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Rolf Degen

Lexikon der Psycho-Irrtuemer

Inhalt
Vorwort
MYTHEN DER BEEINFLUSSUNG
Pfusch an der Couch
«Psychotherapie hat die Macht, Menschen
von seelischen Störungen und Neurosen zu heilen« 21
Karma im Zellkern
«Die Persönlichkeit des Menschen wird durch
seine Erziehung bestimmt« 69
Die lausigen Verführer
«Die Massenmedien üben gewaltige
Wirkungen auf das Bewusstsein und
das Verhalten der Menschen aus« 109
Der unverbesserliche Verstand
«Es gibt Möglichkeiten, die Intelligenz und
das Auffassungsvermögen des Menschen
erheblich zu erweitern« 133
MYTHEN DER SEELE
Auslaufmodellvorstellungen
«Der Mensch benutzt Abwehrmechanismen
wie Verdrängung oder Projektion,
um unangenehme Bewusstseinsinhalte
ins Unbewusste abzuschieben« 157
Schminke am Selbstbild
«Es ist für die seelische Gesundheit
erforderlich, ein aufrichtiges und
unverhülltes Bild von sich selbst zu haben« 189
Selbstwertgefühlsduselei
«Es ist immer vorteilhaft,
ein hohes Selbstwertgefühl zu besitzen« 215
Die Seele ist schuld
«Viele organische Krankheiten
haben psychosomatische Ursachen« 229
Seelengedrängel
«Manche Menschen werden von
multiplen Persönlichkeiten übermannt« 249
MYTHEN DES VERÄNDERTEN BEWUSSTSEINS
Schein-Heil im Lotussitz
«Meditation erzeugt einen einzigartigen
körperlich-geistigen Entspannungszustand« 263
Kellerspektakel
«Unter Hypnose können Menschen
außerordentliche Dinge tun« 277
Einmal Jenseits und zurück
«Viele Menschen machen in Todesnähe
läuternde Erfahrungen mit der Transzendenz«291
MYTHEN DES GEHIRNS
Armleuchten
«Der Mensch nimmt nur 10 Prozent
seiner Gehirnkapazität in Anspruch« 309
Seiten verkehrt
«Die beiden Hemisphären des Gehirns beherbergen völlig unterschiedliche Leistungen«319
Register

Vorwort
Die Psychologie ist die wichtigste und zugleich die unwichtigste aller Wissenschaften. Wenn
Ihnen diese Aussage verdächtig nach» gespaltener Persönlichkeit «vorkommt, können Sie das
getrost
als Bestätigung für den notorisch angeknacksten Verstand der Psychologen nehmen.
Allerdings sind
Sie damit bereits einem Psycho-Irrtum aufgesessen, denn das in der Öffentlichkeit gemeinhin
als
«gespaltene Persönlichkeit «bekannte Phänomen ist in Wirklichkeit ein völlig
gegenstandsloses
Hirngespinst, das lediglich der dramatischen Vorstellungskraft von Schriftstellern und
Drehbuchautoren entsprungen ist und in einem eigenen Kapitel dieses Buches auseinander
genommen wird.
Die Psychologie ist die wichtigste aller Wissenschaften, weil jeder Einzelne von uns im
alltäglichen Leben nachvollziehen kann, dass psychologische Fragestellungen (zum
Beispiel:»Wer
bin ich, warum bin ich so geworden, und wie kommt es, dass ich nicht Tom Cruise sein
kann?«) eine
ungeheure Priorität besitzen, die sogar das Rätsel um schwarze Löcher und die globale
Erwärmung in
den Schatten stellt. Der amerikanische Arzt Sherwin Nuland hat diese unanfechtbare Tatsache
einfühlsam auf den Punkt gebracht:»Mir ist der Mikrokosmos wichtiger als der
Makrokosmos, mich
interessiert das Leben eines Menschen mehr als das Verlöschen eines Sterns oder das
Vorüberziehen
eines Kometen.«1Psychologische Erkenntnisse sind unschätzbar wichtig, weil unzählige
Menschen an einem
peinigenden» Knacks «in ihrer Seele leiden, und weil viele Menschheitsprobleme die Folge
von
einem» Knacks «in der Seele gewisser Menschen sind. Krieg, Armut, Verbrechen, Rassismus
und
totalitärer Staat, ja praktisch alle gesellschaftlichen Übel gehen letztlich auf Deformationen
im
verschlungenen Räderwerk der Psyche zurück. Auch in einem politischen Sinne besitzt die
Erforschung der menschlichen Psyche von allen wissenschaftlichen Unternehmungen die
größte
Tragweite, stellt der amerikanische Wissenschaftspublizist John Horgan fest:»Selbst
pseudowissenschaftliche Erklärungen der menschlichen Natur haben die Macht, den Lauf der
Geschichte zu verändern. Die Bewegungen, die von Karl Marx und Sigmund Freud ins Leben
gerufen wurden – oder auch von Jesus, Buddha und Mohammed, deren Theologien ebenfalls
1 Nuland, Sherwin: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde? Droemer Knaur Verlag, München 1994.
implizite Theorien über die menschliche Natur enthalten –, haben dies gezeigt.«2
Geistige Störungen wie Depression, Angstkrankheiten, Schizophrenie und Sucht verursachen
jedes
Jahr unsägliches Leid und dazu einen volkswirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe. Nach
den
Ergebnissen der modernen Evolutionsforschung ist der Wunsch nach Psychologie und
Selbsterkenntnis
sogar ganz tief in den Intellekt des Homo sapiens eingebaut. Lange Zeit glaubten die
Anthropologen, dass
die Hirnkapazität bei unserer Spezies so explosiv zugenommen hat, um den mentalen
Anforderungen bei
der Jagd oder bei der Herstellung von komplexen Werkzeugen gerecht zu werden. Heute
besteht jedoch
weitgehend Einigkeit, dass die Entwicklung unseres» Eierkopfes «auf der Notwendigkeit
beruhte, die
Absichten und Motive unserer Artgenossen zu verstehen (und zu manipulieren), mit denen wir
in
komplexen Sozialverbänden zusammenleben – also auf dem Bedürfnis nach Psychologie.
Die Psychologie ist die unwichtigste aller Wissenschaften, weil sie all diesen brennenden
Problemen
und Rätseln mit einer wahrhaft atemberaubenden Ahnungslosigkeit gegenübersteht. Ihre
Unfähigkeit, die
großen Fragen nach der menschlichen Natur zu beantworten, hat sich bei der Bevölkerung
noch gar nicht
herumgesprochen, wie auch die Psychologin Andrea Abele-Brehm von der Universität
Erlangen-
Nürnberg in einem Essay über das Verhältnis von Psychologie und Öffentlichkeit
konzediert.3»Wenn die
Leute eines Tages erführen, was die Psychologie wirklich macht, dann würde sich kein
Mensch mehr
dafür interessieren. «Auch die Psychotherapie, das wichtigste und mit den größten
Hoffnungen und
Sehnsüchten besetzte Anwendungsgebiet der Seelenforschung, krankt im Licht der Fakten an
einer
deprimierenden Impotenz.»Wer die Psychotherapie liebt, hat oft Anlass, sich der
Psychotherapie zu
schämen«, räumt der Berner Psychotherapieforscher Klaus Grawe viel sagend ein.4
Die naturwissenschaftliche Erforschung der unbelebten Welt hat in den vergangenen 100
Jahren
unvorstellbare Fortschritte gemacht. Physiker sind in gigantischen Beschleunigungsanlagen
den tiefsten
Bindekräften des subatomaren Kosmos auf der Spur, während die Astronomen mit
hochtechnologischen
Himmelsaugen nach den entferntesten Objekten des Universums spähen. Die Biologen des
Human-

2 Horgan, John: Der menschliche Geist. Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen. Luchterhand
Verlag, München 2000.

3 Abele-Brehm, Andrea: Psychologie in den Medien. In: Psychologische Rundschau, Bd. 41 (1990), S. 37–45.

4 Grawe, Klaus et al.: Psychotherapie im Wandel. Hogrefe Verlag, Göttingen et al. 1994.
Genome-Projektes haben schon beinah das gesamte Erbgut unserer Spezies abgeklappert. Die
Technik
kann mit Lasern, Mikrochips, Radar und Düsenflugzeugen prahlen, Medizin und Biologie
stellen ihre
überragende Leistungskraft mit Impfungen, Antibiotika, Klonierung, Organtransplantation
und anderen
Wundern unter Beweis. Eine der größten Sorgen besteht heute darin, dass sich der
naturwissenschaftlich-
technische Fortschritt in einem derartigen Tempo vollzieht, dass große Teile der Bevölkerung
nicht mehr
Schritt halten können.
Von diesem» Geschwindigkeitsproblem «bleibt die Psychologie verschont. Psychotherapeuten
doktern
immer noch ratlos mit dem verstaubten Instrumentarium der frühen industriellen Revolution
an den
Neurosen des Informationszeitalters herum.»Es gibt seit hundert Jahren Psychotherapie, und
trotzdem
geht's mit der Welt bergab«, konstatieren der Psychoanalytiker James Hillman und der
Journalist Michael
Ventura zynisch in ihrem Buch.5 Mit einer Gräueltat und einem Völkermord nach dem
anderen rückt die
Zeitgeschichte die Ohnmacht des Menschen gegenüber der dunklen Seite seiner Seele ins
Rampenlicht.
Die Psychowissenschaften erzeugen zwar mit hochtrabenden Begriffen wie» kognitive
Verhaltenstherapie «oder» systematische Desensibilisierung «die Illusion von Tiefgründigkeit
und
Kennerschaft. Tatsache ist jedoch, dass selbst der Ursprung einer schlichten Schlangenphobie
weiterhin
ein ungelöstes Rätsel bleibt. Wenn Ihnen ein Psychotherapeut irgendetwas anderes sagt, hat er
im
günstigsten Falle die Fachliteratur nicht studiert. Es gibt nachweislich keine einzige
funktionierende
«Beeinflussungstechnik«, mit der man systematisch auch nur einen Raucher in einen
Nichtraucher
verwandeln könnte. Gerechterweise bleibt auch die Werbung mit ihren viel gerühmten
psychologischen
Suggestivmethoden beim» Umprogrammieren «von Nichtrauchern in Raucher genauso
ergebnislos. Die
Psychologie zeichnet sich durch eine peinlich lange Folge von» Theorien «aus, die sich im
Nachhinein
viel zu oft als flüchtige Modeerscheinungen entpuppten und mangels Erklärungskraft in
Vergessenheit
gerieten.
Hauptinspiration zu diesem Buch war jedoch die über Jahre der wissenschaftsjournalistischen
Tätigkeit gewachsene, schmerzhafte Erkenntnis, dass unter dem Deckmäntelchen des
Begriffes
«Psychologie «im großen Stil Beihilfe zum Selbstbetrug geleistet wird. Anstatt den
heroischen Kampf
gegen das Nichtwissen zu unterstützen, schütten Therapeuten, Psychologen und andere»

5 Hillman, James/Ventura, Michael: We've had a hundred years of psychotherapy and the world's getting worse.
Verlag Harper, San Francisco
Seelenexperten«
immer wieder ganze Füllhörner von Mythen und Psychoirrtümern über die Menschen aus. In
den
Naturwissenschaften werden Mythen, Irrtümer und falsche Theorien früher oder später durch
empirische
Erkennmisse ausgemerzt. Spätestens als die Weltraumsonden die ersten plastischen Bilder
von der
Erdkugel übermittelten, war der Glaube an die Scheibenförmigkeit unseres Planeten in den
Köpfen der
letzten (nicht verrückten) Gläubigen gelöscht. Die Einsicht, dass auch die vermeintliche»
Krone der
Schöpfung «von tierartigen Vorfahren abstammt, hat sich mit dem Siegeszug der
Evolutionslehre
erfolgreich gegen alle konkurrierenden Erklärungsmodelle durchgesetzt.
Psychologische Mythen sind dagegen auch durch besseres Wissen nicht
totzukriegen.»Theorien der
menschlichen Natur sterben niemals völlig aus; sie kommen nur aus der Mode«, macht mein
amerikanischer Kollege John Horgan seiner Enttäuschung Luft.»Oftmals werden alte Ideen
einfach in
schmackhafterer Form neu verpackt. «Es ist eine beklagenswerte, aber auch anspornende
Tatsache, dass
die Psychologie (noch) viel zu wenig über den Menschen weiß, um die Probleme lösen zu
können, die
der Mensch leidenschaftlich gerne gelöst hätte. Das psychologische Wissen –»die Wahrheit
über uns
selbst«– kann der Unwissenheit nur in mühevoller Kleinarbeit abgetrotzt werden. Aber die
akademische
Psychologie hat bei geschätzten 17.000 empirischen Studien pro Jahr das Rätsel Seele noch
nicht einmal
an der Oberfläche richtig angekratzt. Immerhin hat die universitäre Seelenforschung trotz
ihrer
bedauernswert fragmentarischen Ergebnisse einigen der bedeutendsten Mythen dieser Epoche
die
Grundlagen entzogen.
Doch wenn man einem Mythos den Kopf abhackt, wachsen an anderer Stelle zwei nach. In
jahrelanger, mühsamer Kleinarbeit hat die akademische Seelenforschung gerade erst die
wichtigsten
Grundannahmen der Psychoanalyse von Sigmund Freud widerlegt, da schießen plötzlich
Methoden wie
das» Eye Movement Desensitization and Reprocessing«(EMDR) oder das»
Neurolinguistische
Programmieren «aus dem Boden, deren Verankerung in der Realität sich bestenfalls mit der
Wünschelrute aufspüren lässt.
Aber selbst die freudsche Psychoanalyse – die» Urmutter aller Psychotherapien«– übersteht
das
Absägen ihrer Pfeiler bislang unbeschadet. Der Wiener Seelenpionier ist genauso untot wie
Graf Dracula.
Sigmund Freud, resümiert der britische Literaturhistoriker Richard Webster,»war Schöpfer
einer
komplexen Pseudowissenschaft, die als eine der größten Torheiten der westlichen Zivilisation
erkannt
werden sollte.«6 Schon vor zwei Jahrzehnten hatte der britische Nobelpreisträger Peter
Medawar die
Psychoanalyse zur» horrendesten Bauernfängerei «des Jahrhunderts erklärt und ihr baldiges
Verschwinden vorausgesagt – ein Irrtum, wie sich herausgestellt hat. Während der Marxismus
spätestens
mit dem Mauerfall und dem Niedergang der Sowjetunion augenfällig im Schrotthaufen der
Geistesgeschichte versank, geht die Tiefenpsychologie scheinbar gestärkt aus ihrer
Demontage durch die
Empiriker hervor.
Obgleich Freuds Grundannahmen wie der Glaube an die Verdrängung, an das Unbewusste
und an die
Bedeutung der frühen Kindheit einer kritischen Prüfung nicht standhalten, machen immer
noch Millionen
Menschen einen klassischen» Couchtrip «durch. Besonders bei geisteswissenschaftlich
orientierten
Intellektuellen und im Feuilleton gilt die Psychoanalyse immer noch als eine Insignie der
höheren
Denkungsart, und die Krankenkassen blättern für eine Behandlung beim Analytiker bis zum
Abwinken
Mittel der Solidargemeinschaft hin. Freuds Anhänger huldigen ihm als Genie, dessen
Einsichten, wenn
auch empirisch nicht belegbar, intuitiv unmittelbar plausibel sind. Bei dieser defensiven
Haltung spielt
wahrscheinlich auch eine strukturelle Eigenart der psychologischen Forschung mit, auf
welche die
Psychologin Abele-Brehm hinweist:»Psychologie ist erlebnisnah, und jeder Mensch hat einen
>psychologischen Hausverstand<, der mit den Forschungsbefunden konkurriert.«
Der Hauptgrund für das Beharrungsvermögen der Analyse und der anderen Psycho-Irrtümer
besteht
jedoch darin, dass sie tief sitzende Bedürfnisse der Gläubigen befriedigen. Für den, der die
Hand voll
Interpretationsregeln begriffen hat, ist die Psychoanalyse ein» Stein der Weisen«, eine
genialische
Offenbarung, die bereits dem Halbgebildeten einen visionären Einblick in die geheime
Mechanik des
Lebens gewährt. Das ist eben die ewige Verlockung der Scholastik: Für jede Frage gibt es
eine fundierte
Antwort, die schon seit Jahrzehnten in den» heiligen Schriften «zu eruieren ist. Den
Zauberstab der
Deutung, der tiefe und verborgene Geheimnisse enthüllt, kann sich auch der interessierte Laie
im
Schnellverfahren zu Eigen machen. Wer erst einmal den hermeneutischen Bogen heraushat,
wähnt sich
im Besitz des» Röntgenblickes«, mit dem er alle Fassaden durchdringt und dem Unbewussten
auf seine
Schliche kommt. Aus diesen Gründen werden» Psychologen«– faktisch fast immer Analytiker
– so gerne
als» Experten «in Talkshows eingeladen. Mit ihren rhetorischen Taschenspielertricks
befriedigen sie den
Profilierungsdrang des Neunmalklugen, der sich mit ein paar eingeübten Kniffen über die

6 «Kathedrale auf Treibsand«. In: Der Spiegel, 25/1998.


Ahnungslosigkeit der» Uneingeweihten «erhebt, und der mit ein paar flott zurechtgelegten
Deutungen alle
Welträtsel nach dem Instant-Prinzip» knackt«.
Die Psychoanalyse ist aber auch – wie alle großen» Offenbarungen «der Menschheit – ein
Gedankengebäude, das die ultimative Erklärung für Kummer, Leid und Verzweiflung
bereithält.
Menschen, die gerade Kummer und Leid empfinden, können aber schon aus dem Glauben an
die
Erklärbarkeit dieses Zustandes einen gewissen Trost beziehen – erklärtes Leid ist halbes Leid.
Besonders
dann, wenn die» Erklärung «die Schuld an dem Leid nach außen, auf andere Personen oder
persönlich
nicht zu verantwortende Umstände abwälzt.
Aber in dem mythischen Urbild des verletzten und (von Gott?) verlassenen Kindes scheint
auch ein
ergreifendes Gleichnis durch, eine nihilistische Weisheit, die die Jünger des Wiener
Seelenmythologen
heute beschämt unter den Teppich kehren, weil sie dem modischen Habitus der
emanzipatorischen
Freiheitsbewegung widerspricht, mit dem man sich in der Psychoszene so gerne schmückt.
Wie die US-
Psychologin Phyllis Chesler unterstreicht, gibt es eben auch eine versteckte und vergessene
Botschaft
Freuds, und die lautet,»dass das Leben tragisch ist, dass es reale Schranken gibt, dass alles
seinen Preis
hat, dass niemand etwas umsonst bekommt, dass wir hier nicht lebend herauskommen… «.7
Mit tragischen Lebensweisheiten kann man jedoch in modernen Wohlfahrtsstaaten keinen
anspruchsberechtigten Leistungsempfänger mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Alle
psychotherapeutischen Schulen – auch die von der akademischen Psychologie protegierten –
leisten
daher, oft wider besseres Wissen, der Illusion Vorschub, dass es in der modernen»
Vollkaskogesellschaft«
für jede definierte seelische Notlage eine exakt geeichte, fachmännische» Heilmethode «gibt.
Dies ist
wahrscheinlich der größte Psycho-Irrtum, dessen Anspruch im ersten Kapitel dieses Buches
mit den
Daten und Zahlen der Forschung entkräftet wird. Quintessenz: Keine einzige
psychotherapeutische
Schule kann Heilwirkungen vorweisen, die größer sind als der Effekt einer wirkstofflosen
Zuckerpille
(Placebo-Effekt).
Psycho-Irrtümer sind deshalb so gefährlich, weil sie mit der Zeit unmerklich zum integralen
Bestandteil unserer Selbstwahrnehmung gerinnen. Der» Blick nach innen «liefert ebenso»
optische
Täuschungen«, Irrtümer und Illusionen, wie uns der (naive) Blick nach außen Trugbilder wie
die
Scheibenförmigkeit unseres Planeten oder die Umdrehung der Sonne um die Erde vorgaukelt.
Amerikanische Sozialpsychologen haben schon vor Jahrzehnten in sorgfältigen Experimenten
Beweise
dafür gesammelt, dass Menschen gar nicht wirklich in sich selbst» hineinschauen«, wenn sie

7 Corner, Ronald J.: Klinische Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg et al. 1995.
nach den
Gründen ihres Handelns suchen. De facto betrachten sie sich selbst von außen wie einen
Fremden und
zimmern sich eine notdürftige und plausible Theorie über die unbekannte Person zusammen.
Auch wenn
wir glauben, uns selbst zu verstehen, umgarnen wir uns selbst doch nur mit theoretischen
Lehrgebäuden,
die auf kulturell verankerten Mythen und Dogmen, flüchtig gehörten Klischees oder durch die
Medien
verbreiteten Scheinerklärungen beruhen. Wer gerade eine» orale Fixierung «oder einen»
freudschen
Versprecher «bei sich selber» erkennt«, merkt gar nicht mehr, dass er sich in Wirklichkeit nur
antiquierte
Metaphern des frühen Maschinenzeitalters überstülpt. In diesem Sinne hat Sigmund Freud
gewiss einen
größeren und bleibenderen Schaden angerichtet als Karl Marx.
Aus diesen Gründen sollen im vorliegenden Buch vornehmlich solche psychologischen
Irrtümer
gebrandmarkt werden, die sich besonders heimtückisch in der modernen Selbstwahrnehmung
eingenistet
haben.»Der Mensch ist ein Produkt der Erziehung«, das ist ein solcher Denkfehler, der in fast
allen
Köpfen sein Unwesen treibt. Man glaubt förmlich, den Niederschlag seiner frühen Prägung
bei sich selbst
zu sehen. Auch der Glaube an die Omnipotenz der Massenmedien ist ein Mythos, der den
Blick auf das
werte Selbst und die anderen verzerrt. Der Irrglaube, dass die eine oder andere Krankheit
«psychosomatische «Ursachen habe, ist besonders hinterhältig: Er verstellt nicht nur den
Blick auf die
wahren Ursachen des Leidens, er schiebt dem Patienten auch» hintenherum «die
Verantwortung für
seinen Zustand zu. Um den Nutzen des» Selbstwertgefühls «ist ein regelrechter Psychokult
entstanden.
Es stimmt jedoch keineswegs, dass ein möglichst hohes Selbstwertgefühl nur positive Folgen
hat.
Manche modernen Psycho-Irrtümer sind auch auf dem» Mist «der Gehirnforschung
gewachsen. So etwa
die Zweiteilung des Gehirns in den logischen Analytiker (linke Hälfte) und den holistischen
Gefühlsmenschen (rechte Hälfte) etwa, die sich bei näherer Betrachtung als hirnrissig erweist.
Einige psychologische Irrtümer bleiben in dieser Streitschrift unerwähnt. Der Glaube an die
Macht der
Sterne (Astrologie) oder das Vertrauen in die Bedeutsamkeit der Handschrift (Graphologie)
haben zwar
immer noch ihre Anhänger, aber ihnen fehlt längst jene intellektuelle Ausstrahlungskraft, die
notwendig
ist, um die zeitgenössische Selbstwahrnehmung zu deformieren. Der Glaube an die Gültigkeit
ihres
Horoskops etwa» sitzt «bei den meisten Menschen nicht viel tiefer als der Glaube an den
Nikolaus.
Der Versuch, gegen die fundamentalen Psycho-Irrtümer anzurennen, hat offensichtlich viel
mit einem
Kampf gegen Windmühlen gemein. Mythen sind weitgehend gegen die Pfeile der Vernunft
gefeit. Zudem
kann man sich an ihnen leicht die Finger verbrennen, weil es einen gewaltigen Tross von
einflussreichen
Mythenschützern gibt, deren Selbstachtung und materieller Lebensstandard an der
Unversehrtheit der
Mythen hängt. Doch es bleibt die Hoffnung, dass ein wenig Sticheln hier und da den mentalen
Schutzschild durchdringt. Schließlich haben sich auch die Wissenschaftler, die sich in den
vergangenen
Jahrzehnten um die Widerlegung der Psycho-Irrtümer verdient gemacht haben, irgendwo die
Saat des
Zweifels geholt. Es wäre schön, zu wissen, dass die klügsten Köpfe der Gesellschaft um die
Lösung der
Rätsel und nicht für den Erhalt verstaubter Dogmen kämpfen. Aber es wäre auch schön, Tom
Cruise zu
sein.
1
Nuland, Sherwin: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde? Droemer Knaur Verlag,
München 1994.
2
Horgan, John: Der menschliche Geist. Wie die Wissenschaften versuchen, die
Psyche zu verstehen. Luchterhand Verlag, München 2000.
3
Abele-Brehm, Andrea: Psychologie in den Medien. In: Psychologische
Rundschau, Bd. 41 (1990), S. 37–45.
4
Grawe, Klaus et al.: Psychotherapie im Wandel. Hogrefe Verlag, Göttingen et al.
1994.
5
Hillman, James/Ventura, Michael: We've had a hundred years of psychotherapy
and the world's getting worse. Verlag Harper, San Francisco
1993.
6
«Kathedrale auf Treibsand«. In: Der Spiegel, 25/1998.
7
Corner, Ronald J.: Klinische Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg et al. 1995.

MYTHEN DER BEEINFLUSSUNG

Pfusch an der Couch

«Psychotherapie hat die Macht, Menschen von seelischen


Störungen und Neurosen zu heilen«

Immer mehr Menschen, die auf den verschlungenen Pfaden des Lebens die Orientierung
verloren
haben, vertrauen sich der Obhut eines professionellen Seelenhelfers an.»Wir leben im
Zeitalter der
Psychotherapie und der Selbstverbesserung«, schreibt der amerikanische Sozialpsychologe
Martin
Seligman,»Millionen Menschen kämpfen um persönliche Veränderung.«8 In ihren Köpfen,
meint er,
habe sich der feste Glaube eingenistet, dass sich der Mensch mit Hilfe geeigneter
Psychotechniken
tief greifend wandeln und von lästigen Schwächen und Fehlern befreien könne. Seit der
Wiener
Neurologe Sigmund Freud vor 100 Jahren die Psychoanalyse erfand, hat sich dieser Glaube in
8
allen
Industrieländern zu einer unantastbaren Gewissheit verdichtet. Von den» Lieferanten «der
psychotherapeutischen Leistungen werden die Betroffenen in dem haltlosen Wunschdenken
unterstützt, dass es in unserer» Vollkaskogesellschaft «für jede definierte seelische Notlage
eine
exakt geeichte, fachmännische Heilmethode gibt. Dazu kommt meist die mehr oder minder
ausdrücklich erhobene Forderung, dass die Solidargemeinschaft die Seelenklempnerei
großzügig
sponsern muss, will sie nicht in den Geruch unterlassener Hilfeleistung kommen.
Mittlerweile, klagt der Basler Sozialpsychiater Asmus Finzen, sei die Psychotherapie für viele
Zeitgenossen zum» Religionsersatz «geworden.9»Offenbar glauben Menschen an sie, wie sie
an
Lourdes glauben. Sie erwarten Wunder von der Psychotherapie. «Diese überzogenen
Heilserwartungen stehen jedoch in einem radikalen Gegensatz zu den wissenschaftlichen
Kenntnissen, welche sich die» empirische Psychotherapieforschung «in den vergangenen
Jahrzehnten erarbeitet hat: Nicht nur, dass die» hilflosen Helfer «im Kampf gegen seelische
Störungen unter einer erschreckenden und wahrscheinlich vollständigen Ohnmacht leiden –
unter
ungünstigen Bedingungen beschwört die Institution Psychotherapie überhaupt erst die
Probleme
herauf, zu deren Bewältigung sie eigentlich angetreten war.
Zu diesem vernichtenden Urteil war der 1997 verstorbene britische Psychologe Hans Jürgen
Eysenck
– eine Galionsfigur der Psychotherapiekritik und zugleich einer der weltweit einflussreichsten
Gelehrten
des Faches Psychologie – bereits vor mehreren Jahrzehnten gelangt, 1960 schrieb der damals
noch
erbittert angefeindete Einzelkämpfer:»Ich habe schon mehrfach festgestellt und mit einer
Vielzahl von
Experimenten belegt, dass es kaum empirische Anzeichen dafür gibt, dass Psychotherapie
einen
praktischen Nutzen hat… Die Beweise, die diese kritische Sicht unterstützen, sind sehr stark
und wachsen
jedes Jahr.«2
Jetzt, nach mehreren Dekaden der Forschung und endlosen Debatten in der Fachpresse
schließen sich
immer mehr skeptische Stimmen dieser einstmals verfemten Überzeugung an.»Der Glaube,
dass die
therapeutischen Dienstleistungen in irgendeiner Form nützlich sind, dürfte auf einer
Täuschung beruhen«,
rechnet zum Beispiel die kanadische Psychologin und Therapiekritikerin Tana Dineen
enttäuscht mit der
Zunft der Seelenhelfer ab.3»Es fehlt jeglicher Beweis, dass die >professionellen<
Vorgehensweisen
irgendwelche Substanz besitzen«, haut ihr britischer Kollege David Smail in die gleiche
Kerbe.4
«Psychotherapeuten haben keine gültigen wissenschaftlichen Methoden und keine gültige
Expertise«,
warnt der US-Psychiater Leo Coleman in einem Manifest gegen Psychotherapie, das der
amerikanische
Rechtsanwalt Lawrence Stevens im Internet bereithält.5»Wenn die

9
Arzneimittel-Zulassungsbehörde für
die Bewertung von Psychotherapien zuständig wäre, würde keines der existierenden
Verfahren eine
Genehmigung erhalten«, hebt eine Forschergruppe um den Psychologen Bruce E. Wampold
von der
University of Wisconsin in Madison hervor.6
Sogar Autoren, die im Prinzip einen günstigen Effekt der Redekur für möglich halten,
sprechen ihr
einen real existierenden Nutzwert ab.»Jetzt, nach mehr als 30 Jahren Forschung«, resümiert
der
amerikanische Psychologe Terence W. Campbell,»erlauben die angehäuften Fakten nur eine
einzige
Folgerung: Psychotherapie hilft einigen, aber sie fügt vielen anderen Schaden zu. Diese
entgegengesetzten Wirkungen heben sich bei Untersuchungen an großen Zahlen von Patienten
gegeneinander auf.«7 Das gleiche pessimistische Fazit schwingt auch in den Formulierungen
des vielfach
preisgekrönten Wissenschaftspublizisten Dieter E. Zimmer mit. 8»Die meisten heute
verfügbaren
Psychotherapien sind auf wissenschaftlich unsicherem Grund gebaut; einige sind reine
Quacksalbereien.«
Dabei liefern die rigorosen» Qualitätskontrollen«, die die empirische
Psychotherapieforschung in den
vergangenen Jahrzehnten durchgeführt hat, sogar noch ein künstlich beschönigendes Bild,
hält Campbell
vor Augen:»Bei den betreffenden Studien wurden die Therapiesitzungen sorgfältig
dokumentiert und von
Supervisoren überwacht, und ihnen lagen gründlich abgeleitete Zielsetzungen und Prozeduren
zugrunde.
Das ist ein gewaltiger Unterschied zu den gängigen Verfahren, mit denen die überwältigende
Mehrheit
der Patienten in Kontakt kommt, und die jeden Anspruch auf Qualitätsstandards in den Wind
schlagen.«
Die Hauptursache für das grandiose Scheitern des Unternehmens Seelenheil dürfte darin
liegen, dass
es sich bei den meist hoffnungslos verquasten Theoriengebäuden der therapeutischen Schulen
in
Wirklichkeit um intellektuelle Luftschlösser handelt, die nicht den geringsten Bezug zu den
tatsächlichen
Ursachen der gnadenlos therapierten Neurosen haben.»Traurige Tatsache ist, dass sich die
professionellen Hüter der seelischen Gesundheit in der Gewissheit wiegen, ein solides
Verständnis der
Seele und des Verhaltens erworben zu haben«, geben der amerikanische
Wissenschaftsjournalist Ethan
Watters und der Soziologie-Professor Richard Ofshe zu bedenken. 9»Was sie sich jedoch
meistens – ohne
ihre eigene Schuld – angeeignet haben, ist eine Ausbildung, die das psychologische
Äquivalent von
Alchemie darstellt.«
Viele Kenner des Szene laufen mittlerweile gegen das» Pseudoexpertentum «der
Psychotherapeuten
Sturm.»In der Bevölkerung ist der Glaube verbreitet, dass Psychotherapeuten in unsere Seele
hineinschauen, den Geist bei der Arbeit betrachten und vielleicht sogar unsere Zukunft
vorhersagen
können«, erklärt der britische Psychiater Garth Wood.5»In Wirklichkeit besitzen sie diese
Fähigkeiten
natürlich nicht.«
Und er schließt seine Stellungnahme mit bösen Worten ab:»Die Mythenmacher der
Psychotherapie
haben uns eingeredet, dass man eine kranke Seele mit der gleichen Kennerschaft behandeln
kann, die
beim Klempnern oder bei der Reparatur eines Autos greift. Das ist Schwachsinn. In
Wirklichkeit besitzen
diese Therapeuten kein relevantes Training und keine besonderen Fertigkeiten, die bei der
Kunst des
Lebens behilflich sind. Es ist ein Wunder, dass sie uns so lange betrügen konnten.«
Bei weiten Teilen der Bevölkerung besitzt die Psychotherapie anscheinend sogar einen
Heiligenschein, der sie gegen Kritik weitgehend unangreifbar macht. So besteht ein längst
etabliertes
Ritual bei kritischen Journalisten darin, die naturwissenschaftlich orientierte»
Apparatemedizin «wegen
ihrer» inhumanen «Auswüchse mit empörtem Unterton anzuprangern. Obwohl diese
Beschimpfung
unzählige Fachleute und Laien in ihrem täglichen Handeln attackiert, ruft sie kaum einen
Protest hervor.
Ein Angriff gegen die Psychotherapie – sofern er überhaupt erfolgt – löst dagegen
unweigerlich einen
Wirbelsturm von wütenden und gehässigen Reaktionen aus, wie die Psychologin Tana Dineen
und der
Wissenschaftspublizist Dieter E. Zimmer aus leidvollen Erfahrungen zu berichten wissen.
Beim Publikum haben sich offenbar erhebliche Ressentiments gegen die organische Medizin
festgesetzt, während die Psychotherapie eine – unverdient – strahlende Reputation genießt,
wie eine
Forschergruppe um Prof. Matthias C. Angermeyer vom Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit in
Mannheim bei einer repräsentativen Befragung in der erwachsenen Bevölkerung eruierte.11
Die Befragten
sollten angeben, welche Form der Behandlung bei einer schizophrenen Psychose, bei einer
depressiven
Erkrankung oder bei einer Angstneurose die richtige sei.
Das Urteil lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, rekapitulieren die Autoren. Weit
mehr als
die Hälfte der Befragten ergriffen Partei für die Psychotherapie, und zwar auch bei der
schweren
Geisteskrankheit Schizophrenie. Lediglich 20 Prozent gaben den Psychopharmaka in dieser
diagnostischen Gruppe den Vorzug. Dagegen lehnten rund 40 Prozent die chemische
Behandlung
kategorisch ab, während gerade einmal 10 Prozent der Psychotherapie eine Abfuhr erteilten.
Diese
Tendenz war weitgehend unabhängig von der Art der seelischen Erkrankung.
Das eindeutige Votum für die Psychotherapie wurde meistens damit gerechtfertigt, dass die
Behandlung dann in den Händen eines kompetenten Therapeuten liege und der Kranke
Gelegenheit zur
persönlichen Aussprache erhalte. Außerdem war der Glaube vorherrschend, dass (nur) die
Psychotherapie
zu den» Wurzeln «seelischer Störungen vordringt und einen kausalen Heileffekt erzielt. Zwei
Drittel der
Befragten waren sogar der Meinung, dass Psychotherapie gute Chancen bei Störungen vom»
Kaliber«
einer Schizophrenie besitzt. Das ist ein Anspruch, der selbst von eingefleischten
Psychotherapeuten nur
in Ausnahmefällen erhoben wird.
Wegen solcher schiefen Vorstellungen, die mit Sicherheit auch bei (zukünftigen) Patienten
kursieren,
sind Enttäuschungen und frustrierte Erwartungen vorprogrammiert, heißt es in dem Artikel
abschließend.
So wird die medikamentöse Behandlung in der Psychiatrie auf wenig Gegenliebe stoßen,
wenn die
Patienten denken, dass sie lediglich mit Chemie» abgespeist «werden, und dass ihnen die»
allein selig
machende «Therapie vorenthalten wird. Aber auch auf der anderen Seite drohen bittere
Überraschungen,
wenn schwer gestörte Patienten Hoffnungen in eine Psychotherapie stecken, welche die
Seelenheiler
unmöglich erfüllen können. Die Tatsache, dass viele Geisteskranke erst durch die Entdeckung
der
Psychopharmaka aus den Fesseln einer inhumanen Anstaltspsychiatrie befreit wurden, ist
offenbar nicht
bis in die Köpfe der Menschen vorgedrungen.
Das Unternehmen Psychotherapie hat im Gegensatz zur organmedizinischen Heilkunst den
unschätzbaren Vorteil, dass es einen offensichtlichen Fehlschlag der Behandlung auf das
Versagen des
Klienten abwälzen kann. Während ein Chirurg heute bei jedem Schnitzer mit einem ruinösen
Kunstfehlerprozess rechnen muss, kann ein Seelendoktor einen Misserfolg mit dem»
Widerstand «oder
der» fehlenden Krankheitseinsicht «seines Anvertrauten bemänteln oder im
Fachkauderwelsch
entschärfen. Zwar fordern Verbraucherschutzverbände immer wieder strenge
Qualitätskontrollen durch
unabhängige Gutachter. Doch diese Gruppe hat gegen die fest gefügte Lobby des hermetisch
abgeschirmten Berufsstandes der Psychotherapeuten wenig Erfolgschancen.
Insbesondere die Psychoanalyse schottet sich schon lange durch eine rhetorische»
Immunisierung«
gegen alle erdenklichen Anfechtungen ab. Die Theorie wird nach jeder Attacke wie eine
Theaterkulisse
umgebaut, so dass die Kritik immer ins Leere geht. Wenn alle schönen Worte nicht fruchten,
bekommt so
ein Miesmacher die Finessen der Deutungskunst zu spüren.»Hat die Aversion gegen die
Psychoanalyse
speziell mit den Deutschen und mit ihrer Vergangenheit zu tun? Mit den Schwierigkeiten der
Erinnerungsarbeit?«attackiert der Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Mertens die Kritik
ungebetener
«Nestbeschmutzer«.12»Effizienz in der Psychotherapie – da sind wir schnell wieder bei 1933.
Auch die
KZs waren effizient«, entblödet sich einer seiner Berufskollegen nicht, in der Zeitschrift»
Focus «zu
eifern.12
In einem derart schonenden Klima und mit großzügiger Subvention durch die
Solidargemeinschaft
wird das Feld Psychotherapie zum Wachstumsmarkt. Gut 14.000 akademisch geschulte
Psychotherapeuten bieten derzeit in Deutschland ihre Dienste an, rund 30.000
Psychologiestudenten
bereiten sich gegenwärtig auf diesen Service vor.1 Seit Sigmund Freud mit seiner
Psychoanalyse den
«Königsweg zum Unbewussten «fand, sind über 600 konkurrierende Seelenkuren aus der
Taufe gehoben
worden, die mit teilweise hanebüchenen Verheißungen um die Gunst der angeknacksten
Psyche ringen.
Keine Enzyklopädie hält mit dem Tempo stand, in dem abgespaltene Grüppchen und
sektiererische
Vereinigungen von Ketzern den Irrgarten erweitern. Wer mit seinen seelischen Problemen um
Hilfe sucht,
findet sich bald in einem Dschungel wieder, gegen den ein orientalischer Bazar geradezu
übersichtlich
wirkt.
Bei so vielen Möglichkeiten, die Neurosen und Komplexe im eigenen Seelenkostüm»
ausbügeln «zu
lassen,»reicht die Faustregel, je mystischer der Name, desto schlichter die Methode, nicht
mehr aus, um
die Scharlatane zu erkennen«, räumt Ruth Kuntz-Brunner von der Redaktion des
Pro-Familia-Magazins
mit der Maxime vieler Oberschlauen auf.12 Auch ungekünsteltes Gebaren und Anklänge an die
exakte
Naturwissenschaft (»neurolinguistisches Programmieren«) bedeuten kein TÜV-Siegel und
keine
Geldrückgabegarantie. Das mussten zum Beispiel die Klienten erkennen, die vor ein paar
Jahren der
«provokativen Therapie «des Amerikaners Frank Farelly auf den Leim gingen. Seine
Mischung aus
gesundem Menschenverstand und Patientenbeschimpfung bestand etwa darin, einer Frau in
den mittleren
Jahren folgende» Erklärung «für ihre Beziehungsstörungen an den Kopf zu werfen:»Das ist ja
auch kein
Wunder, bei so einer schlampigen, alternden Matrone wie Sie es sind. «Als er seine Rosskur
nach einer
Weile mangels zahlender Masochisten einstellen musste, standen die Patienten ziemlich
belämmert da.
Es ist schon erschreckend, wie widerspruchslos sich Patienten therapeutischen Interventionen
unterwerfen, die einen destruktiven und menschenverachtenden Charakter haben.»Besonders
in der
grauen Psychoszene herrscht ein vordemokratischer, charismatischer Herrschaftstyp, bei dem
Menschen
freiwillig Zumutungen akzeptieren, gegen die sie sich außerhalb der Therapie erbittert zur
Wehr setzen
würden«, konstatieren die beiden Berliner Psychotherapieforscher Eckhard Giese und Dieter
Kleiber
selbstkritisch.
Erschreckend ist aber teilweise auch die fast kindliche Leichtgläubigkeit, mit der das
Publikum
manchmal noch den verschrobensten Habitus in der Psychoszene quittiert. Im Anzeigenteil
eines
populären Psychologiemagazins prangte vor ein paar Jahren eine Annonce, in der für ein
stolzes Entgelt
Wochenendseminare zur» Nonverbalen Gesprächspsychotherapie «angeboten wurden. Das
offensichtliche Nonsens-Inserat stammte vom Direktor des Psychiatrischen
Landeskrankenhauses
Weinsberg, Professor Fritz Reimer, der die oft salbungsvolle Rhetorik der Psychokurpfuscher
bloßstellen
wollte. Trotz der eingebauten Logik-Bruchstelle meldeten sich 87 angehende Schildbürger,
die sich
entweder» blind «einschrieben oder um nähere Informationen nachsuchten. Ein
Frauensozialdienst mit
angeschlossener Werkstatt für Behinderte forderte ausführliche Unterlagen, inklusive
Preisliste, an.
Die kanadische Psychologin Tana Dineen hat jede Hoffnung aufgegeben, dass die Zunft der
Psychotherapie jemals von selbst auf eine Korrektur solcher Missstände drängen wird.»Hinter
der
menschenfreundlichen Fassade verbirgt sich eine unersättliche und selbstsüchtige Industrie,
die mit
>Tatsachen< hausieren geht, die meist unbegründet sind, die eine >Therapie< verabreicht, die
viel
Schaden anrichtet, und die zerstörerische Wirkungen auf den sozialen Zusammenhalt hat. Das
Fundament
der modernen Psychologie, das kritische Denken, wurde längst aufgegeben und weitgehend
durch die
Gier nach Profit und Macht ersetzt.« 4 Die klassische Stärke der Psychologie bestand in ihrer
Tendenz,
Fragen (zum Beispiel nach den Ursachen von Neurosen) zu stellen. Doch die Psychotherapie
hat längst
kapiert, dass Fragen sich nicht lohnen – Antworten lohnen sich. Und da man die richtigen
Antworten
nicht besitzt, speist man die fragenden Menschen eben mit abgedroschenen Klischees und
Mythen ab. Die
bescheidene Neugier von einst hat arroganter Sicherheit Platz gemacht.
«Ich behaupte«, verkündet Dineen,»dass die Psychologie-Industrie den Menschen heiße Luft
verkauft, dass die psychotherapeutischen Dienstleistungen in vielerlei Beziehung Schwindel
sind, und
dass die Psychotherapie das moderne Gegenstück zum Schlangenöl (ein beliebtes
Wundermittel früher
amerikanischer Quacksalber) ist. «Weil immer mehr Psycho-Experten vom Vertrieb der
heißen Luft
profitieren wollen, muss die Industrie ihre Absatzmärkte und Kundenkreise erweitern. Dieses
Ziel lässt
sich nur durch eine künstliche Pathologisierung des Alltags erreichen. Banale
Schwächezustände werden
zum» chronischen Müdigkeitssymptom «aufgepeppt, schmerzhafte Erinnerungen lassen unter
dem
Namen» posttraumatische Belastungsstörung «einen erhöhten Grad an Dramatik ahnen. Am
Ende kann
sich jeder mit der geringsten Beeinträchtigung seines Wohlbefindens in das wachsende Heer
der Opfer
einreihen, mit Anspruch auf eine sozialstaatlich finanzierte Seelenkur.
Eine kritische Betrachtung dessen, was die Psychotherapie tatsächlich zu leisten vermag, sei
längst
überfällig, fordert der Sozialpsychologe Martin Seligman mit einer ordentlichen Portion
Pessimismus.1
«Der Mensch ist so konstruiert, dass Veränderungen häufig unmöglich sind. Wir wissen
inzwischen, dass
unsere Persönlichkeit – unsere Intelligenz, unser musikalisches Talent, sogar unsere
Religiosität, unser
Gewissen (oder seine Abwesenheit), unsere politische Überzeugung und unser Temperament
– sehr viel
mehr Produkt unserer Gene sind, als wir noch vor einem Jahrzehnt geglaubt hätten.«
Von einer derart fatalistisch anmutenden Bescheidenheit wollen die Seelenheiler bislang
nichts wissen.
Schon Freud, Pionier und Prophet der kommenden Therapiegesellschaft, hatte sich lebenslang
standhaft
geweigert, die biologischen Grenzen seiner psychoanalytischen Höhenflüge auszutesten.
Dabei hatte
ausgerechnet Freud im Vorwort zu seiner Literaturstudie» Gradiva «in Bezug auf die Biologie
erhebliche
Weitsicht bewiesen:»Mann kann die Natur auch mit der Heugabel austreiben, sie kehrt stets
zurück.«

«Nach einer Psychotherapie geht es seelisch Kranken besser als ohne eine
Behandlung«

Es gibt einen zentralen Glauben, in dem sich alle konkurrierenden und auch noch so
verfeindeten
Schulen der Psychoszene einig sind: Psychotherapie ist besser als keine Psychotherapie. Wenn
sich ein
psychisch Kranker in die Obhut eines Seelenklempners begibt, geht es ihm nach einer Weile
auf alle Fälle
besser, als wenn er nur Tee getrunken oder Däumchen gedreht hätte. Wie so viele
psychologische Mythen
besitzt auch diese Vorstellung auf den ersten Blick eine zwingende Überzeugungskraft.
Um die objektive Wirksamkeit von Psychotherapie zu ermessen, muss man sich zunächst
unbedingt
genau vor Augen führen, was man eigentlich als exakten» Beweis «für einen therapeutischen
Effekt
gelten lässt. Es gibt vermutlich viele gebildete Zeitgenossen, die quasi aus der Ferne mit der
einen oder
anderen psychotherapeutischen Schule sympathisieren, und die allein wegen der Plausibilität
des
jeweiligen Gedankengebäudes auf die Wirksamkeit der betreffenden Therapie vertrauen.
Empirische
Psychotherapieforscher holen am Ende einer Behandlung bei verschiedenen Quellen
Informationen über
die erzielten Veränderungen ein: Bei den Therapeuten, beim Klienten selbst und bei seinen
Freunden und
Verwandten.»Die Therapeuten nehmen bei allen Untersuchungen durchgängig die
intensivsten
Verbesserungen wahr«, berichtete Tana Dineen.»Etwas weniger rosig ist die Einschätzung der
Behandelten, während Freunde und Verwandte die Veränderungen meist ziemlich distanziert
und
unbeeindruckt sehen.«
Das, was die Patienten selbst über ihre» Heilung «zum Besten geben, besitzt in den meisten
Fällen
wenig Aussagekraft, hebt die Psychologin Anna Auckenthaler von der Universität Innsbruck
hervor.13
«Da erzählen Psychotherapie-Erfahrene im nichts sagenden Psycho-Jargon, dass sie durch die
Psychotherapie >ein Stück weitergekommen< seien, dass ihnen die Psychotherapie >gut
getan< habe,
vielleicht auch, dass das Ganze zwar >nicht viel gebracht< habe, aber immerhin eine wichtige
Erfahrung<
gewesen sei. «Mit solchen schwammigen Äußerungen drücken sich die Betroffenen vor einer
eindeutigen
Abrechnung, moniert der Wissenschaftspublizist Dieter E. Zimmer:»Ganz selten trifft man auf
einen, der
klipp und klar sagt: Ich hatte dieses oder jenes Symptom, erst der Psychoanalytiker hat mich
davon
befreit. Die große Mehrheit meint, >irgendwie< hätten sie von der Erfahrung vielfältig
profitiert – sie
hätte ihnen >eine Menge gebracht<; was sich konkret geändert hat, das allerdings können sie
meist nicht
angeben. «Nicht nur, weil es schwer erträglich ist, sich diese Sprache länger anzuhören,
verzichtet der
Skeptiker auf weiteres Nachfragen. Die Betroffenen vermitteln meist auch, dass sie da etwas
erlebt
hätten, was ganz allein ihnen gehört, und was sie nicht weiter» zerreden «wollen.
Auf keinen Fall dürfen solche diffusen Selbstbekundungen als objektiver Beweis für die
Wirksamkeit
von Psychotherapie herangezogen werden. Insbesondere die staatlichen Instanzen, die
Therapiebedürftigen öffentliche Mittel bereitstellen und darüber entscheiden, welche
Verfahren von den
«Futtertrögen «der Solidargemeinschaft zehren dürfen, benötigen eine bessere Datenbasis.
Denn zum
einen besitzen die Selbstaussagen der» Ehemaligen «nur einen anekdotischen Charakter: Um
auch nur
eine halbwegs legitime Einschätzung des therapeutischen Effektes zu erhalten, müssten diese
Schilderungen gegen die Zahl der Fälle abgewogen werden, in denen die gleiche Therapie
versagte oder
der Patient sogar eine Wende zum Schlechteren erfuhr. Die Aussage eines einzelnen»
zufriedenen«
Klienten ist aber nicht einmal ein Beweis dafür, dass die Therapie dem Betreffenden wirklich
geholfen
hat, geben Watters und Ofshe zu bedenken:»Sie sagt nämlich nichts darüber aus, wie sich der
Betreffende nach dem gleichen Zeitraum ohne eine Therapie gefühlt haben würde.«
Die subjektive Wahrnehmung, dass die Behandlung der Auslöser für die Besserung war, muss
deshalb
keineswegs der Realität entsprechen. Daran ändert auch die Befragung einer größeren Zahl
von
behandelten Patienten nichts. Bis zum Jahr 1952 fühlten sich alle Psychotherapeuten –
besonders jene der
psychoanalytischen Schule – in der Gewissheit wohl, dass es rund zwei Drittel ihrer Patienten
am Ende
einer» Redekur «besser ging als vor dieser Intervention. Die Selbstzufriedenheit wurde indes
damals jäh
erschüttert, als der Londoner Psychologe Hans Jürgen Eysenck mit einer ketzerischen
Beobachtung
aufwartete: Auch unbehandelte Seelenkranke kämen mit der gleichen Häufigkeit allein durch
«Spontanheilungen «wieder auf den Damm.14 Bei seinen statistischen Auswertungen war der
Häretiker zu
der Erkenntnis gelangt, dass sich 66 Prozent aller» Psychoneurosen«(ein veralteter
Oberbegriff für
seelische Störungen) binnen zwei Jahren von ganz allein in Wohlgefallen auflösten. In einem
Zeitraum
von fünf Jahren wären dann sogar 90 Prozent der unbehandelten Neurotiker wieder seelisch
gesund.
Diese Neigung zur Spontanremission rückte nicht nur die befreiende Tatsache ins
Rampenlicht, dass
die menschliche Psyche über eine außerordentlich tief greifende Fähigkeit zur Selbstheilung
verfügt.
Unsere Seele ist offensichtlich mit einem schlagkräftigen psychologischen Immunsystem
ausgestattet, das
in unseren Köpfen arbeitet und Neurosen entgegenwirkt, ähnlich dem körperlichen
Immunsystem, das
gegen Krankheitserreger zu Felde zieht. Das unerwartet große Potenzial der Selbstheilung hat
aber auch
zur Folge, dass man oft der Therapie etwas gutschreibt, was in Wirklichkeit auch ohne sie
eingetreten sei.
«Wer bei den ersten Anzeichen einer Erkältung einen Psychotherapeuten aufsuchte und sich
vierzehn
Tage dessen Exerzitien unterwürfe, könnte den Eindruck davontragen, dass ihm die
Psychotherapie den
Schnupfen ausgetrieben habe«, erläutert Zimmer.
Das wundersame Verschwinden unbehandelter Neurosen ist aber nicht nur ein Produkt der
Selbstheilungskräfte, räumt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes ein10. Dahinter steckt
zum Teil
auch ein elementares statistisches Phänomen, das die Wissenschaftler» Regression zur Mitte
«nennen. Es
besagt schlicht und einfach, dass extreme und daher unwahrscheinliche Zustände die Tendenz
haben, mit
der Zeit abzuflauen und sich in gemäßigte und eher alltägliche zu verwandeln.
Querschnittsgelähmte zum
Beispiel gewinnen nach einer gewissen Zeit ein durchschnittliches Wohlbefinden
zurück.»Weil die
meisten Menschen eine Therapie beginnen, wenn sie sehr unglücklich sind, werden sie später
auf jeden
Fall weniger unglücklich sein – unabhängig von jedem Effekt der Therapie. Der
>Regressionseffekt<
kann daher den irreführenden Eindruck erzeugen, dass die Therapie das Unglück beseitigt hat.
«Die
«Regression zur Mitte «könnte im Zweifelsfall sogar verschleiern, dass eine Therapie
Schaden
angerichtet hat.
Andere Psychologen, die der Psychotherapie freundlicher gegenüberstanden, fanden diese
Schätzungen übertrieben. Spontane Heilungen, so ihr Hauptargument, seien de facto seltener,
als man
früher dachte. Dem Anteil an Besserungen soll demnach eine fast gleich große Rate von
spontanen
Verschlechterungen gegenüberstehen. Aber auch der Psychologe Allen Bergin, der 1971 die
Fehlerhaftigkeit von Eysencks Berechnungen nachweisen wollte, kam immerhin noch auf
eine
Spontanremissionsquote von 30 Prozent.8»Es genügt die Feststellung, dass ein bis zwei Drittel
aller
Neurotiker auch ganz ohne Psychotherapie wieder gesunden«, möchte Dieter E. Zimmer diese
Kontroverse diplomatisch schlichten. Der Streit um die Tragweite der Spontanheilung ist
jedoch bis heute
nicht beigelegt, und es existieren einige für die Psychotherapie extrem unschmeichelhafte
Daten, welche
die orthodoxe Kritik des verstorbenen Londoner Zweiflers Eysenck untermauern.
Noch aufschlussreicher als Einzelstudien sind die Ergebnisse von umfassenden
Literaturstudien, deren
Autoren eine Gesamtdarstellung des Forschungsstandes vornehmen. Insbesondere die
Übersichtsarbeiten
zur Suchttherapie belegen eindrucksvoll, dass die Wirkung der Psychotherapie nie den Effekt
der
Spontanremission übersteigt. Von den Patienten, die sich einer Raucherentzugstherapie
unterziehen, sind
zum Beispiel nur 15 bis 20 Prozent nach einem Zeitraum von 12 Monaten» clean«, resümiert
eine
Forschergruppe um den amerikanischen Psychologen Michael P. Carey. 15 Aber 95 Prozent
aller
erfolgreichen Abstinenzler haben den Ausstieg auf eigene Faust und ohne das Zutun eines
Therapeuten
geschafft. Deprimierende Quintessenz: Nicht einmal gegen ein so banales Psycholeiden wie
die
Nikotinabhängigkeit hat die Psychotherapie auch nur eine einzige wirksame Intervention
parat.
Aber auch bei der» großen «Sucht – der nach Heroin – sehen die Zahlen ähnlich düster aus.
Nach den
vorliegenden Daten wird ein gutes Drittel aller behandelten Fixer mit dauerhaftem Erfolg von
seiner
Sucht befreit. Die Zahlen zeigen zugleich aber auch unmissverständlich, dass der Ausstieg aus
der Sucht
genauso vielen Heroinsüchtigen ohne Fremdhilfe durch einen Therapeuten gelingt. Wie der
Schweizer
Drogenforscher Harald Klingemann betont, hatten viele der von ihm befragten Selbstheiler
die
Behandlung als irrelevant oder sogar als hinderlich für ihre Problembewältigung erlebt.16
Dennoch bestehen die Lobbyisten und Befürworter der Psychotherapie in der öffentlichen
Diskussion
heute selbstbewusst darauf, dass die Überlegenheit einer professionellen Behandlung
gegenüber deren
Nichtinanspruchnahme (also dem reinen Verstreichen von Zeit) zweifelsfrei abgesichert sei.
Sie stützen
sich dabei ausschließlich auf eine größere Zahl von Studien, in denen ein Teil der
therapiesuchenden
Klienten in eine Behandlung aufgenommen wurde, während sich die Übrigen mit dem Eintrag
in eine
Warteliste abfinden mussten. Nach Abschluss der Therapie wurde dann die psychische
Verfassung der
beiden Gruppen ausgeleuchtet.
Es ist zwar zutreffend, dass die behandelten Klienten bei den meisten – wenn auch nicht bei
allen –
Vergleichen (etwas) besser abschneiden. Das ist übrigens auch die einzige empirische Basis,
mit der die
Psychotherapie heute ihren Anspruch auf Heilwirkung belegen kann. Aber die
Gegenüberstellung einer
behandelten Gruppe und einer Wartelistegruppe entspricht überhaupt nicht den modernen
methodischen
Anforderungen, und sie lässt überhaupt keinen Rückschluss auf die therapeutische
Wirksamkeit einer
Behandlung zu, kritisiert der renommierte New Yorker Psychiater Donald F. Klein, einer der
bedeutendsten Pioniere der modernen Psychopharmakologie.17»Die Klienten, deren Wunsch
nach
Therapie erfüllt wird, entwickeln vermutlich eine sehr starke Erwartung, geheilt zu werden,
während die
Klienten auf der Warteliste ihre Erwartungen zurückschrauben und vielleicht sogar
demoralisiert werden,
weil ihre Hoffnungen nicht aufgegangen sind.«
Auch eine Forschergruppe um den Psychologen Leslie Prioleau von der Wesleyan University
in
Middletown verurteilt das Testverfahren, von dem die gesamte Reputation der modernen
Psychotherapie
im Wesentlichen abhängt, in Bausch und Bogen.18»Individuen, die sich nach einer Therapie
sehnen und
dann in eine Warteliste eingetragen werden, erleben eine Enttäuschung. Es besteht sogar die
Gefahr, dass
diese Ablehnung schädliche Effekte hervorruft. Die Mitteilung, dass sie sich mit dem Eintrag
in eine
Warteliste abfinden müssen, sagt ihnen nämlich im Grunde, dass sie sich keine Hoffnung auf
Besserung
machen dürfen, weil man ihnen keine Behandlung angedeihen lässt.«
Es gibt tatsächlich eindrucksvolle Beweise dafür, dass allein der symbolische Akt, in eine
Psychotherapie aufgenommen zu werden, viele Beschwerden abklingen lässt, betont der
amerikanische
Sozialpsychologe C. R. Snyder.19»Die Forschungsarbeiten zeigen mit überwältigender
Deutlichkeit, dass
ein erheblicher Anteil der Verbesserungen in den ersten Wochen nach Beginn einer Therapie
eintritt.
Solche dramatischen Wirkungen ganz früh in einer Behandlung können unmöglich auf
spezifische
therapeutische Maßnahmen zurückzuführen sein. Zu diesem Zeitpunkt können die Klienten
die aktiven
Mechanismen einer Therapie noch gar nicht übernommen haben. «Schlussfolgerung Snyders:
Die
Aufnahme in eine Therapie stößt bei den Klienten das außerordentlich wirksame Prinzip
Hoffnung an.
Jeder kennt den Effekt, dass Kopf- oder Zahnschmerzen schon in dem Augenblick etwas
besser werden,
in dem man eine Schmerztablette einnimmt – lange bevor der pharmakologische Effekt
einsetzt.
Die meisten Veröffentlichungen zur Psychotherapie, moniert Snyder, glorifizieren den
Beitrag, den der
Therapeut zur Heilung leistet. Die Eigenbeteiligung des Klienten und das Prinzip Hoffnung
werden
dagegen verächtlich unter den Teppich gekehrt. Der Beweis, dass Psychotherapie besser ist als
keine
Psychotherapie, fehlt deshalb nach Ansicht des Psychiaters Klein immer noch schmerzhaft.
Nach den
Gütekriterien, die man der (bei Psychotherapeuten oft verhassten) Pharmaindustrie schon
lange auferlegt
hat, müsste eigentlich jede Form der Psychotherapie» doppelblind «gegen eine
Scheinbehandlung
(Placebo) ins Rennen geschickt werden. Das ersparte der einen Hälfte der Klienten die
demoralisierende
Erfahrung, dass ihnen die erlösende Behandlung vorenthalten wird. Und das erlaubte, die»
Spreu «der
Hoffnung vom» Weizen «des therapeutischen Effektes zu trennen. Es ist im Grunde
ungeheuerlich, dass
die Psychotherapie sich bis heute wortgewandt vor dieser ultimativen Qualitätskontrolle
drückt, während
sie der Pharmaindustrie immer wieder deren angebliche moralische und methodische
Schwächen unter
die Nase reibt.

«Manche Formen der Psychotherapie sind bei gewissen Störungen wirksamer als
andere«

Wenn philippinische Wunderheiler beim Kampf gegen Krebs den gleichen Erfolg hätten wie
Onkologen, wäre die moderne Onkologie am Ende. Wenn Aspirin Tumorschmerzen genauso
wirkungsvoll linderte wie Morphium, gäbe es keinen Grund mehr, Opiate anzuwenden. Die
entscheidende wissenschaftliche Rechtfertigung für die Anwendung eines therapeutischen
Verfahrens
liegt also immer darin, dass es den verfügbaren Alternativen überlegen ist. Was die
vergleichende
Bewertung der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen angeht, fällt das Urteil auf dem
höchsten
Stand des Wissens jedoch äußerst beschämend aus: Behandlungsmethoden, die aus der Sicht
konkurrierender Schulen nur als» Scharlatanerie «gelten können, erzielen bei identischen
Störungen den
gleichen Heileffekt. Und der ist, wenn überhaupt, höchstens eine Haaresbreite vom
Placebo-Effekt
entfernt.
Mehrere der Psychotherapie freundlich gesinnte Analysen der letzten Jahre kamen immer
wieder zu
einem einhelligen Resümee: Psychotherapie sei tatsächlich wirksamer als keine Behandlung.
Es stimmte
allerdings schon immer misstrauisch, dass keine Unterschiede zwischen den einzelnen
Methoden zu
verzeichnen waren, obwohl diese doch krass gegensätzliche Grundannahmen über die
Entstehung und
Behandlung von seelischen Störungen vertreten. Durch diese globale» Absolution «blieben
der Branche
hässliche Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen erspart. Auf dem» Trittbrett «des
Gleichheitsverdiktes machten es sich auch obskure therapeutische Bewegungen gemütlich,
die sich erst
gar keiner wissenschaftlichen Gütekontrolle unterworfen hatten.
Eine Forschergruppe um den amerikanischen Psychologen Lester Luborsky hat das
Gleichheitsverdikt
im Jahr 1975 zynisch durch ein Zitat des Vogels» Dodo «aus» Alice in Wonderland
«verewigt:»Jeder hat
gewonnen, und alle müssen den Preis bekommen.«20 Bei ihrer Übersicht über die
vorliegenden
Vergleichsstudien waren die Autoren zu dem Schluss gelangt, dass kein einziges der
getesteten Verfahren
seinen Alternativen in irgendeinem Punkt überlegen war.»Seit dieser Zeit kamen fast alle
umfassenden
Literaturübersichten immer wieder zu dem identischen Ergebnis«, rekapituliert eine
Forschergruppe um
die US-Psychologin Karen Tallman.21 Auch die sehr zuverlässigen» Metaanalysen«, bei denen
die Daten
aus allen früheren Studien» in einen Topf geworfen «und wie eine einzige große Superstudie
ausgewertet
wurden, bestätigten das Motto» alle sind gleich«. Die Dauer der Behandlung und die
Berufserfahrung des
betreffenden Therapeuten hatten ebenfalls keinen oder höchstens einen vernachlässigbar
schwachen
Effekt.»Unterschiede darin, wie eine Psychotherapie ausgeführt wird, allein oder in Gruppen,
von einem
Anfänger oder einem erfahrenen Therapeuten, als Langzeitbehandlung oder für eine kurze
Zeitspanne,
haben wenig Einfluss darauf, wie erfolgreich sie ist«, folgert der amerikanische Psychologe
Al Siebert aus
den vorliegenden Metaanalysen.22
Obwohl das Dodo-Verdikt durch viele hundert Studien eindeutig gestützt und bei der
überwältigenden
Mehrheit aller neuen Literaturübersichten und Metaanalysen immer wieder bestätigt wird,
weigern sich
die Psychotherapeuten starrsinnig, sich dieser Tatsachen zu stellen, wundert sich das Team um
die
Psychologin Tallman. Stattdessen versuchen sie unentwegt, die unliebsame» Gleichmacherei
«durch
Ausflüchte und Rationalisierungen im Fachkauderwelsch schönzureden.
Die» Pattsituation «wird auch nicht durch das überaus einflussreiche, 900 Seiten dicke
Gutachten
korrigiert, mit dem der Berner Psychologie-Professor Klaus Grawe 1994 für Schlagzeilen im
deutschen
Sprachraum sorgte.23 Fazit der Expertise, die auf einer Metaanalyse von über 897 empirischen
Einzelstudien basierte: Der Trip zum Psychodoktor heilt nicht alles und jedermann, manche
Schulrichtungen sind vom Effekt her» gleicher «als andere, und eine Erhöhung der
therapeutischen Dosis
schmälert häufig deren Segen. Grawe will bei seiner Analyse endlich Beweise gefunden
haben, dass
manche Therapien ihren Konkurrenten überlegen sind. Verhaltenstherapien schnitten zum
Beispiel
besonders gut bei der Behandlung von Ängsten ab, während die freudsche Psychoanalyse bei
der
Therapie von» psychosomatischen «Störungen nicht den geringsten Nutzen bringt. Dass
manche
Therapieformen wie die jungsche Analyse oder die Bioenergetik bei Grawe so schlecht
abschneiden, liegt
aber gar nicht daran, dass sie bei einer Prüfung durchgefallen wären: Die
Außenseitertherapien sind
einfach nie oder nie hinreichend getestet worden.
Doch der amerikanische Psychologie-Professor Bruce E. Wampold von der University of
Wisconsin in
Madison ist sich absolut sicher, dass die empirischen Daten gegenwärtig nicht den geringsten
Anlass
geben, das für die Psychotherapie so peinliche Dodo-Verdikt umzustoßen.6 Diese Ansicht teilt
auch sein
Kollege Professor Ted R. Asay von der Brigham-Young-Universität:»Fast alle Übersichten
gelangen zu
dem Schluss, dass sich die verschiedenen Formen der Psychotherapie in ihrer Wirksamkeit
nicht
unterscheiden.«24
Wampold hat die» Ausreißer«, also die Übersichten, die bestimmten Verfahren eine
überdurchschnittliche Wirksamkeit zubilligen, unter die Lupe genommen und ein
verräterisches
Phänomen entdeckt: Sie stammen samt und sonders von Autoren, die Vertreter der vorgeblich
«überlegenen «Therapieform sind. Wenn man derart ideologisch» befangene «Darstellungen
außer Acht
lässt, kommt man rasch wieder auf die Gleichheit der konkurrierenden Schulen zurück. Die
Hoffnung auf
«differenzielle Wirksamkeit«, die Klaus Grawe in Deutschland mit seinem Wälzer geschürt
hat, war
offensichtlich fehlgeleitet.
Zu diesem unliebsamen Schluss gelangt Wampold auch nach seiner eigenen Metaanalyse,
dem
ausgeklügeltsten statistischen Therapievergleich, der je durchgeführt wurde. Frühere
Metaanalysen waren
nämlich durch gewisse Schwächen angreifbar. Zum Beispiel hatten die Klienten ihren Heiler
selbst
gewählt. Durch diese» Selbstselektion «entstand die Gefahr, dass die unterschiedlichen
Verfahren
unterschiedliche Sorten Menschen (und Störungen) anzogen. Man kann Psychoanalyse nicht
mit
Verhaltenstherapie vergleichen, wenn beide Therapien einen völlig unterschiedlichen Schlag
Klienten
anziehen.
Um solche Mankos zu bereinigen, hat Wampold nur die in der Literatur auffindbaren
«randomisierten «Studien in die Analyse aufgenommen. Bei dieser Methode werden Klienten
mit
identischem Krankheitsbild nach einem Zufallsverfahren unterschiedlichen Psychotherapien
zugeteilt.
Das ist die einzige Methode, die dem modernen wissenschaftlichen Standard entspricht, den
wir bei der
Medizin für selbstverständlich halten. 114 Publikationen wurden diesem Gütekriterium
gerecht.
Das Ergebnis des bisher aufwendigsten» Warentestes «in der Psychotherapie war äußerst
aufschlussreich: Alle geprüften Heilverfahren brachten bei allen behandelten Seelenstörungen
den
gleichen Nutzeffekt. Therapien, in denen Patienten Verhaltensweisen» verlernen«, kurierten
Ängste,
Depressionen oder Nägelkauen mit der gleichen Schlagkraft wie jene, die» unbewusste
Konflikte «oder
gedankliche (kognitive) Prozesse attackieren. Weitere Peinlichkeit: Die Dauer der jeweiligen
Behandlung
hatte nicht den geringsten Einfluss auf die Heilung und das Krankheitsbild.»Die Ergebnisse
entsprechen
vollkommen dem Dodo-Zitat«, folgert Wampold aus seinen Daten, die den höchsten und
aktuellsten
Forschungsstand repräsentieren.
Die meisten Experten sind sich einig, dass die Psychotherapie langfristig nur Bestand haben
kann,
wenn sie ein breit gefächertes Arsenal von geprüften Methoden bereithält, die auf genau
definierte
Symptome zugeschnitten sind. Das würde heißen, dass es bei jeder seelischen Störung»
Indikationen«
und» Kontraindikationen «gibt. Nach den neuen Befunden ist es nun wieder sehr zweifelhaft,
ob die
Zunft diesen Anspruch je erfüllen wird. Es ist nach Ansicht der Autoren auch sehr verdächtig,
dass die
Stärke des Heileffektes in den meisten Studien, wenn überhaupt, nur geringfügig über dem
Wert lag, der
in der Regel auch von Scheinmedikamenten (Placebos) erzielt wird. Vermutlich kommt es gar
nicht
darauf an, welche Behandlung jemandem zuteil wird; wichtig ist nur, dass die Hoffnung auf
Therapie als
solche in Erfüllung geht.

«Psychotherapie heilt nachhaltiger als eine Scheinbehandlung (Placebo) ohne


wirksame
Komponente«

Es ist heute für jeden gebildeten Laien selbstverständlich, dass ein Medikament, ein Impfstoff
oder
eine Operationsmethode nur dann eine Daseinsberechtigung besitzt, wenn die betreffende
Behandlung die
Krankheit wirkungsvoller und nachhaltiger bekämpft als eine wirkstofflose Zuckerpille
(Placebo).
Schließlich gibt es eine überwältigende Zahl von Versuchsergebnissen und Beobachtungen,
die ganz klar
aufzeigen, dass Beschwerden und Symptome schon allein dadurch zurückgehen, dass der
Patient an den
Erfolg einer eingeleiteten Therapie glaubt – selbst wenn diese keine nachweisbare
Wirkkomponente
enthält. Die» Droge Arzt «gibt dem Kranken die Hoffnung, dass etwas gegen sein Leiden
getan werden
kann.
Da bei allen Formen der Heilbehandlung Placebo-Effekte im Spiel sein können, erhalten neue
Medikamente schon seit vielen Jahren nur noch dann eine Zulassung, wenn sie in so
genannten
«kontrollierten «Studien ihre Überlegenheit gegenüber einem Scheinmedikament bewiesen
haben. Die
Ärzte geben einem zufällig ausgewählten (»randomisierten«) Teil der Probanden eine Tablette
ohne
Wirkstoff, die aussieht wie die echte Arznei (das» Verum«). Vor der Therapie müssen die
Behandelten ihr
Einverständnis geben, dass sie bereit sind, im Zweifelsfall eine» unechte «Medizin zu
schlucken. Weder
sie noch die behandelten Ärzte haben eine Ahnung, wer das Verum und wer die
Scheinmedizin erhält; die
Untersuchung ist also» doppelblind«. Ein neuer Arzneistoff muss in der Studie deutlich besser
abschneiden als die Placebo-Pillen, um als wirksam zu gelten und in die Apotheken zu
gelangen. Erst die
Überlegenheit gegenüber der Zuckerpille liefert den wissenschaftlichen Beweis, dass die
Heilwirkung auf
der Pharmakologie der Droge beruht, und nicht auf dem Prinzip Hoffnung.
«Wenn die Zulassungsbehörden die gleichen strikten Kriterien an die Wirksamkeit einer
Psychotherapie anlegen würden, müssten alle existierenden Verfahren vom Markt gezogen
werden«,
charakterisiert der Psychologe Al Siebert die Situation in der Psychoszene. Psychotherapeuten
haben es
jedoch bis heute aus völlig undurchsichtigen Gründen geschafft, sich um die Pflicht zur
Erbringung eines
kontrollierten Wirksamkeitsnachweises zu drücken. Psychoanalytiker argumentieren
hochtönend, dass
ihre Therapie nur deshalb heilt, weil sie das Unbewusste ans Licht des Bewusstseins holt.
Verhaltenstherapeuten haben nicht den geringsten Zweifel, dass es dem Patienten in der
Verhaltenstherapie besser geht, weil er dort die Konditionierungen seiner bisherigen
Lerngeschichte
«verlernt«. Aber kein Therapeut muss diesen Anspruch im» Wettrennen «gegen ein Placebo
untermauern.
Als der renommierte Dresdener Psychologie-Professor Jürgen Margraf vor ein paar Jahren in
einer
groß angelegten Studie die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Maßnahmen gegen Ängste
und
Panikattacken testen wollte, weigerten sich die beteiligten Therapeuten standhaft, eine
Placebo-
Kontrollgruppe mit einzubeziehen.25 Es sei ethisch nicht vertretbar, schwer leidende Patienten
mit einer
Scheintherapie abzuspeisen. Offenbar ist es aber ethisch unbedenklich, schwer leidende
Patienten mit
unüberprüften Maßnahmen abzuspeisen.
Es gibt in der Psychotherapeutenszene viele rhetorische und den Laien verwirrende
Abhandlungen
darüber, warum doppelblinde Kontrollen undurchführbar seien. So wird oft argumentiert, dass
eine
Psychotherapie ja niemals im wahren Sinne» doppelblind «sein könne, weil zumindest der
Therapeut
selbst immer genau wisse, ob er eine» richtige «Therapie oder eine» Attrappenversion
«durchführt. Doch
man lässt sich nicht einmal dazu herab, wenigstens halb blinde Kontrollen einzubauen (der
Klient erhält
ein Placebo, aber der Heiler weiß Bescheid). Dabei wäre es doch das Einfachste, einem
zufällig
ausgewählten Teil der Klienten unter dem Vorwand, es handele sich um eine hochwirksame
Psychomedizin, eine wirkstofflose Zuckerpille zu verabreichen, so wie in der
Allgemeinmedizin üblich,
empfiehlt der Psychiatrie-Professor Donald F. Klein. Falls das psychotherapeutische
Verfahren überlegen
wäre, hätte es den schlagenden Beweis für seine spezifische Wirksamkeit erbracht.»Es gibt
überhaupt
keinen nachvollziehbaren Grund«, wundert sich der Psychiatrie-Professor,»warum die
Psychotherapie
von diesem Qualitätsstandard befreit sein soll.«
Tatsache ist jedoch, dass einige kritische und findige Wissenschaftler in den letzten
Jahrzehnten trotz
aller Unkenrufe bei verschiedenen Gelegenheiten die Wirksamkeit der Psychotherapie und die
einer
Scheinbehandlung verglichen haben. Ihre Ergebnisse entziehen der gesellschaftlichen
Institution
Psychotherapie den Boden.»Zahlreiche Wissenschaftler vertreten heute die Auffassung, dass
die
unspezifischen Effekte der Psychotherapie die spezifisch wirksamen bei weitem übertreffen«,
erklärt das
Forscherehepaar Arthur K. und Elaine Shapiro in der aktuellen Standardmonographie über die
Placebo-
Forschung.26»Bei mehr als 600 Studien zur Wirksamkeit der Psychotherapie und etwa 230
Studien zur
Wirksamkeit der Psychotherapie bei Kindern, einige davon kontrolliert, bleibt nur eine
Folgerung übrig:
Die Psychotherapie ist das größte Placebo des Jahrhunderts. «Der Psychologe Terence W.
Campbell zieht
aus der Forschungsliteratur den gleichen radikalen Schluss:»Wegen des Placebo-Effektes
genießt die
Psychotherapie den Anschein, wirksam zu sein. Doch in Wirklichkeit sind die verschiedenen
Behandlungstechniken lediglich Rituale, die eine geeignete Atmosphäre für das Auftreten von
Placebo-
Wirkungen schaffen. «Und auch die Forschergruppe um die Psychologin Karen Tallman
schlägt in
dieselbe Kerbe:»Die Bedeutung des Placebo-Effektes in der Psychotherapie darf nicht mehr
länger
vernachlässigt werden. Statt ihn zu ignorieren, sollte man alles daransetzen, seine Macht zu
verstehen und
zu Gunsten des Patienten zu mobilisieren.«
Die besten überhaupt verfügbaren Informationen über den Stellenwert des Placebo-Effektes in
der
Psychotherapie gehen auf eine statistische Gesamtschau (Metaanalyse) der Forschergruppe
um Leslie
Prioleau zurück.18 Die Psychologen haben die Daten aus allen 32 auffindbaren Studien
zusammengestellt,
in denen sich ein psychotherapeutisches Verfahren dem Vergleich mit einer unspezifischen
Scheinbehandlung stellen musste. Das Placebo bestand in einigen Fällen schlicht in einer
banalen
Zuckerpille, die als neu entwickeltes Medikament beschrieben wurde. In anderen Fällen
wurden die
Klienten von angeblichen» Psychotherapeuten «behandelt, die instruiert worden waren, mit
ihnen über
alle erdenklichen Themen, nur nicht über ihre Störimg zu sprechen. Ein solches Vorgehen
wird von keiner
Schulrichtung als wirksame Therapie anerkannt. Manchmal unterzogen sich die Klienten auch
nur
Lockerungs-Übungen für die Muskeln, sie hörten Schallplatten oder wurden über
hygienisches Verhalten
aufgeklärt. Kontrollierte Studien in der Psychotherapie sind also offenbar durchaus machbar,
wenn man
deren Ergebnisse nicht scheut.
«Die Ergebnisse liefern keine Hinweise darauf, dass die Psychotherapie wirksamer ist als eine
Scheinbehandlung. «Der Placebo-Effekt war durchgehend genauso stark wie der Effekt der»
richtigen«
Therapien. Die Wirkung der Scheinbehandlung hielt auch genauso lange an wie der
Therapieeffekt. Wenn
Psychotherapien einen Effekt besäßen, der über den Placebo-Effekt hinausginge, hätte man
diesen an
seiner größeren Dauerhaftigkeit erkennen müssen, schließen die Wissenschaftler. Mit einem
Placebo
«therapierte «Klienten waren nicht nur ihren eigenen Worten zufolge genauso gut» drauf «wie
die
Empfänger einer veritablen Behandlung. Ihre Besserung spiegelte sich auch in den Aussagen
der
befragten Freunde und Verwandten wider.»Wann immer man Psychotherapie mit einer echten
Kontrollgruppe vergleicht, geht es den Klienten in der Kontrollgruppe genauso gut wie jenen
in der
Therapie«, bestätigt der Psychologie-Professor K. Edward Renner von der University of
Illinois.5
Die Gruppe um Prioleau fand bei ihrer Durchsicht der Literatur» nicht eine einzige Studie, die
überzeugend demonstriert hätte, dass die Wirksamkeit einer Psychotherapie den
Placebo-Effekt
übersteigt«. Das Team hat sich daher dazu verpflichtet, seine niederschmetternde Feststellung
öffentlich
zurückzuziehen, sobald ein überzeugender Gegenbeweis gelingt. Die Verpflichtung musste bis
heute nicht
eingehalten werden.
Der legendäre Psychologe Hans Jürgen Eysenck sah sich in einem Kommentar zu dieser
Metaanalyse
genötigt, harsche Kritik am Verhalten der Psychotherapeuten zu üben.»Es ist außerordentlich
bedauerlich
für das Fach Psychologie als Wissenschaft, dass die praktizierenden Kliniker den negativen
Ergebnissen
all dieser Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten keinerlei Beachtung schenken werden.
Sie werden
unbekümmert fortfahren, Behandlungstechniken anzuwenden, von denen nachgewiesen ist,
dass sie nicht
besser sind als der Placebo-Effekt. Es ist auch schwer einzusehen, wie dieses Verhalten mit
den ethischen
Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft zu vereinbaren ist. Haben wir wirklich das Recht,
Psychologen und Mediziner einer langen Ausbildung zu unterwerfen, bei der sie Methoden
lernen, die bei
der Behandlung seelischer Störungen keinen Nutzen bringen? Haben wir das Recht, den
Patienten oder
dem Sozialstaat Kosten für eine Behandlung aufzubürden, die den Placebo-Effekt nicht
übersteigt?«
Sigmund Freud hatte dieses Debakel übrigens bereits 1933 in einem lichten Augenblick
vorausgesehen:»Da möchte ich sagen, ich glaube nicht, dass unsere Heilerfolge es mit denen
von
Lourdes aufnehmen können. Es gibt so viel mehr Menschen, die an die Wunder der heiligen
Jungfrau als
die an die Existenz des Unbewussten glauben.«27 Mehr als fünfzig Jahre nach dieser
Äußerung» gibt es
noch immer keine schlüssigen Beweise dafür, dass die Psychoanalyse als therapeutisches
Verfahren dem
Gesundbeten überlegen wäre«, hebt der angesehene amerikanische Wissenschaftspublizist
John Horgan
hervor.28
Aber auch die Verhaltenstherapie, die auf den ursprünglich an Tieren erforschten Gesetzen des
Lernens basiert, und ihre neuere Variante, die» kognitive Verhaltenstherapie«, welche außer
dem
Verhalten auch die gelernten Denkmuster berücksichtigt, stehen im Licht der
Placebo-Forschung
keineswegs besser da. Verhaltenstherapeuten, die häufig mit universitären Instituten assoziiert
sind und
einen Wust an publizierten Forschungsarbeiten vorweisen können, brüsten sich gerne damit,
über eine
solidere wissenschaftliche Basis zu verfügen als die Vertreter der als» antiquiert «belächelten
freudschen
Redekur. Die Verhaltenstherapie hat in der Öffentlichkeit erfolgreich die Behauptung etabliert,
dass sie
mit hoch effizienten Maßnahmen zur Bekämpfung von Angststörungen, wie etwa Phobien
(unangemessene Furcht vor spezifischen Situationen oder Objekten), aufwarten könne. Dabei
zeichnet
sich die Verhaltensforschung selbst durch eine» phobische «Angst vor Placebo-Kontrollen
aus.
Mit gutem Grund, stellte sich heraus, als die Psychiaterin Katherine M. Shear von der
Universität
Pittsburgh Patienten untersuchte, die an einer Panikerkrankung litten.29 Das ist eine
Angststörung, die
durch plötzliche Attacken extremer, unbegründeter Furcht gekennzeichnet ist. Ein Teil der
Probanden
wurde mit der kognitiven Verhaltenstherapie behandelt, die behauptet, dass sie Panikattacken
an ihren
Wurzeln auslöschen kann. Der andere Teil erhielt eine Placebo-Therapie, die» reflektierendes
Zuhören«
genannt wird und bei der die Therapeuten den Patienten» verständnisvoll «zuhören, ohne
irgendwelche
Bemerkungen abzugeben. Fazit: Das therapeutische Ergebnis war in beiden Fällen gleich.
Zu den vielversprechendsten Interventionen gegen Ängste gehört nach Ansicht der
Verhaltenstherapeuten die» systematische Desensibilisierung«. Patienten, die unter
Panikattacken,
Phobien oder ähnlichen Störungen leiden, werden bei diesem Verfahren mit Situationen
konfrontiert, die
in steigender Intensität dem Objekt ihrer Furcht ähneln, zum Beispiel einer großen, gefährlich
aussehenden Schlange. Mit Hilfe von Entspannungstechniken werden sie aber zur gleichen
Zeit derart
«relaxt«, dass sie die Gefahr ertragen lernen und nach einer Weile dagegen regelrecht immun
sind. Doch
auch der Effekt der systematischen Desensibilisierung ist nicht besser als der einer
Zuckerpille,
konstatiert der amerikanische Psychologe Joel Cooper.30
In seiner Untersuchung» blitzte «der Wissenschaftler seinen unter Schlangenphobie leidenden
Versuchspersonen mit einem» Tachistoskop «für ultrakurze Momente Bilder zu, die immer
stärker an ihre
schlimmsten Ängste heranreichten. Bei einem Teil der Probanden enthielten die» Blitzbilder
«gar keine
Inhalte; sie bestanden nur aus Lichtimpulsen. Die Teilnehmer wurden instruiert, sich bei jeder
Bildprojektion durch eine Muskelentspannungsübung aufzulockern. Fazit: Am Ende der»
Therapie«
hatten die Probanden in beiden Gruppen ihre Ängste vor Schlangen abgebaut. In einer
Variante des
Experimentes leitete der Forscher seine Versuchspersonen übrigens an, die Muskeln bei jedem
Bild zu
verkrampfen, anstatt sie im Sinne der Therapie zu entspannen. Trotz dieses» Kunstfehlers
«hatte die
Behandlung den gleichen Heileffekt.
Die Placebo-Wirkung basiert wahrscheinlich zum Teil darauf, dass Klienten bei einer
Psychotherapie
freiwillig ein erhebliches Maß an Mühe und Anstrengung auf sich nehmen, behauptet Cooper.
Um diese
Investition zu rechtfertigen, nehmen die Patienten vermutlich Korrekturen an ihren eigenen
Gedanken
und Überzeugungen vor: Sie interpretieren sich selbst als» geheilt«, um nicht als dumm
dazustehen.
Der Anstrengungs-Rechtfertigungs-Effekt ist offenbar genauso stark wie die
Implosionstherapie, die
stärkste Waffe der Verhaltenstherapie gegen Angststörungen. Bei der Implosionstherapie
werden die
Patienten unmittelbar mit ihren schlimmsten Angstphantasien konfrontiert;
Schlangenphobiker müssen
sich zum Beispiel vorstellen, wie eine Boa an ihrem Bein hochkriecht. Patienten mit
Höhenangst werden
zum höchsten Turm der Stadt begleitet. Cooper behandelte einen Teil der Patienten mit
Schlangenphobie
nach allen Regeln der Kunst» implosiv«. Der andere Teil nahm – freiwillig – an einer
absurden
«Anstrengungstherapie «teil, die ihnen als» neuartige Angsttherapie «verkauft wurde. Sie
bestand zum
Beispiel darin, dass die Klienten für die Dauer jeder Therapiesitzung in die Pedale eines
Fahrrad-
Ergometers treten mussten.
Quintessenz: Die Klienten, die freiwillig die körperlichen Mühen auf sich genommen hatten,
waren
am Ende gegenüber Schlangen genauso abgebrüht wie die Absolventen einer echten
Implosionstherapie.
So wissenschaftlich fundiert die Techniken der Verhaltenstherapie nach außen auch wirken
mögen: Ihre
Tragfähigkeit geht doch nicht über jene von Aderlass, Geisterbeschwörung und Gesundbeten
hinaus.

«Professionelle Therapeuten sind wirkungsvoller als Laien oder Selbsthilfegruppen«

Psychotherapeuten geben sich in der Öffentlichkeit als» wissenschaftliche Experten «der


Seele aus. Ihr
Anspruch beruht auf der Suggestion, dass sie bei ihrer Ausbildung Fachkenntnisse in der
Diagnose und
Therapie von Neurosen gewonnen haben, die weit über den gesunden Menschenverstand
hinausgehen.
Das ist eine Illusion, die das neue» Psychotherapeutengesetz «weiter
unterstützt.»Psychotherapeut«
dürfen sich danach nur noch Mediziner oder Diplompsychologen nennen, die nach
abgeschlossenem
Studium eine dreijährige psychotherapeutische Berufsausbildung absolviert haben und denen
nach einer
staatlichen Prüfung die Approbation erteilt wurde.
Tatsache ist jedoch, dass auch die besten Kurse keine Kompetenzen vermitteln können, die
einen
«Psychotherapeuten «einem Laien überlegen machen.»Mehrere Metaanalysen kommen
übereinstimmend
zu dem Schluss, dass die verschiedensten Formen der Selbsthilfe und der Hilfe durch Laien
die gleiche
Wirksamkeit besitzen wie eine professionelle Therapie«, skizziert das Team um die
Psychologin Karin
Tallman den Forschungsstand.21»Wir sollten unsere kostbaren Ressourcen nicht
verschwenden, um
sündteure Leute zu finanzieren, die Patienten auch nicht besser helfen können als Personen
mit sehr viel
weniger Ausbildung«, schließt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes aus den gleichen
Daten.
Im» Psychological Bulletin«, dem offiziellen Referatsblatt des Amerikanischen
Psychologenverbandes, wurden seit 1979 drei große Metaanalysen veröffentlicht, die einen
Vergleich
zwischen professionellen Psychotherapeuten und willkürlich ausgesuchten Laien ohne
psychologische
Ausbildung anstellten. Die Ergebnisse könnten für die» Profis «nicht verheerender sein. Der
Psychologe
Joseph A. Durlak von der University at Carbondale nahm 42 vergleichende Studien unter die
Lupe. 31
Ergebnis:»Die klinischen Resultate, die Laien erzielen, sind genauso gut oder sogar
signifikant besser als
jene der professionellen Therapeuten. «Eine Forschergruppe um den australischen
Psychologen John A.
Hattie wertete noch einmal 39 Einzelstudien aus. 32 Fazit:»Der allgemeine Schluss lautet, dass
Laien
genauso wirkungsvoll und in vielen Fällen noch wirkungsvoller sind als professionelle
Therapeuten.«
Und auch die texanischen Psychologen Jeffrey S. Berman und Nicholas C. Norton, die
ausdrücklich
antraten, um diese katastrophalen Ergebnisse mit einer neuen Auswertung der Daten zu
revidieren,
mussten am Ende konsterniert Farbe bekennen:»Studien, in denen professionelle Helfer mit
Laien
verglichen wurden, konnten keine Unterschiede in deren Wirksamkeit entdecken.«33
Die geeignetste Person, die man mit seinen seelischen Problemen ansprechen kann, ist
offenbar ein
guter Freund. Psychotherapeuten sind nach dem überwältigenden Tenor der
Forschungsliteratur nichts
anderes als» gekaufte Freunde«. Das ist natürlich eine Bankrotterklärung für die
Psychotherapie: Wenn
man seinen Chirurgen oder den Elektriker durch einen guten Freund ersetzen würde, müsste
man mit
einem furchtbaren Ergebnis rechnen. Wenn man den Psychotherapeuten durch einen guten
Freund
ersetzt, hat man am Ende noch Geld und Leid gespart.
Die meisten darauf angesprochenen Psychotherapeuten versuchen erst gar nicht, das gerade
skizzierte
Dilemma als solches abzuleugnen, konstatiert der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes.
Sie nehmen
höchstens Zuflucht bei verschrobenen Ausreden. So heißt es dann häufig, dass zumindest
extrem stark
gestörte Klienten doch nur von der Obhut eines professionellen Therapeuten profitieren.
Angesichts der
Ergebnisse der statistischen Vergleiche ist das jedoch eine abenteuerliche Argumentation,
meint Dawes:
Wenn eine professionelle Behandlung für einige (zum Beispiel schwer gestörte) Patienten
besser ist, wie
kann sie dann für andere (leicht gestörte) schlechter sein? Denn unter dem Strich sind die
Profis und die
Laien ja eben gleich wirkungsvoll.»Man hat aber noch nie gehört, dass Psychotherapeuten
einen leicht
gestörten Patienten abgewiesen hätten, weil dieser bei Laienhelfern besser aufgehoben ist.«
Statt sich an einen persönlichen Freund zu wenden, kann es in vielen Fällen ratsam sein, sich
mit
Gleichgesinnten zusammenzutun, die entweder unter der gleichen Problematik leiden oder
aber ihr
Handikap bereits überwunden haben. Es gibt ein breites Netz von Selbsthilfegruppen, das
praktischen
jeden Wunsch nach Anschluss erfüllt. Die beiden amerikanischen Ärzte Elaina M. Kyrouz
und Keith
Humphreys halten im Internet eine umfangreiche Literaturstudie bereit, in der sie die
therapeutische
Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen und professionellen Psychotherapeuten vergleichen. 34
Das Ergebnis
birgt für den aufmerksamen Leser vermutlich keine Überraschung mehr: Wo immer man eine
Gegenüberstellung vornahm, konnten die Selbsthilfegruppen den Therapeuten das Wasser
reichen.
Selbsthilfegruppen halfen Alkoholikern genauso gut beim Trockenwerden und
Übergewichtigen beim
Abnehmen. Und Frauen, die nach dem Verlust ihres Ehemanns unter schwerer Verzweiflung
litten, kamen
nach dem Besuch einer Selbsthilfegruppe genauso schnell wieder auf den Damm wie nach
einer
Psychotherapie.

«Psychotherapie hilft, Kosten im Gesundheitswesen einzusparen«

Wenn die ach so menschenfreundliche Argumentation (»Psychotherapie erlöst Menschen von


furchtbaren Seelennöten«) nicht mehr zieht, hauen Psychotherapeuten und ihre Lobbyisten
gerne mit dem
volkswirtschaftlichen Hammer auf den Tisch: Psychotherapie zahle sich ökonomisch für das
Gemeinwesen aus, weil die von ihnen behandelten Patienten das Gesundheitswesen viel
weniger in
Anspruch nähmen. Auch der Berner Psychologie-Professor Klaus Grawe, der von den Medien
völlig zu
Unrecht als Kritiker der Psychotherapie gehandelt wird, streut diese schmeichelhafte Legende
in einem
Beitrag im Nachrichtenmagazin» Der Spiegel «aus:»Zudem wurde in über hundert
Kosten-Nutzen-
Analysen nachgewiesen, dass jede für Psychotherapie ausgegebene Mark mehrfach durch
Einsparungen
an anderer Stelle wettgemacht wird.«35
Diese Argumentation ist haarsträubend, denn in Wirklichkeit führen alle seriösen Daten zu
dem
Schluss, dass die Bereitstellung von Psychotherapie zu erhöhten Kosten und einer
gesteigerten Nachfrage
herkömmlicher medizinischer Leistungen führt.
Ein Blick auf die hier vorgestellten großen statistischen Auswertungen müsste jeden skeptisch
machen, was die Kosten-Nutzen-Bilanz der Psychotherapie angeht.
Die Frage nach dem ökonomischen Kalkül wurde in den betreffenden Studien nicht
ausdrücklich
gestellt, obwohl die Ergebnisse bereits das Schlimmste ahnen lassen. In dem gründlichsten
und
gewissenhaftesten Projekt zur wirtschaftlichen Effizienz der Psychotherapie, das überhaupt
jemals
durchgeführt wurde, haben sich nach Darstellung der kanadischen Psychologin Tana Dineen
die
schlimmsten Erwartungen bestätigt.4 Beim» Fort Bragg Demonstration Project «im
amerikanischen
Bundesstaat North Carolina schütteten die Versicherungsträger ab 1990 fünf Jahre lang
insgesamt 80
Millionen Dollar aus, um Kindern und Jugendlichen mit seelischen Nöten einen raschen und
unbürokratischen Zugang zur Psychotherapie zu gewähren. Das Unternehmen wurde –
übrigens auch von
den Vertretern der Psychoszene – mit gewaltigen Vorschusslorbeeren bedacht. Es galt als»
einzigartiges
Aushängeschild«, das die» modernsten Methoden der Wissenschaft «heranzog, um die
Nützlichkeit
psychologischer Dienstleistungen zu ergründen.
Der methodische Aufwand war in der Tat bemerkenswert. Die beteiligten Forscher befragten
zum
Beispiel die jungen» Konsumenten «der Dienstleistungen nicht nur einfach nach ihrem
subjektiven
Befinden, sondern legten ihnen auch standardisierte Psychotests vor. Die Inanspruchnahme
medizinischer Angebote wurde sorgfältig dokumentiert – nicht nur im Gebiet von Fort Bragg,
sondern
auch bei einer Vergleichsstichprobe in einer anderen Region, die nicht in den Genuss des
ungewohnten
Service kam.
Das Ergebnis war ein Fiasko und ein Schlag ins Gesicht aller Psychotherapie-Befürworter,
resümiert
Tana Dineen:»Die Kosten waren höher und die klinischen Ergebnisse bei den Behandelten
nicht die Spur
besser als in der Vergleichsstichprobe, absolut nicht das, was die Psychologie-Industrie erhofft
und
erwartet hatte. «Kinder und Jugendliche, die in den Genuss der Zuwendungen kamen, nahmen
alle Arten
von medizinischen und psychologischen Dienstleistungen länger und intensiver in Anspruch
als ihre
Altersgenossen in der Kontrollgruppe.»Sechs Monate nach Beginn ihrer Behandlung waren
41 Prozent
der Betreffenden im Gebiet von Fort Bragg immer noch in einer Therapie, aber nur 13 Prozent
der
Vergleichsstichprobe«, führt Dineen die genauen Zahlen auf.»Es zeigt sich eindeutig, dass die
Einbeziehung von Psychotherapeuten die Gesamtkosten steigert, während es diesen zu einem
zusätzlichen Einkommen verhilft.«
Auch die Forscher, die das Projekt wissenschaftlich begleiteten, räumten den Fehlschlag
ausdrücklich
ein:»Die Ergebnisse sollten ernsthafte Zweifel wecken, was den verbreiteten Glauben an die
Wirksamkeit psychotherapeutischer Dienstleistungen angeht. «Es wäre jedoch grenzenlos
naiv, zu
erwarten, dass die Psychologie-Industrie sich durch solche Befunde jemals irritieren ließe:
Die Ergebnisse
des Fort-Bragg-Projektes wurden schlicht und einfach unter den Teppich gekehrt und finden
bei keiner
Diskussion um die Kosten-Nutzen-Bilanz der Psychotherapie auch nur Erwähnung.
Die desolaten Fort-Bragg-Resultate gleichen übrigens verblüffend jenen, welche das
Schweizer
Gesundheitssystem mit der Alternativmedizin gemacht hat. Seit 1999 übernehmen die
Krankenkassen
dort die Kosten für fünf» komplementärmedizinische «Methoden (Homöopathie,
Neuraltherapie,
Phytotherapie, chinesische und anthroposophische Medizin). Das sind durch die Bank
Methoden, deren
Wirksamkeit sich nach Ansicht vieler Kritiker vollständig auf einen Placebo-Effekt
zurückführen lässt,
ähnlich wie bei der Psychotherapie. Die Hoffnung war auch dort, dass die Bereitstellung der»
sanften«
Alternativen zu einer Kostensenkung und einer verringerten Inanspruchnahme» harter
«medizinischer
Angebote führt.
Doch dann lieferte eine Untersuchung Zündstoff: Das Forschungsprojekt»
Komplementärmedizin in
der Krankenversicherung «des Schweizerischen Nationalfonds, durchgeführt unter der
Leitung des Basler
Gesundheitsökonomen Jürg Sommer, in Zusammenarbeit mit der Krankenkasse Heisana,
entpuppte sich
als schrecklicher Spielverderber.36 7500 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte
Helsana-Versicherte
erhielten ab Oktober 1993 für drei Jahre kostenlos eine Zusatzversicherung für
Komplementärmedizin.
Diese Experimentalgruppe wurde mit einer Kontrollgruppe ohne Zusatzversicherung
bezüglich Kosten
und Gesundheitszustand verglichen.
Fazit: Zum einen konsumierte die Experimentgruppe deutlich häufiger alternativmedizinische
Leistungen als die Kontrollgruppe. Was nicht weiter erstaunt, schließlich offerierte ihnen die
Kasse ja
unentgeltliche Leistungen. Wirklich peinlich war ein anderes Ergebnis: Die Experimentgruppe
beanspruchte nicht etwa weniger, sondern mehr schulmedizinische Leistungen. Gerade mal
knapp ein (!)
Prozent der Versicherten ließ sich ausschließlich mit alternativen Methoden behandeln. Dies
hatte
Auswirkungen auf die Gesamtkosten. So zeigt die Studie, dass Personen, denen alternative
Heilverfahren
von der Krankenkasse erstattet wurden – unabhängig von Alter, Geschlecht, Sprachregion und
früherem
Gesundheitszustand –, höhere Kosten aufwiesen als Versicherte, die nur schulmedizinische
Leistungen
beanspruchten. Die zusätzlichen Kosten wurden auf jährlich 170 Millionen Franken geschätzt.
Die
Untersucher kommen zum folgerichtigen Schluss,»dass komplementärmedizinische
Leistungen
zusätzlich und nicht als Alternative zur Schulmedizin in Anspruch genommen werden.«
Bringt die Bereitstellung alternativer Heilmethoden den Nutznießern wenigstens einen
verbesserten
Gesundheitszustand? Auch hier kommt die Studie zu einem vernichtenden Urteil:»Ein
Einfluss der
Inanspruchnahme komplementärmedizinischer Leistungen auf das gesundheitliche Befinden
kann nicht
nachgewiesen werden.«

«Psychotherapie ruft keine unerwünschten Nebenwirkungen hervor«

Die Möglichkeit, dass Psychotherapien Nebenwirkungen und Schädigungen hervorrufen


könnten,
wird in den meisten Veröffentlichungen mit höflicher Nichtbeachtung übergangen.
Untersuchungen zur
Qualitätskontrolle der Psychotherapie fragen meistens erst gar nicht nach Nebenwirkungen,
weil sie
vermutlich unterstellen, dass die Seelenklempnerei selbst im ungünstigsten Fall überhaupt
keinen Effekt
erzielt. Klienten, die sich einer Psychotherapie unterzogen haben, behalten zudem die
negativen
Erfahrungen lieber für sich.
Das kann damit zusammenhängen, dass ihnen häufig der Eindruck vermittelt wird, sie hätten
sich
etwaige Misserfolge selber zuzuschreiben. Auch die beiden Berliner Psychotherapie-Forscher
Dr.
Eckhard Giese und Prof. Dieter Kleiber, die sich in Anzeigen nach Erfahrungen ehemaliger
Klienten
erkundigt haben,»kitzelten «erst durch gezieltes Nachfragen den Verdruss aus ihren
Informanten heraus.37
«Schnell zeigte sich, dass sich therapeutische Misserfolge und negative Erfahrungen, die bis
hin zur
materiellen Ausbeutung durch Therapeuten gingen, nicht auf einzelne Therapierichtungen
beschränken
lassen. «Nicht nur die» Exoten «auf dem Psychomarkt bergen offenbar das Risiko eines
Fiaskos in sich;
selbst so» seriöse «Schulen wie die Gesprächspsychotherapie, die Psychoanalyse, die
Gestalttherapie, die
Verhaltenstherapie und die Humanistischen Psychotherapien, die ein Verhältnis von Person zu
Person statt
einer Beziehung von einer Autorität zu einem Kranken anstreben, erlauben sich mitunter»
Murks«, der
nach theoretischer Aufarbeitung und einem wirkungsvollen Konsumentenschutz schreit.
Es lässt sich auf Basis der Berliner Studie nicht genau beziffern, wie hoch der Anteil der
gescheiterten
Psychotherapien ist. Wenn in der Medikamentenforschung ein Präparat in 80 Prozent der
Fälle gut
anschlägt, jedoch bei 3 Prozent gravierende Nebenwirkungen zeitigt, wird ihm die
Marktzulassung
versagt. Unter den Seelenhelfern aber hat man sich bisher noch kaum Gedanken darüber
gemacht, welche
«Schadensquote «man für gerade noch vertretbar hält, bemängeln die beiden Forscher. Man
darf davon
ausgehen, dass rund 14.000 Diplompsychologen beraterisch oder therapeutisch tätig sind, von
denen jeder
etwa 40 Klienten pro Jahr betreut. Bei einer vorsichtig auf 5 Prozent geschätzten
Verschlechterungsrate
muss also mit 28.000»Verschlimmbesserungen «pro Jahr gerechnet werden. In Wirklichkeit
wird die
Zahl der» negativen Therapieeffekte «jedoch auf 10 Prozent geschätzt.
Es gibt einige typische Formen von Nebenwirkungen, die in der Literatur beschrieben
werden:
Auftreten einer existenziellen Krise, Überforderungsgefühle, Verschlechterung der
Symptomatik,
Trennung vom Partner mit folgender Einsamkeit. Doch manchmal geht es auch richtig
gefährlich zu.38 So
starb vor einer Weile ein 31-jähriger Schweizer bei einer Urschrei-Therapie – er war über
längere Zeit mit
dem Gesicht nach unten gegen eine Matratze gedrückt worden. In Berlin erstickte ein Patient,
nachdem er
in einen Teppich eingerollt worden war – zur Herstellung eines» primären «Gefühls
intrauterinären
Eingeengtseins.
Durch die Nebenwirkungen einer Psychotherapie können aber auch andere Menschen außer
den
Patienten selbst zu Schaden kommen, und dies noch nach langer Zeit. Das beweist eine
eindrucksvolle
Langzeitstudie aus den USA, deren Ergebnisse Tana Dineen referiert. 650 Jugendliche aus
zerrütteten
Verhältnissen wurden dabei nach einem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Eine der
beiden
Gruppen erhielt eine psychotherapeutische Behandlung, die sie quasi dagegen» impfen
«sollte, auf die
schiefe Bahn zu geraten. Nach sage und schreibe 30 Jahren wurde Bilanz gezogen.
Quintessenz: Die
Psychoimpfung war völlig unwirksam geblieben. Therapierte Problemjugendliche hatten zwar
nicht
mehr, aber dafür erheblich schwerere Verbrechen begangen als die unbehandelten. Und
darunter mussten
andere Menschen leiden. Auch was Alkoholismus, Geisteskrankheiten, Berufsbiographie und
Stress
anging, war das Befinden der Therapierten schlechter als das der unbehandelten
Altersgenossen. Der
Autor der Studie macht sich selbstkritisch Gedanken, wie dieser Bumerang-Effekt wohl
zustande
gekommen sein mag. Vielleicht züchtete die Therapie bei den Jugendlichen eine seelische
Abhängigkeit,
die es ihnen schwerer machte, die Widernisse des Lebens zu bestehen. Vielleicht hatte die
Therapie bei
ihnen aber auch unrealistische Erwartungen an das Leben ausgelöst, die am Ende nur noch
durch
Verbrechen zu erfüllen waren. Schließlich hatte die Behandlung möglicherweise das
Bewusstsein
verankert, nicht für das eigene Verhalten verantwortlich zu sein.
In einer anderen von Dineen referierten Untersuchung wurden Trunksüchtige, die sich einer
Missetat
schuldig gemacht hatten, in verschiedene Gruppen aufgeteilt: Sie erhielten entweder keine
Behandlung,
eine stationäre Psychotherapie, oder sie mussten den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker
beiwohnen.
Unappetitliches Ergebnis des Vergleiches: Von den Alkoholikern ohne Therapie blieben 44
Prozent
rückfallfrei. Bei den Anonymen Alkoholikern betrug diese Erfolgsquote nur 31 Prozent und in
der
Suchtklinik 32 Prozent.
Eine Hauptgefahr von Therapie liegt schon allein darin, dass praktisch alle
psychotherapeutischen
Schulen mit einem weltanschaulichen System befrachtet sind, das explizite Vorstellungen
«Attributionen«) über die Ursachen von seelischem Leid transportiert, erläutern die beiden
finnischen
Psychotherapie-Forscher Ben Furman und Tapani Ahola. 39 Solche Kausalerklärungen können
aber einen
erheblichen – auch schädlichen – Einfluss darauf haben, wie ein Patient mit der eigenen (und
fremden)
Not umgeht. So ist die Einstellung zu einem Alkoholiker davon abhängig, ob man sein
Problem für
vererbt,»anerzogen «oder selbst verschuldet hält. In dem Maße, in dem sie an die Stelle der
sakralen
Autoritäten früherer Zeiten treten, erlangen die Psychotherapeuten aber eine gewisse Macht
über die
Attributionen ihrer Klienten und der Öffentlichkeit.
Sehr verbreitet ist auch die Sichtweise, die das Leiden des Patienten auf eine Störung in seiner
Psyche
«Psychopathie«), also im Extremfall auf eine Geisteskrankheit zurückführt. Mit dieser
Argumentationsfigur lässt sich elegant die Notwendigkeit der Behandlung durch einen
Spezialisten
begründen. Es besteht aber die Gefahr, dass der Patient sich in Selbstvorwürfen oder Scham
über seine
«Abartigkeit «ergeht und nicht mehr über die Probleme sprechen will. Wenn der Patient»
blockiert«, ist
der Therapeut leicht versucht, jeden Misserfolg auf diese» nicht behobene «Störung zu
schieben.
Es ist natürlich in der Psychotherapie auch gang und gäbe, nahe stehende Bezugspersonen
verantwortlich zu machen: Weil die Mutter (der Vater, der Partner etc.) zu fürsorglich,
gefühlskalt etc. ist,
hat der Patient einen» Knacks«. Menschen stürzen sich naturgemäß gerne auf die Vorstellung,
dass andere
an ihrem Kummer schuld sind, wenn die Alternative im Befühlen der eigenen Nase liegt.
Daraus erwächst
aber leicht eine fatalistische Haltung, weil man sich die erwünschten Veränderungen nicht
mehr selbst
zutraut, befinden Furman und Ahola. Außerdem können die Beziehungen zu den»
Sündenböcken«
vergiftet werden. Was wiederum die Kommunikation zwischen dem Therapeuten und den
Bezugspersonen des Patienten sabotiert.
Mit der Vorstellung, dass seelische Störungen auf traumatischen Kindheitserlebnissen
basieren, hat
Sigmund Freud den Psychotherapien ein potenziell schädliches Erbe vermacht.»Diese
Deutung erlaubt
es dem Patienten, die deterministische Haltung des Opfers einzunehmen, das unfähig ist, sich
in
irgendeiner Weise selbst zu helfen. «Unter Umständen wird er für Jahre mit Bitterkeit und
Groll erfüllt,
während der Therapeut in die Rolle des» Archäologen «schlüpft, der nach lange vergrabenen
Tragödien
sucht, auch wenn die Vergangenheitskrämerei keine Früchte trägt. Eltern können sich in
wahnhafte
Schuldgefühle verrennen oder sich befleißigt sehen, ihre Sprösslinge vor allen erdenklichen
Frustrationen
zu beschützen. Soziale Einrichtungen leiten daraus möglicherweise die Berechtigung ab, im
Namen des
Kinderschutzes in das Privatleben von Familien einzudringen.
Auch die Auffassung, dass psychosoziale Belastungen der jüngsten Vergangenheit (z.B.
Trennungen,
Arbeitslosigkeit) die Wurzeln des Übels sind, kann zu» iatrogenen«(durch den Arzt
bedingten)
Schädigungen führen. Der Patient lässt sich von seinem Unglück ganz in Anspruch nehmen,
er macht
vehement bestimmte Personen für die Unbilden verantwortlich, er wird passiv und nimmt
zusehends die
Rolle des hilflosen Opfers an. Die Frage, warum andere Individuen ähnliche Situationen ohne
seelischen
Knacks überstanden haben, wird pflichtschuldigst unter den Tisch gekehrt.
Solche» ideologischen «Nebenwirkungen manifestieren sich nicht nur in der
Abgeschiedenheit des
therapeutischen Settings, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene, betonen die Autoren.
Psychotherapeutische Annahmen sickern nämlich über Massenmedien und Mundpropaganda
unaufhaltsam in die Öffentlichkeit durch.
In der Intimität des Behandlungszimmers wird dagegen laut Giese und Kleiber auch das
asymmetrische Machtverhältnis zwischen den beiden Parteien zum Problem. Die»
Abstinenzregel«, die
(namentlich sexuelle) Beziehungen an der Couch untersagt, wird so zum Gummiparagraphen
degradiert.
«Dabei reicht die Skala vom zweideutigen Therapeutenverhalten bis zum grausamen Spiel mit
den
Gefühlen einer Klientin, bei dem Nähe und Bestätigung willkürlich als >Belohnung< für vom
Therapeuten erwünschtes Verhalten eingesetzt werden. «Nach amerikanischen Daten haben
sich 10 bis 20
Prozent der männlichen Therapeuten auf Affären mit Patientinnen eingelassen; bei 7 Prozent
kam es
dabei zum Geschlechtsverkehr. Derart ausgenutzte Klientinnen kämpfen später durchgehend
mit Scham-
und Schuldgefühlen, oft kommt es aber auch zu Suizidversuchen, psychiatrischen
Einweisungen und
gescheiterten Beziehungen.
Die irreführende Vorstellung, dass Psychotherapie völlig ungefährlich sei, hängt nach Ansicht
des
Psychologen Al Siebert sicher auch damit zusammen, dass Psychotherapeuten praktisch
niemals mit
Kunstfehlerprozessen rechnen müssen. Das Risiko ist so niedrig, dass sich viele
Psychotherapeuten erst
gar nicht dagegen versichern, obwohl sie eine solche Versicherung – die bei Ärzten sündteuer
ist –
nachgeschmissen bekommen. Das einzige Fehlverhalten, das heute ernsthaft verfolgt werden
kann, ist der
sexuelle Missbrauch von Klienten.

«Psychotherapeuten sind frei von den Neurosen und Störungen, die sie
bei ihren Klienten austreiben wollen«

Wenn Psychotherapeuten den Anspruch erheben, dass sie ihren Patienten bei der
Überwindung ihrer
seelischen Störungen behilflich sein können, müssten sie dieselben Störungen auch bei sich
selbst
überwunden haben. Denn die Seelenhelfer operieren mehr oder weniger ausdrücklich mit der
Behauptung, über Techniken und Behandlungsmaßnahmen zu verfügen, mit denen man die
Probleme an
ihren Wurzeln bekämpfen kann. Es ist daher keine Zumutung, von ihnen zu erwarten, dass sie
mit gutem
Beispiel vorausgehen und sich selbst diesen Techniken unterziehen, bevor sie diese ihren
Klienten
angedeihen lassen. Psychoanalytiker legen besonderen Wert auf die Feststellung, dass sie
selbst eine
«Lehranalyse «absolvieren müssen, bevor sie die Segnungen dieser Redekur an das gemeine
Volk
weitergeben dürfen. Außerdem strahlt ein Psychotherapeut, der selbst raucht, an Übergewicht
und
Eheproblemen leidet, nicht eben Souveränität in praktischer Lebensbewältigung aus.
Nichtsdestoweniger ist es in der Psychoszene ein offenes Geheimnis, dass die hilflosen Helfer
tatsächlich in einem hohen Maß an vielen der» Verrücktheiten «leiden, die sie bei ihren
Patienten kurieren
wollen. Selbst Sigmund Freud kam nicht um dieses bittere Eingeständnis herum, schreibt
Professor
Christian Reimer vom Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen über
den Vater der
Zunft.40 Denn der wurde im Alter immer pessimistischer und fand es schließlich (Originalzitat
Freud)
«unbestreitbar, dass die Analytiker in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht durchwegs das Maß
an
Normalität erreicht haben, zu dem sie ihre Patienten erziehen wollen«.
Auch bei den heurigen Psychotherapeuten ist es unbestritten,»dass es so viele schlechte
Therapeuten
gibt«, wie der Bonner Psychologe Michael Märtens bei einem Therapeutenkongress betonte. 41
Märtens
meint damit insbesondere, dass Menschen den Beruf ergreifen, die gar nicht fähig sind,
sensibel und
zugleich distanziert genug mit seelisch Kranken umzugehen.»Wer Psychologe wird, braucht
selber
einen«, mit diesem Satz zitierte Heiko Ernst, Chefredakteur der Zeitschrift» Psychologie
heute«, den
Bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der damit» aber nur mal wieder eine starke
Fraktion
von vox populi wiedergibt«.
Da ein großer Teil der Heiler ursprünglich aus der Medizin kommt, kann man ihre geistige
Gesundheit
bis zu einem gewissen Grad an jener der Ärzte ablesen, erläutert Reimer. Die
Lebenserwartung der Ärzte
stimmt nach neuesten Daten etwa mit dem Bevölkerungsdurchschnitt überein, auch wenn
Ärzte hinter
anderen Akademikern herhinken. Dafür lässt jedoch ihre geistige Stabilität stark zu wünschen
übrig. Das
betrifft besonders die Zahl der Selbstmorde im Alter zwischen 45 und 65 Jahren, die nach
älteren Studien
zwei bis drei Mal über dem Durchschnitt liegt. Ärztinnen haben von allen weiblichen
Gruppen die
höchste Suizidrate. Nach einer neuen Erhebung sterben sie 5,6 Mal häufiger von eigener Hand
als andere
Akademiker und als die Gesamtbevölkerung. Psychiater und Psychotherapeuten, so der
einhellige Tenor
aller Experten, haben jedoch das höchste Suizidrisiko von allen medizinischen Gruppen.
Die helfenden Berufe fallen auch statistisch gehäuft einer Sucht zum Opfer, die vorwiegend
die
Gestalt des Alkoholismus annimmt. Die Zahl der Trinker unter den Ärzten liegt über dem
Bevölkerungsmittel und wird auf bis zu 5 Prozent geschätzt. Die verschiedenen Stadien der
Sucht
verlaufen bei Heilern meistens versteckt, und auch von der Rehabilitation bekommt die
Außenwelt in der
Regel nichts mit. Es ist zurzeit nicht bekannt, ob einzelne Disziplinen und insbesondere die
Psychotherapeuten ein überdurchschnittliches Risiko tragen.
Schließlich hängt auch der Ehesegen bei Ärzten und Therapeuten in einem besonders hohen
Maße
schief. Ihre Trennungs- und Scheidungsraten liegen weit über dem Durchschnitt, die
Ehepartner haben
überaus häufig mit Störungen der Körperfunktionen und anderen Beeinträchtigungen, wie
etwa
Einsamkeit, zu kämpfen.

«Menschen, die einen Psychotherapeuten aufsuchen, leiden unter schweren


und gravierenden Beeinträchtigungen«

Eines der wichtigsten Argumente, mit denen Psychotherapeuten die Existenz ihrer Institution
und
deren Anspruch auf öffentliche Subventionierung rechtfertigen, ist, dass ihre Patienten unter
einschneidenden seelischen Krankheiten leiden, deren Nichtbehandlung größte Gefahren für
Leib und
Seele heraufbeschören würde. Wer wollte einer selbstmordgefährdeten, depressiven Witwe
den seelischen
Beistand vorenthalten, wer schlüge einem Angstpatienten, der von ständig wiederkehrenden
Panikattacken gebeutelt wird, den Wunsch nach Unterstützung aus?
Doch die Grenzen zwischen jenen, welche die Heilung einer klar definierten Störung
brauchen, und
jenen, die Lebenssinn und eine Steigerung des persönlichen Wohlbefindens suchen, sind in
der
therapeutischen Praxis fließend. Es gibt Menschen, die regelmäßig unter depressiven Schüben
leiden, sie
aber ohne fremde Hilfe überstehen. Und es gibt Menschen, die schon beim kleinsten
Karriereknick oder
Beziehungsknatsch professionelle Hilfe suchen. Die Institution Psychotherapie, behauptet der
amerikanische Psychologe Robert A. Baker, übt eine große Anziehungskraft besonders auf
Menschen aus,
die einfach» unangemessen hohe Erwartungen an das Leben «haben. 42 Auch die kanadische
Psychologin
Tana Dineen schließt aus ihrer intimen Kenntnis der Therapieszene, dass der Prototyp des
zeitgenössischen Klienten den Heiler nicht aus dem Wunsch nach Beseitigung eines
umschriebenen
Leidens besucht.3
Nach ihren Beobachtungen sieht eine repräsentative moderne Therapiegeschichte eher
folgendermaßen aus:»Eine Hausfrau, die mit ihrem Leben unglücklich ist, sucht einen
Therapeuten auf,
um mit ihrer Einsamkeit und Frustration fertig zu werden. Der Heiler arrangiert wöchentliche
Sitzungen,
bei denen verschiedene Themen, darunter ihre Kindheitserinnerungen und ihre Eltern, ihr
zurückgezogenes erwachsenes Leben und ihre leidenschaftslose Ehe, zur Sprache kommen.
Ein Jahr
später ist sie immer noch unglücklich mit ihrem Leben, aber sie ist >glücklich mit der
Therapie<, froh
darüber, dass sie endlich mit einer verständnisvollen Person über ihr Unglück reden kann.«
Das Beispiel sei nur eines von Millionen Klienten, die jedes Jahr mit milden und diffusen
Formen der
Unzufriedenheit bei einem Therapeuten landen. Manchmal würden diese Fälle auch durch
plötzlich
«wieder entdeckte «Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit oder durch
hochgestochene
und dramatisch klingende Fachbegriffe wie» Posttraumatische Stresskrankheit«,»chronisches
Müdigkeitssyndrom «oder» Internetsucht «aufgepeppt. Was den genauen Umfang der
Psychomisere in
der Bevölkerung angeht, ist man weitgehend auf Schätzungen angewiesen. Aus Kreisen der
Psychotherapeuten werden immer wieder Angaben laut, wonach jeder zweite Bundesbürger
einmal in
seinem Leben an einer psychischen Störung erkrankt; jeder Vierte soll zurzeit an einer
«behandlungsbedürftigen «seelischen Störung leiden. Dazu kämen Hunderttausende, die sich
in einer
Grauzone aus Unausgefülltsein, Sinnleere und Glücklosigkeit wälzen.
Doch ein amerikanischer Psychologe, der vor einiger Zeit eintausend Akten von tatsächlich
psychotherapierten Klienten studierte, zeichnete nach Bakers Beschreibung ein völlig anderes
Bild der
Therapiemotive:»Die überwiegende Mehrheit der Probleme, die bei Psychotherapeuten
vorgebracht
wurden, hatten keinen bedrohlichen Charakter. «Die meisten Klienten waren solche, die man
als
«besorgte Gesunde«(»worried well«) bezeichnet.»In über der Hälfte der Fälle ging die
Ursache für die
Therapie auf übertriebene Egozentrik zurück. 849 Fälle waren durch Einsamkeit, Egozentrik
und
Selbstbesessenheit gekennzeichnet. Sehr häufig standen auch schlicht Langeweile und eine
zynische
Haltung zum Leben im Vordergrund. «Viele der Patienten hatten gleichzeitig mehrere der
genannten
Beeinträchtigungen.
«Mit jeder neuen Methode, mit jeder frisch diagnostizierten Neurose wächst für den so
bombardierten
Otto Normalmenschen das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit«, diagnostiziert das
Nachrichtenmagazin
«Der Spiegel«.38»Was jahrtausendelang wie selbstverständlich zum Dasein gehörte, wird nun
auf der
Couch und anderswo problematisiert, analysiert und schließlich seziert. «Immer mehr
Menschen schieben
die Verantwortung für Problembewältigung und Sinnfindung jedem anderen, nur nicht sich
selber zu. Die
Psychologen und ihre Fürsprecher in den Medien haben dieses fatalistische Dogma in den
vergangenen
Jahrzehnten auf allen Kanälen missioniert. Wir alle sind gestört, neurotisch, krank, depressiv,
süchtig und
verrückt, weil die» Umstände«, die Erziehung, die Eltern, und unsere vernachlässigten
Bedürfnisse uns
gezeichnet haben. Das ganze Leben ist eine Kette von krank machenden Traumatisierungen,
die mit dem
Austritt aus dem Mutterleib, oder wahlweise noch viel früher, beginnt.
«Dieses Delegieren der Verantwortung hat eine weitere Konsequenz«, fürchtet der
Psychologie-
Professor Ernst Pöppel.»Ich meine, dass sich unsere persönliche Identität nur dann ausprägen
kann, wenn
wir den Schmerz und die Lust auch einmal zulassen, also an die Grenzen unseres Erlebens
gehen und
diese Grenzen selber bestimmen. Wenn wir mit einer analgetischen Grundeinstellung jeden
Schmerz
wegtherapieren, haben wir kaum Gelegenheit, zu prüfen, wie wir uns unter Belastung
bewähren, wie wir
es schaffen, Schwierigkeiten zu überwinden, wer wir eigentlich sind.«43

«Psychotherapeuten sorgen dafür, dass spezifische Störungen mit den


angemessenen Techniken behandelt werden«

Annähernd 600 konkurrierende Verfahren drängeln sich heute auf dem bunten Markt der
Seelenhilfe,
und diesem überbordenden Therapieangebot steht eine nicht einmal grob abschätzbare Zahl
von
psychischen Störungen und Symptomen gegenüber. Nach dem klassischen hippokratischen
Verständnis
müssten bei einer derartigen Vielfalt von Heilmethoden eigentlich Fragen der» Indikation
«und
«Kontraindikation «im Mittelpunkt stehen: Für welche Störung bei welchem Patienten ist
welche
Behandlung am besten – oder aber völlig deplatziert?
In der scheinfrommen Realität der Psychotherapie werden solche Fragen jedoch pikiert
beiseite
geschoben.»Der durchschnittliche Psychotherapiesuchende kauft die Katze im Sack«, klagt
der Berliner
Psychotherapie-Forscher Eckhard Giese.44 Offenbar macht kaum ein Psychotherapeut je die
Frage zum
Thema,»ob der Klient für ihn bzw. für die Therapierichtung, die er repräsentiert, geeignet sein
mag.
Tatsächlich kommt es in der Praxis sehr selten vor, dass ein Psychotherapeut einen Klienten
abweist.«
Auch der amerikanische Psychologe Al Siebert kreidet der Psychotherapie diesen
Dilettantismus an:»Die
gegenwärtigen Standards der Psychotherapie sind jedoch so, dass nur der theoretische
Hintergrund und
die Überzeugungen des Therapeuten die Ausrichtung der Therapie bestimmen, und nicht die
Symptome
des Patienten.«
Statt der angebrachten Selbstbescheidung entwickeln die Psychotherapeuten offenbar einen
Universal-
und Allheilmythos, demzufolge ihr Therapieangebot das allein selig machende für alle Hilfe
Suchenden
ist.»Richtig ist«, so Giese,»dass eine der besten therapeutischen Techniken die Überweisung
ist.«
Geradezu pikant ist nach Ansicht des Psychotherapie-Forschers Klaus Grawe in diesem
Zusammenhang
die Tatsache, dass in der BRD nahezu alle Lehrstühle für Psychosomatik mit Anhängern des
freudschen
Credos besetzt sind. Doch nach dem Ergebnis der graweschen Metaanalyse kann es überhaupt
keinen
Zweifel mehr geben, dass die Psychoanalyse bei psychosomatischen Störungen eindeutig
keinen
therapeutischen Nutzen bringt.
«Wer mit einer Angststörung bei einem Analytiker landet«, schreibt das Nachrichtenmagazin»
Der
Spiegel«,»weil ihn sein Hausarzt dorthin geschickt hat, wird auf Gedeih und Verderb per
Analyse
behandelt – oft jahrelang vergebens.«38 Allerdings würde ihn auch die»
fachgerechte«Überweisung nicht
unbedingt davor schützen, in die Mangel der freudianischen Redekur genommen zu werden.
Nach einer
Umfrage in der Schweiz arbeiten auch 98 Prozent aller ärztlichen und 72 Prozent aller
psychologischen
Seelenhelfer mit psychoanalytischen Verfahren, berichtet Grawe. Vermutlich müssen sich die
Seelenklempner zwangsläufig bei diesen Versatzstücken aus der Mottenkiste der
Psychoanalyse bedienen,
weil ihre Klientel das» Bohren «nach Kindheitserinnerungen und andere Finessen der Wiener
Schule als
selbstverständlichen Aspekt einer» richtigen «Therapie erachtet.
Wie dilettantisch und unprofessionell Psychotherapeuten bei der Planung ihrer Behandlung
vorgehen,
kann man nach der Schilderung des amerikanischen Psychologen Terence W. Campbell in
einer Serie von
empirischen Studien ablesen.10 Die Entscheidungen über das therapeutische Vorgehen werden
demnach
fast nie in einer logischen, systematischen Form vorgenommen. Nach dem Ergebnis der
Untersuchung
wurden die genauen Ziele und das methodische Vorgehen allein auf Basis des intuitiven
Eindruckes
ausgewählt.»In über 90 Prozent der Fälle ließen die Therapeuten jegliches relevante
Forschungsergebnis
außer Acht, sie berücksichtigten nur das, was sich gut anhörte. «De facto stellte sich sogar
heraus, dass
Psychotherapeuten generell die Augen vor dem Stand der Wissenschaft schließen, resümiert
Campbell.
«Ein besonders ernüchterndes Forschungsergebnis besagte, dass weniger als 10 Prozent von
1100
befragten Psychotherapeuten überhaupt irgendwelche Forschungsarbeiten für ihre Arbeit
heranzogen.«
Bei einer anderen Studie kam heraus, dass Psychotherapeuten es vorziehen,
Behandlungsfragen mit ihren

10
Kollegen zu diskutieren, statt die professionelle Literatur zu konsultieren.»Alles in allem
deuten diese
Ergebnisse darauf hin, dass Therapeuten Klatsch und Gerüchte über rigoroses Denken stellen
– was ganz
gewiss als Krise betrachtet werden muss.«
In diesem unwissenschaftlichen und durch fehlende Selbstkritik gekennzeichneten Umfeld
verhärten
sich theoretische Modellvorstellungen zu dogmatisch gehüteten Glaubenssätzen. So führen
die meisten
therapeutischen Schulen die aktuellen seelischen Nöte ihrer Klienten auf irgendwelche
schädigenden
Einflüsse in der mehr oder weniger weit entfernten Vergangenheit zurück. Der Glaube, dass
die Wurzeln
allen Übels in den Lebensgeschichten der Klienten liegen, setzt aber häufig eine willkürliche
Blindheit
für die gegenwärtigen Probleme dieser Menschen und für die sich häufenden
Forschungsergebnisse
voraus, die beweisen, dass die Wurzeln in vielen Fällen in biochemischen, neurologischen und
genetischen Faktoren liegen. Außerdem haben Therapeuten oft kein Gespür dafür, dass sie die
«Tatsachen«, die ihre eigenen Vorannahmen untermauern, erst durch subtile Einflüsse aus
ihren Patienten
mühsam» hervorkitzeln «müssen. Die Branche ist weitgehend blind für den»
Erwartungsdruck«, den sie
ausübt, und der zur Folge hat, dass Klienten die Symptome» produzieren«, die in die
Ideologie der Heiler
passen. Klassische Freudianer» entdecken «bei ihren Patienten Hinweise auf frühkindliche
sexuelle
Versuchungen, während manche ihrer Konkurrenten im gleichen» Kaffeesatz «Hinweise auf
eine
«multiple Persönlichkeit«(siehe entsprechendes Kapitel)»entdecken «würden.
Kein Wunder, dass die Zunft ob dieser unprofessionellen Haltung bei diagnostischen und
prognostischen Tests versagt, schließt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes. Wenn sie
die
zukünftige Entwicklung einer Person vorhersagen sollen, erweisen sich Psychotherapeuten als
denkbar
schlechte Propheten. In einer US-Studie wurden zum Beispiel 200 Personen nachuntersucht,
die vor 35
Jahren psychologisch sondiert worden waren. Drei Viertel derer, für deren Schicksal die
Kenner schwarz
gesehen hatten, erfreuten sich bester seelischer Gesundheit.»Was das bedeutet, ist, dass
niemand eine
Methode entwickelt hat, um vorherzusagen, wer sich verändert, oder wie oder wann.«

«Wenn Psychotherapie ohnmächtig ist, sind seelisch Leidende zu einer


desolaten Ausweglosigkeit verdammt«

Der Gedanke, dass die psychotherapeutischen Anstrengungen im Großen und Ganzen


vergeblich sein
könnten, wirkt auf viele Menschen allein deshalb so unerträglich und ungeheuerlich, weil
damit seelisch
Kranken scheinbar jegliche Hoffnung auf Heilung geraubt wird. Dahinter steckt die tief
sitzende
Gewissheit, dass eine psychische Störung eine Art Rohrbruch darstellt, der unbedingt durch
einen
erfahrenen und verantwortungsbewussten (Seelen-)Klempner gerichtet werden muss, damit er
nicht zu
einer zerstörerischen Überschwemmung ausartet.
Im Unterschied zu Rohrbrüchen besteht indes der erste Weg zur Besserung bei seelischen
Krankheiten
in der Erkenntnis, dass es gar keinen überlegenen,»fachkundigen «Experten gibt, ja, dass man
selbst der
beste Experte für die eigene Genesung ist. In diesem Sinne haben die vernichtenden
Ergebnisse der
Psychotherapie-Forschung einen äußerst demokratischen und egalitären Charakter:
Psychotherapeuten
können Neurosen nicht besser heilen als jeder wohlmeinende Laie, und sie leiden selbst in
erhöhtem
Maße an den» Verrücktheiten«, die sie bei anderen therapieren wollen. Das kann nur heißen,
dass
niemand für die» richtige «Bewältigung des Lebens ein Patentrezept besitzt. Es gibt keine
besonderen
Tricks, Verhaltensmaßregeln oder Techniken, die einem» Fachmann «einen überlegenen
Umgang mit
seelischer Not vermitteln würden. Wir brauchen also keine Angst zu haben, dass wir im Leben
straucheln
müssen, nur weil uns die klugen Einsichten jener fehlen, die die psychologische Weisheit» mit
Löffeln
gefressen «haben.»Es gibt keinen Grund, unsere eigenen Vorstellungen darüber, was im Leben
wichtig
ist, über Bord zu werfen und durch jene eines Therapeuten zu ersetzen«, fasst der Psychologe
Robyn M.
Dawes diese emanzipatorische Erkenntnis in Worte.
Wir können unser Leben im Zweifelsfalle selber ändern. Dazu ist es überhaupt nicht nötig, auf
die
Polsterung durch eine wohl behütete Kindheit oder ein strahlendes Selbstwertgefühl
zurückzugreifen.
Diesen Floh haben überhaupt erst die Psychotherapeuten den Menschen ins Ohr gesetzt. Die
menschliche
Seele besitzt enorme Selbstheilungskräfte, die das psychische Leid in einer großen Zahl aller
Fälle ohne
jedes äußere Zutun zum Verschwinden bringen. Allein die fixe Idee, dass man ohne die Hilfe
eines
Psychotherapeuten nicht mehr weiterkommt, kann schon einen negativen Teufelskreis
erzeugen. Es ist
viel wichtiger, sich mental von seinen Problemen abzuwenden und sich aktiv, wenn nicht
aggressiv in die
Welt da draußen zu begeben.»Unterziehen Sie sich einfach einmal neuen und radikal
veränderten
Lebenserfahrungen«, empfiehlt zum Beispiel der Psychologe Terence W
Campbell.»Unternehmen Sie
Dinge, die Sie noch nie getan haben, mit Menschen, die Ihnen völlig fremd sind. Gehen Sie
auf die
Empfindungen und Probleme anderer Menschen ein. «Aber auch Musik, Kunst, sportliche
Betätigung,
das intensive» Aufgehen «in Leidenschaften und Hobbys, soziales Engagement für
Schwächere und
Benachteiligte, die Einnahme von Vitaminen, Mineralien und Biostoffen und viele andere
gutartige
«Kicks «können ein probates Antidot gegen die Dämonen unserer Seele sein.
Wenn die seelischen Nöte unerträglich werden, ist ein Gespräch mit einem einfühlsamen
Freund oder
eventuell der Besuch einer Selbsthilfegruppe die erste Wahl, rät Campbell.»Vergessen Sie nie,
dass Sie in
sich die psychologischen und spirituellen Ressourcen besitzen, nicht nur um zu überleben,
sondern um
glücklich zu werden und Ihre Ziele zu erreichen. «Jeder Therapeut, der einem Hilfe
Suchenden nicht
zuallererst diese fundamentalen Wahrheiten übermittelt und an dessen eigene Stärken und
Selbstverantwortung appelliert, ist völlig inkompetent und hat seinen Daseinszweck verfehlt.

1 »Wucherndes Dickicht«. In: Der Spiegel, Nr. 25 /98.


2 Eysenck, Hans Jürgen: Learning theory and behavior therapy. In: Hans Jürgen
Eysenck (Hg.): Behavior therapy and the neuroses. Pergamon Press, London 1960.
3 Dineen, Tana: Psychotherapy – The snake oil of the 90's? In: Skeptic, Vol. 6
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4 Dineen, Tana: Manufacturing victims. Constable Press, London 1999.
5 Stevens, Lawrence: The case against psychotherapy.
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psychotherapies: Empirically,»All must have prices«. In: Psychological bulletin, Vol. 122
(1997), S. 203–215.
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8 Zimmer, Dieter E.: Tiefenschwindel. Rowohlt Verlag, Reinbek 1986.
9 Warters, Ethan/Ofshe, Richard: Therapy's delusions. Verlag Scribner, New York
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10 Dawes, Robyn M.: House of cards. Psychology and psychotherapy built on
myth. Free Press, New York et al. 1994.
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Psychopharmakologie im Urteil der Bevölkerung. In: Psychotherapie,
Psychosomatik, Medizinische Psychologie. Bd. 43 (1993), S. 286–292.
12 Degen, Rolf: Von Tiefenpsychologie und Hochstapelei. In: Zeit Magazin, Nr.
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13 Auckenthaler, Anne: Das Risiko der klientenzentrierten Psychotherapie oder:
Die unsichere Welt der Nacheffekte. In: Eckhard Giese/Dieter
Kleiber: Risiko Therapie. Beltz Verlag, Weinheim 1991.
14 Eysenck, Hans Jürgen: The effects of psychotherapy – An evaluation. In:
Journal of Consulting psychology, Vol. 16 (1952), S. 319–324.
15 Carey, Michael P. et al.: Self initiated smoking cessation: A review of the
empirical literature from a stress and coping perspective. In: Cognitive therapy and
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16 Klingemann, Harald: Der Freitag, wo alles kaputt war, oder die Macht des
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19 Snyder, C. R. et al.: Hope as psychotherapeutic foundation of common factors,
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21 Tallman, Karen et al.: The client as a common factor: Clients as self healers. In:
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22 Siebert, Al: What if psychotherapists had to meet FDA standards for
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http://mentalhealthfacts.com/otherarticles/psychotherapyfda.htm
23 Grawe, Klaus et al.: Psychotherapie im Wandel. Hogrefe Verlag, Göttingen et
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24 Asay, Ted R. et al.: The empirical case for the common factors in therapy. In:
Mark A. Hubble et al. (Hg.): The heart and soul of change. What works in therapy.
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25 Margraf, Jürgen: Persönliche Mitteilung im Telefongespräch mit dem Autor.
26 Shapiro, Arthur K./Shapiro, Elaine: The powerful placebo. Front ancient priest
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1, hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt 1982.
28 Horgan, John: Der menschliche Geist. Luchterhand Verlag, München 2000.
29 Shear, Katherine M. et al.: Cognitive behavioral treatment compared with
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30 Cooper, Joel: Effort justification in psychotherapy. In: Gifford Weary/Herbert L.
Mirels (Hg.): Integrations of clinical and social psychology.
Oxford University Press, New York 1982.
31 Durlak, Joseph A.: Comparative effectiveness of paraprofessional and
professional helpers. In: Psychological Bulletin, Vol. 86 (1979), S. 80–92.
32 Hattie, John A. et al.: Comparative effectiveness of professional and
paraprofessional helpers. In: Psychological Bulletin, Vol. 95 (1984), S. 534–541.
33 Berman, Jeffrey S./Norton, Nicholas C: Does professional training make a
therapist more effective? In: Psychological Bulletin, Vol. 98 (1985), S. 401–407.
34 Kyrouz, Elaina M. / Humphreys, Keith: A review of research on the
effectiveness of self-help mutual aid groups.
http: //mentalhelp.net/articles/selfres.htm
35 Grawe, Klaus: Freud und die Erforschung des Ichs. In: Der Spiegel, Nr.
53/1998.
36 Amrein, Josef: Gesundbeterei und erst noch zu teuer? In: Wellwoche,
10.9.1998.
37 Giese, Eckhard/Kleiber, Dieter: Therapie: Immer ein riskantes Unternehmen.
In: Psychologie heute, Nr. 18 (1991), S. 50–55.
38»Das Dasein wird seziert«. In: Der Spiegel, Nr. 30/1994.
39 Furman, Ben /Ahola, Tapani: Nachteilige Auswirkung von
psychotherapeutischen Annahmen: Eine Anwendung der Attribuierungstheorie auf
die kritische Untersuchung der Psychotherapie. In: Familiendynamik, Bd. 5
(1990), S. 288–304.
40 Reimer, Christian: Lebensqualität von Psychotherapeuten. In: Psychotherapeut,
Bd. 39 (1994), S. 73–78.
41 Urban, Martin: Wenn sich Statistiker die Seele vornehmen. In: Süddeutsche
Zeitung, 9.3.1999.
42 Baker, Robert A.: Mind games. Prometheus Books, New York 1997.
43 Pöppel, Ernst:»Das Glück in der Kniekehle«.
http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1998/11/articles/poeppel.html
44 Giese, Eckhard: Risiken für Klienten. In: Eckhard Giese/ Dieter Kleiber: Risiko
Therapie. Beltz Verlag, Weinheim 1991.

Karma im Zellkern

«Die Persönlichkeit des Menschen wird durch seine Erziehung bestimmt«

Es gibt kaum ein Credo, das den Menschen so in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie der
Glaube an
den prägenden Einfluss der Erziehung. Die Art und Weise, wie Kinder in den ersten
Lebensjahren von
ihren Eltern behandelt werden, drückt demnach ihrer Persönlichkeit einen unverwischbaren
Stempel auf.
Es wird ohne den leisesten Zweifel davon ausgegangen, dass eine rundum günstige und
liebevolle
Kindheitsgeschichte naturnotwendig zu einem ausgeglichenen und lebenstüchtigen Charakter
führt. Wer
zu Hause nur Abneigung und Gleichgültigkeit zu spüren bekam, muss für den Rest seines
Lebens mit
«Urschmerz«, Neurosen und Komplexen kämpfen. Wer als Kind ständig Prügel bezogen hat,
wird selbst
zum Schläger. Wer nie Grenzen gesetzt bekam, probt unablässig, wie weit er gehen kann, bis
er dem Kick
der Gewalt erliegt.
«Für so gut wie alle Untaten, die je verübt wurden, bürdet die Gesellschaft den Eltern eine
Mitschuld
auf«, bringt es das Nachrichtenmagazin» Der Spiegel «auf den Punkt. 1 Nicht weniger als 72
Störungen der
kindlichen Psyche, so die Psychologin Ursula Nuber in ihrem Buch» Der Mythos vom frühen
Trauma«,
schrieben Therapeuten 1990 bei einer Umfrage der Schuld der Mütter zu: von aggressivem
Verhalten über
Transsexualität bis zu Schizophrenie.2 Zwar haben viele Menschen den Eindruck, dass es sich
bei
derartigen Zusammenhängen um gesicherte Erkenntnisse handelt, doch kaum jemand kann
mit klaren
Worten sagen, durch welche Befunde, Messungen oder Beobachtungen der Glaube an die
Allmacht der
Erziehung eigentlich untermauert wird.
Es ist heute durchaus üblich, auf» verschüttete «Erlebnisse aus der Kindheit zurückzugreifen,
wenn
man seine gegenwärtigen Probleme besser verstehen will. Doch dieser Rückschluss ist
keineswegs
selbstverständlich: Bis zu denn zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wäre es
unseren
Vorfahren fremd und absurd vorgekommen, Kriminalität, Neurosen oder Untreue auf
frühkindliche
Belastungserfahrungen zurückzuführen.»Die Theorie«, schrieb der Stuttgarter
Verhaltensforscher
Hansjörg Hemminger bereits 1982 hellsichtig,»ist also entweder ein bahnbrechender,
ungeheurer
Fortschritt, der das vorherige Denken revolutioniert, oder ein schlichter Irrtum.«3
Ganze Berge von aufschlussreichen Daten und Erhebungen, die in den vergangenen Jahren
gesammelt
wurden, lassen jetzt nur noch die Diagnose» Irrtum «zu. Je mehr Beobachtungen die
Wissenschaftler
zusammentrugen, je genauer sie ihre Rechenmodelle ausfeilten, umso mehr schrumpfte der
vermeintlich
überragende Einfluss der Erziehung dahin.»Wie immer sich Kinder entwickeln, die Eltern
können nichts
dafür«, fasst das Schweizer Nachrichtenmagazin» Facts «die Quintessenz der neuen Analysen
zusammen.4 Auch der Psychologe und Verhaltensgenetiker David C. Rowe vom Institut für
Familienstudien der Universität von Arizona stellt die Macht der Erziehung radikal in Frage.
Er
postuliert,»dass die Eltern, von Familien der Arbeiterschicht bis zu den Akademikern, wenig
Einfluss
darauf haben, welche Eigenschaften ihre Kinder letztlich als Erwachsene entwickeln
werden«.5
Die umstürzlerischen Forscher wissen, dass ihre Thesen in seltener Einstimmigkeit nicht nur
gesundem
Menschenverstand widersprechen, sondern auch so ziemlich allem, was zum Thema
Erziehung (noch) in
den populären Sachbüchern und in dicken akademischen Schwarten aus den
Universitätsbibliotheken
steht. David C. Rowe verweist gelassen auf die Geschichte der Wissenschaft, wenn er die
Armee
ungläubiger Sozialwissenschaftler und Laien kommentiert:»Früher hielt man die Erde für eine
Scheibe;
es gibt Momente, wo Experten und Volksmeinung falsch liegen. «Und Rowe hat keine
Zweifel, dass dies
ein solcher Moment ist.
Durch die Gnade der Unwissenheit haben die meisten Fachleute im deutschsprachigen Raum
noch gar
nicht gemerkt, wie tief die gehätschelte These von der Allmacht der Erziehung im
Schlamassel steckt.
Der Psychologe Urs Schallberger von der Universität Zürich weiß, dass viele seiner Kollegen
aus der
Entwicklungspsychologie von den neuen Ergebnissen keine Ahnung haben:»Die sind immer
wieder
überrascht, wenn ich darauf zu sprechen komme.« 4 Eine Folge der» normalen zeitlichen
Verzögerung«,
wie Schallberger meint, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse benötigen, um ein
Fachgebiet zu
durchdringen und sich in Professorenköpfen niederzulassen.

«Frühe seelische Traumata schädigen Menschen ein Leben lang«

In ihrer ursprünglichen Form ist der Glaube an die überwältigende Macht der Erziehung auf
Sigmund
Freud, den Begründer der Psychoanalyse, zurückzuführen. Nach seiner» Traumatheorie
«werden in den
ersten sechs Lebensjahren die entscheidenden Weichen für unser Wohl und Wehe im späteren
Leben
gestellt. Frühes seelisches Leid, die so genannten Traumata, können demnach vom
heranreifenden
Organismus nicht verkraftet werden und fallen dem» Unbewussten «anheim, von wo aus sie
lebenslänglich verheerende Schäden an Leib und Seele des betreffenden Menschen anrichten.
Wie der
Verhaltenswissenschaftler Hansjörg Hemminger schon vor mehreren Jahren schrieb, stellt
diese
Überzeugung jedoch eine haltlose und wissenschaftlich völlig unbegründete Überbewertung
der ersten
Lebensjahre dar, die im krassen Gegensatz zu den neueren Erkenntnissen der empirischen
Forschung
steht.»Bei der Theorie von der zuverlässig erfreulichen Wirkung einer günstig verlaufenden
Kindheit
handelt es sich um einen Mythos.«
Den Psychoanalytikern reicht es als Beweis schon, wenn sie in den Träumen und freien
Assoziationen
ihrer Patienten versteckte Hinweise auf verdrängte seelische Erschütterungen der frühen
Kindheit
eruieren können. Auch der Patient selbst mag in solchen Entlarvungen eine plausible und
zwingende
Erklärung seiner Symptome sehen, zumal sie ihn aus seiner Ungewissheit befreien und ihm
eine geistige
Zielscheibe für seine Suche nach Sinn und Verantwortung bieten. Doch aus der Perspektive
der
empirischen Wissenschaft lässt sich der Zusammenhang zwischen frühen Traumata und ihren
späten
Folgen nur in prospektiven Langzeitstudien eindeutig prüfen, bei denen eine größere Gruppe
von
Probanden vom Säuglingsalter bis zum Erwachsenendasein von den Forschern verfolgt und
psychologisch getestet werden.
Es gibt mehrere solcher Langzeitstudien, und ihre Ergebnisse versetzen samt und sonders der
Traumatheorie einen Todesstoß, rekapituliert Hemminger:»Mit erstaunlicher Häufigkeit
gingen fähige,
ausgeglichene und einfühlsame Erwachsene aus traumatischen Familienverhältnissen hervor.
Umgekehrt,
und dieser Befund ist für die Praxis noch bedeutsamer, wurden begabte, problemlose und
glückliche
Kinder zu unzufriedenen, neurotischen Erwachsenen, die sich und ihrer Umgebung zur Last
fielen.«
Jerome Kagan von der Harvard-Universität, der bedeutendste Entwicklungspsychologe
unserer Zeit,
drückt diese Tendenz noch radikaler aus:»Die japanische Plünderung von Nanking 1939, die
Kulturrevolution in China, die Massenmorde in Bosnien und die Schlächtereien in Ruanda…
Ich
vermute, dass die meisten Männer, die diese schrecklichen Gräuel begingen, in ihrer Kindheit
liebevolle
Eltern hatten.«6
Einmal erworbene Verhaltensmerkmale können auf jeder neuen Entwicklungsstufe
abgeschüttelt oder
wesentlich verändert werden, so dass der frühen Kindheit keine spezifische, prägende
Sonderrolle zufällt.
Auch Dieter E. Zimmer pflichtet dieser radikalen Neubewertung bei:»Der Erwachsene ist
nicht
verdammt, seine Kindheit fortzusetzen, er kann sie auch überwinden. Kinder sind
widerstandsfähig.
Selbst eklatant große Belastungen führen nicht notwendig zu Neurosen, Psychosen oder ins
Verbrechen,
und umgekehrt schützt die Abwesenheit von Belastungen nicht vor späteren Problemen.« 7 Mit
größter
Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht eine einzige seelische Störung – in der eingängigen Manier
von
Psychothrillern – auf ein singuläres, verdrängtes Erlebnis zurückführen.
Kinder, die aus ungünstigen Familienverhältnissen oder aus einem Heim wegadoptiert
wurden,
wuchsen nach einer turbulenten Phase der Umstellung in die Probleme ihrer Alltagsfamilie
hinein. Ihre
soziale Anpassungsfähigkeit wurde letztlich weder durch Schwangerschaftskomplikationen
vor ihrer
Geburt noch durch Komplikationen bei der Bindung oder einen längeren Heimaufenthalt
gehandikapt.
Selbst Kinder, die in Heimen über zwei oder mehrere Jahre hinweg keine persönlichen
Bindungen
aufbauen konnten, glichen etwaige Verhaltensschwierigkeiten in erstaunlich kurzer Zeit noch
aus.»Die
frühe Milieutheorie der Tiefenpsychologie«, konstatiert Hemminger,»die annimmt, dass das
kindliche
Milieu den erwachsenen Charakter wesentlich determiniert, wird durch die Beobachtungen
widerlegt.«
Eine theoretische Weiterentwicklung, hinter deren Fassade die widerlegte Traumatheorie
fröhliche
Urständ feiert, ist die Lehre von der frühen Mutterentbehrung. Kurz zusammengefasst besagt
sie, dass
Säuglinge sehr früh eine besondere Bindung an ihre Mutter entwickeln, die den Prototyp für
alle späteren
Liebesbeziehungen abgibt. Wird dieses zarte Band durch einschneidende Erlebnisse wie den
Tod der
Mutter oder einen Heimaufenthalt gekappt, wächst dieser Riss sich zu bleibenden
emotionalen Schäden
aus, die von der Liebesunfähigkeit über Aggressivität und Gefühllosigkeit bis hin zur
Depression und
Schizophrenie reichen.
«Inzwischen gibt es genügend Untersuchungen, um die Säulen von der frühkindlichen
Mutterentbehrung zum Einsturz zu bringen«, erhebt Jens Asendorpf, Professor für
Persönlichkeitspsychologie am psychologischen Institut der Humboldt-Universität
Einspruch.8 Wird unter
«frühkindlicher Mutterentbehrung «der Tod der leiblichen Mutter verstanden, lässt sich dieser
Einsturz
besonders leicht aufzeigen. Die Frage, ob der frühe Tod eines Elternteils die Anfälligkeit für
Depressionen
im Erwachsenenalter erhöht, wurde in mehreren Studien untersucht. Die Antwort lautet
schlicht und
einfach: Nein.»Auch für andere Persönlichkeitsmerkmale konnte bisher kein einziger Effekt
des Todes
eines Elternteils schlüssig nachgewiesen werden. «Die Waisen aus dem Zweiten Weltkrieg
und dem
Koreakrieg, die in ihren ersten Lebensjahren nur eine mangelhafte Bindung an Erwachsene
gehabt hatten,
entwickelten sich nach der Adoption durch fürsorgende Pflegeeltern gut, wendet der
Entwicklungspsychologe Jerome Kagan gegen den übertriebenen Bindungsfetischismus ein.
Menschen, die einige Jahre ihrer Kindheit in einem Heim verbracht haben, stehen auch heute
noch in
dem Ruf, emotional gestört, antisozial und bindungsunfähig zu sein. Doch auch dieses
Stereotyp hält
einer sorgfältigen Prüfung nicht stand. In einer methodisch anspruchsvollen Studie wurde das
weitere
Schicksal von 137 Probanden untersucht, die vor dem siebten Monat in ein Heim gekommen
waren. Zwar
waren die ehemaligen Heimkinder etwas gehemmter als ihre Altersgenossen mit
Normalbiographie, zieht
Asendorpf Bilanz. Doch bei den Merkmalen Aggressivität, Delinquenz, Intelligenzmangel
und soziale
Unbeliebtheit stach ihre Persönlichkeit kein bisschen vom Durchschnitt ab. Das ist umso
bemerkenswerter, als der Heimaufenthalt in vielen Fällen von zusätzlichen
Belastungserfahrungen wie
einer zerrütteten Herkunft begleitet wird.
Viele Kinderpsychologen geben heute Brief und Siegel darauf, dass es nicht auf die Existenz
einer
frühen Mutterbindung, sondern auf deren» Sicherheit «ankommt. Bindungssicherheit – die
Fähigkeit
eines Kleinkindes, auch nach einer kurzen Trennung von seiner Mutter eine ungetrübt positive
Beziehung
aufrechtzuerhalten – soll die Basis für die Qualität aller späteren Beziehungen sein. Über
Kindern, die bei
der Wiederkehr ihrer Mutter unbeeindruckt weinen und quengeln, lastet der Fluch einer
Beziehungsstörung.
Psychologen haben unzählige Versuche unternommen, diese These zu untermauern: Im
Laborversuch
wird die Bindungssicherheit der Kinder gecheckt, dann nimmt man die Qualität ihrer
Beziehungen zu
Freunden, Bekannten oder Erziehern ins Visier. Das Ergebnis dieser Versuche bringt die
Theorie der
Bindungssicherheit zu Fall, wie die amerikanische Psychologin Judith Rich Harris
attestiert:»Die immer
wieder aufgestellte Behauptung, dass die Qualität der Beziehungen zu Freunden von der
Sicherheit der
vorherigen Mutterbindung abhängt, findet in den empirischen Daten keine Bestätigung.«9
Kleine Kinder
haben mehr oder weniger gute Beziehungen zu ihrem Vater, ihren einzelnen Geschwistern
oder zu ihren
Erziehern, und nie hängt die Güte dieser Beziehungen von der Sicherheit der Ur-Connection
zur Mutter
ab.
«Die moderne Forschung befreit uns vom mythischen Glauben, dass ein früher Segen oder
Fluch, den
Fee oder Hexe über der Wiege flüstern, unser späteres Schicksal bestimmt«, folgert der
Psychologe
Asendorpf aus den neuen Befunden. Auch der Verhaltenswissenschaftler Hemminger spricht
diesen
Ergebnissen eine befreiende Wirkung zu. Durch die Psychoanalyse in Verbindung mit der
antiautoritären
Pädagogik habe sich der Mythos breit gemacht, dass jedes schmerzliche Erlebnis in der
Kindheit bereits
«Trauma «sei und damit langfristig krank mache. In der Psychotherapie und auch im
öffentlichen
Bewusstsein kann diese Irrlehre schlimme Folgen haben: Patienten der unterschiedlichsten
therapeutischen Schulen machen völlig unbegründet ihre» traumatische «Vergangenheit für
ihre
«verpfuschte «Gegenwart und ihre hoffnungslos erscheinende Zukunft verantwortlich und
weisen so die
dringend gebotene Eigenverantwortung von sich. Eltern werden zu der völlig unrealistischen
Illusion
verleitet, sie könnten und müssten ihren Kindern alle seelischen Belastungen ersparen, um sie
nicht für
alle Zeiten zu» traumatisieren«.

«Der Erziehungsstil der Eltern determiniert die Persönlichkeit der Kinder«

Man braucht kein professioneller Kinderpsychologe zu sein, um sehen zu können, dass Eltern
beim
Umgang mit ihren Sprösslingen völlig unterschiedlichen Verhaltensmustern folgen: Die einen
treten ihren
Kinder mit Wärme und Respekt entgegen, während andere beim kleinsten Anlass barsch und
herrschsüchtig reagieren. Die einen überschütten den Nachwuchs mit Affenliebe, während die
anderen
die kalte und distanzierte Tour abziehen. Eine überfürsorgliche Mutter nimmt ihr Kind auf
Schritt und
Tritt vor eingebildeten Gefahren in Schutz.
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit nimmt auch der ungebildete Laie wahr, dass schon
kleine
Kinder verschiedene Temperamente und Verhaltensstile zeigen: Die einen klammern sich bei
jedem
Windzug verstört an der Mutter fest, die andern wenden sich unverzagt dem Fremden und
Unbekannten
zu. Manche Kinder kommen den Anweisungen ihrer Eltern mit telepathischer Vorausschau
nach, andere
blocken starrsinnig jeden erzieherischen Einfluss ab.
In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts brachten solche Beobachtungen eine
junge
Disziplin – die Sozialisationsforschung – auf eine scheinbar geniale Idee: Die Unterschiede in
den
kindlichen Charaktermerkmalen gehen auf die unterschiedlichen Erziehungsstile zurück. Die
Untersucher, so Judith Rich Harris, hatten die» Erziehungshypothese«(the nurture
assumption) und damit
den größten psychologischen Mythos des Jahrhunderts proklamiert. Ein halbes Jahrhundert
lang haben
ganze Heere von Psychologen und Pädagogen Eltern und Kinder in unterschiedlichen Settings
beobachtet; in Checklisten notierten sie die jeweils vorherrschenden Verhaltensweisen und
Handlungen,
und sie verteilten Fragebögen an Eltern und Kinder: Wenn das Verhalten der Eltern tatsächlich
den
kindlichen Charakter determiniert, dann müssten sich doch statistische Zusammenhänge
finden lassen.
Die» Ergebnisse «der Erziehungsstilforschung üben seit Jahrzehnten einen hypnotischen
Einfluss aus.
Bei Eltern, Pädagogen und im öffentlichen Bewusstsein gibt es heute keine Zweifel mehr,
dass es einem
permissiv und lieblos erzogenen Kind an Selbstbewusstsein fehlt. Eine gefühlskalte und
kontrollierende
Aufzucht bringt dagegen» nachweislich «aggressive und ungesellige Zöglinge hervor. Nur
Eltern, die auf
einen durchgehend warmherzigen und führenden Erziehungskurs achten, dürfen hoffen, dass
ihr Kind
seine Kindheit ohne Knacks übersteht. Diese Zusammenhänge wirken so einleuchtend, dass
man sie
scheinbar bei sich selbst oder seinen eigenen Sprösslingen nachvollziehen kann – und das,
obwohl der
Rückschluss von der Persönlichkeit auf die Erziehung eine» Schnapsidee «des zwanzigsten
Jahrhunderts
ist. Psychologen und Erziehungswissenschafter bekommen das Dogma schon zu Beginn des
Studiums
eingetrichtert, und die» Beweise «halten respektable Lehrbücher und Fachzeitschriften
fest.»Die
Wahrheit ist jedoch, dass all die Studien, die dem Zusammenhang zwischen Erziehungsstil
und Charakter
nachgingen, keineswegs so klare und eindeutige Ergebnisse brachten, wie es zunächst
schien«, lässt
Dieter E. Zimmer den Luftballon platzen. 10»Oft war der Zusammenhang nur schwach,
widersprüchlich,
partiell oder fehlte ganz.«
Kein Name ist so mit der Erziehungsstilforschung verknüpft wie der von Eleanor Macoby.
Die
Psychologin von der Stanford-Universität leitete die bedeutsamsten Forschungsprojekte,
verfasste die
wichtigsten Handbuchartikel und gab die Fach- und Lehrbücher mit der größten Tragweite in
der
Psychologie heraus. Umso bemerkenswerter, dass die Pionierin kürzlich nach Jahrzehnten der
Forschung
einen zutiefst pessimistischen Ton anschlug:»Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in vielerlei
Hinsicht
zutiefst enttäuschend. In einer Studie mit nahezu 400 Familien konnten nur wenige
Verknüpfungen
zwischen den (in ausführlichen Interviews erhobenen) Erziehungspraktiken der Eltern
einerseits und
unabhängigen Einschätzungen der Persönlichkeit ihrer Kinder andererseits gefunden wurden
– in der Tat
so wenige, dass praktisch nichts veröffentlicht wurde, was diese beiden Datensets verbindet.«8
Die Erziehungsstilforschung, moniert auch Judith Rich Harris, ist an ihren eigenen Daten
gescheitert.
Mit kritischem Auge lassen sich keine oder nur höchst zweifelhafte Beweise für den
elterlichen Einfluss
auf die Persönlichkeit finden. Nicht einmal der scheinbar» wasserdichte «Zusammenhang
zwischen der
mütterlichen Überfürsorglichkeit und der kindlichen Unselbstständigkeit hält einer
Überprüfung stand.
Und selbst wenn der behauptete Zusammenhang zwischen Elternverhalten und kindlicher
Psyche
existieren würde, wäre damit noch überhaupt nichts über die Richtung der
Ursache-Wirkung-Kette
ausgesagt. Vielleicht ruft ja auch umgekehrt eine bestimmte kindliche Persönlichkeit ein
bestimmtes
Erziehungsverhalten bei den Müttern und Vätern hervor. Vielleicht ist es die freundliche und
emotional
stabile Gemütsverfassung des Kindes, die seine Eltern zu einem harmonischen und
wohlwollenden
Erziehungsstil animiert.»Selbst sehr kleine Kinder tragen schon aktiv zum
Eltern-Kind-Verhältnis bei«,
bringt Judith Rich Harris eine der fundamentalsten neuen Erkenntnisse der
Entwicklungspsychologie auf
den Punkt. Schon sehr junge Babys schauen ihren Eltern in die Augen und bringen deren
Herzen mit
ihrem einzigartigen Lächeln zum Schmelzen. Wenn die Kinder die Veranlagung zu einer
autistischen
Geistesstörung haben, bleibt dieser betörende Gefühlsausdruck aus.»Es ist schwer,
Enthusiasmus für ein
Kind zu zeigen, das einem selbst keinen Enthusiasmus zeigt.«
Auch der Jenaer Entwicklungspsychologe Rainer Silbereisen beschreibt Entwicklung als eine
Art
Pingpongspiel zwischen Anlage und Erziehung:»Ein Kind lockt mit seinem Temperament
bestimmte
Verhaltensweisen bei den Eltern hervor, etwa Arger, Zuwendung, Überbehütung. Insofern
schafft es sich
selbst seine Umwelt. «Kinder bewirken bei den Eltern eine auf ihr individuelles Temperament
und ihre
persönlichen Begabungen abgestimmte Erziehung.»Angenommen«, erklärt Silbereisen, Kind
A der
Familie Lehmann ist im Musischen ein bisschen neugieriger und eine Idee interessierter als
Kind B, dann
werden sich ehrgeizige Eltern – siehe die berühmten Eislaufmütter – schon sehr früh diesem
Kind
zuwenden und es fördern, während sein Geschwister eine andere Entwicklung nimmt.«11
Ein zweiter Mangel der Erziehungstheorie ist möglicherweise noch viel verheerender als die
Erkenntnis der aktiven Kindesrolle. Die Theorie setzt nämlich voraus, dass die
entscheidenden Merkmale
durch zwischenmenschlichen Einfluss von den Eltern auf das Kind übertragen werden. Die
Sozialisationsforschung hatte sich strikt verboten, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu
ziehen, dass
ein Teil der Persönlichkeit auch mit den Erbanlagen von einer Generation an die folgende
weitergegeben
wird. Schon allein der Gedanke, dass der Mensch nicht als unbeschriebenes Blatt, sondern mit
vorgefertigten Dispositionen das Licht der Welt erblickt, galt in diesen Kreisen als
antihumanistische
Ketzerei.»Also wurde die Möglichkeit gar nicht erst mitgeprüft«, übt Dieter E. Zimmer
Kritik. Wenn
psychisch stabile Kinder psychisch stabile Eltern haben, liegt das vielleicht nur daran, dass
beide Parteien
eine genetische Anlage für psychische Stabilität gemeinsam haben.»Darum rächt es sich, dass
sich diese
Wissenschaft auf einem Auge blind gemacht hatte: Ihre Untersuchungen sind nicht direkt
falsch, aber
nichts sagend.«
An die Nebenrolle, die sie bei der Persönlichkeitsbildung ihrer Kinder spielen, werden die
Eltern
sich wohl erst noch gewöhnen müssen. Da kommt eine Ernüchterung auf sie zu, die auch
schon jene
fortschrittlichen Linksliberalen zu spüren bekamen, die ihre Kinder durch den Verzicht auf
das
vermeintliche Erzübel Autorität zu besseren Menschen machen wollten, gibt Dieter E.
Zimmer zu
bedenken.»Nicht wenige mussten erleben, dass ihr neuer Stil nicht immer aufging – dass ihre
Kinder
zu den Spießern oder Karrieristen wurden, die sie selber um keinen Preis hatten sein wollen.
Zu
Drogensüchtigen, zu Skinheads und jedenfalls zu etwas unvorhergesehen Eigenem.«
Dass die Rolle der Eltern umgeschrieben wird, halten Experten für überfällig, auch wenn der
neue Part
noch nicht im Detail bekannt ist.»Die gängige Ideologie schiebt die ganze Verantwortung für
ein
missratenes Kind den Eltern zu«, sagt der Zürcher Psychologe Schallberger.»Man kann die
neuen
Befunde auch als Entlastung sehen, denn sie nehmen den Eltern eine übertriebene
Verantwortung.«
Väter und Mütter brauchen also keine Schuldgefühle zu haben, wenn ihre» Leistung «hinter
dem
Vorbild der TV-Elternideale zurückbleibt. Homo sapiens wäre längst von der Bildfläche der
Evolution
verschwunden, wenn es für sein Wohlergehen der» Supereitern «bedurft hätte. Überhaupt
sprechen die
evolutionären Mechanismen gegen das klassische Sozialisationskonzept. Warum auch sollten
Kinder
ihren Eltern noch das Verhaltensrepertoire abschauen, wenn sie schon deren Gene in sich
haben? Vom
Standpunkt der Evolution aus betrachtet ergibt das wenig Sinn: Junge Menschen müssen sich
in einer
anderen Welt behaupten als ihre Eltern. Wären sie nichts als Eins-zu-eins-Kopien ihrer
Erzeuger, fehlte
ihnen die Flexibilität, sich auf veränderte Lebensbedingungen und soziale Normen
einzustellen. In der
eigenen Familie gibt es weder Arbeit noch einen Lebenspartner.»Eltern sind Vergangenheit,
Gleichaltrige
sind Zukunft«, schreibt Judith Rich Harris klipp und klar. Bleibt die Frage offen, ob Eltern
jemals an ihre
eigene Einflusslosigkeit glauben werden.
«Der Erziehungseinfluss ist wichtiger als die Macht der Erbanlagen«

Im kritischen Bildungsbürgertum und in weiten Teilen der aufgeklärten Öffentlichkeit gilt es


als
verwerflich, einen bedeutenden Einfluss der Gene auf die Persönlichkeit zu erwägen. Der
Verweis auf
Erbunterschiede hat auf den ersten Blick etwas Inhumanistisches, weil er die Möglichkeit
impliziert, dass
soziale Ungleichheit eine biologische Basis haben könnte. Es ist einfach tröstlicher, an eine
beliebige
Formbarkeit der menschlichen Seele zu glauben, weil diese Illusion besser mit der
Machbarkeit eines
sozialistischen Gleichheitsparadieses vereinbar ist.
Auch für viele Wissenschaftler stellt sich das alte Problem von Anlage und Umwelt noch
immer als ein
erbitterter Clinch um Prozentanteile dar. Doch abseits der lärmenden Revierkämpfe hat die
relativ junge
Disziplin der Verhaltensgenetik im Stillen die traditionellen Vorstellungen über das Wirken
von» nature«
und» nurture «auf den Kopf gestellt. Ausgerechnet die Suche nach dem Einfluss der Gene
brachte
bahnbrechende Erkenntnisse über Wesen und Tragweite der Umweltbedingungen ans
Tageslicht.
Die neuen verhaltensgenetischen Studien, die mit den besten in der Wissenschaft verfügbaren
Methoden und Auswertungsverfahren gerüstet sind, haben bei den führenden Experten alle
Zweifel am
Einfluss der Erbanlagen ausgeräumt.»Der kalte Krieg in der Anlage-Umwelt-Debatte ist
vorbei«,
konstatiert der Washingtoner Psychiatrie-Professor David Reiss.12» Es gibt eindeutig erbliche
Komponenten im Verhalten«, pflichtet die Psychologin Shelley D. Smith aus Omaha bei.
Genetische
Einflüsse» existieren und sind real«, konzediert selbst der engagierte britische
Genetik-Kritiker Steven
Rose.
Bei der Suche nach der Erblichkeit seelischer Merkmale hat die Verhaltensgenetik mit einigen
fundamentalen Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Gegensatz zu Mendels Erbsen, von denen
lediglich zwei
Varianten existieren (eine glatte und eine gekräuselte), bestehen psychische Eigenschaften aus
einem
Kontinuum mit schwammigen Konturen. Das Fach Psychologie verfügt über unzählige
diagnostische
Verfahren, Menschen in solche und solche einzuteilen, und es herrscht keine Einigkeit über
die
«wichtigen «Dimensionen der Persönlichkeit. Dazu kommt, dass die betreffenden Merkmale
(häufig)
nicht durch ein singuläres Gen determiniert werden, sondern durch ein Potpourri von
Erbfaktoren.
Die herkömmliche Sozialisationsforschung kann den Einfluss des Erbes und den der Umwelt
niemals
voneinander abgrenzen, weil beide Sphären bei Eltern und Kindern hoffnungslos miteinander
verschachtelt sind. Um diese verschlungenen Kräfte» auseinander zu dröseln«, greift das Fach
heute vor
allem auf Zwillings-, Adoptiv- und Familien-Studien zurück. Man untersucht Gruppen, deren
Erbfaktoren und Umweltbedingungen zu einem genau definierten Grad zusammenfallen.
Adoptivgeschwister haben zum Beispiel 100 Prozent Umweltbedingungen, aber keine Gene
gemeinsam,
während getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge 100 Prozent Erbfaktoren, jedoch
keinerlei
Umweltbedingungen teilen.»Normale «Geschwister dagegen liegen mit 50 Prozent
gemeinsamen Genen
und 100 Prozent gleicher Umwelt im Mittelfeld. Wenn man nun in Erfahrung bringt, wie stark
sich die
Personen in dem untersuchten Merkmal ähneln, kann man mit mathematischen Mitteln die
Macht der
Gene und die des Milieus voneinander trennen.
Kritiker mögen sich an Details einzelner Studien festbeißen,»aber die Pfeile weisen alle in die
gleiche
Richtung«, betont der Psychologe Thomas J. Bouchard vom Minnesota Center for Twin and
Adoptions
Research. Nach seinen Messungen an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen werden
die sozialen
und gefühlsmäßigen Eigenschaften unserer Persönlichkeit zu durchschnittlich 46 Prozent
durch
Erbfaktoren determiniert. Der Psychologe J. C. Loehlin von der University of Texas in Austin
hat alle
Studien an Zwillingen in einer statistischen Gesamtschau erfasst. Fazit der Metaanalyse: Die
Charakterunterschiede gehen zu durchschnittlich 42 Prozent auf die Erbsubstanz zurück.
Diese Größenordnung, also eine Erbeinfluss zwischen 40 und 50 Prozent, zieht sich wie ein
roter
Faden durch alle von Forschern getesteten Wesensmerkmale und gewinnt dadurch an
Glaubwürdigkeit,
betont Robert Plomin, ein bekannter Psychologe und Lehrbuchautor von der Pennsylvania
State
University. Auch Dieter E. Zimmer teilt diese Sicht:»Die Erblichkeitsberechnungen der
Verhaltensgenetik sind jedoch keine Mode, die sich wieder verziehen wird. Sie haben jetzt
dreißig Jahre
Test auf Test bestanden, sind dabei immer raffinierter und nie widerlegt worden, obwohl der
Mainstream
der Wissenschaft auf nichts so erpicht war wie auf ihre Widerlegung.«–»Bezogen auf einige
Aspekte
Ihrer Persönlichkeit«, folgert der amerikanische Genetiker Dean Hamer kühn,»haben Sie so
viel Wahl
wie bei Ihrer Schuhgröße, nämlich keine.«
Je zuverlässiger es den Forschern gelingt,»Persönlichkeit «per Fragebogen zu erfassen, desto
größer
wird das errechnete Gewicht der Gene. Zum Beispiel verbesserte ein Forscherteam der
Universitäten
Bielefeld und Warschau mit dem Psychologen Rainer Riemann die Messmethode, indem sie
nicht allein
die Betreffenden selbst über ihre Wesensmerkmale ausfragten, sondern auch jeweils zwei
ihrer Freunde.10
Auf diese Weise wurden die sozusagen dreifach gesicherten Persönlichkeiten 660 eineiiger
und 304
zweieiiger Zwillingspaare verglichen. Resultat: Der ermittelte genetische Anteil reichte bis zu
70 Prozent!
Besonders» Offenheit für neue Erfahrungen«, also die Tendenz, originell, kreativ,
phantasievoll und
künstlerisch zu sein, wird nach dieser und vielen anderen Erhebungen stark von den Genen
bestimmt.
Aber auch Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit (Extraversion), Verträglichkeit, emotionale
Stabilität und
Anfälligkeit gegenüber Stress wird erheblich von den Anlagen gespeist, ebenso die politische
Grundhaltung (etwa» Traditionalismus«) oder die Religiosität eines Menschen und sogar
dessen
Abhängigkeitsrisiko gegenüber verschiedenen Drogen. Riemanns Fazit: An der Bedeutung
der Gene für
die Persönlichkeitsentwicklung» gibt es keinen ernsthaften Zweifel mehr«.
Es wäre allerdings verheerend, wenn sich der intellektuelle Beitrag der Verhaltensgenetik auf
die
Verkündung eines Prozentwertes beschränkte. Die Ziehung einer Demarkationslinie im Sand
wäre
unergiebig und langweilig, denn dann hieße die» Erklärung «ja immer nur, Anlage und
Umwelt tragen
soundso viel bei, und damit basta. Die wirklich aufregende Suche nach den verborgenen
Prozessen hinter
den Phänomenen würde durch die Zahlenakrobatik im Keim erstickt.
Zum Glück hat das Fach vor ein paar Jahren eine Entdeckung gemacht, die die menschliche
Selbsterkenntnis um einen Quantensprung bereichert. Sie betrifft aber gerade nicht die Gene,
sondern den
Umwelteinfluss, und sie lässt ahnen, dass wir uns auf der Suche nach den prägenden Kräften
des
Schicksals erst in der Startposition befinden. Unter dem Begriff» Umwelt «verstehen die
Soziologen und
Milieutheoretiker formende Kräfte wie etwa Bildung, Sozialschicht, Wohnverhältnisse oder
elterlicher
Erziehungsstil. Alle Personen, die dem gleichen Milieu unterworfen sind, müssten dadurch in
die gleiche
Richtung beeinflusst werden. Die Persönlichkeit von Geschwistern, die im Schoße einer
Familie groß
werden, müsste also durch die» geteilte Umwelt «auf eine Linie» getrimmt «werden.
Diese Möglichkeit lässt sich» wasserdicht «an Adoptivgeschwistern prüfen, welche keine
Gene
gemeinsam haben. Sie werden jedoch beide im gleichen Milieu» sozialisiert «und sollten sich
daher
eigentlich immer ähnlicher werden. Sie werden es aber nicht, zieht der bereits erwähnte
Berliner
Psychologie-Professor Jens Asendorpf Bilanz.7 De facto bleibt ihre Persönlichkeit auch nach
Jahren
gemeinsamer Aufzucht so unterschiedlich wie die von zwei willkürlich aus der Bevölkerung
herausgegriffenen Individuen. Alles, was die Adoptiveltern auch an Erziehungs- und
Prägungsversuchen
aufbieten, prallt offenbar wirkungslos an der unerklärlichen sozialen und emotionalen
Einzigartigkeit der
Zöglinge ab.
Dies Ergebnis sei niederschmetternd für die» alte «Milieutheorie, meint der Forscher. Das gilt
übrigens
noch mehr für den spiegelbildlichen Trend bei eineiigen Zwillingen, die gleich nach ihrer
Geburt getrennt
wurden und in unterschiedlichen Milieus aufwuchsen. Das wirklich Überraschende an den
Gen-
Doppelgängern ist nämlich in Wirklichkeit gar nicht ihre (manchmal spektakuläre)
Ähnlichkeit.
Das aufregendste Ergebnis der Zwillingsforschung besteht tatsächlich darin, dass sich die
genetischen
«Klone «in einem definierten Maße unähnlich sind. Und dieses definierte Maß ist bei den
Zwillingen, die
in getrennten Milieus aufwachsen, um kein Jota größer als bei den gemeinsam aufgezogenen
Ebenbildern.
Da sie unterschiedlichen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, müssten ihre Persönlichkeiten
mit der Zeit
auseinander driften. In Wirklichkeit haben sie aber am Ende genauso viel Übereinstimmungen
(eben 40
bis 50 Prozent) wie die doppelten Lottchen, die in einer Familie aufwuchsen. Fazit: Alle
Einflüsse, die
Menschen (und eben auch erbgleiche Menschen) unähnlich machen, kommen bereits in ein
und derselben
Familie vor. Der Einfluss der» geteilten Umwelt«, also der globalen Milieufaktoren, die» ohne
Ansehen
der Person «auf alle Angehörigen gleichermaßen hereinprasseln, ist in allen Studien
vernachlässigbar
schwach und übersteigt in keinem Fall eine Größe von wenigen Prozentpunkten, erläutert
Bouchard.
Diese Einsicht, die erst vor ein paar Jahren erwuchs und bisher alle empirischen Prüfungen
bestanden
hat,»ist wohl das bedeutendste Ergebnis der Verhaltensgenetik für die
Persönlichkeitsforschung –
bedeutender als der Nachweis, dass Persönlichkeitsunterschiede genetisch mitbedingt sind«,
meint
Asendorpf. Es gibt offenbar sehr wohl Erfahrungen (»nurture«), die den Charakter prägen –
mindestens in
dem Maße wie die Gene –, aber das sind anscheinend die persönlichen, kleinen und
idiosynkratischen
Erfahrungen, die jede Person für sich selbst durchmacht, weil sie» demokratisch«über alle
Klassen und
Schichten streuen. Im Grunde müssten schon heute alle Lehrbücher der Soziologie neu
geschrieben
werden. Das traute Heim ist offenbar kein monochromes Tauchbad, aus dem Kinder identisch
eingefärbt
hervorgehen. Sondern eher eine Ansammlung vieler Mikroweiten.
Zwar steckt die» Fahndung «nach den» nicht geteilten Faktoren «noch in ihren
Kinderschuhen, aber es
lassen sich laut Asendorpf schon jetzt ein paar Vermutungen über ihre Identität
anstellen:»Einzelne
Personen aus dem persönlichen Bekanntenkreis oder aus der Welt der Medien, die zu
Vorbildern erkoren
und zu imitieren versucht werden… bestimmte umweltbedingte Krankheiten und
Behinderungen,
einschließlich aller vorgeburtlichen, nichtgenetischen Entwicklungsstörungen; emotional
aufrührende
individuelle Erlebnisse. «Der spezielle Kumpel aus den Wachstumsjahren, der eine
idealisierte Lehrer aus
der frühen Pubertät oder gar die leidenschaftlich verschlungene Fernsehserie aus der Kindheit
drücken
dem» Ego «womöglich nachhaltiger ihren Stempel auf als alle Grobfaktoren der Familie und
der
Herkunftsschicht. Und alle diese» Einflüsse «werden ihrerseits erst durch einen Filter
wirksam, der auf
verschlungene Weise mit der einzigartigen genetischen Ausstattung und der unwiederholbaren
Vorgeschichte des jeweiligen» Empfängers «durchsetzt ist.
Auf diesem Stand des Wissens muss die Psychologie im Grunde eingestehen, dass wir von
den
prägenden Faktoren des menschlichen Wesens sehr viel weniger Ahnung haben, als es bisher
schien.
«Auch wenn Wissenschaftler nicht gerade leidenschaftlich auf eine Theorie abfahren werden,
die dem
Zufall eine bedeutende Rolle zuweist, ist es doch sehr gut möglich, dass viele kritische
Lebensumstände,
die Persönlichkeit und Intelligenz beeinflussen, auf Zufälligkeiten beruhen, die höchstens für
eine kleine
Minderheit von Menschen überhaupt irgendeine Bedeutung besitzen«, betonen Brody und
Crowley.
Der neue Appeal des Zufalls macht auch den Wissenschaftsjournalisten Zimmer
nachdenklich.»Sollte
sich der reine lebensgeschichtliche Zufall als das Entscheidende erweisen, so wäre die auf
Gesetzmäßigkeiten erpichte Wissenschaft in einer hoffnungslosen Lage. Ein Mädchen sieht
mit zehn
einen Naturfilm, der sie fasziniert, und verbringt den Rest des Lebens am liebsten in der
einsamen Natur,
die Schwester verpasst das Programm, weil sie an der Straßenecke auf ihre Clique gestoßen
ist, und wird
zum Disco-Typ…«
Als wenn es mit der Widerlegung der klassischen Milieutheorie nicht genug wäre, hat der
Psychologe
Robert Plomin in einer groß angelegten Zwillingsstudie den Schwindel erregenden Nachweis
geführt,
dass viele vermeintliche Umweltbedingungen durch genetische Einflüsse unterminiert sind. 11
Fazit:
«Milieu «ist kein eigenständiger Stimulus, der auf passive Empfänger» niederprasselt«; die
Person ist
aktiv in Wahrnehmung und Erzeugung» ihres «Milieus eingespannt. So nahmen getrennt
aufgewachsene
eineiige Zwillinge ihre familiäre Umgebung als»ähnlich «wahr, selbst wenn Welten
dazwischen klaffen.
Bei Videoaufzeichnungen stellte sich zudem heraus, dass sie von ihren Müttern ähnlicher
behandelt
wurden als zweieiige Schicksalsgenossen. Der Erziehungsstil wurde zu rund 30 Prozent durch
die
Erbmasse der Adoptivkinder diktiert.
Selbst so genannte belastende Lebensereignisse, die meist dem Schicksal zugeschrieben
werden,
erwiesen sich zu durchschnittlich 30 Prozent als durch Gene» eingebrockt«. Unfälle im
Kindesalter
schlugen gar mit fast 50 Prozent Erbanteil zu Buche. Ähnlich hoch waren die Prozentwerte
für die
meisten anderen untersuchten Umweltbedingungen: Bewertung von Jugendlichen durch
Kameraden und
Lehrer, Ausmaß des TV-Konsums, Einschätzung des Betriebsklimas und schließlich Stabilität
der Ehe.
Als Plomin seine brisanten Daten in einem programmatischen Beitrag (»The nature of
nurture«) zur
Diskussion stellte, bezogen 30 dazu aufgeforderte Experten Stellung. Lediglich 5 erhoben
grundsätzlichen Einspruch, 19 ergriffen explizit für die revolutionäre Grundannahme Partei.
Dass Erbe und Umwelt in vielen neuen Studien jeweils einen Beitrag von fifty-fifty leisten,
kann nach
Ansicht von Zimmer für Milieutheoretiker kein Anlass zur Selbstgefälligkeit sein nach dem
Motto: Dann
haben eben beide Seiten Recht gehabt im dreißigjährigen Erbe-Umwelt-Krieg. Hier käme die
Freude zu
früh. Zum einen nämlich gehören zu den nichtgenetischen Quellen der Unterschiede, die auf
der
Umweltseite zu Buch schlagen, auch Unfälle, (nichtgenetische) Krankheiten und alle die
Einflüsse, denen
der Fetus im Mutterleib ausgesetzt ist – Ursachen also, von denen man einige» biologisch
«nennen würde
und deren Folgen teilweise im Wortsinn» angeboren «sind.
Zum andern machen die Unterschiede im Genom den mit Abstand größten Einzeleinfluss aus.
Die
nichtgenetische Varianz erklärt sich dagegen aus vielen ganz unterschiedlichen Faktoren.
Folglich hat
kein einzelner von ihnen ein so hohes Gewicht, dass er allein dem genetisch bedingten
Varianzblock
Paroli bieten könnte. Alle Patentrezepte, die mit» Man müsste nur…«beginnen (»nur «die
Armut
beseitigen,»nur «alle auf gute Schulen schicken,»nur «lieb zu den Kindern sein), die sich also
auf eine
einzige und noch dazu hypothetische Umweltursache fixieren, sind von vornherein zum
Scheitern
verurteilt. Wenn sie überhaupt effektiv sind, dann jedes nur in geringem Maß. Nicht nur, dass
es viele
entscheidende Umweltfaktoren gibt: Man weiß bis heute schlechterdings nicht, welche
eigentlich wichtig
sind, man weiß nur, dass es jene nicht sein können, die die Sozialisationsforschung immer im
Auge hatte.
Laut Zimmer müssen wir sogar damit rechnen, dass der durch Erbanlage bestimmte Anteil
unserer
Persönlichkeit in der modernen Welt immer größer wird. Je offener und durchlässiger eine
Gesellschaft,
desto höher werden die Erblichkeiten mancher Merkmale. Denn wo die Umwelt keine
Unterschiede mehr
erzwingt, ist die verbleibende Variation notwendig genetischer Herkunft. Man kann es auch so
sagen:
Jeder sucht sich die Umwelt, die seinen genetischen Anlagen am besten entspricht; je größer
die Freiheit,
die ihm die Gesellschaft dazu lässt (je größer also die Chancengleichheit), desto reiner sind
etwa
verbleibende Unterschiede das Werk der Gene.
Tatsache ist, dass der Einfluss der genetischen Anlage auch im Verlauf eines individuellen
Lebens
immer größer wird. Aus naiver Sicht hätte man damit rechnen können, dass der Mensch beim
Austritt aus
dem Mutterleib noch voll unter dem Diktat seiner genetischen Anlage steht, während der
Umwelteinfluss
mit den Jahren immer mehr Gewicht erhält. Doch ein Team um den Verhaltensgenetiker
Robert Plomin
hat mit einer viel beachteten Studie an 240 Zwillingspaaren im Alter von über 80 Jahren den
Beweis
erbracht, dass die Gene im Alter immer stärker zum Tragen kommen. 13 Ergebnis der Analyse
der
Greisenintelligenz: Obwohl die Senioren viele Jahrzehnte an Lebenserfahrung gesammelt
hatten, war der
Einfluss der Gene auf ihr Denkvermögen verblüffend groß. Ihre allgemeine geistige Fähigkeit
wurde zu
62 Prozent durch Erbfaktoren festgelegt. Das war an der größeren Ähnlichkeit der eineiigen
im Vergleich
zu der der zweieiigen Zwillinge abzulesen.
Münchner Psychologen vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie kamen zu ähnlichen
Erkenntnissen.14
Durch einen Glücksfall hatten die Wissenschaftler um Institutsleiter Franz E. Weinert die
Gelegenheit,
eine Zwillingsstudie fortzuführen, die bereits im Jahr 1937 gestartet worden war. Damals
waren 180
Zwillinge im Alter von rund elf Jahren getestet worden, unter anderem auf ihren IQ. Die
Münchner
Forscher konnten jetzt 87 Personen dieser Stichprobe, die in den fünfziger Jahren erneut
getestet worden
waren, für eine Folgeuntersuchung gewinnen. Darunter waren 23 eineiige und elf zweieiige
Paare sowie
19 Einzelpersonen, deren Partner verstorben oder unerreichbar waren.
Ergebnis: Während der Erbfaktor bei der letzten Erhebung in den fünfziger Jahren» nur«58
Prozent
betragen hatte, machte er beim aktuellen Test 82 Prozent aus. Zudem drängte das Alter den
Einfluss der
traditionellen Milieufaktoren in den Hintergrund. Es machte kaum noch einen Unterschied, ob
die
Senioren in einem gebildeten Elternhaus oder in einem bildungsfernen Milieu aufgewachsen
waren.
Neben den Genen zählte fast nur noch der individuelle Erfahrungshintergrund.
Es hat den Anschein, so resümieren die Autoren, dass der Einfluss der Gene im Alter
zunimmt. Das
kommt vermutlich daher, dass Menschen sich im Leben zunehmend auf die Dinge besinnen,
die ihrer
Anlage entsprechen, glaubt Plomin. Demnach erlangen die Gene, die schon immer aktiv
waren, durch
einen kumulierenden Effekt immer mehr Einfluss.»Es ist keineswegs so, dass im höheren
Lebensalter
plötzlich neue Gene anspringen.«

«Es gibt Erfahrungen, die so traumatisch sind, dass alle Kinder daran zerbrechen
müssen«

Manche Erfahrungen, so ein häufig vorgebrachtes Argument gegen die sich allmählich
herumsprechende Folgenlosigkeit der ersten Lebensjahre, sind derart schrecklich, dass sie
einfach
unauslöschbare Wunden in der Seele der Kinder hinterlassen müssen. Wenn ein Kind in einer
Hölle aus
Vernachlässigung, Armut und Gewalt aufwächst, kann es unmöglich zu einem glücklichen
und
lebenstüchtigen Menschen reifen. Doch dieses Klischee wird jetzt in neuen Studien immer
häufiger durch
die Identifikation von Personen umgestürzt, die sich trotz schwerster Belastungen und
Traumata in ihren
«prägenden «Jahren zu erfolgreichen und produktiven Erwachsenen» mausern«. Manche
Forscher preisen
solche Kinder gar als» Unverwundbare«, andere Experten bezeichnen das Phänomen
zurückhaltender mit
«Resilienz«, nach dem englischen Wort für Unverwüstlichkeit.
Mit der Entdeckung der Resilienz zeichnet sich auch eine radikale Trendwende in der
Entwicklungspsychologie ab: Lange Zeit standen jene Faktoren, die Menschen zu Verlierern
machen, im
Mittelpunkt des Interesses. Die Risikogruppe hatte meist besonders viele traumatische
Erfahrungen hinter
sich und stach häufig durch niedrige Intelligenz, hohe Impulsivität und ein schwach
ausgebildetes
Planungsverhalten hervor. Jetzt verlagert sich der Schwerpunkt zu Gunsten der Kräfte, die aus
vermeintlichen Verlierern erfolgreiche Menschen machen: Sie behaupten sich auf dem
Arbeitsmarkt,
bauen soziale Netzwerke auf und werden ihrer Rolle als Familienväter bzw. -mütter gerecht.
Über die Jahre hinweg häuften sich die Beobachtungen, die nicht mit der herkömmlichen
Verliererperspektive zu vereinbaren waren. Forscher von der Universität Minnesota betreuten
eine
Gruppe von Flüchtlingskindern, die nach den Schrecken des kambodschanischen
Pol-Pot-Regimes in den
Jahren 1970-79 in die USA kamen.15 Sie waren unter anderem Zeugen von Folter,
Misshandlungen und
Mord an Verwandten und Freunden oder entgingen nur knapp dem Hungertod in brutalen
Arbeitslagern.
Noch immer haben sie Alpträume, durchleben Zeiten voller Angst und großer Verzweiflung.
Dennoch
haben die inzwischen erwachsenen Kinder eine höhere Ausbildung genossen und sich ihrem
neuen Leben
sehr gut angepasst.
Als der Arzt Norman Garmezy von der Universität Minnesota eine Gruppe Jugendlicher
untersuchte,
die mit extrem stark depressiven Müttern aufgewachsen waren, kam er aus dem Staunen nicht
mehr
heraus. Viele der emotional vernachlässigten Kinder kamen im Leben erstaunlich gut zurecht.
Unmittelbare Reaktion Garmezys: Es musste eine Fehldiagnose der Mütter vorliegen.
Ähnliche Zweifel
erlebte der britische Arzt Michael Rutter, als er Kinder von Drogensüchtigen untersuchte. Ein
verblüffend
hoher Anteil führte ein völlig normales Erwachsenenleben. Irgendetwas, dachte Rutter, konnte
mit der
herkömmlichen Opfertheorie der Psychologen, nach der schwer traumatisierte Kinder zu
einem
«verkorksten «Dasein verurteilt sind, nicht stimmen.
In der Zwischenzeit haben einige groß angelegte Untersuchungen begonnen, die
«Schutzengelfaktoren «im Leben der Unverwundbaren aufzudecken.16Der Erlanger
Psychologe Friedrich
Lösel etwa hat Jugendliche aus Heimen untersucht, die häufig in einem Multiproblem-Milieu
auf
gewachsen waren: In unvollständigen Familien, in denen Alkoholmissbrauch, Gewalttätigkeit
und soziale
Not vorherrschten. Eine vergleichbare amerikanische Studie nahm Menschen unter die Lupe,
die vor
ihrem zweiten Geburtstag mindestens vier Risikofaktoren ausgesetzt gewesen waren, darunter
Armut,
Streit und Trennung der Eltern oder psychische Krankheiten der Eltern.
Obwohl die Erwartung vorherrschte, dass eine solche Häufung von Risiken die Belastbarkeit
aller
Kinder übersteigt, kam immer wieder der gleiche überraschende Trend ans Tageslicht: Etwa
ein Drittel
wuchs zu lebenstüchtigen Erwachsenen heran, die gut die Herausforderungen von Liebe,
Arbeit und
Freizeit meisterten. Von ihrer Persönlichkeit her waren die Widerstandsfähigen etwas flexibler
und
konnten sich leichter auf veränderte Verhältnisse einstellen. Sie erwiesen sich als etwas
intelligenter und
fühlten sich weniger ausgeliefert. Wenn Probleme anstanden, gingen sie aktiv an diese heran
und nahmen
von sich aus den Rat anderer in Anspruch, während ihre verwundbaren Altersgenossen eher
den Kopf in
den Sand steckten. Die Übernahme von Verantwortung für Geschwister wirkte sich äußerst
günstig aus.
Als sie älter wurden, schienen die Unverwundbaren besonders geschickt darin zu sein, sich
vorteilhafte
«Ersatzeltern «auszusuchen. Obwohl beide Gruppen unter ähnlichen Heimbedingungen
lebten, hatten die
Unverwundbaren eher den Eindruck, dass in ihrem Umfeld stärker zur Selbständigkeit
angeleitet wurde.
Sie gaben auch öfter an, dass das Leben im Heim eine Verbesserung gegenüber den häufig
katastrophalen
Verhältnissen daheim darstellte. Heilsam war zudem der Glaube an eine höhere Macht, einen
Schutzengel
oder daran, dass sich alles zum Guten wenden würde. Wer die Fähigkeit hatte, sich selbst ein
Ziel für die
Zukunft zu setzen, kam ebenfalls besser mit den Widrigkeiten zurecht.
Der Verdacht, dass es sich um veritable» Wunderkinder «handelt, lässt sich aber laut Lösel
nicht
rechtfertigen: Zwischen den Unverwundbaren und einer Vergleichsgruppe» normaler
«Gleichaltriger gab
es weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Normale Kinder können also in
Krisensituationen
ebenfalls Schutzfaktoren mobilisieren. Wir alle verfügen über solche Kräfte, und – wir sollten
sie nutzen,
meint die Psychologin Edith Grotberg von der Universität in Alabama, USA. Für sie gehören
Humor,
Unabhängigkeit, Initiative, Kreativität und Moral zu den Eigenschaften, die uns helfen
können, uns
unserer wahren Stärke und Unbezwingbarkeit bewusst zu werden.

«Misshandelte Kinder misshandeln in einem Teufelskreis der Gewalt ihre Kinder


selbst«

Nach einer Hypothese, die in der Bevölkerung wegen ihrer Plausibilität auf breite
Anerkennung stößt,
pflanzt sich Gewalt an Kindern in einem Teufelskreis der Gewalt über die Generationen fort:
Personen,
die in ihrer Kindheit rohe Misshandlungen über sich ergehen lassen mussten, treten demnach
als
Erwachsene wie hypnotisiert in die Fußstapfen ihrer Peiniger und lassen die erfahrene
Aggression an
ihren eigenen Kindern aus.
Der Glaube an den zyklischen Charakter der Kindesmisshandlung entstand in den siebziger
Jahren,
als Psychoanalytiker den biographischen Hintergrund einzelner Täter aufrollten. Die
überwältigende
Mehrheit, so schien es, hatte das Trauma in der Kindheit am eigenen Leib erlebt, und die
Folge war
offensichtlich ein unbändiger» Wiederholungszwang«. Heute werden jedoch zahlreiche
Schwächen an
diesem Ansatz bemängelt, betont der amerikanische Psychologe Jay Belsky.17 So waren die
Stichproben
oft völlig unrepräsentativ, und auch das Vertrauen in die subjektiven Erinnerungen erscheint
unzulässig.
Es gibt aber mittlerweile einige aussagekräftige» prospektive «Studien, in denen entsprechend
vorbelastete Menschen über einen genügend großen Zeitraum beobachtet wurden. Nach einer
vorsichtigen Schätzung beläuft sich die Transmissionsquote bei der Kindesmisshandlung auf
rund 30
Prozent. Das bedeutet, dass sich lediglich jedes dritte Opfer an seinen eigenen Kindern»
revanchiert«,
während zwei Drittel die grausame familiäre» Tradition «nicht weiterführen. Dabei ist nicht
einmal die
Möglichkeit berücksichtigt, dass die tatsächlich existierende Transmissionsquote durch
erbliche
Gemeinsamkeiten zwischen Eltern und Kindern verursacht wird. Gewalt gegen Kinder geht
jedenfalls in
der überwältigenden Zahl der Fälle von Eltern aus, die dieses Trauma nie selbst erfahren
haben.
Auch die Auffassung, dass misshandelte Kinder in der Folgezeit» automatisch «auf die
schiefe Bahn
geraten und Gewalttaten begehen, bedarf einer statistischen Korrektur. Zwar zeigte sich in
Amerika, dass
Vernachlässigung und Misshandlung das Risiko späterer Straffälligkeit tatsächlich nicht
unerheblich
erhöhen, von etwa 17 auf 26 Prozent. Aber diese Zahlen bedeuten auch, dass die große
Mehrzahl jener,
die als Kinder vernachlässigt oder misshandelt wurden, später nicht straffällig
werden.»Vernachlässigung
und Misshandlung können also weder eine notwendige noch eine ausreichende Vorbedingung
für spätere
Delinquenz sein«, gibt der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer zu bedenken.
Wer in der Öffentlichkeit darauf hinweist, dass Kindesmisshandlung nicht zwingend zu
destruktiven
Verhaltensweisen im späteren Leben führt, setzt sich leicht der ungeheuren Unterstellung aus,
Gewalt
gegen Kinder zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen. Als wenn Kindesmisshandlung erst
dadurch
richtig verwerflich und strafbar würde, dass sie Jahrzehnte später faule Früchte trägt. Doch
muss man sich
nur vor Augen halten, dass auch Gewalt gegen den eigenen erwachsenen Lebensgefährten
eine
abscheuliche Schandtat ist. Und zwar weil sie diesem in der Gegenwart Leid und Schmerz
zufügt, nicht
weil er sich dadurch in der Zukunft eine verkorkste Persönlichkeit einhandelt.
Gewalt gegen Kinder ist allein wegen des kindlichen Leides im Hier und Jetzt eine Freveltat.
Die
Aufklärungskampagne gegen den vermeintlichen» Zyklus der Gewalt «hatte teilweise auch
die Funktion,
die Kindesmisshandlung in all ihrer Schrecklichkeit zu brandmarken. Das moralisch hoch
stehende Motiv
ebnete jedoch einem nachlässigen Umgang mit den wissenschaftlichen Fakten die Bahn, der
jetzt die
Glaubwürdigkeit der Urheber unterminiert.

«Frauen, die selbst eine traumatische Kindheit hatten, können keine guten Mütter
sein«

Wenn man den populären Vorstellungen Glauben schenken darf, ist Mütterlichkeit eine ganz
besondere
Gabe, die nur unter günstigen Voraussetzungen und mit einer gehörigen Portion angelesenem
Know-how
zustande kommt. Nach der Theorie des Wiederholungszwangs müssen Frauen ihren Kindern
wie unter
einem Fluch die gleiche Behandlung angedeihen lassen, die sie bei ihrer eigenen Mutter
erfahren haben.
In unzähligen Broschüren, Handbüchern und Elternzeitschriften wird die Mutterschaft als eine
exakte
Wissenschaft hingestellt, die etwa so brisante Anforderungen stellt wie das Management eines
Atomkraftwerks. Wer beim Kinderkriegen nicht pedantisch die Regeln von Prof. Lamazze
oder Dr.
Leboyer befolgt, hat sich von Anfang an alle Chancen auf eine innige und liebevolle
Beziehung
verscherzt. Und wenn es sich bei der Schwangerschaft gar um einen» Unfall «handelt, kann
die
Gebärerin nur noch als böse» Rabenmutter «enden, die ihr Kind zu einem verpfuschten Leben
verdammt.
Aber in Wirklichkeit beruhen alle diese Erwägungen nur auf Glaubenssätzen und Dogmen,
die von
irgendwelchen Koryphäen ausgedacht und seitdem unkritisch nachgebetet wurden. Der Blick
auf die
empirischen Ergebnisse der Psychologie lässt das ganze Kartenhaus in sich
zusammenbrechen. Das
beweist auch die Langzeitstudie, in der Bettina Wiese vom Max-Planck-Institut für
Bildungsforschung in
Berlin werdende Mütter vom Beginn der Schwangerschaft an bis in die Zeit nach der
Entbindung
beobachtete.18
Quintessenz der Untersuchung: Mütter sind keineswegs die geknechteten Sklaven ihrer
Vergangenheit.
Sie wachsen im Guten wie im Schlechten über die» Prägung «im eigenen Elternhaus hinaus.
Sie müssen
sich auch nicht erst mit den klugen Ratschlägen der Fachleute voll stopfen, wenn sie eine gute
Beziehung
zu ihrem Nachwuchs aufbauen wollen.
Wenn die Theorie vom Wiederholungszwang zuträfe, könnten Frauen nur dann eine liebevolle
Beziehung zu ihrem Kind aufbauen, wenn sie diese» Gnade «bei ihrer eigenen Mutter
erfahren hätten.
Die Frauen, die selbst kühl und abweisend behandelt oder überbehütet wurden, wären
hingegen dazu
verdammt, dieses familiäre» Erbe «weiterzugeben. Doch das stimmt so nicht. Die Frauen, die
angaben,
von ihrer eigenen Mutter nicht gerade verzärtelt worden zu sein, gingen ebenso liebevoll und
zärtlich mit
ihren Kindern um wie ihre Geschlechtsgenossinnen mit den glücklicheren
Kindheitserinnerungen. Sie
lächelten bei der Pflege des Säuglings genauso häufig wie die anderen, gaben gleich häufig
Koseworte
von sich, rieben ebenso oft die Nase des Kleinen und hatten auch genauso oft zärtlichen
Körperkontakt.
Der Glaube, dass Frauen in einem Teufelskreis stecken und ihre eigenen Bindungserfahrungen
auf die
nächste Generation übertragen, ist damit schwer erschüttert.
Aus diesem Grund sind Mütter auch nicht gezwungen, bei ihren Kindern die Entwicklung zur
Selbständigkeit» abzuwürgen«, nur weil ihre eigene Mutter das bei ihnen versucht hat. Die
Frauen, die in
ihrer Kindheit ständig überbehütet und mit extremer Besorgtheit behandelt worden waren,
verhielten sich
bei der Pflege der eigenen Kinder völlig frei, locker und ungezwungen.
Nach einer anderen Klischeevorstellung kann es nur zwischen der Mutter und einem echten
Wunschkind richtig» funken«. Wenn das Kind dagegen einem» Unfall «oder gar einer
ungewollten
Schwangerschaft entstammt, ist die Beziehung schon vor ihrem eigentlichen Beginn
verflucht. Auch
dieser Glaube hält der Überprüfung nicht stand. Den Kindern aus unerwünschten
Schwangerschaften
wurde genauso viel Liebe und Zuwendung zuteil wie den Wunschkindern.
Es ist in den letzten Jahren auch fast zur Pflicht geworden, dass eine moderne, aufgeklärte und
sich
ihrer Verantwortung bewusste Mutter ihr Kind unbedingt bei vollem Bewusstsein zur Welt
bringt. Eine
Vollnarkose gehört nicht zum guten Ton, weil sie angeblich einen Keil zwischen die Mutter
und die
Leibesfrucht treibt. Weit gefehlt; nach Wieses Daten verlief die Urbeziehung auch dann
harmonisch und
liebevoll, wenn das Kind unter Betäubung der Mutter abgenabelt worden war.
Geburtsschmerzen sind
also ganz bestimmt keine Eintrittskarte in den» Klub der guten Mütter«.
Verunsicherte Frauen brauchen sich schließlich auch keine Sorgen zu machen, dass der
Königsweg zur
vollendeten Mütterlichkeit obligatorisch mit Ratgeberliteratur und Volkshochschulkursen
gepflastert sein
muss. Alle Befunde deuten darauf hin, dass die Mutter-Kind-Dyade viel stärker durch Gefühle
und
Instinkte gesteuert wird als durch angelesenes Wissen und graue Theorie. Die Mütter, die
einen besonders
guten Draht zum Baby entwickelten, nahmen schon in der Schwangerschaft spontan Kontakt
mit dem
Ungeborenen auf und versuchten intuitiv, es durch Berührungen und Gespräche zu
stimulieren und zum
Mitgehen zu bewegen. Diese urtümliche und animalische Form der Verständigung liegt den
meisten
Müttern (und Vätern)»im Blut«; sie muss nicht durch Handbücher vermittelt werden.
Wenn eine» gute «Mutterschaft von der Kenntnis psychohygienischer und psychoanalytischer
Weisheiten abhängig wäre, müssten entsprechend beschlagene Mütter ja auch besonders
kompetente
Erzieherinnen sein, folgert der amerikanische Psychiatrie-Professor E. Fuller Torrey.19 Es gibt
nur eine
einzige Studie, die diese Frage systematisch in Augenschein nahm. 21 Mütter, die mehr oder
weniger viel
freudianisches Basiswissen besaßen, wurden dabei im Umgang mit ihren Kindern sondiert.
Peinliches
Ergebnis: Die» aufgeklärten «Frauen kamen besonders schlecht mit ihren Sprösslingen
zurecht.
Außerdem folgt aus der Theorie implizit, dass Psychologen, Psychotherapeuten,
Sozialarbeiter und
ähnliche Fachleute der Seele ein besonders großes erzieherisches Geschick besitzen müssten,
gibt Fuller
Torrey weiter zu bedenken.»Obwohl diese These niemals explizit getestet wurde, ruft ihre
Diskussion
mit Experten der Psychiatrie und der seelischen Gesundheit nur betretenes Lächeln und
Äußerungen von
der Art >Sie sind wohl verrückt< hervor.«

«Die Scheidung der Eltern traumatisiert die kindliche Psyche«

Es ist eine allgemein anerkannte Vorstellung, dass eine Scheidung für Kinder ein erhebliches
Trauma
darstellt, das unweigerlich Narben in der Seele der Betroffenen zurücklässt. Selbst Experten
der
Psychologie und Lebensberatung beschwören die Gefahren für die kindliche Psyche herauf.
Bei genauem
Licht betrachtet besitzt dieser Zusammenhang jedoch erstaunlich wenig Wahrheitsgehalt:
Wenn
überhaupt, dann rufen weniger die Scheidung selbst, sondern die Probleme, die zur Scheidung
führen,
psychische Belastungen für manche Söhne und Töchter hervor.
Es gibt unter Experten eine Tendenz, das Phänomen Scheidung automatisch aus einer
«Desasterperspektive «zu betrachten und als Kontrast den Begriff» intakt «zu verwenden, um
die
vermeintlich heile Familie traditioneller Prägung zu charakterisieren, stellen Norbert
Hofmann-Hausner
und Reiner Bastine vom Psychologischen Institut der Universität Heidelberg fest. 20 In der
modernen
Gesellschaft sind jedoch längst diverse Alternativen zur traditionellen Familie» normal «und
salonfähig
geworden. Außerdem basieren die meisten Aussagen über die schädlichen Effekte der
elterlichen
Trennung auf Daten, die keine Verallgemeinerung zulassen: Auf den Beobachtungen an
behandelten
Klienten, die wegen schwerwiegender Symptome eine Therapie aufsuchen mussten, und auf
der
Untersuchung von Personen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit eine
elterliche Scheidung
erlebt hatten.
Behandelte Klienten sind jedoch keineswegs repräsentativ, und etwaige Störungen bei
Scheidungskindern müssen nicht von der Scheidung selbst herrühren, sondern können auch
durch das
zerrüttete Klima bedingt sein, das zur Trennung führte. Schließlich wird sehr oft unter den
Tisch gekehrt,
dass nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen seelische Verletzungen davonträgt, und dass
diese
Verletzungen meistens einen eher milden Charakter haben. Die methodisch anfechtbaren
Untersuchungen
kommen zu dem Ergebnis, das Kinder als akute Reaktion auf eine Scheidung von
Depressionen, Ängsten
und Schuldgefühlen befallen werden. Aber eine Zusammenschau von 92 Studien mit über
13.000 Kindern
erlaubt auch den Schluss, dass eine große Anzahl von Scheidungskindern unversehrt aus
dem» Trauma«
hervorgeht, betonen die beiden Wissenschaftler. Zudem ist der Grad der Beeinträchtigung
meist so
niedrig, dass die» Desasterperspektive «völlig unangemessen erscheint.
Zu guter Letzt bleibt auch noch die erwähnte Möglichkeit, dass die beobachteten»
Scheidungsfolgen«
in Wirklichkeit in Problemen wurzeln, die dem rechtlichen Schlussstrich lange vorausgehen.
Diesen
Einwand hatten die beiden Seelenforscher in einer Langzeitstudie an 110»intakten «Familien
mit kleinen
Kindern untersucht, welche 11 Jahre lang kontinuierlich befragt wurden. 33 der Ehepaare,
deren Kinder
zum Schluss ein Alter von maximal 14 bis 15 Jahre hatten, waren am Ende der Untersuchung
geschieden;
9 Ehen wurden durch andere Ereignisse aufgelöst.
Durch die besondere Anlage dieser Untersuchung war es nun möglich, die seelische
Verfassung der
Scheidungskinder Jahre vor dem Eintritt des vermeintlichen» Desasters «zu eruieren.
Bemerkenswertes
Ergebnis: Kinder (besonders Jungen), deren Eltern sich später scheiden ließen, wiesen schon
bis zu 11
Jahre vor dem» Eklat «eine Reihe von Besonderheiten auf. Sie waren zum Beispiel etwas
impulsiver und
aggressiver und wurden von anderen als emotional labiler, unruhiger und dickköpfiger
beschrieben. Der
Zusammenhang zwischen elterlichem Streit und kindlichen Störungen war allerdings nur
schwach
ausgeprägt.
Vor dem Hintergrund solcher Daten sei es sehr bedenklich, wenn Eltern aus falsch
verstandener
Rücksicht eine Scheidung vermieden und stattdessen lieber unglücklich verheiratet blieben.
Die
aufgeführten Tendenzen wurden in der Zwischenzeit auch durch die nachträgliche
Auswertung von
Studien bestätigt, die zwar eine andere Zielsetzung gehabt hatten, aber auch hierzu kritische
Informationen enthielten. Die (milden) seelischen Auffälligkeiten der Scheidungskinder
waren Ausdruck
eines Prozesses, der schon lange vor der Zäsur der Trennung eingesetzt hatte. Das heißt, dass
sich
Scheidungskinder praktisch nicht von ihren Altersgenossen unterscheiden, die in einer mit
ähnlichen
Krisen belasteten, aber rechtlich» intakten «Familie aufwachsen.

«Unkonventionelle Familienverhältnisse sind schlecht für die Entwicklung der


Kinder«

Es gibt schon lange Diskussionen darüber, welche Form der Betreuung Kinder brauchen, um
reife und
gesunde Erwachsene zu werden. Häufig wird noch die Ansicht vertreten, dass lediglich die
klassische,
konventionelle und» intakte «Kernfamilie mit einem heterosexuellen Elternpaar die Gewähr
für eine
optimale Entwicklung gibt. Doch die Forschungsarbeiten der letzten Jahre lassen überhaupt
keinen
Zweifel mehr daran, dass die verschiedensten Arten von unkonventionellen beziehungsweise
«normabweichenden «Familienkonstellationen die gleichen Dienste leisten können: Den
allein selig
machenden Weg in das Erwachsenendasein gibt es nicht.
Wissenschaftler in Kalifornien nehmen seit Mitte der siebziger Jahre Familien unter die Lupe,
die eine
unübliche Form des Zusammenlebens eingegangen sind. Einige der Eltern sind unbeirrbare
Hippies, die
sich zu Kommunen zusammengeschlossen haben, oder Alleinerziehende, andere führen»
offene Ehen«
oder ähnliche Beziehungen. Die Experimente geben zu optimistischen Prognosen Anlass,
betont Judith
Rich Harris:»Die Kinder sind genauso schlau, gesund und emotional angepasst wie ihre
Altersgenossen,
die in traditionellen Verhältnissen leben.«
Jetzt haben die Forscher aber auch überraschende elterliche Qualitäten bei einer Gruppe der
Bevölkerung entdeckt, deren Triebschicksal nicht gerade auf Elternschaft programmiert ist.
Homosexuelle Männer und Frauen, so die Psychologin Charlotte Patterson von der
Universität von
Charlottesville, geben vorbildliche Väter und Mütter ab.21 Das Besondere an ihrer
Untersuchung ist, dass
sie erstmals auch Kinder umfasst, die nie in ihrem Leben auch nur von einem» normalen
«Elternteil
umsorgt wurden.
Bei den (amerikanischen) Familiengerichten stoßen die meisten Homosexuellen aber mit
ihrem
Wunsch nach einem Adoptivkind auf Ablehnung. In den Entscheiden heißt es häufig, dass die
Kinder
sexuell» umgepolt «oder in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt werden
könnten. Da
gemeinsames Sorgerecht in Deutschland nur Ehegatten zugesprochen wird, besteht hier für
homosexuelle
Paare höchstens die Möglichkeit, dass ein allein stehender Partner einen Antrag stellt. Der
wird aber fast
immer abgewiesen, da Jugendämter in diesen Fällen Gefahren für das Kindeswohl wittern.
Seit etwa einem Jahrzehnt existieren in den USA empirische Studien, in denen die elterlichen
Qualitäten von Homosexuellen begutachtet wurden. Die meisten der rund ein Dutzend
Untersuchungen
enthalten Informationen über Lesben, denen nach der Scheidung von ihrem Ehemann das
Sorgerecht für
ihre Kinder übertragen wurde. Die drei Studien, die homosexuelle Väter und ihre Kinder zum
Thema
haben, kommen aber zu denselben Schlüssen.
Kinder homosexueller Eltern nannten die gleichen Lieblingsspielzeuge wie ihre
Altersgenossen. Sie
fuhren auch auf die gleichen Lieblingsprogramme und auf die gleichen Lieblingshelden im
Fernsehen ab.
Die Psychotests bescheinigten ihnen, dass sie nicht mehr Wesenszüge des anderen
Geschlechtes
aufwiesen als andere Kinder auch. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf eine Häufung
gleichgeschlechtlicher Neigungen. Nicht einer von 18 Teenagern mit einem homosexuellen
Elternteil
bezeichnete sich bei einer aktuellen Untersuchung als lesbisch oder schwul; dagegen outete
sich einer der
18 Jugendlichen mit einem» normalen «Erziehungshintergrund als schwul. Die
Persönlichkeitsmerkmale
und sozialen Beziehungen der Kinder wiesen keine Auffälligkeiten auf. Sie hatten gleich gute
Kontakte
zu ihren Altersgenossen und mussten keineswegs öfter Hänseleien und Spott erdulden.
Die neusten und wichtigsten Daten hat Patterson jedoch in den beiden letzten Jahren in ihrer
Studie an
37 lesbischen Müttern aus San Francisco gewonnen, die zum größten Teil durch künstliche
Befruchtung,
in wenigen Fällen aber auch durch eine legale Adoption zu einem Kind gekommen waren. Die
Ergebnisse sind umso bedeutsamer, als diese vier bis neun Jahre alten Einzelkinder in keiner
Phase ihrer
Entwicklung durch ein heterosexuelles Elternteil beeinflusst wurden.
Auch unter diesen unverfälschten Bedingungen verlief die Entwicklung der sexuellen
Identität
vollkommen unauffällig. Bei den Kindern waren weder merkliche Persönlichkeitsstörungen
noch
Verhaltensprobleme zu verzeichnen. Bei einem Test, der Auskunft gibt über das pädagogische
Geschick
in kniffligen Situationen, schnitten die Lesben sogar besser ab als Hetero-Mütter. Der
Verdacht, dass bei
Kindern lesbischer Mütter der Kontakt zu den Großeltern abreißt, weil diese die
Lebensführung der
Mutter missbilligen könnten, bestätigt sich nicht. Oma und Opa sahen ihre Enkel gleich
häufig wie
andere Großeltern.
Lesbische Mütter, die mit einer festen Partnerin zusammenlebten, verhielten sich in einem
bestimmten
Punkt vorbildlich: Die» ehelichen «Aufgaben wurden bei ihnen besonders fair und
gleichberechtigt
aufgeteilt. Beide Parteien kochten, wuschen und putzten gleichermaßen, und über alle
wichtigen
familiären Entscheidungen wurde demokratisch abgestimmt. Es gab zwar auch eine
Rollenverteilung, in
dem Sinn, dass sich eine Frau stärker auf den Beruf, die andere stärker auf die Erziehung
konzentrierte.
Aber trotzdem engagierte sich die jeweilige» Ernährerin «stärker für die Erziehung des
Kindes, als dies
der normale Mann in einer normalen Kleinfamilie tut. Je mehr die Erzieherinnen sich die
Erziehungsaufgaben teilten, umso ausgeglichener war das Kind in seiner Persönlichkeit.
Die Daten untermauern hieb- und stichfest, dass Homosexuelle mindestens die gleichen
Qualifikationen als Eltern haben wie Heterosexuelle, betont Patterson. Es ist nach ihrer
Ansicht extrem
unwahrscheinlich, dass neue Befunde ans Licht kommen, die einen anderen Schluss
rechtfertigen
könnten.»Daher ist es auch empirisch nicht mehr zu begründen, dass Lesben oder Schwule
weniger als
Adoptiv- und Pflegeeltern geeignet sind als Heterosexuelle.«

«Die Erziehung legt die Geschlechtsrollen der Kinder fest«

Zumindest in einem entscheidenden Punkt, so ein Einwand gegen das Scheitern der
Erziehungsthese,
drücken Eltern ihren Kindern einen Stempel auf: Indem sie bei ihren Töchtern und Söhnen
bestimmte
Verhaltensweisen fördern, leiten Eltern die Geschlechtsrollen ihrer Kinder in eine feste Bahn.
Überall in
der Welt heben sich Männer und Frauen durch charakteristische Persönlichkeitszüge
voneinander ab; in
den meisten Kulturen sogar sehr viel stärker als in den modernen Industrienationen, gibt
Judith Rich
Harris zu bedenken. Die Herren der Schöpfung beschäftigen sich zum Beispiel mehr mit
Werkzeugen und
Geräten und streben häufiger Positionen von Macht und Einfluss an. Evas Töchter wenden
sich dagegen
auch beruflich lieber den Bedürfnissen anderer Menschen zu.
Nach einer naiven Theorie legen die Eltern diese Tendenzen durch ihre geschlechtstypische
Erziehung
fest. Zu Beginn ihres Lebens haben Männlein und Weiblein noch die Veranlagung, beide
Geschlechtsidentitäten zu entwickeln. Dann geben Vater und Mutter die Richtung an. Sie
statten kleine
Mädchen mit Puppen und femininen Spielsachen aus, während sie Jungs mit Autos und
Werkzeugen auf
die maskuline Rolle trimmen. So schön diese Theorie auch klingen mag, meint Judith Rich
Harris, sie
stimmt überhaupt nicht mit den empirischen Erkenntnissen überein.
Umfangreiche Verhaltensbeobachtungen belegen einwandfrei, dass Eltern in den modernen
Industrienationen Söhne und Töchter sehr ähnlich behandeln: Sie widmen ihnen genauso viel
Zeit und
Aufmerksamkeit und ermutigen und disziplinieren sie auf die gleiche Weise. Nur bei der
Vergabe von
Kleidung und Spielsachen taucht der ominöse Geschlechtsunterschied auf. Aber der könnte
genauso gut
eine passive Reaktion auf die Eigenschaften der Kinder sein, argumentiert Harris:»Vielleicht
geben sie
ihren Kindern nur, was diese haben wollen.«
Sigmund Freud setzte den Glauben in die Welt, dass Kinder ihre Geschlechtsrolle erwerben,
indem sie
das Verhalten des gleichgeschlechtlichen Elternteils imitieren: Söhne orientieren sich am
Vater, Töchter
ahmen das Vorbild der Mutter nach. Dieser Glaube ist heute widerlegt. Jungen, die in einer
vaterlosen
Umgebung aufwachsen, eignen sich dennoch einen maskulinen Habitus an. Mädchen, die
exklusiv von
(mutmaßlich» unweiblichen«) Lesben erzogen werden, lassen keinen Mangel an weiblichen
Zügen
erkennen.
Heute findet die Überzeugung immer mehr Anhänger, dass die Anlage für die psychologische
Geschlechtsidentität in unseren Genen schlummert und durch Hormone aus dem
Dornröschenschlaf
geweckt wird. In einer abgeschiedenen Region der Dominikanischen Republik gibt es laut
Harris eine
Mutation, die dazu führt, dass genetisch männliche Kinder bei der Geburt wie Mädchen
aussehen. In der
Pubertät schütten die Drüsen dann das männliche Geschlechtshormon Testosteron aus. Die
weiblichen
Körpermerkmale bilden sich zurück und werden von maskulinen Zügen abgelöst, die Eltern
und Kindern
die Augen über die wahre Geschlechtszugehörigkeit öffnen.
Wissenschaftler haben das Schicksal von 18 dieser Jungen verfolgt, die irrtümlich als
Mädchen
erzogen worden waren. Bis auf einen schüttelten alle den weiblichen Namen und die
weibliche Identität
ab und wurden Männer, als der Körper plötzlich die Wahrheit über den biologischen Sexus
enthüllte. Die
Betreffenden heirateten Frauen, ergriffen männliche Berufe und gewöhnten sich ein rundum
maskulines
Verhalten an.
Tatsächlich grenzen sich Jungen und Mädchen schon in frühem Alter freiwillig voneinander
ab und
legen großen Wert auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. In ihren jeweiligen
Gruppen
verinnerlichen Jungen wie Mädchen dann, wie sich eine richtige Frau oder ein ganzer Kerl zu
benehmen
hat. Forscher können dokumentieren, wie schon zwölfjährige Mädchen sich dem Klischee
typisch
weiblichen Verhaltens anpassen, mehr kichern, tuscheln und sich beim Sport ungeschickter
anstellen,
sobald Jungen den Schauplatz betreten. Und nicht selten schockieren Kinder ihre
emanzipierten Eltern
mit Feststellungen wie:»Männer kochen nicht!«Ähnliche Verhaltensweisen zeigen Kinder in
den
verschiedensten Kulturen – die Yanomami-Indianer im brasilianischen Regenwald ebenso wie
afroamerikanische Kids im Großstadt-Ghetto.
Alle Versuche, Jungen und Mädchen durch Erziehung geschlechtlich» umzupolen «oder in
eine
Unisex-Identität zu pressen, sind durch die biologischen Tatsachen zum Scheitern verdammt.
Das
mussten auch die Mitglieder der Protestbewegung der späten sechziger und frühen siebziger
Jahre
erfahren, welche die vermeintlich» patriarchalischen «Geschlechtsunterschiede bei ihren
Kindern
einebnen wollten, rekapituliert der Psychologe Jens Asendorpf.22 Zur Frustration der Eltern
und
Kinderladenerzieher prallten die Nivellierungsversuche wirkungslos an den Kindern
ab.»Jungen, die zum
spielerischen Kochen angehalten wurden, benutzten Kochlöffel als Revolver, und Mädchen
wiegten
träumerisch Rennwagen in ihren Armen, als seien es rosaweiche Babys.«

«Einzelkinder und Erstgeborene entwickeln besondere Persönlichkeitsmerkmale«

Eine der beliebtesten Thesen in der populären Psychologie und in der Ratgeberliteratur
besagt, dass
Einzelkinder beziehungsweise Erstgeborene als Folge ihrer spezifischen Position in der
Familie
ungewöhnliche Charaktermerkmale herausbilden. Einzelkinder entwickeln sich demnach
anders, weil sie
einer Sonderbehandlung unterzogen werden: Die Beziehung zu ihren Eltern ist, wegen ihrer
Exklusivität,
durch eine besonders enge Bindung gekennzeichnet. Andererseits entgeht den
Solo-Sprösslingen die
soziale Stimulation, die durch die Anwesenheit von Geschwistern vermittelt wird.
In früheren Zeiten, als die meisten Familien zwei oder mehr Kinder hatten, galt die
Einzelkindsituation
als Hinweis, dass etwas nicht in Ordnung war, schildert die Psychologin Judith Rich Harris.
«Einzelkinder harten einen schlechten Ruf. «Heute, wo rund 50 Prozent aller Söhne und
Töchter in den
Industrieländern als Einzelkinder aufwachsen, löst sich das schlechte Image in Wohlgefallen
auf. Die
psychologischen Studien der letzten 15 Jahre lieferten denn auch kerne Beweise dafür, dass
sich
Einzelkinder systematisch und in einer bestimmten Richtung von ihren Altersgenossen
unterscheiden
würden.
Um die Wesenszüge, mit denen sich Erstgeborene angeblich von ihren Geschwistern abheben,
ranken
sich viele moderne Legenden. Erstgeborene, so behauptet Frank Sulloway,
Wissenschaftshistoriker am
Massachusetts Institute of Technology in einer erfolgreichen Buchpublikation, verstärken
nach der
Ankunft von Geschwistern ihre Neigung, sich mit den Altvorderen zu identifizieren. In
26-jähriger
Fleißarbeit hat Sulloway die Biografien von 6566 historischen Persönlichkeiten untersucht
und ein festes
Muster eruiert. Danach üben Erstgeborene, begünstigt durch ihren Altersvorsprung, im
Umgang mit den
Spätergeborenen oft ein autoritäres Machtgehabe ein, das sie später nie wieder loswerden.
Dass sie, einst im Alleinbesitz der Elternliebe, nun mit den Jüngeren konkurrieren müssen,
schmerzt
sie und lässt sie reizbar werden. Sie neigen zu Eifersucht, Rachegelüsten und plötzlichen
Gewaltausbrüchen – alles in allem ein wenig sympathisches Bild, das nur durch
Eigenschaften wie
Disziplin und Verantwortungsbewusstsein aufgehellt wird. Daran hapert es bei den
Spätergeborenen, die
zunächst auf den unteren Stufen der Familienhierarchie Platz nehmen müssen. Dort sind sie
gezwungen,
nach»Überlebensnischen «Ausschau zu halten – soll heißen: Im Wettstreit um die Zuwendung
der Eltern
müssen sie tunlichst Talente entfalten, mit denen die älteren Geschwister bis dahin nicht
aufwarten
konnten.
Was Sulloway erst im Gespräch preisgibt, ist die Tatsache, dass von den 30 bis 50 Prozent
nichtgenetischen Einflüssen auf die Persönlichkeit bloß 2 bis 8 Prozent auf die Geburtsfolge
zurückzuführen sind.4 Außerdem sind Vergleiche zwischen Erst- und Spätergeborenen mit
massiven
methodischen Fußangeln behaftet, die jede Interpretation in Frage stellen, warnt der
Psychologe Jens
Asendorpf.8 Die Chance, ein mittleres oder letztes Kind zu sein, ist ja erst in größeren
Familien gegeben.
Da Mittelschichtfamilien heutzutage weniger Kinder haben, sind Erstgeborene bei ihnen
überrepräsentiert, mittlere und letztgeborene Kinder aber unterrepräsentiert.»Nach Kontrolle
von
Geschwisterzahl und sozialer Schicht bleiben keine bedeutenden Persönlichkeitsunterschiede
zwischen
Kindern oder Erwachsenen mit unterschiedlicher Position in der Geschwisterreihe bestehen.
Persönlichkeitsunterschiede durch die Stellung in der Geschwisterreihe erklären zu wollen ist
eine
Sackgasse.«
Psychologen haben in den vergangenen Jahren Berge von Daten über die Persönlichkeit von
Erst- und
Spätergeborenen angehäuft, gibt Judith Rich Harris zu bedenken. Unterschiede zwischen den
beiden
Gruppen tauchten, wenn überhaupt, nur in älteren, methodisch schlechteren Studien mit
geringen
Probandenzahlen auf; in den neuen Untersuchungen mit anspruchsvollem Design und
größeren
Stichproben waren Differenzen nicht zu verzeichnen. Zwei Schweizer Psychiater
durchleuchteten vor ein
paar Jahren 7582 Personen mit den aktuellsten Psychotests. Fazit: Die Stellung in der
Geschwisterreihe
hatte keinen messbaren Einfluss auf die Persönlichkeit.

«Das kindliche Gehirn benötigt besondere Anregungen für seine optimale


Entwicklung«

Zeitschriftenartikel und die Ratgeberliteratur berufen sich in den letzten Jahren immer
häufiger auf
«Forschungsergebnisse«, die beweisen, dass das kindliche Gehirn nur dann seine maximale
Leistungsfähigkeit entfalten kann, wenn die Eltern mit einer Vielfalt von geistigen
Anregungen
«Entwicklungshilfe «leisten. Eine abwechslungsreiche Kinderstube mit vielen Spielzeugen,
einem
Höchstmaß an elterlicher Ansprache und anderen Formen der Stimulation machen Babys
danach schlauer.
Sie sollen ihnen sogar zu einem besonders engmaschigen Netz von Nervenkontakten
(Synapsen)
verhelfen. Wenn diese aufbauenden Denkanstöße in einer kritischen Periode der frühen
Entwicklung
fehlen, bleibt die Gehirnfunktion angeblich lebenslänglich hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Diese Zusammenhänge werden meist so dargestellt, als wenn es sich dabei um den letzten
Schrei auf
dem Gebiet der Neurobiologie handeln würde. Hier wird offensichtlich der Nimbus einer»
harten«
Naturwissenschaft ausgeschlachtet, um durch die Hintertür den Mythos von der
herausragenden
Bedeutung der Kindheit wieder aufzurichten, der in der Erziehungsstilforschung und in der
Traumatheorie doch gerade erst kapitalen Schiffbruch erlitten hat.»Es wird der Eindruck
erweckt, dass
man Kinder durch eine Investition in die frühen Jahre vor dem späteren schulischen
Misserfolg bewahren
kann«, warnt der Neurobiologe Professor John Bruer, Leiter der James S. McDonnell
Foundation in St.
Louis, Missouri.23»Aber das ist ein Missbrauch der Gehirnforschung und eine Irreführung der
Eltern.«
Das Dilemma mit den angeführten» Forschungsergebnissen «ist, dass sie weder besonders
neu und
originell noch überhaupt auf den Menschen bezogen sind. Das Grundprinzip entdeckten
Biologen schon
in den siebziger Jahren bei Experimenten mit Ratten und Mäusen, deren Gehirne zum
Abschluss in feine
Scheiben geschnitten wurden. Eine Hälfte neugeborener Nager musste ihre Kindheit in tristen
Laborkäfigen fristen, während die andere einen Überfluss an Sinneseindrücken genoss:
Spielzeug,
Verstecke, Käse und Vollkornriegel.
Die Mäuse aus der anregenden Umwelt hatten hinterher tatsächlich» mehr im Kopf«. Sie
fanden den
Ausweg aus einem Labyrinth fast doppelt so schnell wie die Artgenossen, die in Reizarmut
aufgewachsen
waren. An manchen Stellen wies ihre Großhirnrinde 25 Prozent mehr Synapsen auf. In einer
ähnlichen
Studie fanden Psychologen aus den USA, dass die stimulierten Nagetiere sich auch viel länger
den
Nachstellungen einer Katze entziehen konnten.
«Aber es ist überhaupt nicht klar, ob das, was für Nagetiere gut ist, für Menschen gut sein
muss«,
wendet der amerikanische Neurobiologe Jack Shonkoff ein. Der Unterschied zwischen einer
tristen und
einer angereicherten Käfigumwelt sei zudem sehr viel extremer als der Unterschied zwischen
der
normalen und einer angereicherten Umwelt beim Menschen.»Ob Sie Ihr Kind schon im
Mutterleib mit
einem Megaphon ansprechen oder an allen Gegenständen erklärende Kärtchen anbringen –
Sie werden
seinem Gehirn keine speziellen Potenziale entlocken«, pflichtet der Entwicklungspsychologe
Ross
Thompson aus Nebraska bei.
Zum einen ist die Fähigkeit, neue Synapsen und Schaltkreise im Gehirn zu entwickeln, beim
Menschen
überhaupt nicht an kritische Perioden geknüpft: Unser Denkapparat kann diese Leistung das
ganze Leben
erbringen. Lediglich bei bestimmten Sinnesleistungen wie dem beidäugigen Sehen kennt das
menschliche
Gehirn kritische Perioden, in denen eine bestimmte (optische) Stimulation unbedingt erfolgen
muss. Bei
höheren Leistungen wie dem Denken und dem Wissenserwerb fehlen solche zeitlichen
Fenster ganz.
Jüngste Forschungsergebnisse haben sogar gezeigt, dass unser Gehirn bis ins höhere Alter die
Fähigkeit
behält, neue Nervenzellen zu bilden.
Abgesehen davon kam in den letzten Jahren immer klarer ans Tageslicht, dass unser Gehirn
eine bis
dahin nie geahnte Gabe zur Kompensation erlittener Mängel besitzt. Selbst Kinder, die unter
unvorstellbar reizarmen Bedingungen in rumänischen Waisenhäusern aufgewachsen waren,
holten geistig
rasch auf, als man ihnen eine anregende Umwelt bot.»Das Gehirn ist im Alter von 3 oder 10
Jahren
keineswegs fertig gekocht«, hält der Neurobiologe Bruer fest.»Es bleibt auch danach
erstaunlich
plastisch und behält für den Rest des Lebens die Fähigkeit zum Lernen bei.«
Das kindliche Gehirn braucht nach seiner Meinung keine künstlich aufgesetzten Reize, wie
etwa eine
Berieselung mit klassischer Musik, um sich optimal zu entfalten.»Kinder bekommen all die
Anregungen,
die sie benötigen, von den Dingen, die ihnen im Alltag begegnen – wenn sie im Gras
kriechen, mit
Töpfen spielen oder den Erwachsenen zuhören. «Wenn die Evolution Gehirne schon so
konstruiert, dass
ihre Leistungsfähigkeit erst durch die Begegnung mit bestimmten Stimuli ausgereizt wird,
dann sorgt sie
auch dafür, dass diese Reize allgegenwärtig sind und in der typischen zu erwartenden Umwelt
der
betreffenden Lebewesen vorkommen. Gehirnforscher nennen diese Passung zwischen
Struktur und
Umweltreizen eine» Erfahrungen erwartende Plastizität«.»Solche Reize kommen in der
Umwelt jedes
Kindes vor, wenn es nicht gerade unter abartig reizarmen Bedingungen aufgezogen wird.«
Anstatt Kinder in kleine Albert Einsteins zu verwandeln, kann eine übermäßige Stimulation
sogar
Schaden anrichten, meint der Psychologe Arnold Sameroff von der Universität von
Michigan.»Wenn
man versucht, Kleinkindern mit zu viel Anregung etwas beizubringen, brauchen sie besonders
lange.«
Überstimulierte Kinder wenden sich ab, schließen ihre Augen, beginnen zu zappeln oder
geben ihr
Missfallen durch Tränen kund.

1 «Eltern sind austauschbar«. Der Spiegel, 47/1998.


2 Nuber, Ursula: Der Mythos vom frühen Trauma. Beltz Verlag, Weinheim 1990.
3 Hemminger, Hansjörg: Kindheit als Schicksal? Rowohlt Verlag, Reinbek 1982.
4 «Die Eltern sind unschuldig«. Facts, 8.4.1998.
5 Rowe, David C: Genetik und Sozialisation. Beltz Verlag, Weinheim 1998.
6 Kagan, Jerome: Es gibt ein Leben nach der Kindheit. In: Psychologie heute,
März 2000, S. 46–51.
7 Zimmer, Dieter E.: Tiefenschwindel. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek
1990.
8 Asendorpf, Jens: Keiner wie der andere. Piper Verlag, München 1988.
9 Harris, Judith Rich: The nurture assumption. Bloomsbury Verlag, London 1998.
10 Zimmer, Dieter E.: Ein Kind ist schwer zu verderben. In: Die Zeit, Nr. 29/1999.
11 Saum-Aldehoff, Thomas: Der Mythos von der Macht der Eltern. In:
Psychologie heute, August 1998.
12 Degen, Rolf: Die wahre Macht der Gene. In: Bild der Wissenschaft, Nr. 9/1996,
S. 62–69.
13»Im Alter siegen die Gene«. In: Berliner Zeitung, 2. 7.1997.
14 Weinert, Emanuel F.: Begabung und Lernen: Zur Entwicklung geistiger
Leistungsunterschiede. http://www.mpg.de/pri99/50weinert.htm
15 Svennevig, Brigitte: Vom Verlierer zum Gewinner. In: Illustrierte Wissenschaft,
Nr. 12/ 1999, S. 50–51.
16 Schrader, Christopher: Mehr Respekt für die Kleinen. In: Geo Wissen »Kindheit
und Jugend«, Nr. 23 (1995).
17 Belsky, Jay: The etiology of child maltreatment: A developmental-ecological
analysis. In: Psychological Bulletin, 114 (1993), S. 413–434.
18 Lugt-Tappeser, H./Wiese, Bettina: Prospektive Untersuchung zum mütterlichen
Verhalten in der Neugeborenenzeit: Eine Erkundungsstudie. In:
Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Bd. 9 (1994), S. 322–330.
19 Fuller Torrey, E.: Freudian fraud. Verlag Harper, New York 1992.
20 Hofmann-Hausner, Norbert / Bastine, Reiner: Die Einflüsse von elterlicher
Scheidung, interparentalem Konflikt und Nach-Scheidungssituation.
In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Bd. 24 (1995), S. 285–299.
21 Patterson, Charlotte: Children of lesbian and gay parents. In: Advances in
clinical child psychology, Vol. 19 (1997), S. 235–282.
22 Asendorpf, Jens: Psychologie der Persönlichkeit. Springer Verlag, Berlin et al.
1996.
23»Babies are quick studies«. U.S. News & World Report, 13.9.1999.

Die lausigen Verführer

«Die Massenmedien üben gewaltige Wirkungen auf das Bewusstsein


und das Verhalten der Menschen aus«

Wenn man einem Gemeinplatz Glauben schenken darf, so sind die Menschen wehrlos dem
Würgegriff
der Massenmedien ausgesetzt. Werbung, Fernsehen, Propaganda und die anderen
Zweigstellen der
«Bewusstseinindustrie «hämmern ihre Botschaften mit der Schlagkraft einer Gehirnwäsche in
die Köpfe
der Rezipienten ein. In der Öffentlichkeit werden kaum je Zweifel daran geäußert, dass man
Menschen
tatsächlich per Werbung auch zum Kauf der albernsten Produkte manipulieren könne. Die
politische
Propaganda gilt vielen als übermächtig, und der» verrohende «Einfluss massenmedialer
Gewaltdarstellungen lässt immer wieder den Aufruf nach Zensur und einer» sauberen
Leinwand«
erfolgen.
Doch wenn man das Feld der Wirkungsforschung Studie für Studie abklopft, werden diese
Ansichten
unhaltbar, zieht der Yale-Professor William J. McGuire, seit Jahrzehnten die graue Eminenz
der
psychologischen Medienforschung, Bilanz:»Es stellt sich klar heraus, dass die beobachteten
Effekte
überraschend schwach sind, nur ausnahmsweise statistisch signifikant und mit Effekt-Größen,
die
bohrende Zweifel am Kosten-Nutzen-Verhältnis aufwerfen.«1 Jahrzehnte empirischer
Forschung und viele
tausend Einzelstudien hätten nicht den geringsten Beweis für die Richtigkeit dieser so
populären
Einflussmythen erbracht. Es grenze schon an Massenwahn, mit welcher Verbohrtheit dennoch
an diesen
Trugvorstellungen festgehalten werde.
Das vermeintlich einflussreichste Massenmedium, das Fernsehen, resümiert der Saarbrücker
Psychologie-Professor Peter Winterhoff-Spurk den Wissensstand, hat viel mit dem
Scheinriesen bei
Michael Ende gemein:»Er wird umso kleiner, je näher man ihm kommt.« 2 Man könne sich
auch nicht
damit herausreden, argumentiert McGuire, die durch die Forschungsarbeiten bloßgestellte»
Impotenz «der
Medien sei ein» methodisches Artefakt«, ein durch Wunschdenken hervorgezaubertes
Ergebnis,»da die
meisten Forscher und Auftraggeber sich große Wirkungen wünschen und herbeisehnen, wenn
auch aus
Gründen, die von Fall zu Fall verschieden sind…«
Die meisten Experten, die sich in der Öffentlichkeit über den Einfluss der Massenmedien
äußern
dürfen, sind aus dem einen oder anderen Grund fast zwanghaft auf das Hervorzaubern großer
Wirkungen
fixiert. Egal, ob es sich um linke Kulturkritiker handele, die in der Tradition der Frankfurter
Schule gegen
die Manipulation der Massen durch die Unterhaltungsindustrie räsonieren, oder um
konservative
Sittenwächter, die angesichts nackter Busen den Untergang des Abendlandes beschwören.
Auch die
Macher selbst, so schreibt McGuire, scheuen das Eingeständnis ihrer Machtlosigkeit. Sonst
ginge ihnen
am Ende das Milliarden-Budget der Werbung flöten, oder das erhebende Gefühl, die
heimlichen Lenker
der Nation zu sein.
Sogar die Wissenschaftler, die» Anwälte der Wahrhaftigkeit«, schließen laut McGuire vor den
Fakten
die Augen. Dafür wird umso häufiger die Litanei vom» großen Einfluss
«wiederholt.»Zuzugeben, dass
die Untersuchungsergebnisse keine großen Wirkungen bestätigt haben, käme für die Gegner
der Medien,
etwa die, die für eine Regulierung des Fernsehprogramms oder der Werbung streiten, dem
Bekenntnis
gleich, gegen Windmühlen gekämpft zu haben… Nicht nur die ausgemachten Freunde und
Feinde der
Medien, sondern sogar neutrale Kenner der Materie sind geneigt zu behaupten, dass Medien
hochgradig
wirkungsvoll sind: Es würde nicht gerade ihrer Selbstachtung als akademischen Experten für
Kommunikation, Marketing oder Psychologie dienen, herauszubekommen, dass die von ihrer
Disziplin
studierten Effekte außergewöhnlich winzig sind… Die Selbsttäuschungen, die viele
Fachgelehrte dazu
gebracht haben, zu postulieren, dass große Medienwirkungen bewiesen wurden, sind leichter
zu verstehen
als zu vergeben«, fasst der Autor seine Beobachtungen zusammen.
In der Anfangsphase der Forschung, in den zwanziger Jahren, waren alle noch von den
unmittelbaren,
überaus gewaltigen Medienwirkungen auf das Bewusstsein und das Verhalten der Empfänger
überzeugt.
Es herrschte ein primitives Impfnadel-Modell vor: Der» Reiz «Medieninhalt löst beim
Organismus
mechanisch die zugehörige» Reaktion «aus, ähnlich wie beim Hund Pawlows, dem beim
Läuten der
Essensglocke das Wasser im Mund zusammenläuft. Doch die ersten empirischen
Untersuchungen zeigten
bald, dass diese primitive Vorstellung nicht wahr sein konnte: Die meisten Einflussversuche
prallen an
den Schutzmechanismen der Menschen ab. Sie picken sich selektiv Inhalte heraus, die ihren
Überzeugungen entsprechen, biegen sich die Informationen nach Gutdünken zurecht oder
schalten sogar
um in eine Anti-Haltung, wenn sie wittern, dass man sie manipulieren will.
Noch 1960 konstatierte die wichtigste Übersichtsarbeit in der Geschichte der
Wirkungsforschung, dass
die Suche nach substanziellen Medienwirkungen gescheitert sei, blickt der australische
Kommunikationsforscher David Sless im Internet zurück. 3»Die Haupteinsicht, dass, wenn es
überhaupt
irgendwelche Effekte gab, diese von verschwindend geringer Stärke waren, war damals weit
verbreitet.«
Doch die folgenden Generationen von Wissenschaftlern fanden sich laut Winterhoff-Spurk
nicht mehr mit
dieser Erkenntnis ab: Sie dachten sich immer wieder potenzielle Medienwirkungen aus und
propagierten
mit großer Euphorie furiose neue Wirkungsvarianten.
Dass sich der Glaube an die großen Medienwirkungen trotz widersprechender Fakten so
starrsinnig
hält, hat vermutlich etwas mit einem eingebauten» Sehfehler «in unserem sozialen Blick zu
tun.
Menschen denken durchgehend, dass Massenmedien auf andere Leute eine sehr viel stärkere
Wirkung
haben als auf sie selbst. Dieses Phänomen wird als» Dritte-Person-Effekt «bezeichnet und tritt
bei allen
Arten von Medieninhalten zutage: Werbung, Filmen, Nachrichten oder Pornographie. 4 Diesen
Effekt hat
ein amerikanischer Psychologe vor ein paar Jahren mit einer Batterie von Fragen aufgedeckt,
wie Klaus
Moser vom Fachbereich Psychologie der Universität Gießen rekapituliert.
Die Probanden waren zum Beispiel fest davon überzeugt, dass andere Leute in ihrer Kindheit
durch die
Massenmedien sehr viel häufiger zum Kauf» unsinniger «Dinge verleitet worden waren als
sie selbst. Sie
hatten auch keine Zweifel, dass Pornographie und TV-Gewalt bei andern viel mehr Schaden
anrichtete als
bei ihnen selbst. Während also die Effekte der Medien selbst eine äußerst zweifelhafte
empirische Basis
besitzen, ist der Dritte-Person-Effekt hervorragend belegt.
Bei Medieninhalten, die wenig glaubhaft sind oder eindeutig darauf zielen, Menschen zu
beeinflussen
und» herumzukriegen«, ist dieser Effekt besonders stark.»Anscheinend trauen die Befragten
sich selbst,
nicht aber anderen zu, dem Einfluss der Verzerrungen entgegenzuwirken.«Überhaupt halten
Menschen
die anderen anfälliger für» Schund «und negative Inhalte; positive Effekte nimmt man
dagegen sehr viel
eher bei sich selber wahr. Das bewies Moser in einem Experiment, in dem die Hälfte der
Versuchspersonen angeben sollte, wer besonders leicht auf fragwürdige Inhalte (zum Beispiel
Werbung
für Diätprodukte) hereinfällt. Die andere Hälfte sollte entscheiden, welcher Personenkreis sich
besonders
stark durch» moralisch hoch stehende «Inhalte (zum Beispiel Werbung gegen
Ausländerfeindlichkeit)
beeinflussen lässt. Fazit: Negative Effekte sahen die Probanden fast nur bei den andern. Aber
sie waren
auch sicher, dass die» rühmlichen «Botschaften bei ihnen selbst stärker anschlagen würden.
Der Dritte-Person-Effekt nährt den Glauben an die Macht der Medien und leistet sogar dem
Ruf nach
Zensur Vorschub. Bei einer amerikanischen Befragung bekundeten 85 Prozent aller Befragten,
dass
Gewaltfilme und Pornos bei anderen Leuten viel schädlichere Folgen hätten als bei ihnen
selbst; lediglich
3,8 Prozent vermuteten die Wirkungen eher bei der eigenen Person. Aber nur diejenigen,
welche die
negativen Effekte bei den anderen sahen, machten sich bereitwillig für die Schere des Zensors
stark. Oft
steckten hinter dem Lamento auch nur die Abscheu, die man persönlich vor bestimmten
Medieninhalten
empfindet, und der missionarische Eifer, die» breite Masse «vor diesem» Dreck «zu schützen,
sagt
McGuire.»Diese Kommentatoren jammern in aller Regel, dass die Medien von anderen
Bezugsgruppen
als den ihrigen kontrolliert werden, so dass der Medieneinfluss nur schädlich sein kann.«

«Werbung hat einen großen Einfluss auf das Kaufverhalten der Menschen«

Werbung steuert das Konsumentenverhalten. Diese Binsenweisheit wird für viele allein
deshalb
unumstößlich, weil die Industrie jedes Jahr gigantische Summen für die Erzeugung des
schönen Scheins
lockermacht. Nach einer verbreiteten Vorstellung arbeiten die» geheimen Verführer «mit
raffinierten und
einschleichenden Suggestivmethoden, die dem Publikum einen unwiderstehlichen
Kaufimpuls einflößen.
Diese Vorstellung wird in regelmäßigen Abständen durch populäre Veröffentlichungen
untermauert, die
mit wahlweise genüsslichem oder empörtem Unterton die Tricks und Kniffe der
Manipulations-Industrie
enthüllen.
Trotz der riesigen Gelder, die sie für die einschlägigen Kampagnen berappt, hat die Industrie
seit jeher
ein gespaltenes Verhältnis zur Werbung. Entweder wird dick aufgetragen, nach dem Motto»
Wirb oder
Stirb!«, oder man lästert über die Reklame, wie in einem Henry Ford zugeschriebenen
Bonmot:»Ich
weiß, dass mindestens eine Hälfte des für Werbung ausgegebenen Geldes zum Fenster
rausgeworfen ist,
aber ich weiß nicht, welche Hälfte. «Doch nach den zuverlässigsten Daten, über die die
Wissenschaft
heute verfügt, sind die» lausigen Verführer «sehr viel ohnmächtiger, als die meisten Menschen
glauben.
«Es gibt kaum Hinweise dafür, dass Werbung auch nur im Entferntesten die erwünschten
Wirkungen
erbringt, die ihre gewaltigen Kosten rechtfertigen würden«, fasst McGuire den zentralen
Trend der
Befunde zusammen.
Was die objektive Messung der Werbewirkung angeht, haben die so
genannten»ökonometrischen«
Studien die größte Aussagekraft, erläutert Dr. Hans Mayer, Wirtschaftspsychologe an der
Universität
Mannheim, im akademischen Standardlehrbuch» Werbepsychologie«5. Bei dieser Art von
Kosten-Nutzen-
Rechnung wird der globale Werbeaufwand für bestimmte Marken und Produkte zu den
Verkaufszahlen in
Beziehung gesetzt. Die Qualität der ökonometrischen Berechnungen liegt nach Darstellungen
von
McGuire weit über dem Niveau, das sonst für Forschungsarbeiten in der Psychologie und
Sozialforschung bezeichnend ist. Ihre Ergebnisse sollten daher auch eine besondere Relevanz
für die
Praxis haben.
Umso dürftiger fällt das Ergebnis dieser Gegenüberstellung aus, zieht Mayer Bilanz.»Neben
der
Mehrheit, die entweder keine oder bestenfalls mäßig ausgeprägte Effekte vorhanden sieht,
findet sich eine
kleine Zahl von Untersuchungen, die entweder durchgängig oder zumindest fallweise
ausgeprägte
Auswirkungen nachweisen… Der finanzielle Aufwand für Werbung erweist sich in seiner
Funktion als
potenzieller Prädikator für die Vorhersage des Werbeertrages als weitgehend untauglich.«
Den gleichen Schluss zieht McGuire in seinem Überblick über den ökonometrischen
Forschungsstand:
«Der Zusammenhang zwischen dem Werbeaufwand für bestimmte Marken und der darauf
folgenden
Größe ihres Marktanteils ist insgesamt gesehen äußerst entmutigend. «Zu einem ähnlichen,
wenig
schmeichelhaften Fazit seien vor kurzem sogar Marktforscher in einer Übersichtsarbeit für
den Verband
Amerikanischer Werbeagenturen gelangt. Um die Werbung für ganze Produktgruppen,
unabhängig von
den Einzelmarken, sei es gleichermaßen düster bestellt. Weder die Aufwendungen der
Industrie für
Zigarettenreklame noch die öffentlichen Ausgaben für Anti-Raucher-Kampagnen haben
demnach einen
messbaren Effekt auf die nationalen Verkaufszahlen. Nicht einmal dann, gibt der
Medien-Forscher zu
bedenken, wenn das Erhebungsinstrumentarium so sensibel ist, dass es Absatzschwankungen
als Folge
von Preisänderungen registriert.
Mit den Investitionen in das Image einer bestimmten Marke schwindet auch keineswegs die
Konsumententreue zu den Marken, bestätigen die beiden Kommunikationspsychologen Uli
Gleich und Jo
Groebel von der Universität Koblenz/Landau.6 Ihr Fazit:»Nur schwer lassen sich unmittelbare
Beziehungen zwischen der Schaltung bestimmter Spots einerseits und Produktumsätzen
andererseits
finden. Das gilt für die Neueinführungen von Produkten, die in der Regel von vielen
Maßnahmen
begleitet werden, erst recht aber für Treue- und Erinnerungswerbung. «Diese Tatsachen sind
nach Ansicht
von Mayer umso weniger verständlich, je mehr man sich die Höhe der jährlich für
Werbemaßnahmen
«verpulverten «Summen vor Augen führt – allein im Westen Deutschlands rund 50 Milliarden
DM. Wenn
man die Werbung mit anderen verkaufsfördernden Maßnahmen (besonders mit
Preissenkungen)
vergleicht, zieht sie fast ausnahmslos den Kürzeren.
Auch Labor- und Feldexperimente, in denen die Wirkungen einzelner» Werbekontakte «auf
Einstellungen und Verhaltensweisen getestet werden, tragen nicht gerade zur Untermauerung
des
Reklameerfolges bei. Äußerst akribische Untersuchungen, die auf Betreiben der
US-Regierung
durchgeführt wurden, betrafen die Werbung für freiverkäufliche Medikamente. Man hatte
befürchtet, dass
die in den USA inflationären TV-Spots der Volksgesundheit schaden könnten. Quintessenz:
Werbekontakte mit Arzneimittelreklame sind höchstens für einen Prozentbruchteil der
Schwankungen
(Varianz) im tatsächlichen Gebrauch verantwortlich.
Genauso wenig, wie es der Zigarettenindustrie gelingt, das querköpfige Publikum mit dem
Marlboro-
Mann und anderen Attraktionen auf ihre viel gescholtenen Glimmstängel einzuschwören,
genauso wenig
halten staatliche Gesundheitsapostel das Heer der Raucher mit Furchtappellen und
medizinischen
Aufklärungskampagnen vom Qualmen ab. Die gesundheitlichen Warnhinweise, die durch
staatlichen
Zwang seit Jahren auf den Verpackungen von Tabakwaren prangen, sind nämlich genau das,
was man auf
den ersten Blick erkennen kann: leere Drohungen. Selbst wenn die Mahnung überhaupt bei
den Rauchern
ankommt, bestehen kaum Chancen, das dies jemals zu einem Sinneswandel führt, wie Jürgen
Barth und
Prof. Jürgen Bengel vom Psychologischen Institut der Universität Freiburg aus der bisherigen
Forschung
ableiten.7
Offen ist bereits die Frage, ob Warnhinweise auch nur das Bewusstsein für die eigene
Gefährdung
erhöhen. In den USA hat man dazu Jugendliche vor und nach dem Inkrafttreten eines
Gesetzes befragt,
das auf Alkoholika seit 1989 solche Hinweise gebietet. Ernüchterndes Ergebnis des
Alkoholtests: Nach
Beginn der Auszeichnungspflicht schätzten die Jugendlichen Alkohol kein bisschen
gefährlicher ein als
zuvor. Kein Wunder, dass die Warnungen nicht befolgt werden: In den USA war im Zeitraum
eines Jahres
vor und nach dem Inkrafttreten des Gesetzes keine Veränderung des Trinkverhaltens zu
verzeichnen. Die
Psychologen folgern aus diesen und anderen Daten,»dass durch Warnhinweise kurzfristig
keine
substanziellen Verhaltensänderungen in der Bevölkerung erreicht werden können.«
Es bestehen ohnehin größte Zweifel daran, dass die Methode der Abschreckung mit
Furchtappellen
überhaupt jemals funktioniert, geben die beiden Forscher zu bedenken. So ist ungewiss, ob
solche Appelle
überhaupt von der jeweiligen Zielgruppe beachtet werden, und ob Ängste ab einer bestimmten
Intensität
nicht abgeblockt werden. Dafür spricht auch ein Befund aus einer weiteren Untersuchung:
Starke Raucher
und Trinker fanden die Warnungen auf den Verpackungen besonders unglaubwürdig – und
zeichneten
sich durch besonders positive Einstellungen zu ihrem Genussmittel aus.
Nicht einmal der geballte Einfluss durch eine jahrelange» Berieselung «mit gleich lautenden
Argumenten schlägt bei den widerspenstigen Adressaten an, betont McGuire. Das macht eine
ausgeklügelte US-Untersuchung deutlich, bei der einige Gemeinden über zwei Jahre lang mit
einer
regelrechten» Gehirnwäsche«(in Presse und TV) auf einen Herz und Kreislauf förderlichen
Lebensstil
getrimmt werden sollten. Mit wenig berauschendem Erfolg:»Der Widerhall scheint sich in der
verschwindend kleinen Größenordnung zu bewegen, wie er für kommerzielle Werbung und
politische
Kampagnen beschrieben wurde.«
Werbefeldzüge, die nicht Verhalten lenken, sondern lediglich die Einstellungen zu bestimmten
sozialen
oder industriellen Gegebenheiten verändern sollen, sind zu einer ähnlichen Einflusslosigkeit
verdammt.
So macht der widerspenstige Umgang mit den Informationen häufig den Versuch zunichte, bei
der
Bevölkerung Verständnis für bestimmte großtechnische Projekte zu erzeugen, hebt Gerhard de
Haan,
Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin hervor. 8 Um
den
Bürgern eine Müllverbrennungsanlage» schmackhaft «zu machen, starten die Betreiber oft
intensive
Kampagnen, mit denen etwaige Befürchtungen abgewiegelt werden sollen. Tatsächlich ist es
aber nahezu
unmöglich, mit solchen Initiativen die Akzeptanz der betreffenden Projekte zu erhöhen. Sie
erreichen
zwar bei einigen Adressaten das gewünschte Ziel, bei vielen andern jedoch das genaue
Gegenteil.
Im Verlauf der Kampagne beginnen sich nämlich die Meinungen zu polarisieren: Man ist jetzt
plötzlich
entweder dafür oder dagegen, aber nicht mehr länger gleichgültig. Das mussten auch die
Betreiber
erfahren, die in Taiwan Propaganda für ein geplantes Kernkraftwerk veranstalteten: Wer bis
dahin noch
gleichgültig war, lehnte das Projekt nun eher ab, als dass er ihm zustimmte.
Die» armen, wehrlosen Kinder«, heißt es manchmal, seien die eigentlichen Empfänger der
Werbewirkung. Rein theoretisch könne man Kindern, auf Grund ihrer größeren Naivität,
tatsächlich eher
ein X für ein U vormachen, pflichtet McGuire bei. Untersuchungen zur Suggestibilität hätten
nun aber
den Beweis erbracht,»dass Kinder durch ihre geringere Aufmerksamkeit für die und das
geringere
Verständnis der Werbebotschaft gegen die Beeinflussung geschützt sind«. In diesem
Zusammenhang
taucht auch immer wieder die Vermutung auf, dass eine – wenn auch kleine – Untergruppe
des
Publikums, wegen ihrer ausgeprägten Überredbarkeit (Suggestibilität) das leichte Opfer
beeinflussender
Botschaften sei. Dem widerspricht McGuire – der anerkannte» Guru «der
Suggestions-Forschung –
heftig. Es herrscht mittlerweile weitgehende Einigkeit darüber, dass es eine gesonderte,
dauerhafte
Charaktereigenschaft» Suggestibilität «in dieser Form nicht gibt.
Als» Deus ex Machina «zaubern manche Werbegläubige gelegentlich den unheimlichen
Effekt der
«subliminalen «Werbung aus dem Hut. In einer britischen Zeitung erschien ein Bericht über
Kinogänger,
die mit extrem kurzen, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegenden Werbeimpulsen
berieselt worden
waren. Danach soll der Umsatz des derart» eingeblitzten «Produktes enorm gestiegen sein.
Diese Story
war jedoch völlig frei erfunden, ebenso wie einige spätere Versionen, moniert Mayer. Viele
sorgfältige
Experimente im Labor erlauben heute den Schluss, dass es unmöglich ist, Verhalten mit
subliminalen
Informationen zu beeinflussen.
Werbeunternehmen, die naturgemäß bei ihren Kunden Eindruck schinden wollen, benutzen
schönfärberische Methoden, um sich mit dem» Erfolg «ihrer Kampagnen zu schmücken. Das
fängt damit
an, dass fast niemals die einzig richtige Messlatte, nämlich die Beeinflussung des
Käuferverhaltens, als
Erfolgskriterium angelegt wird, schildert der Mannheimer Psychologe Mayer. Stattdessen
begnügt man
sich stets mit» Werbewirkungen«, die dem Kaufakt vorgelagert sein sollen, zum Beispiel mit
der
Feststellung, ob eine Kampagne Aufmerksamkeit erregt, ob sie ein positives Image erzeugt
und ob die
umworbene Marke im Gedächtnis haften bleibt. 71 Prozent aller amerikanischen Firmen, die
den
höchsten Werbeetat haben, ziehen als Erfolgsmaß lediglich die Erinnerung des Rezipienten an
das
umworbene Produkt heran.
Dahinter steckt der naive und lediglich durch Plausibilität gestützte Glaube, dass diese
Faktoren einen
Vorhersagewert für das Kaufverhalten besitzen. Dabei zeigen die wenigen empirischen
Befunde, dass
weder Emotionen, noch die Erinnerung und noch nicht einmal die verbal geäußerte
Kaufabsicht eine
nennenswerte Beziehung zum Kaufakt haben.»Man gewinnt geradezu den Eindruck, als ob
die mit einem
Offenbarungseid vergleichbare Frage nach der Verhaltensrelevanz der potenziellen
Prädikatoren
absichtlich vermieden würde, um sich vor unangenehmen Erfahrungen und Konsequenzen zu
schützen.«
Das sei umso schlimmer, als die Messung der obskuren» Scheinwirkungen «meist mehr
Kosten
verschlinge als die Kampagne selbst.

«Gewaltdarstellungen in den Medien stacheln gewalttätiges Verhalten an«

Im gleichen Atemzug, in dem sie selbst die Gräuel und Unglücke dieser Welt
publikumswirksam
vermarkten, prangern die Medien mehr oder weniger regelmäßig die angeblich brutalisierende
Wirkung
gewalttätiger Fernsehprogramme an. Zu den liebevoll ausgemalten Schreckgespenstern
gehören wild
gewordene Teenager, die sich a la» Clockwork Orange «an ihren Mitmenschen vergreifen,
weil ihnen ein
Actionfilm von RTL auf der Seele liegt. In den USA machte vor einer Weile ein Junge
Schlagzeilen, der
seine Eltern tötete, indem er ihnen heimlich zermahlenes Glas unter das Essen mischte. Die
gleiche
Vorgehensweise hatte er am Abend zuvor im Fernsehen gesehen. Doch wie ein Überblick über
die
empirische Medienwirkungsforschung zeigt, lassen sich solche Anschuldigungen überhaupt
nicht mit den
erhobenen Befunden vereinbaren.
Tatsächlich gibt es wenig Zweifel, dass die Gewalt den Menschen täglich in vielen Formen
aus der
Bildröhre entgegenspringt. 439-mal, so zählte das Programmblatt» Hörzu«, wurden Kinder
1998 in TV-
Spielfilmen geprügelt, vergewaltigt, ermordet.9 Im deutschen Fernsehen herrscht kein Mangel
an Opfern.
25.000 Morde sind es im Jahr, 25 Stunden Mordszenen werden pro Woche gezeigt. Allein in
dem
Spielfilm» Die Hard 2«beißen 264 Menschen bei einem gewaltsamen Ende ins Gras.
Auch wenn die aktuelle Debatte um Gewaltdarstellungen im Fernsehen den Eindruck
erweckt, dass
uns ein Problem von nie da gewesener Brisanz unter den Nägeln brennt, wurden die gleichen
Vorwürfe
schon in längst vergangenen Epochen vorgebracht. Der antike Denker Platon argumentierte in
der
«Politea «für eine Zensur der Märchen und Sagen, weil er fürchtete, dass die Jugend sich
deren
«schädliche Wertvorstellungen «zum Vorbild nehme. Zu Beginn unseres Jahrhunderts saßen
das Kino und
das Radio, später dann Fernsehen und Video und schließlich das Internet als Anstifter zum
Bösen auf der
Anklagebank.
Der unausgesprochene Grundgedanke aller Klagen über die TV-Gewalt ist der, dass ein
bestimmtes
Verhalten nur deshalb nachgeahmt wird, weil es gezeigt wurde. Diese Idee, die auf den ersten
Blick
offenbar ungeheure Plausibilität besitzt, spricht Menschen die Geistlosigkeit von Automaten
zu. Und da
der Königsweg zur wissenschaftlichen Erkenntnis das Experiment ist, führen die Verfechter
der
Nachahmungstheorie alle in erster Linie eine Serie von Experimenten zum» Modelllernen
«ins Feld, die
der Stanford-Psychologe Albert Bandura in den sechziger Jahren initiierte. Mehrere
Kindergruppen
wurden Zeuge, wie jeweils ein Erwachsener mit der Hand, mit einem kleinen Holzhammer,
mit einem
Baseballschläger oder mit anderen Instrumenten die immer wieder aufstehende Bobo-Puppe
traktierte.
Ein Teil der Wüteriche wurde für die Aggression gelobt, der andere Teil mit einem Klaps
bestraft. Dann
erhielten die Kinder, von denen einige durch die Wegnahme eines Geschenkes frustriert
worden waren,
selbst Gelegenheit, der Bobo-Puppe eine Lektion zu erteilen.
Von den Ergebnissen ist in den populären Darstellungen fast nur der Ausschnitt überliefert,
der den
Glaubenssätzen der Nachahmungstheorie entspricht: Frustrierte Kinder ahmten prompt das
Verhalten des
Vorbildes nach und kühlten ihr Mütchen an der Bobo-Puppe, besonders wenn das Vorbild für
sein
aggressives Verhalten zuvor belobigt worden war. Doch einige der wichtigsten Resultate
bleiben
unerwähnt, geben die beiden kalifornischen Psychologie-Professoren Robert M. Kaplan und
Robert
Singer zu bedenken.10 So gingen die entsprechend eingestimmten Kinder kein bisschen»
destruktiver«,
zum Beispiel unter Verwendung von Wurfpfeilen, mit Bobo um als ihre Altersgefährten ohne
übles
Vorbild. Die Beobachtung, dass ihr aggressives Vorbild für seine Grobheit gezüchtigt wurde,
hielt die
Kinder von den Ausschreitungen gegen Bobo ab.»Weder Bandura noch seine Epigonen
verlieren ein
Wort darüber, dass ausgerechnet dies die einzigen Kinder waren, die tatsächlich» Gewalt
«gegen eine
Person mit ansehen mussten«, schreibt der britische Medienpsychologe Tom Gormley im
Internet.11»Die
übrigen sahen nur eine neue Art, mit Bobo zu spielen.«
Laut Kaplan und Singer genügte die schlichte Bemerkung» wie schrecklich!«aus dem Mund
eines
erwachsenen Zeugen der Schau, um der Malträtierung Bobos durch die Kinder einen Riegel
vorzuschieben. Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kinder unter
einem
erheblichen Erwartungsdruck standen, hebt der kanadische Psychologie-Professor Jonathan
Freedman
hervor.12»Da die Situation durch den Versuchsleiter arrangiert worden war, hatten sie Grund
anzunehmen,
dass die Aggression regelrecht von ihnen erwartet wurde. «Das ist eine Kritik, die mittlerweile
viele
Psychologen äußern: Die Versuchssituation bei Bandura enthält starke Anreize, mit dem
Experimentator
zu kooperieren, so dass die Probanden alles daransetzten, seinen Erwartungen gerecht zu
werden.
Kaplan und Singer bemäkeln, dass die Ergebnisse aus dieser Art von Laborversuchen
grundsätzlich
nicht auf das reale Leben zu übertragen sind:»Da werden Menschen eingespannt, die sich
solche Szenen
von sich aus vielleicht nie ansehen würden, [werden] absichtlich Verärgerungen geschaffen,
die im
wirklichen Leben vielleicht ausbleiben, Testsituationen herbeigeführt, die, anders als das
wirkliche Leben,
zur» Gewalt «ausdrücklich einladen, und schließlich [werden] Verhaltensweisen als»
Aggression«
definiert, die keine wahren Aggressionen sind.«
Die größtmögliche Annäherung an das wirkliche Leben bieten» Feldstudien«, bei denen
geprüft wird,
ob ein Zusammenhang zwischen dem realen Konsum gewalttätiger Fernsehinhalte und dem
späteren
Auftreten von Aggressionen existiert. Der Yale-Professor William J. McGuire fasst die
Befunde dieser
Forschungsrichtung so zusammen:»Die gefundenen Beziehungen sind jedoch verschwindend
klein, sehr
oft statistisch nicht signifikant, und wenn doch, dann ist die Effektgröße so gering, dass die
Unterschiede
im Konsum gewalttätiger Filme für tatsächliches aggressives Verhalten praktisch
vernachlässigbar sind.«
Es ist zutreffend, dass zwischen Gewaltfilmkonsum und aggressivem Verhalten eine
Korrelation von
0,1 bis 0,2 besteht, konzediert auch der Mainzer Publizistik-Professor Michael Kunczik.13 Die
Korrelation
ist das Maß für die Beziehung zwischen zwei verschiedenen Phänomenen, deren Höhe
zwischen 0,0 (kein
Zusammenhang) und 1,0 (perfekter Zusammenhang) betragen kann.»Allerdings ist darauf
hinzuweisen,
dass sich die Konvention durchgesetzt hat, Korrelationen, deren Stärke geringer als 0,2 ist, als
unbedeutend und uninterpretierbar nicht weiter zu beachten.«
McGuire fühlt sich durch die Forschungsdaten zu einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen
die
Beschneidung der künstlerischen Ausdrucksfreiheit inspiriert:»Man könnte einwenden, jeder
isolierte
aggressive Akt sei an sich bedauerlich, und Gewalt müsse aus dem Fernsehen verbannt
werden, wenn sie
nachweislich auch nur einen einzigen Gewaltakt gegen eine Person verursacht habe, aber so
eine
simplifizierte Anwendung des Schaden-Kriteriums zieht die möglichen schädlichen Folgen
einer Zensur
nicht in Betracht. Jeder Eingriff in die öffentliche Information, die künstlerische
Ausdrucksfreiheit und
die Unterhaltung ist empörend, da die Verbannung von einer Sorte Material dem Verbot von
anderen Tür
und Tor öffnet.«
Schließlich, so McGuire, müsse man auch das Verhältnis zu den anderen Gefahren des Lebens
berücksichtigen.»Wenn man die Darstellung von Gewalt unterbindet, weil sie etwas Schaden
anrichtet,
sind andere Aktivitäten, deren schädliche Folgen viel greifbarer sind, also etwa Autofahren,
Trinken,
Geschlechtsverkehr und der Kirchengang, das logische nächste Angriffsziel… Selbst wenn
Künstler und
Produzenten fortführen, gewalttätige Programme zu machen, und das Publikum sie weiterhin
konsumierte, reichte ihr geringfügiger Effekt nicht aus, meine Abneigung gegen die
Einschränkung der
Pressefreiheit und andere Formen des >künstlerischen< Ausdruckes zu übertönen… Der
Forschung auf
diesem Gebiet ist es nicht gelungen, Signale für die politischen Entscheidungsträger zu
setzen, vielleicht
weil, wie Gertrude Stein von ihrem Heimatort sagte, es kein >es< gibt.«
Der Beweis, pflichtet McGuires Kollege Freedman bei,»dass Filmgewalt irgendwelche
Wirkungen auf
die Aggressivität des Zuschauers hätte, ist nicht erbracht worden. «Dies schreibt der
Psychologie-
Professor in einem Buch, in dem der offizielle amerikanische Psychologenverband» APA
«seinen
Mitgliedern Ratschläge gibt, wie sie die Ergebnisse der Forschung in der Öffentlichkeit
präsentieren
sollen.
Vermutlich haben die Lerntheoretiker den Zusammenhang zwischen Modell und Nachahmung
falsch
eingeschätzt. Nach dem Wissensstand der vergleichenden Verhaltensforschung ist der Mensch
das einzige
Lebewesen, das echte Imitation praktiziert. Bei Affen in freier Wildbahn wurde noch nie ein
Fall von
wahrer Nachahmung gesehen. Lediglich Schimpansen, die bei Menschen aufwuchsen und ein
intensives
Training durchmachten,»äffen «das Verhalten eines Vorbildes nach. Der Mensch hat die
spezielle geistige
Errungenschaft des Imitationslernens hervorgebracht, um sich auf einen Schlag, ohne langes
Herumprobieren, komplexe Problemlösungen anzueignen, die andere vor ihm ersonnen
haben, nicht um
mechanisch die Reaktionen eines Gegenübers abzukupfern. Leute, die ein Fußballspiel
anschauen, trinken
lieber Bier, anstatt selbst den Ball zu kicken.
Der Junge, der seine Eltern mit zermahlenem Glas umbrachte, wurde wohl kaum durch die
TV-Röhre
zum Morden angestachelt. Möglicherweise hat er dem Fernsehen jedoch die spezifische»
Lösung «für ein
Problem abgeschaut. Aber jeder kann sich ausrechnen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist,
dass eine
derartige Verkettung von Faktoren zusammenkommt.
Auch den» Erotika «oder der Pornografie wird manchmal die Fähigkeit zum» Verrohen «des
Publikums nachgesagt. Darstellungen, wie sie bereits die Höhlenwände unserer
Steinzeitahnen
dekorierten, sind wiederholt zum Gegenstand von Kampagnen geworden. Allerdings sagen
mittlerweile
nur noch orthodoxe Feministinnen und hart gesottene Fundamentalisten im mittleren Westen
der
Vereinigten Staaten der Pornografie ein ernsthaftes Gefahrenpotenzial nach. Eine eigens
einberufene
Forscher-Kommission der US-Regierung jedenfalls räumte bereits 1970 ein, dass die gesamte
Bandbreite
der behaupteten Obszönitäts-Effekte von» höchstens trivialer Tragweite «sind, hält McGuire
fest.
Dem Glauben, dass die exzessive Beschäftigung mit Pornos zynische und diffamierende
Einstellungen
gegenüber Frauen schürt, steht ein anderer Befund entgegen: Der Konsum von Pornos kann
die
Häufigkeit von Sittlichkeitsdelikten vermindern.»Man könnte diese Widersprüche versöhnen,
indem man
argumentiert, dass die Beschäftigung mit Pornografie greifbare, aber sich gegenseitig
aufhebende
stimulierende und hemmende Effekte hervorruft, und zwar dass sie durch ihre Darstellung zu
sexuellen
Akten anregen, diese aber zugleich dadurch unnötig machen, dass sie eine >Stellvertretende
Katharsis<
gewähren und Angst erzeugen.«

«Massenmedien beeinflussen das politische Denken und Handeln der Menschen«

Es gibt kaum eine Form der Beeinflussung, die so viel Hysterie und Zwietracht auslöst wie
die
politische Propaganda. Die meisten Fachleute stimmen mit dem Glauben der Laien überein,
dass
weltanschauliche Medieninhalte eine übermächtige Wirkung auf die Ideologie der Empfänger
haben.
Schließlich halten totalitäre Staaten und Diktaturen ihre Untertanen mit propagandistischer
Indoktrination
in Schach; demokratische Parteien versuchen verzweifelt, dem politischen Gegner mit
ausgeklügelten
Manipulationstechniken kostbare Stimmen abzujagen, und alle politischen Lager wehren sich
mit
Vehemenz dagegen, dass das Fernsehen der anderen Seite eine ungerechte Bevorzugung
angedeihen lässt.
Doch in den wissenschaftlichen Befunden findet dieser Glaube keinen Widerhall.»In einer
ganzen Reihe
von sorgfältig durchgeführten Laborstudien ergaben sich verblüffend wenig Anhaltspunkte
dafür, dass
politische Wahlkampagnen die Entscheidung der Wähler für oder gegen die einzelnen
Alternativen
beeinflussen können«, hebt eine Forschergruppe um den Politologie-Professor Richard R. Lau
von der
Rutgers-Universität in einer aktuellen Expertise hervor.14»Die Hauptergebnisse sind
folgende«,
rekapituliert der australische Kommunikationswissenschaftler David Sless den
Forschungsstand:
«Medieninhalte rufen keine vorhersagbaren Änderungen der Einstellungen hervor.
Einstellungsänderungen führen nicht notwendig zu Verhaltensänderungen… Wir würden von
politischen
Kampagnen abraten, die auf eine Änderung von Einstellungen zielen.«15
Auch William J. McGuire schließt sich diesem vernichtenden Urteil an:»Die
Übereinstimmung unter
den Experten, dass politische Kampagnen in den Massenmedien weit reichende Wirkungen
auf das
Wahlverhalten haben, wird durch die empirischen Daten, die, wenn überhaupt, geringfügige
Effekte
demonstrieren, nicht gestützt. «Daran ändern auch die (gelegentlichen) Studien nichts, die
einen positiven
Zusammenhang zwischen dem Werbebudget eines Politikers und seinem Rückhalt in der
Bevölkerung
postulieren: Es kann sich genauso gut um eine Scheinkorrelation handeln, von der Art, dass
man auf
sichere Gewinner größere Summen setzt.
Experimentelle Studien, in denen die Kontakte mit Politwerbung und die darauf folgende
Wahlabsicht
erhoben wurden, untermauern diese Kritik: Die Wirkung der Beeinflussungsversuche war
verschwindend
klein. Hinzu kommt die Gewohnheit des Massenpublikums, bei politischen Programminhalten
– mangels
wirklichen Informations- oder Unterhaltungswertes – innerlich abzuschalten.»Es hat sich
unterm Strich
nicht zeigen lassen, dass Politreklame einen greifbaren Effekt auf die Richtung des
Wahlverhaltens hat.«
Die Situation in der ehemaligen DDR bot eine hervorragende Gelegenheit, den Einfluss der
politischen
Berichterstattung auf das Bewusstsein der Menschen zu studieren. Die 85 Prozent der
Ostdeutschen, die
damals problemlos die westdeutschen Radio- und Fernsehsender empfangen konnten,
machten ausgiebig
von dieser Möglichkeit Gebrauch. Aber für eine Minderheit von 15 Prozent, die im Bereich
zwischen
Dresden und der östlichen Grenze lebten, schlossen die geographischen Verhältnisse diesen»
Luxus «aus.
Weil der westliche Rundfunk dort nur sehr schlecht oder überhaupt nicht zu empfangen war,
wurde die
dicht besiedelte Region entlang der Oder spöttisch das» Tal der Ahnungslosen «genannt.
Wenn das Fernsehen wirklich die Vorstellungen der Zuschauer steuern könnte, hätten die
«Ahnungslosen «andere Werte und Weltanschauungen haben müssen. Dieser Möglichkeit ist
Professor
Hans-Jörg Stiehler vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der
Universität Leipzig
nachgegangen, der als Erster repräsentative Umfragen aus der alten DDR neu analysierte, die
eine
Unterscheidung zwischen Empfängern und Nichtempfängern erlaubten.16 Fazit: Die
allgemeinen
Werthaltungen und die ideologischen Überzeugungen blieben von der Zugänglichkeit der
westlichen
Funkwellen gänzlich unberührt. Die» Ahnungslosen «vertraten die gleichen politischen Werte
und
Einstellungen wie die Menschen im übrigen Teil der DDR.
Zumindest politische Schmutzkampagnen, so glauben viele, verrichten erfolgreich ihren
Dienst. Eine
Schmutzkampagne, dezent» negative politische Werbung «genannt, ist eine Form der
politischen
Kommunikation, die auf die Diffamierung und Verhöhnung des Widersachers zielt, ohne eine
eigene
positive Botschaft zu transportieren.»Die übliche Haltung zu Schmutzkampagnen ist, dass
keiner sie
gerne hat, aber dass sie funktionieren«, fasst das Team um Lau das verbreitete Credo
zusammen. Aber sie
funktionieren nicht, wie die Forschergruppe bei einer statistischen Gesamtschau über die 52
vorfindbaren
empirischen Untersuchungen zum Thema ermittelte.»Wir konnten keine Hinweise finden,
dass negative
politische Werbung zum Vorteil der Sponsoren oder zum Nachteil der angegriffenen Personen
wirkt… Es
gibt keinen zwingenden Grund für die Annahme, dass Schmutzkampagnen wirken. «Die
Wissenschaftler
entdeckten nicht einmal Anzeichen dafür, dass negative politische Werbung das Publikum
abstößt und so
zu einer indirekten Wirkung, nämlich einer Entfremdung von den politischen Institutionen,
führt.

«Massenmedien entscheiden, welche Themen in der Öffentlichkeit diskutiert werden«

Viele Wissenschaftler haben sich unter dem Eindruck der empirischen Daten von der lieb
gewordenen
Vorstellung verabschiedet, dass Massenmedien Menschen» herumkriegen «und ihr Denken
und Handeln
beeinflussen können. Und dennoch haben sie sich die Vorstellung von den gewaltigen
Medienwirkungen
nicht ganz aus dem Kopf geschlagen: Die wahre Macht der Massenmedien, so die neue
Argumentation,
besteht nicht in der Verhaltensbeeinflussung, sondern in der so genannten»
Thematisierungsfunktion«
«agenda setting function«): Als Torhüter des Informationsflusses entscheiden Presse und
Fernsehen
selbstherrlich darüber, welche Themen und Ideen in der Gesellschaft auf der Tagesordnung
stehen und
welche unter den Tisch der öffentlichen Meinung fallen.
Umweltprobleme werden zum Beispiel erst in dem Augenblick» real«, in dem Menschen sie
zur
Kenntnis nehmen und als bedeutsam einschätzen. Es ist daher ein nahe liegender Glaube, dass
die
Berichterstattung über Umweltprobleme beim Publikum mit der Zeit anschlägt und eine
Art»ökologische
Bewusstseinserweiterung «erzeugt, schildert Gerhard de Haan, Professor für allgemeine
Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin.8
Ein Blick auf die empirischen Daten führt jedoch rasch zu einem ernüchternden Ergebnis. So
ist allein
zwischen 1970 und 1984 die Zahl der TV-Sendungen zu Umweltthemen von 16 auf 117
jährlich
gestiegen. Nach der Agenda-Setting-Theorie müsste sich dieser Trend bei den intensiven
Nutzern des
Mediums in einem Bewusstseinswandel niederschlagen. De facto ist aber genau das Gegenteil
der Fall:
«Je mehr jemand fernsieht, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese Person äußert,
ökologisch zu
handeln. «Und auch der häufige Konsum von Zeitschriften, Tageszeitung und Radio hat nicht
den
geringsten Einfluss auf den Ökologischen Bewusstseinsstand. Lediglich die Personen, die
ganz gezielt
Umweltberichte aus den Medien herauspicken und Bücher mit ökologischen Themen lesen,
behaupten
von sich, umweltbewusst zu handeln. Aber auch in diesem Fall führt ein Mehr an
Informationsaufnahme
nicht zu einem Mehr an Bewusstsein. Es besteht also insgesamt kein erwähnenswerter
Zusammenhang
zwischen der Quantität der Berichterstattung und dem ökologischen Denken.
Es gibt zwar ein paar vereinzelte Studien, in denen bestimmte politische Streitfragen erst dann
Bedeutung in den Köpfen der Menschen gewannen, nachdem die Medien sich ausgiebig
damit beschäftigt
hatten. Wieder einmal, fährt McGuire dazwischen, ist die Effekt-Größe jedoch minimal. Das
räumten
sogar die betreffenden Experten ein.»Das kausale Verhältnis, das dieser Beziehung zugrunde
liegt, ist
jedoch quälend zwiespältig: Es könnte an der Thematisierungs-Funktion der Medien liegen;
es könnte
aber genauso gut sein, dass die Präsenz einer Sache für die Wähler den Ausschlag gibt, wie
viel
Beachtung ihr die Medien schenken, da Nachrichtenredakteure und Kandidaten danach
streben, Themen
abzudecken, an denen Interesse besteht.«
Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, so die Aliensbach-Chefin und
Publizistik-Professorin
Noelle-Neumann in ihrer Theorie der» Schweige-Spirale«, welche Standpunkte in der
öffentlichen
Meinung Aufwind haben. Wenn sie wittern, dass die von ihnen vertretene Position auf dem
absteigenden
Ast ist, halten sie sich fortan mit der Meinungsäußerung zurück. Niemand will, so weiß die
Sozialpsychologie schon lange, Vertreter einer» einsamen «Auffassung sein. Die
Gewinnerpartei, die
ihren Standpunkt medial auf dem Vormarsch sieht, wirft sich jetzt natürlich erst recht ins Zeug
– und
erfährt im Fahrtwind der Medien ihren Siegeszug.
Diese Theorie setzt laut McGuire die Richtigkeit von drei eher fragwürdigen Prämissen
voraus: dass
die Darstellungen in den Medien von der Bevölkerung überhaupt als» Konsensus «aufgefasst
werden;
dass dies die Vertreter der Minderheit zum Schweigen bringt, und dass die anderen auf den
fahrenden Zug
aufspringen. Letztere Annahme sei auf jeden Fall durch empirische Studien widerlegt. Zudem
muss man
immer mit der Möglichkeit rechnen, dass viele Menschen sich emphatisch auf die Seite des
Verlierers
werfen.»Sogar dann, wenn alle drei Voraussetzungen einigermaßen gültig wären, bestünde der
Netto-
Effekt aus der Summe von drei Wahrscheinlichkeiten und wäre daher verschwindend klein.«

«Massenmedien übertragen ein verzerrtes Bild der Welt in die Köpfe«

Man sollte eigentlich denken, dass den Menschen, die sich unaufhörlich von den flimmernden
TV-
Illusionen berieseln lassen, allmählich das Unterscheidungsvermögen für die Welt auf dem
Bildschirm
und jene vor der Haustür abhanden kommt. Wer die Realität nur noch durch das» Fester «der
Mattscheibe
wahrnimmt, so die Kernaussage der» Kultivierungsthese«, nimmt den Schein zunehmend für
die
Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: Mit steigendem Fernsehkonsum machen sich die
Zuschauer immer
stärker die fernsehtypischen, systematischen Verzerrungen der Realität zu Eigen.
Die Furcht, dass der Realitätssinn des Publikums allein durch den starken Gebrauch eines
bestimmten
Mediums beeinträchtigt wird, hat in der Geistesgeschichte eine große Tradition. Schon
Sokrates, der
antike Denker, wetterte, dass das menschliche Gedächtnis an der Erfindung der Schrift
zugrunde gehen
werde. Die moderne Kultivierungstheorie geht von der Tatsache aus, dass das
Bildschirm-Universum
beträchtlich von der Welt» da draußen «abweicht. So kommen auf der Mattscheibe etwa viel
mehr
gewalttätige Handlungen und weniger Alte und Angehörige von Minderheiten vor, als den
objektiven
Gegebenheiten entspricht. Vielseher, so die Folgerung,»pfropfen «der Wirklichkeit schließlich
die im
Fernsehen aufgeschnappten Verzerrungen auf.
Einige Studien, denen zufolge» Fernsehsüchtige «das Ausmaß der tatsächlich begangenen
Gewalttaten
überschätzen und generell ängstlicher sind als Wenigseher, schienen zunächst die
Kultivierungsthese zu
stützen. Es ist nun allerdings sehr gut möglich, dass die betreffenden Forscher selber einer
«systematischen Verzerrung «der empirischen Daten erlegen sind, meint McGuire.
Unabhängige
Forscher, die die (ohnehin wieder einmal nur sehr schwachen) Zusammenhänge am gleichen
Umfragematerial reproduzieren wollten, suchten vergeblich. Es entbrannte eine Fehde im
Forschungsbetrieb, die nie richtig beigelegt werden konnte.
Aber selbst dann, wenn die behaupteten Beziehungen zwischen TV-und Zuschauer-Ideologie
überhaupt existieren, sagt das noch nichts über das Kausalitätsverhältnis:»Es ist aber weniger
klar, ob das
Fernsehen für solche Stereotypen verantwortlich ist, da diese ja auch schon vor dem Einzug
des Mediums
in den fünfziger Jahren verbreitet waren… Das verzerrte Porträt der Welt im Fernsehen
könnte eine Folge
und nicht die Ursache der öffentlichen Stereotypen sein, da Drehbuchautoren und
Produzenten dazu
neigen, geläufige Stereotypen aufzugreifen oder zu glauben, dass Programme, die die
Weltanschauung
des Publikums widerspiegeln, beliebter sind.«
Der Saarbrücker Psychologe Peter Winterhoff-Spurk hat in eigenen Forschungsarbeiten
Beweise gegen
die Kultivierungsthese angehäuft.2 Er ging zum Beispiel der Frage nach, inwieweit der
ausgedehnte TV-
Konsum Einfluss darauf hat, wie Zuschauer bestimmte Bevölkerungsgruppen und Situationen
wahrnehmen. Zudem machten die Probanden Angaben darüber, wie hoch die Quote der
Männer und
Gewaltverbrechen oder wie groß die durchschnittliche Kinderzahl sei.
Fazit: Weder legten die Vielseher ein abweichendes (zum Beispiel besonders zynisches)
Menschenbild
an den Tag, noch gaben sie abweichende Schätzungen zum Vorkommen der einschlägigen
Menschengruppen und Ereignisse ab. Ihre Vorstellungen waren nur dann ein wenig in
Richtung TV-
Vorbild verzerrt, wenn es sich um sehr alltagsferne Bedingungen, zum Beispiel die Arbeit
eines
Kommissars handelte. Daraus zieht der Autor den Schluss, dass sogar der Vielseher klar
zwischen der
Welt auf dem Bildschirm und der seinigen unterscheiden kann.

«Massenmedien beeinflussen Wahlen durch die Veröffentlichung von


Umfrageergebnissen«

In einem wichtigen Punkt, so lautet eine häufig vertretene These, wirken Massenmedien
entscheidend
auf die Entwicklung der politischen Machtverhältnisse ein: Menschen lassen sich bei ihrer
Stimmabgabe
durch die in den Medien veröffentlichten demoskopischen Wahlprognosen beeinflussen. Es
wird
angenommen, dass sich die Statistiken auf die Wahlbeteiligung auswirkten und die Wähler zu
einem
Votum für den vermeintlichen Wahlsieger oder Wahlverlierer bewegen könnten. Es sei aber
auch möglich,
dass ein so genannter Fallbeileffekt existiere, der kleinen Parteien, die Gefahr laufen, unter
der 5-Prozent-
Hürde zu bleiben, zum Verhängnis werden könne, gibt Dr. Wolfgang Donsbach vom Institut
für
Publizistik der Universität Mainz zu bedenken: In dem Glauben, dass eine Stimme für diese
Verlierer
«weggeworfen «ist, bleiben die Sympathisanten den Urnen fern. 17 Dadurch drohe kleinen
Parteien, erst
recht ins Hintertreffen zu geraten, weil deren Wähler besonders intensiv die demoskopischen
Prognosen
verfolgen.
«Die Annahmen über die Wirkung von Wahlumfragen werden in politischen und
politikwissenschaftlichen Diskussionen so dargestellt, als handle es sich dabei um empirisch
belegte
Tatsachen«, hält Dr. Frank Brettschneider vom Institut für Politikwissenschaft der Universität
Stuttgart
fest.18 Der Blick auf die empirischen Forschungen führt jedoch unweigerlich zu dem Schluss,
dass sich
die überwiegende Mehrheit der Wähler in Wirklichkeit keinen Deut um diese Vorhersagen
schert.
Als» moderne Orakel«,»Auguren der Neuzeit «oder» Datenhexer«, die die Wähler
beeinflussen,
werden Meinungsumfragen allzu oft bezeichnet. Doch wie die Rezipienten in Wirklichkeit
mit diesen
Statistiken umgehen, kann man laut Donsbach an einem interessanten psychologischen
Phänomen
ablesen: Sehr viele Personen verdrehen anscheinend die Tatsachen in ihrer Erinnerung und
machen sich
vor, dass die letzten Umfrageergebnisse zugunsten ihrer Lieblingspartei ausgefallen seien.
Die meisten Wähler haben die Offenbarungen der Meinungsforscher aber auch gar nicht
nötig, weil sie
sich längst, aus anderen Quellen, ein Bild von dem vermuteten Wahlausgang zurechtgelegt
haben. Es
verwundert daher nicht, dass in einer Untersuchung kurz vor dem Wahltermin die Mehrheit
der Befragten
bekundete,»kein Interesse «an einer demoskopischen Vorhersage zu haben. Zu den
wichtigsten
Informationsquellen einer solchen persönlichen Wahlvorhersage gehören die Massenmedien
Fernsehen
und Zeitung. Donsbach hat aber nun in einer eigenen Studie herausgefunden, dass nur eine
verschwindende Minderheit aller Wahlprognosen, die bei der Bundestagswahl in Fernsehen
und Zeitung
veröffentlicht wurden, auf die Zahlen der Demoskopen zurückgeführt werden können. Die
überwiegende
Mehrheit der» Prophezeiungen «spiegelte vielmehr die persönliche Meinung von Politikern
oder
Journalisten wider.
Ein Beispiel hierfür ist der Bundestagswahlkampf 1998: Der Anteil der auf Umfragen
basierenden
Aussagen der Meinungsforscher nahm im Verlauf des Wahlkampfes zunächst von 6 Prozent
im Juni auf
11 Prozent im September zu. Die Aussagen von Politikern und Journalisten über den
Wahlausgang und
die Wählerstimmen beliefen sich im September auf 49 Prozent.»Es gibt keine Hinweise
darauf, dass sich
die Veröffentlichung von Wahlumfragen auf irgendeine Art und Weise in der Art der
Wahlbeteiligung
niederschlägt«, lautet das Fazit des Politikwissenschaftlers Brettschneider.
Natürlich, räumt Donsbach ein, hätten die Wähler in der Regel mehrere Quellen, um sich ein
Bild von
den Meinungen ihrer Mitmenschen zu machen. Die Berichterstattung in den Massenmedien
sei nur eine
davon. Innerhalb der Aussagen in den Medien jedenfalls spielten demoskopische Ergebnisse
nur eine
untergeordnete Rolle.
«Die pauschale These, Wahlumfragen würden die gesamte Wahlbeteiligung beeinflussen,
entspricht
nicht der Realität«, betont Brettschneider. Diese Wirkungen existierten nicht. Ebenso wenig
lasse sich die
gesamte Wählerschaft durch Umfragen manipulieren. Dies liege unter anderem daran, dass
Umfrageergebnisse vor allem diejenigen Wähler interessierten, die für Manipulationen
besonders
unanfällig sind. Diese Menschen sind meist gebildet und politisch interessiert, außerdem sind
sie in der
Regel Parteimitglied oder sie identifizieren sich mit einer bestimmten Partei. Diese so
genannten
taktischen und rationalen Wähler sehen Umfragen meist als zusätzliche Informationsquelle.
Der Einfluss
der Demoskopie auf das Wählerverhalten werde demnach weit überschätzt, so der
Wissenschaftler.

1 McGuire, William J.: The myth of massive media impact. In: Public
communication and behavior, Bd. 1 (1986), S. 173–257.
2 Winterhoff-Spurk, Peter: Fernsehen – Psychologische Befunde zur
Medienwirkung. Bern u.a. 1986.
3 Sless, David: Inside communication research.
http: //www.communication.org.au/articles_to_read/paper_21 /paper_21.html
4 Moser, Klaus/Hertel, G.: Der Dritte-Person-Effekt in der Werbung. In:
Zeitschrift für Sozialpsychologie, Bd. 29 (1998), S. 147–155.
5 Mayer, Hans: Werbepsychologie. Schaffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 1993.
6 Gleich, Uli/Groebel, Jo: Werbeforschung: Neue Befunde zu
Wirkungsvoraussetzungen. In: Media Perspektiven, 5, (1993) S. 229–233.
7 Barth, Jürgen/Bengel, Jürgen: Warnhinweise bei Alkohol und Zigaretten –
Rezeption und Verarbeitung. In: Zeitschrift für Medizinische Psychologie, Bd. 6 (1997),
S. 5-14.
8 De Haan, Gerhard: Umweltbewusstsein und Massenmedien. Akademie Verlag,
Berlin
1995.
9 «Mit aller Gewalt«. In: Die Woche 36/99,3.9.1999.
10 Kaplan, Robert M./Robert D. Singer: Television violence and viewer
aggression. In: Journal of Social Issues, Bd. 32 (1976), S. 35–70.
11 Gormley, Tom: Ruination once again. Cases in the study of media effects.
http: //www.theory.org.uk/effec-tg.htm
12 Freedman, Jonathan L.: Television violence and aggression: What psychologists
should teil the public. In: Suedfeld, Peter /Philip E. Tetlock (Hg.): Psychology and social
policy. Hemisphere Verlag, New York 1992.
13 Kunczik, Michael: Wirkungen von Gewaltdarstellungen. Zum aktuellen Stand
der Diskussion. In: Friedrichsen, Mike/Gerhard Vowe (Hg.):
Gewaltdarstellungen in den Medien. Westdeutscher Verlag, Opladen 1995.
14 Lau, Richard R. et al.: The effect of negative political advertisements: A
meta-analytic assessment. In: American Political Science Review, Vol. 93
(1999), S. 851–875.
15 Sless, David: The problem with attitude.
http://www.communication.org.au/articles_to_read/paper_2/paper_2.html
16 Etzkorn, Klaus Peter/Stiehler, Hans-Jörg: The Valley of the clueless. In:
Communications, Vol. 23 (1998), S. 271–298.
17 Donsbach, Wolfgang: Die Rolle der Demoskopie in der
Wahlkampf-Kommunikation. Empirische und normative Aspekte der Hypothese über den
Einfluss der Meinungsforschung auf die Wählermeinung. In: Zeitschrift für Politik,
Bd. 31 (1984), S. 388–407.
18»Vom Machtmythos der Wahlumfrage«. In: Der Forschungsdienst, Nr. 1/2000.
Der unverbesserliche Verstand

«Es gibt Möglichkeiten, die Intelligenz und das Auffassungsvermögen des


Menschen erheblich zu erweitern«

Es gibt einen ewigen Menschheitstraum, der in dem Wunsch besteht, sich über die Grenzen
der
eigenen Intelligenz und des eigenen Lernvermögens hinwegzusetzen. Die Idee vom»
Hirnkraftverstärker«
findet in volkstümlichen Mythen wie dem» Nürnberger Trichter «und in der Sciencefiction
ihren
Niederschlag. In seinem Erstlingsroman» Brain Wave «beschreibt beispielsweise der
amerikanische
Sciencefiction-Autor Poul Anderson 1954, wie alle Menschen unter dem Einfluss einer
kosmischen
Strahlung unglaubliche Intelligenz erlangen. Tatsächlich zaubern Psychologen und andere
Gurus immer
wieder mit missionarischem Eifer neue und» wissenschaftlich erprobte «Instant-Techniken
hervor, die
dem» Grips «und dem Gedächtnis schon heute rasch und sicher auf die Sprünge helfen sollen.
Solche Versprechungen stoßen auf offene Ohren in einer Welt, die mit ihrer steigenden
Komplexität,
ihrer Wettbewerbsorientierung und ihren rasanten Umwälzungen massive Anforderungen an
unsere
Denkfähigkeit stellt. Sie kommen allerdings auch ausgesprochen unschmeichelhaften Zügen
unserer
Natur entgegen, meint der kanadische Psychologie-Professor Barry L. Beyerstein,»unserem
Hang zum
Wunschdenken und zur Selbsttäuschung und unserer Vorliebe für schnelle
Brachiallösungen«.1 Bei einem
kritischen Blick auf die publizierte Forschungsliteratur kommt man nicht um das
Eingeständnis herum,
dass alle Versuche, den Intellekt und das Erinnerungsvermögen nachhaltig hoch zu schrauben,
zum
Scheitern verurteilt sind.»Die Behauptung, dass es Methoden gebe, die Intelligenz
substanziell und
dauerhaft anzuheben, besitzt eine lange Geschichte, doch sie hat nur eine wiederholte
Enttäuschung
hervorgebracht«, resümiert der Psychologie-Professor Herman H. Spitz aus Princeton in den
USA.2
«Intelligenz ist nicht trainierbar«, pflichtet Sven Rudloff von der Österreichischen Sektion der
«Intelligenzbestienvereinigung «MENSA lakonisch bei.3
Aufstieg und Fall der neuen und zunächst euphorisch umjubelten Techniken haben sich in der
Vergangenheit immer nach dem gleichen Muster abgespielt, zieht Spitz Bilanz. 4»Erst fand
immer jemand
einen Hinweis, dann folgte eine ganze Reihe von bestätigenden Untersuchungen. «Nach und
nach häuften
sich jedoch immer mehr widersprechende Daten und kritische Stimmen an, bis das Ganze in
Desillusionierung mündete.»Die Desillusionierung hielt jedoch nie so lange an, dass keine
neuen Gurus
aus der Asche hätten aufsteigen und begeisterte Anhänger finden können. «Die
widersprechenden
Befunde wurden von der Presse aber entweder gar nicht oder nicht mit der gleichen
Begeisterung
breitgetreten, welche die Berichterstattung über aufregende neue Lerntechniken und mentale
Stimulationsmethoden prägt.
Es lässt sich kaum noch genau nachvollziehen, welche» Turbolader «für den Intellekt in den
vergangenen Jahren alle Furore machten. Am Anfang standen rein psychologische Methoden
wie
frühkindliches Training, Superlearning und Subliminalkassetten. Neuerdings werden diese
Klassiker
immer häufiger von Hightech-Methoden abgelöst, die eine enge Verbindung mit den
Fortschritten in der
Elektronik, Biochemie und Neurobiologie suggerieren: Smart Pills, Computersoftware und
Mind-
Machines. Das vernichtende Verdikt der wissenschaftlichen Rationalität ist jedoch in allen
Fällen gleich.
«Messbare Intelligenz- beziehungsweise IQ-Steigerungen konnten aber noch nie belegt
werden, obwohl
die Hersteller und Befürworter um die Betonung der wissenschaftlichen Möglichkeit eines
solchen
Effekts selten verlegen sind«, konstatiert Rudloff.»Gehirnwissenschaftler stellten bei einem
Kongress in
München zusammenfassend fest, dass es bislang noch keine Präparate gibt, die den
berechtigten
Anspruch darauf erheben könnten, unsere Denk-, Lern- und Gedächtnisleistung deutlich und
nachhaltig
zu verbessern!«

«Die Intelligenz von Kindern aus benachteiligten Schichten kann durch geeignete
Programme
gesteigert werden«

Es war schon immer ein schwerer Affront für die humanistisch-egalitäre Weltanschauung,
dass viele
Kinder aus benachteiligten Schichten ihre schulische Karriere mit einem» hausgemachten
«geistigen
Handikap antreten. Der Schluss lag nahe, dass den Betreffenden schon ganz früh im Leben
die Chance
zur optimalen Entfaltung ihrer intellektuellen Anlagen vorenthalten wird. In dieser Situation
erschien die
Idee von kompensatorischen Frühförderprogrammen wie ein Patentrezept: Der Staat stellt den
Betroffenen ein Potpourri von geistig stimulierenden Reizen bereit, das der mentalen
Deprivation im
Elternhaus entgegenwirkt. Selbst wenn der Intelligenzquotient in erheblichem Umfang durch
Erbanlagen
determiniert wird, so der Gedanke, bleibt immer noch genügend Spielraum, ihn durch
Erziehungsmaßnahmen zu pushen. Bei einem so edlen Motiv wird die wissenschaftliche Basis
kaum in
Zweifel gezogen.
Die Amerikaner haben diese Möglichkeit bereits Anfang der sechziger Jahre mit dem
monumentalen
Projekt» Head Start «im großen Stil erprobt. Das Programm wurde unter dem Einfluss des
Sputnikschocks initiiert und hatte das Ziel, Kinder aus unterprivilegierten Elternhäusern zu
fördern, damit
das Land im Wettbewerb der Systeme besser gewappnet sei. Insgesamt 530.000 Kinder
kamen in den
Genuss dieser Anregung, die aus mehrmonatigen oder ganzjährigen Kursen, Belehrungen,
Erziehungs-,
Ernährungs- und medizinischen Beratungen und Interventionen bestand. Bei der wichtigsten
Bewertungsstudie wurden insgesamt 4.000 Kinder, die Hälfte davon Projektteilnehmer, unter
die Lupe
genommen.
Das Ergebnis der Qualitätskontrolle fiel verheerend aus: Zwar konnten die geförderten
Teilnehmer
während der Intervention ein leichte Verbesserung der intellektuellen Leistungen
verbuchen.»Aber
nachdem sie das Programm verließen, schmolz der Leistungszuwachs dahin und wurde
schließlich von
einer Verschlechterung abgelöst, während die nicht geförderten Kinder jetzt eine
Verbesserung erkennen
ließen«, rekapituliert der Psychologe Spitz.»Nach einer Weile waren die geförderten und die
nichtgeförderten Kinder nicht mehr zu unterscheiden – ein typisches Ergebnis für
Interventionsprogramme. «Auch der Psychologe Nathan Brody von der Wesleyan University
in
Middletown bestätigt diese pessimistische Sicht in einer umfangreichen Übersicht über die
(Un)Veränderbarkeit des IQ:»Gemessen an der Testintelligenz und der schulischen Leistung
hat das
Projekt Head Start keinen langfristigen Nutzeffekt.«5
Die Initiatoren, die diese Ergebnisse nicht wahrhaben wollten, führten sie auf die
unzureichende
Dauer der Intervention zurück. Es folgten neue Programme (und Qualitätskontrollen), bei
denen die
Förderung auf die ersten Schuljahre ausgeweitet wurde.»Bei 5 Tests waren die
durchgeförderten Kinder
im Vorteil, bei 11 hatten die nichtgeforderten Kinder Oberwasser, und bei 91 Tests trat
überhaupt kein
greifbarer Unterschied auf«, begräbt Spitz die Illusionen der Head-Start-Verfechter.»Kann es
denn
möglich sein«, zitiert Spitz die autorisierte Expertise,»dass so viel Mühe kein messbares
Ergebnis hat?«
Anstatt der Realität ins Auge zu sehen, schoben die Anhänger der Frühförderung bösen
Kräften den
schwarzen Peter zu: Sie führten das desolate Ergebnis auf die Kurzsichtigkeit der Bürokraten,
eine
unangemessene Auswahl der Kinder, schlechte Lehrer, fehlende Geldmittel oder andere
prinzipiell
behebbare Störfaktoren zurück. Doch es gab längst andere Daten, die auf die
Wirkungslosigkeit der
organisierten Intelligenzsteigerung hinwiesen. Wegen des Zuordnungsverfahrens beginnen
viele Kinder,
die nur einen Tag älter sind als andere, ein ganzes Jahr früher mit dem Schulbesuch. Die
empirischen
Daten beweisen jedoch ganz eindeutig, dass von diesem Startvorteil nichts hängen bleibt,
betont Brody.
«Die Intelligenzunterschiede, die mit dem kürzeren oder längeren Schulbesuch
zusammenhingen, lösten
sich mit der Zeit vollständig auf.«
Nach Darstellung von Brody sehen viele Anhänger der Frühförderung geflissentlich darüber
hinweg,
dass bei den Kindern aus benachteiligter Herkunft von vornherein massive
Intelligenzunterschiede zu
verzeichnen sind. Dieses Gefälle zwischen den Kindern wurde durch die Frühförderung nicht
abgebaut.
Wie sich die Intelligenz benachteiligter Kinder spontan entwickelt, haben neuseeländische
Forscher in
einer richtungsweisenden Langzeitstudie untersucht. Bei der überwiegenden Mehrheit der
Kinder traten
im Verlauf von sieben Jahren viele natürliche Fluktuationen auf, die gleichermaßen nach oben
und unten
wiesen. Lediglich eine Minderheit von 10 Prozent legte eine systematische und
kontinuierliche
Intelligenzsteigerung an den Tag. Die Wissenschaftler versuchten nach allen Regel der Kunst,
die
fördernden Faktoren hinter diesem Zuwachs aufzudecken. Aber sie fanden keine. Nahe
liegende
Einflüsse, wie etwa Anregungen im Elternhaus, erwiesen sich als völlig wirkungslos.
Der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer hat Verständnis für das dahinter stehende
Grundprinzip.
«Der Nürnberger Trichter ist wenig sinnvoll.« 6 Vielmehr wisse das sich entwickelnde junge
Gehirn» sehr
genau, welche Informationen es braucht, um seine Fähigkeiten richtig auszubilden. Es fragt
seine Umwelt
ganz gezielt danach. «Das entlastet Eltern und Erzieher von der Bürde, dem Nachwuchs aus
eigener
Initiative» Hirnfutter «in passender Menge und zur rechten Zeit anbieten zu müssen. Die
Evolution hat
wahrscheinlich mit vorausschauender Weisheit ein Denkorgan konstruiert, das sich in einer
«durchschnittlich zu erwartenden Umwelt «aus eigener Kraft alle Reize herauspickt, die für
die optimale
Entfaltung seiner Leistungsfähigkeit nötig sind.
Befürworter einer verstärkten Frühförderung von benachteiligten Kindern berufen sich oft
ausdrücklich auf die» verhaltensgenetischen «Untersuchungen, die über die Erblichkeit der
Intelligenz
Auskunft geben. Es kann auf dem heutigen Stand des Wissens keinen Zweifel mehr geben,
dass Gene
einen starken Einfluss auf den IQ haben, auch wenn das Zusammenspiel zwischen Erbe und
Umwelt
überraschend komplex ausfällt. Allein in den letzten Jahren sind zwei Studien an getrennt
aufgewachsenen, eineiigen Zwillingen zu dem Ergebnis gelangt, dass Unterschiede im IQ zu
70 Prozent
durch Erbfaktoren hervorgerufen werden. Zudem nimmt der erbliche Einfluss auf die geistige
Leistungsfähigkeit im Verlauf des Lebens erheblich zu – bei einer deutschen Studie an
Senioren auf 82
Prozent.
Selbst wenn die mit Tests gemessene Intelligenz zu 80 Prozent erblich wäre, argumentieren
die
Förderfreunde, dann wären die verbleibenden 20 Prozent Umwelteinflüsse noch immer für
einen
Entwicklungsspielraum von beträchtlichen 35 IQ-Punkten gut. Doch dies sei eine
Milchmädchenrechnung, hält der Psychologe Spitz entgegen. Extreme Veränderungen der
Intelligenz
ließen sich nur unter extremen Bedingungen erzielen, etwa indem man einen Menschen von
früh an von
allen Umweltreizen abschottet.»Und diese extremen Effekte sind offenbar immer nur auf eine
Verminderung der Intelligenz beschränkt.«
Es ist eine entscheidende Erkenntnis, dass der erbliche Einfluss auf die Intelligenz mit
zunehmendem
Alter größer wird. Dies lässt sich nicht nur an den Beobachtungen bei alten Menschen
ablesen. Mehrere
neue Langzeitstudien belegen, dass auch die intellektuelle Leistung von Kindern mit
zunehmendem Alter
immer unabhängiger von der familiären Umgebung wird. Adoptivgeschwister, die keine
Gene, aber die
gesamte Erziehung gemeinsam haben, erzielen in der Kindheit noch Intelligenztestwerte, die
sich ähneln;
im Teenageralter verflüchtigen sich diese Gemeinsamkeiten völlig, und der IQ nähert sich
dem der
biologischen Eltern an. Je mehr Freiheiten Menschen haben, die Umstände ihres Lebens
selbst zu
bestimmen, umso weniger wird ihr Intellekt durch Umwelteinflüsse – wie etwa
Förderprogramme oder
eine benachteiligte Herkunft – festgelegt.

«Der Glaube des Lehrers, dass Schüler eine hohe Intelligenz besitzen, wird durch eine
sich selbst
erfüllende Prophezeiung wahr«

Jeder kennt die Erfahrung, dass bestimmte Dinge allein deshalb wirklich werden, weil man sie
sehr
stark erwartet hat. Mitte der sechziger Jahre demonstrierte der amerikanische Psychologe
Robert
Rosenthal mit einer eindrucksvollen Versuchsanordnung, dass eine solche sich selbst
erfüllende
Prophezeiung die Intelligenz von Schülern nach oben treiben kann. Bei dem Experiment, das
in der
Öffentlichkeit viel Staub aufwirbelte, erhielten Lehrer die getürkte Information, dass einige
Schüler in
ihrer neuen Klasse besonders große intellektuelle Potenziale hätten. Tatsächlich hatte diese
Desinformation die Folge, dass die betreffenden Zöglinge in der Zeit danach einen
überdurchschnittlichen Zuwachs der Intelligenz erzielten. Die Implikation war
durchschlagend: Wenn ein
Lehrer auf den» Grips «eines Schülers große Stücke setzt, benimmt er sich so, dass diese
Erwartung auch
in Erfüllung geht.
Mit der Namensgebung» Pygmalion-Effekt «stellte Rosenthal die Verbindung zu einem
Mythos her,
der im 10. Buch der Metamorphosen Ovids nachzulesen ist. Dort wird im Kontext des
unmoralischen
Treibens antiker Prostituierter die Geschichte des sensiblen und frommen Künstlers
Pygmalion
beschrieben, der sich in sein selbst gefertigtes Idealbild einer Frau mit einer derartigen
Inbrunst verliebte,
dass die Göttin Venus sein Flehen erhörte und die elfenbeinerne Galatea zum Weib aus
Fleisch und Blut
werden ließ.
Obwohl George Bernard Shaws zynische Pygmalion-Komödie mit Professor Higgins alias
Pygmalion
und der deutlich emanzipierten Galatea Eliza Doolittle die Möglichkeiten erzieherischer
Einflussnahmen
ad absurdum führt, rief die Publikation des Pygmalion-Effekts eine ungeheure Resonanz
hervor. Die
Medien überschlugen sich mit Berichten und Leitartikeln, und das Experiment und seine
Folgerungen
wurden binnen kurzem in den Lehrbüchern der Psychologie verewigt. Der Pygmalion-Effekt
ist derart
einleuchtend und verführerisch, dass er dem gesunden Menschenverstand schlagartig als
abgesichertes
Wissen erscheint.
Dabei gab es von Anfang an Stimmen, die Rosenthals Experiment und die daraus abgeleiteten
Schlüsse in Bausch und Bogen verurteilten. Edward Thorndike, ein Pionier der
Verhaltensforschung,
kanzelte Rosenthals Studie sogleich wegen ihrer angeblich verheerenden methodischen
Mängel ab:
«Unabhängig davon, was ich auch immer sage – Pygmalion wird ein Klassiker werden, auf
den sich alle
beziehen, aber den niemand kritisch prüft.«2
Andere Wissenschaftler machten ihre Kritik an einem seltsamen Umstand fest. Die Lehrer
waren über
die Identität der angeblich» viel versprechenden «Schüler in Form einer Namensliste
aufgeklärt worden.
Doch auf Nachfrage gaben die Lehrer an, dass sie die Liste nur einmal kurz überflogen hatten.
Keiner
konnte sich auch nur an einen einzigen der aufgeführten Namen erinnern. Im Laufe der Zeit
nahmen die
aufgedeckten methodischen Mängel überhand. Das ursprüngliche Experiment wurde in den
darauf
folgenden Jahren in mehreren Variationen und mit gesteigerter methodischer Raffinesse
wiederholt.
Erschütternde Gesamttendenz, so Spitz: Der Pygmalion-Effekt war entweder völlig abwesend
oder aber
verschwindend klein. Doch diese Erkenntnis ist bis heute nicht in die Lehrbücher, in die
Presseberichte
und in den gesunden Menschenverstand durchgedrungen.
Die Widerlegung des Pygmalion-Effekts sei» sehr ernüchternd«, räumt Prof. Dr. Herbert Bock
von
der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Sozialwesen Zittau/Görlitz widerstrebend
ein.»Die
Forschungsergebnisse stellen klar, dass die bloße Existenz einer Erwartung über Eigenarten
eines anderen
Menschen nicht ausreichen, um deutliche Effekte zu bewirken. Ernüchternd auch in dem
zweiten Sinne,
dass einfache und allgemein gültige Erkenntnisse in der Psychologie nicht leicht zu haben
sind.«7

«Klassische Musik hebt die Intelligenz von Kindern an«

Mozart war ein genialer Komponist. Seine Musik – und wahrscheinlich überhaupt klassische
Musik
– soll Menschen (speziell Kinder), die ihr lauschen, sogar für eine Weile intelligenter machen.
Das
Phänomen wird als» Mozart-Effekt «bezeichnet und besagt in seiner engsten Auslegung, dass
der frühe
Kontakt mit Mozart-Kompositionen bei Kindern unter drei Jahren die Gehirnentwicklung
beschleunigt.
Die Idee, dass ein solches Phänomen existieren könnte, tauchte erstmals im Jahre 1993 auf –
an der
University of California in Irvine.8 Dort untersuchten der Physiker Gordon Shaw und Frances
Rauscher,
ein Spezialist auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung, bei ein paar Dutzend
College-Studenten die
Auswirkungen einer Hörprobe: der ersten 10 Minuten von Mozarts Klaviersonate für vier
Hände in D-
Dur (KV 448). Sie stellten eine vorübergehende Steigerimg des räumlichen und zeitlichen
Denkens fest
– ein Ergebnis, das per Messung mit dem» Stanford-Binet IQ-Test «ermittelt wurde.
Allerdings hielt
dieser Effekt lediglich 15 Minuten an. Und: Niemand sonst hat diese Resultate jemals
wiederholen
können.
Im Jahre 1997 gaben Rauscher und Shaw bekannt, sie hätten wissenschaftlich nachgewiesen,
dass
Klavier- und Gesangsunterricht das abstrakt-logische Denken bei Kindern besser fördere, als
dies der
Computerunterricht bewirke. Das Experiment erfasste drei Kindergartengruppen: Die erste
Gruppe
erhielt privaten Klavier- oder Keyboardunterricht sowie Gesangsunterricht; eine zweite
Gruppe bekam
privaten Computerunterricht; und eine dritte Gruppe erhielt gar kein Training. Anschließende
Tests der
Fähigkeit zu räumlich-zeitlichem Denken zeigten: Die Kinder im
Klavier/Keyboard-Programm
erbrachten eine um 34 Prozent höhere Leistung als die anderen. Diese Ergebnisse zeigten,
dass die Musik
eindeutig jene höheren Gehirnfunktionen steigert, die für Mathematik, Schach, Wissenschaft
und Technik
erforderlich sind.
Die Untersuchungen schlugen in der Öffentlichkeit und in der Fachpresse hohe Wellen. Ein
Wissenschaftsjournal schrieb von einer» spektakulären Karriere als Pop-Wissenschaft«. Noch
heute fehlt
der so genannte Mozart-Effekt in kaum einem populären Artikel über den erzieherischen Wert
von
(natürlich klassischer) Musik. Allerdings sind übertriebene und irreführende Behauptungen
über die
Musik inzwischen so alltäglich, dass der Versuch, sie richtig zu stellen, an Zeitverschwendung
grenzt,
lamentiert der amerikanische Philosophie-Professor Robert T. Carroll.9 Ein Gouverneur in
Georgia schlug
jedenfalls vor, jedem Kind im Bundesstaat Mozart-Platten zu kaufen, Ratgeberautoren
empfahlen
werdenden Müttern, schon ihren ungeborenen Kindern Mozart vorzuspielen.
Mozart-Effekt-Gläubige vermuten, dass komplexe Musik gewisse komplexe neuronale
Muster
erleichtert, die bei höheren Hirnaktivitäten wie Mathematik und Schach auftreten. Einfache
und repetitive
Musik könnte den gegenteiligen Effekt haben. Dahinter steckt erstens das Modell, dass häufig
genutzte
Verbindungen zwischen Neuronen fester» verdrahtet «würden; zweitens die Annahme, dass
die zeitlichen
Strukturen von Musik im Hirn in ähnlichen Regionen der linken und rechten Hirnhälfte
verarbeitet
würden wie räumliche Muster; drittens aber die Idee, dass gerade oder besonders die Musik
Mozarts eine
ähnliche Komplexität aufweise wie die in IQ-Tests» geprüften «geometrischen Aufgaben.
Unglücklicherweise haben sich in der letzten Zeit gleich mehrere Forscher mit
Veröffentlichungen zu
Wort gemeldet, die dem Mozart-Effekt den wissenschaftlichen Boden entziehen.8 Kenneth
Steele, ein
Psychologie-Professor an der Appalachian State University, und John Bruer, Leiter der James
S.
McDonnell Foundation in St. Louis, Missouri, gehören dazu. Dem ganzen Werberummel
widersprechend
behaupten sie, dass das Mozart-Hörerlebnis nicht wirklich intelligenzsteigernd oder
gesundheitsfördernd
sei. Sie heben hervor, dass sie trotz genauer Befolgung der von Shaw und Rauscher
aufgestellten
Protokolle» absolut keinen Effekt «feststellen konnten, obwohl sie in ihrer Studie 125
Studenten
untersuchten. Sie folgerten daraus, dass» es nur wenig Grund zur Unterstützung von
Interventionsprogrammen gibt, die sich auf die Existenz des Mozart-Effekts berufen. «Die
Autoren
abschließend:»Ein Requiem dürfte angebracht sein.«
Der Harvard-Psychologe Christopher Chabris hat zu diesem Thema eine Meta-Analyse – also
sozusagen eine Analyse der Analysen – verschiedener einschlägiger Studien durchgeführt. Er
zitiert etwa
Arbeiten, nach denen eine Stephen-King-Lesung oder Popmusik zumindest den gleichen
Effekt wie
Mozart haben – immer vorausgesetzt, den Versuchspersonen gefällt, was sie hören. Chabris
glaubt also an
einen – wenn auch kleinen – Effekt der» enjoyment arousal«(etwa:»freudige Erregung«), der
verbesserte kognitive Leistungen erklären könnte.
Wenn die Musik Mozarts wirklich so gesundheitsfördernd wäre, fragt Robert T. Carroll
zynisch,
warum war Mozart selbst so oft krank? Wenn Intelligenz und Geist durch Mozarts Musik so
sehr
gefördert würden – warum sind dann die klügsten und inspiriertesten Menschen auf der Welt
nicht die
Mozart-Spezialisten? Der» Mozart-Effekt «bietet nach seiner Ansicht ein Beispiel dafür, wie
sich in
unserer Welt die Bereiche Wissenschaft und Medien miteinander mischen.

«Es ist möglich, sich mit Hilfe von Superlearning entspannt und stressfrei
außerordentliche
Informationsmengen einzuprägen«

Seitdem Menschen lernen müssen, haben sie sich wahrscheinlich nach einer eleganten und
hoch
effektiven Hauruck-Methode gesehnt. Der Nürnberger Trichter, eine der frühesten»
Mnemotechniken«
(von Griechisch Mneme:»Gedächtnis«), stellte allerdings nur eine Verballhornung der
Museums- und
Archivkultur des 19. Jahrhunderts dar. Getrieben vom unwiderstehlichen Wunsch, Wissen in
beliebiger
Menge und ohne Anstrengung im Gehirn zu deponieren, ersinnt man alle paar Jahre ein neues
Verfahren.
Das schon vom Namen her großspurigste Verfahren, das» Superlearning«, aber auch andere
Techniken
versprechen uns den Geist von Einstein oder eine Fremdsprache quasi im Schlaf.»Am liebsten
würden
die Leute das Wissen als Pille einnehmen«, sagt Hans Zeier, Professor am Institut für
Verhaltenswissenschaft der ETH Zürich, der verschiedene Lerntechniken untersuchte.10
Superlearning wurde Mitte der sechziger Jahre von dem bulgarischen Arzt, Psychologen und
Psychotherapeuten Georgi Lozanov an der Universität Sofia entwickelt, er verwendet
allerdings noch den
Terminus» Suggestopädie«. Lozanov kritisierte, dass man bisher versucht habe, dem Gehirn
zu zeigen,
wie es zu funktionieren hätte. Effektiver und gesünder sei es hingegen, den Lernprozess den
Anforderungen des Gehirns anzupassen. Entsprechend konzipierte Lozanov Elemente, die
dieser
Erkenntnis Rechnung tragen sollten. Durch die Anwendung von Suggestion, Musik und
Entspannungstechniken wird das Gehirn angeblich in einen ungewöhnlich aufnahmefähigen
Zustand
versetzt, der besonders durch eine» Gleichschaltung «der getrennt arbeitenden Hemisphären
zustande
kommen soll.
Der Fremdsprachenunterricht nach Art der Suggestopädie lässt sich kaum als Schulstunde
wieder
erkennen: Die Studenten hängen in weichen Sesseln und hören klassische Musik. Im
Rhythmus von
Bach, Vivaldi oder Telemann wird dabei der Text der Lektion vorgelesen. Nach weiteren
Vorbereitungen
setzen die Sprachschüler den Stoff in Gruppen spielerisch um. Keine harten Schulbänke,
keine Noten,
kaum Hausaufgaben. Das Gehirn soll in diesem relaxten Zustand Wissen aufnehmen wie ein
trockener
Schwamm Wasser aufsaugt.»Lernen Sie in Wochen, wozu Einstein ein ganzes Leben
brauchte«, stapelt
eine Anzeige prahlerisch hoch.
Empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit der Suggestopädie kommen jedoch zu anders
lautenden
Resultaten. Lozanov will in dieser entspannten Atmosphäre Lerngeschwindigkeit und
Gedächtnisleistung
dramatisch gesteigert haben.»Andere Studien konnten keine Leistungssteigerung
nachweisen«, stellt das
Schweizer Nachrichtenmagazin» Facts «dagegen.10 Allerdings empfanden die Studenten die
Lektionen im
Liegestuhl bei gleicher Lernleistung als angenehmer. Linguisten wie der Hamburger Professor
Jürgen
Meier sind skeptisch, ob man ohne systematische Grammatik – die fehlt beim Superlearning
ganz – eine
andere Sprache wirklich beherrschen kann.11 Auch Hans Zeier wollte die Suggestopädie
wissenschaftlich
untersuchen, hat aber nach einigen Vorversuchen kapituliert.»Die Versuchsbedingungen sind
so
kompliziert, dass sie sich wissenschaftlich kaum fassen lassen. «Zeier kam bei seinen
Versuchen mit der
Suggestopädie zum Beispiel zum Schluss, dass die Persönlichkeit des Lehrers eine große
Rolle spielt.
Solche Einflüsse, die nichts mit der eigentlichen Methode zu tun haben, beeinflussen das
Resultat jeder
Untersuchung entscheidend.
«Suggestopädischer Unterricht und Superlearning erreichen nicht mehr als anderer, gut
geführter
Unterricht. Die extremen Angaben vieler Vertreter des Superlearning lassen sich empirisch
nicht
bestätigen«, fassen die beiden Psychologen Werner Metzig und Martin Schuster von der
Universität Köln
die ernüchternde wissenschaftliche Bewertung zusammen. 12»Viele Leute haben falsche
Erwartungen.
Die Wissenschaft kann da nicht weiterhelfen«, sagt Zeier, und auch Walter Perrig,
Psychologie-Professor
an der Universität Bern, ist überzeugt, dass» kein Wissenschaftler guten Gewissens hinstehen
und sagen
kann, diese Methode ist besser als alle andern«.10
An den Schulen, dem naheliegendsten Einsatzort solch hoch wirksamer Lernmethoden, haben
sich
die viel gepriesenen Techniken bisher ohnehin nicht durchgesetzt. Sie bleiben privaten
Instituten, teuren
Seminaren für Manager oder autodidaktischen Kursen in Buchform vorbehalten. Dass sie die
Schulzimmer nicht systematisch erreichen, hat gute Gründe: Unter der Lehrerschaft herrscht
Ratlosigkeit
über die Einsatzmöglichkeit und den Nutzen der neuen Methoden. Ihre Wirksamkeit lässt sich
oft nicht
wissenschaftlich belegen, zudem basiert vieles auf theoretischen Konzepten, die für
Uneingeweihte nur
schwer verständlich sind.
Die entscheidenden Versatzstücke der Lozanov-Theorie halten ohnehin keiner kritischen
Prüfung
stand. Der Glaube, dass es im Gehirn eine» vernachlässigte «Hemisphäre (die rechte) gibt,
deren stärkere
Einbindung das Gedächtnis potenzieren würde, ist reiner Hokuspokus (siehe das Kapitel über
Mythen des
Gehirns). Beide Hemisphären arbeiten bei jeder geistigen Tätigkeit in trauter Einhelligkeit.
Die
Vorstellung, Suggestion und Hypnose könnten die Erinnerungskraft stärken, wird durch die
Forschung
ebenfalls widerlegt (siehe Kapitel Hypnose). Die Suggestion stärkt nur das Vertrauen in die
eigenen
Erinnerungen – auch wenn diese nicht zutreffend sind. Und auch die» Lernhilfe «Musik ist
von
zweifelhaftem Nutzen (siehe auch Stichwort» Mozart-Effekt«):»Ob allerdings mit Musik
wirklich besser
gelernt wird, bleibt umstritten«, räumen Metzig und Schuster skeptisch ein.

«Es ist möglich, die Gehirnleistung mit Mind-Machines zu pushen«

Daniel Düsentrieb, der genialische Erfinder aus dem Mickymaus-Universum, zieht sich als
rituellen
letzten Ausweg stets seine legendäre elektrische» Denkerkappe«über, wenn ihm nichts mehr
einfällt.
Dann wird sein Kopf wieder frei, und es sprudeln die abenteuerlichsten neuen Patente heraus.
Der
«Gehirnverstärker «aus Entenhausen, den die Disney-Zeichner vor Jahrzehnten aus dem Hut
zauberten,
hat verblüffende Ähnlichkeit mit einem mentalen Fitness-Generator, der ebenfalls aus dem
Land der
unbegrenzten Möglichkeiten zu uns kam. Das, was Bodybuilding am menschlichen Körper
bewirkt,
sollen die so genannten Mind-Machines für die menschliche Seele leisten. Diese Geräte, so
die
vollmundigen Verheißungen, liefern die Segnungen des Wassermann-Zeitalters für den
Hausgebrauch.
Die Brille aufgestülpt, ein schneller Tastendruck, und die elektronische Wunderlampe setzt
Tiefenentspannung (und geistige Höhenflüge) im Instant-Verfahren frei. Doch bei Licht
betrachtet bieten
die Relax-Apparate nur überteuerten» Neuro-kokolores«, der sich aus einem Prozent Fakten
und 99
Prozent Fiktionen zusammensetzt.
Die größte technologische Annäherung an den Nürnberger Trichter bringt angeblich selbst die
flachsten Hirnstromkurven wieder auf Vordermann, tönen die mit Versatzstücken aus Newage,
Psychologie und Hirnforschung verbrämten Propagandaschriften. Darin wird auch immer
wieder – ohne
Quellenangabe – der unausgegorene Mythos verbreitet, dass unser Gehirn nur ein (oder 10)
Prozent
seiner Leistungsfähigkeit aus sich selbst herausholt (zur Kritik siehe betreffendes Kapitel); per
Mind-
Machine kann man jetzt im Schnellgang und bequem im Ohrensessel die ungenutzten
Reserven heben.
Der elektronische» Booster «für die grauen Zellen stählt außerdem das Immunsystem, befreit
die Seele
von Stress-Schlacken, steigert die Kreativität und potenziert das Lernvermögen im großen
Stil. Sogar
veränderte Bewusstseinszustände, die bis dato nur mit Hilfe von Drogen und Meditation zu
erzielen
waren, sind auf einmal erschwinglich. Mind-Machines – die Turbolader für Klugheit und
Wohlbefinden?
Das Spektrum der feilgebotenen Apparate reicht vom schmucklosen, unscheinbaren Kästchen,
das
viel Ähnlichkeit mit einem billigen, klobigen Walkman aufweist und für rund 800 DM zu
haben ist, bis
hin zum preisgekrönten Design-Objekt im High-End-Bereich. Das Spitzengerät» Focus«, das
der
promovierte Wiener Psychologe und Elektroniker Rudolf Kapellner entworfen hat, besitzt alle
technischen Finessen, wie etwa eine Computerschnittstelle, und schlägt mit mindestens 3.000
Entenhausener Goldtalern zu Buche. Rund 20.000 Deutsche haben sich nach Schätzungen der
Stiftung
Warentest bereits einen eigenen, teuren Hirnverstärker angeschafft.
Die >theoretischen< Grundlagen für das real existierende Nachfolgemodell der Denkerkappe
sind im
Niemandsland zwischen Gehirnforschung und Esoterik angesiedelt und werden mehr schlecht
als recht
durch den Zauberstab der Analogie zusammengehalten. Die Existenz von Hirnströmen hat der
fränkische
Neurologe und Psychiater Hans Berger im Jahr 1924 mit dem Elektroenzephalographien
nachgewiesen,
der die unverwechselbaren Kurvenausschläge, eben das berühmte Elektroenzephalogramm,
das
«Hirnstromwellenbild«, erzeugt. Beim EEG werden die bioelektrischen Impulse, die von
Milliarden von
Nervenzellen (Neuronen) unter der Schädeldecke stammen, in eine graphische Darstellung
transformiert.
Weil der» Wellensalat «auf dem Papier das überlagerte Trommelfeuer der
Neuronen-Völkerscharen
widerspiegelt, gleicht er eher dem undifferenzierten Getöse über einem Fußballstadion als
einem fein
artikulierten Zwiegespräch. Es ist daher vollkommen unmöglich, mit dem EEG Gedanken
oder auch nur
den» Dialog «einzelner Nervenzellen abzuhorchen. Die verschiedenen Wellenbereiche, die
zum Teil
schon zum geistigen Allgemeingut geworden sind, entsprechen daher auch nur einer Art
seismographischer» Richterskala «für den allgemeinen Wachheitsgrad des Gehirns. Ein
epileptischer
Anfall – das Äquivalent zu einem Erdbeben oder einem Vulkanausbruch – schlägt so viele
Wellen, dass
er auch für das EEG unüberhörbar ist.
Die berühmten» Alphawellen«, die auch schon bei einigen fernöstlichen Versenkungs-Gurus
als
Markenzeichen herhalten mussten, schwingen mit einer Frequenz von 8 bis 14 Hertz und sind
für den
entspannten Wachzustand bei geschlossenen Augen charakteristisch. Bei aktiver
Aufmerksamkeit und in
Stressmomenten werden sie von den schnelleren» Betawellen «abgelöst, die mit 15 bis 30
Schwingungen
pro Sekunde durch das Oberstübchen düsen. In einer zeitlich begrenzten Phase, die sich auf
den Übergang
von Wachen und Schlafen beschränkt, sind immer mehr langsame» Thetawellen «mit 3 bis 7
Hertz
eingestreut. Und in der Bewusstlosigkeit des Tiefschlafes nehmen schließlich die
ultralangsamen
«Deltawellen«überhand, die es gerade einmal auf ½ bis 2 müde Schwingungen bringen. Eine
langsame
Frequenz bedeutet übrigens, dass sehr viele Neuronen» gleichgeschaltet«(synchron) im
identischen Takt
feuern und daher nur sehr wenige Informationen verarbeiten können – wie Fußballfans, die
monoton
immer wieder den gleichen Namen grölen. Einzig die Lautstärke – das ist beim EEG die»
Amplitude«–
steigt. Bei» höheren Drehzahlen«(der» Desynchronisation«) werden dagegen immer mehr
Nervenzellen
zu» Nonkonformisten «und kochen quasi ihr eigenes Süppchen – der Informations-Umsatz
steigt.
Die Düsentrieb-Idee hinter den Mind-Machines besteht nun in dem Glauben, dass man den»
Gesang
der Neuronen «durch die Pforten der Wahrnehmung in genau die Richtung dirigieren könne,
die für den
Benutzer die meisten Vorteile bringt. Beim stressgeplagten Manager werden die Alphawellen
angestoßen,
so dass der entspannte Schongang einrastet. Das müde Hausmütterchen wird mit einer
ordentlichen
Portion peppigem Betarhythmus wieder flottgemacht. Und zur Steigerung der Lernleistung
(Stichwort
«Superlearning«) wird das Gehirn auf Theta programmiert, so dass die Bits und Bytes nur so
durch den
Königsweg des Unterbewussten in den Langzeitspeicher zischen.
Diese intuitive Vorstellung hat der amerikanische Rundfunkingenieur Robert L. Monroe 1975
mit
reichlich Mickymaus-Logik in einem Patent fixiert, das allen Mind-Machines als Basis
zugrunde liegt.
Danach hat das Gehirn die» opportunistische «Neigung, sich auf von außen vorgegebene
Schwingungen
einzupendeln, so wie der Musiker sich auf sein Metronom einstimmt. Wenn man nur lange
genug Licht-
und Tonreize von 12 Hertz auf die Sinne» knallt«, sorgt die Frequenz-Folge-Reaktion am
Ende dafür,
dass auch unter der Schädeldecke der sanfte, betörende Alpharhythmus swingt. So wie eine
Ohrwurm-
Melodie, die man mitsummt, obwohl man sich mit aller Gewalt dagegen sträubt.
Solche niedrigen Frequenzen liegen aber nun weit unter der Hörschwelle – sonst würden wir
unentwegt vom Glucksen und Plätschern der inneren Organe geplagt. Darum hat Monroe eine
Schwindel
erregende Zusatzannahme draufgesetzt. Wenn nun das eine Ohr mit einer Folge von
100-Hertz-Tönen
beschallt wird und das andere mit 104 Hertz, bildet sich im Gehirn ein elektrisches Feld aus,
das im Vier-
Hertz-Takt – dem sagenumwobenen Thetarhythmus schwingt. Durch die audiovisuelle
Stimulation, so
Kapellner, würde die linke, für das Rationale zuständige Gehirnhälfte dazu gebracht, im
Gleichklang mit
ihrer emotional-assoziativen Antipode zu pulsen – ein Quell» völlig neuer Denkweisen«. Mit
einem fein
austarierten Schwingungscocktail sei es sogar möglich, der Hirnchemie körpereigene Opiate
abzutrotzen.
Viele dieser Annahmen sind so weit vom Boden der neurologischen Tatsachen entfernt, dass
der
größte Teil der Fachwelt sich in der Nichtbeachtung ergeht. Die heutigen EEG-Messungen
gleichen dem
Versuch, einen Mikroprozessor mit dem Stethoskop abzuhorchen. Es ist aber nicht möglich,
positive
Bewusstseinszustände eindeutig bestimmten Hirnwellen zuzuordnen. Selbst wenn der
ominöse Frequenz-
Folge-Effekt überhaupt eintritt, müssen 12 Hertz nicht unbedingt Entspannung bedeuten,
folgert auch die
Stiftung Warentest. Aber der Effekt selbst ist ein völlig unbewiesenes Hirngespinst, monieren
die
Münchener Psychologen Joern Bambeck und Antje Wolters. 13 Es bestehen nur ganz vage
Beziehungen zu
dem bekannten Phänomen des» Photodriving«: Die Frequenz eines Flackerlichtes kann sich
auf
bestimmte Regionen im visuellen Kortex, der Anlaufstelle für optische Informationen in der
Großhirnrinde, (nicht auf das ganze Gehirn) übertragen. Aber das liegt eher an den
Augenbewegungen,
und der Effekt ist auch sofort weg, wenn das Licht ausgeht. Wenn die Probanden überhaupt
etwas dabei
empfinden, dann nur ein leichtes Gefühl von Schwindel und Übelkeit, gibt der Psychologe
Barry L.
Beyerstein zu bedenken.1
Prof. Niels Birbaumer, der renommierte Chef des Institutes für Medizinische Psychologie und
Verhaltensneurologie an der Universität Tübingen, hat viele Jahre Meditations-Techniken
studiert, die
ebenfalls damit protzten, dass sie die Hirnwellen spielen lassen können wie ein Muskelmann
seinen
Bizeps. Fazit:»Leute, die postulieren, Theta wellen im entspannten Wachzustand zu
beobachten, lassen
mich an ihrer Seriosität zweifeln.«14 Für die Behauptung, dass Mind-Machines eine
Steigerung der
mentalen Leistung – bis zum Superlearning – bringen, fehlt laut Bambeck und Wolters bisher
jeder
wissenschaftliche Beweis. Birbaumer sieht nach Lage der Dinge überhaupt keinen Anlass
mehr,»diese
Maschinen in größerem Ausmaß zu untersuchen«.
Der psychologische Effekt der Light- und Soundshow ist bis auf wenige Ausnahmefälle nur
von den
Herstellern der Geräte getestet worden, deren Unseriosität sich durch die schrillen
Erfolgsbekundungen
verrät. Wann immer unabhängige Prüfer auf den Busch klopften, war der Trend hingegen
durchwachsen
bis niederschmetternd. Die Stiftung Warentest hat zum Beispiel einmal 10 Geräte in der
Klasse zwischen
l.000 und 2.000 DM mit 20 zufällig ausgewählten Personen ins Rennen geschickt. Als
Vergleich diente
die schlichte, hausgemachte Entspannung mit einer Musikkassette – also praktisch zum
Nulltarif.
Vernichtendes Gesamturteil: 5 Geräte bekamen die Note» nicht zufrieden stellend«. Sie
brachten also
gerade einmal so viel Relaxation wie der kostenlose Musikgenuss. Die andere Hälfte konnte
lediglich als
«mangelhaft «bewertet werden. Der teure Elektronik-Schrott blieb deutlich hinter der
konventionellen
«Berieselung «zurück. 50 Prozent der Probanden klagten über überwiegend negative
Erfahrungen –
Stress, Unruhe, hektische Lichteffekte. Was die Entspannung angeht, muss die Stiftung» von
der
Anschaffung einer Mind-Machine für diesen Zweck eindeutig abraten«, heißt es abschließend.

«Es ist möglich, die geistige Leistungsfähigkeit durch hirnleistungssteigernde Drogen


anzuheben«

Seitdem die Babyboom-Generation allmählich in die Jahre kommt, besteht ein wachsender
Bedarf
nach Elixieren, die der Vergesslichkeit und anderen unvermeidlichen geistigen
Abbauerscheinungen des
Alterns Paroli bieten. Aber auch viele Junge und jung Gebliebene streben eine Ankurbelung
ihrer
kognitiven Kapazitäten an. Die» smart pills«, die Hirnleistung steigernden Psychodrogen,
stellen
vermutlich die modernste Erhörung dieses Wunsches dar. Es handelt sich dabei um eine
uneinheitliche
Gruppe von Medikamenten, die bestimmte definierte Aspekte der Gehirnaktivität in Schwung
bringen:
Sie steigern zum Beispiel die Durchblutung der Großhirnrinde, die Sauerstoffversorgung des
Gehirns
oder die Weiterleitung des Gedankenfunkens mit chemischen Botenstoffen.
Zu den» Klugpillen «gehören unter anderem die Substanzen Hydergin, Eldepryl, Dilantin,
Nootopil,
Piracetam oder Oxicebral. Es werden aber auch manchmal die einschlägigen Energy Drinks
dazugerechnet, die, mit bestimmten Aminosäuren aufgemöbelt, an den meisten Tankstellen
erhältlich
sind. In der Medizin wird statt des Begriffes smart drugs meist die neutralere
Fachbezeichnung
«Nootropika«(von» noos«= Geist und» trepein«= auf etwas zu) verwendet. Von den meisten
Nootropika nehmen die Wissenschaftler an, dass sie bestimmte geistige Leistungen, wie etwa
die
Aufmerksamkeit oder das Erinnerungsvermögen, steigern können, so der Psychologe
Beyerstein.1
Allerdings nur bei neurologischen Patienten wie Alzheimer- oder Korsakoff-Kranken, bei
denen die
betreffende Leistung durch eine Hirnverletzung Schaden genommen hat.
Dadurch lassen sich viele Neunmalkluge zu einem Trugschluss verleiten: Was
Hirngeschädigten hilft,
macht Normale klüger. In diesem Denkfehler werden sie durch die großspurige Werbung im
Internet und
in gewissen Werbebroschüren bestärkt, die außerordentliche Segnungen der smart pills in
Aussicht
stellen. Doch diese Versprechungen sind völlig aus der Luft gegriffen, warnt der
Gedächtnisforscher
Thomas Crook aus Bethesda, der ehemalige Leiter der geriatrischen Forschungsstelle der
obersten
amerikanischen Gesundheitsbehörde.»Wie bei allen angeblichen Allheilmitteln gibt es keine
Beweise
dafür, dass smart drugs und smart drinks funktionieren. Die Zulassungsbehörde hat darum
auch kein
einziges Präparat zugelassen, um die Intelligenz oder das Gedächtnis zu verbessern.«15
Ein amerikanischer Wissenschaftler, der in mehrjähriger Arbeit alle Publikationen zu den
smart drugs
durchforstete, um die hochtönenden Werbebotschaften auf die Probe zu stellen, schließt sich
diesem
Urteil an:»Ich habe mir weit über 100 Studien angeschaut, manche an Tieren, manche an
Patienten mit
einer Geistesschwäche und manche an Gesunden. Die meisten dieser Untersuchungen werden
von den
Vertreibern der smart pills falsch zitiert. Manchmal überinterpretieren sie die Ergebnisse auch
ganz
extravagant, oder sie zitieren Studien, die wegen erheblicher methodischer Mängel keinen
wissenschaftlichen Wert besitzen.«1 Das amerikanische Nachrichtenmagazin» Time «zitiert
einen anderen
Geriater, der anonym bleiben möchte:»Der ganze Trubel ist nur ein Fall von Placebo-Effekt,
der Amok
läuft: Die Leute wollen einfach, dass ihr Gedächtnis besser wird, und sie kriegen es. Gebt
Ihnen eine
Zuckerpille, und sie werden den Unterschied nicht merken.«16
Eine Studie ging kürzlich der Frage nach, ob die Einnahme von Nootropika bei geistig
Gesunden das
Hirnwellenmuster im EEG verändert. Es funktionierte: Der Konsum der smart drugs schlug
sich in den
Hirnstromkurven nieder. Allerdings ging die Veränderung in eine Richtung, die für
gewöhnlich als
Verringerung der Aufmerksamkeit und Wachheit gedeutet wird. Während der Nutzen der
Schlauheitspillen also zutiefst angezweifelt werden muss, liegen deutliche Hinweise auf
unerwünschte
Nebenwirkungen vor: Manche rufen Schlaflosigkeit, Übelkeit und Beschwerden im
Magen-Darm-
Bereich hervor, andere Kopfschmerzen oder eine laufende Nase. Alle diese Beschwerden
verschwinden
zwar meist nach kurzer Zeit.»Aber wir wissen nicht, ob es keine langfristigen
Nebenwirkungen gibt«,
mahnt der amerikanische Gedächtnisforscher James L. McGaugh. 15» Man hat einfach noch
keine
Langzeitstudien durchgeführt.«
Erwähnenswert sind auch noch die in Esoterikkreisen viel verwendeten Präparate aus
Spirulina- und
Chlorella-Algen, denen eine nachgerade wundertätige Wirkung vor allem hinsichtlich der
Funktion von
Gehirn- und Nervenzellen zugeschrieben wird, wie der Münchener Psychologe Colin Goldner
resümiert.17 Obgleich keinerlei Nachweis für einen solchen (oder irgendeinen anderen ernst zu
nehmenden) Effekt dieser» Nahrungsergänzungsmittel «vorliegt, wird mit Algen- oder
Planktontabletten
ein großes Geschäft gemacht: 120 Stück» Bluegreen Omega «beispielsweise kosten 55 Mark.
Auch das Anfang der neunziger in der Disco-Szene weit verbreitete» Designer-Brain-Food«,
mit dem
riesige Gewinne eingefahren wurden, hat auf dem Esoterikmarkt überlebt. Entwickelt schon
Ende der
siebziger von den amerikanischen Alt-Hippies Durk Pearson und Sandy Shaw, die die
Vitamin-/Koffein-
Pillen als Wundermittel für längeres Leben, geistige Brillanz und gesteigerte
Orgasmusfähigkeit
beschrieben hatten, wurde das Brain-Food insbesondere unter Mind-Machine-Benutzern zum
Renner
schlechthin. Es rege, so wurde behauptet, die Funktion der Neurotransmitter an, jener
chemischen Stoffe,
die im Gehirn Botschaften von einer Zelle zur nächsten übermitteln, und steigere so
Intelligenz und
Bewusstsein um ein Vielfaches. Alles Humbug, so das Münchner Max-Planck-Institut für
Psychiatrie; die
Wirkung einer Brain-Food-Tablette, auch wenn sie mit noch so suggestiven Namen wie etwa»
rise-and-
shine «oder» fast-blast «versehen sei, entspreche bestenfalls der einer Tasse Kaffee. All die
phantastischen Wahrnehmungs- und Leistungssteigerungen, von denen da die Rede sei, seien
nichts als
Einbildung.

1 Beyerstein, Barry L.: Pseudoscience and the brain: Tuners and tonics for
aspiring super-humans. In: Della Sala, Sergio (Hg.): Mind Myths.
Exploring popular assumptions about the mind and brain. Verlag John Wiley &
Sons, Chichester et al. 1999.
2 Spitz, Herman H.: Beleaguered Pygmalion: A history of the controversy over
Claims that teacher expectancy raises intelligence. In: Intelligence, Vol. 27 (1999), S.
199–234.
3 Rudioff, Sven: Die häufigsten Fragen zum IQ – oder: Was Sie schon immer über
Intelligenz wissen wollten, aber nie zu fragen auf die Idee
gekommen sind, weil Sie ja schon alles darüber wissen. http:
//www.at.mensa.org/iq.htm
4 Spitz, Herman H.: The raising of intelligence. A selected history of attempts to
raise retarded intelligence. Lawrence Erlbaum Publishers, Hillsdale 1986.
5 Brody, Nathan: Malleability and change in intelligence. In: Helmuth Nyborg
(Hg.): The scientific study of human nature: Tribute to Hans J.
Eysenck at Eighty. Pergamon Press, Oxford et al. 1997.
6 »Naturtalent Kind«. In: Geo Wissen, 1/99,»Denken Lernen Schule«.
7 Bock, Herbert: Zur Psychologie sich selbst erfüllender und sich selbst
widerlegender Prophezeiungen – Eine Problemgeschichte erfüllungswirksamer
Kennzeichnungen.
http: //new-york.inf-gr.htw-zittau.de/~bock/publikationen/PY-96.html
8 Kliewer, Gary: The Mozart-Effekt. In: New Scientist, 6.11.1999.
9 Carroll, Robert T.: The Mozart-Effekt, http://www.skepdic.com/mozart.html
10»Wie merk ich's mir?«, http: //facts.ch/stories/9843_wis_lernen.htm
11»Lernen wie im Schlaf«. In: Der Stern, 15.4.1999.
10 Metzig, Werner/Schuster, Martin: Lernen zu lernen. Lernstrategien
wirkungsvoll einsetzen. Springer Verlag, Berlin et al. 1998.
11»Using smart drugs and drinks may not be smart«.
http://familyhaven.com/health/smartdrug.html
12 Wolters, Antje / Bambeck, Joern: Brainpower. Ullstein Verlag, München 1992.
13 Persönliche Mitteilung an den Autor.
14»Elixirs for your memory«. In: Time Magazine, 13.9.1999.
15 Goldner, Collin: Psycho: Therapien zwischen Seriosität und Scharlatanerie.
Pattloch Verlag, Augsburg 1997.

MYTHEN DER SEELE

Auslaufmodellvorstellungen

«Der Mensch benutzt Abwehrmechanismen wie Verdrängung oder Projektion, um


unangenehme Bewusstseinsinhalte ins Unbewusste abzuschieben«

Es ist in der modernen Welt allgemein üblich geworden, sich selbst und andere Personen mit
Begriffen zu beschreiben, die dem Vokabular und der Denkweise der Psychoanalyse
entsprungen sind.
Der gesunde Menschenverstand hat den gesamten Katalog der» Abwehrmechanismen
«absorbiert, die der
seelische Apparat nach den Vorstellungen von Sigmund Freud auffährt, um schmerzhafte und
peinliche
Impulse vom Bewusstsein fern zu halten. Man glaubt, förmlich zuschauen zu können, wie die
Verdrängung quälende Erinnerungen in den Keller des Unbewussten verbannt. Es liegt eine
ungeheure
Überzeugungskraft in der vermeintlichen Erkenntnis, dass der verklemmte Spießer, der
Schwule
verabscheut, in Wirklichkeit nur seine eigene latente Homosexualität auf die unschuldigen
Sündenböcke
projiziert.
Auch die freudianische Idee der psychosexuellen Entwicklungsphasen hat von unserem
Selbstverständnis Besitz ergriffen. Es liegt ein äußerst suggestiver Reiz in der Vorstellung,
dass ein
gieriger und hemmungsloser Mitmensch mit seinem Verhalten lediglich seine» orale
«Fixierung ausagiert.
Es ist irrsinnig plausibel, dass der zwanghafte, ordnungsliebende und unterdrückte
Kleinbürger nur
notdürftig seine» analen «Anwandlungen im Zaume hält.
Der Glaube an die Existenz des Unbewussten ist bei vielen Laien und Experten längst zu
einem
unanfechtbaren Dogma erstarrt. Alles, was dem Ich nicht geheuer ist, wird in diesen düsteren
Hades
deponiert. Aus dieser Verbannung heraus produziert es allerlei Fehlleistungen und Symptome
und richtet
erheblichen Schaden an Leib und Seele an. Zum Glück kann man das Verdrängte mit
Schützenhilfe eines
Psychoanalytikers (oder per Selbstanalyse) wieder aus der Versenkung befreien. Nach dieser
Theorie kann
übrigens auch niemals etwas dauerhaft verloren gehen, weil das Gedächtnis eine
photographische
«Sicherungskopie «der Vergangenheit aufbewahrt. Über den gesamten Bewusstseinsstrom,
über alles, was
ein Mensch je erlebt und gesehen hat, wird demnach in einer geheimen Archivierungsstelle
Buch geführt.
Ein renommierter amerikanischer Psychoanalytiker hat diese Vorstellung kürzlich mit großem
Vertrauen in ihrer radikalsten Auslegung formuliert:»Das Unbewusste speichert alles, was wir
jemals
erfahren, und zwar in seiner ursprünglichen Form. Jeden Gedanken, jedes Gefühl, jeden
Klang Musik,
jedes Wort, jeden Geschmack und jeden Anblick. Alles wird irgendwo im Geist originalgetreu
aufgezeichnet. Das unbewusste Gedächtnis ist vollkommen und unfehlbar.«1 Doch nach
Ansicht der
beiden amerikanischen Psychologie-Professoren Robert F. Bornstein und Joseph M. Masling
spiegelt
diese Äußerung lediglich eine unfassbare Ahnungslosigkeit wider.»Eine derartige Passage
kann nur von
jemand geschrieben werden, der in den letzten 40 Jahren praktisch jede veröffentlichte Studie
über den
menschlichen Geist, die Wahrnehmung und das Gedächtnis außer Acht gelassen hat. Eine
derartige
Passage wäre völlig lächerlich, mit einer Ausnahme: Sie unterscheidet sich kaum von den
Ansichten
vieler Psychotherapeuten, die sich entschieden haben, empirische Ergebnisse wie Luft zu
behandeln.«

«Es gibt einen Mechanismus der Verdrängung, der dazu dient, unangenehme
Bewusstseinsinhalte
abzublocken«

Mit keinem anderen Begriff hat Sigmund Freud sich so in die Umgangssprache eingebrannt,
wie mit
dem der Verdrängung. Die Verdrängung erscheint dem heutigen Menschen nicht mehr wie ein
theoretisches Konstrukt, sondern als ein real existierender Prozess, dem man mit geschultem
Auge quasi
unmittelbar bei der Arbeit zusehen kann. Verdrängung als Abwehrmechanismus ist nicht
irgendein Teil
von Freuds Psychoanalyse, es ist ein zentraler und unentbehrlicher Teil dieser Methode.
Allerdings muss
festgestellt werden, dass die Bedeutung, die Freud und viele andere nach ihm diesem Begriff
gegeben
haben, wechselhaft und unsicher ist. In ihrer ursprünglichen Form war die Verdrängung
speziell auf die
sexuellen und aggressiven Impulse gerichtet, die ein Kleinkind laut Freud auf seine Eltern
richtet und
wegen ihrer» Ungeheuerlichkeit «aus dem Bewusstsein verbannt. Im modernen
Sprachgebrauch
bezeichnet Verdrängung indes einen universellen Schutzmechanismus, der immer dann in
Aktion tritt,
wenn ein Mensch eine unangenehme, schmerzhafte, peinliche oder demütigende Wahrheit
nicht ertragen
kann.
Die semantische Dehnbarkeit und Unbestimmbarkeit des Begriffes Verdrängung ist im
Grunde schon
ein Armutszeugnis für die Psychoanalyse als» Wissenschaft«, gibt eine Forschergruppe um
die
amerikanische Psychologin Elizabeth F. Loftus, die international anerkannte Koryphäe der
Gedächtnisforschung, zu bedenken.2»Stellen Sie sich vor, ein Mann spricht mit
Schwindelgefühlen und
Lethargie bei seinem Hausarzt vor, und der sagt: >Ich glaube, Sie leiden unter dieser einen
Gehirnsache,
obwohl ich nicht genau weiß, wo und wie tief sie sitzt. Ich bin jedenfalls ziemlich sicher, dass
sie die
Wurzel Ihres Übels ist, und würde gerne ein wenig operieren, etwas in Ihrem Kopf
herumstochern und
nachschauen, ob sich etwas finden lässt.<«Vielen Psychotherapeuten ist es offensichtlich
völlig
gleichgültig, dass die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer Verdrängung völlig
unklar und
vage sind, und sie klammern sich stattdessen an die Popularität des Begriffes.
Dass die Ursachen unseres Handelns häufig unbewusst sind, war schon zu Freuds Zeiten
keine große
Neuigkeit mehr. Ebenso wenig war es neu, dass Menschen Wissen über Dinge haben, an die
sie sich
schon länger nicht mehr erinnern können.»Neu war höchstens, dass manche von den
vergessenen Dingen
laut Freud eigentlich im traditionellen Sinne gar nicht vergessen, sondern im Gegenteil
unterschwellig
anwesend sind«, heben die beiden holländischen Psychologie-Professoren Hans F. M.
Crombag und
Harald L.G. Merckelbach hervor.3 Ihre» latente «Anwesenheit verrät sich in erster Linie
dadurch, dass sie
einen entscheidenden und meist ungesunden und zerstörerischen Einfluss auf das Verhalten
des Menschen
haben. Das ist im Grunde paradox, denn bereits das ursprüngliche Trauma, dass den Anstoß
zur
Verdrängung gab, war ja wohl in der einen oder anderen Form ungesund. Eigentlich sollte
man denken,
dass ein Abwehrmechanismus seelische Belastungen unschädlich macht und so Gefahren für
die
Gesundheit» abwehrt«.»Anscheinend bildet der Abwehrmechanismus des Verdrängens eine
Scheinmedizin, die langfristig schlimmer wirkt als die Qual des Traumas«, meinen Crombag
und
Merckelbach.
Eine wichtige Implikation der Verdrängungstheorie besteht darin, dass verdrängtes Material
nicht
ausradiert, sondern unverwischbar ins Unbewusste festgeschrieben ist: Normale
Abbauerscheinungen wie
Vergessen können dem Verdrängten nichts mehr anhaben. Im Unbewussten bleibt das
Verdrängte für alle
Zeiten frisch wie ein soeben gelegtes Ei. Wenn es also gelingt, eine solche Erinnerung mit
einer
speziellen Technik wie der Deutung oder der Hypnose freizuschaufeln, steht sie unbeschädigt
für die
therapeutische Arbeit zur Verfügung.
Doch die empirisch arbeitenden Seelenforscher, die mit allen erdenklichen Methoden versucht
haben,
den Prozess der Verdrängung im Labor dingfest zu machen, warten mit einem vernichtenden
Urteil über
den legendären Abwehrmechanismus auf.»Trotz mehr als sechzig Jahren Forschung, die
unzählige
Herangehensweisen von vielen aufmerksamen und intelligenten Forschern mit sich brachten,
gibt es zur
heutigen Zeit keine kontrollierten Laborbeweise, die das Konzept von Verdrängung
unterstützen«, streicht
der Psychologe David S. Holmes von der University of Kansas heraus. 4»Der Gebrauch des
Wortes
Verdrängung kann das sachgemäße Verständnis klinischer Daten beeinträchtigen. «Diesem
Verdikt
schließen sich die beiden holländischen Professoren an:»Bis jetzt ist es keinem einzigen
Forscher
gelungen, Verdrängung oder die Effekte davon in einem psychologischen Laboratorium
sichtbar zu
machen.«
Ein Beispiel für den Misserfolg liefern laut Holmes die einflussreichen experimentellen
Untersuchungen zur» Wahrnehmungsabwehr«. In den betreffenden Studien wurden den
Versuchspersonen mit einem Tachistoskop blitzschnell Wörter dargeboten. Die Begriffe, die
am Rande
der Wahrnehmungsschwelle lagen, waren entweder völlig neutral oder unanständig. Am
Anfang kamen
diese Untersuchungen tatsächlich zu dem Ergebnis, dass die Probanden zum Erkennen der
«schmutzigen «Begriffe länger brauchten. Nahe liegende Interpretation: Die Teilnehmer
hatten die
seelisch belastende Wahrnehmung der Vulgärausdrücke per Verdrängung abgewehrt.
Doch in der Folgezeit dämmerte den Wissenschaftlern, dass sie ein paar entscheidende
Störfaktoren
missachtet hatten. Zum einen waren die obszönen Wörter vielen Versuchspersonen weniger
geläufig als
die neutralen Ausdrücke. Es dauert halt immer etwas länger, weniger geläufige Begriffe zu
dekodieren.
Zum anderen stellte sich heraus, dass viele Probanden die bereits identifizierten
unanständigen Begriffe
ganz bewusst so lange für sich behielten, bis sie absolut sicher waren, diese zutreffend erkannt
zu haben:
Sie wollten sich nicht durch die vorschnelle Nennung eines nicht vorhandenen
Vulgärausdruckes
verdächtig machen. Folglich präsentierten die Forscher fortan nur noch Begriffe mit
identischem
Bekanntheitsgrad und schufen Versuchsbedingungen, welche die Teilnehmer ausdrücklich
dazu
ermunterten, sofort mit» Schmutzbegriffen «herauszurücken. Und siehe da – plötzlich wurden
unanständige Wörter mit der gleichen Geschwindigkeit wahrgenommen und abgelesen wie
Neutralausdrücke. Die vermeintliche Verdrängung hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst.
Tatsächlich
machten einige Forscher sogar immer wieder die Beobachtung, dass sexuell geladene Begriffe
schneller
wahrgenommen wurden als neutrale.
Auch bei einem anderen Forschungsansatz mussten die Psychologen ihr Urteil, das zunächst
die
Existenz der Verdrängung zu bestätigen schien, revidieren. Versuchspersonen hatten die
Aufgabe, über die
angenehmen und unangenehmen Ereignisse in ihrem Leben Buch zu führen. Mehr oder
weniger lange
nach der Aufzeichnung wurden sie aufgefordert, aus dem Gedächtnis einen Bericht darüber
abzugeben.
Die angenehmen Ereignisse, so das zentrale Ergebnis, blieben besser im Gedächtnis haften.
Der Schluss
lag nahe, dass die unschönen Vorkommnisse der Verdrängung zum Opfer gefallen waren.
Doch bei
genauer Analyse der Daten stellte sich heraus, dass es ausschließlich auf die erinnerte
Intensität der
Ereignisse ankam: Die Versuchspersonen erinnerten die Vorfälle am besten, die ihnen im
Nachhinein
besonders intensiv vorkamen – egal ob sie positive oder negative Vorzeichen hatten.
Bei den unangenehmen Erinnerungen war aber nun ein eigentümlicher Trend zu verzeichnen:
Ihre
Intensität wurde nachträglich heruntergestuft, so dass sie in den Erinnerungen weniger
deutlich
hervorstachen. Die Erinnerung an die eigentlichen Begleitumstände blieb jedoch völlig
unversehrt (und
«unverdrängt«). Das Abflachen des Unangenehmen kann ganz einfach daran liegen, dass viele
schmerzhafte und belastende Ereignisse aus späterer Sicht weniger schlimm wirken, weil sie
doch nicht
die anfangs befürchteten tragischen Konsequenzen hatten, erklärt Holmes.
Studien an hautnah Betroffenen aus dem wirklichen Leben widersprechen der Idee der
Verdrängung
noch radikaler als die Versuche unter künstlichen Laborbedingungen, betonen Crombag und
Merckelbach. Erwachsene und Kinder, die einen traumatischen Vorfall erleben, können später
eine
psychiatrische Krankheit bekommen, die posttraumatische Belastungsstörung oder PTSS.
Eine grobe
Schätzung besagt, dass rund 20 Prozent derjenigen, die das Opfer von schweren Unfällen,
Kriegshandlungen oder eines ernsten Verbrechens werden, eine PTSS entwickeln. Eines der
hervorstechendsten Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung besteht jedoch
darin, dass die
Betreffenden immer wieder von den qualvollen Erinnerungen an das schreckliche Ereignis
überfallen
werden: Es ist noch nie beobachtet worden, dass PTSS-Patienten entscheidende Aspekte des
Traumas aus
dem Bewusstsein verbannt hätten.
Kein einziger Vietnam-Veteran, der unter PTSS leidet, hat seinen Aufenthalt im Feindesland
«vergessen«. Im Gegenteil: Das Problem dieser Veteranen ist, dass die Erinnerungen an das
Dschungeltrauma zu den ungelegensten Momenten hochkommen, konstatieren die
holländischen
Professoren.»Das Gleiche gilt, soweit wir wissen, auch für Menschen, die in
Konzentrationslagern
gewesen sind. Auch diese Opfer haben das Problem, dass sie, was den Kern der Sache
anbetrifft, eben
nicht vergessen können. «Auch Kinder, die Zeugen der Vergewaltigung ihrer Mutter oder des
Mordes an
einem Elternteil wurden, hatten die traumatische Erinnerung nicht abgewehrt.»Der Schluss
ist, dass die
verfügbaren Feldstudien über die Art, wie Menschen mit schlimmen Traumen umgehen,
keineswegs auf
das Vorkommen von Verdrängung deuten.«
Unser Gedächtnis ist offenbar so konstruiert, dass sich emotional aufpeitschende
Erinnerungen
besonders intensiv in das Archiv» einbrennen«. Und darauf hätte man eigentlich mit dem
gesunden
Menschenverstand kommen können, wäre er nicht durch die freudianische Irrlehre blockiert.
Den
Verstärkungseffekt können die Neurobiologen heute schon ziemlich genau im Gehirn
verfolgen. Der
«Hippocampus«, der Schreib- und Lesekopf des Gehirns, der durchlebte Erfahrungen ins
Langzeitgedächtnis schreibt, arbeitet viel nachhaltiger, wenn gleichzeitig das Gefühlszentrum
«Amygdala «die Emotionen aufheizt.
Auch die empirisch arbeitende Psychologie lässt keine Zweifel daran, dass der sexuelle
Missbrauch
von Kindern tragische Dimensionen besitzt und mit einer geschätzten Verbreitung von über
10 Prozent
ein gravierendes soziales Problem darstellt. Es fragt sich jedoch, ob Erinnerungen an derartige
Traumata
tatsächlich im großen Stil verdrängt werden und aus der Enklave des Unbewussten heraus
Schaden
anrichten, wie viele Psychotherapeuten heute mit dem Brustton der Empörung behaupten. Der
höchste
diese These bestätigende Wert stammt aus einer Umfrage von Therapeuten, die
schwerpunktmäßig
sexuellen Missbrauch behandeln. 59 Prozent ihrer meist weiblichen Patienten gaben an, dass
die
Erinnerung an den Übergriff zeitweise aus ihrem Bewusstsein verbannt gewesen war. In einer
anderen
Umfrage äußerten sich jedoch nur 18 Prozent der Betroffenen in diese Richtung, und von den
unter 10-
jährigen Kindern, die der Ermordung eines Elternteils beiwohnen mussten, hatte keines die
peinigende
Erinnerung unter den Teppich gekehrt.
Die Frage nach der Verdrängung war jedoch in den betreffenden Studien so vage formuliert,
dass sie
eher den Beigeschmack von» verleugnen «und» nicht wahrhaben wollen «trug, kritisiert das
Psychologenteam um Elizabeth Loftus. Außerdem hatten die behandelnden
Psychotherapeuten beim
Lüften der zugeschütteten Erinnerung milde gesprochen» Hebammen-Dienste «geleistet.
Wenn die
idealisierte Figur des Therapeuten durchblicken lässt, dass solche unbewussten Erinnerungen
sehr häufig
seien, muss der Klient diese Suggestion fast automatisch auf sich selbst beziehen. Das hängt
auch damit
zusammen, dass Menschen Lücken im eigenen Gedächtnis sehr oft mit fabrizierten Inhalten
füllen, die als
«typisch «oder sozial erwünscht gelten, meint Loftus.
Zweifel sind auch deshalb angebracht, weil Erinnerungen an die Zeit vor dem vierten oder
fünften
Lebensjahr ohnehin fast durchgehend einem» großen Vergessen «zum Opfer fallen, das als»
infantile
Amnesie «bezeichnet wird. Erfahrungen sexuellen Missbrauches, die in diesen» Blackout
«fallen, können
also durchaus ausradiert sein, ohne dass eine aktive Verdrängung vorliegt. Selbst Erwachsene
haben oft
einen» Filmriss «bei wichtigen Vorkommnissen, die nur kurze Zeit zurückliegen. In einer
Studie konnten
sich z. B. 14 Prozent der Befragten nicht eines Verkehrsunfalls entsinnen, der ihnen vor einem
Jahr
zugestoßen war.
Crombag und Merckelbach kamen bei einer Umfrage unter Psychotherapeuten zu dem
Ergebnis, dass
96 Prozent der Seelenheiler an die Existenz der Verdrängung glaubten. Fast ebenso viele
waren
überzeugt, dass der Akt der Verdrängung der Gesundheit schadet. Bezeichnenderweise
herrscht der
Glaube vor, dass Verdrängung bei» anderen Leuten «massenhaft vorkommt.»Überraschend
ist, dass,
obwohl fast alle dem Phänomen Glauben schenken, bei weitem nicht alle es für möglich
halten, dass man
auch selbst etwas zu verdrängen hat. «In mehreren neuen Umfragen bestätigten zwischen 81
und 93
Prozent der befragten Psychotherapeuten, dass sie die in der Therapie aus der Verdrängung
befreiten
Erinnerungen ihrer Klienten generell für bare Münze halten. Ein typischer Kommentar
lautete:»Wenn
eine Frau sagt, dass es (das heißt sexueller Missbrauch in der Kindheit) passiert ist, dann ist es
auch
passiert.«
Viele Therapeuten bauen einer solchen präparierten Rückschau goldene Gedächtnis-Brücken,
indem
sie mit suggestiven Vorgaben arbeiten, die zum Teil schon in Büchern kodifiziert sind.
Beispiel:»Viele
Menschen, die mit den gleichen Symptomen kämpfen wie Sie, haben in ihrer Kindheit extrem
schmerzliche Dinge erlebt. «Oder, noch schlimmer:»Was hat der Bastard Ihnen
angetan?«Sehr oft
kommen in diesem Kontext fragwürdige Techniken wie die Hypnose oder die
Altersregression zum
Einsatz. Experimente zeigen jedoch, dass Hypnose nicht das Gedächtnis, sondern lediglich
das Vertrauen
in die hervorgekramten Gedächtnisinhalte intensiviert (siehe Kapitel Hypnose). Und im
Zustand der
Altersregression werden gar regelmäßig verdrängte» Erinnerungen «an die Entführung durch
Ufos
entfesselt.
Neben der Verdrängung im engeren Sinn, der» knallharten «und unbewussten Form, existiert
auch
noch eine leichtere, weiche Variante: Der Mensch schließt Gedanken und Vorstellungen, die
er nicht
wahrhaben will, gezielt und planmäßig aus dem Bewusstsein aus. Doch auch diese Form der
Verdrängung
ist selten von Erfolg gekrönt, stellen die beiden Holländer fest. Wer wissentlich einen
markanten
Gedanken zu unterdrücken versucht, erreicht nicht selten das Gegenteil. Der Gedanke schiebt
sich mit
unbändiger Kraft in den Mittelpunkt. Jeder Exraucher und jeder, der gerade eine Diät
durchführt, ist mit
diesem unliebsamen Effekt vertraut, den Wissenschaftler als» ironischen Prozess
«bezeichnen.
Ironische Prozesse ereignen sich sehr häufig, wenn Personen versuchen, mentale Kontrolle
über ihre
Gedankenwelt auszuüben. Etwa dann, wenn man sich krampfhaft den Gedanken an eine
bestimmte Sache
(zum Beispiel» weiße Bären«) aus dem Kopf schlagen will. Dann tritt zunächst ein
produktiver Prozess in
Kraft, der aktiv den ungewollten Gedanken vom Bewusstsein fern hält. Dazu kommt aber
noch ein
weiterer, etwas schwächerer ironischer Prozess. Er hält unterbewusst nach Anzeichen
Ausschau, die
verraten, ob der produktive Prozess erfolgreich war, also letztlich nach weißen Bären. Früher
oder später
nimmt der ironische Prozess überhand: Man muss dann zwanghaft an weiße Bären denken.
In einer Studie konnten die holländischen Psychologen zeigen, wie ironische Prozesse die
Verdrängung vereiteln. Darin wurden die Probanden aufgefordert, sich in ein erschütterndes
Ereignis (den
Verlust einer geliebten Person) zurückzuversetzen. Dann erhielt die eine Hälfte der
Teilnehmer die
Anweisung, diese Erinnerung eine Zeit lang bewusst zu vermeiden. Die andere Hälfte erhielt
diesen
Auftrag nicht. Ironisches Ergebnis: Just die Versuchspersonen, die den Vergessensauf trag
erhalten hatten,
schlugen sich am häufigsten mit der schmerzhaften Erinnerung herum.

«Menschen projizieren unangenehme Eigenschaften und Impulse auf andere, um sie


nicht bei sich
selbst zu erkennen«

Es ist in manchen Kreisen beinahe schon so etwas wie ein Gesellschaftsspiel, gewissen –
meist
unsympathischen – Mitmenschen den Abwehrmechanismus der Projektion zu unterstellen.
Projektion
bedeutet allgemein das» Hinausverlagern «innerer Eigenschaften in die Außenwelt. In der
Theorie der
Psychoanalyse bezeichnet Projektion die unbewusste, Angst abwehrende Verlagerung von
Triebimpulsen,
Wünschen und Schuldgefühlen auf andere Personen.
Schon in biblischer Zeit scheint heftig projiziert worden zu sein: Jesus tadelte die Heuchler,
die den
Splitter im Auge des Nächsten bekritteln, aber den Balken im eigenen Auge nicht bemerken
wollen. Die
Abwehr durch Projektion besteht darin, dass man einen Charakterdefekt oder einen Fehler
weit von sich
weist und ihn bei anderen» entdeckt«. Klassische Beispiele: Ein Geizkragen bemäkelt die
Knauserigkeit
der anderen. Der untreue Ehemann misstraut seiner Gattin. Heterosexuelle Männer ziehen
auffällig
aggressiv über Schwule her und betonen mit Machosprüchen ihre Distanz zu den Homos – die
Projektionstheorie sagt: um eigene homophile Neigungen zu überspielen.
Projektion ist angeblich häufig im Spiel, wenn Minderheiten von Mehrheiten ausgegrenzt
werden.
Das fällt leichter, wenn man ihnen negative Eigenschaften zuschreibt. Der Antisemitismus, so
schreiben
T. W. Adorno und Max Horkheimer in der» Dialektik der Aufklärung«, ist im Kern eine
Projektion:»Im
Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen
aus. Ihr
Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. «Man
kann sich die
bösen Wünsche und Impulse nicht eingestehen, sie rumoren jedoch im Unbewussten herum,
und man
wird sie los, indem man sie anderen unterschiebt.
Es bereitet erhebliche intellektuelle Befriedigung, andere Menschen dabei zu erwischen, wie
sie sich
peinlicher oder unangenehmer Eigenschaften per Projektion entledigen. Aber so elegant sich
auch mit
diesem Abwehrmechanismus im Alltag und in der soziologischen Theorie jonglieren lässt –
das Konzept
hält seiner empirische Überprüfung nicht stand. Es ist ziemlich genau hundert Jahre her, dass
Sigmund
Freud den Mechanismus der Projektion in die Psychoanalyse einführte.»Aber es sind in dieser
Zeit keine
Forschungsbefunde produziert worden, die das Vorkommen der Projektion unterstützen
würden«, zieht
der Psychologe David S. Holmes Bilanz. 5 Er besteht darauf,»dass es nicht gerechtfertigt ist,
weiterhin
dieses Konzept zu benutzen, wenn man menschliches Verhalten verstehen oder erklären
6
will«.
Um überhaupt sinnvoll zu sagen, ein Mensch projiziert irgendwelche Dinge auf andere Leute,
müssen
mehrere Vorbedingungen erfüllt sein. Eine Voraussetzung besteht darin, dass die Person sich
der
projizierten Eigenschaft bei sich selbst nicht bewusst ist. Schließlich besteht der Zweck einer
freudianischen Projektion ja ausdrücklich darin, die schmerzliche Selbsterkenntnis
abzuwehren. Das
Letzte, was ein feindseliger Homophobiker erfahren will, ist, dass er selbst ein latenter
Schwuler ist. Eine
erfolgreiche Projektion sollte daher auch unweigerlich dazu führen, dass der Projizierende die
kritischen
Merkmale bei sich selbst noch schlechter wahrnehmen kann als zuvor. Und sie sollte
Spannungen
abbauen, weil das Abladen des Unerwünschten auf andere naturgemäß Erleichterung bringt.
Bei der kritischen empirischen Prüfung ist die Projektion in allen Punkten durchgefallen,
unterstreicht
Holmes. So gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass Menschen unangenehme
Eigenschaften,
die quasi im blinden Fleck ihrer Selbstwahrnehmung liegen, auf andere Leute übertragen. In
den
betreffenden Untersuchungen sollten die Probanden sich dazu äußern, ob sie selbst bestimmte
unerwünschte Eigenschaften besaßen; zusätzlich wurde das» Expertenurteil «von Freunden
und
Bekannten eingeholt. Im nächsten Schritt sollten die Probanden angeben, ob bestimmte
andere Personen
die unangenehmen Merkmale besaßen. Fazit: Es gab keinerlei Tendenz, bei sich selbst
verleugnete (aber
von Freunden erkannte) Makel auf andere zu projizieren. Der viel zitierte projizierende, latent
schwule
Homophobiker ist lediglich ein Phantasieprodukt.»Da es keine Indizien dafür gibt, dass
unbewusste
Persönlichkeitsmerkmale projiziert werden, kann man auch nicht behaupten, dass die
Projektion dazu
dient, die Selbsterkenntnis abzublocken.«
Die Versuchsteilnehmer ließen indes eine deutliche Neigung erkennen, anderen Merkmale
anzudichten, die sie bei sich selbst sehr klar wahrnehmen konnten. Dafür gibt es in der
Forschung
mittlerweile viele Beispiele. Großzügige Menschen überschätzen im statistischen
Durchschnitt die
Häufigkeit, mit der der Wesenszug Großzügigkeit bei anderen Menschen vorkommt. Wer
gerade wählen
geht, schlägt die Beispielhaftigkeit der eigenen Wahlentscheidung in der Regel zu hoch an.
Doch bei
diesem Verhalten kann man unmöglich von einem freudianischen Abwehrmechanismus
sprechen. Wir
werden einfach alle bis zu einem gewissen Grad von der naiven Vorstellung geleitet, dass
andere
Menschen denken und fühlen wie wir.
Und auch der Stressabbau durch vollzogene Projektion gehört ins Märchenreich. Das
beweisen
Experimente, deren Teilnehmer Tests ausfüllten und dann die unangenehme (aber getürkte)
Rückmeldung
erhielten, sie hätten sehr schlecht bezüglich des gemessenen Merkmals (zum Beispiel
Intelligenz oder
Kreativität) abgeschnitten. Dann wurde eine Gelegenheit zur Projektion geboten: Die
Teilnehmer durften
mutmaßen, wie schlecht andere Leute bei dem betreffenden Test fahren würden. Quintessenz:
Die
Versuchspersonen, die anderen Leuten ungünstige Ergebnisse unterjubelten, wiesen in ihren
Biosignalen
den gleichen Grad an Stressbelastung auf.»Keine einzige Hypothese, die darauf hinausläuft,
dass
Projektion ein Abwehrmechanismus ist, wird durch die Daten unterstützt«, schließt Holmes
seine
Expertise ab.
«Menschen können niedere Triebe durch den Abwehrmechanismus der Sublimierung
auf höhere
Ziele umlenken«

Eine bedeutende Methode,»explosive «Triebimpulse unschädlich zu machen, besteht nach


Darstellung der Psychoanalyse im Abwehrmechanismus der Sublimierung. Die Sublimierung
ist in dieser
Terminologie die unbewusste Abwehr eines sexuellen Impulses und die Umleitung der
psychosexuellen
Energie auf ein anderes, nichtsexuelles Handlungsfeld.
Menschen sublimieren unbewusste Anwandlungen, indem sie die aufgestaute Energie in
kulturelle
und geistige Leistungen überführen. Sublimieren bedeutet praktisch,»Schmutz «mental in
Gold zu
verwandeln.
Die Sublimierung, die als reifster aller Abwehrmechanismen gilt, ist längst in den Bestand der
Volksweisheit und des gesunden Menschenverstandes übergegangen. Völlig zu Unrecht, wie
eine
Forschergruppe um den Psychologen Roy F. Baumeister von der Case Western Reserve
University,
Cleveland, nach einer umfassenden Durchsicht der Literatur erklärt. 7»Wir haben nicht den
kleinsten
Hinweis darauf gefunden, dass Menschen sich gegen unakzeptable Wünsche und
Leidenschaften wehren,
indem sie diese in sozial wünschenswerte Leistungen umsetzen und dadurch irgendetwas
Höheres
erzielen, «Genau genommen war in der sozialpsychologischen Fachliteratur der letzten
Jahrzehnte nicht
ein Beitrag zu entdecken, der auch nur etwas entfernt Ähnliches wie die Sublimierung
aufgezeigt hätte.
Auch der Blick auf einige kulturgeschichtliche Phänomene lehrt nach Auffassung der
Autoren, dass
die Vorstellung der Sublimierung partout nicht der Realität entsprechen kann. So war
beispielsweise die
Periode der größten sexuellen Enthaltsamkeit in den USA die Zeit des» wilden Westens«. Es
kann jedoch
absolut nicht behauptet werden, dass diese Ära sich durch irgendwelche herausragenden
kulturellen
Errungenschaften ausgezeichnet hätte. Zwar brachte die Viktorianische Ära auf dem
europäischen
Kontinent tatsächlich eine Reihe von Entdeckungen und kreativen Leistungen hervor. Aber
das traf
ebenso auf das vorausgegangene Zeitalter der Aufklärung zu, die eher durch ungezügelte
Ausschweifungen bestach.
«Wenn sexuelle Energie in intellektuelle Leistungen überführt werden könnte, müssten
Personen, die
einen sehr hohen Bildungsstand erzielen oder geistig anspruchsvolle Tätigkeiten ausüben,
weniger Sex
haben als andere. «Doch wie die empirischen Daten beweisen, trifft genau das Gegenteil zu:
Hochgradig
Gebildete haben häufiger Sex und mit mehr wechselnden Partnern, sie praktizieren eine
größere Zahl von
sexuellen Spielarten, und sie haben mehr außereheliche Affären. Das ist nur schwer mit der
These zu
vereinbaren, dass intellektuelle Leistungen sich aus» niederen «Triebenergien speisen.
Man könnte auch versuchen, die intellektuellen Leistungen katholischer Geistlicher – die im
Zölibat
leben – mit jenen jüdischer Geistlicher – die heiraten – zu vergleichen.»Es gibt jedoch
erhebliche
Zweifel, dass dieser Vergleich zu der Einsicht führen würde, dass die sexuelle Enthaltsamkeit
Katholiken
dazu beflügelt hätte, die größeren intellektuellen und künstlerischen Leistungen beizusteuern.
«In einer
aufschlussreichen Langzeitstudie wurden 100 im Zölibat lebende Geistliche über einen
Zehnjahreszeitraum beobachtet.»Nichts deutete darauf hin, dass der Verzicht auf Sexualität
diesen
Menschen die Kraft zu bedeutenden Tätigkeiten gegeben hätte. «Ein großer Teil der
Betroffenen stellte
den Nutzen der Enthaltsamkeit selbst kritisch in Frage, und die Unzufriedenheit mit dem
Zölibat war das
wichtigste Motiv einiger Probanden für die Beendigung der geistlichen Karriere.
Schließlich, überlegen die Wissenschaftler mit einem unüberhörbaren Unterton der Ironie,
bestände
noch die Möglichkeit, das Sexualleben der berühmtesten Musiker, Schriftsteller und Maler
des
Jahrhunderts unter die Lupe zu nehmen.»Aber unzählige anekdotische Hinweise lassen bei
uns Zweifel
aufkommen, dass wir dabei Hinweise finden könnten, die mit dem Konzept der Sublimierung
vereinbar
sind.«

«Es gibt ein Unbewusstes, das mit brodelnden Leidenschaften unser Handeln steuert«

Mit einem Eisberg, von dem nur eine winzige Spitze aus dem Wasser ragt, hat Sigmund Freud
das
menschliche Bewusstsein verglichen. Tief unter der Oberfläche brodelt das Unbewusste, das
uns mit
verdrängten Leidenschaften und Trieben wie eine Marionette durchs Leben zerrt. Die
moderne
Psychologie beschäftigte sich lange Jahre nur mit dem sichtbaren Verhalten und mit
bewussten
Denkabläufen, die abgefragt werden können. Das» Unbewusste «galt als» Hokuspokus«, weil
es nicht zu
messen und zu testen war. Aber es stellte sich bald heraus, dass ein großer Teil des Denkens
tatsächlich
«hinter den Kulissen «stattfindet.
Zum Beispiel beim Lesen, wenn man ohne nachzudenken und» mit Lichtgeschwindigkeit
«den Sinn
der Wörter entziffert.
Heute zeigt sich immer deutlicher, dass sich die» Zahnräder «des Verstandes zu einem
beträchtlichen
Anteil im Dunkeln drehen. Aus moderner Sicht erscheint das Unbewusste jedoch immer
deutlicher als
ein bloßes Anhängsel des Verstandes, ein Hilfscomputer, der ohne Emotionen und ziemlich
mechanisch
Aufgaben erfüllt, die die Aufnahmefähigkeit des Bewusstseins übersteigen, hebt der
amerikanische
Psychologe Anthony G. Greenwald in einer Übersicht hervor.8
Auch wenn jemand mit seiner Hand eine genau eingeübte Bewegung vollführt, laufen in den
kleinen
grauen Zellen des Gehirns unbewusste Rechenvorgänge ab. Das bedeutet, dass das
Unbewusste häufig
komplizierte Erwägungen anstellt, die über die geistigen Fähigkeiten des Bewusstseins
hinausgehen
können. Für diese verborgenen Verstandesleistungen werden allerdings heute zunehmend
Begriffe wie
«implizites «oder» prozedurales «Lernen verwendet.
Von diesem Phänomen zeugen auch Untersuchungen, in denen die Versuchspersonen zunächst
aufgefordert wurden, eine Liste von Wörtern zu studieren. Dann setzte man ihnen lediglich
Wortfragmente vor, die sie wiederum ergänzen sollten. Dabei handelte es sich um Teile
sowohl neuer als
auch bereits von der ersten Versuchsphase her bekannter Wörter. Im Endeffekt wurden die
Fragmente, die
Teil eines bereits gezeigten Begriffes waren, wesentlich schneller vervollständigt. Dieses
Phänomen, das
auch als Ersparnis-Effekt oder» Priming «bezeichnet wird, funktionierte selbst dann, wenn die
Teilnehmer irrtümlich glaubten, sie hätten das Wort nie gehört. Neben den expliziten
Erinnerungen, die
man ganz bewusst hervorholt und vor dem geistigen Auge Revue passieren lässt, gibt es
offenbar auch
noch implizite Spuren im Gedächtnis, die» hinter dem Rücken «des Bewusstseins wirken.
Doch alle diese Leistungen des kognitiven Unbewussten – das die kognitiven Psychologen
gar nicht
«das Unbewusste «nennen, haben gar nichts mit dem psychoanalytischen Mythos gemeinsam,
betont
Greenwald. Es ist eine Tatsache, dass Versuchspersonen manchmal auf unterschwellige
(subliminale)
Reize reagieren, die ihnen für Sekundenbruchteile an den Grenzen der
Wahrnehmungsfähigkeit
dargeboten werden.
Doch dabei handelt es sich um hochgradig subtile Stimuli, die hochgradig subtile Effekte
erzielen und
in kürzester Zeit wieder verfliegen. Dem freudianischen Unbewussten sind solche
Eigenschaften indes
fremd: Die Triebkräfte des psychoanalytischen Unbewussten haben intensiv und dauerhaft zu
sein.
Außerdem zeichnet es sich durch» Durchtriebenheit «und einen gigantischen
Informationsgehalt aus. Das
kognitive Unbewusste, das man mit Experimenten eingefangen hat, ist dagegen schlicht und
berechenbar.
Es ist durchaus zutreffend, dass viele Menschen über ihre eigenen unangenehmen
Persönlichkeitszüge
«hinwegsehen «und unangenehme Tatsachen des Lebens» verleugnen«. Es gibt sogar einen
speziellen
Persönlichkeitstyp, den» Repressor«, bei dem diese Form der Selbsttäuschung zu einer festen
Charaktermaske erstarrt. Repressoren haben die Tendenz, schmerzliche Realitäten
gewohnheitsmäßig
unter den Teppich zu kehren. Doch dieser Akt des Selbstbetruges ist nicht wirklich»
unbewusst«, betont
Greenwald. Man kann schmerzhaften Einsichten und Situationen auch aus dem Weg gehen,
ohne eine
vollständige geistige Analyse zu vollziehen. In den meisten Fällen reichen kleine
Warnhinweise, um das
drohende Unheil geistig abzublocken. Das läuft etwa so ab, wie wenn man seine Post auf
unerwünschte
Werbezuschriften prüft. In den meisten Fällen kann man den» Junk «an kleinen Hinweisreizen
wie dem
geringen Porto erkennen, ohne dass man den Inhalt entnehmen und lesen müsste. Repressoren
riechen im
Leben beim kleinsten Hinweis auf schmerzhafte Einsichten Lunte – und brechen an dieser
Stelle die
Informationsverarbeitung ab.

«Irgendwo in der Seele wird ein vollständiger Gedächtnisfilm der Vergangenheit


abgelegt«

Eine mehr oder weniger offensichtliche Implikation des psychoanalytischen


Gedankengebäudes
besteht in dem Glauben, dass der gesamte Bewusstseinsstrom des Menschen in einer
verborgenen
Archivierungsstelle abgespeichert wird. Auf unbewusster Ebene haben wir daher alle ein
«fotografisches «Gedächtnis für unsere Vergangenheit. Alles, was wir jemals erfahren haben,
ist
irgendwo abgelegt. Auf den Einfluss dieses Glaubens deutet eine Umfrage unter
Psychotherapeuten hin,
die die beiden holländischen Professoren Crombag und Merckelbach zitieren. Zwei Drittel der
Befragten
glaubten fest daran, dass Erinnerungen immer eine genaue Widerspiegelung von dem
darstellen, was
wirklich passiert ist. 41 Prozent gaben sich sogar der Überzeugung hin, dass man sich an sein
erstes
Lebensjahr erinnern kann. Zwei Drittel benutzten für das Gedächtnis Metaphern wie»
Videofilm «oder
«Computer«, die auf die Vorstellung einer exakten Reproduktion anspielen.
«Solche Metaphern lassen ein unangebrachtes Vertrauen in die Genauigkeit von Erinnerungen
vermuten«, wenden die Autoren kritisch ein.»Wer denkt, dass unser Gedächtnis fotografische
Qualitäten
besitzt, wird, so muss man befürchten, ungenügend kritisch gegenüber in der Therapie
auftauchenden
wieder gefundenen Erinnerungen sein. «Dabei hätten die Psychotherapeuten allen Grund, an
der
fotografischen Wiedergabetreue unserer Erinnerungen zu zweifeln. Es herrscht nämlich in der
Psychologie schon seit längerer Zeit Einigkeit darüber, dass unsere alltäglichen Erinnerungen
keineswegs
den» archivarischen «Charakter haben, den wir von unseren technischen Speichermedien
kennen. So
entdeckte Ebbinghaus, der Altvater der Gedächtnisforschung, bereits im vergangenen
Jahrhundert, dass
die gespeicherte Erinnerung, die so genannte Gedächtnisspur, schon nach wenigen Minuten
ungenau wird
und an Originaltreue verliert. Das Gedächtnis, so der heutige Eindruck,»hortet «Erfahrungen
nicht wie
verstaubte Museumsstücke, sondern montiert die Vergangenheit bei Bedarf im Sinne eines
Indizienbeweises zusammen. Es ist kein Datenspeicher, sondern eher ein Theater, das mit
seinem
Ensemble bruchstückhaft erhaltene Szenen neu interpretiert.
Das bedeutet aber auch, dass bei der Rekonstruktion der Vergangenheit Dinge mit einfließen,
die in
der ursprünglichen» Aufnahme«(noch) nicht enthalten waren. Dazu gehören etwa Kenntnisse
über den
betreffenden Sachverhalt, die erst in der Zwischenzeit hinzugekommen sind, aber auch
kulturell
vermittelte Klischeevorstellungen und das Bedürfnis, sich selbst in ein möglichst positives
Licht zu
rücken. Wie sehr die in einer Gesellschaft grassierenden Stereotype den» Blick zurück
«verfälschen
können, zeigte sich, als man Versuchspersonen aus unserem Kulturkreis Eskimomärchen
nacherzählen
ließ. In den betreffenden Märchen waren Details vorhanden (zum Beispiel Kanus oder das
Jagen von
Seehunden), die sehr genau auf ethnische Besonderheiten gemünzt waren. Die Probanden, die
die
Nacherzählungen ablieferten, ersetzten diese» Spezialitäten «jedoch sehr häufig durch
Surrogate, die
ihren eingefahrenen kulturellen Vorstellungen entsprachen, zum Beispiel durch» Boote «und»
Fischen«.
Die Erinnerung ist nicht reproduktiv, sondern konstruktiv.
Bis vor kurzem glaubten aber auch die Psychologen, dass sich zumindest schlaglichtartige
Erinnerungen, die einen dramatischen Touch besitzen und emotional bedeutsame Momente
beinhalten,
im Gehirn» einbrennen «und über lange Zeit originalgetreu haften bleiben. Die Frage, wo man
war, als
Kennedy erschossen wurde, diente oft genug als Schnelltest zur Diagnose von
Geistesschwäche. Die
beiden Psychologen Ulric Neisser und Nicole Harsch von der Emory-Universität haben jetzt
die Probe
aufs Exempel gemacht und sind dabei auf Fälschungen und Verzerrungen gestoßen, die
geradezu
orwellsche Dimensionen haben.9
Rund 100 Versuchspersonen sollten am Morgen nach dem fatalen Raketenstart der Raumfähre
Challenger im Jahr 1986 schriftlich die Umstände festhalten, unter denen sie von dem
Desaster erfahren
hatten. Gefragt wurde nach sieben exakt formulierten Punkten, zum Beispiel: Wo waren Sie,
wer war bei
Ihnen, und woher kam die Information? Etwa die Hälfte der ursprünglichen Probanden wurde
nach
mehreren Jahren wieder kontaktiert und bekam die alte Liste neu vorgelegt. In allen Fällen, in
denen sich
Unstimmigkeiten ergaben, stocherten die Forscher mit Suggestionen, Fangfragen und»
Eselsbrücken«
nach.
Die Ergebnisse lassen teilweise an den Film» Total Recall «denken, in dem sich Arnold
Schwarzenegger fiktive Abenteuer-Erinnerungen einpflanzen lässt. Das fängt bereits damit an,
dass drei
Viertel der Befragten überhaupt keinen Schimmer mehr hatten, dass sie die ganze Befragung
schon
einmal durchgemacht hatten. Ein Viertel der Befragten lieferte zum zweiten Zeitpunkt in allen
sieben
Punkten eine abweichende Version. Von den sieben möglichen Übereinstimmungen (zwischen
damals
und heute) wurden im statistischen Durchschnitt gerade einmal 2,9 erreicht. Das heißt, dass
praktisch alle
Probanden im Nachhinein zentrale Aspekte komplett neu interpretierten.
Dabei kam es auch zu atemberaubenden Kabinettstücken. Eine Probandin, die die schlimme
Botschaft ursprünglich beim Essen in der Cafeteria vernommen hatte (»mir wurde richtig
übel«), entwarf
bei der zweiten Befragung eine schier unheimliche Revision:»Ich hing gerade in meiner Bude
herum, als
ein junges Mädchen kreischend den Gang heruntergelaufen kam und schrie: >Die
Spaceshuttle ist
explodiert!<«Es gibt nach Ansicht der Forscher keinen Hinweis darauf, dass die Episode mit
dem
schreienden Mädchen je passiert ist. Vielleicht basiert sie auf der stereotypen Vorstellung
darüber, wie
Menschen schockierende Neuigkeiten zugetragen bekommen. Vielleicht hatte die Probandin
sich sogar
am Anfang selbst in die Rolle des schreienden Mädchens phantasiert.
Der Versuch, die verwischte Erinnerungsspur mit Hilfe von Anregungen und Suggestionen
wieder
aufzufrischen, war völlig vergeblich. Es gelang in keinem Falle, das durch»
Deckerinnerungen«
verschleierte Original freizulegen. Zur Verblüffung der Wissenschaftler reagierten sämtliche
Teilnehmer
sogar mit ungläubigem Staunen, als man ihnen ihre ursprüngliche Version vorlegte:»Das soll
ich gesagt
haben?«, oder:»Ich glaube trotzdem, dass es anders war!«Der Grad der Sicherheit, mit dem
die
Probanden ihren Erinnerungen vertrauten, hatte keinen Einfluss auf die Richtigkeit: Alle
Probanden
hatten großes Vertrauen. Auch der lebhafte und plastische Charakter der Erinnerungen machte
diese nicht
authentischer: Viele falsche Erinnerungen waren trotzdem extrem plastisch.
Erstaunlich hoch ist auch der Anteil der Teilnehmer, die die Quelle der schlechten Botschaft
nachträglich in die» Glotze «verlegten. Obwohl anfangs lediglich 20 Prozent durch das TV
von dem
Unglück erfahren hatten, meinten später 45 Prozent, sie hätten es zuerst im Fernsehen
gesehen.»Diese
TV-Priorität ist eine der eindeutigsten Tendenzen in unseren Daten«, meinen die Forscher.
Wahrscheinlich
haben die Probanden die schrecklichen und eindringlichen Szenen später immer wieder auf
der
Mattscheibe verfolgt, bis diese» Ereignischarakter «hatten. Außerdem haben die meisten
Leute wohl den
eingefahrenen Glauben, dass» man «solche schrecklichen Ereignisse aus dem Fernsehen
erfährt. Damit
bestätigt sich auch eine Hypothese, die der amerikanische Psychologe F. C. Bartlett bereits in
den
dreißiger Jahren aufstellte:»Wenn eine Person gebeten wird, sich zu erinnern, kommt ihr als
Erstes sehr
oft etwas von der Art einer Einstellung in den Sinn. Die Erinnerung ist dann eine
Konstruktion, die sehr
stark auf der Einstellung basiert und dazu dient, diese zu rechtfertigen.«
Es ist auch deshalb extrem unwahrscheinlich, dass im Gedächtnis ein taufrischer
Erinnerungsfilm der
Vergangenheit aufbewahrt wird, weil Erinnerungen sich schon durch geringfügige
Suggestionen
unwiderrufbar überschreiben lassen, gibt die Psychologin Elizabeth Loftus zu bedenken. Auf
die Frage
«Haben Sie das Vorfahrtsschild gesehen?«antworteten weit mehr Versuchspersonen mit Ja, als
wenn in
der Frage» das «durch» ein «ersetzt war. Hatten sich die Probanden aber erst auf eine Antwort
festgelegt,
waren sie partout nicht mehr davon zu überzeugen, dass es in dem Film, den sie gesehen
hatten (und der
kein Vorfahrtsschild enthielt), kein Vorfahrtsschild zu sehen gab. Sie ließen sich weder durch
Druck noch
durch Bestechung von ihrer Phantomerinnerung abbringen und waren sogar bereit, persönlich
eine höhere
Geldsumme auf die Existenz des Vorfahrtsschildes zu setzen. Wenn die Frage lautete:»Was
passierte, als
die Autos zusammenkrachten?«,»erinnerten «sich viel mehr Probanden an Glassplitter als bei
der
(korrekten) Frage» Was passierte, als die Autos sich berührten?«
Nun ist ein Vorfahrtsschild etwas völlig anderes als eine Vergewaltigung. Kaum jemand
bestreitet,
dass Details eines Erlebnisses oft ungenau erinnert werden. Aber können ganze Dramen ins
Gedächtnis
implantiert werden? Selbst so dramatische wie ein jahrelanger Missbrauch durch den Vater?
Loftus
beantwortet auch diese Frage mit einem Ja. Als Beleg führt sie ein anderes Experiment an: Sie
bat einen
Kollegen, seinem 14-jährigen Bruder zu erzählen, er sei als kleines Kind einmal in einem
Kaufhaus
verloren gegangen. Zwei Tage später begann der Junge, diese Geschichte weiterzuerzählen,
ausgeschmückt mit Details über das Kaufhaus, den Mann, der ihn gefunden habe, und die
Panik, die er
gehabt habe. Die» Implantation «ließ sich später auch bei anderen Kindern wiederholen.
Auch ein anderes Experiment beweist, wie leicht es ist, dem Gedächtnis» Räuberpistolen«
aufzupfropfen. Den Forschern gelang es, Kindern durch hartnäckige Wiederholung einer
erfundenen
Geschichte die Erinnerung daran aufzuschwatzen, wie sie mit dem Finger in eine Mausefalle
geraten
waren. Eigenständig begannen sie schließlich, Geschichten von der Fahrt ins Krankenhaus
und dem
Verband, den sie bekommen hatten, zusammenzufabulieren.

«Menschen bleiben oft unbewusst auf ihre frühkindliche Sexualität fixiert«

Eine beliebte Form, anderen Leuten eins auszuwischen, besteht in der Unterstellung, sie seien
auf ihre
«orale «oder» anale «Phase fixiert – wobei die anale Variante einen besonders fiesen Unterton
besitzt.
Dahinter steckt der Glaube der Psychoanalyse, dass Menschen in ihrer frühen Kindheit
verschiedene
«prägenitale «psychosexuelle Entwicklungsstufen durchlaufen, die in der reifen, auf die
Genitalien
bezogenen Erotik münden. Die Körperstellen, aus denen kleine Kinder ihre Lust beziehen,
wechseln sich
im Lauf dieser Perioden ab. Der Zyklus beginnt mit der» oralen «Phase, dann folgt die» anale
«und zum
krönenden Abschluss werden die Geschlechtsteile mit der Libido» besetzt«.
Die orale Phase verdankt ihren Namen der Tatsache, dass die libidinöse Befriedigung bis zum
achtzehnten Lebensmonat aus der Nahrungsaufnahme und den damit verbundenen
Körperteilen – dem
Mund, den Lippen und der Zunge – bezogen wird. Die Befriedigung der oralen Sehnsüchte
führt
Spannungslosigkeit und Schlaf herbei. Unter ungünstigen Umständen können Menschen
jedoch für ein
Leben lang in der oralen Phase stecken bleiben: Sie sind oral» fixiert«. So sollen Menschen,
deren orale
Bedürfnisse übermäßig frustriert wurden, dazu neigen, stets pessimistisch Enttäuschungen
vorwegzunehmen.
Der Glaube an den oralen Charakter findet jedoch in den empirischen Forschungen keine
Unterstützung, zieht Dieter E. Zimmer Bilanz. 10 Er kollidiere unter anderem mit der
Beobachtung, dass
Kinder mit Gaumen- oder Lippenspalten, die nie an irgendetwas saugen konnten, keineswegs
vermehrt zu
oralen Pessimisten wurden oder in sonstige seelische Schwierigkeiten gerieten. Laut Zimmer
musste
selbst ein Fachblatt für Psychoanalytiker ratlos eingestehen, dass die betreffenden Kinder»
geradezu
erstaunlich unauffällig und normal «waren.
Auf die orale folgt die anale Phase: Jetzt sollen die Schleimhäute des Anus die empfindsamste
«erogene Zone «sein. Auf dieser Entwicklungsstufe wird das Ausscheiden der Exkremente als
körperlich
lustvoll erlebt. Die anale Phase soll aber auch einen sadistischen Charakter haben, der sich in
einem
«Bemächtigungstrieb «gegenüber den Objekten ausdrückt und zuweilen ins Grausame
umschlägt. Wird
das Kind durch eine unangemessene Reinlichkeitserziehung in seiner analen Lust frustriert,
bleibt
angeblich eine anal fixierte Persönlichkeit zurück. Sie weist eine deutliche Nähe zum
deutschen
Volkscharakter auf und wird durch Sekundärtugenden Ordnungsliebe, Sparsamkeit und
Zähigkeit
definiert.
So trefflich sich auch mit dem analen Charakter diffamieren lässt, auch er hat den empirischen
Test
nicht bestanden. Zahlreiche Wissenschaftler haben in den vergangenen Jahrzehnten versucht,
einen
Zusammenhang zwischen der Reinlichkeitserziehung und dem Charakter herzustellen. Doch
der Versuch
ist fehlgeschlagen, resümiert Zimmer:»Ein Zusammenhang zwischen der Strenge der
Reinlichkeitserziehung und dem Analcharakter wurde logischerweise mehrfach gesucht, aber
niemals
gefunden.«
Dieses Schicksal teilt der Analcharakter übrigens mit dem Ödipuskomplex, dem angeblichen
Meilenstein der freudschen Theorie. König Ödipus, der nach seiner Geburt von den Eltern
getrennt
wurde, kehrt als Erwachsener zurück, nur um versehentlich seinen Vater zu ermorden und
unwissentlich
seine Mutter zu heiraten. Für Sigmund Freud war diese Gestalt aus der griechischen Tragödie
ein Beweis
dafür, dass Kinder starke sexuelle Empfindungen für ihren gegengeschlechtlichen Elternteil
hegen und
sich ein Leben lang mit dem Ödipuskomplex herumschlagen müssen.
Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein als dies, sagt die moderne
Evolutionsbiologie. Bei
allen Lebewesen, die sich auf dem mühsamen Wege der sexuellen Fortpflanzung vermehren,
hat Inzucht
negative Konsequenzen für das Wohlergehen und die genetische Tauglichkeit (Fitness) der
Kinder. Der
Nachwuchs aus einer Paarung zwischen Blutsverwandten ist weniger vital, stirbt früher und
bringt eine
verringerte Zahl eigener Kinder zur Welt. Das liegt vor allem daran, dass jeder Organismus
eine gewisse
Zahl überdeckter (rezessiver) Erbfaktoren mit sich herumträgt, die mit Schäden behaftet sind.
Nach Ansicht der modernen Wissenschaft hat die Natur zwei Sicherungen geschaffen, um
dem
genetischen Risiko Inzest Schranken zu setzen. Einmal gibt es bei den meisten Tierarten die
Tendenz,
dass ein Geschlecht (meist das männliche) beim Erreichen der Sexualreife aus der Horde
abwandert und
sich in der Fremde einen Partner sucht. Zum andern hat die Evolution den Organismen aber
auch eine
sexuelle Aversion gegen Blutsverwandte mitgegeben, die als» Inzestschranke «bezeichnet
wird.
«Personen, die von frühester Kindheit an eng zusammenleben, entwickeln eine sexuelle
Aversion
gegeneinander «formulierte der Anthropologe Edward Westermarck das Prinzip schon vor
100 Jahren.
Da viele Lebewesen in der Natur Verwandte nicht direkt erkennen können, zieht unser
Instinkt» enges
Zusammenleben in der Kindheit «als Indikator für Blutsbande heran. Die Individuen, die
einem in den
ersten Lebensjahren nahe sind, stehen außerhalb des sexuellen Appetites. Diese Theorie
wurde vor allen
Dingen durch Untersuchungen in israelischen Kibbuzen untermauert: Die Kinder, die dort
gemeinsam
aufgezogen wurden, suchten sich ihren Sexualpartner später immer außerhalb.»All dies ist
nicht günstig
für Freuds Ödipus-Theorie«, schließt denn auch Zimmer.»Wenn in der Natur nicht
Inzestwünsche die
Regel sind, sondern Inzestvermeidung; wenn die Sexualität unter den Bedingungen primärer
Vertrautheit
bei Tieren wie auch beim Menschen einer Hemmung unterliegt, dann kann die Zärtlichkeit,
die es
zwischen Kindern und Eltern gibt, nicht mehr als sexuell und mithin inzestuös interpretiert
werden.«
Daran ändert auch das tragische Schicksal des Ödipus nichts, denn dieser wurde ja eben nach
der
Geburt von seinen Eltern getrennt, so dass erst gar keine Inzestschranke entstehen konnte. Das
war die
perfekte, evolutionsbiologisch inspirierte Methode, um inzestuöse Leidenschaft zu entfachen.
Der Mythos
spricht also in Wirklichkeit viel eher für Westermarck als für Freud. Offenbar hat bereits
Sophokles mehr
Gespür für die Tatsachen des Lebens gehabt als der Wiener Seelenpionier. Und der war
vielleicht nur
deshalb auf dem Holzweg, weil er von frühester Kindheit an von Kindermädchen erzogen
wurde.

«Menschen können durch intensive Selbstbeobachtung Zugang zu ihren tieferen


Antrieben
gewinnen«

Auf den ersten Blick scheint der Mensch mit einem begnadeten Instrument der
Selbsterkenntnis
ausgestattet zu sein – mit der» Introspektion«(Selbstbeobachtung), dem» Blick nach innen«.
Besonders
die Psychoanalytiker huldigen diesem» bildgebenden Verfahren «so enthusiastisch wie
Neurologen der
Positronen-Emissions-Tomographie oder Astronomen dem Hubble-Teleskop. Das freudsche
Denken führt
praktisch alle Störungen und Symptome des Erwachsenenlebens auf unbewusste und
verdrängte Impulse
zurück. Bei den betroffenen Personen ist offenbar die Introspektion durch einen» Knick in der
Optik«
gestört: Sie können dem Verdrängten nicht ins Auge sehen. Doch mit psychoanalytischer
Schützenhilfe
lässt sich diese Trübung gründlich bereinigen. Am Ende ist es ja gerade die psychoanalytisch
aufgeklärte
Selbstbeschau, die dem Patienten die Konfrontation mit den schlummernden Monstern seiner
Seele
ermöglichen soll. Aber auch die meisten anderen psychotherapeutischen Schulen gehen mehr
oder minder
ausdrücklich von der Überzeugung aus, dass der Blick nach innen den Patienten auf der Suche
nach
Wahrheit weiterbringt.
Es ist jedoch eine der größten Illusionen der Geistesgeschichte, dass die Introspektion einen
aussagekräftigen Zugang zum seelischen Innenleben gewährte. Der Blick nach innen liefert
ebenso
«optische Täuschungen«, Irrtümer und Illusionen, wie uns der (naive) Blick nach außen
Trugbilder wie
den Lauf der Sonne um die Erde vorgaukelt. Sozialpsychologen haben schon vor Jahrzehnten
in
sorgfältigen Experimenten Beweise dafür gesammelt, dass Menschen gar nicht wirklich in
sich selbst
«hineinschauen«, wenn sie nach den Gründen ihres Handelns suchen. Wir erkennen unsere
eigenen
Beweggründe nur schlecht, und die Introspektion hilft uns kaum weiter – wir glauben immer
nur zu
wissen, warum wir etwas tun oder meinen.»Wir sagen mehr, als wir wissen können«, nannten
die beiden
Psychologie-Professoren Richard Nisbett von der Michigan University und Timothy D.
Wilson von der
University of Virginia in Charlottesville ihren bahnbrechenden Fachbeitrag.11»Wir sind uns
selbst fremd«
taufte Wilson später ein entsprechendes Buchkapitel.12
Das pessimistische Urteil über unsere Innenschau basiert unter anderem auf einem
Experiment, in
dem die Hilfsbereitschaft der Probanden getestet wurde. Es stellte sich heraus, dass die
Teilnehmer in
vermeintlichen Notlagen umso mehr Beistand leisteten, je weniger Zeugen anwesend waren:
Zuschauer
blockierten das Hilfehandeln. Aber die Probanden hatten auf Befragen nicht die geringste
Ahnung, dass
ihr Verhalten von der (Nicht)Anwesenheit anderer beeinflusst worden war. Sagte oder zeigte
man es
ihnen, stritten sie es beharrlich ab.
In einem anderen Experiment mimte der Versuchsleiter einen Marktforscher, der die
Kundenmeinung
über vier Damenstrümpfe erfahren wollte. Passanten sollten ihr Urteil über die Produkte
abgeben, die
nebeneinander gelegt wurden. Was die Leute nicht wussten, war, dass es gar keine
Unterschiede gab –
alle Strümpfe waren gleich. Doch die meisten Befragten gaben eindeutig dem Strumpf auf der
rechten
Seite den Vorzug. Aber auch von diesem Positionseffekt auf ihre Qualitätswahrnehmung
wussten sie
nichts, und als man sie fragte, ob eventuell die Position ihre Bewertung beeinflusst habe,
stritten sie diese
vermeintliche Unterstellung entrüstet ab.
Ein andermal führten die Versuchsleiter ihren Probanden einen Dokumentarfilm über Armut
in der
Großstadt vor. Die Präsentation wurde jedoch bei einigen Teilnehmern durch Unschärfe, bei
einigen
anderen durch schrille Geräusche gestört. Als man die Zuschauer, die den Film bewertetet
hatten, im
Nachhinein fragte, ob die Störung ihre Bewertung abträglich beeinflusst habe, pflichteten die
meisten bei.
De facto gab es aber gar keinen Einfluss der Störung auf die Filmbewertung. Die
Introspektion hatte die
Teilnehmer völlig in die Irre geführt. Dieses Phänomen trat auch bei Frauen auf, die mehrere
Monate lang
über ihre Stimmungsschwankungen Protokoll führen sollten. Gleichzeitig hielten die Frauen
auch alle
äußeren Faktoren wie das Wetter und den Wochentag fest. So ließ sich objektiv identifizieren,
welcher
äußere Faktor möglicherweise mit der Stimmung in Beziehung stand.
Hinterher wurden die Frauen selbst gefragt, welche Faktoren wohl ausschlaggebend gewesen
seien.
Fazit: Die Übereinstimmung zwischen objektiven und subjektiven Beziehungen war
verschwindend
klein. So maßen die Frauen dem Faktor Schlaf im Nachhinein eine außerordentliche
Bedeutung für ihre
Stimmung bei, obwohl er objektiv ziemlich gleichgültig war. Der Wochentag, der den Frauen
ziemlich
nebensächlich vorkam, hatte jedoch objektiv einen hohen Stellenwert.»Das Beweismaterial
rechtfertigt
also den größten Pessimismus hinsichtlich der menschlichen Fähigkeit, die eigenen
Denkprozesse
zutreffend zu beschreiben«, nehmen Nisbett und Wilson Stellung.
Die Introspektion hatte in all diesen Experimenten – und in vielen anderen – gar nicht die
wahren
Beweggründe des Verhaltens und des Beurteilens ans Tageslicht gebracht. Was sie ins
Bewusstsein geholt
hatte, entsprach lediglich gängigen Theorien über das Zustandekommen von Verhaltensweisen
und
Urteilen. Man denkt eben üblicherweise, dass Lärm während einer Filmvorstellung negativ
auf die
Bewertung abfärbt. Die Probanden hatten offensichtlich das Hinzuziehen üblicher
Erklärungsmuster mit
Introspektion verwechselt. De facto betrachteten sie sich selbst von außen wie einen Fremden
und
zimmerten sich eine notdürftige und plausible Theorie über die unbekannte Person
zusammen. Dabei
orientierten sie sich jedoch nur an vordergründigen Merkmalen und an Einflüssen, die sich
leicht
verbalisieren lassen. Auch wenn wir glauben, uns selbst zu verstehen, umgarnen wir uns
selbst doch nur
mit theoretischen Lehrgebäuden, die auf kulturell verankerten Mythen und Dogmen, flüchtig
gehörten
Klischees oder weit verbreiteten Scheinerklärungen beruhen.
Unsere Antriebskräfte (etwa unsere nachlassende Hilfsbereitschaft in der Anwesenheit von
Zeugen)
sind nicht wirklich im freudschen Sinne verdrängt. Wir haben sie nie gekannt, denn sie sind,
wie alle
großen Geheimnisse der Natur, von einem Schleier des Nichtwissens umhüllt. Das
psychologische
Wissen – die Wahrheit über uns selbst – kann der Unwissenheit nur in mühevoller Kleinarbeit
abgetrotzt
werden, so wie Physiker mit winzigen Erkenntnisfortschritten die Wahrheit über die unbelebte
Welt
hervorzukramen versuchen. Wir werden uns, so Nisbett und Wilson, umso mehr richtig
erkennen können,
je besser die Theorien sind, die uns zur Verfügung gestellt werden, und je weniger wir auf die
falsche
Fährte gelockt werden. Sigmund Freud hat uns mit einer schlechten Theorie auf den Holzweg
geschickt.
Die Psychoanalyse und die meisten anderen Therapien verlangen uns offensichtlich etwas ab,
was wir
nach den Ergebnissen solcher Forschungsarbeiten extrem schlecht können, meinen der
amerikanische
Wissenschaftspublizist Ethan Watters und sein Landsmann, der Soziologie-Professor Richard
Ofshe:
«Unsere Gedanken und Handlungen auf ihre mentalen Ursachen zurückführen.« 13 Dieser
Skepsis schließt
sich auch der Philosoph Adolf Grünbaum an:»Es ist zwecklos und irreführend, Analysanden
zu fragen,
warum sich ihr Zustand gebessert hat. Denn auch nach einer erfolgreichen Analyse hätte der
Patient
keinen privilegierten Zugang zu den tatsächlichen Mechanismen, die seine Veränderung
bewirkt
haben.«14
Weil wir alle so ausgesprochen schlecht darin sind, in uns» hineinzuhorchen«, verrennen wir
uns auch
leicht in eine falsche Richtung, wenn wir über eine Entscheidung zu lange nachgrübeln,
anstatt» aus dem
Bauch «zu handeln. Der Psychologe Timothy D. Wilson ließ seine Probanden in einer Studie
mehrere
Proben Erdbeermarmelade nach deren Qualität bewerten, einmal ad hoc, einmal nach
reiflicher
Überlegung.15 Fazit: Das aus dem Bauch gefällte Urteil stimmte meist mit dem von
konsultierten
Fachleuten überein. Die, die auf Kommando lange grübelten, rückten dagegen immer weiter
vom
Expertenurteil ab.
Das Muster bestätigte sich, als Versuchspersonen sich für eins von mehreren kostenlosen
Zeitschriftenabonnements entscheiden sollten, entweder auf die Schnelle oder mit Bedenkzeit.
Ergebnis:
Diejenigen, die zur Reflexion genötigt worden waren, bereuten ihre Wahl nach einem Jahr am
meisten.
Das Nachdenken über spontane Empfindungen führt oft in die Irre, weil man sich dabei von
seinem
intuitiven Urteil entfernt.
Dann gewinnen plötzlich Klischees und Theorien an Gewicht, die man irgendwo
aufgeschnappt hat,
oder man besinnt sich auf Regeln, die man für gesellschaftlich wünschenswert hält.

«Der Mensch kann seine Entscheidung aus freiem Willen treffen«

Die Forschungsergebnisse der Sozialpsychologie nähren den beunruhigenden Verdacht, dass


der
Mensch in vielen Situationen die wahren Beweggründe seines eigenen Handelns nicht richtig
nachvollziehen kann. Doch diese Wahrnehmungslücke lässt immer noch die tröstliche
Möglichkeit offen,
dass die Entscheidungen in einem abgelegenen, schwer einsehbaren Kommandozentrum des
Verstandes
getroffen werden. Wir alle huldigen im Grunde der» mentalistischen «Vorstellung, dass die
Ideen in
unserem Kopf den Anstoß zu unserem Handeln geben. Doch die experimentellen Befunde der
Gehirnforschung stellen seit ein paar Jahren den Glauben an die Herrschaft des Geistes über
die Materie
radikal in Frage.»Das Gefühl«, so behauptet Prof. Gerhard Roth, Gehirnforscher an der
Universität
Bremen und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs,»dass ich als bewusst handelndes
Subjekt der Herr
meiner Handlungen bin, ist eine Illusion. Das Gehirn hat entschieden, bevor ich das Gefühl
habe, dass ich
das will, was ich gleich tun werde. «Der viel gerühmte freie Wille des Menschen ist
vermutlich genauso
verblendet, wie manch» kleines Rädchen «in einer riesigen Bürokratie: Obwohl es nur
Entscheidungen
absegnet, die längst an höherer Stelle getroffen wurden, bildet er sich ein, selbst am Drücker
zu sitzen.
Dies schwante zum ersten Mal zwei deutschen Wissenschaftlern im Jahre 1965. Der
Neurophysiologe
Hans H. Kornhuber und sein Mitarbeiter Lüder Deecke wollten mit Hilfe des EEG den
Zusammenhang
zwischen willkürlichen Hand- und Fußbewegungen und den Wellenmustern im Gehirn
erforschen. Dabei
stellten sie ein seltsames Phänomen fest: Bewegte die Versuchsperson die Hand oder den Fuß,
ließ sich in
den Hirnstromkurven bereits etwa eine Sekunde vor der Handlung eine charakteristische
Ausbuchtung
nachweisen. Gewissermaßen eine Vorwarnung, die Kornhuber und Deecke das»
Bereitschaftspotenzial«
nannten.
Eine Sekunde, das war eine erstaunlich lange Zeit. Und als der Amerikaner Benjamin Libet,
Neurophysiologe an der University of California in San Francisco, die Studien aus
Deutschland in die
Hand bekam, drängte sich ihm förmlich eine Frage auf:»Ich dachte viele Jahre darüber nach«,
so Libet
später,»wie diese knappe Sekunde vom Bewusstsein wahrgenommen wird. Oder anders
ausgedrückt:
Wie viel Zeit vergeht zwischen der bewussten Entscheidung des Gehirns und der eigentlichen
Handlung?«Ganz sicher keine Sekunde. Wenn man die Hand ausstreckt, bewusst den Fuß
bewegt, um
gegen die Wand zu treten, dann wartet man nicht so lange. Wäre es so, wir würden uns im
Zeitlupentempo durch die Welt bewegen. Die einzige Erklärung war, dass das
Bereitschaftspotenzial für
eine Handlung im Gehirn bereits eingesetzt hat, bevor wir uns bewusst zu einer Handlung
entschließen.
Ein beunruhigender Gedanke, denn zu Ende gedacht würde er in Frage stellen, dass wir Herr
unserer
Sinne und unserer Handlungen sind – dass der freie Wille, auf den wir so stolz sind, reine
Makulatur ist.
Libet wollte und musste diese Zweifel in einem wissenschaftlichen Experiment überprüfen. In
einem
denkwürdigen Versuch wies er daher seine Probanden an, mehrmals hintereinander, aber
unregelmäßig
und spontan einen Finger oder das Armgelenk der rechten Hand zu krümmen. Zugleich
wurden sie
instruiert, sich auf einer vor ihren Augen ablaufenden Video-Uhr die Zeigerstellung
einzuprägen, bei der
ihnen der jeweilige Impuls in den Kopf kam. Ergebnis der Hirnstrommessung: Der bewusste
Gedankenfunke dämmerte durch die Bank erst 0,3 bis 0,8 Sekunden nach dem Einsatz des
Bereitschaftspotenzials herauf. Als die Probanden erstmals mit dem Gedanken zum Krümmen
des Fingers
spielten, waren die Würfel längst gefallen.
Nach diesen Befunden scheint es, als ob der freie Wille die Zügel längst nicht so fest in der
Hand hat,
wie er sich selbst vormacht. Möglicherweise muss das Gehirn erst einige Sekundenbruchteile
warm
laufen, bevor der bewusste Gedankenfunke erglüht, so wie das Bild auf einem Fernseher. Man
kann
daraus schließen, dass der Willensakt nicht die Ursache der Bewegung ist, sondern nur ein
Begleitgefühl
zu der Handlung selbst, meint der Bremer Forscher Roth. Er geht den neuronalen Prozessen
nicht voraus,
sondern er folgt ihnen.»Wenn ich also sage oder denke: >Ich möchte dies tun<, hat das Gehirn
sein
Wollen bereits einige 100 Millisekunden davor abgeschlossen«, folgert der
Psychologie-Professor Niels
Birbaumer von der Universität Tübingen.
Libets Experimente lösten eine stürmische Debatte in der Gehirnforschung aus. War bei
seinen
Experimenten alles mit rechten Dingen zugegangen? Waren seine Messungen vielleicht
ungenau?
Verschiedene Wissenschaftler, auch solche, die Libets Messungen anzweifelten, wiederholten
seine
Versuche. Sie kamen alle zu denselben Ergebnissen. Trotzdem blieb eine gravierende Frage
offen: Warum
merken wir nichts von dieser Verzögerung? Warum glauben wir, dass Entschluss und
Handlung
unmittelbar aufeinander folgen? Auch dafür hatte Libet eine These parat. Bei Versuchen, die
er mit
Patienten (mit deren Einwilligung!) durchgeführt hatte, denen für eine Gehirnoperation die
Schädeldecke
geöffnet worden war, war er auf ein seltsames Phänomen gestoßen: Das Gehirn betrügt sich
selbst. Es tut
alles, um die Tatsache vor sich selbst zu verbergen, dass das Bewusstsein verzögert einsetzt,
und
projiziert das bewusste Erleben etwa eine halbe Sekunde zurück.
Unglaublich? Nicht, wenn man sich vor Augen führt, was geschieht, wenn man sich schneidet
oder an
einer heißen Herdplatte verbrennt. Man zieht blitzschnell die Hand zurück, mit einer gewissen
Verzögerung denkt und ruft man» Aua«, spürt dann erst den Schmerz und hat doch das
Gefühl, dass das
Verbrennen, der Schmerz, das Zurückziehen der Hand und der Schmerzensschrei im gleichen
Augenblick
stattgefunden haben.
Das Gehirn als System entscheidet also autonom, es braucht unseren freien Willen nicht. Im
Lichte
seiner gesamten Erfahrung wägt das Gehirn vielmehr blitzschnell ab, welche
Handlungsalternative dem
Organismus nützt und welche ihm schadet.»Wir tun nicht, was wir wollen«, so Dr. Wolfgang
Prinz,
Direktor am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung in München,»sondern wir
wollen, was
wir tun!«Anders ausgedrückt: Der Mensch denkt, das Gehirn lenkt.

1 Bornstein, Robert F. /Masling, Joseph M. (Hg.): Empirical perspectives on the


psychoanalytic unconscious. American Psychological Association, Washington 1998.
2 Garry, Maryanne et al.: Lie down and tell me about your childhood. In: Sergio
Della Sala (Hg.): Mind myths. Exploring popular assumptions about the mind and brain.
Willey Verlag, Chichester et al. 1999.
3 Crombag, Hans EM./Harald L.G. Merckelbach: Missbrauch vergisst man nicht.
Verlag Gesundheit, Berlin 1997.
4 Holmes, David S.: The evidence for repression: An examination of sixty years of
research. In: Jerome L. Singer: Repression and dissociation. University of Chicago Press,
Chicago 1991.
5 Holmes, David S.: Dimensions of projection. In: Psychological Bulletin, Vol. 69
(1968), S. 248–268.
6 Holmes, David S.: Projection as a defense mechanism. In: Psychological
Bulletin, Vol. 85 (1978), S. 677–688.
7 Baumeister, Roy F. et al.: Freudian defense mechanisms and empirical findings
in modern social psychology. In: Journal of Personality, Vol. 66 (1998), S. 1081–1124.
8 Greenwald, Anthony G.: Unconscious Cognition reclaimed. In: American
Psychologist, Vol. 47 (1992), S. 766–779.
9 Neisser, Ulric/Harsch, Nicole: Phantom flashbulbs: False recollections of
hearing the news about Challenger. In: E. Winograd/Ulric Neisser (Hg.): Affect and
accuracy in recall-Studies of» flashbulb «memories: Vol. 4. Emory Symposia in
Cognition. Cambridge University Press, Cambridge 1992.
10 Zimmer, Dieter E.: Tiefenschwindel. Rowohlt Verlag, Reinbek 1986.
11 Nisbett, Richard E./Wilson, Timothy: Telling more than we can know – Verbal
reports on mental processes. In: Psychological Review, Bd. 84 (1977), S. 231–259.
12 Wilson, Timothy D.: Strangers to ourselves: The origins and accuracy of
beliefs about one's own mental states. In: John H. Harvey/Gifford Weary (Hg.):
Attribution: Basic issues and applications. Academic Press, New York 1985.
13 Watters, Ethan /Ofshe, Richard: Therapy's delusions. Scribner Verlag, New
York 1999.
14 Grünbaum, Adolf: The foundations of psychoanalysis. University of California
Press, Berkeley 1984.
15 Wilson, Timothy D./Schooler, J. W.: Thinking too much: introspection can
reduce the quality of preferences and decisions. In: Journal of Personality and Social
Psychology, Vol. 60 (1991), S. 181–192.
16 Lange, Volker: Die große Illusion.
http: //www.morgenwelt.de/wissenschaft/ 9902-gehirn.htm
Schminke am Selbstbild

Es ist für die seelische Gesundheit erforderlich, ein aufrichtiges und


unverhülltes Bild von sich selbst zu haben«

In der abendländischen Kultur herrscht seit jeher die unbezweifelbare Gewissheit vor, dass es
für den
Menschen heilsam ist, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren. Bereits am Eingang zum
Orakel von
Delphi prangte die epochale Devise» Erkenne dich selbst«, und auch der Volksmund besteht
darauf, dass
Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung sei. Kaum jemand zweifelt heute noch daran,
dass der
Mensch sich auf lange Sicht unweigerlich ins Unglück stürzt, wenn er unangenehme und
traumatische
Dinge mit Nichtbeachtung (oder» Verdrängung«) straft.
Unsere Haltung zu allen Formen des Selbstbetruges ist von der tief verwurzelten
rationalistischen
Überzeugung geprägt, dass die Wahrheit über uns selbst einen heilsamen Charakter besitzt.
Lehrbuchhaften Ausdruck findet diese Vorstellung in der Verdrängungstheorie der
Psychoanalyse, die
davon ausgeht, dass wir mit Abwehrmechanismen unangenehme Wahrheiten aus dem
Bewusstsein
verbannen. Am tiefenpsychologischen Geistesgut orientierte Psychotherapien versuchen daher
mit aller
Macht, die Mauern der Verdrängung niederzureißen. Aber auch alle anderen Formen der
«Seelenklempnerei «versuchen auf die eine oder andere Art, dem Patienten die Augen über
sich selbst zu
öffnen. Verdrängte oder ignorierte seelische Inhalte» gären «nach dieser Überzeugung im
Dunkeln und
setzen dem Betreffenden mit Symptomen und Neurosen zu.
Solche» psychohygienischen «Erwägungen, fasst der New Yorker Psychologe Harold A.
Sackeim
zusammen, gehen davon aus, dass Selbsttäuschungen a) dazu dienen, Unannehmlichkeiten
auszuweichen,
und b) letztlich der psychischen Gesundheit immer abträglich sind. 1 Doch zumindest der
letzte Punkt
wurde in den vergangenen Jahren durch umfangreiche Forschungsarbeiten der
Sozialpsychologie und der
klinischen Psychologie eindeutig widerlegt, betont Sackeim.»Es gibt eine riesige Fülle von
Daten, die
beweisen, dass Illusionen und schöngefärbte Selbstwahrnehmungen ein integraler Bestandteil
der
seelischen Gesundheit sind«, stimmen die beiden amerikanischen Seelenforscher Shelley E.
Taylor und
Jonathan A. Brown in ihrer viel beachteten Übersichtsarbeit zu.2
Verzerrte Wahrnehmungen der Welt und der eigenen Person sind demnach nicht wahnhafte
Symptome
einer zerrütteten Psyche, sondern Merkmale» normalen «seelischen Funktionierens; ihre
Abwesenheit
geht häufig mit trübsinnigen Empfindungen bis hin zur Depression einher. So unglaublich es
klingen
mag: Seelisch kranke Menschen leiden oft eher an zu viel denn an zu wenig Ehrlichkeit sich
selbst
gegenüber. Das Organ Gehirn ist von der Evolution gar nicht in erster Linie auf
Selbsterkenntnis, sondern
auf Selbsterhaltung angelegt, behauptet die moderne Soziobiologie. Um erfolgreich zu
überleben und
seine Gene zu vermehren, ist es aber häufig vorteilhaft, sich selbst und den anderen ein X für
ein U
vorzumachen. Wer ein rosiges Bild von sich selbst kultiviert – und die anderen mit dieser
Show überzeugt
– hat im Daseins- und Fortpflanzungskampf häufiger die Nase vorn. Und am besten kann man
andere mit
einer Vorstellung blenden, wenn man selbst daran glaubt.

«Seelisch Gesunde nehmen ihre eigenen Wesenszüge unverzerrt wahr«

Wenn es wirklich einen Drang nach Selbsterkenntnis gäbe, müssten die meisten seelisch
gesunden
Menschen wenigstens halbwegs realistische Kenntnisse über ihre Persönlichkeit besitzen. Auf
den ersten
Blick gibt es da kaum Zweifel, weil man selten Leuten begegnet, die sich etwa für Napoleon
oder für
einen Fisch halten, gibt der Psychologe Jonathan D. Brown zu bedenken. 3 Aber selbst die
zutreffende
Erkenntnis, ein Mensch zu sein, lässt noch einen riesigen Spielraum für die Einschätzung, ob
man etwa
ein kluger, humorvoller, kompetenter oder einfühlsamer Mensch ist. Und mit diesem Urteil
liegen die
meisten Menschen schief.
Zu jeder» ungeschminkten «Selbsterkenntnis gehört die Einsicht, dass man über angenehme
und
weniger angenehme Eigenschaften verfügt. Tatsache ist jedoch, dass sich die meisten
Menschen auf ihre
eigene» Schokoladenseite «konzentrieren. Psychisch gesunde Versuchspersonen finden sich
durch
Adjektive mit positivem Unterton in aller Regel wesentlich exakter beschrieben als durch
negativ
angehauchte Attribute. Darum kommen übrigens in den Illustriertenhoroskopen fast nur
freundlich
getönte» Diagnosen «vor. Es heißt dort nie:»Mit Ihrem verfluchten Egoismus werden Sie sich
diese
Woche wieder viele Feinde machen. «An Erfolgserlebnisse kann der Durchschnittsmensch
sich besonders
gut erinnern, während Misserfolge eher einer eigenartigen Gedächtnislücke zum Opfer fallen.
Zudem
neigt man dazu, sich für erfolgreiche Ausgänge seines Handelns persönlich verantwortlich zu
fühlen,
während man die Schuld für ein Versagen lieber auf äußere Umstände schiebt. Sofern der
Mensch
überhaupt Schwächen bei sich selbst diagnostiziert, spielt er diese gerne als» weit verbreitet
«herunter,
die eigenen Stärken hingegen werden als» einsame Spitze «aufgefasst.
Schließlich sind die meisten seelisch gesunden Menschen davon überzeugt, dass sie dem
«Durchschnitt «in einer Vielzahl von Bereichen überlegen sind. 90 Prozent aller Befragten
halten sich
selbst nach ihren Angaben in den entsprechenden demoskopischen Untersuchungen für
«überdurchschnittlich gute «Autofahrer. Dieser» Knick in der Optik «kann logischerweise gar
nicht der
Realität entsprechen. Die meisten bilden sich etwas auf ihre überdurchschnittlich gute
Menschenkenntnis
ein. Die große Mehrheit der Befragten ist überzeugt, ein besseres Leben zu führen als der
Durchschnittsmensch. 70 Prozent aller Studenten billigen sich auf Befragen
überdurchschnittliche
Führungsqualitäten zu, 85 Prozent meinen gar, sie seien kommunikationsfreudiger als der
Rest der Welt.
94 Prozent aller Professoren erachteten ihre eigene Forschung für überdurchschnittlich, 86
Prozent aller
Manager ihre ethische Haltung.
Das Bedürfnis, Kontrolle über die Bedingungen des eigenen Lebens zu haben, ist nach
Ansicht vieler
Psychologen tief in der menschlichen Seele verwurzelt. Es ist sogar imstande, dem Verstand
einen Streich
zu spielen und die» Illusion von Kontrolle «vorzugaukeln, wo nur blinder Zufall oder
unsichtbare Kräfte
walten. In verschiedenen Experimenten hat sich gezeigt, dass normale, seelisch gesunde
Probanden sich
verhalten, als hätten sie Einfluss auf Ergebnisse, die de facto rein zufallsabhängig sind. In
einem
fingierten Glücksspiel etwa rechneten sich die Teilnehmer mehr Chancen aus, wenn sie selber
statt des
Versuchsleiters die Würfel schütteln durften. Von ihnen selbst ausgesuchte Lotterielose kamen
den
Probanden vielversprechender vor als von anderen für sie gezogene. In einer
Versuchsordnung rechneten
sich die Probanden die größten Chancen bei einem Glücksspiel aus, wenn sie gegen einen
Gegner
spielten, der schäbig und heruntergekommen wirkte.
In einigen Untersuchungen wurde der IQ von Versuchspersonen getestet, die ein Urteil über
ihre
eigene intellektuelle Leistungsfähigkeit abgegeben hatten. Fazit: Zwischen
Selbsteinschätzung und
Testergebnissen bestand nur eine verschwindend geringe Übereinstimmung. Inkompetente
Menschen
sind häufig nicht nur den Anforderungen ihres Fachgebiets weniger gewachsen, sondern
wissen überdies
auch nicht, wie inkompetent sie eigentlich sind. Dies hat David A. Dunning, Psychologe von
der Cornell
University (USA), in einer Studie nachgewiesen.4 Dunning ließ Versuchspersonen logische,
grammatikalische und humorvolle Fragen lösen. Danach sollten sie selbst die Qualität ihrer
Antworten
einschätzen. Es zeigte sich, dass diejenigen, die zum großen Teil richtig geantwortet hatten,
auch
diejenigen waren, die sich eher unterschätzt oder sich selbst in Frage gestellt haben.
Diejenigen jedoch,
deren Antworten meist falsch waren, waren sich dessen nicht nur nicht bewusst, sondern sie
neigten in
der Bewertung der Qualität ihrer Antworten auch zu der Ansicht, dass sie zu den Besten der
Gruppe
gehörten. Ihre Inkompetenz hatte ihnen offenbar die Fähigkeit geraubt, (Inkompetenz bei sich
und
anderen zu erkennen.
Menschen nehmen aber nicht nur ihre geistigen Fähigkeiten, sondern auch ihre körperlichen
Vorzüge
durch eine Zerrlinse wahr, hebt Brown hervor. In einigen Experimenten beurteilten neutrale
Beobachter
das Aussehen von Probanden, die ihre Attraktivität selbst eingeschätzt hatten. Das
Zwischenergebnis
nach 5.000 Beurteilungen: Es gab fast gar keine Übereinstimmung zwischen der eigenen und
der fremden
Sicht. Eine ähnliche Diskrepanz kam ans Tageslicht, als Footballspieler und ihre Trainer
gebeten wurden,
die Fähigkeiten der Athleten zu taxieren. Die Einschätzungen der beiden Parteien trennten
Welten.
Die Liste der Studien, die eine Kluft zwischen subjektivem und objektivem Urteil offenbaren,
könnte
endlos fortgesetzt werden, so der Psychologe. Schulkinder haben völlig verzerrte
Vorstellungen davon,
wie beliebt sie bei ihren Kameraden sind. Normale Probanden, die ein Bild von ihrer
Persönlichkeit
abgeben sollen, kommen zu einer gänzlich anderen Einschätzung als ihre ebenfalls befragten
Lebenspartner. Die Verzerrungstaktik wird besonders deutlich an der Art, wie Menschen mit
Informationen umgehen, die das Selbstwertgefühl tangieren, stellt der Psychologe Dieter Frey
von der
Universität München fest: Alle Informationen, die ihn selbst betreffen, nimmt der Einzelne
mit der
«Nachrichtenlenkung «eines totalitären Staates wahr. Das, was dem Ego schmeichelt, wird
künstlich
aufgebauscht, wohingegen alles Herabsetzende so weit wie möglich ausgeblendet wird.5
Seine Majestät das Ich ist demzufolge besonders nach Ego-Kränkungen auf
selbstwerterhöhende
Informationen erpicht und bereitet diesen auch im Geist einen» königlichen Empfang«. So
stürzten sich
Probanden, denen ein überraschend schlechtes Abschneiden im Intelligenztest vorgetäuscht
wurde, auf
solche Schriften, die Intelligenztests grundsätzlich disqualifizierten, während angeblich
Hochgescheite
ein auffälliges Interesse für Pro-Test-Informationen entwickelten. Zudem stießen unerwartete
Bescheide,
die das Ego hofierten, auf viel mehr Vertrauen als überraschende Schmähungen.
Wenn Gefahr droht, mit der Selbstbeweihräucherung Schiffbruch zu erleiden, schwingt sich
das Ich
indes zu einem verblüffend selbstkritischen Realisten auf: Personen, die voraussehen, dass
man eine
bestimmte Fähigkeit von ihnen überprüfen wird, schenken Informationen über eigene
Schwächen
plötzlich massive Beachtung – und wenn auch nur mit der Hoffnung, die Falten am Selbstbild
langfristig
ausbügeln zu können. Lob fürs Ich stößt auch dann auf Ablehnung, wenn es von scheinbar
inkompetenter
Seite kommt.
Auch die Sicht der Mitmenschen wird vom Ego für die Zwecke der Selbsterhöhung
eingespannt. Eine
Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass man andere Leute mit Vorliebe nach solchen
Eigenschaften
bewertet, die man bei sich selbst als positiv einschätzt. Darüber hinaus fanden
Versuchspersonen ein und
dieselbe Leistung schwächer, den gleichen Fehler hingegen stärker, wenn sie von einem
anderen und
nicht von ihnen selbst erbracht worden waren. Jede Einsicht, die das Selbstwertgefühl
schmälert, löst
schließlich den Impuls aus, die anderen noch weiter unten zu sehen. So erkundigten sich
Versuchspersonen, denen ein beschämend niedriger IQ vorgetäuscht worden war,
ausdrücklich nach den
noch schlechteren Testergebnissen anderer.
Nicht nur die Gegenwart, auch die Zukunft werden wir stets durch die Brille der
Selbstüberhöhung
gewahr. Gegen das missliche Eingeständnis, dass Unglück und Krankheit ihn zu jedem
Zeitpunkt
einholen können, schottet der Mensch sich durch einen Akt von unterbewusster
Selbstüberlistung ab. Im
tiefsten Inneren geben wir uns alle der illusionären Gewissheit hin, dass solches Ungemach
immer» die
anderen «trifft, und dass uns selbst ein Schutzengel vor allen möglichen Fährnissen behütet.
Diese Taktik
wird als» Illusion der Invulnerabilität «bezeichnet, wie die US-Psychologin Linda S. Perloff
berichtet.6
In ihrer allgemeinsten Form drückt sie sich in der Tatsache aus, dass Befragte die
Auftretenswahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Blitzschlag und die
Häufigkeit
diverser Todesursachen wie Asthma oder Diabetes zu niedrig einschätzen. Gerade dann, so die
Psychologin, wenn er seine eigene Gefährdung mit der von» anderen «vergleichen soll, kehrt
der Mensch
am deutlichsten seinen Unangreifbarkeitswahn hervor. So sind fast alle Individuen davon
überzeugt, dass
ihr Risiko, von Krebs, Infarkt, Lungenentzündung, Leukämie und anderen medizinischen
Geißeln
befallen zu werden, merklich unter dem Durchschnitt liegt. Selbst 50 Prozent aller
Homosexuellen, die
man beim Verlassen einer Sex-Sauna interviewte, hielten sich für weniger durch Aids
gefährdet als
«andere«.
Was die eigene zu erwartende Lebensspanne angeht, peilen die meisten Probanden für sich
selbst 10
Jahre über dem Durchschnitt an. Mehrheitlich taxieren die Bürger ihr gesundheitliches
Befinden als
besser im Vergleich zu dem des notorisch» kranken «Nachbarn ein. Auch gegen
Missgeschicke wie
Autounfälle, Scheidung oder Alkoholismus fühlen die meisten sich gefeit. Im Banne der
erwähnten
«Kontrollillusion «denkt der Mensch offenbar, dass er unerwünschte Ereignisse von sich
abwenden kann.
Noch eine weitere Trugwahrnehmung, die» Illusion der gerechten Welt«, wirkt sich in diese
Richtung
aus. In den geheimen Winkeln der Seele leugnet das Individuum demnach die Existenz von
Unrecht und
Tragik ab, da andernfalls ja sogar guten Leuten (wie einem selbst) schlechte Dinge
widerfahren könnten.
Aus dieser Dynamik heraus gibt es eine starke, unterbewusste Tendenz, den Opfern von
Missgeschicken
die Verantwortung dafür selbst zuzuschustern. In dem Maße, in dem man sich erfolgreich von
dieser
scheinbar selbst verschuldeten Not absetzt, bleibt einem naturgemäß die Einsicht in die eigene
Anfälligkeit erspart.
Auch die menschliche Neigung, sich in schlechten Zeiten an denen aufzurichten, denen es
noch
schlimmer geht, begünstigt die illusionäre Immunität. Dieser» soziale Abwärts-Vergleich«,
dessen
Vorkommen in verschiedenen Experimenten bewiesen wurde, kann die Tendenz zur Folge
haben, dass
man das eigene (gesundheitliche) Gefährdungspotenzial an denen misst, die ganz eindeutig
viel
gefährdeter sind. Tatsächlich ziehen Personen, die ihre eigene gesundheitliche Gefährdung mit
der von
anderen vergleichen sollen, automatisch einen wirklichkeitsfremden Popanz, die Karikatur
einer
hochanfälligen Vergleichsperson aus dem Hut.
Offenbar hat jeder von uns eine» Spottversion «von» dem «Krebscharakter oder» der«
Infarktpersönlichkeit parat, die er bei dem Gedanken an die betreffende Krankheit aktiviert
(siehe Kapitel
über psychosomatische Krankheiten). Dadurch, dass man sich selbst als» ganz anders
«wahrnimmt, seilt
man sich aus dem Kreis der Gefährdeten ab. Diejenigen, die besonders lebhafte und dezidierte
Vorstellungen über die» typischen «Opfer von gewissen Kalamitäten kultivieren, fühlen sich
daher auch
besonders gegen selbige gefeit. Familie und (enge) Freunde, stellte Perloff in eigenen Studien
fest,
werden indes als (fast) genauso unangreiflich aufgefasst wie das werte Selbst. Zum Teil
deshalb, weil der
psychologische Heiligenschein, der die eigene Wenigkeit erhellt, auch auf die lieben Nächsten
abstrahlt
und man sich durch den Gedanken an ihre Verletzlichkeit nicht aufrichten kann. Aber auch
aus dem
Grund, weil man sie in ihrer Individualität zu genau kennt, als dass man ihnen die Züge des»
typischen
Opfers«überstülpen könnte.
Man dürfe allerdings nicht meinen, die illusionären Selbstwahrnehmungen kämen
ausschließlich dem
persönlichen Wohlbefinden, also der» egoistischen «Komponente der geistigen Gesundheit
zugute, geben
Taylor und Brown vorsorglich zu bedenken. Sie könnten ebenso gut der Bereitschaft Vorschub
leisten,
sich um andere zu sorgen und diesen beizustehen. Es steht nämlich auf Basis der
wissenschaftlichen
Daten fest, dass gut gelaunte Menschen auch großzügiger sind, Notbedürftigen eher helfen
und für alle
Seiten befriedigendere soziale Kontakte pflegen.
Auf das Vermögen zu kreativer und produktiver Arbeit wirken sich Illusionen und
Selbsttäuschungen
ebenfalls günstig aus. Eine gehobene Stimmungslage leistet dem kreativen,
assoziationsreichen und
weiträumigen Denken Vorschub.»Selbstverherrlichende «Wahrnehmungen verstärken zudem
auch die
Motivation und Ausdauer, mit denen das Individuum seine Aufgabe erledigt. Menschen, die
sich viel
Erfolg versprechen, sind im Beruf nachweislich effektiver und streichen höhere Gehälter ein.
Man kann
sich gut vorstellen, befinden die Forscher, dass Illusionen zu sich selbst erfüllenden
Prophezeiungen
werden und das Individuum in (scheinbar) aussichtslosen Situationen zu heftigen
Anstrengungen
bewegen.

«Seelisch gesunde Menschen wehren Angst und traumatische Gefühle nicht ab«

Man muss seinen Schmerz und seine negativen Gefühle» zulassen«, so lautet eine der tiefsten
Grundüberzeugungen in der Psychoszene. Wer seine Angst und seine Pein übergeht, muss
dafür mit einer
seelischen Krankheit bezahlen: Die» heruntergeschluckte «Gram macht dann aus dem
Verborgenen
heraus die Gesundheit kaputt. Doch nach den Befunden, die der New Yorker Psychologe
Harold A.
Sackeim beim Studium der» auditiven Selbst-Konfrontation «gewonnen hat, ist das
Nichtbeachten der
unangenehmen Erfahrungen oft der beste Weg.1
Der Forscher war im Vorfeld seiner Experimente auf ein seltsames Phänomen gestoßen: Viele
Menschen, besonders solche mit niedrigem Selbstbewusstsein, geraten in Stress, wenn ihnen
Tonbandaufzeichnungen ihrer eigenen Stimme vorgespielt werden. Sehr selbstbewusste
Menschen
«schwelgen «jedoch geradezu in der Selbstkonfrontation und können nicht genug davon
kriegen. Hören
nun Versuchspersonen mehrere Stimmen, darunter ihre eigene, vertippen sich einige in die
eine oder
andere Richtung: Sie halten entweder fälschlich ihre eigene Stimme für die eines anderen oder
identifizieren eine fremde als ihre eigene. Beides scheinen regelrechte
Selbsttäuschungsmanöver zu sein,
um das eigene Wohlbefinden zu steigern: Sehr Selbstbewusste hören ihre Stimme da, wo sie
gar nicht ist,
während weniger Selbstbewusste» Wahrnehmungsabwehr «betreiben.
Hautwiderstandsmessungen
zeigten allerdings, dass die» Schwindler «ihren» Irrtum«– wenn auch ganz subtil –
wahrnahmen. Die
Hautwiderstandsveränderungen fielen nämlich bei jedem» Fehler «so aus, als hätte der
Betreffende
richtig hingehört.
Dass beide Arten von» Hörfehlern «dazu dienen, einem übersteigerten oder verminderten
Selbstbewusstsein gerecht zu werden, bewies Sackheim in einer anderen Studie. Dort wertete
er das
Selbstbewusstsein der Probanden entweder auf, indem er ihnen vorgaukelte, sie hätten bei
einem
Intelligenztest herausragend abgeschnitten, oder er berichtete ihnen, dass ihre Testergebnisse
ziemlich
schlecht ausgefallen seien. Folge: Die künstlich» Aufgewerteten «hielten im nachfolgenden
Selbstkonfrontations-Test eine fremde Stimme für ihre eigene, während die Gedemütigten
sich öfter
genau andersherum täuschten.
Es kommt aber noch besser: Die meisten Leute verlieren durch auditive Selbstkonfrontation
an
Selbstbewusstsein. Nicht jedoch die Selbsttäuscher (egal in welche Richtung). Sie behalten
oder steigern
sogar ihre Selbstachtung. Die psychoanalytische Auffassung, wonach Unangenehmes
abgewehrt und
damit erst Schaden angerichtet wird, scheint somit hinfällig zu sein. Es hat sich sogar
herausgestellt,
bemerkt Sackheim, dass Leute, die ihre Stimme bei der auditiven Selbstkonfrontation häufig
dort hören, wo sie gar nicht ist, psychisch sehr gesund sind. Der typische Psychotherapeut
hingegen
würde gerade da Psychopathologie wittern, wo auch nur die geringste Selbsttäuschung
stattfindet.
Weitere Beweise für seine Theorie erbrachte Sackheim mit der Konstruktion eines speziellen
Selbsttäuschungs-Fragebogens. Dieser enthält Fragen wie» Haben Sie je daran gedacht, dass
Ihre Eltern
Sie hassen?«oder» Haben Sie je an Ihrer sexuellen Funktionstüchtigkeit gezweifelt?«– alles
unangenehme, aber universelle Möglichkeiten, die jedoch niemand gerne zugibt. Erstaunliche
Erkenntnis:
Je nachhaltiger die Befragten diese Fragen verneinten, umso gefestigter waren sie im
psychischen
Bereich.
Eine Person, die in entsprechenden Tests universell gültige, aber unangenehme Wahrheiten
ableugnet,
wird in der Forschung als» repressor«(»Verdränger«) bezeichnet. Repressoren zeichnen sich
aber noch
durch verschiedene andere Eigenschaften aus, die sie nach den Wertmaßstäben der
Psychoszene zu
ausgesprochen unsympathischen Zeitgenossen machen. Sie schließen sich zum Beispiel gerne
opportunistisch den in ihrer Bezugsgruppe vorherrschenden Normen an. Aber sie kommen
auch besser
mit seelischen Krisensituationen zurecht, gesteht der amerikanische Psychologe George A.
Bonanno ein.7
Repressoren, die den Gedanken an eine bevorstehende chirurgische Operation nachhaltig aus
ihren
Köpfen verbannten, litten später seltener unter postoperativen Komplikationen als die
Patienten, die ihre
Angst zuließen.
In seiner eigenen Studie nahm Bonanno eine Reihe von Menschen in jungen und mittleren
Lebensjahren unter die Lupe, die den schmerzhaften Verlust einer nahe stehenden Person
erlitten hatten.
Das weitere Schicksal und die gesundheitliche Anpassung der Betreffenden wurden mehrere
Jahre lang
verfolgt. Die Ergebnisse führen alle Stereotype ad absurdum, die in der Psychoszene
verbreitet sind:
Repressoren, die sich geistig von ihrem Kummer abwendeten und sich in ihrer Körpersprache
besonders
wenig anmerken ließen, hatten zu allen Messzeitpunkten einen günstigeren
körperlich-geistigen Befund.
Egal, welches Kriterium für Gesundheit und Wohlbefinden der Forscher anlegte, die»
Verdränger «waren
besser drauf.»Diese Befunde haben erhebliche Implikationen für die traditionellen
Vorstellungen vom
psychotherapeutischen Prozess«, schreibt Bonanno.»Insbesondere müssen wir die kulturell
verankerte
Vorstellung überdenken, dass emotionale Abspaltung und Selbsttäuschung immer nachteilig
für die
Gesundheit sind.«

«Es ist vorteilhaft, sich möglichst wirklichkeitsnah an seine Vergangenheit zu


erinnern«

Nach einer Denkvorstellung, die bei Psychologen und Psychotherapeuten weit verbreitet ist,
sollte
sich der Mensch möglichst genau an seine Vergangenheit erinnern. Wer seine Vergangenheit
nicht kennt,
ist nach einem Zitat von Sigmund Freud gezwungen, sie zu wiederholen. Patienten, deren
Erlebnisse
wegen einer Hirnschädigung nicht mehr richtig im Gedächtnis haften bleiben, werden in den
bewegenden
neurologischen Fallgeschichten des Oliver Sacks als» verlorene Seelen «bezeichnet. Aber in
gewisser
Weise sind wir alle verlorene Seelen, da sich auch das unversehrte und geistig gesunde Gehirn
keinen
originalgetreuen» Abdruck«(Engramm) der verflossenen Zeit bewahrt. Der Mensch ist kein
sorgfältiger
und akkurater Chronist seines Lebens, sondern eher ein verhinderter Drehbuchautor, der
unentwegt
seinen persönlichen» Historienschinken «weiterspinnt – und auch später noch»
Nachbesserungen«
vornimmt.
Oft verhält er sich sogar wie der Propagandaminister in einem totalitären Staat, der die
Ereignisse
nach allen Schikanen verdreht und zurechtbiegt, bis sie mit der» Parteilinie «in Einklang
stehen.»Wer die
Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert auch die Zukunft«, lässt George Orwell den» Großen
Bruder «in
«1984«skandieren. Unser» totalitäres Ego «fabriziert und revidiert seine Geschichte und
verfolgt so
Praktiken, die einem Historiker schlecht anstehen würden, konstatiert der amerikanische
Psychologe
Anthony G. Greenwald in einem programmatischen Beitrag, der im Fach Psychologie
erhebliche
Resonanz hervorrief.8
Man ist im alltäglichen Leben leicht geneigt, sich das Gedächtnis nach dem Muster des
jeweils
modernsten technischen Informationsspeichers vorzustellen. Da läuft die Vergangenheit» wie
ein Film«
vor dem geistigen Auge ab, da ist die Vergangenheit in Bücher, auf Tonbänder, auf Mikrofiche
oder in ein
riesiges Archiv gebannt, das bei Bedarf die gewünschte Information ausspuckt. Doch unsere
Erinnerungen werden in einem kreativen Prozess abgerufen: Das Gedächtnis» hortet «frühere
Erfahrungen nicht wie verstaubte Ausstellungsstücke in einem Museum, sondern montiert
sich die
Vergangenheit im Sinne eines» Indizienbeweises «immer wieder neu zurecht.
Dieser» kreative «Charakter der Erinnerung macht es jedoch möglich, dass vorgefasste
Meinungen,
schematische Vorstellungen, Stimmungen, Verwechslungen von Quellen und andere
sachfremde
Einflüsse zu einer Klitterung unserer eigenen Geschichte führen. Selbst wenn sie bereits»
unter Dach und
Fach «sind, können Erinnerungen noch nachträglichen» Retuschen «unterzogen werden. In
einer Studie
wurde ein Teil der Versuchspersonen von mutmaßlichen» Gesundheitsexperten«über die
möglichen
Gefahren häufigen Zähneputzens (oder heftiger sportlicher Betätigung) informiert. Nach
dieser
Belehrung kam in den» Erinnerungen «der Betroffenen plötzlich weniger Zähneputzen (oder
weniger
sportliche Betätigung) vor. Studenten, denen man vorgaukelte, dass ein extravertierter
Charakter dem
akademischen Vorwärtskommen frommt,»erinnerten «sich plötzlich viel deutlicher an ihre
eigenen
extravertierten Wesenszüge.
Bei Orwell heißt es dazu:»Das Geheimnis der Herrschaft besteht darin, dass man den Glauben
an die
eigene Unfehlbarkeit mit der Kraft verbindet, aus seinen Fehlern zu lernen. «Unser totalitäres
Ego darf –
genauso wie der totalitäre Staat – niemals zugeben, sich geirrt zu haben, erläutert Greenwald.
Die Partei
(seine Majestät das Ich) hat bekanntlich immer Recht. Und wenn man schon nicht darum
herumkommt,
seine Erinnerungen zu» präparieren«, sollte man diesen Eingriff schleunigst vergessen. Das ist
ein
Abwehrmechanismus, der bei Orwell als» double-think «firmiert.
Manchmal» pfuschen «wir also an unseren Erinnerungen herum und geben uns den Anschein,
dass
alles beim Alten geblieben ist. Manchmal bleiben wir aber auch die Gleichen und spiegeln uns
dennoch
die Illusion einer Wandlung vor, betont Greenwald. Davon zeugen zum Beispiel Probanden,
die ihre
eigene akademische Leistungsfähigkeit einschätzten und dann zum Teil einen Förderkurs
belegten. Nach
dessen Beendigung spielten die Kursteilnehmer plötzlich ihre ursprüngliche Kompetenz
herunter.
Teilnehmer von spektakulären Wunderdiäten verschieben oft ihr anfängliches Gewicht in der
Erinnerung
nach oben, um den» Erfolg «zu unterstreichen. Wenn sie eine Psychotherapie hinter sich
haben, machen
viele Patienten ihren ursprünglichen Gesundheitszustand» künstlich «mieser – zum Nutzen
und Frommen
der Zunft. Auch dazu gibt es im Totalitarismus orwellscher Provenienz eine Parallele:»Der
Parteiangehörige toleriert die gegenwärtigen Bedingungen zum Teil, weil er keinen
Vergleichsmaßstab
besitzt. Er muss von der Vergangenheit abgeschnitten sein… weil es für ihn nötig ist, daran zu
glauben,
dass er besser dran ist als seine Vorfahren, und dass der materielle Lebensstandard beständig
ansteigt.«
Psychologen haben in einer Untersuchung die Berichte von Straftätern und ihren Opfern
verglichen.
Die Erinnerungen der Täter an die Tat» schrumpften «ganz erheblich im Vergleich zu denen
der Opfer.
Außerdem erklärten die Täter ihre Vergehen als» untypisch «für ihre Persönlichkeit, das seien
isolierte
Vorkommnisse, Ausrutscher, die nichts zu tun hätten mit ihrer gegenwärtigen
Geistesverfassung. Noch
wirksamer ist der» biografische Schnitt«: Ein früherer, durch negative Taten oder
traumatische
Erinnerungen belasteter Lebensabschnitt wird symbolisch abgetrennt – etwa durch eine
spirituelle
«Wiedergeburt«(born-again Christians) oder eine 12-Stufen-Therapie wie bei den Anonymen
Alkoholikern: Das alte,»böse «Selbst hat nichts mehr mit der gereinigten, neuen Person zu
tun, die man
jetzt ist.
Eine andere, verbreitete Form, in der seelisch unauffällige Menschen ihre Erinnerungen
verbiegen, ist
die Illusion» Ich sah es kommen«(»Knew it all along«). Das ist ein Trugschluss, der beweist,
wie
schlecht wir uns im Nachhinein alternative Entwicklungen vorstellen können. Zu solchen»
nachträglichen
Vorhersagen «gehört beispielsweise die trügerische Annahme, der Bruch einer Partnerschaft,
das
Eintreffen eines Herzinfarktes oder der Ausgang eines Fußballspieles seien im Grunde
absehbar gewesen.
Man ist in diesen Situationen offenbar nicht mehr imstande, sich in den vormaligen Zustand
der
Ungewissheit zurückzuversetzen.
Nicht einmal Experten und Wissenschaftler, die den Gang der Geschichte, die Umstände um
ein
Verbrechen oder die Wurzeln einer seelischen Krankheit» von hinten «aufrollen sollen, sind
gegen die
Nachher-Klugheit gefeit. Auch ihnen kommen retrospektiv betrachtete Entwicklungen häufig
so
konsequent, zwingend und unvermeidlich vor, dass sie sich keine alternativen Ausgänge mehr
vergegenwärtigen können. Ärzte, die eine Diagnose anhand von Fallbeispielen stellen sollten
und dann
über den korrekten Befund aufgeklärt wurden, meinten danach prompt fälschlich, sie hätten
diesen die
ganze Zeit vorausgeahnt. Vielleicht» frisieren «wir klammheimlich unsere Erinnerungen, weil
wir uns
gerne als kompetente Beurteiler wähnen, die wissen, was abgeht und was die Zukunft für uns
in petto hat.
Es kann sein, dass die Nachher-Klugheit den totalitären» Betonkopf «in uns allen zementiert,
der vergisst,
wie ungewiss die Zukunft in der Vergangenheit war, und der sich daher auch keinen offenen
Geist zu
bewahren braucht. Sie verringert die Chance, dass Menschen aus der Geschichte Lehren
ziehen.
«Man erinnert sich an die Vergangenheit, als ob sie ein Drama wäre, in dem das Selbst die
Hauptrolle
spielt«, umreißt Greenwald den entscheidenden» Drall «in unserer Rückblende. Und wenn
man nicht
mehr um das Eingeständnis herumkommt, dass die eigenen Taten anderen Menschen Schmerz
und
Schaden eingebracht haben, redet man sich mit der Illusion heraus, keine andere Wahl gehabt
zu haben.
Die Probanden im berühmten Milgram-Experiment etwa entschuldigten ihre unnachsichtig
verabreichten
Stromschläge immer wieder mit dem Argument, sie hätten so handeln müssen. Gerade
Menschen in
totalitären Regimes versuchen, sich mit derartigen Ausflüchten rein zu waschen. Zu dem
Zwangs-
Argument kommt dann häufig noch die Verteidigung, man selbst sei noch vergleichsweise
milde
gewesen; damit setzt man sich elegant von den» wirklichen Schlächtern «ab.

«Es ist ein Zeichen geistiger Gesundheit, möglichst unvoreingenommen nach der
Wahrheit zu
suchen«

Viele Psychologen und psychologisch gebildete Laien halten es für eine unhinterfragbare
Selbstverständlichkeit, dass seelisch gesunde Menschen nach einer vorurteilsfreien und
unvoreingenommenen Erkenntnis der Wahrheit streben. Eine besondere Eigenart des
menschlichen
Verstandes liegt jedoch darin, dass er Informationen nicht mit der mechanischen
Gleichgültigkeit eines
Computers verdaut. Die meisten Menschen hätscheln ihre vorgefassten Überzeugungen,
suchen mit der
Lupe nach bestätigenden Hinweisen und spielen entkräftende Fakten gelegentlich bis hin zur
Verleugnung
herunter, hebt der amerikanische Psychologe Joshua Klayman hervor.9
Es gibt danach in der Psyche eine starke Grundtendenz, die eigenen Meinungen und Ideen in
einem
widerspruchsfreien Gleichgewicht zu halten. Um störende Spannungsgefühle (die»
Dissonanz«) zu
vermeiden, halten Menschen nach solchen Informationen Ausschau, die ihre Überzeugungen
und ihre
getroffenen Entscheidungen unterstützen, während sie Gegenbeweise mit Desinteresse und
Abneigung
behandeln. Zusätzlich besteht noch die Tendenz, Bestätigungen als solide und glaubwürdig zu
bewerten,
während Anfechtungen als fragwürdig und zweifelhaft entschärft werden.
In einem Experiment wurden Probanden nach ihren Einstellungen zur Todesstrafe befragt und
bekamen dann eine Sammlung von Pro- und Contra-Argumenten zur Prüfung vorgelegt. Am
Ende des
Versuches hatten sich die Teilnehmer noch weiter in ihre vorgefasste Richtung bewegt;
offensichtlich
wurden selektiv bestätigende Informationen aufgenommen und Gegenargumente mit
Nichtbeachtung
bestraft. Gegen diese Art von Selbstbetrug sind offenbar auch Wissenschaftler nicht gefeit,
meint
Klayman. Das beweist eine Studie, in der Parapsychologen und» ungläubige «Wissenschaftler
die
methodische Güte eines Experimentes bewerten sollten, das entweder Beweise oder
Gegenbeweise für
übersinnliche Phänomene erbracht hatte. Fazit: Skeptiker mäkelten über die Qualität des
bestätigenden
Versuches, Gläubige über die Güte des Negativbeweises – aber nur dann, wenn sie über das
unerwünschte
Ergebnis Bescheid wussten.
Wie borniert Menschen Informationen verarbeiten, hängt zum Teil vom Vertrauen in die
eigenen
Ansichten ab. Versuchspersonen, denen vorgegaukelt wurde, ein Test habe ihre intellektuelle
Kompetenz
in Zweifel gestellt, verspürten auf einmal verstärktes Interesse an Fakten, die ihre
vorgefassten Ansichten
unterstützten. Probanden, deren Selbstsicherheit durch entsprechende Angaben aufpoliert
worden war,
schenkten hingegen widerlegenden Informationen sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Das
Wissen, dass
bestimmte unliebsame Argumente einen Nutzen bringen, kann die Informationsblockade
ebenfalls
durchbrechen. Probanden, denen angekündigt wurde, dass sie ihre Meinungen vor einem
kritischen
Publikum verteidigen müssten, waren plötzlich sehr viel offener für Gegenargumente.
Politische Akteure
sind gut beraten, sich mit der Position der Andersdenkenden zu beschäftigen, wenn sie von
deren
Argumenten nicht überrumpelt werden wollen.
Menschen, die durch den unliebsamen Kontakt mit» bösen «Informationen unter Dissonanz
leiden,
zeigen oft einen ganz besonderen Drang: den, zu missionieren. Mitglieder einer Sekte, die mit
einer
ungewollten Anti-Sekten-Kampagne berieselt worden waren, begannen urplötzlich, sehr
engagiert neue
Mitglieder für ihren Verein zu werben. Das ist einer der Gründe, warum Politiker nach einer
Wahlniederlage verstärkt die Werbetrommel rühren. Die tiefere Ursache für unseren
parteiischen Umgang
mit Informationen besteht in einem Konflikt zwischen der Suche nach Wahrheit und der
Suche nach
Harmonie und Einverständnis mit sich selbst, meint Klayman. Das Eingeständnis, dass man
sich geirrt
hat, kann nun einmal das Selbstwertgefühl und das Renommee ankratzen.

«Die Meinungsvielfalt in einer Gruppe führt zu einem höheren Grad an


Wahrheitssuche«

Einzelmenschen können es sich vielleicht» leisten«, bei der Wahrheitssuche zu pfuschen, weil
sie
nicht kritisch hinterfragt werden. Aber in einer Gruppe, so eine nahe liegende Überzeugung,
weicht die
Vielfalt der Stimmen und Meinungen die bornierte Haltung der Einzelnen auf. Dieser
Vertrauensvorschuss ist aber in vielen Fällen nicht gerechtfertigt, zieht nun der Münchener
Psychologie-
Professor Dieter Frey nach mehreren Studien Bilanz: Gruppen klammern sich in der Regel
viel stärker an
die ihnen genehmen Informationen, zweifeln weniger an der Richtigkeit ihrer Beschlüsse und
schlagen
häufiger triftige Gegenargumente in den Wind als Einzelpersonen.10
In der Versuchsreihe hatten die Teilnehmer die Aufgabe, gemeinsam eine (vorläufige)
Entscheidung
für eine von mehreren Alternativen zu treffen. Nachdem die Gruppe sich durchgerungen hatte,
wurde ihr
die Möglichkeit gegeben, bis zu 10 zusätzliche Informationen zu dem jeweiligen Entschluss
abzurufen.
Die eine Hälfte der Auskünfte war unterstützend, während die andere Hälfte der gewählten
Entscheidung
zuwiderlief. Die Teams bestanden aus mindestens drei Individuen und wiesen ein mehr oder
weniger
breites ideologisches Spektrum auf. Den Probanden wurde ausdrücklich mitgeteilt, dass die
Entscheidungen bis ganz zum Schluss reversibel waren.
Im Vergleich zu den ebenfalls untersuchten Einzelpersonen waren die Gruppen sehr viel
sicherer, die
richtige Wahl getroffen zu haben, rekapituliert der Forscher sein Hauptergebnis. Und sie
waren
wesentlich selektiver bei der Informationssuche: Sie verschanzten sich viel stärker hinter
solchen
Auskünften, die das (kollektive) Votum stützten, als die isolierten Entscheidungsträger. Der
vorübergehende Aufenthalt in einer Gruppe scheint Menschen außerdem» bornierter «zu
machen. Das
zeigte sich, als man Versuchspersonen erst allein, dann in der Gruppe und dann wieder» solo
«vor die
Entscheidung stellte. In der ersten Phase (allein) zeigten die Probanden eine leichte
Bestätigungstendenz,
die sich in der Gruppe deutlich verschärfte. Aber im dritten Durchgang – wieder allein –
reagierten die
Teilnehmer plötzlich besonders engstirnig.
Auch die Größe der Gruppe hat einen Einfluss auf die Weite des Horizontes. Mit der Zahl der
Mitglieder steigt die wahrgenommene Sicherheit. Gruppen mit hoher Mitgliederzahl sind sich
ihrer
Entscheidungen extrem sicher. Große Gruppen halten auch besonders» stur «nach
bestätigenden
Informationen Ausschau und meiden die Dissonanz. Homogene Teams, die nur aus»
linientreuen«
Teilnehmern bestehen, sind naturgemäß besonders sicher und besonders selektiv.
Minderheiten mit
abweichenden Meinungen leisten hingegen einem ausgewogeneren Umgang mit
Informationen Vorschub.
Aber auch der Aufenthalt in einer Gruppe mit Abweichlern verstärkt die bornierten Seiten des
Einzelmenschen.
Personen, die als» Aushängeschild «für eine Gruppe fungieren, kehren eine besonders starke
Bestätigungstendenz hervor. Das zeigte sich, als die Gruppen einen Repräsentanten wählen
sollten, der an
Stelle des Kollektives die Entscheidung zu treffen hatte.»Vermutlich verspüren die
Repräsentanten
aufgrund des höheren Involvements mehr kognitive Dissonanz, was zu ihrer starken
Selektivität führt«,
meint der Psychologe.
Es gibt wahrscheinlich mehrere Gründe dafür, warum Teams so häufig in» Gruppendenken
«verfallen
und geistige Scheuklappen aufsetzen, argumentiert Frey. Einerseits erzeugt die
Gruppensituation einen
gewissen Rechtfertigungsdruck. Die Mitglieder sind bestrebt, sich gegenseitig zu bestätigen,
zu
bekräftigen und sich mit einem Gefühl von Sicherheit» einzulullen«. Subversive
Informationen sind
verpönt, da sie die kollektive Harmonie zu sprengen drohen. Weiterhin ist in der Gruppe
automatisch eine
so genannte Verantwortungsdiffusion zu verzeichnen. Jeder Einzelne kann die Zuständigkeit
auf» die
anderen «abschieben und fühlt sich dadurch weniger haftbar. Unabhängiges, kritisches
Denken fällt so
leichter dem uniformen Sog anheim. Schließlich haben Mitglieder in Gruppen häufiger eine»
Schere im
Kopf «und üben Selbstzensur. Alles, was von der gemeinsamen Norm abweicht, wird von
einer Art
«freiwilligen Selbstkontrolle «ausgemerzt.
Diese Mechanismen haben eine große Tragweite, da bedeutsame soziale Entscheidungen
zunehmend
von Gremien und Teams getroffen werden. Gruppen rechtfertigen ihre Entscheidungen und
lechzen nach
Informationen, die beweisen, dass sie im Besitz der» reinen Wahrheit «sind. Die Suche nach
Einmütigkeit
ersetzt kritisches Denken, ruft eine Illusion der Unangreifbarkeit und einen ausgeprägten
Optimismus
hervor, folgert Frey. Das verleitet dazu, extreme Risiken einzugehen und Warnsignale in den
Wind zu
schlagen. Manche Teams in der Industrie ernennen sogar so genannte Mind Guards, das heißt
«Geisthüter«, welche die Gruppe vor widrigen oder verwirrenden Informationen schützen.

«Ehen halten besser, wenn beide Partner ein möglichst realistisches Bild voneinander
haben«
Liebe macht blind, und Verliebte verdienen deshalb» die Peitsche ebenso wie die Verrückten«,
lästert
Rosalind in Shakespeares» Wie es euch gefällt «noch, bevor das Schicksal sie selbst ereilt. So
halten es
auch viele Psychologen: Sie empfehlen, den Geliebten niemals bedingungslos anzuhimmeln.
Nur wenn
die Partner einander möglichst realistisch betrachteten, werde sich der eine vom anderen
verstanden
fühlen.
Verliebte haben sich um solche Ratschläge noch nie gekümmert – und das ist vermutlich auch
besser
so. Diesen Schluss ziehen jedenfalls die Psychologen Sandra Murray, John Holmes und Dale
Griffin.11
Ein Jahr lang verfolgten sie das Liebesglück von über hundert jungen Paaren. Die im Schnitt
knapp
Zwanzigjährigen waren jeweils etwa anderthalb Jahre liiert. Die Forscher ließen sie Dutzende
von
Fragebögen ausfüllen und erlebten den Triumph romantischer Illusionen über die banale
Realität.
Die Seelenforscher konstatierten stets dann eine Beziehungsillusion, wenn ein Partner seine
bessere
Hälfte in einem rosigeren Licht sah als sich selbst. Wir wissen jetzt, dass sich der seelisch
gesunde
Durchschnittsmensch in unzähligen Aspekten seiner Persönlichkeit für»überdurchschnittlich
«hält. Wenn
sein Partner ihn sogar noch mehr anhimmelt als er sich selbst, darf man ihm wohl zu Recht
eine gewisse
Verblendung bescheinigen. Doch die verzerrte Optik rächte sich nicht, im Gegenteil: Je mehr
ein Teil des
Liebespaars den anderen am Anfang vergötterte, desto besser hatte sich die Beziehung am
Ende des
Jahres entwickelt. Die Partner waren zufriedener und zankten seltener als Paare mit weniger
Illusionen.
Als das Jahr vorbei war, hatte sich ein Drittel der Paare getrennt. Welche Beziehungen
hielten? Nicht
die, in denen die Partner eine besonders hohe Meinung von sich selbst hatten. Nicht die, in
denen sie den
Erwartungen des anderen besonders gut entsprachen. Das Glück blieb vielmehr den
Liebenden mit der
rosigen Sicht der Dinge treu. Man muss sich allerdings fragen, wie solche» Seifenblasen «den
Kontakt
mit dem Alltag und der harten Realität auf Dauer überstehen. Zum Glück ist» Realität «in
menschlichen
Beziehungen ein dehnbarer Begriff. Mag die Mitwelt von einem schweigsamen Mann
glauben, dass er
wenig zu sagen habe, seine treue Freundin erkennt in ihm eine stille und daher umso tiefere
Natur. Selbst
wenn sich die Diskrepanzen zwischen dem erträumten Geliebten und dem realen beim besten
Willen
nicht mehr verleugnen lassen, ist das kein Problem. Dann werden die Ansprüche eben etwas
gesenkt –
man lernt schließlich dazu –, und schon entspricht der wirkliche wieder dem Traumpartner.
Doch die verbrämte Sicht des Liebespartners kann sogar durch eine sich selbst erfüllende
Prophezeiung zur Wahrheit werden. Wenn ein Partner den anderen unbeirrt positiv sieht,
beginnt jener
sich zu verändern. Die statistische Auswertung der Studie zeigt: Ein Jahr später hält er sich
auch selbst für
einen besseren Menschen – und hat damit vielleicht sogar Recht. Das Psychologenteam
jedenfalls
vermutet, dass genügend Vorschusslorbeeren von Seiten des Partners den anderen dazu
bringen können,
sich tatsächlich entsprechend zu entwickeln:»Mit zunehmender Dauer der Romanzen schufen
sich die
Einzelnen tatsächlich die Partner, die sie wahrnahmen, indem sie sie idealisierten; sie
verwandelten die
Frösche, als die diese sich selbst sahen, in die von ihnen ersehnten Prinzen oder
Prinzessinnen.«

«Depressive Menschen haben ein verzerrtes und negatives Bild von sich selbst«

Die Schwermutkrankheit Depression geht mit einer düsteren und niederschmetternden


Gefühlsverfassung einher. Der Gedanke ist daher nahe liegend, dass Depressive sich durch ein
übertrieben negatives, pessimistisches und schwarzseherisches Bild von sich selbst
auszeichnen. Doch
diese Vermutung ist unzutreffend, heben die beiden Psychologen Shelley E. Taylor und
Jonathan A.
Brown hervor.2 Depressive und Menschen mit einem stark angekratzten Selbstwertgefühl tun
sich
vielmehr durch eine besonders realistische und unbeschönigte Form der Selbstwahrnehmung
hervor. Es
ist, als ob in ihrem Gehirn die Fähigkeit erloschen sei, den» Balsam «von Illusionen und
Selbstbetrug zu
produzieren, mit dem die Normalsterblichen ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten
kaschieren.
Tatsächlich erinnerten sich Depressive (im Gegensatz zu Gesunden) nach der entsprechenden
Studie
gleich gut an unangenehme wie an angenehme Erfahrungen. Sie nahmen Erfolge und
Misserfolge
gleichermaßen auf ihre Kappe und betrieben längst nicht so viele soziale Vergleiche mit
Benachteiligten,
um ihr Ego zu hofieren. Es gibt sogar Anzeichen, dass Depressive, denen es nach einer
Behandlung mit
Psychopharmaka oder sogar mit Elektroschocks besser geht, wieder verstärkt den heilsamen
Illusionen
frönen. Ein amerikanisches Forscherteam zieht aus solchen Daten einen weit reichenden
Schluss:»Wenn
ausgerechnet Depressive und Menschen mit lädiertem Selbstwertgefühl besonders tief in der
Realität
verankert sind und der Rest der Welt die Realität in eine positive Richtung verzerrt, um den
Zustand der
Nichtdepressivität aufrechtzuerhalten, dann liegt offenbar eine Hauptfunktion der geistigen
Gesundheit
darin, ein positiv verzerrtes Bild der Welt und des Selbstes zu garantieren.«12
Depressive unterliegen auch gar nicht oder in viel geringerem Umfang der Kontrollillusion.
Der
Trugschluss, Macht über Vorkommnisse zu haben, die in Wirklichkeit außerhalb der
persönlichen
Kontrolle stehen, liegt der schwermütigen Seelenverfassung fern. Das beweist unter anderem
eine
Versuchsreihe, in der die Probanden den Eindruck schildern sollten, ob zwischen einem von
ihnen
vorgenommenen Knopfdruck und dem Aufleuchten eines Lichtes ein Zusammenhang
bestand. Während
seelisch Gesunde häufig auch da einen Einfluss» halluzinierten«, wo in Wirklichkeit die
Macht des
Zufalls herrschte, machten sich die Schwermütigen nichts vor. Psychisch Gesunde errechnen
sich auch
höhere Gewinnchancen, wenn sie ein Lotterielos selbst ziehen dürfen, als wenn der Computer
diese Wahl
für sie trifft. Objektiv sind die Gewinnaussichten natürlich in beiden Fällen gleich. Nur die
Depressiven
ziehen dieses Wissen in Betracht und malen sich unter beiden Bedingungen gleiche
Aussichten aus.
Eine depressive Gemütsverfassung leistet schließlich auch einer glasklaren und
unbeschönigten
Zukunftsvision Vorschub. Das zeigte der Göttinger Psychologe Stefan Krause in seiner
Doktorarbeit auf,
in der er gehirnverletzte Sportler studierte, die erhebliche motorische Ausfallerscheinungen
erlitten
hatten.12 Die Betreffenden sollten während ihrer Rehabilitation angeben, welche Besserung sie
sich für
ihre Zukunft erhofften. Fazit: Nur bei den depressiven Athleten stimmten die Hoffnungen mit
den
Realitäten überein. Psychisch gesunde Sportler zogen sich dagegen an Wunschdenken und
positiven
Illusionen hoch.

«Es ist meistens heilsam, sich seiner selbst bewusst zu sein«

Durch das Vermögen, sich seiner eigenen Wenigkeit bewusst zu werden, hebt der Mensch sich
von
allen anderen Geschöpfen auf der Erde ab. Aus der Sicht der populären Psychologie und
Menschenkenntnis ist dies ein eindeutiger Segen, weil der Blick auf das Ich als Königsweg
zur Heilung
von Neurosen gilt. Doch in Wirklichkeit hat sich der Mensch mit der Fähigkeit zur
Innenschau ein
zweischneidiges Schwert eingehandelt, stellen die amerikanischen Psychologen Robert
Musson und
Lauren Alloy fest.13 Das zeigt sich daran, dass Selbstbewusstheit die Gemütsverfassung bis in
ihre
Grundfesten ruinieren kann. Als Folge der nach innen gerichteten Aufmerksamkeit treten
unter
bestimmten Voraussetzungen Zustände ein, die sich weitgehend mit der depressiven
Erkrankung decken.
In dem Augenblick, in dem man den» Lichtkegel «des Bewusstseins auf das werte Ego
richtet,
kommen nach Ansicht der Psychologen automatisch gewisse Vergleichsprozesse in Gang.
Man ruft sich
die Standards wach, denen man sich verpflichtet fühlt, und hält den tatsächlichen Ist-Zustand
dagegen.
Auf welchen Aspekt der Person man dabei auch gerade achten mag, werden doch (fast) immer
Diskrepanzen zu den naturgemäß»abgehobenen «Idealvorstellungen offenbar. Die daraus
erwachsene
Selbstkritik stachelt im günstigen Fall Bemühungen in Richtung Vervollkommnung an. Wenn
sich das
Individuum jedoch den Ansprüchen nicht gewachsen fühlt, trachtet es nach
Selbstvergessenheit und dem
(inneren) Rückzug aus der Situation. Wie die Ergebnisse von verschiedenen Experimenten
zeigen, führt
die» objektive Selbstaufmerksamkeit «just solche emotionalen und geistigen Konsequenzen
herbei, wie
man sie auch von Patienten mit einer depressiven Gemütskrankheit kennt.
Im Labor lässt sich die Selbstbewusstheit unter anderem dadurch anregen, dass man die
Probanden
mit ihrem Spiegelbild, einer laufenden Kamera oder einem Tonband- oder Videomitschnitt
konfrontiert.
Als Folge dieser Manipulation legen die Betroffenen eine gesteigerte Selbstbezogenheit an
den Tag, die
unter anderem in einer Zunahme von Ego-bezogenen Äußerungen zum Ausdruck kommt. Die
gleiche,
auch linguistisch fassbare Selbstzentrierung ist auch für depressiv Erkrankte charakteristisch.
Ein Hauptsymptom der Depression ist die schmerzhafte Niedergeschlagenheit. Wenn eine
seelisch
gesunde Person wenig Hoffnung hat, ein ersehntes Ziel zu erreichen, ruft besonders die
Selbstaufmerksamkeit solche unangenehmen Gefühle hervor. Das zeigt eine Studie, deren
Teilnehmer in
den Glauben versetzt wurden, bei einem vorherigen intellektuellen Leistungstest katastrophal
versagt zu
haben. Einem Teil der Probanden wurde ferner weisgemacht, dass sie mit diesem Ergebnis
beim
folgenden Test kaum noch Chancen hätten. Bei den Versuchspersonen, die unter diesem
negativen
Eindruck standen, hatte die Konfrontation mit einem Spiegel eine dramatische
Verschlechterung der
Leistungen und der emotionalen Befindlichkeit zur Folge.
Der Blick nach innen ruft auch leicht ein Absinken des Selbstwertgefühls hervor. Das stellte
sich bei
einer Untersuchung heraus, deren Teilnehmer ebenfalls ein (fingiertes) vernichtendes
Feedback bezüglich
des Abschneidens bei bestimmten Tests erhalten hatten und daraufhin über ihre Fähigkeiten
Auskunft
gaben. Wenn sie vor einem Spiegel saßen, machten die Betreffenden deutlich
heruntergeschraubte
Vorstellungen von den eigenen Talenten geltend.
Es gehört nachweislich zu den» eingebauten «Illusionen des Lebens, dass der normale
Sterbliche sich
eher für Erfolge und günstige Ausgänge verantwortlich fühlt, während er die Schuld für
Misserfolge der
Tendenz nach lieber auf unbeeinflussbare Faktoren oder» andere Leute «schiebt. Depressive
sind von
dieser optischen Täuschung weitgehend ausgenommen. Doch im Zustand der
Selbstaufmerksamkeit
nähern sich die Gesunden den Depressiven an. In einer Studie sollten die Probanden ihre
Verantwortlichkeit für eine Reihe von fiktiven, angenehmen oder unangenehmen
Entwicklungen
einschätzen. Mit dem eigenen Spiegelbild im Visier machten sich die Probanden die» typisch
depressive«
Ursachenzuschreibung zu Eigen.
Überhaupt nimmt die – durchaus gesunde – Tendenz, sich selbst und seine Vergangenheit
durch eine
rosige Brille zu sehen, im Angesicht des Spiegelbildes deutlich ab. Versuchspersonen, denen
man dezent
einen Spiegel im Blickfeld platziert hatte, gaben zum Beispiel viel akkuratere und weniger
beschönigte
Angaben über ihre früheren Schulleistungen ab. Es scheint sich die Anschauung des Dichters
Hebbel zu
bewahrheiten, nach dessen Ausspruch Selbsterkenntnis sich darin zeigt, dass du» mehr
Gebrechen an dir,
als an den anderen entdeckst«.

1 Sackeim, Harold A./Gur, R.C.: Self-deception, self-confrontation, and


consciousness. In: G.E. Schwatz/D. Shapiro (Hg.): Consciousness and
self-regulation: Advances in research, Vol. 2 (1978), S. 139–197.
2 Taylor, Shelley E. / Jonathon D. Brown: Illusion and well-being: A social
psychological perspective on mental health. In: Psychological Bulletin, Bd. 103 (1988),
S. 193–210.
3 Brown, Jonathan D.: Accuracy and bias in self-knowledge. In: C. R. Snyder /
Donelson R. Forsyth (Hg.): Handbook of social and clinical
psychology. Pergamon Press, New York 1991.
4 «Among the inept, researchers discover, ignorance is bliss. In: New York Times,
18.1.2000.
5 Stahlberg, Dagmar et al.: Die Theorie des Selbstwertschutzes und der
Selbstwerterhöhung. In: Dieter Frey/Martin Irle (Hg.): Theorien der
Sozialpsychologie, Bd. III: Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien.
Huber Verlag, Bern 1985.
6 Perloff, Linda S.: Social comparison and illusions of invulnerability to negative
life events. In: CR. Snyder und C.E. Ford (Hg.): Coping with negative life events.
Plenum-Press, New York 1987.
7 Bonanno, George A.: Emotional dissociation, self-deception, and
psychopathology. In: Jefferson A. Singer/Peter Salovey (Hg.): At play in the field of
consciousness. Verlag Lawrence Erlbaum, Mahwah 1999.
8 Greenwald, Anthony G.: The totalitarian ego. In: American Psychologist, Bd. 35
(1980), S. 603–618.
9 Klayman, Joshua: Varieties of confirmation bias. In: The psychology of learning
and motivation, Bd. 32 (1995), S. 385–415.
10 Frey, Dieter et al.: Die Arroganz der vorgefassten Meinung. In: Süddeutsche
Zeitung, 28./29.9.1996.
11»Beziehungen halten länger, wenn sich die Partner vergöttern«. In: Die Zeit, 4.
7.1997.
12 Krause, Stefan: Sadder but wiser: Zum Realismus der Selbsteinschätzung
hinsichtlich der Belastungswahrnehmung und der motorischen
Funktionswiederherstellung nach ZNS-Schädigungen in Abhängigkeit vom Grad
der Depressivität.
http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/1997/krause/diss.pdf
13 Musson, Robert/Alloy, Lauren: Depression and self-directed attention. In:
Lauren Alloy (Hg.): Cognitive Processes in Depression. Guilford Press, New York.

Selbstwertgefühlsduselei

«Es ist immer vorteilhaft, ein hohes Selbstwertgefühl zu besitzen«

Es gehört in unserer Kultur längst zu den Binsenweisheiten, dass es im Leben immer


wünschenswert
ist, ein möglichst positives Selbstwertgefühl zu besitzen. Keine Kindergärtnerin zweifelt
heute auch nur
im Geringsten an der Gewissheit, dass ein ramponiertes Selbstbild bei ihren Zöglingen die
Weichen für
eine unvorteilhafte Entwicklung stellt.»Der Anstoß zum Rauchen liegt im fehlenden
Selbstwertgefühl«,
legt der Fernsehsender PRO 7 auf seiner Internetseite die Wurzeln des blauen Dunstes
bloß.»Ein
angeschlagenes Selbstwertgefühl ist der dominierende Faktor bei Tötungsdelikten in intimen
Partnerschaften«, fasst die» Berliner Morgenpost «die Ergebnisse einer» neuen
wissenschaftlichen
Untersuchung «zum Partnermord zusammen.»Erwachsene müssen Kindern ein eigenes
Selbstwertgefühl
vermitteln«, rückt das Gymnasium Bersenbrück in Zusammenarbeit mit der Polizei bei den
«Aktionstagen gegen Drogen «das» Ei des Kolumbus «im Kampf gegen die Rauschgiftsucht
ins Licht.
Für den gesunden Menschenverstand scheint es tatsächlich unumstößlich, dass ein hohes
Selbstwertgefühl die Seele gegen alle erdenklichen Widrigkeiten impft. Das ist ein
Standpunkt, den auch
der amerikanische Psychologe Nathan Branden in einem millionenfach verkauften Ratgeber
unterschreibt:»Ich kann mir kein einziges psychologisches Problem vorstellen, von der Angst
und der
Depression über die Furcht vor Intimität oder Erfolg bis hin zur Misshandlung des
Ehepartners und zum
sexuellen Missbrauch von Kindern, das sich nicht auf ein verringertes Selbstwertgefühl
zurückführen
lässt.«1
Selbst in den meisten psychologischen Lehrbüchern ist nachzulesen, dass Menschen mit
einem hohen
Selbstwertgefühl im Leben besser fahren, und dass die Abwesenheit einer positiven
Selbsteinschätzung
das beste Warnsignal für eine gestörte Persönlichkeit darstellt. Unglücklicherweise wurde
diese rosige
Sichtweise in den vergangenen 30 Jahren durch genau 13.585 empirische Untersuchungen ad
absurdum
geführt, hebt der amerikanische Psychologe Mark R. Leary von der Wake Forest University
Winston-
Salem, der» Papst «der internationalen Selbstwertforschung, in einem Buchkapitel aus dem
Jahr 1999
hervor.2»Ich muss mit einem beträchtlichen Ausmaß an Enttäuschung berichten, dass die
enthusiastischen
Behauptungen der Selbstwert-Bewegung auf der Ebene von Fantasy und Pferdemist
rangieren. Die
Wirkungen des Selbstwertgefühls sind klein, begrenzt und überhaupt nicht gut«, macht sein
renommierter
Kollege Roy E. Baumeister aus Cleveland im Internet das vernichtende Ergebnis seiner
eigenen
Literaturanalyse publik.3»Es gibt nicht den geringsten wissenschaftlichen Hinweis, dass
Menschen
wünschenswertes Verhalten zeigen, weil sie positive Gefühle für sich selbst haben«, pflichtet
der
Psychologie-Professor Robyn M. Dawes von der Carnegie Mellon University
bei.4»Umgekehrt fehlt
jeder Beweis dafür, dass Menschen unerwünschte Dinge tun, weil sie negative Gefühle für
sich selbst
haben.«
Das Selbstwertgefühl gilt als einer der wichtigsten Bestandteile der menschlichen
Persönlichkeit. Ein
hohes Selbstwertgefühl zu haben heißt, grob gesprochen, sich selbst gern zu haben. Es ist
daher fast
selbstverständlich, dass wir bestrebt sind, möglichst viel von diesem heilbringenden Elixier zu
besitzen.
Die meisten Menschen empfinden angenehme Gefühle, wenn sie von anderen schmeichelnde
Rückmeldungen erhalten. Wissenschaftlich wird das Selbstwertgefühl meist mit einfachen
Skalen
gemessen, die Aussagen enthalten wie» Ich bin ein wertvoller Mensch «oder» Ich bin ein
Versager«.
Wahrscheinlich hat die Evolution dem Homo sapiens Antennen für den eigenen Selbstwert
gegeben, weil
er in komplexen sozialen Verbänden lebt, gibt Mark R. Leary zu bedenken. Menschen können
nur
fortbestehen, wenn sie in ihrer Gruppe» dazugehören«, und darum hat der Mensch ein feines
Gespür für
das Wohlwollen und die Abneigung seiner Artgenossen geerbt. Das Selbstwertgefühl ist also
quasi ein
Messgerät, an dem jeder ablesen kann, wie es um seine Akzeptanz in der Gemeinschaft steht.
Es gibt nichts, was dem Selbstwertgefühl so abträglich wäre wie eine Ablehnung durch andere
Gruppenmitglieder. Aus dieser Perspektive ist eigentlich bereits selbstverständlich, dass es
nicht immer
sinnvoll sein kann, ein angeknackstes Selbstbewusstsein anzuheben, wenn die Ablehnung
durch die
Gemeinschaft bestehen bleibt, meint Leary. Anders ausgedrückt: Es ist gut, dass manche
Menschen ein
niedriges Selbstwertgefühl besitzen.»Leute, die sich ständig so destruktiv und unangemessen
verhalten,
dass die andern sie ablehnen oder ignorieren, haben ein niedriges Selbstwertgefühl, weil ihr
soziales
Messgerät die negative Haltung der Umwelt registriert. Wenn man versucht, diese Leute
davon zu
überzeugen, dass sie wertvolle und wunderbare Menschen sind, lenkt man sie nur von ihren
wirklichen
Schwierigkeiten ab.«

«Ein hohes Selbstwertgefühl macht friedfertig, ein niedriges leistet der Gewalttätigkeit
Vorschub«

Besonders hartnäckig hält sich in psychologisch und sozialpädagogisch» aufgeklärten


«Kreisen der
Glaube, dass ein angekratztes Selbstwertgefühl den Nährboden für Aggressivität und
Gewaltbereitschaft
erzeugt, übt der Psychologe Roy E. Baumeister in einer erschöpfenden Übersichtsarbeit
Kritik.5 Der mehr
oder weniger ausformulierte Grundgedanke besagt, dass aggressive Menschen mit ihrer
Brutalität
lediglich einen Mangel an Selbstwertgefühl» kompensieren«. Dabei waren seit jeher
Tatsachen bekannt,
die überhaupt nicht in dieses Schema passen. So werden über 90 Prozent aller Gewaltdelikte
von
Männern verübt, obwohl diese laut Testwerten (etwas) mehr Selbstwertgefühl besitzen als
Frauen.
Ausgerechnet Depressive, deren Selbstwertgefühl in die Nähe des Nullpunktes absinkt,
begehen
besonders selten Gewaltverbrechen. Zum» Ausrasten «neigen sie dagegen ausgerechnet in
einer
manischen Phase, wenn das depressiv abgewürgte Selbstwertgefühl plötzlich einen
pathologischen
«Kick «erfährt. Schließlich weiß man auch schon lange, dass über die Hälfte der einsitzenden
Kriminellen
«soziopathische «Charaktere sind, die grandios aufgeblähte Vorstellungen von ihrem
Selbstwert haben.
Mittlerweile gibt es eine ganze Anzahl neuer empirischer Untersuchungen, die alle den
friedensstiftenden Charakter des positiven Selbstwertgefühls Lügen strafen. Bei einer großen
Stichprobe
in der Bevölkerung stellte sich heraus, dass just diejenigen am häufigsten in sadistischen
Phantasien
schwelgten, die laut Test den höchsten Grad an Selbstwertgefühl besaßen. Eine Untersuchung
an
Strafentlassenen kam zu dem Ergebnis, dass die sehr selbstbewussten unter ihnen am
häufigsten gegen
die Bewährungsauflagen verstießen und rückfällig wurden. Vergewaltiger ließen sich in einer
anderen
Studie nicht die kleinsten Selbstzweifel anmerken. Sie kehrten im Gegenteil prahlerisch den»
Macho«
heraus. Je mehr Menschen von ihren eigenen Qualitäten eingenommen sind, desto größer sind
die
Risiken, die sie sich einzugehen trauen.»Das ist eindeutig eine unvorteilhafte Tendenz«, urteilt
der
Psychologe Mark R. Leary,»denn wer seine eigenen Fähigkeiten und seinen Wert überschätzt,
stellt leicht
eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. «Würden Sie sich gerne in ein Fahrzeug setzen, dessen
Lenker
übertriebene Vorstellungen von seiner Fahrkunst hat?
Streitsüchtige und sadistische Kinder vom Schlage eines» Klassentyrannen«, die ihre
Mitschüler
liebend gerne quälen und terrorisieren, wiesen ebenfalls keine Zeichen von Selbstunsicherheit
auf.
Stattdessen litten sie eher unter einem wahnhaften Überlegenheitsgefühl, das andere Kinder
minderwertig
und unterlegen erscheinen ließ. Das Gleiche gilt für die Mitglieder von Gangs und
Jugendbanden, wie
Baumeister aus den empirischen Daten schließt: Sie haben keine Selbstzweifel und
«Minderwertigkeitskomplexe«, sie handeln vielmehr aus einer brisanten Mixtur von Stolz und
dem
Wunsch nach Selbstbehauptung heraus.
Auch das bohrende Bedürfnis nach Rache und Vergeltung wird offenbar im typischen Fall
durch ein
übersteigertes Selbstwertgefühl – und nicht durch die Empfindung der Minderwertigkeit –
angestachelt.
Zu diesem Ergebnis gelangte ein Experiment, dessen Teilnehmer einen kleinen Essay
schreiben sollten,
der bei ausgewählten Juroren entweder auf begeisterte Zustimmung (»Hervorragend!«) oder
auf herbe
Zurück-Weisung (»So ein Schwachsinn!«) stieß. Dann erhielten die Schreiber die
Gelegenheit, ein Spiel
gegen die jeweiligen Gutachter ihrer Essays zu spielen. Bei einer Niederlage ihres Gegners
sollten sie
diesen mit einer selbst gewählten Dosis Lärm» bestrafen«. Fazit: Die Versuchsteilnehmer, die
laut
Psychotest über den höchsten Grad an Selbstwertgefühl verfügten, zahlten es ihren Kritikern
mit den
lautesten akustischen Schikanen heim: Sie verabreichten dreimal so viel Lärm wie die
Schreiber mit
schwachem Selbstwertgefühl.
Dass ein hohes Selbstbewusstsein manchmal Öl ins Feuer gießt, können uns nach Ansicht von
Baumeister sogar die kollektiven Gräueltaten der Geschichte lehren: Totalitäre Regimes wie
der
Nationalsozialismus begehen ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht, weil ihre
Herrscher unter
ätzenden Selbstzweifeln leiden, sondern weil sie aufgeblasenen Vorstellungen über ihren Wert
– und den
«Unwert «der anderen Seite – frönen. Auch die Mitglieder der Mafia – oder des
Ku-Klux-Klan – handeln
nicht aus Minderwertigkeitsgefühlen, sie suhlen sich vielmehr geradezu in einem beinah
gottartigen
Überlegenheitsgefühl.

«Ein hohes Selbstwertgefühl macht Menschen freundlicher und umgänglicher«

Es ist ein lieb gewordenes psychologisches Klischee, dass Menschen mit einem positiven
Selbstbild
über eine harmonische Ausstrahlung verfügen und ihrer Umwelt mit Wohlwollen und
Einfühlungsvermögen begegnen. Wer ja zu sich selbst sagt, heißt auch die anderen
warmherzig in ihrem
Sosein gut. So lautet zumindest eine unhinterfragte Weisheit der Hippiebewegung der
sechziger und
siebziger Jahre, die sich tief in das kollektive Selbstverständnis der Moderne eingegraben hat.
Dabei
beweisen sorgfältig erhobene empirische Versuchsergebnisse, dass Selbstwertgefühl allzu
leicht in
Selbstherrlichkeit umschlägt, die unangenehme zwischenmenschliche Konsequenzen nach
sich zieht.
Diese Tendenz hat Dr. Astrid Schütz vom Lehrstuhl Psychologie der Universität Bamberg in
mehreren
Experimenten aufgezeigt.6 Probanden mit hohem oder niedrigern Selbstwertgefühl wurden
aufgefordert,
sich selbst und ihren Partner darzustellen. Einige wurden zuvor gebeten, bestimmte Fehler zu
berichten,
die sie in ihrem Leben begangen hatten.
Wie die Ergebnisse beweisen, waren Personen mit viel Selbstwertgefühl absolut nicht dazu
geneigt,
Schwächen und ungünstige Eigenschaften zuzugeben. Wenn überhaupt, dann räumten sie
höchstens
ambivalente» Charakterfehler «ein, so etwa» Perfektionismus«. Probanden mit lädiertem Ego
bekannten
sich dagegen frank und frei zu ihren dunklen Seiten, zum Beispiel ihrer labilen, wechselhaften
Charakterstruktur. Hochgradig Selbstbewusste redeten zudem die Fehler, die ihnen im Leben
unterlaufen
waren, mit allerlei Rechtfertigungen schön. Rechtfertigungen sind Erklärungen, die betonen,
dass ein
Verhalten in der betreffenden Situation durchaus angemessen war.»Wer die Ursachen für seine
Missgriffe
immer auf äußere Faktoren schiebt, verbaut sich selbst die Gelegenheit, aus seinen Fehlern zu
lernen«,
folgert Mark R. Leary aus solchen Daten. Selbstunsichere machten dagegen kein Hehl daraus,
dass ihr
Verhalten unentschuldbar gewesen war.
Die Selbstbewussten rückten bei ihrer Selbstdarstellung besonders ihre besonderen
Fähigkeiten und
Begabungen ins Rampenlicht. Es war, als ob ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf abzielte,
bewundert
zu werden, schließt die Psychologin Schütz. Um sich selbst noch weiter zu erhöhen, scheuen
die
Betreffenden nicht einmal davor zurück, andere herunterzumachen. Dies hat auch der
Psychologe Roy E.
Baumeister bei der Analyse von Interaktionen zwischen Probanden mit unterschiedlichen
Graden an
Selbstwertgefühl festgestellt. Am oberen Ende der Selbstwertskala kamen ziemlich
unangenehme
Umgangsformen ans Tageslicht.»Diese Personen neigten sehr viel stärker dazu, den anderen
ins Wort zu
fallen. Sie schossen während der Unterhaltung viel häufiger mit ärgerlichen und feindseligen
Bemerkungen quer. Sie sprachen viel eher über Leute als mit Leuten. Alles in allem raubten
sie den
übrigen Beteiligten den letzten Nerv.«
Kein Wunder, dass den Betreffenden bei einer psychodiagnostischen Begutachtung ein
überdurchschnittliches Maß an zwischenmenschlichen Anpassungsproblemen zugeschrieben
wurde.»Ein
hohes Selbstwertgefühl zu haben läuft offenbar darauf hinaus, zu glauben, dass man besser ist
als
andere«, zieht Baumeister Bilanz. Bei den Selbstunsicheren war nichts von dieser
herablassenden
Strategie zu merken, resümiert Dr. Schütz: Wahrscheinlich hielt sie die Angst vor der
Missbilligung der
anderen zurück.

«Ein positives Selbstwertgefühl begünstigt das Lernen und den Schulerfolg«

Es ist viel leichter, sich den Lernstoff in der Schule anzueignen, wenn man gute Gefühle für
sich
selber hat. Mit diesem modernen Credo stimmt vermutlich die Mehrheit aller»
aufgeschlossenen «Lehrer
und Erzieher überein. Die Amerikaner haben sogar seit den siebziger Jahren aus dieser
Botschaft ein
nationales Programm gemacht: Statt Leistungsdruck, Wettbewerb, Schulnoten und
Basiswissen stellten
die Curricula zunehmend Hippiewerte wie» Selbstakzeptanz«,»Selbstwertgefühl «und
«Empfindsamkeit «in den Mittelpunkt. Mit dem Ergebnis, dass die Nachfahren der Cowboys
und Indianer
im internationalen Vergleich und besonders in den» harten«, naturwissenschaftlichen Fächern
immer
schlechter wurden. Doch ihr Selbstwertgefühl stieg währenddessen zu ungeahnten Höhen auf.
Anfang der neunziger Jahre kam ein Schulvergleich zwischen den USA, Japan und China zu
dem
peinlichen Schluss, dass der amerikanische Nachwuchs mit Abstand die schlechtesten
Leistungen in
Mathematik vorzuweisen hatte. Gleichzeitig jedoch schätzen die amerikanischen Schüler ihre
eigenen
Rechenfähigkeiten als»überdurchschnittlich «ein, geht der Psychologie-Professor Robyn M.
Dawes mit
seinem Bildungssystem ins Gericht. Die Schüler in Asien veranschlagten dagegen ihr
mathematisches
Können zu niedrig ein.»Es ist beängstigend«, sorgt sich Roy E. Baumeister,»daran zu denken,
was
passieren wird, wenn die jetzige Generation von Schülern erwachsen wird und immer noch
glaubt,
schlauer zu sein als der Rest der Welt, obwohl sie in Wahrheit dümmer ist. Amerika wird ein
Land
eingebildeter Dummköpfe sein.«
Weniger als 25 Prozent der amerikanischen Oberschüler vertraten auf Nachfrage die
Überzeugung,
dass» harte Arbeit «eine wichtige Voraussetzung für den schulischen Erfolg darstellt. Von
ihren
Altersgenossen in Japan und China gingen dagegen über 60 Prozent mit dieser Auffassung
konform. Auch
die amerikanischen Mathematiklehrer warten bei der Frage nach den wichtigsten Qualitäten
ihres Berufes
mit einer sonderbaren Werteskala auf.»Sensibilität «und» Enthusiasmus «standen auf den
ersten Plätzen,
während» Klarheit «nur eine abgeschlagene Position erreichte. Ihre japanischen und
chinesischen
Kollegen stellten dagegen die» Klarheit «mit Abstand auf den ersten Rang.
Ende der achtziger Jahre hat eine Kommission der kalifornischen Landesregierung die
Bedeutung des
Selbstwertgefühls für den Schulerfolg auf die Probe gestellt. Die Landesväter wollten sich
eigentlich nur
von einem Zirkel von Spitzenwissenschaftlern bestätigen lassen, dass der Königsweg des
positiven
Selbstbildes automatisch zu positiven Leistungen führt. Um diese längst beschlossene»
Erkenntnis«
abzusegnen, sollten die Koryphäen viele Hunderte von Einzelstudien sichten und der
Kommission ein
erschöpfendes Plädoyer vorlegen. Doch zum Verdruss der Politik ging der Schuss nach hinten
los,
rekapituliert Robyn M. Dawes: Da die Gelehrten sich stur an die Qualitätskriterien der
Wissenschaft
hielten, bekamen ihre Auftraggeber am Ende ein unbequemes Fazit aufgetischt: Zwischen
dem
Selbstwertgefühl und dem schulischen Leistungsstand fehlt jeder erwähnenswerte statistische
Zusammenhang. Der Versuch, den Lernerfolg durch die Verbesserung des Selbstbildes zu
steigern, ist
daher unweigerlich zum Scheitern verdammt.
Auch der Psychologie-Professor Albert Bandura von der Stanford-Universität, Experte für
Leistungsmotivation und einer der berühmtesten Seelenforscher der Welt, schließt sich in
einem neuen
Buch dieser skeptischen Haltung an:7»Das Selbstwertgefühl wirkt sich weder auf die
persönlichen Ziele
noch auf die erreichten Leistungen aus. «Eltern haben nach Lage der Dinge durchaus eine
Chance, den
schulischen Erfolg ihrer Kinder zu puschen. Aber ihre Einflussmöglichkeit besteht ganz
bestimmt nicht
darin, das Selbstwertgefühl der Sprösslinge aufzubauen. Die einzige Strategie, die eine
Erfolgsaussicht
besitzt, besteht vielmehr darin, mit Engagement, Disziplin und Überzeugungskraft beim
Nachwuchs eine
positive Einstellung zu Lernen, Leistung und Schule zu vermitteln.

«Durch ein niedriges Selbstwertgefühl werden soziale Missstände verhärtet«

Wenn man auf die heilbringende Wirkung eines» gesunden «Selbstwertgefühls vertraut,
macht man
nicht an den Grenzen des Individuums Halt. Zu verführerisch ist die Schlussfolgerung, dass
ein Mangel
an dem» gewissen Etwas «die Basis für alle erdenklichen sozialen Probleme und
gesellschaftlichen
Missstände bildet: Menschen aus zerrütteten Verhältnissen oder sozial benachteiligten
Schichten können
ihre Lage nicht ändern, weil das niedrige Selbstwertgefühl sie in unsichtbaren Fesseln hält.
Für allein
erziehende Mütter, die von Sozialhilfe leben, ist allein durch den Knick im Selbstbild der Weg
in eine
selbst bestimmte Zukunft verbaut. Ohne eine radikale Korrektur am Selbstwert kommen
Randgruppen,
Trinker, Drogenabhängige, Delinquenten und andere Problemfälle niemals auf einen grünen
Zweig.
«Keiner ist für sein eigenes Leben oder das eines anderen verantwortlich, jeder braucht eine
Therapie«,
bringt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes die philosophischen Implikationen dieses
Denkens auf
einen Punkt.
Dabei ist bereits die grundlegende Prämisse dieser Weltanschauung nicht wahr: Die
Zugehörigkeit zu
einer benachteiligten Gruppe kratzt das Selbstwertgefühl überhaupt nicht an. Zahlreiche
Individuen
werden von der dominanten Kultur diskriminiert und zurückgesetzt, weil sie zum Beispiel als
Schwule,
Ausländer oder Frauen mit einem Stigma behaftet sind. Auf den ersten Blick erscheint es
unabwendbar,
dass das Selbstwertgefühl bei solchen Ressentiments zu Schaden kommt, konstatieren die
beiden US-
Psychologinnen Jennifer Crocker und Brenda Major in einer profunden Übersicht.8 Doch die
empirischen
Befunde zeichnen nach ihrer Analyse ein völlig anderes Bild. Homosexuelle und Schwarze
haben je nach
Studie ein normales oder sogar ein erhöhtes Selbstwertgefühl; aber auch Frauen, Behinderte
und andere
«Stiefkinder «der Gesellschaft lassen das erwartete» narzisstische «Defizit vermissen.
Für diesen überraschenden Befund kommen verschiedene Erklärungen in Betracht, schreiben
die
Psychologinnen. Einmal haben» Underdogs «die Möglichkeit, unangenehme Entwicklungen
in ihrem
Leben auf die Diskriminierung ihrer Gruppe zurückzuführen. Und zwar auch solche
unangenehmen
Entwicklungen, für die de facto andere Gründe verantwortlich sind. Ein amerikanischer
Schwarzer aus
der Unterschicht, der sich alle möglichen Unbilden mit dem» Rassismus «der Weißen erklärt,
schafft sich
damit einen psychologischen» Puffer«, der den Mitgliedern der dominanten Gruppe nicht zu
Verfügung
steht. Von diesem Mechanismus zeugt eine Studie an Frauen, die die getürkte Rückmeldung
erhielten, sie
hätten bei einem Leistungstest schlecht abgeschnitten. Als der Verdacht geweckt wurde, der
Versuchsleiter trüge» chauvinistische «Züge, gewannen die Frauen schlagartig ihr
angeknackstes
Selbstwertgefühl zurück.
Schwarze Probanden machten sich in einem anderen Experiment nur dann etwas aus einem
negativen
Feedback, wenn es von einem Experimentator stammte, der ihre Hautfarbe nicht gesehen
hatte. Auf der
anderen Seite können benachteiligte Individuen schmeichelhaftes Feedback von anderen
künstlich
aufbauschen, indem sie sich dem Eindruck hingeben, dass sie es trotz ihres Handicaps
erhalten haben.
Körperlich unattraktive Probandinnen maßen in einer Studie dem Lob über ihre Leistungen
die größte
Bedeutung bei, wenn der Versuchsleiter sie deutlich sehen konnte.
Weiterhin können Mitglieder von Randgruppen Kratzer am Ego entschärfen und abfangen,
indem sie
ihre eigene Situation ausschließlich an jener von Menschen» ihres Schlages «messen. Um ihre
eigene
Situation richtig einzuschätzen, stellen Menschen ständig Vergleiche mit anderen an.»Ist
dieser
Porschefahrer auf der anderen Fahrspur am Ende wirklich glücklicher als ich?«»Müsste ich
die Prüfung
nicht schaffen, wo doch nicht einmal dieser Holzkopf durchgerasselt ist?«Der Vergleich mit
Personen,
mit denen man viele Gemeinsamkeiten hat, besitzt aber nun einmal besonders viel Gewicht.
Schwarze
Schulkinder haben das niedrigste Selbstwertgefühl, wenn sie in integrierten Schulen
zusammen mit
weißen erzogen werden. Wenn sie» unter sich «bleiben, mindert dies zwar ihre schulischen
Leistungen,
doch es bringt ihr Selbstwertgefühl auf Vordermann.
Schließlich besteht noch die Möglichkeit, diejenigen Merkmale abzuwerten, die das» Manko
«der
eigenen Gruppe beinhalten, während man den Stärken der eigenen Kaste besonders viel
Gewicht
zuschreibt. Es ist zum Beispiel aus Umfragen bekannt, dass Frauen in der Regel Bezahlung
und
Karrierechancen für eher unwichtig halten, während sie einer interessanten Tätigkeit und
einem guten
Betriebsklima mehr Bedeutung zuordnen.
Eine solche Dynamik kann rasch in einen Teufelskreis ausarten, warnen die beiden
Forscherinnen.
Diskriminierte Menschen werten bestimmte wichtige Eigenschaften ab, was dann
rückwirkend nur noch
mehr Diskriminierung durch die dominante Kultur provoziert. Außerdem können soziale und
therapeutische Interventionen leicht zurückschlagen: Wenn man die stigmatisierte Gruppe
vom Stigma
befreit, nimmt man ihr unter Umständen den lieb gewordenen Puffer weg. Darauf weist eine
Studie an
Patienten hin, bei denen eine Gesichtsdeformation chirurgisch korrigiert wurde. Zwar ging der
kosmetische Eingriff mit einer vorübergehenden Erleichterung einher, doch auf lange Sicht
blieb ein
schales Gefühl zurück.
Nicht nur, dass die Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe das Selbstwertgefühl ihrer
Mitglieder weitgehend unangetastet lässt. Es gibt auch keinerlei Anzeichen, dass der Besitz
eines
niedrigen Selbstwertgefühls gesellschaftliche Missstände und» antisoziales «Verhalten
fördert. Das ist das
Fazit, zu dem die bereits erwähnte kalifornische Expertenkommission gelangte, nachdem sie
minuziös die
einschlägigen wissenschaftlichen Quellen gesichtet hatte. Punkt für Punkt wurde dem
Stellenwert des
Selbstwertgefühls der Boden entzogen, wie der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes in
seiner
Zusammenstellung unterstreicht:
«Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Verbesserung des Selbstwertgefühls ein
wirksames
Mittel wäre, um der Kindesmisshandlung vorzubeugen.«(Originalzitat der Kommission)
Ein niedriges Selbstwertgefühl hat keinen Einfluss darauf, ob Jugendliche ungewollt
schwanger
werden oder nicht. Der Glaube war, dass sich selbstunsichere Jugendliche sexuell» gehen
lassen«, um ihre
Minderwertigkeitsgefühle zu übertünchen. Sofern überhaupt ein Zusammenhang zwischen
Selbstwertgefühl und Jugendsexualität besteht, dann in der Hinsicht, dass sehr selbstbewusste
männliche
Teenager sogar besonders früh und häufig Geschlechtsverkehr haben.
Ein niedriges Selbstwertgefühl hat keinen Einfluss darauf, dass Menschen in eine chronische
Abhängigkeit von der Sozialhilfe geraten. Ein hohes Selbstwertgefühl schützt nicht davor,
sozial
abzugleiten.
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Selbstwertgefühl und der Wahrscheinlichkeit,
ein
Verbrechen zu begehen. Wer sich selbst mag, ist dadurch noch lange nicht gegen krumme
Touren gefeit.
Schließlich hat das Selbstwertgefühl auch keinen Effekt auf die Alkohol- und
Rauschgiftsucht. Es ist
ein großer Irrtum, zu glauben, dass der Süchtige mit dem Schnaps oder Heroin nur die
Zweifel an seinem
Ego betäubt.

«Es gibt Möglichkeiten, das Selbstwertgefühl eines Menschen gezielt anzuheben«

Die gleichen Experten, die die Ursache allen Übels in einem lädierten Selbstwertgefühl sehen,
haben
eine patente Therapie parat: Man braucht einfach nur das geknickte Ego der betreffenden
Person durch
Lob, Anerkennung oder die Bereitstellung von kleinen Erfolgserlebnissen aufzurichten. Doch
dieser
Vorstellung liegt ein völlig unrealistisches Bild der menschlichen Natur zugrunde, hebt der
Psychologie-
Professor William B. Swann von der University of Texas in Austin hervor. 9 Der Mensch setzt
jedem
Versuch, sein Selbstbild zu ändern, erheblichen Widerstand entgegen. Auf welchem Stand
sich das
Selbstwert-Barometer einer Person auch gerade befinden mag – sie tut alles, um diesen Status
zu erhalten,
auch wenn sie damit ein jämmerliches Bild von sich selbst perpetuiert.»Wir sehnen uns nach
Stabilität,
auch wenn sie Schmerz bedeutet«, meint Swann.»Der Wunsch nach Vorhersagbarkeit,
Kontrolle und
Kohärenz ist so machtvoll, dass er sich sogar über das Bedürfnis nach Positivität
hinwegsetzt.«
Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass die Methoden zur Selbstwertsteigerung, die in der
Psychoszene
herumgereicht werden, irgendwelche Früchte tragen, erklärt der Psychologe. Das ständige
Loben
(entweder sich selbst oder eine andere Person) prallt an einem machtvollen Schutzschild ab,
der in dem
Bedürfnis besteht, das vorhandene Selbstbild zu zementieren. Menschen können sich sogar
derart an
ständige abschätzige Bemerkungen über sich selbst gewöhnen, dass sie Lebenspartner suchen,
die sie in
ihrer negativen Selbstsicht bestärken. In diesem Geisteszustand hören die Betreffenden
einfach über
gelegentliche Anerkennungen und positive Bemerkungen hinweg, vergessen diese sofort oder
deuten sie
sogar so um, dass sie einen negativen Touch bekommen.
Dass Menschen gezielt Informationen selektieren und aufbauschen, welche das vorhandene
positive
oder negative Bild ihrer selbst unterstreichen, hat Swann in einem viel beachteten Experiment
aufgezeigt.10 Versuchspersonen mit hohem oder niedrigem Selbstwertgefühl hatten die Wahl,
sich eines
von zwei psychologischen Gutachten über sich selbst auszusuchen, das entweder einen
positiven oder
negativen Tenor besaß. Die überwältigende Mehrheit der Selbstbewussten wählte die
schmeichelhafte
Option. Dagegen entschieden sich zwei Drittel aller Teilnehmer mit niedrigem
Selbstwertgefühl für den
unschmeichelhaften Bericht. Patienten mit Depressionen wählten sogar zu 82 Prozent den
Negativreport.
Die meisten Selbstbewussten wollten unbedingt zuerst etwas über ihre persönlichen Stärken
lesen,
während die Selbstunsicheren als Erstes etwas über ihre persönlichen Schwächen erfahren
wollten.

1 Branden, Nathan: The psychology of self-esteem. Bantam Books, Toronto et al.


1969.
2 Leary, Mark R.: The social and psychological importance of self-esteem. In:
Robin M. Kowalski/Mark R. Leary (Hg.): The social psychology of
emotional and behavioral problems. Interfaces of social and clinical psychology.
American Psychological Association, Washington 1999.
3 Baumeister, Roy E.: Should schools try to boost self-esteem? Beware the dark
side. http: //www.rstennison.com/obe/self_esteem.html
4 Dawes, Robyn M: House of Cards. Psychology and psychotherapy built an
myths. Free Press, New York 1994.
5 Baumeister, Roy E. /Joseph M. Boden: Aggression and the self: High
self-esteem, low self-esteem, low self-control, and ego-threat. In: Russel G.
Green /Edward Donnerstein (Hg.): Human Aggression. Academic Press, San Diego
et al. 1998.
6 Schütz, Astrid: Interpersonelle Aspekte des Selbstwertgefühles. Die
Beschreibung der eigenen Person im sozialen Kontext. In: Zeitschrift für
Sozialpsychologie, Themenheft: Das Selbst im Lebenslauf- Sozialpsychologische
und entwicklungspsychologische Perspektiven, Bd. 28 (1997), S.
92-108.
7 Bandura, Albert: Self efficacy: The exercise of control. Freeman Press, New York
1997.
8 Crocker, Jennifer/Brenda Major: Social Stigma and self-esteem. In:
Psychological Review, Bd. 96 (1989), S. 608–630.
9 «What the self-esteem movement left out«. In: Behavioral health treatment, Vol.
1 (1996), S. 1, 5, 9.
10 «People with depression tend to seek negative feedback«. http:
//www.apa.org/releases/depress.html

Die Seele ist schuld

«Viele organische Krankheiten haben psychosomatische Ursachen«

Es liegt ein verführerischer Reiz in der Vorstellung, dass unsere körperliche Gesundheit auf
Gedeih
und Verderb dem Einfluss der mentalen Kräfte unterworfen sei. Der Zeitgeist hat sich
demzufolge darauf
verständigt, dass Menschen heutzutage weniger körperlich als seelisch leiden. Selbst das
Elend einer
körperlichen Krankheit läuft in gewissen Kreisen fast schon Gefahr, weniger ernst genommen
zu werden,
wenn es nicht mit dem dramatischen Attribut» psychosomatisch «gekoppelt ist. Der Glaube an
die
Herrschaft des Geistes über den Körper ist so suggestiv, dass er uns manchmal dazu verleitet,
Menschen,
die krank werden, Vorwürfe zu machen, während uns die Überwindung eines
lebensbedrohlichen Leidens
wie Krebs Hochachtung und Bewunderung abverlangt.
Unzählige populäre Sachbücher versprechen, das Geheimnis zu lüften, wie der Mensch zu
innerer
Harmonie gelangt und seine Gesundheit durch die Mobilisierung psychischer Energien
stählen kann.
Andere zeigen auf, mit welchen Mitteln er seine seelischen Selbstheilungskräfte stimulieren
kann, falls er
doch einmal den finsteren Mächten der Krankheit erliegt. Für diejenigen, die sich mit
intuitiven
Einsichten nicht zufrieden geben, hält die» psychosomatische Medizin «ein ganzes Arsenal an
seriös
klingenden Modellvorstellungen über die Entstehung von Krankheiten und» Somatisierungen
«parat.
Dieser Zweig der Medizin, der eng mit der Psychoanalyse verbunden ist, führt Krankheiten
auf ungelöste
und unbewusst wirkende Konflikte, auf bestimmte Persönlichkeitsdefekte oder schlicht und
einfach auf
«Stress «zurück.
Psychosomatiker annektieren in erster Linie Erkrankungen wie Asthma, Bluthochdruck,
chronische
Magen-Darm-Erkrankungen oder rheumatische Arthritis, für welche die Organmediziner
lange Zeit keine
überzeugenden biologischen Ursachen finden konnten. Allerdings beharren sie auch dann
störrisch auf
ihrer Irrlehre, wenn die in der Öffentlichkeit verrufene» Apparatemedizin «an die molekularen
Wurzeln
der betreffenden Störungen vorstößt.»Dabei ist in den vergangenen Jahren völlig klar
geworden, dass
psychologische Faktoren bei diesen Krankheiten keine Rolle spielen«, streicht der
Harvard-Mediziner
Steven E. Hyman heraus. l
Auch Professor Michael Myrtek, Leiter der Forschungsgruppe Psychophysiologie am
Psychologischen Institut der Universität Freiburg, pflichtet dem bei. 2 Obwohl in seinen
eigenen
empirischen Untersuchungen und einer Literaturanalyse keine bedeutsamen
psychosomatischen
Zusammenhänge nachweisbar waren, klagt Myrtek, seien dennoch die meisten Laien –»aber
sicher auch
die meisten Psychologen«– davon überzeugt, dass psychosoziale Faktoren organische
Krankheiten
verursachen können. Ähnlich kompromisslos kritisiert er die gängige Lehrmeinung, Stress
wirke
gesundheitsgefährdend, als ungesichert und überschätzt. Tatsächlich geht der Rückschluss auf
psychische
Ursachen nach neuesten Ergebnissen sehr häufig» nach hinten «los: Die Patienten hadern
intensiver mit
ihrem Schicksal und kommen schlechter mit der Bewältigung ihrer Beschwerden zurecht.

«Der Herzinfarkt wird durch eine gehetzte und aufbrausende >Infarktpersönlichkeit<


hervorgerufen«

Das Kardinalbeispiel für das psychosomatische Denken und seine Unfähigkeit, aus Fehlern zu
lernen
und wissenschaftliche Fakten zu akzeptieren, ist der Mythos von der» Infarktpersönlichkeit«.
Anfang der
siebziger Jahre machten amerikanische Kardiologen die Beobachtung, dass die koronare
Herzerkrankung
und der Herzinfarkt scheinbar überdurchschnittlich häufig einen besonderen Schlag Mensch
ereilen.
Dieser so genannte Typ A beschreibt das Lebensbild eines unablässig gehetzten, überaus
ehrgeizigen und
konkurrenten Perfektionisten. Damit war auch der Begriff der» Managerkrankheit «geboren.
Der
charakterliche Gegenpol des Typ A, der gelassene und entspannte Typ B, ist jedoch gegen den
Infarkt
gefeit. Nach der Theorie» dreht «nun bei dem aufbrausenden» Workaholic «vom Typ A der
Sympathikus,
der aufputschende Pol des vegetativen Nervensystems, durch und leistet so der koronaren
Herzkrankheit
und dem» Betriebsunfall «Herzinfarkt Vorschub.
Die ersten empirischen Studien schienen der Vorstellung Recht zu geben: Die
Wahrscheinlichkeit,
einen Infarkt zu erleiden, war nach diesen Daten beim Typ A um das Zweifache erhöht. Doch
dann
nahmen sich einige ungläubige Forscher einmal kritisch die ausgewerteten Daten vor.
Überraschende
Quintessenz: Ausgerechnet die gelassenen B-Typen erlitten in der Zeit nach dem ersten
Infarkt mit der
doppelten Wahrscheinlichkeit einen zweiten Gefäßverschluss bzw. verstarben daran,
rekapituliert der
Neurobiologe Robert Dantzer aus Marseille in einer beißenden Abrechnung mit der
Psychosomatik.3
«Alle neueren Studien konnten dann keinen oder nur einen äußerst geringen Zusammenhang
zwischen
Typ A und der koronaren Herzkrankheit nachweisen«, gibt Michael Myrtek zu bedenken.
Doch die Befürworter der Psychosomatik verleugnen diesen Tatbestand und halten ingrimmig
an
ihrem Wahnsystem fest. Die Tatsache, dass ausgerechnet die mutmaßlichen»
Infarktcharaktere«
besonders selten einen zweiten Infarkt erleiden, hat sogar schon zu einem verblüffenden
Umkehrschluss
geführt: Das Typ-A-Verhalten sei ein Schutzmechanismus, der bei Menschen mit bestehender
koronarer
Herzkrankheit einsetze, um einen drohenden Infarkt abzuwenden, berichtet Myrtek. In diesem
Fall wäre
jeder Versuch, die einschlägigen Persönlichkeitsmuster durch eine Intervention aufzuweichen,
ein Schuss
in den Ofen.
Eine Kernaussage der Typ-A-Theorie besteht darin, dass Infarktpersönlichkeiten ein
übererregbares
vegetatives Nervensystem besitzen, das beim geringsten Anlass» ausrastet «und Herz und
Kreislauf
durchdrehen lässt. In einer sorgfältigen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
unterstützten
Analyse der vorliegenden Studien kommt Myrtek zu dem Schluss, dass diese Behauptung
keine
Rückendeckung in den wissenschaftlichen Daten findet. Die von ihm überprüften Daten
rechtfertigen
keineswegs den Schluss, dass beim A-Typ Blutdruck, Puls, Hautleitfähigkeit, Stresshormone
oder andere
physiologische Werte in die Höhe geschraubt sind. Die spärlichen Befunde, die eine solche
Vermutung
unterstützen könnten, seien in der Vergangenheit kräftig überstrapaziert worden. Hinzu
komme, dass
zahlreiche der Theorie widersprechende Untersuchungen gar nicht erst zur Veröffentlichung
vorgelegt
oder vom Herausgeber abgelehnt worden seien.

«Der Infarkt wird durch Ärger, Feindseligkeit und Stress begünstigt«

Die Vertreter der psychosomatischen Sicht ließen sich vom Schiffbruch ihres
Lieblingskonzeptes nicht
den Wind aus den Segeln nehmen. Es sei gar nicht das gesamte Paket an
Typ-A-Verhaltensweisen,
welches das Herz schädige, hieß es plötzlich in einem eleganten Schlenker. Nur ein einziger
Unterpunkt
dieses Komplexes, nämlich die ärgerliche und feindselige Reaktionstendenz der
Infarktcharaktere, leiste
dem tückischen Gefäßverschluss Vorschub. Dies ist übrigens eine beliebte Hinhaltetaktik, mit
der sich
von den Tatsachen bedrängte Theoretiker aus der Psychotherapie und Psychosomatik aus der
Affäre
ziehen: Um die Unwissenheit der Opponenten zu beweisen, baut man die Theorie wie eine
Theaterkulisse
immer wieder um. Irgendwie kommt dadurch das Bühnenbild schon so hin, dass die Kritik,
die es gerade
zu widerlegen gilt, nicht trifft.
Doch Psychologie-Professor Michael Myrtek hat auch diese Finte in einer Übersicht über die
Forschungsliteratur widerlegt: Es besteht nicht der geringste Zusammenhang zwischen dem
Wesenszug
Feindseligkeit und den Risikofaktoren Blutdruck und Herzfrequenz. Nach dem Ergebnis einer
amerikanischen Gesamtschau über Laborexperimente bleiben sehr Feindselige mit ihrem
Vegetativum in
Stresssituationen genauso» cool «wie ihre friedfertigen Antipoden.
Die typischen Stressreize im Labor seien eben nicht lebensecht, konterten die Vertreter der
Psychotheorie. Es sei bekannt, dass die» Sicherungen «bei feindseligen Charakteren erst
richtig
durchbrennen, wenn man ihre Selbstachtung bzw. ihren Sinn für Gerechtigkeit bedroht. Um
diesen
Einwand zu testen, haben amerikanische Forscher ihre Probanden beim Lösen kniffliger
Aufgaben ganz
unsachlich für ihre angebliche Langsamkeit und Ungenauigkeit kritisiert. Wieder einmal kam
die
psychosomatische Theorie zu Fall: Bei den sehr feindseligen Probanden ließen sich trotz
dieser
realistischen Provokation keinerlei Hinweise auf ein übererregbares vegetatives
Nervensystem entdecken.
Nach einer weiteren, in den Medien beliebten Variante der psychosomatischen Theorie kommt
es
beim Herzinfarkt gar nicht auf eine bestimmte, feststehende Charakterstruktur an: Es sei
vielmehr die
seelische Belastung durch Stress, nervlichen Druck am Arbeitsplatz oder schmerzhafte
Lebenserfahrungen, die früher oder später bei jeder Persönlichkeit das Fass zum Überlaufen
bringe. Diese
These wurde in mehreren Studien getestet, bei denen man eine große Zahl von Probanden
über einen
längeren Zeitraum psychologisch und medizinisch verfolgte.»Stress am Arbeitsplatz «erwies
sich in einer
Untersuchung an über 9.000 Männern als völlig folgenlos. Auch die belastenden
Lebensereignisse riefen
keine gesundheitlichen Schäden hervor.»Die prospektiven Untersuchungen zur
Stresshypothese zeigen,
dass bei kritischer Würdigung der mit Fragebogen erfasste psychosoziale Stress keinen
Risikofaktor für
die koronare Herzkrankheit darstellt«, resümiert Myrtek.4
Ein Sonderfall der» psychosomatischen «Herzkrankheit ist der so genannte» Kummertod«:
Verwitwete sterben in den ersten sechs Monaten nach dem Verlust ihres Lebensgefährten um
40 Prozent
häufiger an Herzkrankheiten als ihre Altersgenossen. Über diesen Tod an» gebrochenem
Herzen «kann
man immer wieder in Zeitungsartikeln und Lehrbüchern lesen. Doch über eine unbequeme
Tatsache
schweigen sich die Berichte geflissentlich aus, moniert Myrtek: Nach den ersten sechs
Monaten sinkt die
Sterberate der Verwitweten und fällt irgendwann sogar unter die der Verheirateten
ab.»Insgesamt liegt die
Sterberate der Witwer für das 9-Jahre-Intervall nach dem Verlust keineswegs höher als das der
Vergleichsgruppe; tatsächlich ist diese sogar etwas geringer.«
Wenn die Seele der» Pumpe «nicht schadet, schlägt auch die Psychotherapie nicht an. In einer
sehr
großen Studie an 2328 Patienten, die bereits einen Infarkt erlitten hatten, wurde geprüft, ob
die
Unterweisung in Entspannungstechniken und Stressmanagement einen gesundheitlichen
Nutzen bringt.
Fazit: Nach sechs Monaten hatte die psychische Verfassung der Versuchsteilnehmer sich nicht
positiv
verändert. Nach einem Jahr war auch an der Zahl der Herzkomplikationen und Todesfälle
keine
Verbesserung abzulesen.

«Tumore werden häufig durch eine spezielle Krebspersönlichkeit ausgelöst«

Es gibt wahrscheinlich wenige Phänomene, die den populären Appeal der Psychosomatik so
eindrucksvoll widerspiegeln wie der Glaube an den berühmt-berüchtigten» Krebscharakter«.
Mit diesem
Begriff ist die Vorstellung verbunden, dass gewisse Persönlichkeitsmerkmale den Nährboden
für die
Entwicklung einer Tumorerkrankung bilden. Die Krebspersönlichkeit ist in der Tat berüchtigt,
weil sie
viele Eigenschaften besitzt, die in der Psychoszene verpönt sind: Die Betreffenden schlucken
selbst bei
schlimmsten Belastungen alles herunter und geben sich unauffällig; sie schieben
unangenehme Gefühle
wie Wut und Ärger unter den Teppich und opfern sich selbstlos für andere auf, statt mehr
Leben für sich
selbst einzufordern. Allerdings sind die Beweise für diesen Zusammenhang in den letzten
Jahren unter
heftigen Beschuss geraten, klärt eine Forschergruppe um Dr. Hermann Faller vom Institut für
Psychotherapie und Medizinische Psychologie der Universität Würzburg auf.5
So hat man diese einschlägigen Wesensmerkmale fast stets bei Patienten ausfindig gemacht,
die ihre
(bösartige) Diagnose bereits kannten. Die vermeintliche Krebspersönlichkeit könnte also auch
einfach
eine Reaktion auf das Wissen sein, dass man mit einer furchtbaren und letztlich oft tödlichen
Geißel
geschlagen ist. Dafür spricht auch eine sehr sorgfältige neue Studie an Probanden, die wegen
des
Verdachts auf Lungen- oder Brustkrebs untersucht werden sollten. Ergebnis: Nur die
Patienten, die fest
überzeugt waren, einen Tumor zu haben, zeigten Züge der Krebspersönlichkeit – und zwar
auch dann,
wenn der spätere Befund negativ ausfiel.
Die Patienten, die sich einen negativen Befund versprachen, waren charakterlich unauffällig,
auch
wenn dann später wider Erwarten ein Tumor gefunden wurde. Der Verdacht liegt nahe, dass
die
vermeintliche Krebspersönlichkeit nur Ausdruck des inneren Kampfes mit der Diagnose»
Krebs «ist,
folgern die Forscher. Es gab zwar auch einige prospektive Studien, deren Teilnehmer schon
viele Jahre
vor dem Krankheitsausbruch Züge der Krebspersönlichkeit trugen, aber die Autoren sind in
schlimmen
Verdacht geraten, ihre Daten manipuliert zu haben.
Besonders der Heidelberger Sozialwissenschaftler Ronald Grossarth-Maticek hat in diesem
Zusammenhang für einigen Wirbel gesorgt. Mit insgesamt drei Langzeitstudien, von denen
die zwei in
Heidelberg durchgeführten angeblich über 20.000 Probanden umfassten, will der Forscher
bewiesen
haben, dass Krebs – aber auch Herzinfarkt – fast ausschließlich durch unvorteilhafte
Persönlichkeitszüge
verursacht wird. Die überwältigende Mehrheit der Probanden, die zu Beginn der
Untersuchung die
entsprechenden Wesensmerkmale aufwiesen, war laut Grossart-Maticek am Ende des
Beobachtungszeitraumes an einer der beiden Krankheiten gestorben.
Zu allem Überfluss hat der arbeitsame Wissenschaftler eine eigene, der Verhaltenstherapie
entlehnte
Behandlungstechnik kreiert und» in Handarbeit «einer fast unglaublich großen Zahl von
gefährdeten
Individuen an gedeihen lassen. Der Knalleffekt: Die idiosynkratische Psychokur soll mehr
Menschen vor
dem sicheren Krebstod bewahrt haben als die herkömmliche Therapie mit
Chemotherapeutika.
Von der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit wurden die Thesen des Heidelberger
Wunderheilers
überwiegend mit ungläubigem Staunen aufgenommen. Diese Situation änderte sich jedoch,
als Grossart-
Maticek den legendären Londoner Seelenforscher Hans-Jürgen Eysenck, eine der
Galionsfiguren des
Faches Psychologie, auf seine Seite bringen konnte, rekapitulierte der Psychologie-Professor
Manfred
Amelang von der Universität Heidelberg in Trier. 6 Wenn man die beiden Forscher beim Wort
nimmt, trägt
der» Krebscharakter «das 121 fache Risiko, an einem Karzinom zu erkranken, während die
entsprechende
seelische Anlage das Infarktrisiko um den Faktor 27 erhöht. Das sind enorme Dimensionen,
die weit über
den herkömmlichen Risikofaktoren wie Rauchen und Bluthochdruck liegen, und die
eigentlich
revolutionäre Konsequenzen haben müssten.
Viele Kritiker monieren jedoch, dass die beiden Psychosomatiker ihre Ergebnisse fast
ausschließlich
in kleinen, oft von Eysenck kontrollierten und keiner unabhängigen Qualitätskontrolle
unterworfenen
Publikationen veröffentlicht haben. Außerdem sind die Kriterien für die Zuordnung zu dem
einen oder
anderen Typ extrem schwammig und wurden zudem im Verlauf der letzten Jahre mehrfach
ohne
Begründung modifiziert. Diese Veränderungen wecken den schlimmen Verdacht, dass der
Persönlichkeitstyp entgegen allen Regeln der Wissenschaft im Nachhinein zugeordnet wurde
– als die
Todesursache bereits bekannt war.
Diese Gefahr wiegt laut Amelang umso schwerer, als die gesamten Daten in der ersten Zeit
ausschließlich von Grossarth-Maticek und seinen Mitarbeitern gesammelt wurden, ohne die
Möglichkeit
einer externen Überprüfung. 1982 hinterließ der Forscher dann erstmals die Ausgangsdaten
einer seiner
Studien bei zwei Universitäten. Peinliches Ergebnis: Als ein unabhängiger Wissenschaftler
deren
Vorhersagewert testen wollte, hatte sich der Zusammenhang mit der Krebswahrscheinlichkeit
auf einmal
vollständig in Luft aufgelöst. Die Zuordnung von den Fragebögen zu den Probanden sei durch
ein
Missgeschick durcheinander gebracht worden, zog Grossart-Maticek sich aus der Schlinge.
Um die Diskussion auf ein höheres Niveau zu heben, hat Amelang mit Unterstützung der
Deutschen
Forschungsgemeinschaft eine Replikation der umstrittenen Untersuchungen in Angriff
genommen, deren
Ergebnisse mit größter Spannung erwartet werden. Bislang hat Amelang bereits die
Messinstrumente von
Grossart-Maticek einer eingehenden statistischen Würdigung unterzogen. Es stellte sich
heraus, dass die
verwendeten Skalen unmöglich die Fähigkeit besitzen können, unterschiedliche Krankheiten
vorherzusagen. Die größte Überraschung kam aber erst, als der Forscher die Tests bei einer
Gruppe von
Patienten anwendete, die bereits eines der beiden Krankheitsbilder entwickelt hatten.
Ausgerechnet die
Tumorkranken waren nach den Resultaten für einen Infarkt prädisponiert, während die
Herzpatienten die
«unpassende «psychosomatische Veranlagung für eine Krebserkrankung zeigten.

«Magengeschwüre werden durch psychosomatische Faktoren verursacht«

Magenentzündung (Gastritis) und Magengeschwüre waren viele Jahrzehnte lang eine


unangefochtene
Domäne der Psychosomatik, weil die Organmediziner keinen richtigen Dreh zum kranken
Magen fanden.
Magengeschwüre, so die klassische Theorie, werden durch den unbewussten und verdrängten
Wunsch
nach Liebe, Pflege, Abhängigsein und Genährtwerden ausgelöst. In einer populäreren und
eingängigeren
Variante sollen dagegen» heruntergeschluckte Sorgen «verantwortlich sein. Manchmal
werden
Magengeschwüre schließlich auch schlicht und einfach als» Stresskrankheit «gehandelt. Die
Widersprüche zwischen diesen Deutungen werden übrigens von den Psychosomatikern nie
thematisiert.
Doch die Vorstellungen darüber, wie Gastritis und andere Magenerkrankungen tatsächlich
entstehen,
haben sich in den vergangenen 10 Jahren dramatisch gewandelt. Erst Anfang der achtziger
Jahre
identifizierten Forscher das Bakterium Helicobacter pylori, das bald darauf als der
Hauptverursacher von
unheilbar geltenden Magenleiden entlarvt wurde. Helicobacter pylori ist bei ungefähr 95
Prozent aller
Patienten mit Gastritis und bei der Mehrheit aller Patienten mit Magengeschwüren und
Magenkrebs in der
Magenschleimhaut nachweisbar. Die Mikrobe macht sich dieses feindselige Habitat urbar,
indem sie sich
in eine Wolke aus schützenden, säurehemmenden Enzymen hüllt.
Um alle Zweifel endgültig auszuräumen, testete Robin Warren, der australische Entdecker des
Bazillus, seine These im Selbstversuch. Er nahm einen kräftigen Schluck Bakterienbrühe und
bekam
prompt eine schwere Gastritis, also eine Entzündung der Magenschleimhaut. Dort fanden sich
auch
zahlreiche Kolonien des Helicobacter pylori, die vor dem Versuch noch nicht nachzuweisen
waren. Dieser
Beweis leitete nach Worten von Experten eine» Revolution in der Magenheilkunde «ein.
Beschwerden,
die zuvor nur durch eine radikale Umstellung des Lebenswandels zu lindern waren, lassen
sich heute
innerhalb von sieben Tagen für immer heilen, und zwar mit Hilfe von Antibiotika.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stufte 1994 Helicobacter pylori als Auslöser für
Magenkrebs
ein. Wie lebenswichtig es ist, den Erreger mit aller Anstrengung zu bekämpfen, wurde bei
einer Studie an
Krebskranken klar. Dort wurden 120 Patienten, die an einem Lymphom, der zweithäufigsten
Form von
Magenkrebs erkrankt waren, mit Antibiotika behandelt. Nach dem Auslöschen von
Helicobacter bildete
sich auch der Krebs zurück. 70 Prozent der behandelten Krebspatienten wurden von ihrem
Tumor geheilt.
Der Enthusiasmus, mit dem Mediziner auf diese Entdeckung reagierten, blieb nicht
unwidersprochen.
So meldeten einige Vertreter der Psychosomatik in der Öffentlichkeit laut Zweifel an: Es
müssten
sicherlich viel mehr Faktoren zusammenkommen, bis ein Magengeschwür entsteht.
Psychosoziale
Aspekte spielten immer noch eine wichtige Rolle. Wie sonst wäre es zu erklären, dass zwar
mehr als die
Hälfte aller Menschen mit dem Keim infiziert seien, aber die typischen Symptome nicht bei
all diesen
auftreten würden?
Es stimmt zwar, dass nicht alle Helicobacter-Infizierten auch über Beschwerden klagen. Es
gibt
nämlich Magengeschwüre, die keine Schmerzen verursachen. Pathologische Untersuchungen
haben
dennoch ergeben, dass jeder, der den Helicobacter in sich trägt, gleichzeitig mit einer Gastritis
zu
kämpfen hat – auch wenn sie keine Beschwerden macht. Und es lässt sich einfach nicht
leugnen, dass die
Eliminierung des Keimes Magengeschwüre in 98 Prozent aller Fälle dauerhaft zum
Verschwinden bringt.
Seelischer Stress lahmt das Immunsystem und fördert Infektionskrankheiten«

Durch die» Psychoneuroimmunologie«, eine neue Disziplin, die sich in den letzten Jahren
sehr
öffentlichkeitswirksam in Szene setzte, hat der kränkelnde psychosomatische Gedanke einen
unverhofften
Schub erfahren. Es gehört bereits seit längerer Zeit zum Allgemeinwissen, dass das
Immunsystem, die
körpereigene Schutztruppe gegen Krankheitserreger, Signale aus dem» Elfenbeinturm «der
Seele
empfängt. Kein Augenblick vergeht, in dem das Immunsystem sich nicht vehement gegen ein
Billionenheer von gemeingefährlichen Mikroorganismen wehren muss. Jede Form von
schwerem und
länger anhaltendem seelischem Stress, so die simplifizierte Quintessenz der
Psychoneuroimmunologie,
behindert die Immunzellen bei der Arbeit und ebnet allen Arten von Infektionskrankheiten,
von der
banalen Erkältung bis zu virusbedingten Tumoren den Weg. Das ganze Unheil wird meist auf
das
Stresshormon» Cortisol «zurückgeführt, das uns in Belastungssituationen durch die Adern
schießt.
De facto beruhen die Lehrsätze des modischen Forschungszweiges jedoch auf fragwürdigen
methodischen Ansätzen, einem unzulänglichen Untersuchungsdesign und unhaltbaren
Verallgemeinerungen, wie aus einer umfassenden Analyse der Forschungsliteratur zu
schließen ist,
welche die beiden Immunologen L. Hodel und Prof. P. J. Grob vom Universitätsspital Zürich
vorgenommen haben.7 Bei ihren mehrjährigen Recherchen gingen den Autoren 67 empirische
Studien ins
Netz, die den Einfluss seelischer Faktoren auf das Immunsystem und den medizinischen
Status Gesunder
verfolgten. 40 der 67 Studien waren schon allein deshalb mangelhaft, weil sie keine
Kontrollgruppe –
eine unabdingbare Vorbedingung für jede solide Forschung – enthielten. 19 fielen wegen ihrer
winzig
kleinen Stichprobengröße bei der Qualitätskontrolle durch.
Die Stressbedingungen, deren Auswirkungen in den betreffenden Studien erkundet wurden,
reichten
von der Prüfungsangst bei Studenten über die Trauer beim Verlust einer geliebten Person bis
hin zu der
Belastung bei der Pflege von Alzheimer-Patienten und der Nervenbelastung, die Astronauten
bei der
Rückkehr aus dem Weltall durchmachen. In den meisten Fällen wurde gemessen, ob durch die
jeweiligen
Strapazen irgendein Indikator für die Schlagkraft des Immunsystems in den Keller ging. Aber
auch in
diesem Punkt wiesen sämtliche Studien einen schweren Makel auf, wie die beiden Forscher
rügen: Sie
benutzten überholte Messgrößen, von denen die Immunologie längst abgerückt ist, und zwar
wegen ihrer
fehlenden Aussagekraft.
Trotz dieser gravierenden methodischen Mängel bleibt die Psychoneuroimmunologie bis
heute den
Beweis für den Zusammenhang zwischen Stress und einer Schwächung des Immunsystems
schuldig,
ziehen die Forscher Bilanz. Entweder blieben die (fragwürdigen) Messwerte für die
Immunantwort im
Normalbereich, oder es war ein vernachlässigbar schwacher Rückgang zu verzeichnen.
Niemals erreichte
der Abfall das Niveau, das für Patienten mit einer organischen Störung charakteristisch ist.»In
keiner
dieser Arbeiten ergaben sich jeweils klare Beziehungen zwischen einer erhöhten Zahl von
Krankheitstagen und den gemessenen immunologischen Veränderungen. «Mit den Befunden,
die der
Psychoneuroimmunologie bisher ins Netz gegangen sind, könnte man laut Hodel und Grob
genauso gut
die umgekehrte These stützen:»Stress stärkt das Immunsystem und hilft, die Entstehung von
Krankheiten
zu verhindern.«
Diese Sicht teilt der Biologe Victor Apanius von der Universität Miami:»Es ist ein Klischee,
zu
sagen, dass Stress die Immunabwehr schwächt. Obwohl viele Menschen an diese Phrase
glauben, sind die
biologischen Tatsachen sehr viel komplexer.«8 Und auch der Franzose Robert Dantzer stimmt
in die
Skepsis ein:»Der Gedanke, dass Stress über das Immunsystem Infektionskrankheiten oder
andere
organische Störungen auslöst, beruht allein auf Phantasie.«

«Stress ist ein Risikofaktor in Bezug auf körperliche Krankheiten«

Stress, darin waren sich bisher Fachleute und Laien einig, bringt dem Organismus nur
Schaden ein.
Zumindest eine länger anhaltende seelische Belastung lähmt nach dieser Sichtweise nicht nur
das
Immunsystem, sondern zerrüttet auch das Gedächtnis, macht Nervenzellen im Gehirn kaputt
und leistet
vielerlei Krankheiten Vorschub. Doch allmählich setzt sich in der Wissenschaft die Einsicht
durch, dass
selbst dauerhafter und nicht kontrollierbarer psychischer Stress zu einer Optimierung der
Verknüpfungen
im Nervensystem führen kann.9
Stress wurde in der Forschung fast ausschließlich als eine toxische Attacke auf das
Wohlbefinden
angesehen. Dies war die Ära der» Wurstzipfel-Wissenschaft«, wie Professor Dirk
Hellhammer vom
Zentrum für Psychobiologie und Psychosomatik an der Universität Trier rekapituliert. Auf der
einen Seite
zählte man, wie viele stressige Erfahrungen Menschen machten, auf der anderen wurde etwa
die Zahl der
Neuerkrankungen registriert, die durch den Stress entstanden sein sollten. In Wirklichkeit ist
die
Beziehung zwischen den» Wurstzipfeln «Stress und Krankheit aber komplex und ungewiss.
Von
biologischer Warte ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass ein derart universelles Phänomen
wie Stress
überwiegend negative Folgen haben soll, gibt Professor Gerald Hüther von der
Psychiatrischen
Universitätsklinik Göttingen zu bedenken: Die Evolution hätte eine solch offensichtliche
Schwachstelle
längst ausgemerzt.
Tatsächlich entpuppt sich sogar das Stresshormon Cortisol, der mutmaßliche Schlappmacher,
in neuen
Studien zunehmend als Stärkungsmittel. Menschen, durch deren Adern in Stresssituationen
mehr Cortisol
zirkuliert, sind zum Beispiel besser gegen Allergien und Asthma gefeit. Das zeigte Angelika
Buske-
Kirschbaum von der Universität Trier auf, als sie bei 150 Kindern und Erwachsenen den
Hormonpegel
während einer Belastung maß. Fazit: Allergiker hatten nur halb so viel von dem Stoff im Blut.
Die gleiche
Sprache spricht der Tierversuch, meint die Psychologin: Ratten, die wegen eines Gendefekts
weniger
Cortisol herstellen, ziehen sich viel leichter chronische Entzündungen zu.
Niedrige Cortisolkonzentrationen sind sogar ein Indikator für abartige Reaktionen auf
traumatische
Erfahrungen. Zu diesem Schluss kam Rachel Yehuda von der Mount Sinai School of
Medicine in New
York, als sie in der Notaufnahme den Hormonspiegel von Unfallopfern ermittelte. Sechs
Monate später
hakte sie nach, welche Patienten noch immer von den Erinnerungen an das Trauma
überwältigt wurden.
Ergebnis: Just diejenigen, die die geringsten Mengen Cortisol gebildet hatten, litten am Ende
unter einer
so genannten posttraumatischen Belastungsreaktion (PTSD).
Für Hellhammer lassen solche Befunde nur eine Folgerung zu:»Menschen, die bei Stress nur
wenig
Cortisol produzieren, sind besonders anfällig für krankhafte Reaktionen. «Wenn sie in
lebensbedrohliche
Situationen wie Schießereien oder Geiselnahmen geraten, bleibt bei ihnen oft das Grauen,
sprich PTSD,
hängen. Und wenn der Stress nicht zu Ende geht, quälen sie sich mit dem Gefühl des totalen
Ausgebranntseins ab.
Aus dieser Sicht gewinnt auch ein schon länger bekannter Befund einen völlig neuen Sinn.
Wenn man
Versuchstiere längere Zeit schwerem Stress unterwirft, fallen bestimmte Nervenzellen in»
Winterschlaf«.
Sie ziehen einen Teil ihrer Ausläufer zurück und bauen Kontingente ihrer Kontaktstellen
(Synapsen) ab.
Das ist gar keine Hirnschädigung, meint Hüther.»Die Hirnstruktur wird plastischer. «Alte
Muster werden
aufgeweicht, und es entsteht Platz, um neue Ideen und Verknüpfungen zu bilden.
Erst kürzlich machte in allen Medien die Entdeckung Schlagzeilen, dass ein durch Stress
dauerhaft
erhöhter Cortisolspiegel Nervenzellen im Hippocampus, einer für das Gedächtnis wichtigen
Hirnstruktur,
zerstört. Doch auch dieser Befund fügt sich nicht in das schlichte Schema vom» bösen
«Stresshormon,
warnt die Psychologin Jill Becker von der University of Michigan. 10 Wenn man die
Cortisolquelle durch
einen chirurgischen Eingriff zum Versiegen bringt, treten kurz nach der Operation ähnliche
Verschleißerscheinungen im Hippocampus auf. Es sieht so aus, als ob das Gehirn eine
bestimmte Dosis
von dem Elixier unbedingt haben muss.

«Die Psychosomatik hat einen ganzheitlichen und humanistischen Zugang zur


Krankheit«

Ärzte und Psychologen, die nach den seelischen und emotionalen Wurzeln der Krankheit
fahnden,
können sich in der Öffentlichkeit in einer Aura erhabener Menschlichkeit suhlen: Sie heben
sich
wohltuend von den viel gescholtenen Apparatemedizinern ab, die sich dem Kranken mit der
kalten
Mentalität eines Mechanikers nähern und nur nach einem Defekt im» Getriebe «des Körpers
suchen.
Psychosomatiker nehmen den Menschen scheinbar in seiner personalen und sozialen»
Ganzheit «ernst
und gehen radikal den tiefer liegenden Wurzeln seines Leidens auf den Grund. Es kann auf
den ersten
Blick gar keinen Zweifel geben, dass dieser mitfühlende Ansatz zu einem
menschenwürdigeren Umgang
mit Krankheit und Genesung führt. Auch dem Wissenschaftspublizisten Dieter E. Zimmer ist
der
antimedizinische Habitus der Psychosomatiker aufgestoßen.11»Die Psychoanalyse steht der
Organmedizin, der Schulmedizin, der Apparatemedizin mit Unbehagen oder gar Verachtung
gegenüber.«
Es sei eine Welt,»wo man geradezu lüstern ist auf psychische Erklärungen einer Krankheit
und normale
medizinische Erklärungen mit Verachtung abtut«.
Doch diese menschenfreundliche Sichtweise geht in Wirklichkeit auf eine bösartige optische
Täuschung zurück. Die psychosomatische Deutung von Krankheiten, so der Tenor vieler
kritischer
Analysen, geht in der Realität mit einer diffamierenden und entwürdigenden Haltung
gegenüber den
Kranken einher. Sie vertuscht nicht nur die realen Ursachen der Störung, sondern sie macht
den
Betroffenen auch nachweislich die Bewältigung ihres Leidens schwer.
Die Verfechter des psychosomatischen Denkens geben sich gerne der Illusion hin, dass ihre
Deutungen allein auf dem Wunsch nach einfühlendem Verstehen der Krankheit basieren. Es
wird selten
berücksichtigt, dass es auch hinterhältige und» neurotische «Motive gibt, Kranken eine
psychosomatische
Dynamik» anzuhängen«. Eines der wichtigsten Motive ist der» Glaube an die gerechte Welt«.
Sozialpsychologen haben in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Experimenten und
Befragungen
nachgewiesen, dass alle Menschen im Hinterkopf die Illusion kultivieren, dass es im
Universum gerecht
zugeht und jeder vom Schicksal bekommt, was ihm zusteht. 12 Das Glück ist stets» verdient«,
und auch an
ihren Unbilden sind die Menschen selber schuld.
Dieser Glaube an eine gerechte Welt ermöglicht es den Menschen, ihrer Umgebimg so zu
begegnen,
als sei sie stabil und geordnet, und er stattet sie mit der Überzeugung aus, auch selber gerecht
behandelt
zu werden. Wohl nicht zuletzt wegen der Tendenz, den eigenen Lebenslauf als im Großen und
Ganzen
gerecht zu rekonstruieren, sind Menschen mit einem besonders ausgeprägten Glauben an eine
gerechte
Welt auch allgemein mit ihrem Leben zufriedener.
Die Beobachtung fremder Not kann den Glauben an die übergeordnete Gerechtigkeit in ihren
Grundfesten erschüttern, wenn sie» ungerechtes Leid «ahnen lässt. Wissenschaftler haben
festgestellt,
dass Menschen daher eine verblüffende Augenwischerei vornehmen, wenn sie Zeuge von
fremdem
Missgeschick und Unglück werden: Sie werten die Opfer dieser Schicksalsschläge
charakterlich ab. Die
Schlussfolgerung, dass die Betroffenen sich ihr Leid zumindest teilweise selbst» eingebrockt
«haben,
stellt die lädierte Fairnessnorm wieder her.
Auch bei einer psychosomatischen Deutung schwingt immer die latente Unterstellung mit,
dass die
Kranken sich selbst in ihre Lage hineinmanövriert haben.»Viele Patienten und ihre
Angehörigen, die von
einer solchen Krankheit betroffen sind, leiden unter dem Verdacht, dass mit ihrem Charakter
oder der Art,
wie sie ihr Leben geführt haben, etwas nicht in Ordnung ist«, gibt der Harvard-Mediziner
Steven E.
Hyman zu bedenken.1 Manche Krankheiten, die als psychosomatisch gelten, verführen
besonders dazu,
die Verantwortung auf die Psyche des Opfers abzuwälzen, weil das widerwärtige
Krankheitsbild eine
zersetzende Wirkung auf die Illusion der gerechten Welt ausübt. So hat Krebs viel mit einem
Fluch
gemeinsam, weil er attraktive Organe wie Haut oder Brüste der Abscheulichkeit preisgibt,
erklärt Robert
Dantzer.
Wenn man dem» Krebscharakter «die Schuld für sein Unheil zuschiebt, kann man zwei
Fliegen mit
einer Klappe erledigen. Zum einen kommt der Glaube an die gerechte Welt ins Lot, weil der
Alptraum
Krebs offenbar stets Menschen mit einer radikal falschen Lebenseinstellung erwischt. Es ist
schon sehr
auffällig, dass es sich bei den Wesensmerkmalen, die angeblich psychosomatische
Krankheiten
begünstigen, immer um Eigenschaften handelt, die in der Psychoszene und bei kritischen
Intellektuellen
zutiefst verpönt sind. Die Krebspersönlichkeit, die Kummer und Ärger herunterschluckt, sich
unauffällig
gibt und nach außen die Maske der Normalität aufsetzt, ist der absolute Antityp zur offenen
und
lebenshungrigen Psychoszene. Und dass das Zerrbild vom gehetzten und arbeitswütigen
«Infarktcharakter «ausgerechnet in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern aufblühte,
als der Ethos
der Leistungsgesellschaft in Misskredit geriet, kann wohl kaum als Zufall bezeichnet werden.
Eine Weile lang war in der Psychosomatik der Glaube gang und gäbe, dass alle
psychosomatischen
Krankheiten durch einen Persönlichkeitsdefekt verursacht würden, der als» Alexithymie«
(Gefühlsblindheit) bekannt wurde. Menschen mit diesem Mangel sind unfähig, ihre Gefühle
auszudrücken und zu benennen, und ihr dumpfes Phantasieleben wird von der Gegenwart und
von
konkreten Gegenständen beherrscht. Es ist schon ein geradezu ästhetischer Gedanke, dass sich
die
Unfähigkeit zum Träumen und Fühlen in der Metapher einer seelischkörperlichen Krankheit
entlädt.
Sorgfältige Forschungsarbeiten haben inzwischen klar belegt, dass Alexithymie keinen
besonderen Bezug
zu psychosomatischen Krankheiten besitzt, und es ist verräterisch still um den Begriff
geworden. 13 Sehr
wahrscheinlich lag der Reiz des Konzeptes allein darin, dass in der Psychoszene ein solcher
Gefühlsmangel Abscheu erregt.
Wichtig ist außerdem, dass die Opfer von mutmaßlich psychosomatischen Störungen durch
diese
Deutung zu einem untauglichen Umgang mit ihrer Krankheit verleitet werden. Opfer einer
schweren
Krankheit sind immer stark motiviert, ihrem Leiden einen Sinn zu verleihen, indem sie ihm
eine Ursache
zuschreiben. Gerade unerwünschte und schreckliche Erfahrungen fordern nämlich fast
automatisch die
Frage» Warum gerade ich?«heraus. Eine psychosomatische Antwort auf diese Frage ruft aber
offenbar
erhebliche Probleme hervor. Das hat etwa der Würzburger Psychologe Dr. Hermann Faller in
einer Studie
an 120 Personen aufgedeckt, die an einem neu diagnostizierten Bronchialkarzinom litten.5
Das Ergebnis der Erhebung ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Just die
Untergruppe der
Patienten, die ihren Tumor auf seelische Ursachen zurückführte, kam am schlechtesten mit
ihrer
Krankheit zurecht und zeigte die ungünstigste Form der Bewältigung. Die Betreffenden waren
emotional
sehr viel belasteter und depressiver und hatten viel weniger Hoffnung für ihre Zukunft.
Stattdessen war
ihr ganzes Sinnen und Trachten durch Hader mit dem Schicksal und zwanghaftes Grübeln
über ihr
verpfuschtes Leben durchsetzt. Dabei machte es keinen Unterschied, was genau die Patienten
unter
seelischen Ursachen verstanden: eine schwere Kindheit, einschließlich familiärer Probleme
und Stress,
oder» Lücken «in der eigenen Persönlichkeit wie unterdrückte Gefühle, Pessimismus und
mangelnde
Durchsetzungsfähigkeit.
Diese Befunde sind umso bedeutsamer, als sie mit Beobachtungen an anderen
Patientengruppen
übereinstimmen, geben die Forscher zu bedenken. Der Schluss auf seelische Ursachen ist
danach auch
beim Herzinfarkt, bei der Niereninsuffizienz, bei multipler Sklerose, bei Morbus Crohn und
Myasthenia
gravis kontraproduktiv und leistet einer unvorteilhaften Krankheitsbewältigung Vorschub.
Wer seine
«psychosomatische «Krankheit auf eine äußere Triebfeder wie Stress zurückführt, schadet
sich genauso
wie jemand, der an eine innere Verursachung wie ein» verfehltes Leben «glaubt, betont der
Psychologe
Michael Myrtek.»Stressattributionen und andere äußere Ursachenzuschreibungen haben zwar
den
Vorteil, den Patienten von der eigenen Schuldzuweisung zu entlasten, können aber die
subjektive
Relevanz anderer Risikofaktoren (Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht) schmälern und
somit die
Rehabilitation behindern.«
Die psychosomatische Medizin muss sich nach Ansicht der Autoren davor hüten,
Charakterzüge von
Patienten in die Vergangenheit zurückzudatieren und als Krankheitsursachen zu interpretieren.
Vielleicht
sei das» wissenschaftliche «Konzept der Krebspersönlichkeit de facto nur der Reflex einer
schlechten
Krankheitsbewältigung, das irgendwie von den Patienten auf die Medizin übergesprungen sei.
Der junge
Schweizer Lehrer Fritz Zorn, der später an einer bösartigen Geschwulst verstarb, hat mit
seinem
autobiographischen Buch» Mars «ein erschütterndes Mahnmal für diese Gefahr gesetzt.14 In
dem
ergreifenden Pamphlet macht der Autor sein ungelebtes Leben und die Gefühlskälte seiner
Erziehung für
den Tumor verantwortlich. Statt das todbringende Symptom beim ersten Verdacht mit radikal
chirurgischen Methoden zu bekämpfen, erklärte er es (unter Anleitung durch einen
Psychotherapeuten) zu
einer Metapher, die es zu verstehen gelte.»Obwohl ich noch nicht wusste, dass ich Krebs
hatte, stellte ich
intuitiv bereits die richtige Diagnose, denn ich betrachtete den Tumor als >verschluckte
Tränen.«

1 Hyman, Steven E.: Another one bites the dust. An infectious origin for peptic
ulcers. In: Harvard Review of Psychiatry, Vol. 1 (1994), S. 294–295.
2 Myrtek, Michael: Gesunde Kranke – kranke Gesunde. Psychophysiologie des
Krankheitsverhaltens. Huber Verlag, Bern/Göttingen 1998.
3 Dantzer, Robert: The psychosomatic delusion. Why the mind is not the source of
all our ills. Free Press, New York 1993.
4 Myrtek, Michael: Psychophysiologische Reaktivität, Stress, Typ-A-Verhalten und
Feindseligkeit als Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit.
In: Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, Bd. 20 (1999), S. 89-119.
5 Faller, H., Lang, H., Schilling, S.: Kausalattribution» Krebspersönlichkeit«– ein
Ausdruck maladaptiver Krankheitsverarbeitung?
In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Bd. 44
(1996), S. 104–116.
6 Amelang, Manfred (mit C. Schmidt-Rathjens): Psychometrische Gütekriterien
und Persönlichkeits-Korrelate der Krankheitsprädiktoren von
Grossarth-Maticek und Eysenck. In: Diagnostica, Bd. 39 (1993), S. 281–298.
7 Hodel, L. /Grob, P. J.: Psyche und Immunität. In: Schweizerische Medizinische
Wochenschrift, Bd. 123 (1993), S. 2323–2341.
8 Apanius, Victor: Stress and immune defense. In: Advances in the study of
behavior, Vol. 27 (1998).
9 «Stress kann auch in Hochform bringen«. In: Stern, 19/98.
10 Becker, Jill: Hormonal influences on extrapyramidal sensorimotor function and
hippo-campal plasticity.
In: Jill Becker et al. (Hg.): Behavioral endocrinology. MIT Press, Cambridge,
1992.
11 Zimmer, Dieter E.: Tiefenschwindel. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek
1990.
12 Dalbert, Claudia: Verdientes Unglück? In: Psychologie heute, Mai 1998.
13 Lumley, Mark A. et al.: How are alexythymia and physical illness linked? In:
Journal of psychosomatic research. Vol. 41 (1996), S. 505–518.
14 Zorn, Fritz: Mars. Fischer Verlag, Frankfurt 1994.

Seelengedrängel

«Manche Menschen werden von multiplen Persönlichkeiten übermannt«

Wir alle werden manchmal dermaßen von widersprüchlichen Leidenschaften und Impulsen
heimgesucht, dass wir den Eindruck bekommen, eine» gespaltene Persönlichkeit «zu besitzen.
Doch nach Meinung einiger selbst ernannter Experten ist eine sehr viel schwerwiegendere
und
behandlungsbedürftige Variante von» Persönlichkeitsspaltung «auf dem Vormarsch, die als
«Multiple Persönlichkeitsstörung«(MPS) bezeichnet wird. In diesen armen Menschen sollen
bis
zu 100 und mehr Persönlichkeiten mit völlig unabhängigen Gedanken, Gefühlen und
Erinnerungen
nebeneinander herumspuken, von denen jede einzelne von einem Augenblick zum anderen die
Kontrolle über den» Wirtskörper«übernehmen kann.
Groteske Erscheinungen wollen die von der Existenz des Seelenleidens überzeugten
Psychospezialisten beobachtet haben, sobald eine der Alternativ-Persönlichkeiten (»Alter«)
das
Kommando über einen MPS-Patienten an sich reißt: Plötzlich ist ein zuvor normalsichtiger
Patient
stark kurzsichtig, Allergien verschwinden binnen Sekunden, der einschlägige Dialekt macht
einem
völlig fremden und unbekannten Duktus Platz. Während des dramatischen
Persönlichkeitswechsels
«switching«) sollen auch im Hirnstromwellenbild (EEG) und in den Darstellungen anderer
bildgebender Verfahren frappierende und aufschlussreiche Veränderungen zu sehen sein.
Nach kritischer Sichtung der Daten kommt jedoch mittlerweile ein ganzes Heer von
nüchternen Fachwissenschaftlern zu dem Schluss, dass dieses Seelenspektakel an den Haaren
herbeigezogen ist.»Es gibt überhaupt keine multiplen Persönlichkeiten«, dementiert der
amerikanische Psychologe und Wissenschaftspublizist Robert A. Baker den verbreiteten
Glauben.
«Jeder einzelne Fall, der sorgfältig unter die Lupe genommen wurde, hat sich als eine
künstlich
durch den Therapeuten hervorgerufene (>iatrogene<) Vorspiegelung entpuppt.«
Auch der für seine Einfühlsamkeit gegenüber» Verrückten«– Patienten mit der Diagnose
Schizophrenie – berühmte Psychiatrie-Professor Klaus Dörner aus Gütersloh stimmt dem
völlig zu.2 Viele
Laien werfen die multiple Persönlichkeit und die durchaus reale und tragische
Geisteskrankheit
Schizophrenie durcheinander, obwohl Schizophrene gar keine abgespaltenen Seelenanteile
aufweisen. Bei
ihrem Leiden stehen vielmehr geistige Zerfahrenheit und Wahngedanken im Vordergrund.»Da
wächst,
blüht und gedeiht etwas in der Therapeutenszene«, spottet Dörner über den Mythos MPS, den
er für eine
Pseudodiagnose hält.»Die Multiple Persönlichkeitsstörung gibt es überhaupt nicht.«

«Die Existenz der multiplen Persönlichkeit wird durch historische Fallbeispiele


dokumentiert«

Dass die Vorstellung einer gespaltenen Persönlichkeit einen verführerischen Reiz besitzt,
stellte der
in Edinburgh geborene Schriftsteller Robert Louis Stevenson 1886 mit dem durchschlagenden
Erfolg
seines Schauerromans» Dr. Jekyll und Mr Hyde «unter Beweis. Der Weltbestseller beschreibt
die dunkle
Seite des sympathischen und respektablen Dr. Jekyll, der sich unter dem Einfluss einer Droge
anfallsartig
in den widerlichen Meuchelmörder Mr Hyde verwandelt. Just in Edinburgh traten aber auch
Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts eine ganze Reihe von Patienten in Erscheinung, die von sich
behaupteten, von
einem doppelten Bewusstsein befallen zu sein. In ihren Berichten war stets von einem
«Somnambulismus «die Rede: Sie waren plötzlich in einen schlafähnlichen Zustand geraten,
in dem eine
andere Person die Oberhand gewann. Schlagzeilen machte der Fall eines einfachen Mädchens,
das in
diesen» weggetretenen «Phasen unerwartet zu herausragenden intellektuellen Leistungen
fähig war.
Doch diese insularen Ausbrüche blieben Episoden. Der Paukenschlag, welcher der Diagnose
MPS
augenblicklich zum weltweiten Durchbruch verhalf, trug sich erst 1973 mit dem
sensationellen Fall
«Sybil «in den Vereinigten Staaten zu. Während ihrer elf Jahre dauernden Behandlung stellte
sich
angeblich heraus, dass diese Patientin, auf die sich die Verfechter der MPS noch heute
berufen, aus nicht
weniger als 16 Persönlichkeiten bestand. Der Bericht über die Therapie, welche dauerhaft die
ursprüngliche» Schallmauer «von nur zwei Egos durchbrach, fand nicht nur den Weg zum
großen Lese-
und Kinopublikum. Er löste auch einen wahren Dammbruch von öffentlichen Reaktionen und
Trittbretteffekten aus. Überall erschienen Magazinartikel und populäre Bücher zu der bizarren
Störung;
sie wurde zu einem Lieblingsphänomen der zahlreichen Talkshows, und überall boten» MPS-
Therapeuten «und spezialisierte Kliniken ihre Dienste an.
Mit einem Male meldeten sich im ganzen Land Menschen, die das Leiden der Sybil am
eigenen
Leibe verspürten. In der klinischen Literatur wurden bis Mitte der neunziger Jahre etwa 300
Beispiele
von MPS beschrieben. Aber lediglich acht Fälle ereigneten sich in der Vor-Sybil-Ära. Bis
1981 war die
Zahl schon auf rund 100 hochgeschnellt.1 In den letzten 25 Jahren, klagen die Fachleute, sei
die wahre
Zahl der Betroffenen jedoch schon auf 20.000 gestiegen.
Doch mit dem Vorbild der Sybil sind die Trittbrettfahrer offenbar auf eine Mogelpackung
hereingefallen: Die 16 Persönlichkeitsabspaltungen in dem Paradefall waren nur die
Erfindung einer
Therapeutin und einer Autorin.»Ihr Ruhm in der Psychologiegeschichte «beschränke sich in
Wahrheit
darauf, die» zentrale Figur im größten Psycho-Skandal des Jahrhunderts «gewesen zu sein,
konstatiert der
New Yorker Psychologe Robert Rieber.3 Der» Fall Sybil«, so Rieber 1998 auf der
Jahrestagung des
amerikanischen Psychologenverbandes in San Francisco, war in Wahrheit ein» hinterlistig
eingefädeltes
Betrugsmanöver«.
Die Beweise, die das abgekartete Spiel auffliegen ließen, hatte der Seelenforscher beim
Aufräumen
seines Büros im John Jay College of Criminal Justice gefunden – in Gestalt von zwei
verstaubten
Tonbandkassetten. Rieber hatte sie 1972 von einer inzwischen verstorbenen Bekannten, der
Wissenschaftsjournalistin Flora Schreiber, erhalten, die damals beim populären Magazin»
Science
Digest «für die Psycho-Berichterstatrung zuständig war. Die Kassetten enthielten unter
anderem
Mitschnitte von der Therapie der Sybil, die Frau Schreiber von Sybils Therapeutin, der
Psychoanalytikerin Cornelia Wilbur, erhalten hatte. Die Journalistin, die wenig später mit dem
vermeintlichen Tatsachenroman» Sybil «einen spektakulären Hit landen sollte, hatte sich
damals noch
vergeblich bemüht, den gemeinsam mit der Therapeutin Wilbur verfassten Therapiebericht in
einem
wissenschaftlichen Fachblatt unterzubringen.
Da alle Platzierungsversuche fehlschlugen, versuchte die Autorin ihren Bekannten Rieber
einzuspannen. Sie spielte ihm 12 Tonbandkassetten mit dem Hinweis zu, er könne sie
vermutlich sehr gut
für sein gerade laufendes Forschungsprojekt über das Sprechen und Schweigen von
Geisteskranken
benutzen. Doch Rieber fiel nicht auf die Finte herein.»Die beiden glaubten, mich würden die
therapeutischen Interviews so faszinieren, dass ich mich für eine Veröffentlichung einsetze.
«Er habe
danach in die Bänder hineingehört; doch die Aufnahmequalität sei miserabel, das Material
deshalb für
seine Forschung nicht verwendbar gewesen. Daraufhin habe er die Kassetten achtlos in eine
Schublade
gelegt und sie» dann ganz einfach vergessen«. Erst im Jahr davor, anlässlich einer erneuten
Expertendiskussion über den Fall Sybil, fielen dem Psychologielehrer die Tonbänder wieder
ein.»Ich
begann zu kramen, lange Zeit erfolglos, bis ich vor einigen Monaten zwei der Kassetten
fand.«
Die Bänder enthielten überwiegend Gesprächsprotokolle zwischen der Patientin mit dem
Pseudonym
Sybil Isabel Dorsett und ihrer Therapeutin, aber auch, wie der jüngste Fund belegt,
Unterhaltungen
zwischen Therapeutin und Autorin. Beim Anhören war Rieber» total geschockt«über den
Inhalt: Es
waren die» bislang wohl wichtigsten Informationen, die den rätselhaften Paradefall der Sybil
Isabel
Dorsett als ein riesiges Lügengebäude entlarvten«. Auf den jeweils einstundigen Kassetten
schmiedeten
die Therapeutin Wilbur und die Autorin Schreiber schamlos Pläne, um den Fall Sybil zu einer
gigantischen Sensation zu puschen.»Eindeutig «dokumentierten die Gespräche, so Rieber,
dass» der
berühmteste Fall eines Patienten mit multipler Persönlichkeit eine betrügerische Konstruktion
ist«.
Die 31-jährige Sybil, die in Wirklichkeit Shirley Mason hieß, war eine hochintelligente und
gebildete
Persönlichkeit. Wegen emotionaler Probleme und eines plötzlichen» Nervenzusammenbruchs
«hatte sie
sich in die Obhut der Therapeutin Wilbur begeben. Dass Wilburs Klientin Sybil
verhaltensgestört war, ist
laut Rieber» sehr wahrscheinlich«; eine multiple Persönlichkeit sei sie aber» bestimmt nicht
«gewesen.
Denn dieses perfide Schauspiel hatten einzig und allein die beiden» Verschwörerinnen «aus
ihr
hervorgelockt. Cornelia Wilbur verstand es meisterlich, ihre Patientin zu manipulieren. Sie
kitzelte zum
Beispiel aus Sybil nach der angeblichen Verabreichung eines» Wahrheitsserums
«Mitteilungen über
einzelne» Persönlichkeiten «heraus. Es war Wilbur und nicht die Patientin, die diesen»
Persönlichkeiten«
Namen gab und sie mit Eigenarten ausschmückte.
Und es waren eindrucksvolle Phantom-Egos, die bei dieser getürkten Revue zutage traten.
Jedes
dieser Sybil-Ichs hatte einen eigenen Namen, zeigte besondere Vorlieben und Fähigkeiten,
sogar
verschiedene Arten, zu gehen, sich auszudrücken und zu sprechen.»Peggy «etwa war, wie
Sybil zu
Protokoll gab,»selbstbewusst «und» begeisterungsfähig«,»Marcia «eher» depressiv
«veranlagt,
«Vanessa «hingegen» lebhaft«. Und es gab da auch noch Mike und Sid, zwei Teenager
männlichen
Geschlechts, die sich gleichfalls im Körper der jungen Frau aufhielten.
Die Psychoanalytikerin flößte ihrer Klientin auch vorsätzlich die» Erinnerung «an jene»
Urszene«
ein, die in der Psychoanalyse von Sigmund Freud einen so hohen Stellenwert besitzt. Sybil
glaubte
schließlich fest daran, sie habe als Kind im elterlichen Schlafzimmer übernachtet und ihren
Eltern beim
Sex zugesehen. Skrupellos nutzte die Psychiaterin Wilbur ihre Machtposition als Therapeutin
aus. Durch
suggestive Fragen brachte sie Sybil dazu, sich an nicht existierende Vorkommnisse zu
erinnern.
Irgendwann kamen die beiden Komplizinnen bei der Buchplanung auf die Idee, Sybils Mutter
müsse
aus dramaturgischen Gründen als» hinterhältig, schlecht und gemein «geschildert werden.
Flugs setzten
sie der Patientin den Floh ins Ohr, sie habe als kleines Kind unvorstellbare Misshandlungen
durch ihre
Mutter erleiden müssen. Um Sybils phantastisch anmutender Personenvielfalt einen weiteren
Kick zu
geben, beschlossen Wilbur und Schreiber, dass Sybil» ihre Mutter hassen muss, je bitterer,
desto besser«.
Es bereitete ihnen anscheinend keine Probleme, Sybil zu dem entsprechenden Zugeständnis
zu
provozieren.
Peter J. Swales, der Historiker, der als Erster die wahre Identität der Sybil enthüllte, hat in den
letzten
Jahren viele Verwandte und ehemalige Bekannte von Shirley Mason nach der Kindheit der
Vorzeigepatientin befragt. Die beiden Hauptbetroffenen, Sybil und ihre Therapeutin, waren
inzwischen
tot. Das Ergebnis seiner Ermittlungen über den angeblichen Missbrauch bringt er
folgendermaßen auf den
Punkt:»Die Beweise sprechen sehr stark dafür, dass sich die schlimmen Vorfälle nie ereignet
haben.«5

«Multiple Persönlichkeiten werden durch Misshandlung in der Kindheit


hervorgerufen«

Eines der erfundenen Details aus der Therapie der Sybil ist heute überhaupt nicht mehr aus
der
Irrlehre der MPS-Gläubigen wegzudenken. Das ist die unerschütterliche Gewissheit, dass sich
die
Abspaltung der Persönlichkeiten immer auf die Erfahrung von Misshandlung und/oder
sexuellem
Missbrauch in der Kindheit zurückführen lässt. Die Patienten selbst haben zu Beginn der
Behandlung
nicht die geringste Ahnung von ihrer traumatischen Vorgeschichte: Die mutmaßlich»
verdrängte«
Erinnerung an ihr furchtbares Martyrium wird erst im Verlauf einer langen Therapie, oft unter
Einsatz von
Hypnose und Beruhigungsmitteln,»aufgedeckt«. Bei dem MPS-Urtyp Sybil beispielsweise
nahmen die
Enthüllungen elf Jahre mit insgesamt 2354 Sitzungen in Wilburs Praxis an der New Yorker
Park Avenue
in Anspruch.
Nach und nach kommen dann mit den Spaltpersönlichkeiten auch die angeblich verschütteten
Erinnerungen an die schreckliche Kindheit ans Tageslicht. Nachdem die MPS-Diagnose
gestellt worden
war, so ergab eine Untersuchung des National Institute of Mental Health, entsannen sich 97
Prozent aller
Patienten an Missbrauchserfahrungen. Die Therapeuten geben sich in dieser Szene selten mit
profanen
Traumata wie einem lieblosen und feindseligen Elternhaus zufrieden. Damit das ganze Drama
auch die
Würze von Sex und Crime besitzt, werden mit Vorliebe schockierende Erinnerungen an
Vergewaltigungen, Quälereien oder rituelle Folter, etwa bei satanischen Messen, aufgefahren.
Glaubt man den Erfahrungsberichten, die von der Kasseler Psychologin und Buchautorin
Michaela
Huber3 gesammelt wurden, so gehen die Kinderschänder mit bestialischer Brutalität auf ihre
Opfer los.
Verbreitet, behauptet die MPS-Expertin, sei die Kindesfolterung bei schwarzen Messen und in
«germanofaschistischen «Sekten: Dort werden, laut Huber, Kinder zum Kannibalismus
gezwungen,
nachdem sie zuvor bei der rituellen Schlachtung von Neugeborenen haben zusehen müssen.
Angesichts solch ungeheuerlicher Erlebnisse zieht sich das Selbst des Kindes aus der Welt
zurück,
beschreibt der Psychologe Robert A. Baker die einschlägige Theorie:»Das Kind beschließt,
dass seine
Hauptpersönlichkeit bösartig und nicht liebenswert ist. In seiner Verzweiflung produziert es
eine weitere
Persönlichkeit, mit der Hoffnung, dass diese die vermisste Zuwendung erhält. «Eine
Teilpersönlichkeit
unterliegt also dem Trauma, während sich der verbleibende Teil hinter einer mentalen Barriere
versteckt.
In vielen Fällen, so die MPS-Doktrin, wachsen dann die Bewusstseinsfragmente zu
eigenständigen
Persönlichkeiten heran, die durch Amnesie-Barrieren voneinander getrennt bleiben: Ihnen ist
nichts von
der Existenz der anderen bekannt.
So einladend plausibel diese Denkvorstellung auch klingen mag, es gibt in der gesamten
wissenschaftlichen Literatur keinen einzigen Beleg dafür, dass Menschen, die als Kind
schwerwiegend
traumatisiert oder sexuell missbraucht werden, im späteren Leben multiple Persönlichkeiten
hervorbringen, ziehen die beiden holländischen Psychologie-Professoren Hans F. M.
Crombag und
Harald L.G. Merckelbach in einer umfangreichen Übersicht Bilanz. 5 Kanadische Forscher
haben danach
zum Beispiel kürzlich eine vollständige Literaturrecherche über die kürzend langfristigen
Folgen von
sexuellem Kindesmissbrauch durchgerührt. Das Trauma kann auch langfristig verschiedene
einschneidende Störungen nach sich ziehen: Ängste, Depressionen, Probleme mit der
Sexualität und
mehr.»Aber einen Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und MPS konnten die
Autoren
überhaupt nicht finden.«
Auch eine neue US-amerikanische Gesamtdarstellung kommt nach Aussage der holländischen
Professoren zum gleichen Schluss: Unter all den möglichen seelischen Problemen, die als
Folge von
frühem sexuellem Missbrauch auftreten, kommt die Diagnose MPS nicht vor. Ein Team von
Harvard-
Psychiatern hat mit» kriminalistischen «Methoden die frühe Lebensgeschichte von Patienten
unter die
Lupe genommen, die in einer Therapie nicht nur multiple Persönlichkeiten, sondern auch
traumatische
Kindheitserinnerungen» ausgepackt «hatten. Vorsichtiges Fazit: Die Erzählungen waren
vermutlich
falsch.
Seriöse Wissenschaftler ziehen heute ohnehin den Glauben der MPS-Therapeuten in Zweifel,
die
traumatischen Erfahrungen ihrer Klienten schlummerten verdrängt oder blockiert im
Gedächtnis der
Alternativ-Persönlichkeiten. Nach Jahrzehnten empirischer Studien fehlt jeglicher Beweis für
die These,
dass Erinnerungen überhaupt durch Verdrängung aus dem Bewusstsein verbannt werden
können. In der
psychiatrischen Praxis ist eher das Gegenteil zu beobachten, nämlich wie schwer es Menschen
fällt, sich
traumatische Erlebnisse aus dem Kopf zu schlagen. Ehemalige KZ-Häftlinge,
Kriegsveteranen und
Folteropfer haben die furchtbarsten Gräuel durchlebt. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass die
Erinnerungen
daran je verdrängt oder zum Nährboden multipler Persönlichkeiten geworden wären.

«Multiple Persönlichkeiten sind reale Ausgeburten der Seele«

Es ist schwer, sich dem faszinierenden Eindruck zu entziehen, wenn eine abgespaltene
Persönlichkeit
ihr Gastspiel gibt. Der Auftritt kann eine derart imposante Präsenz besitzen, dass die
Traumfabrik
Hollywood ihn bereits mehrfach für nervenaufreibende Kinoknüller nutzte. Ein Ego nötigt das
andere zu
unangenehmen Dingen, zu einem Verbrechen oder gar zum Selbstmord. Ein anderes versteckt
sich oder
nimmt die Rolle eines wiederum anderen an. Manche Egos sind begnadete Lügner, welche die
Existenz
der Personenvielfalt vertuschen und den Therapeuten in die Irre führen. Manche saugen
gnadenlos all die
anderen Teilpersonen neben ihnen auf.
Doch so überzeugend die Manifestation auch auf Außenstehende wirken mag: Nach
Darstellung der
beiden Psychologie-Professoren Crombag und Merckelbach und vieler anderer Experten
erlaubt die
kritische Würdigung der Daten nur einen Schluss: Der Auftritt solcher» Abspaltungen «ist
lediglich ein
Rollenspiel, das der Patient nur» abzieht«, weil er dem Erwartungsdruck und den
aufgeputschten
Manipulationen seines Therapeuten folgen will.
Ein ganzes Bündel von Fakten weist unmissverständlich in diese Richtung. Den ersten
Hinweis
liefern die Therapeuten selbst: Wenn die Spaltpersönlichkeiten ein real existierendes
Phänomen wären,
müssten alle Seelenheiler sie orten können. Tatsache ist jedoch, dass überall da, wo MPS
überhaupt
vorkommt, nur eine Hand voll Therapeuten für den Löwenanteil der Ortungen verantwortlich
ist. In der
Schweiz haben zum Beispiel 90 Prozent aller Psychiater noch nie einen Fall von MPS
gesehen. 70
Prozent aller dort aufgetretenen Fälle gingen gerade einmal sechs Psychiatern ins Netz. Das
gleiche
Missverhältnis ist in den Niederlanden, in Kanada und in den USA zu verzeichnen. In den
meisten Fällen
stehen übrigens die anderen Psychiater der MPS-Diagnose durch einen Fachkollegen äußerst
skeptisch
gegenüber.
Auch die internationale Verteilung der MPS-Diagnosen lässt das Schlimmste ahnen: Da, wo
wie in
den USA und Kanada ein Netz aus fest organisierten MPS-Sachverständigen existiert, ist die
Zahl der
Fälle sprunghaft angestiegen. Doch in Frankreich, England, Indien, Japan und Russland ist
das
Krankheitsbild MPS nahezu unbekannt.»Vor allem Frankreich und England haben auf dem
Gebiet der
Psychiatrie eine anerkannte Tradition«, notieren die beiden holländischen Seelenforscher,»und
es gibt
keinen Grund, anzunehmen, dass die psychiatrischen Zentren dort nur mit Versagern besetzt
sind. «Eine
nette Anekdote ist die Erfahrung amerikanischer Psychiater, die vor ein paar Jahren während
der
Perestroika nach Russland reisten, um das russische Erscheinungsbild der MPS zu studieren.
Die Reise
war ein totaler Flop, denn in Russland war kein einziger MPS-Patient aufzutreiben.
Auf den ersten Blick könnte man Zweifel haben, dass gewöhnliche Menschen überhaupt den
Sachverstand und das schauspielerische Talent besitzen, um eine überzeugende MPS-Schau
auf die
Bühne zu stellen. Amerikanische Forscher haben diese Zweifel mit einer Versuchsreihe
ausgeräumt.
Normale Versuchspersonen wurden gebeten, sich vorzustellen, sie seien in eine heikle Lage
geraten, zum
Beispiel unter Mordverdacht. Dann mussten sie sich einem Interview durch einen angeblichen
Psychiater
stellen, der schlicht den Verdacht aussprach, der Beschuldigte könne» mehrere Seiten «haben.
Es stellte sich heraus, dass die Probanden begeistert auf dieses Angebot abfuhren: Sie
warteten
prompt mit mehreren Spaltpersönlichkeiten auf, von denen jede einen eigenen Namen, eigene
Wesenszüge, eine eigene Biographie und einen eigenen Sprachstil besaß. Die meisten kamen
auch
selbstständig auf die Idee, zu behaupten, dass ihre Erinnerung an das Verbrechen einem
Gedächtnisverlust
zum Opfer gefallen sei. Die ganze Vorstellung war selbst für Profis nicht als Farce zu
durchschauen.
Der Test beweist, dass ganz normale Menschen nur ein paar vage Hinweise benötigen, um die
MPS-
Rolle bis ins kleinste Detail auszufüllen. Wenn dies bereits für die typischen
Versuchspersonen gilt, wie
viel leichter mögen dann wohl Menschen zum Opfer solcher Suggestionen werden, die in Not
Hilfe bei
einem Therapeuten suchen, der sich als Spezialist für multiple Persönlichkeiten ausgibt? Die
Therapeuten
räumen immerhin selbst ein, dass ihre Patienten zu Beginn der Behandlung nichts von der
Spaltung ihrer
Seele ahnen. Während der Behandlung fahren sie dann ein ganzes Arsenal von bildlichen
Vorstellungen
auf, die eine Spaltung suggerieren, zum Beispiel sprechen sie über» das Kind in dir «oder»
den Teil von
dir, der nicht essen will«. Dann rücken sie dem Patienten mit Hypnose auf den Leib, die
nichts anderes
bewirkt, als ein Rollenspiel anzustacheln. Irgendwann» kippt «der Patient um und macht
seinem Heiler
das gewünschte Schauspiel zum Geschenk.

«Patienten haben gar kein Motiv, eine Persönlichkeitsspaltung vorzutäuschen«

Ein Argument für die Realität des multiplen Persönlichkeitsspukes besagt, dass die Patienten
gar kein
Motiv und keine zwingenden Beweggründe hätten, ein solches Theaterstück aufzuführen. In
Wirklichkeit
kann jedoch eine Vielzahl von Motiven den Anstoß zu einer solchen manipulierten
Selbstdarstellung
geben, hält der Psychologe Robert A. Baker fest. 1 Wer erfolgreich die gespaltene
Persönlichkeit
«markiert«, kann zum Beispiel alle Privilegien einer exklusiven Krankenrolle einheimsen: die
Bewunderung und die Hochachtung, deren eine Person mit einem dramatischen
Krankheitsbild teilhaftig
wird. Das Gefühl von Würde, das damit verbunden ist, dass man ungeheuerliche Widrigkeiten
überstanden und die menschliche und intellektuelle Zuwendung eines professionellen und
angesehenen
Seelenhelfers gefunden hat. Die Genugtuung, die darin besteht, dass man die Finger auf ein
vor
Jahrzehnten begangenes Verbrechen (Missbrauch) legt und sich als Vollstrecker der
Gerechtigkeit erleben
kann.
Manchmal können aber auch profanere Beweggründe den Ausschlag geben. Das
Erscheinungsbild
der MPS bietet zum Beispiel die Möglichkeit, die Verantwortung für unschickliche und sozial
unerwünschte Verhaltensweisen auf eine» Subpersönlichkeit «abzuwälzen. Das ist dasselbe,
was kleine
Kinder tun, wenn sie sagen:»Ich habe die Vase nicht umgeworfen. Der böse Junge hat es
getan, aber ich
wollte es nicht tun. «Vor allem Zeitgenossen, die eine lebhafte Phantasietätigkeit besitzen und
sich schon
als Kinder imaginäre Spielgefährten herbeidachten, brüten im Erwachsenenalter multiple
Persönlichkeiten aus. 1994 kam eine Frau in Kentucky vor Gericht mit der
Revolvergeschichte durch,
nicht sie selbst, sondern eine ihrer Unterpersönlichkeiten habe den ehelichen Seitensprung
begangen. Ihr
Gatte hatte die Abgabe von Unterhaltsleistungen mit dem Verweis auf die Untreue abgelehnt.
Tatsächlich
ließ sich das Gericht von diesem Schwachsinn bluffen.
In amerikanischen Strafprozessen kommt es mit zunehmender Häufigkeit vor, dass
Angeklagte
vorgeben, an MPS und einem Gedächtnisverlust bezüglich ihrer Straftat zu leiden. Laut
Crombag und
Merckelbach sind ungefähr zwanzig solcher Fälle beschrieben worden, und in mindestens vier
davon
holten die betreffenden Simulanten damit einen Freispruch für sich heraus. Das in diesem
Zusammenhang berüchtigste Beispiel ist das des amerikanischen Serienmörders Kenneth
Bianchi, besser
bekannt als der» Hillside Strangler«. Nach seiner Festnahme gab er an, unter MPS zu leiden,
und nahm
eine totale Amnesie für seine Taten in Anspruch. Jeder hätte ahnen müssen, dass er auf das
Urteil
«schuldunfähig wegen seelischer Störung «abzielte. Doch ein» Experte «machte ihm
tatsächlich die
entlastende Diagnose» MPS «zum Präsent. Unter den übrigen konsultierten Profis entbrannte
bald ein
heftiger Expertenstreit. Zum Glück konnte ein Polizeifahnder den intellektuellen
Schwachstromgehirnen
eine Lektion erteilen: Er machte ein verstecktes Spind ausfindig, in dem Bianchi diverse
Lehrbücher der
klinischen Psychologie gehortet hatte. Sie enthielten ausführliche Beschreibungen der
Multiplen
Persönlichkeitsstörung. Der Hillside Strangler wurde, inklusive aller in ihm wohnenden
Mörder-Egos,
schuldig gesprochen.

1 Baker, Robert A.: Mind games. Are we obsessed with therapy? Prometheus
Books, New York 1997.
2 «Modischer Wahn«. In: Der Spiegel, 12/1995.
3 «Floras Erzählungen«. In: Der Spiegel, 44/1998.
4 «Unmasking Sybil«. A re-examination of the most famous Psychiatric patient in
history. In: Newsweek, 25.1.1999.
5 Crombag, Hans EM./Harald L. G. Merckelbach: Missbrauch vergisst man nicht.
Verlag Gesundheit, Berlin 1997.

MYTHEN DES VERÄNDERTEN BEWUSSTSEINS

Schein-Heil im Lotussitz

«Meditation erzeugt einen einzigartigen körperlich-geistigen Entspannungszustand«

Wenn die enthusiastischen Versprechungen ihrer Apostel nicht täuschen, haben fernöstliche
Mönche
mit der Technik der Meditation schon seit etlichen Jahrhunderten ein Allheilmittel gegen die
verderblichen Auswüchse der modernen Stressgesellschaft parat. Meditation ist eine Methode
der
mentalen Selbstversenkung, die durch die Konzentration auf ein meditatives Symbol, einen
Klang oder
auf den eigenen Atem zu einem außerordentlich tiefen Gefühl der inneren Ruhe führen soll.
Der Zweck
dieser geistigen Übung bestand in ihrem ursprünglichen religiösen Kontext darin, die
Beschränktheit des
alltäglichen Denkens zu überwinden und mit einer innerlich erfahrenen, transzendentalen
Quelle des
Lebens in Kontakt zu treten. Doch einige der größten Gurus aus dem fernen Osten haben in
den letzten
Jahrzehnten den religiösen Elfenbeinturm verlassen und die Versatzstücke der
Meditationslehre zu einer
Instant-Kur für das lädierte Nervenkostüm gehetzter Zivilisationsmenschen verpanscht.
Wenn man sich durch eine geeignete Prozedur in Trance murmelt, so die einschlägigen
Verlautbarungen, dann wird einem eine nie da gewesene Form der Tiefenentspannung zuteil.
Diese
extreme Variante des» Relaxens «soll den Organismus gegen Stress, Bluthochdruck, Asthma
und alle
erdenklichen modernen Volkskrankheiten wappnen. Die Zeit ist längst vorbei, da solch
hochtönende
Verheißungen nur auf den Flugblättern exotischer Gruppen und Sekten prangten. Selbst das
viel
gepriesene Multimedialexikon» Microsoft Encarta «stößt inzwischen in das gleiche
Horn:»Heutzutage
wird die Meditation häufig auch als nichtreligiöse Methode zur Entspannung und zum Abbau
von Stress
eingesetzt. Die Behauptung, sie sei von gesundheitlichem Nutzen, wird durch
wissenschaftliche
Untersuchungen gestützt, die zeigen, dass die Meditation die Hirnströme verändern,
physiologische
Veränderungen hervorrufen und langfristig zu einer psychischen Besserung führen kann.«
Es ist völlig rätselhaft, woher die Beweise für solche hochtrabenden Aussagen stammen
sollen: Alle
sorgfältigen empirischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre haben die schöngeistigen
Gedankengebäude der Versunkenheits-Propheten demoliert wie ein Elefant einen Laden mit
chinesischer
Keramik. Die Meditation, so das übereinstimmende Fazit der Untersucher, ist vom Effekt her
nur eine
verkappte Form des Dösens, die keine spezifischen gesundheitlichen Vorteile mit sich bringt.
Manch ein
Guru wird vermutlich empört darauf pochen, dass eben seine besondere Meditationstechnik
von den
Forschern (noch) nicht getestet wurde. Doch dieser Einwand ist nicht besonders überzeugend,
kontert der
Psychologe David S. Holmes von der University of Kansas, weil in der Vergangenheit alle
getesteten
Versenkungsmethoden bei der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle durchgefallen sind. l
Dabei waren die ersten Begegnungen zwischen asiatischer Weisheit und abendländischem
Forscherdrang ausgesprochen viel versprechend. Bereits Ende der fünfziger Jahre schwärmten
neugierige
Hirnforscher in die entlegensten Winkel des fernen Ostens aus und schlossen entrückte Yogis
an
transportierbare Hirnstromwellenmessgeräte und andere mobile Biosignal-Sensoren an. 1972
machte der
renommierte Bostoner Kardiologe Herbert Benson die exotischen Versenkungstechniken in
einem viel
beachteten Beitrag für die akademische Gemeinde des Westens salonfähig. Die»
Transzendentale
Meditation«, kurz» TM«, führe zu einem einzigartigen geistig-körperlichen
Entspannungszustand. TM ist
eine dem Hinduismus entlehnte und durch Markenzeichen geschützte Spielart der
Selbstversenkung, die
Maharishi Mahesh Yogi 1956 in Indien kreierte. Als sich die Beatles in den späten Sechzigern
in die
Obhut des Meisters begaben, machte seine Bewegung weltweit Furore; ihr Mitgliederstamm
wird heute
auf vier Millionen geschätzt.
Der durch TM und andere Meditationstechniken hervorgerufene Entspannungszustand, die so
genannte Relaxations-Reaktion, mache sich in einem verringerten Sauerstoffbedarf, einer
langsameren
Atemfrequenz, einem niedrigeren Puls und vielen anderen günstigen Änderungen bemerkbar.
Mit seinem
Enthusiasmus steckte Benson sogar große Teile der sonst eher konservativen Ärzteschaft an,
die sich
flugs das Entrückungsverfahren als Waffe gegen Asthma, Bluthochdruck und andere
Krankheiten zu
Eigen machten.
Überraschenderweise vollzog der Herzspezialist jedoch nach relativ kurzer Zeit eine
verblüffende
Kehrtwende, die viele Meditationsgläubige ihm bis heute nicht verziehen haben. Urplötzlich
ließ er seine
eigene, die» Benson-Methode «der Entspannung vom Stapel, die nach seinem Bekunden ohne
jeden
mystischen Ballast auskommt. Sie beruht im Wesentlichen darauf, dass man bei jedem
Ausatmen das
Wort» eins«(oder jedes beliebige andere selbst gewählte Wort) denkt. Die Technik soll das
gleiche Maß
an Entspannung hervorrufen wie das Konkurrenzprodukt aus der Maharishi-Schmiede. Es
liegt auf der
Hand, dass sich das Oberhaupt des TM-Imperiums solche Ketzerei nicht bieten lassen konnte.
Er ließ
postwendend von den Kanzeln seiner selbst gegründeten» Universitäten «verkünden, dass die
Benson-
Methode – und, bei der Gelegenheit, überhaupt alle anderen Meditationstechniken – der
Gesundheit
schaden könnten.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen der folgenden Jahre haben jedoch den
Alleinvertretungsanspruch des Gurus vom Tisch gefegt: Alle im Westen entwickelten
Entspannungstechniken, von der Selbsthypnose über die progressive Relaxation bis hin zum
Biofeedback,
machen ihre Anwender genauso selig, auch wenn ihnen der transzendentale Anspruch fehlt,
fasste bereits
1982 eine bedeutende Übersichtsarbeit das Wissen der damaligen Zeit zusammen.2 Doch es
ist überhaupt
nicht notwendig, eine derart snobistische, von Experten ausgetüftelte Form der inneren
Sammlung zu
üben, gibt der Psychologe David S. Holmes zu bedenken. Jede alltägliche und unprätentiöse
Form der
Ruhestellung, von einem warmen Bad über das behagliche Dösen im Lehnstuhl bis hin zu
einer kleinen
Portion Mittagsschlaf, stimuliert die Relaxations-Reaktion genauso gut.
Wer heute noch mit der Berufung auf» Forschung «von der erstaunlichen Wirkung der
Meditation
schwärme, der könne sich nur auf längst überholte Untersuchungen stützen, konstatiert
Holmes. Damals,
als die reiselustigen Versenkungsforscher nach Asien strömten und den Yogis das EEG
anlegten, wurde
nämlich ein absolutes methodisches Muss, die Kontrollgruppe, ausgespart. Wenn man nur den
Leuten die
Biosignale abnimmt, die gerade meditieren, kann man nie sicher sein, ob einfaches Dösen
oder Faul-
Herumlungern nicht vielleicht den gleichen Nutzen bringen.
Sicherheit gibt es auch dann nicht, wenn man meditierende Probanden mit solchen vergleicht,
die sich
gerade mit Hilfe westlicher Entspannungstechniken relaxen. Man muss ein neues
Heilverfahren immer
gegen die simpelste und schlichteste Alternative ins Rennen schicken. Auf die Meditation
gemünzt heißt
das: Eine Gruppe von» Könnern «bekommt den Auftrag, zu meditieren, während eine
Vergleichsgruppe
von Laien den Befehl erhält,»einfach abzuschalten«. Nimmt man nun nur jene Studien unter
die Lupe, in
denen die Meditation solcherart getestet wurde, bricht das ganze Kartenhaus zusammen. Was
Holmes bei
seinem Vergleich ans Licht bringt, führt zu der Erkenntnis, dass jeder, der sich für ein halbes
Stündchen
aufs Ohr oder in die Badewanne legt, ohne es zu wissen Meditation (oder progressive
Relaxation usw.)
betreibt.
Nicht ein einziges Mal in allen 16 Studien rutschte die Pulsfrequenz beim Meditieren unter
jene beim
Dösen ab; viermal jedoch erreichten ausgerechnet die ordinär» weggetretenen «Probanden
eine
intensivere Senkung der Herzfrequenz. Kein Experiment erbrachte Anhaltspunkte, dass
Meditation,
gemessen am elektrischen Hautwiderstand, mehr Seelenfrieden bringt als schlichte Ruhe bei
geschlossenen Augen. Und auch die Untersuchungen zum Blutdruck, zur Muskelspannung,
zur
Hauttemperatur, zum Blutfluss, zum Sauerstoffverbrauch und zum Ausstoß einer Unmenge
von
Hormonen – von Renin über Aldosteron bis hin zum Noradrenalin – waren dem Glauben an
die
Überlegenheit der Meditation abträglich. In jedem einzelnen Fall erbrachte der simple
Ruhezustand den
gleichen oder sogar einen höheren Grad an Entspannung als die Besinnung im Lotussitz.
Dabei dürften
die Studien, die den Stab über die Meditation brechen, nur die Spitze eines Eisberges bilden,
ist Holmes
überzeugt. Unzählige Abhandlungen, die dem Anspruch der Meditations-Gurus ebenfalls den
Todesstoß
versetzten, sind wahrscheinlich bei den Herausgebern der Fachzeitschriften als» unerwünscht
«unter den
Tisch gefallen.
Die fast blasphemisch anmutende Gleichsetzung zwischen Meditation und Mittagsschlaf
findet
allmählich sogar in den Lehrbüchern der Seelenforschung Niederschlag. So betont die»
Einführung in
die Psychologie«, das Standardwerk für Studienanfänger, mit Nachdruck, dass es keine
naturwissenschaftlichen Belege für die therapeutischen Effekte dieser Verfahren
gibt.3»Andere Forscher
fanden heraus, dass bei vielen Leuten, die Transzendentale Meditation praktizieren, während
der
Meditation häufig kurze Schlafperioden auftreten. Es kann also sein, dass einige der
entspannenden und
wohltuenden Effekte dieser Meditation teilweise nur auf die Wohltaten eines Nickerchens
zurückzuführen sind.«

«Meditation macht die Seele gegen Stresszustände fit«

Kann man Döser und Meditierende im Ruhezustand psychophysiologisch nicht auseinander


halten,
so bestünde ja immer noch die Möglichkeit, dass die Meditation sich erst in Stresssituationen
bewährt,
räumt der Psychologe ein. Es ist grundsätzlich nicht auszuschließen, dass
Meditationsanhänger die
besondere Fähigkeit haben, sich in seelischen Notlagen an ihrer Entrückungstechnik
aufzurichten.
Allerdings haben sich bisher erst vier methodisch gewissenhafte Studien mit dieser Frage
beschäftigt.
In Experiment Nr. 1 mussten redegehemmte Versuchspersonen eine Ansprache vor einem
größeren
Publikum halten, wobei ihr Puls gemessen wurde. Im zweiten Versuch wurde den Probanden
nach dem
Ausfüllen eines (fiktiven) Intelligenztestes mitgeteilt, sie seien» geistig minderbemittelt«–
eine
Rückmeldung, die gewöhnlich erheblichen Stress erzeugt. Experiment Nr. 3 war ähnlich
konzipiert, nur
bestand der Stress im Anschauen eines nervenaufreibenden medizinischen Operationsfilmes.
Im letzten
Experiment schließlich mussten die Versuchspersonen einen Film aushalten, in dem
erschütternde
Arbeitsunfälle dargestellt wurden. Vor der jeweiligen Stresssituation hatten die
Probandengruppen ein
paar Wochen lang Meditation, eine westliche Entspannungstechnik oder banales» Abschalten
«geübt.
Einhelliges Ergebnis aller vier Versuche: Die alltäglichen Formen des Relaxens waren der
Meditation
(und den aufgemotzten westlichen Entspannungstechniken) in jeder Beziehung ebenbürtig.
Weder beim
Puls noch beim Hautwiderstand oder bei der an sich selbst festgestellten Ängstlichkeit hatten
die
Meditierenden die Nase vorn. Wer meditiert, folgert der Entspannungsexperte Holmes aus
diesen Daten,
hat also in psychischen Belastungssituationen noch längst nicht automatisch» die Ruhe weg«.
Und wenn die Meditation schon keine kurzfristige Wirkung zeitigt, findet sich auch auf lange
Sicht
kein überzeugender Nutzeffekt. Die Meditationsanhänger sollten sich aus dem Kopf schlagen,
dass die
Entrückung zu irgendwelchen langfristigen und tief greifenden Persönlichkeitsveränderungen
führt,
folgert ein diesbezüglicher Literaturbericht.4 Es gibt demnach auch keine überzeugende
Untersuchung,
wonach Meditation einen Beitrag zur Linderung neurotischer Störungen leistet. Schließlich
fehlt jeglicher
Beweis, dass sie hohen Blutdruck zu senken vermag oder einem Rauschgiftsüchtigen helfen
kann, von
seiner Droge loszukommen.»Die angeblichen Besonderheiten der Meditation sind überhaupt
nicht
einzigartig, sondern beruhen auf einer Mixtur aus Einbildung, Suggestion, dem
Placebo-Effekt einfacher
Entspannung, neurotischen Überzeugungen und der Fehlinterpretation mehrdeutiger
emotionaler
Erfahrungen«, bringt der Psychologie-Professor Barry L. Beyerstein von der Simon Fraser
University in
Burnaby, Kanada, gnadenlos die Kritik auf den Punkt.5
Da nützt es auch nichts, wenn der Maharishi mit einem erdrückenden Wust aus Grafiken,
Kurvendarstellungen und Tabellen die segensreichen Wirkungen von TM auf die
Stresshormone, die
Kohlendioxid-Abgabe oder andere körperliche Indikatoren zelebriert, moniert der
amerikanische
Philosophie-Professor Robert Todd Carroll im Internet.6»Die Wahrheit ist, dass die
TM->Forscher<
überhaupt keine kontrollierten Experimente durchführen. Was die Qualität ihrer Methoden
betrifft,
befinden sie sich auf einem Niveau mit der Parapsychologie – sie sind inkompetent, wenn
nicht gar
betrügerisch.«
Tatsächlich hat sich die TM-Bewegung ja auch längst übernatürliche Fähigkeiten auf die
Fahnen
geschrieben: Der Meditierende werde zu einem Übermenschen, er könne gar ohne
maschinelle Hilfe und
nur durch Geistes Kraft fliegen. Offensichtlich war dieser Anspruch so leicht zu widerlegen,
dass die
Organisation ihn weitgehend zurückgenommen hat. Es handelte sich dabei wohl nur um ein
massives
Indiz für den Realitätsverlust der Maharishi-Anhänger. Heute noch werden die» yogischen
Flieger«
manchmal zu Vorführungen bei der Propaganda eingesetzt. Zu sehen sind Personen, die mit
untergeschlagenen Beinen hüpfen.
Ein weiteres Beispiel aus der übersinnlichen Mottenkiste ist der so genannte
Maharishi-Effekt: Wenn
nur ein Prozent der Bevölkerung gemeinsam» transzendental «meditiere, dann würden sich
die dadurch
erzeugten Gehirnwellen überlagern und verstärken (»Kohärenz«) und das Bewusstsein aller
anderen
verändern. Dies sei ein» Naturgesetz«. Dadurch seien nicht nur alle Probleme der
Allgemeinheit zu lösen,
sondern der Einzelne könne auch Unsterblichkeit erreichen. Nach seinen eigenen Angaben hat
das TM-
Imperium mit dieser Methode die Gemeinde Fairfield in Iowa von Unfällen, Kriminalität und
Ernteschäden» geheilt«. James Randi, ein berühmter amerikanischer Magier, der für das
Aufdecken von
Irrlehren eintritt, hat bei der Polizei, dem Verkehrsamt und bei der Agrarverwaltung von Iowa
die
einschlägigen Informationen eingeholt. Ergebnis: Das Wunder von Fairfield ist ein
Phantasieprodukt.
In der Bundesrepublik gelang es einer gewissen Christa Kniffki an der Universität in Kiel,
eine
Diplomarbeit unterzubringen, welche die Überlegenheit der Transzendentalen Meditation über
das
autogene Training belegen sollte, rekapituliert die Aktion für Geistige und Psychische Freiheit
e.V.
(AGPF), eine Anti-Sekten-Vereinigung in Bonn, auf ihrer Internetseite.7 Aus Teilen dieser
Diplomarbeit
fertigte Kniffki später eine Publikation, welche der die Diplomarbeit begutachtende Arzt
folgendermaßen
charakterisiert:»Für einen Wissenschaftler ist so ein Vorgehen schlicht Hochstapelei… Die
naiven
graphischen Darstellungen, die eine Überlegenheit der TM belegen sollen, müssen als
Fälschung enttarnt
werden

«Bei der Meditation treten außergewöhnliche Hirnstromkurven auf«

In manchen Werbebotschaften wird der Segen der Meditation mit der Behauptung gestützt,
dass sie
dem Zentralnervensystem unvergleichliche Muster der Hirnstromwellen entlockt, die in
keinem anderen
Bewusstseinszustand zu verzeichnen sind. Es kommt sicher der Leichtgläubigkeit vieler
Menschen
entgegen, wenn ein fernöstlicher» Schwerathlet «der Meditation nach Herzenslust seine
Hirnstromkurven
spielen lässt, so wie ein Bodybuilder, der mit seinem Bizeps posiert. Bei geübten
Meditationsprofis soll
das Hirnstromwellenbild (EEG) zum Beispiel überbordende Fluten von so genannten
Alphawellen
aufweisen, in denen sich die einzigartige, ozeanische Tiefe der Entrückung niederschlägt.
Alphawellen
sind langsame Hirnstromkurven in einer Frequenz von 8 bis 14 Schwingungen pro Sekunde,
die für
gewöhnlich die Oberhand gewinnen, wenn eine Person in einem entspannten Wachzustand die
Augen
schließt. Gerade der Maharishi hat einen regelrechten Alphakult um sich herum aufgebaut. Im
Gehirn
eines erfahrenen Meditationsprofis tritt demnach während der geistigen Übung eine
dramatische
Zunahme des Alphaanteils auf, die obendrein die» hochgeistigen «Regionen im
vorderen,»frontalen «Teil
des Denkapparates erfasst. Bei Normalsterblichen spielt sich der mutmaßlich viel schwächere
Alphazuwachs überwiegend im hinteren Part des Gehirns ab.
Doch auch in diesem Fall nimmt der Vergleich mit einer neutralen Kontrollgruppe der
Meditationspropaganda den Wind aus den Segeln. Die ganze Alpha-Euphorie entbehrt
jeglicher
Grundlage, wie ein Artikel des britischen Hirnforschers M. M. Delmonte aufzeigt. 8 Fazit: Der
Laie bringt,
wenn er döst, genauso viele Alphawellen im Gehirn hervor wie die großen Meister in der
professionellen
Versenkung. Auch länger anhaltende Versenkungs-Praxis steigert das Alpha-Potenzial eines
Menschen
nicht im Geringsten. Die EEG-Veränderungen während der Meditation deuten lediglich auf
einen Zustand
verringerter Erregung hin.»Physiologisch gesehen sind sie keineswegs spezifisch für die
Meditation,
sondern passen genauso gut zu dem schläfrigen Zustand kurz vor dem Einnicken«, zieht der
Psychologe
Barry L. Beyerstein Bilanz.
Nach seiner Ansicht hätte es den Gurus und ihren Jüngern zu denken geben müssen, dass
selbst Tiere,
die nie Meditation oder andere Formen der» Bewusstseinserweiterung «praktizieren,
erhebliche Mengen
von Alphawellen erzeugen. Bei Katzen wurde der Nachweis dafür bereits im Jahr 1875
geführt.
Andererseits gibt es einen gewissen Prozentsatz von Menschen, bei denen die
sagenumwobenen Kurven
durch Abwesenheit glänzen, ohne dass den Betreffenden die Fähigkeit zur inneren Sammlung
fehlt. Wenn
man sich gerade am euphorischen» High «des Alkoholrausches ergötzt, wird das gesamte
Gehirn von
wahren Alphaattacken durchzuckt. Dass diese sich ausgerechnet im Suff ereignen, ist
keineswegs
verwunderlich: Die Alphaaktivität ist ein Zeichen dafür, dass sich weite Teile des Gehirns» im
Gleichtakt«(synchron) entladen und wegen dieser Monotonie relativ wenige Informationen
verarbeiten
können.
Wie sehr der Hirnwellenmythos auf der Macht der Suggestion beruht, hat Beyerstein mit
einem
entlarvenden Experiment gezeigt. Seine meditierenden Versuchspersonen wurden in den
Glauben
versetzt, dass sie die Zunahme ihrer Alphawellen am Ausschlag eines Zeigers ablesen
könnten. In
Wirklichkeit hatte der Versuchsleiter das Instrument jedoch umgepolt, so dass die scheinbare
Alphazunahme in Wirklichkeit einer Abnahme der Alphawellen und einer Steigerung der»
unruhigen«
Betawellen entsprach. Nichtsdestoweniger bildeten sich die gefoppten Probanden bei der
Zunahme der
falschen Alphawellen das Erreichen eines seligen Entrückungszustandes ein.
In einem anderen Experiment wurden die Versuchspersonen für jedwede Verminderung ihrer
Alphaaktivität mit einem harmlosen, aber schmerzhaften elektrischen Schock bestraft.
Verständlicherweise löste diese Versuchsanordnung bei den Probanden ängstliche und
feindselige Gefühle
sowie einen erheblichen Anstieg der körperlich-geistigen Erregung aus. Aber dennoch strotzte
ihr Gehirn
vor Alphawellen, obwohl ihr Geisteszustand keine Spur von Gelassenheit besaß. Ende der
achtziger Jahre
versetzte ein amerikanischer Neurowissenschaftler dem Alphakult den Todesstoß: Kurz bevor
sie den
Exitus erlitten, peitschten die von ihm untersuchten Komapatienten noch einmal einen
ordentlichen Stoß
Alphawellen durch das EEG.
Eine Zeit lang versuchten die Entrückungspropheten den Niedergang des Alphakultes durch
einen
neuen Coup zu retten: Erfahrene Meditationsprofis setzen demnach in ihrem EEG eine
außerordentliche
Portion an Thetawellen frei. Diese ultralangsamen Hirnstromwellen von 3 bis 7
Kurvenausschlägen pro
Sekunde treten sonst nur im Dämmerzustand des frühen Schlafes auf. Aber wieder einmal
brachte der
Vergleich mit einer neutralen Kontrollgruppe von gemütlich Dösenden die hochtrabenden
Behauptungen
zu Fall, hebt Beyerstein hervor.
Auch bei einem anderen EEG-Mythos ist kein Sterbenswörtchen wahr. Normale Sterbliche,
denen
man immer wieder den gleichen Reiz vorführt, zum Beispiel ein Klicken, zeigen zunächst
eine heftige
EEG-Reaktion, die so genannte Alpha-Blockade, die sich im Vordringen schneller und
ungeordneter
Betawellen äußert. Mit der Zeit jedoch legt sich dieser neuronale Aufruhr wieder, er»
habituiert«. Nun
wurde den Zenpraktikern lange Zeit nachgesagt, sie zeigten selbst bei endlosen
Wiederholungen nicht den
geringsten Ansatz zur Habituation. In ihrer begnadeten Geistesverfassung nähmen sie selbst
das banalste
und abgedroschenste Ereignis als neu und einzigartig wahr. Von den Yogis wiederum hieß es,
sie
brächten, kraft ihrer klaftertiefen Entrückung, erst gar keine Alpha-Blockade hervor, selbst
wenn neben
ihnen eine Kanone losginge.
Doch im Lichte der Forschung liegen diese Behauptungen schief. Selbst Meister, die
jahrelang Zen,
Yoga oder TM praktiziert haben, legen unter Trance eine klare Alpha-Blockade an den Tag,
die ganz
normal habituiert. Zu guter Letzt finden sich im EEG auch keinerlei Hinweise darauf, dass
jemand, der
tüchtig meditiert, nach einer Weile seine rechte, nichtdominante Hemisphäre in Schwung
versetzt, in der
angeblich so modische Talente wie das intuitive und ganzheitliche Denken verankert sind.

«Meditation erzeugt keine unerwünschten Nebenwirkungen«


Meditation gilt im Allgemeinen als eine sanfte und gutartige Form der Entspannung, die
keinerlei
unangenehme und schädliche Nebenwirkungen nach sich zieht. Für ein Verfahren, das bei der
strengen
Wirkungsprüfung durchgefallen ist, ruft die Meditation aber offenbar doch beträchtliche
Nebenwirkungen
hervor. Sage und schreibe drei Viertel all derer, die langfristig Versenkungstechniken
praktizieren, werden
nach dem Ergebnis einer empirischen Studie früher oder später von unerwünschten
gesundheitlichen
Effekten ereilt, gibt Robert Todd Carroll zu bedenken. Gelegentliche Schwindelgefühle,
Entfremdungszustände oder sonstige negative Empfindungen sind wahrscheinlich jedem
Meditierenden
schon einmal untergekommen. Entsprechend vorbelastete Personen können aber sogar in eine
Psychose
abgleiten, von einer tiefen Depression oder Angstanfällen gepeinigt werden, wenn nicht sogar
Selbstmord
begehen.
Allerdings sollte man aus diesen Daten auch keine übereilten Schlüsse ableiten, räumt Carroll
ein.
«Die Meditation zieht vermutlich Charaktere an, die intensiven Belastungen unterliegen und
die
verzweifelt Linderung suchen. Viele, die beim Meditieren körperliche oder seelische
Probleme erleiden,
haben wahrscheinlich schon vor dem Beginn der Übungen mit diesen Störungen zu kämpfen
gehabt. In
diesem Fall hat die Meditation die Störungen zwar nicht ausgelöst, aber sie hat auch keinen
Beitrag zu
ihrer Heilung geleistet. «Hier rächt sich offenbar die Tatsache, dass Anhänger der Meditation
bereits vor
der Aufnahme des Trainings ein überdurchschnittliches Maß an Alphawellen im EEG
aufweisen: Eine
überdurchschnittliche Alphaaktivität geht nämlich nachweislich mit hypochondrischen
Neigungen in
Persönlichkeitstests einher.

«Meditation funktioniert nur mit einem maßgeschneiderten Mantra richtig«

Besonders die Verfechter der Transzendentalen Meditation weisen nachdrücklich darauf hin,
dass der
Erfolg der Meditation vom Besitz eines individuellen, maßgeschneiderten» Mantras «abhängt.
Das
Mantra ist ein geheim zu haltendes Klangwort, das der TM-Kandidat in einer feierlichen
Zeremonie, der
«Puja«, überreicht bekommt. Die Übergabe wird mit Weihrauch, Blumen, frischen Früchten,
Kerzenlicht
und einem Bildnis des Meisters zelebriert. Dem Kandidaten wird dringend nahe gelegt, das
Geheimnis
seines Mantras niemals zu lüften: Durch einen solchen Treuebruch werde die heilsbringende
Kraft der
gesamten Bewegung unterminiert. Zudem wird die Illusion kultiviert, dass die Auswahl des
Mantras auf
einer seit 5.000 Jahren unveränderten Geheimlehre basiert. Doch nach dem Inhalt bekannt
gewordener
Gerichtsakten hat die TM-Bewegung ihre Kriterien für die Wahl eines Mantras in den letzten
30 Jahren
immer wieder neu bestimmt. Im Endergebnis ist es in den meisten Fällen schlicht der Name
eines
Hindugottes.
Doch nach den Erkenntnissen der empirischen Forschung ist der Name des Mantras ohnehin
nur
Schall und Rauch. Wie der Hirnforscher Delmonte in seinem Literaturreferat dokumentiert, ist
es völlig
gleichgültig, auf welche geistige Zielscheibe der Meditierende seine Aufmerksamkeit richtet.
Die Tiefe
der Entspannung bleibt in allen Fällen gleich. Wenn Sie also wieder einmal zünftig in die
Versenkung
abtauchen wollen, können Sie auch gleich Schäfchen zählen. Am besten die, die der Guru ins
Trockene
gebracht hat.

1 Holmes, David S.: Meditation and somatic arousal reduction. In: American
Psychologist, Bd. 39 (1984)/S. 1-10.
2 Shapiro, D. H.: Clinical and physiological comparison of meditation with other
self-control strategies. In: American Journal of Psychiatry, Bd. 139
(1982), S. 267–274.
3 Bourne, Lyle E./Ekstrand, Bruce R.: Einführung in die Psychologie. Verlag
Dietmar Klotz, Frankfurt 1992.
4 Murray, L. B.: What is meditation? Does it help?. In: Genetic Psychology
Monograph, Bd. 106 (1982), S. 85-115.
5 Beyerstein, Barry L.: Pseudoscience and the brain: Tuners and tonics for
aspiring super-humans. In: Della Sala, Sergio (Hg.): Mind myths.
Exploring popular assumptions about the mind and brain. Willey Verlag,
Chichester et al. 1999.
6 http://skepdic.com
7 http://home.t-online.de/home/AGPF.Bonn/mahakonz.htm
8 Delmonte, M. M.: Electrocortical activity and related phenomena associated
with meditation practice. In: International Journal of Neuroscience, Bd. 24 (1984), S.
217–231.

Kellerspektakel

«Unter Hypnose können Menschen außerordentliche Dinge tun«

«Schauen Sie mir in die Augen! Sie werden jetzt sehr, sehr müde werden!«Mit diesen –
geradezu
rituellen – Worten wurde die hypnotische Suggestion bereits in unzähligen Filmen und
Büchern
eingeführt. Drehbuchautoren und Romanciers haben sie Polizeipsychiatern, dem Grafen
Dracula und
allen erdenklichen Figuren der populären Mythologie in den Mund gelegt. Jedes Kind weiß
heute, dass
der Adressat dieser einlullenden Worte binnen kurzem in eine tiefe Entrückung verfällt, die
ihm Zugang
zu verdrängten Erinnerungen oder außergewöhnlichen geistigen Leistungen gewährt.
Während ihr lange Zeit das Odium einer anrüchigen Jahrmarktsattraktion anhaftete, hat die
Hypnose
in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebt. In Zahnarztpraxen und bei
Psychotherapeuten wird neuerdings munter» mesmerisiert«, um Schmerzen zu lindern,
unliebsame
Verhaltensweisen abzubauen oder verborgene Seiten der Persönlichkeit ans Licht zu bringen.
Akademische Berufsvereinigungen und» aufklärerische «Journalisten legen sich mächtig ins
Zeug, um
das teilweise lädierte Image der Entrückungstechnik aufzupolieren. Selbst das renommierte
Wissenschaftsjournal» Bild der Wissenschaft «räumte dem Thema 1999 eine ausgedehnte,
mehrteilige
Titelstory ein, die ausschließlich den vermeintlichen Segnungen des Verfahrens gewidmet
war.'
Doch während viele Praktiker enthusiastisch die vergessenen Vorzüge der Hypnose wieder
entdecken,
fechten empirisch arbeitende Psychologen immer radikaler den Realitätsgehalt des
Entrückungszustandes
an. Der Liverpooler Psychologe Graham Wagstaff zum Beispiel stellt in Abrede, dass»
Hypnotisierte«
überhaupt in irgendeiner Form geistig» weggetreten «sind: Sie befinden sich demnach in
Wirklichkeit in
einem glasklaren Wachzustand und legen lediglich ein theatralisches Rollenspiel auf die
Bühne, das ihren
vorgefertigten Erwartungen an das Szenario entspricht.2»Wenn man Probanden an einen
Lügendetektor
anschließt und ihr Verhalten unter Hypnose filmt, werden die meisten später zugeben, dass
alles nur ein
Bluff war«, behauptet Wagstaff.»Hypnose ist nur ein Rollenspiel, das von Patient und
Therapeut
aufgeführt wird«, konstatieren die beiden holländischen Psychologie-Professoren Hans F. M.
Crombag
und Harald L.G. Merckelbach lakonisch.3 Und auch der amerikanische Psychologe Nicholas
Spanos,
einer der größten Kenner der Suggestivmethode, schließt sich dem vernichtenden Urteil
an:»Die
Hypnose ist kein veränderter Bewusstseinszustand, sondern nur ein soziales Artefakt.«4

«Es existiert eine spezielle hypnotische Trance, die sich auch physiologisch von
anderen Zuständen
unterscheidet«

Eine hypnotische Sitzung läuft standardmäßig in zwei abgrenzbaren Teilen ab. Bei der»
Induktion«,
die der landläufigen Vorstellung vom Hypnotisiertwerden entspricht, wird dem» Medium
«zunächst ein
Gefühl von Müdigkeit, Schwere und Gelöstheit eingetrichtert. In der hypnotischen Trance
folgen dann die
einschlägigen» Suggestionen«: Die entrückte Person wird zum Beispiel aufgefordert,
bestimmte
Bewegungen auszuführen, bestimmte Schmerzen nicht wahrzunehmen, sich an bestimmte
Dinge zu
erinnern oder aber im Gegenteil bestimmte Dinge aus dem Gedächtnis zu verbannen.
Aus der Sicht ihrer Anhänger ist die Trance ein eigenständiger, veränderter
Bewusstseinszustand, der
sich durch einzigartige physiologische Merkmale auszeichnet und bei den Entrückten
unterbewusste
Fähigkeiten und mentale Kräfte freisetzt. Nach einer naiven Vorstellung, die immer noch in
den Köpfen
vieler Menschen herumspukt, verwandelt sich der Entrückte dann in einen willenlosen
Roboter, der auch
noch den skurrilsten oder urmoralischsten Weisungen des Hypnotiseurs gehorcht. Selbst
orthodoxe
Insider räumen heute ein, dass man einem Menschen unter Hypnose keine
persönlichkeitsfremden
Suggestionen aufoktroyieren kann, konstatiert der Psychologe Wagstaff.
Zwar schienen einige frühere Experimente zu beweisen, dass Hypnotisierte sich im Bann der
entsprechenden Suggestion zu einem Verhalten hinreißen lassen, das ihrer Persönlichkeit
zuwiderläuft.
Diese» Medien «nahmen zum Beispiel auf Kommando eine gefährlich aussehende Schlange
in die Hand,
schütteten dem Hypnotiseur eine Flüssigkeit aus einem Glas ins Gesicht, das angeblich Säure
enthielt,
oder produzierten sich» unsittlich«. Doch kamen spätere Analysen zu dem Schluss, dass für
diese
Handlungsweisen gar kein spezifischer Bewusstseinszustand erforderlich ist. Alle Menschen
sind zu
solchen Taten fähig, meint Wagstaff, wenn in der Situation bestimmte Bedingungen erfüllt
sind: 1.) Sie
haben den Wunsch, dem Hypnotiseur oder dem Versuchsleiter einen Gefallen zu tun. 2.) Sie
sind
überzeugt, dass die Handlungen in Wirklichkeit ungefährlich sind. 3.) Sie sind überzeugt, dass
jemand
anders die Verantwortung für die Konsequenzen übernimmt.
Tatsächlich stellte sich bei den späteren Experimenten heraus, dass ganz normale
Versuchspersonen
im glockenwachen Zustand die gleichen» ungeheuerlichen «Anweisungen eines
Versuchsleiters im
weißen Kittel befolgen, denen sich andere Probanden in Trance und auf Geheiß eines
Hypnotiseurs
unterwerfen: Sie nehmen die vermeintliche Giftschlange vom Boden auf, tauchen ihre Hand
in ein Bad
aus» flüssigem Stickstoff «oder schleudern ihrem Gebieter die Säure entgegen. Andere
zerreißen die
Bibel und die Nationalflagge oder beginnen munter mit Heroin zu dealen.»Alles, was
Menschen unter
Hypnose tun, können sie auch im nichthypnotisierten Zustand tun, vorausgesetzt, sie sind
dazu motiviert
und die Situation ist mit dieser Verhaltensweise vereinbar«, folgert der renommierte
amerikanische
Hypnosespezialist T X. Barber.5 Es gibt keine Beweise, dass die Trance verschüttete
körperliche Talente
freisetzen kann, pflichtet Wagstaff bei.»Wer in Trance eine Last von 200 kg auf seiner Brust
erträgt,
kriegt dies auch im normalen Alltag hin.«
So unglaublich dies für Laien klingen mag: Es gibt gar keine Beweise dafür, dass der
physiologische
Ausnahmezustand» hypnotische Trance «in dieser Form überhaupt existiert, betont
Wagstaff.»De facto
konnten nie irgendwelche physiologischen Werte gemessen werden, durch die sich der
hypnotische
Entrückungszustand vom geistigen Normalzustand unterscheiden würde. «Auch der
amerikanische
Psychologe Martin T. Orne, der die Hypnose seit 25 Jahren studiert, teilt dieses Urteil:»Die
Hypnose
besitzt keine spezifische physiologische oder neurologische Basis und kann daher nicht vom
Schlaf oder
vom Wachzustand unterschieden werden.«6 Die Hirnstromwellenmuster eines Hypnotisierten
stimmen
zum Teil mit jenen im Wachzustand, zum Teil mit jenen im entspannten Zwischenstadium
zwischen
Wachen und Dösen überein. Tatsache ist sogar, dass sehr viele Hypnotiseure erhebliche
Schwierigkeiten
haben, ihre Medien vom Abdriften in den Schlummer abzuhalten.
Die Beweislast gegen den physiologischen Sonderstatus der Trance ist übrigens so
erdrückend, dass
selbst die Anhänger der Hypnose diesen Begriff gar nicht mehr oder nur noch widerwillig
benutzen.
Dennoch nehmen sie gerne in Kauf, dass der Glaube an die Existenz der Trance bei großen
Teilen des
Publikums weiterhin fröhliche Urständ feiert. Wer trotzdem der Meinung ist, dass er den
Realitätsgehalt
des Phänomens hieb- und stichfest dokumentieren kann, kann sich mit dem Nachweis eine
goldene Nase
verdienen:»The Amazing Kreskin«, ein berühmter amerikanischer Bühnenhypnotiseur, hat
100.000
Dollar für denjenigen ausgesetzt, der ihn von der Realität des veränderten
Bewusstseinszustandes
überzeugen kann.7 Zwei Überzeugungsversuche hat der Zweifler bereits vor Gericht
abgeschmettert.

«Man kann Menschen unter Hypnose instruieren, Dinge gezielt zu vergessen«

Einer der eindrucksvollsten Hypnoseeffekte für Außenstehende ist die» posthypnotische


Suggestion«.
Diese Form der Beeinflussung besteht darin, dass der Hypnotiseur dem Medium
aufträgt:»Wenn Sie
gleich aufwachen, haben Sie alles vergessen, was sich in der Trance ereignet hat. «Die Person
erhält zum
Beispiel den Auftrag, immer etwas Bestimmtes zu tun (zum Beispiel sich an die Nase zu
fassen), wenn
sie ein bestimmtes Signal (zum Beispiel das Wort» Psychologie«) vernimmt. Doch es ist
mittlerweile
nachgewiesen, dass die Betreffenden, die dem Befehl folgen, nur eine Schau für das
eingeweihte
Publikum abziehen.
Das beste Belastungsmaterial gegen die posthypnotische Suggestion lieferte der Psychologe
Nicholas
Spanos, als er Versuchspersonen unter Hypnose befahl, stets zu husten, wenn das Wort»
Psychologie«
geäußert wurde. Während der Vorstellung vor dem geneigten Publikum führten die Probanden
auch
bereitwillig die leicht beschämende Anweisung aus. Doch nach der Prozedur begegneten sie
auf dem
Unigelände einem ihnen unbekannten Komplizen Spanos, der sich scheinheilig nach dem
Institut für
«Psychologie «erkundete. Keiner der zuvor Hypnotisierten hustete bei dieser Gelegenheit, die
ja keinen
Anlass für eine» Show «enthielt. Doch alle husteten, wenn die Frage von einer Person gestellt
wurde, die
bei der vorherigen Sitzung anwesend gewesen war. Und auch ein paar Tage später, in einer
weiteren
Sitzung vor eingeweihtem Publikum, brachten alle Betroffenen wieder den erwünschten
Reflex hervor.
Wenn Personen wirklich in der Lage wären, Dinge zu vergessen, die sich während der
Hypnose
ereignet haben, müssten sie auch unter Druck unfähig sein, die kritischen Erinnerungen
hervorzukramen,
meint Spanos. Nicht wenige Medien lassen sich die» blockierten «Gedächtnisinhalte schon
durch
einfaches Befragen aus der Nase ziehen, geben die beiden Psychologen Crombag und
Merckelbach zu
bedenken. Es hat sich aber mehrfach gezeigt, dass sogar mehr als die Hälfte der Probanden»
auspacken«
und die» verbotenen «Informationen (zum Beispiel bestimmte Schlüsselwörter) erinnern,
wenn man
ankündigt, sie würden an einen Lügendetektor angeschlossen. Noch größerer Druck und
Appelle an
Ehrlichkeit bringen am Ende die Mehrheit der» Simulanten «zum Umfallen. Nur ganz wenige
bestanden
auch unter starkem Druck darauf, dass sie sich nicht mehr an die betreffenden Wörter erinnern
können,
berichten die beiden Holländer.»Das waren die Versuchspersonen, die wahrend der Hypnose
fast
eingeschlafen waren und deshalb die Wörter gar nicht erst gelernt hatten.«
In einem besonders ausgeklügelten Experiment führte Spanos die Probanden mit der
Behauptung irre,
abstrakte Begriffe würden im Gehirn rechts, konkrete links abgespeichert, während die
anderen das
Gegenteil annahmen. Nach dem Lernen wurde den Probanden ein Gedächtnisverlust für die
Wortliste
suggeriert, der – erwartungsgemäß – eintrat. Vor dem Widerruf der Amnesie trat der
Hypnotiseur jedoch
erfolgreich mit dem linken und rechten» Spion «jedes Teilnehmers in Kontakt, und tatsächlich
gelang es
ihm so, dem Rechtsteil alle angeblich rechtshemisphärischen Wörter, dem Gegenpart alle
angeblich links-
hemisphärischen Wörter zu entlocken.
Eine verwandte Suggestion besteht darin, den Hypnotisierten einzuflößen, dass sie bestimmte
Dinge
nicht mehr sehen oder hören können. Viele Medien legen dann eine überzeugende Aufführung
eines
Blinden oder Tauben hin. Doch auch in diesem Fall steckt allein der Wunsch, dem
Hypnotiseur eine gute
Show zu bieten, hinter dem Rollenspiel. Den Nachweis erbrachte Spanos, als er seinen
hypnotisierten
Versuchspersonen den Auftrag gab, die ihnen dargebotene Zahl 8 nicht mehr sehen zu können.
Tatsächlich legten die Versuchspersonen prompt die gewünschte Zahlenblindheit an den Tag.
Doch
daraufhin setzte Spanos seinen Probanden den Floh ins Ohr, dass wirklich tief Hypnotisierte
am Anfang
einen kurzen Blick auf die 8 erhaschen können, bevor sie sich endgültig in Nichts auflöst.
Ergebnis:
Plötzlich machten alle Versuchspersonen geltend, dass sie eine kleine Momentaufnahme der 8
mitbekommen hätten.
«Man hat den starken Eindruck, dass die Versuchspersonen einfach logen, als sie anfänglich
auf der
Unsichtbarkeit der Zahl 8 bestanden«, folgert Graham Wagstaff aus diesem Befund. Dieser
Verdacht wird
auch durch ein anderes Versuchsergebnis von Spanos gestützt. In dem betreffenden
Experiment wurde
den Probanden aufgetragen, dass ihr Gehör nun durch Taubheit gänzlich abgeschaltet sei. Auf
die Frage
«Können Sie mich hören?«gaben viele der Betreffenden die verräterische Antwort:»Nein, das
kann ich
nicht.«
Mit einer weiteren Studie hat Spanos schließlich den Glauben ins Wanken gebracht, dass
Hypnotisierte einen Verlust ihrer Willenskraft erleiden. Den Versuchspersonen wurde
zunächst suggeriert,
dass sie einen Arm wegen einer Lähmung nicht mehr bewegen könnten. Dann erhielten sie die
Weisung,
mit dem gelähmten Arm dennoch eine Bewegung auszuführen. Einem Teil der Probanden
hatte man
zuvor weisgemacht, die» unmögliche «Bewegung sei Zeichen einer besonders tiefen
Entrückung; den
anderen wurde eingeredet, dass gerade die Unfähigkeit zur Bewegung ein Merkmal tiefer
Trance
darstelle. Die Hypnotisierten verhielten sich als» brave Versuchspersonen «genau im Sinne
der
Vorinformation: Im Glauben, dies verrate tiefe Entrückung, kamen sie dem Befehl zur
Bewegung nach.
Im andern Falle hielten sie an ihrer» Lähmung «fest.

«Mit Hilfe der Hypnose kann man versteckte und vergessene Erinnerungen
wachrufen«

Es ist eine Szene, die vielen Zuschauern aus Kriminalfilmen und Psychothrillern geläufig ist:
Ein
wichtiger Zeuge, der wichtige Aspekte eines Mordes oder eines anderen schlimmen
Verbrechens
vergessen hat, kramt unter Hypnose die entscheidenden Einzelheiten aus seinem Gedächtnis
hervor.
Hinter diesem Klischee steckt der Mythos, dass alles, was der Mensch erlebt, von einer
Archivierungsstelle in seinem Kopf gehortet wird, und dass die Hypnose einen direkten
Zugang zu der
unverwischten Gedächtnisspur erlaubt. Doch in den empirischen Forschungsarbeiten findet
dieser
Glauben keinen Halt, heben die beiden Psychologie-Professoren Crombag und Merckelbach
hervor:
«Kontrollierte Laborstudien haben konsequent darin versagt, den Beweis zu erbringen, dass es
irgendeine
hypnotische Gedächtnisverbesserung gibt. «Obwohl selbst Sigmund Freud sehr rasch von der
Hypnose
als Mittel zur Aufdeckung des Verdrängten Abstand nahm, stimmen heute viele Laien und
Experten
überein, dass man Erinnerungen mit Hypnose» auffrischen «und Menschen in frühere
Episoden ihres
Lebens (oder früherer Leben) zurückführen kann. Dieser Mythos wird sehr gut durch den
James-Dean-
Film» Rebel without a cause «dokumentiert, in dem ein Hypnotiseur einen Psychopathen in
sein erstes
Lebensjahr zurückführt. In der Entrückung wird dann alles klar: Er erinnert sich, wie er als
Kleinkind die
«Urszene«(den Geschlechtsakt der Eltern) gesehen hat. Dieses Trauma hat die Weichen für
sein späteres
Leben gestellt.
Wissenschaftlich gesehen stecken hinter der Theorie der» Gedächtnisverbesserung «zwei
verschiedene Fragen:»Kann man das Gehirn unter Hypnose in die Kindheit zurückführen?«,
und:»Kann
man unter Hypnose blockierte Gedächtnisinhalte befreien?«Die erste Streitfrage wurde von
seriösen
Wissenschaftlern bereits in den fünfziger Jahren erledigt. Damals versetzte man
Versuchspersonen in ihre
ersten Lebensjahre zurück und schaute nach, ob ihre Gehirnaktivität und ihr psychologisches
Testprofil
dem von kleinen Kindern entsprachen. Nach über 80 experimentellen Studien fällt die
Antwort definitiv
negativ aus, halten Crombag und Merckelbach fest:»Wenn Versuchspersonen unter Hypnose
zu ihren
Kinderjahren zurückgeführt werden, fühlen sie sich zwar als Kind, aber neurologisch und
psychologisch
bleiben sie erwachsen. Ihre Gehirnaktivität ändert sich nicht, sie zeigen nicht die Reflexe, die
für
Kleinkinder typisch sind, aber geistig gesehen bemühen sie sich in vielerlei Hinsicht, einem
Kleinkind zu
ähneln, wenn diese Bemühungen auch jämmerlich fehlschlagen. «Die Rückkehr in die ersten
Lebensjahre
ist nur eine (oft dilettantische) Bühnenshow.
Auch die zweite Idee, nämlich dass man unter Hypnose vollkommen vergessene und
verdrängte
Erinnerungen wachrufen könne, hat bei ihrer Prüfung wiederholt Schiffbruch erlitten. Man
ließ
Probanden unter Hypnose an ihre Schulzeit denken. Sie sollten auch die Namen der Kinder,
die im
Klassenzimmer neben ihnen gesessen hatten, auflisten.»Als diese aber anhand der
Schularchive
überprüft wurden, stellte sich heraus, dass fast nichts übereinstimmte«, ziehen die
holländischen
Seelenforscher Bilanz. Ein anderer Forscher brachte Versuchspersonen unter Hypnose in ihr
drittes
Lebensjahr zurück. Sie sollten über ein Schmusetier berichten, das sie in einer bestimmten
Situation in
die Hand genommen hatten. Der» Erinnerung «wurden dann die Aussagen der Mutter
gegenübergestellt.
Nur in einem Viertel der Fälle stimmte das unter Hypnose genannte Schmusetier mit dem
Schmusetier
überein, das sie als Kind wirklich bevorzugt hatten.
In einer dritten Studie schauten sich die Probanden ein Video mit einem gestellten Diebstahl
an. Eine
Woche später mussten sie einer polizeilichen Gegenüberstellung beiwohnen, bei der sechs
Menschen in
einer Reihe standen, von denen einer der Langfinger war. Die eine Gruppe der
Versuchspersonen wurde
in Hypnose versetzt, die andere nicht. Von den hypnotisierten Versuchspersonen
identifizierten 14 Prozent
die richtige Person, aber von den nichthypnotisierten 43 Prozent. Es gibt keinen Grund,
anzunehmen,
dass Hypnose einen privilegierten Zugang zu verwischten und entfallenen Erinnerungen
weist, meinen
die beiden Holländer.»Das Gegenteil ist eher der Fall: Unter Hypnose wird das Gedächtnis
anfälliger für
Täuschungen.«
Diesem Urteil schließen sich auch Eberhard Höfer und Günter Köhnken vom Institut für
Psychologie
der Universität Kiel an.8 Hypnotisierte lassen sich danach sehr viel leichter durch unwichtige
Nebenaspekte und vage Andeutungen in die Irre führen.»Unter diesen Umständen können
sich
fehlerhafte Erinnerungen so sehr festsetzen, dass die Probanden selbst im Wachzustand an
ihre Gültigkeit
glauben, sogar dann, wenn sie durch den Versuchsleiter über diesen Irrtum aufgeklärt werden.
«Aus
diesen Befunden hat der Gesetzgeber längst Konsequenzen gezogen: In Deutschland wird
Hypnose im
Paragraphen 136 a der Strafprozessordnung explizit zu den» verbotenen Vernehmungsmitteln
«gerechnet.
Die wissenschaftliche Psychologie hat sich ohnehin längst von dem Aberglauben gelöst, dass
unser
Gedächtnis wie ein technischer Informationsspeicher funktioniert, der eine detailgetreue»
Wiedergabe«
des aufgezeichneten Erinnerungsfilmes erlaubt. Das Gedächtnis» hortet «Erinnerungen nicht
wie
verstaubte Ausstellungsstücke, sondern montiert die Vergangenheit bei Bedarf im Sinne eines
Indizienbeweises. Es ist kein Videorecorder, sondern eher ein Theater, das mit seinem
Ensemble
bruchstückhaft erhaltene Szenenfolgen interpretiert. Der Mensch ist nach diesen Daten kein
gewissenhafter und akkurater Chronist seines Lebens, sondern eher ein verkappter
Drehbuchautor, der
unentwegt an seinem privaten Historienschinken spinnt – und dabei nicht einmal vor groben
Manipulationen zurückschreckt.
Diese leichte Manipulierbarkeit ist so bedeutsam, weil viele Psychotherapeuten immer noch
das
trügerische Instrument der Hypnose einsetzen, um ihren Patienten» verdrängte «Erinnerungen
an
sexuellen Missbrauch in der Kindheit aus der Nase zu ziehen. Das unkritische Vertrauen in die
Realität
des Verdrängten sei jedoch wissenschaftlich suspekt und geeignet, die Diskussion um den
sexuellen
Kindesmissbrauch in Misskredit zu ziehen, behauptet nun die Gedächtnisforscherin Elizabeth
Loftus.9
Auch sie lässt keine Zweifel daran, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern tragische
Dimensionen
besitzt und mit einer geschätzten Verbreitung zwischen 10 und 50 Prozent ein gravierendes
soziales
Problem darstellt. Es fragt sich jedoch, ob Erinnerungen an derartige Traumata tatsächlich im
großen Stil
verdrängt werden und aus der Enklave des Unbewussten heraus Schaden anrichten.
Die höchste Zahl für die Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch stammt aus einer
Umfrage von
Therapeuten, die schwerpunktmäßig sexuellen Missbrauch behandeln. 59 Prozent ihrer meist
weiblichen
Patienten gaben an, dass die Erinnerung an den Übergriff zeitweise aus ihrem Bewusstsein
verbannt
gewesen war. In einer anderen Umfrage äußerten sich jedoch nur 18 Prozent der Betroffenen
in diese
Richtung, und von den unter 10-jährigen Kindern, die der Ermordung eines Elternteils
beiwohnen
mussten, hatte keines die peinigenden Erinnerungen unter den Teppich gekehrt.
Da es zurzeit kein Kriterium für die Wahrheit von verdrängten Erinnerungen gibt, sollten
Therapeuten
mehr Weisheit und Zurückhaltimg walten lassen, bevor sie wilde Beschuldigungen äußern
und zur
«Hexenjagd «blasen, mahnt Loftus. Das Thema der verdrängten Erinnerungen dürfe auch
nicht zum
Popanz verkommen, der die berechtigte Wut der Frauen über sexuelle Gewalt absorbiert.
Sonst bestehe
die Gefahr, dass die Gesellschaft eines Tages alle Enthüllungen über sexuellen Missbrauch in
Zweifel
zieht.

Hypnotisierbarkeit ist eine spezifische geistige Fähigkeit, die nur gewisse Leute
mitbringen«

Die Fähigkeit, sich durch eine Induktion in Hypnose versetzen zu lassen, gilt in der Szene
häufig als
eine besondere geistige Gabe, die längst nicht alle besitzen: Trance ist eine Kunst. Doch die
Wissenschaftler, die hypnotisierbare und nichthypnotisierbare Versuchspersonen nach allen
Regeln der
Psychologie unter die Lupe nahmen, konnten nie irgendwelche spezifischen Differenzen
ausmachen. Der
Versuch ist kläglich gescheitert, die Hypnotisierbarkeit mit irgendwelchen besonderen
Persönlichkeitsmerkmalen oder Hirnwellenmustern in Verbindung zu bringen, erklärt der
amerikanische
Psychologe Nicholas Spanos. Das Merkmal, das die Hypnotisierbarkeit am besten
vorhersagte, war die
«gläubige Erwartung an die Hypnose«.»Wir wissen sehr genau, dass man Leute, die Hypnose
für
Schwachsinn halten, nicht hypnotisieren kann«, bringt es der amerikanische Hypnose-Kritiker
Robert
Todd Carroll auf den Punkt.10
Es liegt daher nahe, Hypnotisierbarkeit schlicht und einfach als ein Konglomerat von
Einstellungen
und sozialen Erwartungen zu definieren, die sich positiv auf das Phänomen Hypnose
beziehen. Jedes
Rütteln an dieser Sichtweise – oder jede Verbesserung des Hypnose-Images – müsste sich
daher auf die
Hypnotisierbarkeit auswirken. Personen, die unter dem Eindruck standen, durch einen
Einwegspiegel
beobachtet zu werden, verfielen (quasi unter Erfolgsdruck) auch wirklich stets in eine tiefere
Trance –
egal, ob ihr Eindruck zutraf oder nicht. Den umgekehrten Trend fand Nicholas Spanos, als er
die Hypnose
durch geringschätzige Bemerkungen bei seinen Probanden in ein ungünstiges Licht rückte.
Plötzlich
legten die Betreffenden eine reduzierte Hypnotisierbarkeit an den Tag.

«Hypnose kann Schmerzen und andere medizinische Symptome bekämpfen«

Immerhin lindert die hypnotische Trance Schmerzen, ziehen ihre in die Enge getriebenen
Anhänger
ihr letztes Ass aus dem Ärmel. Der gesamte medizinische Betrieb soll angeblich von diesem
Segen
profitieren können: Zahnärzte können bohren, ohne ihre Opfer mit geballter Chemie ruhig
stellen zu
müssen, Chirurgen nähen schonungsvoll Wunden, Geburtshelfer bringen die Kinder von sanft
schmerzgestillten Schwangeren zur Welt.
Die entscheidende Frage lautet aber nicht, ob die Hypnose Schmerzen lindert, sondern, ob sie
dem
Hypnotisierten wirklich eine größere Schmerzunempfindlichkeit beschert, als er im
Wachzustand und mit
normalen geistigen Mitteln aufbringen kann. Die Antwort lautet mit großer
Wahrscheinlichkeit» nein«.
Im kritischen Versuch instruierte Nicholas Spanos eine Hälfte der Probanden,»einfach alles
über sich
ergehen zu lassen«. Die andere Hälfte wurde hypnotisiert und bekam die Suggestion, keine
Schmerzen zu
empfinden. Dann peinigte der Psychologe beide Gruppen mit (harmlosen) Schmerzreizen an
der Hand.
Fazit: Beide Suggestionen führten den gleichen Grad an Schmerzunempfindlichkeit
(Analgesie) herbei.
Bleibt ohnehin die Frage offen, ob die durch Hypnose bewirkte Analgesie überhaupt einen
echten
Charakter besitzt, äußert sich der Psychologe Graham Wagstaff skeptisch. In einigen Studie
gaben die
malträtierten Versuchspersonen zwar an, keine oder nur geringfügige Schmerzen zu
empfinden. Doch die
Biosignale aus dem vegetativen Nervensystem straften die beschönigenden Worte Lügen:
Blutdruck, Puls
und andere Werte gingen steil in die Höhe, wie bei einem Menschen, der starke Schmerzen
durchmacht.
«Das könnte bedeuten, dass viele Hypnotisierte weniger Schmerzen zugeben, als sie
tatsächlich
empfinden.«
Dieser Eindruck bestätigte sich, als man Versuchspersonen den Bären aufband, es gebe tief in
ihrem
Inneren einen» geheimen Beobachter«, der während der gesamten Hypnose wach und
ansprechbar bleibt.
Dann traktierte man die Probanden mit Schmerzreizen und nahm Kontakt mit ihrem» Spion
«auf. Fazit:
Während die direkt angesprochenen Versuchspersonen ihre körperliche Pein ableugneten oder
bagatellisierten, machte der geheime Beobachter aus den Schmerzen keinen Hehl.»Hört auf,
ihr
verdammten Hurensöhne, ihr tut mir weh«, lautete das Geständnis in einem Fall.6
Ähnlich düster steht es um die Behauptung, dass die Hypnose ein ganzes Spektrum
medizinischer
Störungen – von der Warze bis zum Nägelkauen – kurieren kann. Doch darf man niemals
vergessen,
warnen die Kritiker, dass man solche Beschwerden auch erfolgreich mit Gesundbeten,
Scheinoperationen
oder einer wirkstofflosen Zuckerpille» heilen «kann.
Dass die Hypnose nur über die Macht des Glaubens wirkt, macht Wagstaff am Beispiel des
Nägelkauens transparent. Durch eine hypnotische Suggestion ließen sich die
Versuchspersonen
nachdrücklicher von dieser Unsitte abbringen als durch eine pädagogische Belehrung. Doch
bei genauerer
Betrachtung stellte sich der Effekt als optische Täuschung heraus: Entscheidend war nicht die
Erfahrung
der Hypnose, sondern der Glaube des Patienten, sich einer erfolgreichen Therapie zu
unterziehen.
Patienten, die in dieser Hoffnung schwelgten, ließen auch nach einer schlichten Belehrung
vom
Nägelkauen ab. Und auch eine Pseudotherapie, die nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit
einer
hypnotischen Sitzung besaß, erzeugte den gleichen günstigen Heileffekt.

1 «Taktvoll in Trance«. In: Bild der Wissenschaft, Nr. 9/1999.


2 Wagstaff, Graham: Hypnosis. In: Della Sala, Sergio (Hg.): Mind Myths.
Exploring popular assumptions about the mind and brain. Verlag John Wiley & Sons,
Chichester et al. 1999.
3 Crombag, Hans F. M./Harald L. G. Merckelbach: Missbrauch vergisst man nicht.
Verlag Gesundheit, Berlin 1997.
4 Spanos, Nicholas P.: Multiple identities and false memories: A sociocognitive
perspective. American Psychological Association, Washington 1996.
5 «Hypnosis and hypnotherapy from a sociological point of view«. http:
//www.neurolinguistic.com /pnl /articles /engl-03.htm
6 Seidman, Barry F.: Legitimatizing psychology's prodigal son. Reconsidering
hypnosis for the 21st Century. In: Skeptic, Vol. 7 (1999), Nr. 1, S. 40–44.
7 «You are feeling very, very sleepy«. In: New Scientist, 4.7.1998.
8 Höfer, Eberhard/Köhnken, Günter: Zeugen. In: Straufl, Bernd (Hg.): Zuschauer.
Hogrefe, Verlag für Psychologie, Göttingen, Bern, Toronto, Seattle 1998
9 Loftus, Elizabeth: The myth of repressed memory. New York, St. Martin's Press
1994
10 «Hypnosis«. http://www.skepdic.com/contents.html

Einmal Jenseits und zurück?

Viele Menschen machen in Todesnähe läuternde Erfahrungen mit der Transzendenz«

Gegen die Vorstellung, dass der Tod der endgültige Abschluss, unser Leben nur eine
vorübergehende
Episode sei, hat der Mensch sich seit jeher aufgebäumt. In den so genannten
Nahtod-Erlebnissen, den
traumhaften» Reiseberichten «von beinah Verstorbenen, hat der Glaube an ein Weiterleben im
Jenseits
seine modernste und zeitgemäßeste Gestalt angenommen. Doch nach einer nüchternen
Bestandsaufnahme
der Ergebnisse aus Hirnforschung und Kulturgeschichte kommen skeptische Seelenforscher
zu einem
desillusionierenden Fazit: Die Visionen aus der Dunstzone der Transzendenz sind in
Wirklichkeit nur
Hirngespinste eines hinüberschlummernden Denkapparates.
Wie ein Radio, das beim Herausziehen des Steckers mit den letzten kriechenden Elektronen
noch ein
paar entstellte Laute produziert, beschwören die kollabierenden Synapsen offenbar ein letztes
Phantasiegebilde herauf.»Es ist nichts Magisches an den Nahtod-Erfahrungen«, betont
Michael
Persinger, Psychologie-Professor der kanadischen Laurentian University i »Ich kann nicht
länger an eine
Seele und einen höheren Geist glauben«, bestätigt seine britische Kollegin Susan Blackmore,
die nach
einer dreistündigen Nahtod-Erfahrung im Jahr 1970 die gesamte Forschungsliteratur
aufarbeitete.2»Ich
denke, sie sind nur dumme Ideen des Gehirns.«
In den Schilderungen von Personen, die einer Umklammerung durch den Tod entkamen, zum
Beispiel
bei einem schweren Unfall oder bei der Wiederbelebung nach einem Herzinfarkt, tauchten
häufig einige
frappierende Übereinstimmungen auf. Immer wieder dämmerte Betroffenen nach solchen
Berichten, dass
sie nicht allein waren, und sie erfuhren, dass ihre Visionen einen Namen haben.
Near-Death-Experience
(NDE), Nahtod-Erlebnisse, nannte der amerikanische Psychiater Raymond Moody in seinem
1975
erschienenen Buch» Life after Life «die Phänomene an der Schwelle zum Tod. Insbesondere
aus der
beobachteten Gleichförmigkeit hatten» Fachleute «wie die Schweizer Sterbeforscherin
Elisabeth Kübler-
Ross den» Beweis «für ein Leben danach abgeleitet:»Es gibt keinen Tod. Was wir Tod
nennen, ist nur ein
Übergang in eine andere Ebene.«3 Jedem Erdenbürger, so ihre Botschaft ans entzückte
Newage-
Publikum, ist ein schöner Abgang in ein friedvolles Jenseits vergönnt – sagt Kübler-Ross, die
schon
«einige Male selbst drüben war«.
Moodys Auswertung von 150 Schilderungen Überlebender trat eine ganze Lawine an Nahtod-
Berichten los. Gut 20.000 Menschen offenbarten sich beispielsweise Elisabeth Kübler-Ross,
und etwa 2
Prozent aller Patienten nach Herzattacken oder gar Herzstillstand meinten, sie wären in einer»
anderen
Welt «gewesen. Nach einer volkstümlichen Auffassung handelt es sich bei den»
Berichterstattern «um
Menschen, die buchstäblich aus dem Reich der Toten zurückgekehrt sind, so etwa bei einer
Reanimation
nach dem Herzstillstand. Diese Sichtweise kann jedoch nicht zutreffend sein, geben die
beiden englischen
Psychiater Glenn Roberts und John Owen zu bedenken.4»Wenn der Tod tatsächlich durch den
unwiderruflichen Verlust von Organfunktionen definiert wird und eine absolute Einbahnstraße
darstellt,
kann niemand, der ein Nahtod-Erlebnis beschrieben hat, im echten Sinne gestorben sein.«
Um einen vermeintlichen Blick ins Jenseits zu erhaschen, ist überdies nicht einmal die Nähe
des Todes
erforderlich. Eine solche Extremsituation erlebt nämlich nicht nur derjenige, der dem
Sensenmann im
letzten Moment ein Schnippchen schlägt. Es sind auch schon veritable Nahtod-Erlebnisse bei
Menschen
aufgetreten, deren Körper unversehrt eine Schrecksekunde überdauert hat. Auch der
indianische
Schamane nimmt für sich in Anspruch, den letzten Weg unter Trance hin- und
zurückzupendeln.
Schließlich liegen sogar einige Berichte von Personen vor, die am Todesbett eines Freundes
oder
Verwandten quasi stellvertretend von einer mustergültigen Vision überwältigt wurden –
inklusive Tunnel
und Lichtgestalt.5
Den Kern der Todesnähe-Erfahrungen können die Wissenschaftler heute einigermaßen exakt
beschreiben, auch wenn keine der anderen genau gleicht und in keinem Einzelfall wirklich
alle
kennzeichnenden Elemente vorhanden sind.»Das Erlebnis beginnt mit einem Gefühl
wunderbaren
Friedens und Wohlbehagens, das sich im Weiteren zu überwältigender Freude und zu
völligem Glück
steigert«, formuliert der Psychologie-Professor Kenneth Ring.6»In diesem Moment wird der
Betroffene
sich bewusst, dass er weder Schmerzen noch sonst irgendwelche Körperempfindungen hat.
Alles ist still.
Das mag ihm den Eindruck vermitteln, dass er gerade stirbt oder bereits tot ist.«
Dann hört dieser Mensch vielleicht ein summendes oder sirrendes Geräusch, als ob ein Wind
wehte,
und stellt plötzlich fest, dass er aus der Vogelperspektive auf seinen physischen Körper
herabschauen
kann. Er nimmt wahr, was um ihn herum getan und gesprochen wird, empfindet es als sehr
real und kann
es später präzise und oft mit nachprüfbaren Details beschreiben. Selbst Blinde haben
angeblich in diesem
«autoskopischen «Stadium schon verifizierbare optische Wahrnehmungen gemacht.
Während also der – in tiefer Bewusstlosigkeit liegende – Mensch sein körperliches Umfeld
weiter
wahrnimmt,»wird er sich zugleich einer anderen Realität bewusst, in die er sich
hineingezogen fühlt«, so
Kenneth Ring.»Er treibt auf eine dunkle Leere oder einen Tunnel zu und hat das Gefühl, zu
schweben.«
In dieser Sphäre des Übergangs ereignet sich, jedenfalls in Rings Darstellung, eine
Bestandsaufnahme, zu
der» ein Wesen «auffordert, das nicht zu sehen, nur zu spüren ist. Dieses diffuse Fühlen wird
jedoch
durch ein überwältigendes Gefühl der Präsenz überhöht. Das Wesen taucht meistens am in
gleißendes
Licht gehüllten Ende des Tunnels auf. Die Begegnung mit dem Licht ist in den neueren
Schilderungen so
tonangebend, dass ein kritischer amerikanischer Magazinbeitrag den zynischen Titel» Haben
Sie schon
das Licht gesehen?«trug.7
Das ominöse Wesen ruft Bilder aus der Vergangenheit wie einen» Lebensfilm «ab und
präsentiert auch
die Alternativen, die sich an der Schwelle vom Leben zum Tod scheinbar bieten: weiter in die
Erfahrung
vorzudringen oder ins irdische Leben zurückzukehren. Ob dieser Mensch nun» freiwillig
«zurückkehrt,
weil er sich Sorgen um die Seinen macht, oder – wie meistens – gegen seinen Willen auf»
höheren
Befehl«, ob er allmählich erwacht oder mit einem schmerzhaften Ruck» wieder in seinen
Körper eintritt«
– zurück muss er. Doch diese erzwungene Rückkehr soll häufig eine bemerkenswerte
existenzielle
Läuterung nach sich ziehen. Ein großer Teil der Betroffenen verliert demnach als Folge der
Grenzerfahrung die Angst vor dem Tod und gewinnt ein verstärktes Gefühl von Sinnhaftigkeit
und
zwischenmenschlicher Nähe dazu.

«Nahtod-Erlebnisse «weisen überall in der Welt das gleiche Muster auf«

Wer an die spirituelle Realität der Nahtod-Erfahrung glaubt, hebt gerne die Tatsache hervor,
dass die
Erlebnisse beim Übergang von Sein ins Nichtsein in allen Kulturen und Epochen dem
gleichen Muster
folgen: Moodys Analysen oder das über 1.000 Jahre alte tibetanische Totenbuch» Bardo
thödol «lassen
demnach keinen Zweifel: Nahtod-Erlebnisse sind ein universelles Phänomen mit einem
immer
wiederkehrenden Szenario, zu dem die Euphorie und das Licht am Ende des Tunnels gehören.
Viele
ziehen aus den überwältigenden Übereinstimmungen und der Intensität des Erlebten den
Schluss: Das
Jenseits existiert.
Doch die vermeintlich größte Stärke der Nahtod-Erfahrung stellt bei Licht betrachtet eine
ihrer
größten Schwächen dar. Denn zum einen könnte man die behauptete Gleichförmigkeit der
Erfahrung
ebenso gut als Beweis dafür anführen, dass unser Gehirn beim Erlöschen der Lebensgeister
einen
feststehenden» Todesfilm «abspult, dessen inhaltliche Gestaltung auf den
konstruktionsbedingten
Eigenarten des Nervensystems basiert. Zum anderen widerlegt ein Blick auf Kulturgeschichte
und
Ethnologie unweigerlich die behauptete Gleichförmigkeit. Er führt zwingend zu der
Erkenntnis, dass der
Inhalt der Sterbensvisionen ganz entscheidend von den kulturellen Mythen und
Glaubenssätzen einer
Gesellschaft abhängt: Die Hirngespinste, die das menschliche Zentralorgan im Würgegriff des
Schnitters
abspult, sind bis in ihre Grundfesten von den jeweiligen Denktraditionen überformt.
Offensichtlich sind sich die Verfechter der Nahtod-Realität nicht bewusst, dass es bereits im
Mittelalter frappierende Gegenstücke zu den modernen» Reiseberichten «gab, hebt der
Geschichtswissenschaftler Prof. Peter Dinzelbacher von der Universität Stuttgart hervor. 8
Nach seiner
Darstellung muss es wohl schon in der griechischen Antike persönliche Berichte von
Wiederbelebten
«Anabioseis«) und Berichte von Abstiegen in die Unterwelt (»Katabaseis«) gegeben haben,
von denen
jedoch keiner erhalten geblieben ist. Beginnend mit der so genannten apokalyptischen
Literatur und den
Schauungen der Märtyrer, bildete sich im Mittelalter eine eigene literarische Gattung, die der
«Visionsliteratur«, heraus. Darin waren» Jenseitsreisen «festgehalten, die Beinah-Verstorbene
bestimmten
Gewährsleuten geschildert hatten. In den» Viten«, den Lebensbeschreibungen von Heiligen,
und in
gewissen anderen klerikalen Schriften gibt es zudem Berichte über jenseitige Figuren, die den
Sterbenden
am Todesbett erschienen waren.
In einigen Fällen wurden die Dahinscheidenden an ihrem Krankenlager von Sendboten der
christlich-
mythologischen Sphäre besucht, zum Beispiel von Jesus, von Maria, von Heiligen oder von
Engeln.
Noch häufiger, so betont der Autor, sahen sich die Todgeweihten jedoch voller Grauen mit
Dämonen,
Teufeln oder anderen Mächten der Finsternis konfrontiert, wie etwa der Bischof Martin von
Tours, der
mit den Worten» Was stehst du hier, blutrünstige Bestie?«aus dem Leben schied.
Auf dem Wege in die» andere Welt «lauerten dem Passanten häufig dämonische Gestalten auf.
Bemerkenswerterweise, erläutert Dinzelbacher, bestanden die Anfechtungen der bösen Geister
oft darin,
dass sie dem Visionär die Sünden seines Lebens vor Augen hielten. Das erinnert oberflächlich
an den
«Lebensfilm«, den zeitrafferartigen Zusammenschnitt der bisherigen Biographie, der bei
vielen Beinah-
Toten aus unseren Tagen vor dem geistigen Auge abläuft. Doch die mittelalterliche
Sündenbeschau war
nie plastisch; der Sünder bekam seine Verfehlung in abstrakter Form vorgehalten, wie bei
einem
tabellarischen Lebenslauf.
Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass die mittelalterlichen Visionen in Todesnähe den
Visionär am häufigsten in die Hölle und die Regionen der ewigen Strafe führten. An diesen
Orten, an
denen sie buchstäblich dunklen Gestalten begegneten, wurde den entbundenen Seelen
demonstriert,
welche furchtbaren Qualen den uneinsichtigen Sündern nach dem Tode blühen. Praktisch nur
in den
mittelalterlichen Visionen, und dort zahlenmäßig überwiegend, kamen grauenvolle Bilder der
Verdammnis vor. Darin spiegelt sich laut Dinzelbacher wohl auch die Tatsache,»dass das
Gottesbild
heute wirklich nur mehr den» lieben «Gott vorstellt, nicht mehr den strafenden und richtenden
Gott des
Zornes«, wie er damals porträtiert wurde. Das Prinzip von Schuld und Sühne wird heute
durch
Psychologisierung entschärft. Besonders die Newage-Bewegung, die als Utopie ein Zeitalter
der
Harmonie und des geistigen Fortschritts anstrebt, hat sich dem Glauben an einen seligen
Übergang
verschrieben.
Davon abgesehen wurden die Visionäre im Mittelalter von einem erhabenen Führer in die
jenseitige
Welt geleitet. Die losgelösten Seelen von heute hingegen finden in der Regel auf eigene Faust
den Weg.
Das hängt womöglich damit zusammen, dass der moderne Mensch sich generell eher als
autonomes
Individuum und nicht mehr als Bestandteil einer» gottgegebenen «Hierarchie versteht.
Bei den Mormonen, einer fundamentalistischen christlichen Religionsgemeinschaft in den
USA,
wurden Nahtod-Erlebnisse bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert beschrieben. Auch
damals wichen
die Vorkommnisse erheblich vom wohlgefälligen modernen Szenario ab. 5 Die
Zurückgekehrten
beschrieben zum Beispiel eine streng reglementierte Jenseitswelt, in denen jeder sklavisch
seine
festgelegte Rolle erfüllen musste, so wie er es auch zu Lebzeiten vorgeschrieben bekam. Das
Gefühl von
Euphorie und Gelassenheit, das in den westlichen Schilderungen dominiert, ist auch in den
Nahtod-
Berichten aus Indien unauffindbar. Nicht einmal die Empfindung, aus dem Körper
auszutreten, taucht in
den indischen Beschreibungen auf. Indische Beinah-Verstorbene kehren dafür häufig mit
körperlichen
Stigmata aus der Schattenwelt zurück. Weder Melanesier noch Chinesen passieren im
Scheintod einen
Tunnel.
Selbst innerhalb westlicher Kulturen wird das vermeintlich universelle Nahtod-Erlebnis durch
landesspezifische Charakteristika geprägt. Bei den kinobesessenen Amerikanern läuft zum
Beispiel sehr
viel häufiger ein Lebensfilm ab als bei den Briten. Es ist auch kein Wunder, dass sich in den
Sterbensvisionen der vergleichsweise fundamentalistischen Amerikaner häufiger biblische
Gestalten und
Motive manifestieren.
Sogar die Deutschen diesseits und jenseits der ehemaligen Zonengrenze hecken
unterschiedliche
Visionen aus. Über 2.000 Bundesbürger und Schweizer hat ein Soziologenteam der
Universität Konstanz
nach entsprechenden Erlebnissen befragt.3 Das Fazit der Studie: Weder gibt es eine
kulturunabhängige
Standarderfahrung, noch verweisen die Erlebnisse auf ein Leben nach dem Tod. Der Zürcher
Banker
stirbt anders als der Berliner Straßenkehrer, der Wessi dankt anders als der Ossi ab. Die
Visionen beim
Aushauchen des Lebens sind Produkte des Bewusstseins, ein Rauschen der Nervenzellen, in
Gang gesetzt
von einer komplizierten Chemie des Gehirns und im Wesentlichen geprägt von Kultur und
eigener
Biografie, meint der Konstanzer Soziologe Hubert Knoblauch, einer der Initiatoren der
Erhebung.
Die Reise zum Licht erweist sich als typische Erscheinung des (religiöseren) Westdeutschen,
dessen
Erfahrungen überhaupt auffallend den amerikanischen Vorlagen gleichen. Während der Wessi
viel eher
gen Himmel entschwebt, stirbt der Ostdeutsche in einem auffallend tristen Rahmen. Erst
geht's durch den
Tunnel, dann macht er auch noch» schreckliche, respektive höllische Erfahrungen«: Von
denen, die im
Osten Todesnähe erfuhren, erlebten 60 Prozent diese Tortur – eine Erfahrung, die sehr viel
weniger
Westdeutsche teilen. Knoblauch vermutet, dass sich die positiven Bilder aus dem
US-Standardmodell im
kulturellen Gedächtnis der Menschen der Ex-DDR noch kaum abgelagert haben. Oder, so
fragt sich der
Forscher:»Förderte die autoritär strukturierte Gesellschaft in stärkerem Maße
Strafphantasien?«
Auch ins Paradies gelangen die Bedauernswerten aus den neuen Bundesländern weit seltener.
Wenn er
überhaupt etwas Schönes erlebt, greift der atheistisch erzogene Ostdeutsche lieber auf
naturnahe
Metaphern zurück: Nicht im» Paradies «landet er, sondern auf einer» sehr schönen
Blumenwiese«, in
einer» grünen Oase«, einer» Allee mit blühenden grünen Bäumen «oder an einer» kleinen
Quelle, die
plätscherte«. Im Westen erkennt fast jeder Zweite einen Hinweis auf Gott, im Osten nur jeder
Vierte.
Während sich der Ostdeutsche im ausgeprägt areligiösen, weltlichen Rahmen bewegt, erfährt
der
Westdeutsche eine» jenseitige Welt«(63 Prozent) und spürt»übersinnliche Kräfte«(68
Prozent).
Auch die Tatsache, dass eher ins Jenseits aufbricht, wer schon von dieser Reisemöglichkeit
gehört
hat, könnte ein Indiz für weltliche Inspiration sein. So hatten viele Ostdeutsche zu
DDR-Zeiten ihre
Vision noch schlicht als Traum ausgelegt. Erst nach der Wende erfuhren sie im Fernsehen und
aus
Illustrierten, was dem modernen Menschen auf dem Weg ins Jenseits so widerfährt. Glichen
sich die
Sterbeprozesse der Menschen aller Kulturen im Kern, dürften geografische und individuelle
Besonderheiten keine große Rolle spielen. Sie tun es aber.
Eidgenossen flechten sogar einschlägige alpenländische Sehenswürdigkeiten in ihre
Todesphantasien
ein. So etwa die Schweizer Bergsteiger, deren Nahtod-Erlebnisse der Geologe Albert Heim
1891 im
«Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs «veröffentlichte: Sie durchquerten weder eine
mittelalterliche
Hölle noch einen Tunnel. Sie fielen in alpinem Ambiente» in einen herrlich blauen Himmel
mit
rosenfarbenen Wölklein«. Der Hopi-Indianer durchquert auf dem Weg in die ewigen
Jagdgründe die
Prärie. Eine Inderin reitet auf einer Kuh in den Himmel, während ein New Yorker mit einem
gelben Taxi
dorthin fährt.

«Nahtod-Erfahrungen kommen in Todesnähe ausgesprochen häufig vor«

Ein weiteres, häufig zitiertes Argument für den realen Charakter der Nahtod-Erfahrung ist ihre
angeblich
große Häufigkeit. Wenn dem Menschen im Zwischenstadium zwischen Diesseits und Jenseits
tatsächlich
transzendentale Sendboten begegnen, gibt es keinen Grund dafür, dass das Erlebnis nur einem
engen
Kreis von» Erleuchteten «vorbehalten sein soll: Eine real existierende Sterbensvision müsste
im Prinzip
einen demokratischen Charakter haben.
Bei einer Umfrage unter 1.500 Personen, die dem Sensenmann entronnen waren, stellte sich
1981 in
den USA in der Tat heraus, dass etwa ein Drittel davon die einschlägigen Visionen vorweisen
konnte.
Nach den damaligen Schätzungen hätten möglicherweise bis zu 8 Millionen Amerikaner
bereits» das
Licht «gesehen. Durch die modernen Errungenschaften der Apparatemedizin wurden in den
vergangenen
Jahren immer mehr Patienten aus den Klauen des Todes zurückgeholt. Und weil das Thema
Nahtod-
Erfahrung in den Massenmedien eine immer größere Resonanz erfuhr, müsste die
Bereitschaft,
entsprechende Erlebnisse einzugestehen, gestiegen sein. Eine deutliche Zunahme der
Schilderungen
wäre die Folge.
Doch die sagenhaften Begegnungen sind wahrscheinlich weitaus seltener, als die damaligen
Zahlen
erwarten ließen. Bruce Greyson, Professor für Psychiatrie an der Universität Virginia, wollte
untersuchen, ob sich Herzpatienten mit Nahtod-Erlebnissen in Bezug auf Lebenszufriedenheit
und
Heilungschancen von» normalen «Patienten unterscheiden.9 Aber zur Verblüffung des
Forschers
berichteten nur elf von 500 Patienten mit Angina pectoris, Herzattacken oder gar
Herzstillstand von einer
«Jenseits-Vision«. Das sind etwa 2 Prozent.
«Das liegt weit unter der Rate von 20 bis 40 Prozent, die noch vor 15 Jahren angenommen
wurde«,
sagt der Professor, der sein Ergebnis bei der 3. Europäischen Konferenz der» Society for
Scientific
Exploration«(SSE) in Freiburg vorgestellt hat. Die Kriterien für eine echte Nahtod-Erfahrung
seien
damals nicht streng genug gewesen, und die Kandidaten seien wohl nicht zufällig ausgewählt
worden.
Wahrscheinlich hatten die damaligen NDE-Experten bei ihren Studien gezielt Kandidaten
bevorzugt,
denen das» gewisse Etwas «widerfahren war.

«Nahtod-Erfahrungen sind in der überwiegenden Zahl der Fälle positiv getönt«

Es ist ein fester Bestandteil der modernen Nahtod-Mythologie, dass der Weg aus dem
irdischen
Jammertal mit euphorischen und seligen Gefühlen gepflastert ist.»Das Erlebnis beginnt mit
einem
Gefühl wunderbaren Friedens und Wohlbehagens, das sich im Weiteren zu überwältigender
Freude und
zu völligem Glück steigert«, beschreibt der amerikanische Psychologie-Professor Kennern
Ring den
Kick.6 In dieser euphemistischen Vorstellungswelt ist einfach kein Platz für einen»
Horrortrip«.
Doch nicht nur die Rückschau auf die Sterbensvisionen des Mittelalters beweist, dass der
vermeintlich
sanfte und schonungsvolle Übergang durchaus von Heulen und Zähneklappern gezeichnet
sein kann. Der
amerikanische Kardiologe Maurice Rawlings hat eine größere Zahl von Fällen
zusammengestellt, bei
denen als» klinisch tot «diagnostizierte Patienten eine zweite Chance, zu leben, erhielten und
während der
Rettungsaktion infernalische Höllenvisionen durchmachten.10 Rawlings war zu dieser
Sammlung angeregt
worden, als er versucht hatte, seinen Patienten» Charly «durch Schläge auf die Brust von
einem
Herzstillstand zu reanimieren. Charly würgte, rollte mit den Augen, verfärbte sich blau und
verfiel in
Konvulsionen. Bei jedem Schlag flehte er seinen Doktor an:»Hören Sie nicht auf, ich bin in
der Hölle, in
der Hölle. «Der Zwischenfall bewegte Rawlings dazu, nach weiteren dämonischen
Nahtod-Erlebnissen
Ausschau zu halten.
Die Berichte in seinem Buch dokumentieren, dass die geläufigen, friedvollen Schilderungen
aus der
Zwischenwelt lediglich eine ideologisch verbrämte Kollektion darstellen: In ungeahnt vielen
Fällen
durchleiden die Wanderer im Schattenreich Tantalusqualen und Visionen der
Verdammnis.»Wenn man
die Person, die man wieder belebt hat, nur etwas später befragt, zum Beispiel ein paar Tage
oder Wochen
nach dem Vorfall, dann bekommt man allerdings nur noch die schönen und angenehmen
Darstellungen
aufgetischt. Die unangenehmen Erfahrungen wurden dann längst unter den Teppich der
Erinnerungen
gekehrt. «Das ist wohl ein ähnliches Phänomen wie bei den Wehen, deren Schmerzhaftigkeit
bei den
meisten Frauen kurz nach der Entbindung in Vergessenheit gerät.
Offenbar vermeiden die Wiederbelebten es aber auch, ihrem Arzt solche Negativerlebnisse
mitzuteilen, weil die Erfahrung für sie auf ein furchtbares und beschämendes persönliches
Versagen
hinausläuft. Wer auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod der Hölle begegnet, muss
obendrein
mit dem Eingeständnis weiterleben, dass er, gemessen am kulturellen Ideal, auf dem
ultimativen Trip
gescheitert ist.

«Es gibt keine befriedigende naturwissenschaftliche Erklärung für die


Nahtod-Phänomene«

Die Authentizität der Nahtod-Erlebnisse wird häufig mit dem Argument untermauert, dass sie
ultraweit
von der alltäglichen Erfahrung entfernt sind und dennoch ein Gefühl absoluter subjektiver
Gewissheit
hinterlassen. Der Trip in die Zwischenwelt besitzt demnach eine überwältigende
Erfahrungsqualität,
deren Evidenz sich jeder nüchternen naturwissenschaftlichen Erklärung radikal entzieht.
Doch wenn man einen Blick auf die Forschungsliteratur aus der klinischen Psychologie und
Neurologie wirft, stößt man sehr rasch auf die Erkenntnis, dass sämtliche symptomatischen
Bestandteile
einer authentischen Nahtod-Erfahrung in lupenreiner Form auch bei bestimmten Patienten zu
beobachten sind, deren Gehirnfunktion beeinträchtigt wurde: durch eine Verletzung, eine
elektrische
Stimulation, den Einfluss von Drogen oder anderen bewusstseinsverändernden Reizen.
Bereits in den Jahren zwischen 1930 und 1940 stellte der berühmte kanadische Neurochirurg
Wilder
Penfield fest, dass er bei seinen epileptischen Patienten wahre» Gedächtnisfilme «abrufen
konnte, wenn
er in ihrem Schläfenlappen mit Drähten elektrische Reize setzte. Die vermeintlichen
Erinnerungen
wurden übrigens in der Zwischenzeit als fiktive Ausgeburten der Einbildungskraft entlarvt,
die dennoch
für ihre Urheber unzweifelhafte Realität besaßen. In zahlreichen Fällen ging die
Elektrisierung mit
einem Gefühl von tiefem Frieden und Euphorie einher. Schließlich löste die Hirnstimulation
bei
manchen Patienten auch die überwältigende Gewissheit aus, sie hätten ihren Körper verlassen
und
könnten sich selbst von außen sehen. Dies ist ganz offensichtlich ein Äquivalent der»
Out-of-body-
Erfahrung«, dem Aus-dem-eigenen-Körper-Heraustreten, das zu den urtypischen Merkmalen
einer
Nahtod-Erfahrung gehört.
Auch ein Defekt im Schläfenlappen, verursacht durch Sauerstoffmangel oder durch eine dort
lokalisierte Epilepsie, ruft zuweilen vergleichbare Erscheinungen hervor. Sehr charakteristisch
ist dann
eine träumerische Empfindungsqualität, verbunden mit der erdrückenden Überzeugung, dass
die
Erfahrung unzweifelhaft wirklich ist. Ein Symptom der Anfälle besteht häufig darin, dass die
Patienten
sich vermeintlich von außen sehen oder sich wie verdoppelt fühlen. Dass die Szenerie dann
meist aus
der Vogelperspektive erlebt wird, erklären Kognitions-Psychologen mit dem Umstand, dass
unser Hirn
unentwegt dreidimensionale Abbilder der Umwelt entwirft. Die Summe dieser Rekonstruktion
ist der
Blick von oben.»Schließen Sie einfach kurz die Augen«, rät Susan Blackmore,»und versuchen
Sie sich
die Szene von oben vorzustellen. Sie werden überrascht sein, wie leicht das ist.«11
Der kanadische Psychologie-Professor Michael Persinger löste bei seinen Versuchspersonen»
Nahtod-
Imitate «aus, indem er ihre Großhirnrinde mit elektromagnetischen Feldern reizte. 1 Gut einem
Viertel der
Probanden drängte sich prompt die Vorstellung auf, sie würden aus ihrem Körper austreten
und könnten
die Szenerie aus einer erhabenen Warte sehen. Der Out-of-body-Trip war häufig mit einem
tief
empfundenen Gefühl der Anwesenheit einer fremden Wesenheit verbunden.
Doch nicht nur Magnetismus und Epilepsien können überzeugende Nahtod-Erlebnisse
auslösen.
Trocken stellt der in England lebende Psychiater Karl Jansen fest:»Die intravenöse Injektion
von 70 bis
150 Milligramm Ketamin kann alle Aspekte der NDEs reproduzieren. «Es blockiere, so
Jansens NDE-
Theorie, Rezeptoren im Hirn, an die gewöhnlich der Botenstoff Glutaminsäure andockt.
Dieses unter
Stress in extremen Mengen ausgeschüttete Molekül hat die unangenehme Eigenschaft, auf
bestimmte
Neuronen toxisch zu wirken. Ketamin und natürliche so genannte Endopsychosine wirken
quasi als
«Schutzkappe«. Alle Sinneskanäle werden abgekoppelt und es kommt zu NDEs.11
Das Betäubungsmittel Ketamin ist unter Narkoseärzten beliebt, weil es die Atmung nicht
beeinträchtigt. Allerdings empfinden besonders erwachsene Patienten den rasenden Sturz
durch dunkle
Tunnels, abgeschnitten vom restlichen Körper, als Horrortrip. Für das Hochgefühl, über das
98 Prozent
der Beinah-Toten berichten, fehlt der Ketamin-Anästhesie und Epilepsie das euphorisierende
Anfluten der
körpereigenen Endorphine, das immer dann einsetzt, wenn höchste Gefahr droht. Gleichwohl
wird das
Mittel noch immer genutzt. Für eingeklemmte Unfallopfer und auch von hart gesottenen
Drogenkonsumenten wie dem inzwischen real verstorbenen LSD-Papst Timothy Leary. Der
bezeichnete
den Ketamin-Trip als» Experimente mit vorübergehendem Tod«.
«Es gibt nicht eine einzige Komponente der Nahtod-Erfahrung, die nicht bereits durch eine
chirurgische Stimulation des Schläfenlappens, durch schwache elektromagnetische Felder
oder andere
Reizungen künstlich hervorgerufen worden wäre«, zieht der Psychologe Persinger Bilanz. In
der realen
Situation der Todesnähe ist aber vermutlich der meist rasch eintretende Sauerstoffmangel
(Hypoxie) im
Gehirn für die spirituelle Fata Morgana verantwortlich, hebt seine britische Kollegin Susan
Blackmore
hervor.
Besonders anfällig für einen Sauerstoffmangel ist in der Tiefe des Gehirns der Hippocampus,
die
zentrale Schaltstelle für das Gedächtnis. Sie filtert, welche Erinnerungen in das Bewusstsein
dringen
dürfen und welche nicht. Geraten die Nervenzellen (Neuronen) plötzlich in Existenznot – das
zeigten
Versuche an Ratten –, fallen hemmende Nervenaktivitäten weg. Ungebremst drängen Bilder
aus dem
Gedächtnis ins Bewusstsein. Das Hirn – immer auf der Suche nach Sinn in den angelieferten
Informationen – strickt aus diesem Chaos eine Rückschau, den» Lebensfilm«.
Halt der Sauerstoffmangel an, so Blackmores These für die Nahtod-Erlebnisse, entwickelt
sich eine
allgemeine Nervenenthemmung. Sie selbst hat mit diesem Ansatz im Computermodell das
Licht am Ende
des Tunnels simulieren können. Die Tunnelvision hängt danach höchstwahrscheinlich mit
dem
allgemeinen Bauplan der primären Sehrinde, der Anlaufstelle für optische Reize im Gehirn
zusammen.
«Es gibt dort sehr viele Nervenzellen, die das Zentrum des Blickfeldes repräsentieren, aber
sehr wenige
Repräsentanten für die Randgebiete. «Wenn allmählich die hemmenden Neuronen – die
überdurchschnittlich viel Energie und Sauerstoff benötigen – den Geist aufgeben, nehmen
unkontrollierte
Nervenentladungen überhand. Dieses Trommelfeuer der Optik-Neuronen wird jedoch vom
Bewusstsein
als» Licht «interpretiert.»Weil es im Zentrum des Gesichtsfeldes mehr aktive Nervenzellen
gibt, kommt
der Eindruck vom Licht am Ende eines Tunnels zustande. «Je mehr die entfesselten
Entladungen
zunehmen, umso größer wird der Anteil des Blickfeldes, den das Licht in Anspruch nimmt: So
entsteht
die Illusion, auf das Licht zuzurasen.
Eine Untersuchung am Berliner Rudolf-Virchow-Universitätsklinikum bestätigte, dass
Sauerstoffmangel die einschlägigen visuellen Manifestationen provoziert. Mediziner ließen 42
Jugendliche bis zu 22 Sekunden durch Hyperventilation und anschließendes ruckartiges
Pressen des
Brustkorbs ohnmächtig werden. So lösten die Forscher eine» akute globale zerebrale Hypoxie
«aus. Die
Folge: Visionen und Vorstellungen suchten die Probanden heim, die verblüffende Ähnlichkeit
mit
Nahtod-Erfahrungen aufwiesen.
Ähnliche Beobachtungen haben amerikanische Militärärzte bei Kampfpiloten gemacht, die im
Training ungewöhnlich starke Erdanziehungskräfte durchstehen mussten, welche ihr Gehirn
des
Sauerstoffs beraubten.5 Sie wurden in der Zentrifuge von einem Gefühl intensiven Friedens
übermannt,
halluzinierten, wie sie durch einen Tunnel auf ein Licht zurasten, und traten in der gewohnten
Manier aus
ihrem Körper heraus.
Es gibt im Übrigen starke Verdachtsmomente dafür, dass auch die Out-of-body-Erfahrung in
Todesnähe lediglich einen halluzinatorischen Charakter besitzt: Im Operationssaal des
Hartford-
Hospitals in Connecticut haben amerikanische Forscher ein elektronisches Display
angebracht, das aus
der Position des Patienten nicht wahrgenommen werden kann. 12 Auf dem Schirm werden in
zufälliger
Reihenfolge bestimmte Sätze dargeboten. Wann immer eine Person über ein Nahtod-Erlebnis
berichtete,
wurde sie aufgefordert, den Inhalt des Displays zu rekapitulieren, der aus der
Vogelperspektive leicht zu
überschauen war.»Die Ergebnisse lieferten keinerlei Anhaltspunkte, dass auch nur ein einziger
Patient in
Todesnähe Informationen von dem Display aufnehmen konnte.«

«Nahtod-Erfahrungen lösen bei den Betroffenen eine einzigartige Läuterung der


Persönlichkeit
aus«

Der Realitätsgehalt der Nahtod-Erfahrung wird in der Literatur sehr häufig mit dem Hinweis
gestützt,
dass sie bei den Betroffenen eine außergewöhnliche seelische Läuterung auslöst. Raymond
Moody sagt,
in mehr als 20 Jahren psychiatrischen Umgangs mit Todesnähe-Erfahrenen sei ihm niemand
begegnet,
den dieses Erlebnis nicht tief greifend verändert habe, und zwar positiv. In der Tat sind häufig
sehr
heilsame Persönlichkeitsveränderungen festzustellen, die das (bekanntlich desolate) Ergebnis
psychotherapeutischer Bemühungen weit übertreffen.
Die innere Religiosität solcher Menschen beispielsweise nimmt zu – wenn auch nicht
unbedingt deren
kirchliche Bindung. Ihr fürsorgliches Interesse an den Mitmenschen wird wesentlich
intensiver, zugleich
aber auch ihr eigenes Lebensgefühl und ihre Wertschätzung der verbleibenden Lebenszeit. So
gut wie alle
diese Menschen sagen, sie seien nun ganz sicher, dass es noch eine andere als die irdische
Existenz nach
dem Tod gebe. Und sie alle versichern, dass sie die Angst vor dem Tod, vor dem Ende ihrer
physischen
Existenz, völlig verloren hätten. Und wer den Tod nicht mehr fürchtet, der kann das Leben
viel gelassener
genießen.
Doch auch wenn diese Veränderungen wirklich real sind – sie müssen nicht das Resultat einer
authentischen transzendentalen Erfahrung sein, gibt der amerikanische Philosoph Keith
Augustine zu
bedenken.12 Bei einer Langzeituntersuchung in den USA stellte sich heraus, dass sich
derartige
Metamorphosen auch bei Menschen ereigneten, die dem Tode nahe kamen, ohne jedoch eine
Nahtod-
Erfahrung durchzumachen.»Die Persönlichkeitsveränderungen kommen offenbar allein schon
durch die
Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit zustande, nicht erst durch
Todesnähe-Erfahrungen.«
Für den Psychologen Persinger stellt sich sogar die Frage, ob nicht viele der durch NDEs
ausgelösten
Veränderungen auf einer Schädigung des Gehirns basieren.»Die meisten Reize, die
Nahtod-Erfahrungen
heraufbeschwören, gehen auch mit einem schleichenden Verlust von Nervenzellen einher.
«Von diesem
Verlust sind besonders die Neuronen des Hippocampus betroffen. Wenn in diesem Zentrum
Nervenzellen
sterben, treten jedoch sehr schnell» neuroplastische «Veränderungen auf: Die verbleibenden
Neuronen
bilden neue Ausläufer und nehmen Kontakt mit bisher nicht kontaktierten Ansprechpartnern
auf. Diese
Umgestaltungsprozesse könnten sich nach außen als eine Verwandlung der Persönlichkeit
bemerkbar
machen.
Dabei müssen solche Verwandlungen keineswegs immer vorteilhaft sein, räumt der
amerikanische
Religionswissenschaftler J. Isamu Yamamoto ein.13 Viele Menschen kommen nach einer
Todesnähe-
Erfahrung auch ins Straucheln und handeln sich seelische Störungen ein. Es wird für sie
immer
schwieriger, eine Beziehung oder die Anforderungen ihres Berufs durchzustehen. Oft
resultieren daraus
familiäre Probleme, eine Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes.»Man kann auch
sagen, dass
NDEs für viele verpfuschte Existenzen verantwortlich sind«– eine Sehweise, die sich
erheblich von dem
rosigen Bild unterscheidet, das Leute wie Moody und Ring gezeichnet haben.

1 Persinger, Michael: Near-death experiences and ecstasy: a product of the


Organization of the human brain? In: Della Sala, Sergio
(Hg.):Mind myths. Exploring popular assumptions about the mind and brain.
Verlag John Wiley, Chichester et al. 1999.
2 Blackmore, Susan J.: Dying to live: Near-death experiences, Prometheus Books,
Buffalo 1993.
3 «Einmal Hölle und zurück«. In: Die Zeit, Nr. 29/1999.
4 Roberts, Glenn/Owen, John: The Near-death experience. In: British Journal of
Psychiatry, Bd. 153 (1988), S. 607–617.
5 «Survival Conference: Near-death experience. «http:
//www.esalenctr.org/sur/sur98ndes.html
6 Ring, Kenneth: Life at death: A scientific investigation of the near-death
experience, Verlag Coward, McCann & Geoghegan, New York 1980.
7 Baker, Robert: Have you seen» The Light?« In: Skeptical Inquirer, Juni 1995.
8 Dinzelbacher, Peter: An der Schwelle zum jenseits. Sterbevisionen im
interkulturellen Vergleich. Herder Tb. 1584, Freiburg, Basel, Wien
1989.
9 «Verblüffte Forscher: Nahtod-Erlebnisse sind nur sehr selten«. In: Ärzte Zeitung,
15.10.1996.
10 Hux, Clete: Near-death experience: Angel of light?
http://www.watchman.org/anglight.htm
11»Fischen im Drüben. Für den vermeintlichen Blick ins Jenseits gibt es plausible
wissenschaftliche Erklärungen«. In: Sonntagszeitung,
29.3.1998.
12 Augustine, Keith: The case against immortality.
http://freeinquiry.com/library/modern/keith_augustine/immortality.html
13 Yamamoto, J. Isamu: The near-death experience, part two: Alternative
explanations» http: //www.mindspring.com /-scott /nde /Christian, txt

MYTHEN DES GEHIRNS

Armleuchten

«Der Mensch nimmt nur 10 Prozent seiner Gehirnkapazität in Anspruch«

Es ist fast unmöglich, eine Unterhaltung über das Gehirn und seine intellektuellen Potenziale
zu
führen, ohne dass die Legende von den brachliegenden 90 Prozent Hirnkapazität zur Sprache
kommt. Die
Vorstellung, dass der gewöhnliche Bürger nur einen Bruchteil seiner neuronalen Ausstattung
nutzt, ist
längst zu einem unausrottbaren Bestandteil der Allgemeinbildung geworden. Logisch
betrachtet lässt das
Klischee drei verschiedene Interpretationen zu:]
1.) Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist nur ein Zehntel aller Nervenzellen (Neuronen) aktiv.
2.) 90 Prozent aller Hirnzellen liegen als nutzloser Ballast unter der Schädeldecke herum.
3.) Wir nehmen nur 10 Prozent des Lagerplatzes im Gehirn für das Speichern von
Erinnerungen in
Anspruch.
Der 10-Prozent-Mythos ist jedoch in allen drei Auslegungen eine reine Ausgeburt der
Phantasie und
geht völlig am Kenntnisstand der modernen Gehirnforschung vorbei, wie der
Psychologie-Professor
Barry L. Beyerstein von der Simon Fraser University in Burnaby, Kanada, in einer
eingehenden
Literaturstudie konstatiert.2
Die Mär vom unausgeschöpften Hirnpotenzial wird besonders gerne in esoterischen Kreisen
bemüht,
meist verbunden mit dem Angebot, die brachliegenden neun Zehntel durch ein sündhaft teures
Kursprogramm zu mobilisieren. So wirbt etwa die Scientology-Sekte mit einem Porträt von
Albert
Einstein, dem die Behauptung von der mangelnden Nutzung unseres Denkapparates in den
Mund gelegt
wird.
Doch diese Zuschreibung ist sehr wahrscheinlich ein weiterer Mythos, wie Beyerstein bei
seinen
Recherchen herausfand. In den schriftlichen Unterlagen ist nicht der geringste Hinweis zu
finden, dass
das Physikgenie jemals eine solche Bemerkung fallen ließ, konnte er von Jeff Mandl, dem
Assistenten des
Kurators am Albert Einstein Archiv erfahren. Auch Alice Calaprice von der
Princeton-Universität in New
Jersey, die Herausgeberin der Zitatensammlung» Einstein sagt«, bleibt skeptisch,»denn
bestimmt hätte
jemand widersprochen, und es hätte eine Diskussion gegeben«.
Vermutlich hat ein Liebhaber der 10-Prozent-Theorie irgendwann beschlossen, dass die
Zuordnung
zu Albert Einstein zu schön ist, um unwahr zu sein. Bei einer anderen angeblichen Quelle für
den
Mythos, dem amerikanischen Philosophen William James, dem Vater der modernen
Psychologie, hat
Beyerstein indes das ursprüngliche Zitat ausgegraben:»Der durchschnittliche Mensch baut nur
10
Prozent seiner latenten geistigen Anlagen aus. «Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte
sich die
Legende von der ungenutzten Hirnkapazität bereits fest in den Köpfen der Menschen
eingenistet, stellte
der Psychologe bei der Sichtung historischer Quellen fest. Im Weltalmanach des Jahres 1929
bot ein
«Pelham Institut «seine Kurse zur Lebenshilfe mit dem Hinweis auf die ungenutzten 90
Prozent des
Hirnes feil.»Die Sprache der Anzeige verrät, dass ihre Autoren bereits fest auf die Verbreitung
der
Binsenweisheit bauen konnten.«
Wenn der 10-Prozent-Mythos nicht existiert hätte, wäre er von den Propagandisten der
Lebenshilfe,
der Esoterik und der Persönlichkeitsbildung garantiert erfunden worden, folgert Beyerstein.
Da die
zentrale Rolle des Gehirns für das geistige Leben nicht mehr zu ignorieren war, bot es sich als
Sündenbock an, auf den man alle intellektuellen Defizite und Unvollkommenheiten der Seele
schieben
konnte. Heute ist die Annahme zu einem» Psychofakt «geworden, den die meisten Menschen
unkritisch
herunterbeten, ohne eine Ahnung von seiner Herkunft zu haben, streicht der Psychologe
Benjamin
Radford, Chefredakteur der amerikanischen Zeitschrift» Skeptical Inquirer«, heraus.3
Bei einer typischen Konversation wird der 10-Prozent-Mythos meist mit der Bemerkung
«Wissenschaftler sagen…«oder» Es ist bekannt…«
eingeführt. Wann immer Beyerstein jedoch den Betreffenden auf den Zahn fühlte, blieben sie
die
Nennung der Quelle schuldig. Das Ganze lief stets auf einen unendlichen Regress hinaus:
Man hatte es
von einem Bekannten gehört, der auf Nachfrage beteuert, es von einem Bekannten gehört zu
haben, und
so weiter und so fort.
Über die Höhe der Gehirnkapazität, die wir tatsächlich aus unserem Gehirn herausholen
können,
herrscht unter den Vertretern des Mythos Uneinigkeit. Manchmal sind es lediglich 0,1
Prozent, die
amerikanische Ethnologin Margaret Mead soll uns gerade einmal 6 Prozent zugestanden
haben,
gelegentlich räumt ein Autor uns auch schon einmal ganze 20 Prozent ein. Dass die 10
Prozent die
meisten Fürsprecher haben, hat vermutlich nur etwas mit Zahlenmagie zu tun. Die Natur hat
uns mit 10
Fingern und Zehen ausgestattet. Schon unsere frühen Ahnen entwickelten eine Ehrfurcht vor
dieser Zahl,
und der liebe Gott hat uns seine Verhaltensregeln in Form von 10 Geboten mitgeteilt.
Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die Information einen respektablen wissenschaftlichen
Ursprung hat: Trotz eines umfangreichen Literarurstudiums konnte Beyerstein in den
Fachbüchern der
Psychologie und der Hirnforschung keinen Hinweis auf die ominösen 10 Prozent entdecken.
Dass der
Mythos dennoch eine gute Reputation besitzt, geht vermutlich auf ein psychologisches
Phänomen zurück,
das als» source amnesia«(Vergessen der Quelle) bezeichnet wird: Menschen können oft neue
Informationen im Gedächtnis behalten, obwohl ihnen allmählich die Quelle des Wissens
entschlüpft. Das
hat zur Folge, dass nach einer Weile selbst Aussagen von zwielichtiger Herkunft salonfähig
werden.
Bemerkenswerterweise beugt der Erwerb von Fachkenntnissen nicht sonderlich gegen den
Trugschluss vor. Das mussten die beiden amerikanischen Psychologen Kenneth L. Higbee
und Samuel L.
Clay erfahren, als sie fortgeschrittene Psychologiestudenten und Laien nach ihren Ansichten
über die
ungenutzten Potenziale des Gehirns befragten.4 In beiden Gruppen stimmte die Mehrheit mit
dem
Glauben an die brachliegenden 90 Prozent überein. Nur waren die» Profis «optimistischer,
was die
Chance betraf, die stillen Reserven auszuschöpfen. Damit lagen sie möglicherweise noch
weiter von der
Realität entfernt. Bei der Bekämpfung von Mythen und Irrlehren leisten die Universitäten
offenbar einen
schlechten Dienst.
Für die Anhänger paranormaler Phänomene ist der Mythos natürlich ein gefundenes Fressen,
weil
sich das unausgelotete Terrain unter der Schädeldecke so leicht mit übersinnlichem
Brimborium füllen
lässt: Wenn es uns nur gelänge, die brachliegenden Ressourcen zu entfesseln, dann würden
gewiss
außerordentliche Anlagen wie Hellsehen, Telepathie oder Psychokinese freigesetzt. Das ist
eine
Erkenntnis, mit der sich auch Uri Geller, der berühmte Gabelverbieger, schmückt:»Unser
Geist ist zu
herausragenden Dingen fähig, die wir gar nicht ausschöpfen. Wir arbeiten nur mit
herabgesetzter
Leistungsfähigkeit, weil unser Gehirn 90 Prozent seiner Potenziale ungenutzt liegen lässt.
«Auch andere
zwielichtige Gruppen wie die Neurolinguistischen Programmierer, die Anhänger des
Superlearning oder
der Transzendentalen Meditation schlagen gerne aus dem Mythos Kapital. Alle Rattenfänger,
die eine
Erweiterung des Bewusstseins verheißen, sichern heute ihren Schäfchen die Erweckung ihrer
schlummernden Neuronen zu.

«Es ist vorteilhaft, möglichst viel Gehirnkapazität zu aktivieren«

Dem Mythos von den ungenutzten 90 Prozent Hirnkapazität liegt im Kern der unzuverlässige
Vergleich unseres Denkapparates mit einem Automotor oder einem anderen technischen Gerät
zugrunde:
Die Leistungsfähigkeit ist am größten, wenn die Maschine am meisten» Saft «verbrät. Die
irreführende
Schlussfolgerung lautet: Wir können am besten denken und am klügsten handeln, wenn sich
das
Räderwerk unseres Gehirns auf maximalen Touren dreht. Doch diese Analogie geht radikal
am Wesen
unseres Zentralrechners vorbei. Das Gehirn funktioniert in entscheidenden Punkten nach dem
Imperativ
«weniger ist mehr«, und seine Ökonomie ist eindeutig auf Energiesparen getrimmt.
Die naivste Version des 10-Prozent-Mythos besagt, dass unser Zentralnervensystem hinter
seinen
Möglichkeiten zurückbleibt, weil immer nur ein kleiner Bruchteil aller Nervenzellen tätig ist.
Doch diese
Tatsache erweist sich als Segen, weil die gleichzeitige Aktivität aller Neuronen mit einem
epileptischen
Krampfanfall gleich bedeutend ist: Wenn alle Neuronen in einem Takt feuern, wird das Gehirn
von einer
elektrischen Flutwelle übermannt, die jede Fähigkeit zum koordinierten Denken und Handeln
zunichte
macht. Um solch ein Inferno zu unterbinden, übt ohnehin gut die Hälfte aller Neuronen eine
hemmende
Wirkung aus.
In der gehobenen Ausführung des Mythos liegen die Potenziale des Gehirns brach, weil das
Gros der
Neuronen» eine schlechte Arbeitsmoral «hat und untätig im Schädel herumliegt. Nach dieser
Vorstellung
läuft mehr Gehirnaktivität auf» besseres «Denken hinaus. Detlef Linke, Hirnforscher an der
Universität
Bonn, weist jedoch darauf hin, dass unsere intellektuelle Leistung oft darin besteht, viele
Einzelerfahrungen in einem» Superzeichen «zusammenzufassen – Abstraktion macht das
Denken
ökonomischer.1 Die höchsten Intelligenzleistungen erbringen just die veritablen»
Schwachstromgehirne«,
während die weniger gescheiten Zentralorgane mit» Starkstromtechnik «arbeiten und jede
Menge
elektrische Energie uneffektiv verpulvern.
Das 3-Pfund-Universum Gehirn, das etwa 2 Prozent des Körpergewichtes ausmacht,
verbraucht
zirka 20 Prozent der Gesamtenergie, die es sich ausschließlich in Gestalt von Traubenzucker
(Glukose) zu
Gemüte führt. Nun kann man sich die Tätigkeit des Verstandes durchaus als ein Verschieben
von
Informationseinheiten (Bits) oder ein» Hantieren im Vorstellungsraum«(Konrad Lorenz)
begreiflich
machen. Wenn der nahe liegende Vergleich mit der körperlichen Betätigung nicht hinkt,
bedingt mehr
Denken unweigerlich einen höheren Energieverbrauch. Mit dem Zauberstab der Analogie
könnte man
allerdings ebenso gut auf das Gegenbeispiel der modernen Personalcomputer hinweisen, die
viel mehr
Rechenkapazität und Speicher besitzen als ein altes» Elektronengehirn«, obwohl sie viel
weniger Strom
benötigen.
Seitdem die neuen bildgebenden Verfahren, wie etwa die Positronen-Emissions-Tomographie
(PET),
zu Verfügung stehen, die genau Aufschluss geben, wo und wie viel Energie im Gehirn
verbraucht wird,
sind die Forscher vom» Dampfmaschinendenken «abgekommen: Mehrere neue
Untersuchungen führten
übereinstimmend zu dem Schluss, dass die hellsten Köpfe, die bestimmte Denksportaufgaben
am
schnellsten lösen konnten, den niedrigsten Energieumsatz im Gehirn aufwiesen. Andersherum
ausgedrückt: Diejenigen, die mit den Aufgaben schlecht zurechtkamen, verlangten ihren
kleinen grauen
Zellen dennoch eine höhere elektrische Leistung ab.
Wahrscheinlich schlagen» kleine Leuchten «sich mit ineffektiveren Schaltkreisen in ihrem
Gehirn
herum, vermuten die Wissenschaftler. Das kann damit zusammenhängen, dass ihre einzelnen
Nervenzellen generell mehr» Saft «benötigen. Unter Umständen mobilisieren sie aber auch
mehr oder
aber die falschen, für das Problem ungeeigneten Neuronen. Sie haben quasi den Verstand
nicht am
«rechten Fleck«, vielleicht, weil ihnen der rechte Fleck fehlt, eventuell aber auch nur deshalb,
weil der
Zugriff nicht hinhaut. Tatsächlich weisen zwei Gruppen geistig Behinderter – junge Patienten
mit Down-
Syndrom und erwachsene Autisten – einen erhöhten Glukoseumsatz im Gehirn auf. Kurz nach
der
Adoleszenz, wenn die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung stark anwächst, geht bei
Gesunden der
Kraftstoffbedarf des Gehirns rapide zurück.
Je besser Menschen bestimmte geistige oder motorische Aufgaben beherrschen lernen, umso
weniger
«Hirnschmalz «verlangt ihnen die Herausforderung ab. Das haben amerikanische
Hirnforscher am
Beispiel des legendären Computerspiels» Tetris «aufgezeigt. Blutige Anfänger, die nur
mühsam mit den
herunterfallenden Klötzchen jonglieren konnten, strengten dabei ein riesiges Netz weit
verstreuter
Nervenschaltkreise an. In dem Augenblick, in dem sie das Spiel aus dem Effeff beherrschten,
verringerte
sich der Aktivierungsherd auf ein Minimum. Das neue» ohmsche Gesetz«– Intelligenz ist
geistige
Leistung bei geringstmöglichem Energieaufwand – wird im Übrigen auch durch ein
Experiment mit dem
Hirnstromwellenbild (EEG) gestützt. Probanden, die komplizierte geistige Aufgaben am
schnellsten
lösten, hatten die geringste Beschleunigung ihrer Hirnstromwellen nötig. Die höchste
Leistung besteht
also darin, sich das Schwierige möglichst einfach zu machen.
Man könnte denken, dass auch unser Gehirn – so wie ein Computer – ein Maximum an
Speicherplatz benötigt, um seine Erinnerungen abzulegen. Wenn man nur genügend
Gehirnkapazität
mobilisiert, kann man sich demnach ein» fotografisches «Gedächtnis schaffen. Doch auch
beim Behalten
des Gelernten liegt das Erfolgsrezept im Prinzip Sparsamkeit. Amerikanische Forscher haben
beispielsweise mit PET Gehirn-Aufnahmen von Probanden» geschossen«, denen man vorher
eine Reihe
von längeren Wörtern präsentiert hatte. Als Nächstes zeigte man ihnen kurze Wortfragmente
und forderte
sie auf, anzugeben, welche dieser Fragmente aus den ursprünglichen Wörtern stammten.
Während dieser
Aufgabe registrierte das PET-Gerat» heiße Punkte «in der winzigen» Archivstelle
«Hippocampus: Die
Versuchspersonen versuchten, sich zu erinnern.
Aber besonders bei den Personen, die sich am schlechtesten entsannen, wurden zusätzlich
starke
Energieflecken im Stirnlappen sichtbar.»Mehr Gehirn «lief also in diesem Falle buchstäblich
auf weniger
Erinnerung hinaus. In einem weiteren Versuch verfolgten die Probanden gewöhnliche
Substantive (zum
Beispiel Schere) und assoziierten die passenden Verben (zum Beispiel schneiden). Prompt
leuchteten die
einschlägigen Areale in der PET-Darstellung auf. Bei einer Wiederholung der Prozedur
blieben diese
Regionen jedoch dunkel. Schon nach wenigen Minuten Übung kann das Gehirn offenbar
bestimmte
Leistungen mit dem denkbar geringsten Aufwand lösen.
Unausgesprochen geht der Mythos auch von der Grundannahme aus, dass Nervenzellen ein
phlegmatisches Wesen haben und sich am liebsten vor ihrer Arbeit – dem Übermitteln von
Informationen
– drücken. Doch die Versuchsergebnisse der vergangen Jahren belegen ohne Zweifel, dass
jedes einzelne
Neuron vom Wesen her ein arbeitswütiger» Workaholic «ist. Es gibt Nervenzellen, die nichts
anderes tun,
als die Daten zu registrieren, die von bestimmten Körperteilen (zum Beispiel einem Finger)
eintreffen.
Doch wenn ein Tier oder ein Mensch den betreffenden Finger verliert, werfen die zugehörigen
Neuronen
keineswegs ihre Arbeit hin. Sie satteln vielmehr schlagartig um und helfen beim Entschlüsseln
der
Signale vom benachbarten Finger mit.
Es ist fast unmöglich, die Fülle an Befunden aus der Gehirnforschung aufzuzählen, die mit
dem 10-
Prozent-Mythos unvereinbar sind, konzediert Beyerstein. Wenn der Mythos zuträfe, müsste es
eine große
Zahl von Nervenzellen geben, die unter allen Bedingungen reglos sind. Aber genauso, wie der
Mensch
niemals alle Muskeln des Körpers auf einmal anstrengt, fordert das Gehirn niemals sämtliche
Synapsen
auf einmal an. Wissenschaftler haben mittlerweile sämtliche Regionen des Denkapparates mit
eingepflanzten Elektroden und anderen Detektoren kartographiert.»Bei jeder beliebigen
Tätigkeit, so
beim Essen, Fernsehen, Liebemachen oder bei der Lektüre dieses Buches strapazieren Sie die
eine oder
andere Hirnregion. Doch im Verlauf eines ganzen Tages werden früher oder später alle Ecken
und Winkel
des Gehirns einmal aktiviert.«
Wenn weite Teile des Gehirns nur aus leerem Ballast beständen, müssten Hirnverletzungen
eigentlich in vielen Fällen ohne Folgen bleiben. Es ist zwar zutreffend, dass Gehirne teilweise
über eine
erstaunliche Fähigkeit zur Kompensation von Verlusten verfügen, doch Hirnschäden lassen
häufig schon
bei geringfügigem Umfang schwerwiegende Ausfallerscheinungen zurück. Wie tragisch
solche Störungen
enden können, hat der Neuropsychologe Oliver Sacks in seinem erschütternden Bestseller»
Der Mann,
der seine Frau mit dem Hut verwechselte «aufgezeigt.
Aus der Sicht der Evolutionslehre ist es völlig undenkbar, dass die Natur die» Krone der
Schöpfung«
mit dem unnötigen Luxus von 90 Prozent» arbeitsscheuer «Hirnmasse ausgestattet hat. Im
Kampf ums
Dasein ist immer Schmalhans Küchenmeister, und der» blinde Uhrmacher «Evolution strebt
mit
gnadenloser Härte einen ökonomischen Einsatz der knappen Güter an. Das Gehirn zweigt,
wie bereits
erwähnt, einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Stoffwechselenergien ab.
Wenn man den Blick auf den vermeintlich» primitiven «Steinzeitmenschen richtet, kann man
leicht
einer optischen Täuschung erliegen, die dem 10-Prozent-Mythos Zündstoff gibt. Wir leben
heute in einem
hochkomplizierten Universum, das enorme Anforderungen an das Lernen und die
Verarbeitung von
Informationen stellt. Jeder Schüler verdrückt heute Berge von Wissen, die morgen schon
wieder veraltet
sind. Da fällt es leicht, zu glauben, dass Fred Feuerstein mit einem Zehntel der heute
erforderlichen
Hirnkapazität zurande kam. Doch wieder einmal liegt man mit dem ersten Eindruck schief.
Bereits bei
den Rätseln, die unsere Ahnen im Neandertal lösen mussten, war der hundertprozentige
Einsatz der
«Grütze «angesagt.
Bei den heute noch naturnah lebenden Jäger-und-Sammler-Völkern kann man sehen, welche
Vorzüge mühsam angeeignetes Wissen im Urzustand birgt. Es erlaubt zum Beispiel einem
kompetenten
Jäger, an einer Fährte abzulesen, von welchem Tier sie stammt, welches Geschlecht und Alter
dies hat, ob
es allein oder in einer Gruppe war, was es gefressen hat und wie alt die Spur ist. Da das
Sammeln dieser
Expertise viele Jahre währt, reift ein Jäger bei diesen Völkern erst im Alter von etwa 40
Jahren zu wahrer
Meisterschaft. Das geht nicht, wenn man 90 Prozent seiner Hirnkapazität zum Fenster
hinauswirft.
Wenn weite Teile des Gehirns in einem» Dornröschenschlaf «lägen, müsste schließlich ein
Phänomen eintreten, das jeder von seinen Muskeln kennt. Nach dem Motto» Wer rastet, der
rostet «bauen
die Teile, die nicht ständig gefordert werden, nach einer Weile ab. Es ist nachgewiesen, dass
Neuronen
diesen Abbauerscheinungen im Vergleich zu» Muckis «noch stärker unterworfen sind. In der
vorgeburtlichen Entwicklung wird zum Beispiel ein erheblicher Überschuss an Nervenzellen
gebildet.
Nur die Neuronen, die tatsächlich eine aktive Funktion erfüllen, bleiben von der
nachfolgenden
«Säuberungsaktion «verschont. Wenn das Gehirn also wirklich eine» stille Reserve «hätte,
wäre diese, in
dem Augenblick, da sie zum ersten Mal gefordert würde, längst tot. In diesem Fall müssten in
den
Gehirnen Erwachsener schwerste Anzeichen von Degeneration zu finden sein, meint
Beyerstein.»Bei der
Obduktion von Gehirnen normaler Erwachsener hat man jedoch noch nie solche Hinweise
entdeckt.«

1 Drösser, Christoph: »Stimmt's«: Der Mensch nutzt nur zehn Prozent seiner
Gehirnkapazität. In: Die Zeit, Nr. 40/1997.
2 Beyerstein, Barry L.: Whence cometh the myth that we only use 10 % of our
brains? In: Della Sala, Sergio (Hg.): Mind myths. Chichester et al.
1999.
3 Radford, Benjamin: The ten percent myth. In: Skeptical Inquirer, March 1999.
4 Higbee, Kenneth L. /Clay, Samuel L.: College students' beliefs in the ten-percent
myth. In: The Journal of psychology, Vol. 132 (5) 1998, S. 469–476.

Seiten verkehrt
«Die beiden Hemisphären des Gehirns beherbergen völlig unterschiedliche
Leistungen«

Mit der linken Hälfte des Kopfes zu denken heißt, logisch, analytisch und detailorientiert
vorzugehen.
Doch um unsere geistige Zukunft zu sichern, müssen wir verstärkt die rechte Gehirnhälfte,
den Hort der
intuitiven, kreativen und ganzheitlichen Verstandestätigkeit bemühen. Auf dieser populären
Gegenüberstellung basieren Selbsthilfebücher, Therapien, Volkshochschulseminare, Kurse in
Kindergärten und Wirtschaftsunternehmen.»Die meisten Neurobiologen halten diese
Vorstellungen für
stark vereinfacht, um nicht zu sagen für Unsinn«, sägt das renommierte
Wissenschaftsmagazin» New
Scientist «an den Pfeilern dieser lieb gewordenen Denkvorstellung.J» Die populären Mythen
sind
Fehlinterpretationen und Wunschvorstellungen, die durch wissenschaftliche Beobachtungen
nicht zu
begründen sind«, pflichtet die Biopsychologin Jerre Levy von der Universität Chicago
bei.2»Die meisten
Interpretationen dieser Zweiteilung gehen nicht nur weit über die Tragweite der existierenden
wissenschaftlichen Daten hinaus«, bestätigt Bruno Preilowski, Professor für Physiologische
Psychologie
an der Universität Tübingen.3»Sie spiegeln eigentlich eher unsere Neigung wider, in
Gegensatzpaaren zu
denken. «Das schwerste Geschütz fährt der Neurologie-Professor Robert Efron aus San Diego
auf – in
einem Buch mit dem bezeichnenden Titel» Niedergang und Fall der hemisphärischen
Spezialisierung«:4
«Der Forschungszweig, der sich mit Leistungsunterschieden zwischen den beiden
Hemisphären
beschäftigt, ist hirntot.«
Bis zu den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war sich die
Fachwelt einig,
dass unser in zwei symmetrische Hälften geteiltes Gehirn als einheitliches Ganzes
funktioniert. Der Geist,
hatte der Philosoph Rene Descartes im siebzehnten Jahrhundert verkündet, thront in der von
der
Zweiteilung ausgenommenen Zirbeldrüse, und die beiden Hirnhälften folgen seinem
Ratschluss in trauter
Einhelligkeit. Doch dann fanden der französische Neurologe Paul Broca und der deutsche
Nervenarzt
Paul Wernicke heraus, dass Verletzungen der linken Hemisphäre des Großhirns schwere
Sprachstörungen
nach sich ziehen, die bei vergleichbaren Schädigungen auf der rechten Seite nicht zu
beobachten sind.
Das Sprachvermögen wurde nun exklusiv der linken Hirnhälfte zugewiesen, die rechte
Hemisphäre
galt als sprachlos und stumm. Die Wissenschaftler zogen daraus den übereilten Schluss, dass
die linke
Hemisphäre nicht nur bei der Sprache, sondern bei allen psychischen Prozessen die dominante
sei. Die
rechte Seite wurde als denkunfähige Relaisstation heruntergestuft: Da jede Hirnhälfte mit der
gegenüberliegenden Seite des Körpers verbunden ist, war die rechte Hemisphäre nur nötig,
um ihren
Gegenpol über die Vorgänge auf der linken Seite des Körpers aufzuklären.
Dann wurden immer mehr Fälle von Hirnverletzten bekannt, die je nach Seite der Schädigung
mit
unterschiedlichen Ausfallserscheinungen zu kämpfen hatten. Bei rechtsseitigen Defekten
standen
Schwierigkeiten beim Zeichnen, beim Nachbauen von Mustern mit farbigen Klötzen, beim
Lesen und
Anfertigen von Landkarten und einer Reihe weiterer räumlicher Aufgaben im Vordergrund.
Wenn die
linke Hälfte das Organ der sprachlichen Leistungen ist, schlossen weitsichtige Forscher, dann
hat die
rechte bei den nonverbalen Leistungen die Oberhand. Doch diese Gelehrten blieben Rufer in
der Wüste,
bis der spätere Nobelpreisträger Roger Sperry in den frühen sechziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts schwere Epilepsien behandelte, indem er bei seinen Patienten den Balkenkörper
durchtrennte, der für den Informationstransfer zwischen den beiden Hirnhälften
verantwortlich ist.
Durch ihre teilweise bizarren Symptome sollten diese» Split-Brain-Patienten «weltweite
Berühmtheit
erlangen. Einen Gegenstand, der für sie unsichtbar in die rechte Hand (linke Hirnhälfte) gelegt
wurde,
konnten sie leicht benennen, aber Objekte in der linken Hand (rechte Hirnhälfte) konnten sie
weder
benennen noch beschreiben. Ihre rechte Hirnhälfte war dem Gegenüber bei räumlichen
Aufgaben
überlegen, doch die linke Seite trumpfte bei sprachlichen und logisch-analytischen Leistungen
auf.
Schließlich wurden diese Beobachtungen durch einflussreiche Experimente ergänzt, die
prüften, ob die
jeweilig angesprochenen Hirnhälften gesunder Menschen einen Geschwindigkeitsvorteil beim
Identifizieren bestimmter Reize haben. Tatsächlich, so die Erkenntnis, nimmt die rechte
Hemisphäre
schneller Gesichter, das Mienenspiel als Ausdruck von Gefühlen oder räumliche Strukturen
wahr,
während die linke rascher Wörter und sinnlose Silben erkennt. Um 1970 herum war die
Vorrangstellung
der linken Hemisphäre gebrochen. Die große Mehrheit der Forscher schloss sich nun der
Anschauung an,
dass jede Gehirnhälfte hochspezifische Leistungen erbringt. Die linke wurde als analytisch,
logisch,
sequenziell und verbal, die rechte hingegen als räumlich, ganzheitlich, intuitiv und kreativ
eingeschätzt.
Unter dem späten Einfluss der Hippie- und Protestbewegung nahm allmählich sogar eine
«Rechtsverherrlichung «des Gehirns überhand. Es wurde immer wieder kritisch geäußert,
dass unsere
Gesellschaft mit ihrem Bildungswesen einseitig die trockenen, rationalen Fähigkeiten ihrer
linken
«Schokoladenseite «favorisiert. Die rechte Hemisphäre, deren verschüttete Talente es zu
fördern gelte,
wurde zum Hort der unterdrückten kreativen und intuitiven Menschlichkeit verklärt.»Sie
wurde zu einem
Symbol für die kreativen, ausgebeuteten Menschen des Ostens gegen den brutalen westlichen
Moloch«,
rekapituliert der australische Psychologe Michael C. Corballis. 5 Sie bekam die weiche,
empfindsame Seite
der Frau (Ying) zugewiesen, während man der linken Hirnhälfte die verabscheuten harten
Wesenszüge
des Mannes (Yang) zuschrieb.
Darin steckte übrigens schon ein großer Denkfehler, gibt Corballis zu bedenken: Frauen
haben
nachweislich mehr sprachliche Intelligenz als Männer, und die Sprache» sitzt «doch nun
einmal im
«bösen «linken Gehirn. Dafür kommen Männer besser mit räumlichen Aufgaben zurecht,
obwohl die
räumliche Intelligenz in der» guten «rechten Hemisphäre wohnt.

«Die beiden Gehirnhälften beherbergen völlig getrennte Geistesgaben«

Die Beobachtung, dass die beiden Gehirnhälften unterschiedliche Leistungsschwerpunkte


besitzen,
verleitete viele Wissenschaftler (und erst recht Ratgeberautoren) zu einem gewagten und
unzulässigen
Gedankensprung: Demnach setzen unterschiedliche Aktivitäten und psychische
Anforderungen immer nur
die jeweils» zuständige «Hemisphäre in Gang, während die jeweils ungeforderte Seite des
Hirnes bloß in
einem dumpfen Dämmerzustand dahinvegetiert.»Man könnte leicht den Schluss ziehen, dass
der Mensch
in jedem Augenblick seines Lebens große Teile seiner Gehirnkapazität verschwendet«,
karikiert der
amerikanische Neurobiologe Brett Blatchley diese primitive Sicht.6 Wenn der Mensch einer
«rechtslastigen «Funkhon (zum Beispiel Musikhören) nachgeht, würde die linke Hemisphäre
demnach
abgeschaltet, wohingegen in der rechten Hälfte beim Lesen dieser (analytischen) Zeilen das
Licht
ausgeht.
Der Mythos von den zwei unabhängigen Gehirnen war jedoch auf eine irrige Voraussetzung
gegründet, hebt die Psychologin Jerre Levy hervor:»Da jede der Hälften spezialisiert war,
müsse sie wie
ein völlig eigenständiges Gehirn funktionieren. Tatsächlich ist jedoch genau das Gegenteil
richtig: In dem
Maß, wie Hirnregionen differenziert sind, müssen sie ihre Aktivitäten auch aufeinander
abstimmen.«
Den größten Schlag erlitt die Irrlehre von den beiden separaten und unabhängigen
Gehirnfunktionen,
als die Forscher in den letzten Jahren begannen, die Aktivität in unserem Zentralorgan mit den
neuen
bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der
funktionellen
Kernspintomographie (fMRI) zu durchleuchten. Diese Methoden liefern farbige Schnittbilder,
die mit
immer höherer Genauigkeit widerspiegeln, wo sich im Gehirn Aktivitäten abspielen, wenn der
Mensch
eine bestimmte Tätigkeit vollführt. Mit diesen Sichthilfen haben die Neurobiologen dem
Gehirn ihrer
Probanden bei allen erdenklichen Sinnesleistungen zugeschaut: Beim Sehen und Hören, beim
Verarbeiten
von Sprache, beim Träumen und Schlafen und beim Lösen unzähliger Denksportaufgaben.
Das Ergebnis war in allen Fällen gleich: Jede dieser Leistungen belegte stets ziemlich
gleichmäßig
beide Hemisphären mit Beschlag.»Die Forschungen mit den neuen bildgebenden Verfahren
brachten
überwältigende Beweise, dass viele unterschiedliche Regionen in beiden Hemisphären
beansprucht
werden, wenn wir irgendeine beliebige kognitive Aufgabe erledigen«, fasst der Neurologe
Robert Efron
den Forschungsstand zusammen.»Die Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren haben
zeigen können,
dass es keine Alltagstätigkeit gibt, bei der nicht die linke und die rechte Gehirnhälfte aktiviert
sind und
zusammenarbeiten«, bestätigt Dr. Dietmar Heubrock vom Institut für
Rehabilitationsforschung der
Universität Bremen.7»Es gibt also keine einzige Aktivität, bei der nicht innerhalb und
zwischen den
beiden Hemisphären unterschiedliche Regionen zusammenarbeiten.«
«Es gibt mittlerweile eine schweigende Mehrheit von kognitiven Gehirnforschern, die es
einfach nicht
der Mühe für wert halten, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass der Kaiser keine Kleider trägt«,
bringt der
Neurologie-Professor Robert Efron den desolaten Zustand der hemisphärischen
Spezialisierung auf den
Punkt. Die naiven Vorstellungen über die Zweiteilungen unserer Gehirnfunktion kamen zum
größten Teil
durch Fehlinterpretationen der Daten zustande. Die Studien an Patienten mit Hirnverletzungen
und
durchtrenntem Balkenkörper erbrachten zwar Hinweise auf separate Leistungsschwerpunkte.
Doch diese
vermeintlichen Asymmetrien seien» nicht systemimmanent«, formuliert der Psychologe
Preilowski
elegant. Es seien Artefakte, die nur deshalb auftreten, weil die Verletzung eine natürliche
Balance
durcheinander bringt.»Wir haben die Ergebnisse damals zu stark verallgemeinert«, räumt die
Biopsychologin Levy ein, die selbst an der frühen Splitbrain-Forschung beteiligt war.
Die Experimente, die Geschwindigkeitsvorteile der beiden Hemisphären bei unterschiedlichen
Aufgaben ans Licht brachten, weisen laut Efron noch größere Mängel auf: Es gibt heute
massive
Anhaltspunkte, dass diese zeitlichen Differenzen gar nicht im Gehirn entstehen. Sie lassen
sich
vermutlich auf die peripheren Nerven, die Leitungsbahnen von den Sinnesorganen zum
Gehirn,
zurückführen, die Informationen auf beiden Seiten des Körpers unterschiedlich schnell
transportieren.
In Wirklichkeit sind die beiden Hemisphären einander so ähnlich, dass jede von ihnen nach
einer
chirurgischen Durchtrennung des Balkens erstaunlich gut, wenn auch nicht vollkommen
funktionieren
kann. Unter dem Mikroskop finden sich zwar geringfügige anatomische Differenzen, die
jedoch hinter
der überwältigenden Übereinstimmung verblassen, stellt der Psychologe Corballis heraus.
Wenn man bei
einem Kind die ganze linke Hemisphäre wegen einer schwerwiegenden Schädigung entfernt,
kann die
rechte das gesamte Leistungsspektrum der verlorenen» dominanten «Hälfte übernehmen.
Selbst bei den
hochgradig» linkslastigen «Sprachleistungen sind die Betreffenden später völlig unauffällig.
Zwar sind speziell sprachliche Funktionen bei normalen Erwachsenen tatsächlich (etwas)
stärker
seitenspezifisch als andere Leistungen. Das heißt aber absolut nicht, dass die rechte
Hemisphäre bei der
Sprache keine Rolle spielt, gibt das Magazin» New Scientist «zu bedenken. 1»Die Sprache ist
auf beiden
Seiten des Gehirns repräsentiert, und zwar in den korrespondierenden Regionen. Die Zentren
auf der
linken Seite werden stärker von den zentralen Aspekten der Sprache wie Grammatik und
Wortbildung
beansprucht, während die rechte Seite im höheren Maße zur Intonation und zur Satzmelodie
beiträgt.«
Auch das viel gescholtene logische Denken ist nicht nur auf die linke Hemisphäre beschränkt,
meint
Levy.»Patienten mit Verletzungen der rechten Hemisphäre zeigen häufiger schwerwiegende
Störungen
des logischen Denkens als Patienten, deren linke Hemisphäre beschädigt ist. «Manche
rechtsseitig
Verletzte streiten zum Beispiel ab, dass ihnen ihr linker Arm gehört. Und sie sind außerstande,
diesen
Mangel an logischem Denken einzusehen. Umgekehrt gibt es keinen Beweis dafür, dass
Kreativität oder
Intuition exklusive Eigenschaften der rechten Hemisphäre seien.»Tatsächlich sind wahre
Kreativität und
Intuition, was immer das beinhalten mag, mit ziemlicher Gewissheit von einem engen
Zusammenspiel der
Hemisphären abhängig«, versichert Levy.»Was die Geschichte der Forschung beweist«,
betont Corballis,
«ist, dass die mutmaßlichen kreativen und intuitiven Talente der rechten Hemisphäre bei
weitem nicht
bewiesen sind und stärker auf der Macht der Mythen beruhen als auf aussagekräftigen
wissenschaftlichen
Befunden.«
Lovis Corinth, ein bedeutender Maler, stellte nach einer Schädigung der rechten Hemisphäre
weiterhin
mit großer Kunstfertigkeit Bilder her, schildert Levy.»Sein Stil war sogar ausdrucksstärker
und mutiger
als zuvor.«
Da beide Hemisphären nicht unabhängig voneinander arbeiten und jede von ihnen mit ihren
speziellen
Fertigkeiten zu jeder geistigen Aktivität beiträgt, ist es auch völlig unmöglich, jeweils nur eine
Hälfte
auszubilden und zu kultivieren. In einem Literaturseminar wird die rechte Hirnhälfte ebenso
gefordert
und trainiert wie die linke, und umgekehrt wird die linke in einem Musik- oder Malkurs nicht
weniger
beansprucht als die rechte.

«Menschen unterscheiden sich danach, welche Hemisphäre bei ihnen bevorzugt


aktiviert wird«

Es ist ein lieb gewordenes Freizeitvergnügen, Menschen in solche und solche einzuteilen.
Auch das
Fach Psychologie stellt zahlreiche» Schubladen «bereit, in die man seine Mitmenschen
stecken kann. Die
insgesamt eher fragwürdigen Forschungsarbeiten zur hemisphärischen Spezialisierung haben
eine weitere
Klassifizierungsmöglichkeit mit sich gebracht. Nach dieser Theorie kann man Menschen in
«Rechtsdenker «und» Linksdenker «einteilen – je nachdem, mit welcher Hemisphäre die
Betreffenden am
liebsten denken.
Wer bevorzugt mit seinem linken Gehirn operiert, hat nach dieser Sichtweise
überdurchschnittliche
sprachliche und analytische Fähigkeiten und tut sich allgemein beim Lösen von Problemen
hervor,
skizziert der amerikanische Hirnforscher John T Bruer den Trend. 8 Das weibliche Geschlecht,
so räumen
jetzt viele Lateralitätsgläubige ein, hat besonders häufig einen linken Drall im Hirn.
Menschen mit einer
rechten Schokoladenseite – überwiegend Männer – können besser malen und zeichnen, sind
gut in
Mathematik und kommen insgesamt besser mit räumlichen Aufgaben als mit sprachlichen
zurecht. Die
Schule, so ein weiterer Glaubenssatz, ist eine überwiegend linkshirnige Institution. Deshalb
fühlen sich
Mädchen in dieser Umgebung viel eher pudelwohl.
Doch in Wirklichkeit wurden die Geschlechtsunterschiede bei den sprachlichen und
mathematischen
Leistungen in der Vergangenheit erheblich überstrapaziert, kritisiert der Forscher: Im
Vergleich zu den
Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen fallen die Unterschiede ausgesprochen
mager aus. Doch
in der Lateralitätsforschung ist es anscheinend üblich, Differenzen zu Gegensätzen
aufzublähen.
Der Glaube, dass Menschen sich allgemein nach dem Übergewicht einer Hirnhälfte einteilen
lassen,
geht allein auf Wunschdenken zurück, meint Levy.»Es gibt keine Belege dafür, dass
Menschen reine
Linkshemisphäriker oder Rechtshemisphäriker sind. «Nicht einmal die Personen mit den
extremsten
Asymmetrien in der Aktivierung ihrer Hirnhälften denken nur mit der intensiver aktivierten
Hemisphäre.
«Die Unterschiede in der Aktivierung der Hemisphären sind bloß einer von vielen Faktoren,
die unsere
individuelle Art des Denkens beeinflussen.«
Das hält viele Quacksalber aus der Psychoszene nicht davon ab, Tests und diagnostische
Verfahren
anzubieten, die eine Einteilung in» Linksdenker «und» Rechtsdenker «erlauben sollen. Aus
der Sicht der
Forschung sind diese Methoden Müll. Die Psychologin Jerre Levy hat zum Beispiel mit dem
Hirnstromwellenmessgerät die Hirnaktivität von Versuchspersonen sondiert, die mit den
einschlägigen
Tests als links- oder rechtsdominant klassifiziert worden waren. Fazit: Die Messergebnisse
hatten mit den
Testresultaten überhaupt nichts zu tun.
Der Neurologie-Professor Robert Efron stellt am Ende seiner kritischen Abrechnung mit der
Lateralitätsforschung einen Wunsch in den Raum:»Wenn Sie das nächste Mal einen
Zeitungsartikel
lesen, in dem wieder einmal von einer Spezialisierung einer Hemisphäre die Rede ist, sind bei
Ihnen
hoffentlich beide Hemisphären skeptischer geworden.«

1 «Left brain, right brain«. In: New Scientist, 3.7.1999.


2 Levy, Jerre: Das Gehirn hat keine bessere Hälfte. In: Psychologie heute, Nr.
1/1986, S. 32–37.
3 Preilowski, Bruno: Rechts ist da, 100 das Gehirn links ist. In: Wehr, Marco /
Weinmann, Martin (Hg.): Die Hand – Werkzeug des Geistes.
Spektrum Verlag, Heidelberg/Berlin 1999.
4 Efron, Robert: The decline and fall of hemispheric specialization. Lawrence
Erlbaum Press, Hillsdale 1990.
5 Corballis, Michael C: Are we in our right minds? In: Della Sala, Sergio (Hg.):
Mind Myths. Exploring popular assumptions about the mind
and brain. Chichester Verlag, New York et al. 1999.
6 Blatchley, Brett: Drawing on the right side of the conclusions. What
neuroscience really says about the notion of left & right-brained humans.
http://linus.highpoint.edu/~bblatchl/essay/RightBrainLeft.html
7 «Begabung & Talent II«.
http://www.zdf.de/ratgeber/praxis/archiv/nervensystem/16406/index.html
8 Bruer, John T.: In search of brain based education.
http://pdkintl.org/kappan/kbru9905.htm

Register
A
Abhängigkeit 53
Abstinenzregel 55
Abwärts-Vergleich, sozialer 195, 245
Abwehrmechanismus 157, 159, 160, 166,168,169,189,200
Adoption 73,99
agenda setting function 126
Aggression 90,120,121
Aggressivität 73,74,122,217
Alexithymie 245
Alkoholismus 52,57,195
Alkoholiker 47,53
Alkoholiker, anonyme 53
Allergie 241
Alpha-Blockade 272
Alphawellen 147,148,270,271,273
Altersregression 164
Amnesie 282
Amnesie, infantile 164
Amygdala 163
Analgesie 288
Angstanfall 273
Angst, Ängste 37,38,40,44, 96,116, 256
Angstkrankheiten 10
Angstneurose 24
Angststörung 43,45
siehe: Phobien
Anlage 80,82,101
Anstrengungs-Rechtfertigungs-Effekt 45
Arthritis 230
Assoziation, freie 71
Asthma 194,230,241, 263, 265
Attribution 53
Aufmerksamkeit 100,117,147,151,152,204,211,274
Autist 314
Autorität 78
B
Baby 94,102,104
Balkenkörper 320, 323, 324
Belastungsstörung, posttraumatische 28,162,242
Bereitschaftspotential 185
Betarhythmus 148
Betawellen 147,271, 272
Bewusstseinszustand 270
Bindung 73,102
– Bindungssicherheit 74
Bioenergetik 37
Biofeedback 265
Bluthochdruck 230, 263, 265
Bobo-Puppe 119,120
Bumerang-Effekt 53
c
Charakter 27, 30, 39, 59, 63, 69, 73, 76, 84, 91, 96,173,175,177,178, 189, 200, 218, 244, 288,
298, 304
Charakter, analer 178
Charakter, oraler 177
Cortisol 239, 241, 242
D
Deckerinnerung 175
Delinquenz 74, 91
Deltawellen 147
Demoskopie 131
Depression 10, 38, 73,96,190,209, 211,215, 227,256,273
-
Depressive 210,212, 217
Desensibilisierung, systematische 11,44
Designer-Brain-Food 152
Desynchronisation 147
Dissonanz 203,204,206
Dodo 36,37,38
doppelblind 35, 39, 40
doublethink 200
Down-Syndrom 314
Dritte-Person-Effekt 111,112
E
EEG siehe: Elektroenzephalogramm
Ego, totalitäres 199
Ehe 85
-
Eheprobleme 56
Einstellung 53,115,116,123–125,
176, 293, 222,287
Einzelkind 102
Elektroenzephalogramm (EEG) 147,149,152,184,249,266, 270,271,272,273,314,326
Elektroschock 207
Eltern 54, 58, 60, 69, 70, 72, 75–80,89,91,95-104,118,122,137,138,159,178,179,198,222,253
EMDR siehe: Eye Movement
Desensitization and Reprocessing
Emotion 118
Endorphin 302
Engramm 199
Entspannung 149,150,264–266,274
-
Entspannungstechnik 44,143,234, 265, 268
Entwicklung 140
Entwicklungsphasen, psycho-sexuelle 157
Entwicklungsstufen, psychosexuelle 177
Entwicklungspsychologe 72
Entwicklungspsychologie 71, 77, 88
Epilepsie 301,302,320
Erbanlage 78,79,80, 86,135
Erbe 85,86,137
Erbfaktoren 80, 81,87,137,179
Erblichkeit 80
Erinnerung 28,59,91,118,130,145, 157,160,162–165,171' 173–177/ 200–202,242, 249,253–
256,258, 277,281, 283–286,300,301,303, 309,314, 315
Erinnerungsfilm 176,285
Erinnerungskraft 145
Erinnerungsspur 175
-
Erinnerungsvermögen 151
Erstgeborene 102,103
Erwachsene 162,215
Erwartung 139,140,287
Erziehung 16,60,69–71,75,76,78,99,100,102,135,138,247
Erziehungshypothese 76
Erziehungsstil 76, 77,82
Erziehungsstilforschung 76, 77, 105
Evolution 79,106,137,179,190,216,241,316
Evolutionsbiologie 178
Evolutionslehre 12,316
Extraversion 82
Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) 13
F
Fallbeileffekt 130
Fehlleistungen 157
Feindseligkeit 232
Felder, elektromagnetische 302,303
Feldstudie 120
Fernsehen, TV 98,109,116,118–131,175,176,298,316
Fetus 86
Fixierung, orale 15
Flieger, yogischer 269
Fort Bragg Demonstration Projekt 48
Frauen 47,92,93, 94,98,100,101,123,182,217,223–225,286,300,321,326
Frequenz-Folge-Reaktion 148,149
Freud 10,13,15,16,21,26, 29,43,54,56,71,100,157,158,159,167,170,178,179,180,183,199,253,
283
Freudianer 63
Freudscher Versprecher 16
Furchtappelle 115,116
G
Gastritis 237,238
Geburt 73, 83,101,178,179
Gedächtnis 118,128,133,143,145, 151,158,161,163,164,171,173, 176,177,199, 200,
241,242,256, 278,283, 285, 297, 303,311
Gedächtnis, fotografisches 173, 315
Gedächtnisforschung 159,173
Gedächtnisinhalt 164, 281,284
Gedächtnisleistung 134,144
Gedächtnisspur 173
Gehirn 16,104–106,137,143–149, 152,163,171,174,184–186,190,199, 209,241, 242, 270,
271,282,284,291,294/ 297/ 303–305/ 309–317/ 319-326
Gehirnaktivität 150,284,313
Gehirnentwicklung 140
Gehirnforscher 106
– Gehirnforschung 16,105,146,184,186,309,315
Gehirnfunktion 141,301,322
Gehirnhälfte 148,319, 321, 322,323
Gehirnkapazität 310, 314,322
Gehirnoperation 186
Gehirnwäsche 109,116
Gene 28,79–87,101,137,138,190
Genitalien 177
Geschlechtsidentität 101
Geschlechtsrolle 100
Geschlechtsunterschied 102
Geschwister 74,78,81,82,89, 102,103
– Geschwisterreihe 103,104
Gesprächspsychotherapie 27, 51
Gestalttherapie 51
Gewalt 69,88,90–92,118–121,148, 286
Gewaltdarstellungen 109,119
TV-Gewalt 112
Gewaltfilm 112
Gewaltfilmkonsum 121
Glaube an die gerechte Welt 243, 244
Glutaminsäure 302
Grammatik 324
Großhirn 320
– Großhirnrinde 105,149,150,302
Gruppendenken 206
H
Habituation 272
Head Start 135,136
Heim 73, 74, 84, 89, 90
– Heimaufenthalt 73,74
Helicobacter pylori 237,238
Hemisphäre 143,145, 272, 319-326
Heroin 33
Heroinsüchtige 33
Herzinfarkt 201, 230 – 235, 246,291
Herzstillstand 292, 299, 300
Hippocampus 163,242,303, 305, 315
Hirnaktivität 326
Hirnforschung 291,310
Hirnforscher 264, 274
Hirnhälfte 141,320, 321,325, 326
Hirnkapazität 8,309–312,316,317
Hirnschädigung 199
Hirnströme 147, 264
Hirnstromkurven 146,152,184, 270
Hirnstromwellen 270, 272, 314
Hirnstromwellenbild 147, 249, 270,314
Hirnstromwellenmessgerät 264,326
Hirnstromwellenmuster 280
Hirnwellen 149
Hoffnung 34,39
Homosexualität 157
– Homosexuelle 98, 99,194, 223
Hormone 101
Humor 90
Hypnose 145,160,164,254,258,277-289
Hypoxie 303,304
I
iatrogen 54
Illusion 11, 15,45, 75, 80,136,180, 184,190,192,194–196,200-202, 207–210,212,243,
244,274,303
Illusion der gerechten Welt 195,244
Illusion der Invulnerabilität 194
TV–Illusion 128
Imitation 122
Imitationslernen 122
Immunsystem 31,146, 239,240,241
Impfnadel-Modell 111
Implosionstherapie 45
Impulsivität 88
Indikation 38, 60
Indoktrination 123
Induktion 278, 287
Infarktcharakter 231, 245
Infarktpersönlichkeit 195,230, 246
Infektionskrankheit 239, 240
Intelligenz 28,84,88,133–138,140,142,151,152,168,193,197, 267,313, 314,321
– Intelligenz-Quotient (IQ) 87,134–138,192,194
Internet 119,120,151
– Internetsucht 59,136
Intonation 324
Introspektion 180-182
Intuition 324
Inzest 179
Inzestschranke 179
Inzucht 178
IQ siehe: Intelligenz-Quotient
J
Junge 96,101,102,118,122,150,176,259
Jungsche Analyse 37
K
Kampagne 116,117,124
Katharsis 123
Ketamin 302,303
Kind, Kinder 41,48,49,69-106,117, 119,120,135–141,162,163,176–179, 215,218,222,241,255,
259, 284,286, 288
– Kleinkind 159
Kindesmissbrauch 255,286
Kindesmisshandlung 91,225
Kindheit 13, 59,64, 70 – 76,84, 90 – 93,104,105,111,138,164,177,179,180, 246,254,284,286
– Kindheitserinnerung 58, 61, 93, 256
Klassentyrann 218
Kohärenz 269
Kommunikation 110
Konditionierung 40
Konsumentenverhalten 113
Kontraindikation 38, 60
Kontrollgruppe 40,42,49,50,239,266,270,272
Kontrollillusion 195, 209
Korrelation 121
Kosten-Nutzen-Analyse 48
Kosten-Nutzen-Rechnung 113
Kosten-Nutzen-Verhältnis 109
Krankheiten, psychosomatische 195,245,246
Kreativität 90,146,168,324
Krebs 35,194,229,235, 238, 244,247
Krebscharakter 195,234,236, 244-246
Krebspersönlichkeit 234,235,245, 247
Kriminalität 70, 269
Kultivierungsthese 128
Kummertod 232
Kunstfehlerprozess 25
L
Laie 14, 24, 39, 40, 45 – 47, 64, 70, 75, 123,157, 203, 230, 241, 250, 266, 270, 280, 283, 311
Langzeitgedächtnis 163
Langzeitstudie 52,72,93,96,136, 138,152,170,235
– Langzeitstudie, prospektive 72
Langzeituntersuchung 305
Lebensereignisse, belastende 85
Lebensfilm 293,295,297,303
Lehranalyse 56
Lernen 106
Lerntechnik 143
Lernvermögen 146
Lesben 98,99,101
Lichtgestalt 292
Lügendetektor 278,281
M
Mädchen 85,100–102,175,250,326
Magenentzündung 237
Magengeschwür 237,238
Magenkrebs 238
Maharishi-Effekt 269
Managerkrankheit 231
Manipulation 110,131
Mann, Männer 72, 98,100,101,129,166, 217,233,321,325,326
Mantra 274
Marketing 110
Medien 15,48,60,84,110,112,118,126–131,139,142, 233,242, 279-282
Massenmedien 16,55,109–111, 123–131,299
Medienforschung 109
Medieninhalt 111,112,123,124
Medienwirkung 110,111,126
– Medienwirkungsforschung 118
Meditation 146,263 – 274
Medium 126,128,129,278,280
Meinung, öffentliche 126,127
MENSA 134
Metaanalyse 36,37,41,42,46,61,81
Milgram-Experiment 202
Milieu 73,81,82,83, 85,89
– Milieutheorie 73,83,85
Mind Guards 207
Minderwertigkeitsgefühl 225
Minderwertigkeitskomplex 218
Mind-Machines 134,145,146,148,149,150,152
Missbrauch, sexueller 55, 59,163, 164,176,215,254–256,286
Misshandlung 88,90,91, 215,254
Mnemotechnik 143
Morbus Crohn 246
Mozart 140,142
Mozart-Effekt 140,141,142,145
MPS siehe: Multiple Persönlichkeitsstörung
Müdigkeitssymptom, chronisches 28,59
Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) 249-260
Multiple Sklerose 246
Mundpropaganda 55
Musik 64,106,140–145,158
Mutter 54,69, 73 – 75,92 – 94,99 -101,162,178,253,254,284
Mutterbindung 74
Mutterentbehrung 73
Mütterlichkeit 92,94
Mutterschaft 92,94
Myasthenia gravis 246
N
Nachahmung 122
– Nachahmungstheorie 119
Nägelkauen 38,289
Nahtod-Erfahrung/-Erlebnisse (NDE) 291,292,294, 298,299,301-306
NDE siehe: Nahtod-Erfahrung/-Erlebnisse
Near-Death-Experience 292
Nebenwirkungen 51,52,55,152,273
Nervensystem, vegetatives 231,233
Nervenzellen 106,147,148,152, 241,242, 297,303,305,309,313–315,317
Neurobiologie 104
Neurolinguistische Programmierung 13,26,312
Neuronen 141,147,148,302, 303,305,309,312–315,317
Neurotransmitter 152
Niereninsuffizienz 246
Nikotinabhängigkeit 33
Nootropika 151,152
O
Ödipus 178,179
Ödipuskomplex 178
Öffentlichkeit 9,10,43,45,53, 55, 79,91,109,110,122,126,138,141, 230,238, 242,323
Out-of-body-Erfahrung 301,304
P
Panikerkrankung 43
– Panikattacke 40,43,44,58
Parapsychologie 269
Perioden, kritische 106
Persönlichkeit 28, 56,69,74 – 86,89, 92,98,99,103,104,144,178,190,193, 201,207, 216, 229,
246, 249–260, 277, 279, 304, 305
Persönlichkeit, gespaltene 9, 249, 250,256,259
Persönlichkeit, multiple 63,249-260
Persönlichkeitsabspaltungen 251
Persönlichkeitsmerkmale 73,234, 287
– Persönlichkeitspsychologie 73
Phase, anale 177,178
Phase, orale 177
Phobie 43,44
Photodriving 149
Placebo 35,38-42
Placebo-Effekt 15,35,39–43,50, 151,268
Placebo-Forschung 41
Placebo-Wirkung 41,44
Plastizität 106
Pornographie 111,112,122
Pornos 112,123
Posttraumatische Belastungsreaktion/-Störung (PTSD u. PTSS) 162,242
Prägung 93
Presse 116,126
Pressefreiheit 121
Priming 171
Projektion 166-168
Propaganda 109,116,123
Prophezeiung, sich selbst erfüllende 138,196, 208
Prozess, ironischer 165
Prügel 69
Psychoanalyse 13,14,21, 26,37,38,43,51,61, 71,75,157,159,166–
168,177,183,189,229,243,253
– Psychoanalytiker 11, 26, 30,40, 56,71, 91,158,178,180, 252, 253
Psychoneuroimmunologie 239,240
Psychopharmakologie 33
– Psychopharmaka 24,25,209
Psychose 24, 72,273
Psychosomatik 61,229 – 247
Psychosomatiker 230, 236, 237, 243
psychosomatische Medizin 56, 229, 247
Psychotherapie 10,11,13,21-65
Psychotherapie, humanistische 51
Psychotherapieforscher 27,29,61
Psychotherapieforschung 22, 23, 63
Psychotherapeut 11,22,23, 25,26, 31,34,36,39,41,42,45–49, 53, 55–
64,95,143,158,159,163,164, 173,198,199,247,277,285
Psychotherapeutengesetz 45
PTSD u. PTSS siehe: Posttraumatische Belastungsreaktion/-störung
Pubertät 101
Puja 274
Pygmalion-Effekt 139,140
R
randomisiert 38,39
Rechtfertigung 220
Regression zur Mitte 32
Reinlichkeitserziehung 178
Reklame 113
Relaxation, progressive 265,266
Relaxations-Reaktion 264,265
Repressor 172,198
Resilienz 88
S
Satzmelodie 324
Säugling 73,93
Schamgefühl 55
Scheidung 95,96, 98,195,306
Schizophrenie 10, 24, 25, 69, 73, 250
Schläfenlappen 301, 303
Schmutzkampagne 125
Schnitt, biografischer 201
Schuldgefühl 55
Schwangerschaft 93, 94, 225
– Schwangerschaftskomplikation 73
Schweigespirale 127
Schwule 99,157,166,167,223
Scientology-Sekte 309
Seele, verlorene 199
Sehrinde 303
Selbstaufmerksamkeit 212
Selbstaufmerksamkeit, objektive 211
Selbstbetrug 12,172,189,203, 209
Selbstbewusstsein 76,197, 210,217, 219
– Selbstbewusste 220,227
Selbsterkenntnis 10, 82,167,180,189,190,191,212
Selbstheilung 31
Selbstheilungskräfte 64
Selbsthilfe 46
Selbsthilfegruppe 47,64
Selbsthypnose 265
Selbst-Konfrontation, auditive 197
Selbstmord 57,273
Selbsttäuschung 110,133,172,189,196-199
Selbstversenkung 263
Selbstwahrnehmung 196,209
Selbstwert 216
– Selbstwertgefühl 16,64,193,194,204,209,212,215-227
Selbstzweifel 218,219
Smart Drugs 151,152
Smart Pills 134,150,151
Sohn, Söhne 95,100,102
Somatisierung 229
Somnambulismus 250
source amnesia 310
Sozialisationsforschung 76, 78,80,86
Spezialisierung, hemisphärische 319,323,325
Split-Brain-Forschung 323
Split-Brain-Patient 320
Spontanheilung 31,32
Spontanremission 31, 32
Sprache 320, 324
Sprachvermögen 320
Stereotyp 129,174,198
Stigma 223,225
Stirnlappen 315
Störungen, psychosomatische 61
Stress 52, 82,150,197, 229,230, 232,233, 239–242,246, 247,263,264,267,302
Stresshormon 232,242,268
Stresskrankheit, posttraumatische 59
Sublimierung 168,169,170
Sucht 10,33,57
– Suchttherapie 32
Suggestibilität 117
Suggestion 45,143,145,163,174,175, 176, 258,268,271,277–282,288, 289
– Suggestion, posthypnotische 280,281
Suggestopädie 143,144
Suizidversuch 55
Superlearning 134,143,144,148,149,312
Sybil 251-254
Sympathikus 231
Synapsen 104,105, 242, 291, 316
T
Tachistoskop 44,160
Temperament 75,78
Testosteron 101
Thematisierungsfunktion 126,127
Therapie, provokative 26
Therapiemotive 59
Thetawellen 147,149, 272
TM siehe: Transzendentale Meditation
Tochter, Töchter 95,100,102
Tod 73,233,291-306
Todesnähe-Erfahrung 293
Trance 263, 272, 278 – 281, 283, 287,288,292
-
Trance, hypnotische 280,288
Transsexualität 69
Transzendentale Meditation 264–269,272, 274,312
Traum, Träume 71
Trauma 69, 71, 72, 75, 88, 91, 95, 96,160,162,163,242, 255, 284, 286
-
Traumatheorie 71,73,105
Tunnel 292 – 294,296 – 298, 302 – 304
Typ A 231, 232
Typ B 231
U
Überbehütung 78
Überfürsorglichkeit 77
Übergewicht 56
Umwelt 78,80–86,105,106,137, 217, 219,302
-
Umwelt, geteilte 82,83
Unbewusstes 13,14,26,40,43,71,157–172, 286
Unselbstständigkeit 77
unverwundbar 88,89,90
Urschmerz 69
Urschrei-Therapie 52
Urszene 253, 284
V
Vater 54, 74,100,176,178,310
Verdrängung 13,157–165,189,256
Verdrängungstheorie 160,189
Verführer, geheime 113
Verhaltensforschung 139
Verhaltensgenetik 80,81,82,83
Verhaltensgenetiker 70,87
Verhaltenstherapie 37,38,40,43,45,51, 235
Verhaltenstherapie, kognitive 11, 43
Verhaltenstherapeut 44
Verleugnung 203
Vernachlässigung 88,91
Verträglichkeit 82
Verum 39
W
Wahlkampagne 124
Wahlprognose 129,130
Wahrheit 203,204
Wahrheitssuche 205
Wahrnehmungsabwehr 160
Wahrnehmungsschwelle 117,160
Warteliste 33, 34
Warze 289
Werbung 12,109–117,125,151
Werbung, subliminale 117
Werbewirkung 113,117
Widerstand 25
Wiederholungszwang 91,92,93
Wille, freier 184,185
Wirkungsforschung 109,111
Wortbildung 324
Y
Yoga 272
Z
Zehn-Prozent-Mythos 309
Zehn-Prozent-Theorie 310
Zen 272
Zensur 109,112,121
Zirbeldrüse 320
Zufall 84,85
Zwillinge 81,83,85,87,137
– Zwillingsforschung 83

3 4 5 6 02 Ol 00
© Eichborn AG, Frankfurt am Main, August 2000 Lektorat: Ulrich Callenberg
Umschlaggestaltung: Christina Hucke Umschlagfoto: ©
Bettmann/Corbis Layout und Satz: Petra Wagner, Hamburg Druck und Bindung: Fuldaer
Verlagsagentur, Fulda ISBN 3-8218-1631-7
Verlagsverzeichnis schickt gern:
Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, 60329 Frankfurt am Main
www.eichborn.de

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