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S C H R I F T E N Z U R W E L T L I T E R AT U R BAN D 9

Marc Weiland

Mensch und Erzählung


Helmuth Plessner, Paul Ricœur
und die literarische Anthropologie
Schriften zur Weltliteratur/Studies on
World Literature

Band 9

Reihe herausgegeben von


Dieter Lamping, Mainz, Deutschland

In Zusammenarbeit mit Immacolata Amodeo, David Damrosch, Henrieke Stahl,


Elke Sturm-Trigonakis, Galin Tihanov und Markus Winkler
Der Begriff der Weltliteratur, im 19. Jahrhundert geprägt, hat in den letzten zwei bis
drei Jahrzehnten eine erstaunliche Karriere in der internationalen Literaturwissen-
schaft gemacht. Während sein Gegenbegriff, ‚Nationalliteratur‘, inzwischen weit-
gehend aus der Diskussion verschwunden ist, gilt ‚Weltliteratur‘ mehr denn je als
das wichtigste Konzept für die Beschreibung der Internationalisierung, die inzwi-
schen unübersehbar alle Literaturen bestimmt. Längst sind sie nicht mehr inselhaft
in sich geschlossen, sondern stehen in vielerlei Beziehungen zueinander.
„Schriften zur Weltliteratur“ ist eine komparatistische Reihe, die Autoren und
Autorinnen, Texten und literarischen Problemen gewidmet ist, die von übernatio-
naler Bedeutung sind. Dazu zählen etwa interkulturelle literarische Kontakte, pro-
duktive poetische Rezeptionen über Sprachgrenzen hinweg, Übersetzungen und
Übersetzungspoetiken, Fragen eines kulturübergreifenden Kanons, literarische
Leitfiguren von internationaler Ausstrahlung, historische und typologische Verglei-
che zwischen Literaturen, Texten und Autoren verschiedener Sprachen, schließlich
Diskussionen über Konzepte internationaler Literatur wie ‚Weltliteratur‘ oder ‚Eu-
ropäische Literatur‘ u. ä. In dieser Anlage versucht die Reihe dem heute geläufigen
weiten Verständnis von Weltliteratur als Bezeichnung für unterschiedliche Prozesse
und Aspekte literarischer Internationalisierung gerecht zu werden.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15407


Marc Weiland

Mensch und Erzählung


Helmuth Plessner, Paul Ricœur und die
literarische Anthropologie
Marc Weiland
Fachbereich Medienwissenschaft
Bauhaus-Universität Weimar
Weimar, Deutschland

Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature


ISBN 978-3-476-04902-5 ISBN 978-3-476-04903-2  (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
2 Die Philosophische Anthropologie Plessners, die
Subjektivitätstheorie Ricœurs und die literarische
Anthropologie – Ansatzpunkte, Ziele und Methoden . . . . . . . . . . . . . 11
1 Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners . . . . . . . . . . . . . . . 11
2 Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien . . . . 26
3 Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie . . . . . . . 39
3.1 Anthropologie in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.2 Literatur als Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.3 Literatur in der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3 Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1 Der Begriff der exzentrischen Positionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2 Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3 Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4 Das Gesetz des utopischen Standorts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
4 Paul Austers New York Trilogy aus den Perspektiven
Philosophischer und literarischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . 99
1 Einleitung: Die New York Trilogy und die Frage
nach dem Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
2 Zufälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3 Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
4 Körper und Leiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
5 Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
6 Rollenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
7 Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
8 Fiktionen und Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
5 Paul Ricœurs Konzept der narrativen Identität und
seine Bedeutung für die Philosophische und literarische
Anthropologie – am Beispiel der New York Trilogy . . . . . . . . . . . . . . . 185
1 Menschliche und/oder personale Identität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
2 Der Begriff der personalen Identität: Selbigkeit vs. Selbstheit . . . . . . 196

V
VI Inhaltsverzeichnis

3 Das Konzept der narrativen Identität und der


dreifachen Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
4 Formen narrativer Selbstbezüglichkeit in der
New York Trilogy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
6 Narrative Selbstbezüglichkeiten des Menschen. Perspektiven
Philosophischer und literarischer Anthropologie anhand von
Beispielanalysen zur Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
1 Utopische Standorte. Die Struktur der immanenten
Transzendenz im utopisch-dystopischen Roman: Christian
Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
und Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
1.1 Einleitung: Zum Verhältnis von Utopie, Melancholie
und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
1.2 Selbstüberschreitungen im dystopischen Roman:
Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein
und im Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
1.3 Selbstüberschreitungen im utopischen Roman:
Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
1.4 Der Mensch als homo utopicus zwischen
Utopie und Dystopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
2 Vermittelte Unmittelbarkeiten. Das Verhältnis von Raum,
Text und Selbst im Stadtroman: Gary Shteyngarts
The Russian Debutante’s Handbook, Jonathan Safran
Foers Tree of Codes und Bruno Schulz’ Die Zimtläden . . . . . . . . . . . 259
2.1 Einleitung: Zum Verhältnis von Raum, Text und Selbst . . . . . . . 259
2.2 Raumaneignung: Gary Shteyngarts The Russian
Debutante’s Handbook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
2.3 Textaneignung: Jonathan Safran Foers Tree of Codes
und Bruno Schulz’ Die Zimtläden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
2.4 Raumaneignung als Textaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
3 Natürliche Künstlichkeiten. Die Literarisierung der eigenen
Lebensgeschichte zwischen Selbstfindung und Selbsterfindung
im autobiografischen Roman: Felicitas Hoppes Hoppe und Péter
Esterházys Harmonia Cælestis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
3.1 Einleitung: Zum Verhältnis von Selbst und Erzählung . . . . . . . . 286
3.2 Selbstvermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
3.3 Selbsterzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
3.4 Selbstfindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
3.5 Selbsterfindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
3.6 Selbstbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
7 Exzentrisches Erzählen? Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Siglen

AH Paul Auster: The Art of Hunger


GS Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften
IS Paul Auster: The Invention of Solitude
Macht Helmuth Plessner: Macht und menschliche Natur
NI Paul Ricœur: Narrative Identität
NYT Paul Auster: The New York Trilogy
SAA Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer
Stufen Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch
ZuE Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. I–III

VII
Einleitung
1

Jede philosophische Aussage ist perspektivisch auf den


Menschen bezogen, seine Stellung und Aufgabe in der Welt.
Helmuth Plessner: Zum Situationsverständnis
gegenwärtiger Philosophie

Die künstlerische Tätigkeit beginnt dort, wo man sich


der sichtbaren Welt als etwas ungeheuer Rätselhaftes
gegenübersieht.
Raymond Federman: Surfiction

Das Erzählen ist ein spezifisch menschliches Vermögen, das auf Unergründliches
reagiert und es zugleich doch auch selbst miterzeugt und vermittelt. Beständig
sieht sich der Mensch konfrontiert mit einem Befremdenden und Rätselhaften, das
sich der theoretischen und praktischen Aneignung entzieht; und gerade dadurch
das Verstehen und Erzählen herausfordert. Dieses Befremdende, Rätselhafte und
letztlich Unergründliche ist der Mensch selbst.
Für Ernst Lustig, Protagonist und Erzähler in Steffen Menschings Lustigs Flucht
(2005), scheint es offenbar nichts Erzählens- und Ergründenswertes zu geben;
erst recht nicht in Bezug auf das eigene Leben: „Wäre mein Leben ein Roman,
ich würde ihn nicht lesen“, lautet der erste Satz des Textes – bei dem es sich eben
um einen Roman handelt. Dabei ist durchaus bemerkenswert und nur vermeintlich
widersinnig, dass Lustig, der die Ambivalenz ja auch schon im Namen trägt, sein
Leben trotzdem erzählt; und im Zuge dessen gar nicht umhinkommt, es auch zu
lesen. Allerdings hat er, aus einer anthropologischen Perspektive heraus betrachtet,
wohl auch gar keine andere Wahl. Selbst dann, wenn er denkt, dass es nichts zu
erzählen gäbe: Jeder Mensch ist beständig Leser und Erzähler seiner eigenen
Lebensgeschichte. Mehr noch: Er kommt gar nicht umhin, es zu sein. „Wer auf
das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschich-
ten verzichtet, verzichtet auf sich selber“, schreibt Odo Marquard (2000b: 60) in

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 1


M. Weiland, Mensch und Erzählung, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World
Literature 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_1
2 1 Einleitung

einem Aufsatz mit dem sprechenden Titel Narrare necesse est. Würde Lustig den
Roman, der er hier im übertragenen Sinne selbst ist, tatsächlich weder lesen noch
erzählen – es wäre gar fraglich, ob er sich als Mensch versteht und verstehen kann.
Denn durch das Erzählen befragt der Mensch nicht nur sein Selbst und seine Welt,
er gibt beiden immer auch eine bestimmte (vorläufige) Form und einen bestimmten
(vorläufigen) Inhalt. Selbst dann, wenn er erzählt, dass es nichts zu erzählen gibt.
Insofern sich Menschen auf sich selbst beziehen, beziehen sie sich auf Erzählungen.
Insofern sie sich auf Erzählungen beziehen, beziehen sie sich auf sich selbst.
Die vorliegende Arbeit thematisiert die damit angesprochene konstitutive Ver-
schränkung von Mensch und Erzählung: Der Mensch ist von Natur aus dasjenige
Lebewesen, das sich im künstlichen Medium des Erzählens auf sich selbst bezieht
und erzählend sein Leben führt. Das zeigt sich sowohl in alltäglichen als auch lite-
rarischen Erzählungen. Wobei insbesondere die Literatur, aber natürlich nicht nur
sie, selbstreflexive Formen ausgebildet hat, die mitunter ihre eigenen anthropo-
logischen Voraussetzungen und Funktionen in den Blick nehmen und dabei, als
von Menschen erzeugte Formen, auch zeigen, wie und warum Menschen in Erzäh-
lungen leben und mit Erzählen ihr Leben führen. Um diese literarisch-anthropo-
logische Selbstbezüglichkeit wird es im Folgenden vor allem gehen. Es sind also
die spezifischen Funktionen (literarischer) Narrationen am und im Prozess der
Selbstbeziehung und Selbstbestimmung des Menschen ebenso wie deren spezi-
fische (literarische) Verfahren zu thematisieren und zu reflektieren. Dies geschieht
aus zwei konvergierenden und sich überschneidenden Blickrichtungen: Das
Verhältnis von Mensch und Erzählung ist einerseits aus anthropologischer und
subjektivitätstheoretischer Perspektive, andererseits aus erzähltheoretischer und
literarischer Perspektive zu analysieren. Die Philosophische Anthropologie Hel-
muth Plessners, die Subjektivitäts- und Erzähltheorie Paul Ricœurs sowie die New
York Trilogy Paul Austers, die (entgegen ihrer vielfachen Deutung) stellvertretend
für eine neuere anthropologisch-selbstreflexive Literatur stehen kann, bieten hier-
für drei umfangreiche und einander ergänzende Möglichkeiten der Auseinander-
setzung mit und des Zugangs zu den spezifischen Problemstellungen narrativer
Selbstbezugnahme und Selbstbestimmung. Dabei zeigt sich in jeweils unterschied-
licher Weise bei allen drei Autoren, dass der Mensch dadurch und dazu bestimmt
ist, dass er sich nicht eindeutig bestimmen lässt – und zwar hinsichtlich seiner
personalen wie auch anthropologischen Identität. Vor diesem Hintergrund las-
sen sich mit ihnen jedoch auch aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven kons-
truktive und ineinander verschränkbare Ansätze erarbeiten, die ein Verständnis
der spezifischen Funktionen und Verfahren narrativer Selbstbezugnahme ermög-
lichen. Diese können anhand literarischer Texte, die zwischen lebensweltlichen
Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen vermitteln, erkundet
und sowohl auf alltägliche Lebenszusammenhänge als auch auf anthropologische
und subjektivitätstheoretische Problemstellungen bezogen werden. Sie verbinden
dabei die grundsätzliche Frage nach der Bestimmung bzw. Bestimmbarkeit der
personalen und anthropologischen Identität des Menschen. Diese Verbindung ist
1 Einleitung 3

aus theoretischer und lebenspraktischer Perspektive von besonderer Bedeutung.


Einerseits wirkt sich die theoretisch gegebene Bestimmung der personalen und
anthropologischen Identität des Menschen auf die alltäglichen Lebensvollzüge
aus, anderseits beeinflussen die alltäglichen Lebensvollzüge die theoretische
Bestimmung der personalen und anthropologischen Identität des Menschen.
Die Frage nach der Bestimmung der anthropologischen und personalen Identi-
tät ist auch deswegen eine besondere, weil sich in ihr eine dreifache Selbstbezüg-
lichkeit zeigt (vgl. Thies 2009: 10). Erstens ist der Mensch (bzw. die Person)
Subjekt des Fragens: Er ist derjenige, der die Frage(n) stellt; und dem überhaupt
erst einmal etwas fragwürdig wird. Zweitens geht er in seinem Fragen und Ant-
worten in selbstständiger Weise vor: Ihm selbst ist es überlassen, ob und wie er
fragt und ob und wie er antwortet; er bestimmt also das methodische Vorgehen.
Drittens ist der Mensch Objekt des Fragens: Jegliche Antwort ist eine Antwort
über sich selbst; ihm geht es daher immer auch um sein eigenes Leben und ein
Verstehen seiner selbst. Der Mensch ist somit zugleich Fragender und Befragter.
Er selbst ist es, der selbstständig nach sich selbst fragt (ebd.). Dieser dreifache
Selbstbezug im anthropologischen Fragen lässt sich noch um einen vierten
Aspekt ergänzen: den des Adressaten. Schließlich ist der Fragende nicht nur der-
jenige, der eine Antwort auf das Erfragte gibt, sondern auch bekommt. Und je nach
(Aneignung der) Antwort ist er dann möglicherweise gar nicht mehr derselbe, der
eine Frage gestellt und schließlich auch beantwortet hat. Denn da die jeweilige
Antwort auf das Subjekt-Objekt der Frage zurückwirkt, kann sie dieses in seiner
‚Beschaffenheit‘ verändern und in seinem weiteren Denken und Handeln beein-
flussen. Das nachdenkende – fragende und antwortende – menschliche Selbst ist
sowohl in der Anthropologie als auch Identitäts- bzw. Subjektivitätstheorie selbst
Teil der Untersuchung (vgl. Nunner-Winkler 2009: 353). Daher muss diese mehr-
fache Selbstbezüglichkeit auch methodisch reflektiert in die Theoriebildung mit
aufgenommen und problematisiert werden (Habermas 1958: 19).1
Eine anthropologisch orientierte Erzähltheorie, die sich mit dem konstitutiven
Verhältnis von Mensch und (literarischer) Erzählung befasst, muss diese vierfache
anthropologische Selbstbezüglichkeit beachten und die Wechselwirkungen der vier
Aspekte thematisieren. Dabei ist gleichermaßen nach dem erzählenden und dem
erzählten menschlichen Selbst zu fragen und eine vierfache narrative Selbstbezüg-
lichkeit aus anthropologischer Perspektive zu bestimmen. Denn der Mensch erzählt,
erstens, immer auch aus bestimmten Gründen und mit bestimmten Funktionen.
Diese Gründe und Funktionen können aus unterschiedlichen Perspektiven gefasst
werden. In der vorliegenden Arbeit geschieht dies in Auseinandersetzung mit drei

1So schreibt etwa Habermas (1958: 19): „Allein, auch diejenigen, die Anthropologie treiben,

sind Menschen und selber darauf angewiesen, sich in ihrem Menschsein zu verstehen.“ Dem-
entsprechend können sie von ihrem Gegenstand nur dann handeln, wenn sie sich gewissermaßen
selbst in die Untersuchung mit einbeziehen: In dem Maße, wie sie das Wesen des Menschen deu-
ten, in dem Maße deuten sie auch ihr eigenes Wesen (ebd.).
4 1 Einleitung

umfangreichen theoretisch-konzeptionellen Ansätzen, die sich systematisch mit-


einander verbinden lassen und mit denen verschiedene Ebenen des menschlichen
Erzählbedürfnisses und Selbstverständnisses thematisiert werden können. Es handelt
sich hierbei um die (auch biologisch orientierte) Anthropologie Plessners, die (auch
anthropologieaffine) Subjektivitätstheorie Ricœurs und diejenigen Forschungs-
perspektiven literarischer Anthropologie bzw. allgemeiner Erzähltheorie, die auf
Basis philosophisch-heuristischer (Iser, Koschorke) oder biologisch-universeller
Begrifflichkeiten (Eibl, Neumann) eine Erklärung der Existenz und der Funktio-
nen (literarischer) Erzählungen anstreben. Doch erzählt der Mensch, zweitens,
immer in einer bestimmten Art und Weise, die wiederum jeweils vor Augen führt,
was ihm in welchen Kontexten und mit welchen Folgen fraglich wird – und vor
allem auch: wie es ihm fraglich wird. In Auseinandersetzung mit Paul Austers New
York Trilogy wird dies ebenso thematisiert wie anhand der Analyse verschiedener
Texte gegenwärtiger Literatur. Insbesondere Austers Romane erscheinen als para-
digmatische Vertreter einer selbstreflexiv verfahrenden Literatur, die auf die spezi-
fischen anthropologischen Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens und
Lesens von Selbst und Welt ebenso verweisen wie auf deren Verfahrensweisen und
Grenzen. Dabei zeigen die literarischen Texte allesamt, drittens, dass sich das erzäh-
lerische Fraglichwerden und der Versuch des erzählerischen Antwortfindens auf ein
bestimmtes Objekt beziehen: den Menschen selbst, der im Erzählen eine Auskunft
über sich sowohl erteilen als auch erhalten will und dafür spezifisch literarische
Menschenbilder erzeugt. Die thematisierten Texte vermessen in je eigener Weise
und eigener Blickrichtung die denkbaren und erzählbaren Grenzen der anthropo-
logischen und personalen Identität und zielen dabei mitunter auf deren Öffnung
und/oder alternative Fassung ab. Sie stehen damit in einem größeren Zusammen-
hang. Gerade in der literarischen Moderne zeigt sich auch vor dem Hintergrund
der Ausdifferenzierung der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen ein
zunehmendes Fraglichwerden und Wegbrechen vermeintlich fester und unhinter-
gehbarer Bestimmungen anthropologischer und personaler Identität, das bis in die
Gegenwart hinein thematisiert, reflektiert und gestaltet wird. In dementsprechend
ambivalenter und in sich gebrochener Beschaffenheit treten literarische Menschen-
bilder in Erscheinung, die kulturelle Erfahrungsweisen und Denkformen sowohl
aufnehmen als auch erzeugen und vermitteln. Sie bilden ein Signum und eine Form
der Bearbeitung einer spezifisch modernen und gegenwärtigen (Selbst-)Erfahrung
und (Selbst-)Wahrnehmung des Menschen: Der Einsicht in die eigene Unergründ-
lichkeit und Weltoffenheit, die einerseits im Widerspruch zu den unzähligen diszi-
plinären Bestimmungsversuchen des Menschen steht und andererseits gerade von
dieser Vielzahl einander widerstreitender Bestimmungen – und vor allem auch von
deren Grenzverschiebungen und -verwischungen – hervorgerufen wird. Die Litera-
tur partizipiert hierbei an der von Wolfgang Riedel so genannten Achsendrehung in
der begrifflichen Bestimmung des Menschen, die u. a. durch die beständige Neuent-
stehung und Etablierung naturwissenschaftlicher Menschenlehren vorangetrieben
wird und im Brückenschlag mit philosophischen Menschenlehren (insbesondere der
Philosophischen Anthropologie) bis heute das moderne Denken des Menschen prägt
1 Einleitung 5

(vgl. Riedel 2014: ix–xvi) – und zwar im doppeldeutigen Sinn sowohl in Bezug
auf das Subjekt als auch auf das Objekt des Denkens: den Menschen, der etwas in
spezifischer Weise denkt und erzählt, und den Menschen, der in spezifischer Weise
gedacht und erzählt wird. Literarische Texte beeinflussen die alltagsweltliche und
wissenschaftliche Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung des Menschen. Denn
die Art und Weise des Erzählens ebenso wie auch der Inhalt der Erzählung ver-
ändern wiederum, viertens, immer auch denjenigen, der die Erzählung – sei sie nun
z. B. literarischer, wissenschaftlicher oder alltäglicher Art – produziert und rezipiert;
und der aufgrund seiner Weltoffenheit und Unergründbarkeit überhaupt erst (durch
sich selbst) veränderbar und bestimmbar ist. Analytisch nachvollziehen lässt sich
dieser Prozess anhand des Konzepts der dreifachen Mimesis Paul Ricœurs.
Im Verlauf der Untersuchung werden also die systematischen Zusammen-
hänge dieser vierfachen Selbstbezüglichkeit aus anthropologischer, subjektivitäts-
theoretischer und erzähltheoretischer Perspektive anhand literarischer Beispiele
thematisiert und reflektiert. Dafür sind drei argumentative Ebenen zu ergründen
und miteinander zu verschränken: eine philosophisch-systematische, eine literatur-
theoretische und schließlich eine literaturanalytische. Diese Verschränkung voll-
zieht sich in einer hermeneutischen Zirkelbewegung, die in mehreren Durchläufen
die zuvor erarbeiteten Begriffe und Konzepte wiederaufnimmt und weiter spezi-
fiziert bzw. anwendet.
Auf der philosophisch-systematischen Ebene wird an einem methodologischen
Ansatz und einer theoretischen Grundlage gearbeitet, die die menschliche Daseins-
form und die Struktur des menschlichen Selbst- und Weltverstehens verständlich
und analytisch zugänglich macht. Damit verbunden ist die grundsätzliche Frage
nach der Bestimmung bzw. Bestimmbarkeit des Menschen. Die Philosophische
Anthropologie Helmuth Plessners bietet hierfür einen Theorieansatz, der den Men-
schen als Natur- und Geistwesen zu fassen vermag und das Verstehen kultureller
Verobjektivierungen in den Mittelpunkt rückt. Anhand einer genauen Analyse der
Begrifflichkeiten Plessners lässt sich unter anderem darlegen, warum der Mensch
in seinem Selbstverstehen immer einen Umweg über Andere und Anderes gehen
muss. Daran anschließend ist zu fragen, wie er diesen Umweg in seinen konkre-
ten sozialen, historischen und kulturellen Kontexten geht. Paul Ricœurs Konzept
der narrativen Identität mitsamt ihrem Herzstück, dem Konzept der dreifachen
Mimesis, bietet hierzu ein theoretisches Modell, das argumentationslogisch min-
destens zweierlei ermöglicht: Mit ihm kann die Anthropologie Plessners einer-
seits (hinsichtlich konkreter personaler Identifikationsprozesse) weiter spezifiziert
und ausdifferenziert sowie andererseits (auf literaturwissenschaftliche und erzähl-
theoretische Fragestellungen) ausgedehnt und übertragen werden. Demgegen-
über kann die auch naturphilosophische Anthropologie Plessners eine Fundierung
der kontextualistischen Subjektivitäts- bzw. Identitätstheorie Ricœurs bieten. Die
Möglichkeit einer solchen anthropologischen Fundierung ist, wie zu zeigen sein
wird, der Theorie Ricœurs inhärent. Gleichwohl wurde in der bisherigen For-
schung noch nicht an einer systematischen Verschränkung der Theorien Plessners
und Ricœurs gearbeitet. Zur Erarbeitung dieser systematischen Verschränkung
6 1 Einleitung

sind in einem ersten Schritt die methodischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede


beider Ansätze sowie deren potenzielle Verbindungslinien zu thematisieren. In
einem zweiten Schritt geht es dann darum, beide Konzeptionen auch inhaltlich
miteinander zu verbinden und diese Verbindung anhand konkreter Beispiele aus-
zuarbeiten. Dies soll aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive geschehen;
weshalb in zwei vermittelnden Zwischenschritten sowohl eine literaturtheoretische
als auch eine literaturanalytische Ebene in die Argumentation eingezogen wird.
Auf der literaturtheoretischen Ebene wird einerseits gefragt, ob und inwieweit
die Ansätze und Begrifflichkeiten Plessners und Ricœurs grundsätzlich für
das literaturwissenschaftliche Arbeiten nützlich sind und in welchen Rahmen-
setzungen und Fragestellungen sie zur Anwendung gebracht werden können.
Darüber hinaus geht es andererseits aber auch um die Frage, ob und inwieweit
wiederum die Literaturwissenschaft zur Reflexion und Ergründung philo-
sophisch-anthropologischer Themen und Problemstellungen beitragen kann.
Dies geschieht in Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsansätzen litera-
rischer Anthropologie und allgemeiner Erzähltheorie. Hierbei lassen sich drei
grundlegende Forschungsperspektiven unterscheiden. Sie untersuchen erstens
anthropologische Themen in literarischen Texten, reflektieren zweitens den Bei-
trag literarischer Texte zu einer Anthropologie und fragen drittens nach einer
anthropologisch orientierten Erklärung für das Phänomen der Literatur und des-
sen Funktionen für den Menschen. Diese drei Perspektiven werden dann im Fol-
genden auch die weitere Untersuchung leiten und die philosophisch-systematische
Ebene mit der literaturtheoretischen und literaturanalytischen verschränken. Die
leitende Hypothese ist dabei, dass die Philosophische Anthropologie Plessners in
Verbindung mit der Subjektivitätstheorie Ricœurs nicht nur eine (quasi außerlite-
rarisch zu verortende) anthropologische Basis für die Existenz und die Funktionen
(literarischer) Erzählungen und Texte bietet, sondern auch geeignete (quasi inner-
literarisch anwendbare) analytische Ansätze zum Verständnis spezifisch (post-)
moderner Literatur.
Daher widmet sich die literaturanalytische Ebene schließlich der Frage, ob
und inwieweit eine Verschränkung der Begrifflichkeiten und Konzepte Plessners
mit denen Ricœurs auch Interpretationsansätze für literarische Werke bieten und
somit auch zur Ergründung der in diesen Werken verhandelten anthropologischen
Themen und Diskurse beitragen können. Dies soll zum einen durch eine umfang-
reiche und detaillierte Analyse der New York Trilogy Paul Austers sowie zum
anderen durch drei kürzere Beispielanalysen aus dem Bereich der gegenwärtigen
Literatur erörtert werden. Anhand von Austers Romanen wird vor allem die Frage
nach der Bestimmbarkeit der Identität der Person und des Menschen angesichts
ihrer grundsätzlichen Veränderlichkeit und Unergründbarkeit aus den beiden Per-
spektiven des Selbst- wie auch des Fremdbezugs thematisiert. Dabei stellt sich
dann auch die Frage nach den Funktionen von Literatur und Narration für die
jeweils eigene personale Lebensführung und Selbstwahrnehmung. Anhand der
drei Beispielanalysen werden schließlich noch einmal einzelne Aspekte der mit
Plessner und Ricœur erarbeiteten anthropologisch orientierten Erzähltheorie in
1 Einleitung 7

unterschiedlichen Kontexten und Genres hervorgehoben und weiter spezifiziert;


sie verweisen daher gleichsam stellvertretend auf die flexible Anwendbarkeit der
erarbeiteten Konzeption und zeigen zugleich auch, in welcher Weise Aspekte der
plessnerschen Anthropologie und ricœurschen Subjektivitätstheorie im gegen-
wärtigen literarischen Denken und Schreiben zu finden sind.
Das Buch ist dabei folgendermaßen aufgebaut: Im 2. Kapitel werden auf philo-
sophisch-systematischer Ebene methodologische Fragestellungen und Ansatz-
punkte erörtert und reflektiert. Dabei geht es zunächst um die grundlegende
Ausrichtung und den Ansatz der Anthropologie Plessners und die daran anschlie-
ßende Frage, inwiefern sich dieser auch methodisch mit der Subjektivitäts- und
Erzähltheorie Ricœurs zusammendenken und verbinden lässt. Die verschiedenen
Forschungsperspektiven literarischer Anthropologie bieten hierfür auf literatur-
theoretischer Ebene eine analytisch und erkenntnisleitend anwendbare Schema-
tisierung und Fokussierung, anhand derer die weitere Untersuchung vollzogen
werden kann. Dies betrifft einerseits die systematische Verbindung von Anthropo-
logie, Subjektivitätstheorie und Erzähltheorie, andererseits aber auch die Analyse
literarischer Texte hinsichtlich ihrer jeweiligen Menschenbilder und ihrer jeweils
narrativ hergestellten und vermittelten Ordnungen anthropologischen Wissens.
Das 3. Kapitel gibt auf philosophisch-systematischer Ebene einen Überblick
über die grundlegenden Begriffe der Philosophischen Anthropologie Plessners, die
im weiteren Verlauf literaturtheoretisch und literaturanalytisch thematisiert und
angewandt werden. Der naturphilosophisch orientierte Begriff der exzentrischen
Positionalität bildet hierbei den Dreh- und Angelpunkt, von dem aus Plessner die
von ihm so genannten drei anthropologischen Grundgesetze der natürlichen Künst­
lichkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit und des utopischen Standorts ableitet
und der im Wechselverhältnis mit dem geschichtsphilosophisch orientierten Prin-
zip der Unergründlichkeit des Menschen steht.
Daran anschließend widmet sich das 4. Kapitel auf literaturanalytischer Ebene
der genaueren Analyse der New York Trilogy Paul Austers aus den Perspektiven
Philosophischer und literarischer Anthropologie. Zum einen wird dabei angesichts
einer Vielzahl jeweils gleichgerichteter Analysen, die vor allem in den Modi des
Dekonstruktivismus operieren und daher immer wieder die Auflösung des litera-
rischen Subjekts konstatieren, eine alternative Perspektivierung und Interpretation
des Werks vorgeschlagen. Zum anderen werden hierbei verschiedene Aspekte
untersucht, die die anthropologische und narrative Selbstbezugnahme beeinflussen
und sowohl das Werk in seiner spezifischen Gestalt als auch das in und mit ihm
erzeugte und vermittelte Menschenbild prägen. Die Interpretation der Romane
und des Schreibens Austers bildet dabei das zentrale und vermittelnde Element zur
anvisierten anthropologisch orientierten Erzähltheorie. Verweist Auster mit seinen
Texten doch sowohl auf die Möglichkeiten und Grenzen als auch Verfahren und
Funktionen des (Selbst-)Erzählens und bietet somit ein anschauliches Beispiel, das
paradigmatisch auch für andere Kontexte des alltagsweltlichen Erzählens (insofern
dieses u. a. in den Texten selbst anhand schreibender Protagonisten immer wieder
8 1 Einleitung

gestaltet und reflektiert wird) wie auch literarischen Schreibens (insofern dieses
u. a. in der Forschung als stellvertretend für weitere Werke moderner und post-
moderner Literatur gilt) stehen kann.
Der anvisierte Ansatz einer anthropologisch orientierten Erzähltheorie wird im
5. Kapitel in Auseinandersetzung mit der Subjektivitäts- und Erzähltheorie Paul
Ricœurs erarbeitet. Es verschränkt die philosophisch-systematische, literatur-
theoretische und literaturanalytische Ebene der Argumentation ineinander. Dabei
geht es vor allem um das Verhältnis der literarischen Fiktion zur (Un)Bestimm-
barkeit der Identität von Mensch und Person. Paul Ricœurs Begriff der narrativen
Identität und das damit verbundene Konzept der dreifachen Mimesis bieten ein
Analyseinstrumentarium, mit dessen Hilfe der Prozess der Konstituierung perso-
naler Identität in und durch Literatur vor dem Hintergrund der anthropologischen
Unergründlichkeit bzw. exzentrischen Positionalität genauer veranschaulicht wird.
Denn über den Umweg (literarischer) Erzählungen stellt der Mensch ein Selbst-
verhältnis her, das verschiedene Formen – etwa: Selbstfindung, Selbsterfindung
und Selbstbestimmung – annehmen und dadurch die eigene Existenzweise prägen
kann. Exemplarisch zeigt sich auch dies in den Romanen Austers.
Im 6. Kapitel werden die erarbeiteten Interpretationsansätze auf literatur-
analytischer Ebene anhand von drei Beispielanalysen einerseits überprüft und
andererseits durch die Verbindung mit aktuellen literaturtheoretischen und
anthropologischen Fragestellungen weiter spezifiziert. Dies soll – zumindest
ausschnitthaft und probeweise – ihre Übertragbarkeit auf und Anwendbarkeit
in anderen literarischen Genres und literaturwissenschaftlichen Kontexten vor
Augen führen. Quasi leitmotivisch können hierfür die nur in vermeintlich para-
doxer Weise formulierten drei anthropologischen Grundgesetze Plessners jeweils
wie Sonden fungieren, mit denen sich gegenwärtige Formen des literarischen
Erzählens vor allem hinsichtlich ihrer impliziten und expliziten Anthropologien
erkunden lassen. Dafür werden in explorativer Weise die drei für das mensch-
liche Selbstbild je zentralen Koordinaten Zeit, Raum und Selbst in den jeweiligen
narrativen Fassungen der Texte thematisiert. Am Beispiel von Christian Krachts
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Dietmar Daths Die
Abschaffung der Arten geht es vor dem Hintergrund des utopischen Standorts des
Menschen um aktuelle Wiederaufnahmen utopisch-dystopischen Schreibens und
die damit verbundenen anthropologischen Grundlagen des Utopischen sowie um
die Grenzbestimmungen und -verwischungen des Menschen, die insbesondere im
Kontext neuer technischer Entwicklungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse
imaginär verhandelt werden und die Frage nach den Formen und Weisen eines
potenziellen zukünftigen Menschseins stellen. Am Beispiel von Gary Shteyngarts
The Russian Debutante’s Handbook, Bruno Schulz’ Die Zimtläden und Jonathan
Safran Foers Tree of Codes wird die erarbeitete anthropologisch orientierte Erzähl-
theorie vor dem Hintergrund der vermittelten Unmittelbarkeit des Menschen auf
das literaturtheoretische Paradigma Raum und Erzählung ausgeweitet und über-
tragen, das sich im Kontext zunehmend urbanisierter Gesellschaften insbesondere
1 Einleitung 9

im Medium des Stadtromans erkunden lässt und die Frage nach den anthropo-
logischen Relationen des Städtischen wie auch der narrativen Orientierung und
Positionierung des (literarischen) Subjekts in bestimmten Räumen stellt. Am Bei-
spiel von Felicitas Hoppes Hoppe und Péter Esterházys Harmonia Cælestis wer-
den aktuelle literarische Formen des Erzählens der eigenen Lebensgeschichte vor
dem Hintergrund der natürlichen Künstlichkeit des Menschen thematisiert und
hinsichtlich der mit ihnen konstruierten und angeeigneten narrativen Identität
reflektiert, die insbesondere auch noch einmal nach den Möglichkeiten und Gren-
zen sowie Verfahren und Funktionen des Selbsterzählens in synchroner und dia-
chroner Perspektive zu Beginn des 21. Jahrhunderts fragt.
Im abschließenden 7. Kapitel soll ein knappes Fazit gezogen und ein weiter-
gehender Ausblick gewagt werden. Diskutiert wird dabei anhand des Begriffs des
exzentrischen Erzählens eine gewisse Verschiebung der Blickrichtung, der zufolge
das (literarische) Erzählen nicht nur Unergründliches aufnimmt und bearbeitet,
sondern auch erzeugt und vermittelt – und damit dem Menschen möglicherweise
sowohl theoretisch als auch praktisch eine adäquate Form der natürlich-künst-
lichen Verobjektivierung bietet.
Den Ausgangspunkt und das Gravitationszentrum der Untersuchung bildet
die Philosophische Anthropologie Plessners. Sie hat in den letzten Jahren und
Jahrzehnten nicht nur anhand einer Vielzahl von Untersuchungen eine Wieder-
kehr in die philosophischen Diskussionen gefeiert, sondern mittlerweile auch
Eingang gefunden in aktuelle Debatten der Soziologie (z. B. Lindemann 2002,
2006 und 2009, Block 2016), Ethnologie (z. B. Kämpf 2003), politischen Theo-
rie (z. B. Richter 2005), Pädagogik (z. B. Kubitza 2005), Sportwissenschaft (z. B.
Schürmann 2014), Theater- und Tanzwissenschaft (z. B. Rapp 1993, Jackob/
Röttger 2009, Denana 2014), Theologie (z. B. Benk 1987, Schirrmacher 2000,
Drobe 2016), Kommunikationswissenschaft (z. B. Loenhoff 2008) und Archi-
tekturtheorie (z. B. Fischer 2004 und 2006b, Delitz 2008, 2009 und 2010). In
der literaturwissenschaftlichen Forschung finden sich demgegenüber nur einige
wenige Arbeiten, die die Anthropologie Plessners thematisieren (Iser 1991,
Lethen 1994, Riedel 2014 und 2017). Allerdings geschieht dies häufig in ledig-
lich ausschnitthafter Weise. Es gibt keine systematisch und/oder methodologisch
angelegte Untersuchung, die die natur-, sozial- und geschichtsphilosophischen
Aspekte der Philosophischen Anthropologie Plessners in mehr oder minder
umfassender Weise aus literaturwissenschaftlicher Perspektive thematisiert oder
auf literaturwissenschaftliche Forschungen und Fragestellungen überträgt. Damit
wird jedoch auch ein gewisses Potenzial für die literaturtheoretische und -ana-
lytische Forschung verschenkt. Dies soll aus den drei Forschungsperspektiven
literarischer Anthropologie gezeigt werden. Mit ihnen können die zentralen
Begrifflichkeiten und Denkfiguren Plessners in die literaturwissenschaftliche
Diskussion eingebracht werden. Die dabei angestellten literaturwissenschaft-
lichen Überlegungen sollen dann auch bestenfalls der weiteren Interpretation der
Anthropologie Plessners dienen. Denn mit ihnen kann, gewissermaßen in einer Art
Gedankenexperiment, vielleicht auch ein ergänzender und ausdifferenzierender
10 1 Einleitung

Beitrag zur Ästhetik Plessners geleistet werden,2 der zugleich auch einen Auf-
schlusswert für das umfassende anthropologische Denken besitzt; ergänzend und
erweiternd insofern, als es um eine imaginierte Leerstelle in der Philosophischen
Anthropologie Plessners geht: Nämlich um die Frage nach der theoretischen und
praktischen Relevanz des (literarischen) Erzählens im Prozess des menschlichen
Selbstverstehens und der menschlichen Selbstbestimmung. Oder kurz gesagt: Um
die Stellung, die das (literarische) Erzählen in der Anthropologie Plessners mög-
licherweise hätte einnehmen können.3

2Wobei diese Ästhetik in der hier verfolgten Untersuchung allerdings, das muss betont wer-
den, im engeren Sinne gefasst wird; und zwar in Abgrenzung zur Aisthetik, der Lehre von den
Sinneswahrnehmungen (die sich auch im Werk Plessners, etwa in Die Einheit der Sinne aus dem
Jahr 1923, findet). Dabei geht die vorliegende Arbeit zunächst einmal von der Beobachtung aus,
dass ästhetische Fragestellungen im Generellen in der Forschungsliteratur zur Philosophischen
Anthropologie Plessners bisher „weitgehend ein Schattendasein fristen“ (Hog 2015: 6). Dies
liege auch daran, so wird immer wieder betont, dass Plessner selbst keine explizite oder syste-
matisch ausgearbeitete Ästhetik vorgelegt habe (Schmidt 1997: 50, Hog 2015: 17). Dennoch
finden sich diesbezüglich Ausführungen und Rekonstruktionen unter anderem bei Schmidt
(1997), Rehberg (2007), Fischer (2007 und 2015) und Hog (2015); allerdings jeweils ohne
explizite Bezugnahme auf die Funktionen und Verfahrensweisen des (literarischen) Erzählens
aus anthropologischer Perspektive. Das ist insofern auch nicht verwunderlich, da das literarische
Erzählen von Plessner auch nicht systematisch umfassend thematisiert wurde.
3Dass solch ein ästhetisch orientiertes Gedankenexperiment bestenfalls auch die Systematiken

und Denkbewegungen der Anthropologie Plessners weiter konturieren kann, wird von Joachim
Fischer (2007: 241) hervorgehoben.
Die Philosophische Anthropologie
Plessners, die Subjektivitätstheorie 2
Ricœurs und die literarische
Anthropologie – Ansatzpunkte,
Ziele und Methoden

Wenn man die Kunst nicht entbehren kann, so offensichtlich


deshalb, weil durch sie eine Selbstauslegung des Menschen
geschieht. Versteht man die anthropologische Dimension der
Literatur in diesem Sinne, dann gilt es, von vornherein die
axiomatische Bestimmung des Menschen zu verabschieden,
die in den verschiedenen Richtungen der Anthropologie
vorausgesetzt sind
Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre

1 Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners

Plessners Ziel ist die Fundierung und Ausarbeitung einer umfassenden Anthropo-
logie. Sie soll methodisch und lebenspraktisch den Menschen sowohl als Natur-
wesen wie auch als Geistwesen begreifen – und zwar als ein Wesen, das beide
Aspekte in sich vereint und aufeinander bezieht:

Mit einem Wort: will man den Menschen, so wie er lebt und sich versteht, als sinn-
lich-sittliches Wesen in Einer, d.  h. der menschlichen Existenz entsprechenden
Erfahrungsstellung, welche ‚Natur‘ und ‚Geist‘ umspannt, begreifen, so muß man auch
die Mittel dazu schaffen. (Stufen 25)

Dafür muss diese Anthropologie in solch einer universellen Weise verfasst werden,
dass sie zweierlei Anforderungen zu erfüllen vermag: Einerseits soll sie die unter-
schiedlichsten kulturell-historisch bereits realisierten und auch zukünftig realisier-
baren bzw. möglichen Lebensformen des Menschen sowohl auf synchroner als
auch diachroner Ebene verstehbar machen; andererseits soll sie die verschiedenen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 11


M. Weiland, Mensch und Erzählung, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World
Literature 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_2
12 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Einzelwissenschaften, die sich aus ihren je eigenen Perspektiven und Erkenntnis-


interessen mit dem Menschen befassen, in sich integrieren.1
In dem damit verbundenen Anspruch, die Vielfalt menschlicher Lebensformen
und Verhaltensmöglichkeiten zu erfassen, verfährt Plessner weder rein empi-
risch noch rein apriorisch, sondern ist bestrebt, Empirismus und Apriorismus mit-
einander zu verbinden (vgl. Hammer 1967: 151, Kusmierz 2002: 106 ff.). Dabei
ist mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen einer philosophischen Theorie
vom Menschen und den Einzelwissenschaften vom Menschen ein allgemeines und
grundlegendes Problem angesprochen. Auf der einen Seite wird der Anthropo-
logie ein fundamentaler – die Einzelwissenschaften begründender – Status ein-
geräumt. Auf der anderen Seite soll Anthropologie jedoch lediglich reaktiv – die
einzelwissenschaftlichen Ergebnisse verarbeitend – verfahren (vgl. Habermas
1958: 20, welcher Letzteres vertritt). Eine ausführliche Methodendiskussion Pless-
ners findet sich unter anderem in Macht und menschliche Natur (151–154; vgl.
im Folgenden auch Hammer 1967: 32–38). Gegen ein rein empirisches Verfahren
spricht ihm zufolge v. a. die Tatsache, dass eine auf reinem Erfahrungswissen
beruhende Wesensbestimmung einen Widerspruch in sich birgt. Denn als ‚Wesen
einer Sache‘ wird gerade das bestimmt, was einer konkreten Sache als Konstantes
inmitten aller erfahrbaren Veränderlichkeiten zugrunde liegt. Als dasjenige, was der
Erfahrung zugrunde liegt, kann es aber von der Erfahrung selbst gar nicht erfasst

1Max Scheler (1947: 9 f.) konstatiert als Ausgangsstellung der Philosophischen Anthropo-

logie ein doppeltes Problem: Zum einen konkurrierten drei Ideen- und Traditionskreise – ein
theologischer, ein naturwissenschaftlicher und ein philosophischer – um die Vorherrschaft der
Bestimmung des Menschen miteinander. Zum anderen verdeckten die unterschiedlichen sich mit
dem Menschen auseinandersetzenden Einzelwissenschaften mehr das Wesen des Menschen, als
dass sie es erhellten. Demzufolge sei sich der Mensch zu keiner anderen Zeit der Geschichte
selbst so problematisch geworden wie im 20. Jahrhundert: „So besitzen wir denn eine natur-
wissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht
umeinander kümmern – eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht“ (ebd.).
Diesem Befund schließt sich auch Ernst Cassirer an: Weder bestehe eine Einheit hinsichtlich der
für den Menschen zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen noch hinsichtlich einer Methodik,
die das aus unterschiedlichen Perspektiven gesammelte Wissen über den Menschen zu ordnen
vermag (Cassirer 2007: 44 ff., vgl. Paetzold 1995: 199). Ganz folgerichtig gibt Cassirer daher
auch dem ersten Kapitel in seinem Versuch über den Menschen den Titel „Die Krise der mensch-
lichen Selbsterkenntnis“. Obgleich sich die Anthropologie Plessners von der Schelers und Cas-
sirers in einigen Aspekten grundlegend unterscheidet, sieht sie sich doch ebenfalls mit dieser
Ausgangslage konfrontiert. So verweist Plessner in Macht und menschliche Natur (1931) auf
die Problematik, mit der sich eine universelle Anthropologie – die das „Psychische ebenso wie
das Geistige, das Individuelle ebenso wie das Kollektive, das in einem beliebigen Zeitquerschnitt
Koexistierende ebenso wie das Geschichtliche“ (Macht 147) zu umfassen sucht – angesichts der
zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung in Anthropologien bzw. anthropologisch
orientierte Disziplinen sowie deren rasant anwachsende und sich überbietende Wissensmengen
konfrontiert sieht: „Denn wie dürfte es heute im Zeitalter spezialistisch entwickelter Person- und
Völkerpsychologie, Ethnologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft, von allen biologischen
und medizinischen Fächern ganz abgesehen, noch möglich sein, zu so etwas wie einer Universal-
erkenntnis den Menschen durchzudringen? Wie dürften wir hier, wo alles im Fluß ist, auf irgend-
eine bleibende Synthese hoffen, die nicht schon nach wenigen Jahren überholt ist?“ (ebd.).
1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 13

und dementsprechend auch nicht aus der Erfahrung heraus bestimmt werden.
Darüber hinaus ist die isolierende, rein quantitativ messende und verifizierende
Methode der Erkenntnisgewinnung empirischer Einzelwissenschaften zwar auf die
anorganischen Gegenstände der Physik anwendbar, verfehlt jedoch notwendiger-
weise die Gegenstände des Lebens.2 Gegen ein rein apriorisches Verfahren spricht
zweierlei: Einerseits wäre das rein apriorische Vorgehen nicht in der Lage, die Ent-
stehung der überzeitlichen Welt aus dem zeitlich gebundenen Leben zu verstehen.
Andererseits würde es zwangsläufig zu einer Absolutsetzung eines bestimmten
Menschenbildes und damit auch einer bestimmten historisch realisierten – oder
noch zu realisierenden – Lebensform führen. Was schließlich heißt, dass weder
ein bestimmtes Menschenbild unhistorisch zum eigentlichen erklärt werden darf
noch die Frage nach dem Wesen des Menschen durch eine Auflistung einzelner
empirisch-anthropologischer Merkmale beantwortet werden kann (vgl. Bielefeldt
1994: 85). Dennoch: Auch wenn Plessner ein einseitiges apriorisches Vorgehen
verwirft, so ist er doch darauf angewiesen, einige Aprioris – z. B. den die Grenz-
verhältnisse des Lebendigen beschreibenden Begriff der Positionalität oder das die
Untersuchung leitende Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen – zu setzen,
um seine Anthropologie als voraussetzungslose Wissenschaft etablieren zu kön-
nen (Hammer 1967: 34).3 So soll schließlich das menschliche Verhalten auf zwei
ineinander verschlungenen Wegen erklärt werden: a priori von einem einheitlichen

2Das heißt jedoch nicht, dass sich Plessner gegen die Einzelwissenschaften ausspricht. Vielmehr

ist er bestrebt, ihre Ergebnisse für die anthropologische Theoriebildung offen zu halten. In Die
Aufgabe der Philosophischen Anthropologie spricht Plessner auch explizit von einer „dreifachen
Verbundenheit der Philosophischen Anthropologie“ (GS VIII 36): mit der Philosophie, mit den
Einzelwissenschaften und der geschichtlichen Situation des Menschen. In Der Aussagewert einer
Philosophischen Anthropologie führt Plessner zusammenfassend aus: „So stellt sich eine Philo-
sophische Anthropologie als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften
Wesens der vollen Erfahrung in Natur und Geschichte. Ihr sind die Forschungen auf dem Gebiet
der Vor- und Frühgeschichte ebenso wichtig wie die über keimesgeschichtliche und kindliche
Entwicklung“ (GS VIII 398).
3Plessner bestimmt sein apriorisches Vorgehen im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen des

Organischen und der Mensch folgendermaßen: „Apriorisch darf eine solche Theorie nur in dem
Sinne heißen, daß sie den Bedingungen der Möglichkeit nachgeht, die erfüllt sein müssen, damit
ein bestimmter Sachverhalt unserer Erfahrung stattfinden kann. Apriorisch ist die Theorie also
nicht kraft ihres Ausgangspunktes, als wolle sie aus reinen Begriffen unter Beiziehung von Axio-
men ein deduktives System entwickeln, sondern nur kraft ihrer regressiven Methode, zu einem
Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen zu finden“ (Stufen xx). Anwendung findet
dieses Vorgehen dann bspw. in der schrittweisen Entwicklung einer apriorischen Theorie des
Organischen, die allerdings – das wird sich im folgenden Kapitel zeigen – auch für anorganische
Körper gültig ist: „Eine derartige apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr
Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grund-
sachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für
Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen. Die Wesensbestimmungen ergeben sich aus
einander, ordnen sich in Stufen, offenbaren sich als ein großer Zusammenhang, der damit wiede-
rum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird“ (Stufen 115).
14 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Hintergrund ausgehend, und a posteriori auf diesen Hintergrund zurückführend


(vgl. ebd., 153).4

Soll der Mensch als die schöpferische Durchbruchstelle seiner geistigen Welt, aus deren
Werten und Kategorien er sich, seine Mitwelt und Umwelt versteht und behandelt, sei-
nes eigenen Apriori also und seiner ihm je schon vorgezeichneten Denk-, Willens- und
Gefühlsmöglichkeiten verstanden werden, dann kann die Theorie, die eben dieses
Urhebertum begreiflich machen sucht […] weder empirisch noch apriorisch sein. Sie darf
sich wenigsten keiner der beiden Methodenprinzipien verschreiben. (Macht 160 f.)

Diesen Hintergrund bildet Plessners offen gehaltene Wesensbestimmung des


Menschen.5 Sie gewährt, dass sich der Mensch aus sich selbst heraus, aus seinen
Produkten materieller und nichtmaterieller Art, versteht und bestimmt.
Grundsätzlich bieten sich für Plessner zwei Möglichkeiten einer Bestimmung
des menschlichen Wesens: eine inhaltliche und eine formale (ebd., 154). Erstere
fragt dabei nach dem Was und fordert die Angabe konkreter Merkmale (ebd.).
Zweitere fragt nach dem Wie und fordert keine Angabe konkreter Merkmale
(ebd., 154 f.). Ihr geht es vielmehr darum, eine Struktur der menschlichen Lebens-
weise zu explizieren; eine Struktur, die breit und dynamisch genug sein soll, alle
denkbaren Modi des Menschseins als gleichrangige Realisierungsformen dieser
Struktur zu begreifen (ebd., 155). Das impliziert, dass diese Struktur mit unter-
schiedlichen konkreten Was-Bestimmungen gefüllt werden kann, allerdings ohne
diesen einen absolut gültigen Stellenwert einzuräumen. Auf eine ‚positivistisch‘
formulierte Definition des Menschen muss hingegen verzichtet werden. Denn
Plessner zufolge soll es dem Menschen selbst überlassen werden, „was er ist und
als was er sich auslegt“ (ebd., 159).
Von zentraler Bedeutung ist es daher, ein Prinzip zu finden, das erlaubt,
„das Menschsein in seiner denkbar größten Fülle an Möglichkeiten, in seiner
unbeherrschbaren Vieldeutigkeit […] so zum Ansatz zu bringen, dass die Gewagt-
heit eines derartigen Begriffes als Übernahme einer besonderen Verantwortung

4Siehe dazu auch die gut zusammenfassenden Worte Hammers: „Der Mensch hat so etwas wie
ein allgemeines Wesen, das sich in den mannigfachen Weisen geschichtlich erfahrbaren mensch-
lichen Selbstvollzugs auslegt. Darum kann die Methode der philosophischen Anthropologie
nicht rein empirisch sein. Der Mensch ist […] gerade im geschichtlichen Vollzug der Schöp-
fer seines eigenen Apriori; darum kann die Methode der philosophischen Anthropologie nicht
rein apriorisch sein“ (Hammer 1967: 37). Ein ähnlicher Sachverhalt lässt sich auch im Rahmen
einer Theorie personaler Identität geltend machen. Denn eine Identitätstheorie beinhaltet immer
sowohl eine universelle als auch eine kulturell-spezifische Dimension (Keupp u. a. 2006: 28).
Erstere kann dabei nur vor dem Hintergrund einer anthropologisch-philosophisch orientier-
ten Konzeption zum Vorschein kommen und muss dabei zugleich den spezifischen empirischen
Untersuchungen, wie sie bspw. von den Sozialwissenschaften vorgenommen werden, standhalten
können (ebd., 31) – und vice versa.
5Sie bildet für Plessner auch den wesentlichen Unterschied zwischen ‚anthropologischen Philo-

sophien‘ (die mit einer konkreten Wesensbestimmung des Menschen argumentieren) einerseits
und seiner ‚Philosophischen Anthropologie‘ andererseits (GS VIII 36 ff.; vgl. Krüger 2013: 124).
1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 15

vor der Geschichte verständlich wird“ (GS VIII 37). Hier tritt in Plessners Philo-
sophie das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen zutage. Der ursprünglich
für das verborgene Wesen Gottes benutzte Begriff der Unergründlichkeit wird
von Plessner auf den Menschen übertragen: Aus dem deus absconditus wird der
homo absconditus (GS VIII 365). Demzufolge soll der Mensch dadurch bestimmt
werden, dass er sich nicht eindeutig bestimmen lässt und immer wieder offen für
neue geschichtliche Horizonte und Möglichkeiten ist. Dies ist zunächst einmal
eine methodische Richtlinie bzw. Maxime – oder auch: eine Art von „Erkenntnis-
praxis“ (Krüger 2015: 17), die nicht nur auf die wissenschaftlich-anthropologische
Forschung, sondern auch auf die Alltagspraxis bezogen werden soll (Schneider
2015: 222); sind doch auf beiden Seiten einseitige theoretische Verabsolutierungen
mitsamt ihren praktischen Folgen zu vermeiden:

Es muß offenbleiben, um der Universalität des Blickes willen auf das menschliche Leben
in der Breite der Kulturen und Epochen, wessen der Mensch fähig ist. Darum rückt in den
Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen, und die Möglichkeit
zum Menschensein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst zum Menschen
macht, jenes menschliche Radikal, muß nach Maßgabe der Unergründlichkeit fallen. Nur
wenn und weil wir nicht wissen, wessen der Mensch noch fähig ist, hat es einen Sinn,
das leidvolle Leben auf dieser Erde zu bestehen. Die Unergründlichkeit seiner selbst ist
das um des Ernstes seiner Aufgaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines
Lebensverständnisses. (Macht 161, Hervorhebung im Original)6

Daher kann es in und mit der Philosophischen Anthropologie Plessners auch nicht
um die Bestimmung und Festlegung einer unwandelbaren menschlichen Natur
gehen (vgl. Gamm 2005: 202). Die Unergründlichkeit ist auch nicht etwa als eine
bestimmte vorgeschichtliche und ursprüngliche Verfassung des Menschen zu ver-
stehen (Kämpf 2006: 247). Es handelt sich vielmehr um eine Sichtweise unter
anderen – je wieder miteinander konkurrierenden – auf den Menschen. Dadurch
kommt der Unergründlichkeit selbst erst einmal der Status einer methodisch
orientierten und wohlüberlegten (Plessner spricht immer wieder vom „Ernst“
der Sache)7 Setzung durch den Menschen zu, die nicht notwendigerweise auch
eine Aussage über bestimmte inhaltliche Bestimmungen des Menschseins ver-
mittels der Feststellbarkeit oder Nicht-Feststellbarkeit bestimmter Eigenschaften
impliziert oder expliziert: Es geht nicht um eine bestimmte Eigenschaft oder ein

6Eine kurze und rein formale Anmerkung: Im Folgenden werden Hervorhebungen in Original-
zitaten nicht mehr gesondert gekennzeichnet. Insofern nicht extra angemerkt, sind etwaige
Hervorhebungen immer Teil des zitierten Textes.
7Dieser Ernst ergibt sich auch aus den ethischen und politischen Schlussfolgerungen, die eine

Bestimmung des Menschen nach sich ziehen. So schreibt Plessner im Jahr 1931 in Macht und
menschliche Natur: „Denn der Begriff des Menschen ist nichts anderes als das ‚Mittel‘, durch
welches und in welchem jene wertdemokratische Gleichstellung aller Kulturen in ihrer Rück-
beziehung auf einen schöpferischen Lebensgrund vollzogen wird“ (Macht 186). Damit ver-
bunden ist dann auch der Verzicht auf die Verabsolutierung und Bevorzugung eines bestimmten
kulturellen Werte- und Kategoriensystems (ebd., 185 f.).
16 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Bündel von Eigenschaften, die als unergründlich zu bezeichnen sind (Schnei-


der 2015: 222) – sei es aus dem Grund, dass sie selbst das Prädikat ‚unergründ-
lich‘ tragen (und also unergründlich sind), oder sei es aus dem Grund, dass sie
weder sinnlich noch verstandesmäßig erkannt werden können (und dement-
sprechend als „unergründlich“ gelten).8 Die Unergründlichkeit und Unerschöpf-
lichkeit liegt dabei nicht einfach in der materiellen Beschaffenheit des jeweiligen
Gegenstands,9 sondern vielmehr in der verstehenden Blickrichtung auf ihn bzw.
Haltung zu ihm (Macht 181). Doch ist mit dieser Maxime bzw. Setzung zugleich
auch ein Aspekt der Selbstbestimmtheit verbunden. Plessner führt dazu im Kontext
des Prinzips der Unergründlichkeit aus: „Wir müssen ihn [den Menschen, M.W.]
nicht so begreifen, aber wir können es“ (ebd., 148). Wobei immer zu bedenken
ist, dass das Kriterium für die Richtigkeit jeder wie auch immer gearteten Wesens-
aussage bzw. Wesensfeststellung dem Menschen selbst überantwortet ist (ebd.,
191). Dabei ist mit der Anerkennung der eigenen Unergründlichkeit der Ausgangs-
punkt dafür geschaffen, dass sich der Mensch als verantwortlicher Schöpfer seiner
Welt und seiner Geschichte (mitsamt den ihnen entgegenstehenden Transzenden-
talien) sehen und zugleich die eigene Kultur wie auch das eigene Menschenbild
in Relation zu anderen Kulturen und Menschenbildern begreifen kann. Damit
ist eine Offenheit der Bestimmung in zwei Richtungen gesichert: Weder kann
es zu einer Festlegung durch die Vergangenheit zulasten möglicher zukünftiger
Menschenbilder kommen (vgl. Kämpf 2006: 247, Krüger 2001: 273), noch wer-
den vergangene Menschenbilder durch zukünftige Bestimmungen für null und
nichtig erklärt. Gerade daraus ergibt sich dann auch das kritische Potenzial des
Prinzips der Unergründlichkeit, das jede theoretische Festlegung verneint und die

8Schneider (2015: 223) führt hier auch sprachanalytische Überlegungen mit an, nach denen zu
vermuten ist, „dass Plessner mit Bedacht substantivische Formulierungen vermeidet, etwa einen
Ausdruck wie das Unergründliche am Menschen, mit dem der falsche Eindruck erzeugt werden
könnte, er bezöge sich auf spezifische Merkmale der menschlichen Natur, die zwar so weit ver-
ständlich sein müssten, dass die Zielsetzung eines Ergründungsprojekts nachvollziehbar wäre,
die aber zugleich dafür verantwortlich wären, dass dieses Projekt unmöglich realisiert werden
kann“.
9Demgegenüber fasst Bek (2011) – trotz der Tatsache, dass er sich zuvor gegen jegliche konkrete

apriorische Wesensbestimmung des Menschen ausgesprochen hat (ebd., 138 ff.) – das Prinzip der
Unergründlichkeit als eine konkrete Bestimmung des Menschen auf: „Damit meint Unergründ-
lichkeit, was Sache ist, gedacht als ein Prinzip des Was-Seins des Menschen und nicht nur, dass
der Mensch so betrachtet werden soll“ (ebd., 153). Und in der Tat lässt sich in der plessnerschen
Fassung des Konzepts auch eine Verschiebung feststellen. Ist der Begriff in der geschichtsphilo-
sophischen Schrift Macht und menschliche Natur vor allem als methodologisch-regulatives Prin-
zip gebraucht, so finden sich im späteren Aufsatz Homo absconditus (1969) Wendungen, die auf
eine spezifische Seinsweise abzielen. So spricht Plessner bspw. sowohl von der „Einsicht in die
Unergründlichkeit des Menschen“ (ebd., 366) als auch davon, dass der Begriff „die Natur des
Menschen“ treffe (ebd., 365): Denn die menschliche Natur „lässt sich nur als eine von ihrer bio-
logischen Basis jeweils begrenzte und ermöglichende Lebensweise fassen, die den Menschen
weiterer festlegender Bestimmung entzieht“ (ebd.).
1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 17

Bestimmung des Menschen damit sowohl den „Einseitigkeiten der Spezialwissen-


schaften“ (GS VIII 134) als auch den „Einseitigkeiten der Gesellschaft“ (ebd.) ent-
zieht.10
Die formale Bestimmung des Menschen ist einer doppelten Anforderung aus-
gesetzt: einerseits sollte sie eine Absicherung des Prinzips der Unergründlichkeit
liefern, andererseits dessen Ausdruck sein. Sie muss also explizieren können,
warum der Mensch als prinzipiell unergründlich fokussiert und bestimmt werden
kann und zugleich in ihren Begrifflichkeiten dieser Unergründlichkeit Rechnung
tragen. Die Bestimmungen und Kategorien, mit denen das Wesen des Men-
schen gefasst bzw. verständlich gemacht werden soll, sind daher nicht in einer
begrenzend-festlegenden, sondern dynamisch-offenen Weise zu bilden. Sie sind
Ausdruck der scheinbar paradoxen Problemstellung, dass etwas bestimmt wird,
was nicht genau bestimmt werden kann – oder besser: soll. Denn Plessner geht
es auch um die ‚praktischen‘ Folgen der begrifflichen Bestimmung dessen,
was der Mensch sei. In seiner 1936 gehaltenen Antrittsvorlesung in Groningen
schreibt er:

Die eigentümliche Verbundenheit mit der praktischen Situation schließlich verbietet der
Philosophischen Anthropologie, den Menschen, wenn auch in der Fülle ‚aller‘ seiner
Seinsdimensionen, auf das hin, was er ‚eigentlich‘ sein kann und soll, zu formulieren oder
definieren. Strukturformeln dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen
aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen. (GS VIII 39)

Im Zuge dessen wird bereits in den Stufen des Organischen der traditionelle
Begriffsschatz der Einzelwissenschaften verworfen. Zum einen nehmen die einzel-
wissenschaftlichen Forschungen notwendigerweise eine bestimmte Reduktion an
den von ihnen untersuchten Objekten vor, die in ihren Begriffen zum Ausdruck
kommt (Stufen 25). Zum anderen bildet die Art und Weise des begrifflichen
Ansprechens eines Gegenstands zugleich auch eine Vorentscheidung darüber, was
von dem Gegenstand gesehen werden kann (Macht 152). Da aber den jeweiligen

10In seiner Autobiographischen Einführung verweist Plessner selbst auf die primäre Funktion
der Kritik und Korrektur, die seiner Philosophischen Anthropologie zukommt: „Philosophisch
kommen wir nur weiter, wenn wir die anthropologische Reflexion als Korrektiv einsetzen. Wem
das zu wenig ist, und wer von der Anthropologie Anweisungen zum seligen oder auch nur zum
täglichen, allzu täglichen Leben erwartet, den muß sie enttäuschen“ (Plessner 2004a: 7). Diese
kritische Haltung der Unergründlichkeit gegenüber allen dogmatischen, naturalistischen oder
kulturalistischen Bestimmungen des Menschen wird in der Forschung immer wieder hervor-
gehoben. So schreibt etwa Gamm: „Sie verteidigt die Unausdeutbarkeit des Menschen gegen
alle Strategien einzelwissenschaftlicher Forschung, welche immer im Begriff stehen, ‚das ganze
Wesen endlicher vernünftiger Naturen‘ (Fichte) zu vereinseitigen und zu verdinglichen“ (Gamm
2005: 202). Ebenso spricht auch Kämpf die Funktion der „Kritik definitorischer und definitiver
Bestimmungen sowie einseitiger Festlegungen des Menschen“ (Kämpf 2005: 217) durch das
Prinzip der Unergründlichkeit an.
18 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Einzelwissenschaften immer ein bestimmtes und ausschnitthaftes Menschenbild –


in Konkurrenz zu jeweils anderen Menschenbildern – zugrunde liegt, so sind die
mit ihnen verbundenen Begrifflichkeiten auch Ausdruck der Vorentscheidung für
dieses jeweilige Menschenbild und machen letztendlich nur das sichtbar, was sie
schon wissen. Im naturwissenschaftlichen Fragen bzw. Forschen bspw. fällt für
Plessner die Garantie der Beantwortbarkeit und die tatsächliche Beantwortung
einer spezifischen Frage zusammen (Krüger 2015: 18); was nicht zuletzt an der
Art und Weise der (geschlossenen) Frage liegt: „Sie verschafft sich die Garantie
in der bewussten Einschränkung ihres Erkenntniszieles auf eindeutige Festlegung
ihrer Gegenstände nach den Prinzipien der Messung“ (Macht 180 f.). Dabei
ist das dadurch erzeugte Wissen selbst wiederum sowohl verdinglichendes als
auch ausschnitthaftes Wissen, da es seinen Gegenstand im Akt des begrifflichen
Ansprechens als einen Gegenstand von bestimmter – fester, statischer, bestimm-
barer o. Ä. – Qualität aus einer bestimmten Perspektive erscheinen lässt.11 So
schreibt Heinz Kimmerle mit Blick auf die verschiedenen anthropologisch orien-
tierten Wissenschaften (Biologie, Geschichte, Sprachwissenschaft, Psychologie,
Medizin u. a.):

Diese Wissenschaften machen den Menschen oder Aspekte des Menschen zu ihrem
Gegenstand (Objekt). Indem sie das tun, verdinglichen sie das Wesen des Menschen, das
in seinem Kern nichts Dingliches (objektiv Vorhandenes) ist. Das philosophische Reden
vom Menschen sucht diese Verdinglichung zu vermeiden, um dem Wesen des Menschen
besser gerecht zu werden. (Kimmerle 1986: 95)

Dementgegen geht es Plessner jedoch darum, den Menschen eben nicht in ver-
dinglichender und ausschnitthafter Weise als einen konkret und eineindeutig fass-
baren Gegenstand zu begreifen; v. a. auch bereits zu Beginn der anthropologischen
Untersuchung, da hier ihr weiterer Fortlauf in seinen Möglichkeiten und Grenzen
schon mitbestimmt wird.12
Plessner arbeitet in diesem Kontext auch an einer geisteswissenschaft-
lichen Etablierung der „offenen Frage“ (Macht 181), die „ins Unbekannte und

11In diesem Sinne ist die Philosophische Anthropologie auch nicht einfach eine zu den anderen
Wissenschaften vom Menschen hinzutretende Wissenschaft (Kämpf 2005: 217). Sie ist, so Pless-
ner in Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, vielmehr „die ständig kritische
Besinnung auf deren Grundlagen und Begrenzungen. Als eine derartige Besinnung auf sein eige-
nes Wesen entzieht sie dem Menschen der Vergegenständlichung und damit seiner Verfügbar-
machung für die Abstraktionen der Wissenschaften und der Gesellschaft“ (GS VIII 135).
12Er schreibt: „Wesentlich bleibt die durchgehende Tendenz nach einer Überwindung der fraktio-

nierenden Betrachtungsweise des Menschen in Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und


Soziologie; jener Betrachtungsweise, die zwar nicht immer in der neuzeitlichen Wissenschaft
geherrscht hat, aber stets wieder zur Herrschaft gelangte, und für die Descartes das Stichwort
gab; die den Menschen spezialistisch vergegenständlichte und über dieser Aufteilung in Seins-
gebiete die Lebenseinheit aus den Augen verlor“ (Stufen 37).
1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 19

Unergründbare“ (ebd.) – dabei aber zugleich „in die Sache selbst“ (ebd.) – zielt.13
Demzufolge gilt es, mitsamt einer anthropologischen Theorie ein neues Begriffs-
instrumentarium – „einen eigenen Begriffsapparat“ (Stufen 28) – zu entwickeln.14
Helmut Lethen (2008: 25) spricht diesbezüglich von „Plessners anti-szientifischem
Stil“. Dabei können die von Plessner geschaffenen Begrifflichkeiten15 – die von
ihm gesuchten „Mittel“ (Stufen 25) zur Durchführung des umfassenden anthropo-
logischen Programms – auch als poetische bzw. literarische Begrifflichkeiten
verstanden werden, die die Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit16 und Widersprüch-
lichkeit menschlicher Seinsweise und Erfahrung ausdrücken und verständlich

13Dabei will Plessner jedoch nicht das Prinzip der offenen Frage gegen das Prinzip der
geschlossenen Frage ausspielen; vielmehr haben beide Fragerichtungen ihre berechtigten Kon-
texte und können unter Umständen auch einander ergänzen und sich ineinander verschränken
(Krüger 2015: 24). Als Beispiel führt Krüger (ebd.) ein Zitat Plessners an, das expliziert, dass
sich gerade in der Entwicklung des Begriffs der exzentrischen Positionalität beide Frageformen
(hermeneutisches Verstehen und ontisch-ontologisches Erklären) ineinander verschränken
ohne einander abzulösen: „Exzentrische Position als Durchgegebenheit in das Andere seiner
Selbst im Kern des Selbst ist die offene Einheit der Verschränkung des hermeneutischen in den
ontisch-ontologischen Aspekt: der Möglichkeit, den Menschen zu verstehen, und der Möglich-
keit, ihn zu erklären, ohne die Grenzen der Verständlichkeit mit den Grenzen der Erklärbarkeit
zur Deckung bringen zu können“ (Macht 231).
14Dabei konzipiert Plessner die gewählten Begrifflichkeiten nicht nur gegenüber den Einzel-

wissenschaften, sondern auch gegenüber philosophiegeschichtlich konkurrierende Begriffe


(‚Ich‘, ‚Geist‘, ‚Seele‘ etc.), die ihm zufolge zwei Probleme aufweisen: zum einen seien sie auf-
grund ihrer langen Tradition und Begriffsverwendung grundsätzlich mehrdeutig, zum anderen
implizierten sie allzu häufig selbst wiederum eine bestimmte Präferenz bezüglich eines konkreten
Menschenbildes (vgl. GS VII 243). „Deshalb ist die Einführung eines neutralen, von jeder Deu-
tung menschlicher Wesentlichkeit und Eigentlichkeit sich zurückhaltenden Begriffs wie jenes der
‚exzentrischen Positionalität‘ mit Bedacht gewählt“ (ebd.).
15Arlt gibt in seiner kursorischen Aufzählung nur einen kurzen Überblick über die Begriffe und

Wendungen, mit denen Plessner die Situation des Menschen zu beschreiben versucht: „Wurzel-
losigkeit, Gleichgewichtslosigkeit, Unergründlichkeit, prinzipiell entfremdet; ortlos, zeitlos,
ins Nichts gestellt; nach Ausdruck drängen; in der zweideutigen Lage Ding unter Dingen und
absolute Mitte sein; ein Leben zu führen, das aufgegeben ist, will sagen, sich zu dem, was es
schon ist, erst machen muss; in der Geschichte eine Spur eigener Unrast und Produktivität zu
hinterlassen; ein sich selbst nicht ausschöpfbares Sein (homo absconditus) usw.“ (Arlt 2001:
118).
16Für Ebke (2012) bildet bspw. der Neologismus der Positionalität auch einen „Durchbruch“

(ebd., 88) und eine „semantische Raffinesse“ (ebd., 87); Letzteres vor allem deshalb, weil drei
konzeptionelle Aspekte begrifflich ineinandergeführt werden und ein Spannungsverhältnis
erzeugen: erstens das aktiv-vollziehende Moment der Positionsnahme bzw. -setzung des Leben-
digen aus sich selbst heraus, zweitens das passiv-erleidende Moment des Gesetzt- und Festgeleg-
twerdens durch Äußeres, drittens die doppelte Bezugnahme des Lebendigen einerseits auf andere
Positionen, an denen es nicht ist, und andererseits auf diejenige Position, an der es gerade ist.
(vgl. ebd.).
20 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

machen sollen.17 Nicht nur haben sie einen stark tropischen Charakter; ins-
besondere auch die systematisch zentralen Wendungen (man denke nur an die drei
anthropologischen Grundgesetze: natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittel-
barkeit und utopischer Standort) sind als Antonyme gekennzeichnet, die zwei ver-
meintlich kontradiktorische Begriffe miteinander verbinden, ohne sie miteinander
zu verschmelzen oder zu vereinheitlichen – und somit zugleich die in der mensch-
lichen Natur angelegte Spannung von Festlegung und Offenheit im Rahmen des
Prinzips der Unergründlichkeit zum Ausdruck bringen.18 Dadurch aber wirken sie
selbst wiederum auch als konstituierende Begriffe, die nicht nur eine bestimmte
Sache nachbilden, sondern – quasi folgerichtig zur offen gelassenen Definition des
Menschen – vorbilden: „Kategorien des Lebens sind also nicht statisch konzipierte
Wesensgesetze eines an sich wohl Dynamischen, sondern dynamische Konzeptio-
nen, d. h. geschichtliche Größen von geschichtsbildender und -leitender Macht“
(Macht 174).
Die Art und Weise des begrifflichen und konzeptionellen Ansprechens des
Menschen sowie die damit verbundene Herstellung von Selbst- und Fremdbildern
bildet zugleich auch einen möglichen Verknüpfungspunkt literarischer und Philo-
sophischer Anthropologie: „Denn gerade wenn der Mensch das Wesen ist, das sich
beständig selbst formt, so ist sein Selbstbild entscheidend – es gibt die Richtung
für seine Entwicklung vor“ (Pajević 2012: 13). Dabei konstatiert Plessner eine
direkte Verbindung zwischen der Existenzform des Menschen, seiner Selbstkon-
zipierung und seiner Geschichte: „Denn in dieser Eigentümlichkeit: zu existie-
ren –, geht er in die Geschichte ein, welche nur die ausgeführte Weise ist, in der
er über sich nachsinnt und von sich weiß“ (Stufen 31). Die Form wie auch der
Inhalt seiner verschiedenen Verobjektivierungsweisen, die sowohl wissenschaft-
liche Begriffsbestimmungen als auch kulturelle und künstlerische Gestaltungen
umfassen, wirken auf ihn selbst als Subjekt wieder zurück: „In der Weise, wie
sich der Mensch objektiviert, gestaltet er sich selbst um“, schreibt Kämpf (2001:
61) mit Blick auf die plessnersche Anthropologie. Selbstverständnis und Sein des
Menschen sind demzufolge ineinander verwoben (ebd.).
Eine Stütze des Prinzips der Unergründlichkeit sowie der Konzeption des Men-
schen als einer offenen Frage (Macht 189) lässt sich im Begriff der exzentrischen
Positionalität finden (siehe Kap. 3). Methodisch wird dieser Begriff nach zwei Rich-
tungen hin ausgeführt und überprüft: einer vertikalen und einer horizontalen. Auf der

17Dabei nehmen einige Interpreten eine kritische Haltung gegenüber diesem quasi-literarischen
Stil Plessners ein. So kritisiert z. B. Grünewald (1993: 271), dass Plessner „insbesondere dort,
wo der Leser dringend exakte Begriffe braucht, Metaphern, Bilder und präpositional über-
frachtete Termini“ benutze. Demgegenüber wird in der vorliegenden Arbeit die Meinung
vertreten, dass diese stilistische Besonderheit in einem kohärenten Verhältnis zum anthropo-
logischen Theorieansatz steht und mit ihm korrespondiert; ja, dass der anthropologische Ansatz
seine Stärke vielmehr auch aus der Beschaffenheit seiner sprachlichen Begriffe erhält.
18Ebke (2012: 95) fasst Plessner auch als Denker der Verschränkung, dem es darum geht,

„zueinander gegenläufige, einander unterbrechende Momente aufzuweisen, die bei aller Wider-
sprüchlichkeit gleichwohl als Aspekte einer dinglichen Einheit bestehen“.
1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 21

horizontalen Ebene wird der Mensch als Kulturwesen in den Blick genommen (Stu-
fen 32). Hier stellt sich nicht nur die Frage nach der Vergleichbarkeit menschlicher
Lebensweisen untereinander (Krüger 2006: 199). Es geht auch darum, einen Nach-
weis zu erbringen, inwieweit Art und Form menschlicher Verobjektivierungen Aus-
kunft geben über die Struktur der menschlichen Lebensform in all ihrer möglichen
Breite und Tiefe (Stufen 32 f.). Auf der vertikalen Ebene wird der Mensch als Natur-
wesen in den Blick genommen (ebd., 36). Fragen konzentrieren sich hier v. a. auf
eine naturphilosophisch begründete Anthropologie (Pleger 1986: 23) im Vergleich zu
anderen Lebewesen (Krüger 2006: 199) – denn: „Ohne Philosophie der Natur keine
Philosophie des Menschen“ (Stufen 26).19 Dabei muss zugleich expliziert werden,
warum die biologische Basis des Menschen so beschaffen ist, dass sie ihn weiterer
festlegender Bestimmungen entzieht (GS VIII 365).
Es ist jedoch nicht so, dass auf beiden Ebenen getrennt voneinander unter-
schiedliche Methoden zum Einsatz kämen. Denn schließlich sollte auch hier die
von Plessner behauptete Verschränkung von innen und außen, Geist und Kör-
per, Leib und Seele nachgewiesen werden: „Versinnlichung des Geistes, Ver-
geistigung der Sinne wird das Thema der Analyse“ (Stufen 33). Daher ist es auch
methodisch geboten, an einer Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaft zu
arbeiten (ebd., 20). Die naturphilosophischen Ausführungen dienen dazu, einen
Verstehensansatz in Bezug auf die körperliche Welt zu liefern, „aus der sich die
geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie
arbeitet, auf die sie zurückwirkt“ (ebd., 26). Das bedeutet für Plessner dann auch,
dass eine naturphilosophische Grundlegung geisteswissenschaftlicher Frage- und
Problemstellungen anzugehen ist: „Infolgedessen erzwingt der Gedanke einer
Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Erfahrung die Aufrollung von Proble-
men, die in der sinnlich-stoffliche, körperliche Sphäre des ‚Lebens‘ hineinreichen,
erzwingt also eine Philosophie der Natur, in ihrem weitesten und ursprünglichsten
Sinn verstanden“ (ebd., 24). Dabei kann jedoch nicht mit rein naturwissenschaft-
lichem Instrumentarium gearbeitet werden, da diesem in seinem Bezug auf bloß
mechanische Gesetzmäßigkeiten gerade das verborgen bleibt, was die phänome-
nale Wirklichkeit des Lebewesens auszeichnet (ebd.). Dem naturwissenschaft-
lichen Ansatz mag es zwar gelingen, die Bewegung von Körpern zu erklären, das
Verständnis der Lebenswirklichkeit des lebendigen Leibes allerdings (als ein Kör-
per) entgeht ihm (ebd., 35). Daher geht es Plessner auch um „eine Philosophie der
Natur im Unterschied (aber nicht in Feindschaft) zur Naturwissenschaft“ (ebd., 26).

19Plessner verfolgt damit einem ähnlichen Denkansatz wie Max Scheler. Dieser schreibt in Die
Stellung des Menschen im Kosmos: „Die Sonderstellung des Menschen kann uns erst deutlich
werden, wenn wir den gesamten Aufbau der biophysischen Welt in Augenschein nehmen“ (Sche-
ler 1947: 11). Auch aufgrund dieser – oberflächlich betrachteten – Gemeinsamkeit wird Pless-
ner mit einem Plagiatsvorwurf von Seiten Schelers konfrontiert (vgl. Fischer 2006a: 324 f.); ein
Vorwurf, der sich bei näherer Betrachtung zwar nicht aufrechterhalten lässt, doch – neben Pless-
ners Emigration aufgrund seiner jüdischen Wurzeln und der Oppositionsstellung seines Denkens
gegenüber der wirkmächtigen Philosophie Heideggers – einen weiteren Faktor bildet, der der
Rezeption des plessnerschen Werks zunächst einmal entgegenwirkte (vgl. zur Rezeption auch
Krüger 2009b: 65 f.).
22 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Als ein möglicher Lösungsweg hinsichtlich der Frage, wie sowohl die geis-
tige als auch die natürliche Welt in ein und derselben Erfahrungsrichtung zugäng-
lich gemacht werden können (ebd., 21), erscheint Plessner eine Kombination aus
hermeneutischer und phänomenologischer Methodik (Lindemann 2006: 46) mit
Bezug zu naturphilosophischer Erörterung. Dabei soll dieser Methodenpluralismus
auch gewährleisten, dass die anthropologische Theorie breit genug angelegt wer-
den kann, um den Menschen als Subjekt-Objekt der Natur und Subjekt-Objekt der
Kultur zu erfassen (Stufen 32, vgl. Pietrowicz 1992: 303 f.). Die Perspektive, aus
der der Mensch in den Blick genommen wird, ist daher immer eine doppelte und
ineinander verschränkte: „Nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt
seines Bewußtseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d. h. so, wie
er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist“ (Stufen 31). Der Weg dorthin verweist
auf die grundlegende methodische Programmatik der Philosophischen Anthropo-
logie Plessners und bietet zugleich eine knappe Zusammenfassung der einzelnen
argumentativen Etappen:

Die Etappen auf diesem Wege sind: Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Her-
meneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durch-
führung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und
seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm
weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription. (Ebd.)

Phänomenologische Deskription als Methode der vorerfahrungsmäßigen und


strukturanalytischen Beschreibung dient hierbei als Werkzeug, eine Natur-
philosophie zu entwickeln, ohne dabei auf die im rein empirischen Bereich
angesiedelten Begriffe der Naturwissenschaft zurückgreifen zu müssen (ebd.,
28, vgl. auch Pietrowicz 1992: 308 f.).20 Plessner geht es um „eine Theorie
erscheinender Dinge“ (Ebke 2012: 50), die er selbst auch als eine „Rückkehr
zum Objekt“ (Stufen 31) bzw. „Wendung zum Objekt“ (ebd., 72) auffasst.21 Die
spezifische Erscheinungsweise des Objekts ermöglicht Rückschlüsse auf die
Konstitutionsform des wahrnehmenden Subjekts (Ebke 2012: 50). Bezüglich
der Explikation des Lebensbegriffs setzt Plessner daher nicht etwa beim Sub-
jekt an (und fragt, wie ein Bewusstsein beschaffen sein muss, damit ihm eine
Welt erscheint), sondern beim Objekt der Untersuchung (und fragt, wie etwas

20Großheim/Thies (2009: 208) zufolge bildet die Phänomenologie das wichtigste Gegenmodell
zur naturwissenschaftlichen Deutung des Menschen und dem damit verbundenen Reduktionis-
mus, welcher sich aktuell u. a. in den Debatten der Neurowissenschaft beobachten lässt. Darüber
hinaus bietet der phänomenologische Ansatz mit seinem „naiv-voraussetzungslosen“ Standpunkt
und seiner „Wendung zum Objekt“ für Plessner gerade deshalb einen „neutralen“ Boden, um den
fundamentalen Gegensatz von Leib und Seele überprüfen zu können, da er es ermöglicht, aus den
Bahnen traditioneller Erkenntnistheorie auszubrechen (Pietrowicz 1992: 310 ff.).
21Plessner stellt dabei, so Gesa Lindemann (2005: 85), „nicht das Subjekt als Bedingung der

Möglichkeit von Erkenntnis in den Mittelpunkt, sondern formuliert ein Primat des Objekts. Es
geht also um die Bedingungen, die auf der Seite des Objekts gegeben sein müssen, damit es als
Objekt mit diesen oder jenen Eigenschaften erkannt werden kann“.
1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 23

erscheinen muss, damit es als mit Bewusstsein begabt erscheint) (Lindemann


2005: 87, Lindemann 2006: 48): „Es soll so beobachtet werden, dass der Schwer-
punkt auf der Erscheinung des begegnenden Gegenübers liegt und nicht auf der
Selbstbeobachtung des wahrnehmenden Subjekts“ (Lindemann 2005: 85). Dabei
ist jedoch nicht nur zu beschreiben, wie lebendige Phänomene gegeben sind, son-
dern auch wie diese Phänomene verstanden werden (Krüger 2009a: 250). Die
Methoden und Gegenstandsbereiche der Phänomenologie und Hermeneutik wer-
den hierfür von Plessner ineinander verschränkt und miteinander ergänzt.22 Auf
der einen Seite betrachtet er im Anschluss an Husserl die Phänomenologie als
ein Mittel, das der geisteswissenschaftlichen Methode Diltheys noch fehle. Dem-
entsprechend ist auch der grundlegende Ansatz mit der phänomenologischen
Methode – als „Instrument zur Durchführung des Diltheyprogramms“ (Stufen
28) – zu ergänzen (Krüger 2006: 200). Wenn der Gesamtzusammenhang des geis-
tig-seelischen und physischen Geschehens erfasst werden soll, dann muss auch die
Untersuchung des menschlichen Ausdrucksverhaltens phänomenologisch ansetzen
(Pietrowicz 1992: 311 f.). Auf der anderen Seite wiederum soll die Phänomeno-
logie jedoch nicht rein deskriptiv beschreiben, sondern vielmehr zu einer
verstehenden Deutung der Phänomene gelangen (Hammer 1967: 48). Die Herme-
neutik, ursprünglich Theorie des Text-Verstehens, wird daher erweitert und sowohl
auf die Alltagspraxis als auch auf die Geschichte übertragen (vgl. Kämpf 2006:
239, Krüger 2006: 198). Aber sie kann und muss noch weiter gefasst und auf alle
Formen des leiblichen Verhaltens sowie auf alle möglichen Gegenstände mensch-
licher Verobjektivierungen – verstanden als Ausdrucksphänomene – bezogen wer-
den.23 Nicht allein auf den sprachlichen Ausdruck begrenzt, fragt die Hermeneutik
bei Plessner grundsätzlich nach der Möglichkeit menschlichen Selbstverstehens:

22Vergleiche auch Ebke (2012: 51): „Schon der methodische Initialschritt der Stufen, der
nicht in medias res lebendige Dinge beschreibt, sondern danach fragt, was in der Wahr-
nehmung überhaupt als ‚Ding‘ firmiert – schon dieser Initialschritt stellt einen phänomeno-
logisch-hermeneutischen Modus her, einen Modus des Wissens, unter dessen Bedingungen
es allererst möglich ist, bestimmte Dinge als lebendig wahrzunehmen und zu prädizieren.“ Zu
Plessners Verhältnis zur phänomenologischen Bewegung siehe genauer Krüger (2006: 201 ff.)
und Hammer (1967: 41–51).
23Den Weg dahin weist auch Dilthey (1990a: 318 f.): „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir

aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen, Verstehen […]. Wohl
sage ich: ich verstehe nicht, wie ich so handeln konnte, ja ich verstehe mich selbst nicht mehr.
Damit will ich aber sagen, daß eine Äußerung meines Wesens, die in die Sinnenwelt getreten ist,
mir wie die eines Fremden gegenübertritt und daß ich sie als eine solche nicht zu interpretieren
vermag, oder in dem anderen Falle, daß ich in einen Zustand geraten bin, den ich anstarre
wie einen fremden. Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich
gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen. Dies Verstehen reicht
von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet oder der Vernunftkritik. Aus Stei-
nen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebäuden, Worten und Schriften, aus Hand-
lungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns
und bedarf der Auslegung […]. Solches kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäu-
ßerungen nennen wir Auslegung oder Interpretation“.
24 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der
Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die
Geschichte lässt sich nur in Angriff nehmen – oder gar durchführen – auf Grund einer
Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks. Und dies ist wiederum nur möglich,
wenn man sich diesseits jeder spezialisierten Bearbeitung des Ausdruckslebens hält und
es in seiner Ursprünglichkeit, d. h. so wie es lebt und nicht so, wie es für die wissenschaft-
liche Beobachtung da ist, studiert. (Stufen 23)24

Plessner geht es hierbei auch um die Erschließung einer universellen anthropo-


logischen Ausdruckstheorie (Hog 2015: 29, Meuter 2006), die sowohl leib-
lich-sinnliche Phänomene25 als auch geistig-kulturelle Produkte zu umfassen
vermag und dabei dem sprachlichen Ausdrucksverhalten noch vorgelagert ist.
Der Begriff des Ausdrucks bildet somit ein grundlegendes Paradigma der
Philosophischen Anthropologie (Schloßberger 2008: 210) und eine der zentra-
len Kategorien Plessners (Lethen 2008: 27). Die Frage nach einer „Lehre vom
menschlichen Ausdruck“ (GS VII 213) zieht sich dabei durch das gesamte Werk
Plessners. Sie erscheint als eine Möglichkeit der Einsicht in die Grundverfassung
des Menschen. Anhand des Ausdrucksphänomens lässt sich die Struktur des
menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses verstehen (Schloßberger 2008: 212).
Denn der Ausdruck fungiert, so Plessner in Lachen und Weinen, als „ein Spiegel,
ja eine Offenbarung des Wesens des Menschen“ (GS VII 214), da eine Analyse
des Ausdrucksverhaltens Erkenntnisse über das Zusammenspiel des Menschen
mit seinem Körper ermöglicht (ebd.).26 Daher fordert Plessner als Forschungs-
programm auch, dass

24Plessner unterscheidet dabei drei Bereiche der Hermeneutik. Er fasst sie als „eine Wissen-
schaft des Ausdrucks, des Ausdrucksverstehens und der Verständnismöglichkeiten“ (Stufen 23,
vgl. dazu auch Krüger 2008: 124). Es geht hierbei also nicht um eine spezielle Hermeneutik,
wie sie sich bspw. jeweils in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften finden lässt, sondern
um eine allgemeine Hermeneutik, die die Präsuppositionen alltagsweltlicher Erfahrung wie auch
erfahrungswissenschaftlicher Anthropologien freilegen soll (Krüger 2008: 118–123). Durch die
damit verbundene, ja notwendige, naturphilosophische Fundierung geht sie schließlich weit über
den Ansatz Diltheys hinaus (Ebke 2012: 59), da Plessner die rein geisteswissenschaftliche Her-
meneutik in ihrer naturhaften Bedingtheit darstellt (ebd., 92): „Wiederum unter diesem Aspekt
einer universellen Wissenschaft vom Ausdruck erweist es sich als notwendig, die Probleme einer
philosophischen Anthropologie, einer Lehre vom Menschen und den Aufbaugesetzen seiner
Lebensexistenz aufzusuchen und zu verfolgen. Hierher gehören die Fragen der Wesensstruktur
der Persönlichkeit und Personalität überhaupt, ihrer Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksgrenzen,
der Bedeutung des Leibes für Art und Reichweite des Ausdrucks, die Fragen der Wesensformen
der Koexistenz von Person und ‚Welt‘, also die bedeutungsvolle Frage des menschlichen Lebens-
horizonts und seiner Variierungsfähigkeit, die Frage der möglichen Weltbilder“ (Stufen 24).
25Laut Plessner darf die Hermeneutik auch nicht vor der Leiblichkeit des Menschen halt machen:

„Hermeneutik fordert eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren“ (GS VIII 158).
26„Menschliches Leben braucht eine Spiegelwelt kultureller Ausdrucksweisen, um Leben zu

sein“ (Bialas 2005: 110).


1  Ansatz und Methode der Anthropologie Plessners 25

ein Verständnis menschlichen Wesens, will es radikal bis in seine Grundverfassung vor-
dringen – man mag sie Anthropologie oder Existenzphilosophie oder wie immer nen-
nen – 1. vom Ausdruck in der Fülle seiner verschiedenen Möglichkeiten ausgehen, 2.
das Ineinandergreifen der Ausdruckskomponenten in ihrer ganzen Breite, von den geis-
tigen bis zu den körperlichen Komponenten, verständlich machen muß. (Ebd., 214 f.)

Etwas ausdrücken heißt hierbei immer: Inneres nach außen tragen, Verborgenes sicht-
bar machen (vgl. Arlt 2001: 32) – und zwar dadurch, dass dem Geistigen eine mate-
rielle Form gegeben wird.27 Da der Ausdruck einen durch ihn verkörperten geistigen
Inhalt vermittelt, so ist er auch interpretationsfähig und interpretationsbedürftig – und
fordert daher ein Verstehen heraus. Dem Ausdruck auf der einen korrespondiert das
Verstehen auf der anderen Seite. Beide, Ausdruck und Verstehen, bilden zwei Seiten
ein und derselben Medaille (ebd., 37 f.). Denn im Bereich der organischen Natur ist
das Subjekt des Verstehens zugleich auch dessen Objekt (vgl. Stufen 20):

Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand gehören demselben Leben der einen


menschlichen Sphäre an, deren Objektivationen in Taten und Werken nicht von außen
gleichsam an sie herangebracht sind und wie Fremdkörper ihr wesensfremd bleiben, son-
dern aus ihr selbst hervortreiben, weil es zum Wesen des Lebens gehört, sich zu transzen-
dieren und zugleich die Ergebnisse der Selbsttranszendenz wieder in sich hineinzunehmen
und aufzulösen. (Ebd., 22)

Das Leben treibt seine Bedeutung aus sich hervor und gibt dadurch, dass es sie
sich zu verstehen gibt, sich selbst zu verstehen (vgl. Macht 174). Dadurch kann
Plessner mit Dilthey auch sagen: „Leben versteht Leben“ (Stufen 22). Damit ist der
Ausdruck nicht per se auf ein von ihm Unterschiedenes gerichtet. Vielmehr zeigt
sich, dass im Ausdrucksphänomen bereits eine Selbstbeziehung des Sich-zum-
Ausdruck-Bringenden, des Lebendigen, gegeben ist (vgl. Krüger 2006: 198).28

27Hier zeigt sich schon in Ansätzen eine Möglichkeit der Überwindung des (cartesianischen)
dualistischen Denkens von Geist und Körper, Leib und Seele, innen und außen etc. anhand
eines Ausdrucksbegriffs, der die jeweiligen Oppositionen unterwandert: „Der Anticartesianis-
mus in der Phänomenologie des Ausdrucks besteht nun wesentlich darin, dass der Ausdruck als
ursprüngliche Verschränkung von Seelischem und Körperlichem verstanden wird – eine Formu-
lierung, die man so freilich nur geben kann, nachdem vorher zwischen beidem unterschieden
worden ist. Man spricht deshalb phänomenologisch lieber nicht von Verschränkung, sondern von
psychophysischer Indifferenz; in diesem Sinne ist der leibliche Ausdruck ein Geschehen, das aller
Unterscheidung von Seelischem und Körperlichem vorausliegt. Denn das Lebewesen, das auf
diesem Wege Kontakt zur Umwelt aufnimmt, ist als solches zunächst ungeteilt“ (Richter 2012:
213, vgl. zur anticartesianischen Produktivität des Ausdrucksbegriffs auch Meuter 2006: 83).
28Dabei meint der Begriff des Ausdrucks bei Plessner, wie Ebke (2012: 110 f.) zeigt, zweierlei:

Zum einen bringt das Lebendige etwas zum Ausdruck, zum anderen ist es selbst Ausdruck. Damit
ist eine Zweideutigkeit der Ausdruckssphäre in der plessnerschen Philosophie verbunden: Einer-
seits ist der Ausdruck als eine Vollzugsform der exzentrischen Positionalität zu verstehen und
daher Teil der (offen gehaltenen) anthropologischen Bestimmung des Menschen (Kämpf 2003:
316) durch die drei Grundgesetzte, andererseits bildet der Ausdruck „die Voraussetzung und die
Grundlage der Verschränkung von Verhaltensweisen und damit das Fundament derjenigen Gestal-
tungs- und Darstellungsfunktionen, die zu höherstufigen, symbolvermittelten bzw. verbalen Inter-
aktionsformen und zur Selbsterzeugung der Kommunikationsmittel führen“ (Loenhoff 2008: 183).
26 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Das Ausgedrückte wirkt auf das Ausdrückende, das zugleich Verstehendes ist,
zurück. Daher kommt dem so gearteten Lebensbegriff auch eine zentrale Rolle in
Plessners „hermeneutischer Phänomenologie“ (Pietrowicz 1992: 312) zu, da mit
seiner Hilfe der strikte Gegensatz von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt
(ebd., 299) ebenso unterwandert werden soll wie der cartesianische Dualismus, auf
dem die Trennung des Menschen in ein Geist- und ein Naturwesen aufbaut; und
das bedeutet für Plessner in seiner Zeit zugleich auch: „Neuschöpfung der Philo-
sophie unter dem Aspekt einer Begründung von Lebenserfahrung in Kulturwissen-
schaft und Weltgeschichte“ (Stufen 30).

2 Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und


Verbindungslinien

In der Ausarbeitung und Anwendung einer hermeneutischen Phänomenologie


lassen sich die Ansätze Plessners und Ricœurs zusammenführen und -denken.29
Auch Ricœur sieht sich, wie Plessner, in der Nachfolge Diltheys (Kaul 2003:
26 ff., Grondin 2010: 68).30 Und auch Ricœur geht es darum, eine Methodik
zu entwickeln, die es ermöglicht, menschliche Praxis und ihre Geschichte und
Artefakte wie einen Text zu handhaben, d. h. ‚lesbar‘ zu machen (vgl. Breitling
2007: 77, Viehöver 2012).31 Die Phänomenologie dient ihm dazu, das Repertoire

29Ricœur identifiziert dabei zwei Wege, Hermeneutik und Phänomenologie miteinander zu ver-
binden: einen „kurzen“ und einen „langen“ (Ricœur 1973: 14). Der „kurze“ Weg wird als der
Weg Heideggers beschrieben, welchem es darum geht, das Verstehen als ontologische Kategorie
auszumachen. Dies geschieht in Sein und Zeit dadurch, dass das Verstehen nicht mehr nur als
Modus der Erkenntnis, sondern als Modus des Seins gefasst wird: „Hinsehen auf, Verstehen und
Begreifen von, Wählen, Zugang zu sind konstitutive Verhaltungen des Fragens und so selbst
Seinsmodi eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind“
(Heidegger 2006: 9). Ricœurs Kritik an Heidegger lautet nicht dahingehend, das Verstehen als
Seinsart des Daseins – demzufolge sich das Dasein immer schon in einem bestimmten Seins-
verständnis bewegt (vgl. ebd., 5) – ausgezeichnet zu haben, sondern vielmehr dahingehend, dass
Heidegger die Problematik des Verstehens als einer Methode nicht berücksichtige. Stattdessen
fragt Heidegger direkt, wie ein Sein beschaffen sei, dessen Sein sich dadurch auszeichnet, dass
es sich in seinem Sein zu diesem seinem Sein verstehend verhält (siehe ebd., 12). Demgegen-
über stellt Ricœur (wie auch Plessner) zunächst einmal die Frage, unter welchen Bedingungen
ein Subjekt einen Text oder die Geschichte verstehen kann (vgl. Ricœur 1973: 14 f.). Zur Aus-
einandersetzung Ricœurs mit Heidegger siehe auch Mattern (1996: 28–37 und 64–73). Der
Begriff der hermeneutischen Phänomenologie wird auch explizit von Waldenfels (1987: 266) zur
Charakterisierung des methodischen Vorgehens von Ricœur verwendet.
30Wobei Ricœur, ähnlich wie Plessner, insofern über Dilthey hinausgeht als er bestrebt ist, die

starre Dichotomie zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichen


Verstehen aufzulösen und in ein dialektisches Verhältnis zu überführen (Orth 2004: 27, Venema
2000: 11).
31Zwar finden sich bisher keine Hinweise auf direkte Rezeptionslinien zwischen Plessner und

Ricœur (de Leeuw 2013: 33), doch können nichtsdestotrotz ‚indirekte‘ Rezeptionsverläufe ver-
folgt werden. Neben bspw. Nietzsche und Dilthey, die von beiden positiv rezipiert werden, finden
sich auch gemeinsame Oppositionsstellungen (insbesondere gegenüber dem Cartesianismus).
2  Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien 27

symbolischer Ausdrucksformen – als einer Verobjektivierung menschlicher Exis-


tenz – mitsamt ihren internen Zusammenhängen zu erfassen (Meyer 1991: 105).
Daran anschließend ist es die Aufgabe der Hermeneutik, diese Objektivierun-
gen zu interpretieren (ebd.). Denn Subjektivität ist nicht als Sphäre einer reinen
Innerlichkeit zu verstehen, zu der es einen unmittelbaren Zugang gebe; vielmehr
ist sie nur in ihren vielfältigen (u. a. narrativen) Formen der Vermittlung (Welsen
2007: 173) und als grundlegende und systematische Verschränkung von Leben,
Ausdruck und Verstehen zu denken (Kaul 2003: 28).
Das erklärte Ziel des hermeneutisch-phänomenologischen Verfahrens Ricœurs
ist die Einsicht in die Frage nach der menschlichen Selbsterkenntnis (Orth 2004:
17, Grondin 2010: 64). Dabei geht es allerdings – nun auch schon mit Seitenblick
auf die in der anthropologischen Theorie angelegte Unergründlichkeit und Prozess-
haftigkeit des menschlichen Selbst – weniger um die Möglichkeit eines potenziell
endgültigen Erkannt-Habens des Selbst32 und vielmehr (bzw. auch: grundlegender)
darum, ein Konzept auszuarbeiten, das die Struktur des menschlichen Selbst- und
Weltverstehens aus praktischer Perspektive verständlich machen kann. Wie Plessner
ist auch Ricœur der Auffassung, dass ein phänomenologisches Vorgehen in der blo-
ßen Übernahme des Ansatzes Husserls dafür ungeeignet ist, weil es das Bewusst-
sein des Subjekts als Ursprung der Bedeutung in den Mittelpunkt rückt (vgl. Meyer
1991: 105 f.). Der Mensch ist vielmehr immer schon einer bestimmten symbolisch
vermittelten Vorausdeutung seines Seins ausgesetzt (ebd., 106). Sprache stellt die
unhintergehbare Bedingung des menschlichen Selbstverständnisses dar (Scharfen-
berg 2011: 16). Daher ist das menschliche Selbst in seinem Selbstverständnis
immer auf die Deutung und Interpretation symbolischer Formen angewiesen (SAA
142, Anm. 1). Diese Voraussetzung findet Ricœur u. a. im Werk Ernst Cassirers,
der den Menschen als animal symbolicum bestimmt: „ihm zufolge nämlich sind die
symbolischen Formen kulturelle Prozesse, in denen die gesamte Erfahrung artiku-
liert wird“ (ZuE I 94). Cassirer schreibt dazu in seinem Essay on Man:

Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie
nicht als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße
zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den
Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich
mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen
Riten umgeben, daß er nichts mehr sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses arti-
fizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe (Cassirer 2007: 50).

Die Situation des menschlichen Individuums ist es also, sich immer schon in
einem oder mehreren diskursiven und narrativ strukturierten Kontext(en) zu
befinden, an denen es sowohl passiv als auch aktiv teilhat – und deren Einfluss
es als Kulturwesen und Mitglied einer (bzw. mehrerer) Gesellschaft(en) nicht zu

32Denn die potenziell zu findenden Antworten bzw. Feststellungen sind aufgrund der Zeitlichkeit
der menschlichen Existenz mit einem „temporalen Makel“ (Liebsch 2004: 53) versehen: Sie kön-
nen immer nur vorläufig, provisorisch und unvollständig sein (vgl. ebd.).
28 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

entkommen vermag.33 Daher fasst Ricœur den Begriff der Kultur auch in einer
umfassenden Weise:

Der Begriff der Kultur deckt alle Errungenschaften, die auf sozialem Schaffen beruhen
und im individuellen Gebrauch eine Rolle spielen sowie durch eine Tradition überliefert
werden: die Sprache, die Techniken, die Künste, die religiösen oder philosophischen Ein-
stellungen und Glaubensvorstellungen, soweit diese verschiedenen Funktionen zum sozia-
len Erbe der Individuen gehören, die in einer besonderen Gesellschaft leben (ZuE I 292).

Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Plessner, dem zufolge sich das menschliche
Dasein immer schon in einer oder mehreren Deutungen der eigenen wesentlichen
Bestimmung befindet (siehe Macht 205). Heike Delitz (2005 und 2008) etwa versteht
Plessners Einheit der Sinne34 (1923) vor dem Hintergrund von Cassirers Philosophie

33In seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Diskurs geht Ricœur nicht so weit
wie etwa Foucault, der in seiner – freilich vor einem strukturalistischen Hintergrund entwickelten –
Diskurstheorie das Subjekt als Urheber von Diskursen nahezu vollständig ausblendet. Da der
Subjektbezug für das Erzählen konstitutiv ist, wäre mit solch einer Vorannahme – Gleiches gilt
bspw. auch für die Systemtheorie Luhmanns – das Konzept der narrativen Identität nicht haltbar
(vgl. Fulda 2004: 252). Dabei wendet Ricœur gegen Foucault ein, dass die von ihm als kleins-
ten Teile des Diskurses angesehenen sprachlichen Aussagen doch nichts anderes sein können als
Aussagen von Menschen, die mit diesen Aussagen, gemäß der Sprechakttheorie, Handlungen voll-
ziehen, welche ein bestimmtes Ziel und damit auch eine bestimmte Wirkungsabsicht verfolgen:
„Der Begriff des Textes darf nach Ricœur schon alleine deshalb nicht absolut gesetzt werden, weil
man dann ausblenden müßte, daß da jemand ist, der spricht, erzählt, einen Text verfaßt“ (Orth
2004: 27). Dabei zeigt sich eine deutliche Kritik Ricœurs an strukturalistischen Ansätzen, die
mit dieser Ausblendung des Subjekts zugleich auch ihre eigenen Voraussetzungen unthematisiert
und unreflektiert lassen (vgl. Scharfenberg 2011: 145 ff.). Demgegenüber bietet die hermeneuti-
sche Methode eine Alternative: „Die Hermeneutik kennt keine Abgeschlossenheit der Zeichen-
welt. Während die Linguistik sich innerhalb eines autarken Universums bewegt und immer nur
mit intra-signifikativen Beziehungen […] arbeitet, stellt sich die Hermeneutik von Anfang an in
die Öffnung der Welt der Zeichen“ (Ricœur 1973: 85). Ebenso wenig kann auch eine literarische
Anthropologie nicht vor dem Hintergrund (post)strukturalistischer Theoriebildung funktionie-
ren; ihr „focus is always on man as the prime agent and object of the process described. Literary
anthropology is anthropocentric and stands as such in opposition to the dehumanized discourse-
theory of poststructuralism“ (Schlaeger 1994: 77).
34Der in diesem Werk verfolgte sinnestheoretische Ansatz stellt keinen Bruch im plessnerschen

Gesamtwerk dar. Nach Hans-Peter Krüger kann Die Einheit der Sinne auch „rückwirkend von
der exzentrischen Positionalität (Naturphilosophie) und deren Unergründlichkeit (Geschichts-
philosophie) her“ (Krüger 2008: 121) gelesen werden. Dabei entspricht der Grundimpuls der
Einheit der Sinne auch dem umfassenden Theorieprogramm Plessners: der systematischen Ver-
schränkung des Doppelaspekts Geist-Körper. So schreibt Hog (2015: 44) etwa: „Plessner möchte
in seiner sinnesphilosophischen Untersuchung also der ‚ganzen Fülle des persönlichen Lebens‘
(ES: 17) gerecht werden, indem er seinen Blick auf die kulturell-symbolisch vermittelte Ver-
schränkung von Materie und Bedeutung, Sinn und Sinnlichkeit, Geist und Körper, Leib und
Umwelt richtet und damit systematisch Kultur und Naturphilosophie verzahnt.“ Dies wiederum
sei eben ein Projekt, das an Cassirers zeitgleich entstehende Symboltheorie erinnere (ebd.) – da
beide von der gleichen Leitthese getrieben seien: „dass sich die Funktion bzw. der Sinn der Sinne
weder durch rationale Analyse noch durch psychologische Introspektion noch durch physio-
logische Untersuchungen erhellt, sondern nur in indirektem Zugriff über die kulturellen Objekte,
in denen sich die Sinne verkörpern bzw. versinnlichen“ (ebd., 44).
2  Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien 29

der symbolischen Formen (dessen erster Band ebenfalls 1923 erschien)35 – und zwar
„als ähnlich umfassende, nahezu identisch differenzierende und von denselben Pro-
blemen getriebene Kulturphilosophie“ (Delitz 2008: 67).36 In beiden Philosophien
gehe es um die notwendige Verschränkung von Bedeutung und Materialität: „Welt
und Selbst existieren nie anders als symbolisch vermittelt; und dies führt in den dif-
ferenten Medien zu differenten ‚Welten‘. Jede Kultursphäre ist als ein konstitutives
Medium der Selbst-, Welt- und Gesellschaftsauffassung zu begreifen“ (ebd.). Dabei
geht es Plessner ebenso wie Cassirer um die Herausarbeitung der unterschiedlichen
Symbolisierungsfunktion (Krüger 2008: 121); allerdings mit dem Unterschied,

35Nach Joachim Fischer lassen sich diese unterschiedlichen und auch in ihren Differenzen viel-
diskutierten (z. B. Orth 1996: 225–252, Schürmann 1997, Delitz 2005 und 2011, Lerch 2012)
Ansätze grundlegend zusammendenken: „die Theorien, die eine Parataxe, eine Heterarchie der
‚symbolischen Formen‘ (Cassirer 1954) oder der ‚Sinngebungen‘ in einer ‚Ästhesiologie des
Geistes‘ (Plessner 1923) oder der nicht aufeinander rückführbaren ‚Wissensformen‘ (Leistungs-
wissen, Bildungswissen, Heilwissen; Scheler 1924) als Basis der Kultur- und Sozialwissen-
schaften aufzuweisen versuchten, [sind] genuin mit dem Theorieprogramm der Philosophischen
Anthropologie verbunden. In allen diesen Theorien wird ‚Sprache‘ als spezifisches Medium
des menschlichen Welt-, Selbst- und Sozialverhältnis aufgewiesen, aber nicht nur Sprache, son-
dern mit der Sprache zugleich ein Spektrum von ‚Medien‘, die – wiewohl sie auch zur Sprache
gebracht werden können – in ihrer Logik nicht der Logik der Sprache folgen: z. B. Geometrie
oder mathematische Naturwissenschaft oder ‚Leistungswissen‘ (als Medium der ‚Distanz‘),
z. B. Musik/Tanz oder Mythos oder ‚Heilswissen‘/Mystik (als Medien der ‚Resonanz‘)“ (Fischer
2005: 177). Demzufolge kenne und brauche die Philosophische Anthropologie auch keinen ‚ico-
nic‘ oder ‚accoustic turn‘; wendet sie sich in ihrem grundlegenden Ansatz doch ohnehin den
nichtsprachlichen Zeichen und Medien zu und arbeitet dabei an einer biophilosophisch orientier-
ten Theorie, mittels derer sich all diejenigen Zeichen und Medien, mit denen Menschen Welt zur
Erscheinung bringen und sich auf eben jene wie auch auf sich selbst und Andere beziehen, auf
die spezifisch anthropologische Konstitutionsform, d. h. die Positionalität des Menschen, zurück-
führen lassen (vgl. ebd.).
36Das Konzept des animal symbolicum kann auch als eine Form der strukturellen Bestimmung

des Menschen im Sinne Plessners verstanden werden: als eine formale Bestimmung, die nicht
die Was-Frage stellt. Obwohl sich Cassirer in seinem Essay nicht explizit auf Plessner bezieht,
so verortet er sich doch selbst – das weiß man mittlerweile aus seinen nachgelassenen Manu-
skripten – in dessen Nähe (Meuter 1996: 130, Lerch 2012: 208): „Wird die Aufgabe der philo-
sophischen Anthropologie in diesem [Plessners, M.W.] Sinne verstanden, so erscheint damit der
Kreis der Fragen, die sie umspannt, unserem eigenen Projekt nahe gerückt“ (Cassirer zit. nach
Lerch 2012: 209). Cassirer selbst wiederum ist, siehe das Zitat weiter oben, Stichwortgeber für
Ricœur, der seine Subjektivitätstheorie explizit als eine kontextualistische entwickelt: Das Sub-
jekt ist demzufolge angewiesen auf die ihm voraus liegenden kulturellen Symbolwelten, anhand
derer es sich – mit Plessner gesprochen – seine Innen-, Außen- und Mitwelt erschließt; was wie-
derum zur Voraussetzung hat, dass das menschliche Subjekt die Fähigkeit besitzt, sich nicht nur
auf sich selbst als sich selbst zu beziehen, sondern dies auch noch über den Umweg symboli-
scher Ordnungen zu tun (bzw.: tun zu müssen). Demgegenüber sieht Plessner jedoch auch einige
fundamentale Differenzen zu Cassirer – denke dieser doch Natur immer nur als symbolisch ver-
mittelt und fokussiere daher den Menschen lediglich als Geist-, nicht jedoch als Naturwesen (vgl.
ebd., 215). So schreibt Plessner im Jahr 1963 in seinem Aufsatz Immer noch Philosophische
Anthropologie?: „Cassirer weiß zwar, daß der Mensch ein Lebewesen ist, aber er macht philo-
sophisch davon keinen Gebrauch“ (GS VIII 243). Dementsprechend sei seine Theorie nicht als
Philosophische Anthropologie, sondern als anthropologische Philosophie zu bezeichnen (ebd.).
30 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

dass Plessners Kulturphilosophie naturphilosophisch, eben an der organischen Aus-


stattung des Menschen ansetzt (Delitz 2008: 69). Der Mensch ist für Plessner von
Natur aus Träger von Kultur. Deren Objektivationen – „Wissenschaft, Kunst, Sprache
usw.“ (Stufen 32) – bilden diejenigen Medien, in denen sich die (Selbst-)Betrachtung
des Menschen bewegt (ebd.); und zwar des Menschen als eines biologisch, kultu-
rell, gesellschaftlich und historisch existierenden Lebewesens, das seine Wirklichkeit
immer schon gedeutet hat und vorausgedeutet findet. Die menschliche Wirklichkeit
erscheint dadurch als ein immer schon interpretiertes Geschehen, das durch unter-
schiedlichste Deutungen und Gegendeutungen vermittelt wird und in dem sich die
Perspektiven unbestimmt vieler Akteure kreuzen (Ebke 2012: 59); wobei jedwede
Deutung immer auch eine bestimmte Praxis impliziert oder expliziert (vgl. Bek
2011: 143). Es sei hier nur kurz vorweggenommen bzw. angedeutet, dass sich der
damit verbundene diskursive und interpersonale Prozess der Präfiguration, Konfigu-
ration und Refiguration von Wissen anhand des ricœurschen Modells der dreifachen
Mimesis nachvollziehen und weiter spezifizieren lässt. Dies konvergiert auch mit den
Ausführungen Plessners. Gerade in seinen späteren Aufsätzen widmet sich Pless-
ner vermehrt der anthropologischen Funktion der Sprache (Limbach 1992: 283). Sie
kommt dabei, so u. a. in Elemente menschlichen Verhaltens, als „Zwischenmedium
in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt“ (GS VIII 223) in
den Blick und wird als ein Werkzeug begriffen, das im „menschlichen Weltkontakt“
(ebd.) den Gebrauch physischer Organe virtualisiert und dadurch teilweise entlastet
(ebd.). Sie vergegenwärtigt und versachlicht gleichermaßen (vgl. ebd., 222). In der
erkenntnistheoretischen Denkbewegung Plessners verbinden sich dabei natur-, kul-
tur- und gesellschaftsphilosophischen Ansätze. Die daraus folgende Quintessenz fasst
Beaufort präzise zusammen:

Plessner geht von der Wahrnehmung und vom Wahrnehmungsding aus, von einer als raum-
zeitliche Realität erscheinenden Welt. Damit nehmen die Stufen ihren Ausgang von der
Wirklichkeit, wie sie unmittelbar begegnet. Die Frage stellt sich, wem Wirklichkeit auf
diese Weise unmittelbar begegnet. Die Antwort muß lauten: dem vergesellschafteten, durch
Geschichte und Sprache aus der Zentralität der animalischen Position herausgedrängten,
dezentrierten oder ‚exzentrierten‘ Menschen. Die unmittelbar dinghaft-real begegnende Welt
ist also in Wahrheit eine gesellschaftlich vermittelte Weltperspektive (Beaufort 2000: 35).

Dabei gibt die Art und Form ihrer symbolisch-medialen Objektivationen Pless-
ner zufolge Auskunft „über die Struktur des menschlichen Lebenssystems in der
Gesamtheit aller seiner Schichten“ (Stufen 32 f.). Die symbolischen Formen bil-
den ein „materiales Apriori“ (Delitz 2005: 922),37 dem der menschliche Ausdruck
überantwortet wird und durch die „der psychische Impuls nicht nur vermittelt wird,

37„Indem Plessner sowohl das verstehende Bewusstsein als auch die kulturellen Ausdrucks-
formen untersucht, kommt er zu dem Ergebnis, dass es eine Entsprechung zwischen bestimmten
kulturellen Ausdrucksformen und bestimmten Formen des verstehenden Bewusstseins gibt. Pless-
ner unterscheidet zwischen drei Formen von Sinnverständnis, die sich jeweils in der Wissen-
schaft (schematisch-begreifendes Sinnverständnis, mit darstellbaren Gehalten), der Sprache
(syntagmatisch-bedeutendes Sinnverständnis, mit präzisierbaren, wenn auch nicht abbildbaren
Gehalten) und der Kunst (thematisch-deutendes Sinnverständnis, mit ihren weder eindeutigen noch
mitteilbaren, prägnanten Gehalten äußern“ (Wilwert 2009: 128, vgl. auch Pietrowicz 1992: 204).
2  Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien 31

sondern durch Distanz an Substanz gewinnt“ (Lethen 2008: 27).38 Sprache fungiert
dabei bei Plessner auch als ein Medium der Objektivation von menschlichem Aus-
druck.39 Dabei nimmt sie eine Mittelstellung zwischen Ausdruck und Handlung

38Vgl. auch noch einmal das bereits oben angeführte Zitat aus Macht und menschliche Natur,
demzufolge der „Mensch als die schöpferische Durchbruchstelle seiner geistigen Welt, aus deren
Werten und Kategorien er sich, seine Mitwelt und Umwelt versteht und behandelt, seines eige-
nen Apriori also und seiner ihm je schon vorgezeichneten Denk-, Willens- und Gefühlsmöglich-
keiten verstanden werden“ soll (Macht 160). Sprache erscheint hier eben als dasjenige eigene
Apriori, welches das menschliche Selbst- und Weltverhältnis, das eigene Denken, Fühlen, Wol-
len und Verhalten, vorzeichnet. Helmut Lethen zufolge habe das Psychische eine innere Affinität
gegenüber ihren medialen Formen des Ausdrucks: „Die Impulse der Psyche sind den Gesetzmä-
ßigkeiten der Künstlichkeit und ihrer Medien (der Grammatik der symbolischen Formen und
des mimischen Austauschs mit der Umwelt auf der Basis des Leibschemas etc.) nicht mecha-
nisch unterworfen. Sie besitzen vielmehr eine innere Affinität zu ihnen. Plessner ist insofern der
Begründer einer anthropologischen Theorie der Medien, als er sie in die psychophysische Orga-
nisation des Menschen integriert“ (Lethen 2008: 27).
39Das Verhältnis von Ausdruck und Sprache wird von den Plessner-Interpreten unterschiedlich

gedeutet. Für Hildebrandt bildet Sprache die Bedingung der Möglichkeit exzentrischer Lebens-
formen und damit der Ausbildung des Gegensatzes von Körper-Haben und Leib-Sein: „This
capacity to turn back on herself from the position of the other is afforded by language and consti-
tutes the birth of eccentric positionality in humans“ (Hildebrandt 2014: 414). Ebenso interpretiert
Ernst Tugendhat Plessner sprachtheoretisch. Demzufolge ermögliche erst die prädikative Struktur
der menschlichen Sprache durch die Herstellung von Distanz, Verobjektivierung und Rationalität
die Selbsttranszendenz des Menschen (Tugendhat 2007: 22 ff.). Demgegenüber zeigt Schloßber-
gers (2008: 212) Analyse von Lachen und Weinen, „dass der Bruch in der menschlichen Natur
nicht erst von den intersubjektiven Leistungen der Sprache abhängig, sondern diesen vielmehr
vorgängig ist.“ Dementsprechend kommt Schloßberger (ebd., 214 f.) zu der Schlussfolgerung:
„Sprache ist eine Form von Ausdruck, aber Ausdruck ist an sich das ursprünglichere, reichere
Phänomen. […] Die eigentliche conditio humana ist also der Sprache vorgelagert. Nicht durch
die Sprache ist der Mensch Mensch, sondern durch eine Form von Intersubjektivität und spezi-
fisch menschliches Ausdrucksverhalten, die Sprache erst ermöglichen.“ Die vorliegende Arbeit
schließt sich dabei der Interpretation Schloßbergers an, zeigen doch gerade die Phänomene des
Lachens und Weinens die Grenzen der willentlichen Beherrschung des menschlichen Körpers
eben im Moment des Durchbruchs des leibseelischen Ausdrucks. So schreibt auch Plessner in
Lachen und Weinen: „Verglichen mit Sprache, Gesten und mimischen Ausdrucksbewegungen
dokumentieren Lachen und Weinen eine unübersehbare Emanzipiertheit des körperlichen
Geschehens von der Person. In dieser Unverhältnismäßigkeit und Eigenwilligkeit vermuten wir
das eigentlich Aufschließende der Phänomene. In keiner anderen Äußerungsform enthüllt sich
die geheime Komposition der menschlichen Natur unmittelbarer als in ihnen“ (GS VII 236).
Sprechen und Handeln dagegen geben zwar auch einen gewissen Aufschluss, allerdings führen
sie den Menschen nur in der Situation einer gewissen Verfügungsgewalt und Beherrschbarkeit
vor – die jedoch eben nichts über die Bindung an seinen eigenen leiblichen Körper verraten (vgl.
ebd., 236 f.). Wenngleich, und das muss hier auch quasi relativierend im Blick auf den Aufsatz
Ausdruck und menschliche Existenz eingeschoben werden, auch nicht zu leugnen ist, dass mit
menschlicher Sprache auch die anthropologische Funktion der Distanzierung und Vergegenständ-
lichung verbunden ist (GS VII 435); nur ist sie eben nicht Voraussetzung der exzentrischen Posi-
tionalitätsform. Dies entspricht auch den expliziten Äußerungen Plessners, der Sprache als „eine
Expression in zweiter Potenz“ (Stufen 340) fasst – und daher auch die Möglichkeit bietet, die
Expressivität des Menschen selbst wiederum zum Ausdruck zu bringen und dabei zum Gegen-
stand zu machen (ebd., 340). Daher wurde im Argumentationsgang der vorliegenden Unter-
suchung auch zuerst das Phänomen des Ausdrucks erörtert und anschließend das der Sprache.
Denn aus der Perspektive Plessners ist Sprache dem Menschen letztlich ein Medium neben ande-
ren, das er zur Erschließung von Selbst, Welt und Sozialität verwendet (Fischer 2015: 32).
32 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

ein (Loenhoff 2008: 177 f.). Nicht von ungefähr stellt Plessner seiner geschichts-
philosophischen Schrift Macht und menschliche Natur (1931) ein (gekürztes)
Zitat Heines aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland
(1834) voran, in dem es um weltkonstituierende, handlungs- und wahrnehmungs-
strukturierende Funktion der Sprache geht:

Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden. Und wunderbar! Der Mensch, wie
der Gott der Bibel, braucht nur seinen Gedanken auszusprechen, und es gestaltet sich die
Welt. Die Welt ist die Signatur des Wortes. Dieses merkt euch, ihr stolzen Männer der Tat.
Ihr seid nichts als unbewußte Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütiger Stille
euch all eu’r Tun aufs bestimmteste vorgezeichnet haben. (Macht 135)

Dabei zeigt sich hier auch das grundsätzliche Programm der plessnerschen Anthropo-
logie: Die Überwindung der dualistischen Trennung von Geist und Körper – und
damit einhergehend: von Theorie und Praxis (Bek 2011: 128 f.) – durch die Ver-
schränkung der beiden Aspekte ineinander. Ein Mittel dazu ist die Fokussierung der
anthropologischen Bedingtheit und Funktion des Sprachlichen. Einerseits ordnet und
deutet der Mensch mit ihr sich und seine Welt, andererseits findet er in ihr die ver-
schiedenen Möglichkeiten zum Ausdruck und zur Verkörperung seiner selbst. Daher
kommt in und mit ihr die theoretische Auslegung wie auch die praktische Setzung
von Selbst und Welt zusammen. Dementsprechend muss der Gebrauch von Medien
im Allgemeinen und von Sprache im Besonderen in die anthropologische Theorie-
bildung mit aufgenommen und reflektiert werden. Auch die exzentrische Positionalität
des Menschen wird symbolisch vermittelt (Limbach 1992). Aber mehr noch: Sprache
nimmt bei Plessner insofern doch eine besondere Rolle ein, als in ihr die „Wesens-
beziehungen zwischen Exzentrizität, Immanenz, Expressivität, Wirklichkeitskontakt
[…] auf eine überraschende Weise zusammen“ (Stufen 340) laufen – und sich eben
an den sprachlichen Gestalten die Konstitutionsbedingungen der menschlichen Exis-
tenz ablesen lassen. Die menschliche Sprache fungiert daher auch als „der wahre
Existentialbeweis für die in der Mitte ihrer eigenen Lebensform stehende und also
über sie hinausliegende ortlose, zeitlose Position des Menschen“ (ebd.).
Auch in der Subjektivitätstheorie Ricœurs wird, wie weiter oben schon
angedeutet, das Verstehen von Zeichen untrennbar mit dem Verstehen des Selbst
durch sich selbst verknüpft (Meyer 1991: 110) – bildet doch „das Verstehen der
mehrdeutigen oder symbolischen Äußerungen einen Moment des Selbstverständ-
nisses“ (Ricœur 1973: 20). Alle menschlichen Bewusstseinsvollzüge, Äußerun-
gen und Taten gründen Ricœur zufolge in einem Streben, das sich „nur in den
Zeichen, Handlungen und Werken des Menschen ausdrückt und deshalb nur an
ihnen abgelesen werden kann“ (Orth 2004: 18). Aus diesem Grund ist aus der
Perspektive Ricœurs eine traditionell textorientierte Hermeneutik unzureichend,
weil sie auf der Ebene der Textinterpretation stehen bleibt und keinen Bezug zum
Verstehen des Selbst herstellt (Meyer 1991: 106).40 Menschliches Handeln wird

40Dabeibezieht sich die Hermeneutik auch auf die unterschiedlichen Einzelwissenschaften vom
Menschen und befindet sich u. a. in stetem Kontakt mit Linguistik, Geschichtswissenschaft und
Psychoanalyse (vgl. Mattern 1996: 9).
2  Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien 33

dabei von Ricœur als „Quasi-Text“ (ZuE I: 96) begriffen.41 Denn das individuelle
wie auch kollektive menschliche Leben lässt sich nach Ricœur als Fixierung von
Handlungen in Texten verstehen (Orth 2004: 31).42 Daraus folgt, dass die ricœur-
sche Hermeneutik bestrebt ist, das Ineinandergreifen von Textinnen und Textaußen
zu beleuchten (vgl. Mattern 1996: 133).43 So schreibt Ricœur in Zeit und Erzäh-
lung:

Aufgabe der Hermeneutik ist es hingegen, die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruie-
ren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns
und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es
aufnimmt und dadurch sein Handeln verändert. Für die Semiotik bleibt der einzig stich-
haltige Begriff derjenige des literarischen Textes. Die Hermeneutik hingegen bemüht sich
darum, den gesamten Bogen der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die aus der prakti-
schen Erfahrung Werke, Autoren und Leser hervorgehen (ZuE I 88).44

Sowohl Plessner als auch Ricœur bedienen sich der Methodik der hermeneuti-
schen Phänomenologie. Dies ist nur folgerichtig. Denn beide gelangen zu der
Überzeugung, dass der Mensch nur in indirekter Weise einen Zugang zu und ein
Wissen von sich selbst (und der Welt) erlangen kann – und zwar über den Umweg
seiner Objektivierungen. Auch bei Ricœur nimmt Sprache – eben in Form des Tex-
tes bzw. der Erzählung – eine Mittelstellung zwischen Ausdruck und Handlung
ein. Daher ist es für beide geboten, eine Theorie zu entwickeln, die das Verstehen
dieser Objektivierungen zum Gegenstand hat und in Beziehung zur menschlichen
Lebensform setzt; schließlich wird sowohl implizit vorausgesetzt als auch explizit
formuliert, „daß der Umweg über die Objektivierung der kürzeste Weg vom Selbst
zu sich selbst ist“ (SAA 378). Bei Ricœur geschieht dies v. a. auf dem Wege der
kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien der Subjektivität und
personalen Identität.45

41Zu den Implikationen dieser Auffassung siehe Breitling (2007: 78 ff.). Hier zeigen sich bereits

Gemeinsamkeiten mit Forschungsansätzen literarischer Anthropologie: „Erst indem man auch


Handlungen, Ereignisse und soziale Situationen als ‚Texte‘ betrachtet, werden sie – über ihre
Situationskontingenz hinaus – für den kulturellen Prozess der Objektivierung von Bedeutungen
erschlossen“ (Bachmann-Medick 1996: 10).
42Dementsprechend könne auch die Handlungstheorie von den Erkenntnissen der Hermeneutik

profitieren (Orth 2004: 31).


43Dies wird später anhand des Konzeptes der dreifachen Mimesis genauer ausgeführt (siehe

Kap. 5).
44Daher ist es auch verfehlt, Ricœur unter die Kategorie „textimmanente Ansätze“ einzuordnen,

wie dies in dem von Ulrich Schmidt (2010) herausgegebenen Überblick über Literaturtheorien
des 20. Jahrhunderts geschieht.
45Dass sich hier ein generelles und werkübergreifendes Vorgehen Ricœurs abzeichnet, wird von

Greisch (2009: 108) hervorgehoben: „Wie immer bei Ricœur, stützen sich seine Untersuchungen
auf eine Relektüre der Geschichte der Philosophie, wobei es sich in diesem Fall in erster Linie
um eine Konfrontation mit zwei Hauptsträngen der neuzeitlichen Philosophie handelt, die sich
im Wesentlichen mit zwei großen Namen verbinden: Descartes und Nietzsche“.
34 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

In der von ihm so bezeichneten „Hermeneutik des Selbst“ (ebd., 26) setzt
sich Ricœur kritisch mit dem Denken Descartes auseinander. Seine Kritik
knüpft dabei jedoch nicht wie die Plessners direkt an dem vermeintlich funda-
mentalen Gegensatz einer res cogitans und einer res extensa an, sondern an der
Annahme der unmittelbaren Gegebenheit des Subjekts und am damit verbundenen
Anspruch, dem Subjekt den Status der Letztbegründung einzuräumen (ebd., 29).
Im Anschluss an Nietzsche (ebd., 21–26) führt Ricœur aus, dass jegliche Bewusst-
werdung einer inneren Welt bloß die Wahrnehmung eines bereits zuvor Konstruier-
ten sei (ebd., 24 f.).46 Grundsätzlich funktioniere die Wahrnehmung der Innenwelt
in gleicher Weise wie die Wahrnehmung der Außenwelt, an deren Modell sie sich
ausrichte. Ist in dieser (der Außenwelt) der Mensch nicht etwa umgeben von Fak-
ten, sondern von Auslegungen (ebd., 25), so ist auch in jener (der Innenwelt) eine
Selbst-Erkenntnis immer gebunden an eine Selbst-Auslegung. Damit wäre sie
allerdings nichts anderes als eine Interpretation einer Interpretation: „das inter-
pretierte Sein erschließt sich nur im Vollzug der Interpretation selbst“ (Ricœur
1973: 30). Das, was unmittelbar gegeben sein soll, erscheint dadurch bloß als
etwas Vorgegebenes und bereits Gedeutetes und Interpretiertes. Das, was der Aus-
gangspunkt des Denkens sein soll, der nicht teilbare innere Kern des Subjekts,47
erscheint vielmehr als dessen Endpunkt – und somit als ein Produkt:

Doch bleibt das Subjekt, das sich interpretiert, indem es die Zeichen deutet, nicht mehr
ein pures Cogito. Es wird zu einer Existenz, die vermittels der Auslegung ihres Lebens
entdeckt, daß sie als Seiendes gesetzt ist, noch bevor sie sich selbst setzt und von sich
Besitz ergreift. Somit wird die Hermeneutik eine Existenzweise aufdecken, die sich durch
und durch als ein Interpretiert-Sein (être-interprété) ausweist. Erst die Reflexion kann,
indem sie sich als Reflexion selbst aufhebt, zu den ontologischen Wurzeln des Verstehens
zurückführen. Doch geschieht dies immerzu im Bereich der Sprache und bleibt ein unauf-
hörlicher Fortgang der Reflexion. Dies ist der mühsame Weg, den wir beschreiten wollen
(Ricœur 1973: 20 f.).

Der entscheidende Punkt ist für Ricœur dabei, die Abhängigkeit des scheinbar
unhintergehbaren sich selbst setzenden Subjekts von einem Anderen deutlich zu

46In einem Fragment aus dem Nachlass Nietzsches lässt sich dazu auch Folgendes finden: „Ich
halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewusst wird, ist durch und
durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt – der wirkliche Vorgang der
inneren ‚Wahrnehmung‘, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen,
wie die zwischen Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Ein-
bildung“ (Nietzsche KSA 13: 53).
47Vgl. auch: „Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter allen den

verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung
einer Ursache, – wir glauben an unseren Glauben so weit, dass wir um seinetwillen die ‚Wahr-
heit‘, ‚Wirklichkeit‘, ‚Substantialität‘ überhaupt imaginieren – ‚Subjekt‘ ist die Fiktion, als
ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die
‚Gleichheit‘ dieser Zustände geschaffen; das Gleich-setzen und Zurecht-machen derselben ist der
Tatbestand, nicht die Gleichheit (– diese ist vielmehr zu leugnen –)“ (Nietzsche KSA 12: 465).
2  Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien 35

machen (Mattern 1996: 185).48 Dabei ist er bestrebt, die beiden subjektphilo-
sophisch sich gegenüberstehenden Wege Descartes’ und Nietzsches zu umgehen
(Greisch 2009: 108, Ferber 2012: 96) und seiner Hermeneutik des Selbst einen
epistemischen Ort zuzuweisen, „der jenseits der Alternative zwischen Cogito
und Anti-Cogito“ (SAA 26) liegt. Dadurch kommt, ähnlich wie bei Plessner, der
Mensch als geschichtliches und sprachliches Wesen in den Blick.49 Sprache und
Geschichte treten ihm immer schon als ein Anderes entgegen, das sowohl Form
als auch Inhalt seines Denkens und Handelns beeinflusst und mitunter vorgibt.50
Aber mit Ricœur kann auch noch grundlegender argumentiert werden: Das Ich
kann sich nur insofern denken, als es sich selbst denkt. Damit tritt aber die Bezug-
nahme auf etwas an die Stelle des unmittelbaren Denkens des Ichs.51 In dieser

48In Jenseits von Gut und Böse führt Nietzsche im 16. Aphorismus an, welche kognitiven Ope-
rationen bereits stattgefunden haben müssen, damit der Satz „ich denke“ geäußert werden kann
und schlussfolgert: „[J]enes ‚ich denke‘ setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand
mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche, um so festzustellen, was er ist: wegen
dieser Rückbeziehung auf ein anderes ‚Wissen‘ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare
‚Gewissheit‘“ (Nietzsche KSA 5: 30).
49Der Philosophie der Subjektivität wirft Ricœur vor, dass sie bisher (Herder ausgenommen)

vollständig von der sprachlichen Vermittlungsfunktion abgesehen habe (SAA 21). Auch Des-
cartes befinde sich in einer langen Traditionslinie des philosophischen Denkens, das versuche,
„das Wissen der wahren Wissenschaft von dem abzusetzen, worin es sich darstellt, und Denken
und Sprechen, ratio und oratio strikt getrennt zu halten“ (Konersmann 2007: 7). Auf die sprach-
liche Vermittlung des Denkens beruft sich hingegen Nietzsches Descartes-Kritik. Die Setzung
des Cogitos als letzte Gewissheit der Erkenntnis ist demzufolge abhängig davon, dass zwischen
Wahrheit und Täuschung unterschieden werden kann. Wenn das Denken aber sprachlich ver-
mittelt ist und wenn der Sprache als wesentliche Eigenschaft eine Bildlichkeit zugesprochen
wird, die – wie in Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (Nietzsche KSA 1) – der Unter-
scheidung zwischen Wahrheit und Täuschung grundlegend entzogen ist (bzw.: deren Wahrheits-
anspruch als selbst entworfene Illusion erscheint), dann muss auch die Annahme einer letzten
Gewissheit als eine Illusion erscheinen (vgl. SAA 22 f., Mattern 1996: 195). Inwieweit sich
Ricœur mit idealistischen Subjekttheorien, deren Konzeptionen ein explizit geschichtliches
Denken beinhalten, auseinandergesetzt hat, ist nicht weiter klar. Ersichtlich ist jedoch, dass
Ricœur „jeder psychogenetischen Behandlung des Problems der personalen Identität“ (Greisch
2009: 112) aus dem Weg geht und dementsprechend auch jedweden teleologisch orientierten
Programmentwurf – bspw.: die Ausbildung des vollständigen Selbstbewusstseins – verabschiedet.
50Insofern ist für Nietzsche die Annahme eines Subjekts als Urheber des Denkakts eine bloße

Fiktion, die sich aus der „Gläubigkeit an die Grammatik“ (Nietzsche KSA 5: 54) ergibt. Vgl.
dazu auch Aphorismus 17: „Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde
werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, […] nämlich, dass ein
Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht, wenn ‚ich‘ will; so dass es eine Fälschung des That-
bestandes ist, zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke‘“ (ebd., 30 f.).
In der Genealogie der Moral spricht Nietzsche auch von der „Verführung der Sprache (und der
in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wir-
kendes, durch ein ‚Subjekt‘ versteht und missversteht“ (ebd., 278).
51Ricœur verfährt hier auch in einer sprachanalytischen Weise. In der Grammatik der natürlichen

Sprachen ließe sich ein Primat der reflexiven Vermittlung gegenüber der unmittelbaren Position
des Subjekts erkennen (SAA 9 f.).
36 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Bezugnahme überschreitet bzw. transzendiert das Ich sich selbst; es wird dezentral
(Venema 2000: 40) – oder eben auch: ex-zentrisch. Das Ich muss sich etwas –
ein Anderes – entgegensetzen, um sich denken zu können: ein Anderes, das es
selbst ist. Die unmittelbare Gegebenheit seiner selbst ist dadurch aber – paradox
formuliert – nur über einen Umweg möglich: den des Selbst. Das Ich kann nur
als ein Selbst existieren. An diesem Punkt wird aus dem animal symbolicum in
der philosophischen Hermeneutik Ricœurs ein (mit Charles Taylor zu sprechen)
self-interpreting animal (Greisch 2009: 34). Eine entscheidende Rolle kommt dabei –
wie auch in der literarischen Anthropologie Wolfgang Isers – der Imagination zu
(Ferber 2012: 243). Sie vermittelt einerseits zwischen den beiden methodischen
Ansätzen der Hermeneutik und der Phänomenologie und führt andererseits in „the
ontological depth of human existence“ (Venema 2000: 39). Für Ricœur bildet sie
eine existenzielle Fähigkeit, mit der sich das menschliche Leben über den Umweg
verschiedenster Vermittlungen – Symbole, Texte, Diskurse und Handlungen –
sowohl selbst repräsentiert als auch versteht (ebd.). Dementsprechend verweisen
die jeweiligen Vermittlungsformen auch immer wieder zurück auf den Menschen.
Dabei steht, rein argumentationslogisch betrachtet, dem ricœurschen Denken
jedoch kein autonomer Ausgangspunkt zur Verfügung (Mattern 1996: 57).52 Viel-
mehr muss (und will) es an dem ansetzen, was ihm immer schon voraus liegt: den
Symbolen und der Sprache (ebd., 65). Im Unterschied zu Ricœur arbeitet Pless-
ner hingegen auch an einer naturphilosophischen Herleitung des menschlichen
Selbst- und Weltverhältnisses. Daher erscheint es sinnvoll, die Anthropologie
Plessners der Theorie Ricœurs zugrunde zu legen und diese auf ein positiv aus-
formuliertes Fundament zu stellen, das u. a. zu erläutern imstande ist, warum
Selbst- und Welt-Verstehen nur in indirekter Weise vollzogen werden kann. In Das
Selbst als ein Anderer deutet Ricœur die Möglichkeit an, eine Theorie des Selbst
mit einer allgemeinen Anthropologie zu verbinden (SAA 378).53 Dies läuft auf
eine Verschränkung der Perspektiven hinaus: Der phänomenologische Begriff des
Selbst kann mit dem anthropologischen Begriff des Menschen zusammengedacht
werden. Schließlich charakterisiert Ricœur das Selbst als grundlegend weltoffen;
und eine solche Weltoffenheit muss auch in den physisch möglichen Aktionen und
Reaktionen des Selbst auf die Welt gerecht werden: „Wie sollte man aber dieser
Offenheit selbst gerecht werden, wenn man nicht in der menschlichen Initiative
eine spezifische Koordination mit den Bewegungen der Welt und mit sämtlichen
physischen Aspekten der Handlung erkennen würde?“ (ebd.) Das heißt aber auch,
dass die natürlichen bzw. leiblichen Bedingungen und Möglichkeiten des Men-
schen als Lebewesen in Betracht gezogen werden müssen.

52So schreibt auch Kaul (2003: 10) – und dies bildet zugleich ihren Ausgangspunkt für die daran
anschließende ergänzende Systematisierung mit der heideggerschen Fundamentalontologie –,
dass der ricœursche Ansatz „keinen Eingang in die Daseinsstrukturen“ finde.
53Daneben verweist Ricœur in Zeit und Erzählung auf die Möglichkeit, die Grundfrage seiner

Untersuchung nach dem Zusammenhang von Narration und Zeiterfahrung mit Blick auf „die
sekundäre Narrativierung der menschlichen Erfahrung“ (ZuE III 7) auch auf anderen – psycho-
logischen, soziologischen und anthropologischen – Wegen zu lösen (ebd., 7 f.).
2  Plessner und Ricœur? Anschlusspunkte und Verbindungslinien 37

Eine solche Anthropologie bildet auch eine der Wurzeln des ricœurschen
Gesamtwerks – allerdings bleibt sie größtenteils unformuliert und daher absent
(de Leeuw 2013: 2).54 Ricœur entwirft zwar keine explizite ‚Anthropologie‘, doch
ziehen sich grundlegende anthropologische Themen und Fragestellungen in ver-
schiedenen Konjunkturen durch sein gesamtes Werk (Orth 2004: 16).55 Dabei lässt
sich auch von einer „anthropologisch relevanten Tiefenstruktur“ (ebd., 29) spre-
chen. Die Hermeneutik des Selbst hat anthropologische Implikationen (Greisch
2009: 105–141).56 Dadurch geraten die Ergebnisse des ricœurschen Denkens
„inhaltlich in der Nähe zur Philosophischen Anthropologie“ (Bedorf 2015: 270).
Auch wenn sie keine expliziten Verbindungen und direkten Rezeptionslinien auf-
weisen,57 so lassen sich doch systematische Verknüpfungen und Verschränkungen
mit Begriffen und Konzepten Philosophischer Anthropologie nachvollziehen.58
Dabei können durch Verbindung mit Plessner u. a. die Konzepte der Unergründ-
lichkeit und exzentrischen Positionalität des Menschen für die Philosophie
Ricœurs fruchtbar gemacht werden.
Beide, Plessner wie auch Ricœur, fokussieren die Unmöglichkeit, das mensch-
liche Subjekt in endgültig feststellender Weise zu definieren. Parallel zu Pless-
ners Konzipierung des Menschen als weltoffenes Wesen bzw. als offene Frage
spricht Ricœur etwa von der „Nicht-Koinzidenz des Menschen mit sich selbst“

54Siehe auch die zentrale These von de Leeuw (2013: 3): „My main working hypothesis is that
Ricœur’s entire project tacitly absorbs the anthropological tradition while renewing its import-
ance as a hermeneutic and humanistic anthropology. This means that the task of a philosophical
anthropology is to understand the human both through its interpretative and creative ability and
its capability to act towards, with and for others; the interpretation of the world in front of us,
the interpretation of ‚who we are‘ and the interpretation of what it means to be among others (as
‚other selves‘) coalesces in a humanistic anthropology that binds the question of poetic (self-)
understanding to a moral, ethical and just overall project reflecting our common existence“.
55Vgl. auch: „Zwar ist ‚Anthropologie‘ kein Begriff, dem Paul Ricœur in seinen Schriften

besondere Beachtung geschenkt hätte, geschweige denn, dass er sein Philosophieren selbst unter
diesen Titel gestellt hätte. Gleichwohl lassen sich zentrale Etappen seines Werkes als Beiträge
zur großen klassischen Frage Kants zusammenführen: Was ist der Mensch?“ (Bedorf 2015: 269).
56In einer Nebenbemerkung in Das Selbst als ein Anderes bezeichnet Ricœur die von ihm

erarbeitete Subjektivitätstheorie gar (in Parallelität zur heideggerschen Fundamentalonto-


logie) als „Fundamentalanthropologie“ (SAA 127), die in Opposition zu Versuchen der Letzt-
begründung nach dem Modell des cartesianischen Cogito gestellt werden soll.
57„So bleibt es ein Kuriosum, dass aus anthropologischen Forschungen im engeren Sinne über-

haupt kein Name fällt, sich [im Werk Ricœurs] keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung mit
den Größen der deutschsprachigen Anthropologie des 20. Jahrhunderts finden“ (Bedorf 2015:
271).
58Das daraus sich ergebende Vorgehen der Untersuchung – das systematische Zusammendenken

zweier Ansätze, die vermutlich nicht im direkten Kontakt miteinander standen – ist mittlerweile
auch in der Plessner-Forschung kein allzu ungewöhnliches Unterfangen mehr. So arbeitet bspw.
Thomas Ebke (2012) an einer systematisch-methodologischen Verschränkung der Anthropologie
Plessners und der Epistemologie Canguilhems. Auch bei diesen beiden Philosophien finden sich
keinerlei Hinweise auf eine gegenseitige Rezeption oder überhaupt nur Wahrnehmung.
38 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

(Ricœur 1971: 17) und kennzeichnet das menschliche Ich als „ortlos“ (SAA 26).
Der Begriff der exzentrischen Positionalität kann hierfür eine naturphilosophische
Grundlage bieten. Das Ich ist zunächst einmal ohne Halt und ohne Inhalt. Es
muss sich transzendieren und wird dadurch dezentral. Im Versuch, einen Halt zu
bekommen, muss es sich auf etwas beziehen, das es sich entgegensetzen kann. Das
erste anthropologische Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit kann hierbei die
Entstehung dieses künstlichen Gegensatzes bzw. Halts aus der natürlichen Dis-
position des menschlichen Subjekts verständlich machen. Das zweite anthropo-
logische Grundgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit reflektiert auch die damit
verbundenen erkenntnistheoretischen Konsequenzen und führt aus, dass Selbst-
deutung nur über Andere und Anderes geht. Das dritte anthropologische Grund-
gesetz des utopischen Standorts zeigt auf, warum das menschliche Selbst nie zur
vollkommenen Übereinstimmung mit sich selbst und seinen Objektivationen kom-
men kann und beständig über sich selbst und seine Objektivationen hinausgeht.
Anhand der ricœurschen Konzepte der narrativen Identität und der dreifachen
Mimesis schließlich lässt sich nachvollziehen, wie diese Prozesse schrittweise in
der kulturell-symbolischen Sphäre vollzogen werden. Sie bieten dabei zugleich
einen Ansatz dafür, die allgemeinen anthropologischen Theoreme Plessners auf
den konkreten Menschen in seinen jeweiligen diskursiven, gesellschaftlichen und
kulturellen Kontexten zu übertragen und weiter zu spezifizieren.59 Die allgemeine
(Un)Bestimmbarkeit des menschlichen Wesens würde ihren Ausdruck finden in
der jeweils konkreten (Un)Bestimmbarkeit der personalen Identität. Die narrative
Selbst- und Weltaneignung schließlich könnte als eine – möglicherweise sogar
besonders relevante – Weise der ‚Reaktion‘ des Menschen auf diese allgemeine
und konkrete (Un)Bestimmbarkeit gefasst werden – auf die Leerstelle, die er sich
selbst ist; denn laut Ricœur findet das menschliche Selbst in seinem Selbstbezug
„in der Erzählung eine ausgezeichnete Vermittlung“ (ebd., 142). Damit bieten die
ricœurschen Konzepte auch die Möglichkeit der Übertragung der plessnerschen
Anthropologie in subjektivitäts- und erzähltheoretische Diskurse. Dies ermöglicht
wiederum den systematischen Anschluss an aktuelle Forschungsfragen literari-
scher Anthropologie.

59In seiner Dissertation zur philosophischen Anthropologie Ricœurs setzt sich de Leeuw mit den
Theorien Max Schelers, Arnold Gehlens und Ernst Cassirers auseinander. In einer Fußnote ver-
weist er allerdings auf die Relevanz der Verbindung der theoretischen Ansätze von Plessner und
Ricœur: „Plessner’s bio-philosophical notion of ‚excentric positionality‘ (Exzentrische Positio-
nalität) and ‚mediated immediacy‘ (vermittelter Unmittelbarkeit) as core aspects of the human
do have particular similarities with Ricœur’s purely hermeneutic concepts of ‚distanciation‘ and
‚mediated meaning‘. A comparison of Ricœur and Plessner would be an interesting project, one
yet to be embarked upon“ (de Leeuw 2013: 33, Anm. 73). Dabei geht es in der vorliegenden
Studie weniger um einen Vergleich beider Denker und mehr um eine systematische Zusammen-
führung zentraler Begriffe und Konzepte sowie die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen
auch im Blick auf die Analyse literarischer Texte.
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 39

3 Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer


Anthropologie

Mit den Ansätzen literarischer Anthropologie tritt auch die Frage nach der Rele-
vanz von Literatur für das menschliche Leben in den Vordergrund. Sie soll im
weiteren Verlauf der Arbeit unter anderem im Rekurs auf Paul Austers New York
Trilogy thematisiert werden. Ricœur begreift Literatur als ein Laboratorium, das
Denkexperimente entwickelt, in denen die narrative Identität der menschlichen
Figur unzähligen imaginären Variationen und Prüfungen unterworfen wird (NI
62, vgl. SAA 182 und 201); was, wie noch gezeigt werden wird (siehe Kap. 4),
in besonderer Weise auch für die Romane Austers gilt. Dabei vertritt Ricœur die
These, „daß das, was in einem Text interpretiert wird, der Vorschlag einer Welt ist,
in der ich wohnen und meine eigensten Möglichkeiten entwerfen könnte“ (ZuE
I 127). Die literarische Fiktion erschafft dabei einen Raum, in dem verschiedene
Antworten auf existenzielle Fragen experimentell durchgespielt (vgl. Mattern
1996: 171) und zugleich Neubeschreibungen und Neubedeutungen der Welt
erzeugt werden können (ZuE I 127 f.) – die schließlich auch in die menschliche
Lebenswelt übergehen und diese verändern oder bereichern. Dabei vermittelt und
entwickelt Literatur (auch in Auseinandersetzung mit philosophischem Denken)
zugleich bestimmte Identitäts- und Subjektivitätskonzepte auf formaler wie inhalt-
licher Ebene (vgl. Schmitz-Emans 2007a: 402), welche dem Menschen gleich-
sam als Spiegel seiner selbst dienen können und dadurch Einfluss sowohl auf
sein theoretisches als auch praktisches Welt- und Selbstverhältnis haben.60 Davon
ausgehend lässt sich ein Bogen schlagen zu neueren anthropologisch orientierten
Erzähltheorien, die sowohl die theoretischen (u. a. die Erkenntnis leitenden) als
auch praktischen (u. a. die Lebensführung betreffenden) Funktionen von (literari-
schen) Narrationen thematisieren. Dabei geht es dann auch um das Wechselver-
hältnis von Sprach- und Lebensform (Pajević 2012: 13) und um die Verbindung
von Text- und Lebenswelt: „Literatur zeigt die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie
sie Menschen vorkommt“ (Matuschek 2010: 301). Daher gilt es, das Spannungs-
feld zwischen zwei Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Mensch und Litera-
tur auszuleuchten: a) Das, was der Mensch ist, erfährt er durch das Medium der
Literatur; und b) das, was der Mensch ist, erschafft er im Medium der Literatur.
Einen literaturwissenschaftlichen Rahmen für die Untersuchung der damit ver-
bundenen Fragestellungen bietet die literarische Anthropologie, die sich dem Ver-
hältnis von Anthropologie und Literatur – „als einer wechselseitigen Ermutigung,

60„Als autoreflexive Gebilde besitzen literarische Texte eine epistemologische Dimension, die
sich nicht nur auf das literarische Werk, seine Wissensgehalte und deren Darbietungsweise, nicht
nur auf Sprache und deren Grenze bezieht, sondern darüber hinaus auch auf Sprache, Wissen und
Darstellung schlechthin“ (Schmitz-Emans 2007a: 402).
40 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Reflexion, Kritik“ (Pfotenhauer 1987: 1) – widmet.61 Denn in kaum einem ande-


ren kulturellen Feld spiele die Frage nach dem Menschen eine solch zentrale Rolle
wie in der Literatur (Košenina 2008: 20). In ihr werden, folgt man der kunstphilo-
sophischen Perspektive Martin Seels, Situationen geschaffen, „in denen Situatio-
nen unserer Erfahrung zur Erfahrung kommen können“ (Seel 1991: 53). Dabei
sind die gegenwärtigen Ansätze literarischer Anthropologie zwar keiner einheit-
lichen Methodik verpflichtet (Ridder/Braungart/Apel 2004: 12) und notwendiger-
weise interdisziplinär angelegt (ebd., 14) – es lassen sich jedoch mit Köppe/Winko
(2008: 313) drei Perspektiven und Untersuchungsziele literarischer Anthropologie
unterscheiden.62 Erstens: Die Rekonstruktion anthropologischer Themen in einzel-
nen literarischen Texten oder Gattungen (‚Anthropologie in der Literatur‘). Zwei-
tens: Die Untersuchung des Beitrags literarischer Texte zu einer Anthropologie
(‚Literatur als Anthropologie‘). Drittens: Die Suche nach einer anthropologisch
orientierten Erklärung für das Phänomen der Literatur (‚Literatur in der Anthropo-
logie‘). Dabei sollen in der vorliegenden Arbeit die zu analysierenden Texte aus
diesen drei Perspektiven betrachtet werden.

3.1 Anthropologie in der Literatur

Aus der ersten Perspektive geht es v. a. um die Frage, welches Wissen über den
Menschen sich in Literatur zeigt und durch diese vermittelt wird (Riedel 2000:
432). Indem Literatur von menschlichen Erfahrungen zeugt und menschliche

61Für eine Kritik an literaturanthropologischen Fragestellungen im Rahmen literaturwissen-


schaftlicher Forschung siehe z. B. Bittner (2004), der die Position vertritt, dass die Kategorie
‚Mensch‘ für die Literaturwissenschaft belanglos sei: „Wer Mentalitäten oder etwa das Umgehen
einer Kultur mit Fremden an Texten ins Licht hebt, verschafft uns Erkenntnis, an der uns liegt
und die uns auch verwandte Gegenstände besser verstehen lassen wird. Mit Anthropologie hat
das nichts zu tun. Der Mensch kommt nicht dann erst in den Blick, wenn es um Kindheit, Tod,
Fremdheit, Gewalt, oder was sonst die Stichwörter sind, geht. Lesen wir statt dessen Texte orien-
tiert an der gesellschaftlichen Funktion, die sie einmal hatten, oder an den Klassenunterschieden,
die sie bezeugen, oder an der Geschichte des Geistes, die sich in ihnen offenbart, so sind wir vom
Menschlichen nicht weiter entfernt“ (Bittner 2004: 335 f.).
62Die hier gewählte Klassifikation unterscheidet sich von derjenigen Wolfgang Riedels (2004),

der, etwas trennschärfer, zwei Begriffe literarischer Anthropologie auseinander hält: Auf der
einen Seite findet sich die an der Kulturanthropologie orientierte literaturwissenschaftliche
Forschung (also: eine philologische Tätigkeit), auf der anderen Seite die anthropologische
Gegenstände verarbeitende Literatur selbst (also: eine spezifische Funktion bzw. Kompetenz lite-
rarischer Texte). Dem entsprechen bei Riedel dann auch zwei Ausrichtungen: Literaturwissen-
schaft als Anthropologie („literary anthropology“) einerseits und Literatur als Anthropologie
andererseits („literarische Anthropologie“). Die hier weiter verfolgten drei Perspektiven fokus-
sieren hingegen vor allem literaturwissenschaftliche Forschungen. Dabei ist darauf hinzuweisen,
dass die dadurch getroffenen Unterscheidungen im Sinne einer idealtypischen Heuristik zu ver-
stehen sind. Die einzelnen Positionen selbst sind äußerst heterogen und nicht immer trennscharf
voneinander abzugrenzen; weshalb auch einzelne Vertreter dieser Positionen unterschiedliche
Perspektiven einnehmen und dementsprechend hier auch unter mehreren Perspektiven themati-
siert werden können.
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 41

Figuren in einer bestimmten Weise zeigt, transportiert sie direkt oder indirekt
ein bestimmtes Menschenbild (Köppe/Winko 2008: 314) – und stellt dar, als wer
oder was sich der Mensch (in verschiedenen historischen Epochen und sozia-
len Konstellationen) erfährt, denkt und bestimmt. Dies markiert zum einen eine
Trennungslinie zu all dem, was als nicht-menschlich (Pflanzen, Tiere, Geister,
Götter, Maschinen etc.) gefasst und vorgestellt wird. Zum anderen offenbaren die
jeweiligen Menschenbilder das grundlegende Selbstverständnis, das sich Men-
schen in einem bestimmten historischen, sozialen und kulturellen Kontext von sich
selbst bilden und das zugleich die Gestaltung des individuellen wie auch sozia-
len Lebens beeinflusst (Barsch/Hejl 2000: 7). Dabei geht es aus literaturwissen-
schaftlicher Perspektive unter anderem um die jeweiligen literarischen Formen der
Darstellung menschlicher Charaktere mit Blick auf ihre Erfahrungen und Gefühle,
Einstellungen und Ängste, Denk-, Verhaltens- und auch Erleidensweisen in ihren
jeweils konkreten historisch, sozialen und räumlichen Kontexten. Literatur und
Anthropologie thematisieren also, mit jeweils unterschiedlichen Mitteln, den glei-
chen Gegenstand: den Menschen. Literatur wird hierbei als ein anthropologischer
Diskurs verstanden (Ridder/Braungart/Apel 2004: 16, Riedel 2004: 361).
Dabei stehen Anthropologie und Literatur – quasi auf der Objektebene – in
einem Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung. Beispielhaft lässt sich dieses
Wechselverhältnis u. a. anhand der Untersuchungen Pfotenhauers zum 18. Jahr-
hundert vor Augen führen. Auf der einen Seite ist es die Anthropologie, die „sich
Unterstützung von den ästhetischen Praktiken erwartet und die Literatur zur Refle-
xion jener menschlichen Ganzheit ermuntert“ (Pfotenhauer 1987: 1) – und dement-
sprechend auf die Literatur einwirkt. Auf der anderen Seite ist es die Literatur, die
„ihrerseits sich als Anthropologie sui generis versteht, nämlich als einen authen-
tischen, durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion gewonnenen Aufschluß über
die Natur des Menschen“ (ebd.) – und dementsprechend auf die Anthropologie
einwirkt. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert fungiert Literatur dabei als „zent-
rales anthropologisches Reflexionsmedium“ (Barsch 2004: 279 mit Verweis auf
Riedel 1994). Anthropologische Theorien, Ansichten und Meinungen – seien sie
nun unter anderem bezogen auf Psyche oder Physis, Charakter oder Bildung, Ver-
stand oder Sitte, Gesundheit oder Krankheit, Liebe oder Tod, Lüste oder Ängste
des bzw. der Menschen – werden narrativisiert und dramatisiert (Pfotenhauer
1987: 1); also in eine jeweils spezifisch literarische Form gebracht.63 Das Ver-
stehen einer bestimmten literarischen Form und/oder eines konkreten Textes führt

63Im besonderen Fokus der Untersuchung Pfotenhauers (1987) steht dabei die Autobiografie
als eine literarische Form, die es ermöglicht, die beiden – gemäß des traditionell dualistischen
Denkens: getrennt voneinander existierenden – Seiten des Menschen zusammenzuführen; eine
Möglichkeit, die Naturwissenschaften und Philosophie zu jener Zeit bereits verspielt hätten
(Schlaeger 2004: 152). Siehe für die von Pfotenhauer untersuchten anthropologischen Denk-
bzw. Argumentationsrichtungen auch folgendes Zitat: „Es sind dies die auf den Reflexions-
bereich des einzelnen Subjekts bezogenen [Argumentationsrichtungen, MW] und nicht auf die
Rassen und die physische und psychische Konstitution der Gattung. Für diese Anthropologien
42 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

dann wiederum zum Verstehen eines bestimmten anthropologischen Wissens; und


umgekehrt. Dementsprechend entwickeln sich nicht zufällig literarische Ästhetik
und anthropologische Wissenschaft(en) nebeneinander und miteinander (van Laak
2009: 340, Bornscheuer 1985: 433).64 Der literarischen Fiktion kommt daher eine
jeweils bestimmte und zu bestimmende Rolle in der Geschichte des menschlichen
Selbst- und Weltverstehens zu (Barsch 2004: 280); mitunter fördert sie – ein klas-
sisches Beispiel bietet das in der Literatur des 18. Jahrhunderts entstehende und
anschließend wirkmächtige Bild des ‚ganzen Menschen‘ als einer leibseelischen
Einheit – auch das Zustandekommen eines neuen Menschenbildes. Dement-
sprechend beschäftigt sich die Forschungsperspektive ‚Anthropologie in der Lite-
ratur‘ auch mit literaturhistorischen Fragestellungen, die Verbindungslinien zur
historischen Anthropologie aufweisen und die Frage stellen: Wie haben Menschen
zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. Zeitabschnitt an einem bestimmten Ort bzw.
innerhalb einer bestimmten Region über sich selbst als Menschen gedacht, von
welchen Einflüssen war dieses Denken geprägt und welche Auswirkungen hat es
einerseits auf literarische Texte und andererseits auf gesellschaftliche Formationen
und Bewegungen gehabt?65

des Einzelmenschen wird dann die Autobiographie als Quelle der Erkenntnis des ganzen Men-
schen bedeutsam“ (Pfotenhauer 1987: 5). Gleiches gilt für das biografische Erzählen; auch die-
ses betrachtet das individuelle menschliche Leben immer wieder „in den Bedingungen seines
spezifischen Mensch-Seins“ (von Zimmermann 2009: 62). Von Zimmermann spricht in diesem
Kontext auch von einer biografischen Anthropologie, die als spezielle Form der literarischen
Anthropologie verstanden werden kann (ebd.). Dabei lasse sich gerade an der Biografik eine
gewisse Pluralisierung der Menschenbilder ablesen (ebd.: 66).
64„In der Perspektive einer Literarischen Anthropologie ist dies kein bloßes Nebeneinander oder
gar Zufall, sondern geradezu wechselseitige Bedingung. Denn die Tatsache, dass für den Men-
schen (als ein sinnbedürftiges Lebewesen) Literatur, Sprache, Schrift oder die Künste als kultu-
relle Medien immer schon einen anthropologischen Stellenwert haben, erhält mit der Entfaltung
der Anthropologie als eines ausdifferenzierten Wissensbereiches eine umfassendere und selbst-
referenzielle, meta-reflexive Bedeutung, die Literatur zu dem diskursiven Medium der Sinnlich-
keit und Naturhaftigkeit des Menschen werden lässt“ (van Laak 2009: 340).
65Beispielhafte und mitunter sehr genaue Untersuchungen finden sich u. a. bei Pfotenhauer

(1987), Barkhoff/Sagarra (1992), Schings (1994), Bergengruen (2001) und Košenina (2008) für
das 18. Jahrhundert, Riedel (1994) und Heinz (1996) für die Spätaufklärung, Riedel (1996) und
Pfotenhauer/Riedel/Schneider (2005) für die Zeit um 1900 und Riedel (2014) für das 20. Jahr-
hundert. Gerade das seit den 1980er Jahren verstärkt auftretende und zunehmende Interesse für
das 18. Jahrhundert bildet dabei eine der beiden zentralen Traditionslinien literarischer Anthropo-
logie (van Laak 2009: 338). Auf dieser Traditionslinie bauen auch aktuelle Forschungen auf, die
in ihren Themenstellungen u. a. spezifische anthropologische Teil- und Nebendiskurse in ihren
historischen Ausprägungen und Entwicklungen im Spiegel literarischer Texte fokussieren. Hier-
bei geht es bspw. um Geschlechterdiskurse (Catani 2005, Igl 2014), Krankheitsdiskurse (Bölts
2016) oder ökonomische Diskurse (Bauer 2016). Um nur ein Beispiel zu umreißen: Unter dem
Stichwort der literarischen Wirtschaftsanthropologie wird etwa der Beitrag literarischer Texte
zum (historischen) Diskurs über den wirtschaftenden Menschen untersucht (ebd., 22 f.). Dadurch
gerät Literatur „als Medium des ökomischen Denkens“ (ebd., 15) in den Blick, das ökonomische
Rollen- und Menschenbilder darstellt, ausbildet, gestaltet, fortschreibt und/oder kritisch reflek-
tiert (ebd., 24); und zwar indem sie u. a. zentrale wirtschaftsanthropologische Fragen verhandelt:
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 43

Somit bildet also – quasi auf der Metaebene – nicht nur der Mensch, sondern
auch die Anthropologie (die Lehre bzw. Lehren vom Menschen) den Gegen-
stand der Literatur und ihrer Erforschung. Dabei nehmen literaturwissenschaft-
liche Untersuchungen zwei Aspekte unter die Lupe.66 Zum einen verfahren sie
inhaltsbezogen und fragen, welche historischen Annahmen über den Menschen in
bestimmten Texten und Gattungen zum Ausdruck gebracht werden (Köppe/Winko
2008: 314).67 Zum anderen verfahren sie formbezogen und fragen, in welcher
Weise und mit welchen (narrativen) Mitteln anthropologisches Wissen dargestellt
wird (Köppe/Winko 2008: 314). Wobei auch zu hinterfragen ist, inwieweit diese
beiden Blickwinkel im Wechselverhältnis zueinander stehen und sich gegenseitig
bedingen.68 Ziel und Fragerichtung solcher Untersuchungen sind indes jedoch mit-
unter einseitig ausgerichtet: Sie fragen ‚lediglich‘ danach, „welche Anthropologie,
welches Konzept vom Menschen im ästhetischen Diskurs steckt“ (Ridder/Braun-
gart/Apel 2004: 16). Es geht hierbei um die Entbergung, Offenlegung und Refle-
xion impliziter anthropologischer Prämissen und Modelle (van Laak 2009: 338).

„Welche Rolle nimmt der Mensch in ökonomischen Prozessen ein? Wie positioniert er sich in
den Bereichen der Produktion, der Distribution und der Konsumtion? Welches Ethos und welche
Gesinnung werden dem Menschen von ökonomischen Überlegungen zugeschrieben? Wie ver-
steht er sich selbst als Mensch im Umgang mit Waren und mit anderen wirtschaftenden Men-
schen? Inwiefern geht sein Menschsein in seinem Wirtschaften auf? Und nicht zuletzt: Welche
Menschenbilder werden im ökonomischen Handeln und im ökonomischen Diskurs verbreitet
und etabliert?“ (ebd., 20 f.) An solchen Untersuchungen zeigt sich auch, dass (nicht nur literari-
sche) Menschenbilder als „konzeptionelle Netzwerke“ (Barsch/Hejl 2000: 11) verstanden werden
können, die punktuell mit anderen konzeptionellen Netzwerken – bspw. Vorstellungen von ‚der
Natur‘ etc. – verknüpft sind (ebd.).
66Zu beachten ist allerdings auch, dass solche Untersuchungen immer schon über eine bestimmte

Theorie dessen verfügen müssen, was der Mensch sei, um literarische Texte daraufhin unter-
suchen zu können.
67Ein Mittel dazu ist bspw. die Untersuchung von Figurendarstellungen, hinsichtlich derer sich

vier anthropologisch orientierte Fragerichtungen und Perspektiven unterscheiden lassen (vgl. im


Folgenden Jappe/Krämer/Lampert 2012: 12–15): 1. Welche Relationen bestehen zwischen außer-
literarisch vorhandenem Wissen und literarischen Figurenkonzeptionen und in welcher Weise
finden Transformationen statt? 2. In welcher Weise und für die Verhandlung welcher Themen,
Probleme und Wissensbereiche werden literarische Figurendarstellungen im Text genutzt? 3.
Welches Wissen und welche Wissensgebiete werden vermittels literarischer Figurendarstellungen
im Rezeptionsakt aufgerufen und aktiviert? 4. Welches Wissen wird durch den Rezeptionsakt neu
geschaffen? Dabei fokussieren die ersten beiden Fragen vor allem die Seite der Produktion und
des Inhalts literarischer Texte, die letzten beiden Fragen vor allem die Seite der Rezeption und
Verarbeitung literarischer Texte. Mit der literarischen Darstellung von Figuren ist dann wiederum
der Entwurf typischer Lebenswelten verbunden, die im Rezeptionsakt vermittelt und angeeignet
werden können: „Literarische Figuren entwerfen typisierte Lebenswelten, in denen die Leser zu
Gast sein können“ (Matuschek 2010: 303).
68Die bisher angestrengte Methodenreflexion ist auch deshalb so umfangreich ausgefallen, weil

die Frage, inwiefern formale und inhaltliche Bestimmung des Menschen einander bedingen,
nicht nur ins Zentrum der plessnerschen Philosophie weisen, sondern in das Zentrum mensch-
lichen Selbstverständnisses überhaupt.
44 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Dadurch erforschen sie gewissermaßen die „verborgene Anthropologie“ (Riedel


2004: 363, Anm. 60). Sie nutzen dazu, so Košenina, „inhaltliche wie methodische
Perspektiven, die sich aus der ‚Menschenkunde‘ ergeben“ (Košenina 2012: 17) –
und zwar „für ein besseres Verständnis von Texten“ (ebd.).69
Dieses Vorgehen bedingt auch zugleich die mögliche Kritik an solchen – ins-
besondere auch literaturanalytisch und -geschichtlich ausgerichteten – Ansätzen,
aus deren Perspektive literarische Texte v. a. als Weisen der Darstellung und Ver-
mittlung von anthropologischem Wissen in den Blick geraten, dieses Wissen den
Texten mitunter aber – selbstverständlich nicht ausschließlich – einerseits als
geradezu ‚vorgelagert‘ gedacht wird und dabei andererseits auch die performativen
und anwendungsbezogenen Dimensionen des (literarischen) Erzählens miss-
achtet werden.70 Zwar beziehen sich Literatur und Anthropologie auf den gleichen
Gegenstandsbereich, doch ist aus dieser Forschungsperspektive die Literatur der
Anthropologie insofern untergeordnet, als sie ‚bloß‘ ein schon vorhandenes Wis-
sen über den Menschen ausdrückt. Der Inhalt literarischer Texte müsste demzu-
folge in das Themengebiet der Anthropologie gehören (Köppe/Winko 2008: 313).
Die Perspektive ‚Anthropologie in Literatur‘ ist damit insbesondere auf die Ebene
der Textinterpretation gerichtet.

3.2 Literatur als Anthropologie

Aus der zweiten Perspektive wird v. a. untersucht, welches Wissen über den Men-
schen durch Literatur geschaffen wird. Fernando Poyatos, gelegentlich auch als
Begründer der literarischen Anthropologie als eines eigenständigen Forschungs-
programms bezeichnet (Neumeyer 2009: 177, Schlaeger 2004: 151), führt dazu
aus: „narrative literature […] constitutes without doubt the richest source of
documentation about human life styles and the most advanced form of one’s pro-
jection in time and space and of communicating with contemporary and future
generations“ (Poyatos 1988b: 4). Dadurch wird eine enge Verbindung mit der

69Beispielhaft lassen sich dafür die Ausführungen Pfotenhauers (1987: 1) zum Roman in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anführen: „Im neueren Roman hilft die Menschenkunde zur
Konstitution eines Charakters, der sich dem Gesetz der ‚inneren Geschichte‘ nach entwickelt;
die anthropologisch geschulte Faktorenanalyse ergibt den Zusammenhang der verschiedenen
Bedingungen, welche ein Individuum als sinnlich-sittliche Komplexion formen.“ Auf ein „besse-
re[s] Verständnis der Literatur“ zielen auch Ridder/Braungart/Apel (2004: 16) ab; und das heißt:
dass möglicherweise „durch historisch-anthropologische Ansätze literarische Werke dichter und
historisch genauer erschlossen werden können“ (ebd., 17).
70So merkt z. B. Barsch (2004: 296) an, „daß sich literarische Anthropologie nicht auf den

Bereich der Analyse von Texten beschränken muß, sondern auch den Blick auf den mit Literatur
Handelnden werfen kann“.
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 45

Kulturanthropologie bzw. Ethnologie hergestellt,71 in der es vor allem „um eine


‚dichte Beschreibung‘ gerade der Diversität der Kulturen“ (Mellmann 2011:
179) sowie um die „kulturellen Dimensionen von Lebenswirklichkeit“ (Bach-
mann-Medick 1996: 11) geht – oder, anders und grundlegender gewendet: darum,
Kultur als Text72 zu lesen bzw. lesbar zu machen und somit auch die „Grundlagen
der Konstituierung kultureller Bedeutung“ (ebd., 8) zu verstehen.73 Die Konstitu-
ierung kultureller Bedeutung steht wiederum in engem Zusammenhang mit der
Repräsentation und Verarbeitung von Selbst- und Fremderfahrungen sowie der
damit verbundenen Herstellung, Vermittlung und Tradierung kultureller Selbst-
und Fremdbilder: „Literarische Texte sind Medien kultureller Selbstauslegung,
deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet“ (ebd., 9).74
Dabei werden die verschiedenen Lebens-, Verhaltens- und Denkformen sowohl
auf synchroner als auch auf diachroner Ebene in den Blick genommen. Litera-
tur wird nicht nur als Medium, sondern auch als Quelle und Erscheinungsform
anthropologischen Wissens betrachtet (Köppe/Winko 2008: 315, Braungart/

71Die seit den späten 1970er Jahren sich zeigende Erweiterung literaturwissenschaftlicher For-

schung durch kulturanthropologische und ethnologische Fragestellungen, Konzepte und Metho-


den bildet die zweite zentrale Traditionslinie literarischer Anthropologie (van Laak 2009: 338).
Gemeinsam ist diesen beiden Ansätzen das „methodologische Bedürfnis einer lebensweltlichen
Kontextualisierung von literarischen Texten“ (ebd., 342).
72Doris Bachmann-Medick bestimmt die Metapher von Kultur als Text folgendermaßen: „Kultur

als Text – was heißt das? Kultur gilt in der interpretativen Kulturanthropologie nicht mehr nur als
einheitliches Gesamtgefüge, das in der Summe von Normen, Überzeugungen, kollektiven Vor-
stellungen und Praktiken aufgeht. Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die – über
das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus – auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen
usw. verkörpert sind. Solche Ausdrucksformen sind höchst aufschlußreich, wenn es darum geht,
das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kultu-
rellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren“ (Bachmann-Medick 1996:
9 f.). Die Grundlage dieses semiotischen Kulturverständnisses findet sie wiederum im Kultur-
begriff der cultural studies; prominent und wirkmächtig in diesem Forschungsfeld etwa Clifford
Geertz (2003: 9), der, in Anlehnung an Max Weber, davon spricht, dass der Mensch in einem
„selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe“ verstrickt sei. Zu erwähnen ist dabei aber auch, dass
Geertz – mit Blick auf das Postulat der ‚Lesbarkeit‘ von Kultur – sich in der gleichen Traditions-
linie bewegt wie die Hermeneutik Ricœurs: „Bedeutungskonstituierend sind danach weder die
Absichten eines Sprechers, eines Handelnden oder eines Autors, noch ist es die jeweilige aktuelle
Handlungssituation, sondern vielmehr ein demgegenüber objektivierterer Sinnhorizont des Tex-
tes“ (Bachmann-Medick 1996: 23 f.). Dieser wird als materieller Träger von Wahrnehmungen,
Emotionen und Verstehensweisen aufgefasst (Bachmann-Medick 2004: 306).
73Womit schließlich auch „ein kulturwissenschaftliches Neuverständnis von Literaturwissen-

schaft als historischer Kulturanthropologie“ (Riedel 2000: 433) einhergeht.


74In die gleiche Richtung geht es auch in den internationalen Diskussionen. Lecercle (1996: 2 f.)

etwa schreibt: „The ‚anthropological turn‘ […] means an increased awareness of the pragmatic
structure that produces meaning. The object of such anthropology is to study and chart the nego-
tiation of meaning, of selfhood and otherness, in a given culture.“ Dementsprechend forciert die
„anthropologische Wende“ (Bachmann-Medick 1996, Schlaeger 1996) zugleich auch einen Para-
digmenwechsel und eine Neuausrichtung der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Literatur
wird aus dieser Forschungsperspektive „nicht als autonomes System mit eigenen Werten, Strukturen
und Regeln betrachtet, sondern als Teil der Gesamtkultur, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution,
Tradierung und Veränderung von kulturellen Sinn- und Zeichenbildungen“ (Zymner/Engel 2004: 8).
46 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Till 2007: 417) – in jedem Fall also als etwas, das das jeweils zeitgenössische
anthropologische Wissen ergänzen und bereichern kann. Daher haben Litera-
tur und Anthropologie nicht nur einen gemeinsamen Gegenstand, sondern auch
ein gemeinsames Ziel: die Erweiterung des Wissens über den Menschen (Köppe/
Winko 2008: 315).
Beispielhaft sei hier Poyatos’ Ausdifferenzierung kultureller Systeme
angeführt, die in ihren gegenseitigen Einflussnahmen und Beziehungen auf syn-
chroner und diachroner Ebene zu erforschen seien und vom religiösen Denken
über die Konzeptualisierung von Raum und Zeit bis zur Haushaltsführung reichen:

From the early epics to the contemporary novel, the various types of realism we can
differentiate can be systematically studied as invaluable sources, often the only ones
(beyond the limitations of representational art forms) for the documentation of (a) sen-
sible systems, i.e., verbal language, paralanguage (voice modifications and meaningful
independent sounds), culture-specific kinesics (gestures, manners, postures), proxemics
(conceptualization and handling of space), chronemics (conceptualization and handling of
time), and the objectual and environmental systems (from nutritional and pseudonutritio-
nal products, through clothes, tools and furniture, to architecture, landscaping and flora),
including man-animal-interaction as shaped by each culture; and (b) intelligible systems:
from religious thought, rituals and celebrations, through social patterns of relationships,
moral values, etiquette, household activities, etc., to politics, folklore, popular beliefs,
games and the arts (Poyatos 1988a: xiii f.).

Um den damit verbundenen Umfang zu dokumentieren, sei hier auch Poyatos’


(1988b: 9) schematische Klassifikation mit aufgeführt:
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 47

Der Kritik ausgesetzt ist jedoch der damit verbundene ‚positivistische‘ Ansatz, der
einerseits nicht zwischen den spezifischen Formen literarischer und nicht-literari-
scher Texte unterscheidet und andererseits Literatur als bloßes Archiv anthropo-
logischer Dokumente betrachtet (Schlaeger 2004: 151) – versteht er doch Literatur
„nicht primär als Objekt der ‚Kunst‘, sondern als Objektivation der ‚Kultur‘, zu
der sie historisch und geographisch gehört“ (Riedel 2004: 339). Literatur fungiert
jedoch eben nicht bloß als Dokumentation bestimmter historisch und kulturell vor-
handener Bilder des Menschen, seiner – naturhaft vorhandenen und/oder kulturell
hergestellten – Welt sowie seiner Welt- und Selbstwahrnehmung. Sie erschafft,
hinterfragt, transformiert, ergänzt und kritisiert vielmehr bestimmte Menschen-
bilder bzw. anthropologisches Wissen und hat somit direkten Einfluss auf das
Selbstverständnis des Menschen. Sie ist damit zu verstehen als eine spezifische
Form der Welt- und Menschenbilderzeugung (Ridder/Braungart/Apel 2004: 16).
Dies ist nicht unerheblich: Denn das jeweils gesellschaftlich anerkannte Menschen-
bild kann normative Geltung erlangen; und dadurch die individuellen Bedürfnisse,
Normen, Ziele und Handlungsoptionen ebenso bestimmen wie die Erwartungen
an das eigene wie auch fremde Selbst (Barsch/Hejl 2000: 7). Daher werden spezi-
fische Menschenbilder in der Regel auch praktisch wirksam. Dabei sind aus die-
ser Perspektive literarischer Anthropologie nicht nur die spezifischen Inhalte des
literarischen Textes zu erforschen, sondern auch die Form, in der er kulturelle und
anthropologische Wahrnehmungsweisen entfaltet, vermittelt und prägt (vgl. Bach-
mann-Medick 2004: 305 f.).
Vor diesem Hintergrund geht es aus der Perspektive anthropologischer Frage-
stellungen auch zunehmend um die Erforschung der spezifisch literarischen
Verfahren der Wissensgenerierung und des literarischen Umgangs mit Wissens-
ordnungen.75 Sie gehen davon aus, dass die verschiedenen Wissenschaften und
Wissensordnungen zwar spätestens seit der Aufklärung von moderner Literatur
rezipiert, verarbeitet und angeeignet werden, diese Aneignung aber zugleich mit
einer wesentlichen Umformung des Wissens und der Wissensordnungen ver-
bunden ist (Riedel 2014: xiv, Riedel 2004: 362 f.). Literatur wird so zu einem Ort
der „internen Transzendierung der Wissensordnung“ (Riedel 2004: 362). Wolf-
gang Riedel schreibt dazu:

75Dies wird auch von Bachmann-Medick mitgedacht, die auf die ‚literarischen‘ Mittel der
ethnologischen Forschung (z. B. Interviews, Selbstzeugnisse, Autobiografien, Briefe und Colla-
gen) verweist und damit die gegenseitige Annäherungsbewegung von Literatur und Ethnografie
(Stichwort: ‚writing culture‘) thematisiert; wobei z. B. klassische ethnografische Untersuchungen
auf einen ethnografischen Realismus basierten, der individuelle Beobachtungseindrücke zu kul-
turellen Ganzheiten synthetisiert und sich dabei an den Vorbildern des literarischen Realismus
orientiert habe (Bachmann-Medick 2004: 303). Zusammenfassend schließt sie: „Die Haupt-
konvergenzpunkte liegen somit in der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf rhetorische Probleme
der Kulturbeschreibung, auf die Einbindung in weitere, textübergreifende Diskurse und Macht-
beziehungen sowie in einem gemeinsamen Überdenken der Frage der Repräsentation durch eine
Neubestimmung der literarischen Kunstmittel“ (Bachmann-Medick 1996: 20).
48 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Literatur ist kein Epiphänomen von Wissenschaft, und umgekehrt sind Wissenschaft und
Philosophie zwar Ideenlieferanten, aber keine Normgeber für Literatur und Dichtung.
Diese schmelzen vielmehr das Wissen ihrer Zeit, und ebenso das historisch überlieferte,
im Akt der Aneignung immer schon um und unterwerfen es ihrem ‚Eigensinn‘ (Riedel
2014: xiv).

Diese ‚eigensinnige‘ Form kommt dem literarischen Wissen – im Unterschied etwa


zum institutionalisiert hergestellten Wissen akademischer Fächer – nach Riedel
aufgrund von vier charakteristischen Weisen der Wissenserzeugung zu. Der lite-
rarische Wissensdiskurs kann demnach beschrieben werden als: a) synkretistisch:
er hält sich nicht an Fachgrenzen und -normen, sondern vermischt verschiedenste
Bereiche; b) ‚dilettantisch‘: er wird (von einigen Ausnahmen abgesehen) nicht
von Fachleuten geführt; c) sinnorientiert: er stellt die jeweiligen Wissensinhalte
in den Dienst einer spezifischen Deutung seiner konkreten, gegebenenfalls auch
übergeordneten, Themenstellungen; d) subjektiv: er sieht ab von objektivier-
ten, standardisierten und formalisierten Verfahren der Wissensherstellung und
bringt Wissen in anderen – eben nicht-objektivierbaren, nicht-standardisierbaren
und nicht-formalisierbaren und dementsprechend auch in den Wissenschaften
üblicherweise keine Geltung erlangenden – Medien zum Ausdruck, von der sub-
jektiven Wahrnehmung bis zur wahnsinnigen Wahrnehmungs- und Sinnverzerrung
(vgl. Riedel 2004: 362). Dadurch wiederum ist der literarische Diskurs – im Unter-
schied zum Ansatz Poyatos’ – nicht etwa als ein Diskurs unter anderen anthropo-
logischen Diskursen zu verstehen, sondern mitunter auch als Konterdiskurs
(Lobsien 2010: 220).
Insofern Literatur ihre Produzenten und Rezipienten in ein distanziertes Ver-
hältnis zu ihren jeweils eigenen historischen, sozialen und kulturellen Kontexten
versetzt, kann sie also auch als ein Reflexionsmedium verstanden werden, das
weniger als Dokument und mehr als Kommentar von Kultur und Wissen(schaft)
fungiert (vgl. Riedel 2004: 351). Auch Monika Schmitz-Emans verweist auf
die spezifisch literarische Weise der Transzendierung und Kommentierung von
Wissensordnungen:

Literatur verhält sich reflexiv zu außerliterarischen Wissensdiskursen, indem sie diese


zitiert, imitiert, parodiert, simuliert, sie explizit thematisiert oder zum Gegenstand von
Anspielungen macht. Sie bezieht sich nicht nur inhaltlich auf Gegenstände, Thesen und
Theoreme verschiedenster Disziplinen, sie setzt sich auch mit den Formen wissenschaft-
licher Darstellung auseinander. Dadurch werden Wahrheits- und Gültigkeitsansprüche der
Wissensdisziplinen kritisch reflektiert; die konstitutive Bedeutung von Darstellungsmedien
und Wissensordnungen für die erfahrene Welt wird evident (Schmitz-Emans 2010: § A).

Dadurch können literarische Texte auch Bezugspunkte für wissenschafts-


theoretische Fragestellungen bieten (vgl. ebd., § D).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 49

Ob der Literatur als Wissensquelle dabei allerdings auch eine außerlite-


rarische Geltung zukommt, ist eine der Grundfragen der (nicht nur) philo-
sophischen Auseinandersetzungen mit ihr.76 Köppe/Winko (2008: 315  f.)
identifizieren diesbezüglich drei Positionen, die sie als „Anti-Kognitivismus“,
„schwachen Kognitivismus“ und „starken Kognitivismus“ bezeichnen. Dem
Anti-Kognitivismus zufolge besitzen literarische Texte keinerlei Erkenntnis-
potenzial – wofür sich unterschiedliche Begründungen anführen lassen: In ihnen
befinden sich keine Argumente für die Richtigkeit anthropologischer Aussagen;
sie handeln per definitionem von (bloß) Erfundenem; sie vermitteln keine ver-
lässlichen Informationen, weil ihre Autoren unaufrichtig sein dürfen (vgl.
ebd.). Daher wird auch eine scharfe Grenze zwischen der Erkenntnis wissen-
schaftlicher Anthropologien einerseits und der literarischen Thematisierung
des Menschen andererseits gezogen (ebd.). Demgegenüber behaupten Vertreter
des schwachen Kognitivismus, dass sich in literarischen Texten Bausteine einer
Anthropologie finden lassen, die allerdings impliziter und nicht-systematischer
Art sind und (noch zu bestätigenden) Hypothesen über den Menschen gleichen
(vgl. ebd., 316). Demzufolge seien auch Übergänge von literarischen Hypo-
thesen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen möglich. Der starke Kognitivismus
schließlich geht davon aus, dass Literatur als vollwertige und in gewisser Weise
sogar überlegene Quelle anthropologischen Wissens betrachtet werden muss
(vgl. ebd.). Sie ist es, die – im Gegensatz zur wissenschaftlich-theoretischen
Betrachtung des Menschen – eine Innenperspektive auf anthropologische Sach-
verhalte bietet und daher auch ‚den ganzen Menschen‘ im umfassendsten Spekt-
rum seiner Möglichkeiten darstellt (vgl. ebd.).
In der literarischen Anthropologie wird die grundlegende Frage nach dem
Status von Literatur als Wissensquelle auf unterschiedliche Weise und in Aus-
einandersetzung mit unterschiedlichen Theorien, Methoden und Disziplinen in
positiver Weise beantwortet. Für Wolfgang Iser bspw. ermöglicht sie einen Ein-
blick in die grundlegende Konstitution des Menschen. Ebensolche Erkenntnisziele
vertreten auch neuere Ansätze literarischer Anthropologie bzw. anthropologischer
Erzähltheorie (siehe z. B. Neumann 2009: 238).77 Auf Kunst im Allgemeinen
könne, so noch einmal Iser, deshalb nicht verzichtet werden, „weil durch sie eine
Selbstauslegung des Menschen geschieht“ (Iser 1991: 14). Die Literatur führe den
Menschen als das vor, wozu er sich selbst verstehe und mache (Iser 1990: 21, Iser

76Bezüglich der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Wert der Literatur siehe auch die bei-
den Überblicksartikel von Schmitz-Emans (2007a und 2007b). Umfassender und grundlegender
hierzu u. a. auch Gabriel (1991) sowie die Beiträge in Schildknecht/Teichert (1996) und Dem-
merling/Vendrell Ferran (2014).
77Auch für Koschorke (2010: 89) stehen Erkennen und Erzählen nicht im Widerspruch. Denn

narrative Verfahren kommen sowohl in der Organisation als auch Produktion von Wissen zum
Einsatz (ebd.).
50 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

1991: 156).78 Deshalb ist – auch hier ist Iser stichwortgebend und wegweißend –
auf eine axiomatische Bestimmung des Menschen, wie man sie in verschiedenen
anthropologischen Disziplinen finden kann, zu verzichten (Iser 1991: 14, ebenso
auch Neumann 2013: 40 f.). Auf dieser erkenntnistheoretischen und auch lebens-
praktischen Ebene lassen sich Verbindungslinien zur Philosophischen Anthropo-
logie ziehen, an die Iser (siehe dazu unten) und Neumann auch ganz explizit
anknüpfen.79 In Auseinandersetzung mit den Theorien Plessners und Ricœurs wird
und wurde bereits im Verlauf der Arbeit dargelegt, dass eine theoretische und prak-
tische Bestimmung dessen, wer oder was der Menschen ist (bzw. sein kann), nur
über den Umweg seiner Verobjektivierungen realisierbar ist. Aufgrund seiner eige-
nen Unergründlichkeit muss der Mensch sich selbst eine Form und einen Inhalt
geben – und zwar mit künstlichen Mitteln. Dies markiert zugleich auch einen
Übergang zur dritten Untersuchungsrichtung der literarischen Anthropologie.

3.3 Literatur in der Anthropologie

Diese dritte Perspektive fragt nach dem Stellenwert der Literatur im Rahmen einer
anthropologischen Theorie (Köppe/Winko 2008: 317). Damit verbunden sind auch
Fragen nach einer grundsätzlichen Erklärung des Phänomens der Literatur und
ihrer Funktion(en) für den Menschen (ebd., Zymner/Engel 2004: 7, Scheffel 2004:
121). Programmatisch hierfür wurde der Ansatz Wolfgang Isers.80 In seinem Auf-
satz Towards a Literary Anthropology schreibt er:

Since literature as a medium has been with us more or less since the beginning of
recorded time, its presence must presumably meet certain anthropological needs. What
are these needs, and what does this medium reveal to us about our own anthropological
makeup? These are questions that would lead to the development of an anthropology of
literature (Iser 1989a: 210).

78Aus einer auch pragmatisch und systemtheoretisch orientierten Perspektive lässt sich noch
weitergehen und behaupten, dass der Mensch mit Literatur Erfahrungen machen kann, „die ihm
in anderen sozialen Systemen nicht zugänglich sind“ (Barsch 2004: 289).
79Aus biologischer Perspektive verweist Neumann zwar auf konstante artspezifische Besonder-

heiten des Menschen (aufrechter Gang, freie Hand, vergrößertes Gehirn, Sprache etc.),
verzichtet aber in expliziter Bezugnahme auf Plessner zugleich auf eine ‚philosophische‘ Defi-
nition des Wesens des Menschen und verwirft im Zuge dessen auch die naturwissenschaftlichen
Bestimmungen: „Für einen philosophischen Begriff vom ‚Wesen des Menschen‘ können solche
Merkmale freilich nicht als Bestimmung, sondern nur als unhintergehbare Voraussetzungen gel-
ten“ (Neumann 2013: 40). Anstelle einer universellen Wesensbestimmung sollen Reflexions-
begriffe treten, die die Offenheit des Menschenbildes gewähren: „Plessner spricht von einer
‚ekzentrischen‘ Position: Der Mensch ist nicht nur, sondern er distanziert sich auch von sich und
macht sich selbst zum Gegenstand seiner Reflexion. Er lebt nicht nur, sondern er muss ein Leben
selbst führen, muss sich zu dem erst machen, was er ist“ (Neumann 2013: 40 f. in Aufnahme
einer mittlerweile nahezu klassisch gewordenen sprachlichen Wendung Plessners).
80Der Ansatz Isers nimmt, nach von Laak (2009), eine Art „Sonderstellung“ (ebd., 344) neben der

eher literaturanalytisch und -historisch ausgerichteten ersten Perspektive und der eher kulturanthropo-
logisch ausgerichteten zweiten Perspektive literarischer Anthropologie ein und ist in einer anderen
Traditionslinie – einer phänomenologisch ausgerichteten Rezeptionsästhetik – zu sehen (ebd.).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 51

Iser geht es dabei weniger um konkrete Interpretationsperspektive und -modelle,


die sich auf literarische Texte anwenden lassen und deren ‚verborgene‘ Anthropo-
logien freilegen, sondern um eher universelle Fragstellungen, die die Existenz von
Literatur aus ihrer anthropologischen Funktion heraus verständlich macht: „A lite-
rary theory with this aim will cease merely to provide models of interpretation, and
instead will enable us to ask and perhaps to understand why we have this medium,
and why we continually renew it“ (ebd., daran anschließend: Sutrop 2000). Exis-
tenz und Bedeutung von Literatur sollen durch Bezugnahme auf eine spezifische
und gegebenenfalls auch umfassendere anthropologische Theorie sowie deren
begriffliche Rahmungen bestimmt werden (Köppe/Winko 2008: 317).81 Diese
Perspektive literarischer Anthropologie zielt also nicht auf die Feststellung von
historisch, gesellschaftlich und/oder kulturell bedingten Besonderheiten und Dif-
ferenzen konkreter menschlicher Lebensformen ab, sondern auf die Funktionen
der Rezeption und Produktion von Literatur als einer allgemeinen, universellen
und konstanten anthropologischen Besonderheit des Menschen. Die Rezeption
und Produktion von Literatur (und noch allgemeiner gefasst: von Erzählungen)
wird in diesem Kontext als artspezifische Eigenschaft des Menschen gedeutet82 –
häufig auch mit Blick auf die Korrelation von literarischen und kognitiven Funk-
tionen (Mellmann 2011: 178).83 Literarische Texte werden daher nicht nur als
gesellschaftliche Phänomene in den Blick genommen, sondern auch und vor allem
„als bio-kulturelle Konstrukte“ (Zymner/Engel 2004: 8). Dies führt zugleich auch
zur generellen Kritik an solchen Entwürfen: Zum einen argumentierten sie vor
allem universalistisch (mitunter auch biologistisch und deterministisch) und ohne
konkreten Rückbezug auf die jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen

81Als Erklärungsmöglichkeiten stellen Köppe/Winko (2008: 317 ff.) drei Ansätze vor: einen
psychoanalytischen, einen philosophisch-ästhetischen und einen evolutionstheoretischen.
Bezüglich der anthropologischen Funktionen von Literatur lässt sich eine nahezu unüber-
schaubare Vielzahl anführen; um nur ein paar Beispiele zu geben: Ausdruck und Bewältigung
des Unbewussten, ästhetisches Vergnügen und ästhetische Erfahrung, ästhetische Erziehung,
Ausdruck von Empfindungen, Darstellung und/oder Erfindung von Wirklichkeit, Erkenntnis-
schaffung und -vermittlung, Identitätsbildung, Verhaltensmotivation, Illustrations-, Dokumentati-
ons- und Erinnerungsfunktion, Gesellschaftskonstitution, Schaffung eines evolutionären Vorteils
etc. (ebd.). Insofern all diese Funktionen in der einen oder anderen Weise als wertvoll oder nütz-
lich erachtet werden, dienen sie auch als Legitimation der Literatur (vgl. ebd.).
82So schreibt bspw. Zymner mit Bezug auf den biologisch orientierten Ansatz Eibls: „Der

Mensch, und so weit wir wissen: nur der Mensch, ist das Wesen das dichtet“ (Zymner 2004: 14).
83Dabei geht es dann u. a. um die Frage, inwieweit „etwaige Gesetzmäßigkeiten des Narra-

tiven elementaren Einfluß auf den kognitiven Zugriff des Menschen auf seine soziale Welt, ja
auf seine Welt überhaupt haben könnten“ (Neumann 2000: 284). Hier hat sich mittlerweile ein
eigenständiges Paradigma innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ausgebildet. Die
Forschungsliteratur zur kognitiven Literaturwissenschaft hat nahezu unübersichtliche Ausmaße
angenommen (siehe z. B. Fludernik 1996, Eibl/Mellmann/Zymner 2007, Huber/Winko 2009,
Müller 2012, Wege 2013, Zunshine 2015 und Mikuláš/Wege 2016).
52 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Umstände, in und aus denen heraus Literatur entsteht.84 Zum anderen eigneten sich
die jeweiligen Entwürfe in ihrem universellen Anspruch üblicherweise nicht zur
Interpretation einzelner konkreter literarischer Texte.85
Diese Perspektivierung auf die menschliche Lebens- bzw. Konstitutionsform
führt zu der grundlegenden Frage „wie, warum und wozu das Erzählen zum Men-
schen gehört und wie, warum und wozu (und vor allem: mit welchen spezifischen
Modifikationen) aus diesem ‚Besitz‘ Literatur gemacht wird oder sich jeden-
falls entwickelt“ (Zymner 2004: 15). Dabei sollen auch die Übergänge und Ver-
bindungen zwischen literarischem und nichtliterarischem Erzählen verständlich
gemacht werden. Zymner (2004) spricht hierbei auch von „poetogenen Struktu-
ren“, die das menschliche Leben prägen.86 Diese Strukturen weisen zwei Charak-
teristika auf: zum einen sind sie sowohl am allgemeinen Begriff des Menschen
(sei es als biologische Dispositionen oder als anthropologische Universalien) als
auch in den spezifischen und konkreten historisch-gesellschaftlich-kulturellen
menschlichen – nicht notwendigerweise künstlerischen, sondern vielmehr alltäg-
lichen – Verhaltensweisen beobachtbar, zum anderen finden sich diese alltäglichen
nichtkünstlerischen Strukturen und Verfahren auch in künstlerischen literarischen
Strukturen und Verfahren wieder, die sich möglicherweise aus den grundlegenden
biologischen, anthropologischen und historisch-gesellschaftlich-kulturell variablen

84So fasst z. B. van Laak (2009: 345) zusammen: „Der Preis der so gewonnenen Forschungs-

aktualität, der biologisch-empirischen Fundierung geisteswissenschaftlicher Argumentationen


und der neuen ‚lebenswissenschaftlichen Anschlussfähigkeit‘ dieses literaturanthropologischen
Neuansatzes kann aber das Wieder-unhistorisch-Werden einer solchen Argumentation sein. […]
Diese müsste zudem noch in stärkerem Maße den prinzipiellen wissenschaftstheoretischen Vor-
wurf an die Anthropologie generell hinnehmen, nur unhistorisch argumentieren zu können und
unhintergehbar – und unkritisierbar – überhistorische Universalien zu postulieren.“ Darüber hin-
aus merkt Bachmann-Medick (1996: 15) kritisch an, dass nur Texte thematisiert würden, nicht
jedoch mündliche Überlieferungen.
85Dies ist bspw. auch Michael Neumann bewusst, der anführt, dass seine „Anthropologie der

Narration“ weder eine neue Methode darstelle noch konkrete Auswirkungen auf Textinter-
pretationen habe (Neumann 2013: 5). Die literarische Anthropologie Wolfgang Riedels ist auch
geprägt von einer grundlegenden Skepsis gegenüber universellen Literaturanthropologien:
Denn die Literaturwissenschaft sei schließlich für die Literatur da – und nicht umgekehrt (Rie-
del 2004: 356). Daher sei in diesem Kontext nur noch einmal kurz angemerkt, dass die vor-
liegende Studie dahingehend einen Spagat wagt: Einerseits wird der Versuch unternommen,
literaturanthropologische Fragestellungen (aus der Perspektive ‚Literatur in der Anthropologie‘)
anhand einer Verschränkung der Konzepte Plessners und Ricœurs zu bearbeiten und sowohl
naturphilosophisch als auch subjektivitätstheoretisch zu fundieren. Andererseits soll aber auch
der Versuch unternommen werden, insbesondere die Begriffe Plessners (aus der Perspektive
‚Anthropologie in der Literatur‘) literaturanalytisch auf den konkreten Text anzuwenden und
diese dementsprechend auch methodisch reflektiert als Analysewerkzeuge zu gebrauchen.
86Zur Begriffsklärung: Zymner fasst poetogene Strukturen nicht als ontologisch vorhandene

Erscheinungen, sondern als „heuristische, interpretationsgeschuldete Fiktion“ (Zymner 2004:


25) – als „eine Art ‚Kofferwort‘“ (ebd.), mit dem er drei anthropologische Ebenen ansprechen
möchte: biologische Dispositionen, anthropologische Dispositionen und historisch-sozial
variable und relative Verhaltens- und Handlungsformen (ebd.).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 53

alltäglichen Strukturen und Verfahren heraus entwickelt haben (Zymner 2004: 13).
Die damit verbundenen Fragstellungen verbinden kulturanthropologische Ansätze
literarischer Anthropologie mit philosophischen und biologischen Ansätzen (Zym-
ner/Engel 2004: 9). Sie wollen dabei die Genese und Evolution komplexer kultu-
reller Handlungs- und Verhaltensweisen (wie bspw. das literarische Erzählen) aus
basalen natürlichen Sachverhalten bzw. anthropologischen Dispositionen heraus
verständlich machen (Zymner 2004: 26).87 Dies ist ein Programm, das letztlich –
und damit dem plessnerschen Programm ähnlich – den Dualismus von Geist-Kör-
per und Natur-Kultur überwinden will; und zwar u. a. dadurch, dass es sich sowohl
naturwissenschaftlicher als auch geisteswissenschaftlicher Methoden bedient:

Fordert die Frage nach poetogenen Strukturen doch dazu auf, aus der Literatur bekannte
und an ihr erkannte Formen und Verfahren, die an ihr als ästhetisch relevant und kunst-
konstitutiv untersucht und beschrieben werden, nun in Verbindung zu bringen mit
vorgängigen oder parallelen allgemeinen Erscheinungen im Bereich menschlicher Ver-
haltensweisen oder biologischer bzw. anthropologischer Ausstattung, die eben erkennbar
nicht als Kunst ausgezeichnet werden, aber möglicherweise eine Bedingung der Möglich-
keit von Kunst und näherhin von Dichtkunst oder Literatur bilden – und dadurch natürlich
auch das zu schließen und zu überbrücken, was in gebildeten Diskursen gern als tiefer
Graben zwischen zwei Kulturen, der des geisteswissenschaftlichen Wissens und der des
naturwissenschaftlichen Wissens, bezeichnet wird, so daß eine derart kulturanthropo-
logisch orientierte Literaturwissenschaft vielleicht gar nicht mehr so genau unterscheiden
muß und kann, ob sie nun Geistes- oder Naturwissenschaft ist (ebd., 15).

Ein solches Vorgehen sucht daher nach möglichen Verbindungslinien zu und


Anknüpfungspunkten an erklärende humanwissenschaftliche Disziplinen wie
z. B. Kognitionswissenschaft, Evolutionspsychologie, Vergleichende Verhaltens-
forschung und/oder Soziobiologie (Mellmann 2011: 180). Dadurch unterscheiden
sich dann auch die literaturanthropologischen Forschungsperspektiven hinsicht-
lich ihrer begrifflichen Rahmensetzungen und in ihren Bezugnahmen auf andere
Disziplinen. Dabei stehen sich in den Ausführungen dieses Forschungsansatzes
zwei Ansätze als Pole einander gegenüber (Neumann 2009: 237): auf der einen
Seite der evolutionsbiologisch begründetet Ansatz Karl Eibls, auf der anderen
Seite der einer literaturwissenschaftlichen Heuristik verpflichtete Ansatz Wolf-
gang Isers. Hinzu kommen in der jüngsten Forschung die beiden umfangreichen
und ebenfalls anthropologisch begründeten ‚allgemeinen‘ Erzähltheorien von
Albrecht Koschorke (2012) und Michael Neumann (2013), die jeweils in Aus-
einandersetzung mit verschiedenen geistes-, sozial- und humanwissenschaftlichen
Theorien entwickelt werden. Sie alle nehmen gewissermaßen das plessnersche
Programm der Verschränkung von Geist und Körper auf. Sie sind nicht mehr
kulturanthropologisch, sondern vor allem universell und kulturübergreifend aus-
gerichtet und versuchen in dieser Ausrichtung dem transhistorischen, trans-
kulturellen und transmedialen Phänomen des Erzählens nachzugehen:

87Dadurch ermöglichen sie zugleich aber auch die Öffnung der Fragestellung in die andere
Richtung: In welcher Weise wirken literarische Erzählmuster und -verfahren auf die alltägliche
menschliche Lebenswelt zurück?
54 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Erzählt wurde und wird in allen menschlichen Gesellschaften, mit und ohne künst-
lerischen Anspruch, spontan oder institutionalisiert, in mündlichen und schriftlichen
Formen, mit Hilfe von Sprache und Geste, im Medium von Worten, Texten, statischen
oder laufenden Bildern, in Mischformen wie etwa dem Comic, dem Fotoroman und dem
Hypermedia (Scheffel 2004: 121).

Michael Neumann geht es in seinem umfangreichen literaturanthropologischen Ent-


wurf beispielsweise um die Beantwortung dreier Grundfragen „Was bedeutet Erzäh-
len für den Menschen? Warum ziehen bestimmte Arten von Erzählungen überall
und jederzeit die menschliche Faszination auf sich? Welche Funktionen erfüllen
narrative Universalien in der menschlichen Interaktion mit der Welt?“ (Neumann
2013: 5) Dabei versteht er „das Erzählen als einen genuinen und zentralen Gegen-
stand der Anthropologie“ (ebd., 2); ja, die Rezeption und Produktion von Geschich-
ten sei „ersichtlich ein Urbedürfnis, nicht weit hinter Trinken, Essen und Schlafen“
(ebd., 1). Den Ausgangspunkt der literaturanthropologischen Untersuchung bildet
dabei jedoch nicht etwa eine bestimmte anthropologisch oder biologisch ausführlich
begründete menschliche Disposition (das unterscheidet sie bspw. von dem Ansatz
Eibls88), sondern der von Neumann geschaffene Begriff des „Erzählstroms“ –
er soll als allgemeinste literaturwissenschaftliche Kategorie des Narrativen ein
Analysemodell bilden, dass kulturübergreifend und kulturvergleichend universell
verbreitete Erzählmuster auffindbar macht (Neumann 2009: 237).89 Die dabei auf-
gefundenen universellen Muster, Motive, Figuren und Genres seien „empirische
Tatsachen“ (Neumann 2013: 37).90 Insofern sie raum- und zeitübergreifend immer

88„Anders als Eibl gehe ich bei der Suche nach Universalien nicht von jenen Wahrnehmungs-

mustern und Verhaltensweisen aus, für welche die Soziobiologie bereits eine Verankerung in den
Genen annimmt. Als Literaturanthropologen interessieren mich kulturübergreifende Elemente der
Literatur oder der Narration, weil sie Aufschlüsse über die Beschaffenheit des Menschen und weil
sie Anregungen für das Verstehen konkreter Narrationen versprechen“ (Neumann 2009: 238).
89Neumann verwendet dabei einen sehr umfangreichen Erzählbegriff, der sowohl die ver-

schiedensten Genres und Erzählweisen – Mythen, Märchen, Legenden, Schwänke, Dramen,


Balladen, Novellen, Romane, Alltagserzählungen etc. – als auch die verschiedensten Künste und
Medien – Comic, Film, Oper, Ballett, Bilderzyklus, Computerspiel etc. – umfasst (vgl. Neumann
2009: 235, Neumann 2013: 1).
90Neuere quantitativ, mit großen Datenmengen und computergestützten Analysen arbeitende

Untersuchungen mythologischer Erzählformen und -inhalte bestätigen Neumanns Vermutung.


Am Beispiel dreier Mythenfamilien – dem Pygmalionmythos, dem Polyphemmythos und dem
Mythos der kosmischen Jagd – rekonstruiert bspw. ein Team von Genetikern die Evolution die-
ser Formen (in den Begriffen Neumanns: „Ströme“) bis hin zur menschlichen Vorgeschichte.
Durch diese Evolutionsgeschichte lassen sich vor allem zwei Erkenntnisse gewinnen: Zum
einen geben – in räumlicher bzw. geografischer Perspektive – die verschiedenen Transfers und
Modifikationen der Erzählformen und -inhalte Aufschluss über (vor)geschichtliche Migrations-
bewegungen und die Besiedlungsgeschichte der Erde. Zum anderen bestätigen sie – in zeit-
licher Perspektive – eine relativ hohe Beständigkeit der Erzählformen und -inhalte durch die
Zeit hindurch und identifizieren zugrundeliegende Urformen. Die relativ hohe zeitliche und
räumliche Kontinuität sowie die spezifische Anpassungsfähigkeit der Mythen an die konkre-
ten Bedingungen von Ort, Zeit und Gruppe verweisen dabei auch auf die Funktionen, die den
Erzählformen und -inhalte zukommen: Mit ihnen werden nicht nur Lebenserfahrungen weiter-
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 55

wieder auftauchen, werden sie auch als narrative Universalien gefasst.91 Die empi-
risch gestützten universellen Erzählmuster deutet Neumann (2009: 237) – quasi
induktiv verfahrend – als Hinweise auf anthropologische Dispositionen. Diese
angenommenen Dispositionen werden dann wiederum mit evolutionsbiologischen
Erklärungen abgesichert, die die Attraktivität und das Überleben (oder auch: den
evolutionären Erfolg)92 des jeweiligen Stroms anhand universeller Voraussetzungen
in der menschlichen Konstitution – quasi deduktiv verfahrend – begründen.93 Die
Dispositionen sind nicht nur allen Menschen gemein, sondern haben auch Aus-
wirkungen auf das Erzählen (Neumann 2013: 2). Neumann stellt hierbei Ver-
knüpfungen zu Erkenntnissen aus Ethologie, Soziobiologie, Evolutionspsychologie,
Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Neurobiologie und Kognitions-
wissenschaften her und verfolgt die Hypothese, dass sich die Attraktivität und
Evolution der jeweiligen Ströme aus bestimmten angeborenen Wahrnehmungs-,
Bewertungs- und Handlungsdispositionen heraus ergibt (ebd., 46).94
Inhaltlich unterscheidet Neumann schließlich fünf Erzählströme: Mär-
chen-Strom, Sagen-Strom, Mythen-Strom, Schwank-Strom und Anderwelt-Strom.95

gegeben, Ängste gelindert oder gruppenspezifische Abgrenzungen vollzogen, sondern – etwas


allgemeiner gefasst – grundsätzliche Verstehens- und Ordnungsvorgänge vollzogen (vgl. d’Huy
2013a, 2013b, 2015). Dabei verweisen die Forscher auch auf Parallelen, die der Vergleich mytho-
logischer und biologischer Evolution hervorbringt (d’Huy 2013a).
91„Doch nicht nur die grundsätzliche Aktivität des Erzählens ist universal. In den verschiedensten
und entferntesten Kulturen stoßen die Erzählforscher auf eine Fülle übereinstimmender Motive,
Plots und Genres: auf Motive wie die magische Flucht oder den Kampf mit dem Drachen; auf
Plots wie Erniedrigung und Erhöhung eines ‚Aschenputtels‘ oder die Mahrtenehe, also die Ver-
bindung zwischen einem Menschen und einem außermenschlichen Wesen; auf Genres wie das
Märchen, den Schwank oder den kosmogonischen Mythos. Wie kommt es, dass die Menschen
unter den unterschiedlichsten kulturellen, historischen und sozialen Umständen immer wieder
von ähnlichen Geschichten angezogen werden?“ (Neumann 2013: 2).
92„Auch die Geschichte der Narrationen zeigt eine Art Evolution. In der mündlichen Tradition

‚überlebten‘ nur jene Fabeln und Figuren, die Anklang beim Publikum fanden und deswegen
weitererzählt wurden. Alles andere versank in Vergessenheit“ (Neumann 2009: 240).
93Einem solchen Unterfangen stand Eibl (2004: 267) noch skeptisch gegenüber: „Eine Systema-

tik der angeborenen Plots wäre derzeit voreilig – wenn sie überhaupt jemals erreichbar ist: Denn
die apriorischen Plots sind genau genommen hochabstrakte Plot-Dispositionen mit einem kaum
generell einzuschätzenden Suchfokus, der von uns nur exemplarisch versinnlicht werden kann“.
94Mit Blick auf die Begründung etwaiger narrativer Universalien schreibt Neumann (2013: 37 f.):

„Sie erregen die Faszination von Zuhörern, Zuschauern oder Lesern unter den entferntesten
kulturellen und historischen Voraussetzungen. Möglich ist dies nur, wenn all diese Zuhörer,
Zuschauer und Leser inmitten ihrer soziokulturellen Differenzen zu bestimmten Faszinationen
gleichermaßen disponiert sind“.
95Dabei bestimmt Neumann (2013: 141–186) folgende Matrix zur Unterscheidung der Ströme:

1) Handlungssequenz, 2) Handlungsziel, 3) Figuren, 4) Handlungsraum, 5) Rahmen der Situa-


tion, 6) Stimmung und Emotion der Rezipienten, 7) anthropologische Funktion. Von besonderer
Bedeutung sind dabei die Punkte (4) und (7). Wobei dann insbesondere die anthropologische
Funktion „tendenziell auf alle Details einer Narration“ einwirkt (ebd., 186). Auf die einzelnen
Ströme kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Für einen prägnanten Über-
blick siehe Neumann (2009).
56 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Diese zeichnen sich vor allem, und das unterscheidet auch den Ansatz Neumanns
von anderen literarischen Anthropologien, durch die Besonderheit aus, dass sie stark
topologisch ausgerichtet sind und jedem Erzählstrom eine typische Raum-Konstel-
lation zugrunde liegt (Neumann 2013: 141). Gerade darin besteht dann auch seine
anthropologische Funktion: „Das Erzählen kultiviert die Umwelt des Homo sapiens
sapiens zur Welt des Menschen“ (ebd., 63). Es verwandelt, sozusagen, die Welt in
eine menschliche Welt und kultiviert „im andrängenden Chaos der Umgebung einen
bewohnbaren Raum“ (Neumann 2009: 242). Dementsprechend lässt sich auch
eine immer wieder in Variationen aufgenommene und gestaltete räumliche Grund-
konstellation in allen fünf Erzählströmen wiederfinden: die Konfrontation eines ver-
trauten mit einem unvertrauten bzw. fremden Raum (ebd.).
Die methodologische Auseinandersetzung Neumanns mit humanwissenschaft-
lichen Theorien führt dann auch zu der Frage nach den spezifischen Funktionen
des (literarischen) Erzählens für den Menschen. Dabei erörtert Neumann zwei all-
gemeine anthropologische Funktionen: die der Unterhaltung und die der mentalen
Verarbeitung (Neumann 2013: 42), legt seinen Fokus aber v. a. auf die narrative
Verarbeitung von Erfahrungen und Wahrnehmungen. Zentral ist hierfür die Kate-
gorie und Funktion der Ordnung, die sich in allen Erzählströmen findet. Erzäh-
len gehört für Neumann zu den wichtigsten Verfahren, „mit denen der Mensch
seine Welt ordnet“ (ebd., 186).96 Dies hat sowohl eine soziale als auch eine indi-
viduelle Seite. Sozial und soziokulturell bietet das Erzählen die Möglichkeit, die
verschiedenen Verarbeitungen und Ordnungsentwürfe (auf synchroner und dia-
chroner Ebene) als Erfahrungen, Wahrnehmungen, Erlebnisse etc. zu teilen und
weiterzugeben (ebd., 44). Individuell bietet es die Möglichkeit der Aneignung,
Veränderung und/oder Erweiterung vorhandener Ordnungsentwürfe und Ver-
haltensweisen – und zwar im Modus eines imaginativen und mentalen Probe-
handelns (vgl. ebd., 44, 58 f.). Durch dieses Probehandeln werden in indirekter
Weise „über Geschichten und Figuren, Bilder und Sprachspiele“ (Neumann 2009:
236) Traditionen eingeübt, Möglichkeiten und Alternativen erprobt, Ängste und
Hoffnungen artikuliert, Krisen und Konflikte bearbeitet (ebd.).97

96Die anthropologische Funktion der Herstellung mentaler Ordnung durch Narrationen wird auch
von Michael Scheffel (2004: 124) besonders hervorgehoben: „Bei allen Unterschieden in den
einzelnen Modellen gibt es allerdings eine starke Tendenz, die besondere anthropologische Leis-
tung des Erzählens zuallererst in der Organisation von menschlicher Erfahrung zu sehen“.
97In diese Richtung geht auch Carroll (2009: 143) vor evolutionstheoretischem und sozialpsycho-

logischem Hintergrund: „In contrast to the instinctually regulated behavior of other animals,
human behavior is crucially influenced by imagination. Humans perceive the world as a set of
contingent circumstances containing complex causal processes and intentional states in other
minds. Before taking action, they must weigh alternative scenarios in the light of competing
values and impulses. By providing emotionally saturated images of the world and of other human
experience, literature and the other arts fulfill a vital psychological need. Through these images,
readers can vicariously experience the affective and moral quality of alternative scenarios. Since
that vicarious experience influences dispositions that eventuate in adaptively relevant behavior,
literature seems to fulfill an adaptive function that could not be so well fulfilled in any other way.
Human action depends on the human sense of value and meaning, and literature and the other arts
provide a means of making the value and meaning of experience available to the imagination“.
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 57

Ein wichtiger Stichwortgeber für Neumann ist Karl Eibl. Dieser widmet sich
in seinem evolutionsbiologisch argumentierenden Werk der Grundfrage, warum
Menschen dichten und erzählen können und welche anthropologischen Funktionen
mit diesen Fähigkeiten verbunden sind. Den argumentativen Ausgangspunkt bil-
det dabei die „biokulturelle Zweistämmigkeit des Menschen“ (Eibl 1995: 12 u. ö.).
Demzufolge kann die menschliche Kultur nicht ohne die menschliche Natur und
die menschliche Natur nicht ohne die menschliche Kultur gedacht werden (vgl.
Eibl 2004: 9). Denn die biokulturelle Zweistämmigkeit „zwingt zur Kooperation
von biologischen Dispositionen und kultureller Konditionierung“ (Eibl 1995: 12).
Dieser Kooperationszwang erzeugt einen ständigen Bedarf an Abstimmung und
Reflexion (ebd.) – wodurch die menschliche Person eine fundamentale Differenz
in sich selbst und in ihrem Erleben wahrnimmt (ebd., 13).98
In Animal Poeta (2004) verfolgt Eibl drei zentrale Thesen zur Natur-Kul-
tur-Problematik. Zum Ersten geht es ihm um den Nachweis des Zusammen-
spiels von genetischen Dispositionen und kultureller Umwelt. Beide sind dabei
als immer schon ineinander verschränkt zu denken; sie treten niemals isoliert
voneinander auf: „Die kulturbezogenen biologischen Programme sind nie direkt
beobachtbar. Denn es macht ja gerade ihre Eigentümlichkeit aus, dass sie immer
mit Kulturmomenten verschmelzen müssen, um überhaupt funktionieren zu kön-
nen“ (Eibl 2004: 12, vgl. auch Eibl 1995: 224).99 Das Mittel zur Erschließung
dieser biokulturellen Programme bildet die Evolutionsbiologie; wobei „die Ein-
seitigkeiten des biologistischen wie des kulturistischen Determinismus oder
Fatalismus zu vermeiden“ (Eibl 2004: 12) sind. Kultur verhält sich komplementär
zu den offenen biologischen Programmen; und zwar dadurch, dass sie sie quasi
ausfüllt, wodurch zugleich eine hohe Flexibilität und Formbarkeit der Abläufe in
verschiedenen Milieus entsteht (ebd.).

98Mit Plessner könnte man hier auch von der grundsätzlichen Gebrochenheit und Ausgleichs-
bedürftigkeit des Menschen sprechen; siehe Kap. 3.
99Bereits in Die Entstehung der Poesie führt Eibl (1995: 11) aus, dass es eine entscheidende

Voraussetzung der Untersuchung sei, dass es einen vorkulturellen Menschen nicht gebe und
selbst die heuristische Fiktion desselben eher irreführend denn hilfreich sei. Dabei unterscheidet
sich dieses frühere Werk von Animal Poetica dahingehend grundlegend, dass Eibl hier zwar auch
evolutionsbiologisch begründete menschliche Dispositionen in den Blick nimmt, die daraus ent-
stehenden poetischen Phänomene zugleich aber auch historisch rückbindet und kontextualisiert.
Für Eibl sind hier zwei Dimensionen der Argumentation – eine universelle und eine historische –
von zentraler Bedeutung und quasi gleichrangig. Einerseits geht es darum, „die biologischen
Dispositionen zu erhellen, die Poesie ermöglichen“ (ebd., 8), und andererseits – an dieser uni-
versellen Ausrichtung ansetzend – darum, die historischen Bedingungen und Konsequenzen
zu erhellen, unter denen sich Literatur als Poesie entwickelt und spezialisiert; denn gerade die
Entstehung und Ausdifferenzierung der Poesie hat „eine gesellschaftlich-institutionelle Seite“
(ebd., 205) – wodurch wiederum der historische und soziale Kontext „die Grenze des bio-
logisch-anthropologischen Ansatzes“ (ebd., 31) markiert. Diese literaturhistorische Bezugnahme
lässt sich so in Animal Poeta nicht mehr finden.
58 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Zum Zweiten geht es Eibl um die spezifisch anthropologische Leistung von


Sprache und Kultur. Dabei besteht die primäre Funktion der menschlichen Spra-
che nicht nur in einer elastischen Kommunikation, sondern auch in der mit ihr
möglichen Vergegenständlichung von inneren und äußeren Entitäten und Sachver-
halten (vgl. Eibl 2004: 12, Eibl 2003: 572). Der Sachbezug der Sprache versetzt
den Menschen damit in die Lage, einerseits mentale Repräsentationen und Emotio-
nen in einen quasi-objekthaften Status zu überführen (Eibl 2003: 572) und anderer-
seits auch über dasjenige zu sprechen, was nicht anwesend ist: Vergangenes,
Zukünftiges und Entferntes, Abstraktes und Imaginiertes (Eibl 2004: 229 f.). Die
Ausdifferenzierung dieses Sachbezugs bildet für Eibl einen entscheidenden Schritt
in der evolutionären Entwicklung und ein menschliches Spezifikum (ebd.).100 Mit
ihr wird sowohl der konkrete Partnerbezug als auch die Bindung an den konkre-
ten raumzeitlichen Augenblick aufgehoben (ebd.); ebenso werden Reiz-Reaktions-
Schemata und instinktiv ablaufende Verhaltensprogramme unterbrochen.101 Dabei
ermöglicht der Sachbezug der Sprache die Konstruktion und Stabilisierung einer
zweiten Wirklichkeit der Vorstellungen und damit auch die Entstehung und Ent-
wicklung menschlicher Kultur (ebd.). Eibl spricht hierbei auch von der mensch-
lichen Kultur als Zwischenwelt: „Zwischenwelten sind die sprachlich oder
symbolisch kodierten intelligenten Interfaces, die als ‚Kulturen‘ die Vielfalt und
Wandelbarkeit menschlicher Umwelten und das vergleichsweise starre evol-
vierte Nervensystem aufeinander abstimmen“ (Eibl 2009: 10). Die Zwischenwelt
bildet das unhintergehbare und unumgehbare Medium des menschlichen Welt-
bezugs. In diesem Sinn ist alles das, was der Mensch von der Welt weiß, immer
schon durch sie vermittelt und daher auch durch sie geprägt – und zwar im Modus
der Adaption an die jeweilige Umgebung.102 Basis kultureller Systeme sind nun
wiederum gemeinsam geteilte Erzählungen (und damit verbunden: Themen,
Motive, Ablaufschemata und Informationen), die individuelle Orientierung und

100„Die ausdifferenzierte Darstellungsfunktion erlaubt es, über Abwesendes zu kommunizieren

und es über längere Zeit stabil zu repräsentieren. Man kann sogar vermuten, daß jetzt überhaupt
erst ‚Dinge‘ in einem herausgehobenen Sinn entstehen, während vor der Ausdifferenzierung der
Darstellungsfunktion nur eine Orientierung an Situationen und Reizen erfolgte“ (Eibl 2009: 24).
101Dieser symbolisch erzeugte Sachbezug erscheint bereits bei Ernst Cassirer als ein qualitativer

Unterschied des Menschen im Vergleich zum Tier. In Anlehnung an von Uexkülls Differenzie-
rung in Merk- und Wirknetz (Cassirer 2007: 47 ff.) unterscheidet er hierbei zwischen tierischen
„reactions“ (Reaktionen) und menschlichen „responses“ (Antworten); wobei Letztere dadurch
hervorgerufen werden, dass sich beim Menschen ein „Symbolnetz“ (ebd., 49) als zusätzliches
Verbindungsglied und als neue Methode der Anpassung an die eigene Umwelt zwischen Merk-
und Wirknetz schiebt. Dabei bildet dann schließlich die propositionale Sprache (im Unterschied
zur emotionalen Sprache des Tieres) „die eigentliche Grenze zwischen Menschen- und Tierwelt“
(Cassirer 2007: 56).
102So bestimmt Eibl in Die Entstehung der Poesie den Begriff der Welt folgendermaßen: „Welt

soll das heißen, was durch kulturelle Definition auf die genetischen Dispositionen abgestimmt ist
(– was durch die Bestimmungsleistung sozialer Systeme hergestellt wird)“ (Eibl 1995: 16).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 59

zwischenmenschliche Kommunikation ermöglichen (Eibl 2004: 260 f.). Dadurch


können Kulturen den offenen biologischen Programmen des Menschen standar-
disierte codierte Informationen bieten und das individuelle instinktunsichere Ver-
halten stabilisieren (ebd., 12); und zwar auf Grundlage der personenunabhängigen
Speicherung und Weitergabe von vergegenständlichten Erfahrungen und Wissens-
beständen,103 die wiederum ergänzt und verändert werden können (Eibl 2009:
38) und sich dementsprechend flexibel und stabil zugleich an neue Erfordernisse
anpassen lassen. Dabei bildet insbesondere das Erzählen eine „herausragende
Methode des Verschnürens von Informationen“ (Eibl 2004: 255). Es erscheint als
universelles Mittel, das Geschehnisse in eine sinnvolle Ordnung bringt und spei-
chert (ebd., 255 f.)104 und sich durch „ein besonders hohes Maß an Anpassungs-
fähigkeit und Stabilität“ (ebd., 261) auszeichnet. Daher bildet das Erzählen wohl
auch die „älteste erschließbare Form systematischer Informationsspeicherung“
(ebd., 13). Als eine solche wurde es auch von den verschiedensten Phasen und
Prozessen evolutionärer Entwicklung und Ausdifferenzierung geprägt: „Auch für
Narrationen gilt das Gesetz von Mutation und Selektion: Narrationen müssen sich
ändern können, damit sie durch Selektion angepasst werden können; und sie müs-
sen bei aller Veränderung doch mit sich selbst identisch bleiben können“ (ebd.,
260). Dabei beziehen sich Erzählungen jedoch nicht nur auf die Außenwelt und
vermitteln Informationen über Raum und Zeit hinweg. Sie sind auch hinsichtlich
ihrer Funktion für das Selbstverhältnis des menschlichen Individuums zu befragen
– stellen sie doch „das Material bereit, in das hinein sich die Person vergegenständ-
lichen kann“ (ebd., 274, Eibl 2003: 585). Eibl spricht hierbei auch vom Prozess der
Selbst-Vergegenständlichung, der in doppelter Weise biologisch bedingt ist – inso-
fern er biologisch ermöglicht wird und zugleich biologisch notwendig ist:

Ermöglicht wird die Selbst-Vergegenständlichung durch den ausdifferenzierten Sachbezug


der Sprache. Und biologisch notwendig ist sie wegen der Vielzahl offener Programme, die
organisiert werden müssen. Ein Organismus, der komplett starr programmiert ist, braucht
kein Selbstbild, keinen Spiegel, kein Echo, keine Außenablage seines Selbst. Nur ein
Organismus, der das Gefühl hat (ob ‚mit Recht‘, ist gleichgültig), vor Wahlen zu stehen
und Entscheidungen treffen zu müssen, und der mit dem Wissen umgeht, dass er sich auch
immer anders verhalten könnte (oder hätte verhalten können), braucht eine Vergegen-
ständlichung seiner Person (Eibl 2004: 273, Eibl 2003: 584).

103„Was dieser Speicher – die Bücher, Zeichnungen, fremden Köpfe usw. – enthält, ist von den

Individuen und deren aktuellen Handlungen abgelöstes, vergegenständlichtes Wissen“ (Eibl


2004: 233).
104Eibl wählt auch hier einen fächerübergreifenden Zugang und führt bspw. Erkenntnisse der

Künstlichen-Intelligenz-Forschung an, die nicht zuletzt auch seine Definition des Erzählens
beeinflussen: „Erzählen wäre demnach die Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge“
(Eibl 2004: 255).
60 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Das menschliche Selbstbild basiert damit sowohl auf biologischen Dispositionen


als auch auf den kulturellen Formen des Erzählens und der Erzählungen. Eibl fasst
das menschliche Ich, in Anlehnung an Wilhelm Schapp, auch als „ein Aggregat
von Geschichten“ (Eibl 2004: 274). Den Prototyp des Erzählens findet er in der
autobiografischen Erzählung, an die sich dann alle weiteren Formen anlehnen
(ebd., 258). Dafür greift Eibl auf Erkenntnisse der Hirnforschung zurück, die
durch die Beobachtung verletzter Patienten105 quasi ex negativo Rückschlüsse auf
das allgemeine und ‚unbeeinträchtigte‘ Erzählen zulassen. Dabei sind die Dis-
positionen zu autobiografischem Erzählen in der Gehirnstruktur verankert und
lassen sich an verschiedenen miteinander vernetzten Stellen des menschlichen
Gehirns finden (ebd.). Dieser Sachverhalt führt dann auch zur dritten These.
Zum Dritten schließlich geht es Eibl um die biologische Begründung der Exis-
tenz von ästhetischer bzw. poetischer Literatur. Oder, anders ausgedrückt: Um
den evolutionären Vorteil, den das kantsche Konzept des ‚interesselosen Wohl-
gefallens‘ (ebd., 13) eröffnet – also gewissermaßen auch den Nutzen, den die pri-
mär nicht-nützlichen Künste bieten. Das evolutionäre Überleben wird nicht nur
durch Nahrungsmangel und Konkurrenzkampf gefährdet, sondern auch durch den
Dauerstress der Organismen, aufgrund dessen sie Vitalität einbüßen; Folgen kön-
nen etwa ein geschwächtes Immunsystem und die Einstellung der Fortpflanzung
sein (ebd.). Dadurch kann der Dauerstress als herausgehobener Selektionsfaktor
verstanden werden (ebd.). Demgegenüber bilden die Quellen der Entspannung –
bspw. die Glückserfahrung des harmonischen Zusammenlebens, die institutionelle
Sicherheit der Religion oder eben die ästhetische Lust – herausragende Adaptio-
nen bzw. Anpassungen; und wurden daher auch im evolutionären Prozess früh
angelegt und verstärkt (ebd.). Vor diesen verschiedenen Hintergründen – dem
selektiven Wert des Ästhetischen im Prozess der Evolution, der Verankerung des
Erzählens in den menschlichen Genen sowie dem lebensweltlichen Nutzen des
Erzählens im Kontakt mit Welt und Selbst – kann Eibl dann auch zusammen-
fassend schlussfolgern, dass „der Mensch von früh an ein animal poeta [ist], das
sich und seine Lebenswelt erzählend modelliert“ (ebd., 13).
Der Versuch der Bestimmung der menschlichen Lebensform und Abgrenzung
gegenüber anderen tierischen Lebensformen durch das Konzept des Erzählens
findet sich auch in Albrecht Koschorkes Werk Wahrheit und Erfindung. Ihm geht
es darum, „die Idee einer genuin erzählerischen Weltauslegung des Menschen“
(Koschorke 2012: 10) zu verfolgen und hinsichtlich der allgemeinen Eigen-
schaften und Funktionsweisen narrativer Texte einerseits und den spezifisch

105Es handelt sich um Personen, bei denen „die Beeinträchtigung bestimmter Hirnregionen zu

unterschiedlichen Formen der ‚Dysnarrativie‘ führten“ (Eibl 2004: 258).


3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 61

anthropologischen Funktionen von Narrationen andererseits zu spezifizieren.106


Dies führt zur Ausformulierung einer allgemeinen Erzähltheorie, die den lebens-
weltlichen Funktionen des Erzählens disziplinenübergreifend nachgeht und narra-
tive Formen in allen gesellschaftlichen (auch literaturfernen) Teilbereichen findet:

Das Erzählen hat sich nicht ins Reservat der Schönen Künste einsperren lassen. Der
Drang, die Welt erzählerisch zu modellieren, hält sich nicht an die Grenzziehung zwi-
schen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Das betrifft alle Ebenen – von den Alltags-
geschichten über wissenschaftliche Theorien bis hin zu den master narratives, in denen
sich Gesellschaften als ganze wieder erkennen – und alle ihr Formen: von den kon-
ventionellen Floskeln, in denen sich kleine Narrative verbergen und in die Grammatik der
Umgangssprache einsenken, bis zu den elaboriertesten, nur von Spezialisten beherrsch-
baren Erzähllabyrinthen. Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen
im Spiel. Es stellt keinen Funktionscode unter anderen dar, sondern eine Weise der Reprä-
sentation und Mitteilung über alle kulturellen Grenzen hinweg (Koschorke 2012: 18 f.,
vgl. auch Koschorke 2010: 91 f.).

Angesichts der damit verbundenen universellen Ausrichtung des Erzählens muss


eine allgemeine Erzähltheorie auch mit einer Kulturtheorie verbunden werden
(Koschorke 2012: 22). Dies soll dem Umstand Rechnung tragen, dass das Erzählen
nicht lediglich eine reproduzierende Tätigkeit ist, die bereits existierende Sachver-
halte wiedergibt, sondern selbst Wirklichkeit auf verschiedenen – epistemologischen,
sozialen, personalen – Ebenen vorbildet und verändert (ebd., 22 f.). Es wirkt nicht
nur in die gesellschaftliche Praxis hinein, sondern bildet selbst ein bestimmendes
Element dieser gesellschaftlichen Praxis – und zwar als „Organon einer unablässigen

106Wie auch Neumann geht Koschorke dabei von der Annahme aus, „dass die Erzählung eine

kulturelle Universalie bildet, die alle historischen Epochen, Völker, Gesellschaftsschichten,


Niveaus und Medien durchquert“ (Koschorke 2012: 10) Diesen Ausgangspunkt findet er in der
Bezugnahme auf das bekannte Zitat Roland Barthes, das der Untersuchung vorangestellt wird.
Demzufolge kann das Erzählen als transhistorische, -kulturelle und -mediale Tätigkeit verstanden
werden. Allein die Unüberschaubarkeit aller bereits vorhandenen Erzählungen und die damit ver-
bundene Vielzahl verschiedener Erzählformen und Erzählweisen sprechen Bände: „Die Menge
der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die
wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet
erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte,
mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das
geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der
Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der
Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild […], der Glasmalerei, dem Film, den Comics,
im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen
nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die
Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk
ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häu-
fig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur
gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist
international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben“ (Barthes
1988: 102).
62 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

kulturellen Selbsttransformation“ (ebd., 25).107 Aus kultursemiotischer Perspektive


versteht Koschorke „Kulturen als polyzentrische, vielstimmige, zeitoffene, unfertige,
von Narrativen mit unterschiedlichen Laufzeiten und Geltungsreichweiten durch-
wobene Formationen von sozialer Energie“ (ebd., 109).
Seine anthropologische Basis findet dieses Konzept in der Bestimmung des
Menschen als animal symbolicum (Cassirer), das in seinem Welt- und Selbst-
bezug auf die vermittelnde Leistung symbolischer Formen angewiesen ist. Dieses
Modell wird von Koschorke durch Bezugnahme auf das von Walter Fisher vor-
geschlagene narrative Paradigma menschlicher Kommunikation108 ergänzt und
spezifiziert – und zwar insofern als die symbolische Bezugnahme immer auch
narrativ organisiert sei (Koschorke 2012: 10). Mit Fisher geht es Koschorke dabei
um die „reconceptualization of humankind as Homo narrans“ (Fisher 1987: xi).
Demzufolge seien Menschen „inherently storytellers who have a natural capacity
to recognize the coherence and fidelity of stories they tell and experience“ (ebd.,
24; auch zitiert von Koschorke 2012: 9 f., Anm. 4).109 Das Erzählen erhält dadurch

107Dementsprechend müssen auch die „Transformationsregeln“ (Koschorke 2012: 25) dieser nar-
rativen Selbsttransformation bestimmt werden. Koschorke bezeichnet diese im zweiten Kapitel
seines Werks als „elementare Operationen“ (ebd., 27–110) und unterscheidet dabei u. a. Formen
narrativer Reduktion, Schematisierung, Redundanz und Variation, Diversifikation, Sequenz-
bildung und Rahmung, Motivierung, Positionierung und Affektbindung.
108Dies bedeutet für Fisher „that all forms of human communication need to be seen as fun-

damentally as stories – symbolic interpretations of aspects of the world occurring in time and
shaped by history, culture, and character“ (Fisher 1987: xi). Dabei bezieht sich Fisher (1987: 24)
in seinem umfassenden Ansatz sowohl auf Alasdair MacIntyre (2007: 216: „man is in his actions
and practice, as well as in his fictions, essentially a story-telling animal“) und Hayden White
(Fisher 1987: 65) als auch auf Cassirer (ebd., 6, Endnote 43) und Ricœur (ebd., 96).
109Eine der zentralen wissenschaftstheoretischen Thesen Fishers ist dabei folgende: „My central

contention is that narrative is a concept that can enhance understanding of human communica-
tion and action wherever those phenomena occur. To view discourse and action as occurring wit-
hin ‚the human story‘ will allow us to account for human behavior in ways that are not possible
using the theories and methods of social sciences, especially those social sciences that attempt
to approximate the paradigm of the natural sciences“ (Fisher 1987: 20). Dies schreibt Fisher vor
dem historischen Hintergrund, dass zentrale Ordnungsinstanzen und -begriffe des (westlichen)
Denkens wie ‚Wahrheit‘, ‚Wissen‘, ‚Realität‘ etc. mittlerweile von den Verwendungsweisen
einer Experten-Schicht geprägt sei, die jedoch lediglich auf die formal-logische Korrektheit der
Begriffe achteten – und zwar zulasten und unter Missachtung des kognitiven Werts von Rheto-
rik und Poetik (Fisher 1987: 20). Dies beschreibt Fisher als „rational-world-paradigm“ (siehe
ausführlich ebd., 59 f.). Dieses Paradigma missachte jedoch, dass „reason“ in der menschlichen
Kommunikation auch in anderen Formen als argumentativen Strukturen erscheint (ebd., 48).
Daher stellt er dem „rational-world-paradigm“ das „narrative-world paradigm“ (siehe ausführlich
ebd., 64 f.) gegenüber. Eines der wichtigen Argumente Fishers ist dabei, dass auch der narrative
Weltbezug rationale Strukturen aufweise und Entscheidungen nach guten Gründen ermögliche
(ebd., 48, 107) – und zwar auf Basis einer „narrative rationality“ (ebd., 47): „This notion implies
that all instance of human communication are imbued with logos and mythos, are constitutive of
truth and knowledge, and are rational“ (ebd., 20).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 63

den Status eines „anthropologischen Grundmerkmals“ (Koschorke 2012: 16).110


Dabei stellt sich die Frage, wie genau die „universelle kulturelle Aktivität“ (ebd.,
10, 17) des Erzählens aus anthropologischer Perspektive begründet werden kann.
Koschorke diskutiert und verwirft drei mögliche „Erklärungsversuche“ (ebd.,
10): die Bewältigung von Angst, die Bewältigung von Kontingenz, die Schaffung
von Orientierung. Denn es lässt sich ihm zufolge bei all diesen Begründungsver-
suchen einwenden, dass das Erzählen – rein empirisch betrachtet – immer auch
gegenläufige Formen hervorgebracht hat. Erstens finden sich ganze Genres, die
auf die Herstellung und Verbreitung von Unsicherheit, Schrecken und Trost-
losigkeit aus sind (ebd., 11). Zweitens kann das Erzählen auch zum Abbau, zur
Deformation und zur Auflösung von Sinnbezügen – dadurch eben auch zur Her-
stellung von Kontingenz – genutzt werden (ebd.). Drittens schließlich kann es,
mit dem vorhergehenden zusammenhängend,111 auch zur Desorientierung führen;
und zwar nicht etwa nur – textintern – durch den Abbau von narrativen Struktu-
ren und Zusammenhängen (und damit den Abbau von Sinnstrukturen), sondern
auch – textübergreifend – durch ihre grundlegende Kappung ihres Bezugs auf die
äußere Realität (ebd., 12). Erzählungen sind „ontologisch indifferent“ (ebd., 17),
sie heben die Unterscheidung zwischen Realem und Irrealen auf (ebd., 12) und
können Reales als irreal und Irreales als real erscheinen lassen (ebd., 17). Dies hat
Folgen für die anthropologische Funktion des Erzählens: „Wer deshalb vom homo
narrans spricht, denkt den Menschen in seinem Vermögen, zu der Wirklichkeit, in
der er lebt, sowohl ja als auch nein sagen zu können“ (ebd., 12) – womit gewisser-
maßen auch ein Akt des Freiwerdens bzw. -machens verbunden ist. Realisiert wird
dies im Spiel. Erzählungen können auch als Erzählspiele verstanden werden, die
innerhalb eines bestimmten Regelsystems größtenteils frei agieren können (ebd.).
Anhand des Spiel-Begriffs stellt Koschorke eine Verbindung zur Bestimmung
des Menschen als homo ludens (Huizinga) her, die Überschneidungen mit der
Bestimmung des Menschen als homo narrans aufweist. Damit sind zwei argu-
mentative Funktionen verbunden. Zum einen lässt sich mit Huizinga anführen,
dass alle kulturellen Formen und Leistungen – „die zweite erdichtete Welt neben
der Welt der Natur“ (Huizinga 1962: 12) – von spielerischen Strukturen durch-
zogen sind und – wie Sprache, Mythos und Kult – im Spiel gründen (ebd.). Zum
anderen bietet die Spiel-Definition die passende Folie zur weiteren und genaueren
Bestimmung der Erzählung als Erzählspiel:

110„Actualization of narrative does not require a given form of society. Where the rational-world

paradigm is an ever-present part of our consciousness because we have been educated into it, the
narrative impulse is part of our very being because we acquire narrativity in the natural process
of socialization“ (Fisher 1987: 65).
111Dabei ist offensichtlich, dass der von Koschorke angeführte zweite und dritte Erklärungs-

versuch im Grunde den gleichen Sachverhalt widerspiegelt, einmal in einer negativen (Ver-
meidung von Kontingenz), einmal in einer positiven (Schaffung von Sinn) Wendung.
Unterschiedlich sind dabei jedoch die von Koschorke angeführten Begründungen, warum diese
Erklärungsversuche verworfen werden sollten.
64 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Es stellt „eine freie Handlung“ dar, „die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des
gewöhnlichen Lebens empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag neh-
men kann“; es vollzieht sich „innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens
bestimmten Raums“; es ist in der aktuellen Erzählsituation gemeinschaftsstiftend und
dabei Quelle einer außeralltäglichen, nämlich ästhetischen Lust (Koschorke 2012: 14).112

Dabei ist das Erzählen jedoch nicht als feierlich gerahmte Handlung zu verstehen;
es ist vielmehr immer schon im alltäglichen, nutzorientierten und praktisch aus-
gerichteten Leben vorzufinden (ebd.).
Das alltägliche menschliche Leben fokussiert auch Wolfgang Iser in Das Fik-
tive und das Imaginäre, in dem es um die Zurückweisung und Aufhebung einer
unhinterfragten und vermeintlichen Gewissheit geht: der Opposition von Fiktion
und Wirklichkeit (Iser 1991: 18 f.).113 Zwar hafte, so Iser, dem Fiktionsbegriff
„immer noch der Makel des Uneigentlichen an“ (Iser 1990: 7), doch könne mit
Verweis auf Nelson Goodman (1984)114 gezeigt werden, „daß wir nicht in einer
Realität, sondern in einer Mehrzahl von Welten leben, die zum einen immer schon
bestimmte Verarbeitungen sind und die sich zum anderen nicht auf eine ihnen
allen unterliegende Fundierung zurückbringen lassen“ (Iser 1990: 7). Vor diesem
Hintergrund sind Fiktionen nicht als Oppositionen zur Realität zu bestimmen,
sondern als Bedingungen der Herstellung von Welten (ebd.). Als Alternative zur
Opposition von Fiktion und Realität führt Iser eine Triade aus Fiktivem, Ima-
ginärem und Realem ein, die gekennzeichnet ist durch die Überlappung und
Verschränkung der jeweiligen Aspekte; denn die „Mischungsverhältnisse von
Realem und Fiktiven bringen offensichtlich Gegebenes und Hinzugedachtes in
eine Beziehung“ (Iser 1991: 18). Dieses Mischungsverhältnis zeigt sich gerade
an und in literarischen Texten; ja, mehr noch: Die dreifache Beziehung bildet
die „basale Beschaffenheit“ (ebd., 20 f.) des literarischen Textes. Die einzelnen

112Die im Zitat zitierten Wendungen finden sich in der Spiel-Definition bei Huizinga (1962: 20):

„Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung
nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden
wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse
geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten
Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß
verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis
umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.“ Positiv auf
Huizinga bezieht sich auch Iser (1991: 444) bei seiner Bestimmung des Textspiels als „Trans-
formation seiner Referenzwelten“ (ebd., 481).
113Diese vermeintliche Gewissheit prägt als „stummes Wissen“ (Iser 1983a: 121, Iser 1991: 18

u. ö.) auch das alltägliche Selbst- und Weltverständnis. Bereits in den – im Rahmen der Arbeits-
gruppe Poetik und Hermeneutik veröffentlichten – Vorarbeiten zu Das Fiktive und das Imaginäre
thematisiert und kritisiert Iser (siehe 1983a, 1983b, 1983c, 1983d) diese unhinterfragte Selbstver-
ständlichkeit.
114„As human beings’ extensions of themselves, fictions are ‚ways of worldmaking‘, and lite-

rature figures as a paradigmatic instance of this process because it is relieved of the pragmatic
dimension so essential to real-life situations“ (Iser 1989a: 270).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 65

Aspekte erhalten ihre Bestimmung durch dieses Zusammenspiel. Dies ist jedoch
nicht Selbstzweck; die Bestimmung der einzelnen Aspekte sowie ihrer dreifachen
Beziehung dient zugleich dazu, „das Fingieren einzukreisen“ (Iser 1983b: 479).
Dies wird schließlich zur Bestimmung der anthropologischen Funktion literari-
scher Texte führen. Denn unter den Bedingungen neuzeitlicher Erkenntnistheorie
sind Fiktionen ontologisch nicht mehr begründbar (Iser 1990: 8). Es geht daher
weniger darum, zu definieren, was eine Fiktion sei, und vielmehr darum, zu
beschreiben, wie sie funktioniert (Sutrop 1996: 83) – und welche Funktionen ihr
zukommen.115
Dafür ist eine Heuristik zu erarbeiten, die zwei Bedingungen zu erfüllen hat:
Einerseits soll sie nicht einfach aus einer anderen Disziplin übernommen und
auf die Literatur übertragen werden, andererseits soll sie sich an menschlichen
Dispositionen orientieren (Iser 1991: 14).116 Dies trifft auf das Fiktive und das
Imaginäre zu; beide sind nicht allein auf den engeren literarischen Bereich
beschränkt, sondern kommen auch lebensweltlich vor. Sie gehen aus einer gegen-
seitigen spielerischen Interaktion hervor (ebd., 15) und konstituieren in diesem
Zusammenspiel den Akt des Fingierens, der das Reale im fiktionalen Text wieder-
holt, ohne sich in dessen bloßer Bezeichnung und Abbildung zu erschöpfen (ebd.,
20). Insofern geht die Wiedergabe des Realen im fiktionalen Text nicht gänzlich
aus diesem selbst hervor, sondern überschreitet es zugleich. In diesem Über-
schreiten wird die wiedergegebene Realität mit dem Imaginären (das dadurch
seine Gestalt bekommt) zusammengeschlossen – und zwar in einer eigen-
tümlichen Verschiebung: Die wiederholte Realität wird zum Zeichen und das
Imaginäre wird zum Bezeichneten (ebd.). Dadurch findet eine doppelte Grenz-
überschreitung statt, die Iser als „Irrealisierung von Realem“ und „Realwerden
von Imaginärem“ (ebd., 23) bezeichnet. Einerseits wird das Reale durch seine
Verbindung mit dem Imaginären von seinem Realitätscharakter enthoben und zum

115Dass diese Funktionen je nach ihrem spezifischen Anwendungsbereich jeweils unterschiedlich

sind, wird von Iser (1990: 8 f.) auch herausgestellt: „In der Erkenntnistheorie begegnen wir den
Fiktionen als Setzungen; in der Wissenschaft als Hypothesen; in den uns leitenden Weltbildern
als deren Fundierungen und in unseren Handlungen als orientierungsleitende Annahmen. In
jedem dieser Fälle hat die Fiktion etwas anderes zu leisten. Im Blick auf die Handlung ist sie
ein Vorgriff; im Blick auf die Setzung definiert sie eine Prämisse; im Blick auf die Hypothese ist
sie eine Probierbewegung, und im Blick auf die Fundierung von Weltbildern ein Dogma, dessen
Fiktionscharakter verdeckt bleiben muß, um die Fundierungsleistung zu sichern“.
116Daher verwirft Iser (1991: 12 ff.) sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen Gründen

die zeitgenössischen Erkenntnisse der historischen Anthropologie, der strukturellen Anthropo-


logie, der generativen Anthropologie, der Kulturanthropologie und schließlich auch der philo-
sophischen Anthropologie (wobei Iser an dieser Stelle lediglich Arnold Gehlens axiomatische
Bestimmung des Menschen als Mängelwesen in den Blick nimmt und die zwei anderen Haupt-
akteure der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Max Scheler und Helmuth Pless-
ner, ignoriert).
66 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Zeichen für etwas anderes, andererseits wird das zunächst diffuse und unfassbare
Imaginäre durch seine Verbindung mit dem Realen vorstellbar und real (ebd., 22).
Dabei überschreitet das Fingieren zwar den jeweiligen Bereich des Realen und
Imaginären, hält beide Bereiche jedoch zugleich gegenwärtig (Iser 1990: 6): „Es
bewirkt die Gleichzeitigkeit dessen, was sich wechselseitig ausschließt“ (ebd.,
10). Mit dieser entgegengesetzten Bewegung sind für Iser drei Funktionen ver-
bunden: sie ist erstens die Voraussetzung für die Umformulierung bereits formu-
lierter Welt, sie ermöglicht zweitens das Verständnis einer umformulierten Welt,
und sie eröffnet drittens die Erfahrbarkeit eines solchen Ereignisses (Iser 1991:
23). Realisiert wird das Grenzüberschreiten innerhalb des fiktionalen Textes dabei
durch drei Akte, die das Imaginäre mit dem Realen vermitteln: Selektion, Kombi-
nation und Selbstanzeige (ebd., 48). In der Selektion werden spezifische Elemente
der „vorhandenen Umweltsysteme“ (ebd., 24) – sozialer, kultureller oder litera-
rischer Natur etc. – entnommen und in einen anderen Kontext, den literarischen
Text, versetzt (ebd.). In der Kombination werden die entnommenen Elemente auf
der textuellen Ebene in anderer Weise – und auf verschiedenen Ebenen: von der
lexikalischen bis zur Schemabildung von Handlungen und Figuren – strukturiert
(ebd., 27). In der Selbstanzeige schließlich entblößt sich der Text durch bestimmte
Fiktionssignale als fiktionaler Text (ebd., 36).
Ein solches grenzüberschreitendes Weltverhältnis im Fingieren lässt anthropo-
logische Rückschlüsse zu. Die Existenz von Literatur bekommt für Iser daher
einen gewissen „anthropologische[n] Aufschlußwert“ (ebd., 12), der sich aus ihren
Funktionen heraus verstehen lässt.117 Sie verweisen auf die „menschliche Fiktions-
bedürftigkeit“ (Iser 1990: 7). Denn das Fingieren antwortet auf ein menschliches
Grundbedürfnis, das sich aus dem „ek-statischen Zustand“ des Menschen ergibt
(ebd., 16). Allein schon die stilistische Nähe zu Plessners Begriff der exzentrischen
Positionalität – der von Iser zwar nicht in seiner Systematik entwickelt, aber doch
explizit verwendet wird (u. a. ebd., 19, Iser 1991: 506) – legt nahe, dass man in
diesem eine der Wurzeln der Konzeption Isers finden kann. Den ek-statischen
Zustand des Menschen bestimmt er dabei als einen Zustand des Außer-sich-Seins
(Iser 1990: 16). Realisiert wird dieser Zustand im Fingieren – dem „Überschreiten
dessen, was ist“ (ebd., 5) –, durch das der Mensch zugleich aus dem heraustritt,
was er als konkrete Person darstellt: „sich gegenwärtig zu sein und sich so zu
nehmen, als ob man ein anderer sei, ist ein ek-statischer Zustand“ (ebd., 16). Das
Grenzüberschreiten im Fingieren kennzeichnet damit nicht nur das menschliche
Weltverhältnis, sondern auch sein Selbstverhältnis. Dadurch erhält das Fingieren
einen anthropologischen Index: Es zeigt „daß die Person immer zugleich über das
hinaus ist, was sie ist“ (ebd., 17). Damit verweist es auf das „Doppelgängertum

117Iserschreibt dazu in Towards a Literary Anthropology: „Literature is not self-sufficient, so it could


hardly bear its own origin within itself. What it is, is the result of its function“ (Iser 1989a: 210).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 67

des Menschen“ (ebd., 18).118 Die sich im Doppelgängertum zeigende Zweiteilung


führt jedoch nicht zu einer Gegenüberstellung und Trennung des eigentlichen Men-
schen und des erscheinenden Menschen (Iser 1991: 148); und sie ist auch nicht auf
eine kompensatorische Funktion zu reduzieren (Iser 1990: 29).119 Vielmehr offen-
bart sich hier ein „anthropologisches Grundmuster“ (ebd., 18), das durch den Akt
des Fingierens zutage tritt und auf die zweigeteilte Struktur und Signatur des Men-
schen verweist: „In zwei einander ausschließenden Zuständen gleichzeitig zu sein,
gewährt nur die literarische Fiktionalität, die so die Doppelung als basale Zwei-
teilung des Menschen erfahrbar macht“ (Iser 1991: 152).
Die literarische Fiktion ist für Iser Indiz dafür, „daß sich der Mensch
nicht gegenwärtig sein kann“ (Iser 1990: 21, Iser 1991: 157).120 Bedeutende
Koordinaten des menschlichen Lebens sind dem menschlichen Wissen grund-
legend entzogen. Iser verweist hier auf drei wichtige Punkte: zum Ersten auf
die Unwissbarkeit und Unerfahrbarkeit des eigenen Anfangs (Geburt) und
Endes (Tod),121 zum Zweiten auf die Unmittelbarkeit von Evidenzerfahrungen
(z. B. Liebe),122 zum Dritten schließlich auf die exzentrische Position des

118Auch dieses anthropologische Theorem übernimmt Iser von Plessner. Dabei bezieht sich Iser
(1991: 147–156) vor allem auf die Aufsätze Plessners, allen voran Soziale Rolle und mensch-
liche Natur (1960) und Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), die für ihn die zentrale
Referenz bilden. Es ist durchaus auffällig, dass Iser wiederholt einen der zentralen Begriffe
Plessners (exzentrische Positionalität) ebenso verwendet wie zentrale Theoreme (bspw. die hier
schon angesprochene Doppelgängerstruktur der menschlichen Lebensform sowie die offene
(nicht-axiomatische) Wesensbestimmung des Menschen) und typische sprachliche Wendungen,
die sich (manchmal in leichter Abänderung, manchmal in direkter Wiedergabe) auch bei Plessner
finden; bspw.: „Ist der Mensch Scheitelpunkt seiner Rollenvielfalt, so führt literarisches Fingie-
ren den Menschen als das vor, wozu er sich macht und versteht“ (Iser 1990: 21). Doch fällt dabei
auch auf, dass Iser an keiner Stelle auf eines der umfangreicheren Werke Plessners verweist.
Dadurch geraten weder die naturphilosophischen (Die Stufen des Organischen und der Mensch)
noch die geschichtsphilosophischen (Macht und menschliche Natur) Aspekte der plessnerschen
Anthropologie in den Blick. Merkwürdigerweise liest und versteht Iser Plessner vermutlich nur
als Rollentheoretiker und Vertreter der „Sozialanthropologie“ (Iser 1991: 12 mit direktem Ver-
weis auf Plessner).
119Sie können schon allein deswegen nicht auf ein Kompensationsbedürfnis zurückgeführt wer-

den, weil „die aus der Grenzüberschreitung entstehenden Möglichkeiten nicht aus den über-
schrittenen Realitäten ableitbar sind“ (Iser 1990: 29).
120Auch bei dieser Formulierung findet sich eine direkte Bezugnahme auf Plessner (Iser 1991:

156 f.).
121„Nun gibt es im menschlichen Leben viele solcher unwißbaren Realitäten: die wohl bedeut-

samsten dürften Anfang und Ende sein. Damit aber sind die kardinalen Bedingungen unserer
Existenz der Verfügbarkeit durch Wissen entzogen“ (Iser 1990: 26, vgl. auch Iser 1991: 506).
122„Evidenzerfahrungen haben einen überfallartigen Charakter, sie passieren einem und man ist

in ihnen. Aber gerade dadurch erwacht ein Anschauungsbegehren; man scheint gegenwärtigen zu
wollen, was einem geschehen ist, wodurch die Evidenz zu Alternativen aufgesprengt wird“ (Iser
1991: 509).
68 2  Plessner, Ricœur und die literarische Anthropologie

Menschen.123 Demzufolge gibt es „von untrüglichen Grundbefindlichkeiten des


Menschen kein Wissen“ (Iser 1990: 26). Diese Unergründbarkeit und Unverfüg-
barkeit wiederum bildet den „Quellpunkt für die anthropologische Bedeutsam-
keit des Fingierens“ (ebd.). Die anthropologische Funktion des Fingierens ergibt
sich aus diesen anthropologisch begründeten epistemologischen Leerstellen und
besetzt bzw. gestaltet diese Leerstellen auf allen drei Ebenen: der Unwissbarkeit
von Anfang und Ende,124 der Unmittelbarkeit der Evidenzerfahrungen125 und der
Doppelstruktur der exzentrischen Position.126 Iser spricht hier auch von einer
„Inszenierungsnotwendigkeit“ (Iser 1991: 506), die sich aus allen drei Aspekten
der Unwissbarkeit bzw. Unergründlichkeit ergibt:

Inszenierung wird damit zu einem Modus, der dort in seine volle Funktion kommt, wo
Wissen und Erfahrung als Weisen der Welterschließung an ihre Grenzen stoßen. Denn sie
bezieht sich auf Sachverhalte, die niemals vollständig gegenwärtig zu werden vermögen
(ebd., 507 f.).

Einerseits formt und gestaltet die (literarische) Inszenierung das Unergründ-


liche, andererseits bewahrt sie aber auch zugleich dessen unergründlichen Status
dadurch, dass sie sich als Inszenierung zu erkennen gibt und das Unergründliche
nicht endgültig zu bestimmen sucht. Dadurch erzeugt die Inszenierung „Simulacra
des Unverfügbaren“ (ebd., 508).
Mit dieser anthropologischen Inszenierungsnotwendigkeit korrespondiert die
von Iser so genannte Plastizität des Menschen. Literatur spiegelt (ebd., 11) und
vergegenständlicht (ebd., 14) diese Plastizität. Sie wird dadurch zum Werkzeug
menschlicher Selbstauslegung und Selbstsetzung, das sich aus dem unergründ-
lichen Charakter der menschlichen Lebensform ergibt und diese sowohl zum Aus-
druck bringt als auch für ihn verstehbar macht – zugleich aber auch immer wieder

123„Ist Darstellung phantasmatische Figuration, dann wird sie zum Modus der Inszenierung, die

das zur Erscheinung bringt, was seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag. Dazu
gehört vor allem die früher schon erwähnte exzentrische Position des Menschen, der ist, aber sich
nicht hat“ (Iser 1991: 504).
124„Entspringt die Notwendigkeit des Fingierens dem Überschreiten jener Realitäten, deren

Wißbarkeit uns entzogen ist, dann werden zu diesen Möglichkeiten hinzugedacht, die einen
Aufschluß darüber liefern, was wir durch unwißbaren Anfang und unwißbares Ende als jeweils
verborgen, unverfügbar und entzogen glauben. Das Fingieren wird dann zur Signatur der
geschichtlichen Wandelbarkeit menschlichen Begehrens“ (Iser 1990: 26).
125„Evidenzerfahrungen sind in der Regel affektiv, so daß Inszenierung dem Bestreben ent-

springt, die eigene Affektmenge in die Hand zu bekommen; indem man sie durch Alternativen
doppelt, geschieht eine Ablösung vom Erregungszustand. Dadurch gelingt es, sich selbst zu stel-
len, um im eigenen Betroffensein zugleich sein Gegenüber zu werden“ (Iser 1991: 510).
126„Der ek-statische Zustand, immer zugleich in der Person und außerhalb ihrer zu sein, bedarf

der Form, um anschaulich zu werden, wenngleich diese Form den ek-statischen Zustand weder
repräsentiert noch in einem bestimmten Sinne einfrieren darf, soll er ‚geregelter Widerspruch‘
bleiben“ (Iser 1991: 138).
3  Grundfragen und Ansatzpunkte literarischer Anthropologie 69

überschritten wird und werden muss. Diese ambivalente, unabschließbare und


unergründbare Bewegung fasst Iser im Blick auf ihre anthropologische Funktion
folgendermaßen zusammen:

Die Inszenierung der Literatur veranschaulicht die ungeheure Plastizität des Menschen, der
gerade deshalb, weil er keine bestimmte Natur zu haben scheint, sich zu einer unvordenk-
lichen Gedankenfülle seiner kulturellen Prägung zu vervielfältigen mag. Das macht die
Unmöglichkeit, sich gegenwärtig zu werden, zur Chance des Menschen. Sich nicht haben
zu können bedeutet dann für den Menschen, sich durch seine Möglichkeiten auszuspielen,
die gerade deshalb unbegrenzt sind, weil er durch sie nicht zu sich selbst findet. Daraus
ließe sich ein Hinweis auf das Wozu literarischer Inszenierung ableiten. Wenn die Plastizi-
tät durch die verschiedensten Prägungen lediglich die Kultivierung des Menschen durch
sich selbst erlaubt, dann wird die Literatur zum Panorama dessen, was möglich ist, weil
in ihr weder die Beschränkungen noch die Rücksichtnahmen herrschen, die für lebens-
weltliche Institutionalisierungen maßgebend sind. Durch eine solche Inszenierung gelingt
aber nicht nur eine Befreiung von den sozialen Begrenztheiten, sondern auch – wenngleich
illusionär – von den biologischen. Daß sich der Mensch in seinen wechselnden Prägungen
vorstellig werden kann, ohne mit ihnen zusammenzufallen, läßt die Unabschließbarkeit der
Inszenierungen wie das Verschieben des Endes erscheinen (ebd., 505 f.).

Vermittels Literatur wird die Plastizität des Menschen sowohl ausgedrückt als
auch geformt. Dies induziert zugleich einen menschlichen Drang zur (kulturel-
len) Vergegenständlichung bzw. Verobjektivierung, der aufgrund der Struktur der
menschlichen Lebensform jedoch nie letztgültig in einer bestimmten Gestalt auf-
gehen kann und dementsprechend die jeweiligen Gestalten immer wieder über-
schreiten und neu formen muss (ebd., 11 f.). Insofern zeitigt und spiegelt sich im
Medium der Literatur die Struktur des ständigen Sich-selbst-Überschreitens des
Menschen (ebd.).
Dass damit zugleich der anthropologisch notwendige Prozess der Konstituie-
rung personaler Identität verbunden ist, lässt sich ausgehend von der Anthropo-
logie Helmuth Plessners schließlich anhand des ricœurschen Konzepts der
dreifachen Mimesis zeigen und nachvollziehen. Dieses schließt nicht nur die
Produktion, sondern auch die Rezeption (literarischer) Fiktionen in die Identi-
tätsbildung mit ein (siehe Kap. 5) – und kann aus den drei Perspektiven literari-
scher Anthropologie schließlich auch für die konkrete Interpretation literarischer
Texte fruchtbar gemacht werden. Denn indem in Austers Roman ein bestimmtes
Menschenbild zum Vorschein kommt, beeinflusst es zugleich die Selbstauslegung
und das Selbstverständnis des Lesers dadurch, dass ihm eine Form und ein Inhalt
einer Erzählung präsentiert wird, die seine eigene sein könnte – und die ihn als ein
Anderer seiner selbst formen und verstehbar machen. Wird nun der Mensch selbst
als wesentlich unergründlich und in sich gebrochen gedacht, dann ist er, so er sich
selbst denken und setzen will, auf solch eine Form- und Inhaltsgebung verwiesen
und angewiesen; was schließlich als eine Grundlage einer anthropologisch orien-
tierten Literaturtheorie betrachtet werden kann. Bildet bei Plessner die Geschichte
das primäre Medium der menschlichen Selbsterkenntnis und Selbstsetzung (Stufen
22), so kann diese mit Ricœur um all die fiktiven Geschichten, die der Mensch
über sich erzählt und erzählt bekommt, ergänzt werden. Was der Mensch ist und
sein kann, erfährt er aus seinen (fiktiven wie auch fiktionalisierten) Geschichten.
Helmuth Plessners Philosophische
Anthropologie 3

Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch


Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt
Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft

1 Der Begriff der exzentrischen Positionalität

In seiner autobiografischen Einleitung zu Mit anderen Augen schreibt Plessner


über sein 1928 erschienenes Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch:

Die Stufen wollen nicht etwa im Sinne einer Abbreviatur der Evolutionstheorie verstanden
sein, sondern als eine Logik der lebendigen Form und darüber hinaus als Frage nach den
Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins (Plessner 2004a: 6).

Ausgangspunkt von Plessners Denkweg bis zur Konstruktion der Kategorie der
exzentrischen Positionalität ist, so in Lachen und Weinen (GS VII 240) sowie
u. a. bei Fischer (2000: 270) und Asemissen (1991: 154) nachzulesen, das Prob-
lem des cartesianischen Dualismus in der Selbsterfahrung und Selbstbeschreibung
des Menschen. Veranschaulichen lässt sich dieser Dualismus an folgendem Bei-
spiel, das die allgemeine anthropologische Situation beschreibt: Einerseits geht
der Mensch in seinem Bewusstsein spazieren, als dessen Inhalt ihm sein eigener
Leib mitsamt all seinen Standortveränderungen erscheint; andererseits geht er mit
seinem Bewusstsein spazieren, welches von der jeweiligen ausschnitthaften Pers-
pektive seines Trägers, des Leibes, abhängig ist. Bei Descartes entwickelt sich aus
dieser ambivalenten Selbsterfahrung der fundamentale Gegensatz einer res cogi-
tans und einer res extensa. Dieser zunächst ontologisch gemeinten Unterscheidung
folgt methodologisch die Spaltung in zwei nicht ineinander überführbare
Erfahrungsbereiche, denen die Entwicklung der Naturwissenschaften auf der einen
und die der Geisteswissenschaften auf der anderen Seite entspricht (Pietrowicz

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 71


M. Weiland, Mensch und Erzählung, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World
Literature 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_3
72 3  Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie

1992: 49). Für die Wissenschaft vom Menschen folgt daraus, dass der Mensch
als zweigeteilt betrachtet werden müsste: als Naturwesen einerseits und als Geist-
wesen andererseits. „Der eine Mensch entdeckt sich gebrochen in zwei Sphären,
welche im Menschen ihr eigenes Recht fordern“ (Bek 2011: 38). Damit vollzieht
sich eine Trennung von Innenwelt und Außenwelt des Menschen (GS VIII 354);
wobei zu unterschiedlichen Zeiten der Geistesgeschichte für jeweils einen der
beiden Bereiche der Anspruch erhoben wurde, dem ‚eigentlichen‘ Menschsein zu
entsprechen.1 Empirisch argumentierende Theorien stehen hier in unvereinbarer
Opposition zu apriorisch argumentierenden Theorien; wobei sich die Unvereinbar-
keit der jeweiligen Schlussfolgerungen angesichts des vermeintlichen Entstehens
des Geistigen aus der körperlichen Welt einerseits sowie der vermeintlichen Exis-
tenz des Geistigen in der körperlichen Welt andererseits als problematisch erweist:

Die alte Alternative Empirismus-Apriorismus sah hier so aus: Entweder ist der Mensch
mit allen seinen Eigenschaften, körperlich und geistig, das letzte Glied der organischen
Entwicklung auf der Erde. Dann ist sein Bewußtsein, sein Gewissen, sein Intellekt, das
Formensystem seines Geistes und damit seine Kultur ein Naturprodukt, das Resultat der
Großhirnentwicklung, des aufrechten Ganges, bestimmter Veränderungen der inneren
Sekretion usw. Wie es zu diesem Resultat kommt und aus körperlichen Tatsachen geistige
Dimensionen werden, bleibt allerdings ganz rätselhaft. Oder seine eigene Naturgeschichte
in Verbindung mit der Geschichte der Organismen ist wie die ganze Natur eine Konst-
ruktion des Menschen nach Maßgabe der apriorischen Grundformen seines Geistes und
im Rahmen seines Bewußtseins. Wie freilich der schöpferische Geist zu dieser konkre-
ten Existenz ‚in‘ einem Menschen, zu dieser Abhängigkeit von seinen physischen Eigen-
schaften kommt, bleibt ebenso rätselhaft (Stufen 5).

Beide Varianten führen nach Plessner zwar verschiedene Argumente an, argu-
mentieren jedoch nach demselben Prinzip: „Sie setzen eine Sphäre, einmal die
physische, das andere Mal die spirituelle absolut und machen jeweils die andere
Sphäre von ihr abhängig, ohne allerdings imstande zu sein, anzugeben, wie
gerade diese Sphäre in Abhängigkeit von der anderen auftritt“ (ebd.). Problema-
tisch wird es also dann, wenn die Übergänge und Wechselwirkungen im mensch-
lichen Doppelaspekt Geist-Körper philosophisch nicht nachvollziehbar gemacht
werden können.2 Daher geht es Plessner nun gerade nicht um die Entscheidung
für eine der beiden Seiten oder gar um die argumentative Beseitigung des Doppel-
aspekts. Im Gegenteil: Für ihn ist es vielmehr geboten, beide Seiten ineinander
zu verschränken. Dabei bedeutet Verschränkung nicht Vereinigung. Es soll nicht
etwa eine Seite aus der anderen abgeleitet oder in die andere überführt werden;

1Die Problematisierung der Doppeldeutigkeit der menschlichen Seinsweise bildet ein zentrales
und grundlegendes Thema der menschlichen Geschichte: „Die Dokumente, die das Bewusstsein
von der Doppeldeutigkeit unserer Existenz belegen, reichen weit zurück“, schreibt Meyer-Drawe
(2002: 366) und verweist dabei auf einen ersten Einsatz in der platonischen Philosophie.
2Eine Fortschreibung dieses alten Problems beobachtet Fischer (2005) bspw. auch in den aktuel-

len Entwicklungen und Verfahren der Neurowissenschaften einerseits und der Evolutionsbiologie
andererseits.
1  Der Begriff der exzentrischen Positionalität 73

vielmehr ist der vermeintlich fundamentale Widerspruch zwischen beiden Sei-


ten aufzulösen und ihre Bezogenheit aufeinander verständlich zu machen. Damit
ließe sich der theoretisch verfestigte und immer wieder aufgenommene Dualismus
in eine praktisch erfahrbare Dualität überführen. Wenn nun aber eine anthropo-
logische Theorie diese beiden Seiten miteinander verschränken will, so müssen
auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, den vermeintlich fundamen-
talen Gegensatz als Gegensatz aufzulösen. Dafür sind Kategorien zu entwickeln,
„die den Übergang von der einen Perspektive zur anderen ermöglichen, ohne
deren Geltungsansprüche zu bestreiten“ (Fischer 2005: 167). Denn für Plessner
bilden die beiden ineinander verschränkten Seiten „eine merkwürdige Einheit“
(GS VII 240). In gewisser Weise zielt er damit auch auf eine anthropologische
Neukonzeptualisierung des ‚ganzen Menschen‘ ab, die es schließlich ermöglicht,
das Menschsein in all seinen „Seinsweisen und Daseinsformen“ (Macht 147) zu
begreifen.
Ein dazu geeignetes Mittel scheint Plessner, wie im vorherigen Kapitel
gesehen, ein Lebensbegriff zu sein, der systematisch so entwickelt wird, dass
in ihm die Verbindung der beiden Aspekte sichtbar wird (Stufen 8) – und zwar
dadurch, dass Leben als Ausdrucksform charakterisiert und verstanden wird.3
Im lebendigen Verhalten zeigen sich innere und äußere, psychische und physi-
sche, geistige und körperliche Aspekte immer schon ganzheitlich integriert und
verschränkt (Krüger 2013: 126). Dabei nähert sich Plessner dem Lebensbegriff
von zwei Seiten: der Philosophie und der Biologie (Arlt 2001: 101). Naturphilo-
sophisch abgesichert wird dieser Lebensbegriff in Bezug auf den Menschen durch
den Begriff der exzentrischen Positionalität, welcher wiederum in fünf aufeinander
folgenden Schritten entwickelt wird (vgl. Fischer 2000: 270–278). Sie ergeben
sich aus der Explikation der Begriffe Doppelaspekt, Grenze, Positionalität, zentri-
sche Positionalität und exzentrische Positionalität.
Den Ausgangspunkt bildet der Begriff des Doppelaspekts, der nicht nur am
belebten, sondern auch am unbelebten Körper zu beobachten ist. Er gilt für das
„Wahrnehmungsding“ (Stufen 81) im Allgemeinen und bezeichnet dessen grund-
legende Erscheinungsweise.4 Anhand des Doppelaspekts wird dabei die Diffe-
renzierung zwischen ‚äußeren‘ und ‚inneren‘ Aspekten eines Objekts eingeführt.
Doch gerade diese Differenzierung sorgt dafür, dass ein Objekt als ein ganzes, als
eine Einheit, erscheint:

3„Wir verstehen uns als Lebewesen nur über unser Ausdrucksverhalten. Das bedeutet: Wir ver-
stehen uns nur, wenn wir auch verstehen, was das eigentlich ist: Ausdruck“ (Schloßberger 2008:
212, Anm. 4).
4Der Doppelaspekt ist als wesentliches Erscheinungsmoment allen Erscheinungen konstitu-

tiv: „Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nicht-belebte oder
belebte Dinge handelt. Frosch oder Palme unterliegen denselben Erscheinungsgesetzlichkeiten
der Dinglichkeit (von der breiten Zone durchgehender physikalischer Gemeinsamkeiten zu
schweigen) wie Stein oder Schuh“ (Stufen 89).
74 3  Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie

Gegenständlich erscheint demnach das ‚Wahrnehmungsding‘ nur kraft eines Doppel-


aspektes, genauer gesagt: kraft seines, also eines ontologischen Doppelaspektes: Ein Ding
erscheint dem Wahrnehmenden nur deshalb gegenständlich, weil der eine ‚Aspekt‘ – der
Kranz der ‚außen‘ real erscheinenden Eigenschaften, angefangen mit seinen Positions-
eigenschaften in Raum und Zeit – nur mit Bezug auf einen anderen ‚Aspekt‘ – den
real nicht erfahrbaren inneren Substanzkern – erscheint, der in der Erfahrung als nie
erscheinender Einheitspol aller erscheinender Bestimmtheiten vorausgesetzt ist (Fischer
2000: 271 f.).5

Der Begriff des Doppelaspekts beschreibt dabei die Relation zweier Aspekte – die
‚äußerlich‘ wahrnehmbaren Eigenschaften und den ‚innerlich‘ nicht wahrnehm-
baren Kern – ein und desselben Erscheinungsdings, die zwar nicht ineinander
übergehen und zusammenfallen, aber eben auch nicht getrennt voneinander
gedacht werden können, ohne dass das jeweilige Ding seine Dinghaftigkeit ver-
liert; der Doppelaspekt ist dementsprechend konstitutiv für alle, belebte wie auch
unbelebte, Wahrnehmungsdinge (Ebke 2012: 54). Denn Gegenstände erscheinen
nach Plessner erst „kraft des Doppelaspekts“ (Stufen 89) als Gegenstände.
Den Beginn des plessnerschen Stufenschemas bildet also zunächst einmal die
Erörterung der Struktureigenschaften des anorganischen Körpers, von denen dann
die Struktureigenschaften organischer Körper unterschieden werden. Diese Unter-
scheidung trifft Plessner durch die Analyse des Verhältnisses eines physischen Kör-
pers zu seiner Begrenzung. Der Begriff der Grenze bildet hierfür das entscheidende
Differenzierungskriterium und die Grundlage, auf der alle weiteren Erörterungen
aufbauen.6 Anhand des Grenzbegriffs vollzieht Plessner somit den nächsten Schritt

5Vgl. auch: „In der vorwissenschaftlichen Anschauung eines Phänomens haben wir den Ein-
druck, dass die Eigenschaften des Phänomens mit einem gleichsam ‚in‘ diesem Phänomen
befindlichen Kern korrespondieren. Sichtbar ist eine phänomenale Differenz, der zufolge Eigen-
schaften stets auf etwas weisen, was ihnen gegenüber selbständig ist und die Eigenschaften als
Eigenschaften ‚hat‘“ (Ebke 2012: 53). Zur Innen-Außen-Differenz am unbelebten Körper vgl.
auch Köllner (2006: 281). Im Gegensatz zu Köllner und Fischer (2000: 271) unterscheidet Arlt
(2001: 101) bereits anhand des Doppelaspekts den belebten vom unbelebten Körper; wobei sich
nur bei Ersterem der Doppelaspekt feststellen ließe. Diese Deutung lässt sich so jedoch nicht
belegen und steht im Widerspruch zu den Ausführungen Plessners in den Stufen des Organi-
schen (81–89). Plessner spricht hier auch von einer in zwei Richtungen verlaufenden Transgre-
dienz des Wahrnehmungsdings: „Für die konkrete Dingerscheinung bestehen zwei Richtungen
der Transgredienz, die – den räumlichen Bestimmungen eigentümlich entsprechend – wesenhaft
zusammengehören, obwohl sie nie zusammenfallen: die Transgredienz vom Phänomen ‚in‘ das
Ding ‚hinein‘ und ‚um‘ das Ding ‚herum‘. Die erste Richtung zielt auf den substantiellen Kern
des Dinges, die zweite Richtung zielt auf die möglichen anderen Dingseiten. Zum reellen Bilde
gehört diese doppelte Blickführung, wenn es als gegenwärtiges Ding wahrgenommen werden
soll, und erst in dieser doppelt gerichteten Blickgebung erscheint das räumlich sinnliche Phäno-
men als kernhaft geordnete Einheit von Seiten, als Ding“ (Stufen 82 f.).
6Dem Konzept der Grenze kommt dabei mit Blick auf die weitere Systematik Plessners eine

bedeutende Funktion zu: „Plessners Grundanliegen, die besondere und einzigartige Stellung des
Menschen in der Welt zu denken und ineins die Depotenzierung dieser ‚Sonderrolle‘ durch die
Nebenordnung des Menschen in eine Reihe neben allen anderen Naturkörpern, wird hier auf der
Ebene der lebendigen Naturkörper bereits grundgelegt“ (Schürmann 2011: 192).
1  Der Begriff der exzentrischen Positionalität 75

im Stufenschema7 – geht es ihm doc