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Bergmann Kap 1-3
Bergmann Kap 1-3
PETER PAULY
STEFANIE STRICKER
I. Einleitung
2. Aufgaben der deutschen Sprachwissenschaft sowie an der Fähigkeit zu ihrer richtigen, angemessenen und schöpferischen
Verwendung. Deshalb werden von der Sprachwissenschaft oder in Anwen-
Die Aufgabe der deutschen Sprachwissenschaft ist es, die deutsche Sprache
dung sprachwissenschaftlicher Ergebnisse beispielsweise Herkunftswörter-
der Gegenwart und Vergangenheit in Grammatik und Wortschatz, in ihren
bücher , Stilwörterbücher und Sprach- und Stilratgeber hergestellt.
geographischen und sozialen Differenzierungen, als Sprachsystem und im
Gebrauch durch die Sprecher zu untersuchen und zu beschreiben.
Die deutsche Sprachwissenschaft befasst sich demnach 4. Zielsetzung der vorliegenden Einrührung
- unter systematischem Aspekt mit den Strukturen der Laut- und Das Ziel der vorliegenden Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft ist
Schriftebene, der Wortebene, der Satzebene und der Textebene, es, die Studierenden. insbesondere die Studienanfänger in die wichtigsten
- unter zeitlichem Aspekt mit der Gegenwartssprache und mit früheren Fragestellungen, Begriffe, Methoden und Ergebnisse der deutschen Sprach-
Sprachstufen des Deutschen als einzelnen Sprachzuständen und in ihrer wissenschaft einzuführen. Die Veranschaulichung der Begriffe und Methoden
Entwicklung, wird dabei mit der Information über grundlegende Tatsachen verbunden;
- unter räumlichem Aspekt mit der äußeren Abgrenzung und inneren Glie- neben der schrittweisen Einführung in die sprachwissenschaftlichen Methoden
derung des deutschen Sprachgebiets, steht die abrissartige Orientierung über sprachwissenschaftliche Ergebnisse.
unter sozialem Aspekt mit der Differenzierung der Sprache in situativ, Die Zielsetzung des vorliegenden Buches unterscheidet sich deutlich von
thematisch oder an soziale Gruppen und Schichten gebundene Formen. der anderer Einführungen in die Sprachwissenschaft. Das Buch ist explizit auf
die einzelsprachliche germanistische Sprachwissenschaft ausgerichtet und
Ihre Ergebnisse vermittelt die deutsche Sprachwissenschaft in der Beschrei- berücksichtigt deshalb Aspekte der allgemeinen Sprachwissenschaft nur im
bungsform der Grammatik, des Wörterbuchs, des Sprachatlas und in den unerlässlichen, also begrenzten Umfang. Wo immer es sinnvoll erscheint,
verschiedenartigsten Einzeluntersuchungen . wird in den Literaturhinweisen auf Kapitel in Einführungen in die allgemeine
Sprachwissenschaft hingewiesen.
3. Anwendungsgebiete der deutschen Sprachwissenschaft Für den Bereich der deutschen Sprachwissenschaft setzt diese Einführung
sich im Unterschied zu anderen Werken das Ziel, möglichst vollständig alle
Die Ergebnisse der deutschen Sprachwissenschaft sind von unmittelbarem
Teilbereiche des Faches zu berücksichtigen, also nicht nur die Grammatik im
Nutzen für die deutsche Literaturwissenschaft. Bei der Analyse älterer,
engeren Sinne darzustellen.
insbesondere mittelalterlicher, deutscher Literatur sind Grammatiken und
Das Buch ist für Studierende geschrieben. Die Verfasser haben das Ziel
Wörterbücher die Instrumente der philologischen Erschließung der Texte.
sich diesem Benutzerkreis verständlich zu machen. Deshalb wird besondere;
Soweit andere Wissenschaften ebenfalls Textüberlieferung erschließen, wie
Wert auf Anschaulichkeit und Konkretheit der Darstellung gelegt und mög-
die Geschichtswissenschaft mit all ihren Teildisziplinen, benutzen auch sie die
lichst viel mit authentischem sprachlichem Material gearbeitet. Damit sollen
von der Sprachwissenschaft bereitgestellten philologischen Hilfsmittel.
die Benutzer auch Lust an der Sache selbst bekommen. Am Ende eines mit
Anwendungsgebiete der Sprachwissenschaft sind ferner alle Bereiche, in
diesem Buch beginnenden sprachwissenschaftlichen Germanistikstudiums
denen Sprache gelehrt wird, also der Sprachunterricht im Sinne des mutter-
stellen wir uns Deutschlehrer, Journalisten, Sachbuchlektoren, Betriebsredak-
sprachlichen Unterrichts und im Sinne der Vermittlung des Deutschen als
teure, Lexikographen oder Sprachberater vor, die ein Verständnis für histori-
Fremdsprache. Die Didaktik des Deutschunterrichts hat auch die Gegebenhei-
sche Bedingtheiten und geographische, soziale und fachliche Differenzierun-
ten des Unterrichtsgegenstandes Sprache zu berücksichtigen. Alle Lernmittel
gen unserer Sprache besitzen, die morphologische, syntaktische, semantische
für den Sprachunterricht beruhen daher auch auf den Ergebnissen der Sprach-
und textuelle Strukturen analysieren können, die eine gute Kenntnis der für
wissenschaft.
alle sprachwissenschaftlichen Fragen zur Verfügung stehenden Hilfsmittel wie
Darüber hinaus besteht in vielen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und
Grammatiken und Wörterbücher besitzen und die schließlich aufgrund ihrer
religiösen Zusammenhängen ein Bedarf an Wissen über die Sprache, und
zwar über die Sprache im Allgemeinen und über die konkrete Einzelsprache,
4 I. Einleitung
Duden. Sinn- und sachverwandte Wörter. Synonymwörterbuch der deutschen Sprache, S. 666
An dieses Wortmaterial richten wir nun die Frage, unter welchen Aspekten
mit den einzelnen Wörtern oder Wortverbindungen jeweils vom Sprechen
gesprochen wird.
ROLF BERGMANN
PETER PAULY
STEFANIE STRICKER II. Sprache und Sprechen
in die deutsche alltäglichem Sprechen darüber. Für den Gegenstand Sprache lässt sich dieser
Unterschied gut erkennen, wenn man beobachtet, wie alltäglich vom Spre-
chen gesprochen wird. Für eine solche Beobachtung ist ein Artikel aus einem
Sprachwissenschaft Synonymenwörterbuch hilfreich.
Duden. Sinn- und sachverwandte Wörter. Synonymwörterbuch der deutschen Sprache, S. 666
An dieses Wortmaterial richten wir nun die Frage, unter welchen Aspekten
mit den einzelnen Wörtern oder Wortverbindungen jeweils vom Sprechen
gesprochen wird,
Universitätsverlag
WINTER
Heidelberg
6 11. Sprache und Sprechen Langue und Parole - System, Norm und Rede 7
Mit Wörtern wie näseln, nuscheln, krächzen, lispeln, stottern, lallen! wäre beispielsweise das Broca-Zentrum im Gehirn, ein Sprechorgan die
werden Besonderheiten bei der lautlichen Hervorbringung bezeichnet. Das Zunge.
Wortmaterial lässt sich noch erweitern um Wörter wie brüllen, schreien, Für die These" Wir sprechen alle verschieden" kann etwa angeführt werden:
flüstern, die das Sprechen nach der Lautstärke unterscheiden. "Jeder von uns kann an seiner Stimme erkannt werden. '" Dieses Argument
Mit Wörtern wie schwatzen, sülzen, quatschen, quasseln, labern, sabbeln berücksichtigt die individuelle Beschaffenheit sowie den individuellen Ge-
wird - meist abwertend - ausgedrückt, dass über belanglose Dinge daher- brauch der Sprechorgane.
geredet wird; das Sprechen wird also nach seiner inhaltlichen Funktion "Ein Münchner spricht anders als ein Frankfurter. " Mit diesem Argument
bezeichnet. wird die Gebundenheit der Sprecher an die verschiedenen Sprachräume
Wendungen wie jrisch/frei von der Leber weg reden, kein Blatt vor den angesprochen.
Mund nehmen usw. oder herumdrucksen, um den Brei herumreden beziehen "Ein Maurer spricht anders als ein Rechtsanwalt. "In dieser Gegenüber-
sich auf die Wortwahl im Verhältnis zum Inhalt. Mit anderen Wörtern kann stellung wird die berufliche und soziale Verschiedenheit der Sprecher deut-
man auch den Zweck des Sprechens bezeichnen, wie zum Beispiel jemandem lich.
drohen, jemandem etwas versprechen. Die Verschiedenheit des Sprechens kann mit den unterschiedlichsten Beob-
Alle diese im Alltagswortschatz enthaltenen Aspekte des Sprechens über achtungen nachgewiesen werden, aus denen hier eine Auswahl vorgeführt
das Sprechen sind auch Aspekte der sprachwissenschaftlichen Beschäftigung wurde. Von diesem Befund aus stellt sich die Frage, wie eine sprachliche
mit der Sprache und dem Sprechen. Zur Einführung in diese Wissenschaft Verständigung überhaupt gelingen kann.
muss zunächst einmal geklärt werden, was mit den Wörtern Sprache und
Sprechen gemeint ist. 3. Langue und Parole - System, Norm und Rede
Die Verständigung erfolgt trotz den Verschiedenheiten des Sprechens auf-
2. "Wir sprechen alle gleich" - "Wir sprechen alle verschieden"
grund der Gleichheit der jeweiligen Sprache. Solange alle Deutsch sprechen,
Diese beiden einander entgegengesetzten Aussagen leuchten paradoxerweise stören beispielsweise ihre individuell verschiedenen Stimmen die Verständi-
beide auf den ersten Blick ein, und zwar aufgrund eigener Erfahrung jedes gung nicht. Erst wenn auch die Sprache verschieden ist, kommt keine Ver-
Sprechers. ständigung zustande. Die Verschiedenheit des Sprechens kann sich also sinn-
Für die These "Wir sprechen alle gleich" kann etwa angeführt werden: vollerweise nur auf die Art und Weise beziehen, in der von einer gemein-
" Wir sprechen alle die gleiche Sprache, nämlich Deutsch, und nicht Eng- samen Sprache Gebrauch gemacht wird.
lisch oder Französisch usw. '" Dieses Argument basiert auf der Beobachtung, Die gemeinsame Sprache umfasst das Inventar an Wörtern (den Wort-
dass einer in einem bestimmten geographischen Gebiet verwendeten Sprache schatz oder das Lexikon) und die Regeln für die Kombinationen der Wörter
andere in anderen Gebieten verwendete Sprachen gegenüberstehen. Im Hin- (die Grammatik).
blick auf die Sprache in anderen Sprachgebieten wird die Sprache im eigenen Sprechen hingegen meint hier die jeweils unterschiedliche Anwendung des
Sprachgebiet als gleich gesehen; die anderen Sprachen werden als 'Fremd'- Inventars und der Regeln. Sprechen als konkrete individuelle Realisierung hat
Sprachen betrachtet. der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) mit dem
" Wir sprechen alle auf die gleiche Weise, indem wir alle dieselben Sprach- französischen Terminus Parole bezeichnet. Sprache als das den Realisierun-
und Sprechorgane benutzen. .. Dieses Argument zielt auf die bei allen Men- gen zugrunde liegende System heißt Langue. Langue kann im Deutschen als
schen identischen anatomischen Bedingungen des Sprechens. Ein Sprachorgan Sprache oder Sprachsystem wiedergegeben werden, Parole als Rede oder
individuelle Sprechhandlung.
Das Begriffspaar Langue - Parole unterscheidet nur nach der Realisierung,
I Um im schriftlichen Text sichtbar zu machen, dass hier die Wörter als sprachliche Objekte was zu der Schwierigkeit geführt hat, dass dem konkreten individuellen
gemeint sind, werden sie kursiv gedruckt. So uD!erscheiden sie sich vom übrigen Text, der
gerade (recte) gedruckt ist.
Sprechen nicht nur ein Sprachsystem gegenübergestellt wird, sondern auch
8 0. Sprache und Sprechen Anwendung der Begriffe System und Norm 9
die normale, sozial gebräuchliche, überindividuelle Verwirklichung. Der c) Der Peter hat mir gehauen.
Begriff der Langue könnte dann enger oder weiter gefasst werden. Die damit Das Objekt steht im Dativ.
verursachte Unklarheit ist mit der von Eugenio Coseriu (*1921) eingeführten
d) Der Peter hast mich gehauen.
begrifflichen Dreiheit System - Norm - Rede behoben.
Das Subjekt steht in der 3. Person, das Verb aber in der 2. Person.
- System bezeichnet das System der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten,
- Norm die Gesamtheit der sozial gebräuchlichen Realisierungen, e) Den Peter hat mich gehauen.
- Rede das individuelle konkrete Sprechen. Das Subjekt steht im Akkusativ.
Nur die einzelnen Redea1cte können von der Sprachwissenschaft unmittelbar t) Der Peter hoben mich gehauen.
beobachtet werden. Aus den darin, wie Eugenio Coseriu sagt, 'konstant', Das Subjekt steht im Singular, das Verb im Plural.
'normal' und 'traditionell' auftretenden Strukturen lässt sich die Norm abstra- In den Sätzen d, e und f sind funktionale Kategorien des sprachlichen Sy-
hieren. Aus der Norm kann wiederum auf die funktionalen Elemente des stems der deutschen Gegenwartssprache verletzt, nämlich die Kongruenz zwi-
Sprachsystems geschlossen werden. schen Subjekt und Verb in der Person (d) und im Numerus (t) sowie die
Kasuskennzeichnung des Subjekts (e).
4. Zur Anwendung der Begriffe Norm und System auf Redeakte Im Satz b ist dagegen keine funktionale Störung auszumachen. Ob das
Partizip in einer zusammengesetzten Verbform nach dem Muster ge- ... -en
Die folgenden Sätze a - f seien jeweils als Äußerungen einzelner Sprecher,
oder ge- '" -t gebildet wird, ist funktional irrelevant; man vergleiche die
also als Redeakte gegeben:
folgenden Formen:
a) Der Peter hat mich gehauen. b) Der Peter hat mich gehaut.
starke Verben schwache Verben
c) Der Peter hat mir gehauen. d) Der Peter hast mich gehauen.
e) Den Peter hat mich gehauen. t) Der Peter hoben mich gehauen. geschrieben gesagt
gebogen gebeugt
Im Vorgriff auf spätere Kapitel (insbesondere Kapitel vm.), zugleich aber in
gebunden gefesselt
Anwendung schulgrammatischer Kenntnisse, soll zunächst an dem unauffäl-
genommen geraubt
ligen Satz a erläutert werden, welche Kategorien und Regelungen des gram-
gehauen gehaut
matischen Systems der deutschen Gegenwartssprache hier wirksam sind:
Welches Verb nach welchem Typ konjugiert wird, ist eine Frage der Norm.
Das Verb hauen fordert ein Subjekt im Nominativ (der Peter) und ein Objekt
Das Auftreten einer Form gehaut kann als Anzeichen eines Normwandels
im Akkusativ (mich). Zwischen dem Subjekt (der Peter) und dem Verb (hat)
verstanden werden, bei dem ein starkes Verb die Formenbildung der schwa-
besteht Kongruenz in Person und Numerus: Beide Elemente stehen in der 3.
chen Verben annimmt. Man vergleiche dazu die Kapitel XV. und XIX.
Person und im Singular. Das bezeichnete Geschehen erfährt eine zeitliche
Im Satz c könnte eine regionale Variante der deutschen Gegenwartssprache
Einordnung durch die Form hat gehauen (und nicht hatte) und ebenso eine
vorliegen, nämlich Berliner Umgangssprache. In dieser Sprachvarietät wird
modale Einordnung (hat und nicht habe, hätte). Zwischen dem männlichen
beim Singular des Personalpronomens nicht zwischen Dativ und Akkusativ
Rufnamen Peter und dem Artikel im Maskulinum der besteht Genuskon-
unterschieden:
gruenz.
Det hat er mir jejeben (Dativ) Er hat mir jehauen (Akkusativ)
In den Sätzen b - f finden sich folgende Abweichungen:
In der Standardsprache finden wir diese Verhältnisse nur im Plural des Per-
b) Der Peter hat mich gehaut.
sonalpronomens:
Das Partizip ist nach dem Typ der schwachen Verben gebildet, und nicht
wie gehauen nach dem Typ der starken Verben. Er hat es uns/euch gegeben (Dativ) Erhatuns/euchgehauen (Akkusativ)
10 II. Sprache und Sprechen Subsysteme - Varietäten 11
Satz c weicht also von der standardsprachlichen Norm ab, stimmt aber mit Indem diese Wörter in einer Sprache auftreten, gehören sie einer Langue an.
einer regionalsprachlichen Norm überein. Eine funktionale Kategorie des Demnach existiert für das Maurerhandwerk wie für das Rechtswesen je eine
Systems wird nicht verletzt, wie die Verhältnisse im Plural zeigen. eigene Langue. Richtscheit und Rechtsirrtum werden aber im Hinblick auf
ihre Wortbestandteile ohne Weiteres als deutsche Wörter erkannt. Je nach der
5. Deskriptiver und präskriptiver Nonnbegriff Hinsicht, unter der diese Wörter gesehen werden, gehören sie dem System
der deutschen Sprache oder jeweils eigenen, mit diesem System teilweise
Wenn Norm definiert wird als die konstant, normal und traditionell vorkom-
übereinstimmenden Systemen an, die man Subsysteme oder Varietäten nennt.
menden sprachlichen Formen, dann werden sprachliche Normen durch Beob-
Mit dem Wortschatz bestimmter Sachbereiche und Sprechergruppen ist nur
achtung und Beschreibung ermittelt. Der sprachwissenschaftliche Normbegriff
ein Beispiel für die Untergliederung des Deutschen in verschiedenartige
ist somit eindeutig als deskriptiv zu bestimmen. Subsysteme gegeben. Man spricht hier auch von diastratischer Sichtweise;
Im Zusammenhang mit dem Sprachunterricht wird aber die deskriptiv man vergleiche weiter Kapitel xn.
ermittelte Norm - der normale Sprachgebrauch - als der richtige Sprach-
Auch das unterschiedliche Sprechen eines Frankfurters gegenüber einem
gebrauch zum Lehrinhalt gemacht. Dann bekommt der Normbegriff prä- Münchner beruht auf verschiedenen Subsystemen, die unter diatopischem
skriptiven Charakter. Ein solcher Normbegriff begegnet insbesondere im
Aspekt unterschieden werden. Die Unterschiede liegen hier außer im Wort-
Zusammenhang mit einer auch für den geschriebenen Gebrauch standardi- schatz auch im lautlichen Bereich. Die Sprecher können ihren jeweiligen
sierten Hoch- und Schriftsprache, die die Sprachverwender 'richtig' gebrau- Dialekt (hessisch bzw. bairisch) sprechen, sie können sich aber auch einer
chen wollen. So entsteht ein gesellschaftlicher Bedarf an Darstellungen der regional geprägten Umgangssprache bedienen, zu der in Frankfurt zum
'richtigen' Sprachform und an Sprachberatung; man vergleiche dazu die
Beispiel ein Wort wie ippelwoi gehört oder in München ein Abschiedsgruß
Kapitel xn. und XIX. Servus; man vergleiche weiter Kapitel xrn.
Die beobachtete Verschiedenheit des Sprechens innerhalb des Deutschen
6. System, Diasystem, Subsysteme, Varietäten beruht also einmal auf den unterschiedlichen individuellen Realisierungen.
Mit der Gegenüberstellung von Langue und Parole oder von System, Norm Zum andern liegen ihr unterschiedliche Normen und Systembereiche zugrun-
und Rede kann nun aber noch nicht das unterschiedliche Sprechen beispiels- de. Es wird hier eine Schichtung und Gliederung der Sprache selbst erkenn-
weise eines Maurers gegenüber einem Rechtsanwalt oder eines Frankfurters bar. Die deutsche Sprache ist kein homogenes System; sie ist ein komplexes
gegenüber einem Münchner erklärt werden. Gebilde aus verschiedenen Subsystemen, ein Diasystem.
So werden etwa die beiden Wörter Richtscheit und Rechtsirrtum nicht von
allen Sprechern der deutschen Sprache verwendet beziehungsweise verstan- Literaturhinweise
den. Sie gehören offenbar nicht zum allgemeinen deutschen Sprachsystem. Kurzinformation:
Richtscheit und Rechtsirrtum treten vielmehr in bestimmten fachlichen Ver- Metzler Lexikon Sprache. Artikel: Diastratisch. Diatopisch. Sprachnorm. Varietät (von U.
wendungen, eben in der Sprache des Maurers beziehungsweise des Rechts- Ammon), Langue, Parole, Sprachsystem (von W. Thfunmel), Normative Grammatik (von H.
Schwinn)
anwalts. auf und werden so auch im Wörterbuch charakterisiert.
Einführende Literatur:
Redttsllrrttum. der (Rechtsspr.): Irrtum hinsicht- R!chtlsdleit, das (Bauw.): Zangeo, schmai& Brett H. Pelz. Linguistik. S. 17-25, S. 57-67
iich du rechtlichen Bestimmungen. gegen die [mit ein~auter Wa&S8rwaagej, mit dem man
versUJj3en wird (nicht hin.ichtlich d8II SachvB1'- feststellen kann, ob eine FIliche wangerecJu. Grundlegende und weiterführende Literatur:
halts, Tatbestande). eine Kante geradiJ ist.
E. Cosenu. in: E. Coseriu, Sprache. Strukturen und Funktionen, S. 45-59
A. Maninet, Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 1. Kapitel
P. de Saussure • Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Einleitung (Kapitel II1, IV)
geregelte Verweisung mittels eines Ausdrucks auf einen Inhalt. Mit diesem Warlich / uns ist nicht frey / wie wir reden wollen / sondern wir müssen reden
Bedeutungsbegriff lässt sich dann präziser beschreiben, was der alte Mann wie andere / so wir wollen von Ihnen verstanden werden.
mit den Wörtern macht: Er ändert nicht die Ausdrücke Bild, Bett usw.; er Arbitrarität und Konventionalität des sprachlichen Zeichens gehören daher
ändert auch nicht den Inhalt 'Bild', 'Bett'; er ändert vielmehr die Zuordnung eng zusammen. Die Arbitrarität macht die Konventionalität notwendig, weil
und verweist nun mit dem Ausdruck Bild auf den Inhalt 'Bett'. die Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt sich von keiner der beiden
Der Begriff der Bedeutung ist wohl der schwierigste sprachwissenschaft- Seiten aus von selbst versteht. Arbitrarität und Konventionalität gehören zum
liche Begriff überhaupt. Daher existiert eine ganze Reihe von Sprachzeichen- Wesen des sprachlichen Zeichens und somit des Sprachsystems.
modellen, die mehr oder weniger differenziert die Relationen zwischen Aus-
drucks- und Inhaltsseite und bezeichneter Sache darstellen. 4. Zeichentypen
Sprachliche Zeichen bilden eine Untergruppe der Zeichen überhaupt. Zeichen
3. Konventionalität und Arbitrarität des sprachlichen Zeichens
sind stets materielle Größen, die auf etwas anderes, ihr Denotat, verweisen.
Die Motivation des alten Mannes für seine Änderungen der Bedeutungen ent- Nach der Art des Denotatsbezugs unterscheidet man in der Zeichentheorie
steht aus der Beobachtung, dass zwischen Ausdruck und Inhalt keine notwen- (Semiotik):
dige Beziehung besteht. Der alte Mann fragt nach der Begründung:
- Zeichen mit realem Denotatsbezug: Index oder indexikalisches Zeichen.
" ... und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich? Die Franzosen Ein Beispiel sind etwa Fußspuren im Schnee, die von einem Tier ver-
sagen dem Bett "li", dem Tiseh "tabi" , nennen das Bild "tablo" und den ursacht wurden und als Zeichen für die Anwesenheit und die Bewegung
Stuhl " seMs " , und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch."
dieses Tiers verstanden werden.
Die Beobachtung fremder Sprachen zeigt, dass zur Bezeichnung derselben - Zeichen mit konventionellem und zugleich arbiträrem Denotatsbezug:
Inhalte nicht dieselben Ausdrücke verwendet werden müssen. Der Inhalt Symbol oder symbolisches Zeichen.
'Bett' erfordert nicht notwendig den Ausdruck Bett, weil zwischen der mate- Als Beispiel sei hier neben den Sprachzeichen auf bestimmte Verkehrs-
riellen Seite des Zeichens und der durch sie bezeichneten Vorstellung keine zeichen verwiesen, etwa auf das Zeichen 'Vorfahrt gewähren'.
apriorische Verknüpfung existiert. In diesem Sinne nennt man das sprachliche - Zeichen mit Übereinstimmungen zu wahrnehmbaren Merkmalen des
Zeichen arbiträr, das heißt beliebig oder willkürlich. Denotats: Ikon oder ikonisches Zeichen.
Der alte Mann wird von den anderen nicht mehr verstanden, weil sie die Derartige Übereinstimmungen können beispielsweise in Farbe, Klang,
von ihm gesetzten Beziehungen zwischen Ausdrucks- und Inhaltseinheiten Form, Struktur, Reihenfolge bestehen.
nicht kennen. Für die anderen sind mit den von dem alten Mann verwende- Beispiele für ikonische Zeichen sind etwa Piktogramme auf Wegweisern
ten, ihnen bekannten Ausdruckseinheiten ganz bestimmte Inhaltseinheiten von und Verkehrszeichen, zum Beispiel das Zeichen für einen Radweg.
vornherein verbunden. Indem Peter Bichsel in seiner Geschichte den alten
Mann diese Verbindung autbeben lässt, wird auch dem Leser der Charakter 5. Ikonizität und Motiviertheit von Sprachzeichen
dieser Verbindung zum Problem. Das abweichende Sprachverhalten wird so
als Abweichen von einer sozialen Konvention erkennbar. Die Bedeutung der Einen Einwand gegen die Arbitrarität der sprachlichen Zeichen haben schon
sprachlichen Zeichen wird von dem einzelnen Sprecher beim Spracherwerb immer die onomatopoetischen, das heißt lautnachahmenden Wörter begrün-
erlernt. Damit wird eine sozial, historisch und geographisch bestimmte det, wie zum Beispiel die Bezeichnung eines bestimmten Vogels nach seinem
Konvention übernommen. Ruf als Kuckuck. Hier kann man zwischen Ausdruck und Inhalt eine kausale
Die Notwendigkeit der Orientierung an der Konvention der Sprecher und Beziehung herstellen: "Der Kuckuck heißt Kuckuck, weil er Kuckuck ruft."
damit an den anderen ist schon früh erkannt und formuliert worden. Christi an Hier besteht offensichtlich eine Übereinstimmung im wahrnehmbaren Merk-
Gueintz (1592-1650), ein Sprachwissenschaftler des Barock, drückte sie fol- mal Klang zwischen dem Zeichen Kuckuck und dem Denotat, dem Vogel,
gendermaßen aus: nämlich seinem Ruf. Das sprachliche Zeichen erscheint als motiviert, insofern
18 III. Das sprachliche Zeichen Motiviertheit 19
der Vogel zweifellos nicht Wauwau oder Kikeriki heißen könnte. Da Sprach- morphologische Durchsichtigkeit ist eine Bedingung für die semantische
zeichen lautlich realisiert werden, könnte man annehmen, dass sie überhaupt Motiviertheit der Wörter. Motiviert sind sie, wenn ihre Bedeutung aus der
nur in dem Sinne ikonisch sein könnten, dass Denotate mit akustischem Cha- Summe der Bedeutungen der Teile und der Weise ihrer Zusammenfügung
rakter durch klangnachahmende Zeichen bezeichnet würden. Ikonizität kann ableitbar ist (man vergleiche dazu Kapitel VI.)
aber auch in geschriebener Sprache realisiert werden, wenn etwa in visueller Umfangreicheres Wortmaterial kann schnell verdeutlichen, dass komplexe
Poesie eine inhaltliche Beziehung zwischen der graphischen Textstruktur und Zeichen nicht automatisch vollmotiviert sind. Bei einer Reihe von Komposita
dem von den Wörtern bezeichneten Phänomen hergestellt wird. Ein Beispiel mit dem gleichen Grundwort -wurst zeigen sich vielmehr alle möglichen
bietet Ernst Jandls Ebbe-Flut-Text: Übergangsformen zwischen motivierten Zeichen wie Lebenvurst und gegen-
wartssprachlich nur teilmotivierten wie Plockwurst, Mettwurst:
ebbeebbeebbeebbeebbeflut
ebbeebbeebbeebbeebbeebbe
ebbeebbeebbeebbeebbeflut Streichwurst Zungenwurst Schweinswurst
Schinkenwurst Preßwurst
ebbeebbeebbeebbefluuuuut Kochwurst
Knoblauchwurst Dosenwurst Weißwurst
ebbeebbeebbefluuuuuuuuut Rauchwurst Jausenwurst (zErv~'la:t-l
ebbeebbefluuuuuuuuuuuuut Katen( rauch)wurst Katenwurst FV Zer- Servelatwurst
ebbefluuuuuuuuuuuuuuuuut F1eischwurst Leberwurst ('tsErv~la: t- ,'ZEr-)
fluuuuuuuuuuuuuuuuuuuuut Salamiwurst TIiiffelleberwurst Zervelatwurst
Schlackwurst Geflügelleberwurst
ebbefluuuuuuuuuuuuuuuuut Knackwurst Kalbsleberwurst
Bratwurst
Rostbratwurst
Bockwurst Räucherwurst Rotwurst
Ernst land!. der künstliche baum, Sammlung Luchterhand 9. Neuwied am Rhein und Berlin Plockwurst Hausmacherwurst Hartwurst
1970. S. 34 Troffelwurst Dauerwurst Rostwurst
Pinkelwurst Bierwurst Blutwurst
Griebenwurst, Erbswurst Bettwurst
Ikonizität wird schließlich überhaupt allen sprachlichen Zeichen zugespro- Greubenwurst Hanswurst Mettwurst
chen, die eine komplexere Struktur besitzen und bei denen zum Beispiel eine
Übereinstimmung in der Reihenfolge der sprachlichen Elemente mit der Rei-
G. Muthmann, Rückläufiges deutsches Wörterbuch. S. 961
henfolge von Elementen im Denotat besteht, wie etwa bei Bezeichnungen von
Farbfolgen in Nationalflaggen (blau-weiß-rot). Als ikonisch kann man auch
Plural formen wie Kinder auffassen, in denen gegenüber dem Singular Kind 7. Die drei Beziehungen des sprachlichen Zeichens
ein Mehr an sprachlichem Material einem Mehr an Inhalt entspricht.
Die Veränderung der Beziehungen der Sprachzeichen auf die Sachen hat nur
Insgesamt ist der Begriff der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens also zu
eine Beziehung des Sprachzeichens sichtbar gemacht. Weitere Beziehungs-
relativieren.
richtungen werden wiederum an dem abweichenden Verhalten des alten
Mannes in Peter Bichsels Geschichte erkennbar.
6. Komplexität und Motiviertheit von Sprachzeichen
Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoal-
Analog zu dem Begründungssatz für die Motiviertheit des Sprachzeichens bum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an
Kuckuck könnte man für Wörter wie Bett, Bild, Tisch, Stuhl keine Begrün- die Morgen schaute.
dungssätze formulieren, wohl aber für Wörter wie Fotoalbum und Wecker: Die einzelnen Zeichen treten hier in Verbindungen mit anderen Zeichen auf,
"Das Fotoalbum heißt Fotoalbum, weil es ein Album für Fotos ist." "Der
die nicht üblich sind: blieb ... läuten, blättene sich, der Fuß fror aujund so
Wecker heißt Wecker, weil er weckt." Fotoalbum und Wecker sind komplexe weiter. Durch diese Unüblichkeit wird aber gerade die Beziehungsrichtung
Sprachzeichen, die in Bezug auf ihre Bestandteile Foto, Album, weck(en) der Zeichen untereinander sichtbar.
und -er (als Bezeichnung für ein Gerät, das etwas tut) durchsichtig sind. Die
20 IlI. Das sprachliche Zeichen
Und es kam so weit, daß der Mann lachen mußte, wenn er die Leute reden
hörte .... Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand.
Das Nichtverstehen des alten Mannes und seine unübliche Reaktion des La- IV. Phonetik und Phonologie
chens auf für die anderen völlig übliche Aussagen zeigen schließlich eine
weitere Beziehungsrichtung der Sprachzeichen auf, nämlich die auf die Be- 1. Das Phonem
nutzer der Sprachzeichen, die Sprecher und Hörer.
Die Beziehung der Zeichen zu den Sachverhalten heißt semantisch, die Das folgende Gedicht von Christian Morgenstern führt durch seine Reime zur
Beziehung der Zeichen untereinander heißt syntaktisch, die Beziehung der Reflexion der lautlichen Bestandteile der sprachlichen Zeichen.
Zeichen zu den Zeichenbenutzern heißt pragmatisch. Das ästhetische Wiesel
Ein Wiesel
Sprecher - Hörer saß auf einem Kiesel
I
pragmatisch
inmitten Bachgeriesel.
Wißt ihr,
weshalb?
Das Mondkalb
I
sprachliches Zeichen - - - syntaktisch - - - sprachliches Zeichen
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinier-
I
semantisch
te Tier
tats um des Reimes willen.
Christian Morgenstern, Gesammelte Werke in einem Band, hg. v. M. Morgenstern, München
Denotat
I 1970, S. 197