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Oster-Ausblick

Dr. Friedrich Rittelmeyer . 49


Welt-Passion . j
Rudolf Meyer \ Be 49,

Oster-Gang Rn
Dr. Friedrich Doldinger > 51
Grablegung und Auferstehung des Wortes
Alfred Schütze ° j 53
Das Neue Testament als „Buch der Seelenübung“
Lic. Robert Goebel ; e 56
Geschichte und Offenbarung i im Heden Testament
Wilhelm Kelber i 62
Die Rückschau des Christus
Kurt von Wistinghausen = i 67
Der wunderbare Fischzug Ge
Dr. ‚Rudolf Frieling | ö > a: 2 OR.
Gedanken über das Johannesevangelium
Hans Feddersen 72
Das Herz der Erde
Dr. Dieter Lauenstein 2 ä i 174
Der verlorene Sohn ;
August Pauli \ ‚m
- Arbeit am Evangelium
Lebendig werdendes Evangelium
(Kurt von Wistinghausen) 78
Aus der Arbeit an einer Übersetzung des Neuen Testa-
ments (Lic. Emil Bock) 8
Das Heilige Land und das Evangelium
(Dr. Rudolf Köhler) 3
Das am Himmel abgelesene Osterfest
Aus: Maria Schindler, Columba 7% 87
Die Christengemeinschaft vordem F orum Ih Zeitalters
Zwei Zeugnisse aus verschiedener Zeit = R 88
'Um- eine gegenwartsgemäße Kultuserneuerung - i
(Kurt von Wistinghausen) 89
„De papa male informato ad papam melius informandum“
(Walter Bark) 91
Aus dem Bericht: eines Heimkehrers (Dr. Albrecht Meyer) 94
U
Die Christengemeinschaft
Monatsschrift zur religiösen Erneuerung. Begründet von Friedrich Rittelmeyer
Im Auftrag der Christengemeinschaft herausgegeben von Lic. Emil Bock

20. Jahrgang Heft 3/4 März/April 1948

Oster-Ausblick
Friedrich Rittelmeyer*

Alles wird darauf ankommen für die Menschen der Zukunft, daß sie ganz wirklich und
wörtlich in sich erleben, wie Christus sich in ihnen aus dem Grab erhebt. Wie das Wunder
einer Weltschöpfung in ihnen selbst vorgeht. Wie der Auferstehungsleib in ihrem alten Leib
zu leben beginnt. Wie der Tod „verschlungen ist in den Sieg“. Wie in ihnen ein Singen und
Klingen ist einer werdenden Welt, die in der Schönheit eines ersten Jugenderwachens lebt. Wie
Christus da isit in der göttlichen Herrlichkeit des Ostermorgens.
Christus ist eingezogen in das Erdengrab — und zerbricht es. Wirklich, wie wenn eine
Zwingburg zerbrochen wird, ist die Auferstehung. Hört der Mensch den Christusruf: Lazarus,
komm heraus! — der tatsächlich dem Ruf ähnlich ist, mit dem in den alten Mysterien die Ein-
geweihten aufgeweckt wurden — dann ist es ihm wirklich, als zerbreche er seinen Körper wie
ein Grab, als zerbreche er die Erdenschale wie ein Grab. Nur auferstandenes Leben ist’es noch,
in dem der Mensch wohnt mit seinem wahren, besten Wesen. In jedem Augenblick, wo er sich
nur an sich selbst wahrhaft erinnert. wo er sich nur seiner selbst wahrhaft bewußt ist, geht es
dann von ihm aus wie ein Auferstehungsruf nach allen Seiten, an alle Dinge und an alle
Menschen: Lazarus, komm heraus! Der Geist allein lebt.
Y

| Welt-Passion
Rudolf Meyer

Es ist nicht schwer zu bemerken, in wie vielfältiger Beziehung unsere Gegenwart mit dem
Zeitalter des machtvollen, aber sittlich zerfallenden Römerreichs verwandt ist. Kulturphilo-
sophen, die vom „Untergang des Abendlands“ sprechen, vergleichen unsere Kultur mit den
ersterbenden Traditionen der überfeinerten und zugleich in Fäulnis übergehenden Welt, in
der sich die Erscheinung des Christus abspielte. Völker, deren religiöses Erbe erschöpft war
und die am Zweifel gegenüber .allen höheren Werten des Daseins krankten, wurden damals
eine Beute jener klugen und zugleich brutalen Diktaturen, die in den Cäsarengestalten Roms
ihren Ausdruck fanden. Erst auf diesem düsteren Zeithintergrunde entfaltet sich die Leucht-
kraft der Ereignisse von Palästina im vollen Glanze. Christus selbst hat jenes Zeitalter ein
„ehebrecherisches“ genannt. Wir könnten auch übersetzen ein „geistverleugnendes“; denn. das
wahre Verhältnis der Menschheit zum göttlichen Geiste wurde damals immer im Bilde der °
königlichen Hochzeit angeschaut. Verliert die Menschheit ihren Zusammenhang mit den
geistigen Höhen der Welt, so begeht sie einen kosmischen Ehebruch. Sie hat die heiligen Bande
* Am 23. März 1948 jährt sich der Tod Dr. Friedrich Rittelmeyers zum 10. Male.

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zerrissen, die sie mit den Mächten ihres göttlichen Ursprungs ehedem verknüpften. In ihrer
Ratlosigkeit fragt sie sich, warum denn kein Gott von oben eingreife, warum sie mit ihrer
Erdennot so ganz allein gelassen werde. Christus antwortet den geistverlassenen Hütern der _
Überlieferung, den Schriftgelehrten und Pharisäern auf ihre Zeichenforderung: diesem ehe-
brecherischen Geschlecht solle kein andres Zeichen gegeben werden, als das Zeichen des '
Propheten Jona, °
Ein tiefes Mysterium spiegelt sich in den eigentümlichen Schilderungen des Jonaschick-
sals. Seelenprüfungen werden im Bilde einer Meerfahrt geschildert. Der von einem großen
Fisch verschlungene und erst nagh drei Tagen aus Todesbanden wieder freigegebene Prophet
erscheint nach diesem Erlebnis als ein völlig Verwandelter, aus enger Volksgebundenheit zu
einer Menschheitssendung Gereifter. Die Jona-Imaginationen deuten auf das Geheimnis vom,
Sterben und Auferstehen der Seele, wie es in den Tempelstätten der Alten Welt gehütet
wurde. Der durch Todeserfahrungen Geführte ersteht aufs neue als Träger des heiligen
Geistes. Der Name Jona, d.h. Taube, weist auf diese errungene Stufe hin. Christus sagt in
jenem Gespräch, das sich an die Zeichenforderung anschließt: „Gleich wie Jona im Innern des
Walfisches drei Tage und drei Nächte verweilte, so wird auch.des Menschen Sohn in Herzen
der Erde drei Tage und drei Nächte verweilen.“ Was sonst seit uralten Zeiten als. Geheimnis
bewahrt wurde und. höchstens im Bilde angedeutet werden durfte, sollte sich jetzt in aller
Öffentlichkeit vor den Augen der Welt abspielen. Ein Gotteswesen, das Menschenschicksal auf
sich genommen hatte, wollte durch den Tod schreiten, um ihn von innen her, durch die Kraft
des Geistes zu überwinden, um dem Tode ein höheres Leben zu entringen. Die mystische Tat-
sache von Sterben und Auferstehen sollte im Kreuzestod von Golgatha geschichtliche Wirk-
lichkeit werden. Es war ein Lichtkeim, der in eine finsterste Zeit hineingesenkt wurde. Mochte
sich das, was sich in Palästina abspielte, für die Mitwelt noch so unscheinbar ausnehmen, aus '
diesem schmerzvollen und geistig erhabensten Geschehen ging doch eine neue Epoche für die
Menschheit hervor.
Diejenigen, die an den stillen ‘Altären in den Katakomben und anderen vem Strom des
äußeren Weltgeschehens abgelegenen Stätten den Leuchtkeim verjüngender Menschheits-
kräfte zu pflegen hatten, stellten immer wieder in Wandmalereien und auf Sarkophagen das
Jona-Zeichen dar. In einer Welt der Zerstörung und der Völkerniedergänge kann die höchste
Tröstung doch nur von den todüberwindenden Geisteskräften ausstrahlen. Auch in unserer
Zeit, in der so unermeßliche Kräfte der Vernichtung entfesselt worden sind und,das Chaos
die alten Ordnungen zu verschlingen droht, steigt immer wieder aus den bedrängten Herzen
die Frage nach dem großen „Wunder“ auf, das der Not Einhalt gebieten sollte. Es ist im
Grunde die gleiche Stimmung, die wir als „Zeichenforderung“ “ empfinden können. Und es ist
auch die gleiche unerbittliche Antwort, die aus dem Christusgeist unserem Zeitalter gegeben
‚werden kann: daß diesem Geschlechte-kein anderes als das Zeichen des Jona zuteil werden
.‚80ll. — Das Mysterium von Sterben ünd Auferstehen ist auf neue Weise in unser Zeitalter
‚hineingestellt worden. als seit der Jahrhundertwende die Mächte einer materialistischen Zivili-
sation alles Kulturleben dem raschen Niedergang entgegenzutreiben begannen. Was Rudolf
Steiner in seinem für das Christusverständnis bahnbrechenden Buche „die mystische Tatsache“
des Christentums genannt hat, kann 'heute auf inneren Pfaden wieder erfahren werden. Das
ist das große, rettende Zeichen für ein ganzes Zeitalter, nicht nur für einzelne, sondern für
ganze Völker, die durch die Gegenwartsschicksale in Heimatlosigkeit gestoßen und an Todes-
schwellen herangeführt worden sind. Auf die Welten-Passion, die heute der Menschheit von
den Mächten der Finsternis bereitet wird, antworten Mächte des Lichtes durch die Engelbot-
schaft eines Welten-Ostergeschehens. Es kann keine wirksamere Hilfe für unser Zeitalter
gedacht werden als die Aufrichtung des Jona-Zeichens vor den Blicken aller suchenden Seelen.

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und nicht mehr ver-
Eine Christusverkündigung, die an Stelle verblassender Überlieferungen
versteht, ruft zugleich
standener Dogmen das Wandlungsgeheimnis wieder offenbar zu machen
herein. Sie lehrt die Seelen
alle Kräfte des Neuaufgangs in die ersterbende Erdenkultur
unsterbli chen Teil zu erfassen. Sie
mitten in einer todgezeichneten Welt sich selbst in ihrem.
der Todessch welle in das Menschen -
lehrt sie aus jenem Lichte heraus, das heute von jenseits
burt menschli cher Lebensor d-
denken einfließen will, planen und handeln, um die Wiederge
die so vieles, was uns festgefügt
nungen herbeizuführen. Mag die Sturmflut noch steigen,
dünkte, hinweggeschwemm t über den Wassern dieser Zeitenflut wird schon dıe Taube des
hat:
denn auch unser Zeitalter ist nicht ohne Zeichen ge-
Geistes, das „Jona-Zeichen“, sichtbar;
lle begnadetes. Aber der
lassen. Es ist kein „gottverlassenes“, es ist sogar ein von Geistesfü
Mensche nherzen auf seine Geschenke vorzu-
Geist hat seine eigene unerbittliche Art, die
bereiten. =
\

Oster-Gang
Cantate
Friedrich Doldinger

Eine mittelhohe Stimme (Alt):


Erster Chor:
Wenn alles gut wird einst durch Ihn,
Nicht im Tempel, nicht im Grabe,
so sei Gott seine Schöpfung — verziehn!
nirgends finden wir Ihn mehr! !
Keine Stätte, keine Habe Eine hohe Stimme (Sopran):
ist noch selig! Alles schwer! Die an Gott irre geworden,
War nicht jeder neu geboren, haben nicht genug gelitten,
der Ihn nur’von fern geschaut? sind nicht durch Golgatha geschritten.
Ach! wir. haben Ihn verloren! Die Menschen, ist’s nicht der Orden
Wie war mit Ihm alles traut! derer, die durch Leid und Schmerz
Gottes Gegenbild an ihr Herz
Zweiter Chor: genommen und der Weltenkälte Hassen,
Umflossen von Seinem Umfrommen, . Verhöhnung, Angst in starken Armen
erschien uns alle Welt umfassen
wie Tau vom Sternenzelt und lassen erwarmen?!
aus dem Bronnen des Urworts gekommen! Zweiter Chor:
Das war! .
Weltall s Altar! Dieses ist!:
Er war des
Jesus Christ
Stimme (Baß): ist uns vorangeschritten!
Eine tiefe
Er hat es erlitten, erstritten!:
Das war! Erbarmen! All-Erbarmen!
Heilig ist von nun Dieses ist!
alles Vergangene, Wer viel verziehen,
das Ihn für uns gebar! “ - steht warm und klar und fest inmitten
Alles Verhangene zwischen: der Welt entfliehen!
ward durch Ihn offenbar! oder Menschen und Dingen
seine Herrschaft aufzwingen!
Eine mitteltiefe Stimme (Tenor):
Chor der Widersacher:
Selbst aus der Dämone finsterstem Tun,
Doch ist auch dies:
Verrat. Mißurteil, Mord und Wahn,
weht eines Verstehens Hauch dich an.
Ihr müsset uns ertragen
in allen Erdentagen.
Er wäre nicht auferstanden, und kämpfen
Wir werden weiter lodern,lauern
so Ihn die Häscher nicht fanden!
5l
v -

und euer Lieben und Wagen da helfen weder schlaue Schliche


weltmächtig wirren und dämpfen! noch schummrige Schaukelstühle.
Da reißt dich die Erinnerung
Eine hohe Stimme (Sopran): dahin, wo dein Herz war.
Einmal wird es geworden sein!
Seid getrost! Dies wird sein:
Menschen, geprüft in langem Opfergang! Erster Chor:
Menschen, erblüht in Liebe und Lobgesang!
Jetzt aber in schütternden Dämmers Umzirken
Menschen, gereift in des Segnens Überschwang!
ergreift es uns, Widriges kräftig zu wandeln,
Dies wird sein! !
in wachendem Wirken
das Werdende schauen.
Eine mitteltiefe Stimme (Tenor): Einst werden wir bauen,
Wer hilft dem Wanderer, dem Heimatlosen, ‚das Zeitlose zimmern!
wenn nicht der Weg! Einst, wird es geworden sein!
Nicht das Haus, denn es stürzt.
Nicht die Stadt, denn sie geht unter, ° Eine Mmittelhohe Stimme (Alt):
Nicht die Schule, denn sie erstarrt. Dae werden nicht alle wollen.
Nicht die Gemeinschaft, denn sie stößt aus. O widrig weltenlanges Sollen!
Kein Raum ist auf der ganzen Erde, Dem fehlt Begeisterungswein,
der nicht verrät wie Judas, dem Festigkeit und friedlich Brot.
der nicht wie Petrus verleugnet, Wir wollen nicht ewig nur Langende sein.
der nicht zweifelt wie Thomas. Wir sind zu müde. Sende uns den Tod!
Wege aber sind viele!
Weithin steigen und fallen die Pfade! Einetiefe Stimme (Baß):
Laßt uns in allen Kümmernissen Was wisset ihr vom Tode?!
dieses wahren und wissen: Wer ist so liebelos,
Er ist der Weg! daß er wegwirft, was groß-
In allen Wirrungen vertrauend Götter seinem Sein gegeben?!
lasset uns Ihm, der da ist selbst Der Weg,
unsere Irrungen Zweiter Chor:
empfohlen sein zu rechtem Gericht!, Ihr müsset euch entscheiden!:
erbitten freie Sicht!, \ Leben zum Licht der Welten-Ichheit ranken
darbringen inniger Erinnerung oderverraten des Allverzeihenden Zielgedanken.
denkendes Danken! Wenn alles Alten Stützen wanken,
ist Raum für neue Fahrt und Art,
Chorder Widersacher: - die sich zur Morgenröte schart.
/

Ihr müsset uns ertragen Erster Chor:


in alien Erdentagen!
O, hört die jungen Knospen springen.
Wir werden lauern, lodern, kämpfen
Jetzt kommt ein mächtiges Ich-Erbringen!
und euer verwegenes Wagen ! .
Hört ihr den Ruf? Die Sonne naht,
weltmächtig dämpfen! Fs schwindet der Weltenseelenwinter,
es bindet der Mensch sich in Freiheit
"Eine hohe Stimme (Sopran): als Freund dem Schenker der Schale des
Einst wird es geworden sein! Schicksals!
Nicht immerzu Aus jeglicher Bürde
stürmt Schwellen-Ganges Prüfungs-Luft! \ ward schauende Würde!
Einmal wird eine Ruhe und Stille sein,
als wären alle Schicksale Eine mittelhohe Stimme (Alt):
nur ein Schachspiel des Schöpfers gewesen. Wir haben Gott nicht um sein Vertrauen gebeten.
Wenn alle Wasser der Weltenwende wogen
und aller Sicherheiten Schiffe Eine mitteltiefe Stimme (Tenor):
wie Nußschalen zusammengeschüttelt, Was wisset ihr? Warum macht ihr euch taub?
\

\
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Was ist’s? Was seid ihr'bang? . . Wer bleibt denn im Schlaf, wenn der Frühwind
Doch nun ist' angetreten \ sich regt?
der Menschheit Oster-Gang! Zu Schiffe! Zu Schiff!, eh’ der Fahrwind sich legt!
Nicht vernahm ich, daß Weltenstaub Wer opfert nicht gern sich dem schönsten
Beginnen,
redet und rechtet.
Wahrlich, in sich selbst hat sich verknechtet, wenn Ichheit erstrahlet dem Sinnen und Minnen!
wer nicht lauschen lernt und wartendschweigen, Die Erden und Himmel, sie warten auf dich!
wenn sich versöhnt die Himmel zu uns neigen. Einmal wird eine Ruhe und Stille sein!
\ Zur Ewigen Stadt dann ziehn die Geopfertenein.
Schlußchor: Alles Wagnis und Weh des All-Liebenden
Kommet, ihr Liebenden, : külınstes Gedicht
kommet zum Allverein! Und das Lamm der Geläuterten ewiglich Licht!
Einmal wird es geworden sein! :

Grablegung und Auferstehung des Wortes


| Alfred Schütze | '

Als Fritz Mauthner seiner „Kritik der Sprache“ das „Wörterbuch der Philosophie“ folgen
ließ, schrieb einer’ seiner Kritiker: „Am liebsten möchte man gleich Trappist werden und
gänzlich verstummen.“ Es war keine Übertreibung, wenn man von Mauthner sagte, daß er mit
seiner Kritik an der Sprache diese gleichsam in Bausch und Bogen theoretisch umgebracht habe.
Für Mauthner ist die Sprache nichts anderes als ein System von Gedächtnishilfen, mit
die
denen sich der Mensch im Wirrwarr der Sinneseindrücke zurechtfinden will. Er denkt sich
der Sprache etwa so, daß der Mensch ihm ähnlich scheinende Eindrücke durch
Entstehung
gen
Lautzeichen markiert habe, wobei er wahrscheinlich aus der Fülle der Wahrnehmun
bezeichnen. An
einzelnes herausgriff, um damit das, was ihm zusammengehörig erschien, zu
die er die
sich gebe es nur eine vielfältig wogende Welt von Sinneswahrnehmungen,
sauer
adjektivische Welt nennt. Zum Beispiel etwas, das rund und rot ist, süß oder
ähnlichen Ein-
schmeckt. Das vergleichende Gedächtnis bzw. die Sprache veranlaßt uns bei
drücken, dieses Etwas „Apfel“ zu nennen. Aber das ist schon ein Mythologem. So entstünde
Ähnlich-
diesubstantivische Welt, die eigentlich unwirklich sei. Die Vergieichung von
keiten, die wir an Lautzeichen binden, ergibt die Worte oder, was dasselbe sei, die Begriffe,
und
Es gibt demnach überhaupt keine Allgemeinvorstellungen, sondern nur Worte. Sprechen
n, etwa im Sinne der
Denken sei also eigentlich dasselbe. Begriffe als geistige Wirklichkeite
alten Universalien oder der platonischen Ideen, existieren nicht. Sie gehen nach Mauthner
hat
lediglich als zweckmäßige Mittel eines Ordnungsversuchs aus der Sprache hervor. Damit
en. Das Denken ist nichts anderes
Mauthner allen Geist aus Sprache und Denken hinausgetrieb
als ein inneres Sprechen. Beides entspricht derse:ben Bewegung, einmal mehr von außen, ein-
noch
mal mehr von innen gesehen. Die wahre Wirklichkeit wird uns weder durch das eine
durch das andere erschlossen. Denn die Worte sind nichts als Zeichen und Markierungs tafeln
die durch eine‘ ständig fortschreitende Bildübertragung immer weiter von
des Gedächtnisses,
.
der Wirklichkeit fortführen — es sind Bilder von Bildern von. Bildern.
Zu der adjektivischen und der substantivischen kommt als dritte noch die verbale Welt
Kinzu, Sie ist wie die substantivische eine nach dem Bilde des eigenen Seelenlebens vermensch-
lichte, also unwirkliche Außenwelt. Den Veränderungen in der Zeit unterschieben wir einen
Zweck analog der Erfahrung bei unseren Handlungen. Dieser seelische Vorgang spiegele sich
im Tätigkeitswort, im Verbum.

} 53
Es war im Grunde nicht Mauthner, der die Sprache mit der zersetzen
den Säure seines
scharfen Verstandes aufgelöst hat. Er hat ihr sozusagen nur die Grabrede
gehalten. Denn das
Mißtrauen gegenüber der Sprache ist nicht von heute und gestern. Wem fiele
nicht die Szene
in Goethes „Faust“ ein, in der sich Faust an die Übersetzung des Johannes
-Evangeliums
macht: „Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort!‘
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das ‚Wort‘ so hoch unmöglich schätzen,
ich muß es anders übersetzen,
wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.“
'

‚Aber Goethe deutet durch die Anwesenheit des Pudels dramatisch an, welcher Geist es ist,
der Faust „erleuchtet“. _
Welcher Abgrund tut sich auf zwischen dem Prolog des Johannes-Evangeliums,
der im
Worte, im Logos das göttlich-schöpferische. Sohneswesen Christi zu begreifen sucht, aus
dem
alles entstanden ist, — und dem Zufallsprodukt des Wortes in Mauthners Auffassung. Wenn
auch das menschliche Wort im Sinne des Johannes und der alten Logoslehre dem göttlichen
Wort nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden kann, so bestehen doch zwischen beiden
tief-
gehende und allerbedeutsamste Beziehungen. Es heißt bei Johannes: „Im Urbeginne war das
Wort, und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort: dieses war im Urbeginne
bei
Gott.“ Das mehrmalige „war“ legt die Frage geradezu in den Mund: Wo ist es jetzt?
Die.
Antwort kann nur lauten: Es ist zu den Menschen gekommen. Als Leben und Licht waltet es
in den einzelnen Menschen, die durch die Samenkraft seines göttlichen: Wesens nun selber zu
Gottes Söhnen werden können. Der vernunftbegabte, von dem lebendigen Licht des Logos
erfüllte Mensch kann als einziges Geschöpf der kreatürlichen Welt in bewußter Weise den .
geistigen Sinn dieses Daseins zum Ausdruck bringen. Sein Sprechen ist ein Abbild des gött-
lichen Sprechens, er darf das geist- und sinnerfüllte Wort handhaben, während es aus der
übrigen Kreatur nur dumpf und unbewußt heraustönt. So fällt nach der Schöpfungsgeschichte
Adam bereits die Würde zu, den Namen der Dinge auszusprechen. Der ewige Name
der
Dinge, d.h. der durch die Gottesschöpfung in sie versenkte geistige Urgehalt offenbart
sich
in der geistdurchwobenen menschlichen Sprache. Die Schöpfung kommt im Menschen zum
Bewußtsein ihres göttlichen Ursprungs und kann sich durch ihn in geistgemäßen Lauten und
Gedanken aussprechen. Das klingt in Goethes berühmtem Satz an: „Wenn die gesunde Natur
des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen,
würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies
Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, auf-
jauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.“
Aber diese aufwärtsführende Linie ist jäh unterbrochen worden durch das, was die Bibel
den Sündenfall und die babylonische Sprachverwirrung nennt. Während ehedem die Ur-
Sprache dazu berufen war, im menschlichen Abbild das göttliche Geistwort nachzusprechen,
verdunkelt sich nun das Menschenwort. Es wird undurchlässig für den Geist. War es einst
nur wie eine zarte Hülle, ein Schleier, in den sich das Logoselement hüllen könnte,
um hier
auf Erden unmittelbar wirken zu können, so verdichtet, materialisiert und differenziert es sich
allmählich nach Maßgabe äußerer geographischer, rassischer und volklicher Bedingungen.
Die
verschiedenen Volkssprachen nehmen immer stärker einen erdgebundenen Charakter an.
Dieser Prozeß läßt sich an der Entwicklung von den alten heiligen Sprachen bis zu den
modernen Nationalsprachen geradezu ablesen. Während noch etwa im Sanskrit ein übersinn-
liches Logos-Weben durchgeführt werden kann. und auch das Hebräische und Griechische noch
von hohem spirituellem Lautwert sind, werden die neuzeitlichen Sprachen, besonders nach
'

»4
dem Westen zu, immer mehr geistentblößte Lautbilder für das bloß Sinnliche. Das Wort tritt
seinen Leidensweg an und sinkt ins Grab. Ohne den historischen Tatbestand damit auflösen
zu wollen, dürfen wir duch sagen: Ebenso wie in Christus das Wort Fleisch geworden ist und
wegen der gesunkenen Menschheit seinen Passionsweg beschritt, der im Tod auf Golgatha und
der Grablegung gipfelte, hat der Funke des Logos, der das menschliche Wort hervorgerufen
hat, auf dems menschheitlichen Entwicklungsfelde einen entsprechenden Schicksalsweg an-
getreten. Auch das Menschenwort kam aus Geisteshöhen, wurde „Fleisch“ in den Erden-
“sprachen, hat seine Passion durchlitten, ist gestorben und ins Grab gesunken. Was die Kriegs-
knechte an Christus taten, haben wir Menschen an der Sprache vollzogen. Ein Mauthner und
andere haben letzten Endes nur zum Bewußtsein gebracht, was in jahrtausendelanger Entwick-
lung geschehen ist und noch weiter geschehen wird.
‚ Ist es nötig, diese Wahrheit von dem „ersterbenden Erdenwort“ durch viele Beispiele zu
belegen? Erleben wir nicht auf Schritt und Tritt die Mißhandlung und Geißelung des Wortes
an der Art, wie die Menschen heute sprechen? Das Wort dient fast nur noch als bequeme
Scheidemünze, die man gedankenlos einnimmt und ausgibt, um sich über die materiellen An-
gelegenheiten zu verständigen und zu orientieren. Die Tendenz zur Vereinfachung und
Bequemlichkeit für den irdisch-sinnlichen Tagesgebrauch wächst von Jahr zu Jahr. Man denke
nur an Esperanto, die neuen Vorschläge zur Reform der Rechtschreibung in der Ostzone, die
Unsitte der Abkürzungen usf. Vor allem aber: Das Wort wird im allergrößten Umfange nicht
mehr zur Wahrheitsfindung, sondern zur Verschleierung benutzt. Die Lüge feiert Triumphe,
die man noch vor einem halben Jahrhundert für undenkbar gehalten hätte. Die Phrase und‘
die in ihrem Gefolge auftretende Aufblähung und Aushöhlung einzelner Worte und Begriffe
entwerten in rapidem Tempo die letzten Geist- und Wahrheitsreste der Sprache. (Man
erinnere sich der Methode des nationalsozialistischen Propagandaministeriums, christliche
Sprachbegriffe wie Auferstehung, Pfingstgeist, den Begriff „Drittes Reich“ selber usw. für
politische Zwecke zu usurpieren und damit völlig zu entleeren.)
Mauthner hat tragischerweise recht bekommen!
Die Sprache hat keinen göttlichen: Geistgehalt mehr — das Wort ist erstorben! Dieser
Satz gilt, wenn nicht absolut, so doch für einen weiten Anwendungsbereich.
-Mit dieser Tatsache muß rechnen, wer sich heute daran macht, einen neuen Zugang zum
Evangelium zu bekommen. Denn auch das Evangelienwort ist uns zunächst‘ nur in der Hülle
irdischer Sprachen gegeben, die ihm das gleiche Los zu bereiten drohen. Es bleibt heute eine
leere Forderung, darauf zu pochen: „Das Wort sie sollen lassen stahn.“ Das Evangelienwort'
ist durch den allgemeinen Entgeistigungsprozeß dem Erleben weitgehend verloren gegangen. -
Seine Wiederherstellung ist nicht nur die philologische Frage nach dem exakten Urtext und
einer geeigneten Übersetzung. Die Buchstabentreue und das Wörtlichnehmen des „schlichten
Evangeliums“ machen es allein nicht, wenn es nicht gelingt, den Geistgehalt des Wortes über-
haupt wieder zu entdecken. _
Gegenwärtig ist über alles Wortwesen eine Art Karfreitags-Stimmung gebreitet. Aber so
mie Ostern die einmalig-historische Auferstehung Christi in sich schließt, zu deren Verständ-
nis und Erleben die Menschen erst allmählich heranreifen müssen, wird von der Oster-Tatsache
aus auch eine Auferstehung des Wortes im weiteren Sinne möglich werden. zu der
die Menschen ebenfalls erst würdig werden müssen. Nur wird hierbei eine erhöhte Mitwirkung
des Menschen selbst durch Arbeit an sich und am Erleben der Sprache notwendig sein.
Wir dürfen es in der Christengemeinschaft wie ein beglückendes österliches Geschenk
empfinden, durch die Geistsprache des Kultus und die Einbettung des Evangeliums ın den
sakramentalen Zusammenhang die ersten Anfänge einer Wiederbelebung, einer Auferstehung
des Wortes zu erleben.

55
Bi

Das Neue Testament als „Buch der Seelenübung*


Robert Goebel

Drei grundlegende Beziehungen zur Bibel konnten in der bisherigen Entwicklung des
Christentums verwirklicht werden. Zeitlich am nächsten steht der Menschheit die Beziehung,
die aus der Krisis des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins hervorgegäugen ist. Die
protestantische Theologie in ihrer „liberalen“ Färbung wollte den sog. wissenschaftlichen
Ansprüchen genügen und .hat die kritische Methode der profanen Wissefischaft, in diesem Fall
der Historie, auf die biblischen Urkunden angewendet. Es war der Einbruch des modernen
Rationalismus und Naturalismus in das Gebiet der „heiligen Schrift“. Man betrachtete die
Evangelien als „Geschichtsquellen“ für das Leben Jesu, so wie die Geschichtsforschung von
ihren Dokumenten als von „Quellen“ spricht. Es handelt BE hier um die historische
Auffassung des Neuen Testamentes. .
Eine zweite Auffassung spricht davon, daß der Mensch die höheren Glaubenswahrheiten
nur durch göttliche Offenbarung erfahren kann. Der Inhalt dieser an die Menschheit er-
gangenen Offenbarung bzw. die Kunde von diesem Inhalt findet sich in den Büchern des Alten
‚ und des Neuen Testamentes. Die Schriften galten als „inspiriert“, als „eingegeben“. Und für
deren richtige Auslegung sorgt die kirchliche Autorität. Diese Beziehung zur Bibel ist die
dogınatische.
Schließlich hat es noch eine dritte Möglichkeit gegeben. Da wird weniger auf den Erkenntnis-
inhalt biblischer Schriften hingeschaut, sondern mehr darauf, daß uns die Sätze z.B. der Berg-
predigt wie eine Art Anweisung oder Gesetz für unser praktisches Handeln, gleichsam als
Richtschnur für das konkrete Leben entgegentreten. Tolstoj hat eine solche Auffassung der
Evangelien vertreten. Wir können sie die moralische nennen.

Von diesen bisherigen drei Möglichkeiten müssen wir jene neue Beziehung unterscheiden”
die wir im folgenden beschreiben wollen. Wir berücksichtigen dabei an erster Stelle das Ver-
hältnis zu den Evangelien, das aber.auch für das Verhältnis zu den übrigen Schriften von’
grundlegender Natur ist. u
In der Herstellung dieses Verhältnisses zu den Evangelien lassen wir zunächst die Frag
der .Geschichtlichkeit beiseite, auch die Frage, wie weit die Evangelien der Niederschlag ein
bestimmten, 'dogmatisch faßbaren Offenbarung sind. Wir sagen: zunächst. Wir wählen also,
solche zusammenhängende Stellen aus, mit'deren Inhalt wir uns als Gegenwartsmenschen, die
sich Rechenschaft geben wollen über die einzelnen Schritte ihres geistigen Pfades, unmittelbax
verbinden können, Wir nennen ein Beispiel: die sieben Gleichnisse im 13. Kapitel des
Matthäus-Evangeliums. Diese Bilder deuten auf Wahrheiten und Wirklichkeiten, die
— zunächst — unabhängig davon sind, wann und von wem sie gesprochen worden sind. Die
Schicksale des Samens im Erdenfelde, die Gesetzmäßigkeiten im Sauerteig, das Suchen’ nad
dem Schatz im Acker sind Hinweise auf Gesetzmäßigkeiten, die dem modernen Bewußtseiz
zugänglich sind. So könnte man auch an eine Beziehung denken, die zu den Ich-bin-Worten des
johanneischen Christus aufgenommen wird, wobei zunächsi offen bleiben mag, ob die Wesem
heit, welche so!che Worte gesprochen hat, diejenige ist, die wir als den Christus bezeichn
Unter dieser Voraussetzung könnte auch eine Beziehung zu den Bildern der sog. sieben gro
„Zeichen“ im Johannes-Evangelium aufgenommen werden — von der Hochzeit zu Kana
„zur. Auferweckung des Lazarus —; wobei zunächst:
ein „künstlerisches“ Verhältnis zu di
Bildern eingenommen wird, so wie der Gegenwartsmensch innerlich Beziehungen zu ei


56 "
®
vor ihm stehenden Gemälde aufnehmen kann. Das Ziel, zu dem die Beziehung zu solchen
Worten und Bildern führen soll, ist ein wesentlich anderes, als daß es zu einer „historischen
Wahrheit“ im Sinne des Chronikhaften führen soll. Es handelt sich vielmehr darum, durch
die aufgenommene Beziehung zu den Worten und Bildern in Wirklichkeitsbereiche einzu-
ringen, sich in solche einzuleben, die uns vor dieser Beziehung noch unbekannt waren.
Der Mensch erobert sich durch ein allmähliches, geduldiges, regelmäßiges Aufnehmen und
Pflegen solcher Worte und Bilder das Bewußtsein einer neuen Welt, die zwar vorher schon
2
da war, aber fürsein Bewußtsein noch nicht da war. Im Verlauf dieses Weges — denn
um das Beschreiten eines Weges handelt es sich — wandelt sich jene Frage, die früher auf das
Historistische gewandt war, um in die andere Frage: weisen die Bilderunmittel-
barauf Wahrheit und Wirklichkeit hin?
So kann der Mensch der Gegenwart zu einzelnen Teilen der Evangelien eine Beziehung auf-
nehmen. Er kann diese allmählich auf das Ganze eines Evangeliums oder der Evangelien aus-
dehnen. Wir können die Beziehung, die wir hier meinen, als eine übende charakterisieren.
Die Einzelheiten und das Ganze des Neuen Testaments werden Übungsinhalt.
Begründe ich ein übendes Verhältnis zu diesen Tatsachen, so bleibt die Klarheit und die
Freiheit des modernen Bewußtseins beachtet. Klarheit und Freiheit werden Ausgangspunkt
der neuen Beziehung zu den „alten“ Inhalten. Die Ergebnisse dieser inneren Beschäftigung
werden zu Buchstaben einer sich aufschließenden neuen Schrift.
” +

Für die historische, dogmatische und moralische Auffassung bleiben die Inhalte des Neuen
Testaments Tatsachen, die von außen auf den Menschen zukommen und auch „draußen“,
d.h. außerhalb seines Bewußtseins bleiben. Das ändert sich grundsätzlich für den Menschen,
der ein übendes Verhältnis zu diesen Inhalten aufnimmt. Zwar kommen die Inhalte
zunächst „außen“ an den Menschen heran, aber sie bleiben ‘nicht „außen“. Der
auch von
Mensch verbindet sich mit ihnen, lebt sich in sie ein, wird eins mit ihnen. Was vorher „außen“
war, geht jetzt in das „Innere“ des Menschen ein. Von innen her erleben die Inhalte eine
Auferstehung dadurch, daß der Mensch seine seelisch-geistigen Kräfte zur Verfügung ge-
stellt und in innere Bewegung gesetzt hat, um die Inhalte zu beleben, sie von innen her
— aus der Substanz der Geistseele des Menschen heraus — neu zu gebären. Diese Tätigkeit
kennt das Evangelium und kennzeichnet sie auch: „Maria behielt alle diese Worte und
bewegte sie in ihrem Herzen“ (Luk. 2,19). Es ist im Bilde eine exakte Beschreibung der
von ung angedeuteten Methode.
Die Wandlung, die in der Beziehung zur „Heiligen Schrift“ eintritt, kann auch dahin ge-
kennzeichnet werden, daß der Mensch aus den in der heutigen Zeit gewonnenen Bewußtseins-
kräften heraus dazu aufgerufen wird, ein Mit-Erzeuger des Evangeliums zu werden. Es
dem übenden Verhältnis deutlich, daß das Evangelium als solches „Fragment“ ist,
wird in
wenn es nicht vom Bewußtsein des Menschen aufgenommen und ihm aus den Bewußtseinskräften
des Menschen eine „Ergänzung“ hinzugefügt wird. Erst dann ist die volle Wirklichkeiauf t,
das Evangelium hindeutet, hergestellt, wenn das, was vom menschlichen Bewußtsein als
die
Schauplatz zur Verfügung gestellt werden kann — und mag es zunächst auch noch keimhaft
sein —, zu den Tatsachen des Evangeliums hinzukommt.
des -
Diese Art Beziehung zum Evangelium, in welcher sich der Mensch zum Mit- Erzeuger
Testa-
Evangeliums aufgerufen fühlt, findet sich selber in den Zusammenhängen des Neuen
ments. Sie ist kennzeichnend für das „apokalyptische“ Bewußtsein:

57
„Und ich hörte eine Stimme vom Himmel: Geh hin, nimm das offene Büchlein aus d
Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht. Und ich ging hin zum Eng
und sprach zu ihm: Gib mir das Büchlein. Und er eprach zu mir: Nimm hin und verschling?
es wird dich im Bauche grimmen; aber in deinem Munde wird es süß -sein wie Honig. Un
ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und verschlang’s; und es war süß in meinen
Munde wie Honig, und da ich’s gegessen hatte, grimmte mich’s im Bauch. Und er sprach
Du sollst abermals weissagen von Völkern und Heiden und Sprachen und vielen Königen‘
(Offenb. 10, 8-11).
Den Tatbeständen nach berührt sich dieses Verhältnis zum Evangelium mit dem, was Rudoll
Steiner als.„Meditation“ umschrieben hat. Dieses Verhältnis zum Neuen Testament könnter
wir daher auch ein „meditatives“ nennen. \ !
An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden: das meditative Verhältnis zus
„Heiligen Schrift“ sei nichts grundsätzlich Neues. Es sei in der Geschichte des Christentums
unter dem Namen „Gebet“ bekannt. Dazu ist zweierlei zu sagen.
Erstlich. Was in früheren Jahrhunderten des Christentums als Gebet geübt wurde, hatte
einen starken Gemütseinschlag. Das Gebet oder die Meditation im mittelalterlichen Sinne
konnte ja überhaupt nur mit den Seelenkräften ausgeübt werden, die der dam aliger
Menschheit zur Verfügung standen. Das aber waren Kräfte, die Rudolf Steiner genannt hat:
Kräfte der Verstandes- und Gemütsseele, die an die damalige Kulturepoche gebunden waren.
Die Kräfte, die wir heute für die Meditation in Anspruch nehmen möchten, sind andere.
Rudolf Steiner hat sie Kräfte der „Bewußtseinsseele“ genannt. Sie stehen erst dem Menschen
der letzten Jahrhunderte zur Verfügung. Daß das Christentum aus solchen Kräften ergriffen
“ wird, ist ein absolutes Novum.
I
Damit hängt das Zweite zusammen. Was in früheren Zeiten iım Gebet errungen wurde,
konnte wohl als begleitende Gabe des Seelenlebens willkommen geheißen werden. Die.
Forschungsmethode selber beruhte aber nicht darauf. Das ist heute
anders. Die Erkraftung des modernen Bewußtseins im Sinne der meditativen Pflege und Ent-
faltung der Bewußtseinsseele ist dazu berufen, zu einem neuen Erkenntnisorgan zu werden.
Die Forschungsmethode wird in Zukunft darauf begründet werden können und die ver
gangenen Methoden ablösen. Das ist ein wesentlich Neues, das mit dem 20. Jahrhundert auf.
tritt. Es kann jetzt auch erstmalig auf den Gebieten verwirklicht werden, die früher von der
„Theologie“ in Anspruch genommen wurden.
3 +

Im weiteren Verfolg des Weges im Sinne der Übung ergibt sich der meditativen Betrachtung
ein inneres Ordnungsprinzip, nach welchem jenes „Übungsmaterial“ innerhalb des Neuen
Testamentes gegliedert werden kann. Es ergibt sich der dreifache Charakter von Evangelien -—
Briefen — Apokalypse (im Rahmen des Neuen Testamentes) als Niederschlag höherer Er-
kenntnisstufen. Dabei können wir auf das Folgende aufmerksam werden: .
1. Die „Evangelien“ werden vor allem in den drei ersten, zum Teil auch im vierten —
in ihrer Bildhaftigkeit deutlich. Auf Grund dieser Bildhaftigkeit hat sich die historische
Methode verleiten lassen, sie als Kunde „historischer“ Tatsachen aufzufassen. Die Berührung
mit der Historie liegt aber nur insofern vor, als das imaginativ schauende Bewußtsein die
Bilder des Erdenplanes benutzt, um sich im Sinne der rückwärts gewandten Prophetie über das
Golgatha-Ereignis auszusprechen. Es sind zwar die Bilder des Erdenplanes, aber von der °
Warte des imaginativen Bewußtseins aus geschaut. Die historische Methode wird erlöst und ir
ihre Wahrheit verwandelt, wenn sie sich zum Begreifen der Imagination erhebt,

58
2. In den „Briefen“ z.B. des Paulus tritt das Anschauliche zurück, das Wort tritt dafür
hervor. Die Briefe sind ein Niederschlag der inspirativen Erkenntnisstufe. Was wir oben als
„dogmatische“ Beziehung zur „Heiligen Schrift‘“ bezeichneten, wird als Zerrbild deutlich.
Daß derselben ursprünglich eine Wahrheit zugrundelag, zeigt sich darin, daß sie sogar noch das _
Bewußtsein einer notwendigen „Inspiration“, wenn auch erstarrt, festhält. In diesem Bereiche
des Neuen Testaments, schon im vierten Evangelium sich-ankündigend, kann — im Sinne der
gegenwartsgemäßen Geisteswissenschaft — von inspirativer E rkenntnis gesprochen
werden.
3. In der. „Apokalypse“ des Johannes wird dann durch die Mittel der imaginativen
und der inspirativen Erkenntnis auf intuitive Erkenntnis hingewiesen. Wer nach dem Durch-
machen der zwei vorangegangenen Stufen die dritte betritt, wird zu einer wesenhaften Be-
rührung und Einigung mit der geistigen Welt angeleitet. Hier ist jene dritte Beziehung zum
Neuen Testament, die sog. moralische, die doch letztlich auf das Einsseia mit der Wesen-
haftigkeit und mit den Zielen der geistigen Welt hinweist, zur Wahrheit erhoben. Die
intuitive Erkenntnis stellt die Erlösung dieser Auffassung dar.
Damit wird zugleich deutlich, daß in bezug auf die höheren Erkenninisstufen die einzelnen
Teile des Neuen Testaments viel differenzierter betrachtet werden müssen, als es bei
den drei erstgenannten Beziehungen der Fall ist. Diese Teile werden aber klar erkennbar als
Niederschlag des schauenden Bewußtseins, ja der drei höheren Erkenntnisstufen, wie sie
Rudolf Steiner beschrieben hat. Dadurch gewinnt das Neue Testament den Charakter einer
„Einweihungsschrift“. Und zwar in dem Sinne, daß sie das Material dazu liefert, um dem
meditativen Bewußtsein das stufenweise Einleben in die geistige Welt zu ermöglichen.
Die bisherigen Beziehungen zur „Heiligen Schrift“ waren solche exoterischer Art. Die hier
charakterisierte ist esoterischer Art. Es wird dabei nicht bloß auf das Inhaltliche der
biblischen. Aussagen gesehen und dieses in historischem, dogmatischem oder moralischem Sinn
verwertet. Die Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen des Neuen Testaments werden
vielmehr in ihrem Niederschlag als diejenigen Mittel gebraucht, weldıe vom Christentum
selber angeboten werden zum Ziele des Einlebens in die geistige Welt. Aus einem „Selbst-
zweck“ wird das Neue Testament — wohlgemerkt auf dieser höheren, mediiativen
Ebene — zu einem Mittel zum Zweck: nämlich Mittel zum „Zweck“ einer realen Berührung
mit der Geisteswelt, zum Zwecke der Ichbildung des individuellen Bewußtseins des Medi-
tierenden (Ichbildung im Sinne der Geburt des „höheren Selbstes“). Wir sind dabei in Über-
einstimmung mit der goetheanistischen Geistesbemühung, welche aussagt: „Frömmigkeit ist
kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu
kommen.“ Hören wir durch diese Worte hindurch auf die in ihnen lebende geheime Tendenz,
dann enthüllt sich der..‚esoterische“ Charakter der Frömmigkeit, der in dieser Beziehung zum
Neuen Testament angedeutet worden ist.
*

Es erhebt sich aber hier die berechtigte Frage: Warum greifen wir gerade zu den neu-
testamentlichen Schriften, um jener realen Berührung mit der Geisteswelt entgegenzu-
gehen und jene Stufe der Ichbildung zu durchleben, welche — im christlichen Sinn — das Ich
zum Geist-Gefäß gestaltet? Warum werden nicht indische oder jüdische Schriften zugrunde.
Ku :
gelegt?
Wir sind gewiß der Meinung, daß der Mensch Förderungen erfahren kann in seinen Be-
ınühungen, ein lebendiges Verhältnis zur geistigen Welt herzustellen, wenn er nach der
Bhagavad-Gita oder nach der Edda greift.
An dieser Stelle enthüllt sich, daß für das Verhältnis zum Neuen Testameni noch etwas

59
anderes in Frage kommt, was bei den „heiligen Schriften“ anderer Völker und Zeiten un-
berücksichtigt bleiben konnte und mußte. Das ist der Grundcharakter, ob vor christlich
oder nach christlich. Und zwar jetzt nicht bloß in dem banalen chronologischen, sondern in
dem Sinn, ob es sich um eine Kunde des Inkarnations-Ereignisses von Golgatha ‚handelt oder
nicht, ob die enthaltenen Wahrheiten in der Botschaft von dieser Inkarnation ihren Quellpunkt
haben oder ob sie einen auf dieses Ereignis nur hindeutenden, d.h. prophetischen Charakter
tragen. So wie nämlich das Alte Testament im Hinblick auf die Inkarnation Christi nur
weissagenden Charakter in Anspruch nehmen kann, so gilt es letztlich auch von allen anderen
vorchristlichen Schriften.
Der Charakter der „Aktualität“, der Zeitgemäßheit, kommt hier in Frage. Es mögen die
außerchristlichen Schriften Niederschläge hoher Weisheit sein, sie sind es bloß im vor?
christlichen Zeitalter. Würde heute an ihnen festgehalten, würden sie zur Grundlage des
religiösen Lebens der Menschheit erhoben werden, sie wären „rückschrittlich“, weil seitdem
eine Umschichtung und Verlagerung der spirituellen Mächte eingetreten ist, ein Ereignis, das
in der Inkarnation Christi seinen Ankergrund gefunden hat. Dadurch, daß das Ereignis der
Inkarnation die Substanz abgibt für die neutestamentlichen Schriften, gehören diese zu, den
„zeitgemäßen“, die im Sinne des spirituellen Fortschritts der Menschheit dienen. An sie bzw.
an deren Metamorphosen im Sinne heutiger Spiritualität muß angeknüpft werden, nicht an
Dokumente der vorchristlichen Zeit, welche sich dadurch charakterisieren, daß sie zu einer
außerirdischen Geistigkeit die Beziehung pflegen, während für die fortschreitende Mensch-
heit — seit Golgatha — das Geistige aus den Erdenzusammenhängen zurückstrahlt, nachdem
.das Christuswesen durch die irdischen Zusammenhänge hindurchgeschritten ist.
+

Nun gehört‘ die Tatsache der Menschwerdung des Christus in dem Jesus von Nazareth zu
den Tatsachen, die, ihrem geschichtlichen Verlauf nach, abgeschlossen sind. Mit den Ereignissen
des Jahres 33 unserer Zeitrechnung ist das. Ereignis von Golgatha äußerlich abgegrenzt. Heißt
nun die Forderung, die wir eben erhoben: unser Verhältnis zur geistigen Welt in Anknüpfung
an die neutestamentlichen Schriften zu pflegen, zugleich dies: sich in seinem Bewußtsein zurück-
. zuschrauben und das Bild von den Ereignissen der ersten Jahrzehnte unserer Zeitrechnung
für unser Geistesstreben maßgebend werden zu lassen?
Aus den vorangehenden Erörterungen dürfte ersichtlich sein, warum diese sog. „historische“
Beziehung für uns nicht in Frage kommt. Das Neue Testament selber hat nirgends den An-
spruch erhoben, in diesem Sinne als „historische“ Urkunde genommen zu werden. Das
Neue Testament will nicht ein Verhältnis zu dem im Erdenleib Verkörperten begründen, wie
es im oberflächlich „historischen“ Sinn zur Zeit des Erdenwandels des Christus Jesus wohl
möglich, aber in diesem Sinne historisch einmalig war und nach Golgatha. umgewandelt
werden mußte. Heutzutage stehen wir nicht mehr unmittelbar dem im Erdenleib Verkörperten
gegenüber. Sollte darauf zurückgegriffen werden, so wäre dieses Verhältnis wesensgemäß un-
möglich und antiquiert. .
Vielmehr enthält das Neue Testament selber den Hinweis, auf welches. Verhältnis es in
den Rhytbmen der christlichen Zeiten ankommt. Es kommt auf ein Verhältnis an, das in
Gegenwart und Zukunft zu dem Wesen des Christus Jesus begründet werden kann, der zwar
durch die Erdenverkörperung hindurchgeschritten ist, aber nun jederzeit als das führende
und selbst fortschreitende und sich verwandelnde Geistwesen in der Erdensphäre gefunden
werden kann. Das Neue Testament ist in zentraler Weise auf dieses Verhältnis hin orientiert
es nennt es die Erwartung der „Wiederkunft“ Christi.
In die Beziehung zu dem „neuankommenden“, „wiederkommenden“ Christus ordnet si

69
gibt
das Neue Testament in seinen dreifachen Wesensgliedern selber ein. Das Neue Testament
Material an die Hand, um jene Beziehung zu begründen. Der schick-
selber der Menschheit das
der Menschheit das Neue Testament anvertraut ist, ist der der Vorberei-
salhafte Sinn, daß
tung, der Vorübung auf jenes Lebensverhältnis zum Wiederkommenden hin. Das ist deı
ganz bestimmte und konkrete Zweck jener Schriften. Für die heutige Zeit
darum handeln, den Wert jener Schriften in dem etwaigen Nach-
kann es sich nicht mehr
g in sich
klang historischen Geschehens zu erblicken, als ob diese Schriften die Bestimmun
gilt es, die Be-
trügen, einen Nach glanz historischer Erinnerungen zu bewahren. Vielmehr
z des
stimmung jener Schriften in ihrem Charakter a ls Vorklang, als Vor-glan
.Kommenden“ zu erkennen.
im
Die geheime Tendenz des Neuen Testamenitsist also nicht eine
ptische“ . (In diesem
üblichen Sinn „historische“, sonderneine „apokaly
christliche Meta-
ezriff des Apokalyptischen wird man freilich erkennen können, daß die
der „Geschichte “ enthalten
morphose und Erlösung des im 19. Jahrhundert üblichen Begriffs
Testamente s hin,
ist.) Auf den apokalyptischen Charakter deutet der Aufbau des Neuen
wird. Dann wird deutlich,
sofern der kompositionelle Gesichtspunkt als Methode angewendet
vor der
wie die drei ersten Evangelien gegen Schluß ihres jeweiligen Aufbaus, unmittelbar
zur Geltung bringen (Matth. 24, Mark. 13,
Passionsgeschichte das Element der Apokalypse
die sieben Gemeinden der apokalyptis che Cha-
Luk. 21); wie in den Briefen des Paulus an
an die Kolosser und an die Thessalonicher am stärksten wird,
-ıkter in den letzten Briefen
nden
wie dann die apokalyptische Zielsetzung, die bisher nur mitschwang, in der abschließe
J ohannes, sich selber enthüllt und zur
Schrift des Neuen Testaments, in der Apokalypse des
Darstellung bringt.
An einer Stelle spricht sich das Neue Testament sogar selber aus über den Sinn des den
und
Menschen anvertrauten „Schriftwortes“: „Wir haben desto fester das prophetische Wort,
ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort, bis
&r tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf
ler Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen“ (2. Petr. 1,19). Diese Stelle
weist darauf hin, daß das Verhältnis zum Schriftwort nicht das letzte ist, sondern nur Vor-
bereitung auf jenes unmittelbare Verhältnis zu dem „Lichtträger“ selber.
So wird denn deutlich: die Behauptung, daß im Neuen Testament „Offenbarung“ vorliege,
st nicht eine Behauptung, die am Anfang einer Beschäftigung mit dieser Schrift stehen
kun. Das wäre die Aufrichtung eines Dogmas, das dem Gegenwartsmenschen den Zugang zu
Seser Schrift versperren würde. Der Tatbestand ist vielmehr ein anderer. Als Schluß-
zlied eines meditativen Lebensverhältnisses zum Neuen Testament kann im Menschen, als
scht vieler Bemühungen, die Überzeugung heranreifen: Neues Testament leitet an zum Er-
greifen der „Apokalypse“, d.h. aber der — Offenbarung. Diese kann nicht eine fertige Tai-
suche sein, von der der Mensch ausgeht, sondern sie stellt das Letzte dar, zu dem der
nsch sich hinentwickeln kann.

+ Bibel für geschlossen erklärt? Sollte die Bibel nicht noch im Wachsen begriffen sein?
-zelien liegen die Grundzüge künftiger und höherer Evangelien. .
Cbeassentum hat man Ewigkeiten zu studieren. Es wird einem immer höher und mannigfacher
u
Novalis
und wider

=
Geschichte und Offenbarung im Neuen Testamen
t
Wilhelm Kelber
j
In der Frage der geschichtlichen Wahrheit
des Neuen Testamentes wird man zu keine
stichhaltigen Ergebnis kommen, bevor man
nicht den Maßstab, den man damit anlegt,
den Begriff der „Geschichtlichkeit“ selbst, nämli
einer Prüfung unterzogen hat. Als gesich
stand der Weltgeschichte gilt in neuerer Zeit, erter Be
was sich durch Dokumente belegen läßt. Erst
wenn sich ein geschichtliches Ereignis durch
aufgefundene Inschriften, durch erhaltene
träge und Akten, durch gesicherte Berichte von Ver.
Augenzeugen usw. erhärten läßt, kann es in
diesem Sinne als „histo risch“ gelten. Aus solchen Bestandteilen setzt
sich heute der Inhalı
unserer Geschichtslehrbücher zusammen. Und
daran hat sich das neuere historische Bewußtsein
der Menschheit gebildet.
Das Ergebnis ist fürchterlich. Was hat ein
heutiger Abiturient als Inhalt der Weltgeschi
im Bewußtsein? Das Auf- und Abwogen von chte
Machtverhältnissen zwischen Völkern, Staate
Herrscherhäusern und Gesellschaftsschichten, n,
Kriege, Friedensschlüsse und Revolutionen,
Grenzverschiebungen, Verfassungsänderungen und
die dazu gehörigen Jahreszahlen. Eine im
ganzen sinn- und ziellose Abfolge von Ereignissen,
die nur lähmend wirken kann, die nur
Resignation oder Blasiertheit hinterlassen kann.
„Es geht alles vorüber“ oder „es ist alles
schon dagewesen.“ Noch schlimmer ist, wenn
mit den Figuren dieses historischen Marionetten-
theaters Ideale von menschlicher Größe, von
Heidentum verknüpft werden, Denn Ideale sind
aur wahrhaftig und heilsam, wo sie den Mensc
hen als Träger und Verwalter einer ewigen
zielstrebigen und fortschreitenden Idee der Mensch -
lichkeit erscheinen lassen. Von einer Idee
oder einem Sinn der Weltgeschichte kann aber
bei der heutigen Forschungsweise keine Rede
sein. Durch unwahr haftige Ideale erzieht ınan bereite Opfer für sinnlose Gewalttaten.
Mit Notwendigkeit wird sich der historischen Dokum
entenforschung ein Ereignis in dem
Maße als wichtig und gesichert präsentieren, als
es mit großem Getöse äußerlich abgelaufen ist,
Über die Schlac °
hten Alexanders des Großen kann man sich heute
noch bis in alle Einzelheiten
des Ablaufes orientieren. Aber von den stillen
zeugenlosen Gesprächen Alexanders mit seinem
Lehrer Aristoteles ist kein Dokument vorhanden.
— Über den Ursprung und die ersten Zeiten
des Christentums sagt keine Inschrift, kein zeitge
nössischer Annalenschreiber etwas aus. Erst,
durch den Staatsakt Konstantins ist es im heutig
en Sinne voll „geschichtsfähig“ geworden. —
Oder das nächstliegende Beispiel: Über den
letzten Krieg verfassen jetzt die deutschen
Generale in Marburg die „Dokumente“, Aber
um zu verstehen, was eigentlich geschehen
wird man den Blick in eine ganz andere Richt ist,
ung lenken müssen: die Verschüttung des
freiten Hitler im ersten Weltkrieg und ihre Ge-
katastrophalen Folgen für seine Bewußtseinsver-
fassung einerseits, die hundertjährige geistige Präpa
ration eines Volkes durch die Lehrbücher
der Abstammungs- und Vererbungswissenschaft, der
Weltgeschichte andererseits, das sind im
eigentlichen Sinne weltgeschichtliche Faktoren
, während die Dokumente nur über die
letzten Auswirkungen und Symptome aussagen
können. Dokumente kommen immer zu spät.
Manchmal um Haaresbreite, manchmal um Jahrhunderte. Sie beziehen sich auf
die „End-
moränen“ der Weltgeschichte, nicht auf die Prozes
se selbst oder gar ihre Ursprünge.
Die Frage nach der „Geschichtlichkeit“ der
Evangelien erscheint uns noch in einem
spezielleren Licht, wenn wir uns am Beispiel einer
hervorragenden Persönlichkeit des Geistes-
lebens klar machen, welchen Sinn es haben
kann, nach ihrer Geschichtlichkeit zu fragen
ist nicht nur an.der historischen Persönlichke . Es
it Christi gezweifelt worden, auch ob Homer
Shakes und
peare, ja ob. Wilhelm Tell „jemals gelebt hat“,
ist schon ernstlich bestritten worden.
Ein solcher Zweifel ist Goethe gegenüber einstweilen
unmöglich. Wir können uns bekanntlich

62
seinen Lebenslauf bis in die einzelnen Tage und Stunden an Hand der Dokumente rekon-
struieren. Goethe hat .diese Dokumente zum größten Teil selbst geschaffen und ‚gesammelt.
Er hatte eine fast pedantische Neigung zur schriftlichen Fixierung seiner Erlebnisse und
Unternehmungen, die dann über die Aufzeichnungen seiner Stimmungen und Gedanken un-
versehens in seine autobiographischen Kunstwerke übergeht. Durch diesen Urtrieb seines
Daseins ist er zu der schärfst umrissenen historischen Gestalt geworden. Wer auch nur die
trockenen stichwortartigen Notizen seiner Tagebücher aus der späteren Weimarer Zeit
studiert, müßte bemerken, daß er auf den Spuren eines Titanen wandelt, auch wenn er keines
von Goethes Werken kennen würde.
Aber wenn es hochkommt, hat von tausend Goethe-Verehrern vielleicht gerade einer sich
mit dem Studium dieser peniblen Chronik befaßt. Was uns Goethe bedeutend macht, was die
tiefgreifendsten Wirkungen auf das gesamte Geistesleben der zivilisierten Menschheit aus-
geübt hat, ist so vollständig unabhängig vom geschichtlichen Aspekt dieser Persönlichkeit wie
die. Wirkungen Homers und Shakespeares davon, daß diese Dichter überhaupt historisch in
Zweifel gezogen wurden. Goethes Metamorphosenlehre und sein Faust werden bestehen, wenn
die historischen Umrisse seiner Gestalt längst verblichen sind. \
Wir müssen aber noch einen Schritt weiter gehen: Der Literarhistoriker hat die Möglich-
keit, die Entstehung vieler Goethe-Werke von der ersten Konzeption über mancherlei
Zwischenformen bis zur endgültigen Gestalt zu verfolgen. Aber das genaueste Erforschen
dieser Werdeprozesse bringt noch niemanden dem Quellpunkt des Goethe-Schaffens auch nur
um einen Schritt näher. Sonst müßten in den Goethe-Archiven in Weimar und Frankfurt fort-
während Kunstwerke vom Range des Faust entstehen, während in Wirklichkeit die sorg-
fältigste Goethe-Philologie sich niemals das Ziel setzen kann, dem Werke des Dichters auch
aur einen Vers hinzuzufügen. Auch der fertige Text einer Dichtung ist im genaueren Sinne
„Dokument“, d.h. erstarrtes Endprodukt von geistigen Prozessen, die sich jeder äußeren Beob-
achtung und Fixierung entziehen. Man hat „Goethe“ noch nicht, wenn man die Gesamtaus-
gabe seiner Werke besitzt und auch gelesen hat. Diese Dokumente sind wehrlos den Deutungen
und Urteilen, den Mißverständnissen und Verballhornungen der Gymnasiasten und Professoren
seit 150 Jahren ausgesetzt. Der Ursprung der umfassenden geschichtlichen Wirksamkeit
Goethes liegt im Unoffenbaren seiner Persönlichkeit, seiner Schicksalsvorbereitung, seines Zu-
sammenhanges mit der Welt des Geistes. Alle Geschichtswirkung ist das Ende eines Offen-
barungsprozesses. Ob es sich um die Konzeptionen Alexanders des Großen oder der Jungfrau
von Orleans, eines Kolumbus oder Edison, Dantes oder Goethes handelt, die Weltgeschichte
ist Zysammenwirken und Aufeinanderfolge von Offenbarungsakten in einzelnen Persönlich-
keiten. Die Idee ist der Ursprung aller Geschichte, das End- und Nebenprodukt der Geschichte
ist das Dokument.
Schließlich können wir an der Betrachtung Goethes noch einen weiteren Gesichtspunkt für
ansere Fragestellung gewinnen. Es ist bekannt, daß in Goethes Leben Momente mitspielten,
3ie er selbst und diejenigen, die sie hätten bezeugen können, in ‚vollkommenes Schweigen
höllten: Sein Leben in einer geheimen Gesellschaft und die Wirkungen, die er von dorther
erfuhr. Wir dürfen die Freimaurerei des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in ihrem
zeistigen Gehalt gewiß nicht überschätzen. Es bedurfte der unermeßlich empfänglichen Seele
Goethes, um aus einer Welt nur äußerlich überlieferter und geübter, aber tiefsinniger Symbole -
noch Anrezungen zu erfahren. Und nur das Auge Rudolf Steiners vermochte diese Einflüsse-
im ganzen Umfang zu entdecken. Aber schon den zutage liegenden Inhalten der Goethewerke
nach war es immer klar, daß gewisse Motive im „Wilhelm Meister“, in den „Wahlverwandt-
schaften“, in den „‚Geheimnissen“ usw. auf Goethes Logenzugehörigkeit zurückverweisen.
Man hat es jedenfalls bei diesem verschwiegenen Tatbestand des Goethelebens keineswegs nur

63
mit einer Angelegenheit der Konvention, der höfischen Etikette oder der gesellschaftliche
Nützlichkeit zu tun. Und darüber hinaus ist die Frage erlaubt, ob das Motiv der über di
Geschicke Wilhelm Meisters wachenden geheimen Gesellschaft etwa selbstbiographischen Cha-
rakter hat wie so vieles andere in diesem Roman; ob es also seinen Ursprung nicht- in der
Ahnung Goethes hat, selbst der Gegenstand eines solchen anonymen Interesses gewesen zu
sein. Wird doch in der Literatur des wieder auflebenden alchimistischen Interesses neuerdings
der Nachweis versucht, daß jener geheimnisvolle Mann, dem wir die Lebensretiung Goether
aus der schweren Krankheit am Ende seiner Leipziger Studentenzeit verdanken, ohne den
Goethe also ein namenloser frühverstorbener Student geblieben wäre, einem solchen Verbande
angehörte.
Wir würden dann auch in Goethes Leben auf eine jener Gestalten stoßen, wie sie aus den
Biographien Taulers und Jakob Böhmes bekannt sind; über deren Wirken nicht erst Schweigen
vereinbart oder geboten werden muß, weil sie sich selbst sofort wieder dem Lichie der Beob-
achtung und der Historie entziehen, wie sie gleichsam aus dem Boden gewachsen für einen.
Augenblick aus ihrer verborgenen Existenz hervorgetreten sind. — So kann uns der Blick
selbst auf eine historisch so scharf umrissene Gestalt wie Goethe lehren, welche Grenzen der
dokumentarischen Fixierung und F orschung nach allen Richtungen hin gezogen | sind. |
Dokumente ergeben bestenfalls Schattenrisse geschichtlicher Persönlichkeiten und Ereignisse.
Die Beispielnahme an Goethe kann nun selbstverständlich nicht bedeuten, daß er mit
Christus auch nur verglichen werden könnte; vielmehr, daß Einsichten, die schon an einem
‚ Repräsentanten des menschlichen Geisteslebens gewonnen werden können, in einem unver-
‘ gleichlich gesteigerten Maße gelten müssen gegenüber einem Wesen, dessen Verhältnis zur
leiblichen Erscheinung, zur Zeit, zur Geschichte, zur Welt ein übermenschliches, einmaliges
gewesen ist. Keinem Angehörigen der christlichen Urgemeinde ist es eingefallen, etwa in der
äußeren Gestalt des Christus-Jesus, in seinem Angesicht im selben Sinne den Ausdruck seines
Wesens. zu sehen wie bei einem Menschen. Keiner hat dem Versuch gemacht, ein Porträt
Christi zu erhalten“ Und wenn schon Johannes Tauler nicht auf den Gedanken kam, etwa
eine Biographie des „Meisters“, des „Gottesfreundes vom Oberland“ zu schreiben, der in seine
geistige Existenz so nachhaltig eingegriffen hat, kann es wundernehmen, daß keiner der
Jünger eine Christusbiographie aufgezeichnet hat; oder gar, daß die zeitgenössische römische
und jüdische Geschichtsschreibung keine Notiz von Christus genommen hat? Christus ist im
heutigen Sinne der „Geschichtlichkeit“ ein vollkommen Verborgener geblieben. Nur eine völlig
gott- und geistverlassene Zeit konnte auf den Gedanken kommen, die Evangelien für
historische Schriften zu halten, die aus verschiedenen Sammlungen von Überlieferungen und
Legenden entstanden seien wie ein modernes Geschichtswerk aus dem Zettelkasten eines
Historikers. Alle historische Evangelienkritik war ebenso geistreich, als wenn man dem Ein-
horn vorgeworfen hätte, daß es kein Esel ist. Und die Bestimmung des Alters der Evangelien
aus ihren ersten Nennungen in der Literatur ist ebenso logisch, als wenn‘ künftige Literar-
historiker annehmen, die Gesänge Stefan Georges auf Maximin könnten nicht früher ge-
schrieben sein, als sie über einen engsten Schülerkreis hinaus bekannt geworden sind.
Die Evangelien setzen erst an dem Punkte des Christus-Jesus-Daseins mit ihren zusammen-
hängenden Mitteilungen ein, wo eine Biographie im gewöhnlichen historischen und mensch-
lichen Sinne hätte aufhören müssen: bei der Jordantaufe. Also dort, wo Jesus aufhörte, sich
als Mensch selbst zu gehören, aus seinem persönlichen Schicksal zu leben, aus seiner eigenen
Erkenntnis zu sprechen, aus seinem eigenen Willen zu handeln. Gegenstand der Evangelien ist
allein die Gottesoffenbarung, das Gotteshandeln. Der größte Dichter, der genialste Geschichts-
schreiber könnte sich nicht vermessen, diesem Gegenstand gerecht zu werden. Die unmögliche
Kongenialität mit diesem Gegenstand ist der Menschheit dadurch erspart worden, daß die

64
Evangelien selbst ein Teil der Offenbarung sind. Sie konnten auf keinem anderen Wege
zustande kommen. a . |
Schlagen wir einmal auf: Zuerst die Jordantaufe. Gewiß, es ließe sich denken, daß es davon
Berichte gegeben hat. Scharen von Menschen zogen. hinaus zu Johannes dem Täufer. Seine
Rede, seine Taufakte waren öffentlich. Davon konnte viel erzählt und vielleicht lange über-
liefert werden. Dann kam einmal ein unbekannter dreißigjähriger Mann. Bei seiner Taufe
ereignete sich etwas Besonderes. Der Geist fuhr in.Gestalt einer Taube auf ihn herab. Wer
hat das wahrgenommen und berichtet? Offenbar nur Johannes der Täufer. Und er mußte zu
dieser Wahrnehmung und zu ihrer Beurteilung auf besondere Art vorbereitet sein (Joh. 1,35).
Mit den gewöhnlichen Sinnesorganen war nichts besonderes zu beobachten. Wer etwa sonst
anwesend war, hätte nichts bemerkt. Aber Johannes nahm seine übersinnliche Wahrnehmung
En

sogleich in seine Predigt auf. So also wurde das Ereignis bekannt und konnte überliefert
werden: Der Christus war in dem Täufling erschienen. Klar ist aber, daß der äußere Tat-
bestand der Täufertätigkeit des Johannes einer anderen Ebene der „Geschichtlichkeit“ an-
gehört als die Erscheinung der „Taube“ und der 'Gottesstimme. Schon für das Ausgangs-
ereignis des Christuslebens im Menschenleibe kann es keine Augenzeugenberichte, keinen
historischen Beweis, keine äußere Dokumentierung geben. Das Annehmen der Johannesbot-
schaft setzt einen Akt des Glaubens oder Erkennens voraus, der zur Wahrheit des Neuen
_ Testamentes in ein unmittelbares inneres und dynamisches Verhältnis setzt. Eine Erweiterung
der Konzeptionsfähigkeit der Seele ist die Voraussetzung für die Beziehung zur Epiphanie
des Christus. So wird von vorneherein klar, daß die „Wahrheit“ der Evangelien sich niemals
auf mechanische Weise durch historische Erhärtung bekunden kann, sondern daß sie innerlich
realisiert werden muß.
Auf eine noch andere Ebene gehört das nächste Bild des Evangeliums: Die Versuchung
Christi. Fragt man sich, wer dieses Ereignis hätie bezeugen und überliefern sollen, so kommt,
man überhaupt zu keinem Ergebnis mehr. Schon der Wortlaut der Evangelien (Matth. 4 und
Luk. 4) gibt an, daß Christus „im Geiste in die Einsamkeit“ versetzt war. Die Ortsangaben
„Wüste“, „Zinne des Tempels“, „sehr hoher Berg“ gehören ohne Zweifel einer geistigen Topo-
graphie an und sind nicht geographisch zu verstehen. Es gab also ganz bestimmt keine mensch-
lichen Augenzeugen dieser Vorgänge. Und es widerspräche ebenso jeder spirituellen Wahr-
scheinlichkeit, wie es auch nirgends im Evangelium verlautet, daß Christus se!bst etwa diese
- allerintimsten geistigen Erlebnisse dann erzählt hätte. Wie konnte also dieses Ereignis Be-
standteil des Evangeliums werden, wenn man nicht die aller-kindischste Annahme. einer hinzu-
gefügten frommen Legende teilen will? Nun, Matthäus gibt ja trotzdem „Augenzeugen“ für
diesen Vorgang an: nach der Abweisung der dreifachen Versuchung „traten die Engel zu ihm
und dienten ihm“. Hier wird also ganz deutlich, aus welchem Bewußtsein die Evangelien ent-
stammen. Sie wissen auch über Ereignisse auszusagen, die nur von den Engeln erlebt und
gewußt werden konnten,
So müßten wir zunächst unter dem yon außen an die Evangelien herangetragenen Gesichts-
punkt ihrer „Geschichtlichkeit“ gelten lassen, daß wir darin dreierlei Bestandteile zu unter-
scheiden haben: solche, die man wie Berichte äußerer Ereignisse lesen kann; solche, die sich
die
nur vor dem erschlossenen Geistesauge menschlicher Teilnehmer vollzogen, und so!che,
durch sich selbst jede unmittelbare menschliche Teilnehmerschaft ausschließen, die nur dem
Bewußtsein Christi oder der Engel entstammen können. Wir würden aber einem schweren
Irrtum unterliegen, wenn wir bei diesem Gesichtspunkt einer Art von Kongiomerat gegen-
über den Evangelien stehen bleiben würden. Ihr Bewußtseinsstandpunkt ist vielmehr ein
absolut einheitlicher. Er liegt im Engelreiche, in der übersinnlichen Welt. Nur betrifft er eben
Ereignisse, die sich zum großen Teil nach außen hin in völliger physischer Sichtbarkeit voll-

65
zogen. Das Geheimnis der Evangelien liegt auch darin, daß sie für die Wesen
der übersinn-
lichen Welt etwas Einzigartiges bedeuteten. Sie verfolgten und bezeugten darin die Offen-
barungen, die Taten, die Leiden einer Gottheit, die Mensch geworden war
und in die Ge-
schichte und in eine irdische Landschaft eingetreten war. Was dem gemeinen
Verstande an
den Evangelien als der faßlichste, einfachste historische “Aspekt erscheint, ist in Wahrheit ihr
letztes und tiefstes Geheimnis. Dieser Aspekt ist für das Bewußtsein der Evangelie
n selbst
nicht der erste, vordergründige, sondern der letzte, erstaunlichste, besondere. Was
in den
Evangelien an Landschaften, Menschen, geschichtlichen Umständen, physischen Tatsachen
er-
scheint, das tritt in das Gesichtsfeld so, wie der Wächter eines Leuchtturms weit draußen
auf
dem Meege ein Schiff gewahrt, wenn er mit dem Blicke dem Lichtkegel folgt. Es erscheint
in
dem Lichte, das er selbst erst aussendet. Und das ist für jeden tieferen Blick der Charakter
der „historischen“ Ebene der Evangelien: Sie ist von der Lichtseite her gesehen, nicht von
der
Silhouettenseite der „Dokumente“. Das Geschichtliche ist hier der Gegenstand der Offen-
barung.
Man sehe doch einmal mit wachem Auge zu: Die Gestalt Christi selbst tritt anch in der
ganzen Folge der Evangelienbilder immer wieder wie eine „Erscheinung“ auf, wenn auch als
. Erscheinung im Leibe. Seine Leiblichkeit selbst ist als Inhalt und Besiegelung seiner Offen-
barung gesehen. Die Evangelien wollen keine Biographie geben, sondern sie erschweren sie
geradezu. Die Angaben von Ort und Zeit, von Namen folgen eben nicht den Gesetzen der
Geschichtsschreibung. Man wird immer enttäuscht und unbefriedigt bleiben, wenn man den
Evangelien ein „Leben Jesu“ entnehmen will. Denn dazu gehört das Vermögen, auch die-
jenigen Teile des Evangeliums erst auf die Ebene des Geschichtlichen zu übertragen, die dem
naiven Blick schon als „historisch“ erscheiuen. Und man stelle sich einmal die Frage, wo und
wie Christus in den Pausen zwischen den Evangelienbildern gelebt hat, um gewahr zu werden,
daß eine äußerlich zusammenhängende oder fortlaufende Berichterstattung gar nicht vorliegt;
daß vielmehr in den Evangelien das biographische Element ebenso ausfällt, wie die ersten
dreißig Lebensjahre verschwiegen sind; und daß andererseits über die Evangelieninhalte
hinaus noch „viele andere Dinge“ sich abspielten, die erst noch „zu beschreiben wären“.
Wir können auch aus dem Umstand leriien, daß Christus sich in seinem Wirken nicht des
Schreibens bedient hat. Er hat keine „Dokumente“ in diesem Sinne geschaffen und hinter-
lassen. Er wollte nicht die Möglichkeit eröffnen, uns durch Dokumente dieser Art mit ihm in
Beziehung zu setzen. Aber was in seinem Wirken dem menschlichen Schreiben entsprach, das
ist in einem gewaltigen Bilde mitgeteilt: er schreibt die Schuld der Ehebrecherin in die Erde.
Und diese Schuld ist nicht das Einzige, was er der Erde eingezeichnet hat. Die „Schriftzüge“
seines Willens und Handelns sind der Erde eingeprägt. Hier sind die Dokumente, die Spuren
seines Wirkens bis an das Ende der Zeiten.
Die‘ Frage nach der Geschichtlichkeit der Evangelien kommt schließlich bei den Oster-
ereignissen an den entscheidenden Punkt. So klar es ist, daß erst die, Auferstehungstatsache
den Kreuzestod wie den ganzen Erdenwandel Christi gleichsam entsiegelt, so deutlich gehen
die Evangelien dabei in die Metahistorie, in die Über-Geschichte ein. Denn nach der Grab-
legung geschehen nur noch „Wunder“, die sich jeglicher sinnlichen Wahrnehniung entziehen.
Aber selbst die Jünger haben erst dadurch erkannt, wer im Leibe unter ihnen gewandelt war.
Das äußere Gedächtnis an die drei Jahre wäre unzureichend gewesen, das Verhältnis der
Jünger zu Christus zu begründen. Dieses Verhältnis ist erst im Osterlichte entstanden, während
die Jüngergestalten in den Evangelien vorher gerade bei den wichtigsten Ereignissen als nicht-
verstehend, zweifelnd, kleinmütig, schlafend, verratend oder überhaupt abwesend erscheinen.
Die christliche Menschheitsbewegung ist von den Offenbarungen des Auferstandenen aus-
gegangen, zu denen auch die Evangelien gehören. Sie nahm’ ihren Ursprung in den Ereignissen

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auf Patmos und vor Damaskus und in der Inspiration der Evangelisten, während z.B. der Ge-
dächtnisinhalt der Urgemeinde von Jerusalem weder weltgeschichtlich wirksam wurde noch
seine Träger überlebte. - "
Was aber die „Geschichte“ des menschgewordenen Gottes, die Taten des Christus im Leibe,
in der Zeit, an der Erde waren, davon werden erst die Bausteine des neuen Jerusalem Kunde
tragen.

Die Rückschau des Christus


Kurtvon Wistinghausen

Wem ein geliebter Mensch stirbt, dem verdunkelt sich die Welt. Alles Irdische, ja selbst
das Licht der Sonne scheint ihm schwarz verhangen — mit der Farbe der Passionszeit. Schwer -
lastet die Grabplatte. Einen ersten Trostschimmer aber bietet die Erinnerung an den Hin-
gegangenen. Das mit ihm Erlebte pietätvoll zu bewahren, es zu deutlichen Bildern auszu-
gestalten und in denselben zu leben, wird unwillkürliches Streben. — Damit vollzieht der
Hinterbliebene etwas, was ähnlich und noch viel wirklicher in der Seele des Sterbenden selbst
vorgeht, wie die geisteswissenschaftliche Forschung berichtet. In der Todesstunde wurde auch
ihm die Welt dunkel verhangen. Aber der Vorhang lüftete sich dann. Zart wie aus Äther hin-
gehaucht und doch überwältigend eindrucksvoll ward ihm in den ersten drei Tagen nach dem
Tode das Buch der Erinnerungen aufgeschlagen. In Bildern der Sinneswelt, aber doch schon
überstrahlt vom Glanz der Ewigkeit, erscheinen sie der Rückschau, in ihrer Frische und
Farbigkeit gemähnend an die Eindrücke des kleinen Kindes, das mit erwachenden Sinnen seine
irdische Umwelt ergriff. Und während die gewöhnliche Erinnerung beim dritten Lebensjahr
Halt macht, reicht diese Rückschau hin bis in die zartesten Tiefen erster Kindheit. — Eine
erste Kunde vom ewigen Wesen des Toten empfängt der Hinterbliebene, wenn er in diesen
ersten Tagen nach dem Abschied die Lebensrückschau in. Liebe nacherlebt. —
Als Christus am Kreuz gestorben war, hatten Jünger, Jüngerinnen und Fernstehende
gleichermaßen erlebt, wie’es in der Welt dunkel ward, wie die Sonne ihren Schein verlor und
die Erde erbebte. Joseph von Arimathia hatte den Leib des Herrn in das Grab gebettet und
den schweren Stein vor die Öffnung gewälzt. In der unermeßlichen Trauer war es der erste
Trost, sich seiner Erdentaten zu erinnern, das unerhört und gemeinsam Durchlebte sich zu
vergegenwärtigen. Die Erinnerung zu pflegen, nichts davon zu verlieren, war auch das tiefere
Anliegen der Frauen, die in der Morgenfrühe des Ostertages zum Grabe eilten, seinen heiligen
Leib zu salben.
Sie befanden sich dabei im Einklang mit dem Erleben des Gekreuzigten selbst, in dessen
Geiste sich nun etwas Ähnliches, zugleich aber ungleich Größeres und Helleres entfaltete als je
beim Tode eines Menschen: das Lebensbuch des Christus, die Rückschau des Gottes auf seinen
Erdenwandel. Der unbeschreibliche Tod am Kreuz, die Marter der Leidensstufen, Gethsemane,
die Abschiedsreden und das Abendmahl, das Sprechen aus dem Geist, die Heilungen, die Ver-
klärung, die Wunder, die Jüngerfindung, die Versuchung, die Sendung durch die Jordantaufe.
Und dann die Gespräche mit der Mutter, das Ringen um das Leid.der Menschheit, die Jugend,
die Tempelstunde .des Reifenden, die Kindheit, die Weihenacht ..., Unaussprechliches.
Was sich in der Zeitspanne der „drei Tage“ zwischen Kreuzestod und Auferstehung heilig
entfaltet im Rückschauen des Todüberwinders: es ist ‚der Inhalt, ja es ist das Urbild der
Evangelien. Weit umfassender und weisheitsvoller noch als das, was davon aufgezeichnet ist.
nach dem
„Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; so sie aber sollten eins
die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben
andern geschrieben werden, achte ich,

67
wären.“ Das Johannesevangelium weist durch diese Worte hin auf die Gesamtschau des alles
Geschehene Überschauenden selbst, auf das „Evangelium Aeternum‘“, dessen Abglanz im
schwachen Menschenworte die geschriebenen Evangelien sind.
Während beim Tode eines gewöhnlichen Menschen das eigne Lebensbuch sich nach drei
Tagen von seiner zur Vergeistigung emporschreitenden Individualität abtrennt, um sich auf-
zulösen, und nur das Wichtigste, wirklich einprägsam Echte daraus übernommen ‚wird in das
große ätherische Lebensbuch der Welt, das die wahren Namen und Taten der Menschen ent-
hält — bleibt nach der Auferstehung Christi das heilige Buch seiner Erinnerung beieinander.
Denn es bildet nahtlos ein Ganzes und besteht aus lauter ewig-wahren Gedanken, nicht ver-
gehenden Worten und Taten, die sich dem Lebensgefüge der Erde einverleiben. Schauende
haben darin „lesen“ und aus diesem wichtigsten Dokument der Erde — als die Evangelisten —
„abschreiben“ können. So nämlich sind die Evangelien entstanden. Aber das Ewige Evangelium
ist nicht nur eine Geistes-Chronik, es bildet auch das lichte Kleid des Auferstandenen, in
welchem dieser als Engelwesen unter den Menschen weilt, oder, um im Bilde der Offenbarung
Johannis zu sprechen, den vierfach von den Kraftwesen Löwe, Adler, Stier und Mensch ge-
tragenen Thron des Menschensohnes.
Das Gedächtnis an sein Leben hat Christus hinterlassen. Es besteht aus zwar geschichtlichen,
dennoch aber fortschreitend gegenwärtigen Ereignissen, die vom Suchenden mit der Seele ge-
funden werden können. Deshalb sind sie das ewig. neue. „Testament‘‘ des Menschengottes.
Bleibend sind sie nicht durch Tradition oder dogmatische Festlegung, auch nicht durch
pietistische Pietät gegenüber dem Wortlaut der Bibel, sondern durch ihren Ewigkeitscharakter.
Die Worte Christi stellen nicht nur Hinweise auf etwas Übersinnliches dar, sondern sie sind
selbst so etwas wie lebende Wesen, sind — nach einem Wort Fr. Rittelmeyers — Engel des
Kleide von Worten. In der Todesrückschau Christi erhielten die einst gesprochenen Worte und
vollbrachten Taten ihre neutestamentliche ätherische Lebenskraft und wurden zu beschwingten
Boten, hinausgesandt in die Welt. Nun waren sie wahrhaft „Kunde aus dem Engelreich“ ge:
worden: Evangelium. Novalis spricht in seiner großen dichterischen Hymne an die Nacht von
den „Träumen“ des am Karsamstag im Grabe Ruhenden. „Entsiegelt ward das Geheim-
nis — himmlische Geister hoben den uralten Stein vom dunklen Grabe. Engel saßen bei dem
Schlummernden — aus seinen Träumen zartgebildet...“
Dieses Ewige Evangelium webt und lebt dicht jenseits der Schwelle des Todes. Es leuchtet
den verstorbenen Menschen, die ihre eigene Lebensrückschau aus dem Seelenauge verlieren
und ins Dunkel zu sinken drohen. Wenn drei Tage nach dem Tode ihr Leib in die Erde ver-
senkt wird, ist auch das Erinnerungslicht ilirer Seele weitgehend erloschen. Nun aber dürfen
die Verstorbenen die überpersönlich gültigen, ewig lebendigen Bilder des Christuslebens an-
schauen und ihr verflossenes persönliches Leben in ihrem Lichte sehen. Das Ewige Evangelium
ist jetzt ihr Engelstrost und ihr Beistand. Die Bestattungsfeier, wie sie von der Christengemein-
schaft. zu diesem Zeitpunkt am Grabe zelebriert wird, ist ein Hinweis und ein liebendes Hin-
tragen der leibfrei gewordenen Seele auf die Christusschau zu. Und wenn dann am Samstag
darauf, in ehrfürchtiger Wiederholung der weltengroßen Stimmung des Karsamstages, . die
Totenweihehandlung für den Verstorbenen gefeiert wird und die Trauergemeinde sich zum
Anhören des Gotteswortes erhoben hat, ertönt vom Altar das Oster-Evangelium (Markus 16)
vom verklingenden Karsamstag, von der Begegnung der zum Ostergrabe eilenden Frauen mit
dem Engel, den sie an Stelle des Christusleibes vorfinden, und vom Hinweis dieses Engels auf
die heilige Rückschau Christi: „Saget den Jüngern, daß er euch vorangeht nach Gali!äa: Dor
werdet ihr ihn schauen.“ Während der Herr im Grabe ruhte, ist er ihnen geistig voran
gewandert durch alle jene heiligen Stationen zum Ausgangspunkt seines Erdenwirkens hin
Im anschauenden „Zurückwandern“ durch die Ereignisse bis in die Jüngerheimat, wo sie ih

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einst begegnet sind, werden seine Schüler das Schauen des Christus lernen, das Mitleben des
Ewigen Evangeliums. Gleichermaßen lernen es im Hören des Evangeliums die Christen
unserer Zeit.
Und alle Toten hören das gleiche Evangelienwort immer wieder mit der lebenden Gemeinde
Botschaft an jedem Osterfest: „Er ist auferstanden und nicht
als festlich triumphierende
hier... Ihr werdet ihn schauen, wie er es euch vorausgesagt hat.“

‘ Der wunderbare Fischzug


Rudolf Frieling

im letzten
Eine der Oster-Geschichten in den Evangelien ist der wunderbare Fischzug, der
ms erzählt wird (Joh. 21). Merkwürdi gerweise gibt es dazu
Kapitel des Johannes-Evangeliu
eschichte, die ganz ähnlich ist, die aber nicht nach
ein Gegenstück: noch eine zweite Fischzug-G
früher, noch am Anfang des Christus-W irkens. Sie wird
der Auferstehung spielt, sondern viel
von Lukas berichtet (Luk. 5, 1—1]).
zweier so
Die moderne Kritik, die äußerlich an das Evangelium herantritt, ist. angesichts
daß man
eng miteinander verwandter Erzählungen rasch mit der Auskunft bei der Hand,
zu tun habe. Es handle sich ganz offenbar um ein und
es da eben mit einer „Doublette“
der Auf-
dieselbe — sagen wir gleich „Legende“, die von Johannes in den Zusammenhang
t hinein-
erstehungs-Erscheinungen eingereiht wurde, während sie bei Lukas in die Anfangszei
geraten sei.
Eine so!che oberflächliche Betrachtungsweise kann dem Evangelium nicht gerecht werden.
in Ruhe anschauen,
Man muß sich nur einmal die Zeit wirklich nehmen und beide Berichte
um zu sehen, daß da charakteri stische und bedeutsam e Unterschie de bestehen.
Christi.
Das 5. Lukaskapitel führt uns in jenen ersten „galiläischen Frühling“ des Wirkens
Er besteigt das
Es mag in der Nach-Osterzeit sein. Der Christus verweilt am See Genezareth.
“. So,
Fischerboot des Simon Petrus und fordert ihn auf, „ein wenig vom Lande abzustoßen
er zu Petrus:
vom Schiffe aus, spricht er zur Volksmenge, die sich am Ufer drängt. Danach sagt
— Gemeint ist
„Fahre hinaus auf die Höhe.“ Ganz wörtlich im Griechischen: auf die „Tiefe“.
ist und wo der See
das Gleiche, die Mitte des Sees, wo man vom Ufer am weitesten entfernt
die ganze
die größte Tiefe hat. Dort sollen sie ihre Netze auswerfen. Petrus sagt: „Meister,
nichts gefangen. Aber auf dein Wort hin
Nacht hindurch haben wir uns abgemüht und haben
en Fischzug. Er bringt ihnen eine
will ich die Netze auswerfen.“ Darauf tun sie den wunderbar
zerreißen. Das andere Boot muß herbeikommen, um die Beute
solche Fülle, daß die Netze
die Schiffe drohen zu sinken. Petrus fällt vor dem Christus nieder und
bergen zu helfen,
spricht: „Herr, gehe hinaus von mir, ich bin ’ein sündiger Mensch!“ —
e
Zur Zeit dieses Fischzuges liegt die Jordantaufe noch nicht weit zurück. Bei der Jordantauf
eingezogen , aber er muß ihn erst noch
ist der Christus in den Leib des Jesus von Nazareth
als daß er sich im
völlig ergreifen und durchdringen. Er ist noch mehr ein Himmelswesen,
schon beheimatet hätte. Die große „Transformation“ seiner göttlich-kosmischen
Irdischen
im Erdentod auf Golgatha
Kräfte in menschlich-irdische hat erst begonnen, sie wird sich erst
ganz vollenden können. Noch ist ihm das Irdische ein fremdes Element.
Aggregatzuständen
Es ist nicht zufällig, daß von den vier Elementen (heute würde man von
„Erde“ trägt. Als ob unser Erdplanet nur im Bereich des festen
sprechen) eines den Namen
wir sie ja auch
Elementes so richtig er selber wäre. Als ob die anderen Elemente, obwehl
Sinne der Erde angehörig wären. In der Tat, was auf
auf Erden vorfinden, nicht in demselben
so durch und durch irdisch. Es ist wie das Hereinrag en einer
Erden Wasser ist, das ist nicht

\ ‚69
feineren Daseinsweise, die fiuidai ist, beweglicher und durchdringlicher. Das Flüssige kann auf
Erden feinen überirdischen Lebenskräften als Vehikel dienen, es ist zugleich im Irdisch-Sicht-
baren deren Bild und Gleichnis.
Der Christus hält sich immer wieder am See auf. Als nicht-irdisches Wesen fühlt er sich
diesem Meeres-Element gleichsam heimatlich vertraut. Es ist so, als ob der See es ihm leichter
machte, seine höheren Kräfte zu betätigen. Wenn er sich zur See-Predigt von Petrus „ein
wenig vom Lande abstoßen“ läßt, so braucht das nicht nur eine praktische Maßnahme tech-
nischen Charakters zu sein, um von der Menge unbedrängt aus günstiger Position zu ihr
sprechen zu können. Man könnte sich denken, daß damit etwas von dem Druck der irdisch-
körperlichen Existenz von ihm .weggenommen wird. Und nun steigert sich das noch: „Fahre
hinaus auf die Höhe des Sees!“ Wieder könnte man sich denken, daß da mit jedem Ruder-
schlag vom Ufer weg etwas von dem Beklemmenden des Physisch-Inkarniert-Seins von ihm
abfällt. Da draußen, wo der Einfluß der festen Erde am wenigsten spürbar ist, kann er seiner
angeborenen göttlich-kosmischen Wesenheit besser inne werden und ihre Kräfte besser ent-
falten. „Auf der Höhe des Sees“ schließt er den Jüngern den verborgenen Reichtum des
Meeres auf.
Das ist es, was die Jünger da an ihm erleben: daß er eigentlich ein Himmlischer ist, der aus
unerschöpflicher Fülle die Gaben einer übersinnlichen Welt zu spenden vermag. Der große
Fischfang, mag er sich nun auch physisch zugetragen haben, was durchaus denkbar ist, oder
mag es sich um ein bildhaftes Schauen der Jünger in einer Art Entrückungszustand gehandelt
haben,. er wird zum Bildausdruck dieses Erlebnisses. — Die Jünger haben die ganze Nacht
vorher nichts gefangen. Ihre Netze sind leer geblieben. Das wird zum Sinnbild dafür, wie der
Mensch nicht mehr imstande ist, dem nächtlichen Eintauchen seiner Seele in das Meer des
übersinnlichen Lebens etwas für sein Tagesdasein abzugewinnen. Er bringt aus der höheren
Welt keine1 Morgen- Inspirationen mehr herüber. Der Christus verhalf den Jüngern zu einem
neuen fruchtbaren Verhältnis zum Übersinnlichen.
In einem Goethe-Gedicht finden sich — in einem ganz anderen Zusammenhang — Verse,
die etwas von dieser Himmels-Stimmung eines Sees wiedergeben, und in denen auch etwas
vom,See Tiberias lebt: „Blauliche Frische / Himmel und Höh / Goldene Kai / Wimmeln
‚im See.“
Daß dort draußen auf der Höhe des Sees die Jünger etwas vom Überirdisch-Himmlischen
des Christus-Wesens verspürt haben, das ihnen als das „ganz Andere“ ihrer dunklen belasteten
Erden-Natur fühlbar wurde, befremdlich, beängstigend, richtend — das geht aus dem Petrus-
Wort hervor: „Herr, gehe hinaus von mir, ich bin ein sündiger Mensch!“ Eine so tiefgehende
innere Erschütterung hätte von einem nur äußerlichen Geschehnis, von einem unerwartet er-
folgreichen Fischfang allein wohl kaum ausgelöst werden können. — Aber die Jünger sind
dem großen Augenblick, wo sich ihnen wie durch ein Aufleuchten des himmlisch-kosmischen
Christusgeheimnisses der verborgene Reichtum eröffnet, nur unvollkommen gewachsen. Sie
“ können nur einen Teil der Beute bergen. „Die Netze zerreißen.“ Wer kennt nicht jenes Zer-
rinnen und Sich-Verlieren eines bedeutsamen Morgentraumes, von dem man vielleicht nur
noch ein paar Fetzen ins Diesseits des Tagesbewußtseins herüberrettet?' Eine solche Erfah-
rung kann uns einen Fingerzeig geben, in welcher Richtung dieses „Reißen der Netze“ ver-
standen werden könnte. &

Zu diesem Fischzug aus der Zeit der galiläischen Anfänge steht der andere Fischzug nach
der Auferstehung in einem geheimnisvollen Spiegelungs- Verhältnis. Es kehrt ein Erlebnis
wieder, das die Jünger zu Beginn ihrer ‚Apostellaufbahn haben durften. Aber es zeigt jetzt
bedeutungsvolle Abwandelungen.

70
die im letzten Johanneskapitel erzählt wird, ist es so, daß die
Auch bei der Begebenheit,
leer geblieben.
Jünger die Nacht über vergeblich ihre Netze ausgeworfen haben. Die Netze sind
zu einem reichen Ertrag. Aber diesmal ist er nicht mit
Wieder verhilft ihnen der Christus
Schiff. Diesmal steht er am Ufer. Dort sehen sie ihn, indem sich das Schiff im \
ihnen auf dem
Netz „zur Rechten“ auszu-
Morgengrauen dem Lande nähert. Er gibt ihnen die Weisung, ihr
der Evangelist betont es aus-
werfen. Daraufhin tun sie den großen Fischzug. Diesmal —
Land. Dort hält der Christus
drücklich — reißt das Netz nicht. Petrus zieht es unversehrt ans
_ mit ihnen das Frühmahl. —
des Auferstandenen.
Diesmal ist das Fischzug-Erlebnis verbunden mit einer Erscheinung
und Himmelfah rt. Der Auferstandene er-
Es ist die Zeit der vierzig Tage zwischen Ostern
da aus, vom Land aus, bewirkt er das Wunder der Meer-
scheint als am Ufer stehend. Von
dem Ereignis von Golgatha
Erschließung. Darin offenbart sich die große Wandlung, die seit
stand zunächst außerhalb des Todes-Schicksals.
eingetreten ist. Der Christus als Himmels-Gott
Nun hat er ihn in seinen göttlichen Erleb-
Er kannte sozusagen von Haus aus den Tod nicht.
chaft zum Erdenmens chen hergestellt,
nisbereich aufgenommen. Dadurch hat er die Verwandts
wahrhaft mitteilen können. Jetzt erst, nachdem er
die notwendig ist, wenn er sich ihm soll
Erdenmens chen eigentümli ch ist, ist er geworden wie
durch den Tod geschritten ist, der dem
Wirklich „Brüder“ nennen (Joh. 20, 17). Die große
unsereiner und kann die Seinen nunmehr
Fuß gefaßt. Von der Erde ans
Transformation ist vollzogen. Der Himmlische hat auf der Erde
zu. Von der Erde aus macht er nun den Seinen
schickt er nun den Jüngern seine starke Kraft
die aufbauend e Nahrung gewährt für den
die übersinnliche Welt ergiebig, so daß sie ihnen
in den Jüngern anspricht, wenn er sie
zarten Geistkeim im Erdenmenschen, den der Christus
fragt: „Kindlein, habt ihr nichts zu essen?“ (21,5).
Mit diesem Erden-Geheimnis des Mysteriums von Golgatha hängt es auch zusammen, -daß
Netz „zur Rechten“ auszuwerfen. Mit der rechten
der Auferstandene die Weisung gibt, das
Die rechte Hand ist normalerweise
Seite sind wir mehr bewußt-aktiv dem Irdischen zugekehrt.
e“, die den Auftrag hat, den
die geschickte, das heißt die in die Stoffeswelt hinein „geschickt
die Menschen in alter Zeit mit dem
Erdenstoff zu ergreifen und tätig umzugestalten. Wenn
sie sich mehr dem Instinktiv-
Übersinnlichen in Verbindung konımen wollten, überließen
damals richtig. Damals gab es
Dunklen, dem dämmerig Träumenden in ihrem Wesen. Das war
sozusagen das Netz anf der
der Herr den Seinen im Schlafe, ohne ihr Zutun. Da warf man
Irdische ergreifen, daran ent-
linken Seite aus. Inzwischen lernte der Mensch immer mehr das
äfte. Diese Energien
wickelte und übte er ganz neue Wachheits- und Selbstbewußtseins-Kr
Sphäre verbleiben. Der Erden-
dürfen nicht ungeheiligt außerhalb der religiös-übersinnlichen
ckelt, muß lernen, sein
mensch, wie er sich in unserer Weltenzeit immer mehr heranentwi
dient, umzuwandeln in ein
Wach-Sein. das allzuoft recht unheiligen egoistischen Interessen
kommt, seine errungene Bewußitsei nsklarheit und Be-
heiliges Wach-Sein. Wenn er nicht dazu
Welt entgegenzu tragen, können ihre Gaben den Weg zu
sonnenheit in Ehrfurcht der höheren
entstanden e Selbstbewu ßtsein kann in „selbstlose
ihm immer weniger finden. Das im Irdischen
selbstlose Ichheit ist das Organ für die Welt des
Ichheit“ umgewandelt werden, und diese
den Umgang mit dem Übersinnlichen
Christus. Die Kräfte auch der „rechten Seite“ sollen für
den Jüngern an, wenn er sagt:
erobert werden. Diese Kräfte ruft der Auferstandene in
„Werfet das Netz zur Rechten aus.“
an Land gebracht
Damit hängt ferner zusammen, daß diesmal die ganze Fülle des Ertrages
der Menge der großen
werden kann. Indem der Evangelist mit Betontheit vermerkt, daß trotz
d zu jenem anderen
Fische „das Netz nicht zerriß“ (21,11), will er offenbar den Unterschie
nicht den Charakter des nicht ganz zu Be-
Fischzug hervorheben. Diesmal hat der Vorgang

ı
wältigenden, des in Gefahr Bringenden (die Netze reißen, die Schiffe
drohen zu sinken). Da:
volle Netz wird unversehrt geborgen.
Das Zuwachsen von Wachheits-Energien macht sich auch darin bemerkba
r, wie die Jünger
allmählich zur vollen Erkenntnis der Christus-Wirklichkeit gelangen.
Zunächst ist das Ganze
noch mehr wie ein dämmernder Morgen-Traum. Sie wissen anfangs
nicht, wer die Gestalt
am Ufer ist (21,4). Dahinein zuckt wie ein heller Blitz das Erkenntn
iswort des Johannes:
„Es ist der Herr.“ Dr. Rittelmeyer wies einmal darauf hin, wie dieser Satz dreimal in der Er-
‚zählung erklingt (21, 7, 7,12), und wie die griechischen Worte „ho Kyrios
estin“ zugleich den
Neben-Sinn haben: „der Herr is t“. Diese Johannes-Erkenntnis, daß
man die Wirklichkeit des
Auferstandenen vor sich habe, greift zuerst auf Petrus über,
dann auch auf die anderen
Jünger, wenn es bei ihnen auch’ zunächst noch ein seltsam traumbefangenes
Nebeneinander von
Nicht-Wissen und Doch-Wissen ist (21, 12). Dann aber „kommt“ der
Aufersiandene (21, 13)
und hält mit ihnen das Mahl. Er „kommt“, er offenbart sich noch
stärker als voll-wirklich, er
wird für die Jünger gleichsam noch „seiender“. Und zwar vollzieht
sich das im Zusammen-
hange mit dem sakramentalen Geschehen des Frühmahles. — In „Brot und
Fisch“ sind die
Gaben der Erde und des Meeres miteinander verbunden. Das Irdische wie
das Himmlische
gibt durch Christus seinen Beitrag her zum Aufbau des Menschenwesens. — Im Gnadenbe
reich
des Auferstandenen spricht Petrus, obschon durch die Verleugnung neuerlich
schuldig ge-
‘worden, ‚nicht mehr wie damals „Herr, gehe hinaus von mir!“ Durch
Golgatha und Ostern hat
der Christus dem sündigen Menschen die Möglichkeit der Wandlung eröffnet.
An die Stelle
Jjenes tragischen
8 Abwehr-Wortes „gehe
8 hinaus von mir!“ tritt das heilige Mahl, die
8
Kommunion. .

Gedanken über das Johannesevangelium .


Aus einer Arbeitsgemeinschaft mit jungen Menschen

Vom Evangelium überhaupt. Indem ihrer Tiefe noch unerkannt, die Erde selbst. Und
Wort Evangelium ist das Wort „Engel“ enthalten. gerade das Unerforschte trägt und verbindet alle
Der Engel ist ein Bote des Geistes. Vom Geister- Einzelheiten, schließt sie zum Wesen „Erde“ zu-
reich der Engel kündet das Fvangelium. Aber was sammen, Es ist ja noch völlig ungeklärt, warum
wissen wir von den Fngeln? Kaum, daß noch sie sich bewegt und wie sie im Weltall ihre Bahn
jemand da ist, der Gültiges über sie Zu sagen findet. -
vermöchte. Ihr Reich’ scheint uns verschlossen, Das Nebeneinander des Erkannten und des Un-
ihre Botschaft verstummt. erkannten an der Frde kann uns zum Bild wer-
Unser Sinnen ist ganz der Erde zugewandt. Sie den in unserem Fragen nach dem Reich des
liegt uns näher. Aber haben sich die Menschen den Geistes, von dem die Evangelien zu uns sprechen,
Blick für die Erde nicht auch erst erwerben Unser Wissen von den Evangelien ist noch ganz
müssen? ‚Einmal standen sie der Erde so’ fremd in den Anfängen, so wie vor Jahrhunderten unser
gegenüber, wie wir keute dem Reich der Engel. Wissen von der Erde. Der innere Zusammenhang
Eine wirkliche „Erdkunde“ gab es noch nicht. der Evangelien untereinander ist noch kaum ge-
Jeder überschäute nur gerade seine engste Um- sehen, die Schätze, die hier verborgen. liegen, sind
welt, und nur langsam weitete sich der Horizont. noch nicht gehoben. Wie die Erdteile aus dem
Der Mensch begann für die Erde zu erwachen. Ein Weltmeer ragen sie aus dem Meer des Geistes
Erdteil nach dem anderen erschloß sich seinem heraus. Begnadete Scher wie Rudolf Steiner haben
forschenden Blick. Das Bild der Erde rundete sich auf ihre Tiefen und Höhen gedeutet. Wie die
zur Kugelgestalt. Wo sich vorher der Blick ins Kontinente: voneinander unterschieden sind, eine
Unbestimmte verlor, hoben sich nun die großen andere Bodenbeschaffenheit aufweisen, anders ge-
Kontinente heraus, von den Weltmeeren umspült. artete Menschen, Tiere und Pflanzen beherbergen
Das Dunkel lichtete sich. Dennoch stehen wir und doch durch das Gesamtwesen Erde mitein-
hier erst an einem Anfang. Im Grunde ist nur die ander verbunden sind, so liegt auch die Ver-
alleräußerste Schicht der Erdrinde wirklich er- schiedenheit der vier Evangelien im Wesen der
forscht. Darunter liegt schier unergründlich, in Sache. Ihre Widersprüche untereinander weisen

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auf eine tiefere Schicht, die alles miteinander ver- Film, die „verschlungen“ werden, zerfasern im
bindet. Hinter all unserem Erkennen des irdisch«n Grunde die Gedankenkraft, weil solchen Kultur-
Seins und Lebens steht das große, noch unerkaunt produkten kein göttlich heilender Rhythmus mehr
gebliebene Wesen Erde. In die Evangelien ein- innewohnt. Man wird dumpf und folgt gedanken-
dringend, ihre Schätze hebend, ihre Tiefen er- und bedenkenlos den heraufbrodelnden Instinkten.
kennend, ahnen wir hinter allem einzelnen, das Die moralische Auflösung, die weithin beobachtet
sich uns erschließt, das umfassende, alles ver- werden kann, ist zuletzt: auf ein Verkümmern
bindende Wesen Christi. der Denkkraft zurückzuführen. Junge Menschen
Einstmals zogen die Wagemutigsten, keine Ge- sollten an den ordnenden und heilenden Gedanken
fahr und Entbehrung scheuend, als Forscher und des Johannes-Evangeliums wieder zu sich selbst
Entdecker in unbekannte Länder. Heute bedarf es zurückfinden können. Hier kann gerade der junge
nicht minder 'wagemutiger, opferbereiter Men- Mensch Ideale schöpfen und formen, die zu den
schen, die sich aufmachen, um die Evangelien zu höchsten gehören, die wir uns überhaupt nur
erobern und sich damit den Weg in das Reich des setzen können.
Geistes zu bahnen. Man erarbeite und ersteige diese Welt und man
Das Johannes-Evangelium im be- wird spüren, wie die Dumpfheit undurchschauter
sonderen. Was macht nun den Charakter des Gefühle, die uns auf unserem Weg bedrängen,
Johannes-Evangeliums aus und welche Beziehung weichen wie Nebel vor der Sonne. Manch einer
sollte besonders der junge Mensch dazu haben? mag sich das Goethewort von den großen Ge-
Dieses Evangelium ist, wenn wir im Bilde bleiben- danken und dem’ reinen Herzen, die wir von Gott
wollen, innerhalb der mancherlei geologischen Ge- erbitten sollen, auf sein Banner geschrieben haben.
steinsarten und -schichten, die es da gibt und Im Leben mit dem Johannes-Evangelium kann es
deren Verschiedenheiten in den verschiedenen in uns Wirklichkeit werden: „Große Gedanken
Büchern des Neuen Testamentes hervortreten, er- und 'ein reines Herz“. Aber man muß Geduld
wachsen auf dem Urgestein des Geisterreiches. haben, es gibt eben Berge, die nicht in einem
Wie die Massen des Urgesteins unserer höchsten Tag zu ersteigen sind.
Berge reicht es in die Höhen und Tiefen unseres DerAufbaudesJohannes-Evange-
gesamten Daseins. Es rührt an die Fundamente liums. Die besten deutschen Geister haben um
der Welt und läßt gleichzeitig die höchsten Ziele das Johannes-Evangelium gerungen. Fichte er-
ahnen. Wie die höchsten Berge vom reinsten blickte in ihm etwas, das seiner Freiheitsphilo-
Himmel überspannt sind, so wölbt sich auch über sophie verwandt war, und Schelling sah ein ganzes
dem Johannes-Evangelium ein kristallen reiner Zeitalter christlicher Entwicklung heraufkommen,
Himmel göttlicher Gedanken, aus denen, getragen das unter dem Stern des johanneischen Denkens
jedoch
von der schöpferischen Kraft des Wortes, der ge- stehen würde. Den entscheidenden Schritt
geworden ist: „Im Urbeginne war in der. Eroberung des Johannes-Evangeliums für
samte Kosmos
und „außer tat Rudolf Steiner. Wenn
das Wort und ein Gott war das Wort“ das moderne Bewußtsein
durch dieses ist nichts von dem Entstandenen ge- wir uns heute ein klares Bild von diesem Evange-
worden“. Und überall dort, wo nach den Worten lium machen können, verdanken wir das seinen
des Prologs im Gange des Johannes-Evangeliums Erkenntnistaten. Friedrich Rittelmeyer ließ sein
die Urgewalt des göttlichen Wortes im Wirken eigenes Forschen in dieser Ur-Kynde des Christen-
Christi hervorbricht, da ist es uns, wie wenn Kri- tums dadurch erweitern und vertiefen. Was von
stallbilder göttlich reiner Gedanken aus den Tiefen diesen Männern in der Frarbeitung des Johannes-
der Erde hervorleuchteten. Gleich ihnen ist das Evangeliums geleistet worden ist, muß seine An-
Evangelium bis in den Bau eines jeden Satzes ge- erkennung und Würdigung in der Zeit erst noch
fügt. Darüber hinaus ist alles nach großen Rhyth- finden.
men gewachsen und geordnet. Die Klangfiguren Man lernt in großen Zusammenhängen denken,
der einzelnen Partien schließen sich wie zu einer wenn es einem gelingt, die einzelnen Stücke
gewaltigen Symphonie zu dem Wunderbau des dieses Evangeliums immer wieder überstrahlen zu
Evangeliums zusammen.. Es sind die gleichen lassen von der Geistigkeit, die das Ganze durch-
Szenen mag uns
Rhythmen, von denen auch die gesamte Natur dringt. Der tiefe Sinn einzelner
durchdrungen und gefügt ist, aber nur das geübte vielleicht noch eine Zeitlang verschlossen bleiben,
Ohr vermag sie dort und hier zu erlauschen. Die wenn wir aber in das Ganze eindringen und den
des’ Weltenwortes lebt darin. mächtig vorwärtsdrängenden Schritt spüren, der
Kraft des „Logos“,
von Kapitel
An solchen Rhythmen göttlich begründeter Ord- vertiefend
und zu
verwandelnd
des Menschen, Kapitel geht, so schaffen wir damit auch die
nungen erstarkt die Gedankenkraft
und einer solchen Erkraftung bedürfen wir heute Voraussetzung dafür, daß sich uns später die ein-
mehr denn je. Gehen doch in dem politi- zelnen Szenen und Worte erschließen. Deshalb eei:
schen und kulturellen Chaos alle bisherigen Ord- hier der Blick auf die Gesamtkomposition ge-
nungen zugrunde. Jedes Zeitungsblatt und jeder richtet.

73
Da_ist der Prolog am Anfang des ersten Kapitels. Worte: „Ich bin das Brot des Lebens“ im sechsten
Das Tor, durch das wir eintreten, ist weitgespannt Kapitel ist noch ganz umwittert von der kämpfe-
wie der Himmel selbst, unergründlich rischen
in seinen Auseinandersetzung mit den Gegnern.
Tiefen. Wer diese Worte in sich zum Klingen Das letzte: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die
bringen kann, wird.berührt von der alles durch- Reben“ im 15. Kapitel, ist ganz hereingenommen
dringenden Schöpferkraft des Ursprungs, die das in den Kreis der Jünger und den stillen Frieden
irdische Bewußtsein weit übersteigt. Der Prolog des Abendmahlraums. Erhabene Ruhe strömt in
steht nicht nur am Anfang; seine mächtigen den Worten Christi. Im 17. Kapitel, dem „Hohe-
Dimensionen überspannen das ganze Evangelium. priesterlichen Gebet“, ‚wird still die Höhe er-
Die Erde soll diesem Himmel wieder entgegen- klommen; hier wird alles Sprechen zum Gehet.
wachsen. Wer vermag diese Worte heiliger Zwiesprache
Und sie wächst ihm entgegen. In der Erde mit dem Vatergrunde noch zu vernehmen? Wie-
selbst regt sich die neue Schöpferkraft. Schon der ist der Jünger da, „den der Herr lieb hat“.
heben sich, indem der Christus über die Erde geht Er ruht am Herzen Christi. Still lauscht er in die
und seine Taten vollbringt, heilige Bezirke heraus, Worte dieses Herzens hinein, sie durchströmen
in immer größerer Klarheit emporwachsend. Von im Auf und Ab heilig bewegten Blutes sein
Stufe zu Stufe treten die Umrisse eines Berg- eigenes Herz.
gipfels, zu dem alles hinstrebt, immer klarer Nun gilt es die letzte erhabenste Höhe zu
heraus. Sieben ‚gewaltige Taten ‚ Zeichen einer finden. Das Letzte, was noch zu tun übrig bleibt,
Geistvollmacht, wie sie bisher noch niemandem beginnt mit der Fußwaschung im 13. Kapitel und
auf der Erde zu Gebote stand, kennzeichnen den geht herauf über Tod und Auferstehung zu der
Weg in die Höhe. Mit der Auferweckung des Begegnung mit dem Auferstandenen am See im
Lazarus, dem siebenten Zeichen, ist der Gipfel 21. Kapitel. Es ist die Offenbarung des Wesens
erreicht. Von Zeichen zu Zeichen wächst die Christi selbst. Daß dieser Höhengang noch üher
Christuskraft in den Menschen, an denen und in Golgatha hinausführt, zeigt uns, daß wir die
denen sie sich vollziehen, bis endlich in Lazarus Größe und Weite dieses dritten Gipfels zunächst
ein Mensch aus dem Grabe gerufen wird, der bis wohl nur von ferne ahnen können. So sagt auch
in.die letzten Tiefen seines Wesens von Christus Christian Morgenstern: „Fs gibt wenig gewaltigere
durchdrungen ist; er ist wahrhaft von neuem ge- Dinge, als den Schluß des Johannes-Fvangeliums.“
boren, er ist der, „den der Herr lieb hat“. Hier ist wahrhaft „die Aussicht frei“. Geheimnis-
Nachdem dieser erste Gipfel erklommen ist, voll rückt wieder der Jünger, „den der Herr lieb
zeichnet sich bereits die Anlage eines zweiten hat“, in den Mittelpunkt des Geschehens. „Wenn
deutlich ab, der seiner Höhe entgegenstrebt. Es ich will, daß er bleibe, bis ich komme...“ Sein
ist das Wirken Christi im Wort. Es beginnt Auftrag geht weit in die Erdenzukunft. Was vor
schon früh im Evangelium, ist aber in den An- seiner schauenden Seele steht, sprengt den Rah-
fängen noch mit den sieben Zeichen verbunden, men des Fvangeliums: „Die Welt würde die
um erst in den Abschiedsreden in das reine Wort Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“
hereinzuwachsen. In dieses Werden sind die
sieben Ich-bin-Worte eingebettet. Das erste dieser Hans Feddersen

Das Herz der Erde


Die Evangelien, die von dem Wirken Christi sprung der Erde und des Menschen weiß; und
während seines Erdenlebens sprechen, stehen es gibt andere alte Offenbarungsbücher, in denen
innerhalb der Bibel in dem großen kosmischen die Christusnähe zum frühen Werden der Mensch-
"Rahmen der Genesis, des Berichtes von dem heit auf der Erde stärker hindurchleuchtet, als
Göttesursprung unserer gegenwärtigen Erden- dies im ersten Buche Moses der Fall ist. Fin
welt, auf der einen Seite, und der Offenbarung
solcher Zeuge alter Weisheit und Frömmigkeit ist
‘ Christi durch Johannes üher das Werden der ver-
der „Hymnus an die Erde“, den ein unbekannter
wandelten, neuen Erde, auf der andern. Aber Weiser und Dichter des zweiten Jahrtausends
Christus hat nicht erst seit dem Ereignis von ‘v. Chr. in Indien am Fuße der höchsten Berge
Golgatha mit Menschheit und Erde zu tun. Die unserer Welt gesungen hat, und den unser ver-
Menschheit ist ihm zutiefst verwandt. Fr steht storbener Mitarbeiter Professor Hermann Beckh
schon an ihrem Anfang; und sie war ihm nur ins Deutsche übertrug.
durch den Fall Adams und seine Folgerungen .
Der Gang dieses Hymnus von 63 Strophen, den
lange Zeit gradweise entfremdet. wir hier an wenigen herausgehobenen Stellen ver-
Das althebräische Volk ist nicht das einzige, das folgen, läßt uns in das Wesen der Erde schauen
in seinen heiligen Schriften vom göttlichen Ur- und in das Werden der Menschheit, wıe es mit ihr

74
Menschheit zu verbinden, so wird sid === =
verbunden ist. Beide ruhen ihrem gemeinsamen
neue Erde von dort her aus dem Hi
Ursprung nach in der göttlichen Welt. Sie gehören
beide unlöslich zueinander. Und um in ihrem Ur-
sprung verwurzelt zu bleiben und von ihm aus
eine gradlinige Fntwicklung nehmen zu können, gewässer war,
müßte der Mensch auch alle seine bewußt werden- an der mit schöpferischen Zauberkünsten ==
den Seelenkräfte der geistigen Welt zuwenden. _ durchstreifend weise Seher wirkten,
Wie weit er sich der geistigen Wahrheit der Welt sie, deren Herz, der Erde unsterblich Herz, i
naht, wie stark er sein Wesen damit durchdringt höchsten Himmel ist, von Weltenwahrheit ein-
Seelenkräfte ihr opfernd hingibt, so
und seine gehüllt,
weit erhält er auch die Erde in dem ihrem Ur- sie, unsere Erde, sie verleih’ uns Glanz und
sprung angemessenen Gang. Kraft zu wahren Herrschertumes Inbegriff. (3,
Die große Weltenwahrheit, *

die erhabene Ordnung des Naturgeschehens Was kann der gefallene Mensch. anderes tun,
und des religiösen Lebens, als sich auf die Suche nach „Glanz und Kraft“
die priesterliche Weihe und die ernste Innen- des verlorenen MHerrschertums, nach seinem
arbeit des geistig sich Vertiefenden, wahren und geistmächtigen Ichwesen zu begeben,
das heilige Gebet und Wort, das Opfer, das ihm von der Gottheit zugedacht war? Als ein
sie erhalten die Erde aufrecht in ihrem Gang. (1) Unterpfand und den leiblichen Anfang dieses Ich.
*
wesens empfängt er den aufrechten Gang. Dabei
So ist das Gesetz, nach dem Erde und Mensch schenkt ihm die Erdennatur in den Bildern der
angetreten sind. Wie jede Pflanze in ihrer hohen Bäume des Waldes und noch mehr im An-
Knospenspitze einen kleinen Punkt hat, von dem blick der schneebedeckten Berggipfel eine Stär-
das aufrechte Stehen kann er sein
ihre weitere Entfaltung abhängt, von dem auch kung. Durch
direkt angeregt wird, Haupt frei tragen, so daß es anders als das Tier
alles Wachsen der Pflanze
seinem hängenden Kopfe die Weltenwahrheit
und der doch nur unscheinbar in seiner Größe mit
Sprossen ist, so liegt das in sich spiegeln kann, und durch das aufrechte
gegenüber dem ganzen
ihres Stehen bekommt der Mensch seine Hände frei als
Schicksal der Frde in den geistigen Taten
in dem Grade, in welchem Instrument e der Tat, als Werkzeuge für einen
Menschensprossen
dieser zu eigenem Bewußtsein und damit zu gei- freien Willen.
stigen Taten vorschreitet. So wirkt er an der Erde Zu Heil und Wohlgefallen seien deiner Gipfel
mit als ihr entscheidungsvoller „Sproßpunkt“. Riesen,
© Aber der Mensch ist mit dem Frwachen zu sich deine schneebedeckten Berge und deine Wälder
selbst aus seinem Gesetz herausgefallen, indem er mir, o Erde;
die bewußt werdenden Figenkräfte nicht ganz auf braunem, schwarzem, rötlichem, vielfarb’gem
dem göttlichen Ursprung hingah. Er suchte sein Erdengrunde,
Wesen in sich selbst zu begründen, sein eigener auf dieser festen Erde, der von Indra wohl-
Herr zu werden, und er fiel damit aus der gött- behüteten, ”
lichen Weltenwahrheit. Nun mußte die Erde mit auf ihr will stehn unüberwindlich, ungetroffen,
ihm fallen; sie blieb nicht in dem bildsamen unverletzt, auf dieser Erde, ich. (11)
"Stande, der für jede geistige Gestaltungskraft : *
empfänglich war. Wenn ihr äußeres Dasein jetzt
erstarrt ist und nach seelenlos gewordenen Natur- Aber es genügt nicht zu seinem Heile, wenn
so ist dies schon der der Mensch sich auf der gefallenen Erde als
gesetzen abzulaufen scheint,
selbständi ges Ichwesen findet. Diese Gottgleich-
Ausdruck ihres Falles aus dem göttlichen, sich
schöpferi schen Dasein. Darum heit, dies Ich wäre kraftlos über seine gefullene
immer erneuernden
ihr Wesens- Natur, es bleibt nur ein leerer Ahglanz, der’ dıe
liegt ihr eigentlicher Ursprung,
Herz nicht mehr innerhalb ihrer Hoheit des dem
Menschen in der Urzeit zuge-
zentrum, ihr nicht
Schöpferische dachten „wahren Herrschertumes“ gar
späteren Gestalt; sondern das ewig
ahnen läßt. Der Mensch muß erst seine untere
und darum Unsterbliche an ihr blieb im Himmel Hände
Natur zu läutern lernen. Nicht nur die
zurück. Es blieb in geistigen Bereichen, wo auch
die himmlische Hoheit des Menschen, sein müssen frei werden, auch seine Füße müssen sich
Falle verwandeln; so wie der Christus vor seinem
„wahres Herrschertum“, bei seinem
zurückblieb. Und wie sich dieser himmlische Teil Opfergang die Füße der Jünger wusch und sprach:
„Wer gewaschen ist, der bedarf nichts denn die
des Wesens „Mensch“ — Paulus nennt ihn den
„zweiten Adam“ —, als die Frdenzeit reif war,
Füße waschen, sondern er ist ganz rein.“ Der
- aus den geistigen Bereichen in den Stall von innere Opfergang beginnt, auf welchem die Men-
dürfen, zur wirklichen, inneren Frei-
Bethlehem hinabbegab, um sich wieder mit der schen hoffen

75
heit zu gelangen. Erst dann werden sie ihrem Das Geheimnis des „Weltenkünstlers“, das heißt
himmlischen Wesen wieder begegnen. Von diesem des Christus, konnte der alte Seher nur von ferne
keine fremde gottfeind- ahnen. Aber er spricht doch in klareren Bildern
Ausblick aus ist die Erde
ihm, als Mose es in der Genesis zu tun ver-
liche Welt mehr, durch die unsere Pilgerschaft von
mochte. Wenn er von dem Opfer des „göttlich
geht, sondern der rechte Wohnplatz, um auf ihm
schöpferischen Weltenkünstlers“ in der Urzeit
„Hütten zu bauen“, prophetisch und ahnungs-
spricht, so dürfen wir uns damit solchen Taten
weise in dem Sinne, in dem später ‚Petrus auf
Christus in der Urzeit ahnend nahen, die mit
dem Berge der Verklärung zu seinem Meister des
„Herr, schön ist es, daß wir hier der Bildung des Menschen und
der Gestaltung
sprechen konnte:
wenn Du willst, so will ich hier drei Hütten der Erde überhaupt zusammenhä ngen, mit der er
sind;
bauen, Dir eine, Mose eine und Elia eine.“ sich dann auf Golgatha und im heiligen Mahle
vonBrotund Wein wieder für alle Zukunft
Die allgebärende, der Pflanzen Mutter, verbindet. Christi Offenbarung in der Zeit des
die zuverlässige) die beständige Erde, römischen Kaisers Tiberius ist einmalig in einem
die von der heiligen Weltenordnung getragen irdischen Menschenleib. Aber die Bilder, in denen
wird, er sein Wesen ausdrückte, so auch die Einsetzung
die wohlgesinnte, gütige, wollen immerdar_ be- des heiligen Mables, sind nicht historisch zufällige
treten wir mit sanftem Tritt. (17) und einmalige, sondern sind der Ausdruck seines
ewigen Wesens, wie es schon in ihm lebte, ehe
Die läuternd reine grüß’ ich, die geduld’ge Erde, der
die durch das heilige Gebet ihr Wachstum hat. denn die Welt ward, und bis zur Vollendung
Erdenziele immer lebt. Diese Bilder des Christus,
Auf dir, o Erde, die du Lebenssaft und Nahrung,
der sich mit dem Brot vereinigt und der sich in
die zugewiesene Speise uns und Butter bringst,
den Erdenkelch hineinopfert, gelten auch schon
wollen wir uns Hütten bau’n. (29)
für die Urzeit, wenn sie für unser Blickfeld auch
*
nur eine Prophetie für Christi Wirken während
Immer wenn der Mensch die Läuterung und und nach seinem Leben im Menschenleibe sind.
den Opfergang antritt, begegnet er dem Christus Die prophetischen Urbilder hat der indische Seher,
und ohne ihn und seine Stärkung könnte er nicht der den Hymnus an die Erde gedichtet hat, in
zu seinem Urstand zurückfinden. Der Christus großer Frische und Klarheit erschaut.
wird sein eigenes himmlisches Wesen wieder mit Und weil in den prophetischen Bildern etwas
der Erdesin Brot und Wein verbinden; er bringt vom Wesen Christi lebt, nahm der Gang des Ge-
selbst immer das größere Opfer und ist auf dichtes Formen än, die erst iv der christlichen
diesem Gange der Führer der Menschen. Weihehandlung als Verkündigung, ale Opferung
und Wandlung und als Kommunion ihren vollen®
Allwo der Vorzeit schöpferische weise Seher
Ausdruck finden. Er kündet zuerst von der ge-
des Lichtes Kühe durch Gesang zum Vorschein -
meinsamen geistigen Grundlage der Erde und des
brachten, ..
Menschendaseins, von dem Gesetz, nach dem sie
in ihrer Siebenzahl zusammensitzend,
angetreten. Dann führt er den Menschen auf der
durch ihres Opfers, ihrer geistigen Vertiefung
Suche nach seinem wahren Wesen durch Läute-
Kraft, die heil’gen Rischis,
wir an rung und Opferung an das Geheimnis des Brotes
sie, diese Erde, weis’ uns immer zu, was
und des Kelches heran. So wie der vorchristliche
Reichtum uns ersehnen,
Seher dies Geheimnis des sich in die geheiligten
der Herr des Brotes halte sich zu uns,
Substanzen hinopfernden Christus schaut, ist, es
Er komme zu uns, Er sei unser Führer. (40)
freilich noch nicht wie das christliche Sakrament
Die einst der göttlich-schöpferische Welten- für den einzelnen Menschen da, sondern betrifft
künstler mit seinem Opfer suchte, erst die Erde als ganze. Aber der Erdenmensch
als sie im Wasser- und Luftgewoge sich ver-. kann durch dies Geheimnis zu seinem heiligen
borgen hielt, Ursprung und damit zu seiner Heilung und seinem
ein köstlich Kelchgefäß, verschlossen im Ver- wahren Glück zurückfinden. Die Kommunion des
steck, einzelnen Menschen mit Christus kann erst seit
das dann zur Offenbarung kam und zum Genuß seinem Erdenleben und Frdenopfer Wirklichkeit
ward allen, die von Müttern stammen — werden, aber dennoch läßt der letzte Vers des
Du bist das Kelchgefäß, der Menschen Himmels- Hymnus sie schon von ferne ahnen:
mutter, x
O Mutter Erde, laß in deiner Huld
bist als die Wunschgewährende weithin berühmt,
mich immer wohlgegründet sein.
was dir gebricht, das fülle auf der Welten-
Im Einverständnis mit dem hohen Himmel,
schöpfer, ‘
hilf mir, du weise Scherin, zu Heil und Glück. (63)
der Erstgeborene der hohen Weltenordnung.
(60—61) Dieter Lauenstein

76
Der verlorene Sohn
Für einen Juden der damaligen Zeit mußte es seines geistigen Wesens und Ursprungs vergessen,
ein großer Anstoß sein, daß von Christus gesagt sich an das Zeitliche und Sichtbare verloren und
werden konnte: Dieser nimmt die Sünder an und sein ewiges Erbe vertan. Das ist zunächst eine un- .
isset mit ihnen. Die Juden waren in ihrem reli- widerrufliche Tatsache. Denn was geschehen ist,
glösen und völkischen Glauben so an die Erfüllung kann nie wieder ungeschehen gemacht werden: der
‘des Gesetzes gebunden, daß ihnen der gesetzlos einmal durch Schuld wissend Gewordene kann
lebende Mensch schlechthin der Verworfene war. nicht zur Unwissenheit kindlicher Unschuld zurük-
So mußte ihnen die freie Vorurteilslosigkeit und kehren.
die Menschenliebe des Christus, der auch in einem Das aber ist ja-grade das Wunder der Vater-
solchen Menschen noch den Menschen sah und auf- liebe Gottes, deren Vollführer der Christus ist,
zuwecken wußte, selbst als Gesetzlosigkeit er- daß dieser Fall dem Menschen, wenn er an
scheinen. Die Gleichnisse von der Sünderliebe Christus sich selbst erst findet, zu um so ge-
Gottes, die ihnen seine Haltung verständlich segneterem Auferstehen werden kann. Hat er
machen sollten, muteten ihnen eine Umkehrung zunächst als Sünder die Freiheit für sich in An-
ihrer Vorstellungen von dem gerechten Gott zu, spruch genommen, indem er das Vaterhaus ver-
die sie nicht zu vollziehen wußten. ließ, so geschieht etwas um so Größeres, wenn er
Für die Christenheit ist nachmals gerade ein nun in Freiheit zum Vater umkehrt, um ihm nun
solches Gleichnis wie das vom verlorenen Sohn willig zu dienen. Der nun in Freiheit dem Vater
einer der köstlichsten Schätze des Evangeliums ge- Dienende, der heimgekehrte verlorene Sohn, er-
worden. Unzählige 'haben darin ihren höchsten füllt jetzt im Weltensein eine besondere Aufgabe
Trost im Leben :und Sterben gewonnen. Doch ist und nimmt eine besondere Stellung ein im Kreise
dieser Gedanke von der Sünderliebe Gottes selten der älteren Brüder, der Engel Gottes, die nicht
in seiner ganzen Tiefe verstanden worden. Man scheel dazu sehen wie der ältere Bruder im
hätte meist nicht zu denken gewagt, daß es das, Gleichnis, sondern bei denen Freude ist über jeden
geben könnte, was jemand den Segen der Sünde "Sünder, der umkehrt. Es erfüllt sich an dem Men-
genannt hat, daß es nämlich für manchen in seinem schen als dem heimgekehrten Sohn in seiner
' Tugendstolz ‚verhärteten Menschen schon zum Weise, was das Lied von der armen Seele sagt, die
Segen, zum Glück geworden ist, wenn er einmal nach den Mühsalen und Irrungen der Erdenwande-
gründlich entgleiste, weil er nun erst sich selbst rung am Himmelstor ankommt, und von der es
kennen lernte und zur wirklichen Menschlichkeit heißt: Die seligen Engel im ewigen Licht, so selig
erwachte. Man darf daraus nur nicht etwa den sind die Himmlischen nicht.
Schluß ziehen: Lasset uns Böses tun, auf daß Und kann man nicht endlich sagen, daß unsere
Gutes herauskomme. Denn zu einem Segen der Erde im Kreise ihrer Sternengeschwister. der ver-
es nur kommen, wenn die Tatsache lorene Sohn ist, dem nur um so mehr des Vaters
Sünde kann
der Sünde selbst nicht leicht, sondern ganz ernst Liebe gilt? Sie strahlte einst in Schöpfungsjugend-
genommen wird. Dann erst kann die Liebe ‚Gottes schöne, so wie sie aus des Schöpfers Hand hervor-
in ihrer wahrhaft göttlichen Größe verstanden ging; da war alles gut. Sie ist längst durch Schuld
werden, die auch den Fall des Menschen zu be- des Menschen der Trübung, der Verdunkelung,
nützen weiß, um ihm erst zu wirklichem Aufstehen der Verhärtung verfallen; wir sehen heute den
zu helfen. Menschen am Werk,:sie vollends zu zerstören.
. Was darin liegt, erfassen wir aber erst ganz, Doch wunderbar, gerade sie hat als Vollführer der
"wenn wir uns klar machen, daß es nicht nur väterlichen Taten des Weltengrundes der Christus
Wirkensstätte erkoren, nicht nur um sie
einzelne Menschen sind, die erst auf solchem Um- sich zur
weg zu ihrem Heil kommen, sondern daß dies das in ursprünglicher Schöpfungsschöne wiederherzu-
allgemeine Menschenschicksal ist. Im Kreis der stellen, sondern um sie zum Ausgang neuer und
Göttersöhne, der Wesenheiten, die alle aus dem höherer Schöpfung zu machen.
Schoß des göttlichen Urwesens heraus im Lauf der Fr gab sein Sonnen-Ich dahin,
Weltenzeiten geworden sind, ist der Mensch der daß unsre trübe Frde
jüngste und zugleich auch der verlorene Sohn.
von ihm geläutert werde
Alle die hohen Wesenheiten, die gewissermaßen zurück, empor zu ihrem wahren Sinn.
unsere älteren erstgeborenen Brüder sind, sie sind So kehrte der verlorne Sohn zurück,
im Haus des Vaters geblieben. Sie schauen sein wie sie sich nun nach langem Walın und Harren
Angesicht und dienen vor seinem Thron Tag und heimfinden will in ewige Vaterarme —
Nacht. Der Mensch aber ist gleichsam in der Un-. und alle Himmel glühen auf in Glück.
erfahrenheit seiner Jugend der Versuchung zum \ (Morgenstern)
Opfer gefallen. Er hat das Vaterhaus verlassen /
Fremde der Erde gezogen; er hat August Pauli
und ist in die

77
Arbeit am Evangelium
Lebendig werdendes Evangelium Rudolf Steiner selbst wendet sie auf seinem
Ein Bericht aus der Arbeit von 25 Jahren
weiteren Wege an. Er eröffnet seine Vortrags-
reihen über die Evangelien in großartigem Prolog
Als die Christengemeinschaft mit ihrem Wirken mit der Betrachtung des Johannesevangeliums
für die Erneuerung des religiösen Lebens begann, (Hamburg 1908), der die über Lukas, Markus,
konnte sie auf den Geistestaten Rudolf Steiners Matthäus und verwandte Inhalte in Fülle folgen.
zur neuen Erkenntnis des Christentums aufbauen, Eine Geistesforschung, die über das gewöhnliche
die schon früher geschehen waren. Einundzwanzig Denken hinaus zum geistig-wahrgenommenen Bild
Jahre vorher (1901) war er mit dem Inhalt seines und Wort — wohlgemerkt in nüchtern-klarer,
Buches „Das Christentum als mystische Tatsache“ nicht etwa medialer Weise — vorstößt, berührt
hervorgetreten, das den Grund legte. Während eben denselben Bereich, aus dem heraus zu
der zeitgenössischen evangelischen Theologie die andrer Zeit und in andrer Art,. aber doch tief
Heilige Schrift zu einem historischen Bericht recht verwandt die Evangelien erflossen sind. Hier ist
zweifelhaften Wertes zusammengeschrumpft war endlich einmal die Erkenntnisart angewandt, die
und von der göttlichen Gestalt des Erlösers als dem zu erkennenden Objekte wirklich gemäß ist.
„»geschichtlicher Kern“ nicht mehr als ein schlichter Aber Rudolf Steiners Darstellungen beschränken
Wanderprediger übrigblieb; während von anderer sich nicht darauf, die überlieferten Evangelien
Seite der Inhalt der Evangelien umgekehrt als nach ihrem Grundcharakter und nach einzelnen
ein Sternen-Mythos ohne historische Grundlage Stellen neu, zu lesen. Sie stoßen über das äußer-
dargestellt wurde, zeigte Rudolf Steiner, wie das lich Überlieferte hinaus durch zu dem eigent-
Einzigartige am Christentum eben darin besteht, lichen Urbild der verhältnismäßig spät fixierten
daß in ihm nicht nur wie in den andern Reli- Bücher. Der schauende Blick sieht mehr, als die
gionen geistige oder mystische Wege der Seele be- Evangelisten aufgeschrieben 'haben. Ohne in ein
schritten werden, sondern daß hier zeitlose mysti- „Ausmalen und Phantasieren zu geraten, wird das
sche Erlebnisse zur historischen Tatsache ver- hinter den Evangelien stehende größere Geistes-
dichtet sind. Mit dieser Anschauung war nicht nur bild behutsam enthüllt. Und dem Leser ist, als
eine großartige Idee vom Ineinandergreifen von verstehe er nun erst die testamentarischen Schluß-
Geist und Geschichte gsfaßt; es war damit auch worte des Johannes: „Es sind noch viele andre
eine neue Freiheit den ehrwürdigen religiösen Dinge, die Jesus getan hat...“ Äußerlich sind
Urkunden gegenüber begründet. Denn wenn die diese Geschehnisse vergangen — und doch haben
Ereignisse in Palästina von vor 2000 Jahren sie ihre Geistesspuren dem Leben der Erde ein-
gleichzeitig „mystische Tatsachen“ sind, dann geprägt. Sollte der Schluß des Johannes-Evange-
brauchen sie grundsätzlich nicht dem heiligen liums nicht offenlassen, daß sie in der Zukunft
Buch allein entnommen und autoritativ geglaubt einmal im Geiste aufgefunden werden? Die ersten
zu werden, sondern dann sind sie dem Verständ- Anfänge des Lesens im Weltenbuche tun sich auf.
nis auf dem Wege innerer Vertiefung zugänglich. Was Dr.Steiner davon mit andächtiger Zurück-
Der im Sinne Rudolf Steiners geistig Forschende haltung mitgeteilt hat, ist dem Umfange nach nicht
findet den Hauptinhalt der Evangelien unmittel- viel, aber von um so größerem Gewicht. Es be-
bar; das geschichtlich überlieferte Dokument dient trifft die Jugend und die letzie Vorbereitung
ihm als Prüfstein, als Bestätigung und Bekräfti- Jesu von Nazareth auf sein Christuswirken. Es
gung seiner Ergebnisse. 'Es wird dabei natürlich dient in unserem Kreise nicht als Bestandteil
auch Gegenstand der Forschung. Ebenso wird kultischer Verkündigung wie der Inhalt der vier
beim Schüler, theologischen Bearbeiter oder Zu- Evangelien, wohl aber als Gegenstand der Übung
schauer dieser Geistesforschung zwar einerseits und Forschung.
die größte Ehrfurcht vor dem biblischen Doku- *
ment, zugleich aber die undogmatisch-freie Hal-
tung ihm gegenüber auf Schritt und Tritt an- Die Ergebnisse der Geistesforschung tragen
geregt. So ergibt sich eine doppelte Erlösung jener ebenso wie die Methode der Betrachtung grund-
Einseitigkeiten unserer Zeit auf theologischem legenden Charakter. Sie regen unendlich an zu
Felde: der pietätvoll aber orthodox am Glauben weiterem Fragen, Forschen und Aufbauen. Ja in
an „die Schrift“ festhaltenden Richtung wird die gewissem Sinne sind gerade die Evangelienzyklen
Freiheit der Erkenntnis gegenübergestellt; der neben den übrigen anthroposophischen Dar-
liberalen Strömung das neue Wörtlichnehmen der stellungen des Christuswesens ein Anlaß gewor-
ehrwürdigen Zeugnisse einer wesenhaft-wirklichen den zur Begründung der Christengemeinschaft.
Geisteswelt. Wenn das Christentum und seine Botschaft an
Die mit jenem ersten Werk eingeschlagene die Welt so verstanden werden konnte — uns
Methode erweist sich als ungemein fruchtbar. schienen die Schuppen von den Augen zu

18
fallen —, dann freilich konnte der sowohl nach gänzende Ergebnisse gezeitigt hat. Mit besonde-
Freiheit wie nach Vertiefung strebende moderne rem Erfolg wird in den Bockschen Betrach-
Mensch das Christentum ganz anders ergreifen tungen ein von Rudolf Steiner dargebotener
als bisher. Dann aber mußte auch etwas ge- Schlüssel angewandt, der bereits unermeßliche
schehen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens. Reichtümer ans Licht gebracht hat: der der
So kam es zu der entscheidenden Frage an Komposition. Dem durch Anthroposophie ge-
Rudolf Steiner um Rat und Hilfe zu einer durch- schulten Blick erweisen sich die angeblich von
greifenden Erneuerung des kultisch-religiösen Be- schlicht-naiven Verfassern stammenden Evangelien-
reichs für alle, die danach verlangten. — berichte als durch und durch — dichterisch, male-
Als die Christengemeinschaft begründet war, risch oder musikalisch — komponiert. Zu wunder-
ergab es sich ganz natürlich als elementares Be- baren Figuren sind die einzelnen Stücke anein-
dürfnis, die Theologie zu erneuern und zu er- andergefügt, bedingen und beleuchten sich gegen-
weitern, um besonders das Neue Testament in seitig und sprechen durch ihre Reihenfolge viel-
dem neuen Lichte neu zu erarbeiten und bis in fach zwischen den Zeilen wichtige, mit groben
die Einzelheiten hinein zu durchdringen. Friedrich Worten kaum sagbare Geheimnisse aus. Man
Rittelmeyer hatte bereits ein gutes Leben lang könnte denken, daß Tatsachenberichte an ihrer
mit den Evangelien intim gelebt und gewirkt. Auf Fchtheit zweifeln lassen, wenn sie ein solches
seinem inneren Wege hatte er sich besonders mit Maß von Kunst aufweisen. Hier aber hilft die
dem Johannesevangelium verbunden. Durch seine grundlegende Erkenntnis, daß die Evangelien
Begegnung mit Rudolf Steiner lernte er es noch keineswegs nur äußerlich Geschehenes, sondern
einmal ganz neu verstehen und der meditativen gleichzeitig „mystische Ereignisse“ wiedergeben.
Versenkung erschließen. Jedes Wort, jeder Klang, Gerade das Aufmerksamwerden auf die durch-
jede Nuance war ihm vertraut und zum eigenen gehende Geistgeometrie der Komposition, die in
Erlebnis geworden. All seine religiösen Erkennt- diesem Maße gar nicht absichtlich herbeigeführt
nisse kreisten nun um diese Sonne. Im neuen worden sein kann, läßt uns erkennen, wie diese
Dienste in der Christengemeinschaft stellte er ‚Schriften tatsächlich unter einer Inspiration ver-
sich alsbald die Aufgabe, diesen inneren Licht- faßt sind, die sie über das Bewußtsein des bis-
reichtum einem ‚größeren Kreise zugänglich zu herigen Lesers hinaus zu Geist-Kunstwerken
machen. So entstanden in seinen ersten Stutt- macht. m:
garter Jahren neben den immer wieder an das Einige Jahre nach den „Beiträgen zum Ver-
Johannesevangelium anknüpfenden Büchern in ständnis des Evangeliums“ ging Emil Bock an ein
Lieferungen die „Briefe über das Johannes- neues umfassendes Werk heran: die Bücherreihe
evangelium“, die vielen Menschen zu Leitsternen „Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit“,
geworden sind und heute wieder in Buchform wobei er die erarbeiteten Methoden und Schlüssel
vorliegen. zunächst — in den ersten drei Bänden — auf Jas
Unter den anderen Mitarbeitern der Christen- Alte Testament anwandte und so zugleich .als
gemeinschaft war es in erster Linie Emil Bock, der Historiker hervortrat. Von dieser Grundlage aus
sich in umfassender Weise die Aufgabe stellte, betrat er dann in den drei Bänden über das Ur-
die Evangelien wie auch alle anderen Bücher christentum („Cäsaren und Apostel“, „Kindheit
der Bibel neu zu lesen, aus dem Gespinst bis- und Jugend Jesu“, „Die drei Jahre“) aufs neue
herigen theologischen Denkens zu befreien und das Gebiet der Evangelien, diesmal nicht von der
geistgemäß darzustellen. Er gab seiner Evangelien- Textseite, sondern vom Gesichtspunkt der Ge-
arbeit, die unmittelbar nach Beginn unseres Wir- schichte aus. In diesen Werken wird bei groß-
kens einsetzte, mit Absicht nicht die Gestalt eines zügiger Zusammenschau der damaligen Lage der
Buches, die der Dynamik und dem Wagnischarak- Weltkulturen und der Evangelieninhalte eine im
ter eines solchen Unternehmens nicht gerecht wahrsten Sinne geistesgeschichtliche Darstellung
geworden wäre. Monat für Monat gingen in jenen der Geschehnisse gegeben, wie sie sich zur Zeit-
ersten Jahren die vervielfältigten „Beiträge zum wende wirklich abgespielt haben. Fs kommt hier-
Verständnis des Evangeliums“ aus der unermüd- hei weniger darauf an, ob alle Schilderungen end-
lichen Werkstatt des Verfassers und der fleißigen gültig richtig sind, als daß die Kraft aufgebracht’
kleinen Geschäftsstelle des Stuttgarter Urach- wird, die religiösen Ereignisse und Ideen bis
hauses hervor, eine erfrischende Revolution der in ihre ärdisch-geschichtliche Tatsachen-Umwelt
Anschauung vom Neuen Testament in einem herabzutragen und diese von den geistigen In-
großen Leserkreis bewirkend. Diese 25 syste- halten her zu durchleuchten. Die angewandte
matisch vorwärtsschreitenden „Beiträge“ sind für Phantasie ringt hierbei darum, zuuı Organ einer
das Schicksal unserer Bewegung ein wichtiges Wahrnehmung der historisch-übersinnlichen Tat-
Pionierwerk gewesen, zu dem eine reiche schrift- sachen zu werden. Die Stärke des Verfassers liest
liche und mündliche. Evangelienarbeit vieler Mit- in seinem radikalen und erfrischenden Umdenken
arbeiter hinzutrat, die in Fülle weitere und er- aller konventionell verfestisten Vorstellungen

79
über die. palästinensischen Freignisse; es fährt wußt als freier Anstoß und Anregung. Heute
gleichsam der Wind eines neuen michaelischen würde der Übersetzer ihr eine wesentlich vor-
Enthusiasmus in die Darstellung hinein. geschrittene Gestalt geben. Dennoch hat sie als
Die Forschungsarbeit von Lic. E. Bock ver- Leistung der damaligen Zeitenstunde und als
einigte sich mit der von zahlreichen anderen Mit- Grundlage zu immer weiterführenden Über-
arbeitern. setzungsbemühungen ihre Bedeutung behalten. —
Unser 1937 verstorbener Professor Hermana Ein bezeichnender.. sozialer Zug dieses Unter-
Beckh ging in zwei großen Bänden den kosmischen nehmens der zwanziger, dreißiger Jahre bleibe
Rhythmen nach, die das Markus- und das nicht unerwähnt. Der Bezug der Lieferungen war
Johannesevangelium durchklingen. Das erhabene mit einer kleinen Spende verbunden, die von der
Zusammenspiel von Tierkreiszeichen und Pla- Leserschaft mit Freude geleistet wurde und eine
neten findet in diesen Urkunden bedeutsame Summe ergab, mit der der Aufbau eines Seminars
Spiegelungen von wunderbarer Reinheit — ein der Christengemeinschaft im Jahre 1932/33 ganz
neuer Nachweis für den Zusammenklang äußerer wesentlich gefördert werden konnte. So hat die
Geschichte mit überirdischen Geschehnissen, hier Arbeit an den Evangelien mit dazu geführt, daß
nicht nur mystischer, sondern zugleich kosmischer die Aufgaben der Christengemeinschaft ein wich-
Art. Und ein neuer Blick in die Tiefen des tiges Stück mehr auf der Erde verwirklicht wer-
ı Evangeliums. — Dr. Rudolf Frieling ergänzte den konnten.
den Finblick in die rhythmischen Geheimnisse des Das Seminar hat denn auch seinerseits in die
Johannesevangeliums durch seine konzentrierte Evangelienarbeit eingegriffen, namentlich durch
kleine Schrift über „Die heilige Zahl im Johannes- Kurse und Freizeiten von Rudolf Frieling, Robert
evangelium“, der eine spätere über den Begriff Goebel, Rudolf Meyer, Eberhard Kurras und die
der „Agape“ (Liebe) im Johannesevangelium ständige Schulungsarbeit von Gottfried Huse-
folgte. Fine ähnlich reife Finzeluntersuchung mann. In den anderen Ländern haben diese
hatte er schon vorher in der Schrift „Der heilige Forschungen viel Echo und Fortsetzung gefunden.
Berg im Alten und im Neuen Testament“ vor- Den Anregungen der Seminarführung folgend
gelegt, die den Zusammenklang äußerer Angaben wird heute überall an der Übersetzung der
und innerer Freignisse in den Evangelien über- Evangelien weitergearbeitet, so daß die Gemeinde
zeugend bestätigte. am ständigen Ringen um den rechten Ausdruck
Diese Arbeiten erschienen in einer von Lic. für das höhere Wort teilnimmt. Das Evangelium
Robert Goebel herausgegebenen Schriftenreihe ist ja für die Christengemeinschaft überhaupt
„Theologie und Kultus“, zu.der der Herausgeber nicht nur ein Gegenstand der Forschung; es ist
u.a.. das Büchlein „Das Evangelium in den vier ihr vor allen Dingen zur neu sprudelnden Quelle
Fvangelien“, eine geisteswissenschaftlich be- des religiösen Lebens, zur Botschaft aus dem
fruchtete Fvangelienharmonie, beisteuerte. Auch Engelreich geworden. In der Evangelienlesung,
unsere Zeitschrift hat im Laufe der Jahre viele einem wichtigen Bestandteil der Menschenweihe-
wichtige Finzelbeiträge verschiedener Verfasser handlung, hört es die Gemeinde mit neuen Ohren.
zum neuen-Verständnis und Erleben des Evange- Wenn sie sich dabei in stummer Andacht erhebt,
liums herbeigetragen. so kommt darin zum Ausdruck, daß mitten in
!
* unserer Zeit durch das Menschenwort hindurch '
das Fwige Fvangelium des Christus zu hören’ in
In der Pause zwischen der Herausgabe seiner lebendiger Sehnsucht angestrebt wird.
Fvangelienbeiträge und seiner geschichtlichen Nichts endgültig Geformtes ist in den 25 Jah-
Bücher wagte sich E. Bock an eine besondere große ren seit der Begründung .der Christengemein-
Aufgabe. In 42 Lieferungen bot er den gesamten schaft auf dem Gebiet der Evangelienerkenntnis
Text des Neuen Testaments in neuer Übertragung hingestellt worden. Das ist kein Mangel, sondern
aus dem Griechischen. dar, jeweils begleitet von ein nicht zu überschätzender Vorzug. Auf der
einführenden Betrachtungen, in die betreffende Grundlage der Geistestaten Rudolf Steiners haben
biblische Schrift. Die Evangelien, die Apostel- wir /eine lebendig wachsende Beziehung zu den
geschichte, die Briefe, die Offenbarung wurden so Evangelien und immer neue Ehrfurcht vor ihren
einem großen Leserkreis, man kann wohl sagen, Tiefen finden dürfen, und wir wissen, daß wir
neu geschenkt; bildet doch die zwar in ihrer Art hier vor nicht auszuschöpfenden Quellen der Er-
große, mit ihrer Sprache aber eine zurückliegende kenntnis stehen.
Bewußtseinsart ansprechende und allzu gewohnt
grwordene Lutherübersetzung für viele heutige Kurt von Wistinghausen
Menschen ein ernstliches Hindernis zu freiem
Verständnis. Bocks Übersetzung war keineswegs
als endgültig oder erst recht nicht als die Fassung Anmerkung des Verlages: 7ur Zeit ist ke'nes der
der Christengemeinschaft gedacht, sondern be- hier genannten Bücher lieferbar. Neuauflagen kün-
d.gen wirstets in dieser Zeitschrift an.

80
auch sind und so unermeßlich viel Fleiß und Ge-
Aus der Arbeit an einer Übersetzung “lehrsamkeit darin stecken mögen: sie haben
des N euen Testamentes dennoch viel mehr, als man heute schon einzu-
gestehen bereit ist, zu dem illusionären Kultur-
Den Evangelien und den anderen Schriften des stolz der modernen Welt beigetragen, der sich
Neuen Testamentes einen dem gegenwärtigen Zeit- noch bis vor kurzem unwidersprochen in die
alter gemäßen Sprachleib zu geben, ist eine un- Formel kleiden konnte: „Wie haben wir es doch
“ endliche Aufgabe. Es geht um nicht mehr und so herrlich weit. gebracht!“ Jedes Wort aus einer
nicht weniger als darum, auch beim Übersetzen alten Sprache ist wie ein Berg, demgegenüber das
völlig ernst damit zu machen, daß die Bibel vermeintlich entsprechende Wort aus einer heuti-
„Gottes-Wort“ ist. Die Zeiten sind längst vor- gen Sprache allenfalls ein flacher Hügel, wenn
über, in denen es möglich war, den biblischen nicht gar überhaupt nur ein Punkt in der Ebene
Schriften kraft einer halb- oder ganzdogmatischen sein kann. In der Entwicklung der Sprachen wird
Vorstellung den Charakter der „Heiligen Schrift“ die große Gesamt-Bewußtseins-Entwicklung der
oder des „Wortes Gottes“ -beizulegen, gleichviel Menschheit erkennbar, die aus den Götterhöhen
in welchem Wortlaut man sie vor sich hatte. In eines alten schauenden Bewußtseins in die Niede-
welchem Maße sich durch das Menschen-Wort rungen der abstrakt-intellektuellen Gedanken ge-
einer irdischen Sprache das Gottes-Wort vernehm- führt hat. Die materialistische Grundeinstellung
bar machen kann, ist von dem Grad der porösen des hinter uns liegenden Jahrhunderts hat die
Geistdurchlässigkeit und Krafttransparenz ab- Menschen blind gemacht für den Reichtum und die
hängig, den wir dem irdischen Wortlaut zu geben Fülle, von denen die Entwicklung des Bewußtseins
vermögen. ' und auch der Sprache ursprünglich ausgegangen
Lange Zeit hat man den naiven Fortschritis- ist” Die Erkenntnis des Nullpunkts, an dem wir
Optimismus, von dem die moderne Zivilisations- heute stehen, ist aber für den, der sich aufs neue
entwicklung beherrscht war, auch auf die Ge- einen Blick für die Ursprungssubstanz der mensch-
schichte der Sprache angewendet. Man hat ge- heitlichen Geistesgeschichte zurückerobert, nichts
meint, .daß die Sprachen der Menschheit, je weiter Bedrückendes. Der Abstieg war notwendig zum
sie zurückliegen, um so primitiver gewesen seien Hineinwachsen der menschlichen Persönlichkeit in
und sich zur modernen Zeit hin immer mehr ver- Mündigkeit und Freiheit. Von diesem Nullpunkt
vollkommnet hätten. Der Zusammenbruch der aus können und müssen heute auf der anderen
Zivilisations-Ilusion hät, wo er wirklich erlitten Talseite die Höhen zurückerobert werden, von
und eingesehen worden ist, auch eine grundlegende denen die Menschheit ursprünglich ausgegangen
Selbstbesinnung hinsichtlich der Sprachen-Entwick- ist. Das muß in erster Linie im Denken und
lung mit sich gebracht. Mit Schrecken ist man auf Sprechen geschehen. Den abstrakt gewordenen
die letzte Entleerung der Sprache an seelischem neueren Sprachen muß der Keim und die Kraft
und geistigem Gehalt aufmerksam geworden, zu einer neuen Substanz-Erfüllung mit auf den Weg
der die modernsten Entwicklungen bereits geführt gegeben werden. Insofern sind die Bemühungen
haben. Und man bequemt sich nun auch dazu, zu um eine gegenwartsgemäße Bibelübersetzung, die
erkennen, daß nicht nur seit Jahrhunderten, son- darauf zielen, das Menschen-Wort wieder auf-
dern bereits seit Jahrtausenden in den Sprachen nahmefähig und durchlässig für das Gottes-Wort
der Menschheit ein Verarmungs- und Schwund- zu machen, nicht nur für das religiöse Leben von
prozeß im Fortschreiten ist, durch welchen eine Bedeutung: es wird dadurch der zukünftigen
ursprüngliche Wortsubstanz immer mehr zu Ab- Kulturentwicklung im ganzen der Keim und die
straktionen verflacht worden ist. Kraft eines geistigen Wiederaufstiegs eingepflanzt. _
In der Tat waren die alten Sprachen durch sich Wie dereinst die Schöpfung des Kosmos „durch
selbst in einem weit höheren Maße Sakralsprachen das Wort“ geschah, so wird, wenn auch in aller
und „Gottes-Wort“, als es die neueren Sprachen Stille, die neue Welt, die heute dem Niedergang
auch nur sein können, die doch dadurch ihre Ge- zu entringen ist, „durch das Wort“ geboren und
stalt gewonnen haben, daß der Schwerpunkt des geschaffen werden.
*
Lebens immer mehr aus dem Tempelbereich auf
die Märkte des profanen Lebens herausrückte. Es
ist eine der größten Irreführungen in der Lebens- Immer wieder, wenn ich in südlichen Ländern
orientierung des Menschen durch die Philologie reisen konnte, kam mir der Vergleich: die alten
der letzten Jahrhunderte zustande gekommen, die Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch
überall von der Voraussetzung ausgegangen ist, stehen ‘unter den Sprachen ähnlich, wie die bibli-
als könne man ohne weiteres ein Wort aus einer schen Pflanzen Feigenbaum, Ölbaum und Wein-
alten Sprache durch ein entsprechendes Wort aus stock im allgemeinen Pflanzenreich darinstehen.
einer heutigen Sprache wiedergeben, und über- Etwas ganz Besonderes umgibt diese drei Pflanzen-
setzen. Die Wörterbücher, so unentbehrlich sie gebilde. Gesetzmäßigkeiten uralter Zeit scheinen

b el
in ihrem Wachstum und in ihrer Gestalt nachzu- ‚der hierarchi
schen Wesenheiten, die alles Erden-
klingen, so daß sie uns wie geheimnisumwobene dasein
schöpferisch tragen und erhalten.
Überbleibsel einer längst versunkenen Welt an- Dreimal hat es in der Geschichte der heiligen
muten. Der Vergleich aber stimmt ja insofern Schriften klassische
Augenblicke gegeben, in denen
nicht, als es die drei alten Sprachen in Wirklichkeit Übersetz
ungen aus einer Sprachstufe in eine
heute gar nicht mehr gibt. Nicht nur-hat das heute andere
entstanden. Um 300 v.Chr. entstand die
auf der Balkanhalbinsel gesprochene Griechisch griechisch
e Fassung des hebräischen Alten Testa-
den’ letzten Rest von innerer Ähnlichkeit mit dem mentes
durch die 70 Namenlosen, nach denen sie
klassischen Griechisch verloren, auch das Hebräisch, die Septuagin
ta genannt wurde. 400 Jahre nach
das heute noch gesprochen wird, ist nichts anderes der
Zeitenwende entstand die lateinische Über-
als eine vielfache Verflachung der alten: Sakral- setzung
des griechischen Neuen Testamentes durch -
‚ ‚sprache. Die aus dem Lateinischen entwickelten den Kirchenva
ter Hieronymus. Eineinhalb Jahr-
romanischen Sprachen gleichen auch in ihrer Wort- tausende
nach der Zeitenwende entstand . die
gestalt nur noch ganz von fern ihrer Mutter, von Luthersche
Bibelübersetzung, die im weiteren
der sie sich aber in erster Linie durch das Ab- Verlauf auch
die Grundlage bildete für die Über-
streifen der magischen Wortgewalt unterscheiden. setzung
der biblischen Schriften in die Sprachen
Sogar das in der römisch-katholischen Messe ge-
der anderen neuzeitlichen Völker.
sprochene oder gesungene Latein hat, weil es dem Die Zeit der griechischen Bibel, die sich sym-
heutigen Menschheitsbewußtsein gar nicht mehr metrisch
in je drei Jahrhunderten um den großen
angeglichen werden kann, kaum noch einen letzten Wendepunkt
der Menschheitsgeschichte herum
Nachklang der alten sakralen Substanz. ausdehnt, stellt eine ganz besondere Gnadenzeit
In dem Hebräischen der heiligen Schriften des Wortes auf
Erden dar. Sowohl die drei Jahr-
des Alten Testamentes schwingt noch etwas von hunderte der
Septuaginta, die das Christusereig.
der Urgeistigkeit Asiens mit. Die magischen Kraft- nis vorbereit
eten, als die drei Jahrhunderte des
kreise, von denen die einzelnen Worte umgeben Urchriste
ntums, das bis in seine Theologie hinein
sind, sind noch nahe verwandt mit dem Götter- ganz in der
Welt des griechischen Neuen Testa-
getragenen Kultus- und Weisheitsleben des alten mentes
lebte und webte, sind mit jenem herrlich
Chaldäa, das einen wichtigen Bestandteil der baby- leichten und
aurorischen Gleichgewicht zwischen
lonischen Kultur ausgemacht hat. Ein Hauch von Götter-Wort
und Menschen-Wort begnadet, das
den Mysterien der. nächtlichen Dunkelheit webt den Zauber der
griechischen Sprache ausmacht. Der
durch das Hebräische, damit verbunden aber auch jugendliche Morgenha
uch des europäischen Geistes-
ein Schimmer von den Monden-Mysterien Baby- lebens
bringt die heiligen Schriften des Alten
loniens und den Sternenahnungen Chaldäas. Das und des
Neuen Testamentes in eine wunderbare
Griechische ist die Göttersprache des frühen Menschennähe,
die dennoch nichts von der Gefähr
europäischen Lebens. In ihm steigt der Tag mit des Allzumens
chlichen an sich hat. Der Klang der
seinem Farbenglanz über den Horizont. Die von heiligen Schriften
begründet einerseits die Stim-
dem warmen hellen Schein der Morgenröte durch- mung des Vertrauen
s: der tragende Schoß der
flutete Atmosphäre mit ihren schwebenden ziehen- Götterwelt, aus
dem die Menschen geboren sind,
den Wolken ist der Klangraum, aus dem die wird noch als
ganz nahe empfunden. Andererseits
griechische Sprache geboren zu sein scheint. Das begründet er
die frohe, stolze Vorahnung der
Lateinische ist gegenüber dem Griechischen menschlic
hen Freiheit. Man könnte die Stimmung
erdhafter. Es steigt zu der Ebene der irdischen der griechisc
hen Sprache, die.sie durchaus auch in
Willenstaten herab und gibt damit auch die den heiligen
Schriften beibehält, als die des Idealis-
Leichtigkeit und den Farbenreiz preis, die das mus und
des durch ihn erhöhten Menschentums
Griechische durch sein In-den-Lüften-schweben bezeichne .
n.
uoch besitzt. So strömt wie aus den Erdentiefen Die legendenhafte Überlieferung, daß der grie-
empor in die lateinische Sprache wiederum ein ‚chische Text des Alten
Testamentes von 70 inspi-
Schatten ein. Die ihr eigene Willensmagie hat im rierten Schriftgelehr
ten zu gleicher Zeit nieder-
Laufe der Geschichte die Möglichkeit dafür ge- geschrieben worden
sei, läßt uns erkennen, wie die
boten, daß zwischen Rom und der dunkelver- Bibelübersetzung zuerst eine durchaus überper-
hangenen Götterwelt Ägyptens ein später Bund sönliche Angelegenhei
t war, die nur durch das
geschlossen wurde, durch die die übermenschliche selbstlose
gemeinschaftliche Ringen eines wohl-
Macht der Sprache in das Machtstreben der vorbereiteten Kreises
um inspirative Götterhilfe
Cäsaren verkehrt werden konnte. Was die drei gelöst werden konnte.
Als im Ausklang des Ur-
alten Sprachen verbindet, ist die noch unge- christentums das griechische Neue Testament ins
brochene Durchlässigkeit für Götterkräfte und Lateinische übersetzt
wurde, trat bereits mit einer
damit die substanziell aufrechterhaltene Ver- gewissen Wucht das
persönliche Element an die
wandtschaft mit der geistigen Ursprache, der Stelle des Überpersönli
chen. Wir sehen Hiero-
hinter allen irdischen Sprachen kraftenden Sprache aymus in seiner Klause
zu Bethlehem, in die er

82
jich über 30 Jahre zurückzieht, die heiligen ihren eigenen epischen Fall hat und die, sobald »&
Schriften aus der geistdurchsichtigen Himmelsluft sie lese oder klingen höre, meine Anschauungen in
des Griechischen in die erdharten Willensformen so entscheidender Weise auf einem festgezogenen
der lateinischen Sprache umgießen. Es entstand Wege hält, daß ich meine Freiheit beeinträctigr
eine Fassung des Bibelwortes, die einen viel fühle. Stimmungen besonderer Art, bewußte und
höheren Grad an magischer Kraft besaß, dafür noch mehr unbewußte Erinnerungen aus vielem
aber Unendliches an geistiger Offenheit, kos- Momenten meines Lebens, mischen sich in das selt-
mischer Farbigkeit und an Weisheitsglanz einbüßte. sam gebundene Gefühl ein, das mich hier über-
Als Luther auf der Wartburg die Bibel in die kommt, und dem ich mich, so lieb es mir ist, als
rdeutsche Sprache übersetzte, geschah noch einmal etwas nicht zur Sache gehörigem zugleih doc
ein ähnlicher Schritt aus dem Überpersönlichen wieder entwinden möchte. Von Luthers Worten
ins Persönliche, wie er bereits durch Hieronymus hat jedes neben dem, was es an bestimmter Stelle
in Bethlehem vollzogen worden war. Nun wurde bezeichnet, einen gleichsam mittönenden, all-
der Bereich der götternahen alten Sprachen ver- gemeinen Klang, wie über die Ebene im Frühling
lassen. Luther hatte zwar noch ein lebendiges Ge- von fernher leise tönende Kirchenglocken; seine
fühl für die im Bibelwort mitschwingende höhere Sprache breitet einen den ganzen Menschen be-
Substanz, aber ihm ging jedes deutliche Bewußt- wegenden poetischen, zuweilen märchenhaften
sein von dem grundsätzlichen Unterschied der Schleier über die Ereignisse aus. Schleier und
alten und der neuen Sprachen ab. Er ging bewußt Glanz zu gleicher Zeit. Man möchte wieder zu-
und extrem aus dem übermenschlichen Sprach- hören, wie in den Tagen der Kindheit. Der damit
charakter der alten Sprachen in die bloß mensch- empfangene Eindruck widerspricht demjenigen,
liche Formulierung über. In seinem „Sendbrief den die Evangelien hervorbringen, wenn wir sie
- vom Dolmetschen“ hat er beschrieben, wie er sich griechisch oder lateinisch lesen. Das Griechische
bemüht habe, dem einfachen Mann auf Markt und des Neuen Testamentes ist weder schön, noch hat
Straße die Sprache abzulauschen, in die er das es auch nur die Absicht, es sein zu wollen. Rauh
Bibelwort gießen könne. Es kommt die „Populari- klingend und mit geringem Wörtvorrat berichtet
sierung“ der Bibel zustande, von der Novalis in es das Vorgefallene: nicht der leiseste- Anflug von
seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa“ Poesie ist ihm eigen, der Luthers Sprache be-
spricht und die von vornherein die Achillesferse gleitet.“
des protestantischen Zeitalters gewesen ist. *

Hinzu kommt, daß Luther, weil er von der gricchi-


schen Sprache nur eine ganz anfängliche Kenntnis Aus all dem ergibt sich, daß bei einer heutigen
besaß, darauf angewiesen war, im wesentlichen an Übersetzung des Neuen -Testamentes vor allem
die lateinische Bibel anzuknüpfen. Die an das die doppelte Aufgabe zu lösen ist: innerhalb einer
Griechische gehundene Weisheitskomponente des modernen Sprache die Geistigkeit des griechischen
Neuen Testamentes, die schon durch Hieronymus Wortlautes mit der ihr eigenen kosmischen Hellig-
zugunsten einer gewissen Kraftkomponente bei- keit und Weite wieder zum Mitschwingen zu
seite gelassen worden war, floßnun erst recht nicht bringen, und: die Entwicklung, die Hieronymus in
mehr in den durch Luthers Übersetzungsarbeit Bethlehem und Luther auf der Wartburg aus dem
entstehenden Wortlaut mit herein. Der klassische, Überpersönlichen ins Persönliche gewendet haben.
unverlierbare Wert der Lutherbibel ist einer ganz wieder zum Überpersönlichen emporzuheben.
persönlichen Note zu verdanken, die Luther aus Mir haben für den Beitrag, den ich selbst immer
den Tiefen seines Gemütes ungewollt den bibli- wieder aufs neue zu dieser Übersetzungsarbeit zu
schen Schriften hinzufügte. Er ersetzte die über- leisten versuche, drei verschiedene Stadien vor-
persönliche Göttersubstanz, die der Bibel in den geschwebt. Bei dem ersten Anlauf, den ich in den
alten Sprachen immer einen magischen Klang ver- Jahren 1930—1933 unternahm und dessen Ergeb-
liehen hat, durch die Musikalität einer ganz per- nisse ich in den „Beiträgen zur Übersetzung des
sönlich durchlebten religiösen Gemütspoesie. Neuen Testamentes“ vorgelegt habe, mußte ich
Darauf hat Herman Grimm in seinem Essay danach streben, den ausstrahlenden Reichtum des
„Raffael und das Neue Testament“ (1883) hinge- griechischen Wortlautes durch eine gewisse Füllig-
wiesen. Diese von der Theologiegeschichte niemals keit der Prägung .einzufangen. Den Aberglauben,
ins Auge gefaßte Tatsache ist so wichtig, daß ich ein Wort aus einer alten Sprache einfach durch cin
hier Herman Grimms Worte in Ausführlichkeit Wort aus einer heutigen Sprache wiedergeben zw
zitieren möchte: können, hatten wir längst hinter uns gelassen. Nun
„Luthers Bibelübersetzung hat die Einwirkung mußte versucht werden, durch ein gewisse
auf mich, daß zum reinen Inhalte des Erzählten Element der Umschreibung zum Ziele zu kommen.
ein gewisses fremdes Element hinzutritt. Von Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als
Luther ist für die Bibel, zumal für das Neue innerhalb der deutschen Sprache nach einer neuen
Testament, eine Sprache geschaffen worden, die Sprache zu tasten. Es lag nahe, sich in dem Be-

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mühen, für die Prägung der biblischen Schriften das unter dem Namen eines einzelnen Überseizers er-
Sprachniveau wieder emporzuheben, das erfüllte scheinen, sondern das Ergebnis der Zusammen-
Worterleben dienen zu lassen, das im Bereich des arbeit Vieler sein, wobei es sich dann allerdings
Zelebrierens an den Altären des erneuerten Sakra- nicht mehr bloß um ein äußeres Zusammentragen
mentalismus erschlossen ist. Obwohl ich damals verschiedener Wortlaute handeln kann. Bis dahin
keinen Übersetzungstext vervielfältigen ließ, der mögen es diejenigen, die unsere Bemühungen mit
nicht mindestens sechsmal neu gestaltet worden tragendem Anteil begleiten, verstehen, daß von
war, konnte es sich, was ich auch immer wieder einem und demselben Evangelierstück immer wie-
ausgesprochen habe, nur um einen ersten vor- der neue Übersetzungen auftauchen und ver-
läufigen Versuch handeln. Gewisse Unnatürlich- wendet werden. Emil Boek
keiten und Umständlichkeiten in der Stilisierung
mußten anfänglich in Kauf genommen werden,
wenn man sich überhaupt an das Wagnis machen Das Heilige Land und das Evangelium
. wollte, das in der Übersetzungsaufgabe liegt. Die Menschheit steht heute vor einem neuen
Obwohl in den folgenden Jahren kaum ein Tag Verständnis der Evangelien. Ehe das alte, das die
verging, an welchem ich nicht an den Übersetzun- Bibel noch unbesehen als Gottes Wort und Heilige
gen weitergearbeitet hätte, hatte ich doch erst Schrift hinnahm, ganz erloschen ist und ehe die
im Jahre 1941 und zwar während der Haft im Evangelien völlig verlorengegangen sind’unter der
Konzentrationslager das Gefühl, nunmehr an das Kritik eines auf die Sinneswelt eingeengten und
zweite mir vorschwebende Stadium der . Arbeit auf den Verstand sich beschränkenden Bewußt-
heranzutreten. Als das Ziel dieses Fortschreitens seins, beginnt ein neues. Verständnis zu keimen.
erschien es mir, dem Text durch eine gewisse Ver- Eine Aufgabe ist vor .uns hingestellt, für die
einfachung und Zusammenziehung eine erhöhte Fähigkeiten zu erwecken und zu üben sind.
. Natürlichkeit und Flüssigkeit zu geben. Durch das Um neue Fähigkeiten handelt es sich. Denn die
unablässige Leben im sakramentalen Wort sowohl Seelenart, in der die Menschen heutzutage gemein-
des Neuen Testamentes wie des Sakramentes muß hin von früh bis abends leben, ist für ein: rechtes
es allmählich möglich werden, dem geprägten Verständnis der Evangelien ungeeignet. Sie mußte
Wort zugleich eine größere Schlichtheit und sie mißverstehen als bloße Tagebuchnotizen und
dennoch eine aurische Beseelung mit auf den Weg unverbindliche Legenden oder als bedenkliche
zu geben. Leider ist es mir aber bislang noch nicht Mischung von beidem, Aber die heutige Seelenart
möglich gewesen, größere Teile des Neuen Testa- wird künftig in eine andere übergehen, so wie
mentes in die mir jetzt vorschwebende Form zu sie sich aus einer vorangegangenen herauseni-
gießen. Trotzdem glaube ich heute doch auch das wickelt hat. Die Menschen haben in der grauen
dritte Stadium, das einmal erreicht werden sollte, Vorzeit, aus der die Urkunden heiliger Gescheh-
in nicht allzu weiter Ferne vor mir zu sehen. Icı nisse stammen, anders gedacht, gefühlt und ge-
meine, daß es dann erreicht sein wird, wenn es ge- wollt, als wir es heute tun. .
lingt, sich über den Buchstaben des überlieferten Das wird nirgends so deutlich wie bei der Be-
Wortlautes so hinauszuschwingen, daß eine freiere trachtung des Landes, in dem sich die heilige Ge-
schöpferische Prägung möglich wird, die sich zwar schichte ereignet hat, und nirgends so wie dort
philologisch von dem Urtext zu entfernen scheint, kündet das Land selbst aus Bergen und Seen, aus
die aber in Wirklichkeit näher an das hindurch- Schluchten und Wüsten, aus Farben und Formen
klingende Urwortliche, d.h. an die geistige Wesen- so vernehmlich und überwältigend von der künftig
heit des Bibelwortes selbst herankommt. nötwendigen Bewußtseinswandlung des Menschen.
Um die hiermit angedeuteten, noch unerfüllten Wer mit Andacht und Forschersinn wachend und
Zukunftsaufgaben zu fördern, ist es selbstver- träumend, Göttliches sinnend und minnend durchs
ständlich erforderlich, ein Prinzip mit voller heilige Land hinwandert, der kann nicht nur Ver-
methodischer Bewußiheit zu handhaben, um das ständnis erringen für die alte, vergangene Seelen-
wir uns in unserer Arbeit von Anfang au bemüht art, der sich einst die göttlichen Welten erschließen
haben: Durch das Schöpfen aus der geistigen Ge- konnten, er findet auch eine deutliche Vorahnung
meinsamkeit müssen und können wir heute auf von neuer geistgeneigter Seelenhaltung und weckt
einer neuen Ebene dasjenige geheimnisvolle Prin- Entschlüsse in sich auf, im hellen und tätig er-
zip wieder verwirklichen, das bei der Entstehung höhten Bewußtsein das zu erleben, was sich einst
des griechischen Alten Testamentes mitgewirkt den träumenden Seelen schenkte.
hat: als damals ein Kreis von 70 sich zu einer ge- Ehe vor Zeiten Jacob zum „Israel“, das heißt
meinsamen geistigen Schöpfung vereinigte. Wenn zum Gottesstreiter wurde, träumte er die
einmal aus der Arbeit der Christengemeinschaft Himmelsleiter auf der Erde stehend, auf der die
heraus eine Bibelübersetzung entstehen wird, die Engel Gottes auf- und niedersteigen. Solche traum-
man wenigstens bis zu einem gewissen Grade als hafte Wesensschau der himmlischen Hierarchien
reif betrachten kann, dann wird sie nicht mehr war damals noch dem Menschen möglich, mußte

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aber im Laufe der Menschheitsgeschichte ver- Menschen willen in Vergänglichkeit und Tod ge-
blassen. Ichbewußtsein hellte sich stattdessen auf rissen wurde? Sagt es nicht Paulus so im Römer-
in der Auseinandersetzung mit der geistentblößten brief? Kündet es nicht so das ganze Land, das man
Sinneswelt. Diese Etappe ihres Werdens über- Judäa nennt nach dem Stammvater jenes Judas,
windet die Menschheit in der dramatischen Welten- der den Herrn verriet — Landschaft voll Verrat
stunde unserer Gegenwart. Seiner ‚selbst bewußt und Tod. .
geworden, wendet sich der Mensch den Geistes- Man kann nicht anders als in Erschütterung der
welten wieder zu. Seele durch die Berge und Schluchten der Wüste
„Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Juda wandern — zwölfhundert Meter tief hinab
Engel Gottes auf- und niedersteigen auf des Men- — von Adams Grab zum Toten Meer. Durdı ein
schen Sohn.“ Mit diesem Worte ist dem heutigen Gebirge, das sich nicht in die Höhe türmt, — nein,
Menschen die Zukunfisperspektive gegeben. Chri- es saugt dich hinunter in schauervolle Gründe, in
stus selbst hat diesen Ausblick auf das künftige, die tiefste Erdenfurche, in die der Sonne Licht
vollbewußte Geistesschauen dem Nathanael er- noch dringt. Aber sind nicht selbst Licht und
öffnet, dem „wahren Gottesstreiter“, nachdem er "Wärme wie verwandelt in dieser Tiefe, die ihres-
ihn unter dem Feigenbaum gesehen hatte. So be- gleichen nicht hat auf dem ganzen Erdenrund?
richtet es das Johannesevangelium. Was ist das Ob auch sie hier sterben müssen? Wie unheimlich
für ein Feigenbaum? Wurzelt und wächst er in glühen hier die Sterne des Nachts am klaren
irdischer Landschaft — ist das noch irdische Land- Firmament! Sie dünken uns größer und näher,
schaft, wo er grunelt und grünt? Da irgendwo im als drohten auch sie vom Himmel zu fallen und
heiligen . Land über brüchigem Mauergestein hinabzustürzen in das Tote Meer! Alles ist hier
spannt er seine durchsonnten Blätter aus gegen tot, auch das Wasser, das belebende. Hier muß es
die blauen Himmelsköhen — und immer ist es alles Leben in sich töten, auch den aus den
Nathanael, der unter dem Feigenbaum sitzt und Höhen kommenden, in galiläischen Lebensgefilden
‚ sinnt. Nathanacl heißt auf deutsch: „Gott bat hin- quellenden, behende strömenden Jordan. Des
gegeben, Gott hat geschenkt.“ Was denn? — Dem Lebens Fluß erstirbt im Toten Meer. —
Menschen die Welt? Dich dir selbst? Der Welt Nicht weit davon entfernt in der Nähe jener
den Menschen? — Die Seelenrätsel werden groß. schwülen Oase Jericho, die den Namen vom
Wenschheitsfragen heischen Antwort. Die Seele Monde hat, da verhüllen wenig Weidenbäume und
träumt und sinzt. Sie sinnt und wacht und weiß dürftiges Gestrüpp den Ort am Jordan, wo der
sich im heiligen Land, das in allen seinen Erschei- Erlöser auf die Erde trat. Johannes hat ihn
nungen mehr ist als bloße Erdenlandschaft. Es kommen sehen als den, der der Welt Sünde trägt.
wird durchsichtig.in allem, was die Sinne schauen. In diese Tiefen steigt der Gott hinab, um
Nicht nur der Feigenbaum wird transparent. Es „Mensch“ zu werden unter Menschen, die diesen
wird das ganze Land durchscheinend, das ihn Namen erst erwerben müssen, deren Sündenlast
trägt. Die Sinnesbilder wollen überall Urbilder sich hier dem Erdenantlitz eingeprägt in so_
offenbaren im Heiligen Land. schauervoller Majestät wie nirgends sonst. Sodom
Ist es darum heilig, weil es das Land des und Gomorrha sind im Schwefelfeuer dort ver-
Menschen-Sohnes wurde— oder konnte es das Land sunken. Rot ausgeglühte Felsgebirge, zerrissen
des Menschensohnes werden, "weil es heilig ist? — und geborsten, klaffen am Ostufer des Toten
Heilig seit undenkbar fernen Zeiten, in denen Meeres empor, während das westliche Gestade in
Gott den Menschen aus seinen Schöpferhänden blaugrün schimmernden Salzquadern erstarrt da-
entließ und ihn der Erde übergab, ihm die Erde steht, stetig beleckt von den schweren Wellen des
schenkte und den Himmel verschloß, damit der toten Wassers, das jedoch die Salzkristalle nicht
Mensch sich selber fände. Der Mensch — der Er- mehr löst, weil es selbst gesättigt ist mit Salz.
kennende von Gut und Böse, der Göttergleiche — Am Jordan senkte sich der Gottesgeist in den
der Todgeweihte. Wo Adam, der Erdenmensch Leib des Menschen, der sich ihm zum Opfer gab.
begraben wurde, ist da nicht heiliges Land! Die Der Todesernst im Antlitz dieser einzigen Land-
Spur seiner göttlichen Vergangenheit und seiner schaft bestätigt und bekräftigt schweigend die
Taten bleibt der Erde eingeprägt, dieser Erde Wahrheit, die vom Reden vieler Theologen oft
hier, in der dem Menschen, dem Götterideal, der verdunkelt wurde und die der Täufer klar ge-
Hoffnung Gottes, das: Grab geschaufelt worden schaut hat: der Himmel öffnet sich, der Goties-
ist. In Jerusalem ist Adams Grab, um dessen Stille geist nimmt Wohnung “in eines Erdenmenschen
die Erwartung der Auferweckung seit Äonen Leib. In ihm sich offenbarend nimmt er den
schweigt, und die tausend grauen Gräber da unten Kampf auf mit den Todesmächten, denen Mensch
am Hang des tiefen Kidrontals, des Tales Josaphat, und Erde zu verfallen drohen.
sind sie nicht alle Bilder von dem Grabe Adams, Nahe ist der Berg der Versuchung, der im
der auf den Sohn des Menschen wartet, mit dem Westen der Jordantiefe am Wüstenrand mächtig
die ganze Erde wartet und sich sehnt, die um des emporragt. Hier ist ‚die Stätte, wo nach vierzig

85
Tagen und vierzig Nächten der Entbehrung der Berge der Verklärung. Man meint hier dem Apo-
menschgewordene Gott mit abgefallenen Götter- kalyptiker näher zu sein, dem Seher Johannes,
mächten ringt und ihnen nicht erliegt. Da traten der den Christus thronen sah, umflutet von der
die Engel zu ihm und dienten ihm. So berichtet Iris, dem leuchtenden Farbenbogen. Man versteht
es das Markusevangelium..Von der Engel Glorie auch Goethe neu — den Heiden und den Chri-
umflutet wandelt nun der wahre Gott auf Erden sten, der in seiner so viel verkannten Farbenlehre
und sucht die Menschen, die ihm folgen wollen. den Keim zu einer Wissenschaft gelegt hat, die
Er findet sie im Lande Galiläa. als wirklich christlich sich erweist, weil sie ebenso
* Naturwissenschaft wie Wissenschaft -des Geistes
ist, Natur als Geist-verkündend, Geist als Natur-
Galiläa ist ebenso eindeutig die Landschaft des gestaltend zu erkennen sucht. —
Lebens wie Judäa die des Todes. Dieser Eindruck Zur echten Palästina-Kenntnis gehören gauz
drängt sich dem fromm sinnenden Pilger ebenso wesentlich die Farben, die das Land durchfluten.
‚auf wie dem aufmerksamen Forscher. Seit Emil Wenig Baudenkmäler hat Palästina aufzuweisen,
Bock die Bedeutung dieser Polarität von Judäa die in die Zeit von Christi Erdenwandel zurück-
und Galiläa auf seinen Reisen in ihrer Tragweite führen und ein neues Evangelienverständnis ver-
erkannt und in seinen Werken für das Evangelien- mitteln könnten. Was da an Kirchen gebaut, zer-
Re ZuE u

. verständnis fruchtbar gemacht hat, wird sie als stört und wieder ‘errichtet wurde im Laufe der
unentbehrlicher Schlüssel gehandhabt werden für Jahrhunderte, entstellt bisweilen die geweihten
die Erschließung vieler Geheimnisse in den Stätten mehr, als daß es sie enthüllt. Allenthalben
Evangelien. viel Steine, Staub und Trümmer. Aber Farbiges
Man meint in Galiläa ebenso viel mehr der glänzt und leuchtet überall auf.
Lebenssphäre der Sonne näher zu sein als in Die Farben offenbaren in Reinheit das Geheim-
Judäa den Todesschatten des Mondes. In Galiläa nis des Christus-Wirkens in der Welt. „Das. Licht
erstrahlt zunächst nach der Taufe im Jordan un- scheint in der Finsternis.“ Wenn Finsternis das
umwölkt die Glorie des Menschenso — hnes
sonnen- Licht ergreift, so entsteht die Wesen-offenbarende
haft, Seelen weckend, Weisheit strahlend und heil- Wunderwelt der Farben. Das ist ebenso eine
sam begnadend. Jünger folgen ihm hier nach. Sie Naturtatsache, wie es die eigentliche Grundwahr-
ahnen und suchen, finden und lieben sein Sonnen- heit des moralischen Lebens ist. Farben sind Ver-
. wesen. klärungstaten. —
Unweit von Nazareth, wo Jesus Kindheit und Vom Berge der Verklärung in Galiläa blickev
Jugend verlebte, erhebt sich aus weiter Ebene und wir hinab in ferne Tiefen auf das blaue Rund
grünenden Fluren der Berg der Verklärung in des Sees Genezareth, und hinuntersteigend finden
seiner Halbkugelform wie ein irdisches Abbild der wir ihn umflutet, durchwogt und’ beseelt von
Himmelssphäre: der Tabor, zu dessen runder farbigem Leben, daß man ihn so recht den’ See der
Höhe die glänzenden Schneegipfel des Hermon Verklärung nennen könnte. Dem Toten Meer im
von Norden herübergrüßen. judäischen Wüstenbereich entspricht im gali-
Er ist die heilige Stätte, wo der Sinnesschleier läischen Land der See des Lebens. Auch er liegi
fiel vor den Augen der drei zum Schauen er-
weit unter dem Meeresspiegel, zweihundert Meter
wachten Jünger: Sein Antlitz leuchtet hell auf wie
tief. Aber so ganz anders als das Tote Meer. Wäh-
die Sonne, Seine Kleider erstrahlen so licht wie rend in dessen trüben Fluten durch den Gifthauch
der Firneglanz ewigen Schnees, so weiß wie kein unterirdischer Gewalten alles Leben erstorben ist,
Bleicher sie bleichen könnte. So genau beschreiben erscheint der galiläische See in seinem Äther-
es die Evangelien, die von der Glorie des Christus farbenschein wie eine Himmelsflut göttlichen
künden. Hier auf dem Taborberge will in be- Lebens, das sicı in blauer Tiefe sammelte, uw
sonderer Weise deutlich werden, wovon sie reden. dem Herzen der Erde näher zu sein. .
Wer könnte auf dem Berge Tabor weilen, ohne Was sich am See Genezareth zugetragen hat an
aufzuaimen in einer Welt sonnenhaft verklärten heiligen Geschehnissen des Christuslebens, ist von
und erhöhten Lebens! Besonders in der Abend- dem flutenden Farbenschein seiner wogend
stunde, wenn das helle Licht sich dem milden glänzenden Fläche ebensowenig wegzudenken wie
Dunkel neigt und die Farben um dich fluten, dich von dem Klangelement der bewegten Wellen, die
umwogen, schwebend ohne Schwere weben — als
in hellen Tönen am Ufergestein erklingen oder in
waltende Wesen, die des Schöpfergottes Gnade-
stiller Bucht dumpf murmeln, bald sturmgepeitscht
wirken siebenfältig offenbaren. gegen Klippen donnern, bald wieder sich sänftigen,
Ein neues, kommendes, kosmisches Christentum um in feierlicher Ruhe zu verstummen.
will sich ankündigen, das darum kosmisch genannt Im Umkreis des Sees geschahen die großen
werden darf, weil Himmel und Erde sich in ihm Wunder. An seinen Gestaden beruft der Herr
versöhnen — durdh die Kraft des Menschengottes,
die Jünger. Hier spricht er zu ihnen von den Ge-
dessen wahres Wesen zu erschauen war auf dem
heimnissen der Himmelreiche in Gleichnisreden.

86
lernen
rbaren Landes hilft das Evangelium neu verstehen
Da an den Uferhöhen geschahen die wunde fte Kunde von göttli ch-men schlic hen Er-
ausen d mit den sieben als bildha
Speisungen: der Viert natürlich-moralischen Tatbeständen,
mit den fünf Broten und eignissen, von
Broten, der Fünftausend
wunderbare von geistig-physischen Zukunftskräften.
zwei Fischen. Auf diesem See war der Die Neue Erde erscheint im Bilde des
Himm-
Rischzug. — lischen Jerusalem.
offenbaren Himmelstaten. Gött-
Erdenbilder sind es, die sich ir
die Sinneswelt Geistige - Wirklichkeiten
liches Geschehen leuchtet durch Bildern offenbaren, und diese Bilder
Seele wird hell solchen
hindurch. So ist es am See. Die en mit der
önt vom Welte nwort, er- rufen den Menschen auf zum Mitleb
von dem Licht, durcht alten Zeiten, in
die Seele wirklichen Geisteswelt. In den
wärmt vom göttlichen Leben. Wie findet erlebten
Bald hier lehren d und dort denen die Evangelien entstanden sind,
den Christus am See? außer dem Wachb ewußt sein
nde spei- eben die Mensc hen
heilend, bald am Uferhügel die Tause und dem bewußtlosen Schlaf noch einen
Zwischen-
Boot des
send — dann im sturmbedrängten zustand, der sinnentrückt und bildhaft war, in
Wind und Wellen
Nachts sich machtvoll erhebend, wesen-
n, — dann wie- denen sich ihnen wirklich Geistiges ebenso
beschwörend, daß sie stille werde ng das
sinkenden haft kundtat wie der Sinneswahrnehmu
der auf den Wogen wandelnd, den Irdisch-Wirkliche. Von Geisteswesenheiten und
den Christus
Petrus rettend. — So findet die Seele Geistestaten, die im Bilde zu erkennen sind,
am See. — Evangelien, und Palästina kann
em die die
Auch nach Tod und Auferstehung. Nachd
‘sprechen
wesenhaft ein-
acht ist, erscheint empfunden und erlebt werden als
Erlösungstat auf Golgatha vollbr in diese Götte rspra che. Denn es ist das
rn am See. Er bezog en
noch der Auferstandene den Jünge in auch das Irdisch-Ge-
fang kommen. heilige. Land, wo weith
steht am Gestade, als sie vom Fisch worde ne, das Sinnl ich-S ichtbare zum Bild ge-
Feuer, das
Er teilt das Morgenmahl mit ihnen am für Geist esoff enbarung.
Jünger dem worden ist
am Ufer brennt. Indessen sind die er So wenig die Bilds prach e des Evangeliums dem
Ölberg , wohin
Leibe nach in Jerusalem auf dem en Tagesbewußtsein entstammt, wie es
sie befohlen hatte, im stillen Hain, unter den gewöhnlich
eigen ist, so wenig läßt sie
des Gartens, der dem Menschen heute
Wipfeln der schattenden Bäume Mensc hen in diese m befangen bleiben.
Dort unter- den
heute noch das Kleine Galiläa heißt. ruft den Mensc hen über sich selbst
esieger, der Evangelium
weist er ihre Seelen — der Tod-B — hinauf . „Wir erheben unsere Seele...“
rn vom See- hinau s
Geist-Erwecker. Noch immer in Bilde re, spontane Antwort des
die Erfahrungen das ist die unmittelba
gestade erscheinen den Jüngern hen auf wahre Evange-
rerstandenen. geistesgegenwärtigen Mensc
ihres neuen Lebens mit dem Wiede lienv erkün digun g. In ihr spricht sich ein weit-
zur Himmelfahrt,
So durch die vierzig Tage bis hluß aus, gebor en aus dem Gefühl
Engel zu den in tragender Entsc
bis zu der Stunde, da die beiden g des Könnens zur
sprechen: des Mutes und der Vorahnun
die Wolken des Hiumnels Schauenden Erheb ung in die Geist eswelt.
stehet ihr hier wirklichen
„Ihr galiläischen Männer, warum Evang elium , in seiner Gesamtheit neu ver-
wird wiede r- Das
und blicket in den. Himmel! Er Geistesoffenbarung, wird
en Galiläa auf standen als lebendige
kommen!“ Das geschah im Klein künftig wieder seine Seele n-weckende Kraft ent-
dem Ölberg im Osten von Jerusalem. und Mensc hen ermut igen und ermächtigen,
chaft mehr. falten
Nun ist Galiläa keine irdische Lands gen Tages wachb ewußt sein heraus,
und wirk- aus dem heuti
Es ist ein Seelenzustand, wesenhaft nicht das einzig mögli che ist, höhere Bewußt-
der Erde, die nur das
licher als die Landschaft auf ach
. seinsstufen zu ersteigen, auf denen sie hellw
mehr den Wert eines Bildes behält höher en Welte n neige n — die
Bild. Das’ bewußt sich den
Nicht nur der See in Galiläa ist ein en sind — aus denen neue Christus-
ild werde n, Gnade -Welt
ganze heilige Land kann zum Wahrb ist.
und See offenbarung zu gewärtigen
jede Grotte, jeder Stein, Wüste, Berg Rudo lf Köhler
Kenntnis des heilig en
und der Feigenbaum.

Das am Himmel abgelesene Osterfest


im Ein-
e geschult, in völliger Selbständigkeit, doch
Als Columba in Gallien seine Klosterstätt der westli chen Kirche , den Jahres-
durch den Himme l eine Fackel, klang mit
baute, ging nachts legen.
es wäre Festes-Rhythmus festzu
die so hell leuchtete, daß man glaubte, üllt in
erschi enen am Firmam ent. Die ‚keltischen Menschen ruhen eingeh
Tag, und Schlac hten den Erdpl anete n trägt. Das
wenigen das Göschehen, das
Diese Schlachten wurden schon nach dem Winter
schen Höhersteigen des Sonnenbogens nach
Jahren für ihn zum Kampf mit der fränki Monden ist
und sein Versinken in des Herbstes
und römischen Kirche. ein ebenso wirklich Miterlebtes, wie .das
Durch die hibernischen Weisen war der Mönch
ihnen

87
Fallen und Steigen ihres eigenen Atems, oder wie schwungenere Bahnen in das Bild der Fische. Nun
das Auf- und Niedergleiten der Meeresflut an den geht sie durch die Himmelsschrift des Widders:
Klippen von Bangor. sie strahlet aus dem Lamme! Gemeinsam senden
Doch sehen sie in den Sonnenwegen, in den Lamm und Sonne den Weckruf nieder.
Sternenbahnen nicht nur den äußeren Schein: sie Die Tageshelligkeit überwiegt jetzt im Jahres-
spüren liebend waltendes Götterwirken in ihnen, bogen. Doch kann die Erde auch bei Nacht er-
und ein großer Teil all ihres Wollens ist darauf schimmern. Es wächst die Mondenschale; sie wird
gerichtet, diese Himmelssprache recht zu deuten, zum Sonnenlichtesträger. Im Westen sinkt in Rot
um dadurch für die eigenen irdischen Feste den und Gelb das Taggestirn: zur selben Stunde
gottgewollten Tag zu finden. flammt der Vollmond am Osthimmel empor. Licht-
Der Iren größtes, heiligstes Fest ist Ostern. Die bespült ist die Erde nun im ganzen Umkreis, Es
Auferstehung Christi ist Licht: zum Kosmos, dem ist Ostern.
Schenker allen Lichtes, wendet der Mönch den Gewaltig ist die Himmelssprache. Columba kniet
fragenden Sinn, wenn er den richtigen Tag für vor dem kleinen Altar der Kirche: „Ein Gott starb
diese Feier bestimmen will. in die Erdennacht hinein, sie zu durchleuchten.
Drei Rhythmen wallender Siernenwege geben Durchglühe uns! Mach uns zum Christusträger!*
im Auf- und Niederschwingen einer großen Fuge Die Mönche singen, und ihre Seelen fließen mit
ihm unzweideutig ihre Weisung: es sind die den Klängen. In ernster Seligkeit schweben sie im
Rhythmen zwischen Erdenstern und Sonne, im Äthermeere. Sie sehen ungezählte Lichtesboten,
wachsenden und schwindenden Strahlenweben des welche die Erde in den Widerschein ihrer Ge-
Jahres —, die Rhythmen zwischen Mond und wänder hüllen. So kann sie in die Weite leuchten,
Sonne in viermal sieben Tagen —, der Wellen- äls hätte sie den Mond in sich hineingenommen,
schlag von Tag und Nacht. als hätte sie begonnen, selbst Sonne zu sein.
Aus ihnen wächst der Tag der großen Harmonie
Die Nacht rinnt vorüber. Süßester Jubel durch-
hervor, an welchem von den Göttern selbst mit
flicht die ergrünenden Wälder, Wonneschauer
heller Schrift die Zeichen eingeschrieben werden haucht über Wasser, heiliges Wollen des Planeten,
am Firmament, die verkünden, daß das Fest de aufzublühen und aufzusprühen im Geisteswerden.
Lichtsieges aus der Höhe erstrahlt. "
‚Bleich zog in der Winterszeit die Sonne im Aus: Maria Schindler: Columba (Orell Füßli
Tierkreisbild des Steinbocks und des Wasser- Verlag, Zürich 1934), Kapitel: Kampf um die
manns worüber. Dann stieg sie durch ge- Anerkennung des Sternenwillens.

Die Christengemeinschaft vor dem Forum des Zeitalters


” Zwei Zeugnisse aus verschiedener Zeit will er die Erde durchdringen, daß sie geist-
schwanger werde, und will sich ‘an ihr eine
Es gibt manche prophetische Worte, mit denen Freundin seiner besten Stunden, eine ernste und
im vorigen Jahrhundert bedeutende Geister die doch heitere Gefährtin seiner reifsten und männ-
neue Reformation,
as

die neue Stufe des Christen- lichsten Jahre gewinnen...“


tums über Katholizismus und Protestantismus „Also eine neue Entdeckung tut der Religion
hinaus gefordert und vorausgesagt haben und die not, wenn das dritte Weltalter anbrechen soll.
- wir in der. Christengemeinschaft als innere Be- Wie, wenn es abermals-etwas von einem heiteren
stätigung unseres Strebens erleben. In dem Roman Paganismus* annähme?..., das wird das neue
des.mit vielen Weltgeheimnissen wohlvertrauten Christentum sein, welches. mit der Krippe zu
Dichters Karl Leberecht Immermann (1796 Bethlehem im Busen des Gläubigen beginnt und
bis 1840) „Münchhausen“ (1839) findet sich in dessen letzten andächtigen Minüten die jüngste
folgende heute schr aktuell anmutende Stelle. Offenbarung feiert. Die Erleber dieser neuen
„Der bekannte Dichter Immermann“ sitzt in der Konfession (denn Lippen werden nicht oft sie zu
Krypta der Christenkirche und meditiert über bekennen vermögend sein, weil dieses Dogma
seinen Glauben: über das Wort. hinausgeht) werden zugleich
„Soviel ist richtig — der Tod und der Himmel Katholiken sein und Protestanten und Quäker
‘sind zurückgewichen in den Hintergrund der Ge- und Ketzer. Anfangs wird die Gemeinde klein
danken, und auf der Erde will der Mensch wieder sein und verachtet, oder des abscheulichsten In-
menschlich heimisch werden. Heißt das: er will differentismus bezichtigt, nach und nach wird sie
das Fleisch bei Champagner und Austern emanzi-.
sich ausbreiten und zuletzt die allgemeine Kirche
pieren? Nein. Heißt’s: die ‚Erde soll ihm nur das werden. Die Stiftung dieser Kirche wird nicht von
Mistbeet sein, in dem er sich sein Gemüse zieht? dem Willen der einzelnen abhängen. Unbewußt,
Nein. — Sondern mit den Blitzen seines Geistes * Heidentum

88
darch schwere, vielleicht furchtbare Ereignisse braucht, sondern ebenso heiß nach dem himm-
wird der Geist Gottes - sein unwiderstehliches lischen Tau des Himmels begehrt! Und dieser Tau
Nötigungsredit ausüben. — Aber so ausgeweitet, ist für die Religion. die Mystik. Und es war der
in diesem erschlossenen Bewußtsein, wird der ‚bitterste Irrtum und die gefahrvollste Klippe,
Mensch erst würdig sein, von der Erde auf neue welche die evangelische Priesterschaft sich, selber
Weise Besitz zu nehmen. Dann wird sie ihm aufrichtete, daß sie den mystisch-romantischen Ast
Kränze ‚bieten, deren Duft und Glanz noch nie- ihres Religionsbaumes so sehr beschnitten!
mand ahnet. In dem Sinne werden der Enkel Wenn ich heute höre, daß Tausende und Aber-
Enkel wieder Heiden werden, daß sie es für Ge- tausende sich von diesem Glauben wenden und
winn achten, wenn sie einen Gott mehr be- mit weit geöffneten Herzen ins Lager der Chri-
kommen.“ un stengemeinschaft übertreten, darunter so mancher
* evangelische Pastor, so ist damit durchaus nicht
gesagt, daß diese Kirche an sich ‚nichts taugte,
Als die Christengemeinschaft erst wenige Jahre sondern das andere: — daß auch das Herrlichste
alt war, kam Hans Sterneder in seinem Buch und Edelste auf die Zeit hinaus der Mystik nicht
„Frühling im Dorf. Tagebuch eines Besinnlichen“ entraten kann.
(1929) auf sie zu sprechen. Er sieht sie durch das Das weiß die Christengemeinschaft, die ‘in
Prisma seiner populären reichlich naiven Gefühls- Deutschland ‘wie auch anderen Ländern trotz
mystik, durch das »ie nur verzerrt erscheinen ihres kurzen Bestehens sich überraschend aus-
kann, und überschätzt in seinen Zahlenangaben breitet, Priester und Kirchen besitzt und deren
ihren äußeren Bestand ganz erheblich. Außerdem Anhänger nicht etwa Vereinsmeier und Modemit-
stimmt es nicht, daß die Christengemeinschaft sich macher, sondern lebendig Gläubige sind, und es ist
aus solchen Menschen zusammensetzt, die einer darum ihr höchstes Ziel, das Wort Gottes wieder
der bestehenden Kirchen abtrünnig gemacht wer- dadurch zu dem alten, lebendigen und gewaltigen
den. Zu uns kommen diejenigen, die bereits reli- Worte zu machen, welches es um und vor der
giös heimatlos geworden sind. Immerhin schwingt Gotik war, daß sie nicht nur alle Mystik in ihre
in seinen Worten etwas von dem Sehnsuchtsruf Kirche ‘wieder aufnimmt, — sondern, weit über
der suchenden Zeitgenossen mit, dem Jie Chri- die katholische Kirche hinausgehend, in der der
stengeimeinschaft durch ihre Wirksamkeit ent- heimliche Rosenstrauch der Mystik noch blüht
sprechen möchte. und duftet, — leider hinter verborgenen Tempel-
Sterneder geht von seiner Entrüstung darüber vorhängen, — indem sie die Vorhänge weit vor
aus, daß man in so vielen Kirchen „die ewige diesem Rosenstrauche zurückzieht... \
Lampe“ durch elektrisches Licht ersetzt habe: Die Not ünserer Jahrhunderte ist, daß unsere
„Es ist mein heiliger Zorn über die heim- Priester nicht mehr,‘ wie einst in den Mysterien-
tückische Nüchternheit unserer Zeit, die allem die schulen der alten Ägypter, — um es plump auszu-
Seele raubt, alles vermechanisiert, und mein Ver- drücken —, in die Esoterik unserer Religion ein-
druß, daß sich auch unsere Priester von ihr schon geführt werden, sondern nur in die Ausübung
so weit haben einspinnen lassen, daß sie aus den und Ethik der Religion. Ich will damit sagen: daß
Gotteshäusern immer mehr die lebendigen Sym- ihnen wohl mit Worten.alles und jedes gewissen:
bole, die fackernden, atmenden, heiligen Flam- haft beigebracht wird, was in unserem Glauben
men verdrängen und ausroiten lassen und durch an Worten und Sätzen vorhanden ist, daß sie sich
starre, - stumpfe, leblos brennende elektrische aber nimmer das mit tausend blutigen Wunden
Birnen ersetzen... und wahnsinnigstem Kampfe ersiegen müssen,
An allen Feken und Fnden wird über die Reli- was dahinter, tief, tief dahinter das lebendige,
gionslosigkeit unserer Zeit geseufzt, rufen die heilige Feuer der Worte ist!“ "EB.
Priester klagend ins Volk — und scheinen nimmer \

zu bedenken, daß die tiefste Wurzel jeder Reli-


gion die Mystik ist! Hier muß. das ewig hungrige Um eine gegenwartsgemäße
Herz gefaßt werden: durch Mystik, nicht aber Kultuserneuerung
durch elektrischen Talmiglanz! Es ist mir so oft Als Professor Adolf Köberle-Tübingen letzten
von dem heimlichen Hunger gesagt worden, der Herbst bei einer Pfarrertagung der Fvangelischen
irimer- stärker durch die Gemeinden der evange- Landeskirche Württemberg in Bad Bo’l mit
lischen Kirche sich fressen soll. Ich bin, bei Gott, manchem freundlichen Wort der persönlichen
der letzte,. der, sei es welche Religion immer Hochachtung über die Christengemeinschaft refe-
— wenn hinter ihr ein lebendiger Glaube steht —, rierte, empfahl er abschließend den Pfarrern an-
gegen diese sich verschließt! Ich weiß zu wohl, gesichts der unverkennbar wachsenden Sehnsnchi
was und wieviel am Protestantismus gut ist, — ich der Suchenden nach Kultus und des besorgnis:
weiß aber auch, daß die Seele des Menschen ewig erregend-zunehmenden Einflusses der Christenge-
wie die Pflanze ist, die nicht nur die Sonne meinschaft: „Gebt den Berneuchenern Raum

8
|—
in der Kirche!“ (obgleich, wie er hinzufügte, eine Messe“, wie sie von ihnen gefeiert und zwar
Änderung der Gottesdienstordnung in der Landes- intoniert_ gesungen wird, beruht nicht
BZ

auf einem
kirche nicht in Frage komme). Es muß uns aus neuen Wortlaut, sondern ist eine Zusammenstel-
solchen Anlässen einmal hier interessieren, lung älterer ehrwürdiger Gehetstexte und liturgi-
welchen Bezug die „Berneuchener* zum Wirken scher Gesänge, wie sie in der Reformationszeit in:
der Christengemeinschaft haben und inwiefern sie der evangelisch gewordenen Kirche noch in Übung
der Kirche als Schild gegen dieses dienen sollen. waren, und führt ohne eigentliche „Wandlung“ zu
Unter Führung des jetzigen Landesbischofs von einer Kommunion. Diese Deutsche Messe wird
Oldenburg Dr. Wilhelm Stählin, des Pfarrers heute in manchen Kirchen mehr versuchsweise. z.B.
Dr. Karl Bernhard Ritter-Marburg und anderer als Frühgottesdienst unter Anteilnahme suchen-
Männer der Kirche ist der Berneuchener Kreis der Menschen, gefeiert, ohne daß sie sich in der
bald nach der Begründung der Christengemein- Gottesdienstordnung der Kirche hat durchsetzen
schaft Anfang der zwanziger Jahre entstanden können. ,
und hat sich vor allem die Neubelebung des Kul- _ In einer evangelischen Wochenschrif
t „Sonn-
tus im Rahmen der Evangelischen Kirche zur Auf- tagsbote“, Neuwied, November
1947, findet sich
gabe gestellt. „In dem gleichen Jahr 1923 entstand nun ein an die breite kirchliche
Öffentlichkeit ge-
‚aus den von Rudolf Steiner gegebenen An- richteter Artikel von Karl
Bernhard Ritter, „Der
regungen die Christengemeinschaft. Mit manchen lebendige Kulı“, der Begründungen
dieses kulti-
der Männer, die bei dieser Neugründung beteiligt schen Erneuerungsstrebens enthält,
wie man sie
waren, waren etliche von uns in alter Freund- sehr ähnlich in unserem Kreise immer schon,
schaft verbunden. Aber obwohl wir fast von der hören konnte: „Was christlicher Gottesdienst im
gleichen Verzweiflung über den Zustand der tiefsten Grunde ist, das verstehen wir nur im
evangelischen Kirche erfüllt waren, wöllten wir Blick auf dieses ewige Geschehen in der oberen
doch nicht diese Kirche gleich einem sinkenden Welt. Der Gottesdienst, den wir hier auf Erden
Schiff verlassen, um uns einem Reitungskahn an- feiern, ist ein Abbild und Widerhall des himm-
zuvertrauen...“ ‚(Wilhelm Stählin 1937 in lischen Gottesdienstes. Christus, der auferstandene
„Berneuchen“). Innerhalb dieses Kreises ist ferner Herr, ist mit seinem Opfer unter uns gegenwärtig.
1931 die „Evangelische Michaelshruderschaft“ be- Das ist der Sinn der Mahl-Feier, die von Anfang
gründet worden, die einem Orden vergleichbar an die eigentliche Gottesdienstfeier der christ-
nach einer bestimmten Regel wirkt und lebt. lichen Gemeinde gewesen ist.“ Wenn im folgenden
Sowohl Stählin, damals in Nürnberg, als auch Abschnitt von der neuesten Forschung gesprochen
K. B. Ritter, damals an der Neuen Kirche in Ber- wird, so möchte man als Kenner der Schriften
lin, sind unmittelbar vor der Begründung heider von Fmil Bock fragen, welche Theologie wohl
Bewegungen mit. Friedrich. Rittelmeyers Wirken eigentlich hier gemeint sein kann: „Die neueste
in starke Berührung gekommen und waren tat- theolögische Forschung hat uns die Augen dafür
sächlich, zum Teil von der Jugendbewegung her, geöffnet, daß der Gottesdienst der Urgemeinde
mit manchen unserer Mitarheiter gut bekannt. Als erwachsen ist aus den Frfahrungen des Jünger-
nun die Christengemeinschaft (1922, nicht 1923) kreises von der Gegenwart des auferstandenen
darangegangen war, ein- neues freies Gemeinde- Herrn in ihrer Mitte, die ihm während der vierzig
leben (nicht als Rettungskahn für sich, sondern Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt ge-
als ungehemmt fließende Kraftquelle für die schenkt wurden. Deutlich lassen die Osterberichte
Menschheit) zu begründen, den aus geistigem der Evangelisten erkennen, daß: diese wunder-
Schauen erneuerten Kultus und Sakramentalismus baren und beseligenden Erlebnisse verbunden

irre
zu pflegen und in die christliche Verkündigung waren mit einer Mahl-Feier, die der Auferstandene
das Licht der neuen Geisterkenntnis aufzu- mit seinen Jüngern hielt. Sie erfuhren so die Er-
nehmen, wollten die Berneuchener, in Sorge um füllung der Verheißung, die ihnen Jesus am Vor-
die Kirche und beeindruckt wenn nicht beeinflußt abend seines Todes mit. der Stiftung am Grün-
von unserem Schritt, etwas Entsprechendes inner- donnerstagabend gegeben hatte.“ Und am Schluß
halb der Kirche unternehmen, jedoch ohne die finden sich Gedanken, wie sie fast wörtlich vom
Anthroposophie. Ob sie ohne ein gewisses unver- Anfang an in der Christengemeinschaft heraus-
bindliches Aufnehmen von Anregungen aus dieser, gearbeitet worden sind:
x. B. über unsere Hahdhabungen und unsere
„Wenn wir dem nachsinnen, spüren wir wehl.
Literatur, in gleicher Weise zu ihren Ideen und alle, daß unser Gottesdienst an Fülle und Tiefe
ausgerechnet zu einer „Michaelsbruderschaft” ge- geistlichen Geschehens nur allzusehr verloren hat.
kommen wären, bleibe hier dahingestellt. Jeden-
Haben wir eigentlich noch ein lebendiger Bewußt-
falls war ihnen die Frneuerung des Kultus in der
sein davon, daß jeder christliche Gottesdienst eim.
Kirche in vorderster Linie wichtig, und durch ihre wunderbares, von Gott gewirktes Ereignis in. sich
liturgischen Versuche und Ühungen sind sie auch
schließt? Ist die Kirche nicht für viele zur
am meisten bekannt geworden. Die „Deutsche
‚Schule‘ geworden, in der die Gemeinde selbst

EL
nur noch hörend, Belehrung und Ermahnung
empfangend, beteiligt ist? Müssen wir es nicht „De papa male informato ad papam melius
ganz neu lernen; daß wir im Gottesdienst als der \ informandum‘*
Leib Christi zum Handeln erweckt und befähigt
\

Den Austritt des Pfarrers Walter Barck aus dem


werden, daß wir: da alle miteinander eingefügt Dienst der Badischen Landeskirche betreffend
werden in die Gemeinschaft der ganzen Christen-
heit im Himmel und auf Erden, daß über jeden
Am 23. Juli 1947 teilte ich in mündlicher Aus-
Altar der christlichen Kirche der Himmel offen sprache llerrn Oberkirchenrat X meine Absicht
mit, in den Dienst der Christengemeinschaft über-
steht? Daß hier nicht zwischen Menschen — zwi-
zugehen... Ich wurde aufgefordert, meinen
schen dem Pfarrer und seiner Zuhörerschaft —
Standpunkt in dieser Sache „im extenso“ darzu-
gehandelt wird, sondern daß wir alle dem Altar
legen, was hiermit geschehen soll.
zugewandt sind als dem sichtbaren Zeichen fur
die offene Tür, durch die uns in der Krafı des
Da die Belange .der Christengemeinschaft sowie
der Anthroposophie bis heute in der Öffentlichkeit
Opfers Christi der Zugang in das wahre Heilig-
noch von viel schiefen, oberflächlichen und
tum gewährt ist?“
Es kann ganz gewiß nicht unsere Neigung sein, falschen Urteilen und Meinungen, hervorgegarigen
aus Unkenntnis, menschlicher Bequemlichkeit oder
anderen Christenbrüdern ein Streben zu be-
direktem Haß, umgeben sind, so darf ich in dieser
streiten, das an das eigene erinnert. Doch sollien
für mich persönlich und für die Fntwicklung der
Quellen, die eben gemeinsame sind, ehrlich ge-
nächsten Zeiten so überaus bedeutsamen An-
nannt werden. Man kann sich freuen, wie weil-
gehend heute Übereinstimmung wenigstens in der gelegenheit die herzliche Bitte aussprechen,
Forderung nach religiöser Erneuerung des Goties- meinen Ausführungen die vorurteilsfreieste und
Jienstlebens herrscht und wie die Zeit unser An- objektivste Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich stamme aus der liberalen Schule und habe
liegen bestätigt. Wenn aber die Kirche die
mich durch das sorgfältigste Studium der Anthro-
Berneuchener als unseren kirchlichen Doppel-
posophie zu einer positiven und zugleich spiri-
gänger zur Hilfe ruft, um das ihr gefährlich er-
tuellen Auffassung des Bihlischen Wortes und der
scheinende Vorschreiten der Christengemeinschaft
religiösen Belange überhaupt entwickelt. Nie habe
einzudämmen, so muß auf die in Wahrheit vor-
ich ein Hehl daraus gemacht. Meine theologische
liegenden Beziehungen hingewiesen werder.
Entwicklung hat mich zu einer Lösung der durch
Adolf Köberle selbst, der diesen Hilferuf er-
die theologische Entwicklung der letzten Jahr-
tönen ließ, hat zu viel Einblicke genommen, als
hunderte sich hindurchziehenden Spannungen ge-
daß er diesen Beziehungen gegenüber naiv sein
führt. Zu ihrer Charakterisierung kann ich an das
könnte. Und wenn Stählin den „Abfall der. Kirche
Religionsgespräch in Marhurg anknüpfen. Luther
von ihrem eigentlichen Auftrag in dem Mangel
erscheint hier als der Mann des frommen, tiefen,
an einer das Weltganze durchdringenden Erkennt-
deutschen Gemütes, der die Realpräsenz des Auf-
niskraft“ (Berneuchen 1937) sieht, so müssen wir
erstandenen so stark und so lebendig fühlt, daß
sein christliches Streben so lange für ernstlich ge-
demgegenüber alle Finwände der unfrommen
fährdet halten, als er die umfassende Erkenntnis-
Vernunft nicht stichhalten können. Zwingli da-
kraft der Anthroposophie zwar indirekt mit-
gegen stellt sich dar als der eigentlich moderne
benutzt, aber gleichzeitig ablehnt.
Mensch, der aus dem Bestreben nach denkerischer
. Der Beobachter konnte nicht bemerken, daß
Sauberkeit nichts anerkennen kann, was ihm aus
sich in Berneuchen eine „das Weltganze durch-
Gründen der klaren Vernunft als unsinnig (der
dringende Erkenntniskraft“ offenbart hätte, die
„bröterne Gott!“) erscheinen muß. Der Landgraf
es rechtfertigen würde, von einem „Blick auf
Philipp als der Vermittler aus politischen Motiven
dieses ewige Geschehen in der oberen Welt“, von
muß demgegenüber völlig versagen. Der unbe-
einer Kenntnis des „himmlischen Gottesdienstes“
friedigende Ausgang des Marhurger Gespräches
zu sprechen, ohne damit den alten inhaltslos ge-
wirft seine Schatten bis in die Tage von Treysa,
wordenen religiösen Formeln neue hinzuzufügen.
da man sich um irgendeine Finigung der evangeli-
Eine religiöse Morgenfeier wird nicht dadurch
schen Christenheit Deutschlands bemüht. Fine
zum „Kult“ oder zur „Messe“, daß man sie aus
Einigung aber nur ans einem mehr oder weniger
alten liturgischen Texten, Gesängen, Gewändern
guten Willen heraus wird auf die Dauer sich als
susammenfügt, sondern erst, wenn sie durch die
ebenso unmöglich erweisen wie zu den Zeiten
Wandlung in übermenschliche Kraftfelder einbe-
des Landgrafen. Wem soll der Primat gehören,
zogen wird. Man wird immer in der Gefahr sein,
dem Kopf oder dem Herzen oder den Händen?
Steine statt Brot zu geben oder zu empfehlen,
wenn man dem wachsenden Weihebedürfnis .der * „Von dem schlecht-informierten Papst an den
besser zu informierenden“ (Martin Lnther). Wir
Menschen Liturgien bietet statt eines aus der drucken ‚hier Stücke aus dem Schreiben ab. das einer
heutigen Geistwelt abgelesenen Kultus. unserer am 1. Advent 1947 zum Priester geweihten
Mitarbeiter an den Evangelischen Oberkirchenrat
Kurt von Wistinghausen Karlsruhe gerichtet hat.

91
Kant mußte das „Wissen aufheben, um zum ist wie die grobsinnliche und zu der der ganz
Glauben Platz zu bekommen“. Aber angesichts klare Weg eines allersichersten, eisenfesten und
dieser betrühlicdhen Konsequenz, aus deren Not kristallklaren Erkennens hinführt.. Man versuche,
mancher heute noch Prominente glaubt ungestraft ohue vorgefaßte Antipathie eines der grund-
eine Tugend machen zu können, ist es immerhin legenden Werke Dr.Steiners zu lesen und zu
einigermaßen tröstlich, sich zu vergegenwärtigen, prüfen, Ich selbst habe es getan. Ich habe viel
daß Kant wenigstens nicht amtlich zu den Kirchen- Mühe und Geduld zu diesem Weg gebraucht. Aber
vätern gehört, auf dessen verba man einen ich weiß im ganzen europäischen und außereuro-
heiligen Eıd ablegen müßte. Welch unheilvolle päischen Geistesleben keinen besseren Weg. Man
Folgen aber aus einem Auseinanderfallen des zeige mir einen noch besseren, ich werde ihn
ganzen Menscıenwesens in ein glaubensloses sofort ohne Zögern gehen. An der Anthroposophie
Wissen und ein erkenntnisloses Glauben (wie als solcher läge mir ebensowenig, wıe Luther
auch andererseits in ein erkenntnisloses Wollen daran gelegen war, daß die rechten Christen sich
und ein willenloses Erkennen) sich ergaben, dürfte nach seinem Namen benannten. Anthroposophie
die.jüngste Vergangenheit deutlich gezeigt haben: ist kein Erkenntnisinhalt, sondern ein Erkennitnis-
‘Vor dem glaubenslosen Wissen einerseits und ziel, ein Weg zur Wahrheit. „Die Wahrheit wird
dem erkenntnislosen Wollen andererseits mußte euch frei machen.“ ‚Und da Christus die Wahr-
der erkenntnislose Glauben kapitulieren. So kam heit ist, so ist Anthroposophie ein Weg zu Chri-
das Chaos... stus. Diese Aussage ist für mich mehr als ein nur
Ich hätte zunächst ein Mann des EL formallogischer Schluß....
losen Glaubens voll guten Willens werden können. Die Zahl der Schlichtgläubigen hat unter dem
Abgesehen davon, daß ich dazu wenig Ver- Einfluß des Zeitgeistes rapid abgenommen. Noch
anlagung, Tradition und Liebe mitbrachte, stieß zu meiner Jugendzeit war es auf dem Lande eine
mich der „Narr in Christo“ ab. Mit Tolstei hatte Selbstverständlichkeit, daß beim Abendläuten Er-
ich schon mehr zu schaffen. Bodelschwinghs wachsene und Kinder auf der Straße stille hielten,
Liebestaten begeisterten mich. Doch mit Liebe die Mütze oder den Hut abnahmen und’ ein Gebet
und Glaube allein kann man keine theologische sprachen. Fast restlos: ist diese durch Karl den
Schule bauen. Ich halte den Gründer der Beiheler Großen eingeführte Sitte in wenigen Jahrzehnten
Anstalten für einen der größten Christen der verschwunden, und dies nicht nur in Deutschland.
protestantischen Zeit. Aber in seiner Theologie Kein Einsichtiger leugnet das rapide Schwinden
hätte ich ihn mir ebenso hell gewünscht, wie er der alten religiösen Substanz. Nur die Besserungs-
in seinen Gründungen warm war. Mit Wärme vorschläge divergieren beträchtlich. Da kann man
allein hat man noch keine Frkenntnisse, wenn sie etwa zwei Wege einschlagen. Erster Weg: Man
“auch eine unumgängliche Vorbedingung dazu ist. verstärkt den Appell an den guten Willen, man
Oder ich hätte ein Fanatiker des guten Willens veranstaltet Schulungen, Tagungen, Bibelkurse,
werden können, in rein religiöser oder in säkulari- verteilt Bibellesezettel u. dgl. All dies ist gut und
sierter Art: Tolstoi etwa, die „religiösen Sozia- schön und sollte in jeder nur möglichen Weise ge-
listen“, kamen in Frage. Ich danke es den durch pllegt werden. Aber trotz voilsten Einsatzes
Rudolf Steiner gewonnenen Einsichten, daß ich kann auf solchem Weg höchstens halbe Arbeit,
durch ihn 'vor vielen Dummheiten, vor Blindheit Restaurierungsarbeit geleistet werden. — Des-
und Brutalität bewahrt wurde. halb: Zweiter Weg: Man vertieft die Erkenntnis
Oder ich hätte ein Materialist mit oder ohne ‘der Bibel, indem man ihren spirituellen Gehalt
religiöses Mäntelchen werden können, sauberen, neu entdeckt. Hieronymus hat von einem sieben-
aber kalten, und wie ich wieder den Einsichten fachen Textsinn gesprochen. Sollte nicht wenig-
Rudolf Steiners verdanke, im Ansatzpunkt fal- stens ein Teil davon zutreffend sein? Man müßte
schen Denkens. Auf diesem Weg erklärt man die auf solche Weise die Bibel nicht nur als Er-
Bibel philologisch, und was man dabei noch über bauungsbuch für die persönliche, manchmal sogar
die Auferstehung Christi zu sagen weiß, habe ich etwas eigensüchtig ausschauende Erbauung ge-
aus eigenster innerster Not schmerzlich empfun® winnen, sondern als umfassendes Erkenntnisbuch
den und kann man in jedem liberalen Kommentar etwa im Sinne eines Oetinger, der die Bibel neben
nachschlagen. ' dem Experimentiertisch liegen hatte... ,
Ich danke es Rudolf Steiner, in einer tiefen, Ich sehe vor mir entweder ein Chaos, dem-.
umfassenden Weise danke ich es ihm, daß er mir gegenüber die teilweise müde gewordenen Kräfte
“durch das Studium seines Lebenswerkes dafür die ‚des Protestantismus werden ebenso versagen
Augen geöffnet hat, daß es hinter der Sinneswelt müssen, wie sie nicht fähig waren, die großen, bis
nieht nur eine moralisch-philosophische Welt der ins Politische sich auswirkenden Niedergangs-
„Werte“ oder eine Welt des hypothetischen, ver- kräfte zu paralysieren bzw. zu heilen, oder aber
trauenden Glaubens, sondern eine reale übersinn- — ich kann es nach reiflichster Überlegung und
liche Welt gibt, die mindestens ebenso reichhaltig gewissenhaftester Prüfung nicht :anders .aus-

92 00%
Deutsche Messe, ohne zu prüfen, ob diese Formen
drücken — die Begründung- einer neuen Kultur,
der heutigen Bewußtseinslage oder etwa nur der-
die auch eine Reform des Protestantismus in sich
son- jenigen der damaligen Zeit entsprechen.
schließt, zwar nicht an Haupt und Gliedern,
dern an Tiefe, Kraft und Weite...
26 Jahre lang habe ich versucht, den mir anver-
Im Protestantismus hat man ganz allgemein bis- trauten Menschen, so gut ich konnte, den Weg zu
her zu großen Wert auf die Predigt im Verhält- Christus zu zeigen. Aın Anfang Jieser 26 Jahre
die Ordination, die mit Redıt als ein Ge-
nis zum Kultus gelegt. Dieses Wertlegen auf das stand
der Persönlichkeit des Predigers entspringende lübde und nicht als eine Weihe aufgefaßt wird.
Erklären, Verteidigen, Begründen der göttlichen Eine protestantische Ordination fordert ihrem
Tatsachen stand zu keiner Kulturzeit und in Wesen nach von dem jungen Pfarrer mehr, als sie
keiner Religionsübung im Vordergrund außer in ihm gibt. Sie fordert von ihm persönliche Verant-
Mitteleuropa seit dem ‚Beginn der Neuzeit, (von wortung, persönliche Treue, persönlidıen Dienst.
befreiend muß es wirken, wenn man den An-
dem von Mitteleuropa beeinflußten Nordamerika Wie
zu leistenden
fang eines solchen persönlich
abgesehen) und entspricht durchaus nur dem hinter Weihe umklungen
Dienstes mit einer wirkliche n
uns liegenden Zeitalter der naturwissenschaft-
lichen Entdeckungen, der Aufklärung, dem Indi- und sich dadurch einerseits in seinem persönlich
vidualismus. Dieses Sichwenden an die menschlich- zu leistenden Streben gestärkt und ermutigt, zu-
auch entlastet fühlt, weil das Sakra-
persönliche Verstandestätigkeit in der Aufnahme gleich aber
Bewiesenen, ment selbst objektiv tragende Kraft besitzt...
des in der Predigt Entwickelten,
Wenn schon die Kirche die von historischen
Widerlegten hat notwendigerweise dazu beitragen
die feiernde Gemeinde sich in lauter Schlacken befreite Kirche des Urchristentums sein
müssen, daß
Individualiimen oder Sektenbildungen auflöst. will, sollte man nicht davor zurückschrecken, zu
Mit gemeinsam gesprochenem Vaterunser oder schließen: das Kernstück des urchristlichen Gottes-
Christus als der Auferstandene und
Glaubensbekenntnis und dergleichen sucht man dienstes,
diesem Auseinanderfallen mit unzureichenden Gegenwärtige, muß in Form der allsonntäglich zu
Mitteln entgegenzutreten. Und wurden die Kirchen feiernden Eucharistie auch das Kernstück des
teilweise nicht auch deshalb leer, weil man des christlichen Gottesdienstes; der Zukunft sein.
So möchte ich mir die Freiheit nehmen, dem
„Angepredigtwerdens“ müde wurde und eine An-
Herrn der Kirche zu dienen mit allen meinen
betung Gottes, eine verehrende, opfernde, feiernde
Kräften auf eine Weise, die ich nach dem oben
Hingabe, ein Einswerden mit Christus bis ins
Tiefste und Letzte, zu schr vermißte?... Dargelegten als eine wirkungsvollere halte gegen-
Wie kann man demgegenüber Christus, die über meiner bisherigen Tätigkeit. Ich habe dabei
Bewußtsein, daß icdı mich aus dem Bereich
einzigste Quelle des Heils, wirksam verkünden?
das
Durch die Tat mehr als durch das Wort. Wobei der Landeskirche nur. insofern entferne, als ich in
selbstverständlich ist, daß eine jede rechte Pre- ihren Institutionen, ihren Lehren und ihrem
Tätigkeitsbetrieb eine für das "Kommen der
digt auch eine solche Tat ist. Fine weitere solche Methode -erblicke
Hilfstat. Aber Kirche Christi unzureic hende
Tat ist die’ Diakonie, die soziale
eine für die Zukunft nicht mehr anıs-
weshalb hat man die urchristliche Haupttat, die (genauer:
Fucharist ie, das Herzstüc k des ur- reichende Methode). Ist auch der Weg verschie-
allsonntägliche
Sonntags - den, so bleibt doch das Ziel das gleiche: Christus.
christlichen Gemeindelebens, aus dem
Streben werde ich mich stets verbunden
gottesdienst herausgebrochen? Streng genommen In diesem
Fassung, aus der wissen mit dem besten Streben in der Landes-
kann man ja von einer solchen ist die, von
Meine Lebensem pfindung
der Edelstein herausgebrochen ist, nicht mehr als kirche.
sondern nur noch als einem Ftappeng ebiet zum Frontgebiet zu gehen.
von einem „Gottes“-Dienst,
von einem Menschen-Dienst, einem den Der Kampf um Christus beginnt in ein größeres
Dienst,
und entscheidenderes Stadium einzutreten. Dieses
man den seiner Obhut anvertrauten Menschen als aller lichten und
des Kampfes
Saelsorger und Prediger leistet, sprechen. In der neue Stadium
den Beginn einer
Gewalten kann man als
Predigt als dem Hauptstück des protestantischen finsteren
Der historische
Reformation ansehen.
Sonntagsgottesdienstes weist man die Gemeinde neuen
°
Luther kann so weit nicht dringen. Aber der Geist
auf Gott hin. In der sonntäglichen Eucharistie tritt
Luthers, der vor Kaiser nnd Reich gegen alle
man mit ihm in Christus in direkteste, unmittel-
Tradition sich auf die Reichsunmittelbarkeit
barste Beziehung. Dies zu tun halte ich für bitter
nötig. seines allerinnersten Herzens Gott gegenüber he-
Man macht allerhand Reformversuche. Das rufen hat, ist, wenn auch nicht der Vater, so doch
der Quäker sogar scheint mir ein Sehn- der Ahnherr dieser neuen Reformation.
Schweigen
Die lutherische Reformation erwuchs aus dem
Er am

suchtsruf. nach unmittelbarer Verbindung un-


Auflenchten des Christus in der um Heil ringen-
abhängig vom Menschenwort zu sein. Man ent-
den Menschenseele.
wirft Abendmahlsliturgien, man übt Reeponsorien aus dem Auf-
Die neue Reformation erwächst
und Psalmodieren, man erwärmt sich für Luthers

93
leuchten des Christus in dem um Heil ringenden fassen! Mit Schmerzen des Glücks vernahm man
Menschengeist. sie. Und wie verdämmerten nun die bedrängen-
Heute geht es nicht mehr nur wie zu Luthers den, allzu nahen Dinge ringsum! Ja, da schwanden
Zeiten um Gottes Ehre und der Seelen Seligkeit, Zeit und Raum, und wie durch tausend aufgetane
sondern — die Zeit ist gewaltig vorgeschritten — Tore schaute jener Überraum herein, der mit
zugleich auch noch um die Rettung oder den seinem Sternenglanz in jeder Weihnacht alle
Untergang des Abendlandes. \ Kinderaugen überwältigt. Da stand jenes helle
Walter Barck Land weit offen, das dem Menschen das ganze
Jahr über scheinbar so ferne liegt und in dem
Aus dem Bericht eines Heimkehrers sich doch alles Zarte seines Wesens grade zur
Weihnacht so unsäglich verwurzelt und beheimatet
Daß zu Ostern 1946 allen trüben Erwartungen
weiß. „Es ist ein Ros’ enisprungen“: als ein Vor-
zum Trotz mitten in der Seelenöde unseres Lagers,
gang wunderlichen Geschehens in unsichtbarer
in Rußland eine Feierstunde wahrhafı österlicher
Über- und Innenwelt mochte sich gerade dies jetzt
Herzbefreiung möglich wurde, war im Grunde
auch hier in tausend Herzen wiederholen.
noch die Folge der vorausgehenden Weihnacht.
So war an Weihnachten zum ersten Male das
Die „gnadenbringende“ Weihnachtszeit hatte den
Evangelium in unseren Kreis hereingeklungen,
Keim eingesenkı, der zu Ostern aufgehen konnte.
Sphärenklang, Verkündigung „von oben“, Monate
Denn damals, als die dunkelsten Nächte
heran- langen Schweigens waren gefolgt. Als aber die
kamen, brach die Sehnsucht nach der seelenhe
llen Passions- und Osterzeit nahte, zeigte sich, daß
heimatlichen Welt so übermächtig auf, daß jeder
unter der Eiseskruste der alltäglichen Arbeitsfron
fühlte: irgendein Weg mußte gefunden wer-
insgeheim etwas aufgekeimt war: Man fand, daß
den, über alle Zäune und Mauern tınd trennenden
man Joch unmöglich an solchen Festtagen vorüber-
Fernen hinweg, und wenü es auch nur für Augen-
leben könnte. Wenigstens die Leidensgeschichte
‘blicke war. Nur hatten manche nach so vielfacher
und den Bericht von der Auferstehung wollie man
Verwundung der Seele und bei der Roheit des
hören. Ja, war es denn so undenkbar, im Lager
Zusammenlebens schon gar keine Hoffnung mehr,
nach Jahren endlich einmal einen Gottesdienst zu
daß ein solcher Weg in Gemeinsamkeit mit andern haben?
Der Chor vereinigte sich erneut, ein
noch beschreitbar wäre, So hatten sie sich,
den siebenarmiger Leuchter wurde kunstgerecht ge-
Mantel über den Kopf gezogen und beide Augen schnitzt,
Kerzen wurden besorgt, aufs liebevollste
zu, mit aller Umwelt gramvoll entzweit, früh
auf auch ein großes Altarkreuz gefertigt. Und dann
die Pritschen des Massenschlafraumes zurück- mußte
der Kamerad, der als einziger im Lager
gezogen. Die andern aher hatten die Versicherung,
„Pfarrer“ war und dabei seltsamerweise doch gar
daß durch die russische Lagerführung eine.
kleine keiner Konfession, sondern einer Art »„Über-
gemeinsame Feier nicht gestört werden
würde, kirche“ zugehörte, im Namen aller den Bittgang
ernst ‘genommen. Sie waren in den Speiseranm
ge- machen, um die Erlaubnis einzuholen. Die Ent-
kommen, zögernd erst und voller Mißtra
uen —: täuschung, als er mit abschlägiger Antwort
hatte man doch eben erst die Enttäuschung erleht, wieder-
kam, war groß. Zu plötzlich und unvorbereitet
daß ausgerechnet zum Meiligen Abend kein Brot
war dem Kommandanten das Ansinnen
hatte ausgegeben werden können —, dann aber ge-
kommen, als etwas allzu Ausgefallenes war es ihm
angesichts eines richtigen Weihnachtsbaumes, dem
erschienen. Die Tage der Karwoche kamen und
man nicht ansah, daß er noch vor kurzem
aus mit ihnen für das Lager viel schwere, herz-
einem armseligen Besenstiel und einigen
losen- belastende Ereignisse. Und als schließlich
Tannenreisern hestanden hatte, wie durch am
ein un- Gründonnerstag die Wogen der Erregung das
faßliches Wunder herührt. So tat sich jene jetzt
ganze Lager in höchsten Aufruhr brachten, weil
mit allen Fasern der Seele so zitternd Alehentlich
zwei Kameraden der Frühjahrslockung nicht
gesuchte „andere“ Welt doch auch hier
unver- widerstanden und das Weite gesucht hatten, da
kennbar im vertrauten Symbolum kund.
Ja, war schien die letzte Hoffnung auf die Gewährung
das wirklich hier? Hier, wo sich sonst nur alles einer „Festlichkeit“ vollends dahin zu sein.
um des leidigen Leibeshungers willen ständig stieß Aber
dann kam am Ende doch alles ganz anders. Es
und ‘drängte? Eine nie gewesene, atemanhalten
de griff etwas ein, das alle tief bewegte: Karfreitag,
Stille wuchs empor und nahm sie alle in sich
auf Wir waren wie sonst'zur Arbeit ausgezogen, der
wie in einen großen Feierraum. Und als dann
Tag war grau und schwer gewesen, und am
zart und leise ein Chor anhoh, vierstimmig — ein Abend bei der Heimkehr ins Lager war jeder nur
Kamerad hatte aus dem Gedächtnis die Noten
des auf neue Unerquicklichkeiten und Aufregungen ge-
alten herrlichen Prätorius-Satzes noch hervorge- faßt.Da empfing uns unvermutet eine große Ruhe,
bracht: „Fs ist ein Ros’ entsprungen“ —, ach,
wie eine Stille, in der beängstigend ein Rätsel stand,
lange hatten so'che Töne Ohr nnd Herz
nicht und bald sprach es sich rund: Finer unserer Kame-
mehr erreicht! Wie sollte das Gemüt sie jetzt raden war an diesem Tage bei der Arbeit so ver-

94

unglückt, daß er kurz darauf starb. Wir sahen ihn das österliche Leuchten, das “in ihren Herzen
nicht mehr. Man hatte ihn schon fortgebracht. frohen Mut entzündete, denen unbegreiflich, die
Wenige hatten ihn gekannt. Unscheinbar und mit sie oben in Fesseln zum Richtplatz führten. Das
all dem Seinen kaum bemerklich hatte er im Grab war unversehens zum Altar geworden, und
Kreis der anderen dahingelebt. Nun aber hatte als österliches Zeichen trug das Kreuz auf dem
sein stilles Gehen den Karfreitagsernst mitien ins Altare auch hier den Sonnenring.
Lager getragen, alles verwandelnd. Ein leiser, Das Christuslicht, das zu Weihnachten wie aus
aber unüberhörbarer Aufschrei des Menschen war nächtlichen Traumestiefen hereingedrungen war,
erfolgt, des Menschen, um dessen Stirn schuld- war jetzt in das helle Licht des Tages eingetreten,
loses Leid und die Majestät des Genius im Tode und eine Zeitlang tauchte im Lager die gar nicht
unantastbare Hoheit wob. Als hätte es solch nach- auszudenkende Möglichkeit auf, vielleicht gar
drücklichen Hinweises erst bedurft, so wurde nun vierzehntägig in festem Rhythmus aus dem Grau
unserer Bitte unverhofft statigegeben. Und mit des Arbeitsalltags heraus immer wieder in dies
was für ernsten Empfindungen haben die Ge- Licht einzutauchen. Wieviel Anlässe zur Feier gab
danken immer wieder jenen stillen Kameraden es doch, und „eigentlich“ hatte ja auch einmal
gesucht, als wir an diesem Abend zum ersten Male jeder siebte Tag als der „Sonn“-tag darin seinen
gemeinsam und vor brennenden Altarkerzen den Sinn gehabt. Jetzt trat zutage, wie ausgehungert
Sinn auf den richten durften, der um des Fort- man war. Und einmal dessen bewußt geworden,
gangs unseres Lebens willen den Tod auf sich was sie am meisten entbehrten, gaben die Kame-
nahm! ; raden nun keine Ruhe mehr. So wurde an einem
Sonntagabend im Mai eine Marienfeier gehalten.
Dann wurde es im Lager mit einem unvergeß- Die römisch- katholisch Beheimateten hatten
lich sonnenhellen Morgen Ostern. Alle Natur war darum gebeten, aber auch die andern wollten bei
draußen aufgewacht, so stürmisch-mächtig, als solcher Huldigung an das gütige Welten-Mutter-
wollte der lang zurückgestaute Frühling in wenig herz nicht fehlen. Und daß der Himmelfahrtstag,
Tagen bewirken, was er im Westen Schritt für nun man uns gewähren ließ, nicht ohne Fest
Schritt in Monaten vollzog. Drinnen durfte wie- — wenigstens am Abend — vorübergehen konnte,
der der Altar stehen, über und über bedeckt mit war ganz selbstverständlich.
Weidenkätzchen und jungem Grün. Die Fenster Schon erhob sich die Frage: Wie werden wir
standen offen, und die Vögel ließen ihr jubelndes Pfingsten feiern? Sicher würde der Tag als ein
Singen hereinschallen, als wollten sie den freud- Sonntag für viele arbeitsfrei sein. „Könnten wir
los hinter Gittern lebenden Menschen die ganze nicht an solchem Tage einmal die Messe hören?“
Wonne des Wehens eines neuen Lebenswindes ließen sich da auf einmal. die vernehmen, denen
tröstend und mitbeschwingend fühlbar machen. wahrer Gottesdienst erst mit dem Kultus begann.
Die Sonne aber, die draußen mit ihrem Leuchten „Wenn du sie auch wahrscheinlich ein wenig
Luft und Erde so sieghaft durchflutete, erstrahlte anders lesen wirst, als wir’s gewohnt sind, wir
nun auch hier innen, wo jetzt der Chor mit könnten doch dadurch, daß du als Priester unter
Fr. Doldingers heilig-siarker Hymne „Wurzeln des uns bist, einmal die Altarfeier haben.“ — „Du
Waldes“ den Preisgesang aufnahm, als froh- hast uns manchmal im persönlichen Gespräch von
weckende Ostersonne. Die Rinden-sprengende, einem alten-neuen Gottesdienst gesprochen, der,
Steine-hebende Kraft draußen, die einmal eines wenn die Predigt zu Ende ist, am Altar erst be-
. göttlichen Menschen Erdenleibesfessel sprengte ginnen müßte. Wie wichtig wäre es für uns,
und den Stein von seinem Grabe warf, sie ließ könnten wir den einmal unter uns erleben!“, so
nun auch hier den gepeinigten und tief ver- kamen die andern zu ihrem Pfarrer-Kameraden,
schütteten Menschen aller Bande vergessen und dem es dabei begreiflicherweise den Atem ver- ‘
aufatmend ins Helle treten. Die Augen, die jahre- schlug. Ja, gewiß, die Altarfeier, es gäbe sie rein
lang nur in Sterben und Untergang geblickt, und neu, und es wäre ihm schon erlaubt, sie zu
durften jenes Leben ahndungsvoll gewahren, das halten, und sicher wäre es ein großes, ein un-
mit phönixhafter Schwingenkraft dem Verwesen- geheures Geschehen —, aber hier? Wie sollte es
den ein Sein von freister Seelenleichtigkeit ent- unter solchen Voraussetzungen möglich sein? Es
ringt. Hatte es denn schon einmal einer wirklich fehlte doch alles und jedes. Nein, da würden sie
erkannt, was sich in der Grabes-Gestalt des Altars sich doch wohl mit der Vorfreude begnügen
aussprach? In die Grabestiefen, in die Räume müssen, daß dies alles einst bei der Heimkehr auf
ihrer Toten hatten jene ersten Zeugen österlichen sie warten würde. Und es verstand wohl ch
Wissens sich geflüchtet, als die öffentliche Welt ieder, daß solche allerzartesten Dinge um ihres
den Jubel ihres Mundes nicht dulden wollte. Die Ursprungs und Wesens willen eines ganz be-
Stätten des Grauens hatten sich ihnen in heimat- sonderen Schutzes bedürften. Dennoch ver-
lichstes Heiligtum verwandelt; denn hier unten stummte die Bitte nicht. Ja. der Gedanke, einmal
bei den Gräbern erschauten sie am deutlichsten erwacht, füllte sich offensichtlich immer inniger

95
in ihrem Tun
am Altar vertretend, spiegelten
jedes einzelnen von
‘mit allem,. was das Gemüt zugleich, was die großen Kirchenströmungen,
stlic hen Feier erhof fen mochte. Und ge- heiligsten Auftrag
einer pfing konnten
unüberwindlich
denen sie entstammten, als ihren
nauer besehen: so ganz
Welt des Auferstandenen empfinden. Frei
nicht sein. Ja, so vor der
die äußeren Schwierigkeiten gar hingebender Dienst am „Wort“ und.treue Wartung
war: aus im “Lag er noch. vor- sie
erstaunlich es „Weihe“-Sıromes, hier erschienen
konn te ein Gewand kultischen Er-
handenem weißem Leinenstoff aufgenoınmen in pfingstlicher
werd en. Die russi sche Führung er- beide urbildlich Abendmahle. Be-
‚geschneidert
der Holzbildhauer war,
höhung, sich erfüllend im großen
laubte es. Ein Kamerad, unentbehr-
erholz herrl ich ge- scheiden unsichtbar, doch schweigend
brachte einen aus dunklem Rüst „Substanz“ und „Atmosphäre“ bildend, war
inkendem Metallein- liche
formten Kelch mit silberbl drittes Element anwesend: das
griechisch-
pass ende Schal e für das Brot. Das noch ein und
satz, dazu eine
ßhei t russische, aus dem uns Kerzenlichter, Wein
das plötzlich Gewi waren. Als
war wie ein Zeichen, und Opferraudh zuteil geworden
es wollte sich uns Brot
schuf: ‘das Unglaubliche, dieser Strömung, die demütigen
Und so kame n nun alle Dinge, die nötig stille Vertreter johanneischer Musik ihr
schenken. Herzens im Erlauschen
es Pult für das Buch, neben vielen Ungarn —
waren, zusammen: ein klein waren —
Table tt und Gefä ße für den Höchstes fand, dabei. Die
ein Weihrauc hfaß , rumänische Kameraden mit
ag war auch Weih- manche
Ministrantentisch. Pfingstsamst ganze. große Christenheit war vereint im Geiste,
helle s, weiß es Altarbrot als eine Sprachgeist aus Europas
rauch; Wein und Stunde der
verborgenen Wegen dem in dieser
Gabe russischer Christen auf dienen durfte. Wie unmittelbar und stark
Schwierigkeit, die Mitte
hereingelangt. Nur an der
„Ge-
Worte des Bekenntnisses:
ferti gen — es konn te niem and farbiges klangen da die in sich fühlen,
Kasula zu die den Christus
n alles am Fnde noch meinschaften, Kirche, der
Seidenband besorgen —, schie nke, die dürfen sich vereinigt fühlen in einer
Da kam eine m der Geda Macht des
zu schei tern. alle angehören, die die heilbringende
e auf den Stoff zu malen, des Petrus, des
Figuren einfach mit Farb empfinden.“ Die Kirchen
Pfingstfarbe, war als Christus
und siehe da, Goldgelb, die und des Johannes, auf
der Erde sonst
wie eigen s zu: diesem Behufe Paulus in der armseligen
einzige Farbe und überall getrennt, waren hier
war da, was äußerlich wo Dogma und Formen-
im Lager. — Alles, alles werden Welt hinterm Stacheldraht,
des Gesc hehe ns getan wo allein noch gelten
zum Empfange zwang allen Sinn verlor,
kaum erwarten: wir
konnte. Nun konnten wir es was von innen das Herz erfüllt, pfingstlich
die in allem fühlbar‘ konnte, zwei oder
riefen die guten Geister, verbunden. Das Wort: „Wo
mmel t instä ndiger Bitte, und be- miteinander Namen, da bin Ich
- waren, mit gesa versammelt sind in Meinem
ens um ihren Bei- drei beglückendster Trö-
schworen sie klopfenden Herz mitten unter ihnen“, dies Wort
stand. das sie vor Beginn der Handlung voller
stengemeinschaft stung,
Ob in der Geschichte der Chri hörten, es wurde wahr.
s unter ähnlich Hoffnung vorüber war,
die Menschenweihehandlung jemal gefei ert Als die Menschenweihehandlung
en Verh ältn isse n rer Verlassen-
offenen und weitgespannt wir inmi tten unse
t schon einmal war 68, als
seien
worden ist? Und ob sie üherhanp jener Augenblicke gewürdigt
worden,
geha lten wurd e? Den Beteiligten heit eines Mächte über unseren
zuvor in Rußland denen die apokalyptischen
stfest-in Kiew, als in aufreißen, um
jedenfalls war es an jenem Pfing hier und da den Vorhang
sich hier ereig nete, weit, weit über Häuptern nicht mächtigen Angen
ginge das, was solcher Helle gar
e Zukünfte hinein. unsere in über-
ihre Häupter hinaus in ungeahnt des Zeitenüberdauernden
ch die ganze Chri- unvermittelt machen. Wer meinte
M++schheitliches. ja, buchstäbli großem Bilde ansichtig zu
dari n, die christliche Mensch solche Feier unter
stenheit spiegelte sich hernach noch manche
so wie sie gege nwär tig auf der Frde in der es würde einsehen, daß ein der-
_ heit, von den ung geben, mußte
bald
Form en lebt. Niem and sein konnte. Ver-
‚Vielfalt ihrer nur einmalig
außer dem Trä- artiges Geschehen
vielen hundert Anwesenden hatte Schwierigkeiten ließen eine Fortführung
in von jener Chri- bote und später noch dann und wann
an
ger der Handlung ein Bewußtse rtra uten nicht zu, wenn auch
die mit dem ihr anve Zusammenhängen
stengemeinschaft, Tagen aus geistigen
unscheinbares Kata- besonderen Pfing-
Himmelsgut heute noch ein Rech ten, heraus etwas gesagt werden konnte. Jenes
Ministrant zur abrückte, um so unfaßlicher
komben-Dasein führt. Der sten 1946, je weiter es
„Die ner des ortes “, war ein Protestant aber umso anwachsender zugleich
der wurde:es später,
Intherischer Prägung. Der
Ministrant zur Linken, Leuchten aus über den
Geräte“, war ein hreitete es sein erhellendes
dar „Diener der geweihten eren Prüf unee n.
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Für den Inhalt verantwortlich: Lie. Emil
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. Berlin 2446. Aufl. 150W.
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