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JAGGER
REBELL
UND
ROCKSTAR
MARC SPITZ
Aus dem Amerikanischen
von Sonja Kerkhoffs
3/816
© Christopher Simon Sykes/Hulton Archive/Getty Images
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Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freuden-
berg und ich beisammen saßen und ein
Steuerkonzept ausarbeiteten. Doch nicht ein
einziges Mal hat Keith den Raum ver-
lassen«, erinnert sich der ehemalige Stones-
Manager Peter Rudge. Dieses Bild von Mick
als der Zyniker und Geizkragen in der Band
erhärtet Keith bei jeder sich bietenden Gele-
genheit. Es war während der Phase ihrer
größten Entfremdung Mitte der 80er, als
Keith ein Buch von Brenda Jagger ent-
deckte, einer in Yorkshire geborenen Autor-
in von historischen Romanen. Seither nennt
Keith ihn – hinter Micks Rücken – Brenda,
wenn dieser nach seiner Ansicht mal wieder
auf Abwege gerät.
Brenda. Ihre Majestät Brenda. Oder ein-
fach »die Zicke«. Das blieb nicht lange ein
Insiderwitz. »Keiths Kritik an Mick ist
manchmal ein bisschen kindisch«, sagt
Altham. Mick ist nicht darauf eingegangen.
Er hat nie wirklich etwas dagegen
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Marc Spitz
New York, im Mai 2011
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© Redferns
ICH
SINGE
GERN
KAPITEL 1
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P
hil Spector, der charakterlich
schwierige und dennoch gen-
iale Produzent und
Wegbereiter der modernen Musikindustrie,
sagte einmal: »Ich glaube, die englischen
Kids haben Soul. Man sagt ja, die Wurzel des
Souls sei das Leid. Für die Schwarzen war
das die Sklaverei. Und den Arsch voll bom-
bardiert zu kriegen, ist eine weitere Möglich-
keit, sich auf ehrliche Weise ein bisschen
Soul zu verdienen.« Wenn das stimmt, dann
brachte Dartford, wo Mick und Keith in den
späten 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts
heranwuchsen, die souligsten aller eng-
lischen Kids hervor. Die etwa zwanzig
Minuten Bahnfahrt von London entfernt lie-
gende Stadt litt während des Zweiten
Weltkriegs stark unter den deutschen
Fliegerbomben. Als Michael Philip Jagger
am 26. Juli 1943 das Licht der Welt
erblickte, ließen die verheerenden Luftan-
griffe allmählich nach und das Blatt wendete
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© Popperfoto/Getty Images
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N
ach und nach wurden die
Dartforder Jungs richtige
Londoner. Weil er verläss-
lich und umsichtig war, durfte Mick hin und
wieder das Familienauto benutzen. Dann
nahm er Keith, Dick Taylor, Bob Beckwith
und die jeweils aktuelle Freundin mit in die
City oder zu Blues-Konzerten nach
Manchester. Das zufällige Wiedersehen mit
Keith war ein ungemein einschneidendes
Erlebnis gewesen, und in ihrer Begeisterung
für R’n’B beflügelten sie sich gegenseitig.
»Es war großartig, noch jemanden kennen-
zulernen, der diese Leidenschaft teilte«, so
Dick Taylor. »Gemeinsam ist man stark.«
Doch mit den modisch gekleideten, schicken
Jazzern, die die Londoner Clubszene be-
herrschten, konnten sie nicht mithalten. Sie
sahen eben aus wie typische Studenten und
wirkten ein bisschen ungepflegt mit ihren
pickligen Gesichtern und den ausge-
waschenen Sweatshirts. Mick und Keith
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© Huton-Deutsch Collection/Corbis
Mick und Keith öffnen ihre allererste Fan-
post, 1963.
© Philip Townsend/Retna
Die Anti-Beatles vor einem Pub, 1963.
W
ir sollten jetzt endlich
Howlin’ Wolf auf die
Bühne holen«, verlangt
ein grinsender Brian Jones und macht den
Weg frei. Wir sehen eine Folge der amerik-
anischen Musiksendung Shindig aus dem
Jahr 1964. Ein paar Augenblicke später tritt
Howlin’ Wolf ins Rampenlicht, der hochge-
wachsene Bluessänger mit der einzigartigen
Reibeisenstimme. Der Vierundfünfzigjährige
war nicht gerade einer der typischen Gäste
dieser TV-Sendung für Teenager, doch die
Rolling Stones, die ältere afroamerikanische
Bluesmusiker wie Howlin’ Wolf und Muddy
Waters einem breiten Publikum bekannt
gemacht hatten, fungierten auch in diesem
Umfeld wie Mäzene, die jede sich bietende
Gelegenheit wahrnahmen, den jungen Leu-
ten die Musiker vorzustellen, die sie zu ihr-
em eigenen Sound inspiriert hatten. Die
Beweggründe dafür hatten weniger mit dem
Vergnügen daran, gönnerhaft aufzutreten,
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M
it den Worten »Jetzt
spielen wir einen richtig
alten Song« kündigt der
fünfundsechzigjährige, ein extra eng
geschnittenes schwarzes T-Shirt und eine
entsprechende Hose tragende Mick Jagger
dem Publikum im New Yorker Beacon
Theatre das nächste Stück an. »Das ist einer
der ersten Songs, den wir je geschrieben
haben. Wir haben ihn dann jemand ander-
em gegeben, weil er uns ein bisschen pein-
lich war.« Wenn man Mick »As Tears Go
By« in Martin Scorseses Konzertfilm Shine a
Light aus dem Jahr 2006 singen sieht – der
Song selbst war zu diesem Zeitpunkt zwei-
undvierzig Jahre alt –, wird man Zeuge
eines der wenigen eindringlichen und
nachdenklichen Momente, die die Shows der
späten Rolling Stones zu bieten haben. Das
ist ohne Frage ein nostalgischer Augenblick
wie man ihn auf Konzerten älterer Rockstars
zwar auch nicht eben selten erlebt, doch der
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© Rex USA
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KAPITEL 6
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A
lles begann mit einer Ver-
wechslung im Winter 1967.
Brian Jones lehnte im dam-
als angesagten Londoner Nachtclub Blaise’s
an der Bar. Man hatte sich hier auf Konzerte
mit aufwändiger Lightshow spezialisiert und
sich als Zentrum der neuen Psychedelic-
Rock-Szene etabliert. Im Blaise’s traten
Bands wie Pink Floyd und die Jimi Hendrix
Experience auf. Brian Jones, der ehemals
blendend aussehende Bandleader, war an
diesem Abend vollgepumpt mit Whisky und
Beruhigungsmitteln und konnte sich nur
noch torkelnd fortbewegen. Sein Gesicht war
aufgedunsen. Und geistig wirkte der von
Unsicherheit und krankhafter Eifersucht Ge-
plagte immer verwirrter. Er hasste Mick und
Keith dafür, weil sie ihm seine Führungs-
rolle bei den Stones streitig gemacht hatten.
Die beiden hatten sich in den vergangenen
zwei Jahren zu einem erstklassigen
Songwriter-Gespann gemausert. Dass die
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© Sherman/Getty Images
Nach der Redlands-Razzia im Februar 1967
wird Mick später in Handschellen zum ersten
Schauprozess in der Geschichte der Rock-
musik geführt. Der Pop-Art-Künstler Richard
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M
an kann sich das heute
nur schwer vorstellen,
aber es gab tatsächlich
einmal eine Zeit, als sich berühmte Rock-
stars nicht einfach nur unters Volk mischen
konnten, sie mussten es sogar. Zu wichtigen
Anlässen erwartete man geradezu, dass sie
sich persönlich engagierten; da reichte es
nicht, eine großzügige Spende springen zu
lassen, nett in die Kamera zu lächeln oder
einmal über den roten Teppich zu laufen.
Entsprechend ihres Engagements wurde
ihre Seriosität eingeschätzt; selbst die Höhe
ihrer Plattenverkäufe hing von dem Maß an
Glaubwürdigkeit ab, das sie durch ihr polit-
isches Engagement erwarben. Zwischen
1968 und 1979, kurz bevor The Clash in
wirklich großen Hallen spielten und Million-
en von Platten verkauften, galt ein solches
Verhalten als obligatorisch, es war einfach
normal. Nur gewissen Rockstars wie David
Bowie und Alice Cooper, deren Images
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ann wurde aus dem »Wir
gegen Sie« ein »Wir ge-
gen Uns?« Wann bekam
das massive Fundament der Rolling Stones
die ersten Risse, und wen trifft die Schuld
daran, dass sich in der Band eine Kluft
auftat, die nie wieder völlig überbrückt
wurde? (Man könnte auch fragen, wessen
Verdienst das war, denn die Stones wurden
als Band dadurch zweifellos interessanter
und reizvoller.) Die Antwort: Anita Pallen-
berg. Das soll nicht heißen, dass im
Zweifelsfall immer die Frau die Verantwort-
liche ist. Cherchez la femme, wie Mick selbst
wohl sagen würde. Es zeugt lediglich von
dem immensen Einfluss dieser ganz speziel-
len Femme fatale.
Die Zeit arbeitete nicht für Anita Pallen-
berg. Es gibt eine fast schon prophetische
Szene in der vierten Staffel der großartigen
britischen Sitcom Absolutely Fabulous, in
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W
er die Texte, die Mick
Jagger Ende 1969, An-
fang 1970 schrieb,
genauer unter die Lupe nimmt, wird feststel-
len, dass es da- rin ein immer wieder-
kehrendes Thema gibt: Ein vom Schicksal
gebeutelter Mensch braucht unbedingt die
Hilfe eines Freunds.
»She said … you can rest your weary head
on me«, singt Mick in »Let it Bleed«, dem
Country-angehauchten Titeltrack des gleich-
namigen Beggars Banquet-Nachfolgers. Die
Platte beginnt mit dem in der Hauptsache
von Keith geschriebenen »Gimmie Shelter«,
und so wie Mick darin um Schutz und Zu-
flucht fleht, gibt es nicht die geringste Spur
seiner sonst üblichen ironischen Distanz.
»1969 war kein glückliches Jahr für Mick«,
sagt Sam Cutler, der Road-Manager der
triumphalen Nordamerika-Tour, mit der die
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© Lamedia Collection/Sunshine/ZumaPress.com
Bei der Sichtung des Filmmaterials vom ver-
hängnisvollen Konzert in Altamont mit den
Gimme Shelter-Regisseuren Albert und David
Maysles, 1970.
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anche Leute meinen, Bi-
anca Jagger sei lediglich
ein Geschöpf der Medi-
en«, schrieb Bob Colacello 1986 in der
Novemberausgabe der Vanity Fair. Die Bi-
anca Jagger, die heute noch im öffentlichen
Bewusstsein herumschwirrt, ist oft tatsäch-
lich nichts anderes als diese mediale Schöp-
fung: dekadent, geldgeil, oberflächlich und –
wenn man den angesagten Designern der
Disco-Ära glaubt – eine Zicke. Und das, ob-
wohl sie sich jahrelang als engagierte Für-
sprecherin für die Unterdrückten vom
Amazonas bis hin nach Afghanistan einge-
setzt hat, trotz ihres Einsatzes für das Inter-
nationale Rote Kreuz, trotz ihrer Umwelt-
projekte und ihrer eigenen Menschenrecht-
sorganisation. Die Bianca Jagger, die die
ganze Welt kennt, sitzt für immer im langen
Abendkleid auf dem Rücken eines ungesat-
telten Schimmels, den ein nackter Mann mit
einem stilechten Pornobalken ins Studio 54
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© Popperfoto/Getty Images
Am 12. Mai 1971 heirateten Mick und Bianca
in der Kapelle St. Anne in Saint-Tropez.
Hinter dem Brautpaar stehen Anita Pallen-
berg und Keith, der ein wenig befremdet
wirkt.
Elizabeth-Taylor-und-Richard-Burton-Paar
des Rock’n’Roll konfrontiert: kleine
Schächtelchen mit Kokain als Hochzeitsges-
chenk und Flitterwochen auf einer Yacht vor
Sardinien. Anders als Anita, die Bianca an-
geblich mit einigen schwarzmagischen
Flüchen belegt haben soll, hasste Keith
Micks Frau nicht. Er hatte sie einfach nur
nicht kriegen können. Vier Jahrzehnte
später schreibt er in seiner Autobiografie,
dass er immer noch darüber verwundert ist,
dass es ihm nicht gelungen sei, sie zum
Lachen zu bringen. Er gibt freimütig zu, dass
er beeindruckt ist, von dem, was Bianca aus
sich gemacht hat; für ihr großes Engagement
und ihre Menschenrechtskampagnen
genießt sie hohes Ansehen beim älteren
Keith. Der junge Pirat hingegen fühlte sich
deplatziert, in der Gesellschaft der Jetsetter
fehlte ihm die Luft zum Atem.
440/816
© Keystone/Getty Images
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D
ie 72er-Tour war die erste
große virale Marketingkam-
pagne.« So beurteilt Peter
Rudge die Rückkehr der Band nach Nor-
damerika und eine Tour, in deren Verlauf
sich die Stones ein noch verheerenderes
Image erarbeiteten, als sie es sich in ihrem
Skandaljahr 1967 überhaupt hätten vorstel-
len können. Dass der Mythos von 72 so
lange nachhallt, liegt hauptsächlich an einer
umfangreichen Reportage für ein Magazin
und an einem Filmprojekt, die beide die
Tour dokumentieren sollten, aber beide nie
veröffentlicht wurden. Die Rede ist von
Robert Franks Filmdokumentation Cock-
sucker Blues (benannt nach Micks ber-
üchtigter, aber nie veröffentlichter letzter
Decca-Single) und einem Bericht von Tru-
man Capote. In Capotes Fall rechnete man
quasi mit einer Neuauflage seines im New
Yorker veröffentlichten Reportageklassikers
The Muses Are Heard. Franks Film
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© Bob Gruen/www.bobgruen.com
Mick feiert seinen dreißigsten Geburtstag mit
Keith und Bob Dylan, 1973.
D
er Unterschied zwischen
einem Hit, der bis ans Ende
aller Tage tagtäglich im Ra-
dio gespielt wird, und einem Hit, den man
nie wieder zu hören bekommt, nachdem er
aus den Charts verschwunden ist, liegt
wahrscheinlich darin, dass wir den einen
immer wieder neu hören können. Denn die
meisten Hits, die Bestand haben, bleiben
immer ein bisschen rätselhaft. Wir fragen
uns beispielsweise, was alles in dem Song
steckt oder wodurch er inspiriert wurde.
Manch einer denkt in diesem Zusammen-
hang vielleicht an »In the Air Tonight« von
Phil Collins. Songs wie diese sind rar, doch
einer gehört zweifelsfrei dazu: »You’re So
Vain«, Carly Simons Nummer-eins-Hit aus
dem Jahr 1973, der bis heute immer noch
ihr bekanntester Titel ist.
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V
ergessen wir einmal die von
Musikjournalisten immer
wieder gern aufgestellte
These, das katastrophale Konzert am Alta-
mont Speedway am 6. Dezember 1969 (oder
auch die Tate-LaBianca-Morde am 8. /9.
August desselben Jahres) markiere das
»Ende der Sixties«. Mick hat dieser Sicht
der Dinge schon vor Langem eine Absage er-
teilt: »Vielleicht war es das Ende ihrer Ära,
das Ende ihrer Naivität. Ich glaube, dass es
schon lange vor Altamont zu Ende war.«
Und auch der Hells-Angels-Boss Sonny Bar-
ger hat kein Interesse daran, noch einmal
über den 6. Dezember 69 zu sprechen; als
ich ihn im Zusammenhang mit meinen
Recherchen für dieses Buch kontaktierte,
erklärte er in einer knappen E-Mail: »Das ist
mir einfach zu dämlich.«
Das hier soll bitte nicht als bilder-
stürmerisch oder herablassend
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RUDE
BOY
KAPITEL 14
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E
in Flyer, der Gigs der Punk-
rockbands The Weirdos und
The Dils am 8. Juni 1978 im
Whisky a Go Go in Hollywood ankündigt:
Mitten auf dem Flyer prangt Mick Jaggers
langhaariges Konterfei mit seinem skep-
tischen Schlafzimmerblick und zieht den
Blick des Betrachters an. Irgendwer hat ihm
unter Zuhilfenahme eines Filzstifts einen
chinesisch anmutenden Schnauz- und
Spitzbart aufgemalt, was an Marcel
Duchamps dadaistische Modifikation der
Mona Lisa erinnert. Am Tag darauf kam
Some Girls in den Handel, das vierzehnte
Studioalbum der Rolling Stones, mit dem
die Band ihr altes Rebellen-Image wieder-
beleben wollte. Sie hatten sich viel
vorgenommen!
Wie war es nur dazu gekommen, dass die
Stones ihren Biss verloren hatten? Wo war-
en ihre Ecken und Kanten geblieben? Wann
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© Redferns
Mick und die Stones auf der Some Girls-Tour
1978, auf der sie mit dem teils vom Punk in-
spirierten neuen Album im Gepäck bewiesen,
dass sie es immer noch richtig krachen lassen
konnten.
D
as Chick, von dem hier die
Rede ist, war der heiße
Feger, der 1969 im Vorpro-
gramm der Stones auftrat: Tina Turner. In
Gimme Shelter schlägt Mick bei dieser sex-
istischen Äußerung einen derart ironischen
Unterton an, dass er sie sofort entschärft.
Das ist übrigens typisch für Mick Jaggers Art
und Weise, dem anderen Geschlecht Avan-
cen zu machen. Warren Beattys Art war das
nicht, ebenso wenig die des US-Basketball-
stars Wilt Chamberlain. Gene Simmons
machte das ähnlich, aber er war sich dessen
nicht bewusst. Von allen legendären Frauen-
verstehern der Post-Antibabypillen- und
Prä-AIDS-Ära war Mick Jagger der Einzige,
der den Dreh wirklich raus hatte: »Das ist
alles nur Spaß. Ich meine es eigentlich gar
nicht so.« Seine Ironie vermag viele seiner
Verhaltensweisen zu relativieren, die, wenn
sie ohne jegliches Augenzwinkern da-
herkommen, als ziemlich abstoßend
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© CK Photo/Keystone
Mick mit seiner neuen Freundin Jerry Hall,
die er dem Rock-Gentleman Bryan Ferry aus-
gespannt hatte, 1978.
D
ie 80er zeichneten sich
rückblickend aus durch
große Träume und wilde
Ideen, die letzten Endes alle im Sande ver-
liefen: die Trickle-Down-Theorie, ein Krieg
der Sterne-Raketenabwehrsystem, zu Zeit-
maschinen umfunktionierte DeLoreans, Cop
Rock und die Vorstellung, dass Mick Jagger
als Solokünstler attraktiver sein könnte als
Mick Jagger, der Frontman der Rolling
Stones, der größten Rock’n’Roll Band der
Welt. Man kann Jagger, der im Sommer
1980 siebenunddreißig wurde, kaum vor-
werfen, dass er langsam ein bisschen nervös
wurde und dachte, es könne dem Alter an-
gemessener sein, von nun an eigene Wege zu
gehen. Im September dieses Jahres gab
John Lennon dem Playboy eines seiner let-
zten Interviews anlässlich seines Comeback-
Albums Double Fantasy. Lennon war in den
70ern auf eine spirituelle Reise gegangen,
die ihn über mehrere Etappen – vom
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© Rex USA
Mit David Bowie im Video zu »Dancing in the
Streets«, das beim Live-Aid-Konzert 1985 er-
stmals ausgestrahlt wurde.
E
s bringt jeder Band eine
Menge Publicity, im Vorpro-
gramm der Rolling Stones
aufzutreten, allerdings ist das oft auch ein
ziemlich undankbarer Job. Man frage nur
einmal Marty Balin von Jefferson Airplane,
der 1969 in Altamont von einem Hell’s Angel
eins auf die Nase bekam, oder Prince, der
1981 zwischen George Thorogood and the
Destroyers und der J. Geils Band auftrat und
mit Flaschen und anderem Müll beworfen
wurde, bis er schließlich die Bühne verließ
(das gleiche Schicksal ereilte ein Jahr später
auf der Europatournee Peter Maffay, den die
Stones für die Deutschlandkonzerte neben
der J. Geils Band und BAP engagiert hatten).
Einige versuchten zwar, den Stones die
Schau zu stehlen, wie Lynyrd Skynyrd bei
dem riesigen Open-Air-Festival in Kneb-
worth 1976, allerdings mussten so manche
dann einsehen, dass vor einem Meer aus
Rock’n’Roll-Fans zu spielen, nicht
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Straßenschlachten heraufbeschwören.‹«
Public Enemy hatten den Titelsong zu Spike
Lees Film beigesteuert, in dem sich an
einem lähmend-heißen Sommertag in einer
Brooklyner Nachbarschaft die Spannungen
zwischen Schwarzen, Weißen und Asiaten in
einem Gewaltausbruch entladen. Do the
Right Thing war ein Film, der die Realität
vorwegnahm. Im Sommer seines Erschein-
ens wurde der sechzehnjährige Yusuf
Hawkins in den Straßen von Bensonhurst,
Brooklyn, von einer Gang erschossen, die es
auf Schwarze und Latinos abgesehen hatte
und ihre Opfer willkürlich auswählte. Zwei
Jahre später, 1991, entzündete sich eine
heftige Debatte um antisemitsche State-
ments aus den Reihen von Public Enemy
und um entsprechende Passagen in ihrem
Song »Welcome to the Terrordome«; und
bei den Crown Heights Riots, die durch ein-
en Autounfall ausgelöst wurden, bei dem ein
siebenjähriges Kind guyanischer
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M
ick hat ein ziemlich gutes
Verständnis für alles, was
mit dem Film zu tun hat«,
bemerkte Martin Scorsese 2010 im Ge-
spräch mit der New York Times. Ihn
faszinieren die verschiedenen Produktionss-
chritte, bei denen sowohl ein hohes Maß an
Disziplin als auch ein scharfer Verstand ge-
fordert sind. Als Rock’n’Roller ist Mick Jag-
ger längst ganz oben angekommen, doch im-
mer wenn er einen Film dreht – alle paar
Jahre einmal, irgendwann zwischen einer
Tour und der Arbeit an einem neuen Album
–, begibt er sich auf eine Zeitreise; dann
kann er den Geist der frühen 60er noch ein-
mal nachempfinden, als für ihn noch vieles
neu war und er alles staunend aufsog. Zu
Beginn seiner zweiten Lebenshälfte erkannte
Mick, dass die Erinnerung an seine frühen
Jahre mehr und mehr verblasste. Zu dieser
Zeit gründete er mit Jagged Films seine ei-
gene Produktionsfirma und nahm nun mehr
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© Redferns
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W
as immer auch der ber-
ühmte Musikproduzent
Rick Rubin für andere
Künstler getan hat, in erster Linie hat er es
für sich selbst getan. 1993, ein gutes
Jahrzehnt nachdem die Erfolgsgeschichte
des Hip-Hop begonnen hatte, fand Rubin,
dass sich einige althergebrachte Szenebe-
griffe abgenutzt hatten. Anfang der 90er war
der Mitbegründer von Def Jam Recordings
von New York nach Los Angeles gezogen,
um dort den Label-Ableger Def American zu
gründen, der so erfolgreiche Acts wie die
Black Crowes unter Vertrag nahm. Eines
Tages stellte Rubin fest, dass der Begriff
»def«, der soviel bedeutet wie »cool«, offizi-
ell in den englischen Sprachschatz aufgen-
ommen worden war: Im Mai 92 wurde er er-
stmals in Webster’s New Collegiate Diction-
ary verzeichnet. Um den von ihm
heißgeliebten Hip-Hop jung und frisch zu
erhalten, musste man sich seiner Meinung
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© AFP/Getty Images
Mick Jagger auf Solopfaden: Am 9. Februar
1993 singt er in der Webster Hall in New York
Songs aus seinem neuen Soloalbum Wander-
ing Spirit.
G
egen Ende des Martin-
Scorsese-Films Good Fellas
gibt es eine Szene, in der
Jimmy »The Gent« Conway (Robert
DeNiro) und Henry Hill (Ray Liotta) voller
Vorfreude darauf warten, dass Tommy
DeVito (Joe Pesci) in den Kreis der Mafia
aufgenommen wird. »Ich habe Jimmy noch
nie so glücklich gesehen«, hört man den
Erzähler Henry aus dem Off sagen. »Was
Jimmy an jenem Morgen so glücklich
machte, war die Tatsache, dass an diesem
Tag Tommy im Kreis aufgenommen werden
sollte. Jimmy war so schrecklich aufgeregt,
dass man hätte denken können, ihm würde
diese Ehre zuteil. Jimmy und ich konnten
niemals zum Kreis gehören, denn wir hatten
irisches Blut. Um ein ordentliches Mitglied
der Mafia zu werden, muss man hundert-
prozentiger Italiener sein, damit die Spuren
sämtlicher Verwandten bis in die alte
Heimat zurückverfolgt werden können. Das
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© Getty Images
WHO
WANTS
YESTER-
DAY’S
PAPERS?
KAPITEL 21
754/816
V
ermutlich ist Mick Jagger
der am wenigsten senti-
mentale Rockstar, und man
wird das Gefühl nicht los, dass ihm das kom-
merzielle Ausschlachten der Stones-Vergan-
genheit, das dem Bedürfnis nach Nostalgie
Rechnung trägt, starkes Unbehagen bereitet.
»Mick reizt das, was gestern war, nicht be-
sonders«, brachte es Charlie Watts einmal in
seiner typisch lakonischen Art auf den
Punkt. Seine einzige Reaktion auf Keiths
Autobiografie war, ihrem Autor implizit
vorzuwerfen, dass er nur aus einem rein
kommerziellen Interesse in der Vergangen-
heit rumgewühlt habe. »Ich persönlich finde
es ziemlich ermüdend, die Vergangenheit
noch einmal Revue passieren zu lassen. Die
meisten Leute tun es nur, weil es für sie
lukrativ ist.« Jagger selbst hat vor einigen
Jahren einmal einen ansehnlichen
Vorschuss für eine geplante Autobiografie
eingeheimst, dann aber doch nichts
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© WireImage
Achtunddreißig Jahre nach dem Erscheinen
von Exile On Main Street 1972 präsentieren
die verbliebenen drei Stones der damaligen
Besetzung die Neuveröffentlichung des Al-
bums und die Filmdokumentation Stones in
Exile.
DANKSAGUNG
BÜCHER
ZEITSCHRIFTENARTIKEL/
INTERNETSEITEN
eISBN 978-3-8419-0151-4