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Koit und Hämarik

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(Nach einer estnischen Mythe)


Elsbeth Palmer 85

(* / Johannes und die Zeitgenossen


Zum Johannistag
Eduard Lenz 87

Erfahrung
Gedicht. Wilhelm Hochweber 88

7% ‚, Vom Menschen als Offenbarer


{ /
or Hans Feddersen: Von der Hand 88
Arnold Goebel: Von der Stimme 90
Dr. Friedrich Rittelmeyer: Vom Auge 91

An das Licht
Aus einem Gedicht von Sophie-Dorothea Freudenberg 94

Das Landschaftsbild von Caspar David Friedrich


Hermann von Skerst 94

Die Birke
Gedicht. Gertrud Liebe 100

I; Von der Krisis des Protestantismus

ER,
TR
£
q “j August Pauli 100

Lebenswende
Aus meinem Leben 32
Dr. Friedrich Rittelmeyer 105

Aus dem Leben der Christengemeinschaft


„Sonne auf Erden“ 110
„Richard Wagner und das Christentum“ 110
Ist die Bibel „Gottes Wort“? 110
*

Gemeinschaftszeit in Eibenstock 111


Sommertagung in Dresden 111
„Tage der Christengemeinschaft“ 111
Öffentlicher Seminarkurs 11l

Das tibetanische Totenbuch


( k Ein Blick in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
K) Reinhard Wagner ı11
Johannes und die Zeitgenossen
Zum Johannistag

Eduard Lenz

Als eine großartige Asketengestalt, die in der Einsamkeit der Wüste lebt, sich von Heuschrecken
und wildem Honig nährt und mit Flammenworten die Menschen zur Buße ruft, steht Johannes
der Täufer vor unserem geistigen Blick. So wurde er von den Kanzeln gepriesen, so haben ihn
die Maler gemalt. Und doch ist diese Vorstellung einseitig. Das Lukasevangelium schildert einen Zug
im Charakter des Johannes, der bisher allzulange in den Hintergrund gedrängt wurde. Für Lukas
ist Johannes in erster Linie der Verkünder einer neuen Liebe gewesen. In wenigen, aber monumen-
talen Sätzen schildert er ihn als den Lehrer von Mitleid und Liebe.
„Und die Massen fragten ihn: Was sollen wir denn tun? Er aber antwortete ihnen: Wer zwei
Röcke hat, teile mit dem, der keinen hat und ebenso tue der, der Speisen hat. Es kamen aber
auch Zöllner sich taufen zu lassen und sagten zu ihm: Meister, was sollen wir tun? Er aber sagte
zu ihnen: Nehmet nicht mehr, als wozu ihr angewiesen seid. Es fragten ihn aber auch Kriegsleute:
Und wir, was sollen wir tun? Und er sagte ihnen: Beunruhigt niemand, erpresset niemand und lasset
euch genügen an eurem Sold. (Luk. 3, 11—15)
Die Menschen baten also Johannes um Anweisungen, wie sie leben sollten. Das Auffallende an
seinen Vorschriften ist, daß sie keinerlei Fanatismus verraten. Er hat niemandem gesagt, dein Beruf
ist schlecht, verlaß ihn und weih dich einem gottgefälligen Leben. Johannes schreibt jedem nur das
vor, was er auch wirklich an der Stelle, wo er im Leben steht, leisten kann. Schon darin zeigt sich
seine Menschenliebe, die den Suchenden nicht mit unerfüllbaren Forderungen quält.
Was lehrt er die Menschen? Den Pfad des Mitleids, Wer nur ein wenig Gefühl für einen anderen
Menschen hat, kann nicht zusehen, wie dieser Not leidet, während er selbst im Überfluß hat. Wer
nur ein wenig Achtung vor der Würde anderer Menschen hat, benützt die eigene Stellung nicht zur
Erreichung persönlicher Vorteile. Wer nur ein wenig Verantwortung fühlt für das Wohl des Neben-
menschen, mißbraucht seine äußere Macht nicht zu Gewalttätigkeiten und Unrecht. Das ist das, was
Johannes zu den Menschen sagt. Seht die Not der anderen. Hütet euch vor dem Egoismus. Seid nicht
brutal in der Anwendung euerer Macht. So einfach die Worte klingen, so gewaltig muß der Eindruck
gewesen sein, den sie im Herzen der Zuhörer hervorriefen.
Ein Blick in die geschichtliche Umgebung Johannes des Täufers zeigt deutlich, wie weit seine Zeit
davon entfernt war eine Botschaft von der selbstlosen Menschenliebe zu verstehen oder gar zu leben.
Johannes der Täufer war der Zeitgenosse des Kaisers Tiberius. Er predigte in der Wüste Judäa,
während dieser auf der Insel Capri sich zwölf Tempel bauen ließ um in ihnen zu wohnen. So wie
die Sonne am Himmel durch die zwölf Häuser der Sternbilder wandert, so wanderte Tiberius durch
die zwölf Gotteshäuser von Capri. Denn er fühlte sich als Sohn des Sonnengottes. Johannes wie
Tiberius zogen sich in die Einsamkeit zurück, jener um seinem Gotte demütig zu dienen, dieser um
in wahnsinniger Überhebung seine augemaßte Göttlichkeit zu genießen. Tiberius hat in seinem Leben
viel Schweres erlebt, bis er so weit war, daß er dem Cäsarenwahnsinn erlag. Seine Mutter Livia
wurde von dem Kaiser Augustus dem Vater weggenommen und geheiratet, obwohl sie eben ihr zweites
Kind erwartete. Seine geliebte Frau Agrippina mußte Tiberius auf Befehl des Kaisers verstoßen und
dessen ausschweifende Tochter Julia ehelichen. Die Politik verlangte es. Tiberius war ein Mann, in
dessen Leben jedes menschliche Gefühl mit Füßen getreten und die Liebe dem angeblichen Staats-
interesse geopfert wurde. Der einsame Cäsar von Capri, dessen liebeleeres Herz sich in unersättlicher
Grausamkeit und Wollust erschöpfte, ist das römische Gegenbild Johannes des Täufers, der in
der Einsamkeit der Wüste die Menschenliebe verkündete.
Johannes hatte noch einen zweiten Gegenspieler: eine Frau. Auf der stolzen Festung Machäus in
der Einsamkeit des Toten Meeres hatte sie ihren Sitz. Herodias verfolgte Johannes mit wütendem
Haß. Nicht nur, weil er öffentlich gegen ihre unrechtmäßige Ehe aufgetreten war, sondern weil er

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Pfad einer
eine Geistigkeit verkündigte, die sie mit allen Mitteln hbekämpfte. Johannes lehrte den
an das Blut gebunden ist. Herodias dagegen wirkte noch aus den magischen
Liebe, die nicht mehr
Blutes und aus den Geheimnisse n der Ekstase. Der Orient fand in dieser, in allen Zauber-
Kräften des
Frau eine namhafte Vertreterin. Der Tanz der Salome, den sie inspirierte, um
künsten erfahrenen
ihren Gemahl für die Ermordung des Täufers zu gewinnen, zeigt, daß sie die Kräfte der Suggestion
der
zu beherrschen verstand. Der dekadente Okkultismus des Ostens, der auf der magischen Kraft
feierte in Herodias furchtbare Triumphe. Das blutige Haupt des Täufers in der
Blutsliebe fußte,
Schale ist nur das Zeichen dafür, daß sie ankämpfte gegen die besonnenen Kräfte des menschlichen
die den Rausch des Blutes dämpfen und die Vergeistigung und Erhöhung der Liebe vor-
Hauptes,
bereiten.
Zwischen dem Machtwillen des Cäsars, der die Liebe zu politischen Zwecken mißbrauchte und
der dunklen Magie einer Herodias, die ihre dekadenten Triebe zur Mordlust steigerte, steht Johannes
der Täufer als der Lehrer der wahren, uneigennützigen Liebe von Mensch zu Mensch, einer Liebe,
die tätig hilft, die nichts für sich will und jeder Herrschsucht entsagt.

Erfahrung
Wilhelm Hochweber

Christus in mir! Christus in mir!


So sprach ich in der Ruhe. So sprach ich zu dem Bösen.
Und hörte dann des Weltenwortes Und wußte nun: ER will
Laute im Herzen sich bewegen. In mir es lösen.

Christus in mir! Christus in mir!


So sprach ich in dem Sturme. So sprach ich zum Vergehn.
Und sah der Wellen Brausen Und fühlte schon
Im Atem still verwehen. Die ew’ge Kindheit auferstehn.

Vom Menschen als Offenbarer


Von der Hand
Hans Feddersen

Ein lebendiges Anschauen der menschlichen Hand und das Ahnen der Kräfte, die diese Hand im
Laufe des Menschenwerdens gebildet haben, ruft in unserer Seele immer wieder tiefste Verwunde-
rung hervor. :
Die ganze menschliche Kultur und die großen Werke der Kunst wären nicht obne die Hand. Sie
fügt, was des Menschen Seele und Geist im Innern bewegt und erfüllt, der hörbaren und sichtbaren
Welt ein. Dort kann es nun erklingen und aufleuchten durch die Vermittlung dieses wunderbaren
Gliedes des menschlichen Leibes.
Vergleichen wir die menschliche Hand mit den Gebilden, die in der Tierwelt ihre Stelle ein-
so tritt
nehmen, mit dem Fuß des Säugetieres, der Flosse des Fisches und dem Flügel des Vogels,
die hohe Aufgabe der Hand noch deutlicher hervor. Hermann Poppelbaum hat diesen Vergleich zum
„Mensch und Tier“ gemacht. Der Fuß des Tieres ist streng ein-
Ausgangspunkt seines Werkes über
geordnet in die Erdenumwelt, in der das betreffende Tier leben muß. Nur durch diese rückhaltlose
So
Verbindung wird der Fuß oder die Pranke des Tieres zu einem so vollendeten Werkzeug.
ohne das Wasser zu denken. In vollkommener Weise ist die
ist auch die Flosse des Fisches nicht
Schwinge des Vogels für die Luft geschaffen.

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Dies alles mangelt den menschlichen Händen. Sie sind nicht so verwachsen mit der Erdennatur. Aber
gerade durch diese Zurückhaltung werden sie frei und erst befähigt, Träger dessen zu werden, was
nun der Menschengeist der Welt einfügen soll. Gerade dadurch, daß die Menschenhand sich nicht
einseitig festlegt und sich nicht so stark mit der Erdenwelt verbindet, wird ihr überhaupt erst die
Möglichkeit gegeben, in diese Erdenwelt hineinzuwirken.
Wahrhaftig eine Anschauung, die uns an dem Beispiel der Hand schlaglichtartig die Würde und
die Aufgabe des Menschen vor Augen führen kann.
Dies ist auch wohl der Sinn der Handabdrücke, die sich, hell vom dunklen Grunde abhebend, als
älteste Zeugnisse künstlerischer Betätigung in den Höhlen des Eiszeitmenschen gefunden haben.
Aber nicht nur zur Anerkennung der besonderen Stellung des Menschen in der Welt führt uns der
Vergleich der Menschenhand mit dem tierischen Organ, sondern auch zu der Anschauung, daß der
Mensch zur Individualität veranlagt ist, während das Tier in seiner Gattung befangen bleibt. Die
einzelne Tierpfote führt uns immer zu der Gattung zurück, der diese besondere Bildung eigen ist.
Die Hand ist, darüber hinaus, daß sie eben die Menschenhand einer bestimmten Rasse ist, dazu
veranlagt, Ausdruck und Spiegel einer bestimmten einmaligen Individualität zu sein. So wie es kein
Gesicht gibt, das dem anderen vollkommen gleich wäre, so ist auch keine Hand der anderen gleich.
Die Wege des einzelnen Schicksals prägen sich den Linien der Hand ein und die individuelle Veran-
lagung, Geschick oder Ungeschick, findet in den Formen der Hand ihren getreuen Spiegel.
Betrachten wir einige Hände. Wie kann man es der Hand Napoleons ablesen, daß er befähigt ist,
die verschiedenen Schachzüge eines großen Schlachtenplanes nicht nur zu entwerfen, sondern auch aus-
zuführen. Wie auch die Hand Moltkes, hat die Hand des Franzosenkaisers einen auffallend kurzen
Handrücken, durch den die Finger verhältnismäßig lang erscheinen. Man sieht förmlich, wie ein
Plan, einmal gefaßt, auch schon in die Ausführung übergeht. Diese Hand schreckt nicht davor
zurück, mutig in die Geschicke der Völker einzugreifen. Dagegen ist die Hand des Bayernkönigs Lud-
wig II. wie krank am irdischen Leben geworden, sie sehnt sich nach dem Erfassen einer überirdischen
Realität, und dazu ist die Zeit nicht reif, sie greift ins Leere und entzieht sich dem Erdenleben.
Schauen wir noch eine andere Hand an: in welch eine audere Welt führt sie uns! Es ist die sensible
Hand des Artisten Enrico Rastelli. Bis in. die feinste Faser durchgebildet, vermochte sie die geringste
Schwankung des Gleichgewichts zu erspüren und auszugleichen. Alle von außen gegebenen Möglich-
keiten können durch diese Hand bis ins Letzte ausgenutzt werden, weil die inneren Möglichkeiten
auch bis ins Letzte ausgebildet sind. So scheint die Grenze zwischeu den Gesetzen der Außenwelt
und der Iunenwelt aufgehoben. Rastelli ließ die Bälle auf seiner Hand tanzen und laufen, wie
weun es Gebilde der Phantasie wären. Wer je diesen großen Artisten sah, dem wird seine Beherr-
schung der Hände unvergeßlich bleiben. —
So trägt jeder Mensch in seiner Hand eine eigene Welt und schreibt mit seiner eigenen Hand
eine andere Schrift in das Erdenbuch; Dunkles und Lichtes. Über der besonderen Veranlagung steht
aber das gemeinsame Ziel, daß der Mensch geistig ergreife, was mit der naturhaften Veranlagung der
Menschenhand gemeint war.
Dieses Ziel des Menschenweges hat zum Beginn der Neuzeit im Abendmahl Leonardo da Vineis
seinen erhabenen Ausdruck gefunden. Wie eine Aufforderung steht dieses Bild seither vor der
Menschheit.
Da sitzen an der langen Abendmahlstafel die zwölf Jünger. Das Wort des Christus vom Verrat ist
in ihre Seelen gefallen. Eine mächtige Bewegung unter den Jüngern ist die Antwort. Die Seele eines
jeden Einzelnen offenbart sich in einer anderen Gebärde. Die in sich unterschiedenen Seelenwelten
der Jüngerindividualitäten liegen in den bewegten Händen offen da. An den Händen können wir
ablesen, was der Einzelne in sich trägt: Überraschung, Fluch oder Mitleid.
Aber mitten unter ihnen ist einer, der seine Arme ausgebreitet hat und ruhig aus seiner Sonnen-
welt wirkt. Still neigt er sich vor, berührt mit seinen Händen die Tafel und legt die Urgebärde der
Menschenhand, in der sich alle finden sollen, auf den Erdentisch. Dort kann sie angeschaut werden,
und alle können sich daran verwandeln.

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Seine Linke ist empfangend nach oben geöffnet, die Rechte gebend nach unten gewendet in seg-
nender Gebärde. Was die eine Hand betend empfängt, kann die andere segnend verschenken. In
diesen beiden Händen des Abendmahls liegt Sinn und Ziel der Menschenhand beschlossen. Ihr tiefstes
Geheimnis enthüllt sich in Beten und Segnen.
Aber niemand, so lautet ein Wort Rudolf Steiners, wird seine Hände zum Segnen ausstrecken
können, der nicht gelernt hat, sie im Gebet zu falten.

Von der Stimme


Arnold Goebel

Eine Eigenart der Welt, in die wir hier auf Erden hineingeboren sind, kann uns immer wieder
mit besonderer Verwunderung erfüllen — besonders wenn wir uns für Augenblicke aus dem Gerede
der Menschen und dem Getriebe des Alltags zu lösen vermochten — das ist die Erfahrung, daß
diese ganze schöne und grandiose Welt stumm ist.
Wovon könnten die unendlichen Sternenreiche zu uns sprechen! Sie blicken wie Augen auf uns
herab — wie aus uralter Vergangenheit sprechende Augen, aber nur ihr fernes Licht erreicht uns,
ihre Worte können wir nicht vernehmen.
Ähnlich ergeht es uns mit der lebendigen Welt der Natur, die ja im stillen Einverständnis mit
den Gestirnen zu stehen scheint. Die Märchen sprechen wohl noch davon, daß im Rauschen eines
alten Baumes heimliche Sprache uns umraunt, auch ist es uns heute noch so, als wenn die Stille
des Waldes zu uns sprechen möchte, aber wir verstehen nicht diese geheimnisvollen Laute. Wir sehen
nur, wie des Morgens die Blüte sich froh dem Lichtstrahl öffnet, als wenn sie sinnend Zwiesprache
mit ihm hielte, und wie sie in der Abenddämmerung sich still wieder schließt.
Wie schweigsam ist es aber erst in der Welt der Gesteine geworden. Eine geradezu bedrückende
Stille geht oft von einer Felsenlandschaft oder von einer einsamen Schneefläche aus. Als wenn die
gewaltigen Bergmassen zu ewigem Schweigen verurteilt seien. Ist in dieser großen und weiten Welt
nicht etwas gestorben? Ist hier nicht das Weltenwort, von dem das Johannesevangelium sagt, daß
alles aus ihm entstanden ist, verstummt?
Nur aus dem Reiche der Tiere dringen hier und da vereinzelte Laute zu uns. Wer je den tiefen
Seufzer eines Pferdes hörte, wer den Schrei eines in Todesnot sich ängstigenden Tieres vernahm, wird
ihn nicht vergessen können: wie aus Abgründen stößt er herauf, unpersönlich, unerlöst. Oder wenn
wir die Stimmen der Vögel beachten: wohl spricht man vom Jubilieren und Musizieren dieser ge-
fiederten Welt, aber hört man näher zu, so scheint oft etwas Übermächtiges da zu sein, das sich in
diese Stimmen hineindrängen will und unerkannt bleibt, weil es sich nicht ganz zu offenbaren vermag.
Der Mensch ist der Einzige in dieser weiten Welt, der Worte sprechen kann. Wie — so möchte
man einmal fragen — erlebt wohl die stumme Welt den in ihr lebenden sprechenden Menschen?
Man denke z.B. an einen eben Verstorbenen, der in seiner erhabenen Ruhe und Stummheit wie
ein Fremder auf seinem Lager liegt. Wie oft haben wir in solcher Situation uns gefragt, ob er
wohl noch unsere Worte zu hören vermag? Sicherlich nicht einen Ton im äußeren Sinne. Ist aber
das Empfinden, daß man an solch einem Lager nicht alltägliche Dinge bespricht, sondern nur Gutes
und Wahres, nicht ganz berechtigt? Wenn wir Worte zu finden in der Lage sind, die nicht von
irdischen Vorstellungen bedingt sind, sondern aus geistigem Wissen z.B. das Vaterunser, so sind
wir gewiß, daß solche Worte in ihrer Substanz und in ihrer Bewußtseinskraft den Verstorbenen
erreichen und ihm etwas sagen können.
Was ist der sprechende und singende Mensch in dieser Welt für ein wunderbares Wesen! Wie
vermag etwa das rhythmisch singende, sich immer wiederholende Wiegenlied einer Frau ein un-
ruhiges Kind zu umfangen und seine Seele aus ihrer Leiblichkeit zu lösen und in das Land des
Schlafes zu führen! Oder man denke daran, wie ein klares und tiefes Gebet um ein Kind etwas von
heilender Ruhe aufbaut, auch wenn die Worte ihm noch nicht verständlich sind. Und wie lauschen

90 .
ERRTE

erst die Tiere auf die Seelenhaltung, die sich in unseren Worten ausspricht. Vielleicht denken wir
daran, wie wir als Kinder einem Hunde öder Pferd unsere Freuden und Leiden anvertraut haben.
Wohl mag man solches als sentimentale Torheit werten, weil man meint, das Tier verstehe ja nicht
die Menschensprache. Aber wie es sie anhört und aufnimmt, das scheint darauf hinzudeuten, daß
das Tier sich zum Menschen gehörig fühlt und das Erdenschicksal mit uns tragen muß.
Wir meinen vielleicht, wir müßten erst sichtbare Reaktionen an der Umwelt — z.B. an den
Pflanzen, feststellen, bevor wir etwas ausmachen können über die Bedeutung des menschlichen
Wortes für die Pflanzenwelt. Dabei hat seit uralten Zeiten der Mensch den Dingen ihren Namen
gegeben. Sollte das nur eine Rlassifizierung gewesen sein? Liegt nicht schon etwas königlich Weis-
heitsvolles, ja die stumme Welt Befreiendes darin, daß der Mensch diese verstummten Worte in
den Dingen verstand und sie aussprach? Werden die Menschen nicht einmal zu der Erkenntnis
kommen, daß das Wesen einer bestimmten Blume in einem ganzen Sprachgebiet wirklich mit dem Wort
„Rose“ erkannt wurde und ein anderes Wort unwahr wäre? Es hatte doch auch einen tiefen Sinn,
wenn die Priester der Vergangenheit die Saatfelder mit Segensworten beschickten, wenn jemand durch
einen Fluch oder Segen über ein Volk offenbarte, daß er im Dienste eines ganz bestimmten
Geistes stand. \
Heute zeigen sich zwar solche Gebräuche nur noch als blasse Gewohnheiten oder als dunkle Magie.
Wie wir überhaupt erkennen, daß wir Menschen diese Worteskraft verloren haben. Unsere Rede ist
ein Verständigungsmittel geworden, unsere Stimme verrät nichts mehr von einem Weltenton. Man
kann geradezu davon sprechen, daß auch die Welt des Menschen in der Gefahr steht, in die große
Stummheit der anderen Welt einzutreten. Bereits ist die Sprache für tot erklärt worden (Mauthner).
Und doch fangen wir an zu ahnen, daß das Wort im Menschen und durch den Menschen wieder
auferstehen kann. Solche Worte, wie die unserer Sakramente, bereiten eine solche Auferstehung vor,
ja sind schon eine Auferstehung des Weltenwortes im Menschen.
Wie ein heiliger, alle Welt verbindender Strom wird das Wort des Menschen, getragen von seiner
Stimme, in die Gegenwart fließen. Heilend, erleuchtend, ermutigend, richtend. Es wird allen Wesen
Kunde bringen von dem alles umspannenden Weltenall. Es wird die Erdenwelt segnen, es wird die
Tiere trösten, es wird den Toten Wege weisen.
Das verlorene Wort wird im Menschen erstehen! Und wenn der Mensch redet, werden die Sterne
aufleuchten!

Vom Auge
Friedrich Rittelmeyer
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Kein schöneres Gedicht über das Auge ist mir bekannt als dies Gedicht Gottfried Kellers. Und
besonders im Leben begleiten können uns die letzten Verse dieses Gedichts:

Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,


Von dem goldnen Überfluß der Welt!

Diese Worte sind bekanntlich ein Lieblingsvers Friedrich Nietzsches gewesen. Gottfried Keller —
Friedrich Nietzsche: wenn der Dichter und der Denker zusammentreffen, gilt es acht zu geben. Dann
schaut uns oft der Zeitgeist an.
Und wirklich: sehend vor allem hat sich unsre Zeit auf der Erde eingerichtet. In der Naturwissen-
schaft hat sie sich ein großes, neues Weltauge geschaffen. Das schaut in das Weite — durch das
Teleskop. Das schaut in das Kleine — durch das Mikroskop. Das schaut in das Innere — durch die

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Röntgenstrahlen. Keins der ungezählten vorangegangenen Menschengeschlechter hat ein solches
großartiges Weltenauge gehabt wie wir in unsrer Naturwissenschaft.
Aber: ist es der „goldne Überfluß“, den wir durch die Naturwissenschaft sehen? Es ist ein ver-
wirrendes Gespinst von Atomen und Molekülen, von Kräften und Strahlungen. Und kann man das
„trinken“? Kommunionhaft in sein Wesen aufnehmen? Was würde aus dem Menschen werden, wenn
er das täte?
Es gab einen Geist, gerade in Deutschland, der uns vormachte, wie man den goldnen Überfiuß
der Welt trinken kann. Er war Denker und Dichter zugleich. Das war Goethe. Ernstestes Forschen und
reinstes Genießen verband sich in ihm vorbildlich für ferne Zeiten. Aber wo sind wir?
Kehren wir von Teleskop und Mikroskop zurück zum menschlichen Auge. Der wundervollste
Apparat, der je ersonnen wurde, ist es, was wir da, jeder von uns, in unsrem Haupt immer mit uns
herumtragen. Kein Physiker kann ihn auch nur von fern nachbilden. Vorbild ist er aber geworden
für viele menschliche Erfindungen.
Heute wird schon den Kindern in der Schule das menschliche Auge erklärt, soweit man „erklären“
kann. Und jeder sollte etwas wissen von dem Wunderapparat, der ihm zur Verfügung gestellt wurde,
und den er durch so viele Jahre täglich tausendfach benützt. Wir wollen nur zwei Beträc-
tungen hinzufügen.
Stellen wir uns vor, die Bilder, die ein fünfzigjähriger Mensch in seinem Leben durch das Auge
aufgenommen hat, wären alle photographiert worden: eine ganze große Stadt wäre notwendig, um
diese Photographien für einen einzigen Menschen auch nur aufzubewahren. Und wenn der Mensch
dann eines dieser Bilder wieder haben wollte, so würde es auch in der bestorganisierten Stadt manche
Zeit und Mühe kosten, unter den Millionen Bildern das gewünschte Bild herbeizuschaffen. Und wie
arbeitet unser menschlicher Organismus? Wir schreiben das Wort: Vaterhaus. In dem selben Augen-
blick schon kann jeder Leser sein Vaterhaus im Geistesbild vor sich haben. Mühelos, geräuschlos ist
das Bild erschienen. Kein Suchen war notwendig und kein Tragen. Ohne Schwere steht das Bild
da, in weniger als Sekundenschnelle herbeigebracht. Ist das nicht geradezu phantastisch geheimnis-
voll, was da fortwährend in unsrem Haupt geschieht? Wunder über alles Begreifen! :
Noch einmal schreiben wir das Wort: Vaterhaus! Was wir da im Geist vor uns sehen: ist es das-
selbe wie das, was etwa ein Tier an uusrem Vaterhaus sieht? Unzählige, unergründliche Gefühle sind
in dies Bild verwoben. Schwer von Erinnerung ist dies Bild — und doch ganz leicht. Jeder Giebel,
jede Linie ist wie durchgeistigt. Wer hat den Geist in das Bild gegossen? Wer hat das Bild so
ganz mit Seele durchtränkt? Wie kommt das großartige Zusammenspiel von Bild und Geist zustande,
das wir hier an einem Beispiel unter tausenden beobachteten? Wunder über alles Begreifen!
Was sind wir Menschen doch für sonderbare Geschöpfe: da freut sich einer, daß er etwas schärfere
Augen hat als der andre; aber daß er überhaupt Augen hat, darüber freut er sich nicht. Warum nicht?
Weil der andre sie auch hat. Weil der Verbrecher sie auch hat. Weil das Tier sie auch hat. Wenn
ein Mensch sich gedrückt fühlte und einsam: er braucht ja nur im Spiegel sein eignes Auge zu sehen,
und er kann sich überströmt fühlen von einer unerhörten Gnade, die ihm ganz persönlich zuteil
geworden ist.
Und nicht nur der Blick ins eigne Auge: was kann der Blick in ein Kinderauge für eine Offen-
barung sein! Ein Blick in Engelhintergründe, ein Blick in ergreifende Welten von Schönheit, Geist
und Güte. Jedes Kinderauge trägt einen Schimmer in sich von den schönsten Augen, die je gemalt
worden sind, von den Augen des Jesuskindes auf den’ Armen der Madonna Sistina.
Und nicht nur Kinderaugen. Vom Auge Kants sagte ein Zeitgenosse, es sei gewesen „wie aus
lichtem Äther gebildet“. Der strahlende Glanz im Auge Goethes war vielen Menschen ein unerhörtes
Erlebnis; es war ein strahlender Glanz, wie wenn die Götter Griechenlands lebendig geworden
wären. Und das Auge Bismarcks: als ich in jungen Jahren das Glück hatte, in diese lichtblauen
Augen zu blicken, war es mir, als breche ein königlicher Strahl aus einer michaelischen Welt in diese
Erdenwelt herein.
i i *

92
„Das Auge ist eine Brücke“; im dunklen Burgsaal wartet ein König auf seine Gäste. Wird der
König jeden Gast über die Brücke in sein Schloß einlassen? Wird er sich nicht besondere Gäste
in seinen Burgsaal einladen?
Das führt uns zuhöchst auf die Frage: Was können wir erfahren über das Schauen Christi?
Es hat seinen ganz besonderen Reiz, mit irgendeiner Einzelfrage durch die Evangelien zu wandern.
Immer neue Entdeckungen kann man machen.
Christus „sah“ den reichen Jüngling und gewann ihn lieb. Trotz seiner Unentschlossenheit. Wie
oft würden wir für einen Menschen unsres Lebenskreises Interesse, Liebe gewinnen, wenn wir ihn
nur wirklich sähen! -
Christus „sah“ aber auch „die argen Gedanken“ der Pharisäer. Er sah keineswegs „nur das Gute“
an den Menschen. Aber er glaubt doch an sie und ringt mit ihnen bis zuletzt.
Christus „sah“ den Zachäus auf seinem Maulbeerbaum. Hunderte umdrängten und umjubelten
ihn. Er sah den Einen in seiner, vielleicht noch kaum gefühlten Herzensnot.
Christus „sah“ die Witwe, die ihr Scherflein einlegte in den Tempelkasten. Den Pharisäer, der
vorher seine Münze mit Gepolter eingelegt hatte, die edelsteinbehängte Großdame, die beim Ein-
werfen ihre anmutigen Bewegungen spielen ließ, sah er auch — und sah sie nicht. Die Witwe sah
er, so unscheinbar alles war, — und freute sich.
Christus „sah“ die Stadt Jerusalem und weinte über sie. Er hat einen ganzen Weltuntergang gesehen.
Christus „sah“ seine Mutter unter dem Kreuz und den Jünger, den er lieb hatte. Es war der letzte
Blick Christi, von dem wir hören. Er sah einen ganzen Weltaufgang, eine werdende Gemeinde, eine
beginnende Schöpfung — und segnete sie.
Ein ganzer „Gottesdienst des Auges“ kann aus diesen wenigen Stellen der Evangelien heraus-
gelesen werden. Da lebt etwas von dem „Auge Gottes“, das wir auf alten Bildern so oft ab-
gebildet sehen, vom heiligen Dreieck umschlossen.
Das wird uns noch klarer, wenn wir an die Stunde denken, von der es heißt: Christus wandte sich
um „und sah Petrus an“. Gericht — und Gnade! Petrus bricht zusammen — und kommt doch wieder.
So mag es oft gewesen sein. Verhärtete Sünder fühlten sich durchschaut — und flohen nicht, sondern
warfen sich zu Füßen dessen, der sie durchschaut hatte. Welche Offenbarung von Geist und Güte
mag das Christus-Auge gewesen sein! Erschütternder Schmerz, aber aus göttlichkem Geist und göttlicher
Güte! „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ |
„Das Auge, mit dem du Gott schaust, ist das Auge, mit dem Gott dich schaut“: so heißt ein tief-
gründiges Wort der Mystiker. Es kann auch gelten: das Auge, durch das du in die Welt schaust, kann
das Auge sein, durch das Gott schaut. — Was kann schon ein einziger freundlicher Blick für einen
Menschen bedeuten lebenslang. Mancher hätte das Leben nicht von sich geworfen, wenn er — gesehen
worden wäre. . .
Einmal hat Christus. auch über das Auge selbst gesprochen. Es ist ein rätselvolles Wort. „Das Licht
des Leibes ist das Auge. Wenn nun dein Auge in Ordnung ist, wird dein ganzer Leib erlichtet sein.
Wenn aber dein Auge übel ist, wird dein ganzer Leib verfinstert sein. Ist nun „das Licht in dir“
Finsternis, wie groß ist dann die Finsternis!“ (Matth. 6, 22 und 23.) — Vom Auge aus geht Christus
hier zwei Wege. Den Weg ins Licht und den Weg in den Geist. Wie sehr unser Auge der Lichtwelt
zugehört, das kann uns ja zum merkwürdigsten Erlebnis werden, wenn wir unser Auge etwa in der
Dunkelheit reiben. Aber Christus macht das Auge auch zum Gleichnis für den. Geist. Wenn wir diesen
Weg nachgehen, dann kommen wir schließlich an bei dem höchsten Wort, das Christus auf der Erde
gesprochen hat: „Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, daß
sie meine Herrlichkeit schauen!“ Es ist das Allerhöchste, wozu wir Menschen, wozu
alle Wesen je kommen können. Denn der Vatergott wohnt in der tiefsten Verborgenheit. Mit jedem
Wort, mit dem wir ihn nennen wollen, verengen wir ihn. Aber der Abglanz seines Wesens, der
Widerschein seines Lebens, das ist Christus. Hier kaun man wirklich .von einem „Antlitz“ reden,
von einem Entgegenleuchten — Gottes.

93
Alles, was wir im „Gottesdienst des Auges“ tun, ist Vorbereitung für dies Allerhöchste. Hier
„trinkt“ das Auge wirklich vom „goldnen Überfluß der Welt“. Hier ist höchste Kommunion.
Das griechische Wort für Auge, ophthalmos, heißt seinem Ursprung nach „Hochzeit mit dem Licht“.
Von dieser Hochzeit in letzter Erfüllung spricht die Offenbarung des Johannes. Wenn einmal die
ganze Erdenwelt, für die das Auge geschaffen worden ist, vergangen sein wird, werden sich die
Menschen in zwei Gruppen geschieden haben. Von beiden gilt ein Christuswort über die Augen. Von
den einen: „Mit sehenden Augen sehen sie nicht.“ Von den andern: „Selig sind die Augen, die sehen,
was ihr seht!“

An das Licht
Aus einem Gedicht von Sophie-Dorothea Freudenberg

.. . Göttliches Licht, Du bist es, im Weltenraum zelebrierend,


Das die Kerzen der Andacht in Menschenherzen entzündet
Und in das lammende Weltenfest einatmet mein Ich...

Das Landschaftsbild von Caspar David Friedrich *


Hermann von Skerst

Der Norweger Andreas Aubert, der als erster in bahnbrechender Weise das Werk Caspar David
Friedrichs wiederentdeckte, hat auch auf das innerste Geheimnis seines Kunstschaffens hingewiesen;
er nannte es: „Christus in uns“. Hören wir dieses Prinzip aus Friedrichs eigenen Worten
heraus: „Willst du dich der Kunst widmen, fühlst du innern Beruf, ihr dein Leben zu weihen, o! so
achte auf die Stimme deines Innern; denn sie ist Kunst in uns. Hüte dich vor kalter Viel-
wisserei, vor frevelhaftem Vernünfteln; denn sie tötet das Herz, und wo Herz und Gemüth im
Menschen erstorben ist, da kaun die Kunst nicht wohnen! Bewahre einen reinen kindlichen Sinn in
dir, und folge unbedingt der Stimme deines Innern: denn sie ist das Göttlichein uns und
führt uns nicht irre! Heilig sollst du halten jede reine Regung deines Gemütes; heilig achten jede
fromme Ahndung; denn sie ist Kunst in uns! In begeisternder Stunde wird sie zur anschaulichen
Form, und diese Form ist dein Bild!“ Mit diesen Worten läßt uns Caspar David Friedrich in sein
Herz schauen. Ein Einundeinzigster, wie ihn Wilhelm von Kügelgen in seinen „Lebenserinnerungen
eines alten Mannes“ nennt, hat hieraus ein Werk geschaffen, das, von den Zeitgenossen vielfach ver-
kannt und verspottet, nur von ganz wenigen verstanden, und schon zu Lebzeiten vergessen, hundert
Jahre gebraucht hat, um neu in das nun tiefer eindringende Bewußtsein der Menschen zu treten.
Kein Bild hat er mit seinem Namen gezeichnet noch mit der Jahreszahl versehen, und doch kennt
man sie aus allen reichen Gemäldesammlungen sofort heraus, weil sie eine einzigartige Weihestim-
mung ausströmen. Sie strahlen das aus, was Caspar David Friedrich der Erde gegenüber empfand:
Wandlung. Eins seiner Frühbilder gibt uns davon eine lebendige Anschauung: „Morgenlicht“. Wie
hier ein Mensch in die Landschaft hineingestellt ist, mit ihr das kommende Licht erwartend, wie
er die schon aufgehende Sonne verdeckt und doch ihre verklärende Macht in Haltung und Gebärde
bezeugt, wie die abgeblendeten Strahlen gleichsam aus dem Herzen des Mädchens selber hervor-
gehen, — das alles drückt in seiner beredten Schweigsamkeit, besser als Worte es vermögen, die reli-
giöse Grundstimmung von Caspar David Friedrichs Landschaft-, wir können auch sagen Erde-
Erleben, aus.

* Siehe auh Johannes Perthel: Der Mensch als Priester in der Landschaft (Vom Ringen eines deutschen
Malers vor hundert Jahren), Die Christengemeinschaft, 3. Jahrgang, $S. 111 ff. Die meisten hier besprochenen
Bilder finden sich in farbiger Wiedergabe in der Seemann-Mappe von C.D. Friedrich und in der billigen
Sammlung „Der eiserne Hammer“. Zu den Zitaten vergleiche vor allem: C. D. Friedrich, Bekenntnisse, aus-
gewählt und herausgegeben von Karl Eberlein. Klinkhardt & Biermann Verlag, Leipzig 1924.

91
em

Es liegt etwas Sakrales in seiner Kunst. Und so faßt er auch sein Schaffen auf: als einen priester-
lichen Dieust — an der Erde, der er von dem in seinem Innern aufgegangenen Lichte mitteilt, —
an den Menschen, denen er die Augen öffnen möchte für dieses aus dem Dunkel hervorleuchtende
Licht. „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst sehest dein Bild. Dann
fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere, von außen nach innen.“
Friedrichs Freund, der Arzt und Maler Carus, beschreibt einmal treffend seine Erscheinung, wie
sie uns auch in einem Kreideselbstbildnis erhalten geblieben ist. „Gebürtig vom Strande der Ostsee,
eine recht scharf gezeichnete norddeutsche Natur, mit blondem Haar und Backenbart, einem bedeu-
tenden Kopfbau und von hagerm, stark knochigen Körper, trug er einen eigenen melancholischen Aus-
druck in seinem meist bleichen Gesicht, dessen blaues Augenpaar so tief unter dem stark vorspringen-
den Orbitalrande und buschigen, ebenfalls blonden Augenbrauen verborgen lag, daß darin der
Blick des die Lichtwirkung im höchsten Grade konzentrierenden Malers
sehr charakteristisch sich erklärt fand... Man sah ihn fast nie mehr unter Menschen. .. Die Dämme-
rung war sein Element, früh im ersten Morgenlicht ein einsamer Spaziergang, und ebenso ein zweiter
abends bei oder nach Sonnenuntergang, wobei er indes die Begleitung eines Freundes gern sah; das
waren seine einzigen Zerstreuungen; übrigens brütete er in seinem stark beschatteten Zimmer fast
fortwährend über seine Kunstschöpfungen.“ Ein Gemälde von G. F. Kersting zeigt uns Friedrich in
seinem schlichten, ja armseligen Atelier in Dresden. 1798, vierundzwanzigjährig, war er hierher
gezogen und blieb auch daselbst bis zu seinem Ende. Häufige Reisen führten ihn immer wieder in
seine Heimatstadt Greifswald und auf sein geliebtes Rügen. Wollen wir uns eine Überschau über sein
Werk verschaffen, so können wir es inhaltlich nach drei Gesichtspunkten gliedern: die erste Reihe
möge seine Meer- und Küstenbilder umfassen. Sie zeigen uns Caspar David Friedrich von
seiner seelen-innigsten, heimatliebenden Seite, und wir werden vielleicht nicht ganz febl gehn, wenn
wir die meisten zu seinen Frühbildern zählen, bis etwa 1807, welche Zeit man auch als seine „Rügen-
epoche‘ bezeichnet. Die zweite Reihe mögen seine Bergbilder sein, wo er die Lebensmitte erreicht
und die Höhe seines Kunstschaffens erklimmt. Die letzte Reihe zeigt uns den Maler von seiner tief-
sinnigsten, sogenannten „Nacht“-Seite, die am wenigsten von seinen Zeitgenossen verstanden worden
ist. Dabin gehören seine Gräber, Friedhöfe u.a.
*

Von der ersten Gruppe nur einige Beispiele. Vier weniger bekannte Meerbilder malen die charak-
teristische Stimmung der Tageszeit. Morgen: eine frische Brise führt das Fischerboot aus dem Hafen.
Der am Mast steheude Fischer schaut den schon im vollen Wind dahinsegelnden vorausfahrenden
Booten nach. Möwen schreien in der Luft. Am Ufer die errichteten Gabelstangen für die Netze.
Mittag: auf hoher See ruhen regungslos, trotz vollbesetzter Masten, die Schiffe. Am Ufer ein Segelboot,
dessen Insassen sich wohl zur Mittagsruhe an Land begeben haben. Schwüler Dunst verschleiert den
Horizont. Abend: dem sichern Hafen steuert das einsame Boot zu, dessen Segel schon herabgelassen
werden. Ein mächtiger Anker liegt auf dem Ufer. Nacht: Nachenpartie bei Mondschein. Ein frischer
Wind treibt zerzauste Wölkchen am Vollmond vorbei, der sich mit ihnen in der glitzernden See
spiegelt. — Nicht ohne Humor betrachten wir das Bild der Lebensstufen: diese verschiedenaltrigen
Menschen finden wir noch einmal dargestellt in den Schiffen auf dem Meer. Fröhlich stechen die
zwei kleinen Segelboote der beiden Kinder in See, die ihr Fähnchen lustig im Winde flattern lassen.
Der zum Manne heranreifende Jüngling hat zum Hintergrunde das größte Schiff, dessen Segel gerade
am Maste hochgezogen werden. Die um die Kinder besorgte Großmutter hat trotz vollgesetzter Segel
wenig Fahrt mehr. Und endlich der Alte versinkt schon mit seinem Schiff hinterm Horizont!
„Mondaufgang am Meer“. Eines der schweigsamsten Bilder Caspar David Friedrichs! Man sollte
es lieber ‚Zwielicht am Meer‘ nennen, denn die Menschengruppe auf den runden Klippen erhält von
zwei Seiten Licht: zart zeichnen sich die Gesichter der beiden Mädchen vom mondbeschienenen Himmel
ab, während von der andern Seite selbst die dunkelnden Steine noch einen abendrötlichen, warmen
Ton erhalten. Wie diese schweigsame Menschengruppe den traumhaft herannahenden Schiffen zu-

95
schaut, wie sie in das Bildganze eingeordnet ist, das verrät Caspar David Friedrichs innerstes Land-
schaftsgeheimnis, dem wir im folgenden nachzuspüren versuchen.
*

Wir dürfen erwarten, daß die Werke, mit denen Caspar David Friedrich zum erstenmal an die
größte Öffentlichkeit tritt, zuerst in Dresden, dann in Berlin, 1809 und 1810, also wo er gerade die
Lebensmitte erreichte, daß diese Werke die stärkste Prägung seines Genius an sich tragen. Um sie
voll zu würdigen müssen wir aber noch zweierlei ins Auge fassen: einmal seine Freundschaft mit
dem Romantiker-Maler Philipp Otto Runge, zum andern die geschichtliche Lage Deutschlands.
1801—3 wohnte Runge in Dresden. Wir können sagen: was diesem als eine neue Landschaftskunst im
Geiste vorschwebte, wurde durch Friedrich verwirklicht. Runge drückte in klaren Ideen das aus, was
Friedrich gestaltete. Ihre geistige Verwandtschaft, nicht eine Abhängigkeit voneinander, darf darin
gesehen werden. Zwar meint man gemeinhin, den größeren Geist und reichere Begabungen Philipp
Otto Runge zuschreiben zu sollen, der, wenn er nicht so früh gestorben wäre, seine eigenen Prophe-
zeiungen noch ganz anders wahr gemacht hätte. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, erstens: daß die
Erfüllung immer anders kommt, als man erwartet hatte, und zweitens: was will man denn mehr,
wenn einem das Eine, das not tut, wirklich dargeboten wird?! Gewiß ist das Ende der hier gemeinten
neuen Landschaftskunst in Caspar David Friedrich noch nicht da, er hat erst den Anfang gemacht,
aber einen vollgiltigen Anfang. Und wir sehen ja, wie auch dies Wenige dazumal noch nicht ver-
standen und so bald vergessen wurde, wie die Kunstentwicklung eine ganz andere Richtung nahm
bis in unsere Zeit. Und so müssen wir das tragisch-einsame Lebenswerk Caspar David Friedrichs selbst
noch einmal eine Prophetie nennen auf die Kunst der Zukunft, die aus der neuen spirituellen Welt-
anschauung heraus eine Durchgeistigung des Stoffes, eine Durchlichtung alles Erdenseins gestalten wird.
Die Ideen Runges und die Bildwerke Friedrichs können in uns eine Ahnung davon erwecken.
Runge gliedert die Kunstgeschichte in zwei große Epochen. In der ersten habe eigentlich die Natur
selbst im Menschen sich dargestellt, wobei unter Natur auch die in der Geschichte wirkenden Kräfte
zu verstehen sind. Wir können sagen: der Mensch war mitsamt seinen Kunstschöpfungen ein Kind
der Natur. Nicht er sprach sich aus, sondern sie sprach sich durch ihn aus. Wir nennen diese
Epoche die Zeitdes göttlichen Vaters, und das Thema der Kunst ist, im weitesten Sinne ver-
standen: die Menschwerdung Gottes.
Runge prägt dafür das Wort: Historienmalerei. Was ihm als die neue Landschafts-
malerei vorschwebt, der er zutraut, einmal mit der Kunst der Griechen und Raffaels zu wetteifern,
das müssen wir in radikaler Umwendung alles Bisherigen als die Epoche der Weltwerdung des
Menschen bezeichnen. Und das wird erst die eigentlich-christliche Kunst werden, indem sie den
göttlichen Sohn im Menschen wird zur Offenbarung bringen. Hören wir diese grundlegenden Ideen
aus Runges eigenen Worten* heraus: „Zuerst bannten die Menschen die Elemente und die Natur-
kräfte in die menschliche Gestalt hinein, sie sahen nur immer im Menschen sich die Natur regen;
das ist das eigentliche historische Fach, daß sie in der Historie selbst nur wieder jene mächtigen
Kräfte sahen: das war die Historie; das größte Bild, was daraus entstand, war das Jüngste Ge-
richt (Michelangelos); alle Felsen sind zur menschlichen Figur geworden, und die Bäume, Blumen
und Gewässer stürzen zusammen. . . Jetzt fällt der Siun mehr auf das Gegenteil. Wie selbst die
Philosophen dahin kommen, daß man alles nur aus sich selbst heraus imaginiert, so sehen wir, oder
sollen wir sehen, in jeder Blume den lebendigen Geist, den der Mensch hineinlegt, und dadurch wird
die Landschaft entstehen, denn alle Tiere und die Blumen sind nur halb da, sobald der Mensch
nicht das Beste dabei tut; so dringt der Mensch seine eigenen Gefühle den Gegenständen um sich her
auf, und dadurch erlangt alles Bedeutung und Sprache.“ In unsere heutige Sprache übersetzt heißt das:
die äußere Wahrnehmung der Dinge vermittelt uns erst die halbe Wirklichkeit, die objektiv dazu

* Aus „Caspar David Friedrich, Die romantische Landschaft. Dokumente und Bilder, herausgegeben von
Otto Ficker. Strecker & Schröder, Verlag, Stuttgart 1922.

96
gehörige andere Hälfte fügt der Geist des Menschen mit dem Begriff, mit der Idee hinzu. Wahr-
nehmung und Idee zusammen machen erst die volle Wirklichkeit aus. Begreifen wir nun,
warum der Naturalismus in der Kunst, und nicht nur in der Kunst!, Platz griff? Weil man es nicht
lernen wollte im Goetheschen Sinne zu sehen und zu denken! Das aber tat Caspar David Friedrich,
indem er seine eigene Forderung erfüllte: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht,
sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlase er auch zu
malen, was er vor sich sieht.“ Das ist eine strenge, aber gerechte Forderung. Und nehmen
wir noch einige Sätze von Philipp Otto Runge, in ihnen ist das Grundprinzip des Kunstschaffens
Caspar David Friedrichs ausgesprochen: „Wenn ich mir die tröstendste Anschauung der Natur, die
je in mich gekommen ist, versiunliche, so finde ich kein größeres Bild und keines, welches mich so
überzeugt und gewiß macht von dem, was ich nicht habe und was ich haben muß, um selig zu sein,
als den Aufgang des Lichtes in der Natur... Wer die Klarheit in sich hat, gehört dem Lichte an,
und wäre er verborgen am Rande der Schöpfung. ... Die Wirkung und das lebendige Feuer des
Lichtes dringt und sauget sich tiefer und tiefer in den finstern Körper unserer Erde hinein, der sich
ebenso sehnet nach der Erlösung von seiner Angst, wie wir uns sehnen, befreit zu sein von der Schwach-
heit unseres Leibes. .. Das Wort des Menschen ist der Same, den er trägt für seine Nachkommen,
aber sein Tod ist die Befruchtung der Welt, und ein Licht, das da leuchtet an einem dunklen Ort.“
*

Dieses Licht, das da leuchtet an einem dunklen Ort, hat Caspar David Friedrich in seinen Land-
schaftsbildern zur Erscheinung bringen wollen. Er hat nicht Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge
gemalt, sondern diese sind ihm nur ein Gleichnis für den durch Christus aller Erde eingesenkten Licht-
samen, „daß auch sie einst Sonne werde“. Und so ist tonangebend für alle folgenden, sein exstes in
Öl gemaltes Bergbild, das für eine kleine Kapelle bestimmte Altarbild: Das Kreuz auf dem Berge.
Wir mußten die längere theoretische Betrachtung vorausschicken, um dieses Bild, so wie er es selbst
mit stammelnden Worten deutet, richtig zu verstehen. Er schreibt darüber: „Jesus Christus an das
Holz geheftet, ist hier der sinkenden Sonne zugekehrt als dem Bilde des ewigen allbelebenden
Vaters. Es starb mit Jesu Lehre eine alte Welt, die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte
auf Erden.“ (Das heißt die Zeit des Vaters, wo auch die Kunstwerke noch auf natürliche Weise ent-
standen; die Sonne malte gleichsam selber ihr Bild durch die Hand des Menschen.) „Diese Sonne sank,
und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht. Da leuchtet vom reinsten edelsten
Metall der Heiland am Kreuz im Golde des Abendrots und wieder strahlt so im gemilderten Glanz
(die Sonne) auf Erden.“ (Im Rahmenschnitzwerk, das den unteren Teil des Bildes ausmacht,
sehen wir Ähren und Weinreben sich neigen über eine inner-irdische Sonne!) „Auf einem Felsen
steht aufgerichtet das Kreuz unerschütterlich fest wie unser Glaube an Jesum Christum. Immer-
grün, durch alle Zeiten während, stehen die Tannen um das Kreuz, wie die Hoffnung der Menschen
Und
auf ihn, den Gekreuzigten.“. diese Hoffnung auf den göttlichen Sohn hat Friedrich zum neuen
Kunstprinzip erhoben! Christus in uns! Zu Weihnachten 1808 pilgert halb Dresden hinaus in
sein Atelier, um dies merkwürdige Bild zu sehen, das im halbabgedunkelten Raume, auf schwarz-
verhängtem Tische aufgestellt war. Friedrich war nicht zugegen. Nun entspann sich ein höchst uner-
quicklicher „kunstgelehrter“ Streit über dieses Gemälde, den wir übergehen wollen.
*

Wir betrachten nun die zwei Bilder, durch die Friedrichs Ruhm begründet wurde auf der Ausstellung
in Berlin 1810. Um sie voll zu würdigen, müssen wir aber jetzt noch das andere kurz ins Auge fassen,
was wir oben erwähnten: die historische Lage Deutschlands. Schwer lastet die französische Fremd-
herrschaft auf den Gemütern der wahren Deutschen. Andreas Aubert zitiert aus einem Briefe
Runges*:, — — Es ist ein trauriger und jammervoller Zustand in der Welt und muß so ein jeder
* Abgedruct in: Andreas Aubert, Caspar David Friedrich „Gott, Freiheit, Vaterland“. Aus dem Nachlaß
des Verfassers herausgegeben im Auftrage des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft von G. J. Kern.
Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1915. \

97
fühlen. Und gegen das alles kann man nichts weiter tun als tapfer aushalten und in
sich wider
alle Zweifel kämpfen... Es wird mit jedem Schritt, den die Franzosen tun, unmöglicher, daß
sie ganz
siegen können, da die Stimmung jedes einzelnen immer bestimmter sich dawider richtet.
Dadurch,
daß sie siegen, zwingen sie die Verbündeten, immer einen höheren und gründlicher
en Standpunkt
gegen sie zu ergreifen. Die Untreue können die Franzosen nicht verdecken, und je mehr
sie Künste
gebrauchen, desto erfahrener machen sie ihre Gegner, um sich vorzusehen, und soviel
böser die
Franzosen werden, um so viel besser wird die Sache der Verbündeten und was sie verfechten.
Es
ist ein Großes und Herrliches, das wir erfahren, und Gott erhalte uns, daß wir das Ende
erleben! — —“*
Zu diesen echten Deutschen gehört auch Caspar David Friedrich. J a, in seiner zurückgezogenen Klause
versammeln sich viele von glühender Vaterlandsliebe begeisterte Männer, die später in den
Be-
freiungskriegen bedeutende Rollen gespielt haben. Hier tauschen sie ihre Sorgen aus, hier holen
sie
sich Kraft, hier liest Kleist seine „Hermannsschlacht“ vor, hier verkehrt auch der junge Körner.
Und
sie alle erwarten das Heil nur von einer geistigen Wiedergeburt Deutschlands und arbeiten
dieser,
jeder auf seine Weise, vor. Was soll man tun, wenn einem die geistige Existenz des Volkes
in
Frage gestellt erscheint? Da kann man keine Freudengesänge anstimmen! Da hilft nur eines:
man
muß dem Volk seinen eigenen Zustand vor die Augen malen, damit es sich erkenne
und — Einkehr
halte! So sind die beiden Bilder gemeint, die Friedrich 1810 nach Berlin schickt. Zu
dem ersten, „Der
Mönch am Meer“, schreibt Kleist selber in seinen „Berliner Abendblättern“: „Nichts
kann trauriger
und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten
Reiche des
Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt mit seinen
zwei oder
drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse da, als ob
es Joungs
„Nachtgedauken“ hätte, und da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit nichts als den
Rahmen
zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als wenn einem die Augenlider
weggeschnitten wären.. .“
In ergötzlicher Weise läßt Clemens Brentano, aus dessen Feder die Rezension als ganze stammt,
eine Reihe von Ausstellungsbesuchern an Friedrichs Bild vorüberziehen und in der Form von Dia-
logen ihre Meinungen äußern. Sie finden nichts in dem Bilde, es bleibt ihnen stumm. Aber es versetzt
sie in eine innerste Unruhe und zwingt sie auf rätselvolle Weise ihre eigene Nichtigkeit aufzudecken.
Das andere Bild ist der „Klosterfriedhof im Schnee“. Schweigsam bewegt sich der Zug der Mönche
hinter dem Sarge her, der gerade durch das zerfallene Portal zum Altar im allein noch
hochragenden
Ostchor der Klosterkirche getragen wird. Im Vordergrund das ausgeschaufelte Grab. Und
mächtige,
von der winterlichen Exstarrung noch gefangen gehaltene Eichbäume stehen ringsum.
Mag das Bild
auch künden von vergangener Größe, so werden wir doch aufgefordert, durch das Portal des vorderen
Eichenpaares einzutreten in die größere Natur-Kirche, über der sich der offene Himmel
schon
morgendlich rötet, und der Tod des Vergangenen wird Same der Zukunft! Das Prophetische dieser
Bilder wurde doch verstanden. Der Kronprinz kauft sie, und wie seltsam ist es, daß der Ruhm
Caspar David Friedrichs in Kleists „Abendblättern“ zusammentrifft mit dem Nachruf für den soeben
verstorbenen Philipp Otto Runge.
Im selben Jahr gemalt, gehört zu den beiden genannten Bildern noch als drittes hinzu die 1812
in Berlin ausgestellte und vom König selbst angekaufte „Riesengebirgslandschaft bei Sonnenaufgang“.
Noch ertrinken die weiten Bergzüge bis zum Horizont hin im Nebel, aber von rechts reckt
sich ein
Felsengrat empor, der schon von der Morgensonne gerötet wird. Auf ihm erhebt sich als einziger
Gegenstand die Horizontlinie durchschneidend, ein schlankes Kruzifix, zu dem eine junge Frau
einem Manne hinaufhilft. Große Begeisterung muß dies Bild dazumal in Berlin geweckt haben.
Napo-
leons Stern war nach dem Brande von Moskau im Sinken, und schon sammelten sich die
heimlichen
Scharen zur Volkserhebung. Aber nun, vaterläudische Bilder im einschränkenden Sinne zu
malen,
lag Caspar David Friedrich fern. Es mußte nur auch auf das hingewiesen werden, woran Friedrich
mit der ganzen Kraft seiner leidenschaftlichen Seele mitlitt und mittrug, auf das Volksschicksal.
An
Sich sind seine Bilder von zeitloser Schönheit, umwoben und von all-erdhafter Tragik durchzogen
im
Sinne der nach Erlösung seufzenden Kreatur. So war es gerade ein Franzose (David), der angesichts

98
eines Bildes in die Worte ausbrach: „Voilä un homme, qui a decouvert la tragedie du paysage.“
(Siehe ein Mensch, der die Tragödie in der Landschaft entdeckt hat!)
%*

Das Riesengebirge und die Böhmische Landschaft schen wir häufig wiederkehren in Caspar
David
Friedrichs Bergbildern, aber auch die Sächsische Schweiz und andere Berge. Ein weiterer Atem
geht
durch sie alle. Hier schieben sich die kahlen Gipfel hintereinander immer höher hinauf, um am
letzten scheidenden Licht noch Anteil zu gewinnen, und aus den niederen Tälern steigt wie abend-
liches Gebet der Erde der Nebel auf. Dort ruhen zwei Gipfel in polarer Spannung, paradiesische
Klar-
heit umblaut sie, und sie halten ewige Zwiesprache mit dem unendlichen Himmel. Ist ein
Mensch
in diese Gebirgswelt versetzt, so harrt er wie ein winziges rotes Pünktchen mit ihr des kommenden
Lichts. Wenn wir oben von der Welt-Werdung des Menschen sprachen, so findet die
Seele an
der Bergwelt ihr erhabenstes Gleichnis.
Noch haben wir einen Blick in die „Nacht“-Seite von Caspar David Friedrichs Kunstschaffen zu
werfen. Er deutet sie selbst in den folgenden Versen:

„Warum, die Frag ist oft zu mir ergangen,


Wählst du zum Gegenstand der Malerei
So oft den Tod, Vergänglichkeit und Grab? —
Um ewig einst zu leben
Muß man sich oft dem Tod ergeben.“
Das Grab des Arminius ist wie ein Denkmal für den zu früh dahingegangenen Dichter Kleist.
Ein fremder Soldat (ein französischer Chasseur) hält die Ehrenwache am Sarge, dessen Deckel sich
vorbedeutend hebt. In späteren Fassungen sehen wir zugleich die Sarkophage der gefallenen Frei-
heitshelden, Theodor Körners u. a. — Die Ruine mit Denkmal der Freiheitskämpfer sollte man lieber in
der Richtung deuten, daß hier ein Freiheitskämpfer an der Quelle der Vergangenheit sich geistige
Kraft holt für seine Aufgabe. Die freie Natur ruft mächtig durch das zerfallene Gemäuer ins
Weite. — Das Friedhofstor lädt zum Erschauen eines offenbaren Geheimnisses, das sich aus dem
Morgendunst bis in die perlmutterfarbenen Baumwipfel erhebt. Das unvollendete Bild läßt vielleicht
wie kein anderes Auferstehung wittern. — Wie da im „Abend“ eines andern Tageszeitenz
yklus’ zwei
Menschen in die dunkelude Waldeseinsamkeit gestellt sind, reglos wie die Baumstämme
selbst dem
Lichtereignis lauschend; oder wie da der alte Mann an der Stadtmauer ganz versunken ist in das
Feierabendläuten; wie wiederum zwei Gestalten über die Augustusbrücke von Dresden hinwegschauen
in den wie von einem andern Licht durchzuckten Nachthimmel; wie endlich zwei Männer in den An-
blick des österlich-erglänzenden Mondes verloren erscheinen, — dies alles verrät uns das iunerste
Seelengeheimnis Caspar David Friedrichs, der durch das Mittel der „äußeren“ Landschaft

des Menschen innere Welt zur Verklärung bringen wollte. Als das letzte Werk seiner Hand be-
trachtet man die „Rast nach der Heuernte“. 1835 erlitt Friedrich einen Schlaganfall und lebte
in
zunehmender seelischer Verdüsterung noch bis 1840. Es liegt etwas von der Wehmut des scheidenden
Lichtes über diesem Gemälde. Aber nicht Resignation, sondern ein stiller Friede, vergoldet durch die
Hoffnung auf des Lichtes Wiederkehr, leuchtet uns enigegen. — Wie Caspar David Friedrich sein
Werk betrachtet wissen wollte, mögen uns zum Schluß seine eigenen Verse sagen:

„Ihr lobt mich oft mit lauten Zungen


Wie wunderschön ist dies gelungen
Wie tief und herrlich durchgedacht.
Oft schwieg ich still. Oft hab ich auch gelacht.
Doch wenn ich das, was ich mit voller Seel empfunden,
Was frei voll Geist dem Pinsel mir entschwunden,
Gezeigt, und Ihr seid kalt geblieben
Konnt’s in der Seele mich betrüben.“

99
Die Birke
Gertrud Liebe

Sinnend wiegt die Birke sich im Winde, Da ist nichts was sie nicht beten mag:
In dem maienmilden Mittagswind. Wie die vielen Vögel sie umsingen.
Schwanke Zweige schwingen sich gelind, Bunte Blumen ihren Stamm umringen —
Lange Locken um die weiße Rinde. Und sie betet diesen goldnen Tag,
Der die Sonne über sie gebreitet.
Und sie tönt ihr feines Laubgetöne.
Betet ihre eigne fremde Schöne —
Und sie weiß so seltsam sich geweitet ...

Von der Krise des Protestantismus


August Pauli

KarlBarth und Friedrich Gogarten wur- geistigen Not unsrer Zeit spürten und die Krisis des
den einst in einem Atem genannt als die führenden Protestantismus empfanden, die zwar schon seit ge-
Vertreter der sogenannten Dialektischen Methode in zaumer Zeit bestand, die aber im Krieg und nach dem
der protestantischen Theologie, die sich in der Zeit seit Krieg erst in ganz unverkennbarer Deutlichkeit hervor-
dem Krieg gerade bei den ernster gerichteten unter den trat. Trotz alles kirchlichen Betriebs und aller theo-
protestantischen Theologen so viel Anbang zu ver- logischen Forschung und Gedankenarbeit war die wirk-
schaffen wußte. Wer die Entwicklung der Dinge nicht liche Fühlung mit der Geistwelt im wesentlichen ver-
weiter verfolgt hat, mag einigermaßen erstaunt sein, loren gegangen. Die alte Theologie hatte sie nur noch
zu hören, daß die beiden heute in entgegengesetzten in der Theorie, die moderne Theologie aber wagte sich,
Lagern stehen, indem Bartb, obwohl nicht mehr in dem wissenschaftlichen Zug der Zeit entsprechend, über-
Deutschland tätig, auf die Haltung der Bekenntnisfront haupt nicht mehr in das Gebiet des Metaphysischen,
direkt oder indirekt wesentlichen, vielleicht entscheiden- des Übersinnlichen; Christentum bestand für sie nur
den Einfluß ausgeübt hat, während Gogarten sich zu den noch in menschlichen Seelenzuständen und in menschlich
Deutschen Christen bekennt. Gleichzeitig haben sie sich geschichtlichen Bildungen und Ereignissen. Unter diesen
innerlich so weit voneinander entfernt, daß Barth den Umständen drohte das in der Kirche gleichwohl fort-
einstigen Arbeits- und Kampfgenossen mit dürren Wor- gesetzte Reden von Gott zu einem Mißbrauch seines
ten des vollzogenen Verrats am Evangelium beschuldigt, Namens zu werden, denn wenn die eigentliche Substanz
während Gogarten nunmehr unter dem Titel: „Ge- fehlt, sind es schließlich nur noch menschliche Zwecke,
richtoder Skepsis“ eine Streitschrift gegen Karl denen man ihn damit dienstbar macht. Am Versagen
Barth* veröffentlichte, die sich eingehend mit dessen von Christentum und Kirche in der Katastrophe des
Lehre von der Offenbarung auseinandersetzt und zu Weltkrieges haben viele die innere Entleerung, den ein-
dem Schluß kommt, Barth habe mit ihr die Kirche in getretenen Bankrott gespürt. So horchte man auf, als
einer entscheidenden Stunde heillos verwirrt. Ein so nach dem Krieg Karl Barth mit Worten voll tiefen
tief aufgebrochener und mit so entscheidenden Worten Ernstes, die einen nahezu prophetischen Klang hatten,
ausgesprochener Gegensatz hat natürlich tiefere Gründe es unternahm, diese Dinge zurechtzurücken und das
als etwa nur solche der Opportunität angesichts der Göttliche erst einmal wieder in seiner Größe und seinem
Zeitereignisse, und so kann es auch für uns von Interesse Eigensein, in seinem unendlichen Abstand vom Mensch-
sein, ihnen etwas nachzugehen. lichen empfinden zu lassen. Wenn man aber nun unwill-
Daß wir unsrerseits gegen die Barthsche Theologie kürlich erwartete, daß er dann auch helfen würde, den
schwerwiegende Einwendungen zu machen haben, haben Abgrund zwischen uns und Gott irgendwie zu über-
wir schon vor Jahren zum Ausdruck gebracht**. Karl brücken — anders ist uns doch in Wahrheit nicht ge-
Barth hat ja zu den Männern gehört, die etwas von der dient —, so sah man sich schließlich getäuscht. Man er-
* Friedrich Gogarten, Gericht oder Skepsis. Eine fuhr eigentlich nur, daß dieser Abgrund zwischen uns
Streitschrift gegen Karl Barth. Eugen Diederichs Verlag Jena. 156 5 und Gott in seinem und unsrem Wesen begründet und,
** Vgl, die Schrift: „Von der Krisis des Protestantismus“ von
Lic. R.Goebel und A.Pauli in der Schriftenreihe „Theologie solange wir in dieser Zeitlichkeit leben, überhaupt nicht
und Kultus“, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1928. zu überbrücken sei, so daß etwas Wesentliches gar nicht

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geschehen könne. Damit aber verlor die Sache wieder mehr irdisch als christlich an, sind mehr Philosophie als
ihren Ernst. Denn wenn etwas Wesentliches doch nicht Theologie; die Notwendigkeit und der Sinn einer Er-
geschehen kann, dann richtet man sich eben wohl oder lösung durch Christus ist dabei nicht einzusehen.
übel im Uuwesentlichen ein. Gogarten macht demgegenüber geltend, daß damit das
Barth hatte das an sich berechtigte Bestreben, den Gottesverhältnis ästhetisch, nicht ethisch verstanden sei.
Begriff der göttlichen Offenbarung der Vermenschlichung Für die christliche Auffassung wurzele der Gegensatz
zu entziehen, der er in der neueren Theologie wie in des Menschlichen gegen das Göttliche nicht in der End-
der kirchlichen Praxis anheimgefallen war. So suchte er lichkeit des Geschöpfes nur, sondern in der Sände, im
Offenbarung zu bestimmen, nicht wie sie Gegenstand Ungehorsam gegen das Gesetz Gottes. In der Tai ze-
menschlicher Erfahrung oder Inhalt menschlichen Be- winnt man den Begriff der Sünde nicht, wenn man den
wußtseins, sondern wie sie an sich selbst ist, rein der Menschen nur sozusagen durch einen Irrtum zu einem
Souveränität und Freiheit Gottes entstammend und Selbstbewußtsein gekommen sein läßt, sondem darin
den Menschen in sich selbst zunichte machend, um ihn einen von Gott sich lösenden, sich auf sich selbst
gewissermaßen ganz neu zu erschaffen. Aber von einer stellenden Eigenwillen erkennt, der den Menschen m
göttlichen Offenbarung, wie sie an sich selbst ist, kann seiner Egoität verschließt. Das setzt freilich zugleich
man doch überhaupt nicht sprechen, denn sie ist Offen- voraus, daß der Mensch schon in seiner ursprünglichen
barung nur, sofern sie auch Gegenstand menschlicher Veranlagung die Möglichkeit zu einem wenigstens rela-
Erfahrung ist. Eine göttliche Offenbarung, wie sie an tiven Eigensein, zum Ich in sich trägt; das bloße Ge-
sich selbst ist, ist keine wirkliche Offenbarung, sondern schöpf ist dem Schöpfer gegenüber so sehr ein Nichts,
ein theologisch erdachter Begriff. Und so führt das ein- daß es nicht einmal zu einem Bewußtsein seiner selbst
seitige Bestreben, die göttliche Offenbarung in ihrer und erst recht nicht zu eigener sittlicher Entscheidung
reinen Objektivität sicherzustellen, nur dazu, daß wir kommen kann. Erlösung kann dann auch nicht in
gerade in der Subjektivität menschlicher Begriffs- einem irdischen sich Hineinstürzen in den Abgrund
bildungen stecken bleiben. Auf diese Weise wird in der des Unendlichen bestehen, sondern nur in der durch
Tat der Abgrund zwischen uns und Gott nicht über- Christus erfolgenden Befreiung aus dem eigenwillig in
brückt. Offenbarung überkommt den Menschen freilich sich Verschlossensein, aus der sinnlichen Egoität, und
als etwas, was sonst nie in sein Herz und seinen Sinn in der Erweckung des schlafenden Geistfunkens, des
gekommen wäre, sie ist eine freie Gottestat, aber doch höheren Ichs, mit dem sich nun der Mensch in freiem
keine göttliche Willkürtat, sie hat auch ihre Voraus- Wollen dienend hineinstellt in den geistigen Zusammen-
setzungen auf der Seite des Menschen und muß ihn in hang des Daseins.
seiner konkreten Lebenslage und geschichtlichen Be- Wo das Tatsache ist, da ist das Wesen und Leben
dingtheit zu finden wissen. Anders gedacht wird sie zu des Menschen vom Geist durchdrungen und verwandelt,
einem abstrakten wirklichkeitsfremden Schema. und sein Tun hat nicht mehr jenen Charakter des Un-
Auch Gogarten erhebt heute ähnliche Einwendungen wesentlichen, den es bei Barth hat; denn bei diesem
gegen Barths Offenbarungsbegriff. Es ist nun von be- bleibt alles, was auch der Christ auf Erden tun kann,
sonderem Interesse, zu sehen, worauf er als genauer weil in der Endlichkeit getan, unwesentlich, belanglos,
Kenner, nun aber auch scharfsinniger und unerbittlicher und in diesem Sinne „Sünde“. So konnte Barth in der
Kritiker des Barthschen Standpunkts dessen Einseitig- Tat einem, der vor einer Entscheidung stehend seinen
keit zurückführt. Er sieht sie darin begründet, daß Rat verlangte, nur antworten: pecca fortiter (sündige
Bartb den Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen getrost), denn du magst das Eine tun, du magst das
wesentlich nur als Gegensatz des Unendlichen und End- Andere tun, Eines wie das Andere bleibt unwesentlich,
lichen, des Schöpfers und des Geschöpfes versteht. Der „Sünde“. Der Apostel Paulus bat den römischen Chri-
Mensch hat darnach im Grunde kein eigenes Sein; Gott sten, die in der Frage des Essens seinen Rat haben
nur ist, der Mensch hat ein Sein nur in ihm. Sein Ver- wollten, allerdings nicht gesagt: Das Eine ist gut, das
hängnis, seine „Sünde“, wenn man so will — eigentlich Andere ist Sünde; mit solcher Entscheidung würde er
ist es ja nur Irrtum — ist, daß er von dem Baum der einen Götzen aufgerichtet haben. Er hat aber auch nicht
Erkenntnis gegessen und ein Selbstbewußtsein gewonnen gesagt: was ihr auch tun mögt, beides ist unwesentlich,
hat, in dem er sich nun dem Schöpfer als Eigenwesen ist „Sünde“, sondern: Was nicht aus dem Glauben geht,
gegenüberstellt. Aber bei einem seiner selbst bewußten das ist Sünde, darum sei jeder seiner Meinung gewiß
und zugleich endlichen Wesen schlummert in der Tiefe und handle aus seinem Glauben, dann isset, der da
der Seele das Grauen vor dem Unendlichen, durch das isset, dem Herrn, und der da nicht isset, tuts auch dem
er sich vernichtet fühlen muß. Erlösung davon gibt es Herrn. Daß es „dem Herrn“ getan wird, macht also das
für den Menschen nur, indem er diesen Weg zu Ende Tun zu etwas Wesentlichem, und das ist doch wohl das
geht und sich gleichsam bewußt in den Abgrund der gerade Gegenteil dessen, was Barth zu sagen weiß. Es
Vernichtung durch das Unendliche stürzt, um fortan nur muß freilich noch hinzugefügt werden, daß dieses „dem
in Gott sein zu wollen. Diese Gedanken muten freilich Herrn“ etwas tun nicht fromme Selbsttäuschung sein

101
darf, sondern wirklich aus dem Geist des Christus ge- kindende Gemeinschaft annehmen will, sondern einer
boren sein und dem inneren Gesetz der vorliegenden Ellipse wit zwei Brennpunkten, dem Ich und der Ge-
Sache entsprechen muß, was sich durch seine Lebendig- meinschaft. Beides gehört zur ewigen Idee des Men-
keit, seine schöpferische Fruchtbarkeit, seine aufbauende schen, daß er ein einzelner und daß er Glied der
Wirkung beweisen wird, denn was aus dem bloß Mensch- Menschengemeinschaft ist. Meine Beziehung zum Ewi-
lichen, aus dem Subjektiven und Egeistischen stammt, gen, zum Göttlichen aber habe ich auf der christlichen
schafft nichts Wesentliches, ja es schafft Unordnung und Stufe im Unterschied von der vorchristlichen nicht als
Zerstörung. Glied der irdischen Gemeinschaft, die der vergehenden
Barth erreicht also jedenfalls das, worauf es ankäme, Welt angehört, sondern unmittelbar als Ich, als un-
die Überbrückung des Abgrunds, die Synthese von sterbliche Seele, und als ein in dieser unbedingten
Göttlickem und Menschlichem, die Durchgeistigung und Bindung an Gott dem Irdischen gegenüber frei Gewor-
Wandlung des Irdischen, das „Reich Gottes“ auf Erden dener unterstelle ich mich willig dem, was innerhalb.
nicht, er will das nicht einmal; das endliche Wesen soll der Menschengemeinschaft allerdings so oder anders
im unendlichen auf- und untergehen. Es ist aber die als Gesetz erfüllt sein will. Denn also gebührt uns, alle
Frage, ob Barths heutiger Gegner Gogarten es erreicht, Gerechtigkeit zu erfüllen, von dem wirklich sachlich
ob er nicht vielmehr einem entgegengesetzten Irrtum Notwendigen an bis hin zu dem, was wir etwa nur tun,
verfällt. Gogartens Gedanken sind, soweit ich sie über- „auf daß wir sie nicht ärgern“, so wie Christus, obwohl
schauen kann, in merkwürdiger Weise orientiert an der innerlich frei, den Stater als Tempelsteuer gab. So habe
Idee eines schöpfungsmäßig für den Menschen bestehen- ich meine Freiheit nicht in dem, was mir etwa die
den Gesetzes. Das besagt, daß ich mich, indem ich mich Menschengemeinschaft noch als persönlichen Spielraum.
im Leben vorfinde, nicht in abstracto als Mensch vor- läßt, wobl aber gerade durch die unbedingte Bindung
finde, sondern in einem ganz konkreten Lebeusstand, an das Göttliche, kraft deren ich mich in Freiheit hinein-
als Vater oder Mutter, als Sohn oder Tochter, als Herr stelle in die irdischen Bindungen. Wäre ich dagegen,
oder Frau, als Knecht oder Magd. Was ich bin, bin ich wie Gogarten meint, an die irdische Ordnung unbedingt
nicht kraft meines Eigenseins, sondern sozusagen vom gebunden, so wäre ich, da in dieser die ursprüngliche
anderen her durch die konkreten Lebensbeziehungen, schöpfungsmäßige Gottesordnung durch die menschliche
in denen ich stehe. Als Individuum bin ich nicht, ich Sünde weithin zur Unordnung entstellt ist, an diese
bin nur durch mein Drinstehen in der konkreten Unordnung gebunden, die dann auch nie überwunden
Lebensgemeinschaft. In ihr, also z.B. in meinem Volks- werden könnte; dann könnte auch nicht gelten, daß
tum, ist mir das Gesetz Gottes gegeben. Gogarten pole- man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen,
misiert von hier aus gegen die Philosophie des deut- und das Reich Gottes könnte in dieser Welt nie Fuß:
schen Idealismus, dessen beherrschender Gedanke das fassen. Darum muß dem Irdischen gegenüber zweier-
freie menschliche Ich gewesen sei, und die von diesem lei beobachtet werden: eines, daß man sich in der rech-
Gedanken aus auch den Begriff der Gemeinschaft ge- ten Weise, nämlich in hingebungsvoller Liebe und Sach-
bildet habe, in die sich der Einzelne in Freiheit um lichkeit dienend hineinstellt, und das andere, daß man
seiner Selbstvervollkommnung willen hineiustellt. Sich sich in der Hiugebung nicht selbst verliert, sondern
nur um dieser willen in die Gemeinschaft hineinstellen sich auch wieder in der rechten Weise herauszieht und
zu wollen, hieße allerdings ganz egozentrisch und un- frei darübersteht.
sachlich handeln. Seine Pflicht erfüllt der Mensch in Hier sehe ich nun bei beiden, bei Barth wie bei
allen diesen Beziehungen nur durch eine nicht auf das Gogarten, die Einseitigkeiten, nur in entgegengesetzter
eigene Selbst reflektierende Hingabe an den Anderen Richtung. Barth will sich nicht hingeben an das Irdische,
oder an die Sache; mit der Reflexion auf die eigene weil es ihm als solches das Belanglose, das Unwesent-
Vervollkommnung steht er seiner wirklichen Vervoll- liche, so oder so „Sünde“ ist. Gogarten, der dem Men-
kommnung nur selbst im Wege. Aber bin ich wirklich schen nur durch die Gemeiuschaft ein Sein zukommen
nur das, wozu mich meine Stellung in der Gemeinschaft läßt, als ob er nicht ein in Gott ruhendes ewiges Sein
macht, und nicht auch einfach Mensch, ein Ich? Haben hätte, verliert damit die innere Freiheit, sich in der
nur die anderen ein Recht auf mich, habe ich nicht rechten Weise herauszuziehen und darüber zu stehen.
auch ein Recht auf mich selbst? Bin ich nur den ande- Und so wird denn auch durch beide das Verhängnis
ren und nicht auch mir selbst etwas schuldig? Wenn des neuen Protestantismus nicht überwunden. Als mit
ich mein Gewissen rein halten will, wenn ich mich in der anbrechenden Zeit das moderne Denken herauf-
ein Schicksal ergebe, wenn ich mit Fassung dem Tod kam, konnte die alte Theologie ihr gegenüber ihre Auf-
entgegensehe, tue ich das um der anderen willen? gabe nicht erfüllen, weil sie es nicht ernst nahm, son-
Wäre in solchen Fällen nicht gerade die Reflexion auf dern für etwas Unwesentliches, eben für „Sünde“ bielt,
die anderen das Verfälschende? Das menschliche Dasein die moderne Theologie aber konnte es auch nicht, weil
gleicht eben nicht einem Kreis mit einem Mittelpunkt, sie sich selbst an das moderne Denken verlor. Heute,
gleichviel ob man als solchen das freie Ich oder die wo durch die nationale Bewegung im Dritten Reich eine

102 .
ganz neue geschichtliche Situation für unser Volk ent- Göttlichen sollen die Menschen darnach im täglichen
standen ist, will die Bekenntnisfront unter Barths gei- Leben selbst herstellen, aber die Wirkung ist nur, daß
stiger Führung das wieder als etwas Unwesentliches be- die Welt des Gottesdienstes und des Alltags ganz aus-
trachten und tun, als ob nichts geschehen wäre, während einanderfallen. Der Protestantismus verachtet die Form,
die Deutschen Christen mit Gogarten einfach Gottes alles kommt ihm auf die Innerlichkeit an. Aber For-
Gesetz darin gegeben sehen. So aber werden die einen men bilden sich doch, nur dann eben unsachgemäße,
so wenig wie die anderen die Aufgabe erfüllen, die willkürliche Formen. Der Protestantismus proklamiert
das Christentum in der gegenwärtigen geschichtlichen das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, vor Gott
Situation unseres Volkes zu erfüllen hätte. sind alle Menschen gleich. Aber in der Wirklichkeit sind
Nun legt uns aus dem Lager der protestantischen sie eben nicht gleich. Schafft man nun die Stufenunter-
Theologie noch eine andere, sehr interessante und ge- schiede ab, so triumphiert die reine Mittelmäßigkeit.
haltvolle Schrift vor: Ernst Steinbach, „Die So hat der Protestantismus das Höchste gewollt, aber
Auflösung des Protestantismus“*. Stein- weil er es nicht erreichen konnte, blieb er in seiner
bach erkennt die unter Barths Führung stehende „neue tatsächlichen Wirkung hinter dem Katholizismus zurück
Orthodoxie“, wie er sie mennt, in gewisser Weise an, und in der Mittelmäßigkeit stecken.
steht ihr theologisch wohl nahe, jedenfalls in der Ab- Der Protestantismus hat die Entwicklung der moder-
lebnung jedes Versuchs, vom Menschen her den Weg nen Kultur begründet. Aber in ihr vollzieht sich zu-
zur Göttlichen zu finden oder das Christentum in bloß gleich der merkwürdige Vorgang der „Versickerung“
menschliche Gemütszustände aufzulösen; auch für ihn des Protestantismus. Die religiösen Kräfte in ihm ver-
liegt das Heil nur in der reinen Hingabe an die schlecht- sickern, um als Triebe der modernen weltlichen Kultur
hin übernatürliche Offenbarung Gottes in Christus. Aber wieder aufzutauchen, wo ihnen aber nun die religiöse
er glaubt nicht, daß die Pflege einer noch so korrekten Voraussetzung und Begründung abgeht. Das Gefühl der
Theologie und einer ihr entsprechenden Lehrverkündi- Freiheit wechselt aus dem religiösen Grund in einen
gung von der Kanzel die im vollen Gang befindliche weltlichen hinüber. Im Zeitalter der Aufklärung und
Auflösung des Protestautismus hindern könne. Diese des Liberalismus wird die im Protestantismus ursprüng-
hat für ihn viel tiefere Ursachen als nur moderne theo- lich gemeinte, in Gott gebundene Freiheit zur Emanzi-
logische Irrgänge. Im Ansatz der Reformation selbst pation; der Mensch meint sein Gesetz in sich selbst
sieht er die Ursache dafür, daß der Protestantismus zu finden. Aber weil nicht im ewigen Geist gegründet,
nie wirklich Kirche geworden ist und nicht Kirche wer- verliert er sich nun an die Natur. Der Glaube wird
den konnte, und daß er sich heute auflöst. zunächst zum Optimismus der Aufklärung, in der Folge
Zwar die Reformation war notwendig, und sie ist ein zur Skepsis und zum Fatalismus. An die Stelle der
unwiderruflicher Schritt über den Katholizismus hinaus, Wortverkündigung tritt der Journalismus, an die Stelle
der das Göttliche verdinglicht und das Christentum da- des Beichtvaters der Arzt. Die Technik, die dem Men-
mit in gewisser Weise ins Heidnische heruntergezogen schen Mittel sein sollte für Weltbeherxschung, beherrscht
hat. Die Tragik des Protestautismus liegt darin, daß ihn, saugt seine Kräfte aus, macht sein Leben sinnlos.
er den Menschen überschätzt und überfordert und so Nietzsche ist die tragische Gestalt dieses verweltlichten
am Ende verliert. Der Protestantismus hat die sakra- Protestantismus; er will die Erlösung aus demselben
mentale Linie verlassen; das nur als verbum visibile, als Element gewinnen, das die Zeit herunterzog. Die Kirche
sichtbares Wort verstandene Sakrament ist eine ent- aber kann diesem Ablauf nicht Einhalt tun; die selbstän-
bebrliche Verdoppelung des Wortes; der Orthodoxe dig gewordene Kultur wirkt auf sie zurück;unterwirft sie
braucht es im Grunde nicht, weil er alles schon in selbst dem Zeitgeist. In der modernen liberalen Theo-
seinem geschlossenen Lehrgebäude, und der Pietist logie löst sich die Theologie als solche auf. Aber auch
braucht es nicht, weil er alles in seinem persönlichen die neue Orthodoxzie der heutigen Bekenntniskirche
Erlebnis zu haben meint; so hat es keine organische kann die Verweltlichung der Kirche nicht aufhalten; sie
Stelle im protestantischen Religionssystem. In diesem verweltlicht hier, indem sie erstarrt als grandiose recht-
ist alles auf die Wortverkündigung, auf die Predigt gläubige Theologenkirche.
gestellt, die zugleich wortgetreu und lebensnah, zu- Der Protestantismus, dessen Krise im Keim schon in
gleich tief und einfältig sein soll. Aber damit ist der der Reformation lag, löst sich auf. Die Zeit der Volks-
Prediger überfordert; das Ziel wird nur in Ausnahme- kirche ist vorüber. Sie hat bedeutende Wirkungen auf
fällen erreicht. Und auch die Gemeinde ist überfordert; die Kultur ausgeübt. Aber sie war ein unmögliches
sie wird nicht verbunden, sondern vereinzelt, nicht zur Ideal. Im modernen Naturalismus andrerseits, was er
Ruhe in Gott geführt, sondern nur angeregt. Der auch äußerlich herstellen möge, geht der Mensch als
Gottesdienst ist Schule, die wirkliche Beziehung zum solcher zugrunde. Was kann nun geschehen? Zum
Katholizismus führt kein Weg zurück. Wie kann an
* Ernst Steinbach, Die Auflösung des Protestantismus. Mit die Stelle der falschen Autorität und der falschen Frei-
einem Nachwort von Paul Schempp. Chr. Kaiser Verlag, München,
1936, 207 S. heit die echte Antorität und die echte Freiheit treten?

103
Wir skizzieren kurz die praktischen Vorschläge, die nicht nur in der neueren Zeit sondern überhaupt seit
Steinbach macht. Zwei oder drei werden anfangen, sich sehr langer Zeit nur Einem gegeben gewesen, dem,
in das Evangelium, in das Bild Jesu eindringend, medi- durch den
der Kultus der Christengemeinschaft ver-
tativ zu versenken. Aus dieser Meditation wird das mittelt wurde. Nur ein seherisch Erwachter, nur ein
kultische Wort, die kultische Form geboren, die nicht Mensch, der für die anderen vor Christus selbst stehen
vereinzelt, sondern verbindet, weil sie den Charakter kann, besitzt für diese Aufgabe das nötige Format. Es
des Bildes hat. Es muß also die im Protestantismus auf- kommt nämlich noch eins dazu, daß es heute nicht ge-
gegebene sakramentale Linie wieder aufgenommen wer- nügen kann, sich mit Steinbach als Ausgangspunkt auf
den, sakramental nicht im Sinn des Katholizismus, der den Boden des Glaubens zu stellen, daß das Christen-
das Göttliche verdinglicht hat, sondern so, daß das tum unser Schicksal, die uns aufgegebene Zukunft ist.
Sakramentale gewissermaßen stellvertretend ist für das Wenn man sozusagen mit einem Sprung des Glaubens
Himmel und Erde umspannende Reich des Christus, und sich auf diesen Boden stellt und es daraufhin einmal
so das bedeutende Eine ist, das das Ganze meint. Das wagt, weil eben doch von irgendwo ausgegangen werden
kultische Bild, das sakramentale Geschehen verbindet muß, und weil man hofft, daß es sich beweisen werde,
die Gemeinde, es prägt sich in die Seelen ein und dispo- so kann man gewiß für die eigene Person oder für
niert sie zu dem entsprechenden guten Werk im Leben. einen beschränkten Kreis von Menschen etwas daran
Es ist andrerseits kein Gesetz, sondern läßt dem ein- erleben, verzichten aber muß man darauf, irgendwie die
zelnen die Freiheit, seiner Reife gemäß, an die Sache Zeitkultur zu beeinflussen. Die muß man dann einfach
heranzukommen und in sie hineinzuwachsen. So ent- sich selbst überlassen. Denn für sie gibt es eine neue
stehen dann ganz von selbst die notwendigen Stufen- Grundlage nur in einer aus umfassendster und ein-
unterschiede in der aristokratisch aufgebauten Ge- dringendster geistiger Schau geborenen Geisteswissen-
meinde, in der naturgemäß diejenigen, die am weitesten schaft, wie sie der neuen Zeit durch Rudolf Steiner
voran sind, die kultischen Formen finden und pflegen geschenkt ist. Und nur auf dieser Grundlage gibt es
und den andern Führer sind. Diese künftige Gemeinde auch ein Christentum, das nicht nur ein wagender
tritt der allgemeinen Kirche nicht als Sekte gegenüber, Glaube ist, sondern ein tragendes Verständnis der
da sie ja nichts will, als was die Kirche wollen muß, Christustatsache im Zusammenhang des Weltgeschehens.
wenn sie sich selbst richtig versteht, während sie unter Man braucht nicht zu besorgen, daß das Moment der
sich etwas wie eine regulierte Elite ist, indem sie sich persönlichen sittlichen Entscheidung dabei etwa durch
selbst gewisse Dinge, z. B. Einstellung bestimmter Zeiten wissenschaftliche Beweise ersetzt werden sollte, denn
und Formen zu Meditation und Gebet u. ä. als Ord- bei geistiger Erkenntnis ist dieser Moment immer mit
nung auferlegt. dabei, sie ist nie bloßes Verstandeswissen, sondern for-
Wir können solche Vorschläge nicht lesen, ohne mit dert stets den ganzen Menschen.
einigem Erstaunen zu fragen: wie ist es möglich, daß Das Buch von Steinbach hat ein charakteristisches
jemand in dieser Richtung weiterschreiten möchte und Nachwort: die sehr ablehnende Kritik des von ihm vor-
die Zukunft der Kirche sieht und nichts davon weiß, geschlagenen Weges durch einen Freund. Charakteri-
jedenfalls mit keinem Sterbeuswörtchen ein Wissen stisch, nicht weil das Ganze damit zur Diskussion ge-
davon verrät, daß die Wege, die er vorschlägt, von der stellt ist, was naturgemäß erfolgen muß, sondern weil
Christengemeinschaft seit 15 Jahren begangen und prak- der Protestant selbstverständlich alle solche. Vorschläge
tisch erprobt sind? Es scheint auch zu den Eigentüm- ablehnt und vorzieht, auf den Heiligen Geist selbst zu
lichkeiten protestantischen Wesens zu gehören, denn warten. Man weiß zwar in der Theorie, daß der sich
wir haben es schon bei mehr als einem so gefunden, offenbarende Gott den Menschen in sich selbst vernich-
daß man, auch wenn man selbst in der Richtung, in tet, um ihn neu zu schaffen; daß der Mensch schweigen
der die Christengemeinschaft das Heil und die Zukunft muß, wenn Gott zu ihm reden soll. Aber in diese ‚Lage
sieht, doch nicht ihr etwa folgt, nicht einmal nach ihren des In-sich-selbst-Zunichtewerdens braucht der prote-
Erfahrungen fragt, sondern man will es ganz selbst stantische Theologe nicht erst zu kommen, da er die
machen und ganz von vorne anfangen. Daß Columbus Offenbarung Gottes schon aufgenommen hat. Nun
Amerika entdeckt hat, bedeutet nichts. Man zieht aus, weiß er genau, wie eine künftige sein muß, so genau,
um es selbst neu zu entdecken. daß sie eigentlich gar nicht mehr zu erfolgen braucht.
Fragt sich nur, ob man ein genügend seetüchtiges Er kennt auch den neuen Luther, auf den er wartet,
Fahrzeug hat, um zum Ziel zu kommen. Gewiß kann im voraus so gut, daß er seinetwegen gar nicht mehr
Kultus aus nichts anderem als aus der Meditation, aus zu kommen braucht. Darum braucht man sich nach
der Vertiefung in das Geistige gewonnen werden. Aber neuen Wegen gar nicht erst umzusehen. Die Kirche ist
hier gilt auch: ein Mensch kann sich nichts nehmen, es schon recht, wenn sie nur im Sinn der neuen Ortho-
werde ihm denn gegeben. In die Tiefen dringen, in doxie das Wort verkündigt. Wem kommt dabei nicht
denen sich dann die Formen eines wirklich giltigen ein biblisches Wort in den Sinn von den Halsstarrigen,
Kultus schenken, das ist, so weit wir sehen können, die allezeit dem Geiste Gottes widerstreben? Wir be-

104
zweifeln, daß Steinbach auch nur die Zwei oder Drei neuen Orthodoxie, viel zu groß. Dann muß sich aber er-
findet, die nach seinem Vorschlag den Weg der medi- füllen, was Steinbach in diesem Fall voraussieht: Die
tativen Vertiefung gehen sollten, um das neue kul- Kirche wird in großer Form sterben, mit spanischem
tische Wort zu finden. Dazu ist die Selbstsicherheit, be- Anstand, in grandiosem Eigensiun, aber sie wird
sonders in den Kreisen der von Barth beeinflußten sterben.

Lebenswende
Aus meinem Leben 32
Friedrich Rittelmeyer
Das Jahr 1918, das letzte Kriegsjahr, hatte besondere das Kommende schon geistig um mich war? Als dann
Anforderungen gestellt. In einem Sommerfrischenhaus meine Frau in Berlin Rudolf Steiner, auf seine Frage
bei Egloffstein in der „Fränkischen Schweiz“, das zwei nach meinem Ergehen, den Sturz berichtete, sagte er:
befreundeten Nürnberger Lehrerinnen gehörte, gedachte „Ach, das war es? Ich habe Angst um ihn gehabt.“ Und
ich mich mit zwei meiner Kinder zu erholen. In aller- er fügte hinzu: „Es war etwas fällig in seinem Leben;
nächster Nähe verbrachte mein Freund Christian Geyer wäre dies nicht gekommen, so wäre wohl eine schwere
seinen Urlaub. Krankheit eingetreten.“
Aber am ersten Tag meiner „Erholung“, am 1. August, Nun stellten sich im Lauf des folgenden Jahres all-
begegnete mir ein Unfall. Ein Felsen im Wald hatte mählich starke Kopfschmerzen ein, die immer lästiger
mich zum Ersteigen gelockt. Da löste sich ein zentner- wurden und mich mehr und mehr verhinderten geistig
schwerer Stein gerade über mir, streifte mich an der zu arbeiten. Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres
Schläfe, so daß ich bewußtlos wurde, und bewirkte einen 1919 sagte ich vor der Predigt in der Sakristei zum
Absturz, etwa 6 Meter tief. Das rechte Bein war ge- Küster: „Ich weiß nicht, ob ich den Brechreiz noch
brochen. Erst vier bis fünf Stunden später, in dem drei werde überwinden können; wenn Sie mich hinter die
Stunden entfernten Landkrankenhaus, in das ich mit Vorhänge der Kanzel treten sehen, dann sagen Sie,
vieler Beschwerde geschafft worden war, wurde es ein- bitte, den Menschen, es sei mir unwohl geworden.“ Zu
gerichtet — und leider. falsch. dieser Erklärung sang die Gemeinde in froher Stim-
Denke ich heute an dieses Geschebnis zurück, so mung: „Jauchzt, Himmel, die ihr ihn erfuhrt, den Tag
scheint durch alles Einzelne etwas hindurch wie eine der heiligsten Geburt!“ Wenn ihr eine Ahnung hättet,
wohlbedachte Berechnung. Der schwere Stein hätte mir wie mir zumut ist!
den Kopf zerschmettern können. Er berührte mich aber In den folgenden Wochen und Monaten war keine
nur so, daß ich in den nachfolgenden Sturz nicht mit geistige Arbeit mehr möglich. Meine Berliner Gemeinde-
Gewaltbewegungen eingreifen konnte. Meinen sieben- glieder schickten mir einen tüchtigen Arzt nach dem
jährigen Sohn, den ich sonst bei ungefährlichen KRlet- andern ins Haus. Der eine behandelte mich auf Gehirn-
tereien gern mitnahm, hatte ich eben noch zurückgewie- grippe, der andre auf Überanstrengung, der dritte auf
sen, als man ihm zu mir hinaufbelfen wollte. Hätte ich verschleppten Stirnhöhlenkatarrh, der vierte auf Blut-
ihn an der Hand gehabt, so wäre er entweder vom leere im Gehirn, der fünfte auf Leberkrankbeit ...
Stein getroffen oder, von mir abwärts gerissen, vielleicht Erst der neunte, der berühmte Nervenspezialist Univer-
zum Krüppel geworden. Daß es das rechte Bein war, sitätsprofessor Förster in Breslau, erkannte klar, daß
das gebrochen wurde — wie bei einem früheren Un- es sich um eine nachträgliche Folge des Absturzes han-
fall der rechte Arm — betonte im Heilungsprozeß die delte, um Risse in den Gehirnhäuten, die im natur-
rechte Körperhälfte, die von Geburt an bei mir die gemäßen Vernarbungsprozeß den feinen Bewegungen
schwächere gewesen war. Vor allem aber traten im wei- des Gehirns hinderlich sind. „Das ist sehr langwierig und
teren Verlauf des Unfalls Wirkungen ein, die mich lästig. Sie klagen alle sehr. Aber gestorben ist daran
herauslockerten und herauslösten aus meiner Berliner noch keiner.“ Nun, noch heute bekomme ich diese Kopf-
Wirksamkeit, in der ich mich sonst leicht hätte allzu- narben bei Aufregungen, Anstrengungen, Witterungs-
sehr verfestigen können, und diese Wirkungen machten umschlägen zu spüren. Daß auch dies alles Bedeutung
mich doch nicht unfähig, eine neue Wirksamkeit zu be- hatte für die Gründungsjahre der Christengemeinschaft,
ginnen. Was geschehen sollte und was nicht ge- ist mir längst aufgegangen.
schehen durfte, das konnten damals nur die Engel tun, - Als ich nun im Jahr 1920 im Ungewissen dalag und
und ich selbst mußte durch die Bewußtlosigkeit aus- mein jäh unterbrochenes Leben bedachte, sagte ich mir:
geschaltet werden, daß ich nichts verpfuschen konnte. Trübsal blasen bilft da nicht; du mußt tun, was du
Seltsamerweise habe ich am Tag vor dem Unfall mei- noch tun kannst; vor allem: Was bist du der Welt noch
nen Freunden immer wieder von Abstürzen erzählt. schuldig? Was ist das unwiederholbar Besondere gerade
Das kam ihnen nachher geradezu unheimlich vor. Ob deines Lebens? Was darfst du bestimmt nicht unter-

105
lassen haben, wenn es das Letzte gewesen sein sollte, in der evangelischen Kirche; denn diese Wahrheit, die
was du überhaupt noch tun konntest? So ist das in ihrer ganzen zentralen Wichtigkeit niemals in der
Sammelwerk „Vom Lebenswerk Rudolf Steiners“ zu- evangelischen Kirche sich so durchsetzen kann, wie es
stande gekommen, als Festgabe zu seinem 60. Geburts- ihr gebührt, verlaugt eine neue Kirche. Zu gleicher Zeit
tag, aber vor allem als Mahnruf für die Gegenwarts- sah ich, daß die Zukunft, der ich entgegengehe, ernst
menschen, vor allem zunächst für die Deutschen. werden wird. Unschätzbar wertvoll ist mir aber auch,
Vom Mai 1920 an lebte ich fast ein Jahr lang in daß ich vorher schon wußte: man kann Christus
klösterlichker Stille auf dem Schloß des Herrn von empfangen, wirklich in Leib und Blut, auch ohne den
Zastrow in Schlesien. Unter fünfundzwanzig Aufent- äußeren Kultus, rein in stiller Innerlichkeit, durch die
haltsorten, die mir durch meine Gemeinde gastfreund- Meditation; daß ich aber dann erfuhr: Er ist ebenso in
lich angeboten worden waren, war dies der geeignetste. voller Wirklichkeit gegenwärtig in Brot und Wein der
Jeden Morgen um 9 Uhr kam Frau von Zastrow mit heiligen Handlung. So konnte ich für die Lebenswich-
Papier und Feder und ließ sich diktieren, was ich in tigkeit der Feier mich einsetzen, ohne doch ihre Aus-
der Einsamkeit des vorangehenden Tages und der Nacht schließlichkeit zu behaupten. Was meinem Leben eine
in kopfwehfreien Stunden mir ausgedacht hatte, täglich neue Wendung gab, ist das einzig-gewaltige Erlebnis
nur einige Sätze. Kein Satz des Buches bräuchte von gewesen: Christus, leuchtend-lebendig den Menschen
mir selbst geschrieben zu werden. Allerdings habe ich sich schenkend in den irdischen Gaben der heiligen
mich bei dem zweiten Aufsatz, über „Rudolf Steiner Feier!
und das Deutschtum“, der schließlich auch von mir ge- Aber obwohl es für mich etwas ganz Neues und er-
schrieben werden mußte, der auf keinen: Fall fehlen schütternd Großes war: es zeigte sich doch vorbereitet
sollte und zum bestimmten Zeitpunkt fertig werden durch mein ganzes bisheriges Leben. Meine erste Pre-
sollte, doch noch überanstrengt und dadurch auf Monate digt als neu ernannter Pfarrer in Nürnberg hatte ich ge-
zurückgeworfen. halten über das Wort: „Nicht daß wir Herren seien
Während ich ausgeschaltet war aus den Zusammen- über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer
hängen des allgemeinen Lebens, hatten einige jüngere Freude.‘ Dabei hatte ich wohl im ersten Teil von der
Menschen, Studenten von den Universitäten Marburg, Predigt gesprochen, aber im zweiten Teil — wie
Tübingen, Berlin, ergriffen von dem verpflichtenden Ge- dann später im zweiten Teil meines Lebens — von
fühl, daß in dieser Zeit etwas Entscheidendes geschehen allen andern heiligen Handlungen, nicht nur
müsse zur imnersten, religiös-christlichen Ernenerung, von Taufe und Abendmahl, sondern auch von Konfr-
sich zusammengeschlossen. Lebhaft empfanden sie, daß mation, Trauung und selbst Beerdigung. Überall hatte
innerhalb der bestehenden Kirchen ihr Platz nicht sein ich darzutun versucht, wie durch das Geschehen in den
konnte, hatten aber einen starken Eindruk vom An- heiligen Handlungen ein Stück göttlicker Freude dem
bruch einer neuen Geistigkeit, den sie in Rudolf Steiner menschlichen Leben hinzugefügt wird. In allen folgen-
spürten, und gedachten seinen Rat zu erbitten zum Be- den Jahren waren die intimsten Weihestunden meines
ginn eines neuen Wirkens aus dem lebendigen Geist Berufslebens die Abendmahlsfeiern gewesen. Sowohl in
heraus. Da einige unter ihnen mir innerlich nahe stan- Nürnberg wie in Berlin hatten wir sie in spürbarer
den, weihten sie mich vertrauensvoll in ihr Vorhaben Christusnähe gehalten. Und schließlich hatte ich die
ein. Obwohl ich von Anfang an ihren "Absichten die lebendigste Erfahrung davon, wie auf den Höhepunkten
stärkste Sympathie entgegenbrachte, mußte ich selbstver- meines Wirkens, zum Beispiel nach der Predigt bei
ständlich erst alles übersehen, ehe der entscheidende Kriegsbeginn in Nürnberg oder nach der Predigt zum
Entschluß gefaßt werden konnte. Nicht vom Kranken- Vaterunserschluß in Berlin, die Gemeindeglieder in
zimmer aus wurde dann dieser Entschluß gefaßt, son- Scharen dablieben und halb-unbewußt auf eine Feier
derä von der inzwischen verheißungsvoll wieder auf- warteten: Jetzt muß das Eigentliche kommen! Der
genommenen Berliner Tätigkeit aus. wahre Christusgottesdienst! Und wie ich ihnen dann
Soll ich nun wahrheitsgemäß schildern, wie der Be- in der Form des evangelischen Abendmahls doch nicht
ginn der Christengemeinschaft von mir aus sich ansah, die Erfüllung dessen geben konnte, was sie im Innersten
so darf ich auch Intimes nicht verschweigen. Sehr froh gesucht hatten. So habe ich alles erfahren, was im
und dankbar bin ich, daß ich für alle Zukunft sagen evangelischen Kirchentum möglich ist, und was nicht
kann: im innersten Heiligtum der neuen Bewegung möglich ist. Von der Höhe des Bisherigen aus sollte
wurde der Entschluß gefaßt. Kein äußerer Mißerfolg ich hinschauen nach dem Neuen, Höheren, das kommen
und kein persönlicher Ehrgeiz, keine persönlichen Be- sollte. —
ziehungen und keine äußerlichen Erwägungen hatten Der äußere Abschied vom Dienst in der evangelischen
daran Anteil. Im stillen Erleben der Menschenweihe- Kirche hätte nicht schmuckloser sein können. Ans Ber-
handlung erfuhr ich, daß Christus wirklich leuchtend liner Konsistorium schrieb ich, daß ich meine Enthebung
gegenwärtig ist in Brot und Wein. In demselben Augen- von meiner Berliner Pfarıstelle erbitte, da ich mich
blick wußte ich auch: Nun ist es aus mit deinem Dienst einer Bewegung für religiöse Erneuerung widmen wolle.

106
Es kam die Antwort: „Die erbetene Enthebung wird predigen, gehen wir gar nicht mehr in die Kirche.“ Der
Ihnen erteilt; betreff Ihres Gehalts ergeht besondere „Prediger“ führt also weg von der „Kirche“. Ob dies
Entschließung.“ Auch wer nicht ein Wort des Bedauerns durch eine „Bekenntniskirche“ anders würde? Doc
erwartet batte oder gar ein Wort des Dankes nach sicher nur, so lang Kampfzeit ist. Helfen kann hier nur
fünfundzwanzigjähriger Tätigkeit, konnte annehmen, ein Gottesdienst, der wirklich dauernd als der eigentliche
daß vielleicht von irgendeiner Seite die Frage gekom- Höhepunkt des Gemeindelebens über der Prediger-
men wäre: Was haben Sie denn eigentlich vor? Können persönlichkeit erlebt werden kann.
Sie das nicht im Zusammenhang mit der Kirche tun? Und dies fühlt man in der evangelischen Kirche selbst.
Der Bescheid lautete nicht anders, als wenn ein Pfar- Im letzten Halbjahr meiner Berliner Tätigkeit hörte ich
rer nach Unterschlagung von Kirchengeldern zum Aus- einen theologischen Konferenzvortrag. Der Protestan-
scheiden gezwungen gewesen wäre. tismus — so wurde ausgeführt — fällt mit Sicherheit
Noch schmuckloser vollzog sich später mein Abschied auseinander, wenn er nicht über die Predigt hinaus zu
von der evangelischen Kirche selbst. Ich bin niemals einem wirklichen Kultus kommt; dieser Kultus kann
aus ihr ausgetreten, ich erhielt aber eines Tages die sich im Protestantismus nur um das Abendmahl grup-
Mitteilung, daß man mich als ausgetreten betrachte — pieren; aber das Abendmahl wird diesen Dienst nur
vom Steueramt. Auch als ich dies ungewöhnliche Schrift- dann leisten können, wenn man an die wirkliche Gegen-
stück in unserer Zeitschrift der Öffentlichkeit preisgab, wart Christi in Brot und Wein glaubt; also — müssen
ließ sich keine amtliche Stelle zu irgendeinem Wort wir daran glauben!“ — Aber geht es wirklich so? Man
auch nur des Bedauerns über diesen seltsamen Aus- muß das Recht haben daran zu glauben, nicht bloß
schluß herbei. den Wunsch, der noch dazu nach Kirchenpolitik
So die Behörden. Völlig anders war es allerdings in schmeckt. Und hierzu sind neue Erlebnisse notwendig
der Predigtgemeinde. Durchs ganze folgende Leben hat und neue Anschauungen, in denen sie sich ausdrücken.
mich das Bild begleitet, wie damals ion der „Neuen Man täusche sich auch darüber nicht: keine ausgedachte
Kirche“ bei der Abschiedspredigt, die gar nicht groß „Liturgie“, aus Gebeten der Vergangenheit und from-
angekündigt wurde, die Kirche bis in alle Gänge hinein men Gedanken zusammengesetzt, kann hier leisten, was
und bis auf die Kanzelstufen gefüllt war, und wie die allein ein lebendig schöpferischer Kultus vermag. Und
mir so lieb gewordenen Hörer dieser Jahre meine Ab- er ist da —
schiedsworte teilnahmsvoll und taktvoll entgegen- Aber wie beginnen, wenn es in gar keinem kirch-
nahmen. Es war für uns alle ein schmerzhaftes Los- lichen Zusammenhang geschieht? — Froh bin ich heute
reißen, wobei für mich das Schmerzhafteste war, daß auch darüber, daß eine finanzielle Sicherstellung unsres
alle die vertrauten Menschen, die sich mit mir so nah Unternehmens in keiner Weise vorhanden war, daß uns
verbunden hatten, ja unmöglich verstehen konnten, also die Vorsehung, wie es zum Stil großer religiöser
warum das alles sein mußte. \ Bewegungen gehört, die Gelegenheit gab, zu beweisen,
Wenn es sich um mich persönlich gehandelt hätte, so daß wir in freiem Vertrauen auf die gegebene Aufgabe
hätte ich wohl in Berlin lebenslang eine ebenso frucht- auch einer verhangenen Zukunft entgegengehen kön-
hare wie befriedigende Wirksamkeit erhofen dürfen. nen. Mir selbst hatte sich ja während der Krankheits-
Aber dabei hätie man zusehen müssen, wie der Prote- jahre mehrmals ein so freundliches Nahesein der Vor-
stantismus sich immer weiter zersplittert und auflöst. sehung zu spüren gegeben, daß es an Vertrauen un-
Und was wird dann in den heraufziehenden Stürmen möglich fehlen konnte. Aber merkwürdig genug ist
der Zukunft aus dem Christentum? In Berlin, wo die manches damals gewesen. Einmal kam plötzlich ein über-
Entwicklung am deutlichsten ihre innere Tendenz und raschendes Geschenk. Ein schwedischer Ingenieur, ein
Logik zeigte, konnte man unwidersprechlich erkennen, bekannter Erfinder, der mich auf der Nordlandreise
wie sich die evangelische „Rirche“ in Personalgemein- aufgesucht und um Rat gebeten hatte, sandte ganz un-
den auflöst. Außer den oben geschilderten offiziellen erwartet eine Anweisung auf 100 000 schwedische Kro-
Verabschiedungen, die ja auch zeigen, wie wenig „Rir- nen. Das war in jener Zeit ein großes Vermögen. Es
che“ ist, wurde meine Auffassung der Lage noch durch war zu meiner persönlichen Sicherstellung gemeint.
zwei charakteristische Geschehnisse nach meinem Weg- Diese Schenkung kam, nachdem ich mein Entlas-
gang bewiesen. Kurze Zeit nach meinem Abschied mußte sungsgesuch eingereicht hatte, und sie wurde — wieder
die „Neue Kirche“ für einige Zeit ganz geschlossen ‚zurückgenommen. Als der großgesinnte Freund mich
werden. Der Sonntagsgottesdienst wurde in den kleinen wenige Monate nach seiner Sendung in Berlin besuchte,
Konfirmandensaal verlegt. Die geringe Zahl der Kom- wurde deütlich, daß ihm unser Unternehmen doch recht
menden rechtfertigte den umständlicken kirchlichen fraglich war. Darum habe ich ihm seine Stiftung wieder
Apparat nicht mehr. Und als ich zum ersten Vortrag zurückgegeben. Wir konnten ja keinen Pfennig an-
wieder nach Berlin kam, da begrüßte mich ein altes nehmen von einem Geber, der nicht mit dem Herzen
Gemeindeglied mit den Worten: „Gott sei Dank, Herr bei der Sache war. Damit hätten wir unsre Sache ver-
Doktor, daß Sie wieder da sind; seit Sie nicht mehr fälscht, In der Aussprache bestand der Stifter schließ-

107
lich darauf, daß er wenigstens das Haus, das wir im jetzt, warum Sie gerade in dieser Zeit verkörpert wer-
Vertrauen auf sein Geschenk schon zu bauen begonnen den mußten; Sie haben noch eine Nlission, die sich auf
hatten, zu Ende baue, was zwar nicht mehr den vierten die Weiterführung des Protestantismus bezieht. Auch
Teil der ursprünglich zugedachten Summe ausmachte, dies Erlebnis, vier Jahre vor Gründung der Christen-
was aber doch recht nützlich und gerade das Notwen- gemeinschaft, blieb damals unbeachtet in mir liegen,
dige war. Dies Erlebnis der zugedachten, aber wieder vielleicht viel zu unbeachtet. In meinen Tagesgesprächen
zurückgenommenen Schenkungen blieb uns in diesen mit Rudolf Steiner war auch nicht der Schatten einer
Jahren treu. Andeutung nach dieser Richtung hin vorhanden. Mit
. Soll hier von dem Einzelnen, das an einem solchen aller Entschiedenheit hätte ich mich dagegen gewehrt, in
Unternehmen erlebt wird, erzählt werden, so muß ich den zentralen Lebensentscheidungen durch Träume oder
auch mit einem Wort meiner Frau gedenken. Frauen durch Menschen, wer immer sie seien, mich dirigieren
und Mütter werden wissen, was es heißt, aus einer ideal zu lassen. Vielleicht gerade darum waren diese Ereig-
gesicherten Lebensposition heraus, die außerdem viel- nisse möglich. Sie sollten mich nicht äußerlich bestim-
fältig durch Pensionskassen gedeckt war, den Sprung men, aber hernach in der Erinnerung wir die Zuversicht
ins Dunkle zu wagen, mit sechs unversorgten Kindern stärken, daß über meiner Lebensführung ein höheres
und einem Mann, dessen Arbeitskraft noch als recht Wissen und Wollen gewaltet hat.
unsicher zu gelten hatte, und gerade in der Inflations- Noch ein solches Ereignis: Im Jahr 1919 besuchte
zeit. Auch nicht mit dem leisesten Hauch eines Be- mich unerwartet ein Mensch, dessen Geisteshelle ich schon
denkens oder einer Sorge hat meine Frau den Ent- kannte. „Ich habe“, sagte er, „manchmal Eindrücke
schluß ihres Mannes jemals getrübt, im Gegenteil die von dem, was kommen wird; wenn sie sich auf mich
viel größeren Opfer wortlos auf sich genommen. Sie selbst beziehen, sind sie in der Regel falsch; wenn sie
hatte selbständig die Gewißheit gewonnen, daß dies sich auf andere beziehen, waren sie oftmals richtig; von
Werk geschehen muß. — Ibnen sehe ich, daß Sie in der Folge der revolutionären
Wenn diese Lebenusschilderung versucht, soweit das Ereignisse aus der Kirche herausgelöst werden; ich sehe
möglich ist, mit solchem Blick auf das Leben zu schauen, Sie reden in einem weiteren geistigen Zusammenhang
wie wir alle unser Leben nach dem Tod sehen werden in einem großen Saal, der eine violette Farbe trägt.“ —
— von den Strahlen der Vorsehung erleuchtet —: so Obwohl ich glaube, daß auch solche Erlebnisse in einer
dürfen zum Schluß auch einige Zukunftsweissagungen ehrlichen Lebensschilderung nicht fehlen dürfen, ist
bier ihren Platz finden, die schon lange auf das hin- doch weit wichtiger, wie das, was damals in mein Leben
deuteten, was werden sollte. hereintrat, sich wirklich als die zusammenfassende Krö-
Einen Traum habe ich bereits erwähnt, den ich längst nung meines ganzen Lebensstrebens erwies. Mit einem
vor dem ersten Gedanken an die Christengemeinschaft Rückblick von der nun erreichten Höhe — auf die ich
hatte: daß ich an der Siedlung Johannes Müllers vor- ja viel mehr geführt worden als gegangen war — will
über den Berg hinaufzusteigen habe einer Kirche auf ich diese Erzählungen aus meinem Leben darum auch
der Höhe entgegen. Merkwürdiger noch war, wie einmal vorläufg beschließen.
in Nürnberg im Jahr 1916 eine medial hellseherische Wenn ich als Kind gesagt hatte, ich möchte einmal
Frau zu mir kam und sagte: Ich habe Ihnen einen „göttlicher Minister“ werden, so darf man-in dem kind-
Gruß von Dr. Martin Luther auszurichten, und Sie hät- lich anspruchsvollen Wort doch das dunkle Gefühl einer
ten noch eine Aufgabe bei der Begründung einer neuen Bestimmung erkennen, die über dem Leben schwebte.
Kirche. Das erschien mir damals völlig grotesk. Ich Lang, sehr lang aber hatte ich warten müssen, bis auch
lehnte es so restlos ab, daß ich es tatsächlich für viele nur die erste Möglichkeit sich erschloß, am göttlichen
Jahre ganz vergessen hatte. Unter keinen Umständen Werk mitzubelfen. Erst nach dem 21.Jahr kamen
wollte ich mich durch Äußerungen, die aus dämonischen die Eindrücke aus einer höheren Welt, aus denen sich
Reichen kommen konnten, im Allergeringsten beein- mein eigenes Leben herausentwickeln konnte. Nicht der
Aussen lassen. Auch unbewußt ist dies, wie ich be- Glaube der Kinderzeit war das Lebenbegründende. Ich
stimmt versichern kann, und wie dieser ganze Bericht hatte ihn nie besessen. Nicht die Theologie der Uni-
ja beweisen wird, nicht geschehen. Erst etwa zehn Jahre versitäten hatte mir eine Richtung gegeben. Sie hatte
nach Begründung der Christengemeinschaft ist die Er- an mir versagt. Als wohlausgebildeter Theologe war: ich
innerung langsam wieder emporgestiegen. Übrigens bin nach meinem eignen Urteil — ungläubig.
ich auch heute überzeugt, daß diese Frau mit der Per- Als ich unter den ersten Eindrücken einer höheren
sönlichkeit Luthers nicht das Geringste zu tun hatte. Welt, wie sie mir nach der Universitätszeit zukamen,
Höchstens mit seiner Welt. Merkwürdig genug bleibt langsam anfing, mich zum Christen zu entwickeln, war
das Geschehnis trotzdem. es der Christus des Johannesevangeliums, der seine
Ähnliches gilt von den beiden andern Vor-Ankündi- Wiederkunft verheißt, was in der innersten Tiefe der
gungen. Im Traum hörte ich etwa zu Anfang des Jahres Seele, noch unerkannt, zu leuchten begann. Zwei Geistes-
1918 einmal Rudolf Steiner zu mir sagen: Ich weiß wünsche wirkten von da an im Leben, freilich vielfach

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unterbrochen und gehemmt: der Wunsch, das Geahnte schildert. Das Ich des Menschen, das wache, klare, freie
klarer zu erkennen, und der Wunsch, das Erkannte Ich erwies sich als der Lebensmittelpunkt aller dieser
stärker zu vertreten, höheren Kräfte. Und dieses Ich war nun vor allem
Das Erkenntnisstreben wurde durch die Begegnung selbst das Organ, um Christus wahrzunehmen: das gött-
mit Oswald Külpe in Würzburg am wichtigsten Punkt liche Ich in Menschengestalt. Läßt der Mensch dies
der Gegenwartskultur — wo der Intellektualismus über Christus-Ich in sich wirken, so wird er priesterlich. Und
sich selbst hinauszuschauen sucht stark belebt. ein neues Priestertum, wie es heute in die Welt
Aber erst das Auftreten von Johannes Müller gab mei- treten soll, darf dazu Vorbild und Hilfe sein.
nem Suchen eine gewisse Hoffnung. Sicher und stark Sowohl in Hinsicht auf das Geist-Suchen wie in Hin-
sprach er von dem, was „hinter den Dingen“ ist. Ich sicht auf das Ich-Suchen gingen die Wege immer hinüber
fühlte allerdings die Verpflichtung und Berechtigung zum Johannesevangelium. In ihm spricht Christus „Ich
des Geistes, nicht beim gefühlsmäßigen Berührtwerden bin“ und spendet aus diesem Ich den „heiligen Geist“.
stehen zu bleiben. Und in der Geisteswelt Rudolf Stei- Und hier mündet nun ein drittes und letztes
ners fand ich schließlich die Klarheit, die der Geist ver- Suchen ein. Mit der ganzen protestantischen Theologie
langte. Viele Jahre lang habe ich, zunächst stark wider- jener Jahre suchte ich, was uns Jesus heute sein kann.
strebend, seine „Forschungsergebnisse“ auf mich wirken Der Weg, der mich aus dem „bistorisch-kritischen“ Zeit-
lassen. Ich war schon zu selbständig, um sie einfach in alter der Theologie herausführte, war „das innere
Bausch und Bogen in mein Leben hineinnehmen zu Leben Jesu“. Es war eine weise Führung, die mich der
können. So habe ich mir langsam zu eigen gemacht, was Versuchung, „theoretischer“ Theologe zu werden, wider-
meiner eigenen tastenden Erfahrung entsprach und mei- stehen ließ. Wohl nur die Praxis, die Lebenspraxis,
nem eigenen prüfenden Denken einleuchtete. Ich weiß, die Verkündigungspraxis konnte mich den Weg führen
daß Rudolf Steiner solche Verarbeitung am höchsten „von Jesus zu Christus“. Meine beiden Bücher über
schätzte. „Jesus“ und über „Christus“ zeigen hier deutlich den
Die Gotteswelt, in ihr Christus als Mittelpunkt aller Weg, der gegangen worden ist.
guten Mächte: das stand wir nun fest. Jetzt war noch Aber auch in diesem Suchen war noch ein letzter
ein dritter und letzter Schritt möglich — der Schritt Schritt zu vollziehen. Man wird sich erinnern, wie von
zum Sakrament. Im sakramentalen Wirken schafft Jugend auf eine starke Sehnsucht nach Gemeinschaft
der Geist an Mensch und Erde. Da ist nicht nur der in mir lebendig war. So manches schmerzliche Erleb-
Geist, der „hinter den Dingen“ lebt, und nicht nur der nis mir dieses Suchen auch brachte: es half mir doch,
Geist, der in den Dingen waltet, sondern der Geist, einstweilen wenigstens geistig zusehen, daß Christus
der auf die Dinge wirkt und die sichtbare Welt „wan- selbst nicht nur ein einzelner Mensch gewesen sein will,
delt“. Hier kann das wahrhaft christliche Wirken woh- sondern eine Menschengemeinschaft werden. Chri-
nen als in seinem Heiligtum, von dem kraftspendende stengemeinschaft, Ghristusgemeinschaft: erst
Segensströme ausgehen für alles menschliche Handeln. in einigen Ahnungen und beglückenden Anfängen kann
Und hier vereinigt sich nun der Wunsch, das Ge- sie heute da sein. Aber hier wartet auf uns der größere
ahnte klarer zu erkennen, mit dem zweiten Wunsch, Christus, in dem wir alle miteinander wobnen sollen. —
es stärker vertreten zu können. In dunklem Suchen Wenn ich von Christengemeinschaft,
hatte ich in meinen gymnasiastenhaften Meditations- Priestertum, Sakrament spreche, so ist es
übungen mich bemüht, von innen her mich zu erfassen also nicht bloß eine von außen herankommende oder
und zu erkraften und über das Körperliche Herr zu aus eigner Willkür-ausgedachte Lebensaufgabe, der ich
werden. Später schälte sich dann die Frage heraus: diene, sondern eine „Erfüllung“.
Was ist es eigentlich, das im Menschen Eindrücke von Dennoch würde ich nicht von dem allen so ausführ-
dem, was „hinter den Dingen“ ist, empfängt und fest- lich erzäklen, wenn ich nicht in dieser eigenen Lebens-
hält? Welche verborgenen Organe liegen irn Menschen, erfüllung zugleich die Antwort sähe auf ein tiefstes
durch die er das Göttliche wahrnimmt und sich mit Sehnen und Streben des deutschen Geistes selbst in der
ihm verbindet? Die üblichen Antworten — daß eben Geschichte.
der Glaube eine sittliche Entscheidung treffen müsse, Der Deutsche suchte in seiner ganzen Vergangenheit
oder daß eben ein undurchschautes Wunder im Men- „nach dem die Welt überall durchwaltenden Geist“.
schen vorgehe — schienen mir das Problem noch gar Er wird diesen Geist erst dann wirklich gefunden
nicht einmal zu erfassen. Eine erste Antwort kam wie- haben, wenn er ihn in Christus findet, aber in einem
der von Johannes Müller, wenn er auf die „ursprüng- weltgrößeren, geistleuchtenderen und. lebensnäheren
liche Empfindung“ hinwies. Aber dabei konnte man Christus, als ihn die christliche Vergangenheit verkün-
wieder nicht stehen bleiben. So war alle Vorbereitung det hat — und wenn er aus diesem Christus heraus
getroffen, um mit höchstem Interesse den übersiun- mit neuen Kräften zu wirken beginnt.
lichen Menschen zu studieren, der als Keimanlage im Der Deutsche suchte in seiner ganzen Geschichte nach
äußeren Menschen drinsteckt, wie es Rudolf Steiner dem Kern im Menschen, nach dem verborgenen, wah-

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In dieser dreifachen Richtung sehe ich das neue
Christentum aufblühen, in dem der deut
sche Geist und
die deutsche Seele ihren
‚ mit dem, in dem das besten Beitrag zur Welt
liche Ich seine göttliche mensch- wicklung zu leisten habe ent.
Größe erringen kann. n. Dies sehe ich. Wer
Und der Deutsche suchte dazu vor allem verhalt, mir
im Grund auch immer das habe ich oft ausgespr
nach Doch vor allem danke ochen.
echtem Mensch-Sein. ich Christus, so viel ich
AU dieses innere Suchen dank en kann, nur
kann ein neues Auge wer daß
ich es sehen durfte,
für Christus, den den dieser Lebensschilderung Und von
Menschheitsmenschen, hier wünsche ich mir zu
zu wahren
in dem wir alle nur das Eine höchst
Menschen werden könn , daß sie andern helfen möch
en. te, dies alles
besser zu sehen — und zu tun, als ich es
vermochte. —

Aus dem Leben der Christengemeinschaft


„Sonne auf Erden“
Wir haben die Freude, unse „Richard Wagner und
rn Lesern ein neues Buch das Christentum“
von Rudolfyon Kos Unser verstorbener Mitarbeiter
chützki anzuzeigen. Professor Dr, Her-
voriges Jahr ist sein Ers Schon
cheinen verlangt worden,
der Verfasser einzelne fert als
ige Kapitel bei der Geme
schaftszeit vorlesen konn in-
te. Seitdem wartete man.
ist es fertig. Wer Kosc Jetzt schien damals auch als
hützki, dessen siebzigs Sonderdruck, ist aber
burtstag wir voriges Jahr ten Ge- raumer Zeit vergriffen. seit ge-
feiern durften, liebt und Der Inhalt ist so bedeut
ehrt, wird das Werk von ver- das Thema für uns und sam und
Herzen begrüßen. Neue die Lage des Christent
werden ihm dadurch gew Leser wichtig, daß eine Neuauf ums so
onnen werden. Rüstig lage veranstaltet werden
uns der Einundsiebzigjäh nimmt In diesen Tagen erschein konnte.
rige bei der Hand und t die Schrift als Brosch
uns durch seine ursprüng führt ansprechendem Gewand üre in
liche Erdenheimat: Die e zum Preis von 50
und den Landbau: Man Natur Sie gehört in die Hän Pfennig.
weiß ja von ihm, daß de aller, die Richard
zuerst Landwirt war, er selbst Kunst nicht Wagners
ehe das Schicksal ihn nur lieben, sondern
auf Um- auch in ihren Tiefen
wegen zum neu begrün verstehen wollen.
deten Priestertum Kurt von Wistinghausen
schildert — und segnet ‚ August Pauli: Ist
sie. In der Koschützki die Bibel „Gottes Wor
eignen 36 Seiten. Verlag Urachh t“?
anschauliche n, humorvollen aus, Stuttgart 1937. RM.
Art. Der Leser lernt eine 0.60.
Menge wissenswerte fachliche Tatsachen, Ist die Bibel „Gottes
lemt zu gut eine Wort“? Oder ist sie
sehen, was in der Nat r fremden Rasse“, „Geistes-
ur vorgeht, lernt die sch „Volksbetrug“, »F äls
Arbeit des Landmanns were Sie wird auf chung“?
einzuschätzen. Dennoch der einen Seite als unb
Buch kein Lehrbuch, ist dies Autorität edingt einzige
sondern eine Erzählung und Gottesoffenbarung hing
reicherung und Erquic zur Be- anderen Seit estellt, von der
kung des Lesers, besond e in z.T. nicht wie
ers auch beschimpft. derzugebender Weise
des jungen Lesers. (Hie Was ist die Bibel in
r hat die Christengeme Wahrheit? Zwar gibt
endlich etwas so recht inschaft es schon eine ausged
für die Jugend!) Der ehnte Literatur, die
ser berührt auch das Verf as- Bibelverständnis dem ein neues
neue natur- und geistg Erkenntnis-Suchenden
Wirtschaften auf biolog emäße kann (insbe vermitteln
isch-dynamische Weise. sondere die Werke von
Kapitelüberschriften deut Einige es fehlte eine Lic. Bock u. a.), aber
en am besten an, was Schrift, die kurz und
steht: die Sonne, das darin- zur selbstän klar dem Einzelnen
Wasser, der Wind, die digen Urteilsbildung verh
Arbeit. Roggen, Weizen Erde, die ilft.
, Gerste, Hafer. Die Dies e Lücke füllt das Schriftc
Eingewan- aus. Es hen von August Paul
derten. Zauberer Kohl ist, wie man das von i
. Die Zuckerprinzessin. den früheren Schrifte
krüglein, Die Schmetterlin Das Öl- des Verf n
gsblütler. Frau Natura’s asse rs her kennt, wirklich allgem
stes Rätsel. Die großen neue- lich, vornehm-r einverständ-
Schritte der Schöpfung uhig auch in der Pol
Pferd, Schaf, Ziege, . Kuh, emik und (trotz der
Schwein. Der Ritter Kür ze) so ged ank enklar, daß man ihm
Der Hund Plünne. Wald Gänsichen. tung wün weiteste Verbrei-
, Wiese und Feiera schen möchte angesich
ben d. ts der Gegenschriften.
Ein so beseeltes Werk wie In vier Abschnitten beh
dieses sollte nicht ohne Bil- andelt der Verfasser kurz
der erscheinen. Kunstmale doch tiefschürfend und und
r Hans B rasch (Stu gründlich die wichtigsten
fand sich mit Freude ttgart) gen. 1. „Zu Fra-
bereit, einige F ederze r Geschichte der Bibelkritik“.
ichnungen Die heutige
Bibelkritik wird in den
sammenhang bisheriger geschichtlichen Zu-
Bibelkritik gestellt,
dere die des Ehepaares insbeson-
Ludendorf. Das in dere
schüre geübte Verfahren n Bro-
Kurt. von Wistinghausen wird charakterisiert in
wissenschaftlichen Qual seiner
ität. Der Leser kann
110 sich ein
eigenes Urteil bilden über die Bebauptung, die Bibel Lebensfragen im Licht der Menschenweitetz=""—r >
sei erst im Mittelalter „fabriziert“ und dergleichen. sprechen. Dr. Frieling wird seine Betrachtzuzen =
Abschnitt 2 („DiegeschichtlichePerspek- das Johannesevangelium fortsetzen. Außer Her 2
tive) bringt Grundlegendes zum geschichtlichen Ver- Koschützki werden teilnehmen: Johannes Perthel, Mart=a
ständnis auch des Alten Testamentes: Das Alte Testa- Heimeran, Alfred Schreiber u. a.
ment ist die geschichtliche Vorstufe der Christus-Offen- Beginn: Freitag, 16. Juli, 6 Uhr, im Feldschlößchen;
barung (wie auch die Edda z.B. eine solche ist) — an diesem Tag Tagungsbüro im Bahnhof. Anmeldungen
durch Christus wird das in Gott sich selbst erlebende au Gerhard Klein, Dresden N6, Jägerstraße 19; ab
Ich des Menschen zur Stätte der Gottesoffenbarung, die 10. Juli alle Nachrichten an Dr. Gerhard Hering, Eiben-
allen naturgegebenen Schöpfungsordnungen erst ihren stock postlagernd.. — Wir hoffen auf festliches Zu-
Sinn gibt. sammensein. "
Im 3. Abschnitt („Inspiration“) zeigt der Ver-
fasser, wie die Theorie der wörtlichen Inspiration Sommertagung in Dresden
(„Paulus als Schreibmedium“) eine Naivität war, die, Wir weisen auf diese festliche Veranstaltung der
bei Lichte betrachtet, die Bibel sogar entwertet — eine Christengemeinschaft vom 29. Juli bis 1. August
Naivität freilich, in der „mehr Weisheit enthalten war noch einmal hin. Das Programm lag dem Juniheft
als in der Superklugheit, geschweige der Feindseligkeit, unserer Zeitschrift bei und kann bei der Christen-
mit der heute so viele die Bibel abtun“. Inspiration gemeinschaft in Dresden-A 24, Reichenbachstr. 30, nach-
im christlichen Sinne heißt: Das Ich des Verfassers wird bestellt werden. Um rechtzeitige Anmeldung (bis
zur Stätte der Gottesofenbarung. In diesem Sinne 15. Juli dortselbst) wird dringend gebeten, da die Quar-
sind diese. Schriften inspiriert. tierbeschaffung sonst wegen einer gleichzeitig stattfin-
Das ist aber kein Glaubenssatz, sondern kann Er- denden andern Tagung schwierig ist. Vorauszahlungen
fahrung werden. Denn das Ich jedes Menschen kann usw. sind erbeten auf Postscheckkonto Pfarrer Gerhard
ja zum Organ des Christus werden. Davon spricht der Klein, Dresden 29171. Das Tagungsamt Reichenbach-
Schlußabschnitt „Unsere Stellung zur Bibe“. str. 30 ist ab 29. Juli täglich geöffnet.
Christentum ist nicht Glaube an ein geschriebenes
Wort. Sondern im Menschen kann die Wahrheit auf- „lage der Christengemeinschaft“
leuchten. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die
finden unter Leitung von Friedrih Doldinger vom
Wahrheit wird euch freimachen.“ Nicht weil etwas in
7.—15. September in Großherrischwand über Säckingen
der Bibel steht, erkenne ich es als wahr an, sondern
(900-1000 M.m.) in Baden statt. Mitwirkende: Otto
weil es sich in unserem in Ehrfurcht suchendem Geist
Becher, Wolfgang Schickler, Wilkelm Hochweber. Haupt-
als wahr erweist. Die Bibel bedarf keiner dogmatischen
thema: „Bild und Gegenbild des Göttlichen im Men-
Bindung — sie beweist sich selbst. „Gottes Wort‘ er-
schenschicksal und in den Natur-Reichen“. Musik, Vor-
tönt auch außerhalb der Bibel — in allen Erscheinungen
lesung, Laienspiel u. a. Anmeldungen und Anfragen au
des Himmels und der Erde, in Menschen- und Völker-
Frau Benkart, Stuttgart-Sillenbuch, Möhringerweg 19.
schicksalen. Aber auch in diesem Menschheitsbuche,
wenn wir uns ihm als Gott-Suchende in Ehrfurcht nahen.
Öffentlicher Seminarkurs
* Gerhard Hardorp
Der nächste Seminarkurs, zu dem auch Gäste erwar-
Gemeinschaftszeit in Eibenstock tet werden, findet statt vom 20. September bis 2. Okto-
Bei der Gemeinschaftszeit in Eibenstock vom 16. bis ber in Stuttgart. Anmeldungen jetzt schon möglich an
28. Juli wird diesmal Dr. Rittelmeyer Zeitfragen und G. Husemann, Stuttgart 13, Spitterstr. 11.

Das tibetanische Totenbuch


Ein Blick in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Reinhard Wagner
Zu den mancherlei Dingen, die heute, aus dem Osten der Leichnam nicht erreichbar ist, so, daß man sich den
kommend, unsere Aufmerksamkeit erregen, gehört Verstorbenen vorstellt, als säße er dem Lesenden
sicherlich auch dieses seltsame Werk, das ein ursprüng- gegenüber und hörte zu. Und nun wird im Verlaufe des
lich sehr geheim gehaltener okkulter Initiationstext ist, Buches mit allen Einzelheiten geschildert, welchen Be-
nur daß es sich hier nicht um die Einweihung Lebender, wußtseinsweg die Seele durchmacht vom Augenblicke
sondern um die Belehrung des Verstorbenen des Todes an bis zu ihrem endgiltigen Befreitwerden
handelt. Dieses Buch wurde (und wird wohl heute noch) von allem Irdischen, oder aber ihrer neuen Fesselung
gelesen am Bette eines eben Verstorbenen, oder, wenn durch ein Elternpaar, einer neuen Erdengeburt, die

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man sich nach 49 Tagen schon erfolgend denkt. Viele diese Überlegenheit: spüren die östlichen Menschen
interessante Einzelheiten leuchten auf, wunderbare selbst. Sie schauen auf das geistige Leben Europas als
Worte erklingen, aber auch daneben vieles höchst auf eine quantit& negligeable. Nur auf eines hörten sie
Fremde und Befremdende. Doch das ist es nicht allein, in Gesprächen immer hin: wenn man davon erzählte,
warum wir dieses Buch hier erwähnen, sondern noch daß es auch in Europa Menschen gäbe, die die Medi-
etwas anderes: zu diesem Text hat der Züricher Psycho- tation pflegen. Denn das ist für den östlichen Menschen
analytiker Jung eine Einleitung geschrieben. Und die eine Selbstverständlichkeit. Oft wurde ich dann gefragt:
ist von einem gewissen Gesichtspunkt aus noch interes- Wieviele Menschen tun das wohl in Mitteleuropa? Und
anter: er spricht darin von der Seele und ihrer nach dann stieg wieder die-Scham in mir Europäer auf: Wir
dem Tode sich offenbarenden Schöpfermacht —. sie haben in Europa nicht nur Anfänge, sondern einen.
schaffe sich ihre geistige Umwelt selber aus sich her- Geistesweg und eine Geisterkenntnis, die allen jenen,
aus —, er zeigt, wie z.B. gewisse psychoanalytische wenn auch noch so geistigen Erlebnissen des Orients in
Theorien ihre Bestätigung finden. Unter denen, die bezug auf Exaktheit und Klarheit weit überlegen ist —
heute die Psychoanalyse vertreten, ist zweifellos ein und in Europa „weiß“ man nichts davon! Wir haben die
Gelehrter wie Jung einer, zu dessen Forschungen man Mittel in der Hand, auch den Verstorbenen wirksam
mit dankbarem Interesse hinschauen kann. Denn in der und selbstlos zu helfen, und in unseren Kreisen ge-
Einleitung zu dem chinesischen Buche „Vom Geheimnis schieht da schon viel. Wir haben eine Weihehandlung,
der goldenen Blüte“ (von Richard Wilhelm übersetzt) die wir im Blick auf die Verstorbenen feiern, ohne all
weist er darauf hin, wie wichtig es sei, zu wissen, daß jenes Geschäftliche der Seelenmessen. (In dem Buche
Neurosen nicht nur aus verdrängter Sexualität, sondern von Rudolf Meyer „Vom Schicksal der Toten“ wird
noch viel öfter aus „verdrängter Religion“ entstehen. darüber ausführlich gesprochen.) Daß man davon im
Er zeigt dort, daß er von der Wirklichkeit der geistigen Osten noch wenig weiß, ist schließlich zu verstehen.
Erfahrungen überzeugt ist. Um so auffallender ist Daß aber ein europäischer Gelehrter solche Behaup-
dann, wenn man feststellt: daß es eine moderne, aus tungen aufstellen kann, müßte man fast, bei allem
dem abendländischen Geiste entstandene und nicht erst Respekt vor dem Gelehrten Jung, als eine Art Verrat
in ihn hineinmissionierte Geistesforschung gibt, die zu an Europa bezeichnen. Denn man muß wissen, daß der
noch viel exakteren Ergebnissen kommt als die „Seelen- Osten planmäßig und bewußt sich vorbereitet, Europa
forschung“, wie sie Jung meint, scheint er nicht zu von dem geistigen Untergange zu „retten“, mit all den.
wissen. Es ist schlimm, daß in einem wissenschaftlichen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Wir wissen,
Buch des zwanzigsten Jahrhunderts folgendes stehen daß unser Jahrhundert, unsere Jahrzehnte, in denen
kann: „Die katholische Kirche ist der einzige Ort in der wir leben, gewaltige Veränderungen im Menschen her-
Welt des weißen Mannes, wo noch wesentliche Reste vorrufen werden und schon hervorgerufen haben: in.
einer Fürsorge für die abgeschiedene Seele anzutreffen den Spalten unserer Zeitschrift ist schon oft davon ge-
sind. Innerhalb des weltfreudigen Protestantismus gibt sprochen worden, daß wir vor und in einer ganz
es eigentlich nur einige spiritistische „rescue circles“, neuen Offenbarung der Christus-Nähe stehen. Alle An-
die sich mit der Bewußtmachung von Abgeschiedenen, zeichen deuten daraufhin, daß der Osten das auch
die ihres Todes unbewußt sind, beschäftigen. Aber wir weiß. Aber diese Wahrheit will man dort nicht. Und
haben im Westen nichts, das wir irgendwie mit dem so setzt nun, mit jedem Jahr verstärkt, eine Art gei-
Bardo Thödol vergleichen könnten, mit Ausnahme ge- stiger Überflutung des Westens durch den Osten ein.
wisser geheimer Schriften, welche aber für das große Tun es die bewußten Vertreter des Ostens, mag es
Publikum und die allgemeine Wissenschaft nicht in Be- gehen: dann sind die Fronten klar. Macht sich aber ein
tracht kommen.“ Manchem unserer Leser wird es selt- Europäer vom Range eines Jung zum Bannerträger die- °
sam erscheinen,. daß wir dies so ausführlich erwähnen. ser östlichen Tendenzen, dann wird es bedenklich.
Vielleicht hält man es gar für das beleidigte Auf- Nicht daß man so etwas wie das Totenbuch ver-
trumpfenwollen unbedeutender Kreise, die damit sagen ‚öffentlicht,. ist gefährlich, sondern daß es geschieht mit
wollen, daß sie „auch noch da sind“. Wäre es dies, der Einstellung „so etwas ‘gibts im Westen nicht, so
dann würden diese Zeilen nicht geschrieben. Aber wer etwas bringt uns nur der Osten“. Dadurch nämlich wird.
im Osten gewesen ist, wer einmal dort mit der im Ver- nicht nur das Christentum bekämpft, wie es heute so
gleich zur europäischen Wissenschaft mächtigen Geistig- vielfach in der Welt geschieht, sondern es wird der Ver-
keit in persönliche Berührung gekommen ist, der weiß, such gemacht, es zuersetzen. Und dazu lebt die Not-
welche ungeheure Versuchung für jeden geistig suchen- wendigkeit eines gegenwartsgemäßen Christentums
den Menschen in dieser östlichen Geistigkeit liegt. Und zu stark in uns, als daß wir dazu schweigen können.

Bezugspreise und Postscheckkonten nebenstehend. — Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann (außer wenn Rück-
porto beiliegt) eine Gewähr nicht übernommen werden. Für die Schriftleitung verantwortlich: Dr. Friedrich Rittelmeyer,
Stuttgart 13. Für die Anzeigen verantwortlich: Erust Rathgeber, Stuttgart. D.A. IL. Vj. 19987: 7433 Zur Zeit gilt An-
zeigenpreisliste Nr.4. Druck: Hoffmannsche Buchäruckerei Felix Krais, Stuttgart. Verlag: Verlag Urachhaus, Stuttgart 13.

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