hat als Kind, unter der Treppe hockend,
gesehen - das wissen wir aus dem .Lebenslauf', im Film wird es
62
in der Gerichtsverhandlung nur kurz angedeutet wie ihre
Großeltern ins KZ abgeholt wurden. Der Abtransport der
Großeltern war ihr erstes gravierendes Angst- und Trennungs¬
erlebnis. Am Schluß des Films, als Anita nicht nur abstrakt,
sondern konkret Gefangene der Gesellschaft ist, wird sie selbst
von ihrem Kind getrennt.
Hier bereits wird zum Ausdruck gebracht, daß die Erfahrun¬
gen, die Anita sammeln wird, sie nicht weiterbringen werden,
ihre Ängste wird sie nicht allein verarbeiten können.
Nach dem Filmtitel sieht man Anita G. vor Gericht, - ihre
erste Station. Noch ist sie nicht vorbestraft, aber es wird wegen
Diebstahls einer Strickjacke verhandelt, die erste Vorstrafe, ein
amtlicher gesellschaftlicher Makel, ist abzusehen. Der Richter,
Korti, „deformation professionelle“64, versucht pflichtgemäß,
die Motive für ihr Handeln zu ergründen. Er ist aber zu sehr in
seiner eigenen Vorstellungswelt, seiner eigenen Lebenserfah¬
rung befangen, als daß er Anita verstehen könnte. Anita ist, um
einen neuen Anfang zu versuchen, aus der DDR, - in Zerbst
arbeitete sie als Telefonistin, - nach Westdeutschland ge¬
kommen.
Können die Erfahrungen der Angst schon bei der Person des
Richters keine Einsicht auslösen, so sind sie in den Formeln der
Paragraphen überhaupt nicht formulierbar. Anita wird verur¬
teilt, ein Teil der Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
Anitas nächste Station: das Gefängnis; eine Gefangene der
Gesellschaft, d.h. eine vom gesellschaftlichen Leben Abge¬
schnittene. Danach die Phase der Rückführung, Resozialisa-
tion.
63
Anitas Bewährungshelferm, Frau Treiber, - diese Episode
stammt aus dem Lebenslauf ,Korti‘, - übertreibt ihre Bemü¬
hungen, die weniger auf konkrete Hilfe gerichtet sind, als viel¬
mehr auf die Vermittlung abstrakter moralischer Kategorien:
Gott, das Gute.
Das ist für Frau Treiber deshalb nicht ganz richtig, weil Anita
mit ,gut‘ das verbindet, was ihr guttut, was ihr hilft, und nicht
den abstrakten Moralbegriff untätiger Nächstenliebe. Anita G.
durchschaut diesen Unterschied, sie stellt ihn aus, indem sie
ihre Bewährungshelferin imitiert: „Wir werden’s schon schaf¬
fen! Nun wollen wir mal ganz zuversichtlich in die Zukunft
blicken!“ (S. 20) Die Hohlheit guter Worte und abstrakter Hilfe
stellt Kluge in einer der folgenden Sequenzen bloß. Frau Trei¬
ber, Anitas Wirtin, und ein Pfarrer geben in einer Gesprächs¬
runde sitzend ihre Floskeln von sich. Sie sind ohne Bezug ge¬
schnitten, alle reden aneinander vorbei. Kommunikation, Ver¬
ständigung, in der Verständnis steckt, gibt es nicht.
Nachdem Anita Frau Treiber verlassen hat und in eine andere
Stadt geflohen ist, versucht sie, sich eine wirtschaftliche Basis
zu schaffen: Sie arbeitet als Vertreterin für Sprachplatten. Aber
auch in der Wirtschaft herrschen Prinzipien, in Statements ihres
Chefs wird das deutlich, die Anita nicht gerecht werden. Um
sich Erfolg zu verschaffen, schreibt sie fingierte Aufträge aus,
wird außerdem die Geliebte des Chefs, was sie zu dem Glauben
veranlaßt, sie sollte sich einen standesgemäßen Pelzmantel an-
schaffen. „Wegen des Restes, sagte Anita, hierfür bürgt mein
Chef.“ (S. 31) Dieser ist aber verheiratet, und um seiner Frau
zu beweisen, daß nichts gewesen sei, zeigt er Anita an.
64
Anita flieht weiter. Sie wird Zimmermädchen. In Zwischen¬
schnitten berichtet der Geschäftsführer des Hotels über dessen
Organisation, schweift dann aber ab und berichtet Kriegserleb¬
nisse, auch bei ihm sind Erinnerungen, ist das Gestern noch
gegenwärtig. „Titel: Eines Tages - der Geschäftsführer ist
abwesend - wird Anita entlassen.“ (S. 36) Die Entlassung er¬
folgt für eine Tat, die Anita nicht begangen hat. Kurz darauf
wird ihr auch das Zimmer gekündigt, da sie mit der Miete im
Rückstand ist. Mit ihren Koffern - ein Lieblingsmotiv Klu¬
ges-, in denen sie mit sich trägt, was sie besitzt, geht sie davon.
In einer Gaststätte lernt Anita einen jungen Mann kennen.
Bei ihm sucht sie Wärme, die sie bisher nicht hat finden kön¬
nen. Um Mitternacht hören beide, unter der Bettdecke hegend,
aus einem Transistorradio das Deutschlandlied. Auch hier wer¬
den sie die Vergangenheit nicht los: Anita summt mit, gerät
aber unbewußt in den Text der Hymne des anderen Deutsch¬
lands. Erweitert wird diese Szene mit Zwischenschnitten auf
Hasen, die in die Grabsteine eines jüdischen Friedhofes gemei¬
ßelt sind. Die Hasen, Symbol eines israelitischen Stammes,
sind auf der Flucht: Anitas Situation im Dritten Reich und jetzt.
Auf der nächsten Station ihrer Erkundung der Gesellschaft
knüpft Anita an den ihr verbliebenen Resten eines Bildungside¬
als an. Sie versucht, sich an der Universität zu immatrikulieren,
was ohne gültiges Abitur nicht geht. Sie läßt sich aber trotzdem
nicht abhalten und besucht die Vorlesungen. Als sie sich Rat bei
einem Professor holen will, muß sie bemerken, daß auch der
Fachjargon der Wissenschaftler jede Beziehung zu konkreter
Menschlichkeit verloren hat. Die Erkenntnisse selbst der So¬
zialwissenschaften haben sich verselbständigt. Anita wohnt
während ihres ,Studiums* in einem Hotel. Da sie die Rechnung
nicht bezahlen kann, flieht sie erneut.
In einer Traumsequenz wird ihr Zustand in symbolischen
Bildern interpretiert. Erneut taucht das Motiv auf, daß der
Muster das Kind genommen werden soll, Zinnsoldaten ziehen
durch eine Sandlandschaft - sie stehen für den Krieg und die
Frage, weshalb Menschen wie Zinnsoldaten in den Krieg zie-
65
hen ein Richter spricht auf sie ein, der Fallschirmjäger, der
ihr das Kind nehmen wollte, verfolgt sie, Anita flieht, im Zick¬
zack laufend wie ein Hase.
Diese Sequenz ist mit ihrer Vielzahl an surrealen Bildern si¬
cherlich überfrachtet und würde, wäre sie traditionell gefilmt,
komisch wirken. Kluge hat diese Wirkung jedoch vermieden,
indem er die Bilder und Szenen mit Mitteln des Slapstick- und
des Stummfilms verfremdet hat.
Der nächste Versuch Anitas - inzwischen steht sie auf der
Fahndungsliste - sich dieser Gesellschaft zu nähern, sich von ihr
aufnehmen zu lassen, bringt sie in Berührung mit der Verwal¬
tungsbürokratie. Sie wird die Geliebte des Ministerialrats im
Kultusministerium, Pichota. Pichota ist ein ordnungsliebender
Mensch, er räumt die Plüschtiere, mit denen Anita gespielt hat,
wieder sorgsam ins Regal. Während einer Amtshandlung, Be¬
such einer Vorführung eines Hundevereins, versteckt er sich
hinter vorgefertigten Sprachformeln. Allein von seiner Konsti¬
tution her ist er nicht fähig, Anita wirklich zu helfen. Titel:
,,Wenn Pichota ihr schon nicht helfen kann, will er sie wenig¬
stens erziehen.“ (S. 76) Er will sie dahin bringen, nicht wie ein
Zigeuner herumzuziehen, lehrt sie, wie man das Kursbuch
liest, trägt ihr eine Arie aus Verdis ,Don Carlos* vor. Die Keu-
ner-Geschichte .Mensch und Entwurf*, die er ihr vorliest,
versteht Anita ganz praktisch, der Mensch könne einem Ent¬
wurf, einem Plan nicht ähnlich werden. Pichota, ganz Verwal¬
tungsbeamter, versucht sie vergebens zu überzeugen, daß der
Mensch es doch könne. Anita aber weigert sich, sich dem Plan
einer Gesellschaft anpassen zu lassen.
Anita begeht weiter kleine Ordnungswidrigkeiten und Dieb¬
stähle. Als letzten Versuch, Hilfe zu erhalten, will sie mit dem
Generalstaatsanwalt Dr. Bauer - einer authentischen Person -
sprechen. Bauer (über seine Beisetzung erzählt Kluge in den
.Neuen Geschichten*) wird vorgestellt als Jurist, der in das Pa¬
ragraphenwerk auch die Humanität einbeziehen möchte. Seine
Utopie der Rechtsprechung: „Sagen Sie mal, können Sie sich
denken, daß wir eines Tages einmal einen Round-Table ma-
66
chen, wo der Staatsanwalt und der Verteidiger und der Ange¬
klagte und das Gericht um den Tisch herumsitzen und gemein¬
schaftlich um die Wahrheit kämpfen und um das, was wir
Recht nennen?“ (S. 47) Seine Utopie hat in dieser Gesellschaft
keinen Platz: Anita kommt nicht an Dr. Bauer heran.
Sie erwartet von Pichota ein Kind. Es kommt daraufhin zur
Trennung, Pichota gibt ihr 100 DM und den Tip, nach Nord¬
rhein-Westfalen zu gehen. Die Trennung vollzieht sich an einer
Würstchenbude, Stätte eines beiläufigen, käuflich zu erwerben¬
den Genusses.
Anitas Flucht geht weiter. Zuletzt sitzt sie eingekreist mit
ihrem Koffer auf der Rasenfläche einer Autobahnabfahrt. Die
Kamera umkreist sie, ein Düsenjet fliegt über sie hinweg. Eine
Gesellschaft auf diesem technischen Niveau bringt es nicht fer¬
tig, einen Menschen wie Anita in sich aufzunehmen, weil sie
damit ebenfalls ihre Vergangenheit in sich aufnehmen müßte
und sie nicht verdrängen dürfte.
Kurz vor der Niederkunft stellt sich Anita G. den Behörden,
bekommt im Gefängnishospital ihr Kind, das man ihr nach
zwei Tagen fortnimmt. Die Milch in ihren Brüsten, Symbol
ihrer Mutterschaft, wird abgepumpt. Sie bekommt einen Ner¬
venzusammenbruch.
Zuletzt versucht sie zu helfen, die Unterlagen für ihren Pro¬
zeß zusammenzustellen. Eine Fürsorgerin besucht sie in der
Zelle: die Gesellschaft nimmt sich Anitas wieder an. Titel: „Je¬
der ist an allem Schuld, aber wenn das jeder wüßte, hätten wir
das Paradies auf Erden.“ (S. 94)
Dieses Paradies wird Anita G. in der Gesellschaft der Bun¬
desrepublik nicht finden.
67
wärtige Gesellschaft gezogen werden. Kluge bezeichnet Anita
als „Seismograph, der durch unsere Gesellschaft geht . .. Ich
habe versucht, deren Ausschläge zu registrieren“.65 Die subjek¬
tive Sehweise ist also die Perspektive des Films. Subjektivität
erzielt keine Repräsentativität, wohl aber kann sie Spezifisches
abbilden. Kluge: „Anita selbst und ihre Geschichte sind spezi¬
fisch für die Bundesrepublik. Ihre Geschichte wäre eine andere,
wenn sie in einer anderen Gesellschaft leben würde. Und sie
wäre auch eine andere, wenn die Deutschen eine andere Ge¬
schichte hättten.“66
Kluge sieht also den Gegenstand seines Films in dem Dreier¬
verhältnis Anita - Bundesrepublik - deutsche Geschichte.
Anita ist dabei der Schnittpunkt zwischen Objektivem (Bun¬
desrepublik - deutsche Geschichte) und Subjektivem, eine Fall¬
studie über die individuellen Folgen einer unbewältigten gesell¬
schaftlichen Vergangenheit.
Anita, Tochter jüdischer Eltern, erfuhr ihre erste Bedrohung
unter dem Nationalsozialismus. Ihre Eltern, aus dem KZ-The-
resienstadt befreit, konnten nach 1945 in der damaligen Ost¬
zone noch Fabriken gründen. Ein paar Jahre Schulbildung in
der DDR brachten Anita in Konflikt mit ihren kapitalistisch
denkenden Eltern; durchs Elternhaus vermittelte und in der
Schule erlernte Wertnormen strebten auseinander. Anita floh in
den Westen, um die Unsicherheiten und Ängste ihrer Existenz
überwinden zu können, Abschied von gestern zu nehmen. Der
Film dokumentiert ihr Scheitern.
Dieses Scheitern ist aber nicht nur ein Versagen Anitas, es ist
zugleich das Scheitern der westdeutschen Nachkriegsgesell¬
schaft, die, soeben kapitalistisch konsolidiert, daran geht, ihre
nationalsozialistische Vergangenheit zu verdrängen. In solch
einer Gesellschaft kann Anita nur störend wirken. Beide stoßen
sich in dem Maße gegenseitig ab, in dem sie sich einander zu
nähern suchen. Diese Wechselbeziehung ist das Thema des
Films.
Erzählt wird diese Geschichte anhand einzelner Stationen, die
- außer durch die Person Anitas - durch Kommentare und
68
Zwischentitel aufeinander bezogen sind. In Montagen aus alten
Familienfotos wird der Bezug zur Geschichte nicht nur der
Familie hergestellt. Es sind Eindrücke und Erinnerungen, mit
denen Anita allein gelassen ist. Weder die juristischen, noch die
ökonomischen, noch verwaltete private Beziehungen können
die Vergangenheit sinnvoll in ihre Gegenwart einbringen. Die
idyllische Zone der reinen Liebe und Zuneigung, symbolisiert
in der Sequenz mit dem jungen Mann, gibt es nicht. Die Gesell¬
schaft dringt durch ihre Medien ins Bewußtsein vor: über den
Transistorempfänger plärrt das Deutschlandlied.
Es muß eingeräumt werden, und das ist bezeichnend für Klu¬
ges Film, daß die Geschichte im Film selbst nicht so übersicht¬
lich ist. Es gibt Widersprüche, Sprünge, Abschweifungen
durch Berichte von Personen, die nur peripher in die Ge¬
schichte gehören, eine Weihnachtsmarktsequenz und illu¬
strierte Kinderverse von Dr. Hoffmann. Solche Passagen er¬
schließen sich nur gefühls-, stimmungsgemäß, assoziativ, sind
also individuell erfaßbar oder eben auch nicht. Max Frisch hat
in seiner Besprechung des Films eingeräumt, „die Geschichte,
so simpel-grausam-alltäglich sie auch ist, nicht immer auf An¬
hieb verstanden“67 zu haben. Dennoch ist dieser Film Kluges,
obwohl er schon alle wesentlichen Elemente seines filmischen
Konstruktionsprinzips einsetzt, noch relativ leicht zugänglich.
Das liegt zum Teil an der Hauptdarstellerin Alexandra Kluge,
die durch ihre Person den disparaten Sequenzen Zusammenhalt
gibt, im wesentlichen aber liegt es daran, daß Kluges Montage¬
prinzip noch stark vom Symbol, vom Sinnbild her bestimmt
ist, das ein großer Teil des bürgerlichen Publikums, wenn auch
mühsam, noch zu verstehen vermag.
Die Symbole und Metaphern, die Kluge verwendet, der
schutzlose Hase, die Traumsequenz mit willensunfähigen
Zinnsoldaten, Verfolgern und Flucht, der beziehungsreiche
Text zu Beginn des Films, die Keuner-Geschichte, - sie alle
lassen sich in ihrem Sinnwert erschließen, dienen direkt der
Interpretation der ablaufenden Geschichte. Mit dieser Art der
Verbindung von Bild und Sprache ist Kluge in diesem Film
69
noch relativ konventionell, zumal das Publikum durch Filme
Godards, der eine ähnliche Technik benutzt, ein wenig vorbe¬
reitet war.
.Abschied von gestern1 ist durchaus über Symbolentschlüsse¬
lung, eine grundlegende .bürgerliche1 Interpretationstechnik,
zu erschließen. Der Zuschauer findet hier, trotz vieler Ansätze
des Gegensteuems, noch die Möglichkeit, dem Film mit sei¬
nem gewohnten Rezeptionsverhalten beizukommen. In den
kommenden Filmen entwickelt Kluge seine Montagetechnik
weiter. Den (Publikums-)Erfolg von .Abschied von gestern“
kann er nicht wiederholen. „Ratlos“, das wird der Begriff, mit
dem viele Rezipienten ihre Empfindungen beschreiben werden.
VII. ,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“
„Es wird, bei aller Tüftelei Kluges vor allem in der Bildaus¬
wahl und Kombination, die Frage sein, ob sich der Autor-
Regisseur seinem Publikum auch verständlich machen kann,
ob er bei seinem Ziel des Mitdenkens nicht zuviel vorausgesetzt
hat. Bei der Tagung der Evangelischen Akademie in Arnolds¬
heim waren immerhin eine Menge höchst interessierter Be¬
trachter ziemlich ratlos.“68 - Mit ,Die Artisten in der Zirkus¬
kuppel: ratlos“ begründete sich Kluges Ruf, unverständlich zu
sein, eine Ansicht, die sich mehr oder weniger bis heute gehal¬
ten hat.
Tatsächlich entzieht sich dieser Film weit mehr als , Abschied
von gestern“ dem mitdenkenden Zugriff des Zuschauers. Die
assoziative Montage-Technik ist hier so eingesetzt, daß die Bil¬
der und Sequenzen sich nicht mehr durchgehend zu Symbol
oder Metapher verdichten lassen, womit sich der Film zwar
stringenter der Theorie Kluges nähert, dafür aber ein Purismus
entsteht, der auf Kosten der Beziehung zum Publikum geht.
Außerdem fehlt dem Film in seiner Konstruktion eine so expo¬
nierte Hauptfigur, wie es Anita G. gewesen war, die .Abschied
von gestern“ trotz seiner Sprünge und Brüche personale Konti¬
nuität gab. Leni Peickert nun, dargestellt von Hannelore Ho¬
ger, ist nicht personeller Mittelpunkt des Films, sondern dem
zentralen Thema, einem Sachzusammenhang also, untergeord¬
net. So wirkt dieser Film, nicht zuletzt auch wegen des weitge¬
henden Verzichts auf klärende, interpretierende Schnitte, we¬
sentlich disparater als Kluges erster Spielfilm.
Um den ,Artisten‘-Film zugänglich zu machen, wurde im
Münchner Rex-Kino sogar versuchsweise das Angebot ge¬
macht, daß man den Film mit einer Eintrittskarte zweimal se¬
hen konnte. Dieses Experiment zeigt deutlich, wie sehr sich
Kluge von der üblichen Kinorezeption, die auf ein einmaliges
71
Ansehen eingestellt ist, entfernt. Im ,Film-Telegramm“ stand
darüber damals folgende Glosse: „Wer weiß aber - vielleicht ist
das der Wink! Der nächste Film, der beim ersten Ansehen ratlos
läßt, lockt das Publikum an, indem die Kinos verheißen: Wer
sich diesen Film ein zweites Mal zum besseren Verstehen anse-
hen will, bekommt gegen Vorzeigen seiner ersten Eintritts¬
karte das Geld zurück. An der Bestuhlung der Kinos werden
dann kleine Leselampen angebracht, denn es wird die Partitur
zum Film ausgeteilt, in der man mitlesen kann. Aha, sieht man
dann, jetzt kommt die motivische Vorbereitung zum Höhe¬
punkt, der nach fünfhundert Metern kommt. Ah, hier ein Ak¬
zent, und dies: aha, ein Symbol! Dies wiederum jetzt: bitte
vordergründig nehmen, ganz entspannt ... ein launiges Alle¬
gro des Filmschöpfers.“69
Trotz solcher Späße mit diesem Film, die als Maß ihres Wit¬
zes die traditionelle Filmdramaturgie nehmen, war ,Die Arti¬
sten in der Zirkuskuppel: ratlos“ ein deutsches Kinoereignis:
Bei den internationalen Filmfestspielen in Venedig 1968 wurde
der Film mit der höchsten Auszeichnung, dem .Goldenen Lö¬
wen“, gewürdigt. Seit 1936 konnte kein deutscher Film mehr
diese Auszeichnung erringen. (Damals gelang es Luis Trenker
mit .Kaiser von Kalifornien“.)
Kluge und sein Team arbeiteten an dem ,Artisten‘-Film ein
Jahr lang, von 1967 bis 1968, in der Zeit also, als die studenti¬
sche Protestbewegung ihrem Höhepunkt entgegenging. Dieses
in der deutschen Nachkriegsgeschichte wohl umwälzendste so¬
ziale Ereignis hat indirekt mit dem ,Artisten‘-Film zu tun: Ob¬
wohl Kluge nie darauf Bezug nimmt, ist der Film eine ver¬
schreckte Reaktion darauf. In der Form seiner Reaktion bezieht
Kluge indirekt sogar Stellung. ,Die Artisten in der Zirkuskup¬
pel: ratlos“ ist, trotz aller Abstraktheit, ein sehr persönlicher
und aktueller Film.
72
aber auch sehr abstrakten Linie der Studenten die Autorenfil¬
mer nicht gewachsen waren . . . Das hat dann zunächst dazu
geführt, daß ich ,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos* ge¬
macht habe ...
Der Film resultierte einfach aus der Frustration über die Ber¬
liner Filmfestspiele und über die Trennung von Reitz, der, er¬
schreckt durch die faulen Eier, die damals von den Akademie¬
studenten auf Patalas und uns geworfen wurden, sich von Ulm
und mir trennte .. . Natürlich ist dann das Thema, das mich
bewegt, die Lage, in der wir uns selbst befinden, die wir uns
auf dem hohen Seil, den Trapezakten der fine arts bewegen. Da
gab es keine Planung und auch kein Drehbuch.“70
73
Ansichten seines Darstellers.“71 So kann die Figur der Leni
Peickert auch keine durchgehende Identifikationsfigur für den
Zuschauer sein, da sie sich selbst während des Arbeitsprozesses
verändert. Das erschwert zusätzlich eine einfühlende Rezep¬
tion. Der Zuschauer wird in noch stärkerem Maße Beobachter
als bei ,Abschied von gestern*.
Sträubt sich der Film in seinem Ablauf weitgehend gegen
Symbol- und Metaphemdeutung, so besitzt er doch eine Leit¬
metapher, die den gesamten Film überlagert: der Zirkusartist
ist der Künstler, der Zirkus die Kunstproduktion selbst.
,,Sie haben sich bis hier oben vorgearbeitet. Jetzt wissen sie
nicht, was weiter. Sich Mühe geben allein, nützt gar nichts. Die
Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ (Artisten, S. 11)
Ein Film über die Situation der Kunst und der Kunstprodu¬
zierenden in der Bundesrepublik gegen Ende der 60er Jahre
also. Ein Film, der sich auch mit sich selbst und der Situation
seines Schöpfers befaßt. Kluges Motiv, den Film zu machen,
war - aus der Frustration heraus - der Protest gegen den Pro¬
test, dem die Produkte des jungen deutschen Films damals be¬
gegneten. Von der politisch aktiven - meist studentischen -
Basis der Diskussion um gesellschaftliche Veränderung abge¬
lehnt und verstoßen, setzt bei Kluge die Reflexion über Situa¬
tion und Funktion der Kunst und der Kunstproduzierenden
ein. Insofern sind Versuche, den Film allein als Auseinanderset¬
zung mit der Situation des jungen deutschen Films zu
verstehen, möglich, aber zu eng. Das Kuratorium Junger Deut¬
scher Film würde aus dieser engen Sicht heraus zum ,,deus ex
machina, ähnlich Leni Peickerts plötzlicher Erbschaft“.72 Sol¬
chem Direktzugriff versucht sich der Film gerade zu entziehen,
um zu einer grundsätzlicheren Position zu gelangen. Außerdem
- um im Bilde zu bleiben - wird man nicht sagen können, der
junge deutsche Film hätte damals bereits jene Höhe erreicht, die
rechtfertigte zu sagen, er wäre bereits unter dem Kuppeldach
angelangt. Dazu waren weder die Förderungsgelder noch der
Anstoß, der von der krisenhaften Kinosituation ausging, hin-
74
reichend. Der Film stellt deshalb auch nicht die Frage, welche
ästhetische Qualität die Kunst erreichen muß, sein Problem ist
vielmehr, welche Funktion Kunst in einer kapitalistischen Ge¬
sellschaft haben kann, ob sie in einer geldorientierten, waren¬
produzierenden Gesellschaft - wie eingeschränkt auch immer -
noch möglich ist.
Leni Peickerts Utopie eines Reformzirkus, einer Kunstpraxis
also, die nicht den herrschenden gesellschaftlichen Normen
einzugliedern ist, wird zum Exempel, an dem geprüft wird,
welchen Einfluß kapitalistisch tauschwertorientiertes Denken
und Handeln auf eine sich dem entziehende Kunstproduktion
ausübt.
Dieses Exempel bildet die Grundstruktur des Films, an der
sich auch die Stationen des Geschehens orientieren, auch wenn
sie durch häufige, nicht immer sofort einsichtige, sich verselb¬
ständigende Ansätze zu Nebenhandlungen manchmal über¬
deckt sind.
Die Metapher des Zirkus erscheint gerade in der Zeit der
Versuche der Umwälzung verfestigter gesellschaftlicher Ver¬
hältnisse durch die studentische Protestbewegung und die APO
gegen Ende der 60er Jahre besonders geeignet, denn der Zirkus
ist eine ursprünglich bürgerlich-revolutionäre Kunstform. Er
stammt aus der Zeit der Französischen Revolution, er sollte der
ästhetische Ausdruck des neuen, revolutionären Menschen
sein. Der Mensch der Französischen Revolution fühlte sich
nach dem Sprengen der absolutistischen Ketten frei, omnipo¬
tent, gesellschaftlicher Wille hatte die lange Zeit als natürlich
empfundenen Verhältnisse verändert. der Mensch be¬
zwingt die Natur . ..
Die Tiere im Zirkus vollbringen, weil sie dem Menschen
gehorchen müssen, unglaubliche und nie gesehene Leistungen.
Löwen sind zahm, machen Männchen. Elefanten stehen auf
einem Bein, was sie dem eigentlichen Gewicht ihres Körpers
nach gar nicht können dürften. Die physikalischen Gesetze sind
mit Rücksicht auf den revolutionären Willen des Menschen
aufgehoben.“73 Dieser einstmals revolutionäre Wille des Bür-
75
gertums existiert längst nicht mehr. Er hat sich in einen restau-
rativen Willen verwandelt. Die bürgerliche Gesellschaft hat
sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus und Imperia¬
lismus eine zweite Natur aus Verdinglichungen, Wertabstrak¬
tionen und ideologischen Verkehrungen geschaffen, die den
Blick auf die erste Natur und die einst progressiv-revolutionä¬
ren Ziele verstellt. Im Bild des Zirkus ist dieser totgelaufene,
erstarrte revolutionäre Impetus der bürgerlichen Welt ver¬
ewigt. Kluge zeigt nun an den Versuchen, einen Reformzirkus
ins Leben zu rufen, der die Tiere im Gegensatz zur ursprünglich
revolutionären Idee authentisch, natürlich zeigt, wie der Kunst
im Kapitalismus der revolutionäre Wille ausgetrieben wird.
,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ beginnt mit zwei
Sequenzen, die beide den Titel ,Trauerarbeit“ tragen.
,,1. Trauerarbeit: Tag der deutschen Kunst 1939 ... 2. Trauer¬
arbeit: Manfred Peickertf.“ (Artisten, S. 11) Die erste Sequenz
besteht aus Dokumentarmaterial der deutschen Wochenschau
und zeigt Bilder von Hitlers Auftritt bei der Vorführung natio¬
nalsozialistischer Monumental werke, unterlegt mit der Stimme
eines spanischen Pop-Sängers, „der ,Yesterday“ knödelt“.74
Die zweite Sequenz stellt Manfred Peickert, den Vater Lenis
vor, der den Zirkus im traditionellen Sinne verbessern will,
indem er weiterhin den Willen des Menschen gegen die Natur
der Tiere wendet. Sein Plan: Elefanten in die Zirkuskuppel zu
hieven. Dieser Plan kann nicht verwirklicht werden. Eines Ta¬
ges überfällt ihn Melancholie, er greift am Trapez nicht mehr in
die Hände seines Partners, er stürzt zu Tode.
Beide Sequenzen sind unter dem psychoanalytischen Begriff
der Trauerarbeit zu verstehen, kollektiv und individuell. Beide
berichten über das Scheitern eines Versuchs, die Kunst zu revo¬
lutionieren. Beides waren Scheinversuche.
Die Revolutionierung der Kunst, die der Nationalsozialis¬
mus vornahm, endete in deren Perversion, Kunst wurde kulti¬
schen, repräsentativen Zwecken unterworfen. Manfred Peik-
kert plante keine wirkliche Reform, sondern nur eine Steige¬
rung der traditionellen Perversion im Zirkus.
76
Beide Versuche scheitern, nur die Art ihrer Bewältigung, die
Trauerarbeit, verläuft unterschiedlich. Das deutsche Volk hat
im Verhältnis zum Nationalsozialismus (und zu dessen Kunst)
keine Trauerarbeit geleistet, das heißt, sich kollektiv nicht an
die schmerzliche Erinnerungsarbeit gemacht, die „ein stück¬
weises, fortgesetztes Zerreißen der Bindung an das geliebte
Objekt und damit ein Erlebnis von Rissen und Wunden im
Selbst des Trauernden“75 zur Folge hat. Leni Peickert hingegen
arbeitet das Erbe Manfred Peickerts auf, macht sich ihrerseits
individuell an die Trauerarbeit, sie plant „einen Zirkus, der
eines Toten wert ist“ (Artisten, S. 54, S. 17). „Die Trauerarbeit
ist nicht auf Restitution schlechthin aus, sie bringt uns langsam
dazu, die definitive Veränderung der Realität durch den Verlust
des Objektes zu akzeptieren . .. Das hat zur Folge, daß am
Ende der Trauerarbeit das Individuum verändert, das heißt ge¬
reift, mit einer größeren Fähigkeit, die Realität zu ertragen, aus
ihr hervorgeht.“76 Die Trauerarbeit Leni Peickerts, ihre Ein¬
sichten, ihr Prozeß der Veränderung während der Bemühun¬
gen um ihren Reformzirkus ist das Thema des Films. Dabei
muß sie sich auch mit dem auseinandersetzen, was die kollektiv
versäumte Trauerarbeit hinterlassen hat.
„Leni Peickert will einen eigenen Zirkus aufmachen.“ (Arti¬
sten, S. 16) „Wir wollen die Tiere authentisch zeigen.“ (Arti¬
sten, S. 18). Als Vorarbeit dazu übt sie selbst artistische Lei¬
stungen ein, orientiert sich bei Zirkusbesuchen über das Spit¬
zenniveau, besucht andere Artisten, die staatliche Artistenver¬
mittlungsstelle im Moskauer Ministerium für Kultur, will als
Beraterin beim Fernsehen (Serie: Salto mortale) Geld verdie¬
nen, lehnt ein Engagement als Truppenbetreuerin in Saigon,
im Vietnamkrieg also, ab, informiert sich in Vorträgen Herrn
von Lüptows über die Situation der Artisten heute, berät sich
mit ihrem Freund Dr. Busch, einem Werbefachmann. Ihre er¬
ste Einsicht: „Angesichts der unmenschlichen Situation bleibt
dem Künstler nur übrig, den Schwierigkeitsgrad seiner Künste
weiter zu erhöhen.“ (Artisten S. 23) Damit plädiert sie zu¬
nächst, wie ihr Vater, für ein Spezialistentum, das sich auf
77
Dauer mit seinen Höchstleistungen, die der Zuschauer nicht
mehr einsehen kann, vom Rezipienten entfernt.
Im Grunde geht es ihr aber nicht nur um die zunehmende
Verfeinerung der Kunst, sondern um deren gesellschaftliche
Verankerung. Also versucht sie, die Prinzipien dieser Gesell¬
schaft zu übernehmen: „Frau Peickert sieht ein, daß sie nicht
Artistin bleiben kann, wenn sie,freie Unternehmerin sein will.
Nur als Kapitalist ändert man das, was ist.“ (Artisten, S. 29) Sie
kauft einen Elefanten, mietet einen Tierlagerplatz, bittet Herrn
von Lüptow um einen Kredit, macht ihn zu ihrem Stellvertre¬
ter. Ihre Freundin Gitti Bornemann, eine Millionärin, besucht
sie. Leni Peickert verbietet, sie um Hilfe zu bitten. Sie kommt
in Zahlungsschwierigkeiten. „Sie schuldet um auf Großban¬
ken, die kleinen Banken werden es ihr danken.“ (Artisten,
S. 31) Ihre Schwierigkeiten verringern sich nicht. Noch bevor
sie ihren Zirkus eröffnen kann, ist sie bankrott. Ihre neue Er¬
kenntnis: „Tut der Kapitalist, was er liebt, und nicht, was ihm
nützt, wird er von dem, was ist, nicht unterstützt.“ (Artisten,
S. 32) Ihre Tiere werden abgeholt.
Gitti Bornemann stirbt, Leni Peickert wird Universalerbin.
War der erste Reformzirkus daran gescheitert, daß kein Geld
vorhanden war, so wird nun das Exempel über die Kunstpro¬
duktion in der Bundesrepublik dadurch erweitert, daß eine Si¬
tuation vorgegeben wird, in der Geld keine Rolle spielt. Der
Versuch geht auf einer neuen Grundlage weiter. Die Erbschaft
Leni Peickerts ist aus dem Film dramaturgisch nicht begründ¬
bar; sie soll lediglich für das Planspiel neue Bedingungen set¬
zen, die im folgenden untersucht werden können. Leni Peickert
wird Unternehmerin, engagiert Artisten, gibt eine Pressekon¬
ferenz, berät ihr Programm mit dem Dramaturgen Herrn Will-
kins und ihrem Pressechef Herrn Arbogast. Sie kauft das Ge¬
bäude eines Winterzirkus. „Vier Wochen vor der Premiere ist
noch nicht entschieden, ob der Reformzirkus eine oder drei
Manegen haben soll.“ (Artisten, S. 41) Leni Peickert versucht,
ihr Programm über den rein artistischen Aspekt hinaus zu poli¬
tisieren.
78
„Erster Teil: Die Clowns ... 3. Nummer: Die Erschießung
von Kaiser Maximilian, . .. Zweiter Teil: Die Tiere ... 2.
Nummer: Ein afrikanischer Elefant überwindet drei Gitter und
stürmt auf das Publikum. Er scheint gewalttätig. In der Zirkus¬
kuppel ist die Attrappe eines japanischen Sturzkampfflugzeuges
aufgehängt. Wird diese Abschreckung den gewaltigen Dick¬
häuter zurückhalten?“ (Artisten, S. 42)
79
Fernsehen unterhält sie eine GmbH für Romanserien, die ihre
Mitarbeiter des Nachts schreiben. Sie weitet ihr Kunstinteresse
auch auf die Literaturproduktion aus. „Irgendwann einmal
wächst dies zusammen: Die Liebe zur Sache, die Romane und
die Fernsehtechnik.“ (Artisten, S. 51)
80
sehe Konstruktionsprinzip Kluges hinweg, in der Hoffnung,
den Leser in den Stand zu versetzen, daß er beim Betrachten des
Films, also während der adäquaten Rezeption, sich eher auf
dieses Prinzip einlassen kann.
,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ erscheint tatsäch¬
lich sehr viel disparater und diskontinuierlicher, auch weil die
improvisierten Dialoge nicht immer einen in sich stimmigen
Kontext aufweisen. („Jeder Dialog ist kompromißlos beschä¬
digt.“77) Den dramatischen Dialog gibt es bei Kluge nicht
mehr. Die Handlung wird nicht über ihn transportiert. Diese
Funktion übernehmen Zwischentitel und Kommentare. Sie tei¬
len die Fortschritte und Entwicklungen Leni Peickerts mit, ihre
Einsichten, die nicht im Bild formulierbar sind.
Die Bilder des Films haben sich nicht von dem Glimmer der
Zirkuswelt beeinflussen lassen. Der Film hat auch nur zwei
Farbsequenzen, eine zu Beginn mit einigen Zirkuseinstellungen
und eine am Ende mit Korti. Die Schwarzweiß-Fotographie ist
durchgängig von leichter Melancholie bestimmt: Das Zirkus¬
zelt wird im Regen abgebaut, die Tiere werden des Nachts
verladen. Der Ablauf des Geschehens wird immer wieder un¬
terbrochen durch einmontierte Einzelbilder, Photos berühmter
Zirkuspersönlichkeiten, von Bildfolgen aus der Pulvermühle,
wo 1967 die Gruppe 47 letztmals tagte - Kluge stellt sie als
Konferenz der Zirkusdirektoren vor („ich glaube, daß im Kon¬
zertsaal die gleichen Probleme Vorkommen, wie in der Litera¬
tur, wie im Zirkus, wie im Film“78) -, von Filmzitaten, die
Leni im Kino sieht, vom Opernball 1968 in Stuttgart, auch eine
zirzensische Veranstaltung, von einer Klavierspielerin, die sich
verbeugt, ebenso ein Ritual aus dem Zirkus, von Astronauten
in Raumschiffen: „Raumfahrliebe“ (Artisten, S. 27).
Dazwischen gibt es ausführliche Aufnahmen von Tieren des
Zirkus. Kluge hat eine ausgesprochene Vorliebe für die Elefan¬
ten: sie stehen auf einem Bein, üben, stehen herum, bilden
Gruppen, nehmen ein Morgenbad, werden des Nachts über die
Grenze geschafft. Der Elefant ist das Symbol des Erinnerns, des
Geschichtsbewußtseins: „Die Dickhäuter schwören: Wir ver-
81
gessen nichts!“ (Artisten, S. 15) Sie vergessen weder den Brand
des Elefantenhauses von Chicago, bei dem sie betrogen worden
sind („Wieder sagte der Direktor: Das ist nur eine Übung. Das
ist nur scheinbar Feuer.“ Artisten, S. 15), noch vergessen sie
den Nationalsozialismus wie der größte Teil der Bevölkerung
der Bundesrepublik. Sie leisten Trauerarbeit:
Die Strophe „Die Wahrheit ist ...“ wurde von den Sowjets
Weihnachten über den eingekesselten deutschen Truppen in
Stalingrad abgeworfen. Auch in diesem Film findet sich also
ein Bezug zum Untergang der 6. Armee, der parabelhaft über¬
höhten Wende der Geschichte des Nationalsozialismus, an dem
sich Kluge literarisch abarbeitet. Das Motiv der Elefantenrache
nimmt Kluge 10 Jahre später in seinen .Neuen Geschichten“
erneut auf.
Als soziale Funktion von Kunst erscheint in diesem Film die
Utopie. Das Ziel der Kunst ist - mit den Worten Ernst Blochs -
das Noch-nicht-gewordene, aber Real-mögliche herauszuar¬
beiten; Voraussetzung zur Utopie ist die Liebe zur Sache, die
Liebe Leni Peickerts zum Zirkus. „Liebe ist (sagt Kluge) ein
konservativer Trieb: deshalb sprengt Leni den Zirkus nicht in
die Luft.“79 Stattdessen versucht sie, ihn zu ändern, zu refor¬
mieren, ihn ihrem utopischen Leitbild anzunähern, die Tiere
82
authentisch zu zeigen („Der Dompteur: Authentisch sind sie
nur im Dschungel.“ Artisten, S. 18). Dabei läuft Leni Peickert
Gefahr, ihre Utopie durch konkrete Realisation zu zersetzen,
eine ästhetische Form zu finden, die die Qualität der Utopie als
eines Noch-nicht aufhebt. Deshalb entschließt sie sich, den Re¬
formzirkus, sprich: die ideale Kunst, im letzten Augenblick
doch nicht zu verwirklichen. ,,. .. daher die (der) Utopie inne¬
wohnende Melancholie: sie zielt auf Verwirklichung, darf sie
aber nicht erreichen, wenn sie bleiben will, was sie ist ... Die
dialektisch unauflösbare Struktur von Utopie ist das Baumu¬
ster des Films.“80 Sozial konkret zu werden hieße, so die Stel¬
lungnahme Kluges zur gesellschaftlichen Funktion von Kunst,
ihre abstrakte Sphäre verlassen zu müssen. Kunst ist direkt
politisch nicht wirksam. Wer politisch verändern will, muß in
die Sphäre der Politik. „Aber mit lauter kleinen Schritten
könnte ich Staatssekretärin im Auswärtigen Amt werden.“
(Artisten, S. 53) Damit formuliert Kluge, parallel zur außerpar¬
lamentarischen Opposition, die Strategie vom langen Marsch
durch die Institutionen. Unter diesem Aspekt erscheint der
letztlich doch abstrakte Film Kluges politisch dennoch sehr
aktuell.
Aus dem Material, das Kluge nicht in die Endfassung des
,Artisten‘-Films auf genommen hat, hat er noch einen etwa ein-
stündigen Film montiert, ,Die unbezähmbare Leni Peickert1
(1969). Der Film berichtet über Lenis Untergrundarbeit beim
Fernsehen, wo sie versucht, einen unzensierten Film ins Pro¬
gramm zu schmuggeln. Der Plan gelingt auch, aber anschlie¬
ßend wird sie entlassen. Sie wendet sich daraufhin wieder dem
Zirkus zu, erkennt schließlich aber, daß sie die Liebe zum Zir¬
kus unkritisch von ihrem Vater übernommen hat, daß es nicht
ihre eigene Liebe ist. Der Zirkus wird für sie fortan zum Geld¬
erwerb.
VIII. ,Der Große Verhau1
Die Science-fiction-Filme
84
der Science-fiction-Helden unterscheiden sich nicht von den
gegenwärtigen Mustern; die gigantische Entwicklung der
Technik hat auf sie offenbar keinen Einfluß. Auf diese Weise
suggeriert der Science-fiction-Film idealistisch die Existenz
ewiger Werte, die technische Umwelt hat scheinbar keinen
Einfluß auf den Menschen, ist Zugabe, Staffage.
Zur Ideologie des herkömmlichen Science-fiction-Films ge¬
hört auch die Projektion einer gefährlichen unheimlichen Be¬
drohung von außen, um die eigenen Widersprüche im Inneren
zu überdecken. Die kapitalistisch-imperialistische Welt muß
sich, so wird suggeriert, gegen Feinde von außen verteidigen;
das Recht liegt selbstverständlich auf Seiten der Verteidiger.
Die Empfindungen, die diese Science-fiction-Filme bei ihren
Betrachtern auslösen, sind Grauen, Schrecken und Angst vor
der extraterrestrischen Bedrohung einerseits, andererseits aber
auch Bewunderung für den enormen technischen Standard, der
in den kommenden Jahrtausenden herrschen soll.
Anders die Filme des Ulmer Teams: Sie stellen nicht den
technischen Standard in den Mittelpunkt der Produktion, ver¬
zichten auf das Motiv der Außenbedrohung, evozieren auch
keine Erlösungsgefühle angesichts des Siegs der alten Welt,
wenn Angst und Schrecken im happy ending verwehen.
Kluge berichtet in einem Interview mit Ulrich Gregor über
die Entstehung der Filme und über die Fehler, die damals be¬
gangen wurden. „Ein Drehbuch zu diesen drei Filmen ist nie
geschrieben worden. . .. Zum Schluß der Filme, da wußten
wir, wie wir sie hätten machen sollen. Hätten wir da noch Geld
gehabt, so hätten wir mit Sicherheit einen sehr, sehr guten Film
gemacht. Wir könnten jetzt aufgrund des know-hows, das wir
uns da erarbeitet haben, einen sehr guten Science-fiction-Stan¬
dard entwickeln. ... so ein Robinsonismus wird immer bezahlt
mit einer ganzen Reihe von grotesken Irrtümern.“83
Kluge sieht heute die Science-fiction-Filme selbst sehr kri¬
tisch, als über das Stadium des Versuchs nicht hinausgekom¬
men. Der Ansatz des Teams war die Suche nach einer Film¬
technik für Science-fiction, die nicht von der im Hollywood-
85
film alles beherrschenden Kulisse und Staffage ausging, was
ungeheure Produktionskosten für Bauten und Modelle bedeu¬
tet hätte, Vorbild waren vielmehr die Anfänge des Films, die
Technik der frühen Filme von Georges Melies, ,Le voyage dans
la lune‘ (1902) und ,Le voyage ä travers l’impossible“ (1904).
Melies knüpfte bei seinen Filmen an Techniken der Illusions¬
bühne an, an Zauberkunststückchen, entdeckte die Doppelbe¬
lichtung, die Zeitraffung, baute Kleinstmodelle, die er sehr
groß aufnahm, kurz: er stellte mit einfachen Mitteln und den
technischen Möglichkeiten des Films (nicht nur des Kulissen¬
baus und der Bühnenbildnerei) seine naiven, aber phantasievol¬
len Filme her, bei denen die Leistungsprinzipien des techni¬
schen Fortschrittes noch nicht im Mittelpunkt standen.
An diese Ursprünge des Films anzuknüpfen, entspricht ge¬
nau Kluges Interessen. In vielen seiner Filme greift er auf Tech¬
niken des Films aus dessen stummer Frühzeit zurück, auf Zeit¬
rafferaufnahmen und Zwischentitel. Teilweise erinnert auch
die Tonmontage seiner Filme an die Aufgabe der Musik, die
Bilder zu untermalen, wie es in der Stummfilmzeit in den Ki¬
nos üblich war. Nirgends aber ist die Anknüpfung an die Ur¬
sprünge des Films so deutlich wie in den Science-fiction-
Filmen.
Da ist z.B. das bewußte Gegensteuern gegen die monströse
Hollywoodtechnik, die sich an modischem Design orientiert,
dem letztlich auch die NASA selbst unterliegt. Die Raum¬
schiffe des Ulmer Teams hingegen sind äußerst einfach, wirken
teilweise sogar lächerlich, wenn man ihren Ursprung wiederer¬
kennt. „Technisch sind in meinem Film alle Raumschiffe aus
den Innereien von Fernsehgeräten zusammengebaut.“84 Da
fliegen dann Röhren, Widerstände und Kondensatoren zu flot¬
ter Marschmusik durch den Raum: „Parade der 6. Raumflotte
vor ihrem Oberbefehlshaber“85, der stramm die Hand an die
Mütze hebt.
Wie wenig verselbständigte Technik in diesem Film eine
Rolle spielt, wird auch daran deutlich, daß Kluges Personen
nicht wie anachronistische Beigaben wirken, sondern nach wie
86
vor, auch im Jahre 2034, im Zentrum des Interesses stehen.
„Fast penetrant hält er an ihnen fest in Großaufnahmen.“86 Für
Kluge geht es auch in den Zukunftsvisionen um die Reaktionen
des Menschen auf seine veränderte Umwelt.
In welcher Weise aber hat sich die Umwelt verändert? In
diesem Punkt läßt Kluge seiner Phantasie nicht ungehindert
freien Lauf. Er erfindet keine neuen Mythen oder transponiert
alte in die Zukunft, läßt auch keine extraterrestrische Bedro¬
hung fremder Intelligenzen die Erdenwesen schrecken, viel¬
mehr mißt er mit der wissenschaftlichen Elle. Eine Untersu¬
chung über das Monopolkapital von Paul A. Baran und Paul
M. Sweezy bildet die theoretische Grundlage des Films ,Der
große Verhau“; die Schlacht bei Stalingrad ist das Modell von
,Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte“. Es geht dem
Team um Kluge also nicht um Phantastisches um des Phanta¬
stischen willen, es geht vielmehr um das Vorführen der mögli¬
chen, d.h. in den ökonomischen Strukturen des Kapitalismus
angelegten Tendenzen.
Der Monopolkapitalismus als System besteht nicht nur aus
den riesigen Kapitalgesellschaften; zwischen ihnen existieren
auch genügend kleinere Unternehmen, die von den großen al¬
lerdings bereits in ihr Kalkül einbezogen werden. Die Kleinen
sind beweglicher, können sich wechselnden Trends leichter an¬
passen. Sie werden von den Monopolgesellschaften beobachtet:
Sind sie erfolglos, läßt man sie wursteln, sind sie erfolgreich,
werden sie aufgekauft. „Es ist sowohl realistischer als auch
fruchtbarer, mit dem Anfang zu beginnen, in dem man neben
dem Sektor der Monopole einen mehr oder weniger umfang¬
reichen Sektor kleinerer Unternehmen einbezieht; .. .“87
,Der große Verhau“ knüpft an diesen realistischen Anfang“
an. Nach der industriellen Ausbeutung der Jupitermonde, so
wird vorausgesetzt, und des Planeten Pluto erfolgte im Jahr
2034 die Besiedlung der Milchstraße, die vorläufig beim Ster-
nensystem Krüger 60 haltgemacht hat. Der Film führt mit Ti¬
teln in die Situation ein. Entsprechend der Anknüpfung an die
Stummfilmtradition enthalten die Science-fiction-Filme gegen-
87
über den anderen Filmen Kluges ein Übermaß an Titeln, die
letztlich versuchen sollen, die chaotischen, improvisierten Dia¬
loge wenigstens in Ansätzen zu ordnen. Das gelingt nicht im¬
mer. Die Filme wirken, trotz aller sprachhchen Unterstützung,
zerrissen. Zwei Familien versuchen, zu Beginn des Films, in
ihren Raumschiffen den Rand der Galaxis zu erreichen; sie hof¬
fen, einen Planeten zu finden, der noch nicht von der Suez-
Kanal-Gesellschaft okkupiert ist. Das gelingt nicht. Die Suez-
Kanal-Gesellschaft beherrscht mit eigenen Truppen und Werk¬
schutz die Galaxis, in der ein Bürgerkrieg tobt.
Gegen diese Übermacht zu bestehen, versucht die Kleinfirma
Joint Galactical Transports mit der Chefin Ida Fürst. Sie läßt
ihre Flotte mit alten Raumschiffen gewagtere Strecken fliegen
und kann deshalb billiger sein als die Monopolgesellschaft.
Raumpilot Douglas, ein ehemaliger Meuterer, heuert bei Ida
Fürst an. Douglas geht sehr locker mit der Bordkanone um,
.beleuchtet“ zu Weihnachten eine Bodenstation und schießt
kleinere Transportschiffe ab. Ida Fürst muß die Haftung über¬
nehmen. Die Joint Galactical Transports kann sich nicht mehr
halten, die Suez-Kanal-Gesellschaft kauft sie auf. Douglas
versucht, alte Konstruktionsunterlagen für die verschrotteten
Raumschiffe der J. G.T. zu bekommen, um die Schiffe für Re¬
volutionäre, die zur Zeit nicht über Raumschiffe verfügen,
nutzbar zu machen.
Mr. Hunter, der letzte Amerikaner und Milliardär, kommt
am Schluß des Films in neutraler Absicht in die Nähe von
Krüger 60. Im Bürgerkrieg der Galaxis wird aber keine Neu¬
tralität mehr anerkannt, Hunter wird abgeschossen.
In diese ökonomische Fallstudie eingeschachtelt ist die Ge¬
schichte der Raumakkumulateure Vincenz und Maria Sterr.
Die Sterrs, sie sprechen bayerischen Dialekt, sind im Bürger¬
krieg ausgebombt und führen jetzt ein Freibeuterdasein. Sie
zerstören die Elektronik anderer Raumschiffe, bringen diese
dadurch zum Absturz, plündern sie aus oder verkaufen sie der
Versicherung. Zwischenzeitlich werden sie verhaftet, aber bei
einem Alarm gelingt es ihnen, wieder zu entkommen. Sie
88
schreiben dem Präsidenten der Republik, was sie als Akkumu-
lateure bezwecken.
89
Individuen bedarf. Eine totale Unterdrückung des Menschen
nach Orwells Muster ist nicht denkbar. Kluge folgert daraus,
„daß der Versuch einer totalen Beherrschung zur Explosion
führt ... Die Gegenreaktion der konkreten, lebendigen Interes¬
sen ist Opposition.“90 Diese Opposition wird von militärischen
Einheiten niedergeschlagen, die Reaktion darauf ist bewaffne¬
ter Widerstand, Bürgerkrieg. Mit dieser gesellschaftlichen
Konstellation bringt Kluge zwar auch in seine Science-fiction-
Filme das Phänomen des Krieges, jedoch ist es keiner gegen
einen Außenfeind, „sondern die menschliche Gesellschaft
kämpft gegen ihr eigenes Bild.“91
Diese These liegt in besonderer Weise auch dem zweiten
Film zugrunde. ,Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte'
spielt im Jahre 2042, also 100 Jahre nach der Schlacht bei Stalin¬
grad. In diesen Film hat Kluge Materialien und Motive aus
einem Drehbuch für eine geplante, aber nicht realisierte Verfil¬
mung der ,Schlachtbeschreibung' eingearbeitet.
Willi Tobler, ein von der Angst geplagter Mensch (Darsteller
ist Alfred Edel), der sich nur im Zentrum der Macht sicher
fühlt, versucht, in jeder Lebenslage opportunistisch im Zen¬
trum der Sicherheit zu bleiben. Tobler, Kybernetikprofessor,
ist zuerst 3. Pressesprecher im Oberkommando der 6. Flotte.
Nach deren Vernichtung in einer Kesselschlacht - eine deutli¬
che Parallele zu Stalingrad; auch hundert Jahre danach kann sich
der organisatorische Aufbau dieses Unglücks wiederholen -
bietet er seine Dienste dem Sieger an. Als die alten Kräfte wie¬
der an die Macht kommen, entstehen für den Mitläufer Tobler
Schwierigkeiten.
, Willi Tobler' bezieht seinen Reiz aus der besonderen Anlage
des Themas: Kluge verlegt Verhaltensweisen der Menschen
von 1942 ungebrochen ins Jahr 2042, und gerade damit bricht
er sie. Walter Jens hat diese Verlagerung, diese zeitliche Ver¬
fremdung in seiner Besprechung der Fernsehausstrahlung des
Films treffend dargestellt. „Im übrigen aber ist alles beim alten
geblieben: PK-Berichter feiern fröhliche Urständ; man zotet
und schiebt, wird geschaßt und befördert und wieder geschaßt;
90
Offiziere reden wie Offiziere und legen noch immer salopp die
Hand an die Mütze; wenn paradiert wird, sehen sich galakti¬
sche Formationen von fritzischen Weisen begleitet; die Helden
von einst haben alle Katastrophen unversehrt überstanden: Im¬
mer auf der Seite der Macht heißt die Devise.“92
,Willi Tobler“ ist in seinem Aufbau eine Travestie. Inhaltlich
gleich gebliebene Strukturen, z.B. der Kriegsberichterstattung
werden in einen anderen Zusammenhang, in eine andere Zeit,
in eine andere Form, nämlich in den Science-fiction-Film,
montiert. Daraus entsteht Komik. Willi Tobler ist durchaus ein
komischer Film, was in der Hauptsache an Alfred Edel liegt,
kann aber diese Stärke unter dem Eindruck passagenweise
chaotischer Zerrissenheit nicht voll zur Geltung bringen.
So ist ,Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte“, wie die
Science-fiction-Serie überhaupt, auf der Stufe des Experiments
stehen geblieben. Aus dem verbliebenen Material hat Kluge
noch einen Kurzfilm montiert. 1977 hat er den Film über Willi
Tobler noch einmal umgeschnitten, aber auch diese neue Fas¬
sung ,Zu böser Schlacht schleich ich heut nacht so bang“ konnte
sich, wie die anderen Science-fiction-Filme auch, in den Kinos
nicht behaupten.
IX. ,Öffentlichkeit und Erfahrung1
92
dürfnis seiner (studentischen) Leser nach einer historisch und
systematisch geordneten theoretischen Anleitung selbstgefällig
hinwegsetzt, wodurch Lernprozesse manchmal eher blockiert
werden.“96
Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob sich der Gegen¬
stand des Buches völlig stringent-systematisch ordnen läßt, ob
Lösungsvorschläge praktischer Art überhaupt zu machen sind -
auf diese Fragen kommen wir zurück -, abgesehen davon ist
festzuhalten, daß das Buch sehr disparat und diskontinuierlich
wirkt, nicht zuletzt auch durch einen Anhang mit 173 Seiten
(mehr als 'A des Buches), der 20 Kommentare verschiedener
Art zum Begriff der proletarischen Öffentlichkeit enthält. Aber
auch innerhalb der einzelnen Kapitel ist keine differenzierende
Gewichtung entsprechend den im theoretischen Zusammen¬
hang wichtigen oder nebensächlichen Assoziationen und Hin¬
weisen erfolgt. „Kokett erscheinen zentrale Passagen in den
Fußnoten versteckt.“97 So erscheint das Buch, auch wegen der
überbordenden Vielfalt der teils nicht weiter verfolgten
Aspekte als schwer rezipierbar und über weite Strecken verwir¬
rend, da überdies auch die Zusammenhänge nicht immer sofort
einsehbar sind.
Dennoch: .Öffentlichkeit und Erfahrung1 ist ein wichtiges
Buch, das notwendig war, Verfestigungen von Positionen, die
durch die Resignation nach dem Scheitern der studentischen
Protestbewegung eingetreten waren, aufzuheben. „So konnte
das Buch nach seinem Erscheinen 1972/73 die streng dogmati¬
schen Rituale bei Teilen der radikalen Linken aufbrechen helfen
und Gesprächen über Bedürfnisse, Bewußtsein und alternative
Verkehrsformen den Weg bereiten. In der Folge kam der .ob¬
jektive Faktor Subjektivität“ wieder in den Blick.“98
.Öffentlichkeit und Erfahrung“ beschäftigt sich zum einem
damit, wie Öffentlichkeit die Erfahrung der Menschen in der
Verkehrsform als bürgerliche Öffentlichkeit blockiert, anderer¬
seits damit, wie diese Erfahrungen in der Verkehrsform einer
proletarischen Öffentlichkeit freigesetzt werden können. So
steht der Begriff der .proletarischen Öffentlichkeit“ (der Begriff
93
stammt nicht von Negt/Kluge, er taucht schon verschiedent¬
lich, wenn auch unspezifisch, in der Geschichte der Arbeiterbe¬
wegung auf) als Gegenkategorie zur bürgerlichen Öffentlich¬
keit, jedoch ohne daß ihm eine existierende Verkehrsform ent¬
spräche. Proletarische Öffentlichkeit ist eine utopische Zielvor¬
stellung über einen selbstbestimmten, unentfremdeten Lebens¬
zusammenhang der Menschen, der nicht exakt definiert wer¬
den kann, bis er real geworden ist. Deshalb bleibt diese zentrale
Kategorie, ebenso wie der Begriff .proletarische Erfahrung“, in
diesem Buch unpräzise, schillernd. Es geht Oskar Negt und
Alexander Kluge auch gar nicht darum, eine neue Begrifflich-
keit in die Theoriediskussion einzuführen oder gar diesen zu¬
künftigen gesellschaftlichen Zustand zu beschreiben, vielmehr
geht es ihnen darum, strukturelle Ansätze und Bedingungen zu
entwickeln, unter denen diese proletarische Erfahrung sich or¬
ganisieren kann. Ihre Organisation ist unter den Verhältnissen
bürgerlicher Öffentlichkeit nicht möglich.
Die bürgerliche Öffentlichkeit mit ihren bestehenden Ver¬
kehrsformen stellt sich dar als ein umfassender Blockierungs¬
mechanismus menschlicher Erfahrung: Bürgerliche Öffentlich¬
keit ist zunächst einmal ein übergreifender Legitimationszu¬
sammenhang zugunsten der bestehenden sozialen, ökonomi¬
schen und politischen Situationen, der bestimmte Interessen,
die der Legitimation von Herrschaft entgegenwirken könnten,
abschneidet, ausgrenzt. Gleichwohl erhebt die bürgerliche Öf¬
fentlichkeit den Anspruch, den gesamtgesellschaftlichen Zu¬
sammenhang - trotz aller Ausgrenzungen - zu repräsentieren.
Daraus entsteht der Widerspruch, der alle Formen bürgerlicher
Öffentlichkeit schwächt: Auf der einen Seite besteht also der
Anspruch, das Ganze der menschlichen Lebensinteressen zu
umfassen, auf der anderen Seite besteht zugleich gerade die
Notwendigkeit, wesentliche Lebensbereiche - wie die Sphären
der Sozialisation und der Produktion - auszugrenzen, aus dem
öffentlichen Interesse zu verbannen, um sie in die Enklave des
Privaten zu sperren, wo sie als harmlos erscheinen. Diese nun
als privat verkleideten, im Grunde öffentlichen Interessen, z.B.
94
die Profitinteressen, werden nun aber nicht im privaten Bereich
belassen, sondern sie werden erneut als öffentliche Interessen
ausgegeben, nur daß der Nutzen unter diesen Bedingungen nur
noch in private Hand zurückfließt. Solange dieser Widerspruch
aber besteht, bleibt für die lediglich privat zusammengefügten
Gesellschaftsglieder Öffentlichkeit trotz allem die einzige Aus¬
drucksform eines fundamentalen gesellschaftlichen Bedürfnis¬
ses. An dieses Bedürfnis nach Öffentlichkeit knüpft nun aber
auch die bürgerliche Öffentlichkeit an, jedoch ohne jede eman-
zipatorische Absicht. Statt dessen führt sie dieses fundamentale
gesellschaftliche Interesse in die Sackgasse ihrer Blockierungs¬
mechanismen.
Bürgerliche Öffentlichkeit hat im Laufe ihrer Entwicklung"
verschiedene Formen der Blockierung gesellschaftlicher Erfah¬
rung produziert. Neben die Trennung von öffentlich und pri¬
vat, bzw. die Verkleidung privater (Profit)Interessen als allge¬
mein öffentliche, treten die öffentlichen Institutionen wie Ju¬
stiz, Parlament, Gewerkschaft etc., die die Umsetzung direkter
politischer Willensäußerungen durch Verfahrensvorschriften,
Formalien, Dienst- und Rechtswege hemmen. Außerdem be¬
vorzugt diese blockierende Form von Öffentlichkeit eine be¬
stimmte Ökonomie des Redens, eine Stringenz der Argumen¬
tation ohne jegliche Abschweifungen - abschweifen wirkt un¬
sachlich -, eine bestimmte Sprachform, so daß Sprachbarrieren
zwischen ,Bürger“ und .Proletarier' entstehen, die den Arbeiter
glauben machen, er könne sich nicht autonom und adäquat
ausdrücken. Neben diese mehr traditionellen Formen der Aus¬
grenzungsmechanismen treten heute die industrialisierten Pro¬
duktionsöffentlichkeiten in Form der Bewußtseinsindustrie,
des Konsum- und Werbezusammenhangs, der Öffentlichkeits¬
arbeit der Konzerne, der Massenmedien (Funk, Fernsehen,
Presse) und des (in Zukunft) Medien Verbundes.
Diese Produktionsöffentlichkeiten, die nichts Einheitliches
sind, unterscheiden sich in einem bestimmten Punkt von den
übrigen Ausgrenzungsmechanismen: Sie nehmen scheinbar die
unterdrückten Bedürfnisse der Menschen in sich auf, indem sie
95
sie zum Ausgangspunkt ihres Legitimationsangebots machen.
Nicht legitimierbare Verhältnisse werden auf diese Weise einer
produzierten Nicht-Öffentlichkeit anheim gegeben. Das gilt in
besonderem Maße für die Öffentlichkeit der Produktions¬
sphäre, die Betriebsöffentlichkeit, die letztlich keinen engagier¬
ten öffentlichkeitsbegriff mehr kennt, sondern sich hinter den
Aktivitäten ihres Werkschutzes Versteckt.
Das Ausgrenzen und das scheinbare Aufgreifen, die Assimi¬
lation wesentlicher Lebensbedürfnisse des Menschen, sind
nicht ohne Wirkung auf seine Möglichkeiten, seine gesell¬
schaftlichen Erfahrungen zu organisieren. Einerseits glauben
die Menschen, die Produktionsöffentlichkeiten vertreten ihre
Interessen wirklich, andererseits aber wird ihre Erfahrungspro¬
duktion zugleich dem abstrakten Zeitrhythmus der entwickel¬
ten kapitalistischen Warenproduktion unterworfen: „Dieser
dominierende Zeitbegriff ist der des universalen Tausches, des
Gleich und Gleich von Rechnungen, die aufgehen, bei denen
eigentlich nichts zurückbleibt; alles Historische wäre ein Rest.“
(Öffentlichkeit und Erfahrung, 1972, S. 45)
Mit diesem abstrakt quantifizierenden, überindividuellen
Zeitrhythmus wird dem Arbeiter auch im Prozeß der Erfah¬
rungsbildung die technische Rationalität der Tauschwertpro-
duktion aufgedrückt, d.h. er wird von den historisch-gesell¬
schaftlichen Ursprüngen gesellschaftlicher Erfahrung, zu der
gerade die individuelle Erfahrung zählt, abgeschnitten. Solange
also die Lernrhythmen dieser Erfahrung bestimmt sind von der
quantifizierenden Rationalität des kapitalistischen Produktions¬
prozesses, wird der Arbeiter keine reale Chance haben, seine
qualitativen Bedürfnisse in adäquaten Erfahrungen selbst for¬
mulieren zu können, denn auch seine ursprünglichen proletari¬
schen Interessen und sein eigener Lebenszusammenhang sind ja
noch im Netz der bürgerlichen Öffentlichkeit gefangen. Diese
Situation wird zusätzlich dadurch erschwert, daß selbst der be¬
stehende proletarische Lebenszusammenhang zur Zeit noch zur
Blockierung gesellschaftlicher Erfahrung beiträgt. Denn: Der
Arbeiter verbringt seinen Arbeitstag in einem relativ begrenz-
96
ten Ausschnitt des Betriebes. Ein ordnender Gesamtüberblick
ist ihm verwehrt. Den anderen Teil des Tages, der sich im
dialektischen Gegenzug zur Arbeitszeit als Freizeit definiert,
verbringt er im „Terrorzusammenhang der modernen Kleinfa¬
milie. Die proletarische Kleinfamilie .. .ist durch eine beson¬
ders starke Verhaltenstypik und die Unmöglichkeit, ein variie¬
rendes Suchverhalten zu entwickeln, bestimmt“ (S. 63). So
wird er zu Hause, statt neue Erfahrungen sammeln zu können,
zurückgeworfen auf die eigene Situation, die ihm dann aus¬
weglos erscheint, als nicht veränderbar. Sein Erfahrungshori¬
zont wird eingeschränkt, erstarrt, bleibt auf die Rezeption der
Massenmedien beschränkt. Die Massenmedien ihrerseits über¬
formen die Erfahrungen der Rezipienten mit ihrer eigenen,
wiederum auch an der kapitalistischen Rationalität orientierten
Zeit- und Programmstruktur.100
Der Kreis der bürgerlichen Öffentlichkeit und der sie überla¬
gernden Produktionsöffentlichkeiten scheint also geschlossen -
ausweglos?
Das Verdienst von Negt und Kluge liegt nicht nur in der
Analyse dieser scheinbaren Ausweglosigkeit. Die weitaus
wichtigere Leistung ihres Buches ist die, daß sie aus dieser
Situation Auswege suchen, Möglichkeiten zeigen, den blok-
kierten Lebenszusammenhang aufzubrechen. Medium dieser
Möglichkeit des Aufbrechens ist die proletarische Öffentlich¬
keit, in der sich die behinderte gesellschaftliche Erfahrung
emanzipatorisch organisieren kann.
Mit der Kategorie der proletarischen Öffentlichkeit geht es
Negt und Kluge aber nicht um einen abstrakten Gegenentwurf
zur bürgerlichen Öffentlichkeit, dieser wäre ja dann auch wie¬
der bürgerlich dominiert, vielmehr geht es ihnen um Möglich¬
keiten von Gegenöffentlichkeit, von Gegenprodukten, von
konkreten Bedingungen, in denen die noch nicht existente pro¬
letarische Öffentlichkeit entstehen kann. Die Ansatzpunkte die¬
ser Gegenproduktion können nun nicht außerhalb des Systems
der bürgerlichen Öffentlichkeit liegen, von außen läßt sich de¬
ren hermetischer Zusammenhang nicht aufbrechen, sie müssen
97
sich vielmehr innerhalb dieses Systems befinden, genauer: in
seinen Widersprüchen, in seinen Brüchen und in den Ungleich¬
zeitigkeiten seiner Entwicklung.
Die Existenz solcher Ansatzpunkte ist aber nicht schon
gleichzusetzen mit wirklicher proletarischer Öffentlichkeit -
Negt/Kluge setzen die Kategorie an einer Stelle ihres Buches
weitgehend identisch mit Klassenbewußtsein und Klassen¬
kampf (S. 66) -, solche Punkte sind vorerst nur gesellschaftli¬
che Orte, an denen das System der bürgerlichen Öffentlichkeit
brüchig und anfällig für gegenläufige Interessen ist, die dort
eindringen können. Einer dieser Punkte ist z.B. das Bedürfnis
der Arbeiter nach sinnlich faßbarer Solidarität, in der sich der
im Produktionsprozeß erreichte Stand der Vergesellschaftung
und Kooperation auch außerhalb der Produktionssphäre be¬
währen soll, um die Arbeiter so sich gegenseitig ihrer eigenen
Realität, ihrer eigenen Erfahrung zu versichern, die sich wegen
der Unsichtbarkeit ihres Gegners (Werkschutz und unmittel¬
bare Vorgesetzte sind ja nicht die eigentlichen Kontrahenten)
nicht konkret ausdrücken kann.
Hinzu kommt das Bedürfnis der Arbeiter nach Vereinfa¬
chung, d.h. nach Durchschaubarkeit der sozialen Verhältnisse
mit Hilfe der Personalisierung historischer Prozesse. Gesell¬
schaftliche Ereignisse werden nicht als abstrakte Abläufe ver¬
standen, wie es der wissenschaftlichen Erfahrung entspricht,
sondern sie schlagen sich für die Arbeiter als konkrete Erfah¬
rung nur dann nieder, wenn sie über ein Individuum vermittelt
sind, bzw. an einem individuellen Fall durch persönliche Be¬
kanntschaft und Vertrauen nachvollziehbar sind. Dabei ist
nicht an eine idealistische Personalisierung oder gar an Führer¬
kult zu denken - was der Herausbildung einer Über-Ich-Struk-
tur entspräche -, vielmehr geht es um die Bildung eines Ich-
Ideals, das die kollektiven Erfahrungen mit den autonomen
Erfahrungen des einzelnen konkret vermittelt. Nur so werden
für den Arbeiter gesellschaftliche Erfahrungen nachvollziehbar.
Abstrakte, wissenschaftliche Erkenntnisse, wie sie z.B. die In¬
telligenz macht, können für ihn keinen Realitätsgehalt erlan-
98
gen. Dennoch sind beide Möglichkeiten der Erfahrungsbildung
nicht alternativ zu denken. Erst beide gemeinsam ergeben einen
Zusammenhang, der keine entscheidenden Erkenntnisse aus¬
grenzt. Insofern muß es darauf ankommen, daß beide Träger
der verschiedenen Erfahrungsproduktionen, Kopf- und Hand¬
arbeit, sich soweit verändern, daß sie zur Kooperation fähig
werden.
Eine weitere Bruchstelle, in die Erfahrungspotentiale einer
proletarischen Öffentlichkeit in die bürgerliche eindringen
können, wäre das, was Negt/Kluge .materialistischen Instinkt“
nennen. Dieser wird dadurch aktiviert, daß die Bourgeoisie
z.B. in der Wohn- und Eßkultur Wünsche weckt bzw. sich
selbst erfüllt, die zwar nicht für die Masse bestimmt sind, an
denen diese jedoch ihre Bedürfnisse mißt. Die gleiche Wirkung
hat auch der Versuch des Kapitals, Waren mit Phantasiewerten
anzureichern: So versprechen z. B. Zigaretten Freiheit, die diese
gar nicht besitzen, was jeder nach dem Kauf zwangsläufig fest¬
stellen muß. Auf diese Weise wird der ganze Konsumzusam¬
menhang abstrakt, die Konsumtion kann die konkreten Be¬
dürfnisse der Konsumenten nicht erfüllen, d.h. sie wird zur
Ersatzbefriedigung. Der materialistische Instinkt des Menschen
nun, davon gehen Kluge und Negt aus, wird sich auf die Dauer
mit Ersatzbefriedigungen nicht zufriedengeben, da die Wün¬
sche, die die Konsumideologie erzeugt, tatsächlich unbefriedigt
bleiben. So produziert der Kapitalismus in seiner eigenen Basis,
in der Warenproduktion, zugleich auch eine Sprengkraft, die
seine eigene Existenz bedroht.
Die wichtigste Instanz jedoch, diese authentische Erfahrung
zu produzieren, ist die Phantasietätigkeit, in der die lebendige
Arbeit sich neben der entfremdeten einen Zufluchtsort hat er¬
halten können. Die Phantasietätigkeit des Menschen ist zwar
ihrer Form nach „unbewußte praktische Kritik an den entfrem¬
deten Verhältnissen“ (S. 67), nicht aber ihrem Inhalt nach. In¬
haltlich ist sie „verkehrtes Bewußtsein“ (S. 67), denn als trieb¬
ökonomisches Gegengewicht zu den unerträglichen Verhält¬
nissen der Entfremdung ist sie selbst „bloß ein Ausdruck dieser
99
Entfremdung“ (S. 67). Deshalb muß - so Negt/Kluge - die
Einsicht in das Verhältnis zwischen Phantasie und Erfahrung
von entfremdeter Realität auch „theoretisch“ (S. 67), d.h. be¬
grifflich, .rational' hinzukommen. Dieses Verhältnis ist gegen¬
wärtig aber eines der Unterdrückung, denn im Prozeß der Pro¬
duktion qualitativ-rationaler Erfahrung gilt Phantasie als irra¬
tional, als unrealistisch. Die Phantasietätigkeit, im Verwer¬
tungssinn als wertlos begriffen, wird deshalb massiv ausge¬
grenzt und unterdrückt. Aber: „Diese Unterdrückung der
Phantasie ist die Bedingung ihrer freien Existenz in der beste¬
henden Gesellschaft“ (S. 68), denn ist die Phantasieproduktion
als unrealistisch ausgegrenzt, so „kann man auf die Richtung
und Produktionsweise dieser Phantasie . . . nur noch schwer
Einfluß nehmen“ (S. 68).
Zwar ist die Phantasie heute in Gefahr, in besonderem Maße
von der Bewußtseinsindustrie als Kompensationsinstanz mi߬
braucht zu werden, aber die quantifizierende Zeitstruktur des
Produktionsprozesses, an der sich die Bewußtseinsindustrie
orientiert, ist „generell phantasiefeindlich“ (S. 69), da die
Phantasie sich „quer“ (S. 69) zur verwerteten Zeit legt. In ihr
ist Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges als vergange¬
ner Wunsch, gegenwärtiger Eindruck und zukünftige Wunsch¬
erfüllung gleichermaßen vorhanden. Aufgrund dieser Struktur
kann die Phantasietätigkeit für „einen Arbeitsvorgang ge¬
braucht werden, den das kapitalistische Verwertungsinteresse
nicht ins Auge faßt: die Veränderung der Beziehungen der
Menschen untereinander, zur Natur und die Wiederaneignung
der in der Geschichte gebundenen toten Arbeit der Menschen“
(S. 73).
In diesem dynamischen Prozeß kann die Phantasie nicht als
.Substanz' betrachtet werden. Sie ist vielmehr jener „Organisa¬
tor der Vermittlung“ (S. 73) von authentischer Erfahrung, der
sich in die Produktion der Formen von Beziehungen zwischen
den Menschen einmischt, eine der Vorbedingungen für eine
proletarische Öffentlichkeit. Aus diesem Zwiespalt, daß ausge¬
grenzte Phantasie nicht mehr im Sinne der Ausgrenzung steu-
100
erbar ist, resultiert letztlich die systemimmanente Schwäche
des Kapitals: „Könnte das Kapital diesen Weg zum insgesamt
toten System, zu einer immer reineren Darstellung des Eigen¬
tums- und Kapitalverhältnisses konsequent beschreiten, so be¬
stünde die Möglichkeit, die bestehenden Herrschaftsverhält¬
nisse zu verewigen. Es muß aber, um auf diesem Wege vor¬
wärtszuschreiten, in immer größerem Umfang Lebensverhält-
nisse, lebendige Arbeit, menschlichen Rohstoff aufnehmen.
Der Kapitalismus muß sich am Menschen verunreinigen“.
Dies macht seine extreme Labilität aus.“ (S. 309)
Öffentlichkeit und Erfahrung“ bedeutet ohne Zweifel einen
Fortschritt in der Strategiediskussion linker Politik. Es geht
über Horkheimers und Adornos - ihm haben die Autoren ihr
Buch zugeeignet - Diagnose eines allumfassenden Verblen¬
dungszusammenhangs kapitalistischer Produktion und Kultur¬
industrie hinaus, indem es in radikal dialektischer Denkweise
die systemimmanenten Widersprüche kapitalistischer Verwer¬
tungsinteressen herausarbeitet. Damit sind sicherlich noch
keine konkreten Vorschläge für eine politisch-praktische Stra¬
tegie gemacht, aber es sind Hinweise gegeben auf die mögli¬
chen Ansatzpunkte emanzipatorischer politischer Praxis, und
es ist eine Zielvorstellung gesetzt, in welche Richtung Praxis zu
betreiben ist: auf proletarische Öffentlichkeit.
Da Angaben über konkrete Schritte (,Rezepte“) fehlen, ist
Negt/Kluge der Vorwurf gemacht worden, sie böten statt re¬
volutionärer Praxis nur die vage Hoffnung auf einen „Block
wirklichen Lebens“ (S. 107), der sich dem Kapital nicht voll¬
ständig subsumieren ließe. Sicher haben die Verfasser nicht an
eine Selbsttätigkeit des revolutionären Prozesses gedacht: die
nicht völlig unterdrückbare Phantasie werde das schon machen;
vielmehr geht es ihnen gerade darum, darauf aufmerksam zu
machen, welche widersprüchlichen Potentiale innerhalb des ka¬
pitalistischen Systems existieren und daß wirkliche emanzipa-
torische politische Praxis diese Widersprüche nicht dogmatisch
verklemmt übergehen darf.
Konkrete Vorschläge hängen von konkreten Situationen ab.
101
Da Negt/Kluge unmöglich eine allumfassende Analyse der ge¬
samtgesellschaftlichen Situation und ihrer zukünftigen Ent¬
wicklung geben können (was außerdem konkrete Gruppenin¬
teressen ausklammern würde), ohne abstrakt zu bleiben, ist es
nachgerade notwendig, sich beliebiger gesamtgesellschaftlicher
Vorschläge zu enthalten. Wer solche von diesem Buch erwartet
und verlangt, will sich selbst konkreter analytischer Arbeit ent¬
ziehen und fordert passiv, letztlich in anti-revolutionärer Kon¬
sumentenhaltung, praktische Anleitung. Damit wäre nicht nur
der gesellschaftsverändernden Theorie und Praxis geschadet, es
wäre außerdem das Subjekt des revolutionären Prozesses ver¬
ändert, eine Folge, die letztlich nur dem Kapitalinteresse
nützte. ,,Negt bleibt dagegen dabei, daß das Proletariat trotz
allem Träger objektiver revolutionärer Potenzen ist und
versucht die Spuren dieser Objektivität im sozialpsychologi¬
schen Haushalt der Proletarier aufzuspüren. Damit unternimmt
er den Versuch einer Verwertung der Kritischen Theorie in
praktisch-politischer Absicht . . ,“101 Diese Absicht muß in
Form eines Buches unkonkret bleiben. Konkret kann sie nur in
wirklicher politischer Praxis werden, und die ist situationsab¬
hängig. Um diese Situationen aber beschreiben zu können, ha¬
ben Negt und Kluge Denkanstöße und Begriffe gegeben, auch
wenn ihre Begrifflichkeit nicht immer präzise ist. Aber Radika¬
lität und politische Praxis sind keine Fragen radikaler Termino¬
logie („Ändern sich die geschichtlichen Situationen wirklich,
dann stellen sich auch neue Worte ein.“ (S. 10), sondern situa¬
tionsgerechten Handelns. Negt und Kluge haben deshalb in
ihrem Buch bewußt und zu Recht darauf verzichtet (für den
Rezeptionsprozeß können sie es nicht verhindern: proletarische
Öffentlichkeit ist inzwischen zum Schlagwort geworden), die
linke Theorie um ein neues stringentes Kategoriensystem zu
bereichern, das letztlich nur zu weiteren verbalen Jonglierakten
geführt hätte. Ihr theoretischer Ansatz, „die analytischen Be¬
griffe der politischen Ökonomie nach unten, zu den wirklichen
Erfahrungen der Menschen hin“ (S. 16) zu öffnen, ist wichtiger
als eine exakte Terminologie, die letztlich den Situationen doch
102
nur übergestülpt würde und nicht aus ihnen selbst entstanden
wäre. Nur so, in dieser bewußten Offenheit, wird der Raum
gegeben, innerhalb dessen sich Diskussionen über eigene Situa¬
tionen und Interessen führen lassen. Und genau das war in der
Zeit der zerfallenden studentischen Protestbewegung in ein¬
zelne Fraktionen und Splittergruppen zur neuen Motivierung
stagnierender politischer Praxis notwendig.
So ist .Öffentlichkeit und Erfahrung“ bis in seine Struktur
hinein von der politischen Situation gegen Ende der 60er, zu
Beginn der 70er Jahre abhängig. Das Buch ist Ausdruck der
Hoffnungen, die sich mit der Studentenbewegung verbanden,
es ist aber zugleich der Versuch, diese Bewegung lebendig zu
halten. Die linke politische Praxis hat sich seither auf der einen
Seite aus Protest gegen die gesellschaftliche Übermacht der
versteinerten Verhältnisse in terroristische Aktionen verirrt,
auf der anderen Seite aber haben sich zugleich auch Resignation
und Passivität, nicht zuletzt durch staatlichen Eingriff (Regel¬
studium, ,Radikalen-Erlaß“, Paragraph 88a), ausgebreitet. Die
optimistische Haltung des Buches ist inzwischen gesellschaft¬
lich überholt, dennoch behalten die Denkanstöße ihre Gültig¬
keit.
Oskar Negt und Alexander Kluge arbeiten zur Zeit an einer
Fortsetzung. Auszüge dieser Arbeit hat Kluge vorab in dem
Begleitbuch zu seinem Film ,Die Patriotin“ veröffentlicht.
X. .Lernprozesse mit tödlichem Ausgang'
Das ist der Titel des letzten Drittels aus dem gleichnamigen
Buch mit Geschichten, das Alexander Kluge nach neun Jahren
ohne literarische Publikation 1973 veröffentlicht. Lernprozesse
mit tödlichem Ausgang sind Lernprozesse, die im Grunde nicht
stattgefunden haben. Lernprozesse mit tödlichem Ausgang
sind keine - und von solchen Ereignissen handelt das Buch. Es
erzählt von Begebenheiten und Situationen bis ins Jahr 2103,
deren Sinnzusammenhang sich den Beteiligten nicht erschließt,
aus denen sie keine Lernmöglichkeiten ableiten können. Die
gesellschaftliche Undurchschaubarkeit ist für sie so groß, daß
sie trotz allen Bemühungen nicht mehr in einen individuellen
und gesellschaftlichen Sinnzusammenhang integriert werden
kann. Die Folge: „Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation,
in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller
zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren
können.“ (Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, 1973, Vor¬
wort, S. 5)
Diese gesellschaftliche Situation des Menschen, sein „Hun¬
ger nach Sinn“ (S. 47), wird an verschiedenen Lebensbereichen
thematisiert: an zwischenmenschlichen Beziehungen, an indu¬
striellen Arbeitsprozessen, an Problemen der dialektisch durch
die Arbeitszeit definierten Freizeit, an der (kapitalistischen) Or¬
ganisation des Verbrechens in Frankfurt, an der Unfähigkeit
der Wissenschaft, die konkrete Realität ins Blickfeld zu neh¬
men, an der Verwechslung der nationalsozialistischen „Mas¬
senmobilisierung mit einer wirklichen Revolution“ (S. 9) und
zuletzt an der ausgefabelten Entwicklung des Imperialismus bis
ins Jahr 2103. - Alle diese Lernprozesse, vergangene, gegen¬
wärtige und zukünftige, müssen im Zustand des Sinnentzugs,
der Entfremdung, die das kapitalistische System produziert,
tödlich enden. Diese Erkenntnis fächert Kluge an vielen Perso-
104
nen und Begebenheiten kaleidoskopartig auf. Protest gegen
diese Entwicklung zu mobilisieren, ist die aufklärerische
Absicht dieses Buches.
Kluges literarischer Stil ist nahezu unverändert, jedoch hat
sich seine Begrifflichkeit, und damit die Interpretation der
Abläufe, die er beschreibt, gewandelt. Kluge tendiert verstärkt
zu einer ökonomischen Sehweise, er begreift die kapitalistische
gesellschaftliche Synthesis nicht mehr nur unter dem Aspekt
eines Organisationszusammenhanges, sondern, nach .Öffent¬
lichkeit und Erfahrung“, auch unter dem Aspekt des Produk¬
tionszusammenhanges. Die Prinzipien der industriellen Pro¬
duktion dominieren auch die Prinzipien der gesellschaftlichen
Produktion von Erfahrung, Kooperation, Qualifikation, Tod,
Liebe, Verbrechen, Justiz, Moral und Arbeit.
Neben der neuen Begrifflichkeit, die sich teilweise in den
Science-fiction-Filmen schon andeutete, erweitert Kluge seine
Darstellungsmittel um ein neues Element: das Bild. .Lernpro¬
zesse mit tödlichem Ausgang“ ist das erste literarische Werk
Kluges (in .Öffentlichkeit und Erfahrung“ gibt es im Anhang
bereits Belegillustrationen), das mit Bildern angereichert ist. Es
wäre sicher zu einfach zu sagen, der Filmemacher Kluge
versuche also, hier ein filmisches Mittel, das Bild, in die Litera¬
tur zu integrieren, die Literatur durch den Film zu erweitern.
Illustrationen hat es in Büchern schon immer gegeben, ohne
daß der Film Pate gestanden hätte. So auch hier. Bilder sind
zwar ein optisches Mittel, aber noch längst kein filmisches.
Optisches ist nicht per se filmisch. Die Bilder in den .Lernpro¬
zessen“ sind nämlich nicht nach Montageprinzipien gesetzt, sie
bilden in ihrem Zusammenhang keine Begriffe. Vielmehr sind
sie den Texten unter- bzw. zugeordnet. Nur mit Bezug zum
Text erhalten sie ihren Funktionswert. Dieser ist recht unter¬
schiedlich. Sie intensivieren die optischen Vorstellungsprozesse
des Lesens, indem sie Personen und Landschaften konkretisie¬
ren (engen damit allerdings die Phantasie des Lesers ein, zumin¬
dest wechselt die Phantasiequalität), und zugleich relativieren
sie die Genauigkeit der (literarischen) Sprache, so daß - wie in
105
diesem Beispiel - durch optische Informationslosigkeit die ver¬
meintliche Steigerung dokumentarischer Exaktheit ad
absurdum geführt wird. Dieses sprachlich-optische Verfahren
ist nicht ohne Humor.
106
Bezugssystem von Sinn, von Einsicht und Verstehen zu stellen,
dem Zustand der Entfremdung des Menschen im kapitalisti¬
schen Produktionszusammenhang vom Produkt seiner Arbeit
und von sich selbst zu entgehen. Dabei kommen sie über die
Stufe der Ideologieproduktion kaum hinaus, denn sie sind alle
als Individualisten in die kollektive Produktion der gesellschaft¬
lichen Synthesis, die ihnen fremd gegenübersteht, einbezogen.
,,Es geht in dem Buch um Produktion und Erfahrungen von
Ideologie im exakt marxistischen Sinn verstanden, als wahres-
falsches Bewußtsein; Ideologie als Alltagserfahrung. So gese¬
hen handelt es sich hier um ein Werk der Ideologiekritik als
ästhetische Methode.“102
Das ist aber nur ein Teilaspekt. Kluge geht mit seinen Ge¬
schichten über die Ideologiekritik, über die Darstellung der
unrational-rational zurechtgelegten Rechtfertigungsversuche
und Motive der Personen hinaus, indem er die Funktionsprin¬
zipien der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie in .Öffentlich¬
keit und Erfahrung1 analysiert sind, an Modellfällen und Para¬
beln in das Buch einbezieht. So entsteht keine überhebliche
Schadenfreude über die individuelle Suche nach Sinn („Regine
Feiler, 26 Jahre, aus einem Dorf bei Braunschweig, . . . .Unter
dem Sinn des Lebens stelle ich mir vor, daß ich nie wieder auf
das flache Land zurück muß,1“ S. 59), sondern diese individuel¬
len Versuche sind eingebettet ins soziale Geflecht der Gesell¬
schaft, die die Einsicht verstellt. Also nicht nur Ideologiekritik,
sondern Gesellschaftskritik, Gesellschaftsanalyse.
Damit integriert Kluge in seine literarischen Arbeiten, deren
poetisches Prinzip allerdings von Anfang an dafür offen war,
die soziologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er nicht
zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Oskar Negt vertieft hat.
Er nutzt damit die Möglichkeit, Wissenschaftliches, Erfahrun¬
gen, Ideologie nicht nur abstrakt rational zu formulieren, wie
es die Sozialwissenschaften tun, sondern sie ästhetisch, sinnlich
zu fassen. Insofern sind die .Lernprozesse mit tödlichem Aus¬
gang1 ästhetisches Gegenstück, literarische Konkretion von
.Öffentlichkeit und Erfahrung“.
107
Es geht in diesem Buch um Lernprozesse, um soziale Erfah¬
rungen, die nur kollektiv gemacht werden können. „Eine Ar¬
mada erstklassiger Individualisten in einer Zeit kollektiver
Kämpfe. ,Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.*“
(S. 9) Wer sich individuell Tugenden bewahrt, muß scheitern,
da die Individualität von Tugend mit der Kollektivität von
Erfahrung kollidiert. Dieses Scheitern wird als Schicksal, als
Strafe begriffen, ohne daß die Bestraften genau wüßten,
warum ihre Bedürfnisse sich nicht realisieren lassen.
Diese grundlegende gesellschaftliche Erfahrung hat für ihre
literarische Verarbeitung ästhetische Folgen. Kluge deutet das
einmal kurz an, indem er eine Form des traditionellen Erzäh¬
lens als ungeeignet für die heutigen Stoffe ablehnt. Seine Ge¬
schichte .Massensterben in Venedig* steht deutlich in stoffli¬
chem Bezug zu Thomas Manns ,Tod in Venedig*. Inhaltlich
gibt es keine Parallelen. Beschreibt Thomas Mann die Erfah¬
rung des individuellen Todes Gustav von Aschenbachs in Form
einer Novelle, so setzt Kluge dem individuellen Tod das Mas¬
sensterben im Altersheim entgegen. In der interpretierenden
Inhaltsangabe, die jedem Erzählkomplex in diesem Buch vor¬
angestellt ist, heißt es dann: „Keine Möglichkeit, dies in den
Formen der klassischen Novelle zu erzählen.“ (S. 7) Kluge er¬
zählt also die Begebenheit mit seinen Mitteln: epischer Bericht
und Interview.
Die rebellierenden Alten in ihrem Heim haben in dieser Ge¬
schichte ebenso „keine Zeit zur Verarbeitung der Eindrücke“
(S. 27) wie die vielen anderen Menschen auch, die von der
Produktionspause der Freizeit während der .Ostertage 1971*
überrumpelt werden. Sie versuchen, diese Pause mit Aus¬
weichbewegungen zu füllen. Der Arbeiter Schmidt geht zu¬
nächst in ein Lokal, um zu essen und zu trinken. „Er ist vollge¬
gessen, aber alles andere als zufrieden. Diese Mahlzeit trifft ihn
nach einer Woche Arbeit plus einem halben Tag Sonderarbeit
unvorbereitet.“ (S. 68) Ebenso wie Schmidt haben die „zusam¬
mengeklotzten vier Feiertage“ den Cheffahrer Heinz Löwe
überrumpelt. „So hat er sich prophylaktisch' erst einmal vollau-
108
fen lassen. Vor Montag abend hat er den Produktionsrhythmus für
diese Tage nicht, dann sind sie auch schon zu Ende.“ (S. 70) Die
Zeitstruktur der kapitalistischen Warenproduktion bestimmt
nicht nur täglich die Arbeitszeit, sondern rhythmisiert auch die
Freizeit. Bei einem plötzlichen Überhang an ungewohnter Frei¬
zeit fällt der gewohnte Produktionsrhythmus weg, kann aber
nicht sofort durch einen autonomen Freizeitrhythmus ersetzt
werden. So bleiben die plötzlich einsetzenden Freizeitaktivitä¬
ten ungestüm, ungeordnet, unkoordiniert. Ein übergreifendes,
soziales Strukturprinzip kann in der Kürze der Zeit nicht gefun¬
den werden, es kommt vielmehr zu gegenseitigen Behinderun¬
gen: Die Insassen eines Kombifahrzeuges verlieren auf der
Bundesautobahn bei Frechen/Köln mehrere Bretter, die sie ih¬
rem Cousin zum Stallanbau schenken wollten. Die Bretter be¬
hindern einen Kleinbus mit 14 Gastarbeitern, die nach Hause
fahren. Der Kleinbus kommt ins Schleudern, ein Lastwagen
fährt auf das plötzliche Hindernis auf. Fünf Gastarbeiter ster¬
ben, sechs werden verletzt. ,,Es kommen zu viele Absichten auf
wenige Stunden Freizeit (vier Tage) zusammen. Und diese Absich¬
ten haben nicht die Präzision, die sie im Produktionsprozeß durch die
Kooperation vieler, vermutlich hätten.“ (S. 74) Der Wissenschaft¬
ler Franz Mutzlaff ist ebenfalls „unvorbereitet in die toten Tage
geraten“ (S. 79). Er macht sich Gedanken über ein ,, Gegenostern
..., das nicht vom verschollenen Herrn Jesu, sondern von
wirklichen .Sinnzusammenhängen unserer Zeit* ausgeht ... Er
kommt zu einem Bezugssystem (,feiemswert“) mit 46 Koordi¬
naten. So müßte man feiern, sagt Mutzlaff.“ (S. 81) Auf dieses
Theorem von Gegenfesten zu vorhandenen bürgerlichen Feier¬
lichkeiten kommt Kluge wiederholt zu sprechen, mit Vorliebe
in bezug auf Weihnachten.103
Am Modell der Organisation des Verbrechens in Frankfurt
veranschaulicht Kluge die Organisationsprinzipien der kapitali¬
stischen Gesellschaft, einschließlich deren Ideologieproduk¬
tion, die zur Befriedung, zur geistigen Ruhigstellung ihrer
Glieder dient.
109
„Guthermuts Apparat
Nichtorganisation als Herrschaftsform . ..
Er versorgt die ihm Anvertrauten nicht mit materiellen Mit¬
teln, sondern mit der Mangelware Frieden. Die von ihm aufge¬
baute Organisation heißt ,Das Syndikat“. Da das Verbrechen
alles, was es berührt, gewaltsam aneignet, kann eine äußerlich
faßbare Organisation kein Sicherheitssystem darstellen. Das
Syndikat ist deshalb eine Nichtorganisation, d. h. unter Einsatz
unmittelbarer, langjähriger Gewalt hat Guthermut die Idee des
Rechtsfriedens mit einer materiellen Realität auszugestalten
versucht. Das Materielle daran ist nicht zu greifen.“ (S. 109)
110
nisation im Westen der USA auszuräumen. Jede Halbheit wäre
hier gefährlich gewesen.“ (S. 115)
111
zen. Einen anderen Gegenstand der Aneignung hatten sie nun
nicht mehr.“ (S. 251)
Diese Aneignung der zukünftig möglichen Geschichte des
Imperialismus geschieht mit einer für Kluge ungewöhnlich
komplizierten erzählerischen Komposition. Die Zeit der Nie¬
derschrift des Berichtes - die .Autoren“ sind Zwicki, v. Un-
gern-Sternberg, Boltzmann und Dorfmann - ist das Jahr 2103.
Der Bericht über die Ereignisse auf der Erde und später in der
westlichen Galaxie ist in vier Kapitel gegliedert und in die Form
der Rückblende gebracht, wobei am Ende die Rückschau die
(zukünftige) Gegenwart eingeholt hat. Eingeschachtelt in einen
umfangreichen Fußnotenapparat - eine Form wissenschaftli¬
cher Arbeit - sind aktuelle Kommentare der vier rückblicken¬
den Experten über die damaligen Ereignisse aus .heutiger“
Sicht. (,,Wir schreiben das Jahr 2103.“ S. 251)
Aus einer Rückblende innerhalb der Gesamt-Rückblende er¬
fährt der Leser die Lebensgeschichte der vier Freunde. „Die
Heimat haben wir schon in Stalingrad verloren." (S. 267) Als die
Niederlage der deutschen Truppen in Stalingrad am 30. Januar
1943 absehbar war, ,,bewegten sich vier Offiziere der gro߬
deutschen Wehrmacht: Zwicki, Boltzmann, von Ungern-
Stemberg und A. Dorfmann, über das verminte Eis der Wolga
von Stalingrad fort ... zu Fuß, irgendwie in Richtung China
... In China kamen sie zu Frühlingsanfang an.“ (S. 269) Sie wer¬
den von Soldaten der Kuomintang gefangengenommen und
verhört. Im April 1946 stehen sie im Dienst eines Provinzgene¬
rals der Kuomintang. Ihre Aufgabe: Gefangene verhören und
foltern. Sie tun es, wenn auch nicht gern.
Als die Kuomintang 1949 zusammenbricht, fliehen die
Freunde nach Hongkong und treten in den amerikanischen Ge¬
heimdienst ein. Hier machen sie Karriere. Im Januar 1978 sind
sie in einem Bunkergelände von Idaho, eine Tarnbezeichnung,
wie in einer Fußnote mitgeteilt wird, der Bunker steht eigent¬
lich in der Nähe von Frankfurt am Main.
In Dezember 1980 läßt Zwicki in Lateinamerika eine Ort¬
schaft, deren Eintragung in die Karten des Geheimdienstes ver-
112
gessen wurde, vernichten. „Für die Freunde sind die Karten
das Wirkliche. Zwicki: Ich habe das da draußen lediglich mit
den Karten in Übereinstimmung gebracht.“ (S. 278)
Am 15. Januar 1981 starten die Freunde in der Abenddämme¬
rung mit ihrem versteckt wassernden Raumfahrzeug in Rich¬
tung Jupitermond Mimas. Sie bringen sich in Sicherheit: auf
der Erde ist, aus ungeklärter Ursache, der Atomkrieg ausge¬
brochen:
113
Feierstunde zur Sechsjahresfeier der überstandenen Katastrophe.
(S. 292)
114
Mit dem Problem fehlender Arbeitskräfte mußte der Impe¬
rialismus schon zu Beginn seiner Weltraumexistenz fertig wer¬
den. Rohstoffe waren genügend vorhanden, aber es mangelte
an Arbeitskraft. Ein Raumkreuzer mit 100000 Arbeitern an
Bord wurde versehentlich abgeschossen, die künstliche Besa¬
mung von Frauen zur Züchtung neuer Arbeitsmenschen schlug
fehl. Eine gesetzliche Regelung (,,§ 2. Der Ausdruck Arbeits¬
kraft, Arbeiter usf. ist verboten. Die Bezeichnung für Arbeits¬
kräfte lautet .Partner'.“ S. 296) ist gegenstandslos, da es keine
.Sozialpartner' mehr gab.
So rekrutiert sich die restliche Erdengesellschaft mit dem
Stützpunkt Mars vorerst aus den zuvor ausgelagerten Men¬
schen, die in der Fremde die Atomkatastrophe überlebt haben.
Auf dem Mars befinden sich die Flottenjustizstelle mit 6 Unter¬
abteilungen, das Flottenlazarett - hier werden die Reste von
Flüchtlingen geflickt und, an Maschinen angeschlossen, am Le¬
ben erhalten -, ein Zentralinstitut für extragalaktische For¬
schungen, Zolltruppen, die, da kein Warenverkehr mehr be¬
steht, ihre Qualifikation ins Leere vorantreiben und Augen her¬
ausbilden, die 6 cm vorstehen können, die Urlauberstelle des
Immanuel-Kant-Instituts (IKI) und eine Transportschule. Allen
diesen Institutionen ist durch die Vernichtung der Erde und
ihrer Bewohner die materielle Existenzgrundlage und Funktion
abhanden gekommen. Deshalb kultivieren sie jetzt ihre Fähig¬
keiten an sich. ,,Was sie mit Heimat meinen, weiß ich zwar
nicht, aber wenn es dazu führt, daß mein Institut weitermachen
kann, will ich den Begriff gern annehmen.“ (S. 265/6)
Um den Mangel an Arbeitskräften zu beheben, werden
Ostern 1988 zwei Jupitermonde überfallen, „die Bewohner
nach einer wissenschaftlichen Kurzausbildung als Arbeitskräfte
verkauft“ (S. 297). Außerdem werden unter der Leitung von
Prof. Meixner einzelne spezielle Fähigkeiten der Arbeitskräfte
besonders gefördert, die Arbeitskraft wird den Arbeitsbedin¬
gungen konsequent angepaßt:
115
Arbeitsökonomische Verwertung
einer mutierten Hand im Sinne der
Verbesserung der menschlichen
Hand zu einem wirksamen Arbeits¬
werkzeug. Nach Prof. Meixner
(S. 317)
116
ten sie auf ihrer Raumplattform gemeinsam ihre Gattungsge¬
schichte auf. „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie
nicht.“ (S. 252/364)
Die .Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ fabeln die mögli¬
chen Folgen aus, die eintreten können, wenn die Menschen
nicht aus ihrer Geschichte lernen, wenn Geschichtslosigkeit
(„Wir müssen uns von unserer Geschichte trennen, auch wenn
das manchem leid tun mag.“ S. 346), wie schon in (und nach)
dem Dritten Reich geschehen, zum dominierenden gesell¬
schaftlichen Prinzip wird. Die Fortsetzung und die damit ver¬
bundene Potenzierung des sozialen Sinnentzugs, der Entfrem¬
dung unter dem kapitalistischen Verwertungsinteresse kann
-nach Kluge - nur in der Katastrophe enden.
.Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ steht in der Tradition
der Warnliteratur, der der Aufklärer Kluge mit diesem Buch
folgt. „Wenn ich .Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ nicht
will, schreibe ich eben ein Buch darüber . . . ich schreibe das
Buch doch überhaupt nur im Glauben daran, daß es etwas
nützt, daß es eine Alternative gibt; sonst würde ich kein Buch
schreiben.“105
Mit der literarischen Bearbeitung dieses Science-fiction-Stof¬
fes, der außer einer kurzen Entwicklungsgeschichte der Suez-
Kanal-Gesellschaft keine Übereinstimmungen mit den Science-
fiction-Filmen aufweist, hat Kluge in der Tat an den im Experi¬
ment stehen gebliebenen Filmen „literarische Wiedergutma¬
chung“106 geleistet und warnend ein Kaleidoskop der im kapi¬
talistischen System liegenden Gefahren für die menschliche Ge¬
sellschaft entworfen.
XI. ,Gelegenheitsarbeit einer Sklavin'
Schon 1970 hat Kluge die erste Fassung eines Drehbuches, aus
dem 1973 der Film .Gelegenheitsarbeit einer Sklavin' hervor¬
ging, geschrieben. 1971 erhielt er dafür vom Bundesinnenmini¬
sterium eine Drehbuchprämie von 200000 DM. Nach Fertig¬
stellung des Films hat der zuständige Ausschuß des Ministe¬
riums beschlossen, die Prämie, die nicht voll ausgezahlt wor¬
den war - Kluge hatte 175000 DM erhalten -, wegen .Abwei¬
chungen vom Drehbuch' zurückzufordern. Außerdem, so hieß
es, sei der vorgelegte Film nicht förderungswürdig. Kluge
konnte diesen Versuch, unter dem Deckmantel qualitativer
Kriterien seine wirtschaftliche Existenz zu untergraben, insge¬
samt gesehen abwehren, nicht zuletzt mit Unterstützung der
Presse.
.Gelegenheitsarbeit einer Sklavin' war aber nicht nur auf
filmpolitischem Gebiet umstritten. Der Film löste auch bei sei¬
nen Rezipienten heftige Diskussionen aus, die bis zu Anfein¬
dungen Kluges durch Frauengruppen reichten.
Damit hat der Film, auch wenn er insgesamt nicht gelungen
ist, eines seiner Ziele erreicht; er hat Kluge, der mit seinen
Weltraum-Eskapaden sein Publikum abgeschreckt hatte, wie¬
der ins Gespräch gebracht.
Die Veränderungen, die das Drehbuch im Laufe der Arbeit
und im Prozeß der filmischen Umsetzung erfahren hat, sind
ausführlich dokumentiert in dem Buch .Gelegenheitsarbeit ei¬
ner Sklavin. Zur realistischen Methode'. Hierin nimmt Kluge
nicht nur Stellung zum Problem der Drehbuchabweichung, die
ein genuines filmisches Arbeitsprinzip von ihm ist, sondern
auch zu den Vorwürfen, die gegen die Endfassung des Films
erhoben wurden, und setzt dagegen seine Vorstellungen von
der realistischen Methode,107 theoretische Überlegungen, die er
auch auf die Dramaturgie des Films ,In Gefahr und größter Not
118
bringt der Mittelweg den Tod1 bezieht. So ist dieses Buch ins¬
gesamt eine große Rechtfertigungs- und Verteidigungsschrift,
deren Argumente an vielen Stellen unter diesem Aspekt zu
sehen sind und die über der Menge des ausgebreiteten Materials
vom Film selbst ablenkt, den Kluge als „halb gelungen, halb
nicht gelungen“108 bezeichnet. Dennoch liegt mit diesem Band
die stringenteste und komprimierteste Darstellung der film¬
theoretischen Ansätze Kluges vor.
Die vielen Änderungen der Konzeptionen des Films gehen
auf zwei Ursachen zurück. Zum einen ist der erste Entwurf
schon zu einer Zeit entstanden, als Kluge noch mit Oskar Negt
an .Öffentlichkeit und Erfahrung1 arbeitete. Der Entwicklung
der Ergebnisse aus dieser Zusammenarbeit folgend, aber zu¬
gleich Auswege aus der Beschränkung der wissenschaftlichen
Ausdrucksform suchend, hat Kluge einerseits die .Lernpro¬
zesse“ geschrieben, andererseits Filmentwürfe gemacht. „Bei
allen diesen Varianten geht es immer wieder um einen be¬
stimmten Aspekt der gesellschaftlichen Erfahrung, der sich in
der Ausdrucksweise des Buches nicht hinreichend abbilden
ließ: .natürliche“ Zeit - industrialisierte Zeit; Konkurrenz - Ko¬
operation; privates Verhalten-öffentliches oder professionelles
Verhalten.“ (Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 10)
Alle Entwürfe, auch die, die sich von .Gelegenheitsarbeit
einer Sklavin“ vollständig lösen und später als Geschichten in
der Neuausgabe der .Lebensläufe“ erscheinen (,Das sabotierte
Verbrechen“ bzw. .Abbau eines Verbrechens durch Koopera¬
tion“), haben diese Probleme zum Thema und sind von der
Stufe der jeweiligen theoretischen Entwicklung abhängig.
Keine Abweichungen vom Drehbuch waren insofern nur als
Verleugnung von Entwicklungsprozessen vorstellbar, als
Selbstbetrug also. Zum anderen hatte auch hier der Drehvor¬
gang wieder entscheidenden Einfluß auf das Endprodukt, die
Diskussion mit dem Team, vor allem aber die Vorstellungen
der Hauptdarstellerin Alexandra Kluge, denen Kluge schlie߬
lich nachgegeben hat. ,,. .. darauf bin ich eingegangen und
habe versucht, das zu protokollieren, so wie ihre Vorstellungen
119
da sind .. . Ich sehe die Aufgabe des Regisseurs darin, eine
vorhandene, in anderen Köpfen, u.a. der Darsteller, vorhan¬
dene Erfahrung zu organisieren. Ich kann ein organisatorisches
Wissen dazu liefern, ich kann die Übertragungssituation kon¬
trollieren . .. Das ist eine grundsätzlich passive Haltung gegen¬
über den Darstellern und gegenüber den Zuschauern. Also der
Film muß eine Passivität einhalten, damit im Kopf des Zu¬
schauers Aktivität entstehen kann.“109
Mit dieser passiven, dennoch organisierenden Haltung steht
Kluge im Gegensatz beispielsweise zu der .Berliner Schule“ des
politischen Films (,Liebe Mutter, mir geht es gut“, ,Die Wol-
lands“, ,Lohn und Liebe“), die den Lernprozeß der Protagoni¬
sten bis zum Umschlag in politische Tatkraft verfolgen und
didaktische Modelle politischen Handels vorführen will. Die
eigene Initiative des Zuschauers wird so auf Nachahmung be¬
schränkt. Kluges Filme (.Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ ist
aus bestimmten Gründen eine Ausnahme) sind dagegen nicht
auf unmittelbare Beeinflussung aus, sondern wollen im Zu¬
schauer verborgene Erkenntnispotentiale mobilisieren. „Wenn
man Ästhetik grundsätzlich von unten nach oben versteht, also
von den wirklichen Erfahrungen der Menschen auszugehen
versucht, so kann ein Film nur ein Raster sein, eine Struktur,
die die Menschen selber nicht ohne weiteres in organisierter
Gestalt produzieren, die sie aber haben.“110
Der wesentlichste Vorwurf, .Gelegenheitsarbeit einer Skla¬
vin“ beziehe zu den von ihm angeschnittenen Problemen
(Emanzipation der Frau, § 218) nicht explizit Stellung, falle gar
„den bewußten unter den frauen, die sich für die abschaffung
des § 218 stark machen, in den rücken“111 geht von der Vorstel¬
lung aus, der Film sollte didaktische Parteilichkeit zeigen und
Handlungshilfe sein. Dieser Forderung entzieht sich Kluge,
nicht nur aus filmtheoretischen Gründen, bewußt. Mehr noch,
die Versuche, die die Hauptfigur dieses Films, Roswitha
Bronski, unternimmt, um politisch aktiv zu werden, scheitern.
Sie scheitern folgerichtig, da die historische Situation die Einlö¬
sung politischer Utopien (noch) verhindert. Kluges didaktisch
120
aufklärendes Prinzip heißt hier: aus Niederlagen lernen. „Ich
würde niemals eine Revolution auf der Leinwand glücken las¬
sen, wenn ich doch ganz genau weiß, daß das linker Konsumis¬
mus ist, wenn ich mich an den großen Erfolgen erfreue, die auf
der Leinwand stattfinden, und in der Wirklichkeit geschehen
sie nicht.“112 Zu dieser Wirklichkeit gehört, und das zeigt Klu¬
ges Film, daß Frauen, die versuchen, mit ihrer spezifischen
Produktionsweise113 sozial aktiv zu werden, erfolglos bleiben
müssen, da diese Produktionsweise in einer patriarchalisch or¬
ganisierten Gesellschaft nicht existenzfähig ist. Eine soziale
Kooperation, die auf Bedürfnisbefriedigung angelegt ist und
sich nicht am Leistungsprinzip orientiert, ist nicht durchsetz¬
bar. Das ist das grundlegende Thema des Films, das Kluge
allerdings durch die verschiedenen Entwürfe und Konzeptio¬
nen nicht kohärent durchhält, so daß andere Themen und Inter¬
essen phasenweise in den Vordergrund treten (Emanzipation,
§ 218, Werkschutz) und den Film aus dem Gleis werfen.
Die Technik des Films entspricht der Klugeschen Ästhetik.
Die Bilder der registrierend-beobachtenden Kamera werden
unterbrochen von Zwischentiteln, Kommentaren, Bildern von
Familienidyllen Ludwig Richters, Zitaten aus den Filmen
.Tschapajew“ und .Kuhle Wampe“, Scherenschnittgeschichten.
Die Stationen des Films sind sprunghaft montiert. Dadurch
entsteht nicht mehr Verwirrung oder Anregung beim Zu¬
schauer als in den anderen Filmen auch. Das .Unentschlossene“
von .Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ entspringt also nicht der
formalen Struktur, es entspringt den unterschiedlichen Interes¬
sen der an der Produktion Beteiligten. Ist Alexander Kluges
Interesse von .Öffentlichkeit und Erfahrung“ genährt „an Zeit¬
erfahrung, an Kooperation innerhalb der Familie“ orientiert, so
geht es Alexandra Kluge mehr um die Möglichkeiten der poli¬
tischen Praxis von Frauen außerhalb der Familie.
Der erste Teil des Films zeigt Roswitha Bronski im Lebens¬
kreis ihrer Familie. Sie finanziert sie; ihr Mann, Franz Bronski
(der Darsteller ist der Ehemann von Alexandra Kluge), ist mit
einem Zweitstudium beschäftigt. Die finanzielle Basis der Fa-
121
milie ist Roswitha Bronskis Abtreibungspraxis, die ihr Mann
moralisch ablehnt, ökonomisch aber akzeptiert, duldet. Um zu
zeigen, daß das ganze Lebensinteresse Roswithas ihrer Familie
gehört, geht Kluge von einer widersprüchlichen Verquickung
von privaten und öffentlichen Interessen aus. „Um sich selbst
mehr Kinder leisten zu könneq, unterhält Roswitha eine Ab¬
treibungspraxis.“ (S. 144) Damit verschiebt der Film schon zu
Beginn seinen Akzent vom ursprünglichen Thema (kooperati¬
ves Verhalten) zum Problem des § 218. Es folgt die sachlich
gefilmte Dokumentation einer Abtreibung in Roswithas Pra¬
xis, selbst der Fötus wird, in der Instrumentenschale liegend,
gezeigt. Das ist eine so starke emotionale Vorgabe für die
Phantasie des Zuschauers, daß er sich ihr nicht widersetzen
kann. Das Thema § 218 ist damit unübersehbar angeschlagen,
der Film jedoch geht nicht weiter darauf ein. ,,Es besteht von
Anfang an Übereinstimmung, daß der Film nicht über § 218
geht.“ (S. 182) So setzt sich der Film letztlich über die Gefühle
und Assoziationen des Zuschauers, die er selbst stimuliert, hin¬
weg. Diese Absage an die provozierten Interessen der Zu¬
schauer ist deshalb besonders gravierend, weil das Thema
durch die 1973 laufende Diskussion über die Reform des Para¬
graphen 218 gerade äußerst aktuell war. Auf diese soziale Emo¬
tionslage der Rezipienten hätte sich der Film, wenn er schon
eine Abtreibung in einer solch langen Sequenz zeigt, einlassen
müssen. Das bedeutet nicht, daß Kluge - entgegen seinen
Theorien - klare politische Stellung hätte beziehen müssen, der
§218 war ja nicht sein Thema, er hätte dann sein wirkliches
Thema aber nicht durch diese emotionale Vorgabe überdecken
sollen. (In seiner Rechtfertigung im nachhinein bezieht er aller¬
dings eine klare Position. „Also Abschaffung des § 218 ersatz¬
los.“ S. 182)
Es ist wenig überzeugend, wenn Kluge, offenbar Sprache,
Musik und Bild nicht vertrauend, meint: „Der Kemwider-
spruch der Familie (Innen warm, draußen kalt), der die ökono¬
mischen Kräfte auch aller späteren Aktionen Roswithas mitbe¬
stimmt, wird nicht deutlich, wenn er nur verbal bleibt. Des-
122
halb wurde bei dem Nachdreh die Abtreibungsszene gedreht.“
(S. 182) Wie soll der Kernwiderspruch deutlicher gemacht wer¬
den als mit den schönen, ruhigen Bildern, unterlegt mit einer
emotional geladenen Musik, die die Familie am Fenster der
geheizten Wohnung zeigen, nach draußen auf den ersten
Schneefall blickend, wozu der Kommentar lautet: „Innen ist es
warm, draußen ist es kalt“ (S. 143)?
Auch das Argument „Von Abtreibung soll der Film eher in
dem Sinn handeln, daß die ganze Familienerziehung im über¬
tragenem Sinne eine Art Abtreibung (der ursprünglichen
menschlichen Beziehungen, R.L.) darstellt“ (S. 182), kann nur
Rechtfertigungscharakter besitzen, da sich eine derart ab¬
strakte, (wenn auch faktisch richtige) These gegen die Konkre¬
tion der Bilder der Abtreibung nicht behaupten kann, zumal
auch die Abtreibung im übertragenen Sinne nicht explizit Ge¬
genstand des Films ist.
Und hier beginnen nun die Widersprüche auf einer anderen
Ebene.
Wenn Roswitha Bronski die Reste der auf direkte Bedürfnis¬
befriedigung ausgerichteten matriarchalischen Produktions¬
weise der Frau, die quer zum patriarchalischen Leistungsprin¬
zip und zu den Sachgesetzen der Warenproduktion liegen,
praktizieren soll, müßte diese Struktur der spezifischen Pro¬
duktionsweise der Frau, die ihren Ort in der langfristigen Kin¬
dererziehung hat, auch im Film selbst entwickelt werden, da¬
mit der Zuschauer die direkten Verhaltensweisen der Roswitha
Bronski auf ihren gesellschaftlichen Ursprung beziehen kann.
Das ist im Film nicht geleistet. Der Film zeigt nur die an der
Männergesellschaft scheiternden Resultate dieser weiblichen
Produktionsweise von Erfahrung. Mehr noch: Roswithas Ver¬
halten ihren Kindern gegenüber ist nicht unbedingt an der Be¬
dürfnisbefriedigung der Kinder orientiert. „Sie muß sie, wenn
sie in der Praxis tätig ist, anderswo unterbringen.“ (S. 145)
Selbst als sie sich schon politisch nach ihrer spezifischen Pro¬
duktionsweise betätigt, schränkt sie massiv die Bedürfnisse der
Kinder nach Abenteuer und Entdeckung ein. Als diese im Gar-
123
ten hinter dem Haus ein Feuer angezündet haben, weist sie sie
in ihre Schranken: „Seid ihr verrückt geworden, Andro! ... So
was Gefährliches! Feuer. Ihr habt wohl eine Meise. Los, weg
da.“ (S. 165) Außerdem räumt sie - nach einer ihrer nächtlichen
Expeditionen über Fabrikmauern - die Spielsachen der Kinder
in einen Eimer: Sie schafft Ordnung! Ihre Erziehungspraktiken
sind den bestehenden Normen durchaus angeglichen. Wegen
solcher Ungereimtheiten - das soll kein Plädoyer sein für die
Darstellung eingleisiger, ungebrochener Charaktere - kann
man sich manchmal des Eindrucks schwer erwehren, die
Sprünge, Brüche und Fehler des Films sollen (wenigstens im
nachhinein?) durch einen theoretischen Überbau gedeckt wer¬
den, den der Zuschauer aktiv, assoziativ aus dem Film selbst
nicht entnehmen kann. So muß auch das völlig richtige Argu¬
ment Kluges, der Film müsse, bis sich neue Sehgewohnheiten
in neuen Genres manifestiert haben, „eine sture Nichtanpas¬
sung“ an die Arbeitsweise und Erfahrungen „der auch den
Männern über den Kopf gewachsenen Ding- und Waren weit“
„bis zum Unplausiblen, bis zur Provokation“, durchhalten
(S. 185), dieses Argument muß in diesem konkreten Fall als
theoretische Rechtfertigung gegenüber der allgemein sehr mas¬
siven Kritik an dem Film erscheinen.
Die entscheidenden Ursachen für die Probleme bei der Re¬
zeption von .Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ hegen also darin,
daß die Ziele, die die Beteiligten mit dem Projekt verbanden,
zu unterschiedlich waren, als daß sie einander ergänzend hätten
tragen können.
Kluges Interesse dominiert den ersten Teil des Films. Es geht
um Formen und Bedingungen von kooperativem Verhalten
von Mann und Frau in der Familie, die sich, nach Reimut Rei¬
che, auf den sich Kluge bezieht, als „Terrorzusammenhang“
(S. 181) darstellt. Diesen Terror spürt weniger Roswitha
Bronski, die ihn ja mit produziert, als vielmehr Franz Bronski.
Er will sich der Familie entziehen, aber seine mangelnde öko¬
nomische Selbständigkeit hält ihn zurück. Statt auszubrechen,
tyrannisiert er Roswitha, weist sie auf Fehler beim Einkauf hin,
124
läßt sich umsorgen, beim Frühstück zusätzlich noch mit einem
musikalischen Beiprogramm aus dem Radio. Geschenke, die
sie sich gegenseitig machen, Angelausrüstung, Uhr, erweisen
sich als unbrauchbar - es ist kein See in der Nähe -, oder sie
gehen verloren und werden durch billige Imitation (Uhr aus
Blech) ersetzt. Die Beziehungen der Eheleute sind auf den Aus¬
tausch materieller Güter beschränkt. Gespräche finden nicht
statt (,,Im Moment paßt mir das ganz und gar nicht.“ S. 145),
sie leben mit starrer Arbeitsteilung: Bronski bildet sich weiter,
Roswitha führt Haushalt und Geschäft. Kooperation als Tei¬
lung der Arbeit.
Die Struktur der Familie Bronski entspricht nun aber nicht
der der bürgerlichen Familie, in der der Mann die ökonomische
Potenz ist, noch entspricht sie der einer proletarischen Familie,
die der bürgerlichen nachgebildet ist. Die Bronskische Familie
ist ein Sonderfall, an der das Modell der bürgerlichen bzw.
proletarischen Familienabhängigkeiten nicht vollständig durch¬
gespielt werden kann. Dem Film liegt also eine ungenaue Situa¬
tion zugrunde, die für das, was gezeigt werden soll, nicht
taugt.
Wirkliche Kooperation, und auf diesen Punkt legt Kluge
Wert, kommt in dem Moment zustande, da der Druck von
außen Solidarisierung notwendig macht. Eine verfeindete Kon¬
kurrentin hat Roswitha angezeigt. Die Polizei untersucht den
Fall, Franz geht für Roswitha ins Untersuchungsgefängnis,
Roswitha beseitigt in der Praxis die Instrumente, tauscht sie
gegen tierärztliches Gerät aus, Franz wird mangels Beweises
freigesprochen. In der Folgezeit ernährt er die Familie, Teile
der Arbeitskraft Roswithas sind nicht mehr gebunden, sie sucht
Beschäftigung. „Die Energie dieser Kooperation reicht, um
einen Umzug aus den Vororten in das Stadtzentrum zu bestrei¬
ten, ...“ (S. 18). Das ist der ursprünglich von Kluge vorge¬
schlagene Schluß: „Das bleibt also in der Familie und enthält
ein Understatement, wobei alle Berührungspunkte zwischen
Gesellschaft und Familie sozusagen in kleiner Größe .. . gezeigt
werden.“114 Diese Enge der Kooperation hätte, da überschau-
125
bar, dem Zuschauer die Möglichkeit gegeben, seine Erfahrun¬
gen an dieser Entwicklung von unten anzukristallisieren, er
hätte zur Ausfabelung alternativer Modelle aus der geringen
Stufe der Kooperation heraus angeregt werden können.
Aber genau an dieser Stelle bricht der Film auseinander. Ros¬
witha Bronski, ernährt von ihrem Mann, zusammengestaucht,
faßt Entschlüsse: ,,1. Die Abtreibungspraxis wird eingestellt,
2. Ich werde meine Energie nicht mehr allein meiner Familie
zuwenden, 3. Ich werde jetzt gesellschaftlich und politisch ak¬
tiv.“ (S. 158) Diese Wende des Films geht auf Alexandra Kluge
zurück. „Aber meine Schwester war der Meinung, sie spielt
hier nur eine Rolle, wenn sie diese Art affirmativer Politik
umfaßt.“115 Damit wird das Problem, das eigentlich innerhalb
der Familie existiert, ausgelagert und auf allgemein politischer
Ebene zu lösen versucht.
Es geht hier nicht darum, für das Scheitern des Films irgend¬
welche Verantwortlichkeiten zu verteilen, schuldig zu spre¬
chen. Kluge ist schließlich darauf eingegangen mit dem Ziel,
„zu protokollieren, so wie ihre Vorstellungen da sind“116. Er
hat sich jedoch nicht auf das Protokollieren beschränkt, hat
seine sonst passive Haltung aufgegeben und das nun ablaufende
Geschehen durchaus ironisch kommentierend begleitet, vor¬
nehmlich mit Hilfe der Musik. „Vielleicht ist auch die Musik
zu .wissend“ eingesetzt“117, „wobei manche Montagen und
Szenen mit Musik nicht nur unterlegt, sondern auch widerlegt
werden“118. „Tango rauscht auf, Mond bescheint verschwöre¬
rische Aktionen, in einem Kellergewölbe trifft die raunende
Alexandra einen Betriebsrat . .. Kluge . . . sieht sie voller Sym¬
pathie reden und schuften und hält sie doch satirisch auf Di¬
stanz, läßt sie wie am ausgestreckten Arm verhungern.“119
,,.. . als der Kommentator (Kluge selbst) Roswithas Entschluß,
politisch aktiv zu werden, mitteilt, schneidet Kluge auf dräu¬
ende Gewitterwolken, mit denen deutsche Heimatschnulzen
Schicksal zu signalisieren pflegen, und läßt donnernde Klavier¬
akkorde ertönen, wie sie in sowjetischen Prestigeproduktionen
noch heute das Nahen der Revolution ankündigen.“120
126
Solche, sicherlich ironisch überspitzten, Eindrücke von Re¬
zensenten des Films scheinen mir dennoch den Widerspruch zu
dem Anspruch zu signalisieren, die spezifische Produktions¬
weise der Frau bis hin zum Unplausiblen lediglich zu doku¬
mentieren. Kluge arbeitet nämlich mit seiner ironisierenden
Schnitt-, Montage- und Musiktechnik dieser Intention des
Films entgegen. Die Aktionen Roswitha Bronskis wirken wirr,
unüberlegt, naiv, ja lächerlich. Mit ihrer Freundin Sylvia be¬
sucht sie Kurse über Luftverschmutzung bei der Gesellschaft
für sozialpolitische Bildung, nimmt an einer Stadtbesichtigung
von Mitgliedern der hessischen Landesregierung teil, besucht
eine Zeitungsredaktion und will die Redakteure zur Änderung
ihrer Zeitungsstruktur bewegen, lernt ein Lied von einer
Brecht-Schallplatte auswendig, kommt mit ihren Merkzetteln
durcheinander, kümmert sich mit Flugblattaktionen um die
Verlegung des Betriebes, in dem ihr Mann arbeitet, nach Por¬
tugal, steigt über Werksmauem, um Beweise zu suchen, fährt
nach Portugal, verläßt sich auf ihren Augenschein, macht kein
Photo, schlägt sich mit Werkschutzleuten. „Titel: .Durch Be¬
legschaft und Öffentlichkeit unter Druck gesetzt, verzichtet die
Geschäftsleitung - unabhängig von Roswitha und Sylvia - auf
die Stillegung.'“ (S. 173) Franz Bronski wird entlassen. Am
Schluß des Films verkauft Roswitha an einem Kiosk, beobach¬
tet von ratlosen Werkschutzleuten, „Würste, die sie in Infor¬
mationsschriften einwickelt“. (S. 175)
Sicher stecken in diesem Verhalten Roswithas Qualitäten ei¬
ner anderen, direkten Produktionsweise von Erfahrung, sicher
wird dieses direkte, auf unmittelbare Durchsetzung ihrer Inter¬
essen vertrauende Verhalten vom Realitätsprinzip dieser Ge¬
sellschaft unterdrückt, kann sich unter den gegenwärtigen Be¬
dingungen nicht realisieren. Sicher hängt diese öffentliche Si¬
tuation mit der Isolation der Frau im privaten Familienverband
zusammen, das alles ist richtig. Sicher ist aber auch, daß der
Film Gelegenheitsarbeit einer Sklavin' das Thema, das zu be¬
handeln er sich ursprünglich zum Ziel setzte, nicht durchhält
und das später hinzugefügte Thema dann nicht in einer Form
127
vorführt, die der Phantasie des Zuschauers den Raum läßt, den
alternative Produktionsformen gesellschaftlicher Erfahrungen
benötigen. Die ironische Distanz, die Kluge dem Stoff, insbe¬
sondere im zweiten Teil, entgegenbringt, überträgt sich auf
den Zuschauer und strukturiert dessen Reaktionen.
Der Kluge-Stil hat sich bei diesem Film, auch weil Kluge eine
passive Haltung nicht konsequerit durchhält, in sein Gegenteil
verkehrt und den Zuschauer in der Wahrnehmung beschränkt.
Außerdem sind die beiden unterschiedlichen Interessen des Re¬
gisseurs und der Hauptdarstellerin in diesem Film nicht zur
Deckung gekommen. „Und ich müßte eigentlich zwei Filme
machen, weil ich nicht sagen kann: das, was ich ausdrücken
will, ist wichtiger als das, was meine Schwester ausdrücken
will . . . Und ich muß sagen: brisanter ist es, den Irrtum meiner
Schwester zu dokumentieren“121, vor allem aber, ihn zu kom¬
mentieren.
XII. ,In Gefahr und größter Not bringt
der Mittelweg den Tod1
129
2.
Die Geheimagentin Rita Müller-Eisert
3.
Die Sprechweise öffentlicher Ereignisse
4.
Häuserräumung Schumannstraße 69,71
Bockenheimer Landstraße 411, 113“
(Reitz/Kluge, in Gefahr und größter Not bringt der Mit¬
telweg den Tod, Textliste, in: Kursbuch 41, Berlin 1975,
5. 44)
130
Inge Maier, von der sozialen Umwelt, die sie umlagert, un¬
befriedigt („Inge Maier, die zusah, hatte wiederholt das Ge¬
fühl, in den falschen Film zu geraten.“ S. 44), flieht also die
Realität. Rita Müller-Eisert hingegen, die zweite weibliche
Hauptfigur des Films, verkörpert das gegenteilige Programm:
sie sucht die Realität. Sie ist ausgebildete Spionin der DDR,
folgt jedoch nicht deren Forderung, geheime, abstrakte Fakten
zu sondieren, sondern versucht stattdessen, die Lebensinteres¬
sen der Menschen, „die konkrete Wirklichkeit der Bundesre¬
publik“ (S. 48) auszuspähen. Damit stößt sie allerdings auf den
Widerstand ihrer Agentenkollegen, die den vaterländischen
Verdienstorden in Gold als Ziel ihrer Bemühungen anvisieren
und die Ritas Berichte als „Lyrismen“ (S. 52) verwerfen.
Rita Müller-Eisert richtet sich nach den Erkenntnissen der
Marx-Studien ihres Agentengefährten, der „Marx im Origi¬
nal“ (S. 45) liest: „Sinnlichkeit ist die Basis aller Wissenschaft.“
(S. 45) Sie verläßt sich nicht auf Wirtschaftsfakten, sondern
folgt ihren eigenen Wahmehmungsinteressen bei der „polizei¬
liche^) Organisation der Weltmeisterschaftsqualifikations¬
spiele“ (S. 48), der Eindämmung der kollektiven Aggressions¬
abfuhr Fußball, bei einer Tagung der Astrophysiker, bei der
Räumung der letzten Häuser. Rita Müller-Eisert hat, ähnlich
wie Roswitha Bronski, eine dichte Gefühlswelt, deren Kräfte
sie auch aus Filmen speist. Rezipiert Roswitha Revolutions¬
filme der 20er Jahre, die ihrem Aktionstrieb Kraft verleihen
(„Roswitha fühlt in sich eine ungeheure Kraft, aber sie weiß
aus Filmen, daß es diese Kraft auch wirklich gibt.“ .Gelegen¬
heitsarbeit einer Sklavin“, S. 143), so rezipiert Rita Filme der
UFA: .Sieben Ohrfeigen“, ,Die Stunde der Versuchung“ („Ihr
kommen Gefühle, wie in dem UFA-Film ...“, S. 52).
Ihre Haltung gegenüber der sozialen Wirklichkeit ist deshalb
nicht Kritik, sondern Neugier, Verwunderung. Sie macht ihre
Beobachtungen von weit her, emotionslos, registrierend. Auf
dem Kongreß der Astrophysiker, die sich weniger um die kon¬
krete Wirklichkeit kümmern als um die Dunkelsterne, die
„IO16 Trillionen Kilometer von der Erde entfernt“ (S. 54) sind,
131
schreibt sie während eines Vortrags Formeln ab, dabei entste¬
hen in ihr Bilder von Luftaufnahmen der Bombardierung
Kölns, die im ersten Augenblick wie Sternenbilder aussehen. In
der Textliste wird diese Assoziation Ritas erklärt, mit einer
Erklärung allerdings, die nicht aus dem Film selber entnehmbar
ist. (Kluge fügt gern in seinen Interpretationen und Stellung¬
nahmen zu seinen Arbeiten motiverklärende Informationen
ein, die dem Zuschauer im nachhinein wichtige Hinweise ge¬
ben, die ihm aber sicherlich schon während der Rezeption zum
besseren Verständnis gedient hätten.) ,,Es sieht ganz ähnlich
aus, die Formeln wären jedoch verschieden.“ (S. 55) Rita be¬
gegnet der Abstraktheit der Wissenschaft mit konkreten Ereig¬
nissen, ein Bezugspunkt, den die Astrophysiker, das zeigen
ihre Unterhaltungen, verloren haben:
Während Inge Maier mit ihren Koffern, die sie - wie schon
Anita G. - überall mitnimmt, versucht, der verwalteten Fröh¬
lichkeit des Karnevals zu entkommen (in diesen Sequenzen ist
man erinnert an die Beschreibung des Festes im Lebenslauf
.Manfred Schmidt“), wendet sich Rita Müller-Eisert den politi¬
schen und kulturpolitischen Ereignissen zu. Beide Frauen ver¬
körpern zwei Haltungen, die gegenüber dieser Gesellschaft
möglich sind: Inge Maier leidet an der gesellschaftlichen For¬
mation, weicht aus, flieht, Rita geht dagegen die Realität sinn¬
lich an, will sie verstehen lernen. In dieser Haltung ist Rita
Müller-Eisert in der Grundanlage des Films einmal der drama¬
turgische Mittelpunkt gewesen. Ihre Agententätigkeit moti¬
viert sie, überall zugegen zu sein, alle im Film thematisierten
Komplexe der Wirklichkeit zu sondieren. Ausgehend von die-
132
ser Konzeption sollte der Film zuerst „Augen aus dem fremden
Land“ heißen. Ritas subjektive Sicht sollte deutlich als das
Strukturprinzip der Materialorganisation ausgewiesen werden.
Als Kluge und Reitz in einem der besetzten Häuser den
Aphorismus des schlesischen Dichters Friedrich von Logau
fanden, haben sie ihn spontan zum Titel des Films gemacht. So
hat der Film einen Titel erhalten, der zu seinem Inhalt in kei¬
nem bestimmten Verhältnis steht; außerdem ist das subjektive
Prinzip der Materialauswahl für den Zuschauer verdeckt. Es ist
unklar, wo Reitz und Kluge Dokumentarmaterial .objektiv1
verwenden, bzw. wo das Material unter subjektiver, d.h. per¬
sonalvermittelter Sicht ausgewählt ist. So bleiben dem Rezi¬
pienten einige Einstellungen schlicht unverständlich. „Ein¬
drücke Ritas, ... Vor ihrem geistigen Auge die menschlichste
Form eines Hoheitsadlers: ein Huhn aus Plüsch, das mit großen
Pappaugen über die Stadt fliegt.“ (S. 99) „Was sie sich unter
Mensch vorstellt: ein Mann, unscharf, aber in Bewegung.“
(S. 52) In dokumentarische, .objektive“ Bilder sind übergangs¬
los fiktive, .subjektive“ Vorstellungen montiert. Der Bruch
zwischen den unterschiedlichen Bilderfahrungen fällt zwar auf,
kann aber ohne Kenntnis des beobachtenden Subjekts nicht
überbrückt werden. Reitz und Kluge verzichten in diesem Film
darauf, die subjektive Vermitteltheit der Erfahrung deutlich zu
machen, ohne die die Realität äußerlich bleibt, gar nicht wahr¬
genommen wird, mit anderen Worten, sie nutzen nicht die
Möglichkeit zu zeigen, wie Realität lebensgeschichtlich, indivi¬
duell vermittelt wahrgenommen wird. Eine Vermittlung findet
nicht schon dadurch statt, daß beide Produktionsprozesse von
gesellschaftlicher Erfahrung sich kurzfristig begegnen, wenn
z.B. Inge Maier mit ihren Koffern durch die Fronten der De¬
monstranten und Polizisten stolpert. Individuelle Bilder der Er¬
fahrung und Abbildungen der sozialen Realität stehen so un¬
vermittelt nebeneinander, denn es wird nicht dargestellt, wie
wahres-falsches Bewußtsein die Realität sinnstiftend interpre¬
tiert. Medien dieser Interpretation wären die Köpfe der beiden
Frauen. Stattdessen interpretieren Kluge und Reitz die Realität
133
ihrerseits durch Auswahl und Arrangement des Materials und
durch eine ausgeklügelte Musikdramaturgie.
Dadurch entstehen Brüche im Assoziationsstrom des Rezi¬
pienten. Läßt sich der Zuschauer auf die Reaktionen der beiden
Frauen gegenüber der Wirklichkeit ein, assoziiert er deren Ge¬
fühlswelt und Interessen weiter, kommen ihm die Bilder, bei
denen der Bezug zu den Frauen* nicht zu erkennen ist, als Leere
dazwischen. Läßt er sich auf die Bilder der Straßenschlacht ein,
der Häuserräumung, der empörten Beobachter und Passanten,
dann werden ihm die Gefühlslagen der Frauen, die Elemente
der fiktiven Handlung also, zu Irritationen. Um diese Brüche
aufzuheben, hätten Reitz und Kluge sich für eine Sichtweise der
Ereignisse, die personenvermittelte oder die autorenvermit¬
telte, entscheiden müssen. Stattdessen hat der Film mehrere
Betrachtungsstandpunkte, die nicht miteinander vermittelt
sind, einmal die fiktive ,Schicksalsebene1, die sich im Unver¬
ständnis Inge Maiers ausdrückt, und zum anderen die direkte
Erforschung der Realität durch Rita. Daneben steht das doku¬
mentarische Interesse von Reitz und Kluge. Als weitere Ebene
gibt es noch die Szenen mit dem Abgeordneten Bieringer, die
zwar fiktiv sind, aber keine subjektiven Einstellungen Bierin-
gers enthalten. Bieringer („Ich habe eine gewisse Übersicht.
Die Lage ist hochkompliziert.“ S. 62) ist Objekt der Beobach¬
tung wie die Realität auch.
Beobachtung ohne Subjekt gibt es nicht. Deshalb wäre es für
den Rezipienten wichtig zu wissen, welches Subjekt das beob¬
achtende ist, auf wessen Assoziationsstrom er sich einläßt. Fak¬
tisch dominieren in jedem Falle, auch bei der personenvermit¬
telten Sichtweise, die Autoren Kluge und Reitz. Das lassen sie
den Rezipienten auch spüren, indem sie über die beiden Ebenen
von Fiktion und Dokumentation ein umgreifendes Band legen,
das der Ironie. So dient die Montage in vielen Bild- und The¬
menfolgen einer versteckten Kommentierung, sei es durch den
bloßen Kontrast der Bilder, z.B. in der Sequenz .Sprechweise
öffentlicher Ereignisse“, in der Aufnahmen des karnevalisti¬
schen Abends der Frankfurter Polizei und des Häuserabbruchs
134
aufeinander folgen, oder sei es durch den Kontrast von Bildern
und Soundtrack. Während Inge Maier ihre nächste Liebes-und
Diebesaktion, Lust- und Realitätsprinzip in einer Person, bei
einen Geschäftsmann vorbereitet, spielt sie die Platte: ,,So ein
Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag wird nicht ver¬
gehn.“ (S. 57).
Durch das übergreifende Band der Ironie, das viele der ge¬
filmten Menschen der Lächerlichkeit preisgibt, auch wenn sie
es selbst nicht so sehen, („Karl Kreiner [56], Polizeibeamter:
Persönlich fühle ich mich weder als Polizist noch als Karneva¬
list diffamiert.“124), wird der Film .geglättet“, er wird konsu¬
mierbarer. Der ursprüngliche Anspruch, die Realität der Bun¬
desrepublik im Konzentrat Frankfurt, von außen her, verwun¬
dert, an fremden Maßstäben gemessen - .Augen aus einem
fremden Land“ - zu organisieren und der Beobachtung des Re¬
zipienten auszusetzen, wird nicht uneingeschränkt eingelöst, da
die Ironie eine bestimmte Wahrnehmung vorgibt und sugge¬
riert.
Dennoch: dieser Film ist sehens- und hörenswert, vor allem
in den Sequenzen, in denen er sich, den Montagefilmen der
20er Jahre folgend, auf das Vorgefundene Material der gleich¬
zeitigen und ungleichzeitigen Abläufe des Karnevals, der Stra¬
ßenschlachten, des Häuserabbruchs einläßt, Betroffene und
Macher zu Wort kommen läßt. In solchen Sequenzen kann
Wahrnehmung tatsächlich geschärft werden. „Wir sind der
Ansicht, daß es in den Massenmedien eine Überproduktion an
Meinungen und eine Unterproduktion an Wahrnehmungen
gibt. Wir wollen die Menschen neugieriger machen.“125 Die
neugierige Wahrnehmung, die Kluge und Reitz dem Zuschauer
bieten, ist sicher nicht frei von Meinung, aber sie unterscheidet
sich doch von der üblichen Bedeutungsdramaturgie der Me¬
dien. Dort werden Kausalketten produziert, ordnend kom¬
mentiert, werden Ereignisse jeder Widersprüchlichkeit mit
dem System enthoben, die Meinung wird zudem durch Plura¬
lismus verdünnt. Die Bildinformation, obendrein vom Kom¬
mentar erstickt, wirkt meist nur illustrierend. (Reitz und Kluge
135
demonstrieren diese Ästhetik der Massenmedien anhand von
abgefilmten Ausschnitten aus Fernsehsendungen.) ,In Gefahr
und größter Not bringt der Mittelweg den Tod‘ bildet, trotz
aller versteckten Kommentierung durch Ironie, keine Kausal¬
ketten, vielmehr stellt der Film die Widersprüchlichkeit des
Systems der Realität aus. 50 Meter vom Abriß der Häuser ent¬
fernt (Chef der Abbruchfirma:' ,,Es sind immerhin 30000m3,
die wir heute in Angriff genommen haben, und die wir also
unbewohnbar bzw. versuchen wollen umzulegen.“ S. 59), ab¬
solvieren kostümierte Kinder ihr Faschingsfest, während zur
gleichen Zeit auf der Zeil eine Demonstration gegen die Häu¬
serräumung von der Polizei zerschlagen wird. Eine Passantin:
„Und es ging wirklich friedlich zu ... Bis die Polizei kam.
Wird die Staatsgewalt und die Polizei nur eingesetzt, um die
Kleinen zu drücken?“ (S. 60)
Wahrnehmung wird auch geschärft, wenn man sieht, daß ein
Abbruchbagger, bevor er mit der ,Umlegung' des Hauses be¬
ginnt, als erstes mit seinem Greifer ein politisches Transparent
entfernt, „als gelte es, die Provokation der Idee, des Gedankens
zu zerstören, der gefährlicher (und deshalb vertilgungswerter)
ist als das Haus selbst. Da wird der symbolische Akt der Beset¬
zung noch einmal bestätigt, ihr utopisches Moment, das ein
anderes Leben meinte, auf dessen Vernichtung die Häuserzer¬
störung abzielt.“126 An Bildern wie diesen kann man sehen
lernen. Oder: wenn durch Kameraperspektive und Montage
Alltägliches ungewohnt erscheint, wenn der Faschingsprinz,
„traurig“ auffordert, „das Motto der diesjährigen Kampagne
zu beherzigen: .Komm mach mit, lach Dich fit!“‘ (S. 46), wenn
die Kamera einen Blick ins Trainingsprogramm der Gardistin¬
nen gewährt, wenn Wasserwerfer durch die Schwaden der Ne¬
belkerzen fliehende Passanten bespritzen, wenn die Steine der
Demonstranten mit hellem Klang die Panzerung der Wasser¬
werfer treffen, dann sind das Eindrücke, die im Programmra¬
ster der Massenmedien keinen Platz finden. Hier werden Emo¬
tionen des Widerstandes aktiviert, „die unorganisierte Unter¬
seite der menschlichen Handlungen“127, jene ununterdrückba-
136
ren Reste des Vorstellungsvermögens, an die sich Kluge und
Reitz, ganz im Sinne von .Öffentlichkeit und Erfahrung1, wen¬
den wollen.
Auch in seinem nächsten Film greift Kluge noch einmal auf
Erkenntnisse dieses Buches zurück: auf die organisierte Nicht¬
öffentlichkeit der Betriebe, die Sicherheitspraxis des Werk¬
schutzes.
XIII. ,Der starke Ferdinand*
138
ten Gefahr zeigt. Aus dieser Situation gibt es nur den einen
Ausweg, den Kluge auch beschritten hat, die totale Fiktion, das
Ausfabeln der in einem „Facharbeiter der Gewalt“128 angeleg¬
ten Potenzen. Die adäquate Form dafür ist die Groteske.
,Der starke Ferdinand' hat eine langwierige, komplizierte
Entstehungsgeschichte. Studien zum Thema Werkschutz gibt
es schon in .Öffentlichkeit und Erfahrung'. Erste Ansätze einer
ästhetischen Darstellung des Problems filmischer Art enthält
schon .Gelegenheitsarbeit einer Sklavin'. Dort referiert der Si¬
cherheitsbeauftragte Ferdinand Schliephake auf einer Jungun-
temehmertagung über die Probleme und Ideologie des Werk¬
schutzes und der Sicherheit. In den gleichzeitig entstandenen
.Lernprozessen mit tödlichem Ausgang' finden sich die literari¬
schen Vorarbeiten: die Geschichte des Werkschützers Ferdi¬
nand Rieche - ,Ein Bolschewist des Kapitals' - eine grobe Vor¬
lage zum Film, und das fiktive Rundfunk-Telefongespräch
zwischen einem Reporter und dem Verfassungsschützer
A. Merkl, der die gleichen Probleme hat wie Ferdinand Rieche,
sein perfektioniertes Können für einen imaginären Ernstfall in
Reserve halten zu müssen. Passagen dieses Gesprächs bilden
den Schluß des Films.
Im Anschluß an diese Vorarbeiten recherchiert Kluge 2 Jahre
zu diesem Thema, versucht in die Nichtöffentlichkeit der Be¬
triebe einzudringen. Diese Versuche scheitern. Während dieser
Zeit entstehen bereits Drehbuchentwürfe. Dann beginnen die
Dreharbeiten für den Film unter Edgar Reitz. Später über¬
nimmt Kluge selbst die Regie, dreht vieles neu und schneidet
den Film. Spuren dieses heterogenen Entstehungsprozesses
schlagen sich in dem Endprodukt nieder. Der Film ist vom
Material her nicht einheitlich. Unterschiedliche Inszenierungs¬
stile, unterschiedliche Bild- und Kameraästhetik, das alles ließ
sich durch Schnitt und Kommentar, der in diesem Falle vieles
nur verdoppelt und kaum, wie in den anderen Filmen, eine
zweite Abstraktionsebene schafft, nicht ausgleichen. Der Film
stellt eine Mischform dar. Er trägt einerseits Züge des her¬
kömmlichen Regiefilmes, andererseits Momente Klugescher
139
Inszenierungsästhetik, die sich beide aber selten bruchlos er¬
gänzen.
Die Funktionen des Werkschutzes sind vielfältig. Er hat ei¬
nerseits Aufgaben zu erfüllen, wie sie Wach- und Schließgesell¬
schaften zukommen, andererseits kann er aber im Geheimen
organisiert sein wie eine vormilitärische Privatarmee. Das
Werkschutzgesetz verbietet zwar das Tragen von Waffen inner¬
halb des Betriebes, „aber außerhalb des Werksgeländes, wird
behauptet, sollen entsprechende Waffen lagern“129. Der Werk¬
schutz stellt außerdem eine innerbetriebliche Justizinstanz dar.
Kleine Diebstähle zum Beispiel werden von ihm verhandelt
und bestraft, ohne daß die Polizei hinzugezogen wird. Den¬
noch gibt es Verbindungen zur Polizei, hauptsächlich zu ihren
Datenspeichern, ebenso wie es Drähte zum Verfassungsschutz
und zum Militärischen Abschirmdienst gibt. Der Werkschutz
ist so auf vielfältige, immer von der Öffentlichkeit abgeschlos¬
sene Weise mit dem staatlichen Sicherheitsnetz verbunden.
Dessen öffentliche Aufgabe der Befriedung und des Ruhigstel¬
iens von Menschen, die die sozialen Normen überschreiten,
wird über ihn verlängert in die Nichtöffentlichkeit der Betriebe
hinein. Hier schirmt der Werkschutz die Produktionssphäre,
die Sphäre des im Grunde größten öffentlichen Interesses, da
sie alle Menschen umgreift, als einen Privatbereich ab. Der
Betrieb, in dem die Menschen nahezu die Hälfte ihres Lebens
verbringen, dessen Zeitstruktur bis in die arbeitsfreie Zeit und
in den Konsum der Produkte der Bewußtseinsindustrie reicht,
wird, im Sinne der Unternehmensleitung, im Sinne des Kapi¬
tals, gegen äußere Angriffe wie Anschläge, Sabotage und ag¬
gressive Marktforschung, sprich: Wirtschaftsspionage, ge¬
schützt, aber auch und vor allem gegen innere Unruhen wie
Arbeitsniederlegungen und Streiks.
Die gegenwärtigen Aktivitäten des Werkschutzes gelten
hauptsächlich dem Objektschutz, das erscheint als der Normal¬
fall, der Werkschutz ist aber auch für einen imaginären Ernst¬
fall, Streik, Bürgerkrieg, Sabotage gerüstet. Die Gefahr dieser
Organisation Hegt in ihrer verborgenen Potenz, im Sinne des
140
Kapitals zu einer Unterdrückungsinstanz gegen die Interessen
der Arbeiter zu werden, der die Arbeiter im Ernstfall nur unor¬
ganisiert, d.h. von vornherein unterlegen, gegenüberstehen.
Ferdinand Rieche, dargestellt von Heinz Schubert, ist ein
Spezialist für diesen Ernstfall. Zu Beginn des Films ist er Kri¬
minalbeamter, aber die rechtsstaatlichen Prinzipien der Straf¬
verfolgung engen seine Phantasie bei der Verbrechensbekämp¬
fung ein, da die Rechtsbrecher obendrein den Vorteil haben,
eben nicht an die Rechtsstaatlichkeit gebunden zu sein. So fühlt
er sich a priori unterlegen, unzureichend handlungsfähig. Rie¬
che verfügt über ein spezialisiertes Können, das er aber nicht bis
zur letzten Konsequenz einsetzen kann. Der Sinn seines Lebens
kann sich für ihn bei einer solchen Beschränkung seiner Ar¬
beitskraft nicht erfüllen. Als der Chef des Werkschutzes eines
großen Unternehmens seinen Posten verliert, da Informationen
über die geheime Bewaffnung an die Öffentlichkeit gedrungen
sind, bewirbt sich Rieche um den freien Job. Er erhält ihn.
Probezeit sechs Monate.
Aber auch in seiner neuen Position hemmen ihn die rechts¬
staatlichen Prinzipien. Zwar errichtet er ein Feldquartier im
Zentrum der Produktion, erteilt seinen Werkschutzleuten Un¬
terricht, läßt einen verwirrenden Schilderwald für seine Leit¬
stelle entwirren, nimmt Ein- und Umbauten zur besseren
Überwachung und Sicherung des Betriebes vor, aber dennoch
sind seiner Phantasie des Sicherns Grenzen gesetzt, nicht zuletzt
auch finanzieller Natur. Eine Versicherung, rechnet ihm Direk¬
tor Wilutzki vor, wäre eigentlich viel billiger. Rieche ist auch in
dieser neuen Funktion unzufrieden. Seine Arbeitskraft ist ge¬
bremst. Etwas Abwechslung und Befriedigung bringt ihm die
Episode mit Gerde Kahlmann, die er auf frischer Tat beim
Klauen ertappt und, da er sie in der Hand hat, zu seiner Gebeb¬
ten macht. Dennoch: seine Fähigkeiten zu sichern, der Sinn
seiner Arbeitskraft, liegen brach.
Ein Sabotageakt, der mit Rücksicht auf die Reputation der
Firma zur Sachbeschädigung, zur „Verpuffung“, uminterpre¬
tiert wird, bringt noch einmal die Möglichkeit, die Sicherheits-
141
maßnahmen zu steigern. Direktor Wilutzki hält die Aktivitäten
Rieches jedoch für übertrieben und überflüssig. Rieche be¬
ginnt, Wilutzki zu mißtrauen.
Um die Notwendigkeit seiner Planstelle zu signalisieren, or¬
ganisiert Rieche Übungen. Er bricht in das eigene Werk ein,
entwendet nachts aus einem anderen Betrieb Waren und bringt
sie in der Morgendämmerung wieder zurück, er härtet sich in
einem Eisloch ab, studiert die Schriften des politischen Geg¬
ners, bewirbt sich als CIA-Agent - aber die haben keine Plan¬
stelle frei führt gemeinsam mit der rechtsradikalen Truppe
eines ehemaligen Freundes militärische Geländeübungen
durch, ertappt eine wissenschaftliche Mitarbeiterin beim wis¬
senschaftlichen, sprich: zweckfreien Austausch von wissen¬
schaftlichen Ergebnissen (Rieche sagt: Betriebsgeheimnisse)
mit einem Kollegen in einem Nachbarbetrieb und setzt die Kol¬
legin rechtswidrig in einem Keller fest. Der in dieser Sache
aufkeimende Verdacht gegen ihn macht Rieche unruhig. Er
verliert das Maß für seine Aktionen. Er will Gäste, Direktoren
aus Brüssel, am Werkstor kontrollieren, schließlich verdächtigt
er Direktor Wilutzki des .Landesverrats im Betrieb“. Er ver¬
folgt ihn auf einer Reise nach Belgien, stellt mit Hilfe eines
Fernrohrs, lippenlesend, fest: Wilutzki verhandelt über eine Fu¬
sion des Betriebes mit einer anderen Gesellschaft. Rieche macht
seinem Vorstand davon Meldung, dieser reagiert nicht auf
seine Vorwürfe. Also greift Rieche zur Selbsthilfe, er dringt am
Silvesterabend in die Wohnung Wilutzkis ein und setzt ihn fest.
- Dieser Übergriff kostet ihn seinen Posten. Mit der Bestäti¬
gung Wilutzkis, nicht unfähig zu sein, verläßt er den Betrieb.
Sein Leben hat weniger denn je einen Sinn. In dieser Lage
unternimmt er den verzweifelten Versuch, die Notwendigkeit
seiner Existenz unumstößlich zu beweisen. In Bonn durch¬
dringt er die Absperrung der Sicherungsgruppe Bonn, um
durch einen Warnschuß einen halben Meter am Kopf eines Mi¬
nisters vorbei seinen .Bewerbungsschuß“ abzugeben und damit
zugleich den Nachweis der Notwendigkeit seines Könnens zu
liefern. Der Schuß geht fehl, Rieche trifft den Minister in die
142
Wange. Er flieht, wird aber von den jüngeren und besser trai¬
nierten Beamten der Sicherungsgruppe Bonn gestellt. In dem
Wagen, der ihn zum Gefängnis transportiert, gibt er einem
Reporter ein Interview:
143
talismus gebremsten Arbeitskraft aufmerksam gemacht, die
doppelt gefährlich ist, wenn sich Männer wie Rieche in einer
Position befinden, die ihnen einen organisatorischen Apparat
wie den im Dunkeln operierenden Werkschutz zur Verfügung
stellt.
Damit hat Kluge auf ein wichtiges Problem dieser Gesell¬
schaft aufmerksam gemacht, Interesse dafür geweckt, auch
wenn der Film nicht gänzlich geglückt ist.
Kluge hat einige Elemente seiner Filmtechnik, Kommentare,
Handlungen, die nicht motiviert werden, ironisierende Musik¬
kommentare, zwar beibehalten, wenn auch Inserts und Abwei¬
chungen von der Haupthandlung nicht Vorkommen, aber er
hat sie nicht zu der gewohnten Intensität verdichten können.
Das hat seine Ursache im Mangel an verwendbarem dokumen¬
tarischen Material, mit dem sonst eine Ebene in die Filme Klu¬
ges kommt, die erst die Basis des Fiktiven bildet. Diese Basis,
und damit Horizonterweiterung, der Spielhandlung, ihr sozia-
und damit Horizonterweiterung der Spielhandlung, ihr sozia-
werden, die Groteske stößt so von schwankendem Boden aus
ins Leere. Die ausgefabelte Radikalität Rieches wirkt übertrie¬
ben, wirkt komisch, weil die Organisation und Potenz des
Werkschutzes sich dem öffentlichen Bewußtsein entziehen.
Kluge hat aus dieser Situation einen Ausweg gesucht, indem
er die latente Komik des Stoffes nicht voll ausgeschöpft hat,
zugunsten einer zurückhaltend demonstrativen Haltung. Die
Spannung, die aus der Handlung resultieren könnte, wird
ebenfalls reduziert, da eine stringente Psychologie der Person
Rieches, wegen dessen Gebrochenheit, nicht entwickelt wer¬
den kann. Dadurch reißt auch manchmal der rote Faden. So
entsteht der Eindruck, Kluges Film, wertet man ihn als
Versuch, sich der traditionellen Filmdramaturgie zu nähern
- die professionelle Kritik hat das fast ausnahmslos getan - sei
gescheitert. Gemessen an dieser Beurteilungsgrundlage stimmt
das sicher. Aber auch gemessen an Kluges eigenem Anspruch
muß man den Film als nicht ganz gelungen bezeichnen, da sich
seine spröde Demonstrationsdramaturgie nur selten in Ein-
144
klang mit der ästhetisch-üppigen Qualität der Bilder, die teil¬
weise noch aus der Arbeit von Reitz stammen, befindet. So
wirkt der Film wie ein Kompromiß, da weder eine durchge¬
hende Kommentarebene eine zweite Dimension des Gesche¬
hens eröffnet, noch die komödiantisch-tragischen Potenzen des
Stoffes (Ferdinand Rieche als der mit seinen Fähigkeiten zu früh
Gekommene) voll ausgeschöpft sind.
Ende 1977 hat Kluge eine veränderte Schnittfassung des
Films in die Kinos gebracht, um dem Film noch einen zweiten
Start zu verschaffen. Der erste war durch einen Druckerstreik
im Zeitungsgewerbe stark beeinträchtigt worden. Aber auch
dem zweiten Versuch blieb der Erfolg versagt, obwohl sich
Kluge hier mehr auf die übliche Kinodramaturgie eingelassen
und sich damit dem vorliegenden Material besser angeglichen
hat. Die Neufassung begründet die Motive Rieches ausführli¬
cher, stellt ihn und die Problematik des gebremsten Könners
deutlicher in den Mittelpunkt, drängt das Thema Werkschutz
etwas zurück. Es hat nun vorwiegend Demonstrationscharak¬
ter, an dem die Probleme Rieches verdeutlicht werden, so daß
Rieche als Figur mit einer bestimmten psychischen Entwick¬
lung, die auch seine überzogenen Unternehmungen begründet,
plastischer und konkreter wird.
Mit dem Film ,Der starke Ferdinand* geht auch der Einfluß,
den das Buch .Öffentlichkeit und Erfahrung* auf die literari¬
schen, hauptsächlich aber auf die filmischen Arbeiten Kluges
hat, zurück. Mit der Analyse der Blockierungsmechanismen
der bürgerlichen Öffentlichkeit ist Kluge in seinen Filmen aus¬
schließlich auf die aktuelle historische Situation der Bundesre¬
publik Deutschland eingegangen. Nur zweimal gibt es Remi¬
niszenzen an die deutsche Geschichte: Rita Müller-Eisert stellt
sich Bilder der Bombardierung Kölns vor, ein Freund Ferdi¬
nand Rieches entpuppt sich als (alter) Neo-Nazi. Diese Schlag¬
lichter geben den aktuellen Arbeiten zur gegenwärtigen gesell¬
schaftlichen Lage aber keine historische Dimension. Sie bleiben
Episode.
Diese thematische Einengung hebt Kluge aber in seinen
145
neuesten Arbeiten wieder auf. In seinem letzten, 1977 erschie¬
nenen Erzählband .Neue Geschichten. Hefte 1-18. „Unheim¬
lichkeit der Zeit““ verlängert er die Geschichten wieder in die
deutsche Vergangenheit hinein; er dokumentiert und be¬
schreibt z. B. den Luftangriff auf Halberstadt, ohne jedoch den
Blick von den gegenwärtigen Entwicklungen der Bundesrepu¬
blik abzuwenden. Als neuer Themenkomplex kommt ansatz¬
weise hinzu, wie der andere Teil Deutschlands, die DDR, die
nationalsozialistische Vergangenheit aufarbeitet.
Die Tendenz, die gegenwärtige Geschichte auf ihre histori¬
schen Ursachen zurückzuführen, bestimmt auch die Neuaus¬
gabe der ,Schlachtbeschreibung“, in deren Zentrum die mate¬
riellen und ideellen Folgen der Schlacht bei Stalingrad stehen,131
sowie die von Kluge dem Film .Deutschland im Herbst“, der
hier wegen seiner kollektiven Produktionsform nicht einge¬
hend behandelt werden soll, beigesteuerten Sequenzen von Do-
kumentarbildern über die Beerdigung von Baader, Ensslin und
Raspe, die er mit Dokumentaraufnahmen von der Beerdigung
Generalfeldmarschall Rommels durchsetzt. In diesem Film
taucht auch schon die Geschichtslehrerin Gabi Teichert auf-in
der Neuausgabe der .Schlachtbeschreibung“ ist sie die Hauptfi¬
gur einer Geschichte -, die sich auf die Suche nach der deut¬
schen Geschichte begibt. Diese Suche ist das Thema des neue¬
sten Films von Kluge: ,Die Patriotin“.
XIV. ,Neue Geschichten. Hefte 1-18.
„Unheimlichkeit der Zeit*“
147
ständigte Entwicklung nimmt, ungenaue Sozialisationspro¬
zesse, „Zustöpseln eines Kinderhirns“ (S. 14), das menschlich
inadäquate Paragraphenwerk der Justiz, die durchaus auch poli¬
tische Funktion hat.
148
mal, wenn auch mit ironischer Absicht, allein Bilder, nur mit
ihren erklärenden Unterschriften versehen, .Geschichte“ erzäh¬
len (.Bilder aus der Vergangenheit der Natur“, S. 425ff.).
Gerade bei diesem Buch ist der Eindruck, die Fülle des Mate¬
rials sei nicht zu bewältigen, besonders stark, auch weil Kluge
sich selbst der Möglichkeit einer sinnvollen Gliederung entho¬
ben sieht. Im Vorwort heißt es weiter: „Ich könnte z. B. Irrtü-
mer, historisch Unzutreffendes, Mißverständnisse (was ich sel¬
ber nicht begriffen habe, während ich schreibe) durch Zusätze
aufklären. Dies ist aber nicht die Form, in der die Geschichten
erzählt sind. Diese Form ist ein Gefühl, das nur einmal mißt,
und war es theoretisch (= betrachtenderweise) falsch, dann ist
es falsch und mißt so auch.“ (S. 9)
Dieses Gefühl drückt sich einmal im Empfinden von Un¬
heimlichkeit aus, diese Regung ist aber nicht die einzige. Dem
Schreiben Kluges liegt zum anderen eine Protestenergie zu¬
grunde. Diese Energie ist in den .Neuen Geschichten“ eine Stei¬
gerung des auch hier thematisierten Hungers nach Sinn, sie ist
der Versuch, diesen Hunger zu stillen durch Aktivität, durch
Rache. „Rache-Fähigkeit ist eine Arbeitskraft, unerträgliche
Verhältnisse umzukehren.“132 In der Tat durchzieht das Motiv
der Rache das ganze Buch. .Rache durch den Stellvertreter“
(S. 20), „Rache kann fliegen?“ (S. 26), .Wally, der Rachegeist“
(S. 194), .Rachegefühl als Freizeitthema“ (S. 197), „Das Zeitge¬
fühl der Rache“ (S. 524).
Eine Schlüsselgeschichte, was die Struktur der .Neuen Ge¬
schichten“ und das Motiv des Rachegedankens angeht, ist die
Geschichte .Eingemachte Elefantenwünsche“ (S.202ff.). Ein
Angestellter einer Werbefirma, A. Weber, hat ein 1800 Seiten
langes Manuskript mit dem Titel .Eingemachte Elefantenwün¬
sche“ geschrieben.
149
Schriftstellern, wobei er im Falle A. Weber diesen Begriff weit
auslegen wollte, suchte diesen Autor auf . . .
Ich hatte Sie so verstanden, sagte Boehncke, daß Sie an einem
großen Tragödienstoff arbeiten. Das ist richtig, bestätigte We¬
ber. Dann ist wohl der übrige Apparat, Ihre 1800 Seiten, sicher
ein größerer Zusammenhang? Nein, sagte Weber, das sind lau¬
ter einzelne Stücke. Wieso, fragte Boehncke, schreiben Sie Ihre
Geschichten nicht in Form eines großen Romans? Weber: Ich
muß immer neu ansetzen.
B.: Nun ist das ein Märchen. Und das Bild vom Elefanten mit
dem langen Gedächtnis ist keine biologische Tatsache, son¬
dern ein Klischee.
W.: Absolut. Ich gehe aber außerdem davon aus, daß Elefanten
ihr Gedächtnis vererben. Das Geheimnis der Elefantenfried¬
höfe! Es entsteht dort eine Art Gattungsgedächtnis . . .
B.: Vielleicht ist das etwas unwissenschaftlich?
W.: Unter uns gesagt: vermutlich.
B.: Im Roman wäre mir das wurscht. Sie nennen aber ihre
Aufzeichnungen einen Erfahrungsbericht.
W.: Erfahrungsbericht, ja.“ (S. 204/205)
150
Ohne dieses (gekürzte) Gespräch überbewerten zu wollen,
scheint es mir dennoch zentral zu sein für die .Neuen Geschich¬
ten* insgesamt. Es geht Kluge um das .Elefantengedächtnis*,
das historische Ereignisse nicht vergißt und sich zu einem .Gat¬
tungsgedächtnis* ausweitet, in das die kollektiven Erfahrungen
der Vergangenheit eingegangen sind. Die entsprechende In¬
stanz beim Menschen ist das Geschichtsbewußtsein, ist das
Speichern von historischer und gegenwärtiger Erfahrung, die
als Protestenergie irgendwo erhalten bleiben soll. Zur Zeit exi¬
stiert dieses Rachegefühl jedoch nicht, es ist durch Befriedung,
Lohnerhöhungen, Entfremdung, Bewußtseinsindustrie in an¬
dere, für das gesellschaftliche und ökonomische System unge¬
fährliche Bahnen gelenkt.
151
und die anderen ästhetischen Arbeiten Kluges eingearbeitet
sind. Insofern sind seine Geschichten tatsächlich Erfahrungsbe¬
richte.
Der Unterschied zwischen A. Weber und Kluge besteht al¬
lerdings darin, daß Weber eine Veröffentlichung seiner Arbei¬
ten ablehnt, weil „Veröffentlichung nichts nützt“ (S. 206).
Kluge ist da anderer Meinung: „Etwas in Webers Haltung erin¬
nerte ihn an die Wirkung von Büchern.“ (S. 206)
Das ganze Heft 2 der .Neuen Geschichten', um einen zusam¬
menhängenden Komplex herauszugreifen, ist auf ein Ereignis
konzentriert: ,Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April
1945.' Dieser alliierte Luftangriff war, vier Wochen vor Kriegs¬
ende, militärisch überflüssig.133 Kluge, der den Luftangriff als
Dreizehnjähriger miterlebte, hat das Ereignis nach allen Seiten
hin recherchiert und das Material in diesem Heft zusammenge¬
tragen. In verschiedenen Einzelepisoden wird - ganz im Kluge-
Stil - das Mosaik dieses Angriffs unter den unterschiedlichsten
Aspekten ausgelegt: Reaktion der Leiterin des Kinos .Capitol',
Frau Schräder; Geschichte eines Fotografen, der „seine Hei¬
matstadt in ihrem Unglück“ (S. 39) festhalten will - .seine'
Fotos sind in den Text montiert Tod der Turmbeobachterin-
nen Frau Arnold und Frau Zacke; „Strategie von unten“ (S. 55)
der Volksschullehrerin - jetzt als Munitionsarbeiterin dienst¬
verpflichteten - Gerda Baethe, die versucht, mit ihren drei Kin¬
dern dem Desaster zu entkommen; detaillierte Beschreibungen
der Zerstörungen an den Märkten, Häusern, Kirchen und Stra¬
ßen; Eilunterbringung der Verwundeten in Reservelazaretts,
vergeblicher Einsatz der Feuerwehren; das Ende von Halber¬
stadt: „Ein strenger, .stiller' Geruch nach Verbranntem liegt
über der Stadt, der nach einigen Tagen .vertraut' empfunden
wird.“ (S. 103)
Soweit die Seite der Betroffenen. Auf der anderen Seite ste¬
hen die Angreifer mit ihrer „Strategie von oben“ (S. 62), die
den ganzen Einsatz als wirtschaftliche Notwendigkeit betrach¬
ten. Der Krieg als .Industrie', die Bomben als ,Ware‘.
Der Reporter Kunzert, ein Halberstädter, interviewte 1952 in
152
London den Brigadier Frederick L. Anderson, der den Angriff
auf Halberstadt mitgeflogen hatte. Für Anderson und seine ab¬
strakte Strategie von oben ist der ganze Angriff Inhalt eines
Arbeitstages und durch ökonomische Zusammenhänge be¬
gründbar:
153
wahres Gesicht zeigt, ist auch das Ziel, das Kluge in den ande¬
ren Geschichten erreichen will, gleich welcher Themen- oder
Zeitkreis beschrieben wird. Dabei ist zu vermerken, daß Kluge
in diesem Buch nicht nur seine Beobachtung auf die Bundesre¬
publik Deutschland beschränkt, sondern seinen Blick auch auf
Entwicklungen in der DDR richtet. Das Heft 9 ,Bilder aus mei¬
ner Heimatstadt' mischt Bilder (teilweise seiner Familie) aus
der Vergangenheit mit Eindrücken der gegenwärtigen DDR-
Gesellschaft, die sich, wie der kapitalistische Westen auch, an
ewigen Werten orientiert und immobil wird, wodurch sich
kollektive Interessen der Arbeiter nicht entwickeln können.
Ein wesentlicher Aspekt der .Neuen Geschichten' ist der
Versuch Kluges, die Zeit der Studentenbewegung 1967/68, zu
der er damals, als sie aktuell war, in seinem ,Artisten‘-Film nur
sehr entfernt und metaphorisch Stellung bezogen hatte, aufzu¬
arbeiten. 10 Jahre danach äußert er sich direkt und konkret zu
ihr, beschreibt von einem Standpunkt solidarischer Kritik aus
ihre historische Notwendigkeit, aber auch ihre Fehler. In den
Teilen 1 und 2 der .Tage der politischen Universität' und in
anderen Geschichten in Heft 8 erzählt Kluge von den inneren
und äußeren Schwierigkeiten der Frankfurter Studenten, die,
vom Springertribunal vom Herbst 1967, vom Frühling 1968,
von der Debatte der Notstandsgesetze, vom Vietnamkrieg,
von ihrem eigenen Streik und der Besetzung der Universität
verunsichert und aktiviert zugleich, sich einer politischen Aus¬
drucksform zu versichern suchen, die den eigenen beschränk¬
ten Handlungsraum erweitert. Die Geschichten zu diesem
Thema sind nicht ohne Ironie, aber immer mit großer Sympa¬
thie für die studentische Protestbewegung geschrieben. Ein zen¬
traler Ansatzpunkt der solidarischen Kritik Kluges, die die Leh¬
ren aus dieser Geschichte zieht, ist der Hang zur Verselbständi¬
gung studentischer Diskussions- und Versammlungsformen,
das Versäumnis, keinen Weg zur Solidarisierung und Koopera¬
tion mit den Arbeitern und anderen gesellschaftlichen Gruppen
gefunden zu haben. Nach außen hin abgeschottet, läuft im In¬
neren das Ritual der Diskussion ab, das notwendige Entschei-
154
düngen letztlich nur verhindert, in einer Form, . daß sich
die einzelnen Gedanken nicht mehr äußern, sondern die Dis¬
kussion selber als ,reine Diskussion“ und .reines Kollektiv“,
d. h. leer, ans Licht trat, denn es waren hier keine Gegner anwe¬
send, an denen die Auseinandersetzung Gestalt gewonnen
hätte.“ (S. 261) Mangels Erreichbarkeit des wirklichen politi¬
schen Gegners wird ersatzweise einer aus den mehr oder weni¬
ger eigenen Reihen gesucht, um dem bruchstückhaften Han¬
deln nachträglich doch noch einen Sinn zu geben, wodurch
aber nur Momente innerer Spaltung entstehen. Statt Koopera¬
tion zu suchen, die durch Außendruck zusammengehalten und
stärker wird, drängen die Kräfte ohne den Außenbezug unge¬
hemmt und ziellos auseinander:
155
schon gesehen worden, müssen weiter vor.“ (S. 297) Solcher¬
maßen von vorn und hinten und von innen unter Druck, er¬
obern sie das Mikrophon. Da gerade Augstein, der Herausge¬
ber des ,Spiegel“, spricht, stellen sie folgende Forderung:
156
Der Unterschied der köpf- und handarbeitenden Produk¬
tionsweise gesellschaftlicher Erfahrung ist aber nicht das ein¬
zige Hindernis, das dem Versuch, solidarische Unterstützung
zu erlangen, entgegensteht. Die Existenz des Arbeiters ist in
weit größerem Maße fremdbestimmt und aufgesplittert als die
im Freiraum der Universität übliche. Auch deshalb, nicht nur
wegen der unterschiedlichen Sprachökonomie und Begriffs¬
ebene, gelingen die Versuche Hans-Jürgen Krahls nicht, in
Frankfurt-Bornheim in Kneipen Kontakt zu Arbeitern herzu¬
stellen:
157
„Inzwischen sind die Freunde aus der Universität ver¬
schwunden. Einige bekleiden Lehrstühle, doktorieren. Andere
haben sich Fraktionen angeschlossen. G. ist ihnen nicht gefolgt.
Das Frankfurter Negt-Kolloquium löst sich auf, da Negt nach
Hannover geht ...
Er beginnt wieder viele Fernsehsendungen anzusehen, schläft
morgens lange, muß abends ,ausbrechen1 gehen, klappert Lo¬
kale ab, wo eventuell ,Freunde' sitzen, ein Bier trinken. Selbst
die Stellung eines Kassierers in einer Gastwirtschaft schien ihm
gelegentlich verlockend, weil sie beweglich ist und Grenzen für
seine menschlichen Anstrengungen zieht. Dann aber verwirft
er das. Er kann sich nicht dümmer machen als er ist.“ (S. 303)
158
Thema, das Kluge in den .Neuen Geschichten1, konzentrierter
und ausführlicher als bisher, obwohl es schon in ,Der starke
Ferdinand1, teilweise auch in .Gelegenheitsarbeit einer Sklavin1
angelegt ist, bearbeitet, eben die innere Erfahrungsstruktur, die
innere Widersprüchlichkeit und die Möglichkeiten der Resi¬
stenz der Arbeitskraft, ihre besondere Ökonomie. Kluge hat
diese Probleme, über die er mit Oskar Negt weiterarbeitet,
schon 1976 in einem Gespräch mit Heiner Boehncke über den
Schriftsteller B. Traven erläutert. „Ich halte es für wahrschein¬
licher, daß Traven seine realistische Methode überhaupt nicht
aus der Ökonomie des Kapitals, sondern aus der Ökonomie der
Arbeitskraft bezieht . . . man kann aus der Ökonomie des Kapi¬
tals gar keine realistische Schreibweise entwickeln, sondern al¬
lenfalls die Zersetzung jeder Schreibweise. Ahmeich realistisch
die Ökonomie des Kapitals nach, so erhalte ich die Babyloni¬
sche Sprachverwirrung . . . Vielleicht erscheint diese Sprachver¬
wirrung aber dann als Friedhofsruhe, als das Ende des Erzäh¬
lens . . . Wir brauchen vor allem Beschreibungen der Ökono¬
mie der Arbeitskraft, weil sie mit den menschlichen Energien
und Haltungen zu tun hat, die auf Veränderungen drängen und
sie machen. Der Kapitalist erfaßt diese Ökonomie rein quanti¬
tativ . . . Traven beschreibt die Arbeitskraft qualitativ.11134
Kluge selbst verfährt dreigleisig, er beschreibt einmal die Ar¬
beitskraft qualitativ, er beschreibt zum anderen, daß der Kapi¬
talismus die Arbeitskraft quantitativ verwertet, und er be¬
schreibt zum dritten, wie die Arbeitskraft sich qualitativ gegen
die quantitative Verwertung wehren kann.
Das quantitative, einseitige Ausbeuten der Arbeitskraft
durch Taylorismus, Arbeitszeitmessung und Statistik reduziert
den Menschen zum Träger der Ware Arbeitskraft, unabhängig
von seiner menschlich-sozialen Qualität. Diesen Zustand
könnte der Mensch jedoch nicht lange aushalten. So verwan¬
delt die warenproduzierende Gesellschaft ihre Waren in Phanta¬
siewerk, d.h. sie nimmt die unterdrückten menschlichen Be¬
dürfnisse und Beziehungen in ihren Ausbeutungs- und Ent¬
fremdungszusammenhang auf. Negt und Kluge nennen diese
159
Stufe der reellen Subsumtion unter das Kapital auch „Imperia¬
lismus nach innen.“ (Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 282f.)
Das extremste, aber konsequenteste Beispiel dieser Art des
Denkens verkörpert SS-Obersturmführer Madloch, der im
„Dezember 44/45 die Arbeitsleistung in verschiedenen Außen¬
lagern der B-Kommandos“ mißt (S. 143). ,,. . . menschliche
Arbeit (und auch, wenn es sich um untermenschliche handelt,
nutzt davon nur der menschliche Teil) ist in Form bloßer Mus¬
kelkraft unwirtschaftlich wegen der hohen Brennstoffkosten.“
(S. 144) Für die Brennstoffkosten errechnet er auf der Grund¬
lage eines Kalorienbedarfsplans für 1000 Kcal den Betrag von
RM 2,15. Um den Nutzeffekt zu erhöhen, erweitert Madloch
in seinem Verschrottungsbegriff („Verschrottung durch Ar-
automatisierte
12 15 18 21
Ortszeit
160
beit“, S. 143) die Verausgabung bloßer Muskelkraft um mora¬
lische und psychische Komponenten. „Demgegenüber ist Ver¬
schrottung im nationalsozialistischen Sinne die vollständigste
Mobilisierung der Willens-, Hirn- und Muskelkräfte einer Ar¬
beitskraft, die Aktivierung der letzten Faser und Zelle. Gra¬
phisch dargestellt: [im Original folgt hier das auf Seite 160
abgedruckte Schaubild]
Dieses Prinzip, den ganzen Menschen in den Ausbeutungs¬
prozeß zu integrieren, kein Moment frei flottieren zu lassen,
auch die Phantasiekräfte zu binden, ist ein genuin kapitalisti¬
sches Prinzip, das auch in der Bundesrepublik Deutschland
durch die intensive Ausbeutungs- oder Verwertungsorganisa¬
tion, durch die reelle Subsumtion unter das Kapital vorherrscht.
Produkte der Massenmedien und des sich abzeichnenden Me¬
dienverbundes tun ein übriges. Dagegen muß die Arbeitskraft,
die so quantitativ und qualitiv verwertet wird, eine Restqualität
mobilisieren, die die Überlagerung durch die rational-ökono¬
mischen Produktionsprozesse qualitativ-emotional ausgleicht.
Dieses Potential ist für Kluge (und Negt) ebenfalls in der Öko¬
nomie der Arbeitskraft enthalten, wenn auch nicht frei von
Verkehrung und Unterdrückung: als Phantasie, die sich alter¬
native Verkehrsformen vorzustellen vermag. Zu ihrer kollekti¬
ven Organisation wäre jedoch proletarische Öffentlichkeit not¬
wendig. Solange es diese nicht gibt, können die Alternativen
auch nicht konkretisiert werden. Insofern schlägt der Vorwurf
Michael Buseimeiers, „Proletarische Öffentlichkeit ist zwar
eine zentrale Kategorie des von Kluge gemeinsam mit Oskar
Negt geschriebenen Buches .Öffentlichkeit und Erfahrung1,
prägt sich aber in Kluges Filmen und Prosatexten nicht positiv
aus“135, ins Leere. Es geht nicht darum, vom individuellen Li¬
teraten die Auswege gewiesen zu bekommen, die eines langen,
kollektiven Produktionsprozesses bedürfen.
Die Parteilichkeit Kluges ist keine des Willens (sozialistischer
Realismus), sondern eine der Sache. Kluge: „Diese Entschlos¬
senheit (willentlich R. L.), parteilich zu erzählen, ist gegenüber
der Wahrnehmungsfähigkeit und dem Aktionsbedürfnis der
161
menschlichen Arbeitskraft eine gewaltsame Reduktion, . . . Die
von dem so verstanden parteilich Erzählten abgeschlossene
Ausdrucksenergie von Autoren und Lesern geht aber nicht
unter.“136
Und gerade an diese ausgegrenzte Energie des Lesers wenden
sich die literarischen (und entsprechend die filmischen) Produk¬
tivkräfte des Autors Alexander Kluge. Dazu ist es allerdings
notwendig, an der vorhandenen konkreten Erfahrung der Rezi¬
pienten anzuknüpfen, um ein idealistisches Verkleistern der
Realität durch ästhetische Organisation zu verhindern. Darin
liegt allerdings eine Gefahr, insbesondere des Buches ,Neue
Geschichten“, das, wegen seiner Überfülle an Material, auch bei
mehrfachem Lesen nicht gänzlich erfaßt werden kann - eine
Gefahr dieses poetischen Prinzips überhaupt. Die in der Gesell¬
schaft angelegte Unüberschaubarkeit der individuellen Erfah¬
rungspartikel durch Vereinzelung, der Eindruck der Disparat-
heit der gesellschaftlichen Erfahrung, kann bei ihrer Entspre¬
chung im ästhetischen Produkt zu einer Verdoppelung des Rea¬
litätseindrucks führen. Das wirkt auf die Dauer der Lektüre
ermüdend, schafft Verwirrung, Unlust. Diese Gefahr nimmt
Kluge aber bewußt in Kauf. Der Leser soll sich mit seinem
wahren/falschen Bewußtsein an den .Neuen Geschichten“ (und
an seinen anderen Texten) ebenso abarbeiten wie an der Realität
selber. Als Hilfe werden ihm die Widerspruchstendenzen in der
Ökonomie der Arbeitskraft angeboten. Nur so kann er aktiv an
der Literatur (und an den Filmen) beteiligt werden, vorausge¬
setzt, er läßt sich darauf ein. Das bedeutet: Rezeption als Pro¬
duktion,137 als Möglichkeit, die vorgegebenen Geschichten mit
eigener Phantasie anzureichern, zu verbinden, weiterzutreiben.
XV. ,Die Patriotin'
163
quate historische Fortbildung des Lehrenden, der zugleich ein
Lernender ist, verhindert, es ist nicht nur die Kontrolle der
Schulbehörde und der Eltern, Schwierigkeiten bereiten ihr vor
allem die unzureichenden Unterrichtsmaterialien, die zur Ver¬
fügung stehen, denn diese können nur so gut sein, wie die
Geschichte selbst, deshalb will Gabi Teichert die Geschichte
verändern und beeinflussen; Schwierigkeiten bereiten ihr ferner
die seit dem Zweiten Weltkrieg herrschende tiefe Geschichts¬
verdrängung und Geschichtslosigkeit der Deutschen. Ge¬
schichte ist nur noch unter der Hand möglich, als Raub, des¬
halb ist Gabi auch Raubgräberin. Sie macht die Nacht zum
Tage, gräbt mit dem Spaten bei Regen und Sturm, schließt sich
Straßenbauarbeitern an und durchsucht den Erdboden, den ein
Bagger achtlos umschichtet.
Um ihr Unterrichtsmaterial zu verbessern, wendet Gabi Tei¬
chert neben der Raubgräberei noch zwei weitere Methoden an:
Einmal untersucht sie in einem Labor die Geschichte mit allen
verfügbaren Mitteln: zunächst die Bücher, die sie, mit Oran¬
genkonzentrat angedickt, schluckt, die sie politisch-praktisch
bearbeitet, mit Sichel und Hammer nämlich, die sie anbohrt,
zersägt, auseinandernimmt; darüber hinaus versucht sie, die
geschichtlichen Verhältnisse zu verändern, damit das Unter¬
richtsmaterial wenigstens in Zukunft besser wird, und zwar
dort zu verändern, wo Geschichte politisch verwaltet wird, wie
zum Beispiel auf dem Bundesparteitag der SPD 1978 in Ham¬
burg. Dort stellt Gabi Teichert den Delegierten ihre Forderung
vor, muß aber, wie einige Delegierte aus Westfalen auch, er¬
kennen, daß die Wünsche nach Veränderung in der gegenwär¬
tig praktizierten Form von Politik nicht wirksam werden kön¬
nen. Das Prinzip des Leitantrags, die Sicht von oben, das Prin¬
zip, das die Details subsumiert, das ist das Motto dieser politi¬
schen Willens(ver)bildung: Ein Leitantrag, so belehrt Horst
Ehmke, faßt verschiedene Anträge zu einem Thema, auch die
gegenläufigen, zusammen, entschieden wird aber nur über den
Leitantrag, d.h. Delegierte des Parteitages müssen auf diese
Weise auch dem zustimmen, was sie eigentlich gar nicht ge-
164
wollt haben. Historische Veränderung ist so nicht möglich.
Deshalb untersucht Gabi Teichert mit einem Freund in ihrem
Labor die Materie auf dem „absoluten Nullpunkt“, also bevor
Geschichte auf sie einwirkte, d. h. bei einer Temperatur, bei der
die Atome noch „in Ordnung“ sind.
Aber: alle Versuche, die Gabi Teichert unternimmt, die
Grundlagen der deutschen Geschichte zu erforschen, um die
Unterrichtsmaterialien, d.h. die Aufklärung, zu verbessern,
müssen scheitern. („Jedes Jahr zu Silvester sieht Gabi Teichert
365 neue Tage vor sich.“) Nicht nur ihre sozialen Erfahrungen
- sie lernt einen Verfassungsschützer kennen, der sich als Kon¬
trast zu seinem Spähen am Tage des Nachts als Spanner betä¬
tigt, der es jedoch nicht versteht, entspannt zu spannen -, vor
allem die Geschichte selbst versteht sie nicht.
165
Stelle einen Filmausschnitt von Veit Harlan mit Kristina Söder¬
baum ein). Dann wird der Plan der Organisation Todt, Kanäle
über die Alpen zu bauen, erläutert, dann sieht man Vorstellun¬
gen der Stadt in fünfzig Jahren (von 1932), dann interpretiert
ein juristisch interessierter Märchenforscher Märchen der Ge¬
brüder Grimm. Zwischen all dem meldet sich das Knie zu
Wort, erklärt seine Funktionsweise, die durch die erforderliche
Streckung beim Parademarsch widernatürlich verändert wird,
berichtet über seinen Herrn, den Obergefreiten Wieland.
Das und alles andere, was der Zuschauer an Historischem
und Gegenwärtigem zu sehen bekommt, ist keiner Bedeu¬
tungsdramaturgie untergeordnet, ist ihr auch gar nicht mehr zu
subsumieren. Der Zuschauer kann die Verwirrung Gabi Tei-
cherts, die auch nicht alle Zusammenhänge durchschaut, real
nachempfinden, ein Gefühl, das ihm sicher nicht hilft, das ihm
ebensowenig hilft wie die Geschichte selbst. In diesem Sinne ist
der Film realistisch. Die Versuche Gabi Teicherts, sich der Ge¬
schichte sinnlich-praktisch zu nähern, sich Mühe zu geben,
müssen scheitern, denn „sich Mühe geben allein nützt gar
nichts“. (Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 11) So
bietet der Film auch kein praktikables Modell zur Annäherung
an die Geschichte, dazu ist er zu sehr an die Person Kluges
gebunden, noch verficht er einen neuen methodischen Ansatz.
Vielmehr wirft er Fragen auf, stellt Bezüge her, will Interesse
für historische Zusammenhänge, für Geschichte wecken.
In seinen historisierenden Passagen überschwemmt der Film
den Zuschauer mit Assoziationen, Anspielungen, Fakten,
Wünschen und absichtlichen Verwirrungen. Die Bilder - die
Zeit bis etwa 1900 ist ja nicht mit Film dokumentierbar - sind
teilweise statisch, wirken dem Kommentar eher hinzugesetzt,
entwickeln keine eigene Dynamik filmischer Rhythmik. So
dringt in den Film an einigen Stellen optische Leere, die aber
durch die Musikdramaturgie, durch die Geschichte der Gabi
Teichert und durch die widernatürliche, ungewohnte, auf
Ganzheit bedachte Erzählperspektive eines Körperteils, des
Knies, passagenweise überdeckt wird.
166
,Die Patriotin', gedreht von einem Autor, der vieles an die¬
sem Land zu kritisieren weiß, der diesem Land aber dennoch
mit Sympathie begegnet, ist ein Versuch der Synthese, ist eine
Zusammenfassung und Zusammenballung vieler Themen, Ge¬
schichten, Motive und Thesen Kluges, die schon aus den .Le¬
bensläufen' und der .Schlachtbeschreibung' stammen, auch aus
.Öffentlichkeit und Erfahrung'; vor allem aber aus den .Neuen
Geschichten'.
Dieser Versuch des Synthetisierens verschiedener Aspekte
des eigenen Werkes ist nicht in allen Teilen gelungen, manch¬
mal besteht eher die Gefahr der Wiederholung, als daß ein
neuer Zusammenhang, eine neue Einsicht entstünde, die Kluge
nicht schon einmal in seinem Werk formuliert hat. Die thema¬
tischen Bezüge, in denen sich Kluge bewegte und bewegt, wer¬
den in diesem Film passagenweise eher zur Fessel seiner Pro¬
duktivkraft, als daß in ihnen eine neue Qualität zutage träte.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Wenn das Thema die
deutsche Geschichte ist, sind Innovationen durch diesen Rah¬
men beschränkt. Es soll hier nicht einer Sucht nach Neuerun¬
gen um der Neuerungen willen das Wort geredet werden.
Aber: Es hat den Anschein, als seien die Impulse von .Öffent¬
lichkeit und Erfahrung', die Kluges letzte Arbeiten bestimm¬
ten, zu einem Ende gekommen und als sei eine neue Basis der
Produktion noch nicht gefunden.
Eine mögliche neue Basis scheint Kluge, über den Subjekti¬
vismus des Autorenfilms hinausgehend, u.a. in der Koopera¬
tion zu sehen. Das Thema - schon oft angesprochen - wird nun
ausführlich in dem Begleitbuch zum Film behandelt, das neben
der Textliste noch neue Geschichten, Hefte 20 und 21, sowie
Auszüge aus den Entwürfen von Oskar Negt und Alexander
Kluge für ihr neues gemeinsames Buch enthält. ,Die Patriotin'
sollte, wie schon .Deutschland im Herbst', ebenfalls ein Ko¬
operationsfilm werden. Das Vorhaben ist allerdings gescheitert;
der Film enthält lediglich noch einen Beitrag von Margarethe
von Trotta (,Ein Fernseher im Bundeswehrkasino', Die Patrio¬
tin, Ffm. 1979, 115ff.). „Ist Konkurrenz das Maß und die Ka-
167
tastrophe des Autorenfilms, so kann man sagen, daß jeder Au¬
tor den Balken in den Augen des andern sieht. Die Konsequenz
daraus: Wenn einer die Fehler des anderen so sensibel sieht (für
die eigenen Fehler, auch ich selber, blind), dann müssen solche
Flellseher kooperativ in die Filme der andern hineinwirken.
Wenn die sog. guten Charaktereigenschaften nicht Zusammen¬
arbeiten, dann können es vielleicht die schlechten: der hellsich¬
tige Neid usf. So wie wir produzieren, gehen alle Autorenfil¬
mer früher oder später vor die Hunde.“ (Die Patriotin, S. 383)
Kooperatives Arbeiten birgt seine Schwierigkeiten. Das weiß
Kluge seit .Deutschland im Herbst1. In dem Buch zur .Patrio¬
tin1 beschreibt er außerdem die Probleme bei der Diskussion
eines gemeinsamen Filmprojekts, das auf dem Hamburger
Filmfest Ende 1979 entworfen werden sollte. Es kam zu keiner
Einigung. Dennoch: Kluge selbst scheint einen Ansatz zu ma¬
chen. Gemeinsam mit Volker Schlöndorff (andere sollen eben¬
falls noch teilnehmen) arbeitet er Anfang 1980 an einem Film
über die politische Situation der Bundesrepublik vor einer
Wahl mit einem Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß.
XVI. Alexander Kluge - Aufklärung und Humor
Neben den acht Langfilmen hat Kluge seit 1960 bis heute 12
Kurzfilme gedreht. Es sind z. T. Filme aus vorhandenem Mate¬
rial (,Rennen‘, 1961; ,Pokerspiel‘, 1966), Filme über und mit
Familienmitgliedern, die Großmutter (,Frau Blackburn ..
1967), den Vater (,Ein Arzt aus Halberstadt1, 1969) die Mutter
(.Besitzbürgerin, Jahrgang 1908‘, 1972), Filme, die aus nicht
verwendetem Material der Langfilme entstanden sind (.Feuer¬
löscher E. A. Winterstein1, 1968; ,Wir verbauen ...“, 1971),
einmal sogar die Fortsetzung eines Langfilms (,Die unbezähm¬
bare Leni Peickert1, 1969). Nur einige davon, vor allem aber die
ersten Kurzfilme, in dem Enthusiasmus der Oberhausener Zeit
entstanden, sind echte Versuche, den Kurzfilm als eigenstän¬
dige Gattung zu entdecken (.Brutalität in Stein1, 1960; .Lehrer
im Wandel1, 1963; .Porträt einer Bewährung1, 1964/65).
Versucht man, wie vorsichtig und vorläufig auch immer,
eine gliedernde Struktur für Kluges Gesamtwerk zu finden,
ergeben sich folgende Phasen:
Die Literatur zwischen 1962 und 1966: In dieser Zeit erschei¬
nen, nach zwei kulturpolitischen Veröffentlichungen, zwei Bü¬
cher, .Lebensläufe1 und .Schlachtbeschreibung1, die sich beide
intensiv mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Ver¬
gangenheit Deutschlands beschäftigen, in unpersonalen Doku¬
menten (.Schlachtbeschreibung1) und in Einzelschicksalen (.Le¬
bensläufe1), wobei hierin bereits ein kritischer Blick auf die
gesellschaftliche Lage der Bundesrepublik zu Beginn der 60er
Jahre geworfen wird. Nach diesen Arbeiten Kluges tritt eine
Unterbrechung der literarischen Produktion ein.
Die Filme zwischen 1966 und 1971: Die Filme Kluges sind
.aktueller1, thematisch unmittelbarer an der Gegenwart als es
die .Schlachtbeschreibung1 von 1964 war. Sie knüpfen aber an
den literarischen Positionen an, was die Verwendung von Do-
169
kument und Fiktion angeht, aber auch am thematischen Inter¬
essenfeld Kluges, der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
(.Abschied von gestern'). Danach erfolgt, bewirkt durch politi¬
sche Ablehnung seiner Produkte, die Reflexion der eigenen
Situation, die der Kunstproduktion im Kapitalismus (,Die Ar¬
tisten . . Anschließend gibt es eine Fluchtbewegung vor der
Realität der außerparlamentarischen Opposition, der Not¬
standsgesetze und der Studentenbewegung hinweg in die Stille
des Weltalls. Es entstehen die Science-fiction-Filme, die zwar
eine neue Tricktechnik hervorbringen, aber keine guten Filme
sind. Diese Filme scheitern an ihrer schwierigen Rezipierbar-
keit, führen dadurch aber zu einer Neuorientierung Kluges.
Film und Literatur zwischen 1972 und 1976: Das poetische
Prinzip und der literarische Stil Kluges sind nach der Unterbre¬
chung der Literaturproduktion grundsätzlich beibehalten wor¬
den, aber durch eine veränderte gesellschaftstheoretische Basis
(.Öffentlichkeit und Erfahrung') ist die Beobachtung der Ge¬
genwartsprobleme der Bundesrepublik der 70er Jahre wesent¬
lich geschärft. Es kommt zu einer nachdrücklichen, material¬
hungrigen Hinwendung zur sozialen Realität im Film wie in
der Literatur (.Lernprozesse1; der Science-fiction-Teil stößt
sich nur von der Gegenwart ab, ist nur ihre Verlängerung). Die
bestimmende theoretische Grundlage der folgenden drei Filme
(.Gelegenheitsarbeit', .Mittelweg', .Ferdinand') ist .Öffentlich¬
keit und Erfahrung'. Theoretische Erkenntnisse des Buches
werden, wie in der Literatur, ästhetisch neu formuliert und
ergänzt.
Film und Literatur nach 1976: Über diese Phase mehr als
tendenzielle Aussagen zu wagen, ist unmöglich. Deutlich ist
aber die thematische Rückwendung zur deutschen Vergangen¬
heit. Den Versuch, die Gegenwart aus der Vergangenheit abzu¬
leiten, den Blick wieder nach unten zu erweitern, beide Zeitdi¬
mensionen zu vermitteln, unternimmt Kluge schon in den
.Neuen Geschichten', ganz deutlich wird diese Tendenz jedoch
in der Neuausgabe der .Schlachtbeschreibung' und in dem Film
,Die Patriotin'.
170
So wenig verbindlich dieser Versuch einer Phasengliederung
bei der Materialfülle der Klugeschen Texte und Filme im Detail
auch sein mag, er macht immerhin Tendenzen deutlich.
Alexander Kluge steht mit seinen Arbeiten immer in Bezie¬
hung zur sozialen Entwicklung der Bundesrepublik - die
Science-fiction-Produktion ist nur negativer Ausdruck da¬
von er ist im besten Sinne ein Autor der Gegenwart, immer
in der Entwicklung gegenwärtig. Das bedeutet aber nicht, daß
Kluge ein operativer Autor wäre, auch wenn er sich manchmal
auf Sergej Tretjakov und Dziga Vertov bezieht. (Geringste An¬
sätze wären vielleicht dort zu sehen, wo Kluge seine Filme
selbst vorstellt, um sie zu diskutieren). Kluge mischt sich nicht
unmittelbar aktiv in die ablaufenden Prozesse ein, es sei denn in
die der Filmpolitik, wo er mit Geschick und Kompromißbe¬
reitschaft stückchenweise Verbesserungen für die Jungfilmer
aushandelte; seine Methode ist die Beobachtung.
Kluge, um ein Bild von ihm selbst, das er auf Anita G.
münzte, zu verwenden, durchmißt die Gesellschaft wie ein
Seismograph. Er registriert Spannungen, Ungleichzeitigkeiten,
Brüche, Widersprüche und Verschüttungen. Diese deckt er
auf, bringt sie ästhetisch, aber auch theoretisch auf den Begriff.
Dabei wird er angetrieben von einem unermüdlichen Drang,
Lernprozesse in Gang zu setzen, Erfahrungen kooperativ zu
organisieren und zu vermitteln - so begreift er auch seine Auf¬
gabe als Regisseur -, vor allem aber will er Aufklärung betrei¬
ben. Als Mahner, der die Gefahren der historischen Entwick¬
lung lebendig erhält, verharrt er auf der Vorstellung der Mög¬
lichkeit einer wirksamen Aufklärung, die zwar nicht sofort Fol¬
gen zeitigt, aber vielleicht später in einer Strategie von unten
nachwirkt. Damit geht er über die Position seiner Lehrer,
Adorno und Horkheimer, hinaus, denen die kapitalistische
Reahtät als hermetischer Verdinglichungskreis erschien. In den
inneren Brüchen, Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten, an
denen die ununterdrückte Phantasie, ihrer Form nach unbe¬
wußte praktische Kritik an den entstandenen Verhältnissen, ein¬
haken kann, sieht Kluge Ansatzpunkte, diesen Zirkel zu spren-
171
gen. Darin liegen aber auch die Grenzen seiner aufklärerischen
Methode. Sie funktioniert nicht ohne die Bereitschaft des Le¬
sers oder Zuschauers, in Kluges Vorgaben Eigenes zu investie¬
ren. Verstellt Kluge diese Möglichkeit, wehrt der Rezipient sie
ab, dann kommt keine Vermittlung zustande. Dieser Versuch
der Aufklärung im besten Sinne ist keine Bevormundung des
Rezipienten, kommt nicht von oben, der Rezipient muß sich
selbst von unten Vorarbeiten. Die Erkenntnisse, die Lernpro¬
zesse vollzieht er selbst, Kluge arrangiert die dazu notwendigen
Bedingungen. Er begnügt sich mit der Rolle des Mittlers. Da¬
mit instrumentalisiert er sich selbst, macht sich zum seismogra-
phischen Medium, das gesellschaftliche Erfahrung organisiert.
Mit dieser Methode geht Kluge über Odysseus, den Mythos
der Aufklärung und das Maß ihrer Grenzen, wie Adorno und
Horkheimer sie bestimmten, hinaus. Kluge verhält sich zwar
wie Odysseus, setzt sich der Versuchung der Sirenen, der ge¬
sellschaftlichen Realität, aus, um sie wahrzunehmen, zu erfah¬
ren, um seine Sinne nicht zu beschneiden, aber er bindet sich
nicht an den Mastbaum seines Schiffes. Die Instrumentalisie¬
rung des Odysseus ist mit seiner Unbeweglichkeit, seiner Pas¬
sivität bezahlt. Die Instrumentalisierung Kluges geht einen
Schritt weiter, indem sie sich in ästhetischer und wissenschaftli¬
cher Praxis formuliert, auf Vermittlung zielt. Kluge sperrt
seine Kameraden, seine Leser und Zuschauer, nicht im Schiffs¬
rumpf ein, er läßt sie teilhaben. Seine seismographische Präzi¬
sion kann aber nur exakt arbeiten, wenn ihre Ausschläge seine
Rezipienten anregen, sie zu eigenen Lernprozessen zu verlän¬
gern. Darauf ist Kluges Literatur, sind seine Filme angelegt.
Der Schriftsteller Alexander Kluge ist erfolgreicher als der
Filmemacher. Am 18. März 1979 wurde er, nach dem Großen
Bremer Literaturpreis, mit dem Fontane-Preis für Literatur,
einem Teil des Kunstpreises Berlin, ausgezeichnet. Die langsa¬
mere, literarische Rezeption kommt seinem Stil insofern entge¬
gen, als ein Leser mehr Zeit und mehr Muße hat, sich auf den
Gegenstand einzustellen. Er kann auch einmal zurückblättem
und Lesevorgänge wiederholen - Möglichkeiten, die der Kino-
172
rezipient nicht hat. Kluges Arbeiten geht der Ruf voran, kom¬
pliziert zu sein, unverständlich, schwierig. Für einen großen
Teil seiner theoretischen und ästhetischen Produktion trifft das
sicher zu. Aber bei dieser Pauschalisierung wird ein wichtiges
Element der Klugeschen Ästhetik übersehen: ihr Humor. Hans
Dieter Müller, Kluges erster Lektor und langjähriger Freund,
wies in seiner Laudatio anläßlich der Verleihung des Großen
Bremer Literaturpreises (1979) auf diesen - im hintergründigen
Sinne des Wortes - Humor Kluges hin. „Perspektiven- und
Standortwechsel, Abschweifungen, Reflexionen und andere
subjektive Vergrößerungen und Verkleinerungen sind der De¬
finition nach Kompositionsprinzipien der humoristischen Me¬
thode. ,Das umgekehrte Erhabene“, nennt Jean Paul sie, darauf
zielend, ,das Endliche durch den Kontrast mit der Idee zu ver¬
nichten“. Kluge, den Aberwitz von so vielen Ideengebäuden
vor Augen, ist auf den entgegengesetzten Weg verwiesen: er
stellt den Humor vom Kopf auf die Füße, trachtet, die Idee mit
dem Kontrast, mit dem Endlichen zu vernichten.“138
Aus den Widersprüchen, die Kluge im gesellschaftlichen Zu¬
sammenhang und seinen ideologischen Rechtfertigungen ent¬
deckt, kehrt er deren kuriose, ungewohnte Seite hervor, um
über das Lachen Erkenntnis zu vermitteln. „Lachen verstärkt
nicht Herrschaft, sondern nimmt sie blitzartig wahr.“ (.Gele¬
genheitsarbeit einer Sklavin“, S. 186) Deshalb ist es aber oft ein
Lachen, daß einem im Halse stecken bleibt, weil die soziale
Realität zu deutlich durchscheint. „In einer westfälischen Fami¬
lie wurde am Heiligabend in einer Dachkammer die Großmut¬
ter gefunden, die sich erhängt hatte. Um die Stimmung wäh¬
rend der Feiertage nicht zu beschädigen, beschloß die Familie,
den Fund geheimzuhalten und die Tote erst am 3. Feiertag zu
entdecken. Zu diesem Zeitpunkt war auch der Abtransport zu
bewerkstelligen.“ (Die ganze Weihnacht soll es sein, in: Gele¬
genheitsarbeit einer Sklavin, S. 194)
Dieser Humor hat sicher etwas Makabres, sicher aber auch
nicht mehr als die Realität selbst, die die Lebensprogramme der
Menschen entleert, sobald sie ihnen den Produktionsrhythmus
173
entzieht wie an Feiertagen, z. B. zu Weihnachten oder zu
Ostern:
„Viertel: Also ich verstehe nicht ganz Ihre Euphorie. Was sol¬
len die Leser sich freuen über H = 55 pro Sek. und Mega¬
parsec?
174
Bregley: Mit Unsicherheitsfaktor ±15. Das ist ein ganz sensa¬
tionelles Ergebnis.
Viertel: Mein Lieber, das muß ich für die Leser erst ins Deut¬
sche übersetzen, und dann wissen die noch immer nicht,
warum sie sich so freuen sollen. Ich weiß es ja selber nicht.
Bregley: Das ist ganz einfach. Wenn H (= Hubble) 55 ist, und
das ist eben gemessen worden, dann folgt 1 zu H = 18 X
109.
Viertel: Und was ist 109?
Bregley: Das ist das Alter des Weltalls. 18 X 109, nicht 109.
Viertel: Hat das heute Geburtstag?
Bregley: Nein. Das heißt mit ± 2 Mrd. Zuverlässigkeit, daß
das Weltall 18 Mrd. Jahre alt ist ...“ (Neue Geschichten,
S. 490)
1. Anmerkungen
i
Literarische Texte ,■
Lebensläufe, Stuttgart 1962 (Als Taschenbuch, Ffm. 1964)
Erweiterte Neuausgabe, Ffm. 1974
Hauptfeldwebel Hans Peickert, in: Akzente, Nr. 2, 1963
Schlachtbeschreibung, Olten und Freiburg 1964 (Als Taschenbuch,
Ffm. 1968)
Neu ausgestattet: Der Untergang der 6. Armee - Schlachtbe¬
schreibung, München 1969
Erweiterte Neuausgabe: Schlachtbeschreibung, München 1978
Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, Ffm. 1973
Neue Erzählungen. Hefte 1-18. .Unheimlichkeit der Zeit“, Ffm.
1977
Ein lebhaftes Kontaktbedürfnis / Alte schlafsüchtige Frau / Das
Rennpferd, in: Zeitmagazin Nr. 11, 9. 3. 1979, S. 24f.
184
Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. Alexander Kluge über
seinen Film, in: film, 10/1968
Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse bürgerli¬
cher und proletarischer Öffentlichkeit (mit Oskar Negt), Ffm.
1972
Filmwirtschaft in der BRD und in Europa. Götterdämmerung in
Raten (mit Florian Hopf und Michael Dost), München 1973
Medienproduktion, in: Perspektiven der kommunalen Kulturpoli¬
tik, hrsg. von Hoffmann, Hilmar, Ffm. 1974
(Kritische Theorie und Marxismus - radikalität ist keine Sache des
willens, sondern der erfahrung, Gravenhage (niederlande) 1974;
von Kluge nicht gebilligter Raubdruck)
Das ganze Maul voll Film (über Edgar Reitz), in: Frankfurter
Rundschau, 21. 11. 1974
In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod - Was
heißt Parteilichkeit im Kino. Zum Autorenfilm - dreizehn Jahre
nach Oberhausen, (mit Edgar Reitz), 2 Teile, in: Kirche und
Film, Nr. 1 und 2, 1975
Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Ffm.
1975
Die Rebellion des Stoffs gegen die Form und der Form gegen den
Stoff (Gespräch mit Heiner Boehncke), in: Beck, J.; Bergmann
K.; Boehncke, H., Das B. Traven Buch, Reinbek 1976
,,Wer Alternative Schulprojekte ausschließt, bricht das Recht“, in:
Päd. extra, Magazin für Erziehung, Wissenschaft und Politik, 6/
1977
Die Hexenjagd und eine Antwort. Gespräch zwischen Heiner
Boehncke, Irene Kraushaar und Alexander Kluge, in: Nicht
heimlich und nicht kühl, Entgegnungen an Dienst- und andere
Herren, Ästhetik und Kommunikation akut, Berlin 1977
Ach ja, die Deutschen und die Lust, in: lui, 2/1979
Eine neue Tonart von Politik. Alexander Kluge über Peter Glotz:
,Die Innenausstattung der Macht1, in: Der Spiegel, Nr. 18, 30. 4.
1979, S. 204f.
Das Politische als Intensität der Gefühle, in: Freibeuter 1, Septem¬
ber 1979, Berlin-W. (Rede bei der Verleihung des Fontane-
Preises)
Die Patriotin, Ffm. 1979
185
b) Materialien
,Lebensläufe'
Sieburg, F., Tief unter dem Schnee, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 20. 10. 1962
Heissenbüttel, Helmut, Von der Kunst des Erzählens im Jahre
1962, in: Deutsche Zeitung, 2(1/21. 10. 1962
Wolken, K. A., Studierter Jurist bietet Lebensläufe, in: Christ und
Welt, 30. 11. 1962
Delling, M., Neun deutsche .Steckbriefe*, in: Die Welt, 15. 12.
1962
Reich-Ranicki, M., Ein neuer Name: Alexander Kluge, in: Die
Zeit, 14. 12. 1962
Baukloh, F., Energische Aktennotizen, in: Echo der Zeit, 16. 12.
1962
Baumgart, R., Unmenschlichkeit beschreiben, in: Literatur für
Zeitgenossen, Ffm. 1966
Mayer, Hans, Mutmaßungen und Lebensläufe, in: Deutsche Lite¬
ratur seit Thomas Mann, Reinbek 1967
, Schlachtbeschreibung'
Schwab-Felisch, H., Aus Anlaß von Alexander Kluges .Schlacht¬
beschreibung*, in: Neue Rundschau, 75, 1964
Schönauer, F., Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung, in: Neue
deutsche Hefte, 101, 1964
Jenny, U., Alexander Kluge, in: Handbuch der deutschen Gegen¬
wartsliteratur, hrsg. v. H. Kunisch, Bd. 1, München 1969
Baumgart, R., Unmenschlichkeit beschreiben, in: Literatur für
Zeitgenossen, Ffm. 1966
Just, Gottfried, Von der Literatur zum Film, Alexander Kluge, in:
ders., Reflexionen, Zur deutschen Literatur der Sechziger Jahre,
Pfullingen 1972, S. 56
186
Buselmeier, M., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg
den Tod. Zur Operativität bei Alexander Kluge, Heidelberg
1975
Wegner, G., Organisierung der kollektiven proletarischen Erfah¬
rung, in: Prokla 30, Heft 1, 1978, 8. Jg.
,Die Patriotin'
Raddatz, F. J., Es ist nämlich ein Irrtum, daß die Toten tot
sind, in: Die Zeit, 18. 1. 1980
3. Filmografie
a) Filmtexte
\
b) Filme
Kurzfilme
Langfilme
192
c) Materialien
Zu einzelnen Filmen
193
.Abschied von gestern' in Venedig gezeigt, in: Süddeutsche Zei¬
tung, 6. 9. 1966
Korn, K., Aktennotizen über Anita G., in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 6. 9. 1966
Grafe, F., Patalas, E., Interview in: Filmkritik 10/1966
Reichard, W., 27. Internationale Filmfestspiele Venedig - Anita G.
weiß nicht weiter - Einziger westdeutscher Beitrag gut aufge¬
nommen, in: Kölner Stadtanzeiger, 7. 9. 1966
Gregor, U., Renaissance des deutschen Films - Offizieller Beitrag
der Bundesrepublik in Venedig: Alexander Kluges .Abschied
von gestern', in: Die Welt, 12. 9 1966
,Film ist eine Intelligenzform' - Alexander Kluge über seinen Film
‘Abschied von gestern', in: Die andere Zeitung, Hamburg, 15. 9.
1966
Schöler, F., ,Man muß zärtlich sein' - Ein Gespräch mit Alexander
Kluge, in: Handelsblatt, 24. 9. 1966
Dörrlamm, R., Auf der Flucht - Zu Alexander Kluges .Abschied
von gestern', in: Christ und Welt, 14. 10. 1966
Perl, I., Reflexionen über die Mittel des Kinos - Alexander Kluges
.Abschied von gestern' und andere Filme, in: film, 10/1966
Kirst, H. H., Alexander Kluge und sein .Abschied von gestern', in:
Münchner Merkur, 18. 10. 1966
Jenny, U., Wiedersehen mit Anita G. - Alexander Kluges
.Abschied von gestern' in München, in: Süddeutsche Zeitung,
20. 10, 1966
Abschied von gestern, in: Filmkritik, 10/1966
Frisch, M., Film als Einsicht, in: Süddeutsche Zeitung, 18. 11. 1966
Wendt, E., Fluchtbeschreibung - Der Film des Monats: Alexander
Kluges .Abschied von gestern', in: film, 11/1966
Just, Gottfried, Alexander Kluge über Anita G., in: Süddeutsche
Zeitung, 16. 2. 1967.
Lambert, Lothar, Vergleichende Analyse der Filme .Abschied von
gestern' (Alexander Kluge) und .Mahlzeiten' (Edgar Reitz) (Ma¬
gisterarbeit) Berlin, Institut für Publizistik der FU 1968
,In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod1
Kaiser, J., Frankfurter Bewußtseinsstrom, in: Süddeutsche Zei¬
tung, 19. 12. 1974
Schober, S., Spanische Nächte, in: Der Spiegel, 23. 12. 1974
Zimmer, D. E., Augen aus einem fremden Land, in: Die Zeit,
27. 12. 1974
Jeremias, B., Geküßt mit der Faust aufs Auge, in: Frankfurter All¬
gemeine Zeitung, 8. 1. 1975
Schütte, W., . . . stickt voller Merkwürdigkeiten, in: Frankfurter
Rundschau, 10. 1. 1975
Buschmann, C., Interview mit Alexander Kluge, in: Allgemeines
Deutsches Sonntagsblatt, 12. 1. 1975
Schütte, W., Babylon am Main, in: Neue Züricher Zeitung, 31. 1.
1975
Baer, V., In den Straßen von Frankfurt, in: Der Tagesspiegel, 1. 2.
1975
Eder, K., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den
Tod, in: medium 2/1975
Eder, K., Gespräch mit Alexander Kluge und Edgar Reitz, in:
Kirche und Film. Nr. 4/1975
Buselmeier, M., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg
197
den Tod. Zur Operativität bei Alexander Kluge, Heidelberg
1975
,Die Patriotin“
578010
Date Due
PT 2671 .L84 Z77
Lewandowski, Rainer. 010101 000
™ u9e I Rainer Lewan
0 163 0168 10 6
TRENT UNIVERSITY
PT26T1 .LÖUZTT
Lewandowski, Rainer.
Alexandre Kluge.